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Schriften

NUNC COCNOSCO EX PARTE

TRENT UNIVERSITY
LIBRARY
L

A
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HANS-GEORG GADAMER

Kleine Schriften I

Philosophie

Hermeneutik

ARTIBUS

1^8 • O • I

19 6 7

J. C. B. MOHR (PAUL SIEBECK) TÜBINGEN


. Cr 3 '''*7 /

©
Hans-Georg Gadamer
J. C. B. Mohr (Paul Siebeck) Tübingen 1967

Alle Rechte Vorbehalten


Ohne ausdrückliche Genehmigung des Verlags ist es auch nicht gestattet, das Buch oder Teile
daraus auf photomechanischem Wege (Photokopie, Mikrokopie) zu vervielfältigen

Printed in Germany
Satz und Drude: Buchdruckerei Eugen Göbel, Tübingen
Einband: Großbuchbinderei Heinr. Koch, Tübingen
VORWORT

Der Verfasser der unter dem Titel ,Wahrheit und Methode* erschienenen
philosophischen Hermeneutik legt hier eine Sammlung kleinerer Arbeiten
vor. Der erste Band enthält teils Vorstufen seiner hermeneutischen Theorie,
teils Fortentwicklungen derselben, die, aus mannigfachen Anlässen entstan¬
den, ihm Gelegenheit gaben, sich genauer zu erklären; insbesondere über die
Tragweite der hermeneutischen Fragestellung für die Wissenschaften und die
Philosophie. Der zweite Band will nicht nur dokumentieren, daß seine Theorie
aus einer ausgebreiteten hermeneutischen Erfahrung erwachsen ist, sondern
möchte vor allem die hermeneutische Dimension innerhalb der Ästhetik auf¬
zeigen und etwas zu selbständiger Anerkennung bringen, was meist hinter
den philologisch-historischen Methoden der Wissenschaften zurücktritt und
doch in ihnen allen unkontrollierterweise wirksam ist: das Sachverständnis*.
Wo es sich nicht um spezielle Sachbereiche handelt, sondern um Kunst, wer¬
den an die Auslegung der ,Sachen* freilich besondere Ansprüche gestellt, die
die Philosophie am ehesten einzulösen berufen ist. Die hermeneutische Praxis,
die dieser Band enthält, will eine Theorie ergänzen, die nicht Vorschriften
machen will, sondern sagen, was ist.
Beide Bände enthalten neben zahlreichen an verstreuten Orten erschiene¬
nen Arbeiten einige bisher ungedruckte, darunter zwei, die erst im letzten
Jahre geschrieben wurden: die Abhandlung ,Hermeneutik, Rhetorik und Ideo¬
logiekritik*, die insbesondere die Sozialwissenschaften betrifft, und ,Mytho-
poietische Umkehrung in Rilkes Duineser Elegien*, welche die Wissenschaft
von der Dichtung angeht.
Für Hilfe bei der Druckvorbereitung habe ich manchem meiner Mitarbeiter,
insbesondere cand. phil. Harald Karja zu danken.

137386
INHALT

Das Problem der Geschichte in der neueren deutschen Philosophie 1

Uber die Ursprünglichkeit der Philosophie 11

Wahrheit in den Geisteswissenschaften 39

Was ist Wahrheit? 46

Die Natur der Sache und die Sprache der Dinge 59

Zur Problematik des Selbstverständnisses 70

Martin Heidegger und die Marburger Theologie 82

Mensch und Sprache 93

Die Universalität des hermeneutischen Problems 101

Rhetorik, Hermeneutik und Ideologiekritik 113

Die philosophischen Grundlagen des zwanzigsten Jahrhunderts 131

Die Kontinuität der Geschichte und der Augenblick der Existenz 149

Über die Planung der Zukunft 161

Über die Möglichkeit einer philosophischen Ethik 179

Kausalität in der Geschichte? 192

Die Philosophie und die Religion des Judentums 201

Apologie der Heilkunst 211

Philosophische Bemerkungen zum Problem der Intelligenz 220


DAS PROBLEM DER GESCHICHTE IN DER

NEUEREN DEUTSCHEN PHILOSOPHIE

Wenn man die Eigenart der deutschen Philosophie der letzten Jahrzehnte
kennzeichnen will, so begegnet einem als ihr wichtigster Grundzug ihre
historische Einstellung. Angelsächsische Beobachter haben sie gelegentlich
geradezu eine erdrückend historische Einstellung genannt und sich verwundert,
warum die deutsche Philosophie sich so überwiegend mit der Geschichte der
Philosophie beschäftigt. In der Tat ist dieses Interesse der Philosophie an
ihrer eigenen Geschichte keine Selbstverständlichkeit und enthält eine eigene
Fragwürdigkeit. Kommt es in der Philosophie, wie in aller Erkenntnis, auf
die Wahrheit an, was bedarf es dann der Wahrnehmung der Wege und Um¬
wege, die zu ihr führen. Überdies klingt uns Heutigen die Kritik in den Ohren,
die Friedrich Nietzsche in der berühmten zweiten ,Unzeitgemäßen Betrach-
tungc an der Historie geübt hat. Ist der historische Sinn wirklich jene gro߬
artige Erweiterung unserer Welt, die das 19. Jahrhundert in ihm sah, ist er
nicht vielmehr ein Zeichen dafür, daß der moderne Mensch überhaupt nicht
mehr eine eigene Welt hat, seit er mit hundert Augen zugleich auf die Welt
zu blicken gelernt hat? Löst sich nicht der Sinn von Wahrheit auf, wo die
wechselnden Perspektiven, in denen sie erscheint, ins Bewußtsein treten?
In der Tat, es gilt zu begreifen, wie uns der geschichtliche Charakter des
menschlichen Daseins und seiner Erkenntnis zum Problem geworden ist. Man
nennt dieses Problem in Deutschland das Problem der Geschichtlichkeit. Es
ist nicht die alte Frage nach dem Wesen und Sinn der Geschichte, die damit
gefragt wird. Daß die menschlichen Dinge sich unaufhaltsam wandeln, daß
Völker und Kulturen aufsteigen und sinken, war von jeher Gegenstand des
philosophischen Nachdenkens. Die Griechen, die ersten Gestalter des abend¬
ländischen Weltbegreifens, dachten diesen Aufstieg und Verfall nicht als
das Wesen des menschlichen Seins, sondern von etwas anderem her, das sich
in allem Wechsel bewahrt, weil es die rechte Ordnung ist. Das Vorbild,
nach dem so das menschliche Sein gedacht wird, ist die Natur, die kosmische
Ordnung, die sich selbst erhält und in ewiger Wiederkehr erneuert. Auch

Der Vortrag entstand im Jahre 1943 und blieb damals unveröffentlicht. Ein ähn¬
liches Thema skizziert mein 1948 entstandener und in den Akten des Kongresses
von Mendoza (Argentinien) gedruckter Beitrag ,Die Grenzen der historischen Ver¬
nunft“.

1 Gadamer, Schriften I
2 Das Problem der Geschichte in der neueren deutschen Philosophie

menschliche Ordnung möchte so bleibend sein, und ihr Wandel gilt als ihr
Verfall. Geschichte ist Verfallsgeschichte. Erst mit dem Christentum wird das
Unwiederholbare des menschlichen Seins als sein eigener Wesenszug erkannt.
Das Ganze der menschlichen Dinge, ,dieser Kosmos', ist ja das Unwesen
gegenüber dem alleinigen Wesen des jenseitigen Gottes, und die Erlösungstat
gibt der menschlichen Geschichte einen neuen Sinn. Sie ist die ständige Ent¬
scheidung für oder wider Gott. Der Mensch steht in der durch die einmalige
Erlösungstat bestimmten Geschichte des Heils. Jeder seiner Augenblicke ge¬
winnt ein absolutes Gewicht, das Ganze der menschlichen Geschicke aber bleibt
geborgen in der Vorsehung Gottes und der Erwartung des Endes der Dinge.
So ist das menschliche Dasein endlich und doch auf das Unendliche bezogen.
Geschichte hat einen eigenen, positiven Sinn. Von dieser Voraussetzung aus
ist die Metaphysik der Geschichte im christlichen Abendland durch ein Jahr¬
tausend gedacht worden. In säkularisierter Gestalt ist noch der Fortschritts¬
glaube des Zeitalters der Aufklärung ein Glied in diesem Zusammenhang. Ja,
selbst der letzte großartige Versuch einer Geschichtsphilosophie, Hegels Auf¬
weis der Vernunft in der Geschichte, bleibt in diesem Sinne Metaphysik. Erst
mit dem Zusammenbruch dieses metaphysischen Hintergrundes wird das Pro¬
blem der Geschichte für das menschliche Daseinsbewußtsein bestimmend. Es
wird zum Problem der Geschichtlichkeit.
Im Jahre 1841 wurde der alte Schelling auf den Berliner Lehrstuhl für
Philosophie gerufen, um der politisch und wissenschaftlich gefährlichen Nach¬
wirkung Hegels entgegenzutreten. Seine Kritik an Hegel stellt, gegen sein
eigenes Wissen und Wollen, das Ende der führenden Stellung der Philosophie
in der abendländischen Kultur überhaupt dar. Nicht seine eigene Philosophie,
sondern das methodische Übergewicht der Naturwissenschaften setzte sich
durch. Auch das Problem der Geschichte wurde nach diesem methodischen
Vorbild gestaltet.
Als die Philosophie sich von der Tiefe des Materialismus der Jahrhundert¬
mitte erhob, stand sie im Zeichen Kants und seiner erkenntnistheoretischen
Frage nach der Begründung der Wissenschaft. Kant hatte in der .Kritik der
reinen Vernunft' die Frage beantwortet, wie reine Naturwissenschaft möglich
sei. Jetzt fragte man darüber hinaus, wie Geschichtswissenschaft möglich sei.
Man suchte der .Kritik der reinen Vernunft' eine ,Kritik der historischen Ver¬
nunft' zur Seite zu stellen (um ein Wort Wilhelm Diltheys zu gebrauchen).
Das Problem der Geschichte stellte sich als das Problem der Geschichtswissen¬
schaft. Wie gewinnt diese ihr erkenntnistheoretisches Recht? So fragen hieß
aber, die Geschichtswissenschaft am Vorbild der Naturwissenschaften mes¬
sen. Das klassische Buch der neukantianischen Geschichtslogik hat den be¬
zeichnenden Titel: ,Die Grenzen der Naturwissenschaftlichen Begriffsbil¬
dung'. Heinrich Rickert sucht darin zu zeigen, wodurch der Gegenstand der
Geschichte sich charakterisiert, warum in ihr nicht allgemeine Gesetzlichkeiten
gesucht werden, wie in der Naturwissenschaft, sondern das Einzelne, das
Das Problem der Geschichte in der neueren deutschen Philosophie 3

Individuelle erkannt wird. Was macht ein bloßes Faktum zu einer historischen
Tatsache? Die Antwort lautet: seine Bedeutung, d. h. sein Bezug auf das
System menschlicher Kulturwerte. Bei solcher Fragestellung bleibt in aller
Abgrenzung das Modell der naturwissenschaftlichen Erkenntnis leitend. Das
Problem der Geschichte ist ganz und gar nur das erkenntnistheoretisdie Pro¬
blem, wie Geschiditswissenschaft möglich ist.
In Wahrheit aber bewegt die Frage der Geschichte die Menschheit nicht
als ein Problem der wissenschaftlichen Erkenntnis, sondern des eigenen Le¬
bensbewußtseins. Auch ist es nicht allein dies, daß wir Menschen eine Ge¬
schichte haben, d. h. in Aufstieg, Blüte und Verfall unser Schicksal leben. Das
Entscheidende ist vielmehr, daß wir gerade in dieser Schicksalsbewegung den
Sinn unseres Seins suchen. Die Macht der Zeit, die uns dahinreißt, weckt in
uns das Bewußtsein einer eigenen Macht über die Zeit, durch die wir unser
Schicksal gestalten. In der Endlichkeit selber erfragen wir einen Sinn. Das
ist das Problem der Geschichtlichkeit, wie es die Philosophie bewegt. Die
Dimensionen dieses Problems sind in Deutschland, dem klassischen Land der
Romantik, ausgemessen worden, weil dort das romantische Erbe inmitten des
Aufschwungs der modernen Wissenschaft, den das 19. Jahrhundert brachte,
festgehalten wurde.
Es war Wilhelm Dilthey, im wilhelminischen Deutschland viele Jahrzehnte
Professor der Philosophie in Berlin, der anerkannte und berühmte Geschichts¬
schreiber des deutschen Geistes, der in der Zeit der Herrschaft der Erkennt¬
nistheorie dieses Problem der Geschichtlichkeit in heller Wachheit empfunden
und durchdacht hat. Seine Zeitgenossen, ja auch viele seiner Schüler und
Freunde, sahen in ihm nur den genialen Historiker, den würdigen Erben der
großen Tradition deutscher Geschichtsschreibung, der auf dem Gebiete der
Philosophiegeschichte und Geistesgeschichte eine neue und glanzvolle Leistung
hinzubrachte. Seine Schriften waren vielfältig verstreut, oft nur in Aufsätzen
und Akademieabhandlungen veröffentlicht. Aber nach dem ersten Welt¬
krieg erschienen seine gesammelten Werke in vielen Bänden, die um wichtige
Nachlaßarbeiten vermehrt waren. Seitdem ist Dilthey als Philosoph, als der
Denker des Problems der Geschichtlichkeit, sichtbar geworden. Ortega y
Gasset ist sogar so weit gegangen, ihn den größten Denker zu nennen, den
die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hervorgebracht habe.
Man muß freilich lernen, Dilthey gegen seine eigene methodische Selbstauf¬
fassung zu lesen. Denn Diltheys Arbeiten teilten scheinbar mit der erkennt¬
nistheoretischen Fragestellung des Neukantianismus den Ausgangspunkt. Auch
er suchte den Geisteswissenschaften zu einer selbständigen, philosophischen
Grundlegung zu verhelfen, indem er die ihnen eigenen Prinzipien aufwies. Er
sah in einer beschreibenden und zergliedernden Psychologie die Grundlage
aller Geisteswissenschaften. In einer klassischen Abhandlung vom Jahre 1892
mit dem Titel ,Ideen zu einer beschreibenden und zergliedernden Psycho¬
logie“ überwindet er die naturwissenschaftliche Methodik auf dem Gebiete der
4 Das Problem der Geschichte in der neueren deutschen Philosophie

Psychologie und gibt damit den Geisteswissenschaften ihr methodisches Selbst¬


bewußtsein. So scheint auch er von der erkenntnistheoretischen Fragestellung
beherrscht, die nach der Möglidtkeit der Wissenschaft fragt und nicht nach
dem Sein der Geschichte. In Wahrheit aber beschränkt er sich nicht darauf,
über unser Wissen von der Geschichte zu reflektieren, wie es in der Geschichts¬
wissenschaft vorliegt, sondern er denkt über unser menschliches Sein nach,
das durch sein Wissen um seine Geschichte bestimmt ist. Den Grundcharakter
des menschlichen Daseins bezeichnet er als das ,Leben'. Dies ist ihm die
,kernhafte' Urtatsache, auf die auch alle geschichtliche Erkenntnis letztlich
zurückgeht. Auf die gedankenbildende Arbeit des Lebens, nicht auf ein er¬
kenntnistheoretisches Subjekt gehe alles Objektive im menschlichen Leben zu¬
rück. Kunst, Staat, Gesellschaft, Religion, alle unbedingten Werte, Güter
und Normen, die in diesen Sphären Bestand haben, entstammen zuletzt der
gedankenbildenden Arbeit des Lebens. Wenn sie unbedingte Geltung bean¬
spruchen, erklärt sich das nur durch ,Einschränkung des Horizonts der Zeit',
das will sagen, durch einen Mangel an historischem Horizont. Der historisch
Aufgeklärte zum Beispiel weiß, daß Totschlag nicht unbedingt das größere
Verbrechen ist gegenüber dem Diebstahl. Er weiß, daß das alte germanische
Recht den Diebstahl strenger ahndete als den Totschlag, weil er feige und un¬
männlich ist. Nur wer das nicht weiß, kann hier an die Unbedingtheit einer
Rangordnung der Dinge glauben. Historische Aufklärung führt so zur Einsicht
in die Bedingtheit des Unbedingten, führt zur Einsicht in die historische Rela¬
tivität. Dilthey wird darüber aber nicht zum Vertreter eines historischen
Relativismus, denn nicht die Relativität, sondern die ,kernhafte' Tatsache
des Lebens, die aller Relativität zugrunde liegt, beschäftigt sein Denken.
Wie vollzieht sich diese gedankenbildende Arbeit des Lebens? Dilthey
gründet seine Philosophie auf die innere Erfahrung des Verstehens, das uns
Realität aufschließt, die sich dem Begriff versagt. Alle geschichtliche Erkennt¬
nis ist solches Verstehen. Verstehen aber ist nicht das Verfahren der histori¬
schen Wissenschaft allein, sondern ist eine Grundbestimmung des menschlichen
Seins. Es beruht darauf, das wir Erlebnisse haben, deren wir inne sind. In
der ,Erinnerung' gestalten sich diese Erlebnisse aus zum Verstehen von Bedeu¬
tung. Dilthey hat hier an romantische Gedanken angeknüpft, wenn er er¬
kennt, daß solches Verstehen von Bedeutung ganz anders strukturiert ist als
das Verfahren der naturwissenschaftlichen Erkenntnis. Hier wird nicht von
einem zum anderen und wieder zum nächsten fortgegangen, um daraus das
Allgemeine zu abstrahieren, sondern das einzelne Erlebnis ist immer schon
eine Ganzheit von Bedeutung, ein Zusammenhang. Und wiederum ist das
einzelne Erlebnis zwar ein Teil des Ganzen des Lebensverlaufs. Dennoch
aber ist seine Bedeutung auf dieses Ganze in einer eigenartigen Weise bezogen.
Offenbar ist es nicht so, daß jeweils das Letzte, was jemand erlebt, die Bedeu¬
tung des Lebenszusammenhanges erst vollendet und bestimmt. Der Sinn eines
Lebensschicksals ist vielmehr eine eigene Ganzheit, die nicht vom Ende, son-
Das Problem der Geschichte in der neueren deutschen Philosophie 5

dern von einer sinnbildenden Mitte aus gestaltet ist. Nicht um das letzte,
sondern um das entscheidende Erlebnis bildet sich die Bedeutung des Zusam¬
menhanges. Ein Augenblick kann für ein ganzes Leben entscheidend werden.
In Anlehnung an romantische Theorien verdeutlicht Dilthey dieses Ver¬
hältnis gern am Verstehen von Musik. Eine Melodie ist zwar eine Abfolge von
einzelnen Tönen, und dennoch baut sich die Gestalt der Melodie nicht in der
Weise auf, daß sie mit dem Erklingen des letzten Tones erst da wäre. Viel¬
mehr gibt es auch hier bedeutungsvolle Motive, von deren Mitte her sich der
Aufbau des Ganzen vollzieht und zur Einheit zusammenschließt. Auch das
Verstehen der Geschichte ist solches Verstehen aus einer Mitte. Es mag sein,
daß sich der volle Sinn der Geschichte erst in der Universalgeschichte erfüllt.
So hat Ernst Troeltsch Diltheys Anliegen einmal formuliert ,von der Relati¬
vität zur Totalität“. Aber entscheidend ist auch hier: Totalität ist nicht das
vollendete Ganze der bis zur Gegenwart abgelaufenen Geschichte, sondern
baut sich von einer Mitte, von einer zentrierenden Bedeutung her auf.
Dieser Bedeutungszusammenhang, der sich so bildet, ist in Wahrheit aber
zugleich ein Wirkungszusammenhang, das heißt er ist nicht im Verstehen erst
gestaltet, sondern zugleich als Zusammenhang von Kräften wirksam. Ge¬
schichte ist immer beides zugleich, Bedeutung und Kraft. Dilthey zeigt etwa,
daß eine Epoche einen einheitlichen Bedeutungszusammenhang darstellt.
Er nennt diesen Zusammenhang die Struktur der Zeit. Nun ist es gewiß
sinnvoll zu sagen, man müsse alle Erscheinungen dieser Zeit aus ihrer
Struktur verstehen. Es kann das Verständnis nicht befriedigen, hier bloße
Einflüsse oder Einwirkungen fremder Zeiten oder Umstände zu erkennen.
Nur der erfährt einen Einfluß, der für ihn schon bereit und empfänglich
ist. Diese seine Empfänglichkeit eben ist die Struktur. Umgekehrt aber ist
es offenbar eine falsche Einseitigkeit, wenn man die Frage nach solchen histo¬
rischen Wirkungslinien gänzlich abschneiden will. Am Ende hängt das Er¬
fahren von Einflüssen auch davon ab, daß das nahe und wirksam ist, was
diesen Einfluß ausübt. Geschichte ist nicht nur Bedeutungszusammenhang,
sondern ein Realzusammenhang von Kräften. Machen wir es uns wiederum
am Beispiel des menschlichen Lebensschicksals klar. Gewiß vollzieht sich ein
menschliches Lebensschicksal nach dem Gesetz, nach dem es angetreten ist.
Gewiß aber gestalten die Umstände dieses Schicksal mit; Daimon und Kairos,
Vorbestimmung und Gelegenheit treten zusammen. Geschichte ist immer Sinn
und Wirklichkeit zugleich, Bedeutung und Kraft.
Dilthey arbeitet nicht zufällig mit dem Vergleich des ästhetischen Ver¬
stehens. Denn eine Voraussetzung trägt seine gesamte Lehre vom geschicht¬
lichen Sein und seinem Gewirktsein aus Kraft und Bedeutung: daß der
Abstand des Verstehens gegeben und die Souveränität der geschichtlichen
Vernunft möglich ist. So wie das ästhetische Verstehen sich in verstehendem
Abstand vollzieht, ist auch das Verstehen der Geschichte auf solchen Ab¬
stand gegründet. Eben das begreift nun Dilthey als die Bewegung des Lebens
6 Das Problem der Geschichte in der neueren deutschen Philosophie

selber, daß die Besinnung aus ihm selbst aufsteigt. Negativ bedeutet das:
das Leben muß frei werden vom Erkennen durch Begriffe, um seine eigenen
Objektivationen zu bdden. Gibt es aber solche Freiheit des Verstehens? Seine
entscheidende Begründung hat dieser Glaube an das Freiwerden durch histo¬
rische Aufklärung in einem Strukturmoment des historischen Selbstbewußt¬
seins: daß das Selbstbewußtsein in einem unendlichen und unumkehrbaren
Prozeß begriffen ist. Schon Kant und der Idealismus waren davon aus¬
gegangen: jedes erreichte Wissen von sich selbst vermag wieder Gegenstand
eines neuen Wissens zu werden. Wenn ich weiß, so kann ich stets auch wissen,
daß ich weiß. Diese Bewegung der Reflexion ist unendlich. Für das historische
Selbstbewußtsein bedeutet diese Struktur, daß der Geist, der sein Selbst¬
bewußtsein sucht, eben damit sein eigenes Sein ständig verwandelt. Indem
er sich begreift, ist er immer schon ein anderer geworden als der, der er war.
Machen wir es an einem Beispiel klar: wird sich jemand des Zornes bewußt,
der ihn erfüllt, so ist dieses erreichte Selbstbewußtsein immer schon eine Ver¬
wandlung, wenn nicht gar eine Verwindung des eigenen Zornes. Hegel hat in
seiner ,Phänomenologie des Geistes' diese Bewegung des Selbstbewußtseins
zu sich selbst beschrieben. Während aber Hegel im philosophischen Selbst¬
bewußtsein das absolute Ende dieser Bewegung sah, verwirft Dilthey diesen
metaphysischen Anspruch als dogmatisch. Damit öffnet sich ihm die Schran¬
kenlosigkeit der historischen Vernunft. Historisches Verstehen bedeutet stän¬
dige Zunahme an Selbstbewußtsein, ständige Erweiterung des Lebenshori¬
zontes. Da gibt es kein Halt und kein Zurück. Diltheys Universalität als
Historiker des Geistes beruht eben auf dieser unendlichen Erweiterung des
Lebens im Verstehen. Dilthey ist der Denker der historischen Aufklärung.
Das geschichtliche Bewußtsein ist das Ende der Metaphysik.
Hier liegt der Punkt, an dem die philosophische Forschung heute auf neue
Wege gewiesen ist.
Gibt es diese Freiheit des Verstehens, offenbart sich in ihr der unendliche
Zusammenhang des Geschehens als das Wesen der Geschichte? Fragen wir
nicht gerade dann nach dem Wesen der Geschichte, wenn wir nach den
Grenzen des geschichtlichen Selbstbewußtseins fragen? Auf dem Wege dieser
Frage ist Nietzsche vorausgegangen. In der zweiten ,Unzeitgemäßen Be¬
trachtung' fragt er nach dem Nutzen und Nachteil der Historie für das
Leben: Er entwirft dort ein erschreckendes Bild von der historischen Krank¬
heit, die seine Zeit befallen habe. Er zeigt, wie alle lebenfördernden Instinkte
durch sie zutiefst verderbt sind, wie alle verbindlichen Maßstäbe und Werte
dadurch verlorengehen, daß man lernt, mit beliebigen fremden Maßstäben
und an immer wieder anderen Werttafeln zu messen. Nietzsches Kritik ist
aber zugleich positiv. Denn er proklamiert den Maßstab des Lebens, der
bemißt, wieviel Geschichte eine Kultur ohne Schaden ertragen kann. Histo¬
risches Selbstbewußtsein könne sehr verschiedener Art sein, bewahrend oder
Vorbild gestaltend oder Niedergang fühlend. Im rechten Gleichgewicht dieser
Das Problem der Geschichte in der neueren deutschen Philosophie 7

verschiedenen Arten, Historie zu treiben, müsse sich die plastische Kraft


erhalten, durch die eine Kultur allein lebensfähig ist. Sie bedarf eines mit
Mythen umstellten Horizontes, sie bedarf also gerade einer Grenzsetzung
gegenüber der historischen Aufklärung. Aber gibt es ein Zurüdt? Oder ist
vielleicht gar kein Zurück nötig? Ist der Glaube an die Unendlichkeit des
Verstehens der historischen Vernunft vielleicht ein Wahn, eine falsche Selbst¬
interpretation unseres geschichtlichen Seins und Bewußtseins? Das ist die ent¬
scheidende Frage.
Es gibt viele Probleme, an denen uns der Glaube an die Schrankenlosig¬
keit der historischen Vernunft fragwürdig werden kann. Ich erinnere an die
Frage nach den Naturkonstanten des geschichtlichen Geistes, seinen biolo¬
gischen Voraussetzungen. Ich erinnere an die Frage nach dem Anfang der
Geschichte. Ist wirklich Geschichte erst dort, wo die Menschheit ein Bewußt¬
sein von sich selbst zu überliefern beginnt? Sind nicht geschichtemachende
Entscheidungen dem schon weit vorausgegangenen? Gibt es etwa eine Tat
von größerer Bedeutung, als die Erfindung des Pfluges es war, die aller
geschichtlichen Zeit vorausliegt? Und was ist der Mythos, in dem sich ge¬
schichtliche Völker noch vor der Schwelle ihres geschichtlichen Schicksals spie¬
geln? Aber selbst Diltheys Problem vom geschichtlichen Verstehen erscheint
uns heute in einem neuen Licht, seitdem die philosophische Forschung einige
entscheidende Schritte über ihn hinaus getan hat. Martin Heidegger hat in
,Sein und Zeit' die Geschichtlichkeit des menschlichen Daseins in grund¬
sätzliche Fragezusammenhänge gerückt. Er hat das Problem der Geschichte
von den ontologischen Voraussetzungen freigemacht, unter denen noch Dil-
they die Frage sah. Sein bedeutet, wie er gezeigt hat, nicht notwendig und
immer Gegenständlichkeit, vielmehr kommt es gerade darauf an, „die gene¬
rische Differenz zwischen Ontischem und Historischem herauszuarbeiten“. Das
Sein des menschlichen Daseins ist ein geschichtliches. Das bedeutet aber, daß
es nicht vorhanden ist wie das Dasein der Gegenstände der Naturwissen¬
schaft, nur hinfälliger und wandelbarer als sie. Vielmehr bedeutet Geschicht¬
lichkeit, d. h. Zeitlichkeit, in ursprünglicherem Sinne Sein, als das Vorhandene
ist, das die Naturwissenschaft zu erkennen strebt. Historische Vernunft gibt
es nur, weil das menschliche Dasein zeitliches und geschichtliches ist. Welt¬
geschichte gibt es nur, weil dieses zeitliche Dasein des Menschen ,Welt hat‘.
Chronologie gibt es nur, weil das geschichtliche Dasein des Menschen selber
Zeit ist.
Von dieser Einsicht aus gewinnt Diltheys Lehre einen neuen Aspekt. Zu¬
nächst kann gefragt werden, wie es mit dieser Freiheit des Verstehens eigent¬
lich steht. Ist sie nicht ein bloßer Schein? Dilthey glaubt an ein Freiwerden
des Verstehens vom Erkennen durch Begriffe, aber meinte er damit nicht
bloß die Begriffe einer unglaubhaft gewordenen Metaphysik? Bleibt nicht
all unser Verstehen geleitet durch Begriffe? Historisches Verstehen rühmt
sich seiner Vorurteilslosigkeit. Aber ist solche Vorurteilslosigkeit nicht immer
8 Das Problem der Geschichte in der neueren deutschen Philosophie

nur eine bedingte? Hat dieser Anspruch nicht immer nur den polemischen
Sinn, von diesem oder jenem Vorurteil frei zu sein? Ja, verdeckt nicht
der Anspruch auf Vorurteilslosigkeit (wie es uns auch die menschliche
Lebenserfahrung lehrt) in Wahrheit immer die zähe Hartnäckigkeit von Vor¬
urteilen, die uns undurchschaut bestimmen? Wir kennen es aus der Arbeits¬
weise der Historiker zur Genüge. Sie beanspruchen, kritisch zu sein, d. h. die
Quellen und Zeugnisse über eine historische Frage mit der überlegenen Ge¬
rechtigkeit eines Richters zu verhören, um hinter die Sache zu kommen. Aber
liegt nicht solcher vermeintlichen Kritik immer schon die stille Wirksamkeit
leitender Vorurteile zugrunde? Am Ende aller Quellen- und Zeugenkritik
steht immer ein letzter Maßstab der Glaubwürdigkeit, der von nichts anderem
abhängt als davon, was man für möglich hält und zu glauben bereit ist.
Ja, am Ende ist noch mehr zu sagen. Wie das wirkliche Leben, so spricht uns
auch die Geschichte nur dann an, wenn sie in unser vorgängiges Urteil über
Dinge und Menschen und Zeiten hineinspricht. Alles Verstehen von Bedeut¬
samem setzt voraus, daß wir einen Zusammenhang solcher Vorurteile mit¬
bringen. Heidegger hat diesen Tatbestand als den hermeneutischen Zirkel
bezeichnet: wir verstehen nur das, was wir schon wissen, hören nur das
heraus, was wir hineinlesen. Am Maßstab der Naturerkenntnis gemessen
scheint dies unerträglich. In Wahrheit wird nur dadurch historisches Ver¬
stehen möglich. Nicht darauf komme es an, einen solchen Zirkel zu vermei¬
den, sondern in der rechten Weise in ihn hineinzukommen.
Daraus folgt ein zweites: Bedeutung erschließt sich nicht, wie Dilthey
meint, im Abstand des Verstehens, sondern dadurch, daß wir selber in dem
Wirkungszusammenhang der Geschichte stehen. Geschichtliches Verstehen ist
selber immer Erfahrung von Wirkung und Weiterwirken. Seine Befangenheit
bedeutet geradezu seine geschichtliche Wirkungskraft. Das geschichtlich Be¬
deutende ist daher ursprünglicher als im Verstehen im handelnden Vollzug
selber zugänglich. Geschichtliches Dasein hat stets eine Situation, eine Per¬
spektive und einen Horizont. Es ist wie in der Malerei: Perspektive, d. h. die
Ordnung der Dinge nach ,näher' und ,ferner' schließt einen Augenpunkt ein,
den man einnehmen muß. So aber tritt man in ein Seinsverhältnis zu den
Dingen und gehört ihrer Ordnung an, indem man sie sich zuordnet. Dann
erst wird die Einmaligkeit eines Geschehens, die Erfülltheit des Augenblicks
darstellbar. Vor-perspektivische Malerei dagegen zeigt alle Dinge in aus¬
gebreiteter Ewigkeit und im Durchblick auf eine jenseitige Bedeutung. Ge¬
schichtliche Wahrheit ist entsprechend nicht das Durchscheinen einer Idee,
sondern das Verbindliche einer unwiederholbaren Entscheidung.
Nun aber kommt ein drittes hinzu, eine Einsicht, die sich mir selbst immer
mehr aufgedrängt hat: Die grenzenlose Freiheit des Verstehens ist nicht nur
eine Illusion, die durch philosophische Besinnung aufgedeckt wird; wir erfahren
diese Grenze der Freiheit des Verstehens vielmehr selber, indem wir zu
verstehen suchen. Dadurch daß sich die Freiheit des Verstehens begrenzen muß,
Das Problem der Geschichte in der neueren deutschen Philosophie 9

gelangt das Verstehen erst eigentlich zum Wirklichen, dort nämlich, wo es auf
sich Verzicht tut, d. h. vor dem Unverständlichen. Ich meine damit nicht
irgendeine fromme Bescheidung vor dem Unerforschlichen, sondern ein Ele¬
ment unserer sittlichen Lebenserfahrung, das wir alle kennen: das Ver¬
stehen im Verhältnis von Ich und Du. Da lehrt die Erfahrung: nichts steht
einer echten Verständigung von Ich und Du mehr im Wege, als wenn
jemand den Anspruch erhebt, den anderen in seinem Sein und seiner Mei¬
nung zu verstehen. ,Verstehend“ aller Gegenrede des anderen voraus zu sein,
dient in Wahrheit zu nichts anderem, als sich den Anspruch des anderen
vom Leibe zu halten. Es ist eine Weise, sich nichts sagen zu lassen. Wo aber
einer imstande ist, sich etwas sagen zu lassen, wo er den Anspruch des anderen
gelten läßt, ohne ihn im vorhinein zu verstehen und damit zu begrenzen,
gewinnt er an echter Selbsterkenntnis. Dann gerade geht ihm etwas auf. Nicht
im souveränen Verstehen also liegt eine echte Erweiterung unseres in die
Enge des Erlebens gebannten Ichs, wie Dilthey meint, sondern im Begegnen
des Unverständlichen. Vielleicht erkennen wir nie so viel von unserem eignen
geschichtlichen Sein, als wenn uns der Hauch ganz fremder Geschichtswelten
anweht. Der Grundcharakter des Geschichtlichseienden ist offenbar, bedeu¬
tend zu sein, aber dies in dem aktiven Sinne des Wortes; und das Sein zur
Geschichte ist, sida etwas bedeuten zu lassen. Zwischen Ich und Du erwächst
daraus allein echte Bindung, zwischen uns und der Geschichte bildet sich so
allein das Verbindliche des geschichtlichen Schicksals.
Von dieser Einsicht her rückt ein Problem in die Mitte der geschichtlichen
Hermeneutik, das bisher eine fragwürdige Grenzstellung hatte: das Problem
des Mythos. Es ist ja das dunkelste aller Probleme der geschichtlichen Metho¬
dik. Wie deutet man Mythen, wenn man wissenschaftlich deuten will? Was
ist das selbstverständliche und fruchtbare Vorurteil, das man dabei wahr¬
haben muß? Der Sinn der Mythen, der Sinn der Märchen ist der tiefste.
Woran mißt sich ihre Deutung? Wird es hier nicht wahrhaft fühlbar, daß es
keine Methode zum Deuten von Mythen und Märchen gibt? Und heißt das
nicht am Ende und in Wahrheit dies, daß wir es garnidit sind, die die Mythen
zu deuten vermögen, weil vielmehr die Mythen uns deuten? In der Tat, sie
sind, wo immer sie spredien, das eigentlich Überlegene, das was alles weiß,
das in aller Dunkelheit schlicht und belehrend zu uns spricht. Mythen und
Märchen scheinen wie vom Anfang aller Dinge her mit Wissen erfüllt, und
dennoch sind sie von einer eigenen geschichtlichen Tiefe. Der in ihr Geheimnis
eingeweihte Geist ist nicht der unserer historischen Vernunft. Deshalb stehen
wir als historische Menschen so hilflos vor dem, was die Kinder ihr eigen
nennen. Dennoch untersteht auch unsere aufgeklärte Vernunft noch der Kraft
des Mythos. Die geistige Geschichte der Menschheit ist nicht ein Vorgang
der Entgötterung der Welt, ist nicht eine Auflösung des Mythos durch den
Logos, durch die Vernunft. Dieses Schema beruht auf dem Vorurteil der
historischen Aufklärung, auf der naiven Voraussetzung nämlich, daß die
10 Das Problem der Geschichte in der neueren deutschen Philosophie

Vernunft des Vernünftigen der zureichende Grund dafür ist, daß es siegt
und herrscht. In Wahrheit ermöglicht sich die Vernunft nicht selber. Sie ist
selbst nur eine geschichtliche Möglichkeit - und Chance. Sie versteht sich selbst
nicht und ebensowenig die mythische Wirklichkeit, von der sie vielmehr um¬
faßt und getragen bleibt.
Die Allmacht historischer Aufklärung ist bloßer Schein. Gerade in dem,
was dieser Aufklärung widersteht, was eine eigene Dauer steter Gegenwart
beweist, liegt das eigentliche Wesen der Geschichte. Mythen sind nicht Masken
geschichtlicher Wirklichkeit, die die Vernunft den Dingen abziehen könnte,
um sich als historische Vernunft zu vollenden. Sie offenbaren vielmehr die
eigentliche Kraft der Geschichte. Der Horizont unseres eigenen Geschichts¬
bewußtseins ist nicht die mythenleere, unendliche Wüste des aufgeklärten
Bewußtseins. Diese Aufgeklärtheit ist vielmehr geschichtlich bedingt und be¬
grenzt, eine Phase im Vollzug unseres Schicksals. Sie mißversteht sich selbst,
wenn sie sich als die schicksallose Freiheit des historischen Bewußtseins denkt.
Das aber heißt: Geschichte ist, was wir je waren und sind. Sie ist das Ver¬
bindliche unseres Schicksals.
ÜBER DIE URSPRÜNGLICHKEIT DER PHILOSOPHIE

I. DIE BEDEUTUNG DER PHILOSOPHIE FÜR DIE NEUE ERZIEHUNG

Was die Philosophie für die Erziehung des Lehrers bedeutet, kann nur durch
die Sache einleuchtend werden, welche die des Philosophen ist. So muß diese
Sache selbst zur Sprache kommen, die für alles Philosophieren und für jeden
möglichen philosophischen Standpunkt die gemeinsame ist. Der Philosoph
muß seinem Auftrag nach versuchen, den gemeinsamen Boden zu finden, auf
dem wir alle, die einer Zeit Kinder sind, stehen. Er hat nicht die Aufgabe, zu
einer Weltanschauung zu überreden, die als eine schon fertige, fordernde
Gestalt des Geistes vor den Zuhörenden hingestellt würde. Die ewige Gestalt
des Philosophen ist die des Sokrates, d. h. die Gestalt eines Mannes, der als
Nichtwissender heraufholt, was unser aller Wahrheit ist. Damit ist schon
gesagt, daß ich nicht etwa meine, der Philosoph habe etwas zu sagen, der
nicht seinen Standort in der Wirklichkeit des Daseins nähme, wohl aber ist er

Zwei Vorträge, die in die leider schnell zu Ende gegangene Phase einer gesamt¬
deutschen Besinnung nach dem Ende des Dritten Reiches gehören. Der Verfasser
war damals Rektor der Universität Leipzig und versuchte gegenüber den Ten¬
denzen der dortigen Staatsführung den autonomen Erkenntnisanspruch der Philo¬
sophie zu verteidigen. Das will auch der Titel sagen, der sich äußerlich an die 1947
erschienene Leipziger Rektoratsrede ,Ober die Ursprünglichkeit der Wissenschaft'
anlehnt. Die Veröffentlichung der Vorträge erfolgte 1948 im Chronos-Verlag und
enthält folgende Vorbemerkung:
„Die beiden hier vereinigten Vorträge sind nicht in Muße am Schreibtisch entstan¬
den, sondern dem von andersartiger Arbeit voll in Anspruch genommenen Verfasser
aus besonderen Anlässen abverlangt worden. Wenn sie so improvisiert, wie sie ge¬
halten wurden, aufgrund von Nachschriften nunmehr der Öffentlichkeit vorgelegt
werden, so geschieht es auf ein vielfaches Verlangen, das die Anteilnahme bekundet,
die die Sache der Philosophie bei der Öffentlichkeit findet.
Der erste der beiden Vorträge wurde zuerst vor der Leipziger Lehrerschaft
am 22. September 1945 gehalten und auf der Berliner Fachtagung für Philosophie
und Pädagogik im Juni 1946 wiederholt, der andere Vortrag am 22. April 1947
in Berlin vor der Sektion Wissenschaft des Kulturbundes zur demokratischen Er¬
neuerung Deutschlands'. Die beigefügten Zusätze nehmen auf Gesichtspunkte Bezug,
die in der an den Berliner Vortrag angeschlossenen Aussprache hervortraten.“
12 Über die Ursprünglichkeit der Philosophie

sich als der Philosophierende bewußt, daß wir diesen unseren Standort
und diese unsere Wirklichkeit niemals genug kennen, daß wir noch nicht
wissen, wo wir stehen, und eben deshalb, weil wir noch unwissend sind, wer
wir sind und wo wir stehen, darf er glauben, etwas unser aller Zukunft An¬
gehendes zu sagen. In diesem Sinne spreche ich von dem philosophischen Welt¬
bild, weil es die Aufgabe der Philosophie immer ist, heraufzuholen aus uns,
was unser aller Wahrheit und was unser aller Zukunft ist. Der Philosoph
hat mit allen, die künftig als Erzieher vor unser Volk treten sollen, eine
gemeinsame Basis, und das ist die, daß wir nur erziehen können, wenn wir
mit uns selber verständigt sind. Dieser Aufgabe dient seit den Tagen des So¬
krates die Philosophie. Ihr Amt ist von jeher, zu einer solchen Verständigung
mit uns selbst beizutragen.
Solche Verständigung mit uns selbst ist heute aber schwerer denn je und
notwendiger denn je; denn was hinter uns liegt, zum mindesten als die amt¬
liche Auflage, die über uns gelegt war, war das Wahnbild der völkischen
Weltanschauung. Ich nenne dies ein Wahnbild und deute damit schon an,
daß auf dieser Grundlage eine echte Verständigung unserer mit uns selbst
nicht möglich war, und daß wir unter der Wucht des Zwiespaltes zwischen
dem, was wir wirklich waren und dem, was wir darstellen sollten, gelitten
haben. Ich brauche das nicht näher auszuführen, wenn ich nur an die konkrete
wissenschaftliche oder besser pseudowissenschaftliche Gestalt erinnere, in der
sich diese Weltanschauung begründete. Die Grundlegung der völkischen Welt¬
anschauung im Rassegedanken war ein solcher Wahn. Wir haben erlebt, wie
dieser pseudowissenschaftliche Wahn und wie die Errichtung eines politischen
Lebenssystems auf solcher Grundlage haltloser, ungeprüfter und unprüfbarer
Art zu der tiefen, moralisch-politischen Zersetzung beigetragen hat, in der
sich unser Volk heute befindet. Wir haben die Entartung dieser völkischen
Weltanschauung in Selbstvergötterung und in Machtwahnsinn erlitten. Ich
bin nun der Meinung, daß eine Selbstverständigung, wie sie uns not tut, nur
gelingen kann, wenn wir die Gewalt dieses Wahnes als die Entstellung einer
Wahrheit begreifen lernen, wenn wir also nicht vor einem schlechterdings
Unverständlichen stehen bleiben, das einmal über uns war und jetzt hinter
uns liegt, sondern wenn wir auch dies noch zu begreifen suchen, was da
entartet ist und was sich da so fürchterlich verkehrt hatte. Es ist eine alte
Bestimmung der abendländisch-christlichen Metaphysik, daß das Böse die
Verkehrung des Guten ist, und ich glaube, daß eine echte Selbstverständigung
zwischen uns nur möglich ist, wenn wir auch diese Verkehrung als Ver¬
kehrung durchschauen. Nur dann werden wir dort anknüpfen können, wo
wir wirklich stehen und uns vor einer bloßen Restauration bewahren. Die
völkische Weltanschauung muß zum Zwecke dieser Selbstverständigung aus
dem, was ihr zugrunde lag, als die Verkehrung einer Wahrheit von uns
begriffen werden, d. h. aber zuerst: wir müssen ihre Herkunft bestimmen
lernen.
Die Bedeutung der Philosophie für die neue Erziehung 13

Ihre Herkunft liegt aber, wenn wir ihr in der Dimension der wahrhaft
weltgestaltenden Gedanken nachdenken, darin, daß sich die neuzeitliche
Metaphysik der Subjektivität zum entschlossenen und selbstzufriedenen Rela¬
tivismus der Weltanschauungen zuspitzte. Ich darf hier einfügen, daß der
moderne Begriff der Weltanschauung von Hause aus ein Plural ist. Es gibt
nicht eine einzige Weltanschauung, sondern im Begriff der Weltanschauung,
wie er erst in der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts entstanden ist, liegt
von vornherein der Kampf der Weltanschauungen miteinander, d. h. aber die
relative Berechtigung bzw. der Relativismus der Weltanschauungen. Ich glaube
nun nicht, daß es einen Standort über diesen Weltanschauungen geben kann,
etwa in dem Sinne, daß man die möglichen Weltanschauungen denkend vor
sich stellt und zwischen ihnen dann aus den Tiefen des Geheimnisses der Indi¬
vidualität eine Wahl treffe. So etwa hat sich seinerzeit Max Weber das Ver¬
hältnis der wissenschaftlichen Behandlung der Probleme der Weltanschauung
und der konkreten Wahl der Weltanschauung vorgestellt, indem er, zeit¬
genössischem Denken folgend, zwischen Tatsache und Wertung unterschied.
Eine voraussetzungslose Lehre von den Weltanschauungen aber kann es nicht
geben; das ist eine der großen Leistungen der deutschen Philosophie der
letzten Jahrzehnte, die Fragwürdigkeit des Begriffs der Tatsache aufgewiesen
und damit auch das Ideal einer voraussetzungslosen wissenschaftlichen Welt¬
anschauungslehre zerstört zu haben. Sie hat die asketische Selbstbeschränkung
der Wissenschaft auf wertfreie Objektivität1 und ihre Unabhängigkeit von
der Philosophie als eine Selbsttäuschung erwiesen.
Versuchen wir konkret die Herkunft dieser Erscheinung zu begreifen, die
wir als Weltanschauung bezeichnen. Das Wort selber deutet uns schon an, daß
es sich nicht um eine Form des urteilenden, wissenden Weltbegreifens handelt,
sondern um etwas, das allem Urteilen und Wissen vorausliegt, das schon
unser Sehen der Dinge mitbestimmt, sofern es das umgreifende Ganze des
Seins meint. Daß es eine Vielheit solcher Weltanschauungen gibt, ist zunächst
mit der Erfahrung des historischen Bewußtseins in uns eingedrungen. Es
gibt Wandel nicht nur in der Weise, die Welt zu denken, sondern auch, sie zu
sehen und ursprunghaft zu erfahren. Bezeichnend, daß das Wort in seinem uns
gewohnten pluralischen Sinn zuerst bei Hegel in der Anwendung auf den
geschichtlichen Wandel der Kunst begegnet. In der Tat ist es die Zeit des
Zusammenbruchs der Philosophie Hegels, in der unser Begriff der Welt¬
anschauung als dieser Plural im Singular frei wird, sich die Geister erobert
und sich in die militante Form des Kampfes der Weltanschauungen überträgt.
Die Aufgabe unserer Besinnung ist also, diese Herkunftsgeschichte des Be¬
griffs und der Sache der Weltanschauung näher zu durchdringen. Das aber
heißt, wir begreifen dieses Phänomen der Weltanschauungen als das End¬
resultat einer großen weltgeschichtlichen Bewegung. Es ist die Bewegung des
Idealismus, wie sie von den Tagen der Griechen an in der schicksalsvollen
Gedankengeschichte des Abendlandes bis zu den Tagen Hegels die Einheit
14 Über die Ursprünglichkeit der Philosophie

einer großen Weltdeutung geformt hat. Was ist das Wesen und die Voraus¬
setzung dieses Idealismus? Denken wir an den platonischen Ursprung des
Wortes. Die Idee ist für Plato das wahrhaft Wirkliche gegenüber dem Wech¬
sel und der Veränderlichkeit des der sinnlichen Erfahrung Zugänglichen, das
wir Wirkliches nennen. Die Idee also ist nicht nur das Wahre, sondern auch
das eigentlich Seiende und Wirkliche, und der Geist, welcher die Idee schaut,
ist der wirkliche Geist. Mit anderen Worten: Der Idealismus ist gegründet auf
die Voraussetzung, daß die Idee die selbstmächtige Form der Wirklichkeit
ist, daß die Idee als die eigentlich wahrhaft seiende Wirklichkeit sich selbst
ermächtigt zu sein, und daß der Geist die Form dieser Selbstverwirklichung
ist. Hegel ist die letzte große Gestalt in dem einheitlichen Zusammenhang
dieses idealistischen Geistglaubens. Er ist aber zugleich auch die letzte ein¬
heitliche Gestalt des gemeinsamen Geistes des Abendlandes. Es ist kein Zufall,
sondern eine innere Notwendigkeit, daß mit dem Zusammenbruch des Systems
der Hegelschen Philosophie der Kampf der Weltanschauungen beginnt und
daß seit dem Zusammenbruch des Hegelschen Systems die Lebensmächtigkeit
dieser Weltanschauungen das Weiterleben der akademischen Form der idea¬
listischen Philosophie überschattet. Diese innere Notwendigkeit gilt es zu be¬
greifen, wenn wir unsere Lage verstehen wollen. Sie tritt heraus an der
Kritik, der die Hegelsche Philosophie erlegen ist. Der wirksame Geist dieser
Kritik war das Selbstbewußtsein der Erfahrungswissenschaften, sowohl der
Natur als der der geschichtlichen Welt, die sich gegen die Schematik der
Hegelschen Dialektik von Natur und Geschichte durchsetzten. Insbesondere
aber war es ein Problem, an dem die gedankenbildende Arbeit des Lebens den
Zusammenbruch der Hegelschen Philosophie vollzogen hat: das Problem der
konkreten Existenz.
Was ist das begreifende Verhalten zur wahren Wirklichkeit, das Sehen der
Idee, angesichts der konkreten Bedingtheit und Einzelheit unserer Existenz?
Philosophisch ist diese Frage vor allem vom späten Schelling gestellt worden.
Er hat gesehen, daß der Bereich alles unseres geistigen Durchdringens der
Wirklichkeit immer nur das Mögliche ist; daß wir nur Möglichkeiten, Ideen,
Soseinsgestalten der Wirklichkeit, denken können, dagegen das Faktum, die
Kontingenz, das Dasein von so oder so gestalteten Formen niemals von der
Vernunft als solcher erstellt werden kann. Der Idealismus sei insofern immer
nur negative und nicht positive Philosophie. Aus der geistigen Luft dieser
Kritik an der Hegelschen Vernunftgläubigkeit stammen die beiden großen in
der Folge epochemachenden Versuche, das Problem der konkreten Existenz
gegen den Vernunftglauben wahrzunehmen. Einmal die Kritik, die Kierke¬
gaard an der Hegelschen Dialektik geübt hat, indem er die Frage nach dem
existierenden Denker stellte, welchem der Vollzug des vernünftigen Welt¬
geistes aufgetragen sei. Was ist dieser existierende Denker, wo bleibt er im
Hegelschen System der sich selbst realisierenden Vernunft? Die Voraus¬
setzung Kierkegaards ist dabei eine alte christliche. Der einzelne vor Gott ist
Die Bedeutung der Philosophie für die neue Erziehung 15

für ihn das Modell, nach dem er die Hegelsche Philosophie ihrer wirklidien
Ohnmacht überführt.
Die andere, ungleich geschiditsmächtigere Kritik, die vom Begriff der kon¬
kreten Existenz aus gegen die Herrschaft des spekulativen Denkens geführt
worden ist, stammt aus der jung-hegelschen Schule.
Sie ist weltgeschichtlich wirksam geworden durch die Kritik von Karl
Marx. Wir kennen alle die berühmte Formulierung, die Karl Marx gegeben
hat, mit der er ein Wort Hegels aufgriff und verwandelte: Hegel hat
einmal gesagt, die Philosophie sei der Versuch, auf dem Kopf zu stehen
und so die Welt zu denken, und Marx hat demgegenüber in Anspruch
genommen, die Philosophie wieder auf die Beine zu stellen, d. h. auf die
wirklichen, geschichtlich-konkreten Grundlagen unseres Daseins. Die Ideen,
die nicht auf solchen konkret-geschichtlichen Grundlagen unseres Daseins
stehen, pflegen sich, wie Marx es formuliert hat, in der Weltgeschichte
regelmäßig zu blamieren. Die Endgestalt des weltgeschichtlichen Zusammen¬
hangs des Idealismus also ist es, gegen die zunächst in polemischer Weise von
Marx, aber auch von bürgerlichen1 Denkern, wie z. B. Dilthey, die Gegen¬
position der konkretgeschichtlichen Existenz bezogen worden ist. In ein
paar Strichen sei die Geschichte des 19. Jahrhunderts von diesem seinem
charakteristischen Beginn aus bis zu unseren Tagen gezeichnet.
Das 19. Jahrhundert ist vom Idealismus gleichsam wieder überformt wor¬
den. Die akademische Philosophie des 19. Jahrhunderts, von der Mitte des
Jahrhunderts an zurückgehend, hat sich gegenüber dem herrschenden massi¬
ven Materialismus zurückbesonnen auf ihre idealistischen Lehrmeister, ins¬
besondere auf Kant. Dieser Idealismus hat die Gestalt der bürgerlichen
Bildung angenommen. Man muß sagen, daß er damit bereits eine verwan¬
delte Gestalt darstellt gegenüber der großen Selbstverständlichkeit, mit der
der Idealismus von Plato bis Hegel die konkrete Wirklichkeit unserer Exi¬
stenz bestimmt hat. Es ist die Verblassung der Wirklichkeit der Idee, die
sich hier vollzogen hat, die Verblassung zum moralischen Idealismus, zu dem
also, was wir im allgemeinen Sprachgebrauch .Idealismus' nennen, jene Über¬
zeugung, daß man das Wirkliche zu überfliegen hat, um in dem Reich
der Ideale die fernen Ziele aller Arbeit an der Wirklichkeit zu gewahren.
Der Neu-Kantianismus, die Rückbesinnung auf Kant, ist der philosophische
Ausdruck dieser liberalen Form des Kulturbewußtseins des 19. Jahrhunderts
gewesen und hat wesentlich die Gestalt der christlich-bürgerlichen Morali¬
tät besessen.
Was sich bis in unser Zeitalter hinein vollzogen hat, ist nun die schmerz¬
hafte Geschichte, in der sich die Ohnmacht dieses Bildungsidealismus erwies.
Hier brauche ich nur an unsere eigensten Erfahrungen anzuknüpfen, an die
Zersetzung des bürgerlichen Idealismus und der konkreten Lebensformen
bürgerlicher Tradition und Sitte, deren geistiger Ausdruck etwa im extremen
Psychologismus vorliegt, in der Herrschaft des psychologischen Verstehens
16 Über die Ursprünglichkeit der Philosophie

über alle normativen Gesichtspunkte. Es ist ja stets verführerisch, auch das


Abwegige, auch das Unverständliche zu verstehen. „Alles verstehen heißt
alles verzeihen“, so hat man gesagt, und in der Tat hat die Bewegung dieses
Verstehens zu einer Schwächung des Wertens, einer Aushöhlung der Wert¬
tafel des bürgerlichen Moralismus geführt. Diese Aushöhlung des Idealismus
hat dann ihre extreme Zuspitzung in dem gefunden, was Nietzsche den Nihilis¬
mus genannt hat und was wir als Wirklichkeit einer jüngsten Vergangenheit
erlebt haben. Diese Aushöhlung des Idealismus ist der Boden der Verkehrung
des Wahren geworden, die wir in der nationalsozialistischen Epoche an uns
erfuhren. Gegenüber der überfeinerten Schwäche unseres Wertbewußtseins
gewann der Aufruf zur Härte des Willens eine dämonische Suggestionskraft
für viele. Das einzige Ideal, dem alles zu dienen hatte, war der Wille zur
Macht, d. h. aber in der Form, in der Nietzsche gewirkt hat, das Wollen des
Wollens selbst, ohne ein Wissen um das, was gewollt ist, ohne eine Ver¬
antwortlichkeit im Wissen dessen, was man will. Das Schlagwort der ver¬
gangenen Epoche, das solches Wollen zum Ausdruck bringt, heißt Aktivismus.
Aktivistsein wurde zum Wert schlechthin - auch wenn die Leere dessen, wo¬
für sich das Handeln einsetzcn soll, gefühlt wurde - ja, gerade die Un¬
sicherheit des intellektuellen Gewissens trieb eine eigene Form des Fanatis¬
mus hervor, einen Fanatismus, der sich vor seiner eigenen Leere ängstigt
und in sich selbst hineinflüchtet. Man weiß, welche biologischen Wahnideen
sich zur Stützung oder pseudowissenschaftlichen Unterlegung dieses leer¬
gewordenen Aktivismus breit machten. In der Sphäre des philosophischen
Denkens setzte sich Nietzsches widerhallender Angriff auf die moralischen
Werte des Bürgertums in eine Kritik des Idealismus um, die insbesondere nach
den Erschütterungen des ersten Weltkrieges die Philosophie in Deutschland
eroberte.
Es sind zwei Begriffe, von denen aus der Idealismus philosophisch kritisiert
wurde, der Begriff des Lebens und der Begriff der Existenz. Lebensphilosophie
und Existenzphilosophie - durch Namen wieDilthey und Jaspers repräsentiert-
sind die akademischen Formen der Wiederaufnahme der Kritik des Idealis¬
mus, deren große historische Geburtsstunde im Zusammenbruch des Hegel-
schen Systems oben charakterisiert wurde. Beide Begriffe setzen diese Kritik
fort, indem sie hinter die erkenntnistheoretische Grundlegung im Begriff
des Bewußtseins zurückgehen. Der Begriff des Lebens bedeutet in der Tat
eine Begrenzung des subjektiven Bewußtseins des Geistes durch ein Vor¬
bewußtes, das ihn selbst trägt, verwandelt, nutzt. Und der Begriff der Existenz,
so wie er in den letzten Jahrzehnten Gestalt gewonnen hat, meint das Gewor¬
fensein unseres sich verstehenwollenden Daseins in sein Schicksal, meint dieses
nadtte Ausgesetztsem, vor dem alle Sicherungen der Vernunft versagen, und
das seitdem die Grenze des idealistischen Denkens bezeichnet. Die souveräne
Macht des Geistes, die Kraft des Verstehens, ist begrenzt durch das Schicksal
der Existenz, ihren konkreten geschichtlichen Ort, die geschichtliche Bewe-
Die Bedeutung der Philosophie für die neue Erziehung 17

gung des einzelnen Lebens und die große gesellschaftlich-geschichtliche Bewe-


gung, die dieses einzelne Leben trägt. Die Folgen dieser Kritik am Idealismus
rühren aber an die Grundfesten unseres Daseins. Sie gipfelt in der Einsicht,
daß die Wahrheit selber geschichtlich ist und sich im Geschehen des geschicht¬
lichen Geistes, dieser sich zeitigenden Wirklichkeit des Bewußtseins, voll¬
zieht.
Damit stellt sich das Problem, dem eine echte Selbstverständigung zwischen
uns nicht ausweichen darf. Was bedeutet geschichtliche Bewegtheit der Wahr¬
heit? Wo bleibt da der Sinn und die alte verpflichtende Idee der einen Wahr¬
heit, und wo bleibt da die Norm und Wirklichkeit der Vernunft als des ein¬
sehenden Vollzugs dieser Wahrheit? Es kommt alles darauf an, sich die
Dringlichkeit dieses Problems wirklich bewußt zu machen. In seiner Verkeh¬
rung freilich ist es uns in den letzten Jahrzehnten bewußt geworden.
Man denke an die hemmungslose Verwendung nicht nur des Wortes und
der Rede, sondern auch an den Mißbrauch des Prestiges der Wissenschaft und
der Wahrheitsforschung. Man denke aber auch darüber hinaus an die Krisis
des Glaubens an die Vernunft, die angebrochen war, als eine Romantik
des verstandlosen Willens an die Stelle des durch die Wissenschaft und die
gedankliche Tradition der Jahrtausende geführten Menschenwillens trat. Das
sind die furchtbaren Verkehrungen eines Problems, das uns gestellt bleibt,
und dem wir als Problem auch nicht ausweichen dürfen, nachdem seine Ver¬
kehrung zuschanden wurde. Was ist die Wahrheit, wenn sie abhängig ist von
der zeitlich-geschichtlichen Bewegung unseres Daseins? Was ist die Vernunft,
wenn sie nicht die selbstmächtige souveräne Kraft ist, die Wahrheit zu ver¬
nehmen und verbindlich zu machen?
Ich kann hier nicht in die historische Analyse dieses Problems der Wahrheit
eintreten. Ich müßte von dem Ursprung dieses Begriffs bei den Griechen
sprechen, müßte zeigen, wie sich mit der Frage nach der Wahrheit die
Frage nach dem Irrtum verknüpft und wie Wahrheit damit Wahrheit des
Urteils wird (Plato). Ich müßte als zweiten wesentlichen Ursprung unseres
Denkens dieses Problems die Wendung der Neuzeit heraufrufen, die an den
Namen des Descartes geknüpft ist, wo Wahrheit zur Gewißheit wird, wo die
Methode des Erkennens der Wahrheit wichtiger wird als das als wahr Erkannte -
um der Gewißheit willen, die die Methode gewährleistet, ein entscheidender
Antrieb in der Entwicklung der Idee der modernen Wissenschaft überhaupt.
Und ich müßte endlich wiederum an den radikalen Zweifler, der Descartes’
Zweifel zu wiederholen und zu überbieten versuchte, an Nietzsche, erinnern,
an jene Gewagtheiten Nietzsches, die doch einen Kern der Wahrheit ent¬
halten, daß die Wahrheit gegenüber dem Leben in einer abhängigen Stellung
ist. Nietzsche hat es in seiner herausfordernden Art formuliert: die Wahr¬
heit sei die Art von Irrtum, ohne die das Lebewesen Mensch nicht leben
kann. Und in den wirkungsmächtigen Prägungen des Zarathustrabuches
spricht Nietzsche von der großen Vernunft unseres Leibes gegenüber der

2 Gadamer, Schriften I
18 Über die Ursprünglichkeit der Philosophie

kleinen Vernunft unseres Geistes. Das sind Wahrheiten, auch wenn sie
Gewagtheiten und Verkehrungen in sich schließen. Eine der, einmal erkannt,
beunruhigendsten Wahrheiten ist die Abhängigkeit unseres Geistes und
unserer Vernunft. Denken wir an die erschütternden Erfahrungen über die
Täuschungskraft des Geistes, die unser Volk politisch hinter sich hat: Wie
die Angst vor der Wirklichkeit auch urteilsfähige Menschen mit Blindheit
schlug. Das war nicht nur politische Unreife, das war ein Übermächtigwerden
des Willens zur Täuschung und Selbsttäuschung, das aus dem Scheitern
aller phantastischen Hoffnungen erwuchs, mit denen dies Volk genährt wor¬
den war. Denken wir aber auch im Leben des einzelnen an die tragische
Erfahrung, wie etwa der Sterbende sich von der ganzen souveränen Kraft
seiner kritischen Vernunft im Stich gelassen fühlt. Es stimmt tief nachdenk¬
lich, zu sehen, wie einem zu Tode Kranken die Hoffnung auf Genesung alle
kritischen Möglichkeiten seines Geistes förmlich überschwemmt. Es ist, als
ob das letzte Auflodern der Lebensflamme die wahren Herrschafts- und Ab¬
hängigkeitsverhältnisse im kalten Lichte sichtbar machte. Das sind Erfah¬
rungen in bezug auf das Wesen der Wahrheit und der Vernunft, deren Mi߬
brauch und Verkehrung man nur verhindern kann, wenn man sie sich ein¬
gesteht. Es ist ja nicht nur der pseudowissenschaftliche Biologismus der
nationalsozialistischen Doktrin, der sich auf diese Tatsachen stützt. So zeigt
bereits das letzte Beispiel mit dem Sterbenden, welche Weisheit der Natur
sich hier der klaren Bewußtheit des Geistes gegenüber durchsetzt. Denken
wir an den ganzen großen Bereich einer Wissenschaft, die in den letzten
Jahren fast ganz aus dem Bewußtsein der Erziehung und überhaupt aus
dem Bewußtsein unserer geistigen Kultur verdrängt worden ist, an die ana¬
lytische Psychologie, jene Wissenschaft von den Drängen und Stauungen
des Unbewußten, die so tief in die Gestaltung unseres Lebens und unseres
Schicksals hineinreichen.
Denken wir vor allem grundsätzlich: Was wird aus der Vernunft und
der Wahrheit angesichts dieser Erfahrung der Abhängigkeit von Vernunft
und Wahrheit? Das ist, wie ich meine, die große Gefahr, daß angesichts
unsrer Erfahrungen das Wesen der Wahrheit und der Vernunft selber nur
noch als ein Instrumentales gedacht wird, nur noch als ein Werkzeug im
Dienste einer höheren, bewußtlosen und unverantwortlichen Gewalt. Ob das
nun die politische Gewalt einer terroristischen Minorität ist, oder die Ab¬
hängigkeit von einem entarteten Triebleben, oder was immer es gewesen
sein mag, das zu den Grauenhaftigkeiten unserer Konzentrationslager
geführt hat, in jedem Fall ist die Gefahr die, daß man die Vernunft über¬
haupt nur noch als ein Instrument solcher vernunftlosen Kräfte sieht. Die
Gefahr also, die aus der erfahrenen und unleugbaren Abhängigkeit der
Vernunft erwächst, ist, sie als ein Werkzeug in anderer Hand zu denken, ist
die grundsätzliche Umdeutung des Sinnes der Vernunft zu einem Werk¬
zeug. Vernunft aber ist dennoch, obwohl und wenn wir uns eingestehen, daß
Die Bedeutung der Philosophie für die neue Erziehung 19

sie abhängig ist, ihrem Sinn nach nicht darauf beschränkt, dienstwillig
einem herrschenden Interesse oder einer befohlenen Anschauung zu dienen.
Vernunft ist eine gewaltige Auszeichnung des Menschen, und die Diskredi¬
tierung der Vernunft im Zuge unserer jüngsten Erfahrungen ist eine der
gewaltigsten Gefahren, die unserem menschlidien Leben noch immer droht.
Solche Diskreditierung der Vernunft verschließt sidi dagegen, daß die Ver¬
nunft Einsicht gewährt in wesenhafte Wahrheit. Auch wenn es richtig ist, daß
diese Vernunft nicht selbstmächtig ist, daß sie sich selber nicht zeitigen kann,
sondern gezeitigt wird von dem gesellschaftlich-geschichtlichen Schicksal,
seinen Realitäten wie von den Überlieferungen unseres Denkens und Wer-
tens, auch dann bleibt wahr, daß die Vernunft als gezeitigte und abhängige
am Ende dennoch Einsicht in die wahren Bestände der Wirklichkeit sein will.
Man muß dazu freilich ein Weiteres einsehen. Vernunft ist nicht ohne
weiteres gleichbedeutend mit dem mechanischen Wissenschaftsgedanken, der
mit Beginn der Neuzeit sidi durchsetzte. Der Mechanismus ist nur eine der
Strukturformen des Seins: das Sein des künstlich Gemachten. Was die Ver¬
nunft einzusehen vermag, ist keineswegs nur diese großartige Welt des von
uns Entworfenen. Es ist eine verhängnisvolle Unterschätzung des Wesens des
Menschen und seiner Vernunft, wenn man lediglich die im Maschinenideal
gipfelnde Form des Denkens der Natur und des Menschen für eine Hand¬
lung der Vernunft erklärt. Vernunft ist freilich nicht von sich aus der Wirk¬
lichkeit mächtig. Das liegt in ihrem eigenen Wesen begründet, wie Max Sche-
ler gezeigt hat: Vernunft und Geist sind das Vermögen der Entwirklichung,
das Vermögen, die Dinge in ihrem Wesen zu sehen, auch unabhängig von
den konkreten Wirklichkeitserfahrungen, die der einzelne jeweils macht. Aber
Vernunft ist durch den Drang, durch die ganze unterbewußte Dynamik
unserer Triebe mit all den eingeschlossenen, natürlichen und geschichtlichen
Faktoren hochgehoben zu ihrer eigenen Freiheit, ermöglicht durch etwas,
was sie nicht ist. So zeitigt sich also die Wahrheit als ein geschichtlicher Pro¬
zeß. Gleichwohl aber bleibt wahr, daß Vernunft das Vermögen der Ideen ist,
d. h. die Fähigkeit, die Wirklichkeitserfahrungen unter Einheitsgedanken
zu ordnen und als das, was sie sind, zu begreifen. Daraus folgt ebensowenig,
daß es viele Arten von Wahrheiten gibt, wie daß es viele, etwa rassisch
bedingte, Arten von Vernunft gibt, aber freilich ist die eine Wahrheit und
die eine Vernunft in solchem Grade von unseren geschichtlichen Bedingungen
abhängig, daß sie sich nicht selbst zu zeitigen vermag. Die Aufgabe, die
Hegels .Phänomenologie des Geistes1 zu lösen unternahm, scheint mir auf
dem Boden der radikalen Vernunftkritik des letzten Jahrhunderts einer Er¬
neuerung zu bedürfen: das Verhältnis von Drang und Geist einer neuen Ver¬
mittlung zuzuführen.
Ich möchte deswegen in einem letzten Punkte meine Ausführungen zu¬
sammenschließen, indem ich ins Bewußtsein zurückrufe, was wir alle immer
wieder zu vergessen geneigt sind. Es ist das Wesen unserer Vernunft und
20 Über die Ursprünglichkeit der Philosophie

unseres Geistes, gegen unseren Vorteil denken zu können, uns ablösen


zu können von der Bedrängnis unserer Triebe, unserer Bedürfnisse und
Interessen und uns zu beugen dem Gesetz der Dinge. Daß wir das können,
verdanken wir am Ende der gewaltigen Erziehungsarbeit, die die namenlosen
Generationen vorgeschichtlichen Daseins für uns alle schon im größten und
gröbsten geleistet haben. Ursprünglich sind es die Triebphantasien, die sich
ständig vor das wahre Gesicht der Wirklichkeit drängen. Wo sich Vernunft
und Erkenntnis zeigen, bedeutet das, daß wir soweit ernüchtert worden sind,
daß wir denkend und anerkennend das Wirkliche zu erfahren vermögen.
Der Prozeß dieser Ernüchterung ist der Gang der Menschwerdung. Es ist
wahrhaft eine Art Rückfall des menschlichen Daseins in vormenschliche
Stufen der Entwicklung, wenn der Schleier unserer Triebphantasie und
unseres Illusionsverlangens so dicht über uns gehängt ist, daß die Wirklich¬
keit dabei verschwindet. Solche furchtbare Unwirklichkeit all dessen, was
geglaubt und versichert, was getan und gewagt wird, haben wir um uns im
Schwange gesehen und dulden müssen.
Die eigentliche Lehre, die daraus für uns erwächst, ist offenbar, daß wir
die Vernunft, diese Fähigkeit des Anerkennens des Seienden gegen unser In¬
teresse, wieder lernen müssen. Es ist ein großes und siegreiches Wort, das
bei unserem östlichen Nachbar heute oft zitiert wird, das lautet: Lernen,
lernen, lernen! Es ist der Wille und der Mut zur Wirklichkeit, der daraus
spricht. Auch für uns gilt Ähnliches: wir müssen die Vernunft aus ihrer Ver¬
ketzerung wieder zu Ehren bringen.
Der Philosoph vor allem hat das bewußt zu machen und bewußt diesen
Gang der geistigen Selbsterziehung zu gehen, und ich glaube, es ist auch ein
politisches Wort, das damit gesagt ist: die Wirklichkeit wieder anerkennen
und den Schleier der romantischen Phrasen durchbrechen, das erst wird uns
zu dem fähig machen, was wir formal schon haben, nämlich zu einer echten
Demokratie. Bedenken wir, daß die Vorstellungen, die Deutschland vom
Wesen der Demokratie hat, mindestens ebenso verderbt sind, wie es unsere
Vorstellungen vom Werte der Vernunft und des Verstandes sind.
Sie sind mindestens ebenso verderbt, weil auch sie nicht erst in jenen
zwölf Jahren, sondern schon länger entstellt wurden. Es darf in Deutsch¬
land als eine Wahrheit gelten, die man noch aussprechen muß, daß das
Wesen der Demokratie nicht darin besteht, Interessengruppen miteinander
auszugleichen und einen für alle erträglichen mittleren Weg zu finden, son¬
dern daß durch die Form der Demokratie ermittelt werden soll, was die
soziale und politische Wahrheit für alle ist. Die Bedeutung der Abstimmung
im demokratischen Staat ist nicht die, daß die schwächeren Gruppen durch
die stärkeren überstimmt und ausgeschaltet werden. Wäre nur das ihr Sinn,
dann wäre das Prinzip der Demokratie nur das Prinzip einer reglementierten
Gewaltanwendung. Der echte Sinn der Abstimmung ist vielmehr der, die
Wahrheit zu finden, die für alle verbindlich ist. Dieser Sinn der Demokratie
Das Verhältnis der Philosophie zu Kunst und Wissenschaft 21

will in Deutschland ganz neu gelernt werden, denn auch nach 1918 ist dies
in Deutschland nicht gewußt worden, d. h. es war nicht in das politische
Bewußtsein der Öffentlichkeit aufgenommen. Gewiß gehört zur Demokratie,
daß ein jeder seine politische Willensmeinung zur Geltung zu bringen sucht,
aber das Entscheidende dabei ist, daß er sich eben damit der Belehrung
durch die Meinung der anderen aussetzt. Oberstimmtwerden, Unterliegen
heißt immer, eine solche Belehrung über den wahren Willen des Staates
empfangen. Daß das nicht heute schon, aber zunehmend mehr, von den
Deutschen gelernt wird, scheint mir die entscheidende Frage unserer Zukunft.
Ich bin überzeugt, daß, wenn wir dazu beitragen, wir wirklich als Philoso¬
phen sprechen und allen ein gemeinsames Wort sagen. Denn was wir philo¬
sophierend vom Wesen der Wahrheit erkennen, lehrt uns, was wir, Bürger
unseres Staates, immer lernen müssen, als das Wesen der echten Demokratie
zu realisieren: Belehrt werden auch gegen unsere eigene, subjektiv gewisse
Überzeugung, das ist der Weg der Ermittlung der eigentlichen geschicht¬
lichen Wahrheit. Wenn diese grundlegende Voraussetzung des politischen
Daseins geschaffen ist, ist der Weg einer eigenen Entwicklung unserer politi¬
schen Möglichkeiten beschritten.
An diese Aufgabe die künftigen Lehrer unseres Volkes heranzuführen - auf
den Wegen einer historisch-philosophischen Selbstverständigung -, scheint mir
eine der wenigen uns offenstehenden Möglichkeiten eigenen Handelns zu
sein. Die philosophische Unterweisung, die diesem Ziele dient, wird die
wesentlichen Entscheidungen der eigenen geistigen Geschichte ins Bewußtsein
heben, als Entscheidungen zur Aneignung bringen müssen: die griechische
Logos-Lehre, den neuzeitlichen Methodenbegriff und den Glanz und die
Ohnmacht des neuzeitlichen Idealismus.
Diese Entscheidungen wissend übernehmen heißt ebensosehr den konkreten
Voraussetzungen aller wissenschaftlichen Bildung wie den Aufgaben der Er¬
ziehung unseres Volkes zu einem politischen Dasein dienen.

II. DAS VERHÄLTNIS DER PHILOSOPHIE ZU KUNST


UND WISSENSCHAFT

Es ist nicht leicht, über Philosophie zu sprechen, und doch scheint es mir
notwendig, wenn anders wir uns darauf besinnen sollen, wer wir sind. Daß
das Philosophieren in Deutschland seit Jahrhunderten eine besondere Heimat
besessen hat, das lehrt nicht nur der große Reichtum dessen, was von
Leibniz bis Hegel in das allgemeine Besitztum der Menschheit übergegangen
ist, das lehrt auch die Ausbreitung des Philosophierens unter den Deutschen
aller Stände, die sich bis auf den heutigen Tag bekundet.
Gleichwohl bin ich weit davon entfernt zu meinen, daß sich daraus so
etwas wie ein historischer Beweis für das Recht der deutschen Philosophie
ableiten ließe. Dazu ist zu viel geschehen, dazu ist das Geschichtsbild und
22 Über die Ursprünglichkeit der Philosophie

das historische Selbstbewußtsein, mit dem wir in der Welt standen, zu


schwer erschüttert worden. Diese schwere Erschütterung unseres Selbstbewußt¬
seins hat geradezu bewirkt, daß wir uns fragen müssen, ob nicht der ent¬
setzliche Mangel an Wirklichkeitssinn und Verantwortungswilligkeit unter
den Deutschen, der das Unheil über uns gebracht hat, die Kehrseite jenes
Hanges zur Philosophie war, den wir an uns beobachten; noch schärfer wird
mancher sagen wollen, daß diese deutsche Philosophie, ehedem eine revo¬
lutionäre und fortschrittliche Funktion in der Gesellschaft ausübend, längst
zu einem Fetischismus des Geistes geworden ist, einer Flucht in den Irrationa¬
lismus vor den Forderungen der sozialen Wirklichkeit. In der Tat, die Er¬
örterungen über das Verhältnis der Philosophie zu Kunst und Wissenschaft,
die ich vortragen möchte, sollen ein Beitrag zur Klärung solcher selbstkriti¬
scher Fragen an die Philosophie sein.
Dem Philosophen ist es nicht bestimmt, weder unerlaubt noch erlaubt, seine
Sache vor einem unbeteiligten Publikum gleichsam wie zu seiner Verteidigung
zu führen. Auch die ,Gebildeten unter seinen Verächtern' haben ihm immer
schon recht gegeben, wenn sie ihm zuhören. Denn das können sie nicht, ohne
mit ihm zu denken. Wo immer philosophiert wird, erneuert sich, was jedem
Zuhörer eines sokratischen Gespräches widerfuhr, daß von ihm selbst ge¬
redet wurde. Nun ist es freilich eine Gewohnheit, die sich in der Geschichte
der Philosophie der Neuzeit herausgebildet und verfestigt hat, daß man sich
das Recht nimmt, einen eigenen ,Standpunkt' zu haben, wenn von Philo¬
sophie die Rede ist, und diese Hartnäckigkeit durch eine Weltanschauung
oder durch die Berufung auf die Wissenschaft zu legitimieren. Lediglich
um dieser Gewohnheit zuvorzukommen, möchte ich einem konkreten Ver¬
such des Philosophierens eine allgemeinere Vorbesinnung vorausschicken,
gleidrsam andeutend, was das Verhältnis von Philosophie zu Kunst und
Wissenschaft ist und nicht ist.
Ich sage also: Philosophie ist nicht eine der Wissenschaften, auch nicht
deren oberste. Philosophie ist nicht eine Kunst, auch nicht eine in Begriffen.
Aber wie sich Philosophie von Kunst und Wissenschaft scheidet, und wie sie
auf beide bezogen ist, das ist selbst ein geschichtlich konkreter Vorgang, den
es zu erinnern gilt. Nicht immer und nicht notwendig ist das Verhältnis der
Philosophie zur Kunst und der Philosophie zur Wissenschaft eindeutig das¬
selbe. Es ist keine Aufgabe des Denkens allein, sondern aller realen Tendenzen
des Lebens.
Und so möchte ich eingangs charakterisieren, wie die heutige Lage ist. Man
wird wohl, wenn man die Eigenart der abendländischen Kultur beschreiben
will, Übereinstimmung in der Behauptung finden, daß sie von der Wissen¬
schaft entscheidend bestimmt und beherrscht ist. Und fragen wir uns, was
das Wesen dieser durch die Wissenschaft beherrschten Kultur ist, so liegt
die Antwort ebenfalls auf der Hand: Es ist das Methodische im Verhalten
des Abendländers, das wir damit meinen, das Methodische in der Wissen-
Das Verhältnis der Philosophie zu Kunst und Wissenschaft 23

schaft und ihrem Betrieb, das Methodische der Anwendung der Wissen¬
schaft in der Technik und der Industrie, das Methodische in der Ordnung
unseres sozialen Lebens, das Methodische in der Zerstörung. Planen, Machen,
Beherrschen, das scheint die eigentliche Grundhaltung des durch die Wissen¬
schaft des Abendlandes geprägten Menschentums zu sein.
Und wenn wir uns darüber hinaus fragen: was ist die Kunst innerhalb
dieses so geprägten und gerichteten Menschentums, so liegt die Antwort eben¬
falls auf der Hand. Es ist eine Art Ergänzung, eine vielfache Art der Ent¬
lastung von der Willensspannung dieses Daseins, die sich uns im schönen
Schein der Kunst, in diesem widerstandslosen Medium, in dem sich die Ein¬
bildungskraft gestaltend bewegt, auftut. Sie stellt damit - so sagen wir etwa
seit Schiller — die Totalität des Menschen wieder her, die in der Vereinzelung
unseres so vielfältig mechanisierten Daseins bedroht und von Selbstentfrem¬
dung entstellt ist. Wir reden daher geradezu von dem freien Schaffen des
Genies im Bereiche der Künste, weil eben diese eigentümlich widerstandslose
Materie des künstlerischen Gestaltens den höchsten Grad, die eigentliche Ver¬
wirklichung der Freiheit des menschlichen Handelns zu bieten scheint.
Ich denke, diese ganz allgemeine Charakteristik unserer modernen Kultur
ist soweit gemeinsam, daß wir uns auch über den darauffolgenden Schritt
ohne Schwierigkeit verständigen, welche Rolle nämlich die Philosophie inner¬
halb dieser menschlichen Kultur spielt. Ganz gewiß keine herrschende Rolle.
Wir nennen sie und wir kennen sie als Wissenschaftslehre, als die erkenntnis¬
theoretische Fundierung der Wissenschaften, oder als die Reflexion über
ihre Methoden, und wir kennen sie als Weltanschauungslehre, in jedem
Falle als eine nachträgliche Begründung herrschender Wirklichkeit, abhängig
von Vorgegebenheiten, die sich in diesen Wirklichkeiten ausdrücken, in der
Wirklichkeit des modernen Gesellschaftslebens und des von ihm gestalteten
Kulturlebens überhaupt, abhängig von der Wirklichkeit der in Weltan¬
schauungen sich verdichtenden sozialen Lebenstendenzen. So ist sie vielleicht
eine systematische Zusammenfassung der durch die Wissenschaften erarbei¬
teten Erfahrung. So ist sie vielleicht eine Bewußtmachung der Weltanschau¬
ungen, welche unser ganzes Empfinden, Streben und Arbeiten leiten. Das
Fundament dieser Kultur aber ist in jedem Falle die Wissenschaft, auch
für die sie ergänzende oder aus ihr aufsteigende Weltanschauung.
Diesem allgemein in der Überzeugung lebenden Befunde gegenüber möchte
ich nun behaupten: in Wahrheit ist die Philosophie nichts Nachträgliches, son¬
dern etwas Vorgängiges. Am leichtesten macht man sich die Wahrheit dieses
Satzes klar, wenn man darüber nachdenkt, wie die moderne Wissenschaft
entstanden ist.
Wir wissen, diese moderne Wissenschaft ist im 17. Jahrhundert zu ihrem
Siegeszuge angetreten, und wir sind in der philosophischen Besinnung ge¬
wöhnt, uns zu fragen, welche Voraussetzungen im Verständnis der Welt
und des Menschen dieser Entwicklung der modernen Wissenschaft zugrunde
24 Über die Ursprünglichkeit der Philosophie

liegen. Wir nennen und wir kennen diese Voraussetzungen als die des spät¬
mittelalterlichen Nominalismus, d. h. wir wissen, daß es für die moderne
Wissenschaft schlechterdings entscheidend geworden ist, daß in einer bestimm¬
ten Phase des späten Mittelalters die Auffassung durchgedrungen ist, daß
das eigentlich wirklich Seiende das konkrete Einzelne, das Individuum ist,
und daß die Ideen, jene durch die antike Tradition übermittelten Formen
des Seienden, in Wahrheit nur als Vorstellungen des Subjekts, also als ein im
Subjekt selber erst geleisteter und gebildeter Besitz wirksam sind. Das eigent¬
liche Wirkliche also ist das konkrete Seiende und vor allem das Subjekt, in
dem sich die Ideen bilden. Das ist ohne Zweifel die geschichtliche Voraus¬
setzung dafür, daß die modernen Wissenschaften den ihnen bestimmten Gang
antreten konnten. Aus dieser Voraussetzung erwächst erst die Bedeutung der
Methode für den modernen Begriff der Wissenschaft, die Möglichkeit des aus
eigenen Gesetzen Vorwärtsschreitens in der Befragung und Erforschung der
Wirklichkeit.
Man kann also sagen, daß es Philosophie war, welche den Raum für den
Fortschritt dieser Wissenschaften geöffnet hat, eine philosophische Wendung
in der Geschichte des abendländischen Denkens, und man kann noch mehr
sagen: dieser Fortschritt der Wissenschaften, der mit dem 17. Jahrhundert
einsetzt, ist zugleich die Geschichte der Verschweigung der Philosophie, aus
der diese Wissenschaft hervorgegangen ist.
Zum Wesen der modernen Wissenschaft gehört also eine verschwiegene
Metaphysik. Aber selbst diese Metaphysik ist offenkundig nachträglich gegen¬
über dem Vorgang und Ursprung der nominalistischen Philosophie des späten
Mittelalters, in der griechischen Philosophie, wie sie von den frühesten An¬
fängen bis Plato und Aristoteles reicht. Es ist ein altbekannter Satz, den ich
nicht als etwas Neues ausgeben möchte, daß Plato vor allem die Behauptung
verbindlich gemacht hat, daß wir unser eigentliches Wissen vom Seienden vor¬
gängig und nicht nachträglich erwerben, daß wir, wie es in der mythischen
Sprache der platonischen Philosophie heißt, all unser Wissen, das eigentliches
Wissen ist, als Erinnerung verstehen müssen oder, um das Wort Erinnerung
durch das zu ersetzen, was in der griechischen Wortbildung ,Anamnesis‘ leben¬
dig ist, daß wir es verstehen müssen aus einem Herauf- und Hervorholen aus
der ,Seele“. Das also, woran wir uns erinnern und als was wir etwas wissen, ist
in Wahrheit etwas, was wir aus uns heraus- und vor uns hinstellen, und dieses
aus uns Herausgeholte und vor uns Hingestellte ist das eigentlich Seiende.
Plato nennt es die Idee. Wir gebrauchen dafür den Ausdrude das Wesen,
das Wesentliche. Und ohne Zweifel ist es eine entscheidende philosophische
Wendung, daß das Seiende in seinem eigentlichen Sein der vor uns hin¬
gestellte Umriß, und daß unser Denken eben das Aussprechen dieses
so vor uns hingestellten Sichtbaren, der Logos des Eidos, ist. Die ganze
antike und mittelalterliche Vorstellung von der Welt als einer Ordnung
des Seienden, als eines Kosmos, beruht auf einer solchen Ordnung der vor
Das Verhältnis der Philosophie zu Kunst und Wissenschaft 25

uns hingestellten Ideen. Daß die Welt nicht ein Durcheinander von Wir¬
kungen und Kräften ist, sondern wesentlich ein Gesamt von Ordnung, das
eben meint, daß die vor uns hingestellten Ideen in ihrem Zusammenhang
das eigentliche Gefüge der Wirklichkeit darstellen. Das ist der Vorgang,
in dem durch Philosophie der Raum der abendländischen Wissenschaft
und Kultur geöffnet worden ist. Hier ist das Seiende offengelegt. Hier
ist die Welt in einer ganz bestimmten Weise gedacht worden, damit sie
- und so, daß sie - dann in ihren konkreten Wirklichkeitsbestimmungen,
in dem ganzen Befund dessen, was menschliche Erfahrung aufschließt, er¬
arbeitet werden konnte. Hier ist ohne Zweifel ein Denken des Philosophen
der Arbeit der wissenschaftlichen Erfahrung raumgebend vorangegangen.
Gewiß wäre es irrig, wenn man die von Plato begründete griechische
Metaphysik und die Schöpfung der griechischen Wissenschaft unvermittelt
mit dem Begriff von Wissenschaft gleichsetzen wollte, der seit dem 17. Jahr¬
hundert das moderne Denken beherrsdrt. Die durch Descartes vor allem
vollzogene Ausweisung der „Ideen“ als Vorstellungen der sich denkenden
Subjektivität prägt erst den Charakter der modernen Wissenschaft und des
modernen Weltverhaltens. Platos Denken der ,Idee' und die Entdeckung
der ,Seele', die der ,Idee‘ zugeordnet ist, gibt der Subjektivität des Sub¬
jektes noch keineswegs jenen prinzipiellen erkenntnis-theoretischen und
methodischen Vorrang, den die Neuzeit allem ihren Denken zugrundelegt. Für
Plato ist vielmehr bezeichnend, daß die Bewegung des Denkens noch ganz
in das Beziehungsgefüge der ,Ideen' einbehalten ist, welches die Seinsordnung
darstellt. Erkenntnis ist nur eine Seins- und Ideenrelation neben anderen.
Gleichwohl aber ist die platonische Wendung zur ,Idee‘ die Grundlage,
von der aus in der Neuzeit — eben durch die Subjektivierung der ,Ideen',
ihre Interpretation als Vorstellungen des Subjekts - das charakteristische
Weltverhalten der Moderne entwickelt worden ist. Und denken wir gar an
die Bedeutung, welche die Kunst im modernen Leben gewonnen hat, als ein
eigener, selbständiger und bedeutsamer Ausdruck unseres Weltverhältnisses,
als ein vorzügliches Dokument der Weltanschauung, wie wir zu sagen pflegen.
(Der Begriff der Weltanschauung ist zuerst charakteristischerweise von den
Kunsthistorikern bzw. von Hegel in seiner Ästhetik gebraucht worden.) Hier
ist erst recht sichtbar, daß sie durch die raumgebende Denkerfahrung Platos
bestimmt ist, wonach es das Wesen gegenüber der wesenlosen, wechselvollen
Wirklichkeit, wie wir sie nennen, sei, auf das es ankomme. Die Kunst,
- und sei sie noch so realistisch - ist in ihrer Idealität ohne Zweifel eine
eigene Art solcher Wesensdarstellung. Sie ist so, wie sie etwa Schopenhauer
beschrieben hat, eine Form des Platonismus.
Wenn wir uns fragen: was ist die fortwirkende Bedeutung solcher vor¬
gängigen Raumgebung der Philosophie, was ist also Philosophie heute,
nachdem sie diesen Raum geöffnet und diese Geschichte ihrer Verschwei¬
gung eingeleitet hat, so werden wir antworten müssen, daß in allem Fort-
26 Über die Ursprünglichkeit der Philosophie

gang der menschlichen Kultur, wie sie durch den Anfang der Griechen
angelegt worden ist, die Ursprünglichkeit dieses Denkens fortwirkt, daß es
also neben der ständig steigenden Verschweigung dieses philosophierenden
Anfanges eine ständig versuchte Wiedererinnerung an diesen Anfang, ein
ständiges Bemühen, das Ursprüngliche wieder ursprünglich zu denken, gibt,
und das ist die Geschichte der Philosophie. Die Geschichte der Philosophie
ist freilich nicht zu verwechseln mit der Geschichte philosophischer Mei¬
nungen, sondern ist eine Geschichte des Philosophischen in der Philosophie,
oder, um es mit einem Ausdruck Hegels zu formulieren, des Spekulativen.
Selbständige eigenartige Meinungen in der Philosophie gehen den Philo¬
sophen überhaupt nichts an. Die Philosophie wird auch in ihren geschicht¬
lichen Gestalten nur sprechend durch die Wiedererkennung des Gleichen. Das
ist das, was Hegel die spekulative Betrachtung der Philosophie und der
Geschichte der Philosophie nennt, und auch, wer es nicht so nennt, ja, wer sich
dessen nicht einmal bewußt ist, wird doch nur soviel von dem seltsamen
Stoff fremder Denküberlieferung verstehen, als er darin wiederzuerkennen
vermag.
Soweit die allgemeine Vorbesinnung. Sie stellt uns unmittelbar vor die
Frage: was ist Philosophie heute, und was ist das Verhältnis der Philosophie
zur Wissenschaft und zur Kunst? Ist sie nicht bestenfalls eine Nachholung
jenes Vorgängigen, das die Griechen für die Stiftung der abendländischen
Kultur raumgebend geleistet haben? Und ist sie als eine solche Nachholung
des Vorgängigen nicht notwendig nachträglich? Ob man das nun als einen
erkenntnistheoretischen Apriorismus oder in der Art des Empirismus ver¬
stehen mag, was die Philosophie an nachträglicher Besinnung auf ihren
Grund oder auf den Grund der Wissenschaften, auf den Grund des mensch¬
lichen Lebensverhaltens leisten mag, sie ist niemals mehr in demselben Sinne
raumgebend, wie sie es an jenem Anfang der abendländischen Entwicklung
gewesen ist.
Ich möchte nun an einem konkreten philosophischen Problem zu zeigen
suchen, daß diese Überzeugung haltlos ist. Das Phänomen, das ich erörtern
möchte, ist das Phänomen der Sprache. Denn was ist Sprache? Es scheint sich
hier der bündigste Beweis dafür zu ergeben, daß das durch die Griechen
gestiftete Denken das notwendige Denken des Menschen ist, und daß die
Sprache am Ende mit Notwendigkeit in die Funktion und in das Verständ¬
nis selbst einrücken muß, das durch das allgemeine Weltverhalten des
modernen Menschen charakterisiert ist, nämlich: ein Instrument der Beherr¬
schung des Seienden zu sein. Ich sage, es scheint, daß die Sprache in ihrem
Wesen diese Seinsauslegung notwendig macht. Denn offenkundig hat die
Sprache es wirklich mit so etwas wie Ideen zu tun. Wir nennen das zwar
nicht so, aber es genügt eine kleine Überlegung, uns zu belehren, daß das,
was wir nennen, eben jenes ist, was Plato Ideen nannte. Wir sprechen davon,
daß Worte Bedeutungen haben, und ganz ohne Zweifel ist das, was wir
Das Verhältnis der Philosophie zu Kunst und Wissenschaft 27

damit meinen, immer von der Art, daß Worte nicht in dem Sinne eine
Bedeutung haben, wie etwa ein aufgehobener Zeigefinger etwas bedeutet,
indem er in eine Richtung weist; sondern wenn wir Worte sagen, reden
wir über die Dinge, weil die Worte Bedeutungen meinen. Das heißt aber
schon: etwas, was gegenüber der Vielfalt der einzelnen Dinge, die wir mit
Worten benennen können, ein allgemeines gemeinsames Wesen ist.
Wenn ich ,Tisch' sage, so ist ganz offenkundig und außer allem Zweifel
- und die Sprache gibt in diesem Sinne dem Ideenrealismus, dem mittel¬
alterlichen Realismus recht —, daß dieses Sagen von Tisch nicht eigentlich
ein Zusammenlesen eines Gemeinsamen aus vielen vorhandenen Tischen
ist, sondern was ich mit dem Sagen von Tisch meine, das ist offenbar etwas,
was unmittelbar damit zusammenhängt, daß überhaupt Tischler Tische
machen. Es ist genau derselbe Vorentwurf, welcher des Tischlers Arbeiten am
Holz leitet, der auch unser Verständnis des Wortes Tisch bestimmt.
Wir können also sagen, die Sprache gibt dem Platonismus recht. Die
Sprache ist ein Gefüge von Ideen. Und noch weiter: es scheint sogar, daß
die Sprache dem Aristotelismus recht gibt, d. h. daß die Sprache, die wir
sprechen und die die ganze mit uns verbundene Völkerfamilie spricht, der
aristotelischen Ontologie, der aristotelischen Lehre von der Substanz und
ihren Akzidenzien gleichsam an den Leib gemessen ist oder, um es etwas
weniger unschuldig auszudrücken, daß Aristoteles in jener Summe des grie¬
chischen Denkens, die er in seiner Metaphysik gezogen hat, im Grunde
genommen nur das ins ausdrückliche, begriffliche Bewußtsein hob, was in
der Sprache seines Volkes und in der ganzen indogermanischen Sprachen¬
familie schon immer gelegen war. Daß wir von etwas, das zugrunde liegt,
einem Subjekt, bestimmte Prädikate aussagen, und daß unser Sprachbau
lange vor jedem ersten philosophischen Selbstbewußtsein der Menschen diese
Grundstruktur des Zuordnens von Prädikaten zu einem Subjekt entwickelt
hat, was ist das anderes, als gleichsam die prähistorische Form der durch
die Griechen über uns verhängten Philosophie? Daß es eine Substanz gibt,
etwas Beharrendes, und daß dieses Beharrende sich in den Akzidenzien,
in den ihm zukommenden Bestimmungen, als ein und dasselbe durchhält,
ist genau das, was in der Struktur unserer indogermanischen Sprachen vor¬
liegt, sofern diese von Subjekten Prädikationen machen.
Und noch einen Schritt weiter! Gibt die Sprache, die wir sprechen, nicht
auch insoweit der durch die Griechen eröffneten Weise unseres Philosophie-
rens und Denkens recht, als sie die vergegenständlichende Leistung der Ver¬
nunft selbst verbürgt? Die Vernunft, d. h. also das Vernehmen des Seienden,
ist sie nicht auf das Gegenständliche gerichtet? Liegt das nicht wirklich im
Wesen unserer Sprache bereits beschlossen? Gehört es nicht zu dem eigen¬
tümlichsten und wahrhaft grundlegenden Verhalten der Vernunft, daß wir
jede sprachliche Form, welcher Art sie auch sein mag, umprägen können in
die Form eines vergegenständlichenden Urteils, daß wir jede Bitte und
28 Über die Ursprünglichkeit der Philosophie

jeden Befehl, jede Frage, jeden Schrei und jede andere Form unserer
meinenden Kundgabe in jene vergegenständlichende Form umprägen können?
Daß wir statt ihrer immer sagen können: Ich sage, daß ich mir das und das
wünsche, ich sage, daß das und das in Frage steht, und dergleichen mehr.
Liegt also nicht in jener Form des Urteils, wie es Aristoteles schon hervor¬
hob, in jener Form der Apophansis, der Aussage, die sagt, daß etwas so
ist, in der Tat die eigentliche Grundleistung der Vernunft? Ist das nicht ein
unumkehrbarer und in seiner Konsequenz schließlich bis in unsere eigene
moderne Lage führender Weg, der sich da aufgetan hat: Vergegenständ-
lichung, wie sie in der Sprache geleistet, von der Vernunft vollzogen und
wie sie schließlich in jenen großartigen und unmenschlichen Apparaturen
unserer modernen Wissenschaft selbst mit dem Lebendigen und dem Men¬
schen vorgenommen wird?
Fragen wir, wie sich von diesem Vorgang aus das Ideal einer Sprache
bestimmt, dann scheinen auch da wieder die moderne Wissenschaft und ihre
grundlegenden theoretischen Disziplinen die Antwort bei der Fdand zu
haben. Ihr Ideal einer Sprache ist das Ideal einer eindeutigen Bezeichnung
und sonst nichts. Die idealste Sprache ist diejenige, die am wenigsten Mög¬
lichkeiten zu schwankender Auffassung, zu Mißverständnis, zu Äquivoka-
tion und dergleichen gibt. Die mathematische Logik denkt diese Konsequenz
bis in eine eigene Kunstsprache durch.
Man kann dann von dieser Grundbestimmung des Wesens der Sprache
aus bereitwillig Konzessionen machen. Man kann zugeben, daß das Wesen
der Sprache vielleicht nicht darin aufgeht, Bezeichnung von Gegenständen
zu sein. Man kann zugeben, daß in der Sprache allerhand zum Ausdruck
kommt, von Gemütslage und Willensrichtung des Sprechenden, von der
Situation der Gespräche und ihren Bedingungen usw. Aber das ist eine zu¬
sätzliche Funktion, die offenbar das eigentliche Grundwesen der Sprache
gar nicht betrifft.
Daß das eine konsequente Entwicklungslinie ist, wird einleuchtend sein,
und daß das eine griechisch begonnene Entwicklungslinie ist, das läßt sich noch
im besonderen verdeutlichen, wenn man sich daran erinnert, daß die Grie¬
chen für ,Sprache' eigentlich nur das Wort Logos gebrauchen, d. h. daß
für sie das Wesen der Sprache und das von der Sprache Gemeinte, das Ar¬
gument, der Gegenstand der Rede, ein und dasselbe sind, und daß das, was
wir Sprache nennen, für die Griechen offenbar in diese beiden Seiten sich
auslegt, den Logos, d. h. den Inbegriff des durch die Sprache Gesagten und
Gemeinten, und die Glotta, jenes Instrument unseres Mundes, mit dem
wir sie produzieren.
Nun scheint mir aber deutlich, daß das nicht das wahre Wesen der
Sprache ist, was so charakterisiert wird. Es ist eine mögliche Seite an ihr,
eine Seite, die herausgehoben und zu einem grundlegenden Weltverhalten
entwickelt worden ist. Daß es aber nicht das wahre Wesen der Sprache
Das Verhältnis der Philosophie zu Kunst und Wissenschaft 29

ist, was so charakterisiert wird, das kann man zunächst an einigen Grenz¬
problemen zeigen, die sich bei dem Versuch, die Sprache gleidisam auf ihre
Bezeichnungsfunktion hin zu vervollkommnen, beobachten lassen. Wir spra¬
chen davon, daß die Sprache, daß die Worte ihre Bedeutungen haben, und
wir sind insbesondere durch die grundlegenden Untersuchungen Edmund
Husserls darüber belehrt, daß Bedeutungen der Worte nicht etwa zu ver¬
wechseln sind mit jenem wechselnden Anschauungsbesitz, der uns bei
Worten aufsteigt und versinkt, daß also etwa das Wort ,Kultur“ - um es an
einem Beispiel zu zeigen — in jedem von uns sehr verschiedenartige An¬
schauungsbilder in dem Moment wedcen mag, in dem es vor uns erklingt.
Der eine, vielleicht der Philologe, mag vor allen Dingen an Ackerbau und
Blüte denken, ein anderer an Konzertsäle oder Museen, ein dritter an elek¬
trisches Licht oder an die Mode — und dennoch verstehen wir bei dem Worte
Kultur ganz ohne Zweifel ein und dasselbe. Wir meinen jenes, was durch
das Wort Kultur wirklich gemeint ist. Das Problem ist also nicht, daß
hier die Bedeutung Kultur mit allerlei Vorstellungen wechselnder Art besetzt
sein kann. Hier ist eine eindeutige Beziehung zwischen Wort und Bedeu¬
tung, wie es scheint, gegeben.
Aber wie ist es zum Beispiel mit einem Wort wie ,hier“? Das ist ebenso
ein Wort von einer sehr eindeutigen Bedeutung, und doch zeigt eine leichte
Überlegung sofort die Verlegenheit, in der wir uns insofern befinden,
als man nicht eigentlich angeben kann, was ,hier“ ist. Die Bedeutung, die
durch das Wort ,hier“ gemeint wird, schließt vielmehr in sich, daß das
sehr verschieden sein kann, was ,hier“ ist. In der Wortbedeutung ,hier“ liegt
so etwas wie ein möglicher Horizont, in dem sich sehr Verschiedenes
zeigen kann. Wir nennen das in der Sprache der Logik okkasionelle Aus¬
drücke, d. h. Ausdrücke, deren Bedeutung sozusagen erst fertig wird durch
die Gelegenheit, bei der sie gebraucht werden. Wenn ich jetzt ,hier“ sage,
sind wir uns alle einig; durch diese Gelegenheit wird die Bedeutung erst
fertig.
Nun scheint mir aber das, was etwa an einem solchen Beispiel wie den
okkasionellen Bedeutungen von jeher die Logiker aufgeregt hat, in Wahr¬
heit ein allgemeineres Verhältnis anzuzeigen. Gilt es nicht für jede Bedeu¬
tung, daß sie auch als das, was das Wort meint, in Wahrheit immer
in einem bestimmten Situationshorizont steht? Ist es nicht charakteristisch
für jede Wortbedeutung, daß sie eine bestimmte Bildungsgeschichte hat?
Nicht die, die der Etymologe erst zum Bewußtsein bringen kann, sondern
eine Art Sedimentierung des Erfahrungserwerbs und des Sprachgebrauchs.
Ist also nicht in jeder Bedeutung so etwas wie ein Stück Geschichte darin?
Haben nicht alle Bedeutungen so etwas wie einen vagen Horizont? Und
werden sie nicht alle immer erst fertig durch die Situation, den Zusammen¬
hang, in dem sie stehen, und die Bezüge, die sie stiften?
In der Tat, der Platonismus der Sprache, wie wir ihn anfangs charakteri-
30 Über die Ursprünglichkeit der Philosophie

sierten, ist ohne Zweifel eine Übertreibung. Jene festen Blickpunkte, ohne die
nach Plato ein Sichunterreden nicht möglich sein würde, sind selbst mit einer
geschichtlichen Dimension zu unterlegen. Aber auch Aristoteles will vor der
eigentlichen, der wahren Wirklichkeit der Sprache nicht ganz bestehen. Auch
die Meinung, daß die Sprache im Urteil ihre theoretische Vollendung finde
und daß die Metaphysik oder Ontologie das schon in der Grammatik der
Sprache gelegene Verhältnis nur zum Begriff erhebe, das Verhältnis von
Substanz und Akzidenzien, von Subjekt und Prädikationen, auch diese
Meinung geht doch wohl an dem wahren Wesen der Sprache vorbei. Sie
hält sich ganz innerhalb des von Plato gezogenen Wesenskreises.
Es ist nicht eine Vorliebe für das Irrationale oder eine Neigung zum
Agnostizismus, daß ich die wahre Wirklichkeit der Sprache an der Sprache
des Dichters zur Abhebung zu bringen versuche. Vielmehr folgt ein solches
Unternehmen einem sachlichen Zusammenhang, der die grundlegende Be¬
deutung des Problems der Sprache für die Philosophie allererst sichtbar
macht. Von zwei Seiten wird uns dieser Zusammenhang faßbar. Einmal,
wenn wir die neue Bedeutung bedenken, die die Kunst und insbesondere die
Dichtung seit den Tagen der Romantik für das philosophische Bewußtsein
gewonnen hat. Die Idee eines anschauenden Verstandes, die Goethe bei
dem Studium von Kants ,Kritik der Urteilskraft1 faszinierte und das spe¬
kulative Denken Schellings und Hegels in Bewegung setzte, gab der Kunst
ein alle Problemstellungen der Ästhetik überschreitendes philosophisches
Gewicht. Und wie sie damals den philosophischen Gedanken bewegte, so
gewann sie erst recht eine führende Stellung für die Deutung und Erhellung
unseres Daseins, als die großen metaphysischen Systeme, im Zusammen¬
bruch der Hegelschen Philosophie, ihre Herrschaft über die Wissenschaften
und das Leben der Gesellschaft verloren. Schon Dilthey hat es mit Recht
ausgesprochen, daß im Verlaufe des 19. Jahrhunderts die metaphysischen
Urrätsel der Menschheit nicht mehr von den philosophischen Schulen,
sondern von den großen Dichtern des Jahrhunderts verwaltet wurden. Die
großen Romanschriftsteller, Balzac, die Engländer und vor allem die Russen
waren nicht nur die wahren Philosophen ihres Zeitalters, sondern auch die
eigentlichen Inhaber des lebendigen Erbes der abendländischen Metaphysik,
und noch heute zeigt sich ein Gleiches, sofern Dichter wie Rilke oder - in
völlig neuem Interesse - Hölderlin das philosophische Bewußtsein beschäfti¬
gen - mit Dichtungen, die selbst schon die Grenze des Dichterischen nach der
Richtung des Gedankens überschreiten. Vor allem aber sind die beiden gro¬
ßen philosophischen Einzelerscheinungen, die in den letzten Jahrzehnten das
philosophische Denken in Deutschland befruchtet haben, Nietzsche und (nach
seiner Eindeutschung) Kierkegaard, nicht nur in einem für Deutschland bis¬
her unbekannten großen Sinne ,Schriftsteller', sondern haben für ihre Philo¬
sophie selbst dichterische Aussageformen gewählt. Nietzsche’s Zarathustra-
Dichtung wie das experimentierende Rollenspiel Kierkegaards zeigen das
Das Verhältnis der Philosophie zu Kunst und Wissenschaft 31

Problem der Mitteilung als ein existenzielles Problem des Philosophie-


rens.
So ist das allgemeine Problem der Sprache aus der Sonderstellung, die es
im Problembereidi des .objektiven Geistes' besitzt, in die Mitte des Philo-
sophierens gerückt. Eine solche zentrale Stellung scheint zwar dem Problem
der Sprache ohnehin und von Anbeginn an zuzukommen, sofern ja die
Daseinsform der Philosophie notwendig eine sprachliche ist, und eben damit
die Formen der Verwechslung und der Verstellung (die Sophistik) und
damit die Hartnäckigkeit der Unphilosophie die Gestalt der Philosophie
ständig begleiten. In der Tat steht die Unterscheidung der philosophischen
Wahrheit von den ,Namen' und den Meinungen der im Irrtum befangenen
Menschheit am Anfang der griechischen Philosophie. In Heraklit spitzt sich
dieses Mißverhältnis zwischen der Wahrheit und der in der Sprache nieder¬
gelegten Meinung zu einer eigenen Form des Wahrsagens zu. In Plato
vollends wird das Bewußtsein von der Zweideutigkeit aller philosophischen
Mitteilung methodisch fruchtbar und ist als der Wahrheitsgrund der plato¬
nischen Dialektik bis zum heutigen Tage lebendig geblieben. Gleichwohl
aber wird das philosophische Problem der Sprache selbst bei den Griechen
ganz beherrscht von der Frage der ,Richtigkeit der Namen', d. h. von der
logisdien Feistung der Sprache.
Gegen diesen herrschenden griechisch-christlichen Intellektualismus hat sich
erst in der Neuzeit eine andere Fragestellung für das Problem der Sprache
durchgesetzt, die über Vico, Hamann und Herder zu Wilhelm von Hum¬
boldts Begründung der neueren Sprachphilosophie geführt hat. Es bedarf
wohl keines ausdrücklichen Nachweises, daß Humboldts Sprachtheorie nicht
ohne den Blick auf die Sprachkraft und Bildungsenergie der Dichtung ent¬
wickelt worden ist, wenn für ihn die alte, theologisch motivierte Frage
nach der Entstehung der Sprache wesenlos wird und sich in die Einsicht in
ihren ständigen Ursprung in der weltbildenden Kraft des menschlichen Geistes
wandelt. So ist für Humboldt das Problem der Sprache kein beliebiger
Gegenstand des Nachdenkens, sondern um der Vermittlung von Subjektivem
und Objektivem, Geist und Feib im ständigen Schöpfertum jedes Sprechen¬
den willen die Öffnung eines neuen Erfahrungsfeldes für den sich geschichtlich
und naturhaft wissenden Geist. Sofern Humboldt aber, ganz auf die Grund¬
legung dieses neuen Erkenntnisbereichs gerichtet, den Problemhorizont des
Idealismus übernimmt, gewinnt er zwar ein neues Verständnis der Sprache
als eines Ausdruckphänomens und macht sich von der .logischen' Sprach-
ansicht so weit frei, daß er im Vorgang der sprachlichen Verständigung,
der Energeia, dem Widerspiel von Ich und Du, der Einheit von Verstehen
und Nichtverstehen das Wesen der Sprache sieht und daher den Wort¬
bedeutungen ein grundsätzliches Schwanken' zuerkennt, aber all das wird
noch von dem her beschrieben, was es aufhebt und verneint, dem logischen
Bezeichnungssystem. Die individuell oder nationell charakteristische Welt-
32 Über die Ursprünglichkeit der Philosophie

ansicht, die in jeder Sprache liege, beruhe eben darauf, daß eine jede Sprache
alles auszudrücken vermöge, also selber ein ideales Zeichensystem sei.
Uber diesen Horizont des Problems führt die Reflexion auf die Sprache des
Dichters grundsätzlich hinaus. Sie ist, wie Hölderlin sagt, das Produkt einer
schöpferischen Reflexion. Ihre Leistung ist nicht die der Verständigung, der
Aufregung eines eigenen Verstehensvollzuges in dem Angesprochenen, son¬
dern sie erreicht eine ,dritte Vollendung*: gelungenes Werk, Schöpfung zu
sein. In der Sprache des Dichters wird nicht dieses und jenes ,gemeint* und
dem Mitmeinen des anderen übermittelt. Der Dichter bleibt vielmehr „inner¬
halb seines Wirkungskreises“, er tritt nicht „aus seiner Schöpfung heraus“,
die ihn, wie jeden anderen, den sie anspricht, einbehält. Es ist kein Gegen¬
satz mehr zwischen der ursprünglichen Empfindung des einzelnen und der
Welt, die sich darstellt. „Indem sich nämlich der Dichter mit dem reinen Ton
seiner ursprünglichen Empfindung in seinem ganzen inneren und äußeren
Leben begriffen fühlt und sich umsieht in seiner Welt, ist ihm diese ebenso
neu und unbekannt. Die Summe aller seiner Erfahrungen, seines Wissens,
seines Anschauens, seines Gedankens, Kunst und Natur, wie sie in ihm und
außer ihm sich darstellt, alles ist wie zum ersten Male, eben deswegen un¬
begriffen, unbestimmt, in lauter Stoff und Leben aufgelöst, ihm gegenwärtig,
und es ist vorzüglich wichtig, daß er in diesem Augenblick nichts als
gegeben annehme, von nichts Positivem ausgehe; daß die Natur und Kunst,
so wie er sie früher gelernt hat und sieht, nicht eher spreche, ehe für ihn eine
Sprache da ist, d. h. ehe das jetzt Unbekannte und Ungenannte in seiner
Welt eben dadurch für ihn bekannt und namhaft wird, daß es mit seiner
Stimmung verglichen und als übereinstimmend erfunden worden ist.“ So
beschreibt Hölderlin den Akt der poetischen Schöpfung. Was hier beschrieben
wird, ist offenbar mehr als eine bloße ,Verfahrungsweise des poetischen
Geistes* - es ist eine Erfahrungsweise des Seins selbst, das sich in der ursprungs¬
haft neuen Sprache des Dichters darstellt. Alles Positive, also alle festen Sat¬
zungen des Weltverständnisses, müssen aufgelöst sein, alle vorentworfenen
Bedeutungen und Beziehungen der Bedeutungen würden den ,Ton* der
Empfindung stören und befremden - es ist das Sichöffnen eines Schwingungs¬
raumes, in dem sich in Rhythmus, Klang und Sinnbezügen das Ganze eines
Gedichtes fügt. Hier ist das Wesen der Sprache offenbar viel grundsätzlicher
begriffen und nicht nur als ihre Nutzungsmöglichkeit zur Mitteilung von
Sachen oder Meinungen über Sachen. Sie ist ,Ausdruck*, aber nicht als
etwas, was bei einem Gemeinten mit zum Ausdruck kommt, kein Aus¬
druck eines sich zurückbehaltenden ,Innern*, kein Ausdruck der sich aus¬
sprechenden Individualitäten, sondern ein Ausdruck des Seins selbst, ein
modus experimendi. Finden dieses Ausdrucks heißt nicht, daß richtig ,heraus¬
kommt*, was ich meine, sondern daß heraustritt und sich darstellt, was ich
und Welt sind. Es ist nicht eine Sprache, die wir sprechen, wie wir ein Werkzeug
besitzen und handhaben, um etwas in den Griff zu bekommen, es ist nicht
Das Verhältnis der Philosophie zu Kunst und Wissenschaft 33

eine Sprache, in der wir uns aussprechen, sondern eine Sprache, die uns
ausspricht. Ein jeder Dichter weiß, was das heißt, weil er sein Dichten als
ein mediales Geschehen erfährt. Er weiß auch, welche äußerste und gefahr¬
volle Anstrengung es für ihn bedeutet, sein ganzes geordnetes Weltverhalten
aufzulösen, sich auszusetzen und aus dem Flüssigkeitszustand des sprach¬
lichen und des Weltstoffes die Fügung zu erwarten, die realisiert, was ihn als
Schwingung durchbebt.
Die Ursprünglichkeit der Sprache liegt allen Gesetzen der festgewordenen
Bedeutungen der Worte und ihren schwankenden Erfüllungen voraus, nicht,
als ob nicht auch zum Wesen der Dichtung diese Zuordnung von Wort und
Bedeutung selbstverständlich gehörte. Aber das, was das eigentliche Geheim¬
nis, die eigentliche Sagkraft der Sprache und ihre in der Wirkung von uns
erfahrene Nennkraft ausmacht, ist offenbar etwas anderes. Das, was durch
die Worte da vor uns hingestellt wird, wird nicht eigentlich durch den
Bezug dieser Worte in der Benennung der Dinge bezeichnet, sondern um¬
gekehrt wird uns durch dieses Auftauchen der Worte eine Welt vor Augen
gestellt, die wir nirgends zuvor sahen.
Das also ist die Ursprünglichkeit der Sprache, von der der Dichter so viel
weiß, und wir verstehen nun besser, was wir historisch schon längst wissen, daß
der Dichter es ist, welcher die ursprüngliche Kraft der Sprache verwaltet, daß
das, was vorhin als das Wesen der sprachlichen Bedeutungskraft charakterisiert
wurde, gerade durch ihn vermocht wird. Jene Bildungsgeschichte, jener Ver¬
gangenheitshorizont, der in jedem Wort lebendig ist, ist ihm nicht eine mit¬
getragene Bedeutungslast, die uns an Gewordenes und Gewesenes kettet.
Die Sprache wird durch den Dichter wieder freigelegt und zu sich selbst
ermächtigt. Der Dichter läßt gleichsam das Sein der Sprache walten und läßt
sich von der Sprache bemessen, was er sagen kann und darf. Es ist gerade in
der Verweigerung der ,gesetzten' Vorstellungen und Worte, daß die dich¬
terische Erfahrung entspringt - sie schafft in der umstellten Sprachwelt
unseres Daseins Raum und Offenheit und gewinnt so dem dichterischen
Worte die Öffnung für das Ursprüngliche, die es auszeichnet.
Und nun scheint mir, daß das, was ich hier am konkreten Beispiel der
Sprache deutlich zu machen suchte, für das Ganze des Wesens der Philo¬
sophie nicht minder charakteristisch ist. Wenn Sprache ihrem eigentlichen,
wahren Wesen nach nicht ein Zeichensystem ist, sondern wenn in der Sprache
in Wahrheit ein Verhältnis des Sprechenden zum Sein, zu sich und zur Welt
notwendig eingeschlossen ist, wenn das, was dem Dichter gelingt, immer viel
mehr ist als nur die Benennung von Gemeintem, in Wahrheit die Erstellung
und Erprobung neuer Seinsmöglichkeiten, dann wird im Wesen der Dich¬
tung prototypisch etwas sichtbar von dem, was das Wesen der Philo¬
sophie ausmacht. So wie wir dem Dichter immer wieder danken, daß die
Worte, die wir sprechen, nicht gänzlich zu einer abgegriffenen Münze ver-
nutzt sind, und wie vielleicht eine Sprache notwendig sterben muß, in der

3 Gadamer, Schriften I
34 Über die Ursprünglichkeit der Philosophie

es keinen Dichter mehr gäbe, so könnte es auch mit der Wissenschaft


und der ständig in ihr waltenden Funktion der Philosophie sein. Es
gibt hier wirklich eine Analogie und vielleicht mehr als eine Analogie.
Nicht deshalb, weil die Philosophie einen sprachlichen Ausdruck fin¬
den muß, steht das Problem der Sprache im Mittelpunkt unseres ge¬
genwärtigen Philosophierens und weist uns auf den Dichter, weil er am
Ursprung der Sprache seinen gefahrvollen Ort hat. Die Erfahrung des
Dichters, die ihm in der Gewährung oder Weigerung des Wortes wird, ist
nicht die einzige Erfahrung dieser Art. Nicht nur das lyrische Wort ist darin
getroffen, sondern alle Dichtungsarten; nicht nur der Schöpfer der Wort¬
kunst macht diese Erfahrung, sondern der aller Künste überhaupt. Sie alle
müssen die Sprache, die ,Natur' und ,Kunst' schon immer sprechen, die
Sprache von Farben und Formen und Tönen so gut wie die der menschlichen
Rede, gänzlidi verlernen, um sie als eine neue und unbekannte zu vernehmen.
Das gleiche gilt aber für die Philosophie, und es liegt in dem besonderen ge¬
schichtlichen Schicksal der abendländischen Philosophie, daß sie heute des ihr
Eigenen am Beispiel der Künste leichter inne wird als an ihrem eigenen ur¬
sprünglichen Tun. Die Sprache des Begriffs, die ihre eigene ist, kommt von
fernher, aus frühem geschichtlichem Beginn. Sie hat in den Wissenschaften und
ihrem fortschreitenden Prozeß ihre immer vermitteltere Übung, und im Sinne
dieser fortschreitenden Wissenschaften selber ist es gelegen, sich ihres Ur¬
sprungs nicht zu erinnern.
Es gehört zu den Tugenden des Wissenschaftlers, daß er nicht philoso¬
phieren will und daß er so unter dem Schrittgesetz seines Fragens steht,
daß ihn die eine Frage, die er löst, zwangsläufig vor konkret sich ergebende,
neue Fragen zwingt.
Das aber stiftet die besondere Beziehung der Philosophie zur Dichtung
und zur Sprache der Dichtung. Denn auch die Geschichte der menschlichen
Sprache ist, wie Vico zuerst erkannt hat, eine fortschreitende Entfernung
von ihrem Ursprung, eine steigende Intellektuierung, die die ursprüngliche
Bildkraft der Worte zunehmend schwächt. Und doch ist das Tun des Dichters
ein immer neues Freilegen der ursprünglichen Bildkraft der menschlichen
Rede.
So nun, wie der Dichter Verwalter des ursprünglichen Wortes in der
ständigen Vernutzung der täglichen Sprechmünze ist, hat der Philosoph und
die Philosophie die gleiche Funktion, Walter des Ursprünglichen zu sein im
Treiben der Wissenschaft und des Lebens. Was den Wissenschaftler charak¬
terisiert, das liegt auch unserem gesamten von der Wissenschaft geprägten
Weltverhalten zugrunde. Wie dem wissenschaftlichen Forscher seine Probleme
Zuwachsen aufgrund der einmal eingeschlagenen Fragerichtung, so ist auch
unser Lebensverhalten dadurch bestimmt, daß die konkrete Aufgabe des
Augenblicks, Bewältigung der Situation, jeweils mit Notwendigkeit weiter¬
treibt in neue Aufgaben: die Bezwingung der neueintretenden Situationen.
Das Verhältnis der Philosophie zu Kunst und Wissenschaft 35

Unser ganzes handelndes und willentliches Verhalten ist auf diesen ständi¬
gen Zusammenhang bezogen, in dem sich eins ans andere schließt, ein Wider¬
stand nach dem anderen entsteht, um überwunden zu werden. Es ist gar kein
Zweifel, ein solches Verhalten des Mensdten zum Seienden ist wie getrieben.
Es ist nur dadurch möglich, daß der Wollende nicht gleichzeitig zurück¬
schaut auf das, was diesem ganzen Weltverhalten überhaupt erst seinen
Raum und seine Möglichkeiten gegeben hat.
Die Wissenschaft und die auf die Wissenschaft gegründete Lebenspraxis
unseres methodischen Zeitalters sind gleichwohl nicht von selber da. Ja, die
in ihnen wirkende Produktivität, die des Forschers, des Erfinders, des Tech¬
nikers und des Organisators, auch die des auf das gesellschaftliche Leben
gerichteten Staatsmannes, ist gleichfalls nicht von selber da und wirkt sich
nicht von selber aus; sie alle, wenn sie ,Neues' gestalten, können nicht
einfach fortfahren, das Nächste zu tun - eine ,Politik der Aushilfen' ist
nicht die des echten Staatsmannes. Der bloße ,Betrieb' der Wissenschaften
erfüllt nicht den echten Forscher, auch wenn derselbe noch so viel Wissens¬
erweiterung bringt. Sie alle haben vielmehr teil an dem, was der Philosophie
eigenstes Können ist: an jenem Blick, der alles ursprünglich und neu sieht.
Das Ergebnis unserer Betrachtung ist also nicht dies, daß die Wissenschaft
für die Philosophie nicht gut genug wäre. Auch bedeutet es nicht, daß die
Philosophie sich in den Agnostizismus oder Irrationalismus flüchtete, wenn
sie behauptet, daß nicht das Urteil das eigentliche Wesen der Sprache sei.
Auch ist es hier nicht auf eine Art Kulturkritik abgesehen, als ob die Philo¬
sophie allein imstande sei, unsere Kultur wieder von dem Weg zurückzu¬
bringen, auf dem sie vorwärts gegangen ist. Das wäre ein Mißverständnis.
Aber was ich allerdings glaube, ist, daß die Philosophie als eine solche
Walterin des Ursprünglichen allein auch imstande ist, diesen inneren Fort¬
gang unseres menschlichen Seins wach zu halten für sein eigenes Gesetz;
und daß, wo ein solcher philosophischer Antrieb nicht mehr wirksam ist, das
Treiben der Wissenschaft am Ende zu einem Betrieb werden müßte, der das
unendlich Nichtswürdige zu wissen und zu praktizieren suchte.
Eine solche Bestimmung des Wesens der Philosophie bedeutet freilich, daß
sie nicht darin aufgeht, das Bedürfnis eines Zeitalters nach einem maßgeblich
umfassenden Weltbild zu befriedigen. Allen Weltbildern und Weltanschau¬
ungen gegenüber bewahrt die Philosophie vielmehr ihre ursprüngliche Funk¬
tion, das Selbstverständliche in Frage zu stellen und die Bedürfnisse des Zeit¬
alters zu übersteigen. Das Weltbild eines Zeitalters, das die Erkenntnis der
Wissenschaften zusammenfaßt, die Weltanschauung, die es entwickelt, spie¬
gelt den gesamten Zustand seines gesellschaftlichen Lebens wieder und besitzt
selbst eine instrumentale Bedeutung für dieses. Weltanschauung bewältigt eine
Situation, indem sie den gegebenen Zustand verteidigt oder angreift und
gewinnt daraus ihre geschichtliche Wirkungsmacht. So sind ,die Weltan¬
schauungen' ausgezeichnete Phänomene für die historische Erkenntnis -
36 Über die Ursprünglichkeit der Philosophie

gerade weil sie den Zustand des Lebens, den die Gegenwart darstellt, for¬
mulieren. Auch alle gewesenen Gestalten des phdosophischen Gedankens bie¬
ten sich einer solchen historischen Erkenntnis an — ja, sie in vorzüglichem
Grade. Denn sie sind, wie Hegel es gesagt hat, das Innerste der Welt¬
geschichte. Man kann also mit dem größten wissenschaftlichen Recht und dem
größten wissenschaftlichen Erfolg auch die Philosophie in dieser Weise histo¬
risch betrachten, d. h. nachträglich auf das hin befragen, was an Zeitsituation,
an Struktur des gesellschaftlichen Lebens, an psychologischen Voraussetzungen
einer Epoche oder einer herrschenden Gesellschaft in ihr zum Ausdrude
kommt. Man kann die wirkliche Geschichte, den historischen Zusammenhang
der abendländischen Kultur, nicht ohne sie historisch durchleuchten und ver¬
stehen, aber man muß sehen, daß man damit nicht Philosophie treibt. Man
betrachtet Philosophie auf etwas hin, was man ihre Kulturfunktion nennen
kann und was notwendig einer jeden Philosophie eine bestimmte Kultur¬
funktion gibt. Aber wie es ein anderes ist, Bilder zu malen, und ein anderes, ge¬
malte Bilder historisch und soziologisch zu interpretieren, so ist es auch etwas
grundsätzlich anderes, zu philosophieren, als die soziale Funktion der philoso¬
phischen Gedankenbildungen zu untersuchen. Gerade in dem, was die Philoso¬
phie in ihrem eigenen Streben nach ursprünglichem Fragen ist, gerade darin ver¬
deckt man sie sich mit solchem Tun. All das ist nicht Philosophie. Philosophie
ist ihrem eigenen Antrieb nach nur als jene öffnende und raumgebende Ur¬
sprünglichkeit am Werke, durch die das Treiben der Wissenschaft und alle
auf Wissenschaft gegründete Macht der Weltanschauung überhaupt erst den
Raum gewinnt, sich zu verwirklichen. Insofern darf ich diesen Versuch einer
klärenden Besinnung damit schließen, daß ich sage: wenn Philosophie eine
solche Verwalterin des Ursprünglichen ist, nur dann ist Philosophie das, was
in ihr Philosophie ist - dann aber ist sie auch kraft der inneren Notwendig¬
keit ihres Wesens Philosophie der Zukunft.

Zusätze

1. Der Zusammenhang, der zwischen der durch die Griechen begründeten


Metaphysik und der Grammatik der indogermanischen Sprachen besteht, ist
bereits von Nietzsche in seiner destruktiven Kritik des Platonismus der
Sprache gesehen worden. Es fehlt aber bisher an einer systematischen Durch-
denkung des dokumentarischen und präjudiziellen Wertes, den die indoger¬
manischen Sprachen für die abendländische Philosophie und die Stellung des
abendländischen Menschen zur Welt besitzen. Daß sie an Alter und Zeugnis¬
kraft alle sonstige prähistorische Überlieferung weit hinter sich lassen, unter¬
liegt keinem Zweifel. Man verfehlt jedenfalls ganz das Problem, wenn man
den animistischen Zug des primitiven Denkens als das Ursprüngliche betrach¬
tet, aus dem sich die substantivische Struktur entwickelt habe. Denn das
Das Verhältnis der Philosophie zu Kunst und Wissenschaft 37

Problem ist ja gerade, daß trotzdem andere, nicht-indogermanische Sprachen


in ihrem Sprachbau von den indogermanischen Sprachen darin abweichen —
wie ihre Denkschöpfungen von denen des Abendlandes.
Daß unsere grammatischen Grundbegriffe aus der griechischen Wissensdraft
stammen und insofern die griechische Metaphysik ursprünglicher ist als sie,
darf nicht beirren. Entscheidend ist eben, daß der Sprachbau unserer Spra¬
chen eine solche wissenschaftliche Fixierung ihrer Grammatik erlaubte. Auch
die Beschreibung des primitiven Denkens' durch den Begriff des .Animis¬
mus* gerät vielmehr in den gleichen Verdacht, eine späte, abendländisch
bedingte Auslegung darzustellen.
2. Daß der Dichter in einem ausgezeichneten Sinne der Hüter und Ver¬
walter der Sprache sei, beansprucht nicht, eine ,ewige* Wahrheit zu sein,
sondern lediglich dem Zustand der modernen Sprachen und ihrer sichtbaren
Tendenz zur bildlosen Abstraktheit und zur Schablone zu entsprechen. Für
Zeiten oder Völker, in denen die ursprüngliche Bildkraft der Sprache noch
ungeschwächt ist, z. B. für das alte Fatein in der römischen Frühzeit, liegen
die Dinge anders. Hier ist der Redner und im Grunde jeder Redende Mit¬
walter des ursprünglichen Sprachgeistes.
Hesiod spricht eine tiefe Wahrheit aus, wenn er den König und den Dichter
nebeneinander stellt als diejenigen, deren Rede die Gemeinschaft des Volkes
anspricht und zu sich selbst erweckt. Freilich bleibt es zu allen Zeiten ein
Problem, wieweit die logisch gegängelte Grammatik der lebendigen Rede
wirklich angemessen ist. Hans Fipps ist diesem Problem in seinen Unter¬
suchungen zur hermeneutischen Fogik* mit Erfolg nachgegangen, eine In¬
tention Wilhelm von Humboldts radikalisierend. Dennoch bleibt richtig,
daß auch die lebendige Rede mehr der Verdunkelung als der Enthüllung
ursprünglicher Seinserfahrung entgegentreibt, die der Dichter hütet. (Daß der
Verfasser aus den in den letzten Jahren erschienenen Arbeiten Martin
Heideggers Gewinn zu ziehen gesucht hat, wird dem Kenner nicht ent¬
gehen.)
3. Es soll nicht behauptet werden, die platonisierende Ästhetik Schopen¬
hauerscher Prägung, wenngleich sie universal genug ist, alle Kunststile zu
umfassen, sei befriedigend. Sie ist es so wenig wie die platonisierende Be¬
deutungstheorie der Husserlschen Phänomenologie. Kants ,Kritik der Ur¬
teilskraft* mit ihrer Gipfelung im Geniebegriff weist darüber hinaus - freilich
aufgrund einer nicht minder fragwürdigen Subjektivierung der gesamten
Thematik einer Philosophie der Kunst. Vgl. vom Verfasser: Zu Kants
Begründung der Ästhetik und dem Sinne der Kunst (Festschrift für Richard
Hamann, 1939).
4. Es scheint mir fraglich, ob es die Sache fördert, wenn man die ange¬
zeigte enge Beziehung zwischen Philosophie und Dichtung auf die Bedeutung
des Unbewußten im philosophischen und dichterischen Tun zurückführt. Sach¬
lich kommt es gerade nicht auf die Philosophie des Schaffens an, sondern auf
38 Über die Ursprünglichkeit der Philosophie

das im Schaffen des Denkers wie des Dichters Erfahrene, das es zu ,stellen'
gilt. Die Ursprünglichkeit des Dichters (wie des Künstlers überhaupt) ist
gewiß ebenso fragwürdiger Art wie der ständige Versuch, ursprünglich zu
denken. Immer ist die Gefahr, daß man nur etwas schon Benutztes weiter
abnutzt, als Dichter, als Redner, und ganz gewiß auch, wenn der Denker
redet.
5. Mit dem Gegensatz einer idealistischen oder materialistischen Erkennt¬
nistheorie hat die angezeigte Problemdimension vollends nichts zu schaffen.
In der Sprache des Dichters wird weder die Wirklichkeit ,abgebildet1 noch
idealistisch ,erzeugt'. Es gilt, den Phänomenen nachzugehen, statt sie an
Theorien zu messen, die den Zugang zu ihnen allesamt verstellen. Oder ist
etwa der Begriff der ,Wirklichkeit', der diesen Theorien zugrunde liegt,
auch nur denkbar ohne die moderne Wissenschaft, deren Fortschrittsgesetz
gerade als die Verschweigung der ihr zugrunde liegenden Metaphysik be¬
zeichnet wurde? Wer sich den - hier freilich nur ungefähr gewiesenen - For¬
derungen der philosophischen Metaphysik verweigert, indem er sich auf die
Unbedürftigkeit der Wissenschaft beruft, bestätigt, was er bestreitet. In der
Logik nennt man das ignoratio elenchi.
WAHRHEIT IN DEN GEISTESWISSENSCHAFTEN

Die Geisteswissenschaften haben es nicht leicht, für die Art ihrer Arbeit
bei der größeren Öffentlichkeit das rechte Verständnis zu finden. Was in
ihnen Wahrheit ist, was bei ihnen herauskommt, ist schwer sichtbar zu
machen. Immerhin wäre es leichter auf solchen Gebieten der Geisteswissen¬
schaften, deren Gegenstände von sinnfälliger Art sind. Wenn ein National¬
ökonom heute von der Bedeutung seiner Arbeit für die öffentliche Wohl¬
fahrt zu sprechen hätte, so wäre ihm ein allgemeines Verständnis gewiß.
Ebenso wäre es, wenn ein Kunstwissenschaftler etwas Schönes vor uns hin¬
stellte, selbst wenn es nur die Ausgrabung von etwas sehr Altem wäre.
Denn auch das sehr Alte erweckt eine merkwürdige Art von allgemeinem
Interesse. Dem Philosophen steht es dagegen an, statt sichtbarer oder allge¬
mein überzeugender Resultate das Bedenkliche und Nachdenkliche zur
Sprache zu bringen, das sich in der Arbeit der Geisteswissenschaften dem
Denkenden darbietet.

Der moderne Wissenschaftsbegriff ist von der Entwicklung der Natur¬


wissenschaft des 17. Jahrhunderts geprägt worden. Ihr verdanken wir eine
steigende Beherrschung der Natur, und so erwartet man auch von der Wis¬
senschaft vom Menschen und der Gesellschaft, daß sie eine ähnliche Beherr¬
schung der menschlich-geschichtlichen Welt leistet. Ja, man erwartet von den
Geisteswissenschaften noch mehr, seit die steigende Beherrschung der Natur,
die wir der Wissenschaft verdanken, das Unbehagen an der Kultur eher
mehrt als mindert. Die naturwissenschaftlichen Methoden erfassen nicht
alles Wissenswerte, nicht einmal das am meisten Wissenswerte, nämlich die
letzten Zwecke, denen alle Beherrschung der Mittel der Natur und des Men¬
schen zu dienen haben. Es sind Erkenntnisse von anderer Art und anderem
Rang, die man von den Geisteswissenschaften und der Philosophie, die in
ihnen liegt, erwartet. Und so liegt es nahe, statt von dem Gemeinsamen,
das der Gebrauch wissenschaftlicher Methoden für alle Wissenschaft darstellt,

Der Vortrag wurde 1953 auf der Jahrestagung der Deutschen Forschungsgemein¬
schaft in Bremen gehalten und Februar 1954 in der Deutschen Universitätszeitung
IX, Heft 1, gedruckt.
40 Wahrheit in den Geisteswissenschaften

einmal von dem Einzigartigen zu sprechen, das uns die Geisteswissenschaften


so bedeutsam und so bedenklich macht.
1. Was ist denn eigentlich das Wissenschaftliche an den Geisteswissen¬
schaften? Kann man überhaupt den Begriff der Forschung ohne weiteres auf
sie anwenden? Denn was darin gedacht ist, das Aufspüren von Neuem, noch
nie Erkanntem, die Bahnung eines sicheren, von allen nachkontrollierbaren
Weges zu diesen neuen Wahrheiten, all das scheint hier erst in zweiter Linie
zu kommen. Die Fruchtbarkeit einer geisteswissenschaftlichen Erkenntnis
scheint der Intuition des Künstlers näher verwandt als dem methodischen
Geist der Forschung. Sicherlich wird man aller genialen Leistung, auf jedem
Gebiet der Forschung, das gleiche nachsagen dürfen. Aber in der methodi¬
schen Arbeit der Naturforschung wächst doch immer wieder neue Einsicht zu,
und insofern steckt in der Handhabung der Methoden die Wissenschaft selbst.
Handhabung von Methoden gehört nun gewiß auch zur Arbeit der Geistes¬
wissenschaften. Sie zeichnet sich vor der populärwissenschaftlichen Belletristik
ebenfalls durch eine gewisse Nachprüfbarkeit aus, - aber all das betrifft mehr
die Materialien als die aus ihnen gezogenen Folgerungen. Es ist hier nicht so,
daß die Wissenschaft durch ihre Methodik Wahrheit zu sichern vermöchte.
Hier kann sogar einmal im unwissenschaftlichen Werk des Dilettanten mehr
Wahrheit sein als in noch so methodischer Stoffauswertung. In der Tat
ließe sich zeigen, daß die Entwicklung der Geisteswissenschaften in den
letzten hundert Jahren sich zwar das Vorbild der Naturwissenschaften
ständig vor Augen hielt, daß aber ihre stärksten und wesentlichsten Impulse
nicht aus dem großartigen Pathos dieser Erfahrungswissenschaften stammten,
sondern aus dem Geist der Romantik und des deutschen Idealismus. Es ist
in ihnen ein Wissen um die Grenzen der Aufklärung und der Methode in
der Wissenschaft lebendig.
2. Aber wird das, wodurch sie uns so bedeutsam sind, wird das Wahr¬
heitsbedürfnis des menschlichen Herzens durch sie wirklich befriedigt? Indem
sie die weiten Räume der Geschichte forsdiend und verstehend durchdringen,
erweitern sie zwar den geistigen Horizont der Menschheit um das Ganze
ihrer Vergangenheit, aber das Wahrheitsstreben der Gegenwart wird so nicht
nur nicht befriedigt, es wird sich selber gleichsam bedenklich. Der histo¬
rische Sinn, den die Geisteswissenschaften in sich ausbilden, bringt eine Ge¬
wöhnung an wechselnde Maßstäbe mit sich, die im Gebrauch der eigenen
Maße zur Unsicherheit führt. Schon Nietzsche hat in seiner zweiten ,Un¬
zeitgemäßen Betrachtung' nicht nur vom Nutzen, sondern auch vom Nach¬
teil der Historie für das Leben gewußt. Der Historismus, der überall ge¬
schichtliche Bedingtheit sieht, hat den pragmatischen Sinn der geschichtlichen
Studien zerstört. Seine verfeinerte Kunst des Verstehens schwächt die Kraft
zu unbedingter Wertung, in der die sittliche Realität des Lebens besteht.
Seine erkenntnistheoretische Zuspitzung ist der Relativismus, seine Konse¬
quenz der Nihilismus.
Wahrheit in den Geisteswissenschaften 41

Die Einsicht in die Bedingtheit aller Erkenntnis durch die geschichtlichen


und gesellschaftlichen Mächte, die die Gegenwart bewegen, ist aber nicht
nur eine theoretische Schwächung unseres Erkenntnisglaubens, sondern be¬
deutet auch eine tatsächliche Wehrlosigkeit unserer Erkenntnis gegenüber den
Willensmächten des Zeitalters. Die Geisteswissenschaften werden von diesen
Tendenzen in ihren Dienst gestellt, werden abgeschätzt auf den Maditwert
hin, den ihre Erkenntnisse gesellschaftlich, politisch, religiös oder wie immer
bedeuten. So verstärken sie den Druck, den die Macht auf den Geist
ausübt. Sie sind gegen jede Art von Terror unvergleichlich viel anfälliger
als die Naturwissenschaften, weil es bei ihnen keine Maßstäbe gibt, die mit
so beneidenswerter Sicherheit wie dort das Echte und Rechte vom zweck¬
haft Verbogenen und Vorgeblichen unterscheiden. So gerät die letzte sittliche
Gemeinsamkeit, die sie mit dem Ethos aller Forschung verbindet, in Gefahr.
Wer diese Bedenken, die der Wahrheit in den Geisteswissenschaften an¬
haften, in ihrer ganzen Bedenklichkeit ermißt, wird sich vor allem in einem
Kreise von Naturforschern und durch die Naturwissenschaft in ihrer Vor¬
stellungswelt bestimmten Laien gerne auf einen unverdächtigen Zeugen be¬
rufen: Der große Physiker Hermann Helmholtz hat vor etwa hundert
Jahren einmal über den Unterschied zwischen Natur- und Geisteswissen¬
schaften gesprochen. Die Gerechtigkeit und die weitblickende Überlegenheit,
mit der er der besonderen Art der Geisteswissenschaften dabei Rechnung
trug, verdienen noch heute Beachtung. Zwar hat auch er die Arbeitsweise der
Geisteswissenschaften an den Methoden der Naturwissenschaften gemessen
und von ihnen her beschrieben, und es ist daher verständlich, daß der
ahnungsvolle Kurzschluß, mit dem sie zu ihren Ergebnissen kommen, sein
logisches Bedürfnis nicht befriedigen konnte. Aber er sah, daß dies die
Weise ist, in der die Geisteswissenschaften tatsächlich zur Wahrheit ge¬
langen, und daß es also noch andersartiger menschlicher Bedingungen be¬
darf, damit solche Kurzschlüsse schließen. Was alles an Gedächtnis, Phan¬
tasie, Takt, musischer Sensibilität und Welterfahrung dazugehört, das ist
freilich anderer Art als die Apparatur, deren der Naturforscher bedarf,
aber es ist nicht minder eine Art Instrumentarium, nur daß es nicht be¬
schafft werden kann, sondern dadurch zuwächst, daß einer sich in die
große Überlieferung der menschlichen Geschichte hineinstellt. Hier gilt daher
nicht nur die alte Parole der Aufklärung: Habe den Mut, Dich Deines
Verstandes zu bedienen - hier gilt gerade auch das Gegenteil: Autorität.
Man muß nur richtig denken, was damit gemeint ist. Autorität ist nicht die
Überlegenheit einer Macht, die blinden Gehorsam fordert und das Denken
verbietet. Das wahre Wesen der Autorität beruht vielmehr darauf, daß
es nicht unvernünftig, ja, daß es ein Gebot der Vernunft selbst sein kann, im
anderen überlegene, das eigene Urteil übersteigende Einsicht vorauszusetzen.
Der Autorität gehorchen heißt einsehen, daß der andere - und so auch
die andere aus Überlieferung und Vergangenheit tönende Stimme - etwas
42 Wahrheit in den Geisteswissenschaften

besser sehen kann als man selbst. Jeder, der den Weg in die Geisteswissen¬
schaften als junger Anfänger gesucht hat, kennt das aus Erfahrung. Ich
selbst erinnere mich, wie ich mit einem erfahrenen Gelehrten als An¬
fänger in einer wissenschaftlichen Frage disputierte, in der ich gut Bescheid
zu wissen meinte. Da wurde ich plötzlich von ihm über eine Sache belehrt,
die ich nicht wußte und fragte ihn ganz erbittert: woher wissen Sie das?
Seine Antwort war: wenn Sie so alt sein werden wie ich, werden Sie es
auch wissen.
Das war eine richtige Antwort. Aber wer würde wohl als Lehrer der
Naturwissenschaft oder als Lernender das für eine Antwort halten? Wir
wissen zumeist nicht zu sagen, warum diese oder jene philologische oder
historische Vermutung eines Anfängers ,unmöglich' ist. Es ist eine Frage
des Taktes, der durch unermüdlichen Umgang mit den Dingen erworben,
aber nicht gelehrt und nicht andemonstriert werden kann. Dennoch ist es
in solcher pädagogischen Situation fast ausnahmslos gewiß, daß der erfahrene
Lehrer Recht und der Anfänger Unrecht hat. Freilich hängt mit diesen
besonderen Wahrheitsbedingungen zusammen, daß wir auch der Forschung
gegenüber keine absolut sicheren Maßstäbe haben, durch die sich echte
Leistung und leere Prätention scheiden lassen, ja, daß wir oft an uns selber
zweifeln, ob, was wir sagen, die Wahrheit, die wir meinen, wirklich noch
enthält.

II

Auf Überlieferung hören und in Überlieferung stehen, das ist offenbar


der Weg der Wahrheit, den es in den Geisteswissenschaften zu finden gilt.
Auch alle Kritik an der Überlieferung, zu der wir als Historiker gelangen,
dient am Ende dem Ziele, sich an die echte Überlieferung, in der wir stehen,
anzuschließen. Bedingtheit ist also nicht eine Beeinträchtigung geschicht¬
licher Erkenntnis, sondern ein Moment der Wahrheit selbst. Sie muß selbst
mit gedacht sein, wenn man ihr nicht beliebig anheimfallen will. Es muß
geradezu hier als ,wissenschaftlich' gelten, das Phantom einer vom Stand¬
ort des Erkennenden abgelösten Wahrheit zu zerstören. Das gerade ist das
Zeichen unserer Endlichkeit, deren eingedenk zu bleiben allein vor Wahn zu
bewahren vermag. So war der naive Glaube an die Objektivität der histo¬
rischen Methode ein solcher Wahn. Aber was an seine Stelle tritt, ist nicht ein
matter Relativismus. Es ist ja nicht beliebig und nicht willkürlich, was wir
selber sind, und was wir aus der Vergangenheit zu hören vermögen.
Was wir geschichtlich erkennen, das sind wir im letzten Grunde selbst.
Geisteswissenschaftliche Erkenntnis hat immer etwas von Selbsterkenntnis an
sich. Nirgends ist Täuschung so leicht und so naheliegend wie in der Selbst¬
erkenntnis, nirgends aber bedeutet es auch, wo sie gelingt, so viel für das
Sein des Menschen. So gilt es in den Geisteswissenschaften, nicht nur uns
Wahrheit in den Geisteswissenschaften 43

selbst, wie wir uns schon kennen, aus der geschichtlichen Überlieferung
herauszuhören, sondern gerade auch etwas anderes: Es gilt, einen Anstoß
von ihr zu erfahren, der uns über uns selbst hinausführt. Deshalb verdient
hier nicht das Unanstößige einer unsere Erwartung einfach befriedigenden
Forschung unsere eigentlidie Förderung, sonderen es gilt zu erkennen - gegen
uns selbst -, wo neue Anstöße gegeben werden.
Das Nachdenken über diese beiden Bedenken enthält aber auch un¬
mittelbare praktische Konsequenzen für unsere Arbeit. Wer die Geistes¬
wissenschaften fördern will, wird nur in seltenen Fällen Sachbeihilfen
leisten können. Hier kann nur Menschen geholfen werden, mit all der Un¬
sicherheit, die das dort einschließt, wo der Maßstab ihrer Feistung so wenig
kontrollierbar ist. Und daß nicht die unanstößige Forschung unsere eigent¬
liche Förderung verdient, stellt uns vor die kaum lösbare Aufgabe, der
keine noch so freiheitliche Form der Verwaltung genügen kann, das Neue
und Fruchtbare zu erkennen, das wir selbst nicht sehen, weil wir unsere
eigenen Wege vor Augen haben.

III

Es folgt aber aus unseren Überlegungen, warum die Lage der Geistes¬
wissenschaften im Massenzeitalter so besonders prekär ist. In einer durch¬
organisierten Gesellschaft spielt sich jede Interessengruppe nach dem Maße
ihrer ökonomischen und sozialen Macht aus. Sie wertet auch die wissen¬
schaftliche Forschung danach, wieweit deren Ergebnisse ihrer eigenen Macht
nützen oder schaden. Insofern hat jede Forschung für ihre Freiheit zu fürch¬
ten, und gerade der Naturforscher weiß, daß seine Erkenntnisse es sdrwer
haben können, sich durchzusetzen, wenn sie herrschenden Interessen abträg¬
lich sind. Der Interessendruck der Wirtschaft und der Gesellschaft lastet auf
der Wissenschaft.
In den Geisteswissenschaften aber greift dieser Druck sozusagen von innen
an. Sie sind selber in der Gefahr, das für wahr zu halten, was den
Interessen dieser Mächte entspricht. Weil ihrer Arbeit ein Moment der Un¬
gewißheit anhaftet, ist ihnen die Zustimmung anderer von besonderem Ge¬
wicht. Das werden, wie überall, die Fachleute, wenn sie ,Autoritäten* sind,
sein. Aber weil ihre Arbeit der besonderen Anteilnahme aller sicher ist, ist die
Zusammenstimmung mit dem Urteil der Öffentlichkeit, ist die Resonanz, die
die eigene Forschung dort findet, oft schon in der unbewußten Intention des
Forschers mitgemeint. So ist zum Beispiel das vaterländische Interesse in
der politischen Geschichtsschreibung besonders gegenwärtig. Wie weit sich
das gleiche geschichtliche Ereignis auch unter ernsten Forschern verschiedener
Nationalität differenziert, ist allbekannt. Das geschieht nicht aus der Be¬
rechnung der Wirkung, sondern aus innerer Zugehörigkeit, die den Stand¬
punkt vorgibt. Wie leicht aber kehrt sich derartiges um, so daß einer sich
44 Wahrheit in den Geisteswissenschaften

auf den Standpunkt zu stellen sucht, der der öffentlichen Wirkung günstig
ist.
Nun muß man aber erkennen, daß das nicht eine beiläufige Entartung
ist, wie sie immer einmal angesichts der menschlichen Schwäche vorkommt,
sondern daß es geradezu die Signatur unserer Zeit ist, aus dieser allge¬
meinen Sdtwädie ein System der Macht- und Herrschaftsübung entwickelt zu
haben. Wer die technischen Mittel des Nachrichtendienstes in der Hand
hat, der entscheidet nicht nur, was publik werden darf - mit der Steuerung
der Publizität hat er zugleich die Möglichkeit einer Manipulation der öffent¬
lichen Meinung zu seinen Zwecken. Gerade weil wir viel abhängiger sind in
unserer Urteilsbildung als es unserer durch die Aufklärung begründeten
Selbsteinschätzung entspricht, ist dieses Machtmittel von so dämonischer
Stärke. Denn wer sich seine Abhängigkeit nicht eingesteht und sich frei
glaubt, wo er es nicht ist, der wacht über seinen eigenen Fesseln. Selbst der
Terror beruht darauf, daß die Terrorisierten sich selbst terrorisieren.
Es ist die verhängnisvollste Erfahrung, die die Menschheit in diesem Jahr¬
hundert gemacht hat, daß die Vernunft selbst bestechlich ist.
Die Geisteswissenschaften, die das im besonderen an sich erfahren, besitzen
aber dadurch auch die besondere Möglichkeit, sich der Verführungen der
Macht und der Bestechung ihrer Vernunft zu erwehren. Denn ihre Selbst¬
erkenntnis verlegt ihnen den Weg, von noch mehr Wissenschaft das zu
erwarten, was sie bisher noch nicht zu leisten vermögen. Das Ideal einer
vollendeten Aufklärung hat sich selbst widerlegt, und gerade damit gewinnen
die Geisteswissenschaften ihren besonderen Auftrag: in der wissenschaftlichen
Arbeit der eigenen Endlichkeit und geschichtlichen Bedingtheit beständig
eingedenk zu bleiben und der Selbstapotheose der Aufklärung zu wider¬
stehen. Sie können sich nicht von der Verantwortung entlasten, die daraus
entsteht, daß Wirkung von ihnen ausgeht. Entgegen aller Manipulation der
Meinung durch die gesteuerte Publizität der modernen Welt üben sie über
Familie und Schule einen unmittelbaren Einfluß auf die heranwachsende
Menschheit aus. Wo in ihnen Wahrheit ist, zeichnen sie die unverlöschliche
Spur der Freiheit.
Es sei abschließend an eine Einsicht erinnert, die schon Platon vermittelt
hat: Er nennt die Wissenschaften, die in logoi, in Reden bestehen, Nahrung
der Seele, so wie die Speisen und Getränke Nahrung des Leibes sind.
„Man sollte daher bei ihrem Kauf nicht minder mißtrauisch sein, daß man
nicht schlechte Ware aufgeschwatzt bekommt. Ja, es ist doch sogar eine
weit größere Gefahr beim Kauf von Wissen als beim Kauf von Speisen.
Denn die Speisen und Getränke, die einer vom Kaufmann gekauft hat,
kann er in besonderen Gefäßen nach Hause schaffen und bevor er sie sich
trinkend und essend einverleibt, kann er sie zuhaus abstellen und sich beraten,
unter Herbeiziehung des Kundigen, was man essen oder trinken solle und
was nidit und wieviel und wann. Daher ist in dem Kauf die Gefahr nicht
Wahrheit in den Geisteswissenschaften 45

groß. Wissen aber kann man nicht in einem besonderen Gefäß wegschaffen,
sondern es ist unvermeidlich, daß man das Wissen, wenn man den Preis
erlegt hat, unmittelbar in die Seele selbst aufnimmt und so belehrt davongeht
- sei es zum Schaden, sei es zum Guten.“
Der platonische Sokrates warnt mit diesen Worten einen jungen Mann,
sich ohne Bedenken dem Unterricht eines der bewunderten Weisheitslehrer
seiner Zeit anzuvertrauen. Er sieht die zweideutige Stellung, die dem in logoi,
in Reden bestehenden Wissen anhaftet, zwischen Sophistik und wahrer
Philosophie. Aber er erkennt auch die besondere Bedeutung, die dem rechten
Entscheid hier zukommt.
Diese Erkenntnis sei auf die Frage nach der Wahrheit in den Geistes¬
wissenschaften angewendet. Sie sind im Ganzen der Wissenschaften dadurch
ein Besonderes, daß auch ihre angeblichen oder wirklichen Erkenntnisse
unmittelbar alle menschlichen Dinge bestimmen, sofern sie von selbst in
menschliche Bildung und Erziehung übergehen. Es gibt kein Mittel, das
Wahre und das Falsche in ihnen zu unterscheiden, als wiederum das, dessen
sie sich selbst bedienen: logoi, Reden. Und doch kann in diesem Mittel
das höchste an Wahrheit, das Menschen erreichbar ist, seinen Ort nehmen.
Was ihre Bedenklichkeit ausmacht, ist in Wahrheit ihre eigentliche Aus¬
zeichnung: sie sind logoi, Reden ,nur‘ Reden.
WAS IST WAHRHEIT?

Unmittelbar aus dem Sinn der geschichtlichen Situation verstanden, schließt


die Pilatusfrage ,Was ist Wahrheit?' (Joh. 18, 38) das Problem der Neutralität
in sich. So wie das Wort in der staatsrechtlichen Situation des damaligen Palä¬
stina von dem Prokurator Pontius Pilatus gesprochen wird, will es sagen, daß
das, was von einem Mann wie Jesus als Wahrheit behauptet wird, den Staat
überhaupt nichts angehe. Die liberale und tolerante Stellung, die damit die
Staatsgewalt der Situation gegenüber einnimmt, hat etwas sehr Merkwürdiges.
Wir würden uns vergeblich nadr Ähnlichem in der antiken oder auch der mo¬
dernen Staatenwelt bis hin zu den Tagen des Liberalismus umsehen. Es ist die
besondere staatsrechtliche Situation einer zwischen einem jüdischen ,König'
und einem römischen Prokurator schwebenden Staatsgewalt, die eine solche
Haltung der Toleranz überhaupt möglich machte. Vielleicht ist der politische
Aspekt der Toleranz immer ein ähnlicher; dann besteht die politische Aufgabe,
die das Ideal der Toleranz stellt, eben darin, ähnliche Gleichgewichtslagen der
Staatsmacht herbeizuführen.
Es wäre eine Illusion, wenn man glaubte, dieses Problem gebe es im moder¬
nen Staat nicht mehr, weil dieser Staat die Freiheit der Wissenschaft prinzipiell
anerkenne. Denn die Berufung auf sie bleibt stets eine gefährliche Abstraktion.
Sie entbindet den Forscher nicht von seiner politischen Verantwortung, sobald
er aus der Stille der Studierstube und dem vor dem Eintritt Unbefugter ge¬
schützten Laboratorium heraustritt und seine Erkenntnisse der Öffentlichkeit
mitteilt. So unbedingt und eindeutig die Idee der Wahrheit das Leben des
Forschers beherrscht, so beschränkt und vieldeutig ist doch die Unverhohlen-
heit, mit der er spricht. Er muß wissen und verantworten, was sein Wort be¬
wirkt. Die dämonische Kehrseite dieses Zusammenhanges aber ist, daß er im
Blick auf diese Wirkung in Versuchung gerät, zu sagen, ja als Wahrheit sich
selbst einzureden, was ihm in Wirklichkeit die öffentliche Meinung oder die
Machtinteressen des Staates diktieren. Es gibt hier einen inneren Zusammen¬
hang zwischen der Schranke der Meinungsäußerung und der Unfreiheit im
Denken selbst. Wir wollen uns nicht verbergen, daß die Frage ,Was ist Wahr-

Abdruck eines 1955 auf Einladung der Evangelischen Studentengemeinde der Uni¬
versität Frankfurt in Arnoldshain gehaltenen Vortrages.
Erstveröffentlichung: Zeitwende (Die neue Furche), 28. Jg., April 1957.
Was ist Wahrheit? 47

heit? in dem Sinne, in dem Pilatus sie stellte, noch heute unser Leben be¬
stimmt.
Es gibt aber noch einen anderen Ton, in dem wir dieses Pilatuswort zu
hören gewöhnt sind, den Ton, in dem etwa Nietzsche dieses Wort gehört hat,
wenn er sagt, daß es überhaupt das einzige Wort des Neuen Testaments sei,
das Wert habe. Danach spricht aus dem Wort des Pilatus eine skeptische Ab¬
wendung von dem .Eiferer*. Nicht zufällig hat es Nietzsche zitiert. Denn auch
seine eigene Kritik, die er am Christentum seiner Zeit übt, ist die Kritik eines
Psychologen an dem Eiferer.
Nietzsche hat diese Skepsis zu einer Skepsis gegen die Wissenschaft zuge¬
spitzt. In der Tat hat die Wissenschaft dies mit dem Eiferer gemein, daß sie,
weil sie stets Beweise verlangt und Beweise gibt, ebenso intolerant ist wie er.
Niemand ist so unduldsam wie der, der beweisen will, daß das, was er sagt, das
Wahre sein müsse. Nach Nietzsche ist die Wissenschaft intolerant, weil sie
überhaupt ein Symptom der Schwäche sei, ein Spätprodukt des Lebens, ein
Alexandrinertum, Erbe jener Dekadenz, die Sokrates, der Erfinder der Dia¬
lektik, in eine Welt brachte, in der es noch keine Unanständigkeit des Bewei-
sens* gab, sondern in der eine vornehme Selbstgewißheit beweislos anweist
und sagt.
Diese psychologische Skepsis gegen die Behauptung von Wahrheit trifft
freilich nicht die Wissenschaft selbst. Darin wird niemand Nietzsche folgen.
Aber es gibt in der Tat auch einen Zweifel an der Wissenschaft als solcher, der
als eine dritte Schicht für uns hinter dem Worte ,Was ist Wahrheit?* sich
auftut. Ist die Wissenschaft wirklich, wie sie von sich beansprucht, die letzte
Instanz und der alleinige Träger der Wahrheit?
Wir verdanken der Wissenschaft Befreiung von vielen Vorurteilen und Des¬
illusionierung gegenüber vielen Illusionen. Immer wieder ist der Wahrheits¬
anspruch der Wissenschaft der, ungeprüfte Vorurteile fraglich zu machen und
auf diese Weise besser zu erkennen, was ist, als das bisher erkannt wurde. Zu¬
gleich aber ist für uns, je weiter sich das Verfahren der Wissenschaft über alles,
was ist, ausbreitet, desto zweifelhafter geworden, ob von den Voraussetzungen
der Wissenschaft aus die Frage nach der Wahrheit in ihrer vollen Weite über¬
haupt zugelassen wird. Wir fragen uns besorgt: wie weit liegt es gerade am
Verfahren der Wissenschaft, daß es so viele Fragen gibt, auf die wir Antwort
wissen müssen und die sie uns doch verbietet? Sie verbietet sie aber,
indem sie sie diskreditiert, d. h. für sinnlos erklärt. Denn Sinn hat für sie nur,
was ihrer eigenen Methode der Wahrheitsermittlung und der Wahrheits¬
prüfung genügt. Dieses Unbehagen gegenüber dem Wahrheitsanspruch der
Wissenschaft regt sich vor allem in Religion, Philosophie und Weltanschauung.
Sie sind die Instanzen, auf die sich die Skeptiker gegen die Wissenschaft be¬
rufen, um die Grenze der wissenschaftlichen Spezialisierung und die Grenze
der methodischen Forschung angesichts der entscheidenden Lebensfragen zu
markieren.
48 Was ist Wahrheit?

Wenn wir so die Pilatusfrage in ihren drei Schichten einleitend durchwandert


haben, so wird einleuchtend, daß die letzte Schicht, in der die innere Bezie¬
hung von Wahrheit und Wissenschaft zum Problem wird, die für uns wichtig¬
ste darstellt. So gilt es zunächst, das Faktum zu würdigen, daß die Wahrheit mit
der Wissenschaft überhaupt eine so bevorzugte Bindung eingegangen ist.

Wissenschaft und Wahrheit

Daß es die Wissenschaft ist, die die abendländische Zivilisation in ihrer Eigen¬
art und bald auch in ihrer beherrschenden Einigkeit ausmacht, sieht jeder. Aber
wenn man diesen Zusammenhang begreifen will, muß man auf die Ursprünge
dieser abendländischen Wissenschaft, das heißt auf ihre griechische Herkunft
zurückgehen. Griechische Wissenschaft, das ist etwas Neues gegenüber allem,
was vordem die Menschen wußten und als Wissen pflegten. Als die Griechen
diese Wissenschaft ausbildeten, haben sie das Abendland vom Orient geschie¬
den und auf seinen eigenen Weg gebracht. Es war ein einzigartiger Drang
nach Kenntnis, Erkenntnis, Erforschung des Unbekannten, Seltsamen, Wunder¬
baren, und eine ebenso einzigartige Skepsis gegen das, was man sich erzählt
und als wahr ausgibt, was sie dazu bestimmt hat, die Wissenschaft zu erschaf¬
fen. Als lehrreiches Beispiel mag eine Homerszene gelten: Telemach wird ge¬
fragt, wer er sei, und antwortet darauf: meine Mutter heißt Penelope, wer aber
mein Vater ist, das kann man ja nie genau wissen. Die Leute sagen, es sei
Odysseus. Solche Skepsis, die bis ins Äußerste geht, offenbart die besondere
Begabung des griechischen Menschen, die Unmittelbarkeit seines Erkennt¬
nisdurstes und seines Verlangens nach Wahrheit zur Wissenschaft fortzu¬
bilden.
Es vermittelte daher eine schlagende Erkenntnis, als Heidegger in unserer Ge-
*

neration auf den Sinn des griechischen Wortes für Wahrheit zurückgriff. Das
war keine erstmalige Erkenntnis Heideggers, daß Aletheia eigentlich Unver¬
borgenheit heißt. Aber Heidegger hat uns gelehrt, was es für das Denken des
Seins bedeutete, daß es die Verborgenheit und die Verhohlenheit der Dinge ist,
der die Wahrheit wie ein Raub abgewonnen werden muß. Verborgenheit und
Verhohlenheit - beides gehört zusammen. Die Dinge halten sich von sich selbst
aus in der Verborgenheit; „die Natur liebt es, sich zu verbergen“, soll Heraklit
gesagt haben. Ebenso aber gehört zum menschlichen Tun und Reden die Ver¬
hohlenheit. Denn die menschliche Rede gibt nicht alles Wahre weiter, sie
kennt auch Schein, Trug und Vorgebliches. Es besteht also ein ursprünglicher
Zusammenhang zwischen wahrem Sein und wahrer Rede. Die Unverborgen¬
heit des Seienden kommt in der Unverhohlenheit der Aussage zur Sprache.
Die Weise der Rede, die diesen Zusammenhang am reinsten vollzieht, ist die
Lehre. Wir haben uns dabei klarzumachen, daß es für uns gewiß nicht die ein-
Was ist Wahrheit? 49

zige und primäre Erfahrung der Rede ist, daß sie lehrt, wohl aber ist es die-
jenige Erfahrung von Rede, die von den griechisdien Philosophen zuerst ge¬
dacht worden ist, und die die Wissenschaft mit allen ihren Möglichkeiten her¬
aufgerufen hat. Rede, logos, wird oft auch mit Vernunft übersetzt, zu Recht,
sofern es für die Griechen schnell einsichtig war, daß das, was in der Rede pri¬
mär gewahrt und geborgen ist, die Dinge selbst in ihrer Verständlichkeit sind.
Es ist die Vernunft der Dinge selber, die sich in einer spezifischen Weise des
Redens darstellen und mitteilen läßt. Diese Weise des Redens nennt man Aus¬
sage oder Urteil. Der griechische Ausdruck dafür ist apophansis, die spätere
Logik hat dafür den Begriff des Urteils gebildet. Das Urteil ist dadurch be¬
stimmt, im Unterschied zu allen anderen Weisen des Redens nur wahr sein
zu wollen, sich ausschließlich daran zu messen, daß es ein Seiendes offenbar
macht, wie es ist. Es gibt Befehl, es gibt Bitte, Fluch, es gibt das ganz rätsel¬
hafte Phänomen der Frage, über das noch etwas zu sagen sein wird, kurz, es
gibt unzählige Formen von Rede, in denen allen auch so etwas wie Wahrsein
liegt. Aber sie alle haben nicht ausschließlich ihre Bestimmung darin, Seiendes
zu zeigen, wie es ist.
Was ist das für eine Erfahrung, welche Wahrheit ganz auf das Zeigen in der
Rede stellt? Wahrheit ist Unverborgenheit. Vorliegenlassen des Unverborge¬
nen, Offenbarmachen ist der Sinn der Rede. Man legt vor und auf diese Weise
liegt vor, dem anderen eben so mitgeteilt, wie es einem selber vorliegt. So sagt
Aristoteles: ein Urteil ist wahr, wenn es zusammen vorliegen läßt, was in der
Sache auch zusammen vorliegt; ein Urteil ist falsch, wenn es in der Rede zu¬
sammen vorliegen läßt, was in der Sache nicht zusammen vorliegt. Wahrheit
der Rede bestimmt sich also als Angemessenheit der Rede an die Sache, das
heißt als Angemessenheit des Vorliegenlassens durch die Rede an die vorlie¬
gende Sache. Daher stammt die aus der Logik wohlvertraute Definition der
Wahrheit, sie sei adaequatio intellectus ad rem. Dabei ist als fraglos selbstver¬
ständlich vorausgesetzt, daß die Rede, daß heißt der intellectus, der sich in der
Rede ausspricht, die Möglichkeit hat, sich so anzumessen, daß nur das, was
vorliegt, in dem, was er sagt, zur Sprache kommt, daß sie also wirklich die
Dinge so zeigt, wie sie sind. Wir nennen das in der Philosophie im Blick darauf,
daß es auch andere Möglichkeiten von Wahrheit der Rede gibt, die Satzwahr¬
heit. Der Ort der Wahrheit ist das Urteil.
Das mag eine einseitige Behauptung sein, für die Aristoteles kein eindeutiger
Zeuge ist. Aber sie hat sich aus der griechischen Lehre vom Logos entwickelt und
liegt deren Entfaltung zum neuzeitlichen Begriff der Wissenschaft zugrunde.
Die durch die Griechen geschaffene Wissenschaft stellt sich zunächst ganz anders
dar, als es unserem Begriff von Wissenschaft entspricht. Nicht Naturwissen¬
schaft, geschweige denn Geschichte, sondern Mathematik ist die eigentliche Wis¬
senschaft. Denn ihr Gegenstand ist ein rein rationales Sein, und insofern ist sie
ein Vorbild aller Wissenschaft, weil sie in einem geschlossenen deduktiven Zu¬
sammenhänge darstellbar ist. Für die moderne Wissenschaft dagegen ist kenn-

4 Gadamer, Schriften I
50 Was ist Wahrheit?

zeichnend, daß für sie die Mathematik nicht durch das Sein ihrer Gegenstände
vorbildlich ist, sondern als vollkommenste Erkenntnisweise. Die neuzeit¬
liche Gestalt der Wissenschaft vollzieht einen entscheidenden Bruch mit den
Wissensgestalten des griechischen und christlichen Abendlandes. Es ist der Ge¬
danke der Methode, der jetzt beherrschend wird. Methode im neuzeitlichen
Sinne ist aber bei aller Vielfältigkeit, die sie in den verschiedenen Wissenschaften
haben kann, eine einheitliche. Das Erkenntnisideal, das durch den Begriff der
Methode bestimmt ist, besteht darin, daß wir einen Weg des Erkennens so
bewußt ausschreiten, daß es immer möglich ist, ihn nachzuschreiten. Methodos
heißt Weg des Nachgehens. Immer wieder nachgehen können, wie man gegan¬
gen ist, das ist methodisch und zeichnet das Verfahren der Wissenschaft aus.
Eben damit aber wird mit Notwendigkeit eine Einschränkung dessen vorge¬
nommen, was überhaupt mit dem Anspruch auf Wahrheit auftreten kann.
Wenn Nachprüfbarkeit - in welcher Form auch immer - Wahrheit (veritas)
erst ausmacht, dann ist der Maßstab, mit dem Erkenntnis gemessen wird, nicht
mehr ihre Wahrheit, sondern ihre Gewißheit. Daher gilt seit der klassischen
Formulierung der Gewißheitsregel des Descartes als das eigentliche Ethos der
modernen Wissenschaft, daß sie nur das als den Bedingungen der Wahrheit
genügend zuläßt, was dem Ideal der Gewißheit genügt.
Dieses Wesen moderner Wissenschaft ist für unser ganzes Leben bestim¬
mend. Denn das Ideal der Verifikation, die Begrenzung des Wissens auf das
Nachprüfbare, findet seine Erfüllung im Nachmachen. So ist es die moderne
Wissenschaft, aus deren Schrittgesetz die ganze Welt der Planung und der
Technik erwächst. Das Problem unserer Zivilisation und der Nöte, die ihre
Technisierung uns bereitet, ist nicht etwa darin gelegen, daß es an der rechten
Zwischeninstanz zwischen der Erkenntnis und der praktischen Anwendung
fehle. Gerade die Erkenntnisweise der Wissenschaft selber ist so, daß sie eine
solche Instanz unmöglich macht. Sie ist selber Technik.
Nun ist das eigentlich Nachdenkliche an dem Wandel, den der Begriff der
Wissenschaft mit dem Beginn der Neuzeit erfahren hat, daß sich in diesem
Wandel gleichwohl der grundlegende Ansatz des griechischen Seinsdenkens
erhält. Die moderne Physik setzt die antike Metaphysik voraus. Daß Hei¬
degger diese von weither kommende Prägung des abendländischen Denkens
erkannt hat, macht seine eigentliche Bedeutung für das geschichtliche Selbst¬
bewußtsein der Gegenwart aus. Denn diese Erkenntnis verlegt allen roman¬
tischen Restaurationsversuchen älterer Ideale, sei es der mittelalterlichen, sei
es der hellenistisch-humanistischen den Weg, indem sie die Unausweichlichkeit
der Geschichte der abendländischen Zivilisation feststellt. Auch das durch
Hegel geschaffene Schema einer Philosophie der Geschichte und einer Ge¬
schichte der Philosophie kann nun nicht mehr genügen, weil nach Hegel die
griechische Philosophie nur eine spekulative Vorübung dessen ist, was im
Selbstbewußtsein des Geistes seine neuzeitliche Vollendung fand. Der speku¬
lative Idealismus und seine Forderung einer spekulativen Wissenschaft ist am
Was ist Wahrheit? 51

Ende selbst eine ohnmächtige Restauration geblieben. Die Wissenschaft ist -


wie man sie auch schelte - das A und das O unserer Zivilisation.

Wahrheit jenseits der Wissenschaft

Es ist nun nicht so, als ob die Philosophie erst heute damit anfinge, darin ein
Problem zu sehen. Vielmehr liegt hier eine so offene Crux unseres ganzen Zivi¬
lisationsbewußtseins, daß die moderne Wissenschaft von der Kritik an der
,Schule' wie von ihrem Schatten verfolgt wird. Philosophisch stellt sich die
Frage so: kann man und in welchem Sinn und auf welche Weise hinter das in
den Wissenschaften thematisierte Wissen zurückgreifen? Daß die praktische
Lebenserfahrung eines jeden von uns diesen Rückgriff ständig vollzieht, be¬
darf keiner Betonung. Man kann immer darauf hoffen, daß ein anderer das
einsieht, was man für wahr hält, auch wenn man es nicht beweisen kann. Ja,
man wird sogar nicht immer den Weg des Beweisens als den rechten Weg an-
sehen dürfen, wie man einen anderen zur Einsicht bringt. Die Grenze der Ob-
jektivierbarkeit, an die die Aussage ihrer logischen Form nach gebunden ist,
wird von uns allen je und je überschritten. Wir leben ständig in Mitteilungs¬
formen für solches, was nicht objektivierbar ist, die uns die Sprache, auch die
der Dichter, bereitstellt.
Gleichwohl ist es der Anspruch der Wissenschaft, die Zufälligkeit der sub¬
jektiven Erfahrung durch objektive Erkenntnis, die Sprache vieldeutiger Sym¬
bolik durch die Eindeutigkeit des Begriffs zu überwinden. Die Frage aber ist:
gibt es innerhalb der Wissenschaft als solcher eine Grenze der Objektivierbar-
keit, die in dem Wesen des Urteils und der Aussagewahrheit selbst liegt?
Die Antwort auf diese Frage ist keineswegs selbstverständlich. Es gibt eine
sehr große, in ihrer Bedeutung gewiß nicht gering zu achtende Bewegung in der
heutigen Philosophie, für welche diese Antwort feststeht. Sie glaubt, daß das
ganze Geheimnis und die alleinige Aufgabe aller Philosophie darin bestehe, die
Aussage so exakt zu gestalten, daß sie wirklich in der Lage ist, das Gemeinte
eindeutig auszusagen. Die Philosophie habe ein Zeichensystem auszubilden,
das nicht von der metaphorischen Vieldeutigkeit der natürlichen Sprachen ab-
hänge, auch nicht von der Vielsprachigkeit der modernen Kulturvölker über¬
haupt und den daraus fließenden ständigen Mißverständlichkeiten und Mi߬
verständnissen, sondern das die Eindeutigkeit und Präzision der Mathematik
erreiche. Die mathematische Logik gilt hier als der Lösungsweg für alle Pro¬
bleme, welche die Wissenschaft bisher der Philosophie überließ. Diese Strö¬
mung, welche vom Eleimatland des Nominalismus aus auf die ganze Welt über¬
greift, stellt eine Wiederbelebung der Ideen des achtzehnten Jahrhunderts dar.
Als Philosophie leidet sie freilich an einer immanenten logischen Schwierig¬
keit. Das beginnt sie allmählich selbst einzusehen. Es läßt sich erweisen, daß
die Einführung von konventionellen Zeichensystemen sich niemals durch das
in diesen Konventionen beschlossene System selber vollziehen kann, daß also

4*
52 Was ist Wahrheit?

jede Einführung einer künstlichen Sprache schon eine andere Sprache voraus¬
setzt, in der man spricht. Es ist das logische Problem der Metasprache, das
hier seinen Ort hat. Aber dahinter steht noch etwas anderes: die Sprache, die
wir sprechen und in der wir leben, hat eine ausgezeichnete Stellung. Sie ist
zugleich die inhaltliche Vorgegebenheit für alle nachkommende logische
Analyse. Und sie ist das nicht als eine bloße Summe von Aussagen. Denn die
Aussage, welche Wahrheit sagen will, muß noch ganz anderen Bedingungen
genügen als denen der logischen Analyse. Ihr Anspruch auf Unverborgenheit
besteht nicht nur im Vorliegenlassen des Vorliegenden. Es genügt nicht, daß
das, was vorliegt, in der Aussage auch vorgelegt wird. Denn das Problem ist
gerade, ob alles so vorliegt, daß es in der Rede vorgelegt werden kann, und ob
sich nicht dadurch, daß man vorlegt, was man vorlegen kann, die Anerkennung
dessen verlegt, was gleichwohl ist und erfahren wird.
Ich glaube, daß die Geisteswissenschaften von diesem Problem ein sehr
beredtes Zeugnis ablegen. Auch dort gibt es manches, was dem Methoden¬
begriff der modernen Wissenschaft untergeordnet werden kann. Jeder von uns
muß die Verifizierbarkeit aller Erkenntnisse in den Grenzen des Möglichen als
ein Ideal gelten lassen. Aber wir müssen uns eingestehen, daß dieses Ideal sehr
selten erreicht wird und daß diejenigen Forscher, die dieses Ideal am präzisesten
zu erreichen streben, uns meistens nicht die wahrhaft wichtigen Dinge zu sagen
haben. So kommt es, daß es in den Geisteswissenschaften etwas gibt, was in
den Naturwissenschaften in gleicher Weise nicht denkbar ist, daß nämlich der
Forscher mitunter aus dem Buche eines Dilettanten mehr lernen kann als aus
den Büchern anderer Forscher. Das beschränkt sich natürlich auf Ausnahme¬
fälle, aber daß es dergleichen gibt, zeigt an, daß sich hier ein Verhältnis von
Wahrheitserkenntnis und Sagbarkeit auftut, das nicht an der Verifizierbarkeit
von Aussagen zu messen ist. Wir kennen das aus den Geisteswissenschaften so
sehr, daß wir gegen einen bestimmten Typus wissenschaftlicher Arbeiten be¬
gründetes Mißtrauen hegen, die die Methode, mit der sie gearbeitet sind, vorn
und hinten und vor allem unten, das heißt in den Anmerkungen, allzu deut¬
lich zeigen. Ist da wirklich etwas Neues gefragt? Ist da wirklich etwas erkannt?
Oder wird da nur die Methode, mit der man erkennt, so gut nachgemacht und
in ihren äußeren Formen getroffen, daß sich auf diese Weise der Eindruck einer
wissenschaftlichen Arbeit ergibt? Wir müssen uns eingestehen, daß umgekehrt
die größten und fruchtbarsten Leistungen in den Geisteswissenschaften dem
Ideal der Verifizierbarkeit weit vorauseilen. Das aber wird philosophisch be¬
deutsam, denn die Meinung ist ja nicht die, daß sich der unoriginelle Forscher
aus einer Art von Täuschungsabsicht wie ein Gelehrter gibt, und umgekehrt der
fruchtbare Forscher in revolutionärem Protest alles beiseiteschieben müsse, was
bisher in der Wissenschaft gegolten hat. Vielmehr zeigt sich hier ein sachliches
Verhältnis an, wonach das, was Wissenschaft möglich macht, zugleich auch
die Fruchtbarkeit wissenschaftlicher Erkenntnis hindern kann. Es geht hier um
ein prinzipielles Verhältnis von Wahrheit und Unwahrheit.
Was ist Wahrheit? 53

Dieses Verhältnis zeigt sich daran, daß das bloße Vorliegenlassen von sol¬
chem, das vorliegt, zwar wahr ist, das heißt offenlegt, wie es ist, aber immer
zugleich vorzeichnet, was weiterhin überhaupt als sinnvoll gefragt und in
fortschreitender Erkenntnis offengelegt werden kann. Es ist nicht möglich,
immer nur in der Erkenntnis fortzuschreiten, ohne damit auch mögliche Wahr¬
heit aus der Hand zu geben. Dabei handelt es sich keineswegs um ein quantita¬
tives Verhältnis, so als ob immer nur ein endlicher Umfang unseres Wissens
von uns festgehalten werden kann. Es ist vielmehr nicht nur so, daß wir immer
zugleich Wahrheit verdecken und vergessen, indem wir Wahrheit erkennen,
sondern es ist so, daß wir notwendig in den Schranken unserer hermeneuti¬
schen Situation befangen sind, wenn wir nach Wahrheit fragen. Das bedeutet
aber, daß wir manches, was wahr ist, gar nicht zu erkennen vermögen, weil
uns, ohne daß wir es wissen, Vorurteile beschränken. Auch in der Praxis der
wissenschaftlichen Arbeit gibt es so etwas wie ,Mode‘.
Wir wissen, welche ungeheure Macht und Zwangsgewalt die Mode dar¬
stellt. Nun klingt das Wort ,Mode‘ in der Wissenschaft furchtbar schlecht,
denn selbstverständlich ist es unser Anspruch, dem, was nur die Mode fordert,
überlegen zu sein. Aber die Frage ist gerade, ob es nicht im Wesen der Sache
liegt, daß es auch in der Wissenschaft Mode gibt. Ob die Weise, in der wir
Wahrheit erkennen, notwendig mit sich bringt, daß jeder Schritt vorwärts von
den Voraussetzungen weiter entfernt, von denen wir ausgegangen sind, sie in
das Dunkel der Selbstverständlichkeit zurücksinken läßt und eben damit es
unendlich schwer macht, über diese Voraussetzungen hinauszukommen, neue
Voraussetzungen zu erproben und damit wirklich neue Erkenntnisse zu ge¬
winnen. Es gibt so etwas wie eine Bürokratisierung nicht nur des Lebens, son¬
dern auch der Wissenschaften. Wir fragen: liegt das im Wesen der Wissen¬
schaft oder ist das nur eine Art Kulturkrankheit der Wissenschaft, wie wir auf
anderen Gebieten ähnliche Krankheitserscheinungen kennen, wenn wir z. B.
die Riesenkästen unserer Verwaltungsgebäude und Versicherungsanstalten be¬
wundern? Vielleicht liegt es wirklich im Wesen der Wahrheit selbst, so wie sie
die Griechen zuerst gedacht haben, und damit auch im Wesen unserer Erkennt¬
nismöglichkeiten, wie sie die griechische Wissenschaft zuerst geschaffen hat.
Die moderne Wissenschaft hat ja nur, wie wir oben sahen, die Voraussetzun¬
gen der griechischen Wissenschaft radikalisiert, die in den Begriffen des 'logos5,
der Aussage, des Urteils leitend sind. Die philosophische Forschung, die in
unserer Generation in Deutschland durch Husserl und Heidegger bestimmt
worden ist, hat versucht, darüber Rechenschaft zu geben, indem sie fragte, was
die über das Logische hinausgehenden Wahrheitsbedingungen der Aussage
sind. Ich glaube, man kann prinzipiell sagen: es kann keine Aussage geben, die
schlechthin wahr ist.
Diese These ist wohlbekannt als der Ausgangspunkt der Hegelschen Selbst¬
konstruktion der Vernunft durch die Dialektik. „Die Form des Satzes ist nicht
geschickt, spekulative Wahrheiten auszusagen.“ Denn die Wahrheit ist das
54 Was ist Wahrheit?

Ganze. Indessen ist diese Kritik der Aussage und des Satzes, die Hegel übt,
selber noch auf ein Ideal der totalen Ausgesagtheit bezogen, nämlich auf die
Totalität des dialektischen Prozesses, die im absoluten Wissen gewußt ist. Ein
Ideal, das den griechischen Ansatz nochmals zu radikaler Ausführung bringt.
Nicht bei Hegel, sondern erst im Blick auf die Wissenschaften der geschicht¬
lichen Erfahrung, die sich gegen Hegel durchsetzen, läßt sich die Grenze, die
der Logik der Aussage aus ihr selbst gesetzt ist, wirklich bestimmen. So haben
denn auch die Arbeiten Diltheys, die der Erfahrung der geschichtlichen Welt
gewidmet sind, in dem neuen Einsatz Heideggers eine wichtige Rolle gespielt.

Wahrheit als Antwort

Es gibt keine Aussage, die man allein auf den Inhalt hin, den sie vorlegt, auf¬
fassen kann, wenn man sie in ihrer Wahrheit erfassen will. Jede Aussage ist
motiviert. Jede Aussage hat Voraussetzungen, die sie nicht aussagt. Nur wer
diese Voraussetzungen mitdenkt, kann die Wahrheit einer Aussage wirklich
ermessen. Nun behaupte ich: die letzte logische Form solcher Motivation jeder
Aussage ist die Frage. Nicht das Urteil, sondern die Frage hat in der Logik den
Primat, wie auch der platonische Dialog und der dialektische Ursprung der
griechischen Logik geschichtlich bezeugen. Der Primat der Frage gegenüber der
Aussage bedeutet aber, daß die Aussage wesenhaft Antwort ist. Es gibt keine
Aussage, die nicht eine Art Antwort darstellt. Daher gibt es kein Verstehen
irgendeiner Aussage, das nicht aus dem Verständnis der Frage, auf die sie ant¬
wortet, ihren alleinigen Maßstab gewinnt. Wenn man das ausspricht, klingt es
wie eine Selbstverständlichkeit und ist jedem aus seiner Lebenserfahrung be¬
kannt. Wenn jemand eine Behauptung aufstellt, die man nicht versteht, dann
sucht man sich klarzumachen, wie er dazu kommt, welche Frage er sich gestellt
hat, auf die seine Aussage eine Antwort ist. Und wenn es eine Aussage ist, die
wahr sein soll, so muß man es selber mit der Frage versuchen, auf die sie eine
Antwort sein will. Es ist sicherlich nicht immer leicht, die Frage zu finden, auf
die eine Aussage wirklich Antwort ist. Es ist vor allem deshalb nicht leicht, weil
auch eine Frage wiederum kein einfaches Erstes ist, in das wir uns nach Belie¬
ben versetzen können. Denn jede Frage ist selber Antwort. Das ist die Dialek¬
tik, in die wir uns hier verstricken. Jede Frage ist motiviert. Auch ihr Sinn ist
niemals vollständig in ihr anzutreffen. Wenn ich oben auf die Probleme des
Alexandrinismus hinwies, die unsere wissenschaftliche Kultur bedrohen, sofern
die Ursprünglichkeit des Fragens in ihr erschwert wird, so liegt hier die Wurzel
dessen. Das Entscheidende, das, was in der Wissenschaft erst den Forscher aus¬
macht, ist: Fragen zu sehen. Fragen sehen heißt aber, aufbrechen können, was
wie eine verschlossene und undurchlässige Schicht geebneter Vormeinungen
unser ganzes Denken und Erkennen beherrscht. So aufbrechen können, daß
auf diese Weise neue Fragen gesehen und neue Antworten möglich werden,
Was ist Wahrheit? 55

macht den Forscher aus. Jede Aussage hat ihren Sinnhorizont darin, daß sie
einer Fragesituation entstammt.
Wenn ich in diesem Zusammenhang den Begriff ,Situation' gebrauche, so
deutet das darauf, daß die wissenschafflidte Frage und die wissenschaftliche
Aussage nur der Spezialfall eines viel allgemeineren Verhältnisses sind, das im
Begriff der Situation anvisiert wird. Der Zusammenhang von Situation und
Wahrheit ist schon im amerikanisdien Pragmatismus geflochten worden. Dort
versteht man als das eigentliche Kennzeichen der Wahrheit das Fertigwerden
mit einer Situation. Die Fruchtbarkeit einer Erkenntnis bewährt sich darin, daß
sie eine problematische Situation behebt. Ich glaube nicht, daß die pragmatisti-
sche Wendung, die die Sache hier nimmt, ausreidtt. Das zeigt sich schon daran,
daß der Pragmatismus alle sogenannten philosophischen, metaphysischen Fra¬
gen einfach beiseiteschiebt, weil es nur darauf ankomme, jeweils mit der Situa¬
tion fertigzuwerden. Es gelte, um vorwärts zu kommen, den ganzen dogmati¬
schen Ballast der Tradition abzuwerfen. - Das halte ich für einen Kurz¬
schluß. Der Primat der Frage, von dem ich sprach, ist kein pragmatischer. Und
ebensowenig ist die Antwort, die wahr ist, an den Maßstab der Flandlungs-
folgen gebunden. Aber wohl hat der Pragmatismus darin recht, daß man über
den formellen Bezug noch hinausgehen muß, in dem die Frage zum Sinn der
Aussage steht. Wir treffen das mitmenschliche Phänomen der Frage in seiner
vollen Konkretion, wenn wir uns von der theoretischen Relation von Frage
und Antwort, die die Wissenschaft ausmacht, abwenden und auf die nament¬
lichen Situationen besinnen, in denen Menschen genannt und gefragt werden
und sich selber fragen. Da wird deutlich, daß das Wesen der Aussage in sich
eine Erweiterung erfährt. Nicht nur, daß die Aussage stets Antwort ist und auf
eine Frage verweist, sondern Frage wie Antwort selber haben in ihrem gemein¬
samen Aussagecharakter eine hermeneutische Funktion. Sie sind beide Anrede.
Das soll nicht bloß heißen, daß sich stets auch etwas aus der sozialen Mitwelt
in den Gehalt unserer Aussagen hineinspielt. Das ist zwar richtig. Aber nicht
darum geht es, sondern darum, daß Wahrheit in der Aussage überhaupt nur
da ist, sofern sie Anrede ist. Denn der Situationshorizont, der die Wahrheit
einer Aussage ausmacht, enthält den mit, dem mit der Aussage etwas gesagt
wird.
Die moderne Existenzphilosophie hat diese Folgerung mit vollem Bewußt¬
sein gezogen. Ich erinnere an die Philosophie der Kommunikation bei Jaspers,
die darin ihre Pointe hat, daß das Zwingende der Wissenschaft dort ein Ende
findet, wo die eigentlichen Fragen des menschlichen Daseins, Endlichkeit, Ge¬
schichtlichkeit, Schuld Tod - kurz, die sogenannten ,Grenzsituationen' - er¬
reicht sind. Ffier ist Kommunikation nicht mehr Übermittlung von Erkenntnis
durch zwingende Beweise, sondern eine Art Commercium von Existenz mit
Existenz. Wer redet, ist selbst angeredet und antwortet als ein Ich dem Du,
weil er für sein Du selbst ein Du ist. Es scheint mir freilich nicht genug, im
Gegensatz zu dem Begriff der wissenschaftlichen Wahrheit, die anonym, allge-
56 Was ist Wahrheit?

mein und zwingend ist, einen Gegenbegriff der Existenzwahrheit zu prägen.


Vielmehr steckt hinter dieser Bindung der Wahrheit an mögliche Existenz, die
Jaspers einschärft, ein allgemeineres philosophisches Problem.
Hier hat Heideggers Frage nach dem Wesen der Wahrheit den Problem¬
bereich der Subjektivität erst wirklich überschritten. Sein Denken hat vom
,Zeug‘ über das ,Werkc zum ,Ding‘ seinen Weg durchmessen, einen Weg,
der die Frage der Wissenschaft, auch die der geschichtlichen Wissenschaften,
weit hinter sich läßt. Es ist Zeit, darüber nicht zu vergessen, daß die Geschicht¬
lichkeit des Seins auch dort herrscht, wo Dasein sich weiß und wo es als
Wissenschaft sich historisch verhält. Die Hermeneutik der geschichtlichen
Wissenschaften, die einst in der Romantik und der historischen Schule, von
Schleiermacher bis Dilthey entwickelt worden war, wird zu einer ganz neuen
Aufgabe, wenn man sie, darin Heidegger folgend, aus der Problematik der
Subjektivität herausbewegt. Der einzige, der hier vorgearbeitet hat, ist Hans
Lipps, dessen hermeneutische Logik zwar keine wirkliche Hermeneutik bietet,
aber die Verbindlichkeit der Sprache gegen ihre logische Nivellierung siegreich
hervorkehrt.

Historie und Wahrheit

Daß, wie oben gesagt, jede Aussage ihren Situationshorizont und ihre An¬
redefunktion hat, ist daher nur die Grundlage für die weitergehende Folge¬
rung, daß die Endlichkeit und Geschichtlichkeit aller Aussage auf die grund¬
sätzliche Endlichkeit und Geschichtlichkeit unseres Seins zurückgeht. Daß eine
Aussage mehr ist als nur das Vergegenwärtigen eines vorliegenden Sachver¬
halts, heißt vor allem, daß sie dem Ganzen einer geschichtlichen Existenz zu¬
gehört und mit allem, was in ihr gegenwärtig sein kann, gleichzeitig ist. Wenn
wir Sätze, die uns überliefert sind, verstehen wollen, so stellen wir historische
Überlegungen an, aus denen hervorgehen soll, wo und wie diese Sätze gesagt
sind, was ihr eigentlicher Motivationshintergrund und damit ihr eigentlicher
Sinn ist. Wir müssen also, wenn wir einen Satz als solchen uns vergegenwärtigen
wollen, seinen historischen Horizont mitvergegenwärtigen. Aber offenbar
genügt das nicht, um zu beschreiben, was wir wirklich tun. Denn unser Ver¬
halten zur Überlieferung begnügt sich nicht damit, daß wir sie verstehen
wollen, indem wir durch historische Rekonstruktion ihren Sinn ermitteln. Das
mag der Philologe tun, aber selbst der Philologe könnte sich eingestehen, daß
das, was er in Wahrheit tut, mehr ist als dies. Wäre das Altertum nicht klas¬
sisch gewesen, das heißt vorbildlich für alles Sagen, Denken und Dichten, dann
gäbe es keine klassische Philologie. Das gilt aber auch für alle andere Philologie,
daß in ihr die Faszination des anderen, Fremden oder Fernen wirksam ist, das
sich uns aufschließt. Die eigentliche Philologie ist nicht Historie allein, und
zwar deshalb, weil auch die Historie selber in Wahrheit eine ratio philoso-
phandi ist, ein Weg, Wahrheit zu erkennen. Wer geschichtliche Studien treibt,
Was ist Wahrheit? 57

ist immer mit davon bestimmt, daß er selber Geschichte erfährt. Geschichte
wird deshalb immer wieder neu gesdrrieben, weil das Gegenwärtige uns be¬
stimmt. Es handelt sich in ihr nicht nur um Rekonstruktion, um Gleichzeitig-
machung von Vergangenem, sondern das eigentlidie Rätsel und Problem des
Verstehens ist, daß das so gleichzeitig Gemachte immer schon mit uns gleich¬
zeitig war, als etwas, das wahr sein will. Was bloße Rekonstruktion vergan¬
genen Sinnes schien, verschmilzt mit dem, was uns unmittelbar als wahr an¬
spricht. Ich halte es für eine der wichtigsten Berichtigungen, die wir an der
Selbstauffassung des historischen Bewußtseins vornehmen müssen, daß sich
damit die Gleichzeitigkeit als ein höchst dialektisches Problem erweist. Ge¬
schichtliche Erkenntnis ist nie bloße Vergegenwärtigung. Aber auch Verstehen
ist nidrt bloße Nachkonstruktion eines Sinngebildes, bewußte Auslegung einer
unbewußten Produktion. Einander verstehen heißt vielmehr, sich in etwas
verstehen. Vergangenheit verstehen heißt entsprechend: sie in dem, was sie
uns als gültig sagen will, hören. Der Primat der Frage vor der Aussage be¬
deutet für die Hermeneutik, daß man jede Frage, die man versteht, selber
fragt. Verschmelzung des Gegenwartshorizontes mit dem Vergangenheits¬
horizont ist das Geschäft der geschichtlichen Geisteswissenschaften. Sie betrei¬
ben aber damit nur, was wir immer schon tun, indem wir sind.
Wenn ich den Begriff der Gleichzeitigkeit gebrauchte, so tat ich es, um eine
Anwendungsweise dieses Begriffes zu ermöglichen, die durch Kierkegaard
nahegelegt ist. Er war es, der die Wahrheit der christlichen Verkündigung durch
,Gleichzeitigkeit' kennzeichnete. Für ihn stellte sich die eigentliche Aufgabe
des Christseins so, daß der Abstand der Vergangenheit in Gleichzeitigkeit auf¬
gehoben wird. Was bei Kierkegaard aus theologischen Gründen in der Form
des Paradoxes formuliert wurde, ist aber der Sache nach etwas, was für all
unser Verhältnis zur Überlieferung und zur Vergangenheit gültig ist. Ich
glaube, daß die Sprache die ständige Synthesis zwischen Vergangenheitshori¬
zont und Gegenwartshorizont leistet. Wir verstehen einander, indem wir mit¬
einander reden, indem wir ständig aneinander vorbeireden und doch am Ende
im Gebrauch der Worte die mit den Worten gesagten Dinge miteinander vor
uns bringen. Es ist so, daß die Sprache ihre eigene Geschichtlichkeit hat. Jeder
von uns hat seine eigene Sprache. Zwei Menschen, die ihr Leben miteinander
teilen, haben ihre Sprache. Es gibt überhaupt nicht das Problem einer für alle
gemeinsamen Sprache, sondern es gibt nur das Wunder dessen, daß wir, ob¬
wohl wir alle eine verschiedene Sprache haben, uns dennoch über die Grenzen
der Individuen, der Völker und der Zeiten hinweg verstehen können. Dieses
Wunder ist offenbar nicht ablösbar davon, daß sich auch die Dinge, über die
wir sprechen, als ein Gemeinsames vor uns darstellen, indem wir von ihnen
sprechen. Wie eine Sache ist, stellt sich gleichsam erst heraus, wenn wir darüber
reden. Was wir mit Wahrheit meinen, Offenbarkeit, Unverborgenheit der
Dinge, hat also seine eigene Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit. Was wir in
allem Bemühen um Wahrheit mit Erstaunen gewahren, ist, daß wir nicht die
58 Was ist Wahrheit?

Wahrheit sagen können ohne Anrede, ohne Antwort und damit ohne die
Gemeinsamkeit des gewonnenen Einverständnisses. Das Erstaunlichste am
Wesen der Sprache und des Gespräches aber ist, daß auch ich selber nicht an
das, was ich meine, gebunden bin, wenn ich mit anderen über etwas spreche,
daß keiner von uns die ganze Wahrheit in seinem Meinen umfaßt, daß aber
gleichwohl die ganze Wahrheit uns beide in unserem einzelnen Meinen um¬
fassen kann. Eine unserer geschichtlichen Existenz angemessene Hermeneutik
würde die Aufgabe haben, diese Sinnbezüge von Sprache und Gespräch zu ent¬
falten, die über uns hinwegspielen.
DIE NATUR DER SACHE UND DIE SPRACHE DER DINGE

Wenn im folgenden zwei Redensarten zum Gegenstand einer Analyse ge¬


macht werden, die allem Anschein nach dasselbe meinen, so ist dabei die Ab¬
sicht leitend, eine sadiliche Konvergenz, die aller Verschiedenheit der Aus¬
gangspunkte und der methodischen Ideale zum Trotz das heutige Philoso¬
phieren beherrscht, sichtbar zu machen. Indem in dem scheinbar Selbigen die
Spannung eines Problems aufgewiesen wird, tritt zugleich in dem in seiner
Differenz Erkannten die Wirksamkeit des gleichen Impulses heraus. Der
Sprachgebrauch läßt davon zunächst wenig ahnen. Denn er scheint eine völlige
Austauschbarkeit beider Wendungen zu bezeugen. Wir sagen etwa: „Es liegt in
der Natur der Sache“, wir sagen aber auch „Die Dinge sprechen für sich selber“
oder „sie führen eine unmißverständliche Sprache“. In beiden Fällen haben
wir es mit einer Art Beteuerungsformel zu tun, die nicht eigentlich die Gründe
angibt, warum wir etwas für wahr halten, sondern im Gegenteil das Bedürfnis
nach weiterer Begründung abweisen will. Audi die beiden in diesen Wendun¬
gen auftretenden Begriffe ,Sache' und ,Ding‘ scheinen dasselbe zu besagen.
Sie sind beide Ausdrücke für etwas unbestimmt Gemeintes. Dem entspricht,
daß wenn von der ,Natur' der Sache oder der ,Sprache' der Dinge geredet
wird, auch diesen Wendungen etwas gemeinsam ist, nämlich daß sie auf eine
polemische Weise die gewalttätige Willkür im Umgang mit den Dingen negie¬
ren und insbesondere das bloße Meinen, die Beliebigkeit von Vermutungen
oder Behauptungen über die Sache, die Willkür von Ableugnungen oder die
Versteifung auf Privatmeinungen.
Doch wenn wir näher Zusehen und in die geheimen Unterschiede des
Sprachgebrauches eindringen, so wird sich der Schein völliger Austauschbar¬
keit zerstreuen. Der Begriff der Sache ist vor allem durch den Gegenbegriff
der Person geprägt. Der Sinn dieses Gegensatzes von Sache und Person liegt
ursprünglich in dem klaren Vorrang der Person vor der Sache. Die Person
erscheint als etwas, das in seinem eigenen Sein zu ehren ist, die Sache dagegen
als das zu Nutzende, als etwas, was ganz zu unserer Verfügung ist. Wenn nun

Vortrag, gehalten in München 1960 auf dem VI. Deutschen Kongreß für Philo¬
sophie, gedruckt in den Kongreßakten, die unter dem Titel ,Das Problem der Ord¬
nung', Verlag Anton Hain, Meisenheim 1962, S. 26—36, erschienen sind.
60 Die Natur der Sache und die Sprache der Dinge

die Wendung ,die Natur der Sache1 begegnet, so liegt die Pointe offenbar
darin, daß auch das zu unserer Nutzung Stehende und unserer Verfügung
Anheimgegebene in Wahrheit ein Sein in sich selbst hat, kraft dessen es gegen
das unsachgemäße Verfügenwollen aus seiner Natur heraus Widerstand zu
leisten vermag bzw. positiv: daß es ein bestimmtes sachgerechtes Verhalten
vorschreibt. Damit aber kehrt sich der Vorzug der Person vor der Sache gerade¬
zu in sein Gegenteil um. Im Gegensatz zu der beliebigen Anpassungsfähigkeit,
die Personen aneinander besitzen, ist die Natur der Sache die unabänderliche
Gegebenheit, der man Rechnung tragen muß. So vermag der Begriff der Sache
eine eigene Emphase zu erhalten, indem die Sache selbstvergessene Hingabe
verlangt und dabei sogar jede Rücksicht auf Personen zurückzustellen zwingt.
Es ist die Parole der Sachlichkeit, die hier entspringt und die wir auch als
die Gesinnung der Philosophie kennen, wie sie aus dem berühmten Worte
Bacons spricht, das Kant als Motto zu seiner Kritik der reinen Vernunft ge¬
wählt hat: De nobis ipsis silemus, de re autem quae agitur...
Einer der größten Anwälte solcher Sachlichkeit unter den Klassikern des
philosophischen Gedankens ist Hegel, der geradezu von dem Tun der Sache
redet und die wahrhaft philosophische Spekulation dadurch kennzeichnet, daß
in ihr die Sache selber sich betätige und nicht die freie Beliebigkeit unserer Ein¬
fälle, d. h. unseres reflektierenden Verfahrens mit der Sache am Werke sei.
Auch die bekannte phänomenologische Parole ,zu den Sachen selbst', die am
Anfang unseres Jahrhunderts eine neue philosophische Forschungsgesinnung
zum Ausdruck brachte, meint etwas Ähnliches. Es sind die unsachgemäßen,
vorurteilsvollen und willkürlichen Konstruktionen und Theorien, deren un¬
kontrollierte Voraussetzung die phänomenologische Analyse aufdecken wollte
und die sie in der Tat durch die unvoreingenommene Analyse der Phänomene
in ihrer Illegitimität erwies.
Der Begriff der Sache gibt aber nicht nur den römisch-rechtlichen Begriff
der res wieder, sondern in das deutsche Worte Sache und seine Bedeutung ist
vor allem eingeströmt, was im lateinischen Sprachgebrauch causa heißt. Im
deutschen Sprachgebrauch meint Sache zunächst die causa, d. h. die Streitsache,
die verhandelt wird. Sie ist ursprünglich die Sache, die in die Mitte niedergelegt
wird zwischen die streitenden Parteien, weil über sie noch zu entscheiden ist
und noch nicht entschieden ist. Die Sache soll gegen die Eigenmächtigkeit des
Zugriffs der einen oder der anderen Partei sichergestellt werden. In diesem
Zusammenhang bedeutet Sachlichkeit geradezu den Gegensatz zur Parteilich¬
keit, d. h. zu dem Mißbrauch des Rechtes für partikulare Zwecke. Der juri¬
stische Begriff ,Die Natur der Sache' meint freilich nicht eine zwischen den
Parteien umstrittene Sache, sondern die Grenzen, die dem Belieben bei der
gesetzlichen Festsetzung durch den Gesetzgeber oder bei der juristischen Aus¬
legung derselben gesetzt sind. Die Berufung auf die Natur der Sache verweist
auf eine dem menschlichen Belieben entzogene Ordnung und will den lebendi¬
gen Geist der Gerechtigkeit auch gegen den Buchstaben des Gesetzes zum Siege
Die Natur der Sache und die Sprache der Dinge 61

bringen. Auch hier ist also die Natur der Sache etwas, was sich geltend macht,
etwas das man zu respektieren hat.
Verfolgen wir auf der anderen Seite, was sich in der Wendung von der
,Sprache der Dinge ausdrückt, so werden wir anscheinend in eine ganz ähnliche
Richtung gewiesen. Auch die Sprache der Dinge ist etwas, auf das man nicht
genug hört und auf das man besser hören sollte. Auch diese Wendung hat eine
Art polemischen Akzentes. Sie bringt zum Ausdruck, daß wir die Dinge im
allgemeinen gar nicht in ihrem eigenen Sein zu hören bereit sind, daß sie viel¬
mehr dem Kalkül des Menschen und seiner Beherrschung der Natur durch die
Rationalität der Wissenschaft unterworfen werden. In einer immer techni¬
scher werdenden Welt wird die Rede von einer Würde der Dinge immer un¬
verständlicher. Sie sind die schwindenden, denen nur noch der Dichter eine
letzte Treue bewahrt. Daß man aber von einer Sprache der Dinge überhaupt
noch reden kann, erinnert daran, was die Dinge in Wahrheit sind, nämlich
nicht ein Material, das gebraucht und verbraucht wird, nicht ein Werkzeug,
das benutzt und beiseite gelegt wird, sondern etwas, was in sich Bestand hat
und „zu nichts gedrängt“ ist (Heidegger). Sein eigenes Insichsein ist es, was
von der Eigenmächtigkeit menschlichen Verfügenwollens her mißachtet wird
und wie eine Sprache ist, die es zu hören gilt1. Die Wendung von der Sprache
der Dinge ist also nicht eine mythologisch-poetische Wahrheit, wie sie der
Zauberer Merlin oder der in den Geist der Märchen Eingeweihte allein zu veri¬
fizieren vermöchte, sondern was durch diese Wendung geweckt wird, ist die in
uns allen schlummernde Erinnerung an das eigene Sein der Dinge, die nodi
immer zu sein vermögen, was sie sind.
Von den beiden Redensarten her wird also in gewissem Sinne wirklich das
gleiche - und ein Wahres - gesagt. Redensarten sind eben nicht nur das Un¬
lebendige einer uneigentlich gewordenen Sprachübung. Sie sind zugleich die
Hinterlassenschaft eines gemeinsamen Geistes und vermögen, wenn man sie
nur richtig versteht und in ihre geheime Bedeutungsfülle eindringt, Gemein¬
sames neu sichtbar zu machen. So lehrt uns der Blick auf die hier analysierten
Redensarten, daß sie im gewissen Sinne dasselbe sagen, nämlich etwas, woran
gegenüber der Eigenmächtigkeit des Beliebens erinnert werden muß. Aber das
ist noch nicht alles. So sehr die beiden Begriffe ,Die Natur der Sache' und
,Die Sprache der Dinge' mitunter in fast austauschbarer Weise verwendet
werden und durch ihren gemeinsamen Gegensatz geprägt sind, verbirgt sich
dennoch in dieser Gemeinsamkeit eine Differenz, die nicht von ungefähr ist.
Es erscheint vielmehr als eine philosophische Aufgabe, die Spannung sichtbar
zu machen, die in den geheimen Untertönen der beiden Redensarten zu spüren
ist, und ich möchte zeigen, daß der Austrag dieser Spannung es ist, der in der

1 In meinen Erläuterungen zu Heideggers Kunstwerk-Aufsatz, der als Reclamheft


1960 erschienen ist, habe ich diesen Punkt als den systematischen Ausgangspunkt für
Heideggers späte Arbeiten unterstrichen.
62 Die Natur der Sache und die Sprache der Dinge

Philosophie unserer Tage geschieht und der die Problemlage absteckt, die uns
allen gemeinsam ist.
In dem Begriff ,Die Natur der Sache“ sammelt sich für das philosophische
Bewußtsein ein von vielen Seiten her empfundener Widerstand gegen den
philosophischen Idealismus und insbesondere gegen die neukantianische Form,
in welcher derselbe in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts erneuert wurde.
Diese Fortbildung Kants, die sich auf ihn berief, um ihn zum Sprecher des Fort¬
schrittsglaubens und des Wissenschaftsstolzes der eigenen Zeit zu machen,
konnte mit dem Ding-an-sich im Grunde nichts mehr anfangen. Bei aller aus¬
drücklichen Abkehr von dem metaphysischen Idealismus der Nachfolger Kants
kam eine Rückkehr zu dem kantischen Dualismus von Ding-an-sich und
Erscheinung nicht mehr in Betracht. Nur durch eine Umdeutung des Kantischen
Gedankens ließ sidi der Wortlaut Kants den eigenen, selbstverständlich ge¬
wordenen Überzeugungen anpassen, denen zufolge der Idealismus die totale
Bestimmung des Gegenstandes durch die Erkenntnis bedeutet. So wurde das
Ding-an-sich als das bloße Richtungsziel einer unendlichen Aufgabe des Fort¬
bestimmens verstanden, und selbst Husserl, der im Unterschied zum Neu¬
kantianismus weniger vom Faktum der Wissenschaft ausging als vielmehr von
der alltäglichen Erfahrung, suchte der Lehre vom Ding-an-sich eine phäno¬
menologische Ausweisung zu geben, indem er davon ausging, daß die verschie¬
denen Abschattungen des Wahrnehmungsdinges das Kontinuum der einen Er¬
fahrung bilden. Nichts anderes könne mit der Lehre vom Ding-an-sich gemeint
sein als eben diese kontinuierliche Überführbarkeit eines Aspektes des Dinges
in den anderen, durch die der einheitliche Zusamenhang unserer Erfahrung er¬
möglicht wird. Audi Husserl verstand also die Idee des Dings-an-sich von der
Idee des Fortschritts unserer Erkenntnis aus, die in der wissenschaftlichen For¬
schung ihre letzte Ausweisung hat.
Auf dem Gebiete der Moralphilosophie gibt es freilich nichts Vergleichbares.
Denn seit Rousseau und Kant war es nicht mehr möglich, eine moralische Per-
fektibilität des Menschengeschlechtes anzunehmen. Doch fand auch hier die
phänomenologische Kritik am Neukantianismus ihren Ansatzpunkt, und zwar
an dem Formalismus der kantischen Moralphilosophie. Kants Ausgangspunkt
beim Phänomen der Pflicht und seine Aufweisung der Unbedingtheit des kate¬
gorischen Imperativs schienen jede inhaltliche Erfüllung dessen, was das Sitten¬
gesetz gebietet, aus der Moralphilosophie zu verweisen. Max Schelers Kritik
am Formalismus der kantischen Ethik, so schwach sie im Negativen der Kritik
war, erwies durch den Entwurf einer materialen Wertethik ihre eigene Frucht¬
barkeit. Auch stellte Schelers phänomenologische Kritik am neukantianischen
Erzeugungsbegriff einen wichtigen Anstoß dar, der insbesondere Nicolai Hart¬
mann zur Abwendung vom Neukantianismus und zur Konzeption seiner
Metaphysik der Erkenntnis führte2. Daß die Erkenntnis keinerlei Verände-

2 Das früheste Dokument hierfür ist die Scheler-Rezension, die N. Hartmann be¬
reits im Frühjahr 1914 in der Zeitschrift ,Die Geisteswissenschaften“ veröffentlicht
Die Natur der Sache und die Sprache der Dinge 63

rung des Erkannten bewirkt - geschweige denn seine Erzeugung meint daß
alles, was ist, vielmehr gleichgültig dagegen ist, ob es erkannt wird oder nicht,
schien ihm gegen jede Form des transzendentalen Idealismus, auch gegen die
Husserlsche Konstitutionsforschung zu sprechen. Positiv glaubte Nicolai Hart¬
mann in der Anerkennung des Ansichseins des Seienden und seiner Unab-
hängigkeit von aller menschlichen Subjektivität den Weg zu einer neuen
Ontologie zu bahnen. So geriet er in die Nähe des .kritischen Realismus',
der gleichzeitig audr in England - und dort in voller Breite - zum Siege
kam.
Solche Abkehr von der transzendentalphilosophischen Reflexion ist aber,
wie ich glaube, ein massives Mißverständnis ihres Sinnes, die Folge jenes Nie¬
dergangs der philosophischen Erkenntnis, der mit Hegels Tod einsetzte. Es hat
seine Gründe, wenn sich solche Abkehr immer wieder, auch im Philosophieren
unserer Tage, wiederholt. Wenn man etwa die überlegene Seinswirklichkeit der
göttlich gestifteten Ordnung, an der unser eigenmächtiges Wollen zuschanden
wird (Gerhard Krüger), oder gegen den Menschen und seine Geschichte die
Gleichgültigkeit der natürlichen Welt (Karl Löwith) ausspielte, so läßt sich
solche polemische Abkehr als eine Berufung auf die Natur der Sache verstehen.
Indessen scheint mir eine solche Berufung auf die Natur der Sache an der ge¬
meinsamen Voraussetzung, die unbefragt alle diese Versuche zur Wiederher¬
stellung des Ansichseins der Dinge beherrscht, ihre Begrenzung zu finden. Es ist
die Voraussetzung, daß die menschliche Subjektivität Wille ist, die auch dort in
fragloser Geltung ist, wo man der Willensbestimmtheit des menschlichen Seins
das Ansichsein als ihre Grenze entgegenstellt. Der Sache nach bedeutet das
nämlich, daß diese Kritiker des modernen Subjektivismus von dem, was sie
kritisieren, gar nicht wahrhaft frei sind, sondern den Gegensatz nur nach der
anderen Seite hin artikulieren. Sie stellen der Einseitigkeit des Neukantianis¬
mus, der den Fortschritt der wissenschaftlichen Kultur zum Leitfaden nimmt,
die Einseitigkeit einer Metaphysik des Ansichseins entgegen, die in Wahrheit
mit ihrem Gegner die Vorherrschaft der Willensbestimmtheit teilt.
Man muß sich angesichts dieser Sachlage fragen, ob die Parole von der Natur
der Sache nicht ein fragwürdiger Kampfruf ist, und ob nicht allen diesen Ver¬
suchen gegenüber die klassische Metaphysik eine wahre Überlegenheit beweist
und eine fortbestehende Aufgabe stellt. Die Überlegenheit der klassischen
Metaphysik scheint mir darin zu bestehen, daß sie über den Dualismus von
Subjektivität und Wille auf der einen Seite, Objekt und Ansichsein auf der
anderen Seite, von vornherein hinaus ist, indem sie die vorgängige Entspre¬
chung des einen und des anderen denkt. Freilich ist es eine theologische Ent¬
sprechung, auf der der Wahrheitsbegriff der klassischen Metaphysik, die Ange¬
messenheit der Erkenntnis an die Sache, beruht. Denn es ist ihrer beider

hat. (Kleine Schriften III, 365 ff.) Vgl. meine eigene Arbeit .Metaphysik der Er¬
kenntnis' im ,Logos', 1924.
64 Die Natur der Sache und die Sprache der Dinge

Kreatürlichkeit, worin Seele und Sache geeint sind. Wie die Seele geschaffen ist,
mit dem Seienden zusammenzukommen, so ist die Sache geschaffen, wahr, und
das heißt erkennbar zu sein. Es ist der unendliche Geist des Schöpfers, in dem
sich so auflöst, was für den endlichen Geist ein unauflösbares Rätsel scheint.
Das Wesen und die Wirklichkeit der Schöpfung selbst besteht darin, solche
Zusammenstimmung von Seele und Sache zu sein.
Nun kann sich die Philosophie einer solchen theologischen Begründung ge¬
wiß nicht mehr bedienen und wird auch die säkularisierten Gestalten der¬
selben, wie sie der spekulative Idealismus mit seiner dialektischen Vermittlung
von Endlichkeit und Unendlichkeit darstellt, nicht wiederholen wollen. Aber
der Wahrheit dieser Entsprechung wird sie auch ihrerseits sich nicht ver¬
schließen dürfen. In diesem Sinne besteht die Aufgabe der Metaphysik fort,
freilich als eine Aufgabe, die nicht selber wieder als Metaphysik, d. h. im Rück¬
gang auf einen unendlichen Intellekt, gelöst werden kann. So stellt sich die
Frage: gibt es endliche Möglichkeiten, dieser Entsprechung gerecht zu werden?
Gibt es eine Begründung dieser Entsprechung, die sich nicht zu der Unendlich¬
keit eines göttlichen Geistes vermißt und doch der unendlichen Entsprechung
von Seele und Sein gerecht zu werden vermag? Ich meine, es gibt sie. Es gibt
einen Weg, auf den das Philosophieren immer deutlicher gewiesen wird, der
diese Entsprechung bezeugt. Es ist der Weg der Sprache.
Es scheint mir kein Zufall, daß das Phänomen der Sprache in den letzten
Jahrzehnten ins Zentrum der philosophischen Fragestellung gerückt ist. Viel¬
leicht kann man sogar sagen, daß sich unter diesem Zeichen selbst die größte
Kluft philosophischer Art, die heute zwischen den Völkern besteht, zu über¬
brücken beginnt, nämlich der Gegensatz zwischen dem Extrem des angelsäch¬
sischen Nominalismus auf der einen Seite und der metaphysischen Tradition
des Kontinents auf der anderen Seite. Jedenfalls nähert sich die Sprachanalyse,
die sich aus der Durchreflexion der Problematik logischer Kunstsprachen in
England und Amerika entwickelt hat, in auffallender Weise der Forschungs¬
gesinnung der phänomenologischen Schule E. Flusserls. Wie in ihrer Fort¬
entwicklung durch M. Heidegger die Anerkennung der Endlichkeit und Ge¬
schichtlichkeit des menschlichen Daseins die Aufgabe der Metaphysik in ihrem
Wesen verwandelt hat, so ist mit der Anerkennung der selbständigen Bedeu¬
tung der gesprochenen Sprache der antimetaphysische Affekt des logischen
Positivismus der Auflösung verfallen (Wittgenstein). Von der Information
bis zum Mythos und der Sage, die zugleich eine ,Zeige' ist (Martin Heidegger),
macht die Sprache das gemeinsame Thema aller aus. Man muß sich nun, wie
ich meine, die Frage stellen, ob Sprache, wenn man sie wahrhaft denken will,
nicht am Ende ,Sprache der Dinge“ heißen muß und ob es nicht die Sprache
der Dinge ist, in der sich die ursprüngliche Entsprechung von Seele und Sein
so ausweist, daß auch endliches Bewußtsein von ihr wissen kann.
Daß die Sprache die Mitte ist, durch die sich das Bewußtsein mit dem Seien¬
den zusammenschließt, ist an sich keine neue Behauptung. Schon Hegel hat die
Die Natur der Sache und die Sprache der Dinge 65

Sprache die Mitte des Bewußtseins genannt, durch die sich der subjektive Geist
mit dem Sein der Objekte vermittelt, und in unserer Zeit hat Ernst Cassirer
den schmalen Ausgangspunkt des Neukantianismus, das Faktum der Wissen¬
schaft, zu einer Philosophie der symbolischen Formen ausgeweitet, die nicht nur
Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften in eins umfaßte, sondern dem
gesamten menschlichen Kulturverhalten eine transzendentale Begründung
geben sollte.
Cassirer ging davon aus, daß Sprache, Kunst und Religion Formen der
Repräsentation, d. h. der Darstellung von etwas Geistigem in etwas Sinnlichem
sind. In der transzendentalen Reflexion auf diese Formen aller geistigen Ge¬
staltung müsse sich der transzendentale Idealismus zu einer neuen und wahren
Universalität erheben lassen. Die symbolischen Formen nämlich seien Gestalt¬
werdungen des Geistes in der flüchtigen Zeitlichkeit sinnlicher Erscheinung und
stellten insofern die verbindende Mitte dar, als sie ebensosehr objektive Er¬
scheinung wie Spur des Geistes seien. — Man muß sich freilich fragen, ob eine
solche Analytik der geistigen Grundkräfte, wie sie Cassirer vorschwebe, der
Einzigartigkeit des Phänomens der Sprache wirklich Rechnung trägt. Denn
Sprache steht nicht neben Kunst und Recht und Religion, sondern stellt das
tragende Medium für alle diese Erscheinungen dar. Dem Begriff der Sprache
wird dadurch innerhalb der symbolischen, d. h. Geist aussprechenden Formen
nicht bloß eine besondere Auszeichnung verliehen, vielmehr ist die Sprache,
solange sie als symbolische Form gedacht ist, überhaupt noch nicht in ihren
wahren Dimensionen erkannt. Schon an die idealistische Sprachphilosophie,
die von Herder und Humboldt ausgeht, läßt sich vielmehr die kritische Frage
richten, die die Philosophie der symbolischen Formen mittrifft, ob sie nicht die
Sprache von dem in ihr Gesprochenen und durch sie Vermittelten isoliert, in¬
dem sie auf ihre ,Formc gerichtet ist. Liegt nicht die eigentliche Wirklichkeit
der Sprache, durch die sie die Entsprechung, die wir suchen, darstellt, gerade
darin, daß sie keine formale Kraft und Fähigkeit ist, sondern ein vorgängiges
Umfaßtsein alles Seienden durch sein mögliches Zursprachekommen? Ist nicht
die Sprache weniger die Sprache des Menschen als die Sprache der Dinge?
Unter dem Gesichtspunkt dieser Frage gewinnt die innere Zusammen¬
gehörigkeit von Wort und Ding, wie sie am Anfang des Denkens über Sprache
zum Problem erhoben wurde, an Interesse. Gewiß ist die Frage nach der Rich¬
tigkeit der Namen, die die Griechen stellen, nur mehr ein letzter Nachklang
jener Wortmagie, die das Wort als die Sache selbst, bzw. als ihr stellvertreten¬
des Sein versteht. Und gewiß setzt das Philosophieren der Griechen mit der
Auflösung solchen Namenszaubers ein und tut seine ersten Schritte als Sprach-
kritik. Gleichwohl bewahrt es in sich selbst so viel von der naiven Selbstver¬
gessenheit ursprünglicher Welterfahrung, daß ihm das im Logos erscheinende
Wesen der Dinge als das Sichdarstellen des Seienden selber gilt. Wenn Platon
im Phaidon die Flucht in die Logoi als seine zweitbeste Fahrt bezeichnet, weil
hier das Seiende nur im Spiegelbild des Logos statt in seiner leibhaften Wirk-

5 Gadamer, Schriften I
66 Die Natur der Sache und die Sprache der Dinge

lichkeit betrachtet werde, so liegt über einer solchen Äußerung ein Hauch von
Ironie. Am Ende wird das wahre Sein der Dinge gerade in ihrer sprachlichen
Erscheinung, nämlich in der Idealität ihres Gemeintseins, zugänglich, das sich
dem gedankenlosen Blicke der Erfahrung verschließt, freilich so, daß das Ge¬
meintsein als solches, mithin die Sprachlichkeit des Erscheinens der Dinge, nicht
als solches erfahren wird. Indem nämlich die Metaphysik das wahre Sein der
Dinge als die Wesenheiten versteht, die dem ,Geiste' zugänglich werden, wird
die Sprachlichkeit dieser Seinserfahrung verdeckt.
So denkt auch der christliche Erbe der griechischen Metaphysik, das schola¬
stische Mittelalter, das Wort ganz von der specics her, als ihre Perfektion,
ohne das Rätsel ihrer Inkarnation zu erfassen. Die Sprachlichkeit der Welt¬
erfahrung, an der sich das metaphysische Denken ursprünglich orientierte,
wird am Ende zu etwas Sekundärem und Kontingentem, das den denkenden
Blick auf die Dinge durch sprachliche Konventionen schematisiert und von
ursprünglicher Seinserfahrung abschließt. In Wahrheit ist es freilich doch die
Sprachlichkeit der Welterfahrung, die sich hinter dem Schein der Vorgängig¬
keit der Dinge vor ihrer sprachlichen Erscheinung verbirgt. Insbesondere ist
es der Schein der universalen Objektivierungsmöglichkeit von allem und je¬
dem, der durch die Universalität der Sprache gestützt wird und durch den sie
sich selber gänzlich verdunkelt. Indem die Sprache - wenigstens in der indo¬
germanischen Sprachenfamilie - über die Möglichkeit verfügt, die allgemeine
Nennungsfunktion auf jeden beliebigen Satzteil auszudehnen und alles zum
Subjekt möglicher weiterer Aussagen zu machen, errichtet sie den universalen
Schein der Verdinglichung, der sie selber zum bloßen Mittel der Verständigung
herabsetzt. Auch die moderne Sprachanalytik, so sehr sie die verbalistischen
Verführungen der Sprache durch Ausarbeitung künstlicher Zeichensysteme
aufzudecken sucht, stellt die Grundvoraussetzung einer solchen Objektivier-
barkeit nicht in Frage. Sie lehrt vielmehr nur durch ihre eigene Selbstbegren¬
zung, daß es aus dem Bannkreis der Sprache keine wirkliche Befreiung durch
Einführung künstlicher Zeichensysteme gibt, sofern alle solche Systeme die
natürliche Sprache schon voraussetzen. Wie die klassische Sprachphilosophie
die Frage nach dem Ursprung der Sprache als eine unhaltbare Fragestellung
aufdeckte, führt auch die Durchreflexion der Idee einer Kunstsprache zur
Selbstaufhebung dieser Idee und damit zur Legitimierung der natürlichen
Sprachen. Was aber damit impliziert ist, bleibt in der Regel ganz ungedacht.
Gewiß weiß man, daß Sprachen ihre Wirklichkeit überall dort haben, wo sie
gesprochen werden, d. h. wo sich Menschen miteinander zu verständigen
wissen. Aber was ist das für ein Sein, das der Sprache zukommt? Das eines
Verständigungsmittels? Schon Aristoteles hat, wie mir scheint, auf den wahren
Seinscharakter der Sprache hingedeutet, indem er den Begriff der ,Syntheke‘
von seinem naiven Sinn von ,Konvention' ablöste.
Indem er alle Stiftung und Entstehung aus dem Begriff der ,Syntheke‘
ausschloß, wies er in die Richtung jener Entsprechung von Seele und Welt, die
Die Natur der Sache und die Sprache der Dinge 67

am Phänomen der Sprache als solcher aufleuchtet, auch unabhängig von der
gewaltigen Extrapolation eines unendlichen Geistes, durch welche die Meta¬
physik dieser Entsprechung eine theologische Begründung gab. Das Verstän¬
digtsein über die Dinge, das sich in der Sprache vollzieht, besagt als solches
weder einen Vorrang der Dinge noch einen Vorrang des menschlichen Geistes,
der sich des sprachlichen Verständigungsmittels bedient. Vielmehr ist die Ent¬
sprechung, die in der sprachlichen Welterfahrung ihre Konkretion findet, als
solche das schlechthin Vorgängige.
Das läßt sich besonders schön an einem Phänomen verdeutlichen, das selbst
ein strukturelles Moment alles Sprachlichen ausmacht, nämlich am Rhythmus.
Wie schon Richard Hönigswald in seiner denkpsychologischen Analyse betont
hat, liegt das Wesen des Rhythmus in einem eigentümlichen Zwischenbereich
von Sein und Seele. Die Folge, die durch den Rhythmus rhythmisiert wird,
stellt nicht notwendig den Eigenrhythmus der Phänomene dar. Vielmehr kann
auch in eine gleichmäßige Folge die Rhythmisierung erst hineingehört werden,
so daß sie als eine rhythmisch gegliederte erscheint - oder besser: es kann nicht
nur, sondern es muß eine solche Rhythmisierung am Ende immer erfolgen, wo
eine gleichmäßige Folge vom Gemüt aufgefaßt werden soll. Was heißt hier:
es muß? Gegen die Natur der Dinge? Doch offenbar nicht. Was heißt dann
aber noch ,Eigenrhythmus der Phänomene*? Sind sie nicht gerade, was sie
sind, erst, indem sie so rhythmisch oder rhythmisiert vernommen werden?
Ursprünglicher als jene akustische Folge auf der einen Seite und jene rhythmi¬
sierende Auffassung auf der anderen Seite ist also die Entsprechung, die zwi¬
schen beiden waltet.
Davon wissen insbesondere die Dichter, die sich über die Verfahrensweise
des poetischen Geistes, der in ihnen waltet, Rechenschaft zu geben versuchen,
wie etwa Hölderlin. Es ist eine rhythmische Erfahrung, die sie beschreiben,
wenn sie von der poetischen Urerfahrung sowohl die Vorgegebenheit der
Sprache als auch die Vorgegebenheit der Welt, d. h. der Ordnung der Dinge,
fernhalten und die dichterische Konzeption als das Sicheinschwingen von Welt
und Seele im dichterischen Sprachewerden beschreiben. Das Gebilde des Ge¬
dichts, das so Sprache wird, verbürgt als ein Endliches das einander Zuge¬
sprochensein von Seele und Welt. Es ist hier, daß das Sein der Spradie seine
zentrale Stellung erweist. Der Ausgang von der Subjektivität, wie er dem
neueren Denken natürlich geworden ist, führt dabei ganz in die Irre. Sprache
ist nicht als ein vorgängiger Weltentwurf der Subjektivität zu denken, weder
als der eines einzelnen Bewußtseins noch als der eines Volksgeistes. Das sind
alles Mythologien, genau wie der Begriff des Genies, der in der ästhetischen
Theorie deswegen eine so beherrschende Rolle spielt, wed er das Zustande¬
kommen des Gebildes als eine unbewußte Produktion verstehen und damit
aus der Analogie zu dem bewußten Produzieren deuten lehrt. Das Kunstwerk
ist aber so wenig von der planmäßigen Ausführung eines Entwurfs - sei es
auch eines nachtwandlerisch unbewußten - her zu verstehen, wie der Gang der
68 Die Natur der Sache und die Sprache der Dinge

Weltgeschichte für unser endliches Bewußtsein als die Ausführung eines Planes
gedacht werden darf. Glück und Gelingen verführen vielmehr hier wie dort
zu oracula ex eventu, die das Ereignis, von dem sie ausgesagt werden, das
Wort oder die Tat, in Wahrheit verdecken.
Es scheint mir eine Folge des modernen Subjektivismus, daß die Selbstinter¬
pretation in allen solchen Bereichen einen sachlich ungerechtfertigten Vorrang
erhalten hat. In Wahrheit wird man einem Dichter für die Erklärung seiner
Verse kein Privileg zugestehen dürfen, so wenig wie einem Staatsmann für
die historische Erklärung der Ereignisse, an denen er selber handelnd beteiligt
war. Der echte Begriff von Selbstverständnis, der in allen solchen Fällen allein
anwendbar ist, ist nicht von dem Modell des vollendeten Selbstbewußtseins aus
zu denken, sondern von der religiösen Erfahrung aus. Sie schließt immer schon
ein, daß die Irrwege des menschlichen Selbstverständnisses nur durch göttliche
Gnade zu ihrem wahren Ende finden, d. h. zu der Einsicht, auf allen Wegen
zum eigenen Heile geführt worden zu sein. Alles menschliche Selbstverständnis
ist in sich durch sein Ungenügen bestimmt. Das gilt gerade auch von Werk und
Tat. Kunst und Geschichte entziehen sich daher ihrem eigenen Sein nach der
Deutung von der Subjektivität des Bewußtseins her. Sie gehören jenem herme¬
neutischen Universum an, das durch die Vollzugsweise und Wirklichkeit der
Sprache, die alles einzelne Bewußtsein übersteigt, charakterisiert ist3. In der
Sprache, in der Sprachlichkeit unserer Welterfahrung, liegt die Vermittlung
von Endlichem und Unendlichem, die uns als endlichen Wesen angemessen
ist. Was in ihr ausgelegt ist, ist eine stets endliche Erfahrung, die gleichwohl
nirgends an eine Schranke stößt, an der ein unendlich Gemeintes nur noch
geahnt und nicht mehr gesagt werden kann. Ihr eigener Fortgang ist niemals
begrenzt und ist doch keine fortschreitende Annäherung an einen gemeinten
Sinn, sondern ist in jedem seiner Schritte beständige Repräsentation dieses
Sinnes. Es ist das Gelungensein des Werkes, nicht das von ihm nur Gemeinte,
das seinen Sinn ausmacht. Es ist das treffende Wort, und nicht das in die Sub¬
jektivität des Meinens verborgene, das den Sinn zur Aussage bringt. Es ist die
Überlieferung, die unseren geschichtlichen Horizont öffnet und eingrenzt -
und nicht ein opakes Geschehen der ,an sich' geschehenden Geschichte.
So gewinnt die Abweisung des Meinens, die wir als den gemeinsamen Zug
in der Rede von der Natur der Sache und der Sprache der Dinge vernehmen,
einen positiven Sinn und konkrete Erfüllung. Damit aber tritt die Spannung,
die zwischen diesen beiden Redensarten besteht, erst in ihr wahres Licht. Was
als dasselbe erschien, ist nicht dasselbe. Es ist etwas anderes, ob von der Subjek¬
tivität des Meinens und der Eigenmächtigkeit des Wollens aus eine Grenze
erfahren wird oder ob von der vorgängigen Eingespieltheit des Seienden in die
spracherschlossene Welt her gedacht wird. Nicht an der Natur der Sache, die

3 Vgl. außer ,Wahrheit und Methode' (21965) den unten S. 101-112 abgedruckten
Aufsatz.
Die Natur der Sache und die Sprache der Dinge 69

sich dem Andersmeinen entgegenstellt und Achtung erzwingt, sondern an der


Sprache der Dinge, die so gehört werden will, wie die Dinge sich zur Sprache
bringen, scheint mir die unserer Endlichkeit angemessene Erfahrung jener Ent¬
sprechung möglich, welche einst die Metaphysik als die ursprüngliche Ange¬
messenheit alles Geschaffenen aneinander und insbesondere als die Anmessung
der geschaffenen Seele an die geschaffenen Dinge lehrte.
ZUR PROBLEMATIK DES SELBSTVERSTÄNDNISSES

Ein hermeneutischer Beitrag zur Frage der ,Entmythologisierung“

Wer das ungeheure Aufsehen miterlebt hat, das das Erscheinen von Rudolf
Bultmanns programmatischem Aufsatz über die Entmy thologisierung des Neuen
Testaments seinerzeit hervorgerufen hat, und die bis heute gehende Fortwir¬
kung desselben bedenkt, kann sich nicht darüber täuschen, daß es theologische
und speziell dogmatische Probleme sind, die hier ins Spiel kommen. Für den
Kenner der theologischen Arbeit Bultmanns war dieser Aufsatz alles andere
als sensationell. Er formulierte nur, was in der exegetischen Arbeit des Theo¬
logen seit langem geschah. Eben das aber ist der Punkt, an dem eine philo¬
sophische Besinnung zur theologischen Diskussion beizutragen vermag. Ohne
Frage hat das Problem der Entmythologisierung auch einen allgemeinen her¬
meneutischen Aspekt. Die theologisdien Probleme betreffen nicht das herme¬
neutische Phänomen der Entmythologisierung als solches, sondern das dogma¬
tische Resultat derselben: Ob die Grenzen dessen, was einer Entmythologi¬
sierung verfällt, vom dogmatischen Standpunkte der protestantischen Theo¬
logie aus bei Bultmann richtig gezogen sind oder nicht. Die folgenden Erörter¬
ungen wollen den hermeneutischen Aspekt des Problems unter einem Gesichts¬
punkt beleuchten, der mir bisher noch nicht genug zur Geltung gekommen
scheint: Sie stellen die Frage, ob das Verständnis des Neuen Testaments vom
Leitbegriff des Selbstverständnisses des Glaubens her zureichend verstanden
werden kann, oder ob ein ganz anderes Moment, das das Selbstverständnis
des einzelnen, ja sein Selbstsein überspielt, dabei wirksam ist. In dieser Ab¬
sicht soll hier das Verhältnis von Verstehen und Spielen herangezogen werden.
Dazu bedarf es einiger vorbereitender Überlegungen, die dem hermeneutischen
Aspekt seinen Ort anweisen.
Die erste Feststellung, die man dabei machen muß, ist, daß Verstehen als
hermeneutische Aufgabe stets schon eine Dimension der Reflexion einschließt.

Überarbeitung eines auf Einladung von E. Castelli in Rom 1961 gehaltenen Vor¬
trags, der unter dem Titel ,Intendimento e Rischio“ auf Italienisch, unter dem Titel
,Verstehen und Spielen“ auf Deutsch in Kerygma und Mythos, Bd. 6, 1, Theologische
Forschung 30, Hamburg 1963 erschienen ist. Erstdruck dieser Fassung in: Einsichten,
Festschrift für Gerhard Krüger zum 60. Geburtstag. Vittorio Klostermann Verlag.
Frankfurt/M. 1962.
Z#r Problematik des Selbstverständnisses 71

Verstehen ist keine bloße Reproduktion einer Erkenntnis, d. h. nicht ein bloßer
wiederholter Vollzug derselben, sondern ist sich der Wiederholtheit ihres Voll¬
zuges selber bewußt. Es ist, wie schon August Boeckh formuliert hat, ein Er¬
kennen des Erkannten. Diese paradoxe Formulierung faßt die Einsichten der
romantischen Hermeneutik zusammen, der die reflexive Struktur des herme¬
neutischen Phänomens klar geworden war. Der Vollzug des Verstehens er¬
fordert, das im Vollzug einer Erkenntnis Unbewußte zum Bewußtsein zu
bringen. Die romantische Hermeneutik gründet sich damit auf einen Funda¬
mentalbegriff der Kantischen Ästhetik, den Begriff des Genies, der das muster¬
hafte Werk ,bewußtlos' — wie die Natur selber —, d. h. ohne bewußte Anwen¬
dung von Regeln und nicht durch bloße Nachahmung von Vorbildern schafft.
Damit ist die besondere Lage schon charakterisiert, in der sich das herme¬
neutische Problem stellt. Offenbar stellt es sich nicht, solange es sich um bloße
Aufnahme und originäre Weiterbildung einer bestimmten geistigen Tradition
handelt, wie es z. B. bei der humanistischen Wiederentdeckung des klassischen
Altertums der Fall war, die viel eher Nachahmung und unmittelbare Nach¬
folge, ja unmittelbaren Wettbewerb mit den antiken Autoren zum Ziele hatte,
als ein bloßes ,Verstehen* derselben. Das hermeneutische Problem stellt sich
offenbar nur dort, wo keine solche machtvolle Tradition das eigene Verhalten
zu ihr in sich einsaugt, sondern wo das Bewußtsein aufbricht, daß einer der
Überlieferung, die auf ihn kommt, wie etwas Fremdem gegenübertritt, sei es,
daß er ihr überhaupt nicht zugehört, sei es, daß die Tradition, die ihn mit ihr
verbindet, ihn nicht mehr fraglos einnimmt.
Der letztere Fall ist der hier in Frage stehende Aspekt des hermeneutischen
Problems. Das Verstehen der christlichen Überlieferung so gut wie das des
klassischen Altertums schließt für uns historisches Bewußtsein ein. Was uns
mit der großen griechisch-christlichen Tradition verbindet, mag noch so leben¬
dig sein, das Bewußtsein der Andersheit, des nicht mehr fraglosen Zugehörens
zu dieser Tradition, bestimmt uns alle. Das wird besonders deutlich an den
Anfängen der historischen Kritik an der Überlieferung, insbesondere an den
Anfängen der Bibelkritik, wie sie von Spinoza und seinem theologisch-politi¬
schen Traktat eröffnet worden ist. Dort zeigt sich ganz klar, daß der Weg des
historischen Verstehens eine Art unvermeidlichen Umwegs ist, den der Ver¬
stehende dann einschlagen muß, wenn ihm die unmittelbare Einsicht in das in
der Überlieferung Gesagte nicht mehr möglich ist. Die genetische Fragestellung,
deren Ziel darin besteht, eine überlieferte Meinung aus der geschichtlichen
Situation zu erklären, wird nur dort aufkommen, wo die unmittelbare Ein¬
sicht in die Wahrheit des Gesagten unerreichbar ist, weil die Vernunft sich
widersetzt.
Gewiß hat es solchen Umweg historischer Erklärung nicht erst im Zeichen
der modernen Aufklärung gegeben. Angesichts des Alten Testaments etwa
stand die christliche Theologie sehr bald vor der Aufgabe, die mit der christ¬
lichen Dogmatik und Morallehre unvereinbaren Inhalte des Alten Testaments
72 7.ur Problematik des Selbstverständnisses

exegetisch zu eliminieren, und dazu diente außer der allegorischen und typo-
logischen Deutung, wie z. B. Augustinus in De Doctrina Christiana gezeigt
hat, auch historische Reflexion. Aber in solchem Falle blieb die dogmatische
Tradition der christlichen Kirche die unerschütterliche Basis. Geschichtliche
Überlegungen waren seltene und sekundäre Hilfen zum Verständnis der Heili¬
gen Schrift. — Das wird mit dem Aufkommen der neuen Naturwissenschaft und
ihrer Kritik wesentlich anders. Was sich an der Heiligen Schrift im Einklang
mit der modernen Wissenschaft aus reiner Vernunft einsehen läßt, ist ein enger
Bereich, und damit wächst gewaltig der Bereich dessen an, was man nur im
Rückgang auf geschichtliche Bedingungen verstehen kann. Für Spinoza gibt
es zwar noch eine unmittelbare Evidenz der moralischen Wahrheiten, die die
Vernunft in der Bibel erkennt. Ihre Evidenz ist im gewissen Sinne die gleiche
wie etwa die Evidenz des Euklid, der so unmittelbar der Vernunft einleuch¬
tende Wahrheiten enthält, daß die Frage nach dem geschichtlichen Ursprung
dieser Einsichten sich zunächst gar nicht stellt. Indessen sind die moralischen
Wahrheiten, die in der biblischen Überlieferung auf diese Weise evident sind,
für Spinoza nur ein kleiner Teil des Ganzen der biblischen Überlieferung. Die
Heilige Schrift im ganzen bleibt der Vernunft fremd. Wenn man sie verstehen
will, dann muß man sich auf historische Reflexion einlassen, wie z. B. im Falle
der Wunderkritik.
Nun ist es die in der ausgehenden Romantik durchdringende Überzeugung
der totalen Fremdheit gegenüber der Überlieferung - als Kehrseite einer
totalen Andersheit der Gegenwart die zur methodischen Grundvoraus¬
setzung des hermeneutischen Verfahrens erhoben wird. Gerade dadurch wird
die Hermeneutik zu einer universalen methodischen Haltung, daß sie die
Fremdheit des zu verstehenden Inhaltes voraussetzt und damit deren Über¬
windung durch die Aneignung des Verstehens zur Aufgabe macht. So ist es
charakteristisch, daß Schleiermacher es durchaus keine absurde Vorstellung
findet, selbst die Prinzipien eines Euklid historisch, d. h. im Rückgang auf die
fruchtbaren Lebensausblicke im Leben des Euklid zu verstehen, in denen diese
Einsichten zustande kamen. An die Stelle der unmittelbaren Sacheinsicht tritt
als die eigentlich methodisch-wissenschaftliche Haltung das psychologisch¬
historische Verstehen. Damit erst wird die Bibelwissenschaft, die Theologie in
ihrem exegetischen Aspekt, auf den Rang einer echten historisch-kritischen Wis¬
senschaft gehoben. Die Hermeneutik wird das allgemeine Organ der histori¬
schen Methode. Bekanntlich hat die Durchführung dieser historisch-kritischen
Gesinnung im Gebiete der biblischen Exegese zu schweren Spannungen zwi¬
schen Dogmatik und Exegese geführt, die bis in die heutige Zeit hinein die
theologische Arbeit am Neuen Testament durchziehen.
Die historische Schule, insbesondere in der entschiedenen Form, die ihr
schärfster Methodologe, Droysen, der Aufgabe des Historikers vindiziert hat,
hat jedoch totale objektivistische Verfremdung des Gegenstandes der Geschichte
durchaus nicht akzeptiert. Droysen hat vielmehr jene ,eunuchenhafte Objek-
Zur Problematik des Selbstverständnisses 73

tivität mit beißendem Spott verfolgt und umgekehrt die Zugehörigkeit zu


den großen sittlichen Mächten, die die Geschichte regieren, als die Vorbedin¬
gung alles historischen Verstehens ausgezeichnet. Seine berühmte Formel, Auf¬
gabe des Historikers sei es, forschend zu verstehen, hat sogar selber einen theo¬
logischen Aspekt. Die Pläne der Vorsehung sind dem Menschen verhüllt, aber
in dem rastlos forschenden Eindringen in die Zusammenhänge der Weltge¬
schichte wird dem historischen Geiste eine Ahnung des uns verhüllten Sinnes
des Ganzen zuteil. Verstehen ist hier mehr als eine universale Methode, die
okkasionell unterstützt wird durch die Affinität oder Ivongenialität des Histo¬
rikers mit seinen historischen Gegenständen. Es ist keine Frage der eigenen
zufälligen Sympathie allein, sondern in der Wahl der Gegenstände wie in der
der Gesichtspunkte, unter denen sich der Gegenstand als ein historisches Pro¬
blem stellt, ist etwas von der eigenen Geschichtlichkeit des Verstehens wirksam.
Freilich ist es für das methodische Selbstbewußtsein der historischen For¬
schung schwierig, diese Seite der Sache festzuhalten. Denn auch die historischen
Geisteswissenschaften sind von der Wissenschaftsidee der Moderne geprägt. Die
romantische Kritik am Rationalismus der Aufklärung hat zwar die Herrschaft
des Naturrechts gebrochen, aber die Wege der historischen Forschung verstehen
sich selber als Schritte zu einer totalen geschichtlichen Aufklärung des Men¬
schen über sich selbst, in deren Konsequenz noch die letzten dogmatischen Reste
der griechisch-christlichen Tradition zur Auflösung kommen mußten. Der
historische Objektivismus, der diesem Ideal entspricht, zieht seine Kraft aus
einer Idee der Wissenschaft, deren eigentlicher Hintergrund der philoso¬
phische Subjektivismus der Neuzeit ist. Sich seiner zu erwehren, war das Be¬
mühen Droysens. Erst die grundsätzliche Kritik am philosophischen Subjekti¬
vismus, die mit Heideggers ,Sein und Zeit' einsetzte, vermochte die geschichts¬
theologische Position Droysens philosophisch zu begründen und Dilthey
gegenüber, der dem modernen Wissenschaftsbegriff soviel stärker erlegen war,
als einen echten Gegenspieler aus bodenbeständigem Luthertum den Grafen
Yorck von Wartenburg zu erweisen. Indem Heidegger die Geschichtlichkeit des
Daseins nicht mehr als eine Beschränkung seiner Erkenntnismöglichkeiten und
eine Bedrohung des Ideals wissenschaftlicher Objektivität ansah, sondern in
die ontologische Problematik im positiven Sinne einholte, verwandelte sich
der Begriff des Verstehens, den die historische Schule zu methodischen Ehren
gebracht hatte, in einen universalen philosophischen Begriff. Nach ,Sein und
Zeit' ist das Verstehen die Vollzugsweise der Geschichtlichkeit des Daseins
selbst. Seine Zukünftigkeit, der grundsätzliche Charakter des Entwurfs, wie
er der Zeitlichkeit des Daseins zukommt, begrenzt sich durch die andere Be¬
stimmung der Geworfenheit, durch die nicht nur die Schranken eines souve¬
ränen Selbstbesitzes bezeichnet sind, sondern auch die positiven Möglichkeiten
geöffnet und bestimmt werden, die wir sind. Der Begriff des Selbstverständ¬
nisses, in gewisser Weise ein Erbstück des transzendentalen Idealismus, und als
solcher in unserer Zeit schon durch Husserl verbreitet, gewinnt bei Heidegger
74 Zur Problematik des Selbstverständnisses

erst seine wahre Geschichtlichkeit und wird damit auch für das theologische
Anliegen tragfähig, das Selbstverständnis des Glaubens zu formulieren. Denn
nicht ein souveränes Mit-sich-selbst-Vermitteltsein des Selbstbewußtseins,
sondern die Erfahrung seiner selbst, die einem geschieht und die im beson¬
deren, theologisch gesehen, im Anruf der Verkündigung geschieht, kann dem
Selbstverständnis des Glaubens den falschen Anspruch einer gnostischen Selbst¬
gewißheit nehmen.
Gerhard Krüger hat schon früh in einem Aufsatz über Karl Barths 'Römer-
brief’ den Ansatz der dialektischen Theologie in dieser Richtung zu radi-
kalisieren versucht, und die Marburger Jahre Heideggers gewannen viel von
ihrer unvergeßlichen Spannung durch den theologischen Gewinn, den Rudolf
Bultmann aus Heideggers Kritik am objektivistischen Subjektivismus der Neu¬
zeit zog.
Indessen ist Heidegger bei dem transzendentalen Schema, das auch den
Begriff des Selbstverständnisses in ,Sein und Zeit1 noch bestimmte, nicht
stehengeblieben. Schon in ,Sein und Zeit' war die eigentliche Frage nicht, auf
welche Weise Sein verstanden werden kann, sondern in welcher Weise Ver¬
stehen Sein ist. Denn Seinsverständnis stellt die existentiale Auszeichnung des
menschlichen Daseins dar. Schon hier also ist Sein nicht als das Resultat der
objektivierenden Leistung des Bewußtseins verstanden, wie das noch in
Husserls Phänomenologie der Fall war. Vielmehr dringt die Frage nach dem
Sein in eine ganz andere Dimension ein, wenn sie das Sein des sich verstehen¬
den Daseins selbst anvisiert. Das transzendentale Schema muß da am Ende
scheitern. Das unendliche Gegenüber des transzendentalen Ego wird in die
ontologische Fragestellung hineingenommen. In diesem Sinn beginnt schon
,Sein und Zeit' jene Seinsvergessenheit aufzuheben, die Heidegger später als
das Wesen der Metaphysik bezeichnet hat. Was er die Kehre nennt, ist nur die
Anerkennung der Unmöglichkeit, die transzendentale Seinsvergessenheit in
transzendentaler Reflexion zu überwinden. Insofern stecken all die späteren
Begriffe von Seinsgeschehen, vom Da als der Lichtung des Seins usw. bereits
als Konsequenz im ersten Ansatz von ,Sein und Zeit'.
Die Rolle, die das Geheimnis der Sprache im späteren Denken Heideggers
spielt, lehrt zur Genüge, daß die Vertiefung in die Geschichtlichkeit des Selbst¬
verständnisses nicht nur den Begriff des Bewußtseins, sondern auch den Begriff
der Selbstheit aus seiner zentralen Position vertrieben hat. Denn was ist be¬
wußtloser und selbstloser als jener geheimnisvolle Bezirk der Sprache, in dem
wir stehen und der was ist zu Worte kommen läßt, so daß Sein ,sich zeitigt'?
Was aber so von dem Geheimnis der Sprache gilt, das gilt auch von dem Be¬
griff des Verstehens. Auch dies ist nicht als eine einfache Tätigkeit des verste¬
henden Bewußtseins zu fassen, sondern als eine Weise des Seinsgeschehens
selber. Ganz formell gesprochen weist der Primat, den Sprache und Verstehen
in Heideggers Denken besitzen, auf die Vergängigkeit des Verhältnisses'
gegenüber seinen Beziehungsgliedern, dem Ich, das versteht, und dem, was
Zur Problematik des Selbstverständnisses 75

verstanden wird. Gleichwohl scheint es mir möglich, und ich habe diesen Ver¬
such in 'Wahrheit und Methode’ durchgeführt, Heideggers Aussagen über ,das
Sein' und die aus der Erfahrung der ,Kehre' entwickelte Fragerichtung im her¬
meneutischen Bewußtsein selber zur Ausweisung zu bringen. Das Verhältnis
von Verstehen und Verstandenem hat vor dem Verstehen und dem Verstan¬
denen den Primat, genau wie das Verhältnis von Sprechendem und Gespro¬
chenem auf einen Bewegungsvollzug weist, der weder im einen noch im an¬
deren Gliede der Relation seine feste Basis hat. Verstehen ist nicht mit jener
selbstverständlichen Sicherheit Selbstverständnis, mit der es der Idealismus
behauptete, aber auch nicht mit jener revolutionären Kritik am Idealismus
erschöpft, die den Begriff des Selbstverständnisses als etwas denkt, das dem
Selbst geschieht, und durch das es zum eigentlichen Selbst wird. Ich glaube
vielmehr, daß im Verstehen ein Moment der Selbst-losigkeit ist, das auch für
eine theologische Hermeneutik Beachtung verdient und das am Leitfaden der
Struktur des Spieles untersucht werden sollte.
Hier nun sieht man sich unmittelbar auf die Antike zurückverwiesen und
auf das eigentümliche Verhältnis von Mythos und Logos, das am Anfang des
griechischen Denkens steht. Das geläufige Aufklärungsschema, demzufolge der
Vorgang der Entzauberung der Welt mit Notwendigkeit vom Mythos zum
Logos führt, scheint mir ein modernes Vorurteil. Legt man dieses Schema
zugrunde, wird es z. B. unbegreiflich, wie die attische Philosophie sich den
Tendenzen der griechischen Aufklärung entgegenstellen und zwischen religiöser
Tradition und philosophischem Gedanken eine säkulare Versöhnung begrün¬
den konnte. Wir verdanken Gerhard Krüger die meisterhafte Aufhellung der
religiösen Voraussetzungen des griechischen und insbesondere des platonischen
Philosophierens. Die Geschichte von Mythos und Logos im ursprünglichen
Griechenland hat eine ganz anders komplizierte Struktur, als das Schema der
Aufklärung nahelegt. Man kann angesichts dieser Tatsache sogar das große
Mißtrauen begreifen, das die altertumswissenschaftliche Forschung dem reli¬
giösen Quellenwert des Mythos gegenüber nährt, und den Vorzug, den sie den
stabilen Formen der kultischen Tradition zugesteht. Denn die Wandlungs¬
fähigkeit des Mythos, seine Offenheit für immer neue Interpretationen durch
die Dichter, zwingt schließlich zu der Einsicht, daß es eine falsch gestellte Frage
ist, in welchem Sinne ein solcher antiker Mythos ,geglaubt' worden ist, und ob
er etwa dort schon nicht mehr geglaubt wird, wo er ins dichterische Spiel ein¬
geht. In Wahrheit ist der Mythos offenbar dem denkenden Bewußtsein so
innerlich verwandt, daß selbst die philosophische Explikation des Mythos
in der Sprache des Begriffes nichts wesenhaft Neues hinzubringt zu jenem be¬
ständigen Hin und Her zwischen Entdeckung und Verhüllung, zwischen ehr¬
furchtsvoller Scheu und geistiger Freiheit, der die gesamte Geschichte des grie¬
chischen Mythos begleitet. Es ist nützlich, sich daran zu erinnern, wenn man
jenen Begriff von Mythos richtig verstehen will, der in Bultmanns Programm
der Entmythologisierung impliziert ist. Was Bultmann dort das mythische
76 Zur Problematik des Selbstverständnisses

Weltbild nennt und mit dem Weltbild der Wissenschaft kontrastiert, das als
Weltbild uns allen wahr erscheinen kann, hat schwerlich den Ton von End¬
gültigkeit, den man ihm in dem Streit um dieses Programm verliehen hat. Im
Grunde ist das Verhältnis eines christlichen Theologen zur biblischen Tradition
nicht so grundverschieden von dem des Griechen zu seinen Mythen. Die zu¬
fällige und in gewissem Sinne gelegentliche Formulierung des Begriffs der Ent-
mythologisierung, die Bultmann vornahm, in Wahrheit die Summe seiner
gesamten exegetischen Theologie, hatte alles andere als einen aufklärerischen
Sinn. Der Schüler der liberalen historischen Bibelwissenschaft suchte vielmehr
in der biblischen Überlieferung das, was sich gegen alle historische Aufklärung
behauptet, das, was der eigentliche Träger der Verkündigung, des Kerygmas,
ist und den eigentlichen Anruf des Glaubens darstellt.
Es ist dieses positive dogmatische Interesse, das den Bultmannschen Begriff
prägt, und nicht das Interesse einer fortschreitenden Aufklärung. Sein Begriff
des Mythos ist also ein ganz deskriptiver Begriff. Ihm haftet etwas Geschicht¬
lich-Zufälliges an, und jedenfalls handelt es sich, so fundamental das theologische
Problem, das in dem Begriff einer Entmythologisierung des Neuen Testaments
liegt, sein mag, dabei um eine Frage der praktischen Exegese, die das herme¬
neutische Prinzip aller Exegese in keinem Falle berührt. Sein hermeneutischer
Sinn ist vielmehr gerade darin beschlossen, daß man keinen bestimmten Begriff
von Mythos dogmatisch fixieren darf, von dem aus man ein für allemal festzu¬
legen hat, was und was nicht innerhalb der Heiligen Schrift für den modernen
Menschen durch die wissenschaftliche Auklärung als bloßer Mythos entlarvt
worden ist. Nicht von der modernen Wissenschaft aus, sondern positiv, von der
Aufnahme des Kerygmas her, vom inneren Anspruch des Glaubens aus, muß
sich bestimmen, was bloßer Mythos ist. Ein anderes Beispiel solcher ,Ent¬
mythologisierung' ist eben die große Freiheit, die der griechische Dichter an¬
gesichts der mythischen Tradition seines Volkes besaß und betätigte. Audi sie
ist nicht ,Aufklärung', sondern es ist ein religiöser Grund, auf dem der
Dichter seine geistige Kraft und sein kritisches Recht ausübt. Man denke nur an
Pindar oder an Aischylos. So ergibt sich die Notwendigkeit, über die Bezie¬
hung, die zwischen Glauben und Verstehen statthat, einmal im Blick auf die
Freiheit des Spieles nachzudenken.
Den tödlidien Ernst des Glaubens und die Beliebigkeit des Spiels zusammen¬
zubringen, mag zunächst überraschend scheinen. In der Tat würde sich der
Sinn dieser Gegenüberstellung völlig aufheben, wenn man in der üblichen
Weise unter Spiel und Spielen ein subjektives Verhalten verstünde und nicht
vielmehr ein dynamisches Ganzes sui generis, das seinerseits auch die Subjek¬
tivität dessen, der spielt, in sich einbezieht. Nun scheint mir gerade ein solcher
Begriff des Spiels, wie ich in meinem Buche gezeigt zu haben hoffe, der eigent¬
lich legitime und ursprüngliche zu sein, und deshalb ist der Beziehung zwischen
Glauben und Verstehen unter dem Gesichtspunkt des Spieles wirkliche Auf¬
merksamkeit zu schenken.
Zwr Problematik des Selbstverständnisses 77

Das Hin und Her einer Bewegung, die innerhalb eines gegebenen Spielraums
abläuft, ist so wenig von dem menschlichen Spiel und von dem spielenden
Verhalten der Subjektivität abgeleitet, daß ganz im Gegenteil auch für die
menschliche Subjektivität die eigentliche Erfahrung des Spieles darin besteht,
daß hier etwas zur Herrschaft kommt, was ganz seiner eigenen Gesetzlichkeit
gehorcht. Der Bewegung in einer bestimmten Richtung entspricht eine Bewe¬
gung in entgegengesetzter Richtung. Es bestimmt das Bewußtsein des Spielen¬
den, daß das Hin und Her der Spielbewegung von einer sonderbaren Freiheit
und Leichtigkeit ist. Es geht wie von selber - ein Zustand schwerelosen Gleich¬
gewichts, „wo sich das reine Zuwenig unbegreiflich verwandelt -, umspringt in
jenes leere Zuviel“. Noch die Steigerung seiner Leistung, welche dem einzelnen
aus der Wettkampfsituation zuströmt, hat etwas wie Ergriffensein von der
Leichtigkeit des Spieles, in dem er seine Rolle hat. Was immer ins Spiel ge¬
bracht wird oder im Spiele ist, hängt nicht mehr von sich selbst ab, sondern
wird eben von dem Verhältnis beherrscht, das wir Spiel nennen. Für den ein¬
zelnen, der als spielende Subjektivität sich auf das Spiel einläßt, mag sich das
zunächst wie eine Anpassung ausnehmen. Man fügt sich in das Spiel ein oder
unterwirft sich ihm, d. h. man verzichtet auf die Autonomie der eigenen Wil¬
lensmacht. Zwei Männer z. B., die miteinander eine Baumsäge führen, lassen
das freie Spiel der Säge dadurch möglich werden, daß sie, wie es scheint, sich
wechselseitig aneinander anpassen, so daß der Bewegungsimpuls des einen genau
dann einsetzt, wenn der des anderen bis zu Ende ausgespielt war. Es sieht also
so aus, als wäre das erste eine Art Verständigung zwischen beiden, ein willent¬
liches Verhalten des einen so gut wie des anderen. Aber das ist noch nicht das
Spiel. Was das Spiel ausmacht, ist nicht so sehr das subjektive Verhalten der
beiden, die einander gegenüberstehen, als vielmehr die Formation der Bewe¬
gung selbst, die wie in einer unbewußten Teleologie das Verhalten der ein¬
zelnen sich unterordnet. Es ist das Verdienst des Neurologen Viktor von
Weizsäcker, die Phänomene dieser Art experimentell erforscht und in seinem
Werk ,Der Gestaltkreis' theoretisch analysiert zu haben. Ihm verdanke ich
etwa auch den Hinweis, daß das spannungsvolle Verhalten, durch das ein
Ichneumon und eine Schlange einander Auge in Auge in Schach halten,
sich nicht als das jeweilige Reagieren des einen Partners auf den An¬
griffsversuch des anderen beschreiben läßt, sondern ein wechselseitiges Ver¬
halten von absoluter Gleichzeitigkeit darstellt. Das eigentlich Bestimmende ist
auch hier weder der eine noch der andere, sondern es ist die einheitliche Gestalt
der Bewegung im ganzen, die das Bewegungsverhalten der einzelnen in sich
einformt. In theoretischer Verallgemeinerung bedeutet dies, daß das Selbst der
einzelnen, ihr Verhalten wie ihr Verständnis ihrer selbst, gleichsam in einer
höheren Determination aufgeht, die das eigentlich Bestimmende ist.
Das ist der Gesichtspunkt, unter dem ich die Beziehung von Glauben und Ver¬
stehen sehen möchte. Das Selbstverständnis des Glaubens ist ja ganz gewiß da¬
durch bestimmt, daß der Glaube, theologisch gesehen, nicht eine Möglichkeit des
78 Zur Problematik des Selbstverständnisses

Menschen ist, sondern eine Gnadentat Gottes, die dem Glaubenden geschieht.
Aber es ist schwer, diese theologische Einsicht und religiöse Erfahrung im inne¬
ren Selbstverständnis des Menschen wirklich festzuhalten, sofern es durch die
moderne Wissenschaft und ihre Methodik beherrscht wird. Der auf diese ge¬
gründete Begriff des Wissens duldet keine Einschränkung seines Anspruchs auf
Universalität. Aufgrund dieses Anspruches stellt sich alles Selbstverständnis als
eine Art Selbstbesitz dar, der nichts so sehr ausschließt, als daß ihm etwas
widerfahren kann, das ihn von sich selbst trennt. Hier kann der Begriff des
Spieles wichtig werden. Denn das Aufgehen im Spiel, diese ekstatische Selbst¬
vergessenheit, wird nicht so sehr als ein Verlust des Selbstbesitzes erfahren,
sondern positiv als die freie Leichtigkeit einer Erhebung über sich selbst. Das
läßt sich unter dem subjektiven Aspekt des Selbstverständnisses überhaupt
nicht einheitlich fassen. Wie es der holländische Historiker Huizinga einmal
formulierte, befindet sich das Bewußtsein dessen, der spielt, in einem ununter¬
scheidbaren Gleichgewicht von Glauben und Unglauben. „Der Wilde selbst
kennt keinen begrifflichen Unterschied zwischen Sein und Spielen.“
Aber es ist nicht nur der Wilde, der diese begrifflichen Unterschiede nicht
kennt. Der Anspruch des Selbstverständnisses, wo immer er erhoben wird -
und wo wird er nicht erhoben, wenn Menschen Menschen sind? -, bleibt in
wohlbestimmte Grenzen eingeschlossen. Das hermeneutische Bewußtsein wett¬
eifert nicht mit jener Durchsichtigkeit seiner selbst, die nach Hegel das absolute
Wissen ist und die höchste Weise des Seins ausmacht. Von Selbstverständnis
ist nicht nur im Bereich des Glaubens die Rede. Alles Verstehen ist am Ende
Sichverstehen, aber nicht in der Weise eines vorgängigen oder schließlich er¬
reichten Selbstbesitzes. Denn es verwirklicht sich dieses Sichverstehen immer
nur im Verstehen einer Sache und hat nicht den Charakter einer freien Selbst¬
verwirklichung. Das Selbst, das wir sind, besitzt sich nicht selbst. Eher könnte
man sagen, daß es sich geschieht. Und das sagt nun wirklich der Theologe, daß
der Glaube ein solches Ereignis ist, in dem ein neuer Mensch gegründet wird.
Und er sagt weiter, daß es das Wort ist, das geglaubt und verstanden werden
soll, und durch das wir die abgründige Unwissenheit über uns selbst, in der wir
leben, überwinden. Der Begriff des Selbstverständnisses hat eine ursprünglich
theologische Prägung, wie sich bei J. G. Hamann deutlich zeigt L Er ist bezogen
auf die Tatsache, daß wir uns selbst nicht verstehen, es sei denn vor Gott.
Gott aber ist das Wort. Von früh an hat in der theologischen Besinnung
das menschliche Wort zur Veranschaulichung dessen gedient, was das Wort
Gottes und das Mysterium der Trinität ist. Insbesondere Augustinus hat in
zahlreichen Variationen das übermenschliche Geheimnis der Trinität von dem
Wort und Gespräch her beschrieben, wie es zwischen Menschen geschieht. Nun

1 Vgl. die in der Reihe der Heidelberger Forschungen' erschienene Heidelberger


Dissertation von Renate Knoll: ,J. G. Hamann und Fr. H. Jacobi“ Heidelb. Forschg. 7,
1963.
Zur Problematik des Selbstverständnisses 79

hat Wort und Gespräch unzweifelhaft ein Moment des Spieles an sich. Die
Weise, wie man ein Wort wagt oder ,im Busen bewahrt', wie man von dem
anderen ein Wort hervorreizt und von ihm Antwort erhält, wie man selbst
Antwort gibt, wie jedes Wort in dem bestimmten Zusammenhang, in dem es
gesagt und verstanden wird, ,Spiel hat, all das weist auf eine gemeinsame
Struktur von Verstehen und Spielen. Es sind sprachliche Spiele, in denen das
Kind die Welt kennenlernt. Ja, alles, was wir lernen, vollzieht sich in sprach¬
lichen Spielen. Damit soll natürlich nicht gesagt sein, daß wir, wenn wir
sprechen, nur spielen und es nicht ernsthaft meinen. Vielmehr ist es so, daß die
Worte, die wir finden, unser eigenes Meinen gleichsam einfangen und in
Bezüge einfügen, die über die Augenblicklichkeit unseres Meinens hinaus¬
weisen. Wann versteht das Kind, das der Sprache der Erwachsenen lauscht und
sie nachspricht, die Worte, die es gebraucht? Wann verwandelt sich das Spielen
in Ernst, wann hat der Ernst so begonnen, daß er aufgehört hat, Spiel zu sein?
Alle Festlegung der Bedeutungen von Worten wächst gleichsam spielend aus
dem Situationswert der Worte hervor. Genau wie die Schrift eine Festlegung
des Lautbestandes der Sprache darstellt und eben damit auf die Lautgestalt
der Sprache selber artikulierend zurückwirkt, ist auch das ein Hin und Her,
worin das lebendige Sprechen und das Leben der Sprache sein Spiel hat. Nie¬
mand legt die Bedeutung eines Wortes fest, und Sprechenkönnen heißt ganz
gewiß nicht allein, die festen Bedeutungen der Worte richtig erlernt haben und
gebrauchen. Das Leben der Sprache besteht vielmehr in dem beständigen
Weiterspielen des Spieles, das wir begannen, als wir sprechen lernten. Neuer
Wortgebrauch spielt sich ein und ebenso unbeachtet und ungewollt geschieht
das Absterben alter Worte. Und es ist dieses fortspielende Spiel, in dem sich das
Miteinandersein der Menschen abspielt. Die Verständigung, die im Miteinan¬
dersprechen geschieht, ist selber wieder ein Spiel. Wenn zwei miteinander
sprechen, so sprechen sie dieselbe Sprache. Daß sie diese Sprache weiterspielen,
indem sie sie sprechen, wissen sie selbst in keiner Weise. Sie sprechen aber auch
jeder ihre eigene Sprache. Die Verständigung geschieht dadurch, daß Rede
gegen Rede steht, aber nicht stehen bleibt. Im Miteinandersprechen treten wir
vielmehr ständig in die Vorstellungswelt des anderen über, lassen uns gleich¬
sam auf ihn ein und er sich auf uns. So spielen wir uns aufeinander ein, bis das
Spiel des Gebens und Nehmens, das eigentliche Gespräch beginnt. Niemand
kann leugnen, daß in solchem wirklichen Gespräch etwas von dem Zufall, der
Gunst, der Überraschung, am Ende auch der Leichtigkeit, ja der Erhebung ist,
die zum Wesen des Spieles gehören. Und wahrscheinlich wird die Erhebung des
Gespräches nicht als Verlust des Selbstbesitzes erfahren, sondern, auch ohne
daß wir unserer selbst dabei gewahr werden, als eine Bereicherung unserer
selbst.
Nun scheint mir Ähnliches für den Umgang mit Texten zu gelten und damit
auch für das Verständnis der Verkündigung, die in der Heiligen Schrift auf¬
bewahrt ist. Das Leben der Überlieferung und erst recht das der Verkündigung
80 Zur Problematik des Selbstverständnisses

besteht in solchem Spiel des Verstehens. Solange ein Text stumm ist, hat sein
Verständnis noch gar nicht begonnen. Aber ein Text kann zu reden beginnen.
(Wir sprechen hier nicht davon, welche Voraussetzungen dafür gegeben sein
müssen.) Dann aber sagt er nicht nur sein Wort, immer dasselbe, in lebloser
Starrheit, sondern gibt immer neue Antworten dem, der ihn fragt, und stellt
immer neue Fragen dem, der ihm antwortet. Verstehen von Texten ist ein
Sichverständigen in einer Art Gespräch. Das bestätigt sich darin, daß sich im
konkreten Umgang mit einem Texte das Verständnis erst dann ganz ergibt,
wenn das in ihm Gesagte sich in der eigenen Sprache des Interpreten zur Aus¬
sage zu bringen vermag. Die Auslegung gehört zur wesenhaften Einheit des
Verstehens. Das, was einem gesagt wird, muß man so in sich aufnehmen, daß
es in den eigenen Worten der eigenen Sprache spricht und Antwort findet. Vol¬
lends gilt das für den Text der Verkündigung, der nicht wirklich verstanden
werden kann, wenn er nicht einem selber gesagt erscheint. Hier ist es die Pre¬
digt, in der Verständnis und Auslegung des Textes erst ihre volle Wirklichkeit
erhalten. Die Predigt und nicht der erklärende Kommentar oder die exege¬
tische Arbeit des Theologen steht im unmittelbaren Dienste der Verkündigung,
indem sie das Verständnis dessen, was die Heilige Schrift sagt, nicht nur der
Gemeinde vermittelt, sondern zugleich selbst bezeugt. Die eigene Vollendung
des Verstehens liegt eben nicht in der Predigt als solcher, sondern in der Weise,
wie sie als Anruf vernommen wird, der an jeden ergeht.
Wenn das ein Selbstverständnis ist, das sich da ergibt, so ist es gewiß ein
sehr paradoxes, um nicht zu sagen negatives Verständnis seiner selbst, in dem
man sich zur Umkehr gerufen hört. Einen Maßstab für die theologische Aus¬
legung des Neuen Testamentes bildet solches Selbstverständnis gewiß nicht.
Überdies sind die Texte des Neuen Testamentes selber schon Auslegungen der
Heiligen Botschaft und wollen selber nicht in sich, sondern als Vermittler der
Botschaft verstanden werden. Ob ihnen das nicht eine Freiheit des Sagens ver¬
liehen hat, die sie gleichsam selbst-lose Zeugen sein läßt? Soviel wir der
neueren theologischen Forschung an Einsicht in das verdanken, was die Schrift¬
steller des neuen Testamentes selber theologisch meinten — die Verkündigung
des Evangeliums spricht durch alle diese Vermittlungen hindurch, vergleichbar
der Weise, wie eine Sage weitergesagt wird oder wie eine mythische Über¬
lieferung durch die große Dichtung ständig gewandelt und erneuert wird.
Die eigentliche Wirklichkeit des hermeneutischen Vollzuges scheint mir das
Selbstverständnis des Interpretierenden so gut wie das des Interpretierten zu
übergreifen. ,Entmythologisierung‘ geschieht daher nicht nur im Tun des
Theologen. Sie gesdiieht in der Bibel selbst. Aber weder hier noch dort ist
,Entmythologisierung‘ ein sicherer Garant richtigen Verstehens. Das eigent¬
liche Ereignis des Verstehens geht weit über das hinaus, was durch metho¬
dische Bemühung und kritische Selbstkontrolle zum Verständnis der Worte
des anderen aufgebracht werden kann. Ja, es geht weit über das hinaus, dessen
wir selbst dabei innewerden. Es gilt von jedem Gespräch, daß durch es etwas
Zur Problematik des Selbstverständnisses 8t

anders geworden ist. Vollends das Wort Gottes, das zur Umkehr ruft und uns
ein besseres Verständnis unserer selbst verheißt, kann nicht verstanden werden
wie das Gegenüber eines Wortes, das man stehen lassen muß. Wir sind es
überhaupt nicht selber, die da verstehen. Es ist immer schon eine Vergangen¬
heit, die uns sagen läßt: Ich habe verstanden.

6 Gadamer, Schriften I
MARTIN HEIDEGGER
UND DIE MARBURGER THEOLOGIE

Wir versetzen uns in die zwanziger Jahre, in die große spannungsvolle Zeit,
in der sich in Marburg die theologische Abwendung von der historischen und
liberalen Theologie vollzog, die Zeit, in der die philosophische Abkehr vom
Neukantianismus erfolgte, die Marburger Schule sich auflöste und neue
Sterne am philosophischen Himmel aufgingen. Damals hielt Eduard Thurn-
eysen vor der Marburger Theologenschaft einen Vortrag, für uns junge Leute
ein erster Bote der dialektischen Theologie in Marburg, und empfing danach
die mehr oder minder zögernden Segenssprüche der Marburger Theologen.
In jener Diskussion ergriff auch der junge Heidegger das Wort. Er war gerade
als außerordentlicher Professor nach Marburg gekommen, und es ist mir bis
zum heutigen Tage unvergeßlich, wie er seinen Diskussionsbeitrag zu dem
Thurneysenschen Vortrag schloß. Er sagte nämlich, nachdem er die christliche
Skepsis Franz Overbecks beschworen hatte, es sei die wahre Aufgabe der
Theologie, zu der sie wieder finden müsse, das Wort zu suchen, das imstande
sei, zum Glauben zu rufen und im Glauben zu bewahren. Ein echter Heideg¬
ger-Satz, voll von Zweideutigkeit. Als ihn damals Heidegger sprach, klang er
wie eine Aufgabenstellung für die Theologie und war doch vielleicht mehr
noch als jener Angriff Franz Overbecks auf die Theologie seiner Zeit, den
Heidegger zitiert hatte, eine Bezweiflung der Möglichkeit der Theologie
selbst. Es war eine stürmische Epoche philosophisch-theologischer Ausein¬
andersetzung, die damals begann. Auf der einen Seite die würdevolle Kühle
Rudolf Ottos, auf der anderen Seite die scharf zupackende Exegese Rudolf
Bultmanns; auf der einen Seite Nicolai Harfmanns scharfsinnige Ziselier¬
kunst, auf der anderen Seite der atemberaubende Radikalismus der Heidegger-
schen Fragen, der auch die Theologie in seinen Bann zog. Die Urform von
,Sein und Zeit' war ein Vortrag vor der Marburger Theologenschaft (1924).
Was sich in Heideggers Diskussionsvotum bei dem Thurneysen-Vortrag
ankündigte, läßt sich als ein zentrales Motiv seines Denkens bis zum heutigen
Tage durchverfolgen: das Problem der Sprache. Dafür war in Marburg kein
Boden bereitet. Die Marburger Schule, die jahrzehntelang innerhalb des zeit-

Erstdruck in ,Zeit und Geschichte', Dankesgabe an Rudolf Bultmann zum 80. Ge¬
burtstag. J. C. B. Mohr (Paul Siebeck), Tübingen 1964.
Martin Heidegger und die Marburger Theologie 83

genössischen Neukantianismus durch ihre methodische Strenge ausgezeichnet


war, richtete sich auf die philosophische Grundlegung der Wissenschaften.
Es stand für sie mit völliger Selbstverständlichkeit fraglos fest, daß in den
Wissenschaften die eigentliche Vollendung des Wißbaren überhaupt liege, daß
die Objektivierung der Erfahrung durch die Wissenschaft den Sinn von Er¬
kenntnis ganz und gar erfülle. Die Reinheit des Begriffs, die Exaktheit der
mathematischen Formel, der Triumph der Infinitesimalmethode: das, und
nicht das Zwischenreich der schwankenden Sprachgestalten, prägte die philo¬
sophische Haltung der Marburger Schule. Auch als Ernst Cassirer das Phäno¬
men der Sprache in die Thematik des Marburger neukantianischen Idealismus
einbezog, geschah dies unter dem methodischen Grundgedanken der Objek¬
tivierung. Seine Philosophie der symbolischen Formen hatte es zwar nicht mit
einer Methodenlehre der Wissenschaften zu tun, sondern sie sah Mythos und
Sprache als symbolische Formen, d. h. aber: als Gestalten des objektiven
Geistes, und doch so, daß sie in einer Grundrichtung des transzendentalen
Bewußtseins ihre methodische Basis haben sollten.
Nun fing damals die Phänomenologie an, in Marburg Epoche zu machen.
Max Schelers Begründung der materialen Wertethik, die mit einer blind¬
wütigen Kritik am Formalismus der kantischen Moralphilosophie verknüpft
war, hatte bei Nicolai Hartmann, dem Avantgardisten innerhalb der damali¬
gen Marburger Schule, schon früh einen tiefen Eindruck hinterlassen1. Es war
überzeugend - wie es ein Jahrhundert früher für Hegel gewesen war -, daß
man vom Phänomen des Sollens aus, d. h. in der imperativischen Form der
Ethik, an das Ganze der ethischen Phänomene nicht herankomme. So zeigte
sich im moralphilosophischen Felde eine erste Begrenzung der subjektiven
Ausgangsbasis des transzendentalen Bewußtseins: das Sollensbewußtsein
konnte den Umfang des sittlich Wertvollen nicht ausfüllen. Noch stärker aber
wirkte die phänomenologische Schule dadurch, daß sie die selbstverständliche
Orientierung der Marburger Schule am Faktum der Wissenschaften nicht mehr
teilte, hinter die wissenschaftliche Erfahrung und die kategoriale Analyse
ihrer Methoden zurückging und die natürliche Lebenserfahrung - das, was
der späte Husserl mit einem berühmt gewordenen Ausdruck die ,Lebenswelt*
nannte - in den Vordergrund ihrer phänomenologischen Forschung rückte.
Beides, die moralphilosophische Abwendung von der imperativischen Ethik
wie die Abwendung von dem Methodologismus der Marburger Schule, hatte
seine theologische Entsprechung. Indem die Problematik des Redens von Gott
neu bewußt wurde, gerieten die Fundamente der systematischen und histori¬
schen Theologie ins Wanken. Rudolf Bultmanns Kritik am Mythos, sein
Begriff des mythischen Weltbildes, auch und gerade, soweit es im Neuen

1 Vgl. N. Hartmanns Rezension des Jahrbuchs für Philosophie und phänomeno¬


logische Forschung I. (Zeitschrift Die Geisteswissenschaften I, 1914, 35, 971 f. und
Kleine Schriften III, 1958, 365 ff.)
84 Martin Heidegger und die Marburger Theologie

Testament noch herrsche, war zugleich eine Kritik an dem Totalitätsanspruch


des objektivierenden Denkens. Bultmanns Begriff der Verfügbarkeit, mit dem
er in gleicher Weise das Verfahren der historischen Wissenschaft wie das
mythische Denken zu umfassen suchte, bildete geradezu den Gegenbegriff zu
der eigentlich theologischen Aussage.
Und nun trat Heidegger in Marburg auf, und ganz gleich, was er las, ob
Descartes oder Aristoteles, Plato oder Kant den Anknüpfungspunkt bildete -
immer ging seine Analyse auf die ursprünglichsten Daseinserfahrungen, die er
hinter den Verdeckungen der traditionellen Begriffe freilegte. Und es waren
theologische Fragen, die von Anfang an in ihm drängten. Ein frühes Manu¬
skript, das Heidegger 1922 an Paul Natorp geschickt hatte, und das ich
damals zu lesen bekam, bezeugte das gut (es war eine grundsätzliche Einleitung
in die von Heidegger vorbereiteten Aristoteles-Interpretationen, und es sprach
vor allem von dem jungen Luther, von Gabriel Biel und von Augustin.
Heidegger würde es wohl damals eine Ausarbeitung der hermeneutischen
Situation genannt haben: es suchte bewußt zu machen, mit welchen Fragen,
mit welchem geistigen Gegenwollen wir Aristoteles, dem Meister der Tradi¬
tion, gegenübertreten). Heute wird niemand zweifeln, daß es eine kritisch¬
destruktive Grundabsicht war, die Heidegger bei seiner Vertiefung in Aristo¬
teles leitete. Damals war das gar nicht so klar. Die großartige phänomenolo¬
gische Anschauungskraft, die Heidegger in seine Interpretationen einbrachte,
befreite den aristotelischen Urtext so gründlich und wirkungsvoll von den
Übermalungen der scholastischen Tradition und von dem kläglichen Zerrbild,
das der damalige Kritizismus von Aristoteles besaß - Cohen liebte es zu sagen:
„Aristoteles war ein Apotheker“ -, daß er auf eine unerwartete Weise zu
sprechen begann. Vielleicht ist es damals nicht nur den Lernenden, sondern
Heidegger selbst so gegangen, daß die Stärke des Gegners, ja daß die Ver¬
stärkung des Gegners, die Heideggers Interpretation getreu dem platonischen
Grundsatz, den Gegner stärker zu machen2, wagte, zeitweise über ihn Herr
wurde3. Denn was ist Interpretieren in der Philosophie anderes, als es mit der
Wahrheit des Textes aufzunehmen und sich ihr auszusetzen wagen?
Erstmals wurde mir davon etwas bewußt, als ich Heidegger 1923 - noch in
Freiburg - kennenlernte und an seinem Seminar über die Nikomachische Ethik
des Aristoteles teilnahm. Wir studierten die Analyse der Phronesis. Heidegger
zeigte uns am Aristoteles-Text, daß alle Techne eine innere Grenze besitze:
ihr Wissen sei kein volles Entbergen, weil das Werk, das sie zu erstellen ver¬
stehe, in das Ungewisse eines unverfügbaren Gebrauchs entlassen werde. Und
nun stellte er den Unterschied zur Diskussion, der all solches Wissen, insbeson¬
dere auch die bloße Doxa, von der Phronesis schied: foj'fbj xfjg ßkv roiavxr]g

2 Plato, Soph. 246 d.


3 Man beachte in dieser Hinsicht den Hinweis auf Aristoteles Eth. Nie. VI und
Met. XII in ,Sein und Zeit* S. 2251.
Martin Heidegger und die Marburger Theologie 85

E&ag eouv, (pgovrjoecog de oiw eouv (1140 b 29). Als wir an diesem Satz
unsicher und ganz in die griechischen Begriffe verfremdet heruminterpretier¬
ten, erklärte er brüsk: „Das ist das Gewissen!“ Es ist hier nicht der Ort, die
pädagogische Übertreibung, die in dieser Behauptung lag, auf ihr Maß zu
reduzieren, und noch weniger, den logischen und ontologischen Druck aufzu¬
weisen, der in Wahrheit auf der Phronesis-Analyse bei Aristoteles lastet. Was
Heidegger daran fand, wodurch ihn die aristotelische Kritik an Platos Idee
des Guten und der aristotelische Begriff des praktischen Wissens so faszinierte,
ist heute klar: Hier war eine Weise des Wissens (ein elöog yvciioecog) 4 beschrie¬
ben, die sich schlechterdings nicht mehr auf eine letzte Objektivierbarkeit im
Sinne der Wissenschaft beziehen ließ, ein Wissen in der konkreten Existenz¬
situation. Konnte Aristoteles vielleicht sogar die ontologischen Vorurteile des
griechischen Logosbegriffs überwinden helfen, die Heidegger später temporal,
als Vorhandenheit und Anwesenheit, interpretierte? Man denkt bei dieser
gewalttätigen Heranreißung des aristotelischen Textes an seine eigenen Fragen
daran, wie in ,Sein und Zeit“ der Ruf des Gewissens es ist, der jenes ,Dasein
im Menschen“ erstmals in seiner sein-zeitlichen Geschehensstruktur sichtbar
machte. Es war ja erst sehr viel später, daß Heidegger seinen Begriff des
Daseins im Sinne der ,Lichtung“ von allem transzendentalen Reflexions¬
denken ablöste5. Konnte am Ende auch das Wort des Glaubens durch die Kri¬
tik am Logos und dem Seinsverständnis der Vorhandenheit eine neue philo¬
sophische Legitimation finden, so wie später Heideggers ,Andenken“ die alte,
schon von Hegel beachtete Nähe zu ,Andacht“ nie ganz vergessen läßt? War
das der letzte Sinn des zweideutigen Heideggerschen Beitrags zur Thurneysen-
Diskussion gewesen?
Später, in Marburg, gab es noch einmal einen ähnlichen Augenblick, bei
dem wir aufmerkten. Heidegger bemühte da einen scholastischen Gegensatz
und sprach von dem Unterschied des actus signatus und des actus exercitus5“.
Diese scholastischen Begriffe entsprechen etwa den Begriffen ,reflexive“ und
,directe“ und meinen zum Beispiel den Untersdiied, der zwischen einem
Fragen und der Möglichkeit, sich auf das Fragen als Fragen ausdrücklich zu
richten, besteht. Das eine läßt sich in das andere überführen. Man kann das
Fragen als Fragen signieren, also nicht nur fragen, sondern sagen, daß man
fragt, und daß das und das fraglich ist. Diesen Übergang aus der unmittelbaren,
direkten in die reflexive Intention rückgängig zu machen, das schien uns nun
damals wie ein Weg ins Freie: Das verhieß Befreiung aus dem unentrinnbaren
Zirkel der Reflexion, Wiedergewinnung der evoktiven Macht des begriff-

4 Aristoteles, Eth. Nie. VI, 9, 1141, 633 f.


5 Daß auch dabei der aristotelische Begriff der qpvotg für Heidegger wichtig war,
lehrt seine Interpretation von Arist., Phys B 1 (11 Pensiero 3, Milano-Varese 1958).
5a Zu dem historischen Hintergrund dieser Unterscheidung vgl. ,Die philosophi¬
schen Grundlagen des 20. Jahrhunderts“, unten S. 128.
86 Martin Heidegger und die Marburger Theologie

liehen Denkens und der philosophischen Sprache, welche neben der Sprache
des Dichtens dem Denken seinen Rang zu sichern vermöchte.
Gewiß hatte schon die Husserlsche Phänomenologie in ihrer transzenden¬
talen Konstitutionsanalyse dahin geführt, den Bereich ausdrücklicher Objek¬
tivierungen zu überschreiten. Husserl redete von anonymen Intentionalitäten,
d. h. von solchen begrifflichen Intentionen, in denen etwas gemeint und in
Seinsgeltung gesetzt wird, das keiner bewußt, thematisch und als einzelner
meint und vollzieht und das doch tragend ist für alles. So etwa baut sich das,
was wir den Bewußtseinsstrom nennen, im inneren Zeitbewußtsein auf. So
auch ist der Horizont der Lebenswelt ein solches Produkt anonymer Intentio¬
nalitäten. Doch sowohl die scholastische Unterscheidung, die Heidegger
zitierte, wie die Husserlsche Konstitutionsanalyse der anonymen ,Leistungen'
des transzendentalen Bewußtseins gingen von der unbegrenzten Universalität
der Vernunft aus, die alles und jedes Gemeinte in konstitutiver Analyse auf¬
klären, d. h. zum Gegenstand eines ausdrücklichen Meinens machen, also
objektivieren kann.
Heidegger selbst dagegen ging entschlossen in eine andere Richtung. Er
verfolgte die innere Unlösbarkeit von Eigentlichkeit und Uneigentlichkeit,
von Wahrheit und Irre, und die mit aller Entbergung wesensmäßig mitgehende
Verbergung, die der Idee einer totalen Objektivierbarkeit von innen her
widerspricht. Wohin es ihn drängte, zeigt wohl bereits die Einsicht, die uns
damals am tiefsten belehrt und bewegt hat, daß die ursprünglichste Weise, in
der die Vergangenheit da ist, nicht die Erinnerung sei, sondern das Vergessen6.
Hier wird der ontologische Widerspruch Heideggers gegen Husserls tran¬
szendentale Subjektivität am Zentralpunkt der Phänomenologie des inneren
Zeitbewußtseins sichtbar. Gewiß erstrebte die Husserlsche Analyse gegenüber
der Rolle, die die Erinnerung in Brentanos Analyse des Zeitbewußtseins
spielte, die genauere phänomenologische Unterscheidung der ausdrücklichen
Wiedererinnerung, die immer ein ,Wahrgenommengewesen' mitmeint, von
dem im Zurücksinken festgehaltenen Dasein des Gegenwärtigen, das er ,re-
tentionales Bewußtsein' nannte und auf dessen Leistung alles Zeitbewußtsein
und Bewußtsein von in der Zeit Seiendem beruht7. Das waren gewiß ,ano¬
nyme' Leistungen, aber eben Leistungen des Gegenwärtighaltens, sozusagen
des Anhaltens des Vergehens. Das aus der Zukunft Heranrollen und in die
Vergangenheit Abrollen der Jetzte blieb vom gegenwärtig Vorhandensein'
aus verstanden. Heidegger dagegen hatte die ursprüngliche ontologische
Dimensionalität der Zeit im Blick, die in der Grundbewegtheit des Daseins liegt.
Von da aus fällt nicht nur auf die rätselhafte Unumkehrbarkeit der Zeit Licht,
die sie nie entstehen und immer nur vergehen läßt, es wird auch sichtbar, daß

6 Vgl. ,Sein und Zeit', S. 339.


7 Vgl. Vorles. z. Phän. d. inneren Zeitbew., ed. M. Heidegger, Jb. f. Phil. u. phän.
Forschung IX, 1928, S. 395 ff.
Martin Heidegger und die Marburger Theologie 87

Zeit nicht im Jetzt oder der Jetztfolge, sondern in der wesenhaften Zukünftig-
keit des Daseins ihr Sein hat. Das ist offenbar die wirkliche Erfahrung der
Geschichte, die Weise, in der die Geschichtlichkeit an uns selber geschieht. Wie
da mehr mit einem etwas geschieht, als daß man es tut, bezeugt das Vergessen.
Es ist eine Weise, in der Vergangenheit und das Vergehen seine Wirklichkeit
und Macht beweist. Offenkundig drängte Heideggers Denken aus der tran¬
szendental-philosophischen Reflexionsrichtung heraus, die diese Strukturen
der Zeitlichkeit als das innere Zeitbewußtsein und seinen Selbstaufbau mit
Hilfe der anonymen Intentionalitäten bei Husserl thematisierte. Die Kritik
an dem ontologischen Vorurteil des Aristotelischen Seins- und Substanzbegriffs
und des neuzeitlichen Subjektbegriffs mußte am Ende die Idee der transzenden¬
talen Reflexion selber zur Auflösung bringen.
Jener axtus exercitus, in dem Wirklichkeit ganz unreflektiert erfahren wird
— etwa die des Werkzeugs in der Unauffälligkeit seines Dienens, oder die Ver¬
gangenheit in der Unauffälligkeit ihres Entschwindens, läßt sich eben nicht
ohne eine neue Verdeckung in einen signierten Akt umformen. Das vielmehr
lag in Heideggers Analyse des Daseins als In-der-Welt-sein, daß das derart
erfahrene Sein des Seienden, insbesondere die Weltlichkeit der Welt, nicht
gegenständlich' begegnet, sondern auf eine wesenhafte Weise sich verbirgt.
Schon ,Sein und Zeit' (S. 75) sprach von dem Ansichhalten des Zuhandenen,
auf dem das (aus dem Vorhandensein nicht aufklärbare) ,Ansichsein‘ letztlich
beruhe. Das Sein des Zuhandenen ist nicht einfach Verbergung und Verborgen¬
heit, auf deren Entbergung und Entborgenheit es ankäme. Seine ,Wahrheit',
sein eigentliches, unverstelltes Sein liegt offenbar grade in dieser seiner Unauf¬
fälligkeit, Unaufdringlichkeit, Unaufsässigkeit. Hier sind schon in ,Sein und
Zeit' Vorklänge einer radikalen Abkehr von der am Selbstverständnis des
Daseins orientierten ,Lichtung' und ,Erschlossenheit‘. Denn mag auch dieses
,Ansichhalten des Zuhandenen' zuletzt im Dasein als dem Worumwillen aller
Bewandtnis fundiert sein, so gehört es doch offenkundig zum In-der-Welt-sein
selber, daß ,Erschlossenheit‘ nicht eine totale Durchsichtigkeit des Daseins ist,
sondern ein wesenhaftes Durchherrschtsein von Unbestimmtheit mitmeint
(SuZ 308). Das ,Ansichhalten' des Zuhandenen ist nicht so sehr Vorenthaltung
und Verbergung als Einbezogensein und Geborgensein in den Weltbezug, in
dem es sein Sein hat. Die innere Spannung, die ,Entbergung' nicht nur zur
Verbergung, sondern zur Bergung hat, mißt am Ende auch die Dimension aus,
in der die Sprache in ihrem gegenwendigen Sein sichtbar werden und dem
Theologen seinerseits für sein Verständnis von Gottes Wort zustatten kommen
kann. -
Im Bereich der Theologie war es der Begriff des Selbstverständnisses, der
eine entsprechende Umbildung erfuhr. Daß das Selbstverständnis des Glau¬
bens, das Grundanliegen der protestantischen Theologie, durch den transzen¬
dentalen Begriff des Selbstverständnisses nicht angemessen gefaßt werden kann,
liegt auf der Hand. Wir kennen diesen Begriff aus dem transzendentalen
88 Martin Heidegger und die Marburger Theologie

Idealismus. Insbesondere hat Fichte die Wissenschaftslehre als die einzige kon¬
sequente Durchführung des sich selbst verstehenden transzendentalen Idealis¬
mus proklamiert. Man erinnere sich seiner Kritik an Kants Begriff des Dings
an sich8. Da sagt Fichte mit der schnöden Ruppigkeit, die ihn auszeichnete:
Wenn Kant sich selber verstanden hat, dann kann mit ,Ding an sich“ nur das
und das gemeint sein. Wenn Kant das nicht gedacht haben sollte, dann war er
nur ein Dreiviertelskopf und kein Denker9. Dem Begriff des Selbstverständ¬
nisses liegt hier also zugrunde, daß alle dogmatischen Vorannahmen durch die
innere Selbstproduktion der Vernunft aufgelöst werden, so daß am Ende dieser
Selbstkonstruktion des transzendentalen Subjekts die totale Selbstdurchsichtig¬
keit steht. Es ist erstaunlich, wie nahe Flusserls Idee der transzendentalen
Phänomenologie an diese von Fichte und Flegel gestellte Forderung heran¬
kommt.
Für die Theologie konnte ein solcher Begriff nicht ohne Umformung fest¬
gehalten werden. Denn wenn etwas von der Idee der Offenbarung unabding¬
bar ist, dann ist es eben dies, daß der Mensch nicht aus Eigenem zu einem Ver¬
ständnis seiner selbst zu gelangen vermag. Es ist ein uraltes Motiv der Glau¬
benserfahrung, das schon Augustins Rückschau auf sein Leben durchzieht, daß
alle Versuche des Menschen, sich aus sich selbst und von der Welt her, über die
man als die seine verfügt, zu verstehen, scheitern. In der Tat ist es eine christliche
Erfahrung, der, wie es scheint, Wort und Begriff ,Selbstverständnis“ ihre erste
Prägung verdanken. Wir finden beides in dem Briefwechsel zwischen Fdamann
und seinem Freunde Jakobi, wo Hamann vom Standorte pietistischer Glau¬
bensgewißheit seinen Freund zu überzeugen versucht, daß er mit seiner Philo¬
sophie und der Rolle, die in ihr der Glaube spielt, nie zu einem echten Selbst¬
verständnis gelangen könne10. Was Hamann damit meint, ist offenbar mehr
als die volle Selbstdurchsichtigkeit, die ein mit sich widerspruchslos im Einklang
bleibendes Denken besitzt. Selbstverständnis enthält vielmehr als bestimmen¬
des Moment Geschichtlichkeit. Wer zum wahren Selbstverständnis gelangt,
dem geschieht etwas und ist etwas geschehen. So ist es der Sinn der Rede vom
Selbstverständnis des Glaubens, daß der Glaubende sich seiner Angewiesenheit
auf Gott bewußt wird. Er gewinnt die Einsicht in die Unmöglichkeit, sich aus
dem Verfügbaren zu verstehen.
Mit dem Begriff des Verfügens und dem notwendigen Scheitern eines darauf
gegründeten Selbstverständnisses hat Rudolf Bultmann Heiddeggers ontolo¬
gische Kritik an der Tradition der Philosophie ins Theologische gewendet.
Wie es seiner eigenen wissenschaftlichen Herkunft entsprach, grenzte er die
christliche Glaubensstellung gegen das Selbstbewußtsein der griechischen Philo¬
sophie ab. Die griechische Philosophie aber war für ihn, der nicht auf die

8 Fichte, Zweite Einleitung in die Wissenschaftslehre, WW I, 471 f.; 474ff.; 482f.


0 AaO, 486.
10 Vgl. oben S. 78 Anm. 1.
Martin Heidegger und die Marburger Theologie 89

ontologischen Grundlagen, sondern auf die existentiellen Stellungnahmen


gerichtet war, die Philosophie im hellenistischen Zeitalter und insbesondere das
stoische Autarkieideal, das als das Ideal der vollen Selbstverfügung interpre¬
tiert und in seiner Unhaltbarkeit vom Christentum her kritisiert wurde. Von
diesem Ausgangspunkt her explizierte sich Bultmann unter dem Einfluß des
Heideggerschen Denkens durch die Begriffe der Uneigentlichkeit und der
Eigentlichkeit. Das an die Welt verfallene Dasein, das sich aus dem Verfüg¬
baren versteht, wird zur Umkehr gerufen und erfährt am Scheitern seiner
Selbstverfügung die Wendung zur Eigentlichkeit. Für Bultmann schien die
transzendentale Analytik des Daseins eine neutrale anthropologische Grund¬
verfassung zu beschreiben, von der her sich der Anruf des Glaubens unabhängig
von seinem Inhalt, innerhalb der Grundbewegung der Existenz, ,existential‘
interpretieren ließe. Es war also gerade die transzendentalphilosophische Auf¬
fassung von ,Sein und Zeit', die sich dem theologischen Denken einfügte.
Gewiß war es nicht mehr der alte idealistische Begriff des Selbstverständnisses
und seine Vollendung im ,absoluten Wissen', was das Apriori der Glaubens¬
erfahrung darstellen konnte. Denn es war ja das Apriori eines Geschehens, das
Apriori der Geschichtlichkeit und Endlichkeit des menschlichen Daseins, das die
begriffliche Auslegung des Glaubensgeschehens möglich machen sollte. Und
gerade das leistete Heideggers Interpretation des Daseins auf die Zeit¬
lichkeit.
Es überschreitet meine Kompetenz, die exegetische Fruchtbarkeit des Bult-
mannschen Ansatzes hier zu erörtern. Daß Paulus und Johannes mit den
strengen Methoden der historischen Philologie auf ihr Selbstverständnis des
Glaubens hin ausgelegt wurden und gerade in solcher Auslegung den keryg-
matischen Sinn der neutestamentlichen Verkündigung zu seiner höchsten
Erfüllung brachten, war gewiß ein Triumph der neuen existentialen
Exegese.
Indessen ging Heideggers Denkweg in die umgekehrte Richtung. Die
transzendentalphilosophische Selbstauffassung erwies sich dem inneren Denk¬
anliegen Heideggers, das ihn von Anfang an bewegte, immer mehr als unan¬
gemessen, und die spätere Rede von der Kehre, die jeden existentiellen Sinn
aus der Rede von der Eigentlichkeit des Daseins und damit den Begriff der
Eigentlichkeit selbst austilgte, konnte mit dem theologischen Grundanliegen
Rudolf Bultmanns, wie mir scheint, nicht mehr vereinigt werden. Dabei
näherte sich Heidegger jetzt erst wahrhaft der Dimension, in der seine frühe
Forderung an die Theologie, das Wort zu finden, das nicht nur zum Glauben
zu rufen, sondern auch im Glauben zu bewahren vermöchte, Erfüllung finden
könnte. Mochte der Anruf des Glaubens, der Anspruch, der die Selbstgenüg¬
samkeit des Ich herausfordert und es zur Selbstaufgabe im Glauben nötigt,
als Selbstverständnis interpretierbar sein, so war eine Sprache des Glaubens,
die in ihm zu bewahren vermöchte, doch vielleicht noch etwas anderes, und
das gerade war es, wofür sich in Heideggers Denken immer deutlicher eine
90 Martin Heidegger und die Marburger Theologie

neue Grundlage abzeichnete: Wahrheit als ein Geschehen, das seine eigene Irre
in sich enthält, Entbergung, die Verbergung und damit zugleich Bergung ist,
auch die bekannte Wendung aus dem Humanismusbrief, wonach die Sprache
das ,Haus des Seins' sei - all das wies über den Horizont eines jeden Selbst¬
verständnisses, und sei es noch so sehr ein scheiterndes und geschichtliches,
hinaus.
Indessen ließ es sich auch von der Erfahrung des Verstehens und der Ge¬
schichtlichkeit des Selbstverständnisses aus in der gleichen Richtung vorwärts¬
kommen, und meine eigenen Versuche zur philosophischen Hermeneutik
haben hier angeknüpft. Zunächst stellte die Erfahrung der Kunst ein un-
widersprechlidies Zeugnis dafür dar, daß das Selbstverständnis keinen zurei¬
chenden Interpretationshorizont abgibt. Für die Erfahrung der Kunst gewiß
keine neue Weisheit. Enthielt doch auch der Geniebegriff, auf den sich die
neuere Kunstphilosophie seit Kant gründet, das Wesensmoment der Unbe¬
wußtheit. Die innere Entsprechung zur schaffenden Natur, deren Bildungen
uns mit dem Wunder der Schönheit beglücken und menschlich bestätigen,
liegt schon bei Kant darin, daß das Genie ohne Bewußtheit und ohne An¬
wendung von Regeln, wie ein Günstling der Natur, Mustergültiges schafft.
Es ist eine notwendige Folge dieser Selbstauffassung, daß der Selbstinter¬
pretation des Künstlers ihre Legitimation entzogen wird. Solche interpretie¬
renden Selbstaussagen erfolgen aus einer Haltung nachkommender Refle¬
xion, in der dem Künstler gegenüber jedem anderen, der vor sein Werk gestellt
ist, keine Privilegien zustehen. Solche Selbstaussagen sind gewiß Dokumente
und unter Umständen Anhaltspunkte für nachkommende Interpreten, aber
nicht von kanonischem Rang.
Noch entschiedener werden aber die Konsequenzen, wenn man über die
Grenzen der Genieästhetik und der Erlebniskunst hinaussieht und die innere
Zugehörigkeit des Interpreten zu der Sinnbewegung des Werks in den Blick
nimmt. Denn damit wird auch noch der Maßstab eines unbewußten Kanons,
der in dem Wunder des schöpferischen Geistes erblickt wird, aufgegeben.
Hinter der Erfahrung der Kunst taucht die ganze Universalität des herme¬
neutischen Phänomens auf.
Dahin führt in der Tat das tiefere Eindringen in die Geschichtlichkeit alles
Verstehens. Insbesondere drängt sich beim Studium der älteren Hermeneutik
des 17. und 18. Jahrhunderts eine folgenreiche Einsicht auf. Kann die mens
auctoris, das was der Autor gemeint hat, auf uneingeschränkte Weise als Ma߬
stab des Verstehens eines Textes anerkannt werden? Gibt man diesem herme¬
neutischen Grundsatz eine weite und weitherzige Auslegung, dann hat er
gewiß etwas Überzeugendes. Versteht man nämlich unter: ,was er gemeint
hat': ,was er überhaupt hätte meinen können', was in seinem eigenen indi¬
viduellen und zeitgeschichtlichen Horizont lag, schließt man also dadurch aus,
,was ihm überhaupt nicht hätte in den Sinn kommen können', so scheint
dieser Grundsatz gesund u. Er bewahrt den Interpreten vor Anachronismen,
Martin Heidegger und die Marburger Theologie 91

vor willkürlichen Einlegungen und illegitimen Applikationen. Er scheint die


Moral des historischen Bewußtseins, die Gewissenhaftigkeit des historischen
Sinns zu formulieren.
Indessen erhält auch dieser Grundsatz noch eine grundsätzliche Fragwürdig¬
keit, wenn man das Interpretieren von Texten mit dem Verständnis und der
Erfahrung des Kunstwerks zusammensieht. Auch dort mag es geschichtlich an¬
gemessene und insofern authentische Erfahrungsweisen des Kunstwerks geben.
Aber die Erfahrung der Kunst läßt sich gewiß nicht auf sie beschränken. Auch
wer sich einer pythagoreisierenden Ästhetik nicht völlig anvertrauen mag,
weil er die geschichtliche Integrationsaufgabe festhält, die aller Kunsterfahrung
als einer menschlichen gestellt bleibt, wird doch anerkennen müssen, daß das
Kunstwerk ein Sinngefüge eigener Art darstellt, dessen Idealität der geschichts¬
losen Dimension des Mathematischen nahesteht12. Seme Erfahrung und Aus¬
legung ist offenbar in keinem Sinne durch die mens auctoris begrenzt. Nehmen
wir nun hinzu, daß die innere Einheit von Verstehen und Auslegen, die be¬
reits die deutsche Romantik aufgewiesen hat, den Gegenstand des Verstehens,
ob Kunstwerk oder Text oder was für Überlieferung immer, in die Bewegung
der Gegenwart hinüberträgt und in ihrer Sprache neu zum Sprechen bringt,
dann meine ich, gewisse theologische Konsequenzen sich abzeichnen zu sehen.
Der kerygmatische Sinn des Neuen Testamentes, der dem Evangelium die
Apphkationsform des ,pro me‘ verleiht, kann der legitimen Sinnermittlung
der historisdien Wissenschaft am Ende nicht widersprechen. Das ist, wie ich
meine, eine unabdingbare Forderung des wissenschaftlichen Bewußtseins. Es
ist unmöglich, zwischen Sinn und Heilssinn eines Textes der Heiligen Schrift
einen ausschließenden Gegensatz anzunehmen. Aber kann es sich hier über¬
haupt um einen ausschließenden Gegensatz handeln? Geht nicht die Sinnab¬
sicht der neutestamentlichen Schriftsteller, was sie sich auch im einzelnen den¬
ken mögen, in die Richtung des Heilssinns, auf den hin einer die Bibel liest?
Damit ist nicht gesagt, daß ihren Aussagen ein adäquates, angemessenes Selbst¬
verständnis zuzuerkennen wäre. Sie gehören eben weithin der Gattung der
,Urliteratur‘ an, die Franz Overbeck gekennzeichnet hat. Versteht man unter
Sinn eines Textes die mens auctoris, d. h. den tatsächlichen1 Verständnis¬
horizont des jeweiligen christlichen Schriftstellers, dann tut man den Autoren
des Neuen Testamentes eine falsche Ehre an. Ihre eigentliche Ehre dürfte
gerade darin liegen, daß sie von etwas künden, das ihren eigenen Verständnis¬
horizont übertrifft - auch wenn sie Johannes oder Paulus heißen.
Das soll keineswegs einer unkontrollierbaren Inspirationstheorie und pneu¬
matischen Exegese das Wort reden. Dergleichen würde den Erkenntnisgewinn,

11 Vgl. Chladenius, zitiert nach ,'Wahrheit und Methode', S. 172.


12 Wenn O. Becker gegen meinen Versuch, auch die ästhetische Erfahrung herme¬
neutisch zu interpretieren (PhR. X 1962, 225 ff., bes. 237) die pythagoreische' Wahr¬
heit ausspielen mödite, trifft er m. E. keinen wirklidten Streitpunkt.
92 Martin Heidegger und die Marburger Theologie

den man der neutestamentlichen Wissenschaft verdankt, verschleudern. Doch


handelt es sich in Wahrheit nicht um eine Inspirationstheorie. Das wird sicht¬
bar, wenn man die hermeneutische Situation der Theologie mit der der Juris¬
prudenz, mit den Geisteswissenschaften und mit der Erfahrung der Kunst
zusammensieht, wie ich das in meinem Versuch einer philosophischen Her¬
meneutik getan habe. Verstehen heißt nirgends die bloße Wiedergewinnung
dessen, was der Autor ,meinte', ob er nun der Schöpfer eines Kunstwerkes,
der Täter einer Tat, der Verfasser eines Gesetzbuches oder was immer war. Die
mens auctoris begrenzt nicht den Verständnishorizont, in dem sich der Inter¬
pret zu bewegen hat, ja, in dem er sich notwendig bewegt, wenn er statt
nachzusprechen wirklich verstehen will.
Die sicherste Bezeugung dessen scheint mir im Sprachlichen zu liegen. Alle
Interpretation geht nicht nur im Medium der Sprache vor sich - sofern sie
sprachlichen Gebilden gilt, überträgt sie das Gebilde, indem sie es ins eigene
Verständnis hebt, zugleich in die eigene Sprachwelt. Das ist nicht ein dem Ver¬
stehen gegenüber sekundärer Akt. Der alte, von dem Griechen stets festge¬
haltene Unterschied von ,Denken' (voeiv) und ,Aussprechen1 (Xiyeiv) - zu¬
erst im Lehrgedicht des Parmenides13 - hält seit Schleiermacher die Herme¬
neutik nicht mehr im Vorfeld der Okkasionalität zurück. Auch handelt es sich
im Grunde gar nicht um ein Übertragen, jedenfalls nicht von einer Sprache in
die andere. Die hoffnungslose Inadäquatheit aller Übersetzungen vermag den
Unterschied gut zu verdeutlichen. Wer versteht, ist nicht in der Unfreiheit
des Übersetzers, sich einem zugemessenen Text Wort für Wort zuordnen zu
müssen, wenn er sein Verständnis zu explizieren sucht. Er hat teil an der Frei¬
heit, die dem wirklichen Sprechen, das Sagen des Gemeinten ist, zukommt.
Gewiß ist jedes Verstehen nur unterwegs. Es kommt nie ganz zu Ende. Und
doch ist im freien Vollzug des Sagens des Gemeinten, auch in dem, was der
Interpret meint, ein Ganzes von Sinn gegenwärtig. Das Verstehen, das sich
sprachlich ausartikuliert, hat freien Raum um sich, den es in beständiger
Beantwortung des es ansprechenden Wortes erfüllt, ohne ihn auszufüllen.
„Vieles ist zu sagen“: das ist das hermeneutische Grundverhältnis. Interpre¬
tation ist nicht ein nachträgliches Fixieren flüchtiger Meinungen, genausowenig
wie das Sprechen etwas Derartiges ist. Was zur Sprache kommt, das sind auch
bei literarischer Überlieferung nicht irgendwelche Meinungen als solche, son¬
dern durch sie hindurch die Welterfahrung selbst, die immer das Ganze unserer
geschichtlichen Überlieferung miteinschließt. Immer ist Überlieferung wie
durchlässig für das, was sich in ihr tradiert. Jede Antwort auf den Zuspruch
der Überlieferung, nicht nur das Wort, welches die Theologie zu suchen hat,
ist ein Wort, das bewahrt.

13 Parm. fr. 2, 7 f., 8, 8; 35 f. (Diels5).


MENSCH UND SPRACHE

Es gibt eine klassische Definition des Wesens des Menschen, die Aristoteles
aufgestellt hat, wonach er das Lebewesen ist, das Logos hat. In der Tradition
des Abendlandes wurde diese Definition in der Form kanonisch, daß der
Mensch das animal rationale, das vernünftige Lebewesen, d. h. durch die
Fähigkeit des Denkens von den übrigen Tieren unterschieden sei. Man hat
also das griechische Wort Logos durch Vernunft bzw. Denken wiedergegeben.
In Wahrheit heißt dieses Wort aber auch und vorwiegend: Sprache. Aristoteles
entwickelt einmal den Unterschied von Mensch und Tier folgendermaßen: Die
Tiere haben die Möglichkeit, sich miteinander zu verständigen, indem sie
einander anzeigen, was ihre Lust erregt, so daß sie es suchen, und was ihnen
weh tut, so daß sie es fliehen. Nur so weit sei die Natur bei ihnen gegangen.
Allein dem Menschen sei darüber hinaus der Logos gegeben, einander offenbar
zu machen, was nützlich und was schädlich ist, und damit auch, was recht und
unrecht ist. Ein tiefsinniger Satz. Was nützlich ist und was schädlich ist, ist
solches, das nicht in sich selbst wünschenswert ist, sondern um etwas anderen
willen, das noch gar nicht gegeben ist, sondern zu dessen Beschaffung es einem
dient. Hier ist also eine Überlegenheit über das je Gegenwärtige, ein Sinn für
das Zukünftige, als Auszeichnung des Menschen markiert. Und im selben Atem
fügt Aristoteles hinzu, daß damit auch der Sinn für Recht und Unrecht ge¬
geben sei - all das aber, weil der Mensch als einziger den Logos hat. Er kann
denken, und er kann sprechen. Er kann sprechen, d. h. er kann Nicht-Gegen¬
wärtiges durch sein Sprechen offenbar machen, so daß es auch ein anderer vor
sich sieht. Alles was er meint, kann er so mitteilen, ja mehr noch: dadurch, daß
er so sich mitteilen kann, gibt es überhaupt nur unter den Menschen ein Meinen
des Gemeinsamen, d. h. gemeinsame Begriffe und vor allem diejenigen gemein¬
samen Begriffe, durch die das Zusammenleben der Menschen ohne Mord und
Totschlag, in der Form des gesellschaftlichen Lebens, in der Form einer politi¬
schen Verfassung, in der Form eines arbeitsteilig gegliederten Wirtschaftslebens
möglich ist. Das alles liegt in der schlichten Aussage: der Mensch ist das Lebe¬
wesen, das Sprache hat.

Erstveröffentlichung in: Orbis Scriptus. Dmitrij Tschizewskij zum 70. Geburtstag.


Herausgegeben von Dietrich Gerhardt, Viktor Weintraub und Hans-Jürgen zum
Winkel. München 1%6, Wilhelm Fink Verlag, München, S. 237-243.
94 Mensch und Sprache

Man möchte meinen, daß diese so sinnfällige und überzeugende Feststellung


dem Phänomen der Sprache im Denken über das Wesen des Menschen von
jeher einen bevorzugten Ort gesichert hat. Was ist überzeugender, als daß die
Sprache der Tiere, wenn man ihre Weise, sich zu verständigen, so benennen
will, etwas ganz anderes ist als die menschliche Sprache, in der eine gegenständ¬
liche Welt vorgestellt und mitgeteilt wird? Und zwar durch Zeichen, die nicht
wie die Ausdruckszeichen der Tiere festliegen, sondern variabel bleiben, und
das nicht nur in dem Sinne, daß es verschiedene Sprachen gibt, sondern auch,
daß in der selben Sprache die gleichen Ausdrücke Verschiedenes und verschie¬
dene Ausdrücke das Gleiche bezeichnen können.
In Wahrheit hat man jedoch im philosophischen Denken des Abendlandes
das Wesen der Sprache keineswegs in den Mittelpunkt gestellt. Zwar war es
immer ein auffallender Wink, daß nach der Schöpfungsgeschichte des Alten
Testamentes Gott dem ersten Menschen die Herrschaft über die Welt übertrug,
indem er ihn alles Seiende nach seinem Gutdünken benennen ließ. Und auch
die Geschichte von dem babylonischen Turm bezeugt ja die fundamentale Be¬
deutung der Sprache für das Leben des Menschen. Gleichwohl hat gerade die
religiöse Überlieferung des christlichen Abendlandes das Denken über die
Sprache in gewisser Weise gelähmt, so daß erst im Zeitalter der Aufklärung
die Frage nach dem Ursprung der Sprache neu gestellt wurde. Es bedeutete
einen gewaltigen Schritt vorwärts, daß die Frage nach dem Ursprung der
Sprache nicht mehr durch den Schöpfungsbericht beantwortet, sondern in der
Natur des Menschen gesucht wurde. Denn nun war ein weiterer Schritt nicht zu
umgehen, nämlich der, daß die Natürlichkeit der Sprache es ausschließt, die
Frage nach einem sprachlosen Vorzustand des Menschen und damit die nach
dem Ursprung der Sprache überhaupt zu stellen. Herder und Wilhelm von
Humboldt haben die ursprüngliche Menschlichkeit der Sprache als die ur¬
sprüngliche Sprachlichkeit des Menschen erkannt und die grundlegende Be¬
deutung dieses Phänomens für die menschliche Weltansicht herausgearbeitet.
Die Verschiedenartigkeit des menschlichen Sprachbaus war das Forschungs¬
feld des aus dem öffentlichen Leben zurückgezogenen ehemaligen Kultus¬
ministers Wilhelm von Humboldt, des Weisen von Tegel, der durch sein Alters¬
werk der Begründer der modernen Sprachwissenschaft wurde.
Indessen bedeutete die Begründung der Sprachphilosophie und Sprach¬
wissenschaft durch Wilhelm von Humboldt noch keineswegs eine echte Wieder¬
herstellung der aristotelischen Einsicht. Wie hier die Sprachen der Völker zum
Gegenstand der Forschung gemacht wurden, damit wurde gewiß ein Weg des
Erkennens beschritten, der auf neue und aussichtsreiche Weise die Verschieden¬
heit der Völker und der Zeiten und das ihnen zugrunde liegende gemeinsame
Wesen des Menschen aufklären konnte. Aber es war die bloße Ausstattung
des Menschen mit einem Vermögen und die Aufhellung der Strukturgesetzlich¬
keiten dieses Vermögens - wir nennen sie Grammatik, Syntax, Vokabular der
Sprache -, was hier den Horizont der Frage nach Mensch und Sprache be-
Mensch und Sprache 95

grenzte. Man mochte im Spiegel der Sprache die Weltansichten der Völker, ja
sogar bis ms Einzelne hinein den Aufbau ihrer Kultur erkennen lernen — ich
denke etwa an den Einblick in den Kulturzustand der indogermanischen Völ¬
kerfamilie, den wir den großartigen Untersuchungen Viktor Hehns über Kul¬
turpflanzen und Haustiere verdanken. Die Sprachwissenschaft ist, wie eine
andere Prähistorie, die Prähistorie des menschlichen Geistes. Gleichwohl hat
auf diesem Wege das Phänomen der Sprache nur die Bedeutung eines ausge¬
zeichneten Ausdrucksfeldes, an dem sidi das Wesen des Menschen und seine
Entfaltung in der Geschichte studieren läßt. Bis in die zentralen Positionen des
philosophischen Denkens war auf diesem Wege jedoch nicht einzudringen.
Denn noch stand immer im Hintergründe des gesamten neuzeitlichen Denkens
die cartesianische Auszeichnung des Bewußtseins als des Selbstbewußtseins.
Dieses unerschütterliche Fundament aller Gewißheit, das gewisseste aller
Fakten, als das ich midi selber weiß, wurde im Denken der Neuzeit der Ma߬
stab für alles, was überhaupt dem Ansprudi wissenschaftlicher Erkenntnis zu
genügen vermochte. Die wissenschaftliche Erforschung der Sprache beruhte
am Ende auf dem gleichen Fundament. Es war die Spontaneität des Subjektes,
die in der sprachbildenden Energie eine ihrer Bestätigungsformen besitzt. So
fruchtbar auch von diesem Grundsatz aus die in den Sprachen gelegene Welt¬
ansicht gedeutet werden konnte - das Rätsel, das die Sprache dem menschlichen
Denken aufgibt, kam so überhaupt nicht in den Blick. Denn zum Wesen der
Sprache gehört eine geradezu abgründige Unbewußtheit derselben. Insofern
ist die Prägung des Begriffes die Sprache nicht zufällig ein spätes Resultat. Das
Wort Logos bedeutet nicht nur Denken und Sprache, sondern auch Begriff und
Gesetz. Die Prägung des Begriffs Sprache setzt Sprachbewußtheit voraus. Das
aber ist erst das Resultat einer Reflexionsbewegung, in der sich der Denkende
aus dem unbewußten Vollzug des Sprechens herausreflektiert und in eine
Distanz zu sich selber getreten ist. Das eigentliche Rätsel der Sprache ist aber
dies, daß wir das in Wahrheit nie ganz können. Alles Denken über Sprache
ist vielmehr von der Sprache schon immer wieder eingeholt worden. Nur in
einer Sprache können wir denken, und eben dieses Einwohnen unseres Denkens
in einer Sprache ist das tiefe Rätsel, das die Sprache dem Denken stellt.
Die Sprache ist nicht eines der Mittel, durch die sich das Bewußtsein mit der
Welt vermittelt. Sie stellt nicht neben dem Zeichen und dem Werkzeug - die
beide gewiß auch zur Wesensauszeichnung des Menschen gehören - ein drittes
Instrument dar. Die Sprache ist überhaupt kein Instrument, kein Werkzeug.
Denn zum Wesen des Werkzeuges gehört, daß wir seinen Gebrauch beherr¬
schen, und das heißt, es zur Hand nehmen und aus der Hand legen, wenn
es seinen Dienst getan hat. Das ist nicht dasselbe, wie wenn wir die bereit¬
liegenden Worte einer Sprache in den Mund nehmen und mit ihrem Gebraucht¬
sein zurücksinken lassen in den allgemeinen Wortvorrat, über den wir ver¬
fügen. Eine solche Analogie ist deshalb falsch, weil wir uns niemals als Bewußt¬
sein der Welt gegenüber finden und in einem gleichsam sprachlosen Zustand
96 Mensch und Sprache

nach dem Werkzeug der Verständigung greifen. Wir sind vielmehr in allem
Wissen von uns selbst und allem Wissen von der Welt immer schon von der
Sprache umgriffen, die unsere eigene ist. Wir wachsen auf, wir lernen die Welt
kennen, wir lernen die Menschen kennen und am Ende uns selbst, indem wir
sprechen lernen. Sprechen lernen heißt nicht: zur Bezeichnung der uns ver¬
trauten und bekannten Welt in den Gebrauch eines schon vorhandenen Werk¬
zeuges eingeführt werden, sondern es heißt, die Vertrautheit und Erkenntnis
der Welt selbst, und wie sie uns begegnet, erwerben.
Ein rätselhafter, tief verhüllter Vorgang! Was für ein Wahn ist es, zu mei¬
nen, daß ein Kind ein Wort, ein erstes Wort spricht. Was für ein Wahnsinn war
es, die Ursprache der Menschheit dadurch entdecken zu wollen, daß man Kinder
von allen menschlichen Lauten hermetisch abgeschlossen aufwachsen ließ und
dann aus ihrem ersten Lallen artikulierter Art einer vorhandenen menschlichen
Sprache das Privileg zuerkennen wollte, die Ursprache der Schöpfung zu sein.
Das Wahnhafte solcher Ideen beruht darauf, daß sie das wahrhafte Umschlos¬
sensein unserer selbst durch die sprachliche Welt, in der wir leben, auf irgend¬
eine künstliche Weise suspendieren wollen. In Wahrheit sind wir immer schon
in der Sprache ebenso zu Hause wie in der Welt. Wieder finde ich bei
Aristoteles die weiteste Beschreibung des Vorgangs, wie man sprechen lernt.
Die aristotelische Beschreibung meint allerdings gar nicht das Sprechenlernen,
sondern das Denken, d. h. den Erwerb allgemeiner Begriffe. Wie kommt in der
Flucht der Erscheinungen, in dem beständigen Vorbeifluten wechselnder Ein¬
drücke, überhaupt so etwas wie ein Bleiben zustande? Sicher ist es zunächst
die Fähigkeit des Behaltens, also das Gedächtnis, die uns etwas als dasselbe
wiedererkennen läßt, und das ist eine erste große Abstraktionsleistung. Es wird
aus der Flucht wechselnder Erscheinungen hier und da ein Gemeinsames
herausgesehen, und so kommt langsam aus sich häufenden Wiedererkennun¬
gen, die wir Erfahrungen nennen, die Einheit der Erfahrung zustande. In ihr
aber entspringt das ausdrückliche Verfügen über das so Erfahrene in der Weise
des Wissens des Allgemeinen. Aristoteles fragt nun: Wie kann eigentlich dieses
Wissen des Allgemeinen zustande kommen? Doch sicher nicht so, daß eins nach
dem anderen vorbeizieht und plötzlich an einem bestimmten Einzelnen, das
da wieder erscheint und als dasselbe wiedererkannt wird, das Wissen des All¬
gemeinen erworben wird. Es ist doch nicht dieses eine Einzelne als solches,
das sich gegenüber allen anderen Einzelnen durch die geheimnisvolle Kraft
auszeichnet, das Allgemeine zur Darstellung zu bringen. Es ist vielmehr wie
alle anderen Einzelnen auch. Und doch ist es ja wahr, daß irgendwann das
Wissen des Allgemeinen zustandegekommen ist. Wo hat es angefangen?
Aristoteles gibt dafür ein ideales Bild: Wie kommt ein auf der Flucht befind¬
liches Heer zum Stehen? Wo fängt es an, daß das Heer wieder steht? Doch
sicher nicht dadurch, daß der erste stehen bleibt oder der zweite oder der dritte.
Man kann doch gewiß nicht sagen, daß das Heer steht, wenn eine bestimmte
Anzahl der fliehenden Soldaten aufgehört hat zu fliehen, und gewiß auch
Mensch und Sprache 97

nicht, wenn der letzte zu fliehen aufgehört hat. Denn mit ihm fängt das Heer
nicht an zu stehen, sondern es hat längst angefangen, zum Stehen zu kommen.
Wie das da anfängt, wie es sich fortpflanzt und wie am Ende irgendwann das
Heer wieder steht, das heißt: wieder der Einheit des Kommandos gehorcht,
das wird von niemandem wissend verfügt, planend beherrscht, feststellend er¬
kannt. Und doch ist es unzweifelhaft gesdiehen. Genauso ist es mit dem Wissen
des Allgemeinen, und genauso ist es, weil es nämlich dasselbe ist, mit dem
Eintreten in die Sprache.
Wir sind in allem unserem Denken und Erkennen immer schon voreinge¬
nommen durch die sprachliche Weltauslegung, in die hineinwachsen in der
Welt auf wachsen heißt. Insofern ist die Sprache die eigentliche Spur unserer
Endlichkeit. Sie ist immer schon über uns hinweg. Das Bewußtsein des ein¬
zelnen ist nicht der Maßstab, an dem ihr Sein gemessen werden kann. Ja, es
gibt überhaupt kein einzelnes Bewußtsein, in dem die Sprache, die es spricht,
wirklich da ist. Wie also ist die Sprache da? Doch gewiß nicht ohne das einzelne
Bewußtsein. Aber doch auch nicht in einer bloßen Zusammenfassung vieler, die
jeder für sich ein Einzelbewußtsein sind.
Hat doch keiner, der ein einzelner ist, wenn er spricht, ein eigentliches
Bewußtsein seines Sprechens. Ausnahmesituationen sind es, in denen einem
die Sprache, in der man spricht, bewußt wird. Zum Beispiel, wenn einem in
der Absicht, etwas zu sagen, ein Wort auf die Zunge kommt, bei dem man
stutzt, das einem fremd oder komisch vorkommt, so daß man sich fragt:
„Kann man so eigentlich sagen?“ Da wird die Sprache, die wir sprechen,
einen Augenblick bewußt, weil sie das Ihre nicht tut. Was also ist das Ihre? Ich
denke, man kann hier dreierlei unterscheiden.
Das erste ist die wesenhafte Selbstvergessenheit, die dem Sprechen zu¬
kommt. Ihre eigene Struktur, Grammatik, Syntax usw., also all das, was die
Sprachwissenschaft thematisiert, ist dem lebendigen Sprechen durchaus nicht
bewußt. Daher gehört es zu den eigentümlichen Perversionen des Natürlichen,
daß die moderne Schule genötigt ist, Grammatik und Syntax, statt an einer
toten Sprache wie dem Latein, an der eigenen Muttersprache beizubringen.
Eine wahrhaft riesige Abstraktionsleistung, die von jedem verlangt wird, der
die Grammatik der Sprache, die er als seine Muttersprache beherrscht, zu
ausdrücklichem Bewußtsein bringen soll. Der wirkliche Vollzug der Sprache
bringt sie selbst ganz hinter dem zum Verschwinden, was jeweils in ihr gesagt
wird. Es gibt eine ganz hübsche Erfahrung bei Erlernung fremder Sprachen,
an der wir das alle erlebt haben. Es sind die in den Lehrbüchern oder Sprach¬
kursen gebrauchten Beispielsätze. Ihre Aufgabe ist, eine bestimmte sprachliche
Erscheinung abstraktiv bewußt zu machen. Ehedem, als man sich noch zu der
Abstraktionsaufgabe bekannte, die das Lernen der Grammatik und Syntax
einer Sprache darstellt, waren es Sätze von erhabener Sinnlosigkeit, die von
Caesar oder Onkel Karl irgend etwas aussagten. Die neuere Tendenz, auf dem
Wege über solche Beispielsätze recht viel interessante Auslandskunde mit ein-

7 Gadamer, Schriften I
98 Mensch und Sprache

strömen zu lassen, hat die unerwünschte Nebenwirkung, daß sich die Beispiels¬
funktion des Satzes in eben dem Grade verdunkelt, in dem der Inhalt des
Gesagten Interesse auf sich zieht. Je mehr die Sprache lebendiger Vollzug ist,
desto weniger ist man sich ihrer bewußt. So folgt aus der Selbstvergessenheit
der Sprache, daß ihr eigentliches Sein in dem in ihr Gesagten besteht, das die
gemeinsame Welt ausmacht, in der wir leben und zu der auch die ganze große
Kette der Überlieferung gehört, die aus der Literatur der fremden Sprachen,
toter wie lebender, uns erreicht. Das eigentliche Sein der Sprache ist das, worin
wir aufgehen, wenn wir sie hören, das Gesagte.
Ein zweiter Wesenszug des Seins der Sprache scheint mir ihre Ichlosigkeit.
Wer eine Sprache spricht, die kein anderer versteht, spricht nicht. Sprechen
heißt, zu jemandem spredten. Das Wort will das treffende Wort sein, das aber
heißt nicht nur, daß es die gemeinte Sache mir selbst vorstellt, sondern daß
es sie dem anderen, zu dem ich spreche, vor Augen stellt.
Insofern gehört Sprechen nicht in die Sphäre des Ich, sondern in die Sphäre
des Wir. So hat Ferdinand Ebner ehedem seiner bedeutenden Schrift: Das
Wort und die geistigen Realitäten mit Recht den Untertitel gegeben: Pneu¬
matologische Fragmente. Denn die geistige Realität der Sprache ist die des
Pneumas, des Geistes, der Ich und Du eint. Die Wirklichkeit des Sprechens
besteht, wie man seit langem beachtet hat, im Gespräch. In jedem Gespräch
aber waltet ein Geist, ein böser oder ein guter, ein Geist der Verstockung und
des Stockens oder ein Geist der Mitteilung und des strömenden Austausches
zwischen Ich und Du.
Die Vollzugsform jedes Gespräches läßt sich, wie ich anderwärts (,Wahrheit
und Methode1; III. Teil) gezeigt habe, vom Begriff des Spieles her beschreiben.
Freilich ist dazu erforderlich, sich von einer Denkgewohnheit freizumachen,
die das Wesen des Spiels vom Bewußtsein des Spielenden her sieht. Diese vor
allem durch Schiller populär gewordene Bestimmung des Menschen, der spielt,
faßt die wahre Struktur des Spiels nur von seiner subjektiven Erscheinung her.
Spiel ist in Wahrheit aber ein Bewegungsvorgang, der die Spielenden oder das
Spielende umgreift. So ist es keineswegs nur eine Metapher, wenn wir von dem
Spiel der Wellen oder den spielenden Mücken oder dem freien Spiel der Glieder
sprechen. Vielmehr beruht selbst die Faszination des Spieles für das spielende
Bewußtsein eben in einer solchen Entrückung seiner selbst in einen Bewegungs¬
zusammenhang, der seine eigene Dynamik entfaltet. Ein Spiel ist im Gange,
wenn der einzelne Spieler in vollem Spielernst dabei ist, d. h. sich nicht mehr
zurückbehält als ein nur Spielender, dem es nicht ernst ist. Solche Leute, die
das nicht können, nennen wir Menschen, die nicht spielen können. Nun meine
ich: die Grundverfassung des Spiels, mit seinem Geist — dem der Leichtigkeit,
der Freiheit, des Glücks des Gelingens — erfüllt zu sein und den Spielenden
zu erfüllen, ist strukturverwandt mit der Verfassung des Gesprächs, in dem
Sprache wirklich ist. Wie man miteinander ins Gespräch kommt und nun von
dem Gespräch gleichsam weitergetragen wird, darin ist nicht mehr der sich
Mensch und Sprache 99

zurückbehaltende oder sich öffnende Wille des Einzelnen bestimmend, sondern


das Gesetz der Sache, um die es im Gespräch geht, und die Rede und Gegen¬
rede hervorlockt und am Ende aufeinander einspielt. So ist man dort, wo ein
Gespräch gelungen ist, nachher von ihm, wie wir sagen, erfüllt. Das Spiel von
Rede und Gegenrede spielt sich weiter fort im inneren Gespräch der Seele mit
sich selber, wie Plato so schön das Denken genannt hat.
Damit hängt ein Drittes zusammen, das ich die Universalität der Sprache
nennen möchte. Sie ist kein abgeschlossener Bereich des Sagbaren, neben dem
andere Bereiche des Unsagbaren stünden, sondern sie ist allumfassend. Es gibt
nichts, das grundsätzlich dem Gesagtwerden entzogen wäre, sofern nur das
Meinen etwas meint. Es ist die Universalität der Vernunft, mit der das Sagen¬
können unermüdlich Sdrritt hält. So hat auch jedes Gespräch eine innere Un¬
endlichkeit und kein Ende. Man bricht es ab, sei es, daß genug gesagt zu sein
scheint, sei es, daß nichts mehr zu sagen ist. Aber jeder solche Abbruch hat
einen inneren Bezug auf die Wiederaufnahme des Gesprächs.
Wir machen diese Erfahrung, oft in schmerzhafter Weise, dort, wo von uns
eine Aussage verlangt wird. Die Frage, auf die es da zu antworten gilt - den¬
ken wir etwa an das extreme Beispiel des Verhörs oder der Aussage vor
Gericht -, ist wie eine Schranke, die gegen den Geist des Sprechens, der sich
aussprechen und Gespräch will, aufgerichtet ist (,Hier rede ich“ oder Ant¬
worten Sie auf meine Frage!“). Alles Gesagte hat seine Wahrheit nicht einfach
in sich selbst, sondern verweist nach rückwärts und nach vorwärts auf Unge¬
sagtes. Jede Aussage ist motiviert, das heißt, man kann an alles, was gesagt
wird, mit Sinn die Frage richten: ,Warum sagst du das?“ Und erst, wenn dies
Nichtgesagte mit dem Gesagten mitverstanden ist, ist eine Aussage verständ¬
lich. Wir kennen das im besonderen bei der Frage. Eine Frage, die wir nicht
als motiviert verstehen, kann auch keine Antwort finden. Denn die Motiva¬
tionsgeschichte der Frage öffnet allererst den Bereich, aus dem her Antwort
geholt und gegeben werden kann. So ist es in Wahrheit im Fragen wie im
Antworten ein unendliches Gespräch, in dessen Raume Wort und Antwort
stehen. Alles Gesagte steht in solchem Raume.
Wir können uns das an einer Erfahrung verdeutlichen, die jeder von uns
macht. Ich meine das Übersetzen und das Lesen von Übersetzungen aus frem¬
den Sprachen. Was der Übersetzer vorfindet, ist sprachlicher Text, d. h. ein
mündlich oder schriftlich Gesagtes, das er in die eigene Sprache übersetzen soll.
Er ist gebunden an das, was da steht, und er kann doch nicht einfach das
Gesagte aus dem fremden Sprachstoff in den eigenen Sprachstoff umformen,
ohne daß er selber wieder zum Sagenden wird. Das aber heißt, er muß in sich
den unendlichen Raum des Sagens gewinnen, der dem in der fremden Sprache
Gesagten entspricht. Jedermann weiß, wie schwer das ist. Jedermann weiß,
wie die Übersetzung das in der fremden Sprache Gesagte gleichsam flach
fallen läßt. Es bildet sich in einer Fläche ab, so daß Wortsinn und Satzform
der Übersetzung das Original nachzeichnen, aber die Übersetzung hat gleich-
100 Mensch und Sprache

sam keinen Raum. Ihr fehlt jene dritte Dimension, aus der sich das ursprüng¬
lich, d. h. im Original Gesagte, in seinem Sinnbereich aufbaute. Das ist eine un¬
vermeidliche Sdiranke aller Übersetzungen. Keine kann das Original ersetzen.
Aber wenn man meinen sollte, jene ins Flache projizierte Aussage des Originals
müßte nun in der Übersetzung gleichsam leichter verständlich geworden sein,
da vieles im Original anklingende Flintergründige, Zwischenzeilige nicht mit
hinübergetragen werden konnte - wenn man nun meinte, diese Reduktion
auf einen einfältigen Sinn müsse das Verständnis erleichtern, so täuscht man
sich. Keine Übersetzung ist so verständlich wie ihr Original. Es ist eben gerade
der vieles einbeziehende Sinn des Gesagten - und Sinn ist immer Richtungs¬
sinn -, der nur in der Ursprünglichkeit des Sagens zur Sprache kommt und in
allem Nachsagen und Nachsprechen entgleitet. Die Aufgabe des Übersetzers
muß daher immer die sein, nicht das Gesagte abzubilden, sondern sich in Rich¬
tung des Gesagten, d. h. in seinen Sinn, einzustellen, um in die Richtung seines
eigenen Sagens das zu Sagende zu übertragen.
Am deutlichsten wird das bei solchen Übersetzungen, die ein mündliches
Gespräch durch die Zwischenschaltung der Dolmetscher zwischen Menschen
fremder Muttersprache ermöglichen sollen. Ein Dolmetscher, der nur wieder¬
gibt, was die von dem einen gesprochenen Worte und Sätze in der anderen
Sprache sind, verfremdet das Gespräch ins Unverständliche. Was er wieder¬
geben muß, ist nicht das Gesagte in seinem authentischen Wortlaut, sondern
das, was der andere sagen wollte und sagte, indem er vieles ungesagt ließ. Auch
die Begrenztheit seiner Wiedergabe muß den Raum gewinnen, in dem allein
Gespräch, d. h. die innere Unendlichkeit, die aller Verständigung zukommt,
möglich wird.
So ist die Sprache die wahrhafte Mitte des menschlichen Seins, wenn man sie
nur in dem Bereich sieht, den sie allein ausfüllt, dem Bereich menschlichen Mit¬
einanderseins, dem Bereich der Verständigung, des immer neu anwachsenden
Einverständnisses, das dem menschlichen Leben so unentbehrlich ist wie die
Luft, die wir atmen. Der Mensch ist wirklich, wie Aristoteles es gesagt hat, das
Wesen, das Sprache hat. Denn alles, was menschlich ist, sollen wir uns gesagt
sein lassen.
DIE UNIVERSALITÄT DES HERMENEUTISCHEN PROBLEMS

Warum hat in der heutigen philosophischen Diskussion das Problem der


Sprache eine ähnlich zentrale Stellung erworben wie vor etwa 150 Jahren der
Begriff des Denkens oder des sich selber denkenden Denkens? Ich möchte mit
dieser Frage indirekt auf die Frage eine Antwort geben, die wir als die zen¬
trale Frage der Neuzeit, wie sie uns durch die Existenz der modernen Wissen¬
schaft aufgegeben ist, bezeichnen müssen. Ich meine die Frage, wie sich unser
natürliches Weltbild, die Welterfahrung, die wir als Menschen haben, sofern
wir unsere Lebensgeschichte und unser Lebensschicksal durchleben, zu jener
unangreifbaren und anonymen Autorität verhält, welche die Stimme der
Wissenschaft darstellt. Seit dem 17. Jahrhundert ist das die eigentliche Auf¬
gabe der Philosophie geworden, diesen neuen Einsatz des menschlichen Wissen-
Könnens und Machen-Könnens mit dem Ganzen unserer menschlichen Lebens¬
erfahrung zu vermitteln. Das spricht sich in vielem aus und umfaßt auch noch
den Versuch, den die heutige Generation zu machen unternimmt, wenn sie das
Thema der Sprache, die Grundvollzugsweise unseres In-der-Welt-Seins, die
alles umgreifende Form der Weltkonstitution, in den Mittelpunkt der Philo¬
sophie rückt. Wir haben dabei immer die in den sprachlosen Zeichen erstar¬
rende Aussage der Wissenschaften im Auge und die Aufgabe der Rückbindung
der durch sie verfügbar gemachten und in unsere Willkür gestellten gegen¬
ständlichen Welt, die wir Technik nennen, an die unwillkürlichen und nicht
mehr von uns zu machenden, sondern zu ehrenden Grundordnungen unseres
Seins.
Ich will ein paar schlichte Dinge explizieren, an denen sich die Universalität
dieses Gesichtspunktes, den ich unter Anknüpfung an eine von Heidegger in
seiner Frühzeit entwickelte Sprechweise und damit in Fortführung einer aus
der protestantischen Theologie ursprünglich stammenden und durch Dilthey
in unser Jahrhundert überlieferten Perspektive, ,hermeneutisch‘ genannt habe.
Was ist Hermeneutik? Ich möchte ausgehen von zwei Entfremdungserfah¬
rungen, die uns in dem Bereiche der uns angehenden Bedeutsamkeiten unseres
Daseins begegnen. Ich meine die Entfremdungserfahrung des ästhetischen Be-

Erstveröffentlichung in: Philosophisches Jahrbuch. Im Auftrag der Görres-Gesell-


schaft herausgegeben von Max Müller. 73. Jahrgang, 2. Halbband, Verlag Karl Alber,
Freiburg/München 1966, S. 215-225.
102 Die Universalität des hermeneutischen Problems

wußtseins und die Entfremdungserfahrung des historischen Bewußtseins. Was


ich damit sagen will, läßt sich in beiden Fällen mit wenigen Worten angeben:
Das ästhetische Bewußtsein realisiert die Möglichkeit, die wir als solche weder
ableugnen noch in ihrem Werte mindern können, daß man sich zur Qualität
eines künstlerischen Gebildes kritisch oder affirmativ verhält; das heißt aber so,
daß das Urteil, das wir selber haben, über die Aussagekraft und die Geltung
dessen, was wir so beurteilen, letzten Endes entscheidet. Das, was wir ver¬
werfen, hat uns nichts zu sagen oder wir verwerfen es, weil es uns nichts zu
sagen hat. Das charakterisiert unser Verhältnis zur Kunst im großen Sinne des
Wortes, die ja bekanntlich, wie Hegel gezeigt hat, auch noch die ganze grie¬
chisch-heidnische religiöse Welt mit umfaßt, als Kunst-Religion, als die
Weise, das Göttliche zu erfahren in der bildnerischen Antwort des Menschen.
Wenn nun diese ganze Erfahrungswelt sich zum Gegenstand ästhetischer Beur¬
teilung verfremdet, dann verliert sie offenbar ihre ursprüngliche und frag¬
lose Autorität. Indessen, wir müssen uns eingestehen, daß uns die Welt der
künstlerischen Überlieferung, die großartige Gleichzeitigkeit, die uns die Kunst
mit so vielen menschlichen Welten verschafft, mehr ist als ein bloßer Gegen¬
stand unseres freien Annehmens und Verwerfens. Ist es nicht in Wahrheit so,
daß das, was uns als Kunstwerk ergriffen hat, uns gar nicht mehr die Freiheit
läßt, es noch einmal von uns wegzuschieben und von uns aus anzunehmen oder
zu verwerfen? Und stimmt es nicht obendrein, daß diese Gebilde der mensch¬
lichen Kunstfertigkeit, wie sie durch die Jahrtausende gehen, ganz gewiß nicht
für solches ästhetische Annehmen oder Verwerfen gebildet worden sind? Kein
Künstler der religiös gebundenen Kulturen der Vergangenheit hat je sein
Kunstwerk in einer anderen Absicht aufgestellt als in der, daß das, was er da
geschaffen hat, in dem, was es sagt und darstellt, angenommen wird und
hineingehört in die Welt, in der die Menschen miteinander leben. Das Bewußt¬
sein von Kunst, das ästhetische Bewußtsein, ist immer ein sekundäres Be¬
wußtsein, es ist sekundär gegenüber dem unmittelbaren Wahrheitsanspruch,
der von dem Kunstwerk ausgeht. Insofern ist es eine Verfremdung von etwas,
was uns in Wahrheit viel innerlicher vertraut ist, wenn wir etwas auf seine
ästhetische Qualität hin beurteilen. Solche Verfremdung zum ästhetischen
Urteil greift immer dort Platz, wo einer sich entzogen hat, wo einer dem un¬
mittelbaren Anspruch dessen, was ihn ergreift, sich nicht stellt. Deswegen war
einer der Ausgangspunkte meiner Überlegungen eben dieser, daß die ästhe¬
tische Souveränität, die sich im Bereiche der Erfahrung der Kunst geltend
macht, gegenüber der eigentlichen Erfahrungswirklichkeit, die uns in der Ge¬
stalt der künstlerischen Aussage begegnet, eine Verfremdung darstellt.
Vor etwa 30 Jahren wurde das hier liegende Problem auf entstellte Weise
bewußt, als die nationalsozialistische Kunstpolitik auf dem Wege und zu dem
Zwecke ihrer eigenen politischen Ziele den Formalismus einer reinen ästhe¬
tischen Kultur durch ihre Rede von der volksverbundenen Kunst zu kritisieren
versuchte, eine Redeweise, der man bei allem Mißbrauch, der diese Parole mit
Die Universalität des hermeneutischen Problems 103

sich führte, doch nicht absprechen kann, daß sie auf etwas Wirkliches hinweist.
Jedem echten künstlerischen Schaffen ist seine Gemeinde zugeordnet, und eine
solche ist immer etwas anderes als die Bildungsgesellschaft, die von der Kunst¬
kritik informiert und terrorisiert wird.
Die zweite Weise von Entfremdungserfahrung ist das, was man das histo¬
rische Bewußtsein nennt, jene langsam sich ausbildende großartige Kunst des
Sich-selber-gegenüber-kritisch-Werdens in der Aufnahme der Zeugnisse ver¬
gangenen Lebens. Die bekannte Rankesche Formulierung von der Auslöschung
der Individualität hat in eine populäre Formel gekleidet, was das Ethos des
historischen Denkens ist: daß das historische Bewußtsein sich die Aufgabe
stellt, alle Zeugnisse einer Zeit aus dem Geiste dieser Zeit zu verstehen, sie
wegzurücken von den uns einnehmenden Aktualitäten unseres gegenwärtigen
Lebens und ohne moralische Besserwisserei die Vergangenheit zu erkennen,
wie auch sie eine menschliche war. Nietzsches bekannte Abhandlung über
Nutzen und Nachteil der Historie für das Leben hat den Widerspruch zwischen
einer solchen historischen Distanzierung und dem unmittelbaren Formungs¬
willen, der immer der Gegenwart eignet, formuliert und zugleich manche der
Folgen dieses, wie er es nannte, alexandrinerhaften, geschwächten Formwillens
des Lebens, der sich als die moderne historische Wissenschaft darstellt, aufge¬
zeigt. Idi erinnere an seine Anklage der Wertungsschwäche, die den modernen
Geist befallen hat, weil er sich so sehr gewöhnt habe, in immer wieder anderes
und wechselndes Licht zu treten, daß er geblendet sei und zu einer eigenen
Wertung dessen, was sich ihm zeigt, zu einer Standortbestimmung gegenüber
dem, was ihm gegenübertritt, nicht mehr fähig ist; die Wertblindheit des
historischen Objektivismus wird hier zurückgeführt auf den Konflikt zwi¬
schen der verfremdeten geschichtlichen Welt und den Lebenskräften der Gegen¬
wart.
Nietzsche ist gewiß ein ekstatischer Zeuge, aber daß es mit dem historischen
Bewußtsein und seinem Anspruch auf historische Objektivität eigene Schwie¬
rigkeiten hat, das hat die geschichtliche Erfahrung, die wir mit diesem histo¬
rischen Bewußtsein in den letzten hundert Jahren gemacht haben, eindrudcs-
voll gelehrt. Es gehört zu den Selbstverständlichkeiten unserer wissenschaft¬
lichen Erfahrung, daß wir die Meisterwerke historischer Forschung, in denen
Rankes Forderung der Selbstauslöschung des Individualismus zu einer Art
Vollendung gebracht scheint, dennoch mit unfehlbarer Sicherheit den politi¬
schen Tendenzen ihrer eigenen Gegenwart zuordnen können. Wir wissen,
wenn wir Mommsens römische Geschichte lesen, wer das nur geschrieben haben
kann, d. h. in welcher politischen Situation der eigenen Zeit dieser Historiker
die Stimmen der Vergangenheit zu einer sinnvollen Aussage zusammengeord¬
net hat. Wir wissen es ebenso von Treitschke oder von Sybel, um nur ein paar
recht markante Beispiele aus der preußischen Historiographie zu wählen. Das
will zunächst nur heißen: offenbar ist es nicht die ganze Wirklichkeit der
geschichtlichen Erfahrung, die in der Selbstauffassung der historischen Methode
104 Die Universalität des hermeneutischen Problems

zur Sprache kommt. Es ist unbestreitbar ein berechtigtes Ziel, die Vorurteile
der eigenen Gegenwart so sehr unter Kontrolle zu nehmen, daß man die Zeug¬
nisse der Vergangenheit nicht mißversteht. Aber es ist offenbar nicht die ganze
Aufgabe des Verstehens der Vergangenheit und ihrer Überlieferung, die sich
darin vollendet. Ja, es könnte sein, - und diesem Gedanken nachzugehen, ist
in der Tat eine der ersten Aufgaben, die sich bei der kritischen Prüfung der
Selbstauffassung der historischen Wissenschaft stellen - daß nur die belang¬
losen Dinge in der historischen Forschung diesem Ideal einer totalen Aus¬
löschung der Individualität nahezukommen erlaubten, während die großen
produktiven Forschungsleistungen stets etwas von dem glanzvollen Zauber
einer unmittelbaren Spiegelung von Gegenwart in Vergangenheit und Ver¬
gangenheit in Gegenwart bewahren. Auch diese zweite Erfahrung, von der ich
ausgehe, die historische Wissenschaft, bringt nur einen Teil dessen zur Sprache,
was unsere wahrhafte Erfahrung, d. h. was die Begegnung mit der geschicht¬
lichen Überlieferung für uns ist, und kennt sie nur in einer entfremdeten
Gestalt.
Wenn ich nun das hermeneutische Bewußtsein als eine umfassendere Mög¬
lichkeit, die es zu entwickeln gilt, dem gegenüberstelle, so gilt es auch da, zu¬
nächst die wissenschaftstheoretische Verkürzung zu überwinden, mit der das,
was man traditionellerweise ,Wissenschaft der Hermeneutik' nennt, in die
moderne Wissenschaftsidee eingegliedert worden ist. Wenn wir uns der
Schleiermacherschen Hermeneutik zuwenden, in der Schleiermacher die
Stimme der historischen Romantik geführt hat und zugleich das Anliegen des
christlichen Theologen dabei wachsam im Auge behielt, sofern seine Herme¬
neutik als eine allgemeine Kunstlehre des Verstehens der Sonderaufgabe der
Auslegung der Heiligen Schrift zugute kommen sollte, so zeigt sich seine Per¬
spektive für diese hermeneutische Disziplin durch den modernen Wissen¬
schaftsgedanken eigentümlich beschränkt. Schleiermacher definiert die Her¬
meneutik als die Kunst, Mißverstand zu vermeiden. Sicherlich ist das keine
ganz verkehrte Beschreibung der hermeneutischen Bemühung, das Fremde, das
zu Mißverstand Verführende, der durch den Zeitenabstand, die Veränderung
von Sprachgewohnheiten, den Wandel von Wortbedeutungen und von Vor¬
stellungsweisen uns nahegelegt ist, durch kontrollierte methodische Besinnung
auszuschalten. Nur ist auch hier die Frage: Ist das Phänomen des Verstehens
angemessen definiert, wenn ich sage: Verstehen heißt, Mißverstehen vermei¬
den? Fiegt nicht in Wahrheit allem Mißverstehen etwas wie ein fragendes
Einverständnis' voraus?
Es ist ein Stück Eebenserfahrung, das ich hier zu evozieren suche. Wir
sagen etwa: Verstehen und Mißverstehen spielt zwischen Ich und Du. Schon
die Formulierung ,Ich und Du* bezeugt aber eine ungeheure Verfremdung.
So etwas gibt es ja gar nicht. Es gibt weder das Ich noch das Du, es gibt
ein Du-Sagen eines Ich und es gibt ein Ich-Sagen gegenüber einem Du; aber
das sind Situationen, denen immer schon Verständigung vorhergeht. Zu
Die Universalität des hermeneutischen Problems 105

jemandem Du-Sagen — wir wissen es alle — setzt ein tiefes Einverständnis


voraus. Da trägt schon etwas, was dauerhaft ist. Audi bei dem Versuch, uns
über eine Sache zu verständigen, in der wir verschiedener Meinung sind, ist
das immer mit im Spiele, selbst, wenn wir dieses Tragenden uns nur selten
bewußt werden. Nun will uns die Wissenschaft der Hermeneutik glauben
machen, die Meinung, die wir zu verstehen haben, sei etwas Fremdes, das
uns zum Mißverständnis zu verführen suche, und es komme darauf an,
durch ein kontrolliertes Verfahren historischer Erziehung, durch historische
Kritik und kontrollierbare Methode im Bunde mit psychologischer Ein¬
fühlungskraft alle die Momente auszuschalten, durch die ein Mißverstehen
sich einschleichen kann. Das ist, wie mir scheint, eine in einem Teilaspekt
gültige, aber doch sehr teilhafte Beschreibung eines umfassenden Lebens¬
phänomens, das das Wir, das wir alle sind, konstituiert. Es scheint mir
die Aufgabe, über die Vorurteile, die dem ästhetischen Bewußtsein, dem
historischen Bewußtsein und dem zu einer Technik des Vermeidens von
Mißverständnissen restringierten hermeneutischen Bewußtsein zugrunde
liegen, hinauszukommen und die in ihnen gelegenen Verfremdungen zu über¬
winden.
Was ist es denn, was uns in diesen drei Erfahrungen als das Ausgelassene
erschien, und warum ihre Partikularität uns so fühlbar wird? Was ist das
ästhetische Bewußtsein angesichts der Fülle dessen, was uns immer schon ange¬
sprochen hat und was wir in der Kunst ,klassisch' nennen? Ist nicht auf diese
Weise immer schon bestimmt, was für uns sprechend wird und was wir be¬
deutsam finden? All das, wovon wir mit einer instinktiven - wenn auch viel¬
leicht irrigen - Sicherheit, aber für unser Bewußtsein zunächst gültig, sagen;
,das ist klassisch, das wird bleiben', hat doch schon unsere Möglichkeit, etwas
ästhetisch zu beurteilen, vorgeformt. Es ist nicht so, daß es rein formale Krite¬
rien wären, welche das Gestaltungsniveau oder den Formungsgrad beliebig auf
seine artistische Virtuosität hin zu beurteilen und gutzuheißen beanspruchten.
Wir stehen vielmehr mitten in einem durch die Stimmen, die uns ständig er¬
reichen, geweckten ästhetischen Resonanzraum unserer sensitiv-geistigen Exi¬
stenz, - und das liegt aller ausdrücklichen ästhetischen Beurteilung voraus.
Ähnlich steht es mit dem historischen Bewußtsein. Auch da werden wir ge¬
wiß zugeben, daß es unzählige Aufgaben historischer Forschung gibt, die
keinen Bezug zu unserer eigenen Gegenwart und ihrer geschichtlichen Bewußt¬
seinstiefe haben. Wohl aber scheint es mir kein Zweifel, daß sich der große
Vergangenheitshorizont, aus dem heraus unsere Kultur und unsere Gegen¬
wart leben, bei allem als wirksam erweist, was wir in die Zukunft hinein wollen,
hoffen oder fürchten. Die Geschichte ist mit da und ist selbst nur da im Lichte
dieser unserer Zukünftigkeit. Hier haben wir alle durch Heidegger gelernt,
der gerade den Primat der Zukünftigkeit für das mögliche Erinnern und
Behalten und damit für das Ganze unserer Geschichte gezeigt hat.
Das wirkt sich in dem, was Heidegger über die Produktivität des herme-
106 Die Universalität des hermeneutischen Problems

neutischen Zirkels gelehrt hat, aus, und ich habe dem die Formulierung gegeben,
daß nicht so sehr unsere Urteile als unsere Vorurteile unser Sein ausmachen.
Das ist eine provokatorische Formulierung, sofern ich damit einen positiven
Begriff des Vorurteils, der durch die französische und englische Aufklärung
aus dem Sprachgebrauch verdrängt worden ist, wieder in sein Recht einsetze.
Es läßt sich nämlich zeigen, daß der Begriff des Vorurteils ursprünglich durch¬
aus nicht den Sinn allein hat, den wir damit verbinden. Vorurteile sind nicht
notwendig unberechtigt und irrig, so daß sie die Wahrheit verstellen. In
Wahrheit liegt es in der Geschichtlichkeit unserer Existenz, daß die Vorurteile
im wörtlichen Sinne des Wortes die vorgängige Gerichtetheit all unseres Er-
fahren-Könnens ausmachen. Sie sind Voreingenommenheiten unserer Welt¬
offenheit, die geradezu Bedingungen dafür sind, daß wir etwas erfahren, daß
uns das, was uns begegnet, etwas sagt. Gewiß heißt das nicht, daß wir, durch
eine Mauer von Vorurteilen eingefriedet, nur das durch die enge Pforte lassen,
was seinen Paß vorweisen kann, auf dem steht: hier wird nichts Neues gesagt.
Gerade der Gast ist uns willkommen, der unserer Neugier Neues verheißt.
Aber woher erkennen wir den Gast, der zu uns eingelassen wird, als einen,
der uns etwas Neues zu sagen hat? Bestimmt sich nicht auch unsere Erwartung
und unsere Bereitschaft, das Neue zu hören, notwendig von dem Alten her, das
uns schon eingenommen hat? Das Bild soll eine Art Legitimation dafür geben,
warum der Begriff des Vorurteils, der mit dem Begriff der Autorität in einem
tiefen inneren Zusammenhang steht, einer hermeneutischen Rehabilitierung
bedarf. Wie jedes Bild ist auch dieses schief. Die hermeneutische Erfahrung
ist nicht von der Art, daß etwas draußen ist und Einlaß begehrt: Wir sind
vielmehr von etwas eingenommen und gerade durch das, was uns einnimmt,
aufgeschlossen für Neues, Anderes, Wahres. Es ist, wie Plato es mit dem schö¬
nen Vergleich zwischen den leiblichen Speisen und der geistigen Nahrung klar
macht: während man jene zurückweisen kann, z. B. auf Anraten des Arztes,
hat man diese immer schon in sich aufgenommen.
Nun fragt es sich freilich, wie sich die hermeneutische Bedingtheit unseres
Seins gegenüber der Existenz der modernen Wissenschaft legitimieren soll, die
doch mit dem Prinzip der Unvoreingenommenheit und Vorurteilslosigkeit steht
und fällt. Es wird sicherlich nicht damit getan sein - ganz abgesehen davon,
daß solche Deklamationen immer etwas Lächerliches haben -, daß man der
Wissenschaft Vorschriften macht und ihr empfiehlt, sich zu mäßigen. Den
Gefallen wird sie uns nicht tun. Sie wird mit einer nicht in ihrem Belieben
liegenden inneren Notwendigkeit ihre Wege weitergehen und immer mehr an
Erkenntnisse und Machbarkeiten heranführen, bei denen uns der Atem stockt.
Sie wird nicht anders können. Es ist sinnlos, etwa einem Forscher auf dem
Gebiete der Erbgenetik wegen der drohenden Züchtung des Übermenschen in
den Arm zu fallen. So kann das Problem nicht aussehen, daß sich unser
menschliches Bewußtsein in einen Gegensatz zum wissenschaftlichen Gang der
Dinge stellt und sich herausnimmt, hier eine Art von Gegen-Wissenschaft auf-
Die Universalität des hermeneutischen Problems 10 7

zubauen. Trotzdem ist der Frage nicht auszuweichen, ob nicht das, was wir
an scheinbar so harmlosen Gegenständen wie dem ästhetischen Bewußtsein
und dem historischen Bewußtsein gewahren, eine Problematik darstellt, die
erst recht unserer modernen Naturwissenschaft und unserem technischen Welt¬
verhalten emwohnt. Wenn wir auf der Grundlage der modernen Wissen¬
schaft die neue technische Zweckwelt errichten, die alles um uns herum ver¬
ändert, so unterstellen wir nicht, daß der Forscher, der die dafür entschei¬
denden Erkenntnisse gewonnen hat, auch nur mit einem Blick auf die tech¬
nischen Verwertbarkeiten geblickt hat. Es ist echter Erkenntniswille und nichts
sonst, was den wahren Forscher befeuert. Und trotzdem ist die Frage zu stel¬
len, ob sich nicht auch gegenüber dem Ganzen unserer modernen wissenschaft¬
lich fundierten Zivilisation wiederholt, daß hier etwas ausgelassen ist — und
ob nicht, wenn Voraussetzungen, unter denen diese Erkenntnis-Möglichkeiten
und Machens-Möglichkeiten stehen, im Halbdunkel bleiben, eben das zur
Folge haben kann, daß die Hand, die diese Erkenntnisse anwendet, zer¬
störerisch wird.
Das Problem ist wirklich universell. Die hermeneutische Frage, wie ich sie
charakterisierte, ist durchaus nicht beschränkt auf die Gebiete, von denen ich
bei meinen eigenen Untersuchungen ausgegangen bin. Es ging nur darum, erst
einmal eine theoretische Basis zu befestigen, die auch das Grundfaktum unserer
gegenwärtigen Kultur, die Wissenschaft und ihre industrielle technische Ver¬
wertung, zu tragen vermag. Ein nützliches Beispiel dafür, wie die hermeneu¬
tische Dimension das gesamte Verfahren der Wissenschaft umfaßt, ist die Sta¬
tistik. Sie lehrt als Extrembeispiel, daß Wissenschaft stets unter bestimmten
methodischen Abstraktionsbedingungen steht und daß die Erfolge der
modernen Wissenschaften darauf beruhen, daß andere Fragemöglichkeiten
durch Abstraktion abgedeckt werden. An der Statistik kommt das handgreif¬
lich heraus, weil sie sich durch die Vorgreiflichkeit der Fragen, die sie beant¬
wortet, so sehr zu Propagandazwecken eignet, - was Propagandaeffekt
machen soll, muß ja immer das Urteil des Angesprochenen vorgängig zu be¬
einflussen und seine Urteilsmöglichkeit einzuschränken suchen. Was da fest¬
gestellt wird, sieht so aus wie die Sprache der Tatsachen; aber auf welche
Fragen diese Tatsachen eine Antwort geben und welche Tatsachen zu reden
begönnen, wenn andere Fragen gestellt würden, das ist eine hermeneutische
Fragestellung. Sie würde erst die Bedeutung dieser Tatsachen und damit die
Folgerungen, die aus dem Bestehen dieser Tatsachen sich ergeben, legitimieren.
Ich greife damit vor und habe unwillkürlich die Wendung gebraucht, welche
Antworten auf welche Fragen eigentlich in den Tatsachen stecken. Das ist in
der Tat das hermeneutische Urphänomen, daß es keine mögliche Aussage gibt,
die nicht als Antwort auf eine Frage verstanden werden kann, und daß sie
nur so verstanden werden kann. Das beeinträchtigt die großartige Methodik
der modernen Wissenschaft nicht im geringsten. Wer eine Wissenschaft lernen
will, muß ihre Methodik beherrschen lernen. Wir wissen aber auch, daß
108 Die Universalität des hermeneutischen Problems

Methodik als solche überhaupt noch nicht für die Produktivität ihrer Anwen¬
dung garantiert. Es gibt vielmehr (das ist etwas, was eines jeden Lebenserfah¬
rung zu bestätigen vermag) die methodische Sterilität, d. h. die Anwendung
der Methodik auf etwas Nicht-Wissenswürdiges, auf etwas, was gar nicht aus
einer echten Fragestellung heraus zum Gegenstand von Forschung gemacht
wird.
Das methodische Selbstbewußtsein der modernen Wissenschaft freilich steht
dem entgegen. So wird einem etwa der Ffistoriker entgegengehalten, das sei
ja alles sehr schön mit dieser geschichtlichen Überlieferung, in der allein die
Stimmen der Vergangenheit Bedeutung gewönnen, und durch die die Vor¬
urteile, die die Gegenwart bestimmen inspiriert seien. Aber es sei doch ganz
anders, wo es sich ernsthaft um historische Forschung handele. Wie könne man
im Ernste meinen, daß z. B. die Aufklärung der Steuergewohnheiten der Städte
im 15. Jahrhundert oder der Ehesitten der Eskimos irgendwie von dem Gegen¬
warts-Bewußtsein und seinen Antizipationen ihre Bedeutung erst verliehen
bekäme. Das seien doch Fragen der historischen Erkenntnis, die man ganz un¬
abhängig von jedem Gegenwartsbezug als Aufgaben ergreife.
Auf diesen Einwand ist zu antworten, daß das Extrem dieses Standpunktes
dem ähneln würde, was es in gewissen großindustriellen Forschungseinrich¬
tungen gibt, so vor allem in Amerika und in Rußland, ich meine den soge¬
nannten Seriengroßversuch, in dem man die Materien, mit denen man zu tun
hat, ohne Rücksicht auf Verluste und Kosten einfach durchmißt - mit der
Chance, daß schließlich einmal unter Tausenden von Messungen eine Messung
einen interessanten Befund ergibt, d. h. sich als Antwort auf eine Frage erweist,
von der aus man weiterkommt. Kein Zweifel, daß die moderne Forschung auch
in den Geisteswissenschaften in gewissem Umfange so arbeitet. Man denke
etwa an die großen Editionen und insbesondere an die immer perfekteren
Indices. Ob freilich die moderne historische Forschung bei solchen Verfahren
die Chance vergrößert, die interessante Tatsache wirklich zu bemerken und
aus ihr dann die entsprechende Bereicherung unserer Erkenntnis zu gewinnen,
muß offenbleiben. Aber selbst wenn es so wäre, dürfte man fragen: ist das
ein Ideal, daß von tausend Historikern ungezählte Forschungsvorhaben, d. h.
also Feststellung von Tatsachenzusammenhängen, erarbeitet werden, damit
der 1001. Historiker dabei etwas bemerkt, was interessant ist? Gewiß zeichne
ich damit eine Karikatur echter Forschung. Aber wie in jeder Karikatur, ist
auch in dieser Wahrheit. Sie enthält eine indirekte Antwort auf die Frage: Was
macht eigentlich den produktiven Forscher? Daß er die Methoden gelernt hat?
Das hat gerade auch der, der nie etwas Neues herausbringt. Phantasie ist die
entscheidende Aufgabe für den Forscher. Phantasie meint hier natürlich nicht
ein vages Vermögen, sich allerhand einzubilden, Phantasie steht vielmehr in
hermeneutischer Funktion und dient dem Sinn für das Fragwürdige, dem Frei¬
legen-Können von wirklichen, produktiven Fragen, was im allgemeinen nur
dem gelingt, der alle Methoden seiner Wissenschaft beherrscht.
Die Universalität des kermeneutischen Problems 109

Als Platoniker liebe ich die unvergeßlichen Szenen besonders, in denen Sokra¬
tes mit den sophistischen Alles-Künstlern in Streit gerät und sie durch seine
Fragen zur Verzweiflung bringt, bis sie es schließlich nicht mehr aushalten
können und ihrerseits die Rolle des Fragers beanspruchen, die so erfolgreich
scheint. Und was geschieht dann? Sie wissen nichts zu fragen. Es fällt ihnen
einfach nichts ein, was man in der Weise fragen kann, daß es lohnt, darauf
einzugehen und beharrlich eine Antwort zu geben.
Ich ziehe die Konsequenz. Das hermeneutische Bewußtsein, das ich anfangs
nur von bestimmten Punkten aus bezeichnete, hat seine eigentliche Wirksam¬
keit immer darin, daß man das Fragwürdige zu sehen vermag. Wenn wir nun
nicht nur die künstlerische Überlieferung der Völker, nicht nur die historische
Überlieferung, nicht nur das Prinzip der modernen Wissenschaft in seinen her¬
meneutischen Vorbedingungen uns vor Augen gestellt haben, sondern das
Ganze unseres Erfahrungslebens, dann, meine ich, gelangen wir dahin, an
unsere eigene, allgemeine und menschliche Lebenserfahrung auch die Erfahrung
der Wissenschaft wieder anzuschließen. Denn jetzt haben wir die Fundamen¬
talschicht erreicht, die man (mit Johannes Lohmann1) die sprachliche Welt¬
konstitution' nennen kann. Sie stellt sich dar als das wirkungsgeschichtliche
Bewußtsein, das alle unsere Erkenntnismöglichkeiten vorgängig schematisiert.
Ich sehe davon ab, daß der Forscher, auch der Naturforscher, von Mode und
Gesellschaft und von allen möglichen Faktoren seiner Umwelt vielleicht nicht
ganz unabhängig ist - was ich meine, ist, daß es innerhalb seiner wissenschaft¬
lichen Erfahrung nicht so sehr die ,Gesetze des eisernen Schließens' (Helm-
holtz) als vielmehr unvorhersehbare Konstellationen sind, die ihm die frucht¬
bare Idee eingeben, ob es nun Newtons fallender Apfel ist oder welche zu¬
fällige Beobachtung immer, an der der Funke der wissenschaftlichen Inspira¬
tion zündet.
Das wirkungsgeschichtliche Bewußtsein hat seinen Vollzug im Sprachlichen.
Wir können von dem denkenden Sprachforscher lernen, daß die Sprache in
ihrem Leben und Geschehen nicht bloß als ein sich Veränderndes gedacht wer¬
den muß, sondern daß darin eine Teleologie wirksam ist. Das will sagen, daß
die Worte, die sich bilden, die Ausdrucksmittel, die in einer Sprache auftreten,
um bestimmte Dinge zu sagen, sich nicht zufällig fixieren, soweit sie nicht
überhaupt wieder abkommen, sondern daß auf diese Weise eine bestimmte
Weltartikulation aufgebaut wird - ein Vorgang, der wie gesteuert wirkt und
den wir ja alle immer wieder beobachten können bei dem sprechenlernenden
Kind. Idi berufe mich dafür auf eine Stelle des Aristoteles, die ich genauer
explizieren möchte, weil an ihr der Akt der Sprachbildung von einer bestimm¬
ten Seite aus genial beschrieben ist. Es handelt sich um das, was Aristoteles die
Epagoge nennt, d. h. die Bildung des Allgemeinen. Wie kommt es zum Allge-

1 Anm. 2, S. 114.
110 Die Universalität des hermeneutischen Problems

meinen? In der Philosophie sagt man: zum Allgemeinbegriff; aber auch Worte
sind in diesem Sinne offenkundig Allgemeines. Wie kommt es dazu, daß sie
,Worte' sind, d. h. eine allgemeine Bedeutung haben? Da findet sich das sinn¬
lich ausgestattete Wesen bei seinen ersten Apperzeptionen in einem flutenden
Reizmeer, und es beginnt schließlich eines Tags etwas, wie wir sagen, zu er¬
kennen. Offenbar wollen wir damit nicht sagen, daß es vorher blind war -,
sondern wir meinen, wenn wir sagen: erkennen - ,wiedererkennen', d. h. etwas
als dasselbe herauserkennen aus dem Strom vorbeiflutender Bilder. Dieses so
Herauserkannte wird offenbar festgehalten. Aber wie eigentlich? Wann er¬
kennt ein Kind zum ersten Male seine Mutter? Dann, wenn es sie zum ersten
Mal gesehen hat? Nein. Ja wann eigentlich? Wie geschieht denn das? Können
wir überhaupt sagen, daß das ein einmaliges Ereignis ist, in dem ein erstes Er¬
kennen das Kind aus dem Dunkel des Unwissens herausreißt? Es scheint mir
offenkundig, daß es so nicht ist. Aristoteles hat es wunderbar beschrieben. Er
sagt, es ist so, wie wenn ein Heer auf der Flucht ist, panisch gejagt von Angst,
und schließlich fängt einer an stehenzubleiben und sich umzusehen, ob eigent¬
lich der Feind so gefährlich nahe ist. Das Heer bleibt nicht dadurch stehen, daß
einer stehenbleibt. Es bleibt dann ein Zweiter stehen. Das Heer bleibt nicht
dadurch stehen, daß zwei stehenbleiben. Wann bleibt dann eigentlich das Heer
stehen? Plötzlich steht es wieder. Plötzlich gehorcht es wieder dem Kommando.
Bei dem, was Aristoteles hier beschreibt, ist noch ein sehr feiner sprachlicher
Scherz dabei. Kommando heißt nämlich auf griechisch Arche, d. h. Principium.
Wann ist das Prinzip als Prinzip da? Durch welches Vermögen? — Das ist in der
Tat die Frage nach dem Zustandekommen des Allgemeinen.
Genau die gleiche Teleologie ist es, wenn ich Joh. Lohmanns Darlegungen
nicht mißverstehe, die sich ständig im Leben der Sprache auswirkt. Wenn Loh¬
mann von den sprachlichen Tendenzen spricht, in denen sich als dem eigent¬
lichen Agens der Geschichte bestimmte Formen ausbreiten, so weiß er natür¬
lich, daß sich das in diesen Formen des - wie das schöne deutsche Wort sagt -
Zustandekommens, des Zum-Stehen-Kommens vollzieht. Was sich dabei zeigt,
ist, wie ich meine, die eigentliche Vollzugsweise unserer menschlichen Welt¬
erfahrung überhaupt. Das Sprechen-Lernen ist gewiß eine Phase besonderer
Produktivität, und das Genie unserer Dreijährigkeit haben wir alle inzwischen
in ein karges und spärliches Talent umgewandelt. Aber im Gebrauch der am
Ende zustandegekommenen sprachlichen Weltauslegung bleibt noch etwas von
der Produktivität unserer Anfänge lebendig. Wir kennen das alle z. B. bei dem
Versuch des Ubersetzens, im Leben oder in der Literatur oder wo immer,
dieses seltsame, unruhige und quälende Gefühl, solange man nicht das richtige
Wort hat. Wenn man es hat, den rechten Ausdruck gefunden hat (es braucht
nicht immer ein Wort zu sein), wenn es einem gewiß ist, daß man es hat, dann
,steht' es, dann ist etwas »zustande' gekommen, dann haben wir wieder einen
Halt inmitten der Flut des fremden Sprachgeschehens, dessen unendliche
Variation die Orientierung verlieren läßt. Was ich so beschreibe, ist aber die
Die Universalität des hermeneutischen Problems 111

Weise der menschlichen Welterfahrung überhaupt. Ich nenne sie hermeneu¬


tisch. Denn der so beschriebene Vorgang wiederholt sich ständig ins Vertraute
hinein. Es ist stets eine sich schon auslegende, schon in ihren Bezügen zusam¬
mengeordnete Welt, in die Erfahrung eintritt als etwas Neues, das umstößt,
was unsere Erwartungen geleitet hatte, und das sich im Umstoßen selber neu
einordnet. Nicht das Mißverständnis und nicht die Fremdheit ist das Erste,
so daß die Vermeidung des Mißverstandes die eindeutige Aufgabe wäre, son¬
dern umgekehrt ermöglicht erst das Getragensein durdi das Vertraute und das
Einverständnis das Hinausgehen in das Fremde, das Aufnehmen aus dem
Fremden und damit die Erweiterung und Bereicherung unserer eigenen Welt¬
erfahrung.
So ist der Anspruch auf Universalität zu verstehen, der der hermeneutischen
Dimension zukommt. Verstehen ist sprachgebunden. Darin liegt keineswegs
eine Art Sprachrelativismus. Es ist zwar wahr: man lebt in einer Sprache.
Sprache ist nicht ein System von Signalen, die man, wenn man in das Büro oder
in die Sendestation tritt, mit Hilfe einer Tastatur losläßt. Das ist kein Spre¬
chen, denn es hat nicht die Unendlichkeit des sprachbildnerischen und welt¬
erfahrenden Tuns. Aber obwohl man ganz in einer Sprache lebt, ist das kein
Relativismus, weil es durchaus kein Gebanntsein in eine Sprache gibt - auch
nicht in die eigene Muttersprache. Das erfahren wir alle, wenn wir fremde
Sprachen lernen, und besonders auf Reisen, sofern wir die fremde Sprache
einigermaßen beherrschen, und eben das heißt, daß wir nicht immerfort mit
dem Blick auf unsere Welt und ihr Vokabular innerlich sozusagen nachschlagen,
wenn wir uns in dem fremden Lande sprechend bewegen. Je besser wir die
Sprache können, desto weniger ist solch ein Seitenblick auf die Muttersprache
fühlbar, und nur weil wir fremde Sprachen nie genug können, fühlen wir etwas
davon immer. Aber es ist gleichwohl bereits ein Sprechen, wenn auch vielleicht
ein stammelndes, das wie alles echte Stammeln das Gestautsein eines Sagen-
Wollens und daher ins Unendliche der Aussprachemöglichkeit geöffnet ist. In
dem Sinne ist jede Sprache, in der wir leben, unendlich, und es ist ganz ver¬
kehrt, zu schließen, weil es die verschiedenartigen Sprachen gibt, gibt es eine in
sich zerklüftete Vernunft. Das Gegenteil ist wahr. Gerade auf dem Wege über
die Endlichkeit, die Partikularität unseres Seins, die auch an der Verschieden¬
heit der Sprachen sichtbar wird, öffnet sich das unendliche Gespräch in Rich¬
tung auf die Wahrheit, das wir sind.
Wenn das richtig ist, dann wird sich vor allem auf der Ebene der Sprache
das eingangs geschilderte Verhältnis unserer modernen, durch die Wissen¬
schaft begründeten Industrie- und Arbeitswelt spiegeln. Wir leben in einer
Epoche steigender Nivellierung aller Lebensformen, - das ist ein Gebot der
rationalen Notwendigkeit der Lebenserhaltung auf unserem Planeten. Das
Nahrungsproblem der Menschheit z. B. ist überhaupt nur zu bewältigen durch
die Preisgabe jener großartig schönen Verschwendung, mit der ehedem die Erde
bebaut wurde. Es ist unvermeidlich, daß sich die maschinelle Industriewelt auch
112 Die Universalität des hermeneutischen Problems

innerhalb des Lebens des Einzelnen als eine Art technischer Perfektionsphäre
ausbreitet, und wenn wir moderne Liebespaare miteinander reden hören, dann
fragen wir uns schon manchmal, ob das Worte sind, mit denen sie sich ver¬
ständigen, oder Reklamemarken und Fachausdrücke aus der Zeichensprache
der modernen Industriewelt. Es kann nicht ausbleiben, daß sich die nivellierten
Lebensformen des Industriezeitalters auch auf die Sprache auswirken, wie in
der Tat die Verarmung des Vokabulars der Sprache ungeheure Fortschritte
macht und damit die Annäherung der Sprache an ein technisches Zeichen¬
system. Leute, die ,trotz' mit dem Dativ verbinden, wie ich das noch tue, wer¬
den bald eine Art Museumswert haben. Nivellierungstendenzen dieser Art sind
unaufhaltsam. Und trotzdem dauert immer noch und gleichzeitig der Aufbau
der eigenen Welt in der Sprache überall fort, wo wir einander etwas sagen
wollen. Es ist die eigentliche Zuordnung der Menschen zueinander, die sich
damit ergibt, daß jeder zunächst eine Art Sprachkreis ist, und daß sich diese
Sprachkreise berühren und mehr und mehr verschmelzen. Was so zustande¬
kommt, ist immer wieder die Sprache, in Vokabular und Grammatik wie eh
und je, und nie ohne die innere Unendlichkeit des Gespräches, das zwischen
jedem solchen Sprechenden und seinem Partner im Gange ist. Das ist die funda¬
mentale Dimension des Hermeneutischen. Echtes Sprechen, das etwas zu sagen
hat und deswegen nicht vorgesehene Signale gibt, sondern Worte sucht, durch
die man den anderen erreicht, ist allgemeine menschliche Aufgabe - es ist aber
eine besondere Aufgabe für den Theologen, dem das Weitersagen einer Bot¬
schaft aufgetragen ist, die geschrieben steht.
RHETORIK, HERMENEUTIK UND IDEOLOGIEKRITIK

Metakritische Erörterungen zu ,Wahrheit und Methode'

Daß eine philosophische Hermeneutik die Aufgabe hat, die hermeneutische


Dimension in ihrer vollen Reichweite aufzuschließen, und ihre grundlegende
Bedeutung für unser gesamtes Weltverständnis zu Geltung zu bringen, in
allen seinen Formen, von der zwischenmenschlichen Kommunikation bis zur
gesellschaftlichen Manipulation, von der Erfahrung des Einzelnen in der
Gesellschaft wie von der Erfahrung, die er an der Gesellschaft macht, von der
aus Religion und Recht, Kunst und Philosophie aufgebauten Tradition bis
zu der emanzipatorischen Reflexionsenergie des revolutionären Bewußtseins
schließt nicht aus, daß es begrenzte Erfahrungen und Erfahrungsfelder sind,
von denen der einzelne Forscher seinen Ausgang nimmt. Mein eigener Versuch
schloß sich insofern Diltheys philosophischer Weiterführung des Erbes der
deutschen Romantik an, als er die Theorie der Geisteswissenschaften zum
Thema nahm, aber zugleich auf eine neue, um vieles verbreiterte Grundlage
stellte: Die Erfahrung der Kunst entgegnet ja der historischen Verfremdung
der Geisteswissenschaften mit dem siegreichen Anspruch auf Gleichzeitigkeit,
der ihr eignet. Daß damit hinter alle Wissenschaft zurückfragende und um¬
gekehrt auf alle Wissenschaft vorgreifende Wahrheit anvisiert war, sollte an
der essentiellen Sprachlichkeit aller menschlichen Welterfahrung heraustreten,
deren Vollzugsweise beständig sich erneuernde Gleichzeitigkeit ist. Indessen
konnte es nicht ausbleiben, daß sich die Ausgangsphänomene auch bei der
Analyse der universellen Sprachlichkeit des menschlichen Weltverhaltens
besonders vordrängten. Das entsprach der wissenschaftsgeschichtlichen Her¬
kunft des hermeneutischen Problems, das sich an der schriftlichen Überliefe¬
rung, der durch die Fixierung, die Dauerhaftigkeit, den Zeitenabstand fremd
gewordenen Überlieferung entzündet hatte. So lag es nahe, das vielschichtige
Problem der Übersetzung zum Modell der Sprachlichkeit des menschlichen
Weltverhaltens zu erheben und an den Strukturen von Übersetzung das all¬
gemeine Problem zu entwickeln, wie Fremdes zu eigen wird.
Indessen, das ,Sein zum Texte'* 1 erschöpft nicht die hermeneutische Dimen-

Bisher unveröffentlicht.
1 So O. Marquard auf dem Heidelberger Philosophiekongreß 1966.

8 Gadamer, Schriften I
114 Rhetorik, Hermeneutik und Ideologiekritik

sion - es sei denn, daß ,Text‘ über den engeren Sinn hinaus den Text meint,
den „Gott mit eigener Hand geschrieben hat“, den liber naturae, und der
damit auch alle Wissenschaft, von der Physik bis zur Soziologie und Anthro¬
pologie, umfaßt. Doch selbst dann ist mit dem Modell der Übersetzung die
Vielfalt dessen, was Sprache im Verhalten des Menschen bedeutet, keineswegs
erfaßt. Am Lesen dieses größten ,Buches' wird zwar Spannung und Lösung
demonstrierbar, die Verstehen und Verständlichkeit — und vielleicht auch
Verstand — strukturieren, und insofern ist an der Universalität des hermeneu¬
tischen Problems kein Zweifel möglich. Es ist kein sekundäres Thema. Her¬
meneutik ist keine bloße Hilfsdisziplin der romantischen Geisteswissen¬
schaften.
Indessen, das universale Phänomen der menschlichen Sprachlichkeit ent¬
faltet sich auch in anderen Dimensionen. So reicht das hermeneutische Thema
noch in andere Zusammenhänge hinein, die die Sprachlichkeit der menschlichen
Welterfahrung bestimmen. Manches davon ist in ,Wahrheit und Methode'
selber angeklungen. So war dort das wirkungsgeschichtliche Bewußtsein als die
bewußte Erhellung der menschlichen Sprachidee in einigen Phasen seiner
Geschichte dargestellt worden; es reicht aber, wie Johannes Lohmann in¬
zwischen in seinem Buch ,Philosophie und Sprachwissenschaft'2 und in einer
Diskussion meines eigenen Versuchs im Gnomon3 gezeigt hat, noch in ganz
andere Dimensionen. Lohmann verlängert die „Prägung des Begriffs Sprache
im Denken des Abendlandes“, die ich skizziert hatte, im Riesenmaßstab der
Sprachgeschichte zugleich nach rückwärts und nach vorwärts: nach rückwärts,
indem er der „Heraufkunft des ,Begriff es' als des intellektuellen Vehikels der
aktuellen ,Subsumtion' gegebener Gegenstände unter eine gedachte Form“ (714)
nachgeht, im ,stamm-flektierenden' Typus des Altindogermanischen die gram¬
matische Form des Begriffs erkennt, die in der Copula ihren sichtbarsten Aus¬
druck findet - auf diese Weise leitet sich die Möglichkeit der Theorie als der
eigensten Schöpfung des Abendlandes ab -, nach vorwärts, indem er wieder
an der Entwicklung der Sprachform die Denkgeschichte des Abendlandes,
welche Wissenschaft im modernen Sinne, als Verfügbarmachung der Welt, mög¬
lich macht, durch den Übergang vom stamm-flektierenden zum wort-flektieren¬
den Sprach-Typus deutet.
Wahrhaft universale Sprachlichkeit, die dem Hermeneutischen im anderen
Sinne wesenhaft vorausliegt und fast so etwas wie das Positiv zu dem Negativ
der sprachlichen Auslegungskunst darstellt, bezeugt ferner die Rhetorik. Die
Zusammenhänge zwischen Rhetorik und Hermeneutik, die ich in meinem
Buche beachtet hatte, lassen sich vielfältig erweitern, wie die reichen Ergän¬
zungen und Berichtigungen zeigen, die Klaus Dockhorn in den Göttingischen

2 Erfahrung und Denken, Schriften zur Förderung der Beziehung zwischen Philo¬
sophie und Einzelwissenschaften, Nr. 15 (1965).
3 Bd. 37, 1965, 709-18.
Rhetorik, Hermeneutik und Ideologiekritik 115

Gelehrten-Anzeigen4 beigesteuert hat. Sprachlichkeit aber ist endlich so tief


in die Sozialität des menschlichen Seins verwoben, daß Recht und Grenze der
hermeneutischen Fragestellung auch den Theoretiker der Sozialwissenschaften
beschäftigen müssen. So hat Jürgen Habermas5 kürzlich zur Logik der Sozial¬
wissenschaften auch die philosophische Hermeneutik in Beziehung gesetzt und
von den Erkenntnisinteressen der Sozialwissenschaften her ausgewertet.
Es erscheint geboten, die sich durchdringenden Universalitäten der Rhetorik,
der Hermeneutik und der Soziologie in ihrer Interdependenz zum Thema zu
machen und die verschiedenartige Legitimität dieser Universalitäten aufzu¬
hellen. Das ist um so wichtiger, als ihnen allen - am sichtbarsten den beiden
ersten - eine gewisse, durch den Bezug auf Praxis mitbestimmte, Zweideutig¬
keit ihres Wissenschaftsanspruchs zukommt.
Denn daß Rhetorik nicht eine bloße Theorie der Redeformen und Über¬
redungsmittel ist, sondern sich aus einer natürlichen Fähigkeit zur praktischen
Meisterschaft entwickeln läßt, selbst ohne jede theoretische Reflexion auf ihre
Mittel, ist offenkundig. Ebenso ist die Kunst des Verstehens - was auch immer
ihre Mittel und Wege seien - offenbar nicht direkt von der Bewußtheit ab¬
hängig, mit der sie ihren Regeln folgt. Auch hier setzt sich ein natürliches
Vermögen, das jeder hat, in ein Können um, durch das einer alle anderen
übertrifft, und die Theorie kann bestenfalls nur sagen, warum. In beiden
Fällen besteht ein Verhältnis der Nachträglichkeit zwischen der Theorie und
dem, woraus sie abstrahiert ist und was wir Praxis nennen. Dabei ist das eine
der frühesten griechischen Philosophie zugehörig, das andere eine Folge der
späten Auflösung fester Traditionsbindungen und der Anstrengung, das Ent¬
schwindende festzuhalten und in heller Bewußtheit aufzuheben.
Die erste Geschichte der Rhetorik hat Aristoteles geschrieben. Wir besitzen
nur Bruchstücke. Vor allem aber ist die Theorie der Rhetorik von Aristoteles
ausgebildet worden, in Ausführung eines Programms, das zuerst Plato ent¬
worfen hatte. Hinter all dem Scheinanspruch, den die zeitgenössischen Rede¬
lehrer erhoben, hatte Plato eine echte Aufgabe entdeckt, die nur der Philosoph,
der Dialektiker, zu lösen imstande sei, nämlich: die Rede, die effektvoll Ein¬
leuchtendes vorzubringen hat, so zu beherrschen, daß die jeweils angemessenen
Argumente an diejenigen herangebracht werden, deren Seele dafür spezifisch
empfänglich ist. Das ist eine theoretisch einleuchtende Aufgabenstellung, die
dennoch zwei platonische Voraussetzungen impliziert: Nämlich erstens, daß
nur der das wahrscheinliche' Pseudos des rhetorischen Arguments mit Sicher¬
heit zu finden weiß, der die Wahrheit, d. h. die Ideen kennt, und zweitens,
daß er sich ebenso wissend in den Seelen auskennen muß, auf die er wirken
soll. Die aristotelische Rhetorik ist in erster Linie eine Ausarbeitung des letz-

4 218. Jahrg., Heft 3/4, (1966) S. 169-206.


6 Philosophische Rundschau, Beiheft 5 (1967), S. 149-180.

8 *
116 Rhetorik, Hermeneutik und Ideologiekritik

teren Themas. In ihr vollendet sich die Theorie der Anpassung von Rede und
Seele, die Plato im Phaidros gefordert hat, in der Gestalt einer anthropologi-
sdien Fundierung der Redekunst.
Die Theorie der Rhetorik war das lang vorbereitete Ergebnis einer Kontro¬
verse, die durch den berauschenden und erschreckenden Einbruch einer neuen
Redekunst und Bildungsidee, die wir mit dem Namen Sophistik bedenken,
ausgelöst wurde. Damals war als ein unheimliches neues Können, das alles auf
den Kopf zu stellen lehrte, die Redekunst aus Sizilien in das ständisch
gebundene, aber von einer leicht verführbaren Jugend belebte Athen einge¬
strömt. Nun galt es, diesen großen Machthaber (wie Gorgias die Redekunst
nennt) in eine neue Zucht zu nehmen. Von Protagoras bis zu Isokrates war es
der Anspruch der Meister, nicht nur reden zu lehren, sondern auch das rechte
staatsbürgerliche Bewußtsein zu formen, das politischen Erfolg verhieß. Aber
erst Plato schuf die Grundlagen, von denen aus die neue, alles erschütternde
Kunst der Rede - Aristophanes hat uns das anschaulich genug geschildert -,
ihre Grenze und ihren legitimen Ort fand. Das bezeugt ebensosehr die philo¬
sophische Dialektik der platonischen Akademie wie die aristotelische Begrün¬
dung von Logik und Rhetorik.
Die Geschichte des Verstehens ist nicht minder alt und ehrwürdig. Wollte
man überall dort Hermeneutik erkennen, wo sich eine wahre Kunst des Ver¬
stehens beweist, so müßte man, wenn nicht mit dem Nestor der Ilias, so doch
mit Odysseus beginnen. Man könnte sich darauf berufen, daß die neue Bil¬
dungsbewegung der Sophistik tatsächlich die Auslegung berühmter Dichter¬
worte betrieb und sie als pädagogische Exempel kunstvoll ausmalte, und man
könnte mit Gundert dem eine sokratische Hermeneutik entgegensetzen6. In¬
dessen, eine Theorie des Verstehens ist das noch lange nicht, und es scheint
überhaupt für das Aufkommen des hermeneutischen Problems charakteristisch,
daß eine Ferne herangeholt, eine Fremdheit überwunden, eine Brücke zwischen
Einst und Jetzt gebaut werden mußte. Insofern war ihre Stunde die Neuzeit,
die sich ihres Abstandes von den älteren Zeiten bewußt geworden war. Etwas
davon lag schon in dem theologischen Anspruch des reformatorischen Bibel¬
verständnisses und seines Prinzips der sola scriptura, aber seine eigentliche
Entfaltung fand es, als aus Aufklärung und Romantik das historische Bewußt¬
sein erwuchs und zu aller Überlieferung ein gebrochenes Verhältnis etablierte.
Es hing mit dieser Geschichte der hermeneutischen Theorie zusammen, daß sie
sich an der Aufgabe der Auslegung ,schriftlich fixierter Lebensäußerungen'
orientierte, auch wenn die theoretische Ausarbeitung der Hermeneutik bei
Schleiermacher das Verstehen, wie es im mündlichen Umgang des Gesprächs
geschieht, einbezog. Umgekehrt war die Rhetorik auf die Unmittelbarkeit der
Redewirkung gerichtet, und wenn sie auch die Wege kunstvoller Schriftlich-

8 Hermann Gundert in Hermeneia, FS für Otto Regenbogen 1952.


Rhetorik, Hermeneutik und Ideologiekritik 117

keit mitbetrat und so die Lehre vom Stil und den Stilen entwickelte, so liegt
ihr eigentlicher Vollzug doch nicht im Lesen, sondern im Reden. Die Mittel¬
stellung der vorgelesenen Rede zeigt freilich bereits die Tendenz, die Kunst
der Rede auf schriftlidr fixierbare Kunstmittel zu gründen und von der ur¬
sprünglichen Situation abzulösen. Hier setzt dann die Wechselwirkung mit der
Poetik ein, deren sprachliche Gegenstände so ganz und gar Kunst sind, daß
ihre Transformation von der Mündlichkeit in die Schriftlichkeit und zurück
ohne Einbuße gelingt.
Die Redekunst als solche aber ist an die Unmittelbarkeit ihrer Wirkung
gebunden. In welchem Umfange die Erregung von Affekten als das wichtigste
Uberredungsmittel von Cicero und Quintilian bis zur politischen Rhetorik des
englischen 18. Jahrhunderts zu gelten hat, ist von Klaus Dockhorn mit pro¬
funder Gelehrsamkeit gezeigt worden. Nun ist freilich die Erregung der
Affekte, die des Redners wesentliche Aufgabe ist, in der schriftlichen Äuße¬
rung, die Gegenstand hermeneutischer Bemühung wird, nur abgeblaßt wirk¬
sam, und gerade auf diese Unterschiede kommt es an: Der Redner reißt den
Zuhörer mit. Das Einleuchtende seiner Argumente überschüttet den Zuhörer,
kritische Besinnung kann und soll ihm unter der Überzeugungskraft der Rede
nicht kommen. Umgekehrt ist das Lesen und Auslegen von Geschriebenem so
sehr von dem Schreiber, seiner Gestimmtheit, seinen Absichten und seinen
unausgesprochenen Tendenzen entfernt und abgelöst, daß die Erfassung des
Textsinnes den Charakter einer selbständigen Produktion empfängt, die ihrer¬
seits mehr der Kunst des Redners als dem Verhalten seines Zuhörers gleidrt.
So ist es zu verstehen, daß die theoretischen Mittel der Auslegungskunst, wie
ich an einigen Punkten zeigte und wie Dockhorn auf breiter Basis durchführt,
weitgehend der Rhetorik entlehnt sind.
Woran sonst sollte sich auch die theoretische Besinnung auf das Verstehen
anschließen als an die Rhetorik, die von ältester Tradition her der einzige An¬
walt eines Wahrheitsanspruches ist, der das Wahrscheinliche, das eixog (veri-
simile), und das der gemeinen Vernunft Einleuchtende gegen den Beweis- und
Gewißheitsanspruch der Wissenschaft verteidigt? Überzeugen und Einleuchten,
ohne eines Beweises fähig zu sein, ist offenbar ebensosehr das Ziel und Maß
des Verstehens und Auslegens wie der Rede- und Überredungskunst - und
dieses ganze weite Reich der einleuchtenden Überzeugungen und der allgemein
herrschenden Ansichten wird nicht etwa durch den Fortschritt der Wissenschaft
allmählich eingeengt, so groß der auch sei, sondern dehnt sich vielmehr auf
jede neue Erkenntnis der Forschung aus, um sie für sich in Anspruch zu nehmen
und sie sich anzupassen. Die Ubiquität der Rhetorik ist eine unbeschränkte.
Erst durch sie wird Wissenschaft zu einem gesellschaftlichen Faktor des Lebens.
Was wüßten wir von der modernen Physik, die unser Dasein so sichtbarlich
umgestaltet, allein aus der Physik? Alle Darstellungen derselben, die sich über
den Kreis der Fachleute hinaus richten (und vielleicht sollte man sagen: soweit
sie sich nicht auf einen jeweils sehr kleinen Kreis eingeweihter Spezialisten
118 Rhetorik, Hermeneutik und Ideologiekritik

beschränken), verdanken ihre Wirkung dem rhetorischen Element, das sie


trägt. Selbst Descartes, dieser große und leidenschaftliche Anwalt von Methode
und Gewißheit, ist in allen seinen Schriften ein Schriftsteller, der die Mittel
der Rhetorik auf großartige Weise handhabt, wie vor allem Henri Gouhier7
nachgewiesen hat. An ihrer fundamentalen Funktion innerhalb des sozialen
Lebens kann kein Zweifel sein. Alle Wissenschaft, welche praktisch werden
soll, ist auf sie angewiesen. Auf der anderen Seite ist die Funktion der Her¬
meneutik nicht minder universal. Denn die Unverständlichkeit oder Mißver¬
ständlichkeit überlieferter Texte, die sie ursprünglich auf den Plan gerufen
hat, ist nur ein Sonderfall dessen, was in aller menschlichen Weltorientierung
als das 'atopon5, das Seltsame begegnet, das sich in den gewohnten Erwartungs¬
ordnungen der Erfahrung nirgends unterbringen läßt. Und wie im Fortschritt
der Erkenntnis die mirabilia ihre Befremdlichkeit verlieren, sowie sie verstan¬
den worden sind, so löst sich auch jede gelingende Aneignung von Überliefe¬
rung in eine neue, eigene Vertraulichkeit auf, in der sie uns gehört und in der
wir ihr gehören. Beides fließt zusammen in die eine, Geschichte und Gegenwart
umspannende, eigene und miteigene Welt, die im Reden der Menschen mitein¬
ander ihre sprachliche Artikulation empfängt. Audi von der Seite des Ver¬
stehens her zeigt sich also die Universalität der menschlichen Sprachlichkeit
als ein in sich grenzenloses Element, das alles trägt, nicht nur die durch Sprache
überlieferte Kultur, sondern schlechthin alles, weil alles in die Verständlich¬
keit hereingeholt wird, in der wir uns miteinander bewegen. Plato hat mit
Recht davon ausgehen können, daß wer die Dinge im Spiegel der Reden
betrachtet, ihrer in ihrer vollen und unverkürzten Wahrheit gewahr wird.
Auch hat es einen tiefen und richtigen Sinn, wenn Plato lehrt, daß alle Er¬
kenntnis erst als Wiedererkenntnis ist, was sie ist. Eine ,erste“ Erkenntnis ist so
wenig möglich wie ein erstes Wort. Auch die neueste Erkenntnis, deren Folgen
noch gar nicht absehbar scheinen, ist erst, was sie eigentlich war, wenn sie sich
in sie ausgefolgert hat und in das Medium der intersubjektiven Verständigung
eingegangen ist.
So durchdringen sich der rhetorische und der hermeneutische Aspekt der
menschlichen Sprachlichkeit auf vollkommene Weise. Es gäbe keinen Redner
und keine Redekunst, wenn nicht Verständigung und Einverständnis die
menschlichen Beziehungen trüge - es gäbe keine hermeneutische Aufgabe, wenn
das Einverständnis derer, die ,ein Gespräch sind“, nicht gestört wäre und die
Verständigung nicht gesucht werden müßte. Die Verschränkung mit der Rhe¬
torik ist also geeignet, den Schein aufzulösen, als wäre Hermeneutik auf die
ästhetisch-humanistische Tradition allein beschränkt und als habe es die her¬
meneutische Philosophie mit einer der Welt des .realen“ Seins entgegengesetz-

7 Henri Gouhier, La resistance au vrai... (Retorica e Barocco) ed. E. Castelli,


Rom 1955).
Rhetorik, Hermeneutik und Ideologiekritik 119

ten Welt des ,Sinnes“ zu tun, die sich in der ,kulturellen Überlieferung“ aus¬
breitet.
Es entspricht der Universalität des hermeneutischen Ansatzes, daß er auch
für die Logik der Sozialwissenschaften beachtet werden muß. So hat Haber¬
mas die in ,Wahrheit und Methode“ gegebenen Analysen des ,wirkungs¬
geschichtlichen Bewußtseins“ und des Modells der ,Übersetzung“ behandelt und
ihnen eine positive Funktion für die Überwindung der positivistischen Er¬
starrung der sozialwissenschaftlichen Logik wie der historisch unreflektierten
linguistischen Grundlegung derselben zuerkannt. Solche Bezugnahme auf Her¬
meneutik steht also unter der eingestandenen Prämisse, der Methodologie der
Sozialwissenschaften dienen zu sollen. Das ist freilich von dem traditionellen
Ausgangsboden der hermeneutischen Problematik, den die ästhetisch-roman¬
tischen Geisteswissenschaften bilden, durch eine Vorentscheidung von größter
Tragweite getrennt. Zwar wird von der methodischen Verfremdung, die das
Wesen der modernen Wissenschaft ausmacht, auch in den humanities durchaus
Gebrauch gemacht. .Wahrheit und Methode“ hat den Gegensatz, den der Titel
impliziert, nie als einen ausschließenden gemeint. (Vgl. das Vorwort zur
2. Auflage, S. XV.) Aber freilich waren die Geisteswissenschaften der Aus-
gangspunkt der Analyse, weil sie mit Erfahrungen zusammenrücken, in denen
es überhaupt nicht um Methode und Wissenschaft geht, sondern um Erfahrun¬
gen, die außerhalb der Wissenschaft liegen, wie die Erfahrung der Kunst und
die Erfahrung der durch ihre geschichtliche Überlieferung geprägten Kultur.
Die hermeneutische Erfahrung ist in ihnen allen in gleicher Weise wirksam,
und insofern ist sie nicht selbst Gegenstand methodischer Verfremdung, son¬
dern liegt dieser voraus, indem sie der Wissenschaft ihre Fragen aufgibt und
dadurch erst den Einsatz ihrer Methoden ermöglicht. Die modernen Sozial¬
wissenschaften dagegen, falls die hermeneutische Reflexion für sie als unum¬
gänglich erkannt wird (wie das für die Geisteswissenschaften in ,Wahrheit und
Methode“ nachgewiesen ist), erheben den Anspruch, wie Habermas es formu¬
liert, durch eine „kontrollierte Verfremdung“ das Verstehen „aus einer vor¬
wissenschaftlichen Übung zum Rang eines reflektierten Vorgehens“ zu erheben,
sozusagen durch die „methodische Ausbildung der Klugheit“ (172/174).
Nun ist das seit alters der Weg der Wissenschaft, durch lehrbare und kontrol¬
lierbare Verfahrensweisen zu leisten, was individueller Klugheitzuweilen auch,
wenngleich auf unsichere und unkontrollierbare Weise, gelingt. Wenn die
Bewußtmachung der hermeneutischen Bedingungen, die in den verstehenden
Geisteswissenschaften im Spiele sind, die Sozialwissenschaften, die nicht ^er¬
stehen“ wollen, sondern unter Einbeziehung der in der Sprachlichkeit sich
ablagernden Verständlichkeiten das reale Gefüge der Gesellschaft wissenschaft¬
lich in den Griff zu nehmen suchen, auf methodische Veranstaltungen führt,
die ihrer Arbeit förderlich sind, so ist das gewiß ein wissenschaftlicher Gewinn.
Freilich wird sich die hermeneutische Reflexion von ihnen nicht vorschreiben
lassen, sich auf diese wissenschaftsimmanente Funktion zu beschränken, und
120 Rhetorik, Hermeneutik und Ideologiekritik

insbesondere sich nicht davon abhalten lassen, der methodischen Verfremdung


des Verstehens, die die Sozialwissenschaften betreiben, aufs neue eine herme¬
neutische Reflexion zuzuwenden, - auch wenn sie der positivistischen Abwer¬
tung der Hermeneutik damit abermals entgegenkommt.
Doch sehen wir erst, wie sich die hermeneutische Problematik innerhalb der
sozialwissenschaftlichen Theorie geltend macht und von ihr her sich ausnimmt.
Da ist zunächst der linguistische Ansatz' (124 f.). Wenn die Sprachlichkeit
als Vollzugsweise des hermeneutischen Bewußtseins ausgezeichnet ist, so liegt
es nahe, in der Sprachlichkeit als der Grundverfassung menschlicher Sozialität
das gültige Apriori der Sozialwissenschaften zu erkennen, von dem aus sich
die behavioristisch-positivistischen Theorien, die die Gesellschaft als ein
beobachtbares und steuerbares Funktionsganzes ansehen, ad absurdum führen.
Das hat etwas Einleuchtendes, sofern die menschliche Gesellschaft in Institutio¬
nen lebt, die als solche verstanden, tradiert, reformiert, kurz, vom inneren
Selbstverständnis der die Gesellschaft bildenden Individuen determiniert wer¬
den. Habermas sieht nun sowohl gegenüber Wittgensteins Theorie der Sprach-
spiele wie gegenüber Winchs8 Auswertung derselben für ein sprachliches
Apriori aller sozialwissenschaftlichen Aussagen das Recht der Hermeneutik
darin, daß sie vom Gedanken der Wirkungsgeschichte aus den kommunika¬
tiven Zugang zu dem Objektbereich der Sozialwissenschaften einklagt.
Indessen, wenn Habermas der Analyse des Vorverständnisses und der
essentiellen Vorurteilsbedingtheit, die allem menschlichen Verstehen und Han¬
deln zukommt, folgt, so ist der Anspruch, den er an die hermeneutische Re¬
flexion stellt, gleichwohl ein grundsätzlich anderer. Das wirkungsgeschicht¬
liche Bewußtsein, das die eigenen Vorurteile zu reflektieren sucht und sein
eigenes Vorverständnis kontrolliert, mache zwar dem naiven Objektivismus
ein Ende, der ebenso die positivistische Wissenschaftstheorie wie die phäno¬
menologische und sprachanalytische Grundlegung der Sozialwissenschaften
verfälsche. Aber was leiste solche Reflexion eigentlich? Da ist einmal das Pro¬
blem der Universalgeschichte, d. h. die Vorstellung von einem Ziel der Ge¬
schichte, das sich jeweils aus den Zielvorstellungen gesellschaftlichen Handelns
erhebt. Begnügt sich die hermeneutische Reflexion mit allgemeinen Erwä¬
gungen, daß über die Begrenztheit des eigenen Standorts nie hinauszukommen
ist, so ist sie folgenlos. Zwar wird der Anspruch einer inhaltlichen Geschichts¬
philosophie durch solche Erwägung bestritten, aber das historische Bewußt¬
sein wird trotzdem ständig aus seiner eigenen Zukunftsgerichtetheit eine vor¬
verstandene Universalgeschichte entwerfen. Was hilft das Wissen um deren
Vorläufigkeit und essentielle Uberholbarkeit?
Dort aber, wo die hermeneutische Reflexion effektiv wird, was tut sie da?
In welches Verhältnis setzt sich die wirkungsgeschichtliche Reflexion zu der

8 P. Winch, Die Idee der Sozialwissenschaften (deutsch 1966).


Rhetorik, Hermeneutik und Ideologiekritik 121

Tradition, derer sie sich bewußt wird? Meine These ist nun, und ich meine,
daß sie die notwendige Folge der Anerkennung unserer wirkungsgeschicht-
lichen Bedingtheit und Endlichkeit ist, daß die Hermeneutik uns lehrt, den
Gegensatz zwischen fortlebender, ,naturwüchsiger' Tradition und reflektierter
Aneignung derselben als dogmatisch zu durchschauen. Dahinter steckt ein
dogmatischer Objektivismus, der auch noch den Begriff der Reflexion defor¬
miert. Der Verstehende ist auch in den verstehenden Wissenschaften aus dem
wirkungsgeschichtlichen Zusammenhang seiner hermeneutischen Situation
nicht so herausreflektiert, daß sein Verstehen nicht selber in dieses Geschehen
einginge. Der Historiker, audi der der sogenannten kritischen Wissenschaft,
löst so wenig fortlebende Traditionen, z. B. die nationalstaatlichen, auf, daß
er als nationaler Historiker vielmehr in dieselben bildend und fortbildend ein¬
greift, und das Wichtigste ist: je bewußter er auf seine hermeneutische Bedingt¬
heit reflektiert, desto mehr. Droysen, der die „eunuchenhafte Objektivität“ der
Historiker in ihrer methodologischen Naivität klar durchschaute, ist selber für
das nationale Staatsbewußtsein der bürgerlichen Kultur des 19. Jahrhunderts
höchst wirksam gewesen - jedenfalls wirksamer als das epische Bewußtsein
Rankes, das eher zur obrigkeitsstaatlichen Apolitie erziehen mochte. Verstehen
ist selber Geschehen. Nur ein naiver, unreflektierter Historismus wird in den
historisch-hermeneutischen Wissenschaften ein absolut Neues sehen, das die
Macht der Tradition aufhebt. Den unzweideutigen Beweis für die beständige
Vermittlung, in der gesellschaftliche Überlieferung fortlebt, suchte ich durch
den Aspekt der Sprachlichkeit zu erbringen, die alles Verstehen zu tragen
vermag.
Dem hält Habermas entgegen, daß sich das Medium der Wissenschaft durch
Reflexion tiefgreifend verwandele. Das gerade sei das unverlierbare Erbe, das
uns vom deutschen Idealismus aus dem Geist des 18. Jahrhunderts vermacht
sei. Wenn auch die Hegelsche Erfahrung der Reflexion sich nicht mehr in einem
absoluten Bewußtsein vollenden lasse, so sei doch der „Idealismus der Sprach¬
lichkeit“ (179), der sich in der bloßen „kulturellen Überlieferung“, ihrer her¬
meneutischen Aneignung und Fortbildung erschöpfe, eine traurige Ohnmacht
angesichts des realen Ganzen des gesellschaftlichen Lebenszusammenhangs, der
nicht nur aus Sprache, sondern ebenso aus Arbeit und Herrschaft gewebt sei.
Die hermeneutische Reflexion müsse in Ideologiekritik übergehen.
Habermas knüpft damit an das zentrale Motiv des soziologischen Er¬
kenntnisinteresses an. Wie Rhetorik (als Theorie) der Verzauberung des Be¬
wußtseins durch die Macht der Rede entgegentrat, indem sie die Sache, das
Wahre, von dem Wahrscheinlichen, das sie zu erzeugen lehrt, zu unterscheiden
nötigte, wie Hermeneutik ein gestörtes intersubjektives Einverständnis in
kommunikativer Wechselreflexion neu zu stiften und insbesondere ein zu
einem falschen Objektivismus verfremdetes Erkennen auf seine hermeneuti¬
schen Grundlagen zurückzustellen trachtet, so ist in der gesellschaftswissen¬
schaftlichen Reflexion ein emanzipatorisches Interesse wirksam, das äußere
122 Rhetorik, Hermeneutik und Ideologiekritik

und innere gesellschaftliche Zwänge durch Bewußtmachung aufzulösen unter¬


nimmt. Sofern sich dieselben durch sprachliche Auslegung zu legitimieren
suchen, wird Ideologiekritik, zwar selber ein sprachlich sich auslegendes Tun
der Reflexion, zur Entlarvung der „Täuschung mit Sprache“ (178).
Auch im Bereich der psychoanalytischen Therapie bestätigt sich die für das
soziale Leben in Anspruch genommene emanzipatorische Macht der Reflexion.
Die durchschaute Repression nimmt den falschen Zwängen ihre Macht, und
wie dort als der Endzustand eines reflektierten Bildungsprozesses alle Hand¬
lungsmotive mit dem Sinn zusammenfallen würden, an dem sich der Han¬
delnde selbst orientiert — was freilich in der psychoanalytischen Situation durch
die therapeutische Aufgabe begrenzt wird und daher nur einen Grenzbegriff
darstellt -, so wäre auch die soziale Wirklichkeit nur in einem solchen fiktiven
Endzustand hermeneutisch angemessen faßbar. In Wirklichkeit besteht das
Leben der Gesellschaft aus einem Geflecht von verständlichen Motiven und
realen Zwängen, das die Sozialforschung in einem fortschreitenden Bildungs¬
prozeß anzueignen und für das Handeln freizusetzen hätte.
Man kann nicht bestreiten, daß diese sozialtheoretische Konzeption ihre
Logik hat. Ob freilich der Beitrag der Hermeneutik richtig einbehalten wird,
wenn er von dem Grenzbegriff eines Zusammenfalls aller Handlungsmotive
mit verstandenem Sinn aus festgesetzt wird, erscheint fraglich. Ist doch das
hermeneutische Problem nur deshalb so universal und für alle zwischenmensch¬
liche Erfahrung der Geschichte wie der Gegenwart grundlegend, weil auch
dort Sinn erfahren werden kann, wo er nicht als intendierter vollzogen wird. Es
verkürzt die Universalität der hermeneutischen Dimension, wenn ein Bereich
des verständlichen Sinnes (,kulturelle Überlieferung') gegen andere, lediglich
als Realfaktoren erkennbare Determinanten der gesellschaftlichen Wirklich¬
keit abgegrenzt wird. Als ob nicht gerade jede Ideologie, als ein falsches
sprachliches Bewußtsein, sich nicht nur als verständlicher Sinn gäbe, sondern
gerade auch in ihrem ,wahren' Sinn, z. B. dem des Interesses der Herrschaft,
verstanden werden kann. Gleiches gilt für die unbewußten Motive, die der
Psychoanalytiker zum Bewußtsein bringt.
Der Ausgangspunkt der Entwicklung der hermeneutischen Dimension, den
,Wahrheit und Methode' in der Erfahrung der Kunst und in den Geistes¬
wissenschaften nahm, scheint hier die Würdigung ihres wahren Umfangs zu
erschweren. Gewiß ist auch die universal genannte Durchführung im dritten
Teil des Buches zu skizzenhaft und einseitig. Der Sache nach aber erscheint
es von der hermeneutischen Problemstellung aus geradezu als absurd, daß
die realen Faktoren von Arbeit und Herrschaft außerhalb ihrer Grenzen
liegen sollen. Was sind denn die Vorurteile, auf die es in der hermeneutischen
Bemühung zu reflektieren gilt, anderes? Woher sollen sie sonst kommen? Aus
kultureller Überlieferung? Sicher auch. Aber woraus bildet sich diese? Der
Idealismus der Sprachlichkeit wäre in Wahrheit eine groteske Absurdität -
soweit er nicht eine methodische Funktion allein haben will. Habermas sagt
Rhetorik, Hermeneutik und Ideologiekritik 123

einmal: »Die Hermeneutik stößt gleichsam von innen an Wände des Tradi¬
tionszusammenhangs“ (177). Daran ist etwas Wahres, wenn damit der
Gegensatz zu einem ,von außen“ bezeichnet ist, das in unsere zu verstehende,
verständliche oder unverständliche Welt nicht hineinkommt, sondern in der
feststellenden Beobachtung von Veränderungen (statt von Handlungen) ver¬
harrt. Daß das heißen soll, kulturelle Überlieferung verabsolutieren, scheint
mir aber irrig. Es heißt nur: alles verstehen wollen, was sich verstehen läßt.
In diesem Sinne gilt der Satz: „Sein, das verstanden werden kann, ist Sprache.“
Damit wird nicht auf eine Welt des Sinnes eingeengt, die im Erkennen des
Erkannten (A. Boeckh) eine Art Sekundärgegenstand des Erkennens wäre,
Aneignung von schon Erkanntem, die Reichtümer der ,kulturellen Überliefe¬
rung“ zu den Realitäten, den ökonomischen und politischen, die das Leben der
Gesellschaft in erster Linie bestimmen, hinzuergänzend - im Spiegel der
Sprache reflektiert sich vielmehr alles, was ist. In ihm und nur in ihm tritt uns
entgegen, was uns nirgends begegnet, weil wir es selber sind (nicht bloß das,
was wir meinen und von uns wissen). Am Ende ist die Sprache gar kein Spiegel,
und was wir in ihr gewahren, keine Widerspiegelung unseres und allen Seins,
sondern die Auslegung und Ausübung dessen, was es mit uns ist, in den realen
Abhängigkeiten von Arbeit und Herrschaft so gut wie in allem anderen, das
unsere Welt ausmacht. Sprache ist nicht das endlich gefundene anonyme Sub¬
jekt aller gesellschaftlich-geschichtlichen Prozesse und Handlungen, das sich
und das Ganze seiner Tätigkeiten, Objektivationen unserem betrachtenden
Blick darböte, sondern sie ist das Spiel, in dem wir alle mitspielen. Keiner vor
allen anderen. Jeder ist ,dran“ und immerfort am Zuge. Solches vollzieht sich,
wenn wir verstehen, und gerade auch, wenn wir Vorurteile durchschauen oder
Vorwände entlarven, die die Wirklichkeit verstellen. Ja, da am meisten
.verstehen“ wir. Dann endlich, wenn wir etwas durchschaut haben, das uns
seltsam und unverständlich schien, wenn wir es untergebracht haben in unserer
sprachlich geordneten Welt, geht alles auf, wie bei einer schwierigen Schach¬
aufgabe, wo erst die Lösung die Notwendigkeit der absurden Stellung, bis in
den letzten Stein hinein, verständlich macht.
Aber heißt das, daß wir nur dann verstehen, wenn wir Vorwandhaftes
durchschauen und falsche Anmaßungen entlarven? Habermas scheint das vor¬
auszusetzen. Mindestens scheint sich ihm nur darin die Macht der Reflexion zu
erweisen, daß sie das tut, und ihre Ohnmacht, wenn wir in dem Gespinst der
Sprache hängen bleiben und an ihm weiterspinnen. Seine Voraussetzung ist ja,
daß die Reflexion, die in den hermeneutischen Wissenschaften geübt wird, „die
Dogmatik der Lebenspraxis erschüttert“. Umgekehrt sieht er es als einen unbe-
gründbaren und das Erbe der Aufklärung verratenden Satz an, daß die Trans-
parentmachung der Vorurteilsstruktur des Verstehens in der Anerkennung
von Autorität - einer dogmatischen Gewalt! - münden könne.-Es kann schon
sein, daß der Konservativismus (nicht jener Generation eines Burke, sondern
einer Generation, die drei große Umbrüche der deutschen Geschichte hinter
124 Rhetorik, Hermeneutik und Ideologiekritik

sich hat, ohne daß es je zu einer revolutionären Erschütterung der bestehenden


Gesellschaftsordnung gekommen wäre), dafür günstig ist, eine Wahrheit einzu¬
sehen, die sich leicht verbirgt. Um den Anspruch, etwas Einsehbares zu sagen,
und nicht um eine „Grundüberzeugung“ (174) handelt es sich jedenfalls, wenn
ich Autorität und Vernunft aus der abstrakten Antithese der emanzipatori-
schen Aufklärung herauslöse und ihre wesenhaft ambivalente Beziehung be¬
haupte.
Die abstrakte Antithese der Aufklärung scheint mir eine Wahrheit zu ver¬
kennen, und dies hat verhängnisvolle Folgen — und zwar, weil man der
Reflexion alsdann eine falsche Macht zuschreibt und die wahren Abhängig¬
keiten idealistisch verkennt. Zugegeben, daß Autorität in unzähligen Formen
von Herrschaftsordnungen dogmatische Gewalt ausübt, von der Ordnung der
Erziehung über die Befehlsordnung von Heer und Verwaltung bis zu der
Machthierarchie politischer Gewalten oder von Heilsträgern. Aber dies Bild
des der Autorität erwiesenen Gehorsams kann niemals zeigen, warum das alles
Ordnungen sind und nicht die Unordnung handfester Gewaltübung. Es scheint
mir zwingend, wenn ich für die wirklichen Autoritätsverhältnisse Anerken¬
nung bestimmend finde. Die Frage kann lediglich sein, worauf diese Aner¬
kennung beruht. Gewiß kann solche Anerkennung oft mehr ein tatsächliches
Weichen des Ohnmächtigen gegenüber der Gewalt ausdrücken, aber das ist
kein wirklicher Gehorsam und beruht nicht auf Autorität. Man braucht nur
Vorgänge wie den von Autoritätsverlust oder Autoritätsverfall (und ihr Ge¬
genteil) zu studieren, und man sieht, was Autorität ist und woraus sie lebt.
Nicht von dogmatischer Gewalt, sondern von dogmatischer Anerkennung her.
Was aber soll dogmatische Anerkennung sein, wenn nicht dies, daß der Auto¬
rität eine Überlegenheit an Erkenntnis zugebilligt wird und daß man deshalb
glaubt, daß sie recht hat. Nur darauf ,beruht* sie. Sie herrscht also, weil sie
,frei‘ anerkannt wird. Es ist kein blinder Gehorsam, der auf sie hört.
Aber nun ist es eine unzulässige Unterstellung, als meinte ich, es gäbe nicht
Autoritätsverlust und emanzipatorische Kritik. Ob man sagen darf: Autori¬
tätsverlust durch emanzipatorische Kritik der Reflexion, oder: daß sich
Autoritätsverlust in Kritik und Emanzipation äußert, mag hier auf sich be¬
ruhen und ist vielleicht überhaupt keine echte Alternative. Was strittig ist, ist
lediglich, ob Reflexion immer die substantiellen Verhältnisse auflöst oder sie
gerade auch in Bewußtheit übernehmen kann. Der von mir (im Blick auf die
aristotelische Ethik) herangezogene Lern- und Erziehungsprozeß wird von
Habermas merkwürdig einseitig gesehen. Daß Tradition als solche dabei ein¬
ziger Grund der Geltung von Vorurteilen sein und bleiben solle - wie Haber¬
mas mir zuschreibt -, schlägt doch meiner These, daß Autorität auf Erkenntnis
beruht, geradezu ins Gesicht. Der mündig Gewordene kann - aber er muß
doch nicht! - aus Einsicht übernehmen, was er gehorsam einhielt. Tradition
ist kein Ausweis, jedenfalls nicht dort, wo Reflexion einen Ausweis verlangt.
Aber das ist der Punkt: Wo verlangt sie ihn? Überall? Dem halte ich die
Rhetorik, Hermeneutik und Ideologiekritik 125

Endlichkeit des menschlichen Daseins und die wesenhafte Partikularität der


Reflexion entgegen. Es geht um die Frage, ob man die Funktion der Reflexion
auf der Seite der Bewußtmachung festmacht, die faktisch Geltendes mit an¬
deren Möglichkeiten konfrontiert, so daß man zugunsten anderer Möglich¬
keiten Bestehendes verwerfen, aber auch wissend das übernehmen kann, was
die Tradition de facto entgegenbringt, oder ob Bewußtmachung immer nur
Geltendes auflöst. Wenn Habermas (176) sagt, daß „der Autorität das, was an
ihr bloße Herrschaft war, (- ich interpretiere: was nicht Autorität war -) ab¬
gestreift und in gewaltlosen Zwang von Einsicht und rationaler Entscheidung
aufgelöst“ werden kann, dann weiß ich nicht mehr, worum wir streiten.
Höchstens darum, ob die ,rationale Entscheidung' einem von den Sozialwissen¬
schaften (auf Grund welcher Fortschritte!) abgenommen werden kann oder
nicht. Dodi davon später.
Der Begriff der Reflexion und Bewußtmachung, den Habermas gebraucht,
erscheint einer hermeneutischen Reflexion als dogmatisch vorbelastet, und
hier wünschte ich, die hermeneutische Reflexion, die ich anstelle, würde effek¬
tiv. Wir haben durch Husserl (in seiner Lehre von den anonymen Intentio¬
nalitäten) und durch Heidegger (im Nachweis der ontologischen Verkürzung,
die in dem Subjekts- und in dem Objektsbegriff des Idealismus steckt) gelernt,
die falsche Vergegenständlichung zu durchschauen, die dem Reflexionsbegriff
aufgeladen wird. Es gibt sehr wohl eine innere Rückwendung der Intentionali¬
tät, die keineswegs das so Mitgemeinte zum thematischen Gegenstand erhebt.
Das hat schon Brentano (in Aufnahme aristotelischer Einsichten) gesehen. Ich
wüßte nicht, wie man die rätselhafte Seinsgestalt der Sprache überhaupt
begreifen will, wenn nicht von da aus. Man muß (mit J. Lohmann zu reden) die
,effektive' Reflexion, die in der Entfaltung der Sprache geschieht, von der
ausdrücklichen und thematischen Reflexion unterscheiden, die sich in der
abendländischen Sprachgeschichte herausgebildet hat und die, indem sie alles
zum Gegenstand macht, als Wissenschaft die Voraussetzungen der planetari¬
schen Zivilisation von morgen geschaffen hat.
Welch eigentümlicher Affekt, mit dem Habermas die Erfahrungswissen¬
schaften dagegen verteidigt, ein beliebiges Sprachspiel zu sein. Wer macht
ihnen ihre Notwendigkeit - unter dem Gesichtspunkt möglicher technischer
Verfügung über Natur - streitig? Höchstens der Forscher selber wird für sein
Verhältnis zu seiner Wissenschaft die technische Motivation seiner Arbeit ab¬
streiten, mit vollem subjektivem Recht. Daß die praktische Anwendung der
modernen Wissenschaft unsere Welt und damit auch unsere Sprache tiefgreifend
verändert, wird dagegen niemand ableugnen. Aber eben: „auch unsere
Sprache“. Das heißt in gar keiner Weise, wie Habermas mir unterstellt, daß
das sprachlich artikulierte Bewußtsein das materielle Sein der Lebenspraxis
bestimmt, sondern allem, daß es keine gesellschaftliche Wirklichkeit mit allen
ihren realen Zwängen gibt, die sich nicht ihrerseits wieder in einem sprachlich
artikulierten Bewußtsein zur Darstellung bringt. Die Wirklichkeit geschieht
126 Rhetorik, Hermeneutik und Ideologiekritik

nicht „hinter dem Rücken der Sprache“ (179), sondern hinter dem Rücken
derer, die in der subjektiven Meinung leben, die Welt zu verstehen (oder nicht
mehr zu verstehen), und sie geschieht auch in der Sprache.
Freilich wird von hier aus der Begriff der „Naturwüchsigkeit“ (z. B. 173/4)
hochverdächtig, den schon Marx als Gegenbegriff gegen die Arbeitswelt der
modernen Klassengesellschaft gelten ließ und den auch Habermas gern ge¬
braucht („naturwüchsige Substanz der Überlieferung“, aber auch „Kausalität
naturwüchsiger Verhältnisse“). Das ist Romantik — und diese Romantik
schafft einen künstlichen Abgrund zwischen Tradition und der auf dem histo¬
risdien Bewußtsein gründenden Reflexion. Der „Idealismus der Sprachlidi-
keit“ hat immerhin den Vorzug, in diese Romantik nicht zu verfallen.
Habermas’ Kritik gipfelt darin, den transzendentalphilosophischen Imma¬
nentismus auf die geschichtlichen Bedingungen hin zu befragen, die er selber
in Anspruch nimmt. In der Tat ein zentrales Problem. Wer es mit der Endlich¬
keit des menschlichen Daseins ernst nimmt und sich kein ,Bewußtsein über¬
haupt' oder einen intellectus archetypus oder ein transzendentales Ego kon¬
struiert, das alle Geltung konstituieren soll, wird sich der Frage nicht entziehen
können, wie sein eigenes Denken als transzendentales selber empirisch möglich
ist. Nur sehe ich darin gerade für die hermeneutische Dimension, die ich ent¬
wickelt habe, keine wirkliche Schwierigkeit.
Pannenbergs höchst nützliche Auseinandersetzung mit meinem Versuch9 hat
mir bewußt gemacht, welch grundsätzlicher Unterschied zwischen dem An¬
spruch Hegels besteht, Vernunft auch in der Geschichte zu erweisen, und jenen
sich ständig überholenden universalgeschichtlichen Konzeptionen, in denen
man sich stets wie „der letzte Historiker“ (166) benimmt. Über Hegels An¬
spruch einer Philosophie der Weltgeschichte kann man gewiß streiten. Auch
er wußte: „Die Füße derer, die dich hinaustragen, sind schon vor der Türe“,
und man kann finden, daß durch alle weltgeschichtlichen Desavouierungen
hindurch dem Endgedanken der Freiheit aller eine zwingende Evidenz zu¬
kommt, die man so wenig je überholen kann, wie man Bewußtheit überholen
kann. Gleichwohl ist der Anspruch, den jeder Historiker erheben muß und
der darin besteht, den Sinn alles Geschehens im Heute festzumachen (und in
der Zukunft dieses Heute), ein grundsätzlich anderer und viel bescheidenerer.
Niemand kann bestreiten, daß Historie Zukünftigkeit voraussetzt. Eine uni¬
versalgeschichtliche Konzeption ist insofern unvermeidlicherweise eine der
Dimensionen gegenwärtiger historischer Bewußtheit ,in praktischer Absicht':
Aber wird man Hegel gerecht, wenn man ihn auf dieses interpretatorische
Bedürfnis aller Gegenwart einschränken will? ,In praktischer Absicht' - daß
niemand heute diesen Anspruch überzieht, dafür sorgt schon das eingeprägte
Bewußtsein der eigenen Endlichkeit und das Mißtrauen gegen die Diktatur des
Begriffs. Aber will man ernstlich Hegel auf praktische Absicht reduzieren?

9 W. Pannenberg, Hermeneutik und Universalgeschichte, Ztschr. f. Theologie und


Kirche 60, 1963, S. 90-121.
Rhetorik, Hermeneutik und Ideologiekritik 127

Meine Diskussion mit Pannenberg stößt, soweit ich verstehe, in diesem


Punkte ins Leere. Denn auch Pannenberg will nicht Hegels Anspruch erneuern,
- nur macht es freilich einen Unterschied, daß für den christlichen Theologen
die praktische Absicht“ aller universalhistorischen Konzeption in der absoluten
Geschichtlichkeit der Inkarnation ihren festen Punkt hat.
Indessen, die Frage bleibt. Wenn sich die hermeneutische Problematik so¬
wohl gegenüber der Universalität der Rhetorik wie gegenüber der Aktualität
der Ideologiekritik behaupten will, so wird sie ihre eigene Universalität be¬
gründen müssen, und das gerade gegenüber dem Anspruch der modernen
Wissenschaft, die hermeneutische Reflexion in sich aufzunehmen und der Wis¬
senschaft dienstbar zu machen (in „methodischer Ausbildung der Klugheit“).
Sie wird das nur können, wenn sie sich nicht in der unangreifbaren Immanenz
transzendentaler Reflexion verfängt, sondern ihrerseits zu sagen weiß, was
diese Reflexion gegenüber der modernen Wissenschaft - und nicht nur inner¬
halb ihrer - leistet.
Da die hermeneutische Reflexion die Leistung vollbringen wird, die alle
Bewußtmachung vollbringt, wird sich das zunächst innerhalb der Wissenschaft
selbst zeigen müssen. Die Reflexion eines gegebenen Vorverständnisses bringt
etwas vor mich, was sonst hinter meinem Rücken geschieht. Etwas — nicht
alles. Denn wirkungsgeschichtliches Bewußtsein ist auf eine unaufhebbare
Weise mehr Sein als Bewußtsein. Das bedeutet aber nicht, daß es ohne be¬
ständige Bewußtmachung der ideologischen Erstarrung entgehen könnte. Nur
durch diese Reflexion bin ich mir gegenüber nicht länger unfrei, sondern kann
über Recht und Unrecht meines Vorverständnisses frei befinden - und sei es
auch nur in der Weise, daß ich vorurteilsvoll gesehenen Dingen ein neues Ver¬
ständnis abzugewinnen lerne. Darin liegt aber, daß die mein Vorverständnis
leitenden Vorurteile stets mit aufs Spiel gesetzt werden - bis hin zu ihrer
Preisgabe, die freilich stets auch Umbildung heißen kann. Denn das ist die
unermüdliche Kraft der Erfahrung, in allem Belehrtwerden beständig neues
Vorverständnis auszubilden.
Auf den Ausgangsfeldern meiner hermeneutischen Studien, den Kunst¬
wissenschaften und den philologisch-historischen Wissenschaften, ist es leicht
aufzuweisen, wie hermeneutische Reflexion wirksam wird. Man denke daran,
wie die Autonomie der stilgeschichtlichen Betrachtung in den Kunstwissen¬
schaften durch die hermeneutische Reflexion auf den Begriff der Kunst - oder
die auf einzelne Epochen- und Stilbegriffe - erschüttert worden ist, wie die
Ikonographie aus ihrer Randstellung nach vorne drängte, wie die hermeneu¬
tische Reflexion über die Begriffe Erlebnis und Ausdruck literaturwissenschaft¬
liche Folgen hat - und sei es auch nur im Sinne der bewußteren Weiterführung
schon länger andrängender Forschungstendenzen. (Wechselwirkung ist auch
Wirkung.) Daß die Erschütterung fester Vorurteile wissenschaftlichen Fort¬
schritt verspricht, ist überhaupt selbstverständlich, denn sie macht neue Fragen
möglich, und was die historische Forschung durch begriffsgeschichtliche Be-
128 Rhetorik, Hermeneutik und Ideologiekritik

wußtheit zu gewinnen vermag, erleben wir beständig. Auf diesen Feldern


glaube ich gezeigt zu haben, wie sich in der Gestalt von ,Horizontverschmel¬
zung' die historistische Verfremdung vermittelt. Der scharfsinnigen Arbeit
Habermas’ verdanke ich, daß auch innerhalb der Sozialwissenschaften der
hermeneutische Beitrag sichtbar wird, insbesondere dadurch, daß das Vorver¬
ständnis der positivistischen Wissenschaftstheorie, aber auch das einer aprio-
ristisdien Phänomenologie und einer allgemeinen Linguistik, mit der her¬
meneutischen Dimension konfrontiert wird.
Aber die Funktion der hermeneutischen Reflexion erschöpft sich nicht in
dem, was sie für die Wissenschaften bedeutet. Allen modernen Wissenschaften
eignet eine tiefwurzelnde Verfremdung, die sie dem natürlichen Bewußtsein
zumuten und die schon im Anfangsstadium der modernen Wissenschaft durch
den Begriff der Methode zu reflektiertem Bewußtsein gelangte. An ihr kann
hermeneutische Reflexion nichts ändern wollen. Aber sie kann, indem sie die
in den Wissenschaften jeweils leitenden Vorverständnisse transparent macht,
neue Fragedimensionen freilegen und damit der methodischen Arbeit indirekt
dienen. Sie kann aber darüber hinaus zum Bewußtsein bringen, was die
Methodik der Wissenschaften für ihren eigenen Fortschritt zahlt, welche Ab¬
blendungen und Abstraktionen sie zumutet, durch die sie das natürliche Be¬
wußtsein ratlos hinter sich läßt - das dennoch, als der Konsument der durch
die Wissenschaft erlangten Inventionen und Informationen, ihnen beständig
folgt. Das kann man - mit Wittgenstein - so ausdrücken: Die ,Sprachspiele‘
der Wissenschaft bleiben auf die Metasprache, die die Muttersprache darstellt,
bezogen. Die von der Wissenschaft gewonnenen Erkenntnisse gehen über die
modernen Informationsmittel und in gehöriger (manchmal ungehörig großer)
Verspätung über Schule und Erziehung in das gesellschaftliche Bewußtsein ein.
So artikulieren sie die ,soziolinguistischen‘ Wirklichkeiten.
Für die Naturwissenschaften als solche ist das freilich ohne Belang. Dem
echten Naturforscher ist es ohnehin klar, wie partikular der Erkenntnisbereich
seiner Wissenschaft im ganzen der menschlichen Wirklichkeit ist. Er teilt die
Vergötterung derselben nicht, die ihm die Öffentlichkeit aufdrängt. Um so
mehr bedarf diese - und der Forscher, der in die Öffentlichkeit geht - der
hermeneutischen Reflexion auf die Voraussetzungen und Grenzen der Wissen¬
schaft. Die sogenannten Humaniora vermitteln sich noch immer auf leichte
Weise mit dem allgemeinen Bewußtsein, soweit sie dasselbe überhaupt noch
erreichen, weil ihre Gegenstände der kulturellen Überlieferung und dem her¬
kömmlichen Bildungswesen unmittelbar zugehören. Aber die modernen Sozial¬
wissenschaften stehen zu ihrem Gegenstand, der gesellschaftlichen Wirklich¬
keit, in einem eigentümlich spannungsvollen Verhältnis, das der hermeneuti¬
schen Reflexion eigens bedarf. Denn die methodische Verfremdung, der sie
ihren Fortschritt verdanken, bezieht sich hier auf die menschlich-gesellschaft¬
liche Welt im ganzen. Sie sieht sich durch sie der wissenschaftlichen Verfügung
ausgesetzt, in Planung, Lenkung, Organisation, Entwicklung, kurz in einer
Rhetorik, Hermeneutik und Ideologiekritik 129

Unzahl von Funktionen, die alle das Leben jedes einzelnen und jeder Gruppe
sozusagen von außen determinieren. Der Sozialingenieur, der das Funktio¬
nieren der Gesellschaftsmaschine betreut, scheint wie abgespalten von der
Gesellschaft, der er doch angehört.
Dem kann eine hermeneutisch reflektierte Soziologie nicht folgen. Haber¬
mas’ luzide Analyse der sozialwissensdiaftlichen Logik hat das andersartige
Erkenntnisinteresse, das die Soziologen gegenüber den Technikern der Gesell¬
schaft auszeichnet, entschlossen herausgearbeitet. Er nennt es ein emanzipato-
risches, das allein auf Reflexion zielt, und beruft sich dafür auf das Beispiel der
Psychoanalyse.
In der Tat ist die Rolle, welche die Hermeneutik im Rahmen einer Psycho¬
analyse zu spielen hat, eine fundamentale, und da, wie oben betont wurde, für
die hermeneutische Theorie auch das unbewußte Motiv keine Grenze darstellt
und da vollends die Psychotherapie sich so beschreiben läßt, daß „unter¬
brochene Bildungsprozesse zu einer vollständigen Geschichte (die erzählt wer¬
den kann) ergänzt werden“ (189), hat die Hermeneutik und der Kreis der
Sprache, der sich im Gespräch schließt, hier ihren Ort, wie ich vor allem aus
]. Lacan gelernt zu haben meine10.
Jedoch es ist klar, daß das nicht alles ist. Der von Freud ausgearbeitete
Interpretationsrahmen beansprucht weithin den Charakter echter naturwis¬
senschaftlicher Hypothesen, bzw. der Erkenntnis geltender Gesetze. Das muß
sich in der Rolle darstellen, die die methodische Verfremdung innerhalb der
Psychoanalyse spielt, und das tut es auch. Wenngleich die gelingende Analyse
ihre eigene Beglaubigung im Erfolge gewinnt, ist der Erkenntnisanspruch der
Psychoanalyse doch keineswegs aufs Pragmatische reduzierbar. Das heißt aber,
daß sie offenkundig einer abermaligen hermeneutischen Reflexion ausgesetzt
ist. Wie verhält sich das Wissen des Psychoanalytikers zu seiner Stellung inner¬
halb der gesellschaftlichen Wirklichkeit, der er doch angehört? Daß er die
bewußteren Oberflächeninterpretationen hinterfragt, maskiertes Selbstver¬
ständnis durchbricht, die repressive Funktion gesellschaftlicher Tabus durch¬
schaut, das gehört zur emanzipatorischen Reflexion, in die er seinen Patienten
hineinführt. Aber wenn er dieselbe Reflexion dort ausübt, wo er nicht als Arzt
dazu legitimiert ist, sondern wo er selber sozialer Spielpartner ist, fällt er aus
seiner sozialen Rolle. Wer seine Spielpartner auf etwas jenseits ihrer Liegendes
hin ,durchschaut', d. h. das nicht ernst nimmt, was sie spielen, ist ein Spiel¬
verderber, dem man aus dem Wege geht. Die emanzipatorische Kraft der
Reflexion, die der Psychoanalytiker in Anspruch nimmt, muß mithin an dem
gesellschaftlichen Bewußtsein ihre Grenze finden, in welchem sich der Ana¬
lytiker, ebenso wie sein Patient, mit allen anderen versteht. Denn die herme¬
neutische Reflexion lehrt uns, daß soziale Gemeinschaft bei allen Spannungen

10 Vgl. jetzt die Sammlung seiner Schriften, Ecrits, Aux Editions du Seuil, Paris
(1966).

9 Gadamer, Schriften I
130 Rhetorik, Hermeneutik und Ideologiekritik

und Störungen immer wieder auf ein soziales Einverständnis zurückführt,


durdi das sie existiert.
Damit wird aber die Analogie zwischen psychoanalytischer und soziologi¬
scher Theorie problematisch. Denn wo soll diese ihre Grenze finden? Wo hört
dort der Patient auf und tritt die Sozialpartnerschaft in ihr unprofessionelles
Recht? Gegenüber welcher Selbstinterpretation des gesellschaftlichen Bewußt¬
seins — und alle Sitte ist eine solche — ist das Hinterfragen und Hintergehen
am Platze, etwa in revolutionärem Veränderungswillen, und gegenüber wel¬
cher nicht? Diese Fragen scheinen unbeantwortbar. Es scheint sich die unaus¬
bleibliche Konsequenz zu ergeben, daß dem prinzipiell emanzipatorischen Be¬
wußtsein die Auflösung alles Herrschaftszwangs vorschweben muß - und das
hieße, daß die anarchistische Utopie ihr letztes Leitbild sein muß. - Dies frei¬
lich scheint mir ein hermeneutisch falsches Bewußtsein.
DIE PHILOSOPHISCHEN GRUNDLAGEN
DES ZWANZIGSTEN JAHRHUNDERTS

Wenn wir heute eine Frage stellen, wie sie am Ende des neunzehnten Jahr¬
hunderts ehedem für jenes Jahrhundert gestellt worden ist (Chamberlain), so
drückt sich darin aus, daß wir Anlaß haben, auf etwas zurückblicken. Das
zwanzigste Jahrhundert ist - geschichtlich gesehen - gewiß keine durch die
Zeitrechnung bestimmte Größe. Wie das neunzehnte Jahrhundert in Wahrheit
von Goethes und Hegels Tod bis zum Ausbruch des ersten Weltkrieges
währte, so hat das zwanzigste Jahrhundert eben damals begonnen, und zwar
als das Zeitalter des Weltkriegs und der Weltkriege. Wenn wir heute eine auf
diese Epoche unseres Jahrhunderts zurückblickende Frage stellen, so heißt
das, daß uns so etwas wie ein Epochenbewußtsein von dem Zeitalter der
Weltkriege trennt. Es sieht so aus, als wäre das Lebensgefühl der jüngeren
Generation der Menschheit nicht mehr in dem Grade von der Angst beherrscht,
die drohende Katastrophen als den unvermeidlichen Fortgang der weltge¬
schichtlichen Verwicklungen der Gegenwart erwartet. Daß die Menschen es
lernen könnten, sich auch mit den gewaltigen Machtmitteln einzurichten, die
ihnen zur gegenseitigen Zerstörung zugefallen sind, daß nüchterne Einschät¬
zung der Realitäten und Bereitschaft zu vernünftigen Kompromissen den Weg
in die Zukunft offenlassen, das ist eine Erwartung, die alle beherrscht. Im
Lichte dieser Erwartung steht auch die Frage, welches die Grundlagen dieses
Jahrhunderts sind, in dem wir leben und auf dessen Bestand wir vertrauen.
Die Frage nach den Grundlagen einer Epoche, eines Jahrhunderts, eines
Zeitalters, fragt nach etwas, was nicht offen zutage liegt und doch die einheit¬
liche Physiognomie dessen geprägt hat, was uns als unmittelbar gegenwärtig
umgibt. Es klingt wie eine triviale Antwort, wenn man sagt, die Grundlagen
des zwanzigsten Jahrhunderts liegen im neunzehnten Jahrhundert. Indessen
hat es eine gewisse Wahrheit, von der man ausgehen kann, daß damals das
Zeitalter der industriellen Revolution in Gestalt der sprunghaften Industria¬
lisierung Westeuropas seinen Anfang nahm und daß insofern das zwanzigste
Jahrhundert nur fortsetzt, was damals begründet wurde. Die großartige Ent-

Nach einem Vortrag, der 1962 in Paris auf Einladung der Maison de l’Allemagne
gehalten wurde. Erstdruck in ,Aspekte der Modernität. Kleine Vandenhoeck-
Reihe 217 S. Vandenhoeck & Ruprecht, Göttingen 1965, S. 77-100.
132 Die philosophischen Grundlagen des zwanzigsten Jahrhunderts

faltung der Naturwissenschaften im neunzehnten Jahrhundert trägt im


wesentlichen die Entwicklung unserer Technik und Wirtschaft, sofern nur
immer konsequenter und rationeller die praktischen Möglichkeiten ausge¬
schöpft werden, die aus den wissenschaftlichen Entdeckungen des neunzehnten
Jahrhunderts folgen. Gleichwohl war es ein echtes Epochenbewußtsein, das
mit dem ersten Weltkrieg aufkam und das neunzehnte Jahrhundert zu einer
Einheit des Vergangenen zusammenschloß. Nicht nur in dem Sinne, daß ein
bürgerliches Zeitalter zu Ende gegangen war, in welchem technischer Fort¬
schrittsglaube sich mit der zuversichtlichen Erwartung gesicherter Freiheit und
zivilisatorischem Perfektionismus verband - es war nicht nur das Bewußtsein
des Abschieds von einer Epoche, es barg vor allem auch die bewußte Absetzung
gegen dieselbe, ja ihre schärfste Ablehnung in sich. Im Kulturbewußtsein der
ersten Jahrzehnte des zwanzigsten Jahrhunderts bekam das Wort ,neun¬
zehntes Jahrhundert' einen merkwürdigen Klang. Es hörte sich wie ein
Schimpfwort an, wie der Inbegriff der Unechtheit, der Stillosigkeit, des feh¬
lenden Geschmacks - eine Vereinigung von krassem Materialismus und hohlem
Bildungspathos. Im Aufstand gegen den Geist des neunzehnten Jahrhunderts
haben sich die Pioniere des neuen Zeitalters formiert. Man denke nur an die
moderne Malerei, die im ersten Jahrzehnt unseres Jahrhunderts mit der kubi-
stischen Formzertrümmerung ihren revolutionären Durchbruch fand, an die
Architektur, die der historisierenden Fassadenkunst des vergangenen Jahr¬
hunderts den Abschied gab und aus der zunehmend deutlicher ein ganz neues
Lebensgefühl spricht, sofern sie dem Intimen keine Stätte mehr gibt zugunsten
der Durchsichtigkeit und Überschaubarkeit aller Räume. Man denke an den
Roman, in dem keine Handlung mehr erzählt wird, an das Gedicht, das seine
Aussage verrätselt, und man muß selbst bei der größten Anhänglichkeit an die
Bildungswelt der Vergangenheit alle diese Veränderungen angesichts der tat¬
sächlichen Formen unseres Lebens, seiner schwindenden Innerlichkeit und der
Funktionalisierung des gesellschaftlichen Daseins im Zeitalter der anonymen
Verantwortlichkeit als ,richtig' erkennen. Es war symptomatisch, daß Karl
Jaspers bereits im Jahre 1930 die geistige Situation der Zeit mit dem Begriff
der anonymen Verantwortlichkeit beschrieb. In der Prägung dieses Begriffs
verband sich die illusionslose Anerkennung des Wirklichen mit dem kultur¬
kritischen Pathos der existentiellen Entscheidung. Die Philosophie begleitete
das Geschehen der Zeit, indem sie die Grenzen der wissenschaftlichen Welt¬
orientierung im Bewußtsein wachhielt.
Wenn hier von den philosophischen Grundlagen des zwanzigsten Jahr¬
hunderts die Rede sein soll, so nicht in dem Sinne, als ob die Philosophie die
wahren Grundlagen desselben darstellte, sondern im Gegenteil, weil es eine
Frage geworden ist, ob das, was ehedem Philosophie war, noch Platz hat in
dem Lebensganzen der Gegenwart. Es ist die alte Spannung zwischen Wissen¬
schaft und Philosophie der Neuzeit, die sich hier zuspitzt. Die Frage ver¬
legt sich damit weiter zurück. Denn die moderne Wissenschaft ist nicht eine
Die philosophischen Grundlagen des zwanzigsten Jahrhunderts 133

Erfindung des neunzehnten, sondern des siebzehnten Jahrhunderts. Damals


wurde die Aufgabe der rationalen Begründung der Naturerkenntnis ergriffen
und damit das Problem gestellt, wie sich die Wissenschaft als die neue Grund¬
lage unseres menschlichen Weltverhältnisses mit den überlieferten Gestalten
desselben vereinigen ließe, mit der Tradition der griedrischen Philosophie (die
den Inbegriff dessen bedeutet, was man überhaupt über Gott und die Welt
und über das menschliche Leben wußte) und mit der Botschaft der christlichen
Kirche. Es ist die Bewegung der Aufklärung, die damals ihren Ursprung nahm
und die dem Ganzen der neueren Jahrhunderte das philosophische Gepräge
gegeben hat. Denn so triumphal auch der Siegeszug der modernen Wissenschaft
gewesen ist und so selbstverständlich auch für jeden heute Lebenden die wissen¬
schaftlichen Voraussetzungen unserer Kultur sein Daseinsbewußtsein durch¬
dringen, so beständig ist dennoch das Denken der Menschen von Fragen be¬
herrscht, auf die die Wissenschaft keine Antwort verheißt.
Die Philosophie findet in dieser Sachlage ihre Aufgabe, die bis zum heutigen
Tage ein und dieselbe geblieben ist. Die Antworten, die sie in den drei Jahr¬
hunderten der Neuzeit fand, klingen verschieden, aber sie sind Antworten
auf die gleiche Frage, und die späteren Antworten sind nicht ohne die früheren
möglich und haben vor diesen zu bestehen. So ist auch die Frage nach den
Grundlagen des zwanzigsten Jahrhunderts, wenn sie als eine Frage der Philo¬
sophie gestellt wird, auf die Antworten bezogen, die die vorangegangenen
Jahrhunderte gegeben haben. Im achtzehnten Jahrhundert war es Leibniz, der
zuerst die Aufgabe sah. Er hatte den neuen Wissenschaftsgedanken mit seinem
ganzen Genie in sich aufgenommen, und doch war gerade er es, der die antike
und scholastische Lehre von den substantialen Formen als unentbehrlich be-
zeichnete und damit als erster den Versuch machte, die Tradition der Meta¬
physik mit der neuen Wissenschaft zu vermitteln. Ein Jahrhundert später hat
die philosophische Bewegung, die wir den deutschen Idealismus nennen, die
gleiche Aufgabe zu lösen versucht. Die Schulmetaphysik des achtzehnten Jahr¬
hunderts war durch die kantische Kritik der dogmatischen Metaphysik mit
einer Schnelligkeit zerstört worden, die einer wahrhaften Revolution gleich¬
kam, und tatsächlich mag es das Zusammenfallen der kantischen Kritik mit
Rousseaus Kritik des moralischen Hochmuts der Aufklärung und mit der
ungeheuren gesellschaftlichen Erschütterung der französischen Revolution ge¬
wesen sein, was der kantischen Philosophie ihren Sieg gesichert hat. Seitdem
ist eine neue Antwort auf die alte Frage erforderlich geworden. Sie wurde in
letzter systematischer Schärfe von Hegel gegeben.
Am Anfang des neunzehnten Jahrhunderts steht nicht nur die revolutionäre
Tat der kantischen Kritik, sondern ebenso die umfassende Synthese der Hegel-
schen Philosophie, gegen die der wissenschaftliche Geist des neunzehnten Jahr¬
hunderts sich durchzusetzen hatte. Hegels Philosophie stellt den letzten mäch¬
tigen Versuch dar, Wissenschaft und Philosophie als eine Einheit zu begreifen.
Es liegt heute nahe, das Hoffnungslose eines solchen Versuches zu empfinden,
134 Die philosophischen Grundlagen des zwanzigsten Jahrhunderts

und in der Tat ist es der letzte Versuch dieser Art gewesen. Aber wenn es auch
zum Selbstgefühl des neunzehnten Jahrhunderts gehört hat, mindestens auf
dem Gebiet der Naturerkenntnis im Spott gegen die Naturphilosophie des
deutschen Idealismus die eigene empirische Forschungsgesinnung zu bestätigen,
so haben wir doch Ursache, gerade im Blick auf das eigene Jahrhundert die
Frage zu stellen, wieweit der wissenschaftliche Fortschrittsgedanke des neun¬
zehnten Jahrhunderts noch andere Voraussetzungen enthielt, als ihm selber
bewußt war. Die Frage ist, ob vielleicht Flegel davon mehr gewußt hat, als die
von Spott gegen ihn erfüllte Wissenschaft.
Diese Frage drängt sich von selbst auf. Denn im Rückblick auf das neun¬
zehnte Jahrhundert erscheint dasselbe durch den wissenschaftlichen Fortschritt
doch nur sehr bedingt geprägt worden zu sein. Vergleichen wir die Rolle, die
die Verwissenschaftlichung des Lebens in unserem Jahrhundert spielt, so wird
der Unterschied deutlich. Es mag zu seiner robusten Naivität gehören, daß das
neunzehnte Jahrhundert den expansiven Enthusiasmus des Erkennens und den
zivilisatorischen Zukunftsglauben auf dem festen Boden einer gesellschaftlich
sanktionierten Sittenordnung zu leben wußte. Die traditionelle Gestalt der
christlichen Kirche, das Nationalbewußtsein des modernen Staates und die
Moral des privaten Gewissens liegen unbefragt der bürgerlichen Kultur eines
Jahrhunderts zugrunde, dessen wissenschaftliche Leistungen so folgenreich, ja
revolutionär gewesen sind. Heute dagegen ist das Bewußtsein dieser Konstan¬
ten der gesellschaftlichen Wirklichkeit völlig in den Hintergrund getreten.
Man lebt im Bewußtsein einer sich unabsehbar verändernden Welt, und man
erwartet in Fällen des Konflikts und der Spannungen von der Wissenschaft,
daß sie von sich aus die eigentliche Entscheidungsinstanz bildet. Sie ist es, auf
die man hofft, wenn es gilt, Unheil zu vermeiden und die Wohlfahrt zu
steigern. Die Gesellschaft selbst hält sich mit bestürzendem Gehorsam an das
wissenschaftliche Expertentum, und über alle Lebensgebiete bis in die Mei¬
nungsbildung hinein herrscht das Ideal der bewußten Planung und der präzis
funktionierenden Verwaltung. Entsprechend wird uns die Kultur der Inner¬
lichkeit, die Hochsteigerung der persönlichen Konflikte des menschlichen
Lebens, die scharfe Psychologisierung und die gestaute Ausdruckskraft ihrer
künstlerischen Darstellung langsam fremd. Die gesellschaftlichen Ordnungen
entfalten so mächtige Formkräfte, daß der einzelne selbst in der Intimsphäre
seiner persönlichen Existenz kaum noch vom Bewußtsein erfüllt ist, aus
eigener Entscheidung zu leben. So muß sich die Frage heute verschärfen, wie
man sich im Ganzen der von der Wissenschaft beherrschten gesellschaftlichen
Wirklichkeit selber verstehen kann. Es lohnt, auch Hegels Antwort noch ein¬
mal zu überdenken, um zureichende eigene Antworten vorzubereiten. Denn
Hegels Philosophie hat der gesellschaftlichen Wirklichkeit des Menschen einen
Weg des Selbstverständnisses eröffnet, auf dem wir uns noch heute befinden:
indem sie den Standpunkt des subjektiven Bewußtseins einer ausdrücklichen
Kritik unterwarf.
Die philosophischen Grundlagen des zwanzigsten Jahrhunderts 135

Wenn ich daher mit Hegels Kritik des subjektiven Geistes einsetze, so ist
damit zugleich die Frage gestellt: Wie untersdieidet sidi, was in unserem Jahr¬
hundert in der gleichen Absicht philosophisch gedacht worden ist, von jenem
ersten großen Einsatz der Kritik des subjektiven Geistes, den wir dem deut¬
schen Idealismus und vor allem Hegel verdanken?
Bekanntlich ist Hegels spekulativer Idealismus durch schärfste Kritik
an der Reflexionsphilosophie charakterisiert, die er als eine Krankheit des
romantischen Geistes und seiner kraftlosen Innerlichkeit verstand. Der Begriff
der Reflexion, wie wir ihn im allgemeinen verwenden, etwa wenn wir sagen,
daß jemand Reflexionen anstellt oder daß jemand ein reflektierter Mensch
ist und dergleichen, meint das, was Hegel ,äußere Reflexion' nennt, und der
Laie kennt überhaupt keinen anderen Begriff der Reflexion. Für ihn ist, mit
Hegel zu reden, Reflexion das hin- und hergehende Raisonnement, das, ohne
sich auf einen Gehalt einzulassen, allgemeine Gesichtspunkte an jeden belie¬
bigen Gehalt heranzubringen weiß. Hegel gilt dieses Verfahren der äußeren
Reflexion wegen der Willkür, in der man etwas Gegebenes unter allgemeine
Gesichtspunkte bringt, als die Form der modernen Sophistik, und seine Kritik
an diesem allzu beweglichen, allzu unverbindlichen Generalisieren des Ge¬
gebenen hat ihr positives Gegenstück in der Forderung, sich im Denken ganz
auf den objektiven Gehalt der Sache einzulassen und alle eigenen Einfälle
beiseite zu lassen. Das aber ist eine Forderung, der vor allem im Zusammen¬
hang der Moralphilosophie eine zentrale Bedeutung zukommt. Aus Hegels
Kritik an Kants Moralphilosophie und an der zugespitzten Begründung, die
Kant dem Prinzip der Sittlichkeit im Phänomen der moralischen Reflexion
gegeben hat, entwickelte sich seine Kritik an der subjektiven, ,äußeren'
Reflexion und sein Begriff des ,Geistes'.
Kants Moralphilosophie ist auf den sogenannten ,kategorischen Imperativ'
gegründet. Es ist offenkundig, daß die ,Formeln' des kategorischen Impe¬
rativs, zum Beispiel die, daß, wie Kant sagt, die Maxime unseres Handelns
jederzeit als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung oder wie ein Naturgesetz
gedacht werden solle, kein sittliches Gebot darstellen, das an die Stelle inhalt¬
licher Gebote, etwa der des Dekalogs, treten könnte. Vielmehr entspricht eine
solche Formel dem, was Hegel die gesetzesprüfende Vernunft nennt, und meint
nicht, daß das sittliche Leben in seiner sittlichen Wirklichkeit in der Befolgung
dieses Gebots bestehe. Es ist vielmehr eine oberste Prüfungsinstanz für die Ver¬
bindlichkeit alles Gesollten und soll einer moralischen Reflexion die Führung
geben, die sich bemüht, sich der Reinheit ihres sittlichen Wollens zu ver¬
gewissern.
Die Kritik liegt nahe, und sie ist von Hegel mit Schärfe geübt worden, daß
die Situationen des sittlichen Handelns uns im allgemeinen nicht so gestellt und
gegeben werden, daß wir die innere Freiheit zu einer solchen Art von Reflexion
besitzen. Wenn etwa Kant in seiner Grundlegung der Moralphilosophie argu¬
mentiert, daß ein von Selbstmordgedanken Gejagter sich nur soviel Besinnung
136 Die philosophischen Grundlagen des zwanzigsten Jahrhunderts

erhalten zu haben braucht, um sich zu fragen, ob es wohl dem Gesetz des


Lebens entspräche, wenn sich das Leben gegen sich selbst kehrt, so ist es einfach,
einzusehen, daß eben dies Gejagtsein durch Selbstmordgedanken heißt, daß
man so viel Besinnung nicht mehr besitzt. Die Situation, in der überhaupt mora¬
lische Reflexion eintreten kann, ist immer bereits eine Ausnahmesituation,
eine Situation des Konflikts zwischen Pflicht und Neigung, eine Situation der
sittlichen Bedenklichkeit und der distanzierten Selbstprüfung. Man kann un¬
möglich das Ganze der sittlichen Phänomene darin wiedererkennen. Sittlich
muß etwas anderes sein, wie Hegel es in einer provozierend einfachen Formu¬
lierung ausgesprochen hat: Sittlichkeit heißt, den Sitten seines Landes gemäß
leben.
Eine solche Wendung enthält implizit den Begriff des objektiven Geistes.
Was die Sitten eines Landes, was die Rechtsordnung eines Landes, was die
Staatsverfassung eines Landes sind, darin ist ein bestimmter Geist, der dennoch
in keinem einzelnen subjektiven Bewußtsein seine adäquate Spiegelung hat.
Insofern ist es in der Tat objektiver Geist; Geist, der uns alle umfängt und
demgegenüber keiner von uns eine überlegene Freiheit besitzt. Was mit diesem
Begriff impliziert ist, hat nun für Hegel zentrale Bedeutung: der Geist der
Sittlichkeit, der Begriff des Volksgeistes, die ganze Rechtsphilosophie Hegels
beruht auf der Übersteigung des subjektiven Geistes, die in den Ordnungen
der menschlichen Gesellschaft gelegen ist.
Der Begriff des objektiven Geistes hat seinen Ursprung in dem Begriff von
Geist, der aus der christlichen Überlieferung stammt, das heißt, in demPneuma-
begriff des Neuen Testaments, dem Begriff des heiligen Geistes. Der pneuma¬
tische Geist der Liebe, das Genie der Versöhnlichkeit, als das der junge Hegel
Jesus gedeutet hat, zeigt eben diese über die einzelnen Individualitäten hinaus¬
gehende Gemeinsamkeit. Hegel zitiert einen arabischen Ausdruck: ein Mann
des Stammes Ur, eine orientalische Redeweise, die anzeigt, daß für die Men¬
schen, die so reden, der einzelne gar kein Individuum ist, sondern einer vom
Stamme derer.
Dieser Begriff des objektiven Geistes, dessen Wurzeln weit ins Altertum
zurückreichen, findet bei Hegel seine eigentliche philosophische Rechtfertigung
dadurch, daß er selbst noch überstiegen wird von dem, was Hegel absoluten
Geist nennt. Hegel meint damit eine Form des Geistes, die keinerlei Fremdheit,
Andersheit, Gegenüber mehr in sich enthält, nicht, wie uns Sitten gegenüber¬
treten können als das uns Beschränkende, oder wie uns Staatsgesetze in unserer
Willkür begrenzen, indem sie Verbote aussprechen. Auch wenn wir im allge¬
meinen wohl anerkennen, daß die Rechtsordnung die Repräsentation unseres
gemeinsamen gesellschaftlichen Seins ist, in der Form des Verbots tritt sie uns
in den Weg. Hegel sieht nun die Auszeichnung von Kunst, Religion und Philo¬
sophie darin, daß hier kein solches Gegenüber erfahren wird. In diesen Gestal¬
ten haben wir eine letzte adäquate Weise, in der sich der Geist als Geist erkennt,
in der das subjektive Bewußtsein und die objektive Wirklichkeit, die uns trägt,
Die philosophischen Grundlagen des zwanzigsten Jahrhunderts 137

einander gleichsam durchdringen, so daß uns nichts Fremdes mehr begegnet,


weil wir alles Begegnende als unser Eigenes erkennen und anerkennen. Be¬
kanntlich ist es der Anspruch von Hegels eigener Philosophie der Weltge¬
schichte - und in ihr vollendet sich seine Philosophie des Geistes -, auch das
noch, was als fremdes Schicksal über den einzelnen zu kommen scheint, in der
inneren Notwendigkeit des Geschehens zu erkennen und anzuerkennen.
Indessen fordert ein solcher Ansprudi selber wieder die kritische Frage
heraus, wie man sich das komplizierte, fragwürdige Verhältnis zwischen dem
subjektiven Geist des einzelnen und dem objektiven Geist denken soll, der sich
in der Weltgeschichte jeweils manifestiert.
Es ist die Frage, wie der einzelne sich zum Weltgeist verhält - so bei Hegel -,
wie der einzelne sich zu den sittlichen Mächten verhält, die die eigentliche
tragende Wirklidikeit des geschichtlichen Lebens sind — so bei Droysen —, oder
wie der einzelne sich den Arbeitsverhältnissen, der Grundverfassung der
menschlichen Gesellschaft gegenüber befindet - so bei Marx. Das sind drei
Fragen, die sich zusammenfassen lassen in die eine Frage, worin die Ver¬
söhnung des subjektiven Geistes mit dem objektiven Geist geschehen soll, ob
im absoluten Wissen der Hegelschen Philosophie, ob in der rastlosen Arbeit
des protestantisch-sittlichen Individuums bei Droysen oder ob in der Verän¬
derung der Verfassung der Gesellschaft bei Marx.
Wer so fragt, hat in Wahrheit Hegels Standpunkt des Begriffs, in dem die
Versöhnung immer schon, als die Vernunft im Wirklichen, geschehen ist, preis¬
gegeben. Was von Hegels Kritik des subjektiven Geistes im neunzehnten Jahr¬
hundert am Ende lebendig geblieben war, ist daher nicht sein Versöhnungs¬
glaube, der alles Fremde, Objektive erkennt und begreift, sondern umgekehrt
die Fremdheit, Objektivität im Sinne von Gegenständlichkeit und Andersheit
des dem subjektiven Geiste Begegnenden. Was bei Hegel objektiver Geist
heißt, wird nun im wissenschaftlichen Denken des neunzehnten Jahrhunderts
als das Andere des Geistes gedacht, und damit ein einheitliches Methoden¬
bewußtsein nach dem Vorbild der Naturerkenntnis geschaffen. So wie schon
bei Hegel die Natur als das Andere des Geistes erscheint, so erscheint nun der
tätigen Energie des neunzehnten Jahrhunderts die gesamte geschichtliche und
gesellschaftliche Wirklichkeit nicht mehr als Geist, sondern in ihrer harten
Tatsächlichkeit oder, wenn ich es mit einem alltäglichen Wort ausdrücke, in
ihrer Unverständlichkeit. Man denke an das unverständliche Phänomen des
Geldes, des Kapitals und an den Begriff der Selbstentfremdung des Menschen,
wie er bei Marx entwickelt worden ist. Die Unverständlichkeit, Fremdheit,
Undurchsichtigkeit des gesellschaftlich-geschichtlichen Lebens wird vom sub¬
jektiven Geiste nicht anders erfahren als die Natur, die ihm gegenständlich ist.
Natur und Geschichte werden daher im gleichen Sinne als Objekte der wissen¬
schaftlichen Erforschung gesehen. Sie bilden den Gegenstand der Erkenntnis.
Hier entspringt jene Entwicklung, die im Marburger Neukantianismus den
Gegenstand der Erkenntnis zu einer unendlichen Aufgabe macht. Es kommt
138 Die philosophischen Grundlagen des zwanzigsten Jahrhunderts

auf die Bestimmung des Unbestimmten an, auf seine Erzeugung im Gedanken;
die Infinitesimalmethode zur Bestimmung des Weges, der Bahn einer Bewe¬
gung war das Vorbild des neukantianischen transzendentalen Gedankens.
Seine Parole war: Alle Erkenntnis vollendet sich in der wissenschaftlichen ,Er¬
zeugung“ des Gegenstandes. Aber wie im achtzehnten Jahrhundert Leibniz die
Einseitigkeit der neuen Wissenschaft durch sein neues System einer Monaden¬
lehre zu überwinden suchte, wie im Beginn des neunzehnten Jahrhunderts
Hegel der Reflexionsphilosophie die großartige Synthese seiner Philosophie
des absoluten Geistes entgegensetzte, so hat auch unser Jahrhundert die Ein¬
seitigkeit dieses wissenschaftlichen Methodologismus empfunden. Nun könnte
man freilich die skeptische Frage stellen: War nicht die unter den Begriffen
,Leben“ und .Existenz“ geführte Kritik an der herrschenden Philosophie des
Neukantianismus, ob sie durch Dilthey, Bergson oder Simmel oder durch
Kierkegaard und die Existenzphilosophie vorgetragen wurde und sich mit
kulturkritischem Pathos wie etwa bei Stefan George auflud, um nur einige der
repräsentativen Schriftsteller zu nennen, deren Philosophie oder deren Werk
eine Kritik des Jahrhunderts einschloß, wesentlich romantischer Prägung?
War das mehr als eine Wiederholung der im Zeitalter der Romantik geübten
Kritik an der Aufklärung? Enthalten alle solchen kritischen Versuche nicht
insgesamt jene unaufgelöste Dialektik der Kulturkritik, das, was sie verur¬
teilen, doch so hoch einzuschätzen, daß man ihm diese Kritik zumutet? Man
könnte in dieser Weise wirklich urteilen, wenn nicht hinter diesen philosophi¬
schen Bewegungen unseres Jahrhunderts Nietzsche stünde, die große Schick¬
salsfigur, die die Kritik des subjektiven Geistes in unserem Jahrhundert zu
einer wesentlich veränderten Aufgabe gemacht hat.
Ich will dabei die Frage nicht beantworten, inwieweit Philosophie selber
immer nur Ausdruck eines neuen gesellschaftlichen und menschlichen Lebens¬
zustandes ist, oder wieweit sie als ein Bewußtsein diesen Zustand selber wieder
zu ändern vermag. Ob Ausdruck eines Geschehens oder Heraufführung des¬
selben, braucht nicht entschieden zu werden, wenn es sich um die eigentliche,
epochemachende Bedeutung Nietzsches für diesen ganzen Fragenzusammen¬
hang handelt. Denn seine Kritik gilt der letzten, der radikalsten Fremdheit, die
uns aus unserem Eigensten anweht, nämlich dem Bewußtsein selbst. Daß das
Bewußtsein und Selbstbewußtsein kein unzweideutiges Zeugnis gibt, daß das,
was sich ihm als sein Gemeintes zeigt, vielleicht maskiert, vielleicht verkehrt,
was wirklich in ihm ist, wurde durch Nietzsche in einer Weise dem modernen
Denken eingehämmert, daß wir es nun überall wiedererkennen, nicht
nur in jener exzessiven, selbstzerstörerischen Desillusionierung, mit der Nietz¬
sche eine Maske nach der anderen von dem Ich herunterreißt, bis am Ende
keine Maske, aber auch kein Ich mehr übrig ist. Nicht nur an diese im Masken¬
gotte Dionysos mythologisch repräsentierte Maskenvielfalt denkt man, son¬
dern ebenso an die Ideologiekritik, wie sie seit Marx immer mehr gerade an den
mit dem Pathos der Unbedingtheit vertretenen Überzeugungen religiöser,
Die philosophischen Grundlagen des zwanzigsten Jahrhunderts 139

philosophischer, weltanschaulicher Art geübt worden ist. Ich denke vor allem
auch an die Psychologie des Unbewußten, an Freud, dessen Interpretation der
seelischen Phänomene ganz von der Einsidtt beherrscht ist, daß es im mensch¬
lichen Seelenleben zwischen dem bewußten Meinen und unbewußten Wollen
und Sein spannungsvolle Widersprüche geben kann und daß jedenfalls das,
was wir zu tun glauben, mit dem, was in unserem menschlichen Sein in Wahr¬
heit vorgeht, keineswegs identisch ist. Hier gibt uns ein Wort den rechten
Wink, um zu erkennen, wie tief dieser Einbruch in die Geltungswerte des sub¬
jektiven Bewußtseins reicht: Es ist der Begriff der Interpretation, ein philoso¬
phisch-humanistischer Begriff, in den Anfängen der Neuzeit noch auf die
Naturwissenschaften als interpretatio naturae ganz naiv angewendet, der jetzt
eine hochreflektierte Bedeutung erlangt. Seit Nietzsche verknüpft sich mit
diesem Begriff der Anspruch, daß Interpretation erst das Eigentliche, das über
alles subjektive Meinen hinausgreift, in legitimer Erkenntnis- und Deutungs¬
absicht erfaßt. Man denke an die Rolle, die der Begriff der Interpretation nach
Nietzsche im psychologischen und im moralischen Bereiche spielt, wenn er
schreibt: „Es gibt keine moralischen Phänomene, es gibt nur eine moralische
Interpretation der Phänomene.“
Hier ist etwas, was erst in unserem Jahrhundert ganz wirksam zu werden
beginnt. Wenn ehedem Interpretation nichts anderes wollte, als Auslegung der
wahren Meinung des Autors (ich habe meine Gründe zu glauben, daß dies
immer eine etwas zu enge Selbstauffassung war), so wird es jetzt ganz aus¬
drücklich so, daß Interpretation die eigentliche Hintergehung der Subjektivität
des Meinens leisten soll. Es gilt, hinter die Oberfläche des Gemeinten zurück¬
gehen zu lernen. Das Unbewußte (bei Freud), die Produktionsverhältnisse und
ihre bestimmende Bedeutung für die wahre gesellschaftliche Wirklichkeit (bei
Marx), der Begriff des Lebens und seiner ,gedankenbildenden Arbeit' (bei
Dilthey und im Historismus), der Begriff der Existenz, wie er einst gegen
Hegel durch Kierkegaard entwickelt worden war - das alles sind Interpreta¬
tionsgesichtspunkte, d. h. Weisen der Hintergehung des im subjektiven Be¬
wußtsein Gemeinten, die unser Jahrhundert entwickelt hat.
In der deutschen Philosophie unseres Jahrhunderts wird das vor allem darin
sichtbar, daß die Erkenntnistheorie zurücktritt, die innerhalb der neukantia¬
nischen Epoche noch die Grunddisziplin war, so daß jeder, der in die Philo¬
sophie eindringen wollte, sie als allererstes zu studieren hatte. Die erkenntnis¬
theoretische Fragestellung berief sich auf die kantische Philosophie und fragte:
Mit welchem Rechte gebrauchen wir eigentlich unsere von uns selbst erzeugten
Begriffe für die Erkenntnis der Dinge und für die Beschreibung der Erfahrung?
Diese Legitimationsfrage, die quaestio iuris, die aus cartesianischer Tradition
stammt, hat in unserem Jahrhundert durch die Phänomenologie ein neues Ge¬
sicht gewonnen, beziehungsweise sie verlor ihr Gesicht.
Husserl hat schon in seinen ersten Entwürfen der Idee der Phänomenologie
im Jahre 1907 und von da an mit steigender Bewußtheit den Begriff des Phä-
140 Die philosophischen Grundlagen des zwanzigsten Jahrhunderts

nomens und der reinen Beschreibung der Phänomene auf den Begriff der
Korrelation zurückgeführt, d. h. er hat immer die Frage gestellt, wie zeigt sich,
für welches Bewußtsein, das Gemeinte so oder so? Er hat also von vornherein
nicht mehr von einem Subjekt aus gedacht, das sich als das für sich Seiende seine
Gegenstände, die es meint, wählt, sondern er hat umgekehrt zu den phäno¬
menalen Objekten des Gemeinten die korrelativen Bewußtseinshaltungen, die
intentionalen Akte, wie er es nannte, studiert. Nun heißt Intentionalität
nicht,Meinen' im Sinne eines subjektiven Akts des Aufmerksamseins, des Hin-
zielens im Sinne des bewußten Aktvollzuges; es gibt auch, wie Husserl es
nennt, Horizontintentionalitäten. Wenn ich meine Aufmerksamkeit auf einen
bestimmten Gegenstand richte, etwa dort auf diese beiden Quadrate auf der
Rückwand, so sind für mich doch gleichzeitig wie ein Hof von Intentionali¬
täten alle Anwesenden und der ganze Saal mit da. Ich kann mich nachträglich
sogar daran erinnern, daß selbst in diesem Augenblick, in dem ich nidits an¬
deres als die beiden Quadrate meine, dies alles mit da, mitgemeint war. - Die¬
ser Horizont von Intentionalitäten, dieses ständig Mitgemeinte, ist nicht selber
Gegenstand eines subjektiven Meinens. Deswegen nennt Husserl solche Inten¬
tionalität anonym.
Ähnlich hat Scheler mit seiner fast demagogischen Leidenschaftlichkeit die
Ekstatik des Bewußtseins beschrieben, indem er zeigte, daß das Bewußtsein
kein in sich geschlossener Kasten ist. Die Groteskheit dieses Bildes sollte offen¬
bar die falsche Substantialisierung der Bewegung der Selbstreflexion kari¬
kieren. Scheler betonte: Wir erkennen nicht unsere Vorstellungen, sondern wir
erkennen die Dinge. Es gibt auch keine Bilder der Dinge in unserem Bewußt¬
sein, die wir eigentlich' denken und auf irgendeine Weise auf die Dinge der
,Außenwelt' beziehen. Das ist alles Mythologie. Wir sind immer schon bei dem
Seienden, das wir meinen. Heidegger hat diese Kritik eines hypostasierten
,Bewußtseins' zu einer ontologischen Kritik an dem Seinsverständnis, das
diesem ,Bewußtsein' entspricht, radikalisiert. In der Formulierung, daß Dasein
In-der-Welt-sein ist, hat diese ontologische Kritik des Bewußtseins ihre Parole
gefunden. Seither halten viele es für eine verkehrte, völlig obsolete Frage¬
stellung, deren Festhalten Heidegger den eigentlichen ,Skandal' der Philoso¬
phie genannt hat, zu fragen: Wie kommt das Subjekt zu der Erkenntnis der
sogenannten Außenwelt?
Und nun stellt sich die Frage: Wie unterscheidet sich die philosophische
Situation unseres Jahrhunderts, die derart zuletzt auf die Kritik am Bewußt¬
seinsbegriff zurückgeht, wie sie durch Nietzsche wirksam geworden ist, von
der Kritik des subjektiven Geistes, wie sie Hegel vollzog? Die Frage ist nicht
leicht zu beantworten. Man könnte hier folgende Argumentation versuchen:
Daß das Bewußtsein und sein Gegenstand nicht zwei getrennte Welten sind,
hat niemand besser gewußt als der deutsche Idealismus. Er hat dafür sogar das
Wort gefunden, indem er den Begriff der ,Identitätsphilosophie' geprägt hat.
Er hat gezeigt, daß Bewußtsein und Gegenstand in Wahrheit nur die zwei
Die philosophischen Grundlagen des zwanzigsten Jahrhunderts 141

Seiten eines Zusammengehörigen sind und daß jede Auseinanderreißung des


reinen Subjektes und der reinen Objektivität ein Dogmatismus des Denkens
ist. Hegels ,Phänomenologie“ beruht in ihrem dramatischen Geschehen ge¬
radezu darauf, sich bewußt zu werden, wie jedes Bewußtsein, das einen
Gegenstand denkt, sich selbst verändert und damit auch seinen Gegenstand
wieder notwendigerweise mitverändert, so daß nur in der vollen Aufhebung
der Gegenständlichkeit des Gedadrten im ,absoluten“ Wissen die Wahrheit
gewußt ist. Ist nun die Kritik des Subjektbegriffes, die unser Jahrhundert ver¬
sucht hat, etwas anderes als eine Wiederholung dessen, was der deutsche
Idealismus geleistet hat — und dann freilich, wie wir bekennen müssen, mit un¬
vergleichlich geringerem Abstraktionsvermögen und ohne die Anschauungs¬
kraft, die damals den Begriff erfüllte? So ist es nicht. Die Kritik des subjektiven
Geistes in unserem Jahrhundert trägt vielmehr in einigen entscheidenden
Punkten andere Züge, weil sie die Frage Nietzsches nicht mehr verleugnen
kann. Es sind vor allem drei Punkte, an denen das heutige Denken am deut¬
schen Idealismus naive Voraussetzungen enthüllt hat, die es nicht mehr gelten
lassen kann. Erstens: die Naivität des Setzens, zweitens: die Naivität der
Reflexion, und drittens: die Naivität des Begriffs.
Zunächst die Naivität des Setzens. Die gesamte Logik ist seit Aristoteles auf
den Begriff des Satzes, der Apophansis, d. h. der Urteilsaussage gestellt.
Aristoteles hat an einer klassischen Stelle betont, daß er lediglich den ,apo-
phantischen“ Logos behandele, d. h. diejenige Weise der Rede, in der es auf
nichts anderes ankommt als auf Wahr- oder Falschsein, und Phänomene wie
die Bitte, den Befehl oder auch die Frage beiseite lasse, die gewiß auch Weisen
der Rede sind, aber in denen es offenbar nicht auf das bloße Offenbarmachen
des Seienden, und das heißt: auf das Wahrsein ankommt. Er hat damit den
Vorrang des ,Urteils“ innerhalb der Logik begründet. Der Begriff der Aus¬
sage, der damit geprägt worden ist, verknüpft sich in der modernen Philoso¬
phie mit dem Begriff des Wahrnehmungsurteils. Der reinen Aussage entspricht
die reine Wahrnehmung; beide aber haben sich in unserem von Nietzsche zum
Zweifeln angespornten Jahrhundert als unzulässige Abstraktionen erwiesen,
die einer phänomenologischen Kritik nicht standhalten; es gibt weder reine
Wahrnehmung, noch gibt es die reine Aussage.
Es war das Zusammenwirken vieler Forschungen, das zunächst den Begriff
der ,reinen Wahrnehmung“ zersetzt hat. In Deutschland wurde das vor allem
dadurch wirksam, daß Max Scheler die Resultate dieser Forschungen mit
seiner phänomenologischen Anschauungskraft verarbeitete. In ,Die Wissens¬
formen und die Gesellschaft“ hat er gezeigt, daß die Idee einer reizadäquaten
Wahrnehmung ein reines Kunstprodukt der Abstraktion ist. Was ich wahr¬
nehme, entspricht keineswegs dem ausgeübten, sinnlichen, psychologischen
Reiz. Vielmehr ist die relative Adäquatheit der Wahrnehmung - daß wir
sehen, was wirklich da ist, nicht mehr und nicht anderes - das Endprodukt
einer gewaltigen Ernüchterung, ein schließlicher Abbau des Phantasieüber-
142 Die philosophischen Grundlagen des zwanzigsten Jahrhunderts

Schusses, der all unser Sehen steuert. Die reine Wahrnehmung ist eine Abstrak¬
tion. Das gleiche gilt, wie insbesondere Hans Lipps gezeigt hat, für die reine
Aussage. Ich darf vielleicht die gerichtliche Aussage als ein besonders sprechen¬
des Phänomen anführen. Da zeigt sich, wie schwer es für den Aussagenden ist,
in dem Protokoll, das seine Zeugenaussage festhält, auch nur einigermaßen die
volle Wahrheit des von ihm Gemeinten zu erkennen. Die aus dem Zusammen¬
hang der Unmittelbarkeit von Frage und Antwort gerissene, durch Weg¬
lassungen, Zusammenfassungen usw. umformulierte Aussage gleicht der Ant¬
wort, die man auf eine Frage geben muß, von der man nicht weiß, warum sie
gestellt wird. Und das nicht zufällig. Es ist ja geradezu das eingestandene
Ideal einer Zeugenaussage und sicherlich ein wesentliches Moment aller Be¬
weisaufnahme: auszusagen, ohne zu wissen, was die eigene Aussage ,bedeutet'.
Die Situation ist ähnlich, wie wenn ein Professor im Examen vorher ausge¬
dachte Fragen an den Kandidaten richtet, auf die, wie man zugeben muß, kein
vernünftiger Mensch antworten kann - ein Thema, das Heinrich von Kleist,
der selbst ein preußisches Referendarexamen hinter sich hatte, in seinem schö¬
nen Aufsatz ,Uber das allmähliche Verfertigen der Gedanken beim Reden'
behandelt. Die Kritik an der Abstraktion der Aussage und der Abstraktion
der reinen Wahrnehmung ist nun durch Heideggers transzendental-ontolo¬
gische Fragestellung radikalisiert worden. Ich erinnere zunächst daran, daß
der Begriff der Tatsache, der dem Begriff der reinen Wahrnehmung und der
reinen Aussage entspricht, von Heidegger als ein ontologisches Vorurteil auf¬
gedeckt worden ist, das auch den Wertbegriff in Mitleidenschaft zog. Heidegger
hat damit die Unterscheidung von Tatsachenurteil und Werturteil als proble¬
matisch erwiesen - als ob es reine Tatsachenfeststellungen überhaupt geben
könnte. Ich möchte die hier erschlossene Dimension als die hermeneutische
charakterisieren.
Da ist das bekannte Problem, das Heidegger unter dem Titel des herme¬
neutischen Zirkels analysiert hat, jene erstaunliche Naivität des subjektiven
Bewußtseins, das, wenn es einen Text zu verstehen meint, sagt: aber das steht
doch da! Heidegger hat gezeigt, daß dieses ,aber das steht doch da' zwar eine
ganz natürliche Reaktion ist - oft genug ist diese Reaktion von höchstem selbst¬
kritischem Werte -, daß es aber in Wahrheit nichts gibt, was einfach da steht,
sofern alles, was gesagt wird und was da im Text steht, unter Antizipationen
steht. Das bedeutet positiv, daß nur, was unter Antizipationen steht, über¬
haupt verstanden werden kann, und nicht, wenn man es wie etwas Unver¬
ständliches einfach anstarrt. Daß aus Antizipationen auch Fehldeutungen ent¬
stehen, daß somit die Vorurteile, die Verstehen ermöglichen, auch Möglich¬
keiten des Mißverstehens einschließen, das dürfte eine der Weisen sein, in
denen sich die Endlichkeit des endlichen Wesens Mensch auswirkt. Es ist eine
notwendige Zirkelbewegung, daß man das zu lesen sucht oder zu verstehen
meint, was da steht, daß es aber doch die eigenen Augen (und die eigenen Ge¬
danken) sind, mit denen man sieht, was da steht.
Die philosophischen Grundlagen des zwanzigsten Jahrhunderts 143

Indessen scheint mir das noch einer Radikalisierung zu bedürfen, die ich in
meinen eigenen Untersuchungen bis zu der folgenden These getrieben habe:
es ist zwar richtig, daß wir das von einem Autor Gemeinte ,in seinem Sinne“
zu versteuern haben. Aber ,in seinem Sinne“ heißt nicht: wie er es selber ge¬
meint hat. Vielmehr bedeutet es, daß das Verstehen auch noch über das sub¬
jektive Meinen des Autors hinausgehen kann und vielleicht sogar notwendig
und immer hinausgeht. Ein Bewußtsein dieser Sachlage hat es in den früheren
Stufen der Hermeneutik, vor der psychologischen Wendung, die wir Historis¬
mus nennen, immer schon gegeben, und wir alle sind uns darüber einig, sowie
wir uns das geeignete Modellbeispiel vor Augen stellen, z. B. das Verstehen
historischer Taten, d. h. geschichtlicher Ereignisse. Niemand wird da anneh¬
men, daß das subjektive Bewußtsein des Handelnden und des an den Ereig¬
nissen Beteiligten die historische Bedeutung seiner Handlungen und Ereignisse
trifft. Es ist für uns selbstverständlich, daß die historische Bedeutung einer
Handlung verstehen voraussetzt, sich nicht an die subjektiven Pläne, Meinun¬
gen, Gesinnungen der Handelnden binden. Das ist mindestens seit Hegel klar:
Geschichte besteht darin, daß sie in dieser Weise über das Sichwissen der ein¬
zelnen hinweg ihre Bahnen zieht. Ebenso gilt das von der Erfahrung der
Kunst. Nur glaube ich, daß dies selbst auf die Interpretation von Texten an¬
gewendet werden muß, deren Mitteilungssinn keiner unbestimmten Ausdeu¬
tung offensteht wie das Kunstwerk. Auch da ist das ,Gemeinte“ nicht ein
Bestandteil der subjektiven Innerlichkeit, wie Husserls Psychologismus-Kritik
bewiesen hat.
Den zweiten Punkt, den ich erörtern möchte, nannte ich die Naivität der
Reflexion. Damit grenzt sich unser Jahrhundert gegen die Kritik des subjek¬
tiven Geistes durch den spekulativen Idealismus bewußt ab, und hierfür hat
die phänomenologische Bewegung das entscheidende Verdienst.
Es handelt sich um folgendes: Zunächst scheint es, als wäre der reflektierende
Geist der schlechterdings freie Geist. Im Auf-sich-selber-Zurückkommen ist er
ganz bei sich. In der Tat hat der deutsche Idealismus etwa in dem Fichteschen
Begriff der Tathandlung oder auch in Hegels Begriff des absoluten Wissens
diesen Vollzug des Bei-sich-selbst-Seins des Geistes als die höchste Weise von
Dasein überhaupt, von Präsenz überhaupt gedacht. Aber wenn der Begriff des
Setzens der phänomenologischen Kritik verfallen ist, wie wir sahen, dann ist
auch der Zentralstellung der Reflexion die Grundlage entzogen. Die Erkennt¬
nis, um die es dabei geht, besagt, daß nicht alle Reflexion eine objektivierende
Funktion ausübt, d. h., daß nicht alle Reflexion das, worauf sie sich richtet,
zum Gegenstand macht. Vielmehr gibt es ein Reflektieren, das sich im Vollzüge
einer ,Intention“ gleichsam zurückbeugt auf ihren Vollzug. Nehmen wir ein
allbekanntes Beispiel: wenn ich einen Ton höre, dann ist der primäre Gegen¬
stand des Hörens selbstverständlich der Ton, aber mein Hören des Tones ist
mir auch bewußt und keineswegs erst als Gegenstand einer nachträglichen
Reflexion. Es ist eine mitgehende Reflexion, die immer das Hören begleitet.
144 Die philosophischen Grundlagen des zwanzigsten Jahrhunderts

Ein Ton ist immer ein gehörter Ton, und mein Hören des Tones ist immer mit
darin. So liest man bei Aristoteles, und Aristoteles hat es schon vollkommen
richtig beschrieben: jede aisthesis ist aisthesis aistheseos. Jede Wahrnehmung
ist Wahrnehmung des Wahrnehmens und des Wahrgenommenen in einem und
enthält keineswegs im modernen Sinne Reflexion. Aristoteles gibt das Phäno¬
men, wie es sich ihm als Einheit zeigt. Erst die Kommentatoren haben syste¬
matisiert und die Wahrnehmung des Wahrnehmens mit dem Begriff der
Kotvi] alottrjotg zusammengebracht, den Aristoteles in anderem Zusammen¬
hänge gebraucht.
Franz Brentano, der Lehrer Husserls, hat seine empirische Psychologie nicht
zuletzt auf dieses von Aristoteles beschriebene Phänomen gegründet. Er hat
betont, daß wir ein nicht vergegenständlichendes Bewußtsein unserer seelischen
Akte besitzen. Ich erinnere mich, welche ungeheure Bedeutung es für meine
Generation hatte, als wir bei Heidegger zum ersten Male eine scholastische
Unterscheidung — wir jungen Leute im neukantianischen Marburg wußten von
der Scholastik schlechterdings nichts - hörten, die in die gleiche Richtung wies,
nämlich die Unterscheidung zwischen actus signatus und actus exercitus. Es ist
ein Unterschied zu sagen: ,ich sehe etwas* oder zu sagen: ,ich sage, daß ich
etwas sehe*. Aber nicht erst die Signierung durch das ,ich sage, daß.. .* ist ein
Bewußtmachen des Aktes. Der sich vollziehende Akt ist immer schon ein Akt,
d. h. aber, er ist immer schon etwas, worin mir mein eigenes Vollziehen
lebendig gegenwärtig ist - die Umformung zur Signierung* stiftet einen neuen
intentionalen Gegenstand.
Ich darf vielleicht von diesen frühen und vergessenen Ausgangspunkten der
phänomenologischen Forschung aus daran erinnern, welche Rolle dies Problem
in der Philosophie unseres Jahrhunderts noch heute spielt. Idi beschränke mich,
um das zu zeigen, auf Jaspers und Heidegger. - Jaspers hat dem Begriff des
zwingenden Wissens, der Weltorientierung, wie er es nennt, die Existenz¬
erhellung gegenübergestellt, die an den Grenzsituationen des Wissens, des
wissenschaftlichen wie alles menschlichen Wissenkönnens, ins Spiel kommt.
Grenzsituationen sind nach Jaspers diejenigen Situationen des mensch¬
lichen Daseins, in denen die Führungsmöglichkeit durch die anonymen Kräfte
der Wissenschaft versagt und wo es deshalb auf einen selber ankommt und
etwas herauskommt am Menschen, was in der rein funktionalisierten An¬
wendung der Wissenschaft auf die Weltbeherrschung verdeckt bleibt. Solcher
Grenzsituationen gibt es viele. Schon Jaspers hat die Situation des Todes aus¬
gezeichnet, aber auch die Situation der Schuld. Wie sich ein Mensch verhält,
wo er schuldig ist, und gar, wo er in seiner Schuld gestellt wird, da kommt
etwas heraus - existit. Seine Weise, sich zu verhalten, ist so, daß er selbst ganz
darin ist. Das ist die Form, in der Jaspers den Kierkegaardschen Begriff der
Existenz systematisch auf genommen hat; Existenz ist Heraustreten dessen,
was eigentlich an einem ist, dort, wo die Führungskräfte des anonymen Wis¬
sens versagen. Das Entscheidende ist hierbei, daß dieses Herauskommen kein
Die philosophischen Grundlagen des zwanzigsten Jahrhunderts 145

dumpfes emotionales Geschehen ist, sondern ein Hellwerden. Jaspers nennt


es Existenzherstellung, d. h. es wird, was verhüllterweise in einem war und
steckte, in die Helle einer existentiellen Verbindlichkeit gehoben, die das auf
sich nimmt, wozu sie sich entscheidet. Das ist keine vergegenständlichende
Reflexion. Situationen - auch Grenzsituationen - verlangen eine Art Wis¬
sen, das zweifellos kein vergegenständlichendes Wissen ist und deshalb nicht
durch die anonymen Wissensmöglichkeiten der Wissenschaft abgenommen wer¬
den kann.
Heidegger hat dieses Motiv dann in seine prinzipielle Besinnung auf den
Sinn von Sein aufgenommen: die Jemeinigkeit des Daseins, das Schuldigsein,
das Vorlaufen zum Tode und dergleichen sind die leitenden Phänomene von
»Sein und Zeit“. Das Bedauerliche bei der Rezeption Heideggers in den ersten
Jahrzehnten seines Wirkens war die Moralisierung dieser Begriffe, wie sie wohl
dem Existenzbegriff von Jaspers entsprach, aber damals auf den Begriff der
Eigentlichkeit in Heideggers „Sein und Zeit“ ausgedehnt wurde. Von der Un¬
eigentlichkeit des nivellierten Gelebtwerdens, von der Öffentlichkeit, vom
,Man“, vom Gerede, von der Neugier usw., von allen Formen des Verfallen¬
seins an die Gesellschaft und ihre nivellierende Kraft scheidet sich die Eigent¬
lichkeit des Daseins, die in den Grenzsituationen, im Vorlaufen zum Tode,
kurz: als menschliche Endlichkeit heraustritt. Man muß zugeben, das alles
hatte etwas von dem Pathos einer Kierkegaard-Nachfolge, von dem unsere
Generation mit der größten Wucht getroffen wurde. Unzweifelhaft aber war
diese Wirkung für die eigentlichen Absichten Heideggers mehr eine Verdeckung
als eine wirkliche Aufnahme seiner Denkintentionen.
Das, worauf es Heidegger ankam, war, das Wesen der Endlichkeit nicht
mehr als die Grenze zu denken, an der unser Unendlichseinwollen zum Schei¬
tern kommt, sondern die Endlichkeit positiv als die eigentliche Grundverfas¬
sung des Daseins zu erkennen. Endlichkeit heißt Zeitlichkeit, und so ist das
,Wesen“ des Daseins seine Geschichtlichkeit: das sind die bekannten Thesen
Heideggers, die seinem Stellen der Seinsfrage dienen sollten. Das »Verstehen“,
das Heidegger als die Grundbewegtheit des Daseins beschrieben hat, ist kein
,Akt“ der Subjektivität, sondern eine Weise des Seins. Von einem Spezialfall,
dem des Verstehens von Überlieferung ausgehend, habe ich selbst aufgewiesen,
daß Verstehen immer Geschehen ist. Es handelt sich also nicht nur darum, daß
es mit einem Verstehens-Vollzuge stets ein mitgehendes Bewußtsein gibt, das
nicht vergegenständlichend ist, sondern darum, daß Verstehen überhaupt nicht
als Bewußtsein von etwas angemessen begriffen ist, da das Ganze des Ver¬
stehensvollzuges selber in das Geschehen eingeht, von ihm gezeitigt wird und
von ihm durchwirkt ist. Die Freiheit der Reflexion, dieses vermeintliche Bei-
sich-selbst-sein, hat im Verstehen gar nicht statt, so sehr ist es jeweils durch die
Geschichtlichkeit unserer Existenz bestimmt.
Endlich das dritte Moment, das unsere philosophische Gegenwart vielleicht
am tiefsten bestimmt: die Einsicht in die Naivität des Begriffes.

10 Gadamer, Schriften I
146 Die philosophischen Grundlagen des zwanzigsten Jahrhunderts

Auch da scheint mir einerseits durch die phänomenologische Entwicklung in


Deutschland, aber interessanterweise nicht nur dort, sondern auch durch eine
angelsächsische, allerdings von Deutschland mit ausgehende Entwicklung die
heutige Problemlage bestimmt. Der Laie hat, wenn er sich fragt, was eigentlich
das Philosophieren kennzeichnet, die Vorstellung, daß Philosophieren Defi¬
nieren heißt und dem Bedürfnis nach Definition der Begriffe Rechnung trage,
in denen alle Menschen denken. Da man das in der Regel nicht geschehen sieht,
hat man sich durch eine Lehre von der impliziten Definition geholfen. Eigent¬
lich ist eine solche ,Lehre“ aber nur ein Verbalismus. Denn eine Definition
implizit nennen, will offenbar sagen, daß man aus dem Zusammenhang von
Sätzen schließlich doch merkt, daß der, der die Sätze gesagt hat, sich bei einem
bestimmten Begriff, den er gebraucht, etwas Eindeutiges gedacht hat. In diesem
Sinne sind Philosophen nicht sehr verschieden von anderen Menschen; auch
diese pflegen sich bei allem etwas Bestimmtes zu denken und Widersprüche zu
vermeiden. Die angerufene Laienmeinung ist in Wahrheit beherrscht durch die
nominalistische Tradition der neueren Jahrhunderte; sie sieht in der sprach¬
lichen Wiedergabe eine Art von Zeichenverwendung. Daß künstliche Zeichen
einer jede Zweideutigkeit ausschließenden Einführung und Einrichtung bedür¬
fen, ist klar. Von da erwächst die Forderung, die insbesondere von der Wiener
Schule her in den angelsächsischen Ländern eine weitverbreitete Forschungs¬
richtung ausgelöst hat, durch die Errichtung eindeutiger Kunstsprachen die
Scheinprobleme der ,Metaphysik“ zu entlarven. Eine der radikalsten und
erfolgreichsten Formulierungen dieser Richtung findet sich in Wittgensteins
,Tractatus logico-philosophicus“. Nun hat aber inzwischen Wittgenstein in
seinem Spätwerk gezeigt, daß das Ideal einer Kunstsprache in sich selber
widerspruchsvoll ist, und zwar nicht nur aus dem so häufig zitierten Grunde,
daß jede Kunstsprache zu ihrer Einführung einer schon im Gebrauch befind¬
lichen anderen Sprache und am Ende wieder einer natürlichen Spradie bedarf.
Für Wittgensteins spätere Einsichten ist vielmehr die Erkenntnis entscheidend,
daß Sprache immer in Ordnung ist, d. h. daß Sprache ihre eigentliche Funk¬
tion im Vollzüge der Verständigung hat, und daß es in Wahrheit nicht Mängel
der Sprache, sondern falsche metaphysische Dogmatisierungen des Denkens,
Hypostasierungen von operativen Worten sind, aus denen Scheinprobleme der
Philosophie erwachsen. Die Sprache ist wie ein Spiel. Wittgenstein redet von
Sprachspielen, um den reinen Funktionssinn der Worte festzuhalten. Die
Sprache ist Sprache dann, wenn sie reiner actus exercitus ist, d. h. wenn sie im
Sichtbarmachen des Gesagten aufgeht und selber gleichsam verschwunden ist.
Daß Sprache eine Weise der Weltauslegung ist, die allem Reflexionsverhal¬
ten vorausliegt, ist aber auch der Punkt, an dem die Entwicklung des phäno¬
menologischen Denkens bei Heidegger und den von Heidegger Angeregten
auf neue Einsichten geführt hat, die insbesondere aus dem Historismus philoso¬
phische Konsequenzen ziehen. Alles Denken ist in die Bahnen der Sprache
gebannt, als Begrenzung wie als Möglichkeit. Das ist ja auch die Erfahrung
Die philosophischen Grundlagen des zwanzigsten Jahrhunderts 147

aller Interpretation, die selber sprachlichen Charakter hat. Die Vieldeutigkeit


etwa, mit der dort, wo wir einen Text nicht verstehen, ein einzelnes Wort uns
anstarrt und seine Möglichkeiten der Deutung anbietet, bedeutet ohne Zweifel
eine Störung im sprachlichen Vollzug der Verständigung. Und wir haben das
sichere Bewußtsein, verstanden zu haben, wenn sich die anfänglich erschei¬
nende Vieldeutigkeit am Ende gar nicht mehr als einlösbar erweist, weil in¬
zwischen eindeutig klar ist, wie der Text zu lesen ist. Alle echte Interpretation
von sprachlichen Texten, nicht nur die grammatische, scheint mir in dieser
Weise zum Verschwinden bestimmt. Sie muß spielen, d. h. sie muß ins Spiel
kommen, um sich selber in ihrem Vollzug aufzuheben. So unvollkommen diese
Charakteristiken sein mögen, soviel dürfte klar geworden sein, daß es so etwas
wie eine Konvergenz zwisdien der Kritik an der angelsächsischen Semantik
durch Wittgenstein und der Kritik an der ahistorischen Deskriptionskunst der
Phänomenologie durch Selbstkritik der Sprache, d. h. aber durch hermeneu¬
tische Bewußtheit gibt. Die Art, wie wir heute den Gebrauch von Begriffen in
ihre Wortgeschichte zurücknehmen, um auf diese Weise ihren eigentlichen,
lebendigen, evozierenden Sprachsinn zu wecken, scheint mir mit dem Wittgen¬
steinsdien Studium der lebendigen Sprachspiele und gewiß mit all denen, die
in der gleichen Richtung tätig sind, zu konvergieren.
Auch darin liegt eine Kritik des subjektiven Bewußtseins in unserem Jahr¬
hundert. Sprache und Begriff sind offenbar so eng ineinander gebunden, daß
die Meinung, man könnte Begriffe ,verwenden', etwa sagen: ,ich nenne das
so und so‘, immer schon der Verbindlichkeit des Philosophierens Abbruch tut.
Das einzelne Bewußtsein hat keine solche Freiheit, wenn es philosophierend
erkennen will. Es ist gebunden an die Sprache, die nicht nur eine Sprache der
Sprechenden ist, sondern auch die des Gesprächs, das die Dinge mit uns führen:
Im philosophischen Thema der Sprache begegnen sich heute Wissenschaft und
Welterfahrung des menschlichen Lebens.
Aus diesen Überlegungen scheint mir zu folgen, daß in der heutigen Philo¬
sophie drei große Partner des Gesprächs über die Jahrhunderte hinweg in un¬
serem Bewußtsein im Vordergrund stehen: das ist einmal die Gegenwart der
Griechen im gegenwärtigen Denken. Sie beruht vor allem darauf, daß dort
Wort und Begriff noch in unmittelbar fließender Kommunikation stehen. Die
Flucht in die logoi, mit der Platon im Phaidon die eigentliche abendländische
Wendung der Metaphysik eröffnet hat, ist zugleich auch das Nahehalten des
Denkens an der sprachlichen Welterfahrung im ganzen. Die Griechen sind
dadurch für uns so vorbildlich, daß sie dem Dogmatismus des Begriffs und
dem ,Systemzwang' widerstanden haben. Dem ist es zu verdanken, daß sie
die Phänomene, die unsere Auseinandersetzung mit der eigenen Tradition
beherrschen, wie die des Selbst und des Selbstbewußtseins und damit auch den
ganzen großen Bereich des ethisch-politischen Seins zu denken vermocht haben,
ohne dabei in die Aporien des modernen Subjektivismus zu verfallen. Der
zweite Partner dieses Gesprächs über die Jahrhunderte scheint mir nach wie

10 *
148 Die philosophischen Grundlagen des zwanzigsten Jahrhunderts

vor Kant zu sein, und zwar deshalb, weil er den Unterschied zwischen Sich-
denken und Erkennen ein für allemal und, wie mir scheint, verbindlich einge¬
prägt hat. Mag auch Erkennen anderes noch umfassen als jene Erkenntnisweise
der mathematischen Naturwissenschaft und ihre Verarbeitung der Erfahrung,
die Kant dabei im Auge hatte: jedenfalls ist Erkenntnis etwas anderes als alles
Sich-denken, für das keine Erfahrung mehr den Boden der Ausweisung dar¬
stellt. Das scheint mir Kant gezeigt zu haben.
Und der dritte ist in meinen Augen Hegel. Trotz jener spekulativ-dialek¬
tischen Überhöhung der kantischen Endlichkeit und ihrer Einschärfung un¬
serer Angewiesenheit auf Erfahrung. Denn der Begriff des Geistes, wie ihn
Hegel aus der christlichen Tradition des Spiritualismus übernommen und
zu neuem Leben erweckt hat, liegt aller Kritik des subjektiven Geistes, wie sie
uns durch die Erfahrung der nachhegelischen Epoche als Aufgabe gestellt ist,
noch immer zugrunde. Dieser Begriff des Geistes, der die Subjektivität des Ego
transzendiert, hat im Phänomen der Sprache, wie es heute mehr und mehr ins
Zentrum der zeitgenössischen Philosophie gerückt ist, seine wahre Entspre¬
chung, und zwar so, daß das Phänomen der Sprache gegenüber jenem Begriff
des Geistes, den Hegel aus der christlichen Tradition schöpfte, den unserer
Endlichkeit angemessenen Vorzug besitzt, unendlich wie der Geist und dennoch
endlich wie jedes Geschehen zu sein.
Es wäre ein Irrtum zu meinen, daß wir im Zeitalter des modernen Szienti-
fismus dieser Lehrer nicht mehr bedürfen. Die Grenze, die sie gegenüber der
totalen Verwissenschaftlichung unserer Welt bezeichnen, ist nichts, was wir erst
aufzurichten hätten - sie ist da als etwas, das der Wissenschaft immer schon
zuvorgekommen ist. Es ist die Skepsis gegen allen Dogmatismus, auch den der
Wissenschaft, was mir die verborgenste, aber zugleich mächtigste Grundlage
unseres Jahrhunderts scheint.
DIE KONTINUITÄT DER GESCHICHTE
UND DER AUGENBLICK DER EXISTENZ

Einen Beitrag zu einem Gespräch zu leisten, dessen erstes Wort man so


wenig kennt wie man das letzte Wort darüber hören wird, bedeutet ein Risiko,
das wir trotzdem immer wieder in Kauf nehmen müssen. So auch hier, wo von
dem Problem der Geschichte unter dem Aspekt zu sprechen ist, den die Philo¬
sophie in den letzten Jahrzehnten zu entfalten gelernt hat.
Schon die Formulierung des Themas zeigt an, daß es sich hier um eine gerade
mit unserem Jahrhundert und seiner Philosophie verknüpfte Fragestellung
handelt. Wenn wir uns daran erinnern, mit welcher Tiefenresonanz und
welcher Plötzlichkeit sich die Kritik an der historisch-liberalen Wissenschaft,
insbesondere an der historischen Theologie des 19. Jahrhunderts, in den be¬
ginnenden zwanziger Jahren dieses Jahrhunderts vernehmen ließ, dann ver¬
steht man, daß das Thema ,Die Kontinuität der Geschichte und der Augen¬
blick der Existenz“ eine Frage an die Legitimität der geschichtlichen Frage¬
stellung selber darstellt und damit eine Frage an ein ganzes Jahrhundert.
Wenn wir uns kurz vor Augen führen, was vordem die philosophische Re¬
flexion auf die Geschichte zu ihrem wesentlichen Inhalte hatte und was ihre
wesentlichen Probleme waren, so möchte ich einmal an die Geschichtsphilo¬
sophie der südwestdeutschen Schule, d. h. den Heidelberger Neukantianismus
erinnern (wenn man die Erkenntnistheorie der geschichtlichen Wissenschaften
eine Geschichtsphilosophie nennen darf) und auf der anderen Seite an die Ge¬
schichtsphilosophie Wilhelm Diltheys (wenn man die Auflösung der Meta¬
physik in Geschichte eine Geschichtsphilosophie nennen darf). Die erkenntnis¬
theoretische Besinnung, welche der Heidelberger Neukantianismus über Kant
hinausgehend auf die Geschichtswissenschaft ausdehnte, stand unter der Frage¬
stellung: Was unterscheidet den Gegenstand der historischen Forschung von
der Gegebenheitsweise dessen, was der Forschungsgegenstand der Naturwis¬
senschaft ist? Was macht eine Tatsache zur historischen Tatsache?
Um auf diese geschichtsmethodologische Fragestellung eine Antwort zu

Vortrag auf den Hochschultagen 1965 der Evangelischen Studentengemeinde


Tübingen. Erschienen unter dem Titel „Geschichte — Element der Zukunft“ —, zu¬
sammen mit Vorträgen von Reinhard Wittram und Jürgen Moltmann. J. C. B. Mohr
(Paul Siebeck), Tübingen 1965, S. 33-49.
150 Die Kontinuität der Geschichte und der Augenblick der Existenz

geben, wurde die Lehre von dem Wertbezug des Gegebenen entwickelt: zu
einer historischen Tatsache wird etwas, was geschehen ist, durch den Bezug, den
es zu einem Wertsystem hat. Einer solchen Legitimierung der geschidrtlichen
Erkenntnis lag der Begriff der Kultureinheit und ihrer systematischen Selbst¬
auffassung in einer Philosophie der Werte zugrunde. Hier kann man die
kritische Frage stellen, inwieweit die wirkliche Geschichte in ihrer Geschicht¬
lichkeit so überhaupt gesichert wird und nicht vielleicht nur das an der Ge¬
schichte, was sich in einen Bereich unwandelbarer Geltung erheben läßt.
Wenn wir auf der anderen Seite den entschiedenen Gegner dieser erkenntnis¬
theoretischen Geschichtsphilosophie des Neukantianismus, Wilhelm Dilthey,
an den Konsequenzen seines eigenen Ansatzes bei einer geisteswissenschaft¬
lichen Psychologie prüfen, so sehen wir, daß er zwar wirklich nach der Wesens¬
struktur des Geschichtsverlaufs fragt und die in die Zeit gestreute Kontinuität
des Geschichtszusammenhangs mit angemessenen Begriffen zu formulieren
versucht. Aber der Ausgangspunkt für dieses Unternehmen bleibt bei Dilthey
immer noch die Psychologie, die innere Selbstvergewisserung des Menschen,
die in seinen eigenen Erlebnissen liegt. Sie sollte auch die Kontinuität des ge¬
schichtlichen Geschehens legitimieren. Nun hat solche Selbstvergewisserung der
Kontinuität eines Geschehens ihre vorzüglichste Ausprägung und ihre sogar
literarisch fest gewordene Ausführung in der Autobiographie. Dort begegnet
wirklich der Versuch, aus der Fülle der Erlebnisse, ihrer Abfolge und den Kon¬
stellationen, unter denen das eigene Leben gestanden hat, im Rückblick so
etwas wie einen Sinnzusammenhang, die Einheit eines lebensgeschichtlichen
Ganzen zu gewinnen. Aber es ist doch unleugbar, daß Autobiographie das, was
wir Geschichte nennen, nur in partikularem Aspekt reflektiert. Was in der
Autobiographie verstanden wird, steht ja immer im intimen Licht der Selbst¬
deutung des Betrachters. Es ist erlebte Vergangenheit und selbsterlebte Ge¬
schichte, die sich im Rückblick zur verständlichen Einheit zusammenschließt.
Auch wenn man das ganz schwierige Problem der Selbsterkenntnis beiseiteläßt,
bleibt dabei ganz unklar, wie sich von dieser psychologischen Erlebniskonti¬
nuität aus jenem ganz anderem, großem Maßstab gehaltene der geschichtlichen
Zusammenhänge eigentlich ergeben soll.
Die Kritik, die an dem geschichtsphilosophischen Denken des 19. Jahr¬
hunderts und insbesondere an den beiden gekennzeichneten Positionen unseres
Jahrhunderts geübt wurde, ist mit dem Stichwort: ,der Augenblick der Exi¬
stenz' mindestens angezeigt. Das eigentliche Urfaktum, um das es hier geht,
ist offenbar nicht die Frage: wie ist ein Zusammenhang der Geschichte für
unser erinnerndes und vergegenwärtigendes Bewußtsein legitim erkennbar
und aussagbar - das eigentliche Problem, das sich hier stellt und als das der
Geschichte erkannt wird, findet in dem Begriff der Geschichtlichkeit seinen
Ausdruck.
Dieses Wort, das ja in einem schlichten Sinn längst üblich war, ist insbeson¬
dere durch den Grafen Yorck von Wartenburg, den philosophischen Freund
Die Kontinuität der Geschichte und der Augenblick der Existenz 151

Wilhelm Diltheys, zum Begriff geprägt worden und durch Dilthey in Umlauf
gekommen, um schließlich in der Philosophie unseres Jahrhunderts durch
Heidegger und Jaspers seine besondere Zuspitzung zu erfahren. Das Neue ist,
daß dieser Begriff der Geschichtlichkeit eine ontologische Aussage enthält.
Schon h orck sprach von dem ,generischen Unterschied von Ontischem und
Historischem . Der Begriff der Geschichtlichkeit will nicht über einen Ge¬
schehenszusammenhang etwas aussagen: daß es wirklich so war, sondern über
die Seinsweise des Menschen, der in der Geschichte steht und in seinem Sein
selber von Grund auf nur durch den Begriff der Geschichtlichkeit verstanden
werden kann.
Auch der Begriff des Augenblicks gehört in diesen Zusammenhang. Er meint
nicht einen überhaupt geschichtlich bedeutenden, entscheidenden Zeitpunkt,
sondern den Augenblick, in dem diese Grundverfassung der Geschichtlichkeit
des menschlichen Daseins erfahren wird.
In der Theologie hat der Begriff der Geschichtlichkeit vor allem dank
Rudolf Bultmann Eingang gefunden. In seiner ungeheuer gelehrten und kon¬
sequent durchgeführten exegetischen Arbeit stellten die Einsicht in die Ge¬
schichtlichkeit des menschlichen Daseins und der Augenblick der Entscheidung
geradezu die Leitbegriffe dar. So wurde etwa am Johannesevangelium die
Frage der erwarteten Endzeit, wie sie in der mythischen Verklärung der Ab¬
schiedsreden leuchtet, exegetisch reduziert auf den eschatologischen Augenblick,
der jeden Augenblick sein kann und der als der Augenblick der Glaubens¬
entscheidung Annahme oder Ablehnung der christlichen Botschaft meint. Es
ist also ein wirklich aktuelles Thema, das mit diesem Begriff zur Diskussion
steht und das seinen veränderten Akzent darin hat, daß uns im Rückschlag
zu jener radikalen Zuspitzung der Geschichtlichkeit auf den ,Augenblick' die
Kontinuität der Geschichte erneut zum Problem geworden ist.
Die Kontinuität der Geschichte weist zurück auf das Rätsel der verfließen¬
den Zeit. Daß die Zeit kein Stehen kennt, ist ja das alte Problem der
aristotelischen und der augustinischen Zeitanalyse. Insbesondere die letztere
führt uns die ontologische Verlegenheit vor, die das griechische, das antike
Denken überfällt, wenn es aussagen soll, was die Zeit ist. Was ist das, was
in keinem Augenblick wahrhaft als das, was da ist, mit sich selber identifiziert
werden kann? Denn selbst das Jetzt ist in dem Augenblick, in dem ich es als
Jetzt identifiziere, schon nicht mehr jetzt. Das Abrollen der Jetzte in eine un¬
endliche Vergangenheit, das Heranrollen aus einer unendlichen Zukunft, läßt
die Frage nach dem, was jetzt ist und was dieser Fluß der vergehenden, der
kommenden und vergehenden Zeit eigentlich ist, ratlos.
Die ontologische Problematik der Zeit besteht also darin, daß ihr eigenes
Sein mit den Mitteln der Seinsphilosophie, die das Altertum entwickelt hatte,
nicht sagbar und nicht begreifbar war. Mir scheint, daß es noch immer das
gleiche Problem ist, das sich in dem Begriff der Kontinuität der Geschichte
spiegelt. Damit soll nicht gesagt sein, daß die Rede von der Kontinuität der
152 Die Kontinuität der Geschichte und der Augenblick der Existenz

Geschichte unmittelbar aus jener beständigen Erfahrung der immer wieder


abrollenden Jetzte ihre Problematik empfängt. Vielleicht liegt der Erfahrung
von Kontinuität noch etwas ganz anderes zugrunde als die Erfahrung des
unaufhörlichen Verfließens der Zeit. Denn die im Fragen nach dem Sein der
Geschichte gefragte Kontinuität der Geschichte gipfelt letzten Endes darin,
daß es aller Vergänglichkeit zum Trotz überhaupt kein Vergehen gibt, das
nicht immer zugleich ein Werden ist. Darin scheint die Wahrheit des histori¬
schen Bewußtseins zu ihrer Perfektion gekommen, daß es im Vergehen immer
auch Werden, im Werden immer auch Vergehen gewahrt und immer wieder
aus dem endlosen Vorüberfluten von Veränderungen die Kontinuität eines
geschichtlichen Zusammenhangs aufbaut.
Die Folge einer solchen Grundanschauung ist nun, daß alles, was in diesem
Fluß der Geschichte als Vergehen oder was als Werden erfahren wird, von
den Setzungen abhängt, durch die man dieses sozusagen abfließende Band von
Ereignissen artikuliert und differenziert. Es ist ein extremer Nominalismus
der Grundhaltung, der alle Grenzsetzungen innerhalb des Geschehens, alle
bedeutungsmäßigen Auszeichnungen des Geschehens, als Untergang oder als
Aufgang, als Werden oder als Vergehen, in Wahrheit relativiert. Einteilungen
der Geschichte sind Einteilungen unseres Bedeutungsentscheidungen fällenden
Bewußtseins. Weil sie letzten Endes willkürlich sind, haben sie keine echte
geschichtliche Wirklichkeit. Von dieser in den Voraussetzungen der griechi¬
schen Ontologie gründenden Anschauung von der Geschichte gilt es kritisch
zurückzutreten und ein Grundphänomen vor Augen zu stellen, das den fal¬
schen nominalistischen Ansatz dieser Betrachtungsweise offenlegt.
Es gibt so etwas wie Diskontinuität im Geschehen. Wir kennen Diskonti¬
nuität im Geschehen in der Weise der Epochenerfahrung. Daß es so etwas
wirklich gibt, d. h. daß das nicht nur unserem nachträglich ordnenden, klassi¬
fizierenden und auf Beherrschung gerichteten Erkenntnisinteresse entspringt,
sondern eine echte Wirklichkeit der Geschichte selber meint, läßt sich mit
phänomenologischen Mitteln erweisen. Es gibt so etwas wie ursprüngliche
Erfahrung eines Epocheneinschnittes. Die Epochen der Geschichte, die der
Historiker unterscheidet, wurzeln in echten Epochenerfahrungen und müssen
sich am Ende in solchen ausweisen. Zwar ist Epoche ursprünglich nichts weiter
als ein astronomischer Begriff und meint eine Sternkonstellation, von der aus
man rechnete. Im geschichtlichen Sinne heißt Epoche entsprechend ein Ein¬
schnitt, von dem aus man eine neue Epoche rechnet. Aber heißt das, daß
das immer nur Konvention und Willkür ist? Die geschichtliche Konstellation,
die einen Epocheneinschnitt bezeichnet, ist doch nicht ein äußeres Maß, an dem
man Zeit abliest, sondern bestimmt den Zeitinhalt selbst, d. h. das, was wir
Geschichte nennen. Mir ist immer besonders anschaulich gewesen - vielleicht
auch wegen seiner altertümlichen Ausdrucksweise -, was Kant einmal von der
französischen Revolution gesagt hat: „Ein solches Ereignis vergißt sich nicht.“
Daß ein Ereignis sich nicht vergißt - natürlich will dieser Ausdruck nur sagen:
Die Kontinuität der Geschichte und der Augenblick der Existenz 153

daß keiner es vergessen kann —, liegt offenbar an der Bedeutung dieses Ereig¬
nisses. Es ist so gewesen, daß es keiner vergessen kann, und deswegen kann
die Sprache das Ereignis wie ein handelndes Wesen betrachten und sagen: das
Ereignis vergißt sich nicht. Hier weist die Spradie auf etwas hin. Da ist etwas,
das sich hält und behält im Bewußtsein der Menschen, in dem soviel vergessen
wird: darin liegt die Erfahrung eines Untersdrieds und einer Diskontinuität,
eines Anhaltens inmitten der Unaufhörlidrkeit der Veränderungen.
Wenn einer heute sagt: wir sind in die Epoche der Atomenergie, atomic age,
eingetreten, so ist die Meinung — und schließlich haben wir Grund, sie alle
ernst zu nehmen -, daß damit etwas derartig Neues geschehen ist, daß es nicht
so schnell durch wieder etwas Neues entwertet werden wird und daß wir im
Angesicht dieses Neuen umgekehrt das Alte auf eine qualitativ geschiedene
und eindeutige Weise alt nennen müssen. So hat sich für uns der Krieg als etwas
qualitativ und fundamental anderes bestimmt, als er vor diesem epoche¬
machenden Ereignis der Entdeckung der Atomkraft war. Es ist etwas ge¬
schehen, auf Grund dessen das Alte alt ist. Zeit selbst ist gleichsam alt gewor¬
den, wenn etwas Derartiges geschieht, und zwar nicht nur in dem Sinn, daß die
Vergangenheit nun wie ein Abgesunkenes und nicht mehr Aktuelles und Ge¬
genwärtiges da wäre, sozusagen ein gleichmäßig überschaubarer Zeitraum des
Alten, sondern gerade auch die eigene Zukunft steht unter der epochemachen¬
den Bedeutung eines epochemachenden Ereignisses. Daß es das wirkliche Ge¬
schehen selbst ist, das sich so darstellt, dafür, meine ich, gibt es eine reiche
phänomenal aufweisbare Erfahrung.
Selbstverständlich können wir niemals mit Sicherheit wissen, ob wir einem
Ereignis mit Recht eine wirklich epochemachende Bedeutung zusprechen. Es ge¬
nügt, daß aller Unsicherheit zum Trotz, die in jeder Zukunftsaussage liegt, mit
diesem Ereignis selber und seinem unmittelbaren Sichauswirken die Überzeu¬
gung gegeben ist: es war epochemachend. Analoge Erfahrungen machen wir
auch außerhalb der großen Schicksalserfahrungen der Gesdiichte, und ich
möchte drei Formen solcher Epochenerfahrungen entfalten.
Das eine ist die Alterserfahrung. Es ist eine Erfahrung, die wie ich meine,
als Diskontinuität unmittelbar einem jeden begegnet. Zwar haben wir alle
unser Geburtsdatum und leben nach derselben Zeitrechnung, nach der wir
genau auf Tag und Stunde angeben können, wie alt wir sind, und doch ist das
Reifen, etwa das Erwachsenwerden eines Kindes, kein Vorgang, den man mit
dem Mittel des Messens der verfließenden Zeit irgendwie verfolgen könnte.
Denn plötzlich ist das Kind kein Kind mehr, plötzlich ist all das unwieder¬
holbar vorbei und nicht mehr da, was ehedem das Ganze dieses vertrauten
Wesens ausmachte. Oder ein anderes Beispiel, das uns Älteren nahe liegt: daß
man, wenn man jemanden wiedersieht, das Gefühl hat: ach, der ist aber alt
geworden. Diese Erfahrung meint auch nicht, daß er im Kontinuum der ver¬
fließenden Zeit nun einen bestimmten Punkt erreicht hat, sondern für sich
selbst und für die, die mit ihm in Berührung waren, ist er anders geworden.
154 Die Kontinuität der Geschichte und der Augenblick der Existenz

Das Frühere, die Jugend, die Spannkraft jüngerer Jahre, ist vorbei, mag auch
vielleicht etwas sehr Schönes, vielleicht etwas sehr Reiches daraus geworden
sein, was im Drang der drangvolleren Jahre so nicht in Erscheinung getreten
war.
Oder nehmen wir ein anderes Beispiel, das uns durch die älteren Zeitrech¬
nungen besonders vertraut ist. Der Übergang von einer Generation zur an¬
deren, etwa der Tod eines Herrschers und der Herrschaftsantritt seines Nach¬
folgers, sei es in gebundenen Dynastien oder auch in revolutionären Formen,
bedeutet einen Epocheneinschnitt. Daß von einem solchen Ereignis aus datiert
wird, geschieht nicht deshalb, weil es besonders bequem und für alle sichtbar
ist wie ein Sternenstand, sondern weil es für das Leben der Menschen eines
Volkes in der Tat etwas derart gemeinsam Bedeutendes ist, daß alles von nun
an anders ist, und das, was vorher war, nicht mehr ist. Die Epochenerfahrung
erfährt also eine innere Diskontinuität des Geschehens selber, die nicht erst
nachträglich durch historiographische Klassifizierung registriert wird und legi¬
timationsbedürftig wäre. Ja mehr noch, ich würde sagen, gerade so erfährt man
die Wirklichkeit der Geschichte. Denn was da erfahren wird, ist nicht mehr
nur ein in völlige Vergegenwärtigung zu hebendes und anzueignendes Ge¬
wesenes, sondern etwas, was dadurch, daß es geschehen ist, da ist und nie un¬
geschehen gemacht werden kann.
Das dritte Beispiel, das ich im Auge habe, ist die ,absolute Epoche' der
Zeitenwende, jene Epochenerfahrung, die durch Christi Geburt in das antike
Geschichtsbewußtsein getreten ist. Wenn ich von dieser Erfahrung etwas sage,
so deswegen, weil sie nicht nur aus Gründen religiöser Wahrheit, sondern aus
begriffsgeschichtlichen Gründen eine absolute Epochenerfahrung heißen muß.
Denn mit dieser Erfahrung des neuen Bundes und mit der christlichen Heils¬
botschaft ist die Geschichte als Geschichte in einem neuen Sinn entdeckt worden.
Daß Geschichte eine menschliche Schicksalserfahrung ist, als das Auf und Ab
von Glück und Unglück, als das Sich-fügen und Sich-sperren der Umstände für
ein glückliches und gedeihliches Tun oder für ein schmerzvolles Scheitern - das
alles ist selbstverständlich eine ursprüngliche Erfahrung des Menschen. Nur
darum kann es gehen, welche Bedeutungsaspekte für die Deutung dieser Er¬
fahrungen möglich sind und welchen neuen Deutungsaspekt die absolute
Epochenerfahrung des Christentums da gebracht haben könnte.
Es liegt nahe, dies Neue mit der griechischen Geschichtserfahrung zu ver¬
gleichen. Wenn wir uns die Erfahrung der Geschichte in der Art, wie sie die
Griechen gedeutet haben, vor Augen stellen und dabei das hervorheben, was
uns die Abhebung des christlichen Geschichtsdenkens ermöglicht, dann ist bei
den Griechen Geschichte letzten Endes als Abweichung von der Ordnung
gedacht.
Das was eigentlich ist, ist die perihodos, die ,Periode', der sich gleich¬
bleibende Umschwung des Himmels. Das was eigentlich ist, sind die bleiben¬
den Wahrheiten menschlichen Zusammenlebens, die Sittenordnungen, die
Die Kontinuität der Geschichte und der Augenblick der Existenz 155

Staatsordnungen, die Völkerordnungen und dergleichen mehr. Kein Den¬


kender kann das Sein des menschlichen Daseins anders sehen als im Blick
auf die Konstanten des menschlichen Seins. Ob es die Tafel der Tugend¬
begriffe der antiken Ethik ist, oder ob es die Ideale eines geordneten
Staates, einer geordneten Polis sind, einer Ordnung, wie sie am Ende der
Philosoph in ihrer höchsten Perfektion vor Augen stellen und dem mensch¬
lichen Handeln zum Vorbild aufrichten soll — Geschichte ist Abweichung von
solchen bleibenden Ordnungen. Sie ist das unaufhebbare Element mensch¬
licher Unordnung in einem geordneten Ganzen.
Demgegenüber ist von dem neuen Geschichtsbewußtsein zu sagen - wobei
ich dahingestellt sein lasse, wie weit es ein jüdisches Geschichtsbewußtsein gab,
das dem vorausgeht, und das in gewisser Weise durch die christliche Geschichts¬
erfahrung nur modifiziert und ins Universelle gewendet wird —, daß zwar auch
nach christlicher Überzeugung eine Ordnung in der Geschichte nicht erkennbar
ist, aber es gibt sie, als eine providentielle Ordnung, als einen Heilsplan. In
dem ständigen Hin und Her und Auf und Ab des Geschehens mag der Sinn des
Ganzen für unsere endliche und begrenzte Erkenntnismöglichkeit vielleicht
unkenntlich sein, weil wir die Absichten und das Ziel des Ganzen nicht sehen.
Gleidiwohl ist mit dem Heilsglauben der christlichen Verkündigung unauf¬
hebbar gesetzt, daß das ungeordnet Scheinende in einem höheren Aspekt eine
Ordnung besitzt, und daß insofern die Geschichte eine vielleicht nur zu
ahnende, jedenfalls aber eine in der Providenz Gottes unbestreitbar wirkliche
Heilsordnung ist.
Es ist sehr eindrucksvoll gezeigt worden, etwa durch Karl Löwiths Buch
,Weltgeschichte und Heilsgeschehen', wie dieser christliche Aspekt der Ge¬
schichte eine Form der Geschichtsphilosophie heraufgeführt hat, die den Heils¬
plan zu wissen beansprucht, und daß in letzter Zuspitzung daraus der An¬
spruch erwuchs, das Geschehen der Geschichte so zu wissen, seine Ordnung so
zu erkennen, wie das die Naturwissenschaft dem Geschehen der Natur gegen¬
über tut, und da von solchem Wissen aus das Planen und das Machen möglich
wird, ist es die Gestalt der politischen und historischen Utopie, die als das letzte
verweltlichte Ende der christlichen Geschichtsphilosophie erscheint.
Diese Form der utopischen Geschichtserwartung, die am Ende als das ver¬
weltlichte Resultat der christlichen Geschichtsphilosophie hervorgetreten ist,
steht nicht nur mit der christlichen Grunderfahrung von der Uneinsehbarkeit
des göttlichen Ratschlusses in einem hoffnungslosen Konflikt, sie hat - wie ich
meine - ihren immanenten Widerspruch an der Endlichkeit des menschlichen
Daseins überhaupt, dessen planende Vorausschau dem Anspruch, aus der be¬
griffenen Geschichte die notwendig sich ergebende Zukunft abzuleiten, nicht
gewachsen ist.
Findet solche Geschichtsphilosophie überhaupt den Zugang zur Wirklichkeit
der Geschichte? Hier scheint mir die Epochenerfahrung als solche das Gegenteil
zu bezeugen, nämlich daß die Wirklichkeit der Geschichte nicht in der wissen-
156 Die Kontinuität der Geschichte und der Augenblick der Existenz

den Vergegenwärtigung des Geschehenen und der wissenden Beherrschung des


Geschehens, sondern in der Erfahrung des Geschickes für uns gegeben ist. Die
Erfahrung, die wir machen, daß etwas anders geworden ist, daß alles Alte alt
und etwas Neues da ist, ist die Erfahrung eines Überganges, der nicht etwa
Kontinuität garantiert, sondern im Gegenteil Diskontinuität aufweist und die
Begegnung mit der Wirklichkeit der Geschichte darstellt.
Immer wieder habe ich mich in einen kleinen Text des Dichters Hölderlin
vertieft, der mit den Worten beginnt: „Das untergehende Vaterland“. Es ist
eine theoretische Studie zu dem Schauspiel über den Tod des Empedokles, in
dem Hölderlin in all den wechselnden Fassungen und Motivierungen am Ende
doch stets den Untergang des Helden als ein Opfer, das er der Zeit bringt, und
damit als die Gründungstat einer Zukunft versteht. In diesem Traktat, der so
verzwickt geschrieben ist, wie man nur in Schwaben schreiben darf, wird ent¬
wickelt, daß in der Tat ein jeder Augenblick ein Augenblick des Übergangs,
und das heißt ein Übergehen und sich Absetzen von zwei Wirklichkeiten
gegeneinander ist, einer untergehenden, sich auflösenden Wirklichkeit und
einer kommenden und werdenden Wirklichkeit. Hölderlin bezeichnet diese
von mir an der Differenz des Neuen und Alten ausgewiesene Epochenerfah¬
rung ausdrücklich durch den Gegensatz der ,idealischen‘ Auflösung und des
,realen' Werdens des Neuen. Dabei leitet ihn die Anschauung von dem Ganzen
als der Einheit des Lebendigen. Das macht ja das Leben aus, daß sich die Ein¬
heit des Organismus im beständigen Wechsel der Stoffe erhält und daß in
jeder Auflösung zugleich auch wieder Neues entsteht. Im Wechsellauf der
menschlichen Geschichte nimmt das die Form an, daß mit der Erfahrung des
Neuen das sich Auflösende überhaupt erst in seiner eigenen Einheit erfahren
wird. Was Hölderlin uns allen hier zu sagen hat, ist dies, daß das Alte,
d. h. eine Weise des Sich-Verhaltens zum Alten, zur eigenen Wirklichkeit des
werdenden Neuen gehört. Daß das für Hölderlin vor allem in der großen
Form der Tragödie geschieht, in jener tragischen Affirmation, die zu dem
Untergang ja sagt und eben durch die tragische Versöhnung Leben neu wer¬
den läßt, darf als nicht unmittelbar in den Gedanken gehörend, den ich hier
zu entwickeln suche, an den Rand rücken. Auch wollen wir ganz absehen von
dem tragischen Wort und damit von der Form, in der dichterisch ein solches
idealisches Werden des Alten sich gegenüber dem realen Neuen absetzt. Es
genügt, daß wir auf unsere eigene geschichtliche Erfahrung als solche sehen.
Auch in ihr ist enthalten, daß Wissen und Sich-Bewußt-Machen nicht ein Ver¬
gegenwärtigen von etwas Abgeschlossenem als solchem ist, sondern als Ver¬
gegenwärtigen nur vom Neuen her und auf das Neue hin seine Möglichkeit
und seinen Vollzug gewinnt. Das aber heißt: alle solche Vergegenwärtigung
und alles solche Wissen ist selbst ein Geschehen, ist selber Geschichte. Nicht erst
durch das Hinzukommen eines sich wiegenden Dichtergeistes über einer ver¬
gehenden und sich auflösenden geschichtlichen Welt baut sich die Idealität
geschichtlicher Bedeutung auf, sondern diese Welt ist so, daß sie selber sich
Die Kontinuität der Geschichte und der Augenblick der Existenz 157

nicht vergißt, daß sie ihre eigene Idealität eben damit hat und gewinnt, daß
sich neue Gestalten des Lebens herausarbeiten aus der schöpferischen Unend¬
lichkeit des Möglichen. Die tragische Affirmation, das Idealisch-Sehen der
Vergangenheit, ist zugleich Erkennen einer seienden und bleibenden Wahrheit.
Damit rühre ich an einen Aspekt des Ganzen, der mir aus meinen eigenen
Arbeiten besonders wesentlich geworden ist. Was erhebt den tragischen Helden
zu einer solchen Schicksalsfigur, daß in seinem Untergang das Leben sich er¬
neuert? Was ist die Katharsis, diese neue Furchtlosigkeit, mit der der Zu¬
schauer die tragische Katastrophe aufnimmt? Was ist es eigentlich, das in
dieser Erfahrung Wahrheit ausmacht?
Was wir dabei Wahrheit nennen, ist, daß es erinnerte Wirklichkeit ist. Nicht
alles, was geschieht, halten wir ja erinnernd als wahr, als bedeutsam fest. Nicht
nur der tragische Dichter, auch die unermüdliche Idealisierungskraft unseres
eigenen Gemüts vollzieht ständig Erhebung ins Idealische, Erhebung des Ge¬
wesenen und Vergehenden in ein Bleibendes und Wahres. Als die tiefste Er¬
fahrung dessen, was ich hier beschreibe, ist mir immer erschienen, wenn wir
von dem Tode eines uns bekannten Menschen erfahren: wie sich da plötzlich
die Seinsweise dieses Menschen verändert, wie er bleibend geworden ist, reiner,
nicht notwendig besser in einem moralischen oder liebevollen Sinne, aber in
seinen bleibenden Umriß geschlossen und sichtbar geworden - offenbar allein
dadurch, daß wir nichts mehr von ihm erwarten können, nichts mehr von ihm
zu erfahren haben und nichts Liebes mehr ihm tun dürfen. Die Erfahrung, die
ich an diesem extremen Beispiel beschreibe, scheint mit eine Art Erkenntnis zu
sein. Was da herauskommt, ist Wahrheit. Es ist nicht die übliche oder soge¬
nannte Beschönigung, von der hier die Rede ist, sondern es ist dieses Sich-
Erheben über das beständig Variierende und alle festen Grenzsetzungen, alle
festen Konturen Verflößende des geschichtlichen Zeitenstromes. Daß hier
plötzlich etwas steht und stehen bleibt, das scheint einer Wahrheit zu Worte
zu verhelfen.
Von dieser Seite her ist nun nicht nur die eigentliche Erfahrung der Diskonti¬
nuität, sondern ebenso die der Kontinuität der Geschichte zu machen. Was ich
eben beschrieb, läßt sich in dem Kierkegaardschen Begriff des Augenblickes
wiederfinden, in jenem erfüllten Blick des Auges, der nicht mehr eine bloße
Marke im gleichmäßigen Verfließen der Veränderung meint, sondern der zur
Wahl nötigt und einmalig ist dadurch, daß er jetzt ist und nie wiederkommt.
Von diesem Punkte her wird die Kontinuität der Geschichte nicht mehr als
jenes vergegenwärtigte Kontinuum des ablaufenden Zeitgeschehens gedacht,
sondern es wird die Frage an die Erfahrung der Diskontinuität gestellt, wie
sie Kontinuität und in welchem Sinne sie Kontinuität enthält.
Ich habe in meinen eigenen Versuchen etwa so formuliert: Wenn uns etwas
in der Überlieferung begegnet, so daß wir es verstehen, ist das selber immer
Geschehen. Auch dann geschieht einem etwas, wenn man aus der Überlieferung
ein Wort sozusagen annimmt, ein Wort sich sagen läßt. Das ist gewiß nicht ein
158 Die Kontinuität der Geschichte und der Augenblick der Existenz

Verstehen der Geschichte als eines Verlaufs, sondern ein Verstehen dessen, was
uns in der Geschichte als uns ansprechend und angehend gegeben ist.
Ich habe dafür den vielleicht etwas zu vieldeutigen Ausdruck gewählt, daß
all unser geschichtliches Verstehen durch ein wirkungsgeschichtliches Bewußt¬
sein bestimmt ist.
Was ich damit sagen will, ist zunächst, daß wir uns nicht aus dem Geschehen
selber herausheben und sozusagen ihm gegenübertreten mit der Folge, daß
etwa die Vergangenheit uns so zum Objekt würde. Wenn wir so denken, kom¬
men wir viel zu spät, um die eigentliche Erfahrung der Geschichte überhaupt
noch in den Blick zu bekommen. Wir sind immer schon mitten in der Geschichte
darin. Wir sind selber nicht nur ein Glied dieser fortrollenden Kette, um mit
Herder zu sprechen, sondern wir sind in jedem Augenblick in der Möglich¬
keit, uns mit diesem aus der Vergangenheit zu uns Kommenden und Über¬
lieferten zu verstehen. Ich nenne das ,wirkungsgeschichtliches Bewußtsein',
weil ich damit einerseits sagen will, daß unser Bewußtsein wirkungsgeschicht¬
lich bestimmt ist, d. h. durch ein wirkliches Geschehen bestimmt ist, das unser
Bewußtsein nicht frei sein läßt im Sinne eines Gegenübertretens gegenüber der
Vergangenheit. Und ich meine andererseits auch, daß es gilt, ein Bewußtsein
dieses Bewirktseins immer wieder in uns zu erzeugen - so wie ja alle Vergan¬
genheit, die uns zur Erfahrung kommt, uns nötigt, mit ihr fertig zu werden,
in gewisser Weise ihre Wahrheit auf uns zu übernehmen.
Ich habe mich dafür vor allem auf die Sprachlichkeit alles Verstehens be¬
rufen. Ich meine damit ganz schlichte Dinge und gar nichts Geheimnisvolles.
Es geht einfach darum, daß unser historisdies Bewußtsein, das mit dem Wissen
um das Anderssein, die Fremdheit fremder historischer Welten getränkt ist,
das seine eigenen Begriffe und die Begriffe jener fremden Zeiten und Welten
mühsam, nur mit einer ungeheuren Anstrengung des denkenden historischen
Erkennens, auseinanderzuhalten strebt, doch am Ende beide Begrifflichkeiten
immer miteinander vermittelt. Ein Beispiel: Die fremdeste Rechtsform noch,
die uns aus ältesten Kulturen überliefert ist, wird als eine Rechtsform er¬
faßt, die im Gesamtraum des rechtlich Möglichen Verständnis findet. Es ist
nicht nur eine Bekundung unseres historischen Bewußtseins, wenn man expli¬
zieren kann, wie man etwa merkwürdige babylonische Urkunden (oder worum
es sich handeln mag) als Rechtsurkunden versteht und so, daß man sich darüber
verständigen kann - nidtt nur dieser historische Abstand wird durch die
Sprachlichkeit überbrückt, sondern vor aller spezifisch historischen Bewußtheit
ist solche Vermittlung am Werk. Das macht gerade die zentrale Stellung des
Phänomens der Sprachlichkeit aus, daß es nicht nur das Verfahren der histo¬
rischen Interpretation beherrscht, sondern ebenso die Form ist, in der von jeher
Vergangenheit, Vergangenes tradiert wurde. Wir sind gewohnt, es mit einem
gewissen historischen Hochmut anzusehen, wie die Schriftsteller des Alter¬
tums oder des Mittelalters in ganz naiver typologischer oder moralistischer
Weise in den Zeugnissen der Vergangenheit unmittelbare Bestätigungen dessen,
Die Kontinuität der Geschichte und der Augenblick der Existenz 159

was sie selber für wahr halten, in Anspruch nahmen. Es fehlt da, wie wir sagen,
an historischem Sinn. Aber die Weise, wie sich ein solches unmittelbar morali¬
sierendes oder sonstwie artikulierendes Verstehen oder Aneignen vergangener
Überlieferung vollzieht, ist ebenso ein Sprachgeschehen, wie jeglicher histo¬
rische Deutungsvorgang in der modernen Wissenschaft. Nur, daß wir es da am
deutlichsten sehen, sofern Worte, die unverändert übernommen werden, einen
plötzlich ganz veränderten Sinn haben. Jeder naiv aneignende Umgang mit
dem Überlieferten vollzieht eine Applikation an den Augenblick, die wir in
höchstem Maße unwissenschaftlich und damit falsdi finden mögen und die
doch mitunter zu jenen produktiven Mißverständnissen gehört, aus denen der
Uberlieferungszusammenhang der Kulturen lebt. Etwas von solchem Zusam¬
menschluß mit uns selbst bleibt auch in aller historischen Erkenntnis lebendig.
Daß ich Sprache als die Weise der Vermittlung ansehe, in der Kontinuität
der Geschichte über alle Abstände und Diskontinuitäten zustandekommt,
scheint mir durch die angedeuteten Phänomene wohl begründet. Darin liegt
aber als die eigentliche Wahrheit: Sprache ist immer nur im Gespräch. Sprache
vollzieht sich selbst und hat ihre eigentliche Erfüllung nur in dem Hin und
Her des Sprechens, in dem ein Wort das andere gibt und in dem sich die
Sprache, die wir miteinander führen, die Sprache, die wir zueinander finden,
auslebt. Jeder Begriff von Sprache, der sie ablöst von der unmittelbaren Situa¬
tion derer, die sich im Reden und Antworten verstehen, verkürzt sie um eine
wesentliche Dimension. Die Unmittelbarkeit des Sprachvollzugs enthält eine
Antwort auf die Frage, wie sich die Kontinuität der Geschichte all den Schei¬
dungen und Entscheidungen zum Trotz, die für jeden von uns in jedem Augen¬
blick fallen, dennoch wagt und ermöglicht. Denn auch das ist Gespräch: die
Weise, wie vergangene Texte, die Weise, wie vergangene Kunde, die Weise, wie
Formungen des bildnerischen Könnens der Menschheit uns erreichen. Darin ist
nichts von unbeteiligtem Gegenüber, das für den Forscher die Fülle seiner Ob¬
jekte ist. Solche Erfahrung steht immer schon in einem Kommunikationsge¬
schehen, das die Grundstruktur des Gespräches hat. Dazu gehört, daß nicht
einer immer dasselbe sagt und der andere auch immer das seine, sondern daß
einer auf den anderen hört und, weil er auf ihn gehört hat, anders antwortet,
als wenn der andere nicht gefragt oder gesprochen hätte. Genau diese Struktur,
daß eines anders Antwort gibt, weil es anders gefragt wird, und daß es fragt,
weil es auf eine Antwort eine Frage hat, scheint mir auch für die Kommuni¬
kation mit der geschichtlichen Überlieferung zu gelten. Nicht nur das Kunst¬
werk - jede menschliche Kunde, die wir vernehmen, redet zu uns.
Aus dem Gedankengang, den ich entwickelt habe, ergibt sich, daß die Anti¬
these von Kontinuität der Geschichte und Augenblick der Existenz, wie sie im
Thema zunächst anklingt, eine falsche Zuspitzung ist. Ich zeigte, daß gerade in
der Auszeichnung des Augenblicks, Diskontinuität im Fortgang des Geschehens
zu sein, die Möglichkeit begründet liegt, geschichtliche Kontinuität zu wahren
und zu erfahren. Kontinuität ist nicht die beruhigte Gewißheit, die dem Ex-
160 Die Kontinuität der Geschichte und der Augenblick der Existenz

trem des perfekten Historismus einwohnt, daß überall, wo etwas untergeht,


das Geschehen ebenso als ein Neuanfang artikuliert werden kann, weil Wer¬
den und Vergehen die eigentliche Wirklichkeit jedes Augenblicks sind und als
Übergang die Kontinuität des Geschehens verbürgen. Das ist durchaus nicht
eine fraglose Gewißheit, sondern im Gegenteil eine jedem menschlichen Er¬
fahrungsbewußtsein gestellte Aufgabe. Sie erfüllt sich in Überlieferung und
Tradition. Aber darin ist nichts von der beruhigenden Gewißheit, die all das
hat, was sich von selbst vollzieht. Überlieferung und Tradition haben nicht die
Unschuld des organischen Lebens. Sie können auch mit revolutionärer Leiden¬
schaft bekämpft werden, wo sie als unlebendig und starr empfunden werden.
Ihren wahren Sinn bewähren Tradition und Überlieferung nicht im beharr¬
lichen Lesthalten am Hergebrachten, sondern darin, daß sie einen erfahrenen
und beständigen Partner in dem Gespräch darstellen, das wir sind. Indem sie
uns antworten und soweit sie damit neue Prägen aufgeben, beweisen sie ihre
eigene Wirklichkeit und ihre fortwirkende Lebendigkeit.
Was ein vergegenwärtigendes Bewußtsein als das Althergebrachte und Be¬
währte weiß und dem Neuerungswillen entgegensetzt, ist gar nicht lebendige
Tradition. Ihre eigentliche Wahrheit liegt tiefer, in einem Bereich, der gerade
dort wirksam wird, wo wir unserer Zukunft entgegengehen und das Neue er¬
proben. Ich rechne es zu den größten Einsichten, die mir durch andere gewor¬
den sind, daß Heidegger einmal, vor Jahrzehnten, uns klarmachte, die Ver¬
gangenheit sei nicht primär im Erinnern da, sondern im Vergessen. In der Tat,
das ist die Weise, in der die Vergangenheit dem menschlichen Dasein selber an¬
gehört. Nur weil sie dies Dasein der Vergessenheit hat, kann überhaupt etwas
behalten und erinnert werden. Alles Vergehende sinkt ab in ein Vergessen, und
dieses Vergessen ist es, das das in die Vergessenheit Verhallende und in Verges¬
senheit Geratene festzuhalten und zu bewahren ermöglicht. Hier liegt die Auf¬
gabe, die Kontinuität der Geschichte zu leisten. Für den Menschen in der Ge¬
schichte ist die Erinnerung, die bewahrt, wo alles ständig entsinkt, kein ver¬
gegenständlichendes Verhalten eines wissenden Gegenüber, sondern der Lebens¬
vollzug der Überlieferung selber. Ihm geht es nicht darum, den Vergangenheits¬
horizont ins Beliebige endlos auszuweiten, sondern die Fragen zu stellen und
die Antworten zu finden, die uns von dem her, was wir geworden sind, als
Möglichkeiten unserer Zukunft gewährt sind.
ÜBER DIE PLANUNG DER ZUKUNFT

Es ist wohl keine Übertreibung, wenn man sagt, daß es nicht so sehr der
Fortschritt der Naturwissenschaften als solcher ist, als vielmehr die Ratio¬
nalisierung ihrer technisch-wirtschaftlichen Anwendung, was die neue Phase
der industriellen Revolution heraufgeführt hat, in der wir stehen. Nicht der
ungeahnte Zuwachs an Beherrschung der Natur, sondern die Entfaltung wis¬
senschaftlicher Steuerungsmethoden für das Leben der Gesellschaft scheint mir
das Gesicht unserer Epoche zu prägen. Erst damit wird der Siegeszug der
modernen Wissenschaft, wie er mit dem 19. Jahrhundert begann, ein alles
beherrschender sozialer Faktor. Jetzt erst hat der unserer Zivilisation
zugrunde liegende Wissenschaftsgedanke alle Bereiche der gesellschaftlichen
Praxis ergriffen. Wissenschaftliche Marktforschung, wissenschaftliche Krieg¬
führung, wissenschaftliche Außenpolitik, wissenschaftliche Nachwuchslenkung,
wissenschaftliche Menschenführung usw. geben dem Expertentum in Wirt¬
schaft und Gesellschaft eine zentrale Stellung.
So stellt sich erstmalig das Problem der Weltordnung. Damit ist nicht mehr
Erkenntnis einer bestehenden Ordnung gemeint, sondern Planung und Schaf¬
fung einer nicht bestehenden Ordnung. Es wird zu fragen sein, ob das eine
richtige Problemstellung ist: Daß nämlich etwas, das es noch nicht gibt, geplant
und hergestellt werden soll. Gewiß leuchtet ein, daß zwischen den Völkern
eine Weltordnung, wie man sie sich wünschte, nicht besteht. Das geht schon
daraus hervor, daß heute die Vorstellungen von der richtigen Ordnung so
differieren, daß die Resignationsparole der Koexistenz herrschend ist. Aber
zugleich enthält diese Parole, die aus dem Gleichgewicht der Nuklearwaffen
erwachsen ist, eine Aussage, die den Sinn der Problemstellung selber gefährdet.
Fiat die Rede von einer zu schaffenden Weltordnung überhaupt noch Sinn,
wenn die Unvereinbarkeit der Vorstellungen von der richtigen Ordnung am
Anfang steht? Kann man Planungen am Maßstab der Weltordnung messen,
wenn man nicht weiß, zu welchem Ende alle mittleren, vielleicht gar alle über¬
haupt möglichen Schritte führen sollen? Hängt nicht eine jede Planung im
Weltmaßstab davon ab, daß eine bestimmte gemeinsame Zielvorstellung be-

Ungedruckt. Eine englische Übersetzung erschien in der Zeitschrift Daedalus. Bei¬


trag für ein Kolloquium mit Politologen, Ökonomen, Politikern usw., das im Juni
1965 mit Hilfe der Rockefeller-Foundation veranstaltet worden ist.

11 Gadamer, Schriften I
162 Über die Planung der Zukunft

steht? Es gibt gewiß ermutigende Teilbereiche, z. B. auf dem Gebiete der Welt¬
gesundheit, des Weltverkehrs, vielleicht auch der Welternährung. Aber läßt
sich auf diesem Wege derart fortschreiten und der Bereich des rational und
einheitlich zu Regelnden schrittweise derart erweitern, daß das Ende eine
durchgängig geregelte und vernünftig geordnete Welt ist? Dagegen spricht,
daß der Begriff der Weltordnung notwendig eine inhaltliche Differenzierung
annimmt, je nach dem Ordnungsgesichtspunkt, der dabei leitend ist. Metho¬
disch wird das klar, wenn man zu einem solchen Begriff seinen möglichen
Gegensatz hinzudenkt. Denn es liegt in der Natur der Sache, daß unsere Vor¬
stellungen vom Rechten, vom Guten usw. weit weniger genau und bestimmt
sind wie die vom Unrechten, vom Schlechten usw. Das Negative bzw. Privative
hat offenbar den Vorzug, daß es als das zu Verneinende und zu Beseitigende
unserem Veränderungswillen von sich aus sich aufdrängt und sich dadurch
Profil gibt. So ist der Begriff der Unordnung, um deren Behebung es gehen
soll, jeweils leichter zu bestimmen und ergibt einen differenzierteren Sinn von
Ordnung per contrarium. Aber ist die Übertragung von Teilbereichen, in
denen Unordnung herrscht und Ordnung entstehen soll, auf das Ganze der
Weltordnung noch legitim? Nehmen wir das Beispiel der ökonomischen Un¬
ordnung. Im Bereich der Ökonomie scheint eine rationale Ordnungsvor¬
stellung am leichtesten zu gewinnen. Unordnung konnte jeder Zustand heißen,
der die ökonomische Rationalität hindert. Nun gibt es gewiß auch unter dem
Begriff der allgemeinen Wohlfahrt differente Auffassungen von weltwirt¬
schaftlicher Ordnung, die nicht in die Vorstellung der Rationalität einer
einzigen großen Weltfabrik auflösbar sind. So etwa in der Frage, ob über¬
mäßiger Unternehmergewinn um der allgemeinen Wohlfahrtssteigerung willen
in Kauf zu nehmen ist, oder ob man aus sozialpolitischen Gründen eine ver¬
staatlichte und entsprechend bürokratisierte Wirtschaft vorziehen soll, auch
wenn sie einen geringeren Wirkungsgrad hat. Aber ist das noch eine rein
ökonomische Frage? Offenbar nicht. Eben deshalb, weil hier andere, politische
Gesichtspunkte hineinspielen, bleibt der ökonomische Aspekt im Grunde ganz
unangetastet. Die steigende Rationalität der weltwirtschaftlichen Kooperation
scheint ein echter Maßstab, durch den sich der Sinn von Weltordnung
definiert.
Trotzdem ist darin eine fragwürdige Voraussetzung enthalten. Das ist die
Ablösbarkeit des ökonomischen Gesichtspunktes von dem politischen. Kann
man ebenso, wie man von einem Zustand ökonomischer Unordnung und ratio¬
naler Weltwirtschaftsordnung sprechen kann, auch den Zustand politischer
Unordnung bestimmen, dessen Behebung den Begriff der politischen Ordnung
rational faßbar werden ließe? Nun könnte man sagen: Für die Weltpolitik
ist in der Vermeidung der globalen Selbstzerstörung ein ebenso eindeutiger
Maßstab gegeben, wie es für die Weltwirtschaft die allgemeine Wohlfahrt ist.
Aber ist das eine wirkliche Parallele? Folgen daraus wirklich politische Ord¬
nungsvorstellungen, über die man vernünftige Übereinstimmung erzielen
Über die Planung der Zukunft 163

kann? Wenn man z. B. sagt, Erhaltung des Friedens sei das Ziel aller Politik,
so kann das, solange es sich um konventionelle Kriege handelt, nur sehr be¬
grenzt einleuchten. Denn wörtlich verstanden hieße das: Der Status quo sei die
zu erhaltende Weltordnung — eine Folgerung, die zurZeit unter dem Druck des
nuklearen Gleichgewichts tatsächlich weitgehend gilt und den Spielraum mög¬
licher weltpolitischer Veränderungen immer mehr einengt. Aber ist das ein
Maßstab für Politik und ein erstrebenswertes Ideal? Setzt doch Politik die
Veränderbarkeit der Zustände voraus. Daß es politische Umgestaltungen gibt,
die ,richtig' sind und der .richtigen' weltpolitischen Ordnung dienen können,
wird doch niemand bestreiten wollen. Aber damit erneuert sidi die Frage:
Woran mißt sich solche Richtigkeit? An einem politischen Ordnungsbild?
Selbst wenn es sich um so vernünftige weltpolitische Ordnungsvorstellungen
handelt, wie etwa die einer Einigung Europas, wird der Maßstab ganz unge¬
wiß. Wäre ein solches Europa .richtig', d. h. ein Fortschritt in der Ordnung
der Welt, wenn dadurch bestehende weltwirtschaftliche und weltpolitische Ver¬
flechtungen gestört und z. B. der Zusammenhalt des Commonwealth gesprengt
würde? Entstünde dann mehr Ordnung oder mehr Unordnung?
Man kann die Frage grundsätzlicher formulieren. Läßt sich eine bestimmte
politische Ordnungsvorstellung ausdenken, die nicht notwendig Gegenvor¬
stellungen hervortreibt? Lassen sich politische Ordnungsvorstellungen aus¬
denken, die nicht der einen oder der anderen der bestehenden politischen
Mächte Chancen verheißen und zwar der einen nur dann verheißen, wenn sie
der anderen abträglich sind? Soll man sagen, daß das Bestehen solcher Gegen¬
sätze der Machtinteressen Unordnung ist? Macht es nicht vielmehr das Wesen
der politischen Ordnung aus?
Eher könnte es schon etwas Einleuchtendes haben, das Vorhandensein unter¬
entwickelter Länder als Unordnung anzusehen. Die Bestrebung, diese Unord¬
nung zu beseitigen, nennen wir bekanntlich Entwicklungspolitik. Dazu gibt
es sofort vernünftige Sachfragen, z. B. bevölkerungspolitischer und ernäh¬
rungspolitischer Art. Es wird einleuchten, daß jeder Überdruck der Bevölke¬
rungsvermehrung als Unordnung anzusehen ist oder auf der anderen Seite die
Vergeudung von Nahrungsmitteln, die Nichtausnutzung von Bodenschätzen,
die Zerstörung von Nahrungsquellen usw. Aber alle solche partikularen Ord¬
nungsvorstellungen sind in die Weltpolitik verwoben, und in ihr sind so
mannigfaltige Gesichtspunkte bestimmend, daß es hoffnungslos scheint, eine
politische Ordnungsvorstellung allgemein einleuchtend zu machen.
Auch besteht kein vernünftiger Grund zu meinen, daß die Erweiterung der
Bereiche, in denen rationale Planung und Ordnung gelingt, uns auch der ver¬
nünftigen politischen Weltordnung näherbringen muß. Man wird mit ebenso¬
viel Recht den umgekehrten Schluß ziehen können und die steigende Gefähr¬
lichkeit zugeben müssen, die die Ausnutzung rationaler Zusammenhänge zu
unvernünftigen Zwecken darstellen würde, etwa nach dem Muster: ,Lieber
Kanonen als Butter'. Und noch grundsätzlicher wird man sich fragen müssen,
164 Über die Planung der Zukunft

ob nicht gerade die Verwissenschaftlichung unserer Wirtschaft und unseres


Soziallebens - man denke etwa an die Meinungsforschung und die Strategie
der Meinungsbildung - die Unsicherheit über die letzten Zwecke, d. h. über
den Inhalt der Weltordnung, die sein soll, wenn nicht gesteigert, so doch be¬
wußt gemacht hat. Indem sie erstmals die Gestalt unserer Welt im ganzen zum
Objekt wissenschaftlich informierten und gelenkten Planens macht, bewirkt
sie in Wahrheit, daß die Unsicherheit des Ordnungsmaßstabs verdeckt bleibt.
Ist am Ende die Aufgabe falsch gestellt? Soviel auch wissenschaftlich ratio¬
nalisiertes Handeln auf unzähligen Teilgebieten ausrichtet - kann man sich die
Ordnung der Welt im ganzen überhaupt als Gegenstand einer solchen ratio¬
nalen Planung und Ausführung denken?
Die Frage mag dem Wissenschaftsglauben unseres Zeitalters noch so sehr ins
Gesicht schlagen - man muß sie auf dem Hintergrund einer weit allgemeineren
Frage sehen, die durch die Entstehung der modernen Wissenschaft seit dem
17. Jahrhundert gestellt worden - und ungelöst geblieben ist. Alles Nach¬
denken über die Ordnungsmöglichkeiten unserer Welt muß von der tiefen
Spannung ausgehen, die zwischen der Autorität der Wissenschaft einerseits und
den durch Religion, überlieferte Sitte und Brauch geprägten Lebensformen
der Völker auf der anderen Seite besteht. Wir kennen diese Spannung etwa
in Gestalt jener, die bei der Berührung alter Kulturen Asiens oder der Lebens¬
formen sogenannter unterentwickelter Länder mit der europäischen Zivilisa¬
tion entstehen. Sie stellen aber nur einen Spezialfall eines allgemeineren Pro¬
blems dar. Nicht die Frage scheint mir die dringendste, wie man die abend¬
ländische Zivilisation mit fremdartigen Traditionen in fernen Ländern ver¬
mitteln und zu einem fruchtbaren Ausgleich bringen kann, sondern wie man
auf unserem eigenen Kulturboden die Bedeutung dieses, durch die Wissenschaft
ermöglichten, Zivilisationsprozesses einzuschätzen und mit den religiösen und
moralischen Traditionen unserer Gesellschaft zu vermitteln hat. Denn das ist
in Wahrheit das Problem der Weltordnung, das uns heute beschäftigt. Durch
den zivilisatorischen Erfolg der europäischen Wissenschaft ist es überall in der
gleichen Grundsätzlichkeit gestellt worden.
Ein Blick auf die Geschichte der letzten Jahrhunderte zeigt aufs deutlichste,
daß der neue Wissenschaftsgedanke, der im 17. Jahrhundert seine Verwirkli¬
chung begann, die universalen Möglichkeiten, die in ihm liegen, zunächst nur
sehr zögernd und schrittweise zu entfalten vermochte. So kann man wohl
sagen, daß mit alleiniger Ausnahme der Kernphysik die unsere heutige indu¬
strielle Revolution kennzeichnenden Entwicklungen samt und sonders auf den
wissenschaftlichen Entdeckungen des 19. Jahrhunderts beruhen, das heißt:
wissenschaftlich schon damals möglich gewesen wären. Aber selbst das liberale
19. Jahrhundert war in ihrer Ausnutzung zögernd, soweit die hergebrachten
christlichen und moralischen Normgesichtspunkte entgegenstanden. Ich erin¬
nere an die Widerstände, die der Darwinismus zu überwinden hatte. Heute
scheint diese Art von Hemmungen im Abbau begriffen, und damit sind die
Über die Planung der Zukunft 165

technischen Möglichkeiten unserer wissenschaftlichen Entdeckungen freigesetzt


worden. Der Experte bietet die Möglichkeiten an, die in seiner Wissenschaft
liegen; und das öffentliche Bewußtsein ruft, wenn es über die Tunlichkeit des
Möglichen entscheiden soll, nach nichts anderem als wiederum nach der Wissen¬
schaft. Auch hier bestätigt die Ausnahme die Regel. Man denke etwa an die
in der Erbgenetik aufgetauchten Möglichkeiten der Menschenzüchtung, denen
gegenüber ein elementares Zurückschrecken vor den Konsequenzen unüber¬
wunden ist.
Nun hat es gewiß genug warnende Stimmen gegeben, die sich seit einem
Jahrhundert in Gestalt der pessimistischen Kulturkritik vernehmen lassen. Sie
besitzen jedoch trotz der Resonanz, die sie vor allem in den von Depossedie¬
rung bedrohten oder betroffenen Schichten — etwa im Adel, im Großbürgertum
und im Bildungsbürgertum - finden, wenig innere Glaubwürdigkeit, weil sie
aufs Ganze gesehen ihrerseits auf dem Boden der modernen wissenschaftlichen
Zivilisation stehen. Ich erinnere an die denkwürdige Weise, in der einmal
Max Weber der romantischen Esoterik Stefan Georges auf den Leib gerückt
ist. Das heißt aber nicht, daß solche Stimmen nicht ihrerseits einen dokumenta¬
rischen Wert haben. Was sie bezeugen, ist jedoch nicht, was sie verkünden.
Während sie den Verfall der Kultur verkünden, bezeugen sie in Wahrheit
eine gewisse Unproportioniertheit zwischen den Werttafeln sinkender Lebens¬
traditionen und dem sich selbst ständig bestätigenden Wissenschaftsglauben.
Die Frage muß weit radikaler gestellt werden. Es scheint mir verhängnisvoll,
wenn der moderne Wissenschaftsgedanke seinerseits sich immer nur in seinem
eigenen Kreise dreht, d. h. immer nur die Methoden und Möglichkeiten der
wissenschaftlichen Beherrschung der Dinge im Auge hat - als ob es jene Un¬
proportioniertheit zwischen dem so erwerbbaren Reich der Mittel und Mög¬
lichkeiten und den Normen und Zwecken des Lebens gar nicht gäbe. Eben das
erscheint als die immanente Tendenz des Wissenschaftsgedankens selber: Die
Frage nach den Zwecken durch die steigende Fortschrittstendenz in der Besor¬
gung und ,Beherrschung' der Mittel gleichsam überflüssig zu machen und
dadurch in die tiefste Unwissenheit zu stürzen.
So wird die Frage nach den Ordnungsformen unserer heutigen und der zu¬
künftigen Welt zumeist als eine rein szientifische Frage gestellt: Was können
wir alles? Wie können wir die Dinge einrichten? Wie sehen die Grundlagen
aus, auf denen wir planen können? Was muß man verändern und beachten,
damit die Verwaltung unserer Welt eine immer bessere und reibungslosere
wird? Die Idee einer perfekt verwalteten Welt scheint das Ideal, dem gerade
die fortschrittlichsten Länder ihrer Lebensstimmung wie ihrer politischen
Überzeugung nach ganz verschrieben sind. Es ist bezeichnend, daß sich dieses
Ideal als ein Ideal der perfekten Verwaltung darstellt, nicht also als ein inhalt¬
lich bestimmtes Ideal der Zukunft, etwa als ein Staat der Gerechtigkeit, wie er
der platonischen Staatsutopie zugrunde lag, oder als der Welt-Staat, der durch
die Herrschaft eines bestimmten politischen Systems, eines Volkes oder einer
166 Über die Planung der Zukunft

Rasse über andere Systeme, Völker und Rassen gebildet wäre. Im Ideal der
Verwaltung liegt vielmehr eine Ordnungsvorstellung, der kein spezifischer
Inhalt einwohnt. Nicht welche Ordnung herrschen soll, sondern daß alles
seine Ordnung haben soll, ist das erklärte Ziel aller Verwaltung. Der Idee
der Verwaltung gehört daher wesensmäßig das Ideal der Neutralität zu. Was
erstrebt wird, ist das gute Funktionieren als ein Selbstwert. Wahrscheinlich
ist es nicht einmal eine utopische Hoffnung, daß sich die großen Weltreiche
unserer Gegenwart auf dem neutralen Boden eines solchen Verwaltungsideals
zu begegnen und auszugleichen vermöchten. Es liegt nahe, von hier aus die Idee
der Weltverwaltung als die Ordnungsform der Zukunft anzusehen. In ihr
würde dann die Versachlichung der Politik ihre eigentliche Vollendung finden.
Ist also das formale Ideal der Weltverwaltung die Erfüllung der Idee der
Weltordnung?
Es ist alles schon einmal dagewesen. Der Kenner der platonischen Dialoge
weiß, daß im Zeitalter der sophistischen Aufklärung die Idee des Sachwissens
eine ähnliche, universale Funktion erhielt. Sie hieß bei den Griechen Techne,
das Wissen um das Herstellbare, das einer eigenen Perfektion fähig ist. Art
und Aussehen des zu verfertigenden Gegenstandes bilden den Gesichtspunkt,
unter dem der ganze Vorgang steht. Die Wahl der rechten Mittel, die Wahl
des richtigen Materials, der kunstgerechte Ablauf der einzelnen Arbeitsphasen,
all das läßt sich zu einer idealen Perfektion steigern, die das von Aristoteles
zitierte Wort wahr macht: Die Techne liebt die Tyche und die Tyche liebt
die Techne. Wer seine Kunst beherrscht, braucht kein Glück.
Trotzdem liegt es im Wesen aller Techne, daß sie nicht um ihrer selbst willen
da ist und auch nicht um eines zu verfertigenden Gegenstandes willen, der
seinerseits um seiner selbst willen da wäre. Was Art und Aussehen des zu
verfertigenden Gegenstandes betrifft, so hängt das vielmehr von dem Gebrauch
ab, für den er bestimmt ist. Aber über diesen Gebrauch ist das Wissen und
Können dessen, der den Gebrauchsgegenstand herstellt, selber nicht Herr,
weder in dem Sinne, daß das Ding, das er hergestellt hat, so gebraucht wird,
wie es sachgerecht ist, noch auch in dem viel entscheidenderen Sinne, daß es zu
etwas gebraucht wird, das recht ist. Also müßte es ein neues Sachwissen geben,
das für den rechten Gebrauch der Dinge sorgt, d. h. für die Anwendung der
Mittel zu den rechten Zwecken. Und da offenbar unsere Gebrauchswelt ein
ganzes hierarchisches Gefüge solcher Mittel- und Zweckzusammenhänge ist,
entsteht wie von selbst die Idee einer obersten Techne, eines Sachwissens, das
über den rechten Einsatz allen Sachwissens seinerseits Bescheid weiß, eine Art
königliches Sachwissen: die politische Techne. Ist eine solche Idee sinnvoll: Der
Staatsmann als der Sachkenner aller Sachkenner, die Staatskunst als die oberste
Sachkenntnis schlechthin? Gewiß ist das, was da Staat heißt, die griechische
Polis und nicht die Welt, aber da das griechische Denken über die Polis immer
nur die innere Ordnung der Polis meint und nicht eigentlich das, was wir die
große Politik der zwischenstaatlichen Beziehungen nennen, ist das bloß eine
Über die Planung der Zukunfl 167

Frage des Maßstabes. Die perfekt verwaltete Welt entspricht genau der idealen
Polis.
Indessen — die Frage ist, ob die Sachkenntnis aller Sachkenntnisse, die von
Plato als die politische Kunst gekennzeichnet wird, mehr ist als ein kritisches
Gegenbild zu der kenntnislosen Betriebsamkeit derer, die nach Plato das Ver¬
derben seiner Vaterstadt zu verantworten haben. Erfüllt das Ideal der Techne,
des lehr- und lernbaren Sachwissens, überhaupt die Forderung, die an die poli¬
tische Existenz des Menschen gestellt ist? Es ist hier nicht der Ort, über die
Reichweite und die Grenzen des Gedankens der Techne in der platonischen
Philosophie zu sprechen, ganz zu schweigen von der anderen Frage, wieweit
etwa Platos eigene Philosophie bestimmten politischen Idealen folgt, die nicht
die unsrigen sein können. Aber zur Verdeutlichung des aktuellen Problems
kann die Erinnerung an ihn dennoch dienen. Er lehrt uns den Zweifel daran,
daß die Steigerung menschlicher Wissenschaft jemals das Ganze seiner eigenen
gesellschaftlichen und staatlichen Existenz erfassen und regulieren kann. Man
darf hier an den cartesianischen Gegensatz von res cogitans und res extensa
erinnern, der bei aller möglichen Modifikation die Grundproblematik jeglicher
Anwendung von ,Wissenschaft“ auf ,Selbstbewußtsein“ richtig vermessen hat.
Erst mit der Anwendung der neuen Wissenschaft auf die Gesellschaft, die der
Descartes der provisorischen Moral“ nur erst als ein fernes Ziel vor Augen
sah, hat freilich diese Problematik ihren vollen Ernst erhalten. Kants Rede
von dem Menschen als dem,Bürger zweier Welten“ gibt dem angemessenen Aus¬
druck. Daß der Mensch im ganzen seiner Existenz derart Objekt zu werden
vermöchte, daß einer ihn herzustellen wüßte, in allen seinen gesellschaftlichen
Lebensbezügen, daß es also einen Sachverständigen geben könnte, der nicht
,er“ selbst ist, der ,ihn“ aber ebenso wie auch alle anderen ,verwaltet“, und
daß dieser Sachverständige seinerseits wieder mit seinem eigenen Verwalten
mitverwaltet würde, das führt in offenkundige Verwicklungen, die die Idee
jenes platonischen Sachwissens als ein ironisches Zerrbild erscheinen lassen,
auch wenn dasselbe mit allen Farben einer Erleuchtung, einer Erkenntnis des
transzendenten Göttlichen oder Guten illuminiert ist.
Selbst wenn man ganz von der Frage der Stellung des Planers einer plan¬
voll-vernünftigen Organisation der Welt und der des vernünftigen Verwalters
innerhalb dieser Welt absieht, erweist sich die Verwicklung als unlösbar, die
mit der Idee der Herrschaft der ,Wissenschaft“ über die konkrete Lebens¬
situation der Menschen und die in ihr betätigte Vernünftigkeit verbunden ist.
Auch hier scheint mir das griechische Denken von höchster Aktualität. Es ist
die aristotelische Unterscheidung von Techne und Phronesis, die diese Ver¬
wicklung durchreflektiert. Das praktische Wissen, das das Tunliche in der
konkreten Lebenssituation erkennt, hat seine Perfektion nicht in derselben
Weise wie das Sachwissen die seinige in der Techne hat. Während Techne lehr¬
bar und erlernbar ist und ihre Leistung offenkundig davon unabhängig ist,
was einer, moralisch oder politisch gesehen, für ein Mann ist, gilt für das Wis-
168 Über die Planung der Zukunft

sen und die Vernunft, die die praktische Lebenssituation des Menschen erhellen
und leiten, genau das Gegenteil. Sicher gibt es auch hier in gewissen Grenzen
so etwas wie Anwendung eines allgemeinen Wissens auf einen konkreten Fall.
Was wir unter Menschenkenntnis, unter politischer Erfahrung, unter ge¬
schäftlicher Klugheit verstehen, enthält - in freilich einigermaßen ungenauen
Analogieschlüssen — ein Element des Allgemeinwissens und seiner Anwendung.
Wäre das nicht so, dann gäbe es dafür überhaupt kein Lehren und Lernen.
Dann wäre auch das philosophische Wissen nicht möglich, das Aristoteles im
Entwurf seiner Ethik und seiner Politik entwickelt hat. Gleichwohl handelt
es sich hier nirgends um das logische Verhältnis von Gesetz und Fall und damit
auch nicht um ein der modernen Wissenschaftsidee entsprechendes Berechnen
und Vorauswissen von Abläufen. Selbst wenn man den utopischen Gedanken
einer Physik der Gesellschaft zugrunde legte, würde man aus der Verwicklung
nicht herauskommen, die Plato dadurch aufgezeigt hat, daß er den Staats¬
mann, und das heißt den politisch Handelnden überhaupt, zu einem ober¬
sten Fachmann heraufstilisierte. Denn ein solches Wissen des, wenn ich ihn so
nennen darf, Physikers der Gesellschaft mag einen Techniker der Gesellschaft
möglich machen, der alles Erdenkliche herzustellen wüßte, aber er bliebe einer,
der seinerseits nicht wüßte, was man von dem, was er kann, wirklich herstellen
soll. Aristoteles hat diese Verwicklung genau durchdacht und nennt des¬
halb das praktische Wissen, um das es in den konkreten Situationen geht, ,eine
andere Art von Wissen1. Es ist kein dumpfer Irrationalismus, dem er damit
das Wort redet; sondern es handelt sich um die Helligkeit von Vernunft, die
in einem praktisch-politischen Sinne das jeweils Tunliche zu finden weiß. So
besteht jede praktische Lebensentscheidung in einer Abwägung von Möglich¬
keiten, die zu den gewählten Zielen führen. Es ist verständlich, daß die
Sozialwissenschaften seit Max Weber auf die Rationalität der Mittelwahl ihre
wissenschaftliche Legitimation gegründet haben und heute im Begriff stehen,
immer mehr Bereiche, die ehedem ,politischer“ Entscheidung unterstanden,
zu versachlichen. Aber wenn schon Max Weber das Pathos seiner wertfreien
Soziologie mit einem nicht minder pathetischen Bekenntnis zu dem ,Gott“,
den ein jeder wählen müsse, verband - ist diese Abstraktion eigentlich zu¬
lässig, nach der es uns je erlaubt wäre, von feststehenden Zwecken auszugehen?
Wenn ja, dann käme es nur noch auf Fachwissen an und wir gingen herrlichen
Zeiten entgegen. Denn die Aussicht auf Verständigung zwischen Fachleuten ist
sehr viel größer als zwischen Staatsmännern. Man ist sogar versucht, für das
Scheitern der Verständigung bei internationalen Verhandlungen in den soge¬
nannten Expertengremien die politischen Direktiven der Regierungen ver¬
antwortlich zu machen. Ob das aber eigentlich zutrifft? Zwar gibt es parti¬
kulare Bereiche, in denen es eine Frage der reinen Zweckrationalität ist, wie
zu prozedieren ist. Hier scheint die Einigung zwischen Sachverständigen leicht.
Aber welches Maß von Selbstkontrolle gehört nicht schon dazu, um auch nur
im Falle des Gerichtsgutachtens die Aussage des Gutachters auf das zu be-
Über die Planung der Zukunft 169

schränken, was er wissenschaftlich wirklich verantworten kann. Und vermut¬


lich ist der in diesem Sinne ideale Gutachter im forensischen Zusammenhang
an der Grenze der Unbrauchbarkeit. Denn die Notwendigkeit zu entscheiden,
die für das Gericht besteht, zwingt immer wieder, mit Feststellungen zu arbei¬
ten, deren Unumstößlichkeit keineswegs gesichert ist. Nicht nur Indizien¬
beweise sind ungewiß. Je stärker nun der Inbegriff herrschender gesellschaft¬
licher oder politischer Vorurteile ins Spiel kommt, desto fiktiver erscheint der
reine Experte und damit der Begriff der wissenschaftlich gesicherten Zweck¬
rationalität. Es dürfte für den ganzen Bereich der modernen Sozialwissen¬
schaften zutreffen, daß sie Mittel-Zwedczusammenhänge nicht beherrschbar
zu machen vermögen, ohne zugleich die Bevorzugung bestimmter Zwecke zu
implizieren. Würde man den inneren Bedingungen dieser Implikationen auf
den Grund kommen, so würde sich am Ende der Widerspruch zwischen der zeit¬
losen Wahrheit, die die Wissenschaft sucht, und der zeitlichen Verfassung derer,
die von der Wissenschaft Gebrauch machen, ergeben.
Was tunlich ist, ist eben nicht einfach das, was möglich ist oder innerhalb
dessen, was möglich ist, ein sdffechthin Vorteilhaftestes. Vielmehr bemißt sich
jeder mögliche Vorteil und Vorzug, der dem einen vor dem anderen gegeben
wird, an einem bestimmten Maß, das man sich setzt bzw. das einem gesetzt ist.
Es ist der Inbegriff des in der Gesellschaft Gültigen, der Normen, die, in sitt¬
lichen und politischen Überzeugungen ausgeprägt, alle Erziehung und Selbst¬
erziehung, auch die zur wissenschaftlichen Objektivität, leiten.
Das soll natürlich nicht sagen, es gebe kein anderes sittliches oder politisches
Ideal als das der Anpassung an die jeweils bestehende Gesellschaftsordnung und
ihre Maßstäbe. Das hieße vielmehr abermals einer verkehrten Abstraktion ver¬
fallen. Die gültigen Maße sind nicht nur die von den anderen - oder gar von
den Vätern - gesetzten, die man anzuwenden hätte wie das Gesetz auf einen
Fall. Vielmehr ist jede konkrete Entscheidung des einzelnen ihrerseits mit¬
bestimmend für das im ganzen Gültige.
Es verhält sich damit ähnlich wie mit der sogenannten sprachlichen Richtig¬
keit. Auch da gibt es eine unbestrittene Allgemeinheit des Gültigen, die sogar
eine gewisse Kodifizierung verträgt, und beispielsweise der Sprachunterricht
auf den Schulen ist mit einer inneren Notwendigkeit von der Schulmeisterei
beherrscht, die diese kodifizierten Regeln aufnötigt. Gleichwohl lebt die
Sprache, und sie lebt nicht durch die starre Anwendung von Regeln, sondern
durch die beständige Weiterbildung des Sprachgebrauchs, also zuletzt durch
das Tun eines jeden einzelnen.
In der Philosophie unseres Jahrhunderts sind einige dieser Wahrheiten durch
die heute so gern geschmähte Existenzphilosophie vertreten worden. Insbeson¬
dere hat der Begriff der Situation bei der Abkehr vom wissenschaftlichen
Methodologismus der neukantianischen Schule eine große Rolle gespielt. In
der Tat liegt in diesem Begriff, wie ihn vor allem Karl Jaspers analysiert hat,
ein logisches Motiv, dessen Komplexion die einfache Relation von Allgemei-
170 Über die Planung der Zukunft

nein und Besonderem bzw. Gesetz und Fall übertrifft. Sich in einer Situation
befinden, enthält immer ein für die vergegenständlichende Erkenntnis uner¬
reichbares Moment. Nicht umsonst gebraucht man in solchem Zusammenhang
so metaphorische Wendungen wie die, daß man sich in die Situation versetzen
muß, sc. um gegenüber der allgemeinen Auskenntnis das wirklich Tunliche
und Mögliche zu erkennen. Situation hat eben nicht den Charakter des bloßen
Gegenüber, so daß die Kenntnis der objektiven Gegebenheiten genügte, um
Bescheid zu wissen. Auch eine zureichende Kenntnis aller objektiven Gegeben¬
heiten, wie sie die Wissenschaft bereitstellt, vermag nicht die Perspektivität
zu antizipieren, die sich vom Standort des Situationsgebundenen her ergibt.
Das Ergebnis dieser Überlegungen scheint zu sein, daß die althergebrachte
Vorstellung des Mächens und des Herstellens ein falsches Erkenntnismodell
darstellt. Die Spannung zwischen dem Wissen für jedermann, wie es mit dem
Begriff der lehrbaren Wissenschaft (bzw. Techne) verknüpft ist, und dem Wis¬
sen um das praktisch Beste für einen selbst ist an sich alt, aber es ist kein
Zufall, daß sie vor der Entstehung der modernen Wissenschaft nicht zu einer
wirklichen Antinomie zugespitzt worden ist. Bei Aristoteles etwa scheint das
Verhältnis zwischen politischer Kunst und politischem Sinn (Techne bzw.
Phronesis) ohne eigentliche Problematik. Wo es lernbares Wissen gibt, hat man
es zu lernen. Aber das sind immer nur Teilbereiche des Wissens und Könnens,
die die Sphäre des sittlichen und politischen Handelns niemals auszufüllen
vermögen. Das Gesamtwissen, in das sich alle Formen menschlichen Wissens
einfügen, gibt auch aller Techne ihr Maß. Sie bleibt in einem grundsätzlichen
Sinne die Ausfüllung von Lücken, die die Natur für menschliche Arbeit frei¬
gelassen hat, und bleibt damit stets nur eine Ergänzung unseres Wissens. Heute
dagegen läßt die großartige Abstraktion, mit der das Methodenideal der
modernen Wissenschaft seinen Gegenstand isoliert und umgrenzt, zwischen
dem sich beständig überholenden Wissen der Wissenschaft und der unwider¬
ruflichen Endgültigkeit aller wirklichen Entscheidungen, mithin zwischen dem
Fachmann und dem Politiker eine qualitative Differenz aufbrechen. Jedenfalls
scheint es an einem vernünftigen Modell dessen zu fehlen, was das Wissen des
Staatsmannes ausmacht.
Max Webers donquijottehafte Zuspitzung des Unterschiedes zwischen wert¬
freier Wissenschaft und weltanschaulicher Entscheidung macht dieses Fehlen
offenkundig. Das Ideal des Herstellens, das dem Konstruktionsgedanken der
modernen Wissenschaft zugrunde liegt, führt hier in eine Aporie. Vielleicht
könnte es diese Lücke schließen, wenn man an die Stelle des Modells des
Mächens das alte Modell des Stenerns setzt. Denn Steuern ist nicht Machen —
eher ein Sich-Anpassen an Gegebenheiten. Es sind darin offenbar zwei
Momente in inniger Einheit verknüpft, die das Wesen des Steuerns ausmachen:
Die Aufrechterhaltung eines Gleichgewichts, das in einem genau umgrenzten
Spielraum schwankt, und die Lenkung, d. h. die Bestimmung einer Richtung
der Fortbewegung, die unter Wahrung dieses schwankenden Gleichgewichts
Über die Planung der Zukunft 171

möglich ist. Es leuchtet ein, daß sich all unser Planen und Tun innerhalb einer
labilen Gleichgewichtslage vollzieht, die unsere Lebensbedingungen darstellt.
Diese Vorstellung des Gleichgewichts ist nicht nur eine der ältesten politischen
Ordnungsvorstellungen, von der aus sich der Freiheitsgrad des Handelnden
begrenzt und bestimmt. Gleichgewicht ist eine Grundbestimmung des Lebens
überhaupt, an die alle unbestimmten, nodi nicht festgelegten Möglichkeiten
des Lebendigen zurückgebunden bleiben. Der Mensch der technischen und
wissenschaftlichen Zivilisation kann sich so wenig daraus befreien wie nur je
ein Lebendiges. Ja, man darf darin sogar die eigentliche Bedingung seiner
Freiheit sehen. Nur dort, wo sich Kräfte das Gleichgewicht halten, kann der
Faktor menschlichen Wollens und Wirkens überhaupt ins Gewicht fallen. Wir
kennen das von jeher aus der Politik. Handlungsfreiheit gewinnen, setzt
Schaffung einer Gleichgewichtslage voraus. Aber auch in der modernen Natur¬
wissenschaft kennen wir Ähnliches. Immer mehr ist man den Reglersystemen
auf der Spur und bleibt dabei weit von dem naiven Glauben entfernt, solche
Systeme der Selbstkorrektur des Lebendigen mit unseren groben Mitteln dar¬
stellen zu können. Und doch macht all unsere Forschung, soweit sie Erkennt¬
nisse vermittelt, gerade das möglich, auf immer sachgerechtere Weise in den
natürlichen Ablauf mit künstlichen Mitteln einzugreifen. So gewinnt das
Erkenntnismodell des Steuerns gegenüber dem Planen und Machen zuneh¬
mend größeres Gewicht. Indessen, auch dieses Modell darf nicht verdecken,
welche Voraussetzungen - welches Wissen um Ziel und um Richtung - allem
Steuern vorgegeben sind. Plato hat gerade am Können des Steuermanns die
Grenze alles Könnens markiert. Er bringt seine Passagiere gut an Land - aber
ob es für sie gut ist anzukommen, darüber kann er nichts wissen. Den Steuer¬
mann des Agamemnon mögen nach dem Mord an seinem Herrn Zweifel über¬
kommen haben.
Vielleicht gibt es kein Beispiel, das die hier liegenden Probleme besser illu¬
striert, als die ärztliche Situation. Denn hier wird der Konflikt zwischen der
Wissenschaft und der Konkretion des ärztlichen Helfens in der Einheit eines
beruflichen Tuns erfahren. Daß sich analoge Verwicklungen überall zeigen, wo
ein auf wissenschaftlicher Ausbildung beruhender Beruf die Vermittlung zwi¬
schen Lebenspraxis und Wissenschaft zu leisten hat, so beim Juristen, beim
Seelsorger, beim Lehrer, versteht sich von selber. Aber der Fall der Medizin
hat doch einen besonderen Modellcharakter. Hier sind es die modernen Natur¬
wissenschaften in der ganzen Fülle und Großartigkeit ihrer Möglichkeiten, die
unmittelbar mit der ärztlichen Grundsituation des Helfens und Heilens, wie
sie von jeher dem Medizinmann zufiel, in Konflikt geraten. Dieser Konflikt
übertrifft auf eine radikale Weise die Fragwürdigkeit, die seit alters der ärzt¬
lichen Wissenschaft anhaftet. An sich ist es ein uraltes Problem der Medizin,
wie weit sie sich als »Wissenschaft', natürlich als eine praktische Wissenschaft,
eine Techne, d. h. ein Herstellenkönnen, verstehen läßt. Denn während jedes
andere praktische Wissen, das etwas herzustellen weiß, an seinem Werk den
172 Über die Planung der Zukunft

Beweis seines Wissens findet, ist das Werk der Medizin von einer unaufheb-
baren Zweideutigkeit. Wie weit die Maßnahmen des Arztes für die Wieder¬
herstellung der Gesundheit hilfreich waren, oder ob die Natur sich selber
geholfen hat, kann im Einzelfalle unentscheidbar sein, und damit ist die ganze
Heilkunst - sehr im Unterschiede zu anderen Technai — von altersher einer
besonderen Apologie bedürftig1.
Es gehört wohl zur Struktur dessen, was man Gesundheit nennt, daß es sich
dabei nicht um ein wohlumgrenztes Ding handelt, sondern um einen Zustand,
der von jeher durch den Begriff des Gleichgewichtes charakterisiert worden
ist. Zum Begriff des Gleichgewichtes gehört aber, daß es in gewissem Umfange
Schwankungen ausgesetzt ist, die sich selbst ausgleichen, und daß erst bei
Überschreitung der zulässigen Schwankungsbreite das Gleichgewicht ganz
verloren geht und durch eine neue Anstrengung mühsam wieder errichtet wer¬
den muß - falls das noch möglich ist. Daher bedeutet die gelingende Wieder¬
herstellung nichts anderes als die Wiederherbeiführung eines schwankenden
Gleichgewichts. Das setzt dem ,Eingriff' ein besonderes Maß. Er greift ja von
außen in ein System ein, das in sich balanciert und sich selbst reguliert. Jeder
Eingriff, der eine Störung in diesem Gleichgewicht beseitigen soll, ist daher in
Gefahr, andere Gleichgewichtsbedingungen ungewollt zu verändern. Und
diese Gefahr wächst, je größer die Möglichkeiten der Wissenschaft werden.
Um es allgemeiner auszudrücken: Hier besteht eine wesenhafte Spannung
zwischen den isolierbaren Zusammenhängen von Wissen und Machen, die
durch die naturwissenschaftliche Kausalanalyse erarbeitet werden, und der
individuellen Organisation, die, wie Kant gezeigt hat, unter teleologischen
Gesichtspunkten allein verstanden werden kann. Insofern ragt die moderne
Medizin in die allgemeine Problematik hinein, die in der wissenschaftlichen
Biologie von heute ausgetragen wird. Die Fortschritte, die gerade auf diesem
Gebiete, insbesondere durch die sogenannte Informationstheorie und die
Kybernetik, erzielt worden sind, haben das Kant ganz unerreichbar erschei¬
nende Ideal eines Newton des Grashalms viel von der Eindeutigkeit einer
utopischen Idee verlieren lassen. Gleichwohl ist damit in keiner Weise etwas
über die Frage der morphologischen Methoden entschieden, vielmehr ist es
nicht einmal einzusehen, warum morphologische Methoden sich nicht aufs Beste
mit kausalanalytischen vertragen sollen. Auch die sogenannte Verhaltens¬
forschung macht doch bereits methodische Voraussetzungen eigener Art, wenn
sie das Verhalten beobachtet, das offenbar nicht als ein mechanischer Ursache-
Wirkungs-Zusammenhang angesehen werden kann - ohne daß deswegen
eine solche Erklärung desselben bereits irgendeinen Widerspruch implizierte.
Selbst wenn es einmal gelungen sein sollte, lebendige Organismen in der
Retorte herzustellen, wird es nicht sinnlos bleiben, das Verhalten der so her-

1 Uber dieses Problem vgl. vom Verfasser: Apologie der Heilkunst, unten S. 211 ff.
Über die Planung der Zukunft 173

gestellten Organismen zu studieren. Der Gedanke der Wissenschaft läßt beide


Methoden zu und ordnet sie dem gleichen Ziele unter, einen Erfahrungsbereich
wissenschaftlich zu erkennen und entsprechend verfügbar zu machen. Ver¬
fügbarmachen besdiränkt sich eben keineswegs auf das bloße Herstellen¬
können. Es gehört dazu ebenso das Voraussehenkönnen von Abläufen, die
man nicht in der Hand hat, wie z. B. das Verhalten von Lebewesen in be¬
stimmten Lagen.
Unser Problem ist also keineswegs das dieses Methodendualismus, sondern
betrifft die spezifische Problematik der Medizin, die, wie ich glaube, geradezu
ein Modellfall für das Thema der Ordnung der modernen Welt durch die
Wissenschaft ist. Die ungeheuren Fortsdiritte, die für die Meisterung der
eigentlich kritischen Situationen mensdtlicher Krankheit von der modernen
Medizin erreicht worden sind, lassen problematische Verwicklungen entstehen,
von denen sich die Verschworenen des hippokratischen Eides am Ende einmal
werden Rechenschaft geben müssen. Es geht doch offenkundig nicht nur darum,
daß die praktische Notwendigkeit des Helfens und Heilens das Modell der
technischen Anwendung von Wissenschaft als zu partikular erweist. Gewiß ist
es so, daß es auch der Stand unseres Wissens ist, d. h. seine Begrenztheit, was
am Ende den Arzt nötigt, dem Fingerspitzengefühl oder der Intuition zu
vertrauen und, wo dieselben nicht ausreichen, dem bloßen Herumprobieren.
Indessen, es schiene mir kein Widerspruch, sich eine perfekte Biologie zu den¬
ken, die auch der Medizin zu einer wissenschaftlichen Perfektion verhülfe, wie
wir sie uns heute noch gar nicht vorstellen können. Aber gerade dann würden,
meine ich, die Verwicklungen deutlich, die wir in Ansätzen schon heute ge¬
wahren. Ich denke z. B. an die Sterbensverlängerung, die durch die heutige
medizinische Technik praktiziert wird. Die Einheit der Person, die als der
Kranke zu dem helfenden Arzt ein echtes Gegenüber bildet, hat dabei gleich¬
sam keinen Ort mehr. Ähnliches wurde schon oben für die erbbiologischen
Züchtungsmöglichkeiten angedeutet. Es scheint, daß die Begrenztheit und End¬
lichkeit des Lebens den Konflikt unausweichlich macht, der zwischen der
Naturwissenschaft in ihren höchsten Möglichkeiten und dem menschlidien
Selbstverständnis besteht.
Hier mag nun, jenseits von Machen - d. h. Herstellen auf Grund eines Ent¬
wurfs - und Steuern - d. h. Wiederherstellen von Gleichgewicht und Festhalten
einer Richtung unter beständig neuen Bedingungen - eine Verhaltensweise
wichtig werden, die der Grenze allen Verfügungswillens Rechnung trägt und
die Aristoteles folgerichtig nicht zur Techne rechnet: das Mit-sich-zu-Rate
Gehen, das der einzelne (oder auch die Gruppe) angesichts der Entscheidung
fordernden Situation anstellt. Da geht es nicht mehr um das Wissen des Fach¬
mannes, der als der Wissende den anderen gegenübertritt, sondern um ein
Wissen, das man braucht und das einem keine Wissenschaft liefert. Man findet
sich verschiedenen Möglichkeiten, die sich anbieten, gegenüber und erwägt hin
und her, welches die richtige ist. Ein Wissen, das allgemeine Gültigkeit bean-
174 Über die Planung der Zukunft

Sprüchen kann, steht nicht zur Verfügung. So bedarf es der Beratung, die eine
ganz andere Gemeinsamkeit einschließt als die des Allgemeingültigen. Sie läßt
den anderen zu Worte kommen und sich gegenüber dem andern. Sie kann
daher nicht im Stile der Wissenschaft bis zu Ende versachlicht werden. Denn es
handelt sich nicht nur um das Finden des richtigen Mittels zu einem fest¬
stehenden Zweck, sondern vor allem um die Vorstellung von dem, was sein
soll und was nicht - was recht und was nicht recht ist. Das ist es, was sich im
Sich-Beraten über das Tunliche auf unausdrückliche Weise als ein wahrhaft
Gemeinsames herausbildet. Am Ende solcher Beratung steht nicht die Aus¬
führung eines Werks oder die Herbeiführung eines erstrebten Zustandes allein,
sondern eine Solidarität, die alle eint.
Wenden wir diese Überlegungen auf die Situation der modernen Welt und
die Aufgaben, die wir sehen, an. Es war von etwas anderem die Rede als von
der wissenschaftlichen Bewältigung der planetarischen politischen Ordnungs¬
aufgaben, vor denen wir stehen. Daß die Wissenschaft auch dafür noch eine
gewaltige Zukunft hat, sei ausdrücklich hervorgehoben; auch wenn es durch¬
aus nicht ausgemacht ist, daß die abendländische Zivilisation sich widerstands¬
los ausbreitet und alle anderen menschlichen Ordnungsformen schließlich ver¬
drängt oder erstickt. Aber gerade das ist das Problem. Die Produktion eines
einheitlichen technischen Zivilisationsmenschen, der sich einer entsprechend
einheitlichen Zivilisationssprache bedienen lernt - und das Englische ist ja auf
gutem Wege, diese Rolle zu übernehmen -, könnte gewiß das Ideal einer wis¬
senschaftlichen Weltverwaltung erleichtern. Aber die eigentliche Frage ist, ob
ein solches Ideal wirklich gewollt werden kann. Wir können es vielleicht an
sprachlichen Vorgängen schon ablesen, wie sich der zivilisatorische Ausgleichs¬
prozeß auf unserem Planeten auswirken muß. Das Zeichensystem, das die
Bedienung eines technischen Apparates verlangt und ermöglicht, entwickelt
eine eigentümliche Dialektik. Es hört auf, ein bloßes Mittel zur Erreichung
der technischen Zwecke zu sein. Es schließt nämlich die Zwecke aus, die sich
mit seinen Mitteln nicht anzeigen und mitteilen lassen. Das perfekte Funktio¬
nieren der internationalen Verkehrssprache z. B. beruht auf der Begrenztheit
des darin Mitteilbaren überhaupt. Die logisch-erkenntnistheoretische Perfek¬
tionierung einer allgemeinen Wissenschaftssprache, wie sie etwa den Bemühun¬
gen um Unity of Science obliegt, würde genau das gleiche Gesicht tragen. Ihrer
Perfektion könnte es gelingen, alle Ungenauigkeiten und Vieldeutigkeiten, die
die zwischenmenschliche Verständigung bedrängen, zu eliminieren. Man
brauchte deswegen nicht einmal zu einer Zukunftsweltsprache zu streben. Es
würde genügen, daß die lebendigen Volkssprachen gleichsam in ein System
von Transformationsgleichungen eingegliedert würden, so daß eine ideale
Übersetzungsmaschine die Eindeutigkeit der Verständigung garantierte. Das
wäre alles möglich und liegt vielleicht nicht einmal so fern. Aber auch hier wäre
es unvermeidlich, daß sich dieses universale Mittel in den universalen Zweck
verkehrte. Es wäre damit nicht eigentlich ein Mittel gewonnen, alles Erdenk-
Über die Planung der Zukunft 175

liehe sagen und einander mitteilen zu können, sondern es wäre ein Mittel ge¬
wonnen, das garantierte, daß nur das in die Programmierung Aufgenommene
und Mitgeteilte überhaupt noch gedacht wird. Am Ende stehen wir in dieser
Entwicklung schon mitten darin. Das unheimliche Phänomen der Sprach¬
regelung, das durch die Verbreitung der modernen Massenmedien eine neue
Gangart angenommen hat, zeigt bereits deutlich die Dialektik von Mittel und
Zweck, die hier besteht. Vorläufig tritt das erst noch in der Profilierung
von Fronten zutage. Was in dem einen Teil der Welt Demokratie oder Frei¬
heit heißt, erscheint als eine Sprachregelung, die vom anderen Teil der Welt als
eine bloße Manipulation der Meinungsbildung und der Massendomestikation
denunziert wird. Aber das ist nur ein Ausdruck der Unvollkommenheit dieses
Systems. Die Sprachregelung, die alle erfaßt hat, hat sich selbst zum Zweck
erhoben und sich damit ins Unmerkliche geborgen.
Man muß sich solche extremen Vorstellungen vor Augen halten, um einzu¬
sehen, was es bedeutet, daß in aller ursprünglichen menschlichen Welterfah¬
rung unaufhebbare Bedingungen liegen, die uns alle schon vorgängig bestim¬
men. Daß die Sprache, in die wir hineinwachsen, wenn wir aufwachsen, mehr
ist als ein Zeichensystem, das der Beherrschung eines Zivilisationsapparates
dient, meint nicht irgendeine romantische Vergötzung der Muttersprache. Viel¬
mehr liegt in jeder Sprache eine Tendenz zur Schematisierung. Die Welt¬
auslegung durch die Sprache nimmt beim Erlernen der Sprache immer zugleich
den Charakter der Sprachregelung an. Mit dem Wort wird die Sache zurecht¬
gelegt. Das geniale Sprachalter des Zwei- oder Dreijährigen wird durch den
kommunikativen Zwang der Umwelt beendet. Dennoch scheint es mir ein
Unterschied zu jedem künstlich gestifteten Zeichensystem, daß sich das Leben
der Sprache nicht abgelöst von den lebendigen Überlieferungen vollzieht und
weitervollzieht, in denen eine historische Menschheit steht. Das sichert allem
Sprachleben eine innere Unendlichkeit, die sich nicht zuletzt darin bewährt,
daß der Mensch beim Erlernen fremder Sprachen in fremde Weltauslegungen
einzutreten vermag und Reichtum und Armut des Eigenen am Fremden er¬
fährt. Auch dies ist ein Ausdruck der unaufhebbaren Endlichkeit des Menschen.
Jeder einzelne muß sprechen lernen und wird darin seine Geschichte haben
und sie selbst in der extremsten Vollendung des Maschinenzeitalters nicht los¬
werden. Das Zeitalter der post-histoire, in das wir hineingehen, wird daran
seine Begrenzung finden.
Worauf wir hier verwiesen werden, scheint freilich den Maßstäben der
modernen Welt nicht recht zu entsprechen. Es mag richtig sein, daß in der
Bewußtmachung der Grenzen, die der Anwendung der Wissenschaft gesetzt
sind, zugleich ins Bewußtsein tritt, was vor aller Wissenschaft und unab¬
hängig von ihr die Völker trennt und verbindet, wie die Formen von Recht und
Sitte, die Inhalte der eigenen Überlieferung, Gesang und Sage und Geschichte,
das Zusammenleben prägen. Aber bleibt nicht solche Bewußtmachung
stets auf kleine intellektuelle Gruppen beschränkt, während der technolo-
176 Über die Planung der Zukunfl

gische Traum unserer Gegenwart das Bewußtsein der Menschheit mehr und
mehr einlullt?
Indessen - was die Überzeugungen der Menschen prägt und was auf den
tausend Wegen der direkten und indirekten Erziehung auf sie einwirkt, mag
noch so sehr von dem wissenschaftlichen Expertentum geplant, geordnet und
geregelt werden - am Ende sind es doch in ihre Traditionen gebundene Men¬
schen, deren Bewußtsein sich umsetzt und fortwirkt. Sie aber werden sich in
unserer immer näher zusammenrückenden Welt in steigendem Maße dessen
bewußt werden, daß nicht nur ökonomisch-technische Entwicklungsunter¬
schiede die Völker trennen, und nicht nur deren Aufhebung sie verbindet,
sondern daß gerade die unaufhebbaren Unterschiede zwischen ihnen, ihre
natürlichen und geschichtlich gewordenen, es sind, die uns als Menschen ver¬
binden.
Abschließend wird man sich daher die Frage stellen dürfen, was eine Er¬
innerung dieser Art gegenüber dem übermächtigen Trend der wissenschaft¬
lichen Zivilisation unserer Epoche überhaupt für eine Bedeutung haben soll.
Daß die beliebte Kritik an der Technik mit allen anderen Arten von Kultur¬
kritik die gleiche innere Unaufrichtigkeit teilt, wurde oben schon berührt. Auch
wird man von der Bewußtmachung all dessen, was dem technologischen Traum
der Gegenwart eine Grenze setzt, nicht eigentlich erwarten, daß es das Schritt¬
gesetz des zivilisatorischen Fortschritts beeinflussen könnte oder sollte. Um
so mehr stellt sich die Frage, was solche Bewußtmachung überhaupt leistet,
und das ist eine allgemeine Frage, die keine summarische Antwort gestattet.
So werden die Möglichkeiten der Beherrschung der Natur dort andere Be¬
deutung haben und dort eine höhere Einschätzung finden, wo man von der
Beherrschung der Naturkräfte besonders weit entfernt ist und beständig mit
physischer Not, Armut und Krankheit zu kämpfen hat. Die Eliten in dieser
Weise zurückstehender Länder werden der wissenschaftlich fundierten Planung
ihre volle Kraft schenken - sie werden auch besonders empfindlich sein gegen
die retardierenden Wirkungen, die von der religiösen bzw. gesellschaftlichen
Tradition dieser Länder ausgehen. Wenn Sachlichkeit des Planens unter allen
Umständen ein hohes moralisches Niveau der Selbstkontrolle verlangt, so
wird sie unter solchen Umständen mit politischer Glaubensfähigkeit und be¬
wußter Ideologiekritik verbunden sein. Umgekehrt wird man in hochent¬
wickelten Ländern zwar niemals der Phantasie des Planers, der die mensch¬
liche Wohlfahrt zu steigern verspricht, eine wunschlose Sattheit entgegen¬
setzen. Man wird auch dort Hemmungen des Fortschritts, die in den Besitz¬
verhältnissen oder in den Profitmöglichkeiten liegen, zu bekämpfen haben.
Aber je mehr Freiheit von äußerer Not und übermäßiger Arbeit, je mehr
Mäßigung des Tempos im Leben der modernen Industriegesellschaft erreichbar
scheinen, um so weniger wird man von der wissenschaftlichen Planung der
Zukunft allein das Heil erwarten. Es handelt sich dabei nicht nur um Unter¬
schiede in der ökonomischen Entwicklung der Länder. Es sind auch die Unter-
Über die Planung der Zukunft 177

schiede zwischen den alten Kulturtraditionen, die in einer zusammenrücken¬


den Welt in aller Bewußtsein treten werden. So wird Bewußtmachung der
zwischen den Menschen und Völkern bestehenden Unterschiede gerade dann
zu einer vordringlichen Forderung, wenn Planung und Fortschritt Beliebiges
erreichbar erscheinen lassen. Solche Bewußtmachung ist kaum noch eine Lei¬
stung der Wissenschaft, eher schon eine der Wissenschaftskritik. Sie ist vor
allem eine Erziehung zur Toleranz. Bewährte Ordnungsvorstellungen staat¬
lichen Zusammenlebens, wie z. B. das Ideal der Demokratie (im westlichen
oder im östlichen Sinne), werden in solcher Bewußtmachung ihrer eigenen
Voraussetzungen inne. ökonomischer Fortschritt mag in allen Teilen der Welt
gleich wünschbar sein und wird dennoch nicht das gleiche bedeuten.
Zum Schluß mag es erlaubt sein, nach der Rolle der Philosophie in der
bezeichneten Situation zu fragen. Hat sie in einer zur Perfektion gelangenden
wissenschaftlichen Kultur überhaupt noch eine Funktion? Hier sind gewisse
weitverbreitete Tendenzen in der Auffassung und Selbstauffassung der Philo¬
sophie zurückzuweisen. Vom Philosophen eine Art Superwissenschaft zu ver¬
langen, die der Spezialisierung der Einzelwissenschaften den zusammenfassen¬
den Rahmen gäbe - eine Aufgabenstellung, die sich von den klassischen Zeiten
der Philosophie herleitet, als sie selber noch die Gesamtwissenschaft war -, ist
wissenschaftlicher Dilettantismus. Von ihr das allgemeine Organon einer Logik
und Methodenlehre zu erwarten, scheint mir aber nicht minder dilettantisch:
Als ob die einzelnen Wissenschaften davon Gewinn hätten und nicht schon
längst auf ihre Weise ringsumher von anderen Wissenschaften Methoden und
Zeichensysteme übernähmen, wenn sie ihnen von Nutzen scheinen. Eine philo¬
sophische Methodenlehre der Wissenschaften ist dazu keineswegs nötig. Sie ist
gewiß eine legitime Aufgabe der Philosophie. Aber die Frage, was für eine
Funktion die Philosophie als universale Bewußtmachung heute hat, wird von
ihr auch nicht beantwortet. Sie setzt vielmehr eine Antwort auf diese Frage
bereits voraus. Bewußtmachen dessen, was ist, dazu gehört gewiß auch Be¬
wußtmachen dessen, was die Wissenschaft ist. Aber ebenso gehört dazu, sich
dafür offen zu halten und dessen eingedenk zu sein, daß nicht alles, was ist,
Gegenstand der Wissenschaft ist oder sein kann.
In der heutigen philosophischen Diskussion gibt es im Grunde zwei Ant¬
worten auf die Frage, was Bewußtmachung leisten kann. Die eine Antwort
geht davon aus, daß es das Verständnis dessen, was heute wirklich ist, zuzu¬
spitzen und zu radikalisieren gelte. Zu dieser Aufgabe gehört die Zerstörung
aller romantischen Illusionen über die gute alte Zeit und das Eingeständnis,
daß sichere Geborgenheit in einer christlich verstandenen Welt nicht mehr exi¬
stiert. Man kann daraus folgern, es gelte sich einzugestehen, daß Gott sich vor
uns verborgen hat und wir in der Gottesfinsternis leben (Martin Buber), oder
auch, daß die Frage nach dem ,Sein‘ in totaler Seinsvergessenheit versinkt, je
mehr unsere metaphysische Tradition in der Herrschaft der Wissenschaft sich
vollendet (Martin Heidegger). In solcher Weise würde sich das philosophische

12 Gadamer, Schriften I
178 Über die Planung der Zukunft

Denken als eine Art weltlicher Eschatologie verstehen, d. h. eine Art Erwar¬
tung der Umkehr begründen, die zwar nicht sagen kann, was sie erwartet, aber
indem sie die radikalen Konsequenzen der Gegenwart vorwegnimmt, sich mit
der Notwendigkeit der Umkehr durdidringt. Solcher Radikalität, die sich das
äußerste Bewußtsein dessen, was ist, zumutet, wird man nachrühmen dürfen,
daß sie nicht in jene Kulturkritik verfällt, deren Unaufrichtigkeit darin be¬
steht, das zu genießen, was sie verneint, und die eben damit das Bewußtsein
dessen verhindert, was wirklich ist. Aber sieht solcher Radikalismus das, was
wirklich ist, selber richtig, wenn er in allem das Nichts sieht?
Es gibt noch eine andere mögliche Antwort auf die Frage, was Bewußt-
machung leisten kann, und diese scheint mir in vollem Einklang mit unserem
Bedürfnis, zu wissen, und alles, was wir wissen können, praktisch werden zu
lassen. Könnte es nicht sein, daß der technologische Traum, den unsere Gegen¬
wart hegt, wirklich ein Traum ist? Denn die immer schnellere Abfolge von
Veränderungen und Umgestaltungen, die unsere Welt erfüllt, hat tatsächlich,
gemessen an den bestandhaften Wirklichkeiten unseres Lebens, etwas Phan¬
tomhaftes und Unwirkliches. Bewußtmachung dessen, was ist, könnte gerade
dies zum Bewußtsein bringen, wie wenig sich die Dinge ändern, gerade wo
alles sich so radikal zu verändern scheint. Daraus folgt keineswegs ein Plädoyer
für die Aufrechterhaltung der bestehenden Ordnung (und Unordnung). Es
handelt sich vielmehr um eine Berichtigung unseres Bewußtseins, das wieder
lernen könnte, hinter dem, was sich ändert und was man verändern kann und
soll, das Unabänderliche und Wirkliche zu gewahren. Der Konservative und
der Revolutionär scheinen mir in der gleichen Weise solcher Berichtigung ihres
Bewußtseins bedürftig. Die unveränderlichen und bestandhaften Wirklich¬
keiten - Geburt und Tod, Jugend und Alter, Heimat und Fremde, Bindung
und Freiheit - verlangen von jedem Anerkennung. Sie bemessen den Spiel¬
raum, innerhalb dessen Menschen planen können, und stecken die Grenzen für
das, was ihnen gelingen kann. Weltteile und Weltreiche, Revolutionen der
Macht und des Denkens, alle Planung und Einrichtung unseres Lebens auf
diesem Planeten - und außerhalb seiner -, was immer die Wissenschaft vermag,
es wird ein Maß nicht überschreiten können, das vielleicht keiner kennt und das
dennoch allem gesetzt ist.
ÜBER DIE MÖGLICHKEIT
EINER PHILOSOPHISCHEN ETHIK

Daß eine philosophische' Ethik, eine Philosophie der Moral, etwas anderes
ist als eine praktische“ Ethik, das heißt als die Einrichtung einer Tafel der
Werte, auf die der Handelnde blickt, und als das appellierende Wissen, das
seinen Blick auf diese Werttafel beim Handeln lenkt, ist keineswegs eine
Selbstverständlichkeit. In der antiken Tradition war es im Gegenteil selbst¬
verständlich, daß die philosophische Pragmatie, die seit Aristoteles ,Ethik“
hieß, selbst ein praktisches“ Wissen war. Aristoteles hat es ausgesprochen, was
im Grunde schon in der sokratisch-platonischen Lehre von dem Tugendwissen
lag, daß wir nicht bloß wissen wollen, was Tugend ist, sondern es wissen
wollen, um gut zu werden. Das ist zwar auch für Aristoteles das Besondere der
ethischen Pragmatie, doch gehört es zum antiken Wissensbegriff überhaupt,
daß solcher Übergang zur Praxis in ihm selber liegt: Wissenschaft ist nicht ein
anonymer Inbegriff von Wahrheiten, sondern eine menschliche Haltung
(efig toö hfor)'&eveiv). Auch die ,Theoria“ steht nicht im Gegensatz zur Praxis
schlechthin, sondern ist selbst eine höchste Praxis, eine höchste Seinsweise des
Menschen. Das bleibt für das oberste Wissen, das Wissen um das Erste, das
Wissen der Philosophie, richtig, auch wenn es zwischen dem Wissen der Wissen¬
schaft (gmovTrjiJLr), Texvri) und dem der Erfahrung, wie Aristoteles anerkennt,
eine echte Spannung gibt, so daß der erfahrene Praktikus dem ,gelernten“ Fach¬
mann manchmal überlegen ist. Es gilt aber vollends für den ethischen Bereich,
wo es eine solche Spannung von Theorie und Praxis gar nicht geben kann,
da es dort kein Fachwissen ist, um dessen Anwendung es ginge.
Dagegen ist der neuzeitliche Begriff der rationalen ,Theorie“ von Grund aus
durch den Bezug auf ihre praktische Anwendung bestimmt, und das bedeutet:
durch den Gegensatz zu ihrer praktischen Anwendung. Den Gegensatz von
Schule und Leben wird es in gewissen Formen immer gegeben haben. Aber
erst mit dem Beginn der Neuzeit, insbesondere im Zeitalter des Humanismus,
als das hellenistische Ideal der sapientia wiederauflebte und sich mit der Kritik
an der Schule, der doctrina, verknüpfte, trat er voll ins Bewußtsein. Nicolaus
Cusanus konnte seine tiefsinnigen Lehren in den Mund des Laien (des ,idiota“)

Vortrag, gehalten 1961 in Walberberg, erschienen in Bd. 1 der Walberberger


Studien, ,Sein und Ethos“. Matthias-Grünewald Verlag, Mainz 1963, S. 11-24.
180 Uber die Möglichkeit einer philosophischen Ethik

legen, der tiefer blickt als der ,orator* und der ,philosophus‘, mit denen er
spricht. Vollends mit der Entstehung der modernen Naturwissenschaft gewinnt
der Gegensatz als solcher seine Festigkeit und zugleich damit der Begriff der
Theorie ein neues Profil. Theorie heißt nun diejenige Erklärung der Vielfältig¬
keit der Erscheinungen, die deren praktische Beherrschung erlaubt. Sie hört
- als ein Instrument verstanden - auf, eine eigene menschliche Haltung zu
sein - und ineins damit, eine mehr als relative Wahrheit zu beanspruchen.
Ein solcher Begriff von Theorie, wie er uns allen im Grunde selbstverständ¬
lich geworden ist, führt nun in der Anwendung auf die moralischen Phäno¬
mene zu einer schwer auflösbaren Verwicklung. Es scheint unausweichlich, daß
sich damit Fortschrittsoptimismus verknüpft, da mit dem Gang der wissen¬
schaftlichen Forschung immer neue, immer angemessenere theoretische Er¬
kenntnis erzielt wird. In der Anwendung auf die moralische Welt würde das
aber zu einem absurden moralischen Fortschrittsglauben führen. Hier hat
Rousseaus Kritik der Aufklärung ein unüberhörbares Veto gesprochen. Kant
selber hat bekannt: „Rousseau hat mich zurechtgebracht.“ Die ,Grundlegung
zur Metaphysik der Sitten* läßt darüber keinen Zweifel, daß die Philosophie
der Moral ,die gemeine sittliche Vernunfterkenntnis*, das heißt das Pflicht¬
bewußtsein dessen, dem sein einfaches Herz und sein gerader Sinn sagen was
recht ist, niemals übertreffen kann. Indessen darf die moralphilosophische
Besinnung auch nach Kant nicht als eine bloße Theorie erscheinen. Kant lehrt
vielmehr - so sehr er dem Verstandeshochmut der Aufklärung eine moralische
Absage erteilt - die Notwendigkeit des Übergangs zur Moralphilosophie, und
so ist es im Grunde immer geblieben, daß die Philosophie der Moral den
Anspruch, selber von moralischer Relevanz zu sein, nie ganz verleugnen
konnte. Wenn Max Scheler, der Begründer der materialen Wertethik, eines
Tages von einem seiner Schüler deswegen zur Rede gestellt, weil er zwar die
Ordnung der Werte und ihre normative Kraft so einleuchtend schildere, ihr
aber selber in seiner Lebensführung so wenig entspreche, zur Antwort gab:
„Geht denn der Wegweiser in die Richtung, die er zeigt?“, so ist das offen¬
kundig unbefriedigend. Nicolai Hartmann, der Schelers ethische Konzeption
systematisch ausgebaut hat, konnte einleuchtenderweise nicht darauf verzich¬
ten, der Wertphilosophie auch eine moralische Bedeutung zuzusprechen. Sie
habe eine maieutische Funktion für das sittliche Wertbewußtsein, das heißt,
sie befördere die immer reichere Entfaltung desselben, indem sie vergessene
oder verkannte Werte aufdecke. Das ist alles, was von der alten Erwartung
übrigbleibt, die dem Philosophen entgegengebracht wird, daß er in der mora¬
lischen Ratlosigkeit oder Verwirrung des öffentlichen Bewußtseins nicht nur
seiner theoretischen Passion folge, sondern die Ethik neu begründe, daß heißt
neue verbindliche Werttafeln errichte. Aber freilich könnte es sein, daß
Heidegger recht hat, wenn er auf die Frage: „Wann schreiben Sie eine Ethik?“,
seinen Brief ,Über den Humanismus* mit dem Satz beginnt: „Wir bedenken
das Wesen des Handelns noch lange nicht entschieden genug.“
Über die Möglichkeit einer philosophischen Ethik 181

In der Tat scheint eine unauflösliche Schwierigkeit in der Idee der Moral¬
philosophie selber zu stecken, die zuerst durch Kierkegaards Kritik an Hegel
und seine Kritik am kirchlichen Christentum bewußt gemacht worden ist.
Kierkegaard hat gezeigt, daß alles .Wissen auf Abstand“ der moralischen und
religiösen Grundsituation des Menschen nicht genugtut. Wie es der Sinn der
christlichen Verkündigung ist, als gleichzeitig“ erfahren und vernommen zu
werden, so ist auch die ethische Wahl keine Sadie des theoretischen Wissens,
sondern der Helle, Schärfe und Bedrängnis des Gewissens. Alles Wissen auf
Abstand bedroht die in der sittlidren Wahlsituation gelegene Forderung mit
Verschleierung oder Schwächung. Bekanntlich hat in unserem Jahrhundert
unter dem Einfluß Kierkegaards die Kritik am neukantianischen Idealismus,
die von theologischer und philosophischer Seite geführt wurde, im Verfolg
dieses Motivs die Fragwürdigkeit der Ethik zu grundsätzlicher Anerkennung
gebracht. Sofern Ethik als ein Wissen von Allgemeinem verstanden wird, ist
sie in die sittliche Fragwürdigkeit verflochten, die mit dem Begriff des allge¬
meinen Gesetzes verbunden ist. Man berief sich vor allem auf den Römerbrief.
Daß durch das Gesetz die Sünde gekommen sei, verstand man nicht in dem
Sinne, daß das Verbotene als solches reizt und insofern die Sünde mehrt, son¬
dern in dem Sinne, daß gerade das Einhalten des Gesetzes zu der eigentlichen
Sünde, die nicht nur eine gelegentliche Übertretung des Gesetzes ist, führt, zu
jener superbia, durch die der Gesetzesgehorsam gegen das Liebesgebot versperrt.
Nicht der Priester und Levit, sondern der Samariter ist es, der die Liebes-
forderung, die von der Situation ausgeht, vernimmt und befolgt. Vom Begriff
der Situation aus ist auch von philosophischer Seite die Idee der Ethik zu
ihrer äußersten Fragwürdigkeit zugespitzt worden, zum Beispiel von Eber¬
hard Grisebach, dem philosophischen Freunde Gogartens.
In der Tat scheint die philosophische Ethik angesichts solcher Sachlage in
einem unlösbaren Dilemma. Die Reflexionsallgemeinheit, in der sie sich als
Philosophie notwendigerweise bewegt, verstrickt sie in die Fragwürdigkeit
aller Gesetzesethik. Wie soll sie der Konkretion gerecht werden, mit der das
Gewissen, mit der die Empfindung der Billigkeit, mit der die Versöhnlichkeit
der Liebe auf die Situation antwortet?
Ich glaube nur zwei Wege zu sehen, die innerhalb der philosophischen
Ethik aus diesem Dilemma herauszuführen vermögen. Der eine ist der von
Kant gegangene des ethischen Formalismus, der andere ist der Weg des
Aristoteles. Beide dürften nicht für sich, aber beide dürften zu ihren Teilen der
Möglichkeit einer Ethik gerecht werden.
Kant fragte nach jener Art von Verbindlichkeit, die durch ihre unbedingte
Allgemeinheit allein dem Begriff des Ethischen genüge. Er sah in der Unbe¬
dingtheit der Pflicht, die sich gegen Interesse und Neigung an das Gebotene
hält, den Modus ethischer Verbindlichkeit, auf dem allein eine Ethik begründet
werden kann. Sein kategorischer Imperativ will als Prinzip jeder Moral ver¬
standen werden, gerade weil er nichts anderes tut, als die Form der Verbind-
182 Über die Möglichkeit einer philosophischen Ethik

lichkeit des Sollens, das heißt die Unbedingtheit des Sittengesetzes, darzu¬
stellen. Wenn es einen sittlich guten Willen gibt, dann muß er dieser Form
genügen. Daß es einen solchen unbedingten guten Willen geben kann, daß also
der kategorische Imperativ zu einer wirklichen Bestimmung unseres Willens
zu werden vermag, ist durch diese Erkenntnis der allgemeinen ,Form‘ des Sitt¬
lichen freilich nicht bewiesen. Darauf gibt erst der Metaphysiker Kant die
durch die ,Kritik der reinen Vernunft1 vorbereitete Antwort. Zwar ist jede
faktische Willensbestimmung, als in den Bereich der Erscheinungen gehörig,
den Grundsätzen der Erfahrung unterworfen, unter denen niemals eine unbe¬
dingte gute Handlung mit Sicherheit angetroffen werden kann. Aber die
Selbstbegrenzung der reinen Vernunft hat gelehrt, daß außer der Ordnung
der Erscheinungen, in der es nur das Verhältnis von Ursache und Wirkung
gibt, noch eine andere intelligible Ordnung existiert, der wir nicht als Sinnen¬
wesen, sondern als Vernunftwesen angehören und innerhalb derer der Stand¬
punkt der Freiheit, die Selbstgesetzgebung durch die Vernunft, mit Recht ge¬
dacht wird. Daß wir sollen, ist eine unbedingte Gewißheit der praktischen Ver¬
nunft, der die theoretische Vernunft nicht widerspricht. Freiheit ist theoretisch
nicht unmöglich, und sie ist praktisch notwendig.
Auf dieser Basis nun ergibt sich für Kant eine Antwort auf die Frage,
warum es der moralphilosophischen Besinnung bedarf, ohne daß deshalb die
Moralphilosophie sich über die rechtschaffene Einfalt des einfachen Pflicht¬
bewußtseins überhebt. Kant sagt nämlich: „Es ist eine herrliche Sache um die
Unschuld, nur ist es auch wiederum sehr schlimm, daß sie sich nicht wohl be¬
wahren läßt und leicht verführt wird.“ 1 Die Unschuld des einfachen Herzens,
das unbeirrbar seine Pflicht kennt, besteht nicht so sehr darin, durch die Ober¬
gewalt der Neigungen nicht vom Wege abgebracht zu werden. Darin vielmehr
erweist sich die Herzensunschuld, daß sie in aller Abweichung vom Wege des
Rechten, wie sie nur bei einem ,heiligen Willen1 überhaupt nicht vorkommt,
dennoch das Unrecht unbeirrt erkennt; - sie erwehrt sich nicht der übermäch¬
tigen Neigungen schlechthin, wohl aber der Beirrung durch die Vernunft selber.
Die praktische Vernunft entfaltet nämlich unter den Einflüsterungen der
Affekte eine spezifische Dialektik, durch die sie die verpflichtende Kraft des
Gebotenen abzuschwächen weiß. Sie macht Gebrauch von dem, was ich die
,Dialektik der Ausnahme“ nennen möchte. Sie bestreitet nicht die Geltung des
Sittengesetzes, aber sie sucht den Ausnahmecharakter der Situation, in der sich
der Handelnde befindet, geltend zu machen, in dem Sinne, daß unter den ge¬
gebenen Umständen bei aller Geltung des Gesetzes doch eine Ausnahme ge¬
rechtfertigt sei. Es ist die von solcher Verführung bedrohte sittliche Vernunft,
der die moralphilosophische Reflexion zu Hilfe kommen soll. Sie bedarf
solcher Hilfe um so mehr, als die moralphilosophische Reflexion selber in ihrer

1 Grundlegung zur Metaphysik der Sitten. BA 22; Ak.-Ausg. IV 404 f.


Über die Möglichkeit einer philosophischen Ethik 183

,gemeinen' Form dieser Verführung indirekt Vorschub leistet. Indem Kants


,Grundlegung im Wesen der sittlichen Verbindlichkeit die Ausnahmslosigkeit
denkt - das ist der Sinn des kategorischen Imperativs stellt sie die Reinheit
der sittlichen Vernunftentscheidung her.
Der Sinn des Kantischen Formalismus besteht also darin, die Reinheit dieser
sittlichen Vernunftentscheidung gegen alle Trübungen durch die Gesichts¬
punkte der Neigung und des Interesses - im naiven wie im philosophischen
Bewußtsein - zu sichern. Insofern hat der Kantische Rigorismus, der nur eine
solche Willensbildung für sittlich wertvoll erklärt, die rein aus Pflicht und
gegen alle Neigung geschieht, einen klaren methodischen Sinn. Es ist, mit Hegel
zu reden, die Gestalt der gesetzesprüfenden Vernunft, die hier vorliegt.
Allein hier stellt sich doch die Frage, wie es zu solcher Gesetzesprüfung
angesichts der empirischen Abhängigkeit der menschlichen Vernunft, ihrem
eingewurzelten ,Hang zum Bösen', überhaupt kommt. Kants moralphiloso¬
phische Reflexion setzt, wie vor allem Gerhard Krüger mit Recht betont hat,
die Anerkennung des Sittengesetzes bereits voraus. Die Formeln, die der Ur¬
teilskraft als Typen an die Hand gegeben werden, zum Beispiel die des Natur¬
gesetzes oder die des Zwecks an sich, sind so unwirklich, daß sie nicht an sich
mit Überzeugungskraft ausgestattet sind. Erinnern wir uns etwa an das Bei¬
spiel des Selbstmörders, von dem Kant sagt: Ist er noch soweit im Besitz der
Vernunft, daß er nach dem Modell einer solchen Formel seinen Entschluß zum
Selbstmord überprüfen kann, dann wird er zu der Einsicht in die Unhalt¬
barkeit seines Entschlusses gelangen. Das ist doch offenbar eine bloße Kon¬
struktion. Soviel Vernunft hat der von Selbstmordgedanken Gejagte eben
gerade nicht. Wenn also auch die sittliche Unerlaubtheit des Selbstmordes da¬
durch eingesehen werden könnte, so ist doch, damit solche Einsicht überhaupt
zustande kommen kann, die Bereitschaft zu überlegen, ja mehr noch, die
Motivation zur Gewissensprüfung überhaupt vorausgesetzt. Worin soll sie
liegen? Kants Formel scheint nur von methodischer Relevanz für die Reflexion,
indem sie alle Verunklärung durch ,Neigung' ausschalten lehrt.
Offenbar hat Kants Rigorismus aber noch einen anderen moralischen Sinn
als den des methodischen Kontrastes von Pflicht und Neigung. Was Kant im
Auge hat, ist folgendes: Extreme Fälle, in denen sich ein Mensch auf seine reine
Pflicht gegen alle Neingung besinnt, lassen ihn der Macht seiner moralischen
Vernunft gleichsam inne werden und leisten damit die feste Gründung seines
Charakters. Er wird sich der sittlichen Grundsätze bewußt, die sein Leben
leiten. Die Ausnahmesituation, in der er die Prüfung gleichsam vor sich selbst
bestanden hat, hat ihn geprägt (vgl. etwa die Methodenlehre der reinen prak¬
tischen Vernunft in der ,Kritik der praktischen Vernunft).
Allein, man muß sich doch wiederum fragen, was eine Ausnahmesituation,
durch die solche Kontrastierung von Pflicht und Neigung überhaupt zur
Schärfe der Entscheidung zugespitzt wird, bestimmt. Es ist doch nicht jede
beliebige Situation von der Art, daß man sie zu dem Fall einer Bewährung
184 Über die Möglichkeit einer philosophischen Ethik

seiner eigentlichen sittlichen Entschiedenheit emporsteigern und einen Fall der


Gewissensprüfung aus ihr machen kann. Hegels bekannte Kritik an der Un¬
moralität des Sollens - weil Sollen schon den Widerspruch des Wollens und
insofern also den bösen Willen voraussetzt - hat hier angesetzt. Hat er nicht
recht, wenn er statt in der Selbstnötigung einer imperativen Ethik das Wesen
der Sittlichkeit in der Sitte sieht, das heißt in der Substantialität der sittlichen
Ordnung, die in den großen Objektivationen von Familie, Gesellschaft und
Staat ihre Verkörperung hat? Die Wahrheit des sittlichen Bewußtseins liegt
doch nicht schlechthin in der Skrupulosität, mit der es sich beständig der Un¬
reinheit seiner Antriebe und Neigungen quälerisch bewußt werden will. Gewiß
gibt es Konfliktslagen, in denen eine solche sittliche Selbstprüfung einsetzt. Das
Gewissen ist aber kein beständiger Habitus, sondern ist etwas, was einem
schlägt, was einem geweckt wird2. Und wodurch? Gibt es nicht so etwas wie
ein ,weites' Gewissen? Man kann wohl nicht leugnen, daß die Wachsamkeit
des Gewissens von der Substanz der Ordnungen abhängt, in denen man immer
schon steht. Die Autonomie der sittlichen Vernunft hat also gewiß den Charak¬
ter der intelligiblen Selbstbestimmung. Aber das schließt die empirische Be¬
dingtheit aller menschlichen Handlungen und Entscheidungen nicht aus. Man
kann zumindest in der Beurteilung anderer - auch das gehört in den Bereich
der Moral - den Blick auf diese Bedingtheit nicht ausschalten. Was man von
anderen verlangen kann (auch moralisch, nicht etwa nur juristisch), ist nicht
das gleiche, das man von sich selbst verlangen mag. Ja, die Anerkennung
menschlicher Bedingtheit (im nachsichtigen Urteil) verträgt sich sehr wohl mit
der erhabenen Unbedingtheit des Sittengesetzes. Es scheint mir für Kants
Reflexionsthematik bezeichnend, daß ihn der Unterschied zwischen dem Urteil
des Gewissens über sich selbst und dem sittlichen Urteil über andere nicht in¬
teressiert. Damit scheint mir Kants Ausweg auf unsere Frage nach dem morali¬
schen Sinn der Moralphilosophie am Ende doch unbefriedigend. Zwar mag
man ihm zugeben, daß keinem Menschen sittliche Konfliktslagen erspart blei¬
ben, und daß insofern die Ausnahme verführt zu werden, eine allgemeine
menschliche Situation ist. Aber würde daraus nicht folgen, daß der Übergang
zu einer Metaphysik der Sitten für einen jeden Menschen notwendig ist? In der
Tat zieht Kant diese Konsequenz. Seine Begründung der Moral will nur die
geheime Metaphysik eines jeden zur größeren Klarheit — aber damit auch ihn
selber zu größerer moralischer Festigkeit erheben. Ist eine solche Folgerung
aber erträglich? Hebt Kant damit nicht den Rousseau in sich wieder auf?
So scheint mir ein anderer Weg der Prüfung wert: eine moralphilosophische
Besinnung, die nicht den Ausnahmefall des Konfliktes, sondern den Regelfall
der Befolgung der Sitte zur Orientierung wählt. Man wird bei dem Einspruch,

2 Thomas betont, daß ,Gewissen' einen Akt meint und nur im erweiterten Sinne
einen zugrunde liegenden Habitus (STh I 79, 13: Bd. 6), wie der Hrsg, der Walber-
berger Studien dazu anmerkt.
Über die Möglichkeit einer philosophischen Ethik 185

der gegen die Orientierung an der Reflexionsform des moralischen Bewußtseins


und der reinen ,Sollens‘-Ethik erhoben wird, im besonderen an die in unserem
Jahrhundert von Max Scheler und Nicolai Hartmann entwickelte materiale
Wertethik denken. Sie hat sich mit Bewußtsein dem Kantischen Formalismus
entgegengestellt. Und wenn sie auch bei Scheler maßlos und ungerecht den sitt¬
lichen Vernunftcharakter des Kantischen Formalismus der Pflicht gänzlich ver¬
kannt hat, so hat sie doch das unbestreitbare positive Verdienst, die substan-
tialen Inhalte der Sittlichkeit und nicht nur die Konfliktsform des Sollens und
Wollens zum Gegenstand der moralphilosophischen Analyse gemacht zu
haben. Der Begriff des Wertes, der hier zu systematischer Bedeutung aufsteigt,
soll die Verengung auf den Pflichtbegriff, das heißt aber auf die bloßen Ziele
des Strebens und die Normen des Sollens, brechen. Es gibt auch sittlich Wert¬
volles, was nicht Gegenstand eines Strebens sein und nicht geboten werden
kann. So gibt es zum Beispiel keine Pflicht zu lieben. Kants fatale Umdeutung
des christlichen Fiebesgebots in eine Pflicht zum praktischen Wohltun redet in
dieser Hinsicht eine deutliche Sprache. Ist doch Fiebe auch moralisch gesehen
etwas Höheres als pflichtgemäßes Wohltun. In Anlehnung an die phänomeno¬
logische Theorie von der unmittelbaren Evidenz aller Wesensgesetzlichkeiten
und des Apriori überhaupt begründete Scheler daher ein apriorisches Wert¬
system auf die Unmittelbarkeit des apriorischen Wertbewußtseins. Dies erfaßt
nicht nur die eigentlichen Strebensziele des sittlichen Wollens, sondern ragt
nach unten in die Vitalsphäre und in die Sphäre der Nützlichkeitswerte hinein,
nach oben reicht es bis hinauf in die Sphäre des Heiligen. Eine solche Ethik
erfaßt also wirklich auch die substantialen Inhalte der Sittlichkeit und nicht
nur das Reflexionsphänomen der gesetzesprüfenden Vernunft.
Indessen, selbst wenn eine solche Wertethik den Begriff des Ethos und des
Wechsels der Ethosgestalten ausdrücklich in ihre Besinnung einbezieht, kann
sie doch der immanenten Konsequenz ihres methodischen Anspruches, aprio¬
rische Wertordnungen zu erschauen, nicht entgehen. Das tritt bei Nicolai
Hartmann mit aller Klarheit hervor, der die apriorische Hierarchie der Werte
nicht als ein in sich geschlossenes System mit der Spitze im Wert des Heiligen
denkt, sondern als einen offenen Bereich von Werten, einen unermeßlichen
Gegenstand menschlicher Erfahrung und zugleich ein unermeßliches For¬
schungsgebiet. Der Fortschritt der Forschung entdeckt immer feinere Wert¬
strukturen und Wertverhältnisse und berichtigt damit herrschende Wertblind¬
heit. Das muß aber in letzter Konsequenz besagen, daß die Ethik als Wert¬
forschung eine Förderung und Verfeinerung des sittlichen Wertbewußtseins
selbst bringt. Die Moralphilosophie kann also zwar nicht mit Autorität lehren,
das heißt neue Werte setzen. Aber sie kann das Wertbewußtsein so entwickeln,
daß es diese Werte in sich entdeckt. Die Moralphilosophie hat daher, wie
Nicolai Hartmann sagt, eine maieutische Funktion.
Eine solche Theorie scheitert aber an der (von Scheler richtig erkannten)
Notwendigkeit, daß jede Moral eine konkrete Ethosgestalt ist. Ganz unver-
186 Über die Möglichkeit einer philosophischen Ethik

meidlicherweise muß, wenn sie die moralphilosophische Leitidee der materialen


Wertehik darstellt, auch die Idee einer unendlichen Verfeinerung des Wert¬
bewußtseins ein eigenes Ethos implizieren und begründen, und zwar ein
solches, dem sich andere Ethosgestalten entgegenstellen. Man denke etwa an
den durch das,Vorbeigehen“ (Nietzsche) verletzten Wert der Fülle, den Hart¬
mann besonders hervorhebt. Die Wertethik hat in sich selbst die notwendige
und nicht übersteigbare Schranke, selber ein Ethos zu prägen, was dem metho¬
dischen Anspruch dieser apriorischen Wertforschung widerspricht. Kein
menschliches, und das heißt endlich geschichtlich gültiges Moralsystem kann
überhaupt diesen methodischen Anspruch erfüllen. Es ist ein unendliches Sub¬
jekt, auf das die Grundidee eines apriorischen Wertsystems wesenhaft bezogen
ist. So erreicht die materiale Wertethik, obwohl sie im Unterschied zu dem
Kantischen Formalismus die substantialen Inhalte der Sittlichkeit mit umfaßt,
den Ausweg nicht, nach dem wir auf der Suche sind. Die Unmittelbarkeit des
Wertbewußtseins und die Philosophie der Moral klaffen auseinander.
Orientieren wir uns statt dessen lieber an Aristoteles, bei dem es keinen
Wertbegriff gibt, sondern ,Tugenden“ und ,Güter“, und der dadurch zum
Begründer der philosophischen Ethik geworden ist, daß er die Einseitigkeit
des sokratisch-platonischen Intellektualismus“ berichtigte, ohne seine wesent¬
lichen Einsichten preiszugeben. Der Begriff des Ethos, wie er ihn zugrunde legt,
drückt ja eben das aus, daß die ,Tugend“ nicht nur im Wissen besteht, daß die
Möglichkeit des Wissens vielmehr von dem abhängt, wie einer ist, dieses Sein
eines jeden aber wiederum durch Erziehung und Lebensweise seine vorgängige
Prägung erfahren hat. Vielleicht ist der Blick des Aristoteles stärker auf die
Bedingtheit unseres sittlichen Seins, auf die Abhängigkeit des einzelnen Ent¬
schlusses von seinen jeweiligen praktischen und gesellschaftlichen Determinan¬
ten gerichtet und weniger auf die Unbedingtheit, die dem ethischen Phänomen
zukommt. Gerade diese hat Kant in ihrer Reinheit erfolgreich herausge¬
arbeitet, so wie sie in Platos den gesamten Staatsentwurf tragender Frage¬
stellung nach der ,Gerechtigkeit selbst“ ihr großartiges antikes Gegenstück
besitzt. Aber es gelingt Aristoteles, das Wesen des sittlichen Wissens so aufzu¬
klären, daß es ebensosehr die Subjektivität des moralischen Bewußtseins, das
den Konfliktfall beurteilt, im Begriff der ,Vorzugswahl“ deckt, wie auch die
tragende Substantialität von Recht und Sitte, die sein sittliches Wissen und sein
jeweiliges Wählen bestimmt. Seine Analyse der ,Phronesis“ erkennt im sitt¬
lichen Wissen eine Weise des sittlichen Seins selbst, die entsprechend nicht ab¬
lösbar ist von der ganzen Konkretion dessen, was er Ethos nennt. Das sittliche
Wissen erkennt das Tunliche, das, was eine Situation fordert, und es erkennt
dieses Tunliche auf Grund einer Überlegung, die die konkrete Situation auf
das bezieht, was man überhaupt für recht und richtig hält. Sie hat also die
logische Struktur eines Schlusses, dessen eine Prämisse das allgemeine Wissen
um das Rechte ist, das in den Begriffen der ethischen Tugenden gedacht wird.
Gleichwohl handelt es sich nicht um eine bloße Subsumtion, eine bloße Lei-
Über die Möglichkeit einer philosophischen Ethik 187

stung der Urteilskraft. Denn es hängt von dem Sein des Menschen ab, ob er
eine solche Besinnung unbeirrt durchführt. Dem von Affekten Überfluteten
geht gerade diese Besinnung, das heißt die Orientierung an den Grundlagen
seiner sittlichen Überlegung, verloren. Sie sind im Augenblick wie verdunkelt
(Evftbs oi> cpaivezcu t) üqxv3)- Aristoteles verdeutlicht es etwa am Beispiel des
Berauschten: Die Unzurechnungsfähigkeit, die ein Betrunkener hat, ist keine
sittliche Unzurechnungsfähigkeit. Denn es lag ja bei ihm, im Trinken ma߬
zuhalten.
So liegt der Schwerpunkt der philosophischen Ethik des Aristoteles in der
Vermittlung zwischen Logos und Ethos, zwischen der Subjektivität des Wissens
und der Substantialität des Seins. Nicht in den allgemeinen Begriffen von
Tapferkeit, Gerechtigkeit usw. vollendet sich das sittliche Wissen, sondern in
der konkreten Applikation, die das hier und jetzt Tunliche im Lichte solchen
Wissens bestimmt. Man hat mit Recht darauf hingewiesen, daß die letzte Aus¬
sage des Aristoteles über das, was richtig ist, in der unbestimmten Formel des
,wie es sich gehört' (wg det) besteht. Nicht die großen Leitbegriffe einer heroi¬
schen Vorbildsethik und ihre ,Tafel der Werte' sind der eigentliche Inhalt der
aristotelischen Ethik, sondern die Unscheinbarkeit und Untrüglichkeit des kon¬
kreten sittlichen Bewußtseins (d>g ö Xöyog ö ög'd'ög Xeyet), das seinen Aus¬
druck; in so nichtssagenden und alles umfassenden Begriffen findet wie: was
»sich gehört', was ,anständig', was ,gut und recht' ist. Es ist eine Verkennung,
wenn man den Nachdruck, der auf dieser universellen Konkretisierungsformel
bei Aristoteles liegt, selber wieder in eine Pseudogegenständlichkeit wendet
und etwa darin den speziellen ,Wert der Situation' beschrieben sieht (N. Hart¬
mann). Vielmehr ist das gerade der Sinn der Lehre von der ,Mitte', die Aristo¬
teles entwickelt, daß alle begriffliche Bestimmung der überlieferten Tugend¬
begriffe nur eine schematisch-typische Richtigkeit besitzt, die aus den Xeyö/.teva
geschöpft ist. Dann aber ist die philosophische Ethik in der gleichen Lage, in
der sich ein jeder befindet. Das, was als recht gilt, was wir im Urteil über uns
selber oder über andere bejahen oder beanstanden, folgt unseren allgemeinen
Vorstellungen von dem, was gut und recht ist, gewinnt aber seine eigentliche
Bestimmtheit erst in der konkreten Wirklichkeit des Falles, der kein Fall der
Anwendung einer allgemeinen Regel ist, sondern im Gegenteil das Eigentliche,
um das es geht und für das die typischen Gestalten der Tugenden und die
Struktur der ,Mitte', die Aristoteles an ihnen nachweist, nur ein vages Schema
darstellen. Daher ist diejenige Tugend, kraft deren wir diese Mitte treffen
und die Konkretisierung leisten, die überhaupt erst das Tunliche als das
jigamöv äyd'&öv erweist, die cpQÖviqatg, keineswegs eine besondere Auszeich¬
nung dessen, der philosophiert. Vielmehr sieht sich umgekehrt auch der, der
über das Gute und Rechte im allgemeinen nachdenkt, auf diesen praktischen
Xöyog genauso verwiesen wie jeder andere, der seine Vorstellungen von dem,

3 Eth. Nie. Z 5: 1140b 17.


188 Über die Möglichkeit einer philosophischen Ethik

was gut und recht ist, in die Tat umsetzen soll. Ausdrücklich erkennt es
Aristoteles als den Fehler der Leute (der uoXXol), sich aufs Theoretisieren zu
verlegen (ini tov Arfyov xaiayevyovxt.g) und, statt zu tun, was recht ist, darüber
zu philosophieren4.
Es ist also ganz gewiß nicht so, wie es manchmal bei Aristoteles den An¬
schein hat, als hätte es die (pQÖvr)otg nur mit den rechten Mitteln zum vorge¬
gebenen Zwecke zu tun. Sie bestimmt durch die Konkretion der sittlichen
Überlegung den ,Zweck' selbst erst in seiner Konkretion, nämlich als den
,tunlichen' (als ngayaöv hyaftöv).
Gewiß hat Kant recht, wenn er im Ideal der Glückseligkeit mehr ein Ideal
der Einbildungskraft als der Vernunft sieht, und insofern ist es durchaus rich¬
tig, daß es keinen angebbaren Inhalt unserer Willensbestimmung geben kann,
der allgemein verbindlich wäre und von unserer Vernunft als sittliches Gesetz
behauptet werden könnte. Aber man muß sich doch fragen, ob nicht die Auto¬
nomie der praktischen Vernunft, die uns die Unbedingtheit unserer Pflicht
gegen die Einrede unserer Neigungen absichert, mehr nur eine einschränkende
Bedingung unserer Willkür darstellt, aber nicht das Ganze unseres sittlichen
Seins bestimmt, das, von der Selbstverständlichkeit des Rechten durchherrscht,
sich jeweils praktisch verhält, indem es das Tunliche wählt. (Mit i^ig ist nicht
eine Möglichkeit zu dem oder jenem, wie Können und Wissen es sind, gemeint,
sondern eine Seinsverfassung wie die Natur, ein ,so und nicht anders'.)
Das Tunliche - das ist nun freilich nicht nur das, was recht ist, sondern
auch, was nützlich, zweckmäßig und insofern ,richtig' ist. Die Durchdringung
dieser beiden Richtigkeiten' im praktischen Verhalten des Menschen ist es
offenbar, in der nach Aristoteles das menschliche Gute besteht. Gewiß handelt
man im sittlich rechten Verhalten nicht in dem Sinne zweckentsprechend, wie
das der Handwerker tut, der seine Sache kann (zezvri) - sittliches Handeln ist
nicht dadurch richtig, daß das, was dabei zustandegebracht wird, richtig ist,
sondern seine Richtigkeit liegt auch und vor allem in uns selbst, im Wie unseres
Verhaltens - wie es eben der Mensch, der ,richtig ist', tut (der onovdalog ävi)g).
Aber auch umgekehrt gilt, daß sittliches Handeln, das soviel mehr von unserem
Sein als von unserem ausdrücklichen Bewußtsein (eiöcög) abhängt, uns selbst
beständig mit hervorbringt, wie wir sind (und nicht: wie wir uns wissen).
Insofern aber das Ganze unseres Seins von Fähigkeiten, Möglichkeiten, Um¬
ständen abhängt, die nicht einfach in unsere Hand gegeben sind, umfaßt die
aim^oela, auf die unser Handeln zielt, und die evdaLptovCa, auf die wir ange¬
legt sind und nach der wir streben, mehr, als wir selber sind. Unser Handeln
steht im Horizont der Polis und weitet damit unser Wählen des Tunlichen in
das Ganze unseres äußeren gesellschaftlichen Seins hinein.
Die Ethik erweist sich als ein Teil der Politik. Denn die Konkretisierung
unser selbst, deren Umriß in den Tugendgestalten und ihrer Hinordnung auf

4 Eth. Nie. B 3: 1105b 12ff.


Über die Möglichkeit einer philosophischen Ethik 189

die höchste und wünschbarste Lebensform vorgezeichnet ist, reicht weit in das
allen Gemeinsame hinein, das die Griechen Polis nannten und dessen rechte
Gestaltung wir stets mitverantworten. Das erst macht verständlich, daß ein
zentraler Gegenstand der aristotelischen Pragmatie die Freundschaft ist, nicht
als ,Freundschaftsliebe“, sondern als jenes Mittlere zwischen Tugenden und
Gütern, das nur /.ist’ ägevijg ist und dessen (stets gefährdeter) Besitz aus einem
vollen Leben nicht wegzudenken ist.
So betont Aristoteles bei der sittlichen Entscheidung nicht jene erhabene
Unbedingtheit, die Plato und Kant fordern. Zwar weiß auch Aristoteles, daß
sittliches Pfandein nicht einfach beliebig gewählte Zwecke zweckgerecht ver¬
folgt, sondern um seiner selbst willen, weil es ,schön“ ist, gewählt wird, aber
es steht immer im Ganzen eines vielfach beschränkenden und bedingenden
Seins, das es zu sehen und zu meistern gilt. Selbst das höchste Ideal mensch¬
licher Existenz, die reine Kontemplation, auf die der ganze Aufbau der aristo¬
telischen Ethik noch immer, wie bei Plato, hinausläuft5, bleibt auf das han¬
delnde Leben und seine rechte Bewältigung bezogen, von der es selber abhängt.
Darin aber wird dieser geniale Sinn für das vielfach Bedingte, der die
spekulative Tiefe des Aristoteles ausmacht, moralphilosophisch fruchtbar, daß
sich hier - und hier allein - eine Antwort auf die uns beunruhigende Frage
ergibt, wie eine philosophische Ethik, eine menschliche Lehre über das Mensch¬
liche, möglich ist, ohne zu einer unmenschlichen Selbstüberhebung zu werden.
Die moralphilosophische Besinnung, die in der philosophischen Pragmatie
der Ethik niedergelegt ist, ist nicht eine Theorie, die zu einer praktischen An¬
wendung geführt werden muß. Sie ist überhaupt nicht ein Wissen im allge¬
meinen, ein Wissen auf Abstand, das den konkreten Anspruch der Situation
nur verdecken könnte, wie jenes Bewußtsein der Gesetzestreue im Falle des
Priesters und Leviten im Gleichnis vom Barmherzigen Samariter. Das Allge¬
meine, Typische, das sich in einer der Allgemeinheit des Begriffes überantwor¬
teten philosophischen Untersuchung allein sagen läßt, ist vielmehr nicht
wesensverschieden von dem, was das ganz untheoretische, durchschnittlich-all¬
gemeine Normbewußtsein in eines jeden praktisch-sittlicher Überlegung leitet.
Es ist vor allem insofern nicht von ihm unterschieden, als es seinerseits die
gleiche Applikationsaufgabe auf gegebene Umstände einschließt, die allem
sittlichen Wissen zukommt, dem des Einzelnen so gut wie dem des staats-
männisch für alle Tätigen. Nicht nur hat das sittliche Wissen, das das
konkrete Handeln leitet, als Phronesis selber ein sittliches Sein, eine ägex'r) (es
ist e^tg - freilich eine egtg xov ähy&eheiv). Auch die philosophische Pragmatie
der Ethik hat moralische Relevanz, und das ist nicht ein hybrider Anspruch
der ,Schule“, der vom ,Leben“ desavouiert wird, sondern ist die notwendige
Folge dessen, daß auch sie unter Umständen steht, die sie bedingen. Sie ist

5 Vgl. dazu meine Rezension von l’Ethique ä Nicomaque von Gauthier-Jolif,


Philosophische Rundschau 10, 1962, S. 293 ff.
190 Uber die Möglichkeit einer philosophischen Ethik

nicht Sache eines jeden und nicht für jeden, sondern nur für den, der durch
Erziehung in Gesellschaft und Staat zu einer solchen Reife des eigenen Seins
geführt worden ist, daß er das im allgemeinen Gesagte im konkreten Betrof¬
fensein wiederzuerkennen und praktisch wirksam werden zu lassen vermag.
Der Hörer der aristotelischen Ethik-Vorlesung mußte von sich aus über die
Gefahr hinaus sein, nur theoretisieren zu wollen, um sich dem Anspruch der
Situation zu entziehen. Diese Gefahr beständig im Blick zu halten, darin
scheint mir das unveraltete Recht des Aristoteles zu bestehen. Wie Kant mit
seinem ,Formalismus', hat auch er alle falschen Ansprüche von der Idee einer
philosophischen Ethik ferngehalten. Während Kant das moralphilosophische
Räsonnement der Aufklärung und ihren verblendeten Vernunftsstolz zuschan¬
den machte, indem er die Unbedingtheit der praktischen Vernunft von allen
Bedingtheiten der menschlichen Natur löste und in ihrer transzendentalen
Reinheit darstellte, hat Aristoteles umgekehrt die Bedingtheit der menschlichen
Lebenssituationen in den Mittelpunkt gestellt und als die zentrale Aufgabe der
philosophischen Ethik wie des sittlichen Verhaltens die Konkretisierung des
Allgemeinen und die Applikation auf die jeweilige Situation ausgezeichnet.
Kant hat das unendliche Verdienst, die verhängnisvolle Unreinheit des sitt¬
lichen Räsonnements, jenen ,ekelhaften Mischmasch' von moralischen und
pragmatischen Motiven aufgedeckt zu haben, der die ,praktische Weltweisheit'
im Zeitalter der Aufklärung als eine höhere Form der Moralität selber gelten
ließ. Von diesem Wahne sind wir durch Kant geheilt. Aber es gibt noch einen
anderen Aspekt der Dinge, der dazu nötigt, gerade die Bedingtheit allen
menschlichen Seins und damit auch die seines Vernunftgebrauchs anzuerkennen.
Es ist vor allem der Aspekt der Erziehung, in dem dieses wesenhaft Bedingte
des Menschen sichtbar wird. Davon weiß auch Kant, aber die Grenze seiner
Wahrheit wird daran sichtbar, wie er davon weiß. Kant zeigt höchst ein¬
drucksvoll, welche Macht die Vorstellungen der sittlichen Vernunft, der Pflicht
oder der Gerechtigkeit selbst auf das Kindergemüt auszuüben vermögen und
daß es nicht richtig sei, immer nur mit dem pädagogischen Mittel von Lohn
und Strafe zu arbeiten, weil das die egoistischen Triebfedern stärke und
bestätige. Gewiß ist daran etwas Wahres - und doch: daß Lohn und Strafe,
daß Lob und Tadel, daß Vorbild und Nachfolge und der Grund von Solidari¬
tät, Sympathie und Liebe, auf dem ihre Wirkung beruht, noch vor aller An-
sprechbarkeit der Vernunft das ,Ethos' des Menschen formen und so über¬
haupt erst Ansprechbarkeit durch Vernunft möglich machen, das ist der Kern
der aristotelischen Lehre von der Ethik. Dem wird Kant nicht gerecht. Die
notwendige Beschränkung, der unsere Einsicht in das, was sittlich recht ist,
unterliegt, braucht nicht zu jener korrumpierenden Vermischung der Motive
zu führen, die Kant bloßstellt. Insbesondere ist der antike Eudämonismus - im
Unterschied zu der Weltweisheit der Aufklärung - nicht als Trübung der
transzendentalen Reinheit des Sittlichen, nicht als Heteronomie zu beurteilen.
Das beweist vor allem der utopische Rigorismus der platonischen Politeia
Über die Möglichkeit einer philosophischen Ethik 191

(II. Buch) — aber auch Aristoteles verkennt keinen Augenblick, daß man das
Rechte um seiner selbst willen zu tun hat und daß keine Berücksichtigung
hedonistischer, utilitaristischer oder eudämonistischer Gesichtspunkte die sitt¬
liche Unbedingtheit echter Entscheidung beeinträchtigen darf. Nur ist eben
die Bedingtheit unserer Einsicht im allgemeinen - überall dort, wo es nicht um
Entscheidung im eminenten Sinne des Wortes geht, sondern um Wahl des
Besseren (prohairesis) — kein Mangel und keine Schranke: sie hat die gesell¬
schaftlich-politische Bestimmtheit des Einzelnen zu ihrem positiven Inhalt.
Diese Bestimmtheit ist aber mehr als Abhängigkeit von den wechselnden Be¬
dingungen des gesellschaftlichen und geschiditlichen Lebens. Gewiß ist jeder¬
mann abhängig von den Vorstellungen seiner Zeit und seiner Welt, aber weder
folgt daraus die Legitimität des moralischen Skeptizismus noch auch die des
technischen Manipulierens aller Meinungsbildung unter der Perspektive der
politischen Machtausübung. Die Veränderungen, die in Sitte und Denkart
einer Zeit Platz greifen und die insbesondere den Älteren den bedrohlichen
Eindruck einer totalen Auflösung der Sitte zu geben pflegen, vollziehen sich
auf einem ruhenden Grunde. Familie, Gesellschaft, Staat bestimmen die
Wesensverfassung des Menschen, indem sich sein Ethos mit wechselnden In¬
halten erfüllt. Zwar weiß niemand zu sagen, was alles aus dem Menschen und
seinen Formen des Zusammenlebens zu werden vermag - und doch heißt das
nicht, daß alles möglich ist, daß alles nach Belieben und Willkür eingerichtet
und festgesetzt werden kann, wie es der Mächtige will. Es gibt ein von Natur
Rechtes6. Aristoteles findet für die Bedingtheit alles sittlichen Wissens durdi
das sittliche und politische Sein den Gegenhalt in der mit Plato geteilten Über¬
zeugung, daß die Ordnung des Seins mächtig genug ist, aller menschlichen
Verwirrung eine Grenze zu setzen. In aller Entstellung bleibt die Idee unzer¬
störbar: „Wie stark ist doch die Polis auf Grund ihrer eigenen Natur“ (Plato,
Politikos 302).
So kann Aristoteles die Bedingtheit alles menschlichen Seins im Inhalt seiner
Lehre vom Ethos anerkennen, ohne daß diese Lehre selber ihre Bedingtheit
verleugnete. Eine philosophische Ethik, die dergestalt nicht nur um ihre eigene
Fragwürdigkeit weiß, sondern eben diese Fragwürdigkeit zu ihrem wesent¬
lichen Inhalt hat, scheint mir allein der Unbedingtheit des Sittlichen zu
genügen.

* Näheres darüber in .Wahrheit und Methode'2, S. 302 ff., S. 490 f.


KAUSALITÄT IN DER GESCHICHTE?

Der neuzeitliche Kausalbegriff hat sein eigentliches Heimatrecht im Umkreis


der Begriffe, die ursprünglich für die Wissenschaft von der Natur geprägt wor¬
den sind. Denn es macht die Seinsweise der Natur, so wie sie in unserer Er¬
fahrung erscheint, aus, nur als Folgezusammenhang von Ursache und Wirkung
denkbar zu sein. Kant rechnete die Kausalität deshalb zu den Stammbegriffen
unseres Verstandes, die überhaupt erst a priori Erfahrung möglich machen.
Und es ist wahr: Erfahrung und auf Erfahrung gegründete Wissenschaft von
der Natur schließt eine Annahme über das Sein der Natur ein, nämlich daß
das Grundlose, der Zufall, das Wunder in ihr keinen Platz haben. Um es mit
Kant zu sagen: Natur ist nichts als »Materie unter Gesetzen*. Es ist leicht ein¬
zusehen, daß das Kausalprinzip in diesem Sinne zum Naturzusammenhang als
solchem gehört. Denn ein von unvoraussehbaren Eingriffen aus einer anderen
Ordnung unterbrochener Naturzusammenhang höbe die Einheit der Erfah¬
rung auf, machte damit jedes Vorauswissen des Ablaufs der Dinge unmöglich
und würde damit die Voraussetzung zerstören, auf der die Handhabung der
Naturkräfte zu menschlichen Zwecken, die wir Technik nennen, beruht.
Man mag sagen, daß die Erfahrung doch eben das lehrt, daß die unberechen¬
bare Willkür der Menschen beständig in den Naturlauf eingreift, und daß
trotzdem in gewissem Umfange Vorauswissen über den Ablauf der Dinge
möglich ist. So gibt es zum Beispiel Prognosen in bezug auf wirtschaftliche und
soziale Entwicklungen, bei denen es sich doch unzweifelhaft um Auswirkungen
freier menschlicher Entscheidungen handelt. Daß das gesellschaftliche Han¬
deln der Menschen ihrem inneren Freiheitsbewußtsein zum Trotz, mindestens
im großen Durchschnitt, Voraussagen erlaubt, scheint zu beweisen, daß die
menschliche Natur selber ein Glied des Naturzusammenhanges bleibt, in dem
alles mit rechten Dingen zugeht.
Gleichwohl ist die Erfahrung der Geschichte eine ganz andere. Hier den
Begriff der Kausalität anwenden, heißt in Wahrheit ein Problem stellen. Denn
Geschichte ist ein Ablauf der Dinge, ein Zusammenhang von Ereignissen,
der nicht primär in der Weise des Planens und des Erwartens und des noch so

Erstdruck in ,Ideen und Formen', Festschrift für Hugo Friedrich. Vittorio Kloster¬
mann Verlag, Frankfurt/Main 1964.
Kausalität in der Geschichte? 193

unsicheren Vorauswissens erfahren wird, sondern grundsätzlich immer als ein


schon geschehener. Damit gehört er aber einer ganz anderen Dimension an.
Hier wird nicht die freie Entscheidung des einzelnen mit einkalkuliert in eine
Rechnung, deren Resultat voraussehbar ist. Hier wird sie vielmehr erfahren
als das, was nicht vorauszusehen war und eben dadurch, daß es so geschah wie
es geschah, Geschichte gemacht hat. Es sind ,Szenen der Freiheit', aus denen
Ranke zufolge die Weltgeschichte besteht. Diese Formulierung läßt die Ge¬
schichte wie ein Schauspiel erscheinen. In ihr gibt es Auftritte, die den betrof¬
fenen Zuschauer in eine neue Bestimmung einweihen, die der Gang der Dinge
erfährt. Mag derselbe im allgemeinen durch die gegebenen Umstände bestimmt
sein, so daß vieles unmöglich ist und nur weniges möglich - der Zusammen¬
hang, zu dem sich die Weltgeschichte fügt, ist alles andere als in seiner Not¬
wendigkeit erkennbar oder gar voraussehbar. Er hat nicht den Charakter des
Zusammenhangs von Ursache und Wirkung, wie er unserer Erkenntnis und
Berechnung des Naturlaufs zugrunde liegt. Wenn es ein alter Grundsatz der
Naturerkenntnis ist, daß die Ursache der Wirkung gleich sein muß, so gilt für
die Erfahrung der Geschichte im Gegenteil, daß kleine Ursachen große Wir¬
kungen haben. Es gehört offenbar zu der Erfahrung dessen, der in der Ge¬
schichte steht, daß sie ihn überrascht. Niemals besitzt er ein adäquates Bewußt¬
sein dessen, was ist. Für jede Situation, in der er sich befindet, ist in Wahrheit
schon unendlich vieles vorentschieden, von dem er nichts weiß. Das Verhalten
eines einzelnen in einem unwiederholbaren Augenblick seines Handelns ist
zwar nicht das der völligen Ahnungslosigkeit oder totalen Blindheit. Er sucht
die Lage zu erkennen, in der er sich befindet, und das Richtige zu treffen, das
heißt das, was der Lage gerecht wird und sie im gewünschten Sinne meistert.
Aber „was sind Hoffnungen, was sind Entwürfe, die der Mensch, der ver¬
gängliche, baut auf vergänglichem Grunde“. Er hat keinen festen Grund. Was
in Wahrheit ist, erkennt niemand recht. Es sind die unscheinbaren Anfänge,
aus denen das wird, was die Zukunft beherrschen wird. Diese erkennen auch
jene nicht, ja sie vielleicht am allerwenigsten, die als Männer des poli¬
tischen oder wirtschaftlichen Lebens an ,leitenden' Stellen stehen: sie wissen,
was geplant ist, sie wissen, was im Gange ist, sie wissen, was man erwartet;
aber was sie notwendig vergessen, ist, was man zu erwarten hat, nämlich das
Unberechenbare, das nicht Eingeplante, das Unvorhergesehene. Gewiß
bedarf der Mann des politischen Lebens eines besonderen Sinnes für Chancen
und Möglichkeiten, einer Witterung für das Kommende. Schon der Kaufmann,
erst recht der Wirtschaftsführer und der Staatsmann, muß dergleichen haben.
Aber wie wenig ist das alles Erkenntnis, wie wenig Gewißheit und wieviel
blitzschnelle Anpassung an sich wandelnde Situationen, Fähigkeit, jedem
Ereignis immer noch eine positive Seite abzugewinnen. Der Opportunist ist
der Wirklichkeit der Geschichte immer noch weit näher als der Doktrinär.
Was kann bei dieser Lage der Dinge ,Kausalität in der Geschichte' meinen?
Offenbar ist es die Frage nach etwas Unbekanntem, das das Bewußtsein der

13 Gadamer, Schriften I
194 Kausalität in der Geschichte?

menschlichen Freiheit und Verantwortlichkeit auf eigentümliche Weise lähmt.


Man muß es nur in seinen konkreten Gestalten aufsuchen, zum Beispiel in der
erdrüdcenden Last der Schuld. Wer und was an einer schlimmen Entwicklung
der Dinge schuld war, das ist nicht nur eine sich unvermeidlich aufdrängende
Frage - es ist auch und zumeist eine Frage, die uns ratlos läßt, ja sogar, die
einen inneren Widerstand weckt: als ob jemand an etwas schuld sein kann,
das er gar nicht gewollt und ganz gewiß nicht so gewollt hat. Was heißt ge¬
schichtliche Verantwortung? Ist es nicht die dunkle Unbegreiflichkeit des
Schicksals, das den Armen schuldig werden läßt? Was ist geschichtliche Erfah¬
rung anderes als ein Gemisch aus verspäteter Einsicht und Reue?
Und wie ist es im Leben des Einzelnen? Geschichtliche Erfahrung ist ja
immer auch Erfahrung des Einzelnen. Ein jeder wird in Mitleidenschaft ge¬
zogen von dem, was im Großen geschieht, mag diese Erfahrung auch für den
Einzelnen die des schuldlosen Leidens sein, die wir Schicksal nennen. Heißt
das nicht, daß es nicht nur die „bösen“ Taten sind, das was böse gemeint und
beabsichtigt war, die auf uns zurückfallen und in Einsicht und Reue, Schuld
und Strafe ihr unleugbares Dasein haben? Ist es doch im Leben des Einzelnen
ebenso, daß er auch das bereut, was er nicht voraussah, ja, weil er nicht voraus¬
sah, was aus seinem Tun folgte. Auch die moralische Problemlage ist nicht so
einfach, daß es allein auf die gute oder böse Gesinnung ankommt und die
unvorhergesehenen Folgen nicht mehr belasten. Es war das Verdienst des gro¬
ßen Soziologen Max Weber, daß er den Gegensatz von Gesinnungs- und Ver¬
antwortungsethik pointierte und damit das hier liegende Problem scharf
herausarbeitete. Er hat gezeigt, daß Unwissenheit dort, wo man wissen kann,
selber schuldhaft ist. Das ist eine unbestreitbare Wahrheit, aber sie gewinnt
ihre volle Zuspitzung erst darin, daß die Grenze dessen, was man wissen kann
oder hätte wissen können, einem empfindlichen Gewissen auf der Seele liegt.
So hat die Frage nach der Kausalität in der Geschichte etwas Zwiespältiges.
Einerseits begegnet sie als Schranke und Bedrohung der menschlichen Freiheit
und Verantwortlichkeit, - bis zur Erfahrung der Ohnmacht vor der Geschichte
und der Haltung eines gesellschaftlich-politischen Fatalismus, der ins ,Un¬
politische' treibt. Andererseits ist sie von dem Wunsch und Willen diktiert,
auch das undurchschaubare Geschehen, das die Geschichte zeitigt, mit der Helle
des Verstandes und der Gewissenhaftigkeit des Wissens zu durchdringen und
seinen Lauf zu bestimmen - bis zu der verwegenen Hoffnung des politischen
Utopismus, eine mündig gewordene Menschheit werde eines Tages ihr Glück
selber in die Hand nehmen und mit wissenschaftlicher Exaktheit ihren Weg in
die Zukunft gehen. Das sind zwei Extreme, die uns die Frage nach der Kausa¬
lität in der Geschichte sichtbar macht. Gibt es hier einen Weg der rechten Mitte,
der weder das eine noch das andere ist, oder ist gar die ganze Alternative schief,
ja, geht vielleicht die ganze Frage von Voraussetzungen aus, die der condition
humaine, der menschlichen Grundverfassung, ihrer Größe wie ihrem Elend,
unangemessen sind?
Kausalität in der Geschichte? 195

Man muß sich diese Frage stellen. Es könnte immerhin sein, daß der neu¬
zeitliche Kausalbegriff, der in der Mechanik des siebzehnten Jahrhunderts seine
klassische Ausprägung erfuhr und im achtzehnten Jahrhundert durch Hume
und Kant philosophisch legitimiert wurde, zwar dem Naturgeschehen gegen¬
über eine echte konstitutive Kategorie ist, daß er aber das menschliche Ge¬
schehen, das wir die Geschichte nennen, überhaupt nur am Rande und nicht in
seinem Wesen berührt. Wenn man sich an diese Frage heranwagt, so gilt es
zunächst, den Begriff der Kausalität selber zu prüfen.
Denn Begriffe sind nicht beliebige Werkzeuge des menschlichen Verstandes,
durch die er die Erfahrungen ordnet und meistert, sie sind vielmehr immer
schon aus der Erfahrung erwachsen, sie artikulieren unser Weltverständnis und
zeichnen damit den Gang der Erfahrung vor. So ist mit jedem Begriff, in dem
wir denken, immer schon eine Vorentscheidung gefallen, deren Legitimation
nicht mehr geprüft wird. Sich dieser Vorentscheidung bewußt werden, heißt
eine neue geistige Freiheit gewinnen, heißt neue Fragen sehen und neue Wege
zur Lösung alter Probleme bahnen. Wenn wir in diesem Sinne nach der Her¬
kunft des Begriffs der Kausalität fragen und den ursprünglichen Begriffszu¬
sammenhang aufsuchen, dem er angehört und aus dem er seine nähere Bestim¬
mung gewinnt, so bedeutet das: Vorurteile aufdecken, unter denen die Frage
nach der Kausalität in der Geschichte schon steht. So ist es ja immer, und das
macht das Geschäft der Philosophie auch in einem Zeitalter des unbedingten
Wissenschaftsglaubens, der der Philosophie kein wirkliches Wissen aus
eigenem Ursprung mehr zubilligt, zu einem echten Beitrag zur Verständigung
des Menschen mit sich selber: Mag immer die Antwort auf gestellte Fragen der
Methodik der Wissenschaft allein unterstehen, mag insofern die Philosophie
mit der Wissenschaft überhaupt nicht konkurrieren können — sie setzt dafür
früher an, dort, wo noch gar keine Fragen gestellt sind, bei den Begriffen, in
denen wir denken, und die uns im allgemeinen fraglos selbstverständlich sind.
Was die philosophische Reflexion entdeckt, ist, daß in ihnen Vorentschei¬
dungen liegen, die aber so gründlich verdeckt sind, daß man in ihren Deu¬
tungshorizont gleichsam eingesperrt ist. Es könnte sein, daß auch die Erfahrung
der Geschichte nur dann zu ihrer Wahrheit zu gelangen vermag, wenn man sich
der selbstverständlichen Herrschaft, die gewisse Begriffe wie der der Kausalität
über unser Denken ausüben, bewußt wird.
Mit Kausalität verbinden wir die Frage nach der Gesetzlichkeit des Ge¬
schehens, und alle Wissenschaft scheint von dieser Frage fraglos eingenom¬
men. Schon von einem antiken Denker, der für die moderne Wissenschaft viel¬
fach als Kronzeuge zitiert wird, von Demokrit, dem Schöpfer der griechischen
Atomtheorie, wußte das Altertum, daß er der Aitiologikos, der überall nach
den Ursachen Forschende war. Eine hübsche Geschichte, eine jener Anekdoten,
in denen mehr Wahrheit ist, als in zuverlässig Berichtetem, erzählt von ihm,
er habe eines Tages auf dem Markt ein Stück Kürbis gekauft und als er zu
Hause davon zu essen begann, war er ganz entzückt von der ungewöhnlichen
196 Kausalität in der Geschichte?

honigartigen Süße desselben. Ganz erregt sei er aufgesprungen und auf den
Markt zurückgeeilt, um von der Bäuerin zu erfahren, auf welchem Acker und
unter welchen Bedingungen dieser süße Kürbis gewachsen sei. Zum allgemeinen
Gelächter erfuhr er aber dort, daß der Kürbis in Honig gebettet zu Markte
gebracht worden sei. Als alle ihn auslachten, gab er die zornig entschlossene
Antwort: Und ich werde doch nicht aufhören, nach der Ursache zu forschen.
Ist auch das Geschehen der Geschichte ein solches Geschehen, bei dem man
nidtt aufhören soll, nach der Ursache zu forschen? Gibt es auch hier Gesetze,
und heißt Erkenntnis der Geschichte Erkenntnis der sie beherrschenden Ge¬
setze? Und wie dort die Gesetze der Natur bekannt sind und ihnen gegenüber
die neue Freiheit besteht, sie nach eigenen Zwecken einzurichten - wir nennen
so etwas Technik -, ist es so etwa auch bei dem Wissen über die Gesetze der
Geschichte, daß man dadurch eine Freiheit gegenüber der Geschichte gewinnt,
sie nach den eigenen Zwecken zu steuern? Oder ist es umgekehrt? Bedeutet
Kausalität in der Geschichte die Aufhebung der menschlichen Freiheit, die Ent¬
larvung des menschlichen Freiheitsbewußtseins als eine Illusion? Setzt Kausali¬
tät Freiheit voraus oder schließt sie Freiheit gerade aus? Das alles sind Fragen,
die den Rückgang auf ein ursprüngliches Verständnis dessen, was wir mit
Kausalität meinen, unumgänglich machen.
Der Begriff der Kausalität weist auf eine von Aristoteles entwickelte Fehre
zurück. Aristoteles unterschied einen vierfachen Sinn von Ursache. Was wir
Kausalität nennen, ist das, was die scholastische Rezeption des Aristoteles die
causa efficiens nennt. Sie ist nur eine unter den vier Arten von Ursache, mit
denen Aristoteles die Frage nach dem Sein zu denken suchte. Stoff, Form, Be¬
wegungsantrieb, Zweck, all diese vier Ursachen sind im Spiele, wo immer von
Sein die Rede ist, und vor allem dort, wo Natur, das ist: das von sich selbst her
Seiende, vorliegt. Die Welt des menschlichen Tuns und Treibens mag ursprüng¬
lich unter diesen vier Gesichtspunkten von Ursache gedacht worden sein. Aber
jene vier Grundbegriffe von Ursache, die Aristoteles analysiert, sollen nun
vom Menschen aus und von seinen Erfahrungen und Möglichkeiten, etwas ins
Sein zu rufen, das heißt zu wissen, wie man etwas macht, gerade das von sich
aus Seiende begreifen. Da ist es völlig richtig, daß Ursache nicht nur das ist,
was eine Veränderung bewirkt. Um eine Veränderung bewirken zu können,
muß noch mehr ursprünglich da sein als nur ein solcher Ursprung des Verän-
derns. Es muß da sein, was verändert werden soll, und das heißt offenbar ein
Doppeltes: Es muß so da sein, daß aus ihm etwas anderes werden kann, und
es muß zugleich so da sein, daß es selbst in aller Veränderung dennoch
als es selbst beharrt. Das ist ja die Anschauung, die all unser Machen leitet, daß
wir etwas aus etwas machen.
Etwas machen heißt, daß durch unser Tun, durch unsere Arbeit etwas ins
Sein kommt, das vorher nicht da war: Etwas Brauchbares in der Regel, ein
Gerät, ein Gebrauchsgegenstand, das heißt etwas, das die Brauchbarkeit der
Natur für die menschlichen Zwecke noch übertrifft. Das sind die künstlichen
Kausalität in der Geschichte? 197

Produkte des menschlichen Erfindungsgeistes. Sie sind von ihrem Zweck her
bestimmt, und das heißt: vom Gebrauch. Ihre Form, Gestalt, Aussehen müssen
für den Gebrauch geeignet sein. Zweck und Form bestimmen so das, was man
macht. Man macht es aber stets aus etwas. Immer muß das schon da sein,
woraus man ein in der beschriebenen Weise Zweckmäßiges und Brauchbares
macht. Wir nennen das das Material unserer Arbeit. Auch dies muß da sein,
bevor man anfangen kann zu arbeiten. Das Ding besteht aus dem, woraus es
gemacht ist, es ist Holz oder Erz oder was immer. Es ist aber auch ein Stand¬
bild oder eine Schale. Zweck, Form und Materie stehen daher als ursprüngliche
Bedingungen für das Sein des Gemachten. Der Urheber, die causa efficiens, das
was den Anstoß für den Beginn und die Durchführung des Mächens schließlich
gibt, ist nicht das einzige, was schon da sein muß.
Von diesem menschlichen Erfahrungsmodell aus hat Aristoteles das Sein der
Natur zu denken unternommen, und diese seine Leistung ist grundlegend ge¬
worden für alle unsere Begriffe, mit denen wir die Erkenntnis der Natur arti¬
kulieren. Aristoteles sieht die Natur als etwas, das sich von sich aus ins Sein
bringt, wo also kein Urheber, kein Künstler oder Handwerker einem schon
vorgegebenen Stoff gegenübersteht, seinem Geiste entsprungene Zwecke ver¬
folgt und von ihm erfundene Formen dem Stoffe aufprägt. Er sieht, daß die
Natur das alles in sich selber trägt: In ihr gibt es ein Anderswerden, sogar ein
beständiges Anderswerden, das dennoch nicht ein beliebiges Fluten der Erschei¬
nungen ist, sondern eine bleibende Ordnung immer wieder herbeiführt und
aufrecht erhält. Die Prozesse des natürlichen Geschehens sehen daher so aus, als
ob sie wie der Prozeß des Mächens von einem vorgängigen Zweck geleitet
werden, auf eine vorbestimmte Gestalt - etwa die des ausgewachsenen Lebe¬
wesens — hinaus wollen und dies alles so, als ob das schon Vorfindliche sich
von sich selbst her auf seine schließliche Gestalt hin in Bewegung setzte: das
Material, das wir lieber Materie nennen, scheint aus sich selber den Prozeß
des Werdens und Veränderns hervorzutreiben.
Das alles mag modernen Ohren sehr unwissenschaftlich klingen, und es ist
durchaus wahr, daß man im Grunde hier lediglich Beschreibungen des Natur¬
laufs, wie er sich der menschlichen Erfahrung darstellt und von der mensch¬
lichen Erfahrung aus denken läßt, vor sich hat. Es scheint wie eine gefährliche
anthropomorphistische Konstruktion, wenn man in der Natur Zwecke am
Werke sieht und durch den Zweckgedanken das natürliche Geschehen zu er¬
klären glaubt. In der Tat war es der Widerstand gegen solche teleologisch¬
dogmatische Naturerkenntnis, der die moderne Wissenschaft vom siebzehnten
Jahrhundert an den Naturzusammenhang allein von der Idee der bewegenden
Ursache her denken ließ. Die Herauslösung der causa efficiens aus dem Zu¬
sammenhang der vier Ursachen und insbesondere aus dem Rahmen des durch
Zweckgedanken bestimmten Strukturganzen der vier Ursachen ist die Geburt
des Kausalbegriffs im neueren Denken.
Damit aber wird zugleich Freiheit zu einem wirklichen Problem. Solange
198 Kausalität in der Geschichte?

das Naturgeschehen mit dem zweckmäßigen Handeln des Menschen in der


gleichen Begrifflichkeit gedacht wurde, war das menschliche Handeln und
Machen wie eine Fortsetzung, Nachahmung oder Ergänzung der Produktivität
des Naturgeschehens. Gewiß gehörte zu solchem menschlichen Handeln und
Machen ein Spielraum freier Beliebigkeit. Der erfinderische Handwerker hat
einen höheren Freiheitsgrad als die Natur. Er kann in gewissen Grenzen aus
Beliebigem Beliebiges hersteilen. Aber die schaffende Natur hat auch etwas
davon. Sie füllt auch gleichsam einen Spielraum des Möglichen mit ihren freien
Bildungen aus. Die eine wie die andere ist ,Freiheit', aber gleichsam einbehal¬
ten in dem, was wir den Lauf der Dinge nennen. Man kann geradezu, wie es
die stoische Ethik getan hat, zum menschlichen Moralprinzip erheben, mit der
Natur in Übereinstimmung zu leben, sich nicht gegen das Unabänderliche in
der Ordnung des natürlichen Geschehens zu stemmen, sein Wollen nur auf das
Mögliche zu lenken, sein Glück nicht von den Wechselfällen des menschlichen
Lebens abhängig zu machen, sondern auf das zu gründen, dessen man selber
Herr ist. Darin liegt ein sehr präziser Begriff von Freiheit, man kann sogar
sagen: ein erster Begriff universaler Freiheit. Denn solche Freiheit ist nicht,
wie das dem klassischen Griechentum entsprach, die Handlungsfreiheit und
Wahlfreiheit dessen, der sein eigener Herr ist, im Unterschied zum Sklaven,
der dem freien Belieben des Herrn und nicht seinem eigenen zu folgen hat.
Freiheit in diesem Sinne war die Eigenschaft eines politischen Status, eben des
Freien. Jetzt, in der stoischen Ethik, wird Freiheit eine innere Bestimmung,
die von aller äußeren Bedingung unabhängig ist, da sie sich auf die Innerlich¬
keit des menschlichen Selbstbesitzes gründet. Frei kann nach stoischer Lehre
auch der Sklave sein und unfrei der seinen Lastern verfallene Herrscher.
Und doch wird Freiheit offenbar etwas ganz anderes, wenn man den Natur¬
lauf nicht als eine gegebene und unabänderliche Ordnung denkt, in die es sich
zu finden gilt und die das menschliche Belieben beschränkt, sondern als einen
erklärbaren Zusammenhang, als ein Geflecht von Vorgängen, die alle ihre
Ursachen haben, das sich auseinanderwirren läßt, bis man die einzelnen Fäden
verfolgen kann und so die isolierten Prozesse auf ihre verursachenden Fak¬
toren hin erkennt. Solche Erkenntnis der Natur ermöglicht es dem mensch¬
lichen Handeln, selbst ein Faktor, ein verursachendes Moment zu werden. Die
darin implizierte Freiheit ist nicht eine Freiheit der Selbstbestimmung allein,
eine Freiheit von der Natur, sondern gerade auch eine Freiheit gegen die
Natur, ein Vermögen, das natürliche Geschehen selbst zu verändern, nach
eigenen Zwecken einzurichten und die Natur zu beherrschen.
Es besteht ein innerer Zusammenhang zwischen der Isolierung der Beweg¬
ursache, also dem Kausalgedanken, und der Beherrschung der Natur durch den
Menschen. Aber es ist ein dialektischer Zusammenhang. Die lückenlose Kausa¬
lität des Geschehens, unter der wir die Natur denken, und die Freiheit des
Menschen, der sich ihrer bemächtigt, indem er voraus weiß, voraus plant und
den Folgezusammenhang des Geschehens seinen Zwecken unterordnet, liegen
Kausalität in der Geschichte? 199

nicht in der gleichen Ebene. Die eigentümliche Dialektik zwischen Freiheit und
Naturnotwendigkeit besteht darin, daß die Freiheit, für die das Naturgesche¬
hen in seiner inneren Notwendigkeit manipulierbar wird, zugleich durch den
Gedanken der Naturnotwendigkeit selber ausgeschlossen wird. Am Ende ist
auch der Mensch ein natürliches Wesen. Zwar erscheint ein Eingreifen in den
Naturlauf als eine eigene Kausalität, eine,Kausalität aus Freiheit', wie sie Kant
genannt hat. Ihre Eigentümlichkeit ist offenkundig, daß das vorausgesehene
Resultat des Handelns zugleich seine Ursache ist. Es ist, wie Schopenhauer cs
genannt hat, eine ,Kausalität von innen gesehen', im wahrsten Sinne des Wortes
der ,Beweggrund', das Motiv. Aber wie ist eine solche Kausalität möglich,
wenn die Natur durch die Lückenlosigkeit des Kausalnexus konstituiert ist?
Das ist nach Kant für die theoretische Vernunft ein unaufhörliches Dunkel. Es
kann ja nicht so sein, daß gewisse Lücken in der Verkettung von Ursache und
Wirkung Freiheit möglich machen, gleichsam Zufallslöcher, an denen der
menschliche Wille eingreifen könnte. Dem widerspricht allzusehr die unzwei¬
deutige Aussage des menschlichen Freiheitsbewußtseins.
Denn für das Freiheitsbewußtsein handelt es sich nicht darum, daß der
Mensch gelegentlich Zufallschancen wahrnehmen kann, die es gestatten, den
Lauf der Dinge umzusteuern. Es verlangt im Gegenteil, daß gerade die eigent¬
lichen Zwecke, die der Mensch im Handeln verfolgt, von ihm frei gewählt sind
und aus Freiheit verfolgt werden. Sein Freiheitsbewußtsein ist ja am Ende
ebenso sehr sein Verantwortungsbewußtsein. Er fühlt sich für seine Taten
verantwortlich, und das kann er nur, wenn er sich frei glaubt. So ist es eine
sittliche Instanz, auf die sich das Freiheitsbewußtsein beruft. Wir können uns
als moralisch verantwortliche Wesen keine Welt denken, in der es nicht auf
unser Handeln, das heißt, auf seine freien Entscheidungen ankäme. Die große
Leistung der kantischen Philosophie besteht nicht so sehr darin, daß sie eine
Theorie für die Möglichkeit der Freiheit aufgestellt hätte, als daß sie im Ge¬
genteil eine Theorie, die befriedigend erklärt, wie menschlicher Wille, wie
menschliche Freiheit in das Naturgeschehen eingreifen, als unmöglich erweist.
Auch unsere Handlungen, die wir im Bewußtsein unserer Verantwortung tun,
können sich durchaus für ein theoretisches Erklärungsbedürfnis aus natürlichen
Determinanten ergeben - man denke nur an den unfaßlichen Unterschied, der
sich zwischen unserem bewußten Wollen und unserer Determiniertheit durch
das Unbewußte, ja vielleicht durch genetische Erbanlage auftut. Die Schicksals¬
linie eines Lebens scheint zwei Gesichter zu zeigen, je nachdem man sie von
innen als die Folge unserer Taten und Entschlüsse oder von außen als die
bloße Folge gegebener Faktoren (oder auch: einer waltenden Vorsehung) sieht.
Beides wäre ,Kausalität'.
Dies Doppelgesicht verändert aber in der Anwendung auf geschichtliche
Zusammenhänge in überraschender Weise seine Züge. Denn die Zusammen¬
hänge der Geschichte sind etwas anderes als der Zusammenhang eines geplan¬
ten Handelns oder des im eigenen Schicksalsbewußtsein reflektierten Lebens-
200 Kausalität in der Geschichte?

ganzen - sie sind aber auch nicht einfach der natürliche Lauf der Dinge. Hat
es überhaupt Sinn, hier von einer (doppelten) ,Kausalität' zu reden? Zwar,
auch die Geschichte scheint von Ursachen beherrscht. So heben sich gewisse
historische Gesetze heraus, etwa das Gesetz, daß eine extreme Demokratie in
Tyrannis umzuschlagen pflegt, eine Beobachtung, auf die schon Plato seine
Lehre vom Kreislauf der Staatsverfassungen gegründet hat, und man ist ver-
sucht, demnach zu sagen, sie setzen sich durch wie Naturgesetze, ob die ein¬
zelnen Handelnden sie kennen oder nicht. Heißt das aber auch, daß wir darin
eine Kausalität erkennen und ihre Erkenntnis zum richtigeren Handeln be¬
nutzen können? Oder werden nur solche Gesetzmäßigkeiten in der Geschichte
sichtbar, deren hohe formale Allgemeinheit ihre praktische Nutzbarmachung
verhindert? Und vor allem: Bleibt nicht die eigentliche Erfahrung der Ge¬
schichte, daß ihr Fortgang nicht voraussehbar ist? Es ist ein anderer Sinn von
,Ursache', nicht der der Kausalität, was den Zusammenhang der Geschichte
determiniert.
Wir kennen alle die hier liegende Problematik aus der historisdien For¬
schung. Seit Thukydides sind wir gewohnt, für ein folgenschweres Ereignis,
etwa den Ausbruch eines Krieges, nach seinen Ursachen zu fragen, und sind
uns darüber im klaren, daß das, was zu einer Katastrophe unmittelbaren
Anlaß bietet, nicht auch ihre wahren Ursachen darstellt. Wie sich der Einzelne
an den weitreichenden geschichtlichen Folgen seiner Taten nicht wirklich schuld
fühlen kann, so kann auch der einzelne Anlaß, der eine Katastrophe herauf¬
führt, nicht als der wahre Grund gelten. Die Frage nach den tieferen Gründen
des geschichtlichen Ganges der Dinge ist überhaupt kein Versuch einer ,kau¬
salen' Erklärung, die nur nach der causa efficiens fragte. Wenn uns geschicht¬
liche Zusammenhänge aufgehen, haben wir nicht ein Geflecht von Kausalfak¬
toren - der Natur und der Freiheit - aufgedeckt, dessen Fäden wir isolieren
und fürs Künftige in die Hand bekommen können - die Geschickte wiederholt
sich nie. Darin besteht gerade ihre Wirklichkeit, zu sein und uns zu bestim¬
men, ohne daß sie je durch Kausalanalyse beherrschbar würde. Das aber heißt:
die Art von ,Ursachen', die in ihr waltet, steht in einem teleologischen Zu¬
sammenhang. Dem wollenden und rückblickenden Menschen zeigen sich lauter
Versäumnisse. Geschichte erscheint ihm als eine Folge versäumter Gelegen¬
heiten, und das Geschehene als (gutes oder böses) Geschick. Dem wollenden
und vorwärtsblickenden Menschen zeigen sich lauter Möglichkeiten und Auf¬
gaben. Geschichte erscheint ihm als das, was den Spielraum der eigenen Mög¬
lichkeiten begrenzt und das Geschehende als seine (gute oder böse) Tat.
DIE PHILOSOPHIE UND DIE RELIGION DES JUDENTUMS

In unserem Zeitalter, in dem sich das Leben der Menschen auf der Erde zu
einer Einheit fügt, wird uns die Begrenztheit der Traditionen, in denen wir
Europäer leben, besonders bewußt. Und doch ist es die Tradition der abend¬
ländischen Philosophie und Wissenschaft, die das Gesicht dieser modernen Ver¬
einheitlichung der menschlichen Zivilisation geprägt hat. Wir wissen zwar von
den hohen Formen philosophischer Weisheit, die die großen asiatischen Kul¬
turen hervorgebracht haben, indem sie ihre autochthonen religiösen Schöpfun¬
gen in das Medium des Gedankens übersetzten. Die abendländische Philosophie
und Wissenschaft aber ist einzig und allein griechischen Ursprungs. Wie mit den
Perserkriegen das Schicksal des Abendlandes durch die Zurückweisung des
Ostens entschieden wurde, so hat auch die geistige Schöpfung der Griechen, die
philosophia, den Weg der Menschheit bis auf unsere Tage der Industrie und
der Technik in eine eindeutige Bahn gelenkt. Dieser Weg der Wissenschaft, den
die Griechen betraten, blieb freilich über lange Jahrhunderte mit dem religiösen
Gedanken des Griechentums aufs engste verbunden. Die geistige Helle der
olympischen Religion, die sich strahlend gegen die dunklen Hintergründe einer
furchtbaren Vorzeit abhebt, hat gleichsam die durchsichtige Rationalität des
philosophischen und wissenschaftlichen Denkens vorgeformt. Es ist die gro߬
artige Oberflächlichkeit der Griechen, ihr Blick für den Umriß der Dinge, für
die bleibende Wesensgestalt alles Natürlichen, seine sich im Wechsel bewah¬
rende Konstanz und Ordnung, was den jungen Völkern der germanisch-roma¬
nischen Neuzeit zum kostbaren Erbe wurde, aus dem schließlich die moderne
Wissenschaft erwuchs.
Die Einheit der abendländischen Kultur ist aber noch durch ein zweites
bestimmt, das, nicht aus griechischem Geiste geboren, sich dennoch mit dem
griechischen Erbe zu einer einheitlichen Wirkungsgestalt verschmolz. Das ist
das Christentum, die Religion des Alten und des Neuen Testamentes, die große
Weltreligion des Abendlandes, die ihre ökumenische Wendung dem Missions¬
gebot Christi und seiner souveränen geistigen Ausführung durch den Apostel
Paulus verdankt. Wenn man sich fragt, welchen Beitrag das Judentum zu der

Erstdruck: ,Die Juden und die Kultur', eine Vortragsreihe des Bayerischen Rund¬
funks, herausgegeben von Leonhard Reinisch. W. Kohlhammer-Verlag, Stuttgart 1961,
S. 78-90.
202 Die Philosophie und die Religion des Judentums

Wirkungseinheit der europäischen Kultur geleistet hat, so ist der jüdische Ur¬
sprung der christlichen Religion die weltweite Antwort auf eine viel zu eng
scheinende Frage. In Wahrheit ist es wohl ebenso unangemessen, von einem
Beitrag des Judentums zur europäischen Kultur zu sprechen wie etwa von
einem Beitrag des Griechentums. Es sind die Urgedanken des Abendlandes, die
hier und dort zuerst gedacht worden sind. Das griechische Urwort für das
Wesen der Dinge ist der Logos, und die Welt, die im Lichte dieses Logos gese¬
hen ist, heißt der Kosmos. Die großartige kosmische Ordnung, die den Natur¬
lauf regelt, umgreift auch noch die scheinbare Wirrnis der menschlichen Ge¬
schicke und läßt in ihrem Auf und Ab das gleiche Ordnungsganze wieder¬
kehren und bestehen. Ein anderes Ur-Wort aber ist es, das die jüdische Religion
zuerst gesprochen hat und das nicht minder tief im Gemüte der abendländi¬
schen Menschheit zum Widerklingen gekommen ist: das Wort des persönlichen
Gottes, der zu den Seinen spricht, rächend und strafend, aber auch verheißend.
So ärgerlich und tragisch trennend der Anspruch des auserwählten Volkes ist,
unter der besonderen Obhut des Allmächtigen zu stehen, so hat doch diese
Erwähltheitslehre des Judentums zu dem griechischen Weltdenken einen ganz
neuen Bereich hinzu erschlossen, den Bereich der Geschichte als eines Weges
zum Heile. Logos und Wort Gottes, der Philosoph und der Prophet als die
Deuter und Vermittler dieser Ur-Worte, Kosmos und Heilsgeschichte als der
Inhalt ihrer Lehre, das sind die beiden großen getrennten Wurzeln, aus denen
sich der Weltenbaum unseres Säkulums erheben sollte. Von den christlichen
Vätern an hat sich die Geschichte der griechisch-abendländischen Philosophie
aus dieser anderen Wurzel unseres Seins mitgenährt, die bis in den Grund der
jüdischen Urzeit reicht.
Die gediegene Einheit der geistigen Tradition der abendländischen Philoso¬
phie, in der wir stehen und in der die mannigfaltigsten geschichtlichen Kräfte
miteinander verschmolzen sind, hat aber überdies ihre ausgezeichneten Punkte,
an denen die Frage nach dem Beitrag des Judentums zur abendländischen
Philosophie einen besonderen Sinn erhält. In der hellenistischen Antike hat
Philo von Alexandrien eine wichtige Vermittlungsrolle gespielt, wie die be¬
ständige Berufung der Kirchenväter auf Philo beweist. Auf der Höhe des
Mittelalters hat Moses Maimonides eine nicht minder wichtige Vermittlerrolle
gehabt, indem er innerhalb der Tradition des Judentums den arabischen
Aristotelismus an die geistigen Schöpfer der hochmittelalterlichen Scholastik
weiterleitete. Vollends aber ist das Jahrhundert der modernen Aufklärung, das
achtzehnte, eine Zeit der stärksten Wirkungen und Gegenwirkungen zwischen
dem jüdischen religiösen Denken und dem Geist der Neuzeit. Spinoza und
Moses Mendelssohn standen in der vordersten Linie der geistigen Auseinander¬
setzungen, die das Zeitalter des Liberalismus heraufführten. Und wiederum,
als das Zeitalter des Fortschrittsoptimismus und der allgemeinen Kulturfröm¬
migkeit in den Stürmen unseres Jahrhunderts unterging, nahmen jüdische
Denker, wie etwa Franz Rosenzweig und Martin Buber, an der Kritik am
Die Philosophie und die Religion des Judentums 203

Liberalismus des 19. Jahrhunderts führenden Anteil, indem sie ihre Kräfte
aus dem religiösen Leben der jüdischen Gemeinde zogen. Ich möchte nun
zeigen, wie es kam, daß an diesen vier ausgezeichneten Punkten, an denen
große jüdische Denker im Gespräch der Jahrhunderte das Wort ergriffen, aus
den Quellen des Judentums philosophische Gedanken emporstiegen, die im
denkenden Bewußtsein aller ihren Widerklang fanden.
Wenn die christlichen Väter sich so eifrig auf Philo von Alexandria beriefen,
so ist das aus der Besonderheit ihrer geistigen Aufgabe gut zu verstehen.
Natürlich meinten sie nicht den Juden oder den philosophischen Ausdeuter der
jüdischen Religion als solchen. Sie meinten in ihm ihre eigenen, die christlichen
Wahrheiten und begrüßten ihn als den großen Gesprächspartner, der innerhalb
der griechischen Tradition, die die hellenistische Welt erfüllte, Gedanken mit
griechischen Mitteln zur Geltung zu bringen wußte, die ihnen selbst am Herzen
lagen. Die christliche Verkündigung, die Lehre vom überweltlichen Gott, der
als Erlöser in die Welt kommt und die Kirche gründet, war mit den Mitteln
der klassischen griechischen Philosophie schlecht auszusagen. Die immerseien¬
den Götter, von denen Homer spricht, Zeus und Athena, Ares, Aphrodite,
Proserpina, sind von den griechischen Philosophen als Grundgestalten, in
denen sich die Welt selber darstellt, in Herrschaft und Weisheit, Krieg, Liebe
und Tod, gedacht worden und nicht als jenseitige Mächte. In der religiösen
Wirklichkeit des Kultes war die Vielfalt dieses weltlichen Wesens der Götter
überall bezeugt, und als die griechischen Philosophen den Gedanken der Welt
und den Gedanken des Seins zu denken unternahmen, setzten sie diese ent¬
schlossene Weltlichkeit ihrer Religion in die Sprache der Begriffe um, indem sie
die Ordnung des Seienden dachten.
Nun lag es gewiß bereits in der Linie des ausgehenden Griechentums selber,
daß der alte Kosmos einer offenbaren und natürlichen und doch geheimen
und geheimnisvollen Ordnung sich zu wandeln begann. Von Poseidonios, dem
großen Stoiker des 1. Jahrhunderts vor Christus, konnte Karl Reinhardt sagen:
„Noch steht der alte Kosmos, aber ein Schritt weiter, und die Kräfte, die er
hier noch in sich bindet, werden über ihn Herr; sie lösen ihr Geheimnis nicht
mehr in ihm auf, er selbst löst sich in ihr Geheimnis auf, er wird hindeutend,
er wird zur Erscheinung, zum Symbol, und aus den Kräften werden Geister,
Energien, Ketten, Quellen, Urformen und Ausflüsse des Unaussprechlichen,
des Ur-Geheimnisses der Existenz.“ Für diese Wendung konnte die jüdische
Lehre vom überweltlichen Gott mit der Richtung des griechischen Gedankens
in eine fruchtbare Wechselwirkung treten. Es war ja die Transzendenz Jehovas,
seine Unbildlichkeit, seine Unsichtbarkeit, die ihn gegenüber den Götterkulten
der Heiden schon in der jüdischen Frühzeit auszeichnete. Wenn der philoso¬
phische Gedanke, dem spekulativen Aufschwung Platos folgend, den griechi¬
schen Kosmos am Ende sprengte und das Eine dachte, das nicht von dieser
Welt ist, dann konnte ihm die jüdische Theologie und ihr philosophischer Aus¬
leger Philo zum Zeugen werden. Hier war von jeher die außerweltliche
204 Die Philosophie und die Religion des Judentums

Transzendenz des Schöpfers gedacht. So war es der Gedanke der Schöpfung


selbst, der große religiöse Gedanke des Judentums, der die Weltbefangenheit
des griechischen Geistes in einem positiven Sinn zu überwinden verhieß. Zwar
machte der Jude Philo bei der Ausdeutung des Alten Testaments durch die
Spradie der griechischen Philosophie einen reichlichen Gebrauch von der alle-
gorisdien Methode, deren sich schon die stoische Philosophie zur Anpassung an
den Volksglauben bedient hatte. Aber was er mit diesen Mitteln aussagte, war
noch etwas anderes als griechische Philosophie: die Idee des persönlichen
Gottes, die Idee der Schöpfung und die Lehre von den Vermittlungen zwischen
dem jenseitigen Gott und den Menschen durch die Ordnungen der Engel -
jüdische Lehren, die die katholische Christenheit in weitem Umfange über¬
nahm, so sehr sie auch an Philo den Gedanken der Fleischwerdung Gottes, das
Mysterium der Inkarnation, vermissen mußte.
Man hat den Prozeß der Entstehung der mittelalterlichen Philosophie als
den Vorgang einer großen Hellenisierung des Christentums gedeutet, und es
ist wahr: erst die Überlagerung, die der christliche Platonismus augustinischer
Prägung durch die Rezeption des genuinen Aristotelismus erfuhr, hat die Blüte
der Hochscholastik zur vollen Entfaltung gebracht. Es war aber eine arabisch¬
jüdische Vermittlung, die zu dieser Überlagerung führte. So ist die jüdische
Philosophie des Mittelalters, die im arabischen Spanien ihre größte Vollendung
erreichte, in das große Gespräch der Zeiten verwoben.
Sie hatte ja auch das gleiche Thema, wie es der christlichen Philosophie ge¬
stellt war. Auch sie hatte die in ihren heiligen Büchern bezeugte Offenbarung
mit der natürlichen Vernunft in Einklang zu bringen. Ihr Ausgangspunkt war
das Gesetz, das Moses am Berge Sinai von Gott empfangen hatte. Dies Gesetz
galt es in seiner Vernünftigkeit zu erweisen. Als die Grundgestalt der natür¬
lichen Vernunft erschien aber den jüdischen Denkern die ihnen von den
Arabern vermittelte aristotelische Philosophie. So bewegte sich ihr Denken auf
dem festen Grunde ihrer jüdischen Überlieferung und doch ganz im Raume der
natürlichen griechischen Vernunft. Die griechisch bestimmte Philosophie des
Judentums empfing daher ihr beständiges Maß aus der jüdischen Prophetie.
Aber sie wußte deren Rang und Vorrang selber mit ihren griechischen Mitteln
zu erweisen, insbesondere indem sie platonische Gedanken ins Spiel brachte.
Es war zwar der natürlichen Vernunft möglich, aus sich heraus die Welt zu
erkennen, aber es war das Amt des Propheten, Offenbarung aus der ,oberen
Weit' zu spenden. So stand über der Traditionsgestalt des griechisdien Weisen,
der in der Universalität seines theoretischen Lebens die Verähnlichung mit dem
Göttlichen vollzog, die Gestalt des Propheten, zu dem Gott selber sprach und
der Gottes Willen verkündete. Sein Wort, die eigentliche Offenbarungsquelle
der jüdischen Religion, war Einsicht und Tat zugleich, Warnung und Errettung
des vor Gott schuldig gewordenen Volkes, Neugründung seiner Wirklichkeit
als Gottesvolk und politische Einheit.
Solche Einheit nun war - als Gedanke - im platonischen Denken zuerst
Die Philosophie und die Religion des Judentums 205

gedacht, mit jener Forderung der Philosophen-Könige, die nach Plato allein
fähig wären, in die politische Verderbnis des griechischen Lebens das Pfeil zu
bringen. Der jüdische Prophetismus wurde von Moses Maimomdes und seinen
Vorgängern als die reale Erfüllung der platonischen Utopie von der Herrschaft
und dem Königtum der Philosophie verstanden. Auf ihrem festen Grunde
konnte sich das Denken der natürlichen Vernunft mit der Vhhrheit des Ge¬
setzes erfüllen. Ein großartiger Gedanke: die Einholung des Nirgendwo des
platonischen Musterstaates in das Nirgendwo des himmlischen Jerusalem, das
inmitten aller Rechtlosigkeit und aller Leiden, die die Geschichte für die Kin¬
der Israels bereit hielt, den Weg zur Gottesherrschaft, den Heilsweg des aus¬
erwählten Volkes markierte.
Den kritischen Höhepunkt in der wechselseitigen Befruchtung der abend¬
ländischen Philosophie und des jüdischen Gedankens bildete aber weder die
antike noch die mittelalterliche, sondern die moderne, die eigentliche, die
radikale Aufklärung. Damals, im 17. und 18. Jahrhundert, trat mit der Ent¬
faltung der mathematischen Naturwissenschaften und ihres Methoden-Ideals
eine radikale Frage an alles bisher Gültige heran. Sie war ebenso wie an die
metaphysische Tradition der christlichen Philosophie auch an das religiöse
Denken des Judentums gerichtet. Für beide galt es, das Neue mit dem
Alten zu versöhnen oder das Alte an dem Neuen zugrunde gehen zu lassen.
Die Bibelkritik, die Spinoza im Geiste der Rationalität des neuen Natur-
erkennens als erster mit programmatischer Bewußtheit vortrug, war für die
Religion des Alten wie für die des Neuen Testamentes in gleicher Weise
schicksalsvoll.
Konnten die religiösen Überlieferungen der Völker sich vor dem Forum des
radikalen Vernunftglaubens überhaupt halten? War Spinozas Abkehr von der
jüdischen Gemeinde nicht symbolisch? War sein System aus Naturerkenntnis
und Gottesschau eine mögliche Vermittlung und Lösung? Hat es denn ver¬
hindern können, daß sein Name zum Losungswort des Atheismus wurde? Und
haben nicht gerade die freiesten Geister der Epoche auch in Deutschland - vom
Frankreich und England des 18. Jahrhunderts ganz zu schweigen -, haben sich
nicht Lessing und Goethe in diesem Sinne zu Spinoza bekannt?
Auf der anderen Seite ist auf christlicher wie auf jüdischer Seite immer aufs
neue der Versuch gemacht worden, zwischen der religiösen Überlieferung und
dem radikalen Vernunftglauben der Aufklärung zu vermitteln. Es ist ein nun
schon Jahrhunderte währendes Gespräch, das auf dem Boden der modernen
Aufklärung zwischen Offenbarungsgläubigkeit und Vernunftglauben geführt
wird, und es scheint mir für die Bedeutung des Judentums in den neueren
Jahrhunderten ein gewaltiges Zeugnis, daß in diesem Gespräch die jüdische
Stimme immer wieder zu hören ist. Während Lessing sich - nach Jacobis
Bericht - zum Spinozismus bekannte, war für seinen gelehrten jüdischen
Freund, Moses Mendelssohn, der als Angestellter einer Seidenhandlung in
Berlin lebte und mit den bedeutendsten Geistern der Epoche in Verkehr stand,
206 Die Philosophie und die Religion des Judentums

das Festhalten an seiner angestammten Religion die unerschütterte Basis, auf


der er die ,Religion der Vernunft' vertrat. Daß das nicht ohne Umdeutung
und Verkürzung der religiösen Überlieferung gelingen konnte, liegt auf der
Hand. Daß aber im Vergleich mit dem Christen der Jude es leichter hatte,
aufgeklärt und doch gläubig zu sein, hatte seinen Grund selber in seiner
Religion. Nathan der Weise ist nicht zufällig von Lessing gegenüber dem
Moslem und dem Christen zum Sprecher der Religion der Toleranz und der
praktischen Nächstenliebe gemacht worden. Die nationale Schranke, die die
Verheißung des alten Testaments auf die Angehörigen des auserwählten Vol¬
kes beschränkte, enthielt zugleich und von allem Anfang an eine religiöse
Toleranzforderung. Hier gab es kein Missionsgebot, wie es den beiden anderen
mit dem Judentum streitenden Weltreligionen gegeben war. So unergründlich
der Gedanke des Schöpfergottes sein mag - wie verzweifelt ist im Vergleich
dazu die Lage des christlichen Theologen, der das Mysterium der Trinität soll
denken können. Kein Wunder, daß Luther die Vermittlung der natürlichen
Vernunft mit dem Glauben für unmöglich erklärte und mit der radikalen Ver¬
werfung der Philosophie den gordischen Knoten durchschlug. Der Vollzug der
geoffenbarten Wahrheiten der jüdischen Religion war für die Vernunft keine
vergleichbare Zumutung, und eben deshalb war die Basis der Vernunft ein alle
konfessionellen Gegensätze milderndes Medium, in das der Jude gleichsam
hineingeboren war.
So kann Moses Mendelssohn dem taktlosen Drängen Lavaters, der ihn zum
Übertritt zum christlichen Glauben nötigen will, mit ruhiger Würde das Be¬
kenntnis zu seinem Väterglauben entgegenstellen und antworten: „Die schrift¬
lichen und mündlichen Gesetze, in welchen unsere geoffenbarte Religion be¬
steht, sind nur für unsere Nation verbindlich. Alle übrigen Völker der Erde,
glauben wir, seien von Gott angewiesen worden, sich an das Gesetz der Natur
und an die Religion der Patriarchen zu halten... Die ihren Lebenswandel nach
diesen Gesetzen einrichten, werden von uns ,tugendhafte Männer von anderen
Nationen' genennet, und diese sind Kinder der ewigen Seligkeit. Die Religion
meiner Väter will nicht ausgebreitet werden. Wir sollen nicht Missionen nach
beiden Indien oder nach Grönland senden, um diesen entfernten Völkern
unsere Religion zu predigen... Sie befolgen das Gesetz der Natur, leider!
besser als wir.“ Es ist die Wahrheit der natürlichen Religion und des natür¬
lichen Gesetzes, die von der jüdischen Religion allein allen zugemutet wird,
nachdem sie im Alten Testament den Juden - mitsamt der Verheißung - eigens
geoffenbart worden ist.
Wer Mendelssohn in dieser Weise argumentieren hört, wird begreifen, daß
die moderne Aufklärung mit der religiösen Überlieferung des Judentums leich¬
ter zur Versöhnung gelangen konnte als mit der christlichen, die einen unauf¬
lösbaren und nur mühsam zu verdeckenden Gegensatz von Vernunft und
Offenbarung enthielt. So ist es verständlich, daß die ,Religion der Vernunft',
das positive Ergebnis der Aufklärung, von einer großen Reihe jüdischer Philo-
Die Philosophie und die Religion des Judentums 207

sophen, von Moses Mendelssohn bis Hermann Cohen, ebenso vertreten werden
konnte wie von den allen religiösen Bindungen entwachsenen Liberalen.
Hermann Cohen wußte sogar in der Philosophie Kants, in ihrem Monotheis¬
mus der Ideen“ und in ihrem ,Primat der praktischen Vernunft“, die ,Religion
der Vernunft aus den Quellen des Judentums“ wiederzuentdecken.
Und doch, einen wirklichen Ausgleich konnte die Durchdringung von jüdi¬
scher Religion und moderner Aufklärung auch nicht bringen. Spinozas Ab¬
kehr von der jüdischen Gemeinde blieb insofern symbolisch. Das Ziel einer
rationalen Durchdringung der jüdischen Glaubenstradition war in sich selbst
widerspruchsvoll. Wenn sich Offenbarung durch die denkende Vernunft ganz
einholen läßt, dann büßt sie damit ihre religiöse Verbindlichkeit ein. Solange
das jüdische Gesetz als die unbegreifliche Wohltat des Allmächtigen, die das
Volk Israel am Berge Sinai zu ,seinem“ Volke beruft, geglaubt wird, ist das
Gesetz ein unüberholbares Privileg des auserwählten Volkes. Wird es als das
natürliche Gesetz von der natürlichen Vernunft erkannt, dann tritt es in Wett¬
bewerb mit anderen Wahrheiten der Vernunft. So war es die Lehre des deut¬
schen Idealismus, insbesondere Hegels, daß der Standpunkt des Gesetzes von
der christlichen Botschaft der Liebe mit Recht überwunden worden sei. Denn
im Gesetz sei immer die Entzweiung von Sein und Sollen gedacht. Die wahre
Einung und Versöhnung geschehe im Geist der Liebe, in der alle Trennungen
aufgehoben sind. Diese eigentliche und höchste Wahrheit der christlichen Bot¬
schaft, von der der Geist des Judentums ewig getrennt bleibe, komme in der
Philosophie des absoluten Geistes zu ihrer Vollendung.
Da aber mit solcher Auflösung der christlichen Verkündigung in die Wahr¬
heit des philosophischen Gedankens der Sinn der christlichen Botschaft sich in
sich selber verflüchtigen mußte, teilte das Christentum mit der jüdischen Auf¬
klärung das gleiche Schicksal. Die religiöse Geschichte des 19. Jahrhunderts
wurde zu einem unhaltbaren Kompromiß. Zwischen Synagoge und Bildungs¬
religion, zwischen christlicher Kirche und liberalem Fortschrittsoptimismus
konnte kein dauerhafter Ausgleich gelingen.
So ist es kein Wunder, daß der Gegenschlag gegen die liberale Kulturphilo¬
sophie und Theologie von beiden Seiten kam. Nach dem ersten Weltkrieg, in
dessen Materialschlachten das Kulturbewußtsein des Bildungsidealismus zu¬
grunde ging, wurde von der ,dialektischen“ Theologie wie von der sogenann¬
ten Existenzphilosophie die liberale Tradition des 19. Jahrhunderts in stür¬
mischem Anlauf überrannt - und ähnliches geschah im jüdischen Denken.
Damals wurde von christlich-theologischer wie von philosophischer Seite
Luthers Forderung, dem Aristoteles abzuschwören, vor allem durch Karl Barth
und durch Martin Heidegger exekutiert, und damit trat der griechische Ur-
gedanke des Logos in eine radikale kritische Beleuchtung. So mußte der alt-
testamentliche Urgedanke des Wortes eine neue Lebendigkeit gewinnen. Daher
wird es kein Zufall sein, daß damals Franz Rosenzweig (zusammen mit Martin
Buber) eine neue Übersetzung des Alten Testamentes begann, wie ein moder-
208 Die Philosophie und die Religion des Judentums

ner Märtyrer angesichts eines furchtbaren und unheilbaren Leidens sich in den
Glauben seiner Väter vertiefend.
In seinem großen systematischen Hauptwerk ,Der Stern der Erlösung' ent¬
wickelt Franz Rosenzweig, ein Schüler Hermann Cohens und des liberalen
Historikers Friedrich Meinecke, eine gegenüber der Aufklärung und dem
spekulativen Idealismus neuartige philosophische Begründung des jüdischen
Offenbarungsglaubens. Rosenzweig hat später selbst erkannt und ausgespro¬
chen, daß die Ausgangspunkte und Grundgedanken seines Werkes mit dem
,neuen Denken' konvergierten, das er vor allem durch Martin Heideggers
Hauptwerk ,Sein und Zeit' repräsentiert sah. Rosenzweigs Werk war schon
während des ersten Weltkrieges konzipiert worden und ist 1921 erschienen.
Es ist das Werk eines Philosophen, der sich zugleich als ein Theologe weiß und
dessen Überzeugung ist, daß man in der Situation der Gegenwart nicht philo¬
sophieren könne, ohne zugleich ein Theologe zu sein. Denn der Gegensatz der
kosmischen Ordnung, die die Griechen dachten, und der Bestimmung des Men¬
schen, der sich seiner Freiheit - und zuvorderst seiner Freiheit von der bloßen
Naturordnung, der er zugleich dennoch eingeordnet bleibt - bewußt ist, läßt
sich weder von der Natur noch vom menschlichen Selbstbewußtsein her auf-
lösen. Das griechische Denken läßt sich nicht erneuern, aber auch der titanische
Versuch des deutschen Idealismus, aus dem Selbstbewußtsein Natur und Geist
abzuleiten und auf diese Weise die Gegensätze zu versöhnen, scheitert an einer
absoluten Grenze: der faktischen Wirklichkeit des Menschen schlechtweg, ,der
noch da ist' und philosophiert. Das idealistische Denken kann nur die Wesens¬
allgemeinheiten denken, d. h. aber, es ist seinem eigenen Wesen nach seit den
Griechen bestrebt, zeitlos zu denken. Mit dem ,neuen Denken', das an der Zeit
sei, werde erstmals die Zeitlichkeit und Geschichtlichkeit des menschlichen Da¬
seins ernstgenommen, nicht sub specie aeternitatis durch eine Philosophie der
Geschichte in das System des absoluten Wissens einbezogen, wie von Hegel,
sondern als eine unaufhebbare Gegebenheit anerkannt.
Rosenzweig sah in Heideggers ontologischer Kritik am Begriff des Bewußt¬
seins, der der Philosophie der Neuzeit zugrunde liegt, etwas Verwandtes mit
seinem eigenen Anliegen, das im übrigen durch die religiöse Tradition des
Judentums inspiriert war: das Schon-Sein des Menschen - bei Heidegger for¬
malisiert zu dem ,un-menschlichen' Seinscharakter der Geworfenheit, der die
Selbstsetzung der Transzendentalphilosophie begrenzt - ist für ihn der logische
Ausweis für die alttestamentarische Lehre von der Schöpfung. Es ist die Ur¬
sprünglichkeit des Du, dieser Urgedanke des Judentums, der sich für das Ver¬
ständnis des Schöpfungsgedankens als tragend erweist und die theologische
Lösung der philosophischen Aporie der Faktizität verbürgt. Indem Gott Adam
anruft: Wo bist Du?, wird dem Menschen sein eigenes Ich und sein eigenes Hier
erschlossen. Insofern geht Gottes Sein in einem prinzipiellen Sinne dem eigenen
Ich-Sein voraus.
Das ist die philosophische Rechtfertigung der Lehre von der Geschöpflich-
Die Philosophie und die Religion des Judentums 209

keit des Menschen, die Rosenzweig findet. Es ist dieser personale Grund, auf
dem sich der Gegensatz von Welt und Mensch vermittelt. Unlösbar davon ist
aber auch die Vermittlung, die die Hinfälligkeit des einzelnen mit dem ewigen
Fortbestand des jüdischen Volkes im alttestamentlidien Glauben erfährt. Sie
beruht auf dem besonderen Bunde, den Jehova mit seinem Volke geschlossen
hat und der in der Verheißung der Ewigkeit gipfelt. Sie verwirklicht sich in
der natürlichen Blutsgemeinschaft der Geschlechterfolge. Während die Völker
der Erde sonst, und insbesondere die ,christlichen' Völker des Abendlandes,
keine durch - am Beginn der eigenen Geschichte stehende - Verheißung be¬
gründete Blutsgemeinschaft sind und sich viel eher aus der Souveränität ihres
Landes, der an das Territorium gebundenen Kulturgemeinschaft verstehen und
vom Sturm der Geschichte geschüttelt irgendwann dem Untergang verfallen,
ist das Gottesvolk, gerade weil es nicht auf politischem, sondern auf naturhaf-
tem Grunde ruht, auch ohne Staat und politische Gewalt seiner Ewigkeit
gewiß. Es steht in seiner eigenen, seiner gotteigenen Natur außerhalb der Welt¬
geschichte. Der ,Stern der Erlösung' steht über ihm.
Nun ist diese Auszeichnung des auserwählten Volkes, seiner Ewigkeit gewiß
zu sein, philosophisch gesehen, doch selber eine geschichtliche Bestimmung, und
so teilt diese philosophisch-theologische Selbstbesinnung des am Idealismus
verzweifelnden Juden mit dem ,neuen Denken' die Anerkennung der grund¬
sätzlichen Geschichtlichkeit des menschlichen Daseins und die von Heidegger
am transzendentalen Idealismus geübte Kritik.
Martin Buber hat danach den jüdischen Beitrag zur Kritik am Idealismus
systematisch weiterentwickelt, indem er die grundlegende Bedeutung des dia¬
logischen Prinzips' hervorhob und die Zwiesprache des Menschen mit Gott,
wie sie im Alten Testament die Höhepunkte der Einkehr und Besinnung aus¬
zeichnet, gegen die griechische Logos-Philosophie und den neuzeitlichen Idea¬
lismus ausspielte. Wenn er die Heimatlosigkeit des jüdischen Volkes inmitten
der verschiedenen National-Kulturen - auch nach der Gründung des Staates
Israel - mit Einschluß aller Leiden und Verfolgungen, die es je zu erdulden
hatte, von der Erwähltheit des auserwählten Volkes her heilsgeschichtlich ver¬
steht, so weist er dem jüdischen Denken abermals eine repräsentative Aufgabe
zu, die ihn wiederum in die Nähe von Heidegger und dessen Lehre von der
Seinsvergessenheit führt: die allgemeine Heimatlosigkeit unserer Epoche, die
Weltstunde der ,Gottesfinsternis' mit dem Gedanken der Umkehr zu erfüllen.
Die vier kritischen Augenblicke der abendländischen Denkgeschichte, die
wir uns vor Augen führten, sind, wie sich zeigte, Momente einer fruchtbaren
Zwiesprache mit dem religiösen Gedanken des Judentums. Es bedarf wohl
kaum der Betonung, daß von einem Beitrag des Judentums zur europäischen
Philosophie nur in diesem Sinne - und nicht etwa von einem naturalistischen
Rassenbegriff aus - gesprochen werden darf. Gewiß ist die geistige Kultur der
Menschheit ein Gebilde, das aus vielen Wurzeln und Kräften stammt und
überall die Zeichen seiner Herkunft an sich hat. Es gibt die unbegreifliche

14 Gadamer, Schriften I
210 Die Philosophie und die Religion des Judentums

Naturbestimmtheit aller denkenden Wesen, die sie von der Geburt bis zum
Tode durchherrscht - sie begreift unter anderem auch die Rassenbestimmtheit
des einzelnen und der Völker in sich. Es gibt die aller Freiheit und Wahl der
Heutigen vorausliegende geschichtliche Bestimmtheit aller denkenden Wesen -
sie hat das jüdische Volk, wie wir gesehen haben, vielleicht noch tiefer geprägt
als jedes andere geschichtliche Volk. Es gibt im besonderen im Leben des ein¬
zelnen die Prägung durch Kindheit und Erziehung, die jedes denkende Wesen
präformiert, so daß man auch Denkformen und Denkrichtungen der Philo¬
sophen aus der Schule der Kindheit wie aus der des Lebens herleiten kann,
etwas die des jüdischen ,Rationalismus1 oder der jüdischen ,Mystik1. So hat
zum Beispiel der Kantianer Salomon Maimon in seiner Autobiographie die
Systemlosigkeit seines Denkens, die er selber empfand, auf die Formen des
religiösen Unterrichts in der Synagoge zurückgeführt. Aber alle solchen psycho¬
logischen, gesellschaftlichen und geschichtlichen Erklärungen und Charakteri¬
sierungen bleiben halbe Wahrheiten und werden zu ganzen Unwahrheiten,
wenn sie die Gemeinsamkeit der menschlichen Vernunft verdunkeln, die sich
über alle Gegebenheiten von Natur und Geschichte hinaus zu dem unendlichen
Gespräch über die menschliche Bestimmung erhebt, das wir Philosophie nennen.
APOLOGIE DER HEILKUNST

Wir besitzen einen Traktat aus dem Zeitalter der griechischen Sophistik,
welcher die Kunst der Medizin gegen Angreifer verteidigt. Spuren ähnlicher
Argumentation lassen sich auch noch weiter zurückverfolgen, und das ist gewiß
kein Zufall. Es ist eine sonderbare Kunst, die in der Medizin geübt wird, eine
Kunst, die nicht in allen Punkten mit dem übereinstimmt, was die Griechen
Techne nannten und was wir sei es Handwerkskunst, sei es Wissenschaft
nennen. Der Begriff der Techne ist eine eigentümliche Schöpfung des griechi¬
schen Geistes, des Geistes der Historie, der freien denkenden Erkundung der
Dinge, und des Logos, der Rechenschaftsgabe aus Gründen für alles, was man
für wahr hält. Mit diesem Begriff und seiner Anwendung auf die Medizin
fällt eine erste Entscheidung zugunsten dessen, was die abendländische Zivi¬
lisation auszeichnet. Der Arzt ist nicht mehr die mit dem Geheimnis magischer
Kräfte umkleidete Figur des Medizinmannes anderer Kulturen. Er ist ein
Mann der Wissenschaft. Aristoteles gebraucht geradezu die Medizin als
Standardbeispiel für die Verwandlung bloß erfahrungsmäßiger Sammlung
von Können und Wissen in echte Wissenschaft. Auch wenn der Arzt dem er¬
fahrenen Heilpraktiker oder der weisen Frau im Einzelfalle unterlegen sein
kann - sein Wissen ist von grundsätzlich anderer Art: er weiß das Allgemeine,
er kennt den Grund, warum eine bestimmte Heilweise Erfolg hat, er versteht
ihre Wirkung, weil er den Zusammenhang von Ursache und Wirkung über¬
haupt verfolgt. Das klingt sehr modern, und doch handelt es sich hier nicht in
unserem heutigen Sinne um die Anwendung naturwissenschaftlicher Erkennt¬
nisse auf das praktische Ziel des Heilens. Denn der Gegensatz von reiner Wis¬
senschaft und praktischer Anwendung derselben, wie wir ihn kennen, ist durch
die spezifischen Methoden der neuzeitlichen Wissenschaft, ihre Anwendung der
Mathematik auf die Naturerkenntnis geprägt. Der griechische Begriff von
Techne dagegen meint nicht die praktische Anwendung eines theoretischen
Wissens, sondern eine eigene Form des praktischen Wissens. Techne ist jenes
Wissen, das ein bestimmtes, seiner selbst sicheres Können im Zusammenhang
eines Herstellens ausmacht. Es ist von vornherein auf Herstellenkönnen be-

Erstveröffentlichung: Physiotherapie in Einzeldarstellungen, Band 2, Physio¬


therapie im Aufbau, herausgegeben von D. G. R. Findeisen, Leipzig 1966, Verlag
Johann Ambrosius Barth.

14 *
212 Apologie der Heilkunst

zogen und aus diesem Bezug erwachsen. Aber es ist ein ausgezeichnetes Her¬
stellenkönnen, eines das weiß und das aus Gründen weiß. Es gehört zu diesem
wissenden Können also von vornherein, daß ein Ergon, ein Werk, dabei heraus¬
kommt und aus der Tätigkeit des Herstellens gleichsam entlassen wird. Denn
darin vollendet sich das Herstellen, daß etwas hergestellt, d. h. anderen zum
Gebrauch beigestellt wird.
Innerhalb eines solchen Begriffs von Kunst, der vor der Schwelle zu dem
steht, was wir Wissenschaft nennen, nimmt nun offenbar die Heilkunst eine
exzeptionelle und problematische Stellung ein. Hier gibt es kein Werk, das
durch Kunst hergestellt und künstlich ist. Hier kann man nicht von einem
Material reden, das zuletzt in der Natur vorgegeben ist und aus dem etwas
Neues wird, indem es in eine kunstvoll ersonnene Form gebracht wird. Zum
Wesen der Heilkunst gehört vielmehr, daß ihr Herstellenkönnen ein Wieder¬
herstellenkönnen ist. Dadurch kommt in das Wissen und Tun des Arztes eine
nur ihm eigene Modifikation dessen, was hier Kunst heißt. Man kann zwar
sagen: der Arzt stellt mit den Mitteln seiner Kunst die Gesundheit her, aber
das ist eine ungenaue Rede. Denn was so hergestellt wird, ist nicht ein Werk,
ein Ergon, etwas, das neu ins Sein tritt, und das Können beweist. Es ist die
Wiederherstellung des Kranken, und ob sie der Erfolg des ärztlichen Wissens
und Könnens ist, sieht man ihr nicht an. Der Gesunde ist nicht der Gesund¬
gemachte. Daher bleibt in einer kaum je auszuschließenden Weise die Frage
offen, wie weit ein Heilungserfolg die Wirkung der heilkundigen Behandlung
des Arztes ist und wie weit sich die Natur selber geholfen hat.
Das ist der Grund, warum es von altersher mit der ärztlichen Kunst und
ihrem Ansehen eine eigene Bewandtnis hat. Die buchstäbliche Lebenswichtig¬
keit der ärztlichen Kunst verleiht dem Arzt und seinem Anspruch auf Wissen
und Können eine besondere Auszeichnung, insbesondere dann, wenn Gefahr
ist. Immer aber entspricht diesem Ansehen auf der anderen Seite, und insbe¬
sondere, wenn keine Gefahr mehr ist, der Zweifel an der Existenz und Wirk¬
samkeit der Heilkunde. Tyche und Techne stehen hier in einer besonderen
antagonistischen Spannung. Was für den positiven Fall der gelingenden Hei¬
lung gilt, gilt ja nicht minder für den negativen Fall des Mißlingens. Was da
etwaiges Versagen des ärztlichen Könnens ist, und ob nicht vielleicht ein über¬
mächtiges Geschick den unglücklichen Ausgang herbeiführt - wer will es, und
zumal wer als Laie, entscheiden? Apologie der Heilkunst ist aber nicht nur
eine Verteidigung eines Berufsstandes und einer Kunst gegenüber den anderen,
den Ungläubigen und Skeptikern, sondern vor allem eine Selbstprüfung und
Selbstverteidigung des Arztes vor sich selber und gegen sich selber, die mit der
Eigentümlichkeit des ärztlichen Könnens unlösbar verknüpft ist. Er kann seine
Kunst so wenig sich selbst beweisen, wie er sie anderen beweisen kann.
Die Besonderheit des Könnens, die die Heilkunde im Rahmen der Techne
auszeichnet, steht wie alle Techne im Rahmen der Natur. Alles antike Denken
hat den Bereich des künstlich Machbaren im Blick auf die Natur gedacht. Wenn
Apologie der Heilkunst 213

man die Techne als Nachahmung der Natur verstand, so meinte man vor allem
dies, daß das künstliche Vermögen des Menschen gleichsam den Spielraum aus¬
nützt und ausfüllt, den die Natur mit ihren eigenen Bildungen freigelassen hat.
In diesem Sinne ist die Medizin gewiß nicht Nachahmung der Natur. Es soll
ja kein Gebilde entstehen, das künstlich ist, sondern was aus der ärztlichen
Kunst hervorgehen soll, ist die Gesundheit, d. h. das Natürliche selber. Das
gibt dem Ganzen dieser Kunst das Gepräge. Sie ist nicht Erfindung und Pla¬
nung von etwas Neuem, das es so nicht gibt und dessen zweckmäßige Her¬
stellung einer vermag, sondern sie ist von vornherein eine Art von Machen
und Bewirken, das nichts Eigenes und nichts aus Eigenem macht. Ihr Wissen
und Können ordnet sich ganz und gar dem natürlichen Lauf ein, indem es ihn
wiederherzustellen sucht, wo er gestört ist, und zwar so, daß es selber im
natürlichen Gleichgewicht der Gesundheit gleichsam verschwindet. Der Arzt
kann nicht von seinem Werke so zurücktreten, wie jeder Künstler von seinem
Werke zurücktritt, jeder Handwerker und Könner, nämlich so, daß er es in
gewisser Weise als sein Werk behält. Zwar ist es in jeder Techne so, daß das
Produkt anderen zum Gebrauch überlassen wird, aber es ist doch das eigene
Werk. Dagegen ist das Werk des Arztes, gerade weil es die wiederhergestellte
Gesundheit ist, ganz und gar nicht mehr seines, ja es ist nie seines gewesen. Das
Verhältnis von Tun und Getanem, Machen und Gemachtem, Bemühung und
Erfolg ist hier von grundsätzlich anderer, rätselhafter und umzweifelter Art.
Das zeigt sich in der antiken Medizin unter anderem darin, daß sie die ur¬
alte Versuchung des sich selbst beweisenden Könnens, nur dort Hand anzu¬
legen, wo man Erfolgschancen sieht, ausdrücklich zu überwinden hat. Auch
der unheilbare Kranke, bei dem mit keinem spektakulären Heilerfolg zu
redmen ist, wird mindestens in der Reife des ärztlichen Berufsbewußtseins, die
mit der philosophischen Einsicht in das Wesen des Logos Hand in Hand geht,
Gegenstand der ärztlichen Sorge. In diesem tieferen Sinne ist offenbar die
Techne, um die es sich hier handelt, derart in den Lauf der Natur gefügt, daß
sie im Ganzen des natürlichen Laufes und in allen seinen Phasen ihren Beitrag
zu leisten vermag.
Man wird alle diese Bestimmungen auch in der modernen ärztlichen Wissen¬
schaft wiedererkennen können. Und doch hat sich etwas Grundsätzliches ge¬
wandelt. Denn die Natur, die Gegenstand der modernen Naturwissenschaft ist,
ist nicht die Natur, in deren großen Rahmen sich das ärztliche Können wie
alles künstliche Können der Menschen einfügt. Es ist ja das Besondere der
modernen Naturwissenschaft, daß sie ihr Wissen selber als ein Machenkönnen
versteht. Die mathematisch-quantitative Erfassung der Gesetzlichkeiten des
Naturgeschehens ist auf eine Isolierung von Ursache- und Wirkungszusam¬
menhängen gerichtet, die dem menschlichen Handeln Eingriffsmöglichkeiten
in nachprüfbarer Genauigkeit gestatten. Der mit dem Wissenschaftsgedanken
der Neuzeit verknüpfte Begriff der Technik nimmt so auf dem Gebiete
des Heilverfahrens und der Heilkunst spezifisch gesteigerte Möglichkeiten
214 Apologie der Heilkunst

in die Hand. Das Machenkönnen macht sich gleichsam selbständig. Es erlaubt


Verfügung über Teilabläufe und ist Anwendung eines theoretischen Wissens.
Als solches ist es aber kein Heilen, sondern ein Bewirken (Machen); es treibt
auf einem lebenswichtigen Gebiete die aller menschlich-gesellschaftlichen Ar¬
beitsweise eigene Arbeitsteilung auf die Spitze. Die Zusammenfügung des aus-
dilferenzierten Wissens und Könnens in die Einheit einer Behandlung und
Heilung geschieht nicht aus der gleichen Kraft des Wissens und Könnens, die in
der modernen Wissenschaft als methodisch kultiviert wird. Es ist zwar schon
eine alte Weisheit, die in der mythologischen Figur des Prometheus zuerst und
im Christus patiens für das ganze europäische Abendland symbolisch geworden
ist, jener paradoxe Ruf ,Arzt, hilf dir selber', aber die zugespitzte Paradoxie
des arbeitsteiligen Verfahrens der Techne gewinnt doch erst in der modernen
Wissenschaft ihre volle Aussagekraft. Die innere Unmöglichkeit, sich selbst zum
Objekt seiner selbst zu machen, tritt erst mit der objektivierenden Methodik
der modernen Wissenschaft ganz heraus.
Ich möchte das hier vorliegende Verhältnis am Begriff des Gleichgewichts und
durch die Erfahrung des Gleichgewichts interpretieren. Das ist ein Begriff, der
schon in den hippokratischen Schriften eine große Rolle spielt. In der Tat liegt
es nicht nur bei der Gesundheit des Menschen nahe, sie als einen natürlichen
Gleichgewichtszustand aufzufassen. Der Begriff des Gleichgewichts bietet sich
für das Verständnis der Natur überhaupt im besonderen Maße an. Bestand
doch die Entdeckung des griechischen Naturgedankens in der Erkenntnis, daß
das Ganze eine Ordnung ist, die alle Vorgänge in der Natur in festen Abläufen
sich wiederholen und verlaufen läßt. Natur also ist etwas, das sich gleichsam
selbst und von selbst in seinen Bahnen hält. Das ist der Grundgedanke der
jonischen Kosmologie, in dem alle kosmogonischen Vorstellungen ihre Er¬
füllung finden, daß am Ende die große Ausgleichsordnung des wechselnden
Geschehens wie eine natürliche Gerechtigkeit alles bestimmt.
Setzen wir diesen Naturgedanken voraus, dann ist ärztliches Eingreifen als
ein Versuch zu bestimmen, gestörtes Gleichgewicht wiederherzustellen. Darin
besteht das eigentliche ,Werk‘ der ärztlichen Kunst. Fragen wir uns daher,
wie sich Wiederherstellen von Gleichgewicht von allem sonstigen Herstellen
unterscheidet. Ohne Zweifel ist es eine Erfahrung sehr eigener Art, die wir alle
kennen. Die Wiederfindung des Gleichgewichts begegnet genau wie sein Verlust
in der Weise eines Umschlags. Es ist eigentlich kein wahrnehmbarer kontinuier¬
licher Übergang vom einen in das andere, sondern ein plötzliches Verändert¬
sein, ganz anders als der uns sonst vertraute Prozeß des Herstellens, in dem
Baustein zu Baustein gefügt und Schritt für Schritt die geplante Veränderung
ausgeführt wird. Es ist das Erlebnis der Balance, „wo sich das reine Zuwenig
unbegreiflich verwandelt -, umspringt in jenes leere Zuviel“. So drückt Rilke
die Artistenerfahrung der Balance aus. Was er beschreibt, ist dies: die ange¬
strengte Bemühung um die Herstellung und das Halten des Gleichgewichts
erweist sich in dem Moment, in dem die Balance gelingt, plötzlich als das
Apologie der Heilkunst 215

Gegenteil dessen, was sie zu sein schien. Es war nicht ein Zuwenig an Kraft
und Einsatz von Kraft, sondern ein Zuviel, das sie verfehlen ließ. Mit einem
Schlage geht es wie von selber, leicht und mühelos.
Es gilt in der Tat für jede Herstellung von Gleichgewicht, daß diese Erfah¬
rung sie begleitet. Der an der Herstellung des Gleichgewichts Arbeitende wird
gleichsam zurückgestoßen von dem sich selbst Haltenden und Genügenden.
Wir kennen das im ärztlichen Tun als die eigentliche Weise seines Erfolges,
sich selbst aufzuheben und entbehrlich geworden zu sein. Daß sich in der
Wiederherstellung des Gleichgewichts das ärztliche Tun in Selbstaufhebung
vollendet, steht aber schon von vornherein im Blick aller Bemühung. Wie bei
dem Erlebnis der Balance die Bemühung auf eine paradoxe Weise darauf aus¬
geht, sich zu lockern, um das Gleichgewicht sich einspielen zu lassen, so hat auch
das ärztliche Bemühen den inneren Bezug auf das Sich-selbst-Einspielen der
Natur. Daß sich das Schwanken einer Gleichgewichtslage qualitativ unter¬
scheidet von ihrem endgültigen Verlust, bei dem alles aus den Fugen gerät, be¬
stimmt den Horizont alles ärztlichen Tuns.
Daraus folgt aber: Es ist nicht in Wahrheit ein Herstellen von Gleichgewicht,
d. h. ein Aufbauen einer neuen Gleichgewichtslage von Grund auf, sondern es
ist immer ein Abfangen des schwankenden Gleichgewichts. Alle Störung des¬
selben, alle Krankheit, bleibt von unübersehbaren Faktoren des sich noch hal¬
tenden Gleichgewichts mitgetragen. Das ist der Grund, warum das Eingreifen
des Arztes nicht eigentlich als Machen oder Bewirken von etwas zu verstehen
ist, sondern in erster Linie als Stärken der das Gleichgewicht bildenden Fak¬
toren. Sein Eingreifen steht immer unter dem doppelten Aspekt, selber durch
den Eingriff einen Störungsfaktor zu bilden oder aber die spezifische Heilein¬
wirkung in das Spiel der balancierenden Faktoren einzufügen. Das scheint mir
für das Wesen der ärztlichen Kunst konstitutiv, daß sie mit jenem Umschlag
des Zuviel in das Zuwenig oder besser des Zuwenig in das Zuviel vorgängig
rechnen muß und ihn gleichsam antizipiert.
In einer antiken Schrift über die Heilkunst findet sich dafür das schöne Bei¬
spiel des Führens der Baumsäge. Wie der eine zieht, so folgt der andere, und
das vollendete Führen der Säge bildet einen Gestaltkreis (Weizsäcker), in dem
sich die Bewegungen der beiden Sägenden zu einem einheitlichen rhythmischen
Fluß der Bewegung verschmelzen. Da steht der bezeichnende Satz, der das
Wunderbare solcher Erfahrung von Gleichgewicht andeutet: Wenn sie aber
Gewalt anwenden, dann werden sie es ganz verfehlen. Sicherlich ist das nicht
auf die Heilkunst beschränkt. Alle Meisterschaft des Herstellens kennt etwas
davon. Die leichte Hand des Meisters läßt sein Tun als mühelos erscheinen,
und das genau dort, wo der Lernende gewaltsam wirkt. Alles Gekonnte hat
etwas von der Erfahrung des Gleichgewichts. Aber bei der ärztlichen Kunst
bleibt es doch das Besondere, daß es sich hier nicht um die vollendete Be¬
herrschung eines Könnens handelt, das durch das gelingende Werk unmittelbar
bewiesen wird. Daher die besondere Behutsamkeit des Arztes, ein bei aller
216 Apologie der Heilkunst

Gestörtheit fortbestehendes Gleichgewicht beachten und sich in das Gleich¬


gewicht des Natürlichen einsdiwingen zu müssen, wie der Mann mit der Säge.
Bezieht man diese Grunderfahrung auf die Situation der modernen Wissen¬
schaft und der wissenschaftlichen Medizin, so tritt deutlich heraus, wie sich die
Problematik hier zuspitzt. Denn die moderne Naturwissenschaft ist nicht pri¬
mär Wissenschaft von der Natur als dem sich selbst ausgleichenden Ganzen.
Nicht die Erfahrung des Lebens, sondern die Erfahrung des Mächens, nicht die
Erfahrung des Gleichgewichts, sondern die der planmäßigen Konstruktion
liegt ihr zugrunde. Sie ist, weit über den Geltungsbereich der speziellen Wissen¬
schaft hinaus, ihrem Wesen nach Mechanik, Mechane, d. h. kunstvolle Herbei¬
führung nicht von selbst eintretender Wirkungen. Ursprünglich bezeichnete
Mechanik das Sinnreiche einer Erfindung, die alle in Erstaunen setzt. Die
moderne, technische Anwendung ermöglichende Wissenschaft versteht sich also
nicht als eine Ausfüllung der Naturlücken und Einfügung in das natürliche
Geschehen, sondern gerade als ein Wissen, in dem die Umarbeitung der Natur
in eine menschliche Welt, ja die Wegarbeitung des Natürlichen zugunsten einer
rational beherrschten Konstruktion leitend ist. Als Wissenschaft macht sie
Naturvorgänge berechenbar und beherrschbar, so daß sie am Ende sogar das
Natürliche durch das Künstliche zu ersetzen weiß. Das liegt in ihrem eigenen
Wesen. Nur so ist die Anwendung der Mathematik und der quantitativen
Methoden auf die Naturwissenschaft möglich, weil ihr Wissen Konstruktion
ist. Nun lehrt aber unsere Überlegung, daß die Situation der Heilkunst auf
eine unaufhebbare Weise an die Voraussetzung des antiken Naturbegriffs
gebunden bleibt. Sie ist unter den Wissenschaften von der Natur diejenige, die
nie ganz als Technik zu verstehen ist, weil sie ihr eigenes Können immer nur als
das Wiederherstellen des Natürlichen erfährt. Sie stellt daher innerhalb der
modernen Wissenschaften eine eigentümliche Einheit von theoretischer Er¬
kenntnis und praktischem Wissen dar, eine Einheit, die sich überhaupt nicht
als Anwendung von Wissenschaft auf Praxis verstehen läßt. Sie stellt eine
eigene Art praktischer Wissenschaft dar, für die im modernen Denken der
Begriff abhanden gekommen ist.
Im Lichte dieser Überlegungen gewinnt eine schöne und vieldiskutierte Stelle
im platonischen Phaidros ein besonderes Interesse, weil sie die Situation des
Arztes, der diese ,Wissenschaft* besitzt, beleuchtet. Plato spricht dort von
der wahren Redekunst und stellt sie in Parallele zur Heilkunst. In beiden gilt
es, Natur zu verstehen, in der einen die der Seele, in der anderen die des Lei¬
bes, wenn man nicht bloß auf Grund von Routine und Erfahrung, sondern aus
wirklichem Wissen handeln will. Wie man wissen muß, welche Medikamente
und welche Nahrung dem Leibe zuzuführen sind, damit sie Gesundheit und
Kraft bewirken, so muß man auch wissen, welche Reden und gesetzlichen Ein¬
richtungen man der Seele zuzubringen hat, damit sie richtige Überzeugung und
das rechte Sein (Arete) zustandebringen.
Und nun fragt Sokrates seinen von der Rhetorik begeisterten jungen Freund:
Apologie der Heilkunst 217

„Glaubst du, daß man die Natur der Seele verstehen kann, ohne die Natur
des Ganzen?“
Und daraufhin antwortet ihm dieser: „Wenn man Hippokrates, dem Askle-
piaden, glauben darf, kann man ohne dieses Verfahren ja nicht einmal vom
Leib etwas verstehen.“ Die beiden Bestimmungen ,Natur des Ganzen1 und
,dieses Verfahren" (nämlich des Einteilens der Natur) gehören offenbar zu¬
sammen. Die wahre kunstmäßige Rhetorik, die Sokrates hier fordert, wird
der wahren Heilkunde darin ähnlich sein, daß sie das mannigfaltige Wesen
der Seele, in die sie Überzeugungen einpflanzen soll, kennen muß und ebenso
die Mannigfaltigkeit der Reden, die sich für die jeweilige Verfassung der Seele
eignen. Das ist die Analogie, die aus dem Blick auf das ärztliche Tun und
Können entwickelt wird. Wahre Heilkunde, die ein echtes Wissen und Können
einschließt, verlangt also, auseinanderzukennen, was jeweils die Verfassung
des Organismus ist und was dieser Verfassung zuträglich ist.
Werner Jaeger hat mit Recht bei der Deutung dieser Stelle die lange übliche
Meinung zurückgewiesen, als ob hier eine naturphilosophische, von kosmolo¬
gischen Gesamtideen erfüllte Medizin gefordert werde. Das Gegenteil ist der
Fall. Das Verfahren, um das es geht, ist die Methode des Einteilens, der diffe¬
renzierenden Betrachtung, die die jeweiligen Krankheitserscheinungen in der
Einheit eines spezifischen Krankheitsbildes zusammenfaßt und von da eine
einheitliche Behandlung ermöglicht. Bekanntlich ist der Begriff des Eidos, den
wir durch die platonische Ideenlehre kennen, zuerst innerhalb der medizini¬
schen Wissenschaft gebraucht worden. So begegnet er bei Thukydides in einer
Krankheitsbeschreibung, in der Schilderung des Krankheitsbildes jener be¬
rühmten Pest, die Athen am Anfang des Peloponnesischen Krieges heimsuchte
und der schließlich auch Perikies erlag. Die medizinische Wissenschaft ist bis
zum heutigen Tage von der gleichen Forderung in ihrer Forschung bestimmt.
Die gemeinte Methode des Einteilens ist eben alles andere als eine scholastische
Begriffsspalterei. Einteilung ist nicht Herauslösung eines Teiles aus der Einheit
eines Ganzen. Sokrates verbietet hier jede isolierende Betrachtung der Sym¬
ptome und fordert eben damit wirkliche Wissenschaft. Er geht dabei noch
über das hinaus, was auch die moderne medizinische Wissenschaft als ihre
methodische Grundlage anerkennt. Die Natur des Ganzen, von der hier die
Rede ist, ist nicht nur das einheitliche Ganze des Organismus. Wir haben ja
aus der griechischen Medizin ein reiches Anschauungsmaterial dafür, wie
Wetter und Jahreszeit, Temperatur, Wasser und Ernährung, kurz, wie alle
möglichen klimatischen und Umweltfaktoren die konkrete Seinsverfassung
dessen mit ausmachen, um dessen Wiederherstellung es geht. Der Zusammen¬
hang, in dem die behandelte Stelle steht, läßt aber noch einen weiteren Schluß
zu. Die Natur des Ganzen umschließt die gesamte Lebenssituation des Patien¬
ten, ja sogar die des Arztes. Die Medizin wird mit der wahren Rhetorik ver¬
glichen, welche die rechten Reden in der rechten Weise auf die Seele einwirken
lassen soll. Eine höchst ironische Vorstellungsweise. Plato schwebt gewiß nicht
218 Apologie der Heilkunst

vor, es sollte eine solche Kunst der rhetorischen Seelenführung geben, die
beliebige Reden zu beliebigen Zwecken einzusetzen und auszunutzen wüßte.
Was er meint, ist offenbar, daß es die rechten Reden sein müssen und daß nur
der die rechten Reden kennen kann, der die Wahrheit erkannt hat. Nur der
also wird der rechte Redner sein, der der wahre Dialektiker und Philosoph ist.
Das aber rückt die mit ihr verglichene Heilkunst in ein höchst interessantes
Licht. Wie die scheinbare Sonderaufgabe der Rhetorik in das Ganze der philo¬
sophischen Lebenshaltung übergeht, so wird es wohl auch bei jenen Mitteln
und Behandlungen sein, welche die Medizin dem menschlichen Leibe zubringt,
um ihn wiederherzustellen. Insofern stimmt die Parallele von Redekunst und
Heilkunst auch darin, daß die Verfassung des Leibes in die Verfassung des
Menschen im ganzen übergeht. Seine Stellung im Ganzen des Seins ist nicht
nur im Sinne der Gesundheit, sondern in einem umfassenderen Sinne eine
balancierte. Krankheit, Verlust des Gleichgewichts, meint nicht nur einen
medizinisch-biologischen Tatbestand, sondern auch einen lebensgeschichtlichen
und gesellschaftlichen Vorgang. Der Kranke ist nicht mehr der alte. Er fällt
aus. Er ist aus seiner Lebenssituation herausgefallen. Doch bleibt er als der,
dem etwas fehlt, auf die Rückkehr in sie bezogen. Gelingt die Wiederher¬
stellung des natürlichen Gleichgewichts, so gibt der wunderbare Vorgang der
Genesung dem Gesundeten auch das Lebensgleichgewicht zurück, in dem er
tätig er selbst war. So ist es kein Wunder, daß umgekehrt der Verlust des einen
Gleichgewichts zugleich immer das andere Gleichgewicht gefährdet, ja daß es
im Grunde nur ein einziges großes Gleichgewicht ist, in welchem sich das
menschliche Leben hält, um das es schwankt und das sein Befinden ausmacht.
In diesem Sinne gilt, was Plato andeutet, daß der Arzt wie der wahre Redner
das Ganze der Natur sehen muß. Wie jener aus wahrer Einsicht das rechte
Wort zu finden hat, um den anderen zu bestimmen, so muß auch der Arzt über
das hinaussehen, was der eigentliche Gegenstand seines Wissens und Könnens
ist, wenn er der wahre Arzt sein will. Seine Lage ist daher ein schwer einzu¬
haltendes Zwischen von menschlich unverbindlichem Berufsdasein und mensch¬
licher Verbindlichkeit. Es macht seine Lage als Arzt aus, Vertrauen zu brauchen
und doch auch wieder seine ärztliche Macht beschränken zu müssen. Er muß
über den ,FalL, den er behandelt, hinaus auf den Menschen im Ganzen
seiner Lebenssituation sehen. Ja, er hat sogar sein eigenes Tun und was es bei
dem Patienten wirkt, mitzureflektieren. Er muß sich zurückzunehmen wissen.
Denn er darf weder von sich abhängig machen, noch ohne Not Bedingungen
der Lebensführung (,Diät‘) vorschreiben, die die Wiedereinspielung des
Patienten in sein Lebensgleichgewicht verhindern.

Was für das Verhältnis des Seelisch-Kranken zu seinem Arzt allgemein be¬
kannt ist und die anerkannte Aufgabe des Psychotherapeuten mit ausmacht,
gilt in Wahrheit allgemein. Die ärztliche Kunst vollendet sich in der Zurück¬
nahme ihrer selbst und in der Freigabe des anderen. Auch hier tritt die Sonder-
Apologie der Heilkunst 219

Stellung der Heilkunst im Ganzen der menschlichen Künste hervor. Daß das,
was von einer Kunst hergestellt wird, sich von seiner Entstehung löst und
einem freien Gebrauch überantwortet ist, stellt eine Beschränkung dar, die
jedem, der eine Kunst und ein Können ausübt, auferlegt ist. Beim Arzt aber
wird das gleidie zu einer editen Selbstbeschränkung. Denn es ist kein bloßes
Werkstück, das er gemacht hat, sondern es ist Leben, das ihm anvertraut war
und das er nun aus seiner Obhut entläßt. Dem entspricht die besondere Lage
des Patienten. Der Gesundgewordene, der seinem eigenen Leben zurückgegeben
ist, beginnt die Krankheit zu vergessen, aber er bleibt dem Arzt auf eine (meist
namenlose) Weise verbunden.
PHILOSOPHISCHE BEMERKUNGEN
ZUM PROBLEM DER INTELLIGENZ

Den Philosophen interessieren die Probleme der Wissenschaften in einer


eigentümlich verkehrten Intentionsrichtung. Das gilt auch für das Problem
der Intelligenz. Während der Arzt oder der Psychologe den Begriff der Intelli¬
genz so anwendet, daß die beschriebenen Phänomene seiner Verwendung einen
eindeutigen Sinn geben, stellt sich dem Philosophen die Frage, was für eine
Prägung der Begriff der Intelligenz als solcher bereits ist, welche vorgängige
Artikulation der Welterfahrung in dieser Begriffsbildung als solcher steckt.
Daß der Begriff der Intelligenz ein Leistungsbegriff ist, daß er ein Können
ausdrückt, das nicht durch das Bestimmte, was man da kann, also nicht durch
das Verhalten zu bestimmten Inhalten des Denkens definiert ist, dürfte dem
Sprachgebrauch der Wissenschaft wie dem des täglichen Lebens entsprechen. Im
lebendigen Sprachgebrauch gibt es nun niemals Worte für sich, die nicht durch
die Nachbarschaft zu anderen Worten ihre Bedeutung zugeteilt und mitbe¬
stimmt erhalten. Sehen wir uns um, was für Nachbarn in unserem Sprach¬
gebrauch dem Begriff der Intelligenz zukommen, so haben auch diese Wort¬
nachbarn — ich nenne etwa Scharfsinn, schnelle Auffassungsgabe, Klugheit
überhaupt, Urteilsfähigkeit - mit dem Begriff der Intelligenz den formalen
Struktursinn gemeinsam. Gleichwohl fallen sie nicht mit ihm zusammen. So ist
die erste Frage, die der Philosoph zu stellen hat, ob die Prägung eines solchen
formalen Intelligenzbegriffs nicht selbst schon eine Vorentscheidung, um nicht
zu sagen: ein Vorurteil einschließt.
Eine historische Besinnung kann die Legitimität dieser Frage deutlicher
machen. Es scheint, daß die Bedeutung des Wortes ,Intelligenz“, wie sie uns
vertraut ist, erst relativ jungen Datums ist. Das klassische lateinische Wort hat
in der Sprache der Philosophie und der von ihr bestimmten Psychologie ur¬
sprünglich einen ganz anderen Ort. Intelligentia ist die höchste Form der Ein¬
sicht, die noch der ratio, dem verständigen Gebrauch unserer Begriffe und
Denkmittel, überlegen ist. Intelligentia ist die lateinische philosophische Ent-

Vortrag auf der Tagung des Gesamtverbandes Deutscher Nervenärzte in Wies¬


baden im September 1963, erschienen in: „Der Nervenarzt“, 35. Jg., 7. Heft, Juli
1964, Springer-Verlag, Berlin-Göttingen-Heidelberg. Die Bezugnahmen im Text
gehen auf Vorträge und Aussprachen auf diesem Kongreß zurück.
Philosophische Bemerkungen zum Problem der Intelligenz 221

sprechung zu dem griechischen Begriff Nous, den wir in der Regel, und nicht
so uneben, mit Vernunft oder auch Geist wiedergeben, und meint vor allem das
Vermögen, die obersten Prinzipien zu erkennen. Indessen ist der Sprach¬
gebrauch, der heute üblich ist, von dieser philosophischen Vorgeschichte des
Wortes intelligentia durch eine Zäsur getrennt. Es ist nicht leicht, den Schnitt,
der hier liegt, genau zu bestimmen. In der philosophischen Psychologie des
18. Jahrhunderts findet sidi unser heutiger Begriff der Intelligenz noch gar
nicht. Indessen geht der Prägung dieses neuen Intelligenzbegriffs der Sprach¬
gebrauch in gewissem Umfang schon voraus, insbesondere der des französi¬
schen Adjektivs ,intelligent' (bereits seit dem 15. Jahrhundert). Die neue Prä¬
gung des Begriffs hat aber eine große Tragweite und zeigt, was für Vorentschei¬
dungen in Begriffen liegen. Daß intelligence im 17. Jahrhundert aufhört, das
Vermögen der Prinzipienerkenntnis zu sein und die allgemeine Fähigkeit,
Dinge, Tatsachen, Beziehungen usw. zu erkennen, bedeutet, rückt den Men¬
schen grundsätzlich mit den intelligenten Tieren in eine Reihe1. Offenbar war
es die vom pragmatischen Ideal erfüllte Aufklärung, die im Anschluß an den
sich in pragmatischer Richtung entwickelnden Sprachgebrauch und in der
Absicht, die extremen Folgen des Cartesianismus, der dem Menschen das Selbst¬
bewußtsein vorbehielt und die Tiere für Maschinen erklärte, zu vermeiden,
den Begriff der Intelligenz von aller Beziehung auf die ,Prinzipien' ablöste
und rein instrumental verwendete. Man sieht, daß der heutige Begriff der
Intelligenz seinen Formalcharakter aus einer bestimmten Fragestellung emp¬
fangen hat, die keineswegs dem ursprünglichen Sinnfelde des lateinischen
Wortes ,intelligentia' genau eingepaßt ist.
Dies wird nun noch verstärkt, wenn wir uns in die Begriffsbildung der grie¬
chischen Philosophie zurückversetzen und fragen, was eigentlich unserem
Begriff ,Intelligenz' dort entspricht. Man darf wohl sagen, daß es dort keinen
philosophischen Begriff gibt der ein wirkliches Äquivalent zu diesem Begriff
darstellt. Natürlich gibt es in der griechischen Sprache der klassischen Zeit,
ja schon in homerischer Zeit, sprachliche Äquivalente, die einen Menschen als
,intelligent' charakterisieren, etwa den einfallsreichen, erfindungsreichen
Odysseus, oder Worte, die Verständigkeit bezeichnen (etwa: Synesis). Aber
ein formaler Begriff der Intelligenz ist von den griechischen Philosophen nicht
entwickelt worden. Sollte das nicht beachtet werden? Wenn sie das auch uns
so beunruhigende Problem des instinktgeleiteten und doch ,intelligent' wir¬
kenden Verhaltens von Tieren mit dem intelligenten Verhalten des Menschen
verglichen, so scheint es mir bezeichnend, daß der Begriff, mit dem dieser Ver¬
gleich vorgenommen wird, der Begriff der ,phronesis', einen ganz anders in¬
haltlich bestimmten Sinn hat, nämlich im menschlichen Bereich der Moral¬
philosophie. So sagt z. B. Aristoteles, gewisse Tiere hätten offenkundig auch
,phronesis' - er denkt vor allem an die Bienen, an die Ameisen, an die Tiere,

1 Vgl. Monet: „Facilite ä comprendre et ä juger chez l’homme et les animaux“.


222 Philosophische Bemerkungen zum Problem der Intelligenz

die für den Winter sammeln und auf diese Weise, menschlich gesehen, Voraus¬
sicht und das schließt ein: Sinn für Zeit verraten. Sinn für die Zeit - das ist
etwas Ungeheures. Es bedeutet nicht bloß eine Erkenntnissteigerung, Voraus¬
schau, sondern einen grundsätzlich anderen Status: Anhalten im Verfolgen des
allernächsten Zwedces zugunsten eines auf längere Sicht angestrebten, fest¬
gehaltenen Zieles.
Der Begriff der ,phronesisc, der so für das tierische Verhalten auf Grund
einer menschlichen Analogie verwendet wird, hat nun aber im anthropolo¬
gischen und moralischen Bereich gerade durch Aristoteles eine eindeutige Be¬
stimmung erfahren, die nachdenklich macht. Aristoteles dürfte dabei dem
Sprachgebrauch, der sedimentierten Vernunft, die in jedem Sprachgebrauch
steckt, genau folgen, wenn er unter ,phronesis‘ nicht nur das kluge, geschickte
Finden von Mitteln zur Bewältigung bestimmter Aufgaben versteht, nicht nur
den Sinn für das Praktische, für das Erreichen beliebiger Zwecke, sondern auch
den Sinn für die Setzung der Zwecke selber und die Verantwortung dieser
Zwecke. Damit gewinnt der Begriff - und darauf kommt es hier an - eine in¬
haltliche Bestimmtheit. Kein bloßes formales Können macht diesen Begriff aus,
sondern ineins mit diesem Können die Bestimmung dieses Könnens, die An¬
wendung, die es erfährt. Aristoteles gibt dem einmal dadurch Ausdruck, daß
er der ,phronesis‘ die ,deinotes‘ gegenüberstellt, d. h. der vorbildlichen Hal¬
tung der phronesis als eine naturhafte Gegenform die unheimliche Geschick¬
lichkeit des Bewältigens jeder möglichen Situation entgegensetzt - und dies ist
keineswegs etwas schlechthin Positives. Wer diese Eigenschaft besitzt, ist, wie
wir sagen, zu allem fähig und vermag, wo es haltlos und ohne verantwort¬
baren Sinn geschieht, jeder Situation einen praktikablen Aspekt abzugewinnen
und davonzukommen (in der Politik der gesinnungslose Opportunist, im Wirt¬
schaftsleben der Konjunkturritter, dem nicht zu trauen ist, im gesellschaftlichen
Bereich der Hochstapler usw.). Der Begriff der Intelligenz erscheint also hier
noch an das Menschsein im ganzen, an seine humanitas, gebunden. Ganz ähnlich
wie der uns wohlvertraute Begriff des gesunden Menschenverstandes hat er im
modernen Denken eine wesentliche Dimension eingebüßt. Wir denken im allge¬
meinen nicht daran, daß der gesunde Menschenverstand etwas anderes sein
könnte als ein bloßes formales Können (die normale Ausstattung mit einer
Fähigkeit), und doch zeigt die nähere Untersuchung dieses Begriffes eine ganz
andere Prägung desselben. Ihm entspricht nämlich der Begriff des bon sens bei
den Franzosen und letzten Endes der Begriff des sensus communis, das ist der
Allgemeinsinn. Nun läßt sich nachweisen, daß sensus communis, dieser all¬
gemeine Sinn, in Wahrheit nicht nur den ungestörten Gebrauch unserer geisti¬
gen Gaben meint, sondern immer zugleich eine inhaltliche Bestimmung ein¬
schließt2. Sensus communis ist Gemeinsinn nicht nur als jene facultas dijudica-

2 Vgl. .Wahrheit und Methode', S. 16-27.


Philosophische Bemerkungen zum Problem der Intelligenz 223

tiva, die die Zeugnisse der Einzelsinne verarbeitet, sondern bezeichnet vor
allem sozialen Sinn, den Bürgersinn, der gewisse, allen gemeinsame, unbe¬
strittene inhaltliche Voraussetzungen enthält, und keineswegs nur die formale
Fähigkeit des Vernunftgebraudts.
Das scheint mir nun für unsere Überlegung über den Begriff der Intelligenz
und seinen ursprünglichen Zusammenhang mit dem der ,Intelligentia‘ bedeut¬
sam. Es ist nicht selbstverständlidi und fraglos, daß die Ablösung des Begriffs
der Intelligenz von bestimmten inhaltlichen Aufgaben, die uns als Menschen
gestellt sind, wissenschaftlich legitim ist. Wenn wir uns fragen, was solche Ab¬
lösung denn eigentlich bedeutet, so ist grundsätzlich zunächst daran zu denken,
daß jeder Begriff dieser Art einen bestimmten sozialen Konventionscharakter,
einen bestimmten sozial festgelegten Normsinn enthält. Die Gesellschaft ver¬
steht sich selbst in der Lebendigkeit ihres Sprachgebrauchs und sagt etwas von
sich selber, wenn sie gewisse Ausdrüdce, etwa den der Intelligenz, in der uns
gewohnten Weise verwendet. Woraufhin versteht sie sidi und was meint sie?
Ist es vielleicht mehr als nur ein äußerliches Sprachgeschehen, daß der uns
gewohnte Begriff der Intelligenz so jungen Datums ist?
Ich will damit nicht die bekannte Kritik an der sogenannten Vermögens¬
psychologie wiederholen. Es ist wahr, daß die klassische Psychologie des
18. Jahrhunderts mit dem Begriff des Vermögens eine bestimmte Grundauf¬
fassung vom Menschen und seinen Fähigkeiten artikuliert hat und daß die
Auflösung dieser Apparatur von Vermögen, mit denen die Seele ausgestattet
ist, zu den unbestreitbaren Fortschritten in der Erkenntnis des menschlichen
Seins gehört. Ein Vermögen in dem Sinne dieser klassischen Psychologie soll
,Intelligenz', wie sie heute im Sprachgebrauch bekannt ist, gewiß nicht sein.
Das will sagen, Intelligenz wird in unserem heutigen Sprachgebrauch nicht
eigentlich als eine der Funktionen oder Betätigungsformen des menschlichen
Gemütes bezeichnet, die neben anderen - etwa neben den Funktionen der
Sinne - als eine eigene geistige Funktion ins Spiel und außer Spiel gesetzt
werden könnte, sondern Intelligenz ist in allem menschlichem Verhalten darin,
oder anders geredet: in jedem intelligenten Verhalten ist der ganze Mensch
darin. Es ist eine Möglichkeit des Lebens, in die er sich hineingelegt hat und die
sein Menschsein so sehr ausmacht, daß er ihr gegenüber gar nicht die Distanz
hat, sie anzuwenden oder nicht anzuwenden, sie ins Spiel zu setzen oder außer
Spiel zu setzen.
Aber auch wenn das zugestanden ist, könnte die Prägung des Begriffes Intel¬
ligenz im heutigen Sinne trotzdem noch etwas von dem alten überwundenen
Stadium der Vermögenspsychologie festhalten. Ich meine folgendes: Daß In¬
telligenz ein formaler Leistungsbegriff ist, wie es uns heute zumeist erscheint,
macht sie im gewissen Sinne zu einem Werkzeug. Denn das charakterisiert
ja das Wesen des Werkzeuges, daß es für sich nichts, aber für mannig¬
fachen Gebrauch geeignet ist und entsprechend angewendet wird. Es mag ein
besonderes Werkzeug sein, das wir mit Intelligenz, mit unserem intelligenten
224 Philosophische Bemerkungen zum Problem der Intelligenz

Vermögen, oder wie immer wir uns ausdrücken wollen, bezeichnen, ein beson¬
deres dadurch, daß es schlechterdings universal ist und nicht, wie Werkzeuge
sonst, auf bestimmten Gebrauch eingeschränkt und nur für bestimmten Ge¬
brauch geeignet. Aber die Frage scheint mir nicht von der Hand zu weisen
zu sein, ob nicht der Begriff des Instrumentes, des Werkzeuges zum Gebrauch,
der sich bei dem uns heute gewohnten Formalbegriff der Intelligenz notwendig
mit einstellt, eine fragwürdige Menschenauffassung und einen fragwürdigen
Intelligenzbegriff kennzeichnet.
Allem unserem Nachdenken über den Menschen und das Tier, über den
Menschen und die Maschine, ist heute, gemessen an der naiven Selbstverständ¬
lichkeit, mit der ehedem vom menschlichen Selbstbewußtsein aus der Begriff
des Instinktes oder auch der Begriff der zweckmäßigen Maschine beschrieben
worden ist, eines gemeinsam, nämlich die seit Nietzsche nicht mehr übersehbare
Skepsis gegen die Aussagen des Selbstbewußtseins. Hatte Descartes im Selbst¬
bewußtsein das fundamentum inconcussum aller Gewißheit gesehen, so hat
Nietzsche die Parole ausgegeben: „Es muß gründlicher gezweifelt werden.“
In der Tat hat der Begriff des Unbewußten eine ganze Dimension aufgeschlos¬
sen, die dem Selbstbewußtsein eine nur epiphänomenale Legitimität beläßt.
Auf die Unzweifelhaftigkeit des Selbstbewußtseins aber war die Philosophie
der Neuzeit in weitem Umfange begründet. Insbesondere der Begriff der Re¬
flexion, der uns für die Bestimmung aller Phänomene des Geistes unentbehr¬
lich ist, ruht auf diesem Grunde. Reflexion, die freie Zuwendung zu sich selbst,
erscheint als die höchste Weise von Freiheit überhaupt. Hier ist der Geist bei
sich selber, sofern er nur auf seine eigenen Inhalte bezogen ist. Unleugbar wird
mit dieser Freiheit zu sich selber, dieser Urdistanz, ein Wesenszug des Men¬
schen charakterisiert. Es ist wahr, daß irgendwie Abstandnahme von sich selber
die Grundvoraussetzung der sprachlichen Weltorientierung darstellt, und in
diesem Sinne ist in aller Reflexion in der Tat Freiheit.
Gleichwohl scheint es nicht unbedenklich, angesichts der Kritik des Selbst¬
bewußtseins, die für die Moderne bezeichnend ist, von einer Erhebung in die
Dimension des Geistigen zu sprechen, als ob wir uns in diese Dimension durch
unseren freien Entschluß erheben und uns in dieser Dimension in freier Weise
bewegen könnten. Vielleicht gibt es sehr verschiedene Formen von Reflexion.
Jedenfalls steckt schon in allem Können Reflexion. Es macht den Begriff des
Könnens aus, daß es nicht bloßer Vollzug ist, sondern gegenüber möglichem
Vollzug eben schon den Besitz dieser Möglichkeit meint. So gehört es zum
Bewußtsein alles echten Könnens, daß es über die Anwendung seines Könnens
selbst noch Herr ist. Schon Plato hat auf diese innere Reflexivität im Begriff
des Könnens (techne) hingelenkt, wenn er betonte, daß jedes Können zugleich
das Können seiner selbst und seines Gegenteils ist. So ist der wahre Könner im
Laufen einer, der sowohl schnell als langsam laufen kann. So ist der wahre
Könner im Lügen der, der sowohl das Falsche als auch das Wahre weiß und
deswegen davor sicher ist, dort, wo er lügen will, aus Versehen die Wahrheit
Philosophische Bemerkungen zum Problem der Intelligenz 225

zu sagen. Dieser Begriff des Könnens impliziert eine Art von Distanz gegen¬
über dem Vollzug und ist insofern prinzipiell durch die Struktur bestimmt, die
wir mit Reflexivität meinen. Aber ist diese Reflexion, die im ,freien Können'
der Techne steckt, für die wesenhafte Reflexivität des Menschen das richtige
Modell? Die eigentliche Frage ist offen, ob es für den Menschen als solchen eine
freie Erhebung in die Distanz zu sich selber gibt, und ob die Erhebung ins
Geistige, die Erhebung zum Selbstbewußtsein, den Menschen wahrhaft heraus¬
hebt aus seiner genötigten endlichen Zeitlichkeit.
In den so anziehenden und scharfsinnigen Erörterungen über den Begriff
der Demenz, die Zutt uns vorgelegt hat, wird diese Frage dort dringlich,
wo er die extremen Formen von Demenz durch den Mangel an Krankheits¬
einsicht charakterisiert. Zweifellos mit deskriptivem Recht, und doch wird
damit ein grundsätzliches Problem angerührt. Was heißt Krankheitseinsicht?
Sicher ein wohl umschriebener Tatbestand, sofern man den Begriff der Krank¬
heit mit den Augen des Arztes und der ärztlichen Wissenschaft sieht und die
Übereinstimmung der ärztlichen Erkenntnis mit der Selbsteinsicht des Patien¬
ten damit meint. Aber als Lebensphänomen ist Krankheitseinsicht offenbar
nicht einfach Einsicht im Sinne der Erkenntnis eines wahren Sachverhaltes,
sondern wie alle Einsicht etwas schwer Erworbenes und gegen lebendige
Widerstände Durchzusetzendes. Es ist bekannt, welche Rolle die Verdeckung
der Krankheitseinsicht in mancherlei Erkrankungen des Menschen spielt, vor
allem aber, welche Grundfunktion die Verdeckung der Krankheitseinsicht im
lebendigen Sein des Menschen besitzt.
Der Kranke erfährt seine Krankheit darin, daß ihm etwas fehlt. Welchen
Aufschluß gibt eigentlich dies, daß einem etwas fehlt, über das, was fehlt? Daß
schwere Fälle von Demenz mit Krankheitseinsicht unvereinbar sind und ins¬
besondere, daß oft schon Anfangsformen einer solchen dagegen sperrig sind, muß
nachdenklich machen. Gewiß ist es eine unverfängliche Feststellung der Wissen¬
schaft, daß der Mensch in einem solchen bestimmten Zustand, den sie — von
einem Begriff des Normal-Gesunden aus - als Krankheit bezeichnet, die Fähig¬
keit verloren hat, zu sich selber Distanz zu nehmen und einzusehen, daß er
krank ist, ja vielleicht sogar, daß eine gewisse Erkrankung in dem Verlust
solcher Distanz zu sich selbst wesentlich besteht. Indessen kann die Feststell-
barkeit eines solchen Extremzustandes die Frage nicht ausschließen, ob nicht
gerade die Reflexionsfähigkeit, die Möglichkeit der Distanz zu sich selbst, für
alle geistigen Erkrankungen eine notwendige Bedingung darstellt. Ob das
nicht einschließt, daß Krankheitseinsicht bzw. Fehlen derselben für den Kran¬
ken selber nicht einfach Einsicht in etwas, was ist, bedeutet?
In der Tat bestätigt sich an vielen konkreten Gestalten des Selbstbewußt¬
seins, zu denen etwa Selbstkritik - aber auch Kulturkritik - und schließlich
auch Krankheitseinsicht gehören, die Notwendigkeit, mit Nietzsche an den
Aussagen des Bewußtseins zu zweifeln. Man kann nicht Einsicht in das, was
ist, als eine freie Möglichkeit des Menschen voraussetzen, in der sein eigent-

15 Gadamer, Schriften I
226 Philosophische Bemerkungen zum Problem der Intelligenz

liches Wesen bestehe, und zu der er sich in überlegener Distanznahme jederzeit


erheben könne, ohne in einen naiven Dogmatismus zu verfallen. Einsicht und
Distanzmöglichkeit solcher Art bleiben vielmehr auf schwer beschreibbare
Weise an die Person im ganzen ihrer Lebenssituation gebunden. Gewiß zeich¬
net es den Menschen aus - gegenüber jenen bewundernswerten Künsten und
Fertigkeiten, die Biene und Biber, Ameise und Spinne zeigen -, daß er sich
seines Könnens jeweils bewußt ist und daher die erstaunliche Fähigkeit besitzt,
sein gelerntes Können unter Umständen ,absichtlich' nicht anzuwenden, also
Freiheit auch noch seinen Künsten gegenüber zu betätigen. Dennoch ist solche
Freiheit wie überhaupt die der reflexiven Distanz zu sich selber ein proble¬
matisches Ding. Ihr zu folgen ist nicht selbst wieder ein freier Akt, sondern
ist motiviert, hat Bedingungen und Beweggründe, die nicht selber aus freiem
Können verwaltet werden. So ist es nur eine formale Ähnlichkeit, die solches
Können mit dem Werkzeug hat, das man nach freiem Belieben ergreift und
weglegt. Jedes Können ist Sein.
Das ist der Grund, warum die Struktur der Reflexivität nicht immer mit
dem Begriff der Vergegenständlichung verknüpft ist. Das eigene Selbst, dessen
man sich reflexiv bewußt ist, ist nicht in dem Sinne Gegenstand, wie wir sonst
ein objektivierendes Verhalten der Erkenntnis auf einen Gegenstand gerichtet
nennen, der als erkannter gleichsam seine Widerstandskraft verliert, besiegt
ist, verfügbar wird. Natura parendo vincitur. Reflexivität als die Möglichkeit
der Distanz zu sich selber meint nicht ein Gegenüber zu einem Gegenstände.
Sie ist vielmehr in der Weise im Spiel, daß sie mit dem gelebten Vollzüge mit¬
geht. Das ist unsere eigentliche Freiheit, daß so im ,Mitgehen' mit den Lebens¬
vollzügen Wahl und Entscheidung ermöglicht werden, und eine andere Frei¬
heit zu sich selbst, zu der wir uns selbst aus freiem Entschluß erheben, gibt es
nicht. Reflexives Mitgehen mit dem Vollzüge, nicht vergegenständlichendes
Gegenübertreten, gehört zu einer Handlung, die wir ,intelligent' nennen.
Das will gewiß sagen, und das ist das Reflexionsmoment darin, daß die Un¬
mittelbarkeit des Zugehens auf etwas gebrochen, daß, mit Hegel zu reden, die
Begierde gehemmt und eben damit das Ziel als solches bewußt, d. h. als Un¬
erreichtes festgehalten, als Zweck ,gesetzt' wird. Bewußtsein ist insoweit
Bewußtsein einer Störung. Die Schilderungen der Affenversuche Köhlers geben
eine gute Illustration dafür. Die gehemmte Begierde nach der Banane führt
zum ,Nachdenken', d. h. unter Festhalten des Begierdezieles zum umwegigen
Rückgang auf anderes, das als solches gar nicht Ziel ist, d. h. zur Mittelwahl.
Aber solch ein ,Mittelding' ist nicht eigentlich Gegenstand einer Zuwendung,
so wenig wie die eigene Hand ,Gegenstand' wird, wenn sie das Ziel im
bloßen Ausstrecken des Begehrens nicht zu erreichen vermag. Vielmehr drängt
diese Zuwendung und dieses zielgerichtete und zugleich vom Ziel sich ab¬
wendende Nachdenken von sich aus in die Aktion, die das Ziel erreicht und
alsdann die ,zuhandenen‘ Mittel wegwirft. Der Störung entspricht die Ent¬
störung, d. h. die Zurücknahme der Zuwendung zu sich selbst.
Philosophische Bemerkungen zum Problem der Intelligenz 227

Das scheint mir das Modell, nach dem alle Selbstreflexion, insbesondere
auch die in der eigenen Krankheitseinsicht betätigte, gesehen werden muß.
Auch da handelt es sich nicht um Vergegenständlichung meiner selbst, durch die
Krankheit ,festgestellt' wird, sondern um ein auf sich Zurüdcgeworfenwer-
den, weil einem etwas fehlt, d. h. um Störung, die schon auf eine Entstörung
hingerichtet ist, und sei es durch Unterwerfung unter Einsicht und Eingriff des
Arztes. Krankheit ist primär nicht jener feststellbare Befund, den die medizi¬
nische Wissenschaft als Krankheit deklariert, sondern ist eine Erfahrung des
Leidenden, mit der er, wie mit jeder anderen Störung, fertig zu werden sucht.
Krankheit wird also vom Erkrankten in der Regel selbst als nicht mehr über¬
sehbare Störung erfahren. Daß einem etwas fehlt, gehört in den Zusammenhang
vonBalance, und d. h. im besonderen: jener Wiederherstellung des Gleichgewichts
aus allen Schwankungen des Befindens, die die Befindlichkeit des Menschen aus¬
macht. Innerhalb dieses Zusammenhangs stellt sie den Fall des Umschlags aus
dem sich selbst herstellenden Gleichgewicht in das verlorene Gleichgewicht dar.
Das muß im Auge behalten werden, wo immer die Rolle der Krankheitseinsicht
zum Problem wird. An sich gehört es zu den Balancekünsten des Lebens, daß
man das Störende zu vergessen oder zu betäuben trachtet, und zu den Mitteln
solcher Balancierungskunst gehört gerade auch intelligentes Verhalten, etwa in
der Form des Selbstbetrugs, des scharfsinnigen Nichtwahrhabenwollens der
Krankheit. Denn Krankheit als Verlust der Gesundheit, der ungestörten
,Freiheit', bedeutet stets eine Art Ausgeschlossenheit vom ,Leben'. Des¬
halb stellt Krankheitseinsicht ein Lebensproblem dar, das die Gesamtperson
betrifft, und keineswegs einen freien Akt der Intelligenz, die Distanz zu sich
selber nimmt und sich auf sich selbst und die erfahrene Störung vergegenständ¬
lichend wendet. Zu diesem Lebensproblem gehört all das, was der Arzt als
den schwierigen' Patienten kennt, d. h. aller Widerstand gegen den Arzt und
gegen das Eingeständnis der eigenen Ohnmacht und Bedürftigkeit. Da kann
es geradezu einen Grad von Intelligenz bezeugen, daß einem die Unterord¬
nung unter die Autorität des Arztes schwer wird. Ob als Einsicht oder als ver¬
blendete Uneinsichtigkeit - jedenfalls ist Reflexion hier nicht eine freie Zu¬
wendung zu sich selbst, sondern steht unter dem Druck des Leidens, des
Lebenswillens, der Fixiertheit an Arbeit, Beruf, Prestige oder was immer.
Das Eingreifen des Arztes ändert an dieser Situation nichts Grundsätzliches.
Er tritt in die Lebenssituation ein, die zur Krankheitseinsicht genötigt hat. Er
soll helfen, und zwar zur Wiederherstellung des verlorenen Gleichgewichts,
und gerade der heutige Heilkundige weiß, daß das nicht nur bedeutet, soma¬
tische Defekte zu beseitigen, sondern die Lebenssituation des steuerlos Gewor¬
denen wieder ins Gleichgewicht zu bringen. Ärztliches Eingreifen ist daher
stets selber in der Gefahr, im Helfen das Gleichgewicht erneut zu stören, nicht
nur durch einen ,gefährlichen' Eingriff, der andere Balanceverhältnisse stört,
sondern vor allem auch wegen der Placiertheit des Kranken in einem unüber¬
schaubaren Gesamt psychischer und sozialer Spannungsverhältnisse.

15 *
228 Philosophische Bemerkungen zum Problem der Intelligenz

Geht man von hier aus an die Geisteskrankheit heran und an die Frage,
welche Rolle da die Intelligenz spielt, so gilt ganz gewiß, daß Geisteskrank¬
heit — welche auch immer — ein Gleichgewichtsverlust ist, und es fragt sich, ob
und wieweit derselbe das intelligente Verhalten mit umfaßt, das zur Einsicht
fähig macht. Der gewohnte Gebrauch des Begriffes Intelligenz kann uns hier
leicht beirren, so daß wir verkennen, daß ein erkrankter ,Geist' durchaus
nicht an ,Intelligenzschwund' zu leiden braucht. Daher war die Mitteilung
Langers über die durchschnittlich besonders hohe Intelligenz der Neurotiker
recht instruktiv. Bestimmt man Krankheit als Gleichgewichtsverlust, so ist
leicht verständlich, daß das formale Vermögen, das man Intelligenz nennt,
von dem ,Geisteszustand' des Kranken unabhängig sein kann. Denn unter
Geisteszustand verstehen wir jedenfalls nicht den Zustand eines formalen Ver¬
mögens, sondern all das mit, was einer im Kopfe hat, welche Anschauungen
ihn erfüllen, welche Ordnung der Werte ihn leitet, welche wesentlichen Ziele
ihm vorschweben und das Gleichgewicht seines Lebens mittragen oder zer¬
stören. Daß es Krankheitsbilder gibt, bei denen auch die ,Intelligenz', die
Fähigkeit zur reflexiven Distanz schlechthin erloschen ist, bedeutet vielleicht
doch weniger, daß der Ausfall eines formalen Vermögens als daß der Verfall
einer menschlichen Person der Kern der Sache ist. Das Gleichgewicht, das wir
geistige Gesundheit nennen, ist eben ein Zustand der Gesamtperson, die nicht
einfach ein Bündel von Leistungen ist, und betrifft das gesamte Weltverhältnis.
Nun könnte man freilich einwenden, daß wir doch nicht umsonst von gei¬
stiger' Erkrankung sprechen. Was heißt da Geist? Schließt er nicht immer die
freie Selbstbezüglichkeit, die Distanz zu sich selber ein, ein Zugehören zu der
Dimension des Geistigen? Diese Frage stellt sich mit erneuter Dringlichkeit,
wenn man, vom intelligenten Verhalten der Tiere kommend, die besondere
Intelligenz des Menschen zu bestimmen sucht. Er ist das Wesen, das Sprache
hat. Denn ohne Zweifel ist die Sprachlichkeit unseres Weltverhaltens mit seiner
Geistigkeit eng verknüpft. Wenn man von der Lebenssituation und ihrer Be¬
wältigung ausgeht, mag zwar die Dimension des Geistigen wie eine andere
Dimension erscheinen, der Geist vielleicht wenn nicht als eine Art Widersacher
des Lebens, so doch als Ausdruck eines Zerfalls des Lebens mit sich selber, das
seine gewohnten Bahnen nicht mehr fraglos zieht und eine Welt des eigenen
Meinen, eine sprachlich ausgelegte Welt aus sich heraus ,vorstellt'. In ihr
sieht es sich von Möglichkeiten umgeben, zwischen denen es zu wählen hat.
Dies Wählenkönnen könnte man nun auslegen als ein Mittel, das zu einem
vorgezeichneten Zwecke, der Erhaltung seiner selbst, des Wohlergehens des
Menschen, geeignet und notwendig ist, und die Natürlichkeit der Sprache
scheint das gleiche zu bezeugen: Sie ist das geistigste aller Verständigungsmittel.
Insofern wäre auch Intelligenz ein solches ,Mittel', das den Menschen sein
Leben fristen läßt. Seine Erkrankung ist wie jede andere auch ein Ausfall
und je nach dem Grade des Ausfalls verschieden, bis zu dem Punkte, daß jede
Krankheitseinsicht unmöglich ist.
Philosophische Bemerkungen zum Problem der Intelligenz 229

Aber gerade das genügt nicht. Vielmehr charakterisiert es die Grundverfas¬


sung des Menschen, daß zwar auch seine Natur ihrer Erfüllung zustrebt wie
die jedes Lebendigen, daß aber das, worin für ihn Erfüllung besteht, nicht
fraglos feststeht, sondern daß er es sich selbst zum Ziele setzt. Die Mannig¬
faltigkeit der Möglichkeiten, auf die er sich hin versteht und unter denen er
wählt, sind Selbstauslegungen, die der Ausgelegtheit der Welt durch die
Sprache entsprechen. Aristoteles hat, wie ich meine, richtig geurteilt, wenn er
den Sinn für das Förderliche und Schädliche, der den Menschen als das t,q>ov
/.öyov ejov gegenüber der Unmittelbarkeit der tierischen Begierde auszeichnet,
sogleich in den Sinn für das ,Rechte' übergehen läßt3. Die Sprache, die beides
zu sagen weiß, ist nicht nur ein Verständigungsmittel zu beliebigen Zwecken,
dient also nicht nur dem Förderlichen und der Vermeidung des Schädlichen -
sie legt auch erst die gemeinsamen Zwecke fest und verantwortet sie, in denen
die Menschen sich von Natur ihre gesellschaftliche Daseinsform geben.
Darin ist gewiß ,Distanz', aber diese Ferne der Möglichkeiten ist dem
Menschen zugleich das Allernächste, das, worin er lebt. Sie sind nicht ein Ge¬
genstandsfeld von sachlicher Feststellbarkeit, sondern seine menschlichen Mög¬
lichkeiten gehören wie die Welt selbst zu jenem Ganzen, in dem heimisch zu
werden, in dem sich einzurichten für den Menschen Leben bedeutet. Dieses
menschliche Leben ist von Krankheit, d. h. von Gleichgewichtsverlust bedroht,
und da es menschliches Leben ist, wird der Gleichgewichtsverlust stets ein das
Ganze treffender, immer auch das seelische Gleichgewicht mittreffender sein.
Vollends dort, wo der Arzt von ,geistiger' Erkrankung redet, handelt es sich um
einen Gleichgewichtsverlust: Daß wir dieses Umgebensein von Möglichkeiten
nicht mehr bewältigen, ist ein Versagen der geistigen Selbstbalancierung, das
nicht unabhängig ist von dem Horizont der Möglichkeiten, die uns umgeben,
sei es, daß sie die Gleichgewichtslage, in der wir uns befinden, miterhalten, sei
es, daß sie dieselbe in der ekstatischen Verlorenheit und Fixiertheit an ein Ein¬
ziges zerstören. Von solchen Gefährdungen finden wir in den Instinktzügen
der tierischen Lebenswelt nichts. Was dort intelligent anmutet oder ist, meint
intelligente Formen des Instinktgehorsams, d. h. des Verhaltens zur Errei¬
chung festgelegter Ziele. Menschliche Intelligenz dagegen betrifft die Ziel¬
setzung selber, die Wahl der rechten Lebensweise (bios). Sie ist nicht bloße
Anpassungsfähigkeit, Findigkeit und geistige Gelenkigkeit in der Bewälti¬
gung vorgegebener Aufgaben, worin selbst ein Psychopath dem ,Gesunden'
überlegen sein kann. Hier liegt eine spezifische methodische Aporie aller In¬
telligenzprüfung, daß sie den Prüfling - und sei es mit noch so raffinierter
Tarnung - vor Aufgaben stellt, die er nicht selber als die seinen wählt und
weiß. Es scheint mir daher eine grundsätzliche Verarmung in der Begriffs-

3 Aristoteles, Politik 1253 a, 13 ff. Vgl. meinen Aufsatz .Mensch und Sprache',
oben S. 93 ff.
230 Philosophische Bemerkungen zum Problem der Intelligenz

bildung, wenn man den Begriff der menschlichen Intelligenz in Analogie zur
tierischen zu bestimmen sucht.
Damit denkt man nämlich die menschliche Person von den Instinktzwängen
her, die den tierischen Daseinsformen zukommen. Was dort ,Intelligenz“ ver¬
rät, ist etwas anderes als beim Menschen, dessen Instinktgebundenheit durch
eine machtvolle Institutionalisierung der kulturellen Lebenseinrichtung über¬
formt ist. Für ihn muß Intelligenz etwas ganz anderes bedeuten. Unversehens
läßt der formale Intelligenzbegriff die menschliche Person selber zum Werk¬
zeug, zum manipulierbaren Leistungsbündel werden, dessen maximale Eig¬
nung für ausgemachte Zwecke den sozialen Normbegriff der Intelligenz fest¬
legt. Jemand gehört der Intelligenzschicht an“ meint daher seine sozialpoli¬
tische Qualifikation, seine Brauchbarkeit für staatliche Zwecke in den Augen
einer planenden und dirigierenden Behörde. Es ergibt sich das erstaunliche
Resultat, daß die Rede von der Intelligenz der Tiere nicht ein verdächtiger
Anthropomorphismus ist, sondern daß die übliche Rede von der Intelligenz
des Menschen, die durch das Normideal eines Intelligenzquotienten meßbar
ist, einen geheimen und undurchschauten Theriomorphismus darstellt.
Es scheint mir die Bedeutung der Psychiatrie auszumachen, daß sie von der
Erfahrung der Geisteskrankheit her dem zu widersprechen hat. In der geisti¬
gen Erkrankung wird die doppelte Richtung des Heimischwerdens, die das
menschliche Leben ausmacht: in der Welt und in sich selbst, nicht mehr be¬
wältigt. In ihr fallen nicht so sehr bestimmte Fähigkeiten aus, als daß eine uns
allen beständig aufgegebene Aufgabe mißlingt: das Gleichgewicht zwischen
unserer animalitas und dem, worin wir unsere humane Bestimmung erblicken,
zu halten. Unsere Verfassung verfällt bei der geistigen Erkrankung nicht ein¬
fach ins Animalisch-Vegetative, sondern selbst die Deformation des Gleich¬
gewichts ist noch eine geistige. Sie erscheint, wie Bilz einleuchtend gezeigt hat,
strukturell als Wucherung, die zu den Wesensmöglichkeiten des Menschen ge¬
hört. Auch der völlige Verlust an Distanz zu sich selber, der manchen Demenz¬
formen eigen ist, muß, meine ich, noch immer als ein menschlicher Gleichge¬
wichtsverlust gedacht werden. Wie aller Gleichgewichtsverlust ist auch der
,geistige“ dialektisch: der Wiederherstellung fähig, aber zur schließlichen Zer¬
störung durch Totalverlust führend, wenn die Wiedergewinnung des Gleich¬
gewichts dauerhaft nicht gelingt. So bleibt die Geisteskrankheit noch in ihrem
gespenstischen Unheil ein Siegel dessen, daß der Mensch nicht ein intelligentes
Tier, sondern ein Mensch ist.
HANS-GEORG GADAMER

Wahrheit und Methode


Grundzüge einer philosophischen Hermeneutik

2. Auflage, durch einen Nachtrag erweitert

1965. XXIX, 524 Seiten. Brosch. DM 36.-, Lw. DM 42.-

Dieses wegweisende Werk, das seit seiner Veröffentlichung im Jahre 1960


über die deutschen Sprachgrenzen hinaus wachsende Beachtung gefunden hat,
liegt in einer zweiten, durch einen Anhang vermehrten Auflage vor. In einem
neuen Vorwort nimmt der Verfasser zu den wichtigsten Fragen Stellung, die
in der Diskussion über die von ihm entwickelte hermeneutische Theorie auf¬
geworfen worden sind. Professor Gadamer stellt nochmals Absicht und An¬
spruch seiner Schrift dar und grenzt sich gegen alles Mißverständnis ab, das
in seiner Hermeneutik eine geisteswissenschaftliche Methode sehen will. Ihr
wirklicher Anspruch ist ein philosophischer: „Nicht, was wir tun, nicht, was
wir tun sollten, sondern, was über unser Wollen und Tun hinaus mit uns
geschieht, steht in Frage.“

Aus Besprechungen zur 1. Auflage:

„Wenn für den Ausländer, zumal für den angelsächsischen Philosophen, ein charak¬
teristischer Zug deutschen Philosophierens mindestens seit Dilthey darin erscheint,
daß man hier nicht Philosophiegeschichte neben systematischer Philosophie betreiben,
sondern beides ineinander verweben und dergestalt ,geschichtlich-hermeneutisch den¬
ken“ will, so findet dieser ,'Trend“ deutschen Philosophierens in Gadamers Werk seinen
vorerst repräsentativen Abschluß. Von der humanistischen und theologischen Tradi¬
tion der Hermeneutik als Kunstlehre über die Entstehung des geisteswissenschaftlich¬
historischen Bewußtseins (aus der Auseinanderetzung der Romantik mit der Auf¬
klärung und wiederum Hegels mit der Romantik und der historischen Schule“ mit
Hegel) und die daraus entstehende Historismusproblematik Diltheys (und Nietzsches)
bis zur ontologischen Radikalisierung des geschichtlich-hermeneutischen Denkens bei
Heidegger reicht der geschichtliche Horizont und die detaillierte Information des
Buches. Dabei wird neben der geisteswissenschaftlichen Hermeneutik im engeren
Sinne auch die Interpretationsproblematik der Kunst (im Rahmen einer eingehenden
Auseinandersetzung mit der modernen Ästhetik seit Kant) und des Rechtes berück¬
sichtigt." Professor Karl Otto Apel, Kiel, in: Hegel-Studien Band 2

ARTIBUS

J.C.B. MOHR (PAUL SIEBECK) TÜBINGEN


Die Gegenwart der Griechen
im neueren Denken

Festschrift für Hans-Georg Gadamer zum 60. Geburtstag


Herausgegeben von
Dieter Henrich, Walter Schulz und Karl-Heinz Volkmann-Schluck
1960. V, 317 Seiten. Leinwand DM 34.—

„Lehrer, Weggefährten und Schüler Gadamers haben ihre fünfzehn Beiträge,


die in der (nun ja nicht allzu dichten) Atmosphäre hellenisch-humanistischer
Tradition um Mythos und Logos, Dichten und Denken, Sprache und Sem
kreisen, hier in einem vornehmen Bande vereinigt: vornehm nicht nur der
äußeren Gestalt nach, vornehm insbesondere in der Weise, Kritik zu üben,
auch sozusagen ,intra castrah“
W. Kern S. J. in Scholastik IV160

INHALT

Helmut Kuhn Einleitung


Oskar Becker Die Aktualität des pythagoreischen Gedankens
Walter Bröcker Das Höhlenfeuer und die Erscheinung von der
Erscheinung
Martin Heidegger Hegel und die Griechen
Arthur Henkel Versuch über „Wandrers Sturmlied“
Dieter Henrich Der Begriff der sittlichen Einsicht und Kants Lehre vom
Faktum der Vernunft
Gerhard Krüger Mythisches Denken in der Gegenwart
Helmut Kuhn Der Begriff der Prohairesis in der Nikomachischen Ethik
Karl Löwith Unzulängliche Bemerkungen zum Unterschied von Orient
und Okzident
Johannes Lohmann Über den paradigmatischen Charakter der griechischen
Kultur
Ruprecht Pflaumer Zum Wesen von Wahrheit und Täuschung bei Platon
Wolfgang Schadewaldt Der Weg Schillers zu den Griechen
Ruth-Eva Schulz Herakles-Dionysos-Christus
Walter Schulz Das Problem der Aporie in den Tugenddialogen Platos
Karl-Heinz
Volkmann-Schluck Der deutsche Idealismus und das Christentum
Wolfgang Wieland Die Ewigkeit der Welt
Paul Friedländer Akademische Randglossen

J.C.B. MOHR (PAUL SIEBECK) TÜBINGEN


Date Due

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CAT. NO. 23 233 PRINTED IN U.S.A.
Gadamer, Hans Georg, 1900 010101 000
Kleine Schriften / Hans-Geori

0 163 0 99537 3
TRENT UNIVERSITY

B321t8 ,G3 1967 Bd.l


Gadamer, Hans Georg
Kleine Schriften

I ISSUED TO
J DATE 1_ _

1979S6

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