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GESCHICHTE

JESUITENSTAAT

Utopia im Urwald
Befreite Theologie lange vor der Befreiungstheologie: Auf den
Spuren der Jesuiten in Paraguay, die dort 1609 ihr einzigartiges
Missionswerk begannen.
VON Christian Schmidt-Häuer | 22. Dezember 2009 - 07:00 Uhr
© Evaristo Sa/AFP/Getty Images

Skulpturen und Kirchen erinnern noch heute an die Jesuitenzeit


Wo die Musik spielt im Armenhaus Südamerikas, da ist Chávez nicht weit. An diesem
Sonnabend warten die Indianer von Armonia im Nordwesten Paraguays auf ihn. 40
Familien aus dem Chaco haben sich in der Siedlung nahe der bolivianischen und der
argentinischen Grenze zusammengeschlossen. Sie kamen aus den Wäldern und schlagen
sich inzwischen mit Tagelohn, Kleintierhaltung und Feldarbeit durch. Kontakte mit der
Außenwelt haben sie nicht gesucht. Bis sie den Brief schrieben, den Chávez las.

Schüchtern stehen sie da, der Lehrer Oswaldo vorweg, die Schulkinder hinter ihm.
Oswaldo ist zugleich der Kazike von Armonia, also der »Häuptling«. Doch kaum einer
versteht sich so gut darauf, Urbevölkerung und Armen die Scheu zu nehmen, wie Chávez –
Favio Chávez, 33-jähriger Umweltingenieur und Musiker aus Leidenschaft.

Er schüttelt die Hände, seine Begleiter ziehen die Plane vom Pick-up. Dort oben ist ein
kleines Orchester ohne Musiker versammelt. Zupf- und Streichinstrumente lugen aus
Kisten und Kartons. Schon steht Chávez auf der Ladefläche und schwingt eine der Gitarren.
Ihretwegen haben die Indianer an das von Paraguay aus gestartete Musikprojekt Sonidos
de la Tierra (Klänge der Erde) geschrieben. Vier Gitarren und dazu Lernhilfen wünschte
Oswaldo für seine besten Musikschüler. Das sind drei Mädchen im Teenageralter und ein
kleiner Junge, der sein Glück und die Gitarre kaum fassen kann.

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Der Pulk zieht in den Schulraum. Chávez klemmt sich in eine Bank und stimmt die
Gitarren. Bernarda, die 39-jährige Ordensschwester aus seinem Team, erklärt dem
Schulleiter, was durch seine Unterschrift rechtsgültig wird: dass die Instrumente im
Gemeindebesitz bleiben und den Kindern nicht mitgegeben werden dürfen, dass eine
Lehrerin aus der Stadt jede Woche für vier Stunden kommen wird, dass der Kazike seine
Schüler zum Üben anhalten muss.

Chávez beginnt zu spielen, reicht auch Oswaldo eine Gitarre. Plötzlich ist alle Scheu
verflogen. Im Duett spielen der Ingenieur aus der fernen Hauptstadt Asunción und der
Indianer aus dem Chaco Lautenmusik von Johann Sebastian Bach.

Chávez und Oswaldo haben sich an diesem Tag zum ersten Mal gesehen – und doch sind
beide Wiedergänger einer gemeinsamen Geschichte, die vor genau 400 Jahren begann.
Damals waren es jesuitische Padres, die sich vom Jahre 1609 an aus Asunción in die
Urwälder Paraguays und die benachbarten Regionen der heutigen Staaten Brasilien,
Bolivien, Argentinien und Uruguay aufmachten.

Was sie vollbrachten, nannte später selbst der bissige Kirchenfeind Voltaire einen
»Triumph der Menschlichkeit«. Die spanische Krone hatte diesen Geistlichen gestattet,
Missionssiedlungen fernab der damaligen Städte zu gründen, um die Indianerstämme nicht
nur für den Glauben zu gewinnen, sondern auch vor Sklavenjägern und der Leibeigenschaft
auf den Plantagen der Siedler zu schützen. Auf ihren Kanufahrten durch den Dschungel
begannen die Missionare schon bald, Gesänge anzustimmen. Sie hatten entdeckt, dass ihre
Musik die Indianer unwiderstehlich anzog.

Es war nicht die Musik allein. Die Jesuiten kamen ohne alle Waffen. Lernten als Erstes
die Sprache der Ureinwohner, verfassten Wörterbücher und Grammatiken. Aus den
Dialekten des bis dahin verstreut lebenden Volkes der Guaraní schufen sie eine einheitliche
Schriftsprache. Alle Kinder lernten lesen und schreiben. In ihrer Muttersprache und in
Spanisch. Das Guaraní ist heute die Landessprache Paraguays neben der spanischen
Amtssprache.

Die Padres erkannten auch bald, dass ihr freundliches, aber eher träges Indiovolk weder
zu Privatinitiative noch zu profitorientiertem Denken neigte. Wenn die Guaraní jedoch
Gemeinschaftsarbeit nach alter Stammestradition verrichteten, steigerten sie ihre Leistung
sofort. Um die zu stimulieren, setzten die Missionare wieder Musik ein. Mit Trommeln
und Posaunen ging es auf die Felder. Kirchenfeiern wurden zu üppigen Sängerfesten. In
kürzester Zeit verstanden es die Indianer, europäische Musik meisterhaft zu spielen. Ihre
Chöre und Orchester führten schwierige achtstimmige Vespern, Messen, ja sogar Opern
auf.

So wurden mit Musik aus Lehmhütten Steinhäuser, aus Siedlungen kleine Barockstädtchen
mit Kirchen, gepflasterten Straßen, umgürtet von Äckern, Pflanzungen, Rinderherden,
Gewerbebetrieben. Je zwei Missionare lenkten die Geschicke von 1000 bis 5000

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Indios, deren Gemeinderat von ihren Kaziken ausgewählt wurde. In den agrarischen
Großkommunen, die Geld nicht einmal dem Namen nach kannten und mit Tauschhandel
auskamen, gab es bald Weber und Gerber, Müller und Schlosser, Krankenpfleger,
Orgelbauer, Bildhauer.

In den sogenannten Jesuitenreduktionen (vom spanischen Wort reducír, zusammenführen)


lebten im 17. und 18. Jahrhundert schließlich fast 200.000 Indianer in innerem Frieden und
relativem Wohlstand – während im übrigen Amerika und in Europa Scharen von Bettlern
und Armen durch die Lande zogen. Ökonomen nannten den »Jesuitenstaat von Paraguay«
das »einzige Industrieland Südamerikas«.

Sein Sozial- und Rechtswesen war der damaligen Zeit – nach Ansicht späterer Autoren
– um 200 Jahre voraus. Montesquieu urteilte über die kleine Theokratie mit indianischer
Selbstverwaltung: »Indem sie die Verwüstungen der Spanier wiedergutmachte, begann sie
eine der schwersten Wunden zu heilen, welche die Menschheit je empfangen hat.«

Die Wunden heilten 160 Jahre lang, wenn auch unter großen Opfern. Die Plantagenbesitzer
hassten die Jesuiten schon bald, weil sie die Indios nicht mehr in das System der
Leibeigenschaft pressen konnten. Die Kaufleute von Buenos Aires und anderen
Umschlagplätzen wurden neidisch auf die hohe Qualität der Exportwaren aus den
Reduktionen. Die Händler waren den Missionaren spinnefeind, seit sie Geschäfte mit
den arglosen Ureinwohnern nur noch unter dem wachsamen Blick der Jesuiten machen
durften. In das Paradies der Missionsdörfer brachen häufig »Paulistas« ein. Diese Männer –
Nachkommen portugiesischer Einwanderer, die in São Paulo Verbindungen mit entlaufenen
afrikanischen Sklavinnen und Tupi-Indianerinnen eingegangen waren – lebten von
Überfällen auf Indianersiedlungen. Sie verkauften die Gefangenen in Käfigen auf den
Märkten.

In ihrer Not erwirkten die Missionare vom Hof in Madrid, dass sie Schutztruppen
aufstellen durften. Ein königlicher Erlass gestattete den Reduktionen, Arsenale für Waffen
und Munition einzurichten. Spanische Offiziere bildeten die Zöglinge der Padres an
Feuerwaffen aus. Zur stärksten Wehr wurde die indianische Kavallerie, die 1641 die
Paulistas vernichtend schlug.

In den folgenden hundert Jahren forderten spanische Gouverneure die Reduktionstruppen


mehr als 50 Mal an: gegen eigene aufsässige Siedler ebenso wie zum Schutz der Grenzen
gegen Portugiesen oder britische Eindringlinge. Noch 1743 rühmte Philip V., Spanien habe
in den überseeischen Besitzungen keine loyaleren Untertanen als diese Indianer.

Doch der Hass der Plantagenbesitzer auf die Missionare erhielt Beistand von
konkurrierenden kirchlichen Autoritäten in Spanien, aber auch von Europas Aufklärern,
denen die Jesuiten als Handlanger eines herrschsüchtigen Katholizismus galten. 1767

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redeten Intriganten am Madrider Hof dem schwachen Monarchen Karl III. ein, die Jesuiten
wollten ihn vom Thron stoßen.

Am Morgen des 3. Juli 1767 um 2.30 Uhr wurden in Asunción die Padres der Hauptstadt
zusammengetrieben, um sie nach Europa zu verfrachten. Der König hatte ein Dekret
erlassen, das über alle Jesuiten der Kolonien die Verbannung verhängte. Insgesamt
jagten die spanischen Soldaten 2617 Missionare aus ganz Lateinamerika auf die Schiffe.
Viele ältere Priester, 200 an der Zahl, überlebten die Deportationen nicht. Die meisten
ihrer Indianer kehrten in die Wälder zurück; denn Spanier strömten in die ihnen bis
dahin verbotenen Reduktionen und rissen alle Güter an sich. Die Kirchen verfielen. Die
Barockmusik geriet in Vergessenheit. Die Partituren galten als verloren.

1972 renovierte der Architekt Hans Roth aus der Schweiz eine Kirche im einstigen
Missionsgebiet Chiquitos in Bolivien. Dem Restaurator fiel auf, dass die Indianer vor dem
Chorgesang alte Bücher aus einer Kiste auf Notenständer stellten. Nur konnten sie keine
Noten lesen und so auch den Sinn ihrer Mühe nicht erfassen. Sie bewahrten als Ritual auf,
was ihre Vorfahren einst von den Missionaren real gelernt hatten. Roth inspizierte die Kiste
und entdeckte Stapel von vergilbten Notenblättern. Es waren Partituren der als verschollen
geltenden Werke, welche die Jesuiten komponiert und mit den Indios aufgeführt hatten.

Besonders wertvoll machten die Schatztruhe Kompositionen des einst gefeierten Italieners
Domenico Zipoli (1688 bis 1726). Schon als 23-Jähriger war er Organist der ersten
Barockkirche in Rom, der Chiesa del Gesú, gewesen. In Europa machten ihn seine Sonate
d’Intavolatura berühmt. Doch mit 28 Jahren kehrte er Italien und seiner Karriere den
Rücken.

Über die Motive gibt es verschiedene Spekulationen; gesichert ist nur, dass er im
südamerikanischen Córdoba Philosophie studierte, um Jesuitenpater zu werden. Doch
konnte er die erwünschte Priesterweihe nicht erlangen, weil der dortige Bischofssitz
vakant war. So schuf der Komponist Messen, Vespern und Orgelstücke für die
Missionssiedlungen. Einiges davon fand sich in der abgelegenen Kirche wieder, vermengt
mit Tausenden Seiten anonymer Partituren.

Heute ist es der 53-jährige Luis Szarán, Chefdirigent des Philharmonischen Orchesters
von Asunción, der sich um die Funde aus den Reduktionen kümmert. Er bearbeitete
nicht nur Zipolis Werke neu und nahm alle lesbaren Kompositionen auf. Wichtiger
noch für Paraguay und andere arme Länder: Szarán begann, dieses utopische Kapitel
Kolonialgeschichte für die Gegenwart zu nutzen. »Ich fahre von Dorf zu Dorf«, sagt der
Dirigent, »und ermutige die Familien über die lokalen Radiostationen, schon ihre Kleinen
auf Musikschulen zu schicken. Wer im Orchester sitzt, lernt Disziplin, Pünktlichkeit,
Verlässlichkeit.«

In 60 Städten und Dörfern sind Musikschulen entstanden mit rund 80 Zweigstellen in


Slums oder abgelegenen Siedlungen wie Armonia. 10.000 Kinder und Jugendliche haben

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Szarán und seine Mitstreiter – wie die deutsche Jesuiten-Repräsentantin Gisela von
Thümen – inzwischen in Chören und Orchestern zusammengeführt.

Das Zentrum der Kunst bildete das Barockstädtchen Santa María de Fé. 1688, achtzig
Jahre nach Beginn der Jesuitenmission, lebten hier bereits 5000 Guaraní. Es waren im Lauf
der 160 Jahre insgesamt etwa 1500 vor allem spanische, argentinische und italienische
Ordensleute, die in den locker verbundenen Reduktionen die geistlichen und weltlichen
Ämter lenkten. 112 Padres kamen zwischen 1609 und 1767 aus dem deutschsprachigen
Raum.

Der Bedeutendste unter ihnen war Antonio Sepp aus Südtirol, der lange Santa María
de Fé betreute. Von seinem Wirken zeugen noch einige Skulpturen in den vormaligen
Werkstätten. Fast alle Heiligen dort erscheinen als wundersame Hybriden des europäischen
Barockstils und indianischer Gestaltung. Viele tragen die asketischen Gesichtszüge
iberischer Meister, während ihre Gestalt mit kurzen Oberschenkeln und kräftigen Waden
die Schnitzkunst der Indios verrät.

Hatten sich die Indianer auch andere Künste angeeignet? Pater Bartolomeu Meliá in
Asunción, der als der beste Kenner der Reduktionen gilt, erforscht die vielen noch
erhaltenen Schriften nicht nur auf religiöse, sondern auch auf literarische und politische
Inhalte. Dabei ist der gebürtige Spanier auf ein Kriegstagebuch von 1702 gestoßen, als die
Reduktionsindianer gegen sie bedrohende Kolonisten zu Felde gezogen waren. »Dieser von
einem Indio in Guaraní verfasste Bericht«, urteilt der Pater, »ist höchst originell und von
geradezu literarischer Qualität.«

Überlegen waren die Ureinwohner den europäischen Missionaren schon damals auf einem
anderen Feld: dem Fußballplatz. Zwar sind die Spielregeln nicht überliefert, doch berichten
zwei Priester aus dem 18. Jahrhundert: »Diese Barbaren spielen den Ball noch immer mit
dem Fuß statt mit der Hand – aber meisterlich!«

Dreißig Kilometer nordöstlich der Grenze zu Argentinien liegt Trinidad. 1706 gegründet,
war hier die größte aller 30 Missionsstätten im Raum des heutigen Paraguay. Die
weitläufige Anlage mit den roten Steinruinen lässt den Glanz der Reduktionen ahnen, die
den spanischen Städten jener Region von der Architektur bis zum Gesundheitswesen weit
überlegen waren.

10.000 Indios versahen hier Matetee-Anpflanzungen, Zuckerrohrfelder, Viehfarmen, bauten


neben Spinett- und Orgelwerkstätten eine Ölmühle und eine mächtige Kirche. Auf ihren
noch erhaltenen Fries setzten sie 62 pausbäckige Engel, die mit Geigen und Flöten, mit
Pauken und Trompeten einer Art himmlischem Karneval mitten im Urwald frönten. »Wir
haben hier Trompeten und Uhren gemacht, die denen von Augsburg und Nürnberg in
nichts nachstehen«, schrieb ein Jesuit nach Europa. »Unsere Indianer können jedes Ding
haargenau nachmachen, sofern sie nur ein Modell davon haben.«

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Hatten die Missionare ein Modell? Sollte ihr »Jesuitenstaat« zum Vorbild einer künftigen
Gesellschaftsordnung werden? Theoretiker früherer Generationen sahen in ihm immerhin
Züge der »Utopia« des Thomas Morus oder der civitas solis eines Tommaso Campanella.
Bodenreformer des 19. Jahrhunderts priesen die Landverteilung, Sozialisten das
Kollektiveigentum an Produktionsmitteln.

Bartolomeu Meliá schüttelt den Kopf. »Die Jesuiten boten den Indianern eine begrenzte
technische Revolution«, sagt er. »Daraus entstand eine Zukunftsvision für Missionen. Doch
die Padres entwickelten die Gemeinden nicht nach einem Plan. Es war ihre pragmatische
Anpassungsbereitschaft, mit der sie eine kulturelle und soziale Ordnung schufen, die von
Gleichheit geprägt und der regionalen Kolonialwirtschaft überlegen war.«

Jeder Indianer erhielt, verteilt vom Kaziken, ein Stück Boden zu eigen, groß genug, um
eine Familie zu ernähren. Dazu gab es Land, das der Gemeinde gehörte und von allen
zusammen bebaut wurde – für Arme, Witwen, Waisen und Notzeiten. Dass sich die
Missionare die wirtschaftlichen Entscheidungen dabei wie wohlgesinnte Gutsherren
vorbehielten, dass ihr Paternalismus die Indianer zwar zur Selbstverwaltung, nicht aber zur
Selbstständigkeit führte, haben ihnen später nicht nur die Gegner vorgeworfen. Doch hätte
eine solche Förderung auch den Rahmen der alten kollektiven Stammesordnung gesprengt.
Die Guaraní wären – wie so viele historische Beispiele gezeigt haben – unter dem Verlust
ihrer sozialen Identität chancenlos in den längst schon individualisierten Konkurrenzkampf
der Europäer gedrängt worden.

Weil vor dessen brutalen Auswüchsen immer mehr Indios aus der Wildnis in die
Reduktionen flohen, arbeiteten die Padres bis 1628 ein regelrechtes Gesetzbuch aus. Der
Strafvollzug war eher milde, bei den üblichen Vergehen gab es Stockschläge, die der
indianische Corregidor (Bürgermeister) auf dem Hauptplatz verabreichte. Todesstrafe
und Folter waren abgeschafft, ebenso Hexenprozesse und Ketzerverbrennungen. »Die
Reduktionen sind das goldene Zeitalter Paraguays«, meint der Präsident des Landes und
frühere Bischof Fernando Lugo gegenüber der ZEIT. »Sie praktizierten die Theologie der
Befreiung, lange bevor deren Theorie geboren wurde.«

Dass Ureinwohner heute überall – so wie einst von Sklavenjagden – vom Bodenraub durch
Ölgesellschaften, Sojaanbau und Massenviehzucht bedroht werden, legitimiert den Eifer,
mit dem die jungen Leute um Luis Szarán das Erbe der Jesuiten instrumentalisieren.

Chávez kommt. Diesmal sind es gut situierte Weiße, die auf ihn warten. Die Kirche in
Valenzuela, 50 Kilometer östlich von Asunción, ist voll. Favio Chávez tritt vor den Altar,
setzt sich zu den in feierliches Schwarz gekleideten Musikern und gibt den Ton an. Er
ist der Konzertmeister des jungen Kammerorchesters. Es beginnt mit dem Frühling aus
Vivaldis Vier Jahreszeiten.

Das ist ein etwas rauer Frühling. Kein Wunder: Die Querflöten sind aus Eisenrohren.
Die Klarinette hat Klappen aus Kronkorken. Pfannen und Töpfe haben findige Hände zu

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Violinen gelötet. Ein Ölfass dient als Kontrabass. Auch Dosen, Tischbeine, Kochlöffel
verhelfen der Barockmusik zu derben, aber nicht dissonanten Klangfarben.

Bis auf die Saiten stammen die Instrumente von der Mülldeponie Cateura. Sie liegt im
Schwemmland des Río Paraguay, in das sich bei Regen die Abwässer der Hauptstadt
ergießen. 2500 Menschen siedeln an den verschlammten Wegen und klauben ihren
Lebensunterhalt aus Abfällen. Tüftler von dort schmolzen die erste Violine aus einer
Kasserolle, kamen zum Musikprojekt Sonidos de la Tierra und boten an, Instrumente aus
Schrott zu basteln. Luis Szarán, der Dirigent, sah seinen Einsatz belohnt.

Doch dann legt das kleine Orchester die Abfallprodukte zur Seite und spielt Beethovens
Ode an die Freude auf »richtigen« Instrumenten. Von denen sind etliche inzwischen auch
schon auf der Müllhalde gebaut worden. Gleich jenen Gitarren, die Favio Chávez in der
Woche zuvor den Indianern von Armonia gebracht hatte. Und es ist, als kehrte die Musik
heim – an einen Ort, an dem sie zu Hause ist.

COPYRIGHT: DIE ZEIT, 22.12.2009 Nr. 53


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