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Stowarzyszenie Germanistów Polskich

Verband Polnischer Germanisten

Mensch – Sprachen – Kulturen

Beiträge und Materialien der internationalen wissenschaftlichen


Jahrestagung des Verbandes Polnischer Germanisten
25. - 27. Mai 2012, Warszawa

Herausgegeben von

Grzegorz Pawłowski
Magdalena Olpińska-Szkiełko
Silvia Bonacchi

Warszawa 2012
Publikacje Stowarzyszenia Germanistów Polskich
Publikationen des Verbandes Polnischer Germanisten

KOLEGIUM REDAKCYJNE/REDAKTIONSBEIRAT

Franciszek Grucza – przewodniczący/Präsident (Uniwersytet Warszawski),


Antoni Dębski – wiceprzewodniczący/Vize-Präsident (Uniwersytet Jagielloński,
Kraków), Janusz Golec (Uniwersytet im. Marii Curie-Skłodowskiej, Lublin),
Joanna Jabłkowska (Uniwersytet Łódzki), Marek Jaroszewski
(Uniwersytet Gdański), Lech Kolago (Uniwersytet Warszawski),
Józef Darski (Uniwersytet im. Adama Mickiewicza, Poznań),
Roman Lewicki (Uniwersytet Wrocławski)

REDAKCJA/REDAKTION

Grzegorz Pawłowski / Magdalena Olpińska-Szkiełko / Silvia Bonacchi

Wydano z finansowym wsparciem Fundacji


Współpracy Polsko-Niemieckiej

Herausgegeben mit finanzieller Unterstützung der


Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit

Konferencję dofinansował Minister Nauki i Szkolnictwa Wyższego


Rzeczpospolitej Polskiej
Mitfinanziert vom Minister für Wissenschaft und Hochschulwesen der
Republik Polen

ISBN 978-83-60729-29-8

© Copyright by Stowarzyszenie Germanistów Polskich


Wydanie pierwsze

Wydawnictwo Euro-Edukacja, Warszawa 2012


ul. Warszawska 30 lok. 10, 05-500 Piaseczno
tel. 503 140 706;
www.euro-edukacja.pl, mail: biuro@euro-edukacja.pl

Skład, łamanie i druk: www.danmar.waw.pl


Inhaltsverzeichnis
Eröffnung der Jahrestagung
Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Franciszek Grucza
Präsident des Verbandes Polnischer Germanisten
Ehrenpräsident der Internationalen Vereinigung für Germanistik . . . 11

Ansprachen
Prof. Dr. Jianhua Zhu
Präsident der Internationalen Vereinigung für Germanistik, Shanghai. . 21
Dr. Gisela Janetzke
Ehemalige stellvertretende Generalsekretärin
der Alexander von Humboldt-Stiftung, Bonn / Bad Godesberg. . . . . . 23
Dr. Heinz-Rudi Spiegel
Ehemaliger Referent des Stifterverbandes für die Deutsche
Wissenschaft, Essen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26
Mag. iur. Ulla Krauss-Nussbaumer
Kulturrätin der Österreichischen Botschaft in Warschau . . . . . . . . . . 29
Dr. Randolf Oberschmidt
Leiter der Außenstelle des DAAD in Warschau. . . . . . . . . . . . . . . . . . 30

Plenarvorträge

Silvia Bonacchi
Interkulturelle Kommunikation, Dialog- und Konfliktforschung:
Einige Bemerkungen zum Forschungsgegenstand,
zu den Erkenntniszielen und Untersuchungsmethoden
der anthropozentrischen Kulturologie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35
Marina Foschi Albert
Kooperative und unkooperative Verwendung von Pronomen
in Texten der Physik und der Literatur (Franz Kafka,
Thomas Mann) aus dem frühen 20. Jahrhundert. . . . . . . . . . . . . . . . . 50
Małgorzata Guławska-Gawkowska
Semantische Aspekte im Vergleich von deutschen
und polnischen Phraseologismen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74
Margot Heinemann
Textsorten und Sprachunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89
Ernest W.B. Hess-Lüttich
Fachtext-Netzwerke in der Gesundheitskommunikation. . . . . . . . . . . 98
Annette Kliewer
Literatur-Unterricht an der Grenze. Deutsch-polnische
Interregionalität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128
Michail L. Kotin
Modalitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140
Elżbieta Kucharska-Dreiss
Warum Predigten heute (nicht mehr) ankommen.
Von der Möglichkeit, die Ebenentheorie der Persönlichkeits-
entwicklung von Clare Graves (1914–1986) linguistisch
aufzuarbeiten und für die Homiletik nutzbar zu machen. . . . . . . . . . 159
Ryszard Lipczuk
Motive der Bekämpfung der Fremdwörter im Deutschen . . . . . . . . . 177
Henning Lobin
Die Digitalisierung von Lesen und Schreiben
und deren kulturellen Auswirkungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193
Katarzyna Lukas
Sprache – Gedächtnis – Architektur. Metonymische Präsenz
und metaphorische Bedeutung im Roman „Austerlitz”
von W.G. Sebald (2001). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205
Dorota Masiakowska-Osses
„Deutschsein. Eine Aufklärungsschrift“. Zafer Şenocaks Essays
zur kulturellen Identität in einem Einwanderungsland . . . . . . . . . . . 228
Magdalena Olpińska-Szkiełko
Glottodidaktische Implikationen der anthropozentrischen
Sprachentheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240
Grzegorz Pawłowski
Zum Gegenstand der linguistischen Semantik. . . . . . . . . . . . . . . . . . 249
Magdalena Pieklarz-Thien
Wie viel gesprochene Sprache braucht der Mensch?
Reflexionen zur Vermittlung von Gesprochensprachlichkeit
in der philologischen Sprachausbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264
Andrzej Pilipowicz
Wer hat das Blut der Schwester getrunken? Der Vampirismus
im Pächter-Dramenfragment von Georg Trakl . . . . . . . . . . . . . . . . . 300
Odile Schneider-Mizony
Zum Verständnis von Sprachen und Kulturen in französischer
Fremdsprachenpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330
Rita Svandrlik
„Ich spreche nicht Menschen“. Von der Ermordung
der Wirklichkeit im Werk: Jelinek mit Bachmann gelesen . . . . . . . . 342
Rafał Szubert
Zur metaphorischen Hypostasierung im Bereich der Rechtssprache . . 356
Magdalena Szulc-Brzozowska
Einige Bemerkungen zur Verwendung des bestimmten Artikels
im Deutschen aus kognitiver Sicht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366
Małgorzata Świderska
Einige Bemerkungen zu Theorie und Methode der literatur­
wissenschaftlichen Imagologie und der Fremdheitsforschung . . . . . 377
Urszula Topczewska
Kognition-Emotion-Volition.
Fritz Hermanns’ Beitrag zur linguistischen Diskursanalyse . . . . . . 386
Elena N. Tsvetaeva
Warum ist jeder seines Glückes „Schmied”.
Zum Ursprung eines Sprichwortes. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399
Reinhold Utri
Die regionale Vielfalt des Deutschen als Kulturrealität
am Beispiel des österreichischen Deutsch. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409
Anna Warakomska
‚Die modernen Kulturwissenschaften werden noch viel von
der alten Philologie lernen müssen‘ oder die Frage vom Umgang
mit den Texten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423
Anna Maria Adamczyk
Nelly Sachs auf der Spur. Rosi Wosk-Sammlung im Deutschen
Literaturarchiv Marbach. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 438

Mitgliederversammlung
des Verbandes Polnischer Germanisten
Protokoll über die Mitgliederversammlung
Dr. Grzegorz Pawłowski
Generalsekretär des Verbandes Polnischer Germanisten. . . . . . . . . 455
Ansprache an die Mitgliederversammlung
Prof. Dr. Zofia Berdychowska
Neue Präsidentin des Verbandes Polnischer Germanisten. . . . . . . . 465

Feierliche Überreichung der Festschrift


zum 75. Geburtstag von Professor Franciszek Grucza

Ansprache an die Festversammlung


Prof. Dr. Zofia Berdychowska
Jagiellonen Universität, Kraków. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 469

Laudationen auf Professor Franciszek Grucza


Prof. Dr. Dr. h.c. Karl-Dieter Bünting
Universität Duisburg-Essen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 474
Prof. Dr. Katarzyna Chałasińska-Macukow
Universität Warschau. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 479
Exz. Rüdiger Freiherr von Fritsch
Botschaft der Bundesrepublik Deutschland in Warschau . . . . . . . . . 481
Dr. Herbert Krauss
Botschaft der Republik Österreich in Warschau . . . . . . . . . . . . . . . . 482
Prof. Dr. Michał Kleiber
Polnische Akademie der Wissenschaften, Warszawa. . . . . . . . . . . . . 483
Dr. Gisela Janetzke
Alexander von Humboldt-Stiftung, Bonn / Bad Godesberg. . . . . . . . 485
Dr. Heinz-Rudi Spiegel
Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft, Essen . . . . . . . . . . . . 488
Prof. Dr. Marian Szczodrowski
Danziger Universität, Gdańsk. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 492

Danksagung
Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Franciszek Grucza
Universität Warschau. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 493

Dank- und Gratulationsworte


Prof. Dr. Aleya Abd-Allah Khattab
Universtität Cairo. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .498
VORWORT

Der vorliegende Band enthält die Beiträge und Materialien der inter-
nationalen wissenschaftlichen Jahrestagung des Verbandes Polnischer
Germanisten, die in der Zeit vom 25. bis zum 27. Mai 2012 in Warschau
stattfand und dem Thema „Mensch – Sprachen – Kulturen“ gewidmet war.
Das Thema der Jahrestagung wurde mit dem Ziel formuliert, das wissen-
schaftliche Werk des Gründers und langjährigen Präsidenten des Verbandes
Polnischer Germanisten, Herrn Professor Franciszek Grucza zu würdigen.
Es war die Absicht der Organisatoren, seine wissenschaftliche Reflexion
über den Menschen, seine Sprachen und seine Kulturen aufzugreifen und
zu diskutieren, und das mit Blick auf die von ihm initiierten und entwic­kel­ten
anthropozentrischen Konzepte der menschlichen Sprachen und Kulturen,
die zahlreiche Forscher landes- und weltweit geprägt haben und weiterhin
prägen.
Die Jahrestagung drückt die Anerkennung der polnischen Germanisten
für seine Arbeit im Dienste der Wissenschaft aus. Während der Jahrestagung
wurde Professor Franciszek Grucza in einem feierlichen Akt die ihm
gewidmete Festschrift mit dem Titel „Der Mensch und seine Sprachen“ und
eine Ehrenstatuette des Verbandes überreicht. Die feierlichen Ansprachen
und Gratulationen ergänzen den Inhalt des vorliegenden Bandes.
Der Aufbau des Bandes spiegelt das Programm der Jahrestagung
und den Ablauf ihrer einzelnen Teile wider, wobei die Beiträge selbst
alphabetisch geordnet sind. Über die wissenschaftlichen Vorträge und die
Ansprachen hinaus enthält der Band die Materialien der Vollversammlung
der Mitglieder des Verbandes Polnischer Germanistik, in der das neue
Präsidium des Verbandes gewählt wurde.
Wir – die Organisatoren und die Herausgeber dieses Bandes – bedanken
uns bei den Gastgebern der Jahrestagung, namentlich bei der Rektorin der
Universität Warschau, Frau Prof. Dr. Katarzyna Chałasińska-Macukow und
dem Dekan der Fakultät Angewandte Linguistik, Herrn Prof. Dr. Sambor
Grucza. Unser Dank gilt außerdem allen Mitarbeiterinnen, Mitarbeitern,
Studentinnen und Studenten des Instituts für Anthropozentrische Linguistik
und Kulturologie der Universität Warschau für ihren Einsatz bei der
Vorbereitung und Durchführung der Jahrestagung.
Für die finanzielle Unterstützung der Jahrestagung und der sie doku-
mentierenden Publikation danken wir ganz besonders dem Minister für
Wissenschaft und Hochschulwesen der Republik Polen, der Warschauer
Außenstelle des Deutschen Akademischen Austauschdienstes sowie dem
Vorstand der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit mit Sitz in
Warschau.

Die Herausgeber
Eröffnung
der Jahrestagung
Einleitende Worte

Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Franciszek Grucza


Präsident des Verbandes Polnischer Germanisten
Ehrenpräsident der Internationalen Vereinigung für Germanistik

Meine sehr geehrten Damen und Herren,


liebe Kolleginnen und Kollegen,
verehrte Gäste,
liebe Mitglieder des Verbandes Polnischer Germanisten!

Ich heiße Sie alle sehr herzlich in Warschau willkommen. Ich begrüße
Sie nicht nur in meinem eigenen, sondern auch im Namen des gesamten
Vorstandes des Verbandes Polnischer Germanisten. Dass ich Sie zu dieser
internationalen wissenschaftlichen Konferenzen unseres Verbandes in den
Räumen der Universität Warschau, genauer: in den Räumen der Bibliothek
meiner Universität begrüßen darf, freut mich ganz besonders. Warum? Das
muss ich Ihnen nicht erst erklären. Bei allen, die es möglich gemacht ha-
ben, dass wir unsere diesjährige Tagung in diesem Ambiente durchführen
dürfen, bedanke ich mich sehr herzlich.
Meinen ersten besonderen Gruß richte ich an all diejenigen von Ihnen,
die aus dem Ausland zu uns gekommen sind. Vor allem aber an diejenigen,
die zum ersten Mal an einer wissenschaftlichen Konferenz des Verbandes
Polnischer Germanisten teilnehmen. Einen besonderen Gruß und Dank rich-
te ich an Herrn Professor Henning Lobin aus Gießen, Professor Christoph
Rösener aus Flensburg, die diesmal die Funktion der deutschen Partner bei
der Organisation dieser wissenschaftlichen Konferenz übernommen haben.
Einen besonderen und zugleich persönlichen Gruß richte ich an Herrn
Kollegen Jianhua Zhu, den Präsidenten der Internationalen Vereinigung
für Germanistik, Herrn Kollegen Ernest Hess-Lüttich, den Präsidenten der
Gesellschaft für Interkulturelle Germanistik und Frau Kollegin Marianne
12 Eröffnung der Jahrestagung

Hepp, die Präsidentin des Internationalen Deutschlehrverbandes. Herr


Jianhua Zhu ist zu uns aus Shanghai (China), Herr Ernest Hess-Lüttich aus
Bern (Schweiz) und Frau Marianne Hepp aus Pisa (Italien) angereist.
Ebenso persönlich möchte ich des Weiteren alle anwesenden Kollegen
und Kolleginnen begrüßen, die mit der Statuette des Verbandes Polnischer
Germanisten ausgezeichneten wurden, und zwar Herrn Professor Karl-Dieter
Bünting, Frau Professor Margot Heinemann, Herrn Professor Wolfgang
Heinemann, Herr Professor Hartmut Eggert und Herr Dr. Heinz-Rudi
Spiegel. Sie alle haben hervorragende Beiträge zur Entwicklung und/oder
Intensivierung der deutsch-polnischen Zusammenarbeit auf dem Gebiet
germanistischer Forschung und Lehre geleistet. Ich bedanke mich dafür
bei Ihnen allen noch einmal sehr herzlich.
Außerordentlich froh bin ich selbstverständlich auch darüber, dass ich zu
Beginn der diesjährigen Veranstaltung unseres Verbandes Vertreter sowohl
der österreichischen als auch der deutschen Botschaft begrüßen darf. Ich
begrüße sehr herzlich Frau Krauss-Nussbaumer aus der Österreichischen
Botschaft in Warschau und Frau Jana Orlowski aus der Deutschen Botschaft
in Warschau. Einen besonderen Gruß richte ich auch an die Vertreter der
Warschauer Außenstelle des DAAD, vor allem (wenn auch diesmal nur tele-
pathisch) an Herrn Dr. Randolf Oberschmidt, den Leiter dieser Einrichtung,
sowie an seine hier anwesende Stellvertreterin, Frau Katarzyna Kosylak.
Einen besonders herzlichen Gruß richte ich auch an die speziell zu die-
ser Tagung angereisten ehemaligen stellvertretenden Generalsekretäre der
Alexander von Humboldt-Stiftung – an Frau Dr. Gisela Janetzke aus Bonn
und an Herrn Dr. Dietrich Papenfuß aus Berlin. Ihre Anwesenheit gibt uns
Anlass zur besonderen Freude. Ich begrüße Sie alle sehr herzlich und be-
danke mich bei Ihnen dafür, dass Sie den Weg zu uns gefunden haben.

Meine sehr geehrten Damen und Herren!


Den Verband Polnischer Germanisten haben 1990, sofort nachdem sich
dafür eine Möglichkeit eröffnete, infolge einer von mir gestarteten Initiative
etwa 25 Vertreter der damaligen polnischen Germanistik gegründet.
Heute zählt der Verband rund 360 Mitglieder. In der Vereinigung sind
alle Standorte der polnischen Germanistik mit der Vielzahl ihrer themati-
schen Facetten vertreten. Eine von den in der Satzung unseres Verbandes
verankerten Aufgaben besteht darin, jährlich eine Vollversammlung der
Mitglieder des Verbandes vorzubereiten und durchzuführen. Ende des ver-
gangenen Jahrhunderts beschloss aber sein damaliger Vorstand, jährlich
nicht nur eine Vollversammlung seiner Mitglieder, sondern auch eine mit
Eröffnung der Jahrestagung 13

dieser temporal gekoppelte internationale wissenschaftliche Tagung zu ver-


anstalten, und dass wir uns jedes Jahr an einem anderen Standort der pol-
nischen Germanistik versammeln und der jeweiligen lokalen Germanistik
die Funktion eines Ko-Organisators der jeweiligen wissenschaftlichen
Jahrestagung des Verbandes anvertrauen. Zum ersten Mal haben wir beide
so organisierte Veranstaltungen 2001 in Puławy in Zusammenarbeit mit
dem germanistischen Institut der Marie Curie-Skłodowska-Universität
zu Lublin abgehalten, 2002 haben wir sie in Wrocław, 2003 in Szczecin,
2004 in Poznań, 2005 in Kraków, 2006 in Toruń, 2007 in Opole, 2008
in Łódź, 2009 in Olsztyn, 2010 in Warschau (in Verbindung mit dem
IVG-Kongress), 2011 in Zielona Góra durchgeführt. Und nun tagen wir
wieder in Warschau.
Eine erste internationale wissenschaftliche Tagung haben wir jedoch
bereits 1991 – ein Jahr nach der Gründung des Verbandes Polnischer
Germanisten – organisiert und durchgeführt. Ihr Thema lautete: „Vorurteile
zwischen Polen und Deutschen“. Und wir haben sie zum Teil in Zgorzelec
und zum Teil in Görlitz durchgeführt – in zwei Städten, die ehemals zwei
Teile einer Stadt ausmachten und nun zwei direkte Nachbarn sind. Die
Tagung hat ein recht breites Echo hervorgerufen.
Eine besondere Erwähnung verdient aber auch die vom VPG 1996 zum
Thema Deutsch und Auslandsgermanistik in Mitteleuropa. Geschichte -
Stand – Ausblicke organisierte und durchgeführte internationale Konferenz
sowie der sog. Millennium-Kongress, der im Jahre 2000 zum Thema
Tausend Jahre Polnisch-Deutsche Beziehungen. Sprache – Literatur –
Kultur – Politik tagte. Später stellte sich heraus, dass dies der einzige große
Kongress war, der dem Nachdenken über die tausend Jahre deutsch-pol-
nischer Kontakte gewidmet war. Ich füge hinzu, dass die Materialien aller
VPG-Jahrestagungen in Form von separaten Bänden veröffentlicht worden
sind, die bereits Reihencharakter angenommen haben.
Anfangs fanden beide Veranstaltungen jeweils Ende April statt. Später
haben wir uns entschlossen, sie Anfang Mai (genauer: jeweils am zweiten
Mai-Wochenende) durchzuführen. Für die diesjährige Vollversammlung
der Mitglieder sowie für diese internationale Jahrestagung unseres
Verbandes wählte der Vorstand des Verbandes Polnischer Germanisten ei-
nen etwas späteren Termin, um den Ablauf beider Veranstaltungen mit dem
75. Geburtstag des am heutigen Vormittag noch amtierenden Gründers und
langjährigen Präsidenten unseres Verbandes, in Verbindung zu bringen,
der am Sonntag, dem 27. Mai, stattfinden wird. Bitte behandeln Sie diese
Aussage im Sinne einer vertraulichen Äußerung, denn der diesbezüglichen
14 Eröffnung der Jahrestagung

an mich gerichteten Anweisung nach dürfte ich mir nicht einmal selbst der
besagten „Verbindung“ bewusst sein, geschweige denn über sie so offen zu
reden, wie ich es getan habe.
Nicht nur befugt, sondern sogar verpflichtet bin ich aber zweifelsoh-
ne, Sie darüber zu informieren, dass die Funktion des Ko-Organisators
dieser Veranstaltung die Fakultät Angewandte Linguistik der Universität
Warschau erfüllt, und dass ihr Dekan Professor Sambor Grucza heißt.
Ich bedanke mich bei Ihm sowie seinen Mitarbeitern für all die Hilfe, die
wir Seiner/Ihrerseits während der Vorbereitung dieser wissenschaftlichen
Jahrestagung erfahren haben, im Namen des ganzen Vorstandes unseres
Verbandes sehr herzlich.
Besonders verdient haben sich während der Vorbereitung dieser
Konferenz auch Frau Professor Magdalena Olpińska-Szkiełko, die noch-
Schatzmeisterin und zugleich Prodekanin der Fakultät Angewandte
Linguistik dieser Universität und Herr Dr. Grzegorz Pawłowski, der
noch-Generalsekretär unseres Verbandes. Sie haben mich bei der
Planung und Programmgestaltung der Konferenz, bei Verfassung von
Förderungsanträgen, beim Schreiben all der Anträge um Hilfe, bei der
Erledigung der Korrespondenz und den sonstigen organisatorischen
„Kleinarbeiten“ uneigennützig unterstützt. Auch Ihnen allen möchte ich
auch an dieser Stelle dafür meinen persönlichen Dank aussprechen.
Die Tatsache aber, dass wir auch diese wissenschaftliche Konferenz des
Verbandes Polnischer Germanisten zu recht günstigen Bedingungen durch-
führen können, haben wir jedoch auch den Förderern dieser Veranstaltung
zu verdanken. Gestatten Sie mir deshalb, dass ich auch diese Institutionen
beim Namen nenne und mich bei ihnen auch in Ihrem Namen bedanke.
Besonders verdient um diese Tagung haben sich die folgenden Institutionen:
die Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit, die ihren Sitz in
Warschau hat, das Ministerium für Wissenschaft und Hochschulwesen der
Republik Polen und der Deutsche Akademische Austauschdienst.

Meine Damen und Herren!


Am heutigen Vormittag fand die diesjährige Vollversammlung der
Mittglieder unseres Verbandes statt. Sie war zugleich eine Wahlver­
sammlung. Zu wählen war sowohl der Präsident des Verbandes als auch alle
seine Gremien für die nächste dreijährige Amtsperiode. Die noch andauern-
de Amtsperiode wird am 31. Mai zu Ende gehen. Der bisherige Präsident
stand nicht mehr zur Verfügung. Die Vollversammlung hat in einer gehei-
men Wahl alle Vorschläge des zurücktretenden Vorstandes akzeptiert.
Eröffnung der Jahrestagung 15

Zur neuen Präsidentin des Verbandes für die Amtszeit 2012 bis 2015
ist Frau Kollegin Zofia Berdychowska von der ältesten (1364 gegründe-
ten) polnischen und zweitältesten mitteleuropäischen Universität, der
Universität zu Krakau, gewählt worden. Das Amt des Generalsekretärs des
VPG wurde Herrn Dr. Paweł Zarychta und das Amt des Schatzmeisters
Herrn Dr. Robert Kołodziej anvertraut. In den Vorstand sind außerdem
noch die folgenden Personen gewählt worden: Prof. Dr. Lech Kolago
(Vizepräsident), Prof. Dr. Zenon Weigt (Vizepräsident), Prof. Dr. Jerzy
Żmudzki (Vizepräsident), Prof. Dr. Sambor Grucza (Vorstandsmitglied),
Prof. Dr. Maria Lasatowicz (Vorstandsmitglied), Prof. Dr. Ewa Żebrowska
(Vorstandsmitglied), Prof. Dr. Beata Mikołajczyk (Vorstandsmitglied),
Prof. Dr. Magdalena Olpińska-Szkiełko (stellv. Vorstandsmitglied) und
Dr. Grzegorz Pawłowski (stellv. Vorstandsmitglied). Der Vollständigkeit
halber sei hinzugefügt, dass der bisherige Präsident des Verbandes infolge
einer Initiative der neuen Präsidentin einstimmig zum Ehrenpräsidenten
des Verbandes gewählt wurde.
Allen gewählten Kolleginnen und Kollegen gratuliere ich vom Herzen
und spreche meinen Dank dafür aus, dass sie sich bereit erklärt haben, für
den Verband zu arbeiten. Ich betone dies, weil der VPG ein Verband ist,
der sich ausschließlich aus Mitgliedsbeiträgen seiner Mitglieder finanziert
Jedenfalls erhält kein Vorstandsmitglied des Verbandes deswegen für seine
Verbandstätigkeit eine Vergütung. Alle seine Vorstandsmitglieder erfüllen
ihre Funktionen ehrenamtlich. Des Weiteren zeichnet sich der VPG da-
durch aus, dass er eine par excellence wissenschaftliche Einrichtungen ist.
Mitglied des Verbandes kann nämlich satzungsgemäß nur werden,
wer zuvor zumindest den Doktorgrad erlangt hat und sich mit germanis-
tischer Forschung aktiv beschäftigt. Andererseits aber kann Mitglied des
Verbandes nicht nur werden, wer sich aktiv mit sprach-, literatur- oder kul-
turwissenschaftlichen Fragen, sondern auch mit Fragen zu den Bereichen
befasst, die kollektiv als „Deutschlandkunde“ bezeichnet werden: das heißt,
wer sich mit Problemen der Geschichte, Politik und/oder gesellschaftlicher
Strukturen im deutschen Sprachraum wissenschaftlich auseinandersetzt.
Wissenschaftlicher Natur sind auch die Hauptziele der von dem Verband
veranstalteten internationalen Jahrestagungen. Der Verband veranstaltet sie,
um: (a) seinen Mitgliedern eine Möglichkeit zu verschaffen, Forschung­
sergebnisse zu verschiedenen Themen und Problemen zu präsentieren und
zur Diskussion zu stellen, weitere Forschungen anzuregen, sich gegensei-
tig über neue Forschungen zu informieren; (b) zur Intensivierung und/oder
Integration wissenschaftlicher Forschung zu verschiedenen Teilbereichen
16 Eröffnung der Jahrestagung

der (wohl gemerkt: weit gefassten) polnischen Germanistik beizutragen;


und (c) seinen Mitgliedern eine Möglichkeit zu verschaffen, sowohl unter-
einander als auch zu ausländischen Gästen wissenschaftliche Kontakte zu
knüpften bzw. bereits vorhandene Kontakte zu intensivieren.
Eine zusätzliche Aufgabe der VPG-Konferenzen war und ist es nach
wie vor, ihren Teilnehmern auch eine Plattform zu bieten, sich über die
in den verschiedene Zentren der polnischen Germanistik durchgeführten
Studiengänge direkt auszutauschen, insbesondere über ihre inhaltliche so-
wie organisatorische Gestaltung.

Meine Damen und Herren! Angesichts der von dem jeweiligen Vorstand
anzupeilenden Aufgaben des Verbandes haben wir die Hauptthemen un-
serer wissenschaftlichen Jahrestagungen jeweils so formuliert, dass sich
an ihnen möglichst alle Mitglieder des Verbandes aktiv beteiligen konn-
ten. Aus demselben Grund hatten wir Jahre lang bisher während unserer
Konferenzen ausschließlich Plenarveranstaltungen abgehalten. Wir hielten
es für wichtig, den Vertretern der germanistischen Literaturwissenschaft,
Kulturwissenschaft, Glottodidaktik, Translatorik usw. eine Gelegenheit
zu geben, sich darüber zu informieren, was zu dem jeweils vorgegebenen
Generalthema nicht nur Vertreter der germanistischen Linguistik und
Literaturwissenschaft, sondern auch ihrer anderen Teildisziplinen beitragen
können und umgekehrt.
Was hat uns dazu bewogen, mit dieser Tradition zu brechen und die
diesjährige Konferenz teils in Plenarvorträgen, teils in Sektionen durchzu-
führen? Das geschah vor allem deshalb, weil das Thema dieser Konferenz
unter den VPG-Mitgliedern und VPG-Freunden ein außerordentlich großes
Interesse geweckt hatte. Mit einem Satz: Wir haben die Tradition gebro-
chen, um alle, die ihre Vortragsvorschläge fristgemäß eingereicht hatten,
zu Worte kommen zu lassen. Ich freue mich ganz besonders darüber, dass
so dem wissenschaftlichen Nachwuchs mehr Gelegenheit gegeben werden
konnte, sich öffentlich zu präsentieren.
Zu dem Generalthema der diesjährigen Jahrestagung, das auf Deutsch
„Mensch – Sprachen – Kulturen“ und auf Polnisch „Człowiek – języki –
kultury“ lautet, sage ich an dieser Stelle nur so viel: Die drei Glieder des
Themas – „Mensch“/„człowiek“, „Sprache“/„język“, „Kultur“/„kultura“
sind nicht als Ausdrücke, die drei eigenständige (autonome) Objekte her-
vorheben und bezeichnen, zu interpretieren sind. Den Status eigenständiger
(autonomer) Objekte kann man den Organisatoren dieser Tagung nach nur
den Designaten der Ausdrücke „Mensch“/„człowiek“ zuerkennen. Jedes
Eröffnung der Jahrestagung 17

konkrete Designat dieser Ausdrücke inkludiert seine Sprache(n) und sei-


ne Kultur(en). Die Sprache und die Kultur eines jeden Menschen sind im
Sinne seiner primär konstitutiven Faktoren (Bestandteile) und nicht bloß
seiner zusätzlicher „Mehrwerte“ zu begreifen. Mehr noch: jede Behandlung
menschlicher Sprachen und Kulturen, die es zulässt, sie als eigenständige
(autonome) Dinge oder gar als autonome Wesen zu begreifen, ist irreführend
– ja, grundsätzlich falsch. Es gibt einfach weder selbstständig existierende,
noch selbstständig funktionierende menschliche Sprachen. Selbstständig
existieren und funktionieren nur konkrete (lebende) Menschen. Kurz: im
Grunde genommen meint das Thema der Tagung so viel wie „Der Mensch,
seine Sprache(n) und seine Kultur(en)“ bzw. „Człowiek, jego język(i) i jego
kultur(y).
Auf Einzelheiten kann ich in diesem Augenblick nicht eingehen. Betont
sei deshalb an dieser Stelle nur so viel, dass vom Standpunkt der an­
thropozentrischen Linguistik und der anthropozentrischen Kulturologie aus
nicht nur das Wesen der Designate, die mithilfe der Ausdrücke „Sprache“
und/oder „Kultur“, sondern auch das Wesen der Designate, die mit Hilfe
von Ausdrücken wie „Mensch“ hervor gehoben werden, also das Wesen
der Designate aller drei lexikalischer Elemente, aus denen sich das
Generalthema der diesjährigen internationalen wissenschaftlichen Tagung
des VPG zusammensetzt, anders als dies binnen der traditionellen Sprach-
bzw. Kulturwissenschaft getan wird, aufzufassen sind.
Jedenfalls: Vertreter der anthropozentrisch orientierten Linguistik
und Kulturologie stellen in den Mittelpunkt ihrer Erkenntnisarbeit nicht
Entitäten, die als „die polnische Sprache“, „die deutsche Sprache“, „die
polnische Kultur“, „die deutsche Kultur“ etc. bezeichnet werden, sondern
konkrete Menschen und sehen es als ihre eigentliche Aufgabe an, die den
sie interessierenden Fähigkeiten der von ihnen in Betracht gezogenen
Menschen zugrunde liegenden (Systeme von) Wissensquanten zu rekon-
struieren (Wissen über sie zu gewinnen). Das System der den sprachlichen
bzw. kulturellen Fähigkeiten eines konkreten Menschen zugrunde liegen-
den Wissensquanten bezeichnen die Vertreter sowohl der anthropozentri-
schen Linguistik als auch der anthropozentrischen Kulturologie entspre-
chend als „seine wirkliche Sprache“ oder „seinen Idiolekt“ bzw. „seine
wirkliche Kultur“ oder „seine Idiokultur“. Ich betone: Die so verstandenen
wirklichen Sprachen und Kulturen konkreter Menschen behandeln die
Vertreter der genannten Disziplinen als bestimmte Bereiche des Wissens
konkreter Menschen, auf deren Grundlage sie miteinander kommunizieren,
18 Eröffnung der Jahrestagung

genauer: deren Besitz sie in die Lage versetzt, miteinander kommunizieren


zu können.
Mit anderen Worten: Wirkliche Sprachen und wirkliche Kulturen be-
handeln die Vertreter der genannten Disziplinen als bestimmte Teilbereiche
der kommunikativen Ausstattung wirklicher Menschen. Ich wiederhole:
Aufgabe der als „anthropozentrische Linguistik“ bzw. „anthropozentrische
Kulturologie“ gekennzeichneten Wissenschaften ist es, das den wirklichen
Sprachen und wirklichen Kulturen zugrunde liegende Wissen, genauer: die
ihnen zugrunde liegenden Wissenssysteme, rational zu (re)konstruieren.
Und weil wirkliche Sprachen und wirkliche Kulturen, genauer: die sie aus-
machenden Faktoren menschlichen Wissens, in mancherlei Hinsicht vor
allem aber funktional, eng miteinander vernetzte Faktoren sind, behandeln
wir die erwähnten Wissenschaften als zwei Forschungsdisziplinen, die von
Natur aus auf Kooperation angewiesen sind. Von Natur aus sind sie aber
nicht nur auf eine enge gegenseitige Kooperation, sondern auch auf eine
möglichst enge Zusammenarbeit mit entsprechenden Naturwissenschaften,
vor allem aber mit entsprechenden Biowissenschaften angewiesen.

Meine Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, verehrte


Gäste! Ich bedanke mich für Ihr Zuhören und erkläre hiermit diese wissen-
schaftliche Konferenz für eröffnet. Ich wünsche uns allen, dass sie ohne
wesentliche Pannen ablaufen möge, und dass wir alle nach ihrem Abschluss
bereichert und wohlauf nach Hause zurückkehren können.
Ansprachen
Prof. Dr. Jianhua Zhu
Präsident der Internationalen Vereinigung für Germanistik, Shanghai

Sehr geehrter Präsident Herr Professor Grucza, lieber Franek,


sehr geehrte Frau Professor Zofia Berdychowska,
liebe Kolleginnen und Kollegen,
meine Damen und Herren!

Es ist mir eine große Ehre, an der internationalen wissenschaftlichen


Jahrestagung des Verbandes polnischer Germanisten teilnehmen zu können.
Ich danke Ihnen sehr für die freundliche Einladung. An dieser Stelle möch-
te ich in meiner Eigenschaft als IVG Präsident dem polnischen Verband
der Germanisten zur diesjährigen Jahrestagung meine herzliche Gratulation
aussprechen.
Der Verband der polnischen Germanisten hat seit seiner Gründung von
über 22 Jahren unter der Leitung seines Gründers und Präsidenten Prof.
Dr. Franciszek Grucza mit zahlreichen wissenschaftlichen Veranstaltungen
und Publikationen in den Bereichen der germanistischen Linguistik,
der Literaturwissenschaft und der Kulturwissenschaft usw. beachtliche
Errungenschaften erzielt, was einen bedeutenden Beitrag zur internatio-
nalen Germanistik geleistet hat. Den Höhepunkt für die Entwicklung der
internationalen Germanistk erreicht der Verband polnischer Germanisten
2010 durch die erfolgreiche Veranstaltung des Weltkongresses der IVG in
Warschau unter der Regie meines Vorgängers Prof. Dr. Franciszek Grucza.
Sowohl der Umfang der Teilnehmerzahl, als auch die wissenschaftlichen
Leistungen der zahlreichen Vorträge und Diskussionen erreichen ein neues
Niveau in der Geschichte der IVG. Damit schafft der Verband der polni-
schen Germanisten ein Vorbild nicht nur für mich als Nachfolger von Herrn
Grucza und für die chinesischen Germanisten, sondern auch für die weite-
re intensive Zusammenarbeit unter den Germanisten weilweit und für die
Zukunft der internationalen Germanistik.
22 Ansprachen

Meine Damen und Herren, die Errungenschaften des Verbandes


polnischer Germanisten sind besonders durch die herausragende wis-
senschaftliche Leistung von meinem verehrten Vorgänger Prof. Dr.
Grucza gekennzeichnet, wobei er sich z. B. im Bereich der germanisti-
schen Linguistik seit Jahrzehnten bemüht hat, nicht bloß den Bau (die
Struktur) des der sog. menschlichen Sprachfähigkeit zugrunde liegenden
Regelsystems, sondern den Bau (die Struktur) des der gesamten mensch-
lichen Kommunikationsfähigkeit (Kommunikationskompetenz) zugrunde
liegenden Regelsystems modellhaft zu rekonstruieren. Seit über 30 Jahren
entwickelt er eine eigene Theorie (Konzeption) menschlicher Sprachen,
die er seiner Zeit „anthropozentrische Konzeption menschlicher Sprachen“
genannt hat. Wie das Thema der diesjährigen Jahrestagung schon so lau-
tet, „Mensch, Sprachen und Kulturen”, reflektiert es wieder diese wissen-
schaftlichen Leistungen der polnischen Germanisten für die internationale
Germanistik.
Meine Damen und Herren, der Verband der polnischen Germanisten
hat sich von seiner Gründungsphase mit 26 Mitgliedern bis auf den neu-
sten Stand mit über 360 Mitgliedern entwickelt. Dadurch werden nicht
nur die intensiven wissenschaftlichen Forschungen und Zusammenarbeit
der erfahrenen Germanisten, sondern auch die Initiativen der jüngeren
Nachwuchskräfte in der polnischen Germanistik ständig unterstützt und
gefördert. Ich bin fest davon überzeugt, dass der Verband unter der neuen
Leitung diese wissenschaftliche Tradition fortsetzen und eine weiterhin
glänzende Zukunft haben wird.
Ich wünsche dem Verband polnischer Germanisten eine gute Zukunft
und der Jahrestagung einen erfolgreichen Verlauf!
Dr. Gisela Janetzke
Ehemalige stellvertretende Generalsekretärin der Alexander
von Humboldt-Stiftung, Bonn / Bad Godesberg

Meine sehr geehrten Damen und Herren,


verehrter Herr Präsident,
lieber Franciszek Grucza!

Es ist eine große Ehre für mich, Sie zur Eröffnung Ihrer internationa-
len wissenschaftlichen Jahrestagung begrüßen zu dürfen und Ihnen die
Glückwünsche zum 20jährigen „Geburtstag“ des Verbandes Polnischer
Germanisten von dem amtierenden Präsidenten der Alexander von
Humboldt-Stiftung, Professor Dr. Helmut Schwarz, dem Ehrenpräsidenten,
Professor Dr. Wolfgang Frühwald, dem Generalsekretär, Dr. Enno
Aufderheide und dem Ehrenvorstand, Dr. Heinrich Pfeiffer zu übermitteln.
Es ist auch eine sehr große persönliche Freude für mich, nur zwei
Jahre nach der Veranstaltung des weltweit aktiven Internationalen
Germanistenverbandes hier in Warschau zahlreiche Humboldtianerinnen
und Humboldtianer wiederzusehen.
Angesichts der zumeist jungen Teilnehmerinnen und Teilnehmer
möchte ich diese Gelegenheit nutzen, besonders Sie bekannt zu machen
mit den Zielen und Aufgaben der 1953 in Bonn gegründeten Alexander
von Humboldt-Stiftung. Als Mittlerorganisation des Auswärtigen
Amtes zielt die Tätigkeit der Stiftung (in Ergänzung zum Beispiel zum
Deutschen Akademischen Austauschdienst und zum Goethe-Institut)
auf die Unterstützung der auswärtigen Kulturpolitik durch internationa-
le Forschungsförderung. Seit fast 60 Jahren ist sie ihren Leitprinzipien
verpflichtet, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aller Länder
und aller Fachgebiete ohne Quoten zur Durchführung selbst ge-
wählter Forschungsvorhaben langfristig zu fördern. Entscheidendes
Auswahlkriterium ist die individuelle überdurchschnittliche Qualifikation.
24 Ansprachen

Es ist bemerkenswert, dass seit 1959 mit 1230 Forschungsstipendien


und 36 Forschungspreisen die größte Zahl von Wissenschaftlerinnen
und Wissenschaftlern innerhalb Europas aus Polen ausgezeichnet wur-
de. 53% von ihnen sind in den Naturwissenschaften, 15% in den
Ingenieurwissenschaften, 32% in den Geistes- und Sozialwissenschaften
tätig. Insgesamt fast 100 der polnischen Humboldtianer gehören der
Germanistik, den Literatur- oder Sprachwissenschaften an.
Auch Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Deutschland kön-
nen von der Förderung durch die Stiftung Gebrauch machen, zum Beispiel
als wissenschaftliche Gastgeber von ausländischen Humboldtianern
oder als post-docs in Zusammenarbeit mit Humboldtianern im Ausland.
Die Möglichkeiten des dafür eingerichteten Feodor Lynen Forschungs­
stipendienprogramms sind sicher noch nicht ausgeschöpft in der deutsch-
polnischen Zusammenarbeit.
Zu den prägenden Leitprinzipien der Stiftung gehört die lebenslange
Nachkontaktpflege zu allen Humboldtianern weltweit. So war es nahe-
liegend, dass schon am 31. Mai 1991 die Stiftung ein Schreiben mit fol-
gendem Text erreichte, an dessen Entstehung zahlreiche Humboldtianer
beteiligt waren:
„Sehr geehrter Herr Dr. Pfeiffer,
hiermit teile ich Ihnen mit, dass vor wenigen Wochen der Verband polnischer
Germanisten mit Sitz in Warschau gegründet worden ist. Der Verband setzt sich
zum Ziel, die Aktivitäten der polnischen Hochschulgermanistik zu fördern und die
Interessen des Faches nach außen zu vertreten. Er will auch Forschungsprojekte
anregen, die für die künftige Entwicklung der polnischen Germanistik als Einheit
von Forschung und Lehre von Belang sind.
Nicht zuletzt gehört es zu den Aufgaben des Verbandes, mit Institutionen in
der Bundesrepublik Deutschland, Österreich und der Schweiz, die gleiche
Ziele verfolgen, Kontakte aufzunehmen und eine engere Zusammenarbeit
anzustreben […]. Wir hoffen auf Kontakte zu Akademien und wissenschaftlichen
Gesellschaften, insbesondere zur Alexander von Humboldt-Stiftung. Auf der
ersten Vollversammlung, die am 27.5.1991 stattfand, hat der Verband polnischer
Germanisten seinen Vorstand gewählt. Vorsitzender ist Prof. Dr. Franciszek
Grucza, die stellvertretenden Vorsitzenden sind Proffs. Dres. Jan Czochralski und
Marian Szyrocki. Dem Vorstand gehört auch Prof. Dr. Tadeusz Namowicz als
Sekretär an. […]“.

Schon am 20.6.1991 erging die Antwort aus der Feder von Dr. Dietrich
Papenfuß im Namen von Dr. Heinrich Pfeiffer:
Ansprachen 25

„Sehr geehrter Herr Professor Grucza,


mit großem Interesse und zu meiner Freude habe ich erfahren, dass der Verband
der polnischen Germanisten mit Sitz in Warschau gegründet wurde (…). Im
Namen der Alexander von Humboldt- Stiftung wünsche ich dem neu gegründeten
Verband viel Erfolg bei der Durchführung der geplanten Forschungsprojekte
um die zukünftige Entwicklung der Germanistik in Polen. In den deutschen
Muttersprachenländern genießt die polnische Germanistik ja bereits einen sehr
guten Ruf, und ich bin sicher, dass dieser weiter gefestigt werden wird. Dazu
wird sicher auch die politische Veränderung in Europa beitragen, die unsere
Länder noch näher zusammengebracht hat. Die Humboldt-Stiftung wird –
wie in der Vergangenheit – die Arbeit der polnischen Germanisten, die als
Humboldt-Stipendiaten zeitweise in Deutschland tätig waren, weiterhin tatkräftig
unterstützen, und wir werden alle Wünsche, die uns von dieser Seite angetragen
werden, sehr wohlwollend prüfen. (…)
Dr. Heinrich Pfeiffer“.

Dass die Ziele und Aktivitäten erreicht wurden, zeigt sich nicht zuletzt
in Ihrer aller Anwesenheit zur Eröffnung der zwanzigsten Jahrestagung
und den schriftlich dokumentierten Ergebnissen, die in einer jährlichen
Publikation des Verbandes ihren Niederschlag gefunden haben. Auf
diese inzwischen zur Tradition gewordenen Errungenschaften können
die Gründungsväter zu Recht stolz sein. In der Humboldt-Stiftung tei-
len wir Ihre Freude über das bisher Erreichte und die Zuversicht, dass
die Verbindungen zu der jungen Generation von Germanisten durch den
Verband auch in Zukunft nachhaltig gestärkt werden. Unsere Gratulation
verbinden wir daher mit den Wünschen für weiteren Erfolg und der
Versicherung, dass wir die Aktivitäten des Verbandes weiterhin mit großer
Aufmerksamkeit begleiten werden.
Ich danke Ihnen erneut für die Einladung und die Möglichkeit, hier in
Warschau deutsch mit Ihnen sprechen zu dürfen.
Dr. Heinz-Rudi Spiegel
Ehemaliger Referent des Stifterverbandes
für die Deutsche Wissenschaft, Essen

Sehr verehrte Frau Präsidentin,


sehr geehrte Herren Präsidenten,
sehr geehrter Herr Dekan,
sehr verehrte Damen,
sehr geehrte Herren,
liebe Kolleginnen und Kollegen aus der Wissenschaft
und der Wissenschaftsverwaltung!

Als ich vor wenigen Tagen das Programm für diese internationale
Konferenz erhielt, bekam ich einen doppelten Schreck. Den Ersten erkläre
ich mit einer kleinen Anekdote.
Als mein ehemaliger Chef im Stifterverband, Dr. Hans-Henning Pistor,
gefragt wurde, worauf er sich im Ruhestand am meisten freue, antworte-
te er kurz und bündig: „Dann muss ich keine Grußworte mehr schreiben
und ich muss auch keine mehr hören!“ Sie sehen, das Leben kann hart
sein: Heute muss ich nicht nur Grußworte hören, ich habe eines schreiben
müssen und muss es auch noch selbst vortragen! Aber keine Sorge: Anlass
und die Menschen, die ich hier treffe, lassen es zur Freude werden, einige
Gedanken vor Ihnen auszubreiten.
Der zweite Schreck betraf den Klammerzusatz zu meiner Person:
„Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft“. Ihm bin ich nun auch
schon fast zwei Jahre formell entwachsen, wenn ihm auch immer noch -
allerdings mit eher informellen Beziehungen – verbunden. So will ich denn
diesen Ausweis meiner Person in Ihrem Programm auch gleich program-
matisch verstehen oder umdeuten.
Sie bezeichnen den Anlass, der uns hier für drei Tage zusammenführt, als
„Internationale wissenschaftliche Jahrestagung des Verbandes Polnischer
Ansprachen 27

Germanisten“. Damit weisen Sie – so denke ich einmal – bewusst darauf


hin, dass die Wissenschaften – auch die Geistes- und Kulturwissenschaften
wiewohl national verankert – heute immer auch eine internationale und
zunehmend globale Dimension haben. Die Teilnahme von Herrn Professor
Zhu von der Tongji Universität in Shanghai in China und zugleich als am-
tierender Präsident der Internationalen Vereinigung für Germanistik macht
dies sinnfällig deutlich.
Wie kann aber internationale und globale Wissenschaftszusammenarbeit
nur gelingen? Ich bin der festen Überzeugung, dass solches Gelingen sich
immer einer ausgeglichenen Mischung von institutionellen und persönli-
chen Beziehungen verdankt. Solche Beziehungen müssen wachsen und
sich im Konkreten bewähren können.
In diesem Sinne verstehe ich mich gern auch immer noch als Vertreter
des Stifterverbandes, als Vertreter einer Reihe von ihm verwalteter
Stiftungen und auch als Repräsentant einiger Unternehmen, die durchaus
im Stillen wirken und in den letzten zwei Jahrzehnten polnisch-deutscher
Wissenschaftsbeziehungen so Manches möglich gemacht haben. Und ich
will gern hinzufügen: Diese Mäzene haben im Kleinen ergänzt und unter-
stützt, was andere deutsche Förderorganisationen mit öffentlichen Mitteln
großflächiger, programmatischer und auch systematischer so sehr ver-
dienstvoll getan haben.
Dabei haben wir als private Förderer versucht, die unterschiedlichen
Quantitäten von staatlichen und privaten Möglichkeiten durch andere
Qualitäten auszugleichen: Wir haben versucht, flexibel und unbürokratisch
zu handeln, auf besondere Bedürfnislagen positiv einzugehen, dort präsent
zu sein, wo öffentliche Mittel nicht, noch nicht oder nicht mehr verfügbar
waren oder sind. Und das nicht in Konkurrenz etwa zum Auswärtigen Amt,
zur Humboldt-Stiftung oder zum DAAD. Ich denke, wir haben das auf
beiden Seiten, einander ergänzend im Bewusstsein getan, gemeinsam einer
guten Sache zu dienen und so als Wissenschaftsverwalter gute Diener der
Wissenschaft zu sein.
Dass die Germanistik in diesem Lande an dieser Förderung der pol-
nisch-deutschen Wissenschaftszusammenarbeit partizipiert hat, freut mich
als ehemaligen Germanisten natürlich ganz besonders. Und ich geste-
he freimütig, dass ich mich dafür auch immer eingesetzt habe. Denn ich
glaube auch, dass man angesichts der Unendlichkeit förderungswürdiger
Initiativen dort – wenn auch nicht nur dort – „investieren“ soll, wo man
sich auskennt und wo besonders günstige Voraussetzungen gegeben sind.
28 Ansprachen

Ja, und im vorliegenden Fall bestehen diese besonders günsti-


gen Verhältnisse seit jenem 21. Oktober 1978, an dem ich Ihrem
Verbandspräsidenten – jetzt Ehrenpräsidenten – Franciszek Grucza zum
ersten Male hier in Warschau im nahe gelegenen „Hotel Victoria“ begegnet
bin – eine lange Geschichte.
Und verstärkt wurde diese folgenreiche Begegnung dann durch die noch
älteren Beziehungen zwischen – so muss man wohl korrekterweise sagen –
den Familien Grucza und Bünting. Ja, die Beziehungen zwischen der polni-
schen und deutschen Germanistik haben sich auch auf diesem personellen
Fundament gut entwickeln können, eben weil Institutionelles – repräsen-
tiert durch Universitäten, Stiftungen und Unternehmen – und Persönliches
glückhaft und dauerhaft ineinander gegangen sind.
Wir Alten treten nun aber ab.
Ich wünsche mir sehr, dass es auf der Seite der jungen Wissenschaftlerinnen
und Wissenschaftler wie auf der Seite der Wissenschaftsadministratoren
Menschen gibt, die diese Arbeit nicht nur fortsetzen. Nein, die auch
neue Wege gehen in einer Welt und in eine Welt, die nicht mehr nur in-
ternational orientiert ist, sondern in der der globale Wettbewerb auch die
Geisteswissenschaften vor existenzielle Herausforderungen stellt.
In diesem Sinne wünsche ich Ihnen eine gelingende Tagung und viele
stimulierende, den Horizont erweiternde Begegnungen.
Mag. iur. Ulla Krauss-Nussbaumer
Kulturrätin der Österreichischen Botschaft in Warschau
Direktorin des Österreichischen Kulturforums Warschau

Sehr geehrter Herr Altpräsident,


sehr geehrte Frau Präsident,
meine sehr verehrten Damen und Herren!

Als Direktorin des Österreichischen Kulturforums Warschau dan-


ke ich sehr für die Einladung zu dieser Konferenz. Der Polnische
Germanistenverband mit allen seinen Mitgliedern ist für das Kulturforum
bei der Umsetzung seines literarischen Programmes ein äußerst wichtiger
Partner. Dank diesem dichten Partnernetz können wir vor allem den ange-
henden GermanistInnen und LiteraturwissenschaftlerInnen nicht nur junge
aufstrebende, sondern auch schon bekannte und verdiente österreichische
Autoren und Autorinnen vorstellen und mit diesen ins Gespräch bringen.
Denn, wo spiegelt sich die österreichische Seele stärker und eindringlicher
wieder als in der Literatur!
Das Programm der vor uns liegenden Konferenz ist sehr vielfältig
und umfasst das breite Spektrum der Germanistik. Es zeigt auf hervor-
ragende Weise, dass sich der Verein Polnischer Germanisten immer des
Plurizentrismus der deutschen Sprache und der deutschsprachigen Literatur
bewusst ist. Die besten Beispiele hierfür sind die geplanten Referate zum
österreichischen Deutsch sowie zu Trakl, Bachmann und Jelinek. Die bei-
den Letztgenannten verweisen auch auf das niemals geringer werdende
Interesse an diesen Schriftstellerinnen. Elfriede Jelinek und ihr Schaffen ist
mittlerweile schon ein „Klassiker“ auf polnischen Germanistentreffen. Es
bleibt mir nur noch, Ihnen allen eine spannende Tagung voll von Inspiration
zu wünschen und der Hoffnung Ausdruck zu verleihen, dass Sie alle auch in
Zukunft so aktiv wie bisher mit dem Österreichischen Kulturforum Kontakt
halten.
Dr. Randolf Oberschmidt
Leiter der Außenstelle des DAAD in Warschau

Sehr geehrter Herr Professor Grucza,


sehr geehrte Damen und Herren!

Leider ist es mir in diesem Jahr unmöglich, persönlich – so wie es


schon zu einer guten Tradition geworden ist – ein Grußwort anlässlich der
Eröffnung der Internationalen Jahrestagung des Verbandes der Polnischen
Germanisten zu sprechen. Ich bedauere dies umso mehr, weil es sich um
die letzte internationale Jahrestagung unter Leitung ihres Präsidenten han-
delt, der – so hat es mit Herrn Professor Franciszek Grucza vor der Tagung
gesagt – nicht mehr für eine weitere Amtszeit zur Verfügung steht. Da zeit-
gleich in Wrocław/Breslau eine schon lange geplante Tagung aus Anlass des
10jährigen Bestehens des von DAAD und Universität Wrocław gemeinsam
getragenen Willy-Brandt-Zentrums für Deutschland- und Europastudien
stattfindet, auf der ich Leitungsfunktionen zu übernehmen habe, kann ich
in diesem Jahr nur ein schriftliches Grußwort beisteuern.
Das Motto der Tagung lautet „Mensch – Sprachen – Kulturen“, und
man kann dies gewissermaßen als Koordinatensystem verstehen, in dem
sich die Germanistik, nicht nur die polnische, bewegt. Man kann mit Fug
und Recht dieses Motto aber auch als Richtschnur für die wissenschaft-
liche Tätigkeit von Professor Grucza sehen, der seit Jahrzehnten zu den
prägenden Gestalten der polnischen und der internationalen Germanistik
gehört. Seine wissenschaftlichen Errungenschaften zu würdigen, überlasse
ich denen, die dazu berufen sind. Für meinen Teil kann ich nur sagen, dass
ich in den fünf Jahren meiner Tätigkeit als Leiter der Außenstelle Herrn
Professor Grucza als hervorragenden Partner des DAAD kennengelernt
habe, so unter anderem während des Weltkongresses der Germanistik in
Warschau, bei dem auch der Wilhelm und Jacob Grimm-Preis des DAAD
verliehen wurde.
Ansprachen 31

Gestatten Sie mir bitte auch, dass ich diese Gelegenheit dazu nutze, um
mich bei allen Germanistinnen und Germanisten Polens für die sehr gute
Zusammenarbeit in den zurückliegenden Jahren ganz herzlich zu bedanken,
denn nach fünf Jahren heißt es für mich Abschied nehmen, um turnusgemäß
in die DAAD-Zentrale nach Bonn zurück zu wechseln. Ich habe die Zeit
sehr genossen und nehme viele positive Eindrücke mit, gerade auch aus
der Zusammenarbeit mit der polnischen Germanistik. Ich bin davon über-
zeugt, dass solch eine starke Auslandsgermanistik wie die polnische auch
in Zukunft – trotz der demografischen Entwicklung und trotz abnehmender
Deutschkenntnisse bei den Schülern – eine eminent wichtige Mittlerrolle
zwischen unseren beiden Ländern ausfüllen wird.
Ich wünsche der Jahrestagung einen guten Verlauf und verbleibe mit
einem herzlichen do zobaczenia!
Plenarvorträge
Silvia Bonacchi (Warszawa)

Interkulturelle Kommunikation, Dialog-


und Konfliktforschung: Einige Bemerkungen
zum Forschungsgegenstand,
zu den Erkenntniszielen
und Untersuchungsmethoden
der anthropozentrischen Kulturologie

Problemstellung
Das „Institut für anthropozentrische Kulturologie und Linguistik“
(poln.: „Instytut Kulturologii i Lingwistyki Antropocentrycznej“, kurz:
„IKLA“) der Fakultät für Angewandte Linguistik der Universität Warschau
ist zwar eine sehr junge, nur zwei Jahre alte akademische Einrichtung1,
aber ihrer Gründung ging eine breite Reflexion und eine rege wissen-
schaftliche Auseinandersetzung voraus über die theoretischen Grundlagen
einer Wissenschaft, die sich primär mit Menschen als Träger von sprach-
lichen und kulturellen Eigenschaften, d. h. Menschen als wirkliche
Sprecher und Kultursubjekte beschäftigt. Schon vor der akademischen
Institutionalisierung löste das Wort „Kulturologie“ kritische Reaktionen aus
und es wurde die absolut legitime Frage gestellt, ob angesichts der existie-

1
  Sie wurde 2010 durch die Verbindung von zwei Lehrstühlen (dem Lehrstuhl für
Fachsprachen und dem Lehrstuhl für Sprachentheorie und Spracherwerbforschung) vom
Senat der Warschauer Universität ins Leben gerufen.
36 Silvia Bonacchi

renden Vielfalt von Bezeichnungen für die Disziplinen, die sich mit Kultur
beschäftigen (u.a.: Kulturwissenschaft, Kulturstudien, Kulturlinguistik)
diese alles in allem neue Bezeichnung2 notwendig sei. Ging es nur um
einen Etikettenwechsel, der die schon existierende (und manchmal wohl
verwirrende) Vielfalt von Bezeichnungen für eine Wissenschaft mit dem
gleichem Erkenntnisobjekt weiter nährt?
In den folgenden Ausführungen wird der Versuch unternommen, zu zei-
gen, dass der Ausdruck „Kulturologie“ weder eine alternative Benennung
für Kulturwissenschaft3, noch ein Synonym zur Kulturlinguistik oder zu an-
deren verwandten Disziplinen (etwa Kulturstudien, Kulturkontrastivistik)
ist, sondern eine eigenständige wissenschaftliche Disziplin bezeichnet, die
einen spezifischen Forschungsgegenstand hat, die von anderen Disziplinen
(eben etwa Kulturwissenschaft oder Kulturlinguistik) nicht wissenschaft-
lich adäquat erfasst werden kann. Darüber hinaus werden spezifische
Erkenntnisziele verfolgt, die von anderen Disziplinen mit ihren jeweiligen
Untersuchungsmitteln nicht erreicht werden können (vgl. dazu Grucza F.
2006: 9ff.). Die Experten dieser Disziplinen, d. h. die Kulturologen, zie-
len darauf ab, die für diese Disziplin spezifische Methodologie modell-
theoretisch zu begründen, empirisch zu prüfen und in ihren möglichen
Anwendungen umzusetzen, und somit Kulturologie als neue4 wissenschaft-
liche Disziplin zu legitimieren.
Im Folgenden wird versucht, den Forschungsgegenstand, die Er­
kenntnisziele und die Untersuchungsmethoden der anthropozentrischen
Kulturologie am Beispiel der Forschungstätigkeit am „Institut für anth-
ropozentrische Kulturologie und Linguistik“ der Universität Warschau zu
zeigen.

2
  Der polnische Ausdruck „kulturologia“ kommt zwar mehrmals in den Kulturstudien vor,
so etwa im Projekt: „Kulturologia polska XX wieku“ (http://www.kulturologia.uw.edu.
pl/, dt.: „polnische Kulturologie des 20. Jahrhunderts“), das von einem multidisziplinären
Expertenteam getragen wird und sich eine interdisziplinäre Analyse der Kulturphänomene
zum Ziel setzt, allerdings liegt dort eine präzise theoretische Grundlegung der Disziplin
nicht vor.
3
  Für eine breite Ausführung der Notwendigkeit einer Unterscheidung zwischen
Kulturwissenschaft(en) und Kulturologie vgl. die breite Studie „Kulturologia antropocen-
tryczna a kulturoznawstwo“ (Grucza F. 2012)
4
  Zu den Kriterien, die eine neue wissenschaftliche Disziplin zu erfüllen hat, um deren
universitäre Institutionalisierung zu begründen, vgl. Grucza F. 2006: 15f.
Plenarvorträge 37

Die theoretischen Grundlagen


Das Konzept der Kulturologie als wissenschaftliche Disziplin, die zu-
sammen mit der Linguistik die Grundlagen einer allgemeinen Wissenschaft
über die menschliche Kommunikation liefern kann, wurde von Franciszek
Grucza5 im Rahmen seines Konzepts einer anthropozentrischen Theorie
wirklicher menschlicher Sprachen und Kulturen schon in seinen Schriften
der Achtziger Jahre avisiert, allerdings in den letzten zwei Jahrzehnten
zunehmend präzisiert6. In jüngster Zeit wurden die Annahmen der anth-
ropozentrischen Linguistik und Kulturologie von vielen Forschern (u.a.
S. Grucza, M. Olpińska-Szkiełko, S. Bonacchi, G. Pawłowski, P. Szerszeń,
P. Bąk), sowie im Rahmen von Magister- und Doktorarbeiten, die am IKLA
entstanden sind, differenziert analysiert und empirisch geprüft.7

Der Forschungsgegenstand
Es scheint eine Selbstverständlichkeit zu sein, dass Kulturologie eine
wissenschaftliche Disziplin ist, die sich mit „Kultur“ beschäftigt. Die
Bestimmung dessen, was mit dem Ausdruck8 “Kultur“ designativ erfasst
wird, ist aber keine Selbstverständlichkeit. Denn sowohl im gemein-
sprachlichen als auch im fachsprachlichen Gebrauch lassen sich mehrere
Bedeutungen feststellen, deren Vermengung oft Verwirrung stiftet.9 Man
kann trotz dieser semantischen Heterogenität bestimmte wiederkehrende
Bedeutungsmerkmale feststellen:
• „Kultur“ als Bezeichnung für bestimmte menschliche materiel-
le (etwa Werke, Gebrauchsgegenstände, Kunststücke) und geistige
„Hervorbringungen“ (Ideen, Denkschemata, Stereotype, Vorurteile,
Geschmack, Mode usw.). Was diese „Hervorbringungen“ als „kulturelle
Hervorbringungen“ qualifiziert, wird unterschiedlich definiert und un-
5
  Vgl. vor allem Grucza F. 1983, 1989, 1992.
6
  Vgl. Grucza F. 2000, 2012
7
  Für eine synthetische Darstellung der Annahmen der anthropozentrischen Linguistik vgl.
Grucza F. 2010a, Grucza S. 2010, für eine umfassende Darstellung der Annahmen der
anthropozentrischen Kulturologie vgl. Bonacchi S. 2011a und 2012a
8
  Mit „Ausdruck“ wird eine Kategorie von sprachlichen Äußerungen gemeint, die darauf
abzielt, Sachen, Eigenschaften, Prozesse, Objekte oder Personen zu bezeichnen und damit
abzugrenzen. Vgl. dazu Grucza F. 2012: 82ff.
9
  Für eine eingehendere Analyse der designativen und denotativen Valenz des Ausdrucks
„Kultur“ vgl. Bonacchi S. 2009: 26-28, Grucza F. 2012: 80f., des Weiteren Grucza F.
1996a und 1996b.
38 Silvia Bonacchi

terliegt einem historischen Wandel (Hochkultur, Leitkultur, Popkultur,


Massenkultur etc.)10
• „Kultur“ bezieht sich auf Gruppen (Kollektive) und bezeichnet das
„Wesen“ dieses Kollektivs, so etwa in den Ausdrücken: „deutsche, pol-
nische Kultur“, „Jugendkultur“, „Studentenkultur“.
• „Kultur“ kann aber auch gegenstandsbezogen oder zeitbezogen sein,
im Deutschen etwa in Ausdrücken wie „Wohnkultur“, „Freizeitkultur“,
„Esskultur“, „Diskussionskultur“, „Kultur des Mittelalters“, „Kultur der
Renaissance“.
• „Kultur“ kann zum Ausdruck bringen, dass jemand eine entwickelte
„persönliche Kultur“ hat bzw. „kultiviert“ ist (so vergleichbar mit dem
polnischen Ausdruck „kulturalny“).

In all diesen Fällen wird das, was mit dem Ausdruck „Kultur“ bezeich-
net wird, als ein Wirklichkeitsbereich betrachtet, der sich nicht klar abgren-
zen, daher schwer empirisch untersuchen und im besten Fall hermeneutisch
analysieren lässt.11
Für die anthropozentrische Kulturologie ist der Mensch als Kultursubjekt
der Ausgangspunkt für die wissenschaftliche Erkundung (anthropozen-
trische Perspektive), d. h. der konkrete Mensch und seine kulturellen
Eigenschaften, die sich durch die empirische Untersuchung der „kulturellen
Äußerungen“, die Ausdruck hic et nunc dieser Eigenschaften sind, rekons-
truieren lassen. Die kulturellen Eigenschaften, die dem Menschen naturge-
geben sind aber sich im Laufe von Sozialisationsprozessen und durch ko-
gnitive Akte entwickeln, machen den Menschen zu einem „Kultursubjekt“
in dem Sinne, dass sie bestimmte Fähigkeitenbereiche (Wissen und die
damit verbundenen Fähigkeiten) fundieren, und insofern den Menschen
zu kulturellen Äußerungen (Hervorbringungen) befähigen. In diesem
Sinne lassen sich die kulturellen Äußerungen (Hervorbringungen) als
Oberflächenphänomene betrachten, deren Erkundung die ihnen zugrunde
liegende Tiefenstruktur – als System von generativ-analytischen Regeln
und Elementen, das kulturelles Wissen und kulturelle Fähigkeiten fundiert
– erschließen kann.
Demzufolge werden in der anthropozentrischen Kulturologie drei
Forschungsebenen unterschieden, denen jeweils ein Fachausdruck ent-
spricht:
10
  Zum Begriff der designativen Valenz vgl. Grucza F. 2012: 83ff.
11
  So versteht sich etwa die Kulturwissenschaft in der Tradition Wilhelm Diltheys als
interpretative Wissenschaft.
Plenarvorträge 39

1. Die idiokulturelle Ebene – Erkundung der wirklichen Idiokultur;


2. Die polykulturelle Ebene – Erkundung der wirklichen Polykultur(en);
3. Die Ebene der kulturellen Äußerungen – Erkundung der kulturellen
Hervorbringungen.
Im Folgenden sei kurz auf diese Drei-Ebenen-Analyse eingegan-
gen.12 Der Fachausdruck Idiokultur bezeichnet die Menge der kul-
turellen Eigenschaften eines konkreten Menschen, die kulturelle
Fähigkeitenbereiche fundieren, ihn zu einem handelnden Kultursubjekt
machen und zu idiokulturellen Hervorbringungen (Kulturwerke, kultu-
relle Äußerungen) befähigen. Die Idiokultur fundiert das individuelle
kulturelle deklarative Wissen sowie das individuelle prozedurale Wissen
(Können)13. Dieses Wissen kann bewusst oder unbewusst sein. Die zentrale
Komponente der Idiokultur ist der Idiolekt, also die Menge der sprach-
lichen Eigenschaften eines Individuums. Die kulturellen14 Eigenschaften
sind dem Menschen einerseits angeboren, also naturgegeben bzw. das
Ergebnis der phylogenetischen Entwicklung, andererseits aber ontogene-
tisch bedingt, denn jeder Mensch entwickelt im Laufe seines Lebens infolge
von Sozialisierungsprozessen, persönlichen und kollektiven Erfahrungen,
Erkenntnisakten das kulturelle Wissen und die kulturellen Fähigkeiten,
die es ihm ermöglichen, mit den Anforderungen seiner Umwelt zurecht zu
kommen, sich Gruppen anzuschließen, seine praktischen und seelischen
(ästhetischen, affektiven) Bedürfnisse zu befriedigen.
Da der Mensch sich kulturell vor allem in Gruppen entwickelt, gehört
er zu unterschiedlichen Gruppenfigurationen15, in denen er bestimmte
Handlungsmuster, Verhaltensmuster, Werte, Denkschemata vorfindet, die
sein Handeln prägen. So läuft stets ein Prozess der gegenseitigen Anpassung
zwischen Individuum und Gruppe ab, die eine synlogische – in Bezug auf
das Wissen – und synergische – in Bezug auf das Handeln – Entwicklung
der Menschen ermöglicht, die eine Gruppe bilden, und die dieser Gruppe
ermöglicht, eine kollektive Identität zu entwickeln. Dies führt zur zwei-
ten Forschungsebene, die polykulturelle Ebene, bei der die Kultur bzw. die
Kulturen einer Gruppe in den Mittelpunkt des wissenschaftlichen Interesses
rücken. Der Ausdruck wirkliche Polykultur bezeichnet primär die kulturel-
len Eigenschaften (also das kulturelle deklarative und prozedurale Wissen),
12
  Für eine breitere Ausführung vgl. Bonacchi S. 2011
13
  Zur Auffassung des Wissens vgl. Grucza F. 2006 und Bonacchi S. 2011a: 134-149
14
  Darunter sind kommunikative, soziopragmatische, expressive/artefaktive Eigenschaften,
vgl. Bonacchi S. 2009: 39 und 2011a: 63) erfasst.
15
  Vgl. Elias N. 1987: 274f., Habermas J. 1981: 31f.
40 Silvia Bonacchi

die Mitglieder einer Gruppe teilen und kulturelle Wissensbestände fundie-


ren, die eine Gruppe auszeichnen, im erweiterten, sekundären Sinne die
Gruppe selbst. Das zentrale Element einer Polykultur ist der Polylekt16,
der den kommunikativen Austausch innerhalb der Gruppe ermöglicht. Eine
Kommunikationsgemeinschaft17 wird zu einer Kulturgemeinschaft, wenn
sie eine Gruppenidentität bzw. ein kollektives Selbstbild entwickelt und
zu polykulturellen Hervorbringungen – Werken, Texten, Werten, Skripten
usw. – fähig ist (Bonacchi S. 2011a: 76). So wird eine Kulturgemeinschaft
nicht nur von „Werken“ (etwa Literaturwerke oder Kunstwerke), son-
dern auch von geteilten Werten und geteilten Skripten – wie etwa die, die
vorschreiben, wer das Geschirr spült, wie man sich grüßt, wie man mit
Personen spricht, wie man sich in verschiedenen Situationen verhält, wie
man Emotionen und Affekte ausdrückt usw. – indiziert. Sie weist geteilte
Kommunikationsmittel (verbale und nicht verbale Sprache), also geteil-
tes prozedurales und deklaratives Wissen, das aus geteilten historischen
Erfahrungen sowie aus Alltagserfahrungen herrührt, auf.
Grundlegend für die anthropozentrische Kulturologie ist die
Unterscheidung zwischen wirklichen Polykulturen und Konstrukten wis-
senschaftlicher und nicht-wissenschaftlicher Natur. Wenn man etwa – auch
im wissenschaftlichen Diskurs – von „deutscher Kultur“ oder „polnischer
Kultur“ spricht, greift man oft auf Generalisierungen zurück, die nicht wis-
senschaftlich fundiert, sondern oft politisch motiviert sind. So können die
Ergebnisse von kontrastiven Untersuchungen an Sprechern verschiedener
Herkunftskulturen unter einer petitio principii leiden, d. h. dem Fehler, der
entsteht, wenn bei der Beweisführung einer These die Konklusion schon in
der Prämisse mit enthalten ist. In diesem Falle steuern die Vorurteile über
nationale Menschengruppen die Durchführung der Analyse. Die anthropo-
zentrische Kulturologie (sowie die anthropozentrische Linguistik) beschäf-
tigt sich primär mit wirklichen Kulturen (Idiokulturen und Polykulturen)
konkreter Menschen und stellt die Bestimmung von Kriterien für die
Generalisierung und die Bestimmung der jeweiligen Toleranzbereiche
in den Vordergrund. In diesem Sinne geht sie vor allem induktiv vor
und unterscheidet sich von anderen „Projektwissenschaften“, die von

  Vgl. dazu Grucza F. 2007: 354 und Bonacchi S. 2011a: 37f.


16

  Vgl. dazu Knapp-Potthoff A. 1997: 194f.: „Unter Kommunikationsgemeinschaft


17

verstehe ich Gruppen von Individuen, die jeweils über durch regelmäßigen Kontakt eta­
blierte Mengen an gemeinsamem Wissen sowie Systeme von gemeinsamen Standards des
Wahrnehmens, Glaubens, Bewertens und Handels – m.a.W. Kulturen – verfügen.“
Plenarvorträge 41

Modellen und Konstrukten ausgehen.18 Es liegt nahe, dass sie anthropo-


zentrische Kulturologie die unreflektierte Hypostasierung, Idealisierung,
Anthropomorphisierung sowie die Reifikation der Designate des Ausdrucks
Kultur im gemeinsprachlichen aber vor allen in fachsprachlichen Diskurs
ablehnt bzw. sie wiederum als kulturelle Äußerungen betrachtet.19
Auf der dritten Forschungsebene rücken die kulturellen Hervor­brin­
gungen (Äußerungen), die sowohl idiokulturell (individuell) als auch
polykulturell (kollektiv) sein können, in den Vordergrund. Sie können
materieller oder geistiger Natur sein und lassen sich auf allen Ebenen des
Lebens feststellen: von Hervorbringungen der Hochkultur, wie etwa lite-
rarische Werke und Kunstwerke über Hervorbringungen der Popkultur bis
zu Hervorbringungen der Alltagskultur, wie man etwa die sprachlichen
Äußerungen benutzt, das Essverhalten, wie man eine Einkaufsliste macht,
wie man mit körperlichen Bedürfnissen umgeht usw.
Zusammenfassend lässt sich behaupten, dass der primäre For­
schungsgegenstand der anthropozentrischen Kulturologie der Mensch
als Kultursubjekt, d. h. der Mensch und seine kulturellen Eigenschaften
ist, im weiteren Schritt die idiokulturellen Hervorbringungen, weiter die
Untersuchung der wirklichen (Poly)Kulturen von Menschengruppen und
deren polykulturellen Hervorbringungen.20 Gegenstand der kulturolo-
gischen Analyse sind also primär die Idiokulturen konkreter Menschen, die
sich vor allem durch die Analyse der kulturellen Äußerungen und ihrer
kommunikativen Funktionen21 empirisch untersuchen lassen. Die anthropo-
zentrische Linguistik beschäftigt sich vor allem mit verbalen Äußerungen,
die eine Teilmenge der sprachlichen Äußerungen darstellen, die anthropo-
zentrische Kulturologie untersucht hingegen die nonverbalen Äußerungen
mit kommunikativer Funktion in ihrem Zusammenhang mit den verbalen
Äußerungen sowie mit den verschiedenen Arten der Kommunikation durch
Gegenstände (vgl. dazu Grucza F. 2012: 98ff.). Nur auf der Grundlage
18
  Nach F. Grucza gehört auch die Kulturwissenschaft zu den Projektwissenschaften, vgl.
dazu den Vortrag, der Franciszek Grucza bei der Tagung 2011 der PTLS in Lublin gehalten
hat, jetzt im Druck, sowie Grucza F. 2012: 86.
19
 Vgl. Grucza F. 2012: 91
20
 Vgl. Grucza F. 2012: 90
21
 Vgl. Grucza F. 2012: 91: „Na pytanie, którymi kulturowymi wytworami konkretnych
ludzi podmioty kulturologii antropocentrycznej są zainteresowane głównie, odpowiadam
w skrócie: przede wszystkim tymi, względem których zakładają, że wzięci pod uwagę
ludzie wytworzyli je głównie w tych samych celach, w jakich wytwarzają konkretne
wyrażenia językowe, dokładniej: względem których zakładają, że wzięci pod uwagę lud-
zie prezentują je i/lub interpretują jako pewne znakowe środki porozumiewania (komuni-
kowania) się.”
42 Silvia Bonacchi

der Ergebnisse der Beobachtung und der Analyse lassen sich theoretische
Konstrukte und Modelle aufstellen, die als solche vom Forscher stets in
ihrem metatheoretischen Charakter problematisiert werden können und
müssen.

Erkenntnisziele und Forschungsbereiche


Aufgabe der anthropozentrischen Kulturologie ist also, den Zusammen­
hang zwischen Wissenssystemen, vor allem zwischen sprachlichem und
nicht sprachlichem Wissen zu erhellen, um die Tiefenstruktur unseres
kommunikativen Handelns ans Licht zu bringen. Die anthropozentrische
Kulturologie verfolgt zu diesem Zwecke deskriptive und explikative
Ziele, die ermöglichen, anagnostisches, diagnostisches und prognostisches
Wissen (vgl. dazu Grucza F. 2006: 30f.) zu erzeugen.
Insbesondere sieht die Forschungspraxis folgende Schritte vor:
• Entwicklung von Methoden zur Erhebung der empirischen Daten (je nach
der Medialität und der Modalität des kommunikativen Austausches).
• Analyse der kulturellen Äußerungen mit kommunikativer Funktion nach
Parametern und Kriterien, die den jeweiligen Forschungszielen entspre-
chen – sowohl in der Tiefenstruktur (Illokutionen, Sprechakte, kognitive
Rahmen) als auch in der Oberflächenstruktur (verwendete sprachliche
und nicht sprachliche Ausdrucksmittel).22
• Die Bestimmung von Menschengruppen mit kollektiver kulturel-
ler Identität – Sozio(poly)kulturen, Ethno(poly)kulturen, Dia(poly)
kulturen, Fach(poly)kulturen, Ludo(poly)kulturen usw.23 – sowie die
Bestimmung der Kriterien zu ihrer Beschreibung und der Parameter für
die Analyse. Vor allem die idiokulturellen und polykulturellen Formanten
und Determinanten (kulturelle Deskriptoren)24 sind der Ausgangspunkt
der Analyse.
• Rekonstruktion der tiefen generativ-analytischen Systeme (Idiokulturen
und Polykulturen), die das kulturelle Wissen auf individueller und kol-
lektiver Ebene fundieren und den Kommunikationsprozess (Produktion
von Äußerungen und Rekonstruktion ihrer Bedeutung) bedingen.
• Entwicklung von explikativen Modellen.

22
  Vgl. etwa Bonacchi S. 2012a, 2012b und 2012c.
23
  Vgl. dazu Bonacchi S. 2011: 82
24
  Vgl. dazu Bonacchi S. 2011: 69-74
Plenarvorträge 43

Aus den hier vorgelegten Ausführungen geht hervor, dass die kultu-
rologische Analyse vor allem in den folgenden Forschungsbereichen mit
Erkenntnisgewinn eingesetzt werden kann:
• face-to-face-Kommunikation
• Dialogforschung
• Konfliktforschung
• Missverständnisforschung
• Sprecheridentitätsforschung (z. B. forensische Kulturologie)
• „Milieuorientiertes” Dolmetschen, Fokusgruppendolmetschen
• Untersuchung der vertikalen Schichtung in der Fachkommunikation
(z. B. zwischen Experten und Nicht-Experten).

Laufende Forschungsprojekte
Abschließend sei an dieser Stelle ein kurzer Ausblick über die kulturolo-
gische Forschungstätigkeit am Institut für anthropozentrische Kulturologie
und Linguistik geboten.25
Das erste größere Projekt betraf den Höflichkeitsausdruck im Vergleich
Polnisch/Deutsch/Italienisch. Ausgegangen wurde von Äußerungen in den
drei Sprachgemeinschaften, die anhand einer empirischen Analyse in einer
sehr deutlich definierten Gruppe als höflich, nicht höflich oder unhöflich
eingestuft wurden. Auf dieser Grundlage wurde der Versuch unternom-
men, das diesen Äußerungen zugrunde liegende sprachliche und kulturelle
Wissen zu rekonstruieren und gruppenspezifische Differenzen im höflichen
Verhalten aufzuzeigen.26 Das Projekt wurde im Jahr 2005 initiiert und im
Jahr 2011 durch die Veröffentlichung der Studie „Höflichkeitsausdrücke“
(Bonacchi S. 2011a) abgeschlossen.27 Diesem Projekt folgen zwei Projekte
nach, die einerseits eine Fortsetzung, andererseits aber eine wesentliche
Erweiterung des Forschungsinteresses durch eine ausgeprägte interdiszip-
linare Orientierung darstellen28:
1. „Kulturologische und suprasegmentale Analyse von durch (Un)Höflich­
keit markierten kommunikativen Interaktionen“;

25
  Hier ist zu betonen, dass Kulturologie neben Kulturwissenschaft, Literaturwissenschaft
und Linguistik betrieben wird.
26
  Vgl. Bonacchi S. 2011a: 308-335.
27
  Im Rahmen dieses Projektes ist auch die Doktorarbeit von Justyna Zając 2012
(Fachkommunikation) zu erwähnen, sowie eine Reihe von Master- und Bachelorarbeiten.
28
  Für Kontakt und Fragen: s.bonacchi@uw.edu.pl
44 Silvia Bonacchi

2. „Sprachliche Aggression im Spannungsfeld zwischen Gesprächsanalyse,


multimodaler Analyse und Kulturologie: Forschungsansätze und Unter­
suchungs­methoden im Vergleich“.
Das Projekt „Kulturologische und suprasegmentale Analyse von
durch (Un)höflichkeit markierten kommunikativen Interaktionen“ wird
in Zusammenarbeit mit dem Institut für Computerlinguistik und Phonetik
und dem Institut für Slawistik der Universität des Saarlandes realisiert
und wird durch Forschungsmittel des polnischen Nationalen Zentrums
für wissenschaftliche Forschung (Narodowe Centrum Nauki) gefördert.
Das Hauptziel des Projektes ist die Analyse der Äußerungsformen und
der kommunikativen Funktionen von kommunikativen Interaktionen, die
durch Höflichkeit, Unhöflichkeit und verbale Aggression markiert sind
(kulturologische segmentale Analyse und suprasegmentale Analyse mit
Berücksichtigung des vokalen, verbalen und kinetischen Displays) und
die Erstellung eines multimedialen Korpus für das Deutsche und das
Polnische, sowie einige Pilotversuche für die Erstellung eines Korpus für
das Bulgarische und das Italienische. Die Laufzeit dieses Projektes beträgt
3 Jahre, zurzeit sind sieben Forscher vorgesehen, die die Untersuchungen
durchführen werden. Geplant ist die Erweiterung der Mitarbeit auf weitere
polnische Forschungszentren.
Das zweite Projekt „Sprachliche Aggression im Spannungsfeld zwi-
schen Gesprächsanalyse, multimodaler Analyse und Kulturologie:
Forschungsansätze und Untersuchungsmethoden im Vergleich“ sieht eine
Reihe von Vorarbeiten für die gleichnamige Sektion bei der Tagung der
IVG in Shanghai29 2015 vor, deren Programm im Folgenden wiedergege-
ben wird:
Sprachliche Aggression im Spannungsfeld zwischen Gesprächsanalyse, multi­
modaler Analyse und Kulturologie: Forschungsansätze und Untersuchungs­
methoden im Vergleich, Leitung: Silvia Bonacchi, Universität Warschau, Polen
Unter „sprachlicher Aggression” werden verschiedene Formen sprachlichen
Verhaltens (verbale Äußerungen und sie begleitendes nonverbales Verhalten)
subsumiert: solche, die eine feindliche Intention dem Gesprächspartner gegenüber
zeigen sowie Formen, die als solche interpretiert werden (können). Unter
„feindlicher Intention“ versteht man die illokutive Kraft eines Sprechaktes, der
darauf abzielt, den Gesprächspartner anzugreifen und dessen Selbstwertgefühl
zu mindern, sein soziales Image zu schädigen, schließlich dessen Territorialität
zu verletzen, um den Handlungsraum zu beschränken. Sprachliche Aggression
realisiert sich in direkten (offenen) Formen des sprachlichen Angriffs auf den

  Zur Einleitung vgl. Bonacchi S. 2012c. Weitere Informationen zur Tagung unter:
29

www.ivg2015-tongji.com
Plenarvorträge 45

Gesprächspartner – etwa durch den Gebrauch von Tabu-Semen (z. B. Vulgarismen


und skatologischem Wortschatz), oder durch eine strategische Verletzung der
Kommunikationsregeln, wie etwa bei der Verwendung von nicht autorisierten
T-Anredeformen oder von Anredeformen, die den Gesprächspartner erniedrigen
bzw. entmenschlichen (etwa bei der Verwendung von Zoonymen) - und in indirekten
(versteckten) Formen des sprachlichen Angriffs, deren feindliche Intention erst
durch die Rekonstruktion von Implikaturen oder von Präsuppositionen erfolgt.
Neben der sprachlichen Oberflächenstruktur soll daher die Tiefenstruktur
einer Äußerung, die als aggressiv gilt, analysiert werden. Obwohl sprachliche
Aggression im Vergleich zu physischer Aggression eine Aggressionsform ist, die
symbolischen Charakter hat, kommt sie nichtsdestotrotz einem Angriff gleich und
wirkt drohend. Wegen ihres Drohungspotenzials stellt sprachliche Aggression
ein Hindernis für eine geglückte Kommunikation dar, weil sie der Realisierung
des Kooperationsprinzips im Wege steht und das kommunikative Gleichgewicht
zwischen Interaktanten schwer beeinträchtigt.
Aggressives sprachliches Verhalten kommt nicht nur in Streitsituationen,
sondern auch in vielen anderen Alltagssituationen vor, wie etwa in Diskussionen,
Gesprächen, bei der Austragung von verschleierten Konflikten, in der Bestimmung
von hierarchischen Relationen und Machtverhältnissen, in der Durchsetzung des
eigenen Handlungsraums in Konfliktsituationen, in der Verwendung von Ironie
und Sarkasmus zur Entwaffnung eines potenziell „gefährlichen“ bzw. schwächeren
Gesprächspartners. Ein sprachliches Verhalten kann auch „aggressiv“ wirken
bzw. als aggressiv empfunden werden, wenn Asymmetrien im sprachlichen
und kulturellen Wissen der Gesprächspartner auftreten. So kommt sprachliche
Aggression in Fällen schwacher bzw. defizitärer Sprach- und Kulturkompetenz
vor, also in interkulturellen und in interlingualen Kontexten. Gegenstand der
kulturologischen Analyse sind auch Äußerungen, die der Oberflächenstruktur
nach aggressiv erscheinen können, die aber andere kommunikative Funktionen
erfüllen (Scheinaggressivität, wie etwa bei Bewunderung oder Ausdruck von
Gruppenzugehörigkeit durch die Banter-Funktion).
„Sprachliche Aggression“ ist also ein vielschichtiges Phänomen, das sich in
allen Sprachen und Kulturen beobachten lässt, ihre Äußerungsformen sind
aber unterschiedlich, da sie sowohl polykulturell (ethnokulturell, subkulturell,
soziokulturell usw.) bedingt als auch situations- und kontextabhängig sind.
Ihre Realisierungsformen hängen also nicht nur von den internalisierten
Verhaltensmustern, sondern vor allem davon ab, wie diese im gegebenen sozialen
Umfeld beurteilt werden (ob sie etwa gelobt, akzeptiert, toleriert, kritisiert
oder sanktioniert werden). Es gibt einerseits eine persönliche bzw. individuelle
(idiokulturelle) Ausprägung des aggressiven (sprachlichen und nicht sprachlichen)
Verhaltens, das bedingt, wie sich Aggression manifestiert, andererseits aber auch
eine (poly)kulturelle Bedingtheit der Formen der sprachlichen Aggression, die es
jeweils zu rekonstruieren gilt.
Es liegt nahe, dass sprachliche Aggression sich nicht als ein linearer kommu­
nikativer Prozess „Sender-Empfänger“ erklären lässt, sondern als ein komplexes
interaktionales und relationales Phänomen aufgefasst werden muss. Im Zentrum
der Analyse soll die Bestimmung des kommunikativen Gleichgewichtes zwischen
46 Silvia Bonacchi

Interaktanten im gegebenen Interaktionsrahmen stehen, die Bestimmung der


kommunikativen Mittel sensu largo (verbales und nonverbales Verhalten
mit Berücksichtigung der suprasegmentalen Aspekte, von Proxemik und
Chrone­mik sowie Kommunikation durch Gegenstände), die Bestimmung
von situativ-kontextuellen Variablen und Parametern. Dabei sollen auch die
jeweiligen diskursiven Regeln, die Wissensrahmen, die Interaktionsrahmen, die
kommunikativen Strategien sowie die Kommunikationskompetenz der Interaktanten
mitberücksichtigt werden. In der Sektion sollen Forschungsergebnisse präsentiert
werden, die interdisziplinäre Herangehensweisen an sprachliche Aggression
als interaktionales und relationales sprachliches Verhalten verdeutlichen. Dabei
wird die Frage aufgeworfen, wie ein integrativer Forschungsansatz, in der
Gesprächsanalyse, Sprechakttheorie, multimodale Analyse und kulturologische
Analyse verbunden werden, theoretisch zu begründen ist und wie er sich
operationalisieren lässt.

Auch hier angestrebt wird die Erstellung eines multimedialen Korpus,


der das empirische Material für die Analyse der direkten (offenen) und
indirekten (versteckten) sprachlichen Aggressionsformen und ihrer
Funktionen (z. B. Katharsis, Angriff, Machtbehauptung, Verstärkung der
Gruppenidentität, Expressivität, usw.) liefern soll. Auch genderspezi-
fisches aggressives Verhalten soll mitberücksichtigt werden. Neben den
direkten und den indirekten Formen der sprachlichen Aggression soll auch
schein­aggressi­ves Verhalten (z. B. in der Banter-Funktion) Gegenstand
der Analyse sein. Bei den direkten Formen wird die lexikalische Analyse
(Pejorativa, Affektiva, Vulgarismen), die Analyse der Mittel der sprach-
lichen Modulation (Verstärkung und Abtönung, Euphemismen und
Dysphemismen) und die kulturologische Analyse der Tabu-Seme durchge-
führt. Bei den indirekten Formen (so etwa bei Mobbing, Nagging) ist die
Analyse der Implikaturen und Präsuppositionen sowie der Illokutionen von
Belang. Untersucht werden auch Wissensasymmetrien, die oft aggressiven
Perlokutionen zugrunde liegen. Die Ergebnisse dieser Analysen sollen in
eine Taxonomie der aggressiven Sprechakte einfließen. Die Forschungs­
methoden sind auch in diesem Fall interdisziplinär. Das Ziel stellt ein
integrativer Forschungsansatz dar, der multimodale computergestützte
Gesprächsanalyse, pragmalinguistische Analyse und kulturologische
Analyse verbindet.

Schlussfolgerungen
Resümierend lässt sich feststellen, dass anthropozentrische Kulturologie
und Linguistik sich als zwei Teildisziplinen einer allgemeinen Wissenschaft
Plenarvorträge 47

über die Kommunikation30 verstehen, d. h. einer Wissenschaft über die


Mechanismen, die nicht der bloßen „Informationsvermittlung“ dienen,
sondern vielmehr den menschlichen Dialog ermöglichen und über die
Mechanismen, die diesem Dialog im Wege stehen. Die anthropozentri-
sche Kulturologie fasst dialogorientierte kommunikative Interaktionen
als ganzheitliche Akte auf, bei denen der ganze menschliche Körper
zum Medium wird, daher setzt sie sich zum Ziel, die Entwicklung von
adäquaten Methoden zur multimedialen Erfassung und multimoda-
len Beschreibung der empirischen Daten sowie zur modelltheoretischen
Entwicklung voranzutreiben. Sie vertritt einen integrativen Ansatz und
plädiert für eine interdisziplinäre Forschungspraxis, bei der vor allem die
Zusammenarbeit mit Forschern benachbarter Disziplinen (Psychologie,
Soziologie, Kognitionswissenschaften, Kulturwissenschaft) angestrebt
wird. Grundsatz ist in der anthropozentrischen Forschungspraxis die me-
tatheoretische und metawissenschaftliche Reflexion, die ermöglicht, die
theoretische Modellierung stets dem Wandel des Forschungsinteresses und
den Ergebnissen der empirischen Analyse anzupassen.

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  Franciszek Grucza hebt hervor, dass eine „Wissenschaft über die Kommunikation“
30

nicht mit „Kommunikationstheorie“ gleichzusetzen ist und schlägt für diese allgemeine
Wissenschaft der Kommunikation die Bezeichnung „Symbasiologie“ (Grucza F. 2012:
101) vor.
48 Silvia Bonacchi

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Kooperative und unkooperative Verwendung


von Pronomen in Texten der Physik
und der Literatur (Franz Kafka, Thomas Mann)
aus dem frühen 20. Jahrhundert

1. Textrezeption, grammatische und pragmatische


Polyfunktionalität: Zur Einleitung
Hauptanliegen dieser Arbeit ist, das hermeneutische Potenzial der
vergleichenden Untersuchung grammatischer Phänomene aus textstilis-
tischer Perspektive zu erproben. Das stilistische Profil von Texten kann
dadurch hervorgehoben werden, dass formale Elemente identifiziert wer-
den, von denen aus verschiedenen Gründen angenommen wird, dass sie
Poetizität vermitteln (Foschi 2010a; 2009). Zu Textelementen dieser Art
können grammatische Phänomene gerechnet werden, die – wie Pronomen
– funktional mehrdeutig und deshalb aus rezeptiver Sicht besonders re-
levant sind. In den folgenden Abschnitten wird zuerst der Mechanismus
der Pronominalreferenz der deutschen Sprache kurz geschildert (2.),
um den mit Bezug auf die allgemeinen Kommunikationsmaximen von
Grice (1975) formulierten Begriff der kooperativen und unkooperativen
Verwendung der Pronomen zu verdeutlichen. Es werden danach (3.) das
Korpus, das Verfahren und die ersten Ergebnisse einer Untersuchung
präsentiert, die anhand eines kleines Korpus von Texten der Physik
Plenarvorträge 51

und der Literatur aus dem frühen 20. Jahrhundert durchgeführt worden
ist. Die Untersuchungsergebnisse werden in diesem Beitrag unter der
Fragestellung dargelegt, ob Pronominalisierung text- und textsortenspezi-
fische Besonderheiten zeigt und wie diese auf die Textrezeption einwirken
können.

2. Pronomen in schriftsprachlichen Texten


Die syntaktische Funktion der Pronomen ist mit derjenigen von Nomina
und Nominalphrasen vergleichbar. Ähnliches gilt für ihre allgemeine se-
mantische Funktion, nämlich die Bezugnahme auf Gegenstände, obwohl
Pronomen – anders als Nominalphrasen – wenig über die Charakteristiken
ihrer Referenten sagen (z. B. Person vs. Sache; weiblich vs. männlich usw.)
(Zifonun 2001: 9). Pronominalisierung ermöglicht, schon eingeführte Themen
synthetisch wieder aufzunehmen und damit ganze Textausschnitte auszulas-
sen, die aus Nomina, Nominalphrasen oder größeren sprachlichen Einheiten
bestehen. In dieser Hinsicht ist Pronominalisierung gemäß Grices Maxime
der Quantität1 als „kooperative“ Operation anzusehen. Pronomen sind al-
lerdings semantisch undeterminierte Zeichen, die durch Referenz bestimmt
werden. Pronomen sind deshalb aus pragmatischer Perspektive als “schwie-
rige” Zeichen bezeichnet worden (Thurmair 2003: 212), weil die formalen
Relationen zu den Referenten unterschiedlich genau und deutlich ausgedrückt
werden können. Wenn diese Relationen nicht klar zum Ausdruck kommen,
ist hier von „unkooperativer“ Verwendung der Pronomen die Rede, im Sinne
eines kommunikativen Verhaltens, das gegen das Kooperativitätsprinzip ver-
stößt, das Grice (1975) als Modalität bezeichnet.2
Texte, die unbedingt klar und eindeutig sein müssen, neigen dazu, Pro­
nomen schlechthin zu vermeiden. Ein Beispiel dieser Art stellt die Produkt­
übersicht der Resveratrol-Kapseln aus der Homepage der Heilprodukt­firma
Terraternal dar (1). Die entsprechende Referenzkette besteht hier aus vier
Nomina und keinem einzigen Pronomen:

1
 Vgl. Grice (1975: 45): “The category of Quantity relates to the quantity of information
to be provided”.
2
  “Under the category of Manner, which I understand as relating not (like) the previous
categories) to what is said but, rather, to how what is said is to be said, I include the su-
permaxim – ‘Be perspicuous’ – and various maxims such as: / 1. Avoid obscurity of ex-
pression. / 2. Avoid ambiguity. / 3. Be brief (avoid unnecessary prolixity). / 4. Be orderly.”
(Grice 1975: 46).
52 Marina Foschi Albert

(1) Resveratrol ist ein Phytolalexin, welches von verschiedenen Pflanzen


als natürliche Antwort auf Stress, Verletzungen, Pilzinfektionen und
UV-Bestrahlung produziert wird. Unter anderem ist Resveratrol
in der Fruchthaut von Roten Trauben, Himbeeren, Maulbeeren,
Blaubeeren, Pflaumen und Erdnüssen sowie den Wurzeln des japa-
nischen Polygonums, einer traditionellen chinesisch-japanischen
Heilpflanze, aus der wir unsere Extrakte gewinnen, enthalten.
Seit kurzer Zeit erregt Resveratrol als Zusatzpräparat mit lebenszeit-
verlängernder Wirkung eine Menge Aufmerksamkeit, weil Resveratrol
in allen Species, die bisher diesbezüglich untersucht wurden, eine le-
benszeitverlängernde Wirkung hatte. (http://www.terraternal.com/
Home.aspx. 09.05.2012)

Textsorten, die auf diese Art Grices Klarheitsmaxime (1975: 45)


über diejenige der Synthese setzen, können u.a. Regelungen und
Gebrauchsanweisungen, Kurzgeschichten für Kinder, auch konstruier-
te Texte für den DaF-Unterricht sein. Pronomenkarge Texte stellen im
deutschsprachigen Textuniversum eher die Ausnahme dar. Normal ist es
dagegen, eine relativ hohe Anzahl von Pronomen in allen Texten vorzufin-
den. Um die Eindeutigkeit der Referenz zu sichern, werden im Text ana-
phorische Ketten gebildet, in denen das Pronomen erst auftaucht, wenn
der Referent deutlich definiert ist (Thurmair 2003: 208). Ein Beispiel
von Standardreferenz zeigt Beispiel (2): Der Referent wird im Titel durch
die Nominalphrase Mini-Mammuts genannt; der Inhalt der Überschrift
(So groß wie Schafe) bietet als kataphorisch wirkendes Attribut eine ers-
te Bestimmung desselben. Zwei weitere Nominalphrasen im Text (eine
Zwergform des Mammuts. Die Tiere in der Größe von Schafen) sagen et-
was über seine Beschaffenheit und Eigenschaften. Erst dann – wenn der
Referent eindeutig bestimmt ist – taucht das Pronomen sie auf.

(2) So groß wie Schafe


Mini-Mammuts lebten auf Mittelmeerinsel Kreta
Mittwoch, 09.05.2012, 10:06
Auf der griechischen Mittelmeerinsel Kreta entdeckten Forscher
Hinweise auf eine Zwergform des Mammuts. Die Tiere in der Größe
von Schafen könnten vor mehr als einer Million Jahren gelebt haben.
Sie waren die kleinsten Verwandten der wolligen Riesen der kalten
nördlichen Steppen, berichten britische Forscher in den „Proceedings”
der britischen Royal Society. (http://www.focus.de. 23.06.2012)
Plenarvorträge 53

Pronominalreferenz kann unterschiedlich determiniert sein. Durch de-


monstrative Pronomina kann die deutsche Sprache mehrere Stufen der refe-
renziellen Auffälligkeit ausdrücken (Bisle-Müller 1991: 49). Als Pendant
der wenig definierten er/sie/es-Pronomen dienen die stärker definierten
Formen der Demonstrativa der/die/das und dieser/diese/dieses mit un-
terschiedlichen „Horizont-” versus „Fokus-Funktionen” (Weinrich 1993:
384). Ein Beispiel von Gebrauch eines Pronomens mit Fokus-Funktion ist
das Demonstrativum diese in (3):

(3) Sie waren die kleinsten Verwandten der wolligen Riesen der kalten
nördlichen Steppen, berichten britische Forscher in den „Proceedings”
der britischen Royal Society. Schon länger war bekannt, dass es auf
Sizilien und Malta im Zeitalter Pleistozän Zwergformen von Elefanten
gab. Diese wurden als Abkömmlinge einer einzelnen Festlandart ge-
deutet, des Europäischen Waldelefanten. Einzelne Stoßzähne, die nahe
von Kap Malekas, einer steilen Landzunge im Nordwesten Kretas, ge-
funden wurden, hatten den Forschern jedoch Rätsel aufgegeben, be-
richten Victoria Herridge und Adrian Lister vom Naturkundemuseum
in London. (http://www.focus.de. 23.06.2012)

Klarheitshalber werden pronominale Referenzketten durch Renomina­


lisierung unterbrochen, wenn ein neues Thema im Text erscheint, wie in
(4) bei der Referenzkette Die Tiere in der Größe von Schafen […] Sie ge-
schieht: die Nominalphrase britische Forscher führt das neue Thema ein;
Renominalisierung folgt (Die Mini-Mammuts).

(4) Die Tiere in der Größe von Schafen könnten vor mehr als einer Million
Jahren gelebt haben. Sie waren die kleinsten Verwandten der wolligen
Riesen der kalten nördlichen Steppen, berichten britische Forscher in
den „Proceedings” der britischen Royal Society. Die Mini-Mammuts
seien ein extremes Beispiel für die Entstehung von Zwergformen auf
Inseln. (http://www.focus.de. 23.06.2012)

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Anschaulichkeit der Texte


von den eindeutigen Beziehungen zwischen Pronomen und Referenten
abhängig ist: Nach standardmäßigem Gebrauch zeigen Texte genau die-
se Art von Relationen. Wenn dadurch die pronominale Referenz im Text
klar und eindeutig bestimmt wird, reden wir von kooperativer Verwendung
der Pronomen. Umgekehrt – wenn aus dem jeweiligen Kontext keine ein-
deutigen Relationen zwischen Pronomen und Referenten resultieren – ist
54 Marina Foschi Albert

von unkooperativer Verwendung die Rede. Unkooperative Verwendung der


Pronomen im Text wird insofern als bewertende Kategorie angesehen, als
sie Stilzüge desselben hervorhebt, die angesichts eines Standardgebrauchs
der Sprache auffällig sind.3 In den folgenden Abschnitten (2.1-2.5) wer-
den fünf Varianten unkooperativer Verwendung von Pronomen geschildert,
d. h. solche, die in einer früheren Studie (Foschi 2009) an Hand erzähle-
rischer Texten von Franz Kafka beobachten werden konnten.

2.1. Kataphorik
Eine kataphorische Verwendung von Pronomen präsentiert sich insge-
samt nicht als Idealmodell der Kooperativität, weil darin die semantische
Funktion des Pronomens erst dann bestimmt werden kann, wenn die ent-
sprechende Nominalgruppe seine Referenz verdeutlicht. In Kafkas Texten
kann Kataphorik derart stark gedehnt werden, dass der nominale Referent
des Personalpronomens im Beispiel (5) am Ende des relativ langen
Erzählungstextes (die Abkürzung im Zitat betrifft 569 Wörter) vorkommt.

(5) Es ist, als wäre viel vernachlässigt worden in der Verteidigung unseres
Vaterlandes. Wir haben uns bisher nicht darum gekümmert und sind
unserer Arbeit nachgegangen; die Ereignisse der letzten Zeit machen
uns aber Sorgen. […] „Wie wird es werden?” fragen wir uns alle. „Wie
lange werden wir diese Last und Qual ertragen? Der kaiserliche Palast
hat die Nomaden angelockt, versteht es aber nicht, sie wieder zu ver-
treiben. Das Tor bleibt verschlossen; die Wache, früher immer festlich
ein- und ausmarschierend, hält sich hinter vergitterten Fenstern. Uns
Handwerkern und Geschäftsleuten ist die Rettung des Vaterlandes an-
vertraut [...]”. (Ein altes Blatt: 208 u. 210)4
3
  Meine früheren Studien über die Verwendung des es-Pronomens bei Franz Kafka, Fritz
Mauthner (Foschi 2009) und Sigmund Freud (Foschi 2010b), haben bei Kafkas Texte das
Primat der unkooperativen Verwendung deutlich feststellen können. Dieser Stilzug kann mit
Neumann (2011) als Charakteristik einer Sprache beschrieben werden, die sich weigert, „von
den institutionellen Ritualen der Gesellschaft stereotyp geformt oder deformiert” zu werden,
um sich „in freien, spielerischer Eigenkraft” zu entfalten (Neumann 2011: 39).
4
  Ab jetzt stammen alle Beispiele aus dem Analysekorpus (Beschreibung im Abschnitt 3).
Die aus Projekt Gutenberg-DE abgerufenen Texte der Schriftsteller Franz Kafka und
Thomas Mann sind mit den kritischen Ausgaben ihrer Werke (Kafka 1994; Mann 2004)
verglichen und dementsprechend korrigiert worden. Die angegebenen Seitenzahlen ver-
weisen auf diese Ausgaben. Die Beispiele aus Kafkas Texten werden mit Angabe der je-
weiligen Erzählung verzeichnet, aus der sie entnommen worden sind. Die Beispiele aus
Thomas Manns Erzählung Der Tod in Venedig werden durch die Sigle TiV, die Beispiele
aus den Texten der Physiker werden durch die Siglen der Autoren (Karl Schwarzschild:
KS: Hendrik Antoon Lorentz: AL; Hermann Minkowski: HM) vermerkt.
Plenarvorträge 55

2.2 Pronominale Homonymie


Homonymie besteht, wenn verschiedene Referenzketten mit identischen
morphologischen Zügen in kürzeren Kontexten erscheinen. Im Beispiel (6)
besteht die durchnummerierte Abfolge 5-11 aus identischen er-Formen,
die für zwei verschiedene Referenten stehen (vor allem bei den er-Formen
7 und 9 muss sich der Leser zweimal überlegen, ob vom Kaiser oder vom
Boten die Rede ist).

(6) Der Kaiser1 – so heißt es – hat Dir, dem Einzelnen, dem jämmerlichen
Untertanen, dem winzig vor der kaiserlichen Sonne in die fernste
Ferne geflüchteten Schatten, gerade Dir hat der Kaiser2 von seinem3
Sterbebett aus eine Botschaft gesendet. Den Boten4 hat er5 beim Bett
niederknien lassen und ihm6 die Botschaft ins Ohr zugeflüstert; so sehr
war ihm7 an ihr gelegen, daß er8 sich sie noch ins Ohr wiedersagen
ließ. Durch Kopfnicken hat er9 die Richtigkeit des Gesagten bestä-
tigt. Und vor der ganzen Zuschauerschaft seines10 Todes – alle hin-
dernden Wände werden niedergebrochen und auf den weit und hoch
sich schwingenden Freitreppen stehen im Ring die Großen des Reichs
– vor allen diesen hat er11 den Boten12 abgefertigt. (Eine kaiserliche
Botschaft: 221)
Eine andere Form der Homonymie zeigt Beispiel (7), in dem identische
ich-Formen in einem kürzeren Kontext je nach Erzähltechnik verschiedene
Funktionen ausüben: a) in der Ich-Erzählung verweist das Ich-Pronomen
auf den Ich-Erzählung (ich1, ich3, ich5); b) im inneren Monolog (ich2) ver-
weist das Ich-Pronomen wiederum auf den Ich-Erzählung; c) in den di-
alogischen Textteilen verweist das Pronomen ich auf den Sprecher: ich4
referiert somit auf den Landarzt, ich6, ich7 auf den Kutscher.

(7) Mit so schönem Gespann, das merke ich1, bin ich2 noch nie gefahren,
und ich3 steige fröhlich ein. „Kutschieren werde aber ich4, du kennst
nicht den Weg”, sage ich5. „Gewiß”, sagt er, „ich6 fahre gar nicht mit,
ich7 bleibe bei Rosa.” (Ein Landarzt: 201)

2.3 Pronominale Synonymie


Als entgegengesetzter Fall der Homonymie gilt Synonymie, bei der meh-
rere Pronominalformen auf einen einzigen Referenten hinweisen, wie in
Beispiel (8):
56 Marina Foschi Albert

(8) „Hilf ihm”, sagte ich, und das willige Mädchen eilte, dem Knecht das
Geschirr des Wagens zu reichen. Doch kaum war es bei ihm, umfaßt es
der Knecht und schlägt sein Gesicht an ihres […]. (Ein Landarzt: 201).

2.4 Scheinreferenz
Als besonderer Fall der Homonymie wird Scheinreferenz betrachtet. Es
handelt sich dabei um den alternierenden Gebrauch von identischen es-Pro-
nominalformen mit unterschiedlichen Funktionen in kürzeren Kontexten,
woraus sich – wie in (9) – semantische Erwartungen auch bei Formen von
nicht referenziellem es ergeben.

(9) Aus dem Schweinestall muß ich mein Gespann ziehen; wären es nicht
zufällig Pferde, müßte ich mit Säuen fahren. So ist es. Und ich nicke
der Familie zu. Sie wissen nichts davon, und wenn sie es wüßten, wür-
den sie es nicht glauben. (Ein Landarzt: 203)

2.5 Tautologische Referenz


Der letzte Fall unkooperativer Pronominalverwendung wird tautologi-
sche Referenz genannt. Diese ergibt sich, wenn deiktische Personalpronomen
im Text über ihre kommunikative Rolle hinaus nicht weiter determiniert
werden können. Als tautologische Pronomen werden auch diejenigen ange-
sehen, deren Referenten aus den auf generische Gegenstände der konkreten
Welt verweisenden Nomen bzw. Nominalphrasen inferiert werden können,
die im Titel enthalten sind, wie z. B. die indefinite Nominalphrase in (10)
oder die definite Nominalphrase in (11).

(10) Ich war in großer Verlegenheit […] (Ein Landarzt: 200)

(11) Es ist möglich, daß einige Leute Mitleid mit mir haben […] (Der
Kaufmann: 22)

Zwischenfazit: Die verschiedenen Typen unkooperativer Verwendung


der Pronomen bei Kafka zeigen insgesamt, dass konkrete Texte die la-
tente Mehrdeutigkeit der Pronomen zu realisieren vermögen. Das Attribut
mangelnder Kooperativität soll keineswegs als negative Bewertung des
Kommunikationspotenzials der betreffenden Texte aufgefasst werden.5 Es
5
  Bei literarischen Texten kann allerdings die Existenz eines “fiktionalen Lesepakts”
(Pérennec 2011: 51) zwischen Leser und Autor postuliert werden, der die kommunikati-
ven Maximen außer Kraft setzen würde. Während „fiktionaler Lesepakt” als poetologische
Kategorie zu interpretieren ist, geht es in meinem stilanalytischen Verfahren darum, allge-
Plenarvorträge 57

soll im Gegenteil als eine Beschaffenheit von Texten verstanden werden,


die Interesse zeigen, „effektiv” zu wirken, wenn auch auf Kosten ihrer
kommunikativen „Effizienz”.6 So können Beispiele von unkooperativem
Gebrauch von Pronomen als textuelle Indikatoren der Poetizität betrachtet
werden.

3. Korpus, Verfahren und Ergebnisse der Analyse


Die vergleichende Analyse erfolgt auf der Basis eines kleinen Korpus,
das aus 27 Erzählungen Kafkas aus der Sammlung Ein Landarzt (1919)
(= 17.873 Wörter) und aus den ersten fünf Kapiteln (= 17.901 Wörter)
der Erzählung Der Tod in Venedig (1912) von Thomas Mann besteht. Als
Vergleichsinstanz gilt ein quantitativ homogenes Korpus (17.927 Wörter)
zeitgenössischer Texte aus dem Bereich der theoretischen Physik, die
das damals aktuelle Thema der Relativitätstheorie behandeln: Über das
Gravitationsfeld eines Massenpunktes nach der Einsteinschen Theorie von
Karl Schwarzschild (1916); Das Relativitätsprinzip von Hendrik Antoon
Lorentz (1914) und Das Relativitätsprinzip von Hermann Minkowski
(1915). Gezählt wurden dabei die gesamte Anzahl und die jeweiligen
Frequenzen der folgenden Unterarten von Pronomen: Personalpronomen
und die Demonstrativa der/die/das und dieser/diese/dieses in ihren jeweils
vorkommenden Numerus- und Kasusformen; das Indefinitum man; da-Prä-
positionaladverbien mit Pro-Funktion vom Typus daran, damit, dadurch.
In den folgenden Abschnitten werden die jeweiligen Ergebnisse bezüglich
der relativen Anzahl der Pronomen tabellarisch wiedergegeben (Tab. 1-6).
Auffällige Frequenzfälle bestimmter Arten von Pronomen werden aus der
Perspektive ihrer textuellen bzw. textsortenspezifischen Funktionalität her-
vorgehoben und kommentiert (3.1). In einem nächsten Schritt (3.2) wird
auf die aus rezeptiver Sicht relevanten Phänomene der Kettenlänge und der
Pronominaldichte eingegangen.

meine Kategorien zu finden, um poetische Elemente in Texten jeder Art zu identifizieren,


nicht nur in solchen, die (tautologisch) als solche aufgefasst werden.
6
  Zu den entsprechenden Begriffen vgl. de Beaugrande/Dressler (1981: 14): „Die
Effizienz eines Textes hängt vom möglichst geringen Grad an Aufwand und Anstrengung
der Kommunikationsteilnehmer beim Gebrauch des Textes ab. Die Effektivität hängt da-
von ab, ob er einen starken Eindruck hinterläßt und günstige Bedingungen zur Erreichung
eines Ziels erzeugt.“
58 Marina Foschi Albert

3.1 Anzahl der Pronomen und Verteilung ihrer Unterarten


Die tabellarisch wiedergegebenen Ergebnisse bestätigen die Eindrücke,
die aus einer ersten Lektüre der Texte entstehen: a) Pronomen sind zahl-
reicher in den literarischen als in den wissenschaftlichen Texten; b) eine
überdurchschnittliche Menge von Pronomen – und dementsprechend laten-
ter Mehrdeutigkeit – ist in Kafkas Texten vorhanden. Die verhältnismäßig
niedrige Anzahl von Pronomen in den Texten der Physik bestätigt funk-
tionale Erwartungen gegenüber einer Typologie von Texten, die Klarheit
anstreben und aus diesem Grund den Gebrauch der schwer verständlichen
Pronomen vermeiden sollten.7

Autor Pronomen
Kafka 1.698
Mann 837
Physiker 755
Tab. 1 Gesamtzahlen der Pronomen in den untersuchten Texten

Die relativ hohe bzw. niedrige Anzahl von Pronomen sagt dennoch
nicht viel über die Verständlichkeit der Texte. Diese hängt vielmehr
von der Eindeutigkeit der Pronominalreferenz ab. Eindeutigkeit der
Referenz ist wiederum von verschiedenen Faktoren abhängig, u.a. von der
Verwendungsfrequenz unterschiedlicher Arten von Pronomen bzw. Pro-
Formen im Text. Die entsprechenden Ergebnisse sind in Tab. 2 synoptisch
dargestellt und werden in den folgenden Abschnitten einzeln berücksichtigt
und kommentiert.8

7
  Der Stiltopos der perspicuitas (als Gegensatzpol der obscuritas) des Wissenschaftsstils,
u.a. in Thomas Hobbes‘ Leviathan thematisiert, ist seit der Aufklärung verbreitet (vgl.
dazu Kretzenbacher 1995: 25).
8
  Der ebenso interessanten Frage nach dem verhältnismäßigen Vorkommen von sach-
und personenbezüglichen Personalpronomen kann hier nicht nachgegangen werden. In
Bezug darauf wird angenommen und durch grammatische Argumente begründet (Harweg
2005: 98 ff.), dass vor allem erzählerische Texte sachverweisende Personalpronomen re-
lativ selten verwenden. Eindrucksmäßig verhalten sich Kafkas Pronomen auch in diesem
Bezug auf unkonventionelle Weise, indem weibliche Pronominalformen oft auf sachliche
Gegenstände verweisen, wie es in den folgenden Beispielen der Fall ist: „ich fasse eine
Pinzette, prüfe sie im Kerzenlicht und lege sie wieder hin.” (Ein Landarzt: 202); „Den
Boten hat er beim Bett niederknien lassen und ihm die Botschaft ins Ohr zugeflüstert;
so sehr war ihm an ihr gelegen, daß er sich sie noch ins Ohr wiedersagen ließ.” (Eine
kaiserliche Botschaft: 221); „Zur Unzeit begann nun auch eine kleine Glocke von der
Grabkapelle zu läuten, aber der Künstler fuchtelte mit der erhobenen Hand und sie hörte
auf.” (Ein Traum: 233).
Plenarvorträge 59

Personalpronomen Indefinit-
adverbiale
Autor deiktische pronomen
gesamt Pro-Formen
Ausdrücke man
Kafka 1.557 817 90 51
Mann 766 33 37 32
Physiker 471 205 196 88
Tab. 2 Frequenz der unterschiedlichen Pro-Formen in den untersuchten Texten

3.1.1 Deiktische Personalpronomen


In schriftlichen Texten kann erwartet werden, dass die primären
Kommunikationspartner vor allem in sekundären, durch direkte Rede ein-
geleiteten Sprechsituationen erscheinen. Wenn man davon ausgeht, dass
die Ich-Form in der Wissenschaftssprache „verboten” ist (Weinrich 1989:
232),9 sollten wissenschaftliche Texte tendenziell keine deiktischen Formen
enthalten. Wie Tab. 2 zeigt, ist in den literarischen Texten insgesamt eine
viel höhere Anzahl der Personalpronomen mit deiktischer Funktion vorhan-
den (wobei der Kontrast zwischen der spärlichen Quantität derselben bei
Thomas Mann gegenüber der enormen Anzahl, die in Kafkas Texten ge-
zählt wurde, auffällig ist). Immerhin scheinen die Physiker dem Gebrauch
dieser Form von Personalpronomen keineswegs auszuweichen. In den un-
tersuchten Texten werden Pronominalformen der ersten und seltener der
zweiten Person relativ oft verwendet, wenngleich mit markanten individu-
ellen Präferenzen unter den Autoren (Tab. 3).

Autor deiktische Pronominalformen


ich wir du ihr / Ihr Sie
Karl Schwarzschild ∅ 1 ∅ ∅ ∅
Hendrik Antoon Lorentz 2 138 ∅ ∅ ∅
Hermann Minkowski 35 27 ∅ ∅ 2
Tab. 3 Unterschiedliche Gebrauchsfrequenz deiktischer Pronominalformen bei den
Physikern

Den deiktischen Personalpronomen der Physik können unterschied-


liche Funktionen zugewiesen werden. In (12) dienen ich und Ihnen wie im
Standardgespräch dazu, die Gesprächsrollen zu markieren. Das Pronomen
ich weist auf den Sprecher (hier: der berichtende Wissenschaftler) hin, die
9
  Nach Kretzenbacher (1995: 27) stehen in wissenschaftlichen Texten – auf Grund des
angenommenen Ich- und Du-Tabus der Wissenschaftler – weit über 90% aller Verben in
der 3. Person.
60 Marina Foschi Albert

Sie-Form auf (s)einen Adressaten, das Publikum im (fiktiven) Hörsaal.


Die gleichen Referenten werden in (13) und (14) durch die verwendeten
wir-Formen, woraus das Gefühl einer bestehenden wissenschaftlichen
Gemeinschaft entsteht. In (15) wird ein fiktiver Dialog zwischen den
Referenten A und B inszeniert, in dem das Pronomen ich auf den Sprecher
(A), die Possessivform Ihre auf seine Adressaten (B) zurückzuführen ist.
Schließlich verweist das ich-Pronomen in (16) auf einen generischen
Referenten.

(12) Das Prinzip der Relativität, über das ich Ihnen heute referieren will,
[…]. (HM)

(13) Wir wählen nun die durch die Beziehung a2-b2 = 1 miteinander ver-
knüpften Größen a und b so, daß […]. (AL)

(14) Nach dieser Vorbereitung können wir zur Besprechung von Einsteins
Betrachtungen über die Schwerkraft übergehen. (AL)

(15) A könnte zu B sagen: ich habe deutlich gesehen, daß Ihre Maßstäbe
kürzer waren als die meinigen. B sagt aber dasselbe zu A, und die
Diskussion wäre wieder hoffnungslos. (AL)

(16) Es seien Wx, Wy, Wz die Komponenten der Geschwindigkeit an einer


Stelle der Materie, w die Größe der Geschwindigkeit, so würde ein
Vektor im Raume dem nur bei wirklicher Bewegung, nicht jedoch im
Falle der Ruhe entsprechen. Ich will nun aber statt dessen einen vierdi-
mensionalen Vektor in Betracht ziehen; ich nehme gleich das wesentli-
che Resultat vorweg, daß Geschwindigkeiten der Materie gleich oder
größer als die Lichtgeschwindigkeit sich als ein Unding erweisen, daß
also stets w < 1 sein muß. (HM)

In literarischen Erzähltexten müssen die Referenten der jeweiligen


ich-Formen je nach Erzählform bestimmt werden. In den erzählerischen
Textteilen verweist das Pronomen ich auf den Erzähler, in den dialogi-
schen Textteilen auf die (fiktiven) Gesprächsrollen. Die abwechselnde
Erzählform kann dennoch kooperativ wirken, wenn die Relationen zwi-
schen Gesprächsrollen und Referenten wie in (15) deutlich sind. In der
Erzählung Tod in Venedig kommen Deiktika selten vor und üben zwei
Hauptfunktionen aus. Beispielsweise in (17) und (18) – Textpassagen, die
dialogischen Textteilen entsprechen – weisen sie auf Gesprächsrollen, de-
Plenarvorträge 61

ren Referenten im Text als zwei bestimmten Erzählfiguren unproblema-


tisch identifiziert werden können: in (17) nämlich als der Coiffeur und
Aschenbach. Analog kann in (18) Der Knabe als Referent des du-Prono-
mens und Adressat des stillen fiktiven Gesprächs des Protagonisten leicht
erkannt werden. Nicht gleichsam leicht zu identifizieren ist dagegen der
Referent der zwei wir-Formen in (19), genauer gesagt, es ist in diesem
engen Kontext nicht völlig eindeutig, wer Adressat des Ich-Erzählers
ist: die Leser? die anderen Schriftsteller? die ganze Menschheit?10
Zusammenfassend kann die Verwendung der Deiktika bei Mann als poly-
funktional und teilweise als unkooperativ angesehen werden.

(17) Eines Tages dann fing er beim Coiffeur, den er jetzt häufig besuchte,
im Gespräche ein Wort auf, das ihn stutzig machte. Der Mann hatte
einer deutschen Familie erwähnt, die soeben nach kurzem Verweilen
abgereist war, und setzte plaudernd und schmeichelnd hinzu: “Sie blei-
ben, mein Herr; Sie haben keine Furcht vor dem Übel.” Aschenbach
sah ihn an. (TiV: 563)

(18) Der Knabe fehlte. / Aschenbach lächelte. Nun kleiner Phäake! dachte
er. Du scheinst vor diesen das Vorrecht beliebigen Ausschlafens zu
genießen. (TiV: 534)

(19) Stand nicht geschrieben, daß die Sonne unsere Aufmerksamkeit


von den intellektuellen auf die sinnlichen Dinge wendet? Sie betäu-
be und bezaubere, hieß es, Verstand und Gedächtnis dergestalt, daß
die Seele vor Vergnügen ihres eigentlichen Zustandes ganz vergesse
und mit staunender Bewunderung an dem schönsten der besonnten
Gegenstände hangen bleibe: ja, nur mit Hilfe eines Körpers vermöge
sie dann noch zu höherer Betrachtung sich zu erheben. Amor fürwahr
tat es den Mathematikern gleich, die unfähigen Kindern greifbare
Bilder der reinen Formen vorzeigen: So auch bediente der Gott sich,
um uns das Geistige sichtbar zu machen, gern der Gestalt und Farbe
menschlicher Jugend, die er zum Werkzeug der Erinnerung mit allem

  Die Frage nach dem Referenten des wir-Pronomens kann mit Bezug auf Textstellen
10

erklärt werden, die den Gedankenfluss der Erzählfigur Aschenbach und seine platonischen
Reminiszenzen wiedergeben. Im folgenden Beispiel wird der Referent explizit ausge-
drückt: „Aber Form und Unbefangenheit, Phaidros, führen zum Rausch und zur Begierde,
führen den Edlen vielleicht zu grauenhaftem Gefühlsfrevel, den seine eigene schöne
Strenge als infam verwirft, führen zum Abgrund, zum Abgrund auch sie. Uns Dichter,
sage ich, führen sie dahin, denn wir vermögen nicht, uns aufzuschwingen, wir vermögen
nur auszuschweifen.“ (TiV: 589).
62 Marina Foschi Albert

Abglanz der Schönheit schmückte und bei deren Anblick wir dann
wohl in Schmerz und Hoffnung entbrannten. (TiV: 553-554)

Weniger eklektisch scheint die funktionale Verwendung der deiktischen


Pronomen bei Kafka. Dafür kann die Anhäufung derselben in kürzeren
Textpassagen, wie z. B. die außergewöhnliche Dichte der ich-Formen im
bereits beobachteten Beispiel (7), zu einer gewissen Unsicherheit bei der
Zuweisung der Gesprächsrollen führen.

3.1.2 Personalpronomen und demonstrative Pronomen der dritten Person


Da Demonstrativa typische Mittel der gesprochenen Sprache sind
(Weinrich 1993: 385), wird in allen untersuchten Texten eine niedrige
Frequenz derselben erwartet. Auffällig ist deshalb ihr relativ häufiges
Vorkommen in den Texten der Physik, wobei es sich vor allem – wie die
tabellarischen Angaben zeigen (Tab. 4) – um Demonstrativa des Typus
dieser/diese/dieses handelt, die die expressive Fähigkeit besitzen, auch
in schriftlichen Texten auf einen zeitlich oder räumlich naheliegenden
Gegenstand zu verweisen (Duden 82009: 286).

ge- die- die- dies/ ge-


Autor er sie Es Pl. der die das Pl. Pl.
samt ser se es samt
Kafka 296 30 134 106 566 4 ∅ 52 ∅ 3 ∅ 8 1 68
Mann 504 38 24 43 609 1 ∅ 18 ∅ 2 2 10 1 34
KS ∅ 1 ∅ 2 ∅ ∅ 2 ∅ ∅ ∅ 1 ∅
AL 45 21 16 23 ∅ ∅ 4 ∅ 4 4 32 1
HM 8 1 7 6 ∅ ∅ 1 ∅ ∅ ∅ 3 ∅
Physiker
53 24 23 31 131 ∅ ∅ 7 ∅ 4 4 36 1 52
gesamt
Tab. 4 Frequenz der Personalpronomen und der Demonstrativa
in den untersuchten Texten

Die relativ seltenen Demonstrativprononima der literarischen Texte


erscheinen vorwiegend in ihren dialogischen Teilen, in denen sie ersicht-
lich dazu dienen, den Gesprächsduktus nachzuahmen. Beispiele dieser Art
kommen bei beiden Autoren vor, wie (20) und (21) zeigen:

(20) „Ich habe aber gehört, daß man sie auffüttern kann.” / „Da sind
Sie gut berichtet. Das kann man. Aber wer wird das machen?”
(Unglücklichsein: 35)
Plenarvorträge 63

(21) „Ich fahre Sie gut.“ / Das ist wahr, dachte Aschenbach und spannte
sich ab. Das ist wahr, du fährst mich gut. (TiV: 526)

In den Texten der Physik scheinen die demonstrativen Pronomen die


Funktion auszuüben, eindeutige Relationen zwischen den Referenten
herzustellen. Beispielsweise verweist dieser in (22) auf den Nahbereich.
Daraus wird der Bezug des Pronomens zu der am nächsten liegenden mor-
phologisch passenden Nominalgruppe (einen Stab) deutlich ausgedrückt
(Duden 2009: 286).

(22) Wir denken, daß A einen Stab hat; dieser ruht für ihn und liegt auf der
z-Achse […] (AL)

3.1.3 Phorische und leere es-Formen


Tab. 5 zeigt das Verhältnis von phorischen es-Formen, die auf ein Nomen
bzw. eine Nominalphrase oder eine Textstelle hinweisen, und leeren es-
Formen, die nur grammatische und keine verweisende Funktion ausüben.
Gemäß den Angaben erscheinen rein grammatische es-Formen mit jeweils
88, 90 und 83 Okkurrenzen in den quantitativ vergleichbaren Korpora als
gleichmäßig verteilt. Was das Frequenzverhältnis zwischen den zwei funk-
tionalen es-Typen angeht, fällt die Höhe desselben in Kafka auf11.

es leeres es %
Kafka 134 88 1,5%
Mann 24 90 0.3%
Physik gesamt 23 83 0.3%
Tab. 5 Frequenz der phorischen und der leeren es-Formen

Unauffällig ist das Verhalten der es-Formen bei Thomas Mann.


Bemerkenswert ist es dagegen, dass die wissenschaftlichen Texte es (bzw.
das/dies/dieses) als formales Subjekt in einer syntagmatischen Verbindung
mit Konjunktiv I-Formen der Verben sein (23) oder mögen (24) routiniert
gebrauchen, in der der Konjunktiv als Ausdruck von Konditionalität ver-
wendet wird. Daraus resultieren es sei/es möge-Konstruktionen, die ty-
pischerweise als einleitender Ausdruck für die Darstellung theoretischer
Modellbildungen dienen, und formale Eigenschaften, die bestimmte se-

11
  Die Angaben sollten allerdings einzeln überprüft werden, weil es in manchen Fällen
richtig schwierig ist, die jeweilige Funktionalität der es-Formen zu erkennen, was hier als
Phänomen der Scheinreferenz erklärt wurde.
64 Marina Foschi Albert

mantische Erwartungen erwecken: Ihr Auftauchen gilt für den Leser als
Zeichen, dass eine Demonstration folgt. Derartige sei/möge-Konstruktionen
mit es-Subjekt kommen in den beobachteten literarischen Texten nicht vor.

(23) Es seien Wx, Wy, Wz die Komponenten der Geschwindigkeit an einer


Stelle der Materie, w die Größe der Geschwindigkeit, so würde ein
Vektor im Raume dem nur bei wirklicher Bewegung, nicht jedoch im
Falle der Ruhe entsprechen. (HM)

(24) Es mögen nun A und B dieselbe Erscheinung betrachten. (AL)

3.1.4 Das Indefinitpronomen man


Die Frequenz des Indefinitpronomens man (Tab. 2) ist erwartungsgemäß
(vgl. 3.1.1 und Fußnote 9) höher bei den Physikern. Das man-Subjekt der
Physik bezieht sich eindeutig – wie in (25) – auf die neutrale Handlung
einer nicht näher bestimmten Person.

(25) Die Lösung ist räumlich symmetrisch um den Anfangspunkt des


Koordinatensystems in dem Sinne, daß man wieder auf dieselbe
Lösung stößt, wenn man X1, X2, X3 einer orthogonalen Transformation
(Drehung) unterwirft. (KS)

Anders steht es bei den Schriftstellern, die die potenziale mehrfache


Expressivität des Indefinitpronomens man ausgiebig ausnutzen. Diese kann
nach Duden (2009: 320) von der Vertretung des eigenen Ichs bis zur ge-
samten Menschheit reichen. Sowohl bei Kafka als bei Mann können unter-
schiedliche Funktionen von man beobachtet werden. Im Beispiel (26) steht
die erste man-Form für ein generisches Subjekt, wobei die Formulierung
man kann nicht sagen als es kann nicht gesagt werden paraphrasiert werden
kann. Das man-Subjekt der Verbalform tritt muss hingegen in Relation zum
Pronomen wir und dessen Referenten (die Handwerker und Geschäftsleute)
stehen, damit dem Satz ein gewisser Sinn zugeschrieben werden kann. Auch
in Thomas Mann können man-Formen mit unterschiedlicher Funktion be-
obachtet werden. In Beispiel (27) dient man als das unpersönliche Agens
des Satzes man kann sagen. Dagegen verweist man in (28) auf einen be-
stimmten Referenten (die an einer früheren Stelle genannten Stewards der
Dampfer). Ein derartig personaler man-Gebrauch kann mehr oder weni-
ger bestimmt sein. In (29) kann (oder kann nicht) die Relation zwischen
man und der Hauptfigur erstellt werden. Dieser Funktionalgebrauch von
man erweist sich bei Kafka als entschieden unkooperativ, wenn er ande-
Plenarvorträge 65

ren Pronominalformen in einem kürzeren Kontext alterniert wird, z. B.


die Abfolge wir-man in (30), was Pronominalsynonymie und eine gewisse
Referenzunsicherheit verursacht.

(26) Man kann nicht sagen, daß sie [die Nomaden] Gewalt anwenden. Vor
ihrem Zugriff tritt man beiseite und überläßt ihnen alles. (Ein altes
Blatt: 209)

(27) man kann sagen, daß seine ganze Entwicklung ein bewußter und trot-
ziger, alle Hemmungen des Zweifels und der Ironie zurücklassender
Aufstieg zur Würde gewesen war. (TiV: 512)

(28) Schon nach einer Stunde spannte man ein Segeldach aus, da es zu reg-
nen begann. (TiV: 520)

(29) Eine Stunde verging, bis sie [die Barke des Sanitätsdienstes] erschien.
Man war angekommen und war es nicht; man hatte keine Eile und
fühlte sich doch von Ungeduld getrieben. (TiV: 521)

(30) Alles war gleichmäßig erwärmt, wir spürten nicht Wärme, nicht Kälte
im Gras, nur müde wurde man. (Kinder auf der Landstraße: 15)

3.1.5 Präpositionaladverbien mit Pro-Funktion


Da Präpositionaladverbien mit da als Indikatoren von Textkohärenz die-
nen können, kann erwartet werden, dass sie häufiger in den klarheitsanstre-
benden Texten der Physik als in den erzählerischen Texten erscheinen. Eine
Tendenz dieser Art wird von den Untersuchungsergebnissen bestätigt (Tab.
6), obwohl der Unterschied der jeweiligen Frequenzen nicht überwältigend
groß ist. Die Varietät der adverbialen Pro-Formen erscheint als minimal
(12) bei Kafka und als maximal (17) bei Mann; die Texte der Physik ent-
halten 15 verschiedene Typen derselben. Man kann daraus entnehmen, dass
Thomas Mann das rhetorische Prinzip des variatio delectat auch auf gram-
matischer Ebene, nämlich was die Auswahl der Präpositionaladverbien be-
trifft, gelten lässt.
66 Marina Foschi Albert

gesamt
Kafka [Romane]12 Mann Physiker gesamt
(lit. Korpus)
dabei 5 [102] 3 8 22 30
dadurch 5 [114] 0 5 9 14
dafür 7 [95] 2 9 4 13
dagegen 2 [77] 0 2 1 3
daher 0 [63] 2 2 4 6
dahin 0 [10] 1 1 1 2
damit 11 [226] 6 17 14 31
danach 2 [16] 0 2 1 3
daneben 0 [6] 0 0 1 1
daran 5 [157] 3 8 2 10
darauf 3 [147] 2 5 6 11
daraus 0 [13] 0 0 2 2
darein 0 [0] 1 1 0 1
darin 0 [96] 3 3 3 6
darüber 1 [126] 1 2 2 4
darum 3 [43] 2 5 1 6
darum 0 [12] 1 1 0 1
davon 4 [120] 2 6 11 17
dazu 3 [102] 1 4 4 8
dazwischen 0 [6] 2 2 0 2
gesamt 51 32 88
Tab. 6 Frequenz der Präpositionaladverbien mit Pro-Funktion
in den untersuchten Texten12

Was die Auswahl der einzelnen Adverbien angeht, erscheint damit als
die am häufigsten vorkommende Form, ein Befund, den die Angaben von
Lenders/Schanze/Schwerte (1993) bestätigen. Die relativ am häufigsten
rekurrierende Form ist das Präpositionaladverb dabei der Physik, womit
seine Beschaffenheit als typisches Sprachmittel der Wissenschaftssprache
mit wissensorganisatorischer Funktion (Redder 2009: 195) auch unter
Berücksichtigung anderer Ergebnisse (Bongo 2011) empirisch bestätigt
wird.13
12
  Die Werte der Präpositionaladverbien mit Pro-Funktion können in diesem Fall mit den
Konkordanz-Angaben betreffend Kafkas Romanen Der Verschollene – Der Prozeß – Das
Schloß nach Lenders / Schanze / Schwerte (1993) verglichen werden (eckige Klammern).
Andere Ergebnisse sind nicht vergleichbar, weil darin die jeweiligen Serien ich/du/er/sie/
es/wir/ihr/sie und mein/dein/sein/unser/ euer/ihr unter einem einzigen Lemma zusammen-
gefasst, Demonstrativpronomen zusammen mit homographen bestimmten Artikeln und
Relativpronomen unter dem Lemma der/die/das eingeordnet worden sind.
13
  Entsprechende Angaben können aus einer empirischen Untersuchung über die
Konnektoren der Wissenschaftssprache (Bongo 2011: 267 ff) entnommen werden. Dort
Plenarvorträge 67

3.2 Pronominaldichte und Kettenlänge


Pronominaldichte und Kettenlänge sind wichtige Faktoren der
Textverständlichkeit.14 Unkooperative Verwendung der Pronomen kann vor
allem da beobachtet werden, wo Pronominaldichte in kürzeren Kontexten
vorliegt. Lange pronominale Referenzketten scheinen in den wissenschaft-
lichen Texten relativ selten zu sein. Beispiel (31) zeigt einen Ausnahmefall.
Die Pronominalkette im Text, die zwischen der Benennung des Referenten
durch die Nominalphrase die schon öfters genannten Beobachter A und B
und der Renominalisierung durch A und B enthalten ist, besteht aus sieben
einschlägigen Formen vom Plural-Pronomen sie bzw. von dem Numeral-
Pronomen beide. Der Text zeigt insgesamt eine gewisse Pronominaldichte,
da in der Umgebung der Pronominalkette auch andere Pronominalformen
(z. B. wir, es, es, es) vorkommen. Die Pronomen werden allerdings auf
kooperative Weise verwendet.

(31) Stellen wir uns also vor, daß die schon öfters genannten Beobachter
A und B ihre1 Gedanken austauschen können. Dann wird zwischen ih-
nen2 eine Diskussion eintreten können über die Frage, wer von beiden3
sich bewegt hat und wer nicht. Es ist klar, daß, wenn nichts anderes
da ist als sie4 und ihre5 Laboratorien, diese Frage sinnlos ist. Gibt es
aber einen Äther, der noch so viel Substanzialität besitzt, daß es einen
Sinn hat, von Bewegung relativ zu demselben zu reden, so würde die
Frage: wer hat sich relativ zum Äther bewegt, wohl einen Sinn ha-
ben. Die Frage, wer von beiden6 sich relativ zum Äther bewegt hätte,
oder ob beide7 sich relativ zum Äther bewegt hätten, könnte aber (das
Relativitätsprinzip ist hier immer als allgemeingültig vorausgesetzt)
von A und B wieder nicht entschieden werden. (AL)

Pronominaldichte, die zu einem unkooperativen Gebrauch der Pronomen


führt, kann bei den Physikern sehr selten aufgezeichnet werden. Ein
Beispiel bietet (32), in dem eine Nominalphrase (der Zeiger einer Uhr) und
zwei Namen (A, B) auftauchen, die mögliche Referenten von identischen

wurde unter den insgesamt 10.182 Wörtern, die in 20 Einleitungstexten von wissenschaft-
lichen Zeitschriftenartikeln enthalten sind, die jeweilige Frequenz der folgenden da-Prä-
positionaladverbien registriert: dabei (16x); damit (12x); dagegen (4x); dafür, daher (2x);
danach, daneben, dazu (1x).
14
  Die vorliegenden Beobachtungen über Pronominaldichte, Kettenlänge und
Renominalisierung entstehen aus analytischen Eindrücken, die noch empirisch abgesichert
und generalisiert werden müssen.
68 Marina Foschi Albert

er-Pronominalformen sind: Der nominale Bezug des Possessivs seines2 ist


dabei (mindestens für Laien der Physik) nicht eindeutig.

(32) Der Zeiger einer Uhr, die relativ zu A keine Translationsbewegung


hat, läuft in einem Zeitintervall T herum (der Zeiger wird so klein
gedacht, daß wir für all seine1 Punkte x, y und z = 0 setzen kön-
nen). An derselben Uhr kann nun B beobachten, daß, während sie
in dem Ursprung seines2 Koordinatensystems steht, der Zeiger eine
bestimmte Lage in den Momenten
(21) t´1 = 0, t´2 = T
erreicht. (AL)

Typisch für Kafkas Texte ist Pronominaldichte innerhalb von Kontexten,


in denen meistens sehr kurze Pronominalketten ineinanderfließen und
auf verschiedene Referenten hinweisen. Daraus ergeben sich zahlreiche
Beispiele der unkooperativen Verwendung von Pronomen, wie beispiels-
weise in (33): a) Homonymie der wir1- und wir3-Ketten sowie der ich1- und
ich3-Ketten, wobei wir-ich1 auf den Ich-Erzähler, wir-ich3 hingegen auf die
Figur Ein Schakal verweist; b) Homonymie von er2 und er3, die auf zwei
verschiedene Referenten (ein Araber / einer) Bezug nehmen; c) Homonymie
der weiblichen Possessivform ihre4 (die sich auf die Nominalphrase meine
Mutter bezieht) und der Pluralform ihre5 (die als Referent meine Mutter
[…] und ihre Mutter hat); d) Synonymie von er3 und ich3, Ko-Referenten
von Einer (seinerseits auf ein Schakal bezogen); e) Synonymie von ich1
und den du1-Formen, die sich auf den Ich-Erzähler beziehen; f) tautologi-
sche Referenz der ersten wir- und ich-Formen; g) tendenziell tautologische
Determiniertheit der Pronomen Einer und er3, deren Semantik mit Bezug
auf ein Schakal zu rekonstruieren ist; h) dasselbe gilt für er2 → ein Araber.

(33) Wir1 lagerten in der Oase. Die Gefährten schliefen. Ein Araber2,
hoch und weiß, kam an mir1 vorüber; er2 hatte die Kamele versorgt
und ging zum Schlafplatz.
Ich1 warf mich rücklings ins Gras; ich1 wollte schlafen; ich1 konn-
te nicht; das Klagegeheul eines Schakals in der Ferne; ich1 saß wie-
der aufrecht. Und was so weit gewesen war, war plötzlich nah. Ein
Gewimmel von Schakalen3 um mich1 her; in mattem Gold erglänzende,
verlöschende Augen; schlanke Leiber, wie unter einer Peitsche gesetz-
mäßig und flink bewegt.

Einer3 kam von rückwärts, drängte sich, unter meinem1 Arm durch,
Plenarvorträge 69

eng an mich1, als brauche er3 meine1 Wärme, trat dann vor mich1 und
sprach, fast Aug in Aug mit mir1:
„Ich3 bin der älteste Schakal, weit und breit. Ich3 bin glücklich, dich1
noch hier begrüßen zu können. Ich3 hatte schon die Hoffnung fast auf-
gegeben, denn wir3 warten unendlich lange auf dich2; meine3 Mutter
hat gewartet und ihre4 Mutter und weiter alle ihre5 Mütter bis hinauf
zur Mutter aller Schakale. Glaube es!” (Schakale und Araber: 213)

In diesem Textbeispiel kommt Renominalisierung nicht vor. In den


Texten, wo das Phänomen beobachtet werden kann, scheint Renomina­
lisierung bei Kafka nicht immer zu kooperativen Zwecken verwendet
zu werden. Beispielsweise wird in (34) das durch die Nominalphrase
der Kaiser eingeführte Thema in der direkten Abfolge der Referenzkette
zweimal identisch realisiert (der Kaiser1, der Kaiser2). Eine ähnliche
Wiederholung ergibt sich bei den Boten12 und Der Bote13. In Kafkas Texten
scheint Renominalisierung ausgerechnet dann realisiert zu werden, wenn
es aus kommunikativer Sicht nicht nötig wäre. Als Pendant dazu existieren
wirre, ununterbrochene Pronominalketten wie etwa die Abfolge er5-er9.

(34) Der Kaiser1 – so heißt es – hat Dir, dem Einzelnen, dem jämmerlichen
Untertanen, dem winzig vor der kaiserlichen Sonne in die fernste
Ferne geflüchteten Schatten, gerade Dir hat der Kaiser2 von seinem3
Sterbebett aus eine Botschaft gesendet. Den Boten4 hat er5 beim Bett
niederknien lassen und ihm6 die Botschaft ins Ohr zugeflüstert; so sehr
war ihm7 an ihr gelegen, daß er8 sich sie noch ins Ohr wiedersagen
ließ. Durch Kopfnicken hat er9 die Richtigkeit des Gesagten bestätigt.
Und vor der ganzen Zuschauerschaft seines10 Todes – alle hindern-
den Wände werden niedergebrochen und auf den weit und hoch sich
schwingenden Freitreppen stehen im Ring die Großen des Reichs –
vor allen diesen hat er11 den Boten12 abgefertigt. Der Bote13 hat sich
gleich auf den Weg gemacht; ein kräftiger, ein unermüdlicher Mann14;
einmal diesen, einmal den andern Arm vorstreckend schafft er15 sich
Bahn durch die Menge; findet er16 Widerstand, zeigt er17 auf die Brust,
wo das Zeichen der Sonne ist; er18 kommt auch leicht vorwärts, wie
kein anderer. (Der Kaiser und der Bote: 221)

In Thomas Manns Texten ist Pronominaldichte anders verteilt als bei


Kafka. In seiner Erzählung können oft relativ lange Referenzketten beo-
bachtet werden, deren Pronomen-Abfolgen auf kooperative Weise durch
Renominalisierung unterbrochen werden, wenn konkurrierende Kandidaten
70 Marina Foschi Albert

für dasselbe Pronomen auftauchen – wie es z. B. in (35) der Fall ist: seiner
[…] des Willens […] der Schriftsteller […] seinem.

(35) Gustav Aschenbach oder von Aschenbach, wie seit seinem


fünfzigsten Geburtstag amtlich sein Name lautete, hatte an einem
Frühlingsnachmittag des Jahres 19.., das unserem Kontinent monate-
lang eine so gefahrdrohende Miene zeigte, von seiner Wohnung in der
Prinzregentenstraße zu München aus allein einen weiteren Spaziergang
unternommen. Überreizt von der schwierigen und gefährlichen, eben
jetzt eine höchste Behutsamkeit, Umsicht, Eindringlichkeit und
Genauigkeit des Willens erfordernden Arbeit der Vormittagsstunden,
hatte der Schriftsteller dem Fortschwingen des produzierenden
Triebwerkes in seinem Innern, jenem “motus animi continuus”, wo-
rin nach Cicero das Wesen der Beredsamkeit besteht, auch nach der
Mittagsmahlzeit nicht Einhalt zu tun vermocht und den entlastenden
Schlummer nicht gefunden, der ihm, bei zunehmender Abnutzbarkeit
seiner Kräfte, einmal untertags so nötig war. So hatte er bald nach
dem Tee das Freie gesucht, in der Hoffnung, dass Luft und Bewegung
ihn wiederherstellen und ihm zu einem ersprießlichen Abend verhelfen
würden. (TiV: 501)

Text (35) stellt ein typisches Beispiel für den Erzählungstext Der Tod in
Venedig dar, in dem oft lange er-Pronominalketten mit Verweis auf das eine
Thema Gustav von Aschenbach nachgewiesen werden können. Oft werden
die Pronominalketten durch Renominalisierung unterbrochen. Diese ergibt
sich durch verschiedene Nominalausdrücke, die für denselben Referenten
Gustav von Aschenbach synonymisch stehen, u.a.: der Wartende (TiV: 501),
der Autor (TiV:507, 512), der Schöpfer (TiV: 507), der Dichter (TiV: 508),
der Künstler (TiV: 507); der Verfasser (TiV: 508), der Schauende (TiV:
530, 592), der Reisende (TiV: 518, 525, 528, 545, 547), der Aufbrechende
(TiV: 544), der Alternde (TiV: 545), der Flüchtling (TiV: 548), der Gast
(TiV: 549, 570, 585), der Betrachtende (TiV: 552), der Enthusiasmierte
(TiV: 554), der, welcher dies Lächeln empfangen (TiV: 562), der Verwirrte
(TiV: 567), der Betörte (TiV: 569), der Einsame (TiV: 570, 573, 574, 575),
der Verliebte (TiV: 572), der Starrsinnige (TiV: 577), der Heimgesuchte
(TiV: 584), der Berückte (TiV: 586), der Meister (TiV: 588), der würdig ge-
wordene Künstler (TiV: 588). Auf ähnliche Weise wird der Antagonist der
Erzählung (Tadzio) durch verschiedene Ausdrücke thematisiert. Bei ihrem
ersten Auftritt wird die Erzählfigur als ein langhaariger Knabe von viel-
leicht vierzehn Jahren vorgestellt (TiV: 529), gleich danach und mehrmals
Plenarvorträge 71

im Text wird sie als der Knabe (TiV: 530, 532, 534, 537, 588) bezeichnet,
später durch andere Nominalphrasen genannt, darunter: der Langschläfer
(TiV: 534), der Knabe Tadzio (TiV: 550), der Ausgezeichnete (TiV: 552),
das Idol (TiV: 556), der Schöne (TiV: 556 560, 561 565, 587), der schwä-
chere Schöne (TiV: 591), der Abgott (TiV: 563), der bleiche und liebliche
Psychagog (TiV: 592). Aus dem in der Erzählung häufig vorkommenden
Gebrauch von Nominalgruppen mit Determinativa zur Bezeichnung der
vorwiegend männlichen Schlüsselfiguren (u.a. der Fremde, der falsche
Jüngling, der Gondelführer) ergibt sich eine gewisse Referenz-Ambiguität,
wenn die Figuren zusammen mit dem männlichen Protagonist in kürzeren
Kontexten erscheinen. Daraus entstehen zudem homonyme er-Pronomi-
nalketten, wie beispielsweise in (36) die erste er-Kette, die auf Aschenbach
hinweist, und die zweite, die auf den „falschen Jüngling” (hier als der
schauderhafte Alte bezeichnet) verweist. An der Stelle, wo die beiden er-
Ketten parallel ablaufen (er1 […] des schauderhaften Alten2 […] den2 […]
dem Fremden1), ist eine gewisse Referenzambiguität wahrnehmbar, die
teilweise auch bei dem Erscheinen eines dritten maskulinen Pronomen der
dritten Person (der3) spürbar ist.

(36) Aschenbach1 gab zu verstehen, dass er1 eine Gondel wünsche, die ihn1
und sein Gepäck zur Station jener kleinen Dampfer bringen solle, wel-
che zwischen der Stadt und dem Lido verkehren; denn er1 gedachte
am Meere Wohnung zu nehmen. Man billigt sein1 Vorhaben, man
schreit seinen1 Wunsch zur Wasserfläche hinab, wo die Gondelführer
im Dialekt miteinander zanken. Er ist noch gehindert, hinabzustei-
gen, sein1 Koffer hindert ihn1, der3 eben mit Mühsal die leiterartige
Treppe hinunter gezerrt und geschleppt wird. So sieht er1 sich minu-
tenlang außerstande, den Zudringlichkeiten des schauderhaften Alten2
zu entkommen, den2 die Trunkenheit dunkel antreibt, dem Fremden1
Abschiedshonneurs zu machen. “Wir wünschen den glücklichsten
Aufenthalt”, meckert er2 unter Kratzfüßen. “Man empfiehlt sich ge-
neigter Erinnerung! Au revoir, excusez und bon jour, Euer Exzellenz!”
Sein2 Mund wässert, er2 drückt die Augen zu, er2 leckt die Mundwinkel,
und die gefärbte Bartfliege an seiner2 Greisenlippe sträubt sich empor.
(TiV: 522-523)
72 Marina Foschi Albert

4. Schlussbemerkung
Zusammenfassend klassifizieren wir die dargestellten Beobachtungen
in zwei Blöcke, und zwar: 1. Beispiele von kooperativer Verwendung
von Pronomen, die die Herstellung eindeutiger Beziehungen zwischen
Pronomen und Referenten fördern; 2. Beispiele von unkooperativer
Verwendung, die mehrdeutige Relationen ermöglichen. Die Elemente der
beiden Blöcke entsprechen keinen exklusiven Eigenschaften der zwei un-
tersuchten Texttypologien, obwohl sie sich als dienlich erweisen können,
um textsortenspezifische Charakteristiken hervorzuheben, Leseeindrücke
zu systematisieren und Textinterpretationen intersubjektiv zu belegen.
Zum ersten Block gehören: a) der Gebrauch von demonstrativen
Pronomen als Ausdruck eindeutiger Nähe/Ferne-Relationen; b) der rou-
tinierte Gebrauch von es + Konjunktiv I von sein/mögen; c) der routi-
nierte Gebrauch von dabei als argumentatives Mittel. Zum zweiten Block:
a) die Polyfunktionalität der deiktischen Personalpronomen und des
Indefinitpronomens man, vor allem wenn sie in einem kurzen Kontext er-
scheinen; b) die Verwendung von demonstrativen Pronomen zum Zweck
der realistischen Darstellungsweise der Gesprächssituation, wenn der Text
die fiktiven Gesprächspartner und -beiträge nicht deutlich signalisiert, die-
se letzten von den erzählerischen Textteilen grafisch nicht klar abgrenzt;
c) die textuelle Aufhäufung von es-Pronomen, dabei das Phänomen der
Scheinreferenz; d) aus kooperativer Sicht unmotiviert vorkommende
Renominalisierung bzw. unmotivierte thematische Wiederaufnahme durch
Wiederholung; f) Pronominaldichte in kürzeren Kontexten.

Literatur
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Mann, Th. (2004) Der Tod in Venedig. In Frühe Erzählungen 1893-1912. Herausgegeben
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Thomas Mann Große kommentierte Frankfurter Ausgabe. Werke – Briefe – Tagebücher.
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Schwarzschild, K. (1916) Über das Gravitationsfeld eines Massenpunktes nach der
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Wissenschaften vom 3. Februar 1916. In: http://de.wikisource.org.
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zu Haarlem von Hendrik 1914. In: http://de.wikisource.org.
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http://de.wikisource.org.
Małgorzata Guławska-Gawkowska (Warszawa)

Semantische Aspekte im Vergleich


von deutschen und polnischen Phraseologismen

Eine absolute zwischensprachliche Äquivalenz gibt es in der


Phraseologie genau so selten wie eine totale Synonymie in der Lexik ein­
er Sprache. Sogar die in zweisprachigen Wörterbüchern traditionell als
äquivalent belegten Idiompaare können bei der genauen Analyse gewisse
Differenzen aufweisen. Diese Unterschiede werden in den zugänglichen
phraseologischen Wörterbüchern für das Sprachenpaar Deutsch-Polnisch,
die einen semasiologischen Charakter haben, nicht erfasst. Bei Idiomen,
die einen gewissen Grad an Ähnlichkeit aufweisen, signalisiert z. B. das
Wörterbuch von Czochralski/Ludwig mit dem Zeichen ± eine vom deut-
schen Phraseologismus abweichende Struktur der polnischen Entsprechung,
und im Werk von Ehegötz u.a. für die umgekehrte Sprachenrichtung finden
wir eine eindeutige verbale Markierung nicht identisch mit..., wenn es sich
um falsche Freunde im Polnischen und Deutschen handelt; in beiden Fällen
konzentrieren sich die Verfasser auf die Ausdrucksseite der Idiome.
Wenn laut der kognitiven Phraseologie angenommen wird, dass erstens
die lexikalisierte Bedeutung und zweitens das mentale Bild bei Phraseo­
logismen ausschlaggebend sind und demnach auch beim konfrontativen
Vergleich eine Hauptrolle spielen sollten, steht eine onomasiologische
Vorgehensweise in der Lexikografie im Vordergrund. Das Phänomen der
falschen Freunde muss dabei neu diskutiert werden. Neben phraseolo-
gischen falschen Freunden im engeren Sinne, bei denen eine fast identische
Bildlichkeit vorkommt, aber unterschiedliche lexikalisierte Bedeutungen
ausgedrückt werden, müssen auch Fälle berücksichtigt werden, in denen
Plenarvorträge 75

nicht alle Bedeutungsnuancen bei der Zusammenstellung im Wörterbuch


erfasst werden, z. B. Quasisynonymie und asymmetrische Polysemie1.
Diese drei Phänomene veranschaulichen Kontraste in der lexikalisierten
Bedeutung, die die Spanne zwischen völliger Nonäquivalenz bis zur par-
tiellen Äquivalenz umfassen. Darüber hinaus kann auf Kontraste in der
Bildlichkeit bei Phraseologismen hingewiesen werden, die auf die gleiche
konzeptuelle Struktur zurückgeführt werden können, aber trotzdem nicht in
allen Kontexten austauschbar sind, und auf Kombinationen semantischer
Kontraste, bei denen konkrete Bilder die gleiche konzeptuelle Grundlage
veranschaulichen und sich zusätzlich in lexikalisierten Bedeutungen unter-
scheiden (Dobrovol’skij/Piirainen 2009: 151-152).

1. Zwischensprachliche Quasisynonymie
Im Gegensatz zu den in der Lexikografie wohl bekannten falschen
Freunden sind zwischensprachliche Quasisynonyme selten besprochene
und lexikografisch kaum kodifizierte Fälle der partiellen Äquivalenz,
die jedoch nicht die Ausdrucksseite, sondern die Inhaltsseite betreffen.
Die Idiome haben die gleichen oder sehr ähnliche bildliche Bestandteile,
und auf den ersten Blick bereiten sie keine Schwierigkeiten im
Übersetzungsprozess, weil sie auf die gleiche lexikalische Bedeutung hin-
weisen. Die betreffenden lexikografischen Beschreibungen gehen von der
prinzipiellen semantischen Äquivalenz der Quasisynonyme aus und lassen
spezielle Bedeutungsnuancen außer Betracht, die die zwischensprachliche
Äquivalenz nur teilweise zulassen.
In Bezug auf das Sprachenpaar Deutsch-Polnisch kann das phraseolo-
gische Paar das Gras wachsen hören – słyszeć, co w trawie piszczy unter
diesem Aspekt besprochen werden. Sowohl das neuste Wörterbuch Wielki
słownik niemiecko-polski als auch das älteste phraseologische Wörterbuch
für diese Sprachenrichtung präsentieren die Phraseologismen als vollstän-
dige Äquivalente:

(1) das Gras wachsen hören pot., iron. wiedzieć, co w trawie piszczy;
słyszeć, jak trawa rośnie (Wiktorowicz/Frączek 2010: 416)
1
  Wenn die Differenzen in der lexikalisierten Bedeutung unter Phraseologismen betrachtet
werden, kann auf ähnliche semantische Relationen hingewiesen werden, die traditionell in
der polnisch-deutschen kontrastiven Sprachwissenschaft bei sonstigen Tautonymen vor-
kommen, z. B. Exklusion in Bezug auf phraseologische falsche Freunde im engeren Sinne,
Privativität im Falle der asymmetrischen Polysemie und Inklusion als terminologische
Entsprechung für Quasisynonymie (vgl. Lipczuk 1985, Misiek 2009).
76 Małgorzata Guławska-Gawkowska

(2) das Gras wachsen hören umg., scherzh.


Słyszeć, jak trawa rośnie <co w trawie piszczy>, wiedzieć, co się święci
(ausnahmsweise gibt es keine Belege für dieses Paar) (Czochralski/
Ludwig 2004: 167)

Dabei fallen die stilistischen Markierungen für den deutschen


Phraseologismus umgangssprachlich, ironisch auf, die bei der polnischen
Entsprechung gänzlich fehlen und somit die totale Äquivalenz infrage stel-
len. Diese Annahme der völligen Synonymie lässt sich schon anhand der
einsprachigen Wörterbuchdefinitionen korrigieren, wobei die polnischen
Wörterbücher eine andere Nennform des Phraseologismus angeben, in der
das Verb wissen anstelle von hören präsent ist:

(3) das Gras wachsen hören – schon aus den kleinsten Veränderungen,
aus häufig nur eingebildeten Anzeichen zu erkennen glauben, wie
die Lage ist oder sich entwickelt (Duden 11, 2002: 294),

(4) wiedzieć co w trawie piszczy – «orientować się w danej sytuacji,


domyślać się czegoś, wiedzieć, co się dzieje» (vgl. WSF PWN, Bd.
4, 2005: 564) (‚in einer bestimmten Situation Bescheid wissen, etwas
vermuten, wissen, was los ist‘2).

Auch die deutsche Bedeutungsdefinition weist auf eine ironische, scherz-


hafte Gebrauchsweise hin, die bei Schemann auch durch zwei Nennformen:
jd. tut so, als hörte er das Gras wachsen und jd. meint, er hört das Gras
wachsen (DI 1993: 283) markiert ist und die im Polnischen nicht vor-
kommt. Es ist dabei anzumerken, dass der deutsche durch Ironie markierte
Gebrauch in den zugänglichen Belegen des DWDS-Standardkorpus nicht
einmal vorkommt, was darauf hinweisen könnte, dass sowohl der polnische
als auch der deutsche Phraseologismus auf analoge konzeptuelle Strukturen
zurückgehen und Abweichungen im Gebrauch als Randerscheinungen zu
betrachten sind. Die Rezension eines Buches mit dem Titel in Form der
besprochenen Redensart weist aber deutlich auf die positive und negative
Interpretation des Spruches im Deutschen hin:

(5) Luisa Francia: Das Gras wachsen hören. Die spirituellen Fähigkeiten
des Körpers

2
  Die Übersetzung der Definition kommt von M. G.-G.
Plenarvorträge 77

Menschen, die das Gras wachsen hören, das weiß man als vernünftiger
Mensch, sind Traumtänzer und Überempfindliche – Luisa Francia beweist
jedoch das Gegenteil. Sie zeigt, wie wir unsere Sinne bewusst einsetzen
und schärfen und so offener, wissensdurstiger und eins mit unserem Körper
den Alltag bewältigen können.
(http://www.rowohlt.de/buch/Luisa_Francia_Das_Gras_wachsen_
hoeren.84279.html, Zugang am 3.03.2011)

Zwar auch nur teilweise, aber deutlich umfassender als die polnischen
Wörterbücher beschreibt diese kleinen Bedeutungsunterschiede zwischen
dem polnischen und deutschen Phraseologismus das phraseologische
Wörterbuch Polnisch-Deutsch von Ehegötz u.a.:

(6) Wiedzieć, co w trawie piszczy, słyszeć <wiedzieć> jak trawa rośnie


(...) b) ‚die Entwicklung der Dinge (voraussehend) erkennen, sich
auskennen‘ umg. Wissen <merken>, woher <aus welchem Loch> der
Wind weht. Umg. Wissen <merken>, was los <was Sache> ist, <was
sich (so) tut>, Bescheid wissen (ist nicht identisch mit dt. iron. „das
Gras wachsen hören“!)...(Ehegötz u.a. 1990: 256)

Erst diese ausführliche Erklärung weist auf das Problem der


Quasisynonymie hin, obwohl dieses Beispiel den falschen Freunden zu-
geordnet wird. Dieses Problem ist bei der Übersetzung des folgenden
Belegs ins Polnische sichtbar und vertieft sich noch, wenn man zugängliche
Wörterbücher Deutsch-Polnisch zu Rate zieht:

(7) Sein Gefühl sagte ihm, er werde diese Wahl gewinnen, doch seine
Freunde meinten, er höre das Gras wachsen. (Skript vom Warschauer
Goethe-Institut für das Niveau C2.1)

Für diesen kontextuellen Gebrauch wäre an dieser Stelle – statt ei-


ner analogen Entsprechung – das polnische Idiom wróżenie z fusów als
Äquivalent geeigneter, das eine völlig andere bildliche Komponente ent-
hält:

(7‘) Przeczucie mówiło mu, że wygra te wybory, jednak jego przyjaciele


sądzili, że to tylko wróżenie z fusów.
78 Małgorzata Guławska-Gawkowska

Der analoge polnische Phraseologismus słyszeć <wiedzieć> jak tra-


wa rośnie kann hier nicht als Äquivalent fungieren, weil die ironische
Bedeutungsnuance im Polnischen nicht vorkommt.
Wenn mehrere Sprachen auf diese Art und Weise berücksichtigt werden,
ist besondere Vorsicht geboten. Feine semantische Unterschiede sind nicht
in jedem Kontext sichtbar, und die leichte semantische Divergenz kann im
Falle von drei Sprachen anders verteilt sein als bei der Analyse von zwei
Sprachen. Dobrovol’skij/Piirainen (2009) geben als Beispiel für die zwi-
schensprachliche Quasisynonymie schwarz auf weiß an und vergleichen
dabei das Deutsche mit dem Russischen:

(8) dt. schwarz auf weiß, gedruckt, schriftlich, daher offiziell‘

(8‘) russ. черным по белому,klar, deutlich (nur in Bezug auf Schriftliches,


meist offiziell Gedrucktes,gedruckt, schriftlich, daher offiziell‘
(Dobrovol’skij/Piirainen 2009: 148)

Der polnische analoge Phraseologismus scheint – laut Wörterbüchern –


diese zwei Bedeutungsnuancen zu verbinden:

(8‘‘) Czarno na białym «na piśmie, w druku, także: niezbicie, niewątpliwie,


oczywiście, dobitnie» (WSF PWN 2005: 51) (,schriftlich, im Druck,
auch: unwiederlegbar, zweifellos, selbstverständlich, nachdrücklich‘3)

(8‘‘‘) Jeśli coś jest pokazane, widoczne itp. czarno na białym, to jest to
przedstawione wyraźnie, zwykle na piśmie. (ISJP 2000: 214) (,Wenn
etwas schwarz auf weiß sichtbar ist, dann ist das deutlich, üblicher-
weise schriftlich dargestellt‘4.)

Der polnische Phraseologismus ist vieldeutig und bildet mehrere


Kollokationen mit unterschiedlichen Verben im Vergleich zu seinen ana-
logen quasisynonymen Entsprechungen im Deutschen und Russischen. In
diesem Sinne handelt es sich hier eigentlich um den zweiten Typ der se-
mantisch basierten Non-Äquivalenz, der asymmetrische Polysemie genannt
wird.

3
  Die Übersetzung der Definition kommt von M. G.-G.
4
  Die Übersetzung der Definition kommt von M. G.-G.
Plenarvorträge 79

2. Asymmetrische Polysemie
Im letzten Beispiel hat das polnische Idiom mehrere lexikalisier-
te Bedeutungen, während die korrelierenden Idiome im Deutschen und
im Russischen jeweils nur eine von diesen Bedeutungen aufweisen. Von
daher haben wir es hier mit einer semantischen Asymmetrie zu tun, die
Wörterbucheinträge auch berücksichtigen müssen5. Diese Fälle sind
auch von falschen Freunden zu trennen, weil es sich hier nicht um totale
Nonäquivalenz handelt.
Auch bei den folgenden Somatismen, die Mrozowski im neuesten
phraseologischen Wörterbuch Polnisch-Deutsch angibt, liegt sowohl je-
weils eine übereinstimmende lexikalisierte Bedeutung im Polnischen und
Deutschen vor als auch eine zusätzliche unterschiedliche in einer von den
genannten Sprachen (Mrozowski 2007: IX):

(9) jmdn. an der Nase herumführen (Täuschung) – wodzić kogoś za nos


(Täuschung, bevormundung/macht)

(10) nadepnąć komuś na odcisk (Kränkung) – jmdm. auf die Zehen treten
(Kränkung, Eile/Druck)

Aus Platzgründen werden die semantischen Unterschiede durch die


Zuordnung zu unterschiedlichen Konzepten signalisiert, und genaue
Bedeutungsdefinitionen werden nicht angegeben. Es ist auch sicht-
bar, dass es sich im Falle der asymmetrischen Polysemie diesmal nicht
nur um Bedeutungsnuancen (schwarz auf weiß), sondern um klare
Bedeutungsdifferenzen handelt.
In die Gruppe der asymmetrischen Polysemie können bei so breiter
Definition auch Fälle eingeschlossen werden, bei denen eine unterschied-
liche Kombinatorik auf Differenzen in der lexikalisierten Bedeutung hin-
weist. Das folgende Paar stracić głowę – den Kopf verlieren entspricht sich
in der Bedeutung ‚kopflos werden‘ und kann dem Konzept Verwirrung zu-
gerechnet werden. Im Polnischen kommt aber noch eine Bedeutung dieses
Phraseologismus vor, die durch eine Präposition dla – für signalisiert wird
und dem Konzept Verliebtheit mit der deutschen Entsprechung sein Herz
an jmdn. verlieren angehört:

(11) stracić głowę dla kogoś (‚für jdn. schwärmen‘) = sein Herz an jmdn.
verlieren (‚für jmdn. schwärmen‘)
5
  Die Übersetzung der Definition kommt auch von M. G.-G.
80 Małgorzata Guławska-Gawkowska

In einem anderen somatischen Paar den Rücken kehren – odwrócić się


plecami lässt der deutsche Somatismus Kollokationen mit Personen und
Sachen zu, was im Polnischen nicht der Fall ist. Sowohl im Deutschen als
auch im Polnischen kann das Kinegramm auch der Kategorie Zeichen der
Zeichen zugeordnet werden, die ein bestimmtes Verhalten mit symbolischer
Bedeutung bezeichnen (Lewicki 2003: 285). Die zusätzliche Kollokation
mit Sachen im Deutschen ist sowohl im einsprachigen als auch im zwei-
sprachigen phraseologischen Wörterbuch sichtbar:
(12) jmdm., einer Sache den Rücken kehren/wenden (geh.): sich vom
jmdm., etw. abwenden... (Duden 11, 2002: 628)
(12‘) jemandem «einer Sache» den Rücken kehren
odwrócić się od kogoś, porzucić coś (Czochralski 2004: 401)
Im Gegensatz dazu wird die polnische Bedeutung des besprochenen
Ausdrucks auf folgende Weise erklärt:
(12‘‘) Mówimy, że ktoś odwrócił się do kogoś plecami lub jest do kogoś od-
wrócony plecami, jeśli nie okazuje mu zainteresowania ani pomocy...
(ISJP 2000: 84) (‚Wir sagen, dass jemand jemandem den Rücken ge-
kehrt hat, wenn er ihm kein Interesse zeigt und keine Hilfe leistet...‘6)
Am Rande muss erwähnt werden, dass die Bedeutungsbeschreibung des
polnischen Phraseologismus im WSF PWN von der Definition im ISJP und
in anderen polnischen Wörterbüchern abweicht und der Beschreibung des
deutschen Phraseologismus in dieser Hinsicht ähnlich ist, dass sie auch
Kollokationen mit Abstrakta zulässt. Dieser Gebrauch wird sogar durch
literarische Beispiele belegt, in denen Werte bzw. Schule der Meisterschaft
in der Kollokation mit dem besprochenen Phraseologismus vorkommen
(vgl. WSF PWN 2010: 362). Von daher stellen sie die Annahme der asym-
metrischen Polysemie im Falle dieses Paares nicht infrage, weil das Idiom
sich im Deutschen auch auf Konkreta beziehen kann, z. B. der Universität
den Rücken kehren.

3. Kontraste in der Bildlichkeit


In diesem Unterkapitel handelt es sich meistens um wirkliche
Äquivalente, da die Idiome eine fast gleiche lexikalisierte Bedeutung ha-
6
  Sowohl bei Czochralski/Ludwig (2004) als auch bei Ehegötz u. a. (1990) wird das Paar
schwarz auf weiß – czarno na białym als völlig äquivalent behandelt.
Plenarvorträge 81

ben und sich durch mentale Bilder unterscheiden, die deren Gebrauch her-
vorruft. Es ist in der Phraseologie oft der Fall, dass dasselbe Konzept in
verschiedenen Sprachen mit Hilfe von anderem lexikalischen Material re-
alisiert wird.
Die folgende Strophe aus Szymborskas Gedicht Wszelki wypadek – Alle
Fälle zeigt deutlich Differenzen in der Bildlichkeit zwischen dem pol-
nischen Original und seiner deutschen Übersetzung, deren Ursache die un-
terschiedliche Bildlichkeit der Phraseologismen in den beiden Sprachen ist:

(13) Wszelki wypadek


Na szczęście był tam las.
Na szczęście nie było drzew.
Na szczęście szyna, hak, belka,
hamulec,
framuga, zakręt, milimetr, sekunda.
Na szczęście brzytwa pływała
po wodzie.
(Szymborska, W.: Wieczór autorski. Warszawa 1992, 59)

(13‘) Alle Fälle


Zum Glück gabs den Wald.
Zum Glück keine Bäume.
Zum Glück das Gleis, den Haken, den Balken,
die Bremse,
die Nische, die Kurve, den Millimeter, eine Sekunde.
Zum Glück schwamm ein Strohhalm im Wasser.
(Szymborska, W.: Deshalb leben wir. Frankfurt a. M. 1997, 89)

Die Unterschiede gehen auf zwei bildlich unterschiedliche Phraseo­


logismen zurück: ein polnisches Sprichwort Tonący brzytwy się chwyta.
(„Ein Ertrinkender greift nach dem Rasiermesser“) und ein deutsches Idiom
<wie ein Ertrinkender> nach dem rettenden Strohhalm greifen. Es geht in
beiden Fällen um die Bedeutung: ‚die letzte Rettungsmöglichkeit wahrneh-
men‘, die im Polnischen in einem viel drastischeren sprachlichen Bild aus-
gedrückt wird. In beiden Sprachen können aber die Phraseologismen auf
die gleiche konzeptuelle Struktur zurückgeführt werden, und zwar auf das
‚Greifen nach etw. im Wasser, was vor dem Ertrinken retten kann‘. Das ist
in diesem Fall das Quellenkonzept für den Zielbereich ‚Rettung‘. Es handelt
sich aber ironischerweise in beiden Sprachen um andere Rettungsartefakte:
82 Małgorzata Guławska-Gawkowska

im Polnischen um das Rasiermesser und im Deutschen um den Strohhalm,


woraus verschiedene Bilder resultieren.
Wenn mit der wörtlichen Bedeutung gespielt wird, können Kontraste in
der Bildlichkeit ernsthafte Probleme beim Übersetzen bereiten, in anderen
Fällen müssen Übersetzer sie einfach akzeptieren.

4. Kombinationen semantischer Kontraste


Aus der lexikografischen und translatorischen Sicht müssen auch Paare
von Phraseologismen besprochen werden, die sich sowohl hinsichtlich der
lexikalisierten Bedeutung als auch der Bildlichkeit voneinander unterschei-
den. In beiden Fällen kommen aber sowohl semantische als auch bildliche
Komponenten vor, die miteinander übereinstimmen, wie in dem folgenden
Beispiel:

(14) ktoś (jest) w czepku urodzony, ktoś urodził się w czepku syn. Ktoś
urodził się pod szczęśliwą gwiazdą ‚jd. hat außerordentliches Glück im
Leben‘ Jd. ist ein Glückskind <Sonntagskind, Kind des Glücks>, jd. ist
unter einem guten <glücklichen, günstigen> Stern geboren, mate­riell
jd. ist mit einem silbernen Löffel im Mund geboren... (Ehegötz u. a.
1990: 49)

Wenn es um lexikalische Bedeutungen geht, gehört der polnische


Phraseologismus zum Konzept Glück, während der deutsche Phraseo­
logismus als teilweise äquivalent eingestuft wird und dem Konzept
Reichtum angehört. Die mentalen Bilder der beiden Idiome gehen auf
die gleiche konzeptuelle Struktur zurück, die als mit einer bestimmten
Ausstattung geboren sein bezeichnet werden kann (Dobrovol’skij/
Piirainen 2009: 152).

5. Phraseologische falsche Freunde im engeren und weiteren Sinne


Im Falle von falschen Freunden liefern die gleiche Form und das iden-
tische Bild in den zwei besprochenen Sprachen zwei unterschiedliche
Bedeutungen, was einen wichtigen Punkt in der Diskussion über die bild-
liche Komponente und ihre Rolle beim Entschlüsseln der phraseologischen
Bedeutung darstellt. Es handelt sich in diesem Fall um interlinguale
Homonymie, die mit verschiedenen Konventionalisierungen des Bildes in
zwei verschiedenen Sprachen und Kulturen zusammenhängt. Das analo-
Plenarvorträge 83

ge Bild im folgenden Paar ergibt z. B. unterschiedliche Bedeutungen im


Deutschen und Polnischen:

(15) unter der Hand (‚im Stillen und heimlich‘) ≠ pod ręką (‚nah, erreich-
bar‘).

Während der Somatismus in vielen deutschen Kollokationen mit Verben


erhalten bleibt, kommen im Polnischen unterschiedliche konventionalisier-
te Wortverbindungen als Entsprechungen vor, z. B.:

(15‘) unter der Hand verkaufen – sprzedawać na lewo,

(15‘‘) unter der Hand kaufen – kupować spod lady,

(15‘‘‘) unter der Hand erfahren – dowiadywać się o czymś potajemnie.

Traditionell wird den falschen Freunden auch das folgende phraseolo-


gische Paar zugerechnet:

(16) móc policzyć kogoś, coś na palcach jednej ręki (‚eine kleine Zahl von
Menschen oder Sachen‘) ≠ sich etwas an den (fünf, zehn) Fingern ab-
zählen können (‚sich etwas leicht denken können, etwas leicht voraus-
sehen können‘)7.

In Wirklichkeit gibt es im Deutschen eine Differenzierung: reflexiv sich


etwas an den (fünf, zehn) Fingern abzählen können kommt in der übertra-
genen Bedeutung ‚sich etwas leicht denken können, etwas leicht voraus-
sehen können‘ vor. Im Gegensatz dazu hat das nicht reflexive etwas an
den (fünf, zehn) Fingern abzählen (können) wörtliche Bedeutung oder die
Bedeutung ‚sehr wenig‘, wovon die folgenden Belege deutlich zeugen:

(16‘) Wörtliche Bedeutung

ZEIT: (zu Joel Coen) Wie lange sind Sie eigentlich mit Frances
Mcdormand verheiratet? Joel Coen: (tut so, als ob er die Jahre an den
Fingern abzählt ) Seit 1984. ZEIT: Wie reagiert sie, wenn Sie beide eine
neue Rolle für sie schreiben? Joel Coen: Immer gleich. (DWDS, DIE ZEIT,
15.12.2008, Nr. 40)

  Siehe die Zusammenstellung der falschen Freunde im Vorwort bei Mrozowski (2007:
7

VIII).
84 Małgorzata Guławska-Gawkowska

(16‘‘) Bedeutung ‚sehr wenig‘

„Stefan Wolpe gilt als einer der bedeutendsten Komponisten des 20.
Jahrhunderts“, liest man im Neuen Lexikon der Musik. Sein Name dürfte
wohl nur einigen Doktoranden bekannt sein, die Zahl der Aufführungen
seiner Stücke wird man vermutlich an den Fingern abzählen können“,
meint Frank Hilberg vom „International Art and Science Online Showcase“.
(DWDS, DIE ZEIT, 1.1.2008)

(16‘‘‘) Bedeutung ‚etw. leicht voraussehen können‘


Jetzt hat er dieses Paket wieder verkauft! Wer Schuchmann kennt,
konnte sich an den Fingern abzählen, daß dieser robuste und im rau-
hen Bergungsgeschäft so erfolgreiche Niedersachse die ihm durch das
Aktiengesetz formal gewährten Rechte bis zur letzten Konsequenz ausnut-
zen würde. (DWDS, DIE ZEIT, 03.10.1958, Nr. 40)

Mit zwei verschiedenen Konventionalisierungen eines Bildes haben wir


auch beim folgenden Beispiel zu tun, das zwar eine Übersetzerfalle der
analogen Formen in zwei Sprachen darstellt, aber – trotz aller Kontraste –
auch Gemeinsamkeiten in der figurativen Bedeutung aufweist:

(17) szczerzyć zęby do kogoś (‚grinsen‘) ≠ die Zähne fletschen, blecken,


zeigen (‚Widerstand leisten‘)

(17‘) wyszczerzyć zęby na kogoś (‚Widerstand leisten‘) = die Zähne flet-


schen, blecken, zeigen (‚Widerstand leisten‘)

(17‘‘) pokazać zęby <pazury> (‚zeigen, dass man gefährlich werden kann‘)
= die Krallen <Zähne> zeigen (‚zeigen, dass man gefährlich werden
kann‘)

Es handelt sich hier nur auf den ersten Blick um falsche Freunde im
engeren Sinne (Beispiel 17). Wie aus den Korpusbelegen hervorgeht, kann
dieser Phraseologismus sowohl im Polnischen als auch im Deutschen
in der Bedeutung von ‚Widerstand leisten‘ vorkommen (Beispiel 17‘).
In diesen Fällen handelt es sich im Polnischen um zwei aktionale Formen,
von denen die imperfektive szczerzyć zęby über die Valenz do kogoś ver-
fügt und das Lächeln bedeutet (Beispiel 17), während die perfektive Form
wyszczerzyć zęby na kogoś (Beispiel 17‘) mit der anderen Valenz diesmal
eine semantische Analogie zur deutschen Bedeutung des Widerstandes auf-
Plenarvorträge 85

weist. Bei der Analyse spielen von daher Aspekt- und Valenzunterschiede
im Polnischen eine Rolle. Darüber hinaus kann der Ausdruck die Zähne
zeigen im Deutschen auch ‚grinsen‘ bedeuten.
Die Ausgangsbilder gehen in beiden Sprachen auf ganz andere mentale
Vorstellungen zurück. Zum einen ist die Drohhaltung, bei der die Zähne
gefährlich gezeigt werden, Hunden und verschiedenen Raubtieren gemein-
sam, und zum anderen wird dieses Verhalten auf Menschen übertragen. Der
Vergleich hat zur Folge, dass die Wendung meistens in zwei voneinander
abhängigen Lesarten vorkommt: einerseits im wörtlichen Sinne in Bezug
auf Tiere und andererseits im übertragenen Sinne in Bezug auf Menschen,
die Widerstand leisten. Im letzteren Kontext können wir uns die fakultative
Realisierung der Bewegung nur mit viel Mühe vorstellen. Die Ausführung
der Mimik bei Menschen ist aber auch in diesem Fall möglich, vor allem
dann, wenn Leute zu lächeln versuchen, was die Wendung die Zähne zeigen
mit der Bedeutung ‚grinsen‘ bzw. ‚kichern‘ verbindet.
Ratsamer ist es von daher das besprochene Beispiel unter dem Begriff
des Synkretismus im Polnischen und im Deutschen zusammenzufassen und
in den erwähnten zwei Sprachen nach anderen zutreffenderen Belegen für
falsche Freunde im engeren Sinne zu suchen. Im Falle vom Synkretismus
haben wir mit Phraseologismen zu tun, die sich vor allem durch die
Häufigkeit des Auftretens der übertragenen Bedeutungen voneinander un-
terscheiden, aber in beiden Sprachen sowohl über die gleichen als auch die
anderen übertragenen Bedeutungen verfügen.
Wenn das Illustrationsmaterial aus dem Phraseologischen Wörterbuch
Polnisch-Deutsch analysiert wird, das auf falsche Freunde gezielt hin-
weist, stellt sich heraus, dass die zwei in der Einführung des Wörterbuches
genannten Beispiele für falsche Freunde (vgl. Ehegötz u. a. 1990: 15)
nach unseren semantischen Kriterien anderen Gruppen zuzurechnen sind.
Der polnische Phraseologismus zapędzić kogoś w kozi róg hat vor allem
eine andere syntaktische Struktur als das deutsche Idiom sich (nicht) ins
Bockshorn jagen lassen, was aus dem folgenden Wörterbuchartikel nicht
ersichtlich ist, weil die Grundform des deutschen Phraseologismus dort
nicht richtig angegeben wurde:

(18) RÓG 135. zapędzać/zapędzić kogoś w kozi róg ‚jdm. überlegen sein,
jdn. übertreffen‘ Jdn. in die Tasche stecken (können), jdn. an die Wand
spielen, jdn. in den Schatten stellen *Dowiadujemy się z gazet, że
p. Wyspiański zapędził Tetmajera w kozi róg, że jest jeszcze większym
geniuszem. [SF] (nicht identisch mit dt. „jdn. ins Bockshorn jagen”!)
(Ehegötz u. a. 1990: 213)
86 Małgorzata Guławska-Gawkowska

In den lexikalisierten Bedeutungen lassen sich Bedeutungskomponenten


nennen, die unterschiedlich sind, aber auch solche, die Gemeinsamkeiten
aufweisen:

(18‘) sich nicht ins Bockshorn jagen lassen (ugs.): sich nicht einschüch-
tern, in Bedrängnis bringen lassen. (Duden 11, 2002: 132) Angst,
Schwierige Situation

(18‘‘) Mówimy, że ktoś zapędził kogoś w kozi róg, jeśli wykazał swoją
przewagę nad nim lub postawił go w trudnej sytuacji. (ISJP 2000,
Bd. II: 511) („Wir pflegen auf Polnisch zu sagen, dass jemand sich
ins Bockshorn jagen lässt, wenn der andere ihn in einer Sache über-
trifft oder ihn ins Bedrängnis bringt8.) Überlegenheit, Schwierige
Situation9

In diesem Beispiel haben wir wieder in den beiden Sprachen mit synkre-
tischen Phraseologismen zu tun, bei denen die unterschiedlichen und ge-
meinsamen Bedeutungskomponenten, was die Häufigkeit ihres Auftretens
betrifft, auch unterschiedlich verteilt sind.
Beim zweiten Beispiel biec świńskim truchtem – im Schweinsgalopp
(vgl. Ehegötz u. a. 1990: 15) handelt es sich um eine Kombination seman-
tischer Kontraste, weil die Phraseologismen sich sowohl in Bezug auf die
lexikalisierte Bedeutung als auch in Bezug auf die Bildlichkeit voneinan-
der unterscheiden. In der Bildlichkeit lässt sich nur der Vergleich mit dem
Schwein als eine gemeinsame Komponente betrachten, weil der zweite
nichtlexikalisierte Bestandteil des Phraseologismus deutlich auf das lang-
same Tempo im Polnischen und das schnelle Tempo im Deutschen hin-
weist.

6. Schlussfolgerungen
Die Problematik der falschen Freunde schien seit Langem sowohl im
Rahmen der Semantik als auch in der praktischen Lexikografie eingehend
durchdacht und ausführlich beschrieben zu sein. Es gab sogar – zum Teil er-
folgreiche – Versuche in zweisprachigen phraseologischen Wörterbüchern,
vor phraseologischen falschen Freunden zu warnen (Ehegötz u. a. 1990,
Mrozowski 2007), dadurch dass sie in Wörterbuchartikeln erwähnt oder im
8
  Die Übersetzung kommt von M. G.-G.
9
  In der Terminologie von Lipczuk (1985) handelt es sich um den Fall der Äquipollenz.
Plenarvorträge 87

Vorwort zusammengestellt wurden. Leider hat man sie manchmal auch mit
anderen Phänomenen verwechselt.
Die zweisprachigen phraseologischen Wörterbücher liefern zwar reich-
lich zwischensprachliche idiomatische Äquivalente, es stellt sich aber he-
raus, dass sie sich in konkreten Übersetzungssituationen meistens nicht be-
denkenlos einsetzen lassen. Bis jetzt haben Lexikografen selten auf solche
semantischen Relationen wie Quasisynonymie, asymmetrische Polysemie,
Kontraste in der Bildlichkeit zwischen Phraseologismen zweier Sprachen
aufmerksam gemacht, was auch erfahrene und gebildete Benutzer leicht
irreführen konnte. Synkretische Formen waren häufig falschen Freunden
zugerechnet und nicht als falsche Freunde im weiteren Sinne mit entspre-
chenden Markierungen ausgesondert. Das macht uns klar, dass die lexi-
kalisierte Bedeutung eines Idioms meistens so reich an verschiedenen
Bedeutungsnuancen ist, dass es sehr schwierig ist, eine absolut identische
Bedeutungsstruktur in einer anderen Sprache zu finden.
Die traditionellen zweisprachigen phraseologischen Wörterbücher sind
von daher aus der Sicht der Übersetzer unbrauchbar, weil sie selten in ihnen
das finden können, was sie suchen, und zwar kontextuelle Äquivalente.
Die Entwicklung der kognitiven Sprachwissenschaft ist sehr vielverspre-
chend in Bezug auf die Lösung solcher Dilemmas (vgl. Dobrovol’skij
1992, Zybatow 1998). Wenn tatsächlich zweisprachige onomasiologische
Wörterbücher entstehen würden, ließen sich in konzeptuellen Clustern
assoziativ zusammengestellte Entsprechungen finden, unter denen Übersetzer
mit ihrer zweisprachigen Kompetenz eine Wahl treffen könnten (vgl.
Guławska-Gawkowska 2011).
Auf den ersten Blick kann festgestellt werden, dass falsche Freunde
im engeren Sinne aus diesen Zusammenstellungen ausgeschlossen
werden sollten, während Quasisynonyme, asymmetrische Polyseme,
Phraseologismen mit Kontrasten in der Bildlichkeit mit entsprechenden
Anmerkungen dort ihren Platz finden müssen, weil sie Fälle der parti-
ellen Äquivalenz darstellen. Die Gruppe mit Kombinationen semantischer
Kontraste ist differenziert zu sehen. Wenn die lexikalisierten Bedeutungen
in diesem Fall im anatonymischen Verhältnis (biec świńskim truchtem –
im Schweinsgalopp) zueinanderstehen, sollten sie ausgelassen werden.
Bei ineinandergreifenden (verzahnten) Bedeutungen (ktoś (jest) w czepku
urodzony – jmd. ist mit einem silbernen Löffel im Mund geboren) hängt die
Entscheidung damit zusammen, wie das Paar im Wörterbuch präsentiert
wird und ob die Zuordnung der Phraseologismen zu bestimmten Konzepten
eine ausreichende lexikografische Markierung darstellt.
88 Małgorzata Guławska-Gawkowska

Literatur
Primärliteratur
http://www.dwds.de
http://www.rowohlt.de/buch/Luisa_Francia_Das_Gras_wachsen_hoeren.84279.html
(Zugang am 3.03.2011)
Skript vom Warschauer Goethe-Institut für das Niveau C2.1
Szymborska, W. (1997) Deshalb leben wir. Frankfurt a. M.
Szymborska, W. (1992) Wieczór autorski. Warszawa.

Wörterbücher
Bańko, M. (2000) Inny słownik języka polskiego. Bd.1-2. Warszawa. =ISJP
Czochralski, J./Ludwig K.-D. (2004) Słownik frazeologiczny niemiecko-polski. 2. er-
gänzte Aufl.. Warszawa.
Dubisz, S./Sobol, E. [Hg.] (2005) Wielki słownik frazeologiczny PWN z przysłowiami.
Warszawa.=WSF PWN
Duden Redewendungen Bd. 11 (2002) 2. neu bearb. Aufl..Mannheim.=Duden 11
Ehegötz E. u. a. [Hg.] (1990) Phraseologisches Wörterbuch polnisch-deutsch. Leipzig.
Mrozowski, T. (2007) Słownik frazeologiczny polsko-niemiecki. Phraseologisches
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Margot Heinemann (Leipzig)

Textsorten und Sprachunterricht

1. Zur aktuellen Situation


Im Rahmen dieser Konferenz möchte ich mich etwas ausführlicher
mit dem Problem der Umsetzung von Textsorten im Sprachunterricht be-
schäftigen, denn wir haben alle die Erfahrung machen müssen, dass im
Sprachunterricht – ganz unabhängig davon, ob es sich um Schul- oder
Gruppen- oder akademischen Unterricht handelt – das Suchen und Finden
entsprechenden Textmaterials – neben dem Korrigieren - den größten
Teil der Arbeitsleistung in Anspruch nimmt. Zu fragen wäre auch, ob
man – ausgehend von der etablierten Textsortenlinguistik – auch eine
Textsortendidaktik anstreben sollte, sowohl für den Muttersprach- wie auch
für den Fremdsprachenunterricht, jeweils differenzierter behandelt.
Die erwartbare Antwort, die zu großen Teilen auch stimmig/zutreffend
ist, wird auf die große Zahl von Studien und Veröffentlichungen verweisen
(z. B. Spiegel/Vogt 2006), die sich mit Themen dieser Problematik beschäf-
tigen. Einige Probleme seien hier noch einmal aufgelistet, in denen eine en-
gere Zusammenarbeit zwischen Textsortenlinguistik und Textsortendidaktik
wünschenswert wäre: institutionell vorgegebene und freie Textauswahl zu
koordinieren, die Prüfungsgebundenheit von Textsorten zu differenzieren,
Interkulturalität und Intertextualität stärker zu wichten.
Für den Fremdsprachenunterricht sind die Differenzen noch evi-
denter: praktisch ohne Altersbegrenzung (vom zwei- oder mehrspra-
chigen Kindergarten bis zu Abendschulen), ohne Gruppenbegrenzung (von
90 Margot Heinemann

Einzelunterricht bis zu voll besetzten Hörsälen), mit unterschiedlichen


Vorkenntnissen (von quasi Null bis zu perfekten Grundkenntnissen), mit
Unterschieden im Bedarf (auf einer Skala von rezeptiv bis produktiv), mit
Varianten von Kontrolltexten und Zertifikaten usw.
Dass in einigen Bereichen dieser Ausbildungsformen Grammatik- und
Lexikunterricht etwas vernachlässigt werden liegt an der wachsenden
Einsicht, dass die Textsortenkompetenz als wichtigste Sprachkompetenz
angesehen wird (vgl. Fandrych und Thurmaier 2011), was leider mitunter
auch zu einem Extrem von Entgrammatikalisierung führen kann.
Wenn man das berücksichtigt, ist es nachvollziehbar, dass ein Grund­
problem in der Beschaffung von Textmaterial für die vielfältigsten
Ansprüche besteht, denn ein einmal behandelter Text, insbesondere gilt das
für Prüfungstexte, kann nicht noch einmal bearbeitet werden (obwohl auch
das mitunter nur eine Forderung bleibt.).
Zu dem sprachtheoretisch fundierten Begriff der Textsorte(n) nähert sich
ein didaktisch orientiertes Konzept der „Textformen“ an (u. a. Haueis 2006),
denn der Umgang mit den sich unter Lernanleitung entwickelten Texten
muss in der „zerdehnten“ Unterrichtskommunikation geübt werden. Denn
Erfassen, pauschales Verstehen einer Texteinheit sagt noch nichts über das
Können aus, also über die Fähigkeit zur selbstkritischen Textproduktion be-
stimmter Textsorten in gesellschaftlichen Zusammenhängen, wozu auch das
Maß von Kreativität und Korrektheit zur Textbearbeitung gehören wie auch
die Fähigkeit der Zuordnung eines Textexemplars zu einer Textsorte. Wir
haben es im Unterricht (wohl nicht nur im Sprachunterricht) also bei der
Umsetzung von Textsorten mit der Bearbeitung von ausgewählten Texten
zu tun, die bestimmten Textsortenkonzepten entsprechen, was wiederum
einer begrenzten Auswahlmöglichkeit an Umfang, Inhalt, Aktualität von
Unterrichtstexten entspricht. Haueis (2006:16) merkt an: „Bei Textsorten in
der Schule handelt es sich nicht nur um Importe, sondern auch um instituts-
spezifisch hergestellte kulturelle Produkte.“ Es wird später noch zu ergän-
zen sein, dass diese Grundeinsicht für verschiedene theoretische Ansätze in
der Textlinguistik zu neuen oder erweiterten Konzepten geführt hat.
Für den universitären Fremdsprachenunterricht schlagen Czachur/
Zilinska (2009) textlinguistische Modelle in drei Stufen vor: Theoriebezug,
Analysebezug in Abstufungen, Textkompetenzbezug, um damit eine
Textsortenprojektion von der Muttersprache auf die Fremdsprache zu er-
reichen. Damit soll auch darauf verwiesen werden, dass der theoretische
Aspekt dieser Textsortenprojektion nicht am Anfang der Untersuchung
steht.
Plenarvorträge 91

Eine Text- oder besser eine Textsortendidaktik integriert verschiedene


Wissensdisziplinen und hat damit auch eine Vermittlerfunktion
Ist also die Textlinguistik – genauer gesagt die Textsortenlinguistik ob-
solet geworden? Mitnichten! Die Gründe dafür liegen auf der Hand: der
Text ist die letzte in sich geschlossene, wenn auch nicht die oberste Einheit
der sprachlichen Kommunikation, eine in Unterrichtsformen von 45 bis
90 min fassbare und überschaubare Einheit ist eine Grundvoraussetzung
für die gründliche Bearbeitung von Texten im Sprachunterricht. Aber wir
werden Texte und Textsorten in größeren Dimensionen betrachten und
sie als Elemente eines größeren Ganzen zu betrachten lernen müssen.
Denn Textsorten bzw. Textsortenprobleme stehen im Zusammenhang mit
Diskurslinguistik, Systemtheorie und den Bedingungen des Kommuni­
zierens in den Kommunikationsbereichen.
Wie bereits in umfangreichen Veröffentlichungen der letzten Jahre po-
stuliert, stehen wir mitten in einer soziologisch untermauerten Um- und
Aufbruchssituation, denn der ‚Text‘ – den wir so selbstverständlich als
unsere wichtigste kommunikative Einheit verstanden, gepflegt und un-
tersucht haben – hat mit dem Diskurs „eine übergeordnete Konstituente“
(Spitzmüller/Warnke 2011:24) erhalten.
Auch ein kurzer Überblick über Handbücher und Lehrbücher ist
sehr unterschiedlich zu bewerten, etwa das „Handbuch zur Text- und
Gesprächslinguistik“ (Brinker et al.2000) hat zwei Hauptkapitel im
Inhalt zu „Textsorten des Bereichs Schule“ und „Textsorten des Bereichs
Hochschule“, in denen im Überblick Texttypen dieser Kommuni­
kationsbereiche aufgelistet und zum Teil verglichen werden.
Das internationale Handbuch „Rhetorik und Stilistik“ von 2009 ver-
merkt „historische Textsorten und Stil“ wie auch „Sprache der Werbung,
Verwaltung, des Journalismus in den Printmedien“ usw. Noch am ehesten
anwendbar ist das Lehrbuch „Angewandte Linguistik“ (Knapp, K. 2004),
das auf Initiative des Vorstands der Gesellschaft für Angewandte Linguistik
(GAL) entstand und sich in vielfältiger Weise dem Unterricht Deutsch als
Fremdsprache und dem Fremdsprachenunterricht widmet.
Selbstverständlich gibt es darüber hinaus eine Menge von Einzel­
publikationen, die sich mit den Problemen der Sprachvermittlung beschäf-
tigen und wichtige Hilfsmittel darstellen. Trotzdem scheint die Situation
– immer mit Blick auf die Textsortenlinguistik – ein wenig unbefriedigend
zu sein.
92 Margot Heinemann

2. Wie also weiter?


Die sog. Neuen Medien haben mit ihrem Einfluss auf die Schreibkultur
zu einer Veränderung der Textmuster geführt, weniger Striktheit und
mehr Variabilität in der Textproduktion sind nachweisbar, die Kommuni­
kationsformen sind offener geworden, auch wenn man das von Fall zu Fall
kritisch sehen kann. Auch diskurslinguistisch orientierte Textlinguisten plä-
dieren für eine pragmatische Orientierung, den „Text selbst als Element
eines interaktiven Kommunikationsprozesses zu betrachten“ (Roth 2012
i.Dr.) und warnen davor, Textmuster zu statisch zu vermitteln, sie quasi
anhand einer Liste von Textemen bzw. Textmerkmalen anzufertigen oder
– im schlechtesten Fall – auswendig zu lernen ohne Berücksichtigung des
Prozesshaften in Texten bzw. der Textproduktion (Haueis 2006:13). Es
müssten Produzenten wie potentielle Rezipienten – auch bei Mehrfacha­
dressierungen – in den Schreibprozess gedanklich einbezogen werden, um
so die Situation und damit die Textfunktion deutlicher zu markieren (wie es
in Mehrebenenmodellen der Textlinguistik schon praktiziert wurde). Damit
ist auch eine Ebene für Intertextualität und Interkulturalität geöffnet. Nicht
auszuschließen ist, dass man dabei von einem „idealen Rezipienten“ aus-
geht, der die Vielfalt der Möglichkeiten bereits beherrscht und nicht erst
Schritt für Schritt an sie herangeführt werden muss, was wieder auf eine
ausgebaute Textsortendidaktik zielt.
Auch Fandrych/Thurmaier (2011) halten Situation und Textfunktion für
entscheidende Parameter bei der Textproduktion und belegen, dass sie bei
ihren Untersuchungen auf mehr selbstdarstellende und appellative als wis-
sensvermittelnde Texte gestoßen sind, z. B. bei Vorstellungsgesprächen gehe
es nicht mehr vorrangig um Fakten, sondern deutlich auch um Empathie.
Sie zeigen in ihren 19 Einzeluntersuchungen, dass gleiche Strukturen
sowohl in Sprache wie in Textaufbau in unterschiedlichen Textsorten zu
finden sind beim Vergleich von Leserbrief – Posting, Tagebuch – Blog,
Kondolenzbücher – Karten usw., was wiederum auf die Vergleichbarkeit
der Funktion verweist.
Die Autoren analysieren die untersuchten Texte auch detailliert in
Hinblick auf ihre sprachliche Form – was man trivial finden kann, weil in
diesen Alltagstexten ca. 50% Alltagswörter zu finden sind, eine Ansicht,
die auch hier nicht widerlegt werden kann, denn der Gebrauch bestimm-
ter Tempora oder die Anonymisierung durch das Passiv sind relativ be-
quem einzelnen Textsorten zuzuordnen (vgl. Adamzik 2001). Allerdings
kann man davon ausgehen, dass diese Ebene bei einer Feinjustierung der
Plenarvorträge 93

sprachlichen Elemente noch ausbaufähig ist, denn auf der Grundlage ver-
änderter Textstrukturen müsste – ähnlich wie bei den Textemen – auch eine
Diskussion über sprachliche Veränderungen von bekannten Textsorten für
den Unterricht von Vorteil sein.
Etwas ausführlicher möchte ich auf Kapitel 7 „Studienbewertungen: …
im Großen und Ganzen gelungen“ (Fandrych/Thurmaier 2011, 154 – 164)
mit der dominanten Textfunktion Bewerten eingehen. Zu diskutieren wäre
allerdings die Feststellung „Wir betrachten die Studienbewertungen als ei-
genständige Textsorte“ (154), was den Autoren selbst als „problematische“
Entscheidung vorkommt. Dem ist aus mindestens zwei Gründen zuzustim-
men: In Anlehnung an die bekannte Feststellung von Ermert „Der Brief
als solcher ist noch keine Textsorte “sollte auch eine Studienbewertung das
Endprodukt einer bestimmten Form des Bewertens sein, aber noch kei-
ne Textsorte, sondern – wenn überhaupt – ein Texttyp, der in Prüfungen,
Gutachten, Leistungskontrollen, Zeugnissen aufgeteilt werden kann und
damit erst lehrbar und überprüfbar wird. Die Überprüfbarkeit und die
Rechtmäßigkeit des Bewertens (also auch die die juristische Einklagbarkeit)
sind für Prüfungen gewöhnlich gut geregelt (vgl. Becker-Mrotzek, 2000,
690-701), für institutsinterne Regelungen gilt das häufig nicht. Pieth/Adam­
zik (1997, 45) haben derartige Bewertungen als „Modell der (Als-Ob-)
Wissenschaft“ bezeichnet, die damit nicht als reale Wissenschaft zu bewer-
ten seien. Anzumerken ist auch, dass Formen des Bewertens häufig ver-
schiedenen Kommunikationsbereichen zugeordnet werden können.
Verwiesen sei an dieser Stelle auf die Liste der bekannten schu-
lischen Texttypen (Becker-Mrotzek 2000, 692): „normativ-regulieren-
de“, „informierende“, „verwaltend-organisierende“ Textsorten regeln die
Abläufe der Institution Schule, „beurteilende“ und Prüfungstexte haben
eine „Selektionsfunktion“, wie auch „sanktionierende“ Textsorten für
Regelverletzungen, die sich sowohl auf den Unterrichtsprozess wie auch
auf das Verhalten im Schulalltag beziehen können; unterrichtsintern wer-
den „didaktische“ Texte der Wissensvermittlung und „Schülertexte“ der
Wissensanwendung aufgeführt.
Eine institutsinterne Zertifizierungsform ist demnach durchaus regel-
konform und muss noch kein Nachteil sein, sie ist mitunter sogar eine ge-
rechtere Bewertungsform zum Vorteil der Studierenden, aber man sollte die
entsprechenden Textsorten strikt voneinander trennen – denn außerhalb von
Schule (u. U. auch von Hochschule) haben Textsorten wie Diktat, Aufsatz,
Klausur, im weiteren Sinne auch Inhaltsangabe und Nacherzählung
keine Bedeutung oder haben verschiedene Textfunktionen. Das sehen
94 Margot Heinemann

Fandrych/Thurmair selbst so: „Textsorten lassen sich nur aufgrund ihrer


Zwecksetzung und ihrer kommunikativen Einbettung als solche bestim-
men“ (342), sie gehen aber aus meiner Sicht nicht konsequent damit um.
Zusammenfassend geht Portmann-Tselikas (2000: 830-842) auf den“
Einfluss der Textlinguistik auf die Textsortendidaktik“ ein, denn „…die
Didaktik hat aber noch kein ausreichendes Konzept der Textarbeit ent-
wickelt…“ (831). Auch die Text(sorten)linguistik habe sich zu wenig für
die Umsetzung des Textsortenwissens für den Unterricht interessiert. Das
mag sich in den letzten Jahren verbessert haben, es gilt aber auch der Satz
„Didaktik beruht auf Auswahl…“ (839), weil das Verhältnis von Rezeption
und Produktion zielorientiert vermittelt werden muss. Das Textmusterlernen
soll auf die kommunikative Praxis in und nach der Ausbildung vorbereiten.
Wird der Rahmen dafür zu eng gefasst, werden Textsortenvarianten nicht
erkannt oder falsch interpretiert, wird er zu weit gefasst, sind die sprach-
lichen Normen nicht mehr relevant für die eigene Textproduktion. Das
gilt in hohem Grade auch für den Fremdsprachenunterricht, in dem die
Kulturspezifik von Textsorten eine wichtige Komponente darstellt.

3. Textsorten und Textmengen


Von Fandrych/Thurmaier wird ein Thema aufgegriffen, das wir ge-
meinhin unter dem Stichwort ‚Intertextualität‘ subsumieren, das aber nicht
mehr der Beziehung zwischen Textexemplar – Textsorte entspricht, son-
dern – nach Josef Klein (1991:246) – erweitert wird auf eine Textsorten-
-Intertextualität. Gemeint ist damit das Matroschka-Pinzip, wenn Textexemp­
lare einer Textsorte in einem Textexemplar einer anderen Textsorte stecken
usw. usf. Sie fragen, ob dazu evt. auch Konstrukte wie Frage-Antwort
oder Original-Übersetzung gehören, da es sich dabei um verschiedene
Textfunktionen handle, was aber gewöhnlich abgelehnt wird, da es sich
eher um reaktive Sprechakte handelt, weniger um Texte, auch nicht um sog.
Ein-Wort-Texte.
Für didaktische Zwecke sehen Fandrych/Thurmaier (343), „dass
Vernetzungen verschiedener Textsorten unter je wechselnden Merkmalen
heuristisch und analytisch sehr ergiebig sein können.“ In der Sprachpraxis
auf höherer Stufe werden m.W. solche „reaktiven Textsorten“: Beschwerde
– Entschuldigungsschreiben, Gratulationsschreiben – Dankschreiben
schon mit Erfolg eingesetzt, weil hier neben der Grundfunktion auch das
Verhältnis zwischen Produzent und Rezipient angesprochen wird, was
Möglichkeiten für eine interkulturelle Markierung eröffnet.
Plenarvorträge 95

Adamzik (2011) zeigt mit ihrem Konzept der Textsortennetze, dass


im Grunde alles mit allem zusammenhängt und man bei genügender
Medienumschau und entsprechendem Textkonsum an den Ausgangstext
(der dann keiner mehr ist, sondern irgendwo im Netz steckt) zurück-
kehren kann. Eine Einladung zu einer Konferenz mit Vortrag kann zur
Folge haben: schriftliche oder mündliche Annahme oder Ablehnung,
Konferenzprogramm, Literaturrecherche, Briefwechsel mit Kollegen
und Kolleginnen, Vortragskonzept und Endfassung, Hotelbestellung,
Danksagung, Rezensionen usw. Adamzik sieht selbst, dass hier Ein­
schränkungen notwendig sind – insbesonders für Unterrichtszwecke – und
man sich auf kleinere ‚Geschäftsbereiche‘ beschränken müsse.
Für Ch. Gansel (2012 i. Dr.) ist die Situation grundsätzlich Ausgangs­punkt
für Textanalysen, was konsequent ihrem systemtheoretischen Ansatzpunkt
entspricht, wenn sie feststellt, dass Textanalysen in Kommunika­
tionsbereichen stattfinden und dementsprechend eingeschätzt werden
sollten, womit man eindeutig zu einer Unterscheidung zwischen Textsorten
im engeren Sinne (Gesetze) und im weiteren Sinne (Verwaltungsfolgetexte)
komme, woraus ihr Konzept der „Anschlusskommunikation“ entwickelt
wird, also reaktive Textsorten, die „auf das Kommunikationsangebot des
eigenen oder eines anderen Systems“ (C. Gansel/ Ch. Gansel 2006:59)
reagieren, womit der Vernetzung ein breites Feld geschaffen ist, denn auch
„Literatur“ oder „Massenmedien“ gelten als Systeme. Zu fragen ist, wie
und wo in der Textfolge Anfang und Ende zu setzen sind oder ob ein Text
einer Textsorte mit Notwendigkeit einen Folgetext erfordert, der einem
bestimmten Kommunikationsbereich entspricht. Dafür kann das Konzept
von Textsorten der „strukturellen Kopplung“(59/60) eingesetzt werden
z. B. zwischen dem Interaktionssystem Familie und der Institution Schule
(Einladung zum Elternsprechtag oder auch zu Schulveranstaltungen usw.)
Einige Autoren gehen auch von einer Bündelung von Kerntextsorten
aus, die in einem Handlungs-, bzw. Kommunikationsbereich konzen-
triert sind und damit auch eine gewisse Vorkenntnis der Rezipienten im-
plizieren. Kerntextsorten entsprechen Textsorten i.e. Sinne, die sich im
Alltagsverständnis durch Wiederholbarkeit verfestigt haben, wie Recht
: Gesetz, Medien : Kommentar, wobei aus meiner Sicht auch wieder die
Präzisierung der Textsortenbenennung angemahnt werden muss, denn
Kommentare im Gerichtssaal oder im Schulzimmer haben grundsätzlich
andere Funktionen und sollten demzufolge auch in der Form voneinander
abweichen.
96 Margot Heinemann

Zusammenfassend kann man evt. folgende Schlussfolgerungen ziehen:


In der modernen Kommunikation sind Texte nur in größeren Verbünden
zu rezipieren, das entspricht dem Konzept der Intertextualität, erweitert
und ergänzt durch Präzisierungen von Textreihen (Wichter), Textnetze
(Adamzik) oder durch „Texte der Anschlusskommunikation bzw. der struk-
turellen Kopplung“ (Gansel).
Interessant ist dabei, dass Grundmuster von Textsorten erhalten bleiben,
aber durch einfache Wortbildungskonstruktionen bestimmten Situationen
zugeordnet werden (Familienbeschluss - Gerichtsbeschluss, Schulzettel –
Meldezettel), ja, dass man damit auch die Zuordnung zu Kommunikations­
bereiche grundlegend ändern kann.
Diesen Konzepten ist gemeinsam, dass sie das Miteinander von „Text­
verbünden“ in den Mittelpunkt stellen, bei einigen dieser Konzepte geht
mir aber das aktive Mitwirken von Produzenten (und Rezipienten z. B.
beim direkten Gegenüber ) verloren, der Akteur, der Handelnde wird ausge-
schaltet, es funktionieren Diskurse, Bereiche, Systeme, Konzepte, Texte…
Das kann es noch nicht gewesen sein! Deswegen halte ich es im
Moment noch mit dem Juristen Lege (2011:42), der dem Juristen und
Systemtheoretiker Luhmann „erklärt“, dass er
„selbst einmal zu einem höchst umstrittenen dogmatischen Problem eine
Lösung gefunden habe“ – ganz ohne Kenntnis der Systemtheorie! Aber –
schließt er versöhnlich, man könne nicht ausschließen, dass man auch MIT
Luhmannscher Systemtheorie zu diesem Ergebnis gekommen wäre.

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Plenarvorträge 97

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Ernest W.B. Hess-Lüttich (Bern / Stellenbosch)

Fachtext-Netzwerke
in der Gesundheitskommunikation

1. Vorbemerkungen
Gesundheit ist eines der wichtigsten Themen in unserer Alltags­
kommunikation. Das allgemeine Interesse an diesem Thema spiegelt sich
in einer starken Präsenz u.a. in den Massenmedien wieder. Das Gespräch
über Gesundheit wird damit zum öffentlichen Gesundheitsdiskurs, in dem
„Gesundheitsthemen im gesamten Medienspektrum vom Printbereich
und Fernsehen bis zum Internet unaufhörlich präsentiert“ werden (Busch
1999: 105). Am Beispiel nur eines thematischen Segments, nämlich der
Frage nach dem Zusammenhang von ‚Übergewicht und Ernährung‘,
will ich im Folgenden Aspekt des Wissenstransfers in der öffentlichen
Gesundheitskommunikation untersuchen und zu zeigen versuchen, wie
sich Einzeltexte aus den unterschiedlichsten Fachtextsorten (mündlicher
und schriftlicher Medialität) auf einer meta-textuellen Ebene zu einem
Fachtext-Netzwerk verbinden und dadurch konstitutiver Bestandteil eines
öffentlichen Diskurses werden, den wir nach dem Vorbild der in den USA
inzwischen akademisch etablierten public health communication studies
kurz ‚Gesundheitskommunikation‘ nennen wollen.
Anlass und Ausgangspunkt ist die alle 8-10 Jahre institutionell lancierte
Veröffentlichung des Schweizerischen Ernährungsberichtes, dessen 5.
Ausgabe zum Thema „Ernährung und Übergewicht“ eine landesweite Flut
von Folge-Publikationen dazu ausgelöst hat. Zu dem daraus entstandenen
Plenarvorträge 99

Text-Netzwerk gehören neben dem wissenschaftlichen Bericht selbst mit


ca. 1000 Seiten Umfang dessen populärwissenschaftliche Kurzfassung,
Fachreferate im Rahmen einer von der Schweizerischen Gesellschaft für
Ernährung (SGE) dazu veranstalteten Tagung, Faltblätter und Flyer des
Bundesamtes für Gesundheit (BAG), Broschüren der Schweizerischen
Gesundheitsförderung Suisse Balance, Zeitungsinterviews (hier: in der
CoopZeitung), Nachrichten und Kommentare in der Tagespresse (hier:
Aargauer Zeitung, Oltner Tagblatt), Sendungen im Fernsehen (hier:
Gesundheitsmagazin Gesundheit Sprechstunde zum Thema ‚Abnehmen‘),
interpersonale Ernährungsberatungsgespräche (Ton-Aufzeichnungen), die
kaum überschaubare Zahl der Internet-Foren mit ihren Beiträgen zur sog.
e-health communication usw.
Aus Raumgründen muss ich hier die für die Analyse eines so komple-
xen Text-Netzwerks erforderliche Abklärung der theoretisch-methodischen
Prämissen voraussetzen, d. h. die Ergebnisse der Forschung zu Eigenschaften
von Fachkommunikation, zu Fach-Textsorten, zu Text- und Diskursbegriffen,
zur Experten-Laien-Kommunikation, zur Verständ­lich­keitsforschung, zur
Corpusanalyse, zur Partitur-Notation etc.1 Die dynamische Entwicklung in
diesen Bereichen gilt auch für die Fachsprachenforschung. Während vor nicht
langer Zeit Hartwig Kalverkämper noch zustimmend (und zutreffend) Harald
Weinrichs Diagnose zitieren konnte, wonach „Die Textsortenforschung [...]
im Bereich der Fach- und Wissenschaftssprachforschung ein großer blinder
Fleck“ sei (Kalverkämper 1998: 49), wird sie heute als eine der zentralen
Fragestellungen der Fachsprachenforschung bearbeitet, in der die Bedeutung
der Texttypologisierung für die Verständigung im Fache mittlerweile allseits
anerkannt wird.

2. Die Gesundheitskommunikation
Die Verständigung im Fache ‚Gesundheit‘ freilich entzieht sich der
üblichen disziplinsystematischen Rubrizierung. Deshalb zunächst ein
Wort zur Klärung des Begriffs ‚Gesundheitskommunikation‘, der sich
heute als Pendant zu den seit den 80er-Jahren im angloamerikanischen

1
  Aus der dazu in den letzten Jahren ins Unüberschaubare angeschwollenen Literatur
sei hier exemplarisch verwiesen auf Hoffmann, Kalverkämper & Wiegand [Hg.] 1998;
Baumann 1998; Adamzik 2004; Fix et al. [Hg.] 2002; Fix et al. 2003; Warnke [Hg.]
2007; Warnke & Spitzmüller [Hg.] 2008; Busch 1994; Antos 1996; Antos & Wichter
[Hg.] 2005; Brünner & Gülich [Hg.] 2002; Dittmar 2002. Weitere Hinweise in der
Bibliographie.
100 Ernest W.B. Hess-Lüttich

Raum betriebenen health communication studies als Titel eines facet-


tenreichen Forschungsfeldes etabliert hat, in dem ganz unterschiedliche
kommunikative Aspekte das Forschungsinteresse auf sich ziehen: die
Verständigung zwischen den Agenten oder Akteuren der Institutionen des
Gesundheitswesens ebenso wie das klassische Arzt-/Patienten-Gespräch,
der (hier gänzlich ausgeklammerte) Großbereich der Klinischen Linguistik
und Patholinguistik (Aphasieforschung etc.) ebenso wie Sprachtherapie
und Spracherwerbsförderung (bei Entwicklungsretardationen oder bei
Läsionen des Sprachzentrums), medizinische Vorträge ebenso wie die sog.
business-to-business-communication und business-to-consumer-communi-
cation der Krankenkassen, Pharma-Unternehmen oder Klinikbetreiber, das
medizinische Marketing und die pharmazeutischen Public Relations ebenso
wie die publizistisch medialisierte Gesundheitsinformation. Aus der Fülle
dieser aktuellen Forschungsfelder greifen wir hier nur zwei zur genaueren
Betrachtung heraus, nämlich zum einen (i) die eigentliche interpersonale
Interaktion, also die Arzt-Patienten-Kommunikation en face, als aktueller
Gegenstand der Gesprächsanalyse und der Medizinsoziologie; zum an-
dern (ii) die Form der öffentlichen Kommunikation über Gesundheit, den
Medizin-Diskurs der Medien (cf. Jazbinsek 2000 a: 12 f.).
Die Geschichte der öffentlichen Gesundheitskommunikation kann (z. B.
mit Krause et al. 1989: 29 f.) grob gesehen in drei einander überlappende
Phasen gegliedert werden. Am Anfang standen sogenannte ‚aufklärerische
Modelle‘, in denen bereits im 18. und 19. Jahrhundert und dann wieder ver-
stärkt in der Weimarer Republik Gesundheitsförderungskampagnen eine Art
öffentliche ‚Gesundheitserziehung‘ übernahmen (cf. Böning 2000; Schmidt
2000). Deren Ziel war es, Informationen zu liefern, die das Individuum
befähigen, Entscheidungen zu einem gesunden Lebensstil selbst zu tref-
fen. Solche Aufklärungskampagnen finden heute in den Kampagnen zur
AIDS-Prävention, zur Grippeimpfung oder zum Drogenkonsum aller Art
ihre moderne Fortsetzung.
Später entwickelte sich das sogenannte ‚psychologische Modell‘, das
von der Erfahrung ausgeht, dass „die kognitive Komponente der Informa­
tion“ allein für eine optimale Gesundheitsbotschaft nicht ausreiche, wenn
sie nicht nur Wissen vermitteln, sondern auch eine Einstellungs- und damit
eine Verhaltensänderung erzeugen wolle (Krause et al. 1989: 29).
Das dritte (heute auch durch die WHO gestützte) sog. ‚Lebensweisen-
Modell‘ fordert, Gesundheitsverhalten nicht mehr isoliert zu betrachten,
sondern strukturelle Faktoren (wie Arbeits- oder Umweltbedingungen bis
hin zu gesetzlichen Bestimmungen, die auf den individuellen Lebensstil
Plenarvorträge 101

Einfluss nehmen) in der Gesundheitskommunikation zu berücksichti-


gen. Sie soll m.a.W. nicht mehr nur bloß informativ sein (im Sinne der
Aufklärung), sie soll auch nicht mehr primär persuasiv sein (im Sinne
der Verhaltensänderung), sondern die Plattform bieten für einen umfas-
senden Diskurs, der individuelle und gesellschaftlich relevante Aspekte der
Gesundheit in sich vereint. Dies erweitert das Feld erheblich (Jazbinsek
2000 a: 13):
Der Begriff ‚Gesundheitskommunikation‘ bezeichnet also nach wie vor
ein Forschungsfeld (und kein bestimmtes theoretisches Konzept oder em-
pirisches Verfahren), die Grenzen dieses Feldes werden jedoch deutlich
weiter abgesteckt und nicht mehr auf die Medienprodukte eingeengt, die
speziell zum Zweck der Gesundheitsinformation erstellt worden sind.
Das ‚Fach‘ Gesundheit ist also in seinen Praxisbezügen grundsätzlich
heterogen, es integriert zahlreiche Disziplinen wie Medizin, Biologie,
Psychologie, Soziologie, Pädagogik und berührt auch benachbarte Gebiete
wie die (Gesundheits-)Politik oder das (Gesundheits-)Recht. All das stellt
die Kommunikation darüber und deren Beobachtung vor besondere
Herausforderungen.
In den modernen Wissensgesellschaften hat Gesundheitsinformation heu-
te einen Stellenwert wie kaum ein anderes Thema; Funktion und Wirkung
der Massenmedien auf das Gesundheitsverhalten der Bevölkerung sind da-
her ein wichtiger Teil der heutigen Gesundheitskommunikationsforschung.
Sei es die Berichterstattung über Themen wie AIDS, Krebsmedizin oder
Tabakkonsum, seien es technologisch-politisch relevante Diskussionen (wie
Gen- und Gentechnologieforschung) oder gesundheitspolitische Debatten
(z. B. über Krankenkassenprämien und Versicherungsmodelle): Der öffentliche
Diskurs basiert auf der (massen-)medialen Inszenierung von Gesundheit.
Die Attraktivität des Medienthemas ‚Gesundheit‘ ist übrigens keines-
wegs überraschend, sondern illustriert nur besonders anschaulich das medi-
enwissenschaftliche Konzept der Nachrichtenwerttheorie (Burkhart 1998:
275-278), die bekanntlich u.a. besagt, dass Themen, die für das Leben des
Rezipienten relevant sind, mit denen sich der Rezipient identifizieren kann
oder die gar eine gewisse Sensationslust erzeugen, sich auch besonders gut
als Medienthemen eignen. Da das Thema Gesundheit explizit oder implizit
immer auch mit dem Thema Krankheit und Tod in Verbindung steht, haben
Gesundheitsinformationen also eigentlich immer hohen Nachrichtenwert.
Dabei sind die Medien ja nicht zur Gesundheitsberichterstattung ver-
pflichtet. „Wenn sie dieses Thema dennoch aufgreifen, dann nur weil
es für ihr Publikum von Natur aus interessant ist oder weil es von den
Gesundheitsförderern zu einer interessanten Nachricht gemacht wurde“
102 Ernest W.B. Hess-Lüttich

(Naidoo & Wills 2003: 247). Dafür nun haben sich in Orientierung an dem
medienwissenschaftlichen Ansatz des Agenda Setting (Burkart 1998: 246-
253), demzufolge die Medien nicht zwingend darüber bestimmen, was die
Menschen denken, sondern vielmehr worüber sich die Menschen Gedanken
machen (sollen), im wesentlichen zwei Hauptstrategien entwickelt: der
‚Medienlobbyismus‘ (media advocacy) und das ‚soziale Marketing‘ (so-
cial marketing).
Medienlobbyismus bedeutet „die besondere Verteidigung der Anliegen
der öffentlichen Gesundheitsförderung [und] ist ein neuer, progressiver
Ansatz, der sich im angloamerikanischen Raum ausgehend von den groß-
en Nichtraucher-Kampagnen entwickelt hat“ (Lalouschek 2005: 162).
Medien-Lobbyisten verfolgen stets ein definiertes (sozial-)politisches
Ziel, das sie durch strategisch gezielte Nutzung der Massenmedien an die
Öffentlichkeit bringen wollen. Dazu bereiten sie nach Maßgabe ihres eige-
nen Interesses Informationen mediengerecht auf, nehmen mit den Akteuren
der Massenmedien (Journalisten, Redakteuren, Verlagsleitern, Abteilung­
schefs der Sender usw.) Kontakt auf und suchen sie zur Publikation ihrer
Informationen zu bewegen, d. h. deren journalistische Tätigkeit aktiv zu
beeinflussen (cf. Jazbinsek 2000 b: 290).
Demgegenüber zielt das soziale Marketing weniger auf die Durchsetzung
(gesundheits-)po-litischer Interessen, sondern orientiert sich an Prinzipien der
Konsumgesellschaft. „Soziales Marketing kombiniert theoretische Ansätze
der Kommunikationswissenschaften und der Sozialpsychologie mit mo-
dernen Marketingstrategien. […] Positives Gesundheitsverhalten soll nach
Werbungs- und Vermarktungsstrategien ‚verkauft‘ werden“ (Lalouschek
2005: 162), und zwar mithilfe herkömmlicher Marketingstrategien, wie
sie bei der Promotion eines jeden Produktes üblich sind. Ziel des sozialen
Marketings ist demnach „die Verringerung der psychologischen, sozialen
und praktischen Distanz zwischen KonsumentInnen und Verhalten“ (ibid.)
zum Zwecke der Vermarktung ‚gesunden Verhaltens‘ („selling of posi-
tive health behaviors“, Wallack 1990: 155) als gewünschtem Gegenpol
zu der oft eher gesundheitsschädlichen Werbung in den Massenmedien
(z. B. für Alkoholika oder Tabakkonsum). Dabei ist freilich auch ge-
sundheitsförderliches Marketing den Bedingungen der massenmedialen
Produktion unterworfen, die Gesundheitsvermittler im Dienste der in-
dividuellen Identifikation meist zu groben Vereinfachungen komplexer
Zusammenhänge zwingen und zur Ausblendung gesellschaftlicher und
ökonomischer Ursachen (cf. Lalouschek 2005: 162; Wallack 1990: 157 f.).
Plenarvorträge 103

3. Der Schweizerische Ernährungsbericht und seine Folgen –


Ergebnisse einer Corpusanalyse

3.1 Zum Verhältnis der wissenschaftlichen und publizistischen Texte


Vor diesem Hintergrund könnten wir uns nun das von uns in Bern zu-
sammengestellte Corpus anschauen (Anderegg 2006).2 Freilich kann ich
hier aus der umfangreichen Analyse allenfalls einige Teilergebnisse präsen-
tieren und zwar solche (i) zum Verhältnis der wissenschaftlichen und pu-
blizistischen Exemplare des Text-Netzwerks, (ii) zum Informationsgehalt
der Gesundheitsbotschaften, (iii) zum Wissenstransfer im Arzt-/Patienten-
Gespräch, (iv) zum Text-Netzwerk als Gesundheitsdiskurs, (v) zum Text-
Netzwerk als Kampagnenstrategie der Gesundheitsförderungspolitik.
Für die erste Fragestellung haben wir Text-/Stilanalyse-Modelle von
Birgit Stolt und Ulla Fix kombiniert mit dem Textmuster-Konzept von
Barbara Sandig und der Funktionstypologie von Klaus Brinker und daraus
ein für unsere Zecke hinlänglich komplexes Analyseraster entwickelt:

(i) Der wissenschaftliche Artikel entstammt dem erwähnten Fünften


Schweizerischen Ernährungsbericht, behandelt auf 20 Seiten „Übergewicht
und Adipositas bei Erwachsenen“ und diagnostiziert darin, dass die
„Prävalenz von Übergewicht und Adipositas ähnlich den Trends in anderen
europäischen Ländern und den USA auch in der Schweiz“ epidemisch zu-
nehme (WA: 472) mit der Konsequenz der entsprechenden Zunahme zahl-
reicher dadurch ausgelöster Folgeerkrankungen (Metabolisches Syndrom).
Unter der expliziten Textdeklaration ‚wissenschaftliche Publikation‘ des
Gesamtwerks richtet sich der Text grundsätzlich an Fachexperten; sein
Textstil ist unpersönlich und neutral; weder wird der Adressat direkt an-
gesprochen, noch kommt die persönliche Meinung der Autoren zum
Vorschein; die formalen inhaltlichen Vorgaben einer wissenschaftlichen
Textsorte werden im Blick auf Diagnose, Beschreibung und Prävention er-
füllt und werden damit der Informationsfunktion gerecht.
(ii) Demgegenüber umfasst die ebenfalls vom Bundesamt für
Gesundheit (BAG) publizierte populärwissenschaftliche Version des
1000-seitigen Ernährungsberichtes mit dem Titel: Wie isst die Schweiz?
2
  Für die Zusammenstellung einschlägigen Materials danke ich Yvonne Anderegg; die
Analysen profitieren z.T. von ihrer unter meiner Betreuung geschriebenen Lizentiatsarbeit,
in der auch Teile des Corpus zu finden sind, die hier aus darstellungstechnischen Gründen
des Umfangs nicht mit aufgenommen werden können; alle zitierten Quellen sind jedoch
öffentlich zugänglich und prüfbar (Anderegg 2006).
104 Ernest W.B. Hess-Lüttich

Stolt Brinker Sandig Berner Analyseraster


Texte sind mustergeleitet;
Die Textsorte ist prototypisch
(Textmuster werden anhand
vorgegeben (top-down-Ansatz)
Mit wel- Textlokution, Textillokution
=> das vorliegende
cher Art und Textproposition
Textexemplar wird auf
von Text erkannt=Bottom-up-Ansatz);
Kongruenz oder Abweichung
Kongruente Textmuster wer-
untersucht
den zu Textsorten gruppiert
äußert wer Wer ist Textproduzent?
Wer ist die angesprochene
zu wem
Zielgruppe?
a) propositionaler Gehalt a) propositionaler Gehalt?

b) durch Stil transportierte b) konnotative


Was Sekundärinformationen = Sekundärinformationen
-Selbstdarstellung -Selbstdarstellung
-Adressatenberücksichtigung -Adressatenberücksichtigung
-Art der Beziehungsgestaltung -Art der Beziehungsgestaltung
-Beziehungsaspekt
-Verhältnis: Experte-Laie
Wie Pragmatischer Stil
(Strategien der populärwiss.
Informationsvermittlung)
Funktionstypen:
zu
-Information Welche Funktionen sind neben
welchem
-Appellation der Informationsfunktion in
Zweck
-Kontakt Gesundheitsbotschaften zu
(Intention/
-Deklaration finden?
Ziel)
-Obligation
mit
Wo ist welche Wirkung zu
welcher
beobachten?
Wirkung?
Tabelle 1: Analyseraster Einzeltexte

Illustrierte Populärfassung mit ausgewählten Beiträgen aus dem


Fünften Schweizerischen Ernährungsbericht – mit Fokus auf Kinder und
Jugendliche nur 70 Seiten (eine CD-ROM mit der elektronischen Version
des gesamten wissenschaftlichen Bandes ist beigefügt). Die Unterschiede
fallen schon drucktechnisch sofort ins Auge: Marginalien, Grafiken,
Tabellen, Farbphotos ergänzen und gliedern den auch in sich mehrfarbigen
Text. Er richtet sich an ein gebildetes bzw. interessiertes Publikum, bei
dem relevantes Grundlagenwissen als bekannt vorausgesetzt wird. Die
Informationen der (namentlich nicht genannten) Autoren sind eher unspe-
zifisch und wenig explizit formuliert. Häufig vertreten sind dagegen impli-
zit appellative Aussagen über einen gesunden Lebensstil. Mit der Balance
zwischen unpersönlichen und direkt ansprechenden Formulierungen, mit
Plenarvorträge 105

dem die rasche Lektüre unterstützenden Layout und seinen lesernahen


Textstrategien folgt der Text den normativen Vorgaben der populärwissen-
schaftlichen Textsorte.
(iii) Die dazugehörige Broschüre (28 S.) wird im Querformat A7 he-
rausgegeben von Suisse Balance (Bundesamt für Gesundheit, Gesundheits­
förderung Schweiz) unter dem Titel „Schwung im Alltag – (Ge)wichtige
Tipps für einen gesunden Lebensstil” und präsentiert sich dem Leser als
„Leitfaden“ mit Tips zur Kontrolle des Körpergewichts „durch regelmäßige
körperliche Aktivität und ausgewogene Ernährung“. Die Broschüre verzich-
tet auf fachliche Legitimation, ‚argumentiert‘ (mittels rhetorischer Fragen)
allenfalls topisch und wirkt dadurch als ‚Verhaltensanweisung‘ stark ap-
pellativ; der Leser wird pronominal vereinnahmt („wir“), narrativ eingän-
gig in Frage-Antwort-Spiele verstrickt und an die Verantwortung für seine
Kinder erinnert. Herausgeber ist eine behördlich unterstützte Institution, die
Autoren bleiben ungenannt. Der stark personalisierte Erzählstil übernimmt
mahnend eine verhaltenssteuernde Kontaktfunktion und entlastet den Leser
zugleich durch den entpersonalisierenden Verweis auf die Ubiquität des
Problems („Deine persönlichen Probleme sind Alltagsprobleme“; „alle an-
deren“ haben sie auch). Sowohl Layout als auch Inhalt sind klar struktu-
riert und einfach aufgebaut. Die Tips für gesunden Lebensstil sind schlicht
formuliert und stets unmittelbar realitätsbezogen, was dem unspezifischen
Adressaten Rechnung trägt.
(iv) Zum selben Text-Netzwerk gehört auch ein ebenfalls vom BAG
herausgegebener beidseitig bedruckter 3-fach gefalteter Flyer mit dem
Titel „Essen ist mehr als essen” in der Größe DIN A7 (entfaltet also =
A3), der sich layouttechnisch (Schrift, Farbe und Textausrichtung) stark
an dem populärwissenschaftlichen Artikel orientiert. Er ist übersichtlich in
drei thematische Teile gegliedert mit Angaben über den Ernährungsbericht
und weiterführenden Informationen sowie Ess-Tips für den Konsumenten.
Seine Hauptfunktion ist einerseits die Werbung für die andern beiden
Publikationen des BAG, andererseits richtet sich die Appellfunktion des
Textes nicht auf das Produkt, sondern auf eine Verhaltensweise („Essen Sie
abwechslungsreich, mit Genuss und in Ruhe“, „Vermeiden Sie stark gezu-
ckerte Getränke“). Der layouttechnisch aufgelockerte Text liefert minimale
Informationen und macht damit Appetit bzw. lenkt das Interesse auf den
Inhalt der wissenschaftlichen Publikation; zugleich soll der Leser durch
zehn Verhaltenstips persönlich angesprochen werden.
Die intertextuellen Querverweise verbinden die Publikationen (i-iv) und
generieren nun ein zweites darauf unmittelbar bezogenes Text-Netzwerk
106 Ernest W.B. Hess-Lüttich

publizistischer Textsorten von Meldungen, Kommentaren und Interviews


mit interessanten Verschiebungen der ursprünglichen Botschaft.
(i) Die Meldungen gehen zwar auf den aktuellen Anlass ein (die
Vorstellung des Berichtes), kaum aber auf dessen Inhalt (Epidemiologie der
Adipositas), geschweige denn auf dessen Ziel (Änderung der Ernährungs­
gewohnheiten). Stattdessen wird die Behörde personalisiert und die Rolle
des Staates kritisiert; die Warnung vor den Gefahren des Übergewichts
wird umgedeutet zur Frage nach der Verantwortung des Staates für allfäl-
lige Präventionsmaßnahmen.
(ii) Viele Kommentare zielen (wie ein Kommentar der Aargauer
Zeitung) in teilweise deftigen Worten stärker auf die Verantwortlichkeit
der Eltern für ihre Kinder oder suchen (wie der Kommentator des Oltner
Tagblatts) die Ratschläge als frommen Wunsch und falsche Versprechung
zu entlarven, obwohl er die Lunte längst an einer „gesundheitspolitischen
Zeitbombe“ glimmen sieht.
(iii) Die Interviews knüpfen an die Pressekonferenz zur Vorstellung des
BAG-Berichtes an. Die Coop-Zeitung des Lebensmittel-Grossisten befragt
unter dem Titel „Sind wir zu dick?“ eine Ernährungswissenschaftlerin, die
auf rahmender Photostrecke ins rechte Licht gesetzt wird. Sie wirbt für
„die Lebensmittelpyramide“ (ohne sie zu erläutern) und bleibt auf manche
(eher vague) Fragen eine konkrete Antwort schuldig. Stattdessen gibt das
Interview Aufschluss über den Lebensstil der Interviewten und deren per-
sönliche Ansichten.
Obwohl die Einzeltexte (mit einigen Ausnahmen) insgesamt den pro-
totypischen Strukturvorgaben ihrer jeweiligen Textsorte weitgehend
gerecht werden, sind die Textinhalte – trotz des gemeinsamen Themas
(‚Übergewicht‘) und des identischen Bezugspols (Ernährungsbericht)
– überraschend heterogen. Die populärwissenschaftlichen und publizis-
tischen Einzeltexte zeichnen sich aus durch eine zuweilen prägnante, aber
meist stark vereinfachende Art der Informationsvermittlung. Strategien der
populärwissenschaftlichen Vermittlung und der Verständnis fördernden
Textgestaltung sind in allen Fällen wiederzuerkennen: Es wird nicht
Wissensungleichgewicht demonstriert, sondern die Nähe des Lesers ge-
sucht.
Plenarvorträge 107

3.2 Zum Informationsgehalt der Gesundheitsbotschaften


Eine ‚optimale‘ Gesundheitsinformation besteht nach Krause et al. (1989:
31) aus sieben Teilinformationen, die das folgende Schema zusammenfasst:
Teilinformation Optimale Technik / Art der Formulierung
1 Information Die Gesundheitsinformation muss auf die Frage antworten:
über das Problem „Was ist das Problem?” Dabei ist die fachlich neutrale, objek-
tive Information nur wenig adäquat. Das eigentliche Problem
sollte vielmehr aus der subjektiven Sicht der Betroffenen dar-
gestellt werden.
2 Information Es muss feststehen, an wen genau sich die Gesundheits­
über die Zielgruppe information richtet. Eine sehr heterogene Gruppe wie z. B.
die ‚Gesamtbevölkerung’ anzusprechen ist oft nur wenig ef-
fektiv. Ist das anzusprechende Publikum genügend definiert,
können in der Botschaft auch zielgruppenspezifische Normen
und Werte bzw. ein adäquater Sprachstil sowie entsprechende
Medien und Gestaltungsformen berücksichtigt werden.
3 Information Das Ziel, das die Gesundheitsinformation anstrebt, soll mög-
über das Ziel lichst positiv, attraktiv und motivierend dargestellt werden so-
wie realistisch und erreichbar sein. Verneinte Formulierungen
von negativen Zielen sind zu vermeiden; stattdessen werden
mit vielfältigen Motiven zur Zielerreichung die unterschied-
lichen Bedürfnisse der einzelnen Rezipienten berücksichtigt.
Anstelle einer rein nüchternen Darstellung von Fakten, soll
auch die emotionale Ebene angesprochen werden – insbeson-
dere mit Abbildungen.
4 Information Nicht nur die Information, was erreicht werden soll, son-
über die positiven dern auch was der Rezipient davon hat, muss in einer
Folgen Gesundheitsbotschaft enthalten sein. Dieser Punkt schließt an
die positive Darstellung des Ziels in Punkt 3 an.
5 Information Dem Rezipienten muss aufgezeigt werden, wie er das entspre-
über Wege zum Ziel chende Ziel erreichen kann. Die dafür vorgeschlagenen Wege
sollten realisierbar sein, mit (subjektiv) vertretbarem Aufwand
und wenn möglich vielfältiger Art.
6 Information über Dieser Punkt leistet die notwendige Verbindung von der (mas-
den Anbieter sen)medialen zur interpersonalen Gesundheitskommunikation,
die in hohem Maße zum Gelingen einer Einstellungs- und
Verhaltensänderung beiträgt. Unbekannte Institutionen
und Organisationen sind zu erklären, u.U. auch um deren
Glaubwürdigkeit und Qualität hervorzuheben. Angaben wie
Namen, Adressen und Telefonnummern erleichtern dem
Rezipienten den Schritt, selbst aktiv zu werden und weitere
Information einzuholen.
7 Information Werden Produkte, Veranstaltungen, Ausbildungen, Therapie­
über das Angebot formen oder Ähnliches vorgestellt, dürfen grundlegende Infor­
mationen wie Ort, Datum, Preis, Erhältlichkeit usw. nicht fehlen.
Tabelle 2: Die Teilinformationen einer Gesundheitsbotschaft
(n. Krause et al. 1989: 31-51)
108 Ernest W.B. Hess-Lüttich

Wenn wir das Schema auf die eben vorgestellten Texte anwenden, so
lässt sich aus der vergleichenden Analyse nicht ein eindeutiges Fazit zie-
hen: Die Information über das eigentliche Problem wird in allen Fällen
zu kurz, oft nur in einem Nebensatz abgehandelt. Eine klare Definition
der angesprochenen Zielgruppe ist durchweg zu vermissen. In den meisten
Fällen kann nur indirekt beurteilt werden, an wen sich der Text richtet. Nur
die Textsorte selbst fungiert als eine Art Rezipienten-Selektionskriterium.
In den publizistischen Texten fehlen konkret weiterführende Informationen,
die aber gerade dort nötig wären, weil sie ein disperses Publikum anspre-
chen und nur vage Angaben machen, wie ein gesundes Körpergewicht durch
ausgewogene Ernährung tatsächlich erzielt werden kann. Der Leser wird
vielmehr mit Informationshäppchen versorgt, die zur effizienten Selbsthilfe
nicht ausreichen bzw. in bestimmten Fällen sogar irreführend sind. Zur em-
pirischen Erhärtung des Befunds wäre freilich die Untersuchung eines grö-
ßeren Corpus‘ an publizistischen Texten zum selben Thema vonnöten unter
dem Gesichtspunkt ‚inhaltlicher Korrektheit der Informationen‘.

3.3 Zum Wissenstransfer im Arzt-/Patienten-Gespräch


Ein Blick ins tägliche Programm zeigt das breite Spektrum an gesund-
heitsbezogenen Sendungen im Fernsehen: von den Wissenschafts- und
Gesundheitsmagazinen über Ratgebersendungen, Talk-Shows zu Medizin
und Gesundheit, Life-Style-Sendungen mit Diät-Tips, Reality-Shows mit
Abnehmwilligen, Arzt- und Krankenhausserien, bis hin zu den Freakshows
der privaten Sender mit extrem adipösen Personen. Verglichen mit der
vielfach untersuchten Arzt-Patienten-Interaktion en face weist das medi-
al vermittelte inszenierte Arzt-Patienten-Gespräch einige medientypische
kommunikative Besonderheiten auf. Um diese Spezifika zu ermitteln,
haben wir einen Auszug aus dem TV-Gesundheitsmagazin Gesundheit
Sprechstunde konfrontiert mit der Aufzeichnung eines faktischen
Ernährungsberatungsgesprächs, um diese Besonderheiten am Beispiel
von Frage-Antwort-Konstruktionen zwischen Experten und Laien auf-
zeigen zu können. Beide Gespräche standen im Zusammenhang mit dem
Ernährungsbericht und der anschließenden Medienkampagne dazu.
In einem der untersuchten (und jeweils in der Originalsprache, d. h.
Vorarlberger bzw. St. Galler Mundart transkribierten) Ernährungsberatungs­
gespräche sucht die Expertin einen Einstieg mit der Aufforderung an den
Patienten, sein individuelles Erlebniswissen in Worte zu fassen, um so
einen Informationstransfer in beiden Richtungen zu evozieren:
Plenarvorträge 109

096 E: isch schwirig für si? si schauät so ä kli schokiert dri?


097 P: JOO joja <EA> ich MUES halt jez/ebä jo äs isch scho so
wämer do wämer sich gwöönt isch so so - än guetä- äh - än guetä
chäs – än fettä/
E: hmv
P: dä gu/ dä guda oder so – das: <EA> jajo das mues ich eifach uf das/
<flüstert> aber jajo das funkzioniert dän scho. <EA>

Ärzte verfügen zur Beschreibung von Krankheiten oder anomalen


somatischen und psychischen Phänomenen über ein fachlich differen-
ziertes und institutionalisiertes Sprachrepertoire. Patienten hingegen
verwenden zur Beschreibung ihres individuellen Körperempfindens
grundsätzlich Umgangsprache, die allenfalls „je nach dem Ausmaß der
Erfahrungen mit dem Gesundheitswesen mehr oder weniger von fach-
sprachlichen Äußerungen und Begriffen abgelöst oder durchdrungen
werden“ kann (Lalouschek 2002: 28). Wir haben es demnach mit einem
Übersetzungsprozess in beiden Richtungen zu tun. Zugleich gilt es, eine
Vertrauensbeziehung aufzubauen bzw. zu sichern, ohne dass der Arzt seine
affektneutrale Rolle dabei aufgibt. Ein Mittel dazu ist etwa der wechselsei-
tige Bezug auf eigene persönliche Erfahrungen:
038 P: aber äs isch scho* - jez dän häts do sägemor äs schtükli - äs schtükli
schinke oder so und do än fleischchäs - dän han ich eifach/ ich weiss nöd
wiso: das ich dä fleischchäs vil liebär hätti? Irgendswiä isch das das/ jajo
E: hmv

039 E: dä fleischkäs/ das kunnt/ das hot mit äm fettgehalt zum tuä.

040 E: dä fleischkäs hät relativ vil fett und relativ vill gwürz au drin:*
P: vil fett ja. jaja

041 E: weil das isch verMAles fleisch eigentlich so BRÄÄt oder? <EA>
P: jo. jo-o.

042 E: und das kamär natürlich vil intensiver würze und s fett TRAIT das
gwürz <EA> und ÜBERtrait im prinzip dä gschmak vom gwürz auf
uf üsäre zungä uf üserä gaumä und <EA> mä gWÖnt sich schlussän-
dlich dän au a DEN gschmak und das hätmo den au GÄRN - <EA>
043 E: SO LANG bis mä das ä zyt lang WEG lasst -- vilicht isch das/ oder/
i känn das au i han frühär AU fleischkäs gässe. jo? und au GÄRN
gässe und irgendwämol hani Ufkhört damit und hüt schmekts mär
gar nümä richtig.
110 Ernest W.B. Hess-Lüttich

044 E: aso <EA> es BRUCHT wirklich au diä GWOnheit diä dahinter


schtekt zum <EA> zum äppes au durchzihä könnä.
P: jo. jojo.

Mit einem solchen persönlichen Bezug wird dem Patienten signalisiert,


dass nicht nur er das Problem habe, dass ihm Fleischkäse (mit höherem
Fettanteil) besser schmecke als Schinken, sondern dass dies natürlich sei,
weil die menschlichen Geschmacksrezeptoren auf Fett entsprechend rea-
gierten. Außerdem präsentiert sich die Ernährungsberaterin als ‚lebendiges
Vorbild‘ dafür, dass es möglich sei, eine solche Gewohnheit auch zu bre-
chen. Dem Patient wird damit suggeriert: a) er ist nicht alleine, b) eine
Gewohnheit ist kein unausweichliches Schicksal.
Gerade ein Zweitgespräch wie das hier geführte verlangt von der
Expertin viel Fingerspitzengefühl gegenüber Ängsten und möglichem
Misstrauen, denn in dieser Sitzung bringt der Patient zum ersten Mal ei-
gene Erfahrungen mit verändertem Essverhalten ein, worin er bestätigt
werden sollte, damit er für konsequentere Umstellungen motiviert bleibt.
Entsprechend integriert die Ernährungsberaterin in die Beurteilung des
Ernährungstagebuches auch Bestätigung und Lob:

015 E: guet* dänn gits sändwitsch jez do eher am mittag -- pule mit SCHInkä: -
P: ja:

016 E: aso da gsiät mä au ä kli dass sie au diä fettARMÄ variante –
P: jawoll. und da hani zum
bispil kai butter druf gschtrichä - guät da hani au schon vorher niä
gmacht -- ich han das nöd gärn jo.
E: ja. hmv guet. SEHR guet.

017 P: do tueni also jez eher no so äs hämpfeli salot drunder mische - jo so


E: perfekt.

Nach Lob und Bestätigung muss der Patient aber auch daran ‚erinnert‘
werden, dass es damit noch nicht getan sei, deshalb wird die Notwendigkeit
seiner aktiven Mitarbeit betont, seiner Bereitschaft zur Selbstdisziplin:
025 E:
ja. <EA> i tänk das isch au/ irgendwo isch es wichtig dass si natürlich
au hart - unter anfürungszaichä hart zu sich sind und versuechät au ä
gewissi disziplin ufzubringä. sunsch goots langfrischtig gseä natüär-
lich nid. äs isch äh - än umschtelig vom essä - das sind/ das bruucht
sini zyt das sind gWONheite wo si über - äh – längerä
zytraum gmacht hond*
P: scho lang. jojo
Plenarvorträge 111

Für ein Arzt-Patienten-Gespräch, das darauf abzielt, in beiden


Richtungen Wissensdefizite auszugleichen, haben insbesondere Frage-
Antwort-Konstruktionen zentrale Bedeutung, wie etwa Rehbein (1994:
147) hervorhebt:

Mit dem Muster der Frage haben Ärzte einen sprachlichen Schlüssel
zum Wissen der Patienten. […] Dieses Wissen schlägt sich in ‚inneren
Wahrnehmungen‘ nieder. Durch Fragen werden beim Patienten insti-
tutionsspezifische Suchprozesse nach diesem Wissen ausgelöst, die
Antwort verbalisiert das zugängliche Wissen [Hervorh. i. Orig.].

Eine Klassifizierung des Fragens sollte dann bei den „Wissensprozeduren


des Hörers ansetzen, die durch das in der Frage formulierte Wissensdefizit
ausgelöst wurden“ (ibid.: 148). In unserem Beispiel findet der Informa­
tionstransfer zwar weniger in Frage-Antwort-Konstruktionen als in aufzäh-
lendem Erzählstil statt, aber in einigen Fällen wird der Patient anhand einer
Frage dazu aufgefordert, sein persönliches Empfinden zu verbalisieren:

021 E: got inä mit dä:r ernährungswiis oder damit äppes ab?
022 P: JOO: -- i han immer s gfüül/ aso/ i tänk jez aso i tänk jez vil as ässe -- und
E: jo?ja.
P: mä wird brämst jo/ aso jajo

023 E: aso si hond s gfüül äs stresst au ä biz wit?


P: jo h mv

024 P: - jo:.aso scho ä bizzäli/ aso nöd belaschtänd i däm sinn aber mä muäs
halt/ äh mä mues halt immer chli brämse. frünär hani eher mol rasch dä
E: hmv
P: chüelschrank ufgmacht und di luscht isch immerno do das muesi also
E: hmv hmv hmvhmv
P: säge. <2> aber äh - i versuech mi ä bizzeli/ äh jo: <2> <EA> chli z
brämse.

Eine Frage besteht aus einem Frageelement und einem propositionalen


Gehalt, der die Wissensdomäne versprachlicht, die „der Hörer zur Basis
seiner Wissenssuche macht“ (Rehbein 1994: 149), und sie bringt eine
Wissenslücke zum Ausdruck. Diese Bestimmung muss für ärztliches Fragen
dahin gehend erweitert werden, dass die explizite Formulierung des propo-
sitionalen Gehalts unterschiedliches Wissen versprachlicht, nämlich einer-
seits Diskurs- und/oder Alltagswissen, andererseits professionelles Wissen,
eine institutionelle Asymmetrie, die sich nach Löning (1994: 101 ff.) in
112 Ernest W.B. Hess-Lüttich

alltagssprachlichen, semi-professionellen bzw. pseudo-professionellen und


zitiert-professionellen Strategien des Patienten zur Versprachlichung seines
je individuellen Körperempfindens gegenüber dem Arzt manifestiert.
Ähnliche Strategien und Strukturen finden sich auch im medial insze-
nierten Arzt-/Patienten-Gespräch (also zwischen Moderator bzw. Experte
und Gast), haben aber eine andere Funktion. Dort ist das Ziel nicht der
Ausgleich eines mutuellen Wissensdefizits, sondern ein Informationstransfer
zum Publikum (im Studio und vor den Empfängern). Das Arzt-Patienten-
Gespräch ist hier also geprägt von einem institutionellen Zweck der
Information und der Unterhaltung gegenüber einer ‚Drittpartei‘, was „in
Gesundheitssendungen zu merkwürdigen, in sich gebrochenen und wider-
sprüchlichen diskursiven Formen“ führen kann (Brünner 1999: 27). In
unserem Beispiel des TV-Gesundheitsmagazins Gesundheit Sprechstunde
finden sich denn auch zahlreiche Frage-Antwort-Konstruktionen, an denen
der Informationstransfer im Sinne des Medien-Trialogs veranschaulicht
werden kann.
Auf die allgemeine Einstiegsfrage des Moderators an den Experten
(„herr schteiner. d wält vo dä psyche. händ d lüüt wo übergwichtig sind
ä PSYchischs Problem?” [GM: 001)]) antwortet der mit einem einstudiert
wirkenden Monolog, dessen letzte Worte dem Moderator verabredungs-
gemäß das Stichwort zur Überleitung auf den Gast Frau Arber liefern, die
als Kind vernachlässigt wurde und die fehlende Aufmerksamkeit mit über-
mäßigem Essen kompensierte:

S: […]das sind schtrategiä wiä mir schpöter sälber mit ois umgönd!

003 M: wie isch das bi inä gsi frau arber? seensucht und verlange nach ge-
BORge si, nach ELäre wo ume sind?

004 A: also bi MIR hät s ässe ä seer ä GROSSi rolä gspilt mini eltäre sind
gschidä gsi, mini muetär isch pruefstätig gsi<EA> und äh d aner-
CHÄNnig hät gfäält, d UFmerksamkeit s isch niä öpper dahei gsi
wämmer hei chunnt und da isch dä wäg zum chüelschrank seer churz.

Eine Suggestivfrage des Experten verrät dann dessen intime Kenntnis


der Krankheitsgeschichte der Patientin (S: “[…] ich glaube es git än ganz
än beschtimmtä PUNKT wo si zu däm entscheid DRÄNGT hät quasi wo
si- äh in en emozionale zueschtand sind cho wo no schwirig isch gsi aber
wo si ine dänn gseit händ JETZT mueni öppis änderä. <EA> ich glaub
das hät än zämehang mit dä rüggeproblem gha?” [GM: 010]), was als ein
weiteres Indiz für die Inszeniertheit des Dialogs gelten darf, aber auch zu-
Plenarvorträge 113

gleich mehrere Informationen für den Zuschauer enthält, nämlich dass die
Gewichtsreduktion gelang aufgrund verschiedener Faktoren wie starkes
Schamgefühl, Input des Chefs oder Mithilfe ihres sozialen Umfeldes:

011 A: ja das stimmt! i han ä bandschiibevorfall gha also mi ZWÖIT und dä


isch z miz ir nacht passiert <EA>i bi am morge am halbi drü zäme-
kheit und bi nüm uf choo also nüm uf di eigäte bei* när heimär dä
chrankäwagä müesä cho/ la cho u när hei diä mi da müessä z viertä
höch z schtägehuus dürabs trääge und jaa das isch nöd gad sonäs
schöns gfüu gsi o für mi sälber ni.

012 M: händ si sich vilich- chamär säge GSCHÄMT?

013 A: Ja! ganz EIFach also!


M: hmv

014
S: und DAS gfüül hät ine ghulfä- also dä
kontAKt/ dä EOZIONAL kontakt zu sich hät inä ghulfä än entscheid
z träffe und dänn dä entscheid würklich bravurÖs dure z ziä und - das
isch GROSSartig-ja?
A: <EA>

015 A: ja also s isch sicher das gsi nächer dasmä öppis wott änderä und
nächäne hani o ä chef gha wo gseit hät i SÖTT mal luegä s gsund-
heitsrisiko und nächäne hani o z glück kha sehr gueti lüüt leerä z
kennä wo mi däzue seer viu hälfä.

016 S: das isch än WICHTigä punkt das eim d


umwält underschtüzzt WÜRklich!
A: hmv ooni das geits gar nid also!

Anhand dieser Frage-Antwort-Sequenz können auch die eben er-


wähnten unterschiedlichen Kategorisierungen veranschaulicht wer-
den. Mit dem Ausdruck “Rüggeproblem” formuliert der Experte seine
Frage in einer alltagssprachlichen Form, wohingegen Frau Arber mit der
Diagnose “Bandschiibevorfall” eine semi- bzw. pseudo-professionelle
Antwort produziert. Mit dem Hinweis darauf, dass dies bereits ihr zweiter
Bandscheibenvorfall war, lässt sie außerdem durchblicken, dass sie dies-
bezüglich bereits einige Erfahrung hat. Sie scheint also aufgrund mehre-
rer medizin-institutioneller Kontakte auch ihr Vokabular entsprechend an-
gepsst zu haben.
Auch der zweite Gast, Herr Poiss, ein Diätkoch, der seit Beginn sei-
ner Therapie 100 Kilogramm Körpergewicht reduziert hat, wird als erstes
114 Ernest W.B. Hess-Lüttich

mit einer Suggestivfrage konfrontiert. Diese kommt aber recht unstruktu-


riert daher und erzeugt folglich auch keine sehr informative Antwort. Der
Moderator muss also ein zweites Mal nachfragen, damit die Zuschauer er-
fahren, was denn nun genau Herrn Poiss’ Problem und Hauptursache seines
Übergewichts war, nämlich die Angst davor, den Arbeitsplatz zu verlieren:

019 M: was isch dän/ was häts/ was isch dä grund gsi das si das wüsse nid
händ chönä umsetzä? isch das irgend ä PSYCHOLOGISCHI ebeni
gsi oder wiä erkläre si sich das?

020 P: ja des hot hauptsächlich mi der psychologischen seite zum tuen ghobt ja!

021 M: was hät sich do abgschpilt?

022 P: i hob eigentlich IMma angst ghobt vom arbeitsplatz hear dasi do an
existenz sichan muass und <EA> ja – s woa schwIRig – im kopf

Die Tatsache, dass Herr Poiss ausgerechnet als Diätkoch unter starkem
Übergewicht litt, wird dann dazu verwendet, in verallgemeinernder Form
ein weiteres psychologisches Phänomen zu erklären:

026 M: chönt dän das gsi sii das das fasch än art therapii isch - wen ich
ä gwichtsproblem ha - problem mit äm ässe das ich so schtark i dä
materie drin bin und irgendwänn hoff das ich das durch das chan lösä?

027 S: ja ich tänke dass är wiä mee hät welä wüsse* - nöcher a däm si wo
au problem macht. das isch no OFT ä so dass das als lösigsversuech
gmacht wird.

Der dritte Gast, Frau Weiss, eine 57-jährige Frau, die zeitweise fast 200
Kilogramm wog, bereitet dem Moderator – wie es scheint – etwas Mühe,
weil sie nicht ganz so strukturiert und plangemäß antwortet wie die bei-
den anderen Gäste. Dies ist allein schon an den sich mehrfach überschnei-
denden Frage-Antwort-Einheiten zu erkennen (bis zu diesem Punkt hat der
Moderator seine Gäste kaum je unterbrochen). Bei Frau Weiss jedoch wirkt
bereits die erste Frage-Antwort-Konstruktion verzettelt, was den Moderator
aus dem Konzept zu bringen scheint, mit der Folge, dass er ihr ziemlich
unwirsch ins Wort fällt:

033 M: frau weiss. iri urgrosmuetär isch übergwichtig gsi gälle si?
W: ja!
Plenarvorträge 115

034 M: und iri muetär?

035 W: d muetär und äh d grosmuetär und äh dä urgrosvatter


M: hmv und dänn- äh

036 M: dänn äh- - ja - do hätme irgendwo KÄ chance däm schicksal z entfliä?


W: dä urgrosvatter

037 W: hmv aso i bi vo chind uf äh mit äm <EA>äh übergwicht do gsi


und dän häts immer langsam meh gschtigä.

Diese Antwort scheint dem Moderator ebenfalls zu wenig ergiebig,


sodaß er seine Strategie ändert und Frau Weiss die Frage nach ihrem
Maximalgewicht stellt; eine Frage also, auf die sie fast nicht unstrukturiert
antworten kann:

038 M: ja - - wie schwär sind si dän maximal gsi?


W: aso ich bin hundertnünänünzg
gsi und jetz bini hundertzweiäsibäzg.

Aber bereits die nächste Frage-Antwort-Sequenz scheint wieder


zu misslingen. Der Moderator will nämlich vor allem die psychische
Belastung von 200 Kilogramm Körpergewicht hervorheben (schließlich
behandelt diese Sequenz der Sendung die psychologischen Aspekte von
Übergewicht). Darauf geht Frau Weiss aber gar nicht erst ein, auch nicht,
als der Moderator nachhakt. Stattdessen verweist sie auf Gelenkschmerzen,
also – gar nicht im Sinne des Moderators – auf körperliche Beschwerden:

039 M: sage si jetz bitte GANZ offä - - wiä SCHWÄR laschte ZWEIhundert
kilo uf dä seel?

040 W: s isch - <EA> s isch schwär gsi und äh dän hani müesä säge jez muesi
- <EA> ich has gmerkt mit dä glänk* und alles-- und jez bini froh
bini so wiit abe cho scho.
M: und uf dä seel?

Im Unterschied zum interpersonalen Gespräch sind also Frage-


Antwort-Konstruktionen nahezu konstitutiv für das mediale Gespräch. Die
Inszeniertheit solcher Konstrukte ist an diversen Merkmalen zu erkennen:
Antworten in Form von langen und inhaltlich kohärenten Mono­logen wir-
ken unspontan, sind aber effizient im Sinne verständlicher Informations­
vermittlung; Fragen-Antworten-Fragen passen fast maßgeschneidert aufei-
116 Ernest W.B. Hess-Lüttich

nander, sodass kaum Unterbrechungen auftauchen (auch nicht im Wechsel


vom einen zum anderen Gast) und der Fernsehzuschauer anhand eines in-
haltlichen roten Fadens durch die gesamte Sequenz geführt wird; ‚unplan-
mäßige‘ Antworten werden vom Moderator sanktioniert, indem er den Gast
in seinem Redebeitrag unterbricht.
Die drei Gäste der Sendung repräsentieren drei unterschiedliche, aber
jeweils in sich geschlossene und in einem gewissen Sinne ‚prototypische‘
Problemfälle. Frau Arber vertritt die Geschichte des vernachlässigten
Scheidungskindes, Herr Poiss die Geschichte des gestressten Arbeitnehmers
und Frau Weiss die Geschichte der genetisch Vorbelasteten. Die Dialoge
sind so konzipiert, dass es keine inhaltlichen Überschneidungen gibt:
Frau Arbers genetische Voraussetzungen werden ebenso wenig ange-
sprochen wie Frau Weiss danach gefragt wird, ob sie als Kind genügend
Aufmerksamkeit erhalten habe. Die drei Personen vertreten also drei ganz
bestimmte Krankheitstypen. Der Zuschauer zu Hause soll sich selbst in
einem der Typen wiedererkennen (Identifikation) und sich diesbezüg-
lich auf spezifische Informationen über Ursachen, Krankheitsverlauf und
Lösungsansätze konzentrieren können.

3.4 Vom Text-Netzwerk als Gesundheitsdiskurs


Mit ihrer intertextuellen Vernetzung bilden solche und ähnliche Texte
im interdependenten Verbund mit Textsorten und Textmustern die Basis
für den Gesundheitsdiskurs im Sinne eines „Gesellschaftsgesprächs“
(Wichter 1999: 274), ein Diskurs, der zugleich geradezu prototypisch ist
für die sog. vertikale Schichtung des Wissens, weil dabei die Experten-
Laien-Kommunikation in allen möglichen Variationen zum Tragen kommt.
Ihrer Komplexität wird erst ein integrativer Ansatz gerecht, der sowohl den
Experten-Diskurs und die funktional-pragmatischen Eigenschaften von
Fachkommunikation als auch den Laien-Diskurs und die kommunikative
Vermittlung fachlicher Informationen von Experten an Nicht-Experten in
den Blick nimmt.
Die Gesundheitskommunikation ist in besonderer Weise „geprägt
durch das Miteinander verschiedener medial, fachlich und institutio-
nell geprägter Gesundheitsdiskurse“ (Busch 1999: 107). Die sprach-
liche Form eines Diskurses wird (lt. Busch, ibid.) bestimmt durch die
Diskursträger (Initiatoren), die Diskursziele, das thematische Zentrum und
die Vertikalitätstypik. Teubert (1998: 148) nennt zusätzlich noch folgende
Parameter für den (meta-textuellen) konstitutiven Diskurs: neben den ge-
Plenarvorträge 117

nannten intertextuellen Bezügen auch Thema, Inhalt, Zeitraum, Areal,


Textsorte(n) und die jeweilige Veröffentlichungsform.
Die intertextuellen Bezüge auf den gemeinsamen Ausgangspunkt (den
Ernährungsbericht) sind in unserem Corpus selten explizit markiert, sondern
meist nur indirekt zu erschließen. Als eigentlicher Initiator (Diskursträger)
des hier vorliegenden Text-Netzwerkes gilt der Herausgeber der wis-
senschaftlichen Publikation dazu, also das Bundesamt für Gesundheit.
Getragen und (quasi selbständig) fortgesetzt wird der Diskurs dann einer-
seits von Institutionen, die mit dem BAG zusammenarbeiten (Broschüre
Suisse Balance), andererseits von selbständigen publizistischen Organen
wie Zeitungen, Zeitschriften, Fernsehstationen. Im Verbund bilden sie eine
Plattform der Verteilung relevanter einschlägiger Informationen. Durch die
aktive Rezeption der (multi-)medial vermittelten Texte wird das adressierte
Individuum gleichzeitig zum Agenten der Gesundheitskommunikation und
damit selbst zum Diskurs(mit)träger.
Information und Aufklärung sowie Appell- und Kontaktfunktionen sind
typische Merkmale des Gesundheits(förderungs)diskurses (cf. Busch 1999).
Die Informationsfunktion ist folglich in allen untersuchten Einzeltexten
wiederzufinden, auch wenn der Informationsgehalt nicht in allen Fällen
zufriedenstellend und die Abgrenzung zur Gesundheitserziehung dort
nicht immer klar zu ziehen ist, wo die Textrezipienten direkt zu ei-
ner Handlung oder einer Verhaltensänderung aufgefordert werden. Das
Diskursziel der Aufmerksamkeit des Rezipienten und dessen Bereitschaft
zur Verhaltensänderung wird am ehesten dann erreicht, wenn der Text das
subjektive Empfinden tangiert, etwa durch die individuell-persönliche
Ansprache wie im Falle der ‚Broschüre‘.
Um das thematische Zentrum ‚Übergewicht und Ernährung‘ krei-
sen alle Texte des Corpus, aber dennoch sind die im Text-Netzwerk je-
weils thematisierten Inhalte facettenreich: sie umfassen das Referat
wissenschaftlicher Studienresultate, Texte mit spezifischem Focus auf
Übergewicht bei Kindern und Jugendlichen, Texte mit direkten Appellen
zur Verhaltensänderung, Bezugnahmen auf persönliche Einstellungen und
Gewohnheiten von Experten, aber auch soziale, gesetzliche und politische
Aspekte. Eine inhaltliche Diversität dieser Art ist für eine unstrukturierte
Gesundheitsförderungskampagne insofern plausibel, als sie einerseits illus-
triert, wie viele unterschiedliche Bereiche in einem so breit gefassten Thema
relevant werden, andererseits damit ein in sich sehr heterogenes Publikum
anzusprechen vermag. Strukturierte Gesundheitsförderungskampagnen
beschränken sich demgegenüber meist auf ein eng gefasstes Sub-Thema,
118 Ernest W.B. Hess-Lüttich

mit dem sie ein definiertes Zielpublikum zu erreichen suchen, um die


Wirksamkeit einer Gesundheitsbotschaft messbar zu erhöhen.
Alle untersuchten Einzeltexte unseres Corpus erschienen innerhalb
des Zeitraums von nur einem Monat nach der offiziellen Präsentation des
Fünften Schweizerischen Ernährungsberichtes bei der Pressekonferenz
mit dem zuständigen Bundesrat. Einige davon standen in direkter oder
indirekter Abhängigkeit zum BAG: wissenschaftlicher und populärwis-
senschaftlicher Artikel, Broschüre und Flyer markieren als koordinierter
Teil des Text-Netzwerkes den Start einer in der Folge nicht weiter koor-
dinierten Kampagne. Der Publikationszeitpunkt der dadurch ausgelösten
publizistischen Texte war bestimmt durch die jeweilige Textsorte. Das (ja
eigentlich alltägliche) Thema ‚Übergewicht und Ernährung‘ kann in Form
einer Meldung/Nachricht nur dann behandelt werden, wenn ein aktueller
Anlass dazu besteht, der wiederum für den Kommentar den aktuellen
Anknüpfungspunkt darstellt. Für das Zeitungsinterview ist ein explizites
Aktualitätssignal nicht zwingend, erhöht aber die Aufmerksamkeit der
Leserschaft. Das gilt für TV-Sendungen entsprechend: Aktualität steht in
engem Zusammenhang mit hohen Einschaltquoten. Wir können also fest-
halten: um eine unkoordinierte Kampagne ins Rollen zu bringen, ist eine
Art Inszenierung des Themas auf möglichst hohem Niveau nötig (in diesem
Falle die bundesrätliche Pressekonferenz), wobei Bedeutung und Aktualität
genügend hervorgehoben werden müssen, damit es sich für unabhängige
Medien lohnt, thematisch daran anzuknüpfen.
Geographisch und medial betrachtet, erstreckt sich das hier dis-
kutierte Text-Netzwerk auf das Areal der ganzen Schweiz und ihre
Medienlandschaft. Deshalb wird nicht eine gesellschaftliche Subgruppe
angesprochen, sondern eine Nation, in der Sprachgrenzen und kulturelle
Mentalitätsunterschiede besonders berücksichtigt werden müssen.
Die Kampagne in Form eines unstrukturierten Text-Netzwerks zeich-
net sich grundsätzlich aus durch das Zusammenspiel sehr heterogener
Publikationsformen. Vernetzt sind wissenschaftliche und populärwissen-
schaftliche, mündliche und schriftliche, publizistische und massenmedi-
ale und (dadurch inaugurierte) interpersonale Texte. Und genau dies ist
wohl einer der größten Pluspunkte so gearteter Kampagnen: kaum eine
Organisation wäre je im Stande, auf so zahlreichen und unterschiedlichen
Ebenen gleichzeitig einen Diskurs zu lancieren, zu koordinieren und noch
weniger zu finanzieren.
Form und Inhalt der meisten untersuchten Textexemplare stimmen mit
den prototypischen Vorgaben der jeweiligen Textsorten weitgehend überein.
Plenarvorträge 119

Interessant sind die Abweichungen (z. B. bei der Textsorte ‚Kommentar‘),


deren genauere Analyse zur Diskussion über Sinn und Zweck und
Möglichkeiten der Textsortentypologie beitragen könnte.
Vertikal geschichtete Kommunikation impliziert das Problem der
Asymmetrie des Wissens zwischen Experten und Laien. Diese Asymmetrie
in der Vertikalitätstypik manifestiert sich in einer bestimmten Art der
Beziehungsgestaltung bzw. in Machtverhältnissen. Nach Wessler (1995)
kommt diesem Machtungleichgewicht in optimierter Gesundheits­
kommunikation so wenig Bedeutung zu wie eben möglich. Verstöße gegen
diese Empfehlung belegt das Corpus zuhauf.

3.5 Das Text-Netzwerk als Kampagnenstrategie zur


Gesundheitsförderung
Abschließend sei noch kurz die Frage nach der Wirksamkeit einer mas-
senmedialen ‚Gesundheitsförderungskampagne‘ und nach den dafür zu er-
füllenden Bedingungen erörtert. Aber was genau ist unter ‚Kampagne‘ zu
verstehen? Flay & Burton (1990: 130) definieren sie für unseren Bereich
so:

Applied to public health, communication campaigns can be defined as


an integrated series of communiaction activities, using multiple ope-
rations and channels, aimed at populations or large target audiences,
usually of long duration, with a clear purpose [Hervorhebungen
im Original].

An eine effektive Gesundheitsförderungskampagne sind demnach min-


destens vier handfeste Anforderungen zu stellen: (i) Organisation einer
Serie koordinierter Aktivitäten auf mehreren Einfluss-Kanälen, also solchen
der Medien, der Politik und Institutionen; (ii) zielgenaue Definition der
Adressatengruppe(n); (iii) klare Formulierung des Ziels (mit Erfolgsprüfung
in Bezug auf erreichte Etappenziele); (iv) langfristige Planung und gesi-
cherte Finanzierung. Diesen Anforderungen wird das hier untersuchte Text-
Netzwerk nicht gerecht: es fehlt an aktiver Koordination, Adressat ist ‚die
Bevölkerung‘, das Globalziel wird in den Feinzielen der beteiligten Akteure
unterschiedlich ausgelegt, eine nachhaltige Planung ist nicht zu erkennen.
Wir haben es demnach mit einer unkoordinierten Gesundheits(förderungs)
kampagne zu tun, deren dauerhafte Erfolgsaussichten füglich bezweifelt
werden dürfen.
120 Ernest W.B. Hess-Lüttich

Die Skepsis gegenüber solchen Gesundheitskampagnen äußert sich,


knapp zusammengefasst, vor allem in folgenden Punkten: (i) Wissens­
transfer nur in einer Richtung (top-down-Informationsvergabe von Experten
an Laien) statt Dialogmodell (cf. Lalouschek 2005: 163); (ii) Instrumenta­
lisierung asymmetrischer Wissensverteilungen als Machtgefälle der
Beziehung zwischen Kommunikatoren und ihren Adressaten (cf. Wessler
1995: 60); (iii) Unsicherheiten in der Wahl der didaktisch jeweils geeig-
neten Stilmittel (auf allen Ebenen des semiotischen Signalements); (iv)
Festhalten an wissenschaftlich überholten Modellen (Sender-Empfänger-
Modell, Behaviourismus-Modell etc.).
Einschlägige Wirksamkeitsstudien haben belegt, dass Massenmedien
zwar dazu dienen sollen, dem Publikum Gesundheitsrisiken bewusst zu
machen oder zumindest dessen Wissen darüber zu vergrößern (Wessler
1995: 59). Wissen allein ist aber noch nicht beobachtbares Verhalten.
Einstellungs- und Verhaltensänderungen sind nach den Studien von
Backer, Rogers & Sopory (1992: 30) nach wie vor effektiver über in-
terpersonale Gesundheitskommunikation zu erreichen. Dennoch ist auf
massenmediale Gesundheitskommunikation nicht zu verzichten, weil „ge-
sundheitsbezogenes Wissen eine Voraussetzung für Einstellungs- oder gar
Verhaltensänderungen darstellt“ (Wessler 1995: 59, Hervorh. v. mir, EHL).
Allerdings ist ihr Nutzen nur dann gewährleistet, wenn sich die Medien
mit den potentiellen Akteuren interpersonaler Gesundheitskommunikation
bestmöglich abstimmen. Dabei ist jeweils zu berücksichtigen, „daß
RezipientInnen maßgeblich an der gemeinsamen Produktion von
Bedeutung beteiligt sind und daß Verstehen von vielfältigen Faktoren
wie Vorwissen, Bildung, Einstellung, aber auch von sozioökonomischem
Status, Geschlecht und Alter abhängt“ (Lalouschek 2005: 164). Davon
kann in unserem Falle keine Rede sein.
Das hängt z.T. auch mit den verstaubten sozialwissenschaftlichen
Prämissen der Auftraggeber zusammen, die immer noch glauben,
Lasswells aus der antiken Topik übernommene Formel auch auf persua-
sive Gesundheitskommunikation via Medien anwenden zu können. Zudem
übersehen sie zumeist die strukturelle Asymmetrie der Prämissen- und
Relevanzsysteme zwischen Experten und Laien (Wessler 1995: 61):

Während Experten das Risiko als Produkt aus der Eintrittswahrschein­


lichkeit eines Schadens und der erwarteten Schadenshöhe errechnen,
spielen für Laien ganz andere, sogenannte qualitative Risikofaktoren
eine Rolle [...] Risikoquellen mit Katastrophenpotential (wie die
Plenarvorträge 121

Kernenergie) werden ebenso als besonders riskant angesehen wie


Risiken, denen gegenüber man sich hilflos fühlt, weil es keine indivi-
duellen Einflußmöglichkeiten gibt.

Das persönliche Gesundheitsverhalten ist individuell durchaus beein-


flussbar, aber weil Risiken, die man freiwillig eingeht, als geringer ein-
geschätzt werden als solche, die von außen wirken (wie Autoschadstoffe
etc.), wird das eigene Gesundheitsrisiko als vergleichsweise niedrig
eingestuft. Effektive Gesundheitskommunikation steht also vor dem
Dilemma, auf Risiken dadurch wirksam zu verweisen, dass ihre Botschaft
Identifikationspotenzial birgt, d. h. ‚subjektiven Sinn‘ für den Betroffenen
erzeugt, ohne bloße ‚Gesundheitserziehung‘ zu werden, womöglich noch
im Boulevard-Stil inszeniert oder als Konsumwerbung, in der Gesundheit
als käufliche Ware erscheint (Fitness-Centre, Sonnenstudio, Diätprodukt),
oder aber als Matrix moralischer Maximen (Gesundheit = Selbstdisziplin,
Körperkontrolle, zivile Sozialität, Normalität), in der als verwerflich gilt,
als unmoralisch, unverantwortlich, schwach usw., wer von der suggerierten
Norm abweicht. Das Dilemma der Gesundheitskampagnen: sie versu-
chen, den Adressaten ihrer Botschaft in den meisten Fällen dazu zu brin-
gen, etwas sein zu lassen, was er gerne mag oder tut, und stehen dabei in
Konkurrenz zur Produktwerbung, die ihm genau das anbietet, was er gerne
mag oder tut.
Eine zu einem guten Drittel übergewichtige Gesellschaft kann (im
Wortsinne) nur dann Ballast abwerfen, wenn sowohl die öffentlichen
Instanzen als auch die betroffenen Individuen ihre Verantwortung ge-
genüber dem Problem ‚Übergewicht‘ wahrnehmen. Dies geschieht ei-
nerseits, indem Massenmedien unter politisch und gesetzlich optimalen
Rahmenbedingungen korrektes und fundiertes Wissen über Ernährung
und Bewegung in verständlicher Form an die Öffentlichkeit bringen.
Andererseits bedingt es aber auch, dass Betroffene die von den (Massen-)
Medien verbreiteten Informationen aufnehmen und aktiv verarbeiten (wenn
nötig in der direkten Interaktion mit Experten), sodass aus Information
Wissen wird und aus Wissen beobachtbares Verhalten.

4. Fazit, Kritik und weitere Aufgaben


Unsere kleine Pilotstudie hat, wie eingangs ausgewiesen, eher die
Funktion eines (wenn auch empirisch geprüften und methodisch begrün-
deten) programmatischen Plädoyers als einer resümierenden Bestandsauf­
122 Ernest W.B. Hess-Lüttich

nahme. Sie erhebt keinen Anspruch auf Repräsentativität (das ist für
den gegebenen Zusammenhang auch kein Ziel), sondern dient eher der
Veranschaulichung des komplexen Prozesses der Entstehung, der Planung,
des Nutzens eines multimedialen Text-Netzwerks mit gesellschaftlicher
Relevanz und sucht an einem kleinen Beispiel (mit entsprechend begrenz-
tem Corpus und in überschaubarem Zeitraum) zu zeigen, wie daraus in der
sozialen Domäne der Gesundheitskommunikation ein Diskurs und ggf. eine
Kampagne zur Gesundheitsförderung werden kann. Zu diesem Zwecke
der Analyse von Aspekten des Transfers von Gesundheitsinformationen
zwischen Experten und Laien haben wir fünf Fragestellungen auf ent-
sprechend verschiedenen Ebenen der Analyse genauer betrachtet (ohne
hier alle Ergebnisse im Einzelnen referieren zu können): die Ebenen der
Einzeltextanalyse im Verhältnis von wissenschaftlichen und populärwis-
senschaftlichen und publizistischen Textsorten, des Informationsgehalts
von Gesundheitsbotschaften, des Wissenstransfers in direkten und medial
vermittelten Arzt-/Patientengesprächen, des Text-Netzwerks als Diskurs
und als Kampagne.
Die Teiluntersuchungen könnten auf jeder dieser Ebenen natürlich im
Rahmen eines (dann freilich nicht mehr von einem Einzelnen allein durch-
zuführenden) Forschungsprogramms erheblich differenziert und ausge-
baut werden. So könnte z. B. die Untersuchung der einzigen fachinternen
Textsorte ‚wissenschaftlicher Artikel‘ weit eingehender behandelt werden,
indem man den Text hinsichtlich seiner spezifischen Gliederung, hinsicht-
lich der Aspekte Explizitheit, Exaktheit und Ökonomie, hinsichtlich der ver-
wendeten Fachlexik, der effektiven Verständlichkeit usw. betrachtet. Dazu
aber liegen einschlägige Untersuchungen in hinlänglicher Zahl vor, der
Erkenntnisgewinn bliebe überschaubar. Interessanter wäre die Erweiterung
des Corpus und die Prüfung, inwiefern und inwieweit die populärwissen-
schaftlichen und publizistischen Texte ‚korrekte‘, d. h. gemessen am Corpus
der wissenschaftlichen Texte wahrheitsgetreue Informationen vermitteln.
Dazu müsste aber in unserem Falle der (seinerseits in ein extrem komplexes
Text-Netzwerk eingebettete) gesamte wissenschaftliche Ernährungsbericht
analysiert werden und das Corpus der publizistischen Texte wäre mög-
lichst exhaustiv auf alle Texte (erschienen im Zeitraum von beispielsweise
einem halben Jahr nach Publikation des Ernährungsberichtes) auszudeh-
nen. Erst dann könnten die qualitativen Verfahren sinnvoll um quantitative
ergänzt werden, um zu valablen Aussagen über das Verhältnis von produ-
zentenorientiert faktischer Korrektheit und rezipientenorientiert wirksamer
Verständlichkeit zu gelangen.
Plenarvorträge 123

Dann könnte man, auf der zweiten Analysestufe, auch verlässlich die
Frage beantworten, welche Textsorte den höchsten Grad an Informations­
gehalt erzielt und somit für den Informationstransfer im Gesundheitsdiskurs
zugleich optimal und effektiv wäre. Und selbstverständlich müsste eine
solche Untersuchung auch elektronische Textsorten berücksichtigen.
Zudem wären unter semiotischer Perspektive die grafischen und bild-
lichen Darstellungen in den Einzeltexten genauer zu betrachten, nicht nur
unter dem genannten Aspekt des Verhältnisses von Verständlichkeit und
Korrektheit, sondern auch unter der emotionalen Wirksamkeit im Hinblick
auf die Textadressaten.
Die begrenzte Aussagekraft unseres Ansatzes wird aber erst auf der
dritten Analysestufe besonders augenfällig. Ich bin mir dessen in vollem
Umfang bewusst: sowohl für die interpersonale als auch für die mediale
Experten-Laien-Kommunikation sollten natürlich noch sehr viel mehr
Daten zur Verfügung stehen. Hier reichten einige kurze Tonaufnahmen al-
lenfalls aus, um punktuelle Aspekte zu veranschaulichen. Aber mit einem
ausreichend umfangreich erhobenen Corpus könnten gängige Fragen der
Experten-Laien-Kommunikation wie z. B. „Reformulierungen, Umgang
mit Fachlexik, Formen der Handlungsanleitung“ (Brünner & Gülich
2002: 22) oder Verfahren der Veranschaulichung und Formen der inter-
aktiven Darstellung entsprechend angemessen beantwortet werden, zu-
mal solche Formen (wie Metaphern, Vergleiche und Analogien, Beispiele
und Beispielerzählungen, Konkretisierungen bzw. Individualisierungen
und Szenarios) in der umgekehrten Richtung (Laien-Experten) kaum un-
tersucht sind, weil die Forschung der Übermittlung des sog. ‚partikularen
Erlebniswissens‘ vom Patienten zum Arzt bis heute nur wenig Beachtung
geschenkt hat, ganz zu schweigen von der Beachtung der ganzen Bandbreite
semiotischer Einflussfaktoren in der Gegenüberstellung von thematisch
gleichwertigen interpersonalen und medial inszenierten Arzt-Patienten-
Gesprächen unter dem Aspekt des Informationstransfers in beiden
Richtungen, was unter dem Stichwort der ‚multimodalen Kommunikation‘
nach frühen (und lange vergeblichen) diesbezüglichen Forderungen (cf.
z. B. Hess-Lüttich ed. 1982) immerhin als Desiderat anzuerkennen sich
durchzusetzen beginnt.
In angewandter Perspektive schließlich könnten aus den Ergebnissen
auf den drei ersten Analysestufen bei entsprechend angemessenem Corpus
Erkenntnisse gewonnen werden, die den Verfassern publizistischer
Gesundheitsinformationen (also Journalisten, besonders Wissenschafts-
bzw. Medizinjournalisten), aber auch Akteuren der Gesundheits­
124 Ernest W.B. Hess-Lüttich

kommunikation (wie Mitarbeitern staatlicher oder privater Gesundheitsför­


derungsorganisationen und -institutionen) von Nutzen wären. Die so
gewonnenen Resultate wären dann möglicherweise handlungsleitend für die
Erstellung von nicht nur verständlichen und/oder nicht nur korrekten, son-
dern auch wirksamen Gesundheitsbotschaften. Eine entsprechend fundierte
und dadurch gezielte Schulung z. B. von Medienlobbyisten oder Akteuren
des Sozialmarketings würde helfen, gesundheitsförderliche Informationen
in effektiver Form in die Öffentlichkeit zu tragen. Ein Gesundheitsdiskurs
im Sinne wirkungsvoller Gesundheitsförderungskampagnen entsteht näm-
lich erst, wenn im Zuge eines gesamtgesellschaftlichen Gesinnungswandels
etwa die Multiplikatoren in Politik und Medien, Werbung und (Lebens­
mittel-)Industrie bereit sind, im Dienste der Gesundheit der Angehörigen
einer Gesellschaft verantwortlich zu handeln.
Ein letztes, aber entscheidendes Desiderat, das in unserer kleinen Studie
aus Kapazitätsgründen überhaupt nicht mehr weiterverfolgt werden konnte,
bleibt der für die Wirksamkeit der Gesundheitsförderungskommunikation
essentielle Einbezug interaktiver elektronischer Medien. Wenn zutrifft,
dass vor allem die interpersonale Kommunikation eine tatsächliche
Verhaltensänderung bewirkt (und die mediale Information lediglich das
(Vor-)Wissen und die Sensibilität der Betroffenen erweitert), müssten ge-
rade die ‚quasi-interpersonalen‘, also virtuell interaktiven Möglichkeiten
der Gesundheitskommunikation intensiver genutzt und deshalb ge-
nauer untersucht werden. Webseiten (um nur ein Beispiel von zahllosen
Internetplattformen zum Thema Gesundheit/Ernährung/Bewegung heraus-
zugreifen) wie www.activeonline.ch (wo sich betroffene Laien und inte-
ressierte Spezialisten zum Austausch individuell motivierter bzw. thera-
peutisch speziell zugeschnittener Programme treffen) veranschaulichen
das interaktive Potential, das zur in der (auch versicherungstechnisch und
finanzpolitisch nötigen) Breite wirksamen Gesundheitskommunikation
genutzt werden könnte. Das Forschungsfeld ‚Gesundheitskommunikation
im Medienwandel‘ markiert einen wissenschaftlichen Aufgabenbereich
für seriöse Studien zur Nutzung und Optimierung virtuell interak-
tiver Gesundheitsförderungskommunikation, dessen Zukunfts- und
Entwicklungspotential angesichts der tickenden Zeitbombe des epidemisch
zunehmenden Übergewichts in westlichen Industriegesellschaften erst in
Umrissen erkennbar zu werden beginnt (cf. Bleicher & Lampert 2003;
Neuhauser & Kreps 2003).
Plenarvorträge 125

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Annette Kliewer (Mainz)

Literatur-Unterricht an der Grenze.


Deutsch-polnische Interregionalität

Lernt man Deutsch anders, wenn man an der Grenze zu einem deutsch-
sprachigen Land lebt? Welche Bedeutung haben grenzüberschreitende
Kontakte für den Unterricht von Deutsch als Fremdsprache, aber auch
für den Muttersprachunterricht? Welche Rolle spielt das Lernen einer
Nachbarsprache in dem europäischen Konzept der Mehrsprachigkeit? Und
schließlich: Welche besondere Rolle spielt die Literatur in diesem Kontext?
Diese Fragen sollen im Folgenden auf die deutsch-polnische Grenze be-
zogen werden.1
Soziokulturelle Faktoren des Deutschlernens
Das Lernen der deutschen Sprache findet in einem bestimmten sozi-
okulturellen Kontext statt: Dieser ist zum einen bestimmt von dem Bild,
das sich Lerner und Lehrer von Deutschland, den Deutschen und von der
deutschen Sprache machen. Für das Lernen an der Grenze spielen die per-
sönlichen Erfahrungen wie auch die Erfahrungen, die die Familie in der
Geschichte mit dem/den Deutschen gemacht hat, eine besondere Rolle.
Dazu kommt zum Zweiten die Frage, aus welchen Gründen die Sprache je-
weils gelernt werden soll: Haben die Lernenden einen direkten subjektiven
Gewinn? Sprachkenntnisse können entweder
a. kurzfristig als Voraussetzung für einen Schulabschluss erworben wer-
den oder
b. mittelfristig als Grundlage für bessere Arbeitschancen, bessere Verdienst­
möglichkeiten oder bessere Arbeitsbedingungen. Schließlich gibt es auch
1
  Ich stütze mich in den folgenden Überlegungen auf meine Veröffentlichungen: Kliewer
2006 und Kliewer/ČeŘovská 2011.
Plenarvorträge 129

c. die Möglichkeit, dass die deutsche Sprache gelernt wird, weil sich Schüler
und/oder Lehrer eine bestimmte Zukunftsvision ihrer Gesellschaft ver-
pflichtet fühlen (z. B. geopolitische Position eines Landes innerhalb von
Europa), weil sie eine bestimmte kulturelle Identität mit der deutschen
Sprache verbinden (z. B. Deutsch als „Sprache der Dichter und Denker“)
oder weil sie glauben, dass ihre eigene Gesellschaft mit Deutschland in
einem besonderen Verhältnis steht.
Alle drei Motivationen spielen in den Ländern, die an den deutschen
Sprachraum angrenzen, eine besondere Rolle. Dabei geht auch in die-
sen Ländern – wie weltweit – das Interesse an der deutschen Sprache
zurück. Trotz oder vielleicht gerade wegen der Öffnung der Grenzen in
Europa scheinen die besseren Kontaktmöglichkeiten nicht unbedingt
auch zu einem größeren Interesse füreinander zu führen. Siegfried Baur
nennt dies bezogen auf den Südtiroler Begegnungsraum „die Tücken der
Nähe“ (Baur 2000). In vielen westlichen Ländern scheint das Interesse
an Austauschprojekten und an gegenseitigem Kennenlernen zurückzu-
gehen. Dies lässt sich einmal mit der Situation der Schüler, zum ande-
ren mit der der Lehrer erklären. Die Schüler haben heute sehr viel mehr
Möglichkeiten, ins Ausland zu reisen, als dies in früheren Jahrzehnten der
Fall war. Sie erwarten auch in der Schule attraktive Reiseangebote, dabei
ist der Aufenthalt in Gastfamilien oft mit einer stärkeren Reglementierung
verbunden, außerdem muss man sich stärker auf die Regeln des Gastlandes
einlassen. Dies macht den traditionellen Austausch weniger attraktiv im
Vergleich zu den – etwa vom deutsch-französischen Jugendwerk (DFJW /
OFAJ) angebotenen – „Treffen am dritten Ort“, wo Jugendliche aus zwei
Nationalitäten unabhängig von ihrem sonstigen Umfeld in touristisch at-
traktiven Umgebungen aufeinandertreffen. Was die Seite der Lehrer an-
geht, so ist vielleicht auch hier von einer gewissen Abkühlung auszugehen:
Anders als in der Zeit nach den Weltkriegen, wo Völkerverständigung noch
„erarbeitet“ werden musste, ist Selbstverständlichkeit eingekehrt und da-
mit eine weniger große Motivation zum Engagement (vgl. dazu auch Baur
u.a. 1999, S. 173 zum deutsch-niederländischen Austausch). Insgesamt
finden sich noch zu wenige Initiativen für den „kleinen Grenzverkehr“,
obwohl grenznahe Begegnungen eigentlich die ökonomischere und all-
tagstauglichere Variante des Austauschmodells darstellt. Hier lassen sich
in vielen Nachbarländern eine Reihe von psychologischen Bremsen fin-
den. Zunächst ist da die Abwehr vieler Jugendlicher gegenüber einer
Kultur, die ihnen zu vertraut, zu wenig exotisch erscheint, weil sie das
Deutschland hinter der Grenze von ihren Alltagsbesuchen beim Einkaufen
130 Annette Kliewer

oder von Tagesausflügen schon kennen. Dazu kommen immer wieder ne-
gative Erfahrungen mit „den Deutschen“, die als Touristen, Restaurantgäste
oder Kunden negativ aufgefallen waren. Schließlich finden sich in allen
Nachbarländern auch tiefliegende historisch gewachsene Stereotype von
Deutschland und den Deutschen, die sich im Familiengedächtnis bewahrt
haben.2 Diese negativen Einstellungen der deutschen Kultur, aber auch der
Sprache gegenüber findet sich gerade besonders häufig dort, wo die ökono-
mische Notwendigkeit es verlangt, dass man Deutsch lernt – etwa um als
Pendler eine besser bezahlte Arbeit zu bekommen oder um sich auf deut-
sche Konsumenten einzustellen.
Ganz anders sieht die Situation an den Grenzen aus, die zu den mit-
telosteuropäischen neuen EU-Beitrittsländern führen. Hier ist das Problem,
dass zwar die tschechischen, polnischen, slowakischen, ungarischen oder
slowenischen DeutschlernerInnen ein großes Interesse an Kontakten mit
deutschen oder österreichischen Schülern haben, diese aber umgekehrt
Vorbehalte gegen jeglichen Kontakt zeigen und sich kaum dafür interes-
sieren, die Sprache des östlichen Nachbars zu lernen.3 Diese zögerliche bis
ablehnende Haltung der Deutschen, die Nachbarsprachen zu lernen, wird in
Polen augenzwinkernd noch mit der „schwierigen polnischen Sprache“ ak-
zeptiert, andere Nachbarländer sehen die mangelnde Motivation aber auch
als Teil einer vereinnahmenden Haltung Deutschlands den anderen Ländern
gegenüber.
Eine besondere Rolle für die Förderung der Sprachen in Grenzgebieten
spielen die sogenannten Euroregionen, die im Zusammenhang mit den
INTERREG-Programmen der Europäischen Union gebildet wurden.
Sie stellen Zweckverbände von Kommunen und Körperschaften zur
Förderung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Grenzregionen
dar. Die EU hat neben dieser grenznahen Förderung von Sprachen
auch ein allgemeines Sprachenförderungsprogramm gestartet und ein
Europäisches Fremdsprachenzentrum in Graz (www.ecml.at) gegründet.
Im Zusammenhang mit der Lissabonner Strategie zur wirtschaftlichen,
sozialen und ökologischen Erneuerung wurde eine sprachenpolitische

2
  Vgl. als Beispiel die Umfrage unter Jugendlichen im deutsch-französischen Grenzraum
zu ihrem Selbstbild und dem Bild, das sie sich von ihren jeweiligen Nachbarn machen
(Kliewer 2006).
3
  Aber auch in Polen nimmt die Bereitschaft, Deutsch zu lernen, ab: Das Eurobarometer
Sprachen stellt 2006 fest, dass noch 19% der Befragten behaupten, sie könnten Deutsch
gut genug sprechen, um sich darin zu unterhalten (zum Vergleich: Englisch 29%, Russisch
26% (EUROBAROMETER 2006)). Es ist fraglich, ob diese Zahlen für die Zukunft noch
so zutreffen werden.
Plenarvorträge 131

Empfehlung erlassen (Aktionsplan der Europäischen Kommission für


Sprachenlernen und Sprachenvielfalt (Entschließungen vom 13.12.2001
und 14.2.2002)).4 Dies zielt darauf, dass neben der Muttersprache zwei
weitere Sprachen als Standard unterrichtet werden sollen. Dabei wird
nicht berücksichtigt, ob diese Sprachen durch eine räumliche Nähe moti-
viert sein sollen, nimmt also die Nachbarsprachen noch nicht gezielt in den
Blick. Gleichzeitig zeigte sowohl das Europäische Jahr der Sprachen 2001
wie auch die seitdem im September stattfindenden „Europäische Tage der
Sprachen“, dass der Aktionsplan der Europäischen Aktion sich besonders
positiv auf die Sprachenvielfalt auswirkt, was gerade der Mehrsprachigkeit
in Grenzräumen zugute kommt.

Die deutsch-polnische Situation


Der Deutschunterricht an der Grenze zwischen Polen und Deutschland
hat auch heute immer noch mit verdrängten Stereotypen zu kämpfen.
Besonders schwierig wurde die Situation durch die Grenzverschiebungen
nach 1945, die oft dazu geführt haben, dass die, die früher an der Grenze
lebten, nun mitten im Land leben und dafür andere Menschen an die Grenze
gerückt wurden. Die deutsche Sprache war jahrzehntelang in Polen auf-
grund der Verletzungen in der Zeit des Nationalsozialismus verpönt, die
Beziehungen zum Nachbarland DDR waren nicht die besten und erst in
den letzten dreißig Jahren wurde Deutsch zu einem selbstverständlich un-
terrichteten Fach, das sich aber nun gegen die Übermacht des Englischen
wehren muss.
Seit der Wende finden sich viele Initiativen für einen früheren
Fremdsprachenbeginn, teilweise werden diese durch private Einrichtungen
organisiert, was zu einer Zweiklassenwelt führt: Wer Geld hat, kann es sich
leisten, seinen Kindern guten Fremdsprachenunterricht zu bezahlen, der
die Grundlage zu gesellschaftlichem Aufstieg darstellt. In den staatlichen
Schulen gibt es einen gravierenden Mangel an qualifiziert ausgebildeten
Deutschlehrern. In Polen ist Englisch die erste Fremdsprache, jedoch kann
Deutsch als Abiturfach gewählt werden. Die Schüler können sich für das
Grund- oder höhere Niveau der Prüfung entscheiden, doch die Zahl der
Unterrichtsstunden bleibt in beiden Fällen gleich (2 Stunden pro Woche).
Die deutsche Sprache ist regional unterschiedlich verbreitet, so finden
sich Regionen, vor allem ehemals deutschsprachige, wo mehr Deutsch-
als Englischunterricht stattfindet. In der Gegend um Opole (Oppeln) wird
4
  www.ec.europa.eu/education/policies/lang/policy/index_de.html
132 Annette Kliewer

Deutsch sogar als Muttersprache unterrichtet bzw. es findet ein erweiterter


Deutschunterricht in ca. 100 Elementarschulen statt (zum Deutschunterricht
in Polen vgl. Stasiak 1997).
Nach der Gründung eines deutsch-polnischen Jugendwerks, das auch
den Schulaustausch intensiv fördert, ist viel in Bewegung gekommen, auch
wenn Helga Marburger und Silke Riesner grundlegende Probleme zwi-
schen deutschen und polnischen Jugendlichen sehen (Marburger/ Riesner
1996): Der Austausch wird belastet durch das wirtschaftliche Gefälle zwi-
schen beiden Staaten, sodass es für Polen erstrebenswerter ist sich dem
Nachbarn zu öffnen als für Deutsche.5 Dies führt zu Hierarchien und zur
Verfestigung von Klischees, die nur langsam überwunden werden. Von be-
sonderem Interesse könnte in diesem Zusammenhang die Situation in der
Uckermark darstellen: Polnische Pendler entscheiden sich dafür, hier billi-
geren Wohnraum zu finden als in der Nähe der Großstadt Szczecin. Sie kau-
fen alte Bauernhöfe auf, renovieren diese und finden es attraktiv, dass ihre
Kinder in Kindergärten und Grundschulen die deutsche Sprache lernen. Sie
sind finanziell meist bessergestellt als die deutschen Einwohner, dies bringt
die Vorurteile von den Polen als Billigarbeitern zum Kippen.6
Mit großem Engagement hat bis zum Ausscheiden seines Leiters
Hans Joachim Nauschütz das Deutsch-Polnische Literaturbüro die kul-
turelle Zusammenarbeit gefördert. In sieben Heften der zweisprachigen
Literaturzeitschrift Die Fähre/Prom wurde neueste Lyrik und Prosa ver-
öffentlicht, die kostenlos an die Klassen der Region verteilt wurden. Das
Büro organisierte Tandemlesungen mit deutschen und polnischen Autoren
und unterstützte ein Projekt des Bödecker-Kreises Brandenburg, der
Stadtbibliothek und des Schulamts: Schüler von zwei siebten Klassen aus
Frankfurt/Oder und Osno dramatisierten unter Mithilfe eines Autors, einer
Kostümbildnerin und eines Regisseurs einen Text der Autorin Jutta Schlott
mit kommentierenden Dialogen.
Ein deutsch-polnisches Nachbarsprachenkonzept wurde mit dem
Grundschulprojekt „Spotkanie heißt Begegnung – ich lerne Deine Sprache“
verfolgt. Ca. 1300 Grundschüler lernten in je 36 Deutsch- und Polnisch-
Arbeitsgemeinschaften die Nachbarsprache und trafen sich regelmäßig mit
Partnerkindern des anderen Landes (vgl. Nöth 2001). Auch hier waren die
Lernfortschritte bei den polnischen Kindern besser als bei den deutschen.
Es gibt auch im Sekundarbereich mehrere bilinguale Schulprojekte in
5
  Vgl. dazu auch die empirische Studie von Wilberg 1995.
6
  Ähnliches zeigt sich auch in der Gegen von Görlitz, wo deutsche Geschäfte erstmals mit
polnischen Inschriften um die Kaufkraft der polnischen Nachbarn werben. Die polnische
Sprache bekommt dadurch einen neuen höheren Status.
Plenarvorträge 133

Grenznähe: Zu nennen ist etwa ein Projekt des Gymnasiums in Heringsdorf


mit dem in Świnoujście, das seit dem Jahr 2001 läuft. Nach einem Jahr ge-
trenntem Sprachunterricht in der 7. Klasse findet von Klasse 8 bis 10 einmal
die Woche Unterricht auf Deutsch und Polnisch in gemischten Lerngruppen
statt, wobei auch andere Fächer einbezogen werden. Gemischtsprachige
Klassen finden sich auch im Karl-Liebknecht-Gymnasium Frankfurt an der
Oder sowie weitere Projekte in den Gymnasien Neuzelle, Gartz, Guben und
Löcknitz. Zwischen den Städten Schwedt und Chojia findet ein regelmä-
ßiger Lehreraustausch statt.
Die trinationale Euregio-Region Oberlausitz (deutsches Bundesland
Sachsen), Niederschlesien (Polen) und Liberec sowie Ustí nad Labem
(Tschechien) bilden die Euroregion Euroregion Neiße-Nisa-Nysa, wo
grenzüberschreitende Austauschbeziehungen gepflegt werden. Im Jahr
2006 wurde unter dem Titel „Brücken bauen in der Euroregion Neiße“
ein 1.Pontes Bildungsforum 2006 in Görlitz organisiert (vgl. www.pontes-
pontes.de/inhalt/de-pontesservice-download-dokumentationen.html).
Im deutsch-polnischen Jahr 2005-2006 (vgl.www.de-pl.info) wurden
auch Schulprojekte gesondert gefördert. So hat z. B. das Land Sachsen
spezielle Lehrerfortbildungen für die deutsch-polnische Zusammenarbeit
angeboten und das Lehrerentsendeabkommen intensiviert (www.sachsen-
macht-schule.de/dpj/schulen.html).

Die Grenzsprachendidaktik7
Die Fremdsprachendidaktik propagiert seit einigen Jahren an den na-
tionalen Grenzen einen Unterricht der „didaktischen Proxemik“ (Bufe
1991), ja eine „Grenzkompetenz“ (Raasch 2001: 60), ausgehend von der
Erkenntnis, dass Grenzen besondere Chancen, aber auch Risiken für das
Zusammenleben von Menschen bieten (Raasch 1999b: 58). Ihre Existenz
scheint auf ihre Überwindung zu zielen, anders als in früheren Zeiten,
da etwa Ernst Moritz Arndt 1813 definierte: „Die Sprache also macht
die rechte Grenze der Völker“, werden sie als zu überwindende „Narben
der Geschichte“ wahrgenommen. Wenn so „die Grenze“ ins Zentrum des
Interesses rückt, so könnte dies modellhaft sein für eine Verschiebung des
7
  Hervorragende Arbeiten zum Sprachenlernen an der Grenze hat vor allem die öster-
reichische Linguistik und Literaturdidaktik hervorgebracht: Krumm 1999a, Krumm 2001,
1999b, 2003, Krumm/Oomen-Welke 2004, Wintersteiner 2006. Zu erwähnen sind aber
auch die Arbeiten aus dem Kontext der Saar-Lor-Lux-Region von Autoren, die sich um
den grenznahen Französisch-Unterricht verdient gemacht haben: Raasch 1997, 1999,
2000, 2001.
134 Annette Kliewer

Interesses vom „Zentralen“ zum „Peripheren“. Das Leben an der Grenze


ist in erster Linie bestimmt durch das Nebeneinander mehrerer Sprachen.
Lange Zeit dominierte nicht nur in den Schulen die Vorstellung, dass erst
einmal die Muttersprache sicher verankert sein muss, bevor eine zweite
Sprache angefangen werde (Vorwurf der „doppelten Halbsprachigkeit“).
Zweisprachigkeit wurde als eine Gefahr gesehen, die zu Interferenzen,
Sprach- und Kulturdurchmischungen führe. Die neue Forschung über
eine frühe Mehrsprachigkeit stellt die Vorteile, nicht die Probleme der
Mehrsprachigkeit in den Vordergrund: Gerade der Gemeinsame europäische
Referenzrahmen für Sprachen des Europarats von 2001 (TIM, NORTH, /
COSTE 2001) legitimiert auch andere Sprachen der Schüler, die außerschu-
lisch erworben wurden. Diese Aufwertung der Mehrsprachigkeit erklärt sich
nicht zuletzt aus wirtschaftlichen Gründen, die für Grenzregionen in beson-
derem Maße zutreffen: Annäherung zwischen den europäischen Nachbarn
wird gefördert, weil sich die Schule auf einen europäischen Markt einstellen
muss, der von den Schülern vermehrt Mehrsprachigkeit erwartet.
Bislang fühlten sich trotzdem die meisten Schulen nicht zuständig für
die Kontakte mit den Nachbarländern: Gab es Fremdsprachenlehrer, die
die Nachbarsprachen vertraten, so hatten sie für Austauschbeziehungen
zu sorgen, wurden diese Sprachen als Fach nicht unterrichtet, so interes-
sierte man sich kaum für grenzüberschreitende Kontakte. Dabei könnten
gerade die muttersprachlichen Deutschlehrer in Deutschland als Experten
für die deutsche Kultur auftreten. Eine Erweiterung interkultureller und
interregionaler Kompetenzen lässt sich langfristig nur durch eine Reform
der Lehrerbildung erreichen, die zurzeit vielfach geplant wird. Rupprecht
S. Baur und Christoph Chlosta fordern mit Blick auf die Grenzsituation
zwischen Nordrhein-Westfalen und den Niederlanden eine gemeinsame
Ausbildung von Studierenden für Deutsch als Muttersprache und Deutsch
als Fremdsprache im Grenzbereich (Baur/ Chlosta 1999: 16). Es ist
eine besondere Aufgabe des Deutschunterrichts „als Unterricht, der sich
mit der Vermittlung der deutschen Sprache und Kultur befasst“, im Zuge
der internationalen Vernetzung von Schulen als „möglicher Partner von
Deutschlehrern und Deutschlernern im Ausland aktiv zu werden“ (ebd. 21).
Ziel wäre eine Umgestaltung der Deutschlehreraus- und -weiterbildung hin
zu Kompetenzen von Kulturvergleich und Kulturrelativismus. Dazu könnte
die Einführung eines strukturierten Auslandsaufenthalts in die Ausbildung
für Muttersprach-Deutschlehrer beitragen. Außerdem sollte Wissen über
die Nachbarkulturen verbindlich gemacht werden, Lehrer wären zu sensi-
bilisieren für die besondere Situation in der Region.
Plenarvorträge 135

Deutschunterricht an der Grenze hat demnach nicht nur die Aufgabe,


einem Mehrsprachigkeitskonzept zuzuarbeiten. Dies ließe sich als unkri-
tische Geste gegenüber den Anforderungen von Politik und Wirtschaft
in der grenzüberschreitenden Region verstehen, die eine „interkulturelle
Kompetenz“ der Menschen fordern, um sie in einer globalisierten Welt effi-
zient und mobil einsetzen zu können. Gerade die Grundsätze der Lissabon-
Strategie können als Instrumentalisierung der Bildung für kurzfristige,
rein wirtschaftspolitische Ziele gesehen werden, wenn gefordert wird, „die
Union zum wettbewerbsfähigsten und dynamischsten Wirtschaftsraum der
Welt zu machen“. „Interkulturelle Kompetenz“ in Grenzregionen muss
dagegen Auseinandersetzung mit der eigenen Identität, Kritik an Macht-
und Ohnmacht-Beziehungen im Kulturkontakt sein. Werner Wintersteiner
geht in seinem Konzept einer interkulturellen Literaturdidaktik von der
Friedenspädagogik aus: Interkultureller Deutschunterricht müsse bewusst aus
einer solidarischen Haltung denen gegenüber agieren, die von dieser Art der
globalisierten Wirtschaft ausgeschlossen werden (vgl. Wintersteiner 2006).

Methoden der grenzüberschreitenden Arbeit


Neben den üblichen Methoden der Fremdsprachendidaktik finden sich
in Grenznähe besondere Möglichkeiten der Förderung:
- School-Hopping: Schüler fahren entweder im Klassenverbund oder in
Teilgruppen in eine grenznahe Schule des Nachbarlandes, um dort dem
normalen Unterricht zu folgen oder um einen speziellen Unterricht in
Kooperation mit Schüler dieser Schule in gemischten Klassen zu erhalten.
Möglich ist dies in Unterrichtblöcken (z. B. ein halbes Jahr, eine Woche,…)
oder aber an einem festen Tag jede Woche.
- Austausch von Ergebnissen eines produktionsorientierten Fremd­
sprachen­unterrichts: Die Schüler zweier Klassen treffen sich, um sich ge-
genseitig ihre Theaterstücke, Rezitationen, Wandzeitungen oder Power­
point-Präsentationen etc. vorzuführen.
- Lehreraustausch: Konsequenz einer Internationalisierung der Lehrer­
bildung ist auch eine bessere Organisation von Lehreraustausch: Mutter­
sprachliche Deutschlehrer werden vermehrt im Ausland eingesetzt, ein
Projekt, das insbesondere in grenznahen Gebieten relativ einfach umsetzbar
ist, bislang aber an einer Vielzahl von administrativen Hürden scheitert.
- Tandem-Lernen: Gerade die Möglichkeit des persönlichen Kontakts
in Grenznähe legt es nahe, auf Modell des gemeinsamen, autonomen
Sprachenlernens zurückzugreifen, wie sie insbesondere im Tandem-Modell
136 Annette Kliewer

vorgesehen sind (vgl. Holstein/Oomen-Welke 2006): Die Schüler treffen


sich dazu, um sich kennenzulernen und organisieren selbst Möglichkeiten,
bei denen beide Partner die Sprache des anderen lernen.
- eTwinning: Diese Kontakte können dann auch per Mail-Kontakt oder
in besonderen Chat-Rooms fortgesetzt werden. eTwinning ist Teil des
ELearning-Programms der Europakommission und des Projekts „Schulen
ans Netz“ und bietet regionale Kontaktseminare in Grenzregionen zum
Kennenlernen an (www.etwinning.net).
- Videokonferenz: Eine weitere Fortsetzungsmöglichkeit in der Gruppe
sind Videokonferenzen, die aber umso erfolgreicher sind, je besser die
Teilnehmenden sich schon durch persönlichen Kontakt kennen.

Einige Beispiele für einen Literaturunterricht an der Grenze


zu Polen
- Deutsche Literaturgeschichte in Polen
Eine Möglichkeit, die Schüler besondere Situation an der Grenze nach
Polen zu verdeutlichen, wäre, deutsche Schriftsteller in ihrem regionalen
Kontext wahrzunehmen: Joseph von Eichendorff hat in Schlesien gelebt,
Günter Grass in Gdansk, E.T.A. Hoffmann in Głogów, Poznan, Płock und
Warschau. In diesem Zusammenhang ist es vielleicht doch notwendig, sich
mit der komplizierten polnischen Geschichte vertraut zu machen, um zu ver-
stehen, wie hier die Grenzen verliefen, wie hier die Kontakte früher waren.
- Polnische Schriftsteller im Deutschunterricht
Eine zweite Möglichkeit wäre, polnische Schriftsteller in Übersetzung
kennenzulernen. Vor allem das Schreiben der Nobelpreisträger Czesław
Miłosz und Wisława Szymborska, aber auch andere Texte aus den
Sammelbänden „Panorama der polnischen Literatur“ oder „Meine pol-
nische Bibliothek“, beide herausgegeben von Karl Dedecius, dem groß-
en Vermittler zwischen Polen und Deutschland eignen sich hier. Matthias
Kneip und Markus Mack haben mit dem didaktisierten Material „Polnische
Literatur und deutsch-polnische Literaturbeziehungen“ (2003) sehr gutes
Material für die 10. bis 13. Klasse bereitgestellt.
Was den Kinder- und Jugendliteraturbereich angeht, so finden sich nur
einzelne Übersetzungen: Die Popliteratin Dorota Masłowska erhielt 2005
für „Schneeweiß und Russenrot“ den Deutschen Jugendliteraturpreis.
Besonders spannend sind dagegen die aktuellen Veröffentlichungen von
polnischen Illustratoren auf dem deutschen Kinderbuchmarkt, etwa das
2012 prämierte Bilderbuch „Blumkas Tagebuch“ von Iwona Chmielewska,
Plenarvorträge 137

das das pädagogische Werk von Janusz Korczak eindringlich darstellt,8


oder die Sachbücher zu den Themen Architektur, Design, Mode des
Illustratorenpaares Aleksandra Mizielińska und Daniel Mizieliński.
Im Rahmen eines interkulturellen Literaturunterrichts, der Mehr­
sprachigkeit zum Thema macht, könnten ansatzweise auch Texte in pol-
nischer Originalsprache präsentiert werden. Diese könnten von polnisch-
sprachigen Mitschülern vermittelt werden, interessant ist aber auch,
verschiedene literarische Übersetzungen miteinander zu vergleichen, aus-
gehend von einer wörtlich übersetzten Rohfassung oder einer maschinell
erstellten Übersetzung z. B. mit dem „Google“-Übersetzer.
- Auseinandersetzung mit dem Eigenen und dem Fremden
Schließlich wäre grundlegend für einen Literaturunterricht an der deutsch-
polnischen Grenze eine Auseinandersetzung mit der eigenen Identität, mit
Fragen von Heimat, von Begegnung mit dem Fremden. Hier finden sich
natürlich immer noch Minenfelder im deutsch-polnischen Verhältnis, ver-
drängte Familiengeschichten können in unerwarteten Momenten wieder
hervorbrechen. Mögliche Be-, aber nicht Ver-Arbeitungsmethoden finden
sich in Vorschlägen der interkulturellen Pädagogik, die sich mit Fragen von
kulturellem Erbe oder Familientraditionen auseinandersetzen, Beispiele
bieten die folgenden Arbeitsaufträge:

Wenn Menschen umziehen, versuchen Interviewt anhand des folgenden


sie das mitzunehmen, was ihnen wichtig Leitfadens eine Person aus eurer Familie
ist. Einen Teil können sie nur im Kopf über die Geschichte dieser eurer Familie:
transportieren: Lieder, Erinnerungen 1) Name der interviewten Person,
an bestimmte Feiern, Familiennamen, Verwandtschaftsverhältnis
Kinderreime,... In einem „kulturellen 2) Wie lange lebt meine Familie schon in
Koffer“ tragen Menschen ihr ganzes diesem Haus, dieser Stadt, dieser Region,
Leben mit sich, was für sie wichtig ist/ diesem Staat?
was sie vielleicht an ihre Kinder weiter- 3) Wo hat sie vorher gelebt?
geben wollen. 4) Warum und wann ist die Familie um-
Packt Eure „kulturellen Koffer“ für gezogen?
einen Abschied aus Eurer gewohnten 5) Wo lebten meine Vorfahren?
Umgebung. Was würdet Ihr mit- 6) Was war ihr Beruf?
nehmen? Füllt dazu einen leeren 7) Welche Sprachen/Mundarten sprachen
Schuhkarton mit Bildern oder Texten, meine Vorfahren? Spreche ich sie heute
die für Euch wichtig sind. Stellt diesen noch?
Karton der Klasse vor 8) Ich bin stolz auf meine Familie, weil...

8
  Das deutsche Poleninstitut in Darmstadt verfügt über eine Datenbank, in der überprüft
werden kann, welche polnischen Autoren ins Deutsche übersetzt werden können und um-
gekehrt. (www.deutsches-polen-institut.de/Service/Bibliografien/deutsch-polnischeueber-
setzung/index.php?we_lv_start_0=1180 (Zugriff 18.6.2012)).
138 Annette Kliewer

- Das deutsch-polnische Verhältnis


Natürlich birgt jede Auseinandersetzung mit dem deutsch-polnischen
Verhältnis im Unterricht die Gefahr, dass alte Stereotype aufgewärmt
werden und vielleicht sogar verstärkt werden. Besonders geeignet für
den Unterricht sind daher Medien, die von den Schülern ohne Scheu
auch kritisiert werden. Das sind in der Regel Texte und Medien aus der
Populärkultur. Dazu gehören einerseits Filme, die das deutsch-polnische
Verhältnis kritisch darstellen, etwa Hans-Christian Schmids „Lichter“
(2003), das die Situation an der polnisch-deutschen Grenze in Frankfurt/
Oder und Słubice vor der Erweiterung des Schengen-Raums an die Grenze
zur Ukraine darstellt. Man sollte aber auch nicht davor zurückschrecken,
populäre Texte wie das gewollt politisch korrekte „Viva Polonia. Als deut-
scher Gastarbeiter in Polen“ des deutschen Kabarettisten Steffen Möller in
den Unterricht aufzunehmen und eventuell kritisch zu beurteilen.
Diese Beispiele aus dem Literaturunterricht orientieren sich an pol-
nischen Schülern, die Deutsch lernen, aber auch an deutschen Schülern im
Muttersprachunterricht. Besonders fruchtbar sind alle Unterrichtsversuche,
wenn beide Schülergruppen zusammenfinden und grenzüberschreitende
Begegnungen einbezogen werden.

Literatur
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Plenarvorträge 139

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Michail L. Kotin (Zielona Góra / Poznań)

Modalitäten

1. Modalitätsarten
In der einschlägigen Literatur zur Modalität – sowohl im Bereich der
morphologisch und syntaktisch codierten Verbalmodi als auch im Bereich
der Modalverben, Modaladverbien, Modalprädikativa und Modalpartikeln
der deutschen Gegenwartssprache – werden diverse Arten der durch alle
genannten Entitäten bzw. Formen bezeichneten „Modalitäten“ aufge-
führt. Eine Auflistung der hierzu verfassten Titel ist an dieser Stelle ent-
behrlich, da sie mehrere Seiten umfassen würde. Die wichtigsten Arbeiten
zur Klassifizierung modaler Entitäten des Gegenwartsdeutschen sind den
Fachleuten außerdem sehr gut bekannt, sodass wir hier lediglich auf die
Titel Bezug nehmen wollen, die für konkrete im vorliegenden Beitrag the-
matisierte Problemstellungen oder -lösungen einschlägig sind.
Bekanntlich werden modale und modal markierte Sprachmittel dann
eingesetzt, wenn irgendwelche „Abweichungen“ von dem als neutral ange-
setzten Faktizitätsmodus ausgedrückt werden müssen. Hierzu gehören sol-
che grundlegenden Bedeutungssphären wie Wunsch, Option, Möglichkeit,
Notwendigkeit, Wahrscheinlichkeit, Annahme/Vermutung, Nichtfaktizität,
Aufforderung etc., wobei diese modalen Bereiche miteinander sehr häufig
interagieren, sodass gewisse Affinitäten zwischen ihnen oder aber deren
Affinitäten zu anderen, verwandten Kategorisierungssphären bestehen. Im
Weiteren werden gerade diese kategorialen Affinitäten (und Divergenzen)
behandelt.
Plenarvorträge 141

Zunächst muss aber ein – wenn auch nur grobes – Inventar an


Modalitätsarten aufgestellt werden, damit man dann die aufgelisteten
Arten der Modalität zueinander und zu anderen Kategorien (vor allem im
Verbalsystem) stellen kann.
1. Volitive (bouletische, kupitive) Modalität (zur Terminologie vgl.
Meier-Brügger 82002, 262, Hundt 2003, 343 ff., Müller/Reis 2011, 111)
Ich möchte hier bleiben.
Wir wollen die Rechnung heute begleichen.
Peter wollte dir etwas mitteilen.
Ich hätte gerne einen Kuchen mit Sahne.
Ich würde dich heute besuchen.
Wir sehen, dass hier sowohl Modalverben wie möchte und wollen ver-
wendet werden, die für diese Modalitätsart unzweifelhaft prototypisch
sind, als auch morphologisch bzw. syntaktisch geprägte Modalformen des
Konjunktivs II bzw. des sog. Konditionalis, welche kontextbedingt oder
durch Einsatz zusätzlicher Marker wie gerne eine volitive Lesart bekom-
men.
2. Dispositionelle Modalität (zum Begriff s. z. B. Holl 2010)
Wir können jetzt baden gehen.
Peter darf gehen.
Das hätten wir doch anders machen können.
Darf ich was fragen?
Diese Modalitätsart drückt eine vorhandene Option aus, welche sich ent-
weder aus objektiver Möglichkeit oder aber aus einer durch Erlaubnis „er-
möglichten“ Disposition ergibt. Wiederum sind hier die Codierungsmittel
sowohl Modalverben als auch Modalformen.
3. Verisimile Modalität
Bei dieser Temperatur kann der Brennstoff explodieren.
Der Patient kann sterben, wenn er nicht ab sofort stationär behandelt
wird.
Der unmittelbare Bezug auf die dispositionelle Modalität ist hier offen-
kundig. Der Unterschied besteht darin, dass die dispositionelle Modalität
die Fähigkeit des Subjekts voraussetzt, eine Handlung auszuführen oder
diese zu unterlassen (Peter kann jetzt schwimmen setzt ja voraus, dass
Peter grundsätzlich die Fähigkeit zu schwimmen besitzt). Im Falle der ve-
risimilen Modalität ist der Bezug der Möglichkeit auf die Fähigkeit blo-
ckiert. Den Terminus „verisimel“ schlagen wir hier vor, um diese Art von
Modalität von den sonstigen Arten explizit abzuheben, was in der Literatur
142 Michail L. Kotin

gewöhnlich nicht gemacht wird. Das einzige eindeutige Codierungsmittel


dafür ist das Modalverb können.
4. Nezessive Modalität (vgl. Pape-Müller 1980, 177).
Peter muss viel arbeiten.
Das muss heute erledigt werden.
Wir sollten gestern ins Dekanat gehen.
Die Codierungsmittel der Modalität der Notwendigkeit, welche entwe-
der unmittelbar beim Subjekt angesiedelt ist bzw. als „höhere Gewalt“ er-
scheint oder aber als Befehl bzw. Anordnung einer anderen Person auftritt,
sind die Modalverben resp. müssen und sollen.
5. Epistemische (sprecherbezogene) und evidentielle (quellenbezogene)
Modalität (vgl. u.v.a. Hundt 2003, Aikhenvald 2004, Diewald/Smirnova
2011)
Er kann/könnte/wird/muss jetzt in seinem Büro sitzen.
Heute kann/muss/wird es regnen.
Peter kann/muss/wird die Klausur fehlerfrei geschrieben haben.
Wahrscheinlich/vielleicht regnet es heute.
Peter sitzt wohl in seinem Büro.
Er soll/dürfte jetzt in seinem Büro sitzen.
Heute soll/dürfte es regnen.
Peter soll/dürfte die Klausur fehlerfrei geschrieben haben.
Angeblich sitzt Peter in seinem Büro.
Diese Modalitätsarten stammen von der dispositionellen, verisimilen
oder nezessiven Bedeutung, sind aber ihrer Natur nach grundsätzlich an-
ders beschaffen. Sie beziehen sich nicht auf das Satzsubjekt, sondern drü-
cken lediglich die – unterschiedlich starke – Vermutung des Sprechers über
das Vorhandensein/Nicht-Vorhandensein eines Sachverhalts aus. Demnach
liegt diese Modalität im Bereich der sprecherbezogenen Faktizität/
Nichtfaktizität. Je nachdem, ob sie durch ein dispositionelles oder ein nezes-
sives Modalverb codiert wird, ist die subjektive Vermutung des Sprechers
stärker oder schwächer. Außerdem codieren die Modalverben dürfen und
sollen, die im nicht-epistemischen Bereich zusätzlich eine weitere Person
implizieren, welche die Möglichkeit resp. Notwendigkeit manifestiert, im
epistemischen Bereich eine (davon abgeleitete) Evidentialität (Vermutung,
die auf einer externen Informationsquelle beruht). Die epistemische
Modalität wird durch die Modalverben der Gruppen 2-4 codiert. Eine
Sonderstellung nimmt das Verb werden ein, das keine nicht-epistemische
Semantik besitzt, sondern dessen Zukunftsbezug im analytischen Futur
die zusätzliche epistemische Lesart in bestimmten Kontexten evoziert.
Plenarvorträge 143

Außer den Modalverben in epistemischer Lesart sind die Modaladverbien


und Modalpartikeln wahrscheinlich, vielleicht, vermutlich, wohl u. a. resp.
mutmaßlich, angeblich etc. typische Indikatoren rein epistemischer resp.
evidentiell-epistemischer Funktion.
6. Autoevidentielle (subjektbezogene) Modalität
Woher wollen Sie das wissen?
Peter will die Klausur fehlerfrei geschrieben haben.
Sie wird durch das Modalverb wollen codiert, drückt eine Überzeugung
des Satzsubjekts (nicht des Sprechers!) von der Faktizität des „semantisch
eingebetteten“ Sachverhalts aus und stammt von der volitiven (bouletischen,
kupitiven) Semantik des Verbs wollen (vgl. die Beispiele unter 1.).
7. Nichtfaktische Modalität (vgl. Diewald 1999, 174 ff.)
Wir hätten gestern beinahe gewonnen.
Er wäre an dieser Seuche beinahe gestorben.
Er würde das unter anderen Bedingungen vergessen haben.
Diese Art der Modalität kann zwar kontextbedingt auch in der
Zukunftsperspektive auftreten (Ich würde dich gern besuchen, aber lei-
der habe ich keine Zeit) oder sich einfach zeitlos aus dem Weltwissen er-
geben (Wenn ich ein Vogel wäre, flöge ich zu dir), doch ihre eigentliche
funktionale Sphäre ist die Vergangenheitsperspektive, die im Deutschen
durch die Form des Plusquamperfekts Konjunktiv (viel seltener durch
den sog. Konditionalis II) ausgedrückt wird. In diesem Fall erscheint die
Nichtfaktizität eigentlich als Kontrafaktizität, wobei der unmittelbare
Vermittlungsfaktor die temporale Perspektive der Vergangenheit ist: Was
generell möglich ist, kann in der Vergangenheit entweder realisiert oder
nicht realisiert worden sein. Eine realisierte Möglichkeit ist reine Faktizität
und bedarf daher grundsätzlich keiner konjunktivischen Signale, wohinge-
gen eine nichtrealisierte Option entsprechend durch diese Signale codiert
wird.
8. Kontrafaktische Modalität (vgl. Diewald 1999, 174 ff.)
Er benimmt sich so, als wäre er ein kleines Kind.
Dieser Typ der Kontrafaktizität bedarf keiner temporalen Vermittlung,
da sie sich auf empirisch wahrnehmbare oder anders bekannte Sachverhalte
bezieht, welche per se unmöglich sind.
9. Konditionale faktische, nichtfaktische und kontrafaktische Modalität
(wenn-dann-Sequenzen)
Wenn ich morgen Zeit hätte, käme ich zu dir/würde ich zu dir kommen.
Wenn ich gestern Zeit gehabt hätte, wäre ich zu dir gekommen.
Wenn ich ein Vogel wäre, flöge ich zu dir.
144 Michail L. Kotin

Die konditionale Modalität betrifft den wenn-Teil einer wenn-dann-


Sequenz, im dann-Teil wird dagegen eine reale oder irreale Folge aus der
realen oder irrealen Bedingung codiert. Da die Indikation der Bedingung
normalerweise nicht durch die würde-Umschreibung erfolgt (die
würde+Infinitiv-Form erscheint am häufigsten gerade im dann-Teil), ist die
gängige Bezeichnung der würde+Infinitiv-Periphrase in den Grammatiken
als Konditionalis eher erstaunlich. Vielmehr ist sie ein optionaler oder
nichtfaktischer „Finalis“. Der Konditionalis wird dagegen fast immer durch
die einfachen Konjunktiv II-Formen ausgedrückt.
10. Imperative Modalität
Lest den Paragraphen 9!
Komm her!
Gehen wir schlafen!
Fenster aufmachen!
Die Augen geradeaus!
Du sollst nicht töten!
Die prototypische Codierungsform dieser Modalitätsart ist die gram-
matische Form des Imperativs, aber sie kann ebenso durch Infinitiv- oder
Partizip II-Konstruktionen, durch elliptische Verbalformen mit Präverb und
ohne „Restverb“ oder auch durch Modalverbkonstruktionen bezeichnet
werden. Die Semantik dieser Modalitätsart kann als Übertragung einer für
den Sprecher erwünschten Aktion (oder deren erwünschter Unterlassung)
an den Hörer beschrieben werden.

2. Modalitätsbezüge
In diesem Unterkapitel werden kategoriale Affinitäten der Modalformen
als Träger der Modalitäten zu anderen Verbalkategorien der deut-
schen Gegenwartssprache eruiert. Es wird gezeigt, welche kategorialen
Konvergenzen zwischen Modalität und Diathese, Aspekt und Tempus be-
stehen und wie diese die Architektonik des Verbalsystems beeinflussen.

2.1 Modalität und Diathese


Betrachten wir eingangs folgende Beispiele:
1. Der Polizist kann/darf/muss/soll/will/möchte den Autodieb verfolgen.
2. Der Autodieb kann/darf/muss/soll/*will/*möchte vom Polizisten ver-
folgt werden.
Plenarvorträge 145

3. Der Polizist würde den Autodieb verfolgen vs. (*)Der Autodieb würde
vom Polizisten verfolgt werden. [*würde gern verfolgt werden, doch
würde unter diesen Umständen verfolgt werden…]
Die durch wollen bzw. möchte ausgedrückte volitive Modalität ord-
net dem Satzsubjekt die Kontrollfunktion zu, wodurch eine Passiv­
transformation (anders als im Falle der „Anhebung“ bei anderen
Modalverben) unmöglich ist (vgl. Fujinawa 2008, 101 ff.). Der Sprecher ist
hier keine Instanz, die den aktivisch ausgedrückten Sachverhalt in irgendei-
ner Weise einschätzt, er stellt nur eine Tatsache fest. Der Wünschende deckt
sich als Instanz mit dem Handelnden (der Polizist will und verfolgt). In bei-
den Fällen ist er sozusagen „aktiv“ – einmal ist das Wünschen bzw. Wollen
eine aktive individuelle geistige Handlung, zum anderen ist verfolgen
eine aktive individuelle physische Handlung. Man kann sagen, dass beide
Handlungen sich in der Subjektsphäre befinden und diese nicht verlassen
können. Eine Passivtransformation würde diese Einheit zerstören, sodass
die Lesart des formal „entsprechenden“ Passivsatzes semantisch gesehen
nie dieselbe sein kann wie die des Aktivsatzes. Bei Prädikaten wie verfol-
gen ist dies besonders gut sichtbar, aber eine semantische Entsprechung von
Aktiv- und Passivsatz ist bei wollen in keinem Fall zulässig, beide Sätze
drücken stets unterschiedliche Sachverhalte aus, bei denen das Wollen bzw.
Wünschen immer an das Satzsubjekt gebunden ist, während die auszufüh-
rende Handlung im Passivsatz regelrecht nicht dem Satzsubjekt zugeschrie-
ben wird: Er will sie fragen ≠ Sie will von ihm gefragt werden. Gefragt wird
also in beiden Fällen sie, doch gewollt wird das Fragen im ersten Fall von
ihm und im zweiten von ihr.
Grundsätzlich anders sieht es bei anderen (nicht-volitiven) Modalverben
aus. Die Passivdiathese ist hier stets eine semantisch volläquivalente
Umkehrung des jeweiligen Aktivsatzes. Er kann sie fragen ist seman-
tisch gesehen dasselbe wie Sie kann von ihm gefragt werden. Auch bei
den Prädikaten darf fragen, muss fragen und soll fragen entspricht die
Passivform semantisch der Aktivform. Der Sprecher wechselt einfach die
Perspektive und interpretiert denselben Sachverhalt so, dass das Agens im
Passivsatz die Subjektfunktion verliert. Die Verwendung des Modalverbs
stört ihn nicht daran, da das Modalverb sich genauso wie das Vollverb
verhält. Das Können, das Dürfen, das Sollen oder das Müssen unter-
scheiden sich somit grundsätzlich von dem Wollen. Sie drücken inaktive
Eigenschaften des Subjekts aus, wodurch ihre „aktive“ Zuordnung dem
Satzsubjekt durch den Sprecher erfolgt. Anders als bei wollen (oder bei
möchte) wird der Sachverhalt vom Sprecher auf eine besondere Art und
146 Michail L. Kotin

Weise eingeschätzt. Peter kann es tun ist nicht eine bloße Feststellung ei-
ner Tatsache durch den Sprecher, wie im Falle von Peter will es tun. Hier
schreibt der Sprecher dem Satzsubjekt eine Eigenschaft zu und beurteilt
die Realisierbarkeit einer Aktion durch das Satzsubjekt. Wird dieselbe
Prozedur im Passivsatz codiert, werden sämtliche semantischen Bezüge
des Aktivsatzes beibehalten.
Die Modalverben indizieren also durch ihre Semantik („root modality“
nach Kratzer 2012, 49 ff.) bestimmte Komponenten, die u.a. zwischen
der Kategorie der Modalität und der Kategorie des Genus verbi „vermit-
teln“, und gewährleisten dadurch eine formale Realisierung der coverten
Konvergenz zwischen den beiden Kategorienbereichen im Verbalsystem.
Wie verhält es sich nun aber im System der semantisch unspezifizierten
grammatischen Modalformen? Im Unterschied zu den „semantisch starken“
(spezifizierten) Modalverben oder anderen lexikalischen Indikatoren der
Modalität codieren diese Letzteren per definitionem lediglich die Modalität
als solche oder höchstens eine temporal vermittelte Modalität (wie die
Form des Konditionalis, die allerdings von einigen Linguisten umgekehrt
als Marker einer modal vermittelten Temporalität eingestuft wird, vgl.
Thieroff 1992) bezeichnen. Die periphrastische würde-Form ist unbestrit-
ten stärker grammatikalisiert als die Modalverb-Konstruktionen. Daher
kann deren Bezug auf Teilbereiche der Volitivität resp. Optionalität oder
Kontrafaktizität nicht kontextfrei festgestellt werden. Die Sätze des Typs
Er würde heute kommen haben normalerweise mehrere Lesarten, abhän-
gig davon, welche modale „Begleitsemantik“ im bestimmten Kontext re-
alisiert wird. Es kann sich nämlich um einen Wunsch oder eine Option
handeln. Die Konkretisierung der jeweiligen Lesart kann lediglich über den
Gesamtkontext, ohne Einsatz zusätzlicher sprachlicher „Hilfsindikatoren“
erfolgen oder aber diese enthalten, vgl. Er würde gern kommen vs. In die-
sem Fall/unter diesen Umständen würde er kommen. Bei der ersten Lesart
impliziert die würde-Umschreibung ein Wollen, bei der letzteren ein
Können, ggf. ein Müssen bzw. ein Sollen.
Dieser grundsätzliche Unterschied in der Semantik, welcher beim
Gebrauch eines Modalverbs overt und beim Gebrauch der würde+Infinitiv-
Periphrase covert codiert wird, wird selbstverständlich auf die Diathese
entsprechend projiziert. Falls das Vollverb in der Infinitivform generell
„passivfähig“ ist, kann auch der Satz mit einer würde-Form passiviert
werden. Doch ist der dem Aktivsatz semantisch äquivalente Passivsatz
nur im Fall der optional-konditionalen Lesart möglich, dagegen ergibt die
Passivierung des Satzes mit einer würde-Umschreibung in volitiver Lesart
Plenarvorträge 147

keinen dem Aktivsatz äquivalenten Sinn und ist daher aus semantischen
Gründen ungrammatisch: Er würde von mir unterstützt werden impliziert
immer nur die nicht-volitive Lesart des aktiven „Ausgangssatzes“ (Ich wür-
de ihn [in diesem Fall/unter diesen Umständen] unterstützen, doch nicht
Ich würde ihn [gern] unterstützen – dieser Aktivsatz ist grundsätzlich nicht
passivierbar, da die Passivtransformation den Indikator gern nicht dem
Agens, sondern dem Satzsubjekt des Passivsatzes zuweisen würde, welcher
aus der Perspektive des „Tuns“ passiv wird, doch aus der Perspektive des
„Wollens“ stets aktiv bleiben muss).
Es wurde also gezeigt, dass die – overt oder covert ausgedrückte –
Wunschsemantik eine andere syntaktische Rollenverteilung voraus-
setzt als die Semantik der Optionalität, Dispositionalität, Verisimilität
oder Nezessivität. Diese Tatsache hat unmittelbare Folgen für die
Passivtransformation, wodurch eine direkte kategoriale Konvergenz zwi-
schen Modalität und Diathese gegeben ist. Diese kategoriale Konvergenz
trägt ohne Zweifel Universalcharakter, d. h., man hat davon auszugehen,
dass in allen Sprachen, die die Kategorie des Genus verbi haben, im Falle
der Codierung des „Wollens“ keine dem Aktivsatz semantisch äquivalente
Passiv-Periphrase möglich ist, während bei der Codierung der nicht-vo-
litiven Modalität der Passivsatz – falls dieser grundsätzlich möglich ist –
dem entsprechenden Aktivsatz semantisch äquivalent ist.
Nun ist ein „voluntativer“ Passivsatz nicht grundsätzlich ungramma-
tisch, sondern lediglich dem formal entsprechenden Aktivsatz nicht seman-
tisch äquivalent. Sätze wie Peter will von Sabine unterstützt werden sind
durchaus akzeptabel, solange die Subjektposition von einem Anthroponym
besetzt ist. Nur haben sie keine adäquate Aktiventsprechung. Die seman-
tische Rollenverteilung sieht hier so aus, dass eine im Aktivbereich blei-
bende Äquivalenz syntaktisch durch Satzeinbettung erfolgen kann, d. h.,
die im Passivsatz vorhandene Spaltung zwischen dem wollenden Subjekt
und dem handelnden Agens muss bei der Aktivkonstruktion durch eine
formale Spaltung des Satzganzen in den Matrixsatz mit dem wollenden
Satzsubjekt und den Objektsatz mit dem handelnden Satzsubjekt erfol-
gen: Peter will, dass Sabine ihn unterstützt. Die eigentliche Hierarchie der
wollenden und der handelnden Größe ist hierbei deutlich sichtbar: Beim
Ausdruck der Volitivität ist das „Wollen“ dem „Handeln“ übergeordnet.
Wenn das Satzsubjekt ein Träger des Wollens und des Handelns zugleich
ist, wird diese Hierarchie sozusagen „in den Hintergrund gestellt“, um
hierdurch einer unnötigen Redundanz vorzubeugen. Bei der Aufteilung des
Wollenden und des Handelnden auf zwei Größen muss diese Hierarchie
148 Michail L. Kotin

overt werden, was einerseits die einfache Passivierung des Aktivsatzes mit
Beibehaltung derselben semantischen Referenz ausschließt und anderer-
seits den Ausdruck dieser Referenz im Falle eines Aktivsatzes nur über eine
Hypotaxe zulässt, in der die syntaktisch übergeordnete Rolle des „Wollens“
in Bezug auf das „Handeln“ evident wird.
Bei nichtvolitiver Semantik gibt es zwischen dem Könnenden/
Dürfenden oder Müssenden/Sollenden einerseits und dem Handelnden an-
dererseits keine Hierarchierelation. Das Handeln ist nämlich aus der Sphäre
des Subjekts der Möglichkeit/Notwendigkeit grundsätzlich nicht entfremd-
bar, daher ist der Könnende/Dürfende/Müssende/Sollende stets auch der-
jenige, der sein Können/Dürfen/Müssen/Sollen eigenständig realisiert und
das damit verbundene Handeln einer anderen Person nicht übertragen kann.
Logischerweise ist eine Spaltung von Agens und Subjekt nicht möglich,
wodurch die Passivperiphrase dem Aktivsatz immer semantisch äquivalent
ist: Er kann/darf/muss/soll sie unterstützen = Sie kann/darf/muss/soll von
ihm unterstützt werden. Aus demselben Grund wäre eine Satzeinbettung
(anders als bei wollen) ungrammatisch: *Er kann/darf/muss/soll, dass er
sie unterstützt.
Im Falle nichtvolitiver Modalität gibt es darüber hinaus eine weitere
Besonderheit. Die Modalverben können, dürfen, müssen und sollen sowie
die Konjunktiv- bzw. würde+Infinitiv-Kodierungen der dispositionellen,
verisimilen oder nezessiven Modalitätsfunktion haben (im Falle transitiver
Verben) einen doppelten Referenzbezug auf das Agens und das Patiens,
was die semantische Äquivalenz des Aktiv- und des Passivsatzes bewerk-
stelligt, obwohl das Prädikat komplex ist und zwei Verben enthält, die ihre
Valenzeigenschaften realisieren. Ich kann/darf/muss/soll etwas tun bedeutet
zugleich, dass Etwas von mir getan werden kann/darf/muss/soll. Ähnlich
bedeutet Ich würde etwas tun – vorausgesetzt, dass es sich nicht um mein
Wollen, sondern um mein Können handelt, – dass Etwas von mir [unter
gewissen Umständen oder in gewissem Fall, doch nie *gern] getan werden
würde.

2.2 Modalität und Aspektualität/Aktionsart


Eingangs wiederum einige Beispiele, die in die Problematik dieses
Unterkapitels illustrierend einführen:
1. Peter soll den Mantel in den Schrank hängen.
2. Der Mantel soll im Schrank hängen.
3. Diesen Film müssen wir unbedingt sehen.
4. Dieser Film muss im Kino Venus laufen.
Plenarvorträge 149

5. Das kann ich gut verstehen.


6. Das kann wahr sein.
Da in der deutschen Gegenwartssprache keine Kategorie des mor-
phologisch codierten Verbalaspekts vorhanden ist und andererseits die
Aktionsarten kein eigentlich grammatisches, sondern ein lexikalisch-
grammatisches Phänomen sind, sind die Konvergenzen von Modalität und
Aspektualität/Aktionsart nicht so eindeutig, wie im Falle der Modalität-
Diathese-Relation. Dennoch lassen sich bestimmte nachweisbare
Affinitäten der Modalität zu weit verstandener Aspektualität (als Ausdruck
der Nichtabgeschlossenheit/Imperfektivität vs. Abgeschlossenheit/
Perfektivität der Verbalhandlung/des Verbalgeschehens), vermittelt durch
die Aktionsarten, feststellen. Diese Problematik wird gegenwärtig be-
sonders intensiv von W. Abraham und E. Leiss erforscht (vgl. Abraham
2005, 445 ff.; 2009, 251 ff., Leiss 1992; 2002; Abraham/Leiss 2008; 2009).
Abraham vertritt die Auffassung, dass die deontischen und generell „wur-
zelmodalen“ Lesarten der Modalverben, die G. Diewald 1999 treffend als
„nichtdeiktische Modalität“ bezeichnet, eine Affinität zur Perfektivität auf-
weisen, während die epistemischen (nach Diewald 1999 „deiktischen“)
Lesarten (weit verstandene Vermutung des Sprechers von der Faktizität
des eingebetteten Sachverhalts) die Tendenz demonstrieren, imperfektiv
gedeutet zu werden.
So kann der Satz (1) oben zwar auch imperfektiv-iterativ verstanden
werden (etwa Peter soll den Mantel immer in den Schrank hängen), aber die
übliche konventionelle Implikatur wäre hier eine einmalige abgeschlosse­ne
Handlung, vgl. auch die Beispiele (3) und (5) oben. Selbst bei den normaler­
weise imperfektiv zu lesenden Verben wird bei der Verwendung eines
deontischen Modalverbs häufig eine perfektive Implikation eingebettet,
vgl. Peter soll das neue Buch lesen (nicht „weiter lesen“, sondern eher
„anfangen zu lesen und bis zum Ende lesen“), Wir müssen den Schlüssel su-
chen (eigentlich „anfangen zu suchen und letztendlich finden“), Sie können
gehen! etc. Epistemische Lesarten wie in (2), (4) und (6) oben haben dage-
gen primär die imperfektive Lesart. Vermutungen werden nämlich norma-
lerweise über fortbestehende Sachverhalte aufgestellt, während mögliche
oder notwendige Handlungen einen atomar-zukünftigen Bezug haben.
Die kategoriale Konvergenz von Modalität und Aspektualität/Aktion­
sart lässt sich insbesondere an den Beispielen aus dem Bereich der
Vergangenheitsperspektive beobachten, wo der für deontische Modalverben
typische prospektive Bezug durch die Zeitstufe neutralisiert wird. Verglei­
chen wir hierzu folgende Sätze:
150 Michail L. Kotin

1. Diesen Film haben wir unbedingt sehen müssen.


2. Diesen Film müssen Sie unbedingt gesehen haben!
3. Diesen Film müssen sie schon gesehen haben.
4. Diese Vorlesung kann er versäumt haben.
5. Diese Vorlesung hat er versäumen können.
In (1) und (5) wird das Auxiliarverb haben, das das Perfekt indiziert,
in Verbindung mit dem sog. „Ersatzinfinitiv“ (zum Terminus und zu den
genealogischen wie funktionalen Eigenschaften ist u.a. der Artikel von
H.-W. Eroms 2006 einschlägig) verwendet. Derartige Syntagmen haben
im Gegenwartsdeutschen nur die nicht-deiktische (nicht-epistemische)
Lesart. Sie sind relativ jung. Im Frühneuhochdeutschen gibt es erste
Gebrauchsweisen vergleichbarer Konstruktionen; neben dem Ersatzinfinitiv
tritt dort noch häufig eine eher an die gegenwartsdeutsche Perfektform erin-
nernde Form mit dem (oft präfixlosen) Partizip II des Modalverbs auf, vgl.
die in Luthers Sendbrief vom Dolmetschen bezeugten Ausdrücke wie wir
haben müßt schwitzen „wir haben schwitzen müssen“ neben hetten mich
solchs die papisten nicht dürffen leren „hätten mich das die Papisten nicht
lehren dürfen“. Müssen kodiert in (1) die nezessive und können in (5) die
dispositionelle Funktion; beide Modalverbsätze sind daher „wurzelmodal“
zu lesen. Jegliche Epistemik ist in derartigen Konstruktionen ausgeschlossen.
Steht jedoch in der Position des Finitums das Modalverb, sind grund-
sätzlich beide Lesarten – die nicht-epistemische sowie die epistemische (bei
dürfte und sollen evidentielle) – möglich. Dabei ist die epistemische Lesart
unmarkiert, sie ist unabhängig von der jeweiligen Verbsemantik stets als
erste Implikatur anzusetzen: Peter kann schon verreist sein; Er muss gestern
gekommen sein; Die Zinsrate dürfte im vorigen Jahr leicht gestiegen sein;
Sabine soll gestern nach Paris geflogen sein, vgl. auch die Beispiele (3)
und (4) oben.
Eine wurzelmodale Lesart ist dagegen stets markiert, sie findet sich
in wenigen Kontexten und nur dann, wenn die perfektive Verbsemantik
vorliegt, vgl. Der Motor muss einige Minuten gelaufen sein, bis das Auto
fahren kann, vgl. außerdem das Beispiel (2) oben. Darüber hinaus kön-
nen derartige Fügungen nur im Falle einer Verschiebung der Tempusstufe
wurzelmodal gelesen werden. Der Satz (2) und das eben behandelte Motor-
Beispiel beziehen sich nicht auf die Vergangenheit, sondern auf eine in der
Zukunft auszuführende (perfektiv zu verstehende) Handlung bzw. einen
prospektiven (abgeschlossenen) Prozess. Die These von Abraham über eine
Affinität wurzelmodaler Lesarten zur Codierung perfektiver Sachverhalte
hat sich somit auch in diesem Kategorialbereich bestätigt.
Plenarvorträge 151

2.3 Modalität und Temporalität


Beispielsätze zur Illustration:
1. Ich wäre Ihnen dafür dankbar.
2. Er wäre gern nach Spanien gereist.
3. Ich hätte Sie gerne besucht.
4. Das hätte ich auch gerne gewusst.
5. Nicht, dass ich wüsste.
6. Wenn ich hier Chef a) wäre! vs. b) gewesen wäre!
Der Tempusbezug modaler Formen (hier geht es naturgemäß vor allem
um die Formen des Konjunktivs II) ist sehr spezifisch und lässt auf den eng-
sten Zusammenhang zwischen Tempus und Modus schließen. Man kann
m.E. ohne Übertreibung von der grundsätzlichen referentiellen Identität der
Tempus- und Modusformen reden.
Im Faktizitätsbereich, der prototypisch durch den Indikativ bezeich-
net wird, werden die codierten Ereignisse auf einer imaginären Zeitachse
angesiedelt, die zum ersten Mal von H. Reichenbach 1947; 21965 aus-
führlich dargestellt wurde. Die Tempusformen des Konjunktivs fungie-
ren dagegen prinzipiell anders, was von den Sprachforschern mehrfach
unterstrichen wurde (vgl. u.v.a. Thieroff 1992, Fabricius-Hansen 1999;
2000). Eine nichtfaktische Bedeutung verändert nämlich nicht unwesent-
lich die Anordnung der Sachverhalte auf der temporalen Achse – schon
deshalb, weil diese Sachverhalte nicht als real, sondern eben als imaginär
gedacht sind. Das Bewusstsein bewegt sich dabei notgedrungen nicht im
Bereich des Realisierten bzw. zu Realisierenden, sondern im Bereich des
Realisierbaren oder Nicht-Realisierbaren.
Diese Eigenschaft profiliert die Vergangenheitsformen auf eine Art und
Weise, die dem „faktischen“ Indikativ fremd ist. Der Sprecher versetzt sich
nämlich in eine imaginäre Situation, die er am besten aus der imaginären
Perspektive des „schon Verwirklichten“ beurteilen kann. In (1) beschreibt
er seine Reaktion auf etwas, was noch nicht da ist, aber möglich zu sein
scheint. Er stellt sie aber quasi als „bereits geschehen“ dar, wodurch die
Verwendung der Vergangenheitsform des Präteritums in Zukunftsfunktion
gerechtfertigt wird – aber nur unter der Voraussetzung, dass der gesamte
Sachverhalt als „noch nicht geschehen“ oder als „nicht vorhanden“ (wie in
(5) oben) interpretiert wird. Bei den – aus dem Weltwissen heraus – prinzi-
piell unmöglichen Sachverhalten (wenn ich ein Vogel wäre…) wird dersel-
be Mechanismus realisiert, indem das Unmögliche als etwas, was imaginär
bereits geschehen ist, dargestellt wird.
152 Michail L. Kotin

Die Versetzung des Nichtfaktischen in den imaginären Vergangenheits­


bereich scheint eine linguistische Universalie zu sein, dafür gibt es sowohl
genealogische als auch typologische Evidenzen.
Genealogisch bzw. diachron lässt sich z. B. feststellen, dass der Konjunk­
tiv (bzw. Optativ) Präsens, der ursprünglich (im Alt- und Mittelhoch­
deutschen) ebenfalls nichtfaktische Sachverhalte in der temporalen
Perspektive der Gegenwart und Zukunft codieren konnte, mit der Zeit diese
Funktion an die Präteritalform des Konjunktivs restlos abgegeben hat.
Zu den typologischen Evidenzen gehören u.a. folgende:
a) In den Sprachen, die keine Differenzierung der Vergangenheitsformen
des Verbs kennen (wie z. B. Russisch oder Polnisch), ist das Konjunktiv­
signal – unabhängig von der codierten Zeitstufe – an die einzig im
Verbalsystem vorhandene Vergangenheitsform gebunden; die konkrete
temporale Lesart wird kontextuell oder mithilfe sekundärer (lexikalischer)
Tempusmarker bestimmt, vgl. poln. Chętnie poszlibyśmy [jutro, wczoraj]
na spacer [Gern gingen-wir-Konj. [morgen, gestern] spazieren] „Wir wür-
den [morgen] gern spazieren gehen” oder auch „Wir wären [gestern] gern
spazieren gegangen”, je nachdem, welche Zeitstufe kontextuell gemeint ist.
Das Verb steht aber formal in der Vergangenheitsform.
b) In den Sprachen, die keine Markierung der imaginären Bedingung
in einer wenn-dann-Sequenz durch ein Konjunktivmorphem vorsehen
(z. B. Englisch), wird sogar das formal im Indikativ stehende Verb des
wenn-Teils in der Vergangenheitsform verwendet, obwohl er sich deutlich
auf die Gegenwart oder Zukunft bezieht, vgl. engl. If I had time, I would
visit you.
In den Sprachen mit differenzierten Vergangenheitsformen, zu denen
u.a. Deutsch oder Englisch gehören, werden logischerweise die „konjunk-
tivischen“ Sachverhalte durch die „einfachere“ Tempusform (im Deutschen
das Präteritum, im Englischen das simple past) codiert, sofern sie sich
auf die Gegenwart oder Zukunft beziehen, und durch die „komplexere“
Tempusform (im Deutschen das Plusquamperfekt und im Englischen das
past perfect), sofern sie auf die Vergangenheit referieren und daher nur
nichtfaktisch gelesen werden können (vgl. für das Deutsche die Beispiele
(2), (3) und (6b) oben). Eine Präsens- oder Perfektform (im Englischen
resp. (simple) present oder present perfect) sind ausgeschlossen, da sie ei-
nen unmittelbaren oder (wie beim deutschen Perfekt oder englischen pre-
sent perfect) mittelbaren Gegenwartsbezug aufweisen.
In einigen Fällen kann aber sogar das deutsche Plusquamperfekt
Konjunktiv u.U. gegenwartsbezogen gelesen werden (vgl. das Beispiel (4)
Plenarvorträge 153

oben; ggf. kann sogar (3) als aktueller Wunsch verstanden werden). Dies ist
ein besonders aussagekräftiger Beweis für die eindeutig „vergangenheits-
bezogene“ temporale Ausrichtung der Konjunktivformen.

2.4 Epistemik und Evidentialität


1. Das Heft kann/muss/wird in der linken Schublade liegen.
2. Das Heft soll/dürfte in der linken Schublade liegen.
3. Das Heft liegt wohl/vielleicht/vermutlich/wahrscheinlich in der linken
Schublade.
4. Das Heft liegt angeblich/mutmaßlich in der linken Schublade.
Im Bereich der nichtsubjektbezogenen Modalität wird in der Literatur
neulich recht strikt zwischen Epistemizität und Evidentialität unterschieden.
Das ist weitgehend mit den typologischen Forschungsansätzen verbunden,
da es Sprachen gibt, die die grammatisch codierte Kategorie des Evidentialis
besitzen (vgl. Aikhenvald 2004, Plungian 2001). Es handelt sich um einen
grammatisch indizierten Verweis des Sprechers auf eine weit verstandene
externe Quelle der vom Sprecher vermittelten Information. In der germa-
nistischen Sprachwissenschaft wird das Problem der Evidentialität heute
recht stark favorisiert. Einige Linguisten (vgl. Diewald/Smirnova 2010, 113
ff.) setzen sogar für das Deutsche die lexikalisch-grammatisch indizierte
Evidentialität an – zur Kritik vgl. Leiss 2011, 149 ff., Kotin 2011, 35 ff. und
Kotin/Schönherr 2012.
Für die deutschen Modalverben, aber auch für andere lexikalische Mittel
der Modalität lässt sich der Unterschied zwischen epistemischer und evi-
dentieller Semantik ziemlich unschwer festhalten.
Die vier Modalverben, welche prinzipiell eine Vermutung ausdrücken
können, sind aus dieser Sicht genau paarweise vertreten, also epistemische
können und müssen vs. evidentielle dürfen (als deiktisches Modalverb nor-
malerweise in der Form des Konjunktivs Präteritum dürfte vertreten) und
sollen. Während die ersten beiden Modalverben (zu denen sich noch das epi-
stemische werden gesellt, das keine genuine wurzelmodale Bedeutung hat)
im deiktischen Gebrauch reine Epistemizität – als Annahme, Vermutung
des Sprechers – bezeichnen (Beispiel (1)), wird bei der Verwendung der
beiden letzteren Modalverben in deiktischer Lesart implizit auf eine fremde
Quelle verwiesen (Beispiel (2)).
Die epistemische bzw. evidentielle Lesart der Modalverben (außer wer-
den, dessen Epistemik aus der temporalen und aktionsartmäßigen Semantik
dieses Verbs entstanden ist) stammt eindeutig von deren wurzelmodaler
Bedeutung. Die semantische Struktur der nichtdeiktischen Modalverben
154 Michail L. Kotin

teilt sich in zwei Varianten auf, die von Th. Fritz 2000, 107 ff.; 116 sehr
genau beschrieben worden sind. Bei können und müssen ist eine im Sinne
der Prager Schule merkmallose Modalität vorhanden. Die dispositionelle
resp. nezessive Grundfunktion dieser Verben ergeben sich unmittelbar aus
der „Beschaffenheit“ des Subjekts und haben keinen zusätzlichen Bezug
auf eine fremde Quelle. Dürfen und sollen sind dagegen merkmalhaft.
Die Dispositionalität beim ersteren Verb und die Nezessivität beim letz-
teren setzen einen zusätzlichen Akteur voraus, der die Erlaubnis resp. die
Anordnung gibt.
Diese Rollenverteilung wird nun beim epistemischen Gebrauch der
Modalverben entsprechend „vererbt“: Die jeweiligen „Akteure“ bei dürf-
te und sollen werden als Informationsquelle uminterpretiert. Wenn die-
se fehlen (bei können und müssen), fehlt auch die Voraussetzung für die
Ausbildung der evidentiellen Bedeutung. Die Neutralisierung der entspre-
chenden binären privativen Opposition zwischen epistemischen und evi-
dentiellen Modalverben kann laut dem generellen Grundsatz des Prager
Zirkels nur zu Gunsten des merkmallosen Gliedes (also in dem konkreten
Fall der epistemischen Modalverben) erfolgen. Das bedeutet, dass können
und müssen ggf. evidentiell gelesen werden können (Etwas kann oder muss
sein, weil a) der Sprecher selbst es vermutet oder b) der Sprecher eine
Information dazu aus einer fremden Quelle besitzt), während dürfte und
sollen die evidentielle Lesart nie einbüßen können (Etwas dürfte oder soll
sein, nur weil der Sprecher eine Information dazu aus einer fremden Quelle
besitzt). Dasselbe gilt mutatis mutandis natürlich auch für die nicht-episte-
mischen Lesarten der vier behandelten Modalverben: Peter kann oder muss
dieses Buch lesen setzt eine fremde Quelle zwar nicht voraus, blockiert
sie aber zugleich auch nicht, während Peter darf oder soll dieses Buch le-
sen immer eine fremde Quelle voraussetzt, die nicht zurückgestellt werden
kann.

3. Modalitätsformen (die Codierungsformen der Modalität)


Die merkmallose grammatische Codierungsform der Modalität
ist der Verbmodus. Das Deutsche hat drei Modi, den merkmallosen
Faktizitätsmodus Indikativ und zwei merkmalhafte Modi einer weit ver-
standenen Nichtfaktizität/Optionalität/Volitivität, den Konjunktiv II und
den Imperativ. Außerdem gibt es den Konjunktiv I als spezifischen Modus
reportiver Modalität (vgl. Fabricius-Hansen 1999, 130 ff.), der somit als
Ausdrucksmittel evidentieller Funktion gelten kann. Allerdings kann
Plenarvorträge 155

der Konjunktiv I in dieser Funktion generell durch den entsprechenden


Konjunktiv II ohne einschneidende Funktionsänderungen ersetzt wer-
den. Dagegen ist der Konjunktiv II im nichtfaktischen Bereich durch den
Konjunktiv I nicht ersetzbar. Unten die Beispiele für die Illustration des
Geltungsbereichs grammatischer Modi:
1. Heute ist Peter um halb zehn gekommen.
2. Komm heute um halb zehn!
3. Wenn Peter heute um halb zehn käme/gestern um halb zehn gekommen
wäre!
4. Peter sagt, er komme (käme) um halb zehn/er sei (wäre) um halb zehn
gekommen.
Die periphrastische Form würde+Infinitiv II (Peter würde um halb
zehn gekommen sein) deckt sich in ihrer Funktion weitestgehend mit
dem Plusquamperfekt des Konjunktivs und wird daher (wegen formaler
„Schwerfälligkeit“ gegenüber der Letzteren) relativ selten gebraucht.
Prinzipiell anders steht es dagegen um die andere periphrastische
Verbalform, würde+Infinitiv I. Diese deckt sich nämlich in deren
Funktionsgeltung nur teilweise mit dem Konjunktiv Präteritum, und zwar
nur beim Ausdruck der Dispositionalität/Optionalität/ Nichtfaktizität: Wenn
das Wetter morgen schön wäre, würden wir spazieren gehen. Daneben hat
diese Form auch die temporale Funktion, die von R. Thieroff 1992 als
„Futur Präteritum“ bezeichnet wurde. In diesem Geltungsbereich kann sie
nicht durch den merkmallosen finiten Konjunktiv ersetzt werden, vgl. Er
wusste, dass er kommen würde (*Er wusste, dass er käme).
Eine weitere Codierungsform der Modalität sind die Modalverben,
die im Verbalsystem des Deutschen eine sehr starke, funktional geladene
Stellung einnehmen, was E. Leiss zu Recht darauf zurückführt, dass das
deutsche im Laufe seiner Geschichte die Kategorie des Verbalaspekts ein-
gebüßt hat. Wie oben gezeigt wurde, können die Modalverben durch ihre
aspektaffine Semantik u.a. aspektuale bzw. aktionsartmäßige Komponenten
realisieren und somit den Aspektmangel auf eine spezifische Art und Weise
kompensieren.
Die Modalverben können „wurzelmodal“ (nicht-deiktisch) oder nicht-
wurzelmodal (epistemisch oder evidentiell) verwendet werden. Hier wer-
den diese Verwendungsweisen nicht extra durch Beispiele illustriert, da
sich die Beispiele dafür in den Kapiteln 1 und 2 oben finden.
Modaladverbien und Modalpartikeln werden entweder epistemisch oder
evidentiell gebraucht (vgl. wahrscheinlich, vielleicht, wohl etc. vs. angeb-
156 Michail L. Kotin

lich, mutmaßlich). Sie sind somit Mittel der Modaldeixis, welche den epi-
stemischen bzw. evidentiellen Modalverben weitgehend synonymisch sind.
Die Modalitäten verschiedener Art können auch redundant oder,
besser gesagt, kumulativ ausgedrückt werden, da die Redundanz eine
Volläquivalenz der eingesetzten Codierungsmittel voraussetzt, wäh-
rend bei der Kumulation z.T. diverse modale Semantik durch indizierte
Modalformen zum Ausdruck gebracht wird, vgl. Ich könnte Sie morgen
besuchen. In diesem Beispiel steht das Modalverb in der Konjunktiv
II-Form. Die dispositionelle Modalität erscheint hierbei durch die zusätz-
liche modale (mittelbar auch temporale) Distanz als Ausdrucksform einer
abgeschwächten Faktizität. Derartige Signale dienen am häufigsten der auf
Distanz aufbauenden Höflichkeitskodierung.
Auf der Makroebene des Satzes bzw. einer „Gesamtaussage“ gibt es
außerdem kumulative Ausdrucksformen der Modalität mit einem stärkeren
Redundanzgrad, vgl. die nahezu doppelt codierte Epistemik bei Er wird
wohl jetzt in seinem Zimmer sein.

4. Fazit
Die Modalität als Inbegriff für Kategorialfunktionen, die einen Bezug
des Verbalgeschehens auf die Faktizität in deren weitestem Sinn ausdrü-
cken, wird durch sprachliche Einheiten verschiedener Ebenen codiert.
Dabei bezeichnen sowohl grammatische und syntaktische Modalitätsformen
(Verbmodus und die würde-Periphrase) als auch lexikalische Mittel mo-
daler Referenz (Modalverben, Modaladverbien und Modalpartikeln)
neben eng verstandenen modalen Relationen (Dispositionalität,
Optionalität, Verisimilität, Nezessivität, Nichtfaktizität, Epistemizität,
Evidentialität, Imperativität etc.) Elemente aus anderen Bereichen ver-
baler Kategorisierungen. Dadurch weist die Modalität Affinitäten zu der
Diathese, dem Verbalaspekt, den Aktionsarten der Verben sowie dem ver-
balen Tempus auf. Die kategoriale Konvergenz der Modalfunktion(en)
mit anderen Funktionen der Verbalformen ergibt sich aus universellen
Eigenschaften der grammatischen Kategorisierung, und zwar daraus, dass
sämtliche Funktionalbereiche des sprachlich codierten Verbalgeschehens
miteinander im engen Zusammenhang stehen. In der vorliegenden Fallstudie
ist der Versuch unternommen worden, das Inventar der „Modalitäten“ in
der deutschen Gegenwartssprache, also der Modalitätsarten (Kap. 1), der
Modalitätsbezüge bzw. -relationen (Kap. 2) und der Modalitätsformen
(Kap. 3) aufzulisten, wobei bestimmte Relationen, die in den Grammatiken
Plenarvorträge 157

des Gegenwartsdeutschen oder Fallstudien zur deutschen Verbalgrammatik


unbeachtet bleiben oder nur am Rande angemerkt werden, aber u.E. für
das deutsche Verbalsystem konstituierend sind, im Mittelpunkt der
Ausführungen stehen.
Die im Gegenwartsdeutschen zur Disposition stehenden Sprachmittel
zur Codierung diverser Modalitäten interagieren sowohl miteinan-
der als auch mit den Codierungsformen für andere, „benachbarte“
Kategorialfunktionen, von denen die Temporalität, die Aktionsart, die
Aspektualität sowie die Diathese die wichtigsten sind. Im ersten Fall ent-
stehen kumulative Codierungen derselben Funktion (Modalitätsfunktion),
im Letzteren kann von den durch die Modalformen covert codierten gram-
matischen Bedeutungen gesprochen werden.
Insofern versteht sich der vorliegende Artikel als Beitrag zur Behandlung
des Problems der Konvergenz im Bereich der verbalen Kategorien und de-
ren Codierungsmittel.

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Elżbieta Kucharska-Dreiss (Wrocław)

Warum Predigten heute (nicht mehr) ankommen.


Von der Möglichkeit, die Ebenentheorie
der Persönlichkeitsentwicklung von Clare Graves
(1914–1986) linguistisch aufzuarbeiten
und für die Homiletik nutzbar zu machen

1. Das Ankommen – eine Hinführung


Wenn ein äußerst spannender Roman, eine ausgezeichnet gemachte
Werbung oder auch der wirtschaftliche Aufschwung bei den Menschen an-
kommen, kann das Verschiedenes bedeuten:
–– Für den Fall „Roman“ ist ausschlaggebend, dass der Autor den
Geschmack seines Lesepublikums trifft: sei es durch die Auswahl des
Plots, sei es durch die Art und Weise zu schreiben. Zu einem anspre-
chenden Roman wird gerne gegriffen und er wird womöglich zu einem
Bestseller.
–– Für den Fall „Werbung“ gilt, dass die Menschen wirksam dazu animiert
werden, das betreffende Produkt käuflich zu erwerben; die Händler und
der Produkthersteller verzeichnen hohe Umsätze; die Marke kann sich
auf dem Markt behaupten, vielleicht sogar durchsetzen.
–– Für den Fall „wirtschaftlicher Aufschwung“ ist charakteristisch, dass
sich die Arbeitgeber über volle Auftragsbücher und die Arbeitnehmer
über sichere Arbeitsplätze und mehr Geld in der Tasche freuen können.
160 Elżbieta Kucharska-Dreiss

Die einen wie die anderen können folglich recht entspannt und zuver-
sichtlich in die Zukunft blicken.
Zwar ist an dieser Stelle ein direkter Vergleich der Predigt mit einem
Roman, mit der Werbung oder mit dem wirtschaftlichen Aufschwung we-
der möglich noch erstrebenswert, und doch liegen gewisse Parallelen auf
der Hand – bereits aufgrund der simplen Tatsache, dass sowohl Predigt als
auch Roman, Werbung und wirtschaftlicher Aufschwung eben ankommen
können1:
–– Wie ein Roman seine Spannung den ‚Leerstellen‘ und ‚Zwischenräumen‘
verdankt, die vom Leser gedanklich gefüllt werden sollen, so kommt
auch die Predigt bei einem ‚mündigen‘ Hörer am ehesten an, wenn
sie ihn geradezu herausfordert, das Gehörte vor dem Hintergrund des
Glaubens zu vervollständigen und auszulegen. „Falls der Homilet die
Predigt wasserdicht machen will und Rezeptionsrezepte verschreibt
(vorschreibt), auf dass nur eine eineindeutige Rezeption Folge sei,
so wäre das nur ein Hinweis darauf, dass es sich um eine verstopfte
Homilie2 handelt, welche dem Hörer keinen Interpretationsspielraum
lässt. Erst eine Unbestimmtheitsrelation schenkt der Imagination des
Rezipierenden die Chance, produktiv zu werden“ (Thiele 2011: 79).3
–– Wie das Ankommen der Werbung lässt sich auch das Ankommen der
Predigt daran festmachen, dass sich Menschen verändern. Allerdings ist
Veränderung nicht gleich Veränderung: Eine erfolgreiche Werbeanzeige
beeinflusst die Bedürfnisse und das Kaufverhalten der Menschen.
Eine idealtypische4 Predigt soll „Gott so zur Sprache bringen“, dass
die Menschen „zu ihren eigenen innersten Möglichkeiten“ hinfinden;
dass sie den Mut haben, „die zu werden, als die Gott sie erschaffen hat“
(Zerfass 1995: 20). Denn – so argumentiert Zerfass weiter – „in jedem
von uns ist die Schöpfung Gottes ‚niedergehalten‘ (Röm 8,19–22) von

1
  Selbstverständlich ist die Liste der Substantive, die als Nominativergänzungen des Verbs
ankommen auftreten können, wesentlich länger. Hierzu lohnt beispielsweise ein Blick in
die Korpora des Instituts für Deutsche Sprache in Mannheim auf www.ids-mannheim.
de. Roman, Werbung und wirtschaftlicher Aufschwung sind nur einige aktuelle Beispiele.
2
  Die Termini ‚Predigt‘ und ‚Homilie‘ sind hier synonym zu verstehen.
3
  In Thiele (2011) auch mehr über die Rezeption der in diesem Sinne ‚offenen‘ Texte, u.a.
über die Freiheit und die Willkür ihrer Interpretation. Am Rande bemerkt sind politische
Predigten, denen „eine vom Redner vorherbestimmte Aktion, z. B. eine Demonstration,
folgen soll“ gar keine ‚offenen‘ Texte (Thiele 2011: 80).
4
  Ich basiere hier auf dem theologischen Verständnis der Predigt sowie auf den homileti-
schen Leitsätzen und Richtlinien.
Plenarvorträge 161

Angst, Anpassungsbereitschaft, Kleingläubigkeit, Feigheit und Schuld“


(Zerfass 1995: 21).
–– Wie der wirtschaftliche Aufschwung den Menschen die ökonomische
Stabilität in Aussicht stellt, so spricht die Predigt ihren Hörern Gottes
Liebe und Heil zu. Ankommen würde also in beiden Fällen bedeu-
ten ,Menschen das Gefühl von Sicherheit und Zuversicht vermitteln‘.
Freilich handelt es sich jeweils um eine andere Art von Sicherheit und
Zuversicht, deswegen stößt man auch bei diesem Vergleich sehr schnell
auf seine Grenzen. Trotzdem sieht man einmal mehr, wie der übertra-
gene Sprachgebrauch – ein Stück weit – Begrifflichkeiten zusammen-
bringt, die kaum weiter voneinander entfernt sein könnten.5

2. Was kommt bei wem an?


Die oben skizzierten Facetten von ankommen (ob zur gedanklichen
Auseinandersetzung mit dem gehörten/gelesenen Text herausfordern oder
Änderungen in der Wahrnehmung und in der Verhaltensweise herbeifüh-
ren) lassen sich ebenfalls mit ‚Anklang, Widerhall finden‘ bzw. ‚Wirkung
zeigen‘ umschreiben. Ist dem Absender ernsthaft an der Wirksamkeit sei-
ner Botschaft gelegen, kommt er nicht umhin, sich über die betreffende
Kommunikationssituation – und ganz speziell über seine Zielgruppe –
Gedanken zu machen. In der Geschichte der Wissenschaft gab es hierzu
verschiedene Ansätze.

2.1. Ausgewählte Zielgruppenmodelle


Die ersten Erkenntnisse über die Zielgruppen verdanken wir der anti-
ken Rhetoriktheorie. Bereits Aristoteles differenziert die Zuhörer (bei de-
nen bekanntlich das Ziel aller rhetorischen Bemühungen liegt) nach Alter,
Bildungsgrad, Herkunft und sozialem Status. Den einzelnen Gruppen ord-
net er „typische Verhaltensweisen und Charaktere, Werte und Interessen“
zu, deren Beachtung für den rhetorischen Erfolg ausschlaggebend ist
(Geissner 2009: 1530). Nach Quintilian sind die Kenntnis der öffentli-
chen und privaten Situation nach Ort und Zeit (Forum, Kurie, Sportfeld,
Theater, häusliches Leben) sowie die Kenntnis der Mentalität der jewei-
ligen Hörergruppe (Alte und Jüngere, Soldaten, Philosophen, Bürger und

5
  Primär bedeutet ankommen „einen Ort erreichen, an einem Ort antreffen“ (Duden 2001:
139).
162 Elżbieta Kucharska-Dreiss

Fürsten, Gebildete und Bauern) wichtige Voraussetzungen für das ange-


passte Sprechen (vgl. Geissner 2009: 1530).
Mittlerweile denkt und handelt man zielgruppenorientiert in vielen
Fächern, Disziplinen und Lebensbereichen. Lehrwerke für den jedem
‚Fremdphilologen‘ vertrauten Fremdsprachenunterricht wären nur eines
der unzähligen Beispiele. Am intensivsten wird die Zielgruppenforschung
heute jedoch für marktwirtschaftliche (sprich: kommerzielle) Zwecke be-
trieben. In der Wirtschaft wird Zielgruppe verstanden als
„Gesamtheit aller effektiven oder potenziellen Personen, die mit einer be-
stimmten Marketingaktivität angesprochen werden sollen. – Grundlage
zur Zielgruppenfindung nach jeweils relevanten Merkmalen ist die
Marktsegmentierung; Hauptproblem die zeitliche Instabilität (Dynamik).
[…] Arten: (1) soziodemografische Z.[ielgruppen] (z. B. Alter, Geschlecht,
Bildung); (2) Z.[ielgruppen] aufgrund von konsumorientierten Merkmalen
(z. B. Intensivverwender, Erstkäufer); (3) Z.[ielgruppen] aufgrund psycho-
logischer Merkmale (z. B. innovationsfreudig, sicherheitsorientiert); (4)
Z.[ielgruppen] aufgrund medienorientierter Merkmale (Nutzer bestimmter
Medien)“ (Gabler-Wirtschafts-Lexikon 1994: 3889).6
Das gegenwärtig wohl am meisten rezipierte Zielgruppenmodell ist das
vom Heidelberger Institut für Milieuforschung (Sinus-Sociovision), allge-
mein bekannt unter dem Namen „Sinus-Milieus®“. Die einzelnen Milieus
ergeben sich in diesem Modell aus einer zweifachen Zuordnung: zu einer
der sozialen Schichten (Unterschicht, Mittelschicht, Oberschicht) und zu
einer der Grundorientierungen (A, B und C). Die sozialen Schichten wer-
den hauptsächlich am Einkommens- und Bildungsniveau der Menschen
festgemacht. Für die Unterscheidung der Grundorientierungen sind v.a.
das Alltagsbewusstsein, der Lebensstil und die Lebensziele maßgeblich.
Die Grundorientierung A steht für traditionelle Werte (Selbstkontrolle,
Pflichterfüllung, Ordnung), die Orientierung B steht für Modernisierung
(Selbstverwirklichung, Individualisierung, Genuss) und die Orientierung
C steht für Neuorientierung (Selbstmanagement, Multi-Optionalität,
Experimentierfreude, Leben in Paradoxien). Die einzelnen Sinus-Milieus
können zu vier umfangreicheren Gruppen zusammengefasst werden:

6
  Am Rande bemerkt waren die Vorläufer für das marktorientierte Zielgruppenkonzept
die sozial- und politikwissenschaftlichen Milieumodelle, etwa das von Durkheim (1981,
1988), das von Bourdieu (1982) oder das von Lepsius (1966), auf die ich hier aber nicht
näher eingehen kann. Vielleicht nur so viel: Mario Rainer Lepsius (1966) untersuchte das
Wahlverhalten im Kaiserreich und in der Weimarer Republik und konnte so folgende so-
zial-moralische Milieus unterscheiden: das konservativ-protestantische, das liberal-prote-
stantische, das sozial-demokratische und das katholische Milieu.
Plenarvorträge 163

• traditionelle Milieus: Konservative, Traditionsverwurzelte, DDR-


Nostal­gische
• Mainstream-Milieus: bürgerliche Mitte, Konsum-Materialisten
• gesellschaftliche Leitmilieus: Etablierte, Postmaterielle, moderne Performer
• hedonistische Milieus: Hedonisten, Experimentalisten
Für die Kommunikation im religiösen Kontext erscheint dieses Modell
v.a. deswegen als besonders interessant, weil 2005 von Sinus Sociovision
eine qualitative Pilotstudie „Religiöse und kirchliche Orientierungen in
den Sinus-Milieus 2005®“ durchgeführt wurde.7 Aus dieser Studie ergibt
sich, dass die katholische Kirche in Deutschland hauptsächlich die Milieus
der Orientierung A und teilweise die der Orientierung B anspricht. In den
Milieus der Grundorientierungen B und C hat sie erhebliche Image- bzw.
Kommunikationsprobleme. Der katholische Mainstream setzt sich aus den
Konservativen und den Traditionsverwurzelten zusammen. Der Wunsch,
die Kirche umzugestalten, „damit sie so werden kann, wie sie von Gott ge-
wollt und für die Menschen gut ist“ (Wippermann 2006: 231) – u.a. zeitge-
mäß, anthropozentrisch, ohne volkskirchlichen Ballast – vereint große Teile
der bürgerlichen Mitte, der Etablierten und der Postmateriellen. Moderne
Performer und Experimentalisten betrachten die Kirche als eines von vielen
Angeboten, das man nutzt, wenn man gerade das Bedürfnis hat. Konsum-
Materialisten und Hedonisten stehen der Kirche distanziert gegenüber.
Die Ergebnisse der Sinus-Studie sind sehr schnell rezipiert und kon-
trovers diskutiert worden, vgl. dazu u.a. das Themenheft „Kirche in (aus)
Milieus“ der „Lebendigen Seelsorge. Zeitschrift für praktisch-theologisches
Handeln“ (4/2006). Zwischenzeitlich sind auch viele Versuche unternom-
men worden, die pastorale Arbeit mit dem Blick auf die Milieus zu ge-
stalten, vgl. dazu u.a. Ebertz/Wunder (2009), Meier (2011), Wippermann
(2011) sowie zahlreiche Onlineauftritte, z. B. http://www.kath.de, http://
www.pastorale-informationen.de, http://www.erzbistum-koeln.de, http://
www.bistum-fulda.de, http://www.keb-muenchen.de.8

2.1.1. Die Ebenentheorie der Persönlichkeitsentwicklung von Clare


Graves
Anschließend soll eingehender ein Modell vorgestellt werden, das bis
jetzt für Theologie, Kirche und religiöse Kommunikation kaum nutz-

7
  Auftraggeber der Studie waren die Mediendienstleistungsgesellschaft MDG und die
Katholische Sozialethische Arbeitsstelle KSA.
8
  Aus satztechnischen Gründen nenne ich an dieser Stelle nur die Adressen der Startseiten.
Vollständige Links sind im Literaturverzeichnis gelistet.
164 Elżbieta Kucharska-Dreiss

bar gemacht wurde. Das Faszinierende an diesem Modell ist, dass es die
Frage nach der Erreichbarkeit verschiedener Zielgruppen (auch nach dem
‚Ankommen‘ bzw. dem ‚Nicht-Ankommen‘ einer Predigt) in einem voll-
kommen anderen Licht zu betrachten erlaubt.
Das Modell geht auf Clare Graves, einen amerikanischen Psychologen
und Entwicklungstheoretiker, zurück. Er gelangte zu der Erkenntnis, dass
sich die Wertesysteme und Grundüberzeugungen der Menschen aller
Kulturkreise zu bestimmten Stufen/Ebenen zusammenfassen lassen; diese
folgen aufeinander und bauen aufeinander auf. Zu seinen Lebzeiten unter-
schied Graves acht solche Stufen, eine neunte sah er sich anbahnen; weitere
Stufen schloss er nicht aus.
Für die Untersuchung der religiösen Sprache (d. h. für die Interpretation
der linguistisch gewonnenen Daten aus dem Bereich ‚religiöse Kommuni­
kation‘) erweist sich v.a. eine von Graves im Prinzip nebenher gemach-
te Beobachtung als besonders nützlich, und zwar die, dass sich auch die
Gottesvorstellungen nach festen, vorhersagbaren Mustern verändern, die an
den einzelnen Bewusstseinsstufen festgemacht werden können.
Dem deutschsprachigen Lesepublikum wurden diese Gottesvorstellungen
von dem Autorenteam Marion Küstenmacher / Tilman Haberer / Werner
Tiki Küstenmacher (= KHK 2010) in dem äußerst spannenden Buch mit
dem Titel „Gott 9.0“ näher gebracht und hauptsächlich auf diese Publikation
stützen sich die nachfolgenden Ausführungen.
Bevor aber die einzelnen Stufen kurz vorgestellt werden können, müs-
sen einige Bemerkungen allgemeiner Art vorausgeschickt werden:
1. „Es gibt keine guten oder schlechten Bewusstseinsstufen. Jede war für
die Epoche, in der sie entstanden ist, lebensrettend“ (KHK 2010: 35).
2. „Einmal erschienene Stufen verschwinden nicht, wenn eine neue er-
scheint. Im Gegenteil, sie bilden das Fundament für die darüber liegen-
den Stufen. Frühere Stufen sind tiefer in menschlicher Psyche verankert
als jüngere“ (KHK 2010: 34).
3. Die Stufen werden zum einen mit Hilfe von „Versionsnummern“ zum
anderen mit Hilfe von Farben bezeichnet. Graves selbst verwendete zu
diesem Zweck einen Buchstabencode (A–N, B–O, C–P, D–Q, E–R,
F–S, G–T, H–U, vgl. http://www.clarewgraves.com/theory_content/
CG_FuturistTable.htm). Den leichter einprägsamen Farbcode haben
zwei Schüler von Graves – Don Beck und Christopher Cowan – Mitte
der 70er Jahre eingeführt (vgl. KHK 2010: 30).
4. Interessanterweise wiederholt jeder Mensch seit seiner Geburt die
Evolutionsgeschichte des Bewusstseins, d. h. durchläuft in seinem
Plenarvorträge 165

Leben die einzelnen Stufen, wobei er in verschiedenen Bereichen un-


terschiedlich weit kommen kann: Er kann z. B. an Gott 4.0 glauben, im
Berufsleben problemlos in 5.0 funktionieren und in der Partnerschaft
bereits die Stufe 6.0 erreicht haben (vgl. KHK 2010: 15).
5. Man unterscheidet zwischen den auf den Einzelnen konzentrierten Ich-
Stufen und den gruppenorientierten Wir-Stufen; sie wechseln einander
ab. „Die neue Ich-Stufe hat sich gegenüber der zwei Stufen darunter
liegenden Ich-Stufe weiterentwickelt. Genauso ist das auch bei den Wir-
Stufen“ (KHK 2010: 37).
6. Neben den Entwicklungsebenen gibt es auch Entwicklungslinien bzw.
Linienbündel, die sich zu der intellektuellen Linie, der emotionalen
Linie, der moralischen Linie und der spirituellen Linie zusammenfassen
lassen.9 Alle Linien beginnen bei der untersten Stufe und „schieben sich
Stufe für Stufe nach oben. [...] Keine Stufe darf dabei übersprungen
werden. Erst wenn genug einzelnen Linien dieser Prozess gelungen ist,
kann man sagen, dass eine neue Stufe erreicht ist“ (KHK 2010: 230).
7. Wenn eine Gesellschaft eine bestimmte Stufe erreicht hat, bedeutet das,
die durchschnittliche Bewusstseinsebene in dieser Gesellschaft enthält
die für diese Stufe typischen Wertevorstellungen. Es werden aber immer
alle Stufen unterhalb vertreten sein, genauso wie es immer Individuen
und Gruppen geben wird, die bereits eine oder zwei Stufen höher leben.
8. Die Gottes- und Jesusbilder, die für die religiöse Kommunikation von
besonderer Bedeutung sind, korrespondieren selbstverständlich mit
den Menschen- und Gesellschaftsbildern der gleichen Stufe. Auf die
einzelnen Bilder kann im vorliegenden Beitrag aber (aus Gründen des
Umfangs) nur sehr kursorisch eingegangen werden.

Stufe 1.0 (Beige): eine Ich-Stufe; in der Entwicklung des Individuums


entspricht sie dem Babyalter
Auf dieser Stufe geht es ums nackte Überleben und dies onto- wie phylo-
genetisch. Daher ist für den noch hilflosen Menschen die Nahrung eminent
wichtig.
In der christlichen Tradition finden sich Bezüge zu dieser Stufe überall
dort, wo von der Inkarnation Gottes die Rede ist: Er kommt zur Welt als
hilfloser Säugling und Maria, die ihr Kind im Arm hält und stillt, sendet

9
  Entwicklungslinien wurden von einer Reihe der Entwicklungspsychologen herausgear-
beitet (Jean Piaget, Robert Kegan, Abraham Maslow, Jane Loevinger, Daniel Goleman,
Sosanne Cook-Greuter und Lawrence Kohlberg) (vgl. KHK 2010: 229). Howard Gardner
(2011) spricht in diesem Zusammenhang von „multiplen Intelligenzen“.
166 Elżbieta Kucharska-Dreiss

die Botschaft: „Das Leben ist vor allem ein Nähren und Genährtwerden“
(KHK 2010: 51).
Die Zuwendung, die andere am Leben erhält, durchzieht das ganze
Erwachsenenleben Jesu: Er sättigt die versammelte Menschenmenge, sorgt
für volle Netze beim Fischfang, als Erinnerungszeichen hinterlässt er den
Jüngern „die Urgeste des Nährens: das gemeinsame Mahl“ (KHK 2010: 54).

Stufe 2.0 (Purpur): eine Wir-Stufe; in der Entwicklung des Individuums


entspricht sie der Phase, in der das Kind fremdelt
Diese erste Wir-Stufe entsteht, wenn die Konkurrenz um Nahrung
und Jagdgründe die Menschen dazu zwingt, sich in festeren Gruppen –
den Clans – zu organisieren. Ihre Welt ist voller Geister, die u.a. für
Naturerscheinungen zuständig sind und die man durch Magie, Zauberei,
Tänze und Opfer positiv beeinflussen kann.
Der biblische Glaube ist stark im purpurnen Bewusstsein verankert:
„Der Gott der Erzväter ist jeweils ein purpurner Familiengott: ‚der Gott
Abrahams‘, ‚der Gott Isaaks‘, ‚der Gott Jakobs‘“ (KHK 2010: 60). „Blickt
man von der purpurnen Bewusstseinsstufe auf Jesus, sieht man vor allem
den Wundertäter“ (KHK 2010: 67), der Wasser in Wein verwandelt, der
auf dem Wasser geht, Blinde und Gelähmte heilt, Tote aufweckt und
Naturgewalten beherrscht.

Stufe 3.0 (Rot): eine Ich-Stufe; in der Entwicklung des Individuums


entspricht sie der kindlichen Trotzphase
Wenn das Überleben des Clans mit den bisherigen Methoden (Jagd
und primitive Landwirtschaft) nicht mehr gesichert werden kann, sind
die Menschen gezwungen, neue Gebiete zu erschließen; sie werden zu
Entdeckern, Kriegern und Eroberern.
„Auch Jahwe, der Gott Israels, ist ein roter Kriegsgott, der mit Sturm,
Gewitter und Erdbeben einherfährt. […] Jahwes Beiname Zebaoth bedeutet
‚Herr der Heere‘“ (KHK 2010: 79).
Jesus 3.0 ist ein Rebell, „Durchbrecher“ und Befreier. Des Öfteren weist
er auf die Notwendigkeit hin, die (purpurnen) Familienbande zu überwin-
den, „die Eltern zu verlassen und dem Eigenen zu folgen“ (KHK 2010: 81).
Rot unterlegt sind u.a. Jesu energische Auftritte gegen Schriftgelehrte und
Pharisäer sowie gegen die Händler im Tempel (vgl. KHK 2010: 82).
Plenarvorträge 167

Stufe 4.0 (Blau): eine Wir-Stufe; in der Entwicklung des Individuums


entspricht sie dem Kind im Kindergarten und in der Schule
Ab einer gewissen Anzahl von Menschen erfordert das Zusammenleben
verbindliche Regeln und Rechtsverhältnisse, die von einer Autorität durch-
gesetzt werden. Es entstehen frühe Stadtstaaten und Königreiche. Um eine
höhere Legitimation zu erlangen, leiten die Herrscher „ihre Abstammung
von einem Gott oder einer Göttin her“ (KHK 2010: 89–90).
In der blauen Phase setzt sich der Monotheismus durch „und ein ma-
jestätisches Gottesbild tritt auf den Plan: Gott 4.0, der Allmächtige, der
Schöpfer des Himmels und der Erden“ (KHK 2010: 93). Er bringt Recht
und Gerechtigkeit auf die Erde und bestraft drastisch alle Verstöße gegen
das Gesetz (vgl. KHK 2010: 94–95).
Jesus 4.0 verkündet das kommende „Königreich Gottes“ und besitzt alle
idealen Herrscherzüge.
Am Rande noch zwei Bemerkungen: 1) Die blaue Religion tendiert zum
Fundamentalismus. Der Heilige Krieg ist eine typisch blaue Erfindung. 2)
„Etwa die Hälfte der Weltbevölkerung lebt [heute] schwerpunktmäßig auf
der Bewusstseinsstufe Blau. In Sachen Religion dürften es noch weit mehr
sein“ (KHK 2010: 87).10

Stufe 5.0 (Orange): eine Ich-Stufe; in der Entwicklung des Individuums


entspricht sie dem Beginn der Pubertät
Auf dieser Stufe kommt rot noch einmal – und doch anders – zurück.
Jetzt rebelliert der Mensch „gegen die vorgegebenen bzw. eingeübten
blauen Strukturen und Gewohnheiten“ (KHK 2010: 107), auch gegen das
blaue Gottesbild. Sinnbilder dafür sind in Europa die Aufklärung und die
Französische Revolution.
Der orange spirituelle Mensch sucht Gott, „der im Verborgenen ist“
(Mt 6,6) und „der vom Einzelnen im Gebet der Stille erkannt werden will“
(KHK 2010: 125), jenseits der vom Kollektiv gewährleisteten Sicherheit.
Im biblischen Jesus entdeckt der orange Mensch v.a. den Menschensohn,
der „den integrierten, freien und erwachsenen Einzelnen“ (KHK 2010:
130) verkörpert und „immer wieder bewusst gegen die blauen Regeln,

10
  Während ich an diesem Beitrag die letzten Korrekturen vor dem Druck vornehme, be-
richten die Medien über die Reaktionen großer Teile der arabischen Welt auf den umstrit-
tenen islamfeindlichen Film: rot-blau gefärbte Angriffe auf amerikanische diplomatische
Niederlassungen, u.a. in Lybien, Jemen und Kairo (vgl. http://www.faz.net/aktuell/politik/
arabische-welt/nach-den-freitagsgebeten-washington-erwartet-weitere-gewalt-gegen-sei-
ne-botschaften-11889841.html).
168 Elżbieta Kucharska-Dreiss

Reinheitsgebote und Gesetze seiner eigenen Religion“ verstößt, „sobald


sie alle zu buchstäblich“ verstanden werden (KHK 2010: 128).

Stufe 6.0 (Grün): eine Wir-Stufe


Für Grün stehen nicht Effizienz und Wettbewerbsorientiertheit (wie
bei Orange) sondern Sensibilität und friedliches Zusammenleben im
Vordergrund. Es entsteht eine Gegenbewegung zur Aufklärung: die
Romantik. Auf der Stufe Grün werden Solidarität, Gleichberechtigung und
Toleranz großgeschrieben, niemand soll ausgeschlossen werden, Ökumene
und interreligiöser Dialog werden selbstverständlich.
Grün hat keine Angst vor dem strafenden Gott-Richter. Es werden weib-
liche Aspekte Gottes entdeckt, der nun sowohl Vater als auch Mutter ist
(vgl. KHK 2010: 158). Er ist die Quelle der Liebe und der Barmherzigkeit.
Grün will Gott authentisch spüren (nicht etwa gepredigt bekommen), ist
daher spirituell, ohne dabei zwangsläufig religiös zu sein.
Jesus 6.0 ist der verheißene Friedensstifter (Jes 9,5) und besteht darauf,
Grenzen abzubauen und Feinde zu lieben; „Ausgestoßene, Behinderte,
Unbeachtete, Bloßgestellte, Unreine und Minderheiten [werden von ihm
einbezogen] – Frauen, Kinder, Kranke oder Zöllner wie Zachäus, Matthäus
und Levi“ (KHK 2010: 160).

Stufen des Zweiten Ranges: 7.0 (Gelb), 8.0 (Türkis), 9.0 (Koralle)
Die Stufen 1–6 fasste Graves zu einem ersten „Rang“ zusammen. Diese
Stufen antworten seiner Meinung nach auf die „Mangelbedürfnisse“ des
Menschen. Interessanterweise verachten sich alle sechs Stufen des Ersten
Ranges gegenseitig und schaffen eigene Dualitäten: gute und böse Geister,
Eroberer und Eroberte, Heilige und Sünder, Sensible und Unsensible (vgl.
KHK 2010: 173).
Die nächsten sechs Stufen (also die Stufen des Zweiten Ranges, von de-
nen bis jetzt erst 2 bis 3 belegt sind) antworten auf die „Seinsbedürfnisse“
(vgl. KHK 2010: 166). Auf diesen Stufen wiederholen sich die Grundfragen
der ersten sechs Stufen, aber in fortgeschrittener Form. So gesehen ist
die erste Stufe des Zweiten Ranges – 7.0 (mit der Farbe Gelb bezeich-
net) – eine höhere Form von Beige. „Während das physische Überleben
des Individuums das Grundproblem von Beige darstellt, geht es in Gelb
um das physische Überleben der ganzen Menschheit. Es gibt fundamen-
tale Bedrohungen: Überbevölkerung, Umweltzerstörung, Hochrüstung,
Terrorismus, globale Finanzsysteme“ (KHK 2010: 166). Ein Mensch, der
die Stufe Gelb erreicht hat, ist frei von vielen Ängsten und Zwängen. Er
Plenarvorträge 169

kann die früheren Stufen überblicken und weiß die Eigenart jeder Stufe zu
schätzen und zu würdigen. Er kann Widersprüche aushalten und paradox
denken. In Gelb fallen Gegensätze zusammen.
Die zweite Stufe des Zweiten Ranges – 8.0 (Türkis) – ist „die hö-
here Form von Purpur. Dem purpurnen magischen Denken, das alles in
Verbindung mit allem sieht, entspricht ein türkises Denken, das auf einer
kosmozentrischen Reflexionsebene die Verbundenheit von allem mit allem
spürt“ (KHK 2010: 195).
Die dritte Stufe des Zweiten Ranges – 9,0 (Koralle) – bahnt sich erst an
und sie wird eine Weiterentwicklung der roten Ich-Stufe sein. Ihre genauen
Charakteristika sind im Augenblick aber noch nicht vorhersehbar.

2.1.2. Der Nutzen der Graves’schen Ebenentheorie für die Homiletik.


Ein (theo-)linguistischer Zugang
Die wohl geläufigste Definition der Predigt lautet: „Auslegung eines bibli-
schen Textes durch den Amtsträger in der gottesdienstlichen Gemeindever­
sammlung“ (Zerfass 1992: 14). Auch wenn diese Definition nicht alle
Merkmale der Predigt explizit benennt, so stellt sie ihren Schriftbezug
(= Bezug zur Heiligen Schrift) schon einmal deutlich heraus.
Bei der obigen Übersicht über die einzelnen Bewusstseinsstufen durfte
bereits plausibel geworden sein, dass sich in der Bibel die gesamte Palette
der Menschen-, Gottes und Jesusbilder wiederfindet. Infolgedessen spricht
die Bibel (als Ganzes) auch die Leser/Hörer aller Bewusstseinsstufen an.
Sie lässt aber kein Gottesbild als letztlich gültig stehen, da Gott „größer ist
als jedes unserer Bilder (deshalb das Bilderverbot!) und nur gewissermaßen
‚zwischen ihnen allen ‘enträtselt werden kann“ (Zerfaß 1995: 165).
Mein Bestreben in diesem Zusammenhang ist es, Folgendes zu überprü-
fen11:
1. Welche Bewusstseinsstufen werden von den Bibelstellen angesprochen,
die für alle Gottesdienste in einem Kirchenjahr bestimmt sind?
2. Für welche der Bibelstellen, die im Gottesdienst vorgetragen werden
(2 Lesungen und Evangelium), entscheidet sich in der Regel der Prediger?
Dabei interessiert mich natürlich vor allem, welche Bewusstseinsstufen
bei der Wahl der Bibelstelle bevorzugt werden, die in der Predigt ausge-
legt werden soll.

  Mit diesem Beitrag gewähre ich dem Lesepublikum einige wenige Einblicke in meine
11

Habilitationsschrift „Der gepredigte Gott linguistisch gesehen. Gottesbilder im Vergleich“,


die 2013 in Buchform erscheinen wird (= Theolinguistica 6).
170 Elżbieta Kucharska-Dreiss

3. Was geschieht letzten Endes in der Predigt selbst: Bleibt der Prediger
ausschließlich auf der Stufe, die vom Bibeltext vorgegeben wird, oder
unternimmt er beispielsweise auch ein Ringen um die Hörer anderer
Bewusstseinsstufen?

2.1.2.1. Ein Beispiel


Wie mit Graves ein neuer Blick auf die homiletische Wirklichkeit gelingen
könnte, möchte ich – hier in einer nur erheblich gekürzten Form – anhand
einer Predigt zum Christkönigsfest skizzieren.
Dem Namen nach, wie der Genese nach, ist das Christkönigsfest
ganz eindeutig ein Fest der Stufe 4.0 (Blau). Eingeführt wurde dieses
Fest 1925 von Papst Pius XI. durch seine Enzyklika „Quas primas“. Das
Fest sollte ein Gegengewicht gegen die „Flut von Übeln“ sein, die „eben
[...] die Welt überschwemmt“ hat – so der Papst (Pius XI. 1925: Nr. 1).
Was mit dieser Formulierung gemeint war, ist wohl aus dem geschicht-
lichen Kontext unschwer zu erkennen: der Bolschewismus in Russland
(1917), der Faschismus in Italien (1924), Hitlers „Mein Kampf“ (1925).
Diesen ‚Produkten‘ wie den Hoffnungsträgern der roten bzw. rotblauen
Bewusstseinsstufe setzt der Papst Christus als den „wahren“, den „höch-
sten“ König der „ganzen Menschheit“ entgegen. Geht man die einzelnen
Abschnitte des päpstlichen Rundschreibens aufmerksam durch, stellt man
schnell fest, dass in dem Dokument intensivst mit der Lexik der Stufe Blau
gearbeitet wird: Christus der König, Richter und Gesetzgeber soll ver-
herrlicht werden, seine Untertanen ihm treu ergeben und gehorsam sein,
seiner Befehlsgewalt muss man gehorchen, die Gläubigen müssen „unter
dem Feldzeichen des Christkönigs mit Mut und Ausdauer“ (Pius XI. 1925:
Nr. 31) kämpfen etc., etc. Zwar ist eindeutig, dass die Herrschaft Christi
v.a. „geistiger Natur“ ist und die „geistigen Belange“ betrifft, doch an ei-
ner Stelle lesen wir in der Enzyklika auch Folgendes: „Andererseits würde
derjenige sich schwer irren, der Christus als Mensch die Macht über die
zeitlichen Dinge absprechen wollte. Denn er hat vom Vater ein so unum-
schränktes Recht über alle Geschöpfe bekommen, daß alles seinem Willen
unterstellt ist. Doch hat er sich während seines Erdenlebens der Ausübung
dieser irdischen Herrschergewalt völlig enthalten“ (Pius XI 1925: Nr. 18).
In der Zeit der NS-Herrschaft hatte das Christkönigsfest – besonders
für die katholische Jugend – einen hohen Erlebnis- und Zeugniswert – als
Absage an den totalen Machtanspruch des Faschismus (vgl. Frank 2006:
1140). Doch wie feiert man dieses Fest heute? Welche Bewusstseinsstufe(n)
sprechen die für diesen Tag bestimmten Lesungen an? Für welche
Bewusstseinsstufe(n) wird gepredigt?
Plenarvorträge 171

Hierzu ein Predigtbeispiel zu Mt 25,31–46:


Die Stelle aus dem Matthäusevangelium erzählt vom Weltgericht, zu dem
„der Menschensohn in seiner Herrlichkeit kommt und alle Engel mit ihm“;
er wird sich „auf den Thron seiner Herrlichkeit setzen“ und von dort aus die
„Schafe von den Böcken scheiden“ d. h. die einzelnen Menschen danach
richten, ob sie ihm [dem Menschensohn] in ihren leidenden Mitmenschen
gedient haben oder nicht: „Amen, ich sage euch: Was ihr für einen meiner
geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.“ Daraufhin erhalten
die Gerechten das ewige Leben, die Verfluchten die ewige Strafe.
Soweit die Zusammenfassung der biblischen Perikope12, die ganz klar
auf der Stufe 4.0 (Blau) anzusiedeln ist.13
Was kann der Prediger jetzt tun? Freilich kann er in seiner Auslegung
auf der Stufe Blau bleiben, indem er das Thema „Jüngstes Gericht“ auf die

12
  Hier der vollständige Text aus dem Matthäusevangelium:
„Wenn der Menschensohn in seiner Herrlichkeit kommt und alle Engel mit ihm, dann
wird er sich auf den Thron seiner Herrlichkeit setzen. Und alle Völker werden vor ihm
zusammengerufen werden und er wird sie voneinander scheiden, wie der Hirt die Schafe
von den Böcken scheidet. Er wird die Schafe zu seiner Rechten versammeln, die Böcke
aber zur Linken. Dann wird der König denen auf der rechten Seite sagen: Kommt her, die
ihr von meinem Vater gesegnet seid, nehmt das Reich in Besitz, das seit der Erschaffung
der Welt für euch bestimmt ist. Denn ich war hungrig und ihr habt mir zu essen gegeben;
ich war durstig und ihr habt mir zu trinken gegeben; ich war fremd und obdachlos und ihr
habt mich aufgenommen; ich war nackt und ihr habt mir Kleidung gegeben; ich war krank
und ihr habt mich besucht; ich war im Gefängnis und ihr seid zu mir gekommen. Dann
werden ihm die Gerechten antworten: Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und
dir zu essen gegeben, oder durstig und dir zu trinken gegeben? Und wann haben wir dich
fremd und obdachlos gesehen und aufgenommen, oder nackt und dir Kleidung gegeben?
Und wann haben wir dich krank oder im Gefängnis gesehen und sind zu dir gekommen?
Darauf wird der König ihnen antworten: Amen, ich sage euch: Was ihr für einen meiner
geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.
Dann wird er sich auch an die auf der linken Seite wenden und zu ihnen sagen: Weg von
mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das für den Teufel und seine Engel bestimmt ist!
Denn ich war hungrig und ihr habt mir nichts zu essen gegeben; ich war durstig und ihr
habt mir nichts zu trinken gegeben; ich war fremd und obdachlos und ihr habt mich nicht
aufgenommen; ich war nackt und ihr habt mir keine Kleidung gegeben; ich war krank und
im Gefängnis und ihr habt mich nicht besucht. Dann werden auch sie antworten: Herr,
wann haben wir dich hungrig oder durstig oder obdachlos oder nackt oder krank oder im
Gefängnis gesehen und haben dir nicht geholfen? Darauf wird er ihnen antworten: Amen,
ich sage euch: Was ihr für einen dieser Geringsten nicht getan habt, das habt ihr auch mir
nicht getan. Und sie werden weggehen und die ewige Strafe erhalten, die Gerechten aber
das ewige Leben“ (Mt 25,31–46).
13
  Ähnlich die beiden Lesungen (vor dem Evangelium), die an diesem Tag im Lesejahr A
vorgesehen sind: 1. Lesung – Ez 34,11–12.15–17 (Gott als der gute Hirt seines Volkes), 2.
Lesung – 1 Kor 15,20–26.28 (Unterwerfung und Gottesherrschaft). Dem Prediger stehen
also drei (zum allergrößten Teil) blaue Texte zur Wahl.
172 Elżbieta Kucharska-Dreiss

traditionelle Art und Weise fortsetzt: mit der Lexik und der Begrifflichkeit,
welche die semantischen Felder ‚herrschen‘ und ‚richten‘ versus ‚ängstlich
gehorchen‘ abdecken. Das liegt auf jeden Fall nahe, insbesondere, wenn
der Prediger selbst sich auf der Stufe 4.0 befindet.
Der Prediger kann sich aber auch um die Hörer anderer – höherer –
Bewusstseinsstufen bemühen bzw. versuchen, den 4.0-Zuhörern orange
oder grüne Perspektiven zu eröffnen. Dies setzt allerdings voraus, dass
er in seiner Persönlichkeitsentwicklung bereits in Richtung Orange oder
Grün unterwegs ist. Genau so einen Versuch wagt Bernd Ciré (1996) in
der Predigt „Einander als königliche Menschen begegnen“. Natürlich
nimmt auch er die Lexeme Christkönig und königlich in den Mund, aber
die Erklärung dafür, warum die katholische Liturgie dieses (blaue) Fest
feiert, ist alles andere als traditionell blau. Sie lautet: „,um nicht zu ver-
gessen, daß wir selbst königliche Menschen sind …‘, mehr noch, auch
die Notleidenden, die unserer Barmherzigkeit bedürfen, sind ‚königliche
Menschen‘. ‚Wir feiern Christkönig nicht nur, damit wir aufrechter aus der
Kirche herausgehen, als königliche Menschen, die Lust an ihrer Würde ha-
ben, die Christus ihnen geschenkt hat. Wir feiern Christkönig auch, damit
wir unseren Blick schärfen für die königlichen Menschen um uns herum‘“
(Anselm Grün nach Ciré 1996: 243).
Aus der biblischen Lesung greift der Prediger das Wort fremd heraus
und stellt das Fremdsein als eine Grundsituation des menschlichen Lebens
dar. Der genaue (etwas anders gestaltete) biblische Kontext ist der: Jesus
sagt zu den Gerechten „ich war fremd und obdachlos und ihr habt mich
aufgenommen“.
Fremdheit kann – erklärt der Prediger anhand der Beispiele – zum
Hindernis werden, anderen zu begegnen; sie kann aber auch schnell in
Feindschaft umschlagen. Diesem Szenario stellt der Prediger die grü-
ne Verhaltensweise Jesu entgegen, der einfühlsam auf die Fremden,
Heimatlosen und Ausgegrenzten seiner Zeit eingeht, sodass diese sich
ihm anvertrauen. Er identifiziert sich sogar mit ihnen. Und genau diese
Einfühlsamkeit macht den Unterschied zwischen Grün und Blau aus: Blau
kümmert sich um Bedürftige aus tief empfundener Christenpflicht, Grün
aus Liebe und Mitgefühl (vgl. KHK 2010: 142).

2.1.2.2. Weiterführende Bemerkungen


Die einzelnen Stufen (Menschen, Gottes- und Jesusbilder dieser Stufen)
können in einem ersten Schritt sicherlich über die verwendete Lexik (se-
mantische Felder) ermittelt werden.
Plenarvorträge 173

Das bloße Vorkommen bestimmter lexikalischer Einheiten darf aber


nicht über die Tatsache hinweg täuschen, dass unter Verwendung einer z. B.
für die Stufe 4.0 typischen Lexik auch Aussagen gemacht werden können,
die inhaltlich auf einer anderen (höheren oder niedrigeren Stufe) anzusie-
deln sind. In einem zweiten Schritt ist also eine eingehende Analyse der
Propositionen und Propositionskomplexe unentbehrlich.
Graves selbst operationalisierte die Stufen durch die Auswahl bestimm-
ter Begriffe, die er als typisch für die jeweilige Stufe erachtete. Um seine
Annahmen zu überprüfen, führte er Messungen mit einem Tachistoskop
durch. „Die Hypothese war: Wenn die Operationalisierung zutrifft, wird
eine Testperson, die einer bestimmten Stufe zugerechnet wird, die betref-
fenden Begriffe schneller erkennen als die Begriffe anderer Stufen“ (http://
www.graves-systeme.de/). Interessanterweise stützen die Unterschiede in
der Schnelligkeit der Wahrnehmung der stufenspezifischen Begriffe die
Erfahrungen mit dem selektiven Hören und Verstehen: Wenn sich ein Hörer
in seiner persönlichen Entwicklung z. B. auf der Stufe 4.0 befindet, wird er
in einem Text solche Wörter und Aussagen schneller erkennen (und dann
auch schneller verarbeiten), die seinem Bedürfnis nach Sicherheit, Ordnung
und dem Sich-Unterordnen entgegenkommen. Andere Inhalte wird er im
Extremfall vollkommen überhören.
Angewendet auf die Predigt bedeutet das Folgendes: Wenn Menschen,
die sich auf Stufe Blau befinden, ein oragnes oder grünes Gottesbild gepre-
digt wird, werden sie sich von ihm nicht (wirklich) angesprochen fühlen.
Auch anders herum: Die Menschen der Stufe Orange oder Grün werden sich
genauso wenig mit einem blauen Gott ‚arrangieren‘ können, es sei denn,
dass sie an der Kirchentür ihr oranges bzw. grünes Bewusstsein ablegen.
Wahrscheinlich u.a. deswegen nimmt der Besuch der blauen Gottesdienste
ab und die Abneigung gegen die blauen Volkskirchen zu.

3. Am Schluss angekommen
Wie eingangs gezeigt, sind auf das Ankommen unterschiedlicher
Botschaften etc. viele Bereiche des menschlichen (Zusammen-)Lebens
geradezu angewiesen. Der Bereich ‚Religion‘ bzw. ‚religiöse Kommuni­
kation‘ scheint aber als einer der sensibleren unter ihnen zu gelten.
Besonders kompliziert (um nicht zu sagen: kritisch) wird es dann, wenn
unterschiedliche Gottesbilder aufeinandertreffen: „Wenn jemand ‚Gott‘
sagt, müsste er eigentlich dazu die Stufe seiner Entwicklung nennen, so-
zusagen die Versionsnummer seines Gottesbegriffs. Dann stellt sich bei-
174 Elżbieta Kucharska-Dreiss

spielsweise heraus, dass orthodoxe Juden, konservative Katholiken oder


traditionelle Moslems meistens Gott 4.0 [blau] meinen, wenn sie von ihm
sprechen. Protestanten verstehen unter Gott eher Gott 5.0 [orange], wobei
es auch Kreise gibt, die zurück zu Gott 4.0 tendieren. Die meisten engagier-
ten Christen dagegen meinen mit Gott die Version 6.0 [grün] – und werden
von ihren Bischöfen und anderen 4.0-Anhängern permanent missverstan-
den“ (KHK 2010: 14).
Probleme können demnach sowohl in der intrareligiösen als auch in
der interreligiösen Kommunikation auftreten. Von den intrareligiös be-
deutsamen Aspekten ist im deutschsprachigen Raum bereits einiges un-
tersucht worden, u.a. die Kommunikationssituation im Gottesdienst und in
der Predigt (allerdings unterschiedlich intensiv und nicht unter Berufung
auf Graves); für eine genauere Übersicht vgl. Greule/Kucharska-Dreiss/
Makuchowska (2005); neuere Veröffentlichungen: u.a. Gerber/Hoberg
(2009), Greule/Kucharska-Dreiss (2011) Greule (2012). Im Bereich
der interreligiösen (zum Teil aber auch schon der interkonfessionellen)
Kommunikationsforschung gibt es dagegen nach wie vor große Defizite.
Nicht zuletzt angesichts des anstehenden Dialogs mit dem Islam wä-
ren tiefer gehende (theo-)linguistische Untersuchungen zumindest wün-
schenswert, wenn nicht sogar dringend notwendig; für die bereits gelei-
steten Vorarbeiten vgl. die Homepage des Internationalen Arbeitskreises
„Theolinguistik“ auf www.theolinguistik.net bzw. www.theolinguistik.
de; für die kulturelle, gesellschaftliche, mediale und wissenschaftliche
Relevanz der theolinguistischen Forschung vgl. Kucharska-Dreiss (2012).

Literatur:
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Plenarvorträge 175

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176 Elżbieta Kucharska-Dreiss

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Ryszard Lipczuk (Szczecin)

Motive der Bekämpfung der Fremdwörter


im Deutschen

Es ist bekannt, dass der sog. Fremdwortpurismus in Deutschland eine


wichtige Rolle spielte, wohl mehr als in anderen Ländern, mehr als in
Polen.
Ich möchte der Frage nachgehen: Warum bekämpfte oder bekämpft
man Wörter fremder Herkunft im Deutschen? Nach welchen Motiven hat
man sich dabei gerichtet? Zu diesem Thema liegen bereits einige kleine
Beiträge aus meiner Feder (vgl. Lipczuk 1995; 2007a; 2007b; 2008) vor, im
Folgenden werde ich auf sie Bezug nehmen, dabei aber auch einige neue
Aspekte hinzufügen. Angeknüpft wird aber zuerst an Andreas Gardt, nach
dem Fremdwörter1 Gegenstand unterschiedlicher Diskurse sind. Bei Gardt
(2001), der sich besonders auf die Ansichten älterer Autoren (z. B. aus der
Barockzeit) beruft, werden genannt:
• ein sprachstruktureller Diskurs – hier werden Entlehnungen hinsicht-
lich der Einheit der Sprachstruktur behandelt. Fremdwörter seien dem
Deutschen ausdrucksseitig wie inhaltsseitig nicht zugehörige Wörter
(vgl. dazu Gardt 2001: 36). Fremdwörter lassen sich vermeiden, weil
die Muttersprache über bestimmte strukturelle Prinzipien verfügt, die
man zur Bildung neuer Formen und Wörter benutzen kann. „Tendenziell
werden Fremdwörter also zu nahezu allen Zeiten dann eher akzeptiert,
1
  Wir bleiben hier beim vagen Begriff des Fremdwortes, der bei den meisten deutschen
Puristen vorzufinden war oder auch ist. Auch viele formal assimilierte Entlehnungen
(sog. Lehnwörter) waren ja oft Gegenstand der puristischen Aktivitäten. Allerdings will
ich nicht der puristischen Abgrenzung von Fremdwort und deutschem Wort folgen, weil
Fremdwörter auch deutsche Wörter sind (ähnlich Eisenberg 2011: 1 ff.).
178 Ryszard Lipczuk

wenn sie 1. ausdrucksseitig mehr oder weniger stark assimiliert und 2.


in das pragmatische Gefüge einer Sprache integriert sind“ (Gardt 2001:
38). Sie werden auch dann akzeptiert, wenn sie eine Bezeichnungslücke
im Wortschatz schließen (ebenda).
• ein sprachideologischer Diskurs – die Sprache wird in eine Beziehung
zur Nation, Rasse, Kultur gesetzt. Der Muttersprache wird eine wich-
tige Rolle hinsichtlich der nationalen Identität und der Erhaltung des
Kulturerbes zugeschrieben. Oft kommt es zu einer „Übertragung
von (vermeintlichen) Eigenschaften der Sprache auf (vermeintliche)
Eigenschaften der Sprecher“, also zur Identifizierung eines Sprach­
charak­ters mit einem Volks- und Nationalcharakter (Gardt 2001: 43).
Bereits im 16. Jh., mit der Wiederentdeckung der „Germania“ von Tacitus, be-
ginnt ein Germanenmythos, der den Germanen und in ihrer Nachfolge
den Deutschen sowie deren Sprachen bestimmte positive Eigenschaften
zuschreibt (ebenda). Im ideologischen Fremdwortdiskurs werden Ent­
lehnun­gen weniger als Bereicherung der deutschen Sprache und Kultur
und vielmehr als Bedrohung der eigenen Identität angesehen (ebenda, 45).
• ein sprachpädagogischer und sprachsoziologischer Diskurs geht von
der Überzeugung aus, „dass die Beherrschung von Fremdwörtern mit
dem Wissen und der Bildung der Sprecher korreliert“ (Gardt 2001: 45).
Fremdwörter können eine kognitive Funktion haben, weil man aufgrund
deren Verwendung in eine neue (fremde) Begriffswelt kommt, was man
sowohl positiv als auch negativ einschätzen kann (ebenda).
• ein sprachkritischer Diskurs – hier werden stilistische, ästhetische
und kommunikationsspezifische Aspekte der Fremdwörter beurteilt.
Bewertet wird ihr Beitrag zur stilistisch-ästhetischen und pragma-
tisch angemessenen Gestaltung der Rede. Einer Kritik kann auch die
Verwendung der Entlehnungen aus Imponiergehabe und Snobismus un-
terzogen werden, was die tatsächliche Beziehung zwischen Sprache und
Wirklichkeit verschleiern kann. Solche Urteile über die Fremdwörter
seien „Ausdruck eines Ideals, einer Ethik der Kommunikation“ (Gardt
2001: 46).

Im Folgenden will ich keine systematische und chronologisch geord-


nete Darstellung bieten. Es soll einfach ein Überblick über Motive der
Fremdwortbekämpfung im Deutschen gegeben werden, indem jeweils von
ausgewählten Zitaten ausgegangen wird. Im Gegensatz zu Gardt (2001)
möchte ich mich nicht auf Diskurs über Fremdwörter allgemein einlassen,
bei denen sowohl negative als auch positive Seiten deren Gebrauchs an-
Plenarvorträge 179

gesprochen werden. Im Mittelpunkt unseres Interesses befinden sich kriti-


sche Ansichten zur Verwendung der Fremdwörter und die Gründe für die
Ablehnung nichtnativer Ausdrücke2.
Zuerst kommen einige Äußerungen aus dem 19. Jh. und vom Anfang des
20. Jhs. Gelegentlich wird auch auf ältere Perioden zurückgegriffen.

ZITAT Nr. 1:
Die Eignung zum allerorten gleichlautenden Verständigungsmittel verliert die
deutsche Sprache durch ihre 80 000 Fremdwörter. (Kresse 1916: 115)

Diese Worte finden wir im Verdeutschungswörterbuch von Oskar


Kresse, einem recht radikalen Vertreter des deutschen Fremdwortpurismus.
Angesprochen wird hier die kommunikative Funktion: Sprache ist ein
Kommunikationsmittel und nur die „reine“ Muttersprache garantiere eine
richtige Verständigung.
Ein anderer bedeutender Purist Eduard Engel (1916: 110) meinte: „völ-
lige Verständigkeit für jedermann ist nur durch die Muttersprache möglich“.
Die Fremdwörter dagegen können die gegenseitige Verständigung er-
schweren und zu Missverständnissen führen. Sie seien oft mehrdeutig, un-
klar, verschwommen. „Die Unklarheit beim Gebrauch von Fremdwörtern
resultiert aus ihrer Vieldeutigkeit und der Verschwommenheit der
Bedeutung. Deswegen seien eher deutsche Ausdrücke zu empfehlen, weil
sie über Schärfe und Feinheit des Ausdrucks verfügten, meinte einer der
einflussreichsten Vertreter des Allgemeinen Deutschen Sprachvereins Otto
Sarrazin (1900-1921 war er Vorsitzender des Vereins) (Sarrazin 1912: IV).
Derartige Gründe für die Ablehnung der Fremdwörter kann man als
kommunikative Motive bezeichnen.
Mein kurzer Kommentar dazu. Selbstverständlich kann der Gebrauch
der Entlehnungen die zwischenmenschliche Kommunikation erschweren,
wenn diese nicht allgemein bekannt sind. Aber genauso hinderlich bei der
gegenseitigen Verständigung können manche nativen (einheimischen)
Ausdrücke sein.

2
  Den Terminus „nichtnative Ausdrücke“ verwende ich als Synonym zu „Fremdwort“,
„Lehnwort“, „Entlehnung“, Wörter (Ausdrücke) fremder Herkunft“.
180 Ryszard Lipczuk

ZITAT Nr. 2:
Die fremden Ausdrücke haben vielfach andere Laute, andere Betonung als
die deutschen Wörter. Solche ungleichartige Bestandteile stören darüber die
Einheitlichkeit der Rede. (Dunger3/Lössnitzer 1915: 25)

Wir haben es hier mit sprachstrukturellen Motiven zu tun. Es wird an-


genommen, dass jede Sprache ihre spezifische formal-inhaltliche Struktur
hat (was stimmt) und eine Beimischung von fremden Elementen (so
Präfixen oder Suffixen) aus anderen Sprachen diese einheitliche Struktur
beeinträchtigen kann. So behauptete Karl Wilhelm Kolbe, dass der deut-
schen Sprache als einer Ursprache Wohlklang, Selbstständigkeit, Einheit
und Ganzheit zukommen. Dagegen führe die Zulassung von solchen
Elementen wie Fremdsuffixen zu unerwünschten Mischformen (K olbe
1813: 129). Als negative Beispiele für Misch- (Doppel-, Zwitter-)sprachen
nennt er Englisch und Französisch.
Christian Moritz Pauli aus der Berlinischen Gesellschaft für deutsche
Sprache (gegründet: 1815) meinte, dass ein Wort wie Waffenstillstand das
Ideal einer strukturell durchsichtigen Sprache besser erfüllt als das französi-
sche arministice – man solle bei Ausnutzung der reichen Wortbildungsmittel
des Deutschen neue einheimische Wörter bilden, statt Fremdwörter zu be-
nutzen (vgl. Gardt 2001: 41).
Karl Christian Krause forderte, dass ein Verzeichnis deutscher Stamm­
wörter zusammengestellt wird, wobei allein die Vernunft für den Sprach­
reiniger richtungsweisend sein soll (vgl. Kirkness 1975: 231).
Otto Sarrazin (1886: VIII) behauptete: „Die Fremdwörter sind und blei-
ben exotische, anderem Boden entsprossene fremdwüchsige Pflanzen, die
allenfalls (…) ein künstliches Treibhausleben führen können. (…) Und da
man sie gleichwohl in deutsches Erdreich verpflanzt hat, so ist es erklär-
lich, ja naturnotwendig, daß sie hier degenerieren, entarten und verkrüp-
peln, ob es auch derselbe Boden ist, welcher der deutschen Eiche Kraft und
Nahrung gibt“.
Deutsch sei eine „Mengselsprache”, „sie ist eine romanisch-griechische
Mundart mit starker Deutschfärbung“ – lesen wir bei Eduard Engel (1916: 7).
Es gibt – so wird oft behauptet – unentbehrliche und entbehrliche
(überflüssige) Fremdwörter – die Letzteren seien eben zu eliminieren. Was

  Der Dresdner Gymnasialprofessor für Deutsch und klassische Sprachen in Dresden


3

Hermann Dunger (1843–1912) gehörte zu den Gründern und aktivsten Vertretern des
Allgemeinen Deutschen Sprachvereins. In Dresden hat er bereits 1885 den ersten
Zweigverein des ADSV gegründet.
Plenarvorträge 181

sollten aber Kriterien für die Abgrenzung der beiden Kategorien sein? Ist
es berechtigt, von bestimmten lexikalischen Einheiten zu behaupten, dass
sie überflüssig sind? Die Nützlichkeit bestimmter Wörter zeigt sich sowie-
so erst in der kommunikativen Praxis. Dass die deutsche Sprache, ähn-
lich wie viele andere Sprachen, eine Art Mischsprache ist, dass nichtnati-
ve Elemente einen großen Teil des deutschen Wortschatzes bilden, spricht
überhaupt nicht gegen Entlehnungen als solche.

ZITAT Nr. 3:
Durch die vielen Fremdwörter werde die deutsche Sprache „auf jene Ent­
wickelungsstufe zurückgedrängt, auf der das Ausdrücken von Gedanken und
damit das Denken selbst entsprechend eingeschränkt war“. (Kresse 1916: 115 f.)

In den „Reden an die Deutsche Nation“ von J. G. Fichte4 (1807-8) ist


zu lesen: „(....) Menschen, die die gleiche Sprache sprechen, denken und
empfinden gleich und haben gemeinsame Grundlagen des Handelns, nach
außen ermöglicht sie eine Abgrenzung gegen anders sprechende, denkende,
empfindende und in der Welt sich bewegende Gruppen“ (nach Bär 2000:
217). Das Eindringen fremder Elemente in eine Sprache solle vermieden
werden, weil sonst die Denkweise der Sprachgemeinschaft verfälscht wür-
de (ebenda).
Die Muttersprache habe einen Einfluss auf das Denken der Menschen,
in ihr sind Erfahrungen und Meinungen früherer Generationen gefasst und
tradiert (ähnlich auch Kolbe 1813: 129, Dunger/Lössnitzer 1915).
Günter Saalfeld in der Einleitung zu seinem umfangreichen Ver­
deutschungswörterbuch schreibt: „Das ist das Ziel, wonach der Vater­
landsfreund strebt, der seine Muttersprache liebt und ehrt: wir wollen nicht
nur deutsch sprechen, sondern vor allem deutsch denken!“ (Saalfeld 1910:
XIII). Bei Saalfeld vermischen sich hier kognitive Gründe mit nationalen
Motiven (vgl. ZITATE Nr. 10).
Die Annahme, dass die Sprache das Denken und die Begriffsbildung
beeinflusst (in ähnlicher Weise äußern sich z. B. die Neuhumboldtianer wie
Leo Weisgerber), darf nicht einfach als falsch abgelehnt werden5. In wie
weit aber der Gebrauch von nichtnativen Ausdrücken das Denken der ein-
zelnen Menschen und ihre Perzeption der außersprachlichen Wirklichkeit
4
  Auf Fichte beriefen sich gerne deutsche Puristen, darunter der Allgemeine Deutsche
Sprachverein.
5
  Vgl. aber Alicja Sakaguchi (2011: 371 f. ), die auf mystische Erkenntnisse verweist, für
die die Sprache keine Rolle spielt.
182 Ryszard Lipczuk

verändern kann, ist kaum nachvollziehbar – eher kann man annehmen, dass
dies keine beträchtlichen „Schäden“ im mentalen Bereich nach sich ziehen
würde.
Derartige Gründe für die Ablehnung der Fremdwörter seien hier kogni-
tive Motive genannt6.

ZITATE Nr. 4:
Die Fremdwörterei ist ein Hemmschuh für die Ausbreitung allgemeiner Bildung.
(Reinecke 1888: 8)

Es ist zum Weinen, welch gewaltiger Verlust an Volksbildung dadurch entsteht,


daß ein großer Teil des reichen Bildungsstoffes in Büchern und Zeitungen durch
seine welsche Sprache vernichtet wird. Ein ungeheurer Aufwand nutzlos wird
vertan. Ich habe Stöße von `Büchern fürs Volk` daraufhin geprüft: fast auf jeder
Seite ein nicht ganz oder ein gar nicht verständlicher verwelschter Satz. (Engel
1916: 114)

Die Fremdwörterei ist die granitene Mauer, die sich in Deutschland zwischen den
Gebildeten und den nach Bildung ringenden Klassen erhebt. (Engel 1917: 202)

Auch Daniel Sanders betont, „welche ungemeine Wichtigkeit die


möglichste Reinheit der Sprache für die gesamte Volksbildung hat, …“
(Sanders 1884: VIII).
Hinter diesen Aussagen von Adolf Reinecke, Eduard Engel, Daniel
Sanders verbirgt sich die Auffassung, dass die durch Fremdwörter „verun-
reinigte“ Muttersprache die allgemeine Ausbildung im Volke verhindert.
Die einfachen Menschen verstehen die Fremdwörter nicht, so dass eine
richtige Wissensvermittlung nicht möglich ist. Die Sprachbarriere bildet
somit zugleich eine soziale Barriere. Solche Beweggründe sind bereits bei
J. H. Campe (1801) bemerkbar, der die Wörter Religion durch Gotteslehre
und Philosophie durch Vernunftslehre ersetzen wollte. Die fremdwort-
freie Muttersprache sei das beste Mittel zu „der geistigen und bürgerlichen
Ausbildung eines Volkes“ (Campe 1801: 14). Sein Ziel war die Transparenz:
aus den Bestandteilen eines Wortes (hier sind es Komposita) könne man die
Bedeutung des ganzen Wortes erschließen. Eine solche Annahme ist aller-
dings recht umstritten, weil die meisten Wörter eher arbiträre und nicht mo-
tivierte Einheiten sind. Einstellungen dieser Art wollen wir als bildungs-
praktische (aufklärerische) Motive bezeichnen.

6
  Solche Motive scheinen bei den puristischen Aktivitäten in Polen eine bedeutende Rolle
gespielt zu haben (vgl. z. B. Niedźwiedzki 1917).
Plenarvorträge 183

ZITATE Nr. 5:
Wo gewelscht7 wird, da wird geschwindelt. (Engel 1916: 116)

Das deutsche Wort ist klar und rechtschaffen (…) das Fremdwort im besten
Falle schwammig, schaumig, in den vielen noch schlimmeren Fällen unredlich,
schwindelhaft. (Engel 1917: 177)

Derselbe Autor meint, dass sich die deutsche Bildungssprache „trü-


gerischer Mittel“ bediene. „Sie nennt einen nutzlosen Nichtstuer mit ge-
nügendem Gelde in großartigem Berlin-französisch einen Privatier, be-
schönigt den offenen Diebstahl durch die gelehrte Defraudation, den
geistigen Raub durch das klassische Plagiat, …“ (E ngel 1916: 117).
Statt „Persönlichkeit“ werde (so Engel) „Individualität“ verwendet,
weil sie als „viel feiner, viel wissenschaftlicher“ betrachtet wird, statt
„Sprachwissenschaft“ wird „Philologie“ und statt „Deutschkunde“ das
Fremdwort „Germanistik“gebraucht“ (ebenda: 118).
Es sei hier von ethischen Motiven der Fremdwortbekämpfung gespro-
chen.
Mein Kommentar dazu. Es stimmt, dass der Gebrauch von Fremd­
wörtern zur Verdeckung der Wahrheit und zu Manipulationszwecken die-
nen kann. Es kommt vor, dass man mit Absicht fremde Ausdrücke ver-
wendet, um die anderen irrezuführen. Das liegt jedenfalls nicht an den
Wörtern selbst (man kann den Fremdwörtern nicht zuschreiben, dass sie
lügen), sondern am Gebrauch durch deren Benutzer. Denke man an den
Missbrauch solcher Lehnwörter wie Fanatiker, Euthanasie, Propaganda
oder Konzentrationslager in der NS-Zeit, die gebraucht wurden, um die
Wahrheit zu verschleiern und die Menschen zu manipulieren. Andererseits
ist es offensichtlich, dass man auch durch Verwendung von einheimischen
Wörtern die anderen irreführen kann (wenn man z. B. einen Terroristen als
einen „Aufständischen“ bezeichnen würde). Die Herkunft der Wörter ist
hier nicht ausschlaggebend.

ZITAT Nr. 6:
Ist es geschmackvoll, auf einen Rocke allerlei bunte Lappen und Flecken
aufzunähen? (Dunger/Lössnitzer 1915: 25)

Gemeint ist hier allerdings nicht ein Rock, sondern die deutsche Sprache, die
nach Ansicht der Autoren durch die vielen Entlehnungen an Schönheit verliert.
7
  „Welschen“ bedeutet hier so viel wie: „fremde Ausdrücke unnötigerweise verwenden“.
184 Ryszard Lipczuk

Die Sprache wird als ein Kunstwerk betrachtet. Fremdwörter oder einhei-
mische (native) Ausdrücke mit fremden Bestandteilen klingen nicht schön
und zerstören die Schönheit und Harmonie der Muttersprache. So meinte
Karl Wilhelm Kolbe8 (1813: 140), dass die Sprache ein Kunstwerk und
Trägerin des Schönen sei. Kolbe vergleicht eine mit vielen Entlehnungen
durchsetzte Sprache mit einem Ölgemälde, in dem „hier ein Auge mit
Wasserfarben, dort eine Nase mit Pastellfarben, anderswo ein Ohr gar mit
Saftfarben eingesetzt wäre“ (zit. nach Bär 2000: 219).
Es liegen uns hier ästhetische Motive vor.

ZITAT Nr. 7:
Wir verlangen (…) durchaus nicht die Ausmerzung alles Fremden, nur eine
Beschränkung in so weit, daß man Fremdwörter nicht aus lässiger Bequemlich­
keitsliebe, überflüssig und unnöthig verwende, sondern nur mit bewußter Absicht, ….
(Sanders 1884: VIII)

Der verdiente Lexikograf Daniel Sanders (der an der Konkurrenz mit


den „großen“ Grimms scheitern musste) will sich hier als ein gemäßig-
ter Gegner des Fremdwortgebrauchs ausgeben. Entlehnungen seien – so
Sanders – unentbehrlich, wenn es für einen bestimmten Begriff „an ei-
nem allgemein anerkannten vollgiltigen Ersatz fehlt“ (Sanders, ebenda).
Kritisch ist er aber gegen Verwendung der Fremdwörter aus der reinen
Bequemlichkeit, wenn entsprechende einheimische Wörter vorliegen.
Eine solche Kritik am Gebrauch der Fremdwörter betrifft somit das
Verhalten der Sprachbenutzer, denen Bequemlichkeit und Nachahmung des
Fremden vorgeworfen wird.
„Wie der deutsche früher der Affe der Franzosen war, so äfft er jetzt den
Engländern nach“ – beklagt sich Dunger (1899: 4).
Bereits aus dem 17. Jh. stammt folgendes Epigramm von Friedrich von
Logau, einem schlesischen Autor, der übrigens viele andere recht geschick-
te Reime dieser Art hinterlassen hat:9
Franckreich
Franckreich hat es weit gebracht; Franckreich kann es schaffen,
Daß so manches Land und Volck wird zu seinen Affen. (In: Desterley 1885: 181)

8
  Kolbe (1757-1835) war ein Maler und Grafiker, aber auch Verfasser von sprachpuristi-
schen Texten.
9
  Vgl. Lipczuk (2007b: 30 f.).
Plenarvorträge 185

Eine solche Kritik des Gebrauchs der Fremdwörter mit Verweis auf
Snobismus nenne ich verhaltenskritische Motive (mein Benennungs­
vorschlag, vgl. auch Lipczuk 2007a; b).

ZITATE Nr. 8:
Unsere Sprache gehört zu den reichsten, bildsamsten, beugungs- und zusammen­
setzungsfähigsten der neueren europäischen Sprachen (…) Wozu also noch
Fremdwörter, da wir einen so großen Vorrat an eigenen besitzen? (Brugger 1855: V)
Mehr als einmal sind mir die Augen ermüdet, die Hände gesunken vor der über­
wältigenden Unausschöpfbarkeit dieser reichsten aller Zungen. (Engel 1929: 8)

Das erste Zitat stammt aus dem Verdeutschungswörterbuch von Joseph


Brugger, einem katholischen Priester, der zu den radikalsten Fremdwort­
bekämpfern gehörte.
Noch deutlicher kommt das Lob der deutschen Sprache bei Eduard
Engel zum Ausdruck.
In beiden Aussagen werden die vermeintlichen Vorteile der deutschen
Sprache hervorgehoben. Die deutsche Sprache sei schön und reich, sie
braucht keine Anleihen von anderen Sprachen.
Solche Ansichten findet man bereits bei den barocken Sprach­
gesellschaften. Charakteristisch für sie war die Überzeugung, dass die
deutsche Sprache eine der „Hauptsprachen“ ist (neben Latein, Griechisch
und Hebräisch). Das Ziel war die Aufwertung der deutschen Sprache und
zugleich der deutschen Kultur.
Nach Oskar Kresse seien solche Sprachen wie Italienisch oder
Französisch weniger entwickelt als „das fortlebende blühende Deutsch“
mit seiner „Reichhaltigkeit und Bestimmtheit der Bezeichnungen für die
kleinsten Unterschiede der Dinge, der Gedanken und Begriffe …“ (…)
(Kresse 1916: 113).
Derartige Gründe für die Fremdwortbekämpfung seien hier sprach- und
kulturpatriotische Motive genannt.

ZITAT Nr. 9:
Gottlob haben wir wieder gelernt, daß wir Germanen sind. Wie verträgt sich damit
die Pflege einer im jüdischen Verbrechertum wurzelnden Unsitte? Auch auf die
Herkunft von Wörtern wie berappen, beschummeln, Kittchen, Kohldampf, mies,
mogeln, pleite, Schlamassel, Schmu, Schmus, schofel, Stuß und ihresgleichen
sollte sich der Deutsche nachgerade besinnen. Es ist seiner nicht würdig, seinen
186 Ryszard Lipczuk

Wortschatz aus dem Ghetto zu beziehen und aus der Kaschemme zu ergänzen.
(Götze 1936, nach Eisenberg 2011: 117)

Diese recht bekannte antisemitische Aussage stammt von nicht weni-


ger als dem verdienten Germanisten und Lexikographen Alfred Götze.
Nebenbei gesagt spielen jiddische Entlehnungen im Deutschen sowieso
keine bedeutende Rolle, so dass eine solche Äußerung umso mehr seltsam
klingt.
Diesem Fremdwortdiskurs – neben nationalen und kulturpatriotischen
Motiven10 – kann man wohl manche Äußerungen von Oskar Kresse zurech-
nen. Er spricht von „nordrassisch“, das er mit „indogermanisch“ gleich-
setzt. Das Deutsche sei „aus der Sprache jenes alten Volkes hervorgegan-
gen, das seinen Wohnsitz an den Gestaden der Ostsee hatte, die deshalb
als ein vorgeschichtliches Mittelmeer der menschlichen Sprachentwicklung
anzusehen ist“ (Kresse 1916: 113). Es wird hier die Überzeugung von einer
höheren Entwicklungsstufe der Germanen, der Deutschen und der deut-
schen Sprache zum Ausdruck gebracht.
Sie seien von uns als rassistische Motive11 bezeichnet.

ZITATE Nr. 10:


Fremdwörter stammen zum größten Teile aus der Zeit des Niedergangs unseres
Volks, (...) Wenn wir also die Fremdwörter bekämpfen, so stärken wir zugleich den
deutschen Geist, das vaterländische Gefühl. (Dunger 1898: 4, Sp. 58)

Die Zukunft des deutschen Volkstums blüht und welkt mit der Zukunft der deutschen
Sprache. (Engel 1916: 258)

Das Fremdwort ist der Feind der deutschen Volkseinheit. (Engel 1916: 114)

Hermann Dunger verbindet den Zustand der deutschen Sprache mit der
politischen Situation. Immer wenn sich das deutsche Volk – so Dunger – in
einer schwierigen Lage befindet und von Feinden unterjocht wird – kom-
men ins Deutsche unnötige Fremdwörter. Um „das vaterländische Gefühl“
zu stärken, solle man gegen diese Fremdeinflüsse in der Sprache ankämpfen.

  Alle drei entsprechen dem sprachideologischen Diskurs im Sinne von Gardt (2001).
10

  Diesen Terminus findet man bei Albrecht Greule (1998: 3 ff.).


11
Plenarvorträge 187

Der radikale und eifrige Kämpfer für die „Reinheit“ der deutschen
Sprache Eduard Engel12 meint sogar, dass die Zukunft der deutschen Nation
vom Zustand der deutschen Sprache abhänge.
Wir haben es hier mit nationalen Motiven zu tun, die oft einen natio-
nalistischen oder chauvinistischen Anschlag bekamen. So wird von Adolf
Reinecke (1888: 57) appelliert: „Besinne dich auf dich selbst, du großes
herrliches Volk! (...) Bewahre dein Volkstum vor fremden Einflüssen“.
Die deutsche Sprache wird in Verbindung mit der deutschen Nation,
der deutschen Wesensart, mit dem Deutschtum gebracht. Die „reine“
Muttersprache sei eine Voraussetzung der nationalen Identität, während
Fremdwörter einen verderbenden Einfluss auf das deutsche Volkstum 13
hätten.
Die nationalen bzw. auch nationalistischen Motive findet man schon
beim Begründer der Turnbewegung Friedrich Ludwig Jahn (Anfang des
19. Jhs.), der in seiner Abneigung, selbst Hass gegenüber dem Fremden, be-
sonders gegenüber Frankreich und der französischen Sprache als Beispiel
eines übereifrigen Kämpfers für die „Befreiung“ der deutschen Sprache
von fremden Einflüssen dienen kann. „In seiner Muttersprache ehrt sich
jedes Volk, (...) (Jahn 1817: 289).
Bei der Überlegung, welches Volkstum denn am höchsten stehe, meinte er:
„Kein anderes, als was den heiligen Begriff der Menschheit in sich aufgenommen
hat, (...) wie weiland volkstümlich die Griechen und noch bis jetzt weltbürgerlich
die Deutschen, der Menschheit heilige Völker“ (Jahn 1817: 17)

Selbstverständlich sollten solche Aussagen vor dem Hintergrund der da-


maligen politischen Situation und der Napoleonischen Besetzung gesehen
werden, was übrigens ihren nationalistischen Charakter nicht infrage stellt.
Auch im Allgemeinen Deutschen Sprachverein waren solche Ansichten
sehr deutlich erkennbar. So werden von Herman Riegel die Fremdwörter
als „widerwärtige Lappen“ und „Zeichen nationaler Stumpfheit und sprach-
licher Versumpfung“ bezeichnet. Riegel forderte auf, „die Erhaltung und
Wiederherstellung des echten Geistes und eigentümlichen Wesens der deut-
schen Sprache zu pflegen“ (zit. nach Wiechers 2004: 20).

12
  Zu Motiven der Ablehnung der Fremdwörter bei Eduard Engel vgl. auch: Lipczuk 2004;
2007b; 2010, Kausa-Michałowska 2010, Sztandarska 2012.
13
  Der Begriff „Volkstum“ wurde von Friedrich Ludwig Jahn eingeführt – es sei alles, was
mit einem Volk (einer Nation) zusammenhängt: dessen Kultur, Mentalität, Geschichte,
geographische Lage, nicht zuletzt die Sprache. Es sei „das Gemeinsame des Volkes, sein
inwohnendes Wesen, sein Regen und Leben (…)“ (Jahn 1817: 6 ff.).
188 Ryszard Lipczuk

Im Verdeutschungswörterbuch von Oskar Kresse findet man ein empha-


tisches Lob des Deutschtums und des Germanentums. Die alten Germanen
hätten – so Kresse – eine höhere Entwicklungsstufe als die Römer erlangt.
Das verdanken sie ihrer Lebensweise, weil sie das Leben im Freien liebten.
(sic!) „Zu jeder Jahreszeit, bei Frost oder Hitze, bei Sturm oder Gewitter:
kein Dach über dem Hause! Das stählte den Körper, das schärfte den Geist
und steigerte Wissen und Können durch den unmittelbaren Einblick in das
Leben der Pflanzen und Tiere weit mehr als das Sitzen in dumpfen Stuben“
(Kresse 1916: 116).
Hochgeschrieben werden solche Parolen wie: „Volk“, „Volkstum“,
„Volksgeist“, „deutsche Gesinnung“, „deutsche Eigenart“, „vaterländische
Gesinnung“, „Sprache als Nationalsymbol“, „Sprache als Heiligtum des
Volkes“.
Nach Martin Durrell (2002: 23) bedeutet die Gleichsetzung einer ein-
zigen Sprache mit einem einzigen Volk eine ahistorische Sprachbetrachtung
und Verkennung der Heterogenität der deutschen Sprache. „Vor der Neuzeit
hat es aber keine deutsche Sprache im Sinne einer gesprochenen und ge-
schriebenen Einheitssprache gegeben, die auf dem Territorium des Heiligen
Römischen Reiches gesprochen wurden“ (ebenda).
Nationale Gründe der Bekämpfung der Fremdwörter können als recht
typisch und dominant für das 19. Jh. und die ersten Jahrzehnte des 20. Jhs.
betrachtet werden14.
Wie sieht die Situation in der GEGENWART aus? Zur Zeit wirken in
Deutschland mehrere Sprachvereine, die für die sog. Reinheit der deut-
schen Sprache sorgen. Am bekanntesten ist der 1997 entstandene Verein
Deutsche Sprache. Der Verfasser dieses Beitrags ist kein großer Anhänger
dieser Gesellschaft – sie scheint ihm zu sehr auf Anglizismen fixiert zu
sein, die dort vertretenen Ansichten kann man als ziemlich radikal be-
zeichnen. Zu positiven Seiten der Tätigkeit dieses Sprachvereins kann man
sicher seine Bemühungen rechnen – angesichts der heutigen Dominanz
des Englischen – der deutschen Sprache mehr Geltung im öffentlichen und
internationalen Verkehr zu verschaffen.
Zuerst ein Zitat aus den „Sprachnachrichten“, der Zeitschrift des Vereins
Deutsche Sprache:
Je tiefer wir eine Sprache kennen und je angemessener wir sie beherrschen,
umso mehr gelingt uns auch der Umgang mit unseren Mitmenschen, mit unserer

  Mehr dazu: Lipczuk 2007a; 2008. Das gilt auch für Polen, besonders an der Wende des
14

19. und 20. Jhs.


Plenarvorträge 189

Umwelt, auch mit uns selbst. Sprache ist Voraussetzung dafür, als Mensch und mit
Menschen zu leben. (Meyer 2011: 10)

Angesprochen sind hier solche Aspekte des Sprachgebrauchs wie die


Beziehungen zwischen den Menschen, die Kommunikation. Man kann hier
somit von kommunikativen Motiven sprechen. Es sei allerdings angemerkt,
dass in diesem Fall nicht direkt das Problem der Entlehnungen, sondern
die Rolle der Muttersprache im Allgemeinen berührt wird. Andererseits
ergibt sich aus dem Inhalt des Textes, dass unter einer angemessenen
Beherrschung der deutschen Sprache auch Vermeidung von Anglizismen
zu verstehen sei.
Ein weiteres Zitat:
Der unermüdliche Kampf gegen überflüssige Anglizismen ist aller Ehre wert.
Längst schon droht der deutschen Sprache eine Überfremdung in Gestalt einer
Vermischung mit anderen Sprachen, insbesondere mit dem Englischen, wodurch
unsere Sprache nicht nur verhunzt, sondern vor allen Dingen zurückgedrängt
wird. (zit. nach Pfalzgraf 2006: 94)

Den Deutschen werden mangelnde Sprachloyalität und eine Gering­


schätzung der Landessprache vorgeworfen. Dies könne „zur Entstehung
eines Sprachgemischs beitragen, das wir Denglisch nennen“ (nach
Pfalzgraf 2006: 75).
Wird hier von einer „Vermischung“ der Sprachen, von einem
„Sprachgemisch“, von „Denglisch“ oder „Engleutsch“ gesprochen, so las-
sen sich derartige Ansichten den sprachstrukturellen Motiven zuordnen.
Das nachfolgende Zitat weist wiederum auf kognitive Motive hin:
Eigentlich hat jeder Mensch ein besonders inniges Verhältnis zu seiner
Muttersprache. Durch sie tritt er in Beziehung zu anderen Menschen und erschließt
sich die Welt. Darum gehören Sprache und Denken untrennbar zusammen. Die
Fähigkeit zum Begriff und die Fähigkeit zum Ausdruck bedingen und bereichern
sich wechselseitig. (…) Unsere Sprache ist es, mit der wir die Welt untergliedern
und wieder zusammenfügen. (Meyer 2011: 10)

Eine andere neopuristische Sprachgesellschaft: Der Verein für deut-


sche Rechtschreibung und Sprachpflege stellt sich u.a. folgende Ziele (die
Aussage stammt vom Jahre 2002):
Der VRS hat das Ziel, den hohen Entwicklungsstand der deutschen Sprache zu
bewahren und sie vor willkürlichen Eingriffen zu schützen. (zit. nach Pfalzgraf
2006: 92)
190 Ryszard Lipczuk

Der Verein – so Pfalzgraf (ebenda) – wendet sich besonders gegen die


neue Rechtschreibreform, auch das Thema der Anglizismen wird angespro-
chen. Hier ist die Rede von einem „hohen Entwicklungsstand der deutschen
Sprache“ – der Verweis auf den Reichtum der deutschen Sprache, auf die
Muttersprache als ein Kulturgut lässt solche Aussagen den sprach- und kul-
turpatriotischen Motiven zurechnen.
In dem schon erwähnten Text von Prof. Hans Joachim Meyer le-
sen wir, dass die Deutschen jetzt keine Achtung und Zuneigung zu ihrer
Muttersprache haben.
Viele werfen ihre Muttersprache weg wie ein verschlissenes und unansehnliches
Hemd. Viele, die sich als gebildet, aufgeklärt und weltoffen darstellen wollen,
distanzieren sich demonstrativ von der deutschen Sprache. (Meyer 2011: 10)
Durch Gebrauch des Englischen wolle man modern, kreativ und interessant sein!
(ebenda).

Eindeutig wird hier auf den Gebrauch der Anglizismen aus snobistischen
Gründen verwiesen. Wir haben es also mit verhaltenskritischen Motiven zu
tun.
Und hier ein Zitat vom Vorsitzenden des Vereins Deutsche Sprache
Walter Krämer:
Meine Vermutung ist: wir flüchten nicht eigentlich aus unserer Sprache (…), wir
flüchten aus unserer nationalen Haut als Deutsche“. (Krämer 2001: 276)

Zwei andere Autoren ziehen einen Vergleich zwischen den Deutschen


und Franzosen, der zugunsten der Letzteren ausfällt. Im Verhalten der
Franzosen spiegelt sich ein Stück Nationalbewusstsein, das in Deutschland
aufgrund der Vergangenheit meist verdrängt wird (Micko/Paulwitz
2000: 95). Die böse Vergangenheit (gemeint ist in erster Linie der Zweite
Weltkrieg) sei ein Hindernis, sich objektiv mit dem Zustand der deutschen
Sprache zu beschäftigen, „das Fremde“ zu kritisieren, weil man sich den
Vorwurf des Nationalismus einbringen kann.
In solchen Äußerungen sind nationale Motive erkennbar. Die Letzteren,
die so charakteristisch für den früheren Purismus in Deutschland waren,
scheinen allerdings heute keine dominierende Rolle mehr zu spielen.
Unter den oben genannten Motiven würde ich für die Gegenwart viel-
leicht folgende drei herausheben: kommunikative (Anglizismen sind für
Leute mit fehlenden Englischkenntnissen unverständlich), sprachstruktu-
relle (wenn z. B. von einer Mischsprache: Denglisch gesprochen wird) und
Plenarvorträge 191

verhaltenskritische Motive (man gebrauche Anglizismen aus Mode und


Snobismus).

Literatur
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Henning Lobin (Giessen)

Die Digitalisierung von Lesen und Schreiben


und deren kulturellen Auswirkungen

Einleitung
„Mein Kopf kommt nicht mehr mit“, schreibt Frank Schirrmacher in
seinem Buch „Payback“ (Schirrmacher 2009, 13) und schildert verschie-
dene dieser Veränderungen, die sich durch Internet und Computer gegen-
wärtig vollziehen. Das Problem mit derartigen Diagnosen besteht darin,
dass sie so allgemein formuliert sind, dass kaum abzuschätzen ist, wel-
che Veränderungen uns ganz konkret, in unserer kulturellen Lebenswelt,
erwarten. Wenn man aber gezielt einen Bereich herausgreift, wird eine
Abschätzung der Veränderungen als eine Hochrechnung der bisherigen
Entwicklung möglich. Deshalb greife ich die Kulturtechniken des Lesens
und Schreibens heraus: Wie werden wir dieses in einigen Jahren tun, wenn
all die Veränderungsprozesse stattgefunden haben, von denen wir jetzt erst
die Anfänge sehen?

Gutenberg-Galaxis
Bevor die Digitalisierung ihren Siegeszug begann, bewegten wir uns in
der Gutenberg-Galaxis – ein Begriff, den Marshall McLuhan 1962 mit sei-
nem gleichnamigen Buch geprägt hat (McLuhan 1962). Entscheidend für
die Entfaltung der Gutenberg-Galaxis ist die Entwicklung des Buchdrucks
194 Henning Lobin

durch Johannes Gutenberg und die darauf basierende Ausdifferenzierung


und spätere Industrialisierung der Buchproduktion.
Jedes mediale System kann nach unterschiedlichen Gesichtspunkten
betrachtet werden. Materielle Aspekte, die dabei zu klären sind, sind
etwa die folgenden: Wie werden die medialen Produkte, also z. B. eine
Manuskriptseite oder ein Buch, produziert und bearbeitet, wie werden diese
Produkte reproduziert, wie gespeichert und distribuiert, und welche tech-
nischen Voraussetzungen müssen dabei vorliegen. Das alles kann nach den
Kosten bewertet werden, die dabei entstehen, und zwar materielle wie zeit-
liche Kosten.
Vor dem Buchdruck war das mediale System Schrift ausschließlich
durch unmittelbare Handarbeit gekennzeichnet: Der Text wurde von Hand
geschrieben, Fehler konnten nur mit Mühe korrigiert werden. Skriptorien
waren in der Antike und im Mittelalter damit befasst, Texte zu kopieren.
Im ägyptischen Alexandria wurden alle einlaufenden Schiffe im Hafen
nach Schriftrollen durchsucht, die dann konfisziert und kopiert wurden
– die Grundlage für die legendäre Bibliothek von Alexandria, der Hort
des Wissens der Antike (vgl. Clauss 2003, 97). Die Speicherung und
Distribution wurde wie auch später beim gedruckten Buch physisch erledigt,
in Bibliotheken wurden Manuskripte archiviert und über die Handelswege
distribuiert. Und die mediale Integration, beispielsweise von Bildern und
Text, geschah ganz einfach auf der Seite durch Wechsel von Feder zu Pinsel
– Kulturtechniken, die nur einen geringen apparativen Aufwand erfordern.
Die Kosten von alldem waren jedoch immens: abgesehen von dem Einsatz
menschlicher Ressourcen für das Kopieren eines Buches musste für einen
auf Pergament geschriebenen Kodex eine ganze Schafherde, etwa 40 bis 50
Tiere, ihr Leben lassen.
Vor der Einführung des Buchdrucks war die Produktion eines Textes
ein einheitlicher Vorgang, ob es nun der Autor tat oder der Kopist. Durch
den Buchdruck wurde die Produktion des Textes durch den Autor von der
Herstellung des Buches als eines Produkts abgetrennt. Bis vor wenigen
Jahren arbeiteten auch moderne Autoren mehr oder wenig wie solche in der
Antike oder im Mittelalter, auch wenn sich ab dem 19. Jahrhundert langsam
die Schreibmaschine als technische Unterstützung des Schreibprozesses
durchsetzte.
Die Erfindung des Buchdrucks führte dazu, dass schriftliche Texte nun-
mehr in einem handwerklichen, später industriellen Produktionsprozess
hergestellt und vervielfältigt werden konnten. Die Kosten und der zeitlich
Aufwand sanken – übrigens auch durch die Erfindung des Papiers –, so-
Plenarvorträge 195

dass der Erwerb eines Buches weitaus größeren Teilen der Bevölkerung
möglich war. Alphabetisierung und die Herausbildung einer Öffentlichkeit
waren die Folge, die Entstehung einer Buchkultur. Bücher werden heu-
te zu relativ niedrigen Kosten produziert und in einer eigenständigen
Distributionslogistik ausgeliefert.
Verbindet man heute die Erfindung des Buchdrucks mit der
Mechanisierung und Industrialisierung der Buchproduktion, scheint
Gutenbergs ursprünglicher Anlass zur Entwicklung dieser Technologie ein
ganz anderer gewesen zu sein. Michael Giesecke ist der Ansicht, dass es
ihm um die Entwicklung einer „Schönschreibmaschine ohne Schreibrohr,
Griffel und Feder“ (Giesecke 1991, 134) gegangen sei. Demnach strebte
Gutenberg analog dem Schönheitsideal der wundervollen Harmonie
in der Renaissance nach dem „Ideal einer ‚künstlichen‘ (im Sinne von
kunstvollen) Proportionierung der Textgestaltung“ (ebd.). Durch die
Reproduktion von identischen Bleilettern mit Hilfe von Gussformen und
durch die Herstellung der Gussformen mit Stempeln gelang ihm eine
Vereinheitlichung des Schriftbildes und aufgrund der Beweglichkeit der
Lettern auf der Zeile die Erstellung eines gleichmäßigen und harmonisch
proportionierten Schriftsatzes. Eine Seite wie eine aus der berühmten
Gutenberg-Bibel zu produzieren, ging also keineswegs schneller vonstat-
ten: Der Satz war zunächst äußerst aufwendig, und was irgendwann tat-
sächlich durch den Druck an Zeit gewonnen wurde, wurde sofort in die
manuell hinzugefügten Malereien investiert.

Turing-Galaxis
Die Gutenberg-Galaxis ist mittlerweile transformiert, erweitert, abge-
löst worden von etwas, was der Informatiker Wolfgang Coy schon 1994
als die „Turing-Galaxis“ bezeichnet hat (vgl. Coy 1994). Mit diesem
Begriff nimmt er Bezug auf einen der größten Wissenschaftler des 20.
Jahrhunderts, den britischen Mathematiker Alan Turing. Dieser hat 1936
die sogenannte Turing-Maschine entwickelt, das Konzept einer Maschine,
mit der programmgesteuert beliebige Berechnungen durchgeführt werden
können (Turing 1937). Kurioserweise ist es Turing genauso wenig pri-
mär um die Automatisierung von Informationsverarbeitung gegangen wie
Gutenberg um die Mechanisierung der Textverarbeitung. Turing wollte
mit dem Konzept seiner Turing-Maschine das damals aktuelle Problem
der prinzipiellen Berechenbarkeit mathematischer Funktionen lösen, die
Erfindung des Computers war dabei eher ein Nebenprodukt.
196 Henning Lobin

In den vierziger Jahren wurden dann in Deutschland von Konrad Zuse


mit dem Zuse Z3, in Groß-Britannien und den USA die ersten digitalen
Datenverarbeitungssysteme technisch realisiert. Es setzte sich schließ-
lich die sogenannten Von-Neumann-Architektur durch, die bis heute im
Wesentlichen Anwendung findet. Einer der wichtigsten Merkmale dieser
Architektur ist die Vorhaltung sämtlicher Daten, ob Programme oder an-
dere Datenarten, in einem zentralen Arbeitsspeicher, und zwar in digitaler
Form. Ein Von-Neumann-Rechner, also z. B. ein Arbeitsplatz-Computer
oder unser Handy, kann dann mit einfachen Verarbeitungsroutinen diese
Daten verwenden und neue Daten berechnen, die wiederum in digitaler
Form im gleichen Speicher abgelegt werden.
Was verändert sich nun durch die Digitalisierung? Der vielleicht wich-
tigste Punkt ist die automatisierte Verarbeitung von Daten, die programmge-
steuerte Produktion oder Manipulation von Texten, Bilder, Tönen, Formeln,
Tabellen oder Filmen. Ein zweiter sehr wichtiger Punkt ist die verlustfreie
Reproduktion digitaler Daten. Die Codierungssysteme, die festlegen, wie
z. B. Texte oder Musik digital umgesetzt werden, besitzen eine innere
Systematik, die es ermöglicht, einfache Kopierfehler automatisch zu erken-
nen und zu korrigieren. Nur deshalb können wir MP3-Dateien immer wie-
der kopieren, ohne dabei Qualitätseinbußen zu erleben. Die Speicherung di-
gitaler Daten ist auf kleinstem Raum möglich. Informationen müssen dabei
nicht mehr als physische Güter behandelt werden, sondern als weitgehend
immaterielle Gebilde. Das Internet hat zu völlig neuen Vertriebswegen ge-
führt. Seit das Internet als Informationsinfrastruktur verfügbar ist, liegen
die Kosten einer weltweiten Distribution von digitalen Daten, also auch
von elektronischen Texten, nahezu bei Null, und die dafür benötigte Zeit ist
gleichzeitig auf Millisekunden geschrumpft.
Und schließlich erlaubt die Digitalisierung in bislang nie gekanntem
Ausmaß, Daten unterschiedlicher Art miteinander zu verknüpfen, ja zu ver-
schmelzen. Die Integration von Fotos oder sogar Videos in Texten ist des-
halb so einfach möglich, weil ja alles nur digitale Daten sind. Die Grenzen
zwischen den verschiedenen Wahrnehmungsebenen und Zeichensystemen
fallen, weshalb dieses Phänomen auch als „Multimodalität“ bezeichnet
wird.
Für all das haben wir jedoch einen hohen Preis zu zahlen, etwas, was
mit dem Buchdruck bereits begonnen hat. Sind für das technisch nicht un-
terstützte Schreiben und Lesen von Texten nur Hand und Auge notwendig,
so hat bereits der Buchdruck den Produktionsprozess technisch überformt.
In diesem medialen System wird mit der Druckerei geschrieben und nicht
Plenarvorträge 197

mit der Hand. Die Digitalisierung des Schreibens und Lesens geht aber weit
darüber hinaus: Ohne einen Computer als Schreib- oder Lesehilfe sind wir
quasi Analphabeten in der Turing-Galaxis. Im medialen System der Schrift
und des Buches wurden Texte und Bilder noch in einer Weise codiert, dass
wir sie als Menschen decodieren können – wir mussten einfach die auf dem
Papier codierten Textdaten ansehen. All die Vorteile der Digitalisierung er-
kaufen wir uns nun aber dadurch, dass die Codierung der Daten sich nicht
mehr an den Bedürfnissen des Menschen orientiert, sondern an denen des
Computers – die Von-Neumann-Architektur hat die Herrschaft über unser
Wissen übernommen. Die Technisierung und Automatisierung der Welt,
die sich früher nur auf die Welt der Dinge bezogen hat, um uns dort durch
Maschinen unsere Beschränktheit als Menschen zu zeigen und unsere
Körper in die Sphäre der Maschinen zu integrieren, erstreckt sich nunmehr
auf die Welt des Wissens – unser Geist wird durch den Computer in seine
Schranken verwiesen und von diesem in die digitale Sphäre gezwungen.
Nicht mehr die Schrift konstituiert das Wissen, sondern der digitale Code.
Das ist es, was ich als das Ende der Schriftkultur bezeichne (vgl. Kittler
1998).

Kulturtechniken Schreiben und Lesen


Warum haben nun diese materiellen Aspekte von Schrift und Buch, wa-
rum hat die Digitalisierung überhaupt etwas mit Kultur zu tun? Die Kultur,
in der wir leben, ist für uns mit ihren kulturellen Produkten, Bezügen und
Verfahrensweisen wie eine Sprache, in die wir hineingeboren werden. Wie
in unsere Muttersprache wachsen wir auch in unsere Kultur hinein, ler-
nen die wichtigsten Texte, Bilder, Ereignisse und Werte kennen, schaffen
Querbezüge und lernen, kulturellen Sinn durch Interpretation zu erkennen.
Eine solche Sichtweise basiert auf der Vorstellung, dass eine Kultur aus
einem System von Zeichen besteht, die kultursemiotische Interpretation
von Kultur (vgl. Posner 2003). Und wenn es um Zeichen geht, ist die
Kommunikation nicht weit: Zeichen sind zum Kommunizieren da. In der
Sprache dienen sie zur Lösung individueller, auf eine gegebene Situation
bezogener Wahrnehmungs- und Koordinationsprobleme. Ähnlich einer
Sprache ist die Kultur ein Zeichensystem, das uns kulturelle Bedeutung
vermittelt, mit dessen Hilfe wir die Erfahrung anderer zur Bewältigung von
gesellschaftlichen Problemen heranziehen können, also eine Art Sprache
für die überindividuellen Angelegenheiten.
198 Henning Lobin

Durch die Kulturtechniken des Lesens und Schreibens können wir an


diesem kulturellen Zeichensystem teilhaben. Am Beispiel der Wissenschaft
ist dies besonders gut zu beobachten: Bis vor wenigen Jahren bestand
die Arbeit eines Wissenschaftlers zum großen Teil darin, Texte anderer
Wissenschaftler zu lesen und seine eigenen Überlegungen oder Unter­
suchungser­gebnisse in längeren Texten systematisch darzulegen, die in
Zeitschriften oder als Monografie durch Wissenschaftsverlage wiederum
in das System eingespeist wurden. Das Schreiben selbst erfolgte auf der
Grundlage von Exzerpten und Karteikarten, auf realen Büchern aus der
Bibliothek.
Man kann sich leicht vorstellen, dass diese Art des Schreibens auch
die wissenschaftliche Kultur geprägt hat: Die Publikationsprozesse waren
langsam, man hatte Zeit, genau zu lesen und die eigenen Schriften wie-
der und wieder zu überarbeiten. Darwin ließ das Manuskript zu seinem
epochalen Werk „The Origin of Species“ mehr als 15 Jahre reifen, Kant
arbeitete elf Jahre an der „Kritik der reinen Vernunft“, dann noch einmal
neun Jahre an den weiteren Teilen seines kritischen Systems. Derartige
Produktionsmethoden hatten im Prinzip bis die achtziger Jahre des letzten
Jahrhunderts bestand.
Im Folgenden soll gezeigt werden, welche Entwicklungstendenzen
bei den Kulturtechniken des Schreibens und Lesens aufgrund der
Digitalisierung gegenwärtig zu verzeichnen sind. Dies soll anhand dreier
Aspekte geschehen, wie sich das Schreiben schon jetzt geändert hat, an-
hand von Automatisierung, Multi­mo­da­li­sie­rung und Vernetzung.

Wandel von Kulturtechniken: Schreiben


Die Automatisierung des Schreibens beginnt bei der Nutzung von
Textverarbeitungsprogrammen wie beispielsweise Microsoft Word.
Diese Programme gehen weit über das eigentliche lineare Schreiben
eines Textes hinaus: Ein existierender Text kann an beliebiger Stelle er-
weitert oder verändert werden. Das Verschieben ganzer Textteile wird
durch eine Gliederungsansicht unterstützt. Aber auch weitergehende
Automatisierungen sind in einem Programm wie Word enthalten. Für neue
Dokumente lassen sich bereits halb ausgefüllte Textvorlagen beziehen, in
die textuelle Inhalte nur noch einzufügen sind. Die vielleicht interessan-
teste Art der Automatisierung ist jedoch eine kaum genutzte Funktion, mit
deren Hilfe für beliebige Texte automatisch eine Zusammenfassung erstellt
werden kann.
Plenarvorträge 199

Für die Automatisierung der Sprach- und Textverarbeitung ist die


Computerlinguistik zuständig. Das klassische Beispiel dafür stellt die ma-
schinelle Übersetzung dar. Auch hier hat sich in letzter Zeit sehr viel ge-
tan, sodass das multilinguale Verfassen von Texten in greifbare Nähe ge-
rückt ist. Eine japanische Internet-Seite etwa kann von der rein statistisch
arbeitenden Google-Übersetzungssoftware in eine deutsche Übersetzung
überführt werden, bei der man sogar auch die darin enthaltenden Links
anklicken kann.
Eine zweite Entwicklung des Schreibens ist die Tendenz zur Multi­
modalität. Wir alle erleben seit einigen Jahren den Aufstieg einer
Kommunikationsform, die als „Präsentation“ bezeichnet wird. Präsenta­
tionen sind nicht einfach nur visuell ergänzte Vorträge, sondern verlagern
einen erheblichen Teil des Inhalts in projizierte Texte und schematisierte
Darstellungen. Parallel dazu wird die Rede geäußert, und beides, die visu-
elle und die sprachliche Modalität, werden mit Zeigegesten und anderen
performativen Elementen miteinander verbunden. Präsentationen in dieser
Form sind erst möglich geworden, als es die technischen Voraussetzungen
dafür gab, vor allem geeignete Präsentationssoftware (vgl. Lobin 2009).
Auch wenn Programme wie Powerpoint, Keynote oder andere häufig kriti-
siert werden wegen der Art des Denkens, die sie uns angeblich aufzwingen,
so haben sie doch zu einer neuen Art von Text-Bildlichkeit geführt, nämlich
den Folien, bei denen Text, Grafik, Farbe und Typografie eine sehr enge
Verbindung miteinander eingehen.
Die dritte Veränderung des Schreibens durch den digitalen Wandel
bildet die Vernetzung der Schreibenden, das kollaborative Schreiben.
Dieses Phänomen zeigt sich vor allem in sozialen Netzwerken, dem Web
2.0. Das Schreiben von Texten in Blogs beinhaltet beispielsweise diese
Vernetzung mit anderen Schreibenden. Verknüpfungen zwischen Texten
hat es zwar schon immer gegeben – sie wurden z. B. durch Zitate und
bibliografische Referenzen realisiert –, doch war es nie leichter als heute,
einen Text in ein riesiges Text-Netzwerk zu integrieren und im Rahmen
dessen auch sehr schnell Reaktionen auf eigene Texte zu erfahren. Den
vorläufigen Höhepunkt der kollaborativen Textproduktion stellt die Online-
Enzyklopädie Wikipedia dar. Nach dem Prinzip der Schwarm-Intelligenz
sind hier Artikel entstanden, die oftmals redaktionell erstellten nicht nach-
stehen und diese gerade in abgelegeneren Wissensbereichen oft über-
treffen. Eine Stärke von Wikipedia ist die Möglichkeit, die kollaborative
Texterstellung zugleich zu kommentieren und inhaltliche Kontroversen
auszutragen. Die Änderungen selbst werden vollständig dokumentiert,
200 Henning Lobin

sodass Erstellungs- und Änderungsprozess in allen Einzelheiten nachvoll-


zogen werden können. Noch einen Schritt weiter gehen Internet-basierte
Textverarbeitungssystemen, die es mehreren Schreibenden erlauben,
gleichzeitig an einem Text zu arbeiten. Damit ist tatsächlich eine ganz
neue Qualität des Schreibens erzielt, da es nicht möglich ist, anders als per
Computer auf diese Weise Texte zu erstellen.
Automatisierung, Multimodalität und Vernetzung des digitalisierten
Schreibens – es ist klar, dass dazu Fähigkeiten benötigt werden, die beim
Schreiben mit Feder oder Schreibmaschine nicht erforderlich waren. Die
Möglichkeiten der Automatisierung von Schreibprozessen sinnvoll einzu-
setzen ist dort eine zentrale Anforderung, wo Menschen mit Texten kom-
munizieren, und das passiert in einer Wissensgesellschaft an sehr vielen
Stellen. Auch die neue Visualität von Texten stellt eine Herausforderung
dar, auf die die Schule bislang kaum vorbereitet. Die sicherlich weitgehen-
dste Veränderung unserer Fähigkeiten ist allerdings durch das vernetzte,
kollaborative Schreiben bedingt, ein Schreiben, dass uns aus der produk-
tiven Isolation des Schreibenden herausdrängt hin zu einer andersartig
produktiven Gemeinschaft von Schreibenden, bei der die Exklusivität der
Autorschaft in den Hintergrund tritt.

Wandel von Kulturtechniken: Lesen


Auch für das Lesen muss danach gefragt werden, wie sich Automati­
sierung, Multimodalität und Vernetzung auswirken werden oder schon
heute auswirken. Ist die Automatisierung des Lesens überhaupt denkbar?
Muss Lesen nicht zwangsläufig ein individueller, menschlicher Vorgang
sein, vor dem Technisierung und maschinelle Unterstützung haltmachen?
Vergegenwärtigt man sich jedoch, was man schon heute macht, wenn man
sich im Internet beispielsweise die Seiten einer Tageszeitung ansieht, dann
wird klar, dass dabei eine hochkomplexe technische Vorrichtung zum
Einsatz kommt, deren Entwicklung Jahrzehnte gedauert hat. Das Lesen
wird durch einen Computer mit einem Grafik-Display unterstützt, man be-
nutzen die Maus oder ein Touchpad, um auf Links zu klicken und zu einer
neuen Seite zu gelangen.
Wird eine Suchmaschine im Web genutzt, geht die Automatisierung des
Lesens aber noch einen großen Schritt weiter: Zwar können Google und
andere Suchmaschinen bislang nur das Netz durchforsten und die dabei
vorgefundenen Wörter in gigantischen Tabellen ablegen, aber im Grunde
handelt es sich auch dabei um einen Leseprozess, wenn auch einen eher
Plenarvorträge 201

einfachen, ohne Verständnis für den Inhalt. Noch deutlicher wird dies mit
einer anderen Google-Anwendung, dem sogenannten Google N-Gram-
Viewer. Hier werden Wörter oder Wortfolgen im Bestand von Google
Books durchsucht, also tatsächlich reale Bücher „gelesen“.
Der Vorteil von Googles Lesefähigkeit gegenüber unserer eigenen be-
steht jedoch darin, dass die Suchmaschine für uns viel mehr lesen kann als
ein Mensch in seinem ganzen Leben, und das in Bruchteilen einer Sekunde.
Dadurch werden statistische Zusammenhänge sichtbar, die mensch-
liche Leser niemals erkennen würden. Menschen verbinden ihre auf das
Verstehen ausgelegte Lesefähigkeit also schon heute mit der maschinellen
Lesefähigkeit von Maschinen, indem Qualität und Quantität des Lesens
miteinander verbunden wird.
Neuere Entwicklung, so etwa am Deutschen Forschungszentrum für
Künstliche Intelligenz in Saarbrücken, zielen darauf ab, auch den Prozess
des verstehenden, menschlichen Lesens maschinell zu unterstützten.
Unter der Bezeichnung „Text 2.0“ (vgl. Buscher et al. 2010) wird da-
bei ein digitaler Text mit einem System zur Blickerkennung kombiniert,
einem sogenannten Eye-Tracker, der die Bewegung des Auges über den
Text verfolgt. Wurden bislang Eye-Tracker vor allem für die wissenschaft-
liche Analyse von Wahrnehmungsprozessen eingesetzt, geht es beim Text
2.0 darum, dem Lesenden in Abhängigkeit von seinen Blickbewegungen
Zusatzinformationen einzublenden, etwa die deutsche Übersetzung eines
englischen Wortes, inhaltliche Ergänzungen oder ihm beim Schnell-Lesen
durch Hervorhebung der wichtigsten bedeutungstragenden Einheiten zu
unterstützen.
Das schnelle oder überfliegende Lesen scheint ja eine weitere Eigenschaft
des neuen, digitalen Lesens zu sein. Warum ist das so? Digitale Texte wei-
sen, worauf ja schon hingewiesen wurde, Merkmale der Multimodalität
auf, beinhalten also nicht nur Text, sondern auch Grafiken, Bilder, haben
ein klares Layout usw. Genau deshalb kann der Inhalt solcher Folien auch
sehr schnell aufgenommen werden, weil der Leser nicht nur auf den Text
als solches angewiesen ist und diesen linear lesen muss, sondern auch die
Organisation der Information in der Fläche sowie die grafischen Elemente
gleichzeitig zum Verständnis heranziehen kann. Die Informationen sind
also parallel in mehreren sich gegenseitig unterstützenden Zeichensystemen
codiert, sprachlich, farblich, geometrisch, figurativ – und das kann effizi-
enter sein, als einen herkömmlichen Text zu lesen. Allerdings bekommen
die Informationen auch einen bestimmten inhaltlichen Dreh mit auf den
Weg.
202 Henning Lobin

Ein Lesevorgang, der in dieser Weise erfolgt, wird auch als Scanning
bezeichnet. Scanning ist gerade bei Web-Seiten zu beobachten. Besonders
interessant dabei ist, dass wir nicht nur gelernt oder uns angewöhnt ha-
ben, Web-Seiten nach einem wiederkehrenden Muster zu Scannen, sondern
dass sich die Gestaltung der Web-Seiten nach und nach auch auf dieses
Muster eingestellt hat. Waren Web-Seiten zu Beginn der neunziger Jahre
nach den Prinzipien des linearen Lesens aufgebaut, sind Sie bis heute in
einer Art Ko-Evolution optimiert worden für das multimodale Scannen.
Man kann sagen, dass man in den Jahren der frühen Entwicklung des World
Wide Web die Herausbildung von sprachlich-kulturellen Mustern wie in
einer Versuchungsanordnung beobachten konnte – eine wissenschaftliche
Fundgrube für Sprach- und Medienwissenschaftler.
Als dritte Tendenz hatte ich die Vernetzung, die Distribution von Texten,
Lesern und Schreibern genannt. Was also ist vernetztes Lesen? Literarisches
und wissenschaftliches Lesen war schon immer vernetzt, doch die Bezüge
zwischen den Texten können im digitalen Medium durch Verlinkungen re-
alisiert werden, über die assoziierte Texte sofort angezeigt wird können.
Physische Bibliotheken werden dabei durch digitale Archive abgelöst.
Bibliografieren und die Suche von Büchern und Zeitschriften in den lan-
gen Regalreihen einer Bibliothek werden dabei durch die Recherche im
Netz ersetzt. Vernetztes Lesen kann aber auch als ein gemeinsames Lesen
verstanden werden, als die Einbeziehung der Spuren, die andere Leser zu-
vor beim Lesen hinterlassen haben. Auch dafür gibt es schon prototypische
Systeme. Der Kommentarbereich von Blogs stellt eine etwas einfachere
Form des vernetzten Lesens dar. Relativ kurzen Textabschnitten werden
die beim Lesen hervorgerufenen Eindrücke von Lesern chronologisch zu-
geordnet.

Was folgt?
Fassen wir zunächst noch einmal zusammen, was sich derzeit ändert:
Wir entwickeln die Fähigkeit, mit maschineller Unterstützung zu schreiben
und beim Schreiben viel mehr als bisher Visualisierungen einzubeziehen.
Schreiben wird zu einem sozialen Akt, der kooperativ ausgeübt werden
kann. Wir gewinnen die Fähigkeit, uns beim Lesen vom Computer helfen
zu lassen, die Sicht eines Autors mit der vieler anderer Menschen abglei-
chen zu können. Auch die Leser untereinander vernetzen sich. Und beson-
ders wichtig wird die Fähigkeit zum multimodalen Lesen, dem ganzheit-
lichen Erfassen ineinander verschränkter Zeichensysteme.
Plenarvorträge 203

Wenn man sich nun fragt, was aus alldem folgt, so sollte man die in-
dividuelle und die kollektive Ebene unterscheiden. Auf individueller
Ebene ist beim Lesenlernen das traditionelle Lesen und Schreiben nicht
zu ersetzen. Maryanne Wolf weist in ihren Untersuchungen zum Lese-
und Schreiberwerb darauf hin, dass wir praktisch mit der Geburt be-
ginnen, lesen zu lernen (vgl. Wolf 2007). Unsere geistige Entwicklung
ist auf das Engste mit der Schrift verbunden, sodass beim Thema Lese-
und Schreibsozialisation auch in Anbetracht der Digitalisierung keine
Kompromisse eingegangen werden dürfen.
Auf der kollektiven Ebene sehen die Dinge etwas anders aus. Wenn eine
Kultur eine Art Ökosystem der von Menschen geschaffenen Zeichen und
Inhalte ist, dann kann sich ein solches Ökosystem auch verschieben, sobald
sich die Umweltbedingungen ändern. Der Wechsel von der Gutenberg- in die
Turing-Galaxis verändert aber die kulturellen Umweltbedingungen radikal.
Ein Verlust muss damit nicht verbunden sein, eher eine Neuorientierung.
Der Medienhistoriker Michael Giesecke bezeichnet es als eine der Mythen
der Buchkultur, dass Kulturnationen nur durch Gleichschaltung, wie er es
nennt, der Köpfe durch gedruckte Bücher entstehen können. Es geht auch
anders.
Wie die neuen Praktiken des Lesens und Schreiben die Formation un-
serer künftigen Kultur prägen werden, werden wir jedoch erst dann genauer
erkennen können, wenn die erste Generation der Digital Natives unter die-
sen Bedingungen herangewachsen und selbst produktiv geworden ist, ohne
eine auch nur ferne Erinnerung daran, wie die alte Schriftkultur funktio-
nierte.

Literatur
Buscher, G./Biedert, R./ Heinesch, D./ Dengel, A. (2010) „Eye Tracking Analysis of
Preferred Reading Regions on the Screen“. In: Proc. CHI 2010, Atlanta (GA).
Clauss, M. (2003) Alexandria. Schicksale einer antiken Weltstadt. Stuttgart.
Coy, W. (1994) Computer als Medien: Drei Aufsätze. Bremen.
Giesecke, M. (1991) Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über
die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien. Frankfurt.
Heilmann, T. A. (2012) Textverarbeitung. Eine Mediengeschichte des Computers als
Schreibmaschine. Bielefeld.
Kittler, F. (1998) „Am Ende der Schriftkultur“. In: Smolka-Koerdt et al. [Hg.] Der
Ursprung von Literatur. München, 289-300.
Lobin, H. (2009) Inszeniertes Reden auf der Medienbühne. Zur Linguistik und Rhetorik
der wissenschaftlichen Präsentation (= Interaktiva 8). Frankfurt/New York.
McLuhan, M. (1962) The Gutenberg Galaxy. Toronto.
204 Henning Lobin

Posner, R. (2003) „Kultursemiotik“. In: Nünning, A./ Nünning, V. [Hg.] Einführung in die
Kulturwissenschaften. Stuttgart, 39-72.
Schirrmacher, F. (2009) Payback. München.
Turing, A. (1937) „On Computable Numbers, with an Application to the Entscheidungs­
problem.“ In: Proc. London Mathematical Society 42, 230-265.
Wolf, M. (2007) The Story and Science of the Reading Brain. New York.
Katarzyna Lukas (Gdańsk)

Sprache – Gedächtnis – Architektur.


Metonymische Präsenz und metaphorische
Bedeutung im Roman Austerlitz
von W.G. Sebald (2001)

1. Raumkonzepte und Gedächtnismetaphern im Kontext


des spatial turn
Im Anschluss an die Horatianische Formel ut pictura poesis spricht
man im heutigen kultur- und literaturwissenschaftlichen Diskurs von der
Korrespondenz der Künste und von der Intermedialität der Literatur. Die
Architektur scheint dabei allerdings – im Gegensatz etwa zur Malerei –
nicht gerade dafür prädestiniert, in einen fruchtbaren Dialog mit Literatur
zu treten. Sie weist kaum Gemeinsamkeiten mit der Wortkunst auf: Sie
erzählt nichts, bildet keine Realität ab, ist mathematischen und technischen
Richtlinien untergeordnet (vgl. Wysłouch 2006).
Der 2001 erschienene letzte Roman von W.G. Sebald Austerlitz be-
weist, dass Architektur entgegen allem Anschein literarische Texte inspi-
rieren kann: nicht nur als Thema, sondern auch als strukturelles Modell
für literarische Darstellungen. „In keinem anderen Werk Sebalds spielen
Architekturaufnahmen eine vergleichbar große Rolle wie in Austerlitz“
(Eggers 2011: 31). Sebald nimmt auf Text begleitend abgebildete au-
thentische Bauten Bezug, parallelisiert aber auch Sprache und Text mit
architektonischen Strukturen (vgl. Jeziorkowski 2007: 73). Gebäude, to-
206 Katarzyna Lukas

pografische Ensembles, Grundrisse von Bauanlagen funktionieren auf der


verbalen Ebene – so meine These – als Gedächtnis-Metaphern. In Bildern
dargestellt, werden sie zu Metonymien, die das Vergangene, Verdrängte
und Traumatische vergegenwärtigen.
Bevor konkrete Textbelege für diese These angeführt werden, sollen die
Gründe für das Interesse der Literatur- bzw. Kulturwissenschaft an räum-
lichen Konzepten und Strukturvorstellungen, die u.a. auch Architektur als
dreidimensionale Kunst liefert, erklärt werden.
Der Raum ist im Zuge des spatial turn zu einem der Interessenschwerpunkte
der kulturell orientierten Literaturwissenschaft der letzten zwei Dekaden
aufgestiegen. Der Raum als „zentrale Wahrnehmungseinheit“ und theore-
tisches Konzept (Bachmann-Medick 2009: 284) hat in der Epoche der glo-
balen Netzwerke die dem aufklärerischen Denken verpflichtete Perspektive
der Zeit und des Fortschritts abgelöst (vgl. ebd. 285 f.). Wir empfinden
heute einerseits eine Raumverdichtung oder ein „Raumverschwinden“
durch „translokale, ortlose Medien- und Kommunikationstechnologien“
(Bachmann-Medick 2008: 664), was zum Gefühl der Entwurzelung und
Heimatlosigkeit führt; als Reaktion darauf werden das Lokale und die
Heimat in der Literatur „wiederentdeckt“. Andererseits machen die überall
vorhandenen – auch sozial und politisch gemeinten – Grenzen, bewachte,
abgeschlossene, kontrollierte Zonen die Raumperspektive unvermeidlich
(vgl. Bachmann-Medick 2009: 287). Die Kulturwissenschaft – und mit ihr
die Literaturtheorie – nimmt „Konstellationen, Gleichzeitigkeit (unglei-
cher Lebenssphären) und Lokalisierung“ (ebd. 664) verstärkt in den Blick.
Dabei wird der Raum nicht mehr rein geografisch verstanden, sondern im
übertragenen und relationalen Sinne: als „Ergebnis sozialer Beziehungen
und Praktiken“ sowie als Funktion von Machtverhältnissen (ebd.).
Der Raum als Denkfigur und Analysekategorie ist für die Werke von
W.G. Sebald aus zwei Gründen relevant. Zum einen handeln seine Texte von
Menschen, für die der Zustand des Ausgewandertseins, der Entwurzelung,
der Heimatlosigkeit ihre conditio humana bedeutet. Bei der Interpretation
dieser Zustände belegen solche Raumkonzepte ihre Deutungskraft, die im
Zuge des spatial turn in den Vordergrund rücken: z. B. die Foucaultsche
Heterotopie oder die Dichotomie „anthropologischer Ort vs. Nicht-Ort“
(Marc Augé).1

1
  Zur Relevanz dieser Begriffe für Sebald vgl. Öhlschläger 2006: 133-155 (Kapitel
Räume. Heterotopien, Orte und Nicht-Orte in „Austerlitz“ und „All’Estero“) sowie Fuchs
2008.
Plenarvorträge 207

Die Raumkategorie schließt sich zudem an das Thema Gedächtnis an,


das „zugleich Gegenstand, Methode und Zweck der Texte Sebalds“ (Meyer
2003: 80) ist. Seine literarischen Arbeiten „entstanden parallel zu jenem
Diskurs, der seit Jahren die Forschungsarbeiten der Geisteswissenschaften
maßgeblich bestimmt. Es ist der Diskurs, der um die Phänomene Zeit,
Gedächtnis, Erinnerung, Vergessen kreist“ (Martin 2007: 81). Der
Gedächtnis- und Erinnerungsdiskurs wird bei Sebald an Protagonisten
veranschaulicht, die infolge traumatischer Kriegserfahrungen nicht nur
heimat-, sondern auch erinnerungslos geworden sind und durch diverse
Formen der Erinnerungsarbeit ihre „verschütteten Biografien“ rekonstruie­
ren.
Gedächtnis und Erinnerung sind schon immer mit der Kategorie des
Raums zusammengebracht worden – eine Verbindung, die bis in die
antike Mnemotechnik mit ihren loci memoriae zurückreicht. In der
Kulturwissenschaft spricht man von Gedächtnis- bzw. Erinnerungsorten.
Einen solchen Ort versteht man als „Kristallisationspunkt bzw. narrative
Abbreviatur des kollektiven Gedächtnisses“ (Binder 2001: 199). Im wört-
lichen Sinne kann es sich dabei um konkrete Orte im topografischen Sinne
handeln (z. B. ein Schlachtfeld, ein Mahnmal). Im übertragenen Sinne kön-
nen Gedächtnisorte auch einen symbolischen (Jahrestag) oder funktionalen
Charakter haben (Autobiografie, Gemeinschaft) (vgl. ebd.).
Die Metapher des Gedächtnisortes vermittelt einerseits die Vorstellung,
dass das Gedächtnis – eine typische Funktion des menschlichen Geistes –
an Orten und leblosen Gegenständen haftet. Zum anderen ist der gesamte
philosophische, literarische, neuerdings psycho- und soziologische sowie
kulturwissenschaftliche Gedächtnisdiskurs schon immer in Metaphern ge-
führt worden, da der abstrakte Prozess des Speicherns und Abrufens von
Informationen im menschlichen Gehirn sich nur so darstellen lässt (vgl. etwa
Assmann 2009: 150).2 Grundsätzlich basieren die Gedächtnis-Metaphern
entweder auf Schrift- oder auf Raumvorstellungen. Zu den ersteren, „zwei-
dimensionalen“ Metaphern gehören: Wachstafel, Buch, Palimpsest, zu
den letzteren („dreidimensionalen“) – Magazin, Ruhmestempel, Theater,
Bibliothek, aber auch Ausgrabungen (vgl. Assmann 2009: 151-165).
Raum- und Schriftmetaphern, die den beiden Konzepten des
Gedächtnisses entspringen, lassen sich auf die Analyse unterschiedlicher
2
  Das Gedächtnis wird dabei stets mit dem jeweils aktuellen Speicher- und Kommuni­
kationsmedium verglichen: im Mittelalter mit der Wachstafel oder dem Buch, im 19.
Jh. mit der Fotografie, heute mit dem Computer (vgl. Pethes 2008: 121). Auch solche
Vorstellungen wie das kollektive oder kulturelle Gedächtnis haben einen metaphorischen
Charakter (vgl. Saryusz-Wolska 2011: 76).
208 Katarzyna Lukas

Kultur­phänomene anwenden. Während die Schrift-Metaphern der Literatur


näherliegen, kann man die Raum-Metaphern mit urban studies verbin-
den: der Erforschung des schichtenartigen Aufbaus einer Stadt, in der sich
das Gedächtnis vergangener Epochen abgelagert hat (vgl. etwa Saryusz-
Wolska 2011).
Entgegen der Erwartung, dass ein literarischer Text Gedächtnis und
Erinnerungsprozesse vor allem als Erscheinungsformen der Schrift kon-
zeptualisiert, aktiviert Sebald im Austerlitz fast alle der bekanntesten so-
wohl Schrift- als auch Raummetaphern des individuellen, kommunikativen
und kulturellen Gedächtnisses. Und da die Handlung vorwiegend in euro-
päischen Großstädten spielt (Paris, London, Prag, Antwerpen), wo urbane
Räume autonome Bedeutungsträger sind, verzahnt sich die literaturtheore-
tische Textbetrachtung zwangsläufig mit den urban studies.
Der Roman thematisiert Vorstellungen, die unter drei Begriffe zu subsu-
mieren sind: „Erinnern als ein Prozess, Erinnerungen als dessen Ergebnis
und Gedächtnis als eine Fähigkeit oder eine veränderliche Struktur“ (Erll
2011: 7). In das so ausdifferenzierte Themenfeld fallen auch Phänomene wie
Trauma, Verdrängung, Vergessen, Aphasie oder Erinnerungsmechanismen.
Um diese Vielfalt der Gedächtnisformen zu vermitteln, stellt Sebald
Ähnlichkeiten und Analogien zwischen Landschaft, Sprache und archi-
tektonischen Ensembles her (vgl. Jeziorkowski 2007: 74), und zwar durch
Verbindung verbaler mit visuellen Mitteln. Was hier besonders interessiert,
sind solche räumlichen Gedächtnis-Metaphern, die aufgrund der inter-
medialen Arbeitsweise Sebalds – eines „Schriftsteller[s] mit einem Blick
für die Sprache der Bilder“ (Eggers 2011: 37) – entstehen. Der Autor von
Austerlitz fügt Text und Bild zu Ikonotexten – Zeichen höherer Ordnung
(vgl. ebd.) zusammen. Einzelne Orte (Landschaften, Bahnhöfe, Bibliothek),
aber auch ganze Netzwerke (Eisenbahn, U-Bahn) setzen in Austerlitz die
individuelle Erinnerung des Protagonisten in Gang und fungieren somit als
loci memoriae im antiken Sinne (vgl. Saryusz-Wolska 2011: 163).
Die Gedächtnis-Metaphern sind in der Sebald-Forschung hinreichend
gedeutet worden. Weniger Beachtung scheint m. W. die andere Denkfigur
Sebalds zu finden: die Metonymie. Beide Figuren entstehen durch die
Interaktion zwischen Text und Bild, wobei die Metapher bei Sebald eher
sprachlich realisiert und eventuell durch Bilder bekräftigt wird, während
besonders suggestive Metonymien die Domäne des Visuellen bleiben.
Plenarvorträge 209

2. Raum-Metaphern im Austerlitz: das Hermetische


und die Dislokation
Die Rahmenhandlung des Romans umfasst ca. 30 Jahre, in denen der
Icherzähler dem Hauptprotagonisten Jacques Austerlitz zufällig oder nach
Verabredung in verschiedenen europäischen Städten mehrmals begegnet
und sich dessen Lebensgeschichte anhört; der Bericht des Icherzählers
geht dann fließend in Monologe seines Gesprächspartners über. Austerlitz
ist Kunsthistoriker und Hochschullehrer jüdischer Herkunft, ein gebür-
tiger Tscheche, der im Sommer 1939 als vierjähriges Kind von seinen
Eltern getrennt und aus dem heimatlichen Prag mit einem der sogenannten
Kindertransporte nach England verschickt wurde. Seine Mutter kam dann
in einem Vernichtungslager ums Leben, der Vater ist verschollen. In London
angekommen, wird Austerlitz von einem walisischen Predigerehepaar auf-
genommen und wächst unter einem Decknamen auf. Seine tschechische
Kindheit, die Muttersprache, ja selbst die Erfahrung des traumatischen
Verlusts der Eltern verbannt der Junge jedoch aus dem Bewusstsein.
Jahrelang gelingt es ihm, in Unwissenheit zu leben, auch wenn ihn un-
gewisse, verschwommene Bilder aus der Vergangenheit sowie die vage
Ahnung plagen, dass er mit einer „falschen Identität“ in einem „falschen
Leben“ steckt – Gefühle, die zu Nervenzusammenbrüchen, Depressionen
und sogar zu Sprachstörungen führen. Erst mit 57 Jahren beginnt er, sei-
ne wahre Herkunft zu erforschen. Den entscheidenden Impuls dazu gibt
Austerlitz eine zufällig gehörte Radiosendung, in der zwei Frauen erzäh-
len, wie sie kurz vor dem Kriegsausbruch mit einem der Kindertransporte
gerettet wurden. Der Name des Fährschiffs „Prague“ bringt Austerlitz auf
den Gedanken, dass „diese Erinnerungsbruchstücke auch in [sein] eige-
nes Leben gehörten.“3 Er fährt nach Prag, wo es ihm gelingt, sein ehema-
liges Kindermädchen zu finden – inzwischen eine alte Frau, die ihm seine
Vorgeschichte erzählt sowie von dem tragischen Schicksal der Eltern be-
richtet. Anschließend begibt sich Austerlitz auf die Suche nach den Spuren
seiner Mutter in Theresienstadt und seines Vaters in Paris.
Nicht ohne Grund macht der Kunsthistoriker Austerlitz die Architektur
der Modernität zum Schwerpunkt seiner baugeschichtlichen Studien:
Er verfasst wissenschaftliche Werke über „Hygiene und Assanierung,
Architektur des Strafvollzugs, profane Tempelbauten, Wasserheilkunst,
zoologische Gärten“ (A 178). Bauten und Architekturformen, mit denen
er sich beschäftigt, sind Ausgangpunkt für Gedächtnis-Metaphern, die –
3
  Sebald 42008: 208. Weiter im Text als „A“ mit Seitenangabe gekennzeichnet.
210 Katarzyna Lukas

wie Bettina Mosbach (2008: 232) zutreffend bemerkt – sich dem Modell
des Hermetischen (geschlossene Räume) sowie dem der Verschiebung bzw.
Dislokation zuordnen lassen.
Öffentliche Gebäude sind in Austerlitz größtenteils mit modernen
Institutionen gleichzusetzen (vgl. Niehaus 2006): die neue National­
bibliothek in Paris, das Staatsarchiv in Prag oder der Brüsseler Justizpalast.
Institutionen sollen die gesellschaftlichen Verhältnisse ordnen und das
Chaos des Lebens bändigen, sie können/sollen aber auch das Individuum
überwachen und disziplinieren; sie verkörpern also die Macht mit ihren
Vor- und Nachteilen. Die ambivalente Funktion der Institutionen spiegelt
sich in der architektonischen Gestalt der Gebäude, in denen sie unterge-
bracht sind, wider: Sie werden stets durch „Ordnungszwang“ und einen
„Zug ins Monumentale“ charakterisiert, erscheinen aber zugleich unge-
mütlich, Menschen abweisend und einschüchternd. Da die Institutionen
zugleich Orte sind, an denen Wissen erzeugt und gespeichert wird („kul-
turelles Wissen, spezifisches Fachwissen, Wissen über das Leben, Wissen
über das Subjekt“ – Öhlschläger 2006: 113), verkörpern die Sebaldschen
Bauwerke gleichsam die These Michel Foucaults, dass Wissen mit Macht
einhergeht. Gebäude, die ihrem Wesen nach dem Menschen dienen und
die positive, humanistische Seite der Modernisierungsprozesse zeigen sol-
len, verwandeln sich in ihr Gegenteil: in „Architektur des Terrors“, in der
Monumentalität in Monstrosität umschlägt (vgl. Niehaus 2006: 322).

2.1. Die Nationalbibliothek in Paris: Entfremdung und Tod


des kulturellen Gedächtnisses
In diesem negativen Lichte wird eine der Institutionen dargestellt, die
in der geläufigen Metaphorik das Gedächtnis als Speicher konzeptuali-
siert: die Bibliothek. Austerlitz beschreibt die Neue Nationalbibliothek in
Paris, die er im Rahmen seiner autobiografischen Nachforschungen in der
Hoffnung besucht, in ihren Beständen eine Spur seines Vaters zu entde-
cken. Die Bibliothek ist jedoch aus dem ihm von früher her bekannten,
gemütlichen, leserfreundlichen, zentral gelegenen Gebäude in ein neues
hochmodernes Haus verlegt worden. An diesem Beispiel wird sichtbar,
wie ein anthropologischer Ort (um einen Begriff von Marc Augé zu benut-
zen, vgl. Augé 2012: 58-63), d. h. ein solcher, der zum Verweilen einlädt
und dem Besucher bzw. Leser emotionalen Halt gibt, sich in einen Nicht-
Ort verwandelt: Das neue, monumentale Bibliothekshaus wirkt abschre-
ckend und dysfunktional (vgl. Niehaus 2006: 323). Das architektonische
Konzept des Gebäudes mit den „vier an den Eckpunkten zweiundzwanzig
Plenarvorträge 211

Stockwerke aufragenden Bibliothekstürmen“ (A 393) überwältigt den po-


tenziellen Leser, der sich darin wie ein Fremdkörper fühlt. Der Zugang
zu den Büchern in der „Bastion der Bibliothek“ (A 396) wird durch un-
zählige Kontrollmaßnahmen erschwert. Es ist ein „in seiner ganzen äuße-
ren Dimensionierung und inneren Konstitution [Menschen abweisendes]
und den Bedürfnissen jedes wahren Lesers von vornherein kompromiß-
los [entgegengesetztes] Gebäude“ (A 392), das „einen babylonischen
Eindruck macht“ (A 395), ein Transitort, den man nicht als willkommener
Gast betritt, sondern als Petent, der das Gebäude möglichst schnell wieder
verlassen soll. Und indem die Bibliothek an den Stadtrand von Paris ver-
bannt wurde, gleicht sie der Foucaultschen Heterotopie: einem „virtuellen
Raum“ des Dazwischen, der sich außerhalb des Zentrums befindet und das
Ausgeschlossene, Verpönte, Unerwünschte möglichst weit nach außen ver-
lagert (vgl. Öhlschläger 2006: 137).
Die als Heterotopie gedeutete Bibliothek kann man als Metapher des
individuellen Gedächtnisses von Austerlitz auffassen, der unerwünschte
Erinnerungen aus dem Bewusstsein (dem „Zentrum“) ins Unterbewusste
(an den „Stadtrand“) verdrängt. Als moderner Nicht-Ort fungiert das
Gebäude aber auch als melancholisches und pessimistisches Bild des kul-
turellen Gedächtnisses, das in der heutigen Gesellschaft eine Randstellung
einnimmt: Die Schätze der Kultur und des Wissens, in einem monumen-
talen Tempelbau unter Verschluss gehalten, werden dem Menschen pa-
radoxerweise entfremdet und geben ihm keinen Rückhalt. Vielsagend ist
folgende Erkenntnis von Austerlitz: „diese neue Riesenbibliothek, die
nach einem jetzt ständig verwendeten, häßlichen Begriff das Schatzhaus
unseres gesamten Schrifterbes sein soll, [hat sich] als unbrauchbar erwiesen
bei der Fahndung nach den Spuren meines in Paris verschollenen Vaters“
(A 399). Zwischen dem im „babylonischen Turm“ eingesperrten kulturellen
Gedächtnis und der Einzelbiografie (dem individuellen Gedächtnis) lässt
sich keine persönliche, lebendige Verbindung herstellen; das Individuum,
als Leser und Mensch von dem kulturellen Gedächtnis abgekoppelt, ist in-
mitten der hoch zivilisierten Welt völlig einsam.
Diese Lesart wird noch durch die Reflexion bekräftigt, dass das
Gedächt­nis umso schneller schwindet, je mehr Wissen angesammelt und
gespeichert wird. Austerlitz und ein alter Bibliotheksangestellter sprechen
über „die im Gleichmaß mit der Proliferation des Informationswesens fort-
schreitende Auflösung unserer Erinnerungsfähigkeit“ (A 404) und bemer-
ken, das neue Bibliotheksgebäude sei „quasi die offizielle Manifestation
des immer dringender sich anmeldenden Bedürfnisses, mit all dem ein
212 Katarzyna Lukas

Ende zu machen, was noch ein Leben habe an der Vergangenheit“ (A 404).
Es klingt hier der aktuelle gedächtnistheoretische Diskurs an, in dem man
auf den „paradoxen Zusammenhang von medialen Speichermöglichkeiten
und der Gefahr des Vergessens“ (Erll 2011: 3) hinweist. Es ist auch eine
bittere Ironie der Geschichte, dass auf dem jetzigen Bibliotheksgelände
sich „bis zum Kriegsende ein großes Lager [befand], in dem die Deutschen
das gesamte von ihnen aus den Wohnungen der Pariser Juden geholte
Beutegut zusammenbrachten“ (A 407). Nur wenige haben das Bewusstsein,
dass „die ganze Geschichte im wahrsten Wortsinn begraben ist unter den
Fundamenten der Grande Bibliothèque unseres pharaonischen Präsidenten“
(A 409). Die „archäologische“ Metapher der „verschiedenen Schichten,
die dort drunten auf dem Grund der Stadt übereinander gewachsen sind“
(A 406 f.) macht deutlich, dass das kulturelle Gedächtnis nicht wirksam
akkumuliert und lebendig erhalten werden kann, wenn man das Vergangene
auslöscht. Die schmerzhafte Geschichte gehört ebenfalls zum kulturellen
Gedächtnis und lässt sich nicht einfach begraben, sondern fordert ihr Recht,
erinnert zu werden.
Die Bibliotheksmetapher realisiert also beide von Mosbach genannten
räumlichen Modelle: des Hermetischen (Metapher für das eingesperrte, un-
zugängliche und abgestorbene kulturelle Gedächtnis) und der Dislokation
(Bibliothek als Heterotopie, Metapher für das individuelle Gedächtnis mit
verdrängten Traumen). Hinzu kommt noch die Metapher der Ausgrabungen
(Schichten des Gedächtnisses, die immer weiter in die Vergangenheit zu-
rückreichen und „freigelegt“ werden).

2.2. Die Festung Breendonk: Abwehrmechanismen des individuellen


Gedächtnisses
Eine weitere architektonische Gedächtnismetapher, die das Konzept des
Hermetischen an das der räumlichen Verschiebung koppelt, findet man im
Bild der belgischen Festung Breendonk. Die Anfang des 20. Jahrhunderts
mit großem Aufwand errichtete und militärtechnisch bald überholte
Festung Breendonk wurde 1940 von der SS als Auffanglager benutzt, in
dem Tausende Menschen gefoltert wurden. In seinem ersten Gespräch mit
dem Icherzähler deutet Austerlitz das Projekt der Festungsanlage, die auf
dem Grundriss eines „sternartige[n] Zwölfeck[s] mit Vorgraben“ (A 26)
errichtet wurde, als „ein Emblem der absoluten Gewalt“ (A 27) und als
Beweis dafür, dass der Mensch in seinem Drang nach Monumentalität im
Grunde nur seine Schwäche, Verunsicherung und Angst vor dem Fremden
Plenarvorträge 213

bloßstellt. Gerade an den gewaltigsten Verteidigungsanlagen ließe sich zei-


gen,
wie wir, um gegen jeden Einbruch der Feindesmächte Vorkehrungen zu treffen,
gezwungen seien, in sukzessiven Phasen uns stets weiter mit Schutzwerken zu
umgeben, so lange, bis die Idee der nach außen sich verschiebenden konzentrischen
Ringe an ihre natürlichen Grenzen stoße […]. [F]ixiert, wie man auf dieses Schema
war, habe man außer acht gelassen, daß die größten Festungen naturgemäß auch
die größte Feindesmacht anziehen, daß man sich, in eben dem Maß, in dem man
sich verschanzt, tiefer und tiefer in die Defensive begibt […]. (A 25, 27)

Bettina Mosbach führt die Festungsmetapher auf das psychoanaly-


tische Trauma-Konzept Sigmund Freuds zurück, der bei der Beschreibung
psychischer Reaktionen auf traumatische Ereignisse zur Metaphorik
des Militärischen greift (vgl. Mosbach 2008: 240). Die rationale Logik
der Fortifikationskunst und das zwangsläufige Fehlschlagen jeglicher
Verteidigungsmaßnahmen veranschaulichen die Abwehrmechanismen
eines traumatisierten Gedächtnisses. So versucht auch Austerlitz, das
Trauma der frühen Kindheit einzukapseln und gleichsam in einem Bunker
des Unbewussten einzusperren. Die „konzentrischen Ringe“ der Festung
Breendonk entsprechen den ständig von neuem erzeugten, undurchlässigen
psychischen „Schutzwerken“, die das Zurückfluten der Erinnerungen ver-
hindern, aber auch jegliche äußeren Impulse, die das verdrängte Trauma
aktivieren könnten, abweisen sollen. Diesen psychischen Mechanismus re-
flektiert Austerlitz folgendermaßen:
Ich las keine Zeitungen, […] drehte das Radio nur zu bestimmten Stunden an,
verfeinerte mehr und mehr meine Abwehrreaktionen und bildete eine Art von
Quarantäne- und Immunsystem aus, durch das ich gefeit war gegen alles, was
in irgendeinem […] Zusammenhang stand mit der Vorgeschichte meiner […]
Person. (A 205f.)

Als eine besonders logische und rationale Verteidigungsmaßnahme


dienen Austerlitz seine baugeschichtlichen Studien: Das umfangreiche
Fachwissen, das er sich aneignet, bezeichnet er selbst als „kompensato-
risches Gedächtnis“ (A 206). Die Abwehrmechanismen sind aber, genauso
wie jede überdimensionierte Fortifikationsanlage, zum Scheitern verurteilt,
da sie zu viel emotionalen Aufwand erfordern und die psychischen Kräfte
verzehren:
[S]ollte es dennoch […] einmal dazu gekommen sein, daß eine für mich
gefahrvolle Nachricht mich trotz aller Sicherheitsvorkehrungen erreichte, dann
214 Katarzyna Lukas

war ich offenbar fähig, mich blind zu stellen und taub, und die Sache wie sonst eine
Unannehmlichkeit kurzum zu vergessen. Diese Selbstzensur meines Denkens, das
ständige Zurückweisen einer jeden in mir sich anbahnenden Erinnerung, erforderte
indessen […] von Mal zu Mal größere Anstrengungen und führte zwangsläufig
zuletzt zu der fast vollkommenen Lähmung meines Sprachvermögens […].
(A 206)

2.3. Liverpool Street Station: Gedächtnis als Gefängnis,


Verräumlichung der Zeit
Die verdrängten Gedächtnisinhalte suchen sich schließlich ihren eige­
nen, unerwarteten Weg ins Bewusstsein des Protagonisten. Der erste
Impuls, der den Erinnerungsprozess in Gang setzt und zugleich einen
Nervenzusammenbruch verursacht, erreicht Austerlitz auf einer seiner
baugeschichtlichen Erkundungen in London. An dem gerade im Umbau
befindlichen Bahnhof Liverpool Street verirrt sich Austerlitz in einen alten
Wartesaal (Ladies Waiting Room), dessen Innenraum in ihm ein Bild aus der
Vergangenheit wachruft: Er sieht sich selbst als vierjährigen Knaben, der
am Bahnhof wartet, und seine Pflegeeltern, die ihn abzuholen kommen. An
der Liverpool Street Station muss denn Austerlitz – wie er im Nachhinein
schlussfolgert – tatsächlich mit dem Kindertransport angekommen sein; der
Wartesaal war der Ort seiner ersten Begegnung mit dem Priesterpaar Elias.
Die Beschreibung des Innenraums erinnert an die Grafiken von Giovanni
Battista Piranesi – seine Carceri d’inventione:4
[Ich sah] riesige Räume sich auftun, sah Pfeilerreihen und Kolonnaden, die in
die äußerste Ferne führten, Gewölbe und gemauerte Bogen, die Stockwerke über
Stockwerke trugen, Steintreppen, Holzstiegen und Leitern, die den Blick immer
weiter hinaufzogen, Stege und Zugbrücken, die die tiefsten Abgründe überquerten
und auf denen winzige Figuren sich drängten, Gefangene, so dachte ich mir, sagte
Austerlitz […]. (A 198)

In dieser Vision, die man vielleicht als eine Blitzlicht-Erinnerung be-


zeichnen könnte (vgl. Assmann 2006: 127), erhält das Vergangene einen
bildhaften und dreidimensionalen Charakter. In dem Raum überkommen
den Protagonisten
Erinnerungen, hinter denen und in denen sich viel weiter noch zurückreichende
Dinge verbargen, immer das eine im andern verschachtelt, gerade so wie die
labyrinthischen Gewölbe, die ich in dem staubgrauen Licht zu erkennen glaubte,
4
  Imaginierte Gefängnisse oder Gefängnisse der Imagination – der italienische Titel lässt
beide Lesarten zu.
Plenarvorträge 215

sich fortsetzten in unendlicher Folge. Tatsächlich hatte ich das Gefühl, […] als
enthalte der Wartesaal […] alle Stunden meiner Vergangenheit, alle meine von
jeher unterdrückten, ausgelöschten Ängste und Wünsche […]. (A 200)

In diesem metaphorischen Bild verschränken sich mehrere Diskurse.


Zum einen lässt sich der Raum, in dem der entscheidende Moment aus
der Kindheit: die Ankunft in einer neuen Welt, im „falschen Universum“
(A 199), unter Verschluss gehalten wird, mit dem individuellen Gedächtnis
gleichsetzen. In der fantastischen Baukonstruktion, die dem Protagonisten
zugleich als das Innere einer Ruine und ein im Entstehen begriffener
Rohbau (vgl. A 199) erscheint, wird die Opposition zwischen Innen und
Außen ausgespielt. Austerlitz sieht sich selbst als Knaben gleichsam „von
außen“, aber er weiß, dass er selbst dieser Knabe ist. Es überlagern sich
hier – um mit Aleida Assmann (2006: 133) zu sprechen – die metaphorische
Erinnerung, die man als Vorstellungsbild vor sich hat, und die metony-
mische Erinnerung, in die man selbst verwickelt ist. Mit diesem zwiespäl-
tigen Gefühl des zugleich „Draußen- und Drinnen-Seins“ lässt sich auch
erklären, warum Austerlitz das Erlebnis an der Liverpool Street Station als
„Gefängnis- und Befreiungsvision“ (A 199) beschreibt. Befreiung ist es,
weil Austerlitz durch das Öffnen der Tür zum Wartesaal Zugang zu seiner
Vergangenheit findet; die Tür führt aber wieder in einen verschlossenen,
hermetischen Raum (so auch die Interpretation von Niehaus 2006: 330).5
Die architektonische Metapher des Bahnhofs dient auch zur Verräum­
lichung der Zeit. Das Verschachteln verschiedener Zeitebenen, auf denen
Erinnerungen aus diversen Lebensphasen des Protagonisten verortet sind,
bewirkt zwar, dass Vergangenheit und Gegenwart nebeneinanderstehen.
Diese Synchronität kollidiert allerdings mit dem gefängnisartigen Bild des
geschlossenen Raums, der sich vor Austerlitz auftut. Mit der „verschach-
telten Zeit“ wird somit das Trauma präsent (Austerlitz weiß, dass es hinter
der geschlossenen Tür da ist), aber nicht verfügbar (vgl. Tischel 2006: 33).
Die Darstellung der Liverpool Street Station als Metapher des indivi-
duellen Gedächtnisses steht außerdem im Widerspruch zur „geläufigen
Metaphorik [des Gedächtnisses] als Schatzhaus oder Archiv“ (Tischel
2006: 34). Während man ein Archiv mit einem vertrauten, geordneten
und verfügbaren Raum assoziiert (vgl. Bohley 2011: 165), wirkt Sebalds

5
  Der Warteraum erscheint auch deswegen als Gefängnis, weil der Protagonist im
Nachhinein die Nutzlosigkeit dieses Erlebnisses erkennt: „Es nutzte mir offenbar wenig,
daß ich die Quellen meiner Verstörung entdeckt hatte, mich selber, über all die vergange-
nen Jahre hinweg, mit größter Deutlichkeit sehen konnte als das von seinem vertrauten
Leben von einem Tag auf den andern abgesonderte Kind“ (A 330).
216 Katarzyna Lukas

„labyrinthisches Gewölbe piranesischer Dimension“ (ebd.) nur erschre-


ckend. Sebald fügt sich hier nicht zufällig in die lange Reihe der Autoren
ein, die an die fantastischen Visionen Piranesis anknüpfen. Wie Hans
Holländer (1995: 163) bemerkt, werden die Carceri immer dann in der
Literatur zitiert, „wenn die Fremdheit der Welt als Architektur beschrieben
wird, so bei Borges, Jünger, Gracq“ u. a. Die Grafiken veranschaulichen
die Unermesslichkeit und Unergründlichkeit des Raumes: Die meisten
Piranesischen Innenräume „sind allseitig fortsetzbar, und der Tiefe des laby-
rinthischen Raumes entspricht nach unten ein Abgrund“ (ebd. 161). Wenn
man – wie in Austerlitz – Raum mit Gedächtnis und dem Unbewussten
identifiziert, so ergibt sich daraus eine unheimliche Vision des eigenen
Gedächtnisses als unergründliches, unfassbares und fremdes Labyrinth.6

3. Sprache als Labyrinth. Von der Aphasie zur Metonymie


Das Labyrinth funktioniert im Austerlitz als eine grundlegende struktu-
relle, räumlich-architektonische Figur, die nicht nur im wörtlichen Sinne
für Gebäude (Bahnhof, Justizpalast) zutrifft, sondern auch für abstrakte
Begriffe: Gedächtnis und Sprache.
Die Sprache wird, ähnlich wie Zeit und Gedächtnis, in spatiale Kate­
gorien „übersetzt“. Der Beschreibung der Sprachstörungen, die sich bei Auster­
litz infolge der Verdrängung des Traumas einstellen, geht ein Vergleich zwi-
schen der Sprache und einer Stadt voran, in der man sich leicht verirrt:
Wenn man die Sprache ansehen kann als eine alte Stadt, mit einem Gewinkel
von Gassen und Plätzen, mit Quartieren, die weit zurückreichen in die Zeit, mit
abgerissenen, assanierten und neuerbauten Vierteln und immer weiter ins Vorfeld
hinauswachsenden Außenbezirken, so glich ich selbst einem Menschen, der sich
[…] in dieser Agglomeration nicht mehr zurechtfindet, der nicht mehr weiß, wozu

6
  Übrigens findet die Gleichsetzung des Unbewussten – nach Sigmund Freud als die „un-
terste“ Region der menschlichen Psyche – mit Piranesis Gewölben eine Bestätigung in
der Kunstgeschichte und der Architekturtheorie Piranesis. Die architektonische Gestaltung
der Carceri basiert auf dem groben Quaderwerk und der toskanischen Ordnung, die –
wie Holländer (1995: 161) bemerkt – zur „Macht- und Abschreckungsarchitektur“ ge-
hört: „In der Architekturtheorie der Renaissance und des Barock ist das die unterste und
älteste, dem Unterirdischen zugeordnete Säulenordnung, die zu Bergwerken, Höhlen,
auch Tunneln gehört, zu Brunnen und Schächten. In Piranesis Architekturtheorie ist
diese ‚Megalith-Bauweise‘ die älteste und ehrwürdigste, der Ursprung von Architektur
überhaupt. Die Carceri sind daher auch archäologische Orte“ (ebd.). Das „Unterste“,
„Brunnen“ und „Schächte“ assoziiert man nicht nur mit Freud, sondern auch mit dem
kollektiven Unbewussten von C.G. Jung.
Plenarvorträge 217

eine Haltestelle dient, was ein Hinterhof, eine Straßenkreuzung, ein Boulevard
oder eine Brücke ist. (A 183)

Die Lähmung aller produktiven und rezeptiven Sprachfertigkeiten


des Protagonisten, seine Orientierungslosigkeit im Labyrinth des
Sprachsystems geht mit dem Gefühl der Desintegration und abnehmenden
semiotischen Kontinuität einher (vgl. Ilsemann 2006: 312). Eine besonde-
re Aufmerksamkeit verdient m. E. die Tatsache, dass die Sprachkrise von
Austerlitz ziemlich genau dem Krankheitsbild der Aphasie entspricht:
Das gesamte Gliederwerk der Sprache, die syntaktische Anordnung der einzelnen
Teile, die Zeichensetzung, die Konjunktionen und zuletzt sogar die Namen der ge­
wöhnlichen Dinge, alles war eingehüllt in einen undurchdringlichen Nebel. […]
Nirgends sah ich mehr einen Zusammenhang, die Sätze lösten sich auf in lauter
einzelne Worte, die Worte in eine willkürliche Folge von Buchstaben, die
Buchstaben in zerbrochene Zeichen […]. (A 183 f.)

Aphasie ist hier aus zwei Gründen relevant. Erstens fügt sie sich in
den Gedächtnisdiskurs als einer der Modi des Vergessens ein (vgl. Erll
2011: 8). Zweitens legt sie die Möglichkeit nahe, die andere Strategie der
Gedächtnis-Darstellung bei Sebald zu untersuchen: die Metonymie.
Bekanntlich waren es Ergebnisse der Beobachtung aphatischer Störun­
gen, die Roman Jakobson zur Unterscheidung zwischen Metapher und
Metonymie veranlassten. Im Sprachverhalten von Aphasikern lassen
sich zwei entgegengesetzte Tendenzen beobachten: Während im er-
sten Typ dieser Krankheit die Fähigkeit der Selektion und Substitution
des Wortmaterials, also das Finden paradigmatischer Ähnlichkeiten be-
einträchtigt ist, betreffen die Störungen im zweiten Typ der Aphasie die
Fähigkeit der Kombination, d. h. der Herstellung von syntagmatischen
Relationen und Kontiguitäten (vgl. Jakobson 1956). Aus diesem Befund,
den Jakobson in Bezug auf das Sprachsystem überhaupt verallgemeinert,
wird die Opposition zwischen zwei Sprachfiguren abgeleitet: der Metapher,
die auf Ähnlichkeit, Selektion und Substitution beruht, und der Metonymie,
die auf Kontiguität und Kombination basiert. Diese zwei entgegengesetz-
ten Möglichkeiten, sprachliche Äußerungen zu gestalten, lassen sich auf
die Ebene der literarischen Phänomene übertragen (Metapher als typisches
Mittel der Dichtung und Metonymie als Domäne der realistischen Prosa).
Obwohl das dichotomische Konzept des Metaphorischen und des
Meto­nymischen wegen seiner weitgehenden Vereinfachung stark kriti-
siert wird (vgl. Ziomek 1994, der auch die Komplementarität der beiden
literarischen Tropen bezweifelt), scheint diese Gegenüberstellung trotz-
218 Katarzyna Lukas

dem nützlich und fruchtbar – vorausgesetzt, dass man sie nicht bloß auf
sprachliche Äußerungen reduziert, sondern im übertragenen Sinne – so
wie es Jakobson ursprünglich auch wollte – auf alle Denk- und symbo-
lischen Prozesse bezieht.7 Metapher und Metonymie werden zu wirksamen
Kategorien der Analyse der Sebaldschen Ikonotexte, sobald man sie in den
Gedächtnisdiskurs einbindet.

4. Metonymische Präsenz und metaphorische Bedeutung


Nach der geläufigen Definition besteht Metonymie in der Ersetzung
des eigentlichen Ausdrucks „durch einen anderen, der zum ersetzten in
einer realen Beziehung qualitativer Art (kausal, räumlich oder zeitlich)
steht, und nicht, wie in der Metapher, in einer Ähnlichkeitsrelation“ (Peil
2008a: 496).8 Nach dem metonymischen Prinzip sind auch viele Artefakte
und Werke der bildenden Künste konzipiert. Meistens handelt es sich um
eine Relation pars pro toto: Ein Teil steht für das Ganze. Wenn man etwa
im Jüdischen Museum in Berlin einzelne Gebrauchsgegenstände der im
Zweiten Weltkrieg umgekommenen Juden sieht (z. B. eine Brille oder ei-
nen Koffer), dann ist dies ein suggestives Beispiel dafür, wie eine Sache für
den Besitzer eintritt und zu diesem eine metonymische Beziehung eingeht.
Nach dem niederländischen Historiker und Psychologen Eelco Runia
(2006) gehören sowohl Metapher als auch Metonymie zu den „Über­
tragung­stropen“, wobei die Metapher die Bedeutung überträgt (transfer
of meaning), die Metonymie dagegen die Präsenz (transfer of presence).
Eine sprachliche oder nonverbale Metapher lenkt die Aufmerksamkeit
des Rezipienten auf den versteckten Sinn und bewegt ihn dazu, diesen
zu erraten oder zu rekonstruieren. Eine Metonymie dagegen macht dem
Leser/Zuschauer bewusst, dass jemand oder etwas, was nur durch einen
Teil repräsentiert wird, nicht (mehr) da ist, obwohl es früher da war. Eine
Metonymie erinnert somit an das Gewesene und macht die übrig gebliebe-
ne „Leerstelle“ präsent. Runia bezeichnet die meisten modernen Denkmäler
als metonymisch, da in ihnen die Denotation über Konnotationen domi-

7
  Nicht nur in der Kunst (z. B. „metonymischer“ Kubismus vs. „metaphorischer“
Surrealismus – vgl. Brzostowska-Tereszkiewicz 2013), sondern auch bei der Entwicklung
metatheoretischer Modelle in den Geisteswissenschaften, z. B. in der Translations-
wissenschaft (vgl. die Auffassung der Übersetzung als „metaphorischer“ und als „meto­
nymischer“ Prozess, vgl. Tymoczko 1999: 279 ff.).
8
  Den Begriff „Metonymie” verstehe ich hier in einem weiteren Sinne, der auch die
Synekdoche als Metonymie quantitativer Beziehung (vgl. Peil 2008b: 699) umfasst.
Plenarvorträge 219

niert: z. B. das Berliner Holocaust-Denkmal von Peter Eisenman, das aus


2711 Stelen besteht (die Teile jüdischer Grabsteine darstellen können), das
wenig „erzählt“, dafür aber die Abwesenheit hic et nunc betont (vgl. Runia
2006: 17). Runia sieht in der Metonymie eine intentional unangemessene
Transposition eines Wortes aus seinem gewöhnlichen Kontext 1 in einen
anderen, ungewöhnlichen Kontext 2, in dem es gleichsam fehl am Platz ist
und daher ins Auge springt. Das metonymische Wort sei eine „Verbindung“
– ein „anormaler Übergang“ zwischen zwei Kontexten/Topoi (vgl. Runia
2006: 15f.).9 Runia bezeichnet moderne Denkmäler ausdrücklich als meto-
nymische Fremdkörper, weil sie bewirken, dass historische Ereignisse aus
der Vergangenheit (Kontext 1) in der Gegenwart (Kontext 2) präsent sind
und so „Orte“ in „Zeit“ verwandeln (vgl. ebd. 17).
Wohlbemerkt gibt Runia die Bilder in Austerlitz als Beispiel einer nicht-
verbalen Metonymie an (vgl. Runia 2006: 16). Genauso wie Denkmäler
fungieren Sebalds Illustrationen als metonymische Verbindungen,
„Öffnungen“ in der Zeit, durch welche die Präsenz aus der Vergangenheit
in die Gegenwart dringt (vgl. ebd.);10 nach Runia ist Sebald auf die Präsenz
fixiert: Da seine Illustrationen die Präsenz mitgestalten, ist er darum bemüht,
die Abbildungen zu „verfremden“, indem er ihnen keine Überschriften zu-
ordnet (vgl. ebd.). Auch die typisch Sebaldsche Strategie, jeweils nur ei-
nen Ausschnitt aus einem größeren Ganzen abzubilden (wie etwa die vier
Augenpaare am Anfang des Romans), folgt der Logik der metonymischen
„Deplatzierung“.

5. Metonymisches Zusammenspiel von Sprache und Bild


Im Text gibt es viele Metonymien des Typs pars pro toto. Sie hängen
alle mit der Überzeugung zusammen, dass sich das Grauen und das un-
vorstellbare menschliche Leid am ehesten durch ein Detail vermitteln las-
sen: Nach Claudia Öhlschläger (2006: 122) versucht Sebald, „durch die
Orientierung am Detail dem ‚Undenkbaren‘ etwas entgegen zu setzen.“ Ein
gutes Beispiel ist die Reflexion des Icherzählers, der während der Begehung
der Festung Breendonk auf dem Arbeitsgelände schwere Schubkarren be-
trachtet, die von den Häftlingen geschoben wurden:
9
  Ein Beispiel (nach Runia 2006: 15f.): Jim liest DeLillo – der Name DeLillo gehört zum
Kontext 1 „Eigennamen“, wird aber in den für sich „uneigentlichen“ Kontext 2 „Literatur“
übertragen.
10
  Runia schließt dieses Konzept an Roland Barthes’ Theorie des punctum an, die viele
Interpreten mit den Werken von Sebald in Zusammenhang bringen (z. B. Boehncke 2003).
220 Katarzyna Lukas

Es war mir undenkbar, wie die Häftlinge, die wohl in den seltensten Fällen nur vor
ihrer Verhaftung und Internierung je eine körperliche Arbeit geleistet hatten, diesen
Karren, angefüllt mit dem schweren Abraum, über den von der Sonne verbrannten,
von steinharten Furchen durchzogenen Lehmboden schieben konnten oder durch
den nach einem Regentag bereits sich bildenden Morast, undenkbar, wie sie gegen
die Last sich stemmten, bis ihnen beinah das Herz zerbrach, oder wie ihnen, wenn
sie nicht vorankamen, der Schaufelstiel über den Kopf geschlagen wurde von
einem der Aufseher. (A 37)

Der Schubkarren steht hier metonymisch für die unmenschliche Arbeit


und Qual, die die Häftlinge erleiden mussten. Zugleich ruft der Gegenstand
in der Vorstellung des Betrachters (Erzählers) das Bild der gefolterten,
erniedrigten Menschen hervor, die er gleichsam hic et nunc sieht: Die
Metonymie überwindet die Zeit und vergegenwärtigt das Vergangene.
In der angeführten Passage wird die Metonymie nur im Text aufgebaut.
In den meisten Fällen fungieren metonymische Darstellungen jedoch pa­
rallel in Sprache und Bild. In der Pariser Nationalbibliothek stößt Austerlitz
in einer Architekturzeitschrift auf „eine großformatige graue Photographie
(…), die den bis an die Decke hinaus mit offenen Fächern versehenen
Raum zeigte, in welchem heute die Akten der Gefangenen aufbewahrt
werden in der sogenannten kleinen Festung von Terezin“ (A 401). Diese
Beschreibung wird von einer entsprechenden Abbildung begleitet, die eine
ganze Doppelseite einnimmt (A 402 f.). Sowohl im Bild als auch im Text
ersetzen die Akten metonymisch die einzelnen Menschenschicksale und
machen die Präsenz der Vielen, die in den „naßkalten Kasematten“ (A 401)
von Theresienstadt zugrunde gegangen sind, für den Protagonisten nahezu
schmerzhaft.
Die Orientierung am Detail als Grundlage für metonymische
Darstellungen lässt sich aber am besten an den vielen Architekturaufnahmen
nachweisen. Die meisten in Austerlitz beschriebenen Bauwerke werden in
den Abbildungen nur über architektonische Details visuell vermittelt. 11
So wird etwa der Bahnhof in Antwerpen, an dem die Rahmenhandlung
be­ginnt, durch seine mächtige, von unten in starker perspektivischer Ver­
kürzung fotografierte Kuppel präsentiert (A 19). Metonymisch wird auch
das Staatsarchiv in Prag dargestellt. Einmal wird er durch einen Ausschnitt
eines Innenhofes ersetzt, der durch seine „um einen rechtwinkligen

  Übrigens ist die Methode, ein Gebäude (architektonisches Kunstwerk) durch ein be-
11

sonders repräsentatives, erkennbares und suggestives Detail darzustellen, in der Literatur


weit verbreitet, wie Małgorzata Czermińska an poetischen Bildern von mittelalterlichen
Kathedralen in der polnischen Lyrik des 20. Jh. aufzeigt (vgl. Czermińska 2005: 375-381,
Kapitel Katedra jako pars pro toto [Die Kathedrale als pars pro toto]).
Plenarvorträge 221

oder runden Hof gebauten, an der Innenseite mit Laufstegen versehenen


Zellentrakte“ (A 212 f.) repräsentiert wird (Abb. 1)12; ein anderes Mal –
durch eine verglaste Kuppel (A 212; Abb. 2), die so wie das Gewölbe des
Antwerpener Bahnhofs (A 19; Abb. 3), von unten mit starkem Schwarz-
Weiß-Kontrast aufgenommen, einen unheimlichen Eindruck macht.

Abb. 1: Innenhof des Staatsarchivs Abb. 2: Innenhof des Staatsarchivs


in Prag in Prag – Glaskuppel von unten

Abb. 3: Bahnhof in Antwerpen

Metonymische Architekturaufnahmen begleiten die Beschreibung der


Festung Breendonk. Es gibt fünf Bilder, die sich auf dieses Bauwerk be-
ziehen, es allerdings nie in seinem vollen Ausmaß zeigen. Es handelt sich
  Die Autorin bedankt sich beim Carl Hansen Verlag München für die freundliche
12

Genehmigung, die Abbildungen in diesem Aufsatz abdrucken zu dürfen.


222 Katarzyna Lukas

einmal um eine Außenansicht, die aber nur zwei von mehreren Bunkern
sichtbar macht (A 34; Abb. 4). Eine zweite Aufnahme zeigt lediglich eine
Ecke im Innenhof (A 35; Abb. 5). Das Innere der Festung sieht man nur
auf einem Ausschnitt eines langen, dunklen Ganges mit Seitentüren (A 38;
Abb. 6). Anhand dieser Metonymien ist das Ganze nicht rekonstruierbar.
Auch wenn der Erzähler sich ein Gesamtbild der Anlage machen will, in-
dem er ihren Bauplan betrachtet (A 35; Abb. 7), versagt seine Fähigkeit der
Synthese. Stattdessen drängen sich ihm organische Metaphern auf:
Von welchem Gesichtspunkt ich dabei die Anlage auch ins Auge zu fassen versuchte,
sie ließ keinen Bauplan erkennen, verschob andauernd ihre Ausbuchtungen und
Kehlen […]. [A]ls ich später den symmetrischen Grundriß des Forts studierte,
mit den Auswüchsen seiner Glieder und Scheren, mit den an der Stirnseite des
Haupttrakts gleich Augen hervortretenden halbrunden Bollwerken und dem
Stummelfortsatz am Hinterleib, da konnte ich in ihm […] allenfalls das Schema
irgendeines krebsartigen Wesens, nicht aber dasjenige eines vom menschlichen
Verstand entworfenen Bauwerks erkennen. (A 35 f.)

Der Erzähler kann also die Festung weder von außen noch von oben he-
rab mit dem Blick und dem Verstand erfassen. Dieses Versagen der Denk-
und Vorstellungskraft kann man als Unmöglichkeit deuten, die „große“
Geschichte zu begreifen; diese hängt bei Sebald mit der Vogelperspektive
zusammen. In Die Ringe des Saturn wird ein in einer Kuppelrotunde
ausgestelltes Panorama des Schlachtfeldes von Waterloo mit folgenden
Worten kommentiert: „Das also […] ist die Kunst der Repräsentation
der Geschichte. Sie beruht auf einer Fälschung der Perspektive. Wir, die
Überlebenden, sehen alles von oben herunter, sehen alles zugleich und wis-
sen dennoch nicht, wie es war.“ (Sebald 2007: 151f.)
Die monumentale Geschichte bleibt für uns also verschlossen und un-
verständlich – es sei denn, dass wir auf ihre vermeintliche Überschaubarkeit
vertrauen. Wozu man am ehesten noch Zugang bekommt, sind die individu-
ellen Schicksale der Menschen, die sich durch ihre metonymische Präsenz
aufdrängen. Das fünfte Bild der Festung Breendonk stellt den Grundriss
einer Kasematte dar (A 40; Abb. 8). Die Unterschriften auf dem (offensicht-
lich von einem authentischen Plan abkopierten) Ausschnitt wirken durch
den niederländischen Wortlaut (Folterkamer und Lijkenkamer) fremd, die
Verfremdung verdeckt jedoch nicht den wahren Sinn der grauenhaften
Worte. Das Bild fungiert hier nicht nur als pars pro toto (der unheimlichste,
grauenvollste Teil der ganzen Festung), sondern steht in kausaler Beziehung
zum Schicksal derer, die hier unter unvorstellbaren Qualen zugrunde gin-
gen. Es schließt also die Serie der Breendonk-Abbildungen ab, die „vom
Plenarvorträge 223

großen Festungsbau, der für ein ganzes kriegerisches System steht, über ei-
nen Teil der Festung bis hin zu der Folter- und Leichenkammer, und somit
zum Leiden der einzelnen Menschen, führt“ (Eggers 2011: 52).

Abb. 4-8: Festung Breendonk

Abb. 4 Abb. 5

Abb. 6 Abb. 7

Abb. 8
224 Katarzyna Lukas

Die Kasematten, die in Text und Bild einen genauso metonymischen


Charakter erhalten, wirken so suggestiv, dass sie beim Erzähler eine gan-
ze Kette von Assoziationen auslösen. Nach Öhlschläger (2006: 118) ver-
fährt Sebald so, „daß der in den Räumen einst stattgefundene Schrecken
entzifferbar wird erst durch seine Verknüpfung mit imagines agentes, mit
einprägsamen Bildern aus der Kindheit“ (Metzgerei in der Heimatstadt
des Erzählers, Körperreinigung mit Wurzelbürste – eine Erinnerung, die
durch den unangenehmen Schmierseifengeruch in den Kammern ausge-
löst wird). Im Nachhinein projiziert der Erzähler auf die Beschreibung der
Kasematten noch die nachträglich gewonnene Einsicht zurück, dass der ös-
terreichische Schriftsteller Jean Améry 1944 (des Erzählers sowie Sebalds
Geburtsjahr) in Breendonk in denselben Räumen schwer gefoltert wurde.
Nach Öhlschläger (2006: 119f.) weist diese Erinnerungskette selbst einen
metonymischen Charakter auf: Der Erinnerungsprozess verläuft nicht line-
ar und chronologisch, sondern das Zeitgefüge, das sich in den Erinnerungen
offenbart, ist diskontinuierlich. Dieser Befund bekräftigt die theoretische
Annahme von Eelco Runia, dass der Zugang zur Geschichte, den uns die
Metonymie gewährt, einen diskontinuierlichen Charakter hat (vgl. Runia
2006: 27).
Der Fotograf Christoph Eggers zieht eine Parallele zwischen dem
Bruchstückhaften der Sebaldschen Fotos und der Erinnerung. Somit wi-
dersprechen die Aufnahmen in Austerlitz der These Siegfried Kracauers
(1990: 85), dass „Fotos auf die totale Raumerscheinung abzielen, wäh-
rend die Erinnerung meist lückenhaft bleibt“ (zit. nach Eggers 2011: 47).
Sebalds Architekturaufnahmen sind eben fragmentarisch, sie zeigen das
Bauwerk nie in seiner Totalität, sondern zergliedern es und bieten nur me-
tonymische Ausschnitte an.

6. Schlussfolgerungen
In seiner Polemik gegen Jakobsons bipolares Konzept der Metapher
und Metonymie argumentiert Jerzy Ziomek (1994: 211-214), dass sprach-
lichen Metonymien ein grundsätzlich konventioneller und konservativer
Charakter innewohnt,13 sodass sie als kulturelle Tropen zu lesen sind.14
Innovation und Originalität seien dagegen nur der Metapher vorbehalten.
13
  Z. B. in solchen stehenden Redewendungen wie „am Fuß des Berges”, „unser täglich
Brot“ oder „eine gewandte Feder schreiben/führen“. Das letzte Beispiel macht deutlich,
dass Metonymien vom Wandel der Technik unbeeinflusst bleiben (vgl. Ziomek 1996: 214).
14
  Z. B. steht das Wort „Kaschmir” für die „Wolle, die aus dem Gebiet Kaschmir stammt”.
Plenarvorträge 225

Ich würde die These wagen, dass es sich im Fall der Sebaldschen
Metaphern und Metonymien – die ja als übergreifende, komplexe poetische
Bilder im verbalen und visuellen Sinne gestaltet werden – gewissermaßen
umgekehrt verhält. Die Metaphern, die das Gedächtnis im Austerlitz als
Speicher konzeptualisieren, stehen in der langen Tradition des gedächt-
nistheoretischen Diskurses. Die größte Wirkungskraft steckt dagegen in
den Metonymien, welche – im Medium der Fotografie bzw. in architekto-
nischen Skizzen realisiert – höchst originell sind und den Leser/Betrachter
stets aufs Neue überraschen. Durch das Unheimliche, das sie ausstrahlen,
fallen sie auf und machen auf die Präsenz dessen, was einst da war, auf-
merksam.
Die Gedächtnis-Metaphern und architektonische Metonymien in
Austerlitz lassen sich in räumlichen Kategorien auffassen. Wie Bettina
Mosbach bemerkt, korrespondiert diese „topografische“ Denkweise mit
der Figur der Metapher an sich, die – im wörtlichen Sinne als Übertragung
eines Wortes von einem Ort an den anderen – bei Sebald selbst zu einer
Metapher der Dislokation wird (vgl. Mosbach 2008: 232). Diese räumliche
Dimension lässt sich auch der Metonymie attestieren: Als Denkfigur leistet
sie eine Verschiebung auf der Zeitachse, indem sie das Vergangene in die
Gegenwart überführt. Dieser Vorgang verläuft aber nicht zielgerichtet und
linear, sondern assoziativ; es entstehen Brüche und Diskontinuitäten. Wie
Aleida Assmann (2009: 337) feststellt: „Das Gedächtnis kennt nicht den
behäbigen und unbestechlichen Maßstab chronologischer Zeitrechnung. Es
kann das Allernächste in unbestimmte Ferne und das Ferne in bedrängende
Nähe rücken.“ Die Metonymie scheint ein besonders geeignetes künstle-
risches Mittel zu sein, diese letztere Aufgabe – gleichsam einen ethischen
Auftrag – zu erfüllen.

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Dorota Masiakowska-Osses (Poznań)

„Deutschsein. Eine Aufklärungsschrift”.


Zafer Şenocaks Essays zur kulturellen Identität
in einem Einwanderungsland.

Kulturen als „Gesamtheit menschlich-gesellschaftlicher Lebensäuße­


rungen, Systeme, Praktiken, Gegenstände, die eine symbolische Dimension
oder Komponente haben bzw. die Funktionen der Signifikation und
Repräsentation erfüllen“ (Mecklenburg 2009: 65) sind immer Kulturen
von Kollektiven. Diese unterliegen aber einem ständigen und immer
schneller werdenden Wandel. Globalisierung, Mobilität und Vernetzung
führen zu permanenten Grenzüberschreitungen, die Grenzen werden porös,
der fixe Bezugspunkt für die Herausbildung der menschlichen Identität,
sowohl der kollektiven als auch der individuellen, wird von einer Vielzahl
der Bezugspunkte ersetzt.
In seiner 2011 erschienenen Essaysammlung Deutschsein. Eine
Aufklärungsschrift beschreibt der deutsch-türkische Lyriker und Prosaist,
Zafer Şenocak, diesen Istzustand der modernen Gesellschaften wie folgt:
In der modernen Welt gibt es keine kulturelle Integration, die mit in sich
geschlossenen Kulturkreisen beschrieben werden könnte. Es gibt lediglich
Arrangements, die ein Zusammenleben, ein Zusammenwirken leichter oder
mühsamer machen, effektiver oder unproduktiver. (Şenocak 2011: 155)

Traditionelle nationale und familiäre Bindungen werden von Interessenge­


meins­chaften ersetzt. Berufliche Qualifikationen, der Lebensstil, die Welt­
sicht sowie persönliche Interessen bringen, so Şenocak, die Menschen
zueinander (Şenocak 2011: 146). Anders ausgedrückt: alle modernen
Plenarvorträge 229

Gesellschaften sind ethnisch und kulturell fragmentiert (Şenocak 2011:


157).
Das ist aber nur eine Seite der Medaille. Die andere ist eine spürbare
Sehnsucht nach Gemeinschaft, einem festen Halt und Konstanz. „In einer
Zeit, in der alle zwei Jahre eine neue technologische Revolution ausgerufen
wird, in der Güter und Menschen ständig in Bewegung sind, ist die Frage,
wo man zu Hause ist, mitnichten nebensächlich.“ (Şenocak 2011: 156)
Auf der Ebene der kollektiven Identitätsbildung äußert sich diese Tendenz
zur Harmonisierung des Gespaltenen im Herbeiwünschen einer nationalen
Einheit.
Zafer Şenocaks Gedanken zum deutschen Traum von der Wieder­
herstellung einer deutschen Kulturnation, welche in seiner Essaysammlung
Deutschsein. Eine Aufklärungsschrift präsentiert werden, lassen sich auf
folgende Weise zusammenfassen:
Diese Tendenz zur vereinheitlichenden Identitätsstiftung mache sich
in Deutschland seit der Wende besonders bemerkbar. Die Einheit wird
vorwiegend kulturell definiert. Sie ist ein der Vergangenheit zugewand-
tes Konstrukt. Im Prozess der Her- bzw. Wiederherstellung der Einheit,
welche nicht selten als Homogenisierung verstanden wird, wird Fremdes
und Eigenes polarisiert, letzteres essenzialisiert und vor eine Alternative
gestellt, sich entweder zu assimilieren oder ausgegrenzt zu werden. Diese
Situation hat nach Şenocak bestimmte sozio-historische Ursachen, welche
im Weiteren charakterisiert werden.
Die oben genannten Mechanismen spürt der Essayist - ein Deutscher
mit türkischem Migrationshintergrund - in den Integrationsdebatten auf, die
sich als Lackmustest für die Offenheit der deutschen Gesellschaft erweisen,
einem Test, in dem - seiner Meinung nach - die Deutschen nicht besonders
gut abschneiden.
Der Verlust der räumlichen Distanz zu dem Fremden und die Permanenz
seines Vorkommens (die Zahl der in der BRD lebenden Menschen
mit Migrationshintergrund beträgt zur Zeit 16 Millionen1) lösen in der
Mehrheitsgesellschaft das Gefühl einer „Unterwanderung“ aus (Şenocak
2011: 137). Ausländisch geprägte Stadtteile gelten als zumindest ver-
unsichernde Enklaven des Fremden, als wunde Bruchstellen (Şenocak
2011: 102, 137), „Parallelgesellschaften“, für Şenocak nötige Orte des
Übergangs (Şenocak 2011: 37, 157) wecken bei der Majorität Ängste vor
Überfremdung. „Das Auftauchen einer als fremd empfundenen Kultur im

  Angaben für 2009 nach https://www.destatis.de/DE/Publikationen/Datenreport/


1

Downloads/Datenreport2011Kap7.pdf?__blob=publicationFile, Zugriff am 19.05.2012.


230 Dorota Masiakowska-Osses

Innersten wird immer stärker als schmerzhafter Eingriff in das Wesentliche,


Einheimische, Vertraute empfunden, das durch diesen Eingriff umgestaltet,
ja verstellt wird.“ (Şenocak 2011: 103) Die Konsequenz jener von Şenocak
diagnostizierten Empfindungen sei der öffentlich ausgetragene, emotional
und ideologisch aufgeladene Selbstgespräch der Deutschen, in dem das
„Wesentliche, Einheimische, Vertraute“, das im Titel des Essaybandes ge-
nannte „Deutschsein“, definiert werden soll. Die Bestimmung der kollekti-
ven Identität wirft Fragen der Zugehörigkeit auf, sie bewegt sich zwischen
den Polen: Wir und die anderen.
Bei der Festlegung, oder eher Konstruktion, der Grenzen zwischen
dem Eigenen und dem Fremden spielt die Kultur eine essentielle Rolle.
Şenocak spricht vom Hang der deutschen Öffentlichkeit zum Kulturalismus
(Şenocak 2011: 47, 60, 134). Das ist eine Strategie, welche komplexe
soziale Erscheinungen eindimensional auf kulturelle Phänomene redu-
ziert (vgl. Mecklenbung 2009: 75). Kulturen werden dabei als starre, ge-
schlossene Einheiten aufgefasst, nicht als offene, im inneren inkohären-
te, mosaikartige und prinzipiell veränderbare Systeme, biricolagen, wie
sie Zafer Şenocak im Einvernehmen mit interkulturell ausgerichteten
Wissenschaften auch versteht (vgl. Mecklenbung 2009: 146). Zwei von
ihm erwähnte Beispiele für kulturalistische Zuschreibungen im Alltag der
Bundesrepublik seien an dieser Stelle angeführt: Kriminelle Tatbestände
und sonstige Rechtsverletzungen, z. B. im Bereich der Gleichberechtigung
von Mann und Frau, werden mit kultureller, sprich: religiöser Zugehörigkeit
der Beteiligten erklärt, ohne ihren sozialen Hintergrund zu berücksichtigen
oder auf ihre rechtliche Strafbarkeit im Herkunftsland der Täter hinzu-
weisen (Şenocak 2011: 101 und 158-159). Auch ist es in den öffentlichen
Debatten immer wieder von der „muslimischen Kultur“2 oder der türkisch-
arabischen Identität (Şenocak 2011: 87) die Rede, welche dem „christlich-
abendländischen Kulturkreis“ (Şenocak 2011: 44) oder der christlich-jüdi-
schen Identität (Şenocak 2011: 88) gegenübergestellt werden.
Ohne genau nach der Herkunft oder nach religiöser Ausrichtung z. B.
des Islam zu fragen, spricht man einfach von „Muslimen“ und „Arabern“
(Şenocak 2011: 94, 149). Şenocak kommentiert:
Bei Kollektivzuschreibungen geht es nicht um persönliche Lebens­geschichten, es
geht um Bildkompositionen, die dazu dienen, sich von jemandem zu distanzieren,
seine Verschiedenheit zu markieren, seine Andersartigkeit zu definieren, indem
man ihn in ein Kollektiv einbettet. (Şenocak 2011: 149).
2
  Zafer Şenocaks Kommentar: „Es gibt islamisch inspirierte Kulturen, aber bestimmt nicht
eine muslimische Kultur“. (Şenocak 2011: 96)
Plenarvorträge 231

Der bzw. die Fremde wird somit zu dem Fremden, und als solches ver-
einfachend und widerspruchslos auf eine Dimension reduziert. Für die
als fremd markierten Personen wird ihre „Kultur“ zur „lebenslangen Haft
in einer Festung“ (Şenocak 2011: 175). Davon kann beispielsweise eine
Ministerin einer nicht deutschen Herkunft betroffen sein, der aufgrund
ihres Bekenntnisses das Etikett „muslimische Ministerin“ aufgestempelt
wird, denn vor assimilierten und in Deutschland sozialisierten Individuen
macht das Prozedere wohlgemerkt nicht halt. (Şenocak 2011: 146) 3
Zafer Şenocak kennt es aus Erfahrung. Im Essay Dichter ohne Lieder
beschreibt er, wie er als Autor von der deutschen Öffentlichkeit zum Exoten
abgestempelt wurde:
„Ich kam 1970 im Alter von acht Jahren nach Deutschland. Als ich zehn Jahre
später meine ersten literarischen Texte veröffentlichte, war ich ein in Deutschland
sozialisierter Dichter mit einem islamisch-türkischen Hintergrund, der mit der
deutschen Sprache arbeitete. Ich hatte fast meinen gesamten Bildungsweg in
Deutschland durchlaufen. Ich fühlte mich in diesem Land nicht als Fremder. Die
deutsche literarische Öffentlichkeit aber entdeckte mich nicht als angehenden
jungen deutschsprachigen Dichter, sondern als einen »Fremden in Deutschland«.
[...] Ich war kein Fremder hier. Ich fühlte mich zugehörig. Das Schreiben von
literarischen Texten in deutscher Sprache war kein exotisches Unterfangen,
sondern ein natürlich gewachsener Prozess. Doch ich merkte sehr bald, dass dieses
Natürliche und Selbstverständliche von meiner Umgebung nicht geteilt wurde.
Meine deutsche Umgebung war zu stark mit meinem Türkischsein, meinem
Anderssein beschäftigt.“ (Şenocak 2011: 89-90).

Mit ähnlichen Problemen wird der Schriftsteller Sascha Muchteschem,


die Huptfigur im Zafer Şenocaks Roman Gefährliche Verwandtschaft4 kon-
frontiert. In Deutschland geboren und sozialisiert wird er plötzlich nach der
Wende, ausschließlich aufgrund der Herkunft seines Vaters, als „türkischer
Schriftsteller, der geschickt mit der deutschen Sprache umging“ entdeckt.
(Şenocak 1998: 129)
Bei der Festlegung der Erkennungsmerkmale von fremden Kollektiven
handelt es sich um eine Bestimmung von außen, und zwar um ein Festlegen
3
  Şenocak bezieht sich auf die niedersächsische Sozialministerin Aygül Özkan, die sich
im April 2010 in einem Interview gegen Kruzifixe an staatlichen Schulen äußerte und
dafür heftig kritisiert wurde. In seinem Essay Mein erster Türke in Deutschland - ein
Fremder stellt Şenocak provozierend fest: „Bei Angela Merkel aber würde kaum jemand
auf den Gedanken kommen, von der evangelischen Kanzlerin zu sprechen oder gar jede
Einblendung ihres Namens im Fernsehen mit diesem Adjektiv zu versehen.“ (Şenocak
2011: 146)
4
  In diesem Roman gibt es auch einen Monolog von „Zafer, Schriftsteller“, Şenocaks Alter
Ego, der über ähnliche Tendenzen berichtet (Şenocak 1998: 105-107)
232 Dorota Masiakowska-Osses

auf eine schematische, eindimensionale Andersheit wie sie von der Mehrheit
verstanden wird. (Vgl. auch Şenocak 2011: 93, 120). Von kritischen
Kulturwissenschaften wird dieses Verfahren als othering bezeichnet und
mit der Machtfrage in Verbindung gebracht (vgl. Mecklenbung 2009: 248).
„Von außen“ müsste im Grunde genommen „von oben“ heißen. Şenocak
spricht in diesem Kontext von der „Definitionsgewalt der Mehrheit“
(Şenocak 2011: 150) und von einer kulturellen „Bevormundung“ (Şenocak
2011: 119)5. Sie finde ihren prägnanten Ausdruck insbesondere im Begriff
der deutschen „Leitkultur“6, welcher – inhaltlich schwer bestimmbar – kon-
zeptuell einerseits den Willen zur Unterordnung des Fremden, andererseits
den Hang zum Monokulturalismus verkörpert (dazu Şenocak 2011: 120-
121). Mit dem Spruch „Multikulti ist tot“7 verkündet der Letztere das end-
gültige Ende des deutschen Multikulturalismus (Şenocak 2011: 136-137,
102).
Als Alternative zu diesem tot geglaubten Nebeneinander von verschie-
denen Kulturen gilt im vereinigten Deutschland eine ethnisch (durch die
Abstammung) und kulturell definierte Einheit, die Şenocak als wirklich-
keitsfernes Konstrukt zu entlarven versucht. Dabei weist er auf intrakultu-
relle Alteritäten hin, die in der Diskussion um die deutsche Identität außer
Acht gelassen werden:
Ja, wir, die Deutschen mit ihren unterschiedlichen Konfessionen, Herkünften,
Erinnerungen. Wir brauchen keine Einheit. Dieses Wort bringt kein Glück
über Deutschland. Das hat keinen metaphysischen Grund, sondern einen ganz
praktischen. In Deutschland gibt es keine Einheit. Es gab und gibt Vielfalt, Vielfalt
der Regionen, der Charaktere, der Zungenschläge. (Şenocak 2011: 57, vgl. auch 117).

Diese Vielfalt könne nicht mit der Metapher der Harmonie, sondern
mit der Polyphonie oder sogar Atonalität (Şenocak 2011: 54) beschrieben
werden. In den früheren Essays bediente sich der Autor des Bildes eines
5
  Ebenfalls kritisiert Şenocak die „Selbstexotisierung“, also eine freiwillige Identifikation
mit diesen von außen kommenden Fremdheitsmustern, die er bei manchen Künstlern be-
obachtet. Ausführlicher dazu siehe: Ulrich Johannes Beil: Wider den Exotismus: Zafer
Şenocaks west-östliche Moderne (Cheesman 2003: 31-42)
6
  Wie ambivalent der allgemeine Begriff „Kultur“ ist, hat Zafer Şenocak schon im früheren
Essay Das Unbehagen an der Kultur zu zeigen versucht: „Kultur ist eine Umschreibung
der Herrschaftsverhältnisse, nach der die Herrschenden ihre Positionen halten und die
Beherrschten davon überzeugen, es ihnen gleich zu tun.“ (Şenocak 1994: 59-60)
7
  Mit diesen Worten wurde im Oktober 2010 vom CSU-Chef Horst Seehofer das Scheitern
des multikulturellen Ansatzes in der bundesdeutschen Politik verkündet. Siehe dazu u.a.:
http://www.spiegel.de/politik/deutschland/integration-seehofer-und-merkel-befeuern-leit-
kultur-debatte-a-723466.html, Zugriff am 08.09.2012.
Plenarvorträge 233

tropischen Waldes, in den sich der gepflegte deutsche Garten in Folge der
Migration verwandelt. Seine 1992 herausgegebene Essaysammlung trägt
den Titel Atlas des tropischen Deutschland und einer der darin enthaltenen
Texte heißt Schrebergärten des Bewusstseins (Şenocak 2009: 31-38).
Als Ursachen der Pluralisierung von der deutschen Gesellschaft gibt der
Essayist die seit den 50er Jahren andauernde Migration und die deutsche
Wiedervereinigung von 1990 an. Während er aber den deutsch-deutschen
„Austausch über den unterschiedlichen Weg der Biografien“ als in Ansätzen
gelungen beurteilt, sieht er den Dialog mit den Einwanderern, soweit über-
haupt vorhanden, als gescheitert. (Şenocak 2011: 32) Şenocak bringt bei-
de Ereignisse in Verbindung, indem er das Scheitern des interkulturellen
Dialogs innerhalb der Bundesrepublik auf den Prozess der Rekonstruktion
der nationalen Identität nach der Wende zurückführt (Şenocak 2011: 111,
vgl. auch ebd. 165), welcher mit einer Wendung zur Geschichte, einer nahe-
zu inflationären Belebung der Begriffe Heimat, Nation und Volk einherging.
Die Öffnung gegenüber dem Eigenen kann somit eine Abschottung gegen-
über dem Fremden bedeuten, das an der genau markierten Abstammungs-
und Erinnerungsgemeinschaft nicht teilhaben kann.
An der deutschen Identitätspolitik kritisiert Şenocak, dass sie sich an ei-
nem veralteten Modell orientiert, wo ein Volk gleich ein Staat, eine Sprache
und ein Wertesystem bedeute. Mehrmals weist er auf Ähnlichkeiten des
deutschen Identitätsdiskurses nach der Wende mit der Stiftung des deut-
schen Gründungsmythos nach 1871 und seine tragischen Konsequenzen
hin (Şenocak 2011: 65, 66, 93). „Ein Unbehagen zieht sich wie ein ro-
ter Faden durch die Konstruktionen deutscher nationaler Identität, vom
Wilhelminischen Reich bis in unsere Tage“ (Şenocak 2011: 67), stellt er
fest. Im Essay Die atonale Welt schreibt er:
Heimat und Identität wurden in der deutschen Geschichte missbraucht und
mit Blut befleckt. Stärker und brutaler als anderswo. Die Volksgemeinschaft
ist in Deutschland kein Rückzugsort, sondern ein Schlachtfeld. Sie wirft einen
dunklen Schatten auf den Volksbegriff. Er ist aber in Einwanderungsfragen ein
Schlüsselbegriff. (Şenocak 2011: 38-39)

Zafer Şenocak sieht eine enge Verbindung zwischen der Unfähigkeit


der deutschen Gesellschaft, Fremdes als solches aufzunehmen (trotz von
ihm gewürdigter Fortschritte in der Gesetzgebung und Bemühungen der
Integrationspolitik) und der deutschen Vergangenheit, die viele Brüche und
wunde Stellen aufweist (Şenocak 2011: 55, 131). Über diese belastende
234 Dorota Masiakowska-Osses

Vergangenheit werde im „gebrochenen Deutsch“8 gesprochen, der locke-


re Umgang mit dem Eigenen habe im Lande keine Tradition. (Şenocak
2011: 28) Şenocak betritt kein Neuland, wenn er über die Verdrängung
der Identitätsfragen von der Elterngeneration in der Aufbauphase der
Bundesrepublik (Şenocak 2011: 73) und über kritische Distanz der Söhne
gegenüber dem Eigenen und der Tradition nach 1968 spricht (Şenocak
2011: 27, 63, 72-73,76, 142). Wenn er aber beides mit der Einwanderung in
Verbindung bringt, eröffnet er eine neue, sozialpsychologische Perspektive
auf die Integrationsprobleme der BRD. Nicht nur die bekannten Prämissen
der Anwerbung (einerseits die vom Anwerbeland vorausgesetzte Mobilität
der Arbeitskräfte sowie das Rotationsprinzip, andererseits Wünsche der
Gastarbeiter, nur kurzfristig in Deutschland zu bleiben) können für ein ge-
störtes Verhältnis zwischen den Einheimischen und den Zugewanderten
verantwortlich gemacht werden. Der innere Zustand der Deutschen, so
Şenocak, habe eine wirkliche Aufnahme des Fremden unmöglich gemacht:
Zwischen dem Untergang des Naziregimes mit seinen monströsen Verbrechen
und den ersten Gastarbeitern, die nach Deutschland kamen, lagen wenig mehr
als zehn Jahre. Wie sollten Menschen, die sich nicht einmal ihren Kindern
gegenüber emotional öffnen konnten, ihr Land mit Fremden teilen und zu einer
Vertrauenssprache fähig sein, die Fremde anspricht und die aufnimmt? (Şenocak
2011: 133, siehe auch ebd. 110-111 und 131-132)

Aus diesem Grund ist dem Aufnehmen kein Aufmachen vorausgegan-


gen, was ein Ankommen im Inneren verhinderte. (Şenocak 2011: 124)
Für die Beschreibung dieser Mängel gebraucht Şenocak verschiedene
Abwehrmetaphern. Er spricht von der deutschen Gesellschaft als einem
„Sperrbezirk“ (Şenocak 2011: 154), von einer „Barrikade zwischen dem
Eigenen und dem Fremden“ (Şenocak 2011: 134), von „Mauern im Kopf“
(Şenocak 2011: 138, auch 15).
Diese Abweisung fand ihren politischen Ausdruck in der jahrzehnte-
langen Verweigerung der Bundesrepublik, sich – trotz ökonomischer und
demografischer Notwendigkeit – als Einwanderungsland zu begreifen.9
Der offiziellen Anerkennung des Status quo im 21. Jahrhundert folgt in
Şenocaks Auffassung keine wesentliche Veränderung des auf Distanz ange-
legten Kommunikationsmodus zwischen dem Eigenen und dem Fremden.

8
  An einer anderen Stelle spricht der Autor über eine „verborgene Sprache“ (Şenocak
2011: 30).
9
  Şenocak weist auch auf das Fehlen der Migrantenfiguren in den von Deutschen geschrie-
benen Gegenwartsromanen hin. (Şenocak 2011: 132)
Plenarvorträge 235

Es existiere keine verbindende Erfahrungsplattform, die eine neue, ge-


meinsame Identität stiften könnte, die Deutschsein für Menschen nicht-
deutscher Abstammung öffnen würde. Der Verfassungspatriotismus spricht
seiner Meinung nach die Emotionen der Deutschen nicht an (Şenocak
2011: 67, 166-167). Den Aufbaumythos haben zwar die Gastarbeiter durch
ihre Mitwirkung am Wirtschaftswunder mitbegründet, doch diese Tatsache
bahnt sich sehr langsam den Weg in das öffentliche Bewusstsein. Außerdem
wird es von dem ehemals ostdeutschen Teil der Bundesrepublikaner nicht
geteilt.
Vielleicht wäre also, schlussfolgert Şenocak, nicht die Beurteilung der
Differenz als identitätszerstörend, sondern ihre Anerkennung als identitäts-
stiftend für vereinigtes Deutschland zukunftsträchtiger. Aufgrund der ak-
tuellen Integrationsdebatten, welche von ihm als „das bizzarste öffentliche
Geschwätz, [...] das es je gegeben hat“ (Şenocak 2011: 140) bezeichnet
werden, lasse sich eine solche Wende in absehbarer Zukunft nicht prog-
nostizieren. Trotz der jüngsten Vergangenheitsbewältigung bleibe die
Position der Mehrheit unverändert. Nach wie vor könne von ihr Differenz
und Fremdheit nicht in unmittelbarer Nähe und auf Dauer ausgehalten wer-
den. Der Essayist findet für diesen angsterregenden Verlust der räumlichen
Distanz eine räumliche Metapher: Deutschland als ein gemeinsames Haus
der Einheimischen und Zugewanderten.
Die Gastarbeiter wurden zunächst nur in die Küche geführt und sollten nicht
in die Wohnräume des Hauses vordringen. Doch nach einer langen Phase der
Küchenexistenz begaben sich immer mehr Gastarbeiter ins Wohnzimmer, und
inzwischen sind viele auch im Schlafzimmer des Hauses angekommen. Der
gewöhnliche Integrationsprozess macht vor der Privatsphäre des Hauses nicht
halt. (Şenocak 2011: 132)

Das von Şenocak vermerkte metaphorische Berühren der deutschen


Privatsphäre von Zugewanderten findet seinen prägnanten Ausdruck im
Bau immer neuer, immer prächtigerer Moscheen und Minarette, welche
für Aufregung in der Öffentlichkeit sorgen und heftige Diskussionen – wie
die seit 2009 gebaute Großmoschee in Köln-Ehrenfeld10 – auslösen. Den
Aussagen, welche diese Erscheinung als Ankommen und Heimischwerden
der immigrierten Mitbürger interpretieren, stehen jene von kultureller
Verfremdung und religiöser Unterwanderung gegenüber. Zafer Şenocak

  Stellvertretend für die Kritik des Kölner Baus siehe die Aussagen Ralph Giordanos
10

(Giordano 2006).
236 Dorota Masiakowska-Osses

stellt fest: „Der Fremde bleibt in Deutschland fremd, solange er nicht sei-
ner eigenen Herkunft abschwört. Das ist die Regel.“ (Şenocak 2011: 116)
Er wirft den Deutschen vor, statt einer Integrationspolitik eine Assimi­
lationspolitik zu betreiben. Die Konstruktion einer homogenen deutschen
Identität geschieht somit auf Kosten der Individuen, deren selbstbe-
stimmte Identität in der Mehrheitsgesellschaft keine Beachtung findet. Da
Menschen Ihre Identität in Interaktion mit ihren Mitmenschen ausbilden
(siehe Dayıoğlu-Yücel 2005: 42), immer öfter aber vielen Kollektiven
und vielen Kulturen angehören, besteht ihre Identität aus Teilidentitäten.
Anders gesagt, es entstehen hybride Identitäten. Dass Zafer Şenocak
Anhänger der Hybriditätstheorie ist, ist unverkennbar (vgl. Hofman 2006:
200-214). Er spricht explicit von „seinen türkischen Wurzeln mit ihrem
hybriden Charakter“ (Şenocak 2011: 84), von „Luftidentitäten“ aufgrund
transnationaler Zugehörigkeiten (Şenocak 2011: 22) von einer „Mischform
von Identität“ bzw. einer „Doppelidentität“ (Şenocak 2011: 95) sowie von
einer „vieldeutige[n] Identität“ (Şenocak 2011: 98). Teilweise bezieht er
diese Begriffe auch auf die Mehrheitsgesellschaft, wenn er zum Beispiel
nicht eindeutige Geschlechtsidentitäten (Şenocak 2011: 162) oder eine
individuell gestaltete „Facebook-Identität“ (Şenocak 2011: 22) erwähnt.
Şenocak betrachtet die Identität als einen dynamischen Prozess, nicht als
eine feste Größe, welche man mit kulturellen, ethnischen oder religiösen
Zuschreibungen restlos bestimmen kann.11 Migration begünstigt diesen
Prozess auf eine natürliche Weise. Der psychische Normalzustand der heu-
tigen Einwanderer sei eine Doppelbeziehung, eine Verbindung sowohl mit
der alten als auch mit der neuen Heimat, Kultur, Tradition. Mit anderen
Worten: der postmoderne Migrant ist ein Pendler. (Şenocak 2011: 108, 120,
160) Dass diese Wirklichkeit in der deutschen Gesellschaft negativ konno-
tiert wird, dass Doppelidentität Loyalitätsfragen aufwirft, hat die Debatte
um den Doppelpass gezeigt, welche diese Möglichkeit aus dem 1999 mo-
dernisierten deutschen Einbürgerungsrecht ausschloss und sie durch ein
weltweit einmaliges Optionsmodell ersetzte, welches in Deutschland gebo-
rene Jugendliche ausländischer Herkunft nach Erreichung der Volljährigkeit
vor die Wahl zwischen der deutschen und der Staatsbürgerschaft ihrer
Eltern stellte.
Von den Einwanderern zu erwarten, dass sie die Verbindungen zu der
alten Heimat kappen, ihre Herkunft vergessen, ihre Identität wie einen

  Şenocak spricht von einer „fließenden Identität“ (Şenocak 2011: 161). Identität sei ein
11

„komplexes, in sich widersprüchliches und dynamisches Konstrukt“, keine „Statue, die


vor Verwitterung und Verunstaltung geschützt werden muss“ (Şenocak 2011: 136).
Plenarvorträge 237

Mantel ablegen und gegen eine neue tauschen, heißt es aber für Şenocak,
diese Menschen entwurzeln zu wollen, ihre Integrität zu verletzen. Im Falle
der integrierten Migrantenkinder, die in Deutschland aufwachsen, sieht der
Schriftsteller (selbst mehrsprachig und in beiden Sprachen schaffend) den
Verlust eines interkulturellen Potenzials, das unter anderem auch durch
Förderung ihrer Mono- statt Bilingualität verloren geht. (Şenocak 2011:
16)12 Wandern die Migrantenkinder, weil sie sich in Deutschland selbst mit
dem deutschen Pass nicht erwünscht fühlen, in die Heimat ihrer Eltern aus,
was zum Beispiel im Falle der Türken immer öfter passiert,13 so lassen
sie in Deutschland ihre Wurzeln zurück (Şenocak 2011: 99-100). Zafer
Şenocak weist auch auf den ökonomischen Aspekt dieses Trends hin und
fragt, ob sich die demografisch schwache Bundesrepublik diesen Verlust
leisten kann. (Şenocak 2011: 88, 127)
Dabei entkommt er jedoch der Versuchung, die kulturelle Vermischung
zu verklären. Sie sei keine Bereicherung per se, eher eine Herausforderung
und eine Selbstverständlichkeit (Şenocak 2011: 123), mit der man sich
abfinden muss, auch wenn sie definitorische Schwierigkeiten bereitet
(Şenocak 2011: 98). Obwohl der Autor die Überzeugungskraft der Tatsa­
chen, Expertenstudien und Statistiken in der emotionalen Integrations­
debatte mehrfach bezweifelt, verzichtet er nicht darauf, mit der Stimme
der Vernunft auf die Ungereimtheiten und Wissensdefizite ihrer Argumente
hinzuweisen. Seine Kritik der Polarisierung, der Vereinfachung und
Bevormundung der türkischen Minorität wurde bereits angesprochen. Das
in der Debatte allgegenwärtige Bild einer rückständigen Türkei kontert
Şenocak mit Hinweisen auf die hundertjährige Modernisierungsgeschichte
der Türkischen Republik, welche die reformatorischen Ansätze aus dem
Osmanischen Reich des 19. Jahrhunderts fortsetzte. (Şenocak 2011: 176)14
Der Konstruktion von antithetischen Kulturkreisen, welche zuweilen als
im Kampf begriffen dargestellt werden, begegnet er mit Verweisen auf
Berührungspunkte morgen- und abendländischer Kultur, auch der deut-
schen. (Şenocak 2011: 33, 103, 106) Er stellt fest: „Die Deutschen haben
mehr Orient in sich, als ihnen bewusst ist“ (Şenocak 2011: 55), doch sei
man in den Integrationsdebatten, die meistens unter Ausschluss von wis-

12
  Gleichzeitig kritisiert er jedoch das Vermischen von Sprachen, wie sie vor allem von
Jugendlichen mit Migrationshintergrund praktiziert wird . Die zerstückelten Sprachen sind
für den Schriftsteller der „Ausdruck einer Unbehaustheit“ (Şenocak 2011: 19).
13
  In der Türkei gibt es für diese Art von Einwanderern sogar eine besondere Bezeichnung,
„Almancilar“, d. h. „Deutschländer“. Siehe dazu: Akyol 2011 und Steinvorth 2012.
14
  Vgl. dazu auch Şenocak 2011: 47, 122, 143,144, 172, 176, 185.
238 Dorota Masiakowska-Osses

senschaftlichen Orient-Experten verlaufen, am Bewusstmachen dieser


Verbindungen nicht interessiert.
Şenocak wird auch nicht müde, die Deutschen an die Anfänge der
Einwanderung in den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts zu erin-
nern. „Darf ein Land es sich nicht aussuchen, wer auf Dauer dazukommt?“,
wiederholt er die Frage der Anhänger einer gesteuerten und begrenzten
Migration und antwortet:
Natürlich darf es das. Doch es darf sich anschließend nicht über die Ausgesuchten
beschweren. [...] Ja, die Gastarbeiter der ersten Generation, sie waren Auserwählte,
sie erschienen vor Kommissionen, die ihnen Arbeitsfähigkeit und Gesundheit
attestierten. Keiner von ihnen wurde nach Caspar David Friedrich gefragt.
(Şenocak 2011: 139-140)

Mit der Bemerkung, dass man in den Zeiten des deutschen Wirtschafts­
wunders keine Menschen, sondern Arbeitskräfte, „moderne Heloten“
(Şenocak 2011: 179)15 ins Land holen wollte, spielt der Essayist auf den viel
zitierten Satz Max Frisch’: „Man hat Arbeitskräfte gerufen, und es kamen
Menschen“ (Frisch 1965). Bei Frisch hieß es anschließend: „Sie fressen
den Wohlstand nicht auf, im Gegenteil, sie sind für den Wohlstand unerläss-
lich.“ Şenocak rät denjenigen, die sich ein Deutschland ohne Einwanderung
wünschen, durch ostdeutsche Provinzen zu fahren. Rhetorisch fragt er:
„Sieht so der deutsche Traum aus? Leere Straßen, viele verwaiste Städte
und Landstriche, gute Infrastruktur, wenige Menschen? Wo es Menschen
gibt, entstehen Probleme, es entsteht aber auch Lebendigkeit.“ (Şenocak
2011: 138)  
Şenocak ist ein Universalist. Er glaubt an eine allen Menschen inhä-
rente Kommunikationsfähigkeit, an eine prinzipielle Möglichkeit eines
interkulturellen Dialogs, dessen Voraussetzung jedenfalls die Anerken­
nung des Wertes von Singularität und Differenz ist. (Şenocak 2011:
181) Es gilt gleichermaßen für Individuen als auch für Kollektive. In
Berührung und Austausch kann sich eine neue Identität bilden, auch ein
um neue Dimensionen reicheres „Neudeutsch, eine Schnittmenge aus
der Gegenwart und der Herkunft“ (Şenocak 2011: 162). Dies könnte ein
Zukunftsentwurf der Berliner Republik sein (Şenocak 2011: 124). Dafür
muss es aber von ethnischen, religiösen und kulturalistischen Selbst- und
15
  Auch nach Jahrzehnten werden nach Şenocaks Meinung diese Arbeitskräfte nicht als
ganze Menschen betrachtet, was auch an den gebrauchten Begriffen sichtbar wird: Aus
einem Gastarbeiter „wurde zuerst ein Ausländer, aus dem Ausländer dann ein Einwanderer,
aus dem Einwanderer ein Mensch mit »Migrationshintergrund«, eine lange Reise, bei dem
der Mensch noch nicht beim Menschen angekommen ist.“ (Şenocak 2011: 86-87)
Plenarvorträge 239

Fremdbestimmungen abgesehen und auf verbindende Werte rekurriert


werden. Diese sieht Şenocak in der Tradition der Aufklärung verkörpert.
Individuum, Menschenrechte, Säkularisierung, Wissen, Rationalität so-
wie die Erziehung der Menschen zur Mündigkeit werden vom Autor der
Aufklärungsschrift als Grundlage einer universalen Zivilisation gewür-
digt, die umfassender ist als eine Kultur. (Şenocak 2011: 33-34, 189)16
Aufklärerisch, universalistisch und zugleich auf ein deutsches Lied an-
spielend, schließt Zafer Şenocak seine Essaysammlung ab: „Es gibt kei-
nen Limes der Gedanken, wenn die Gedanken frei sind. An der Wiege der
Zivilisation fließen die Kulturen zusammen, zu einem einzigen Herzschlag.
Dieser Herzschlag ermöglicht uns, frei zu atmen und einander zu achten.“
(Şenocak 2011: 190).

Literatur
Akyol, C. (2011) „Schade, Deutschland, ich bin weg“, http://www.taz.de/!64805/ (Zugriff:
23.05.2012)
Cheesman, T. / Yeşilada, K. [Hg.] (2003) Zafer Şenocak. Cardiff.
Dayıoğlu-Yücel, Y. (2005) Von der Gastarbeit zur Identitätsarbeit. Integritätsverhand­
lungen in türkisch-deutschen Texten von Şenocak, Özdamar, Ağaoğlu und der Online-
Community vaybee! Göttingen.
Frisch, M. (1965) Vorwort. In: Seiler, A. J. [Hg.] Siamo Italiani - Die Italiener. Gespräche
mit italienischen Arbeitern in der Schweiz. Zürich, 7.
Giordano, R. (2007) Nein und dreimal nein!, http://www.faz.net/aktuell/politik/inland/
ralph-giordano-nein-und-dreimal-nein-1436280.html (Zugriff: 10.08.2012).
Hofmann, M. (2006) Interkulturelle Literaturwissenschaft. Eine Einführung. Paderborn.
Mecklenburg, N. (2009) Das Mädchen aus der Fremde. Germanistik als interkulturelle
Literaturwissenschaft. München.
Şenocak, Z. (1994) War Hitler Araber? IrreFührungen an den Rand Europas. Berlin.
Şenocak, Z. (1998) Gefährliche Verwandtschaft: Roman. München.
Şenocak, Z. (2009) Atlas des tropischen Deutschland. Berlin.
Şenocak, Z. (2011) Deutschsein. Eine Aufklärungsschrift. Hamburg.
Steinvorth, D. (2010) Kültürschock in Istanbul, http://www.spiegel.de/spiegel/0,1518,­
704114,00.html (Zugriff: 23.05.2012).

  Şenocak zitiert den Mustafa Kemal, dem Staatsgründer der Türkei, nachgesagten
16

Ausspruch, dass „es viele Kulturen gibt, aber nur eine Zivilisation“. (Şenocak 2011: 157)
Magdalena Olpińska-Szkiełko (Warszawa)

Glottodidaktische Implikationen
der anthropozentrischen Sprachentheorie

1. Die anthropozentrische Sprachentheorie1


Die anthropozentrische Sprachentheorie, in früheren Beiträgen ihres
Schöpfers die relativistische Theorie der menschlichen Sprachen ge-
nannt, wurde von Professor Franciszek Grucza erarbeitet. Die ersten
Überlegungen zu dieser Theorie erörterte F. Grucza in seiner Monografie
„Zagadnienia metalingwistyki” im Jahre 1983; danach folgten wei-
tere Beiträge, u.a. aus den Jahren 1988, 1993, 1997, 2005, 2008. Diese
Konzeption der Sprache hatte einen großen Einfluss auf die Arbeiten ande-
rer polnischer Linguisten – einen Überblick über diese Arbeiten bietet S.
Grucza (2004: 38).

1.1. Die Sprache als Kommunikationsfähigkeit


Im Lichte der anthropozentrischen Sprachentheorie wird die Sprache
als eine bestimmte Eigenschaft des Menschen definiert, als seine Fähigkeit
zu kommunizieren. Dank ihrer Kommunikationsfähigkeiten sind die
Menschen imstande, sprachliche Äußerungen zu produzieren, sie gezielt
im Kommunikationsprozess als Kommunikationsmittel einzusetzen sowie
sprachliche Äußerungen anderer Menschen zu empfangen und zu inter-

1
  Eine erweiterte Version dieses Beitrags wurde ursprünglich im Band Der Mensch und
seine Sprache. Festschrift für Professor Franciszek Grucza, Hrsg. von M. Olpińska-
-Szkiełko, S. Grucza, Z. Berdychowska, J. Żmudzki, Peter Lang Verlag, Frankfurt/M.,
2012, veröffentlicht.
Plenarvorträge 241

pretieren (vgl. Grucza F. 1993a: 31; 1993b: 157). Die sprachlichen (oder:
kommunikativen) Fähigkeiten eines Menschen werden durch sein umfang-
reiches Wissen begründet, vor allem durch sein sprachliches (u.a. seman-
tisches und pragmatisches Form-, Funktions- und Realisationswissen – vgl.
Grucza F. 1997: 12 ff) und sein nichtsprachliches Wissen (Weltwissen,
Fachwissen, kulturelles Wissen usw.).
Zwischen dem sprachlichen und dem nichtsprachlichen Wissen eines
Menschen gibt es keine klar definierte Grenze (Grucza F. 2005: 47): Um er-
folgreich zu kommunizieren, muss der Mensch im Kommunikationsprozess
nicht nur auf sein sprachliches, sondern auch auf sein nichtsprachliches
Wissen zurückgreifen, was das folgende Textbeispiel von Schnotz (2005:
224) verdeutlicht:
Andy hat Anna zum Geburtstag eingeladen. Sie fragte sich, ob er schon ein
Mühlespiel hat. Sie ging zu ihrem Sparschwein und schüttelte es. Aber es gab
keinen Ton von sich.

Die Rekonstruktion von logischen Zusammenhängen zwischen


den einzelnen Textteilen erfordert von dem Rezipienten nicht nur eine
Decodierung der expliziten sprachlichen Textstruktur, sondern ist nur
dann möglich, wenn der Rezipient über bestimmtes kulturelles Wissen
verfügt. Die Textinterpretation ist das Ergebnis einer Interaktion zwi-
schen der Information, die im zu verarbeitenden Sprachmaterial durch den
Textproduzenten codiert wurde, und dem Kontext sowie verschiedenen
dem Empfänger zugänglichen Wissensbeständen, im Lichte deren er sei-
ne Vermutungen hinsichtlich der implizite ausgedrückten Intentionen des
Textproduzenten anstellt (vgl. Knobloch 2005: 14; Duszak 1998: 115-116;
196).
Die Kommunikationsfähigkeiten der Menschen können dementspre-
chend als ihre Fähigkeiten charakterisiert werden, das sprachliche und
nichtsprachliche Wissen in Kommunikationssituationen anzuwenden.
Dieses Wissen, das die Menschen im Kommunikationsprozess brau-
chen, kann jedoch nicht direkt übertragen werden. Jeder Mensch kann
dank Erfahrung, Praxis oder Reflexion sein Wissen gewinnen (erarbei-
ten), sammeln, entwickeln, verarbeiten und auch in seinen sprachlichen
Äußerungen mit Hilfe von sprachlichen Formen veräußerlichen, repräsen-
tieren (Grucza F. 1997: 13; vgl. auch 1993a: 27). Aufgrund dieser äußeren
Repräsentationen muss jeder andere Mensch sein eigenes Wissen selbst
rekonstruieren.
242 Magdalena Olpińska-Szkiełko

1.2. Sprachliche Äußerungen als Kommunikationsmittel


Sprachliche Äußerungen sind die einzigen äußeren Repräsentationen des
menschlichen Wissens, die der Wahrnehmung und Erfahrung von anderen
Menschen zugänglich sind. Im Kommunikationsprozess kommen sprach-
liche Äußerungen in strukturell geordneter Form als Texte (Diskurse) vor,
in denen mit Hilfe von verbalen Ausdrücken die Textproduzenten ihre
Kommunikationsabsichten und gewünschten Inhalte codieren. Aufgrund
der Kenntnis von verbalen Ausdrücken, deren Auswahl und Organisation
in der Äußerung durch die Kommunikationssituation und den Kontext de-
terminiert werden (vgl. Fries 2005: 143), denn sprachliche Äußerungen,
die als Kommunikationsmittel eingesetzt werden, sind stets direkt mit der
gegebenen Situation verbunden und in den Kommunikationskontext ein-
gebettet, können die Empfänger die Äußerung decodieren und ihr die vom
Textproduzenten beabsichtigten Bedeutungen und Inhalte zuweisen.
Die Bedeutung der einzelnen Textelemente kann nur aufgrund ihres
Kontextes interpretiert werden: „jednostki leksykalne występują (...) zawsze
(i tylko) w funkcji pewnych elementów strukturalnych danych wytworów
językowych, a nie jako samodzielne jednostki leksykalne; jest tak nawet
w wypadku wypowiedzi (tekstów) jednowyrazowych. (...) Bez odwołania
się do aktu komunikacyjnego, w którego efekcie powstał (...) tekst, nie
sposób ustalić jego statusu, a bez uwzględnienia statusu tekstu oraz kon-
tekstu, w którym zostało umieszczone (...) wyrażenie, nie sposób ade-
kwatnie określić ani jego wartości, ani jego znaczenia” (Grucza F. 2005:
60). Das Verstehen eines Textes als Ganzes hängt von der richtigen
Zuweisung der Kommunikationsabsicht ab, die der Text repräsentiert
(Duszak 1998: 38; vgl. Strohner 2005: 190 ff), und die Interpretation der
Kommunikationsabsicht hängt wiederum vom richtigen Verständnis der ge-
samten Kommunikationssituation ab, denn: „wszelkie (wy)twory językowe
(...) jawią się zawsze jako (tylko) pewne elementy odpowiednich aktów
komunikacyjnych, a nie jako obiekty samodzielne” (Grucza F. 2005: 60).
Die zwischenmenschliche Verständigung kann demnach nur unter der
Bedingung zustande kommen, dass die Kommunikationspartner es schaf-
fen, die Bedeutung der sprachlichen Äußerung richtig, d. h. den Intentionen
der anderen Kommunikationspartner gemäß, zu rekonstruieren.
Plenarvorträge 243

2. Glottodidaktische Implikationen der anthropozentrischen


Sprachentheorie

2.1. Ziele und Inhalte des Fremdsprachenunterrichts


Wenn man die im Rahmen der anthropozentrischen Sprachentheorie
formulierte Definition der Sprache als der menschlichen Kommunikations­
fähigkeit, annimmt, so muss man konsequenterweise auch annehmen,
dass das Hauptziel jedes Fremdsprachenunterrichts als die Förderung der
Entwicklung der Kommunikationsfähigkeiten der Lernenden zu bestimmen
ist, d. h. ihrer Fähigkeiten, sprachliche Äußerungen anderer Menschen zu
verstehen, eigene sprachliche Äußerungen zu realisieren und sie als Mittel
im Kommunikationsprozess zu benutzen sowie sowohl bei der Rezeption
als auch bei der Produktion von sprachlichen Äußerungen ihre Kontexte
und kommunikativen (Kon)Situationen zu berücksichtigen (vgl. Grucza
F. 2005: 49).
Die kommunikativen Fähigkeiten des Menschen, die ihm ermög-
lichen, unterschiedliche sprachliche Interaktionen mit verschiedenen
Kommunikationspartnern zu unternehmen, sind u.a. (vgl. Vollmer 2005: 57):
• die phonetisch-phonologische Kompetenz,
• die orthografische Kompetenz,
• die lexikalische Kompetenz,
• die grammatische Kompetenz,
• die semantische Kompetenz,
• die Diskurskompetenz,
• die pragmatische Kompetenz (also die Fähigkeit, Kommunikations­
absichten zu verstehen und auszudrücken),
• die sozilinguistische Kompetenz (also die Fähigkeit, sprachliche Äußerun­
gen gemäß sozialen und kulturellen Normen zu gestalten),
• sowie die metasprachliche Kompetenz - das Wissen über das sprachliche
System, die Fähigkeit, über sprachliche Erscheinungen zu reflektieren,
die Fähigkeit zu denken und das Wissen zu verarbeiten, die Fähigkeit,
sich die Sprachlern- und Verarbeitungsprozesse bewusst zu machen.
Die gleichen kommunikativen Fähigkeiten, die der Mensch in seinem
„Kommunikationsalltag“ braucht, sollten auch im Prozess der Fremdsprachen­
vermittlung gefördert werden. Die kommunikativen Fähigkeiten des
Menschen fundiert aber, wie oben erwähnt, nicht nur sein sprachliches,
sondern auch sein nichtsprachliches Wissen. Die Mängel sowohl im
Bereich des sprachlichen als auch des nichtsprachlichen Wissens können
die Kommunikationsprozesse und die Verständigung zwischen Menschen
244 Magdalena Olpińska-Szkiełko

erheblich beeinträchtigen. Den Prozess des Fremdsprachenlernens


sollte man demnach nicht nur als einen Prozess betrachten, in dem die
Lernenden lediglich die Bestände ihres sprachlichen Wissens bezüglich der
Fremdsprache erweitern, sondern auch umfangreiches nichtsprachliches
Wissen erwerben, das das Verstehen und die Produktion von fremdsprach-
lichen Texten erleichtert und das die Verständigung zwischen Vertretern
verschiedener sprachlichen Gemeinschaften begründet.
Die Kommunikation unter Menschen betrifft viele Aspekte und dient
verschiedenen Zielen, es sind dies u.a.: Austausch von Ansichten und
Erfahrungen, Gewinn von Fachwissen, Befriedigung von ästhetischen und
künstlerischen Bedürfnissen, tiefe Reflexion usw. (vgl. Grucza F. 1993a:
27). Diese Ziele umfassen viel mehr als den bloßen „Austausch von alltäg-
lichen Informationen“. Daraus folgt, dass Kommunikationsprozesse, die
der Fremdsprachendidaktik zugrunde liegen, nicht nur als Kommunikation
über den Alltag, über banale Sachverhalte, aufgefasst werden dürfen.
Darüber hinaus sollten die Fremdsprachenlernprozesse in sinnvollen
Kommunikationssituationen initiiert werden, denn das übergeordnete Ziel
der Fremdsprachenvermittlung ist es, den Lernenden die Teilnahme an dem
Prozess der sprachlichen Kommunikation zu ermöglichen und zugleich ihre
kommunikative Kompetenz allmählich aufzubauen und ihre Entwicklung
zu unterstützen. Auf diesem Weg brauchen die Lernenden natürlich auch
formale Instruktionen und entsprechende Übungen, die, obwohl unentbehr-
lich, den Fremdsprachenunterricht nicht dominieren sollten. Das Wissen
über das Sprachsystem sollte immer zusammen mit den Fähigkeiten,
sprachliche Äußerungen als Kommunikationsmittel strategisch zu gebrau-
chen, entwickelt werden (vgl. Butzkamm 2002: 141).

2.2. Didaktisches Material


Die anthropozentrische Sprachentheorie besagt, dass das sprachliche
(sowie das nichtsprachliche) Wissen, das die menschlichen Kommunika­
tionsfähigkeiten fundiert, niemandem direkt übertragen werden kann;
die Lernenden müssen dieses Wissen selbstständig rekonstruieren. Die
einzige Möglichkeit, das fremdsprachliche System zu rekonstruieren,
ist die Auseinandersetzung mit fremdsprachlichen Äußerungen (Texten;
vgl. Börner, Vogel 1996: Vorwort; vgl. auch Dakowska 2001: 95 ff.;
Grucza S. 2000: 78; Schmölzer-Eibinger 2006: 16). Der Text (Diskurs)
als eine strukturell geordnete sprachliche Äußerung, die immer in ihren
sprachlichen, kulturellen und situativen Kontext integriert ist, spielt im
Fremdsprachenunterricht demnach eine nicht zu überschätzende Rolle – im
Plenarvorträge 245

Fremdsprachenunterricht müssen vor allem Prozesse der Textreproduktion


und –produktion initiiert und gefördert werden.
Im glottodidaktischen Prozess sollten grundsätzlich kommunikativ
adäquate Texte eingesetzt werden, d. h. Texte, die in eine Kommunika­
tionssituation eingebettet sind. Solche Texte bilden „sinnvolle Einheiten”,
deren sprachliche Struktur die Kommunikationsabsicht widerspiegelt. Diese
Funktion erfüllen authentische Texte, die jedoch nicht nur als Originaltexte
aufgefasst werden sollten, die von Muttersprachlern für Muttersprachler
erstellt wurden und von denen weder Inhalt noch Form verändert wurden
oder die den glottodidaktischen Anforderungen nicht angepasst werden
können (vgl. Grucza S. 2005: 75 ff.; vgl. Mohr 2005: 18). Den Lernstoff
können auch didaktisierte Texte darstellen, d. h. authentische Texte, die un-
terschiedlichen glottodidaktischen Eingriffen (z. B. der Kompression oder
Selektion – vgl. Dakowska 2001: 135 ff; Groeben, Christmann 1996: 80
ff; vgl. auch Duszak 1998: 128 ff) unterzogen wurden mit dem Ziel, den
Lernenden ihre Verarbeitung zu erleichtern, ebenso wie didaktische Texte,
die gezielt für die Lernenden geschaffen und an ihre Bedürfnisse angepasst
wurden, unter der Bedingung, dass diese Texte für die Lernenden relevant
sind, d. h. nützlich in Bezug auf ihre Kommunikationsbedürfnisse und/oder
ihre kognitiven Bedürfnisse, Inhalte, Thematik, Terminologie, Diskursart,
Kommunikationszweck, Situationsart usw., wichtig für sie in Bezug auf
ihre Identität, ihre Kommunikationsrollen als Empfänger in der individu-
ellen und Massenkommunikation sowie im didaktischen Prozess.

2.3. Arbeitsformen im Fremdsprachenunterricht


So wie das Wissen, das die menschlichen Kommunikationsfähigkeiten
fundiert, nicht „übertragbar“ ist, so sind auch die Fähigkeiten, sprach-
liches und nichtsprachliches Wissen in neuen Kommunikationssituationen,
in Bezug auf neue Texte und neue Kommunikationspartner zu benutzen,
nicht „übertragbar“. Nur dank der Teilnahme an Kommunikationsprozessen
können die Lernenden, sowohl das sprachliche (und nichtsprachliche)
Wissen rekonstruieren als auch die Fähigkeiten entwickeln, sprachliche
Äußerungen zu Kommunikationszwecken anzuwenden. Der systematische
Aufbau dieser komplexen Fähigkeit erfordert umfangreiche und komplexe
Kommunikationserfahrung. Dies bedeutet, dass für die Lernenden kom-
munikativ sinnvolle Lernsituationen geschaffen werden müssen, in denen
unterschiedliche kommunikative Interaktionsformen gefördert und kogni-
tive Eingriffe (Erklärungen, Übungen) gezielt unternommen werden. Im
Kommunikationsprozess nutzen die Menschen alle ihnen zugänglichen
246 Magdalena Olpińska-Szkiełko

Informationsquellen auf eine integrierte und strategische Art und Weise – ei-
nen solchen Charakter muss also ebenfalls die kommunikative Erfahrung in
der Fremdsprache aufweisen, die im Fremdsprachenunterricht gewonnen wird.
Dies bedeutet, dass die Lernenden im Fremdsprachenunterricht von ih-
rem Gesichtspunkt aus relevante und authentische Aufgaben und Übungen
erfüllen sollten, dank derer sie ihre Kommunikationserfahrung gewinnen,
sammeln und bereichern können und die ihnen bei der Wahrnehmung re-
aler Kommunikationsaufgaben in realen Kommunikationssituationen nütz-
lich und behilflich sein können. Das Postulat der Authentizität, ähnlich wie
im Falle der Lerntexte, bezieht sich auf die kommunikative Adäquatheit
von Aufgaben, die die Lernenden im Fremdsprachenlernprozess erfüllen.
Kommunikativ adäquate Aufgaben müssen die reale Identität der Lernenden
berücksichtigen und Fähigkeiten fördern, die sie im Prozess der realen
Kommunikation brauchen. Den Ausdruck authentische Aufgabe sollte
man nicht mit dem Konzept des Lernens durch Rollenspiele (in denen die
Lernenden verschiedene Kommunikationsrollen wie die eines Verkäufers,
eines Touristen usw. übernehmen) gleichsetzen. Es besteht ein grundsätz-
licher Unterschied zwischen authentischen Kommunikationsaufgaben und
Rollenspielen: M. Dakowska (2001: 160 ff) bemerkt, dass Rollenspiele,
wenn sie auf künstlich geschaffenen Kommunikationsabsichten basieren
und wenn sich die Lernenden mit den zu spielenden Rollen nicht identifi-
zieren können, genauso ineffektiv wie Drillübungen sind, bei denen man
bestimmte Ausdrücke und Redewendungen auswendig lernt, ohne aus einer
solchen Übung einen kognitiven Nutzen zu ziehen. Aufgaben, die bei den
Lernenden kognitive Prozesse initiieren und fördern sollten, müssen einen
kreativen Charakter haben.
Dies bedeutet jedoch nicht, dass traditionelle Übungen, die auf den
Aufbauen des systematischen sprachlichen Wissens, der lexikalischen und
grammatischen Kompetenz, abzielen, aus dem Fremdsprachenunterricht
verbannt werden sollten. Im Gegenteil, verbale Formen sind etwas ab-
solut Grundlegendes im Fremdsprachenunterricht, die Lernenden sollten
sie aber nicht „ihretwegen“ kennen lernen, sondern weil sie Kommunika­
tionsprozesse ermöglichen (Dakowska 2001: 72).
Die Aufgaben, die die Lernenden im Fremdsprachenunterricht erfüllen,
können also entweder auf die Rekonstruktion von Textbedeutungen und
Textinhalten oder auf die Verarbeitung von verbalen Formen ausgerich-
tet sein, z. B. durch eine Paraphrase von ausgewählten Ausdrücken aus
dem Text. Kritisch sollte man jedoch das von einigen Glottodidaktikern
formulierte (vgl. z. B. Komorowska 1999: 194) Postulat betrachten,
Plenarvorträge 247

dass die Grundlage der Entwicklung von Kommunikationsfähigkeiten


die „im Voraus“ eingeführte Lexik und die „im Voraus“ geübten syntak-
tischen Strukturen sind. Obwohl das Postulat einer intensiven Übung von
sprachlichen Formen im Fremdsprachenunterricht begründet ist, wird
auf diese Weise das Problem des Übergangs von der Übung zur frei-
en Kommunikation nicht gelöst. Ein solcher Transfer scheitert ganz ein-
fach (vgl. Srole 1997: 105; Butzkamm 2002: 203 ff; Even 2003: 35 ff).
Deshalb ist es wichtig, dass die Lernenden von Anfang an die Gelegenheit
bekommen, an Kommunikationsakten teilzunehmen, ihre Fähigkeiten
allmählich durch Kommunikationshandlungen zu entwickeln, nicht nach
dem Prinzip “learn now, use later”, sondern “use as you learn, learn
as you use” (Butzkamm 2002: 113; vgl. auch Glaudini Rosen, Sasser
1997: 36; Eskey 1997: 133; Bach 2005: 19). Die sprachlichen Übungen im
Fremdsprachenunterricht sollten so konstruiert werden, dass die sprach-
lichen Formen von Anfang an sprachlichen Interaktionen dienen und sie
bereichern.

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Grzegorz Pawłowski (Warszawa)

Zum Gegenstand der linguistischen Semantik

Problem- und Fragestellung


Das Problem „Gegenstand der linguistischen Semantik“ wird in den
neueren semantisch profilierten Monographien zum Teil unscharf (vgl. u. a.
Löbach 2000: 9-11) bzw. unvollständig (vgl. Metzeltin 2007: u. a. 23) de-
finiert, zum Teil als selbstverständlich angenommen (vgl. u. a. Busse 2012;
Ziem 2008; Wunder 2008; Helbig 2008: 4, 39; Schemann 2002; Löbner
2003: 3-11; Wierzbicka 2007, 2008; Linz 2002), in manchen auch ganz
und gar verschwiegen (vgl. u. a. Loppe 2010; Tokarski 2004; Kleiber 2003;
Mangasser-Wahl 2000; Apresjan 2000). Über die Gründe, warum dem so
ist, kann man diverse Vermutungen anstellen. Eine davon sei die Annahme,
dass es sich bei der Semantik lediglich um die Bedeutungs-Lehre handelt,
die an sich nicht erklärungsbedürftig ist (vgl. Pospiech 1994: 152). Eine
weitere Vermutung mag auf den terminologischen Pluralismus zurückge-
führt werden. Allein die Tatsache, wie viele Termini – darunter „Inhalt“,
„Konzept“, „Begriff“, „Sinn“, „Referenz“, „Denotation“, „Konnotation“ –
allein in der Linguistik mit Bedeutung in Beziehung gebracht werden, lässt
schon mancherlei Hürden vorausschauen (vgl. Vater 2002: 131). Stellt
Bedeutung den wirklichen und hinreichenden Gegenstand der Semantik
dar, an dem der linguistische Diskurs mäandert? Lässt sich an, aufgrund
und mithilfe von Bedeutung oder vom Terminus „Bedeutung“ allein et-
was über ihre Formanten aussagen und ggf. lassen sich die Prozesse ihrer
Konstitution nachvollziehen? Diese Fragestellung bedarf einer umfang-
reichen empirischen Studie an bestimmten, darunter an wissenschaftli-
chen Texten. Diese will und kann ich an dieser Stelle nicht durchführen.
250 Grzegorz Pawłowski

Fragebedürftig erscheint allerdings die Tatsache, warum es gerade in meh-


reren, für diverse Semantiktheorien maßgeschnittenen, wissenschaftlichen
Texten an einer befriedigenden expliziten Diagnose des Gegenstandes
der linguistischen Semantik mangelt. Gerade bei einem grundsätzlichen
Problem wie dem „Gegenstand der linguistischen Semantik“ scheint dies
bei Weitem unverständlich zu sein.
Das Problem will ich mit folgenden Fragen auf den Punkt bringen: 1) Was
ist der eigentliche Gegenstand der linguistischen Semantik? Sind es bloß
die in der Gesamtmenge bestimmter Mengen konstituierten sprachlichen
Ausdrücke, Sätze, Texte etc.? Sind es vielleicht die in der Gesamtmenge
der Individuen konstituierten konkreten sprachlichen Eigenschaften? Sind
es bloß idiolektale Bedeutungen bzw. ihre polylektalen Konstrukte? 2) Was
setzt die Konstitution der wirklichen, der idiolektalen Bedeutung voraus
und welchen Formanten wird sie ausgesetzt? 3) Wie viel idiozentriert und
wie wenig polyzentriert, oder umgekehrt, muss die Forschungsperspektive
sein, um die Forschungsergebnisse im Rahmen der linguistischen Semantik
wissenschaftlich zu legitimieren? Diese Fragen stellen den Ausgangspunkt
meiner Erläuterungen dar und mögen als Diskussionsbeitrag vor allem bei
der Auseinandersetzung mit den Grundannahmen der zu intendierenden
epistemologischen Semantikforschung dienen.

1. Was ist der eigentliche Gegenstand der linguistischen


Semantik?
Die erste Frage mag leicht als fadenscheinig abgetan werden. In der
Tat wurden in der Geschichte der semantischen Forschung unterschied-
liche Antworten auf diese Frage formuliert (vgl. u. a. Katz / Foder 1964;
Geckeler 1971; Abraham / Binnich 1972; Engelkamp 1973; Beeh 1973;
Lyons 1977; Reis 1980; Birwisch 1983; Lutzeier 1985; Polenz, P. v.
1988; Bock 1990; Schwarz 1992; Dietze 1994; Grabowski et.al. 1996;
Grzegorczykowa 2001; Tokarski / Pajdzińska 2001; Bärenfänger 2002)1.

1
  Überzeugt haben mich dabei am meisten die Überlegungen zu den Aufgaben der
Semantiktheorie von Monika Schwarz. Sie stellt dazu gezielte Fragen: „ 1) Läßt sich das
mentale Lexikon als ein Submodul des sprachlichen Kenntnissystems beschreiben? 2)
Lassen sich semantische und enzyklopädische Informationen bei der Darstellung lexi-
kalischer Bedeutungen voneinander abgrenzen? 3) Welche Beziehung besteht zwischen
den semantischen Strukturen einer Sprache und den allgemeinen konzeptuellen Strukturen
des menschlichen Kognitionssystems? 4) Welche Faktoren determinieren den Prozeß der
Bedeutungskonstitution? 5) Nach welchen Prinzipien werden lexikalische Bedeutungen
auf Äußerungsbedeutungen abgebildet? [Und schließlich] 6) Inwieweit können kontex-
Plenarvorträge 251

Beim näheren Betrachten wird jedoch klar, dass hier alle möglichen
Probleme an den Tag kommen, die alles andere als leicht zu lösen sind.
Ich konzentriere mich lediglich auf das eine – auf das ontologische, aus
dem mancherlei terminologische resultieren. Um das Problem scharf ge-
nug zu positionieren, ist es an dieser Stelle zunächst angebracht festzuhal-
ten, was nicht Gegenstand der linguistischen Semantik ist. Darstellen will
ich dies mit Blick auf die von Franciszek Grucza in der Metalinguistik
schon vor knapp dreißig Jahren formulierten Annahmen und die Kritik
der reduktionistischen „Definitionen“ des Gegenstandes der Linguistik.
Nicht Gegenstand der Linguistik sind: a) Korpora von Objekten2 und/oder
ihrer Eigenschaften, d. h. sog. sprachliche Ausdrücke, b) intellektuelle,
ggf. wissenschaftliche Konstrukte, z. B. die sog. deutsche, englische, pol-
nische Sprache, und c) ideelle Sprecher-Hörer (vgl. ders. 1983: 290-340).
Welche Schlussfolgerungen kann man in Hinblick auf diese Annahmen
ziehen? Was hat dies für Konsequenzen bei den Überlegungen über den
Gegenstand der linguistischen Semantik? Erstens: In der Tat liegen isolierte,
oft für ontisch gehaltene Ausdrücke außerhalb des Interessenbereiches
eines Semantikers, ohne dass damit unmittelbar die konkreten mentalen
Fakten, unter anderem die idiolektalen Bedeutungen ins Fokussierungsfeld
gerückt werden. Zweitens: Reduktionistisch ist außerdem der Gegenstand
zu deuten, in dessen Umfeld allein die sog. „formale Seite der Sprache“
– es will hier eigentlich heißen, u. a.: der formale Äußerungsplan der wirk-
lichen Lexeme (oder ganzer Phrasen) – einbezogen wird. Unumgänglich
bedarf es hier der präzisen Bezugnahme – es sei hier zunächst einmal
nur grob formuliert – auf die konkreten mentalen Muster, die konkreten
Attribute – um mit Franciszek Grucza zu sprechen –, die Eigenschaften
der mentalen Sphäre des menschlichen Geistes sind (polnisch: „mentalna
sfera umysłu“). Und drittens: Liegen konkrete Objekte der sog. objekti-
ven Wirklichkeit, d. h. einzelne Referenzen, ihre Eigenschaften oder die
Extension bestimmter Referenzen keineswegs im Gegenstandsbereich der
linguistischen Semantik. Warum? Darauf gehe ich kurz ein, wenn ich mich
der Konstitution der idiolektalen Bedeutung zuwende.
Was ist nun der eigentliche Gegenstand der linguistischen Semantik?
Dieser ist selbstverständlich aufgrund der Gesamtmenge von berücksich-

tuelle Faktoren das Primat der wörtlichen Bedeutung – als lexikalisches Grundprinzip –
modifizieren oder ersetzen.“ (s. ders. 1992: 27).
2
  Mit „Objekten” werden äußere Hervorbringungen, darunter Ausdrücke, Sätze oder gan-
ze Texte gemeint, die an sich nicht Gegenstand der linguistischen Semantik sind (vgl.
F. Grucza 1983).
252 Grzegorz Pawłowski

tigten (normativen und nichtnormativen) Objekten und ihrer bestimmten


Eigenschaften konstituiert. Franciszek Grucza rückt vor allem konkrete
Menschen in den Vordergrund des Gegenstandes der Linguistik, und zwar
den Menschen in Hinblick auf seine sprachlichen Eigenschaften, vor allem
den Menschen, der sprachlich agiert (vgl. F. Grucza u. a. 1983, 2010)3. Im
engen Zusammenhang mit der Gesamtmenge dieser Objekte stehen konkre-
te sprachliche Äußerungen, d. h. phonemische oder grafische Signalketten
und mittelbar Gegebenheiten (Konsituationen), die diese Äußerungen de-
terminieren. Da sich die linguistische Semantik als logischer Bestandteil der
Linguistik versteht, will ich mich freilich darauf beziehen und den eigentli-
chen Gegenstand der linguistischen Semantik nur präziser festhalten: 1) der
Mensch in Hinblick auf seine Eigenschaften, Ausdrücken, Texten etc. idio-
lektale Bedeutungen zu zuschreiben; 2) die konkreten aufgrund von sprach-
lichen Eigenschaften eines Menschen realisierten Hervorbringungen, das
sind die konkreten physikalisch wahrnehmbaren Ausdrücke, Äußerungen,
Texte etc.; 3) idiolektale Ausdrucksform und (Wissen über) ihre kognitiven
Funktionen – ich trenne dabei zwischen der idiolektalen Ausdrucksform
und dem idiolektalen Ausdruck, d.i. einer äußeren Hervorhebung; 4)
idiolektale Bedeutung und (Wissen über) ihre kognitiven Funktionen;
5) (Wissen darüber,) wie und warum idiolektale Bedeutung und idiolektale
Ausdrucksform miteinander korreliert werden; 6) (Wissen über) die inne-
ren, mentalen Kontexte, d. h. unter anderem die Kontextualisierung von
sprachlichen Elementen im Phrasen-, Satz-, Feldmuster und im allgemei-
nen Wissensrahmen (zur Wissenskontextualisierung vgl. Busse u. a. 2007:
82, 88, zum Wissensrahmen vgl. ders. 2007: 94, 2008a: 70 f. und vor allem
2012, vgl. auch Ziem 2005: 275 ff.). Dazu gibt es allerdings Anmerkungen.
Der eigentliche Gegenstand will noch erweitert werden. In der Tat
besteht die primäre Aufgabe eines Semantikers darin, über idiolektale
Bedeutungen und ihre kognitiven Funktionen etc. zu reflektieren, er darf
gleichzeitig ihre polylektalen und kommunikativen Funktionen (ihre kom-
munikative Geltung) nicht aus den Augen verlieren. Es lassen sich noch
weitere Gegenstände formulieren, und zwar 7)  (das Wissen) über die
polylektale(n) Funktion(en) der idiolektalen Bedeutung; 8) (das Wissen
über) die polylektale Bedeutung; 9) das (Wissen über) die kommunikati-
ven Funktionen, die den sprachlichen Hervorbringungen in konkreten kom-
3
  „(…) lingwistyka pragnie poznać ludzi (…) istotę ich umiejętności posługiwania się
w konkretnych aktach komunikacji (…) wypowiedziami. Na jakiej podstawie je tworzą
i kształtują, odbierają i rozpoznają (segmentują, identyfikują i dyferenjują) oraz na ja-
kiej zasadzie interpretują i rozumieją je, jakie nadają, względnie – jakie przypisują im
wartości?” (s. F. Grucza 1983: 292).
Plenarvorträge 253

munikativen Akten zugeschrieben werden und 10) (das Wissen über) die
äußeren subjektiven Kontexte.4
Aus dem Gesagten resultiert vor allem eine große Vielfalt von Aspekten
des Gegenstandes der linguistischen Semantik, auf derer Grundlage geziel-
te Forschungsinitiativen aufgegriffen werden können. Dabei darf man den
Gegenstand „Bedeutung“ – wie dieser bisher definiert wurde, nicht isoliert
betrachten, d. h. die wissenschaftliche Reflexion und Forschung bloß auf
die Wissensstruktur von Bedeutungen und gezielt auf den Wissensbereich
von Bedeutungen, d. h. auf die konkreten Bedeutungsformanten, redu-
zieren. Es wäre nämlich falsch zu behaupten, dass Bedeutungen und ge-
nauer gesagt, idiolektale Bedeutung im Vakuum konstruiert werden. Die
Aufgabe, die sich Semantiker zu stellen haben, wird es sein, vor allem
sämtliche Bedeutungsformanten zu nennen und möglichst alle verste-
hensrelevante Wissenselemente der idiolektalen Bedeutung (und zwar
Bedeutungselemente) zu erheben, die in konkreten Wissensrahmen auf
epistemischem Wege gebildet werden (näher dazu vgl. Pawłowski 2013).

2. Was setzt die Konstitution der idiolektalen Bedeutung voraus?


Bei der Auseinandersetzung mit dem Problem „Bedeutungskonstitution“
will ich vor allem die Formantenbereiche der idiolektalen Bedeutung
hervorheben und damit zeigen, wie wichtig es ist, möglichst alle ver-
stehensrelevante Bedeutungselemente zu erfassen, um die semantische
Beschreibung einer Ausdruck-, Satz-, bzw. Textäußerung wissenschaft-
4
  Aus dem Gegenstand (7-10) geht hervor, dass sich der Semantiker zum einem mit der
polylektalen Funktion der idiolektalen Bedeutung, d.i. mit der polylektalen Bedeutung
auseinandersetzen muss – unter anderem mit der onomasiologischen Normierung, zum
anderem mit kommunikativen Funktionen, die konkreten sprachlichen Hervorbringungen
(Texten) in kommunikativen Akten zugeschrieben werden – hier unter anderem mit der
semasiologischen Normierung. Vor allem an der Modellierung idiolektale Bedeutung –
polylektale Bedeutung – normative polylektale Bedeutung wird ersichtlich, dass es sich hier
um unterschiedlich formulierte Fragestellungen handelt. Vorranging ist dabei die Tatsache,
dass es – analog zu der Relation: kulturelle Wissensformaten-Typen (sie werden nachträg-
lich näher erläutert) vs. kulturelle Hervorbringungen – weder zwischen der idio- und poly-
lektalen noch zwischen der polylektalen und der normativen polylektalen Bedeutung kein
ontologisch nachweisbares Verhältnis festzustellen ist. Kurzem: es handelt sich hier um
drei unterschiedlich konstituierte Gesamtmengen von Objekten. Erstens: die multimodal
geformte idiolektale Bedeutung als Attribut der mentalen Sphäre. Zweitens: die polylek-
tale Bedeutung, d.i. das Ergebnis der polylektalen Funktion der in Erwägung gezogenen
idiolektalen Bedeutungen. Und schließlich stellt normative polylektale Bedeutung bloß
einen intellektuellen, ggf. wissenschaftlichen Konstrukt der Lexikografen dar, das es in
Wirklichkeit gar nicht gibt.
254 Grzegorz Pawłowski

lich zu legitimieren. Da ich mich zur idiolektalen Bedeutung an anderer


Stelle geäußert habe (Pawłowski 2011), beschränke ich mich in diesem
Beitrag auf das Wesentliche. Es kommen mir in diesem Zusammenhang
einige rhetorische Fragen in den Sinn, mit denen eine vielleicht nicht gera-
de passende Beispielsituation angesprochen wird. Beruft sich ein langjäh-
riger Dorfbewohner im Gespräch mit seiner Frau, in dem er den Ausdruck
„das Licht“ verwendet, auf die enzyklopädischen Einträge? Mit anderen
Worten: Hat er das Fachwissen über die physische Struktur des Lichtes,
unter anderem über das Verhalten der Photonen bei Höchstgeschwindigkeit
internalisiert? Worauf bezieht er sich, indem er den Ausdruck „das Licht“
hervorbringt: auf die Referenz, auf das Fachwissen darüber oder auf seine
eigene, will heißen idiolektale Bedeutung, die er bereits erworben hat?
Kritisch betrachte ich die reduktionistischen Theorien im Rahmen der
Semantik, nach denen sprachliche Ausdrücke bloß aufgrund taxonomischer
Kriterien beschrieben, und die ihnen „entsprechenden“ Lexeme, d. h. finale
mentale Fakten, derart definiert werden. Der Gegenstand der linguistischen
Semantik darf nämlich nicht nur zur formalen Beschreibung der sprachli-
chen Ausdrücke eingeschränkt werden, und schon gar nicht zur kommu-
nikativen Funktion, die diesen Ausdrücken in konkreten kommunikati-
ven Akten beigemessen wird. Dabei sollte man vom Fachwissen über die
Umwelt, hier über alle möglichen Designate des Ausdrucks „das Licht“, bei
der semantischen Beschreibung selbstverständlich nicht absehen. Das an-
gesprochene ontologische Problem der linguistischen Semantik, das sich in
der Unzulänglichkeit der semantischen Beschreibung äußert, besteht jedoch
unter anderem darin, dass a) Referent mit Bedeutung (zur Referenzsemantik
vgl. u. a. Vater 1986, Wimmer 1979), b) Ausdruck / Text mit Bedeutung
(kritisch dazu vgl. Pawłowski 2011) bzw. c) Ausdruck-, Text-Gebrauch mit
Bedeutung (vgl. u. a. Loppe 2012, kritisch dazu Schmidt 1985: 42 ff.) gleich-
gesetzt werden. In Wirklichkeit haben wir es hier mit zwei Gesamtmengen
von Objekten zu tun, die ontisch unterschiedlich konstituiert sind. Zum
einen sind es konkrete Referenzen, Ausdrücke, Texte, etc. der äußeren
Wirklichkeit, zum anderen einmalige mentale Fakten, die in der mentalen
Sphäre eines (menschlichen) Individuums souverän konstruiert werden.
Die Komplexität der Bedeutungskonstitution und -struktur und nicht zuletzt
die Vielfalt von Bedeutungsformanten machen die Aufgabe nicht leicht.
Darüber „vermag“ die Wissenschaft, vor allem die Neurobiologie und die
Gedächtnisforschung nur Beschränktes zu sagen (vgl. u. a. Domasch 2007,
Welzer / Markowitsch 2006, Borck 2005). Hierfür bietet es sich vor allem
an, die semantischen Methodologien zu vereinigen, damit eine adäquate
Plenarvorträge 255

Ausdrucksbeschreibung erzielt werden kann (Busse 2012: 32). Zwischen


verschiedenen Analysemethoden, darunter prototypen-, merkmals-, feld-,
rahmen-, und der noch zu konzipierten epistemologischen, zu wählen und
die Freiheit ihrer angemessenen „Mariage“, hieße m. E. für die Semantik,
die reduktionistischen Beschreibungsparadigmen endgültig zu verlassen
(darin überzeugt mich vor allem Dietrich Busse, mehr dazu vgl. ders.
2007: 96 ff.)5.
Es sei die oben gestellte Frage nach dem „negativen Gegenstand“ der
linguistischen Semantik jetzt aufgegriffen. Die Frage lässt illustrieren,
warum Referenzen, ihre Eigenschaften oder die Extension bestimmter
Referenzen nicht in den Gegenstandsbereich der linguistischen Semantik
aufgenommen werden können. Dank der Beispielsituation »Licht«
wird die Antwort wohl viel klarer. Dadurch wollte ich dokumentieren,
dass die Bedeutungskonstitution nicht unbedingt durch die Erlangung
von Fach- oder enzyklopädischem Wissen erfolgen muss. Mit anderen
Worten: Fachwissen setzt Bedeutungskonstitution nicht voraus, wobei das
Fachwissen über die Designate „das Licht“ an sich ja in Wirklichkeit eine
Menge von konstitutiven Bedeutungselementen integriert – um es noch
anschaulicher zu sagen: Wissenselemente (das Fachwissen »Licht«) ma-
chen die idiolektale Fach-Bedeutung aus, die mit den Wissenselementen
der mentalen Ausdrucksform „das Licht“ / „światło” / „la luz” / „s’liecht“
„the light“ / „ ” / „ “ /„光” etc. zunächst kognitiv korreliert und
ggf. kommunikativ zum Ausdruck gebracht wird. Dies stellt einen trifti-
gen Grund für einen Semantiker dar, Objekte der äußeren Wirklichkeit,
Referenzen und/oder ihre Eigenschaften, und sogar Graphem-, Phonem-
Sequenzen, konkrete Texte etc. schlechthin zu ignorieren. Das mag viel-
leicht Aufsehen erregen und als seltsam verworfen werden, jedoch gerade
an dem – zumindest meiner Wahrnehmungserfahrung fremden – arabischen
und japanischen Ausdruck ist es ersichtlich, warum dies auch stimmt. Ein
Semantiker soll und wird ihn in der Tat unweigerlich berücksichtigen müs-
sen, sofern dieser in irgendeiner Form die Erkenntnis eines Menschen und
ggf. die Konstitution der idiolektalen Bedeutung epistemisch beeinflusst,
d. h., sofern er nicht festgestellt hat, dass mit dem Ausdruck „ “ oder
„光” auf eine Menge von Bedeutungselementen verwiesen oder, dass
5
  „Die Entwicklung von einer als zu reduktionistisch und damit sachlich falsch konzi-
piert verstandenen Komponenten-Semantik hin zu einer „interpretativen“ bzw. „verste­
h­enstheoretisch reflektierten“ Semantik (…), also einer „explikativen Semantik“ (…), die
die Gesamtheit der verstehensrelevanten Aspekte im Hinblick auf ein Zeichen oder eine
Zeichenkette zu explizieren trachtet, ist daher ein notwendiger Schritt einer Semantik, die
ihren Namen überhaupt nur verdienen will.“ (s. Busse 2012: 535).
256 Grzegorz Pawłowski

bloß mit derer Form eine Erinnerung hervorgerufen / ein Engramm akti-
viert bzw. eine bestimmte neue Vorstellung in Beziehung gebracht wird.
Anderenfalls vermag er es einfach nicht, diesen Ausdruck als signifikant zu
interpretieren, solange er nicht sichergestellt hat, dass dieser Ausdruck von
einem Menschen, den er auf seine sprachlichen Fähigkeiten beobachtet,
zunächst als signifikant identifiziert, internalisiert und assimiliert wurde.
Damit schließe ich mich Dietrich Busse an, der in Frame-Semantik einen
ganz und gar soliden Grundstein für die epistemologische Semantik6 gelegt
hat (ders. 2012: hier v. a. das 8. Kap.).
Man wird sich an dieser Stelle fragen, nach dem, was die idiolektale
Bedeutung ausmacht und wie dieses „Was“ zu klassifizieren ist. Dem anth-
ropozentrischen Faden folgend (vgl. v. a. F. Grucza 2010, 2012, S. Grucza
2009, 2010, Bonacchi 2011, 2010, 2012, Olpińska-Szkiełko 2012), will
ich drei mentale Bereiche nennen, und präziser gesagt, die unter diese
Bereiche fallenden Wissensformanten-Typen, und zwar Formanten-Typen,
die als unterschiedlich beschaffene (mentale) Faktoren auf das Wissen, ge-
nauer, auf Wissenselemente einer idiolektalen Bedeutung, also auf kon-
krete Bedeutungselemente, buchstäblich einwirken und die Letzteren mit
den Wissenselementen einer idiolektalen Ausdrucksform wie „das Licht“,
„s’liecht“ etc. korrelieren lassen. Wie kompliziert dies auch immer sein
mag, bleiben die wirklichen Prozesse der (idiolektalen) Bedeutungs- und
Ausdruckskonstitution und somit die wirklichen Prozesse ihrer gegenseiti-
gen Korrelation recht verschwommen. Nichtsdestotrotz seien hier die die-
sen Prozessen zugrunde liegenden Wissensformanten-Typen genannt, die
m. E. die Bedeutungs- und Ausdruckskonstitution epistemisch steuern. Das
ist: der anthropologische, kulturelle und axiologische Wissensformanten-
Typ. Um der anthropozentrischen Sprachentheorie treu zu bleiben und
terminologisch präzise zu verfahren, sollte ich eigentlich jedem der ge-

6
  „Explizit aufgegriffen und nunmehr auch explizit an die Diskussionen der Frame-
Theorie angeschlossen wird das Frame-Konzept dann seit Busse 2005 in mehreren
Publikationen. Wird die Analyse von „kognitiv-epistemischen Rahmen“ (…) zunächst
nur als einer von mehreren möglichen Schritten einer umfassenden, diskursanalytisch an-
gelegten historischen Semantik eingeführt, rückt sie ab Busse 2005 zunehmend in das
Zentrum des Projekt einer „epistemologischen Semantik“. Die textinterpretativ-verste­
h­enstheoretisch ausgerichteten Überlegungen (…) werden kurzgeschlossen mir der his-
torisch-semantisch orientierten Diskursanalyse (…), indem als gemeinsames Fundament
beider Forschungsperspektiven das „verstehensrelevante Wissen“ im Zuge einer „reichen“
oder „interpretativen Semantik“ erkannt wird.“ (s. Busse 2012: 525). „Eine Semantik
wird zu einer solchen erst dann, wenn sie als „semantische Epistemologie“, d. h. als eine
Aufklärung der Strukturen und des Umfangs des gesamten verstehensrelevanten Wissens
mit Bezug auf ein Zeichen oder einer Zeichenkette verstanden wird.“ (s. Busse 2012: 535).
Plenarvorträge 257

nannten Termini das Präfix „idio“ hinzufügen, so müsste ich selbstver-


ständlich von idioanthropologischen, idiokulturellen und idioaxiologi-
schen Wissensformanten-Typen sprechen. Da es jedoch offensichtlich
ist, dass es sich hier um Wissensformanten-Typen eines Menschen han-
delt, habe ich darauf einfach verzichtet. Zurück zur Sache. Die Aufteilung
in die genannten Wissensformanten-Typen ist leicht nachzuvollziehen
und m. E. nicht erklärungsbedürftig. Dafür sind die Wissensformanten-
Typen selbst exemplarisch zu erläutern (detailliert dazu vgl. Pawłowski
2013). Erstens: Der anthropologische Wissensformanten-Typ resultiert
aus der ganzen Beschaffenheit des Menschen, d. h. aus dem Körperbau,
der räumlichen Körperorientierung, den Körperfunktionen, aus allen
menschlichen Sinnen, des genetischen Codes usw. Zur anthropologischen
Wissensformante kann z. B. die menschliche Veranlagung werden, das
Designat »Sonnen-Licht«, sei es visuell als Lichtwellen, sei es mithilfe
von Wärme-Kälterezeptoren in der Haut, wahrzunehmen. Zweitens fällt
unter den kulturellen Wissensformanten-Typ das Wissen, darunter das sog.
„Wissen über die Welt“, das Wissen über sich selbst, unter anderem das
Wissen über die Idiokultur (Metawissen), nicht zuletzt das lektale (regio-
lektale, dialektale, technolektale) Wissen etc. und die Kenntnis, die er on-
togenetisch, durch die Interaktion mit sich selbst, der unmittelbaren / mit-
telbaren Wirklichkeit und anderen Menschen erworben hat – hier jedoch
nicht direkt, sondern dank der polylektalen Funktion, oder anders gesagt,
polylektalen Geltung von idiolektalen Bedeutungen (zur polylektalen
Valenz vgl. Bonacchi u. a. 2011b: 34-36)7. Dieser mentale Bereich bedarf
einer zusätzlichen Erläuterung. Die Feststellung Wissensformanten prä-
gen das Wissen mag vielleicht mit dem Prädikat „tautologisch“ leicht be-
stritten werden. Dem ist nicht so. Kulturelle Eigenschaften des Menschen,
also konkrete Wissenselemente können zugleich zu Wissensformanten
werden und damit die Bedeutungselemente »das Licht« beeinflussen, und
mehr noch, buchstäblich ausmachen. Mit anderen Worten: Erworbene
Wissenselemente kulturellen Formanten-Typs sind das Potenzial schlecht-
7
  „Im Laufe ihrer ontogenetischen Entwicklung entwickeln Menschen ihr sprachli-
ches und kulturelles Wissen synlogisch und synergisch, d. h. in Kooperation mit ande-
ren Menschen, mit denen sie einen bestimmten Lebenshorizont, Ziele und Motivationen
teilen. Jeder Mensch verfügt also über einen Idiolekt und eine Idiokultur, aber beide
Eigenschaftssysteme müssen wiederum auf einem polylektalen und polykulturellen
Geltungsbereich (Valenz) basieren, damit Kommunikation erfolgen kann. Ein wirklicher
Polylekt und eine wirkliche Polykultur resultieren aus der Schnittmenge der Idiolekte und
Idiokulturen der Mitglieder einer gegebenen Gruppe in dem Sinne, dass sie auf sprachli-
chen und kulturellen Wissensbeständen basieren, die eine „polylektale bzw. polykulturelle
Valenz“ besitzen, und in diesem Sinne sind sie „geteilt“.“ (s. Bonacchi 2011b: 36).
258 Grzegorz Pawłowski

hin, als Bedeutungsformanten in den Ausdehnungsbereich der idiolekta-


len Bedeutung »das Licht« aufgenommen zu werden. Die Kritik kann da-
gegen sehr wohl Argumente vorbringen, in etwa: Die Quelle und / oder
das Potenzial der sog. „kulturellen“ oder „referenziellen Bedeutungen“
seien die „kulturellen Objekte“, z. B. das schriftstellerische Erbe Johann
Wolfgang von Goethe oder das „Gesamtkunstwerk“ von Igor Mitoraj8.
Unabhängig davon, dass es nicht angemessen ist, die Semantik mit sol-
chen Termini wie „kulturelle“, „referenzielle“, emotive“ oder „soziale
Bedeutung“ zu überhäufen9, haben wir es hier in Wirklichkeit mit ontisch

8
  Einer kritischen Untersuchung bedürfte übrigens in diesem Zusammenhang die
Äußerung „kultura języka polskiego” [dt. Kultur der polnischen Sprache], welche sich im
öffentlichen Leben in Polen und an manchen polnischen Universitäten formell durchge-
setzt hat. Interessant wäre zum Beispiel zu erforschen, auf welche Designate mit dieser
Äußerung und möglichen Fragen, die sich daraus logisch ableiten lassen wie „czy język
polski ma kulturę?“ oder „jaką kulturę ma język polski?“ [dt. hat die polnische Sprache
Kultur? / welche Kultur hat die polnische Sprache?], verwiesen wird.
9
  Es besteht kein logisches und terminologisch motiviertes Bedürfnis, zwischen „emo-
tiven“, „expressiven“, „kommunikativen“, „situativen“, „sozialen“, „deskriptiven“,
„gram­matischen“, „referenziellen“, „denotativen“, „konnotativen“ etc. Bedeutungen zu
unterscheiden (anzutreffen u.a. Löbner 2004: u.a. 23 f., Vater 2002: 131, Strube 2003:
u.a. 52 f., 59 f.). Diese Termini lassen suggerieren, dass ihre Autoren auf unterschiedli-
che Bedeutungs-Strukturen verweisen, d. h. auf Strukturen, die ontisch in verschiedenen
Wirklichkeitsbereichen konstituiert sind. An einem Satz wie diesem „Der Hund hat mei-
nen blauen Rock zerrissen“ sucht zum Beispiel Löbner (2004: 21) zu dokumentieren,
dass er in diverse, darunter in „deskriptive“, „soziale“ und „expressive Bedeutung“ zerlegt
werden kann. Soll etwa damit gesagt werden, dass diese Satzkonstruktion, / -konstitution
an unterschiedlichen Bedeutungen, will heißen: an unterschiedlichen Wirklichkeiten teil-
hat? Einmal an der sozialen, einmal an der deskriptiven oder expressiven? Wenn ja, dann
was verbindet sie zu einer quasi „gemeinsamen Bedeutung“, die mit diesem Satz ja zum
Ausdruck gebracht werde? Der Gebrauch solcher Termini ist m. E. sofern legitim, wenn
damit auf die, bereits erläuterten, bestimmten mentalen Bereiche, d. h. auf die konkreten
Wissensformanten-Typen verwiesen wird, durch die idiolektale Bedeutungen geprägt wer-
den. Kurzem: es gibt lediglich die sozial, emotiv, referenziell, kommunikativ etc. geform-
ten Wissenselemente, die in den Ausdehnungsbereich einer idiolektalen Bedeutung erst als
konkrete Bedeutungselemente aufgenommen werden können (mehr dazu vgl. Pawłowski
2013). Mit einem terminologischen Problem haben wir übrigens auch mit dem Ausdruck
„literarische Bedeutung“ zu tun, welchen Simone Winko, Klaus Weimar referierend, in
Frage stellt: „Das grundlegende Problem, ob es so etwas wie eine literarische Bedeutung
gebe, behandelt Klaus Weimar. Unterscheidet sich die Art des Bedeutens in literarischen
Texten von der in nicht-literarischen Texten? Weimar beantwortet die Frage mit einem
klaren Nein: Weder gibt es eine Art des Bedeutens noch ein besonderes Bedeutetes, die
bzw. das spezifisch für Literatur ist. Wenn wir dennoch Literatur anders als etwa Sachtexte
lesen, dann hängt das mit einer erlernten Einstellung den Texten gegenüber zusammen.
Rein textuelle Merkmale einer besonderen Zeichenverwendung, die diese Einstellung und
eine entsprechende Textverarbeitung vielleicht fordern könnten, sind nicht auszumachen“.
(s. Winko 2003: 226).
Plenarvorträge 259

unterschiedlich fundierten Objektmengen zu tun, die sich unmittelbar nicht


beeinflussen. Kurzem: Das Objekt »Skulptur« von Mitoraj, selbst wenn es
sehr begehrenswert sein mag, kann kein wirklicher Bestandteil der idiolek-
talen Bedeutung werden, die zum Beispiel Herr Müller in seiner mentalen
Sphäre ontogenetisch konstruiert und ggf. mit der mentalen Ausdrucksform
„Skulptur“ korreliert hat. Detaillierte Gegenargumente und kulturolo-
gisch angelegte Lösungen liefern hierfür vor allem Franciszek Grucza
(2012) und Silvia Bonacchi (2009, 2010). Drittens: Mit dem axiologi-
schen Wissensformanten-Typ hängen mancherlei Fragen zusammen. Zu
erfragen ist zum Beispiel, in welchem Maße der axiologische Formanten-
Typ erworben und in welchem er angeboren ist. Welche konkreten (äu-
ßeren) Determinanten beeinflussen das menschliche Wertesystem und wie
lassen sie das axiologische Wissen, und genauer gesagt, die axiologisch
geformten Wissenselemente ändern? Was ist das für ein Wissensbereich,
auf den mit dem Ausdruck „Gewissen“ verwiesen wird? Diese Fragen
gehen über den Gegenstand der linguistischen Semantik hinaus. Darüber
muss nach Bedarf die anthropozentrisch angelegte Kulturologie ent-
scheiden (vgl. Bonacchi 2010). Semantisch relevant bleibt jedoch die
Tatsache, dass es in der mentalen Sphäre einen Wissensbereich gibt, nach
dem Wissenselemente, seien es die des anthropologisch, seien es die des
kulturell geformten Typs, axiologisch gewertet werden (zur kognitiven
Axiologie vgl. Krzeszowski 1997). Die bereits angesprochene Tatsache,
dass die Bedeutungs- und Ausdruckskonstitution epistemisch geprägt wird,
wirft auf die linguistische Semantik ein neues Licht, „befreit“ sie jedoch
nicht davon, nach der wirklichen (mentalen) Bedeutungs- und Ausdrucks-
Struktur zu forschen, die keineswegs epistemisch, sondern neurobiolo-
gisch geformt ist. Die epistemische Veranlagung macht es also zuallererst
überhaupt möglich, dass Bedeutungs- und Ausdruckskonstitution erfolgen
kann. Mit anderen Worten: Die menschliche Erkenntnis stellt die alle ers-
te Voraussetzung der Bedeutungs- und Ausdruckskonstitution dar. Dies
ist ein wesentlicher Grund dafür, um festzustellen, dass die genannten
Wissensformanten-Typen die epistemischen sind und ganz gezielt Phasen
der Bedeutungs- und Ausdruckskonstitution regulieren, d. h. diesmal ganz
konkrete Wissensformanten, Wissenselemente – diese können zu konkreten
Bedeutungs- und Ausdruckformanten werden, und schließlich Bedeutungs-
und Ausdruckselemente.
260 Grzegorz Pawłowski

3. Idiozentrische oder polyzentrische Forschungsperspektive?


Zum Schluss sei noch auf die letzte Frage eingegangen, mithilfe derer
zwei grundlegende Forschungs-Blickwinkel in der linguistischen Semantik
zutage gefördert werden. Dabei gilt es vor allem die wissenschaftliche
Reflexion des ana-, dia-, und prognostischen Typs anthroposemantisch
zur Sprache zu bringen. Über die Proportion „idiozentrisch“ und / oder
„polyzentrisch“ zu entscheiden, heißt vor allem darüber entscheiden zu
müssen, 1) mit welchen methodologischen Mitteln die zu analysierten
Objekte adäquat untersucht werden (können). 2) Welche Objekte welchen
Wirklichkeitsbereichen ontisch zuzuordnen sind und was kann man über
die (Un)Möglichkeiten ihrer gegenseitigen (mittelbaren oder unmittel-
baren) Einflussnahme sagen? 3) Was lässt eine repräsentative Erhebung,
zum Beispiel die zur polylektalen Bedeutung des Ausdrucks „das Licht“
über die wirkliche idiolektale Bedeutung »das Licht« aussagen. 4) Welche
induktiven Schlussfolgerungen sind an einer idiolektalen Bedeutung »das
Licht« möglich? 5) Wie lassen sich diese Schlussfolgerungen auf die poly-
lektale Bedeutung übertragen? 6) Wie verhält sich die an einem Textkorpus
erhobene und deduktiv ausgewertete polylektale Bedeutung des Ausdrucks
„das Licht“ zur idiolektalen Bedeutung »das Licht«? Und schließlich 7)
welche Perspektive – sie mag sehr wohl als relativ / subjektiv oder nor-
mativ / objektiv bezeichnet werden – erlaubt es, eine wirklichkeits- und
verstehensadäquate semantische Beschreibung des Ausdrucks „das Licht“
zu erzielen?
Diese Probleme will ich abschließend nun ganz kurz auf den Punkt brin-
gen, um zu dokumentieren, dass sich die Semantik alles in allem – um
es zum Schluss humoristisch auszudrücken – nur mit ganz beschränkten
Gesamtmengen von wirklichen Gegenständen „auseinandersetzen“ muss.
Die Tatsache, dass es lediglich zwei ontisch fundierte Gesamtmengen von
Objekten gibt, die eigentlicher Gegenstand der linguistischen Semantik
sind, nämlich den konkreten Menschen und die konkreten (sprachlichen)
Hervorbringungen veranlasst den Semantiker meiner Meinung nach vor
allem zur folgenden Schlussfolgerung: Bei der Frage nach der idiozentri-
schen oder polyzentrischen Forschungsperspektive im Rahmen der lingu-
istischen Semantik entscheidet letztendlich das Erkenntnisziel, das man zu
erreichen sucht.
Plenarvorträge 261

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Magdalena Pieklarz-Thien (Olsztyn)

Wie viel gesprochene Sprache braucht


der Mensch? Reflexionen zur Vermittlung
von Gesprochensprachlichkeit
in der philologischen Sprachausbildung

Zum Auftakt
Einige Zitate aus Interviews mit polnischen Germanistikstudierenden
sollen verdeutlichen, vor welchen Herausforderungen die philologische
Sprachausbildung stehen kann. Die befragten angehenden Germanisten/-in­
nen haben sich zu ihren Spracherfahrungen während eines Austauschaufent­
haltes in Deutschland wie folgt geäußert:
S1 „Die meisten Schwierigkeiten hatte ich in den alltäglichen Gesprächen. An
der Universität, in den Seminaren, in denen wir Texte analysiert haben, deren
Inhalte mir schon aus den Kursen bei uns bekannt waren, da hatte ich gar keine
Probleme“1

S2 „Manchmal hatte ich Probleme, Bekannte im Wohnheim, Menschen in den


Geschäften, einfach so auf der Straße, auf Partys zu verstehen. Vor allem, wenn
das kurze Sätze waren, nicht vollständig formuliert und zu Themen/Sachen,
die mir ganz neu waren. In den Kursen an der Uni hatte ich keine sprachlichen

1
  Im Original: S1 „Największe trudności miałam w takich zwykłych rozmowach. Bez
problemu dawałam sobie radę na zajęciach na uczelni, kiedy analizowaliśmy teksty, od-
nosiliśmy sie do wiedzy, którą nabyłam na zajęciach w Polsce.”
Plenarvorträge 265

Probleme. Ich hatte manchmal sogar den Eindruck, dass ich ihnen besser folgen
kann als meine deutschen (!) Kommilitonen“2

S3 „Es ist schon passiert, dass Deutsche sofort gewusst haben, dass ich aus Polen
komme. Zwei Mal sind sie so von alleine darauf gekommen, dass ich Germanistik
studiere. Ich spreche angeblich wie eine Germanistin aus Polen. Sehr korrekt,
korrekter als die Deutschen“3

S4 „Während dieses Aufenthaltes ist mir klar geworden, dass ich besser schreiben
und lesen als sprechen und hören kann. Am schwierigsten ist es, Kinder und
Jugendliche zu verstehen. Es gibt so viele Ausdrücke und Strukturen, die ich nicht
kenne und die man im Wörterbuch und in der Grammatik nicht findet“4.

Diese Belege illustrieren spezifische und ziemlich heterogene studen-


tische Schwierigkeiten im mündlichen Bereich, die sich auf eine fehlende
bzw. ungenügende Auseinandersetzung mit der Spezifik der mündlichen
nähesprachlichen Kommunikation zurückführen lassen. Die befragten
Germanisten/-innen, wie auch die Mehrzahl der Germanistikstudierenden
in Polen, erwerben Deutsch hauptsächlich im institutionellen Lehr- und
Lernkontext5, in dem meistens keine Förderung der Fähigkeiten zur
Analyse und Gestaltung der Alltagskommunikation mit ihren sprechsprach-

2
  Im Original: S2 „Czasem trudno bylo mi zrozumieć niektórych znajomych w akade-
miku, ludzi sklepach, po prostu na ulicy, na różnych imprezach, szczególnie jeśli były
to krótkie wypowiedzi, nie zawsze wyraźnie sformułowane, odnoszące się do spraw,
o których wcześniej nie słyszałem. Na zajęciach nie miałem żadnych problemów, nawet
wydawało mi się, że uczestnictwo w nich łatwiej mi przychodzi niż innym niemieckim
(!) studentom.”
3
  Im Original: S3 „Kilka razy zdarzyło mi się, ze Niemcy sami odgadywali, ze pochodzę
z Polski. Dwa razy nawet byla taka sytuacja, ze moj rozmówca domyślil się, że studiuję
germanistykę. Rzekomo mówię, jak germanistka z Polski. Tak bardzo poprawnie, popraw-
niej niż sami Niemcy.”
4
  Im Original: S4 „Podczas tego pobytu zdałam sobie sprawę, ze lepiej piszę i czytam, niz
mówię i słucham. Najtrudniej jest zrozumieć dzieci i młodzież. Jest tyle słów, wyrażeń,
struktur, których zupełnie nie znam i które ciężko znaleźć w słowniku czy gramatyce.”
5
  Ein kleiner Prozentsatz der Studierenden spricht Deutsch als Muttersprache bzw. als Erst-
oder Zweitsprache. Dies ist aber insgesamt eher eine Randerscheinung der Germanistik
in Polen. Für die Mehrzahl der Germanistikstudierenden ist Deutsch eine Fremdsprache
und diese wird größtenteils im Germanistikstudium erworben. Die Sprachkompetenz
der Studienanfänger variiert zwischen den Referenzniveaus A1 und B1, die den
‚Kannbeschreibungen‘ des „Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens“ entsprechen
und ist als eine niedrige Sprachbeherrschung und -kompetenz zu verstehen. Die darauf fol-
genden Stufen bis zur höchsten Sprachbeherrschung C2 durchlaufen Studierende somit im
Germanistikstudium. Sowohl schriftliche als auch mündliche Kommunikationsfähigkeiten
werden also im universitären Kontext weiterentwickelt (vgl. Pieklarz 2009).
266 Magdalena Pieklarz-Thien

lichen Registern stattfindet6. Das Nachdenken über gesprochene Sprache


und ihre Eigenheiten findet eher spontan statt – in Konfrontation mit
sprachlichen Schwierigkeiten oder kommunikativen Problemen. Der feh-
lende linguistische Hintergrund in Form einer soliden Auseinandersetzung
mit Erkenntnissen der neueren an der kommunikativen praxisorien-
tierten Sprachforschung hat dabei zur Folge, dass sich Unsicherheit und
Verwirrung einstellen, wenn man für die beobachteten von der system-
grammatischen Norm abweichenden Phänomene keine Erklärung findet,
was auch Durell (2006: 119) konstatiert:
Für diejenigen, die die deutsche Sprache im Ausland lehren, ist die Diskrepanz
zwischen den standardsprachlichen Normen mit ihrem Anspruch auf
Verbindlichkeit und Alleingültigkeit einerseits und den Gebrauchsnormen des
Alltags andererseits eine ständige Quelle des Ärgers und der Unsicherheit.

Im Folgenden möchte ich bei diesen Erfahrungen aus der Praxis anset-
zen und Überlegungen dazu anstellen, ob und in welcher Weise Spezifik
gesprochener Sprache im philologischen Fremdsprachenunterricht
(FSU) vermittelt und veranschaulicht werden kann. Ausgehend von ei-
nigen Gedanken zur philologischen Sprachkompetenz (1) und zur
Sprachauffassung in der philologischen Sprachausbildung (2) diskutiere ich
zuerst den Stellenwert von gesprochener Sprache im DaF-Unterricht (3)
und dann die Möglichkeiten der Vermittlung von Gesprochensprachlichkeit
im Germanistikstudium (4). Im Anschluss daran formuliere ich einige me-
thodische Postulate zur Förderung des generellen Blickwinkels auf Sprache
und des Verständnisses davon, was Sprache, Grammatik und Bedeutung
sind (5). Diese Ausführungen können als Beitrag zur Diskussion über die
philologische Sprachkompetenz verstanden werden.

1. ‚Philologische Sprachkompetenz‘ (?) – Versuch einer


Begriffsbestimmung und Begründung des Konzepts
Ortner / Sitta (2003: 5) stellen eine fundamentale und allgemein-
gültige These auf, die den prinzipiellen Zusammenhang von Interesse,

6
  Im Philologiestudium steht die Behandlung von schriftlichen, besonders literarischen
und journalistischen Texten traditionell stark im Vordergrund. Die Fähigkeiten zur Analyse
und produktiver Gestaltung mündlicher Kommunikation sind bei Studierenden der auslän-
dischen Philologien jedoch keineswegs selbstverständlich gegeben und bedürfen ebenso
der Anleitung und Förderung durch die sprachpraktischen sowie sprachwissenschaftlichen
Veranstaltungen.
Plenarvorträge 267

Gegenstandskonstitution und Methodologie in der Wissenschaft er-


fasst und auch als eine Begründung für die Bemühungen, philologische
Sprachkompetenz und philologische Sprachausbildung zu definieren, ver-
standen werden kann:
Es besteht innerhalb einer jeden wissenschaftlichen Disziplin ein nicht aufzu­
lösender Zusammenhang von Erkenntnis-/Verwendungsinteresse, Gegenstands­
konstitution und Methodologie. Wo das Erkenntnis-/Ver­wendungsinteresse auf
bestimmte Bedürfnisse der praktischen Lebenswelt bezogen ist, eignen sich die
wissenschaftlichen Erkenntnisse für die Befriedigung dieser Bedürfnisse; wo
das nicht der Fall ist, ist die Befriedigung dieser Bedürfnisse jedenfalls nicht von
vorherein gesichert.

Die praktische Lebenswelt ist in diesem Fall die philologische Sprach­


ausbildung. Ihre Bedürfnisse wie auch Perspektiven ihrer Befriedigung
im Hinblick auf die Vermittlung von Sprache in kommunikativer Praxis7
sowie auch auf die Förderung einer differenzierten und komplexen
Konzeptualisierung von Sprache konstituieren den Gegenstand und das
Erkenntnis-/Verwendungsinteresse der vorliegenden Überlegungen. Mit
Portmann-Tselikas (2005: 149) wird der Standpunkt vertreten, dass „die
neuere Sprachforschung den wohl differenziertesten und informativsten
Beitrag bildet, auf den das Denken über den Sprachunterricht heute zu-
rückgreifen kann und in Bezug auf den begründbare Neupositionierungen
möglich sind“. Daher scheint es empfehlenswert zu sein, auf diejeni-
gen Erkenntnisse der germanistischen sprachwirklichkeitsbezogenen
Linguistik zurückzugreifen, die die Theorie und Praxis des philologischen
Fremdsprachenunterrichts fundieren, bereichern und optimieren können.

7
  Der Ansatz der kommunikativen Praxis stammt aus der angloamerikanischen
Forschungsliteratur der anthropologischen Linguistik (z. B. Hanks 1996, Duranti 1997,
Foley 1997). Den Ausgangspunkt dieses Ansatzes bildet die Erkenntnis, dass sprachli-
che Formen und Funktionen sich in der Kommunikation herausbilden, sedimentieren und
transformieren (Schütz/Luckmann 1979 zit. n. Günthner 2007: 74, auch in 2003: 191)
und folglich dessen in ihrer tatsächlichen, kontextbezogenen und lebensweltlich veran-
kerten Verwendung erforscht werden müssen. Damit stellt man die althergebrachten lin-
guistischen Dichotomien, Kategorien und Konstrukte wie langue-parole, Sprachsystem-
Sprachgebrauch, Kompetenz-Performanz, idealer Sprecher-Hörer, Wort-Satz-Text
usw., sowie auch die traditionellen Vorgehen linguistischer Forschung in Frage, deren
Analysen auf erfundenen, schriftsprachlich-orientierten und formbezogen-systemlinguis-
tischen Beispielsätzen gründen. Die Analysegrundlage in einer an der kommunikativen
Praxis orientierten Linguistik bilden dagegen Gesprächs- bzw. Textdaten authentischer
Interaktionen. Der Ansatz der kommunikativen Praxis korrespondiert mit dem Konzept
der kommunikativen Praktiken (Fiehler 2000, Fiehler at al. 2004) und dem Konzept der
kommunikativen Gattungen (Günthner 1995, 2000, 2003, 2007).
268 Magdalena Pieklarz-Thien

Diese Erkenntnisse sollen jedoch nicht unbesehen als Lerninhalte oder gar
Lernziele übernommen werden, sondern didaktisch im Hinblick auf die
Lerngruppe, die Lernbedingungen, Lernziele und die Lernprogression aus-
gewählt und begründet werden (vgl. Neuland 2012).
Was ist mit der philologischen Sprachausbildung gemeint? Wie ist die-
ses Konzept im Gefüge aller Vermittlungsformen von Sprache zu verste-
hen? Es handelt sich primär um einen konkreten Wirklichkeitsausschnitt im
Rahmen der institutionellen Vermittlung des Deutschen als Fremdsprache
(DaF) im Ausland. Um es noch genauer auszudrücken – im Mittelpunkt
des Forschungsinteresses steht der universitäre Fremdsprachenunterricht
im Ausgangsland der Lernenden. Im Rahmen der universitären Fremd­
sprachenvermittlung wird aber weiter zwischen der studienbegleitenden
(z. B. Vermittlung des Deutschen als Fremdsprache im Medizin- oder
Jurastudium) und philologischen (z. B. Vermittlung des Deutschen als
Fremdsprache im Germanistikstudium oder in den anderen germanistischen
Studienfächern wie Angewandte Linguistik, Fachsprachen, Translatorik)
Sprachausbildung unterschieden (Abb.), auch wenn das Attribut ‚philolo-
gisch‘ in diesem Kontext kontrovers ist und häufig hinterfragt wird8. Um
die Kontroversen verstehen und erläutern zu können, müsste man auf das
schwierige Verhältnis zwischen der Germanistik und der Philologie einge-
hen sowie auch die Struktur der universitären sprachbezogenen Landschaft
in Polen skizzieren und ihre Geschichte und Inhaltsverleihungen reflektie-
ren.
Um nur es ganz kurz zu fassen: Es ist Grucza (2004: 42) zuzustimmen,
wenn er meint, dass die Germanistik nicht innerhalb, sondern neben der
klassischen Philologie entstand und lediglich vor dem methodologischen
Hintergrund der Philologie konstituiert wurde und dementsprechend
nicht als Philologie oder Neuphilologie betrachtet werden sollte. Grucza
(2010: 1765) sieht in der Re-Philologisierung eine interne Bedrohung für
die polnische Germanistik, räumt aber auch ein, dass der Verzicht auf die
8
  Manch einem mag die Formulierung ‚philologische Sprachausbildung‘ im Titel des
vorliegenden Beitrags ein wenig problematisch anmuten. Denn der Ausdruck ‚philo-
logisch‘ in Bezug auf die germanistischen Gegenstände ist nicht selbstverständlich. Er
wird eher heftig diskutiert und polarisiert auch stark (s. Grucza 2000, 2004, 2010). Wie
es den Ausführungen von Grucza (2004) zu entnehmen ist, gibt es drei Rezeptionen
und Verständnisse des Verhältnisses zwischen der Germanistik und der Philologie:
1. Germanistik als ein Teilbereich der Philologie, 2. Germanistik als ein Nachfolger
der Philologie (als Neuphilologie), 3. Germanistik als eine selbständige akademische
Disziplin. Im Folgenden gehe ich nur kurz auf diesen metagermanistischen Hintergrund
ein, um dann im weiteren Verlauf der Überlegungen das Verständnis des Konzepts der
philologischen Kompetenz erläutern zu können.
Plenarvorträge 269

Verwendung der Ausdrücke ‚Philologie‘ bzw. ‚philologisch‘ bestimmte no-


minalistische Probleme mit sich bringt und dass man keine andere zufrie-
denstellende Bezeichnung parat hat (Grucza 2004: 43). Man findet z. B.
keinen Gesamtbegriff für Fächer wie Germanistik, Anglistik, Romanistik
etc. außer ‚Philologien‘. Auch für die sprachliche Kompetenz, die in den
germanistischen Studiengängen erworben wird, und sich grundsätzlich von
der sprachlichen Kompetenz unterscheidet, die in anderen Kontexten ver-
mittelt und erworben wird, lässt sich nur schwer eine passende Bezeichnung
finden.
Das Attribut ‚philologisch‘ in der hier verwendeten Bezeichnung ‚phi-
lologische Sprachkompetenz‘ bezieht sich also lediglich auf den etymolo-
gischen Ursprung des Wortes ‚Philologie‘, das sich auf die Bestandteile ‚fi-
los‘ (‚Freund‘, bzw. als Adjektiv ‚liebend‘, ‚zugetan‘) und ‚logos‘ (‚Wort‘)
zusammenführen lässt und als ‚Liebe zur Sprache‘ ausgelegt werden
kann. Damit wird die universitäre, germanistische Sprachausbildung und
die dort erworbene Sprachkompetenz von der Sprachausbildung und der
Sprachkompetenz, die in anderen Kontexten praktiziert und erworben wird,
unterschieden.

Vermittlung des Deutschen als Fremdsprache (DaF)

DaF im Inland DaF im Ausland

DaF im außeruniversitären Bereich


(im schulischen und anderen institutionellen Kontext)

DaF im universitären Bereich

studienbegleitende DaF-Vermittlung
(z. B. Vermittlung von DaF im Medizin- oder Jurastudium)

philologische DaF-Vermittlung
(DaF im Germanistikstudium und in den anderen germanistischen
Studienfächern wie Angewandte Linguistik, Fachsprachen, Translatorik etc.)

Abb. Philologische Sprachausbildung im Kontext anderer Vermittlungsformen von DaF


270 Magdalena Pieklarz-Thien

Man könnte jetzt die Frage nach der Relevanz dieser Unterscheidung
stellen. Müssen wir die Sprachkompetenz, die im Germanistikstudium
oder in einem germanistischen Studienfach erworben wird, speziell defi-
nieren? Müssen wir den Fremdsprachenunterricht, der im Rahmen eines
Germanistikstudiums stattfindet, von anderen Vermittlungsformen differen-
zieren? Ist die sprachliche Kompetenz eines Germanisten mit der sprach-
lichen Kompetenz, die z. B. im universitären studienbegleitenden DaF-
Unterricht oder in einer Sprachschule erworben wird, gleichzusetzen?
Der philologischen Sprachausbildung wird sowohl in der wissen-
schaftlichen Forschungsliteratur als auch in didaktischen Materialien und
bildungspolitischen Richtlinien kaum Aufmerksamkeit gewidmet. Im
„Handbuch Fremdsprachenunterricht“ (Bausch / Christ / Krumm 2003)
findet man die folgende Klassifikation von stufenbezogenen Konzepten
von Fremdsprachenunterricht:
–– Fremdsprachenunterricht im Vorschul- und Primarbereich
–– Fremdsprachenunterricht im Sekundarbereich I
–– Fremdsprachenunterricht im Sekundarbereich II
–– Fremdsprachenunterricht an Hochschulen
–– Fremdsprachenunterricht in der Erwachsenenbildung
Die philologische Sprachausbildung wird dabei nicht als ein autonomes
Konzept herausgestellt, sondern lediglich als ein Teil der universitären
Sprachausbildung betrachtet. Auch wenn man allgemein fremdsprachen-
didaktische Forschungsliteratur sichtet, muss man feststellen, dass die
höheren Sprachbeherrschungsstufen (C1 und C2) wesentlich weniger er-
forscht und didaktisiert werden, worauf auch Miodunka (2007: 17) in der
„Krakauer Diskussion über die philologische Sprachausbildung9“ hin-
weist:
Dyskutanci zwrócili uwagę na jeszcze jeden brak typowy dla kształcenia języko­
wego na studiach filologicznych. Brak nowych metod kształcenia językowego,
dostosowanych do wieku i poziomu intelektualnego studentów, dostosowa-
nych do ich wysokiego poziomu znajomości języka. Z pewną przesadą można
bowiem powiedzieć, że cały postęp w metodologii nauczania języków obcych
nastawiony jest na nauczanie języków na poziomach niższych – na poziomie

9
  Im Original: „Krakowska dyskusja o kształceniu językowym na studiach filologicz-
nych”. Die von Miodunka (2007) herausgegebene Podiumsdiskussion (Teilnehmer:
Dębski, Górska, Tabakowska, Wilczyńska, Pędich, Niżegorodcew u.a.) über philologische
Sprachausbildung in Polen ist die einzige neuere Publikation zu diesem Thema. Da die im
Folgenden zitierten Textstellen Ausschnitte einer verschriftlichten Diskussion sind, möge
ihre Gesprochensprachlichkeit (Wiederholungen, Ellipsen, gesprochensprachliche Lexik
etc.) nicht verwundern.
Plenarvorträge 271

dla początkujących (A1 i A2) i średnio zaawansowanych studentów (B1 i B2).


Stanowczo za mało udwagi poświęca się metodom nauczania studentów zaawan-
sowanych (C1 i C2), zwłaszcza takich, dla których język ma być narzędziem filo-
logicznej działalności językowej.

[In der deutschen Übersetzung: Diskussionsteilnehmer haben noch auf ein


Desiderat hingewiesen, dass typisch für die philologische Sprachausbildung
ist. Es fehlt an neuen Methoden, die auf das Alter, das intellektuelle Niveau
sowie das hohe Sprachbeherrschungsniveau der Studierenden zugeschnitten
wären. Ganz pauschal lässt sich nämlich sagen, dass sich der ganze Fortschritt
in der Methodik des Lehrens und Lernens fremder Sprachen auf die niedrigeren
Sprachbeherrschungsstufen – das Anfängerniveau (A1 und A2) und das Mittel­
stufenniveau (B1 und B2) konzentriert. Viel zu wenig Aufmerksamkeit schenkt
man den Methoden des universitären Fremdsprachenunterrichts auf dem
fortgesch­rittenen Niveau (C1 und C2), besonders solchen, die im philologischen
Sprachunterricht eingesetzt werden könnten, in dem eine Sprache erworben wird,
die später in philologisch geprägten Kontexten verwendet werden soll].

Auch Joachimsthaler (2001: 80) in seinen Überlegungen zum sprach-


praktischen Unterricht in der polnischen Germanistik kommt zu einer ähn-
lichen Einsicht:
Ein merkwürdiger Widerspruch scheint zwischen Praxis und Theorie der polni­
schen Germanistik zu klaffen: Die publizierte wissenschaftliche Beschäftigung
mit der sprachdidaktischen Seite der Hochschuldidaktik ist – zumal angesichts
der sprachlich herausragenden Ergebnisse dieser Hochschuldidaktik – erstaunlich
gering und konzentriert sich dann bezeichnenderweise meist auf eigentlich
schuldi­daktische Teilübungen, die in der universitären Germanistik selbst nur
noch gelegentlich durchgeführt werden. (...) Wann immer sich nämlich die
eigentlichen Träger des sprachpraktischen Unterrichts in der polnischen Germa­
nistik, die Assistenten und Doktoranden, zu didaktischen Fragen äußern, publi­
zieren sie nicht über hochschuldidaktische Probleme, sondern über Probleme
des Fremdsprachenunterrichts vorwiegend für Anfänger und Schüler, fast so,
als würden sie ihren Studierenden kein neuphilologisches Studium, sondern
Anfängerkurse auf Grundschulniveau zu vermitteln haben.

Diese Situation führt er darauf zurück, dass die eigentlichen Träger des
sprachdidaktischen Unterrichts eine nur auf schulische Kontexte abzie-
lende Fremdsprachendidaktik und keine Ausbildung in germanistikrele-
vanten hochschuldidaktischen Fragen erfahren (ebd. 81)10. Neuland (2012)

  Das hier beschriebene Desiderat ist übrigens keinesfalls typisch polnisch. Auch für den
10

universitären Fremdsprachenunterricht in Deutschland beklagt man die fehlende berufs-


spezifische Ausbildung der universitären Fremdsprachenlehrer sowie auch die fehlenden
Möglichkeiten der sprachlichen und didaktischen Weiterbildung (vgl. Vogel 2003: 216).
272 Magdalena Pieklarz-Thien

weist in diesem Kontext noch auf die praxisferne Theorie und theorieferne
Praxis hin, die aus der Abspaltung in den Zuständigkeiten im Lehrkörper
resultieren: Lektoren übernehmen die Aufgaben der DaF-Didaktik und
die Forschenden die sprachwissenschaftliche Bildung, ohne dass es einen
Dialog und Austausch zwischen den beiden Gruppen gibt.
Auch wenn sich die bestehende fremdsprachendidaktische Forschungs­
literatur die Frage nach der Sprachausbildung im philologischen Studium
und ihrer konzeptionellen Ausrichtung selten aufgreift, unterliegt es kei-
nem Zweifel, dass sich die philologische Sprachausbildung aufgrund ih-
rer Intensität, Umgebung, Themenwahl und Zielsetzung stark von anderen
Lern- und Vermittlungsformen (wie DaF in anderen Kontexten: studienbe-
gleitender FSU, schulischer FSU etc.) unterscheidet. In Bezug auf die vier
Charakteristika (Intensität, Umgebung, Themenwahl und Zielsetzung) lässt
sich Folgendes festhalten:
1. Intensität;
Der sprachpraktische Unterrichtsblock im germanistischen Curriculum
in Polen ist sehr umfangreich und variiert zwischen 16 und 10 Unterrichts­
stunden pro Woche11. Damit liefert er einen unterrichtlichen Zeitrahmen,
der in diesem Umfang in anderen Lehr- und Lernkontexten kaum zu treffen
ist.
2. Simulierung der muttersprachlichen Umgebung durch die jeweilige
Fremdsprache als durchgängige Unterrichtssprache;
Durchgängige und einzige Unterrichtssprache in der polnischen Germa­
nistik wie auch in den anderen Fremdsprachenphilologien in Polen ist die
jeweilige Fremdsprache. Damit wird eine muttersprachliche Umgebung
simuliert, die sich zum Teil als ungesteuerter Fremdsprachenerwerb aus-
drückt. DaF wird damit unter Immersionsbedingungen vermittelt, was im
internationalen Vergleich ein überdurchschnittliches Sprachniveau sichert12.

Vogels (ebd. 218) übergreifendes Postulat gilt es also auch im polnischen Kontext zu er-
heben: Auf jeden Fall muss die Fremdsprachenlehre an den Hochschulen in Zukunft auf
mehr Anerkennung in der Öffentlichkeit drängen und dabei in stärkerem Maße verdeutli-
chen, dass die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Erwerb und der Vermittlung
fremder Sprachen sowie deren gesellschaftlicher Stellenwert den Vergleich mit anderen
Wissenschaften nicht zu scheuen braucht“.
11
  Diese Zahlen beziehen sich auf das erste und zweite Semester des BA-studiums. In
den höheren Semestern wird die Zahl der sprachpraktischen Kurse zugunsten der Kurse
der anderen Teilbereiche des Faches (wie Literaturwissenschaft, Linguistik, Landes- und
Kulturkunde, Translatorik etc.) abgesenkt.
12
  In vielen anderen Auslandsgermanistiken (z. B. in Spanien, Frankreich, England) ist die
jeweilige Muttersprache die Unterrichtssprache und Deutsch wird in einer eher studienbe-
gleitenden Form vermittelt.
Plenarvorträge 273

3. Themenstellung;
Im sprachpraktischen Unterricht wird im Gegensatz zu anderen
Vermittlungsformen von DaF (wie DaF z. B. im schulischen Bereich,
DaF in Sprachschulen und -instituten, DaF in der studienbegleitenden
Vermittlung) weniger mit Lehrwerken und Lehrwerktexten gearbeitet.
Viel häufiger werden authentische und aktuelle Texte eingesetzt, die zum
Teil von Dozenten selbst didaktisiert werden. Darüber hinaus werden auch
Inhalte aus anderen Fachbereichen (Literaturwissenschaft, Linguistik,
Kulturologie, Geschichte, Soziologie etc.) in die Sprachpraxis transportiert.
Man geht oft kontrastiv und interkulturell vor und will bestehende deutsch-
polnische sprachlich-kommunikative Barrieren überwinden.
4. Zielsetzung;
Die Zielsetzung der Germanistik in Polen besteht darin, dass sie
sich als ein Fach präsentiert, das in erster Linie Fremdsprachenlehrer,
Dolmetscher und Übersetzer (auch für Fachsprachen) sowie Sprach- und
Kulturmittler ausbildet. Bei allen diesen Berufsprofilen werden mannigfal-
tige Kompetenzen bzw. sog. Schlüsselqualifikationen (so Neuland 2007:
432) vorausgesetzt, darunter auch die sprachliche Kompetenz, die weit
über das kommunikative Können und das effektive, wirkungsorientierte
Kommunizieren und Durchsetzen der eigenen Interessen (vgl. ebd. 431)
hinausgeht und als philologische Kompetenz bezeichnet werden kann.
Neuland (ebd. 432) definiert philologische Kompetenz folgendermaßen:
Philologische Kompetenz als ein Ziel des Germanistikstudiums kann mithin
neben dem fachbezogen Wissen Darstellungs- und Deutungskompetenz, Analyse-
und Vermittlungskompetenz umfassen, und zwar in historischer, interkultureller
und auch intermedialer Differenzierung.

Die Auseinandersetzung mit gesprochener Sprache als einer medialen


Varietät von Sprache fügt sich in diese Kompetenzbeschreibung nahtlos
ein. Philologen als Sprachexperten müssten die Fähigkeit haben, vielfälti-
ge von der systemgrammatischen Norm abweichende gesprochensprachli-
che Phänomene deuten, analysieren und vermitteln zu können. Angesichts
der vielen sprachkritischen und laienhaften Publikationen wie z. B. „Der
Dativ ist dem Genitiv sein Tod“ von Bastian Sick13, die den Sprachverfall
anprangern, sollten sie die Phänomene des Sprachwandels erkennen und
deuten können. Dieser Kompetenz liegt somit eine umfassendere, facetten-

13
  Topalović / Elspass (2008) setzen sich linguistisch mit der sprachpflegerisch motivier-
ten Sprachkritik von Sick auseinander.
274 Magdalena Pieklarz-Thien

reichere Sprachauffassung wie auch ein erweitertes Verständnis, was Norm,


Grammatik und Bedeutung sind, zugrunde.

2. Zur Sprachauffassung, -kompetenz und -bewusstheit


in der philologischen Sprachausbildung
Als Ausgangspunkt des Nachdenkens über die Sprachvermittlung in der
philologischen Sprachausbildung schlage ich zuerst die Überlegung vor,
welches Bild von Sprache den Germanistikstudierenden vermittelt werden
sollte. Dass Sprache je Zielgruppe (Alter, Bildungsgrad, Sprachlernbiografie,
Zielsetzung, Motivation, zeitlicher Unterrichtsrahmen etc.) anders vermit-
telt wird, ist inzwischen eine Binsenweisheit. Der Fremdsprachenunterricht
für Erwachsene in den Bildungskontexten, wie z. B. der DaF-Unterricht
in Sprachschulen und -instituten, ist primär an der Vermittlung einer ge-
brauchsfähigen Sprache bzw. an verwendungsadäquaten kommunikati-
ven Fertigkeiten orientiert. Das bedeutet, dass derjenige Unterricht vor
allem die Norm der geschriebenen Standardsprache und eine öffentliche
Kommunikationssituation zur Grundlage hat und Sprache der alltäglichen
Kommunikation in nicht öffentlichen Kommunikationszusammenhängen
eher vernachlässigt, auch wenn diese den Großteil der natürlichen
Kommunikation insgesamt ausmacht. Der philologische DaF-Unterricht
müsste aber diese Fiktion einer einheitlichen Standardsprache zugunsten
einer realitätsbezogenen Sprachauffassung aufgeben, ohne deshalb die
Berechtigung der Standardsprache als Basis des Sprachunterrichts infrage
zu stellen. Denn im philologischen Sprachunterricht gilt Sprache auch als
Bildungsgut. Als Grundlage der Vermittlung ist m. E. ein reflektiertes, gut
begründetes, reiches und dynamisches Konzept von Sprache notwendig, in
dem neben dem sprachlichen System auch das sprachliche Verhalten auf-
gehoben ist (vgl. Ortner / Sitta 2003: 5).
Eine solche Sprachauffassung stellt sicherlich eine große Herausfor­
derung für die philologische Fremdsprachendidaktik dar, die die
Implementierung der Erkenntnisse der Gesprochene-Sprache-Forschung, der
Anthropologischen Linguistik, der Gesprächs- und Konversationslinguistik,
der Interpretativen Soziolinguistik, der Funktionalen Pragmatik, der
Interaktionalen Linguistik und der Korpuslinguistik u.a. dauernd anstre-
ben sollte. Dabei soll eine bisher ausstehende sowohl theoretisch als auch
empirisch begründete ‚philologengemäße‘ und interdisziplinär angelegte
Didaktik der gesprochenen Sprache konstituiert und ihre praktisch umsetz-
bare Grundlage für die philologische Unterrichtspraxis geliefert werden.
Plenarvorträge 275

Philologische Sprachausbildung, die also eine weitaus differenzier-


tere und komplexere Konzeptualisierung von Sprache als andere Lehr-
und Lernkontexte anstrebt, müsste also den Studierenden auch Zugänge
für den Umgang mit sprechsprachlichen Registern und kommunikativen
Praktiken anbieten. Philologen, die die Fähigkeit erwerben sollen, sprach-
liche Strukturen zu erkennen und deren Bedeutungen und Funktionen im
engeren Kontext von Gesprächen und Texten sowie im weiteren Kontext
gesellschaftlicher Kommunikationsprozesse zu reflektieren, sind quasi prä-
destiniert, sich mit Sprache im Sprachgebrauch auseinanderzusetzen.
Philologische Sprachkompetenz impliziert m. E. ein Bild von Sprache
in ihrer Varianz und Vielgestaltigkeit sowie Bewusstheit von spezifischen
Normen von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, Textsorten und Registern.
Philologen sollen sowohl mündlich als auch schriftlich eine hervorragende
Kompetenz wie auch ein herausgebildetes Sprachbewusstsein (language
awareness) aufweisen. Der language awareness kommt dabei eine beson-
dere Rolle zu. Sie (ihre Qualität und ihr Umfang) kann als ein entschei-
dendes Kriterium gelten, das die philologische Sprachkompetenz von der
Sprachkompetenz, die in anderen Kontexten unter anderen Bedingungen
und Zielsetzungen erworben wird, deutlich hervorhebt. Bickes (2009: 447)
fasst die Zielsetzung der Sprachvermittlung im DaF-Unterricht an der
Hochschule wie folgt zusammen:
Vor dem Hintergrund individueller Lernbiographien bewegt sich die
Sprachvermittlung im didaktischen Spannungsfeld der je spezifischen
Normen von Mündlichkeit und Schriftlichkeit, Textsorten und Registern.
Der fremdsprachliche Deutschunterricht an Hochschulen erweist sich als
didaktische Gratwanderung, als deren wichtigstes Ziel neben der sprach-
praktischen Einübung studienrelevanter kommunikativer Fertigkeiten die
Schaffung sprachlicher Bewusstheit (language awareness) als sinnvolles,
eigenständiges Lernziel zu fordern ist.
Auf die Förderung der sprachlichen Bewusstheit weist auch
Berdychowska (vgl. 2004: 18) hin, wenn sie meint, dass es bei der
Diskussion um die philologische Sprachvermittlung hauptsächlich auf ent-
wicklungsfördernde kognitive und analytische Fähigkeiten und Qualitäten
ankommt. Bilut-Homplewicz (2005: 51) verortet die Sprachreflexion im
Germanistikstudium wie folgt:
Die Sprachreflexion, die einen immanenten Faktor des philolo-
gischen Studiums ausmacht und eine undogmatische Auffassung von
der Fremdsprache fördert, erweist sich als ein gelungener Weg. Die
276 Magdalena Pieklarz-Thien

Komplementarität von Sprachgebrauch und Sprachreflexion wird somit


zum Hauptprinzip der Germanistenausbildung in Polen.
Interessant in diesem Kontext sind auch die Erfahrungen von Dębski
(Miodunka 2007: 26f.) über Metasprache als Voraussetzung zur Aufnahme
eines philologischen Studiums wie auch als eine wichtige Komponente und
Ziel des philologischen Studiums:
Z moich wieloletnich doświadczeń przy egzaminach wstępnych (to prawie 30
lat!), wynika, że przygotowanie językowe, w zakresie sprawności językowej,
jest coraz lepsze. To znaczy, dokładnie, było, jeszcze przed dwoma laty, coraz
lepsze. Jednakowoż z obserwacji kandydatów nie wynika, żeby to było zasługą
szkoły. To raczej zasługa coraz szerszych możliwości pozaszkolnych uczenia
się języka na zasadzie akwizycji przez kontakty. To pociąga za sobą spadek
zdolności kandydatów do refleksji nad językiem, do sformułowania wypowiedzi
na temat języka, w języku ‚meta’, choćby po polsku, jest coraz gorsza. A uważam,
że ta zdolność jest jedną z predyspozycji koniecznych przy podjęciu studiów
filologicznych.

[In der deutschen Übersetzung: Aus meinen jahrelangen Erfahrungen bei der
Durchführung von Aufnahmeprüfungen (fast 30 Jahre!) ergibt sich, dass die
Sprachkompetenz der Studienbewerber besser ist, d. h. sie war besser, noch bis
vor zwei Jahren war die Sprachkompetenz besser. Allerdings kann man nicht
sagen, dass die bessere Sprachkompetenz Verdienst der Schule wäre. Es ist eher
das Verdienst der immer größeren außerschulischen Möglichkeiten, Sprache in
Kontakt/im Ausland zu erwerben. Dies hat aber zur Folge, dass die Fähigkeit
zur Reflexion über Sprache sowie zur Formulierung einer Aussage zum Thema
Sprache in Metasprache, auch auf Polnisch, dramatisch sinkt. Ich finde aber, dass
diese Fähigkeit eine notwendige Bedingung zur Aufnahme des philologischen
Studiums ist].

Auch Berdychowska (2004: 17) macht eine ähnliche Beobachtung:


Anzunehmen ist auch, dass immer mehr Studenten immer bessere sprachliche
Voraussetzungen für das Germanistikstudium, zuweilen eine geradezu vorzüg­
liche Verständigungskompetenz mit sich bringen. Aber ihr areflexiv korrekter
und zugleich authentischer Sprachgebrauch und die nicht mehr zur alltäglichen
Verständigungskompetenz gehörige metasprachliche Kompetenz sowie allgemein­
humanistische Kenntnisse halten einander nicht die Waage. Der Trend ist bereits
deutlich erkennbar.

In diesem Kontext scheint daher die Forderung von Dębski (Miodunka


2007: 80f.) gerechtfertigt zu sein:
W związku z tym widzę konieczność nieustającej dyskusji na temat metodyki
nauczania języka obcego w uczelni wyższej, na poziomie profesjonalnym, na
Plenarvorträge 277

poziomie refleksji językowej, a nie tylko samych zdolności komunikacyjnych,


w celu wykształcenia specjalistów, którzy zdolni są do metajęzykowej refleksji
nad tym, co robią. (...). Jest to jeden z przykładów, który potwierdza konieczność
dalszej dyskusji nad metodyką nauczania języka obcego na studiach filologicznych.

[In der deutschen Übersetzung: Daher finde ich es für notwendig, die Fragen der
Methodik des Fremdsprachenunterrichts an der Hochschule zu diskutieren, auf
dem professionellen Niveau, auf dem Niveau der Sprachreflexion und nicht nur
allein auf dem Niveau der kommunikativen Fähigkeiten, zwecks der Ausbildung
von Fachleuten, die fähig sind, ihr Tun metasprachlich zu reflektieren (...). Das
ist eins der Beispiele, die die Notwendigkeit der weiteren Diskussion über die
Methodik der philologischen Sprachausbildung aufzeigen].

3. Gesprochene Sprache im DaF-Unterricht


Wie mehrere Studien zur Standortbestimmung von gesprochener
Sprache im DaF-Unterricht sowie auch Evaluationen von DaF-Lehrwerken
belegen, ist die Umsetzung der Gesprochene-Sprache-Forschung bzw. der
Gesprächsanalyse für den DaF-Unterricht sehr defizitär14. Dies hat unter-
schiedliche und komplexe Gründe, auf die hier aus Platzgründen nicht aus-
führlich eingegangen werden kann15.
Im Kontext der philologischen Sprachausbildung soll zuerst auf die
Marginalisierung der gesprochensprachlichen Varietäten im Fremdsprachen­
unterricht hingewiesen werden, die sich einerseits aus der Spezifik der in-
stitutionellen Sprachvermittlung mit ihren Einschrän­kungen, andererseits
auch aus einer verkürzten und vereinfachten Sprachauffassung ergibt,
die den DaF-Unterricht generell dominiert. Denn die Grundeigenschaft
der Konzeptualisierung von Sprache, die DaF-Lehrwerke und den DaF-
Unterricht kennzeichnet, ist nicht Varianz und Vielgestaltigkeit von
Sprache, sondern Einheitlichkeit, Gleichförmigkeit und Regelhaftigkeit,
die dazu führen, dass faktische Varianz übersehen oder ignoriert wird und
homogene Elemente überbetont werden (Fiehler 2008a: 263).
Der wichtigste Träger der Sprachauffassung im Fremdsprachenunterricht
sowie auch das zentrale Element jeglicher institutioneller Sprachvermittlung

14
  Kaiser (1996), Reershemius (1998), Günthner (2000, 2010, 2011), Hegedűs (2002),
Richter (2002), Thurmair (2002), Rieger (2004), Kilian (2005), Fiehler (2008a, 2008b),
Heilmann (2008), Pieklarz (2009, 2011), Pieklarz-Thien (2012), Vorderwülbecke
(2008), Bachmann-Stein/Stein (2009), Schwitalla (2010), Imo (2010a, 2010b, 2010c),
Weidner (2012), Günthner, S. / Wegner, L. / Weidner, B. (i. Dr.).
15
  S. Literaturliste in Fußnote 14 und da besonders Fiehler (2008a), Günthner (2011),
Weidner (2012), Günthner, S. / Wegner, L. / Weidner, B. (i. Dr.).
278 Magdalena Pieklarz-Thien

ist das Lehrwerk. Lehrwerke stellen aber immer eine Art des Spagats
dar, der versucht, die vielfältigen personellen (Lernende/Lehrende), in-
stitutionellen (Curricula/Zeitrahmen) und didaktisch-methodischen
Unterrichtsbedingungen sowie auch Herstellungsbedingungen (Autoren/
Verlage/Markt) auf einen Nenner zu bringen. Diese Notwendigkeit
zum Kompromiss zwingt dazu, dass man auf bestimmte Aspekte der
Sprachwirklichkeit verzichten muss, bzw. nicht imstande ist, alle Aspekte
der Sprachwirklichkeit zu berücksichtigen. Joachimsthaler (2001: 84) ver-
ortet das Lehrwerk in der Ausbildung von Germanisten in Polen wie folgt:
Jedes Lehrbuch beruht auf einer spezifischen Formung des Lehrstoffes, es
kommt nicht ohne Verkürzungen und Aussparungen aus. Für die Anfänger,
für die die Lehrbücher konzipiert wurden, spielt dies, kommt es bei ih-
nen doch zuerst auf eine Aneignung der Grundfertigkeiten an, keine Rolle.
Lernende auf dem Niveau polnischer Germanistikstudenten aber haben die
Lehrbuchphase bereits hinter sich und sehen sich mit Unzulänglichkeiten
in ihrem Sprachgebrauch konfrontiert, die, weil sie zu sehr ins Detail ge-
hen, in Lehrbüchern gar nicht berücksichtigt werden können, und die zu-
dem bei jedem Lernenden, abhängig von zahllosen Zufälligkeiten in seiner
Lernsozialisation individuell anders sein können.
In Bezug auf DaF-Lehrwerke kann generell festgestellt werden, dass
die Veranschaulichung der gesprochensprachlichen Varietäten sowie
der wichtigen Elemente der Gesprächskompetenz und der individuellen
Ausprägungen der Partnerorientierung kaum einer Reflexion unterliegen,
was zwar in den niedrigeren Sprachbeherrschungsstufen lerntheoretisch
und fremdsprachendidaktisch zu rechtfertigen ist, aber negative Folgen ha-
ben kann, wenn in späteren Lernphasen keine explizite Auseinandersetzung
mit gesprochensprachlichen Varietäten stattfindet (vgl. Pieklarz 2011a,
Pieklarz-Thien 2012).
Ein anderes Problem, das in diesem Kontext noch herausgestellt werden
sollte, ist die „qualitative Lücke zwischen simplifizierender Darstellung
der Sprache im Sinne einer Wort-im-Paradigma-Grammatik, auf die der
sprachkundliche Unterricht allzu oft reduziert wird, und der Sprachtheorie,
die höheren Kriterien der Wissenschaftlichkeit genügen muss und als
Komponente einer soliden philologischen Ausbildung anzustreben
ist“ (Cirko 1998: 77). So sind in den letzten Jahren Darstellungen und
Grammatiken ausgearbeitet worden, in denen Phänomene gesprochener
Sprache und ihre Beschreibungen aufgenommen wurden16, sie lassen
16
  IDS-Grammatik (Zifonun 1997), Duden Grammatik (Fiehler 2005), Schwitalla
(1997/2006), Henning (2006).
Plenarvorträge 279

sich jedoch aufgrund ihrer hohen Wissenschaftlichkeit und Komplexität


nur teilweise im fremdsprachlichen Unterricht einsetzten. Es fehlen vor
allem didaktische Materialien und ein in durchdachter Weise angebotenes
Übungsmaterial, das „frei von theoretischer Überhöhung, aber auch ohne
zweckmäßig erscheinende Trivialisierung“ (ebd.) wäre.
Hinweisen muss man auch auf die Normproblematik in der Sprach­
beschreibung. Die Gebrauchsnormen im gesprochenen Deutsch sind bis-
lang, so Günthner (2011), wenig expliziert und sie variieren regional, so-
zial, medien-, aktivitäts- und kontextbezogen und bewegen sich innerhalb
von Grenzen, die fließend sind. Dies macht die Implikation der linguis-
tischen Erkenntnisse in die Fremdsprachendidaktik sowie die Ausarbeitung
einer empirisch begründeten ‚philologengemäßen‘ Didaktik gesprochener
Sprache nicht einfach. Ebenfalls ist es eine große Herausforderung für den
philologischen Sprachunterricht, eine solche Normauffassung zu vermit-
teln, die sprachliche Variation und innere Mehrsprachigkeit miteinbezieht
und zeigen kann, dass standardsprachliche Normen keineswegs starr und
unveränderlich sind, sondern sich wandeln können.

4. Möglichkeiten und Perspektiven der Vermittlung


von gesprochener Sprache in der philologischen
Sprachausbildung – praktische Beispiele
Es stellt sich die Frage, wie gesprochene Sprache zum Analysegegenstand
für Auslandsgermanisten werden kann. Philologiestudierende befinden
sich in der Unterrichtssituation zwar selbst in einer Form der mündlichen
Kommunikation, das bedeutet aber nicht, dass sie diese Situation aus ei-
ner gewissen Distanz reflektieren und analysieren können. Erschwerend
kommt noch hinzu, dass normative und deskriptive Werke sowie auch di-
daktische Materialien für die Vermittlung der gesprochenen Sprache, die im
Unterricht eingesetzt werden könnten, kaum vorhanden sind. Im Folgenden
werden einige Aufgabenvorschläge dargestellt und kurz diskutiert, die
man in der philologischen Sprachpraxis einsetzen kann, um gesprochene
Sprachwirklichkeit zu veranschaulichen. Es handelt sich um:
–– Sensibilisierung für gesprochene Sprache am Beispiel der Muttersprache
der Studierenden;
–– Arbeit mit authentischen Gesprächen und Transkripten;
–– Arbeit mit primär digitalen Texten;
–– Arbeit mit Texten mit stilisierter Mündlichkeit;
–– Einsatz von korpuslinguistischen Techniken.
280 Magdalena Pieklarz-Thien

4.1 Sensibilisierung für gesprochene Sprache am Beispiel


der Muttersprache der Studierenden
Ausgangspunkt für die Auseinandersetzung mit den Eigenheiten des
gesprochenen Deutsch kann die Reflexion über Unterschiede zwischen
der geschriebenen und gesprochenen Sprache in der Muttersprache der
Studierenden, sein. Welche Merkmale unterscheiden im Polnischen die
Schriftsprache und die gesprochene Sprache? Die Auseinandersetzung mit
dem gesprochenen Polnisch ist insofern interessant, dass die Studierenden
einen Grammatikunterricht in der Schule erfahren haben, der, so
Berdychowska (2004: 15), „nur zur Führung von der gesprochenen zur
geschriebenen Sprache, zur Alphabetisierung, und das bedeutet mit einer
prädeskriptiven Zielsetzung, und zu einem Zeitpunkt behandelt wurde, zu
dem sich das abstrakte Denken noch nicht entsprechend entwickelt hat“.
Eine bewusste Auseinandersetzung mit der eigenen Muttersprache kann
an verschriftlichten natürlichen Gesprächen stattfinden, die aus den vor-
handenen Sprachkorpora entnommen werden. Die Studierenden können
über den eigenen Sprachgebrauch nachdenken und Gemeinsamkeiten und
Unterschiede zwischen dem geschriebenen und gesprochenen Polnisch er-
kennen.
J: jezus marja ty słuchaj wyleciało mi
A: coś ci spadło tam
K: ty bo jak cie szczele ja tu dzisiaj otkużałam
A: co to jes?
K: odkużacz i już // a jakieś śfiistfa s fajki mu wypadły / tytoń czy coś
[krótki okres ciszy]
A: jacek / ktury ty dywan yy byłeś tszepać?
J: no ten michałowy
K: michałowy
A: y ychm
Quelle: Warchala, Jacek 1991: Dialog potoczny a tekst. Katowice, 71.

Dieses kurze Gespräch veranschaulicht mehrere Phänomene des gespro-


chenen Polnisch:
–– phonetische Aspekte: regressive Assimilation (otkużałam), progressive
Assimilation (śfiistfa / tszepać), Elisionen (jes);
–– lexikalische Gliederungssignale: Partikeln mit adressatensteuernder
Funktion (ty słuchaj / ty …), Partikeln, die Funktionen der Gliederung
und der Organisation des Rederechts haben (y ychm), sekundäre Interjek­
tion (jezus marja);
–– gesprochensprachliche Wortwahl (ty bo jak cie szczele / jakieś śfiistfa /
czy coś / jezus marja);
Plenarvorträge 281

–– syntaktische Aspekte: Ellipse (no ten michałowy), Wiederholung


(michałowy), Vagheitsumschreibung (coś / jakieś), Verweisung (no ten / tu)
Empfehlenswert ist auch die Bewusstmachung, dass sich Lehrwerke für
Fremdsprachen vorwiegend an den Normen der Schriftsprache orientie-
ren und eine relativ variationslose Sprache vermitteln (was hier aber nicht
kritisiert werden sollte). So weichen die in Lehrbuchdialogen konstru-
ierten Äußerungen noch immer erheblich vom tatsächlichen mündlichen
Sprachgebrauch der Muttersprachler ab. Weil Deutsch für die meisten pol-
nischen Germanisten eine Fremdsprache ist und sie daher nur eingeschränkt
introspektiv vorgehen können (d. h. Sprachdaten beurteilen können), bietet
es sich an, dieses Problem an ausgewählten Texten aus Lehrwerken für
Polnisch als Fremdsprache zu veranschaulichen. Ein flüchtiger Einblick in
die PaF-Dialoge lässt jeden Muttersprachler der polnischen Sprache einse-
hen, dass Gespräche bei Erstbegegnungen im Polnischen anders organisiert
werden:
Dialog 1 Übersetzung des Dialogs 1
–– Dzień dobry. –– Guten Tag!
–– Dzień dobry. Przepraszam, jak sie –– Guten Tag! Entschuldigung, wie
pani nazywa? heißen Sie?
–– Nazywam się Maria Bukowska, –– Ich heiße Maria Bukowska, und
a pani? Sie?
–– Nazywam się Magda Kowalska. –– Ich heiße Magda Kowalska.
–– Miło mi. –– Angenehm.
–– Jak sie pani ma? –– Wie geht es Ihnen?
–– Świetnie. –– Super/Toll.
–– Gdzie pani mieszka? –– Wo wohnen Sie?
–– W Krakowie. –– in Krakau.
Dialog 2 Übersetzung des Dialogs 2
–– Dobry wieczór. –– Guten Abend.
–– Dobry wieczór. Jak się pan ma? –– Guten Abend. Wie geht es Ihnen?
–– Tak sobie, a pani? –– Geht so/nicht so toll. Und Ihnen?
–– Bardzo dobrze. Przepraszam. Nie –– Sehr gut. Entschuldigung. Ich weiß
wiem, jak ma pan na imię. nicht, wie Sie heißen.
–– Mam na imię Jan. A pani? –– Ich heiße Jan. Und Sie?
–– Jestem Anna. Przepraszam, gdzie –– Ich bin Anna. Entschuldigung. Wo
pan mieszka? wohnen Sie?
–– Nie rozumiem. Proszę powtórzyć. –– Ich verstehe nicht. Wiederholen Sie
–– Gdzie pan mieszka? bitte.
–– Mieszkam w hotelu Forum. –– Wo wohnen Sie?
–– Ich wohne im Hotel Forum.
Quelle: Małolepsza, Małgorzata / Szymkiewicz, Aneta: „Hurra!!! Po
polsku 1”. Zeszyt ćwiczeń, Kraków: Prolog, 2010, 4, Übersetzung M. P.-T.
282 Magdalena Pieklarz-Thien

Die beiden Gespräche sollten Beispiele für alltägliche Gespräche


darstellen, deren Ziel Informationsaustausch und Smalltalk sind.
Muttersprachliche Sprecher müssen jedoch feststellen, dass sie stereotyp
und nicht authentisch wirken. Die sprachlichen Handlungen sind nicht ganz
aufeinander abgestimmt. Es fällt schwer, sich vorzustellen, wo und unter
welchen Bedingungen solche Gespräche ablaufen könnten. Es lassen sich
mehrere signifikante Brüche der Natürlichkeit feststellen:
Dialog 1: Im Polnischen stellt man die Frage „Wie geht es Ihnen?“ nur denjenigen
Menschen, die man gut kennt und zu denen man ein vertrauliches Verhältnis hat.
Aus den vorangegangen Zeilen kann man aber schlussfolgern, dass sich die beiden
Gesprächspartner nicht kennen (sie begrüßen sich und stellen sich erst vor), so
dass das Gespräch an der Stelle hölzern und nicht authentisch wirkt.

Dialog 2: Die Höflichkeitsfloskel „Jak się pan ma? / Wie geht es Ihnen?“ ist
auch hier nicht glücklich platziert (danach stellt sich heraus, dass sich die
beiden Gesprächspartner nicht kennen bzw. ihre Namen nicht kennen). Wie die
Untersuchung von Tomiczek (1997) belegt, kann die Antwort auf diese Frage
im Polnischen ausführlicher als im Englischen oder Deutschen ausfallen und
muss nicht immer positiv bejaht werden (wie z. B. im Deutschen „danke, gut“),
wie man das auch in dem Dialog beobachten kann: „Jak się pan ma? Tak sobie,
a pani? / Wie geht es Ihnen? Geht so. Und Ihnen?“. Allerdings müsste „geht so“
den Gesprächspartner dazu veranlassen, nachzufragen und dann sein Verständnis
bzw. Mitgefühl für die nicht besonders glücklichen Umstände auszudrücken, was
aber in dem Dialog nicht der Fall ist.

Diese zwei Dialoge stammen aus einem durchaus gelungenen und ak-
tuellen Lehrwerk für Polnisch als Fremdsprache, das eine Vielfalt von
Dialogen und Hörtexten anbietet und an dieser Stelle nicht angeprangert
werden soll. Es wird lediglich versucht zu zeigen, dass simulierte, für di-
daktische Zwecke konstruierte Dialoge, auch wenn sie in vielerlei Hinsicht
(z. B. in Bezug auf die Veranschaulichung von grammatischen und le-
xikalischen Strukturen der Standardsprache) einen hohen didaktischen
Wert haben, nicht ganz adäquat dokumentieren können, wie natürliche
Alltagsgespräche organisiert werden und mit welchen (gesprochen)sprach-
lichen Mitteln Sprecher ihre kommunikativen Aufgaben natürlich und
höflich lösen. Auch wenn konstruierte Dialoge spracherwerbstheoretisch
fundiert sind und das Fremdsprachenlernen fördern können, spiegeln sie
nur bedingt die nähesprachliche, gesprochensprachliche und authentische
Kommunikation wider.
Bei der Betrachtung solcher Dialoge können Studierende über eige-
ne Muttersprache reflektieren und erleben, dass Sprache funktional und
Plenarvorträge 283

durch die Brille einer anderen Sprache zu betrachten, faszinierend sein


kann. Ein weiterer Vorteil einer solchen Beschäftigung mit der eigenen
Muttersprache ist die Reflexion über die Kulturbedingtheit von Sprache
am Beispiel von sprachlichen Routinen wie auch Unterschiede in Bezug
auf Kommunikationsstile und Smalltalk in den beiden Sprachen Deutsch
und Polnisch.

4.2 Arbeit mit authentischen Gesprächen und Transkripten


Eine Vorstellung von gesprochenem Deutsch kann durch eine Ver­
schriftlichung (Transkription) gesprochener Sprache vermittelt werden,
in der das gesamte Spektrum der verschriftlichten Äußerung und ihres
Kontextes wiedergegeben wird. Die Auseinandersetzung mit Transkriptionen
von authentischen Dialogen, wie sie in der Konversationsanalyse üblich
sind, setzt jedoch Kenntnis vieler Transkriptionskonventionen voraus und
ist den Studierenden ohne vorausgehende Vermittlung nicht zuzumuten.
Darüber hinaus fehlt für die deutsche Sprache ein ausgewogenes nationales
Referenzkorpus mit schriftlichen und mündlichen Daten.
Zwar wird am Institut für Deutsche Sprache in Mannheim eine Daten­
bank „Gesprochenes Deutsch“ aufgebaut, die zurzeit aus 28 recherchier­
baren Korpora besteht, die die Varietäten des gesprochenen Deutsch durch
Daten und dazugehörige Transkripte dokumentieren17. Die Anwendung­
smöglichkeiten dieser Daten und Transkripte sind jedoch im universitären
Bereich Deutsch als Fremdsprache in der Auslandsgermanistik sehr be-
schränkt. Die Aufnahmen dokumentieren Diskursformen, die für ein nicht-
muttersprachliches Publikum nur sehr begrenzt relevant sind (vgl. Costa
2008: 133f.)
Eine (andere) Möglichkeit, Sprache in kommunikativer Praxis und in
kommunikativen Praktiken zu analysieren, stellt die vom DAAD geförderte,
an der Universität Münster von Susanne Günthner und Wolfgang Imo auf-
gebaute Datenbank „Gesprochenes Deutsch für die Auslandsgermanistik“18
dar. Sie beinhaltet Aufnahmen (Audiodateien) und Transkripte von authen-
tischen Gesprächen deutscher Muttersprachler/-innen, die sich sowohl the-
matisch als auch im Hinblick auf den Gesprächstyp und die Länge sehr gut
im philologischen Sprachunterricht einsetzten lassen. Die Aufnahmen sind
geordnet in Privatgespräche, Sprechstundengespräche an der Hochschule,

  http://dsav-oeff.ids-mannheim.de.
17

  http://audiolabor.uni-muenster.de/daf/ Mein großer Dank gilt den Projektleitern Susanne


18

Günthner und Wolfgang Imo für den Zugang zu den Lehrmaterialien sowie auch für die
Erlaubnis, den folgenden Transkriptausschnitt hier zitieren zu dürfen.
284 Magdalena Pieklarz-Thien

Gespräche im Friseursalon und Arzt-Patienten-Gespräche. Mithilfe die-


ser authentischen Diskurse kann man m. E. über die Grammatik der ge-
sprochenen Sprache wie auch über die Bedeutungskonstitution in der
kommunikativen Praxis mit Berücksichtigung des Ko- und Kontextes
reflektieren. Dabei bietet sich eine Vorgehensweise an, welche dem ler-
nenden Subjekt hilft, die besonderen biografischen Erfahrungen des
Individuums, seine Zugehörigkeit zu kulturellen Gemeinschaften, deren
lexikalische Wissensbestände und semantische Gebrauchsgepflogenheiten
es erworben hat, und schließlich die subjektive Perspektive, die ein
Interaktionsteilnehmer im jeweiligen Dialogmoment einnimmt, wahrzu-
nehmen (vgl. Deppermann 2002: 22).

Transkript: Brot kaufen

Dauer: 1:42 Min.


SprecherInnen: Nelly (N), Anja (A), Lara (L)
Situation: informelles Gespräch unter Freundinnen beim Abendessen
Die Freundinnen essen Brot zum Abendessen. A wundert sich, dass N die Kante
vom Brot isst. Es kommt danach eine Diskussion darüber zustande, ob man sein
Brot beim Bäcker oder beim Discounter kauft.
Alle Sprecherinnen sind 26 Jahre alt und kommen aus dem Ruhrgebiet.
Hinweis: Während der gesamten Aufnahme sind Essgeräusche und
Besteckgeklapper zu hören.

Transkriptionskonventionen:
–– Generell: Kleinschreibung
–– Hauptakzent einer Einheit in Großbuchstaben: akZENT
–– Letzte Tonhöhenbewegung am Einheitenende: steigend ? fallend . gleichblei-
bend –
–– Pausen ab 1 Sekunde: (1.0)
–– Überlappungen/Simultansprechen wort[wort]
[wort]
–– Sprachbegleitende/außersprachliche Handlungen z. B.: ((hustet))

Anmerkungen: Eine Liste mit Begriffserklärungen befindet sich unter dem


Transkript.

001 A nelly hasse jetzt den RAND gegessen vom brot?
002 N ((kichert)) ja ha.
003 wieso?
004 A ABsichtlich?
005 N hmhm.
006 L ((lacht)) ach nee [hab ich gar geMERKT haha ]
007 N [ich dachte das muss man AUCH essen.]
Plenarvorträge 285

008 A MUSS man nich.


009 L doch KLAR.
010 schmeißt du das WEG oder was?
011 A oft [SCHON ja. ]
012 N [boah anja.]
013 L echt?
014 N du bist geNAUso wie die bei goodbye deutschland echt.
015 A wenn das halt das LETZte is was noch drin is-
016 und das BROT is jetzt schon-
017 ZEHN tage steht das da schon-
018 N ja KLAR.
019 L [ok- ]
020 A [dann-] denk ich mir boah [das muss ich mir jetzt nich
ANtun. ]
021 N [aber es gibt auch einen GRUND
warum das] als letztes dann da drin is und-
022 A ja naTÜRlich.
023 aber wenn ich sonst dafür wenn ich sonst ne RICHtige
scheibe letztes hätte-
024 und DIE wegschmeißen würde weil se [hart] ist-
025 N [ja- ]
026 A kann ich lieber das KNÄPPchen wegschmeißen.
027 L obwohl ich das MANCHmal auch sogar ganz lecker finde.
028 N ja ich find [das AUCH- ]
029 L [ich mein da] sind mehr KÖRner und so dran.
Quelle: http://audiolabor.uni-muenster.de/daf/ (Auszug aus dem Transkript
„Brot kaufen“)
Mögliche Aufgaben:
1. Formulieren Sie dieses Gespräch so um, dass daraus ein Dialog als
geschriebensprachliches Produkt entsteht.
z. B. Nelly, hast du jetzt den Rand vom Brot gegessen?
2. Markieren Sie in dem Gespräch „Brot kaufen“ typisch gesprochen-
sprachliche Formen und tragen Sie sie dann in die Tabelle ein. Geben
Sie auch ihre grammatische Bezeichnung an:
Zeilennummer Beispiel Name der Kategorie
001 Hasse Elision
001 … vom Brot Ausklammerung
004 Absichtlich? Ellipse
005 hmhm Interjektion
286 Magdalena Pieklarz-Thien

Dass sich natürliche Gespräche von den Lehrwerkdialogen stark unter-


scheiden und dementsprechend im Unterricht eingesetzt werden sollten,
kann man auch an der Tatsache beobachten, dass die Rezeption dieser
kurzen Gespräche den Studierenden auf dem hohen Sprachniveau C1 en-
orme Schwierigkeiten bereitet19, obwohl die Gespräche eine im curricu-
laren Sinne einfache Lexik und Syntax aufweisen, die man eher den nied-
rigeren Sprachbeherrschungsstufen zuschreiben würde. Im dem kurzen
(1:42 Min.) Gespräch „Brot kaufen“ gibt es eigentlich nur eine lexika-
lische Einheit („Knäppchen“), die den Studierenden unbekannt sein kann.
Nichtsdestotrotz wird das Gespräch von Germanisten als schwierig einge-
stuft. Die „Aha-Erlebnisse“ bei der Rezeption dieser Gespräche kommen
erst nach der Textarbeit vor. Interessant ist die gemeinsame Überlegung im
Unterricht, was die Schwierigkeit dieser alltäglichen und eigentlich ein-
fachen Gespräche ausmacht. Wie lässt sich das erklären, dass man kom-
plexe und schwierige Hörtexte auf dem Niveau C1 und C2 versteht, aber
Probleme hat, die simplen Alltagsgespräche zu verstehen?
Der Vorteil der Auseinandersetzung mit gesprochener Sprache auf
der Grundlage von authentischen Gesprächen auf dem fortgeschrittenen
philologischen Sprachniveau (C1 und C2) liegt auch darin, dass man da-
mit die statischen Konzepte von ‚Sprache‘ bzw. von ‚Grammatik‘, und
‚Bedeutung‘ überwindet, welche die lehrwerkabhängige Sprachvermittlung
charakterisieren.

4.3. Arbeit mit primär digitalen Texten


Der philologische Sprachunterricht, der die tatsächliche geschriebene
wie auch gesprochene Sprachwirklichkeit berücksichtigen und somit eine
umfassende Auffassung von Sprache vermitteln will, kann nicht gleich-
gültig an der Tatsache vorbeigehen, dass wir heute in einer Zeit leben, in
der sich neue Kommunikationsformen herausbilden (vgl. Dürscheid 2003,
2005) und mit der technisierten Kultur mit Telefon, Radio, Fernsehen,
Computern, Netzwerken, Multi-Media-Systemen, Internet usw. eine Kultur
sekundärer Oralität entsteht (Metzler 2000: 459). Es bietet sich daher an,
solche Texte und Gattungen im Unterricht einzusetzen, mit denen man
die strikte Einteilung in Mündlichkeit / Schriftlichkeit (bzw. gesprochene
Sprache / Schriftsprache) aufheben und auf die vielfältigen Mischformen
hinweisen kann. Im Bereich der computervermittelten Kommunikation
kann man auf vielfältige Kommunikationsformen und Gattungen (wie z. B.

  Im Sommersemester 2012 habe ich im Seminar zum Thema „Gesprochenes Deutsch“


19

mit Gesprächen aus diesem Korpus gearbeitet.


Plenarvorträge 287

Foren, Chats, Instant Messaging, E-Mails, Newsgroups, Blogs etc.) zurück-


greifen, in denen gesprochensprachliche Merkmale transparent gemacht
und anschließend der sprachlichen Reflexion unterzogen werden können20.

4.4. Arbeit mit Texten mit stilisierter Mündlichkeit


Eine Möglichkeit stellt auch der Einsatz von Texten bzw. Textpassagen
dar, in denen eine große Vielfalt und Variabilität gesprochensprachlicher
Phänomene beobachtet werden kann. Dies kann einerseits mit litera-
rischen Texten, andererseits mit Texten aus dem Komikbereich, in denen
Gesprochensprachlichkeit stilisiert wird, erfolgen.

4.4.1 Schriftliche Texte mit stilisierter Mündlichkeit – literarische Texte


Ausgewählte literarische Texte, wie z. B. Ausschnitte aus dem Roman
von Andreas Maier „Wäldchestag“ eignen sich ebenfalls gut zur Ver­
anschau­lichung und Reflexion der gesprochenen Sprache21. Der Einsatz
literarischer Texte mit starker Gesprochensprachlichkeit kann zur Sensibi­
lisierung für Merkmale des Mündlichen und zur Entwicklung von Sprach-
und Kommunikationsbewusstsein in der Fremdsprache beitragen.
Dieser Vorschlag, literarische Texte zur Veranschaulichung gesproche­
ner Sprache im Unterricht einzusetzen, korrespondiert mit dem Postulat aus
der Muttersprachendidaktik, Grammatik und Literatur im Deutschunterricht
zu integrieren (vgl. Nussbaum 2000, Abraham 2001, Kroeger/Kublitz-
Kramer 2001, Klotz 1997). Man sucht nach integrativen Konzepten,
die unter anderem auch die Literatur in die Pflicht nehmen, für genuin
sprachreflektorische, grammatische Ziele: Sprachbewusstheit, Distanz zum
eigenen Sprachgebrauch, Sensibilisierung für Nuancen im Rahmen einer
sprachästhetischen Erziehung. Abraham (2001: 32f.) plädiert unter Berufung
auf Andersen (1985) und Neuland (1992) für einen Grammatikunterricht, in
dem es nicht mehr um Sprachwissen allein, sondern um Sprachbewusstsein
geht. Ein solches Bewusstsein verbindet Grammatik und den Umgang mit
Literatur, indem man Sprache in ihrer Funktion reflektiert, kommunikative
Handlungsmöglichkeiten untersucht und versteht. So kann man m. E. auch
20
  Beispiele dazu werden in der sich im Entstehen befindenden Publikation „Gesprochene
Sprache in der philologischen Sprachausbildung“ (2013) dargestellt.
21
  Auch Texte anderer Gegenwartsautoren (Jakob Arjouni, Christian Kracht, Peter Kurzeck,
Wolf Haas) taugen zur Analyse und Veranschaulichung der Gesprochensprachlichkeit.
Haas kommt aber der gesprochensprachlichen Alltagsrealität besonders nahe (vgl.
Schwitalla 2005). In Pieklarz (2010) werden Beispiele für den Einsatz von Literatur zur
Veranschaulichung und Analyse gesprochensprachlicher Phänomene in der philologischen
Sprachausbildung dargestellt.
288 Magdalena Pieklarz-Thien

im fremdsprachlichen Deutschunterricht auf dem fortgeschrittenen Niveau


die Reflexion darüber ansetzen, wie gesprochensprachliche Syntax in li-
terarische Texte transportiert wird. Die Sprachreflexion, die zugleich eine
literarische Reflexion sein soll, kann man auf Intentionen des Autors und
den Sinn der eingesetzten sprachlichen Mittel und Phänomene lenken. Ein
so verstandener linguistischer Ansatz in der fremdsprachlichen philologi-
schen Literaturdidaktik kann reflexiv-analytische Kompetenzen der fortge-
schrittenen Literaturrezipienten fördern. Durch die Beschäftigung mit lite-
rarischen, stark mündlich geprägten Texten kann man die Vielfältigkeit der
Sprache und der medialen Sprech- und Schreibgewohnheiten entdecken.
Die Ausgleichprozesse zwischen geschriebener und gesprochener Sprache
werden veranschaulicht und ein Zugang zum Gesprochenen wird geöffnet.
Die reflexiv-analytischen Kompetenzen werden geschult und ein Bild von
Sprache in ihrer Varianz und Vielgestaltigkeit wird vermittelt. Dies ist auch
bei Joachimsthaler (2001: 86) nachzulesen, wenn er schreibt:
Sprache ist unteilbar. Und nur dort, wo der sprachliche Scharfsinn am meisten
gefordert ist, kann er sich am besten entwickeln. Also in der bewussten (mündlichen
wie schriftlichen, monologischen wie dialogischen) Auseinandersetzung mit
den sprachlichen Strukturen und sprachinternen Bedeutungen selbst, in der
linguistischen Analyse sprachlicher Strukturen oder der literaturwissenschaftlichen
Ausleuchtung bedeutungskonstituierender oder -nuancierender Sprachtechniken.

Ein anderer Vorteil der Integration der literarischen Texte zur Veranschau­
lichung gesprochener Sprache kann darin bestehen, dass man mit diesem
Ansatz den Studierenden Wege zur Multiperspektivität, Interdisziplinarität
und Synthese mehrerer philologischer Disziplinen zeigen kann. Cirko
(1998: 80) beklagt bereits die allgemein herrschende Abkapselung in der
Forschung und Lehre:
Somit ist der künftige Philologe oft nicht in der Lage, Korrelate und Parallelen in
anderen Disziplinen auszumachen, geschweige denn, durch sie Denkanstöße zu
bekommen. Viele Studenten stellen sich konform darauf ein, in der Literaturstunde
den Text „literaturtheoretisch“, im didaktischen Seminar – „didaktisch“ und im
Grammatikunterricht – „grammatisch“ zu interpretieren. Auch viele Dozenten tun
so, als wäre ihre Analyse die Analyse schlechthin. Die Abkapselung im Bereich
eigenen Methoden und Terminologien, die in der Hochschuldidaktik leider eine
durchaus typische Erscheinung ist, beeinträchtigt die Effektivität des Unterrichts,
die bei einer synthetisierenden Orientierung unzweifelhaft effizienter sein könnte.
Durch dieses fortwährende interdisziplinäre „Code-switching“ geht, weil ungeübt,
die Fähigkeit zur Synthese vieler philologischer Daten verloren. Der Student sieht
nur Teilaspekte des Textes, ohne ihn als Ganzes zu begreifen.
Plenarvorträge 289

4.4.2 Mündliche Texte mit der stilisierten Mündlichkeit


– Videomitschnitte aus dem Komikbereich
Interessant und motivationsfördernd kann auch der Einsatz von Texten
aus dem Komikbereich sein. Germanisten als Sprach- und Kulturexperten
müssten eine Sprach- und Kulturkompetenz haben, die sich nicht nur auf
die sog. Hochkultur und geschriebene Standardsprache bezieht, sondern
auch die sog. Alltagskultur und Varianten gesprochener Alltagssprache
umfasst. Betrachtungen von Komik aus linguistischer Perspektive sind in-
sofern gewinnbringend, dass man mit ihnen nicht nur sprachreflexive und
sprachanalytische Kompetenzen fördern, sondern auch landeskundliches
Wissen erweitern und Interesse für die Alltagskultur der Deutschen erwe-
cken kann. Empfehlenswert scheinen z. B. Videos von Life-Auftritten von
Hape Kerkeling, Kurt Krömer oder Dieter Krebs zu sein, die bei Youtube
zugänglich sind und die man im Unterricht in Projektarbeit transkribie-
ren kann. Eine solche Aufgabe unterstützt auch die innere Differenzierung
in Gruppenarbeit, indem man Studierende mit dem muttersprachlichen
Hintergrund bei Hörverstehensschwierigkeiten als Experten mit einbezieht.
In dem folgenden Transkryptausschnitt des Videomitschnitts von Hape
Kerkeling „Schwuler im Cafe“, das im Unterricht in Gruppenarbeit von
Studierenden22 angefertigt wurde, lässt sich eine Menge von gesprochen-
sprachlichen Auffälligkeiten feststellen, die man auch im Kontext des
Zusammenhangs zwischen Sprache und verfestigten Stereotypen diskutie-
ren kann. So kann man hier neben klassischen Kategorien gesprochener
Sprache wie Elisionen, Partikeln, Interjektionen etc. auch Anglizismen
(anyway darling), Französismen (Ja, mondieu´chen! / Mais au con-
traire mon chère!), sekundäre Interjektionen (oh gott oh gott / mein gott!
um gottes willen! / ups ah du liebes bisschen),blumige und aufwertende
Euphemismen (backwerk für Stück Kuchen, gnädigste und meine liebe
als Anredeformen), unzählige Metaphern, Übertreibungen, Wortspiele
(Das sind ja zustände hier wie auf der titanic. 18 rettungsboote für 2000
passagiere / Oh, dann schenken sie mir doch einen negerkuss, und zwar
einen, den man nicht kaufen kann… / Sie kriegen doch hier gar nichts
gebacken meine liebe! / warteten nun händeringend) und andere klischee-
hafte Ausdrucke (Oh viktor ich glaube es nicht / ich GLAUBE es gerade
nicht) beobachten, bei denen man nachdenken kann, in welchem Maße
sie zur Komik des Dargestellten beitragen und wie sie mit der stereotypen

22
  Für die Transkription des Videos bedanke ich mich bei den Studierenden des
I. Studienjahres (Magisterstudium 2011/2012) und ganz besonders bei Klaudia Misiorna,
die die Arbeiten koordiniert hat.
290 Magdalena Pieklarz-Thien

Wahrnehmung von Homosexuellen korrelieren. Sprache wirkt distinktiv


und dieses Beispiel kann zur Reflexion über die distinktive Funktion von
Sprache eingesetzt werden.

„UND ja (1.0) ES gibt auch immer mehr männer – die mit männern zusammen
leben auch dafür gibt’s ganz berühmte beispiele – ernie und bert zum beispiel
(Lachen des Publikums) robin und batman – oder hier der hugo und sein schatz
die heute abend hier sind ((Lachen des Publikums)) oh gott oh gott ich hoffe sie
sind ohne arbeitskollegen hier ((Lachen des Publikums)) UND (1.0) bei uns im
schönen düsselDORF– da gibt es ein gourmet-café das heißt korten und letzten
sonntag standen da EINundzwanzig kunden an der kuchentheke und warteten
nun händeringend darauf endlich bedient zu werden und dann kam ein KUNde
mit seinem allerneusten handy rein und was dann passierte würde ich ihnen
gerne noch mal demonstrieren ((Lachen des Publikums, er bereitet sich vor,
setzt sich eine Brille auf, holt ein Handy raus und beginnt zu erzählen)) Oh
viktor ich glaube es nicht ((Lachen des Publikums)) ich GLAUBE es gerade
nicht (1.0) wie – du hast den witz nicht verstanden ? also noch mal: treffen
sich zwei schwule sagt der eine zum anderen: du, HÖR mal stell dir mal vor
(0.5) mir ist letzte nacht ein kondom geplatzt . Im ernst ? Nein, in DETLEF?
((Lachen des Publikums)) haste immer noch nicht verstanden? anyway dar-
ling ich muss jetzt schluss machen (0.5) nein nicht mit diiir ich bin hier im
café korten. kooorten! ich kann hier nicht so laut brüllen, hier sind zu viele
kunden . nein victor heute nicht . Heute NICHT (Lachen) (0.5) victor ich kann
kaum noch laufen . ((Lachen, Beifall)) nein victor ich möchte heute ganz normal
wie heterosexuelle am sonntagnachmittag auch nur kaffee und kuchen. (0.5)
ja Jaa und dein sahneschnittchen bringt dir ein stück kuchen miit! Ja ich dich
ich dich ja ja ich au.. ich dich auch ja tschü tschüss tirilaulu tschüss mein
kleiner feuerhase ? ((Beifall, Lachen)) entschuldigen sie bitte dass ich mir eine
zigarette anmache aber das ist so eine art REflex. kennen Sie die berühmte
zigarette danach ? hat mich zum kettenraucher gemacht((Lachen)) ups ah du
liebes bisschen . war ich das jetzt mit dem brandfleck ? das tut mir aber leid
gnädigste aber der nerz merkt das ja nicht mehr der ist ja toooot...((Lachen))
BITTE?? Oh ich GLAUBE es nicht! ((Lachen)) ich GLAUBE ES GERADE
NICHT . ich hab mich doch entschuldigt . sie sollten sich entschuldigen mit
so einem toten tier hier rumzulaufen das ist MORD . oh dann gehen sie doch,
gnädigste das mir ist doch egal aber merken sie sich eins ob mit oder ohne
nerzjäckchen orangenhaut bleibt orangenhaut . ((Lachen))“

4.5 Einsatz von korpuslinguistischen Techniken


Solange also ein repräsentatives und DaF-orientiertes Referenzkorpus
für das gesprochene und geschriebene Deutsch nicht vorhanden ist, kann
man auch einfache Onlinerecherchen für den gesteuerten Spracherwerb
Plenarvorträge 291

nutzen. Zum Beispiel durch Google-Recherchen können sich Philologen


mit wenigen Mausklicken ein umfassendes Bild davon machen, wie le-
xiko-grammatische Einheiten von Muttersprachlern verwendet werden, in
welchen Textsorten oder Sprachverwendungssituationen sie typischerwei-
se auftreten, welches die häufigsten Kollokations- und Kolligationspartner
eines bestimmten Wortes sind oder welche Bedeutung mithilfe einer
Formulierung am häufigsten zum Ausdruck gebracht wird.
Google und andere Suchmaschinen bieten gerade für Nicht-Mutter­
sprachler eine gute Möglichkeit, schnell zu relativ sicheren Informationen
zu kommen, vorausgesetzt, man ist sich ihrer Möglichkeiten und
Beschränkungen bewusst und benutzt sie mit Vorsicht. Eine solche korpus-
basierte Spracharbeit bedarf aber einer gemeinsamen Reflexion und einer
Evaluation im Unterricht und sollte nicht nur ungesteuert erfolgen, wie das
meistens der Fall ist.

5. Überlegungen und Handlungsempfehlungen für


die Vermittlung von gesprochener Sprache im philologischen
Sprachunterricht
In Anlehnung an Erkenntnisse mehrerer linguistischer Disziplinen,
die sich an der kommunikativen Praxis orientieren, seien nun einige zen-
tral erscheinende Punkte in Form von Handlungsempfehlungen für eine
auf kommunikative Praxis abzielende, integrierte Spracharbeit in der
philologischen Sprachdidaktik zusammengefasst. Folgende curriculare
Entscheidungen und unterrichtliche Tätigkeiten sollen zur Förderung des
generellen Blickwinkels auf Sprache und des Verständnisses davon, was
Sprache, Grammatik und Bedeutung sind sowie der an der kommunika-
tiven Praxis orientierten Sprachkompetenz im philologischen FSU, bevor-
zugt werden:
• Ergänzung der traditionellen linguistischen Vermittlung um die
Auseinandersetzung mit Erkenntnissen der linguistischen Disziplinen
wie der Gesprochene-Sprache-Forschung, der Gesprächs- und Konversa­
tions­linguistik, der Interpretativen Soziolinguistik, der Funktionalen
Pragmatik, der Interaktionalen Linguistik, Construction Grammar und
der Korpus­linguistik23;
23
  Ahrenholz (2002) diskutiert die Frage, über welche linguistischen Kenntnisse die zu-
künftigen DaF-Lehrer verfügen sollen. Er geht davon aus, dass entsprechende Kenntnisse
in jedem Fall über systemgrammatische Aspekte hinausgehen müssen. Eine linguistische
Ausbildung sollte nicht nur phonetische, morphologische, syntaktische, semantische und
292 Magdalena Pieklarz-Thien

• Einsatz von authentischen Gesprächen (Ton-/Videoaufnahmen) und


Auseinandersetzung mit Transkriptionen, in denen das gesamte
Spektrum der verschriftlichten Äußerung und ihres Kontextes wieder-
gegeben wird;
• Einsatz von authentischen Gesprächen in Muttersprache der Studierenden
/ Reflexion über Charakteristika der gesprochenen Muttersprache;
• Einsatz von Texten mit stilisierter Mündlichkeit;
• Nutzung von Korpora im Fremdsprachenunterricht;
• Einsatz von Suchmaschinen wie Google im sprachpraktischen Unterricht
zur Bedeutungsermittlung mit der einhergehenden Analyse des Ko- und
Kontextes;
• Erstellung von Lernerkorpora der gesprochenen und geschriebenen
deutschen Lernersprache der polnischen Germanistikstudierenden, die
für Forschung sowie Sprachlehre und -lernen konzipiert sein sollten24.
Diese Postulate der Auseinandersetzung mit der Gesprochensprachlichkeit
im Rahmen der philologischen Studiengänge erheben jedoch keinen
Anspruch auf Vollständigkeit. Sie stellen lediglich einen Beitrag und eine
Anregung für die Entwicklung von Modellen und Konzeptionen für die
philologische Sprachausbildung dar. Universell und wichtig bleibt dabei
die Erkenntnis von Pfeiffer (1995: 637):
Die beste universelle Methode gibt es nicht und kann es nicht geben! Es kann nur
eine optimale Methode für konkrete Zielgruppen, konkrete Unterrichtsbedingungen

pragmatische Kenntnisse vermitteln, sondern sprachliche Strukturen und Regularitäten


aus der Perspektive von Sprachgebrauch, Sprachvermittlung und Sprachlernproblemen
behandeln.
24
  Mit Hilfe solcher lokalen Korpora könnte man Lernersprache (mündliche und schriftli-
che Sprachproduktionen der polnischen Germanisten) empirisch fundiert und gewinnbrin-
gend beschreiben und gewonnene Erkenntnisse didaktisch aufbereiten. Dabei könnte man
auch u. a semantisch relevante Auffälligkeiten ermitteln, die sich auf die Ausgangssprache
zurückführen lassen. Aus der Sicht der Lehrenden würden korpuslinguistische Methoden
damit sehr viel relevanter für den eigenen Unterrichtskontext. Für die lernenden
Germanisten wären die Auseinandersetzung mit dem eigenen output und die Reflexion
über den eigenen Fremdsprachengebrauch motivierender als die Analyse von Texten, die
von anderen produziert wurden (vgl. Mukherjee 2008: 54). Ein solches Vorhaben bedarf
allerdings eines Langzeitprojektes sowie eines größeren Forschungsteams und ist momen-
tan leider noch nicht in Sicht. Für das Deutsche als Fremdsprache wird zurzeit ein um-
fangreiches fehlerannotiertes geschriebenes Lernerkorpus Falko aufgebaut. Im Bereich
gesprochener Lernerkorpora wäre das an der Freien Universität in Berlin zusammenge-
stellte lernersprachliche Korpus aus Beratungsgesprächen mit ausländischen Studierenden
(Rost-Roth 2002: 217) sowie das Korpus Varkom für Katalanisch, Spanisch und Deutsch
(Fernández-Villanueva / Strunk 2009) hervorzuheben.
Plenarvorträge 293

und konkrete Unterrichtsziele geben. Theoretisch und nur vorübergehend, denn


unser Wissen und unsere Erfahrungen wachsen ja jeden Tag.

Zum Schlusstakt
Die im Auftakt zitierten Aussagen aus Interviews mit polnischen
Germanistikstudierenden lassen folgende Kommentare und Erklärungen
formulieren:
S1 und S2: Aus den beiden Aussagen geht hervor, dass man die we-
nigsten sprachlichen Schwierigkeiten in vertrauten, oft erlebten und geübten
Situationen hat, in diesem Fall in den universitären Lehrveranstaltungen.
Das Bekannte und Vertraute stärkt auch das Selbstbewusstsein („Ich hat-
te manchmal sogar den Eindruck, dass ich ihnen besser folgen kann als
meine deutschen (!) Kommilitonen“) und lässt die sprachlichen situati-
onsspezifischen Herausforderungen wie die Teilnahme an der Diskussion,
Textarbeit etc. gut bewältigen („…in den Seminaren, in denen wir Texte
analysiert haben, deren Inhalte mir schon aus den Kursen bei uns bekannt
waren, da hatte ich gar keine Probleme“). Alltagsgespräche stellen dage-
gen eine Problemsituation dar („Die meisten Schwierigkeiten hatte ich in
den alltäglichen Gesprächen“ / „Manchmal hatte ich Probleme, Bekannte
im Wohnheim, Menschen in den Geschäften, einfach so auf der Straße, auf
Partys zu verstehen“). Den Schwierigkeiten liegt sicherlich nicht eine kom-
plizierte Syntax und Lexik zugrunde. Es ist eher die Unvertrautheit und
fehlende Praxis in Bezug auf die alltäglichen kommunikativen Praktiken
sowie wohl auch eine falsche im schriftlichkeitsbelasteten Sprachunterricht
aufgebaute Erwartung, dass man im ganzen Satz sprechen soll25 („Vor
allem, wenn das kurze Sätze waren, nicht vollständig formuliert und zu
Themen/Sachen, die mir ganz neu waren“).
S3: Sprachbenutzer geben sich immer in ihrem Sprachgebrauch als
Mitglieder einer gesellschaftlichen Gruppe zu erkennen und grenzen sich
dadurch gleichzeitig von anderen ab („Es ist schon passiert, dass Deutsche
sofort gewusst haben, dass ich aus Polen komme. Zwei Mal sind sie so von
alleine darauf gekommen, dass ich Germanistik studiere“). Es wäre unrea-
listisch zu erwarten, dass man im Germanistikstudium, das hauptsächlich in-
stitutionelles Lernen im Ausgangsland der Lernenden im Erwachsenenalter
bedeutet, seine phonetischen Charakteristika ganz loswird26. Polnische
25
  Fiehler (2008b: 91) weist noch auf die allgemeine Wertschätzung des Wie-gedruckt-
Redens hin.
26
  Zu Interferenzerscheinungen im Bereich der phonologisch-phonetischen Aspekte bei
Lernenden mit L1 Polnisch und L2 Deutsch siehe Morciniec (1990), Górka (1998),
Tworek (2006), Grzeszczakowska-Pawlikowska (2007).
294 Magdalena Pieklarz-Thien

Germanisten kann man fast immer als Polen identifizieren, wenn sie
deutsch sprechen, obwohl ihr Sprachgebrauch in anderen Bereichen (z. B.
Schreibkompetenz) teilweise auf einem höheren Niveau liegen kann als im
deutschen Durchschnitt. Nichtsdestotrotz haben viele Philologiestudierende
das Ziel und den Wunsch, genau wie ein Muttersprachler der Zielsprache
zu sprechen, was auch in dieser Aussage zum Ausdruck kommt. Auch wenn
man im phonologischen Bereich seine biografische Spur und somit sei-
ne sprachliche Identität akzeptieren muss, bleibt es zu fragen, ob im syn-
taktischen und semantischen Bereich bestimmte Auffälligkeiten vielleicht
nicht vermeidbar wären. Die in der Aussage S3 angeführte Korrektheit
meint wohl vor allem die Wohlgeformtheit der Sätze und die generelle
Orientierung an der Schriftsprache in den Alltagsgesprächen27. Die Aussage
S3 deckt sich auch mit Beobachtungen von Bilut-Homplewicz (2005: 48):
Es ist bezeichnend, dass die Studierenden in linguistischen Lehrver­anstaltungen
die Diskrepanz zwischen dem Sprachgebrauch in Deutschland bzw. in deutsch­
sprachigen Ländern und der im Germanistikstudium erworbenen und von ihnen
verlangten Kompetenz in erster Linie im Bereich der gesprochenen deutschen
Sprache bemerken und thematisieren. Ihr Deutsch wird an manchen Systemstellen
von Muttersprachlern als zu hyperkorrekt oder zu archaisch empfunden, die
Grenze zwischen der geschriebenen und der gesprochenen Sprache wird von den
Studenten dagegen nicht immer richtig erkannt.

Durell (1995: 425) führt diese Situation auf variationslose Sprache zu-
rück, die in den DaF-Lehrwerken vermittelt wird:
So findet man (...) in vielen Lehrwerken zum Erwerb des Deutschen als
Fremdsprache ausschließlich die Formen und Konstruktionen der kodifizierten
Hochsprache, denn nur dies darf in der Öffentlichkeit als ‚Deutsch‘ gelten.
Aber auf diese Weise lernt der Ausländer ein Deutsch, das kein Deutscher im
Alltagsgespräch verwendet.

S4: Die Aussage berührt das ewige Dilemma jedes institutionellen


Sprachenlernens – die Unausweichlichkeit und zugleich die Bevorzugung
der geschriebenen Sprache und somit der beiden schriftlichen Teilfertigkeiten
des Schreibens und des Lesens im Sprachunterricht. Sprache wird in der
Auslandsgermanistik hauptsächlich in Form von schriftlichen Texten oder

27
  Pieklarz (2009) ermittelt in einer kleinen Fallstudie zur Standortbestimmung gespro-
chener Sprache im Germanistikstudium Spezifika der mündlichen Produktionen von
Germanistikstudierenden. Beobachtet wurden u.a. der Einsatz von langen, komplexen und
starr wirkenden Sätzen, die einen für die geschriebene Sprache typischen Satzbau haben,
unpassender schriftsprachlicher Wortschatz, Fehlen von Modalpartikeln etc.
Plenarvorträge 295

Beispielsätzen vermittelt, die auf der Grundlage eines schriftsprachlich ge-


prägten Bewusstseins schriftnah produziert werden. Philologisches Studium
an sich ist stark schriftsprachlich geprägt – was historisch28, forscherisch29
und praktisch30 bedingt ist. Ein Auslandsgermanist, der Deutsch hauptsäch-
lich im institutionellen Kontext erwirbt, fühlt sich weniger kompetent und
sicher im Gesprochenen als im Geschriebenen, was auch die Probandin S4
bezeugt („Während dieses Aufenthaltes ist mir klar geworden, dass ich bes-
ser schreiben und lesen als sprechen und hören kann“). Eine andere Frage
betrifft die Sprachauffassung. Die Systemgrammatik und die traditionellen
DaF-Lehrwerke vermitteln Sprache als ein eher geschlossenes, unverän-
derliches und mit zuverlässigen Regeln zu erklärendes System, was dann
zur Folge hat, dass Lernende angesichts der von der schriftsprachlichen
Norm abweichenden Phänomene (wie Verberststellung in Aussagesätzen,
weil- und obwohl-Sätze mit Hauptsatzstellung etc.) verunsichert wer-
den, zumal sie für diese Phänomene meistens keine Erklärung in ihren
Nachschlagewerken finden („Es gibt so viele Ausdrücke und Strukturen,
die ich nicht kenne und die man im Wörterbuch und in der Grammatik nicht
findet“).

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28
  Ehlich (2010: 247) dazu: „Die Philologie befasst sich mit der äußeren Gestalt der
Texte, ihrer Erhaltung und Tradierung (Text-, Editionswissenschaft) und insbesondere mit
dem Verstehen von Texten (Hermeneutik)“.
29
  Die mündliche Sprache zu erforschen ist ein relativ junger Versuch der Sprach­wissen­
schaft. Systematische Forschungen zur gesprochenen Sprache wurden in Deutschland
erst seit den 60er Jahren unternommen. Eigenschaften der gesprochenen Sprache werden
aber immer noch oft als Abweichungen von der geschriebenen Sprache betrachtet und die
mündliche Kommunikation als ungeordnet, weniger regelhaft, fehlerhaft und chaotisch
aufgefasst (Fiehler 2008b: 91). Dementsprechend ist auch die Lehre in germanistischen
Instituten stark schriftsprachlich orientiert.
30
  Gesprochene Sprache ist ein sperriger, schwer zu handhabender Gegenstand (FIEHLER
2008a: 261), der sich nicht so leicht wie geschriebene Sprache didaktisch aufbereiten lässt.
296 Magdalena Pieklarz-Thien

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Andrzej Pilipowicz (Olsztyn)

Wer hat das Blut der Schwester getrunken?


Der Vampirismus im Pächter-Dramenfragment
von Georg Trakl

Jedes Werk von Georg Trakl (1887-1914) ist durch das Motiv des Inzests
gekennzeichnet, in dem sich die Beziehung zu seiner Schwester Margarethe
widerspiegelt. Da der Inzest vom Christentum verboten und verdammt
wird, wendet sich Trakl der Antike zu, in der die inzestuösen Beziehungen
in die umfangreiche Auffassung von der menschlichen Natur integriert und
als Paradigma des menschlichen Identitätsmodells betrachtet zu werden
scheinen1. Im Hinblick darauf, dass die christlich geprägte Gesellschaft
den Inzest ablehnt2, postuliert Trakl die Reorganisierung des Christentums,

1
  Es sei an die inzestuöse Beziehung zwischen Zeus und seiner Schwester Hera erinnert.
Davon, dass die Antike aufgeschlossener gegenüber der menschlichen, sich auch in seiner
Sexualität offenbarenden Individualität ist, zeugen ebenfalls die griechischen Mythen, die
als Chiffren der Existenz gelten und im Vergleich mit den biblischen Geschichten ein brei-
teres Spektrum der dem Menschen innewohnenden Spezifik umfassen.
2
  Lévi-Strauss hält den Inzest für ein Phänomen, das sowohl mit der Natur als auch mit
der Kultur zusammenhängt (Lévi-Strauss 1981: 55). Das Inzestverbot regelt die biolo-
gischen, den Inzest mit einbeziehenden Relationen innerhalb der Gesellschaft: „Als eine
Regel, die das umfaßt, was ihr in der Gesellschaft am fremdesten ist, doch zugleich als
eine gesellschaftliche Regel, die von der Natur das zurückhält, was geeignet ist, über sie
hinauszugehen, ist das Inzestverbot gleichzeitig an der Schwelle der Kultur, in der Kultur
und (...) die Kultur selbst“ (Lévi-Strauss 1981: 57). Die Dynamik der kulturbedingten
Grenzen im Kontext des naturbedingten Inzests wird im Drama Die Geschwister von
Johann Wolfgang Goethe dargestellt, wo sich die auch in Trakls Pächter-Dramenfragment
thematisierte Beziehung der ineinander verliebten Geschwister als eine Beziehung zwi-
schen aus verschiedenen Familien stammenden Menschen erweist. Um Marianne nah zu
Plenarvorträge 301

das die Inzestbetroffenen aus der Gesellschaft ausklammert und so gegen


das von sich selbst aufgestellte Prinzip der Nächstenliebe verstößt. Weder
negiert Trakl das Christentum noch glorifiziert er die Antike: In Anlehnung
an das antike Kulturerbe und Gedankengut versucht er, das Christentum
zu modifizieren. Die Tendenz zur Neuorientierung des Christentums ist
an einzelnen Stellen seiner Gedichte in einer sehr verschleierten Form zu
entdecken. Deutlichere Anspielungen auf die Reformierung der christli-

sein, stellt Wilhelm sie als seine Schwester vor, weil sie ihn an ihre Mutter Charlotte
erinnert, die eine Liebesbeziehung zu Wilhelm einging, nachdem ihr Mann und zugleich
der Vater von Marianne gestorben war. Die Situation kompliziert sich, als der Freund von
Wilhelm Fabrice um die Hand von Marianne wirbt. Dadurch kommt es zu einer Änderung
der Personenkonstellationen, die man in Anlehnung an die Theorie von Lévi-Strauss erör-
tern kann. Wird der Naturbereich von dem Schoß einer und derselben Mutter abgesteckt,
wodurch die Geschwister in einem Naturbereich agieren, so wird der Kulturbereich von
einer Ehe gebildet, die von aus zwei getrennten Naturbereichen kommenden Menschen
geschlossen wird. Die biologisch bedingte Nähe zwischen Marianne und Wilhelm wird
durch die kulturell bedingte Nähe zwischen Marianne und Fabrice infolge ihrer Heirat
abgelöst, die der Verbindung der Geschwister eine kulturelle Grenze setzt. Darauf be-
ziehen sich die an Wilhelm gerichteten Worte von Fabrice: „Sie liebt dich mehr, als sie
mich liebt; ich bin’s zufrieden. Den Mann wird sie mehr als den Bruder lieben; ich werde
in deine Rechte treten, du in meine, und wir werden alle vergnügt sein“ (Goethe 1998:
363). Der Übergang von dem Naturbereich zu dem Kulturbereich beginnt auf der ge-
schlechtlichen Ebene, auf der der Ehemann (Fabrice) dem Bruder (Wilhelm) gleicht –
„(I)ch bin eins mit Ihrem Bruder; Sie können kein reineres Band denken“ (Goethe 1998:
360) – und endet auf der sozialen Ebene, auf der Marianne und Fabrice als Eltern des
als Sohn behandelten Wilhelm erscheinen: „Ich lasse Ihrem Bruder seinen Platz; ich will
Bruder Ihres Bruders sein, wir wollen vereint für ihn sorgen“ (Goethe 1998: 361). Davon,
dass der Kulturbereich den Naturbereich begrenzt, zeugt der von Marianne gelesene, 1766
entstandene Roman Geschichte der Miss Fanny Wilkes von Johann Timotheus Hermes,
wo eine geschwisterliche Beziehung behandelt wird, in der sich die Beziehung zwischen
Marianne und Wilhelm widerspiegelt: „Unter allem konnt ich am wenigsten leiden, wenn
sich ein Paar Leute lieb haben, und endlich kommt heraus, daß sie verwandt sind, oder
Geschwister sind – Die Miß Fanny hätt ich verbrennen können! Ich habe so viel geweint!
Es ist so ein gar erbärlich Schicksal!“ (Goethe 1998: 367-368). Wird die wegen der
Verwischung der familiären Verhältnisse oft problematische Liebe der Protagonisten in
Hermes’ Roman (Hermes 1770: 241; 255) gesellschaftlich begrenzt, bis sie in der Vision
der den Tod kodierenden Verbrennung des Buches völlig untergeht, so geht die Beziehung
von Marianne in entgegengesetzter Richtung: Sie erfährt, dass sie nicht die Schwester
von Wilhelm ist, wodurch die Grenzen ihrer Liebe, die von dem das Leben chiffrierenden
Wasser der Tränen verkündet wird, erweitert werden. Zwar resultieren die Tränen aus dem
Erleben der Situation von Hermes’ Protagonisten, aber sie beziehen sich schon auf den
Wandel der Situation von Marianne. Da der Kuss als „Barometer“ der Stärke von zwi-
schenmenschlichen Beziehungen gelten kann, fühlt die von Wilhelm geküsste Marianne,
dass ihr vermeintlicher Bruder eine feste Grenze überschritten hat: „Welch ein Kuß war
das, Bruder? (Goethe 1998: 368). Mit diesem Kuss gibt er Marianne zu verstehen, dass sie
nicht seine Schwester ist: „Nicht des zurückhaltenden, kaltscheinenden Bruders, der Kuß
eines ewig einzig glücklichen Liebhabers“ (Goethe 1998: 368).
302 Andrzej Pilipowicz

chen Religion kommen dagegen in dem titellosen, bisher sehr selten einer
Analyse unterzogenen Pächter-Dramenfragment3 zum Ausdruck, das im
Mai 1914 (Trakl 2000: 156-157) geschrieben wurde und das wegen der
Reichhaltigkeit der berührten Inzest-Problematik die Bezeichnung „Trak(l)
tat“ verdient. Da dieses ebenso wie seine Dichtung „konfessionell-exor-
zistisch“ (Marx 1993: 28) wirkende Werk fragmentarisch ist, wird hier
auf seine zwei Fassungen Bezug genommen, was sich bei der Aufgabe,
die Bedeutung der einzelnen Szenen und Äußerungen eines und desselben
Dramas möglichst genau zu rekonstruieren, als behilflich erweisen soll.
Auf diese Weise wird den zwei Fassungen eine Stringenz verliehen, die es
möglich macht, aus den Bruchstücken des Dramas die für die Analyse des
Textes in semantischer und lexikalischer Hinsicht relevanten Komponenten
zu extrahieren. Die gravierenden Unterschiede zwischen der ersten (zwei-
teiligen) und der zweiten Fassung veranlassen dazu, die zwei Versionen des
Dramenfragments separat zu behandeln. Dadurch machen sich nicht nur
Änderungen an der Konzeption des Werks, sondern auch zwei Richtungen
geltend, die auf die Entwicklung der zwei Fassungen zu zwei autonomen –
wenn auch motivisch verwandten – Dramen schließen lassen. Es unterliegt
keinem Zweifel, dass die beiden Fassungen des Dramenfragments eine
gegenseitige Vergleichsplattform bilden, mit dem verschiedene Aspekte
der beiden Texte entschlüsselt oder aus einer neuen Optik gesehen werden
können. Die durch zwei Varianten des Dramas bedingte Variabilität des li-
terarischen Stoffes4 bestimmt auch die Verfahrensweise der Behandlung des
3
  Das Dramenfragment erscheint auch unter dem Titel In der Hütte des Pächters ... (Trakl
2000: 156).
4
  Als ein zusätzliches Prisma, das die Perspektive der Betrachtung von Trakls
Dramenfragment erweitert, kann ein Teil des etwas früher (April/Mai 1914) begonne-
nen Prosagedichts Offenbarung und Untergang (Trakl 2000: 49) gelten, der lexika-
lisch und syntaktisch mit den einzelnen Passagen aus dem Pächter-Dramenfragment
deutlich korrespondiert: „Schweigend saß ich in verlassener Schenke unter verrauchtem
Holzgebälk und einsam beim Wein; ein strahlender Leichnam über ein Dunkles geneigt
und es lag ein totes Lamm zu meinen Füßen. Aus verwesender Bläue trat die bleiche
Gestalt der Schwester und also sprach ihr blutender Mund: Stich schwarzer Dorn. Auch
noch tönen von wilden Gewittern die silbernen Arme mir. Fließe Blut von den mondenen
Füßen, blühend auf nächtigen Pfaden, darüber schreiend die Ratte huscht. Aufflackert ihr
Sterne in meinen gewölbten Brauen; und es läutet leise das Herz in der Nacht. Einbrach
ein roter Schatten mit flammendem Schwert in das Haus, floh mit schneeiger Stirne.
O bitterer Tod. Und es sprach eine dunkle Stimme aus mir: Meinem Rappen brach ich im
nächtigen Wald das Genick, da aus seinen purpurnen Augen der Wahnsinn sprang; die
Schatten der Ulmen fielen auf mich, das blaue Lachen des Quells und die schwarze Kühle
der Nacht, da ich ein wilder Jäger aufjagte ein schneeiges Wild; in steinerner Hölle mein
Antlitz erstarb. Und schimmernd fiel ein Tropfen Blutes in des Einsamen Wein; und da ich
davon trank, schmeckte er bitterer als Mohn; und eine schwärzliche Wolke umhüllte mein
Plenarvorträge 303

Textes, dessen Interpretation von dem Niveau abhängt, das man während
des Hinabsteigens in die tiefer gelegenen Schichten der in den einzelnen
Bildern „aufbewahrten“ Metaphern erreicht. Es steht auch fest, dass die
Arbeit mit einem Textfragment auf zahlreiche Unklarheiten stoßen lässt,
wodurch ein großes Feld für Spekulationen und Manipulationen entsteht.
Um aus dem nicht kompletten und viele Lücken aufweisenden Text ein
sinnvolles und logisches Ganzes zu konstruieren, ist es unentbehrlich, die
ausbleibenden Teile mit – intuitiv formulierten, aber streng vom Geist des
Fragments aufgeworfenen – Gedanken zu „stückeln“ und sie so zu füllen5.

1. Die Mutter hat das Blut der Schwester getrunken


(1. Fassung des Dramenfragments)
Blutgier von Lykaon contra Blutopfer von Christus.
Das Drama beginnt mit einem Gespräch zwischen dem Pächter und sei-
nem Sohn Peter, der dem Vater über den Tod eines Jungen berichtet6. Das
Bild des im Wasser tot aufgefundenen Jungen bringt dem Vater das Bild
seiner vor Jahren ums Leben gekommenen Tochter Johanna in Erinnerung7.
Das Bild von Johanna wird von ihrem Bruder ergänzt, wodurch der Tod des
Jungen und der Tod der Schwester nicht nur ontisch (wegen der ähnlichen
Umstände des Todes), sondern auch ontologisch (wegen der deskriptiv-
assoziativen Merkmale des Todes Christi) miteinander korrespondieren8.
Sowohl auf den Tod des Jungen als auch auf den Tod der Schwester proji-
ziert Peter den Tod von Christus, wodurch sich die Gestalt des Jungen und
die Gestalt von Johanna decken und zu ein und derselben androgyn be-
stimmten Gestalt werden: Der Leib des Jungen und die Finger von Johanna

Haupt, die kristallenen Tränen verdammter Engel; und leise rann aus silberner Wunde der
Schwester das Blut und fiel ein feuriger Regen auf mich.“ (Trakl 1987: 95-96)
5
  Sauermann weist auf die motivische Verwandtschaft des Pächter-Dramenfragments mit
der Geschichte von Kaspar Hauser (deren bekannteste Fassungen von Paul Verlaine, Jakob
Wassermann, Georg Trakl und Peter Handke geschaffen wurden) und mit den Werken
Woyzek und Dantons Tod von Georg Büchner (Trakl 2000: 156) hin.
6
  „Bei der Mühle hat man heute die Leiche eines Knaben gefunden. Die Waisen des
Dorfes sangen seine schwarze Verwesung. Die roten Fische haben seine Augen gefressen
und ein Tier den silbernen Leib zerfleischt; das blaue Wasser einen Kranz von Nesseln und
wildem Dorn in seine dunklen Locken geflochten.“ (Trakl 1987: 251)
7
  „Rotes Gestern, da ein Wolf mein Erstgebornes zerriß. (...) Ihr Antlitz sah ich heut’ nacht
im Sternenweiher, gehüllt in blutende Schleier.” (Trakl 1987: 251)
8
  „Die Schwester singend im Dornenbusch und das Blut rann von ihren silbernen Fingern,
Schweiß von der wächsernen Stirne. Wer trank ihr Blut?” (Trakl 1987: 251)
304 Andrzej Pilipowicz

bilden eine Ganzheit im Kontext der silbernen Farbe9, mit der das Aussehen
der beiden attributiert wird. Ein wichtiges Indiz dafür, dass der Junge und
das Mädchen als ein Organismus betrachtet werden, ist die Gestalt von
Christus, dessen Dornenkrone als eines der Symbole seines Todes infol-
ge der Kreuzigung auch den Tod der beiden kennzeichnet10: Im dornigen
Kranz um den Kopf des Jungen kann man einen Teil des dornigen Busches
erblicken, in dem die sterbende Schwester liegen gelassen wurde. Der Tod
des Jungen und der Tod von Johanna werden mit christlichen Elementen
versehen, die in verarbeiteter Form in das Postulat der Reorganisierung
der christlichen Religion einmontiert werden, was vor dem Hintergrund
des vom Christentum verachteten und in beiden Fassungen des Pächter-
Dramenfragments thematisierten Inzests begründet zu sein scheint. Dabei
geht es weniger um die Prinzipien des christlichen Glaubens als um ihre
Realisierung, insbesondere um das für die Christen grundlegende Gebot
der Liebe. Aus diesem Grunde kommt es nicht darauf an, dem Christentum
abzuschwören, sondern es zu revitalisieren bzw. seine Praxis zu revidie-
ren. Der Auftritt gegen die Kondition des einige Menschen wegen ihrer
biologischen Veranlagung zum Ostrazismus verurteilenden Christentums
erfolgt vor der Folie der Antike, die dem Christentum in zeitlicher Hinsicht
vorangeht und das vollständige Bild des Menschen aus dessen kompli-
zierter Natur herausführt. Als Befürworter des Christentums gilt der Vater,
wovon seine Worte zeugen: Er erwähnt (den wegen der Singularform mo-
notheistischen) Gott und Maria, die Muttergottes. Der Wolf, über den der
Vater im Kontext des Mordes an seiner Tochter spricht, erweist sich als ein
bilaterales Zeichen und bildet eine Brücke zur Antike. In der Bibel fun-
giert der Wolf als ein verkappter Teufel11. In der griechischen Mythologie
9
  Die Bedeutung der silbernen Farbe wird in weiteren Teilen der vorliegenden Arbeit be-
sprochen.
10
  Das Androgyne hängt mit dem Kopf zusammen, der von einer Dornenkrone umflochten
wird: In dem Kopf, in den die Dornen eindringen, widerspiegelt sich die Vagina wider, in
die der Penis eingeführt wird. Andererseits reflektiert der Kopf den Penis, der in die von
dem Ring der Dornenkrone gebildete „Öffnung“ hineingesteckt wird. Da Johanna Christus
ablöst, gewinnt sie an männlichen Zügen, wodurch sie zu einem androgyn bestimmten
Wesen wird. Deswegen wird sie vom Vater „Fremdlingin“ (Trakl 1987: 251) genannt.
Auch der Bruder scheint die Schwester nicht mehr zu erkennen und betrachtet sie des-
halb als eine fremde Person, worauf der Vater empört reagiert: „Sprichst du von deiner
Schwester!“ (Trakl 1987: 251). Diese Reaktion wird von dem Satz des Bruders – „Eure
Tochter“ (Trakl 1987: 252) – hervorgerufen. Mit diesem Satz distanziert er sich vom
Vater, um seine Beziehung zu der Schwester des familiären und deswegen inzestuösen
Kontextes zu entledigen.
11
  Im Evangelium des Johannes wird die Gleichsetzung des Wolfs mit dem die Gefahr
mit sich bringenden Teufel von den Worten Christi bestätigt: „Ich bin der gute Hirte. Der
Plenarvorträge 305

dagegen ist der Wolf mit Lykaon verbunden, der die antiken Götter igno-
rierte und Zeus das Fleisch eines Kindes vorsetzte, um seine Göttlichkeit
zu prüfen, wofür er von ihm bestraft und in einen Wolf verwandelt wurde12.
Der in den Mord von Johanna verwickelte Wolf, der auch hinter dem den
Jungen zerfleischenden Tier versteckt sein könnte, ist nicht nur als eine
Figur aufzufassen, die jedes – christliche oder antike – Heiligtum angreift,
sondern auch als eine Chiffre der Antike auszulegen, die an eine alternative
Konzeption des Menschen erinnert. In diesem Sinne erscheint die Antike
als eine zum Christentum in Opposition stehende Kraft, die besonders dann
deutlich wird, wenn man sich auf die 2. Fassung des Dramenfragments
bezieht, in der nicht ein Junge, sondern ein Mönch als Vertreter der christ-
lichen Religion von einem Wolf attackiert wurde (Trakl 1987: 254)13. Bei
einer genaueren Betrachtung verliert das Bild des um den Kopf der Leiche

gute Hirte läßt sein Leben für die Schafe. Der Mietling aber, der nicht der Hirte ist, des
die Schafe nicht eigen sind, sieht den Wolf kommen und verläßt die Schafe und flieht; und
der Wolf erhascht und zerstreut die Schafe“ (Die Bibel 1964: 114 <das Evangelium des
Johannes 10, 11-12> Kursivdruck – die Bibel).
12
  „Zu Ohren gekommen war mir der üble Ruf der Zeit. Im Wunsch, ihn widerlegt zu se-
hen, schwebe ich vom hohen Olymp hinab und ziehe in Menschengestalt durch die Lande,
obwohl ich ein Gott bin. (...) Hierauf betrete ich den Wohnsitz und das ungastliche Haus
des arcadischen Tyrannen (Lykaon – A.P.), als die späte Abenddämmerung die Nacht nach
sich zog. Ich gab Zeichen, daß ein Gott gekommen sei, und das Volk hatte begonnen zu
beten. Zuerst verspottet Lycaon die frommen Gelübde, dann sagt er: »Ich will herausfin-
den, ob dies ein Gott oder ein Sterblicher ist, und zwar durch eine eindeutige Prüfung;
an der Wahrheit wird man nicht mehr zweifeln können.« Bei Nacht versucht er, während
der Schlaf auf mir lastet, mich meuchlings zu ermorden. Das ist seine Art, die Wahrheit
herauszufinden. Und auch das genügt ihm noch nicht: Einer Geisel vom Molosserstamm
öffnet er mit einem Dolch die Kehle; teils kocht er die erst halbtoten Glieder in siedendem
Wasser, teils hat er sie auf dem Feuer geröstet. Sobald er dies aufgetischt hatte, ließ ich
mit rächender Flamme das Dach auf die Penaten stürzen, die ihres Herrn würdig waren;
erschrocken flieht er selbst in die ländliche Stille, heult dort auf und versucht vergeblich
zu sprechen. Seinem Wesen entsprechend atmet sein Rachen rasende Wut; seine gewohnte
Mordlust läßt er am Kleinvieh aus und freut sich auch jetzt noch am Blutvergießen. In
Zotteln verwandeln sich die Kleider, in Schenkel die Arme. Er wird zum Wolf und be-
hält dabei Spuren seiner früheren Gestalt: Die Grauhaarigkeit ist geblieben, geblieben die
gewalttätige Miene, geblieben die leuchtenden Augen, geblieben das Bild der Wildheit“
(Ovid 2006: 21-23). Wenn man der von Kubiak dargestellten Variante des Mythos über
Lykaon folgt, drängt sich eine Parallele zwischen dem Christentum und der Antike auf.
Nach Kubiak soll Lykaon keine Geisel vom Molosserstamm, sondern seinen Enkel Arkas,
den Sohn seiner Tochter Kallisto und Zeus, getötet haben (Kubiak 2003: 121). Auf diese
Weise lässt der antike König, der gegen die Götter aufgetreten ist (Ovid 2006: 21), seinen
Blutsverwandten sterben, so wie Gott seinen Sohn Christus ums Leben kommen lässt.
13
  Als Defensive gegen den Angriff der Antike kann man das Erscheinen der Engel mit
Schwertern, die an Kreuzzüge denken lassen, und das Öffnen des Klostertors betrachten,
womit die Expansivität der christlichen Religion angedeutet wird (Trakl 1987: 251-252).
306 Andrzej Pilipowicz

des Jungen entstandenen und die Dornenkrone Christi reflektierenden


Dornenkranzes die christliche Prägung (Kleefeld 1985: 166) und wird
in der Antike verortet – um so mehr, als der Dornenkranz an den antiken
Lorbeerkranz denken lässt. Dafür sprechen nicht nur Nesseln und andere
Pflanzen, aus denen die Dornenkrone angefertigt wurde und deren Wildheit
auf die vom Christentum für das Wilde und Heidnische gehaltene Antike
anspielt, sondern auch die Natur an sich, die – und nicht die Menschen,
die Christus die Dornenkrone aufsetzten – den Dornenkranz formen lässt.
So drängt sich der Eindruck auf, dass die Natur Christus tötet, weil seine
Religion den Inzest als einen Teil der menschlichen Natur ablehnt. Dadurch
wird ebenfalls angedeutet, dass Christus für alle Menschen gestorben ist, in
denen die Natur auf die unterschiedlichste – auch den Inzest implizierende
– Weise zum Ausdruck kommt. Diese zeitlich-ideenhafte Rückbewegung
in die Antike wird zusätzlich von dem Kontrast zwischen der Hütte, in der
der Vater wohnt, und dem Schloss, das sich in der Ferne abzeichnet, betont.
Steht die Hütte dem goldenen Zeitalter der Antike und somit auch dem
Ursprung des Christentums näher14, das durch den Mangel an der das Wahre
mit Schmuck zierenden Zivilisation und durch die glückselige Einheit
von Geist und Natur gekennzeichnet ist (Ovid 2006: 13), so indiziert das
Schloss die zivilisatorischen Errungenschaften, die zwar in den dem gol-
denen Zeitalter folgenden Perioden der Antike (dem silbernen, ehernen und
eisernen Zeitalter) begonnen haben, aber in der Zeit der Verbreitung und
Festigung des Christentums immer imposanter wurden, wodurch sich die
Kluft zwischen Geist und Natur vergrößerte und wodurch die Entwicklung
der (auto)destruktiven Kultur des Hasses in Gang gesetzt wurde (Ovid
2006: 15-17).

Johannas Blut statt Christi Blut.


Die von der Antike imprägnierte Sequenz der christlich bestimmten
Bilder – vom Tod des Jungen, vom Tod von Johanna und vom Tod von
Christus15 – bedingt die Verwandlung von Johanna in einen neuen Heiland,
14
  Dadurch, dass der Vater in einer bescheidenen Hütte wohnt, wird nicht nur seine
Solidarität mit dem bescheidenen Leben von Christus, sondern auch seine Hingabe zur
ursprünglichen, weder institutionalisierten noch kommerzialisierten Idee des Christentums
ausgedrückt.
15
  Ist die christliche Trinität (Gott-Vater, Gott-Sohn, Gott-Heiliger-Geist) männlich be-
stimmt, so scheinen der Junge, Christus und Johanna eine neue Trinität zu bilden, der das
Androgyne innewohnt, was im Kontext der inzestuösen Liebe zwischen dem Bruder und
der Schwester von ausschlaggebender Bedeutung ist. Wenn man in dem tot aufgefun-
denen Jungen Peter, der die Pflanzen um den Kopf des Jungen mit einem Dornenkranz
assoziiert, erblickt und sich an sein Bild der Schwester als einer mit Dornen des Buschs
Plenarvorträge 307

dessen Funktion man von der Frage des Bruders – „Wer trank ihr Blut?“
(Trakl 1987: 251) – ableiten kann16. Dieser Frage folgt keine Antwort,
was vermuten lässt, dass das Blut nicht zu trinken ist, sondern ungetrun-
ken bleiben sollte. Darin äußert sich der hauptsächliche Unterschied so-
wohl in Bezug auf das Christentum als auch in Bezug auf die Antike. Wird
der Wein als Transsubstanzierung des Blutes Christi von den Christen ge-
trunken, wodurch sie an die gemeinsame Schuld an seinem Tod erinnert
und in den Schranken der eigenen Existenz dank der der Verletzung der
Grenzen von anderen Menschen entgegenwirkenden und von Christus pro-
pagierten Askese gehalten werden, so spielt auch der Wein in den antiken
Dionysien eine Schlüsselrolle: Der Wein wird getrunken, um eine in der
Ekstase gipfelnde Verstreuung der eigenen Existenz in der Außenwelt zu
vollziehen. In beiden Fällen kommt es zur Aufhebung der Welt: Die Askese
lässt den Menschen in den Abgrund seines Ichs so tief hinabsteigen, dass
er nicht mehr an der Außenwelt teilnimmt; die Ekstase dagegen lässt den
Menschen sein Ich aus dem Körper herausnehmen und es in die Welt ein-
setzen, die kein für die Herauskristallisierung der Individualität notwen-
diges Gegenüber mehr bildet, sondern sich jede dem Rausch des Weins
verfallene Person einverleibt. Im Falle von Johanna ist es anders. Das Rote
des Weins/Blutes wird nicht in das Innere der Menschen transportiert, son-
dern umgekehrt: Die Menschen sollen in das Blut der Schwester treten, das
in dem Moment in die Welt strömt, in dem das vom Wolf vollzogene und
das Zerfleischen des Jungen reflektierende Zerreißen ihres Körpers erfolgt.
Das aus dem Körper von Johanna rieselnde und in die Welt sickernde Blut
verwandelt die Außenwelt in das Innere der Frau17, was insofern wichtig
umflochtenen Person erinnert, kann man zu dem Schluss kommen, dass sich die Trinität
aus Christus, dem Bruder und der Schwester zusammensetzt. Auf diese Weise treffen sich
die Geschwister in einem Körper, und zwar in dem Körper von Christus, dessen Körper
den Körper ihrer Mutter reflektiert, aus deren Schoß sie einst im Akt der Geburt getre-
ten sind. Andererseits ist die Figur von Christus insofern wichtig, als sein Tod und seine
Auferstehung der Situation der Geschwister entgegenkommen, die aus dem den Inzest
verdrängenden Diesseits treten und den Schoß der Mutter als eine menschenfreundlichere
Dimension betreten.
16
  Die Bemerkung des Vaters – „Morgen heben wir vielleicht das Bahrtuch von einem
teueren Toten“ (Trakl 1987: 251) – weist darauf hin, dass der „erlösende“ Tod von
Johanna dem Tod von Christus vorausgeht. Damit wird gleichzeitig angedeutet, dass der
Versuch, Johanna zur Rolle von Christus zu designieren, scheitert. Auch dadurch, dass
Johanna das erstgeborene Kind des Vaters (Trakl 1987: 251) ist, entsteht eine Parallelität
zwischen ihr und Christus, der als erstgeborenes und zugleich letztgeborenes Kind Gottes
gilt.
17
  Diese Verwandlung ist auch dem Bild des aus den Fingern von Johanna rinnenden
Blutes zu entnehmen. Hält man die Finger für die in den Kopf von Christus einschnei-
308 Andrzej Pilipowicz

ist, als das weibliche Innere den Schoß enthält. Der durch das Blut ge-
kennzeichnete Schoß, der sich wie der christliche Himmel und der antike
Hades außerhalb der Wirklichkeit befindet18, ist für die Umorganisierung
des Christentums und für die neue Richtung der menschlichen Existenz
konstitutiv, was auch von einer Vision des Vaters antizipiert wird: In der
Nacht vor dem Tag, an dem die Leiche des Jungen im Wasser entdeckt
wurde, sieht der Vater im dunklen Wasser des die Sterne reflektierenden
Weihers das Bild seiner Tochter, die „in blutende Schleier“ (Trakl 1987:
251) eingehüllt ist19. Dadurch, dass Johanna vor dem Hintergrund der sich
auf der Oberfläche des Weihers widerspiegelnden Sterne erscheint, wird
sie noch stärker mit Christus und mit seiner Wiederbelebung nach dem Tod
verknüpft. Die Sterne lassen nämlich an den Himmel denken, der nicht nur
auf den Raum über der Erde, sondern auch auf das von Christus nach seiner
Kreuzigung betretene Reich Gottes hinweist. Das Bild wirkt antichristlich,
weil man den Eindruck gewinnt, dass Christus im Wasser des Weihers er-
trinkt, was ihn statt der senkrechten die waagerechte Position einnehmen
und ihm statt der Situierung „oben“ die Situierung „unten“ zuteilwerden
lässt20. Deswegen scheinen sowohl Christus als auch der Christus inkar-

denden Dornen, so kann man bemerken, dass die Spitzen der Finger nicht gegen den
Körper, wie es bei den Spitzen der Dornenkrone von Christus der Fall ist, sondern auf die
Außenwelt gerichtet sind.
18
  Weist der Tod der vom Dornenbusch eingekreisten und so an das Bild der Kreuzigung
Christi erinnernden Johanna christliche Züge auf, so entbehrt auch ihr Tod nicht antiker
Elementen, wenn man den sie zerreißenden Wolf für den den Eingang zum Hades bewa-
chenden, wolfartigen Kerberos (Parandowski 1992: 147) hält.
19
  Die Schleier rufen eine Assoziation mit den Schleiern von Salome hervor, die im Drama
Salome von Oscar Wilde dargestellt wird – um so mehr, als Trakl dieses Werk kannte und
eine in der „Salzburger Zeitung“ am 2. März 1906 veröffentlichte Rezension über die
Aufführung des Stücks am Salzburger Stadttheater schrieb (Trakl 2007: 51-54). In Wildes
Werk tanzt Salome den Tanz der sieben Schleier (Wilde 2009: 42) und verlangt dafür die
Enthauptung von Jochanaan (Johannes dem Täufer Christi), dessen Gestalt in den Kontext
des Inzests gestellt wird. Jochannan kritisierte nämlich die Heirat von Herodes Antipas
mit seiner Schwägerin Herodias, die sich dafür an Jochannan rächt, indem sie den Wunsch
von Salome, ihrer aus der Ehe mit Herodes’ Bruder hervorgegangenen Tochter, nach
dem Kopf des Täufers akzeptiert. Die Ähnlichkeit des Namens „Johanna“ mit den Namen
„Johannes“ und „Jochanaan“ lässt darauf schließen, dass Johanna mit ihren blutenden
Schleiern auf ihren eigenen Tod hinweist.
20
  Davon, dass Johanna Christus nicht ersetzt, sondern dem Schicksal Christi eine an-
dere Richtung verleiht, zeugt ihr im zweiten Teil der 1. Fassung des Dramenfragments
erscheinender Ausruf „Elai!“ (Trakl 1987: 253), der dem von Christus am Kreuz ausge-
stoßenen Ausruf – „Eli, Eli, lama asabthani (...) [Mein Gott, mein Gott, warum hast Du
mich verlassen?“] (Die Bibel 1964: 39 <das Evangelium des Matthäus 27,46) und 61 <das
Evangelium des Markus 15,34> Kursivdruck – die Bibel) – ähnelt.
Plenarvorträge 309

nierende Junge nach dem Tod nicht in den Himmel zu Gott zu kommen,
sondern ins Wasser zu fallen und den Schoß von Johanna zu betreten, der
von ihrem sich im Wasser verbreitenden Blut indiziert wird21 und als ein
durch das Element des Wassers bestimmter Bereich sowohl dem durch das
Element der Luft bestimmten Himmel als auch dem durch das Element
der Erde bestimmten Hades entspricht22. Dadurch, dass der Weiher in der
Niederung der Erde platziert ist, erfolgen das Sich-Entfernen von dem
in den Lüften situierten und christlich geprägten Himmel und das Sich-
Annähern an den in der Erde situierten und antik geprägten Hades. Der
Schoß, auf den zwei lebensspendende Faktoren, und zwar das das Innere
des Menschen füllende Blut und das das Fruchtwasser widerspiegelnde
Wasser des Weihers hinweisen, gilt als ein Existenzbereich, dessen ontolo-
gische Konzeption den Himmel und den Hades übertrifft. Erstens gibt der
Schoß die – in der Analyse der 2. Fassung des Dramenfragments behandel-
te – Möglichkeit, aus dem christlichen Diesseits nicht erst nach dem Tod,
sondern auch zu Lebzeiten mittels des Traums zu treten23; zweitens kann der

21
  Die Blut-Schleier von Johanna erscheinen auch in Form der roten Fische, die die Augen
des Jungen fressen. Dadurch, dass die rote Farbe der als Symbole des Christentums gel-
tenden Fische auf das Rot des den Inzest indizierenden Bluts bezogen werden kann, wird
die Möglichkeit angedeutet, die Inzestbetroffenen in die christliche Gesellschaft zu in-
tegrieren. Indem die Fische die Augen des Jungen fressen und so mit den zerstückelten
Augen eines Menschen „ausgestattet“ werden, versuchen sie die Augen des Christentums
für das menschliche Unrecht zu öffnen und die christliche Religion für das Schicksal der
Inzestbetroffenen empfindlicher zu machen.
22
  Das vierte Element – Feuer – gilt als Gegensatz des Wassers und weist auf die Intensität
der (Inzest)Liebe hin: Im Moment des Todes scheidet der Körper von Johanna den wasser-
haltigen Schweiß aus, der sich an ihrer Stirn ansetzt und so an die Außenwelt abgegeben
wird, was Johanna wieder als Pendant zu Christus erscheinen lässt. Da das Blut an der
Stirn von Christus infolge der Stiche der Dornenkrone auftaucht und in die Außenwelt
rinnt, bekommt die Liebe zu Christus und zu den Menschen einen permissiv-manifesten
Status. Dadurch, dass statt des den Schoß indizierenden und im Inneren bleibenden Blutes
an der Stirn von Johanna Schweiß zu sehen ist, bekommt die den Wechsel von Christus zu
Johanna verursachende Inzestliebe einen konspirativ-latenten Charakter.
23
  Die silberne Farbe des Körpers des Jungen, dessen Identität auf Peter überspringt, und
die silberne Farbe der Finger von Johanna kann man auf das silberne Zeitalter der Antike
zurückführen, in dem die Menschen nach Ovid die Unabhängigkeit ihrer Individualität
verloren haben (Ovid 2006: 15). Kannten die Menschen im goldenen Zeitalter „keine
Küste außer ihrer eigenen“ (Ovid 2006: 13), so wurden sie im silbernen Zeitalter den
Unbequemlichkeiten ausgesetzt, die sie in die Beziehungen zu anderen Menschen verwic-
kelten, was ihr Schicksal leichter machen sollte. Dies führte aber auch zur Herausbildung
der Umrisse der Gesellschaft, die zu dem – auch durch den Inzest gekennzeichneten
– Individuum in Opposition steht. Demzufolge vollzieht sich die wahre Existenz der
Inzestbetroffenen in der vom Angriff des Wolfs vernichteten silbernen „Abschirmung”,
was auf die Tendenz hinweist, ihr Leben in das goldene Zeitalter als glückselige Periode
310 Andrzej Pilipowicz

Schoß – unabhängig von dem ideologisch-konfessionellen und biologisch


determinierten Identitätstyp des Menschen – alle in sich aufnehmen, die im
Akt der Geburt aus dem im Inneren der Frau enthaltenen Schoß in die mit
dem Diesseits gleichzusetzende Außenwelt gebracht werden. So wird die
Funktion des Schoßes der Funktion der Erde gleich: Lässt die Erde dank
ihrer vegetativen Kräfte die Pflanzen wachsen, die nach der Verwelkung
in die Erde aufgenommen werden und im Frühling wieder aufblühen, so
kommen auch die Menschen nach ihrem Tod nicht in den toten „Schoß“
der Erde, die als ein entweder in den Himmel oder in den Hades führen-
der Transitbereich betrachtet werden kann, sondern in den Schoß der Frau,
die ihre Existenz rückgängig macht und sie in die erwünschte Ideenwelt
versetzt; drittens kann dem zwischen Johanna und Peter immer stärker an-
gedeuteten Inzest das Signum „prohibitiv“ dadurch entzogen werden, dass
der Schoß für alle aufgeschlossen ist und dass der Bruder nicht verdächtigt
wird, eine inzestuöse Beziehung zu der Schwester eingegangen zu sein.
Einen Hinweis auf den Schoß, der als Zufluchtsort der Inzestbetroffenen an-
gesehen wird, enthalten auch die Worte des Vaters24. In der von Johanna ge-
bildeten Gegen-Wirklichkeit, die in Anlehnung an die Kompilation der an-
tik-christlichen Komponenten entstanden ist und parallel zu dem Diesseits
positioniert ist, spielt neben dem Blut auch das das Fruchtwasser reflek-
tierende Wasser eine große Rolle. Der schwangere, die Inzestbetroffenen
in sich zurücknehmende Schoß ist an dem sich über dem Bach wölbenden
Steg zu erkennen, dessen halbrunde Form deutlich an die Konturen des
Schoßes erinnert. Der Schoß übernimmt um so mehr die Funktion eines
Zufluchtsortes, als man sich die Inzestbetroffenen vorstellen kann, die vor
den Tönen der Glocken – die man für die aus einer Kirche kommenden und
an die Abneigung des Christentums gegen den Inzest erinnernden Klänge
halten kann – fliehen und im Schoß verschwinden. Deswegen verhallen
auch die Klänge der roten und somit inzestbedingten „Jagden“, weil keine
sich in der Dunkelheit des Waldes versteckenden Opfer mehr zu verfol-
gen sind. Eine andere Anspielung auf den Schoß ist dem von Peter ge-

des Individuellen und Antigesellschaftlichen eintauchen zu lassen. Den Eindruck des


Existierens im goldenen Zeitalter erleichtert die Nacht, deren Dunkelheit nicht nur die die
Menschen voneinander trennenden Körper verschwinden, sondern auch an das Silberne
des Mondes als Verkündigung des sich erst in der Ferne abzeichnenden silbernen Zeitalters
denken lässt. Darüber hinaus kann das mit dem Gesellschaflichen zu verbindende Silberne
des Mondes als reduzierte Bewachungsmöglichkeit der Gesellschaft betrachtet werden,
wenn man die – von der Erde aus sichtbare – kleine Form des Mondes in Betracht zieht.
24
  „Leise tönen die Glocken, langsam wölbt sich der schwarze Steg über den Bach und die
roten Jagden verhallen in den Wäldern.“ (Trakl 1987: 251)
Plenarvorträge 311

schilderten Bild der singenden (stöhnenden und deswegen singend anmu-


tenden) Schwester zu entnehmen. Man kann nämlich die aus dem Inneren
von Johanna auftauchende Stimme als Verlängerung des im Inneren plat-
zierten und sich bis an die Grenzen der Hörbarkeit erstreckenden Schoßes
betrachten. Dadurch, dass sich ihre Stimme zu einem Gesang verwandelt,
wird wieder die von den Sirenen vertretene Antike sichtbar. Verlockten die
Sirenen die Segelleute mit ihrem Singen, was sie das Segeln vergessen und
ihre Schiffe an den Klippen zerschellen ließ (Parandowski 1992: 259), so
hängt der Gesang von Johanna nicht mit einer Katastrophe, sondern mit
einer Rettung zusammen, und zwar mit dem Übergang in den Schoß mittels
des Traums, in den die Sirenen die Segelleute vor dem Tod versinken ließen
(Kubiak 2003: 494), wodurch sie selig starben.

Das Blut der Tochter im Blut der Mutter.


Im Kontext des Schoßes von Johanna gewinnt der Schoß ihrer ver-
storbenen Mutter eine neue Optik. Hinter dem in der christlichen Realität
umherirrenden Wolf, in den sich der antike Lykaon verwandelt, kann sich
nämlich auch die Mutter von Johanna verbergen, wenn man den zwischen
diesen Gestalten auftretenden Gemeinsamkeiten Rechnung trägt: Lykaon
wird wegen seiner Auflehnung gegen die antiken Götter dadurch bestraft,
dass er zu einem Wolf wird und so sein menschliches Dasein verliert; Die
Mutter dagegen wird für ihr Sympathisieren mit der Antike und für ihren
Auftritt gegen den christlichen Gott dadurch bestraft, dass sie ums Leben
kommt und so auch ihres menschlichen Daseins verlustig geht. Aus der
Perspektive des „Austritts“ aus dem menschlichen Dasein, für das die
Anerkennung des geltenden Sacrums eine Voraussetzung bildet, wechseln
das Wölfische von Lykaon und das Tote der Mutter ab, was in der verstor-
benen Mutter den Wolf erblicken lässt: Lebt der das Sacrum der Antike
profanierende Lykaon als Wolf in der antiken Welt, so kann die das Sacrum
des Christentums profanierende Mutter nur als Wolf in die christliche Welt
zurückkehren. Die als Wolf verkappte Mutter greift die von ihrem Vater
christlich erzogene Tochter an25 und zieht sie auf die Seite der Antike, in-
dem sie sie in ihren Schoß zurückbringt. Ist Johanna im Geburtsakt aus dem
Inneren der Mutter getreten und durch ihre Vagina in die christlich geprägte
Außenwelt gekommen, so wird sie im Akt des Kannibalismus, der eine Art
Vampirismus ist, durch ihren Mund in das Innere der Mutter zurückge-

  Diese These ist möglich, da an keiner Stelle in der 1. Fassung des Dramenfragments zu
25

erkennen ist, wer zuerst gestorben ist – die Mutter oder die Tochter. Erst die 2. Fassung
des Dramenfragments regelt diese Unklarheit, weil die Tochter lebt und die Mutter tot ist.
312 Andrzej Pilipowicz

führt. Da Johanna ihr erstgeborenes Kind ist, ist anzunehmen, dass die in
den Werwolf verwandelte Mutter ihre Kinder in derselben Reihenfolge in
sich aufnimmt, in der sie sie zur Welt brachte: Die vampirartige Position
der Mutter verknüpft sich mit der Position von Christus, aber – ähnlich
wie im Falle ihrer Tochter Johanna – in einem antichristlichen Sinne, weil
der Vampir als Antichrist gilt (Janion 2008: 8): Gibt der noch am Kreuz
lebende Christus den Menschen sein Blut, so nimmt der Vampir, der als
ein verstorbener Mensch in die Wirklichkeit zurückkommt, den leben-
den Menschen ihr Blut weg. Das Abgeben und das Nehmen des Bluts ge-
schehen in Bezug auf Christus an der Grenze des Todes (zwischen dem
Diesseits und dem Jenseits) und in Bezug auf die Inzestbetroffenen an der
Grenze des Lebens (zwischen dem den Schoß enthaltenden Inneren und
dem mit dem Diesseits identischen Äußeren). Dadurch, dass der Bruder
das nächste Opfer der Wolf-Mutter wird, gerät er ebenfalls in ihr Inneres,
wo sich sein Blut mit dem Blut der Schwester mischen kann. So fließen das
Blut der Schwester und das Blut des Bruders in einem Organismus, was
darauf hinausläuft, dass die beiden ihr Blut gegenseitig „trinken“26 und ihre
Existenzen interferieren lassen. Während Christus aber durch den Verlust
des Blutes in das Jenseits kommt, begeben sich die Inzestbetroffenen we-
gen des von der Mutter getrunkenen Bluts in den Schoß der Mutter (der als
ein dem Jenseits gegenüber platzierter Bereich antik geprägt ist), in dem sie
wie Christus im Jenseits „auferstehen“.

Blut als Bindeglied zwischen der Schwester und dem Bruder.


Das Ende des 1. Teils der 1. Fassung des Dramenfragments liefert deut-
lichere Signale, die auf die Verstrickung von Johanna und Peter in eine
inzestuöse Beziehung schließen lassen. Wenn der Vater über seine Kinder
spricht27, spricht er nicht nur über die Schuld der gegen die Prinzipien des
Christentums verstoßenden Inzest-Geschwister, was mit der Verwandlung
26
  Im Gedicht Passion werden die Geschwister als Werwölfe dargestellt: „Unter finste-
ren Tannen/ Mischten zwei Wölfe ihr Blut/ In steinerner Umarmung“ (Trakl 1987: 69).
Dieses Bild kann das Bild der einander küssenden Geschwister verbergen, wo der Mund
der Schwester an den Mund des Bruders angeschlossen wird. Das Küssen ist nicht nur mit
dem Trinken zu verwechseln, weil der Mund als ein dazu dienendes Organ dient, sondern
auch mit dem gegenseitigen Trinken des Bluts, wenn man in der roten Farbe des Mundes
die rote Farbe des Bluts erblickt.
27
  „Wer spricht? Johanna, Tochter weiße Stimme im Nachtwind, von welch traurigen
Pilgerschaften kehrst du heim. O du, Blut, von meinem Blute, Weg und Träumende in mon-
dener Nacht – wer bist du? Peter, dunkelster Sohn, ein Bettler sitzest du am Saum des stei-
nigen Ackers, hungernd, daß du die Stille deines Vaters erfülltest. O die Sommerschwere
des Korns; Schweiß und Schuld und endlich sinkt in leeren Zimmern das müde Haupt
Plenarvorträge 313

des als Symbol von Christus geltenden Brotes in einen Stein ausgedrückt
wird28, sondern auch über das gleiche Blut, das sowohl in den Adern von
Johanna als auch in den Adern von Peter fließt. Es ist bezeichnend, dass
die Äußerung des Pächters über das Blut zwischen dem Johanna betref-
fenden Satz und dem sich auf Peter beziehenden Satz erscheint, wodurch
die beiden einerseits als engste Blutsverwandte auftreten, andererseits
einen Organismus formen, dessen zwei Teile – Schwester und Bruder –
im gemeinsamen Schoß der verstorbenen Mutter entstanden und von der
sich aus dem Blut der Mutter und dem Blut des Vaters zusammensetzenden
Blutmischung durchblutet wurden. Die durch den Schoß der Mutter be-
stimmte Einheit macht sich in dem Moment geltend, in dem der Vater die
Stimme von Johanna als Surrogat ihres Inneren auf das Bild von Peter als
dessen Äußeres überträgt, wodurch ein androgyn geprägtes Konstrukt ge-
bildet wird und die Geschlechtsmerkmale verwischt werden29. Da Johanna
tot ist und Peter lebt, sind die Geschwister dichotomisch dargestellt: Die

auch. O das Rauschen der Linde von Kindheit an, vergebliche Hoffnung des Lebens, das
versteinerte Brot! Neige dich stille Nacht nun.“ (Trakl 1987: 252)
28
  Der steinige Acker, an dem Peter sitzt, weist auf die Unfruchtbarkeit hin, zu der die
inzestuöse Beziehung von der Gesellschaft verurteilt wird. Zu der Unfruchtbarkeit wird
die Fruchtbarkeit der Erde kontrastiert, die alles reifen lässt: „O die läutenden Herden an
Waldsaum, das Rauschen des Korns” (Trakl 1987: 251). Ähnlich klingt auch ein anderes
Zitat: „O die Ernte di<e...> Schon rauscht das wilde Gras auf den Stufen des Hauses, nistet
im Gemäuer der Skorpion. O meine Kinder“ (Trakl 1987: 252). Deutlich hebt sich die
einfache Ordnung der Gesellschaft von der komplizierten Ordnung der Natur ab, deren
inzestuöser Teil mit dem Adjektiv „wild“ – im Sinne „fremd“ „ausgeartet“ „verfemt“ – be-
zeichnet wird. Auch in der 2. Fassung ist von der gelungenen, die Fruchtbarkeit der Natur
andeutenden Ernte die Rede: „Geerntet ist das Korn, gekeltert die Traube“ (Trakl 1987:
254) und „O die Herbstschwere des Weizens, Sichel“ (Trakl 1987: 255).
29
  Auch das Bild der grünen Schlangen, die im Haselbusch flüstern (Trakl 1987: 251),
gilt als ein verkappter Hinweis auf den androgyn bestimmten Inzest. Die Schlangen, deren
Geschlecht auch aus einer nahen Distanz nicht zu erkennen ist, bilden einen Knäuel, in
dem die einzelnen Körper der Schlangen nicht mehr auf die einzelnen Schlangen zurück-
zuführen sind. Da die Schlangen grün sind, werden sie nicht mehr als gefährlich betrachtet
und rufen keinen Ekel mehr hervor. So werden die die Inzestbetroffenen verkörpernden
Schlangen mit dem Grün des Frühlings und somit mit dem goldenen Zeitalter verbunden,
das durch den ewigen Frühling gekennzeichnet war. Dadurch wird angedeutet, dass die
Inzestbetroffenen an der Demonstration ihrer Gefühle interessiert sind – besonders in dem
zur Manifestation der Emotionen ermunternden Frühling. Das Grün kann auch die grüne
Farbe des rauschgiftartigen Absinths bedeuten, der am Anfang des 20. Jahrhunderts in
den künstlerischen Kreisen Europas sehr verbreitet war und oft die Menschen von der
Wirklichkeit abbringende Halluzinationen bewirkte, was der Situation der die Flucht
aus der Wirklichkeit anstrebenden Inzestbetroffenen entspricht und auf die Biografie der
Geschwister Trakl anspielt, weil sowohl Georg als auch Margarethe zu Rauschgiftmitteln
griffen (Basil 1965: 78).
314 Andrzej Pilipowicz

unsichtbare Schwester, der das Weiße (Helle) zugeordnet wird, steht dem
sichtbaren Bruder gegenüber, dem das Dunkle (Schwarze) zugeschrieben
wird. Gilt das Blut als Substanz, die die Geschwister zu einer Person zu-
sammenschmiedet, so funktioniert der Tod als Ereignis, das sie als zwei
Kehrseiten derselben Person betrachten lässt. Der Tod an sich ist (wie
Johanna) unsichtbar; sichtbar (wie Peter) sind dagegen die Folgen seiner
Wirkung. Aus der Sicht des im Diesseits bleibenden Bruders wird der Tod
mit dem Schwarzen als Trauerfarbe konnotiert30. Aus der Sicht der sich
außerhalb des Diesseits befindenden Schwester dagegen schlägt das
Schwarze ins Weiße um, das als Indikator des Lebens gilt31.

Das Blut der Schwester als Bindeglied zwischen dem Geist und dem Körper.
Der 2. Teil der 1. Fassung des Pächter-Dramenfragments besteht aus
zwei Dialogen, die sich als zwei Monologe erweisen, weil die Schwester,
deren Persönlichkeit in Johanna und in die „Erscheinung“ zerfällt, und der
Bruder, dessen Persönlichkeit sich in den Mörder und den Wanderer spal-
tet, mit sich selbst sprechen. Dank dem Selbstgespräch wird die Rolle von
Johanna noch transparenter gezeigt32. Der Imperativ-Satz, mit dem Johanna
den Wunsch nach den von Dornenstichen verursachten Verletzungen äußert,
kongruiert mit dem Bild, in dem sie in der Erinnerung des Bruders als eine

30
  Das Weiße des Kalks, von dem der Mörder als Teil von Peter (Trakl 1987: 253) spricht,
und das Weiße der Füße von Johanna (Trakl 1987: 252) weisen auch im 2. Teil der 1.
Fassung darauf hin, dass die Persönlichkeiten der Protagonisten auf der Kehrseite der
Wirklichkeit agieren.
31
  Das Weiße kann man im Kontext des Inzests auch als Synonym für das Unschuldige
betrachten, wenn man sich zu Bewusstsein bringt, dass der Inzest kein ideologisch-ange-
lerntes, sondern ein biologisch-angeborenes Phänomen ist.
32
  „Stich schwarzer Dorn. Ach noch tönen von wildem Gewitter die silbernen Arme.
Fließe Blut von den rasenden Füßen. Wie weiß sind sie geworden von nächtigen Wegen!
O das Schreien der Ratten im Hof, der Duft der Narzissen. Rosiger Frühling nistet in
den schmerzenden Brauen. Was spielt ihr verwesten Träume der Kindheit in meinen ze-
rbrochenen Augen. Fort! Fort! Rinnt nicht Scharlach vom Munde mir. Weiße Tänze im
Mond. Tier brach ins Haus mit keuchendem Rachen. Tod! Tod! O wie süß ist das Leben!
In kahlem Baum wohnt die Mutter, sieht mich mit meinen traurigen Augen an. Weiße
Locke des Vaters sank ins Hollundergebüsch – Liebes es ist mein brennendes Haar. Rühre
nicht daran, Schwester mit deinen kalten Fingern.” (Trakl 1987: 252) Wenn Johanna von
einem Tier spricht, das mit keuchendem Rachen ins Haus eingebrochen ist und im 1. Teil
der 1. Fassung als Wolf bezeichnet wird, weist sie darauf hin, dass sich hinter dem Tier,
das den im Wasser tot aufgefundenen Jungen umgebracht hat, auch ein Wolf verbergen
könnte. Diese Stelle bildet auch den ersten deutlicheren Hinweis darauf, dass der Mord
von Johanna metaphorisch ist und sich wegen des Inzests auf den sozialen Tod bezieht,
wodurch sie – auch wegen der Inzestliebe – individuell aufersteht, so wie Christus nach
seinem Tod geistig auferstanden ist.
Plenarvorträge 315

im Dornenbusch steckende Gestalt erscheint, was vor dem Hintergrund der


dornigen Wildnis, in der der Monolog geführt wird, erneut auf die Szene
der Kreuzigung von Christus und seinen von der Dornenkrone umgebenden
Kopf hinweist33. Auf diese Weise versucht Johanna die Überreste des Körpers
von sich abzukratzen und jeden Kontakt mit der materiell bestim­mten
Wirklichkeit abzubrechen, um ihre Existenz ausschließlich in die geistige
Dimension versinken zu lassen34. Die zerbrochenen Augen von Johanna,
33
  Die im 1. Teil der 1. Fassung des Dramenfragments genannten Büsche – der
Dornenbusch und der Haselbusch – bilden Analogone zum Hollundergebüsch und zu den
Augenbrauen in inzestuöser Hinsicht. Alle Orte intensivieren nicht nur den Gedanken der
Inzestbetroffenen an ein der Wirklichkeit entzogenes Versteck, sondern gelten auch wegen
der rauhen Zweige als „Raspelwerkzeuge“, mit denen der in das Netz der sozial-religiösen
Begrenzungen des Individuums verfangene Körper von dem Menschen abgekratzt wird.
Der rosige Frühling, der im Kontext der Augenbrauen auftaucht, weist auf das sich durch
den ewigen Frühling auszeichnende goldene Zeitalter der Antike hin, in dem der Inzest,
der durch das Rosige als Abschattierung vom Rot des Blutes zum Vorschein kommt, keine
starken Kontroversen hervorruft. Das Hollundergebüsch dagegen kodiert den Schoß der
Mutter als Ort der gemeinsamen und sicheren Unterkunft der Geschwister: Entwachsen
die Früchte einem und demselben Zweig, so entsteigen die Geschwister einem und dem-
selben Schoß. Des Weiteren kann man in dem Haselbusch eine Chiffre des Inzests fin-
den, weil die verbundenen Nussschalen einen den Schoß widerspiegelnden Raum bilden.
Schließlich hängt auch der Duft der Narzissen mit den aus einem Schoß der Mutter her-
rührenden Geschwistern zusammen, und zwar nicht nur im Hinblick auf den dem Inneren
der Blumen entströmenden Duft, sondern auch in Bezug auf den Mythos über Narziss.
Dadurch, dass der sich im Wasser auch widerspiegelnde Narziss sein Abbild wahrnimmt
(Parandowski 1992: 134), erscheinen zwei identische Gestalten: Eine Gestalt ist auf der
Wasseroberfläche zu sehen und erweckt den Eindruck einer aus der Wassertiefe auftau-
chenden Person; die andere Gestalt befindet sich über der Wasseroberfläche als eine am
Ufer stehende Person. Dadurch wird die Blutidentität der Geschwister hervorgehoben, die
das im 1. Teil der 1. Fassung auftretende Bild zweier mit einer Nuss gefüllter Nussschalen
aufsteigen lassen.
34
  Das Sich-Entfernen von der Wirklichkeit verrät das das Gesellschaftliche chiffrieren-
de Silberne der Arme, deren Spuren – zum Bedauern von Johanna – noch vorhanden
sind. Es ist bezeichnend, dass das Adjektiv „wild“ nicht mehr im Kontext des Inzests
als einer degenerierten Art der zwischenmenschlichen Beziehungen erscheint, sondern
auf die Rigorosität und Grausamkeit der Gesellschaft übertragen wird, die die Eigenart
des Individuums nicht respektiert. Für wichtig sind auch die Ratten zu halten, die zur
Vernichtung der Wirklichkeit beitragen. Die vom Vater im 1. Teil der 1. Fassung erwähnte
Ernte, die durch die zu der Unfruchtbarkeit der Inzestbeziehung kontrastierte Fruchtbarkeit
der Erde bedingt ist, wird von den Ratten verzehrt: Mit dem Fressen landwirtschaftli-
cher Erzeugnisse wird das „Verschlingen“ der Wirklichkeit ausgedrückt. Auch die den
Tanz von Salome reflektierenden Tänze im Mond scheinen darauf abzuzielen, aus der zu
stark sozialisierten und zu wenig individualisierten Wirklichkeit zu treten. Die wirbelnde
Bewegung des Tanzes lässt den Tanzenden in einer der Wirkung des Todes ähnlichen
Weise aus der Welt verschwinden, indem der Mensch sich in sein Inneres „hereindreht“,
dessen Beschaffenheit der Beschaffenheit des im Inneren der Frau platzierten Schoßes
entspricht.
316 Andrzej Pilipowicz

die die von den Fischen gefressenen Augen des im Wasser tot aufgefun-
denen Jungen reflektieren, beweisen nicht nur den infolge der Blindheit
vollzogenen Verlust der Bindung an die Wirklichkeit, sondern zeigen auch
die Brüchigkeit der Materie und der Außenwelt. Da die Augen keine in
der Wirklichkeit geschehenden Ereignisse mehr registrieren, werden die im
Inneren geschaffene Ideenwelt und die im Inneren entstehenden (Inzest-)
Emotionen intensiver erlebt. Die geistig-emotionelle Verwandtschaft der
Inzestbetroffenen wird von den zwischen den Geschwistern in ihrer Kindheit
gespielten Spielen angedeutet, die durch eine große Nähe gekennzeichnet
waren – eine Nähe, die mit dem Eintritt in die Welt der Erwachsenen nicht
mehr harmlos war und immer mehr Vedacht erweckte. Deshalb ist das rich-
tige und todfreie Leben in der Innenwelt und nicht in der Außenwelt zu fin-
den, die durch den um sich greifenden Tod „gebrandmarkt“ ist. Die verstor-
bene Mutter von Johanna lebt in deren Schoß35, weil sie sowohl als Objekt
als auch als Subjekt existiert, so wie das im Schoß heranreifende Embryo
sowohl der Innenwelt als auch der Außenwelt angehört. Dass die Mutter
Johanna mit den Augen ihrer Tochter sieht, spricht dafür, dass sie sich im
Inneren von Johanna befindet und als Subjekt erscheint, weil ihr Ich in dem
Ich ihrer Tochter enthalten ist. Andererseits sieht Johanna ihre Mutter an
einem Baum stehen, wodurch die Mutter die Merkmale des im Inneren der
Tochter agierenden Objekts zurückgewinnt. Der kahle (blätterlose) Baum
weist darauf hin, dass die Mutter nicht gestorben ist, sondern in eine ande-
re Dimension übergetreten ist – ähnlich wie Blätter, die vom Baum fallen
und in den Boden eindringen, dem der Baum entwächst. Davon, dass der
Tod oder ein todartiges Ereignis das Aufleben in der von Johannas Schoß
gebildeten Außen-Wirklichkeit bedingt, zeugt die den Tod herbeirufende
Anapher („Tod! Tod!“), die sich in die Apostrophe („O wie süß ist das
Leben!“) verwandelt. Dadurch, dass mit der Anapher („Tod! Tod!“) die
sich auf das Blut beziehende Anapher („Fort! Fort!“) einhergeht, wird der
Drang nach dem vom Blut des Schoßes „katalysierten“ Leben noch ver-
stärkt. Indem Johanna das Blut, das in dem Scharlachrot chiffriert wird und
sich außerhalb des Körpers in Form des roten, die Scharlachkrankheit be-
gleitenden Hautausschlags manifestiert, nicht aus dem Mund rinnen lässt36,
35
  Da sie im Inneren von Johanna erscheint, ist darauf zu schließen, dass sie später als ihre
Tochter sterben musste, wodurch eine zusätzliche Parallele zwischen Johanna und Christus
entsteht, dessen Mutter – Maria – auch nach seinem Tode in den Himmel gekommen ist.
36
  Der offene, das Rot aufweisende Mund ist mit einem zum Küssen bereiten Mund zu
assoziieren. Dadurch, dass der Mund geschlossen bleibt, deklariert sie ihre sie mit Christus
verbindende Keuschheit. Der Mund kann zwar mit dem Kuss des Bruders geschlossen
werden, aber jeder Kuss lässt das Blut der Schwester in den Mund des Bruders strömen,
Plenarvorträge 317

sorgt sie dafür, dass das Blut in ihrem Inneren bleibt und ihren Bereich
nicht überschreitet, so wie der Bereich des christlichen Himmels und der
Bereich des antiken Hades nicht ineinander eindringen. Lebt die Mutter
von Johanna in ihrem Inneren, weil sie sich jenseits vom Schoß der Tochter
befindet, so versucht der sich diesseits vom Schoß befindende Vater vor
dem Tod zu fliehen und in das Innere der Tochter vorzudringen, dessen
Grenze von dem (Hollunder)Gebüsch gebildet wird. Diese Grenze über-
schreitet Johanna, um ihrem Vater entgegenzukommen. Dadurch kommt
es zu dem Zusammenlegen der infolge des Todes getrennten Ich-Teile: des
Geistes und des in der Wirklichkeit hinterlassenen Körpers, der die Form
eines Gespenstes hat und deswegen die „Erscheinung“ genannt wird37. Aus
der Sicht der psychoanalytischen Theorie von Sigmund Freud und der von
ihm ausgearbeiteten Struktur des Ichs inkarniert Johanna das Es, in dem
der Todestrieb (Thanatos) und der mit dem Lebenstrieb gleichzusetzende
Sexualtrieb (Eros) walten, während die „Erscheinung“ das Über-Ich reprä-
sentiert, das die von der Gesellschaft aufgestellten und sanktionierten Werte
– Religion und Moral – gestalten (Freud 2007: 251-295)38. Der Gegensatz
zwischen Johanna und der „Erscheinung“, der auch krass in dem Oxymoron
„(s)chneeiges Feuer im Mond!“ (Trakl 1987: 253)39 mitschwingt, beto-

was an das Trinken des in den Wein verwandelten Bluts Christi erinnert und was die Idee
von Johanna, die als ein die Antike mit dem Christentum verknüpfender Heiland gilt,
desavouieren kann.
37
  Verwandelt sich Christus infolge seines Todes am Kreuz aus einem Menschen (Figur)
in eine Idee, wodurch seine Spiritualisierung einen linearen Charakter hat, so weist die
Spiritualisierung von Johanna einen parallelen Charakter auf, weil sie sowohl als Idee
als auch als Figur erscheinen kann: Indem sie mit der „Erscheinung“ spricht, gewinnt sie
menschlich-materielle Züge zurück.
38
  Da Johanna die Bezeichnung „Schwester“ in Bezug auf die „Erscheinung“ verwen-
det, kann man annehmen, dass sie nicht mit sich selbst, sondern mit einer anderen,
vom Inzest betroffenen Frau spricht. Als ein neuer – den Inzest sakralisierender und die
Inzestbetroffenen in die Gesellschaft integrierender – Heiland benutzt Johanna auch das
unter den Christen übliche Vokabular: Die Formen „Schwester“ und „Bruder“ sind im
Rahmen der katholischen Kirche nicht nur Ausdrücke der Gleichberechtigung, sondern
auch der gegenseitigen Zugehörigkeit.
39
  In einem Essay über Trakl erwähnt Franz Fühmann das Wortspiel, das Trakls Dichtung
innewohnt und im Wechsel von Vokalen und Konsonanten besteht, wodurch man die im
Abgrund des Wortes verborgene Bedeutung herausholen kann und wodurch sichtbar wird,
dass in Trakls Gedichten eine immer größere Annäherung an den Tod eine immer größere
Verdichtung des Lebens nach sich zieht: „Was ist so süß an Trakls Gedicht? Sein Klang,
gewiß; doch es ist nicht Musik. – Uns erscheint die Gelegenheit günstig, unsrer Meinung
Ausdruck zu geben, daß zur Beladenheit eines Wortes mit der Mehrzahl »Worte« auch
die Beladenheit mit den Klangassoziationen gehört, die ihm seine Sprache bietet: Das
Wort »Mond« etwa ist den Worten »Mohn« und »Mund« und »Mord« auf eine Weise
318 Andrzej Pilipowicz

nen die Antonyme: Ist Johanna durch Wärme gekennzeichnet, die im


Bild der brennenden Haare zum Ausdruck kommt40, so zeichnet sich die
„Erscheinung“ durch Kälte aus, die an ihren Fingern zu spüren ist. Die
Wunde im Herzen der „Erscheinung“, von der Johanna spricht, ist als Folge
des Angriffs der Gesellschaft zu verstehen, die die Inzestliebe zu töten ver-
suchte. Deswegen wird das Metall erwähnt, das als Stoff zur Anfertigung
von Waffen gilt und an das eiserne Zeitalter der Antike erinnert. In die-
sem Kontext tauchen auch feurige Engel auf, in denen entweder die Engel
von Johanna als neuem Heiland oder die Engel Gottes zu erblicken sind.
Im ersten Falle verbrennen sich die Engel im Akt der Solidarität mit den
Inzestbetroffenen und verlassen so das dem Inzest gegenüber feindliche
Christentum. Im zweiten Fall verbrennen sich die Engel aus Protest gegen
die Schändung des die „Inzest-Bewegung“ adoptierenden Christentums.
Hält man die Engel für die Beschützer der christlichen Religion, in deren
Rolle sie auch im 1. Teil der 1. Fassung des Dramenfragments auftreten,
verbunden, die auch ihre poetischen Begriffe verbindet, und diese Beladung bewußt
zu machen oder besser: als poetisches Element gewonnen zu haben, gehört wesentlich
zur Dichtung der Moderne. – Allein der Klang erschöpft den Sinn nicht, alle Versuche
solcher Reduzierung sind lehrreich gescheitert. – Was also macht die Süße aus? – Der
schöne Friede, gewiß; doch auch seine Zerstörung? – Auch seine Zerstörung, eben seine
Zerstörung (...)“ (Fühmann 1982: 135-136). Wenn man das Wort „Mond“, das im genann-
ten Oxymoron erscheint, als „Mund“ liest, findet man eine Anspielung auf den Kuss der
Geschwister: Einerseits ist der Kuss durch das die Intensität ihrer Liebe widerspiegeln-
de Feurige gekennzeichnet; andererseits chiffriert das Schneeige die Bestrebungen der
Gesellschaft, die Inzestliebe abzukühlen. Auf eine ähnliche Weise kann man an das Zitat
– „Leises Schweben erglühender Blüte“ (Trakl 1987: 252) – herangehen. Betrachtet man
das Wort „Blüte“ als eine nicht existierende Pluralform des Wortes „Blut“, so zeigt sich die
Absicht der die Leiche von Johanna versinnbildlichenden und in der Wirklichkeit restie-
renden „Erscheinung“, nicht in den Himmel hinauf- (Richtung nach oben) und nicht in den
Hades hinabzusteigen (Richtung nach unten), sondern sich schräg dazwischen zu erheben
und „blutwärts“ den Schoß von Johanna zu besteigen. Darauf weist die Stelle hin, wo die
„Erscheinung“ über die Schmerzen des eigenen Schoßes klagt, die phantomisch wirken
und auf den schmerzlich empfundenen Mangel des von Johanna übernommenen Schoßes
schließen lassen: „Brennende Lust; Qual ohne Ende. Fühl’ meines Schoßes schwärzliche
Wehen“ (Trakl 1987: 252).
40
  Im brennenden Haar von Johanna, die aus dem von sich selbst gebildeten Bereich
des Schoßes in den Bereich der Wirklichkeit zurückkehrt, kann man den brennenden
Dornenbusch erblicken, mit dessen Hilfe Gott seinen Übertritt aus dem Bereich des
Jenseits in den Bereich der Wirklichkeit manifestiert und sich Mose (Die Bibel 1964:
62 <Das Zweite Buch Mose 3,2>) offenbart. Das Brennen der Haare, das auf die hohe
Temperatur der im Bereich des Schoßes ausgelösten Gefühle hinweist, ruft das Bild
des Feuers hervor, das mit dem Element des Wassers gekoppelt wird, wenn man sich
an die sich im Weiher zeigende Gestalt von Johanna erinnert. Beide Elemente gelten als
Determinanten der Existenzdimension, die von Johannas Schoß gebildet wird und als eine
Alternative zu Hades und Himmel zu betrachten ist.
Plenarvorträge 319

so stellt sich heraus, dass sie gegen Johanna um den Teil ihres Ichs kämp-
fen, der von ihrer Leiche versinnbildlicht wird. Wenn Johanna und die
„Erscheinung“ wegen des sich nähernden Bruders, dessen Persönlichkeit
in den Wanderer und in den Mörder gegliedert wird, zusammen die Flucht
ergreifen, bestätigen sie nicht nur ihre Zusammengehörigkeit in Bezug
auf die innerhalb desselben Ichs geformte und nach der Aufhebung des
Zwiespalts strebende Identität, sondern sie legen auch die Aggressivität
des Christentums bloß, das immer wieder in die tiefer gelegenen und in-
dividuell bestimmten Segmente des Ichs vorzudringen versucht. Infolge
der Flucht wird die schizophren bedingte Zerspaltung der Persönlichkeit
aufrechterhalten, die zwischen den zwei gegenüberliegenden Polen ge-
spannt wird: Während Johanna über den Dornenbusch in den Bereich des
von sich selbst gebildeten Schoßes tritt41, versinkt die „Erscheinung“ in die
Erde, die als Ort der Bestattung der Verstorbenen ein Weg zum christlich
bestimmten Jenseits ist. Nicht die Flucht der „Erscheinung“, sondern die
Flucht Johannas hat christliche Züge. Indem Johanna in den Dornenbusch
stürzt, wiederholt sie ihre Kreuzigung, die von dem die Dornenkrone
Christi hervorrufenden Bild des Dornenbuschs angedeutet wird und sie –
im Gegensatz zu dem nur seinen Geist ins Jenseits mitnehmenden Christus
– sowohl ihr Blut als auch ihren Geist mitnehmen lässt.

Das Blut des Bruders als Bindeglied zwischen dem Geist und dem Körper.
Wird Johannas Ich in das Es und in das Über-Ich nach Freuds Ich-Modell
geteilt, so zerfällt auch Peters Ich in das Es, das vom Mörder vertreten
ist und von dem im Wechsel mit dem Sexualtrieb (Lebenstrieb) stehenden
Todestrieb veranschaulicht wird, und in das Über-Ich, das sich im Wanderer
äußert, der wegen seiner inzestuösen Natur in der Gesellschaft nicht Fuß
fassen kann und zur ewigen Wanderschaft am Rande der Gesellschaft ver-
urteilt ist42. Davon, dass der Mörder und der Wanderer zwei Teile einer und
derselben Person sind, zeugt ihr gleichzeitiges Aufwachen. Der Satz des
41
  Diese Bewegung zeigt, dass Johanna sowohl Christus als auch Gott in sich verbindet.
Da Johanna zwischen dem Bereich der Wirklichkeit und dem Bereich des Schoßes pen-
delt, ähnelt sie Christus, der infolge der Kreuzigung den Bereich der Wirklichkeit verlässt
und in den Bereich des Jenseits eindringt, aus dem er nur als Idee in die Wirklichkeit zu-
rückkommt. Dadurch, dass Johanna nach dem Austritt aus der Wirklichkiet ihren eigenen
Bereich, d. h. den Schoß betritt, gleicht sie Gott, der den Bereich des Jenseits mit sich
konstituiert.
42
  Diese Wanderschaft erinnert an die als Strafe geltende Wanderschaft des Ewigen Juden
(Ahasver), der Christus auf dem Weg nach Golgatha die Rast verweigert (Körte 2000:
11). So wird sowohl die Existenz des Inzestbetroffenen, der infolge der gesellschaftlichen
Verbannung kein Zuhause mehr hat, als auch die Existenz der Gesellschaft angedeutet,
320 Andrzej Pilipowicz

Wanderers – „Wer schrie in der Nacht, stört das süße Vergessen in schwar-
zer Wolke mir?“ (Trakl 1987: 253) – entspricht dem Satz des Mörders –
„Wer riß aus dem Schlaf mich“ (Trakl 1987: 253) – , wobei nicht nur die
Form der als Frage formulierten Sätze, sondern auch die jeweils am Ende
der Sätze stehenden und auf zwei Varianten derselben Form hinweisenden
Personalpronomen – „mir“ und „mich“ – über eine innere Bindung der bei-
den Protagonisten entscheiden43. Das Inzestuöse, das im Rot des Abends
als Farbe des den Inzest symbolisierenden Bluts zum Ausdruck kommt und
den Zwang zum Abschied von der auf seine Mutter zurückzuführenden
Frau und von dem für seine Schwester stehenden Kind wegen der sich
im Rahmen der Familie entwickelten Inzest-Konstellation andeutet44, ver-
sucht der Wanderer in den Traum einzupferchen, wodurch den Ansprüchen
der den Inzest ablehnenden Umgebung Genüge getan wird. Ein deutliches
Konnotat der Inzestliebe bildet der Hügel, der den schwangeren Schoß
der Mutter reflektiert, den die Geschwister – wenn auch zu unterschied-
die das sich ebenfalls im Inzest äußernde Bild der Menschheit negiert und so gegen den
Humanismus auftritt.
43
  Dass der Wanderer sich in seinem Monolog an Gott und an die heilige Mutter (Maria)
wendet, bestätigt seine Repräsentanz des Über-Ichs, das als die oberste Schicht des Ichs
den direkten Kontakt zu der Außenwelt hat, die mit der sich zum Christentum bekennen-
den Gesellschaft „gefüllt“ ist. Im Gegensatz zu Johanna, deren Name auf den inzestuösen
Teil ihres Ichs übertragen wird und die ihre zerbrochenen Augen erwähnt, versucht der
Wanderer seine Augen zu schonen, wenn er zu dem Mörder sagt: „Weg von meiner Kehle
die schwarze Hand – weg von den Augen nächtige Wunde – purpurner Alb der Kindheit
(Trakl 1987: 253). Dadurch beweist er, dass er den Kontakt zur Außenwelt als Bereich
der Gesellschaft aufrechterhalten will. Die Kehle des Wanderers kann man auf den Rachen
beziehen, von dem Johanna in ihrem Monolog spricht und der ein auf den Wolf zurück-
zuführendes Tier kennzeichnet, wodurch auf den Inzest als ein den „sozialen“ Tod verur-
sachendes Phänomen hingewiesen wird. Das Wort „Alb“ lässt an das Wort „Alp“ denken,
das auf den bösen Spuk der den gemeinsamen Bereich der Geschwister absteckenden
Kindheit zu beziehen ist und einen Teil des Wortes „Alptraum“ ausmacht, mit dem ein bö-
ser Traum der Erwachsenen bezeichnet wird und für den der Wanderer das Erscheinen des
Mörders hält. Dank der Form „Alb“ wird nicht nur die dem Erwachsensein entgegenge-
setzte Richtung eingeschlagen, wenn man der Opposition zwischen dem stimmhaften „b“
und dem stimmlosen „p“ Rechnung trägt. So wird auch die Verwandlung des bösen Spuks
in den guten Spuk angedeutet, wodurch die Positivierung der mit der Angst verbundenen
und den Inzest implizierenden Phänomene erhofft wird. Die im Zitat genannte Wunde
dagegen lässt an die Wunden Christi denken, was – wie im Falle von Johanna – auf den
Austritt der Inzestbetroffenen aus der Wirklichkeit anspielt.
44
  Dadurch, dass die Mutter eine Frau genannt und die Schwester als ein Kind be-
zeichnet wird, entsteht der Verfremdungseffekt, der auch im 1. Teil der 1. Fassung zum
Ausdruck tritt, als Peter die die Züge von Christus annehmende und zur Erlöserin der
Inzestbetroffenen erhobene Johanna als eine fremde Person betrachtet. Darauf, dass der
Wanderer ein Teil von Peter ist, weist auch die Hütte hin, die der Wanderer verlassen hat
und in der jetzt Peter wohnt.
Plenarvorträge 321

lichen Zeiten im Hinblick auf die biografisch bedingte Beziehung zwischen


Trakl und seiner 4 Jahre jüngeren Schwester Margarethe45 – besetzten und
in dem sie ihre den Einflüssen und den Vereinheitlichungspraktiken der
Gesellschaft entzogene Existenz führten. Den glühenden Tränen, die das
Bild des Hügels vervollständigen, kann man die Absicht des Wanderers
entnehmen, in den Schoß der Mutter zurückzukehren. Die aus dem Inneren
des Wanderers strömenden Tränen, zu denen sich seine inzestuöse Identität
verflüssigt, erscheinen vor dem Hintergrund des den Schoß versinnbild-
lichenden Hügels, wo sie gleich verbrennen, um ihrem Eindringen in die
Erde entgegenzuwirken, weil die Erde die Verstorbenen auf den Weg ins
Jenseits als postmortalen Existenzbereich der Christen bringt. Auf diese
Weise hofft er, in den vor Leben strotzenden Schoß der Mutter einzutreten,
der für den Ur-Schoß des durch das Element des Wassers (Weiher) und
das Element des Feuers (brennende Haare) gekennzeichneten Schoßes von
Johannna gehalten werden kann. Da sich der Wanderer als bewusster Teil
des Ichs von Peter gegen die inzestuöse Versuchung wehrt, unternimmt
45
  Die biographisch bedingte Identifikation von Johanna mit Trakls Schwester trifft in
dem Sinne zu, dass Johanna (Jeanne) der zweite Name von Margarethe ist (Trakl 2000:
158). Trakl bekam zwar keinen zweiten Namen (Basil 1965: 19) bei der Taufe, aber er tritt
als Peter im 1905/1906 geschriebenen Drama Totentag auf, wo er von der Protagonistin
namens Grete geliebt wird (Basil 1965: 80). Der Inzest der Geschwister unter der
Berücksichtigung ihrer Biografie lässt sich in Form der phänomenologischen Parabel dar-
stellen, die sich auf folgende Episoden aus Trakls Leben stützt: der zwischen dem 2. und
4. November 1913 mögliche Koitus zwischen Trakl und seiner Schwester (Sauermann
1984: 48); die mit der Fehlgeburt im März 1914 beendete Schwangerschaft (Chiu 1994:
60); der Tod Trakls infolge einer Kokainüberdosis (Saas 1974: 54); der 1917 begangene
Selbstmord von Margarethe Trakl durch Erschießen (Spoerri 1954: 39-40). Die Parabel
könnte eine derartige Form haben: Georg und Margarethe waren Geschwister. Sie wurden
von demselben Mann gezeugt und traten aus dem Schoß derselben Frau. Der Bruder kam
zur Welt mit einer Überdosis an Geist, dessen er sich dadurch entledigte, dass er Gedichte
zu schreiben begann. Die Dichtung nivellierte zwar sein Geistespotenzial, aber enthüllte
gleichzeitig seine mangelnde Dosis an Blut. Ein Teil seines Blutes wurde ihm nämlich von
dem Schoß der Mutter vorenthalten und der erst 4 Jahre später geborenen Schwester zu-
gewiesen, was dazu führte, dass er seiner Schwester immer näher rückte. Mit dem Koitus,
der die größte Annäherung des Bruders an die Schwester bildet, hatte es Georg zum Ziel,
seinen Organismus mit seinem im Körper der Schwester verbleibenden Blut nachzufüllen.
Dies scheiterte: Die Fehlgeburt eines aus dieser Beziehung hervorgegangenen Kindes be-
wies die fehlerhafte Blutkonzentration der Eltern (die Blutverdichtung bei Margarethe und
die Blutverdünnung bei Georg). Da Georg immer mehr Geist auf seine Gedichte übertrug,
versuchte er ihn mit dem „falschen“, vom Kokain erzeugten Geist zu vervollständigen. Als
die Kriegserlebnisse seinen Geist überstrapazierten und ihn eines Tages des Geistes völlig
beraubten, nahm er so viel Kokain ein, dass er starb: Der falsche, mit Kokain gefüllte Geist
wurde von dem wahren Geist des Todes abgelöst. Nach 3 Jahren nahm sich Margarethe
das Leben: Sie erschoss sich, wodurch nicht nur das in sich getragene Blut ihres Bruders,
sondern auch ihr eigenes Blut zurückgegeben wurde.
322 Andrzej Pilipowicz

er den Versuch, den Mörder als unbewussten Teil des Ichs von Peter zu
ermorden, was ihn vor dem sozialen Tod bewahren soll. Deswegen stößt
der Wanderer dem Mörder das Messer in seine rechte Körperseite46, die
blutet und wieder die Assoziation mit dem Rot des den Inzest konnotie-
renden Bluts aufdrängt. Der Mord am Mörder endet aber mit dem Mord am
Wanderer, weil der wegen der Loyalität der Gesellschaft gegenüber vorge-
nommene Angriff auf den Mörder als ein Raubangriff gedeutet wird. Gilt
die inzestuöse, im Es von Peter fixierte Natur als dessen „sozialer“ Mörder,
weil das Brandmal des Inzests die Menschen aus der Gesellschaft aus-
schließt, so ist der Messerstoß des Wanderers, der als Über-Ich von Peter
die Ausführung der von der Gesellschaft aufgeworfenen Normen bewacht,
einerseits als Überfall der Gesellschaft auf die Inzestbetroffenen und ande-
rerseits als opportunistischer Wille zu betrachten, sich selbst zu retten47. Da
infolge der Verwechslung der Mordintentionen48 nicht der Mörder, sondern
der Wanderer ums Leben kommt, ist zu schlussfolgern, dass der Inzest die
das Individuum erschaffende Natur über die von der Gesellschaft heraus-
gebildete Kultur siegen lässt49.
46
  Auf diese Weise versucht der Bruder einen für den Inzest zuständigen Teil seines Ichs
von seiner Persönlichkeit infolge eines dem Selbstmord ähnelnden Aktes zu trennen,
so wie der durch Knochen und Fleisch gekennzeichnete, sozial-christliche Ich-Teil (die
„Erscheinung“) und der durch Blut und Geist bestimmte, individuell-inzestuöse Ich-Teil
(Johanna) im Rahmen der Persönlichkeit der Schwester separiert wurden.
47
  Im Stich des Messers kann man die Stiche der Dornenkrone erblicken, wodurch ange-
deutet wird, dass der das Inzestuöse inkarnierende und als Teil von Peter geltende Mörder
gekreuzigt wird und den Weg der Christus ersetzenden Johanna geht. Bei dem Mord
am Wanderer zeigt sich auch eine Parallele zu dem Mord an der vom Wolf zerfleischten
Johanna, weil die Zähne des Wolfs die Spitze des Messers reflektieren. In diesem Fall
wird der zerrissene Körper hervorgehoben, der als Form der Materie den im Inneren des
Menschen waltenden Geist fesselt.
48
  Neben den Missverständnissen um die Mordmotive treten auch falsche Deutungen
des Begriffs „Gold“ in Erscheinung. Während der Mörder das Gold auf das Geld über-
trägt und sich so den Angriff des Wanderers auf sich erklärt, verbindet der Wanderer das
Gold mit dem goldenen Zeitalter der Antike, in das er den Mörder mit dem Messerstich
zurückzubringen versucht, weil die antike Periode der inzestuösen Natur des Menschen
verständisvoller als die gegenwärtige Gesellschaft entgegentritt. Besteht das Wesen des
Lachens darin, dass ein unerwartetes Element in dem erwarteten Bild der Wirklichkeit auf-
taucht, so bringt der Ausdruck „(l)achendes Gold“ (Trakl 1987: 253) solch eine Situation
mit sich. Das Gold, das dem goldenen Zeitalter der Antike unbekannt war und das Geld
chiffriert, bildet die Grundlage der Existenz in der Wirklichkeit trotz der in der Doktrine
des Christentums gebotenen und der Gesellschaft öffentlich „eingeimpften“ Finanz-
Enthaltsamkeit.
49
  Paradoxerweise erweist sich der Mörder als Raubdieb, weil er nach dem Tod des
Wanderers dessen Ranzen durchsucht. Wenn man den Bruder (Peter) und die Schwester
(Johanna) für eine androgyn bestimmte Ganzheit hält, wird der Schoß von Johanna vom
Plenarvorträge 323

2. Der Bruder hat das Blut der Schwester getrunken


(2. Fassung des Dramenfragments)
Blut innerhalb des Traums contra Blut außerhalb des Himmels.
In der 2. Fassung des Pächter-Dramenfragments werden viele Stellen
aus der 1. Fassung wiederholt, vermischt und auf die anderen Protagonisten
verteilt50. Das Schlüsselereignis, das von dem Tod der Schwester infolge des
Angriffs eines Wolfs gebildet wird, bleibt aus, weil Johanna lebt51. Sie tritt
Ranzen von Peter reflektiert. Demzufolge kann das Öffnen des Ranzens, den der Mörder
zu Raubzwecken durchsucht, dem Öffnen des Schoßes gleichgesetzt werden, der so seine
Bereitschaft zur Aufnahme der Inzestbetroffenen zeigt.
50
  In der 2. Fassung spricht nicht der Vater, sondern Kermor über den gewölbten Steg
und über die sich im Sternenweiher widerspiegelnde Gestalt von Johanna. Statt des
Vaters erwähnt Johanna das wilde Gras. Die gleichen Sätze, die zwischen den einzelnen
Familienmitgliedern kreisen, betonen außerdem das gleiche Blut, das in ihren Adern fließt.
Auch der Satz des Vaters – „O du Blut, von meinem Blute“ (Trakl 1987: 255) – fällt
nicht wie in der 1. Fassung zwischen seiner Äußerung über Johanna und seiner Äußerung
über Peter, sondern umgekehrt: Er wendet sich zuerst an Peter und dann an Johanna, wo-
durch er sich von dem in der Gesellschaft verankerten Peter entfernt und sich der aus der
Gesellschaft ausgetretenen Johanna nähert. Tritt der zwischen Peter und Johanna stehende
Vater für die christlichen Werte in der 1. Fassung ein, so scheint er in der 2. Fassung die
Partei der Inzestbetroffenen zu ergreifen, was dadurch angedeutet wird, dass er seine an
Peter gerichtete Frage – „(W)er bist du? Peter“ (Trakl 1987: 252) – in die Frage – „Wer
sind wir?“ (Trakl 1987: 255) – umformuliert. In diesem Sinne gilt der Vater als Pächter,
der von dem in der Wirklichkeit herrschenden Christentum ein Grundstück pachtet, auf
dem seine die Antike wegen der Akzeptanz des Inzests vertretende Hütte steht.
51
  Dazu, dass die 1. Fassung aus der Perspektive der 2. Fassung ihr metaphorisches
Potenzial vergrößert, trägt die Art der Metaphern bei. Wegen der Dominanz der narra-
tiven, an der Vergangenheit orientieren Konstruktionen in der 1. Fassung haben sie eine
bildhafte und somit statische Form, deren Hermetik in der 2. Fassung insofern abgebaut
wird, als die Metaphern von der Handlung getragen und so belebt werden. Dadurch, dass
sie so einen situativen und somit dynamischen Charakter gewinnen, wird ihre verdich-
tete Struktur „verdünnt“. Infolgedessen werden die Bindungen zwischen den einzelnen
Schichten der Metaphern aufgelockert, was die Bilder im wirklichen Sinne von den
Bildern im übertragenen Sinne unterscheiden und ihre Vielschichtigkeit erkennen lässt.
Darüber hinaus werden einige Teile des Dramas aus der Vergangenheit „herausgezogen”
und in die Gegenwart „eingelassen“, die die Erlebnisse wirksamer an den Leser weiter-
leitet. Wenn in der 1. Fassung die Frage von Peter – „Wer trank ihr Blut?“ (Trakl 1987:
251) – in einem Vergangenheitstempus formuliert wird, erscheint sie in der 2. Fassung in
dem Präsenstempus: „Wer trinkt ihr Blut?“ (Trakl 1987: 254). Die Frage, in der sich der
Inzestakt und der Akt des Vampirismus überlagern, bleibt in beiden Fällen unbeantwortet.
Den Inzest, über den man in einer sehr verschleierten, von Metaphern wimmelnden Form
spricht, wird vorsichtshalber noch in dem Traum „einsperrt“, der einerseits wegen der
Möglichkeit der Aufhebung der in der Außenwelt untilgbaren Chronologie als ein zeit-
loser Bereich gilt und andererseits zur Projektionsfläche der Visionen wird, wodurch alle
mit dem Inzest verbundenen Situationen vergegenwärtigt und so (er)lebensnah gemacht
werden.
324 Andrzej Pilipowicz

gegen Ende des Bruchstücks aus der Schlafkammer in einer somnambu-


len Trance, wodurch ihre Gestalt Merkmale des Onirischen mit sich bringt
und wodurch sich ihr Austritt aus der Wirklichkeit nicht durch den Tod
vollzieht, sondern durch den Schlaf bedingt ist. Zerfällt in der 1. Fassung
das Ich von Peter in den Mörder als seinen der Inzestnatur zugewandten
Ich-Teil und in den Wanderer als seinen der Gesellschaft zugekehrten Ich-
Teil, so wird Peter jetzt durch Kermor repräsentiert, der in den wachenden
Kermor (Analogon zu dem Wanderer) und in den schlafenden Kermor
(Analogon zu dem Mörder) eingegliedert wird52. Während die Grenze zwi-
schen dem Wanderer und dem Mörder als Grenze zwischen dem Bewussten
und Unbewussten intern bestimmt ist, hat die Grenze zwischen den beiden
Kermors als Grenze zwischen der Wirklichkeit und dem Traum einen ex-
ternen Charakter. Als Kermor in das Haus des Vaters kommt, versinkt er
gleich in den Schlaf53. Der wachende Kermor tötet seinen Rappen, dessen
52
  Weisen das am Ende eines Satzes des Wanderers stehende Personalpronomen „mir“ und
das einen Satz des Mörders abschließende Personalpronomen „mich“ auf dieselbe Person
(Peter) hin, so lässt die am Anfang eines Satzes von Peter – „O die Schwester“ (Trakl
1987: 254) – stehende Apostrophe erkennen, dass Kermor einen integralen Teil seiner
Persönlichkeit ist, weil einer seiner Sätze – „O ihre Wege“ (Trakl 1987: 254) – mit einer
ähnlichen Apostrophe beginnt. Nennt der Vater in der 1. Fassung des Dramas Johanna
eine Fremdlingin, in die sie sich wegen des inzestbedingten Einsatzes der von Christus
übernommenen Männlichkeit in ihre Weiblichkeit verwandelt, so bezeichnet er Kermor
als Fremdling, indem er sich auf den den Inzest manifestierenden Ich-Teil seines Sohnes
Peter bezieht.
53
  „Meinem Rappen brach ich im Wald das Genick, da der Wahnsinn aus seinen purpur-
nen Augen brach. Der Schatten der Ulmen fiel auf mich, das blaue Lachen des Wassers.
Nacht und Mond! Wo bin ich. Einbrech ich in süßen Schlummer, umflattert mich silber-
nes Hexenhaar! Fremde Nähe nachtet um mich.” (Trakl 1987: 254) Dadurch, dass er an
dem als Platz des Feuers geltenden Herd einschläft, entsteht eine Parallele zwischen dem
Traum von Kermor und dem Schoß von Johanna, deren Haare in der 1. Fassung brennen
und deren Schweiß auf die hohe Temperatur des vom Gefühl der Liebe erhitzten Inneren
schließen lässt. Folgt man der Bemerkung von Franz Fühmann, der dank dem Austausch
der Vokale und Konsonanten innerhalb der von Trakl verwendeten Wörter deren verborge-
ne Bedeutung dechiffriert, so lässt sich das Wort „Kermor“ in das Wort „Kremor“ verwan-
deln, womit sich eine sehr starke Verwandtschaft zu dem Wort „Kremation“ geltend macht
und auf das Kermor zugeordnete Element des Feuers hingewiesen wird. Der so angedeu-
tete Tod durch Verbrennen zielt auf den Austritt aus der Wirklichkeit und auf den Eintritt
in eine neue Existenzdimension ab, die aber nicht von dem sich Christus aufschließenden
Himmel, sondern von Johannas Schoß gebildet wird. Infolge der Kremation vermeidet
Kermor nicht nur die Bestattung in der die Verstorbenen zum Himmel „einweisenden“
Erde, sondern er strebt auch nach der Verstreuung seines zur Asche verbrannten Körpers
über das Wasser, das ihn in den vom Weiher versinnbildlichten Schoß von Johanna ein-
dringen lässt. Die Kremation wird ebenfalls als eine Methode betrachtet, die es möglich
macht, für immer in den Johannas Traum einzutreten, der in ihrem auch den Schoß enthal-
tenen Inneren entsteht. Dies wird in dem Moment bestätigt, in dem das Feuer des Herdes,
Plenarvorträge 325

rote Augen auf das Blut als Merkmal des Inzests hinweisen. So ergreift er
die Flucht vor seiner inzestuösen Natur, deren Ungezügeltheit sich in der
Verwilderung des Pferdes äußert, das an das Wilde des Wolfes als Mörder
von Johanna erinnert54. Wenn man Kermor auf Peter projiziert, kann in dem
von Kermor vollzogenen Töten des Pferdes das von dem Wolf vollzogene
Töten der Schwester mitschwingen. Mit dem an der Schläfe von Kermor
erscheinenden Blut des wild gewordenen Pferdes, das das „Wilde“ des
Inzests chiffriert und das sich als Korrelat des Blutes von Johanna erweist,
wird darauf angespielt, dass der einschlafende Kermor Johannas Schoß
betritt55:
Sowohl der christlich bestimmte Himmel als auch der inzestuös be-
stimmte Schoß gelten als gleichrangige Dimensionen in Bezug auf ihre
transzendentale Beschaffenheit, aber unterscheiden sich voneinander durch
die Situierung des Bluts. Während sich das Blut im Falle des Himmels
außerhalb des christlichen Jenseits befindet, wofür das Beispiel des sein
Blut im Moment der Kreuzigung in der Wirklichkeit aussetzenden Christus
spricht, ist das Blut im Falle des Schoßes innerhalb des inzestuösen
„Jenseits“ platziert, wodurch die Realisierung der in der Gleichheit des
Blutes bestehenden Inzestliebe zustande kommen kann. Im Gegensatz zu
den christlich bestimmten Beziehungen, die die Unterschiedlichkeit des
Blutes voraussetzen und deswegen eine heterogene Struktur aufweisen, sind
die inzestuösen Beziehungen als homogen zu klassifizieren56. Dadurch, dass

an dem Kermor schläft, erlöscht. Dadurch entsteht der Eindruck, dass Kermor vom Feuer
verbrannt und auf die andere Seite der Wirklichkeit gezogen wird, die der Schoß Johannas
bildet, wird zu dem der Weg über ihren Traum führt. Diesen Übertritt unterstreicht der
Satz des Vaters: „Wer verläßt mich!“ (Trakl 1987: 254). Andererseits kann man in dem
Kremationsfeuer das Feuer des von der Inquisition errichteten Scheiterhaufens erblicken,
auf denen die Häretiker verbrannt wurden, deren Anschauungen ebenso wie die Gefühle
der Inzestbetroffenen im Widerspruch zur katholischen Kirche standen.
54
  Da das Pferd dem Wahnsinn verfällt, wird die Bewegung aus der Außenwelt in die
Innenwelt des Schoßes angedeutet, weil man den Wahnsinn als einen Zustand definie-
ren kann, der den gleichzeitigen Aufenthalt in sich ausschließenden Bereichen ermög-
licht – in der Wirklichkeit und im Traum oder in der Innenwelt und in der Außenwelt.
Diese Bewegung charakterisiert auch die Inzestbetroffenen, die im Akt der Geburt aus
dem Schoß der Mutter kommen und in den Schoß von Johanna als Ort des Exodus aus
dem den Inzest bekämpfenden Christentum treten. Das Wahnsinnige wohnt auch Johanna
inne, die im 1. Teil der 1. Fassung in den Dornenbusch versinkt, aus dem sie im 2. Teil der
1. Fassung heraustritt und in den sie wieder hineinstürzt.
55
  „Mein Blut über dich – da du brachest in meinen Schlaf.“ (Trakl 1987: 255)
56
  Der Inzest kann einen nicht minder scharfen Widerwillen erwecken, den das Christentum
erregen kann, wenn man im Sakrament der Eucharistie den Akt des Kannibalismus er-
blickt.
326 Andrzej Pilipowicz

gerade die Schläfe von Kermor mit dem Blut des Pferdes bespritzt wird,
vollzieht sich das ihn in den Schoß von Johanna einschließende Sakrament
der „inzestuösen“ Taufe. Die mit Blut bedeckte Schläfe lässt nicht nur an
die die Schläfe von Christus berührende und seine Himmelfahrt mitbedin-
gende Dornenkrone57, sondern auch an die Gestalt von Johanna denken,
die mittels des Schlafs die Inzestbetroffenen in ihren Schoß aufnimmt58.
Das Wort „Schläfe“, das den Austritt aus der Wirklichkeit und den Eintritt
der Christen in den Himmel codiert, impliziert nämlich das Wort „Schlaf“,
das den Eintritt der Inzestbetroffenen in den Schoß von Johanna verkün-
det, und das Wort „Schläferin“, zu der Johanna als traumwandelnde Figur
wird59. Indem Kermor gleich nach dem Austritt aus dem Schlaf, dessen
57
  Eine den Dornen ähnliche Funktion hat das wilde, das Ambiente des Inzests andeutende
Gras, das in die Sohlen einschneidet: „O das wilde Gras auf den Stufen, das die frierenden
Sohlen zerfleischt“ (Trakl 1987: 255). Dadurch, dass nicht der Kopf mit den Dornen
(Christus), sondern die Füße mit dem Gras (Inzestbetroffenen) gestochen werden, kommt
erneut die Polarisierung vom Christentum und vom Inzest zum Ausdruck, worauf die ge-
genüberliegenden Körperteile – der Kopf und die Füße – hinweisen.
58
  In der 2. Fassung wird im Kontext der im Sternenweiher erscheinenden Johanna di-
rekt von dem Schoß gesprochen, der in der 1. Fassung in Form der blutenden Schleier
veranschaulicht wird. Die unsichtbare (innere) Seite des Schoßes wird als „glühend“
(Trakl 1987: 254) bezeichnet, während die sichtbare (äußere) Seite des Schoßes in der
Metapher der „eisige(n) Schleier“ (Trakl 1987: 254) ausgedrückt wird. Das Eisige, in
dem das Kalte der Leiche mitschwingt, spielt auf die Scheidung von der Welt auf eine
ähnliche Weise an, in der der Tod die Lebenden von der Welt wegnimmt. Die Situation des
Inzestbetroffenen, der in der christlichen Wirklichkeit gefangen gehalten wird, stellt das
Bild eines im Kristall erstarrten Wesens (Trakl 1987: 255) dar. Indem Johanna das Kristall
mit den silbernen (gesellschaftlichen) Fingern zu zerkratzen versucht, bemüht sie sich,
Kermor aus dem „sozialen Gefängnis“ mit der gleichen Kraft herauszuholen, mit der er in
dieses Gefängnis von der Gesellschaft eingepfercht wurde. Sein Körper wird von Johanna
für das Grab vorgesehen, in das auch die „Erscheinung“ als ihr Ich-Teil in der 1. Fassung
kommt. Sein Blut, das von Johanna als „süßes Blut“ (Trakl 1987: 255) bezeichnet wird,
hat dagegen für sie einen großen Wert, weil das miteinander gemischte Blut der beiden die
Idee der durch das gleiche Blut der Eltern gekennzeichneten Inzestliebe entspricht und die
Interferenz ihrer Existenzen „besiegelt“.
59
  Das Bahrtuch, das in der 1. Fassung einer „teuren“ (Trakl 1987: 251), auf Christus zu
beziehenden Gestalt weggenommen wird, wird in der 2. Fassung der als Schlafwandlerin
(Schläferin – Trakl 1987: 254) getarnten Johanna weggenommen, wodurch die Parallele
zwischen Christus und Johanna untermauert wird. Das Bild des von Dornen umgebenen
und in Metall verwandelten Herzens (Trakl 1987: 254), das von der im Silbernen chiffrier-
ten Gesellschaft „angeboten“ wird und das einen von der Umgebung in den Tod gehetzten
Inzestbetroffenen vor Augen führt, weist darauf hin, dass die – wenn auch nur vorläufige
und unzuverlässige – Flucht vor der Wirklichkeit im Schlaf verwirklicht werden kann.
Das Bild des schwarzen Wurms, der „purpurn am Herz bohrt“ (Trakl 1987: 255), bezieht
sich auf den Versuch, die von der Gesellschaft errichteten und die Inzestbetroffenen von-
einander trennenden Barrieren zu durchbohren. Wenn von der Wolke die Rede ist, die sich
in der 1. Fassung auf den Traum bezieht (Trakl 1987: 253) und die in der 2. Fassung aus
Plenarvorträge 327

Glückseligkeit mit der Wirkung eines aus Mohn (Trakl 1987: 255) ge-
wonnenen Rauschgifts beschrieben wird, wieder die Flucht ergreift, ver-
sucht er seine inzestuöse Natur zu verdrängen. Deswegen verbindet er den
Inzest nach dem Erwachen mit der zum Himmel in Opposition stehenden
Hölle (Trakl 1987: 255), deren Antichristlichkeit mit der okkultistisch ge-
prägten Antichristlichkeit der Hexe korrespondiert, die er in Johanna vor
dem Einschlafen erblickt (Trakl 1987: 254)60. Den aus Angst ins Dunkel
fliehenden Kermor versucht Johanna zu fangen, indem sie aufsteht und so
einer aufgerichteten Flamme einer Kerze ähnelt, deren Flamme ihre bren-
nenden Haare und die glühenden Tränen des Wanderers im 2. Teil der 1.
Fassung reflektieren – eine Flamme, deren Feuer die Dematerialisierung
des Daseins andeutet und den Eintritt in den Schoß bedingt.

Das Blut der Schwester im Blut des Bruders.


Gilt in der 1. Fassung des Dramenfragments der Angriff des Wolfs auf
Johanna als Angriff der den Inzest duldenden Antike auf das den Inzest
verurteilende Christentum, so ist der Angriff Kermors auf das Pferd als
Angriff der christlichen Gesellschaft auf die Antike zu betrachten, auf die
der sich in den roten Augen des Pferdes abzeichnende Inzest anspielt. Das
Blut des Pferdes führt Kermor in das mit Blut gefüllte und den Schoß ent-
haltende Innere von Johanna in dem Moment, in dem er einschläft und
der als Schlafwandlerin auftretenden Johanna begegnet. Die Umkehrung
der Mordmotive (Antike/ Christentum), der Täter (Wolf/ Kermor) und der
Opfer (Johanna/ Pferd) betont das umgekehrte Verhältnis, das zwischen
dem Traum und der Wirklichkeit besteht. Deswegen kann das auf Kermor
im Bereich des Schlafes von Johanna verschüttete Blut während des den
Eintritt in den Bereich der Wirklichkeit signalisierten Erwachens in das

Stahl (Trakl 1987: 255) gemacht wird, wird angedeutet, dass die Gesellschaft mir ihrer
gegen den Inzest gerichteten und sich im Stahl der Waffen äußernden Aggressivität die
Inzestbetroffenen in den den Bereich des Traums eröffnenden Schlaf „hineintreibt“.
60
  Das Haar, dessen silberne Farbe als Ausdruck der maskierten Fähigkeiten von
Johanna zur sozialen – von Kermor als „fremde Nähe“ (Trakl 1987: 254) bezeichneten
– Assimilation zu betrachten ist, schirmt den einschlafenden Kermor von der Außenwelt
ab und wiegt ihn in den Schlaf. Dadurch, dass Johanna eine Hexe genannt wird, wird ihr
Widerstand gegen die Christianisierung noch deutlicher betont, weil sie an Scheiterhaufen
denken lässt, in deren Feuer sowohl Hexen als auch andere Häretiker von den Vertretern
der katholischen Kirche verbrannt wurden. So nimmt Johanna die Position außerhalb des
Christentums ein, von der aus sie es näher zur Antike hat – zu der Welt, auf die auch
der Donner (Trakl 1987: 255) hinweist, der neben dem Blitz als Attribut von Zeus gilt
(Parandowski 1992: 56).
328 Andrzej Pilipowicz

Blut verkehren, das sich in Kermor befindet, was mit dem Trinken als Akt
des Einführens einer Flüssigkeit in den Organismus zusammenhängt.

Fazit
In ihrem Buch Wampir. Biografia symboliczna [Der Vampir. Eine sym-
bolische Biographie] bemerkt Maria Janion, dass der Vampir überall dort
zu erscheinen pflegt, wo es Blut gibt oder nach Blut riecht (Janion 2008: 7).
Da der Inzest, der als Blutschande bezeichnet wird und die Beziehung zwi-
schen Georg Trakl und seiner Schwester Margarethe bestimmt, durch das
Blut gekennzeichnet ist, sollte das Vampirische auch im Kontext der im
Werk von Trakl thematisierten Inzestliebe der Geschwister auftreten. Die
sich auf die Schwester beziehenden Sätze des Bruders – „Wer trank ihr
Blut?“ (Trakl 1987: 251) und „Wer trinkt ihr Blut?“ (Trakl 1987: 254)
–, die in dem 1914 entstandenen Pächter-Dramenfragment von Trakl fal-
len, veranlassen zur Suche nach einem am Mord der Schwester schuldigen
Vampir. Es sind auch Sätze, in denen die christliche Verurteilung des Inzests
und die antichristliche Idee vom Vampir zusammenfallen: Im Gegensatz zu
Christus, der infolge des Todes am Kreuz den anderen sein Blut gibt, nimmt
der Vampir den anderen das Blut weg. Die Analyse des oben genannten
Textes, der in zwei sich gegenseitig ausschließenden Varianten überliefert
wurde und deswegen um so hermetischer wirkt, lässt nicht nur aus verschie-
denen Quellen stammende Inspirationen aufeinander einwirken, sondern
auch ein Bruchstück, das unter den Trakl-Forschern bisher keine Beachtung
gefunden hat, aus der Vergessenheit herausholen. Auf diese Weise wird die
sowohl vor dem Hintergrund des Expressionismus als auch aus heutiger
Sicht innovative Sprache der Dichtung von Georg Trakl, in der die Welt
eines vom Inzest betroffenen Menschen chiffriert ist, mit der Tradition der
Romantik verbunden, zu deren Kulturerbe der Vampirismus zweifelsoh-
ne gehört. Der Vampirismus als integraler Teil der Romantik drückt die
Leben-Tod-Implikationen ebenso suggestiv aus, wie dies bei der christli-
chen Exegese der Existenz der Fall ist. Die Inversion der Perspektive, aus
der die Semantik des Blutes betrachtet wird, öffnet den Weg zur Antike, wo
man dem als Prototyp des Vampirs geltenden Werwolf Lykaon begegnet
und wo Trakl ein Asyl für seine Inzestidentität zu finden versucht.
Plenarvorträge 329

Literatur
Basil, O. (1965) Georg Trakl in Selbstzeugnissen und Bilddokumenten. Reinbek bei
Hamburg.
Chiu, Ch. S. (1994) Frauen im Schatten. Wien.
Die Bibel (1964) Die ganze Heilige Schrift des Alten und Neuen Testaments. Köln.
Freud, S. (2007) Das Ich und das Es: Metapsychologische Schriften. Frankfurt/Main.
Fühmann, F. (1982) Der Sturz des Engels. Erfahrungen mit Dichtung. Hamburg.
Goethe, J. W. (1998) Die Geschwister. In: Goethe W. J.: Werke, Bd. 4. München, 352-367.
Hermes, J. T. (1770) Geschichte der Miss Fanny Wilkes. Leipzig.
Janion, M. (2008) Wampir: Biografia symboliczna. Gdańsk.
Kleefeld, G. (1985) Das Gedicht als Sühne. Georg Trakls Dichtung und Krankheit. Eine
psychoanalitische Studie. Tübingen.
Körte, M. (2000) Die Uneinholbarkeit des Verfolgten. Der Ewige Jude in der literari-
schen Phantasie. Frankfurt/Main.
Kubiak, Z. (2003) Mitologia Greków i Rzymian. Warszawa.
Lévi-Strauss, C. (1981) Die elementaren Strukturen der Verwandtschaft. Frankfurt/Main.
Marx, J. (1993) O poetach przeklętych. In: Marx J.: Legendarni i tragiczni. Andrzej Bursa,
Halina Poświatowska, Rafał Wojaczek, Stanisław Grochowiak, Edward Stachura,
Kazimierz Ratoń. Warszawa, 5-47.
Ovid (2006) Metamorphosen. Stuttgart.
Parandowski, J. (1992) Mitologia. Wierzenia i podania Greków i Rzymian. Londyn.
Saas, Ch. (1974) Georg Trakl. Stuttgart.
Sauermann, E. (1984) Zur Datierung und Interpretation von Texten Georg Trakls. Die
Fehlgeburt von Trakls Schwester als Hintergrund eines Verzweiflungsbriefes und des
Gedichts »Abendland«. Innsbruck.
Spoerri, T. (1954) Georg Trakl. Strukturen in Persönlichkeit und Werk. Eine psychiat-
risch-anthropographische Untersuchung. Bern.
Trakl G. (1987) Dichtungen und Briefe. Salzburg.
Trakl, G. (2000) Sämtliche Werke und Briefwechsel, Bd IV.2. Frankfurt/Main, Basel.
Wilde, O. (2009) Salome. Stuttgart.
Odile Schneider-Mizony (Strasbourg)

Zum Verständnis von Sprachen und Kulturen


in französischer Fremdsprachenpolitik

1. Stand des Fremdsprachenunterrichts in Frankreich


1.1 Gesamtüberblick
Nach den letzten Erhebungen des französischen Schulministeriums
genießen Fremdsprachen eine hohe Wertschätzung: so gut wie alle Schüler
lernen im Gymnasium eine erste Fremdsprache (99,7%)1, 83% lernen eine
zweite Fremdsprache2 und 7 % eine dritte. Diese schönen Zahlen gelten
im Durchschnitt und charakterisieren das humanistische Gymnasium: im
beruflichen lernen viel weniger Schüler eine FS2, da diese bis vor kurzem
ein Wahlfach darstellte, und gar keine eine FS3.
Französische Schüler fangen in der Grundschule (école élémentaire) mit
acht Jahren an, eine Fremdsprache zu lernen, in 95 % der Fälle Englisch,
obwohl theoretisch acht nationale Sprachen zur Wahl stehen — Arabisch,
Chinesisch, Deutsch, Englisch, Italienisch, Portugiesisch, Russisch
und Spanisch3 — und dazu noch sechs regionale: Baskisch, Bretonisch,
Katalanisch, Korsisch, Elsässisch und Okzitanisch. Noch wird ihre klei-
ne Seele in diesem Alter nicht zu sehr überfordert: Ganze 54 Stunden im

1
  Alle Zahlen aus verschiedenen Stellen zusammengesucht aus Références et repères sta-
tistiques 2011.
2
  Ab jetzt für erste Fremdsprache FS1, für zweite Fremdsprache FS2, usw.
3
  alphabetische Reihenfolge und nicht nach Wichtigkeit.
Plenarvorträge 331

Schuljahr werden dafür vorgesehen, d. h. bescheidene anderthalb Stunden


pro Woche.
Im Gymnasium wird die Liste der möglichen (immer nationalen) FS1
um 4 Einheiten verlängert: Hebräisch, Japanisch, Niederländisch, Polnisch,
die auch als zweite oder dritte Fremdsprache gewählt werden können. Der
französische Staat bildet Fremdsprachenlehrer und -lehrerinnen in den
eben genannten Sprachen aus und stellt sie als Beamten ein. Türkisch, die
oben genannten regionalen Sprachen und die Muttersprachen der Übersee-
Gebiete, d. h. kreolische oder melanesische Sprachen, können als FS2 oder
FS3 gewählt werden, lediglich als FS3 werden folgende Sprachen unter-
richtet: Armenisch, Dänisch, Finnisch, Griechisch, Kambodschanisch,
Persisch, Schwedisch, Vietnamesisch und die Taubstummensprache
(Gebärdensprache). Der Lehrerstatus bei diesen Sprachen schwankt zwi-
schen der Sicherheit des Beamtenstatus bei nationaler Eignungsprüfung
(CAPES), wie sie 2010 für die Gebärdensprache ins Leben gerufen wurde,
und der Einstellung auf Stundenbasis für selten gelernte Sprachen.
Insgesamt gibt es also 44 Sprachen, die den Status einer Schuldisziplin
besitzen und beim Abitur geprüft werden können, mit einer mündli-
chen Prüfung, falls es die Schulbehörde bei sogenannten “seltenen”
Fremdsprachen schafft, einen Prüfer zu finden, oder sonst schriftlich. Sieben
Jahre lernen Schüler ihre erste Fremdsprache, 5 Jahre ihre zweite und drei
Jahre ihre dritte. Die geringe Stundenzahl in der Volksschule und ihre auf
spielerische Sensibilisierung ausgerichtete Didaktik lassen die zwei Jahre
vor dem Eintritt ins Gymnasium kaum als Möglichkeit des Spracherwerbs
zählen, was vom ehemaligen französischen Premierminister François
Fillon auch bestätigt wurde, als er, am 3. Oktober 2010 nach der geringen
Mittelzuwendung für die fremdsprachliche Grundschullehrerausbildung
gefragt, sich damit rechtfertigte, man „solle es mit der Qualität in der
Grundschule nicht übertreiben, es wäre eine Einführung, und man wäre
nicht dabei, Englisch in der Schule zu lernen.“4
Studenten haben drei weitere Jahre Sprachunterricht, denn Universität
und Handels-, Kunst- oder Journalismusschulen fordern von ihren
Bachelor- und Masterstudenten die Belegung einer lebenden Fremdsprache
während des Studiums. 2004 wurde eine besondere Zertifizierung für
studentische Fremdsprachenkompetenzen ins Leben gerufen: das CLES
ou Certificat de Compétences en Langues de l‘Enseignement Supérieur,
das zwölf Sprachen betrifft: Arabisch, Chinesisch, Deutsch, Englisch,

  Von mir übersetzt; http://www.arretsurimages.net/vite.php?id=972; Zugriff am 10/10/10.


4

Man bemerke auch die Gleichsetzung von Fremdsprachen mit Englisch.


332 Odile Schneider-Mizony

Italienisch, Niederländisch, Polnisch, Portugiesisch, Russisch, Schwedisch


und Spanisch. Allerdings schreiben sich bis jetzt jährlich nur 30 000 bis
40 000 Studenten in dieser Zertifizierung ein, und lediglich 40 % der
Prüflinge schaffen sie auch tatsächlich. Bei ungefähr zweieinhalb Millionen
Studenten sind es also etwa 0,5 % der Studenten, die ein akademisches
Fremdsprachenzertifikat erhalten, was die typische französische Diskrepanz
zwischen hochtrabendem Diskurs und ernüchternder Wirklichkeit wider-
spiegelt.
Dieselbe Paradoxie trennt auch die große Bandbreite der theoretisch zu
erwerbenden Fremdsprachen und ihre praktische Beschränkung: Die bis zu
drei Fremdsprachen gelten ja erstens nur für das humanistische Gymnasium.
Zweitens können nicht alle nationalen und keine der regionalen Sprachen
als FS1 gewählt werden. Und es besteht für die Schulverwaltung nicht
die entsprechende Pflicht, den dazugehörigen Unterricht auch am ge-
wünschten Einschulungsort anzubieten. Dafür ist eine Mindestanzahl von
Schüleranfragen nötig, die je nach Académie (französischer Schuldistrikt)
zwischen 8 und 12 pendelt. Eine regionale Nähe oder Verwurzelung lie-
fert allerdings ein Argument zur Öffnung der entsprechenden Klassen, wie
etwa Deutsch im Osten Frankreichs, Spanisch im Südwesten, Italienisch im
Südosten oder Niederländisch im Norden Frankreichs.
Diese Fremdsprachenpolitik nach dem Territorialprinzip, wo sowohl
Nachbarsprache als auch Regionalsprache konvergieren (zum Beispiel
im Elsass für das Deutsche), ist eine Effizienzberechnung seitens des
Schulministeriums, die schon vorhandene Trends verstärkt: Schüler und
ihre Eltern, die in Frankreich mehrheitlich die Fremdsprachenwahl ihrer
Kinder bestimmen, scheuen mit Recht die praktischen Probleme, die mit
einer selten unterrichteten Sprache einhergehen, und wählen die Sprachen
aus, die schon am häufigsten unterrichtet werden. Die Zahlen sehen dann
für den Sekundarbereich (zwischen 10 und 18 Jahren) folgendermaßen aus:
In der Volksschule wählen 87% der Schüler Englisch, 10% Deutsch,
und 3 % Arabisch, Spanisch, Italienisch und Portugiesisch, oft als Sprachen
einer ehemaligen oder rezenten Einwanderung.
Als FS1 lernen 94% Englisch, 7% Deutsch und 2% andere Fremdspra­
chen; dass die Summe 100 übersteigt, ergibt sich aus der Möglichkeit, zu-
gleich mit zwei FS1 zu beginnen, worauf später noch zurückgekommen
wird.
Die Verteilung zur FS2 ist genauso ungleichgewichtig: Spanisch erobert
70% der Schülerherzen, Deutsch 15%, und alle anderen Sprachen teilen
sich die übrigen 15% auf.
Plenarvorträge 333

Die FS3 ist das Reservoir für drei Sprachen: Italienisch einerseits als
Sprache eines Urlaubslandes und Sprache einer ehemaligen Einwanderung;
Russisch und Chinesisch andererseits, Weltsprachen, die vor allem deswe-
gen erkoren werden, weil sie als schwierig gelten. Das soll den Zugang zum
Elitegymnasium des Stadtzentrums erlauben, in das die Eltern ihre Kinder
gern unter dem Vorwand eines ausgefallenen Wahlfachs schicken. Andere
als die genannten Sprachen kommen auf sehr geringe Zahlen, wie das
Polnische, das im Jahr 2010-2011 in nur sieben Gymnasien in Frankreich
angeboten wurde, und dessen Schülerzahlen in den Statistiken nicht gefun-
den werden konnten.

1.2 Zum besonderen Stand des Deutschunterrichtes


Die Wahl des Deutschen als FS1 und FS2, die seit 30 Jahren drastisch
zurückgegangen ist, hat sich seit dem Schuljahr 2004-2005 zumindest sta-
bilisiert. Verantwortlich wird vor allem eine schulpolitische Maßnahme
aus dem Jahr 2000 gemacht, die es einem Schüler erlaubt, beim Eintritt
ins Gymnasium (sogenannte sixième) sich für zwei gleichgestellte
Fremdsprachen einzuschreiben, Englisch und eine andere Fremdsprache
seiner Wahl, und beide gelten als “erste Fremdsprache” mit gleichem
Gewicht für die Leistungsbeurteilung. Die Klassen werden “bi-langues”
genannt, Klassen mit zwei Sprachen. Die theoretisch offene Wahl für die
zweite Fremdsprache fällt in 90% der Fälle auf das Deutsche. So steigen
die Zahlen für Deutsch als FS 1, während es als FS 2 zurückgeht. Es ist
aber nicht so, dass die eine Sprache das verlieren würde, was die ande-
re bekommt, denn ein Status als erste Fremdsprache ist für den Erhalt
des Deutschunterrichts viel wichtiger, da etliche Schüler im Laufe ihrer
Schullaufbahn die zweite Fremdsprache aufgeben, wenn die Anforderungen
in den anderen Fächern steigen.
So sichert der Rang als erste Fremdsprache (entweder als einzige oder im
Rahmen des Zwei-Sprachen-Systems) den Bestand des Deutschunterrichts
sieben Jahre lang und eine einigermaßen korrekte Kenntnis der
Sprache beim Durchschnittsschüler. Diese Klassen mit gleichgestellten
Erstfremdsprachen wurden zuerst im Elsass eingeführt, wo sie inzwischen
50% der Schüler umfassen, und haben sich von da aus ins übrige Frankreich
verbreitet. Sie erfreuen sich einer großen Beliebtheit bei den schulbewuss-
ten Eltern, weil sie den Vorstellungen eines frühen Fremdsprachenlernens
am meisten entsprechen (sogenannte Theorie des kritischen Alters). Von der
Schulverwaltung werden sie als kostenintensiv eingestuft, denn sie muss
Sprachlehrer (der zweiten Fremdsprache) zwei Jahre früher bereitstellen,
334 Odile Schneider-Mizony

und die Behörden bremsen mit dem Hinweis auf ihren elitären Charakter.
Es springen dann Privatschulen, konfessionelle oder einfach elitäre, in die-
se Marktlücke des staatlichen Unterrichts: Letztes Jahr wurde ein Drittel
der Klassen mit zwei FS1 von nicht-staatlichen Trägern gestellt.
Beim Studieneintritt bessert sich der Prozentsatz der Deutschlerner
über den erwarteten Durchschnittswert von 10 %: Deutsch wird von 24%
der Studenten der naturwissenschaftlichen Fächer gelernt und von 35%
der Studenten, die sich für eine Elite-Hochschule entscheiden: Dieses
Phänomen ist beispielhaft für die Koppelung von Deutschunterricht und
Qualitätsprofilierung in Frankreich. Im Bewusstsein der Franzosen, die
eine kasuslose Sprache sprechen und mit Englisch eine weitere kasuslose
Sprache gelernt haben, gilt Deutsch als schwere Sprache, eine Art moder-
nen Lateins (Schneider-Mizony, 2008), worin die besseren Schüler eher
Erfolgschancen hätten als diejenigen, die schon mit anderen Schulfächern
zu kämpfen haben. Dem Abschreckungseffekt auf mittelmäßige oder mut-
lose Schüler steht die Attraktivität der Deutschklassen für ehrgeizige Eltern
und gute Schüler gegenüber, solche Schüler, die sich mit etwas Glück in
den Exzellenz-Studiengängen wiederfinden.
Die Sprachwahl verstärken die politischen Fördermaßnahmen des
deutsch-französischen Staatenpaares, die beide immer wieder beteuern, wie
wichtig ihre Zusammenarbeit für Europa sei, und dass man das Erlernen
der Sprache des Nachbarn fördern wolle. Das tun sie mit symbolischen
Maßnahmen, etwa besonderen Austauschprogrammen wie “Brigitte
Sauzay” oder “Voltaire”, die eine sehr kleine Anzahl von Schülern be-
treffen. Eine andere symbolische Maßnahme war die Schaffung 1994 ei-
nes deutsch-französischen Abiturs, Abibac als Verkürzung des deutschen
Abiturs einerseits und des französischen baccalauréat andererseits, das die
Hochschulreife in beiden Ländern ersetzt und den Abiturienten ein Studium
in beiden Ländern erlaubt (Schneider-Mizony, 2011). Der wirkliche Vorzug
einer solchen Einrichtung kommt nur den besten Schülern zuteil, die den
Zusatzkursus auf Deutsch zusätzlich zu den normalen Anforderungen der
französischen Hochschulreife packen.
Deutsch hätte in Frankreich ein großes Steigerungspotenzial, wenn es
nach den Umfragen des Eurobarometers ginge: Darin geben französische
Eltern bezüglich der Sprache, die ihre Kinder nach ihrer Muttersprache ler-
nen sollten, zu 24% “Deutsch” als Antwort, also weit mehr als die tatsächli-
chen 10%, die es auch machen5. Zu dem Unterschied zwischen Wunschbild
und Wirklichkeit gibt es zwei mögliche Erklärungen: Halo-Effekt einer-
5
  Seite 11 der Zusammenfassung des Berichts n°64.3
Plenarvorträge 335

seits: man weiß um das Gute, tut das Andere, aber man sagt es nicht, um
seinen Heiligenschein zu behalten; oder die kräftigen Hindernisse, die
die Schulverwaltung allen Fremdsprachenwünschen in den Weg legt, die
nicht auf Englisch als FS1 und Spanisch als FS 2 hinauslaufen. Diese
Präferierung der Verwaltung leitet sich ganz einfach aus Sparüberlegungen
her: je weniger unterschiedliche Sprachen gelernt werden, desto weniger
Sprachgruppen und Lehrer werden nötig, die vielleicht auch nicht bis an
den Kapazitätsrand ausgelastet wären. Die institutionelle Konterkarierung
trifft auch andere Sprachen als Deutsch, aber eben Deutsch in erster Linie.

2. Französische Deklinierung der europäischen Modernisierung


von Fremdsprachenausbildung
2.1 Allgemeine Fremdsprachenpolitik
Seit dem Ende der neunziger Jahre und dem wachsenden Einfluss
der Bildungspolitik des Europarates auf die Schulpolitik der verschiede-
nen Staaten kündigt sich ein Paradigmenwechsel der fremdsprachlichen
Ziele und der didaktischen Anforderungen an: Früher war der Maßstab die
Sprachbeherrschung einer oder mehrerer Sprachen mit flüssigem Sprechen
und Hör- und Leseverständnis, heute gelten Kompetenzen, d. h. auf eine
praktische Handlung hin ausgerichtete Fertigkeiten des Schülers in der
Fremdsprache. Der in den Schulsystemen eingebürgerte “Europäische
Referenzrahmen” aus dem Jahr 2001 wird in Frankreich immer stärker in
die Unterrichtsgestaltung einbezogen, mit folgenden Konsequenzen:
Das Fremdsprachen-Niveau eines Schülers wird nicht mehr nach dem
Abstand von der idealen Realisierung für sein Alter oder seine Klasse ge-
messen, sondern danach, ob die sprachliche Aktivität z. B. im Rollenspiel
als gelungen oder nicht beurteilt werden kann: hat der Gesprächspartner
verstanden, wie er zum Bahnhof kommt? Habe ich die gewünschte
Ware im Laden bekommen? Die Änderung bei der Leistungsbeurteilung
kam in Frankreich an, nachdem sich die jungen Franzosen in den inter-
nationalen Vergleichen à la PISA schlechte Ergebnisse eingeholt hatten,
die den französischen Nationalstolz empfindlich berührten. So zeigte
die Kompetenzbewertung der sechzehnjährigen Schüler in 15 europä-
ischen Staaten im Jahre 20116 eine systematisch schlechtere Position
der französischen Schüler für alle getesteten Fähigkeiten, also Hör- und
Leseverständnis, schriftliche Produktion und für die zwei getesteten

6
  Bekanntgegeben April 2012, im „First European Survey on Language Competences“
336 Odile Schneider-Mizony

Fremdsprachen. Da man schlecht ein Unfähigkeitsgen der Franzosen in


Fremdsprachen dafür verantwortlich machen konnte, wie die Presse witzel-
te, wurde die Fremdsprachendidaktik in Frankreich erneut an die Kandare
genommen: sie wäre zu sehr um das Lesen von literarischen Texten, um
die Vermittlung von anspruchsvollem Wissen bemüht und zu wenig um
Kommunikation. Es wurde gefordert, statt Schüler auf die Lektüre von
Shakespeare, Goethe oder Manzoni vorzubereiten, ihnen den Metrowechsel
in London, das Austauschen über die Fußballergebnisse der Bundesliga
oder das Bestellen eines gelato alla fragola zu ermöglichen. Leitwort ist die
Fähigkeit, sich zu helfen zu wissen. Beispiel: das Unterrichtsziel der münd-
lichen Produktion auf dem B1-Niveau gilt als erreicht, wenn der Schüler
“sich in den meisten Situationen einer Reise selber zu helfen weiß”.
Als kritischer Kommentar zu diesem Ausbildungsziel kann man an-
führen, dass man dem bisherigen Fremdsprachenunterricht in Frankreich
Unrecht tut, wenn man die Lehrer/Innen als weltfremde Bibliotheksratten
hinstellt, die sich nur um klassische englische, deutsche oder italienische7
Literatur gekümmert hätten und um sonst nichts. Unbestritten ist in der
Lehrerschaft auch, dass ein Schüler in seinen Fremdsprachen dazu fähig
sein sollte, sich vorzustellen, nach seinem Weg zu fragen, über Speise und
Trank etwas zu sagen und sein Gegenüber zu fragen, warum er jenes macht
und dieses unterlässt. Die meisten von ihnen veranstalten Klassenreisen,
zeigen Filme, lassen kleine Theaterrollen spielen oder didaktisieren
Fernsehsendungen zu politischen Ereignissen, und wenn es auch nur darum
wäre, die Aufmerksamkeit der Jugendlichen besser zu binden. Vielleicht
würden ihre Schüler auch bessere Ergebnisse in den internationalen Tests
bekommen, wenn das Sprachlabor repariert würde und es in der Klasse
einen Computer gäbe8 oder wenn die Frage der Autorenrechte zum Zeigen
eines Filmes nicht dem einzelnen Lehrer aufgebürdet würde, der so viel
Verwaltungszeit nicht aufbringen kann. Bei der Prioritätsmodernisierung
kann man sich fragen, ob es darum geht, Spracherlernung effizien-
ter zu machen, oder die Sprachbewertung auf die Maximierung des so-
wieso Erreichten umzuschwenken. Abgesehen von der Trivialität man-
cher vorgeschlagenen Kompetenzabfrage (eine Postkarte schreiben
können als Handlungsziel!), geht es eher um Nutzen von Erfahrung als um

7
  um bei den bisherigen Beispielen von Sprachen zu bleiben.
8
  Die französisch verfasste Zusammenfassung des Surveys durch das Erziehungsministe­
rium (note d’information 12.11) stellt Seite 4 fest, dass Frankreich mit Estonien das Land
mit den geringsten Medienmöglichkeiten für Fremdsprachenlernen in Europa ist, zieht
aber keinen Schluss daraus.
Plenarvorträge 337

Wissensvermehrung. Sozial extrovertierte Charakterzüge fördern im neuen


System bessere Bewertungen: ein Vielschwätzer, der in der Fremdsprache
mit charmantem Lächeln radebricht, bringt es in der neuen funktiona-
len Perspektive viel weiter. Natürlich ist Toleranz schön und Purismus
schlecht, Anpassung an neue Gesprächspartner gut und langes Grübeln vor
dem Reden schlecht, diese erzieherischen Ziele als Wissensvermittlung zu
deklarieren muss aber nicht jedem einleuchten. Es ist training on the task,
und die Entfachlichung des Fremdsprachenunterrichts scheint angebahnt.
Passend zur Argumentationsfigur, wonach der didaktische Wechsel eine
Modernisierung des angeblich verkrusteten Fremdsprachunterrichts wäre,
wird immer stärker Gewicht gelegt auf die Virtualisierung des Unterrichts,
das heißt auf den verstärkten Einsatz der neuen Technologien, die es, so
schwebt es den modernen Schulmanagern vor, erlauben würden, fremd-
sprachlichen Input ohne menschliche Zusatzkosten ewig bereitzustellen. So
wird für die Grundschule in Pilotschulen der Einsatz von Videokonferenzen
geplant, in denen native speakers die Ausbildung der Grundschullehrer in
der Fremdsprache unnötig machen; für die Gymnasialstufe wird die virtu-
elle Partnerschaft durch das Programm «eTwinning » gefördert: ein reger
Mailverkehr zwischen englischen und französischen Schülern soll den um-
ständlichen und kostspieligen wirklichen Austausch ersetzen. Wozu noch
ins andere Land reisen, wenn man’s mit Mauseklick auf dem Bildschirm
gezeigt bekommt?
Dieser modernistische Wunsch steht im starken Kontrast zur Ausstattung
und zum schulischen Alltag vieler französischen Schulen und lebt vom
magischen Glauben daran, dass es nur genügen würde, Menschen und
Fremdsprachen zusammenzuführen, damit Fremdspracherwerb entsteht:
Sprache wird wie Fahrradfahren und Schwimmen lediglich gezeigt und
trainiert. Wahrscheinlich wissen die zuständigen Ministerialkreise, dass es
nicht so einfach geht, versuchen aber aus Spargründen, die Verantwortung
für die Beherrschung von Fremdsprachen in den Zuständigkeitsbereich des
Einzelnen outzusourcen, dem es beim sympathischen Stichwort “lebens-
langes Lernen” obliegen wird, wie er wieder im Laufe seiner beruflichen
oder persönlichen Laufbahn je nach Bedarf sein bisschen Schulkenntnis
auffrischt, indem er selber durch Crash-kurse oder Internet-Module sein
Englisch, Italienisch oder Deutsch aufbessert. Der öffentliche Diskurs be-
tont die begrenzte Rolle der Schule: sie sei nur dazu da, das Anfangsstadium
der Lernprozesse zu aktivieren, das Individuum müsse sie später in eige-
ner Verantwortung vervollkommnen. Hier hat die Nützlichkeits-Wende des
europäischen Referenzrahmens seinen Sinn: die geistige Bildung durch
338 Odile Schneider-Mizony

Metadiskurse zur Sprache und Kultur des Landes macht dem tatsächlichen
Sprechen in Beruf und auf Reisen Platz.

2.2 Von der Kultur weg zur Interkulturalität


Zum obersten didaktischen Ziel wurde im Europäischen Referenzrahmen
und seinen unzähligen Auslegungen die Entwicklung einer interkulturel-
len Kompetenz erklärt, die eigentlich nicht mehr viel mit Kultur zu tun
hat, sondern sich eher als die Fähigkeit entwickelt, das Anderssein seiner
Gesprächspartner irgendwie noch zu ertragen. Oberflächliche Fremdbilder
der anderen Länder werden im Sprachunterricht kennengelernt und
kurz diskutiert: von der italienischen Autofahrweise, vom Queuing
der Engländer, von der Bier- “kultur” der Deutschen handelt kurz der
Schulbuchtext, und im Glauben, durch die kurze Konversation darüber dem
Schüler den Fremdheitsschock wegzunehmen, werden eher die jugendli-
chen Klischeevorstellungen verstärkt: Italiener würden noch wilder als
Franzosen fahren, Engländer sich dagegen braver anstellen, und ausgiebi-
ges oder exzessives Trinken in Deutschland nicht Wein, sondern eher Bier
betreffen. Landeskundliche Fakten, die im Französischen “Civilisation”
heißen, gelten in ihrer seriösen Form als schwierig und langweilig, also
motivationstötend, und Ideengeschichte oder Literatur als elitäres Wissen,
das zum reinen Kommunizieren in der Fremdsprache nicht nötig wäre. So
wurde folgerichtig bei der letzten Gymnasial/Abiturreform der Abiturzweig
L als „Exzellenzzweig“ deklariert, weil in der ersten Fremdsprache jetzt
zusätzlich zum Sprachunterricht ein Literaturunterricht hinzukommt9. Die
anderen Fremdsprachen (FS2 und FS3) und die zwei anderen Abiturzweige
(hauptsächlich ES und S) kommen ohne literarische Texte und ohne offen-
sichtliche Exzellenz in den Fremdsprachen aus.
Damit wird verkannt, dass kulturelle Spezifika oft erst in der besonderen
Geschichte eines Landes eine intellektuell befriedigende Erklärung finden
können (Picht, 1995). Natürlich bieten auffällige Verhaltensunterschiede
zwischen Sprechern unterschiedlicher Kulturen einen willkommenen
Sprechanlass (Stimulus der Kommunikation), aber diese Kulturunterschiede
auf Stammtischniveau werden durch die sich globalisierenden Alltags­
praktiken entschärft: Im Mac Donald der West Nanjing Road in Shanghai
werden die Big Macs nicht mit Stäbchen gegessen, und Coca-Cola wird
serviert, nicht grüner Tee. Zweitens werden die übrigbleibenden kultu-
rellen Eigenheiten nur oberflächlich gestreift, und das Wissen gar nicht
9
  Diese Reform wurde im Bulletin Officiel des 4/2/2010 angekündigt und wird seit dem
Schuljahresbeginn im Herbst 2010 angewandt.
Plenarvorträge 339

vermittelt, das das Verhalten und die Einstellungen der Sprecher der
Zielkultur tatsächlich erklären würde. Mit “Interkulturalität” wird nicht
die Fähigkeit umschrieben, sich in unterschiedlichen Kulturen gewandt
und glücklich bewegen zu können, sondern eine Basis-Sensibilisierung zur
Kulturenvielfalt gepaart mit der Toleranz zu anderen Lebensformen. In der
staatlichen Eignungsprüfung für angehende Fremdsprachenlehrer (CAPES)
wird der Wert der Allgemeinbildung betont, wobei folgende Kulturinhalte
im Rechenschaftsbericht dieser Prüfung10 als Beispiele gegeben wer-
den: Modernität und Tradition („modernité et tradition“), die Kunst des
Miteinanderlebens („l’art de vivre ensemble“), das Hier und das Anderswo
(„l’ici et l’ailleurs“), kein Spezialwissen also, sondern eine Grundstufe der
Sozialisierung und ein netter Kosmopolitismus.
Die beschriebenen Ziele verstehen sich für alle Sprachen, wobei Englisch
auf Grund seines Status als meistgelernter Sprache besser gestellt ist. Die
sich immer weiter öffnende Schere zwischen Englisch einerseits und allen
anderen Fremdsprachen andererseits bewirkt den Rückgang der klassischen
Fremdsprachenphilologien (außer vielleicht der Anglistik) nicht nur quan-
titativ, sondern auch qualitativ: wenn alle Fremdsprachen außer Englisch
von vornherein nur den Status einer FS2 im Schulsystem bekleiden können,
werden sie, der offiziellen Beteuerungen zum Trotz, vom Schüler weniger
intensiv gelernt. Die Lehrerausbildung wird aus Kostengründen entspre-
chend ausgerichtet, wobei der Schrumpfvorgang eher die Kultur hintan-
stellt als die Sprachbeherrschung, die das Hauptevaluierungskrietrium
(critère prioritaire d’évaluation) eines angehenden Lehrers darstellt.
Aber auch Englischunterricht unterliegt den Zielen der Interkulturalität
und der Mehrsprachigkeit, die nicht zu verwechseln ist mit “multiplem
Spracherwerb”. Bei “Mehrsprachigkeit” geht es um die Sensibilisierung
zur Sprachenvielfalt. Besonderes Gewicht wird auf die Migrantensprachen
gelegt, obwohl das französische Schulsystem sie kaum lehrt. Was ge-
fördert wird, ist aber weniger ein sprachliches Können als eine Ethik
des Miteinanderlebens. Es wird als Modell hingestellt, dass Kinder mit
Migrationshintergrund zusammen mit ihren nun französisch-sprechenden
Kameraden in der Schule erfahren würden, wie schön und kunstvoll struk-
turiert alle Sprachen sind, die als Patrimonialsprachen bei diesem oder je-
nem in der Klasse zumindest vage bekannt sind: man schlägt als didaktische
Übung vor, alle Sprachennamen zu sammeln, von denen die Schüler zumin-
dest ein Wort wissen, und erreicht in manchen Vorortschulen eine Liste mit

  Rapport de jury Session 2011 du CAPES externe et du CAFEP d’allemand: media.


10

education.gouv.fr/file/capesext/42/9/allemand_186429.pdf
340 Odile Schneider-Mizony

20 Sprachen mit Armenisch, Arabisch in verschiedenen Nationalvarianten,


verschiedenen afrikanischen oder indischen Sprachen, Türkisch, ganz zu
schweigen von weniger exotischen europäischen Sprachen. Die Selbstauf­
wertung der Schüler, die ihre Familiensprachen endlich mal zur schulischen
Geltung kommen sehen, wäre ein Beitrag zur Kompensation von schuli-
schem Misserfolg und würde Ghettoisierungsphänomene reduzieren.
Die Suche nach sozialem Frieden ist natürlich ethisch und politisch un-
anfechtbar –französische Städte kennen ab und zu soziale Unruhen, in
deren Verlauf etliche Autos in der Nacht brennen – und jede/r Lehrer/in
wünscht sich lieber glückliche als traurige und verbitterte Schüler. Die
Beschäftigung mit diesen Fremdsprachen ist aber eine folklorisierende:
gezeigt werden soll, wie sie alle gleichwertig und interessant sind, aber
sie werden nicht gelernt, weil es unrealistisch wäre. Diese Folklorisierung
(um einen Ausdruck von Brigitte Jostes wieder aufzunehmen) betrifft
nicht nur die für Franzosen wirklich exotischen Sprachen, sondern eigent-
lich alle. Ein diffuses Schwärmen für Mehrsprachigkeit stellt dann Lehrer
und Eltern in der Öffentlichkeit zufrieden oder macht sie mundtot, weil
man sich diesem freundlichen Diskurs nicht widersetzen kann. Aber der
Fremdheitsabbau wendet sich in erster Linie, obwohl unausgesprochen, auf
die multikulturelle Klasse und nicht auf die Länder, deren Sprachen gelernt
werden. Auf diese Weise bekommt der Fremdsprachen-Unterricht eher eine
sozial-pädagogische Dimension als eine intellektuell ausbildende.

Zusammenfassend
Offensichtlich haben die französischen Schulpolitiker vor der Komple­
xität landeskundlichen Unterrichts resigniert: wenn es schon schwer ist,
Geschichte, Geographie, Literatur, Kunst eines Landes zu vermitteln und
wenn immer weniger Zeit für die Fremdsprachenvermittlung zur Verfügung
steht, dann soll man am besten die Finger von diesen bildungslastigen
Stoffen lassen und sich aufs Alltagsleben beschränken, das durch zwangs-
weise didaktisch überakzentuierte Stereotypen etwas Farbe bekommt und
so als Sprechanreiz dienen kann. Kommunikation hat die frühere Kultur
ersetzt. Zum Leidwesen der Sprachlehrer tun neuere Schulprogramme so,
als wäre Wissen vermittelt worden, wenn in unserer medial bequemen Zeit
Schüler einen Londoner Doppeldecker, das Brandenburger Tor oder den
Sankt-Peters-Platz auf Anhieb identifizieren können. Die Gleichwertigkeit
unterschiedlicher Kulturen und Sprachen wird dabei immer wieder unter-
strichen und stellt das humanistische Gewissen zufrieden.
Plenarvorträge 341

Literatur
Europarat / Rat für kulturelle Zusammenarbeit (2001) Gemeinsamer Europäischer
Referenzrahmen für Sprachen: lernen, lehren, beurteilen. Deutsche Fassung, Berlin
München.
First european Survey on Language Competences, Final Report (2012) final-report-escl_
en.pdf http://ec.europa.eu/languages/escl/index.html
Jostes, B. (2006) Europäische Union und sprachliche Bildung: Auf der Suche nach einem
europäischen Kommunikationsraum. In: Linguistik online 29, 4/06.
Ministère de l’Education Nationale (2012) note d’information 12.11, juin 2012. Les
compétences en langues étrangères des élèves en fin de scolarité obligatoire. Premiers
résultats de l’Etude européenne sur les compétences en langues 2011. http://eduscol.
education.fr
Picht, R. (1995) Kultur- und Landeswissenschaften. In: Bausch, K.-R. / Christ, H. /
Krumm, H.-J. [Hg.] Handbuch Fremdsprachenunterricht. 3., überarbeite. & erweiterte
Auflage. Tübingen, 66-73.
Rapport Eurobarometre special n° 64.3 “Les européens et les langues” (2006)
http://ec.europa.eu.education/languages/archive/languages/eurobarometer06_fr.html
Rapport jury session 2011 capes externe et cafep d’allemand
Media.education.gouv.fr/file/capesext/42/9/allemand_186429.pdf
Repères et références Statistiques sur les enseignements, la formation et la recherche
2011 ERES
http://media.education.gouv.fr/file/2011/4/DEPP-RERS-2011_190014.pdf
Schneider-Mizony, O. (2008) Deutsch als Fremdsprache in Frankreich im Jahr 2006. In:
Jahrbuch für Internationale Germanistik XXXIX-Heft 2, 27-35.
Schneider-Mizony, O. (2011) L’Abitur en Allemagne et l’Abibac. In: Education et socié-
tés plurilingues 2011/30, 55-68.
Rita Svandrlik (Firenze)

„Ich spreche nicht Menschen“.


Von der Ermordung der Wirklichkeit im Werk:
Jelinek mit Bachmann gelesen

Gemeinsamkeiten bei Bachmann und Jelinek zu suchen, wirkt kaum


überraschend. Elfriede Jelinek hat mehrmals die Nähe ihrer Themen zu
denen Ingeborg Bachmanns betont, insbesondere in Hinblick auf die
Darstellung der Gewalt in der österreichischen Kleinbürgerfamilie, auf
das darin gründende Weiterleben der faschistischen Ideologie in der Nach­
kriegsgesellschaft, sowie auf die Kritik an patriarchale Strukturen:
Wir Nachkriegskinder mußten das sozusagen rekonstruieren, daß die Verbrechen
der Nazis, wie Bachmann sagt, ja von irgendwoher gekommen sein und
irgendwohin gegangen sein mußten, sie konnten ja 45 nicht einfach verschwinden.
Und Bachmann […] gibt die Antwort: In die und aus der Familie, in der die Frauen
und die Kinder Parias, Neger sind. Und der Mann (Vater) der Täter. (Hoffmann
1999: 48)

In ihrem 1984 geschriebenen Essay über Bachmann Der Krieg mit an-
deren Mitteln lobt Jelinek an der älteren Autorin ihre jeden Provinzialismus
überwindende Offenheit:
Eine der wenigen geretteten österreichischen Zungen, die auf den verbohrten
Provinzialismus von “Musikantenstadln” mit schöner Weltläufigkeit geantwortet
haben, darin etwa einer Djuna Barnes ähnlich. Als Bewohnerin eines Grenzlandes,
mit der benachbarten italienischen und slowenischen Sprache (aus der sie zum
Teil selbst herkam), schrieb sie, eine der wenigen, schon in den fünfziger Jahren
eine Art kosmopolitischer Literatur. (Jelinek 1989: 317)
Plenarvorträge 343

Auch in Interviews hat Jelinek oft auf Bachmann Bezug genommen,


und sie hat das Filmbuch für den von der Kritik zurecht negativ aufgenom-
menen Malina-Film von Werner Schroeter verfasst. In den letzten Zeilen
zweier Romane, Oh Wildnis, oh Schutz vor ihr und Gier, nimmt Jelinek
Bezug auf den berühmten letzten Satz in Malina: „Es war Mord“, indem sie
ihn umwandelt in „Es war ein Unfall“. Beide Schriftstellerinnen gehen da-
von aus, dass man in den ganz alltäglichen Gewalttaten und Delikten, auch
in denen, wo „kein Blut fließt“ (W 3: 342, Vorrede zu Der Fall Franza) die
Ursachen für die großen und größten Verbrechen untersuchen und darstel-
len kann.
Das bedarf keiner großen Kunst, zu sagen, es ist furchtbar, was in Pakistan passiert,
es ist furchtbar, was dort und da geschieht. Zu sagen, was neben uns jeden Tag
passiert, wie Menschen, auf welche Weise sie ermordet werden von den andern,
das muß man zuerst einmal beschreiben, damit man überhaupt versteht, warum es
zu den großen Morden kommen kann. (Bachmann 1983: 116)

Man könnte das Thema der Todesarten bei Bachmann und Jelinek noch
weiter verfolgen (Szczepaniak 2008, Agnese 2007), aber wie in meinem
Titel angekündigt, geht es mir hier nicht so sehr um Themen oder um in-
tertextuelle Bezüge, vielmehr möchte ich mich auf die Poetologie und auf
die Schreibverfahren konzentrieren, die ihrerseits offensichtlich im engsten
Zusammenhang mit den angesprochenen Themen stehen. Ein Mord, ob
groß oder klein, ob real oder symbolisch, impliziert Mordopfer, beide bil-
den ein Gegensatzpaar. Beim Paar Täter/Opfer kann man sogar von einer bi-
nären, hierarchischen Opposition par excellence sprechen, einer von jenen
Strukturen des Entweder/Oder, die beide Schriftstellerinnen in ihrem Werk
mit vielfältigen Strategien unterlaufen und sprengen. Bezeichnend für beide
ist, dass dieses Schreibprogramm keine Aufweichung der Zuschreibungen
von Verantwortung zur Folge hat, angefangen bei Bachmanns Lyrikband Die
gestundete Zeit (1953) bis zu Jelineks Nachbemerkung zur Trilogie Macht
nichts. Eine kleine Trilogie des Todes (1999), in der die Unterscheidung
zwischen Tätern und Opfern im Mittelpunkt steht. Im ersten Stück der
Trilogie, Erlkönigin, geht es nämlich um eine Täterin (eine während der
Nazizeit sehr erfolgreiche Schauspielerin1), im dritten Stück Der Wanderer
um ein Opfer, um Jelineks Vater:

  Es handelt sich, wie bekannt, um Paula Wessely. Die Biographien des Clan Wessely-
1

Hörbiger hatten schon das Material geliefert zu Jelineks Stück Burgtheater.


344 Rita Svandrlik

Im ersten Teil hat eine Täterin gesprochen, die eigentlich nie eine sein wollte (aber
dann war es doch schön dazuzugehören!), im letzten Teil spricht jetzt ein Opfer,
das auch nie eins sein wollte. (Jelinek 1999: 87)

Die Opfer, soweit sie nicht vergessen wurden, werden „wie Präparate
auf ihre Opferrolle fixiert“ (Jelinek 1999: 88), sodass man sich frei mit
Schicksalen bedienen kann. Diese Zeilen könnten unter Bachmanns in-
zwischen berühmtem Diktum stehen: „Auf das Opfer darf keiner sich be-
rufen“ (W 4: 335), da Jelinek ihre Verwendung eines Opferschicksals als
Schreibmaterial problematisiert:
Wie stolz bin ich auf das Opfer eines anderen. Ich sollte es nicht sein, aber
der Schmerz über seine Existenz würde mir fehlen. (...) Im Licht, aus einem
halbfertigen Häuschen heraus, mach ich mich selber mit meinem Vater wichtig
und zeige Ihnen jetzt dieses eine, mir kaum noch bekannte Gesicht, weil ich es
zufällig gekannt habe. (Jelinek 1999: 88-89)

Dass es sich um den Vater handelt, verleiht der Autorin keine


Rechtfertigung („weil ich ihn zufällig gekannt habe“, Herv. d. V.), und
ihr Sprechen über ihn wird ihm nicht mehr helfen, „egal was ich tue“.
In ironischer Brechung wird dieses Einbekennen einer Ohnmacht, einer
„Deutungslosigkeit“ mit einer von den Besserwissern schon immer prokla-
mierten Ununterscheidbarkeit von Tätern und Opfern gleichgesetzt, wobei
das Paar Täter/Opfer konsequenterweise mit dem Paar Krieg/Frieden kurz-
geschlossen wird:
Ich rede und rede. Es gibt für ihn ja doch kein Nachhausekommen mehr, egal was
ich tue. Schauen sie her, ich glaube, genau in dieser Deutungslosigkeit, in diesem
Unbegreiflichen, an dieser Scheide zwischen Krieg und universellem Frieden,
verschwindet der Unterschied zwischen Tätern und Opfern, der aber ohnedies
längst verschwunden ist. Habens wir doch gewußt. (Jelinek 1999: 89)

Die Scheide zwischen Krieg und Frieden sollte eigentlich nicht unbe-
greiflich, sondern klar auszumachen sein. Die semantische Verschiebung
erfolgt durch den abrupten Übergang von der persönlichen Dimension des
Autorin-Ich, welches sich das Schicksal des Vaters als Schreibmaterial
angeeignet hat (und gerade deshalb an die Grenzen der existenziellen
Fragen „über die letzten Dinge“, wie die Überschrift zum dritten Kapitel
in Malina heißt, stößt), zur kollektiven, historischen Dimension von Krieg
und Frieden, mit dem Zusatz des Adjektivs „universell“. Universell weist
auch auf eine Totalität hin, die keinesfalls in Jelineks Sichtweise passt,
nicht einmal wenn es sich um den Frieden handelt. Außerdem kommt der
Plenarvorträge 345

universelle Frieden hier als modifiziertes Kantzitat („der ewige Frieden“)


und Zitat einer (totalitären) Utopie aus dem unerschöpflichen Zitatfundus
der Autorin an die Textoberfläche, um ein paar Zeilen später von der
Feststellung gekontert zu werden, dass „hier immer Krieg ist“, um es noch
einmal mit Bachmann zu sagen („Es ist der ewige Krieg“, Schlusssatz des
zweiten Kapitels in Malina, W3: 236):
Denn alle sind ja längst in diesen Krieg mit einbezogen, den eine Macht führt, die
kein Ziel hat, sondern deren Ziel die Ermächtigung ihrer selbst ist und vollstreckt
werden will. Sonst nichts. (Jelinek 1999: 89)

An Unterscheidungen, zum Beispiel zwischen Verfolgern und Verfolgten,


soll dagegen festgehalten werden, will man diese Macht bloßstellen; es ist
nämlich nicht „alles eins“, wie in der auf Totalität zielenden „jeweiligen
Moderne“, wobei Jelinek damit auch die auf historische Zusammenhänge
zu wenig achtende Postmoderne meint (vgl. auch Breuer 2004: 426):
Die Aufdringlichkeit der jeweiligen Moderne, die alles nivelliert hat, jeden
Zustand, auch nachträglich noch, in Totalität verwandelt: in ihr ist es auch
unwichtig geworden, ob dieser eine Wanderer, als rassisch Verfolgter, für seine
Verfolger als Naturwissenschaftler mit Buna und andrem Kunststoff hat arbeiten
müssen oder ob er zu diesem Zeitpunkt schon tot gewesen ist, was eigentlich für
ihn vorgesehen gewesen wäre. Es ist alles eins. Macht nichts. Die Autorin ist weg,
sie ist nicht der Weg. (Jelinek 1999: 90)2

Der Schlusssatz: „Die Autorin ist weg, sie ist nicht der Weg“, zusam-
men mit anderen Textpassagen, stellt diese Nachbemerkung in unmittel-
bare Nähe zur Poetologie der Nobelpreisrede Im Abseits, in der das nicht-
binäre, nicht auf Hierarchien verweisende Paar „weg/Weg“ (eigentlich ein
Minimalpaar) strukturbildend ist.
Es bleibt zu präzisieren, wie die Opferthematik mit den poetologischen
Entscheidungen und der Reflexion über die Rolle eines schreibenden
Subjekts (eines Dichters, wie es altmodisch in der Preisrede heißt) zusam-
menhängt. Im System der dichotomischen Gegenüberstellungen verweist
das Paar Täter/Opfer unmittelbar auf das Paar Subjekt/Objekt, was für eine

2
  Über die Entwicklung der Figur des Vaters in Jelineks Werk vgl. Calabrese 2008.
Interessant für meinen Zusammenhang sind auch Calabreses Ausführungen über Jelineks
Erzählung, Erschwerende Umstände oder Kindlicher Bericht über einen Verwandten,
1978; in diesem Text liegt der Akzent auf die Verstrickung des Vaters in Schuld, als
Überlebender und als Mittäter, wenn auch unfreiwillig, in der Kriegsindustrie (Calabreses
Untersuchung, erschienen 2008, kann nicht auf Winterreise (2011) Bezug nehmen; zu
dieser weiteren Entwicklung des Themas vgl. Kecht 2011.
346 Rita Svandrlik

Schriftstellerin, die den Binarismus aufbrechen will, eine Infragestellung,


eine Destabilisierung sowohl der Autor-Autorität auf der Subjektseite wie
auch des Opferstatus des Beschriebenen auf der Objektseite zur Folge hat.
Jelinek hat dies in ihrer Nobel-Preisrede angesprochen:
Aber das Unzureichende, das in ihr Blickfeld gerät, reicht den Dichtern trotzdem
immer noch für etwas, das sie aber auch lassen könnten. Sie könnten es sein lassen,
und sie lassen es auch sein. Sie bringen es nicht um. Sie schauen es nur an mit
ihren unklaren Augen, aber es wird durch diesen unklaren Blick nicht beliebig.
Der Blick trifft genau. Das von diesem Blick Getroffene sagt noch im Hinsinken,
obwohl es ja kaum angeschaut wurde, obwohl es noch nicht einmal dem scharfen
Blick der Öffentlichkeit ausgesetzt worden ist, das Getroffene sagt niemals, daß
es auch etwas andres hätte sein können, bevor es dieser einen Beschreibung zum
Opfer gefallen ist. Es besagt genau das, was besser ungesagt geblieben wäre
(weil man es hätte besser sagen können?), was immer unklar bleiben mußte und
grundlos. Zuviele sind schon bis zum Bauch darin eingesunken. Es ist Treibsand,
aber er treibt nichts an. Es ist grundlos, aber nicht ohne Grund. Es ist beliebig,
aber es wird nicht geliebt. (Jelinek 2004)

Um keine Mörder zu werden, lassen die Dichter das mit ihren unklaren
Augen Angeblickte sein, d. h. sie eignen es sich nicht an. „Das Getroffene
sagt niemals, daß es auch etwas andres hätte sein können, bevor es dieser
einen Beschreibung zum Opfer gefallen ist“: Hier ist es auf den Punkt ge-
bracht, das Beschriebene hätte auch etwas anderes sein können, falls es
nicht der einen im Text festgehaltenen Möglichkeit zum Opfer gefallen
wäre. Die anderen Möglichkeiten ergeben sich aus der Überzeugung, dass
ein sprachliches Zeichen per se nicht auf nur eine Bedeutung festzulegen
ist, und dass es die eine, gesicherte Wirklichkeit nicht gibt (Lücke 2007):
Die Wirklichkeit ist das, was unter die Haare, unter die Röcke fährt und sie eben:
davonreißt, in etwas anderes hinein. Wie soll der Dichter die Wirklichkeit kennen,
wenn sie es ist, die in ihn fährt und ihn davonreißt, immer ins Abseits. Von dort
sieht er einerseits besser, andrerseits kann er selbst auf dem Weg der Wirklichkeit
nicht bleiben. Er hat dort keinen Platz. Sein Platz ist immer außerhalb. Nur was
er aus dem Außen hineinsagt, kann aufgenommen werden, und zwar weil er
Zweideutigkeiten sagt. (Jelinek 2004)

Der Dichter, in diesem Fall die AutorIn, kann nicht auf dem Weg der
Wirklichkeit gehen, er/sie muss ins Abseits, in etwas anderes hinein.
Zurecht hat Konstanze Fliedl in ihrem Kommentar zur Nobelpreisrede den
Plenarvorträge 347

Verzicht auf die „erkenntnistheoretische Superiorität des Schreibenden“


betont.3
Bei Jelinek heißt es also, im Abseits sein, um Zweideutigkeiten sa-
gen zu können. Bei Bachmann verlangt die Darstellung „Radikalisierung
und kommt aus Nötigung“ (W 4: 279). Um „Kunde zu geben“, muss man
„auf dem Kopf gehen“ (W 4: 279): Diesen Satz aus Büchners Lenz zitiert
Bachmann in ihrer Büchner-Preisrede; damit ist keine einfache Umkehrung
gemeint, sondern eine Verkehrung und Verstellung, zum Beispiel in einer
dezidierten anti-epischen Haltung in ihrem Roman Malina, in der fragmen-
tarischen Sprache voller Kontaminierungen, in der ironischen Inszenierung
eines Nicht-Erzählens sowie in der Verdoppelung der Subjektpositionen4.
Das „Auf-Dem-Kopf-Gehen“ bedeutet nicht nur eine Absage an die
Überlegenheit des schreibenden Subjekts, um diese andere Sicht zu er-
langen; es handelt sich um eine mit Leiden und mit Selbstaufgabe zu ge-
winnende Position. Ingeborg Bachmann hat das traditionelle Motiv des
Opfers an die Kunst immer wieder aufgegriffen und problematisiert, sie
hat es auch zum Thema des Todesarten-Zyklus gemacht. Bachmann hat
in Der Fall Franza (und auch in Requiem für Fanny Goldmann) einen
klassischen Fall von Reifizierung und Abtötung (im wörtlichen Sinn) von
Lebensmaterial dargestellt. In ihrer Selbsteinschätzung war es ihr nicht ge-
lungen, im Roman das zu vermeiden, was an der tragischen Beziehung
zwischen Franza und ihrem Mann, der sie als Untersuchungsmaterial zum
Objekt macht, erzählt wird. Franza bricht zwar während ihres Besuchs des
Museums in Kairo in den Satz aus: „Sollen die Lebenden die Lebenden
beschreiben“:
Ihr Toten zwischen 9 und 12 und von 4 bis 6. Hier ist ein unbenutztes Billet, hier
ist einer, der will euch nicht zu Staub verfallen lassen, der will euch das Leinen
wieder überziehen, euch die goldenen Masken überstülpen, euch in die bemalten
Schreine zurücklegen, sie schließen, eure Sarkophage zurückbringen, euch in die
Felsen einfahren, euch dem Dunkel zurückerstatten, damit ihr wieder regiert und
eure Schriften bleiben. Lebenszeichen, Wasserzeichen, die geflügelte Sonne, die
3
  Über die in der Nobelpreisrede angesprochene Poetologie meint Fliedl: „Die Aporie,
dass noch die emphatischeste Beschreibung eines Opfers dessen Opferstatus befestigt,
wird hier zum Ausgangspunkt einer Reflexion, welche auf alles verzichtet hat, was noch
eine erkenntnistheoretische Superiorität des Schreibenden begründen könnte“ (Fliedl
2008, S. 24).
4
  Ausgehend von einer Position der Sprachskepsis, weiß Bachmann in der Gratwanderung
zwischen Wirklichkeit und Darstellung schon im Frühwerk um den Verlust, d. h. um die
Tötung von Ich-Anteilen. In ihrem Roman Malina wird diese Tötung in Szene gesetzt und
erzählt, in der Legende der Prinzessin von Kagran, in den Dialogen „über letzte Dinge“
mit Malina, im Verschwinden in der Wand.
348 Rita Svandrlik

Lotosblume. Ihr habt euch gut beschrieben. Sollen die Lebenden die Lebenden
beschreiben. Die ist die Rückgabe. Dies ist die Wiederherstellung. (W 3: 448)

Mit dieser utopischen Wiederherstellung5 werden die Beschriebenen in


der Schrift nicht mehr zu Opfern, doch für diesen Anspruch sollte erst eine
Form gefunden werden. Also hat Bachmann die Arbeit an diesen Texten
unterbrochen, und einen ganz anderen Text ins Auge gefasst (mehrere
Monate später schreibt sie ihrem Verleger, sie hätte nun die Form gefunden:
Bachmann 1995, 2: 397).
Bachmann hat zwar über den Roman Malina gesagt, es handle sich um
eine Autobiografie, aber nur als geistige Autobiografie:
Ausdrücklich eine Autobiographie, aber nicht im herkömmlichen Sinn. Eine
geistige, imaginäre Autobiographie. Diese monologische oder Nachtexistenz
hat nichts mit der gewöhnlichen Autobiographie zu tun, in der ein Lebenslauf
und Geschichten von irgendwelchen Leuten erzählt werden. In „Malina“ gibt
es eben keine Geschichte: nicht die des Ich, die des Doppelgängers, die Ivans...
(Bachmann 1983: 73)

Wie sich das Ich selbst gegen das lineare Erzählen einer Geschichte
wehrt, wird am eindrucksvollsten und dramatischsten im sogenannten
Vorspann zu Bachmanns Roman Malina thematisiert: „denn vernichten
sollte man es sofort, was über Heute geschrieben wird“, weil es in kei-
nem Heute mehr ankommen wird (W 3: 12); „Ich muß erzählen. Ich wer-
de erzählen“ (W 3: 23); „Ich will nicht erzählen, es stört mich alles in
meiner Erinnerung“ (W3: 27). Den Versuch, die emotionale, existentielle
Dimension des Heute in der Schrift „aufzuheben“ (auch ein bachmannsches
Wort aus dem Fall Franza, W 3: 474), kann man zurückverfolgen in den
Texten, die aus der Zeit der Entstehung des Todesarten-Zyklus entstammen,
vom Gedicht Keine Delikatessen bis zum Fall Franza. Dazwischen liegen
die Büchnerpreisrede und die Gedichte aus dem Nachlass Ich weiß keine
bessere Welt. Während allgemein das Autobiografische dieser Gedichte auf

5
  „Diese Phantasie einer Wiederherstellung beinhaltet eine Utopie der Schrift die
zwei wichtige Merkmale hat. Sie besteht aus Lebenszeichen, und sie wird von den
Beschriebenen selbst geschrieben.“ (Weigel 1984: 85). Vgl. auch Weigels Kommentar zum
utopischen Schreibprogramm Bachmanns in der berühmten Formulierung: „Im Widerspiel
des Unmöglichen mit dem Möglichen erweitern wir unsere Möglichkeiten“; dazu Weigel:
„D. h. daß in jeder Möglichkeit die Tötung einer anderen Möglichkeit enthalten ist und daß
das Leben der Un-Möglichkeit die Zerstörung der vorhandenen Möglichkeit erfordert: eine
Todesart, die im Roman „Malina“ zur Darstellung kommt. Für den Schreibenden stellt sich
das Problem, daß die Möglichkeit und die Unmöglichkeit in der Sprache nicht geschieden
sind. Das Widerspiel findet für ihn in der Sprache selbst statt.“ (Weigel 1984: 63)
Plenarvorträge 349

Ablehnung stieß, sehen andere gerade in diesen Texten und in der Büchner-
Preisrede den Versuch einer neuen Schreibstrategie, um gegen die Gefahr
der Ästhetisierung das Kreatürliche, das Leiden eines Subjekts darzustellen,
ein Leiden, das immer eine geschichtliche Dimension hat, wie Bachmann
in den Frankfurter Vorlesungen mit der Formel „die Geschichte im Ich“
ausgeführt hatte (vgl. auch Larcati 2010).
Das Schreibprogramm in Malina kreist um ein Ich das sich entblößt,
um ein Ich das sich zugleich versteckt (Svandrlik 2001: 206-211), und um
eine Autorinstanz, die sich von ihrer unsouveränen Seite zeigt: „Nur die
Zeitangabe mußte ich mir lange überlegen (...) Wenn ich also wenig zufäl-
lig, sondern unter einem furchtbaren Zwang zu dieser Einheit der Zeit ge-
kommen bin (...)“ (W 3: 13); dies sind Züge, die man auch bei Jelinek fin-
det. Auch Jelinek spielt mit ihrer Autorschaft, sie lässt oft eine Autorinfigur
auftreten und wieder verschwinden. So scheinen der Roman Malina und
der Unterhaltungsroman Gier auf den ersten Blick nicht viel gemeinsam zu
haben, bei genauerer Betrachtung lässt sich feststellen, wie beide Texte auf
unterschiedlichster Weise die Unsicherheiten der Auktorialität inszenieren.
In Jelineks Gier ist die Erzählerin eine Stimme, die sich sehr oft zu Worte
meldet, im ständigen Dialog mit den Rezipienten; sie charakterisiert sich
dezidiert als Frau (Jelinek 2000: 137). Das Erzählen selbst wird immer
wieder ironisch kommentiert; manchmal, mit einem Perspektivenwechsel,
wird eine kommentierende Stimme von außen eingeführt: „[...] nein, das
können Sie nicht sagen, Autorin, [...]“ (Jelinek 2000: 317). Diese unsouve-
räne Erzählerin, die sich selbst als Opfer ihrer Sprache darstellt, inszeniert
ihre persönliche Form von Gier, nämlich die Gier nach Worten, arbeitet ihr
zugleich mit den ironischen Brechungen entgegen. In beiden Romanen set-
zen die auktorialen Instanzen ihren Mangel an Kontrolle über das Erzählte
in Szene, dabei wird dies in Malina so weit getrieben, dass das Erzähler-Ich
in die Wand und damit aus dem Text heraus verschwindet. In ihrem Stück
Die Wand wird Jelinek das Scheitern dieses Verschwindens parodieren, da-
rauf komme ich noch zurück.
„Die Sprache ist die Strafe. In sie müssen alle Dinge eingehen und in
ihr müssen sie wieder vergehen nach ihrer Schuld und dem Ausmaß ihrer
Schuld“ (W 3: 97), so behauptet das Ich in Malina, das Eingehen der Dinge
in die Sprache kann aber nur in einer Form geschehen, die sich der Ganzheit
verweigert, und dem ästhetisch Schönen. Das Problem der Darstellbarkeit,
ohne in die Falle des Ästhetisierens zu tappen, stellt sich immer wieder von
Neuem. Wenn das Subjekt ein Opfer der strafenden Sprache ist, kann es
nicht ausbleiben, dass auch die klassischen Gegensatzpaare Leben/Kunst
350 Rita Svandrlik

und Wirklichkeit/Darstellung in Bewegung geraten, die Pole sind nicht


so klar auszumachen und das schreibende Ich kann nicht nur Opfer des
Darstellungswillens und des Schreibprozesses sein. Diesen Binarismus zu
sprengen, ihn zu unterwandern, zu verflüssigen, ins Oszillieren zu bringen
setzen sich Bachmann und Jelinek mit unterschiedlichen Schreibstrategien
zum Ziel: Leben und Kunst, Wirklichkeit und Darstellung stehen nicht
mehr in einer Entweder-Oder-Struktur sondern in einer Sowohl-Als-Auch-
Beziehung.
Bei beiden Autorinnen kann man die poetische Absicht verfolgen,
Stereotype zu entlarven, ideologische Diskurse und dichotomische
Hierarchien zu unterlaufen, auch wenn es darum geht, die eigene Autor­
position und das eigene Lebensmaterial ins Werk miteinzubeziehen, wobei
Jelinek im Unterschied zur älteren Autorin ihre biografischen Umstände
ständig exponiert, wie man schon an dem zitierten Stück Der Wanderer
sehen konnte, für den sie aus ihrem persönlichen „Familien­fundus“ ge-
schöpft hat (Jelinek 1999: 87). Wie geht Jelinek mit der Opferung, mit den
Morden an ihrer subjektiven Wirklichkeit im Schreibprozess um? Es gilt,
einen immer neuen Balanceakt zwischen Welt und Darstellung auszuhal-
ten, im Bewusstsein, dass das verbindende Seil aus sprachlichem Material
besteht. In Jelineks Nobel-Preisrede heißt es:
Ist Schreiben die Gabe der Schmiegsamkeit, der Anschmiegsamkeit an die
Wirklichkeit? Man möchte sich ja gern anschmiegen, aber was geschieht da mit
mir? Was geschieht mit denen, die die Wirklichkeit gar nicht wirklich kennen?
Die ist ja sowas von zerzaust. Kein Kamm, der sie glätten könnte. Die Dichter
fahren hindurch und versammeln ihre Haare verzweifelt zu einer Frisur, von der
sie dann in den Nächten prompt heimgesucht werden. (Jelinek 2004)

Mit dem Thema der Heimsuchung der Dichter und mit der Einführung
einer persönlichen Dimension („aber was geschieht da mit mir“) schlägt
hier Jelinek ungewohnte Töne an, man könnte meinen, dass sie sich auf
Bachmanns Terrain begibt. Und doch ist es ein Leichtes festzustellen, wie
unterschiedlich der Umgang mit autobiografischem und biografischem
Material ist. Bei Bachmann ist Diskretion ein Schlüsselbegriff, von ande-
ren Künstlerinnen verwendet sie Zitate (Gaspara Stampa), oder schreibt
Rezensionen voller Bewunderung über deren künstlerische Leistung (Maria
Callas, Sylvia Plath), indem sie akkurat jeden biografischen Hinweis meidet:
Sylvia Plath hat sich, dreißig Jahre alt, in London getötet. Die Rücksicht auf die
Menschen, die ihr nahgestanden sind, das Recht auf das Private, das Geheimnis,
erlauben es nicht, mehr darüber zu sagen. (W 4: 358)
Plenarvorträge 351

Von ihrem Roman Die Klavierspielerin meint dagegen Jelinek, sie hätte
sich gerade da am besten versteckt, wo sie sich am meisten preisgibt. Und
nach diesem Verfahren gibt sie auch andere Autorinnen preis, sie schreibt
über sie, biografische Bezüge mit Elementen aus den Texten vermischend:
über Clara Schumann, über Hannah Arendt, über Helmina von Chézy, über
Sylvia Plath und eben auch über Ingeborg Bachmann. Jelinek schreibt
sogar ein Stück, in dem, hinter den Figuren Sylvia und Inge, Plath und
Bachmann klar erkennbar sind; es handelt sich um das Prinzessinnendrama
V: Die Wand, in dem das Opfer, in der ganzen Spannweite des Wortes, als
Opfergabe und Opferhandlung6, im Mittelpunkt steht; ich zitiere aus der
Regieanweisung zu Beginn des ersten Aktes und des zweiten Aktes:
Sylvia und Inge schlachten zusammen ein männliches Tier (einen Widder). Sie
reißen ihm die Hoden heraus und schmieren sich mit Blut ein. Das muß sehr
archaisch und grausam aussehen, ganz im Gegensatz zum Gesprochenen! (Jelinek
2003: 103)

(...) 2. Akt und Ende

Die beiden Frauen wringen gemeinsam den Kadaver des toten Widders über
einem Zuber aus, das Blut tropft hinein, sehr hübsche hausfrauliche Tätigkeit.
Inzwischen haben sie sich umgezogen und achten offenkundig darauf, daß nicht
noch mehr Blut auf ihre Kleidung tropft. Nur im Gesicht sind sie noch verschmiert.

Sie ächzen ein wenig vor Anstrengung, arbeiten aber sicher, mit kundigen Griffen,
sie wissen, was sie tun. Sie kennen sich aus. (Jelinek 2003: 121)

Die archaische Handlung einer Tieropferung umrahmt das Stück, in


dem eine Sylvia und eine Inge auftreten, die beide außer Hausfrauen auch
Schriftstellerinnen sind. Der Titel verweist auch auf den gleichnamigen
Roman einer anderen Schriftstellerin, nämlich Marlen Haushofer, die aber
als Figur nicht auftritt, während von Inge gesagt wird, sie hätte sich eine
Wand mit einer Ritze ausgedacht, um darin zu verschwinden. Die andere
Stimme, also Sylvia, hält ihr vor, eine Kollegin aus der Zunft hätte aber
eine durchsichtige Wand erfunden, in der man nicht verschwinden könne.
Im satirischen Rahmen zweier aufeinander neidischen Frauen (jede möch-
te die andere an Schönheit und kosmetischen Strategien übertreffen, aber
auch an literarischem Können) wickelt sich eine anspruchsvolle Diskussion
über poetologische Fragen ab, und zwar wie Erkenntnis zu vermitteln sei.

  Opfergabe und Opferhandlung sind übrigens in den romanischen Sprachen und im


6

Englischen auf zwei sehr unterschiedliche Begriffe aufgeteilt.


352 Rita Svandrlik

Wenn du das Wesen deiner Erkenntnis, daß du in einer Wand verschwinden


kannst, absolut nimmst, dann ist es sachgemäß, daß dieser Widerspruch, du
verstehst, Wand, Verschwinden, Wand, Verschwinden, Paradox, also daß dieser
Widerspruch die eigentliche Erkenntnis wird. Sonst hättest du dir schon lange die
Stirn an der Wand eingeschlagen. (Jelinek 2003: 116)

Du kannst nicht schreiben, weil du das Genannte und das Gemeinte nicht als
Gegenstand von Erkenntnis beschreiben kannst. Aber du benennst es ja schon
falsch und meinst es schon falsch. Es stimmt einfach nichts bei dir. (Jelinek 2003:
120)

Auch bei Jelinek selbst stimmt einfach nichts, die Stimmigkeit ist kein
Kriterium, der Sinn wird verschoben, vervielfältigt, wie die Figuren des
Stücks: durch die durchsichtige Wand kann die Erkenntnis durchscheinen
und zugleich verschwinden. „Wand, Verschwinden, Paradox, also daß die-
ser Widerspruch die eigentliche Erkenntnis wird“ läßt Jelinek ihrer Sylvia-
Figur in Die Wand sagen, sie trifft damit den poetologischen Nagel auf den
Kopf, mit ihren Zweideutigkeiten: nur im Paradox einer verschwindenden/
verschwundenen Präsenz von Sinn (die durchsichtige Wand) kann das
Beschriebene, das Objekt zugleich (sowohl als auch) Subjekt sein.
Das kurze Stück kreist um die Unlebbarkeit eines Alltags als Künstlerin,
um die tragische Spaltung von Leben und Kunst, von Sinnlichkeit und
Intellekt in der Existenz von Künstlerinnen in der patriarchalen Gesellschaft
(es wird nicht nur auf Haushofer, sondern auch auf Christa Wolf verwie-
sen). Diese Problematik der Künstlerin hat Jelinek sehr oft aufgegriffen,
man denke an Clara S. Eine musikalische Tragödie und an ihren berühm-
testen Roman, Die Klavierspielerin und dabei immer wieder auf Bachmann
verwiesen7. In Die Wand, mit der Vermischung der Elemente aus biografi-
schen Details und aus mythischen Opferritualen wird nun gezeigt, dass es
keine Trennung zwischen Opfern und Geopfertwerden gibt (Rétif 2012:
183)
7
  Hervorzuheben in meinem Zusammenhang ist, dass Jelinek diese Fragestellung auch
in den Mittelpunkt ihres Malina-Filmbuchs gestellt hat. Und um zu exemplifizieren, wie
eine Autorin die Zerreißprobe zwischen der Gewinnung einer weiblichen Identität und
dem Kampf um ein eigenes Sprechen dargestellt hat, verweist Jelinek immer wieder auf
Ingeborg Bachmann: „Für eine Frau ist schon das Schreiben ein gewalttätiger Akt, weil
das weibliche Subjekt kein sprechendes ist. Das Drehbuch zu Ingeborg Bachmanns Roman
Malina, das ich geschrieben habe, thematisiert genau das, daß eine Frau, um zu sprechen,
sich ein männliches Subjekt, das sie aber selber nie sein kann, borgen muß, aber letztlich
keinen Raum hat, in dem sie sprechen kann, solange, bis sie in der Wand verschwindet.
Das können sich Männer gar nicht vorstellen, was es heißt, als Frau zu sprechen. Wenn sie
es doch tut, so ist das eine Überschreitung, eine Art aggressiver Akt. Mich wundert, dass
die Frauenliteratur nicht gewalttätiger ist.“ (Winter 1991: 14-15).
Plenarvorträge 353

Die eingangs gezeigte Aktivität der beiden Frauen mit der Schlachtung
des Widders scheint wenig mit ihrem Leben zu tun zu haben, sie steht eben
im Kontrast zum Gesagten, also zu den Reden der Figuren, und weist je-
doch auf eine mythische Dimension, die am Schluss, mit dem Verweis
auf die Odyssee und mit dem langen Zitat der Entmannung des Uranos
durch Kronos aus Hesiods Theogonie, eine überraschende Wende und
Tiefendimension erhält.
Davor war die Zubereitung einer Blutsuppe, in der Hoffnung damit von
einer dritten Figur Therese/Teiresias die Wahrheit zu erfahren, zu einer
Kinderei verkommen. Diese beiden Ebenen, den mythischen Ursprung der
westlichen Kultur und Literatur, im Original zitiert, und dessen Parodie,
Entmannung und Dekonstruktion will der Text zusammenhalten. Die
Blutsuppe tragen die beiden Figuren die Wand hoch, finden aber oben kei-
ne Wahrheit, keinen Teiresias und keinen Gott, sondern eine an eine Mumie
erinnernde Figur unbestimmten Geschlechts:
Oben sitzt ein Wesen, das ganz mit Binden umwickelt ist, auch das Gesicht.
Es hat neben sich einen Schistock lehnen (oder zwei Stöcke, wie beim Nordic
Walking), und es trägt eine modische sehr dunkle Sonnenbrille. Es ißt von einem
Puppentisch mit Puppengeschirr. (Jelinek 2003: 139-140)

Um auf die Frage der Ermordung, der Opferung der Wirklichkeit zu-
rückzukommen: für Jelinek ist nur die Sprache wirklich, genauer, das
Sprechen, das damit einen eigentümlich selbstständigen und unabhän-
gigen Charakter erhält, also ist Jelineks spezifische virtuose Akrobatik
im Vergleich zu Bachmann anderer Natur, auch weil der theoretische
Bezugsrahmen eine Generation später sich geändert hat, von Wittgenstein
zu Barthes und zum Poststrukturalismus. Jelinek meint, nicht anders als
Bachmann, die Sprache sei männlich dominiert, sie ist geprägt vom phal-
lozentrischen System der hierarchischen binären Oppositionen, in denen
die Frau und das Weibliche mit der Materie, der Natur, der Emotionalität,
der Alterität usw. identifiziert werden. So kann Jelineks Stück auch als
Dekonstruktion des Mythos der Männlichkeit gelesen werden, da es von
der Opferung eines männlichen Tieres, dem die Hoden ausgerissen werden,
handelt und von der Entmannung des mythischen Göttervater Uranos durch
seinen Sohn. Die Regie dieser Entmannung führt aber die Mutter, Gaia.
Und aus dem verstreuten Blut des Uranos werden nicht nur die Riesen
geboren, sondern auch die Erinnyen und die Nymphen, also weibliche
Gottheiten und übernatürliche Wesen, die das Gedächtnis an Schandtaten
wachhalten und in Geschichten aufbewahren. Diese könnten sogar zu einer
354 Rita Svandrlik

Gegengeschichte beitragen: Bachmann hatte in Ein Weg nach Gomorrha an


die Nymphe Echo (auch eine Tochter der Gaia) und an die anderen weib-
lichen Elementargeister erinnert und diese Gegengeschichte weiblicher
Kreaturen als verspielte, nicht genutzte Möglichkeit dargestellt:
Gespielt hatten sie als Mädchen damit, sich gegenseitig die Wäsche an den Kopf
geworfen, gelacht und um die Wette getanzt, einander die Kleider versteckt – und
hätte der Himmel damals noch Verwendung für die Mädchen gehabt, so hätte er
sie gewiß an die Quellen, in die Wälder, in die Grotten versetzt, und eine zum
Echo erwählt, um die Erde jung zu erhalten und voll von Sagen, die alterslos
waren. (W 2: 204)

Echo ist hier nicht als Opfer, als bloß das Wort anderer wiederholende
Kreatur dargestellt, sondern als ein Wesen, das durch das Erzählen von
Sagen die göttliche Macht hat, den Lauf der Zeit aufzuhalten: Bachmann
hat aus dem Opfer ein mächtiges, wortgewaltiges weibliches Subjekt ge-
macht, wenn es sich auch nur um eine heraufbeschworene aber unreali-
sierte Möglichkeit handelt. Somit kann man zwar nicht von dem Entwurf
eines neuen weiblichen Mythos sprechen, beide Autorinnen leisten jedoch
auf unterschiedliche Weise den Beitrag zur Dekonstruktion des in der west-
lichen Kultur verankerten Dualismus, um an die geschändete Gaia und an
verspielte, andere Möglichkeiten der Wirklichkeit zu erinnern.

Literatur
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(„Das Buch Franza“ und „Gier“) und Elfriede Jelinek („Gier“). In: Niethammer,
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Bachmann, I. (1978) Werke, München (zitiert mit Sigle W und Bandnummer).
Bachmann, I. (1983) Wir müssen wahre Sätze finden. Gespräche und Interviews [Hg.]
Koschel, Ch./ Weidenbaum, I. v. München.
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Breuer, I. (2004) Theatralität und Gedächtnis: deutschsprachiges Geschichtsdrama seit
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Plenarvorträge 355

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Winter, R. (1991) Gespräch mit Elfriede Jelinek. In: Bartsch, K./ Höfler, G. A. [Hg.]
Dossier 2: Elfriede Jelinek. Graz: 9-19.
Rafał Szubert (Wrocław)

Zur metaphorischen Hypostasierung


im Bereich der Rechtssprache

1. Einführung
Dieser Beitrag wurde vom Gedanken Franciszek Gruczas inspiriert,
Fachsprachen in ihrer theoretischen Dimension zu behandeln und nicht nur
zu rein praktischen Fragen zu beschränken (vgl. Grucza 2008: 6).
Im Titel meines Beitrags sind drei Phänomene erwähnt: Rechtssprache,
Metapher und Hypostasierung. Diese Phänomene werden unterschiedlich
definiert. Im Folgenden werde ich auf jedes Phänomen kurz eingehen. Ich
beginne mit dem Begriff der Hypostase und der Hypostasierung.

2. Hypostasierung
Von der Hypostasierung wird behauptet, dass sie durch die Namengebung
dem Nichtexistierenden Existenz verleiht (vgl. Kubaszczyk 2011: 149).
Im Folgenden versuche ich zu erklären, was ich unter Hypostase im
Kontext der Metaphorisierung verstehe. Hypostase wird als eine Art
Anschaulichkeit durch Wortbedeutung betrachtet (Kubaszczyk 2011:
123). Nach Kubaszczyk kommt diese Anschaulichkeit besonders deut-
lich bei Bezeichnungen zum Tragen, wo die bildstiftende Funktion in den
Vordergrund rückt (Kubaszczyk 2011: 152). Die bildstiftende Funktion
spielt eine besondere Rolle bei der Prägung von Bezeichnungen für das
Plenarvorträge 357

nicht real Existierende (vgl. Kubaszczyk 2011: 153). Nach der Definition
von DUDEN (http://www.duden.de/rechtschreibung/Hypostase) verst-
ehe ich die Hypostase als Vergegenständlichung, Verdinglichung einer
Eigenschaft, eines Begriffs. Die Hypostase kommt darin zum Ausdruck,
wenn man behauptet, dass die Rechte vom jemanden auf jemanden überge-
hen oder übertragen werden (vgl. Gast 2006: 421).

3. Metapher
Die Frage des Existierens ist im Kontext des Mechanismus der Metapher
vollkommen legitim (vgl. Zawisławska 2011: 36, Goschler 2008: 34). Die
Hypostase ist zwar nicht dazu da, etwas aus der Nichtexistenz heraufzu-
führen und zur Existenz zu führen (vgl. Arutjunowa 1981: 151), man kann
sie aber als ein Mittel zur Evozierung von plastisch vorstellbaren und nach-
vollziehbaren Versinnbildlichungen von Abstrakta – als eine Art Metapher1
- verstehen. In der Rechtssprache (vgl. Kelsen 1992: 294, 319) wird die
Hypostase als eine Hilfskonstruktion (vgl. Kelsen 1992: 294)2 betrachtet,
ein abstraktes Ding (vgl. Gadamer 2000: 56) zur Sprache und somit an das
Tageslicht zu bringen (vgl. Kelsen 1992: 294, 314, 319)3. Zum Beispiel:
man kann sich eine Straftat vorstellen, die als gering [...] am untersten Ende
des Straftatbestandes steht, bzw. eine Gewaltanwendung, die an der unter-
sten Grenze gelegen ist (vgl. Kleinhietpass 2004: 64). Ebenso metapho-
risch sind Formulierungen „vom schweren kriminellen Unrecht“, wobei
durch die Wortwahl „schwer“ anstatt beispielsweise „besonders“ das außer-
ordentliche Maß an strafwürdigem Unrecht verdeutlicht wird.
Da die Funktion der Metapher als eine primär kognitive4 bestimmt wird
- der Metapher wird eine Erklärungs- bzw. Verständnisfunktion zugeschrie-
ben (vgl. Jäkel 1997: 31) - kann der Hilfscharakter dieser Konstruktion
als vorteilhaft bewertet werden. Was aber Vorteil bringt, kann auch scha-
den: In der Erklärungsfunktion der Metapher kann eine potentielle se-
mantische Falle lauern, die ich einen manipulativen Freiraum nenne, d. h.
einen Interpretationsraum, der durch die Kommunizierenden mit unter-
1
  Die Hypostase verstehe ich nicht als einen synonymen Ausdruck für die Metapher. Die
Hypostase betrachte ich als ein Mittel, das das metaphorische Denkens fördert.
2
  Kelsen paraphrasiert die Hypostase entweder als Hilfskonstruktion (vgl. Kelsen 1992:
294) oder als Hilfsinstrument (vgl. Kelsen 1992: 314).
3
  Kelsen analysiert den Staat als handelndes Subjekt. Im Hinblick auf den Staat als
handelndes Subjekt formuliert Kelsen seinen Gedanken direkter: „“
4
  So wird die Stellungnahme im kognitiven Ansatz formuliert (vgl. Jäkel 1997: 31).
358 Rafał Szubert

schiedlichen Inhalten erfüllt werden kann. Zum Beispiel die Zuschreibung


der Repräsentation eines Staatsorgans zur Staatsperson (vgl. Kelsen 1992:
301).

4. Die kognitive Metaphertheorie


Lakoff und Johnson sehen die Essenz der Metapher darin, einen
Sachbereich durch einen anderen zu verstehen und zu erfahren5. Sie heben
die erklärende Hauptfunktion der Metapher hervor (vgl. Lakoff / Johnson
1980: 154; vgl. Jäkel 1997: 31):
The primary function of metaphor is to provide a partial understanding of one
kind of experience in terms of another kind of experience. (Lakoff 1980:154).

Nach der kognitiven Metaphertheorie ist das Konzeptsystem, das unser


Denken strukturiert, nach dem wir sowohl denken als auch handeln, im
Kern und grundsätzlich metaphorisch (vgl. Lakoff / Johnson 1998: 11)6:
Konzeptuelle Metaphern („X ist Y“) liefern Denkmodelle, mittels derer ein infrage
stehender Erkenntnisstand aus einem Zielbereich (X) durch Rückgriff auf einen
ganz anderen Erfahrungsbereich (Y) kognitiv verfügbar gemacht wird. Wegen
der Erklärungsfunktion der Metapher könnte man die beiden Elemente X und
Y auch als Explanandum und Explanans bezeichnen. In der Metapher nach dem
Muster „X ist Y“ liefert der Ursprungsbereich dann Y als Explanans zur partiellen
Erklärung des Explanandums X. (Jäkel 1997: 32).

Nun komme ich zur konkreten Metaphernanwendung im Bereich des


Rechts. Zuerst ein Zitat aus einem juristischen Lehrwerk, das die Metapher
als einen Bestandteil der juristischen Denkwelt lokalisiert und das dem ko-
gnitiven Konzept von der metaphorischen Strukturierung des menschlichen
Denkens nahesteht:
Ein Muster unserer Welterschließung überhaupt besteht darin, dass wir einen
Gegenstand durch einen anderen begreifen. Wir folgen demselben Prinzip, ob wir
Indizien zum Sprechen bringen [...], eine Analogie [...] bilden, einen Vergleich
anstellen oder eine Metapher verwenden. Als „gekürztes Gleichnis“ hat Quintilian

5
  „The essence of metaphor is understanding and experience one kind of thing in terms of
another” (Lakoff / Johnson 1980: 5).
6
  Dass die These der kognitiven Metaphertheorie vom primär mentalen und sekun-
där lexikalen Charakter der Metaphorisierungen keine bloße Vermutung ist, können
Untersuchungen von Menschen beweisen, die an Aphasie leiden (vgl. Jakobson 1989:
171-174, zitiert nach Zawisławska 2011: 37).
Plenarvorträge 359

(im Anschluß an Aristoteles) die Metapher charakterisiert: weil „das Gleichnis


einen Vergleich mit dem Sachverhalt bietet, den wir darstellen wollen, während
die Metapher für die Sache selbst steht“ (Vergleichung: er handelt „wie ein Löwe“;
Metapher: er „ist ein Löwe“). Durch die Metaphern-Brille sehen wir die Sache
anders als gewöhnlich. Vielleicht sehen wir sie verfälscht. Oder wir sehen sie
klarer. Beides ist möglich“ (Gast 2006: 416).

Im Folgenden konzentriere ich mich auf eine exemplarische Metapher,


und zwar auf die Metapher des Staates als Person (genau genommen: als
handelndes Subjekt). Zu dem angeführten Zitat kann ich nun noch kurz
sagen, dass die Metapher des Staates als Person die Sache eigentlich klarer
sehen oder vielleicht überhaupt sehen lässt, was nichts daran hindert, dass
sie die Sache zugleich, oder in manchen Aspekten verfälscht. So wird der
metaphorische Sprachgebrauch im juristischen Bereich von Hans Kelsen
in der „Reinen Rechtslehre“, seiner Variante des Rechtspositivismus, aus-
gewertet. Kelsen ortet den metaphorischen Sprachgebrauch im Kontext
der Frage nach der Identität von Staat und Recht (vgl. Kelsen 1992: 289).
Zuerst bespricht er den Staat als Rechtsordnung. Dieser Einleitung schließt
er seine Gedanken zum Staat als juristische Person an.
Die juristische Person ist eine konzeptuelle Metapher, die Denkmodelle
liefert, mittels derer ein infrage stehender Erkenntnisstand aus einem
Zielbereich (X), hier: der Staat durch Rückgriff auf einen ganz anderen
Erfahrungsbereich (Y), hier: Person, kognitiv verfügbar gemacht wird.
In der Metapher des Staates als juristische Person nach dem Muster „X
ist Y“ liefert der Ursprungsbereich dann Y (die Person) als Explanans zur
partiellen Erklärung des Explanandums X (der Staat) (vgl. Jäkel 1997: 32).
Die Ethymologie dieser Metapher geht auf den Gedanken von Johannes
von Salisbury (1115-1180) und Marsilius dei Mainardini (Marsilius von
Padua) (1275-1342), für deren Staatsverständnis organologische Momente
von entscheidender Bedeutung waren,
insofern er die Gesamtheit der Bürger als „Staatsseele“ und somit als bewegendes
Prinzip des Staatswesens ansah, das sich im Herrscher (principatus) ein
entsprechendes Organ geschaffen habe, von dem aus die Bildung der anderen
Staatsglieder erfolge, dessen Regierungsvollmacht aber an das von der
bürgerlichen Gemeinschaft erlassene Gesetz gebunden bleibe. Weil dieses von
Menschen geschaffene, rein innerweltlichen Bedürfnissen folgende Gesetz nicht
mehr als Umsetzung einer überirdischen Norm verstanden wurde, konnte es sehr
viel flexibler auf den Veränderungsdruck historischer Entwicklungen reagieren
(Struve 2006).
360 Rafał Szubert

An dieser Stelle möchte ich nur sagen, dass die Spuren der flexiblen
Reaktion der Rechtssysteme auf historische Entwicklungen im Kontext
der Verantwortlichkeit der juristischen Person bis heute nachweisbar sind.
Jedenfalls ist festzustellen, dass die von der französischen Revolution
abgeschaffte Institution der juristischen Person (und damit auch ihrer
Strafbarkeit) in den Rechtsordnungen der einzelnen Staaten unterschied-
lich geregelt wird. Gegenwärtig zeichnet sich aber einen Übergang von der
Nichtbestraffung zur Bestrafung der juristischen Personen ab. Das ändert
eigentlich den Blick auf die Frage der Bestrafung der juristischen Personen,
die im Kelsen Werk erörtert wird.7
In meinen Überlegungen über lexikalisierte Metaphern der Rechts­
sprache gehe ich von der Annahme aus, dass die Entstehung, das Bestehen
und Funktionieren von lexikalisierten Metaphern eine Folge kulturel-
ler Vorstellungen ist.8 Diese kulturellen Vorstellungen drücken sich im
Sprachgebrauch aus (vgl. Kelsen 1992: 295). Und als in der Sprache aus-
gedrückten Vorstellungen werden sie zwecks Verfolgung ganz bestimmter
Ziele eingesetzt:
Man kann, muß aber nicht, sich dieser Metapher [gemeint ist die Metapher der
juristischen Person – R.Sz.] bedienen, da man den Sachverhalt auch ohne Metapher
darstellen kann; und man bedient sich ihrer, wenn man dies aus irgendeinem
Grunde für vorteilhaft hält. (Kelsen 1992: 295)9

In diesem Zusammenhang könnte aufschlussreich sein, den metapho-


rischen juristischen Sprachgebrauch darauf hin zu untersuchen, unter wel-
chen Bedingungen gewisse Funktionen in der Rechtssprache im gegebenen
nationalen Rechtsystem dem Staat zugeschrieben werden (vgl. Kelsen
1992: 294).
Die Vorstellung über den Staat als Person und die Darstellung des
Staates als handelndes Subjekt reichen weit in die Vergangenheit zurück.
7
  Kelsen behauptet, dass nur ein menschliches Individuum und nicht die juristische Person
bestraft werden kann, während man z.B im modernen Strafrecht die Bestrafung sowohl des
menschlichen Individuums (z. B. der Vorsitzenden des Vorstands als auch der juristischen
Person (z. B. einer Aktiengesellschaft) zulässt, zu der dieses Individuum zugeschrieben
wird. Diese Tendenz wird mit dem steigenden Bestreben der staatlichen Finanzwirtschaft
erklärt, die staatliche Verfügungsgewalt über das Volksvermögen übermäßig auszudehnen,
also mit dem Fiskalismus des Staates.
8
  Nach Zybatow verstehe ich kulturelle Vorstellung in diesem Beitrag als „ein teils krea-
tiver, teils reproduktiver Akt der (Re-)Organisation von Wissen, das in einer kulturellen
Gruppe sprachlich gefestigt ist“ (Zybatow 2006: 13).
9
  An einer anderen Stelle „der Reinen Rechtslehre“ erfahren wir, dass dieser Grund poli-
tischer Zweck heißen kann (Kelsen 1992: 304).
Plenarvorträge 361

Im Mittelalter fiel in der Konzeption des Staates als juristischer Person (von
Marsilius dei Mainardini) der Gesamtheit der Bürger als dem menschlichen
Gesetzgeber (also einer Art Körperschaft) die Rolle des Souveräns zu, was
wiederum dem Staat eine über die Person des Herrschers hinausweisende
- und in dieser Hinsicht freilich ganz unorganische - transpersonale Dauer
verlieh (185-203) (vgl. Struve 2006).
Ray Paton (2002: 271)10 erwähnt die ontologische Funktion der
Metapher als ihre wesentliche Funktion und betont, dass die Metapher es
erlaubt, neue Entitäten entstehen zu lassen.11 Einer anderen Meinung ist
Hans Kelsen, der behauptet, dass das Problem des Staates als handelnde
Person ein Problem der Zuschreibung ist. Daher muss man sich der Natur
dieser Gedankenoperation der Zuschreibung bewusst sein, um den wahren
Sinn des Problems zu erfassen. Und nun der Kern der Frage nach dem
Existierenden bzw. nach dem Nicht-Existierenden:
Die Frage, ob ein bestimmtes Verhalten, insbesondere ein bestimmter Akt,
eine bestimmte Funktion das Verhalten des Staates, ein Staatsakt oder eine
Staatsfunktion ist, das heißt: ob es der Staat ist, der hier als Person einen Akt
setzt, eine Funktion leistet, ist nicht eine auf die Existenz einer Tatsache gerichtete
Frage so wie die Frage, ob ein bestimmter Mensch eine bestimmte Handlung
vorgenommen hat. Wenn die Frage diesen Sinn hätte, könnte sie niemals eine
affirmative Antwort erhalten. Denn tatsächlich ist es niemals der Staat, sondern
immer nur ein bestimmter Mensch, der handelt, der einen bestimmten Akt setzt,
eine bestimmte Funktion leistet. (Kelsen 1992: 294)

Die Setzung eines bestimmten Aktes durch den Staat könnte nur unter
einer Bedingung als existent angenommen werden:
Nur wenn man den Staat als handelnde Person als eine von dem Menschen
verschiedene Realität, als eine Art Übermenschen vorstellt, das heißt [wenn man]
die Hilfskonstruktion der Person hypostasiert, kann die Frage, ob ein Staatsakt,
eine Staatsfunktion vorliegt, den Sinn einer auf die Existenz einer Tatsache
gerichteten Frage haben, kann die Antwort auf die Frage sein, daß ein bestimmter
Akt oder eine bestimmte Funktion ein Staatsakt oder eine Staatsfunktion ist oder
nicht ist. (Kelsen 1992: 294)

Und noch ein Zusatz:


  Auf Paton berufe ich mich nach Zawisławska (2011: 1).
10

  Zawisławska zitiert Paton im Original: „They are involved in the formulation of hy-
11

pothetical entities” (Paton 2002:271, zitiert nach Zawisławska 2011: 110). In Anlehnung
an Gajda (2008) vertritt Zawisławska (2011: 110) die Meinung, dass die ontologische
und kreative Funktion der Metapher als synonymische Bezeichnungen verwendet werden
können (Zawisławska 2011: 110).
362 Rafał Szubert

Da aber der Staat als handelnde Person keine Realität, sondern eine Hilfsfunktion
juristischen Denkens ist, kann die Frage, ob eine Funktion Staatsfunktion ist, nicht
auf die Existenz einer Tatsache gerichtet sein. (Kelsen 1992: 294)

5. Ausblick
Im Rahmen der kognitiven Metaphertheorie wird Metapher als ein kon-
zeptuelles „Mapping“ (Abbilden) von dem einen Bereich in den anderen ge-
sehen. Die Entstehung, das Bestehen und Funktionieren von lexikalisierten
Metaphern ist ihrem Wesen nach eine Folge kultureller Vorstellungen (vgl.
Zybatow 2006: 13). Diese Annahme kann schwerwiegende Folgen für die
Interpretation des sprachlichen Zeichens und seiner Bedeutung haben. Jurij
Apresjan deutet darauf hin, dass die Semantik des sprachlichen Zeichens
naive Weltauffassung widerspiegelt (vgl. Apresjan 1995: 66). Diese nai-
ve Weltauffassung wird u.a. auch in metaphorischen Ausdrücken vermit-
telt, weil sie die Funktion realisieren, durch ausgeprägte Anschaulichkeit
abstrakte Sachverhalte, Zustände und Zusammenhänge zu erklären (vgl.
Kleinhietpass 2007: 66). Das Beispiel der Metapher des Staates als han-
delnder Person bestätigt die Einsicht Apresjans, dass die naive sprachliche
Auffassung eines Weltfragments (hier: der versprachlichten Rechtsordnung)
sich von der logischen, wissenschaftlichen Auffassung dieser Welt un-
terscheiden kann (vgl. Apresjan 1995: 67). Die von Kelsen angeführten
Kommentare erfüllen eine Funktion der Erkenntnistheorie, nämlich: sie
liefern eine Beschreibung der wissenschaftlichen Erkenntnis und kontras-
tieren sie mit der unwissenschaftlichen Fiktion (vgl. Kelsen 1992: 303).
Kelsen sucht eine Antwort auf die Frage, was bedeuten die Begriffe, die
bei der Erkenntnis einer Rechtsordnung benutzt werden (vgl. Reichenbach
1983: 1). Er realisiert die Voraussetzungen der Erkenntnistheorie von
Reichenbach, indem er das Äußere, d. h. die Form eines metaphorischen
Ausdrucks, und das Innere, d. h. den seiner Form zugeschriebenen
Inhalt analysiert. Die Ausführungen Kelsens haben den Wert einer de-
taillierten Nachkonstruktion12 des tatsächlichen Sachverhalts im Bereich
der juristischen Fachsprache. Er beschreibt die Zusammenhänge aus der
Perspektive der positiven Rechtswissenschaft, und zeigt, dass die sprach-
lichen Formen, mit deren Hilfe diese Zusammenhänge vermittelt werden

12
  Ich bediene mich der Bezeichnung Nachkonstruktion, weil ich damit die Absicht ver-
folge, den Unterschied zwischen dem naiven oberflächlichen, von der Sprachform unter-
stellten Bild und dem tatsächlichen Sachverhalt zu betonen.
Plenarvorträge 363

sollen, einen lediglich approximativen Charakter haben, d. h. sie sind mit


der zu erkennenden Welt durch die Forderung der Übereinstimmung mit
tatsächlichen Sachverhalten gebunden (vgl. Reichenbach 1983: 3). Diese
Übereinstimmung ist immer, wenn schon, dann nur eine gewollte, aber kei-
ne tatsächliche. Die von der Form des sprachlichen Zeichens (des meta-
phorischen Ausdrucks) und dem tatsächlichen Sachverhalt eingeschlagene
Wege gehen auseinander. Das kann zu der Einsicht führen, dass die wis-
senschaftliche (juristische) Weltauffassung nicht von der Sprache abhängt,
mit der sie beschrieben wird (vgl. Apresjan 1995: 68). Jedenfalls nicht von
den naiv rezipierten sprachlichen Ausdrücken. Daher kann man nicht um-
hin, den von Putnam formulierten Stereotypbegriff13 in das semantische
Analysemodell der metaphorischen Ausdrücke zu implementieren. Denn
mit dem Phänomen des Stereotyps (vgl. Lehr et al. 2001: 160) kann erklärt
werden, auf welche Weise soziales Wissen unbeachtet seiner sprachlichen
Ausdrucksformen innerhalb einer Idiokultur (der Juristen) erfolgreich
nach außen, d. h. zu einer anderen Idiokultur oder einer Polykultur (der
Rechtslaien) transportiert werden kann. Diesen Stereotyp möchte ich den
konventionellen Stereotyp nennen. Ich meine, dass es die Konvention ist,
die es ermöglicht, dass verschiedene Wege, die nie wieder zusammentref-
fen sollen – der von der Form eines metaphorischen Ausdrucks scheinbar
angedeutete Weg, und der sich aus dem diesem Ausdruck zugeschriebenen
Inhalt ergebende Weg – doch zu einem Ziel führen. Im Lichte des konven-
tionellen Stereotyps kann die Äußerung Putnams gedeutet werden:
Jede Sprachgemeinschaft weist die eben beschriebene Art von sprachlicher
Arbeitsteilung auf, das heißt, sie verwendet wenigstens einige Ausdrücke, für
die gilt: Die mit diesen Ausdrücken verknüpften Kriterien kennt jeweils nur eine
Teilmenge der Menge aller Sprecher, die diesen Ausdruck beherrschen, und ihre
Verwendung durch andere Sprecher beruht auf einer spezifischen Kooperation
zwischen diesen und den Sprechern aus den jeweiligen Teilmengen. (Putnam
1979: 39)

Unter diese Teilmenge aller Sprecher, die Putnam anspricht, fallen


u.a. die Juristen, von denen Metaphern meistens nicht mehr als bildhaft
empfunden werden (vgl. Gläser 2007: 487). Diese Metaphern können als
Mittel gesehen werden, mit deren Hilfe komplexe und insbesondere für

  Putnam formuliert den Stereotyp als konventional verwurzelte, häufig übelmeinende


13

und möglicherweise völlig aus der Luft gegriffene Meinung darüber, wie ein X aussehe,
was es tue oder was es sei (Putnam 1979: 68).
364 Rafał Szubert

Rechtslaien unübersichtliche Sachverhalte anscheinend in Sachverhalte der


alltäglichen Erfahrungswelt transformiert werden.

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http://woerterbuchnetz.de/DWB/?sigle=DWB&mode=Vernetzung&lemid=GZ11900
(Tag der Transmission: 11.05.2012)
http://www.sehepunkte.de/2006/12/druckfassung/7838.html (Tag der Transmission: 24.
05.2012)
Magdalena Szulc-Brzozowska (Lublin)

Einige Bemerkungen zur Verwendung


des bestimmten Artikels im Deutschen
aus kognitiver Sicht

Einleitung
In den satzorientierten Artikeltheorien wird der Artikel als eine synse-
mantische Wortart mit morphologischer Funktion definiert (Bezeichnung
der Substantivkategorien), die das Substantiv begleitet und in seman-
tischer Hinsicht seine Bestimmtheit bzw. Unbestimmtheit ausdrückt. (vgl.
R. Conrad 1988²: 31). Dagegen kommt in den textlinguistischen Ansätzen
dem Artikel die Funktion der Kommunikationssteuerung zu, die gene-
rell auf der anaphorischen und kataphorischen Verweisung beruht. (vgl.
H. Weinrich 2007: 410-420). Die Anaphorik und Kataphorik stehen mit sol-
chen semantischen Merkmalen wie bekannt und unbekannt in einem engen
Zusammenhang. Sowohl in satzgrammatischen als auch in textgramma-
tischen Ansätzen erscheinen bei der Beschreibung des Artikels die Termini
Bestimmtheit, Bekanntheit, Definitheit, Identifizierung vs. Unbestimmtheit,
Unbekanntheit, Indefinitheit u.Ä. Es besteht jedoch keine einheitliche
Auffassung dieser Begriffe, wo doch in beiden Ansätzen die Referenz als
ein Schlüsselbegriff gilt. (vgl. Duden Grammatik 1998, Bd. 4: 313-318;
P. Eisenberg 1999, Bd. 2: 143-145; K. E. Heidolph, W. Flämig, W. Motsch
et.al., 1981: 591-594; G. Helbig/J. Buscha 1996: 366-376; E. Hentschel/H.
Weydt 1994: 205-207; W. Jung 1982: 254-255; W. Kallmeyer et.al. 1986:
Plenarvorträge 367

Bd. 1; K.-E. Sommerfeldt, G. Starke, D. Nerius 1983: 113-115; H. Vater


1979; H. Weinrich, 2007: 406-432).
Dies erweist sich vor allem für diejenigen Lerner des Deutschen, denen
die Kategorie des Artikels fremd ist, als ungünstig.
Ziel meines Vortrags ist es, die Anwendung des kognitiven Ansatzes,
und zwar des Framekonzepts bei der Beschreibung des bestimmten
Artikels darzustellen, dank dem satzgrammatische und textlinguistische
Beschreibungsunterschiede aufgehoben werden.
In der vorliegenden Darstellung wird der Begriff Definitheit auf die
Begriffe definite Referenz1 und Einzigkeit des Referenten (Referent als Typ
unik; Termini nach H. Bisle-Müller 1991: 29-31) bezogen, wobei weder
die Opposition Bestimmtheit – Unbestimmtheit wie in Satzgrammatiken
noch der thematisch-rhematische Wert noch die Determination durch die
Vor- oder Nachinformation wie in Textgrammatiken vorausgesetzt werden
(vgl. H. Bisle-Müller, 1991: 13).
Der dargebotene Ansatz stützt sich auf die Koordination des Wissens
zwischen dem Sprecher und Hörer. In der kognitiven Grammatik wird
nämlich dem Artikel die Funktion eines Auslösers für eine Kooperation
zwischen den Kommunizierenden, die aktuell auf denselben profi-
lierten Sachverhalt ihre Aufmerksamkeit lenken, zugeschrieben (vgl. R.
Langacker 2005: 149).2 Der bestimmte Artikel signalisiert die Tatsache,
dass der profilierte Sachverhalt im aktuellen Diskurs vorhanden ist.3
Die Kooperation zwischen Sprecher und Hörer wird auf das Frame­
konzept bezogen. Das Framekonzept dient nämlich der gemeinsamen
Bestimmung des Referenten als Typ unik in dem jeweiligen Diskurs, somit
als Grundlage für den Gebrauch des bestimmten Artikels (vgl. H. Bisle-
Müller 1991: 29-31).
Mein Beitrag besteht insbesondere darin, anhand von Beispielen das
Framekonzept als eine solche Kooperationsbasis zu veranschaulichen.

1
  Definite Referenz – „kooperative Handlung von Sprecher und Hörer, bei der es darum
geht, durch Koordinierung des gemeinsamen Wissens die gemeinsame Bestimmtheit von
Gegenständen zu sichern“ (H. Bisle-Müller, 1991: 49, Zitat leicht verändert).
2
  Profilieren meint eine begriffliche Hervorhebung eines Aspektes/Elements der jewei-
ligen Domäne als einer kohärenten Wissensstruktur, die durch den jeweiligen Ausdruck
hervorgerufen wird. (Vgl. V. Evans 2009: 23, 109-110).
3
  Anders gesagt: die aktuelle Diskurssituation muss ein einzelnes Exemplar des gegebe-
nen Typs enthalten, und zwar reicht allein die Verwendung des Substantivs aus, damit der
Sprecher und der Hörer denselben Referenten beachten. Der unbestimmte Artikel infor-
miert dagegen darüber, dass es im aktuellen Diskurs noch kein einzelnes Exemplar des
gegebenen Typs gibt. Vgl. R. Langacker 2005: 149.
368 Magdalena Szulc-Brzozowska

Beispiele werden nach den Verwendungstypen von J. A. Hawkins 1978


und H. Vater 1984abc diskutiert, wobei deren Erklärung sich auf eine
kooperative Festlegung des Referenzobjekts als Typ unik im gegebenen
Diskurs stützt (vgl. H. Bisle-Müller 1991).

1. Referenz, Definitheit, Framekonzept


Der Begriff Definitheit wird im Zusammenhang mit dem Terminus
Referenz benützt (vgl. H. Bisle-Müller 1991: 25-43). „Referieren meint
die sprachliche Bezugnahme auf eine kognitiv konstruierte Repräsentation­
seinheit, die entweder auf ein perzipiertes Wahrnehmungs­objekt zurückgeht
oder allein der Vorstellungskraft entspringt.“ (A. Ziem 2008: 292, Zitat leicht
verändert). „Ein sprachlicher Ausdruck referiert auf eine kognitive Einheit,
indem er einen Frame evoziert, der einen möglichen Referenzbereich erst
eröffnet.“(A. Ziem 2008: 293) Kurz gesagt: „Die Aktivierung eines Frames
entspricht einer Referenzhandlung eines Sprachbenutzers (...).“ (A. Ziem
2008: 371)
Definite Referenz wird nach H. Bisle-Müller (1991: 43, 49) als eine
kooperative Handlung von Sprecher und Hörer verstanden, die eine ge-
meinsame Bestimmung des uniken Referenten in dem gegebenen Diskurs
voraussetzt. Die definite Referenz möchte ich auf das Framekonzept bezie-
hen.
In dem vorliegenden Beitrag werden verschiedene Bestimmungen
von Frames vernachlässigt. Es werden lediglich diejenigen Aspekte des
Framekonzepts dargestellt, die dem Zwecke dienen, die Verwendung des
Definitartikels zu erklären. Beispielsweise sind Fillmores Ansatz und
Langackers Theorie in dieser Hinsicht weitgehend kompatibel.
Ich stütze mich auf den Holismus als methodologischen Ansatz der
Kognitiven Grammatik von R. Langacker. In der holistischen Konzeption
werden den grammatischen Kategorien semantische Funktionen zugespro-
chen. Dies gilt also auch für den Artikel (vom Unterschied zwischen sym-
bolischen Einheiten und Konstruktionen wird abgesehen). Somit indiziert
der Artikel, wie das jeweilige Substantiv semantisch zu interpretieren ist
(vgl. A. Ziem 2008: 109).
„Frames sind konzeptuelle Wissenseinheiten, die durch sprachliche
Ausdrücke beim Sprachverstehen evoziert werden, die also Sprachbenutzer
aus dem Gedächtnis abrufen, um die Bedeutung eines sprachlichen
Ausdrucks zu erfassen.“ (A. Ziem 2008: 2, Zitat leicht verändert)
Plenarvorträge 369

Frames beruhen auf Wissen, das aufgrund der menschlichen Erfahrung


in einer Sprachgemeinschaft schematisiert wird. Ein Frame kann auch be-
stimmte Assoziationen beinhalten, die ein sprachlicher Ausdruck beispiels-
weise infolge eines partikulären Ereignisses, erweckt (vgl. A. Ziem 2008:
8-10). Es handelt sich aber generell um ein Wissen von der Welt, das einer
Sprachgemeinschaft eigen ist. Zwischen Sprachwissen und Weltwissen
wird keine scharfe Trennlinie gezogen.
Nach A. Ziem (2008) sind Frames konzeptuelle Vorstellungseinheiten
eines Bezugsobjekts, die mittels Prädikaten spezifiziert werden. Es werden
drei Strukturkonstituenten von Frames unterschieden, nämlich Leerstellen,
konkrete Füllwerte und Standardwerte (vgl. A. Ziem 2008: 12-13).
„Leerstellen eines evozierten Frames geben das Prädikationspotenzial
desjenigen sprachlichen Ausdrucks an, der diesen Frame evoziert.“ (A.
Ziem, 2008: 241) „Leerstellen bilden eine Art Bezugsrahmen eines sprach-
lichen Ausdrucks, und zwar einen solchen, der Informationen darüber ent-
hält, worauf der Ausdruck möglicherweise referieren könnte.“ (A. Ziem
2008: 299, Zitat leicht verändert). Beispielsweise kann es sich beim Objekt
Hund um Bezugsstellen wie Größe, Farbe, Masse, Fähigkeit u. dgl. handeln
(vgl. A. Ziem 2008: 208).
Der Begriff konkrete Füllwerte bezieht sich auf explizite Prädikationen.
Unter konkreten Füllwerten werden Spezifizierungen von Leerstellen ver-
standen, die in Form von Textelementen die jeweiligen Leerstellen im kon-
kreten Text besetzen (vgl. A. Ziem 2008: 326-335).
Standardwerte betreffen implizite Prädikationen – „referenzmögliche
Eigenschaftsattribuierungen“ (A. Ziem, 2008: 335). Es handelt sich um
konventionelle Bedeutungsaspekte, die aus dem Gedächtnis abgerufen
werden. Es sind „kognitiv verfestigte Prädikationen“ (A. Ziem 2008: 446).
Beispielweise kann es beim Objekt Hund auf das Merkmal vierbeinig an-
kommen.
„Die Formseite eines sprachlichen Zeichens oder einer sprach-
lichen Zeichenkette ruft einen Frame auf, d. h. ein Sprachbenutzer setzt
eine sprachliche Form mit einem bestimmten konzeptuellen Gehalt in
Beziehung.“ (A. Ziem 2008: 183, Zitat leicht verändert). „Mit einer sprach­
lichen Form einen bestimmten Inhalt zu verknüpfen, heißt, einen Frame
mit vordefinierten Standardwerten zu aktivieren.“ (A. Ziem 2008: 211) “Die
Inhaltsseite von Zeichen variiert in dem Maße, wie sich die Strukturelemente
von Frames (Füllwerte, Standardwerte) abhängig vom Diskurszusammen­
hang ändern.“ (A. Ziem 2008: 439, Zitat leicht verändert). So können die
Standardwerte (konventionelle Bedeutungen) abhängig vom Vorwissen der
370 Magdalena Szulc-Brzozowska

Kommunizierenden spezifiziert werden, indem sie durch konkrete Werte


ersetzt werden (vgl. A. Ziem 2008: 209). Beispielsweise kann beim Objekt
Hund der Standardwert bezüglich Farbe schwarz oder braun durch den
Füllwert rot ersetzt werden, wenn in dem gegebenen Text auf einen be-
stimmten Hund mit der Farbe rot referiert wird.
Somit „bilden Frames ein einheitliches Format zur Repräsentation von
konventionellen und kontextuellen Bedeutungsaspekten“/ (A. Ziem 2008:
207, Zitat leicht verändert).
Im Falle des definiten Artikels handelt es sich um ein Veranke­rung­sele­
ment, das zur (Re)Konstruktion der Bedeutung des jeweiligen Ausdrucks
verhilft (vgl. A. Ziem 2008: 86). „Der definite Artikel verankert das Denotat
in der Erfahrungswelt der Kommunizierenden.“ (A. Ziem 2008: 39, Zitat
leicht verändert).
Ein Frame kann Bezüge zwischen einzelnen Ausdrücken in einem Text
herstellen, die zugleich Füllwerte dieses Frames darstellen. Die Verwendung
des definiten Artikels kann dann durch die indirekte anaphorische Referenz
eines Füllwertes in Bezug auf den Ausdruck, der den gegebenen Frame
evoziert, begründet werden (vgl. A. Ziem 2008: 100-101).
„Ich wollte gerade die Tür aufschließen, als Moretti aus dem Gebüsch
sprang. Vor Schreck ließ ich den Schlüssel fallen.“ (Beispiel nach A. Ziem
2008: 100)4
„Anaphorisierungen (...) gelingen (...) unter der Voraussetzung, dass
Textrezipienten (...) über einen gemeinsamen Wissensvorrat in Gestalt von
aktualisierten Standardwerten verfügen.“ (A. Ziem 2008: 338).
Der definite Artikel ruft einen Frame mit vordefinierten Standardwerten
auf. Als erste Strukturkonstituente dieses Frames, die Leerstelle, nenne ich
die folgende Prädikation: „das Referenzobjekt gilt als Typ unik im jewei-
ligen Diskurs“. Die Standardwerte bilden Prädikationen, die sich auf ge-
meinsames Wissen von Kommunizierenden beziehen, und zwar betreffen
sie folgende, hier global formulierte Wissensaspekte:
a. Das Referenzobjekt bildet einen Bestandteil des kontextuellen Wissens,
d. h. das Designat des Referenten kommt unmittelbar im Vortext vor
bzw. es wird durch den Nachtext als ein solches spezifiziert, oder
b. Das Referenzobjekt bildet einen Bestandteil des Wahrnehmungswissens
hinsichtlich der jeweiligen Kommunikationssituation, oder
c. Das Referenzobjekt bildet einen Bestandteil des episodischen Wissens
von Kommunizierenden, d. h. des Wissens um bestimmte Ereignisse,
4
  Es handelt sich in diesem Beispielsatz um die Verwendung des bestimmten Artikels
beim Wort Schlüssel in Bezug auf den Ausdruck die Tür aufschließen.
Plenarvorträge 371

an denen die Kommunikationspartner gemeinsam teilgenommen haben,


oder
d. Das Referenzobjekt bildet einen Bestandteil des spezifischen Wissens,
d. h. Wissens um die Kommunikationspartner und ihr Weltwissen bzw.
um spezifische Objekte, oder
e. Das Referenzobjekt bildet einen Bestandteil des generischen Wissens,
d. h. Wissens über Welt und Sprache. Unter generischem Wissen über
Welt sind schematisierte Wissensstrukturen gemeint, ähnlich wie bei
Frames, die der jeweiligen Sprachgemeinschaft zugehören (vgl. H. Bisle-
-Müller 1991: 44-46).
Die Füllwerte des durch den Artikel evozierten Frames sind kontext-
bedingte Werte, sie werden im folgenden Abschnitt an Beispielen näher
besprochen.
Die Verwendung des bestimmten Artikels wird somit auf den definiten
Referenzakt als Identifizierung des jeweiligen Referenzobjektes hinsicht-
lich seiner Festlegung als Typ unik in dem gegebenen Diskurs im Rahmen
des gemeinsamen Wissens von Sprecher und Hörer bezogen (vgl. H. Bisle-
-Müller 1991: 48-49).

2. Frame-basierte Verwendung des bestimmten Artikels


Im Folgenden werden einzelne Verwendungstypen des bestimmten
Artikels analysiert. An Beispielen wird das Framekonzept als Grundlage
für die definite Referenz dargestellt.
Bemerkenswert ist die Tatsache, dass beim Definitartikel mindestens
zwei Frames in Frage kommen, derjenige, der durch den Artikel und ein
anderer, der durch das Substantiv aufgerufen werden. Es entstehen dann
neue Leerstellen, die mit Standardwerten besetzt werden müssen. Diese
sowie die Füllwerte werden in der vorliegenden Beschreibung auf den
Gesamtkomplex: Definitartikel + jeweiliges Substantiv bezogen.

2.1. Anaphorische und kataphorische Verwendung


Bei diesen Verwendungstypen erfolgt die Identifizierung des Referenten
als Typ unik direkt aus dem sprachlichen Kontext. Dieser erlaubt dem
Textrezipienten festzustellen, dass es in dem gegebenen Diskurs kein an-
deres Objekt, das mit dem jeweiligen Referenzobjekt verwechselbar wäre,
gibt. Die Koordination des gemeinsamen Wissens beruht somit ledig-
lich auf der Feststellung der Existenz des Referenten in dem gegebenen
Diskurs, und nicht auf der Bestimmung seiner Eigenschaften oder Lage
372 Magdalena Szulc-Brzozowska

u. dgl. Die Evidenz dieser Tatsache kommt vor allem in fiktiven Texten,
z. B. in Märchen, vor, wenn der jeweilige Referent weder dem Sprecher
noch dem Hörer bekannt sein kann (vgl. H. Bisle-Müller 2008: 51).
Bei dem anaphorischen Verwendungstyp wird die definite Referenz
durch den Vortext, bei dem kataphorischen durch den Nachtext bestimmt.
Anapher:
1) „Jeden Tag brachte eines der Mädchen aus der Klasse einen Gegenstand mit,
legte ihn vor mich hin und sagte mir, wie der Gegenstand heißt.“ (aus N. Kelek
2006: 117)

In (1) evoziert der bestimmte Artikel bei Gegenstand einen Frame,


dessen Standardwert in Bezug auf den Wissensaspekt „das Designat des
Referenzobjekts im Vortext“ durch den konkreten Füllwert ein Gegenstand
spezifiziert wird.
Katapher:
2) „Der Brunnen, in dem wir als Kinder immer gespielt haben, ist ausgetrocknet
und eine Sammelstelle für allerlei Abfall geworden.“ (aus N. Kelek 2006: 88).

In (2) analysieren wir den Frame von der Brunnen. Der Standardwert
mit der Basis „Spezifizierung des Designats des Referenzobjekts durch den
Nachtext“ wird durch den Füllwert „in dem wir als Kinder immer gespielt
haben“ ersetzt.

2.2. Assoziativ-anaphorische Verwendung


In diesem Falle bilden die Standardwerte des Frames, der durch den
bestimmten Artikel evoziert wird, Wissensaspekte, die entweder das episo-
dische, das spezifische oder generische Wissen betreffen. Das Dauerwissen
wird durch den sprachlichen Kontext aktualisiert. Ein anaphorisches
Textelement ruft einen Frame auf, dessen Füllwert in Form des jeweiligen
Substantivs mit dem bestimmten Artikel erscheint.
3) Im Sommer war ich zum zweiten Mal in der Türkei im Urlaub. Da habe ich den
Mann wiedergesehen. (Beispiel gebildet nach H. Bisle- Müller 1991: 53).

In (3) aktiviert der Definitartikel bei Mann einen Frame, dessen


Konstituente Standardwert durch den anaphorischen Ausdruck in der
Türkei beim Hörer als episodisches Wissen aufgerufen wird. Der Referent
von den Mann (als Füllwert) ist im gemeinsamen Wissen von Sprecher und
Hörer enthalten, das beispielsweise einen gemeinsamen Aufenthalt in der
Plenarvorträge 373

Türkei betrifft. Er gilt zugleich als unikes Element des Frames Aufenthalt
in der Türkei.
4) „Istanbul brennt vor Leben. Die Fähre hält in Haydarpasa, dem großen, von
deutschen Architekten vor über hundert Jahren gebauten Kopfbahnhof direkt am
Wasser.“ (aus N. Kelek 2006: 88).

Im Beispiel (4) haben wir es bei die Fähre mit einem Füllwert des
Frames Istanbul zu tun. Der Frame von Istanbul basiert auf dem spezi-
fischen Wissen davon, dass Istanbul am Wasser liegt und die Verbindung
beider Teile der Stadt durch die Fähre als eines der an diesem Ort unabding-
baren Verkehrsmittel garantiert wird. Somit wird die definite Referenz im
Falle des Referenten von die Fähre dadurch festgelegt, dass die Fähre als
eines der Elemente dieses Frames erkannt wird.
5) „Morgens mussten wir auf dem Schulhof antreten und die Nationalhymne
singen. Dabei wurde die Fahne aufgezogen.“ (aus N. Kelek 2006: 101)

In (5) betrifft das Framekonzept, das durch den bestimmten Artikel beim
Wort Fahne aufgerufen wird, zugleich das Script 5 Nationalhymne singen
– Fahne aufziehen. Der Referent von die Fahne wird aufgrund des gege-
benen Scripts vom generischen Charakter in diesem Diskurs als Typ unik
betrachtet, d. h. die Handlung Fahne aufziehen erscheint als Standardwert
und hier zugleich als Füllwert des Frames/Scripts Nationalhymne singen.
6) „Er schickte monatlich Geld, das meine Mutter jedes Mal, nachdem sie den
Umschlag geöffnet hatte, mit einem Fluch bedachte, (...).“ (aus N. Kelek 2006:
101)

In (6) handelt es sich, ähnlich wie in (5) um eine generische Struktur,


und zwar Post – Geldschicken – Umschlag. Die Prädikation Geld schi-
cken als anaphorisch in Bezug auf das Designat des Referenzobjekts der
Umschlag evoziert einen Frame, in dem der Umschlag als Füllwert dieses
Frames gilt, zugleich als Typ unik in diesem Diskurs.

2.3. Unmittelbar-situative Verwendung


Im Falle der unmittelbar-situativen Verwendung kann sich das Wissen
um das Referenzobjekt als Typ unik entweder aus der Sprechsituation,
5
  Ein anderes kognitives Konzept ist Script. Unter Script werden Informationsstrukturen
mit temporalen und kausalen Folgen und Relationen verstanden, die bestimmte Ereignisse
oder Handlungen miteinander in bestimmten Handlungsrahmen verbinden. (vgl. J. R.
Taylor 2001: 127-128).
374 Magdalena Szulc-Brzozowska

z. B. durch einen Hinweis auf das Referenzobjekt, oder aus dem gene-
rischen Wissen ergeben. Es ist aber zu bemerken, dass ein Hinweis im phy-
sischen Sinne gar nicht notwendig ist.
7) „Wir beiden Jüngeren waren noch dabei, unsere Koffer und Taschen zur Tür
zu bugsieren, als der Schaffner schon wieder pfiff und der Zug sich bereits in
Bewegung setzte.“ (aus N. Kelek 2006: 112)

8) Bitte, machen Sie das Fenster zu!

In (7) und (8) können situative und generische Standardwerte des


Frames, der durch den bestimmten Artikel aufgerufen wird, in Betracht
gezogen werden und als Grundlage für die definite Referenz dienen. In
(7) handelt es sich um den generischen Frame Zug – Schaffner, dessen
Standardwert Schaffner in dem vorliegenden Text zugleich als dessen
Füllwert erscheint. Der definite Artikel bei Schaffner signalisiert, dass der
Schaffner als ein Element dieses Frames fungiert, das von daher in dem
jeweiligen Diskurs (unabhängig von der Sprechsituation) als unik gilt. Das
Referenzobjekt von der Schaffner kann aber auch als Typ unik in einer
Sprechsituation bestimmt werden, in der auf einen bestimmten Schaffner
hingewiesen wird.
Ähnlich ist das Beispiel (8) zu deuten. Die definite Referenz bei das
Fenster als einer der Bestandteile eines Raumes ist durch den generischen
Frame gesichert. Außerdem kann es sich hier situationsabhängig um einen
physischen Verweis auf ein bestimmtes Fenster in einem Raum handeln.
Wie die Beispiele illustrieren, ist die Bestimmung der Definitheit im
räumlich-physikalischen Sinne gegenüber der definiten Referenz sekundär.

2.4. Abstrakt-situative Verwendung


Im Unterschied zu der unmittelbar-situativen Verwendung des bestim­
mten Artikels, in der die definite Referenz sich auch aus dem Wahrnehmungs­
wissen ergeben kann, wird der Referent in (9) und (10) als Objekt unik
ausschließlich durch spezifische oder generische Wissensaspekte bestimmt.
9) „Ich bin nach dem Fall der Mauer in die neuen Bundesländer gegangen (...).“
(aus N. Kelek 2006: 281)

In (9) handelt es sich um das Wissen über spezifische Objekte und die
Welt, d. h. über die ehemalige Mauer in Berlin und um das Wissen darüber,
dass der Ausdruck neue Bundesländer sich auf Deutschland bezieht. Im
Plenarvorträge 375

Frame von die neuen Bundesländer erscheint somit das Referenzobjekt von
die Mauer als sein Füllwert und zugleich als Typ unik.
10) „Der Henna-Abend ist der Tag, an dem die Braut sich von ihrer Familie
verabschiedet.“ (aus N. Kelek 2006: 22).

In (10) handelt es sich um einen generischen Frame: Hochzeit – Braut.


Die Braut wird durch die Obligatheit als Standardwert in diesem Frame
zum Referenzobjekt unik. Die Braut bildet zugleich seinen Füllwert in die-
sem Diskurs.
Abschließend kann an diesem Beispiel genauer der Prozess des
Abrufens eines Frames erklärt werden. Abgerufen wird nämlich der Frame
von Hochzeit aufgrund der Information über den Henna-Abend, der als ein
Abend vor der Hochzeit in der islamischen Kultur gilt. Erst dieser Frame
bildet die Grundlage für die definite Referenz im Falle des Referenten von
die Braut.

3. Zusammenfassung
Im vorliegenden Vortrag wurde auf das Framekonzept als Grundlage
für die definite Referenz, somit als Regel für den Gebrauch des definiten
Artikels hingewiesen. Unter der definiten Referenz wurde eine Kooperation
zwischen Sprecher und Hörer, d. h. die Miteinbeziehung des Sprecher-
Hörer-Wissens bei der Bestimmung des Referenten als Typ unik in dem
gegebenen Diskurs verstanden. Dies erfolgt generell durch die Kenntnis
von Frames als schematisierte Wissensstrukturen von Welt und Sprache,
die den Inhalt von sprachlichen Zeichen strukturieren. An Beispielen wur-
de illustriert, dass in einem gegebenen Diskurs bestimmte Referenten als
Konstituenten von Frames entweder in Form von Standardwerten oder
Füllwerten erkannt wurden. Dies bildete das Wesen der Darstellung. Die
Füllwerte konnten sich mit Standardwerten, insbesondere im Falle von ge-
nerischen und spezifischen Frames decken.
Es wurde festgestellt, dass für die Identifizierung des Referenten weder
seine sinnliche Wahrnehmung noch die Kenntnis seiner Position oder sei-
ner Eigenschaften noch irgendeine andere nähere räumliche Bestimmung
erforderlich ist, sondern lediglich gemeinsames Wissen von Sprecher und
Hörer über das gegebene Objekt als Element des Diskurses. Dieser Aspekt
war besonders im Falle der anaphorischen und kataphorischen Verwendung
des Artikels sichtbar.
376 Magdalena Szulc-Brzozowska

Zusammenfassend ließ sich feststellen, dass die definite Referenz mit


der Identifizierung von Referenten als Standard- bzw. Füllwert des jewei-
ligen Frames gleichgesetzt werden kann.
Die Anwendung des Framekonzepts erlaubte also, die Funktion des be-
stimmten Artikels als Verweisen auf den Referenten als Typ unik in dem
jeweiligen Diskurs zu definieren.

Quellen
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Literatur
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Aspekte ihrer Verwendung ( = Linguistische Arbeiten 267). Tübingen.
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Małgorzata Świderska (Warszawa)

Einige Bemerkungen zu Theorie und Methode


der literaturwissenschaftlichen Imagologie
und der Fremdheitsforschung

Der vorliegende Beitrag stellt einen Versuch dar, drei von mir erarbei-
tete, z.T. komplementäre hermeneutische Ansätze zur Interpretation des
Phänomens des Fremden in literarischen Texten zu präsentieren. Es han-
delt sich dabei um ein imagologisches Interpretationskonzept und um zwei
weitere Konzepte, die in Anlehnung an Paul Ricœurs und an Bernhard
Waldenfels’ Thesen über das Fremde und das Andere entwickelt worden
sind. Der erste Teil des Beitrags enthält zusammenfassende Bemerkungen
zu Theorie und Methode dieser Ansätze, die anschließend – im zweiten Teil
– am Beispiel von drei knappen Interpretationen der letzten Fassung der
Erzählung Das letzte Abenteuer Heimito von Doderers (1936; vgl. Doderer
1995: 386–449) eingesetzt bzw. auf ihre Tragfähigkeit hin überprüft wer-
den.

I. Theorie und Methode der literaturwissenschaftlichen


Imagologie und der Fremdheitsforschung
(1.) Den ersten theoretisch-methodischen Ansatz bildet die kompara-
tistische bzw. literaturwissenschaftliche Imagologie, die neben mehreren
weiteren Ansätzen zur Erforschung des Fremden und/oder Anderen der
zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts als Teildisziplin der Komparatistik
entstanden ist. Der Begriff (komparatistische) Imagologie (von lat. imago
378 Małgorzata Świderska

– »Bild«) wurde im Jahre 1966 vom belgischen Komparatisten Hugo


Dyserinck eingeführt. Wie die Komparatistik selbst beschäftigt sich auch
die Imagologie mit dem Phänomen des Fremden in literarischen Werken,
hauptsächlich mit der Erforschung der nationalen bzw. ethnischen Fremd-
und Eigenbilder, die als Stereotype, Mythen, Symbole oder Klischees
vorkommen können; gegenwärtig werden solche Bilder auch interdiszi­
plinär untersucht (vgl. Świderska 2001; Beller / Leerssen 2007). Theorien
und Methoden der imagologischen Textinterpretation haben sich seit den
1960er Jahren kontinuierlich entwickelt, ungeachtet ihrer Konkurrenz, u.a.
seitens der postkolonialen Literatur- und Kulturtheorien, der interkultu-
rellen Literaturwissenschaft, der Germanistik oder der Philosophie (vgl.
Dukić 2012).
In einer im Jahre 2001 veröffentlichten imagologischen Studie – zugleich
meine Tübinger Dissertation – habe ich die Darstellung Polens in F.M.
Dostoevskijs literarischen Werken ausführlich erörtert und die Imagologie
als ein hermeneutisches Interpretationsverfahren definiert, mit dessen Hilfe
die »strukturelle Tiefensemantik« (Paul Ricœur) der kulturellen bzw. nati-
onalen und ethnischen Fremdheit innerhalb der fiktionalen Welt eines lite-
rarischen Textes erklärt und verstanden werden soll (Świderska 2001: 14).
In Anbetracht der Defizite der bisherigen Fremdheitsforschung habe ich
auch eine eigene imagologisch-hermeneutische Textinterpretationsmethode
und Terminologie erarbeitet. Meine Methode stützt sich vor allem auf die
Beiträge des französischen Komparatisten Jean-Marc Moura (Moura
1992a, 1992b und 1999) sowie auf Paul Ricœurs Theorie der Ideologie und
Utopie (Ricœur 1986).
Nach Ricœur lassen sich die Ideologie als eine Form der reprodukti-
ven, die Utopie als eine Form der produktiven Einbildungskraft bezeich-
nen. Die Erste bildet die Tradition, ist ein Ausdruck des historischen nar-
rativen Gedächtnisses, die Zweite verändert die Welt, drückt menschliche
Hoffnungen aus. Beide ergänzen sich jedoch dialektisch. Die Ideologie
trägt zur Herausbildung und Aufrechterhaltung narrativer Identität bei, sie
schützt zugleich vor den pathologischen Formen der Utopie. Die Utopie
dient dagegen der Ideologiekritik, korrigiert die erstarrten Formen der
Ideologie.
In Anlehnung an Ricœur verstehe ich literarisch vermittelte »Bilder des
Fremden« als Formen zum einen der kreativen, produktiven und zum an-
deren der reproduktiven sozialen Einbildungskraft, die einen utopischen
oder einen ideologischen Charakter aufweisen können. Die literarischen
Fremdbilder kommen vorwiegend als fremde Figuren vor. Ideologische
Plenarvorträge 379

Figuren dienen als positiver oder negativer Kontrast zu einer bestimmten


ethnischen Gruppe, Nation oder einer Kultur und haben eine integrieren-
de, identitätsstärkende Funktion; utopische Figuren stellen die Identität
bzw. Identitäten einer Gruppe, Nation oder Kultur in Frage. Es lassen sich
zwei komplementäre Typen der »Figuren des Fremden« unterscheiden,
die ich – Moura folgend – Alter und Alius genannt habe. Alter bezeichnet
den/die »Andere/n« in einem Paar, dessen Bestandteile sich gegenseitig
bestimmen, ihre eigene Identität sowie die Identität einer Gruppe stärken.
Alter repräsentiert die Ideologie einer Gruppe; Alius ist ebenfalls der/die
»Andere/r«, zugleich aber »fremd«, fern, d. h. er befindet sich außerhalb
der Welt einer bestimmten Gruppe oder einer Kultur. Eine Alter-Figur wird
oft als Stereotyp dargestellt, während Alius-Figuren symbolische bzw.
mythische Bedeutung haben und somit utopisch sind. Alius-Figuren sind
subversiv und stellen die Ideologie einer Gruppe in Frage. Beide Figuren-
Typen sollen im kulturellen Kontext betrachtet werden (vgl. Świderska
2001: 127–132; Moura 1992b).
Wegen der terminologischen Unklarheiten der bisherigen imagologi-
schen Forschung habe ich den Oberbegriff Imagothema eingeführt, das in
einem bestimmten Text ideologischen und utopischen Charakter aufwei-
sen kann und sich aus den von mir Imageme genannten Bestandteilen zu-
sammensetzt. Der niederländische Komparatist Joep Leerssen, ein Schüler
Hugo Dyserincks, hat übrigens gleichzeitig und unabhängig von mir eben-
falls den Begriff Imagem eingeführt, allerdings versteht er diesen Begriff
als ein festes, auf nationale Eigenschaften bezogenes sprachliches Klischee
(vgl. Leerssen 2000 und 2007).
(2.) In späteren Beiträgen habe ich dagegen Paul Ricœurs Ansichten
über das Andere und Fremde als einen neuen interpretatorischen Ansatz
erprobt. Ricœur hat sich, v.a. in seinem Werk Soi-même comme un autre
(1990), mit der Problematik eines »Selbst« und seiner Beziehung zum
»Anderen« auseinandergesetzt (Ricœur 1996 und 1998). In einem späte-
ren Aufsatz (Ricœur 1999 und 2000) bezeichnet er das »Fremde« als ein
Phänomen, das sowohl das »Selbst« als auch den »Anderen« affiziert und
herausfordert. Er unterscheidet drei Hauptaspekte der hermeneutischen
Phänomenologie des handelnden und leidenden »Selbst«:
1. die Fremdheit des Leibes als Vermittler zwischen dem Selbst und einer
Welt, die sich ihrerseits aus verschiedenen Modalitäten der Bewohn­
barkeit und Fremdheit zusammensetzt,
2. die Fremdheit des Anderen, der mir ähnlich und zugleich äußerlich ist,
sowie
380 Małgorzata Świderska

3. die Fremdheit des Innersten, das sich in der »Stimme« des Gewissens
äußert.
Dank dieser Unterscheidung entsteht eine Korrelation zwischen den ver-
schiedenen Modalitäten des Handelns und des Erleidens. Die Fremdheit des
Leibes drückt sich als das Nicht-Sagen-Können aus, als das un-heimliche
»untersagte« bzw. »verdrängte Sprechen«; die den Anderen zugefügten
Verletzungen lassen unser »Tun« ebenfalls als »unheimlich« erscheinen. Das
Tun-Können erweist sich zugleich als Macht über den/die Anderen. Einen
Aspekt des »Unheimlichen« birgt auch das Trauma der Erinnerungs- bzw.
Trauerarbeit (Freud). Die Fremdheit der Vergangenheit drückt sich ihrer-
seits in der Erinnerung aus, die sich nicht mit den Anderen teilen, son-
dern nur erzählen lässt. Den letzten Aspekt der Fremdheit des Leibes bildet
die Fremdheit der Welt als radikale Kontingenz des Daseins, sie äußert
sich in der Dialektik der Handlung des Wohnens und der Leidenschaft des
Umherirrens (des Vertriebenwerdens, der Entwurzelung). Die Fremdheit
des Anderen äußert sich in den interpersonalen und sozialen Beziehungen.
Diese Phänomenologie des Anderen lässt sich in den zu Paaren verbun-
denen Formen des Handelns und des Erleidens beschreiben. Dazu ge-
hören der unübertragbare Charakter der persönlichen Erfahrung und des
Gedächtnisses. Auf den Ebenen der Handlung und der Erzählung artiku-
liert sich die von Fremdheit geprägte Andersheit in der Interaktion, die eine
Spannweite vom Kampf bis zur Zusammenarbeit aufweist. Die Fremdheit
betrifft auch das Innerste (bzw. das »Gewissen«). Über das Innerste hat
das Selbst keine Macht. Die innere Stimme ist uns immanent, überlegen
und fremd. Für Ricœur kulminiert darin die Phänomenologie der Fremdheit
(Ricœur 1999).
(3.) Den dritten Ansatz, der zum Schluss des theoretischen Teils er-
örtert wird, bilden die Theorien von Bernhard Waldenfels (Waldenfels
1997, 1999 und 2006) zur Phänomenologie der Fremdheit. Das deutsche
Wort »fremd« (das ahd. Wort »fran« bedeutet »fern«) fasst er als einen
relationalen Begriff auf, der drei Bedeutungsnuancen hat:
1. fremd ist, was außerhalb des eigenen Bereichs vorkommt als Äußeres,
das einem Inneren entgegensteht (vgl. xenon [ξένον], externum, extra-
neum, étranger, stranger, foreigner);
2. fremd ist zweitens, was Anderen gehört (allotrion [άλλότριον], alienum,
alien, ajeno), im Gegensatz zum Eigenen;
3. fremd ist drittens, was von anderer Art, was fremdartig, unheimlich,
seltsam ist (xenon [ξένον], insolitum, étrange, strange), im Gegensatz
zum Vertrauten.
Plenarvorträge 381

Der Gegensatz Äußeres/Inneres verweist auf einen Ort des Fremden, der
Gegensatz Fremdes/Eigenes auf den Besitz, der Gegensatz Fremdartiges/
Vertrautes auf eine Art des Verständnisses. Ein und derselbe Sachverhalt
kann in einem Sinne fremd sein, im anderen nicht. Bei einer radikalen
Form der Fremdheit dominiert der Ortsaspekt. Er zeigt sich in der beson-
deren Form der Grenzziehung, die Fremdes und nicht Verschiedenes ent-
stehen lässt. Die Differenz von Eigenem und Fremdem hat nichts mit der
Unterscheidung von Selbem und Anderem zu tun, die aus der platonischen
Dialektik bekannt ist. Der Kontrast von Selbem und Anderem, der einer je-
den Ordnung der Dinge zugrunde liegt, geht hervor aus einer Abgrenzung,
die eines vom anderen unterscheidet. Das Eigene gruppiert sich um das
leiblich, ethnisch oder kulturell geprägte Selbst, das auch sprachlich vom
Selben unterschieden wird (vgl. lat. ipse und idem, engl. self und same).
Der Gegensatz zwischen Eigenem und Fremdem entspringt einem Prozess
der Ein- und Ausgrenzung. Ich bin dort, wo ich nicht sein kann und wo
ich dennoch in Form dieser Unmöglichkeit bin. Es handelt sich somit um
zwei Topoi. Waldenfels spricht daher von der Topologie des Fremden.
Zwischen den Kulturen verläuft eine Schwelle wie jene, die Geschlecht
von Geschlecht, Alter von Jugend, Wachen von Schlafen, Leben von Tod
scheidet (Waldenfels 2006: 109–124).
Waldenfels unterscheidet intra-subjektive und inter-subjektive so-
wie intra-kulturelle und inter-kulturelle Fremdheit. Das Fremde bezeich-
net er, Husserl folgend, als »bewährbare Zugänglichkeit des original
Unzugänglichen«. Die Erfahrung des Fremden – eines Sinnüberschusses –
lässt sich steigern: von der »alltäglichen« Fremdheit, z. B. eines Passanten
auf der Straße, über die »strukturelle« Fremdheit, z. B. einer fremden
Gruppe, bis hin zur radikalen Fremdheit, die in Grenzphänomenen wie
Eros, Schlaf, Rausch, Gewalt oder Tod erfahren wird (ebd.: 112–114 und
116f.).

II. Textinterpretationen
Im Folgenden versuche ich die drei oben präsentierten Konzepte in
knappen Interpretationen der Erzählung Heimito von Doderers Das letzte
Abenteuer, einer Ritter-Geschichte aus dem Jahre 1936 (erschienen 1953)
einzusetzen (Doderer 1995: 386–449), deren erste und zweite Fassung 1917
bzw. 1922 entstanden sind (vgl. Gruber 1989), wobei die zweite Fassung
erst im Jahre 2009 veröffentlicht worden ist (Doderer 2009: 61–84.). Die
letzte Fassung von 1936 ist in der Zeit einer existenziellen Krise Doderers
382 Małgorzata Świderska

entstanden: Der vierzig Jahre alte, völlig unbekannte Schriftsteller


trennte sich von seiner ersten Frau und konnte kaum selbst für seinen
Lebensunterhalt sorgen, zudem wurde die politische Situation Österreichs
zunehmend prekär (Schmidt-Dengler 1981: 101f.; Doderer 1981: 98).
Die Handlung der Erzählung spielt im späten Mittelalter. Doderer hat
sie ursprünglich als Divertimento bezeichnet, d. h. er übernimmt einen
Begriff aus der Musikwissenschaft für ein viersätziges kurzes Prosastück,
das er öffentlich vorzutragen pflegte (vgl. Schmidt-Dengler 1981: 103 und
Doderer 1996: 861f.). Doderer erzählt darin eine Aventüre des spanischen
Ritters Ruy de Fanez, die mit dessen Tod endet und somit zu dessen letz-
tem Abenteuer wird. Ruy hat von einem Spielmann von einer Herzogin
gehört, um deren Hand ein Held werben dürfe, der einen Drachen besiegt.
Acht Jahre später bricht er auf, um den Drachen zu töten und die Herzogin
Lidoine zu gewinnen. Er fühlt sich einsam und möchte seinem bisheri-
gen unsteten Leben einen Sinn geben. Ruy reitet mit seinem französischen
Knappen Gauvain und zwei Knechten durch einen unheimlich stillen Wald,
den der Drache bewohnt. Schließlich begegnet er dem als anmutig be-
schriebenen Tier (ebd.: 397–401). Ruy gelingt es nur, ein Stück Horn vom
Kopf des Drachen abzuschlagen. Er schaut dabei von Todesangst erfüllt in
dessen Augen und erblickt darin sein ganzes Leben, seine Vergangenheit
und Zukunft (ebd.: 399). Der Drache flieht, und Ruy wird auf der Burg
Montefal als Held gefeiert. Er zögert jedoch mit der Werbung um Lidoines
Hand, die als boshafte zweifache Witwe geschildert wird. Bald erscheint
auf der Burg ein deutscher Ritter, Gamuret Fronauer, der den Drachen eben-
falls nicht besiegen konnte. Auch Gamuret hat nicht vor, um Lidoine zu
werben (ebd.: 419–425). Diese wählt selbst den jungen, gerade zum Ritter
geschlagenen Knappen Ruys – Gauvain, der in sie verliebt ist. Ruy verlässt
Montefal mit einem neuen Knappen, Patrik, dem Sohn eines englischen
Grafen. Unterwegs irrt er verstört durch den Wald, erblickt erneut aus der
Ferne den Drachen und begegnet dem geheimnisvollen Spielmann (ebd.:
441–443). Anschließend befreit er ein von Räubern überfallenes Dorf und
stirbt vor Erschöpfung nach dem Kampf (ebd.: 448f.).
Aus der imagologischen Sicht lassen sich in dieser Erzählung drei
Imagothemen unterscheiden: 1. Das positive utopische Imagothema der
bereits überholten ritterlichen Welt des spanischen Ritters Ruy de Fanez,
einer Alius-Figur; dieses Imagothema besteht aus Ruy und aus solchen uto-
pischen Imagemen wie dem Drachen und dem unheimlichen Spielmann;
2. das negative ideologische Imagothema der ebenfalls überholten, in der
Tradition erstarrten Welt der Burg Montefal; es wird von der Herzogin
Plenarvorträge 383

Lidoine und den Burgbewohnern sowie nicht zuletzt dem deutschen Ritter
Gamuret Fronauer und dem jungen Franzosen Gauvain gebildet, die alle als
Alter-Figuren konstruiert sind; 3. das dritte positive utopische, zukunfts-
weisende Imagothema bildet die Welt außerhalb der Burg – die Bauern
und Städtebewohner sowie der englische Knappe Patrik, der die Zukunft,
d. h. das Neue repräsentiert. Die wichtigsten Figuren der Erzählung sind
zugleich als nationale Stereotype gezeichnet – Ruy als sensibler Spanier,
Gamuret als robuster Deutscher, Gauvain als ein nur an die Liebe denken-
der Franzose und Patrik als pragmatischer, rationaler Brite. Ihre Namen
weisen u.a. Bezüge zu den höfischen Epen Hartmanns und Wolframs auf,
so dass diese Erzählung auch als eine Parodie eines klassischen Ritterepos
betrachtet wurde (vgl. Bernard 2001: 123f.).
Mein zweiter Interpretationsversuch stützt sich auf Ricœurs theore-
tisches Konzept der Fremdheit des Anderen. Ich habe dieses Konzept in
einem anderen Aufsatz angewandt, den ich in Anlehnung an Albrecht Dürers
Holzschnitt »Ritter, Tod und Drache« betitelt habe (Świderska 2011). Den
ersten Aspekt des Fremden bildet die Fremdheit des irrenden spanischen
Ritters – Ruy de Fanez. Er verkörpert die »Leidenschaft des Umherirrens«,
ist völlig entwurzelt, der Welt abhandengekommen. Sein Grenzerlebnis
mit dem Drachen, der Blick in die Drachenaugen, die Todesangst sowie
die Vision seiner Vergangenheit und der Zukunft – des eigenen Todes –
ermöglichen ihm darüber hinaus, in sein Innerstes zu schauen und die
Erlösung aus seiner Lebenskrise im Tod zu suchen. Der Drache, der zu den
Lieblingstieren Doderers zählt (vgl. Doderer 1970: 15–35; Király 1998),
verkörpert dabei die Fremdheit der Welt an sich und symbolisiert den my-
thischen Lebenskreis, den Ruy in seinen Augen erblickt. Der blonde deut-
sche Ritter Gamuret Fronauer, der auf ein historisches Vorbild zurückgehen
soll, das um 1460 als Gegner Friedrichs III. auftrat (vgl. Schmidt-Dengler
1981: 104f.), bildet durch seine Robustheit den Kontrast zur Verträumtheit
des Ruy de Fanez. Die dargestellte Welt und die Welt Gamurets sowie der
weiteren Figuren der Erzählung ist von der Fremdheit der undurchsichtigen
interpersonalen und sozial-politischen Beziehungen und Konflikte gekenn-
zeichnet. Das in der Erzählung geschilderte europäische späte Mittelalter
– als historische Realien werden die Schlacht bei Crécy (1346) und die
Regierungszeit Karls IV. erwähnt – lässt sich als die Epoche einer anbre-
chenden neuen sozialen Ordnung und zugleich als Einbruch des Fremden
bezeichnen (vgl. Schmidt-Dengler 1981: 104).
Schließlich lassen sich mit Hilfe der Terminologie Bernhard Waldenfels’
in Doderers Erzählung verschiedene Spielarten bzw. Facetten des Fremden
384 Małgorzata Świderska

beobachten. Ruy de Fanez und der Drachenwald sowie das unheimliche


Tier bilden den Ort des radikal Fremden, der der Welt der Burg Montefal ge-
genübergestellt wird. Der spanische und der deutsche Ritter, die Knappen,
die Herzogin und alle Burgbewohner repräsentieren dagegen verschiedene
Aspekte der strukturellen Fremdheit und werden zugleich von der Welt Ruy
de Fanez’ als Andere abgegrenzt. Den Einbruch der neuen Ordnung, die
neue anbrechende Welt als das Fremde schlechthin, verkörpern dagegen die
Stadtbürger und der Engländer Patrik.
Der flüchtige Blick auf Das letzte Abenteuer Heimito von Doderers hat
mir somit ermöglicht, aus drei verschiedenen und zugleich komplementä-
ren Blickwinkeln verschiedene Aspekte der »beunruhigenden« bzw. radi-
kalen oder auch utopisch-subversiven und ideologisch erstarrten Fremdheit
seiner fiktionalen Welt, der handelnden und leidenden Figuren und zeigen
und sie besser zu verstehen.

Literatur
Primärtexte
Doderer, H. von (2009) Seraphica (Franziscus von Assisi). Montefal (Eine avanture).
Zwei Erzählungen aus dem Nachlaß. In: Brinkmann, M. / Sommer, G. [Hg.] Mit einem
Nachwort von Martin Brinkmann. München, 61–84.
Doderer, H. von (1996) Tagebücher 1920–1939. Bd. 2. (1935–1939). Schmidt-Dengler,
W. / Loew-Cadonna M. / Sommer G. [Hg.]. München.
Doderer, H. von (1995) Die Erzählungen. Schmidt-Dengler, W. [Hg.]. München (= Das
erzählerische Werk).
Doderer, H. von (1981) Das letzte Abenteuer. Ein Ritter-Roman. Mit einem autobiogra-
phischen Nachwort. Schmidt-Dengler, W. [Hg.]. Stuttgart (= Universal-Bibliothek;
7806 [2])
Doderer, H. von (1970) Die Wiederkehr der Drachen. In: Schmidt-Dengler, W. [Hg.]
Die Wiederkehr der Drachen. Aufsätze – Traktate – Reden. Vorwort von Wolfgang W.
Fleischer. München, Biederstein, 15–35.
Ricœur, P. (2000) Multiple etrangeté. In: Adriaanse, H. J. / Enskat. R. [Hg.] (2000)
Fremdheit und Vertrautheit. Hermeneutik im europäischen Kontext. Leuven, 11–23.
Ricœur, P. (1998) Soi-même comme un autre. Paris (= L’ordre philosophique).
Ricœur, P. (1999) Vielfältige Fremdheit. In: Breuninger, R. [Hg.] Andersheit – Fremdheit
–Toleranz. Ulm, 11–29.
Ricœur, P. (1996) Das Selbst als ein Anderer. München (= Übergänge; 26).
Ricœur, P. (1986) Du texte à l’action. Essais d’herméneutique II. Paris 1986.
Waldenfels, B. (1997) Studien zur Phänomenologie des Fremden. Bd. 1. Topographie
des Fremden. Frankfurt am Main 1997.
Waldenfels, B. (1999) Der Anspruch des Fremden. In: Breuninger, R. [Hg.] (1999)
Andersheit – Fremdheit –Toleranz. Ulm, 31–51.
Waldenfels, B. (2006) Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden. Frankfurt am
Main.
Plenarvorträge 385

Sekundärliteratur
Beller, M. / Leerssen J. [Hg.] (2007) Imagology. The cultural construction and litera­
ry representation of national characters. A critical survey. Amsterdam, New York
( = Studia Imagologica. Amsterdam Studies on Cultural Identity; Bd. 13).
Bernard, V. (2001) Des Drachen Auge. Heimito von Doderers Erzählung Das letz-
te Abenteuer – ein kritisches kulturell-historisches Panoptikum? In: Sommer, G. /
Luehrs-Kaiser, K. [Hg.] »Schüsse ins Finstere«. Zu Heimito von Doderers Kurzprosa.
Würzburg (= Schriften der Heimito von Doderer-Gesellschaft; 2), 121–130.
Dukić, D. [Hg.] (2012) Imagologie heute: Ergebnisse – Herausforderungen – Perspektiven.
Imagology today: Achievementes – Challenges – Perspectives. Bonn: Bouvier
(= Aachener Beiträge zur Komparatistik; hrsg. von Hugo Dyserinck; 10)
Gruber, E. (1989) Heimito von Doderers »Das letzte Abenteuer«. Inhaltliche und formale
Untersuchung der Fassungen aus 1922 und 1936. Diplomarbeit. Wien.
Király, E. (1998) Drachen, Hexen und Dämonen. Heimito von Doderers Geschichtspoetik.
Phil.-Diss. Wien.
Leerssen, J. (2000) The rhetoric of national character: A programmatic survey. In: Poetics
today 21:2, 267–292.
Leerssen, J. (2007) Image. In: Beller, M. / Leerssen, J. [Hg], 342–344.
Moura, J.-M. (1999) Études d’images, postcolonialisme et francophonie: quelques pers-
pectives. In: Le comparatisme aujourd’hui. Textes réunis par Sylvie Ballestra-Puech,
Jean-Marc Moura. Villeneuve d’Ascq (Nord): Université-de-Gaulle-Lille 3, 99–111.
Moura, J.-M. (1992a) L’imagologie littéraire, essai de mise au point historique et critique.
In: Revue de Littérature Comparée, 263, 271–287.
Moura, J.-M. (1992b) L’image du tiers monde dans le roman français contemporain.
Paris: Presses Universitaires de France (= Écriture. Collection dirigée par Béatrice
Didier).
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Fremdheit und Vertrautheit. Hermeneutik im europäischen Kontext. Leuven, 11 -23.
Ricœur, P. (1998) Soi-même comme un autre. Paris (= L‘ordre philosophique).
Ricœur, P. (1999) Vielfältige Fremdheit. In: Breuninger, R. [Hg.] Andersheit - Fremdheit
-Toleranz. Ulm, 11-29.
Ricœur, P. (1996) Das Selbst als ein Anderer. München (= Übergänge; 26).
Ricœur, P. (1986) Du texte à l‘action. Essais d‘herméneutique II. Paris 1986.
Schmidt-Dengler, W. (1981) Nachwort. In: Doderer, H. von [Hg.], 101–107.
Świderska, M. (2001) Studien zur literaturwissenschaftlichen Imagologie. Das literarische
Werk F. M. Dostoevskijs aus imagologischer Sicht mit besonderer Berücksichtigung
der Darstellung Polens. München (= Slavistische Beiträge; 412).
Świderska, M. (2011) »Ritter, Tod und Drache …« Facetten des Fremden in Heimito von
Doderers Erzählung Das letzte Abenteuer. In: Studien zur Germanistik (Łódź), nr 1
(4), 29–35.
Świderska, M. (2012) Heimito von Doderers Roman Die Wasserfälle von Slunj – eine
Interpretation aus imagologischer Sicht am Beispiel englischer und südslawischer
Figuren. In: Dukić, D. [Hg.] (2012), 291–306.
Waldenfels, B. (1997) Studien zur Phänomenologie des Fremden. Bd. 1. Topographie
des Fremden. Frankfurt/Main.
Waldenfels, B. (1999) Der Anspruch des Fremden. In: Breuninger, R. [Hg.] (1999)
Andersheit - Fremdheit -Toleranz. Ulm, 31-51.
Waldenfels, B. (2006) Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden. Frankfurt/
Main.
Urszula Topczewska (Warszawa)

Kognition-Emotion-Volition.
Fritz Hermanns’ Beitrag zur linguistischen
Diskursanalyse

Mit dem Namen Fritz Hermanns’ sind einige interdisziplinäre Forschungs­


programme verbunden, wie z. B. politische Semantik, linguistische Her­
meneu­tik, linguistische Anthropologie oder kulturwissenschaftliche
Linguistik. Für diese Forschungsprogramme stellte Hermanns ein Konzept
semantischer Analyse bereit, in dem die drei Bühler’schen Funktionen
sprachlicher Zeichen: Darstellung, Ausdruck und Appell, auf die Trias
Kognition-Emotion-Volition zurückgeführt und im Ein­stellungsbegriff
vereinigt werden. An das Konzept schließt sich ein sozialpsychologischer
Ansatz zur diskursiven Semantik an, der das Denken, Fühlen und Wollen
sozialer Gruppen in der semantischen Analyse mit berücksichtigt. Dieser
Ansatz wird im Folgenden als Hermanns methodischer Beitrag zur linguis-
tischen Diskursanalyse gewürdigt.
Es wird zunächst Hermanns’ dreidimensionale Bedeutungskonzeption
diskutiert, nach der Bedeutungen kognitive, emotive und volitive bzw. de-
ontische Komponenten aufweisen. Dann wird Hermanns’ These erläutert,
die lexikalischen Bedeutungen seien nur diskurslinguistisch zu ermitteln,
und das methodische Verfahren skizziert, mit dem Hermanns kognitive,
emotive und deontische Bedeutungen in ihrem diskursiven Kontext als
Mentalitäten erfasst.
Plenarvorträge 387

1. Drei Bedeutungsdimensionen: Kognition, Emotion und


Intention
Hermanns geht von der Beobachtung aus, dass im Sprechen ebenso wie
in Sprache weit mehr geleistet wird, als nur Propositionen zu äußern bzw.
zu bilden. In sprachlichen Äußerungen werden neben den Kognitionen auch
Emotionen zum Ausdruck gebracht sowie Intentionen aufgezeigt, wobei die
Emotionen und die Intentionen nicht etwa als zusätzliche Konnotationen
aufzufassen sind, denn sie spielen bei der Sinngebung eines sprachlichen
Zeichens eine genauso wichtige Rolle wie die Kognitionen. Als Beispiel
führt Hermanns (1995: 140) den folgenden Hilferuf an:
(1) Hilfe! Hilfe!

Aus dem Hilferuf wird das Bestehen einer Notlage erschlossen, und
dieser Bedeutungsaspekt der Äußerung (1) ist als Sprechers Kognition in
Bezug auf einen Sachverhalt etwa in Form von ‘Ich bin in Gefahr’ aufzu-
fassen1. In Bezug auf den Sprecher selbst drückt die Äußerung seine Angst
aus, denn diese Emotion gehört immer zu einem Hilferuf2. In Bezug auf
den Adressaten zeigt die Äußerung die Intention des Sprechers an, vom
Adressaten Hilfe zu bekommen, die dieser selbst zu leisten bzw. zu holen
hat.
Diese Bedeutungsdimensionen sieht Hermanns bereits in Bühlers
Organon-Modell (1934) als Darstellung, Ausdruck und Appell ange­
s­prochen. Bühler nennt sie „Sinndimensionen“ sprachlicher Zeichen und
ordnet ihnen drei Funktionen zu: die Symbol-, die Symptom- und die
Signalfunktion. Als Symbole stellen sprachliche Zeichen Sachverhalte dar3,
als Symptome drücken sie Gefühle des Sprechers aus, und als Signale ap-
pellieren sie an ihre Adressaten (zeigen Illokutionen an). Diese Funktionen
erfüllt Sprache nicht nur auf der langue-, sondern auch auf der parole-
Ebene: Sie kommen sowohl einzelnen lexikalischen Bedeutungen als auch
komplexen Äußerungsbedeutungen zu4. Daher interpretiert Hermanns

1
  Auch wenn die Notlage in (1) nicht explizit behauptet wird, ist sie nach Hermanns im
Hilferuf implizit ausgedrückt.
2
  Wenn ein Hilferuf keine Angst zum Ausdruck bringt, ist er als Hilferuf misslungen (vgl.
Hermanns 1995: 141).
3
  Die Symbolfunktion einer Sprache wird von Searle (2010) für die Grundlage aller so-
zialen Institutionen gehalten.
4
  Die Appellfunktion wird allerdings nicht in jedem Sprachgebrauch aktualisiert. Vgl.
dazu Hermanns (1986).
388 Urszula Topczewska

(1995: 143) das Organon-Modell als ein Kommunikationsmodell, das die


Trias der grammatischen Personen reproduziert5, und zwar wird die ich-
bezogene Ausdrucksfunktion dem Sender zugeschrieben, die du-bezogene
Appellfunktion dem Empfänger, und die Darstellungsfunktion bezieht sich
auf die Sachverhalte, die Gegenstand der Kommunikation sind.

Gegenstände
ER/SIE/ES
Darstellung

Sender Empfänger
ICH DU
Ausdruck Appell

Hermanns versteht das sprachliche Zeichen im Bühler’schen Modell


als eine Zeigehandlung (Sprechhandlung), die zwar als Äußerungstoken
(Kreis) vorkommt, aber zugleich einen Äußerungstyp (Dreieck) repräsen-
tiert. Bei der Perzeption der Handlung (eines Schallereignisses bzw. eines
Schriftbildes) wird das Wahrgenommene einerseits auf das für den Typ
Relevante reduziert (nach Bühlers Prinzip der abstraktiven Relevanz), an-
dererseits wird die Handlung nach Maßgabe des Typs auch ergänzt (Bühlers
apperzeptive Ergänzung6). Das Verstehen einer Sprechhandlung ergibt sich
also aus dem Zusammenspiel des kontextuellen und konventionellen bzw.
lexikalischen Wissens.
Bereits das Wissen um die lexikalische Bedeutung sprachlicher Zeichen
umfasst nicht nur die deskriptive Komponente (Darstellung), sondern auch

5
  Auer (1999) verneint dagegen ausdrücklich die Möglichkeit, Bühlers Modell als
Kommunikationsmodell zu interpretieren. Es sei lediglich ein Zeichenmodell, das auf die
zeichenkonstituierende Rolle der Kommunikationssituation hinweisen solle, denn: „Für
Bühler sind Sprecher und Empfänger keine Schaltpunkte im Kommunikationsprozeß, son-
dern die zentralen Dimensionen des sprachlichen Zeichens“ (Auer 1999: 24).
6
  Bühlers Beobachtung wird durch die heutige Pragmalinguistik bestätigt. Liedtke (2007)
zeigt, dass das Äußerungsverstehen auf einer fragmentarischen Grundlage des Gesagten
erfolgt und über das Gesagte hinausgeht. Diese fragmentarische Grundlage wird um eine
Repräsentation des Gemeinten angereichert, und zwar auf eine systematische Art und
Weise, z. B. nach Grice’schen Konversationsmaximen bzw. Levinson’schen Heuristiken,
wobei die letzteren auf der Ebene des Äußerungstyps wirken.
Plenarvorträge 389

die expressive bzw. evaluative7 (Ausdruck) und die präskriptive bzw. de-
ontische (Appell)8. Alle drei Bedeutungsdimensionen können auch lexi-
kalisiert werden. Selbst bedeutungsschwache Lexeme wie Interjektionen
weisen alle drei auf: ach, oh, aua sind emotive Interjektionen, psst ist eine
volitive (zum Schweigen auffordernd), aha eine kognitive (Ausdruck des
Verstehens). Unter Umständen vereinen sie die emotive und die kognitive
Komponente: „Das Wörtchen pfui bezeichnet nicht den Ekel, wie es die
Vokabel Ekel tut (...), sondern pfui ist (...) der Ausdruck eines Ekels oder
Abscheus“ (Hermanns 1995: 146). Um aber die emotive Bedeutung9 rich-
tig zu gebrauchen, muss man wissen, dass seine Verwendung in Bezug auf
schmutzige und ungepflegte Objekte angebracht ist, und dieses Wissen ist
die kognitive Bedeutungskomponente.
Lexikalisierte Kognitionen bzw. Konzeptualisierungen von Gegen­
ständen und Sachverhalten, Eigenschaften und Ereignissen sind eine lin-
guistisch erwiesene Tatsache. Erklärungsbedürftig sind aber wohl lexikali-
sierte Emotionen und Intentionen.
Lexikalisierte Emotionen weisen die sog. Empfindungswörter auf,
zu denen nach Hermanns (1995) außer Interjektionen v.a. Schimpf- und
Kosenamen gehören, und darüber hinaus affektive Adjektive wie niedlich,
lieb, süß, goldig, affektive Substantive wie Scheusal, Schatz, Liebling, kau-
sative Partizipien wie ermüdend, erschöpfend sowie expressive Formeln
wie leider Gottes, der arme Kerl. Es sind primär „emotionsausdrücken-
de“ Lexeme, die nur sekundär zur Benennung von Emotionen dienen. Die
sog. Gefühls- bzw. Emotionswörter wie etwa lieben, hassen, Ekel, Angst,
glücklich oder eifersüchtig, die Emotionen benennen, bringen die benann-
ten Emotionen dagegen nur sekundär zum Ausdruck. Diese Behauptung
bezieht Hermanns nicht nur auf die lexikalische Bedeutung der betreffen-

7
  Wertungen und Emotionen gehen oft zusammen, obschon es auch emotionsfreie
Wertungen und Emotionen ohne Wertungen gibt. Zur evaluativen Funktion von Emotionen
vgl. Schwarz-Friesel (2007: 72-76).
8
  Deskriptiv, expressiv und präskriptiv sind für Hermanns synonym zu kognitiv, emotiv
und volitiv. Für die beiden ersten Paare ist die Synonymie offensichtlich; im Falle von
präskriptiv und volitiv wird sie von Hermanns (1995) so erklärt, dass jedes Sollen als
Ausfluss eines Wollens zu verstehen ist: Es soll jemand etwas tun genau dann, wenn ein
anderer will, dass er es tut.
9
  Der Terminus „emotive Bedeutung“ (emotive meaning) taucht bereits in Ogden /
Richards (1923) auf. Alston definiert ihn wie folgt: „A word has emotive meaning pro-
vided is presence in a sentence is sufficient to give that sentence the potentiality of being
used to express some feeling or attitude” (Alston 1967: 493; vgl. Leech 1974: 18, Lyons
1977: 175).
390 Urszula Topczewska

den Wörter, sondern auch auf die Äußerungen, in denen sie diagnostisch
(Er liebt sie) bzw. autodiagnostisch (Ich habe Angst) verwendet werden.
Für Diskussion hat insbesondere Hermanns’ folgende Feststellung ge-
sorgt: „Ich finde auch, der Satz Ich liebe dich drückt das Gefühl der Liebe
in der Regel gar nicht aus“ (Hermanns 1995: 145). Schwarz-Friesel
(2007), die Hermanns’ Unterscheidung zwischen emotionsausdrückenden
und emotionsbezeichnenden Lexemen für artifiziell hält, findet den Satz
nicht weniger expressiv als eine spontane Liebesbekundung mit Oh mein
süßer Hase und stellt ihrerseits fest: „Auch Äußerungen mit emotionsbe-
zeichnenden Wörtern drücken selbstreferenziell den inneren Zustand des
Sprechers aus“ (Schwarz-Friesel 2007: 147). Diese Feststellung ist aller-
dings ganz im Sinne Hermanns’, für den Sprechhandlungen stets innere
Erlebnisse ausdrücken, vom Sprecher gewollt und rational sind, also das
Denken voraussetzen. Alle drei Bedeutungskomponenten von Äußerungen
sind Hermanns zufolge als gleichwertige Bedeutungsfunktionen bzw.
Dimensionen einer ganzheitlichen (holistischen) Bedeutung anzusehen,
und nicht lediglich als Resultat der Addition der einzelnen Bedeutungen10:
In aller Regel ist es so, daß eine ausgedrückte Emotion mit einer dargestellten
Kognition und einer offenbarten Intention zusammenpasst, so daß man von dem
einen auf das andere sogar schließen kann. (Hermanns 1995: 144)

Hermanns geht es aber weder um sprachliche Ausdrucksformen für


Emotionen (Emotionsvokabular) noch um ihre Konzeptualisierungen, die
aus kognitionslinguistischer Perspektive von primärer Bedeutung sind,
sondern um die bedeutungskonstituierende Rolle von Emotionen. Mit
demselben Ziel untersucht er auch lexikalisierte Intentionen, also Wörter,
die „ein Sollen mitbesagen“ (Hermanns 1995: 154), wobei das Sollen des
Hörers das Wollen des Sprechers ist (vgl. Hermanns 1995: 155). Hierzu ge-
hören sog. deontische Substantive, wie z. B. Lüge (soll nicht geglaubt wer-
den), Arbeit (soll getan werden), Pflicht (soll erfüllt werden), Miete (soll
gezahlt werden), Einbahnstraße (darf nur in eine Richtung befahren wer-
den), Brot (darf nicht weggeworfen werden, höchstens darf es noch an Tiere
verfüttert werden), Opfer (ihm soll geholfen werden), sowie deontische
Adjektive, wie z. B. lobenswert, vertrauenswürdig, korrekturbedürftig,
strafbar, untragbar (soll nicht ertragen werden, z. B. jemandes Verhalten),

10
  Emotionen sind wie Kognitionen und Volitionen keine autonomen Module, sondern
entstehen ebenso wie diese auf der Basis soziokultureller Handlungsmuster. Vgl. dazu
etwa Tabakowska (1998), Wierzbicka (1999), Fries (2000), Manstaed et al. (2004).
Plenarvorträge 391

ausbaufähig (im Sinne von ‘mangelhaft’, z. B. Sprachkenntnisse), schul-


reif, schrottreif, urlaubsreif.
Deontische Wörter sind diejenigen, die nicht nur benennen, sondern
auch besagen, was man mit dem Benannten machen soll oder nicht ma-
chen darf. Diese Komponente der Wortbedeutung ließe sich oft aus dem
emotiven Bedeutungsanteil ableiten11. Hermanns (1986) exemplifiziert es
am Beispiel von Unkraut. Da Unkraut unbrauchbar ist, soll es ausgerissen
werden, aber:
Wird aus dem ‚Unkraut‘ jedoch eine ‚Blume‘, so darf man sie allenfalls ‚pflücken‘,
alles andere wäre gefühllos; dem Bezeichnungswechsel entspricht nicht nur ein
Sichtwechsel, sondern mit ihm wird uns zugleich ein anderes Verhalten zum
Bezeichneten nahegelegt. (Hermanns 1986: 154).

Die deontische Bedeutungskomponente ist grammatikalisiert im deutschen


Gerundiv (Auszubildender, ein zu lesendes Buch) und in den Lehn­morphemen
-andum, -and, -end, -endum, die lateinische Gerundiv­formen kennzeichnen
(Explikandum, Definiendum, Analysand, Habilitand, Subtrahend).
Die den deontischen Bedeutungen zugrunde liegenden Intentionen
wurden in der Sprechakttheorie als Illokutionen erfasst und sind auf die-
sem Wege auch in die diskurslinguistischen Analysen eingegangen. Die
bedeutungskonstituierende Rolle von Emotionen hat dagegen bis jetzt in
der sprachwissenschaftlichen Theoriebildung wenig Beachtung gefunden.
Die expressive Funktion des Sprachgebrauchs wird in der Regel nur am
Rande und dabei meistens nur auf der Wortebene in Form lexikalischer
Detailanalysen behandelt. Ihre Vernachlässigung führt Schwarz-Friesel
(2007: 7) auf das dualistische Menschenbild cartesianischer Prägung
zurück, dem die moderne Linguistik nach wie vor verhaftet bleibt.
Descartes’ Cogito ergo sum setze eine strikte Trennung von Geist und
Körper sowie Verstand und Gefühl bzw. Kognition und Emotion voraus,
wobei der Verstand als die privilegierte Eigenschaft des Menschen gelte.
Psycholinguistischen Experimenten, die dieses Menschenbild zu bestä-
tigen scheinen, misst Schwarz-Friesel (2007) – entgegen ihren früheren
Standpunkt in Schwarz (19962) – einen vorläufigen Charakter bei und
11
  Bewertungen des Sprechers sind zugleich Appell an den Adressaten, sich diesen anzu-
schließen (vgl. Klein 1989: 13). Beide Bedeutungskomponenten werden daher bei Klein
unter dem Terminus „deontische Bedeutung“ zusammengefasst: „Bewertung und Appell
sind Ausprägungen desselben deontischen Geltungszusammenhangs (...). Darum ist ‚de-
ontisch’ den vielfach benutzten Termini ‚expressiv’/‚evaluativ’ und ‚appellativ’/‚präskrip-
tiv’, die jeweils nur eine Seite der Kommunikationskonstellation akzentuieren, überlegen“
(Klein 1989: 13).
392 Urszula Topczewska

ordnet sie dem realitätsabgehobenen Szientismus zu. Sie stützen sich auf
die unbewiesene Annahme, dass die Kognition autonom von der Emotion
sei, während viele psychologische und neurowissenschaftliche Befunde
auf eine deutliche Interdependenz zwischen Kognitionen und Emotionen
hindeuten, so dass man dem Menschen eine „emotionale Intelligenz“12 zu-
spricht.
Es mutet also durchaus modern an, wenn Hermanns neben der Dreiheit
auch die Einheit seiner drei Bedeutungsdimensionen betont und sie als
kognitive, emotive und volitive Einstellungen unter den linguistischen
Begriff der propositionalen Einstellung subsumiert. Nach seinen eigenen
Worten richten sich diese Einstellungen „vermeintlich auf Propositionen,
eigentlich jedoch auf die in ihnen dargestellten Sachverhalte“ (Hermanns
2002: 348)13. Den Einstellungsbegriff versteht Hermanns somit in seiner ur-
sprünglichen sozialpsychologischen Bedeutung als Gesamtheit der inneren
Dispositionen zu einer Handlung:
Denn es ist wohl in der Tat so […], dass oft, wenn etwas z. B. als ‚x‘ erkannt
(und benannt) ist, usuell (in einer ganzen Sprachgemeinschaft) mit einem ganz
bestimmten Gefühl ‚y‘ und einem ganz bestimmten Wollen ‚z‘ auf dies ‚x‘ reagiert
wird. Umgekehrt kann aber die Art unseres Denkens über etwas oder jemand auch
davon abhängen, wie wir emotiv gestimmt sind, und davon, welcherlei Volitionen
wir gerade haben (…); schließlich hängen auch Emotionen ab von Wünschen und
Wünsche von Emotionen“ (Hermanns 2002: 349)

2. Denken, Fühlen und Wollen in der linguistischen


Diskursanalyse oder semantische Momente einer Mentalität
Die Hermanns’schen Einstellungen, also Kognitionen, Emotionen und
Intentionen, sind als diejenigen Kommunikationsfaktoren anzusehen, die
die menschliche Kommunikation erst menschlich machen. Denken, Fühlen
und Wollen werden traditionell als wesentliche geistige Fähigkeiten des
Menschen angesehen14, die durch eine jeweils individuelle Identität und zu-

12  Der Terminus „emotionale Intelligenz“ (EQ) geht auf Salovey / Mayer (1990) zurück
und bringt zum Ausdruck, dass rein kognitive Fähigkeiten beim Denken nicht ausreichen.
13  Auch Falkenberg (1987: 162) fasst diese drei Bedeutungsdimensionen als Muster von
Bewusstseinsphänomenen (mentale Grundmodi) auf, denen er sprachliche Handlungs­
muster (illokutionäre Grundmodi) wie folgt zuordnet: kognitiv – assertiv, volitiv – injunk-
tiv, affektiv – exklamativ.
14
  Zur Herkunft und Anwendung dieser Trias in der Linguistik vgl. Hermanns (2002: 344-
345).
Plenarvorträge 393

gleich durch soziale Zugehörigkeit und somit kulturelle Identität bestimmt


sind. Sprache – und nicht erst Produkte des Sprachgebrauchs – ist dabei
einerseits eine Ausdrucksform dieser Fähigkeiten, andererseits ein konsti-
tutiver Teil der Kultur15 bzw. – mit Wittgensteins Worten gesprochen – ein
Teil sozialer Lebensform (vgl. PU § 23).
Die Erforschung der sozialen Dimension des Sprachgebrauchs erklärt
Hermanns zum Hauptanliegen der historischen Semantik, die mehr als nur
Wort- und Formgeschichte sein soll. Soziopragmatisch aufgefasst sollte sie
eine Mentalitätsgeschichte16 sein, die untersucht, „wie Menschen in ver-
schiedenen Epochen und verschiedenen sozialen Gruppen unterschiedlich
denken, fühlen, wollen; und wie umgekehrt der Sprachgebrauch ihr Denken
wie ihr Fühlen und ihr Wollen mitprägt“ (Hermanns 1995a: 71). Eine
Mentalität definiert Hermanns als die Gesamtheit von Gewohnheiten bzw.
Dispositionen des Denkens, des Fühlens und des Wollens oder Sollens in
sozialen Gruppen (vgl. Hermanns 1995a: 77). Das Gedachte, das Gefühlte
und das Gesollte bzw. Logos, Pathos und Ethos17 einer sozialen Gruppe
machen ihre Mentalität aus18. Die linguistische Analyse kann jeweils nur
bestimmte Teile dieser Gesamtheit untersuchen, und zwar indem sie nicht
einfach Sprachgebräuche, sondern Sprachgebräuche-in-Diskursen unter-
sucht (vgl. Hermanns 1995a: 93).
Das Verhältnis von Sprache und Gesellschaft zu beleuchten, ist eins der
erklärten Ziele linguistischer Diskursanalyse. Sie will den Sprachgebrauch
nicht nur beschreiben, sondern auch erklären, indem sie eine Systematik
der Kontextualisierung von Äußerungen erarbeitet und die Kontext er-
zeugende Rolle der Diskursakteure in der analytischen Praxis hervorhebt.
Insofern arbeitet die Diskurslinguistik nicht nur produktorientiert (wie die
Textlinguistik), sondern v.a. handlungsorientiert, und zwar fokussiert sie
eine fundamentale und zuvor wenig beachtete Funktion von Sprache, näm-
15
  Zum Verhältnis zwischen Sprache und kultureller Identität vgl. Hermanns (1999: 353-
355).
16
  Das deutsche Wort Mentalität verweist oft auf allgemein verbreitete Stereotype (z. B.
norddeutsche Mentalität). Nichtdestotrotz beharrt Hermanns auf dem in der deutschen
Historiographie bereits etablierten Terminus Mentalitätsgeschichte, der gegenüber seinen
Alternativen folgende Vorteile bietet: Im Unterschied zur Bewusstseinsgeschichte (Busse
1987) suggeriert er nicht, dass es nur um das Bewusste gehe. Geistesgeschichte würde eine
gesellschaftsferne Geisteswissenschaft Hegelscher Prägung suggerieren und könnte eben-
so wie Ideengeschichte den sozialen Hintergrund außer Acht lassen. Ideologiegeschichte
würde dagegen einzig auf das Kognitive abheben (vgl. Hermanns 1995a: 71-72).
17
  D. h. kognitive, affektive und ethische Handlungsdispositionen.
18
  Das Individuum hat nach Hermanns (1995a: 75) nur insofern eine Mentalität, als es an
der kollektiven Mentalität teilhat.
394 Urszula Topczewska

lich ihre gesellschafts- und wissenskonstituierende Funktion. Diese diskurs­


linguistische Gegenstandsfokussierung wird von Jürgen Spitzmüller und
Ingo H. Warnke wie folgt erläutert:
Man kann sich den Diskurs […] als ein Netz von Aussagen vorstellen, dessen
Maschen die »diskursive Formation« bilden. Das Formationssystem ist die
Struktur, die es erlaubt, dass sich eine bestimmte Form von Wissen zu einem
gegebenen Zeitpunkt konstituieren kann oder eben nicht. […]. Die Aufgabe der
Foucault’schen Diskursanalyse ist es nun, die Struktur dieses »Netzes« und mithin
die kontextuell geprägten Bedingungen gesellschaftlichen Wissens sichtbar zu
machen. (Spitzmüller/Warnke 2011: 70)

Die Linguistik kann Diskurse als soziale Phänomene nicht erklären,


wohl aber beschreiben, insbesondere ihren kommunikativen Sinn er-
mitteln und insofern einen genuinen Beitrag zur Erklärung des sozialen
Lebens leisten. Hermanns’ hermeneutische Methode, die darin besteht,
soziale Zusammenhänge von Äußerungen mittels wortsemantischer
Analyse zu erfassen, visiert genau dieses diskursanalytische Ziel an. Der
Methode liegt die Annahme zugrunde, dass sich der soziale Kontext von
Sprechhandlungen linguistisch am besten und vielleicht auch nicht anders
erfassen lasse, als durch eine semantische Analyse von Bezeichnungen für
maßgebliche soziale Phänomene wie etwa: Sprache, Kultur, Demokratie,
Arbeit, Umwelt, Globalisierung, Terrorismus usw. Die Begriffe, die diesen
Bezeichnungen zugrunde liegen, prägen nämlich die kollektive Mentalität,
also das kollektive Denken, Fühlen und Wollen sozialer Gruppen, denen
die jeweiligen Diskursakteure angehören bzw. die selbst als Diskursakteure
auftreten19.
Hermanns’ semantische Analysen (z. B. Hermanns 2005) zeichnen
sich auch dadurch aus, dass sie die Wortsemantik transtextuell (im Sinne
einer Begriffsgeschichte) untersuchen. Kognitive, emotive und volitive
Bedeutungen sowie ihr Wandel seien nur diskurslinguistisch zu ermitteln,
„denn nur in Diskursen können sich die Usualitäten von Sprech-, Denk-,
Fühl-, Wollensweisen sprachlich zeigen, nämlich in der Serialität der sie
zum Ausdruck bringenden sprachlichen Phänomene“ (Hermanns 2007:
  Wohlgemerkt: „Die Sprachwissenschaft allein reicht nicht zum Interpretieren von
19

Diskursen. Man muss sich dafür schon auch sachkundig machen. Dreierlei Weltwissen
muss man dazu haben oder sich verschaffen: erstens Wissen über den Weltausschnitt, in
dem sich ein Diskurs abgespielt hat; zweitens Wissen über den Weltausschnitt, über den
darin verhandelt wurde, und zwar als heutiges (…) Wissen; drittens Wissen über Wissen,
nämlich dasjenige der DiskursteilnehmerInnen, also Metawissen über deren Wissen
(…) und auch über deren Wollen und Fühlen, d. h. mentalitätsgeschichtliches Wissen.“
(Hermanns 2007: 205)
Plenarvorträge 395

203). Die Mentalitätsanalyse lässt sich daher nur als Diskursanalyse be-
treiben, d. h. anhand gewählter Ausschnitte kommunikativer Praxis, ge-
nauer gesagt, anhand von deren Manifestationen in Texten, die nach thema-
tischen, inhaltlichen, zeitlichen oder anderen Kriterien zusammengestellt
und in ihrem sozialen, darunter auch intertextuellen Kontext untersucht
werden. Diesem diskursiven Kontext verdanken Texte ihre Form und ihren
Sinn20.
Einzelne Texte können nur als Beiträge zu Diskursen sinnvoll verstan-
den werden21, auch wenn sie Ausdruck individuellen Denkens, Fühlens und
Wollens sind. Denn einer individuellen Mentalität liegen stets bestimmte
Handlungsmuster zugrunde, die das in einer Sprach- und Kommunika­
tionsgemeinschaft geltende Denken, Fühlen und Wollen zum Ausdruck
bringen. Jede Art Abweichung von diesen sozial etablierten Mustern ist
mit sozialen Konsequenzen verbunden, wie etwa Missverstandenwerden,
Statusverlust, Ausgrenzung u.ä.22 In diesem Sinne verstehe ich Hermanns’
Feststellung:
Einzelne Texte können individuelles Denken, Fühlen, Wollen zeigen; Sprach­
gebrauch zeigt kollektives Denken, Fühlen, Wollen einer Sprachgemeinschaft.
(Hermanns 1995a: 71)

Damit linguistische Diskursanalyse kollektives Denken, Fühlen und


Wollen aufspüren könne, müsse sie allerdings ihren Sprachbegriff von
der falschen Homogenitätsannahme befreien, die zur Identifikation von
Sprache mit einer Nationalsprache führe23. Kollektiver Sprachgebrauch
weise zwar auf das Vorhandensein kollektiv geteilter Weltbilder hin,
als Sprachgemeinschaften sollten aber eher Diskursgemeinschaften
als Nationen und eher Soziolekte als Natiolekte angenommen werden.
Hermanns wörtlich:
Schon auf der Stufe des Gedankenexperiments mißlingt ja der Versuch, ein
(sei es auch nur bezüglich eines Wirklichkeitsbereichs) bestimmtes Weltbild zu

20
  Der Korpuslinguistik wirft Hermanns vor, die Texte durch das Herausreißen aus ihren
intertextuellen und historischen Zusammenhängen ihres Sinnes zu berauben (vgl.
Hermanns 1995a: 90).
21
  Zur Diskurshermeneutik und insbesondere zum Sprachverstehen als einem epistemi-
schen, emotiven und volitiven Prozess vgl. Hermanns (2007).
22
  Die Handlungsmuster funktionieren im Prinzip wie die Lewis’schen Konventionen
(vgl. Lewis 1975). Nur unter besonderen Umständen kann ein vom Muster abweichendes
Verhalten positiv aufgenommen werden.
23
  Diesem Irrtum verfiel etwa Leo Weisgerber (vgl. Hermanns 1995a: 94-95).
396 Urszula Topczewska

beschreiben, das der deutschen Sprache als das ihre eigentümlich sein könnte,
mithin allen ihren Sprechern; wie auch der Versuch mißlingt – und zwar bereits
im Stadium der Spekulation – im Wege des Vergleichs zweierlei Weltansichten
auszumachen, die man plausibel etwa als spezifisch ‚deutsch‘, spezifisch
‚französisch‘ bezeichnen auch nur könnte. Erst recht mißlingt natürlich dann
der Nachweis, daß es sich tatsächlich so verhält, wie man plausibel nicht einmal
vermuten konnte. Vollends scheitert der Versuch, ‚die‘ Weltansicht ‚des‘ Deutschen
schlechterdings zu finden, denn es läuft damit hinaus auf den Versuch, das Wesen
der als homogen gedachten deutschen Sprache zu erkennen als ‚das Deutsche‘ an
der deutschen Sprache, das es aber nun einmal nicht gibt. (Hermanns 1995a: 95,
Anm. 28)

Will man also Sprache als soziales Regelsystem denken, muss sie nach
Hermanns als System von Subsystemen (Sprachvarietäten) gedacht wer-
den. Erst dann wird nicht nur plausibel, sondern sogar evident, dass die
Besonderheit des Sprechens mit der Besonderheit des Denkens, Fühlens
und Wollens parallel geht, und zwar nicht im Sinne eines unilateralen
Determinismus, sondern im Sinne einer wechselseitigen Beeinflussung.
Diese Interdependenz wird auf der Diskursebene besonders deutlich. In
Bezug auf jeweils relevante Themenkreise unterscheidet sich das Sprechen
ebenso wie auch das Denken von z. B. Industriearbeitern und von wirt-
schaftlichen Führungskräften, von Liberalen und von Sozialisten, von
Katholiken und von Protestanten usw. (vgl. Hermanns 1995a: 95).
Wenn man die Wechselbeziehung zwischen sprachlichem Verhalten und
Mentalitäten anerkennt, lässt sich eine Mentalität als Disposition zu sprach-
lichem Verhalten und sprachliches Verhalten als Ausdruck einer Mentalität
beschreiben. Somit lassen sich durch die Erforschung einzelner Ausschnitte
der in einer Sprachgemeinschaft vorkommenden kommunikativen Praxis,
also einzelner Diskurse und Diskursbeiträge, Zusammenhänge zwischen
Sprache und kollektivem Denken, Fühlen und Wollen ermitteln. Eine men-
talitätsgeschichtlich ausgerichtete Diskurslinguistik kann auf diese Weise
Humboldts These, die Verschiedenheit der Sprachen sei die Verschiedenheit
der Weltansichten, analytisch untermauern (vgl. Hermanns 1995a: 94).
Plenarvorträge 397

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Elena N. Tsvetaeva (Moskva)

Warum ist jeder seines Glückes „Schmied”.


Zum Ursprung eines Sprichwortes

Eine Novelle Gottfried Kellers heißt Der Schmied seines Glückes. Es


geht nämlich um einen gewissen Hans Kabis, dessen Idee auf dem Wege
zu einem glücklichen Leben es ist, mit ein paar gescheiten Meisterschlägen
sein Glück zu schmieden, wenn nötig auch abwarten, was er auch übri-
gens ziemlich lange tut. Dann irgendwann macht er sich ans Werk, aber
seine „Meisterschläge“ sind nichts anderes als Image-Tricks, die er mit sei-
nem zu John Kabys veränderten Namen, mit Schmucksachen, mit einer
wegen des schönen Braut-Namens für ihn erwünschten Ehe, die an seiner
Enttäuschung scheitert (offiziell trägt die potenzielle Braut einen ganz ba-
nalen Namen), schlecht und recht vollführte.
Er wird Barbier in seiner Heimatstadt Seldwyla, um seinen Lebens­
unterhalt zu verdienen, aber später erfährt er, dass sein Vetter, alt und reich,
in Augsburg lebt. Und da macht er sich auf den Weg, das Glück lässt auf
sich nicht warten: Es gelingt ihm, das Vertrauen des Vetters zu gewinnen.
Da dieser in einer kinderlosen Ehe sein Leben fristet (und das ohne posi-
tive Aussicht, da es seine dritte Ehe ist), erklärt er John testamentarisch zu
seinem Sohn und Erben. Aber das Wetter schlägt um, der Vetter bekommt
nach einer geraumen Zeit einen echten Erben (unwissend, dass ihm dazu
von seinem Neffen verholfen wurde), vernichtet das Testament. John pro-
testiert, versucht auf sein Recht zu pochen, aber der erboste Vetter wirft ihn
hinaus.
Die Geschichte endet in Seldwyla, wo unser Glücksschmied eine kleine
Schmiede kauft und dort Nägel machen lernt. Er empfand freilich „Reue
400 Elena N. Tsvetaeva

über die unzweckmäßige Nachhilfe, welche er seinem Glück hatte geben


wollen. Allein auch diese Anwandlungen verloren sich allmählich, je bes-
ser die Nägel gerieten, welche er schmiedete“ (Keller).
Eine durchaus lehrreiche Geschichte, fast eine Parabel. Man könnte sie
literaturwissenschaftlich vielseitig interpretieren. Wir beschränken uns aber
auf den Titel, der ein Teil von einem überaus gebräuchlichen deutschen
Sprichwort ist.
Die Novelle veranschaulicht – parömiologisch betrachtet – den Weg,
welchen ein Idiom durchmacht, aber rückwärts. Der Protagonist geht sei-
nen Weg des Leidens, indem er falsch den Sinn der Volksweisheit versteht.
Er wartet ab, gibt sich nicht viel Mühe. Und erst wenn er sich an das hand-
werkliche Schmieden macht, erlebt er eine seelische Transformation, denn
es geht zum Schluss um Nägel, die immer besser gerieten, und somit wird
unser „Glücksschmied“ zu einem Meister, zu einem, der etwas eigenhändig
schafft. Aber er schmiedet (im wahrsten Sinne des Wortes) doch Nägel.
Er erreicht praktisch den Zustand des phraseologischen Etymons, legt den
Bedeutungswandelweg vom Abstrakten zum Konkreten zurück.
Was hat dann das Wörtchen Glück damit zu tun? Darum geht es uns. Das
Etymologisieren ist nur ein Teil der historischen Phraseologieforschung,
aber der aufregendste. Dank den deutschen und russischen phraseografi-
schen historischen Quellen könnte man schließen, dass das Rätselhafte im
phraseologischen Bestand einer Sprache nicht selten auch in der anderen
Sprache Geheimnisse birgt.
Gerade deshalb können wir unsere Analyse erweitern, eigentlich müs-
sen wir das, sonst wäre eine mehr oder weniger komplette Vorstellung von
einem sprachlichen Phänomen kaum möglich.
Der Stamm ist äußerst produktiv in der deutschen Wortbildung – sowohl
bei der Ableitung als auch bei der Zusammensetzung. Was ein mittelbarer
Hinweis auf die Relevanz des Begriffs für das deutsche Weltbild seit dem
Mittelalter ist. Um nur einige wenige Beispiele anzuführen:
• die Verben: glücken „gelingen, nach Wunsch ablaufen“, mhd. g(e)lü-
cken, wurde zum Substantiv gebildet; im Mhd. findet sich nur selten,
erst in nhd. Zeit breitet sich das Verb aus; beglücken „glücklich machen,
erfreuen“ ist seit Anfang des 17. Jh. belegt; verunglücken „einen Unfall
erleiden, misslingen, missraten“ (17. Jh.);
• das abgeleitete Substantiv Unglück „verhängnisvolles Ereignis, schwe-
res Missgeschick, Schicksalsschlag, Pech“, mhd. ung(e)lücke;
• die abgeleiteten Adjektive: glücklich „vom Glück begünstigt, erfolg-
reich, zufrieden, vorteilhaft, günstig“, mhd. gelückelich „vom Zufall,
Plenarvorträge 401

vom Schicksal abhängig, günstig“; unglücklich „traurig, niedergeschla-


gen, bedrückt, verhängnisvoll“ (15. Jh.); glückselig „sehr glücklich,
überglücklich“, mhd. gelücksælec;
• die substantivischen Zusammensetzungen: Glückseligkeit, spätmhd. ge-
lücksælecheit;
Glückskind „vom Glück Begünstigter, wem alles gelingt“ (16. Jh.),
vielleicht nach lat. fortunae filius; Glückspilz zunächst im Sinne von
„Emporkömmling, Parvenü“ (2. Hälfte 18. Jh.), eigentl. ‘wer wie ein Pilz
plötzlich aus dem Nichts aufschießt’ (ev. unter dem Einfluss von engl.
mushroom, das sowohl „Pilz“ wie auch „Emporkömmling“ bedeutet), von
der 2. Hälfte des 19. Jhs. an wird gleichbedeutend mit Glückskind verwen-
det; Glücksrad (seit dem 17. Jh.) gilt als Sinnbild für die Veränderlichkeit
des Glücks, auch „das sich drehende Rad bei Verlosungen und bestimm-
ten Glücksspielen“, mhd. des gelückes rat, auch gelückrat, später glükrad
(14. Jh.); Glücksritter „wer sich in seinem Handeln sorglos auf sein Glück
verlässt“, auch abschätzig für “Abenteurer“ (2. Hälfte 18. Jh.) verwendet,
zunächst auf mittelalterliche Verhältnisse bezogen „Ritter, der auf Glück
auszieht“ (DWDS).
Die Wortbildung offenbart vielseitige Motive, die die Semantik des
Wortes im Laufe der Zeit erlebt hat. Nicht weniger relevant für die se-
mantischen Wandlungen ist das Aufkommen und Fortleben von stehenden
Redewendungen mit den zu betrachtenden Lexemen.
In der Kurzfassung des Beitrags von H. Burger auf der Konferenz
Europhras – 2012 in Maribor (27.–31. VIII. 2012) heißt es: „Ein neuerdings
wieder virulenter Aspekt des Problems ist die Rolle der Etymologie und/
oder der Volksetymologie für die Beurteilung aktueller Sprache. Das ist
nicht nur eine akademische Frage. Vielmehr haben die Sprecherinnen und
Sprecher zu allen Zeiten bis zu einem gewissen Grade ein Bewusstsein für
die Historizität der von ihnen gebrauchten Phraseme. Dies soll an Texten
aus der frühen Neuzeit und der Gegenwart demonstriert werden“ (Burger
2012). Davon lassen wir uns weiterhin leiten.
Das deutsche Sprichwort Jeder ist seines Glückes Schmied, welches
auch der Redensart der Schmied seines Glückes sein mit der Bedeutung
„sein Schicksal selbst in der Hand haben“ zugrunde liegt, gehört zu der an-
tiken lateinischen Überlieferung. In lateinischer Form soll es in einer heute
verlorenen Sammlung eines römischen Konsuls 307 v. Chr. erwähnt wor-
den sein, denn in einer späteren lateinischen Schrift findet sich ein Hinweis
darauf: „In carminibus Appius ait fabrum esse suae quemque fortunae“, wo
diese Fähigkeit, sein Glück selbst zu gestalten, ausschließlich dem Weisen
402 Elena N. Tsvetaeva

zugeschrieben wird und heißt wörtlich: Glück schmieden (Röhrich 1973).


Soll die Redensart also im Deutschen wie auch in vielen anderen Sprachen
als eine Entlehnung interpretiert werden?
Eine andere Version schließt die Hypothese völlig aus, zumal das
Sprichwort in vielen indogermanischen (und nicht nur) Sprachen belegt
ist, und eine parömiologische Universalie darstellt. Die Varianten in ver-
schiedenen Sprachen betreffen hauptsächlich die handelnde Person, wobei
es im Deutschen und in den norddeutschen Sprachen sowie in den meis-
ten slawischen Sprachen um den Schmied geht und sonst handelt es sich
überhaupt um einen Meister, Baumeister und Schöpfer: Vgl.: rus. всяк
КУЗНЕЦ своего счастья (rus. кузнец „Schmied“); schwed. sin egen ly-
kas SMED, norw. enhever er sin egen lykkes SMED, engl. every man is the
ARCHITECT of his own fortune und man FORGES his own destiny (engl.
forge vt, “schmieden”); fr. chacun est ARTISAN de sa proper fortune (fr. ar-
tisan ”Handwerker”, aber auch “Schöpfer”); span. cada uno es ARTIFICE
de su fortuna (span. artifice “Meister”). Der Beruf (oder auch Berufung) als
solcher ist also nicht relevant. Die Idee hat den allgemein gültigen Wert,
das Formelle variiert je nach der kulturellen, nationalen Spezifik.
Aber zurück zum deutschen Phraseologismus: Dass es ein Phraseo­
logismus, und zwar ein Idiom ist, bleibt außer Zweifel – es offen-
bart die Polylexikalität, die Festigkeit und gewiss die Idiomatizität
(die Komponenten bilden eine durch die syntaktische und semantische
Regularität der Verknüpfung nicht voll erklärbare Einheit) (Burger 2010).
Die Frage bleibt aber: Ob der Phraseologismus bildlich ist, das heißt, ob
wir uns das dahinter stehende Bild vorstellen können (wie etwa bei Öl ins
Feuer gießen)?
Auf den ersten Blick ruft der bildliche Gehalt des Idioms keine Zweifel
hervor. Aber: wörtlich das Glück zu schmieden ergibt nichts. Was stellt man
sich da eigentlich vor?
Da sollte man zur Etymologie des Lexems greifen, wobei sich heraus-
stellt, dass die Herkunft von Glück unklar ist, und je jünger die lexikogra-
phische Quelle, desto mehr Zweifel wird an den Tag gelegt.
Der Kluge – 2002 gibt an, das Wort stamme aus dem 13. Jh., mhd.
g(e)lücke, mndd. gelucke, mndl. geluc(ke) Stammwort. Herkunft unklar.
Bedeutungsübertragung aus afrz. destinée, das entsprechende Wort bedeu-
tet einerseits „Festsetzung, Bestimmung, Beschluss“, andererseits „christ-
liches Fatum“ (Kluge 2002).
Die Kluge-Version aus dem Jahr 1960 verweist darauf, dass es auffal-
lend spät bezeugt sei und stützt seine Etymologie auf die ig. Wurzel *leug
Plenarvorträge 403

mit der Bedeutung „biegen“, welche über „zubiegen“, „zuziehen“ die germ.
Bedeutung „schließen“ ergab. Glück wäre aus „Art wie etwas schließt, en-
digt, ausläuft“ zu „was gut ausläuft, sich trifft“ geworden. Das Wort erlebt
die Verbesserung der Bedeutung. Auf diese Entwicklung mögen die mhd.
Lexeme für Gelingen (gelinc m., gelinge f, n) ausgewirkt haben (Kluge
1960).
Jedenfalls ist die Herkunft des relativ spät auftretenden Wortes nicht
geklärt. Mhd. g(e)lücke ist erstmals in der frühhöfischen Dichtung bezeugt
und verbreitet sich mit der höfisch-ritterlichen Kultur vom Rhein aus über
das deutsche Sprachgebiet. Es bedeutet anfangs “Schicksal, Geschick,
Ausgang eines Geschehens oder einer Angelegenheit“ (sowohl zum Guten
als auch zum Bösen) und tritt als Schicksalsbegriff in Konkurrenz mit mhd.
sælde und heil, den älteren Ausdrücken für „Segen, Heil, Glück“. Aus dem
engeren Gebrauch im Sinne von „günstiger Verlauf oder Ausgang eines
Geschehens, günstiges Geschick“ entwickelt sich Glück zur Bezeichnung
des wünschenswerten „Zustandes starker innerer Befriedigung und Freude“.
Im 14. Jh. nimmt Glück auch die Bedeutung von „Beruf, Lebensunterhalt“
an (DWDS).
Es steckt dahinter auf jeden Fall etwas Amorphes. Da hätten wir einen
Widerspruch: Das Objekt der möglichen Handlung ist im nicht phraseo-
logischen Sinne eher abstrakt, wobei die Person, die schmiedet, eine ganz
konkrete Handlung auszuführen hat.
Da wäre noch die Tatsache zu beachten, dass das Eisen sich schmiedet,
solange es gebogen werden kann (man beachte diesen Aspekt in Anlhnung
an das semantische Motiv des Biegens in der Kluge-Version aus dem Jahr
1961, s. o.).
Was schmiedet man sonst außer Metall? Wie bekannt, soll man das Eisen
schmieden solange es heiß ist. Aber was sonst außer Metall? Die Regel
gilt bekanntlich: Leben ist das, was passiert, wenn du gerade andere Pläne
schmiedest. In einer Ideenschmiede schmiedet man also Ideen. Manchmal
geht es aber auch um ein Komplott, welches man gegen jemanden schmie-
det. Außer Eisen ist man sonst mit mentalen Sachen konfrontiert. Das hilft
aber uns nicht so sehr weiter. Diese Kollokationen ergeben – wie ersicht-
lich – lauter abstrakte Begriffe (wobei unser Schmied von Seldwyla, als er
glücklich wurde, mit ganz normalen Nägeln zu tun hatte).
Wenn also das eine Nomen nicht hilft, bleibt der einzige Weg: die Person
selbst (Schmied). Der jeweilige germanische Stamm bezeichnet grundsätz-
lich einen Handwerker (neben Schmied auch Zimmermann, Waffenmeister,
Krüger, Töpfer usw.). Die Bedeutung war ursprünglich wohl allgemeiner;
404 Elena N. Tsvetaeva

vgl. ahd. smeidar „Künstler, Bildner“. Außergermanisch vergleicht sich


z. B. die griechische Wurzel mit der Bedeutung „Schnitzmesser“, zu ver-
gleichen seien außerdem als wurzelverwandt goth. maitan „hauen“, ahd.
meiʒan „Meißel“. Die Bedeutung der zugrunde liegenden Wurzel scheint
„glättend, kunstvoll bearbeiten, bilden“ zu sein (DWB).
Warum ist aber im Deutschen für das Glück eines jeden ausgerechnet
der Schmied und kein anderer Handwerksmeister zuständig? Einen wei-
teren gründlichen Einblick in die Semantik des Wortes vermag Deutsches
Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm zu verschaffen (DWB). Dem
umfangreichen Artikel entnehmen wir nur für uns relevante semantische
Aspekte, die reich mit historischem Sprachmaterial belegt sind.
Es wird zunächst ebenfalls auf die ursprüngliche Bedeutung „Bildner“
hingewiesen, dann auf die spätere Einschränkung auf den in alter Zeit am
meisten geschätzten Bildner, den Verfertiger des für Fristung und Sicherung
des Lebens so nützlichen metallenen Geräts, dessen Kunst in deutschen
Mythen verherrlicht wird. Wieland, der gefeierte Schmied der germanischen
Sage, baut auch ein Schiff; und der Zimmermann, der Schiffe und Häuser
baut, wird im Ags. und Altnord. auch Schmied genannt. Noch aus frühnhd.
Zeit lässt sich der allgemeinere Gebrauch erweisen. Paracelsus unterschei-
det den Schmied des Holzes und den Schmied der Metalle. Andererseits
herrscht schon ahd. die Beziehung auf den Bearbeiter von Metall vor, wie
das die Zusammensetzungen êrsmid, goldsmid, kaltsmid, silbersmid zei-
gen. Noch deutlicher ist das im Mhd. erkennbar, wo Zeugnisse aus der le-
bendigen Sprache und zahlreichere Zusammensetzungen vorliegen: An das
alte Arbeitsgebiet des Metallarbeiters erinnert es, wenn in älteren Quellen
manchmal das Simplex gebraucht wird, wo später ein Kompositum oder
ein anderes Wort erscheint, so vom Arbeiter in Edelmetallen (gold-, silber-
schmied):
diu krône ist elter danne der künec Philippes sî:
dâ mugent ir alle schouwen wol ein wunder bî,
wies ime der smit sô ebene habe gemachet. (Walther v. d. Vogelweide)

Der Verfertiger von Schlüsseln wurde als Kleinschmied und Schlosser


bezeichnet: chain smit sol sluʒʒel wurken die auf taich oder auf wachs
sint gedrucket. (mhd.). Auf die gleiche Tätigkeit weist der nd. Ausdruck
smedes dogter für Schloss: daar is smedes dogter vör „die thür ist ver-
schlossen“ (brem.). Der Teilung des alten Handwerks in mehrere ent-
spricht die Gebrauchseinschränkung des Simplex, das schließlich nur
noch den Verfertiger von gröberen Eisenarbeiten bezeichnet (vor allem das
Schmieden und Befestigen von Hufeisen).
Plenarvorträge 405

Die Künste eines Schmiedes erstreckten sich auch auf die Heilung von
Menschen:
frü schickt der abt nach seinem schmidt, und sprach zu dem schmidt, sag du mir,
ich hab gehöret offt von dir wie du kanst mancherley artzney, sag ob dir auch
bewisset sey die artzeney für den zahnweh. (H. Sachs)

In Vergleichen wird besonders die körperliche Kraft eines Schmiedes


hervorgehoben, die sein Handwerk fordert und ausbildet:
sus tûrten si (die ritter) mit strîte ûf des angers wîte: es wæren müede zwêne smide,
ob si halt heten starker lide, von alsô manegem grôʒ em slage. (W. v. Eschenbach
Parz.)

Mittelalterliche sprichwörtliche Wendungen zeigen den Schmied in


mehrfachen Beziehungen zu seinem Handwerk: der schmid lobt seinen
hammer. Aber auch das Lexem als solches wird gelegentlich auf geistige
Tätigkeit, Erdenken und Ausführen von Plänen gebraucht: dô wart der von
Burgenstein frô und sprach: diz ist ein guoter smit gewesen, der diz dinc
alleʒ gesmidet hât. daʒ meint er alsô, er wære der smit, dann er hette dise
sachen alle erdâht und an getragen (mhd.).
In spöttischem Sinne bezeichnen die jeweiligen Komposita einen
Menschen, welcher in seinem Beruf ungeschickt und kunstlos ist: reim-
schmied, suppenschmied. Scherzhaft heißt der Bäcker semmelschmied:
auff, spring zum semmelschmied und hol mir frisches brodt.
Bei Paracelsus findet sich in Anlehnung an die alte allgemeine Bedeutung
des Wortes schmied als „schaffende, bildende Kraft“: der saam ist nichts,
er hat allein den anfang, in der die form ist, und der schmid, natur und
eigenschaft (frei nach: DWB).
Also hatte das Wort schon in den früheren Zeiten einen breiteren
Anwendungsbereich, war aber auf dem Wege zur Spezialisierung. Den
Vorrang gewann der Schmied, nicht zuletzt weil er mythologisch (d. h. für
die naive Weltauffassung) relevant für sprachliche Reflexion war.
Das Einzige, was Phraseologismen mit der Komponente Schmied sowie
mit den paradigmatisch relevanten Komponenten wie etwa schmieden, be-
schlagen, Schmiede gemeinsam haben, ist der Verweis darauf, dass sie be-
deutend älter als schriftlich fixiert sein sollen. Das ist schon ein Grund das
mythologische Weltbild als Grundlage der Recherche zu benutzen. Damit
hätten wir eine weitere Möglichkeit, der Sache auf den Grund zu gehen.
Viele Mythologien kennen den sogenannten culture hero (fr. Heros
civilisateurs, dt. Heilbringer), welcher zu den grundlegenden Gestalten
406 Elena N. Tsvetaeva

der mythologischen Weltauffassung gehört. Seine Funktionen sind man-


nigfaltig. Er bringt den Menschen vieles bei, was ihr Leben zivilisierter
macht. Er vermag viele Künste, kennt sich in Magie aus. Mythologisch be-
trachtet ist er also ein Sinnbild für Meister und Demiurg (Weltbaumeister,
Weltenschöpfer). Aber vor allem ist er für Feuer zuständig (ebenfalls ein
grundlegendes Mythologem).
Als die Menschen lernten, Erze zu schmelzen und daraus Waffen,
Schmuck u. a. m. zu verfertigen, musste ihnen das Schmiedehandwerk
rätselhaft und unheimlich vorkommen. Die Erinnerung daran ist in zahl-
reichen Sagen vom kunstreichen Schmied zu finden. Es seien zu erwäh-
nen der griechische Hephaistos (nicht nur Gott des Feuers, sondern auch
Schutzherr des Schmiedehandwerks), Dädalus, den Athene selbst in die
Schmiedekunst einweihte und der sich aus der Gefangenschaft befreite,
indem er für sich und seinen Sohn Ikaros Flügel anfertigte und auf diese
Weise entfloh. Auch die germanische Sage vom Meisterschmied Wieland
enthält ähnliche Motive und lässt erkennen, welch hohes Ansehen der
Schmied einst genoss, wie sehr man ihn bewunderte und zugleich fürchtete.
Nun bedarf auch die mythologische Gestalt, Wieland der Schmied, eines
ausführlichen Kommentars. Denn sein Wesen entspricht dem semantischen
Ursprung des Lexems Schmied und das Lexem selbst kann somit mythose-
mantisch erklärt werden.
Mit neun wurde Wieland von seinem Vater, dem Riesen Wate, in die
Lehre zu dem berühmten Schmied Mime gegeben. Seine Kunst (wir müs-
sen da berücksichtigen, dass Kunst von können stammt) war allgemein
anerkannt. Nach drei Jahren war Wieland also ein kunstreicher Schmied
geworden. Danach schickte ihn der Riese zu den Zwergen, die besser als
irgendjemand sonst die Kunst des Schmiedens beherrschten, und nicht nur
aus Eisen, sondern auch aus Gold, Silber und anderen Metallen wussten sie
die schönsten Waffen und Geräte herzustellen. Bei ihnen lernte Wieland
alle Geheimnisse. Er war ein gelehriger Schüler und lernte schnell. Da
war er aber das erste Mal mit der heimtückischen Seite des Lebens kon-
frontiert: Die Zwerge missgönnten ihm seine Kunst und trachteten nach
seinem Leben. In seinem weiteren Schicksal erweist er sich nicht nur als
ein starker, tapferer, weiser und kunstreicher, sondern auch als ein listiger,
heimtückischer, manchmal auch grausamer und rachesüchtiger Mensch.
In der Zwielichtigkeit dieser Figur offenbart sich eine gewisse
Diskrepanz zwischen dem heidnischen und christlichen Weltbild. Kein
Christenmensch würde sich offen zu einem Schmied bekennen. Nicht zu
vergessen ist die Tatsache, dass der Name des germanischen Wieland viel-
sagend ist (vollant ist mit teufel verwandt). Zu erwähnen wäre eine der
Plenarvorträge 407

ursprünglichen Bedeutungen von dem entsprechenden russischen Verb


ковать in der Bedeutung „schmieden“, es heißt „злоумышлять“, eigent-
lich böse Pläne schmieden; wurzelverwandt ist das russische Verb mit dem
heutigen Adjektiv коварный in der Bedeutung „tückisch, heimtückisch,
hinterlistig“. Ähnliches weist auch das Englische auf: für schmieden gibt es
heutzutage zwei Verben to smith und to forge. Während das Erste ziemlich
harmlos ist, bezeichnet das letztere in ganz verschiedenen Bereichen auch
heimtückische und betrügerische Handlungen und nominal die Ergebnisse
davon (einschließlich Fälschungen), eben dieses Verb erscheint auch in
dem oben erwähnten Sprichwort Man forges his own destiny.
In diesem Zusammenhang ist für uns das Verb beschlagen relevant.
Das russische подковать für beschlagen heißt übertragen jmdn. betrügen.
Nur im Russischen und im Deutschen haben wir für dieses Verb auch die
positive Bedeutung feststellen können, und zwar „für etwas vorbereiten“:
vgl. russ. подковать „betrügen“ vs. хорошо в чем.-л. подкован „ist gut
unterrichtet, gut beschlagen“. Das dt. ein Pferd beschlagen erklärt sich fol-
genderweise: Da ein gut beschlagenes Pferd ein gut vorbereitetes Pferd ist,
bekommt das Partizip beschlagen die Bedeutung „bewandert, gut vorberei-
tet“ (Röhrich 1973).
Die betrachteten semantischen Motive finden ihren Niederschlag in
zahlreichen Sprichwörtern und Redensarten, in welchen sich das ganze
semantische Paradigma „Schmied“ weiter entwickelt. Zum Beispiel: die
Redewendung gut beschlagen sein „in einer Sache erfahren, kenntnis-
reich sein“, die übertragen erst im 17. Jahrhundert auftritt (genau wie im
Franz.: ferre sur quelque chose). Dazu gibt es auch mundartliche deutsche
Varianten, z. B. im Siebenbürgischen: Di äs af alle vären beschloen, preußisch:
Er ist auf allen vieren beschlagen (Borchardt / Wustmann / Schoppe 1955).
Vor die rechte Schmiede gehen „an die richtige Stelle gehen, wo einem
die gewünschte Hilfe oder Auskunft am besten wird“. Die Redensart lässt
sich seit 1600 belegen, ist aber bestimmt älter. An der Schmiede wird das
Pferd beschlagen; ein merkwürdig vollständiges Gleichnis, dass derjenige
auch bildlich „gut beschlagen“ ist, der vor die rechte Schmiede gegangen
ist. In Oberdeutschland sagt man: Besser zum Schmied als zum Schmiedel.
Der Gegensatz wird in Westfalen ausgedrückt durch die Redensart: Hei
is in de unrechte Apteik kumen (Borchardt / Wustmann / Schoppe 1955).
Sonst auch: Zum Schmied und nicht zum Schmiedchen gehen.
Die reichlich vertretenen mundartlichen Varianten sowie Parallelen in
den anderen Sprachen ebenfalls mit mundartlichen Variationen sind ein
Beweis für das hohe Alter des Idioms und ein Argument in der Frage: eine
Entlehnung oder nicht. Der universelle Charakter des Mythologems er-
408 Elena N. Tsvetaeva

gibt den universellen Charakter des sprichwörtlichen Ausdrucks: Gleich


sind das Bild und der Sinn, es unterscheidet sich nur die formelle Seite der
Wendungen, die kulturbezogen ist.
Ein Schlüssel zur Lösung der aufgeworfenen Fragen ist das historisch–
semantische Verfahren, das die Wege der semantischen Entwicklung von
jeweiligen Lexemen und Phrasemen zu erklären vermag. In unserem Fall
werden semantische Wandlungen im Zusammenhang mit dem altertüm-
lichen mythologischen Weltbild aufgedeckt, welches in einem gewissen
Maße in Sprache und Kultur seinen Niederschlag findet.
Der Phraseologismus ist motiviert auf der mythologischen Grundlage;
das Lexem Schmied, das im Laufe der Zeit einen Bedeutungswandel er-
fährt, u. z. die Spezialisierung der Bedeutung, realisiert sich im Bestand des
Sprichwortes in seiner ursprünglichen Bedeutung, „Meister und Schöpfer“,
die sonst nur sprachhistorisch zu belegen ist. Dieses semantische Motiv
erklärt außerdem die Kombination Schmied und Glück im Rahmen ei-
ner komplexen sprachlichen Einheit, u. z. eines durchaus gebräuchlichen
Sprichwortes.
Die Novelle von G. Keller, für die das behandelte Sprichwort einen Text
bildenden Charakter hat, vereinigt in sich übertemporal - dank dem poe-
tischen Genie des Autors – alle semantischen Aspekte des Lexems Glück
(und das nur im Zusammenhang mit Schmied im Rahmen einer komplexen
sprachlichen Einheit): Einerseits realisiert sich darin die hypothetische ur-
sprüngliche Bedeutung „biegen“, denn der Protagonist findet sein Glück
im Schmieden der Nägel, andererseits kommen die Motive von „schließen,
auslaufen“ und „gut auslaufen“ zum Vorschein, weil die ganze Geschichte
eben mit dem geschmiedeten Glück endet.

Literatur
Burger H. (2010) Phraseologie. Eine Einführung am Beispiel des Deutschen. Berlin.
Burger H. (2012) Phraseologie und Kultur. Internationale Konferenz unter der
Schirmherrschaft der Europäischen Gesellschaft für Phraseologie EUROPHRAS.
Maribor. 27.–31. VIII. 2012. http://www.europhrasmaribor.si
Borchardt, W./ Wustmann, G./ Schoppe, G. (1955) Die sprichwörtlichen Redensarten im
deutschen Volksmund. Leipzig.
DWB. Das deutsche Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm.http://woerterbuchnetz.
de/DWB.
DWDS (2008-2011) Digitales Wörterbuch der deutschen Sprache. http://www.dwds.de/
Keller, G. Der Schmied seines Glückes. http://www.zeno.org/Literatur/M/Keller.
Kluge, F. (1960) Etymologisches Wörterbuch der deutschen Sprache. 18. Auflage. Berlin.
Kluge, F. (2002) Etymologisches Wörterbuch der Deutschen Sprache. Berlin, New York.
Röhrich, L. (1973) Lexikon der sprichwörtlichen Redensarten. Freiburg, Basel, Wien.
Reinhold Utri (Warszawa)

Die regionale Vielfalt des Deutschen als


Kulturrealität am Beispiel des Österreichischen
Deutsch

Dass es ein Österreichisches Deutsch gibt und dass in wissenschaftli-


chen Kreisen in den letzten zwei Jahrzehnten verstärkt darüber diskutiert
wird (nicht zuletzt durch den Beitritt Österreichs zur Europäischen Union!),
ist eine Tatsache, der kaum jemand widerspricht. Allzu häufig jedoch wird
das Österreichische Deutsch (man beachte die Großschreibung, die seit ca.
15 Jahren von einigen Autoren vollzogen, von anderen jedoch abgelehnt
wird) nur im Rahmen einer regionalen Vielfalt erwähnt.
Eine regionale Vielfalt gibt es – und das ist ja allen bewusst – in Form
von Dialekten bzw. Mundarten (obwohl der Duden [2007] zwischen Dialekt
und Mundart keinen Unterschied macht, machen Sprachwissenschaftler auf
Unterschiede aufmerksam: schon die Brüder Grimm (in Niebaum/Machta,
2006:3) bringen den geografischen Aspekt ein: „dialecte sind also gro-
ße, mundarten kleine geschlechter“; manche sprechen von Halbmundart
und Mundart, von gehobener Mundart und Grundmundart; Wiesinger
(1980:186) unterscheidet zwischen „Verkehrsdialekt“ und „Basisdialekt“,
wobei er dem Letzteren eine geringere kommunikative Reichweite ein-
räumt, womit er also in dieselbe Kerbe schlägt; die Mundarten sind also
räumlich noch eingegrenzter; in der Mundart wird ein Wort nicht nur anders
ausgesprochen, sondern es wird oft ein anderes Wort verwendet: statt früher
heißt es in der Oststeiermark: eanda, statt Dienstag Irta oder Ercha). Aber
kaum jemand ist sich dessen bewusst, dass es auch in der Hochsprache, die
offiziell verwendet wird, also als Amtssprache, in schriftlicher Form, in der
410 Reinhold Utri

Literatur usw. eine Vielfalt gibt, die man in Österreich, in der BRD, in der
Schweiz, in Südtirol usw. antrifft.
Hier sei die These aufgestellt, dass gewisse Eigenheiten im Öster­
reichischen nicht nur das Resultat von den Einflüssen der gegebenen re-
gional ausgeformten Dialekte sind, sondern auch kulturelle Eigenheiten
ausdrücken, z. B. historisch (man denke an die vielsprachige Österreichisch-
Ungarische Monarchie), geografisch (Österreich wird bis heute oft als
Vermittler zwischen West und Oste gesehen) oder von der Mentalität (sozi-
al-psychologisch) her zu erklären sind.
Ich will in diesem Zusammenhang nicht auf die Geografie eingehen,
z. B. darauf, dass Vieles, das in fast ganz Österreich typisch ist, im westli-
chen Bundesland, in Vorarlberg nicht typisch ist (dort wird schon aleman-
nisch gesprochen), und Vieles auch in Bayern verstanden bzw. verwendet
wird. Allerdings lassen bisherige Untersuchungen, die ich anstellte (weitere
ausgedehntere, die untersuchen, welcher Wortschatz vor allem homogen
ist, und welcher unterschiedlich ist, müssen noch folgen) darauf schließen,
dass nur eine Minderheit des Wortschatzes des Österreichischen in Bayern
aktiv und passiv verwendet wird. Meine vorläufige Vermutung ist, dass ca.
1/3 verwendet wird (aktiver Wortschatz), 1/3 passiv verstanden wird und
1/3 unbekannt ist oder eine andere Bedeutung hat.
„Der Österreicher unterscheidet sich vom Deutschen durch die gemein-
same Sprache!“– dieser Spruch ist natürlich plakativ, aber für wissenschaft-
liche Zwecke unbrauchbar, da zu ungenau. Ich möchte hier auf ein paar
markante Unterschiede eingehen und dann ein paar Gründe dafür suchen,
warum diese Unterschiede auftreten. Bichel (vgl. 1973:399) meint, dass
man davon ausgehen muss, dass die Umgangssprache nicht nur ein komple-
xes System von Systemen sei, sondern dass sie auch gleichzeitig Ausdruck
einer komplexen sozialen Gruppenstruktur sei. Die Gesamtstruktur der
deutschen Sprache sei als ein Gefüge von Gruppensprachen anzusehen, die
untereinander in mannigfachen Wechselbeziehungen stehen.
Vom Gesichtspunkt der von Franciszek Grucza stammenden anthro-
pozentrischen Theorie der menschlichen Sprachen (auch andere Autoren
wehren sich gegen die Einteilung der deutschen Sprache in lokale
„Stammessprachen“, vgl. Muhr, 1995b) ist diese Aussage äußerst zweifel-
haft. So hat jeder Mensch zuerst einmal seinen Idiolekt, ob man ihn „tiro-
lerisch“, „wienerisch“, „steirisch“ oder „österreichische Umgangssprache“
nennt, hängt nämlich nur davon ab, wie groß die Menge der Sprecher
ist, die man als eine homogene Gruppe theoretisch annimmt. So eine
Gruppensprache, deren Grenzen – das sollte auch deutlich festgehalten
Plenarvorträge 411

werden – fließend sind, nennen wir Idiolekt. Im Folgenden möchte ich auf
ein paar Eigenheiten des Österreichischen Idiolekts eingehen.
Unterschiede zum Bundesdeutschen gibt es auf verschiedenen Ebenen:
a) Phonetik – Aussprache: abgesehen vom umgangssprachlichen – di-
alektalen Eigenheiten (ich habe gesagt – i hob gsogt, ich weiß nicht – in
Kärnten: i wos nit) gibt es auch in der Standardsprache Unterschiede: So
sagt man in Deutschland „Balkon“ (nasaliert) in Österreich „Balkon“ -
nicht nasaliert: beim Wort „Pension“ ist das ähnlich.
Das „t“ wird weicher gesprochen; das hat Zeman, der in seinem Werk
„Überlegungen zur deutschen Sprache in Österreich“ auch die Aussprache
berührt, zur irrigen Annahme geführt, dass das Wort „Schatten“ und das
Wort „Schaden“ mit gleichem weichen „d“ ausgesprochen wird, was na-
türlich nicht stimmt.
b) Grammatik: bei den Perfekt-Formen einiger Verben: in Deutschland
mit „haben“ gebildet: ich habe gestanden, ich habe gesessen, ich habe
gelegen; in Österreich: ich bin gestanden, ich bin gesessen, ich bin ge-
legen; weitere Verben: hängen, knien, lehnen, schweben, stecken (Zeman
2009:118); weitere Unterschiede (Zeman, 2009:131) zum Beispiel bei den
Pluralformen: Ö - D
die Erlässe - die Erlasse
die Pölster - die Polster
die Bögen - die Bogen
die Wägen - die Wagen
Genitivformen: sind in Österreich oft verkürzt: des Jänner, des April, des
Deutsch, des Weiß, des Merkur (Tatzreiter, 1988:82)
c) Anrede: Muhr (in Zeman, 2009:178) weist darauf hin, dass im Alltag
der Österreicher Hierarchien eine wichtige Rolle spielen, dass das Sprech­
verhalten sehr stark am Rang des Gegenübers orientiert ist; so ist diese
„Titelmanie“ immer wieder in Österreich sichtbar; scherzend wird gesagt,
dass der häufigste Vorname in Österreich Magister sei; es soll sogar vor-
kommen, dass sich Sandler (bundesdeutsch Penner), wenn sie sich für das
erste Glaserl um 10 Uhr Vormittag im Beisl oder am Würstelstand tref-
fen, mit vornehmen Titeln ansprechen, was als eine Parodie auf die (in
der Realität sehr wohl existierende) Titelmanie der Österreicherinnen und
Österreicher gelten kann.
412 Reinhold Utri

d) Lexik: Fachwortschatz: Beispiele Rechtsprache und Administration:


Österreich Deutschland
Verlassenschaft Hinterlassenschaft, Nachlass
Bahnhofsvorstand Bahnhofsvorsteher
außer Obligo ohne Obligo, unter Ausschluss der Haftung
Parteienraum für Kunden vorgesehener Raum bei Behörden
Partezettel Todesanzeige
Patronanz Patronat, Ehrenschutz
Schranken Schlagbaum bei einem Bahnübergang
Sensal (ital.) freiberuflicher Handelsmakler (Dorotheum)
Spagat (ital.) Bindfaden
Sponsion akad. Feier, bei der Titel Magister verliehen wird
Tagsatzungsversäumnis Versäumnis eines (Gerichts)Termins
Transferierung dienstliche Versetzung

Unterschiede treten natürlich auch beim alltagssprachlichen Wortschatz


auf, Bsp:

Ö - D
Bub - Junge
Rechen - Harke
Orange - Apfelsine
Knödel - Kloß
heuer - dieses Jahr
Samstag - Sonnabend
Artikelgebrauch:
Ö - D
das Sakko - der Sakko
das Risotto - der Risotto
das Radar - der Radar
das Schlamassel - der Schlamassel
das E-Mail - die E-Mail

Wortbildung:
Diminutive: in Österreich meist die Endung -erl: aus Häuschen wird
Häuserl, aus Gras Graserl, aus Gläschen Glaserl, aus Fläschchen Flascherl,
aus Kaffee Kaffeetscherl; einige Austriazismen sind bereits Verkleinerungs­
formen auf -el, ohne dass sie als solche empfunden werden (die meisten fol-
genden Beispiele stammen aus Zeman, 2009: 126): Würstel, Salathäuptel,
Plenarvorträge 413

Kipfel, Krügel – diese werden dann mit der eigentlichen Verkleinerung zu:
Würsterl, Kipferl, Krügerl, Brezerl usw.
Es gibt einige Austriazismen, wo diese Endung immer auftritt:
Sackerl (Tüte), Zuckerl (Bonbon), Schwammerl (Pilz), Pickerl (Auto­
prüfmarke), Stamperl (Schnapsgläschen); beim Stamperl kann zusätz-
lich noch erwähnt werden, dass die Kärntner imstande sind, noch ein
Diminutiv anzuhängen, das wird dann zur doppelten Verkleinerungsform:
Stampele (dieses Phänomen verwendet das Kärtner Frauen-Kabarett-Duo
RaDischnigg, wenn sie den Zuschauern Kärntnerisch beibringen möchte).
Fugen-s: tritt in Österreich häufiger auf: Gebetsbuch, Zugsabteil,
Gelenksebtzündung, Schweinsbraten.
Wortzusammensetzungen mit Heiligennamen auf –i im ersten Glied:
Leopoldi-tag, Floriani-markt, Urbani-keller usw.; aufgrund der Gegen­
reformation gibt es im vorwiegend katholischen Österreich entsprechend
viele Orts- und Bezirksnamen, die auf Heilige Bezug nehmen: St. Peter, St.
Margarethen usw.
Wir haben schon die nasalierte, dem Französischen ähnelnde Aussprache
gewisser Wörter im Bundesdeutschen erwähnt; auch in der Lexik werden
in D mehr Wörter verwendet, die romanischen Ursprungs sind: Korridor
(in Österreich Gang), Pampelmuse (in Österreich Grapefruit), Konfitüre
(in Österreich Marmelade), Portmonee (in Österreich Geldtasche); hier
möchte ich ein besonders Phänomen in der Lexik des Österreichischen
beleuchten, nämlich die Verwendung von Anglizismen und von Wörtern,
die aus anderen Sprachen stammen; schon mehrere Autoren haben darauf
hingewiesen, dass in Österreich häufiger Anglizismen auftreten/ vorkom-
men. Ich möchte dies anhand von Beispielen zeigen und dann auch einige
Erklärungsversuche anbieten.
Meine These lautet: Für Österreicher ist der Kontakt zu anderen
Sprachen, zu anderen Kulturen selbstverständlicher, es herrscht eine größe-
re Toleranz gegenüber Fremdwörtern und eine lockere Einstellung gegen-
über der Verwendung von Fremdwörtern (bzw. Lehnwörtern). Besonders
in gewissen Bereichen wie z. B. der Küchensprache wird sichtbar, dass
viele Ausdrücke aus anderen, z. B. Nachbarsprachen stammen; so sieht
man im österreichischen Film „Im weißen Rössl am Wolfgangsee“, dass
ein Berliner sich an den Tisch setzt und den Kellner fragen muss, was es zu
essen gibt, weil er auf der Speisekarte absolut nichts versteht; ein anderer
österreichischer Film (Indien), der in Österreich sehr beliebt und erfolg-
reich war (ist), war in Deutschland ein Flop, da die sprachlichen Witze und
414 Reinhold Utri

umgangssprachlichen (bzw. deftigen) Ausdrücke für die meisten Deutschen


unverständlich waren.
Zur Veranschaulichung der Tatsache, dass viele österreichische Aus­
drücke ihren Ursprung in den Nachbarländern haben, präsentiere ich im
Folgenden eine (alphabetisch geordnete) Tabelle (nach Kaunzner, 2008:188,
leicht verändert – die nicht gastronomischen Ausdrücke stammen aus dem
Steirischen Wörterbuch von Jontes)
Österreichisch Herkunft Bundesdeutsch
Agrasel Slaw. (poln. agrest) Stachelbeere
kroat. ćepavčić, aus dem
Ćepavčici Hackfleischröllchen
Türkischen
Faschiertes (n.) franz. farce Hackfleisch
Frittaten (f./pl.) ital. frittata in Streifen geschnittene Pfannkuchen
Slawisch, tsch. kolac, kroat.
Golatsche (f.) Teigtasche (süß)
kolač der Kuchen
Grapefruit engl. grapefruit Pampelmuse
Karfiol (m.) ital. cavolfiore Blumenkohl
Marille (f.) kroat. marelica, poln. morela Aprikose
Portugiesisch marmelada, von
Marmelade port. Marmelo die Quitte (lat. Konfitüre
malimellus „Honigapfel“)
Melange (f) franz. Milchkaffee
slawisch (tsch. povidle, poln.
Powidl (m./n.) Pflaumenmus
powidła)
Ribisel (f.) ital. ribes Johannisbeere
slawisch (wiśnia), aus lat.
Weichsel (f.) Sauerkirsche
viscum, mhd. wīhsel
Gaunersprache, hebr. sahar=
Schachern handeln
Handel treiben
Gaunersprache, jidd. schicksen
Schickse = Dienstmädchen, hebr. seqes leichtfertige Frau, Flittchen
= Unreines, Abscheu
Kautabak, Pfeifensaft
Motschga tschech. motschka = Saft
(Tabakrückstand in der Pfeife)
Maß(e)l hebr. mazzal Glück (haben), unerwartetes Glück
mlat. charavallium =
Krawall Starker Lärm, Aufruhr, Streit, Tumult
Katzenmusik, Straßenlärm
ital. alzo = Lederstück,
Ein kleines Stück, ein (ganz klein)
Alzerl/ Alzal Alz: Lederauflage auf den
wenig
Schuhleisten
ein mit Marmelade gefülltes
Wuchtl/
tschech. buchta = Germgebäck Hefegebäck; unförmige Person;
Wuchtel
abfällig für (Fuß)Ball
Tschinölln/ Schlaginstrument aus zwei tellerför-
ital. cinelle = kleines Becken
Tschinellen migen Messingscheiben (Zimbeln)
Plenarvorträge 415

Kaunzer (2008:178) weist darauf hin, dass Österreicher, obwohl immer


wieder auch Sprachpuristen in der Presse auftreten, vermehrt Anglizismen
verwenden: Sie beweist das an der Internetseite eines Anbieters von
Sportartikeln, die in der bundesdeutschen Version ganz anders aussieht:

Internetseite Österreich Internetseite Deutschland


Outlets Filialen
Hot & New Aktuelles
What you get Leistungen
Who we are Über uns
Contact Kontakt

Ein weiteres Phänomen ist z. B., dass McDonald in Deutschland mit


„Ich liebe es“, in Österreich jedoch mit „I´m lovin it“ wirbt; können wir
daraus schließen, dass die Österreicher besser Englisch können?
Die österreichischen Schüler haben bei der PISA-Studie zwar etwas bes-
ser als die bundesdeutschen Kollegen abgeschnitten, aber daraus kann nicht
zwingend geschlossen werden, dass die Österreicherinnen und Österreicher
des Englischen so sehr mächtiger sind bzw. es viel besser lernen, dass sie es
in der Werbung immer haben wollen. Der österreichische Kabarettist Alfred
Dorfer meinte bei einem Auftritt in Deutschland – und das war schon ziem-
lich riskant – dass der Unterschied darin liege, dass die Deutschen „ich
gehe zur Schule“ sagen, und die Österreicher „ich gehe in die Schule“,
dass sozusagen das Hineingehen erst den wirklichen Unterschied mache…
- zum Glück hat man ihm das nicht übel genommen, es wurde nur gelacht.
Kaunzner gibt verschiedene Erklärungen, sowohl gesellschaftlich-poli-
tische, psychologische und soziologische; ich möchte in weitere Folge noch
weitere erwähnen:

1) Es gab nach dem Zweiten Weltkrieg eine Emanzipationsbewegung,


man wollte sich vom Nachbarn Deutschland abgrenzen; dazu kommt noch,
dass Österreich mit damals etwas über 7 Mio. Einwohnern weniger als 1/10
der Einwohnerzahl Deutschlands hatte. In Österreich werden z. B. weniger
Bücher gedruckt, kaum Filme gemacht (oder synchronisiert); dass schlägt
sich u.a. darin nieder, dass die Anglisten in Wien nichts auf Deutsch schrei-
ben und in Wien drucken, sondern größtenteils auf Englisch und in bri-
tischen/ amerikanischen Verlagen erscheinen.
Ein weiteres Phänomen, das kurze Zeit nach dem 2. Weltkrieg be-
stand, war, dass es in Österreich zu Beginn der 50-er Jahre das Schulfach
416 Reinhold Utri

Deutsch (bzw. Deutsche Sprache) nicht gab, sondern es nannte sich


„Unterrichtssprache“ (siehe unten stehend die Originalurkunde des
Halbjahresausweises einer steirischen Hauptschule aus dem Jahre 1949).
Erst 1953 stand in den Zeugnissen (wieder) „Deutsche Sprache“. Höch­st­wahr­
schein­lich ist dies dahin gehend zu interpretieren, dass die Öster­reicher
sich vom Nazi-Deutschland abgrenzen wollten und das Deutschtum der
Österreicher bzw. auch die in Österreich verbreitete Anhängerschaft an das
Hitler-Deutschland u.a. auch auf diese Weise verdrängten wollten.

2) Die Österreicher neigen mehr als die Deutschen zur Umgangssprache,


auch in den Medien. Grzega (2003:43) meint, dass „im Deutschländischen
der Bereich der formellen Sprache im Vergleich zum Österreichischen
Deutsch kleiner ist und dass Varianten, die im Österreichischen Deutsch
als in formellen Situationen angebracht oder standardsprachlich angesehen
werden, in Deutschland als ‚informell‘, ‚in formellen Situationen unange-
bracht‘ oder ‚substandardsprachlich‘ gelten“. Die Anglizismenverwendung
ist bekanntlich ein Merkmal der Umgangssprachlichkeit (viele, die nicht
Anglisten sind und englische Ausdrücke verwenden, wollen damit cool er-
Plenarvorträge 417

scheinen), somit ist der erhöhte Anglizismengebrauch in Österreich auch


damit zu erklären.

3) Österreichische und bundesdeutsche Kulturstandards: laut der Unter­


suchungen von Brück (2002) sieht dies folgendermaßen aus:
Österreich Deutschland
Kommunikationsstil indirekt direkt
Gelassenheit gegenüber
Regelorientierung Regeln (vgl. auch Muhr, Akzeptanz von Regeln
1995a: 753)
Sozialorientierung personenorientiert sachorientiert

Alle diese Stile


sind typisch für die
Umgangssprache !

4) Historische Gründe: Sicherlich hat ein Teil der Fremdwortfreudigkeit


seine Ursache in der Geschichte Österreichs. Von 1867 bis 1918 existierte
der Vielvölkerstaat der Österreichischen-Ungarischen Monarchie, wodurch
die Begegnung mit Gästen und Gastarbeitern und deren fremden Sprachen
für die Österreicher etwas Normales, etwas Selbstverständliches gewor-
den ist. Die Monarchie reichte bis nach Lemberg (Lwów) und auch sehr
weit nach Süd- bzw. Südosteuropa (Rumänien, Serbien usw.). Im Parlament
gab es keine einheitliche Verhandlungssprache, zehn Sprachen waren zu-
gelassen: Deutsch, Italienisch, Kroatisch, Polnisch, Rumänisch, Russisch,
Ruthenisch, Serbisch, Slowenisch, Tschechisch.
So beschreibt Hamann (1996:173) die Diskussionen um eine ein-
heitliche Sprache bzw. um das Dolmetschen: „Die immer wieder ein-
gebrachten Anträge der deutschen Parteien, in Cisleithanien Deutsch
als Verhandlungssprache festzusetzen, wurden von der nicht-deut-
schen Mehrheit des Hauses abgelehnt. Diese forderte im Gegenzug, die
Protokollierung der Reden auf alle im Parlament zugelassenen Sprachen
auszudehnen und Dolmetscher einzusetzen. Diese Bestimmung wurde erst
1917 eingeführt, hatte aber keine praktische Bedeutung mehr. (…) Die tag-
täglichen Streitereien im Kauderwelsch von zehn Sprachen machten den
k.k. Reichsrat zu einer internationalen Sehenswürdigkeit.“ – Wenn in der
Monarchie schon gute (im heutigen Sinne professionelle) Dolmetscherinnen
418 Reinhold Utri

und Dolmetscher zum Einsatz gekommen wären und diese bei allen po-
litischen Disputen und Parlamentssitzungen zugegen und aktiv gewesen
wären, wäre die Monarchie vielleicht gar nicht auseinandergefallen… Es
ist ja aus heutiger Sicht, sprich aus den Erfahrungen des EU-Parlaments,
kaum vorstellbar, wie die damaligen Abgeordneten miteinander kommuni-
ziert haben.
Im deutschen Kaiserreich hingegen gab es etliche Maßnahmen, die zur
Ausgrenzung und Unterdrückung von Minderheitssprachen führen soll-
ten. So wurden zur Verwirklichung dieser starken Einschränkung bzw. des
vollständigen Verbots von Minderheitensprachen (z. B. in das Ruhrgebiet
eingewanderte slowenische, italienische oder polnische Arbeiterfamilien)
folgende Gesetze erlassen (vgl. Gogolin/ Krüger-Potratz, 2006:58):
1876: Geschäftssprachengesetz
1877: Gerichtssprachengesetz
1908: Vereinsgesetz

Damals im alten Österreich-Ungarn war zwar der anglo-amerikanische


Spracheinfluss schwächer, da „hier die Internationalisierungstendenz
mehr an Latein, Französisch, Italienisch und den nicht-deutschen
Nationalitätensprachen der Donaumonarchie orientiert war. Andererseits ha-
ben Österreich und die Schweiz den reichsdeutschen Sprachpurismus nicht
mitgemacht und ihm widerstanden, sodaß sich in Bereichen des Verkehrs,
der Wirtschaft und der traditionellen Sportarten mehr engl. Lehnwörter
durchgesetzt haben als in Deutschland.“ (von Polenz, 1999:408)
Dass es einen starken Einfluss von anderen Sprachen gegeben hat, sieht
man schon an vielen Namen: Das österreichische Wörterbuch wurden von
Sedlacek geschrieben, den Text der Österr. Bundehymne verfasste Paula
Preradovic; auch das Wiener Telefonbuch ist ein Spiegelbild einer bis zum
Ersten Weltkrieg existierenden Einwanderungsgesellschaft. Kaunzner,
(2008:189, 190) gibt ein weiteres Beispiel aus der jüngsten politischen
Geschichte: „Die Bundesregierung stellte während der deutschen EU-
Präsidentschaft in der ersten Hälfte 2007 die Forderung, dass bei offiziellen
Anlässen deutsch gesprochen werden sollte; das war während Österreichs
Vorsitz in der ersten Hälfte 2006 unter Kanzler Wolfgang Schüssel nicht der
Fall. Hier wurde bei Pressekonferenzen vorwiegend englisch gesprochen.“
5) Entlehnungen durch Sprachkontakte: Im Vielvölkerstatt der Öster­
reichisch-Ungarischen Monarchie kam es auch zu vielen Entlehnungen1:
1
  Dass auch die Österreicherinnen und Österreicher eine biologische „Mischkulanz“
darstellen, wird von der bekannten Band STS bestätigt; und zwar in ihrem Song „I bin
Plenarvorträge 419

diese Lehnwörter gibt es heute noch aus dem Tschechischen, Ungarischen,


Italienischen, Jiddischen (vor dem Holocaust gab es in Wien auch eine be-
achtliche jüdische Minderheit), Südslawischen, Französischen, später auch
aus dem Englischen. Hier ein paar Beispiele außerhalb der Speisekarte:

Österreichisch Herkunft Bundesdeutsch


Pawlatsche, tschech. Offener Gang an der
z. B. Pawlatschentheater: Hofseite eines Hauses
Theater, auf einer einfa-
chen Bretterbühne
Pfoad (steirisch) ahd. pfeid
ostgerm. Paida Beinkleid
griech. baité
Sechta lat. sextarius, Gefäß, das Gefäß (z. B. zum Melken)
den sechsten Teil eines
congius (Hohlmaßeinheit)
enthält
Plentn (steir.) = Sterz ital. polenta gekochter Maisgries
Strawanzer ital. stravagante Herumtreiber,
Landstreicher,
Herumlungerer
Tschopperl/ Tschapl u.U. ital. Giobbe, von der ein geistig unterbemittelter,
biblischen Figur Hiob/ Job hilfloser Mensch
Bahöl/ Pahöl ung. paholni = prügeln, Übertriebenes Getue, lautes
jidd. pahle = Lärm Aufheben
Bamberletsch/ ital. bamboleccio Kleinkind
Bamperletsch
Basta ital. Schluss!
betakeln Jidd. Takel = betrügen, beschwindeln
Nachschlüssel
biberln ital. trinken
büseln ital. pisolare = ein schlummern, dösen
Schläfchen machen
Fotzen tschech. facka = Ohrfeige Ohrfeige, Backpflaume
Futsch ital. fuggire = fliehen nicht mehr da, verloren
Gspusi ital. sposa, lat. sponsa = Liebschaft, Geliebte(r)
Gattin, Verliebte

aus Österreich“, wo sie von „I bin die feine Mischung“ singen; dass die Habsburger sich
hauptsächlich durch Inzucht biologisch abgeschafft haben, sei als die Ausnahme von der
Regel zu werten.
420 Reinhold Utri

Österreichisch Herkunft Bundesdeutsch


Haberer jidd., häbr. haver = Freund, Kumpan,
Genosse, Gefährte Zechbruder, Liebhaber
Keuschen f. tschech. chyše = Hütte Kleines (ärmliches)
Häuschen
Mischkulanz ital. mescolanza Durcheinander, Unordnung
päule (machen/ gehen) jidd. pallit = Entsprungner Weg, davon
Pratze(n) ital. bracchio = Arm Pfote, Tatze, Hand
Reiwach jidd. rebach = Gewinn Gewinn, Nutzen, Verdienst
Ramasuri ital. rammassare = anhäu- Durcheinander, ungeordne-
fen, sammeln te Zustände, geschäftiges
Treiben
Schinakel ungar. csónak = Boot, kleines Ruderboot, Kahn
Kahn
Schmäh / jidd. schemá = Gehörtes Trick, Gerede, Witz,
Hausmasterschmäh Charme, Scherz, Gag,
mach kane Schmäh= erzähl Pointe
keine Märchen
Stadel m. (Schweiz Städel), tschech. stodola Schuppen, Scheune, Stall,
z. B. Heustadel Hütte, Gerätehütte
Teschek, m. ungar. tesék = bitte Dummkopf,
Benachteiligter, Verlierer

6) Tourismus: Die österreichische Wirtschaft ist zu einem Gutteil auf die


Einnahmen vom Tourismus angewiesen, sie lebt vom Fremdenverkehr (hier
spielen landschaftliche Phänomene eine Rolle, aber auch die entsprechende
Pflege dieser sowie die Infrastruktur (man denke an Skipisten, Kunstschnee
usw.) und die Gastfreundschaft (österreichische Gemütlichkeit) spielen
eine entscheidende Rolle. Da ist es nicht nur logisch, sondern auch (für
geschäftliche Interessen) günstig, wenn die Menschen, die im Tourismus
tätig sind und die ausländischen Gäste bedienen, einen entsprechenden
Wortschatz an ausländischen Wörtern annehmen, manchmal auch nur aus
dem Grund, dass sie bei den Gästen (das Wort Fremder wird vermieden,
obwohl überall Fremdenzimmer angeboten werden!) einen guten Eindruck
zu machen (vgl. auch die Lernangebote für z. B. Tschechisch in den
Fremdenverkehrskollegs: http://www.tourismuskolleg.at/). Die Zukunft
wird zeigen, aus welchen Sprachen die nächsten Entlehnungen kommen
werden; aufgrund der Dominanz des Englischen wird diese Sprache sicher-
lich in den Medien (Presse) und in der Werbung, und damit auch bei den
Plenarvorträge 421

fachsprachlichen sowie den alltagssprachlichen Entlehnungen weiterhin


dominieren.
7) Schlussthese: Das Österreichische Deutsch ist ein Ausdruck der
den Österreicherinnen und Österreichern eigenen (poln. swoiste) Kultur,
ist das Ergebnis von historischen und sozialen Bedingtheiten (intensive
Sprachkontakte mit Nachbarn und anderen Nationen), ist die sichtbare
Ausdrucksform der im Gegensatz zu D in Ö geltenden Kulturstandards und
der psychologischen Eigenheiten.
Wienerisch: Wird bei Umfragen als der „netteste“ Dialekt bewertet (vgl.
Bausinger 1972, in: Niebaum/ Macha: 2006:195) – ist es da ein Wunder,
dass die Wiener stolz darauf sind und nicht hochdeutsch sprechen, sondern
meistens (städtische) Umgangssprache (ich spreche hier absichtlich nicht
vom Dialekt (die Umgangssprache ist vom Dialekt nicht streng abzugren-
zen, es gibt hier fließende Übergänge), da dieser aufgrund unterschiedlicher
sozialer Phänomene wie z. B. Landflucht immer weniger gesprochen wird)
wollen?

Österreich wird eben internationaler, gastfreundlicher, größer und


besser, bekannter, wenn wir Englisch und andere Sprachen verwenden.
Vielleicht ist das ein linguistischer Versuch, den „Komplex des kleinen
Landes“ (Erwin Ringel: die österreichische Seele) zu überwinden. Es ist
offensichtlich in Ö ein noch größere Bereitschaft vorhanden, Anglizismen
zu verwenden (das könnte noch durch Untersuchungen in der Presse bestä-
tigt werden).
So ist es auch kein Zufall, dass dieses Phänomen auch in der Musik zu
spüren ist: So begann der Pop-Sänger Falco (wahrscheinlich als der erste
auf Deutsch singende Interpret), Englisch in seine Texte einzubauen, hier
ein paar Beispiele:
Aus „Der Kommissar“: Sie sagt: „Sugar sweet, jah‘got me rapp‘in to the
heat!“ / Ich verstehe sie heiss/ Sie sagt: „Babe you know, I miss my Funky
friends“ / Sie meint, Jack und Jill
Aus „Helden von heute“: No future extrem angesagt/ New wave, new
wave, new wave/ You gave me satisfaction/ Den Dingen nachzurennen/ Die
gestern noch verloren gesehen.
Die österreichische Gruppe Papermoon singt hauptsächlich auf Englisch
und Französisch, ein bisschen auf Deutsch. Reinhard Fendrich singt ein
Lied über Österreich, schön im Wiener Dialekt, aber der Refrain, also die
wichtigste Zeile lautet: I am from Austria.
422 Reinhold Utri

Literatur
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Anna Warakomska (Warszawa)

‚Die modernen Kulturwissenschaften werden


noch viel von der alten Philologie lernen müssen‘
oder die Frage vom Umgang mit den Texten

In der von Stephen Greenblatt vorgeschlagenen Praxis des New


Historicism werden literarische Schriften mit künstlerischem Anspruch
grundsätzlich in ihrem kulturellen Kontext, d. h. in Zusammenhang auch
mit ihrem außerliterarischen Umfeld gelesen (Fauser 2008: 46). Trotz ei-
ner ausgesprochen auf Transfer bzw. Austausch orientierten sowie gegen-
essenzialistisch gerichteten Denkweise betont der Wissenschaftler jedoch
selbst, dass die neuen kulturwissenschaftlichen Untersuchungen auf die
älteren Methoden, etwa eine skrupulöse formale Analyse der literarischen
Texte, die z. B. die Schule des New Criticism anbietet, zur Gänze werden
nie verzichten können. Im Gegenteil, sie werden noch viel von ihr lernen
müssen (vgl. Markowski 2004: 522). Ähnlich bleibt die Erforschung der
intertextuellen oder interkulturellen Beziehungen weiter auf eine tiefgrün-
dige Lektüre (close reading) angewiesen.
Diese Bemerkung erscheint als unheimlich wichtig, insbesondere heute,
in der Zeit einer zunehmenden Methodenpluralität sowie Verwischung der
Grenzen zwischen diversen wissenschaftlichen Disziplinen. Falls sie rich-
tig wäre, reflektierte sie eine unheimlich große Potenz der philologischen
Studien, die mit ihren ausgereiften Methoden auch für andere Problemfelder
und Forschungsgegenstände behilflich werden könnten. Andererseits muss
betont werden, dass in Greenblatts Konzeption prinzipiell jede formale
Analyse einer kulturellen untergeordnet werden soll, was natürlich mögli-
che Fragestellungen sowie nachfolgende Ermittlungen und Ergebnisse spe-
424 Anna Warakomska

zifisch formt. Sie scheint, ein Projekt der Belebung von Vergangenheit und
zugleich Erfrischung der jeweiligen Gegenwart zu sein, jedenfalls verkör-
pert sie eine neue Zugangsweise zu dokumentierten Fakten und bildet einen
interessanten Weg, über Entwicklungsgang der Kultur, auch der eigenen,
augenblicklichen zu reflektieren.
Im folgenden Beitrag wird daher versucht, die Prämissen und Theoreme
sowie Praktiken des New Historicism näher zu bringen. An ein paar
Exempeln sollen ferner konkrete Anwendungsbereiche des Konzeptes ge-
zeigt werden, um zu prüfen, wie das Ganze in Wirklichkeit funktioniert, ob
es nicht nur ein bloßer Traum bleibt, einen Zugang in die Köpfe früherer
Epochen zu bekommen. Wohlgemerkt distanziert sich Greenblatt ausdrück-
lich von einer derartigen Naivität (1981: VIII). Im Folgenden werden vor
allem die Hauptquellen der Denkweise der New Historicisten präsentiert,
d. h. Beispiele aus Stephen Greenblatts theoretischen Aufzeichnungen und
praktischen Verfahren. Dargestellt werden andererseits auch die Einwände
diesem relativ neuen Phänomen gegenüber, die entstehen können und tat-
sächlich auch formuliert werden.
Begonnen sei mit der Begriffserklärung. Bereits der Begriff Historicism/
Historismus ist Jerzy Szackis Ansicht nach ein komplizierter, der sich un-
heimlich schwer oder gar unmöglich mit einer Definition erklären lässt
(Szacki 1990: 11ff.). Szacki spricht von verschiedenen Varianten und cha-
rakteristischen Elementen, die dieser Begriff umfasst, sowie von seiner
Geschichte bzw. Nutzanwendung in den Geisteswissenschaften. Um eine
Probe der Auseinandersetzung mit diesem umfangreichen Thema anzubie-
ten, sei es nur ein kurzes Zitat aus der genannten Forschungsarbeit ange-
führt, das zugleich einen der wichtigsten deutschen Fäden in diesem Metier
darbietet:
A przecież ów historyzm Meineckego czy Diltheya wyrósł właśnie z krytyki tego
sposobu myślenia, który Popper usiłował skompromitować. Historyzm według
Poppera to nade wszystko doktryna praw historycznych i konieczności historycz­
nej, podczas gdy historyzm niemieckiej humanistyki, jakoś tam skodyfikowany
przez wspomnianych autorów, to fascynacja jedynością, niepowtarzalnością,
wyjątkowością każdego faktu historycznego1 (Szacki 1990: 13).

1
  („Und freilich entstammte dieser Historismus von Meinecke oder Dilthey eben einer
Kritik solcher Denkweise, die Popper zu kompromittieren versuchte. Historismus ist laut
Popper vor allem eine Doktrin der geschichtlichen Gesetze und historischer Notwendigkeit,
während der Historismus der deutschen Geisteswissenschaft, einigermaßen kodifiziert
durch diese genannten Autoren, Faszination von Einmaligkeit, Nichtwiederholbarkeit,
Besonderheit jedes historischen Faktums ist“, Übers. A.W.)
Plenarvorträge 425

Die grundsätzliche Spannung in der Wahrnehmung der Geschichte bzw.


in der Begrifflichkeit des Historismus scheint hier die Differenz zwischen
einer linearen Abfolge, Kontinuität und ferner einer immer dabei evozierten
Teleologie einerseits und der Fokussierung auf Eigentümlichkeit des ge-
schichtlichen Faktums andererseits zu sein, d. h. zwischen Gegebenheiten,
Konstellationen der Allgemeinheit und Lebenskräften der privaten Sphäre.
Es ist zugleich ein Unterschied, der die Philosophen und anscheinend viele
denkenden Menschen fortwährend beschäftigt (Löwith 2001: 300ff, Rorty
2009: 13).
Bei der Erklärung des Begriffes New Historicism lassen solche onto-
logischen Überlegungen eher nach, was zur seiner Präzisierung wesent-
lich beiträgt. Er existiert im wissenschaftlichen Umlauf seit über dreißig
Jahren. Seine Hauptprämissen wurden von Stephen Greenblatt 1982
in einem Auftritt präsentiert, in dem er eben diesen Terminus für die
Bezeich­nung seiner eigenen wissenschaftlichen Praxis, wie auch der Betäti­
gung einer Gruppe ähnlich denkender Kritiker und Literaturforscher be-
nutzte (Kujawińska-Courtney 2006: VII). Diese Vorstellung wurde in
der Zeitschrift Genre veröffentlicht (1982: 3ff) und in Erinnerung daran
schreibt der Autor im Text Towards a Poetics of Cultur (2006), dass er
für diese Zeitschrift ein paar Essays über die Renaissance gesammelt hatte
und danach versuchte „irgendetwas auszudenken, was als eine passende
Einführung fungieren konnte“. Dementsprechend behauptete Greenblatt,
diese Essays repräsentieren einen Standpunkt, den er New Historicism
nannte (Greenblatt 2006: 39). Er besteht auch ausdrücklich darauf, seine
Vorgehensweise als eine Praxis und mitnichten eine Doktrin zu interpre-
tieren, weil seiner Meinung nach New Historicism eben keine Doktrin sei
(Greenblatt 2006: 40).
Im Unterschied zur am Beginn des 20. Jahrhunderts betriebenen po-
sitivistischen Geschichtsforschung sieht er diese Praxis als offen auf das
theoretische Ferment der letzten Jahre an. Als geistige Vorbilder wer-
den dabei Michel Foucault und Jaques Derrida genannt und es wird da-
rüber hinaus versucht, einen Standpunkt im Raum zwischen Marxismus
und Poststrukturalismus herauszuarbeiten, wobei die Differenz privat:
öffentlich immerhin bei dieser Positionierung eine wichtige Rolle spielt.
Andere Inspirationen (etwa die Kultursemiotik von Roland Barthes, Erich
Auerbachs Mimesiskonzept, Carlo Ginzburgs Mikro-Historie, Schriften
von Aby Warburg, Walter Benjamin, Hayden White u.a.) nennt im Bezug
auf diese Schule Moritz Baßler (Bassler 2003: 143). Franziska Schößler
426 Reinhold Utri

führt auch Namen anderer Vertreter des New Historicism an und gibt in der
Einführung zum Thema eine kurze Charakteristik der Erscheinung an:
Der New Historicism, der mit dem Namen Stephen Greenblatt eng verbunden
ist – weitere Vertreter wären Louis Montrose, Alan Liu und Svetlana Alpers –,
entsteht in Amerika als Gegenbewegung zu der werkimmanenten Methode des
New Criticism: Der New Criticism setzt das Kunstwerk als autonom voraus,
begreift den Autor als schöpferisches Genie und ignoriert die gesellschaftlichen
Kontexte. Diese Kontexte, die die autonome Sphäre bürgerlicher Kunst nach
Niklas Luhmann konsequenterweise ausgliedert, bringt der New Historicism ins
Spiel, indem er komplexe Austauschbeziehungen zwischen literarischen und nicht-
literarischen Texten (aus Medizin, Ökonomie etc.) rekonstruiert. Bevorzugter
Untersuchungsgegenstand ist zunächst die englische Renaissance als Zeit des
Umbruchs und der Orientierungskrisen […] Tradierte Werte und konventionelle
Bedeutungszuweisungen werden in Frage gestellt. Anthropologische und
theologische Grundannahmen stellen sich als historisch, d. h. konventionalistisch
und relativ, heraus (Schössler 2006: 79).

Es wird in dieser kurzen Skizze auf die grundlegende Opposition zwi-


schen New Criticism und New Historicism hingewiesen, aber wie bereits
eingangs bemerkt wird ihre absolute Gültigkeit abgemildert und anstatt ei-
nes binären Systems der Gegensätze ein komplementäres angeboten.
Hervorzuheben ist hier die postulierte und auch getätigte Praxis der
Lektüre und ferner Interpretation eines künstlerischen Werkes (Dramas,
Romans etc.) im Zusammenhang mit Texten aus anderen Lebensbereichen,
etwa Theologie, Politik, Medizin, Völkerkunde sowie der Versuch der In-
fragestellung tradierter Bedeutungszuweisungen. Von primärer Bedeutung
erscheint dabei der Begriff Austauschbeziehungen oder Zirkulation, mit
dem der zu untersuchende geistige bzw. sprachliche Austausch zwischen
den Texten zu verstehen ist. Harald Neumeyer interpretiert die diesem
Begriff zugrunde liegende Tätigkeit selbst in Bezug auf die Diskursanalyse
als ein die Prämissen des Ansatzes von Foucault übergreifendes Modell.
Betont wird dabei seine „explikative Funktion“:
Allerdings besitzt für Greenblatt der Begriff der Zirkulation eine explikative
Funktion, die über Foucault hinausgeht. Während dieser sich damit begnügt,
die in einzelnen Diskursen parallel ablaufenden kulturellen Prozesse und deren
machttechnologische Voraussetzungen auszubuchstabieren, versucht Greenblatt
mit der Zirkulation ein Modell zu entwerfen, das erklärt, wie es auf der Ebene
der einzelnen Diskurse dazu kommt, daß in ihnen Gemeinsamkeiten auftreten. Im
Vergleich zu Foucaults historischen Beschreibungen bleibt Greenblatts Vorstellung
von der Zirkulation an literaturwissenschaftlichen Modellen orientiert, die – mehr
Plenarvorträge 427

oder weniger stark – Übernahmen bzw. Wechselbezüge zwischen den Diskursen


behaupten (Neumeyer 2004: 182).

Die Suche nach dem besagten Austausch wird durch einen grundle-
genden Verzicht auf Generalisierungen, fundiert auf einer allgemeinen
Skepsis gegenüber den Metaerzählungen und einer starken Betonung der
Partikularität der Bestandteile des kulturellen Hintergrunds, angestrebt
(Bassler 2003:135). Baßler bemerkt diesbezüglich:
Im New Historicism richtet sich der Fokus dagegen auf die Herkunft der
sprachlichen, inhaltlichen und rhetorischen Elemente von Kunstwerken. Das
Prinzip des close reading, der materiellen, akribischen Lektüre wird nicht
aufgegeben, aber es richtet sich jetzt eher auf die `Fransen´ des textuellen Gewebes,
es verfolgt – so die Metaphorik – die ´Fäden´, die aus den unterschiedlichsten
kulturellen Bereichen in einen Text hineinführen und auch wieder aus ihm hinaus.
Diese Lektüre bleibt mikrologisch, aber sie richtet das textanalytische Mikroskop
jetzt vorzugsweise auf jene Webstellen, an denen das Kunstwerk mit seiner
zeitgenössischen Kultur verwoben ist […] es stellt sich heraus, daß viele Elemente
nicht nur der Struktur des Kunstwerks angehören, sondern darüber hinaus auch
noch Teile eines anderen, weiteren Textes sind, des Textes der Kultur (Bassler
2003: 134).

Die literarischen Texte werden also im geschichtlichen Kontext gele-


sen, aber dieser Kontext selbst wird als ein „monologisch“ konstruiertes
Weltbild angezweifelt (Bassler 2003: 138). Es entsteht damit ein Projekt
einer in Bewegung gebrachten Vergangenheit oder Geschichte schlecht-
hin, das in seinem Anliegen an die Voraussetzung Nietzsches, es gibt kei-
ne Tatsachen, nur Interpretationen (Nietzsche 1994: 211) denken lässt.
Allerdings erinnert es auch an die frühromantisch anmutende Erkenntnis
der zulässigen bzw. erforderlichen Variabilität von Deutung, die von Lukács
seinerzeit formuliert wurde: „Tatsachen sind immer da und immer ist alles
in ihnen enthalten, doch jedes Zeitalter bedarf anderer Griechen, eines an-
deren Mittelalters und einer anderen Renaissance“ (zitiert nach Jung 1990:
165). Auf diese Notwendigkeit sowie den dabei entstehenden Bedarf an
Selbstreflexion des Interpreten wird im Folgenden noch zurückzukommen
sein.
Von Belang für die Literaturwissenschaft erscheint dabei Greenblatts
Einstellung zu literarischen Texten und zur Kunst schlechthin. Er versteht
das originelle Kunstwerk als einen Effekt gewisser Manipulationen, die
zum Teil in der Nachfolge der Interpretation aber partiell bereits bei sei-
nem Entstehungsprozess stattfinden. Es sei ein Effekt der Verhandlungen
(negotiations) zwischen dem Autor/einer Gruppe der Autoren, ausgestat-
428 Anna Warakomska

tet mit einer vielfältigen Menge allgemeingültiger Konventionen sowie


Institutionen und gesellschaftlichen Praktiken (Greenblatt 2006: 62), was
er an einem Beispiel aus amerikanischer Zeitgeschichte darzustellen ver-
sucht. Angesprochen und analysiert werden dabei reale Gegebenheiten,
die zur Veröffentlichung von zwei Büchern und einer Theatervorstellung
gebracht haben, ferner ihr potenzieller Einfluss auf die Ästhetik dieser
Produktionen, wie auch reaktiv die mögliche Auswirkung der „künst-
lerischen“ Ästhetik auf Geschehnisse (Greenblatt 2006: 58-60). Diese
Analyse suggeriert, dass alle vorgefundenen Mittel der Literaturkritik, wie
etwa Anspielung, Symbolisierung, Allegorisieren, Repräsentation und vor
allem Mimesis bei der adäquaten Erklärung der besprochenen kulturel-
len Artefakte etwas zu kurz kommen. Postuliert wird daher die Bildung
neuer Formeln oder Begriffe, die diese Unzulänglichkeit eliminieren wür-
den. Diese Begriffe sollten die Art und Weise beschreiben, in der konkrete
Materialien (in diesem Fall Erinnerungen, amtliche und private Dokumente,
Pressemitteilungen u. dgl. m.) aus einer diskursiven Sphäre in eine andere
übertragen und zur ästhetischen Größe gemacht werden. Greenblatt setzt
voraus, dass diese Praxis sich sowohl auf die Gegenwart wie auch auf
Vergangenheit beziehen soll und hält für einen Fehler, diesen Prozess als
einen Einbahnweg zu betrachten – etwa in der Richtung vom gesellschaft-
lichen Diskurs in den ästhetischen, weil der gesellschaftliche seiner Ansicht
nach auch mit ästhetischen Energien aufgeladen sei (Greenblatt 2006: 60).
Wohlgemerkt spricht der Autor in diesem Fall von zwar breit rezipierten
Artefakten, aber nicht von Kunsterzeugnissen des höchsten Ranges, denen
man die eben angesprochene Originalität beimessen konnte.
Aber auch in Bezug auf die Werke mit wesentlichem ästhetischem Wert
vertritt der Forscher eine für frühere Ansätze eher kontrovers klingende
Ansicht von Wechselgeschäften innerhalb des Schöpfungsprozesses, die
die althergebrachte Überzeugung von der Souveränität eines Kunstwerks
anzweifelt und ausgesprochen auf seine Heteronomie hinweist. Greenblatt
meint, den reinen, unbeschränkten Schöpfungsakt gebe es nicht. Statt der
glänzenden Schöpfung erhasche man während einer genauen Parallellektüre,
d. h. bei Miteinbeziehung diverser „Fäden“ fremder Kontexte eher etwas
Anderes. Etwas, was auf den ersten Blick nicht so spektakulär erscheint: ein
subtiles, schwer fassbares Ensemble von Tauschprozessen, ein Netzwerk
von Wechselgeschäften, ein Gedränge konkurrierender Repräsentationen,
eine Verhandlung (negotiation) zwischen Aktiengesellschaften. Allmählich
entpuppen sich seiner Meinung nach diese komplexen, unablässigen Leih-
Plenarvorträge 429

und Verleihgeschäfte als wichtiger und gar aufschlussreicher und spannen-


der als alle anfänglich erhoffte Epiphanie (1990: 12).
Zusammenfassend soll betont werden, dass außer der Gegenüberstellung
zu tradierten Annahmen und Verfahren bei der Lektüre künstlerischer Texte
sowie der Hypothese von der Existenz kultureller Energie (sozial energy),
die ursprünglich in den Werken codiert wurde und die zu dechiffrieren es
zur Hauptaufgabe des Interpreten wird (Greenblatt 1990: 12), der New
Historicism sich, wie gesagt, auch durch eine spezifische Betrachtung des
historischen Kontextes charakterisiert. Er wird nicht wie eine gegebe-
ne Entität wahrgenommen, denn vielmehr als ein virtuell offener Raum.
Dieses kurze Charakteristikum besagt aber nicht, wie der New Historicist
konkret bei der Textanalyse vorgeht. Moritz Baßler zitiert einen in die-
ser Hinsicht gescheiten Gedanken von Clifford Geertz: „Will man eine
Wissenschaft verstehen, so sollte man nicht in erster Linie ihre Theorien
oder Entdeckungen ansehen und keinesfalls das, was ihre Apologeten über
sie zu sagen haben, sondern das, was ihre Praktiker tun“ (Geertz 1995: 9;
Bassler 2003: 133). Daher soll demnächst versucht werden, ein paar kon-
krete Beispiele zu nennen.
In seinem mit Abstand berühmtesten Werk Verhandlungen mit
Shakespeare analysiert der Autor zunächst den Reisebericht A Brief and
True Report of the New Found Land of Virginia von Thomas Harriot un-
ter dem Gesichtspunkt der kulturellen Spannungen zwischen europäischen
Kolonisatoren und den Bewohnern der von ihnen neu eroberten Welt.
Erforscht werden vor allem die Mechanismen der Machtgewinnung so-
wie Machtausübung, insbesondere die spezifische Rolle der Religion. Ihr
werden ausdrücklich soziale und disziplinierende Funktionen beigestan-
den, wohingegen die strikt konfessionellen eher gemindert werden. Die
Invasoren beobachten die Fremden, sammeln Informationen über ihre
Sprache und Sitten und konstruieren daraus ein Bild der unbekannten Welt.
Wohlgemerkt, eins, das durch ihre Intentionen motiviert und durch ihre
Optik gefiltert wird.
Im zweiten Teil der Arbeit werden dann die Dramen von Shakespeare
der Analyse unterzogen, um auf denkbare Ähnlichkeiten zwischen der
dargestellten und außerliterarischen Welt am Beispiel des Theaterwesens
hinzuweisen. In der Einführung zu diesem zweiten Teil notiert Greenblatt
einleitend und zugleich zusammenfassend:
Die Produktion und Eindämmung von Subversion und Unordnung spielt in den
Dramen Shakespeares wiederholt eine zentrale Rolle, und die drei Praktiken,
die ich in Harriots Text herausgearbeitet habe – Überprüfen, Dokumentieren,
430 Anna Warakomska

Erklären –, besitzen alle ihre dramatischen Entsprechungen, vor allem natürlich


in den Stücken, die sich mit Konsolidierung der Staatsmacht beschäftigen. Solche
Entsprechungen finden wir nicht nur bei Shakespeare; ihre weite Verbreitung
ist vielmehr ein Anzeichen für eine breite institutionelle Aneignung, die unter
anderem dem Theater seine Vitalität verleiht. Den elisabethanischen Schauspiel­
gesells­chaften ist es gelungen, einen Teil der für die politischen Autoritäten
grundlegenden Energien zu vereinnahmen, umzugestalten und für ihre eigenen
Interessen zu benutzen. Insofern die politischen Autoritäten sich der theatralischen
Darstellung bedienten, boten sie sich der Aneignung durch das Theater förmlich
an (Greenblatt 1990: 42).

Die besagten Mechanismen sind demzufolge ein integrales Element des


sozialen Lebens, vorhanden in seinem stricte politischen Bereich, ange-
eignet jedoch auch von der Kunst. Wichtig erscheint darüber hinaus die
Betonung der gegenseitigen Beeinflussung dieser Sphären, die definitiv auf
das gesellschaftliche Kräftemessen hinausläuft und bei Greenblatt in dem
Fazit mündet: Die Macht gehöre demjenigen, der über die Ausübung der
Einbildungskraft gebieten und daraus Gewinn ziehen kann (Greenblatt
1990: 87).
Im Folgenden werden diverse Details aus dem Bericht und Heinrich IV
verglichen, etwa Redefiguren und überhaupt die Funktion der Sprache bzw.
ihr Gewicht bei der Formung der zu gestaltenden Kommunikation, die zur
Machtgewinnung verhelfen soll. Harriots Dokumentieren der Ausdrücke
der Einheimischen wird annährend zum Prototyp eines Wörterbuchs erklärt,
das künftig zur Konsolidierung der Oberhoheit der Engländer in Virginia
verhelfen sollte. Die Parallelen zu Shakespeares Drama werden in Harrys
Bemühen gesehen, sich den Kneipenjargon anzueignen, um künftig über die
Untertanen erfolgreicher zu gebieten. Eine etwaige Absurdität von Bildung
solcher Analogien, z. B. in der Art: das Drama von Shakespeare sei kein
Werbetraktat für potenzielle Kapitalanleger in einer Kolonialgesellschaft
und für den Dramatiker spielten, wenn überhaupt, dann vorzüglich nur die
Werte des Theaters eine Rolle (Greenblatt 1990: 47), verwirft der Autor
mit guten Argumenten. Er betont u. a.:
Indes, selbst theatralische Werte existieren nicht im luftleeren Raum privilegierten
literarischen Stils oder textueller, wenn nicht gar institutioneller Selbstbezogenheit.
Obschon von hölzernen Wänden umgeben, war Shakespeares Theater weder
von den sozialen und ideologischen Kräften außerhalb isoliert, noch war es
deren bloßer Reflex; das elisabethanische und jakobische Theater war vielmehr
selbst ein gesellschaftliches Ereignis, das in Wechselwirkungen mit anderen
gesellschaftlichen Ereignissen stand (Greenblatt 1990: 47).
Plenarvorträge 431

Diesen anderen gesellschaftlichen Ereignissen geht Greenblatt auch in


seinen übrigen Schriften nach. Das spätere Buch Will in the World (hier
2007), das als eine besondere Biografie des Dichters von Stratford zu lesen
ist, präsentiert unheimlich viele Beispiele erwähnter Wechselwirkungen.
Der Autor untersucht hier außer literarischen Texten von Shakespeare
auch bereits vorhandene Lebensbeschreibungen, Briefe Shakespeares
Zeitgenossen, Einträge in den Städte- und Gemeindechroniken, künstle-
rische Entwürfe anderer Autoren und übrige geschichtliche Inhalte, die
für die untersuchten Gegenstände der Renaissance-Zeit von Belang sein
könnten. Die Fülle des erforschten Materials und eine brillante Erzählung
ergeben eine zwar abwechselnde jedoch zusammenstimmende und darü-
ber hinaus unglaublich spannende Auffassung vom Dichter, von seiner
geistigen Arbeit und Konstellationen, in denen er agierte. Als eine der
wichtigsten Thesen dieser Abhandlung kann die von der Allgegenwart der
Volkskultur in zahlreichen Anspielungen wie auch in der Grundstruktur des
Werkes von Shakespeare betrachtet werden (Greenblatt 2007: 34). Die
prägnanteste Rolle sollen dabei persönliche Erfahrungen des Dichters ge-
spielt haben, auch die Gabe, Worte Fremder sich anzueignen und in ihnen
das zu entziffern, was andere oft überhört haben.
Greenblatt erzählt etwa von den Erfahrungen des minderjährigen
Williams in der Schule, wo zu seiner Zeit Latein aus Erasmus` Schrift
De duplici copia verborum et rerorum den Jungen beigebracht wur-
de. Der Unterricht bestand aus todmüder Wiederholung bzw. peinlichen
Umformulierungen des gleichen Stoffes. Man erlernte z. B., wie die latei-
nische Entsprechung einer Briefbedankung auf über hundert diverse Weisen
zu bilden wäre. Diese Übungen waren gehasst und wurden oft ausgelacht.
Auch Shakespeare soll sie verhöhnt, andererseits aber Ähnliches in seiner
künstlerischen Arbeit ausgenutzt haben. Exemplarisch nennt der Forscher
das Sonett 129, in dem Synonyme für menschliche Schwächen wucherisch
gehäuft werden.
Des Geistes Sturz in unermeßne Schmach,
Das ist die Tat der Lust, und bis zur Tat
Voll Mord und Meineid, Blut und Ungemach,
Wild, maßlos, grausam, roh und voll Verrat;
Verachtet schon, wenn eben noch begehrt,
Sinnlos gejagt, und endlich, wenn errungen,
Sinnlos verflucht, ein Köder, der, verzehrt,
Mit Tobsucht jeden schlägt, der ihn verschlungen;
Toll im Verlangen, im Besitze toll,
Habend gehabt, in Habbegierde wild,
432 Anna Warakomska

Süß im Genuß, genossen qualenvoll,


Vorher ein Glück, ein Traum nur, wenn gestillt;
Das weiß die Welt, doch keiner weiß zu fliehn
Die Himmelswonnen, die zur Hölle ziehn (Shakespeare 2012: 129).

Die Quellen für eine derartige Leidenschaft im Ausdruck sieht Green­


blatt eben in Lateinstunden des jungen Shakespeares (Greenblatt 2007:
19). Es werden aber auch andere Verweise auf die Zusammenhänge zwi-
schen seinen schulischen Lektüren und den späteren Dramen hergestellt
(Greenblatt 2007: 20).
Ein nächstes Beispiel des angenommen Austausches zwischen realen
Erlebnissen, (persönlichen Begegnungen, Gehörtem oder Gelesenem) und
den künstlerischen Entwürfen von Shakespeare bilden seine Erfahrungen
aus dem Schultheater sowie Auftritte vieler beruflichen Theaterkompanien,
die er in seiner Jugend sah.
Das theatralische Leben blühte im heimischen Stratford-upon-Avon und
in der Umgebung der Stadt. Jährlich wurden dort Feste und Feierlichkeiten
veranstaltet, an denen nicht nur reisende Theatertruppen, sondern auch un-
erfahrene Mitglieder verschiedener Zünfte beteiligt waren und verkleidet
kürzere oder längere Aufführungen inszenierten (Greenblatt 2007: 23ff).
Shakespeare soll sie mehrmals erlebt haben, jedenfalls weist Greenblatt
vielerorts auf interessante Verbindungen zwischen diesen damaligen
Volksbühneproduktionen und Shakespeares Dichtung hin. Er nennt etwa
Entlehnungen komischer Namen aus alten Stücken, die nicht nur die
Helden, sondern zugleich symbolisch ihre Charaktere bzw. eigenartige
Tätigkeiten bezeichneten, etwa Jane Nightwork für eine Prostituierte oder
Fang für einen Gerichtsaufseher (Greenblatt 2007: 27).
Tiefgründig werden ferner die Reise der Königin Elisabeth I. auf die Burg
Kenilworth 1575 sowie die damit verbundenen theatralischen Darbietun­gen
geschildert. Robert Dudley, ein Favorit der Monarchin, wollte sie würdevoll,
aber auch unterhaltend empfangen und bewilligte eine Theatervorstellung,
die von den Bürgern aus Coventry unter Führung eines Maurers vorberei-
tet wurde und an den Sieg über die Dänen erinnerte. Den genauen Verlauf
der Vorbereitungen, Probleme mit eventueller Genehmigung sowie den
Inhalt und seine Realisierung entnimmt Greenblatt aus dem Brief eines
Kleinbeamten namens Langham.
Unter vielen Details berichtet Langham über einen riesigen mecha-
nischen Delphin, der auf den Gewässern eines Sees schwimmen und in
seinem Bauch eine Gruppe Musiker umschließen sollte. Auf dem Rücken
dieses Wesens soll ein Sänger gesessen und den legendären Dichter Arion
Plenarvorträge 433

dargestellt haben. Da der Schauspieler am Tag der Theatervorstellung hei-


ßer war, entschuldigte er sich während des Auftritts beim Publikum, ließ
seine Maske fallen und sagte, er sei kein Arion, sondern schlichter Harry
Goldhingam, was aber der Königin gefallen haben soll. Diesen Vorfall
oder zumindest die Gestalt des Sängers auf dem Rücken eines Delphins
sieht Greenblatt transponiert in viele Stücke von Shakespeare, z. B. als
einen subtilen Wink in Was ihr wollt oder etwas mehr ausgearbeitet in
Sommernachtstraum (Greenblatt 2007: 40-45). In dieser letztgenannten
Komödie wird sogar eine Parodie einer unbeholfenen Theatertruppe darge-
stellt, deren ein der Mitglieder sich als Zimmermann entpuppt (Greenblatt
2007: 44). Es bleibt nur die Frage offen, ob der Dichter die Ereignisse auf
Kenilworth selbst gesehen, von ihnen gehört oder gelesen hat. Die Vorlage
erscheint in diesem Fall als evident.
Die Lebenserfahrungen Shakespeares und ihre Transformation in sei-
nen künstlerischen Werken zeigt Greenblatt auch an anderen Beispielen.
Er erwähnt die berufliche Tätigkeit sowie religiöse Überzeugung des Vaters
von William, um auf die Quellen eines spezifischen Vokabulars in seinen
Dramen hinzuweisen (Greenblatt 2007: 66ff). Erforscht werden ferner der
Anspruch der Familie auf Adeligkeit und ein Familienwappen sowie ent-
sprechende Stellen in der Komödie der Irrungen, König Lear, Der Sturm,
Das Wintermärchen, in denen sehr intensiv Motive ausgetragen werden, die
mit Verlust sowie Wiedererlangung des Vermögens, Titels oder der Identität
zusammenhängen (Greenblatt 2007: 75). Greenblatt deutet diese Intensität
als eine persönliche Belastung Shakespeares.
Analog erblickt der Forscher auch den Grund für die Ironie Shakes­
pearischer Dichtung in außerliterarischen Erlebnissen. Als wesenhaf-
tes Argument fungiert hier der geistige Chaos während des mehrfachen
Glaubenswechsels in der Gesellschaft zu Tudors Zeiten. Greenblatt be-
merkt diesbezüglich:
Den Menschen aus der Generation von Mary und John Shakespeare musste die
Welt als ein seltsamer Ort erscheinen, unruhig und gefährlich. Zu ihren Lebzeiten
wechselte England von höchstkonservativem Katholizismus – in den 20er Jahren
des 16. Jahrhunderts attackierte Heinrich VIII dreist Luther, wofür der Papst ihn
mit dem Titel des `Glaubensverteidigers` auszeichnete – zum Katholizismus,
zu dessen Haupt sich der gleiche König erklärte, folgend zum unsicheren,
vorsichtigen Protestantismus, der sich in einen radikalen umgewandelt hat, später
noch einmal zum wiedergeborenen, kämpfenden Katholizismus und schließ­
lich, unter Regierung von Elisabeth, erneut zum Protestantismus. Keiner der
jeweiligen Machthaber huldigte dem Toleranzprinzip; jeder Wechsel wurde von
434 Anna Warakomska

Verschwörung, Verfolgung, Folter, dem Beil des Henkers und Scheiterhaufen


begleitet (Greenblatt 2007: 86, übersetzt von A.W.).

Greenblatt macht in diesem Zusammenhang aufmerksam auf die Reise


Shakespeares nach London und den schrecklichen Anblick bei der Ankunft,
der jeden Passanten damals wohl abschrecken musste, nämlich die abge-
schnitten Köpfe der rebellierenden Adeligen und Aristokraten, die sich dem
religiösen Willen der Regierenden nicht unterordnen wollten (Greenblatt
2007: 163). Früher weist er auch auf familiäre bzw. nachbarschaftli-
che Verwicklungen des Bekanntenkreises von Shakespeare in strafbare
Aktionen hin (Greenblatt 2007: 144ff). Erörtert werden ferner mögliche
verbotene Lektüren des Dichters, die er in seinen Dramen verwertet haben
soll, z. B. die Schrift Über Gebet und Meditation von Luis von Granada,
deren eschatologische Überlegungen über den Leichnam an einen Dialog
aus Hamlet erinnern (149). Diese gedankenreichen Untersuchungen samt
der präzisen Darstellung möglicher Szenarien, die sich zu Shakespearezeit
ereignet haben konnten, münden im Fazit, dass der Dichter nie deutlich
von seinen politischen, religiösen und ästhetischen Ansichten sprach,
weil er im privaten Leben sehr früh die Notwendigkeit der Vorsicht,
Diskretion und Verstellung erkannte und sich dann in der Dichtung da-
ran hielt (164). Seine Werke, auch wenn sie solche heiklen Themen an-
sprechen, sind immer sehr ausgewogen, wenn es um die Balance zwischen
Subversion und Affirmation in jeder Hinsicht geht. Die Meisterschaft im
gefährlichen Spiel der Machtbejahung und Negation zeigt Shakespeare
in seinen Dramen politischen Inhalts, während die menschlichen Triebe,
die in gleicher Weise als binäre Oppositionen konzipiert werden, in allen
Stücken verstreut sind. Dies macht aus allen eine Kunst von universellem
Ausmaß und aus Shakespeare nicht nur einen genialen Künstler, sondern
auch einen Lebenskünstler. Daher erscheint die Feststellung Greenblatts
aus Verhandlungen mit Shakespeare, Theatralik stehe nicht in Opposition
zur Macht, sondern sei eine ihrer wesentlichen Erscheinungsformen
(Greenblatt 1990: 48) als ein zutreffender Befund sowohl in Bezug auf
die Öffentlichkeit (Wechselwirkungen zwischen Theater und Herrschaft der
Regierenden), wie auch auf das persönliche Leben des Dichters.
Zusammenfassend soll betont werden, dass Greenblatts Untersuchungen
dank ihrer akribischen Form der Textanalyse sehr scharfsinnig an er-
forschte Inhalte herangehen. Die Einbeziehung anderer außerliterarischer
Texte und die Prüfung der Wechselwirkungen zwischen allen bereichert
die Lektüre enorm, auch wenn der Autor vielerorts gezwungen ist, den
Gebrauch vom heiligen Konjunktiv zu machen. Seine Überlegungen stel-
Plenarvorträge 435

len viele anscheinend richtige Meinungen in Frage und ermöglichen sehr


gewagte Reflexionen über die besprochenen Themen. Sie beleben darü-
ber hinaus textuelle Zeugnisse der Vergangenheit und tragen zugleich zum
besseren Verständnis des Kulturprozesses bei. Daher scheint seine Praxis,
der Textinterpretation von Vorteil zu sein. Es werden aber auch Stimmen
negativer Kritik bezüglich seiner Methode vernommen.
Aus der neo-marxistischen Perspektive wird etwa beanstandet, Green­
blatts Modell entkräfte die Autonomie des Subjekts, indem es eine zu gro-
ße Rolle der Macht als einem menschenunabhängigen Mechanismus zu-
weist. Diese Interpretation sei mit der Flucht vor politischem Engagement
gleichzusetzen (Schössler 2006: 90). Hans Robert Jaus bemängele das
Innovative an diesem Projekt und bezeichne den New Historicism als
Neuauflage der Hermeneutik (vgl. ebenda). Es sei hier an den mit der
Relativismus- bzw. Methodenpluralismusdebatte verbundenen Eklat erin-
nert, der schon zum Beginn des 20. Jahrhunderts von Belang war und die
Hermeneutik in Schwierigkeiten setzte. Werner Jung weist auf Ähnliches
am Beispiel von Simmels Werk hin und deutet seine interpretatorische
Methode u. a. folgendermaßen:
Das Werk löst sich in eine Vielfalt von Deutungsmöglichkeiten auf, es ist ein
X, das immer wieder neu zu bestimmen ist, wobei es keine fixe Bestimmtheit,
sondern nur asymptotische Bestimmungen gibt. Die Frage nach der Intention des
Schöpfers ist die am wenigsten interessante aller Fragen, man kann sie divinieren
oder nicht; was wir erreichen können/sollen bei unserer Interpretation, ist vielmehr
unser eigenes Selbst-Verstehen, wozu das Werk uns allererst den Anlaß und seine
Struktur ein Schema an die Hand gibt, das wir – rückblickend auf die Historie und
vorblickend auf unsere eigene Situation – auszufüllen haben (Jung 1990: 164).

Unter den oft wiederholten Vorbehalten wird auch der Vorwurf der
Omnipotenz und Anmaßung des Interpreten erhoben, den man genau ge-
nommen allen Interpreten bei der Anwendung kulturwissenschaftlicher
Modelle machen kann. Dieser Einwand wird treffend von Neumayer prä-
sentiert und zugleich mit Bedacht beantwortet:
Nun sind kulturwissenschaftliche Ansätze in den Philologien nicht unumstritten.
Ein kritischer Vorbehalt lautet meist: Die Ausweitung des Materials ins Unendliche
führe zu einem Verlust des eigentlichen Gegenstandes der Literaturwissenschaft
und beinhalte auf der Seite des Interpreten eine Anmaßung von Allkompetenz […]
Diese Einwände treffen nur bedingt zu. Gerade das Beispiel Greenblatts macht
deutlich, daβ er mit eben der Kompetenz, die ihm als Literaturwissenschaftler
eignet, die nicht-literarischen Texte liest – er untersucht Figuralität, Rhetorizität
und Narrationsweisen dieser Texte. Und das Beispiel Greenblatts veranschaulicht,
436 Anna Warakomska

daß kulturwissenschaftliche Analyse nicht in einer bloßen Materialanhäufung


besteht, sondern v. a. eine andere als werkimmanente Lektüre literarischer Texte
forciert – eine Lektüre, die auf den Beitrag der Literatur zum Funktionieren eines
historisch variablen, kulturellen Codes zielt (Neumayer 2004: 182).

Diese Worte erscheinen insbesondere nach der Lektüre der Interpreta­


tionen und Forschungsarbeiten von Greenblatt sehr überzeugend. Aber über
die bereits vorgeführten Anfechtungen hinaus könnte man einwenden, dass
auch die geistreichsten Reflexionen über zwischentextuelle Bezüge und ei-
nen potenziellen Austausch zwischen den Texten der Kultur nur zufällig
sein und zur Überinterpretation führen können, was bereits in den 90er
Jahren in der berühmten Auseinandersetzung zwischen Eco, Culler, Rorty
und Brook-Rose erörtert wurde (Eco 2008).
Obwohl die Möglichkeit einer inadäquaten Interpretation des Textes im-
mer besteht, hütet sich jedoch der New Historicist davor durch die Distanz
auch der eigenen geschichtlichen Lage gegenüber. Er ist sich dessen be-
wusst, dass er fremde Überzeugungen, Pläne, Unternehmen durch die
dem Interpreten spezifische Intentionen filtern kann, er bleibt also kritisch,
aber auch selbstreflexiv. Diese Mahnung wurde am besten durch Louis
Montrose in dem berühmten Chiasmus ausgedrückt, der sowohl die ver-
traute Geschichtlichkeit von Texten wie auch gleichzeitig die Textualität
von Geschichte hervorhebt und der zur kanonischen Definition des New
Historicism geworden sei (Bassler 2003: 135):
Die poststrukturalistische Ausrichtung auf Geschichte, die jetzt in der Literatur­
wissenschaft aufkommt, kann mit einem Chiasmus bezeichnet werden als ein
reziprokes Interesse an der Geschichtlichkeit von Texten und der Textualität von
Geschichte (ebenda).

Literatur
Bassler, M. (2003) New Historicism, Cultural Materialism und Cultural Studies. In:
Nünning, A./ Nünning, V. [Hg.] Konzepte der Kulturwissenschaften. Theoretische
Grundlagen – Ansätze – Perspektiven. Stuttgart, 132-155.
Eco, U./ Rorty, R./ Culler, J./Brooke-Rose, Ch. [Hg.] (2008) Interpretacja i nadinter-
pretacja. Redakcja Stefan Collini. Przełożył Tomasz Bieroń. Kraków.
Fauser, M. (2008) Einführung in die Kulturwissenschaft. Darmstadt.
Geertz, C. (1995) Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme.
Frankfurt a. M.
Greenblatt, S. (1981) Allegory and Representation. Selected Papers from the English
Institute, 1979-80. Baltimore-London.
Greenblatt, S. (1982) Introduktion. In: Genre 15 (Sonderausgabe), Oklahoma, 3-6.
Plenarvorträge 437

Greenblatt, S. (1990) Verhandlungen mit Shakespeare. Innenansichten der englischen


Renaissance. Berlin.
Greenblatt, S. (2006) W stronę poetyki kultury. Przełożyła Marta Lorek. In: Kujawińska-
Courtney K. [Hg.] Stephen Greenblatt. Poetyka kulturowa. Pisma Wybrane. Kraków,
39-63.
Greenblatt, S. (2007) Shakespeare. Stwarzenie świata. Przełożyła Barbara Kopeć-
Umiastowska. Warszawa.
Jung, W. (1990) Neuere Hermeneutikkonzepte. Methodische Verfahren oder genia-
le Anschauung. In: Bogdal, K.-M. [Hg.] Neue Literaturtheorien. Eine Einführung.
Westdeutscher Verlag o. O.
Kujawińska-Courtney K. (2006) Stephen Greenblatt. Poetyka kulturowa. Pisma Wybrane.
Kraków.
Löwith, K. (2001) Od Hegla do Nietzschego. Rewolucyjny przełom myśli w XIX wieku.
Przełożył Stanisław Gromadzki. Warszawa.
Neumayer, H. (2004) Literaturwissenschaft als Kulturwissenschaft (Diskursanalyse,
New Historicism, ‚Poetologien des Wissens’ Oder: wie aufgeklärt ist die Romantik?
In: Nünning, A./ Sommer, R. [Hg.] Kulturwissenschaftliche Literaturwissenschaft.
Tübingen, 177-194.
Nietzsche, F. (1994) Pisma pozostałe. Przełożył Bogdan Baran. Bd. 2: 1876-1889. Kraków
Rorty, R. (2009) Przygodność, ironia i solidarność. Przełożył Wacław Jan Popławski.
Warszawa.
Schössler, F. unter Mitarbeit von Bähr, Ch. (2006) Literaturwissenschaft als Kultur­
wissenschaft. Eine Einführung. Tübingen und Basel.
Szacki, J. (1990) Historyzm a współczesne nauki społeczne. In: Kmita, J., Łasatowski, K.
[Hg.] Historyzm i jego obecność w praktyce naukowej. Warszawa, 9-25.
Shakespeare, W. (2012) Sonett 129. Übersetzt von Max Josef Wolff. In: http://gutenberg.
spiegel.de/autor/548. Stand 19.5.2012.
Anna Maria Adamczyk (Wrocław)

Nelly Sachs auf der Spur.


Rosi Wosk-Sammlung im Deutschen
Literaturarchiv Marbach1

Ein brauner Lederkoffer. 74x21x44 cm. Circa zwanzig Zentimeter län-


ger als das heutige Lufthansa-Handgepäck. Was passt hinein, wenn man
gemeinsam mit der eigenen Mutter sein beinahe fünfzigjähriges Leben da-
rin einpacken soll? Was ist einem so wichtig, dass man es unbedingt mit-
nehmen soll, auf eine Reise ohne ein absehbares Ende und eine absehbare
Rückkehr? Mit einem Hinflugticket in der Tasche?
Orientalische Teppiche, Gobelins, kostbare Ölbilder, Meißener
Porzellan, mit Brillanten besetzte Uhren oder Ketten, Brillantringe oder
Armreifen, Schmuckagraffen oder Broschen mit edlen Steinen oder
Brillanten, Silberkästen, silbernes Besteck, silberne Fruchtschalen,
Brotkörbe, Leuchter? Das alles hätte man eigentlich nehmen können, we-
nigstens den Schmuck, wenn man diese Kostbarkeiten nicht früher ge-
gen eigenen Willen hätte loswerden müssen. Ein Rokokoschlafzimmer
in italienisch Nussbaum oder ein Damensalon mit Lioner Sammet und
Seidendraperien ließen sich schwer mitnehmen … Sachs (1952: 31-32)
Was nimmt also eine einmal wohlhabende, reife Frau, Berlinerin,
„aus einem vermögenden deutsch-jüdischen Haus, in dem Goethe und
Beethoven größere Autorität besaßen als Moses und Jesaja“ Lagercrantz
(1970: 19), 1940 mit nach Schweden? Kleider, Manuskripte, Fotografien …
Die Orden des Vaters, eine Spieldose und das Oblatenalbum … Was darf

1
  Das Referat wurde angemeldet jedoch nicht vorgetragen.
Plenarvorträge 439

sie nicht mitnehmen? Vom Zollamt werden mehrere Gegenstände beschlag-


nahmt. Außer zwei Sommerkleidern, zwei Medaillen, circa hundertzehn
Bücher, zwei Lampen für Nachttische …
Eines Nachts habe ich im Katalog des Deutschen Literaturarchivs
im Internet die Rosi-Wosk-Sammlung gefunden. Als Bernhard-Zeller-
Stipendiatin hatte ich danach die Möglichkeit, in der Handschriftenabteilung
manche Bestände einzusehen. Der Gegenstand meiner Forschungsarbeit
waren handschriftliche Notizen von Rosi Wosk, die Nelly Sachs betreffen,
und andere Texte, Bilder und Objekte, die von Wosk gesammelt worden
sind. Anhand dieser Aufzeichnungen lässt sich ein persönliches und sub-
jektives Bild von Nelly Sachs, gesehen aus der Perspektive einer Nachbarin
und Vertrauten, einer persönlichen Sekretärin und einer Art Mädchen für
alles, rekonstruieren.
In dem folgenden Beitrag möchte ich sowohl die erhaltenen Prachtstücke
aus dem persönlichen Besitz von Nelly Sachs als auch die Archivalien aus
den sechziger Jahren – Aufzeichnungen aus vier Notizheften und Prosatexte
von Rosi Wosk, Briefe bzw. Karten von Nelly Sachs an Rosi Wosk, persön-
liche Aufzeichnungen von Nelly Sachs, Briefwechsel zwischen Rosi Wosk
und Alfons Spielhoff – erwähnen. In einer längeren Abhandlung ließen sich
die Einzelteile wie Puzzlestücke zu einem Gesamtbild zusammensetzen.

Die Rosi-Wosk-Sammlung
Wer war Rosi Wosk? Rose Wosk, (1916-2004), genannt Rosi, geb.
Press, Ungarin jüdischer Abstammung, Tochter eines Budapester Holz- und
Kohlengroßhändlers, noch vor der Deportation als Friseurin ausgebildet,
überlebte Auschwitz, wo sie dreimal Josef Mengele vorgeführt wurde, und
Bergen Belsen. Nach der Befreiung des Lagers durch die Amerikaner kam
sie mit einem der weißen Busse nach Schweden. 1953 zog sie mit ihrem
Ehemann Henry Wosk, einem polnischen Juden, der Auschwitz überlebte
und ebenso mit einem der weißen Busse nach Schweden gerettet worden
war, und dem damals zweijährigen Sohn Benjamin, Bertil genannt, in eine
Nachbarwohnung in Stockholm Am Bergsundsstrand 23 ein. In Schweden
hatte sie als Postangestellte gearbeitet.
„Im Laufe der Zeit entwickelte sich Rosi Wosk zu einer Art Sekretärin
und Haushälterin. Nelly Sachs schrieb ihr von Reisen oder auch aus psy­
chiatrischen Anstalten zahlreiche Briefe, widmete ihr Bücher und übergab ihr
viele Gedichthandschriften, Fotos und Briefe.“ Schaewen (2007:I) Margret
Weischer hatte über Vermittlung durch Freunde den Kontakt zu Rosi Wosk
440 Anna Maria Adamczyk

bekommen, sie hat ihr Vertauen gewonnen und sie insoweit beeinflusst,
dass die Sammlung der Nachbarin von Sachs nicht nach Stockholm, son-
dern nach Marbach in das Deutsche Literaturarchiv (DLA) gekommen ist.
Nach dem Tod von Rosi Wosk hat ihr Sohn mit dem DLA verhandelt, bis
die Sammlung 2007 endlich ihren Platz in der Schillerstadt gefunden hat.
„Erworben wurden die Fotos, Manuskripte und Briefe von dem
Deutschen Literaturarchiv in Marbach. Nelly Sachs selbst hatte die persön-
lichen Notizen ihrer Nachbarin Rosi Wosk in Stockholm gegeben, als ihr
Verfolgungswahn weiter fortschritt und sie die Sachen in ihrer Wohnung
nicht mehr sicher glaubte.“ Michael (2009)
Die Hinterlassenschaften kann man in zwei Gruppen einteilen, nach
Autorschaft oder Eigentum. Nelly Sachs gehören dann: ein sog. Poesie­
album, „Unser Paradiesgärtlein mit Schwalbengezwitscher“, Zeichnun­gen
von Blumen, ein Gedichtband mit veröffentlichten Gedichten 1929-1938
und ein damit in Zusammenhang stehender Brief von Leo Hirsch, Briefe,
Ansichtskarten an Rosi Wosk, autobiografische Aufzeichnungen, der Mutter
gewidmete Gedichte von Nelly Sachs und Gedichte der Mutter, gerichtet an
die Tochter, Porträtzeichnungen der Mutter, „Briefe aus der Nacht“ (1950er
Jahre), Aufzeichnungen aus der psychiatrischen Abteilung (1960er Jahre),
Einkaufszettel, Bestellungen für den Haushalt, ihr Testament.

„Unser Paradiesgärtlein mit Schwalbengezwitscher“


Es ist bemerkenswert, dass eine junge Jüdin eine christliche Vorstellung
des Paradiesgartens mit der Muttergottes Maria als zentraler Figur für das
Deckblatt ihres Albums wählt. „Ein Bild ziert die Deckseite. Es zeigt meh-
rere Frauen in einem ummauerten Paradiesgarten. Wie die Frauen auf dem
Bild lebte auch die Jüdin Nelly Sachs vor 1933 abgeschieden in einer heilen
Welt, sagte Aris Fioretos, ein schwedischer Autor, der zusammen mit Ulrich
von Bülow, dem Leiter der Handschriftenabteilung in Marbach, noch un-
veröffentlichte Gedichte, Fotografien, Briefe, Postkarten und Notizen der
Autorin vorstellte.“ Michael (2009) Die Journalistin Katharina Michael
bezieht sich auf eine Veranstaltung, die sog. „Zeitkapsel“, während derer
der Teilnachlass von Nelly Sachs in Marbach präsentiert wurde.
Das „Poesiealbum“ – wie das Exponat von einem Mitarbeiter des
Archivs wohl genannt worden ist – beinhaltet acht Blätter, links durchlö-
chert und mit einer goldenen Schnur zusammengebunden, die Deckblätter
sind aus grünlicher Pappe mit gemalter goldfarbener Umrahmung außen
und innen, auf dem Deckelblatt befindet sich eine aufgeklebte Karte mit
Plenarvorträge 441

der Reproduktion des mittelalterlichen Gemäldes „Paradiesgärtlein“ des


Oberrheinischen Meisters. Die Titelseite – goldfarbene Buchstaben, hand-
geschrieben oder besser gemalt, mit normalen wie gedruckten Buchstaben,
nicht mit ihrer gewöhnlichen Handschrift: „Unser Paradiesgärtlein mit
Schwalbengezwitscher“, die Seiten sind verziert mit verschiedenen ge-
trockneten Blumen oder Blüten. Es ist wohl das einzige Stück in der
Rosi-Wosk-Sammlung, das duftet. Schwarz-weiße Fotos von Pflanzen im
Garten, verziert mit den identischen getrockneten. Eine Art Collage. Was
über die Jahre bleibt, ist eben der Duft. Ein schwarz-weißes Foto von Nelly
Sachs mit hellem, vielleicht sogar weißem Hut mit schwarzer Schleife, ein
helles Sommerkleid, wohl getupft, das Muster ist sehr fein und dicht, mit
Rüschen, und einer Art extra Kragen, weiß, am V-Ausschnitt, ellenbogen-
lange Ärmel und eine Perlenkette, hockend oder auf einem Knie kniend,
zwischen den blühenden Rosenstöcken, im Hintergrund eine Eingangstür.
Ihr Alter auf den Fotos ist schwer einzuschätzen. Dazu ein frühes Gedicht
„Dornröschen“. Ein anderes Foto, in amerikanischer Einstellung, vom Knie
aufwärts, vor demselben Haus, ohne Hut, in demselben Sommerkleid, mit
rabenschwarzem Haar, mit Scheitel in der Mitte und einer Rose in der rech-
ten Hand. Über ihr Zweige mit dunklen Blättern. Auf den beschriebenen
Blättern sieht man Spuren von Bleistift, mit dem sie vorher sorgfältig gera-
de Linien gezogen hatte und dann ausradiert, damit die Schrift nicht schief
ausfällt. Manche getrockneten Pflanzen sind nicht nur eingeklebt, sondern
auch noch zusätzlich mit dünnen silbernen – vielleicht aus Alufolie – oder
goldenen Streifen festgeklebt.
Neben und nach den Zeilen mit einfachen Gedichten sind im Album zart
blühende, getrocknete Heidepflanzen eingeklebt, in der Mitte des Blattes
ist ein Foto zu sehen, auf dem dieselben im Garten zu sehen sind. Auf den
nächsten zwei auch in der Mitte des Blattes platzierten Fotos sieht man
verschiedene Pflanzen, deren „Proben“ in getrockneter Form daneben zu
sehen sind.
Nelly Sachs muss eine besondere Vorliebe für Pflanzen und ihren Garten
gehabt haben. Dazu war sie noch eine begnadete Zeichnerin oder Malerin,
die gern Blumen verewigt hat. Der Garten ihrer Eltern war ihr kleines
Paradies, das sie mit in die Fremde genommen und auf diese Weise gerettet
hat.
442 Anna Maria Adamczyk

Blumenzeichnungen
Acht Blätter, dickeres Papier, leicht vergilbt, Bilder sind mit „N.S.“
signiert. Nelly Sachs skizzierte zuerst leicht mit einem Bleistift, dann
füllte sie die Konturen mit Aquarellfarben, es sind eigentlich lavierte
Zeichnungen, deren Konturen stark mit einer farbigen Linie markiert sind.
Die Bilder sind immer mit einer leichten Bleistiftlinie umrahmt, als ob sie
für ein Passepartout vorgesehen wären.
Es sind keine Blumensträuße, sondern freie Kompositionen, die sehr
stark an das „Poesiealbum“ mit getrockneten Pflanzen erinnern. Gepflückte
Pflanzen: Veilchen mit Wurzeln und einem dreiblättrigen Kleeblatt, jede
Blüte „schaut“ in eine andere Richtung, jede Blüte ist in einer anderen
Blütephase, was dem Bild Leichtigkeit und Schwung gibt.
Auf der anderen Zeichnung sind schon mehrere unterschiedliche
Pflanzen zu sehen, diesmal auch nicht zusammengebunden, sondern lose
nebeneinandergelegt. Die Komposition hat aber mehrere Stufen und ist de-
taillierter gemalt. Die zierlichen, länglichen Ziergräser, die rechts in die
Höhe steigen, links wohl ein Vergissmeinnicht, das auch hochrankt, in der
Mitte schön ausgearbeitete, horizontal platzierte, schwungvolle Blätter
und unten rechts zwei kleine, längliche Blütentrauben. Oder weiß-gelbe
Blütenkörbchen der Kamille, mit violafarbenen Glöckchen und gelben
Sumpfdotterblumen einfach nebeneinander. Sehr elegant und edel wirkt
eine sehr treue Abbildung der Löwenzahnblüten, -knospen und -blättern
und starken, ausgeprägten Stielen. Frisches, sattes Grün in verschiedenen
Tönen und Stärken, das ins leicht Bräunliche übergeht und das tief sonnige
Gelb machen aus dem Unkraut ein kleines Meisterwerk.
Wenn wir annehmen, dass die Zeichnungen, wie das sog. „Poesiealbum“
aus der Berliner Zeit stammen, wie wichtig müssen sie für Nelly Sachs
gewesen sein, wenn sie sie behalten, aufbewahrt und mit auf die Flucht
genommen hat – in einem Koffer für zwei Personen.

Gedichte aus der Berliner Zeit


Außerdem, was ein Unikum ist, finden wir unter Rosi Wosk anvertrauten
Schätzen einen Band mit einem Leinenrücken und Leinenrändern in edlem
Braun, das Deckblatt ist in Braun- und Grautönen gehalten, die ineinan-
der überfließen, innen mit einem Wachspapier ausgelegt wie ein Buch von
einem professionellen Buchbinder fachlich gebunden. Es hat Kriegswirren,
viele Umzüge von Nelly Sachs und ihre Exilzeit überstanden. Auf den rech-
Plenarvorträge 443

ten Seiten, in der Mitte platziert, finden wir aus verschiedenen Zeitungen
ausgeschnittene 15 – eigentlich 14 Texte, ein Gedicht erschien in zwei
Zeitungen–Gedichte von Nelly Sachs vom 18. Oktober 1929 bis zum 3.
November 1938. Die Ausschnitte sind nicht in chronologischer Reihenfolge
eingeklebt. Interessant ist, dass bei manchen Texten rote Markierungen
zu sehen sind – wie bei den Notizen von Rosi Wosk – „Leise Melodie“
(„Die Rehe“, oder an einer anderen Stelle „Rehe“, „Grabschrift“, ein an-
derer Titel, auf dem beigelegten Typoskript „Inschrift auf die Urne meines
Vaters“). Nelly Sachs hatte mehrmals betont, dass sie sich wünschte, dass
ihre noch in Deutschland entstandenen Dichtungen in Vergessenheit ge-
raten und als unwichtig gelten. Für sie persönlich blieben sie doch wich-
tig, wenn sie ihnen einen solchen Rahmen verlieh und sie mit auf ins Exil
nahm. Als eine Art Ergänzung zum Band kann ein undatierter Brief von
Leo Hirsch, einem jüdischen Berliner Verleger, betrachtet werden, der sich
ebenso in der Sammlung befindet. Er teilte Nelly Sachs mit, dass er vor-
hatte, ihr Gedicht „Wenn wir schlafen gehen“, mit einigen Korrekturen und
einem neuen Titel „Nachtlied“ zu veröffentlichen, in der Version sei es für
ihn ein ganz geschliffener Diamant gewesen.

Mütterchen und Püppchen


Eine Geburtstagskarte datiert auf den 9. Juni 1943, handgemacht. Auf
einem weißen Blatt ein getrocknetes vierblättriges Kleeblatt aufgeklebt,
darunter Zeilen mit Füller und schwarzer Tinte geschrieben. Ein inniges
Gedicht, in dem Nelly, Lichen genannt, ihre Liebe und Dankbarkeit der
Mutter gegenüber äußert. Interessant ist die Bezeichnung des Ortes, wo
das Gedicht und die Karte entstanden sind. Die Autorin nennt Stockholm
nämlich unser Paradies.
Undatiert eine andere selbst gemachte Karte aus Blütenpapier mit
dem aufgeklebten getrockneten vierblättrigen Kleeblatt, mit den besten
Wünschen für die Mutter. Hervorgehoben wird wiederum das schöne
Schwedenland, in dem die Tochter der Mutter noch viele glückliche Jahre
in Frieden und Freude wünscht, und die diminutive Selbstbezeichnung
Püppchen klingt in diesem Zusammenhang eher gewöhnungsbedürftig,
Töchter bleiben für Mütter aber manchmal eben kleine Mädchen. Die in-
nige Beziehung, die die Mutter im fortgeschrittenen Alter mit ihrer über
fünfzigjährigen Tochter verbindet, ist einmalig. Jahrzehnte lang blieben sie
immer zusammen.
444 Anna Maria Adamczyk

Das Vierblättrige Kleeblatt gilt als ein Glückssymbol. So heißt es, dass der Besitzer
eines vierblättrigen Kleeblattes ein Stück vom Paradies besitzt.
(http://de.wikipedia.org/wiki/Gl%C3%BCcksbringer#Vierbl.C3.A4ttriges_
Kleeblatt)
Da vierblättrige Kleeblätter in der Natur extrem selten sind, braucht man
viel Glück, um solch ein Blatt zu finden. Nach einer Legende nahm Eva ein
vierblättriges Kleeblatt als Andenken mit, als sie aus dem Paradies vertrieben
wurde. Sie wollte wenigstens etwas bei sich tragen, das sie immer an die glückliche
Zeit im verloren gegangenen Paradies erinnern sollte. So kam es, dass in der
Folgezeit ein vierblättriges Kleeblatt als gutes Omen angesehen wurde. Deshalb
glauben manche auch: Wer eines findet, hält ein kleines Stück vom Paradies in
den Händen. (http://www.blumenpaule.de/legende-vierblaettriges-gluecksklee)

Zwei Bleistiftskizzen, das erste en face, nur das Gesicht, ohne Hals,
das Oval verwischt mit dem Finger, schattiert, akzentuiert sind die großen
Augen und die hochgesteckte Frisur, vielleicht ist das eine Zeichnung nach
einem Foto. Daneben rechts eine Skizze des linken Profils mit einer ande-
ren Frisur, Haare mit wenigen Linien angedeutet, was auffällt, ist die große
Nase. Die Zeichnungen erinnern stark an die Fotos aus der schwedischen
Exilzeit.
Texte auf abgerissenen Teilen von Zetteln geschrieben, die man nicht
mal Briefe nennen kann, ohne Datum, ohne Ort, manchmal kleiner als
Einkaufzettel. Zusammengefaltet, damit sie noch kleiner sind. Aus welcher
Zeit stammen sie? Berlin, als Nelly Sachs Teenagerin war? Wie wichtig
müssen sie für Nelly Sachs gewesen sein, wenn sie sie bis zu ihrem Tode
behielt. Die Tochter wird mit „mein Liebstes, mein Püppchen“, angespro-
chen, größter Schatz genannt und unterschrieben: „ewig Dein Mütterlein“,
oder „Mütterchen“.

Einkaufszettel und Aufträge für Rosi Wosk


Es ist eine erstaunliche Sammlung. Wer rechnet schon damit, dass
eine Person, eine nette Nachbarin von nebenan, alte Einkaufszettel oder
Bestellungen anderer Art sammelt, statt sie in den Papierkorb hineinzu-
werfen, nachdem sie sie erledigt hat? Es sind Zettel, herausgerissen aus
verschiedenformatigen Notizheften, manche vergilbt, manche noch ganz
weiß. Vier sind Kärtchen mit Löchern aus einem kleinen Kalender-Ordner
(17. Januar 1967, 4. Mai 1967, 23. März 1968, eins wohl ein Deckelblatt
ohne Datum). Die Mehrheit ist von Nelly Sachs per Hand geschrieben, ein
paar sind getippt, egal ob das ein DIN-A4-Format ist oder ein winziger
Zettel. Auf Einkaufszetteln tauchen verschiedene Produkte oder Artikel
Plenarvorträge 445

auf. Manche scheinen zum alltäglichen Menü von Nelly Sachs zu gehö-
ren, wie der „Hit“ Artikel Nr. 1 Nescafé koffeinfrei. Obst, wie Apfelsinen,
saftige Zitronen, Weintrauben. Wurstwaren, Käse, Süßigkeiten und auch
Tabakwaren und Alkohol. Was jedoch noch öfters auf den Listen erscheint,
sind verschiedene Büroartikel, Postkarten und Briefmarken. Nelly Sachs
brauchte auch Medikamente und Kosmetika.
Was jedoch in der seltsamen Sammlung am wichtigsten zu sein scheint,
ist Wosks Vorname auf den Zettelchen.
Interessant ist ein sehr sorgfältig geschriebener Zettel, mit den
Sachen, die Nelly Sachs wohl auf eine Reise mitnehmen wollte oder ins
Krankenhaus, was wahrscheinlicher, und wegen der dazu geschriebenen
Lage in der Wohnung logischer gewesen wäre. Es waren Sachen, die ihr
Rosi Wosk mitbringen sollte. Nelly Sachs lebte alleine in einer kleinen
Wohnung, wo alles anscheinend seinen festen Platz hatte. Es sind drei
rechts oben nummerierte kleine, viereckige, längliche Zettel: Unter „weiße
Reisetasche, alles mitnehmen“, stehen u.a. – manches ist nicht lesbar –
sowohl Gegenstände für den persönlichen Bedarf, Kleidungsstücke,
Kosmetika, Medikamente, Schreibartikel, Ansichtskarten und Briefmarken
u.a., als auch Aufträge oder Aufgaben für Rosi, wie die Post nachzusenden,
im Eisschrank alles anzufassen oder nicht zu vergessen, das Schloss zu
sichern. Manche Zettelchen sind auf Deutsch, andere auf Schwedisch, es
gibt auch Zetteln in beiden Sprachen.

Rosi Wosk und ihre Aufzeichnungen


Allerdings gibt es nicht selten Dokumente, die aus Sicht der
Auktionshäuser wenig wert sind, aber für die Forschung von großem
Interesse sind, wie etwa die Tagebuchaufzeichnungen von Rosi Wosk über
ihre Begegnungen und Gespräche mit Nelly Sachs. Schaewen (2007) – stellt
Ullrich von Bülow, Leiter der Handschriftenabteilung in Marbach fest.
Das erste Notizbuch wurde zwischen 22.1.1946 und 5.5.1946 auf
Ungarisch geschrieben. Da die Autorin Nelly Sachs damals noch nicht
kannte, berücksichtige ich den Inhalt dieser Aufzeichnungen in meinem
Beitrag nicht. Interessant können jedoch grafische Details dieser Zeit er-
scheinen. Im ersten Notizbuch ist auch ein loses Blatt mit der Aufzeichnung
vom 1. März ohne Jahresangabe zu finden, auf dem Rosi Wosks Sohn Bertil
erwähnt wird. Da er erst 1951 geboren wurde, scheint das Blatt dort zufäl-
lig hingelangt zu sein, es wurde aus einem Ringbuch herausgerissen.
446 Anna Maria Adamczyk

Das erste Notizheft von Rosi Wosk ist ein echtes Tagebuch. Es ist ein
schwarzes Wachstuchheft, liniert. Sie schreibt mit einem Füller und Tinte,
dunkelblau, am Ende des Heftes schwarz. Die Schrift ist regelmäßig, nach
rechts geneigt. Auf der Innenseite des Heftes stehen wohl ihr Mädchenname
Rozi Press und Sjä-Gunnarsbo Sanatorium und das Datum 22.1.1946 ge-
schrieben. Obwohl die Aufzeichnungen in ungarischer Sprache verfasst
worden sind, kann man schon nach der ersten Zeile feststellen, dass sie
einen persönlichen Charakter haben. Die Autorin spricht nämlich ihr
Tagebuch am Anfang an, indem sie mitten in der Zeile schreibt: Napló!
- also Tagebuch! Der Aufenthaltsort von Rosi Wosk oder hier noch Rozi
Press ist ein Sanatorium, in dem sich mehrere ehemalige KZ-Häftlinge be-
funden haben sollen. Das Sanatorium heißt Sjögunnarsbo und wurde wohl
als Sanatorium für Tuberkulosekranke gebaut, da die Luft in der Gegend
als besonders gesund galt. Mehrere ehemalige Häftlinge aus Bergen-Belsen
kamen nach der Befreiung nach Schweden und sind dort geblieben.
Wenn man das Notizbuch mit den späteren vergleicht, fallen manche
Dinge auf. Die Seiten sind anfangs ganz von links bis rechts beschrie-
ben, mit einer Schrift, die sich innerhalb des Heftes kaum verändert, alle
Zeilen sind voll, sodass es schwierig ist, das Datum zu finden, weil es keine
Freizeile zwischen den einzelnen Einträgen gibt. Erst vom 1. Februar wer-
den die Aufzeichnungen durchsichtiger durch Anwendung von der genann-
ten Freizeile. Es wird normale Zeichensetzung angewendet, was in den
nächsten Heften nicht mehr der Fall ist, schon da benutzt sie extrem lange
Pausen. Vom 19. März bis zum 1. April, der wiederum falsch als 1. März
markiert ist, schreibt sie nur auf der rechten Seite, dann bis Ende wieder auf
beiden. Da sie nur den Tag, ohne Monatsangabe notiert, erschwert es die
Lektüre und die Anordnung der Aufzeichnungen. Nirgendwo sind einzelne
Wörter oder Formulierungen rot unterzeichnet.
Es ist ein rotes Ringbuch, liniert, das zweite Notizbuch von Rosi
Wosk. Die Frage, die man sich beinahe automatisch stellen kann, ist, wa-
rum Rosi Wosk als ungarische Jüdin in Schweden ihr „Tagebuch“ auf
Deutsch schreibt, obwohl sie dieser Sprache nicht ganz mächtig ist? Für
wen schreibt sie, wenn das eigentliche Thema nur der Alltag der von ihr
betreuten Dichterin und ihre Beziehung ist? Ist sie sich damals schon des-
sen bewusst, das die Nachwelt diese Notizen gebrauchen kann? Können
ihre Aufzeichnungen, in denen über Gespräche mit Nelly Sachs berichtet
wird, überhaupt als „Tagebuch“ bezeichnet werden? Sind sie eigentlich au-
tobiografisch, also ein Selbstzeugnis, ein Zeugnis einer Beziehung oder ein
Lebenszeugnis? Wozu sind sie eigentlich entstanden?
Plenarvorträge 447

Im ganzen Heft sind manche Stellen mit einem roten Buntstift mar-
kiert. Von wem stammen die Markierungen? Von Rosi Wosk selbst? Wenn
ja, wozu hat sie das getan? Von Nelly Sachs? Wusste sie überhaupt, dass
Rosi Wosk anfangs regelmäßig, nachher sporadisch den Inhalt einzelner
Gespräche wiedergab? Interessanterweise – um es nochmals zu betonen
– gibt es keine roten Markierungen im ungarischsprachigen Heft. Dafür
jedoch im Konvolut Gedichte, dem früher besprochenen Band aus der
Berliner Zeit von Nelly Sachs. Die roten Markierungen mit einem identi-
schen Buntstift kommen auch in den Zeitungsausschnitten vor.
Vom 4. April 1960 bis zum 24. Juni 1960 schrieb sie manchmal nur auf
der rechten Seite, manchmal, wenn der Eintrag länger war, beidseitig –
z. B. 15. April 1960 – oder einfach auf beiden Seiten – z. B. 30. April links,
1. Mai und 2. Mai 1960 rechts. Auf den Leser wirkt dieses „Schreibsystem“
chaotisch. Danach muss der Leser das Heft vom Ende aufmachen und nach
der Fortsetzung suchen. Es ist eine schwierige Aufgabe, weil auf der letz-
ten Seite eine Notiz vom 13. Juli ohne Jahresangabe (1960?) zu finden ist,
und wenn man vom Ende rückwärts blättert, erscheint auf der vorletzten
Seite eine Notiz vom 21. September 1961. Ist dies ein Fehler? Ein Blatt
weiter, weiterhin rückwärts blätternd, auf der rechten Seite sind Einträge
vom 16. und 18. November 1960 zu finden, auf der Rückseite und der vor-
letzten Seite des Tagebuchs, wo unten der Eintrag vom 21. September 1961
steht, kommt die Fortsetzung. Die Einträge vom 16. und 18. November
befinden sich am Ende des Heftes auf der rechten Seite, links daneben,
aber umgedreht, auf dem Kopf, wird das Tagebuch mit dem Eintrag vom
21. November fortgesetzt. Warum dreht die Verfasserin das Notizheft
so herum? Korrigiert, übergeschrieben und durchstrichen sind manche
Tagesdaten – z. B. 22. Februar, korrigiert auf 20., oder Einträge im Januar
1961, 13. und 14. – Warum will die Verfasserin die Daten „verbessern“?
Das dritte Notizbuch sieht wie ein graues Schulheft mit einem dunk-
leren unregelmäßigen fast Tigerfellmuster aus. Im Heft sind auch
Zeitungsausschnitte aus der schwedischen Presse, DAGENS NYHETER
Onsdagen berichtet in einer kurzen Pressenotiz am 22. November 1961
von einem wichtigen Ereignis: Nelly Sachs erhielt den Nelly-Sachs-Preis
der Stadt Dortmund, der mit 10.000 DM dotiert wurde – dazu der passende
Eintrag am 22. November 1961. Die Notizen fangen an dem Tag an, an
dem sie im zweiten Heft aufhören – abgesehen von dem Eintrag vom 21.
September 1961 und jenem vom 13. Juli ohne Jahresangabe –, also am 28.
März 1961, seltsamerweise nach der Aufzeichnung vom 4. Mai 1961 lässt
Rosi Wosk acht leere Blätter und setzt wieder am 5. September 1961 fort.
448 Anna Maria Adamczyk

Zwischen den Einträgen sind immer größere Pausen, sogar von über zwei
Wochen – z. B. zwischen dem Eintrag vom 28. September und dem 13.
Oktober 1961. Das Tagebuch endet am 31. Dezember 1961.
Das vierte Notizbuch ist ein Heft, aus dem hinten Seiten herausge-
schnitten wurden und noch einzelne mit schwarzer Tinte geschriebene
Buchstaben sich erhalten haben. Das Heft hat einen ziegelorangefarbenen
Umschlag. Das fünfte Notizbuch von Rosi Wosk ist ein Ringbuch, liniert,
orangenfarben. Im Heft sind nur 10 Blätter beschrieben, manchmal beid-
seitig. Da die Aufzeichnungen nicht dort anfangen, wo die früheren aufge-
hört haben, stellt sich die Frage, gibt es noch andere Hefte oder hat Rosi
Wosk einfach in den fast fünf Jahren zwischen dem 19. Dezember 1962
und 30. Oktober 1967 überhaupt nicht geschrieben? Wenn nicht, warum
nimmt sie diese Aktivität wieder auf, sie schreibt eher sporadisch, wozu
macht sie das überhaupt? Interessanterweise schreibt sie nichts von der
Nobelpreisverleihung, die wohl das größte Ereignis im Exilleben von Nelly
Sachs war. Zwei letzte Einträge – nach dem Tode von Nelly Sachs – sind in
schwedischer Sprache verfasst.
Rosi Wosk entwickelte in ihren Aufzeichnungen ein eigenes Deutsch,
ihre eigene Sprache, in der sie wohl mit Nelly Sachs kommunizierte, wobei
sich ihre Fehler konsequent wiederholen. Manche Fehler sind mit einem
Kugelschreiber korrigiert, der eine andere dunklere Farbnuance hat. Nach
dem Vergleich von Buchstaben kann man feststellen, sie korrigierte sich
selbst. Sie machte das eher instinktiv, d. h., manchmal verbesserte sie ei-
nen Buchstaben umgekehrt falsch, das richtig geschriebene Wort mit dem
falsch geschriebenen.
Der Gegenstand der Notizen ist die Beschreibung davon, was Nelly
Sachs tut, die fast überall im Text als „Ly, die Gute Ly“, erwähnt wird.
Erst im dritten Heft wird sie zwei Mal Nelly, später auch N.S. genannt.
Die Autorin tritt im Text als Ich-Erzählerin oder Wir-Erzählerin auf. Sie
zeigt sich als eine Person, die einerseits ihre Li gern bei sich zu Hause
aufnimmt – sie bleibt nämlich öfters bei der Nachbarin über Nacht, wenn
sie wegen Wahnvorstellungen nicht einschlafen kann, andererseits findet
sie es anstrengend, sich jeden Tag dieselbe Geschichte anhören zu müssen
und möchte schon wissen, wie sich die Sache eigentlich verhält. (12. April
1960). Dabei betont sie gleichzeitig ihr Mitleid mit der leidenden Li. Sie
setzt sich wiederholt in diese zwischen Freude, Liebe und Hilfsbereitschaft
und Ermüdung, Erschöpfung und Hilflosigkeit schwankende Position.
Mehrmals schreibt Rosi Wosk, sie fühle sich erschöpft.
Plenarvorträge 449

Im zweiten Notizbuch stehen anfangs Geräusche im Mittelpunkt. Sie


gelten wohl als Halluzinationen von Nelly Sachs. Erstaunlicherweise stellt
Rosi Wosk selber fest, dass verschiedene Geräusche zu hören sind. Am
selben Tag später erwähnt sie eine Situation, die sie eine sehr merkwürdige
Sache nennt. Nelly Sachs, Eva Lisa und die Erzählerin hören Geräusche,
die an das Motorgeräusch erinnern. Eva Lisa geht auf die Treppe lauschen
und bestätigt, dass ein solches Geräusch von den Nachbarn unten kommt,
woraufhin Li die Polizei rufen will. Es scheint, dass die ganze Situation
von den beiden künstlich arrangiert ist. Rosi Wosk überlegt sich nur, was
Li eigentlich gedacht oder geglaubt hat? Sie bringt sie davon ab, die Polizei
zu rufen.
Nach den langen Stunden, während deren sich immer das gleiche
Schema wiederholt, ein Monolog über die in der Wohnung von Li dro-
henden Gefahren, der lange bis in die Nacht hinein dauert, fühlt sich Rosi
überfordert und ihre einzige Aufgabe sieht sie darin, Li zuzuhören und sie
zu beruhigen.
Das Problem vergrößert seine Dimensionen. Die Erzählerin spricht
von den Gefühlen der Dichterin, von der Verlassenheit, Entfremdung,
Einsamkeit, von besseren und schlechteren Tagen. Sie betont jedoch ab-
sichtlich ihre wichtige Rolle, welche sie im Leben der Dichterin aus ihrer
Perspektive zu haben scheint. Li behauptet, Geräusche zu hören, die für an-
dere nicht hörbar sind, was dazu beiträgt, dass sie sich in ihrer Welt verein-
samt fühlt. Rosi gibt jedoch zu, auch einen deutlichen Krach in der Nacht
gehört zu haben (17. Mai 1960). Es ist also nicht nur eine Halluzination, ein
Krankheitssymptom, sondern Wirklichkeit.
Nelly Sachs wird von Rosi Wosk zuerst nach Bromma gefahren
(20. Mai 1960), danach unternimmt sie eine Reise, was eine Pause in
den Aufzeichnungen sichtbar macht, am 17. Juni schreibt sie, dass sie Li
nach Hause vom Flughafen zurückgebracht hat. Es handelt sich um die
Verleihung des Meeresburger Droste-Preises für Dichterinnen.
Am 25. Mai 1960 fuhr Nelly Sachs mit Eva-Lisa Lennartsson nach
Zürich, wo sie u.a. Paul Celan und Ingeborg Bachmann am Flughafen er-
warteten, am nächsten Tag traf sie Paul Celan im Hotel „Zum Storchen“.
Zur Preisverleihung kam auch Gudrun Dähnert mit ihrem Mann. Daher ist
in der Rosi-Wosk-Sammlung eine Karte von Nelly Sachs zu finden, die
auch Gudrun unterschrieben hatte. Nelly Sachs unternahm eine Reise ins
Tessin zu Alfred und Gisela Andersch, von dort schrieb sie auch an Rosi
Wosk eine Ansichtskarte mit einem schönen Blick auf den Lago Maggiore.
Es scheint kaum möglich, dass ihr Nelly Sachs nach der Rückreise von
450 Anna Maria Adamczyk

einer Fahrt, die sie so glücklich gemacht hatte, nichts erzählte. Warum be-
richtet Rosi Wosk nichts darüber? Sind nur Wahnvorstellungen und Ängste
von Nelly Sachs ein gutes Thema für ihre Aufzeichnungen?
Das Sprechen – ein Sprechakt scheint für Sachs kein Kommunika­
tionsmittel zu sein, sondern eine Art Befreiung oder Therapie. Sie spricht
sich los, wenn sie sich wohl und sicher fühlt, von ihr vertrauten Personen
umgeben ist. Es ist zugleich ein Anzeichen ihrer guten Stimmung.
Manchmal führt sie einen langen Monolog, erzählt ihre Geschichte, also
Geschichte der Störungen im Haus, ohne Rücksicht auf die Gäste, die auch
mal zu Wort kommen möchten. Rosi Wosk äußert sogar ihre Meinung dazu,
indem sie feststellt, dass es ihr nicht gefallen hat, dass Li die ganze Zeit
darüber gesprochen hat (5. März 1961). Rosi Wosk kann es aber nachvoll-
ziehen, das ihre Nachbarin das Gespräch oder besser gesagt, eine Zuhörerin
braucht, damit sie sich besser fühlen kann.
Das Verhältnis Wosk-Sachs, aus der Perspektive von Rosi Wosk gese-
hen, ist ein Vorgang, der sich phasenweise entwickelt. Die Trennung von-
einander verursacht, dass sich Rosi mehr distanziert, eine Wehrmauer um
ihre persönliche Freiheit baut und manchmal fast zum Trotz etwas nicht
machen will. Dem Wiedersehen mit der Nachbarin gehen Nervosität und
Anspannung voran. Ihr Blick erschreckt Rosi sogar. Ein gemeinsames
Essen bringt eine Art Versöhnung mit.
In ihrer Sammlung gibt es einen Text, der angeblich auch von Rosi
Wosk geschrieben wurde, mit dem Titel: „Dem Menschen Nelly Sachs
zum 70. Geburtstag“. Im Deutschen Literaturarchiv befinden sich zwei
Versionen dieses Textes. Der erste ist getippt, aber mit handschriftlichen
Notizen versehen. Die Korrekturen und Ergänzungen stammen höchst-
wahrscheinlich von Nelly Sachs persönlich, was man wohl glauben kann,
wenn man die Schrift mit anderen ihren Notizen aus derselben Zeit ver-
gleicht. Aufsehenerregend ist erstens die Tatsache, dass der Text in einem
anderen Deutsch geschrieben ist als die Notizen von Rosi Wosk, obwohl
sie als Autorin von beiden gilt, zweitens nicht nur an dieser Stelle eine
Verbindung zwischen den beiden Texten besteht, Schnittstellen, die einan-
der widerstehen.
Geschichten aus den Aufzeichnungen von Rosi Wosk kann man lan-
ge aufführen… Man kann nur einfach nach ihrer Motivation fragen. Eine
Antwort wird sie uns aber heute nicht mehr erteilen.
Die Notizen von Rosi Wosk, die von ihr gesammelten Einkaufszettel,
Aufträge, das sog. Blaue Album mit Einträgen, Gedichten und
Dankbarkeitsbezeugungen von Nelly Sachs für Rosi und Bertil Wosk, aus
Plenarvorträge 451

den Jahren 1965 bis1968, könnten eine These beweisen, dass Rosi Wosk
nicht nur eine nette Nachbarin war, sondern planmäßig vorging und zu ei-
ner Art Trophäenjägerin wurde. Sie stand in Kontakt mit Alfons Spielhoff
aus Dortmund, den sie im Zusammenhang mit der Nelly-Sachs-Preis-
Verleihung kennenlernte. Schon zu Lebzeiten von Nelly Sachs fragte er
mehrmals in den in der Sammlung erhaltenen Briefen nach dem Material
für das Nelly-Sachs-Archiv in Dortmund. War Rosi Wosk der angebotene
Preis zu niedrig?

Literatur
Sachs, N., (1952) (Unsere Wohnung im Hause Lessingstraße 33). In: Sachs, N., (2010)
Werke, Kommentierte Ausgabe in vier Bänden, hrs. von Aris Fioretos, Bd. 4, Prosa und
Übertragungen, Berlin, S. 31-32.
Lagercrantz, O. (1970) In den Wohnungen des Todes. Zum Tode der deutsch-jüdischen
Dichterin Nelly Sachs von, für die ZEIT aus dem Schwedischen von Ute Fröhlich,
Freitag, den 22. Mai 1970, 25. Jg. Hamburg, Feuilleton, Zeit Nr. 21 S. 19.
Fioretos, A., Flucht und Verwandlung, Nelly Sachs, Schriftstellerin, Berlin/Stockholm,
eine Bildbiographie aus dem Schwedischen von Paul Berf, Berlin 2010, S. 110.
Fioretos, A., Ausstellungstexte, Begleitheft zur Ausstellung, in dem andere Lebensdaten
von Rosi Wosk angegeben sind – nämlich 1916-2004.
Schaewen von, O., Manche Erben verhandeln jahrzehntelang. Das Deutsche
Literaturarchiv muss beim Erwerb von Nachlässen viel Geduld aufbringen, Ein
Interview mit Ulrich von Bülow in: Marbacher Zeitung, Freitag, 28. September 2007,
Nr. 225, S. I.
http://www.dradio.de/dlf/sendungen/kulturheute/674581/ Sendung, In biografischer
Hinsicht aufschlussreich, Ulrich von Bülow über den Teilnachlass der Dichterin Nelly
Sachs Moderation: Christoph Schmitz.
Michael, K., Jenseits des Paradieses, Neues aus dem Nachlass von Nelly Sachs im
Literaturhaus, Rhein-Main-Zeitung, Frankf. – Ausgabe d.FAZ, Freitag, 24.04.2009
Sachs, N., Dokumente Poesiealbum, DLA, A: Sachs/ Wosk 10 Bl., HS.2007.0094.00112
Sachs, N. Zeichnungen, Konvolut Blumenzeichnungen, 8 Blätter, DLA, A: Sachs/ Wosk,
HS. 2007.0094.00061.
Sachs, N. Konvolut Gedichte, 1929-1937, 1 Bd., DLA, A: Sachs/ Wosk, HS.2007.0094.00042
Hirsch, L., Brief von Leo Hirsch an Nelly Sachs, Jüdischer Kulturbund in Deutschland,
Ohne Datum, DLA, A: Sachs/ Wosk, HS. 2007.0094.00093.
Sachs, N. an Sachs, Margarete 9.6.1943, DLA, A: Sachs/ Wosk, K HS. 2007.0094.00078
/1-3.
Sachs, N., Zeichnungen, „Porträt der Mutter“, DLA, A: Sachs/ Wosk, HS.2007.0094.
00060.
Sachs, M., Gedichte, „Die Blumen sie mögen Dir sagen…“, DLA, A: Sachs/ Wosk,
Manuskripte Anderer, HS. 2007.0094.00118.
Sachs, N., Verschiedenes, „Bestellungen für den Haushalt“, zusammen 72 Blätter, DLA,
A: Sachs/ Wosk, HS. 2007.0094.00066.
Sachs, N., Verschiedenes, Aufträge und Notizen für Rosie Wosk, DLA, A: Sachs/ Wosk, K
HS. 2007.0094.00065.
452 Anna Maria Adamczyk

Wosk, R. Verschiedenes, Notizbuch 22.1.1946 - 5.5.1946, ein Wachstuchheft Nr. 1, DLA,


A: Sachs/ Wosk, 07.94.113.
Wosk, R., Notizbuch 2, 4.04.1960 – 27.03.1961, 1 Ringbuch/ DLA , A: Sachs/ Wosk, K,
2007.0094.00127.
Sachs, N., Manuskripte, Gedichte, Konvolut Gedichte, 1929-1937 1 Bd., DLA , A: Sachs/
Wosk, HS.2007.0094.00042.
Wosk, R. Notizbuch 3, 28.03.1961-31.12.1961, 1 Heft mit Zeitungsausschnitten, DLA , A:
Sachs/ Wosk, HS. 2007.0094.00128.
Wosk, R. Verschiedenes Notizbuch 4: 1.1.1962 - 19.12.1962, 1 Heft Zug, DLA, A: Sachs/
Wosk, HS. 2007.0094.00129.
Wosk, R. Notizbuch 5 30.10.1967- 28.06.1971, 1 Ringbuch, DLA, A: Sachs/ Wosk, K,
HS. 2007.0094.00130.
Sachs, N. (2010) Werke, Kommentierte Ausgabe in vier Bänden, hrsg. von Aris Fioretos,
Gedichte 1940-1950, hrsg. von Matthias Weichelt, Suhrkamp Verlag, Zeittafel, Berlin,
S. 332-333.
Wosk, R. Dem Menschen Nelly Sachs zum 70. Geburtstag, DLA, A: Sachs/ Wosk,
HS.2007.0094.00123.
Sachs, N. versch. Notizen (hauptsächlich zu Gedichten, 36 beschr. Bl., z. T. im Block,
DLA, A: Sachs/ Wosk, HS. 2007.0094.00071.
Sachs, N., Manuskripte, Gedichte, Sammlung, blaue Album, DLA, A: Sachs/Wosk,
Gedichte und Dankbarkeitsbezeugungen von Nelly Sachs für Rosi und Bertil Wosk,
1965-1968, 1 Bd. HS. 2007.0094.00003.
Spielhoff, A., Briefe von an Wosk, Rosi 1961-1968, 18 Briefe, eine Karte, 24 Bl. Dabei
Spielhoff, Helma an Wosk, o.D., DLA, A: Sachs/ Wosk, HS. 2007.0094.00173, 1-19,
1969-1983, 14 Briefe, HS.2007.0094.00174.1-17.

http://www.stadt-zuerich.ch/content/kultur/de/index/institutionen/museum_strauhof/
archiv/2011/nelly_sachs/texte_bilder_pressematerial/jcr:content/mainparsys/ima-
geset_6/image1.popup.html
http://www.stadt-zuerich.ch/content/kultur/de/index/institutionen/museum_strauhof/
archiv/2011/nelly_sachs/texte_bilder_pressematerial/jcr:content/mainparsys/ima-
geset_5/image3.popup.html
http://www.vastsverige.com/sv/ulricehamn/artiklar/Tyska-artiklar/Die-Hofe-am-See/
http://www.bt.se/lasvart/folj-sparen-av-en-overlevare-fran-koncentrationslagret-till-ulri-
cehamn(1034544).gm
http://de.wikipedia.org/wiki/Gl%C3%BCcksbringer#Vierbl.C3.A4ttriges_Kleeblatt
http://www.blumenpaule.de/legende-vierblaettriges-gluecksklee
Mitgliederversammlung
des Verbandes
Polnischer Germanisten
Dr. Grzegorz Pawłowski
Generalsekretär des Verbandes Polnischer Germanisten

Protokoll über die Mitgliederversammlung des


Verbandes Polnischer Germanisten, Warschau,
25. Mai 2012, Bibliothek der Universität
Warschau, Dobra-Str. 56/66

Am 25. Mai 2012 um 10:20 Uhr eröffnete der Präsident des Ver­bandes
Polnischer Germanisten, Herr Professor Franciszek Grucza, die Voll­ver­
sammlung der Mitglieder laut Satzung zum ersten Termin. Demnächst
stellte er kein Quorum fest, löste die Versammlung auf und erklärte, dass
die Vollversammlung zum zweiten Termin um 10:30 Uhr stattfinden wird.
1. Der Präsident des VPG erklärte die Vollversammlung der Mitglieder
zum zweiten Termin für eröffnet, begrüßte alle versammelten Mitglieder
und gab bekannt, dass er zum letzten Mal in der Eigenschaft als Präsident
zum Dienste des VPG auftritt und sich somit nicht zur Wahl weder als
Präsident noch in irgendeiner anderen Funktion stellen wird. Er erinnerte
die Versammelten, dass laut § 19 der Satzung zur Gültigkeit der Beschlüsse
zum ersten Termin die Anwesenheit wenigstens die Hälfte der Mitglieder
und die Mehrheit des Vorstandes des VPG nötig ist, zum zweiten Termin
dagegen sind die Beschlüsse rechtskräftig unabhängig von der Anzahl der
anwesenden Mitglieder des VPG.
2. Der Versammlungsleiter sprach das Programm der Mitgliederver­
sammlung an und fragte die Anwesenden nach Anmerkungen, Änderungsan­
trägen oder Ergänzungen. Das Wort ergriff Frau Prof. Dr. Zofia Berdycho­
wska und wandte sich an die Versammelten mit einem Antrag, die
Tagesord­nung um folgenden Punkt zu ergänzen: „Beschlussentwurf zur
Änderung der Satzung des VPG ”. Der Antrag wurde mit einem klaren
Jawort akzeptiert und auf die Tagesordnung gesetzt. Demzufolge ergänzte
der Versammlungsleiter die Tagesordnung um den genannten Punkt und ließ
darüber abstimmen. Die Versammelten verabschiedeten die Tagesordnung
einstimmig wie folgt:

1. Eröffnung der Mitgliederversammlung durch den Präsidenten des VPG


2. Annahme der Tagesordnung
456 Mitgliederversammlung

3. Wahl eines Versammlungsleiters, des Protokollführers und des


Wahlausschusses
4. Berichterstattung des Vorstandes zu den Tätigkeiten des Verbandes für
die Amtsperiode 2009-2012:
a) Präsident
b) Generalsekretär
c) Schatzmeisterin (insb. Jahresbericht 2012)
5. Berichterstattung des Kassenprüfungsausschusses
6. Berichterstattung des Schiedsgerichts
7. Diskussion und Beschlussfassung über den Haushaltsbericht
8. Diskussion und Beschlussfassung über die Festsetzung der Berichte
und die Entlastung des Vorstandes für die Amtsperiode 2009-2012
9. Neuwahl für die Amtsperiode 2012-2015:
a) Vorstand
b) Kassenprüfungsausschuss
c) Schiedsgericht
10. Beschlussentwurf zur Änderung der Satzung des VPG
11. Freie Anträge
12. Abschluss der Mitgliederversammlung

Ad. 3. Der VPG-Präsident wandte sich gemäß Punkt 3. der Tagesordnung


an die Anwesenden mit einer Bitte, Kandidaten für den/die Versammlungs­
leiter/in der Mitgliederversammlung zu benennen. Die Anwesenden
sprachen sich für die Übernahme dieser Funktion durch Herrn Prof. Dr.
Franciszek Grucza und stimmten darüber einstimmig ab. Auf Antrag
Herrn Franciszek Grucza die Funktion des Protokollführers übernahm
der Generalsekretär, Herrn Dr. Grzegorz Pawłowski, worüber die Mit­
glieder­ver­sammlung auch einstimmig abstimmte. Demnächst wurden
die Anwesenden gebeten, Kandidaten zum Wahlausschuss anzumelden.
Folgende Kandidaten wurden genannt: Dr. habil. Joanna Godlewicz-
-Adamiec, Dr. Jacek Barański und Dr. Joanna Pędzisz. Folglich fragte der
Versammlungsleiter alle Anwesenden nach anderen Kandidaten. Da keine
weiteren Kandidaten benannt wurden, schloss der Versammlungsleiter die
Kandidatenliste ab und wandte sich an die Kandidaten mit einer Frage, ob
sie in der Funktion des Wahlausschussmitgliedes einwilligen. Alle genann-
ten Kandidaten gaben ihr Einverständnis zur Übernahme dieser Funktion.
In Anbetracht dessen legte der Versammlungsleiter diese Kandidaturen zur
Abstimmung vor. Die Mitgliederversammlung wählten die Kandidaturen
Mitgliederversammlung 457

per Akklamation. Zur Leiterin des Wahlausschusses wurde Frau Dr. habil.
Joannia Godlewicz-Adamiec gewählt.
Ad. 4. Der Versammlungsleiter stellte fest, dass es angemessen ist,
die internationalen wissenschaftlichen Jahrestagungen die bedeutends-
ten Errungenschaften des VPG in den vergangenen Amtsperioden des
Vorstandes darstellen. Er unterstrich die Tatsache, dass, jede der organi-
sierten Jahrestagungen zur Plattform des wissenschaftlichen Austausches
wurde. Sie trug nicht nur zum Informationsaustausch zwischen den
Teilnehmern darüber bei, was in den germanistischen Instituten landesweit
geforscht wird, sondern auch zum Austausch von metagermanistischen
Informationen mit ausländischen Teilnehmern dieser Jahrestagungen. Der
Versammlungsleiter fügte außerdem hinzu, wie wertvoll es auch war, dass
diese Jahrestagungen jeweils an einer anderen Universität stattfinden, sie
bieten den Teilnehmern an, das mitveranstaltete germanistische Institut
näher kennenzulernen. Der Versammlungsleiter brachte seine Hoffnung
zum Ausdruck, dass diese Tradition auch durch den neuen VPG-Vorstand
aufgenommen wird. Er wünschte dem Präsidenten, wer auch immer diese
Funktion in Zukunft übernehmen wird, viel Zeit und Energie, alle Hürden
aus dem Wege zu räumen, die mit der Veranstaltung der Jahrestagungen
zusammenhängen. Eine für den abtretenden Vorstand besonders anstren-
gende und anspruchsvolle Zeit war das Jahr 2010, wo der unter seiner
Leitung vorbereitete und veranstaltete große Warschauer Kongress der
Internationalen Vereinigung für Germanistik stattfand. Mit einer Dosis
Stotz fügte er hinzu, dass es dem Vorstand gelungen ist, trotz zahlreicher
Pflichten, die mit diesem Ereignis zusammenhingen, auch 2010 eine inter-
nationale Jahrestagung des Verbandes Polnischer Germanisten zu organi-
sieren und durchzuführen. Er erinnerte die Anwesenden an weitere zwei
VPG-Jahrestagungen, die 2009 in Olsztyn und 2011 in Zielona Góra tag-
ten. Materialien aller Konferenzen wurden in separaten Bänden herausge-
geben. Der Versammlungsleiter bat demnach den Generalsekretär, Herrn
Dr. Grzegorz Pawłowski und die Schatzmeisterin, Frau Dr. habil. Magdalena
Olpińska-Szkiełko, das Wort zu ergreifen und ihre Berichte zu präsentieren.
Als Erster ergriff das Wort der Generalsekretär. Er knüpfte an die
Worte des Präsidenten an, erinnerte die Anwesenden an die vier letz-
ten Jahrestagungen und nannte der Reihe nach die Universitätszentren,
in denen sie stattfanden, ihre Mitveranstalter und Leittitel. Es waren: 1)
Olsztyn, 8.-10. Mai 2009, Fakultät Geisteswissenschaften der Universität
Warmia und Mazury; die Konferenz tagte zum Thema Diskurse als Mittel
und Gegenstände der Germanistik. 2) Warschau, 2.- 4. August 2010,
458 Mitgliederversammlung

Institut für Politikwissenschaften der Universität Warschau; das Leitthema


der Jahrestagung lautete Studien und Forschung zur Deutschland- und
Österreichkunde in Polen. 3) Zielona Góra, 17.-19. Juni 2011, Institut für
Germanische Philologie der Universität in Zielona Góra; die Jahrestagung
widmete sich den Problemen der deutschen Sprache, Literatur und Kultur
in polnischen-deutschen Beziehungen; das vollständige Thema lautete: Die
deutsche Sprache, Literatur und Kultur in (deutsch-polnischer) Interaktion.
Der Generalsekretär gab folglich zu, dass der abtretende Vorstand die dies-
jährige internationale Jahrestagung Mensch – Sprachen – Kulturen ver-
anstaltete, an welcher über 140 Wissenschaftler ihre Teilnahme angesagt
haben, darunter 30 aus dem Ausland, u. a. aus Deutschland, Österreich,
der Schweiz, Italien, Ägypten und der Russischen Föderation. Der
Generalsekretär sprach die Tatsache an, dass der VPG-Vorstand jedes Mal,
wenn er vorhatte, eine Tagung zu organisieren, Anträge auf finanzielle
Unterstützung stellte. Das waren vor allem Ministerium für Wissenschaft
und Hochschulwesen der Republik Polen, Stiftung für Deutsch-Polnische
Zusammenarbeit und Deutscher Akademischer Austauschdienst. Er gab
zu, dass der VPG immer eine angemessene Unterstützung erhielt. Dies er-
möglichte in den letzten Jahren und wird auch dieses Mal ermöglichen,
unter anderem einen wesentlichen Teil der Hotelkosten für alle Teilnehmer
der Jahrestagung zu decken. Folglich informierte der Generalsekretär
die Anwesenden über den aktuellen Mitgliederstand des Verbandes – im
Mai 2012 waren es genau 360 aktive Mitglieder, wobei jedes Jahr im
Durchschnitt 20 neue Mitglieder registriert werden. Zum Schluss erinnerte
er die Versammelten daran, dass kurz nach dem Beginn dieser Amtsperiode,
d. h. im Juli 2009, die völlig neue Webseite des Verbandes gestartet wurde,
in der aktuelle Informationen zu den Aktivitäten des Verbandes und zu den
Mitgliederversammlungen und Jahrestagungen publiziert werden.
Dr. habil. Magdalena Olpińska-Szkiełko, die Schatzmeisterin des VPG,
präsentierte den finanziellen Bericht des Geschäftsjahres 2011. Sie trug
Annahmen und Ausgaben des Verbandes vor und stellte die Gewinn- und
Verlustrechnung bis zum 31. Dezember 2011 vor. Die Schatzmeisterin gab
hierzu nötige Erläuterungen und fügte anschließend hinzu, dass einen we-
sentlichen Teil der Annahmen die vom Generalsekretär angesprochene fi-
nanzielle Unterstützung darstellte. Zu den eigentlichen Annahmen gehören
immer noch die Mitgliedsbeiträge, sagte sie. Die Schatzmeisterin stellte au-
ßerdem fest, dass alle Ausgaben des Verbandes zu Satzungs-Zwecken rea-
lisiert wurden. Zum Schluss machte sie die Anwesenden aufmerksam, dass
die jährliche Entrichtung der Mitgliedbeiträge Satzungs-Pflicht eines jeden
Mitgliederversammlung 459

VPG-Mitglieds ist. Diese Pflicht resultiert keineswegs aus der Teilnahme


an den jährlichen wissenschaftlichen Konferenzen. Die Schatzmeisterin
erinnerte die Versammelten daran, dass der Mitgliedsbeitrag für wirkliche
Mitglieder unverändert 100 PLN, dagegen für emeritierte Mitglieder 40
PLN beträgt.
Ad. 5. Im Namen des Kassenprüfungsausschusses ergriff das Wort
seine Leiterin, Prof. Dr. Zofia Bilut-Homplewicz. Sie informierte die
Anwesenden, dass der Ausschuss ein Protokoll erstellte, in dem Prüfung­s­
ergebnisse ausführlich zur Sprache gebracht wurden. Der Kassenprüfung­s-
­ausschuss kontrollierte den Haushaltsbericht, der Aktiva, Passiva, Reserven,
Schuldverhältnisse, Gewinn-und-Verlust-Rechnung, Protokoll der
Bestandaufnahme, und Steuerlast enthält. Sie stellte fest, dass die Bilanz
für das Jahr 2011 (genauso, wie in den letzten Jahren) ordnungsgemäß an-
gefertigt wurde und las abschließend das Protokoll des Kassenprüfungs­
ausschusses vor.
Ad. 6. Der Versammlungsleiter bedankte sich bei Frau Professor Zofia
Bilut-Homplewicz für die Berichterstattung und teilte den Anwesenden
mit, dass der Leiter des Schiedsgerichts, Prof. Dr. Mirosław Ossowski, den
Vorstand in einem Brief benachrichtigt, welchem zu entnehmen ist, dass
dem Schiedsgericht keine Anträge auf Streiterörterung vorgelegt wurden.
Ad. 7. Der Versammlungsleiter fragte folglich die Anwesenden nach
Anmerkungen zu den Berichten der Schatzmeisterin und des Kassen­
prüfung­sausschusses. Da sich niemand zu Wort meldete, ließ der Versam­
mlungsleiter zunächst über den Bericht des Schiedsgerichts und danach
über die Beschlussfassung über den Haushaltbericht für das Jahr 2011 ab-
stimmen. In der offenen Abstimmung nahm die Mitgliederversammlung
den Bericht des Kassenprüfungsausschusses einstimmig an und fasste
den Beschluss über den Haushaltsbericht für das Jahr 2011 wie folgt: Die
Mitgliederversammlung nimmt den Bericht an und fasst den Beschluss
über dem Haushalt für das Jahr 2011.
Ad. 8. Der Versammlungsleiter eröffnete die Diskussion um die präsen-
tierten Berichte des Vorstandes. Hierzu gab es keine Anmerkungen. Der
Versammlungsleiter ließ über die Beschlussfestsetzung des Vorstandes in
der Amtsperiode 2009-2012 abstimmen. Dem Beschluss wurde einstim-
mig zugestimmt. Der Versammlungsleiter eröffnete die Diskussion zur
Entlastung des VPG-Vorstandes (Prof. Dr. Franciszek Grucza (Präsident),
Dr. Grzegorz Pawłowski (Generalsekretär), Dr. habil. Magdalena Olpińska-
Szkieło, (Schatzmeisterin), Prof. Dr. Zofia Berdychowska (Vizepräsidentin),
Prof. Dr. Lech Kolago (Vizepräsident), Prof. Dr. Zdzisław Wawrzyniak
460 Mitgliederversammlung

(Vizepräsident), und Vorstandsmitglieder Prof. Dr. Maria Lasatowicz, Prof.


Dr. Zenon Weigt, Prof. Dr. Ewa Żebrowska, Prof. Dr. Jerzy Żmudzki. Hierzu
gab es auch keine Anmerkungen. Demnach wurde über die Entlastung des
Vorstandes abgestimmt. Der Entlastung wurde einstimmig zugestimmt. Der
Beschluss über die Entlastung des Vorstandes für die Amtsperiode 2009-
2012 wurde einstimmig gefasst.
Ad. 9. Der Versammlungsleiter wandte sich an die Anwesenden mit einer
Bitte, Kandidaturen für Vorstandsmitglieder des VPG für die Amtsperiode
2012-2015 anzumelden.
a) Es wurden folgende Kandidaten für Vorstandsmitglieder des VPG für
die Amtsperiode 2012-2015 benannt:
Prof. Dr. Zofia Berdychowska,
Prof. Dr. Sambor Grucza,
Prof. Dr. Lech Kolago,
Dr. Robert Kołodziej,
Prof. Dr. Maria Lasatowicz,
Prof. Dr. Ewa Żebrowska,
Prof. Dr. Jerzy Żmudzki,
Dr. Paweł Zarychta,
Prof. Dr. Zenon Weigt,
Prof. Dr. Beata Mikołajczyk,
Prof. Dr. Ryszard Lipczuk.
Alle genannten VPG-Mitglieder gaben ihre Einwilligung zur Kandidatur
als VPG-Vorstandsmitglied. Dieser Einwilligung folgend forderte der
Versammlungsleiter die Mitglieder des Wahlausschusses, die Stimmkarten
zu verteilen und die Wahl des VPG-Vorstandes durchzuführen. Die Wahl
erfolgt als Geheimabstimmung.
Der Wahlausschuss zählte die Stimmen zusammen und die Leiterin gab
das Ergebnis bekannt. An der Abstimmung beteiligten sich 64 stimmbe-
rechtigte VPG-Mitglieder. Es wurden insgesamt 64 Stimmen abgegeben,
darunter 60 gültige und 4 ungültige Stimmen.
In der Abstimmung erhielten die Kandidaten folgende Stimmenanzahl:
Prof. Dr. Zofia Berdychowska – 57, Prof. Dr. Sambor Grucza – 52, Prof. Dr.
Lech Kolago – 55, Dr. Robert Kołodziej – 56, Prof. Dr. Maria Lasatowicz –
54, Prof. Dr. Ewa Żebrowska – 48, Prof. Dr. Jerzy Żmudzki – 50, Dr. Paweł
Zarychta – 56, Prof. Dr. Zenon Weigt – 55, Prof. Dr. Beata Mikołajczyk –
54, Prof. Dr. Ryszard Lipczuk – 16.
Die Leiterin des Wahlausschusses stellte fest, dass zum VPG-Vorstand
(satzungsmäßig 10. Vorstandsmitglieder und 2 stellv. Mitglieder) für die
Mitgliederversammlung 461

Amtsperiode 2012-2015 folgende VPG-Mitglieder gewählt wurden:


Prof. Dr. Zofia Berdychowska, Prof. Dr. Sambor Grucza, Prof. Dr. Lech
Kolago, Dr. Robert Kołodziej, Prof. Dr. Maria Lasatowicz, Prof. Dr. Ewa
Żebrowska, Prof. Dr. Jerzy Żmudzki, Dr. Paweł Zarychta, Prof. Dr. Zenon
Weigt und Prof. Dr. Beata Mikołajczyk.
Der Versammlungsleiter forderte die Anwesenden, Kandidaturen für
die stellvertretenden Vorstandsmitglieder des VPG für die Amtsperiode
2012-2015 zu nennen. Es wurden folgende Kandidaturen benannt:
Dr. habil. Magdalena Olpińska-Szkiełko und Dr. Grzegorz Pawłowski.
Die Kandidaten gaben ihre Einwilligung zur Kandidatur als stellv.
Vorstandsmitglied. Die Wahl erfolgte als Geheimabstimmung.
In der Abstimmung erhielten die genannten Kandidaten folgende Stim­
menanzahl: Dr. habil. Magdalena Olpińska-Szkiełko – 57, Dr. Grze­gorz
Pawłowski – 55.
Der für die Amtsperiode 2012-2015 neugewählte VPG-Vorstand kons-
tituierte sich wie folgt:
Prof. Dr. Zofia Berdychowska (Präsidentin),
Prof. Dr. Lech Kolago (Vizepräsident),
Prof. Dr. Zenon Weigt (Vizepräsident),
Dr. Robert Kołodziej (Schatzmeister),
Dr. Paweł Zarychta (Generalsekretär),
Prof. Dr. Sambor Grucza (Vorstandsmitglied),
Prof. Dr. Maria Lasatowicz (Vorstandsmitglied),
Prof. Dr. Ewa Żebrowska (Vorstandsmitglied),
Prof. Dr. Jerzy Żmudzki (Vorstandsmitglied),
Prof. Dr. Beata Mikołajczyk (Vorstandsmitglied),
Dr. habil. Magdalena Olpińska-Szkiełko (stellv. Vorstandsmitglied),
Dr. Grzegorz Pawłowski (stellv. Vorstandsmitglied).
Die neugewählte VPG-Präsidentin bedankte sich im Namen des
Vorstandes bei den Versammelten für die Wahl und stellte fest, dass sich
der neue Vorstand bemühen wird, die Arbeit der früheren Vorstände fort-
zusetzen. Sie gab zu, dass es nicht leicht sein wird. Sie sagte anschließend,
dass die bisherigen Leistungen der VPG-Vorstände – unter der Leitung
von Herrn Professor Franciszek Grucza –, hervorragend sind und das
langjährige Engagement des VPG-Präsidenten für die Entwicklung und
Popularisierung der polnischen Germanistik weltweit kaum zu übertreffen
ist.
462 Mitgliederversammlung

b) Der Versammlungsleiter forderte die Anwesenden auf, Kandidaturen


für die Mitglieder und stellv. Mitglieder des Kassenprüfungsausschusses
anzumelden.
Für die Mitglieder des Kassenprüfungsausschusses wurden folgende
Kandidaten benannt:
Prof. Dr. Zofia Bilut-Homplewicz,
Dr. habil. Robert Małecki,
Prof. Dr. Lucjan Meissner,
Prof. Dr. Barbara Sadownik,
Prof. Dr. Maria Kłańska.
Für die stellv. Mitglieder des Kassenprüfungsausschusses wurden fol-
gende Kandidaten benannt:
Dr. habil. Anna Warakomska,
Dr. Jolanta Knieja.
Die Kandidaten wurden nach ihrem Einverständnis zur Kandidatur
zum Kassenprüfungsausschuss gefragt. Alle willigten darin ein. Demnach
forderte der Versammlungsleiter die Mitglieder des Wahlausschusses, die
Stimmkarten zu verteilen und die Abstimmung durchzuführen. Die Wahl
erfolgt in geheimer Abstimmung.
Der Wahlausschuss zählte die Stimmen zusammen und die Leiterin gab
das Ergebnis bekannt. An der Abstimmung beteiligte sich 61 stimmberech-
tigte VPG-Mitglieder. Es wurden insgesamt 61 Stimmen abgegeben, dar-
unter 58 gültige und 3 ungültige Stimmen.
In der Abstimmung erhielten die Kandidaten folgende Stimmenanzahl:
Prof. Dr. Zofia Bilut-Homplewicz – 56, Dr. habil. Robert Małecki – 55,
Prof. Dr. Lucjan Meissner – 54, Prof. Dr. Barbara Sadownik – 55, Prof. Dr.
Maria Kłańska – 56.
Die Kandidaten für die stellv. Mitglieder des Kassenprüfungsausschusses
erhielten in der Abstimmung folgende Stimmenanzahl: Dr. hab. Anna
Warakomska – 52, Dr. Jolanta Knieja – 51.
Die Leiterin des Wahlausschusses stellte fest, dass zum Kassenprüfungs­
ausschuss (satzungsmäßig: 5 Mitglieder und 2 stellv. Mitglieder) folgende
Kandidaten gewählt wurden: Prof. Dr. Zofia Bilut-Homplewicz, Dr. habil.
Robert Małecki, Prof. Dr. Lucjan Meissner, Prof. Dr. Barbara Sadownik,
Prof. Dr. Maria Kłańska, Dr. habil. Anna Warakomska und Dr. Jolanta
Knieja.
Der Kassenprüfungsausschuss konstituierte sich wie folgt:
Prof. Dr. Bilut-Homplewicz (Vorsitzende),
Prof. Dr. Maria Kłańska (Vizevorsitzende),
Mitgliederversammlung 463

Dr. habil. Robert Małecki (Mitglied),


Prof. Dr. Lucjan Meissner (Mitglied),
Prof. Dr. Barbara Sadownik (Mitglied),
Dr. habil. Anna Warakomska (stellv. Mitglied),
Dr. Jolanta Knieja (stellv. Mitglied).
c) Demnach forderte der Versammlungsleiter die Anwesenden auf,
Kandidaturen für die Mitglieder des Schiedsgerichts zu benennen. Es wur-
den folgende Kandidaten angemeldet:
Prof. Dr. Ryszard Lipczuk,
Prof. Dr. Tomasz Czarnecki,
Prof. Dr. Andrzej Kątny.
Alle Kandidaten gaben ihr Einverständnis zur Kandidatur zum
Schiedsgericht. Angesichts dieser Tatsache forderte der Versammlungsleiter
den Wahlausschuss auf, die Stimmkarten zu verteilen und die Abstimmung
durchzuführen. Die Wahl erfolgt in geheimer Abstimmung.
Der Wahlausschuss zählte die Stimmen zusammen und die Leiterin gab
das Ergebnis bekannt. An der Abstimmung beteiligten sich 59 stimmbe-
rechtigte VPG-Mitglieder. Es wurden insgesamt 59 gültige Stimmen abge-
geben, darunter 51 gültige und 8 ungültige Stimmen. In der Abstimmung
erhielten die Kandidaten folgende Stimmanzahl: Prof. Dr. Ryszard Lipczuk
– 40, Prof. Dr. Tomasz Czarnecki – 50, Prof. Dr. Andrzej Kątny – 51.
Die Leiterin des Wahlausschusses stellte fest, dass zum Schiedsgericht
(satzungsmäßig: 3 Mitglieder) folgende Kandidaten gewählt wurden: Prof.
Dr. Ryszard Lipczuk, Prof. Dr. Tomasz Czarnecki und Prof. Dr. Andrzej
Kątny.
Das Schiedsgericht konstituierte sich wie folgt:
Prof. Dr. Andrzej Kątny (Vorsitzender),
Prof. Dr. Ryszard Lipczuk (Mitglied),
Prof. Dr. Tomasz Czarnecki (Mitglied).
Der Versammlungsleiter bedankte sich bei den Mitgliedern des
Wahlausschusses für die Durchführung der Wahlen. Die Anwesenden
schlossen sich daran mit einem Beifall an. Der Versammlungsleiter stell-
te fest, dass er sich über das Wahlergebnis freut und vor allem darüber,
dass zum Vorstand erfahrene VPG-Mitglieder gewählt wurden. Er gab an-
schließend zu, dass die Mehrheit der VPG-Mitglieder, die zusammen mit
ihm den Verband der Polnischen Germanisten gründeten, verstorben sind,
deshalb bat er die Versammelten, aufzustehen und ihnen zur Ehre eine
Schweigeminute einzulegen.
464 Mitgliederversammlung

Ad. 10. Demzufolge ging man zur Realisierung des 10. Punktes der
Tagesordnung über. Zum Beschlussentwurf zur Festsetzung der Würde des
Ehrenpräsidenten des VPG wurde diskutiert. Die Versammelten zeigten
sich sehr positiv dazu. Nach der Diskussion ging man zur Abstimmung
zur Beschlussfassung über. Dem Beschluss „Festsetzung der Würde des
Ehrenpräsidenten des Verbandes Polnischer Germanisten” wurde einstim-
mig zugestimmt.
Ad. 11. Demnach trat man den letzten Punkt der Tagesordnung „Freie
Anträge” an. Das Wort ergriff Frau Professor Zofia Berdychowska und brach-
te den Antrag auf die Verleihung der Würde des VPG-Ehrenpräsidenten an
Herrn Professor Franciszek Grucza ein. Es gab darüber keine Diskussion.
Dem Beschluss „Verleihung der Würde des Ehrenpräsidenten des Verbandes
Polnischer Germanisten an Herrn Professor Franciszek Grucza” wurde per
Akklamation zugestimmt. Es gab keine weiteren Anträge.
Der Versammlungsleiter bedankte sich bei den Anwesenden für
Teilnahme an der Mitgliederversammlung, gab die Hoffnung zum
Ausdruck, dass die nächste Mitgliederversammlung und die internationale
wissenschaftliche Jahrestagung in Kraków stattfinden werden.
Mitgliederversammlung 465

Prof. Dr. Zofia Berdychowska


Neue Präsidentin des Verbandes Polnischer Germanisten

Ansprache an die Mitgliederversammlung

Sehr geehrte Mitglieder des Verbandes Polnischer Germanisten,


Liebe Kolleginnen und Kollegen!

Im Namen des heute von der Vollversammlung für die Amtszeit 2012-
2015 gewählten Vorstandes bedanke ich mich sehr für das in uns gesetz-
te Vertrauen. Der neu gewählte Vorstand des VPG hat sich in folgender
Zusammensetzung konstituiert:
Präsidentin:
Prof. Dr. habil. Zofia Berdychowska (Uniwersytet Jagielloński, Instytut
Filologii Germańskiej)
Vizepräsidenten:
Prof. Dr. habil. Lech Kolago (Uniwersytet Warszawski, Instytut
Germanistyki) 
Prof. Dr. habil. Zenon Weigt (Uniwersytet Łódzki, Instytut Filologii
Germańskiej) 
Prof. Dr. habil. Jerzy Żmudzki (Uniwersytet Marii Curie-Skłodowskiej
Lublin, Zakład Lingwistyki Stosowanej)
Generalsekretär: Dr. Paweł Zarychta (Uniwersytet Jagielloński,
Instytut Filologii Germańskiej)
Schatzmeister: Dr. Robert Kołodziej (Uniwersytet Jagielloński, Instytut
Filologii Germańskiej)
Vorstandsmitglieder:
Prof. Dr. habil. Sambor Grucza (Uniwersytet Warszawski, Instytut
Kulturologii i Lingwistyki Antropocentrycznej)
Prof. Dr. habil. Maria Lasatowicz (Uniwersytet Opolski, Instytut
Filologii Germańskiej)
Prof. Dr. habil. Beata Mikołajczyk (Uniwersytet im. Adama Mickiewicza
w Poznaniu, Instytut Filologii Germańskiej)
Prof. Dr. habil. Ewa Żebrowska (Uniwersytet Warmińsko-Mazurski,
Katedra Filologii Germańskiej)
466 Mitgliederversammlung

Die Wahl zur Präsidentin unseres Verbandes rechne ich mir als Ehre an.
Mein Wunsch ist es, dass die Wahl zur Festigung und zur Weiterentwicklung
des Verbandes Polnischer Germanisten und der polnischen Germanistik
beitragen möge. Das werde ich gemeinsam mit dem Vorstand und allen
Verbandsmitgliedern umzusetzen versuchen. In dieser ehrenvollen Aufgabe
die Nachfolge von Herrn Prof. Franciszek Grucza anzutreten, dem der
Verband seine Anfänge und eine über zwanzigjährige Blütezeit verdankt,
ist eine höchst verantwortungsvolle Verpflichtung. Ich möchte Herrn Prof.
Franciszek Grucza in unser aller Namen für die bleibenden Leistungen
höchste Anerkennung zollen und unseren aufrichtigen Dank aussprechen.
In diesem Sinne hat der Vorstand in der ersten Sitzung nach der
Konstituierung einstimmig den Entschluss gefasst, der Vollversammlung
der Mitglieder des VPG zwei Anträge zur Abstimmung vorzulegen:
Den Antrag auf die Aufnahme folgenden Punktes in die Satzung des
Verbandes Polnischer Germanisten: „Die Vollversammlung der Mitglieder
kann einem ehemaligen Vorsitzenden des Verbandes, der sich besondere
Verdienste um den Verband erworben hat, die Würde des Ehrenpräsidenten
des VPG verleihen. Der Beschluss wird von der Vollversammlung der
Mitglieder mit einfacher Mehrheit gefasst.“
Den Antrag, dem Gründer und Vorsitzenden des Verbandes Polnischer
Germanisten von 1990 bis 2012, Herrn Prof. Dr. habil. h.c. multi Franciszek
Grucza, die Würde des Ehrenpräsidenten des VPG zu verleihen.
Die Vollversammlung des Verbandes Polnischer Germanisten hat am 25.
Mai 2012 in derselben Sitzung beide Anträge einstimmig zu Beschlüssen
erhoben.
Feierliche Überreichung
der Festschrift
zum 75. Geburtstag
von Professor
Franciszek Grucza
Laudationen auf Franciszek Grucza 469

Prof. Dr. Zofia Berdychowska


Präsidentin des Verbandes Polnischer Germanisten

Ansprache an die Festversammlung

Sehr geehrte Festversammlung,


meine Damen und Herren,
verehrte Gäste,
liebe Kolleginnen und Kollegen,
liebe Mitglieder des Verbandes Polnischer Germanisten!

1.
Ich freue mich sehr darüber, Sie alle in der Eigenschaft der neuen, vor-
gestern gewählten, Präsidentin des Verbandes Polnischer Germanisten,
und zugleich der ersten Nachfolgerin des Gründers und bisherigen
Präsidenten des Verbandes begrüßen zu dürfen. Wir haben uns hier heute
vor allem deswegen versammelt, um Herrn Professor Franciszek Grucza
feierlich die Festschrift zu überreichen, die wir für Ihn aus Anlass sei-
nes 75. Geburtstages vorbereitet haben. Wir wollen jedoch nicht nur den
75. Geburtstag des Jubilars, sondern auch, und eigentlich vor allen, seine
Verdienste um die Germanistik überhaupt, in erster Linie um die polnische
Germanistik und seine wissenschaftlichen Leistungen feiern.
Dem Jubilar ist nicht bloß diese Feierstunde, sondern auch die dies-
jährige wissenschaftliche noch andauernde Jahrestagung des Verbandes
Polnischer Germanisten zugedacht. Wir haben für die Tagung das Thema
Mensch – Sprachen – Kulturen gewählt, um stichwortartig nicht nur die
Gegenstände zu nennen, mit deren Erforschung sich der Jubilar sein Leben
lang beschäftigt, sondern zugleich die Art und Weise anzudeuten, in der er
diese Gegenstände miteinander in Beziehung setzt. Ich kann hier nicht auf
Einzelheiten eingehen, will jedoch wenigsten andeuten, dass der Jubilar
schon zu Beginn der 80. Jahre des vergangenen Jahrhunderts ein Konzept
der angewandten Linguistik entwickelt hat, das diese auf das Engste mit
der sog. theoretischen Linguistik vernetzte und auch schon seit mehreren
470 Laudationen auf Franciszek Grucza

Jahren ein Konzept der anthropozentrischen Linguistik und Kulturologie


entwickelt.
Seiner Überzeugung nach ist aus ontologischen Gründen grundsätz-
lich zwischen wirklichen menschlichen Sprachen und Kulturen und den
Designaten solcher Bezeichnungen wie „die deutsche Sprache/Kultur“,
„die polnische Sprache/Kultur“ etc. zu unterscheiden. Wirkliche Sprachen/
Kulturen sind bestimmte Faktoren konkreter Menschen, dagegen Namen/
Bezeichnungen wie „die deutsche Sprache/Kultur“, „die polnische Sprache/
Kultur“ etc. beziehen sich auf bestimmte intellektuelle Konstrukte. Wer
eine wirkliche Sprache/Kultur eines beliebigen Menschen erforschen will,
muss den Menschen in den Mittelpunkt seiner Analyse stellen – muss sei-
ne Forschung anthropozentrisch ausrichten. Die sich mit den Designaten
solcher Ausdrücke wie „die deutsche Sprache/Kultur“, „die polnische
Sprache/Kultur“ etc. beschäftigende Linguistik oder Kulturkunde nennt er
„paradigmatische Linguistik“ bzw. „Kulturologie“. Die anthropozentrische
Linguistik und Kulturologie behandelt er im Sinne von zwei Komponenten
einer (noch zu konstituierenden) akademischen Disziplin, deren Vertreter
sich jegliche kommunikativen Eigenschaften konkreter Menschen ins
Visier nehmen (sollten). Ich weiß, dass der Jubilar derzeit an einem größe-
ren Werk arbeitet, dessen Ziel es ist, seine angedeuteten Ansichten systema-
tisch darzustellen. Ich hoffe sehr, dass es ihm in nicht allzu ferner Zukunft
gelingt, es abzuschließen.

2.
Den Auftakt der heutigen Feier leistet das Quartett Camerata, das auch
noch in der Mitte und zum Abschluss dieser Feier auftreten wird. Aber
ich will schon an dieser Stelle die Musiker vorstellen: Prof. Włodzimierz
Promiński — Primgeige, Andrzej Kordykiewicz — Zweite Geige, Piotr
Reichert — Bratsche, Roman Hoffmann — Cello. Und auch schon jetzt
möchte ich mich bei ihnen sehr herzlich bedanken, dass sie sich dazu
bereit erklärten, für uns, und vor allem für den Jubilar zu spielen. In der
musikalischen Umrahmung hören wir: Ignacy Feliks Dobrzyński —
Streichquartett in e-Moll Op. 7, Teil I; Franz Schubert — Streichquartett
in c-Moll Op. posth. „Quartettsatz“; Antonín Dvořák — Quartett in F-Dur
Op. 96 (Amerikanisches Quartett) – Finale; Astor Piazzolla — Tango aus
dem Film „Scent of a Woman”.
Noch kurz zum Programm dieser Feierstunde: Wir beginnen mit der
Überreichung der Festschrift, der Rosenstrauß wird eine künstlerische
Laudationen auf Franciszek Grucza 471

Überraschung begleiten. Dann werden Gratulationsworte der Rektorin,


des Präsidenten der Polnischen Akademie der Wissenschaften, der
Botschafter der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich
vorgelesen. Die Hauptlaudatio auf den Jubilar hält Professor Karl-Dieter
Bünting, Träger der Ehrenstatuette des VPG, den mit dem Jubilar seit
Jahrzehnten eine enge Freundschaft verbindet. Gratulationsreden hal-
ten darauf der Reihe nach Frau Doktor Gisela Janetzke, stellvertretende
Generalsekretärin der Alexander von Humboldt-Stiftung, Herr Doktor
Heinz-Rudi Spiegel, langjähriger Mitarbeiter des Stifterverbandes für die
deutsche Wissenschaft, Träger der Ehrenstatuette des VPG sowie Herr
Professor Marian Szczodrowski, ehemaliger Dekan der Philologischen und
Historischen Fakultät der Danziger Universität und, was ebenso wichtig
ist, ein Vertreter der Kaschuben, einer Volksgemeinschaft, der der Jubilar
sowie, allerdings nur mütterlicherseits auch Günther Grass, abstammen.
Weitere Glückwünsche kommen von der Gratulationscour.
Schon an dieser Stelle bedanke ich mich bei Ihnen allen dafür, dass
Sie so zahlreich hier erschienen sind, um den Jubilar und sein Jubiläum
zu feiern. Mein besonderer Dank geht an alle Autoren der Festschrift für
ihre Forschungsmühe und die investierte Zeit. Dem Dekan der Fakultät
Angewandte Linguistik der Universität Warschau, Prof. Sambor Grucza,
danke ich sehr dafür, dass die Jahrestagung und die Jubiläumsfeier in den
Räumen der neuen Bibliothek der Universität Warschau stattfinden kön-
nen, sowie für die organisatorische Unterstützung im Vorfeld. Und nach
dem Abschluss dieser feierlichen Veranstaltung lade ich Sie alle zu einem
Buffet ein, dass der VPG für Sie alle vorbereiten ließ. Da wird sich die
Gelegenheit auch zu lockeren Gesprächen unter Fachkollegen bieten.
Und nun gehen wir zur Vollziehung der im ersten Punkt des Programms
erwähnten Akte über, d. h. zur Überreichung der Festschrift. Doch bevor
dies geschieht, lassen Sie mich, verehrte Gäste, ein paar Gratulationsworte
direkt an den Jubilar richten.

3.
Verehrter Professor Franciszek Grucza,
werter Jubilar, geschätzter Lehrer mehrerer Generationen,
lieber Freund!
Ihr heute gefeiertes Jubiläum ist nicht nur Ihr persönliches Fest, son-
dern auch, und ich denke sogar vor allem, ein großes Fest der ganzen pol-
nischen Germanistik. Das Bewusstsein Ihrer bleibenden Verdienste um die
472 Laudationen auf Franciszek Grucza

polnische Germanistik, sehr verehrter Jubilar, und Ihr vielseitiges – nicht


nur wissenschaftliches – Wirken, erfüllt uns mit Stolz und Freude.
Um Sie selbst, Ihren germanistischen Werdegang, Ihr wissenschaftli-
ches Lebenswerk sowie Ihre Verdienste in gebührender Weise zu würdi-
gen und unserer Dankbarkeit, Anerkennung und Hochachtung Ausdruck
zu verleihen, haben wir – als Ihre Schüler, Kollegen und Freunde – zu
Ihrem Jubiläum eine Festschrift vorbereitet. Hiermit möchten wir als das
Redaktionsteam – Magdalena Olpińska-Szkiełko, Sambor Grucza, Zofia
Berdychowska, Jerzy Żmudzki, Ewa Bartoszewicz, Monika Płużyczka und
Justyna Zając – diese Festschrift Ihnen überreichen. Der Band ist mehr als
700 Seiten stark, die tabula gratulatoria enthält 180 Namen; 62 Beiträger
schrieben ihre Aufsätze zu einem breiten germanistischen bzw. linguisti-
schen Themenkreis.
Diese unsere tiefe Dankbarkeit wollen wir aber nicht nur in Worten und
mit dem hier genau fünfundsiebzig Rosen dicken Strauß, sondern auch mit-
tels der künstlerischen Symbolik dieser Skulptur hier zum Ausdruck brin-
gen. Und mit diesem Blumenstrauß und herzlichen Dankesworten wollen
wir Ihnen, liebe Frau Dr. Barbara Grucza, die Sie als Germanistin, ausge-
wiesene Forscherin und Ehefrau dem Jubilar immer zur Seite standen und
stehen, unsere Achtung entgegenbringen.
Lassen Sie mich diese „zum Springen bereite“ Mädchengestalt als eine
Analogie zur polnischen immer noch jungen und aktiven Germanistik
interpretieren. Das ernste Gesicht hat ihr zwar plastisch der namhafte
Krakauer Bildhauer Wiesław Domański verliehen, aber für ihre wissen-
schaftliche Courage und Aktivität haben Sie, lieber Jubilar, jahrelang mit
vollem Engagement gesorgt.
In zwei Sätzen will ich den Künstler, vor allem Bildhauer aber auch Maler
vorstellen, der sich mit der Teilnahme an mehreren Ausstellungen in Polen
sowie in Deutschland, Frankreich und den Niederlanden und durch elf indi-
viduelle Ausstellungen u.a. in München, Nizza, Lexington (USA), Brüssel,
Amsterdam und Hongkong sowie durch mehrere Skulpturprojekte im öf-
fentlichen Raum einen Namen gemacht hat. Aus seiner Vorstellungskraft
und Hand stammen die Ehrenstatuetten des VPG. Ich freue mich Wiesław
Domański mit Ehefrau Grażyna in unserem Kreise begrüßen zu können,
der mit der Überreichung seines persönlichen Geschenks, eines seiner
Kunstwerke - dieser Akt-Studie - dem Jubilar gratulieren und Respekt er-
weisen will.
Und nun bitte ich Sie alle, meine Damen und Herren, dazu auf, ein
dankerfülltes Hoch auf unseren Jubilar auszurufen! Es mag zugleich die
Laudationen auf Franciszek Grucza 473

Hoffnung auf die Fortsetzung Ihres bisherigen Wirkens im Zeichen der


Integration unserer germanistischen Gemeinschaft ausdrücken, mit wel-
chem Sie die polnische Wissenschaft inspirieren, mitgestalten und för-
dern. Wir wünschen Ihnen, lieber Professor Grucza, beste Gesundheit,
Lebensfreude und weiterhin Offenherzigkeit. Nehmen Sie im Namen aller
Versammelten die herzlichsten Glückwünsche entgegen!
Plurimos annos, lieber Herr Professor Grucza, plurimos annos!

4.
Meine Damen und Herren! Die Gratulations-Adressen von Magnifizenz
Chałasińska-Macukow und anderen, die nicht persönlich erscheinen konn-
ten, aber dem Jubilar gratulieren wollen, wird jetzt Professor Sambor
Grucza, der Dekan der Fakultät Angewandte Linguistik der Universität
Warschau vorlesen. Frau Rektorin kann an dieser Feierstunde wegen der
Überschneidung des Termins mit der Rektoren-Konferenz, deren Vorsitz
sie führt, nicht teilnehmen. Die Leitung der Universität, und damit auch
die Rektorin, ist hier durch den Kanzler der Universität Warschau, Herrn
Jerzy Pieszczurykow vertreten, ich begrüße ihn deswegen besonders herz-
lich. Es ist mir eine ebenso große Freude wie Ehre, Herrn Rüdiger Freiherr
von Fritsch – Botschafter der Bundesrepublik Deutschland in Warschau
und Herrn Doktor Herbert Krauss – Botschafter der Republik Österreich in
Warschau im Namen aller Versammelten zu begrüßen. Namentlich möch-
te ich auch unsere heutigen Festredner begrüßen – Frau Doktor Gisela
Janetzke – ehemalige stellvertretende Generalsekretärin der Alexander von
Humboldt-Stiftung, Herrn Doktor Heinz-Rudi Spiegel – Referenten des
Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft und Herrn Professor Marian
Szczodrowski – ehemaligen Dekan der Philologischen und Historischen
Fakultät der Danziger Universität.

Ich selbst beende hiermit meinen Auftritt. Ich wünsche Ihnen einen ge-
mütlichen Abend und anregende Unterhaltung und bitte Sie noch ein Mal,
sich nach der Beendigung dieser Feierstunde an dem Buffet zu beteiligen.
474 Laudationen auf Franciszek Grucza

Prof. Dr. Dr. h.c. Karl-Dieter Bünting1


Emeritierter Professor der Universität Duisburg-Essen
Ehrenprofessor der Beijing International Studies University

Laudatio auf Professor Franciszek Grucza

„Kultur ist nur ein dünnes Apfelhäutchen über glühendem Chaos.“


An diesen Aphorismus Nietzsches muss ich oft denken, wenn ich an
Deutschland und Polen denke und an Franciszek Grucza, einen Mittler
zwischen Deutschland und Polen, der die deutsche Sprache und Kultur in
Polen und weit darüber hinaus vermittelt und die Menschen unserer beiden
und anderer Kulturen ständig zum Dialog auffordert, um zu verhindern,
dass das glühende Chaos das Apfelhäutchen zerstört.
Franciszek Grucza wurde 1937 in Gdynia geboren, dem Ostseehafen,
an dem damals der polnische Korridor endete. Im Morgengrauen des
1. September 1939 fielen bei Gdynia die ersten Schüsse des Zweiten
Weltkrieges, als deutsche Schiffe die Westerplatte bei Gdańsk (Danzig)
und damit auch den polnischen Korridor und den Zugang zum polnischen
Hafen Gdynia unter Beschuss nahmen. Das glühende Chaos brach sich
Bahn – genauer: Deutsche Menschen entfesselten es. In der langen, oft
durchaus friedlichen, aber oft auch kriegerischen Geschichte zwischen
deutschen und slawischen Menschen kam eine schlimme Zeit.
Gruczas wurden aus Gdynia vertrieben und der kleine Franek wuchs
in Gowidlino im Herzen der pommerschen Kaschubei auf. Kaschuben
– Grucza ist Kaschube – scheinen es in den Genen zu haben, einmal
Präsidenten zu werden.
Grucza ging auf ein katholisches Internat in Pelplin. Das sozialistische
Polen und der Katholizismus, das ist eine eigene Geschichte. Für Grucza
bedeutete es: Der polnische Staat wollte sein Abitur – so würden wir es in
Deutschland nennen – nicht anerkennen, er musste es auf einer staatlichen
Schule noch einmal machen. Auch so wird man trainiert, flexibel zu werden.
Physik durfte er denn allerdings nicht studieren. Gut für die Germanistik.

1
  Professor Bünting bekam als erster die Ehrenstatuette des Polnischen Germanisten­
verbandes.
Laudationen auf Franciszek Grucza 475

Er begann sein Germanistikstudium in Poznań (Posen).2 Damals gab es nur


in Poznań und Wrocław (Breslau) Germanistiken, heute ist die polnische
Auslandsgermanistik eine der bedeutendsten überhaupt.
Grucza bekam als erster polnischer Germanist nach dem Krieg ein
Stipendium in Leipzig. Das brachte die Begegnung mit der Sprache, dem
Land, den Menschen und der Kultur. Und es brachte die Begegnung mit
Barbara, die längst Grucza heißt, und mit Wolfgang Heinemann. Beide sind,
wie auch Frau Margot Heinemann, Mittler zwischen den beiden Kulturen.
Leipzig bedeutet auch: Studium und Examen bei Theodor Frings, für
Germanisten heißt das: beim großen Sprachwissenschaftspapst seiner Zeit.
Die Leipziger Diplomarbeit war einem onomastischen Thema gewidmet,
sorbischen Ortsnamen. Die Posener Dissertation baute den onomastischen
Arbeitsbereich aus, Grucza suchte und untersuchte Orts- und Flurnamen im
Stettiner Raum, in dem sich slawische und germanische Sprachspuren ge-
mischt haben. Wir haben damit eine Facette des Gruczaschen wissenschaft-
lichen Oevres benannt. Nicht dass es Onomastik ist, ist dabei bedeutsam,
sondern dass es sich um die Sprach- und damit Kulturkontakte in seinem
Land handelt.
Der Posener Assistent und Post-Doc, wie das heute heißt, bekam dann
als einer der ersten jungen polnischen Wissenschaftler ein Humboldt-
Stipendium und arbeitete ein Jahr am Institut für Kommunikationsforschung
und Phonetik der Universität Bonn bei Gerold Ungeheuer. Dort haben wir
uns kennengelernt, ich arbeitete damals in einer Gruppe zur Computer­
linguistik.
Die Posener Habilitationsschrift wurde in Bonn vorbereitet, sie galt
einem phonetisch-phonologischen Thema, womit der zweite Bereich von
Gruczas wissenschaftlichem Schaffen benannt ist. Die Habilitation erfolgte
1969.
Schon 1970 kam der Ruf auf eine Professur nach Warschau. Grucza ge-
lang es sehr schnell, dort ein neuartiges Institut für Angewandte Linguistik
zu gründen und aufzubauen, dessen Direktor er bis 1998 war. An diesem
Institut wurden in den vier Sprachen Deutsch, Englisch, Französisch und
Russisch Lehrer, Übersetzer und Dolmetscher, die meistens Lehrerinnen,
Übersetzerinnen und Dolmetscherinnen sind, ausgebildet. Für die wissen-
schaftliche Dimension des Instituts und die Arbeitsgebiete seines Direktors
bedeutete das die Herausbildung folgender Schwerpunkte:
• zwischenmenschliche Kommunikation
2
  Es gibt seltsame Zufälle: Meine Mutter wurde in Posen geboren, die Familie ging 1918
nach Kassel, als aus Posen wieder Poznan wurde.
476 Laudationen auf Franciszek Grucza

• Sprachlehr- und Lernforschung und – wie es in Polen heißt –


Glottodidaktik (Sprachdidaktik)
• Translatorik (Übersetzungswissenschaft)
• Theorie der Angewandten Linguistik (so der Titel eines auf Polnisch
erschienene Buches); für Grucza selbst kam mehr und mehr die Wissen­
schaftstheorie als Arbeitsgebiet hinzu.
Das Institut gewann an Reputation, und sein Direktor ebenfalls. Seine
Publikationsliste gibt darüber Auskunft. Zu den Publikationen noch ein
Hinweis, der etwas mit Zeitgeschichte zu tun hat: Lange Zeit war es im
sozialistischen Polen ein Problem, Papier für den Druck von Büchern zu
bekommen: So entwickelte sich eine Wissenschaftskultur des Publizierens
von Aufsätzen, und die Betreuung von wissenschaftlichen Zeitschriften
war eine wichtige Aufgabe. Grucza betreute bzw. gründete die pol-
nischen Fachzeitschriften Glottodidactica, Kwartalnik Neofilotogiczny
(= Neuphilologische Vierteljahresschrift der Polnischen Akademie der
Wissenschaften), Przegiad Glottodydaktyczny (= Glottodidaktische
Rundschau) und Deutsch im Dialog, eine Zeitschrift für polnische
Hochschulgermanistik und für polnische Deutschlehrer. Der Titel mit dem
Stichwort „Dialog“ war Programm: Der Dialog zwischen Nachbarn, die
sich lange sehr fremd waren, war Grucza eben immer ein Anliegen und
die Verbreitung des Deutschen in Polen nicht nur im wissenschaftlichen
Bereich. Dass auch das Schullehrwerk Dein Deutsch dazugehört, des-
sen Herausgeber er war, zeigt die Bandbreite seines Wirkens. An diesem
Lehrwerk durfte ich mitwirken.
Grucza hatte Gastprofessuren bzw. Forschungsaufenthalte an den
Universitäten in Konstanz, Zürich, Hamburg, Saarbrücken – er war weiter-
hin in den USA (Center for Applied Linguistics und Georgetown University,
Washington D.C.; Manoa University, Honolulu; University of California,
Berkeley). Mehrere Gastprofessuren in Essen und ein Kooperationsvertrag
seit 1978 belegen unsere langjährige Zusammenarbeit, die zur Verleihung
des Ehrendoktors durch die Essener Universität 1999 führte. Es war die
erste Ehrendoktorwürde für einen polnischen Germanisten nach dem
Krieg in Deutschland. Die Verleihung des Humboldt-Forschungspreises
1994/5 würdigt und unterstreicht Gruczas Leistung und Ansehen. Diese
Kooperation brachte nicht wenige Doktoranden/Doktorandinnen und auch
Postdocs zu Forschungsaufenthalten nach Essen.
Von 1982 bis 1985 war er Prorektor für Auslandskontakte der Warschauer
Universität. In diesen Jahren hat er Kooperationen für die Universität
Laudationen auf Franciszek Grucza 477

Warschau mit den Universitäten in Saarbrücken, Hamburg, Tübingen und


Bonn aufgebaut.
1983 wurde Grucza als Vertreter der philologischen Disziplinen in die
Polnische Akademie der Wissenschaften berufen. Der Kooperationsvertrag
mit der Essener Universität wurde ergänzt durch einen Kooperationsvertrag
mit der Akademie, und über eine deutsche Stiftung wurde eine ganze Reihe
von Gastprofessuren in Warschau und mit Lehre auch an anderen pol-
nischen Universitäten ermöglicht. Die Akademie bat Grucza 1998, eine in
Wien vor sich hindämmernde Außenstelle der Akademie aus dem Schlaf
zu wecken. Er ließ sich von der Warschauer Universität beurlauben und
leitete die Wiener Außenstelle mehrere Jahre und noch ein Jahr die Berliner
Außenstelle.
Lassen Sie mich eine Episode aus dem Jahr 1984 einschieben. Der
Zufall wollte es, dass eine Germanistik-Dozentin an Gruczas Institut mit
einem Mann verheiratet war, der in der polnischen Geschichte eine große
Rolle gespielt hat, Wojciech Jaruzelski. 1984 – es herrschte so etwas wie
Eiszeit in den offiziellen politischen Beziehungen zwischen Polen und der
Bundesrepublik Deutschland, und doch gab es Auftauversuche – 1984 also
hat Frau Dr. Barbara Jaruzelska auf Einladung der Humboldt-Stiftung eine
Inkognito-Reise durch die Bundesrepublik gemacht. Initiiert war dieser
Besuch von Willy Brandt und seiner Frau Brigitte Seebacher-Brandt; es gab
nicht nur Treffen mit Brandt, Bundespräsident von Weizsäcker und Bertold
Beitz, sondern auch einen Besuch unserer Universität und nicht zuletzt in
der Essener Schule meiner Frau – der Direktor hat nie erfahren, wer die
Frau Schelsky, wie wir Frau Jaruzelska nach außen nannten, wirklich war.
Als sich die politischen Verhältnisse gründlich geändert hatten, be-
trieb Grucza 1990 die Gründung des Verbandes Polnischer Germanisten
(Stowarzyszenie Germanistów Polskich). Seine Ziele und Aufgaben:
„Veranstaltung von wissenschaftlichen Konferenzen, Veröffentlichung und
Popularisierung germanistischer Forschungsarbeiten, Öffentlichkeitsarbeit
im Bereich Germanistik.”3 Die Jahrestagungen und überhaupt die vie-
len Konferencjes – gestatten Sie mir den deutschen Plural im polnischen
Wort– lassen mich immer wieder staunen. Hier haben die jüngeren
Wissenschaftler/innen die Chance, ihr Wissen und Können zu erproben.
Grucza hat zusammen mit Margot Heinemann, Professorin für
Germanistik in Zittau und Görlitz, die Gründung des „Görlitzer Kreises –
Gesellschaft zur Förderung deutsch-polnischer Wissenschaftskooperation“
gegründet; sie haben zum Auftakt einen Kongress über deutsch-polnische
3
  http://www.sgp.uw.edu.pl/de/verband/struktur.php
478 Laudationen auf Franciszek Grucza

wechselseitige Vorurteile auf beiden Seiten der Neiße organisiert, der in


beiden Städten, also in Zgorzelec und Görlitz, stattfand. Wir sind damals
immer munter über die Brücke marschiert, es wurden eben nicht nur meta-
phorisch, sondern konkret Brücken gebaut.
1996 hat Grucza in Warschau einen Kongress über Geschichte, Stand
und Ausblick der Germanistik in Mitteleuropa veranstaltet, bei dem zum
ersten Mal Kollegen und Kolleginnen aus allen den Ländern zusammenka-
men, die nun nicht mehr hinter dem Eisernen Vorhang, wie Churchill die
Grenze zwischen der NATO und dem Warschauer Pakt in einer Züricher
Rede nannte, lebten und leben. Im April 2000 organisierte er mit dem
Polnischen Germanistenverband einen Millennium-Kongress in Warschau:
l000 Jahre deutsch-polnische Beziehungen: Sprache, Literatur, Kultur,
Politik unter dem Dach der Polnischen Akademie der Wissenschaften und
unter der Schirmherrschaft des Polnischen Staatspräsidenten.
2002 wurde Grucza vom Bundespräsidenten der Bundesrepublik
Deutschland das Bundesverdienstkreuz 1. Klasse verliehen.
Ja und dann kam das Jahr 2005. In Paris wurde Grucza zum Präsidenten
der Internationalen Vereinigung für Germanisten gewählt, und das bedeu-
tete: Weltkongress in Warschau 2010. Es war der weitaus größte Kongress
bisher, eine Demonstration für die Welt, wie bedeutend die Polnische
Auslandsgermanistik ist. Dass die Auslandsgermanistik etwas anderes
ist als die Inlandsgermanistik an deutschen Universitäten, hat Grucza
immer wieder betont und praktisch sowie theoretisch untermauert.4. Das
Szepter des IVG-Präsidenten hat Grucza nun an Jianhua Zhu von der
Tonji-Universität in Shanghai übergeben. Sie ist übrigens auch ein Essener
Kooperationspartner, und Grucza wäre nicht Grucza, wenn er nicht ange-
regt hätte, ein Kooperations-Dreieck Warschau-Shanghai-Essen zu grün-
den. Der Vertrag ist unterschrieben.
Die Menschen ins Gespräch bringen, die deutsche Sprache und Kultur
in Polen wie umgekehrt die Deutschen mit den Menschen und der Kultur
des Nachbarlandes – das war und ist so etwas wie ein Lebensziel Gruczas.
Möge er dieses Ziel zusammen Frau Barbara und seit einiger Zeit auch dem
jetzigen Warschauer Dekan Prof. Dr. Sambor Grucza noch lange bei guter
Gesundheit weiter verfolgen.

  Vgl. F. Grucza: Zum Basisgegenstand der polnischen (Universitäts)Germanistik:


4

Versuch einer wissenschaftstheoretischen Begründung ihrer Einheit. In: Kwartalnik


Neofilologiczny 2003/1-2, 99-115
Laudationen auf Franciszek Grucza 479
480 Laudationen auf Franciszek Grucza

Prof. Dr. Katarzyna Chałasińska-Macukow


Rektorin der Universität Warschau

Herrn Professor Franciszek Grucza

Sehr geehrter Herr Professor,


heute an Ihrem 75. Geburtstag begehen wir auch den 40. Jahrestag der
Gründung des Institutes für Angewandte Linguistik an der Universität
Warschau durch Sie. Die Errungenschaften des Instituts bringen Ihrem
Gründer verdiente Ehre und vergrößern gleichzeitig das Prestige unser ge-
samten Universität – und das nicht nur in Polen.
Über Ihren wissenschaftlichen Weg, Ihre Leidenschaft zu forschen
und Ihre Verdienste für die polnische Wissenschaft (unter besonderer
Berücksichtigung des Konzepts der Glottodidaktik als wissenschaftli-
cher Disziplin), über die Teilnahme an vielen internationalen Gremien
und wissenschaftlichen Vorhaben (häufig als Vorsitzender – und das so-
gar „im Rang“ eines Präsidenten!) und über Ihre hervorragenden Arbeiten
im Bereich der Germanistik und Angewandten Linguistik können sich
mit Sicherheit Ihre Mitarbeiter und Schüler ausführlich und kompetent
äußern. Als Rektorin der Universität Warschau, mit der Sie Ihren beruf-
lichen Werdegang als Professor und Prorektor verbanden bleibt mir die
Freude Ihnen für Ihren vielseitigen, reichen und wertvollen Beitrag zur
Entwicklung und zum Renommee unserer Universität zu danken.
Es ist ein großes Glück, wenn man die Leidenschaft seines Lebens mit
der beruflichen Wahl in Einklang bringen kann. Das Erreichen von hervorra-
genden Ergebnissen in der Arbeit und das Gewinnen von Anerkennung der
nächsten Umgebung sind weitere Gründe zur Zufriedenheit. Das Erreichen
von internationaler Anerkennung in der Disziplin, der man sich widmet,
ist das Kronjuwel! Ich freue mich, dass Sie an allen diesen Aspekten des
wissenschaftlichen Lebens Anteil haben! Ich hoffe, dass Ihnen auch dieses
Jubiläumsjahr sowie jedes weitere Jahr viele Erfolge und Gründe zu per-
sönlicher Zufriedenheit bringen!
Ad multos annos!
Mit Ausdrücken der aufrichtigsten Wertschätzung
Katarzyna Chałasińska-Macukow
Warschau, den 26. Mai 2012
Laudationen auf Franciszek Grucza 481
482 Laudationen auf Franciszek Grucza
Laudationen auf Franciszek Grucza 483
484 Laudationen auf Franciszek Grucza

Prof. Dr. Michał Kleiber


Präsident der Polnischen Akademie der Wissenschaften

Herrn Professor Franciszek Grucza

Sehr geehrter Herr Professor,


aus Anlass Ihres 75. Geburtstages möchte ich Ihnen im Namen des
Präsidiums der Polnischen Akademie der Wissenschaften und in eigenem
Namen herzliche Gratulationen und die besten Wünsche aussprechen.
Sie gehören zum Kreis der führenden polnischen Germanisten. Groß
sind Ihre Verdienste in Bezug auf die Entwicklung der polnisch-deut-
schen Kontakte sowie Ihr Beitrag zur Gründung und zum Funktionieren
der Niederlassungen der Polnischen Akademie der Wissenschaften (PAN)
in Berlin und Wien. Außerdem nahmen Sie als geschätzter Dozent am
wissenschaftlichen Leben Polens teil. Sie sind Mitglied des Komitees
für Neuphilologie und des Rates der Förderung der Wissenschaften des
Präsidiums der Polnischen Akademie der Wissenschaften.
Von Ihrer großen Autorität zeugt Ihr Titel als Doktor honoris causa der
Universität Essen.
Gemeinsam mit dem Dank für die vielen Jahre schöpferischer Arbeit bit-
te ich Sie, verehrter Herr Professor, den Ausdruck großer der Hochachtung
und auch die herzlichsten Wünsche für Ihre Gesundheit und Ihr persön-
liches Wohlergehen entgegenzunehmen.
Mit vorzüglicher Hochachtung
Michał Kleiber

Warszawa, den 27. Mai 2012


Laudationen auf Franciszek Grucza 485

Dr. Gisela Janetzke


Ehemalige stellvertretende Generalsekretärin
der Alexander von Humboldt-Stiftung

Laudatio auf Professor Franciszek Grucza

Zum 75. Geburtstag mit einer Festschrift im Umfang von (fast) 750
Seiten – 30 Seiten davon umfasst allein das eigene Schriftenverzeichnis
des Jubilars! – in Beiträgen von namhaften Fachkolleginnen, Kollegen und
Schülern aus dem In- und Ausland geehrt zu werden, ist ein ganz beson-
deres Verdienst, zu dem ich mit großer Freude, zusammen mit Dr. Dietrich
Papenfuß, die Glückwünsche aus der Alexander von Humboldt-Stiftung
überbringen darf.
Franciszek Gruczas Verbindung zur Stiftung reicht bis in das Jahr 1966
zurück, als er sich aus eigener Initiative um ein Forschungsstipendium be-
warb. Nach mehr als 30 Jahren ist es zulässig und mag für Fachgutachter
und Schüler interessant sein, was in dem Archiv der Stiftung über die bisher
vertrauliche Korrespondenz nachzulesen ist.
Im Dezember 1966 schrieb Professor Ludwik Zabrocki aus Poznan:
„Dr. Franciszek Grucza ist einer meiner begabtesten Schüler. Er ist sehr
gut sowohl in den Theorien des klassischen Strukturalismus wie auch
in den Grundlagen der kybernetischen Sprachwissenschaft bewandert
(…)“. Aus Kraków schrieb Doz. Dr. Aleksander Szulc: „Bereits wäh-
rend seiner Germanistikstudien in Poznań legte Herr Grucza eine auf-
fallende linguistische Begabung an den Tag (…). Dr. Grucza arbeitet
gegenwärtig an einer informationstheoretisch gerichteten strukturellen
Untersuchung des deutschen Morphemaufbaus (…). Diese Abhandlung
ist als Habilschrift gedacht. Sie bedarf allerdings einer hierzulande un-
ausführbaren automatischen Analyse eines Lochkartenwörterbuchs der
deutschen Gegenwartssprache. (…) Die vielseitige sprachwissenschaft-
liche Begabung, Scharfsinn und logische Denkweise sowie persönliche
Charakterzüge des Bewerbers, insbesondere sein zielbewusstes Wesen,
Arbeitsamkeit und Kameradschaftlichkeit lassen in ihm Ansätze zu einem
namhaften Sprachforscher vermuten.“ Professor Gerold Ungeheuer aus
Bonn akzeptierte den Forschungsplan zur Durchführung an seinem Institut
und erwartete eine „wünschenswerte Fortsetzung meiner schon vor langen
486 Laudationen auf Franciszek Grucza

Jahren begonnenen Zusammenarbeit mit Herrn Professor Zabrocki. (…)


Nach meinem Urteil bringt Herr Grucza die besten Voraussetzungen mit,
auf diesem Gebiet einen wichtigen wissenschaftlichen Beitrag zu leisten.“
In seinem Schreiben vom 18. Mai 1967 bedankt sich Franciszek Grucza
herzlich für die Verleihung des Forschungsstipendiums. „Ich bin jedoch
zugleich etwas betrübt, weil ich leider zu dem im Verleihungsschreiben
genannten Zeitpunkt meine wissenschaftliche Arbeit in Deutschland
nicht aufnehmen kann, und zwar deswegen, weil zu dem Zeitpunkt mein
Reisepass noch nicht fertig sein wird. Ich kann den Reisepass erst aufgrund
des Verleihungsschreibens der Alexander von Humboldt-Stiftung beantra-
gen und werde ihn deswegen erst in 6 bis 7 Wochen erhalten“.
Es folgte eine intensive Zusammenarbeit mit zahlreichen Forschung­
saufenthalten in Köln, Bonn, Mannheim, Saarbrücken und Duisburg-Essen,
deren Ergebnisse ihren Niederschlag in zahlreichen Publikationen fanden.
Im Jahr 1993 wird Franciszek Grucza von Fachkollegen aus Deutschland
dann für den international angesehenen Alexander von Humboldt-
Forschungspreis nominiert. Auch wenn die Nominierung noch nicht 30
Jahre zurückliegt, erlaube ich mir hier aus den vertraulichen laudationes zu
zitieren, die 1994 zur Verleihung des Preises führten. Professor Karl-Dieter
Büntig zählt Franciszek Grucza zur „Spitzengruppe von Wissenschaftlern
in angewandter Linguistik in Europa, der das Fach in Polen etabliert hat“;
Professor Hans-Jürgen Krumm, Hamburg, hält ihn für einen „kreativen,
wissenschaftlich und wissenschaftspolitisch bedeutsamen Kollegen“;
Professor Gerhard Stickel charakterisiert ihn als „außergewöhnlichen, be-
deutenden Forscher, Lehrer und Organisator“ und „hält den Preis für eine
gute und sichere Investition“. Professor Heinz Vater, Köln, würdigt das
„Oeuvre von beeindruckender Vielfalt“.
Wie weitsichtig und zutreffend die frühen Gutachten, Prognosen und lau-
dationes waren, hat sich in dem wissenschaftlichen Lebensweg Franciszek
Gruczas immer wieder gezeigt. Zwei weitere Beispiele aus unserem Archiv
möchte ich anfügen. Nachdem Franciszek Grucza am 25.10.2001 unserem
damaligen Präsidenten (und Fachkollegen), Professor Wolfgang Frühwald
für dessen persönliche Teilnahme an dem Millenium-Kongress „Tausend
Jahre polnisch-deutsche Beziehungen“ gedankt hatte, antwortete Wolfgang
Frühwald am 7.11.: „Lieber Herr Grucza, für die freundliche Zusendung der
Dokumentation über den Kongress danke ich Ihnen auch schriftlich noch
einmal sehr. Der voluminöse und fast symbolisch 1000 Seiten umfassende
Band ist ungemein sorgfältig redigiert und bietet eine Bestandsaufnahme
der deutsch - polnischen Beziehungen, die tiefgreifend und sehr informa-
Laudationen auf Franciszek Grucza 487

tiv ist. Auf dem Boden der hier dargestellten Zusammenarbeit können wir
gut weiterbauen. Ich hoffe, dass der Band breite Aufmerksamkeit findet, in
Polen, wie in Deutschland.“
2002 wird Franciszek Grucza mit der Goethemedaille ausgezeich-
net. „Das Goethe-Institut Inter-Nationes ehrt mit der Verleihung seiner
Medaille an Franciszek Grucza den Auslandsgermanisten, der theoretische
Grundlagen und praktische Konsequenzen seiner Wissenschaft kontinuier-
lich durchdacht und in vielfältigen Projekten umgesetzt hat; und der für die
Arbeit des Instituts als konstruktiv-kritischer Förderer stets von großem
Nutzen war. Es ehrt den Wissenschaftler und Wissenschaftspolitiker, der
jenseits ideologischer Verzerrungen den deutsch-polnischen Dialog lebt
und die Zusammenarbeit zwischen Wissenschaftlern Polens, Deutschlands
und Österreichs auch weit über die Germanistik hinaus gefördert hat. Es
ehrt den Europäer, dessen Initiativen tatkräftig das Wiedererstehen einer
mitteleuropäischen Germanistik betrieben und damit der deutschen Sprache
in Mitteleuropa wieder zu einem guten Klang verholfen haben.“
2010 gelingt es Franciszek Grucza, als Präsident der Internationalen
Vereinigung der Germanisten über 2000 Fachkolleginnen und Fachkollegen
aus aller Welt für über eine Woche in Warschau zu versammeln. Der
Abschluss der umfangreichen Publikationen steht kurz bevor.
Die Gratulation wäre aber unvollständig, würde sie nicht Frau Dr. Barbara
Grucza, die 1984 ebenfalls mit dem Humboldt-Forschungsstipendium aus-
gezeichnet wurde und Professor Sambor Grucza mit einbeziehen, die zu-
sammen immer ein starkes und leistungsfähiges Team in der Vertretung der
Germanistik in Polen bilden.
Im Namen der Alexander von Humboldt-Stiftung danke ich daher noch
einmal, dass sich Familie Grucza die Ziele der Stiftung, die auswärtige
Kulturpolitik durch internationale Forschungsförderung zu unterstützen,
selbst ganz und gar zu eigen gemacht hat. Wir hoffen, dass dieses Vorbild
für viele Nachwuchswissenschaftler Ansporn und Ermutigung zugleich
sein wird.
488 Laudationen auf Franciszek Grucza

Dr. Heinz-Rudi Spiegel


Ehemaliger Referent des Stifterverbandes für die Deutsche Wissenschaft

Laudatio auf Professor Franciszek Grucza

Sehr verehrter Herr Ehrenpräsident, sehr geehrter Herr Professor und


mein lieber Freund Franciszek Grucza,
wenn man Ihnen und Dir heute aus Anlass des 75. Geburtstags eine ein-
drucksvolle Festschrift überreicht, dann wird üblicherweise formuliert, dies
geschähe am Ende eines eindrucksvollen Wissenschaftlerlebens. Aber ich
denke, dieses greift zu kurz. Besser formuliert man wohl: „Dies geschieht
aus Anlass eines für Menschen immer herausragenden und damit erinne-
rungsgesättigten biologischen Lebensmoments.“ Denn ich weiß und bin
davon überzeugt, dass der Wissenschaftler Franciszek Grucza immer noch
etwas zu sagen hat und produktiv bleiben wird.
Diese Festschrift, gestaltet von Kolleginnen und Kollegen aus dem
In- und Ausland, von Schülerinnen und Schülern würdigt – wie soll-
te es anders sein – vor allem Weite, Reichtum und Tiefe der zu ehren-
den Wissenschaftlerpersönlichkeit. Aber daneben gibt es auch einen an-
deren Franciszek Grucza, der sich auf eine ganz andere Weise für sein
Fach verdient gemacht hat und sich auch über sein Fach hinaus um das
wissenschaftliche Leben in Polen, um die Hochschulen, die Wissenschaft
und damit um die polnische Gesellschaft in einem weiteren Sinne geküm-
mert hat: das ist der Wissenschaftspolitiker, Wissenschaftsorganisator und
Wissenschaftsmanager Franciszek Grucza.
Soweit ich es beurteilen kann, bist Du, Franek, natürlich ein dem ei-
genen Fach – der Sprachwissenschaft – verpflichteter und verbundener
Gelehrter und Forscher ebenso wie ein begeisterungsfähiger Lehrer gewe-
sen. Darüber hinaus warst und bist Du immer zugleich auch ein „homo
politicus“. Nie hast Du Dich nur in Dein Fach vergraben, sondern schon
sehr früh versucht – gerade in schwierigen Zeiten – das wissenschaftli-
che Leben auf unterschiedlichen Ebenen in Polen mitzugestalten – sei es
in leitenden Funktionen in der Universität Warschau, in der Eigenschaft
als Mitglied der Polnischen Akademie der Wissenschaften oder als
Präsident Deines Fachverbandes. Du hast alle Möglichkeiten gesucht und
genutzt, das wissenschaftliche Leben Deines Landes gerade in beeng-
Laudationen auf Franciszek Grucza 489

ten Zeiten zu weiten – die von Dir eingefädelten und mit Leben erfüllen
Hochschulpartnerschaften seien als ein Beispiel genannt – und nach dem
„annus mirabilis 1989“ geschickt, energisch-konsequent und zielgerichtet
zu erweitern und zu stabilisieren. Hilfreich war Dir dabei das Vertrauen, das
Du Dir über Jahrzehnte hinweg bei deutschen – aber wohl nicht nur dort –
Wissenschaftsorganisationen erworben hattest. Hilfreich dafür war Dir da-
bei Deine unverstellte Art, auf Fremde zuzugehen, sie aufmerksam werden
zu lassen und mit Argumenten zu überzeugen. Vielleicht Dein wichtigstes
Kapital, das Du in die Waagschale zu werfen hattest, waren die vielen,
wahren Freundschaften, über Jahrzehnte aufrichtig gepflegt. All dies setzte
Dich in die Lage, in den vergangenen mehr als 20 Jahren unter neuen po-
litischen Voraussetzungen wichtige Beiträge für die Wissenschaftsnation
Polen zu leisten.
Aus meiner Perspektive will ich nur einige wenige nennen. Durch über-
zeugende Vorschläge und Ergebnisse ist es Dir möglich geworden, das
Vertrauen von Stiftern und privaten Stiftungen zu gewinnen, um nach-
haltig Programme und Projekte unterschiedlicher Art im Kontext Deines
Faches zu verwirklichen – sei dies der politisch bedeutsame Millenium-
Kongress, seien es Studienaufenthalte von Studierenden und wissenschaft-
lichen Nachwuchskräften in Deutschland, seien es kleinere Workshops in
binationaler Besetzung oder Fortbildungsveranstaltungen für polnische
Deutschlehrerinnen und Deutschlehrer. Mit größtem Interesse habe ich zu-
geschaut, wie geschickt Du die aus meiner Perspektive außerordentlich er-
folgreiche Stiftungsgastprofessur des Stifterverbandes, der Marga und Kurt
Möllgaard-Stiftung und der Porticus-Stiftung, an der ja alle Germanisten
in Polen partizipieren sollten, in ein Zentrum für Deutsche Sprache bei der
Polnischen Akademie der Wissenschaften eingebaut hast. Die Bedeutung
des damit verbundenen- und wohl unvermeidbaren - protokollarischen
Gepränges ist mir erst sehr viel später bewusst geworden.
Aber es ist ja nicht nur Dein Fach, auf das noch einmal zurückzukom-
men sein wird, gewesen, dem Du ein Anwalt geworden bist. Deine die-
nende Rolle als Direktor der wissenschaftlichen Zentren der Polnischen
Akademie der Wissenschaften in Wien und Berlin für mehrere Jahre, fern
vom Schreibtisch des Fachgelehrten darf man durchaus charakterisieren
als die eines Wissenschaftsbotschafters für ganz Polen in Österreich und
in Deutschland. In Wien hast Du sehr schnell die Drehscheibenfunktion
dieses Ortes für die Begegnung von Nachwuchswissenschaftlerinnen und
Nachwuchswissenschaftler gerade aus den Geistes- und sozialwissen-
schaftlichen Fächern aus Ost und West erkannt und zu nutzen verstan-
490 Laudationen auf Franciszek Grucza

den. Die von Dir dort organisierten Sommerschulen zu fächerübergrei-


fenden europäischen Themen, haben das Gefühl der Beteiligten für eine
zum Teil neue, zum Teil wiedergefundene europäische Identität gestärkt;
für die Eine oder den Anderen bildeten die Begegnungen in Wien auch
Ausgangspunkt für eine eigenständige Karriere in der Wissenschaft, der
Wissenschaftsverwaltung und der Wissenschaftspolitik. Mit manchen von
damals gerade in Südosteuropa stehe ich noch im Kontakt; es gibt dort
Männer und Frauen, derer Du Dich nicht mehr zu erinnern vermagst, die
aber tiefe Gefühle der Dankbarkeit und des Respekts für Dich hegen.
Ja, diese Fähigkeit, Dich aus eigenen engen Interessen zu lösen, Dich
auf Zeit auf größere fachliche, allgemeinwissenschaftliche und politische
Aufgaben einzulassen, ist ein herausragender Charakterzug, der Dir zu ei-
gen ist und der Dich auszeichnet. Davon haben dann eben nicht nur die
wissenschaftlichen Strukturen und Organisationen profitiert, nein es waren
immer auch Individuen, die Du in solchen Arbeitszusammenhängen, indem
Du sie einbandest, in ihrem wissenschaftlichen Fortkommen gefördert hast.
Das letzte oder besser jüngste Beispiel dafür ist Deine Präsidentschaft
für den IVG-Kongress 2010 in Warschau. Ich weiß, es war Dir ein
Opfer dieses Amt zu übernehmen, weil Du wusstest, dieses bedeutet er-
neut Abwesenheit auf Zeit vom geliebten Schreibtisch. Es war Dir aber
auch Verpflichtung, Dich in den Dienst Deines Faches, der polnischen
Germanistik, der Ökumene der Germanisten aus der ganzen Welt, Deiner
Universität und auch in den Dienst der Wissenschaft in Polen in einem
wissenschaftspolitischen Sinne zu stellen. Diese Aufgabe hast Du mit all
Deinen Helferinnen und Helfern glänzend gelöst. Die bald sukzessive er-
scheinenden Proceedings werden davon Zeugnis ablegen.
Sie zeichnen mit dieser Festschrift heute den Gelehrten, den Kollegen,
den Lehrer und Freund Franciscek Grucza für seine fachlichen Leistungen
aus und ehren ihn damit. Das ist gut so! Genauso wichtig scheint es
mir bei dieser Gelegenheit aufscheinen zu lassen, welche Rolle er ne-
ben der des Sprachwissenschaftlers für uns alle auch gespielt hat; was
er für uns, für Sie und für mich, getan hat, welches seine Beiträge für
eine internationale Wissenschaftszusammenarbeit – gerade auch zwi-
schen Polen und Deutschland – gewesen sind. In einer einmal wieder zu
schreibenden biografischen Skizze über Franciszek Grucza müsste diese
wissenschaftspolitische und wissenschaftsorganisatorische Leistung einen
bedeutsamen und eigenständigen Abschnitt einnehmen.
Lieber Franek, vor der Entscheidung, die Präsidentschaft zum nächsten
IVG-Kongress anzunehmen, haben wir einmal von Deiner Leidenschaft
Laudationen auf Franciszek Grucza 491

des Bücherschreibens gesprochen. Die Annahme der Präsidentschaft ver-


langte Dir, von mir favorisiert, wieder einmal Verzicht auf Zeit für diese
Leidenschaft ab. Nun aber bist Du frei. Fröne also Deiner Leidenschaft!
Ich bin mir sicher, bald wird wieder etwas erscheinen, worauf manche ge-
spannt sind, worauf manche sich freuen. In diesem Sinne kann auch die-
se Festschrift nicht Endpunkt, sondern nur eine Zwischenstation in der
Beurteilung Deiner Lebensleistung sein.
492 Laudationen auf Franciszek Grucza

Prof. Dr. Marian Szczodrowski


Emeritierter Professor der Danziger Universität
Ehemaliger Dekan der Philologischen und Historischen Fakultät
der Danziger Universität

Brevis laudatio dedicata


Professori Francisco Grucza

Illustrissime Vir Docte,


Hodie Tuum sollemne. Tibi hic et nunc festum agimus.
Animadvertere oportet: Est innatum in Te cogitationis desiderium
et scientiae desiderium.
Itaque opera Tua in tribus disciplinis non solum in patria nostra, sed etiam
in terris externis nota; ea omnia atque numeranda, atque ponderanda sunt.
Multa scripsisti ac fecisti, plures quoque expectamus.
Utinam vita Tua felix, iucunda et laetitia plena sit.
Ab imo pectore amicabiliter gratulator ac omne bonum et multos annos
opto.
Gaudeamus igitur, dum cum Grucza sumus.

Terô përzinkã w naszi rodny mòwie:


Nie zabądze, gdze Të so ùrodzył i do szkòłë chòdzył.
Kaszëbsczé jezora, kaszëbsczi las, gdze jërk żôłti kwitnie, wòłają Cë téż.
Wszëtczégò dobrégò dzys, witro, wiedno – Tobie i Twòji Białce téż.
Më trzimómë z Bògã!
Danksagung

Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Franciszek Grucza


Ehrenpräsident des Verbandes Polnischer Germanisten
Ehrenpräsident der Internationalen Vereinigung für Germanistik

Meine sehr geehrten Damen und Herren,


liebe Kolleginnen und Kollegen,
verehrte Gäste,
liebe Mitglieder des Verbandes Polnischer Germanisten!

Wer von ihnen erwartet, dass ich nun einen Festvortrag halten wer-
de, den muss ich leider enttäuschen. Wer aber befürchtet, dass ich die
Gelegenheit nutze und nun eine angemessen lange Rede halte, der kann
aufatmen. Ich werde weder einen Festvortrag noch eine lange Rede halten,
denn ich habe weder das eine noch das andere vorbereitet. Ich habe keinen
Festvortrag vorbereitet, weil es hierzulande nicht üblich ist, dass der mit
einer Festschrift beschenkte, aus Anlass ihrer Überreichung so etwas tut.
Und eine Festrede habe ich nicht vorbereitet, weil ich, ob Sie es mir glau-
ben oder nicht, bis zur Eröffnung dieser Feierstunde keine Ahnung hatte,
was hier heute passieren wird.
Zwar habe ich geahnt, dass man mich während dieser Veranstaltung mit
einer Festschrift zu beschenken gedenkt, und dies vor allem danach, als
mich in den letzten Tagen ein paar Kolleginnen und Kollegen angerufen
bzw. angemailt haben, um die Gründe zu nennen, derentwegen sie hier heu-
te nicht anwesend sein werden und mir dabei im Voraus zu der Festschrift
gratulierten. Ich habe jedoch nicht im geringsten geahnt, dass hier heute
im Rahmen dieser Veranstaltung ein derart reichhaltiges Programm ausge-
führt wird, dass man mich nicht bloß mit der Festschrift, sondern mit einer
ganz besonderen Statuette, mit einem Konzert, mit einem aus 75 Rosen
zusammengesetzten Strauß und mit so vielen so ausführlichen Laudationes
beschenken wird. Das alles hätte ich nicht einmal zu träumen gewagt.
494 Laudationen auf Franciszek Grucza

Geahnt habe ich auch nicht, dass mich hier heute nicht nur so viele
Germanisten, sondern auch viele Vertreter anderer Philologien sowie an-
derer sowohl akademischer als auch außerakademischer Fächer, so viele
Kolleginnen und Kollegen aus dem Ausland, so viele Freunde mit Ihrer
Präsenz beglücken. Meine Damen und Herren! Ich freue mich außerordent-
lich darüber, dass Sie sich dazu entschlossen haben, diese Feier zusammen
mit mir zu erleben. Ich danke Ihnen allen und jedem von Ihnen auch ganz
persönlich für dieses Zeichen Ihrer Verbundenheit.
Verehrte Gäste! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe Freunde! Der
Usus, dass man Akademiker mit Festschriften aus Anlass ihres 65., 70., 75.
oder noch späteren Geburtstags oder deshalb beschenkt, weil sie aus dem
aktiven akademischen Leben ausscheiden und sich in den sog. Ruhestand
begeben, bildet bekanntlich ein Element der europäischen akademischen
Kultur. Derselben Kultur sind auch die Regeln anzurechnen, die besagen,
wie eine Festschrift vorzubereiten ist, sowie der Usus, dass die Festschrift an
den jeweiligen Akademiker im Rahmen einer kleinen Feier überreicht wird.
Darüber, dass es eine Reihe, vielleicht sogar ein System, von (wenn
auch nicht in jedem Fall eindeutigen) Regeln gibt, die bei der Ausführung
all der angesprochenen Aktivitäten zu beachten sind, bin ich mir schon
seit länger Zeit im Klaren. Dies ist mir bewusst geworden, als ich selbst
die Vorbereitung von Festschriften für andere Akademiker initiierte bzw.
mich an ihrer Entstehung beteiligte. Vor allem sind mir dabei die folgenden
zwei Regeln ins Auge gefallen: Zum einen, dass die mit einer Festschrift
zu beschenkende Person vor deren Überreichung nichts darüber erfahren
darf. Zum anderen, dass dafür zu sorgen ist, dass die/der Adressat/In der
Festschrift nicht vor der Feier in das Programm eingeweiht wird, das wäh-
rend ihrer feierlichen Überreichung ausgeführt werden soll.
Jedoch erst in den letzten Tagen, vor allem infolge der erwähnten Anrufe
und Mails, tauchte binnen meines Bewusstseins der Gedanke auf, dass all
das, woran wir uns alle in diesem Augenblick beteiligen, als ein bis zu
einem bestimmten Grad geregeltes kulturelles Spiel, oder anders ausge-
drückt: als ein Spiel aufzufassen und zu analysieren ist, dem (mehr oder
weniger deutliche) Regeln kultureller Natur zugrunde liegen. Genauer:
dass die sich derzeit abspielende Veranstaltung als die Ausführung des
Abschlussgliedes eines kulturellen Spiels zu behandeln ist – eines Spiels,
das in dem Augenblick begonnen wurde, in dem die Initiatoren der
Festschrift, die ich vor wenigen Minuten in Empfang nehmen durfte, die
Idee ergriffen, sie vorzubereiten und dafür zu sorgen, dass sie entsteht.
Damit aber der Ausdruck „kulturelles Spiel“ keine falschen Eindrücke
weckt, füge ich hinzu, dass es sich in unserem Fall um ein Spiel handelt,
Laudationen auf Franciszek Grucza 495

dessen Ausführung streckenweise harte Arbeit inkludiert, und dass es


diesbezüglich eine weitgehende Ähnlichkeit mit Sportspielen aufweist.
Jedenfalls sind bei einer genaueren Analyse des gesamten Spiels außer
dieser Endphase und seiner bereits erwähnten Anfangsphase noch etliche
Zwischenphasen in Betracht zu ziehen – unter anderem die Arbeitsphasen
mit den folgenden Zielen bzw. Aufgaben: (a) einen Plan für die Entstehung
der Festschrift zu entwerfen, die Finanzierung ihrer Produktion abzusi-
chern; (b) eine Anzahl entsprechender Beiträger der Festschrift zu gewin-
nen; (c) sich darum zu kümmern, dass die Beiträge tatsächlich entstehen
und zum vorgegebenen Termin eingereicht werden; (d) zu sorgen, dass die
Festschrift zum vorgegebenen Termin gedrückt vorliegt; (e) und schließ-
lich eine Feier zur Überreichung der Festschrift zu planen und zu organi-
sieren, und das heißt unter anderem, entsprechende Reden vorzubereiten,
Laudatoren zu gewinnen usw. usf.
Warum zähle ich all diese Bestandteile des Spiels, an dessen Ausführung
wir uns in diesem Augenblick beteiligen, so detailliert auf? Vor allem, um
wenigstens anzudeuten, dass ich mir sehr wohl dessen bewusst bin, wie vie-
le von ihnen wie viel Arbeit leisten und Freizeit aufopfern mussten, um die
Festschrift, die Feier, die Laudationes, das Konzert und all die Geschenke,
die sie mir zukommen ließen, vorzubereiten und die Ausführung dieses
Jubiläumsspiels zu ermöglichen.
Ich tue aber dies auch deswegen, weil mir in den letzten Tagen nicht
nur der Gedanke einfiel, dass wir uns im Grunde genommen an einem kul-
turellen Spiel beteiligen, sondern auch der Gedanke, dass man unter an-
derem versuchen sollte, die kommunikativen Aspekte (Absichten, Ziele,
Aufgaben, Erträge etc.) des Spiels aus der Sicht der anthropozentrischen
Kuturologie (mit derer idealtypischen Konstituierung ich mich derzeit
recht intensiv befasse) zu rekonstruieren, und dass ich diese Gelegenheit
dazu nutzen könnte, die wichtigsten Thesen der anthropozentrischen
Kuturologie sowie die Ergebnisse meines Nachdenkens darüber Ihnen
vorzutragen, wie aus ihrer Sicht ein Forschungsprojekt mit dem Ziel zu
gestalten sei, die angesprochenen kommunikativen Aspekte des Spiels zu
erkunden.
Doch keine Angst! Ich werde, wie bereits versprochen, während dieser
Veranstaltung keinen Vortrag halten. Heute beschränke ich mich auf die
Ausführung der für den jeweiligen Empfänger einer Festschrift im Szenario
des Spiels vorgesehenen Rolle. Und demzufolge habe ich mich nun bei al-
len zu bedanken, die sich an all den aufgezählten Phasen des Spiels beteiligt
haben. Doch bevor ich dazu übergehe, die Empfänger-Rolle auszuführen,
will mit Nachdruck betonen: Obwohl auch ihre Ausführung weitgehend
496 Laudationen auf Franciszek Grucza

ritualisiert ist, bitte ich Sie alle, meine Danksagungen als Handlungsakte
wahrzunehmen, die ich aus einem zutiefst in meinem Herzen verwurzelten
Bedürfnis vollziehe und nicht bloß deshalb, weil sie einen Bestandteil die-
ses kulturellen/akademischen Spiels ausmachen.

Meine Damen und Herren! Liebe Kolleginnen und Kollegen! Liebe


Freunde! Aus selbstverständlichen Gründen will ich mich nun vor allem
bei den Initiatoren der Festschrift und jenen sehr herzlich bedanken, die
dafür gesorgt haben, dass sie tatsächlich entstanden ist. Ich bitte Sie um
Verständnis dafür, dass ich hierbei keine Namen nenne. Der Grund dafür
ist der, dass sie mir einfach nicht bekannt sind, weil ich nicht weiß, wer
welche von den aufgezählten Aufgaben erfüllt hat.
Einen sehr herzlichen Dank richte ich des Weiteren an alle Autoren der
Beiträge, die diese Festschrift ausmachen. Selbstverständlich werde ich
sie alle möglichst genau studieren. Und ich verspreche, zu einem späteren
Termin mich bei Autoren der Festschrift auch noch schriftlich zu melden.
Sehr herzlich danke ich auch allen, die den ersten Teil der Festschrift mit
verschrifteten Gratulationen bereichert und sich dabei lobend zu meiner
Person und meinen bisherigen Leistungen geäußert haben.
Sehr herzlich bedanke ich mich auch bei allen Mitglieder des Verbandes
Polnischer Germanisten, die diese wundervolle Statuette, den Rosenstrauß
und all die anderen Geschenke gestiftet haben. Auch allen Autoren der
hier vor wenigen Augenblicken vorgetragenen Laudationen danke ich
vom Herzen. So viel Lob habe noch nie zuvor binnen eines so kurzen
Zeitabschnittes von so vielen Laudatoren vernommen. Ich bin mir jedoch
nicht sicher, dass ich all den Lob wirklich verdient habe. Ich weiß aber,
dass auch ein jeder Laudator bei der Verfassung seiner Lobrede bestimmte
Spielregen zu beachten hat. Doch sollte auch nur die Hälfte von dem hier
heute zu meiner Person gesagten wirklich wahr sein, dann darf ich mich
darin bestätigt fühlen, dass es sich lohnt, den von mir eingeschlagenen Weg
weiter zu gehen.
Sehr herzlich möchte mich auch bei allen bedanken, die dafür gesorgt
haben, dass dieses kulturelle Ereignis zustande gekommen ist und dass wir
uns an ihm beteiligen dürfen. Abschließend möchte ich meine Danksagung
mit dem Wunsch beenden, dass wir uns in den kommenden Jahren noch
reichlich oft aus verschiedenen sowohl wissenschaftlichen als auch priva-
ten Anlässen wiedersehen und uns austauschen können.
Laudationen auf Franciszek Grucza 497

Vor und unmittelbar nach der Jahrestagung sind bei Franciszek


Grucza viele Dank- und Gratulationsworte angekommen, zum Teil von
Kolleginnen und Kollegen, die an der Festversammlung nicht teilnehmen
konnten, zum Teil von anwesenden Gästen und Teilnehmern, die nach dem
Abschluss der Jahrestagung, das Bedürfnis empfanden, dem Jubilar und den
Organisatoren zusätzlich zu gratulieren. Der exemplarische Brief der ehe-
maligen Vizepräsidentin der Internationalen Vereinigung für Germanistik
bringt dies sehr gut zum Ausdruck.
498 Laudationen auf Franciszek Grucza

Cairo, 12. Juni 2012

Dank- und Gratulationsworte

Sehr geehrter Kollege Professor Grucza,


lieber Franek,

ich möchte mit dieser E-mail Dir und allen Kolleginnen und Kollegen der
Polnischen Germanistik ganz herzlich für meine Einladung zur diesjähri-
gen Tagung in Warschau danken. Die Teilnahme daran war für mich eine
wissenschaftliche und menschliche Bereicherung.
Ich gratuliere Dir zu Deinem Erfolg und bewundere Deinen unermüdli-
chen Einsatz für die polnische Germanistik. Franek, Du hast wirklich Schule
gemacht und die Germanistik in Polen auf ein hohes internationales Niveau
erhoben. Zwanzig Jahre lang hast Du einen fleißigen Nachwuchs selbstlos
mit all Deinen Kräften gefördert. Deine Schülerinnen und Schülern gehen
Deinen Weg weiter.
Es war eine Ehre und Freude für mich, bei der Übergabe Deiner Festschrift
dabei zu sein. Ich danke Dir auch für die kollegiale Zusammenarbeit im
IVG-Vorstand, bei der ich Dich als einen kompetenten Germanisten und
einen hervorragenden Gastgeber kennenlernen durfte.
Lieber Franek, wir sind Geistesgesinnte, die sich für die Internationa­
lisierung der Germanistik in unseren Ländern einsetzen. Der Austausch mit
Dir und mit der polnischen Germanistik ist für mich von großer Bedeutung
und ich hoffe sehr, dass die geknüpften Kontakte in Zukunft gepflegt werden.
Ich gratuliere der neuen Präsidentin des Verbandes zur Wahl und wünsche
ihr viel Erfolg. Nicht zuletzt möchte ich mich bei Prof. Dr. Sambor Grucza
für seine Bemühungen bedanken. Ebenso möchte ich mich bei allen bedan-
ken, die sich an der Organisation der Tagung in Warschau beteiligt haben.
Mit den allerliebsten Grüßen bitte auch an Ihre liebe Ehegattin und
Familie.

Prof. Dr. Aleya Abd-Allah Khattab


Ehemalige Vizepräsidentin der Internationalen Vereinigung für Germanistik
Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Franciszek Grucza

„Die junge und aktive Polnische Germanistik“

Mit dieser Statuette würdigen die Mitglieder des


Verbandes Polnischer Germanisten die Arbeit von
Herrn Professor Franciszek Grucza
Prof. Dr. Dr. h.c. Karl-Dieter Bünting Dr. Gisela Janetzke

Dr. Heinz-Rudi Spiegel


Die Überreichung der Festschrift an Professor Franciszek Grucza
durch die Herausgeber

Die Präsidenten Franciszek Grucza und Zofia Berdychowska


In der ersten Reihe von links sitzen: Dr. Heinz-Rudi Spiegel, Prof. Dr. Zofia Berdychowska,
Dr. Dietrich Papenfuß, Dr. Gisela Janetzke, Dr. Barbara Grucza
und Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Franciszek Grucza

In der ersten Reihe von links sitzen: Prof. Dr. Dr. h.c. Karl-Dieter Bünting, Ingeborg Bünting,
Prof. Dr. Sambor Grucza, Prof. Dr. Jianhua Zhu, Prof. Dr. Dr. h.c. Ernest W.B. Hess-Lüttich,
Prof. Dr. Marianne Hepp, Prof. Dr. Magdalena Olpińska-Szkiełko, Prof. Dr. Jerzy Żmudzki,
Prof. Dr. Ewa Żebrowska, Prof. Dr. Zenon Weigt

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