Herausgegeben von
Grzegorz Pawłowski
Magdalena Olpińska-Szkiełko
Silvia Bonacchi
Warszawa 2012
Publikacje Stowarzyszenia Germanistów Polskich
Publikationen des Verbandes Polnischer Germanisten
KOLEGIUM REDAKCYJNE/REDAKTIONSBEIRAT
REDAKCJA/REDAKTION
ISBN 978-83-60729-29-8
Ansprachen
Prof. Dr. Jianhua Zhu
Präsident der Internationalen Vereinigung für Germanistik, Shanghai. . 21
Dr. Gisela Janetzke
Ehemalige stellvertretende Generalsekretärin
der Alexander von Humboldt-Stiftung, Bonn / Bad Godesberg. . . . . . 23
Dr. Heinz-Rudi Spiegel
Ehemaliger Referent des Stifterverbandes für die Deutsche
Wissenschaft, Essen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26
Mag. iur. Ulla Krauss-Nussbaumer
Kulturrätin der Österreichischen Botschaft in Warschau . . . . . . . . . . 29
Dr. Randolf Oberschmidt
Leiter der Außenstelle des DAAD in Warschau. . . . . . . . . . . . . . . . . . 30
Plenarvorträge
Silvia Bonacchi
Interkulturelle Kommunikation, Dialog- und Konfliktforschung:
Einige Bemerkungen zum Forschungsgegenstand,
zu den Erkenntniszielen und Untersuchungsmethoden
der anthropozentrischen Kulturologie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35
Marina Foschi Albert
Kooperative und unkooperative Verwendung von Pronomen
in Texten der Physik und der Literatur (Franz Kafka,
Thomas Mann) aus dem frühen 20. Jahrhundert. . . . . . . . . . . . . . . . . 50
Małgorzata Guławska-Gawkowska
Semantische Aspekte im Vergleich von deutschen
und polnischen Phraseologismen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 74
Margot Heinemann
Textsorten und Sprachunterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89
Ernest W.B. Hess-Lüttich
Fachtext-Netzwerke in der Gesundheitskommunikation. . . . . . . . . . . 98
Annette Kliewer
Literatur-Unterricht an der Grenze. Deutsch-polnische
Interregionalität. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128
Michail L. Kotin
Modalitäten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140
Elżbieta Kucharska-Dreiss
Warum Predigten heute (nicht mehr) ankommen.
Von der Möglichkeit, die Ebenentheorie der Persönlichkeits-
entwicklung von Clare Graves (1914–1986) linguistisch
aufzuarbeiten und für die Homiletik nutzbar zu machen. . . . . . . . . . 159
Ryszard Lipczuk
Motive der Bekämpfung der Fremdwörter im Deutschen . . . . . . . . . 177
Henning Lobin
Die Digitalisierung von Lesen und Schreiben
und deren kulturellen Auswirkungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193
Katarzyna Lukas
Sprache – Gedächtnis – Architektur. Metonymische Präsenz
und metaphorische Bedeutung im Roman „Austerlitz”
von W.G. Sebald (2001). . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205
Dorota Masiakowska-Osses
„Deutschsein. Eine Aufklärungsschrift“. Zafer Şenocaks Essays
zur kulturellen Identität in einem Einwanderungsland . . . . . . . . . . . 228
Magdalena Olpińska-Szkiełko
Glottodidaktische Implikationen der anthropozentrischen
Sprachentheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 240
Grzegorz Pawłowski
Zum Gegenstand der linguistischen Semantik. . . . . . . . . . . . . . . . . . 249
Magdalena Pieklarz-Thien
Wie viel gesprochene Sprache braucht der Mensch?
Reflexionen zur Vermittlung von Gesprochensprachlichkeit
in der philologischen Sprachausbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 264
Andrzej Pilipowicz
Wer hat das Blut der Schwester getrunken? Der Vampirismus
im Pächter-Dramenfragment von Georg Trakl . . . . . . . . . . . . . . . . . 300
Odile Schneider-Mizony
Zum Verständnis von Sprachen und Kulturen in französischer
Fremdsprachenpolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 330
Rita Svandrlik
„Ich spreche nicht Menschen“. Von der Ermordung
der Wirklichkeit im Werk: Jelinek mit Bachmann gelesen . . . . . . . . 342
Rafał Szubert
Zur metaphorischen Hypostasierung im Bereich der Rechtssprache . . 356
Magdalena Szulc-Brzozowska
Einige Bemerkungen zur Verwendung des bestimmten Artikels
im Deutschen aus kognitiver Sicht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366
Małgorzata Świderska
Einige Bemerkungen zu Theorie und Methode der literatur
wissenschaftlichen Imagologie und der Fremdheitsforschung . . . . . 377
Urszula Topczewska
Kognition-Emotion-Volition.
Fritz Hermanns’ Beitrag zur linguistischen Diskursanalyse . . . . . . 386
Elena N. Tsvetaeva
Warum ist jeder seines Glückes „Schmied”.
Zum Ursprung eines Sprichwortes. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 399
Reinhold Utri
Die regionale Vielfalt des Deutschen als Kulturrealität
am Beispiel des österreichischen Deutsch. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 409
Anna Warakomska
‚Die modernen Kulturwissenschaften werden noch viel von
der alten Philologie lernen müssen‘ oder die Frage vom Umgang
mit den Texten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 423
Anna Maria Adamczyk
Nelly Sachs auf der Spur. Rosi Wosk-Sammlung im Deutschen
Literaturarchiv Marbach. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 438
Mitgliederversammlung
des Verbandes Polnischer Germanisten
Protokoll über die Mitgliederversammlung
Dr. Grzegorz Pawłowski
Generalsekretär des Verbandes Polnischer Germanisten. . . . . . . . . 455
Ansprache an die Mitgliederversammlung
Prof. Dr. Zofia Berdychowska
Neue Präsidentin des Verbandes Polnischer Germanisten. . . . . . . . 465
Danksagung
Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Franciszek Grucza
Universität Warschau. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 493
Der vorliegende Band enthält die Beiträge und Materialien der inter-
nationalen wissenschaftlichen Jahrestagung des Verbandes Polnischer
Germanisten, die in der Zeit vom 25. bis zum 27. Mai 2012 in Warschau
stattfand und dem Thema „Mensch – Sprachen – Kulturen“ gewidmet war.
Das Thema der Jahrestagung wurde mit dem Ziel formuliert, das wissen-
schaftliche Werk des Gründers und langjährigen Präsidenten des Verbandes
Polnischer Germanisten, Herrn Professor Franciszek Grucza zu würdigen.
Es war die Absicht der Organisatoren, seine wissenschaftliche Reflexion
über den Menschen, seine Sprachen und seine Kulturen aufzugreifen und
zu diskutieren, und das mit Blick auf die von ihm initiierten und entwickelten
anthropozentrischen Konzepte der menschlichen Sprachen und Kulturen,
die zahlreiche Forscher landes- und weltweit geprägt haben und weiterhin
prägen.
Die Jahrestagung drückt die Anerkennung der polnischen Germanisten
für seine Arbeit im Dienste der Wissenschaft aus. Während der Jahrestagung
wurde Professor Franciszek Grucza in einem feierlichen Akt die ihm
gewidmete Festschrift mit dem Titel „Der Mensch und seine Sprachen“ und
eine Ehrenstatuette des Verbandes überreicht. Die feierlichen Ansprachen
und Gratulationen ergänzen den Inhalt des vorliegenden Bandes.
Der Aufbau des Bandes spiegelt das Programm der Jahrestagung
und den Ablauf ihrer einzelnen Teile wider, wobei die Beiträge selbst
alphabetisch geordnet sind. Über die wissenschaftlichen Vorträge und die
Ansprachen hinaus enthält der Band die Materialien der Vollversammlung
der Mitglieder des Verbandes Polnischer Germanistik, in der das neue
Präsidium des Verbandes gewählt wurde.
Wir – die Organisatoren und die Herausgeber dieses Bandes – bedanken
uns bei den Gastgebern der Jahrestagung, namentlich bei der Rektorin der
Universität Warschau, Frau Prof. Dr. Katarzyna Chałasińska-Macukow und
dem Dekan der Fakultät Angewandte Linguistik, Herrn Prof. Dr. Sambor
Grucza. Unser Dank gilt außerdem allen Mitarbeiterinnen, Mitarbeitern,
Studentinnen und Studenten des Instituts für Anthropozentrische Linguistik
und Kulturologie der Universität Warschau für ihren Einsatz bei der
Vorbereitung und Durchführung der Jahrestagung.
Für die finanzielle Unterstützung der Jahrestagung und der sie doku-
mentierenden Publikation danken wir ganz besonders dem Minister für
Wissenschaft und Hochschulwesen der Republik Polen, der Warschauer
Außenstelle des Deutschen Akademischen Austauschdienstes sowie dem
Vorstand der Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit mit Sitz in
Warschau.
Die Herausgeber
Eröffnung
der Jahrestagung
Einleitende Worte
Ich heiße Sie alle sehr herzlich in Warschau willkommen. Ich begrüße
Sie nicht nur in meinem eigenen, sondern auch im Namen des gesamten
Vorstandes des Verbandes Polnischer Germanisten. Dass ich Sie zu dieser
internationalen wissenschaftlichen Konferenzen unseres Verbandes in den
Räumen der Universität Warschau, genauer: in den Räumen der Bibliothek
meiner Universität begrüßen darf, freut mich ganz besonders. Warum? Das
muss ich Ihnen nicht erst erklären. Bei allen, die es möglich gemacht ha-
ben, dass wir unsere diesjährige Tagung in diesem Ambiente durchführen
dürfen, bedanke ich mich sehr herzlich.
Meinen ersten besonderen Gruß richte ich an all diejenigen von Ihnen,
die aus dem Ausland zu uns gekommen sind. Vor allem aber an diejenigen,
die zum ersten Mal an einer wissenschaftlichen Konferenz des Verbandes
Polnischer Germanisten teilnehmen. Einen besonderen Gruß und Dank rich-
te ich an Herrn Professor Henning Lobin aus Gießen, Professor Christoph
Rösener aus Flensburg, die diesmal die Funktion der deutschen Partner bei
der Organisation dieser wissenschaftlichen Konferenz übernommen haben.
Einen besonderen und zugleich persönlichen Gruß richte ich an Herrn
Kollegen Jianhua Zhu, den Präsidenten der Internationalen Vereinigung
für Germanistik, Herrn Kollegen Ernest Hess-Lüttich, den Präsidenten der
Gesellschaft für Interkulturelle Germanistik und Frau Kollegin Marianne
12 Eröffnung der Jahrestagung
an mich gerichteten Anweisung nach dürfte ich mir nicht einmal selbst der
besagten „Verbindung“ bewusst sein, geschweige denn über sie so offen zu
reden, wie ich es getan habe.
Nicht nur befugt, sondern sogar verpflichtet bin ich aber zweifelsoh-
ne, Sie darüber zu informieren, dass die Funktion des Ko-Organisators
dieser Veranstaltung die Fakultät Angewandte Linguistik der Universität
Warschau erfüllt, und dass ihr Dekan Professor Sambor Grucza heißt.
Ich bedanke mich bei Ihm sowie seinen Mitarbeitern für all die Hilfe, die
wir Seiner/Ihrerseits während der Vorbereitung dieser wissenschaftlichen
Jahrestagung erfahren haben, im Namen des ganzen Vorstandes unseres
Verbandes sehr herzlich.
Besonders verdient haben sich während der Vorbereitung dieser
Konferenz auch Frau Professor Magdalena Olpińska-Szkiełko, die noch-
Schatzmeisterin und zugleich Prodekanin der Fakultät Angewandte
Linguistik dieser Universität und Herr Dr. Grzegorz Pawłowski, der
noch-Generalsekretär unseres Verbandes. Sie haben mich bei der
Planung und Programmgestaltung der Konferenz, bei Verfassung von
Förderungsanträgen, beim Schreiben all der Anträge um Hilfe, bei der
Erledigung der Korrespondenz und den sonstigen organisatorischen
„Kleinarbeiten“ uneigennützig unterstützt. Auch Ihnen allen möchte ich
auch an dieser Stelle dafür meinen persönlichen Dank aussprechen.
Die Tatsache aber, dass wir auch diese wissenschaftliche Konferenz des
Verbandes Polnischer Germanisten zu recht günstigen Bedingungen durch-
führen können, haben wir jedoch auch den Förderern dieser Veranstaltung
zu verdanken. Gestatten Sie mir deshalb, dass ich auch diese Institutionen
beim Namen nenne und mich bei ihnen auch in Ihrem Namen bedanke.
Besonders verdient um diese Tagung haben sich die folgenden Institutionen:
die Stiftung für deutsch-polnische Zusammenarbeit, die ihren Sitz in
Warschau hat, das Ministerium für Wissenschaft und Hochschulwesen der
Republik Polen und der Deutsche Akademische Austauschdienst.
Zur neuen Präsidentin des Verbandes für die Amtszeit 2012 bis 2015
ist Frau Kollegin Zofia Berdychowska von der ältesten (1364 gegründe-
ten) polnischen und zweitältesten mitteleuropäischen Universität, der
Universität zu Krakau, gewählt worden. Das Amt des Generalsekretärs des
VPG wurde Herrn Dr. Paweł Zarychta und das Amt des Schatzmeisters
Herrn Dr. Robert Kołodziej anvertraut. In den Vorstand sind außerdem
noch die folgenden Personen gewählt worden: Prof. Dr. Lech Kolago
(Vizepräsident), Prof. Dr. Zenon Weigt (Vizepräsident), Prof. Dr. Jerzy
Żmudzki (Vizepräsident), Prof. Dr. Sambor Grucza (Vorstandsmitglied),
Prof. Dr. Maria Lasatowicz (Vorstandsmitglied), Prof. Dr. Ewa Żebrowska
(Vorstandsmitglied), Prof. Dr. Beata Mikołajczyk (Vorstandsmitglied),
Prof. Dr. Magdalena Olpińska-Szkiełko (stellv. Vorstandsmitglied) und
Dr. Grzegorz Pawłowski (stellv. Vorstandsmitglied). Der Vollständigkeit
halber sei hinzugefügt, dass der bisherige Präsident des Verbandes infolge
einer Initiative der neuen Präsidentin einstimmig zum Ehrenpräsidenten
des Verbandes gewählt wurde.
Allen gewählten Kolleginnen und Kollegen gratuliere ich vom Herzen
und spreche meinen Dank dafür aus, dass sie sich bereit erklärt haben, für
den Verband zu arbeiten. Ich betone dies, weil der VPG ein Verband ist,
der sich ausschließlich aus Mitgliedsbeiträgen seiner Mitglieder finanziert
Jedenfalls erhält kein Vorstandsmitglied des Verbandes deswegen für seine
Verbandstätigkeit eine Vergütung. Alle seine Vorstandsmitglieder erfüllen
ihre Funktionen ehrenamtlich. Des Weiteren zeichnet sich der VPG da-
durch aus, dass er eine par excellence wissenschaftliche Einrichtungen ist.
Mitglied des Verbandes kann nämlich satzungsgemäß nur werden,
wer zuvor zumindest den Doktorgrad erlangt hat und sich mit germanis-
tischer Forschung aktiv beschäftigt. Andererseits aber kann Mitglied des
Verbandes nicht nur werden, wer sich aktiv mit sprach-, literatur- oder kul-
turwissenschaftlichen Fragen, sondern auch mit Fragen zu den Bereichen
befasst, die kollektiv als „Deutschlandkunde“ bezeichnet werden: das heißt,
wer sich mit Problemen der Geschichte, Politik und/oder gesellschaftlicher
Strukturen im deutschen Sprachraum wissenschaftlich auseinandersetzt.
Wissenschaftlicher Natur sind auch die Hauptziele der von dem Verband
veranstalteten internationalen Jahrestagungen. Der Verband veranstaltet sie,
um: (a) seinen Mitgliedern eine Möglichkeit zu verschaffen, Forschung
sergebnisse zu verschiedenen Themen und Problemen zu präsentieren und
zur Diskussion zu stellen, weitere Forschungen anzuregen, sich gegensei-
tig über neue Forschungen zu informieren; (b) zur Intensivierung und/oder
Integration wissenschaftlicher Forschung zu verschiedenen Teilbereichen
16 Eröffnung der Jahrestagung
Meine Damen und Herren! Angesichts der von dem jeweiligen Vorstand
anzupeilenden Aufgaben des Verbandes haben wir die Hauptthemen un-
serer wissenschaftlichen Jahrestagungen jeweils so formuliert, dass sich
an ihnen möglichst alle Mitglieder des Verbandes aktiv beteiligen konn-
ten. Aus demselben Grund hatten wir Jahre lang bisher während unserer
Konferenzen ausschließlich Plenarveranstaltungen abgehalten. Wir hielten
es für wichtig, den Vertretern der germanistischen Literaturwissenschaft,
Kulturwissenschaft, Glottodidaktik, Translatorik usw. eine Gelegenheit
zu geben, sich darüber zu informieren, was zu dem jeweils vorgegebenen
Generalthema nicht nur Vertreter der germanistischen Linguistik und
Literaturwissenschaft, sondern auch ihrer anderen Teildisziplinen beitragen
können und umgekehrt.
Was hat uns dazu bewogen, mit dieser Tradition zu brechen und die
diesjährige Konferenz teils in Plenarvorträgen, teils in Sektionen durchzu-
führen? Das geschah vor allem deshalb, weil das Thema dieser Konferenz
unter den VPG-Mitgliedern und VPG-Freunden ein außerordentlich großes
Interesse geweckt hatte. Mit einem Satz: Wir haben die Tradition gebro-
chen, um alle, die ihre Vortragsvorschläge fristgemäß eingereicht hatten,
zu Worte kommen zu lassen. Ich freue mich ganz besonders darüber, dass
so dem wissenschaftlichen Nachwuchs mehr Gelegenheit gegeben werden
konnte, sich öffentlich zu präsentieren.
Zu dem Generalthema der diesjährigen Jahrestagung, das auf Deutsch
„Mensch – Sprachen – Kulturen“ und auf Polnisch „Człowiek – języki –
kultury“ lautet, sage ich an dieser Stelle nur so viel: Die drei Glieder des
Themas – „Mensch“/„człowiek“, „Sprache“/„język“, „Kultur“/„kultura“
sind nicht als Ausdrücke, die drei eigenständige (autonome) Objekte her-
vorheben und bezeichnen, zu interpretieren sind. Den Status eigenständiger
(autonomer) Objekte kann man den Organisatoren dieser Tagung nach nur
den Designaten der Ausdrücke „Mensch“/„człowiek“ zuerkennen. Jedes
Eröffnung der Jahrestagung 17
Es ist eine große Ehre für mich, Sie zur Eröffnung Ihrer internationa-
len wissenschaftlichen Jahrestagung begrüßen zu dürfen und Ihnen die
Glückwünsche zum 20jährigen „Geburtstag“ des Verbandes Polnischer
Germanisten von dem amtierenden Präsidenten der Alexander von
Humboldt-Stiftung, Professor Dr. Helmut Schwarz, dem Ehrenpräsidenten,
Professor Dr. Wolfgang Frühwald, dem Generalsekretär, Dr. Enno
Aufderheide und dem Ehrenvorstand, Dr. Heinrich Pfeiffer zu übermitteln.
Es ist auch eine sehr große persönliche Freude für mich, nur zwei
Jahre nach der Veranstaltung des weltweit aktiven Internationalen
Germanistenverbandes hier in Warschau zahlreiche Humboldtianerinnen
und Humboldtianer wiederzusehen.
Angesichts der zumeist jungen Teilnehmerinnen und Teilnehmer
möchte ich diese Gelegenheit nutzen, besonders Sie bekannt zu machen
mit den Zielen und Aufgaben der 1953 in Bonn gegründeten Alexander
von Humboldt-Stiftung. Als Mittlerorganisation des Auswärtigen
Amtes zielt die Tätigkeit der Stiftung (in Ergänzung zum Beispiel zum
Deutschen Akademischen Austauschdienst und zum Goethe-Institut)
auf die Unterstützung der auswärtigen Kulturpolitik durch internationa-
le Forschungsförderung. Seit fast 60 Jahren ist sie ihren Leitprinzipien
verpflichtet, Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aller Länder
und aller Fachgebiete ohne Quoten zur Durchführung selbst ge-
wählter Forschungsvorhaben langfristig zu fördern. Entscheidendes
Auswahlkriterium ist die individuelle überdurchschnittliche Qualifikation.
24 Ansprachen
Schon am 20.6.1991 erging die Antwort aus der Feder von Dr. Dietrich
Papenfuß im Namen von Dr. Heinrich Pfeiffer:
Ansprachen 25
Dass die Ziele und Aktivitäten erreicht wurden, zeigt sich nicht zuletzt
in Ihrer aller Anwesenheit zur Eröffnung der zwanzigsten Jahrestagung
und den schriftlich dokumentierten Ergebnissen, die in einer jährlichen
Publikation des Verbandes ihren Niederschlag gefunden haben. Auf
diese inzwischen zur Tradition gewordenen Errungenschaften können
die Gründungsväter zu Recht stolz sein. In der Humboldt-Stiftung tei-
len wir Ihre Freude über das bisher Erreichte und die Zuversicht, dass
die Verbindungen zu der jungen Generation von Germanisten durch den
Verband auch in Zukunft nachhaltig gestärkt werden. Unsere Gratulation
verbinden wir daher mit den Wünschen für weiteren Erfolg und der
Versicherung, dass wir die Aktivitäten des Verbandes weiterhin mit großer
Aufmerksamkeit begleiten werden.
Ich danke Ihnen erneut für die Einladung und die Möglichkeit, hier in
Warschau deutsch mit Ihnen sprechen zu dürfen.
Dr. Heinz-Rudi Spiegel
Ehemaliger Referent des Stifterverbandes
für die Deutsche Wissenschaft, Essen
Als ich vor wenigen Tagen das Programm für diese internationale
Konferenz erhielt, bekam ich einen doppelten Schreck. Den Ersten erkläre
ich mit einer kleinen Anekdote.
Als mein ehemaliger Chef im Stifterverband, Dr. Hans-Henning Pistor,
gefragt wurde, worauf er sich im Ruhestand am meisten freue, antworte-
te er kurz und bündig: „Dann muss ich keine Grußworte mehr schreiben
und ich muss auch keine mehr hören!“ Sie sehen, das Leben kann hart
sein: Heute muss ich nicht nur Grußworte hören, ich habe eines schreiben
müssen und muss es auch noch selbst vortragen! Aber keine Sorge: Anlass
und die Menschen, die ich hier treffe, lassen es zur Freude werden, einige
Gedanken vor Ihnen auszubreiten.
Der zweite Schreck betraf den Klammerzusatz zu meiner Person:
„Stifterverband für die Deutsche Wissenschaft“. Ihm bin ich nun auch
schon fast zwei Jahre formell entwachsen, wenn ihm auch immer noch -
allerdings mit eher informellen Beziehungen – verbunden. So will ich denn
diesen Ausweis meiner Person in Ihrem Programm auch gleich program-
matisch verstehen oder umdeuten.
Sie bezeichnen den Anlass, der uns hier für drei Tage zusammenführt, als
„Internationale wissenschaftliche Jahrestagung des Verbandes Polnischer
Ansprachen 27
Gestatten Sie mir bitte auch, dass ich diese Gelegenheit dazu nutze, um
mich bei allen Germanistinnen und Germanisten Polens für die sehr gute
Zusammenarbeit in den zurückliegenden Jahren ganz herzlich zu bedanken,
denn nach fünf Jahren heißt es für mich Abschied nehmen, um turnusgemäß
in die DAAD-Zentrale nach Bonn zurück zu wechseln. Ich habe die Zeit
sehr genossen und nehme viele positive Eindrücke mit, gerade auch aus
der Zusammenarbeit mit der polnischen Germanistik. Ich bin davon über-
zeugt, dass solch eine starke Auslandsgermanistik wie die polnische auch
in Zukunft – trotz der demografischen Entwicklung und trotz abnehmender
Deutschkenntnisse bei den Schülern – eine eminent wichtige Mittlerrolle
zwischen unseren beiden Ländern ausfüllen wird.
Ich wünsche der Jahrestagung einen guten Verlauf und verbleibe mit
einem herzlichen do zobaczenia!
Plenarvorträge
Silvia Bonacchi (Warszawa)
Problemstellung
Das „Institut für anthropozentrische Kulturologie und Linguistik“
(poln.: „Instytut Kulturologii i Lingwistyki Antropocentrycznej“, kurz:
„IKLA“) der Fakultät für Angewandte Linguistik der Universität Warschau
ist zwar eine sehr junge, nur zwei Jahre alte akademische Einrichtung1,
aber ihrer Gründung ging eine breite Reflexion und eine rege wissen-
schaftliche Auseinandersetzung voraus über die theoretischen Grundlagen
einer Wissenschaft, die sich primär mit Menschen als Träger von sprach-
lichen und kulturellen Eigenschaften, d. h. Menschen als wirkliche
Sprecher und Kultursubjekte beschäftigt. Schon vor der akademischen
Institutionalisierung löste das Wort „Kulturologie“ kritische Reaktionen aus
und es wurde die absolut legitime Frage gestellt, ob angesichts der existie-
1
Sie wurde 2010 durch die Verbindung von zwei Lehrstühlen (dem Lehrstuhl für
Fachsprachen und dem Lehrstuhl für Sprachentheorie und Spracherwerbforschung) vom
Senat der Warschauer Universität ins Leben gerufen.
36 Silvia Bonacchi
renden Vielfalt von Bezeichnungen für die Disziplinen, die sich mit Kultur
beschäftigen (u.a.: Kulturwissenschaft, Kulturstudien, Kulturlinguistik)
diese alles in allem neue Bezeichnung2 notwendig sei. Ging es nur um
einen Etikettenwechsel, der die schon existierende (und manchmal wohl
verwirrende) Vielfalt von Bezeichnungen für eine Wissenschaft mit dem
gleichem Erkenntnisobjekt weiter nährt?
In den folgenden Ausführungen wird der Versuch unternommen, zu zei-
gen, dass der Ausdruck „Kulturologie“ weder eine alternative Benennung
für Kulturwissenschaft3, noch ein Synonym zur Kulturlinguistik oder zu an-
deren verwandten Disziplinen (etwa Kulturstudien, Kulturkontrastivistik)
ist, sondern eine eigenständige wissenschaftliche Disziplin bezeichnet, die
einen spezifischen Forschungsgegenstand hat, die von anderen Disziplinen
(eben etwa Kulturwissenschaft oder Kulturlinguistik) nicht wissenschaft-
lich adäquat erfasst werden kann. Darüber hinaus werden spezifische
Erkenntnisziele verfolgt, die von anderen Disziplinen mit ihren jeweiligen
Untersuchungsmitteln nicht erreicht werden können (vgl. dazu Grucza F.
2006: 9ff.). Die Experten dieser Disziplinen, d. h. die Kulturologen, zie-
len darauf ab, die für diese Disziplin spezifische Methodologie modell-
theoretisch zu begründen, empirisch zu prüfen und in ihren möglichen
Anwendungen umzusetzen, und somit Kulturologie als neue4 wissenschaft-
liche Disziplin zu legitimieren.
Im Folgenden wird versucht, den Forschungsgegenstand, die Er
kenntnisziele und die Untersuchungsmethoden der anthropozentrischen
Kulturologie am Beispiel der Forschungstätigkeit am „Institut für anth-
ropozentrische Kulturologie und Linguistik“ der Universität Warschau zu
zeigen.
2
Der polnische Ausdruck „kulturologia“ kommt zwar mehrmals in den Kulturstudien vor,
so etwa im Projekt: „Kulturologia polska XX wieku“ (http://www.kulturologia.uw.edu.
pl/, dt.: „polnische Kulturologie des 20. Jahrhunderts“), das von einem multidisziplinären
Expertenteam getragen wird und sich eine interdisziplinäre Analyse der Kulturphänomene
zum Ziel setzt, allerdings liegt dort eine präzise theoretische Grundlegung der Disziplin
nicht vor.
3
Für eine breite Ausführung der Notwendigkeit einer Unterscheidung zwischen
Kulturwissenschaft(en) und Kulturologie vgl. die breite Studie „Kulturologia antropocen-
tryczna a kulturoznawstwo“ (Grucza F. 2012)
4
Zu den Kriterien, die eine neue wissenschaftliche Disziplin zu erfüllen hat, um deren
universitäre Institutionalisierung zu begründen, vgl. Grucza F. 2006: 15f.
Plenarvorträge 37
Der Forschungsgegenstand
Es scheint eine Selbstverständlichkeit zu sein, dass Kulturologie eine
wissenschaftliche Disziplin ist, die sich mit „Kultur“ beschäftigt. Die
Bestimmung dessen, was mit dem Ausdruck8 “Kultur“ designativ erfasst
wird, ist aber keine Selbstverständlichkeit. Denn sowohl im gemein-
sprachlichen als auch im fachsprachlichen Gebrauch lassen sich mehrere
Bedeutungen feststellen, deren Vermengung oft Verwirrung stiftet.9 Man
kann trotz dieser semantischen Heterogenität bestimmte wiederkehrende
Bedeutungsmerkmale feststellen:
• „Kultur“ als Bezeichnung für bestimmte menschliche materiel-
le (etwa Werke, Gebrauchsgegenstände, Kunststücke) und geistige
„Hervorbringungen“ (Ideen, Denkschemata, Stereotype, Vorurteile,
Geschmack, Mode usw.). Was diese „Hervorbringungen“ als „kulturelle
Hervorbringungen“ qualifiziert, wird unterschiedlich definiert und un-
5
Vgl. vor allem Grucza F. 1983, 1989, 1992.
6
Vgl. Grucza F. 2000, 2012
7
Für eine synthetische Darstellung der Annahmen der anthropozentrischen Linguistik vgl.
Grucza F. 2010a, Grucza S. 2010, für eine umfassende Darstellung der Annahmen der
anthropozentrischen Kulturologie vgl. Bonacchi S. 2011a und 2012a
8
Mit „Ausdruck“ wird eine Kategorie von sprachlichen Äußerungen gemeint, die darauf
abzielt, Sachen, Eigenschaften, Prozesse, Objekte oder Personen zu bezeichnen und damit
abzugrenzen. Vgl. dazu Grucza F. 2012: 82ff.
9
Für eine eingehendere Analyse der designativen und denotativen Valenz des Ausdrucks
„Kultur“ vgl. Bonacchi S. 2009: 26-28, Grucza F. 2012: 80f., des Weiteren Grucza F.
1996a und 1996b.
38 Silvia Bonacchi
In all diesen Fällen wird das, was mit dem Ausdruck „Kultur“ bezeich-
net wird, als ein Wirklichkeitsbereich betrachtet, der sich nicht klar abgren-
zen, daher schwer empirisch untersuchen und im besten Fall hermeneutisch
analysieren lässt.11
Für die anthropozentrische Kulturologie ist der Mensch als Kultursubjekt
der Ausgangspunkt für die wissenschaftliche Erkundung (anthropozen-
trische Perspektive), d. h. der konkrete Mensch und seine kulturellen
Eigenschaften, die sich durch die empirische Untersuchung der „kulturellen
Äußerungen“, die Ausdruck hic et nunc dieser Eigenschaften sind, rekons-
truieren lassen. Die kulturellen Eigenschaften, die dem Menschen naturge-
geben sind aber sich im Laufe von Sozialisationsprozessen und durch ko-
gnitive Akte entwickeln, machen den Menschen zu einem „Kultursubjekt“
in dem Sinne, dass sie bestimmte Fähigkeitenbereiche (Wissen und die
damit verbundenen Fähigkeiten) fundieren, und insofern den Menschen
zu kulturellen Äußerungen (Hervorbringungen) befähigen. In diesem
Sinne lassen sich die kulturellen Äußerungen (Hervorbringungen) als
Oberflächenphänomene betrachten, deren Erkundung die ihnen zugrunde
liegende Tiefenstruktur – als System von generativ-analytischen Regeln
und Elementen, das kulturelles Wissen und kulturelle Fähigkeiten fundiert
– erschließen kann.
Demzufolge werden in der anthropozentrischen Kulturologie drei
Forschungsebenen unterschieden, denen jeweils ein Fachausdruck ent-
spricht:
10
Zum Begriff der designativen Valenz vgl. Grucza F. 2012: 83ff.
11
So versteht sich etwa die Kulturwissenschaft in der Tradition Wilhelm Diltheys als
interpretative Wissenschaft.
Plenarvorträge 39
verstehe ich Gruppen von Individuen, die jeweils über durch regelmäßigen Kontakt eta
blierte Mengen an gemeinsamem Wissen sowie Systeme von gemeinsamen Standards des
Wahrnehmens, Glaubens, Bewertens und Handels – m.a.W. Kulturen – verfügen.“
Plenarvorträge 41
der Ergebnisse der Beobachtung und der Analyse lassen sich theoretische
Konstrukte und Modelle aufstellen, die als solche vom Forscher stets in
ihrem metatheoretischen Charakter problematisiert werden können und
müssen.
22
Vgl. etwa Bonacchi S. 2012a, 2012b und 2012c.
23
Vgl. dazu Bonacchi S. 2011: 82
24
Vgl. dazu Bonacchi S. 2011: 69-74
Plenarvorträge 43
Aus den hier vorgelegten Ausführungen geht hervor, dass die kultu-
rologische Analyse vor allem in den folgenden Forschungsbereichen mit
Erkenntnisgewinn eingesetzt werden kann:
• face-to-face-Kommunikation
• Dialogforschung
• Konfliktforschung
• Missverständnisforschung
• Sprecheridentitätsforschung (z. B. forensische Kulturologie)
• „Milieuorientiertes” Dolmetschen, Fokusgruppendolmetschen
• Untersuchung der vertikalen Schichtung in der Fachkommunikation
(z. B. zwischen Experten und Nicht-Experten).
Laufende Forschungsprojekte
Abschließend sei an dieser Stelle ein kurzer Ausblick über die kulturolo-
gische Forschungstätigkeit am Institut für anthropozentrische Kulturologie
und Linguistik geboten.25
Das erste größere Projekt betraf den Höflichkeitsausdruck im Vergleich
Polnisch/Deutsch/Italienisch. Ausgegangen wurde von Äußerungen in den
drei Sprachgemeinschaften, die anhand einer empirischen Analyse in einer
sehr deutlich definierten Gruppe als höflich, nicht höflich oder unhöflich
eingestuft wurden. Auf dieser Grundlage wurde der Versuch unternom-
men, das diesen Äußerungen zugrunde liegende sprachliche und kulturelle
Wissen zu rekonstruieren und gruppenspezifische Differenzen im höflichen
Verhalten aufzuzeigen.26 Das Projekt wurde im Jahr 2005 initiiert und im
Jahr 2011 durch die Veröffentlichung der Studie „Höflichkeitsausdrücke“
(Bonacchi S. 2011a) abgeschlossen.27 Diesem Projekt folgen zwei Projekte
nach, die einerseits eine Fortsetzung, andererseits aber eine wesentliche
Erweiterung des Forschungsinteresses durch eine ausgeprägte interdiszip-
linare Orientierung darstellen28:
1. „Kulturologische und suprasegmentale Analyse von durch (Un)Höflich
keit markierten kommunikativen Interaktionen“;
25
Hier ist zu betonen, dass Kulturologie neben Kulturwissenschaft, Literaturwissenschaft
und Linguistik betrieben wird.
26
Vgl. Bonacchi S. 2011a: 308-335.
27
Im Rahmen dieses Projektes ist auch die Doktorarbeit von Justyna Zając 2012
(Fachkommunikation) zu erwähnen, sowie eine Reihe von Master- und Bachelorarbeiten.
28
Für Kontakt und Fragen: s.bonacchi@uw.edu.pl
44 Silvia Bonacchi
Zur Einleitung vgl. Bonacchi S. 2012c. Weitere Informationen zur Tagung unter:
29
www.ivg2015-tongji.com
Plenarvorträge 45
Schlussfolgerungen
Resümierend lässt sich feststellen, dass anthropozentrische Kulturologie
und Linguistik sich als zwei Teildisziplinen einer allgemeinen Wissenschaft
Plenarvorträge 47
Literatur
Bąk, P. (2012) Euphemismen des Wirtschaftsdeutschen aus Sicht der anthropozentrischen
Linguistik. Frankfurt a.M. et al.
Bonacchi, S. (2009) Zur Vieldeutigkeit des Ausdrucks Kultur und zur anthropozentri-
schen Kulturtheorie. In: Kwartalnik Neofilologiczny, LV 1/2009, 25-45.
Bonacchi, S. (2010) Zum Gegenstand der anthropozentrischen Kulturwissenschaft. In:
Lingwistyka Stosowana/Applied Linguistics 2/2010, 69-81.
Bonacchi, S. (2011a) Höflichkeitsausdrücke und anthropozentrische Linguistik. Warszawa
Bonacchi, S. (2011b) “Ich habe leider keine Zeit…“: Kulturlinguistische Bemerkungen
über höfliche Verweigerungen im deutsch-polnisch-italienischen Vergleich. In:
Neuland, E./Ehrhardt, C./Yamashita, H. [Hg.] Sprachliche Höflichkeit zwischen
Etikette und kommunikativer Kompetenz. Frankfurt a.M. et al. 2011, 111-128.
Bonacchi, S. (2012a) Anthropozentrische Kulturologie: Einige Überlegungen zu
Grundannahmen und Forschungspraxis anhand der Analyse von Komplimenten. In:
Grucza, F./Pawłowski, G./Zimniak, P. [Hg.] Die deutsche Sprache, Literatur und
Kultur in polnisch-deutscher Interaktion. Warszawa, 33-52.
Bonacchi, S. (2012b) Höfliche Funktionen der nominalen Alteration im interlingualen
(italienischen, polnischen und deutschen) Vergleich. In: Grzywka, K./Filipowicz, M./
Godlewicz-Adamiec, J./Jagłowska, A. et al. [Hg.] Kultura – Literatura – Język /Kultur
– Literatur – Sprache. Band II. Warszawa, 1429-1443.
Franciszek Grucza hebt hervor, dass eine „Wissenschaft über die Kommunikation“
30
nicht mit „Kommunikationstheorie“ gleichzusetzen ist und schlägt für diese allgemeine
Wissenschaft der Kommunikation die Bezeichnung „Symbasiologie“ (Grucza F. 2012:
101) vor.
48 Silvia Bonacchi
und der Literatur aus dem frühen 20. Jahrhundert durchgeführt worden
ist. Die Untersuchungsergebnisse werden in diesem Beitrag unter der
Fragestellung dargelegt, ob Pronominalisierung text- und textsortenspezi-
fische Besonderheiten zeigt und wie diese auf die Textrezeption einwirken
können.
1
Vgl. Grice (1975: 45): “The category of Quantity relates to the quantity of information
to be provided”.
2
“Under the category of Manner, which I understand as relating not (like) the previous
categories) to what is said but, rather, to how what is said is to be said, I include the su-
permaxim – ‘Be perspicuous’ – and various maxims such as: / 1. Avoid obscurity of ex-
pression. / 2. Avoid ambiguity. / 3. Be brief (avoid unnecessary prolixity). / 4. Be orderly.”
(Grice 1975: 46).
52 Marina Foschi Albert
(3) Sie waren die kleinsten Verwandten der wolligen Riesen der kalten
nördlichen Steppen, berichten britische Forscher in den „Proceedings”
der britischen Royal Society. Schon länger war bekannt, dass es auf
Sizilien und Malta im Zeitalter Pleistozän Zwergformen von Elefanten
gab. Diese wurden als Abkömmlinge einer einzelnen Festlandart ge-
deutet, des Europäischen Waldelefanten. Einzelne Stoßzähne, die nahe
von Kap Malekas, einer steilen Landzunge im Nordwesten Kretas, ge-
funden wurden, hatten den Forschern jedoch Rätsel aufgegeben, be-
richten Victoria Herridge und Adrian Lister vom Naturkundemuseum
in London. (http://www.focus.de. 23.06.2012)
(4) Die Tiere in der Größe von Schafen könnten vor mehr als einer Million
Jahren gelebt haben. Sie waren die kleinsten Verwandten der wolligen
Riesen der kalten nördlichen Steppen, berichten britische Forscher in
den „Proceedings” der britischen Royal Society. Die Mini-Mammuts
seien ein extremes Beispiel für die Entstehung von Zwergformen auf
Inseln. (http://www.focus.de. 23.06.2012)
2.1. Kataphorik
Eine kataphorische Verwendung von Pronomen präsentiert sich insge-
samt nicht als Idealmodell der Kooperativität, weil darin die semantische
Funktion des Pronomens erst dann bestimmt werden kann, wenn die ent-
sprechende Nominalgruppe seine Referenz verdeutlicht. In Kafkas Texten
kann Kataphorik derart stark gedehnt werden, dass der nominale Referent
des Personalpronomens im Beispiel (5) am Ende des relativ langen
Erzählungstextes (die Abkürzung im Zitat betrifft 569 Wörter) vorkommt.
(5) Es ist, als wäre viel vernachlässigt worden in der Verteidigung unseres
Vaterlandes. Wir haben uns bisher nicht darum gekümmert und sind
unserer Arbeit nachgegangen; die Ereignisse der letzten Zeit machen
uns aber Sorgen. […] „Wie wird es werden?” fragen wir uns alle. „Wie
lange werden wir diese Last und Qual ertragen? Der kaiserliche Palast
hat die Nomaden angelockt, versteht es aber nicht, sie wieder zu ver-
treiben. Das Tor bleibt verschlossen; die Wache, früher immer festlich
ein- und ausmarschierend, hält sich hinter vergitterten Fenstern. Uns
Handwerkern und Geschäftsleuten ist die Rettung des Vaterlandes an-
vertraut [...]”. (Ein altes Blatt: 208 u. 210)4
3
Meine früheren Studien über die Verwendung des es-Pronomens bei Franz Kafka, Fritz
Mauthner (Foschi 2009) und Sigmund Freud (Foschi 2010b), haben bei Kafkas Texte das
Primat der unkooperativen Verwendung deutlich feststellen können. Dieser Stilzug kann mit
Neumann (2011) als Charakteristik einer Sprache beschrieben werden, die sich weigert, „von
den institutionellen Ritualen der Gesellschaft stereotyp geformt oder deformiert” zu werden,
um sich „in freien, spielerischer Eigenkraft” zu entfalten (Neumann 2011: 39).
4
Ab jetzt stammen alle Beispiele aus dem Analysekorpus (Beschreibung im Abschnitt 3).
Die aus Projekt Gutenberg-DE abgerufenen Texte der Schriftsteller Franz Kafka und
Thomas Mann sind mit den kritischen Ausgaben ihrer Werke (Kafka 1994; Mann 2004)
verglichen und dementsprechend korrigiert worden. Die angegebenen Seitenzahlen ver-
weisen auf diese Ausgaben. Die Beispiele aus Kafkas Texten werden mit Angabe der je-
weiligen Erzählung verzeichnet, aus der sie entnommen worden sind. Die Beispiele aus
Thomas Manns Erzählung Der Tod in Venedig werden durch die Sigle TiV, die Beispiele
aus den Texten der Physiker werden durch die Siglen der Autoren (Karl Schwarzschild:
KS: Hendrik Antoon Lorentz: AL; Hermann Minkowski: HM) vermerkt.
Plenarvorträge 55
(6) Der Kaiser1 – so heißt es – hat Dir, dem Einzelnen, dem jämmerlichen
Untertanen, dem winzig vor der kaiserlichen Sonne in die fernste
Ferne geflüchteten Schatten, gerade Dir hat der Kaiser2 von seinem3
Sterbebett aus eine Botschaft gesendet. Den Boten4 hat er5 beim Bett
niederknien lassen und ihm6 die Botschaft ins Ohr zugeflüstert; so sehr
war ihm7 an ihr gelegen, daß er8 sich sie noch ins Ohr wiedersagen
ließ. Durch Kopfnicken hat er9 die Richtigkeit des Gesagten bestä-
tigt. Und vor der ganzen Zuschauerschaft seines10 Todes – alle hin-
dernden Wände werden niedergebrochen und auf den weit und hoch
sich schwingenden Freitreppen stehen im Ring die Großen des Reichs
– vor allen diesen hat er11 den Boten12 abgefertigt. (Eine kaiserliche
Botschaft: 221)
Eine andere Form der Homonymie zeigt Beispiel (7), in dem identische
ich-Formen in einem kürzeren Kontext je nach Erzähltechnik verschiedene
Funktionen ausüben: a) in der Ich-Erzählung verweist das Ich-Pronomen
auf den Ich-Erzählung (ich1, ich3, ich5); b) im inneren Monolog (ich2) ver-
weist das Ich-Pronomen wiederum auf den Ich-Erzählung; c) in den di-
alogischen Textteilen verweist das Pronomen ich auf den Sprecher: ich4
referiert somit auf den Landarzt, ich6, ich7 auf den Kutscher.
(7) Mit so schönem Gespann, das merke ich1, bin ich2 noch nie gefahren,
und ich3 steige fröhlich ein. „Kutschieren werde aber ich4, du kennst
nicht den Weg”, sage ich5. „Gewiß”, sagt er, „ich6 fahre gar nicht mit,
ich7 bleibe bei Rosa.” (Ein Landarzt: 201)
(8) „Hilf ihm”, sagte ich, und das willige Mädchen eilte, dem Knecht das
Geschirr des Wagens zu reichen. Doch kaum war es bei ihm, umfaßt es
der Knecht und schlägt sein Gesicht an ihres […]. (Ein Landarzt: 201).
2.4 Scheinreferenz
Als besonderer Fall der Homonymie wird Scheinreferenz betrachtet. Es
handelt sich dabei um den alternierenden Gebrauch von identischen es-Pro-
nominalformen mit unterschiedlichen Funktionen in kürzeren Kontexten,
woraus sich – wie in (9) – semantische Erwartungen auch bei Formen von
nicht referenziellem es ergeben.
(9) Aus dem Schweinestall muß ich mein Gespann ziehen; wären es nicht
zufällig Pferde, müßte ich mit Säuen fahren. So ist es. Und ich nicke
der Familie zu. Sie wissen nichts davon, und wenn sie es wüßten, wür-
den sie es nicht glauben. (Ein Landarzt: 203)
(11) Es ist möglich, daß einige Leute Mitleid mit mir haben […] (Der
Kaufmann: 22)
Autor Pronomen
Kafka 1.698
Mann 837
Physiker 755
Tab. 1 Gesamtzahlen der Pronomen in den untersuchten Texten
Die relativ hohe bzw. niedrige Anzahl von Pronomen sagt dennoch
nicht viel über die Verständlichkeit der Texte. Diese hängt vielmehr
von der Eindeutigkeit der Pronominalreferenz ab. Eindeutigkeit der
Referenz ist wiederum von verschiedenen Faktoren abhängig, u.a. von der
Verwendungsfrequenz unterschiedlicher Arten von Pronomen bzw. Pro-
Formen im Text. Die entsprechenden Ergebnisse sind in Tab. 2 synoptisch
dargestellt und werden in den folgenden Abschnitten einzeln berücksichtigt
und kommentiert.8
7
Der Stiltopos der perspicuitas (als Gegensatzpol der obscuritas) des Wissenschaftsstils,
u.a. in Thomas Hobbes‘ Leviathan thematisiert, ist seit der Aufklärung verbreitet (vgl.
dazu Kretzenbacher 1995: 25).
8
Der ebenso interessanten Frage nach dem verhältnismäßigen Vorkommen von sach-
und personenbezüglichen Personalpronomen kann hier nicht nachgegangen werden. In
Bezug darauf wird angenommen und durch grammatische Argumente begründet (Harweg
2005: 98 ff.), dass vor allem erzählerische Texte sachverweisende Personalpronomen re-
lativ selten verwenden. Eindrucksmäßig verhalten sich Kafkas Pronomen auch in diesem
Bezug auf unkonventionelle Weise, indem weibliche Pronominalformen oft auf sachliche
Gegenstände verweisen, wie es in den folgenden Beispielen der Fall ist: „ich fasse eine
Pinzette, prüfe sie im Kerzenlicht und lege sie wieder hin.” (Ein Landarzt: 202); „Den
Boten hat er beim Bett niederknien lassen und ihm die Botschaft ins Ohr zugeflüstert;
so sehr war ihm an ihr gelegen, daß er sich sie noch ins Ohr wiedersagen ließ.” (Eine
kaiserliche Botschaft: 221); „Zur Unzeit begann nun auch eine kleine Glocke von der
Grabkapelle zu läuten, aber der Künstler fuchtelte mit der erhobenen Hand und sie hörte
auf.” (Ein Traum: 233).
Plenarvorträge 59
Personalpronomen Indefinit-
adverbiale
Autor deiktische pronomen
gesamt Pro-Formen
Ausdrücke man
Kafka 1.557 817 90 51
Mann 766 33 37 32
Physiker 471 205 196 88
Tab. 2 Frequenz der unterschiedlichen Pro-Formen in den untersuchten Texten
(12) Das Prinzip der Relativität, über das ich Ihnen heute referieren will,
[…]. (HM)
(13) Wir wählen nun die durch die Beziehung a2-b2 = 1 miteinander ver-
knüpften Größen a und b so, daß […]. (AL)
(14) Nach dieser Vorbereitung können wir zur Besprechung von Einsteins
Betrachtungen über die Schwerkraft übergehen. (AL)
(15) A könnte zu B sagen: ich habe deutlich gesehen, daß Ihre Maßstäbe
kürzer waren als die meinigen. B sagt aber dasselbe zu A, und die
Diskussion wäre wieder hoffnungslos. (AL)
(17) Eines Tages dann fing er beim Coiffeur, den er jetzt häufig besuchte,
im Gespräche ein Wort auf, das ihn stutzig machte. Der Mann hatte
einer deutschen Familie erwähnt, die soeben nach kurzem Verweilen
abgereist war, und setzte plaudernd und schmeichelnd hinzu: “Sie blei-
ben, mein Herr; Sie haben keine Furcht vor dem Übel.” Aschenbach
sah ihn an. (TiV: 563)
(18) Der Knabe fehlte. / Aschenbach lächelte. Nun kleiner Phäake! dachte
er. Du scheinst vor diesen das Vorrecht beliebigen Ausschlafens zu
genießen. (TiV: 534)
Die Frage nach dem Referenten des wir-Pronomens kann mit Bezug auf Textstellen
10
erklärt werden, die den Gedankenfluss der Erzählfigur Aschenbach und seine platonischen
Reminiszenzen wiedergeben. Im folgenden Beispiel wird der Referent explizit ausge-
drückt: „Aber Form und Unbefangenheit, Phaidros, führen zum Rausch und zur Begierde,
führen den Edlen vielleicht zu grauenhaftem Gefühlsfrevel, den seine eigene schöne
Strenge als infam verwirft, führen zum Abgrund, zum Abgrund auch sie. Uns Dichter,
sage ich, führen sie dahin, denn wir vermögen nicht, uns aufzuschwingen, wir vermögen
nur auszuschweifen.“ (TiV: 589).
62 Marina Foschi Albert
Abglanz der Schönheit schmückte und bei deren Anblick wir dann
wohl in Schmerz und Hoffnung entbrannten. (TiV: 553-554)
(20) „Ich habe aber gehört, daß man sie auffüttern kann.” / „Da sind
Sie gut berichtet. Das kann man. Aber wer wird das machen?”
(Unglücklichsein: 35)
Plenarvorträge 63
(21) „Ich fahre Sie gut.“ / Das ist wahr, dachte Aschenbach und spannte
sich ab. Das ist wahr, du fährst mich gut. (TiV: 526)
(22) Wir denken, daß A einen Stab hat; dieser ruht für ihn und liegt auf der
z-Achse […] (AL)
es leeres es %
Kafka 134 88 1,5%
Mann 24 90 0.3%
Physik gesamt 23 83 0.3%
Tab. 5 Frequenz der phorischen und der leeren es-Formen
11
Die Angaben sollten allerdings einzeln überprüft werden, weil es in manchen Fällen
richtig schwierig ist, die jeweilige Funktionalität der es-Formen zu erkennen, was hier als
Phänomen der Scheinreferenz erklärt wurde.
64 Marina Foschi Albert
mantische Erwartungen erwecken: Ihr Auftauchen gilt für den Leser als
Zeichen, dass eine Demonstration folgt. Derartige sei/möge-Konstruktionen
mit es-Subjekt kommen in den beobachteten literarischen Texten nicht vor.
(26) Man kann nicht sagen, daß sie [die Nomaden] Gewalt anwenden. Vor
ihrem Zugriff tritt man beiseite und überläßt ihnen alles. (Ein altes
Blatt: 209)
(27) man kann sagen, daß seine ganze Entwicklung ein bewußter und trot-
ziger, alle Hemmungen des Zweifels und der Ironie zurücklassender
Aufstieg zur Würde gewesen war. (TiV: 512)
(28) Schon nach einer Stunde spannte man ein Segeldach aus, da es zu reg-
nen begann. (TiV: 520)
(29) Eine Stunde verging, bis sie [die Barke des Sanitätsdienstes] erschien.
Man war angekommen und war es nicht; man hatte keine Eile und
fühlte sich doch von Ungeduld getrieben. (TiV: 521)
(30) Alles war gleichmäßig erwärmt, wir spürten nicht Wärme, nicht Kälte
im Gras, nur müde wurde man. (Kinder auf der Landstraße: 15)
gesamt
Kafka [Romane]12 Mann Physiker gesamt
(lit. Korpus)
dabei 5 [102] 3 8 22 30
dadurch 5 [114] 0 5 9 14
dafür 7 [95] 2 9 4 13
dagegen 2 [77] 0 2 1 3
daher 0 [63] 2 2 4 6
dahin 0 [10] 1 1 1 2
damit 11 [226] 6 17 14 31
danach 2 [16] 0 2 1 3
daneben 0 [6] 0 0 1 1
daran 5 [157] 3 8 2 10
darauf 3 [147] 2 5 6 11
daraus 0 [13] 0 0 2 2
darein 0 [0] 1 1 0 1
darin 0 [96] 3 3 3 6
darüber 1 [126] 1 2 2 4
darum 3 [43] 2 5 1 6
darum 0 [12] 1 1 0 1
davon 4 [120] 2 6 11 17
dazu 3 [102] 1 4 4 8
dazwischen 0 [6] 2 2 0 2
gesamt 51 32 88
Tab. 6 Frequenz der Präpositionaladverbien mit Pro-Funktion
in den untersuchten Texten12
Was die Auswahl der einzelnen Adverbien angeht, erscheint damit als
die am häufigsten vorkommende Form, ein Befund, den die Angaben von
Lenders/Schanze/Schwerte (1993) bestätigen. Die relativ am häufigsten
rekurrierende Form ist das Präpositionaladverb dabei der Physik, womit
seine Beschaffenheit als typisches Sprachmittel der Wissenschaftssprache
mit wissensorganisatorischer Funktion (Redder 2009: 195) auch unter
Berücksichtigung anderer Ergebnisse (Bongo 2011) empirisch bestätigt
wird.13
12
Die Werte der Präpositionaladverbien mit Pro-Funktion können in diesem Fall mit den
Konkordanz-Angaben betreffend Kafkas Romanen Der Verschollene – Der Prozeß – Das
Schloß nach Lenders / Schanze / Schwerte (1993) verglichen werden (eckige Klammern).
Andere Ergebnisse sind nicht vergleichbar, weil darin die jeweiligen Serien ich/du/er/sie/
es/wir/ihr/sie und mein/dein/sein/unser/ euer/ihr unter einem einzigen Lemma zusammen-
gefasst, Demonstrativpronomen zusammen mit homographen bestimmten Artikeln und
Relativpronomen unter dem Lemma der/die/das eingeordnet worden sind.
13
Entsprechende Angaben können aus einer empirischen Untersuchung über die
Konnektoren der Wissenschaftssprache (Bongo 2011: 267 ff) entnommen werden. Dort
Plenarvorträge 67
(31) Stellen wir uns also vor, daß die schon öfters genannten Beobachter
A und B ihre1 Gedanken austauschen können. Dann wird zwischen ih-
nen2 eine Diskussion eintreten können über die Frage, wer von beiden3
sich bewegt hat und wer nicht. Es ist klar, daß, wenn nichts anderes
da ist als sie4 und ihre5 Laboratorien, diese Frage sinnlos ist. Gibt es
aber einen Äther, der noch so viel Substanzialität besitzt, daß es einen
Sinn hat, von Bewegung relativ zu demselben zu reden, so würde die
Frage: wer hat sich relativ zum Äther bewegt, wohl einen Sinn ha-
ben. Die Frage, wer von beiden6 sich relativ zum Äther bewegt hätte,
oder ob beide7 sich relativ zum Äther bewegt hätten, könnte aber (das
Relativitätsprinzip ist hier immer als allgemeingültig vorausgesetzt)
von A und B wieder nicht entschieden werden. (AL)
wurde unter den insgesamt 10.182 Wörtern, die in 20 Einleitungstexten von wissenschaft-
lichen Zeitschriftenartikeln enthalten sind, die jeweilige Frequenz der folgenden da-Prä-
positionaladverbien registriert: dabei (16x); damit (12x); dagegen (4x); dafür, daher (2x);
danach, daneben, dazu (1x).
14
Die vorliegenden Beobachtungen über Pronominaldichte, Kettenlänge und
Renominalisierung entstehen aus analytischen Eindrücken, die noch empirisch abgesichert
und generalisiert werden müssen.
68 Marina Foschi Albert
(33) Wir1 lagerten in der Oase. Die Gefährten schliefen. Ein Araber2,
hoch und weiß, kam an mir1 vorüber; er2 hatte die Kamele versorgt
und ging zum Schlafplatz.
Ich1 warf mich rücklings ins Gras; ich1 wollte schlafen; ich1 konn-
te nicht; das Klagegeheul eines Schakals in der Ferne; ich1 saß wie-
der aufrecht. Und was so weit gewesen war, war plötzlich nah. Ein
Gewimmel von Schakalen3 um mich1 her; in mattem Gold erglänzende,
verlöschende Augen; schlanke Leiber, wie unter einer Peitsche gesetz-
mäßig und flink bewegt.
Einer3 kam von rückwärts, drängte sich, unter meinem1 Arm durch,
Plenarvorträge 69
eng an mich1, als brauche er3 meine1 Wärme, trat dann vor mich1 und
sprach, fast Aug in Aug mit mir1:
„Ich3 bin der älteste Schakal, weit und breit. Ich3 bin glücklich, dich1
noch hier begrüßen zu können. Ich3 hatte schon die Hoffnung fast auf-
gegeben, denn wir3 warten unendlich lange auf dich2; meine3 Mutter
hat gewartet und ihre4 Mutter und weiter alle ihre5 Mütter bis hinauf
zur Mutter aller Schakale. Glaube es!” (Schakale und Araber: 213)
(34) Der Kaiser1 – so heißt es – hat Dir, dem Einzelnen, dem jämmerlichen
Untertanen, dem winzig vor der kaiserlichen Sonne in die fernste
Ferne geflüchteten Schatten, gerade Dir hat der Kaiser2 von seinem3
Sterbebett aus eine Botschaft gesendet. Den Boten4 hat er5 beim Bett
niederknien lassen und ihm6 die Botschaft ins Ohr zugeflüstert; so sehr
war ihm7 an ihr gelegen, daß er8 sich sie noch ins Ohr wiedersagen
ließ. Durch Kopfnicken hat er9 die Richtigkeit des Gesagten bestätigt.
Und vor der ganzen Zuschauerschaft seines10 Todes – alle hindern-
den Wände werden niedergebrochen und auf den weit und hoch sich
schwingenden Freitreppen stehen im Ring die Großen des Reichs –
vor allen diesen hat er11 den Boten12 abgefertigt. Der Bote13 hat sich
gleich auf den Weg gemacht; ein kräftiger, ein unermüdlicher Mann14;
einmal diesen, einmal den andern Arm vorstreckend schafft er15 sich
Bahn durch die Menge; findet er16 Widerstand, zeigt er17 auf die Brust,
wo das Zeichen der Sonne ist; er18 kommt auch leicht vorwärts, wie
kein anderer. (Der Kaiser und der Bote: 221)
für dasselbe Pronomen auftauchen – wie es z. B. in (35) der Fall ist: seiner
[…] des Willens […] der Schriftsteller […] seinem.
Text (35) stellt ein typisches Beispiel für den Erzählungstext Der Tod in
Venedig dar, in dem oft lange er-Pronominalketten mit Verweis auf das eine
Thema Gustav von Aschenbach nachgewiesen werden können. Oft werden
die Pronominalketten durch Renominalisierung unterbrochen. Diese ergibt
sich durch verschiedene Nominalausdrücke, die für denselben Referenten
Gustav von Aschenbach synonymisch stehen, u.a.: der Wartende (TiV: 501),
der Autor (TiV:507, 512), der Schöpfer (TiV: 507), der Dichter (TiV: 508),
der Künstler (TiV: 507); der Verfasser (TiV: 508), der Schauende (TiV:
530, 592), der Reisende (TiV: 518, 525, 528, 545, 547), der Aufbrechende
(TiV: 544), der Alternde (TiV: 545), der Flüchtling (TiV: 548), der Gast
(TiV: 549, 570, 585), der Betrachtende (TiV: 552), der Enthusiasmierte
(TiV: 554), der, welcher dies Lächeln empfangen (TiV: 562), der Verwirrte
(TiV: 567), der Betörte (TiV: 569), der Einsame (TiV: 570, 573, 574, 575),
der Verliebte (TiV: 572), der Starrsinnige (TiV: 577), der Heimgesuchte
(TiV: 584), der Berückte (TiV: 586), der Meister (TiV: 588), der würdig ge-
wordene Künstler (TiV: 588). Auf ähnliche Weise wird der Antagonist der
Erzählung (Tadzio) durch verschiedene Ausdrücke thematisiert. Bei ihrem
ersten Auftritt wird die Erzählfigur als ein langhaariger Knabe von viel-
leicht vierzehn Jahren vorgestellt (TiV: 529), gleich danach und mehrmals
Plenarvorträge 71
im Text wird sie als der Knabe (TiV: 530, 532, 534, 537, 588) bezeichnet,
später durch andere Nominalphrasen genannt, darunter: der Langschläfer
(TiV: 534), der Knabe Tadzio (TiV: 550), der Ausgezeichnete (TiV: 552),
das Idol (TiV: 556), der Schöne (TiV: 556 560, 561 565, 587), der schwä-
chere Schöne (TiV: 591), der Abgott (TiV: 563), der bleiche und liebliche
Psychagog (TiV: 592). Aus dem in der Erzählung häufig vorkommenden
Gebrauch von Nominalgruppen mit Determinativa zur Bezeichnung der
vorwiegend männlichen Schlüsselfiguren (u.a. der Fremde, der falsche
Jüngling, der Gondelführer) ergibt sich eine gewisse Referenz-Ambiguität,
wenn die Figuren zusammen mit dem männlichen Protagonist in kürzeren
Kontexten erscheinen. Daraus entstehen zudem homonyme er-Pronomi-
nalketten, wie beispielsweise in (36) die erste er-Kette, die auf Aschenbach
hinweist, und die zweite, die auf den „falschen Jüngling” (hier als der
schauderhafte Alte bezeichnet) verweist. An der Stelle, wo die beiden er-
Ketten parallel ablaufen (er1 […] des schauderhaften Alten2 […] den2 […]
dem Fremden1), ist eine gewisse Referenzambiguität wahrnehmbar, die
teilweise auch bei dem Erscheinen eines dritten maskulinen Pronomen der
dritten Person (der3) spürbar ist.
(36) Aschenbach1 gab zu verstehen, dass er1 eine Gondel wünsche, die ihn1
und sein Gepäck zur Station jener kleinen Dampfer bringen solle, wel-
che zwischen der Stadt und dem Lido verkehren; denn er1 gedachte
am Meere Wohnung zu nehmen. Man billigt sein1 Vorhaben, man
schreit seinen1 Wunsch zur Wasserfläche hinab, wo die Gondelführer
im Dialekt miteinander zanken. Er ist noch gehindert, hinabzustei-
gen, sein1 Koffer hindert ihn1, der3 eben mit Mühsal die leiterartige
Treppe hinunter gezerrt und geschleppt wird. So sieht er1 sich minu-
tenlang außerstande, den Zudringlichkeiten des schauderhaften Alten2
zu entkommen, den2 die Trunkenheit dunkel antreibt, dem Fremden1
Abschiedshonneurs zu machen. “Wir wünschen den glücklichsten
Aufenthalt”, meckert er2 unter Kratzfüßen. “Man empfiehlt sich ge-
neigter Erinnerung! Au revoir, excusez und bon jour, Euer Exzellenz!”
Sein2 Mund wässert, er2 drückt die Augen zu, er2 leckt die Mundwinkel,
und die gefärbte Bartfliege an seiner2 Greisenlippe sträubt sich empor.
(TiV: 522-523)
72 Marina Foschi Albert
4. Schlussbemerkung
Zusammenfassend klassifizieren wir die dargestellten Beobachtungen
in zwei Blöcke, und zwar: 1. Beispiele von kooperativer Verwendung
von Pronomen, die die Herstellung eindeutiger Beziehungen zwischen
Pronomen und Referenten fördern; 2. Beispiele von unkooperativer
Verwendung, die mehrdeutige Relationen ermöglichen. Die Elemente der
beiden Blöcke entsprechen keinen exklusiven Eigenschaften der zwei un-
tersuchten Texttypologien, obwohl sie sich als dienlich erweisen können,
um textsortenspezifische Charakteristiken hervorzuheben, Leseeindrücke
zu systematisieren und Textinterpretationen intersubjektiv zu belegen.
Zum ersten Block gehören: a) der Gebrauch von demonstrativen
Pronomen als Ausdruck eindeutiger Nähe/Ferne-Relationen; b) der rou-
tinierte Gebrauch von es + Konjunktiv I von sein/mögen; c) der routi-
nierte Gebrauch von dabei als argumentatives Mittel. Zum zweiten Block:
a) die Polyfunktionalität der deiktischen Personalpronomen und des
Indefinitpronomens man, vor allem wenn sie in einem kurzen Kontext er-
scheinen; b) die Verwendung von demonstrativen Pronomen zum Zweck
der realistischen Darstellungsweise der Gesprächssituation, wenn der Text
die fiktiven Gesprächspartner und -beiträge nicht deutlich signalisiert, die-
se letzten von den erzählerischen Textteilen grafisch nicht klar abgrenzt;
c) die textuelle Aufhäufung von es-Pronomen, dabei das Phänomen der
Scheinreferenz; d) aus kooperativer Sicht unmotiviert vorkommende
Renominalisierung bzw. unmotivierte thematische Wiederaufnahme durch
Wiederholung; f) Pronominaldichte in kürzeren Kontexten.
Literatur
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Małgorzata Guławska-Gawkowska (Warszawa)
1. Zwischensprachliche Quasisynonymie
Im Gegensatz zu den in der Lexikografie wohl bekannten falschen
Freunden sind zwischensprachliche Quasisynonyme selten besprochene
und lexikografisch kaum kodifizierte Fälle der partiellen Äquivalenz,
die jedoch nicht die Ausdrucksseite, sondern die Inhaltsseite betreffen.
Die Idiome haben die gleichen oder sehr ähnliche bildliche Bestandteile,
und auf den ersten Blick bereiten sie keine Schwierigkeiten im
Übersetzungsprozess, weil sie auf die gleiche lexikalische Bedeutung hin-
weisen. Die betreffenden lexikografischen Beschreibungen gehen von der
prinzipiellen semantischen Äquivalenz der Quasisynonyme aus und lassen
spezielle Bedeutungsnuancen außer Betracht, die die zwischensprachliche
Äquivalenz nur teilweise zulassen.
In Bezug auf das Sprachenpaar Deutsch-Polnisch kann das phraseolo-
gische Paar das Gras wachsen hören – słyszeć, co w trawie piszczy unter
diesem Aspekt besprochen werden. Sowohl das neuste Wörterbuch Wielki
słownik niemiecko-polski als auch das älteste phraseologische Wörterbuch
für diese Sprachenrichtung präsentieren die Phraseologismen als vollstän-
dige Äquivalente:
(1) das Gras wachsen hören pot., iron. wiedzieć, co w trawie piszczy;
słyszeć, jak trawa rośnie (Wiktorowicz/Frączek 2010: 416)
1
Wenn die Differenzen in der lexikalisierten Bedeutung unter Phraseologismen betrachtet
werden, kann auf ähnliche semantische Relationen hingewiesen werden, die traditionell in
der polnisch-deutschen kontrastiven Sprachwissenschaft bei sonstigen Tautonymen vor-
kommen, z. B. Exklusion in Bezug auf phraseologische falsche Freunde im engeren Sinne,
Privativität im Falle der asymmetrischen Polysemie und Inklusion als terminologische
Entsprechung für Quasisynonymie (vgl. Lipczuk 1985, Misiek 2009).
76 Małgorzata Guławska-Gawkowska
(3) das Gras wachsen hören – schon aus den kleinsten Veränderungen,
aus häufig nur eingebildeten Anzeichen zu erkennen glauben, wie
die Lage ist oder sich entwickelt (Duden 11, 2002: 294),
(5) Luisa Francia: Das Gras wachsen hören. Die spirituellen Fähigkeiten
des Körpers
2
Die Übersetzung der Definition kommt von M. G.-G.
Plenarvorträge 77
Menschen, die das Gras wachsen hören, das weiß man als vernünftiger
Mensch, sind Traumtänzer und Überempfindliche – Luisa Francia beweist
jedoch das Gegenteil. Sie zeigt, wie wir unsere Sinne bewusst einsetzen
und schärfen und so offener, wissensdurstiger und eins mit unserem Körper
den Alltag bewältigen können.
(http://www.rowohlt.de/buch/Luisa_Francia_Das_Gras_wachsen_
hoeren.84279.html, Zugang am 3.03.2011)
Zwar auch nur teilweise, aber deutlich umfassender als die polnischen
Wörterbücher beschreibt diese kleinen Bedeutungsunterschiede zwischen
dem polnischen und deutschen Phraseologismus das phraseologische
Wörterbuch Polnisch-Deutsch von Ehegötz u.a.:
(7) Sein Gefühl sagte ihm, er werde diese Wahl gewinnen, doch seine
Freunde meinten, er höre das Gras wachsen. (Skript vom Warschauer
Goethe-Institut für das Niveau C2.1)
(8‘‘‘) Jeśli coś jest pokazane, widoczne itp. czarno na białym, to jest to
przedstawione wyraźnie, zwykle na piśmie. (ISJP 2000: 214) (,Wenn
etwas schwarz auf weiß sichtbar ist, dann ist das deutlich, üblicher-
weise schriftlich dargestellt‘4.)
3
Die Übersetzung der Definition kommt von M. G.-G.
4
Die Übersetzung der Definition kommt von M. G.-G.
Plenarvorträge 79
2. Asymmetrische Polysemie
Im letzten Beispiel hat das polnische Idiom mehrere lexikalisier-
te Bedeutungen, während die korrelierenden Idiome im Deutschen und
im Russischen jeweils nur eine von diesen Bedeutungen aufweisen. Von
daher haben wir es hier mit einer semantischen Asymmetrie zu tun, die
Wörterbucheinträge auch berücksichtigen müssen5. Diese Fälle sind
auch von falschen Freunden zu trennen, weil es sich hier nicht um totale
Nonäquivalenz handelt.
Auch bei den folgenden Somatismen, die Mrozowski im neuesten
phraseologischen Wörterbuch Polnisch-Deutsch angibt, liegt sowohl je-
weils eine übereinstimmende lexikalisierte Bedeutung im Polnischen und
Deutschen vor als auch eine zusätzliche unterschiedliche in einer von den
genannten Sprachen (Mrozowski 2007: IX):
(10) nadepnąć komuś na odcisk (Kränkung) – jmdm. auf die Zehen treten
(Kränkung, Eile/Druck)
(11) stracić głowę dla kogoś (‚für jdn. schwärmen‘) = sein Herz an jmdn.
verlieren (‚für jmdn. schwärmen‘)
5
Die Übersetzung der Definition kommt auch von M. G.-G.
80 Małgorzata Guławska-Gawkowska
ben und sich durch mentale Bilder unterscheiden, die deren Gebrauch her-
vorruft. Es ist in der Phraseologie oft der Fall, dass dasselbe Konzept in
verschiedenen Sprachen mit Hilfe von anderem lexikalischen Material re-
alisiert wird.
Die folgende Strophe aus Szymborskas Gedicht Wszelki wypadek – Alle
Fälle zeigt deutlich Differenzen in der Bildlichkeit zwischen dem pol-
nischen Original und seiner deutschen Übersetzung, deren Ursache die un-
terschiedliche Bildlichkeit der Phraseologismen in den beiden Sprachen ist:
(14) ktoś (jest) w czepku urodzony, ktoś urodził się w czepku syn. Ktoś
urodził się pod szczęśliwą gwiazdą ‚jd. hat außerordentliches Glück im
Leben‘ Jd. ist ein Glückskind <Sonntagskind, Kind des Glücks>, jd. ist
unter einem guten <glücklichen, günstigen> Stern geboren, materiell
jd. ist mit einem silbernen Löffel im Mund geboren... (Ehegötz u. a.
1990: 49)
(15) unter der Hand (‚im Stillen und heimlich‘) ≠ pod ręką (‚nah, erreich-
bar‘).
(16) móc policzyć kogoś, coś na palcach jednej ręki (‚eine kleine Zahl von
Menschen oder Sachen‘) ≠ sich etwas an den (fünf, zehn) Fingern ab-
zählen können (‚sich etwas leicht denken können, etwas leicht voraus-
sehen können‘)7.
ZEIT: (zu Joel Coen) Wie lange sind Sie eigentlich mit Frances
Mcdormand verheiratet? Joel Coen: (tut so, als ob er die Jahre an den
Fingern abzählt ) Seit 1984. ZEIT: Wie reagiert sie, wenn Sie beide eine
neue Rolle für sie schreiben? Joel Coen: Immer gleich. (DWDS, DIE ZEIT,
15.12.2008, Nr. 40)
Siehe die Zusammenstellung der falschen Freunde im Vorwort bei Mrozowski (2007:
7
VIII).
84 Małgorzata Guławska-Gawkowska
„Stefan Wolpe gilt als einer der bedeutendsten Komponisten des 20.
Jahrhunderts“, liest man im Neuen Lexikon der Musik. Sein Name dürfte
wohl nur einigen Doktoranden bekannt sein, die Zahl der Aufführungen
seiner Stücke wird man vermutlich an den Fingern abzählen können“,
meint Frank Hilberg vom „International Art and Science Online Showcase“.
(DWDS, DIE ZEIT, 1.1.2008)
(17‘‘) pokazać zęby <pazury> (‚zeigen, dass man gefährlich werden kann‘)
= die Krallen <Zähne> zeigen (‚zeigen, dass man gefährlich werden
kann‘)
Es handelt sich hier nur auf den ersten Blick um falsche Freunde im
engeren Sinne (Beispiel 17). Wie aus den Korpusbelegen hervorgeht, kann
dieser Phraseologismus sowohl im Polnischen als auch im Deutschen
in der Bedeutung von ‚Widerstand leisten‘ vorkommen (Beispiel 17‘).
In diesen Fällen handelt es sich im Polnischen um zwei aktionale Formen,
von denen die imperfektive szczerzyć zęby über die Valenz do kogoś ver-
fügt und das Lächeln bedeutet (Beispiel 17), während die perfektive Form
wyszczerzyć zęby na kogoś (Beispiel 17‘) mit der anderen Valenz diesmal
eine semantische Analogie zur deutschen Bedeutung des Widerstandes auf-
Plenarvorträge 85
weist. Bei der Analyse spielen von daher Aspekt- und Valenzunterschiede
im Polnischen eine Rolle. Darüber hinaus kann der Ausdruck die Zähne
zeigen im Deutschen auch ‚grinsen‘ bedeuten.
Die Ausgangsbilder gehen in beiden Sprachen auf ganz andere mentale
Vorstellungen zurück. Zum einen ist die Drohhaltung, bei der die Zähne
gefährlich gezeigt werden, Hunden und verschiedenen Raubtieren gemein-
sam, und zum anderen wird dieses Verhalten auf Menschen übertragen. Der
Vergleich hat zur Folge, dass die Wendung meistens in zwei voneinander
abhängigen Lesarten vorkommt: einerseits im wörtlichen Sinne in Bezug
auf Tiere und andererseits im übertragenen Sinne in Bezug auf Menschen,
die Widerstand leisten. Im letzteren Kontext können wir uns die fakultative
Realisierung der Bewegung nur mit viel Mühe vorstellen. Die Ausführung
der Mimik bei Menschen ist aber auch in diesem Fall möglich, vor allem
dann, wenn Leute zu lächeln versuchen, was die Wendung die Zähne zeigen
mit der Bedeutung ‚grinsen‘ bzw. ‚kichern‘ verbindet.
Ratsamer ist es von daher das besprochene Beispiel unter dem Begriff
des Synkretismus im Polnischen und im Deutschen zusammenzufassen und
in den erwähnten zwei Sprachen nach anderen zutreffenderen Belegen für
falsche Freunde im engeren Sinne zu suchen. Im Falle vom Synkretismus
haben wir mit Phraseologismen zu tun, die sich vor allem durch die
Häufigkeit des Auftretens der übertragenen Bedeutungen voneinander un-
terscheiden, aber in beiden Sprachen sowohl über die gleichen als auch die
anderen übertragenen Bedeutungen verfügen.
Wenn das Illustrationsmaterial aus dem Phraseologischen Wörterbuch
Polnisch-Deutsch analysiert wird, das auf falsche Freunde gezielt hin-
weist, stellt sich heraus, dass die zwei in der Einführung des Wörterbuches
genannten Beispiele für falsche Freunde (vgl. Ehegötz u. a. 1990: 15)
nach unseren semantischen Kriterien anderen Gruppen zuzurechnen sind.
Der polnische Phraseologismus zapędzić kogoś w kozi róg hat vor allem
eine andere syntaktische Struktur als das deutsche Idiom sich (nicht) ins
Bockshorn jagen lassen, was aus dem folgenden Wörterbuchartikel nicht
ersichtlich ist, weil die Grundform des deutschen Phraseologismus dort
nicht richtig angegeben wurde:
(18) RÓG 135. zapędzać/zapędzić kogoś w kozi róg ‚jdm. überlegen sein,
jdn. übertreffen‘ Jdn. in die Tasche stecken (können), jdn. an die Wand
spielen, jdn. in den Schatten stellen *Dowiadujemy się z gazet, że
p. Wyspiański zapędził Tetmajera w kozi róg, że jest jeszcze większym
geniuszem. [SF] (nicht identisch mit dt. „jdn. ins Bockshorn jagen”!)
(Ehegötz u. a. 1990: 213)
86 Małgorzata Guławska-Gawkowska
(18‘) sich nicht ins Bockshorn jagen lassen (ugs.): sich nicht einschüch-
tern, in Bedrängnis bringen lassen. (Duden 11, 2002: 132) Angst,
Schwierige Situation
(18‘‘) Mówimy, że ktoś zapędził kogoś w kozi róg, jeśli wykazał swoją
przewagę nad nim lub postawił go w trudnej sytuacji. (ISJP 2000,
Bd. II: 511) („Wir pflegen auf Polnisch zu sagen, dass jemand sich
ins Bockshorn jagen lässt, wenn der andere ihn in einer Sache über-
trifft oder ihn ins Bedrängnis bringt8.) Überlegenheit, Schwierige
Situation9
In diesem Beispiel haben wir wieder in den beiden Sprachen mit synkre-
tischen Phraseologismen zu tun, bei denen die unterschiedlichen und ge-
meinsamen Bedeutungskomponenten, was die Häufigkeit ihres Auftretens
betrifft, auch unterschiedlich verteilt sind.
Beim zweiten Beispiel biec świńskim truchtem – im Schweinsgalopp
(vgl. Ehegötz u. a. 1990: 15) handelt es sich um eine Kombination seman-
tischer Kontraste, weil die Phraseologismen sich sowohl in Bezug auf die
lexikalisierte Bedeutung als auch in Bezug auf die Bildlichkeit voneinan-
der unterscheiden. In der Bildlichkeit lässt sich nur der Vergleich mit dem
Schwein als eine gemeinsame Komponente betrachten, weil der zweite
nichtlexikalisierte Bestandteil des Phraseologismus deutlich auf das lang-
same Tempo im Polnischen und das schnelle Tempo im Deutschen hin-
weist.
6. Schlussfolgerungen
Die Problematik der falschen Freunde schien seit Langem sowohl im
Rahmen der Semantik als auch in der praktischen Lexikografie eingehend
durchdacht und ausführlich beschrieben zu sein. Es gab sogar – zum Teil er-
folgreiche – Versuche in zweisprachigen phraseologischen Wörterbüchern,
vor phraseologischen falschen Freunden zu warnen (Ehegötz u. a. 1990,
Mrozowski 2007), dadurch dass sie in Wörterbuchartikeln erwähnt oder im
8
Die Übersetzung kommt von M. G.-G.
9
In der Terminologie von Lipczuk (1985) handelt es sich um den Fall der Äquipollenz.
Plenarvorträge 87
Vorwort zusammengestellt wurden. Leider hat man sie manchmal auch mit
anderen Phänomenen verwechselt.
Die zweisprachigen phraseologischen Wörterbücher liefern zwar reich-
lich zwischensprachliche idiomatische Äquivalente, es stellt sich aber he-
raus, dass sie sich in konkreten Übersetzungssituationen meistens nicht be-
denkenlos einsetzen lassen. Bis jetzt haben Lexikografen selten auf solche
semantischen Relationen wie Quasisynonymie, asymmetrische Polysemie,
Kontraste in der Bildlichkeit zwischen Phraseologismen zweier Sprachen
aufmerksam gemacht, was auch erfahrene und gebildete Benutzer leicht
irreführen konnte. Synkretische Formen waren häufig falschen Freunden
zugerechnet und nicht als falsche Freunde im weiteren Sinne mit entspre-
chenden Markierungen ausgesondert. Das macht uns klar, dass die lexi-
kalisierte Bedeutung eines Idioms meistens so reich an verschiedenen
Bedeutungsnuancen ist, dass es sehr schwierig ist, eine absolut identische
Bedeutungsstruktur in einer anderen Sprache zu finden.
Die traditionellen zweisprachigen phraseologischen Wörterbücher sind
von daher aus der Sicht der Übersetzer unbrauchbar, weil sie selten in ihnen
das finden können, was sie suchen, und zwar kontextuelle Äquivalente.
Die Entwicklung der kognitiven Sprachwissenschaft ist sehr vielverspre-
chend in Bezug auf die Lösung solcher Dilemmas (vgl. Dobrovol’skij
1992, Zybatow 1998). Wenn tatsächlich zweisprachige onomasiologische
Wörterbücher entstehen würden, ließen sich in konzeptuellen Clustern
assoziativ zusammengestellte Entsprechungen finden, unter denen Übersetzer
mit ihrer zweisprachigen Kompetenz eine Wahl treffen könnten (vgl.
Guławska-Gawkowska 2011).
Auf den ersten Blick kann festgestellt werden, dass falsche Freunde
im engeren Sinne aus diesen Zusammenstellungen ausgeschlossen
werden sollten, während Quasisynonyme, asymmetrische Polyseme,
Phraseologismen mit Kontrasten in der Bildlichkeit mit entsprechenden
Anmerkungen dort ihren Platz finden müssen, weil sie Fälle der parti-
ellen Äquivalenz darstellen. Die Gruppe mit Kombinationen semantischer
Kontraste ist differenziert zu sehen. Wenn die lexikalisierten Bedeutungen
in diesem Fall im anatonymischen Verhältnis (biec świńskim truchtem –
im Schweinsgalopp) zueinanderstehen, sollten sie ausgelassen werden.
Bei ineinandergreifenden (verzahnten) Bedeutungen (ktoś (jest) w czepku
urodzony – jmd. ist mit einem silbernen Löffel im Mund geboren) hängt die
Entscheidung damit zusammen, wie das Paar im Wörterbuch präsentiert
wird und ob die Zuordnung der Phraseologismen zu bestimmten Konzepten
eine ausreichende lexikografische Markierung darstellt.
88 Małgorzata Guławska-Gawkowska
Literatur
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Margot Heinemann (Leipzig)
sprachlichen Elemente noch ausbaufähig ist, denn auf der Grundlage ver-
änderter Textstrukturen müsste – ähnlich wie bei den Textemen – auch eine
Diskussion über sprachliche Veränderungen von bekannten Textsorten für
den Unterricht von Vorteil sein.
Etwas ausführlicher möchte ich auf Kapitel 7 „Studienbewertungen: …
im Großen und Ganzen gelungen“ (Fandrych/Thurmaier 2011, 154 – 164)
mit der dominanten Textfunktion Bewerten eingehen. Zu diskutieren wäre
allerdings die Feststellung „Wir betrachten die Studienbewertungen als ei-
genständige Textsorte“ (154), was den Autoren selbst als „problematische“
Entscheidung vorkommt. Dem ist aus mindestens zwei Gründen zuzustim-
men: In Anlehnung an die bekannte Feststellung von Ermert „Der Brief
als solcher ist noch keine Textsorte “sollte auch eine Studienbewertung das
Endprodukt einer bestimmten Form des Bewertens sein, aber noch kei-
ne Textsorte, sondern – wenn überhaupt – ein Texttyp, der in Prüfungen,
Gutachten, Leistungskontrollen, Zeugnissen aufgeteilt werden kann und
damit erst lehrbar und überprüfbar wird. Die Überprüfbarkeit und die
Rechtmäßigkeit des Bewertens (also auch die die juristische Einklagbarkeit)
sind für Prüfungen gewöhnlich gut geregelt (vgl. Becker-Mrotzek, 2000,
690-701), für institutsinterne Regelungen gilt das häufig nicht. Pieth/Adam
zik (1997, 45) haben derartige Bewertungen als „Modell der (Als-Ob-)
Wissenschaft“ bezeichnet, die damit nicht als reale Wissenschaft zu bewer-
ten seien. Anzumerken ist auch, dass Formen des Bewertens häufig ver-
schiedenen Kommunikationsbereichen zugeordnet werden können.
Verwiesen sei an dieser Stelle auf die Liste der bekannten schu-
lischen Texttypen (Becker-Mrotzek 2000, 692): „normativ-regulieren-
de“, „informierende“, „verwaltend-organisierende“ Textsorten regeln die
Abläufe der Institution Schule, „beurteilende“ und Prüfungstexte haben
eine „Selektionsfunktion“, wie auch „sanktionierende“ Textsorten für
Regelverletzungen, die sich sowohl auf den Unterrichtsprozess wie auch
auf das Verhalten im Schulalltag beziehen können; unterrichtsintern wer-
den „didaktische“ Texte der Wissensvermittlung und „Schülertexte“ der
Wissensanwendung aufgeführt.
Eine institutsinterne Zertifizierungsform ist demnach durchaus regel-
konform und muss noch kein Nachteil sein, sie ist mitunter sogar eine ge-
rechtere Bewertungsform zum Vorteil der Studierenden, aber man sollte die
entsprechenden Textsorten strikt voneinander trennen – denn außerhalb von
Schule (u. U. auch von Hochschule) haben Textsorten wie Diktat, Aufsatz,
Klausur, im weiteren Sinne auch Inhaltsangabe und Nacherzählung
keine Bedeutung oder haben verschiedene Textfunktionen. Das sehen
94 Margot Heinemann
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Ernest W.B. Hess-Lüttich (Bern / Stellenbosch)
Fachtext-Netzwerke
in der Gesundheitskommunikation
1. Vorbemerkungen
Gesundheit ist eines der wichtigsten Themen in unserer Alltags
kommunikation. Das allgemeine Interesse an diesem Thema spiegelt sich
in einer starken Präsenz u.a. in den Massenmedien wieder. Das Gespräch
über Gesundheit wird damit zum öffentlichen Gesundheitsdiskurs, in dem
„Gesundheitsthemen im gesamten Medienspektrum vom Printbereich
und Fernsehen bis zum Internet unaufhörlich präsentiert“ werden (Busch
1999: 105). Am Beispiel nur eines thematischen Segments, nämlich der
Frage nach dem Zusammenhang von ‚Übergewicht und Ernährung‘,
will ich im Folgenden Aspekt des Wissenstransfers in der öffentlichen
Gesundheitskommunikation untersuchen und zu zeigen versuchen, wie
sich Einzeltexte aus den unterschiedlichsten Fachtextsorten (mündlicher
und schriftlicher Medialität) auf einer meta-textuellen Ebene zu einem
Fachtext-Netzwerk verbinden und dadurch konstitutiver Bestandteil eines
öffentlichen Diskurses werden, den wir nach dem Vorbild der in den USA
inzwischen akademisch etablierten public health communication studies
kurz ‚Gesundheitskommunikation‘ nennen wollen.
Anlass und Ausgangspunkt ist die alle 8-10 Jahre institutionell lancierte
Veröffentlichung des Schweizerischen Ernährungsberichtes, dessen 5.
Ausgabe zum Thema „Ernährung und Übergewicht“ eine landesweite Flut
von Folge-Publikationen dazu ausgelöst hat. Zu dem daraus entstandenen
Plenarvorträge 99
2. Die Gesundheitskommunikation
Die Verständigung im Fache ‚Gesundheit‘ freilich entzieht sich der
üblichen disziplinsystematischen Rubrizierung. Deshalb zunächst ein
Wort zur Klärung des Begriffs ‚Gesundheitskommunikation‘, der sich
heute als Pendant zu den seit den 80er-Jahren im angloamerikanischen
1
Aus der dazu in den letzten Jahren ins Unüberschaubare angeschwollenen Literatur
sei hier exemplarisch verwiesen auf Hoffmann, Kalverkämper & Wiegand [Hg.] 1998;
Baumann 1998; Adamzik 2004; Fix et al. [Hg.] 2002; Fix et al. 2003; Warnke [Hg.]
2007; Warnke & Spitzmüller [Hg.] 2008; Busch 1994; Antos 1996; Antos & Wichter
[Hg.] 2005; Brünner & Gülich [Hg.] 2002; Dittmar 2002. Weitere Hinweise in der
Bibliographie.
100 Ernest W.B. Hess-Lüttich
(Naidoo & Wills 2003: 247). Dafür nun haben sich in Orientierung an dem
medienwissenschaftlichen Ansatz des Agenda Setting (Burkart 1998: 246-
253), demzufolge die Medien nicht zwingend darüber bestimmen, was die
Menschen denken, sondern vielmehr worüber sich die Menschen Gedanken
machen (sollen), im wesentlichen zwei Hauptstrategien entwickelt: der
‚Medienlobbyismus‘ (media advocacy) und das ‚soziale Marketing‘ (so-
cial marketing).
Medienlobbyismus bedeutet „die besondere Verteidigung der Anliegen
der öffentlichen Gesundheitsförderung [und] ist ein neuer, progressiver
Ansatz, der sich im angloamerikanischen Raum ausgehend von den groß-
en Nichtraucher-Kampagnen entwickelt hat“ (Lalouschek 2005: 162).
Medien-Lobbyisten verfolgen stets ein definiertes (sozial-)politisches
Ziel, das sie durch strategisch gezielte Nutzung der Massenmedien an die
Öffentlichkeit bringen wollen. Dazu bereiten sie nach Maßgabe ihres eige-
nen Interesses Informationen mediengerecht auf, nehmen mit den Akteuren
der Massenmedien (Journalisten, Redakteuren, Verlagsleitern, Abteilung
schefs der Sender usw.) Kontakt auf und suchen sie zur Publikation ihrer
Informationen zu bewegen, d. h. deren journalistische Tätigkeit aktiv zu
beeinflussen (cf. Jazbinsek 2000 b: 290).
Demgegenüber zielt das soziale Marketing weniger auf die Durchsetzung
(gesundheits-)po-litischer Interessen, sondern orientiert sich an Prinzipien der
Konsumgesellschaft. „Soziales Marketing kombiniert theoretische Ansätze
der Kommunikationswissenschaften und der Sozialpsychologie mit mo-
dernen Marketingstrategien. […] Positives Gesundheitsverhalten soll nach
Werbungs- und Vermarktungsstrategien ‚verkauft‘ werden“ (Lalouschek
2005: 162), und zwar mithilfe herkömmlicher Marketingstrategien, wie
sie bei der Promotion eines jeden Produktes üblich sind. Ziel des sozialen
Marketings ist demnach „die Verringerung der psychologischen, sozialen
und praktischen Distanz zwischen KonsumentInnen und Verhalten“ (ibid.)
zum Zwecke der Vermarktung ‚gesunden Verhaltens‘ („selling of posi-
tive health behaviors“, Wallack 1990: 155) als gewünschtem Gegenpol
zu der oft eher gesundheitsschädlichen Werbung in den Massenmedien
(z. B. für Alkoholika oder Tabakkonsum). Dabei ist freilich auch ge-
sundheitsförderliches Marketing den Bedingungen der massenmedialen
Produktion unterworfen, die Gesundheitsvermittler im Dienste der in-
dividuellen Identifikation meist zu groben Vereinfachungen komplexer
Zusammenhänge zwingen und zur Ausblendung gesellschaftlicher und
ökonomischer Ursachen (cf. Lalouschek 2005: 162; Wallack 1990: 157 f.).
Plenarvorträge 103
Wenn wir das Schema auf die eben vorgestellten Texte anwenden, so
lässt sich aus der vergleichenden Analyse nicht ein eindeutiges Fazit zie-
hen: Die Information über das eigentliche Problem wird in allen Fällen
zu kurz, oft nur in einem Nebensatz abgehandelt. Eine klare Definition
der angesprochenen Zielgruppe ist durchweg zu vermissen. In den meisten
Fällen kann nur indirekt beurteilt werden, an wen sich der Text richtet. Nur
die Textsorte selbst fungiert als eine Art Rezipienten-Selektionskriterium.
In den publizistischen Texten fehlen konkret weiterführende Informationen,
die aber gerade dort nötig wären, weil sie ein disperses Publikum anspre-
chen und nur vage Angaben machen, wie ein gesundes Körpergewicht durch
ausgewogene Ernährung tatsächlich erzielt werden kann. Der Leser wird
vielmehr mit Informationshäppchen versorgt, die zur effizienten Selbsthilfe
nicht ausreichen bzw. in bestimmten Fällen sogar irreführend sind. Zur em-
pirischen Erhärtung des Befunds wäre freilich die Untersuchung eines grö-
ßeren Corpus‘ an publizistischen Texten zum selben Thema vonnöten unter
dem Gesichtspunkt ‚inhaltlicher Korrektheit der Informationen‘.
040 E: dä fleischkäs hät relativ vil fett und relativ vill gwürz au drin:*
P: vil fett ja. jaja
041 E: weil das isch verMAles fleisch eigentlich so BRÄÄt oder? <EA>
P: jo. jo-o.
042 E: und das kamär natürlich vil intensiver würze und s fett TRAIT das
gwürz <EA> und ÜBERtrait im prinzip dä gschmak vom gwürz auf
uf üsäre zungä uf üserä gaumä und <EA> mä gWÖnt sich schlussän-
dlich dän au a DEN gschmak und das hätmo den au GÄRN - <EA>
043 E: SO LANG bis mä das ä zyt lang WEG lasst -- vilicht isch das/ oder/
i känn das au i han frühär AU fleischkäs gässe. jo? und au GÄRN
gässe und irgendwämol hani Ufkhört damit und hüt schmekts mär
gar nümä richtig.
110 Ernest W.B. Hess-Lüttich
015 E: guet* dänn gits sändwitsch jez do eher am mittag -- pule mit SCHInkä: -
P: ja:
016 E: aso da gsiät mä au ä kli dass sie au diä fettARMÄ variante –
P: jawoll. und da hani zum
bispil kai butter druf gschtrichä - guät da hani au schon vorher niä
gmacht -- ich han das nöd gärn jo.
E: ja. hmv guet. SEHR guet.
Nach Lob und Bestätigung muss der Patient aber auch daran ‚erinnert‘
werden, dass es damit noch nicht getan sei, deshalb wird die Notwendigkeit
seiner aktiven Mitarbeit betont, seiner Bereitschaft zur Selbstdisziplin:
025 E:
ja. <EA> i tänk das isch au/ irgendwo isch es wichtig dass si natürlich
au hart - unter anfürungszaichä hart zu sich sind und versuechät au ä
gewissi disziplin ufzubringä. sunsch goots langfrischtig gseä natüär-
lich nid. äs isch äh - än umschtelig vom essä - das sind/ das bruucht
sini zyt das sind gWONheite wo si über - äh – längerä
zytraum gmacht hond*
P: scho lang. jojo
Plenarvorträge 111
Mit dem Muster der Frage haben Ärzte einen sprachlichen Schlüssel
zum Wissen der Patienten. […] Dieses Wissen schlägt sich in ‚inneren
Wahrnehmungen‘ nieder. Durch Fragen werden beim Patienten insti-
tutionsspezifische Suchprozesse nach diesem Wissen ausgelöst, die
Antwort verbalisiert das zugängliche Wissen [Hervorh. i. Orig.].
021 E: got inä mit dä:r ernährungswiis oder damit äppes ab?
022 P: JOO: -- i han immer s gfüül/ aso/ i tänk jez aso i tänk jez vil as ässe -- und
E: jo?ja.
P: mä wird brämst jo/ aso jajo
024 P: - jo:.aso scho ä bizzäli/ aso nöd belaschtänd i däm sinn aber mä muäs
halt/ äh mä mues halt immer chli brämse. frünär hani eher mol rasch dä
E: hmv
P: chüelschrank ufgmacht und di luscht isch immerno do das muesi also
E: hmv hmv hmvhmv
P: säge. <2> aber äh - i versuech mi ä bizzeli/ äh jo: <2> <EA> chli z
brämse.
S: […]das sind schtrategiä wiä mir schpöter sälber mit ois umgönd!
003 M: wie isch das bi inä gsi frau arber? seensucht und verlange nach ge-
BORge si, nach ELäre wo ume sind?
004 A: also bi MIR hät s ässe ä seer ä GROSSi rolä gspilt mini eltäre sind
gschidä gsi, mini muetär isch pruefstätig gsi<EA> und äh d aner-
CHÄNnig hät gfäält, d UFmerksamkeit s isch niä öpper dahei gsi
wämmer hei chunnt und da isch dä wäg zum chüelschrank seer churz.
gleich mehrere Informationen für den Zuschauer enthält, nämlich dass die
Gewichtsreduktion gelang aufgrund verschiedener Faktoren wie starkes
Schamgefühl, Input des Chefs oder Mithilfe ihres sozialen Umfeldes:
014
S: und DAS gfüül hät ine ghulfä- also dä
kontAKt/ dä EOZIONAL kontakt zu sich hät inä ghulfä än entscheid
z träffe und dänn dä entscheid würklich bravurÖs dure z ziä und - das
isch GROSSartig-ja?
A: <EA>
015 A: ja also s isch sicher das gsi nächer dasmä öppis wott änderä und
nächäne hani o ä chef gha wo gseit hät i SÖTT mal luegä s gsund-
heitsrisiko und nächäne hani o z glück kha sehr gueti lüüt leerä z
kennä wo mi däzue seer viu hälfä.
019 M: was isch dän/ was häts/ was isch dä grund gsi das si das wüsse nid
händ chönä umsetzä? isch das irgend ä PSYCHOLOGISCHI ebeni
gsi oder wiä erkläre si sich das?
020 P: ja des hot hauptsächlich mi der psychologischen seite zum tuen ghobt ja!
022 P: i hob eigentlich IMma angst ghobt vom arbeitsplatz hear dasi do an
existenz sichan muass und <EA> ja – s woa schwIRig – im kopf
Die Tatsache, dass Herr Poiss ausgerechnet als Diätkoch unter starkem
Übergewicht litt, wird dann dazu verwendet, in verallgemeinernder Form
ein weiteres psychologisches Phänomen zu erklären:
026 M: chönt dän das gsi sii das das fasch än art therapii isch - wen ich
ä gwichtsproblem ha - problem mit äm ässe das ich so schtark i dä
materie drin bin und irgendwänn hoff das ich das durch das chan lösä?
027 S: ja ich tänke dass är wiä mee hät welä wüsse* - nöcher a däm si wo
au problem macht. das isch no OFT ä so dass das als lösigsversuech
gmacht wird.
Der dritte Gast, Frau Weiss, eine 57-jährige Frau, die zeitweise fast 200
Kilogramm wog, bereitet dem Moderator – wie es scheint – etwas Mühe,
weil sie nicht ganz so strukturiert und plangemäß antwortet wie die bei-
den anderen Gäste. Dies ist allein schon an den sich mehrfach überschnei-
denden Frage-Antwort-Einheiten zu erkennen (bis zu diesem Punkt hat der
Moderator seine Gäste kaum je unterbrochen). Bei Frau Weiss jedoch wirkt
bereits die erste Frage-Antwort-Konstruktion verzettelt, was den Moderator
aus dem Konzept zu bringen scheint, mit der Folge, dass er ihr ziemlich
unwirsch ins Wort fällt:
033 M: frau weiss. iri urgrosmuetär isch übergwichtig gsi gälle si?
W: ja!
Plenarvorträge 115
039 M: sage si jetz bitte GANZ offä - - wiä SCHWÄR laschte ZWEIhundert
kilo uf dä seel?
040 W: s isch - <EA> s isch schwär gsi und äh dän hani müesä säge jez muesi
- <EA> ich has gmerkt mit dä glänk* und alles-- und jez bini froh
bini so wiit abe cho scho.
M: und uf dä seel?
nahme. Sie erhebt keinen Anspruch auf Repräsentativität (das ist für
den gegebenen Zusammenhang auch kein Ziel), sondern dient eher der
Veranschaulichung des komplexen Prozesses der Entstehung, der Planung,
des Nutzens eines multimedialen Text-Netzwerks mit gesellschaftlicher
Relevanz und sucht an einem kleinen Beispiel (mit entsprechend begrenz-
tem Corpus und in überschaubarem Zeitraum) zu zeigen, wie daraus in der
sozialen Domäne der Gesundheitskommunikation ein Diskurs und ggf. eine
Kampagne zur Gesundheitsförderung werden kann. Zu diesem Zwecke
der Analyse von Aspekten des Transfers von Gesundheitsinformationen
zwischen Experten und Laien haben wir fünf Fragestellungen auf ent-
sprechend verschiedenen Ebenen der Analyse genauer betrachtet (ohne
hier alle Ergebnisse im Einzelnen referieren zu können): die Ebenen der
Einzeltextanalyse im Verhältnis von wissenschaftlichen und populärwis-
senschaftlichen und publizistischen Textsorten, des Informationsgehalts
von Gesundheitsbotschaften, des Wissenstransfers in direkten und medial
vermittelten Arzt-/Patientengesprächen, des Text-Netzwerks als Diskurs
und als Kampagne.
Die Teiluntersuchungen könnten auf jeder dieser Ebenen natürlich im
Rahmen eines (dann freilich nicht mehr von einem Einzelnen allein durch-
zuführenden) Forschungsprogramms erheblich differenziert und ausge-
baut werden. So könnte z. B. die Untersuchung der einzigen fachinternen
Textsorte ‚wissenschaftlicher Artikel‘ weit eingehender behandelt werden,
indem man den Text hinsichtlich seiner spezifischen Gliederung, hinsicht-
lich der Aspekte Explizitheit, Exaktheit und Ökonomie, hinsichtlich der ver-
wendeten Fachlexik, der effektiven Verständlichkeit usw. betrachtet. Dazu
aber liegen einschlägige Untersuchungen in hinlänglicher Zahl vor, der
Erkenntnisgewinn bliebe überschaubar. Interessanter wäre die Erweiterung
des Corpus und die Prüfung, inwiefern und inwieweit die populärwissen-
schaftlichen und publizistischen Texte ‚korrekte‘, d. h. gemessen am Corpus
der wissenschaftlichen Texte wahrheitsgetreue Informationen vermitteln.
Dazu müsste aber in unserem Falle der (seinerseits in ein extrem komplexes
Text-Netzwerk eingebettete) gesamte wissenschaftliche Ernährungsbericht
analysiert werden und das Corpus der publizistischen Texte wäre mög-
lichst exhaustiv auf alle Texte (erschienen im Zeitraum von beispielsweise
einem halben Jahr nach Publikation des Ernährungsberichtes) auszudeh-
nen. Erst dann könnten die qualitativen Verfahren sinnvoll um quantitative
ergänzt werden, um zu valablen Aussagen über das Verhältnis von produ-
zentenorientiert faktischer Korrektheit und rezipientenorientiert wirksamer
Verständlichkeit zu gelangen.
Plenarvorträge 123
Dann könnte man, auf der zweiten Analysestufe, auch verlässlich die
Frage beantworten, welche Textsorte den höchsten Grad an Informations
gehalt erzielt und somit für den Informationstransfer im Gesundheitsdiskurs
zugleich optimal und effektiv wäre. Und selbstverständlich müsste eine
solche Untersuchung auch elektronische Textsorten berücksichtigen.
Zudem wären unter semiotischer Perspektive die grafischen und bild-
lichen Darstellungen in den Einzeltexten genauer zu betrachten, nicht nur
unter dem genannten Aspekt des Verhältnisses von Verständlichkeit und
Korrektheit, sondern auch unter der emotionalen Wirksamkeit im Hinblick
auf die Textadressaten.
Die begrenzte Aussagekraft unseres Ansatzes wird aber erst auf der
dritten Analysestufe besonders augenfällig. Ich bin mir dessen in vollem
Umfang bewusst: sowohl für die interpersonale als auch für die mediale
Experten-Laien-Kommunikation sollten natürlich noch sehr viel mehr
Daten zur Verfügung stehen. Hier reichten einige kurze Tonaufnahmen al-
lenfalls aus, um punktuelle Aspekte zu veranschaulichen. Aber mit einem
ausreichend umfangreich erhobenen Corpus könnten gängige Fragen der
Experten-Laien-Kommunikation wie z. B. „Reformulierungen, Umgang
mit Fachlexik, Formen der Handlungsanleitung“ (Brünner & Gülich
2002: 22) oder Verfahren der Veranschaulichung und Formen der inter-
aktiven Darstellung entsprechend angemessen beantwortet werden, zu-
mal solche Formen (wie Metaphern, Vergleiche und Analogien, Beispiele
und Beispielerzählungen, Konkretisierungen bzw. Individualisierungen
und Szenarios) in der umgekehrten Richtung (Laien-Experten) kaum un-
tersucht sind, weil die Forschung der Übermittlung des sog. ‚partikularen
Erlebniswissens‘ vom Patienten zum Arzt bis heute nur wenig Beachtung
geschenkt hat, ganz zu schweigen von der Beachtung der ganzen Bandbreite
semiotischer Einflussfaktoren in der Gegenüberstellung von thematisch
gleichwertigen interpersonalen und medial inszenierten Arzt-Patienten-
Gesprächen unter dem Aspekt des Informationstransfers in beiden
Richtungen, was unter dem Stichwort der ‚multimodalen Kommunikation‘
nach frühen (und lange vergeblichen) diesbezüglichen Forderungen (cf.
z. B. Hess-Lüttich ed. 1982) immerhin als Desiderat anzuerkennen sich
durchzusetzen beginnt.
In angewandter Perspektive schließlich könnten aus den Ergebnissen
auf den drei ersten Analysestufen bei entsprechend angemessenem Corpus
Erkenntnisse gewonnen werden, die den Verfassern publizistischer
Gesundheitsinformationen (also Journalisten, besonders Wissenschafts-
bzw. Medizinjournalisten), aber auch Akteuren der Gesundheits
124 Ernest W.B. Hess-Lüttich
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Plenarvorträge 127
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Annette Kliewer (Mainz)
Lernt man Deutsch anders, wenn man an der Grenze zu einem deutsch-
sprachigen Land lebt? Welche Bedeutung haben grenzüberschreitende
Kontakte für den Unterricht von Deutsch als Fremdsprache, aber auch
für den Muttersprachunterricht? Welche Rolle spielt das Lernen einer
Nachbarsprache in dem europäischen Konzept der Mehrsprachigkeit? Und
schließlich: Welche besondere Rolle spielt die Literatur in diesem Kontext?
Diese Fragen sollen im Folgenden auf die deutsch-polnische Grenze be-
zogen werden.1
Soziokulturelle Faktoren des Deutschlernens
Das Lernen der deutschen Sprache findet in einem bestimmten sozi-
okulturellen Kontext statt: Dieser ist zum einen bestimmt von dem Bild,
das sich Lerner und Lehrer von Deutschland, den Deutschen und von der
deutschen Sprache machen. Für das Lernen an der Grenze spielen die per-
sönlichen Erfahrungen wie auch die Erfahrungen, die die Familie in der
Geschichte mit dem/den Deutschen gemacht hat, eine besondere Rolle.
Dazu kommt zum Zweiten die Frage, aus welchen Gründen die Sprache je-
weils gelernt werden soll: Haben die Lernenden einen direkten subjektiven
Gewinn? Sprachkenntnisse können entweder
a. kurzfristig als Voraussetzung für einen Schulabschluss erworben wer-
den oder
b. mittelfristig als Grundlage für bessere Arbeitschancen, bessere Verdienst
möglichkeiten oder bessere Arbeitsbedingungen. Schließlich gibt es auch
1
Ich stütze mich in den folgenden Überlegungen auf meine Veröffentlichungen: Kliewer
2006 und Kliewer/ČeŘovská 2011.
Plenarvorträge 129
c. die Möglichkeit, dass die deutsche Sprache gelernt wird, weil sich Schüler
und/oder Lehrer eine bestimmte Zukunftsvision ihrer Gesellschaft ver-
pflichtet fühlen (z. B. geopolitische Position eines Landes innerhalb von
Europa), weil sie eine bestimmte kulturelle Identität mit der deutschen
Sprache verbinden (z. B. Deutsch als „Sprache der Dichter und Denker“)
oder weil sie glauben, dass ihre eigene Gesellschaft mit Deutschland in
einem besonderen Verhältnis steht.
Alle drei Motivationen spielen in den Ländern, die an den deutschen
Sprachraum angrenzen, eine besondere Rolle. Dabei geht auch in die-
sen Ländern – wie weltweit – das Interesse an der deutschen Sprache
zurück. Trotz oder vielleicht gerade wegen der Öffnung der Grenzen in
Europa scheinen die besseren Kontaktmöglichkeiten nicht unbedingt
auch zu einem größeren Interesse füreinander zu führen. Siegfried Baur
nennt dies bezogen auf den Südtiroler Begegnungsraum „die Tücken der
Nähe“ (Baur 2000). In vielen westlichen Ländern scheint das Interesse
an Austauschprojekten und an gegenseitigem Kennenlernen zurückzu-
gehen. Dies lässt sich einmal mit der Situation der Schüler, zum ande-
ren mit der der Lehrer erklären. Die Schüler haben heute sehr viel mehr
Möglichkeiten, ins Ausland zu reisen, als dies in früheren Jahrzehnten der
Fall war. Sie erwarten auch in der Schule attraktive Reiseangebote, dabei
ist der Aufenthalt in Gastfamilien oft mit einer stärkeren Reglementierung
verbunden, außerdem muss man sich stärker auf die Regeln des Gastlandes
einlassen. Dies macht den traditionellen Austausch weniger attraktiv im
Vergleich zu den – etwa vom deutsch-französischen Jugendwerk (DFJW /
OFAJ) angebotenen – „Treffen am dritten Ort“, wo Jugendliche aus zwei
Nationalitäten unabhängig von ihrem sonstigen Umfeld in touristisch at-
traktiven Umgebungen aufeinandertreffen. Was die Seite der Lehrer an-
geht, so ist vielleicht auch hier von einer gewissen Abkühlung auszugehen:
Anders als in der Zeit nach den Weltkriegen, wo Völkerverständigung noch
„erarbeitet“ werden musste, ist Selbstverständlichkeit eingekehrt und da-
mit eine weniger große Motivation zum Engagement (vgl. dazu auch Baur
u.a. 1999, S. 173 zum deutsch-niederländischen Austausch). Insgesamt
finden sich noch zu wenige Initiativen für den „kleinen Grenzverkehr“,
obwohl grenznahe Begegnungen eigentlich die ökonomischere und all-
tagstauglichere Variante des Austauschmodells darstellt. Hier lassen sich
in vielen Nachbarländern eine Reihe von psychologischen Bremsen fin-
den. Zunächst ist da die Abwehr vieler Jugendlicher gegenüber einer
Kultur, die ihnen zu vertraut, zu wenig exotisch erscheint, weil sie das
Deutschland hinter der Grenze von ihren Alltagsbesuchen beim Einkaufen
130 Annette Kliewer
oder von Tagesausflügen schon kennen. Dazu kommen immer wieder ne-
gative Erfahrungen mit „den Deutschen“, die als Touristen, Restaurantgäste
oder Kunden negativ aufgefallen waren. Schließlich finden sich in allen
Nachbarländern auch tiefliegende historisch gewachsene Stereotype von
Deutschland und den Deutschen, die sich im Familiengedächtnis bewahrt
haben.2 Diese negativen Einstellungen der deutschen Kultur, aber auch der
Sprache gegenüber findet sich gerade besonders häufig dort, wo die ökono-
mische Notwendigkeit es verlangt, dass man Deutsch lernt – etwa um als
Pendler eine besser bezahlte Arbeit zu bekommen oder um sich auf deut-
sche Konsumenten einzustellen.
Ganz anders sieht die Situation an den Grenzen aus, die zu den mit-
telosteuropäischen neuen EU-Beitrittsländern führen. Hier ist das Problem,
dass zwar die tschechischen, polnischen, slowakischen, ungarischen oder
slowenischen DeutschlernerInnen ein großes Interesse an Kontakten mit
deutschen oder österreichischen Schülern haben, diese aber umgekehrt
Vorbehalte gegen jeglichen Kontakt zeigen und sich kaum dafür interes-
sieren, die Sprache des östlichen Nachbars zu lernen.3 Diese zögerliche bis
ablehnende Haltung der Deutschen, die Nachbarsprachen zu lernen, wird in
Polen augenzwinkernd noch mit der „schwierigen polnischen Sprache“ ak-
zeptiert, andere Nachbarländer sehen die mangelnde Motivation aber auch
als Teil einer vereinnahmenden Haltung Deutschlands den anderen Ländern
gegenüber.
Eine besondere Rolle für die Förderung der Sprachen in Grenzgebieten
spielen die sogenannten Euroregionen, die im Zusammenhang mit den
INTERREG-Programmen der Europäischen Union gebildet wurden.
Sie stellen Zweckverbände von Kommunen und Körperschaften zur
Förderung der grenzüberschreitenden Zusammenarbeit in Grenzregionen
dar. Die EU hat neben dieser grenznahen Förderung von Sprachen
auch ein allgemeines Sprachenförderungsprogramm gestartet und ein
Europäisches Fremdsprachenzentrum in Graz (www.ecml.at) gegründet.
Im Zusammenhang mit der Lissabonner Strategie zur wirtschaftlichen,
sozialen und ökologischen Erneuerung wurde eine sprachenpolitische
2
Vgl. als Beispiel die Umfrage unter Jugendlichen im deutsch-französischen Grenzraum
zu ihrem Selbstbild und dem Bild, das sie sich von ihren jeweiligen Nachbarn machen
(Kliewer 2006).
3
Aber auch in Polen nimmt die Bereitschaft, Deutsch zu lernen, ab: Das Eurobarometer
Sprachen stellt 2006 fest, dass noch 19% der Befragten behaupten, sie könnten Deutsch
gut genug sprechen, um sich darin zu unterhalten (zum Vergleich: Englisch 29%, Russisch
26% (EUROBAROMETER 2006)). Es ist fraglich, ob diese Zahlen für die Zukunft noch
so zutreffen werden.
Plenarvorträge 131
Die Grenzsprachendidaktik7
Die Fremdsprachendidaktik propagiert seit einigen Jahren an den na-
tionalen Grenzen einen Unterricht der „didaktischen Proxemik“ (Bufe
1991), ja eine „Grenzkompetenz“ (Raasch 2001: 60), ausgehend von der
Erkenntnis, dass Grenzen besondere Chancen, aber auch Risiken für das
Zusammenleben von Menschen bieten (Raasch 1999b: 58). Ihre Existenz
scheint auf ihre Überwindung zu zielen, anders als in früheren Zeiten,
da etwa Ernst Moritz Arndt 1813 definierte: „Die Sprache also macht
die rechte Grenze der Völker“, werden sie als zu überwindende „Narben
der Geschichte“ wahrgenommen. Wenn so „die Grenze“ ins Zentrum des
Interesses rückt, so könnte dies modellhaft sein für eine Verschiebung des
7
Hervorragende Arbeiten zum Sprachenlernen an der Grenze hat vor allem die öster-
reichische Linguistik und Literaturdidaktik hervorgebracht: Krumm 1999a, Krumm 2001,
1999b, 2003, Krumm/Oomen-Welke 2004, Wintersteiner 2006. Zu erwähnen sind aber
auch die Arbeiten aus dem Kontext der Saar-Lor-Lux-Region von Autoren, die sich um
den grenznahen Französisch-Unterricht verdient gemacht haben: Raasch 1997, 1999,
2000, 2001.
134 Annette Kliewer
8
Das deutsche Poleninstitut in Darmstadt verfügt über eine Datenbank, in der überprüft
werden kann, welche polnischen Autoren ins Deutsche übersetzt werden können und um-
gekehrt. (www.deutsches-polen-institut.de/Service/Bibliografien/deutsch-polnischeueber-
setzung/index.php?we_lv_start_0=1180 (Zugriff 18.6.2012)).
138 Annette Kliewer
Literatur
Baur, R. S./Chlosta, C. (1999) Internationalisierung der Lehrerausbildung. In: Wege zur
Mehrsprachigkeit. Informationen zu Projekten des sprachlichen und interkulturellen
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Bufe, W. (1991) Plädoyer für einen grenzübergreifenden Fremdsprachenunterricht: ein
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Dedecius, K. [Hg.] (2011) Meine polnische Bibliothek. Literatur aus neun Jahrhunderten.
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Dedecius, K. [Hg.] (1996) Panorama der polnischen Literatur des 20. Jahrhunderts. Zürich
Eurobarometer Sprachen: http://ec.europa.eu/languages/documents/2006-special-euro-
barometer-survey-64.3-europeans-and-languages-report_de.pdf (Zugriff 18.6.2012).
Plenarvorträge 139
Modalitäten
1. Modalitätsarten
In der einschlägigen Literatur zur Modalität – sowohl im Bereich der
morphologisch und syntaktisch codierten Verbalmodi als auch im Bereich
der Modalverben, Modaladverbien, Modalprädikativa und Modalpartikeln
der deutschen Gegenwartssprache – werden diverse Arten der durch alle
genannten Entitäten bzw. Formen bezeichneten „Modalitäten“ aufge-
führt. Eine Auflistung der hierzu verfassten Titel ist an dieser Stelle ent-
behrlich, da sie mehrere Seiten umfassen würde. Die wichtigsten Arbeiten
zur Klassifizierung modaler Entitäten des Gegenwartsdeutschen sind den
Fachleuten außerdem sehr gut bekannt, sodass wir hier lediglich auf die
Titel Bezug nehmen wollen, die für konkrete im vorliegenden Beitrag the-
matisierte Problemstellungen oder -lösungen einschlägig sind.
Bekanntlich werden modale und modal markierte Sprachmittel dann
eingesetzt, wenn irgendwelche „Abweichungen“ von dem als neutral ange-
setzten Faktizitätsmodus ausgedrückt werden müssen. Hierzu gehören sol-
che grundlegenden Bedeutungssphären wie Wunsch, Option, Möglichkeit,
Notwendigkeit, Wahrscheinlichkeit, Annahme/Vermutung, Nichtfaktizität,
Aufforderung etc., wobei diese modalen Bereiche miteinander sehr häufig
interagieren, sodass gewisse Affinitäten zwischen ihnen oder aber deren
Affinitäten zu anderen, verwandten Kategorisierungssphären bestehen. Im
Weiteren werden gerade diese kategorialen Affinitäten (und Divergenzen)
behandelt.
Plenarvorträge 141
2. Modalitätsbezüge
In diesem Unterkapitel werden kategoriale Affinitäten der Modalformen
als Träger der Modalitäten zu anderen Verbalkategorien der deut-
schen Gegenwartssprache eruiert. Es wird gezeigt, welche kategorialen
Konvergenzen zwischen Modalität und Diathese, Aspekt und Tempus be-
stehen und wie diese die Architektonik des Verbalsystems beeinflussen.
3. Der Polizist würde den Autodieb verfolgen vs. (*)Der Autodieb würde
vom Polizisten verfolgt werden. [*würde gern verfolgt werden, doch
würde unter diesen Umständen verfolgt werden…]
Die durch wollen bzw. möchte ausgedrückte volitive Modalität ord-
net dem Satzsubjekt die Kontrollfunktion zu, wodurch eine Passiv
transformation (anders als im Falle der „Anhebung“ bei anderen
Modalverben) unmöglich ist (vgl. Fujinawa 2008, 101 ff.). Der Sprecher ist
hier keine Instanz, die den aktivisch ausgedrückten Sachverhalt in irgendei-
ner Weise einschätzt, er stellt nur eine Tatsache fest. Der Wünschende deckt
sich als Instanz mit dem Handelnden (der Polizist will und verfolgt). In bei-
den Fällen ist er sozusagen „aktiv“ – einmal ist das Wünschen bzw. Wollen
eine aktive individuelle geistige Handlung, zum anderen ist verfolgen
eine aktive individuelle physische Handlung. Man kann sagen, dass beide
Handlungen sich in der Subjektsphäre befinden und diese nicht verlassen
können. Eine Passivtransformation würde diese Einheit zerstören, sodass
die Lesart des formal „entsprechenden“ Passivsatzes semantisch gesehen
nie dieselbe sein kann wie die des Aktivsatzes. Bei Prädikaten wie verfol-
gen ist dies besonders gut sichtbar, aber eine semantische Entsprechung von
Aktiv- und Passivsatz ist bei wollen in keinem Fall zulässig, beide Sätze
drücken stets unterschiedliche Sachverhalte aus, bei denen das Wollen bzw.
Wünschen immer an das Satzsubjekt gebunden ist, während die auszufüh-
rende Handlung im Passivsatz regelrecht nicht dem Satzsubjekt zugeschrie-
ben wird: Er will sie fragen ≠ Sie will von ihm gefragt werden. Gefragt wird
also in beiden Fällen sie, doch gewollt wird das Fragen im ersten Fall von
ihm und im zweiten von ihr.
Grundsätzlich anders sieht es bei anderen (nicht-volitiven) Modalverben
aus. Die Passivdiathese ist hier stets eine semantisch volläquivalente
Umkehrung des jeweiligen Aktivsatzes. Er kann sie fragen ist seman-
tisch gesehen dasselbe wie Sie kann von ihm gefragt werden. Auch bei
den Prädikaten darf fragen, muss fragen und soll fragen entspricht die
Passivform semantisch der Aktivform. Der Sprecher wechselt einfach die
Perspektive und interpretiert denselben Sachverhalt so, dass das Agens im
Passivsatz die Subjektfunktion verliert. Die Verwendung des Modalverbs
stört ihn nicht daran, da das Modalverb sich genauso wie das Vollverb
verhält. Das Können, das Dürfen, das Sollen oder das Müssen unter-
scheiden sich somit grundsätzlich von dem Wollen. Sie drücken inaktive
Eigenschaften des Subjekts aus, wodurch ihre „aktive“ Zuordnung dem
Satzsubjekt durch den Sprecher erfolgt. Anders als bei wollen (oder bei
möchte) wird der Sachverhalt vom Sprecher auf eine besondere Art und
146 Michail L. Kotin
Weise eingeschätzt. Peter kann es tun ist nicht eine bloße Feststellung ei-
ner Tatsache durch den Sprecher, wie im Falle von Peter will es tun. Hier
schreibt der Sprecher dem Satzsubjekt eine Eigenschaft zu und beurteilt
die Realisierbarkeit einer Aktion durch das Satzsubjekt. Wird dieselbe
Prozedur im Passivsatz codiert, werden sämtliche semantischen Bezüge
des Aktivsatzes beibehalten.
Die Modalverben indizieren also durch ihre Semantik („root modality“
nach Kratzer 2012, 49 ff.) bestimmte Komponenten, die u.a. zwischen
der Kategorie der Modalität und der Kategorie des Genus verbi „vermit-
teln“, und gewährleisten dadurch eine formale Realisierung der coverten
Konvergenz zwischen den beiden Kategorienbereichen im Verbalsystem.
Wie verhält es sich nun aber im System der semantisch unspezifizierten
grammatischen Modalformen? Im Unterschied zu den „semantisch starken“
(spezifizierten) Modalverben oder anderen lexikalischen Indikatoren der
Modalität codieren diese Letzteren per definitionem lediglich die Modalität
als solche oder höchstens eine temporal vermittelte Modalität (wie die
Form des Konditionalis, die allerdings von einigen Linguisten umgekehrt
als Marker einer modal vermittelten Temporalität eingestuft wird, vgl.
Thieroff 1992) bezeichnen. Die periphrastische würde-Form ist unbestrit-
ten stärker grammatikalisiert als die Modalverb-Konstruktionen. Daher
kann deren Bezug auf Teilbereiche der Volitivität resp. Optionalität oder
Kontrafaktizität nicht kontextfrei festgestellt werden. Die Sätze des Typs
Er würde heute kommen haben normalerweise mehrere Lesarten, abhän-
gig davon, welche modale „Begleitsemantik“ im bestimmten Kontext re-
alisiert wird. Es kann sich nämlich um einen Wunsch oder eine Option
handeln. Die Konkretisierung der jeweiligen Lesart kann lediglich über den
Gesamtkontext, ohne Einsatz zusätzlicher sprachlicher „Hilfsindikatoren“
erfolgen oder aber diese enthalten, vgl. Er würde gern kommen vs. In die-
sem Fall/unter diesen Umständen würde er kommen. Bei der ersten Lesart
impliziert die würde-Umschreibung ein Wollen, bei der letzteren ein
Können, ggf. ein Müssen bzw. ein Sollen.
Dieser grundsätzliche Unterschied in der Semantik, welcher beim
Gebrauch eines Modalverbs overt und beim Gebrauch der würde+Infinitiv-
Periphrase covert codiert wird, wird selbstverständlich auf die Diathese
entsprechend projiziert. Falls das Vollverb in der Infinitivform generell
„passivfähig“ ist, kann auch der Satz mit einer würde-Form passiviert
werden. Doch ist der dem Aktivsatz semantisch äquivalente Passivsatz
nur im Fall der optional-konditionalen Lesart möglich, dagegen ergibt die
Passivierung des Satzes mit einer würde-Umschreibung in volitiver Lesart
Plenarvorträge 147
keinen dem Aktivsatz äquivalenten Sinn und ist daher aus semantischen
Gründen ungrammatisch: Er würde von mir unterstützt werden impliziert
immer nur die nicht-volitive Lesart des aktiven „Ausgangssatzes“ (Ich wür-
de ihn [in diesem Fall/unter diesen Umständen] unterstützen, doch nicht
Ich würde ihn [gern] unterstützen – dieser Aktivsatz ist grundsätzlich nicht
passivierbar, da die Passivtransformation den Indikator gern nicht dem
Agens, sondern dem Satzsubjekt des Passivsatzes zuweisen würde, welcher
aus der Perspektive des „Tuns“ passiv wird, doch aus der Perspektive des
„Wollens“ stets aktiv bleiben muss).
Es wurde also gezeigt, dass die – overt oder covert ausgedrückte –
Wunschsemantik eine andere syntaktische Rollenverteilung voraus-
setzt als die Semantik der Optionalität, Dispositionalität, Verisimilität
oder Nezessivität. Diese Tatsache hat unmittelbare Folgen für die
Passivtransformation, wodurch eine direkte kategoriale Konvergenz zwi-
schen Modalität und Diathese gegeben ist. Diese kategoriale Konvergenz
trägt ohne Zweifel Universalcharakter, d. h., man hat davon auszugehen,
dass in allen Sprachen, die die Kategorie des Genus verbi haben, im Falle
der Codierung des „Wollens“ keine dem Aktivsatz semantisch äquivalente
Passiv-Periphrase möglich ist, während bei der Codierung der nicht-vo-
litiven Modalität der Passivsatz – falls dieser grundsätzlich möglich ist –
dem entsprechenden Aktivsatz semantisch äquivalent ist.
Nun ist ein „voluntativer“ Passivsatz nicht grundsätzlich ungramma-
tisch, sondern lediglich dem formal entsprechenden Aktivsatz nicht seman-
tisch äquivalent. Sätze wie Peter will von Sabine unterstützt werden sind
durchaus akzeptabel, solange die Subjektposition von einem Anthroponym
besetzt ist. Nur haben sie keine adäquate Aktiventsprechung. Die seman-
tische Rollenverteilung sieht hier so aus, dass eine im Aktivbereich blei-
bende Äquivalenz syntaktisch durch Satzeinbettung erfolgen kann, d. h.,
die im Passivsatz vorhandene Spaltung zwischen dem wollenden Subjekt
und dem handelnden Agens muss bei der Aktivkonstruktion durch eine
formale Spaltung des Satzganzen in den Matrixsatz mit dem wollenden
Satzsubjekt und den Objektsatz mit dem handelnden Satzsubjekt erfol-
gen: Peter will, dass Sabine ihn unterstützt. Die eigentliche Hierarchie der
wollenden und der handelnden Größe ist hierbei deutlich sichtbar: Beim
Ausdruck der Volitivität ist das „Wollen“ dem „Handeln“ übergeordnet.
Wenn das Satzsubjekt ein Träger des Wollens und des Handelns zugleich
ist, wird diese Hierarchie sozusagen „in den Hintergrund gestellt“, um
hierdurch einer unnötigen Redundanz vorzubeugen. Bei der Aufteilung des
Wollenden und des Handelnden auf zwei Größen muss diese Hierarchie
148 Michail L. Kotin
overt werden, was einerseits die einfache Passivierung des Aktivsatzes mit
Beibehaltung derselben semantischen Referenz ausschließt und anderer-
seits den Ausdruck dieser Referenz im Falle eines Aktivsatzes nur über eine
Hypotaxe zulässt, in der die syntaktisch übergeordnete Rolle des „Wollens“
in Bezug auf das „Handeln“ evident wird.
Bei nichtvolitiver Semantik gibt es zwischen dem Könnenden/
Dürfenden oder Müssenden/Sollenden einerseits und dem Handelnden an-
dererseits keine Hierarchierelation. Das Handeln ist nämlich aus der Sphäre
des Subjekts der Möglichkeit/Notwendigkeit grundsätzlich nicht entfremd-
bar, daher ist der Könnende/Dürfende/Müssende/Sollende stets auch der-
jenige, der sein Können/Dürfen/Müssen/Sollen eigenständig realisiert und
das damit verbundene Handeln einer anderen Person nicht übertragen kann.
Logischerweise ist eine Spaltung von Agens und Subjekt nicht möglich,
wodurch die Passivperiphrase dem Aktivsatz immer semantisch äquivalent
ist: Er kann/darf/muss/soll sie unterstützen = Sie kann/darf/muss/soll von
ihm unterstützt werden. Aus demselben Grund wäre eine Satzeinbettung
(anders als bei wollen) ungrammatisch: *Er kann/darf/muss/soll, dass er
sie unterstützt.
Im Falle nichtvolitiver Modalität gibt es darüber hinaus eine weitere
Besonderheit. Die Modalverben können, dürfen, müssen und sollen sowie
die Konjunktiv- bzw. würde+Infinitiv-Kodierungen der dispositionellen,
verisimilen oder nezessiven Modalitätsfunktion haben (im Falle transitiver
Verben) einen doppelten Referenzbezug auf das Agens und das Patiens,
was die semantische Äquivalenz des Aktiv- und des Passivsatzes bewerk-
stelligt, obwohl das Prädikat komplex ist und zwei Verben enthält, die ihre
Valenzeigenschaften realisieren. Ich kann/darf/muss/soll etwas tun bedeutet
zugleich, dass Etwas von mir getan werden kann/darf/muss/soll. Ähnlich
bedeutet Ich würde etwas tun – vorausgesetzt, dass es sich nicht um mein
Wollen, sondern um mein Können handelt, – dass Etwas von mir [unter
gewissen Umständen oder in gewissem Fall, doch nie *gern] getan werden
würde.
oben; ggf. kann sogar (3) als aktueller Wunsch verstanden werden). Dies ist
ein besonders aussagekräftiger Beweis für die eindeutig „vergangenheits-
bezogene“ temporale Ausrichtung der Konjunktivformen.
teilt sich in zwei Varianten auf, die von Th. Fritz 2000, 107 ff.; 116 sehr
genau beschrieben worden sind. Bei können und müssen ist eine im Sinne
der Prager Schule merkmallose Modalität vorhanden. Die dispositionelle
resp. nezessive Grundfunktion dieser Verben ergeben sich unmittelbar aus
der „Beschaffenheit“ des Subjekts und haben keinen zusätzlichen Bezug
auf eine fremde Quelle. Dürfen und sollen sind dagegen merkmalhaft.
Die Dispositionalität beim ersteren Verb und die Nezessivität beim letz-
teren setzen einen zusätzlichen Akteur voraus, der die Erlaubnis resp. die
Anordnung gibt.
Diese Rollenverteilung wird nun beim epistemischen Gebrauch der
Modalverben entsprechend „vererbt“: Die jeweiligen „Akteure“ bei dürf-
te und sollen werden als Informationsquelle uminterpretiert. Wenn die-
se fehlen (bei können und müssen), fehlt auch die Voraussetzung für die
Ausbildung der evidentiellen Bedeutung. Die Neutralisierung der entspre-
chenden binären privativen Opposition zwischen epistemischen und evi-
dentiellen Modalverben kann laut dem generellen Grundsatz des Prager
Zirkels nur zu Gunsten des merkmallosen Gliedes (also in dem konkreten
Fall der epistemischen Modalverben) erfolgen. Das bedeutet, dass können
und müssen ggf. evidentiell gelesen werden können (Etwas kann oder muss
sein, weil a) der Sprecher selbst es vermutet oder b) der Sprecher eine
Information dazu aus einer fremden Quelle besitzt), während dürfte und
sollen die evidentielle Lesart nie einbüßen können (Etwas dürfte oder soll
sein, nur weil der Sprecher eine Information dazu aus einer fremden Quelle
besitzt). Dasselbe gilt mutatis mutandis natürlich auch für die nicht-episte-
mischen Lesarten der vier behandelten Modalverben: Peter kann oder muss
dieses Buch lesen setzt eine fremde Quelle zwar nicht voraus, blockiert
sie aber zugleich auch nicht, während Peter darf oder soll dieses Buch le-
sen immer eine fremde Quelle voraussetzt, die nicht zurückgestellt werden
kann.
lich, mutmaßlich). Sie sind somit Mittel der Modaldeixis, welche den epi-
stemischen bzw. evidentiellen Modalverben weitgehend synonymisch sind.
Die Modalitäten verschiedener Art können auch redundant oder,
besser gesagt, kumulativ ausgedrückt werden, da die Redundanz eine
Volläquivalenz der eingesetzten Codierungsmittel voraussetzt, wäh-
rend bei der Kumulation z.T. diverse modale Semantik durch indizierte
Modalformen zum Ausdruck gebracht wird, vgl. Ich könnte Sie morgen
besuchen. In diesem Beispiel steht das Modalverb in der Konjunktiv
II-Form. Die dispositionelle Modalität erscheint hierbei durch die zusätz-
liche modale (mittelbar auch temporale) Distanz als Ausdrucksform einer
abgeschwächten Faktizität. Derartige Signale dienen am häufigsten der auf
Distanz aufbauenden Höflichkeitskodierung.
Auf der Makroebene des Satzes bzw. einer „Gesamtaussage“ gibt es
außerdem kumulative Ausdrucksformen der Modalität mit einem stärkeren
Redundanzgrad, vgl. die nahezu doppelt codierte Epistemik bei Er wird
wohl jetzt in seinem Zimmer sein.
4. Fazit
Die Modalität als Inbegriff für Kategorialfunktionen, die einen Bezug
des Verbalgeschehens auf die Faktizität in deren weitestem Sinn ausdrü-
cken, wird durch sprachliche Einheiten verschiedener Ebenen codiert.
Dabei bezeichnen sowohl grammatische und syntaktische Modalitätsformen
(Verbmodus und die würde-Periphrase) als auch lexikalische Mittel mo-
daler Referenz (Modalverben, Modaladverbien und Modalpartikeln)
neben eng verstandenen modalen Relationen (Dispositionalität,
Optionalität, Verisimilität, Nezessivität, Nichtfaktizität, Epistemizität,
Evidentialität, Imperativität etc.) Elemente aus anderen Bereichen ver-
baler Kategorisierungen. Dadurch weist die Modalität Affinitäten zu der
Diathese, dem Verbalaspekt, den Aktionsarten der Verben sowie dem ver-
balen Tempus auf. Die kategoriale Konvergenz der Modalfunktion(en)
mit anderen Funktionen der Verbalformen ergibt sich aus universellen
Eigenschaften der grammatischen Kategorisierung, und zwar daraus, dass
sämtliche Funktionalbereiche des sprachlich codierten Verbalgeschehens
miteinander im engen Zusammenhang stehen. In der vorliegenden Fallstudie
ist der Versuch unternommen worden, das Inventar der „Modalitäten“ in
der deutschen Gegenwartssprache, also der Modalitätsarten (Kap. 1), der
Modalitätsbezüge bzw. -relationen (Kap. 2) und der Modalitätsformen
(Kap. 3) aufzulisten, wobei bestimmte Relationen, die in den Grammatiken
Plenarvorträge 157
Literatur
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Tempussystem. In: Linguistik und Literaturwissenschaft 113, 119-146.
158 Michail L. Kotin
Die einen wie die anderen können folglich recht entspannt und zuver-
sichtlich in die Zukunft blicken.
Zwar ist an dieser Stelle ein direkter Vergleich der Predigt mit einem
Roman, mit der Werbung oder mit dem wirtschaftlichen Aufschwung we-
der möglich noch erstrebenswert, und doch liegen gewisse Parallelen auf
der Hand – bereits aufgrund der simplen Tatsache, dass sowohl Predigt als
auch Roman, Werbung und wirtschaftlicher Aufschwung eben ankommen
können1:
–– Wie ein Roman seine Spannung den ‚Leerstellen‘ und ‚Zwischenräumen‘
verdankt, die vom Leser gedanklich gefüllt werden sollen, so kommt
auch die Predigt bei einem ‚mündigen‘ Hörer am ehesten an, wenn
sie ihn geradezu herausfordert, das Gehörte vor dem Hintergrund des
Glaubens zu vervollständigen und auszulegen. „Falls der Homilet die
Predigt wasserdicht machen will und Rezeptionsrezepte verschreibt
(vorschreibt), auf dass nur eine eineindeutige Rezeption Folge sei,
so wäre das nur ein Hinweis darauf, dass es sich um eine verstopfte
Homilie2 handelt, welche dem Hörer keinen Interpretationsspielraum
lässt. Erst eine Unbestimmtheitsrelation schenkt der Imagination des
Rezipierenden die Chance, produktiv zu werden“ (Thiele 2011: 79).3
–– Wie das Ankommen der Werbung lässt sich auch das Ankommen der
Predigt daran festmachen, dass sich Menschen verändern. Allerdings ist
Veränderung nicht gleich Veränderung: Eine erfolgreiche Werbeanzeige
beeinflusst die Bedürfnisse und das Kaufverhalten der Menschen.
Eine idealtypische4 Predigt soll „Gott so zur Sprache bringen“, dass
die Menschen „zu ihren eigenen innersten Möglichkeiten“ hinfinden;
dass sie den Mut haben, „die zu werden, als die Gott sie erschaffen hat“
(Zerfass 1995: 20). Denn – so argumentiert Zerfass weiter – „in jedem
von uns ist die Schöpfung Gottes ‚niedergehalten‘ (Röm 8,19–22) von
1
Selbstverständlich ist die Liste der Substantive, die als Nominativergänzungen des Verbs
ankommen auftreten können, wesentlich länger. Hierzu lohnt beispielsweise ein Blick in
die Korpora des Instituts für Deutsche Sprache in Mannheim auf www.ids-mannheim.
de. Roman, Werbung und wirtschaftlicher Aufschwung sind nur einige aktuelle Beispiele.
2
Die Termini ‚Predigt‘ und ‚Homilie‘ sind hier synonym zu verstehen.
3
In Thiele (2011) auch mehr über die Rezeption der in diesem Sinne ‚offenen‘ Texte, u.a.
über die Freiheit und die Willkür ihrer Interpretation. Am Rande bemerkt sind politische
Predigten, denen „eine vom Redner vorherbestimmte Aktion, z. B. eine Demonstration,
folgen soll“ gar keine ‚offenen‘ Texte (Thiele 2011: 80).
4
Ich basiere hier auf dem theologischen Verständnis der Predigt sowie auf den homileti-
schen Leitsätzen und Richtlinien.
Plenarvorträge 161
5
Primär bedeutet ankommen „einen Ort erreichen, an einem Ort antreffen“ (Duden 2001:
139).
162 Elżbieta Kucharska-Dreiss
6
Am Rande bemerkt waren die Vorläufer für das marktorientierte Zielgruppenkonzept
die sozial- und politikwissenschaftlichen Milieumodelle, etwa das von Durkheim (1981,
1988), das von Bourdieu (1982) oder das von Lepsius (1966), auf die ich hier aber nicht
näher eingehen kann. Vielleicht nur so viel: Mario Rainer Lepsius (1966) untersuchte das
Wahlverhalten im Kaiserreich und in der Weimarer Republik und konnte so folgende so-
zial-moralische Milieus unterscheiden: das konservativ-protestantische, das liberal-prote-
stantische, das sozial-demokratische und das katholische Milieu.
Plenarvorträge 163
7
Auftraggeber der Studie waren die Mediendienstleistungsgesellschaft MDG und die
Katholische Sozialethische Arbeitsstelle KSA.
8
Aus satztechnischen Gründen nenne ich an dieser Stelle nur die Adressen der Startseiten.
Vollständige Links sind im Literaturverzeichnis gelistet.
164 Elżbieta Kucharska-Dreiss
bar gemacht wurde. Das Faszinierende an diesem Modell ist, dass es die
Frage nach der Erreichbarkeit verschiedener Zielgruppen (auch nach dem
‚Ankommen‘ bzw. dem ‚Nicht-Ankommen‘ einer Predigt) in einem voll-
kommen anderen Licht zu betrachten erlaubt.
Das Modell geht auf Clare Graves, einen amerikanischen Psychologen
und Entwicklungstheoretiker, zurück. Er gelangte zu der Erkenntnis, dass
sich die Wertesysteme und Grundüberzeugungen der Menschen aller
Kulturkreise zu bestimmten Stufen/Ebenen zusammenfassen lassen; diese
folgen aufeinander und bauen aufeinander auf. Zu seinen Lebzeiten unter-
schied Graves acht solche Stufen, eine neunte sah er sich anbahnen; weitere
Stufen schloss er nicht aus.
Für die Untersuchung der religiösen Sprache (d. h. für die Interpretation
der linguistisch gewonnenen Daten aus dem Bereich ‚religiöse Kommuni
kation‘) erweist sich v.a. eine von Graves im Prinzip nebenher gemach-
te Beobachtung als besonders nützlich, und zwar die, dass sich auch die
Gottesvorstellungen nach festen, vorhersagbaren Mustern verändern, die an
den einzelnen Bewusstseinsstufen festgemacht werden können.
Dem deutschsprachigen Lesepublikum wurden diese Gottesvorstellungen
von dem Autorenteam Marion Küstenmacher / Tilman Haberer / Werner
Tiki Küstenmacher (= KHK 2010) in dem äußerst spannenden Buch mit
dem Titel „Gott 9.0“ näher gebracht und hauptsächlich auf diese Publikation
stützen sich die nachfolgenden Ausführungen.
Bevor aber die einzelnen Stufen kurz vorgestellt werden können, müs-
sen einige Bemerkungen allgemeiner Art vorausgeschickt werden:
1. „Es gibt keine guten oder schlechten Bewusstseinsstufen. Jede war für
die Epoche, in der sie entstanden ist, lebensrettend“ (KHK 2010: 35).
2. „Einmal erschienene Stufen verschwinden nicht, wenn eine neue er-
scheint. Im Gegenteil, sie bilden das Fundament für die darüber liegen-
den Stufen. Frühere Stufen sind tiefer in menschlicher Psyche verankert
als jüngere“ (KHK 2010: 34).
3. Die Stufen werden zum einen mit Hilfe von „Versionsnummern“ zum
anderen mit Hilfe von Farben bezeichnet. Graves selbst verwendete zu
diesem Zweck einen Buchstabencode (A–N, B–O, C–P, D–Q, E–R,
F–S, G–T, H–U, vgl. http://www.clarewgraves.com/theory_content/
CG_FuturistTable.htm). Den leichter einprägsamen Farbcode haben
zwei Schüler von Graves – Don Beck und Christopher Cowan – Mitte
der 70er Jahre eingeführt (vgl. KHK 2010: 30).
4. Interessanterweise wiederholt jeder Mensch seit seiner Geburt die
Evolutionsgeschichte des Bewusstseins, d. h. durchläuft in seinem
Plenarvorträge 165
9
Entwicklungslinien wurden von einer Reihe der Entwicklungspsychologen herausgear-
beitet (Jean Piaget, Robert Kegan, Abraham Maslow, Jane Loevinger, Daniel Goleman,
Sosanne Cook-Greuter und Lawrence Kohlberg) (vgl. KHK 2010: 229). Howard Gardner
(2011) spricht in diesem Zusammenhang von „multiplen Intelligenzen“.
166 Elżbieta Kucharska-Dreiss
die Botschaft: „Das Leben ist vor allem ein Nähren und Genährtwerden“
(KHK 2010: 51).
Die Zuwendung, die andere am Leben erhält, durchzieht das ganze
Erwachsenenleben Jesu: Er sättigt die versammelte Menschenmenge, sorgt
für volle Netze beim Fischfang, als Erinnerungszeichen hinterlässt er den
Jüngern „die Urgeste des Nährens: das gemeinsame Mahl“ (KHK 2010: 54).
10
Während ich an diesem Beitrag die letzten Korrekturen vor dem Druck vornehme, be-
richten die Medien über die Reaktionen großer Teile der arabischen Welt auf den umstrit-
tenen islamfeindlichen Film: rot-blau gefärbte Angriffe auf amerikanische diplomatische
Niederlassungen, u.a. in Lybien, Jemen und Kairo (vgl. http://www.faz.net/aktuell/politik/
arabische-welt/nach-den-freitagsgebeten-washington-erwartet-weitere-gewalt-gegen-sei-
ne-botschaften-11889841.html).
168 Elżbieta Kucharska-Dreiss
Stufen des Zweiten Ranges: 7.0 (Gelb), 8.0 (Türkis), 9.0 (Koralle)
Die Stufen 1–6 fasste Graves zu einem ersten „Rang“ zusammen. Diese
Stufen antworten seiner Meinung nach auf die „Mangelbedürfnisse“ des
Menschen. Interessanterweise verachten sich alle sechs Stufen des Ersten
Ranges gegenseitig und schaffen eigene Dualitäten: gute und böse Geister,
Eroberer und Eroberte, Heilige und Sünder, Sensible und Unsensible (vgl.
KHK 2010: 173).
Die nächsten sechs Stufen (also die Stufen des Zweiten Ranges, von de-
nen bis jetzt erst 2 bis 3 belegt sind) antworten auf die „Seinsbedürfnisse“
(vgl. KHK 2010: 166). Auf diesen Stufen wiederholen sich die Grundfragen
der ersten sechs Stufen, aber in fortgeschrittener Form. So gesehen ist
die erste Stufe des Zweiten Ranges – 7.0 (mit der Farbe Gelb bezeich-
net) – eine höhere Form von Beige. „Während das physische Überleben
des Individuums das Grundproblem von Beige darstellt, geht es in Gelb
um das physische Überleben der ganzen Menschheit. Es gibt fundamen-
tale Bedrohungen: Überbevölkerung, Umweltzerstörung, Hochrüstung,
Terrorismus, globale Finanzsysteme“ (KHK 2010: 166). Ein Mensch, der
die Stufe Gelb erreicht hat, ist frei von vielen Ängsten und Zwängen. Er
Plenarvorträge 169
kann die früheren Stufen überblicken und weiß die Eigenart jeder Stufe zu
schätzen und zu würdigen. Er kann Widersprüche aushalten und paradox
denken. In Gelb fallen Gegensätze zusammen.
Die zweite Stufe des Zweiten Ranges – 8.0 (Türkis) – ist „die hö-
here Form von Purpur. Dem purpurnen magischen Denken, das alles in
Verbindung mit allem sieht, entspricht ein türkises Denken, das auf einer
kosmozentrischen Reflexionsebene die Verbundenheit von allem mit allem
spürt“ (KHK 2010: 195).
Die dritte Stufe des Zweiten Ranges – 9,0 (Koralle) – bahnt sich erst an
und sie wird eine Weiterentwicklung der roten Ich-Stufe sein. Ihre genauen
Charakteristika sind im Augenblick aber noch nicht vorhersehbar.
Mit diesem Beitrag gewähre ich dem Lesepublikum einige wenige Einblicke in meine
11
3. Was geschieht letzten Endes in der Predigt selbst: Bleibt der Prediger
ausschließlich auf der Stufe, die vom Bibeltext vorgegeben wird, oder
unternimmt er beispielsweise auch ein Ringen um die Hörer anderer
Bewusstseinsstufen?
12
Hier der vollständige Text aus dem Matthäusevangelium:
„Wenn der Menschensohn in seiner Herrlichkeit kommt und alle Engel mit ihm, dann
wird er sich auf den Thron seiner Herrlichkeit setzen. Und alle Völker werden vor ihm
zusammengerufen werden und er wird sie voneinander scheiden, wie der Hirt die Schafe
von den Böcken scheidet. Er wird die Schafe zu seiner Rechten versammeln, die Böcke
aber zur Linken. Dann wird der König denen auf der rechten Seite sagen: Kommt her, die
ihr von meinem Vater gesegnet seid, nehmt das Reich in Besitz, das seit der Erschaffung
der Welt für euch bestimmt ist. Denn ich war hungrig und ihr habt mir zu essen gegeben;
ich war durstig und ihr habt mir zu trinken gegeben; ich war fremd und obdachlos und ihr
habt mich aufgenommen; ich war nackt und ihr habt mir Kleidung gegeben; ich war krank
und ihr habt mich besucht; ich war im Gefängnis und ihr seid zu mir gekommen. Dann
werden ihm die Gerechten antworten: Herr, wann haben wir dich hungrig gesehen und
dir zu essen gegeben, oder durstig und dir zu trinken gegeben? Und wann haben wir dich
fremd und obdachlos gesehen und aufgenommen, oder nackt und dir Kleidung gegeben?
Und wann haben wir dich krank oder im Gefängnis gesehen und sind zu dir gekommen?
Darauf wird der König ihnen antworten: Amen, ich sage euch: Was ihr für einen meiner
geringsten Brüder getan habt, das habt ihr mir getan.
Dann wird er sich auch an die auf der linken Seite wenden und zu ihnen sagen: Weg von
mir, ihr Verfluchten, in das ewige Feuer, das für den Teufel und seine Engel bestimmt ist!
Denn ich war hungrig und ihr habt mir nichts zu essen gegeben; ich war durstig und ihr
habt mir nichts zu trinken gegeben; ich war fremd und obdachlos und ihr habt mich nicht
aufgenommen; ich war nackt und ihr habt mir keine Kleidung gegeben; ich war krank und
im Gefängnis und ihr habt mich nicht besucht. Dann werden auch sie antworten: Herr,
wann haben wir dich hungrig oder durstig oder obdachlos oder nackt oder krank oder im
Gefängnis gesehen und haben dir nicht geholfen? Darauf wird er ihnen antworten: Amen,
ich sage euch: Was ihr für einen dieser Geringsten nicht getan habt, das habt ihr auch mir
nicht getan. Und sie werden weggehen und die ewige Strafe erhalten, die Gerechten aber
das ewige Leben“ (Mt 25,31–46).
13
Ähnlich die beiden Lesungen (vor dem Evangelium), die an diesem Tag im Lesejahr A
vorgesehen sind: 1. Lesung – Ez 34,11–12.15–17 (Gott als der gute Hirt seines Volkes), 2.
Lesung – 1 Kor 15,20–26.28 (Unterwerfung und Gottesherrschaft). Dem Prediger stehen
also drei (zum allergrößten Teil) blaue Texte zur Wahl.
172 Elżbieta Kucharska-Dreiss
traditionelle Art und Weise fortsetzt: mit der Lexik und der Begrifflichkeit,
welche die semantischen Felder ‚herrschen‘ und ‚richten‘ versus ‚ängstlich
gehorchen‘ abdecken. Das liegt auf jeden Fall nahe, insbesondere, wenn
der Prediger selbst sich auf der Stufe 4.0 befindet.
Der Prediger kann sich aber auch um die Hörer anderer – höherer –
Bewusstseinsstufen bemühen bzw. versuchen, den 4.0-Zuhörern orange
oder grüne Perspektiven zu eröffnen. Dies setzt allerdings voraus, dass
er in seiner Persönlichkeitsentwicklung bereits in Richtung Orange oder
Grün unterwegs ist. Genau so einen Versuch wagt Bernd Ciré (1996) in
der Predigt „Einander als königliche Menschen begegnen“. Natürlich
nimmt auch er die Lexeme Christkönig und königlich in den Mund, aber
die Erklärung dafür, warum die katholische Liturgie dieses (blaue) Fest
feiert, ist alles andere als traditionell blau. Sie lautet: „,um nicht zu ver-
gessen, daß wir selbst königliche Menschen sind …‘, mehr noch, auch
die Notleidenden, die unserer Barmherzigkeit bedürfen, sind ‚königliche
Menschen‘. ‚Wir feiern Christkönig nicht nur, damit wir aufrechter aus der
Kirche herausgehen, als königliche Menschen, die Lust an ihrer Würde ha-
ben, die Christus ihnen geschenkt hat. Wir feiern Christkönig auch, damit
wir unseren Blick schärfen für die königlichen Menschen um uns herum‘“
(Anselm Grün nach Ciré 1996: 243).
Aus der biblischen Lesung greift der Prediger das Wort fremd heraus
und stellt das Fremdsein als eine Grundsituation des menschlichen Lebens
dar. Der genaue (etwas anders gestaltete) biblische Kontext ist der: Jesus
sagt zu den Gerechten „ich war fremd und obdachlos und ihr habt mich
aufgenommen“.
Fremdheit kann – erklärt der Prediger anhand der Beispiele – zum
Hindernis werden, anderen zu begegnen; sie kann aber auch schnell in
Feindschaft umschlagen. Diesem Szenario stellt der Prediger die grü-
ne Verhaltensweise Jesu entgegen, der einfühlsam auf die Fremden,
Heimatlosen und Ausgegrenzten seiner Zeit eingeht, sodass diese sich
ihm anvertrauen. Er identifiziert sich sogar mit ihnen. Und genau diese
Einfühlsamkeit macht den Unterschied zwischen Grün und Blau aus: Blau
kümmert sich um Bedürftige aus tief empfundener Christenpflicht, Grün
aus Liebe und Mitgefühl (vgl. KHK 2010: 142).
3. Am Schluss angekommen
Wie eingangs gezeigt, sind auf das Ankommen unterschiedlicher
Botschaften etc. viele Bereiche des menschlichen (Zusammen-)Lebens
geradezu angewiesen. Der Bereich ‚Religion‘ bzw. ‚religiöse Kommuni
kation‘ scheint aber als einer der sensibleren unter ihnen zu gelten.
Besonders kompliziert (um nicht zu sagen: kritisch) wird es dann, wenn
unterschiedliche Gottesbilder aufeinandertreffen: „Wenn jemand ‚Gott‘
sagt, müsste er eigentlich dazu die Stufe seiner Entwicklung nennen, so-
zusagen die Versionsnummer seines Gottesbegriffs. Dann stellt sich bei-
174 Elżbieta Kucharska-Dreiss
Literatur:
Bourdieu, P. (1982) Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft (=
suhrkamp taschenbuch wissenschaft Bd. 658). Frankfurt/M.
Ciré, B. (1996) Einander als königliche Menschen begegnen. In: Gottes Wort im
Kirchenjahr. Das Werkbuch für Verkündigung und Liturgie. Lesejahr A – Bd. 3: Die
Zeit nach Pfingsten, 243–244.
Duden. Deutsches Universalwörterbuch. 4., neu bearbeitete und erweiterte Aufl.
Herausgegeben von der Dudenredaktion. Mannheim, Leipzig, Wien, Zürich. 2001.
Durkheim, E. (1981) Die elementaren Formen des religiösen Lebens. Fankfurt/M.
Durkheim, E. (1992) Über die soziale Arbeitsteilung. Studien über die Organisation hö-
herer Gesellschaften (= suhrkamp taschenbuch wissenschaft Bd. 1005). Frankfurt/M.
Ebertz, M.N. / Wunder, B. [Hg.] (2009) Milieupraxis. Vom Sehen zum Handeln in der
pastoralen Arbeit. Würzburg.
Frank, K.S. (2006) Christkönig. In: Lexikon für Theologie und Kirche. Bd. 2. Freiburg im
Breisgau, 1140–1141.
Plenarvorträge 175
Internetseiten
http://www.bistum-fulda.de/bistum_fulda/kirche_aktiv/projekt/3juli/projektskizze_
kr.php, abgerufen am 26.05.2012.
http://www.clarewgraves.com/theory_content/CG_FuturistTable.htm, abgerufen am
10.05.2012.
http://www.erzbistum-koeln.de/seelsorgebereiche/wir_fuer_sie/fachbereich_pastoral/
konzeptenwicklung/sinus_milieu_studie/sinus_milieus_deutschland.html, abgerufen
am 26.05.2012.
176 Elżbieta Kucharska-Dreiss
http://www.faz.net/aktuell/politik/arabische-welt/nach-den-freitagsgebeten-washington-
erwartet-weitere-gewalt-gegen-seine-botschaften-11889841.html, abgerufen am
15.09.2012.
http://www.graves-systeme.de/, abgerufen am 24.05.2012.
http://www.ids-mannheim.de, abgerufen am 14.09.2012.
http://www.kath.de/lexika/sinusmilieus-pastoral/, abgerufen am 20.05.2012.
http://www.keb-muenchen.de/projekte/innovative-projekte/newsletter-innovative-
-projekte/newsletter-4-dezember/milieusensible-pastoral-im-dekanat-fuerstenfeld-
bruck.html, abgerufen am 26.05.2012.
http://www.pastorale-informationen.de/669-Aktuelles-(neu)/11154,Sinus-Milieus-und-
Firmvorbereitung.html, abgerufen am 25.05.2012.
http://www.theolinguistik.de, http://www.theolinguistik.net, abgerufen am16.09.2012.
Ryszard Lipczuk (Szczecin)
ZITAT Nr. 1:
Die Eignung zum allerorten gleichlautenden Verständigungsmittel verliert die
deutsche Sprache durch ihre 80 000 Fremdwörter. (Kresse 1916: 115)
2
Den Terminus „nichtnative Ausdrücke“ verwende ich als Synonym zu „Fremdwort“,
„Lehnwort“, „Entlehnung“, Wörter (Ausdrücke) fremder Herkunft“.
180 Ryszard Lipczuk
ZITAT Nr. 2:
Die fremden Ausdrücke haben vielfach andere Laute, andere Betonung als
die deutschen Wörter. Solche ungleichartige Bestandteile stören darüber die
Einheitlichkeit der Rede. (Dunger3/Lössnitzer 1915: 25)
Hermann Dunger (1843–1912) gehörte zu den Gründern und aktivsten Vertretern des
Allgemeinen Deutschen Sprachvereins. In Dresden hat er bereits 1885 den ersten
Zweigverein des ADSV gegründet.
Plenarvorträge 181
sollten aber Kriterien für die Abgrenzung der beiden Kategorien sein? Ist
es berechtigt, von bestimmten lexikalischen Einheiten zu behaupten, dass
sie überflüssig sind? Die Nützlichkeit bestimmter Wörter zeigt sich sowie-
so erst in der kommunikativen Praxis. Dass die deutsche Sprache, ähn-
lich wie viele andere Sprachen, eine Art Mischsprache ist, dass nichtnati-
ve Elemente einen großen Teil des deutschen Wortschatzes bilden, spricht
überhaupt nicht gegen Entlehnungen als solche.
ZITAT Nr. 3:
Durch die vielen Fremdwörter werde die deutsche Sprache „auf jene Ent
wickelungsstufe zurückgedrängt, auf der das Ausdrücken von Gedanken und
damit das Denken selbst entsprechend eingeschränkt war“. (Kresse 1916: 115 f.)
verändern kann, ist kaum nachvollziehbar – eher kann man annehmen, dass
dies keine beträchtlichen „Schäden“ im mentalen Bereich nach sich ziehen
würde.
Derartige Gründe für die Ablehnung der Fremdwörter seien hier kogni-
tive Motive genannt6.
ZITATE Nr. 4:
Die Fremdwörterei ist ein Hemmschuh für die Ausbreitung allgemeiner Bildung.
(Reinecke 1888: 8)
Die Fremdwörterei ist die granitene Mauer, die sich in Deutschland zwischen den
Gebildeten und den nach Bildung ringenden Klassen erhebt. (Engel 1917: 202)
6
Solche Motive scheinen bei den puristischen Aktivitäten in Polen eine bedeutende Rolle
gespielt zu haben (vgl. z. B. Niedźwiedzki 1917).
Plenarvorträge 183
ZITATE Nr. 5:
Wo gewelscht7 wird, da wird geschwindelt. (Engel 1916: 116)
Das deutsche Wort ist klar und rechtschaffen (…) das Fremdwort im besten
Falle schwammig, schaumig, in den vielen noch schlimmeren Fällen unredlich,
schwindelhaft. (Engel 1917: 177)
ZITAT Nr. 6:
Ist es geschmackvoll, auf einen Rocke allerlei bunte Lappen und Flecken
aufzunähen? (Dunger/Lössnitzer 1915: 25)
Gemeint ist hier allerdings nicht ein Rock, sondern die deutsche Sprache, die
nach Ansicht der Autoren durch die vielen Entlehnungen an Schönheit verliert.
7
„Welschen“ bedeutet hier so viel wie: „fremde Ausdrücke unnötigerweise verwenden“.
184 Ryszard Lipczuk
Die Sprache wird als ein Kunstwerk betrachtet. Fremdwörter oder einhei-
mische (native) Ausdrücke mit fremden Bestandteilen klingen nicht schön
und zerstören die Schönheit und Harmonie der Muttersprache. So meinte
Karl Wilhelm Kolbe8 (1813: 140), dass die Sprache ein Kunstwerk und
Trägerin des Schönen sei. Kolbe vergleicht eine mit vielen Entlehnungen
durchsetzte Sprache mit einem Ölgemälde, in dem „hier ein Auge mit
Wasserfarben, dort eine Nase mit Pastellfarben, anderswo ein Ohr gar mit
Saftfarben eingesetzt wäre“ (zit. nach Bär 2000: 219).
Es liegen uns hier ästhetische Motive vor.
ZITAT Nr. 7:
Wir verlangen (…) durchaus nicht die Ausmerzung alles Fremden, nur eine
Beschränkung in so weit, daß man Fremdwörter nicht aus lässiger Bequemlich
keitsliebe, überflüssig und unnöthig verwende, sondern nur mit bewußter Absicht, ….
(Sanders 1884: VIII)
8
Kolbe (1757-1835) war ein Maler und Grafiker, aber auch Verfasser von sprachpuristi-
schen Texten.
9
Vgl. Lipczuk (2007b: 30 f.).
Plenarvorträge 185
Eine solche Kritik des Gebrauchs der Fremdwörter mit Verweis auf
Snobismus nenne ich verhaltenskritische Motive (mein Benennungs
vorschlag, vgl. auch Lipczuk 2007a; b).
ZITATE Nr. 8:
Unsere Sprache gehört zu den reichsten, bildsamsten, beugungs- und zusammen
setzungsfähigsten der neueren europäischen Sprachen (…) Wozu also noch
Fremdwörter, da wir einen so großen Vorrat an eigenen besitzen? (Brugger 1855: V)
Mehr als einmal sind mir die Augen ermüdet, die Hände gesunken vor der über
wältigenden Unausschöpfbarkeit dieser reichsten aller Zungen. (Engel 1929: 8)
ZITAT Nr. 9:
Gottlob haben wir wieder gelernt, daß wir Germanen sind. Wie verträgt sich damit
die Pflege einer im jüdischen Verbrechertum wurzelnden Unsitte? Auch auf die
Herkunft von Wörtern wie berappen, beschummeln, Kittchen, Kohldampf, mies,
mogeln, pleite, Schlamassel, Schmu, Schmus, schofel, Stuß und ihresgleichen
sollte sich der Deutsche nachgerade besinnen. Es ist seiner nicht würdig, seinen
186 Ryszard Lipczuk
Wortschatz aus dem Ghetto zu beziehen und aus der Kaschemme zu ergänzen.
(Götze 1936, nach Eisenberg 2011: 117)
Die Zukunft des deutschen Volkstums blüht und welkt mit der Zukunft der deutschen
Sprache. (Engel 1916: 258)
Das Fremdwort ist der Feind der deutschen Volkseinheit. (Engel 1916: 114)
Hermann Dunger verbindet den Zustand der deutschen Sprache mit der
politischen Situation. Immer wenn sich das deutsche Volk – so Dunger – in
einer schwierigen Lage befindet und von Feinden unterjocht wird – kom-
men ins Deutsche unnötige Fremdwörter. Um „das vaterländische Gefühl“
zu stärken, solle man gegen diese Fremdeinflüsse in der Sprache ankämpfen.
Alle drei entsprechen dem sprachideologischen Diskurs im Sinne von Gardt (2001).
10
Der radikale und eifrige Kämpfer für die „Reinheit“ der deutschen
Sprache Eduard Engel12 meint sogar, dass die Zukunft der deutschen Nation
vom Zustand der deutschen Sprache abhänge.
Wir haben es hier mit nationalen Motiven zu tun, die oft einen natio-
nalistischen oder chauvinistischen Anschlag bekamen. So wird von Adolf
Reinecke (1888: 57) appelliert: „Besinne dich auf dich selbst, du großes
herrliches Volk! (...) Bewahre dein Volkstum vor fremden Einflüssen“.
Die deutsche Sprache wird in Verbindung mit der deutschen Nation,
der deutschen Wesensart, mit dem Deutschtum gebracht. Die „reine“
Muttersprache sei eine Voraussetzung der nationalen Identität, während
Fremdwörter einen verderbenden Einfluss auf das deutsche Volkstum 13
hätten.
Die nationalen bzw. auch nationalistischen Motive findet man schon
beim Begründer der Turnbewegung Friedrich Ludwig Jahn (Anfang des
19. Jhs.), der in seiner Abneigung, selbst Hass gegenüber dem Fremden, be-
sonders gegenüber Frankreich und der französischen Sprache als Beispiel
eines übereifrigen Kämpfers für die „Befreiung“ der deutschen Sprache
von fremden Einflüssen dienen kann. „In seiner Muttersprache ehrt sich
jedes Volk, (...) (Jahn 1817: 289).
Bei der Überlegung, welches Volkstum denn am höchsten stehe, meinte er:
„Kein anderes, als was den heiligen Begriff der Menschheit in sich aufgenommen
hat, (...) wie weiland volkstümlich die Griechen und noch bis jetzt weltbürgerlich
die Deutschen, der Menschheit heilige Völker“ (Jahn 1817: 17)
12
Zu Motiven der Ablehnung der Fremdwörter bei Eduard Engel vgl. auch: Lipczuk 2004;
2007b; 2010, Kausa-Michałowska 2010, Sztandarska 2012.
13
Der Begriff „Volkstum“ wurde von Friedrich Ludwig Jahn eingeführt – es sei alles, was
mit einem Volk (einer Nation) zusammenhängt: dessen Kultur, Mentalität, Geschichte,
geographische Lage, nicht zuletzt die Sprache. Es sei „das Gemeinsame des Volkes, sein
inwohnendes Wesen, sein Regen und Leben (…)“ (Jahn 1817: 6 ff.).
188 Ryszard Lipczuk
Mehr dazu: Lipczuk 2007a; 2008. Das gilt auch für Polen, besonders an der Wende des
14
Umwelt, auch mit uns selbst. Sprache ist Voraussetzung dafür, als Mensch und mit
Menschen zu leben. (Meyer 2011: 10)
Eindeutig wird hier auf den Gebrauch der Anglizismen aus snobistischen
Gründen verwiesen. Wir haben es also mit verhaltenskritischen Motiven zu
tun.
Und hier ein Zitat vom Vorsitzenden des Vereins Deutsche Sprache
Walter Krämer:
Meine Vermutung ist: wir flüchten nicht eigentlich aus unserer Sprache (…), wir
flüchten aus unserer nationalen Haut als Deutsche“. (Krämer 2001: 276)
Literatur
Bär, J. A. (2000) Nation und Sprache in der Sicht romantischer Schriftsteller und
Sprachtheoretiker. In: Gardt, A. [Hg.] Nation und Sprache. Eine Diskussion ihres
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Heidelberg.
Campe, J. H. (1801) Wörterbuch zur Erklärung und Verdeutschung der unserer Sprache
aufgedrungenen fremden Ausdrücke. Ein Ergänzungsband zu Adelungs Wörterbuche.
Braunschweig.
Desterley (1885) - Paul Fleming, Friedr. v. Logau und Adam Olearius, herausgegeben
von Prof. Dr. Desterley. = Deutsche National-Litteratur. Historisch-kritische Ausgabe,
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Dunger, H. (1899) Wider die Engländerei in der deutschen Sprache. Berlin.
Dunger, H. (1898) Eine neue Verteidigung der Fremdwörter. In: Zeitschrift des Allgemeinen
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Engel, E. (1917) Deutsche Stilkunst. 22.-24. Auflage. Leipzig – Wien.
Engel, E. (1929) Verdeutschungswörterbuch. Ein Handweiser zur Entwelschung für Amt,
Schule, Haus, Leben. 5. Auflage. Leipzig.
Gardt, A. (2001) Das Fremde und das Eigene. Versuch einer Systematik des
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In: Weigt, Z. [Hg.] Die deutsche Sprache im Spiegel vielfältiger wissenschaftlicher
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192 Ryszard Lipczuk
Kolbe, K. W. (1813) Abgerissene Bemerkungen über Sprache. Ein Nachtrag zu der Schrift
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Krämer, W. (2001) Modern Talking auf deutsch. Ein populäres Lexikon. München –
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Sanders, D. (1884) Verdeutschungswörterbuch. Leipzig.
Sarrazin, O. (1918, 5. Auflage; 1912, 4. Auflage; 1. Auflage: 1886): Verdeutschungs-
Wörterbuch. Berlin.
Sztandarska, K. (2012) Zu sprachpflegerischen Arbeiten von Eduard Engel und Fryderyk
Kazimierz Skobel. In: Studia Niemcoznawcze XLVIII, 531-540.
Wiechers, S. (2004) Die Gesellschaft für deutsche Sprache. Vorgeschichte, Geschichte
und Arbeit eines deutschen Sprachvereins. Frankfurt a. Main.
Henning Lobin (Giessen)
Einleitung
„Mein Kopf kommt nicht mehr mit“, schreibt Frank Schirrmacher in
seinem Buch „Payback“ (Schirrmacher 2009, 13) und schildert verschie-
dene dieser Veränderungen, die sich durch Internet und Computer gegen-
wärtig vollziehen. Das Problem mit derartigen Diagnosen besteht darin,
dass sie so allgemein formuliert sind, dass kaum abzuschätzen ist, wel-
che Veränderungen uns ganz konkret, in unserer kulturellen Lebenswelt,
erwarten. Wenn man aber gezielt einen Bereich herausgreift, wird eine
Abschätzung der Veränderungen als eine Hochrechnung der bisherigen
Entwicklung möglich. Deshalb greife ich die Kulturtechniken des Lesens
und Schreibens heraus: Wie werden wir dieses in einigen Jahren tun, wenn
all die Veränderungsprozesse stattgefunden haben, von denen wir jetzt erst
die Anfänge sehen?
Gutenberg-Galaxis
Bevor die Digitalisierung ihren Siegeszug begann, bewegten wir uns in
der Gutenberg-Galaxis – ein Begriff, den Marshall McLuhan 1962 mit sei-
nem gleichnamigen Buch geprägt hat (McLuhan 1962). Entscheidend für
die Entfaltung der Gutenberg-Galaxis ist die Entwicklung des Buchdrucks
194 Henning Lobin
dass der Erwerb eines Buches weitaus größeren Teilen der Bevölkerung
möglich war. Alphabetisierung und die Herausbildung einer Öffentlichkeit
waren die Folge, die Entstehung einer Buchkultur. Bücher werden heu-
te zu relativ niedrigen Kosten produziert und in einer eigenständigen
Distributionslogistik ausgeliefert.
Verbindet man heute die Erfindung des Buchdrucks mit der
Mechanisierung und Industrialisierung der Buchproduktion, scheint
Gutenbergs ursprünglicher Anlass zur Entwicklung dieser Technologie ein
ganz anderer gewesen zu sein. Michael Giesecke ist der Ansicht, dass es
ihm um die Entwicklung einer „Schönschreibmaschine ohne Schreibrohr,
Griffel und Feder“ (Giesecke 1991, 134) gegangen sei. Demnach strebte
Gutenberg analog dem Schönheitsideal der wundervollen Harmonie
in der Renaissance nach dem „Ideal einer ‚künstlichen‘ (im Sinne von
kunstvollen) Proportionierung der Textgestaltung“ (ebd.). Durch die
Reproduktion von identischen Bleilettern mit Hilfe von Gussformen und
durch die Herstellung der Gussformen mit Stempeln gelang ihm eine
Vereinheitlichung des Schriftbildes und aufgrund der Beweglichkeit der
Lettern auf der Zeile die Erstellung eines gleichmäßigen und harmonisch
proportionierten Schriftsatzes. Eine Seite wie eine aus der berühmten
Gutenberg-Bibel zu produzieren, ging also keineswegs schneller vonstat-
ten: Der Satz war zunächst äußerst aufwendig, und was irgendwann tat-
sächlich durch den Druck an Zeit gewonnen wurde, wurde sofort in die
manuell hinzugefügten Malereien investiert.
Turing-Galaxis
Die Gutenberg-Galaxis ist mittlerweile transformiert, erweitert, abge-
löst worden von etwas, was der Informatiker Wolfgang Coy schon 1994
als die „Turing-Galaxis“ bezeichnet hat (vgl. Coy 1994). Mit diesem
Begriff nimmt er Bezug auf einen der größten Wissenschaftler des 20.
Jahrhunderts, den britischen Mathematiker Alan Turing. Dieser hat 1936
die sogenannte Turing-Maschine entwickelt, das Konzept einer Maschine,
mit der programmgesteuert beliebige Berechnungen durchgeführt werden
können (Turing 1937). Kurioserweise ist es Turing genauso wenig pri-
mär um die Automatisierung von Informationsverarbeitung gegangen wie
Gutenberg um die Mechanisierung der Textverarbeitung. Turing wollte
mit dem Konzept seiner Turing-Maschine das damals aktuelle Problem
der prinzipiellen Berechenbarkeit mathematischer Funktionen lösen, die
Erfindung des Computers war dabei eher ein Nebenprodukt.
196 Henning Lobin
mit der Hand. Die Digitalisierung des Schreibens und Lesens geht aber weit
darüber hinaus: Ohne einen Computer als Schreib- oder Lesehilfe sind wir
quasi Analphabeten in der Turing-Galaxis. Im medialen System der Schrift
und des Buches wurden Texte und Bilder noch in einer Weise codiert, dass
wir sie als Menschen decodieren können – wir mussten einfach die auf dem
Papier codierten Textdaten ansehen. All die Vorteile der Digitalisierung er-
kaufen wir uns nun aber dadurch, dass die Codierung der Daten sich nicht
mehr an den Bedürfnissen des Menschen orientiert, sondern an denen des
Computers – die Von-Neumann-Architektur hat die Herrschaft über unser
Wissen übernommen. Die Technisierung und Automatisierung der Welt,
die sich früher nur auf die Welt der Dinge bezogen hat, um uns dort durch
Maschinen unsere Beschränktheit als Menschen zu zeigen und unsere
Körper in die Sphäre der Maschinen zu integrieren, erstreckt sich nunmehr
auf die Welt des Wissens – unser Geist wird durch den Computer in seine
Schranken verwiesen und von diesem in die digitale Sphäre gezwungen.
Nicht mehr die Schrift konstituiert das Wissen, sondern der digitale Code.
Das ist es, was ich als das Ende der Schriftkultur bezeichne (vgl. Kittler
1998).
einfachen, ohne Verständnis für den Inhalt. Noch deutlicher wird dies mit
einer anderen Google-Anwendung, dem sogenannten Google N-Gram-
Viewer. Hier werden Wörter oder Wortfolgen im Bestand von Google
Books durchsucht, also tatsächlich reale Bücher „gelesen“.
Der Vorteil von Googles Lesefähigkeit gegenüber unserer eigenen be-
steht jedoch darin, dass die Suchmaschine für uns viel mehr lesen kann als
ein Mensch in seinem ganzen Leben, und das in Bruchteilen einer Sekunde.
Dadurch werden statistische Zusammenhänge sichtbar, die mensch-
liche Leser niemals erkennen würden. Menschen verbinden ihre auf das
Verstehen ausgelegte Lesefähigkeit also schon heute mit der maschinellen
Lesefähigkeit von Maschinen, indem Qualität und Quantität des Lesens
miteinander verbunden wird.
Neuere Entwicklung, so etwa am Deutschen Forschungszentrum für
Künstliche Intelligenz in Saarbrücken, zielen darauf ab, auch den Prozess
des verstehenden, menschlichen Lesens maschinell zu unterstützten.
Unter der Bezeichnung „Text 2.0“ (vgl. Buscher et al. 2010) wird da-
bei ein digitaler Text mit einem System zur Blickerkennung kombiniert,
einem sogenannten Eye-Tracker, der die Bewegung des Auges über den
Text verfolgt. Wurden bislang Eye-Tracker vor allem für die wissenschaft-
liche Analyse von Wahrnehmungsprozessen eingesetzt, geht es beim Text
2.0 darum, dem Lesenden in Abhängigkeit von seinen Blickbewegungen
Zusatzinformationen einzublenden, etwa die deutsche Übersetzung eines
englischen Wortes, inhaltliche Ergänzungen oder ihm beim Schnell-Lesen
durch Hervorhebung der wichtigsten bedeutungstragenden Einheiten zu
unterstützen.
Das schnelle oder überfliegende Lesen scheint ja eine weitere Eigenschaft
des neuen, digitalen Lesens zu sein. Warum ist das so? Digitale Texte wei-
sen, worauf ja schon hingewiesen wurde, Merkmale der Multimodalität
auf, beinhalten also nicht nur Text, sondern auch Grafiken, Bilder, haben
ein klares Layout usw. Genau deshalb kann der Inhalt solcher Folien auch
sehr schnell aufgenommen werden, weil der Leser nicht nur auf den Text
als solches angewiesen ist und diesen linear lesen muss, sondern auch die
Organisation der Information in der Fläche sowie die grafischen Elemente
gleichzeitig zum Verständnis heranziehen kann. Die Informationen sind
also parallel in mehreren sich gegenseitig unterstützenden Zeichensystemen
codiert, sprachlich, farblich, geometrisch, figurativ – und das kann effizi-
enter sein, als einen herkömmlichen Text zu lesen. Allerdings bekommen
die Informationen auch einen bestimmten inhaltlichen Dreh mit auf den
Weg.
202 Henning Lobin
Ein Lesevorgang, der in dieser Weise erfolgt, wird auch als Scanning
bezeichnet. Scanning ist gerade bei Web-Seiten zu beobachten. Besonders
interessant dabei ist, dass wir nicht nur gelernt oder uns angewöhnt ha-
ben, Web-Seiten nach einem wiederkehrenden Muster zu Scannen, sondern
dass sich die Gestaltung der Web-Seiten nach und nach auch auf dieses
Muster eingestellt hat. Waren Web-Seiten zu Beginn der neunziger Jahre
nach den Prinzipien des linearen Lesens aufgebaut, sind Sie bis heute in
einer Art Ko-Evolution optimiert worden für das multimodale Scannen.
Man kann sagen, dass man in den Jahren der frühen Entwicklung des World
Wide Web die Herausbildung von sprachlich-kulturellen Mustern wie in
einer Versuchungsanordnung beobachten konnte – eine wissenschaftliche
Fundgrube für Sprach- und Medienwissenschaftler.
Als dritte Tendenz hatte ich die Vernetzung, die Distribution von Texten,
Lesern und Schreibern genannt. Was also ist vernetztes Lesen? Literarisches
und wissenschaftliches Lesen war schon immer vernetzt, doch die Bezüge
zwischen den Texten können im digitalen Medium durch Verlinkungen re-
alisiert werden, über die assoziierte Texte sofort angezeigt wird können.
Physische Bibliotheken werden dabei durch digitale Archive abgelöst.
Bibliografieren und die Suche von Büchern und Zeitschriften in den lan-
gen Regalreihen einer Bibliothek werden dabei durch die Recherche im
Netz ersetzt. Vernetztes Lesen kann aber auch als ein gemeinsames Lesen
verstanden werden, als die Einbeziehung der Spuren, die andere Leser zu-
vor beim Lesen hinterlassen haben. Auch dafür gibt es schon prototypische
Systeme. Der Kommentarbereich von Blogs stellt eine etwas einfachere
Form des vernetzten Lesens dar. Relativ kurzen Textabschnitten werden
die beim Lesen hervorgerufenen Eindrücke von Lesern chronologisch zu-
geordnet.
Was folgt?
Fassen wir zunächst noch einmal zusammen, was sich derzeit ändert:
Wir entwickeln die Fähigkeit, mit maschineller Unterstützung zu schreiben
und beim Schreiben viel mehr als bisher Visualisierungen einzubeziehen.
Schreiben wird zu einem sozialen Akt, der kooperativ ausgeübt werden
kann. Wir gewinnen die Fähigkeit, uns beim Lesen vom Computer helfen
zu lassen, die Sicht eines Autors mit der vieler anderer Menschen abglei-
chen zu können. Auch die Leser untereinander vernetzen sich. Und beson-
ders wichtig wird die Fähigkeit zum multimodalen Lesen, dem ganzheit-
lichen Erfassen ineinander verschränkter Zeichensysteme.
Plenarvorträge 203
Wenn man sich nun fragt, was aus alldem folgt, so sollte man die in-
dividuelle und die kollektive Ebene unterscheiden. Auf individueller
Ebene ist beim Lesenlernen das traditionelle Lesen und Schreiben nicht
zu ersetzen. Maryanne Wolf weist in ihren Untersuchungen zum Lese-
und Schreiberwerb darauf hin, dass wir praktisch mit der Geburt be-
ginnen, lesen zu lernen (vgl. Wolf 2007). Unsere geistige Entwicklung
ist auf das Engste mit der Schrift verbunden, sodass beim Thema Lese-
und Schreibsozialisation auch in Anbetracht der Digitalisierung keine
Kompromisse eingegangen werden dürfen.
Auf der kollektiven Ebene sehen die Dinge etwas anders aus. Wenn eine
Kultur eine Art Ökosystem der von Menschen geschaffenen Zeichen und
Inhalte ist, dann kann sich ein solches Ökosystem auch verschieben, sobald
sich die Umweltbedingungen ändern. Der Wechsel von der Gutenberg- in die
Turing-Galaxis verändert aber die kulturellen Umweltbedingungen radikal.
Ein Verlust muss damit nicht verbunden sein, eher eine Neuorientierung.
Der Medienhistoriker Michael Giesecke bezeichnet es als eine der Mythen
der Buchkultur, dass Kulturnationen nur durch Gleichschaltung, wie er es
nennt, der Köpfe durch gedruckte Bücher entstehen können. Es geht auch
anders.
Wie die neuen Praktiken des Lesens und Schreiben die Formation un-
serer künftigen Kultur prägen werden, werden wir jedoch erst dann genauer
erkennen können, wenn die erste Generation der Digital Natives unter die-
sen Bedingungen herangewachsen und selbst produktiv geworden ist, ohne
eine auch nur ferne Erinnerung daran, wie die alte Schriftkultur funktio-
nierte.
Literatur
Buscher, G./Biedert, R./ Heinesch, D./ Dengel, A. (2010) „Eye Tracking Analysis of
Preferred Reading Regions on the Screen“. In: Proc. CHI 2010, Atlanta (GA).
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Giesecke, M. (1991) Der Buchdruck in der frühen Neuzeit. Eine historische Fallstudie über
die Durchsetzung neuer Informations- und Kommunikationstechnologien. Frankfurt.
Heilmann, T. A. (2012) Textverarbeitung. Eine Mediengeschichte des Computers als
Schreibmaschine. Bielefeld.
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problem.“ In: Proc. London Mathematical Society 42, 230-265.
Wolf, M. (2007) The Story and Science of the Reading Brain. New York.
Katarzyna Lukas (Gdańsk)
1
Zur Relevanz dieser Begriffe für Sebald vgl. Öhlschläger 2006: 133-155 (Kapitel
Räume. Heterotopien, Orte und Nicht-Orte in „Austerlitz“ und „All’Estero“) sowie Fuchs
2008.
Plenarvorträge 207
wie Bettina Mosbach (2008: 232) zutreffend bemerkt – sich dem Modell
des Hermetischen (geschlossene Räume) sowie dem der Verschiebung bzw.
Dislokation zuordnen lassen.
Öffentliche Gebäude sind in Austerlitz größtenteils mit modernen
Institutionen gleichzusetzen (vgl. Niehaus 2006): die neue National
bibliothek in Paris, das Staatsarchiv in Prag oder der Brüsseler Justizpalast.
Institutionen sollen die gesellschaftlichen Verhältnisse ordnen und das
Chaos des Lebens bändigen, sie können/sollen aber auch das Individuum
überwachen und disziplinieren; sie verkörpern also die Macht mit ihren
Vor- und Nachteilen. Die ambivalente Funktion der Institutionen spiegelt
sich in der architektonischen Gestalt der Gebäude, in denen sie unterge-
bracht sind, wider: Sie werden stets durch „Ordnungszwang“ und einen
„Zug ins Monumentale“ charakterisiert, erscheinen aber zugleich unge-
mütlich, Menschen abweisend und einschüchternd. Da die Institutionen
zugleich Orte sind, an denen Wissen erzeugt und gespeichert wird („kul-
turelles Wissen, spezifisches Fachwissen, Wissen über das Leben, Wissen
über das Subjekt“ – Öhlschläger 2006: 113), verkörpern die Sebaldschen
Bauwerke gleichsam die These Michel Foucaults, dass Wissen mit Macht
einhergeht. Gebäude, die ihrem Wesen nach dem Menschen dienen und
die positive, humanistische Seite der Modernisierungsprozesse zeigen sol-
len, verwandeln sich in ihr Gegenteil: in „Architektur des Terrors“, in der
Monumentalität in Monstrosität umschlägt (vgl. Niehaus 2006: 322).
Ende zu machen, was noch ein Leben habe an der Vergangenheit“ (A 404).
Es klingt hier der aktuelle gedächtnistheoretische Diskurs an, in dem man
auf den „paradoxen Zusammenhang von medialen Speichermöglichkeiten
und der Gefahr des Vergessens“ (Erll 2011: 3) hinweist. Es ist auch eine
bittere Ironie der Geschichte, dass auf dem jetzigen Bibliotheksgelände
sich „bis zum Kriegsende ein großes Lager [befand], in dem die Deutschen
das gesamte von ihnen aus den Wohnungen der Pariser Juden geholte
Beutegut zusammenbrachten“ (A 407). Nur wenige haben das Bewusstsein,
dass „die ganze Geschichte im wahrsten Wortsinn begraben ist unter den
Fundamenten der Grande Bibliothèque unseres pharaonischen Präsidenten“
(A 409). Die „archäologische“ Metapher der „verschiedenen Schichten,
die dort drunten auf dem Grund der Stadt übereinander gewachsen sind“
(A 406 f.) macht deutlich, dass das kulturelle Gedächtnis nicht wirksam
akkumuliert und lebendig erhalten werden kann, wenn man das Vergangene
auslöscht. Die schmerzhafte Geschichte gehört ebenfalls zum kulturellen
Gedächtnis und lässt sich nicht einfach begraben, sondern fordert ihr Recht,
erinnert zu werden.
Die Bibliotheksmetapher realisiert also beide von Mosbach genannten
räumlichen Modelle: des Hermetischen (Metapher für das eingesperrte, un-
zugängliche und abgestorbene kulturelle Gedächtnis) und der Dislokation
(Bibliothek als Heterotopie, Metapher für das individuelle Gedächtnis mit
verdrängten Traumen). Hinzu kommt noch die Metapher der Ausgrabungen
(Schichten des Gedächtnisses, die immer weiter in die Vergangenheit zu-
rückreichen und „freigelegt“ werden).
war ich offenbar fähig, mich blind zu stellen und taub, und die Sache wie sonst eine
Unannehmlichkeit kurzum zu vergessen. Diese Selbstzensur meines Denkens, das
ständige Zurückweisen einer jeden in mir sich anbahnenden Erinnerung, erforderte
indessen […] von Mal zu Mal größere Anstrengungen und führte zwangsläufig
zuletzt zu der fast vollkommenen Lähmung meines Sprachvermögens […].
(A 206)
sich fortsetzten in unendlicher Folge. Tatsächlich hatte ich das Gefühl, […] als
enthalte der Wartesaal […] alle Stunden meiner Vergangenheit, alle meine von
jeher unterdrückten, ausgelöschten Ängste und Wünsche […]. (A 200)
5
Der Warteraum erscheint auch deswegen als Gefängnis, weil der Protagonist im
Nachhinein die Nutzlosigkeit dieses Erlebnisses erkennt: „Es nutzte mir offenbar wenig,
daß ich die Quellen meiner Verstörung entdeckt hatte, mich selber, über all die vergange-
nen Jahre hinweg, mit größter Deutlichkeit sehen konnte als das von seinem vertrauten
Leben von einem Tag auf den andern abgesonderte Kind“ (A 330).
216 Katarzyna Lukas
6
Übrigens findet die Gleichsetzung des Unbewussten – nach Sigmund Freud als die „un-
terste“ Region der menschlichen Psyche – mit Piranesis Gewölben eine Bestätigung in
der Kunstgeschichte und der Architekturtheorie Piranesis. Die architektonische Gestaltung
der Carceri basiert auf dem groben Quaderwerk und der toskanischen Ordnung, die –
wie Holländer (1995: 161) bemerkt – zur „Macht- und Abschreckungsarchitektur“ ge-
hört: „In der Architekturtheorie der Renaissance und des Barock ist das die unterste und
älteste, dem Unterirdischen zugeordnete Säulenordnung, die zu Bergwerken, Höhlen,
auch Tunneln gehört, zu Brunnen und Schächten. In Piranesis Architekturtheorie ist
diese ‚Megalith-Bauweise‘ die älteste und ehrwürdigste, der Ursprung von Architektur
überhaupt. Die Carceri sind daher auch archäologische Orte“ (ebd.). Das „Unterste“,
„Brunnen“ und „Schächte“ assoziiert man nicht nur mit Freud, sondern auch mit dem
kollektiven Unbewussten von C.G. Jung.
Plenarvorträge 217
eine Haltestelle dient, was ein Hinterhof, eine Straßenkreuzung, ein Boulevard
oder eine Brücke ist. (A 183)
Aphasie ist hier aus zwei Gründen relevant. Erstens fügt sie sich in
den Gedächtnisdiskurs als einer der Modi des Vergessens ein (vgl. Erll
2011: 8). Zweitens legt sie die Möglichkeit nahe, die andere Strategie der
Gedächtnis-Darstellung bei Sebald zu untersuchen: die Metonymie.
Bekanntlich waren es Ergebnisse der Beobachtung aphatischer Störun
gen, die Roman Jakobson zur Unterscheidung zwischen Metapher und
Metonymie veranlassten. Im Sprachverhalten von Aphasikern lassen
sich zwei entgegengesetzte Tendenzen beobachten: Während im er-
sten Typ dieser Krankheit die Fähigkeit der Selektion und Substitution
des Wortmaterials, also das Finden paradigmatischer Ähnlichkeiten be-
einträchtigt ist, betreffen die Störungen im zweiten Typ der Aphasie die
Fähigkeit der Kombination, d. h. der Herstellung von syntagmatischen
Relationen und Kontiguitäten (vgl. Jakobson 1956). Aus diesem Befund,
den Jakobson in Bezug auf das Sprachsystem überhaupt verallgemeinert,
wird die Opposition zwischen zwei Sprachfiguren abgeleitet: der Metapher,
die auf Ähnlichkeit, Selektion und Substitution beruht, und der Metonymie,
die auf Kontiguität und Kombination basiert. Diese zwei entgegengesetz-
ten Möglichkeiten, sprachliche Äußerungen zu gestalten, lassen sich auf
die Ebene der literarischen Phänomene übertragen (Metapher als typisches
Mittel der Dichtung und Metonymie als Domäne der realistischen Prosa).
Obwohl das dichotomische Konzept des Metaphorischen und des
Metonymischen wegen seiner weitgehenden Vereinfachung stark kriti-
siert wird (vgl. Ziomek 1994, der auch die Komplementarität der beiden
literarischen Tropen bezweifelt), scheint diese Gegenüberstellung trotz-
218 Katarzyna Lukas
dem nützlich und fruchtbar – vorausgesetzt, dass man sie nicht bloß auf
sprachliche Äußerungen reduziert, sondern im übertragenen Sinne – so
wie es Jakobson ursprünglich auch wollte – auf alle Denk- und symbo-
lischen Prozesse bezieht.7 Metapher und Metonymie werden zu wirksamen
Kategorien der Analyse der Sebaldschen Ikonotexte, sobald man sie in den
Gedächtnisdiskurs einbindet.
7
Nicht nur in der Kunst (z. B. „metonymischer“ Kubismus vs. „metaphorischer“
Surrealismus – vgl. Brzostowska-Tereszkiewicz 2013), sondern auch bei der Entwicklung
metatheoretischer Modelle in den Geisteswissenschaften, z. B. in der Translations-
wissenschaft (vgl. die Auffassung der Übersetzung als „metaphorischer“ und als „meto
nymischer“ Prozess, vgl. Tymoczko 1999: 279 ff.).
8
Den Begriff „Metonymie” verstehe ich hier in einem weiteren Sinne, der auch die
Synekdoche als Metonymie quantitativer Beziehung (vgl. Peil 2008b: 699) umfasst.
Plenarvorträge 219
Es war mir undenkbar, wie die Häftlinge, die wohl in den seltensten Fällen nur vor
ihrer Verhaftung und Internierung je eine körperliche Arbeit geleistet hatten, diesen
Karren, angefüllt mit dem schweren Abraum, über den von der Sonne verbrannten,
von steinharten Furchen durchzogenen Lehmboden schieben konnten oder durch
den nach einem Regentag bereits sich bildenden Morast, undenkbar, wie sie gegen
die Last sich stemmten, bis ihnen beinah das Herz zerbrach, oder wie ihnen, wenn
sie nicht vorankamen, der Schaufelstiel über den Kopf geschlagen wurde von
einem der Aufseher. (A 37)
Übrigens ist die Methode, ein Gebäude (architektonisches Kunstwerk) durch ein be-
11
einmal um eine Außenansicht, die aber nur zwei von mehreren Bunkern
sichtbar macht (A 34; Abb. 4). Eine zweite Aufnahme zeigt lediglich eine
Ecke im Innenhof (A 35; Abb. 5). Das Innere der Festung sieht man nur
auf einem Ausschnitt eines langen, dunklen Ganges mit Seitentüren (A 38;
Abb. 6). Anhand dieser Metonymien ist das Ganze nicht rekonstruierbar.
Auch wenn der Erzähler sich ein Gesamtbild der Anlage machen will, in-
dem er ihren Bauplan betrachtet (A 35; Abb. 7), versagt seine Fähigkeit der
Synthese. Stattdessen drängen sich ihm organische Metaphern auf:
Von welchem Gesichtspunkt ich dabei die Anlage auch ins Auge zu fassen versuchte,
sie ließ keinen Bauplan erkennen, verschob andauernd ihre Ausbuchtungen und
Kehlen […]. [A]ls ich später den symmetrischen Grundriß des Forts studierte,
mit den Auswüchsen seiner Glieder und Scheren, mit den an der Stirnseite des
Haupttrakts gleich Augen hervortretenden halbrunden Bollwerken und dem
Stummelfortsatz am Hinterleib, da konnte ich in ihm […] allenfalls das Schema
irgendeines krebsartigen Wesens, nicht aber dasjenige eines vom menschlichen
Verstand entworfenen Bauwerks erkennen. (A 35 f.)
Der Erzähler kann also die Festung weder von außen noch von oben he-
rab mit dem Blick und dem Verstand erfassen. Dieses Versagen der Denk-
und Vorstellungskraft kann man als Unmöglichkeit deuten, die „große“
Geschichte zu begreifen; diese hängt bei Sebald mit der Vogelperspektive
zusammen. In Die Ringe des Saturn wird ein in einer Kuppelrotunde
ausgestelltes Panorama des Schlachtfeldes von Waterloo mit folgenden
Worten kommentiert: „Das also […] ist die Kunst der Repräsentation
der Geschichte. Sie beruht auf einer Fälschung der Perspektive. Wir, die
Überlebenden, sehen alles von oben herunter, sehen alles zugleich und wis-
sen dennoch nicht, wie es war.“ (Sebald 2007: 151f.)
Die monumentale Geschichte bleibt für uns also verschlossen und un-
verständlich – es sei denn, dass wir auf ihre vermeintliche Überschaubarkeit
vertrauen. Wozu man am ehesten noch Zugang bekommt, sind die individu-
ellen Schicksale der Menschen, die sich durch ihre metonymische Präsenz
aufdrängen. Das fünfte Bild der Festung Breendonk stellt den Grundriss
einer Kasematte dar (A 40; Abb. 8). Die Unterschriften auf dem (offensicht-
lich von einem authentischen Plan abkopierten) Ausschnitt wirken durch
den niederländischen Wortlaut (Folterkamer und Lijkenkamer) fremd, die
Verfremdung verdeckt jedoch nicht den wahren Sinn der grauenhaften
Worte. Das Bild fungiert hier nicht nur als pars pro toto (der unheimlichste,
grauenvollste Teil der ganzen Festung), sondern steht in kausaler Beziehung
zum Schicksal derer, die hier unter unvorstellbaren Qualen zugrunde gin-
gen. Es schließt also die Serie der Breendonk-Abbildungen ab, die „vom
Plenarvorträge 223
großen Festungsbau, der für ein ganzes kriegerisches System steht, über ei-
nen Teil der Festung bis hin zu der Folter- und Leichenkammer, und somit
zum Leiden der einzelnen Menschen, führt“ (Eggers 2011: 52).
Abb. 4 Abb. 5
Abb. 6 Abb. 7
Abb. 8
224 Katarzyna Lukas
6. Schlussfolgerungen
In seiner Polemik gegen Jakobsons bipolares Konzept der Metapher
und Metonymie argumentiert Jerzy Ziomek (1994: 211-214), dass sprach-
lichen Metonymien ein grundsätzlich konventioneller und konservativer
Charakter innewohnt,13 sodass sie als kulturelle Tropen zu lesen sind.14
Innovation und Originalität seien dagegen nur der Metapher vorbehalten.
13
Z. B. in solchen stehenden Redewendungen wie „am Fuß des Berges”, „unser täglich
Brot“ oder „eine gewandte Feder schreiben/führen“. Das letzte Beispiel macht deutlich,
dass Metonymien vom Wandel der Technik unbeeinflusst bleiben (vgl. Ziomek 1996: 214).
14
Z. B. steht das Wort „Kaschmir” für die „Wolle, die aus dem Gebiet Kaschmir stammt”.
Plenarvorträge 225
Ich würde die These wagen, dass es sich im Fall der Sebaldschen
Metaphern und Metonymien – die ja als übergreifende, komplexe poetische
Bilder im verbalen und visuellen Sinne gestaltet werden – gewissermaßen
umgekehrt verhält. Die Metaphern, die das Gedächtnis im Austerlitz als
Speicher konzeptualisieren, stehen in der langen Tradition des gedächt-
nistheoretischen Diskurses. Die größte Wirkungskraft steckt dagegen in
den Metonymien, welche – im Medium der Fotografie bzw. in architekto-
nischen Skizzen realisiert – höchst originell sind und den Leser/Betrachter
stets aufs Neue überraschen. Durch das Unheimliche, das sie ausstrahlen,
fallen sie auf und machen auf die Präsenz dessen, was einst da war, auf-
merksam.
Die Gedächtnis-Metaphern und architektonische Metonymien in
Austerlitz lassen sich in räumlichen Kategorien auffassen. Wie Bettina
Mosbach bemerkt, korrespondiert diese „topografische“ Denkweise mit
der Figur der Metapher an sich, die – im wörtlichen Sinne als Übertragung
eines Wortes von einem Ort an den anderen – bei Sebald selbst zu einer
Metapher der Dislokation wird (vgl. Mosbach 2008: 232). Diese räumliche
Dimension lässt sich auch der Metonymie attestieren: Als Denkfigur leistet
sie eine Verschiebung auf der Zeitachse, indem sie das Vergangene in die
Gegenwart überführt. Dieser Vorgang verläuft aber nicht zielgerichtet und
linear, sondern assoziativ; es entstehen Brüche und Diskontinuitäten. Wie
Aleida Assmann (2009: 337) feststellt: „Das Gedächtnis kennt nicht den
behäbigen und unbestechlichen Maßstab chronologischer Zeitrechnung. Es
kann das Allernächste in unbestimmte Ferne und das Ferne in bedrängende
Nähe rücken.“ Die Metonymie scheint ein besonders geeignetes künstle-
risches Mittel zu sein, diese letztere Aufgabe – gleichsam einen ethischen
Auftrag – zu erfüllen.
Literatur
Quellentexte
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226 Katarzyna Lukas
Der bzw. die Fremde wird somit zu dem Fremden, und als solches ver-
einfachend und widerspruchslos auf eine Dimension reduziert. Für die
als fremd markierten Personen wird ihre „Kultur“ zur „lebenslangen Haft
in einer Festung“ (Şenocak 2011: 175). Davon kann beispielsweise eine
Ministerin einer nicht deutschen Herkunft betroffen sein, der aufgrund
ihres Bekenntnisses das Etikett „muslimische Ministerin“ aufgestempelt
wird, denn vor assimilierten und in Deutschland sozialisierten Individuen
macht das Prozedere wohlgemerkt nicht halt. (Şenocak 2011: 146) 3
Zafer Şenocak kennt es aus Erfahrung. Im Essay Dichter ohne Lieder
beschreibt er, wie er als Autor von der deutschen Öffentlichkeit zum Exoten
abgestempelt wurde:
„Ich kam 1970 im Alter von acht Jahren nach Deutschland. Als ich zehn Jahre
später meine ersten literarischen Texte veröffentlichte, war ich ein in Deutschland
sozialisierter Dichter mit einem islamisch-türkischen Hintergrund, der mit der
deutschen Sprache arbeitete. Ich hatte fast meinen gesamten Bildungsweg in
Deutschland durchlaufen. Ich fühlte mich in diesem Land nicht als Fremder. Die
deutsche literarische Öffentlichkeit aber entdeckte mich nicht als angehenden
jungen deutschsprachigen Dichter, sondern als einen »Fremden in Deutschland«.
[...] Ich war kein Fremder hier. Ich fühlte mich zugehörig. Das Schreiben von
literarischen Texten in deutscher Sprache war kein exotisches Unterfangen,
sondern ein natürlich gewachsener Prozess. Doch ich merkte sehr bald, dass dieses
Natürliche und Selbstverständliche von meiner Umgebung nicht geteilt wurde.
Meine deutsche Umgebung war zu stark mit meinem Türkischsein, meinem
Anderssein beschäftigt.“ (Şenocak 2011: 89-90).
auf eine schematische, eindimensionale Andersheit wie sie von der Mehrheit
verstanden wird. (Vgl. auch Şenocak 2011: 93, 120). Von kritischen
Kulturwissenschaften wird dieses Verfahren als othering bezeichnet und
mit der Machtfrage in Verbindung gebracht (vgl. Mecklenbung 2009: 248).
„Von außen“ müsste im Grunde genommen „von oben“ heißen. Şenocak
spricht in diesem Kontext von der „Definitionsgewalt der Mehrheit“
(Şenocak 2011: 150) und von einer kulturellen „Bevormundung“ (Şenocak
2011: 119)5. Sie finde ihren prägnanten Ausdruck insbesondere im Begriff
der deutschen „Leitkultur“6, welcher – inhaltlich schwer bestimmbar – kon-
zeptuell einerseits den Willen zur Unterordnung des Fremden, andererseits
den Hang zum Monokulturalismus verkörpert (dazu Şenocak 2011: 120-
121). Mit dem Spruch „Multikulti ist tot“7 verkündet der Letztere das end-
gültige Ende des deutschen Multikulturalismus (Şenocak 2011: 136-137,
102).
Als Alternative zu diesem tot geglaubten Nebeneinander von verschie-
denen Kulturen gilt im vereinigten Deutschland eine ethnisch (durch die
Abstammung) und kulturell definierte Einheit, die Şenocak als wirklich-
keitsfernes Konstrukt zu entlarven versucht. Dabei weist er auf intrakultu-
relle Alteritäten hin, die in der Diskussion um die deutsche Identität außer
Acht gelassen werden:
Ja, wir, die Deutschen mit ihren unterschiedlichen Konfessionen, Herkünften,
Erinnerungen. Wir brauchen keine Einheit. Dieses Wort bringt kein Glück
über Deutschland. Das hat keinen metaphysischen Grund, sondern einen ganz
praktischen. In Deutschland gibt es keine Einheit. Es gab und gibt Vielfalt, Vielfalt
der Regionen, der Charaktere, der Zungenschläge. (Şenocak 2011: 57, vgl. auch 117).
Diese Vielfalt könne nicht mit der Metapher der Harmonie, sondern
mit der Polyphonie oder sogar Atonalität (Şenocak 2011: 54) beschrieben
werden. In den früheren Essays bediente sich der Autor des Bildes eines
5
Ebenfalls kritisiert Şenocak die „Selbstexotisierung“, also eine freiwillige Identifikation
mit diesen von außen kommenden Fremdheitsmustern, die er bei manchen Künstlern be-
obachtet. Ausführlicher dazu siehe: Ulrich Johannes Beil: Wider den Exotismus: Zafer
Şenocaks west-östliche Moderne (Cheesman 2003: 31-42)
6
Wie ambivalent der allgemeine Begriff „Kultur“ ist, hat Zafer Şenocak schon im früheren
Essay Das Unbehagen an der Kultur zu zeigen versucht: „Kultur ist eine Umschreibung
der Herrschaftsverhältnisse, nach der die Herrschenden ihre Positionen halten und die
Beherrschten davon überzeugen, es ihnen gleich zu tun.“ (Şenocak 1994: 59-60)
7
Mit diesen Worten wurde im Oktober 2010 vom CSU-Chef Horst Seehofer das Scheitern
des multikulturellen Ansatzes in der bundesdeutschen Politik verkündet. Siehe dazu u.a.:
http://www.spiegel.de/politik/deutschland/integration-seehofer-und-merkel-befeuern-leit-
kultur-debatte-a-723466.html, Zugriff am 08.09.2012.
Plenarvorträge 233
tropischen Waldes, in den sich der gepflegte deutsche Garten in Folge der
Migration verwandelt. Seine 1992 herausgegebene Essaysammlung trägt
den Titel Atlas des tropischen Deutschland und einer der darin enthaltenen
Texte heißt Schrebergärten des Bewusstseins (Şenocak 2009: 31-38).
Als Ursachen der Pluralisierung von der deutschen Gesellschaft gibt der
Essayist die seit den 50er Jahren andauernde Migration und die deutsche
Wiedervereinigung von 1990 an. Während er aber den deutsch-deutschen
„Austausch über den unterschiedlichen Weg der Biografien“ als in Ansätzen
gelungen beurteilt, sieht er den Dialog mit den Einwanderern, soweit über-
haupt vorhanden, als gescheitert. (Şenocak 2011: 32) Şenocak bringt bei-
de Ereignisse in Verbindung, indem er das Scheitern des interkulturellen
Dialogs innerhalb der Bundesrepublik auf den Prozess der Rekonstruktion
der nationalen Identität nach der Wende zurückführt (Şenocak 2011: 111,
vgl. auch ebd. 165), welcher mit einer Wendung zur Geschichte, einer nahe-
zu inflationären Belebung der Begriffe Heimat, Nation und Volk einherging.
Die Öffnung gegenüber dem Eigenen kann somit eine Abschottung gegen-
über dem Fremden bedeuten, das an der genau markierten Abstammungs-
und Erinnerungsgemeinschaft nicht teilhaben kann.
An der deutschen Identitätspolitik kritisiert Şenocak, dass sie sich an ei-
nem veralteten Modell orientiert, wo ein Volk gleich ein Staat, eine Sprache
und ein Wertesystem bedeute. Mehrmals weist er auf Ähnlichkeiten des
deutschen Identitätsdiskurses nach der Wende mit der Stiftung des deut-
schen Gründungsmythos nach 1871 und seine tragischen Konsequenzen
hin (Şenocak 2011: 65, 66, 93). „Ein Unbehagen zieht sich wie ein ro-
ter Faden durch die Konstruktionen deutscher nationaler Identität, vom
Wilhelminischen Reich bis in unsere Tage“ (Şenocak 2011: 67), stellt er
fest. Im Essay Die atonale Welt schreibt er:
Heimat und Identität wurden in der deutschen Geschichte missbraucht und
mit Blut befleckt. Stärker und brutaler als anderswo. Die Volksgemeinschaft
ist in Deutschland kein Rückzugsort, sondern ein Schlachtfeld. Sie wirft einen
dunklen Schatten auf den Volksbegriff. Er ist aber in Einwanderungsfragen ein
Schlüsselbegriff. (Şenocak 2011: 38-39)
8
An einer anderen Stelle spricht der Autor über eine „verborgene Sprache“ (Şenocak
2011: 30).
9
Şenocak weist auch auf das Fehlen der Migrantenfiguren in den von Deutschen geschrie-
benen Gegenwartsromanen hin. (Şenocak 2011: 132)
Plenarvorträge 235
Stellvertretend für die Kritik des Kölner Baus siehe die Aussagen Ralph Giordanos
10
(Giordano 2006).
236 Dorota Masiakowska-Osses
stellt fest: „Der Fremde bleibt in Deutschland fremd, solange er nicht sei-
ner eigenen Herkunft abschwört. Das ist die Regel.“ (Şenocak 2011: 116)
Er wirft den Deutschen vor, statt einer Integrationspolitik eine Assimi
lationspolitik zu betreiben. Die Konstruktion einer homogenen deutschen
Identität geschieht somit auf Kosten der Individuen, deren selbstbe-
stimmte Identität in der Mehrheitsgesellschaft keine Beachtung findet. Da
Menschen Ihre Identität in Interaktion mit ihren Mitmenschen ausbilden
(siehe Dayıoğlu-Yücel 2005: 42), immer öfter aber vielen Kollektiven
und vielen Kulturen angehören, besteht ihre Identität aus Teilidentitäten.
Anders gesagt, es entstehen hybride Identitäten. Dass Zafer Şenocak
Anhänger der Hybriditätstheorie ist, ist unverkennbar (vgl. Hofman 2006:
200-214). Er spricht explicit von „seinen türkischen Wurzeln mit ihrem
hybriden Charakter“ (Şenocak 2011: 84), von „Luftidentitäten“ aufgrund
transnationaler Zugehörigkeiten (Şenocak 2011: 22) von einer „Mischform
von Identität“ bzw. einer „Doppelidentität“ (Şenocak 2011: 95) sowie von
einer „vieldeutige[n] Identität“ (Şenocak 2011: 98). Teilweise bezieht er
diese Begriffe auch auf die Mehrheitsgesellschaft, wenn er zum Beispiel
nicht eindeutige Geschlechtsidentitäten (Şenocak 2011: 162) oder eine
individuell gestaltete „Facebook-Identität“ (Şenocak 2011: 22) erwähnt.
Şenocak betrachtet die Identität als einen dynamischen Prozess, nicht als
eine feste Größe, welche man mit kulturellen, ethnischen oder religiösen
Zuschreibungen restlos bestimmen kann.11 Migration begünstigt diesen
Prozess auf eine natürliche Weise. Der psychische Normalzustand der heu-
tigen Einwanderer sei eine Doppelbeziehung, eine Verbindung sowohl mit
der alten als auch mit der neuen Heimat, Kultur, Tradition. Mit anderen
Worten: der postmoderne Migrant ist ein Pendler. (Şenocak 2011: 108, 120,
160) Dass diese Wirklichkeit in der deutschen Gesellschaft negativ konno-
tiert wird, dass Doppelidentität Loyalitätsfragen aufwirft, hat die Debatte
um den Doppelpass gezeigt, welche diese Möglichkeit aus dem 1999 mo-
dernisierten deutschen Einbürgerungsrecht ausschloss und sie durch ein
weltweit einmaliges Optionsmodell ersetzte, welches in Deutschland gebo-
rene Jugendliche ausländischer Herkunft nach Erreichung der Volljährigkeit
vor die Wahl zwischen der deutschen und der Staatsbürgerschaft ihrer
Eltern stellte.
Von den Einwanderern zu erwarten, dass sie die Verbindungen zu der
alten Heimat kappen, ihre Herkunft vergessen, ihre Identität wie einen
Şenocak spricht von einer „fließenden Identität“ (Şenocak 2011: 161). Identität sei ein
11
Mantel ablegen und gegen eine neue tauschen, heißt es aber für Şenocak,
diese Menschen entwurzeln zu wollen, ihre Integrität zu verletzen. Im Falle
der integrierten Migrantenkinder, die in Deutschland aufwachsen, sieht der
Schriftsteller (selbst mehrsprachig und in beiden Sprachen schaffend) den
Verlust eines interkulturellen Potenzials, das unter anderem auch durch
Förderung ihrer Mono- statt Bilingualität verloren geht. (Şenocak 2011:
16)12 Wandern die Migrantenkinder, weil sie sich in Deutschland selbst mit
dem deutschen Pass nicht erwünscht fühlen, in die Heimat ihrer Eltern aus,
was zum Beispiel im Falle der Türken immer öfter passiert,13 so lassen
sie in Deutschland ihre Wurzeln zurück (Şenocak 2011: 99-100). Zafer
Şenocak weist auch auf den ökonomischen Aspekt dieses Trends hin und
fragt, ob sich die demografisch schwache Bundesrepublik diesen Verlust
leisten kann. (Şenocak 2011: 88, 127)
Dabei entkommt er jedoch der Versuchung, die kulturelle Vermischung
zu verklären. Sie sei keine Bereicherung per se, eher eine Herausforderung
und eine Selbstverständlichkeit (Şenocak 2011: 123), mit der man sich
abfinden muss, auch wenn sie definitorische Schwierigkeiten bereitet
(Şenocak 2011: 98). Obwohl der Autor die Überzeugungskraft der Tatsa
chen, Expertenstudien und Statistiken in der emotionalen Integrations
debatte mehrfach bezweifelt, verzichtet er nicht darauf, mit der Stimme
der Vernunft auf die Ungereimtheiten und Wissensdefizite ihrer Argumente
hinzuweisen. Seine Kritik der Polarisierung, der Vereinfachung und
Bevormundung der türkischen Minorität wurde bereits angesprochen. Das
in der Debatte allgegenwärtige Bild einer rückständigen Türkei kontert
Şenocak mit Hinweisen auf die hundertjährige Modernisierungsgeschichte
der Türkischen Republik, welche die reformatorischen Ansätze aus dem
Osmanischen Reich des 19. Jahrhunderts fortsetzte. (Şenocak 2011: 176)14
Der Konstruktion von antithetischen Kulturkreisen, welche zuweilen als
im Kampf begriffen dargestellt werden, begegnet er mit Verweisen auf
Berührungspunkte morgen- und abendländischer Kultur, auch der deut-
schen. (Şenocak 2011: 33, 103, 106) Er stellt fest: „Die Deutschen haben
mehr Orient in sich, als ihnen bewusst ist“ (Şenocak 2011: 55), doch sei
man in den Integrationsdebatten, die meistens unter Ausschluss von wis-
12
Gleichzeitig kritisiert er jedoch das Vermischen von Sprachen, wie sie vor allem von
Jugendlichen mit Migrationshintergrund praktiziert wird . Die zerstückelten Sprachen sind
für den Schriftsteller der „Ausdruck einer Unbehaustheit“ (Şenocak 2011: 19).
13
In der Türkei gibt es für diese Art von Einwanderern sogar eine besondere Bezeichnung,
„Almancilar“, d. h. „Deutschländer“. Siehe dazu: Akyol 2011 und Steinvorth 2012.
14
Vgl. dazu auch Şenocak 2011: 47, 122, 143,144, 172, 176, 185.
238 Dorota Masiakowska-Osses
Mit der Bemerkung, dass man in den Zeiten des deutschen Wirtschafts
wunders keine Menschen, sondern Arbeitskräfte, „moderne Heloten“
(Şenocak 2011: 179)15 ins Land holen wollte, spielt der Essayist auf den viel
zitierten Satz Max Frisch’: „Man hat Arbeitskräfte gerufen, und es kamen
Menschen“ (Frisch 1965). Bei Frisch hieß es anschließend: „Sie fressen
den Wohlstand nicht auf, im Gegenteil, sie sind für den Wohlstand unerläss-
lich.“ Şenocak rät denjenigen, die sich ein Deutschland ohne Einwanderung
wünschen, durch ostdeutsche Provinzen zu fahren. Rhetorisch fragt er:
„Sieht so der deutsche Traum aus? Leere Straßen, viele verwaiste Städte
und Landstriche, gute Infrastruktur, wenige Menschen? Wo es Menschen
gibt, entstehen Probleme, es entsteht aber auch Lebendigkeit.“ (Şenocak
2011: 138)
Şenocak ist ein Universalist. Er glaubt an eine allen Menschen inhä-
rente Kommunikationsfähigkeit, an eine prinzipielle Möglichkeit eines
interkulturellen Dialogs, dessen Voraussetzung jedenfalls die Anerken
nung des Wertes von Singularität und Differenz ist. (Şenocak 2011:
181) Es gilt gleichermaßen für Individuen als auch für Kollektive. In
Berührung und Austausch kann sich eine neue Identität bilden, auch ein
um neue Dimensionen reicheres „Neudeutsch, eine Schnittmenge aus
der Gegenwart und der Herkunft“ (Şenocak 2011: 162). Dies könnte ein
Zukunftsentwurf der Berliner Republik sein (Şenocak 2011: 124). Dafür
muss es aber von ethnischen, religiösen und kulturalistischen Selbst- und
15
Auch nach Jahrzehnten werden nach Şenocaks Meinung diese Arbeitskräfte nicht als
ganze Menschen betrachtet, was auch an den gebrauchten Begriffen sichtbar wird: Aus
einem Gastarbeiter „wurde zuerst ein Ausländer, aus dem Ausländer dann ein Einwanderer,
aus dem Einwanderer ein Mensch mit »Migrationshintergrund«, eine lange Reise, bei dem
der Mensch noch nicht beim Menschen angekommen ist.“ (Şenocak 2011: 86-87)
Plenarvorträge 239
Literatur
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23.05.2012)
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lungen in türkisch-deutschen Texten von Şenocak, Özdamar, Ağaoğlu und der Online-
Community vaybee! Göttingen.
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mit italienischen Arbeitern in der Schweiz. Zürich, 7.
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ralph-giordano-nein-und-dreimal-nein-1436280.html (Zugriff: 10.08.2012).
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Şenocak, Z. (1994) War Hitler Araber? IrreFührungen an den Rand Europas. Berlin.
Şenocak, Z. (1998) Gefährliche Verwandtschaft: Roman. München.
Şenocak, Z. (2009) Atlas des tropischen Deutschland. Berlin.
Şenocak, Z. (2011) Deutschsein. Eine Aufklärungsschrift. Hamburg.
Steinvorth, D. (2010) Kültürschock in Istanbul, http://www.spiegel.de/spiegel/0,1518,
704114,00.html (Zugriff: 23.05.2012).
Şenocak zitiert den Mustafa Kemal, dem Staatsgründer der Türkei, nachgesagten
16
Ausspruch, dass „es viele Kulturen gibt, aber nur eine Zivilisation“. (Şenocak 2011: 157)
Magdalena Olpińska-Szkiełko (Warszawa)
Glottodidaktische Implikationen
der anthropozentrischen Sprachentheorie
1
Eine erweiterte Version dieses Beitrags wurde ursprünglich im Band Der Mensch und
seine Sprache. Festschrift für Professor Franciszek Grucza, Hrsg. von M. Olpińska-
-Szkiełko, S. Grucza, Z. Berdychowska, J. Żmudzki, Peter Lang Verlag, Frankfurt/M.,
2012, veröffentlicht.
Plenarvorträge 241
pretieren (vgl. Grucza F. 1993a: 31; 1993b: 157). Die sprachlichen (oder:
kommunikativen) Fähigkeiten eines Menschen werden durch sein umfang-
reiches Wissen begründet, vor allem durch sein sprachliches (u.a. seman-
tisches und pragmatisches Form-, Funktions- und Realisationswissen – vgl.
Grucza F. 1997: 12 ff) und sein nichtsprachliches Wissen (Weltwissen,
Fachwissen, kulturelles Wissen usw.).
Zwischen dem sprachlichen und dem nichtsprachlichen Wissen eines
Menschen gibt es keine klar definierte Grenze (Grucza F. 2005: 47): Um er-
folgreich zu kommunizieren, muss der Mensch im Kommunikationsprozess
nicht nur auf sein sprachliches, sondern auch auf sein nichtsprachliches
Wissen zurückgreifen, was das folgende Textbeispiel von Schnotz (2005:
224) verdeutlicht:
Andy hat Anna zum Geburtstag eingeladen. Sie fragte sich, ob er schon ein
Mühlespiel hat. Sie ging zu ihrem Sparschwein und schüttelte es. Aber es gab
keinen Ton von sich.
Informationsquellen auf eine integrierte und strategische Art und Weise – ei-
nen solchen Charakter muss also ebenfalls die kommunikative Erfahrung in
der Fremdsprache aufweisen, die im Fremdsprachenunterricht gewonnen wird.
Dies bedeutet, dass die Lernenden im Fremdsprachenunterricht von ih-
rem Gesichtspunkt aus relevante und authentische Aufgaben und Übungen
erfüllen sollten, dank derer sie ihre Kommunikationserfahrung gewinnen,
sammeln und bereichern können und die ihnen bei der Wahrnehmung re-
aler Kommunikationsaufgaben in realen Kommunikationssituationen nütz-
lich und behilflich sein können. Das Postulat der Authentizität, ähnlich wie
im Falle der Lerntexte, bezieht sich auf die kommunikative Adäquatheit
von Aufgaben, die die Lernenden im Fremdsprachenlernprozess erfüllen.
Kommunikativ adäquate Aufgaben müssen die reale Identität der Lernenden
berücksichtigen und Fähigkeiten fördern, die sie im Prozess der realen
Kommunikation brauchen. Den Ausdruck authentische Aufgabe sollte
man nicht mit dem Konzept des Lernens durch Rollenspiele (in denen die
Lernenden verschiedene Kommunikationsrollen wie die eines Verkäufers,
eines Touristen usw. übernehmen) gleichsetzen. Es besteht ein grundsätz-
licher Unterschied zwischen authentischen Kommunikationsaufgaben und
Rollenspielen: M. Dakowska (2001: 160 ff) bemerkt, dass Rollenspiele,
wenn sie auf künstlich geschaffenen Kommunikationsabsichten basieren
und wenn sich die Lernenden mit den zu spielenden Rollen nicht identifi-
zieren können, genauso ineffektiv wie Drillübungen sind, bei denen man
bestimmte Ausdrücke und Redewendungen auswendig lernt, ohne aus einer
solchen Übung einen kognitiven Nutzen zu ziehen. Aufgaben, die bei den
Lernenden kognitive Prozesse initiieren und fördern sollten, müssen einen
kreativen Charakter haben.
Dies bedeutet jedoch nicht, dass traditionelle Übungen, die auf den
Aufbauen des systematischen sprachlichen Wissens, der lexikalischen und
grammatischen Kompetenz, abzielen, aus dem Fremdsprachenunterricht
verbannt werden sollten. Im Gegenteil, verbale Formen sind etwas ab-
solut Grundlegendes im Fremdsprachenunterricht, die Lernenden sollten
sie aber nicht „ihretwegen“ kennen lernen, sondern weil sie Kommunika
tionsprozesse ermöglichen (Dakowska 2001: 72).
Die Aufgaben, die die Lernenden im Fremdsprachenunterricht erfüllen,
können also entweder auf die Rekonstruktion von Textbedeutungen und
Textinhalten oder auf die Verarbeitung von verbalen Formen ausgerich-
tet sein, z. B. durch eine Paraphrase von ausgewählten Ausdrücken aus
dem Text. Kritisch sollte man jedoch das von einigen Glottodidaktikern
formulierte (vgl. z. B. Komorowska 1999: 194) Postulat betrachten,
Plenarvorträge 247
Literatur
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Grucza, F. (1983) Zagadnienia metalingwistyki. Lingwistyka – jej przedmiot, lingwistyka
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248 Magdalena Olpińska-Szkiełko
1
Überzeugt haben mich dabei am meisten die Überlegungen zu den Aufgaben der
Semantiktheorie von Monika Schwarz. Sie stellt dazu gezielte Fragen: „ 1) Läßt sich das
mentale Lexikon als ein Submodul des sprachlichen Kenntnissystems beschreiben? 2)
Lassen sich semantische und enzyklopädische Informationen bei der Darstellung lexi-
kalischer Bedeutungen voneinander abgrenzen? 3) Welche Beziehung besteht zwischen
den semantischen Strukturen einer Sprache und den allgemeinen konzeptuellen Strukturen
des menschlichen Kognitionssystems? 4) Welche Faktoren determinieren den Prozeß der
Bedeutungskonstitution? 5) Nach welchen Prinzipien werden lexikalische Bedeutungen
auf Äußerungsbedeutungen abgebildet? [Und schließlich] 6) Inwieweit können kontex-
Plenarvorträge 251
Beim näheren Betrachten wird jedoch klar, dass hier alle möglichen
Probleme an den Tag kommen, die alles andere als leicht zu lösen sind.
Ich konzentriere mich lediglich auf das eine – auf das ontologische, aus
dem mancherlei terminologische resultieren. Um das Problem scharf ge-
nug zu positionieren, ist es an dieser Stelle zunächst angebracht festzuhal-
ten, was nicht Gegenstand der linguistischen Semantik ist. Darstellen will
ich dies mit Blick auf die von Franciszek Grucza in der Metalinguistik
schon vor knapp dreißig Jahren formulierten Annahmen und die Kritik
der reduktionistischen „Definitionen“ des Gegenstandes der Linguistik.
Nicht Gegenstand der Linguistik sind: a) Korpora von Objekten2 und/oder
ihrer Eigenschaften, d. h. sog. sprachliche Ausdrücke, b) intellektuelle,
ggf. wissenschaftliche Konstrukte, z. B. die sog. deutsche, englische, pol-
nische Sprache, und c) ideelle Sprecher-Hörer (vgl. ders. 1983: 290-340).
Welche Schlussfolgerungen kann man in Hinblick auf diese Annahmen
ziehen? Was hat dies für Konsequenzen bei den Überlegungen über den
Gegenstand der linguistischen Semantik? Erstens: In der Tat liegen isolierte,
oft für ontisch gehaltene Ausdrücke außerhalb des Interessenbereiches
eines Semantikers, ohne dass damit unmittelbar die konkreten mentalen
Fakten, unter anderem die idiolektalen Bedeutungen ins Fokussierungsfeld
gerückt werden. Zweitens: Reduktionistisch ist außerdem der Gegenstand
zu deuten, in dessen Umfeld allein die sog. „formale Seite der Sprache“
– es will hier eigentlich heißen, u. a.: der formale Äußerungsplan der wirk-
lichen Lexeme (oder ganzer Phrasen) – einbezogen wird. Unumgänglich
bedarf es hier der präzisen Bezugnahme – es sei hier zunächst einmal
nur grob formuliert – auf die konkreten mentalen Muster, die konkreten
Attribute – um mit Franciszek Grucza zu sprechen –, die Eigenschaften
der mentalen Sphäre des menschlichen Geistes sind (polnisch: „mentalna
sfera umysłu“). Und drittens: Liegen konkrete Objekte der sog. objekti-
ven Wirklichkeit, d. h. einzelne Referenzen, ihre Eigenschaften oder die
Extension bestimmter Referenzen keineswegs im Gegenstandsbereich der
linguistischen Semantik. Warum? Darauf gehe ich kurz ein, wenn ich mich
der Konstitution der idiolektalen Bedeutung zuwende.
Was ist nun der eigentliche Gegenstand der linguistischen Semantik?
Dieser ist selbstverständlich aufgrund der Gesamtmenge von berücksich-
tuelle Faktoren das Primat der wörtlichen Bedeutung – als lexikalisches Grundprinzip –
modifizieren oder ersetzen.“ (s. ders. 1992: 27).
2
Mit „Objekten” werden äußere Hervorbringungen, darunter Ausdrücke, Sätze oder gan-
ze Texte gemeint, die an sich nicht Gegenstand der linguistischen Semantik sind (vgl.
F. Grucza 1983).
252 Grzegorz Pawłowski
munikativen Akten zugeschrieben werden und 10) (das Wissen über) die
äußeren subjektiven Kontexte.4
Aus dem Gesagten resultiert vor allem eine große Vielfalt von Aspekten
des Gegenstandes der linguistischen Semantik, auf derer Grundlage geziel-
te Forschungsinitiativen aufgegriffen werden können. Dabei darf man den
Gegenstand „Bedeutung“ – wie dieser bisher definiert wurde, nicht isoliert
betrachten, d. h. die wissenschaftliche Reflexion und Forschung bloß auf
die Wissensstruktur von Bedeutungen und gezielt auf den Wissensbereich
von Bedeutungen, d. h. auf die konkreten Bedeutungsformanten, redu-
zieren. Es wäre nämlich falsch zu behaupten, dass Bedeutungen und ge-
nauer gesagt, idiolektale Bedeutung im Vakuum konstruiert werden. Die
Aufgabe, die sich Semantiker zu stellen haben, wird es sein, vor allem
sämtliche Bedeutungsformanten zu nennen und möglichst alle verste-
hensrelevante Wissenselemente der idiolektalen Bedeutung (und zwar
Bedeutungselemente) zu erheben, die in konkreten Wissensrahmen auf
epistemischem Wege gebildet werden (näher dazu vgl. Pawłowski 2013).
bloß mit derer Form eine Erinnerung hervorgerufen / ein Engramm akti-
viert bzw. eine bestimmte neue Vorstellung in Beziehung gebracht wird.
Anderenfalls vermag er es einfach nicht, diesen Ausdruck als signifikant zu
interpretieren, solange er nicht sichergestellt hat, dass dieser Ausdruck von
einem Menschen, den er auf seine sprachlichen Fähigkeiten beobachtet,
zunächst als signifikant identifiziert, internalisiert und assimiliert wurde.
Damit schließe ich mich Dietrich Busse an, der in Frame-Semantik einen
ganz und gar soliden Grundstein für die epistemologische Semantik6 gelegt
hat (ders. 2012: hier v. a. das 8. Kap.).
Man wird sich an dieser Stelle fragen, nach dem, was die idiolektale
Bedeutung ausmacht und wie dieses „Was“ zu klassifizieren ist. Dem anth-
ropozentrischen Faden folgend (vgl. v. a. F. Grucza 2010, 2012, S. Grucza
2009, 2010, Bonacchi 2011, 2010, 2012, Olpińska-Szkiełko 2012), will
ich drei mentale Bereiche nennen, und präziser gesagt, die unter diese
Bereiche fallenden Wissensformanten-Typen, und zwar Formanten-Typen,
die als unterschiedlich beschaffene (mentale) Faktoren auf das Wissen, ge-
nauer, auf Wissenselemente einer idiolektalen Bedeutung, also auf kon-
krete Bedeutungselemente, buchstäblich einwirken und die Letzteren mit
den Wissenselementen einer idiolektalen Ausdrucksform wie „das Licht“,
„s’liecht“ etc. korrelieren lassen. Wie kompliziert dies auch immer sein
mag, bleiben die wirklichen Prozesse der (idiolektalen) Bedeutungs- und
Ausdruckskonstitution und somit die wirklichen Prozesse ihrer gegenseiti-
gen Korrelation recht verschwommen. Nichtsdestotrotz seien hier die die-
sen Prozessen zugrunde liegenden Wissensformanten-Typen genannt, die
m. E. die Bedeutungs- und Ausdruckskonstitution epistemisch steuern. Das
ist: der anthropologische, kulturelle und axiologische Wissensformanten-
Typ. Um der anthropozentrischen Sprachentheorie treu zu bleiben und
terminologisch präzise zu verfahren, sollte ich eigentlich jedem der ge-
6
„Explizit aufgegriffen und nunmehr auch explizit an die Diskussionen der Frame-
Theorie angeschlossen wird das Frame-Konzept dann seit Busse 2005 in mehreren
Publikationen. Wird die Analyse von „kognitiv-epistemischen Rahmen“ (…) zunächst
nur als einer von mehreren möglichen Schritten einer umfassenden, diskursanalytisch an-
gelegten historischen Semantik eingeführt, rückt sie ab Busse 2005 zunehmend in das
Zentrum des Projekt einer „epistemologischen Semantik“. Die textinterpretativ-verste
henstheoretisch ausgerichteten Überlegungen (…) werden kurzgeschlossen mir der his-
torisch-semantisch orientierten Diskursanalyse (…), indem als gemeinsames Fundament
beider Forschungsperspektiven das „verstehensrelevante Wissen“ im Zuge einer „reichen“
oder „interpretativen Semantik“ erkannt wird.“ (s. Busse 2012: 525). „Eine Semantik
wird zu einer solchen erst dann, wenn sie als „semantische Epistemologie“, d. h. als eine
Aufklärung der Strukturen und des Umfangs des gesamten verstehensrelevanten Wissens
mit Bezug auf ein Zeichen oder einer Zeichenkette verstanden wird.“ (s. Busse 2012: 535).
Plenarvorträge 257
8
Einer kritischen Untersuchung bedürfte übrigens in diesem Zusammenhang die
Äußerung „kultura języka polskiego” [dt. Kultur der polnischen Sprache], welche sich im
öffentlichen Leben in Polen und an manchen polnischen Universitäten formell durchge-
setzt hat. Interessant wäre zum Beispiel zu erforschen, auf welche Designate mit dieser
Äußerung und möglichen Fragen, die sich daraus logisch ableiten lassen wie „czy język
polski ma kulturę?“ oder „jaką kulturę ma język polski?“ [dt. hat die polnische Sprache
Kultur? / welche Kultur hat die polnische Sprache?], verwiesen wird.
9
Es besteht kein logisches und terminologisch motiviertes Bedürfnis, zwischen „emo-
tiven“, „expressiven“, „kommunikativen“, „situativen“, „sozialen“, „deskriptiven“,
„grammatischen“, „referenziellen“, „denotativen“, „konnotativen“ etc. Bedeutungen zu
unterscheiden (anzutreffen u.a. Löbner 2004: u.a. 23 f., Vater 2002: 131, Strube 2003:
u.a. 52 f., 59 f.). Diese Termini lassen suggerieren, dass ihre Autoren auf unterschiedli-
che Bedeutungs-Strukturen verweisen, d. h. auf Strukturen, die ontisch in verschiedenen
Wirklichkeitsbereichen konstituiert sind. An einem Satz wie diesem „Der Hund hat mei-
nen blauen Rock zerrissen“ sucht zum Beispiel Löbner (2004: 21) zu dokumentieren,
dass er in diverse, darunter in „deskriptive“, „soziale“ und „expressive Bedeutung“ zerlegt
werden kann. Soll etwa damit gesagt werden, dass diese Satzkonstruktion, / -konstitution
an unterschiedlichen Bedeutungen, will heißen: an unterschiedlichen Wirklichkeiten teil-
hat? Einmal an der sozialen, einmal an der deskriptiven oder expressiven? Wenn ja, dann
was verbindet sie zu einer quasi „gemeinsamen Bedeutung“, die mit diesem Satz ja zum
Ausdruck gebracht werde? Der Gebrauch solcher Termini ist m. E. sofern legitim, wenn
damit auf die, bereits erläuterten, bestimmten mentalen Bereiche, d. h. auf die konkreten
Wissensformanten-Typen verwiesen wird, durch die idiolektale Bedeutungen geprägt wer-
den. Kurzem: es gibt lediglich die sozial, emotiv, referenziell, kommunikativ etc. geform-
ten Wissenselemente, die in den Ausdehnungsbereich einer idiolektalen Bedeutung erst als
konkrete Bedeutungselemente aufgenommen werden können (mehr dazu vgl. Pawłowski
2013). Mit einem terminologischen Problem haben wir übrigens auch mit dem Ausdruck
„literarische Bedeutung“ zu tun, welchen Simone Winko, Klaus Weimar referierend, in
Frage stellt: „Das grundlegende Problem, ob es so etwas wie eine literarische Bedeutung
gebe, behandelt Klaus Weimar. Unterscheidet sich die Art des Bedeutens in literarischen
Texten von der in nicht-literarischen Texten? Weimar beantwortet die Frage mit einem
klaren Nein: Weder gibt es eine Art des Bedeutens noch ein besonderes Bedeutetes, die
bzw. das spezifisch für Literatur ist. Wenn wir dennoch Literatur anders als etwa Sachtexte
lesen, dann hängt das mit einer erlernten Einstellung den Texten gegenüber zusammen.
Rein textuelle Merkmale einer besonderen Zeichenverwendung, die diese Einstellung und
eine entsprechende Textverarbeitung vielleicht fordern könnten, sind nicht auszumachen“.
(s. Winko 2003: 226).
Plenarvorträge 259
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262 Grzegorz Pawłowski
Zum Auftakt
Einige Zitate aus Interviews mit polnischen Germanistikstudierenden
sollen verdeutlichen, vor welchen Herausforderungen die philologische
Sprachausbildung stehen kann. Die befragten angehenden Germanisten/-in
nen haben sich zu ihren Spracherfahrungen während eines Austauschaufent
haltes in Deutschland wie folgt geäußert:
S1 „Die meisten Schwierigkeiten hatte ich in den alltäglichen Gesprächen. An
der Universität, in den Seminaren, in denen wir Texte analysiert haben, deren
Inhalte mir schon aus den Kursen bei uns bekannt waren, da hatte ich gar keine
Probleme“1
1
Im Original: S1 „Największe trudności miałam w takich zwykłych rozmowach. Bez
problemu dawałam sobie radę na zajęciach na uczelni, kiedy analizowaliśmy teksty, od-
nosiliśmy sie do wiedzy, którą nabyłam na zajęciach w Polsce.”
Plenarvorträge 265
Probleme. Ich hatte manchmal sogar den Eindruck, dass ich ihnen besser folgen
kann als meine deutschen (!) Kommilitonen“2
S3 „Es ist schon passiert, dass Deutsche sofort gewusst haben, dass ich aus Polen
komme. Zwei Mal sind sie so von alleine darauf gekommen, dass ich Germanistik
studiere. Ich spreche angeblich wie eine Germanistin aus Polen. Sehr korrekt,
korrekter als die Deutschen“3
S4 „Während dieses Aufenthaltes ist mir klar geworden, dass ich besser schreiben
und lesen als sprechen und hören kann. Am schwierigsten ist es, Kinder und
Jugendliche zu verstehen. Es gibt so viele Ausdrücke und Strukturen, die ich nicht
kenne und die man im Wörterbuch und in der Grammatik nicht findet“4.
2
Im Original: S2 „Czasem trudno bylo mi zrozumieć niektórych znajomych w akade-
miku, ludzi sklepach, po prostu na ulicy, na różnych imprezach, szczególnie jeśli były
to krótkie wypowiedzi, nie zawsze wyraźnie sformułowane, odnoszące się do spraw,
o których wcześniej nie słyszałem. Na zajęciach nie miałem żadnych problemów, nawet
wydawało mi się, że uczestnictwo w nich łatwiej mi przychodzi niż innym niemieckim
(!) studentom.”
3
Im Original: S3 „Kilka razy zdarzyło mi się, ze Niemcy sami odgadywali, ze pochodzę
z Polski. Dwa razy nawet byla taka sytuacja, ze moj rozmówca domyślil się, że studiuję
germanistykę. Rzekomo mówię, jak germanistka z Polski. Tak bardzo poprawnie, popraw-
niej niż sami Niemcy.”
4
Im Original: S4 „Podczas tego pobytu zdałam sobie sprawę, ze lepiej piszę i czytam, niz
mówię i słucham. Najtrudniej jest zrozumieć dzieci i młodzież. Jest tyle słów, wyrażeń,
struktur, których zupełnie nie znam i które ciężko znaleźć w słowniku czy gramatyce.”
5
Ein kleiner Prozentsatz der Studierenden spricht Deutsch als Muttersprache bzw. als Erst-
oder Zweitsprache. Dies ist aber insgesamt eher eine Randerscheinung der Germanistik
in Polen. Für die Mehrzahl der Germanistikstudierenden ist Deutsch eine Fremdsprache
und diese wird größtenteils im Germanistikstudium erworben. Die Sprachkompetenz
der Studienanfänger variiert zwischen den Referenzniveaus A1 und B1, die den
‚Kannbeschreibungen‘ des „Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens“ entsprechen
und ist als eine niedrige Sprachbeherrschung und -kompetenz zu verstehen. Die darauf fol-
genden Stufen bis zur höchsten Sprachbeherrschung C2 durchlaufen Studierende somit im
Germanistikstudium. Sowohl schriftliche als auch mündliche Kommunikationsfähigkeiten
werden also im universitären Kontext weiterentwickelt (vgl. Pieklarz 2009).
266 Magdalena Pieklarz-Thien
Im Folgenden möchte ich bei diesen Erfahrungen aus der Praxis anset-
zen und Überlegungen dazu anstellen, ob und in welcher Weise Spezifik
gesprochener Sprache im philologischen Fremdsprachenunterricht
(FSU) vermittelt und veranschaulicht werden kann. Ausgehend von ei-
nigen Gedanken zur philologischen Sprachkompetenz (1) und zur
Sprachauffassung in der philologischen Sprachausbildung (2) diskutiere ich
zuerst den Stellenwert von gesprochener Sprache im DaF-Unterricht (3)
und dann die Möglichkeiten der Vermittlung von Gesprochensprachlichkeit
im Germanistikstudium (4). Im Anschluss daran formuliere ich einige me-
thodische Postulate zur Förderung des generellen Blickwinkels auf Sprache
und des Verständnisses davon, was Sprache, Grammatik und Bedeutung
sind (5). Diese Ausführungen können als Beitrag zur Diskussion über die
philologische Sprachkompetenz verstanden werden.
6
Im Philologiestudium steht die Behandlung von schriftlichen, besonders literarischen
und journalistischen Texten traditionell stark im Vordergrund. Die Fähigkeiten zur Analyse
und produktiver Gestaltung mündlicher Kommunikation sind bei Studierenden der auslän-
dischen Philologien jedoch keineswegs selbstverständlich gegeben und bedürfen ebenso
der Anleitung und Förderung durch die sprachpraktischen sowie sprachwissenschaftlichen
Veranstaltungen.
Plenarvorträge 267
7
Der Ansatz der kommunikativen Praxis stammt aus der angloamerikanischen
Forschungsliteratur der anthropologischen Linguistik (z. B. Hanks 1996, Duranti 1997,
Foley 1997). Den Ausgangspunkt dieses Ansatzes bildet die Erkenntnis, dass sprachli-
che Formen und Funktionen sich in der Kommunikation herausbilden, sedimentieren und
transformieren (Schütz/Luckmann 1979 zit. n. Günthner 2007: 74, auch in 2003: 191)
und folglich dessen in ihrer tatsächlichen, kontextbezogenen und lebensweltlich veran-
kerten Verwendung erforscht werden müssen. Damit stellt man die althergebrachten lin-
guistischen Dichotomien, Kategorien und Konstrukte wie langue-parole, Sprachsystem-
Sprachgebrauch, Kompetenz-Performanz, idealer Sprecher-Hörer, Wort-Satz-Text
usw., sowie auch die traditionellen Vorgehen linguistischer Forschung in Frage, deren
Analysen auf erfundenen, schriftsprachlich-orientierten und formbezogen-systemlinguis-
tischen Beispielsätzen gründen. Die Analysegrundlage in einer an der kommunikativen
Praxis orientierten Linguistik bilden dagegen Gesprächs- bzw. Textdaten authentischer
Interaktionen. Der Ansatz der kommunikativen Praxis korrespondiert mit dem Konzept
der kommunikativen Praktiken (Fiehler 2000, Fiehler at al. 2004) und dem Konzept der
kommunikativen Gattungen (Günthner 1995, 2000, 2003, 2007).
268 Magdalena Pieklarz-Thien
Diese Erkenntnisse sollen jedoch nicht unbesehen als Lerninhalte oder gar
Lernziele übernommen werden, sondern didaktisch im Hinblick auf die
Lerngruppe, die Lernbedingungen, Lernziele und die Lernprogression aus-
gewählt und begründet werden (vgl. Neuland 2012).
Was ist mit der philologischen Sprachausbildung gemeint? Wie ist die-
ses Konzept im Gefüge aller Vermittlungsformen von Sprache zu verste-
hen? Es handelt sich primär um einen konkreten Wirklichkeitsausschnitt im
Rahmen der institutionellen Vermittlung des Deutschen als Fremdsprache
(DaF) im Ausland. Um es noch genauer auszudrücken – im Mittelpunkt
des Forschungsinteresses steht der universitäre Fremdsprachenunterricht
im Ausgangsland der Lernenden. Im Rahmen der universitären Fremd
sprachenvermittlung wird aber weiter zwischen der studienbegleitenden
(z. B. Vermittlung des Deutschen als Fremdsprache im Medizin- oder
Jurastudium) und philologischen (z. B. Vermittlung des Deutschen als
Fremdsprache im Germanistikstudium oder in den anderen germanistischen
Studienfächern wie Angewandte Linguistik, Fachsprachen, Translatorik)
Sprachausbildung unterschieden (Abb.), auch wenn das Attribut ‚philolo-
gisch‘ in diesem Kontext kontrovers ist und häufig hinterfragt wird8. Um
die Kontroversen verstehen und erläutern zu können, müsste man auf das
schwierige Verhältnis zwischen der Germanistik und der Philologie einge-
hen sowie auch die Struktur der universitären sprachbezogenen Landschaft
in Polen skizzieren und ihre Geschichte und Inhaltsverleihungen reflektie-
ren.
Um nur es ganz kurz zu fassen: Es ist Grucza (2004: 42) zuzustimmen,
wenn er meint, dass die Germanistik nicht innerhalb, sondern neben der
klassischen Philologie entstand und lediglich vor dem methodologischen
Hintergrund der Philologie konstituiert wurde und dementsprechend
nicht als Philologie oder Neuphilologie betrachtet werden sollte. Grucza
(2010: 1765) sieht in der Re-Philologisierung eine interne Bedrohung für
die polnische Germanistik, räumt aber auch ein, dass der Verzicht auf die
8
Manch einem mag die Formulierung ‚philologische Sprachausbildung‘ im Titel des
vorliegenden Beitrags ein wenig problematisch anmuten. Denn der Ausdruck ‚philo-
logisch‘ in Bezug auf die germanistischen Gegenstände ist nicht selbstverständlich. Er
wird eher heftig diskutiert und polarisiert auch stark (s. Grucza 2000, 2004, 2010). Wie
es den Ausführungen von Grucza (2004) zu entnehmen ist, gibt es drei Rezeptionen
und Verständnisse des Verhältnisses zwischen der Germanistik und der Philologie:
1. Germanistik als ein Teilbereich der Philologie, 2. Germanistik als ein Nachfolger
der Philologie (als Neuphilologie), 3. Germanistik als eine selbständige akademische
Disziplin. Im Folgenden gehe ich nur kurz auf diesen metagermanistischen Hintergrund
ein, um dann im weiteren Verlauf der Überlegungen das Verständnis des Konzepts der
philologischen Kompetenz erläutern zu können.
Plenarvorträge 269
studienbegleitende DaF-Vermittlung
(z. B. Vermittlung von DaF im Medizin- oder Jurastudium)
philologische DaF-Vermittlung
(DaF im Germanistikstudium und in den anderen germanistischen
Studienfächern wie Angewandte Linguistik, Fachsprachen, Translatorik etc.)
Man könnte jetzt die Frage nach der Relevanz dieser Unterscheidung
stellen. Müssen wir die Sprachkompetenz, die im Germanistikstudium
oder in einem germanistischen Studienfach erworben wird, speziell defi-
nieren? Müssen wir den Fremdsprachenunterricht, der im Rahmen eines
Germanistikstudiums stattfindet, von anderen Vermittlungsformen differen-
zieren? Ist die sprachliche Kompetenz eines Germanisten mit der sprach-
lichen Kompetenz, die z. B. im universitären studienbegleitenden DaF-
Unterricht oder in einer Sprachschule erworben wird, gleichzusetzen?
Der philologischen Sprachausbildung wird sowohl in der wissen-
schaftlichen Forschungsliteratur als auch in didaktischen Materialien und
bildungspolitischen Richtlinien kaum Aufmerksamkeit gewidmet. Im
„Handbuch Fremdsprachenunterricht“ (Bausch / Christ / Krumm 2003)
findet man die folgende Klassifikation von stufenbezogenen Konzepten
von Fremdsprachenunterricht:
–– Fremdsprachenunterricht im Vorschul- und Primarbereich
–– Fremdsprachenunterricht im Sekundarbereich I
–– Fremdsprachenunterricht im Sekundarbereich II
–– Fremdsprachenunterricht an Hochschulen
–– Fremdsprachenunterricht in der Erwachsenenbildung
Die philologische Sprachausbildung wird dabei nicht als ein autonomes
Konzept herausgestellt, sondern lediglich als ein Teil der universitären
Sprachausbildung betrachtet. Auch wenn man allgemein fremdsprachen-
didaktische Forschungsliteratur sichtet, muss man feststellen, dass die
höheren Sprachbeherrschungsstufen (C1 und C2) wesentlich weniger er-
forscht und didaktisiert werden, worauf auch Miodunka (2007: 17) in der
„Krakauer Diskussion über die philologische Sprachausbildung9“ hin-
weist:
Dyskutanci zwrócili uwagę na jeszcze jeden brak typowy dla kształcenia języko
wego na studiach filologicznych. Brak nowych metod kształcenia językowego,
dostosowanych do wieku i poziomu intelektualnego studentów, dostosowa-
nych do ich wysokiego poziomu znajomości języka. Z pewną przesadą można
bowiem powiedzieć, że cały postęp w metodologii nauczania języków obcych
nastawiony jest na nauczanie języków na poziomach niższych – na poziomie
9
Im Original: „Krakowska dyskusja o kształceniu językowym na studiach filologicz-
nych”. Die von Miodunka (2007) herausgegebene Podiumsdiskussion (Teilnehmer:
Dębski, Górska, Tabakowska, Wilczyńska, Pędich, Niżegorodcew u.a.) über philologische
Sprachausbildung in Polen ist die einzige neuere Publikation zu diesem Thema. Da die im
Folgenden zitierten Textstellen Ausschnitte einer verschriftlichten Diskussion sind, möge
ihre Gesprochensprachlichkeit (Wiederholungen, Ellipsen, gesprochensprachliche Lexik
etc.) nicht verwundern.
Plenarvorträge 271
Diese Situation führt er darauf zurück, dass die eigentlichen Träger des
sprachdidaktischen Unterrichts eine nur auf schulische Kontexte abzie-
lende Fremdsprachendidaktik und keine Ausbildung in germanistikrele-
vanten hochschuldidaktischen Fragen erfahren (ebd. 81)10. Neuland (2012)
Das hier beschriebene Desiderat ist übrigens keinesfalls typisch polnisch. Auch für den
10
weist in diesem Kontext noch auf die praxisferne Theorie und theorieferne
Praxis hin, die aus der Abspaltung in den Zuständigkeiten im Lehrkörper
resultieren: Lektoren übernehmen die Aufgaben der DaF-Didaktik und
die Forschenden die sprachwissenschaftliche Bildung, ohne dass es einen
Dialog und Austausch zwischen den beiden Gruppen gibt.
Auch wenn sich die bestehende fremdsprachendidaktische Forschungs
literatur die Frage nach der Sprachausbildung im philologischen Studium
und ihrer konzeptionellen Ausrichtung selten aufgreift, unterliegt es kei-
nem Zweifel, dass sich die philologische Sprachausbildung aufgrund ih-
rer Intensität, Umgebung, Themenwahl und Zielsetzung stark von anderen
Lern- und Vermittlungsformen (wie DaF in anderen Kontexten: studienbe-
gleitender FSU, schulischer FSU etc.) unterscheidet. In Bezug auf die vier
Charakteristika (Intensität, Umgebung, Themenwahl und Zielsetzung) lässt
sich Folgendes festhalten:
1. Intensität;
Der sprachpraktische Unterrichtsblock im germanistischen Curriculum
in Polen ist sehr umfangreich und variiert zwischen 16 und 10 Unterrichts
stunden pro Woche11. Damit liefert er einen unterrichtlichen Zeitrahmen,
der in diesem Umfang in anderen Lehr- und Lernkontexten kaum zu treffen
ist.
2. Simulierung der muttersprachlichen Umgebung durch die jeweilige
Fremdsprache als durchgängige Unterrichtssprache;
Durchgängige und einzige Unterrichtssprache in der polnischen Germa
nistik wie auch in den anderen Fremdsprachenphilologien in Polen ist die
jeweilige Fremdsprache. Damit wird eine muttersprachliche Umgebung
simuliert, die sich zum Teil als ungesteuerter Fremdsprachenerwerb aus-
drückt. DaF wird damit unter Immersionsbedingungen vermittelt, was im
internationalen Vergleich ein überdurchschnittliches Sprachniveau sichert12.
Vogels (ebd. 218) übergreifendes Postulat gilt es also auch im polnischen Kontext zu er-
heben: Auf jeden Fall muss die Fremdsprachenlehre an den Hochschulen in Zukunft auf
mehr Anerkennung in der Öffentlichkeit drängen und dabei in stärkerem Maße verdeutli-
chen, dass die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Erwerb und der Vermittlung
fremder Sprachen sowie deren gesellschaftlicher Stellenwert den Vergleich mit anderen
Wissenschaften nicht zu scheuen braucht“.
11
Diese Zahlen beziehen sich auf das erste und zweite Semester des BA-studiums. In
den höheren Semestern wird die Zahl der sprachpraktischen Kurse zugunsten der Kurse
der anderen Teilbereiche des Faches (wie Literaturwissenschaft, Linguistik, Landes- und
Kulturkunde, Translatorik etc.) abgesenkt.
12
In vielen anderen Auslandsgermanistiken (z. B. in Spanien, Frankreich, England) ist die
jeweilige Muttersprache die Unterrichtssprache und Deutsch wird in einer eher studienbe-
gleitenden Form vermittelt.
Plenarvorträge 273
3. Themenstellung;
Im sprachpraktischen Unterricht wird im Gegensatz zu anderen
Vermittlungsformen von DaF (wie DaF z. B. im schulischen Bereich,
DaF in Sprachschulen und -instituten, DaF in der studienbegleitenden
Vermittlung) weniger mit Lehrwerken und Lehrwerktexten gearbeitet.
Viel häufiger werden authentische und aktuelle Texte eingesetzt, die zum
Teil von Dozenten selbst didaktisiert werden. Darüber hinaus werden auch
Inhalte aus anderen Fachbereichen (Literaturwissenschaft, Linguistik,
Kulturologie, Geschichte, Soziologie etc.) in die Sprachpraxis transportiert.
Man geht oft kontrastiv und interkulturell vor und will bestehende deutsch-
polnische sprachlich-kommunikative Barrieren überwinden.
4. Zielsetzung;
Die Zielsetzung der Germanistik in Polen besteht darin, dass sie
sich als ein Fach präsentiert, das in erster Linie Fremdsprachenlehrer,
Dolmetscher und Übersetzer (auch für Fachsprachen) sowie Sprach- und
Kulturmittler ausbildet. Bei allen diesen Berufsprofilen werden mannigfal-
tige Kompetenzen bzw. sog. Schlüsselqualifikationen (so Neuland 2007:
432) vorausgesetzt, darunter auch die sprachliche Kompetenz, die weit
über das kommunikative Können und das effektive, wirkungsorientierte
Kommunizieren und Durchsetzen der eigenen Interessen (vgl. ebd. 431)
hinausgeht und als philologische Kompetenz bezeichnet werden kann.
Neuland (ebd. 432) definiert philologische Kompetenz folgendermaßen:
Philologische Kompetenz als ein Ziel des Germanistikstudiums kann mithin
neben dem fachbezogen Wissen Darstellungs- und Deutungskompetenz, Analyse-
und Vermittlungskompetenz umfassen, und zwar in historischer, interkultureller
und auch intermedialer Differenzierung.
13
Topalović / Elspass (2008) setzen sich linguistisch mit der sprachpflegerisch motivier-
ten Sprachkritik von Sick auseinander.
274 Magdalena Pieklarz-Thien
[In der deutschen Übersetzung: Aus meinen jahrelangen Erfahrungen bei der
Durchführung von Aufnahmeprüfungen (fast 30 Jahre!) ergibt sich, dass die
Sprachkompetenz der Studienbewerber besser ist, d. h. sie war besser, noch bis
vor zwei Jahren war die Sprachkompetenz besser. Allerdings kann man nicht
sagen, dass die bessere Sprachkompetenz Verdienst der Schule wäre. Es ist eher
das Verdienst der immer größeren außerschulischen Möglichkeiten, Sprache in
Kontakt/im Ausland zu erwerben. Dies hat aber zur Folge, dass die Fähigkeit
zur Reflexion über Sprache sowie zur Formulierung einer Aussage zum Thema
Sprache in Metasprache, auch auf Polnisch, dramatisch sinkt. Ich finde aber, dass
diese Fähigkeit eine notwendige Bedingung zur Aufnahme des philologischen
Studiums ist].
[In der deutschen Übersetzung: Daher finde ich es für notwendig, die Fragen der
Methodik des Fremdsprachenunterrichts an der Hochschule zu diskutieren, auf
dem professionellen Niveau, auf dem Niveau der Sprachreflexion und nicht nur
allein auf dem Niveau der kommunikativen Fähigkeiten, zwecks der Ausbildung
von Fachleuten, die fähig sind, ihr Tun metasprachlich zu reflektieren (...). Das
ist eins der Beispiele, die die Notwendigkeit der weiteren Diskussion über die
Methodik der philologischen Sprachausbildung aufzeigen].
14
Kaiser (1996), Reershemius (1998), Günthner (2000, 2010, 2011), Hegedűs (2002),
Richter (2002), Thurmair (2002), Rieger (2004), Kilian (2005), Fiehler (2008a, 2008b),
Heilmann (2008), Pieklarz (2009, 2011), Pieklarz-Thien (2012), Vorderwülbecke
(2008), Bachmann-Stein/Stein (2009), Schwitalla (2010), Imo (2010a, 2010b, 2010c),
Weidner (2012), Günthner, S. / Wegner, L. / Weidner, B. (i. Dr.).
15
S. Literaturliste in Fußnote 14 und da besonders Fiehler (2008a), Günthner (2011),
Weidner (2012), Günthner, S. / Wegner, L. / Weidner, B. (i. Dr.).
278 Magdalena Pieklarz-Thien
ist das Lehrwerk. Lehrwerke stellen aber immer eine Art des Spagats
dar, der versucht, die vielfältigen personellen (Lernende/Lehrende), in-
stitutionellen (Curricula/Zeitrahmen) und didaktisch-methodischen
Unterrichtsbedingungen sowie auch Herstellungsbedingungen (Autoren/
Verlage/Markt) auf einen Nenner zu bringen. Diese Notwendigkeit
zum Kompromiss zwingt dazu, dass man auf bestimmte Aspekte der
Sprachwirklichkeit verzichten muss, bzw. nicht imstande ist, alle Aspekte
der Sprachwirklichkeit zu berücksichtigen. Joachimsthaler (2001: 84) ver-
ortet das Lehrwerk in der Ausbildung von Germanisten in Polen wie folgt:
Jedes Lehrbuch beruht auf einer spezifischen Formung des Lehrstoffes, es
kommt nicht ohne Verkürzungen und Aussparungen aus. Für die Anfänger,
für die die Lehrbücher konzipiert wurden, spielt dies, kommt es bei ih-
nen doch zuerst auf eine Aneignung der Grundfertigkeiten an, keine Rolle.
Lernende auf dem Niveau polnischer Germanistikstudenten aber haben die
Lehrbuchphase bereits hinter sich und sehen sich mit Unzulänglichkeiten
in ihrem Sprachgebrauch konfrontiert, die, weil sie zu sehr ins Detail ge-
hen, in Lehrbüchern gar nicht berücksichtigt werden können, und die zu-
dem bei jedem Lernenden, abhängig von zahllosen Zufälligkeiten in seiner
Lernsozialisation individuell anders sein können.
In Bezug auf DaF-Lehrwerke kann generell festgestellt werden, dass
die Veranschaulichung der gesprochensprachlichen Varietäten sowie
der wichtigen Elemente der Gesprächskompetenz und der individuellen
Ausprägungen der Partnerorientierung kaum einer Reflexion unterliegen,
was zwar in den niedrigeren Sprachbeherrschungsstufen lerntheoretisch
und fremdsprachendidaktisch zu rechtfertigen ist, aber negative Folgen ha-
ben kann, wenn in späteren Lernphasen keine explizite Auseinandersetzung
mit gesprochensprachlichen Varietäten stattfindet (vgl. Pieklarz 2011a,
Pieklarz-Thien 2012).
Ein anderes Problem, das in diesem Kontext noch herausgestellt werden
sollte, ist die „qualitative Lücke zwischen simplifizierender Darstellung
der Sprache im Sinne einer Wort-im-Paradigma-Grammatik, auf die der
sprachkundliche Unterricht allzu oft reduziert wird, und der Sprachtheorie,
die höheren Kriterien der Wissenschaftlichkeit genügen muss und als
Komponente einer soliden philologischen Ausbildung anzustreben
ist“ (Cirko 1998: 77). So sind in den letzten Jahren Darstellungen und
Grammatiken ausgearbeitet worden, in denen Phänomene gesprochener
Sprache und ihre Beschreibungen aufgenommen wurden16, sie lassen
16
IDS-Grammatik (Zifonun 1997), Duden Grammatik (Fiehler 2005), Schwitalla
(1997/2006), Henning (2006).
Plenarvorträge 279
Dialog 2: Die Höflichkeitsfloskel „Jak się pan ma? / Wie geht es Ihnen?“ ist
auch hier nicht glücklich platziert (danach stellt sich heraus, dass sich die
beiden Gesprächspartner nicht kennen bzw. ihre Namen nicht kennen). Wie die
Untersuchung von Tomiczek (1997) belegt, kann die Antwort auf diese Frage
im Polnischen ausführlicher als im Englischen oder Deutschen ausfallen und
muss nicht immer positiv bejaht werden (wie z. B. im Deutschen „danke, gut“),
wie man das auch in dem Dialog beobachten kann: „Jak się pan ma? Tak sobie,
a pani? / Wie geht es Ihnen? Geht so. Und Ihnen?“. Allerdings müsste „geht so“
den Gesprächspartner dazu veranlassen, nachzufragen und dann sein Verständnis
bzw. Mitgefühl für die nicht besonders glücklichen Umstände auszudrücken, was
aber in dem Dialog nicht der Fall ist.
Diese zwei Dialoge stammen aus einem durchaus gelungenen und ak-
tuellen Lehrwerk für Polnisch als Fremdsprache, das eine Vielfalt von
Dialogen und Hörtexten anbietet und an dieser Stelle nicht angeprangert
werden soll. Es wird lediglich versucht zu zeigen, dass simulierte, für di-
daktische Zwecke konstruierte Dialoge, auch wenn sie in vielerlei Hinsicht
(z. B. in Bezug auf die Veranschaulichung von grammatischen und le-
xikalischen Strukturen der Standardsprache) einen hohen didaktischen
Wert haben, nicht ganz adäquat dokumentieren können, wie natürliche
Alltagsgespräche organisiert werden und mit welchen (gesprochen)sprach-
lichen Mitteln Sprecher ihre kommunikativen Aufgaben natürlich und
höflich lösen. Auch wenn konstruierte Dialoge spracherwerbstheoretisch
fundiert sind und das Fremdsprachenlernen fördern können, spiegeln sie
nur bedingt die nähesprachliche, gesprochensprachliche und authentische
Kommunikation wider.
Bei der Betrachtung solcher Dialoge können Studierende über eige-
ne Muttersprache reflektieren und erleben, dass Sprache funktional und
Plenarvorträge 283
http://dsav-oeff.ids-mannheim.de.
17
Günthner und Wolfgang Imo für den Zugang zu den Lehrmaterialien sowie auch für die
Erlaubnis, den folgenden Transkriptausschnitt hier zitieren zu dürfen.
284 Magdalena Pieklarz-Thien
Transkriptionskonventionen:
–– Generell: Kleinschreibung
–– Hauptakzent einer Einheit in Großbuchstaben: akZENT
–– Letzte Tonhöhenbewegung am Einheitenende: steigend ? fallend . gleichblei-
bend –
–– Pausen ab 1 Sekunde: (1.0)
–– Überlappungen/Simultansprechen wort[wort]
[wort]
–– Sprachbegleitende/außersprachliche Handlungen z. B.: ((hustet))
Ein anderer Vorteil der Integration der literarischen Texte zur Veranschau
lichung gesprochener Sprache kann darin bestehen, dass man mit diesem
Ansatz den Studierenden Wege zur Multiperspektivität, Interdisziplinarität
und Synthese mehrerer philologischer Disziplinen zeigen kann. Cirko
(1998: 80) beklagt bereits die allgemein herrschende Abkapselung in der
Forschung und Lehre:
Somit ist der künftige Philologe oft nicht in der Lage, Korrelate und Parallelen in
anderen Disziplinen auszumachen, geschweige denn, durch sie Denkanstöße zu
bekommen. Viele Studenten stellen sich konform darauf ein, in der Literaturstunde
den Text „literaturtheoretisch“, im didaktischen Seminar – „didaktisch“ und im
Grammatikunterricht – „grammatisch“ zu interpretieren. Auch viele Dozenten tun
so, als wäre ihre Analyse die Analyse schlechthin. Die Abkapselung im Bereich
eigenen Methoden und Terminologien, die in der Hochschuldidaktik leider eine
durchaus typische Erscheinung ist, beeinträchtigt die Effektivität des Unterrichts,
die bei einer synthetisierenden Orientierung unzweifelhaft effizienter sein könnte.
Durch dieses fortwährende interdisziplinäre „Code-switching“ geht, weil ungeübt,
die Fähigkeit zur Synthese vieler philologischer Daten verloren. Der Student sieht
nur Teilaspekte des Textes, ohne ihn als Ganzes zu begreifen.
Plenarvorträge 289
22
Für die Transkription des Videos bedanke ich mich bei den Studierenden des
I. Studienjahres (Magisterstudium 2011/2012) und ganz besonders bei Klaudia Misiorna,
die die Arbeiten koordiniert hat.
290 Magdalena Pieklarz-Thien
„UND ja (1.0) ES gibt auch immer mehr männer – die mit männern zusammen
leben auch dafür gibt’s ganz berühmte beispiele – ernie und bert zum beispiel
(Lachen des Publikums) robin und batman – oder hier der hugo und sein schatz
die heute abend hier sind ((Lachen des Publikums)) oh gott oh gott ich hoffe sie
sind ohne arbeitskollegen hier ((Lachen des Publikums)) UND (1.0) bei uns im
schönen düsselDORF– da gibt es ein gourmet-café das heißt korten und letzten
sonntag standen da EINundzwanzig kunden an der kuchentheke und warteten
nun händeringend darauf endlich bedient zu werden und dann kam ein KUNde
mit seinem allerneusten handy rein und was dann passierte würde ich ihnen
gerne noch mal demonstrieren ((Lachen des Publikums, er bereitet sich vor,
setzt sich eine Brille auf, holt ein Handy raus und beginnt zu erzählen)) Oh
viktor ich glaube es nicht ((Lachen des Publikums)) ich GLAUBE es gerade
nicht (1.0) wie – du hast den witz nicht verstanden ? also noch mal: treffen
sich zwei schwule sagt der eine zum anderen: du, HÖR mal stell dir mal vor
(0.5) mir ist letzte nacht ein kondom geplatzt . Im ernst ? Nein, in DETLEF?
((Lachen des Publikums)) haste immer noch nicht verstanden? anyway dar-
ling ich muss jetzt schluss machen (0.5) nein nicht mit diiir ich bin hier im
café korten. kooorten! ich kann hier nicht so laut brüllen, hier sind zu viele
kunden . nein victor heute nicht . Heute NICHT (Lachen) (0.5) victor ich kann
kaum noch laufen . ((Lachen, Beifall)) nein victor ich möchte heute ganz normal
wie heterosexuelle am sonntagnachmittag auch nur kaffee und kuchen. (0.5)
ja Jaa und dein sahneschnittchen bringt dir ein stück kuchen miit! Ja ich dich
ich dich ja ja ich au.. ich dich auch ja tschü tschüss tirilaulu tschüss mein
kleiner feuerhase ? ((Beifall, Lachen)) entschuldigen sie bitte dass ich mir eine
zigarette anmache aber das ist so eine art REflex. kennen Sie die berühmte
zigarette danach ? hat mich zum kettenraucher gemacht((Lachen)) ups ah du
liebes bisschen . war ich das jetzt mit dem brandfleck ? das tut mir aber leid
gnädigste aber der nerz merkt das ja nicht mehr der ist ja toooot...((Lachen))
BITTE?? Oh ich GLAUBE es nicht! ((Lachen)) ich GLAUBE ES GERADE
NICHT . ich hab mich doch entschuldigt . sie sollten sich entschuldigen mit
so einem toten tier hier rumzulaufen das ist MORD . oh dann gehen sie doch,
gnädigste das mir ist doch egal aber merken sie sich eins ob mit oder ohne
nerzjäckchen orangenhaut bleibt orangenhaut . ((Lachen))“
Zum Schlusstakt
Die im Auftakt zitierten Aussagen aus Interviews mit polnischen
Germanistikstudierenden lassen folgende Kommentare und Erklärungen
formulieren:
S1 und S2: Aus den beiden Aussagen geht hervor, dass man die we-
nigsten sprachlichen Schwierigkeiten in vertrauten, oft erlebten und geübten
Situationen hat, in diesem Fall in den universitären Lehrveranstaltungen.
Das Bekannte und Vertraute stärkt auch das Selbstbewusstsein („Ich hat-
te manchmal sogar den Eindruck, dass ich ihnen besser folgen kann als
meine deutschen (!) Kommilitonen“) und lässt die sprachlichen situati-
onsspezifischen Herausforderungen wie die Teilnahme an der Diskussion,
Textarbeit etc. gut bewältigen („…in den Seminaren, in denen wir Texte
analysiert haben, deren Inhalte mir schon aus den Kursen bei uns bekannt
waren, da hatte ich gar keine Probleme“). Alltagsgespräche stellen dage-
gen eine Problemsituation dar („Die meisten Schwierigkeiten hatte ich in
den alltäglichen Gesprächen“ / „Manchmal hatte ich Probleme, Bekannte
im Wohnheim, Menschen in den Geschäften, einfach so auf der Straße, auf
Partys zu verstehen“). Den Schwierigkeiten liegt sicherlich nicht eine kom-
plizierte Syntax und Lexik zugrunde. Es ist eher die Unvertrautheit und
fehlende Praxis in Bezug auf die alltäglichen kommunikativen Praktiken
sowie wohl auch eine falsche im schriftlichkeitsbelasteten Sprachunterricht
aufgebaute Erwartung, dass man im ganzen Satz sprechen soll25 („Vor
allem, wenn das kurze Sätze waren, nicht vollständig formuliert und zu
Themen/Sachen, die mir ganz neu waren“).
S3: Sprachbenutzer geben sich immer in ihrem Sprachgebrauch als
Mitglieder einer gesellschaftlichen Gruppe zu erkennen und grenzen sich
dadurch gleichzeitig von anderen ab („Es ist schon passiert, dass Deutsche
sofort gewusst haben, dass ich aus Polen komme. Zwei Mal sind sie so von
alleine darauf gekommen, dass ich Germanistik studiere“). Es wäre unrea-
listisch zu erwarten, dass man im Germanistikstudium, das hauptsächlich in-
stitutionelles Lernen im Ausgangsland der Lernenden im Erwachsenenalter
bedeutet, seine phonetischen Charakteristika ganz loswird26. Polnische
25
Fiehler (2008b: 91) weist noch auf die allgemeine Wertschätzung des Wie-gedruckt-
Redens hin.
26
Zu Interferenzerscheinungen im Bereich der phonologisch-phonetischen Aspekte bei
Lernenden mit L1 Polnisch und L2 Deutsch siehe Morciniec (1990), Górka (1998),
Tworek (2006), Grzeszczakowska-Pawlikowska (2007).
294 Magdalena Pieklarz-Thien
Germanisten kann man fast immer als Polen identifizieren, wenn sie
deutsch sprechen, obwohl ihr Sprachgebrauch in anderen Bereichen (z. B.
Schreibkompetenz) teilweise auf einem höheren Niveau liegen kann als im
deutschen Durchschnitt. Nichtsdestotrotz haben viele Philologiestudierende
das Ziel und den Wunsch, genau wie ein Muttersprachler der Zielsprache
zu sprechen, was auch in dieser Aussage zum Ausdruck kommt. Auch wenn
man im phonologischen Bereich seine biografische Spur und somit sei-
ne sprachliche Identität akzeptieren muss, bleibt es zu fragen, ob im syn-
taktischen und semantischen Bereich bestimmte Auffälligkeiten vielleicht
nicht vermeidbar wären. Die in der Aussage S3 angeführte Korrektheit
meint wohl vor allem die Wohlgeformtheit der Sätze und die generelle
Orientierung an der Schriftsprache in den Alltagsgesprächen27. Die Aussage
S3 deckt sich auch mit Beobachtungen von Bilut-Homplewicz (2005: 48):
Es ist bezeichnend, dass die Studierenden in linguistischen Lehrveranstaltungen
die Diskrepanz zwischen dem Sprachgebrauch in Deutschland bzw. in deutsch
sprachigen Ländern und der im Germanistikstudium erworbenen und von ihnen
verlangten Kompetenz in erster Linie im Bereich der gesprochenen deutschen
Sprache bemerken und thematisieren. Ihr Deutsch wird an manchen Systemstellen
von Muttersprachlern als zu hyperkorrekt oder zu archaisch empfunden, die
Grenze zwischen der geschriebenen und der gesprochenen Sprache wird von den
Studenten dagegen nicht immer richtig erkannt.
Durell (1995: 425) führt diese Situation auf variationslose Sprache zu-
rück, die in den DaF-Lehrwerken vermittelt wird:
So findet man (...) in vielen Lehrwerken zum Erwerb des Deutschen als
Fremdsprache ausschließlich die Formen und Konstruktionen der kodifizierten
Hochsprache, denn nur dies darf in der Öffentlichkeit als ‚Deutsch‘ gelten.
Aber auf diese Weise lernt der Ausländer ein Deutsch, das kein Deutscher im
Alltagsgespräch verwendet.
27
Pieklarz (2009) ermittelt in einer kleinen Fallstudie zur Standortbestimmung gespro-
chener Sprache im Germanistikstudium Spezifika der mündlichen Produktionen von
Germanistikstudierenden. Beobachtet wurden u.a. der Einsatz von langen, komplexen und
starr wirkenden Sätzen, die einen für die geschriebene Sprache typischen Satzbau haben,
unpassender schriftsprachlicher Wortschatz, Fehlen von Modalpartikeln etc.
Plenarvorträge 295
Literatur
Abraham, U. (2001) Den Blickwechsel üben. Grammatikunterricht und Literaturunterricht.
In: Mitteilungen des Deutschen Germanistenverbandes 48, 1, 30-43.
Ahrenholz, B. (2002) Grammatisches Grundwissen für Deutsch-als-Fremdsprache-
Lehrer. Skizzierung eines Lernmoduls am Beispiel von Nebensätzen. In: Börner, W./
Vogel, K. [Hg.] Grammatik und Fremdsprachenunterricht. Tübingen, 261-295.
Andersen, H. (1985) Schriftspracherwerb und die Entstehung von Sprachbewusstheit.
Opladen.
Bachmann-Stein A. / Stein, S. [Hg.] (2009) Mediale Varietäten. Gesprochene und ge-
schriebene Sprache und ihre fremdsprachendidaktischen Potenziale. Landau.
28
Ehlich (2010: 247) dazu: „Die Philologie befasst sich mit der äußeren Gestalt der
Texte, ihrer Erhaltung und Tradierung (Text-, Editionswissenschaft) und insbesondere mit
dem Verstehen von Texten (Hermeneutik)“.
29
Die mündliche Sprache zu erforschen ist ein relativ junger Versuch der Sprachwissen
schaft. Systematische Forschungen zur gesprochenen Sprache wurden in Deutschland
erst seit den 60er Jahren unternommen. Eigenschaften der gesprochenen Sprache werden
aber immer noch oft als Abweichungen von der geschriebenen Sprache betrachtet und die
mündliche Kommunikation als ungeordnet, weniger regelhaft, fehlerhaft und chaotisch
aufgefasst (Fiehler 2008b: 91). Dementsprechend ist auch die Lehre in germanistischen
Instituten stark schriftsprachlich orientiert.
30
Gesprochene Sprache ist ein sperriger, schwer zu handhabender Gegenstand (FIEHLER
2008a: 261), der sich nicht so leicht wie geschriebene Sprache didaktisch aufbereiten lässt.
296 Magdalena Pieklarz-Thien
Jedes Werk von Georg Trakl (1887-1914) ist durch das Motiv des Inzests
gekennzeichnet, in dem sich die Beziehung zu seiner Schwester Margarethe
widerspiegelt. Da der Inzest vom Christentum verboten und verdammt
wird, wendet sich Trakl der Antike zu, in der die inzestuösen Beziehungen
in die umfangreiche Auffassung von der menschlichen Natur integriert und
als Paradigma des menschlichen Identitätsmodells betrachtet zu werden
scheinen1. Im Hinblick darauf, dass die christlich geprägte Gesellschaft
den Inzest ablehnt2, postuliert Trakl die Reorganisierung des Christentums,
1
Es sei an die inzestuöse Beziehung zwischen Zeus und seiner Schwester Hera erinnert.
Davon, dass die Antike aufgeschlossener gegenüber der menschlichen, sich auch in seiner
Sexualität offenbarenden Individualität ist, zeugen ebenfalls die griechischen Mythen, die
als Chiffren der Existenz gelten und im Vergleich mit den biblischen Geschichten ein brei-
teres Spektrum der dem Menschen innewohnenden Spezifik umfassen.
2
Lévi-Strauss hält den Inzest für ein Phänomen, das sowohl mit der Natur als auch mit
der Kultur zusammenhängt (Lévi-Strauss 1981: 55). Das Inzestverbot regelt die biolo-
gischen, den Inzest mit einbeziehenden Relationen innerhalb der Gesellschaft: „Als eine
Regel, die das umfaßt, was ihr in der Gesellschaft am fremdesten ist, doch zugleich als
eine gesellschaftliche Regel, die von der Natur das zurückhält, was geeignet ist, über sie
hinauszugehen, ist das Inzestverbot gleichzeitig an der Schwelle der Kultur, in der Kultur
und (...) die Kultur selbst“ (Lévi-Strauss 1981: 57). Die Dynamik der kulturbedingten
Grenzen im Kontext des naturbedingten Inzests wird im Drama Die Geschwister von
Johann Wolfgang Goethe dargestellt, wo sich die auch in Trakls Pächter-Dramenfragment
thematisierte Beziehung der ineinander verliebten Geschwister als eine Beziehung zwi-
schen aus verschiedenen Familien stammenden Menschen erweist. Um Marianne nah zu
Plenarvorträge 301
sein, stellt Wilhelm sie als seine Schwester vor, weil sie ihn an ihre Mutter Charlotte
erinnert, die eine Liebesbeziehung zu Wilhelm einging, nachdem ihr Mann und zugleich
der Vater von Marianne gestorben war. Die Situation kompliziert sich, als der Freund von
Wilhelm Fabrice um die Hand von Marianne wirbt. Dadurch kommt es zu einer Änderung
der Personenkonstellationen, die man in Anlehnung an die Theorie von Lévi-Strauss erör-
tern kann. Wird der Naturbereich von dem Schoß einer und derselben Mutter abgesteckt,
wodurch die Geschwister in einem Naturbereich agieren, so wird der Kulturbereich von
einer Ehe gebildet, die von aus zwei getrennten Naturbereichen kommenden Menschen
geschlossen wird. Die biologisch bedingte Nähe zwischen Marianne und Wilhelm wird
durch die kulturell bedingte Nähe zwischen Marianne und Fabrice infolge ihrer Heirat
abgelöst, die der Verbindung der Geschwister eine kulturelle Grenze setzt. Darauf be-
ziehen sich die an Wilhelm gerichteten Worte von Fabrice: „Sie liebt dich mehr, als sie
mich liebt; ich bin’s zufrieden. Den Mann wird sie mehr als den Bruder lieben; ich werde
in deine Rechte treten, du in meine, und wir werden alle vergnügt sein“ (Goethe 1998:
363). Der Übergang von dem Naturbereich zu dem Kulturbereich beginnt auf der ge-
schlechtlichen Ebene, auf der der Ehemann (Fabrice) dem Bruder (Wilhelm) gleicht –
„(I)ch bin eins mit Ihrem Bruder; Sie können kein reineres Band denken“ (Goethe 1998:
360) – und endet auf der sozialen Ebene, auf der Marianne und Fabrice als Eltern des
als Sohn behandelten Wilhelm erscheinen: „Ich lasse Ihrem Bruder seinen Platz; ich will
Bruder Ihres Bruders sein, wir wollen vereint für ihn sorgen“ (Goethe 1998: 361). Davon,
dass der Kulturbereich den Naturbereich begrenzt, zeugt der von Marianne gelesene, 1766
entstandene Roman Geschichte der Miss Fanny Wilkes von Johann Timotheus Hermes,
wo eine geschwisterliche Beziehung behandelt wird, in der sich die Beziehung zwischen
Marianne und Wilhelm widerspiegelt: „Unter allem konnt ich am wenigsten leiden, wenn
sich ein Paar Leute lieb haben, und endlich kommt heraus, daß sie verwandt sind, oder
Geschwister sind – Die Miß Fanny hätt ich verbrennen können! Ich habe so viel geweint!
Es ist so ein gar erbärlich Schicksal!“ (Goethe 1998: 367-368). Wird die wegen der
Verwischung der familiären Verhältnisse oft problematische Liebe der Protagonisten in
Hermes’ Roman (Hermes 1770: 241; 255) gesellschaftlich begrenzt, bis sie in der Vision
der den Tod kodierenden Verbrennung des Buches völlig untergeht, so geht die Beziehung
von Marianne in entgegengesetzter Richtung: Sie erfährt, dass sie nicht die Schwester
von Wilhelm ist, wodurch die Grenzen ihrer Liebe, die von dem das Leben chiffrierenden
Wasser der Tränen verkündet wird, erweitert werden. Zwar resultieren die Tränen aus dem
Erleben der Situation von Hermes’ Protagonisten, aber sie beziehen sich schon auf den
Wandel der Situation von Marianne. Da der Kuss als „Barometer“ der Stärke von zwi-
schenmenschlichen Beziehungen gelten kann, fühlt die von Wilhelm geküsste Marianne,
dass ihr vermeintlicher Bruder eine feste Grenze überschritten hat: „Welch ein Kuß war
das, Bruder? (Goethe 1998: 368). Mit diesem Kuss gibt er Marianne zu verstehen, dass sie
nicht seine Schwester ist: „Nicht des zurückhaltenden, kaltscheinenden Bruders, der Kuß
eines ewig einzig glücklichen Liebhabers“ (Goethe 1998: 368).
302 Andrzej Pilipowicz
chen Religion kommen dagegen in dem titellosen, bisher sehr selten einer
Analyse unterzogenen Pächter-Dramenfragment3 zum Ausdruck, das im
Mai 1914 (Trakl 2000: 156-157) geschrieben wurde und das wegen der
Reichhaltigkeit der berührten Inzest-Problematik die Bezeichnung „Trak(l)
tat“ verdient. Da dieses ebenso wie seine Dichtung „konfessionell-exor-
zistisch“ (Marx 1993: 28) wirkende Werk fragmentarisch ist, wird hier
auf seine zwei Fassungen Bezug genommen, was sich bei der Aufgabe,
die Bedeutung der einzelnen Szenen und Äußerungen eines und desselben
Dramas möglichst genau zu rekonstruieren, als behilflich erweisen soll.
Auf diese Weise wird den zwei Fassungen eine Stringenz verliehen, die es
möglich macht, aus den Bruchstücken des Dramas die für die Analyse des
Textes in semantischer und lexikalischer Hinsicht relevanten Komponenten
zu extrahieren. Die gravierenden Unterschiede zwischen der ersten (zwei-
teiligen) und der zweiten Fassung veranlassen dazu, die zwei Versionen des
Dramenfragments separat zu behandeln. Dadurch machen sich nicht nur
Änderungen an der Konzeption des Werks, sondern auch zwei Richtungen
geltend, die auf die Entwicklung der zwei Fassungen zu zwei autonomen –
wenn auch motivisch verwandten – Dramen schließen lassen. Es unterliegt
keinem Zweifel, dass die beiden Fassungen des Dramenfragments eine
gegenseitige Vergleichsplattform bilden, mit dem verschiedene Aspekte
der beiden Texte entschlüsselt oder aus einer neuen Optik gesehen werden
können. Die durch zwei Varianten des Dramas bedingte Variabilität des li-
terarischen Stoffes4 bestimmt auch die Verfahrensweise der Behandlung des
3
Das Dramenfragment erscheint auch unter dem Titel In der Hütte des Pächters ... (Trakl
2000: 156).
4
Als ein zusätzliches Prisma, das die Perspektive der Betrachtung von Trakls
Dramenfragment erweitert, kann ein Teil des etwas früher (April/Mai 1914) begonne-
nen Prosagedichts Offenbarung und Untergang (Trakl 2000: 49) gelten, der lexika-
lisch und syntaktisch mit den einzelnen Passagen aus dem Pächter-Dramenfragment
deutlich korrespondiert: „Schweigend saß ich in verlassener Schenke unter verrauchtem
Holzgebälk und einsam beim Wein; ein strahlender Leichnam über ein Dunkles geneigt
und es lag ein totes Lamm zu meinen Füßen. Aus verwesender Bläue trat die bleiche
Gestalt der Schwester und also sprach ihr blutender Mund: Stich schwarzer Dorn. Auch
noch tönen von wilden Gewittern die silbernen Arme mir. Fließe Blut von den mondenen
Füßen, blühend auf nächtigen Pfaden, darüber schreiend die Ratte huscht. Aufflackert ihr
Sterne in meinen gewölbten Brauen; und es läutet leise das Herz in der Nacht. Einbrach
ein roter Schatten mit flammendem Schwert in das Haus, floh mit schneeiger Stirne.
O bitterer Tod. Und es sprach eine dunkle Stimme aus mir: Meinem Rappen brach ich im
nächtigen Wald das Genick, da aus seinen purpurnen Augen der Wahnsinn sprang; die
Schatten der Ulmen fielen auf mich, das blaue Lachen des Quells und die schwarze Kühle
der Nacht, da ich ein wilder Jäger aufjagte ein schneeiges Wild; in steinerner Hölle mein
Antlitz erstarb. Und schimmernd fiel ein Tropfen Blutes in des Einsamen Wein; und da ich
davon trank, schmeckte er bitterer als Mohn; und eine schwärzliche Wolke umhüllte mein
Plenarvorträge 303
Textes, dessen Interpretation von dem Niveau abhängt, das man während
des Hinabsteigens in die tiefer gelegenen Schichten der in den einzelnen
Bildern „aufbewahrten“ Metaphern erreicht. Es steht auch fest, dass die
Arbeit mit einem Textfragment auf zahlreiche Unklarheiten stoßen lässt,
wodurch ein großes Feld für Spekulationen und Manipulationen entsteht.
Um aus dem nicht kompletten und viele Lücken aufweisenden Text ein
sinnvolles und logisches Ganzes zu konstruieren, ist es unentbehrlich, die
ausbleibenden Teile mit – intuitiv formulierten, aber streng vom Geist des
Fragments aufgeworfenen – Gedanken zu „stückeln“ und sie so zu füllen5.
Haupt, die kristallenen Tränen verdammter Engel; und leise rann aus silberner Wunde der
Schwester das Blut und fiel ein feuriger Regen auf mich.“ (Trakl 1987: 95-96)
5
Sauermann weist auf die motivische Verwandtschaft des Pächter-Dramenfragments mit
der Geschichte von Kaspar Hauser (deren bekannteste Fassungen von Paul Verlaine, Jakob
Wassermann, Georg Trakl und Peter Handke geschaffen wurden) und mit den Werken
Woyzek und Dantons Tod von Georg Büchner (Trakl 2000: 156) hin.
6
„Bei der Mühle hat man heute die Leiche eines Knaben gefunden. Die Waisen des
Dorfes sangen seine schwarze Verwesung. Die roten Fische haben seine Augen gefressen
und ein Tier den silbernen Leib zerfleischt; das blaue Wasser einen Kranz von Nesseln und
wildem Dorn in seine dunklen Locken geflochten.“ (Trakl 1987: 251)
7
„Rotes Gestern, da ein Wolf mein Erstgebornes zerriß. (...) Ihr Antlitz sah ich heut’ nacht
im Sternenweiher, gehüllt in blutende Schleier.” (Trakl 1987: 251)
8
„Die Schwester singend im Dornenbusch und das Blut rann von ihren silbernen Fingern,
Schweiß von der wächsernen Stirne. Wer trank ihr Blut?” (Trakl 1987: 251)
304 Andrzej Pilipowicz
bilden eine Ganzheit im Kontext der silbernen Farbe9, mit der das Aussehen
der beiden attributiert wird. Ein wichtiges Indiz dafür, dass der Junge und
das Mädchen als ein Organismus betrachtet werden, ist die Gestalt von
Christus, dessen Dornenkrone als eines der Symbole seines Todes infol-
ge der Kreuzigung auch den Tod der beiden kennzeichnet10: Im dornigen
Kranz um den Kopf des Jungen kann man einen Teil des dornigen Busches
erblicken, in dem die sterbende Schwester liegen gelassen wurde. Der Tod
des Jungen und der Tod von Johanna werden mit christlichen Elementen
versehen, die in verarbeiteter Form in das Postulat der Reorganisierung
der christlichen Religion einmontiert werden, was vor dem Hintergrund
des vom Christentum verachteten und in beiden Fassungen des Pächter-
Dramenfragments thematisierten Inzests begründet zu sein scheint. Dabei
geht es weniger um die Prinzipien des christlichen Glaubens als um ihre
Realisierung, insbesondere um das für die Christen grundlegende Gebot
der Liebe. Aus diesem Grunde kommt es nicht darauf an, dem Christentum
abzuschwören, sondern es zu revitalisieren bzw. seine Praxis zu revidie-
ren. Der Auftritt gegen die Kondition des einige Menschen wegen ihrer
biologischen Veranlagung zum Ostrazismus verurteilenden Christentums
erfolgt vor der Folie der Antike, die dem Christentum in zeitlicher Hinsicht
vorangeht und das vollständige Bild des Menschen aus dessen kompli-
zierter Natur herausführt. Als Befürworter des Christentums gilt der Vater,
wovon seine Worte zeugen: Er erwähnt (den wegen der Singularform mo-
notheistischen) Gott und Maria, die Muttergottes. Der Wolf, über den der
Vater im Kontext des Mordes an seiner Tochter spricht, erweist sich als ein
bilaterales Zeichen und bildet eine Brücke zur Antike. In der Bibel fun-
giert der Wolf als ein verkappter Teufel11. In der griechischen Mythologie
9
Die Bedeutung der silbernen Farbe wird in weiteren Teilen der vorliegenden Arbeit be-
sprochen.
10
Das Androgyne hängt mit dem Kopf zusammen, der von einer Dornenkrone umflochten
wird: In dem Kopf, in den die Dornen eindringen, widerspiegelt sich die Vagina wider, in
die der Penis eingeführt wird. Andererseits reflektiert der Kopf den Penis, der in die von
dem Ring der Dornenkrone gebildete „Öffnung“ hineingesteckt wird. Da Johanna Christus
ablöst, gewinnt sie an männlichen Zügen, wodurch sie zu einem androgyn bestimmten
Wesen wird. Deswegen wird sie vom Vater „Fremdlingin“ (Trakl 1987: 251) genannt.
Auch der Bruder scheint die Schwester nicht mehr zu erkennen und betrachtet sie des-
halb als eine fremde Person, worauf der Vater empört reagiert: „Sprichst du von deiner
Schwester!“ (Trakl 1987: 251). Diese Reaktion wird von dem Satz des Bruders – „Eure
Tochter“ (Trakl 1987: 252) – hervorgerufen. Mit diesem Satz distanziert er sich vom
Vater, um seine Beziehung zu der Schwester des familiären und deswegen inzestuösen
Kontextes zu entledigen.
11
Im Evangelium des Johannes wird die Gleichsetzung des Wolfs mit dem die Gefahr
mit sich bringenden Teufel von den Worten Christi bestätigt: „Ich bin der gute Hirte. Der
Plenarvorträge 305
dagegen ist der Wolf mit Lykaon verbunden, der die antiken Götter igno-
rierte und Zeus das Fleisch eines Kindes vorsetzte, um seine Göttlichkeit
zu prüfen, wofür er von ihm bestraft und in einen Wolf verwandelt wurde12.
Der in den Mord von Johanna verwickelte Wolf, der auch hinter dem den
Jungen zerfleischenden Tier versteckt sein könnte, ist nicht nur als eine
Figur aufzufassen, die jedes – christliche oder antike – Heiligtum angreift,
sondern auch als eine Chiffre der Antike auszulegen, die an eine alternative
Konzeption des Menschen erinnert. In diesem Sinne erscheint die Antike
als eine zum Christentum in Opposition stehende Kraft, die besonders dann
deutlich wird, wenn man sich auf die 2. Fassung des Dramenfragments
bezieht, in der nicht ein Junge, sondern ein Mönch als Vertreter der christ-
lichen Religion von einem Wolf attackiert wurde (Trakl 1987: 254)13. Bei
einer genaueren Betrachtung verliert das Bild des um den Kopf der Leiche
gute Hirte läßt sein Leben für die Schafe. Der Mietling aber, der nicht der Hirte ist, des
die Schafe nicht eigen sind, sieht den Wolf kommen und verläßt die Schafe und flieht; und
der Wolf erhascht und zerstreut die Schafe“ (Die Bibel 1964: 114 <das Evangelium des
Johannes 10, 11-12> Kursivdruck – die Bibel).
12
„Zu Ohren gekommen war mir der üble Ruf der Zeit. Im Wunsch, ihn widerlegt zu se-
hen, schwebe ich vom hohen Olymp hinab und ziehe in Menschengestalt durch die Lande,
obwohl ich ein Gott bin. (...) Hierauf betrete ich den Wohnsitz und das ungastliche Haus
des arcadischen Tyrannen (Lykaon – A.P.), als die späte Abenddämmerung die Nacht nach
sich zog. Ich gab Zeichen, daß ein Gott gekommen sei, und das Volk hatte begonnen zu
beten. Zuerst verspottet Lycaon die frommen Gelübde, dann sagt er: »Ich will herausfin-
den, ob dies ein Gott oder ein Sterblicher ist, und zwar durch eine eindeutige Prüfung;
an der Wahrheit wird man nicht mehr zweifeln können.« Bei Nacht versucht er, während
der Schlaf auf mir lastet, mich meuchlings zu ermorden. Das ist seine Art, die Wahrheit
herauszufinden. Und auch das genügt ihm noch nicht: Einer Geisel vom Molosserstamm
öffnet er mit einem Dolch die Kehle; teils kocht er die erst halbtoten Glieder in siedendem
Wasser, teils hat er sie auf dem Feuer geröstet. Sobald er dies aufgetischt hatte, ließ ich
mit rächender Flamme das Dach auf die Penaten stürzen, die ihres Herrn würdig waren;
erschrocken flieht er selbst in die ländliche Stille, heult dort auf und versucht vergeblich
zu sprechen. Seinem Wesen entsprechend atmet sein Rachen rasende Wut; seine gewohnte
Mordlust läßt er am Kleinvieh aus und freut sich auch jetzt noch am Blutvergießen. In
Zotteln verwandeln sich die Kleider, in Schenkel die Arme. Er wird zum Wolf und be-
hält dabei Spuren seiner früheren Gestalt: Die Grauhaarigkeit ist geblieben, geblieben die
gewalttätige Miene, geblieben die leuchtenden Augen, geblieben das Bild der Wildheit“
(Ovid 2006: 21-23). Wenn man der von Kubiak dargestellten Variante des Mythos über
Lykaon folgt, drängt sich eine Parallele zwischen dem Christentum und der Antike auf.
Nach Kubiak soll Lykaon keine Geisel vom Molosserstamm, sondern seinen Enkel Arkas,
den Sohn seiner Tochter Kallisto und Zeus, getötet haben (Kubiak 2003: 121). Auf diese
Weise lässt der antike König, der gegen die Götter aufgetreten ist (Ovid 2006: 21), seinen
Blutsverwandten sterben, so wie Gott seinen Sohn Christus ums Leben kommen lässt.
13
Als Defensive gegen den Angriff der Antike kann man das Erscheinen der Engel mit
Schwertern, die an Kreuzzüge denken lassen, und das Öffnen des Klostertors betrachten,
womit die Expansivität der christlichen Religion angedeutet wird (Trakl 1987: 251-252).
306 Andrzej Pilipowicz
dessen Funktion man von der Frage des Bruders – „Wer trank ihr Blut?“
(Trakl 1987: 251) – ableiten kann16. Dieser Frage folgt keine Antwort,
was vermuten lässt, dass das Blut nicht zu trinken ist, sondern ungetrun-
ken bleiben sollte. Darin äußert sich der hauptsächliche Unterschied so-
wohl in Bezug auf das Christentum als auch in Bezug auf die Antike. Wird
der Wein als Transsubstanzierung des Blutes Christi von den Christen ge-
trunken, wodurch sie an die gemeinsame Schuld an seinem Tod erinnert
und in den Schranken der eigenen Existenz dank der der Verletzung der
Grenzen von anderen Menschen entgegenwirkenden und von Christus pro-
pagierten Askese gehalten werden, so spielt auch der Wein in den antiken
Dionysien eine Schlüsselrolle: Der Wein wird getrunken, um eine in der
Ekstase gipfelnde Verstreuung der eigenen Existenz in der Außenwelt zu
vollziehen. In beiden Fällen kommt es zur Aufhebung der Welt: Die Askese
lässt den Menschen in den Abgrund seines Ichs so tief hinabsteigen, dass
er nicht mehr an der Außenwelt teilnimmt; die Ekstase dagegen lässt den
Menschen sein Ich aus dem Körper herausnehmen und es in die Welt ein-
setzen, die kein für die Herauskristallisierung der Individualität notwen-
diges Gegenüber mehr bildet, sondern sich jede dem Rausch des Weins
verfallene Person einverleibt. Im Falle von Johanna ist es anders. Das Rote
des Weins/Blutes wird nicht in das Innere der Menschen transportiert, son-
dern umgekehrt: Die Menschen sollen in das Blut der Schwester treten, das
in dem Moment in die Welt strömt, in dem das vom Wolf vollzogene und
das Zerfleischen des Jungen reflektierende Zerreißen ihres Körpers erfolgt.
Das aus dem Körper von Johanna rieselnde und in die Welt sickernde Blut
verwandelt die Außenwelt in das Innere der Frau17, was insofern wichtig
umflochtenen Person erinnert, kann man zu dem Schluss kommen, dass sich die Trinität
aus Christus, dem Bruder und der Schwester zusammensetzt. Auf diese Weise treffen sich
die Geschwister in einem Körper, und zwar in dem Körper von Christus, dessen Körper
den Körper ihrer Mutter reflektiert, aus deren Schoß sie einst im Akt der Geburt getre-
ten sind. Andererseits ist die Figur von Christus insofern wichtig, als sein Tod und seine
Auferstehung der Situation der Geschwister entgegenkommen, die aus dem den Inzest
verdrängenden Diesseits treten und den Schoß der Mutter als eine menschenfreundlichere
Dimension betreten.
16
Die Bemerkung des Vaters – „Morgen heben wir vielleicht das Bahrtuch von einem
teueren Toten“ (Trakl 1987: 251) – weist darauf hin, dass der „erlösende“ Tod von
Johanna dem Tod von Christus vorausgeht. Damit wird gleichzeitig angedeutet, dass der
Versuch, Johanna zur Rolle von Christus zu designieren, scheitert. Auch dadurch, dass
Johanna das erstgeborene Kind des Vaters (Trakl 1987: 251) ist, entsteht eine Parallelität
zwischen ihr und Christus, der als erstgeborenes und zugleich letztgeborenes Kind Gottes
gilt.
17
Diese Verwandlung ist auch dem Bild des aus den Fingern von Johanna rinnenden
Blutes zu entnehmen. Hält man die Finger für die in den Kopf von Christus einschnei-
308 Andrzej Pilipowicz
ist, als das weibliche Innere den Schoß enthält. Der durch das Blut ge-
kennzeichnete Schoß, der sich wie der christliche Himmel und der antike
Hades außerhalb der Wirklichkeit befindet18, ist für die Umorganisierung
des Christentums und für die neue Richtung der menschlichen Existenz
konstitutiv, was auch von einer Vision des Vaters antizipiert wird: In der
Nacht vor dem Tag, an dem die Leiche des Jungen im Wasser entdeckt
wurde, sieht der Vater im dunklen Wasser des die Sterne reflektierenden
Weihers das Bild seiner Tochter, die „in blutende Schleier“ (Trakl 1987:
251) eingehüllt ist19. Dadurch, dass Johanna vor dem Hintergrund der sich
auf der Oberfläche des Weihers widerspiegelnden Sterne erscheint, wird
sie noch stärker mit Christus und mit seiner Wiederbelebung nach dem Tod
verknüpft. Die Sterne lassen nämlich an den Himmel denken, der nicht nur
auf den Raum über der Erde, sondern auch auf das von Christus nach seiner
Kreuzigung betretene Reich Gottes hinweist. Das Bild wirkt antichristlich,
weil man den Eindruck gewinnt, dass Christus im Wasser des Weihers er-
trinkt, was ihn statt der senkrechten die waagerechte Position einnehmen
und ihm statt der Situierung „oben“ die Situierung „unten“ zuteilwerden
lässt20. Deswegen scheinen sowohl Christus als auch der Christus inkar-
denden Dornen, so kann man bemerken, dass die Spitzen der Finger nicht gegen den
Körper, wie es bei den Spitzen der Dornenkrone von Christus der Fall ist, sondern auf die
Außenwelt gerichtet sind.
18
Weist der Tod der vom Dornenbusch eingekreisten und so an das Bild der Kreuzigung
Christi erinnernden Johanna christliche Züge auf, so entbehrt auch ihr Tod nicht antiker
Elementen, wenn man den sie zerreißenden Wolf für den den Eingang zum Hades bewa-
chenden, wolfartigen Kerberos (Parandowski 1992: 147) hält.
19
Die Schleier rufen eine Assoziation mit den Schleiern von Salome hervor, die im Drama
Salome von Oscar Wilde dargestellt wird – um so mehr, als Trakl dieses Werk kannte und
eine in der „Salzburger Zeitung“ am 2. März 1906 veröffentlichte Rezension über die
Aufführung des Stücks am Salzburger Stadttheater schrieb (Trakl 2007: 51-54). In Wildes
Werk tanzt Salome den Tanz der sieben Schleier (Wilde 2009: 42) und verlangt dafür die
Enthauptung von Jochanaan (Johannes dem Täufer Christi), dessen Gestalt in den Kontext
des Inzests gestellt wird. Jochannan kritisierte nämlich die Heirat von Herodes Antipas
mit seiner Schwägerin Herodias, die sich dafür an Jochannan rächt, indem sie den Wunsch
von Salome, ihrer aus der Ehe mit Herodes’ Bruder hervorgegangenen Tochter, nach
dem Kopf des Täufers akzeptiert. Die Ähnlichkeit des Namens „Johanna“ mit den Namen
„Johannes“ und „Jochanaan“ lässt darauf schließen, dass Johanna mit ihren blutenden
Schleiern auf ihren eigenen Tod hinweist.
20
Davon, dass Johanna Christus nicht ersetzt, sondern dem Schicksal Christi eine an-
dere Richtung verleiht, zeugt ihr im zweiten Teil der 1. Fassung des Dramenfragments
erscheinender Ausruf „Elai!“ (Trakl 1987: 253), der dem von Christus am Kreuz ausge-
stoßenen Ausruf – „Eli, Eli, lama asabthani (...) [Mein Gott, mein Gott, warum hast Du
mich verlassen?“] (Die Bibel 1964: 39 <das Evangelium des Matthäus 27,46) und 61 <das
Evangelium des Markus 15,34> Kursivdruck – die Bibel) – ähnelt.
Plenarvorträge 309
nierende Junge nach dem Tod nicht in den Himmel zu Gott zu kommen,
sondern ins Wasser zu fallen und den Schoß von Johanna zu betreten, der
von ihrem sich im Wasser verbreitenden Blut indiziert wird21 und als ein
durch das Element des Wassers bestimmter Bereich sowohl dem durch das
Element der Luft bestimmten Himmel als auch dem durch das Element
der Erde bestimmten Hades entspricht22. Dadurch, dass der Weiher in der
Niederung der Erde platziert ist, erfolgen das Sich-Entfernen von dem
in den Lüften situierten und christlich geprägten Himmel und das Sich-
Annähern an den in der Erde situierten und antik geprägten Hades. Der
Schoß, auf den zwei lebensspendende Faktoren, und zwar das das Innere
des Menschen füllende Blut und das das Fruchtwasser widerspiegelnde
Wasser des Weihers hinweisen, gilt als ein Existenzbereich, dessen ontolo-
gische Konzeption den Himmel und den Hades übertrifft. Erstens gibt der
Schoß die – in der Analyse der 2. Fassung des Dramenfragments behandel-
te – Möglichkeit, aus dem christlichen Diesseits nicht erst nach dem Tod,
sondern auch zu Lebzeiten mittels des Traums zu treten23; zweitens kann der
21
Die Blut-Schleier von Johanna erscheinen auch in Form der roten Fische, die die Augen
des Jungen fressen. Dadurch, dass die rote Farbe der als Symbole des Christentums gel-
tenden Fische auf das Rot des den Inzest indizierenden Bluts bezogen werden kann, wird
die Möglichkeit angedeutet, die Inzestbetroffenen in die christliche Gesellschaft zu in-
tegrieren. Indem die Fische die Augen des Jungen fressen und so mit den zerstückelten
Augen eines Menschen „ausgestattet“ werden, versuchen sie die Augen des Christentums
für das menschliche Unrecht zu öffnen und die christliche Religion für das Schicksal der
Inzestbetroffenen empfindlicher zu machen.
22
Das vierte Element – Feuer – gilt als Gegensatz des Wassers und weist auf die Intensität
der (Inzest)Liebe hin: Im Moment des Todes scheidet der Körper von Johanna den wasser-
haltigen Schweiß aus, der sich an ihrer Stirn ansetzt und so an die Außenwelt abgegeben
wird, was Johanna wieder als Pendant zu Christus erscheinen lässt. Da das Blut an der
Stirn von Christus infolge der Stiche der Dornenkrone auftaucht und in die Außenwelt
rinnt, bekommt die Liebe zu Christus und zu den Menschen einen permissiv-manifesten
Status. Dadurch, dass statt des den Schoß indizierenden und im Inneren bleibenden Blutes
an der Stirn von Johanna Schweiß zu sehen ist, bekommt die den Wechsel von Christus zu
Johanna verursachende Inzestliebe einen konspirativ-latenten Charakter.
23
Die silberne Farbe des Körpers des Jungen, dessen Identität auf Peter überspringt, und
die silberne Farbe der Finger von Johanna kann man auf das silberne Zeitalter der Antike
zurückführen, in dem die Menschen nach Ovid die Unabhängigkeit ihrer Individualität
verloren haben (Ovid 2006: 15). Kannten die Menschen im goldenen Zeitalter „keine
Küste außer ihrer eigenen“ (Ovid 2006: 13), so wurden sie im silbernen Zeitalter den
Unbequemlichkeiten ausgesetzt, die sie in die Beziehungen zu anderen Menschen verwic-
kelten, was ihr Schicksal leichter machen sollte. Dies führte aber auch zur Herausbildung
der Umrisse der Gesellschaft, die zu dem – auch durch den Inzest gekennzeichneten
– Individuum in Opposition steht. Demzufolge vollzieht sich die wahre Existenz der
Inzestbetroffenen in der vom Angriff des Wolfs vernichteten silbernen „Abschirmung”,
was auf die Tendenz hinweist, ihr Leben in das goldene Zeitalter als glückselige Periode
310 Andrzej Pilipowicz
Diese These ist möglich, da an keiner Stelle in der 1. Fassung des Dramenfragments zu
25
erkennen ist, wer zuerst gestorben ist – die Mutter oder die Tochter. Erst die 2. Fassung
des Dramenfragments regelt diese Unklarheit, weil die Tochter lebt und die Mutter tot ist.
312 Andrzej Pilipowicz
führt. Da Johanna ihr erstgeborenes Kind ist, ist anzunehmen, dass die in
den Werwolf verwandelte Mutter ihre Kinder in derselben Reihenfolge in
sich aufnimmt, in der sie sie zur Welt brachte: Die vampirartige Position
der Mutter verknüpft sich mit der Position von Christus, aber – ähnlich
wie im Falle ihrer Tochter Johanna – in einem antichristlichen Sinne, weil
der Vampir als Antichrist gilt (Janion 2008: 8): Gibt der noch am Kreuz
lebende Christus den Menschen sein Blut, so nimmt der Vampir, der als
ein verstorbener Mensch in die Wirklichkeit zurückkommt, den leben-
den Menschen ihr Blut weg. Das Abgeben und das Nehmen des Bluts ge-
schehen in Bezug auf Christus an der Grenze des Todes (zwischen dem
Diesseits und dem Jenseits) und in Bezug auf die Inzestbetroffenen an der
Grenze des Lebens (zwischen dem den Schoß enthaltenden Inneren und
dem mit dem Diesseits identischen Äußeren). Dadurch, dass der Bruder
das nächste Opfer der Wolf-Mutter wird, gerät er ebenfalls in ihr Inneres,
wo sich sein Blut mit dem Blut der Schwester mischen kann. So fließen das
Blut der Schwester und das Blut des Bruders in einem Organismus, was
darauf hinausläuft, dass die beiden ihr Blut gegenseitig „trinken“26 und ihre
Existenzen interferieren lassen. Während Christus aber durch den Verlust
des Blutes in das Jenseits kommt, begeben sich die Inzestbetroffenen we-
gen des von der Mutter getrunkenen Bluts in den Schoß der Mutter (der als
ein dem Jenseits gegenüber platzierter Bereich antik geprägt ist), in dem sie
wie Christus im Jenseits „auferstehen“.
des als Symbol von Christus geltenden Brotes in einen Stein ausgedrückt
wird28, sondern auch über das gleiche Blut, das sowohl in den Adern von
Johanna als auch in den Adern von Peter fließt. Es ist bezeichnend, dass
die Äußerung des Pächters über das Blut zwischen dem Johanna betref-
fenden Satz und dem sich auf Peter beziehenden Satz erscheint, wodurch
die beiden einerseits als engste Blutsverwandte auftreten, andererseits
einen Organismus formen, dessen zwei Teile – Schwester und Bruder –
im gemeinsamen Schoß der verstorbenen Mutter entstanden und von der
sich aus dem Blut der Mutter und dem Blut des Vaters zusammensetzenden
Blutmischung durchblutet wurden. Die durch den Schoß der Mutter be-
stimmte Einheit macht sich in dem Moment geltend, in dem der Vater die
Stimme von Johanna als Surrogat ihres Inneren auf das Bild von Peter als
dessen Äußeres überträgt, wodurch ein androgyn geprägtes Konstrukt ge-
bildet wird und die Geschlechtsmerkmale verwischt werden29. Da Johanna
tot ist und Peter lebt, sind die Geschwister dichotomisch dargestellt: Die
auch. O das Rauschen der Linde von Kindheit an, vergebliche Hoffnung des Lebens, das
versteinerte Brot! Neige dich stille Nacht nun.“ (Trakl 1987: 252)
28
Der steinige Acker, an dem Peter sitzt, weist auf die Unfruchtbarkeit hin, zu der die
inzestuöse Beziehung von der Gesellschaft verurteilt wird. Zu der Unfruchtbarkeit wird
die Fruchtbarkeit der Erde kontrastiert, die alles reifen lässt: „O die läutenden Herden an
Waldsaum, das Rauschen des Korns” (Trakl 1987: 251). Ähnlich klingt auch ein anderes
Zitat: „O die Ernte di<e...> Schon rauscht das wilde Gras auf den Stufen des Hauses, nistet
im Gemäuer der Skorpion. O meine Kinder“ (Trakl 1987: 252). Deutlich hebt sich die
einfache Ordnung der Gesellschaft von der komplizierten Ordnung der Natur ab, deren
inzestuöser Teil mit dem Adjektiv „wild“ – im Sinne „fremd“ „ausgeartet“ „verfemt“ – be-
zeichnet wird. Auch in der 2. Fassung ist von der gelungenen, die Fruchtbarkeit der Natur
andeutenden Ernte die Rede: „Geerntet ist das Korn, gekeltert die Traube“ (Trakl 1987:
254) und „O die Herbstschwere des Weizens, Sichel“ (Trakl 1987: 255).
29
Auch das Bild der grünen Schlangen, die im Haselbusch flüstern (Trakl 1987: 251),
gilt als ein verkappter Hinweis auf den androgyn bestimmten Inzest. Die Schlangen, deren
Geschlecht auch aus einer nahen Distanz nicht zu erkennen ist, bilden einen Knäuel, in
dem die einzelnen Körper der Schlangen nicht mehr auf die einzelnen Schlangen zurück-
zuführen sind. Da die Schlangen grün sind, werden sie nicht mehr als gefährlich betrachtet
und rufen keinen Ekel mehr hervor. So werden die die Inzestbetroffenen verkörpernden
Schlangen mit dem Grün des Frühlings und somit mit dem goldenen Zeitalter verbunden,
das durch den ewigen Frühling gekennzeichnet war. Dadurch wird angedeutet, dass die
Inzestbetroffenen an der Demonstration ihrer Gefühle interessiert sind – besonders in dem
zur Manifestation der Emotionen ermunternden Frühling. Das Grün kann auch die grüne
Farbe des rauschgiftartigen Absinths bedeuten, der am Anfang des 20. Jahrhunderts in
den künstlerischen Kreisen Europas sehr verbreitet war und oft die Menschen von der
Wirklichkeit abbringende Halluzinationen bewirkte, was der Situation der die Flucht
aus der Wirklichkeit anstrebenden Inzestbetroffenen entspricht und auf die Biografie der
Geschwister Trakl anspielt, weil sowohl Georg als auch Margarethe zu Rauschgiftmitteln
griffen (Basil 1965: 78).
314 Andrzej Pilipowicz
unsichtbare Schwester, der das Weiße (Helle) zugeordnet wird, steht dem
sichtbaren Bruder gegenüber, dem das Dunkle (Schwarze) zugeschrieben
wird. Gilt das Blut als Substanz, die die Geschwister zu einer Person zu-
sammenschmiedet, so funktioniert der Tod als Ereignis, das sie als zwei
Kehrseiten derselben Person betrachten lässt. Der Tod an sich ist (wie
Johanna) unsichtbar; sichtbar (wie Peter) sind dagegen die Folgen seiner
Wirkung. Aus der Sicht des im Diesseits bleibenden Bruders wird der Tod
mit dem Schwarzen als Trauerfarbe konnotiert30. Aus der Sicht der sich
außerhalb des Diesseits befindenden Schwester dagegen schlägt das
Schwarze ins Weiße um, das als Indikator des Lebens gilt31.
Das Blut der Schwester als Bindeglied zwischen dem Geist und dem Körper.
Der 2. Teil der 1. Fassung des Pächter-Dramenfragments besteht aus
zwei Dialogen, die sich als zwei Monologe erweisen, weil die Schwester,
deren Persönlichkeit in Johanna und in die „Erscheinung“ zerfällt, und der
Bruder, dessen Persönlichkeit sich in den Mörder und den Wanderer spal-
tet, mit sich selbst sprechen. Dank dem Selbstgespräch wird die Rolle von
Johanna noch transparenter gezeigt32. Der Imperativ-Satz, mit dem Johanna
den Wunsch nach den von Dornenstichen verursachten Verletzungen äußert,
kongruiert mit dem Bild, in dem sie in der Erinnerung des Bruders als eine
30
Das Weiße des Kalks, von dem der Mörder als Teil von Peter (Trakl 1987: 253) spricht,
und das Weiße der Füße von Johanna (Trakl 1987: 252) weisen auch im 2. Teil der 1.
Fassung darauf hin, dass die Persönlichkeiten der Protagonisten auf der Kehrseite der
Wirklichkeit agieren.
31
Das Weiße kann man im Kontext des Inzests auch als Synonym für das Unschuldige
betrachten, wenn man sich zu Bewusstsein bringt, dass der Inzest kein ideologisch-ange-
lerntes, sondern ein biologisch-angeborenes Phänomen ist.
32
„Stich schwarzer Dorn. Ach noch tönen von wildem Gewitter die silbernen Arme.
Fließe Blut von den rasenden Füßen. Wie weiß sind sie geworden von nächtigen Wegen!
O das Schreien der Ratten im Hof, der Duft der Narzissen. Rosiger Frühling nistet in
den schmerzenden Brauen. Was spielt ihr verwesten Träume der Kindheit in meinen ze-
rbrochenen Augen. Fort! Fort! Rinnt nicht Scharlach vom Munde mir. Weiße Tänze im
Mond. Tier brach ins Haus mit keuchendem Rachen. Tod! Tod! O wie süß ist das Leben!
In kahlem Baum wohnt die Mutter, sieht mich mit meinen traurigen Augen an. Weiße
Locke des Vaters sank ins Hollundergebüsch – Liebes es ist mein brennendes Haar. Rühre
nicht daran, Schwester mit deinen kalten Fingern.” (Trakl 1987: 252) Wenn Johanna von
einem Tier spricht, das mit keuchendem Rachen ins Haus eingebrochen ist und im 1. Teil
der 1. Fassung als Wolf bezeichnet wird, weist sie darauf hin, dass sich hinter dem Tier,
das den im Wasser tot aufgefundenen Jungen umgebracht hat, auch ein Wolf verbergen
könnte. Diese Stelle bildet auch den ersten deutlicheren Hinweis darauf, dass der Mord
von Johanna metaphorisch ist und sich wegen des Inzests auf den sozialen Tod bezieht,
wodurch sie – auch wegen der Inzestliebe – individuell aufersteht, so wie Christus nach
seinem Tod geistig auferstanden ist.
Plenarvorträge 315
die die von den Fischen gefressenen Augen des im Wasser tot aufgefun-
denen Jungen reflektieren, beweisen nicht nur den infolge der Blindheit
vollzogenen Verlust der Bindung an die Wirklichkeit, sondern zeigen auch
die Brüchigkeit der Materie und der Außenwelt. Da die Augen keine in
der Wirklichkeit geschehenden Ereignisse mehr registrieren, werden die im
Inneren geschaffene Ideenwelt und die im Inneren entstehenden (Inzest-)
Emotionen intensiver erlebt. Die geistig-emotionelle Verwandtschaft der
Inzestbetroffenen wird von den zwischen den Geschwistern in ihrer Kindheit
gespielten Spielen angedeutet, die durch eine große Nähe gekennzeichnet
waren – eine Nähe, die mit dem Eintritt in die Welt der Erwachsenen nicht
mehr harmlos war und immer mehr Vedacht erweckte. Deshalb ist das rich-
tige und todfreie Leben in der Innenwelt und nicht in der Außenwelt zu fin-
den, die durch den um sich greifenden Tod „gebrandmarkt“ ist. Die verstor-
bene Mutter von Johanna lebt in deren Schoß35, weil sie sowohl als Objekt
als auch als Subjekt existiert, so wie das im Schoß heranreifende Embryo
sowohl der Innenwelt als auch der Außenwelt angehört. Dass die Mutter
Johanna mit den Augen ihrer Tochter sieht, spricht dafür, dass sie sich im
Inneren von Johanna befindet und als Subjekt erscheint, weil ihr Ich in dem
Ich ihrer Tochter enthalten ist. Andererseits sieht Johanna ihre Mutter an
einem Baum stehen, wodurch die Mutter die Merkmale des im Inneren der
Tochter agierenden Objekts zurückgewinnt. Der kahle (blätterlose) Baum
weist darauf hin, dass die Mutter nicht gestorben ist, sondern in eine ande-
re Dimension übergetreten ist – ähnlich wie Blätter, die vom Baum fallen
und in den Boden eindringen, dem der Baum entwächst. Davon, dass der
Tod oder ein todartiges Ereignis das Aufleben in der von Johannas Schoß
gebildeten Außen-Wirklichkeit bedingt, zeugt die den Tod herbeirufende
Anapher („Tod! Tod!“), die sich in die Apostrophe („O wie süß ist das
Leben!“) verwandelt. Dadurch, dass mit der Anapher („Tod! Tod!“) die
sich auf das Blut beziehende Anapher („Fort! Fort!“) einhergeht, wird der
Drang nach dem vom Blut des Schoßes „katalysierten“ Leben noch ver-
stärkt. Indem Johanna das Blut, das in dem Scharlachrot chiffriert wird und
sich außerhalb des Körpers in Form des roten, die Scharlachkrankheit be-
gleitenden Hautausschlags manifestiert, nicht aus dem Mund rinnen lässt36,
35
Da sie im Inneren von Johanna erscheint, ist darauf zu schließen, dass sie später als ihre
Tochter sterben musste, wodurch eine zusätzliche Parallele zwischen Johanna und Christus
entsteht, dessen Mutter – Maria – auch nach seinem Tode in den Himmel gekommen ist.
36
Der offene, das Rot aufweisende Mund ist mit einem zum Küssen bereiten Mund zu
assoziieren. Dadurch, dass der Mund geschlossen bleibt, deklariert sie ihre sie mit Christus
verbindende Keuschheit. Der Mund kann zwar mit dem Kuss des Bruders geschlossen
werden, aber jeder Kuss lässt das Blut der Schwester in den Mund des Bruders strömen,
Plenarvorträge 317
sorgt sie dafür, dass das Blut in ihrem Inneren bleibt und ihren Bereich
nicht überschreitet, so wie der Bereich des christlichen Himmels und der
Bereich des antiken Hades nicht ineinander eindringen. Lebt die Mutter
von Johanna in ihrem Inneren, weil sie sich jenseits vom Schoß der Tochter
befindet, so versucht der sich diesseits vom Schoß befindende Vater vor
dem Tod zu fliehen und in das Innere der Tochter vorzudringen, dessen
Grenze von dem (Hollunder)Gebüsch gebildet wird. Diese Grenze über-
schreitet Johanna, um ihrem Vater entgegenzukommen. Dadurch kommt
es zu dem Zusammenlegen der infolge des Todes getrennten Ich-Teile: des
Geistes und des in der Wirklichkeit hinterlassenen Körpers, der die Form
eines Gespenstes hat und deswegen die „Erscheinung“ genannt wird37. Aus
der Sicht der psychoanalytischen Theorie von Sigmund Freud und der von
ihm ausgearbeiteten Struktur des Ichs inkarniert Johanna das Es, in dem
der Todestrieb (Thanatos) und der mit dem Lebenstrieb gleichzusetzende
Sexualtrieb (Eros) walten, während die „Erscheinung“ das Über-Ich reprä-
sentiert, das die von der Gesellschaft aufgestellten und sanktionierten Werte
– Religion und Moral – gestalten (Freud 2007: 251-295)38. Der Gegensatz
zwischen Johanna und der „Erscheinung“, der auch krass in dem Oxymoron
„(s)chneeiges Feuer im Mond!“ (Trakl 1987: 253)39 mitschwingt, beto-
was an das Trinken des in den Wein verwandelten Bluts Christi erinnert und was die Idee
von Johanna, die als ein die Antike mit dem Christentum verknüpfender Heiland gilt,
desavouieren kann.
37
Verwandelt sich Christus infolge seines Todes am Kreuz aus einem Menschen (Figur)
in eine Idee, wodurch seine Spiritualisierung einen linearen Charakter hat, so weist die
Spiritualisierung von Johanna einen parallelen Charakter auf, weil sie sowohl als Idee
als auch als Figur erscheinen kann: Indem sie mit der „Erscheinung“ spricht, gewinnt sie
menschlich-materielle Züge zurück.
38
Da Johanna die Bezeichnung „Schwester“ in Bezug auf die „Erscheinung“ verwen-
det, kann man annehmen, dass sie nicht mit sich selbst, sondern mit einer anderen,
vom Inzest betroffenen Frau spricht. Als ein neuer – den Inzest sakralisierender und die
Inzestbetroffenen in die Gesellschaft integrierender – Heiland benutzt Johanna auch das
unter den Christen übliche Vokabular: Die Formen „Schwester“ und „Bruder“ sind im
Rahmen der katholischen Kirche nicht nur Ausdrücke der Gleichberechtigung, sondern
auch der gegenseitigen Zugehörigkeit.
39
In einem Essay über Trakl erwähnt Franz Fühmann das Wortspiel, das Trakls Dichtung
innewohnt und im Wechsel von Vokalen und Konsonanten besteht, wodurch man die im
Abgrund des Wortes verborgene Bedeutung herausholen kann und wodurch sichtbar wird,
dass in Trakls Gedichten eine immer größere Annäherung an den Tod eine immer größere
Verdichtung des Lebens nach sich zieht: „Was ist so süß an Trakls Gedicht? Sein Klang,
gewiß; doch es ist nicht Musik. – Uns erscheint die Gelegenheit günstig, unsrer Meinung
Ausdruck zu geben, daß zur Beladenheit eines Wortes mit der Mehrzahl »Worte« auch
die Beladenheit mit den Klangassoziationen gehört, die ihm seine Sprache bietet: Das
Wort »Mond« etwa ist den Worten »Mohn« und »Mund« und »Mord« auf eine Weise
318 Andrzej Pilipowicz
so stellt sich heraus, dass sie gegen Johanna um den Teil ihres Ichs kämp-
fen, der von ihrer Leiche versinnbildlicht wird. Wenn Johanna und die
„Erscheinung“ wegen des sich nähernden Bruders, dessen Persönlichkeit
in den Wanderer und in den Mörder gegliedert wird, zusammen die Flucht
ergreifen, bestätigen sie nicht nur ihre Zusammengehörigkeit in Bezug
auf die innerhalb desselben Ichs geformte und nach der Aufhebung des
Zwiespalts strebende Identität, sondern sie legen auch die Aggressivität
des Christentums bloß, das immer wieder in die tiefer gelegenen und in-
dividuell bestimmten Segmente des Ichs vorzudringen versucht. Infolge
der Flucht wird die schizophren bedingte Zerspaltung der Persönlichkeit
aufrechterhalten, die zwischen den zwei gegenüberliegenden Polen ge-
spannt wird: Während Johanna über den Dornenbusch in den Bereich des
von sich selbst gebildeten Schoßes tritt41, versinkt die „Erscheinung“ in die
Erde, die als Ort der Bestattung der Verstorbenen ein Weg zum christlich
bestimmten Jenseits ist. Nicht die Flucht der „Erscheinung“, sondern die
Flucht Johannas hat christliche Züge. Indem Johanna in den Dornenbusch
stürzt, wiederholt sie ihre Kreuzigung, die von dem die Dornenkrone
Christi hervorrufenden Bild des Dornenbuschs angedeutet wird und sie –
im Gegensatz zu dem nur seinen Geist ins Jenseits mitnehmenden Christus
– sowohl ihr Blut als auch ihren Geist mitnehmen lässt.
Das Blut des Bruders als Bindeglied zwischen dem Geist und dem Körper.
Wird Johannas Ich in das Es und in das Über-Ich nach Freuds Ich-Modell
geteilt, so zerfällt auch Peters Ich in das Es, das vom Mörder vertreten
ist und von dem im Wechsel mit dem Sexualtrieb (Lebenstrieb) stehenden
Todestrieb veranschaulicht wird, und in das Über-Ich, das sich im Wanderer
äußert, der wegen seiner inzestuösen Natur in der Gesellschaft nicht Fuß
fassen kann und zur ewigen Wanderschaft am Rande der Gesellschaft ver-
urteilt ist42. Davon, dass der Mörder und der Wanderer zwei Teile einer und
derselben Person sind, zeugt ihr gleichzeitiges Aufwachen. Der Satz des
41
Diese Bewegung zeigt, dass Johanna sowohl Christus als auch Gott in sich verbindet.
Da Johanna zwischen dem Bereich der Wirklichkeit und dem Bereich des Schoßes pen-
delt, ähnelt sie Christus, der infolge der Kreuzigung den Bereich der Wirklichkeit verlässt
und in den Bereich des Jenseits eindringt, aus dem er nur als Idee in die Wirklichkeit zu-
rückkommt. Dadurch, dass Johanna nach dem Austritt aus der Wirklichkiet ihren eigenen
Bereich, d. h. den Schoß betritt, gleicht sie Gott, der den Bereich des Jenseits mit sich
konstituiert.
42
Diese Wanderschaft erinnert an die als Strafe geltende Wanderschaft des Ewigen Juden
(Ahasver), der Christus auf dem Weg nach Golgatha die Rast verweigert (Körte 2000:
11). So wird sowohl die Existenz des Inzestbetroffenen, der infolge der gesellschaftlichen
Verbannung kein Zuhause mehr hat, als auch die Existenz der Gesellschaft angedeutet,
320 Andrzej Pilipowicz
Wanderers – „Wer schrie in der Nacht, stört das süße Vergessen in schwar-
zer Wolke mir?“ (Trakl 1987: 253) – entspricht dem Satz des Mörders –
„Wer riß aus dem Schlaf mich“ (Trakl 1987: 253) – , wobei nicht nur die
Form der als Frage formulierten Sätze, sondern auch die jeweils am Ende
der Sätze stehenden und auf zwei Varianten derselben Form hinweisenden
Personalpronomen – „mir“ und „mich“ – über eine innere Bindung der bei-
den Protagonisten entscheiden43. Das Inzestuöse, das im Rot des Abends
als Farbe des den Inzest symbolisierenden Bluts zum Ausdruck kommt und
den Zwang zum Abschied von der auf seine Mutter zurückzuführenden
Frau und von dem für seine Schwester stehenden Kind wegen der sich
im Rahmen der Familie entwickelten Inzest-Konstellation andeutet44, ver-
sucht der Wanderer in den Traum einzupferchen, wodurch den Ansprüchen
der den Inzest ablehnenden Umgebung Genüge getan wird. Ein deutliches
Konnotat der Inzestliebe bildet der Hügel, der den schwangeren Schoß
der Mutter reflektiert, den die Geschwister – wenn auch zu unterschied-
die das sich ebenfalls im Inzest äußernde Bild der Menschheit negiert und so gegen den
Humanismus auftritt.
43
Dass der Wanderer sich in seinem Monolog an Gott und an die heilige Mutter (Maria)
wendet, bestätigt seine Repräsentanz des Über-Ichs, das als die oberste Schicht des Ichs
den direkten Kontakt zu der Außenwelt hat, die mit der sich zum Christentum bekennen-
den Gesellschaft „gefüllt“ ist. Im Gegensatz zu Johanna, deren Name auf den inzestuösen
Teil ihres Ichs übertragen wird und die ihre zerbrochenen Augen erwähnt, versucht der
Wanderer seine Augen zu schonen, wenn er zu dem Mörder sagt: „Weg von meiner Kehle
die schwarze Hand – weg von den Augen nächtige Wunde – purpurner Alb der Kindheit
(Trakl 1987: 253). Dadurch beweist er, dass er den Kontakt zur Außenwelt als Bereich
der Gesellschaft aufrechterhalten will. Die Kehle des Wanderers kann man auf den Rachen
beziehen, von dem Johanna in ihrem Monolog spricht und der ein auf den Wolf zurück-
zuführendes Tier kennzeichnet, wodurch auf den Inzest als ein den „sozialen“ Tod verur-
sachendes Phänomen hingewiesen wird. Das Wort „Alb“ lässt an das Wort „Alp“ denken,
das auf den bösen Spuk der den gemeinsamen Bereich der Geschwister absteckenden
Kindheit zu beziehen ist und einen Teil des Wortes „Alptraum“ ausmacht, mit dem ein bö-
ser Traum der Erwachsenen bezeichnet wird und für den der Wanderer das Erscheinen des
Mörders hält. Dank der Form „Alb“ wird nicht nur die dem Erwachsensein entgegenge-
setzte Richtung eingeschlagen, wenn man der Opposition zwischen dem stimmhaften „b“
und dem stimmlosen „p“ Rechnung trägt. So wird auch die Verwandlung des bösen Spuks
in den guten Spuk angedeutet, wodurch die Positivierung der mit der Angst verbundenen
und den Inzest implizierenden Phänomene erhofft wird. Die im Zitat genannte Wunde
dagegen lässt an die Wunden Christi denken, was – wie im Falle von Johanna – auf den
Austritt der Inzestbetroffenen aus der Wirklichkeit anspielt.
44
Dadurch, dass die Mutter eine Frau genannt und die Schwester als ein Kind be-
zeichnet wird, entsteht der Verfremdungseffekt, der auch im 1. Teil der 1. Fassung zum
Ausdruck tritt, als Peter die die Züge von Christus annehmende und zur Erlöserin der
Inzestbetroffenen erhobene Johanna als eine fremde Person betrachtet. Darauf, dass der
Wanderer ein Teil von Peter ist, weist auch die Hütte hin, die der Wanderer verlassen hat
und in der jetzt Peter wohnt.
Plenarvorträge 321
er den Versuch, den Mörder als unbewussten Teil des Ichs von Peter zu
ermorden, was ihn vor dem sozialen Tod bewahren soll. Deswegen stößt
der Wanderer dem Mörder das Messer in seine rechte Körperseite46, die
blutet und wieder die Assoziation mit dem Rot des den Inzest konnotie-
renden Bluts aufdrängt. Der Mord am Mörder endet aber mit dem Mord am
Wanderer, weil der wegen der Loyalität der Gesellschaft gegenüber vorge-
nommene Angriff auf den Mörder als ein Raubangriff gedeutet wird. Gilt
die inzestuöse, im Es von Peter fixierte Natur als dessen „sozialer“ Mörder,
weil das Brandmal des Inzests die Menschen aus der Gesellschaft aus-
schließt, so ist der Messerstoß des Wanderers, der als Über-Ich von Peter
die Ausführung der von der Gesellschaft aufgeworfenen Normen bewacht,
einerseits als Überfall der Gesellschaft auf die Inzestbetroffenen und ande-
rerseits als opportunistischer Wille zu betrachten, sich selbst zu retten47. Da
infolge der Verwechslung der Mordintentionen48 nicht der Mörder, sondern
der Wanderer ums Leben kommt, ist zu schlussfolgern, dass der Inzest die
das Individuum erschaffende Natur über die von der Gesellschaft heraus-
gebildete Kultur siegen lässt49.
46
Auf diese Weise versucht der Bruder einen für den Inzest zuständigen Teil seines Ichs
von seiner Persönlichkeit infolge eines dem Selbstmord ähnelnden Aktes zu trennen,
so wie der durch Knochen und Fleisch gekennzeichnete, sozial-christliche Ich-Teil (die
„Erscheinung“) und der durch Blut und Geist bestimmte, individuell-inzestuöse Ich-Teil
(Johanna) im Rahmen der Persönlichkeit der Schwester separiert wurden.
47
Im Stich des Messers kann man die Stiche der Dornenkrone erblicken, wodurch ange-
deutet wird, dass der das Inzestuöse inkarnierende und als Teil von Peter geltende Mörder
gekreuzigt wird und den Weg der Christus ersetzenden Johanna geht. Bei dem Mord
am Wanderer zeigt sich auch eine Parallele zu dem Mord an der vom Wolf zerfleischten
Johanna, weil die Zähne des Wolfs die Spitze des Messers reflektieren. In diesem Fall
wird der zerrissene Körper hervorgehoben, der als Form der Materie den im Inneren des
Menschen waltenden Geist fesselt.
48
Neben den Missverständnissen um die Mordmotive treten auch falsche Deutungen
des Begriffs „Gold“ in Erscheinung. Während der Mörder das Gold auf das Geld über-
trägt und sich so den Angriff des Wanderers auf sich erklärt, verbindet der Wanderer das
Gold mit dem goldenen Zeitalter der Antike, in das er den Mörder mit dem Messerstich
zurückzubringen versucht, weil die antike Periode der inzestuösen Natur des Menschen
verständisvoller als die gegenwärtige Gesellschaft entgegentritt. Besteht das Wesen des
Lachens darin, dass ein unerwartetes Element in dem erwarteten Bild der Wirklichkeit auf-
taucht, so bringt der Ausdruck „(l)achendes Gold“ (Trakl 1987: 253) solch eine Situation
mit sich. Das Gold, das dem goldenen Zeitalter der Antike unbekannt war und das Geld
chiffriert, bildet die Grundlage der Existenz in der Wirklichkeit trotz der in der Doktrine
des Christentums gebotenen und der Gesellschaft öffentlich „eingeimpften“ Finanz-
Enthaltsamkeit.
49
Paradoxerweise erweist sich der Mörder als Raubdieb, weil er nach dem Tod des
Wanderers dessen Ranzen durchsucht. Wenn man den Bruder (Peter) und die Schwester
(Johanna) für eine androgyn bestimmte Ganzheit hält, wird der Schoß von Johanna vom
Plenarvorträge 323
rote Augen auf das Blut als Merkmal des Inzests hinweisen. So ergreift er
die Flucht vor seiner inzestuösen Natur, deren Ungezügeltheit sich in der
Verwilderung des Pferdes äußert, das an das Wilde des Wolfes als Mörder
von Johanna erinnert54. Wenn man Kermor auf Peter projiziert, kann in dem
von Kermor vollzogenen Töten des Pferdes das von dem Wolf vollzogene
Töten der Schwester mitschwingen. Mit dem an der Schläfe von Kermor
erscheinenden Blut des wild gewordenen Pferdes, das das „Wilde“ des
Inzests chiffriert und das sich als Korrelat des Blutes von Johanna erweist,
wird darauf angespielt, dass der einschlafende Kermor Johannas Schoß
betritt55:
Sowohl der christlich bestimmte Himmel als auch der inzestuös be-
stimmte Schoß gelten als gleichrangige Dimensionen in Bezug auf ihre
transzendentale Beschaffenheit, aber unterscheiden sich voneinander durch
die Situierung des Bluts. Während sich das Blut im Falle des Himmels
außerhalb des christlichen Jenseits befindet, wofür das Beispiel des sein
Blut im Moment der Kreuzigung in der Wirklichkeit aussetzenden Christus
spricht, ist das Blut im Falle des Schoßes innerhalb des inzestuösen
„Jenseits“ platziert, wodurch die Realisierung der in der Gleichheit des
Blutes bestehenden Inzestliebe zustande kommen kann. Im Gegensatz zu
den christlich bestimmten Beziehungen, die die Unterschiedlichkeit des
Blutes voraussetzen und deswegen eine heterogene Struktur aufweisen, sind
die inzestuösen Beziehungen als homogen zu klassifizieren56. Dadurch, dass
an dem Kermor schläft, erlöscht. Dadurch entsteht der Eindruck, dass Kermor vom Feuer
verbrannt und auf die andere Seite der Wirklichkeit gezogen wird, die der Schoß Johannas
bildet, wird zu dem der Weg über ihren Traum führt. Diesen Übertritt unterstreicht der
Satz des Vaters: „Wer verläßt mich!“ (Trakl 1987: 254). Andererseits kann man in dem
Kremationsfeuer das Feuer des von der Inquisition errichteten Scheiterhaufens erblicken,
auf denen die Häretiker verbrannt wurden, deren Anschauungen ebenso wie die Gefühle
der Inzestbetroffenen im Widerspruch zur katholischen Kirche standen.
54
Da das Pferd dem Wahnsinn verfällt, wird die Bewegung aus der Außenwelt in die
Innenwelt des Schoßes angedeutet, weil man den Wahnsinn als einen Zustand definie-
ren kann, der den gleichzeitigen Aufenthalt in sich ausschließenden Bereichen ermög-
licht – in der Wirklichkeit und im Traum oder in der Innenwelt und in der Außenwelt.
Diese Bewegung charakterisiert auch die Inzestbetroffenen, die im Akt der Geburt aus
dem Schoß der Mutter kommen und in den Schoß von Johanna als Ort des Exodus aus
dem den Inzest bekämpfenden Christentum treten. Das Wahnsinnige wohnt auch Johanna
inne, die im 1. Teil der 1. Fassung in den Dornenbusch versinkt, aus dem sie im 2. Teil der
1. Fassung heraustritt und in den sie wieder hineinstürzt.
55
„Mein Blut über dich – da du brachest in meinen Schlaf.“ (Trakl 1987: 255)
56
Der Inzest kann einen nicht minder scharfen Widerwillen erwecken, den das Christentum
erregen kann, wenn man im Sakrament der Eucharistie den Akt des Kannibalismus er-
blickt.
326 Andrzej Pilipowicz
gerade die Schläfe von Kermor mit dem Blut des Pferdes bespritzt wird,
vollzieht sich das ihn in den Schoß von Johanna einschließende Sakrament
der „inzestuösen“ Taufe. Die mit Blut bedeckte Schläfe lässt nicht nur an
die die Schläfe von Christus berührende und seine Himmelfahrt mitbedin-
gende Dornenkrone57, sondern auch an die Gestalt von Johanna denken,
die mittels des Schlafs die Inzestbetroffenen in ihren Schoß aufnimmt58.
Das Wort „Schläfe“, das den Austritt aus der Wirklichkeit und den Eintritt
der Christen in den Himmel codiert, impliziert nämlich das Wort „Schlaf“,
das den Eintritt der Inzestbetroffenen in den Schoß von Johanna verkün-
det, und das Wort „Schläferin“, zu der Johanna als traumwandelnde Figur
wird59. Indem Kermor gleich nach dem Austritt aus dem Schlaf, dessen
57
Eine den Dornen ähnliche Funktion hat das wilde, das Ambiente des Inzests andeutende
Gras, das in die Sohlen einschneidet: „O das wilde Gras auf den Stufen, das die frierenden
Sohlen zerfleischt“ (Trakl 1987: 255). Dadurch, dass nicht der Kopf mit den Dornen
(Christus), sondern die Füße mit dem Gras (Inzestbetroffenen) gestochen werden, kommt
erneut die Polarisierung vom Christentum und vom Inzest zum Ausdruck, worauf die ge-
genüberliegenden Körperteile – der Kopf und die Füße – hinweisen.
58
In der 2. Fassung wird im Kontext der im Sternenweiher erscheinenden Johanna di-
rekt von dem Schoß gesprochen, der in der 1. Fassung in Form der blutenden Schleier
veranschaulicht wird. Die unsichtbare (innere) Seite des Schoßes wird als „glühend“
(Trakl 1987: 254) bezeichnet, während die sichtbare (äußere) Seite des Schoßes in der
Metapher der „eisige(n) Schleier“ (Trakl 1987: 254) ausgedrückt wird. Das Eisige, in
dem das Kalte der Leiche mitschwingt, spielt auf die Scheidung von der Welt auf eine
ähnliche Weise an, in der der Tod die Lebenden von der Welt wegnimmt. Die Situation des
Inzestbetroffenen, der in der christlichen Wirklichkeit gefangen gehalten wird, stellt das
Bild eines im Kristall erstarrten Wesens (Trakl 1987: 255) dar. Indem Johanna das Kristall
mit den silbernen (gesellschaftlichen) Fingern zu zerkratzen versucht, bemüht sie sich,
Kermor aus dem „sozialen Gefängnis“ mit der gleichen Kraft herauszuholen, mit der er in
dieses Gefängnis von der Gesellschaft eingepfercht wurde. Sein Körper wird von Johanna
für das Grab vorgesehen, in das auch die „Erscheinung“ als ihr Ich-Teil in der 1. Fassung
kommt. Sein Blut, das von Johanna als „süßes Blut“ (Trakl 1987: 255) bezeichnet wird,
hat dagegen für sie einen großen Wert, weil das miteinander gemischte Blut der beiden die
Idee der durch das gleiche Blut der Eltern gekennzeichneten Inzestliebe entspricht und die
Interferenz ihrer Existenzen „besiegelt“.
59
Das Bahrtuch, das in der 1. Fassung einer „teuren“ (Trakl 1987: 251), auf Christus zu
beziehenden Gestalt weggenommen wird, wird in der 2. Fassung der als Schlafwandlerin
(Schläferin – Trakl 1987: 254) getarnten Johanna weggenommen, wodurch die Parallele
zwischen Christus und Johanna untermauert wird. Das Bild des von Dornen umgebenen
und in Metall verwandelten Herzens (Trakl 1987: 254), das von der im Silbernen chiffrier-
ten Gesellschaft „angeboten“ wird und das einen von der Umgebung in den Tod gehetzten
Inzestbetroffenen vor Augen führt, weist darauf hin, dass die – wenn auch nur vorläufige
und unzuverlässige – Flucht vor der Wirklichkeit im Schlaf verwirklicht werden kann.
Das Bild des schwarzen Wurms, der „purpurn am Herz bohrt“ (Trakl 1987: 255), bezieht
sich auf den Versuch, die von der Gesellschaft errichteten und die Inzestbetroffenen von-
einander trennenden Barrieren zu durchbohren. Wenn von der Wolke die Rede ist, die sich
in der 1. Fassung auf den Traum bezieht (Trakl 1987: 253) und die in der 2. Fassung aus
Plenarvorträge 327
Glückseligkeit mit der Wirkung eines aus Mohn (Trakl 1987: 255) ge-
wonnenen Rauschgifts beschrieben wird, wieder die Flucht ergreift, ver-
sucht er seine inzestuöse Natur zu verdrängen. Deswegen verbindet er den
Inzest nach dem Erwachen mit der zum Himmel in Opposition stehenden
Hölle (Trakl 1987: 255), deren Antichristlichkeit mit der okkultistisch ge-
prägten Antichristlichkeit der Hexe korrespondiert, die er in Johanna vor
dem Einschlafen erblickt (Trakl 1987: 254)60. Den aus Angst ins Dunkel
fliehenden Kermor versucht Johanna zu fangen, indem sie aufsteht und so
einer aufgerichteten Flamme einer Kerze ähnelt, deren Flamme ihre bren-
nenden Haare und die glühenden Tränen des Wanderers im 2. Teil der 1.
Fassung reflektieren – eine Flamme, deren Feuer die Dematerialisierung
des Daseins andeutet und den Eintritt in den Schoß bedingt.
Stahl (Trakl 1987: 255) gemacht wird, wird angedeutet, dass die Gesellschaft mir ihrer
gegen den Inzest gerichteten und sich im Stahl der Waffen äußernden Aggressivität die
Inzestbetroffenen in den den Bereich des Traums eröffnenden Schlaf „hineintreibt“.
60
Das Haar, dessen silberne Farbe als Ausdruck der maskierten Fähigkeiten von
Johanna zur sozialen – von Kermor als „fremde Nähe“ (Trakl 1987: 254) bezeichneten
– Assimilation zu betrachten ist, schirmt den einschlafenden Kermor von der Außenwelt
ab und wiegt ihn in den Schlaf. Dadurch, dass Johanna eine Hexe genannt wird, wird ihr
Widerstand gegen die Christianisierung noch deutlicher betont, weil sie an Scheiterhaufen
denken lässt, in deren Feuer sowohl Hexen als auch andere Häretiker von den Vertretern
der katholischen Kirche verbrannt wurden. So nimmt Johanna die Position außerhalb des
Christentums ein, von der aus sie es näher zur Antike hat – zu der Welt, auf die auch
der Donner (Trakl 1987: 255) hinweist, der neben dem Blitz als Attribut von Zeus gilt
(Parandowski 1992: 56).
328 Andrzej Pilipowicz
Blut verkehren, das sich in Kermor befindet, was mit dem Trinken als Akt
des Einführens einer Flüssigkeit in den Organismus zusammenhängt.
Fazit
In ihrem Buch Wampir. Biografia symboliczna [Der Vampir. Eine sym-
bolische Biographie] bemerkt Maria Janion, dass der Vampir überall dort
zu erscheinen pflegt, wo es Blut gibt oder nach Blut riecht (Janion 2008: 7).
Da der Inzest, der als Blutschande bezeichnet wird und die Beziehung zwi-
schen Georg Trakl und seiner Schwester Margarethe bestimmt, durch das
Blut gekennzeichnet ist, sollte das Vampirische auch im Kontext der im
Werk von Trakl thematisierten Inzestliebe der Geschwister auftreten. Die
sich auf die Schwester beziehenden Sätze des Bruders – „Wer trank ihr
Blut?“ (Trakl 1987: 251) und „Wer trinkt ihr Blut?“ (Trakl 1987: 254)
–, die in dem 1914 entstandenen Pächter-Dramenfragment von Trakl fal-
len, veranlassen zur Suche nach einem am Mord der Schwester schuldigen
Vampir. Es sind auch Sätze, in denen die christliche Verurteilung des Inzests
und die antichristliche Idee vom Vampir zusammenfallen: Im Gegensatz zu
Christus, der infolge des Todes am Kreuz den anderen sein Blut gibt, nimmt
der Vampir den anderen das Blut weg. Die Analyse des oben genannten
Textes, der in zwei sich gegenseitig ausschließenden Varianten überliefert
wurde und deswegen um so hermetischer wirkt, lässt nicht nur aus verschie-
denen Quellen stammende Inspirationen aufeinander einwirken, sondern
auch ein Bruchstück, das unter den Trakl-Forschern bisher keine Beachtung
gefunden hat, aus der Vergessenheit herausholen. Auf diese Weise wird die
sowohl vor dem Hintergrund des Expressionismus als auch aus heutiger
Sicht innovative Sprache der Dichtung von Georg Trakl, in der die Welt
eines vom Inzest betroffenen Menschen chiffriert ist, mit der Tradition der
Romantik verbunden, zu deren Kulturerbe der Vampirismus zweifelsoh-
ne gehört. Der Vampirismus als integraler Teil der Romantik drückt die
Leben-Tod-Implikationen ebenso suggestiv aus, wie dies bei der christli-
chen Exegese der Existenz der Fall ist. Die Inversion der Perspektive, aus
der die Semantik des Blutes betrachtet wird, öffnet den Weg zur Antike, wo
man dem als Prototyp des Vampirs geltenden Werwolf Lykaon begegnet
und wo Trakl ein Asyl für seine Inzestidentität zu finden versucht.
Plenarvorträge 329
Literatur
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Trakl, G. (2000) Sämtliche Werke und Briefwechsel, Bd IV.2. Frankfurt/Main, Basel.
Wilde, O. (2009) Salome. Stuttgart.
Odile Schneider-Mizony (Strasbourg)
1
Alle Zahlen aus verschiedenen Stellen zusammengesucht aus Références et repères sta-
tistiques 2011.
2
Ab jetzt für erste Fremdsprache FS1, für zweite Fremdsprache FS2, usw.
3
alphabetische Reihenfolge und nicht nach Wichtigkeit.
Plenarvorträge 331
Die FS3 ist das Reservoir für drei Sprachen: Italienisch einerseits als
Sprache eines Urlaubslandes und Sprache einer ehemaligen Einwanderung;
Russisch und Chinesisch andererseits, Weltsprachen, die vor allem deswe-
gen erkoren werden, weil sie als schwierig gelten. Das soll den Zugang zum
Elitegymnasium des Stadtzentrums erlauben, in das die Eltern ihre Kinder
gern unter dem Vorwand eines ausgefallenen Wahlfachs schicken. Andere
als die genannten Sprachen kommen auf sehr geringe Zahlen, wie das
Polnische, das im Jahr 2010-2011 in nur sieben Gymnasien in Frankreich
angeboten wurde, und dessen Schülerzahlen in den Statistiken nicht gefun-
den werden konnten.
und die Behörden bremsen mit dem Hinweis auf ihren elitären Charakter.
Es springen dann Privatschulen, konfessionelle oder einfach elitäre, in die-
se Marktlücke des staatlichen Unterrichts: Letztes Jahr wurde ein Drittel
der Klassen mit zwei FS1 von nicht-staatlichen Trägern gestellt.
Beim Studieneintritt bessert sich der Prozentsatz der Deutschlerner
über den erwarteten Durchschnittswert von 10 %: Deutsch wird von 24%
der Studenten der naturwissenschaftlichen Fächer gelernt und von 35%
der Studenten, die sich für eine Elite-Hochschule entscheiden: Dieses
Phänomen ist beispielhaft für die Koppelung von Deutschunterricht und
Qualitätsprofilierung in Frankreich. Im Bewusstsein der Franzosen, die
eine kasuslose Sprache sprechen und mit Englisch eine weitere kasuslose
Sprache gelernt haben, gilt Deutsch als schwere Sprache, eine Art moder-
nen Lateins (Schneider-Mizony, 2008), worin die besseren Schüler eher
Erfolgschancen hätten als diejenigen, die schon mit anderen Schulfächern
zu kämpfen haben. Dem Abschreckungseffekt auf mittelmäßige oder mut-
lose Schüler steht die Attraktivität der Deutschklassen für ehrgeizige Eltern
und gute Schüler gegenüber, solche Schüler, die sich mit etwas Glück in
den Exzellenz-Studiengängen wiederfinden.
Die Sprachwahl verstärken die politischen Fördermaßnahmen des
deutsch-französischen Staatenpaares, die beide immer wieder beteuern, wie
wichtig ihre Zusammenarbeit für Europa sei, und dass man das Erlernen
der Sprache des Nachbarn fördern wolle. Das tun sie mit symbolischen
Maßnahmen, etwa besonderen Austauschprogrammen wie “Brigitte
Sauzay” oder “Voltaire”, die eine sehr kleine Anzahl von Schülern be-
treffen. Eine andere symbolische Maßnahme war die Schaffung 1994 ei-
nes deutsch-französischen Abiturs, Abibac als Verkürzung des deutschen
Abiturs einerseits und des französischen baccalauréat andererseits, das die
Hochschulreife in beiden Ländern ersetzt und den Abiturienten ein Studium
in beiden Ländern erlaubt (Schneider-Mizony, 2011). Der wirkliche Vorzug
einer solchen Einrichtung kommt nur den besten Schülern zuteil, die den
Zusatzkursus auf Deutsch zusätzlich zu den normalen Anforderungen der
französischen Hochschulreife packen.
Deutsch hätte in Frankreich ein großes Steigerungspotenzial, wenn es
nach den Umfragen des Eurobarometers ginge: Darin geben französische
Eltern bezüglich der Sprache, die ihre Kinder nach ihrer Muttersprache ler-
nen sollten, zu 24% “Deutsch” als Antwort, also weit mehr als die tatsächli-
chen 10%, die es auch machen5. Zu dem Unterschied zwischen Wunschbild
und Wirklichkeit gibt es zwei mögliche Erklärungen: Halo-Effekt einer-
5
Seite 11 der Zusammenfassung des Berichts n°64.3
Plenarvorträge 335
seits: man weiß um das Gute, tut das Andere, aber man sagt es nicht, um
seinen Heiligenschein zu behalten; oder die kräftigen Hindernisse, die
die Schulverwaltung allen Fremdsprachenwünschen in den Weg legt, die
nicht auf Englisch als FS1 und Spanisch als FS 2 hinauslaufen. Diese
Präferierung der Verwaltung leitet sich ganz einfach aus Sparüberlegungen
her: je weniger unterschiedliche Sprachen gelernt werden, desto weniger
Sprachgruppen und Lehrer werden nötig, die vielleicht auch nicht bis an
den Kapazitätsrand ausgelastet wären. Die institutionelle Konterkarierung
trifft auch andere Sprachen als Deutsch, aber eben Deutsch in erster Linie.
6
Bekanntgegeben April 2012, im „First European Survey on Language Competences“
336 Odile Schneider-Mizony
7
um bei den bisherigen Beispielen von Sprachen zu bleiben.
8
Die französisch verfasste Zusammenfassung des Surveys durch das Erziehungsministe
rium (note d’information 12.11) stellt Seite 4 fest, dass Frankreich mit Estonien das Land
mit den geringsten Medienmöglichkeiten für Fremdsprachenlernen in Europa ist, zieht
aber keinen Schluss daraus.
Plenarvorträge 337
Metadiskurse zur Sprache und Kultur des Landes macht dem tatsächlichen
Sprechen in Beruf und auf Reisen Platz.
vermittelt, das das Verhalten und die Einstellungen der Sprecher der
Zielkultur tatsächlich erklären würde. Mit “Interkulturalität” wird nicht
die Fähigkeit umschrieben, sich in unterschiedlichen Kulturen gewandt
und glücklich bewegen zu können, sondern eine Basis-Sensibilisierung zur
Kulturenvielfalt gepaart mit der Toleranz zu anderen Lebensformen. In der
staatlichen Eignungsprüfung für angehende Fremdsprachenlehrer (CAPES)
wird der Wert der Allgemeinbildung betont, wobei folgende Kulturinhalte
im Rechenschaftsbericht dieser Prüfung10 als Beispiele gegeben wer-
den: Modernität und Tradition („modernité et tradition“), die Kunst des
Miteinanderlebens („l’art de vivre ensemble“), das Hier und das Anderswo
(„l’ici et l’ailleurs“), kein Spezialwissen also, sondern eine Grundstufe der
Sozialisierung und ein netter Kosmopolitismus.
Die beschriebenen Ziele verstehen sich für alle Sprachen, wobei Englisch
auf Grund seines Status als meistgelernter Sprache besser gestellt ist. Die
sich immer weiter öffnende Schere zwischen Englisch einerseits und allen
anderen Fremdsprachen andererseits bewirkt den Rückgang der klassischen
Fremdsprachenphilologien (außer vielleicht der Anglistik) nicht nur quan-
titativ, sondern auch qualitativ: wenn alle Fremdsprachen außer Englisch
von vornherein nur den Status einer FS2 im Schulsystem bekleiden können,
werden sie, der offiziellen Beteuerungen zum Trotz, vom Schüler weniger
intensiv gelernt. Die Lehrerausbildung wird aus Kostengründen entspre-
chend ausgerichtet, wobei der Schrumpfvorgang eher die Kultur hintan-
stellt als die Sprachbeherrschung, die das Hauptevaluierungskrietrium
(critère prioritaire d’évaluation) eines angehenden Lehrers darstellt.
Aber auch Englischunterricht unterliegt den Zielen der Interkulturalität
und der Mehrsprachigkeit, die nicht zu verwechseln ist mit “multiplem
Spracherwerb”. Bei “Mehrsprachigkeit” geht es um die Sensibilisierung
zur Sprachenvielfalt. Besonderes Gewicht wird auf die Migrantensprachen
gelegt, obwohl das französische Schulsystem sie kaum lehrt. Was ge-
fördert wird, ist aber weniger ein sprachliches Können als eine Ethik
des Miteinanderlebens. Es wird als Modell hingestellt, dass Kinder mit
Migrationshintergrund zusammen mit ihren nun französisch-sprechenden
Kameraden in der Schule erfahren würden, wie schön und kunstvoll struk-
turiert alle Sprachen sind, die als Patrimonialsprachen bei diesem oder je-
nem in der Klasse zumindest vage bekannt sind: man schlägt als didaktische
Übung vor, alle Sprachennamen zu sammeln, von denen die Schüler zumin-
dest ein Wort wissen, und erreicht in manchen Vorortschulen eine Liste mit
education.gouv.fr/file/capesext/42/9/allemand_186429.pdf
340 Odile Schneider-Mizony
Zusammenfassend
Offensichtlich haben die französischen Schulpolitiker vor der Komple
xität landeskundlichen Unterrichts resigniert: wenn es schon schwer ist,
Geschichte, Geographie, Literatur, Kunst eines Landes zu vermitteln und
wenn immer weniger Zeit für die Fremdsprachenvermittlung zur Verfügung
steht, dann soll man am besten die Finger von diesen bildungslastigen
Stoffen lassen und sich aufs Alltagsleben beschränken, das durch zwangs-
weise didaktisch überakzentuierte Stereotypen etwas Farbe bekommt und
so als Sprechanreiz dienen kann. Kommunikation hat die frühere Kultur
ersetzt. Zum Leidwesen der Sprachlehrer tun neuere Schulprogramme so,
als wäre Wissen vermittelt worden, wenn in unserer medial bequemen Zeit
Schüler einen Londoner Doppeldecker, das Brandenburger Tor oder den
Sankt-Peters-Platz auf Anhieb identifizieren können. Die Gleichwertigkeit
unterschiedlicher Kulturen und Sprachen wird dabei immer wieder unter-
strichen und stellt das humanistische Gewissen zufrieden.
Plenarvorträge 341
Literatur
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München.
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http://ec.europa.eu.education/languages/archive/languages/eurobarometer06_fr.html
Rapport jury session 2011 capes externe et cafep d’allemand
Media.education.gouv.fr/file/capesext/42/9/allemand_186429.pdf
Repères et références Statistiques sur les enseignements, la formation et la recherche
2011 ERES
http://media.education.gouv.fr/file/2011/4/DEPP-RERS-2011_190014.pdf
Schneider-Mizony, O. (2008) Deutsch als Fremdsprache in Frankreich im Jahr 2006. In:
Jahrbuch für Internationale Germanistik XXXIX-Heft 2, 27-35.
Schneider-Mizony, O. (2011) L’Abitur en Allemagne et l’Abibac. In: Education et socié-
tés plurilingues 2011/30, 55-68.
Rita Svandrlik (Firenze)
In ihrem 1984 geschriebenen Essay über Bachmann Der Krieg mit an-
deren Mitteln lobt Jelinek an der älteren Autorin ihre jeden Provinzialismus
überwindende Offenheit:
Eine der wenigen geretteten österreichischen Zungen, die auf den verbohrten
Provinzialismus von “Musikantenstadln” mit schöner Weltläufigkeit geantwortet
haben, darin etwa einer Djuna Barnes ähnlich. Als Bewohnerin eines Grenzlandes,
mit der benachbarten italienischen und slowenischen Sprache (aus der sie zum
Teil selbst herkam), schrieb sie, eine der wenigen, schon in den fünfziger Jahren
eine Art kosmopolitischer Literatur. (Jelinek 1989: 317)
Plenarvorträge 343
Man könnte das Thema der Todesarten bei Bachmann und Jelinek noch
weiter verfolgen (Szczepaniak 2008, Agnese 2007), aber wie in meinem
Titel angekündigt, geht es mir hier nicht so sehr um Themen oder um in-
tertextuelle Bezüge, vielmehr möchte ich mich auf die Poetologie und auf
die Schreibverfahren konzentrieren, die ihrerseits offensichtlich im engsten
Zusammenhang mit den angesprochenen Themen stehen. Ein Mord, ob
groß oder klein, ob real oder symbolisch, impliziert Mordopfer, beide bil-
den ein Gegensatzpaar. Beim Paar Täter/Opfer kann man sogar von einer bi-
nären, hierarchischen Opposition par excellence sprechen, einer von jenen
Strukturen des Entweder/Oder, die beide Schriftstellerinnen in ihrem Werk
mit vielfältigen Strategien unterlaufen und sprengen. Bezeichnend für beide
ist, dass dieses Schreibprogramm keine Aufweichung der Zuschreibungen
von Verantwortung zur Folge hat, angefangen bei Bachmanns Lyrikband Die
gestundete Zeit (1953) bis zu Jelineks Nachbemerkung zur Trilogie Macht
nichts. Eine kleine Trilogie des Todes (1999), in der die Unterscheidung
zwischen Tätern und Opfern im Mittelpunkt steht. Im ersten Stück der
Trilogie, Erlkönigin, geht es nämlich um eine Täterin (eine während der
Nazizeit sehr erfolgreiche Schauspielerin1), im dritten Stück Der Wanderer
um ein Opfer, um Jelineks Vater:
Es handelt sich, wie bekannt, um Paula Wessely. Die Biographien des Clan Wessely-
1
Im ersten Teil hat eine Täterin gesprochen, die eigentlich nie eine sein wollte (aber
dann war es doch schön dazuzugehören!), im letzten Teil spricht jetzt ein Opfer,
das auch nie eins sein wollte. (Jelinek 1999: 87)
Die Opfer, soweit sie nicht vergessen wurden, werden „wie Präparate
auf ihre Opferrolle fixiert“ (Jelinek 1999: 88), sodass man sich frei mit
Schicksalen bedienen kann. Diese Zeilen könnten unter Bachmanns in-
zwischen berühmtem Diktum stehen: „Auf das Opfer darf keiner sich be-
rufen“ (W 4: 335), da Jelinek ihre Verwendung eines Opferschicksals als
Schreibmaterial problematisiert:
Wie stolz bin ich auf das Opfer eines anderen. Ich sollte es nicht sein, aber
der Schmerz über seine Existenz würde mir fehlen. (...) Im Licht, aus einem
halbfertigen Häuschen heraus, mach ich mich selber mit meinem Vater wichtig
und zeige Ihnen jetzt dieses eine, mir kaum noch bekannte Gesicht, weil ich es
zufällig gekannt habe. (Jelinek 1999: 88-89)
Die Scheide zwischen Krieg und Frieden sollte eigentlich nicht unbe-
greiflich, sondern klar auszumachen sein. Die semantische Verschiebung
erfolgt durch den abrupten Übergang von der persönlichen Dimension des
Autorin-Ich, welches sich das Schicksal des Vaters als Schreibmaterial
angeeignet hat (und gerade deshalb an die Grenzen der existenziellen
Fragen „über die letzten Dinge“, wie die Überschrift zum dritten Kapitel
in Malina heißt, stößt), zur kollektiven, historischen Dimension von Krieg
und Frieden, mit dem Zusatz des Adjektivs „universell“. Universell weist
auch auf eine Totalität hin, die keinesfalls in Jelineks Sichtweise passt,
nicht einmal wenn es sich um den Frieden handelt. Außerdem kommt der
Plenarvorträge 345
Der Schlusssatz: „Die Autorin ist weg, sie ist nicht der Weg“, zusam-
men mit anderen Textpassagen, stellt diese Nachbemerkung in unmittel-
bare Nähe zur Poetologie der Nobelpreisrede Im Abseits, in der das nicht-
binäre, nicht auf Hierarchien verweisende Paar „weg/Weg“ (eigentlich ein
Minimalpaar) strukturbildend ist.
Es bleibt zu präzisieren, wie die Opferthematik mit den poetologischen
Entscheidungen und der Reflexion über die Rolle eines schreibenden
Subjekts (eines Dichters, wie es altmodisch in der Preisrede heißt) zusam-
menhängt. Im System der dichotomischen Gegenüberstellungen verweist
das Paar Täter/Opfer unmittelbar auf das Paar Subjekt/Objekt, was für eine
2
Über die Entwicklung der Figur des Vaters in Jelineks Werk vgl. Calabrese 2008.
Interessant für meinen Zusammenhang sind auch Calabreses Ausführungen über Jelineks
Erzählung, Erschwerende Umstände oder Kindlicher Bericht über einen Verwandten,
1978; in diesem Text liegt der Akzent auf die Verstrickung des Vaters in Schuld, als
Überlebender und als Mittäter, wenn auch unfreiwillig, in der Kriegsindustrie (Calabreses
Untersuchung, erschienen 2008, kann nicht auf Winterreise (2011) Bezug nehmen; zu
dieser weiteren Entwicklung des Themas vgl. Kecht 2011.
346 Rita Svandrlik
Um keine Mörder zu werden, lassen die Dichter das mit ihren unklaren
Augen Angeblickte sein, d. h. sie eignen es sich nicht an. „Das Getroffene
sagt niemals, daß es auch etwas andres hätte sein können, bevor es dieser
einen Beschreibung zum Opfer gefallen ist“: Hier ist es auf den Punkt ge-
bracht, das Beschriebene hätte auch etwas anderes sein können, falls es
nicht der einen im Text festgehaltenen Möglichkeit zum Opfer gefallen
wäre. Die anderen Möglichkeiten ergeben sich aus der Überzeugung, dass
ein sprachliches Zeichen per se nicht auf nur eine Bedeutung festzulegen
ist, und dass es die eine, gesicherte Wirklichkeit nicht gibt (Lücke 2007):
Die Wirklichkeit ist das, was unter die Haare, unter die Röcke fährt und sie eben:
davonreißt, in etwas anderes hinein. Wie soll der Dichter die Wirklichkeit kennen,
wenn sie es ist, die in ihn fährt und ihn davonreißt, immer ins Abseits. Von dort
sieht er einerseits besser, andrerseits kann er selbst auf dem Weg der Wirklichkeit
nicht bleiben. Er hat dort keinen Platz. Sein Platz ist immer außerhalb. Nur was
er aus dem Außen hineinsagt, kann aufgenommen werden, und zwar weil er
Zweideutigkeiten sagt. (Jelinek 2004)
Der Dichter, in diesem Fall die AutorIn, kann nicht auf dem Weg der
Wirklichkeit gehen, er/sie muss ins Abseits, in etwas anderes hinein.
Zurecht hat Konstanze Fliedl in ihrem Kommentar zur Nobelpreisrede den
Plenarvorträge 347
Lotosblume. Ihr habt euch gut beschrieben. Sollen die Lebenden die Lebenden
beschreiben. Die ist die Rückgabe. Dies ist die Wiederherstellung. (W 3: 448)
Wie sich das Ich selbst gegen das lineare Erzählen einer Geschichte
wehrt, wird am eindrucksvollsten und dramatischsten im sogenannten
Vorspann zu Bachmanns Roman Malina thematisiert: „denn vernichten
sollte man es sofort, was über Heute geschrieben wird“, weil es in kei-
nem Heute mehr ankommen wird (W 3: 12); „Ich muß erzählen. Ich wer-
de erzählen“ (W 3: 23); „Ich will nicht erzählen, es stört mich alles in
meiner Erinnerung“ (W3: 27). Den Versuch, die emotionale, existentielle
Dimension des Heute in der Schrift „aufzuheben“ (auch ein bachmannsches
Wort aus dem Fall Franza, W 3: 474), kann man zurückverfolgen in den
Texten, die aus der Zeit der Entstehung des Todesarten-Zyklus entstammen,
vom Gedicht Keine Delikatessen bis zum Fall Franza. Dazwischen liegen
die Büchnerpreisrede und die Gedichte aus dem Nachlass Ich weiß keine
bessere Welt. Während allgemein das Autobiografische dieser Gedichte auf
5
„Diese Phantasie einer Wiederherstellung beinhaltet eine Utopie der Schrift die
zwei wichtige Merkmale hat. Sie besteht aus Lebenszeichen, und sie wird von den
Beschriebenen selbst geschrieben.“ (Weigel 1984: 85). Vgl. auch Weigels Kommentar zum
utopischen Schreibprogramm Bachmanns in der berühmten Formulierung: „Im Widerspiel
des Unmöglichen mit dem Möglichen erweitern wir unsere Möglichkeiten“; dazu Weigel:
„D. h. daß in jeder Möglichkeit die Tötung einer anderen Möglichkeit enthalten ist und daß
das Leben der Un-Möglichkeit die Zerstörung der vorhandenen Möglichkeit erfordert: eine
Todesart, die im Roman „Malina“ zur Darstellung kommt. Für den Schreibenden stellt sich
das Problem, daß die Möglichkeit und die Unmöglichkeit in der Sprache nicht geschieden
sind. Das Widerspiel findet für ihn in der Sprache selbst statt.“ (Weigel 1984: 63)
Plenarvorträge 349
Ablehnung stieß, sehen andere gerade in diesen Texten und in der Büchner-
Preisrede den Versuch einer neuen Schreibstrategie, um gegen die Gefahr
der Ästhetisierung das Kreatürliche, das Leiden eines Subjekts darzustellen,
ein Leiden, das immer eine geschichtliche Dimension hat, wie Bachmann
in den Frankfurter Vorlesungen mit der Formel „die Geschichte im Ich“
ausgeführt hatte (vgl. auch Larcati 2010).
Das Schreibprogramm in Malina kreist um ein Ich das sich entblößt,
um ein Ich das sich zugleich versteckt (Svandrlik 2001: 206-211), und um
eine Autorinstanz, die sich von ihrer unsouveränen Seite zeigt: „Nur die
Zeitangabe mußte ich mir lange überlegen (...) Wenn ich also wenig zufäl-
lig, sondern unter einem furchtbaren Zwang zu dieser Einheit der Zeit ge-
kommen bin (...)“ (W 3: 13); dies sind Züge, die man auch bei Jelinek fin-
det. Auch Jelinek spielt mit ihrer Autorschaft, sie lässt oft eine Autorinfigur
auftreten und wieder verschwinden. So scheinen der Roman Malina und
der Unterhaltungsroman Gier auf den ersten Blick nicht viel gemeinsam zu
haben, bei genauerer Betrachtung lässt sich feststellen, wie beide Texte auf
unterschiedlichster Weise die Unsicherheiten der Auktorialität inszenieren.
In Jelineks Gier ist die Erzählerin eine Stimme, die sich sehr oft zu Worte
meldet, im ständigen Dialog mit den Rezipienten; sie charakterisiert sich
dezidiert als Frau (Jelinek 2000: 137). Das Erzählen selbst wird immer
wieder ironisch kommentiert; manchmal, mit einem Perspektivenwechsel,
wird eine kommentierende Stimme von außen eingeführt: „[...] nein, das
können Sie nicht sagen, Autorin, [...]“ (Jelinek 2000: 317). Diese unsouve-
räne Erzählerin, die sich selbst als Opfer ihrer Sprache darstellt, inszeniert
ihre persönliche Form von Gier, nämlich die Gier nach Worten, arbeitet ihr
zugleich mit den ironischen Brechungen entgegen. In beiden Romanen set-
zen die auktorialen Instanzen ihren Mangel an Kontrolle über das Erzählte
in Szene, dabei wird dies in Malina so weit getrieben, dass das Erzähler-Ich
in die Wand und damit aus dem Text heraus verschwindet. In ihrem Stück
Die Wand wird Jelinek das Scheitern dieses Verschwindens parodieren, da-
rauf komme ich noch zurück.
„Die Sprache ist die Strafe. In sie müssen alle Dinge eingehen und in
ihr müssen sie wieder vergehen nach ihrer Schuld und dem Ausmaß ihrer
Schuld“ (W 3: 97), so behauptet das Ich in Malina, das Eingehen der Dinge
in die Sprache kann aber nur in einer Form geschehen, die sich der Ganzheit
verweigert, und dem ästhetisch Schönen. Das Problem der Darstellbarkeit,
ohne in die Falle des Ästhetisierens zu tappen, stellt sich immer wieder von
Neuem. Wenn das Subjekt ein Opfer der strafenden Sprache ist, kann es
nicht ausbleiben, dass auch die klassischen Gegensatzpaare Leben/Kunst
350 Rita Svandrlik
Mit dem Thema der Heimsuchung der Dichter und mit der Einführung
einer persönlichen Dimension („aber was geschieht da mit mir“) schlägt
hier Jelinek ungewohnte Töne an, man könnte meinen, dass sie sich auf
Bachmanns Terrain begibt. Und doch ist es ein Leichtes festzustellen, wie
unterschiedlich der Umgang mit autobiografischem und biografischem
Material ist. Bei Bachmann ist Diskretion ein Schlüsselbegriff, von ande-
ren Künstlerinnen verwendet sie Zitate (Gaspara Stampa), oder schreibt
Rezensionen voller Bewunderung über deren künstlerische Leistung (Maria
Callas, Sylvia Plath), indem sie akkurat jeden biografischen Hinweis meidet:
Sylvia Plath hat sich, dreißig Jahre alt, in London getötet. Die Rücksicht auf die
Menschen, die ihr nahgestanden sind, das Recht auf das Private, das Geheimnis,
erlauben es nicht, mehr darüber zu sagen. (W 4: 358)
Plenarvorträge 351
Von ihrem Roman Die Klavierspielerin meint dagegen Jelinek, sie hätte
sich gerade da am besten versteckt, wo sie sich am meisten preisgibt. Und
nach diesem Verfahren gibt sie auch andere Autorinnen preis, sie schreibt
über sie, biografische Bezüge mit Elementen aus den Texten vermischend:
über Clara Schumann, über Hannah Arendt, über Helmina von Chézy, über
Sylvia Plath und eben auch über Ingeborg Bachmann. Jelinek schreibt
sogar ein Stück, in dem, hinter den Figuren Sylvia und Inge, Plath und
Bachmann klar erkennbar sind; es handelt sich um das Prinzessinnendrama
V: Die Wand, in dem das Opfer, in der ganzen Spannweite des Wortes, als
Opfergabe und Opferhandlung6, im Mittelpunkt steht; ich zitiere aus der
Regieanweisung zu Beginn des ersten Aktes und des zweiten Aktes:
Sylvia und Inge schlachten zusammen ein männliches Tier (einen Widder). Sie
reißen ihm die Hoden heraus und schmieren sich mit Blut ein. Das muß sehr
archaisch und grausam aussehen, ganz im Gegensatz zum Gesprochenen! (Jelinek
2003: 103)
Die beiden Frauen wringen gemeinsam den Kadaver des toten Widders über
einem Zuber aus, das Blut tropft hinein, sehr hübsche hausfrauliche Tätigkeit.
Inzwischen haben sie sich umgezogen und achten offenkundig darauf, daß nicht
noch mehr Blut auf ihre Kleidung tropft. Nur im Gesicht sind sie noch verschmiert.
Sie ächzen ein wenig vor Anstrengung, arbeiten aber sicher, mit kundigen Griffen,
sie wissen, was sie tun. Sie kennen sich aus. (Jelinek 2003: 121)
Du kannst nicht schreiben, weil du das Genannte und das Gemeinte nicht als
Gegenstand von Erkenntnis beschreiben kannst. Aber du benennst es ja schon
falsch und meinst es schon falsch. Es stimmt einfach nichts bei dir. (Jelinek 2003:
120)
Auch bei Jelinek selbst stimmt einfach nichts, die Stimmigkeit ist kein
Kriterium, der Sinn wird verschoben, vervielfältigt, wie die Figuren des
Stücks: durch die durchsichtige Wand kann die Erkenntnis durchscheinen
und zugleich verschwinden. „Wand, Verschwinden, Paradox, also daß die-
ser Widerspruch die eigentliche Erkenntnis wird“ läßt Jelinek ihrer Sylvia-
Figur in Die Wand sagen, sie trifft damit den poetologischen Nagel auf den
Kopf, mit ihren Zweideutigkeiten: nur im Paradox einer verschwindenden/
verschwundenen Präsenz von Sinn (die durchsichtige Wand) kann das
Beschriebene, das Objekt zugleich (sowohl als auch) Subjekt sein.
Das kurze Stück kreist um die Unlebbarkeit eines Alltags als Künstlerin,
um die tragische Spaltung von Leben und Kunst, von Sinnlichkeit und
Intellekt in der Existenz von Künstlerinnen in der patriarchalen Gesellschaft
(es wird nicht nur auf Haushofer, sondern auch auf Christa Wolf verwie-
sen). Diese Problematik der Künstlerin hat Jelinek sehr oft aufgegriffen,
man denke an Clara S. Eine musikalische Tragödie und an ihren berühm-
testen Roman, Die Klavierspielerin und dabei immer wieder auf Bachmann
verwiesen7. In Die Wand, mit der Vermischung der Elemente aus biografi-
schen Details und aus mythischen Opferritualen wird nun gezeigt, dass es
keine Trennung zwischen Opfern und Geopfertwerden gibt (Rétif 2012:
183)
7
Hervorzuheben in meinem Zusammenhang ist, dass Jelinek diese Fragestellung auch
in den Mittelpunkt ihres Malina-Filmbuchs gestellt hat. Und um zu exemplifizieren, wie
eine Autorin die Zerreißprobe zwischen der Gewinnung einer weiblichen Identität und
dem Kampf um ein eigenes Sprechen dargestellt hat, verweist Jelinek immer wieder auf
Ingeborg Bachmann: „Für eine Frau ist schon das Schreiben ein gewalttätiger Akt, weil
das weibliche Subjekt kein sprechendes ist. Das Drehbuch zu Ingeborg Bachmanns Roman
Malina, das ich geschrieben habe, thematisiert genau das, daß eine Frau, um zu sprechen,
sich ein männliches Subjekt, das sie aber selber nie sein kann, borgen muß, aber letztlich
keinen Raum hat, in dem sie sprechen kann, solange, bis sie in der Wand verschwindet.
Das können sich Männer gar nicht vorstellen, was es heißt, als Frau zu sprechen. Wenn sie
es doch tut, so ist das eine Überschreitung, eine Art aggressiver Akt. Mich wundert, dass
die Frauenliteratur nicht gewalttätiger ist.“ (Winter 1991: 14-15).
Plenarvorträge 353
Die eingangs gezeigte Aktivität der beiden Frauen mit der Schlachtung
des Widders scheint wenig mit ihrem Leben zu tun zu haben, sie steht eben
im Kontrast zum Gesagten, also zu den Reden der Figuren, und weist je-
doch auf eine mythische Dimension, die am Schluss, mit dem Verweis
auf die Odyssee und mit dem langen Zitat der Entmannung des Uranos
durch Kronos aus Hesiods Theogonie, eine überraschende Wende und
Tiefendimension erhält.
Davor war die Zubereitung einer Blutsuppe, in der Hoffnung damit von
einer dritten Figur Therese/Teiresias die Wahrheit zu erfahren, zu einer
Kinderei verkommen. Diese beiden Ebenen, den mythischen Ursprung der
westlichen Kultur und Literatur, im Original zitiert, und dessen Parodie,
Entmannung und Dekonstruktion will der Text zusammenhalten. Die
Blutsuppe tragen die beiden Figuren die Wand hoch, finden aber oben kei-
ne Wahrheit, keinen Teiresias und keinen Gott, sondern eine an eine Mumie
erinnernde Figur unbestimmten Geschlechts:
Oben sitzt ein Wesen, das ganz mit Binden umwickelt ist, auch das Gesicht.
Es hat neben sich einen Schistock lehnen (oder zwei Stöcke, wie beim Nordic
Walking), und es trägt eine modische sehr dunkle Sonnenbrille. Es ißt von einem
Puppentisch mit Puppengeschirr. (Jelinek 2003: 139-140)
Um auf die Frage der Ermordung, der Opferung der Wirklichkeit zu-
rückzukommen: für Jelinek ist nur die Sprache wirklich, genauer, das
Sprechen, das damit einen eigentümlich selbstständigen und unabhän-
gigen Charakter erhält, also ist Jelineks spezifische virtuose Akrobatik
im Vergleich zu Bachmann anderer Natur, auch weil der theoretische
Bezugsrahmen eine Generation später sich geändert hat, von Wittgenstein
zu Barthes und zum Poststrukturalismus. Jelinek meint, nicht anders als
Bachmann, die Sprache sei männlich dominiert, sie ist geprägt vom phal-
lozentrischen System der hierarchischen binären Oppositionen, in denen
die Frau und das Weibliche mit der Materie, der Natur, der Emotionalität,
der Alterität usw. identifiziert werden. So kann Jelineks Stück auch als
Dekonstruktion des Mythos der Männlichkeit gelesen werden, da es von
der Opferung eines männlichen Tieres, dem die Hoden ausgerissen werden,
handelt und von der Entmannung des mythischen Göttervater Uranos durch
seinen Sohn. Die Regie dieser Entmannung führt aber die Mutter, Gaia.
Und aus dem verstreuten Blut des Uranos werden nicht nur die Riesen
geboren, sondern auch die Erinnyen und die Nymphen, also weibliche
Gottheiten und übernatürliche Wesen, die das Gedächtnis an Schandtaten
wachhalten und in Geschichten aufbewahren. Diese könnten sogar zu einer
354 Rita Svandrlik
Echo ist hier nicht als Opfer, als bloß das Wort anderer wiederholende
Kreatur dargestellt, sondern als ein Wesen, das durch das Erzählen von
Sagen die göttliche Macht hat, den Lauf der Zeit aufzuhalten: Bachmann
hat aus dem Opfer ein mächtiges, wortgewaltiges weibliches Subjekt ge-
macht, wenn es sich auch nur um eine heraufbeschworene aber unreali-
sierte Möglichkeit handelt. Somit kann man zwar nicht von dem Entwurf
eines neuen weiblichen Mythos sprechen, beide Autorinnen leisten jedoch
auf unterschiedliche Weise den Beitrag zur Dekonstruktion des in der west-
lichen Kultur verankerten Dualismus, um an die geschändete Gaia und an
verspielte, andere Möglichkeiten der Wirklichkeit zu erinnern.
Literatur
Agnese, B. (2007) Blaubart und Don Juan. Mythosumschreibungen bei Ingeborg Bachmann
(„Das Buch Franza“ und „Gier“) und Elfriede Jelinek („Gier“). In: Niethammer,
O./ Preusser, H.-P./ Rétif, F. [Hg.] Mythen der sexuellen Differenz. Übersetzungen
Überschreibungen Übermalungen. Heidelberg, 71-86.
Bachmann, I. (1978) Werke, München (zitiert mit Sigle W und Bandnummer).
Bachmann, I. (1983) Wir müssen wahre Sätze finden. Gespräche und Interviews [Hg.]
Koschel, Ch./ Weidenbaum, I. v. München.
Bachmann, I. (1995) <Todesarten>-Projekt. München.
Breuer, I. (2004) Theatralität und Gedächtnis: deutschsprachiges Geschichtsdrama seit
Brecht. Köln: 395-457.
Calabrese, R. (2008) Dai margini dell‘ebraismo. La scrittura ‚patrilineare‘ di Elfriede
Jelinek. In: Svandrlik, R. [Hg.] Elfriede Jelinek. Una prosa altra, un altro teatro. (=
Biblioteca di Studi di Filologia Moderna). Firenze, 19-42.
Fliedl, K. (2008) Im Abseits. Elfriede Jelineks Nobelpreisrede. In: Rétif, F./ Sonnleitner,
J. [Hg.] Elfriede Jelinek. Sprache, Geschlecht und Herrschaft. Würzburg, 19-31.
Hoffmann, Y. (1999) Elfriede Jelinek. Sprach- und Kulturkritik im Erzählwerk. Opladen,
Wiesbaden.
Plenarvorträge 355
Jelinek, E. (1989) [1984] Der Krieg mit anderen Mitteln. In: Koschel, Ch./ Weidenbaum,
I. v. [Hg.] Kein objektives Urteil - nur ein lebendiges. Texte zum Werk von Ingeborg
Bachmann. München: 311-320.
Jelinek, E. (1999) Macht nichts. Eine kleine Trilogie des Todes. Reinbek bei Hamburg.
Jelinek, E. (2000) Gier. Ein Unterhaltungsroman. Reinbek bei Hamburg.
Jelinek, E. (2003) Der Tod und das Mädchen I-V. Prinzessinnendramen. Berlin.
Jelinek, E. (2004) Im Abseits http://www.nobelprize.org/nobel_prizes/literature/laurea-
tes/2004/jelinek-lecture.html (30.09.2012).
Kecht, M.-R. (2011) Mit der Sprache zum Schweigen hin. Elfriede Jelineks literarische
Annäherungen an ihren Vater. In: Jelinek[Jahr]Buch: 41-57.
Larcati, A. (2010) „An das Fernmeldeamt Berlin“. Zu ein