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Wenn man eine Fremdsprache beherrschen will, muss man „seine Gramma-
tikregeln können“, das scheint eine Binsenweisheit zu sein. Wer mit dem
Fremdsprachenlernen Mühe hat, macht seine Unkenntnis der Grammatikre-
geln dafür verantwortlich; Schüler und Schülerinnen verlangen nach Gram-
matikunterricht, und Fremdsprachenlehrer halten es für ihre Pflicht, dieses
Verlangen möglichst kompetent zu befriedigen.
Andererseits ist es zugleich eine weitverbreitete Erfahrung, dass dieses
Grammatikwissen nicht ohne weiteres im spontanen Sprachgebrauch aktiviert
werden kann. Wohl jeder Fremdsprachenlerner befand sich schon in der
Situation, dass er seine eigenen Fehler nicht „verstand“. Die Diskrepanz zwi-
schen Regelwissen und Regelanwendung in Kommunikationssituationen ist
eines der grossen Ärgernisse des Fremdsprachenlernens und ist es auch über
alle sprachdidaktischen Revolutionen der vergangenen Jahrzehnte hinweg
geblieben; weder die behavioristisch ausgerichteten audiolingualen Methoden
der siebziger Jahre noch der kommunikative Unterricht der achtziger Jahre
vermochten dem abzuhelfen. Wie eh und je ist beispielsweise in Genf der
Satz zu hören: „Je ne sais pas l’allemand, je l’ai seulement appris à l’école.“
Die einzige „Methode“, von der übereinstimmend deutlich bessere Erfolge als
im üblichen Fremdsprachenunterricht gemeldet werden, ist der immersive
bzw. bilinguale Unterricht, und der überlässt es (weitgehend oder
ausschliesslich) den Schülern, ihre grammatische Kompetenz selber aufzu-
bauen.
Dergleichen Erfahrungen stimmen bedenklich, und seit den siebziger Jah-
ren werden sie auch innerhalb der Zweitsprachen-Erwerbsforschung themati-
siert. Empirische Untersuchungen legen den Gedanken nahe, das Erlernen
einer zweiten Sprache – unter natürlichen, aber auch unter gesteuerten Bedin-
gungen – könnte Analogien zum Erstsprachenerwerb aufweisen und ähnlichen
internen Zwängen unterworfen sein wie dieser. Doch trotz der didaktischen
Brisanz einer solchen Hypothese blieb sie, soweit wir sehen, bisher ohne
Folgen für den institutionellen Fremdsprachenunterricht. Das mag einerseits
mit der klassischen zeitlichen Verschiebung zwischen Forschungsergebnissen
und Schulpraxis zu tun haben. Es mag allerdings auch darin begründet sein,
dass die bisher vorgelegten Forschungsarbeiten sich nur auf schmale Korpora
berufen konnten, deren Ergebnisse nicht hinreichend Beweiskraft haben, um
grundlegende Revisionen des Grammatikunterrichts zu bewirken. Dafür
bedarf es eines umfangreichen Datenmaterials und überzeugender Resultate.
XII
Die Ambition unseres Forschungsprojektes ist es, diese Lücke zu schlies-
sen, zumindest was den Erwerb der deutschen Grammatik durch frankophone
Lerner betrifft. Dass ein solches Projekt konzipiert und durchgeführt werden
konnte, ist der günstigen Konstellation verschiedener Faktoren zu verdanken:
− Deutsch ist in Genf ein ungeliebtes Schulfach. Die deutsche Grammatik
gilt als unlernbar, entsprechend niedrig ist das Motivationsniveau. Genfer
Deutschlehrern muss man das Missverhältnis zwischen Aufwand und Er-
gebnis beim Deutschunterricht nicht lange auseinandersetzen, es ist ihre
alltägliche Erfahrung. Somit besteht bei ihnen eine gewisse Bereitschaft,
sich auf einen Perspektivenwechsel einzulassen.
− Seit Anfang der 90er Jahre wurden am deutschen Departement der Uni-
versität Genf Untersuchungen über den Grammatikerwerb frankophoner
Deutschstudierender durchgeführt. Die Ergebnisse bestätigten für den Be-
reich der Deklination die Hypothese von der Autonomie des Grammatik-
erwerbs.1 Diejenigen Deutschlehrerinnen und -lehrer, die mit diesen Un-
tersuchungen in Berührung kamen, erkannten darin vieles aus ihren eige-
nen Unterrichtserfahrungen wieder. Sie waren es, die eine Untersuchung
auf breiter Basis verlangten und auch durchsetzten, im Bewusstsein der
didaktischen Relevanz eines solchen Projekts für die Fremdsprachendi-
daktik an der Schule.
− Auch im institutionellen Bereich standen die Zeichen günstig. In der
zweiten Hälfte der 90er Jahre kamen auf die Genfer Erziehungsdirektion
eine ganze Reihe schulpolitischer Änderungen zu, von denen der
Deutschunterricht direkt betroffen war: eine neue eidgenössische Maturi-
tätsverordnung einschliesslich der möglichen Abwahl des Deutschen als
Schulfach auf Sekundarstufe II sowie die Einführung neuer Lehrwerke für
Deutsch in der Primarschule und auf Sekundarstufe I. Ein Forschungsvor-
haben, das bei der Formulierung neuer Lehrpläne, neuer Lernziele und
neuer Mindestanforderungen Orientierungshilfe zu bieten versprach, hatte
somit gute Aussichten auf finanzielle und organisatorische Förderung.
_______________
1
Diehl et al. (1991: 1–71).
XIII
Ein so ambitiöses Vorhaben ist auf intensive und vertrauensvolle Zusam-
menarbeit angewiesen. Wir können nicht genug betonen, dass das Projekt
ohne das Engagement des Lehrerteams niemals hätte durchgeführt werden
können.
Unser Dank gilt an erster Stelle den Koordinatorinnen für die einzelnen
Schulstufen: für die Primarschule Lucrezia Marti, für die Sekundarstufe I
Annie Fayolle Dietl und Cornelia Rohner, für die verschiedenen Schultypen
der Sekundarstufe II Chantal Andenmatten Gerber, Hannelore Pistorius Dia-
mond und Brigitte Weber. Ihrem Organisationstalent, ihrer Ausdauer und ih-
rer Diplomatie bei der Koordinierung zwischen dem wissenschaftlichen Team
und der Lehrerschaft sur le terrain ist es zu verdanken, dass eine so
ungewöhnlich intensive (und freundschaftliche) Zusammenarbeit zwischen
akademischer Forschung und Schulpraxis zustande kommen und bis zum
Ende durchgehalten werden konnte. Zudem standen sie für unsere Rückfragen
nach den Usancen der Unterrichtspraxis (und auch für Interpretationshilfen
bei allzu rätselhaften Schülerproduktionen) jederzeit zur Verfügung.
Ebenso ausdrücklich sei dem Team von Deutschlehrerinnen und -lehrern
gedankt, die die Arbeit „an der Basis“ leisteten: Sie liessen während zwei
Jahren in ihrem Unterricht die Aufsätze schreiben, die das Korpus des For-
schungsprojektes bilden, und übernahmen auch den ersten Analysedurch-
gang.2 Ein Teil von ihnen beteiligte sich zusätzlich im dritten Jahr unter der
Federführung der Koordinatorinnen an der Formulierung der didaktischen
Konsequenzen des Forschungsprojektes; ihre Namen sind mit * bezeichnet.
Es sind dies:
− für die Primarschule: Marianne Bonenfant, Marie-Claire Godard, Nicole
Good Mohnhaupt, Magali Leutwyler, Roland Pasche, Samuel Perriard,
Pierre Pricat, Jean-Louis Torimbert und Claire-Lise Wünsche;
− für die Sekundarstufe I (cycle d’orientation): Albert Baumgartner, Roland
Battus, Sandrine Buechli*, Carmen Fatsini Marquez*, Claudine Haessig,
Jacqueline Hegg, Chatrina Largiadér Lutz*, Doris Rottstock*, Arlette
Schipperijn und Inge Unterlerchner*;
− für die Sekundarstufe II (Ecole de Culture générale, Ecole supérieure de
Commerce, Collège): Sandra Ballis*, Brigitte Bodmer Hauri*, Silvia Cre-
monte, Esther Diener Willig, Blaise Extermann*, Heidi Gembicki, Chris-
tine Guinand, Christophe Hauser*, Tanja Jermann*, Monique Matthey,
Bettina Montavon, William Nater, Judith Rohner und Renata von Davier.
Es war von Anfang an klar, dass ein breit angelegtes Korpus notwendig war,
um zu verlässlichen Ergebnissen zu gelangen, nicht nur aus wissenschaftli-
chen Gründen, sondern auch, um überzeugende Argumente für die eventuell
fälligen didaktischen Konsequenzen vorlegen zu können.
Ebenso war klar, dass nur dann Aussicht auf die Mitarbeit einer hinreichen-
den Anzahl von Deutschlehrerinnen und -lehrern bestand, wenn sich die Da-
tenerhebung ohne allzu nachhaltige Störungen in den Schulalltag integrieren
liess. Es mussten also akzeptable Kompromisse zwischen dem wissenschaft-
lich Vertretbaren und dem praktisch Zumutbaren gefunden werden.
Im Auftrag der Commission de l’Enseignement de l’Allemand (CEA) der
Genfer Erziehungsdirektion wurde deshalb zunächst von einer kleinen
Gruppe von Deutschlehrern unter Leitung von Erika Diehl eine Pilotstudie
entworfen und im Schuljahr 1993–94 mit einem schmalen Sample von
Schülern aller Klassenstufen durchgeführt.1 Dabei wurden die ersten Fassun-
_______________
1
An der Pilotstudie waren beteiligt: für die Primarschule Nicole Good Mohnhaupt
5
gen von Erhebungsbögen erstellt und Analysemethoden getestet. Gestützt auf
die Erfahrungen dieses Probelaufs wurde dann das eigentliche DiGS-Projekt
entworfen, die Datenerhebung geplant, die künftigen Mitarbeiterinnen und
Mitarbeiter gewonnen und die Analyseverfahren verfeinert. Im September
1995 begann die Datenerhebung; im Juni 1997 wurde sie abgeschlossen.
In 30 Schulklassen, von der 4. Primarschulklasse an (in der der erste
Deutschunterricht stattfindet) bis zur 12. Klasse, wurden im Verlauf von zwei
Schuljahren acht Aufsätze geschrieben; hinzu kamen die Deutscharbeiten der
Maturitätsprüfungen. In jeder Klasse wählten die Deutschlehrerinnen und
-lehrer für die Untersuchung zehn Schüler aus, die in etwa den Klassendurch-
schnitt repräsentierten – also schwache, durchschnittliche und gute Schüler.
Um die Lehrervariable zumindest etwas zu reduzieren, war jede Klassenstufe
mit mindestens zwei Parallelklassen vertreten. An den Schulübergängen er-
höhten wir die Zahl der Parallelklassen, um die erwartbarenVerluste zwischen
dem ersten und dem zweiten Beobachtungsjahr (durch Schulwechsel unserer
Testschüler, Nichtversetzung, Schulabgänge usw.) auffangen zu können. Auf
diese Weise gelang es, von den im ersten Jahr erfassten 300 Schülern
immerhin noch 220 im zweiten Jahr beizubehalten.
Das Korpus des DiGS-Projektes wurde, so weit irgend möglich, auf fran-
kophone Schüler beschränkt, da wir von der Annahme ausgingen, dass die
Erstsprache den Verlauf des Zweitsprachenerwerbs beeinflussen könnte.
Wenn in einer Klasse keine zehn frankophonen Schüler zu finden waren, wur-
den nach Möglichkeit solche mit anderen romanischen Muttersprachen – ita-
lienisch, spanisch, portugiesisch – hinzugenommen. Prinzipiell ausgeschlos-
sen waren alle Schüler mit regelmässigen Deutschkontakten ausserhalb der
Schule, etwa in der Familie. – Zur Klärung des jeweiligen sprachlichen
Kontextes innerhalb der Familien (Muttersprache[n], eventuelle Zweitspra-
chen, deren Beherrschungsgrad, Kontaktpersonen usw.) wurde den Schülern
zu Beginn des Projektes ein Fragebogen vorgelegt, in dem sie auch nach ihrer
Einstellung zum Deutschen gefragt wurden.2
Erhoben wurden ausschliesslich grammatische Formen und Strukturen.
Diese Einschränkung legte die gegenwärtige Forschungslage in der Sprach-
erwerbsforschung nahe, die sich generell auf die Analyse grammatischer
Strukturen konzentriert. Es war also sinnvoll, dass wir denselben Untersu-
chungsgegenstand wählten, um unsere Ergebnisse mit denen anderer Unter-
suchungen (zum Erstsprachenerwerb sowie zum gesteuerten und ungesteu-
erten Zweitsprachenerwerb) vergleichen zu können. Allerdings konnten wir
dank des grossen Mitarbeiterstabs unseren Untersuchungsbereich breiter an-
________________
und Jeanne-Marie Killisch; für die Sekundarstufe I Annie Fayolle Dietl und Ro-
land Battus, für die Sekundarstufe II Chantal Andenmatten Gerber, Hannelore Pis-
torius Diamond und Brigitte Weber.
2
Ein Exemplar dieses Fragebogens ist im Anhang wiedergegeben.
6
legen als bisherige Forschungsarbeiten und parallel die drei grammatischen
Hauptbereiche bearbeiten, die auch im Schulunterricht zentral sind: den
Satzbau (insbesondere die Verbstellung), den Verbalkomplex (Konjugation,
Tempora, Modi) und die Deklination (Genus, Numerus, Kasus). Für eine sol-
che Ausweitung des Untersuchungsbereichs sprach zum einen das wissen-
schaftliche Interesse, auf diese Weise auch die Existenz möglicher Korrela-
tionen beim Erwerb der verschiedenen Bereiche zu überprüfen, zum andern
der Wunsch des Lehrerteams, sich für eventuelle didaktische Umsetzungen
auf eine möglichst breit gefächerte Untersuchungsbasis stützen zu können.
Im Verlauf der Projektarbeit sind dann allerdings einige der ursprünglich
erhobenen Strukturen wieder aus der Untersuchung eliminiert worden, und
zwar solche, die – obwohl Unterrichtsgegenstand – in den Schülerarbeiten so
selten auftauchten, dass keine Schlüsse daraus gezogen werden konnten. Dies
gilt beispielsweise für Passiv-Konstruktionen, auf die sich nur ganz wenige
Schüler der Oberstufe einliessen, ebenso wie für den Genitiv.
In einem weiteren Punkt weicht unsere Datenbasis von der aller anderen
uns bekannten Untersuchungen zum Zweitsprachenerwerb ab: wir verwenden
schriftliche, nicht mündliche Daten. Zu dieser Entscheidung veranlassten uns
zunächst rein arbeitsökonomische Gründe: die Transkription hätte einen
unverhältnismässig hohen Zeitaufwand in Anspruch genommen, zudem wäre
die Aufnahme mündlicher Sprachdaten nicht ohne weiteres in den üblichen
Schulalltag integrierbar gewesen.
Das freie Schreiben deutscher Texte war allerdings für unsere Probanden
eine höchst ungewohnte Übung. Für die Primarschulkinder der 4. und 5.
Klasse bedeutete es sogar einen ausgesprochenen Verstoss gegen die Didaktik
des Lehrwerks,3 das während des ersten Jahres jede Form von Schriftlichkeit
vermeidet und erst im zweiten Jahr die Lektüre einführt, weshalb die deutsche
Orthographie der Viert- und Fünftklässler ein teilweise überaus originelles
Schriftbild aufweist.4 Und die Schüler des cycle d’orientation waren durch ihr
der audiovisuellen Methode verpflichtetes Lehrwerk5 eher an Mündlichkeit
gewöhnt, insofern sie sich überhaupt des Deutschen als Werkzeug der
Kommunikation bedienten... Somit wurde ihnen eine im Unterricht
üblicherweise nicht trainierte Leistung abverlangt, was von den einen als
Gelegenheit genutzt wurde, ihrer Mitteilungslust und Phantasie freien Lauf zu
lassen, was aber bei anderen ebenso offensichtlich zu Blockaden und
Verweigerung führte. Für die Zwecke unserer Untersuchung sind freilich auch
solche Minimaltexte noch aufschlussreich. Erst auf den weiterführenden
Schulen findet allmählich das Schreiben freier Texte Eingang in die Unter-
_______________
3
Es handelte sich um den „Cours romand“ (1983/1984/1985).
4
Siehe das Textbeispiel in separater PDF-Datei : digs_complete_anhang2.pdf.
5
Vorwärts International (1972, 1974). – Beide Lehrwerke, sowohl der „Cours ro-
mand“ als auch „Vorwärts“, wurden seitdem durch andere Lehrwerke abgelöst.
7
richtspraxis, in den ersten beiden Klassen zunächst eher sporadisch, in der 12.
und 13. Klasse dann als weitgehend regelmässig wiederkehrende Übung –
dies in Vorbereitung der Maturitätsprüfung, in der neben einer mündlichen
Prüfung auch die Redaktion eines Aufsatzes verlangt wird.
Die Aufsatzthemen wurden mit den Lehrerinnen und Lehrern abgespro-
chen und so formuliert, dass sie zwar einerseits offen genug waren, um noch
genügend Spielraum für die anvisierte Textsorte „freies Schreiben“ zu lassen,
andererseits aber doch auch bestimmte Formen und Strukturen elizidieren
sollten (so etwa das Thema: „Erfinde ein Interview mit deinem Idol“ zur Eli-
zidierung von Fragekonstruktionen; Bildbeschreibungen, um den Gebrauch
von Präpositionalphrasen und/oder Adjektiven nahezulegen, oder die Wei-
tererzählung einer Geschichte, deren Anfangssatz in der Vergangenheit vor-
gegeben wurde). Soweit möglich, wurden die Themen zwischen den ver-
schiedenen Klassen abgestimmt, unter Berücksichtigung der jeweiligen Al-
tersstufen. Hilfsmittel (Wörterbücher, Lehrbücher) waren nicht erlaubt. Kor-
rekturen sollten den ursprünglichen Text noch erkennen lassen. Den Schülern
wurde klargemacht, dass diese Arbeiten nicht benotet würden und dass sie als
Grundlage eines Forschungsprojektes dienten. Auf diese Weise sollten sie
dazu ermuntert werden, auch Strukturen zu benützen, deren sie sich noch
nicht sicher waren.
Schriftliche Daten haben ihre Vor- und Nachteile. Ein Vorteil ist zweifel-
los, dass Unsicherheiten wie bei der Transkription mündlicher Daten entfal-
len. Ein weiterer Vorteil ist, zumindest bei unseren Genfer Schülern, dass wir
ihnen innerhalb des oben beschriebenen Rahmens vermutlich mehr deutsche
Äusserungen entlocken konnten, als dies bei einer mündlichen Datenerhebung
möglich gewesen wäre. Andererseits impliziert die Verwendung schriftlicher
Daten auch Nachteile, deren wir uns durchaus bewusst sind:
Schriftliche Daten können keinesfalls in gleichem Masse als
„Spontandaten“ interpretiert werden wie mündliche Daten. In der reichlich
vorhandenen Literatur zur Schriftlichkeit wird auf den wesentlichen Faktor
Zeit verwiesen, der in schriftlichen Produktionen die Möglichkeit bewusster
Planung, Regelanwendung und Selbstkorrektur offenhält.6
Dass manche Schüler diese Möglichkeit reflektierter Sprachproduktion in
der Tat zu nutzen verstehen, liess sich auch unseren Daten entnehmen, am
deutlichsten natürlich dort, wo sich die Schüler selbst korrigiert hatten. Un-
sere Daten zeigten aber auch, dass bei vielen Schülern das Bedürfnis – oder
die Fähigkeit – einer solchen Selbstkontrolle doch eher gering, wenn nicht
inexistent ist. Bei einem recht grossen Anteil der Schüler dürfen wir wohl
_______________
6
Zu den Unterschieden zwischen gesprochener und geschriebener Sprache vgl. bei-
spielsweise Sieber/Sitta (1986: 124ff.), dort auch weitere Literatur. Eine sehr aus-
führliche Behandlung der Problematik des Schreibens ist nachzulesen bei Paul
Portmann (1991).
8
zuversichtlich davon ausgehen, dass die Spontaneität ihrer schriftlichen Pro-
duktion derjenigen ihrer mündlichen Äusserungen kaum nachsteht. Nicht nur
das Schriftbild, sondern auch semantische Inkonsequenzen nähren eine solche
Vermutung.
Eine weitere Einschränkung sind die Aufsatzthemen selbst. Sie waren zwar
zum Elizidieren bestimmter Strukturen notwendig (wie z. B. Fragesätze mit
dem Thema „Interview“), schlossen aber zugleich die Verwendung anderer
Formen und Strukturen weitgehend aus (im Thema „Interview“ ist bei-
spielsweise die Auftretenswahrscheinlichkeit von Vergangenheitsformen ge-
ring). Es war also nicht möglich, alle grammatischen Phänomene kontinuier-
lich über alle acht Schüleraufsätze hinweg zu beobachten.
Ein weiterer Nachteil unseres Korpus liegt – unvermeidlich bei allen mehr
oder weniger „freien“ Sprachproduktionen – in den Ausweichmöglichkeiten,
den „Vermeidungsstrategien“, die gerade von einer durch Evaluation und
Fehlersanktion traumatisierten Schülerpopulation extensiv in Anspruch ge-
nommen werden. Die Ankündigung, ihre Texte würden nicht benotet, ver-
mochte dieses Handicap nur teilweise aufzufangen. Um den Schülern bei-
spielsweise attributive Adjektive abzuverlangen, bedurfte es sehr stark ge-
lenkter Anweisungen (etwa der Beschreibung farbiger Bilder); manchen
Schülern gelang es auch, im Verlauf der beiden Beobachtungsjahre ein Mi-
nimum von Präpositionalphrasen zu verwenden. So aufschlussreich auch sol-
che Vermeidungsstrategien sind – indem sie sehr genau erkennen lassen,
welche Strukturen von Schülern als fehlerträchtig und deshalb als vermei-
dungsbedürftig interpretiert werden –, so behutsam sind Beobachtungen über
Erwerbsverläufe in diesen Bereichen in ihrer Aussagekraft zu werten (in den
entsprechenden Kapiteln dieses Buches werden wir die nötigen Einschrän-
kungen immer explizit benennen).
Viel prinzipieller als alle obengenannten Einwände ist jedoch jener, dass
mit schriftlichen Produkten nur ein bestimmter Ausschnitt aus der gesamten
Sprachkompetenz erfasst wird, nämlich die Fähigkeit, gespeichertes Wissen –
wo immer es auf der Achse bewusst- unbewusst angesiedelt sein mag – in
„Handeln“ umzusetzen, mit anderen Worten: aus unseren Daten geht nicht
hervor, welches Mehr an grammatischem Wissen unsere Probanden eventuell
bereits als declarative knowledge7 gespeichert haben, ohne es schon aktiv in
ihrer Sprachverwendung einsetzen zu können. Wir erfassen also nur denjeni-
gen Teil ihrer Deutschkompetenz, der sich in ihren Aufsätzen als procedural
_______________
7
Bei O’Malley/Chamot definiert als „a special type of information in long-term
memory that consists of knowledge about the facts and things we know. This type
of knowledge is stored in terms of propositions, schemata, and propositional net-
works. It may also be stored in terms of isolated pieces of information, temporal
strings, and images.“ (O’Malley/Chamot 1990: 229)
9
knowledge8 niederschlägt. Bestenfalls die Selbstkorrekturen der Schüler sind
als sichtbare Spuren von Transferprozessen zwischen deklarativem und pro-
zeduralem Wissen greifbar; doch lässt sich aus solchen einzelnen, unsystema-
tischen Beobachtungen sicher kein anderer Schluss ziehen als der, dass im
sprachlichen Wissensbestand offensichtlich konkurrierende interimsprachli-
che Regeln existieren, die in schriftlicher Produktion abgerufen werden kön-
nen (wobei solche Selbstkorrekturen ja durchaus nicht immer zu normkonfor-
men Lösungen führen müssen). Was unsere Daten zugänglich machen, ist
demnach nur diejenige grammatische Kompetenz von frankophonen Schü-
lern, die in schriftlichen Äusserungen aktiviert werden kann.9
Für die Auswertung der rund 1800 Schüleraufsätze des DiGS-Korpus musste
ein arbeitsteiliges Verfahren gefunden werden. Eine erste Voranalyse wurde
von den Deutschlehrerinnen und -lehrern vorgenommen. Sie übertrugen die
Texte der zehn ausgewählten Testschüler auf Erhebungsbögen, die abwei-
chenden Formen und Strukturen ebenso wie die normkonformen. Je ein Bo-
gen war vorgesehen für die Satzmodelle, den Verbalbereich, die Nominal-
phrasen und die Präpositionalphrasen. Ein fünfter Bogen diente als
„Sammelbogen“ für alle Äusserungen, die nicht auf den vier anderen Bögen
rubriziert werden konnten oder nicht eindeutig entscheidbar waren, sowie für
Beobachtung und Bemerkungen der Lehrerinnen und Lehrer.10
Diese Voranalysen bildeten die Arbeitsgrundlage für das Team der fünf
wissenschaftlichen Mitarbeiterinnen. Die Hoffnung, diese Detailanalyse ei-
nem elektronischen Datenverarbeitungsprogramm überlassen zu können, ver-
flüchtigte sich mit zunehmender Vertrautheit mit dem Datenmaterial. Es wa-
ren zu viele Variablen zu berücksichtigen; viele Fragen konnten nur durch
einen Blick auf den grösseren Kontext entschieden werden – eine rein quan-
titative Auswertung der Daten hätte zu geradezu absurden Ergebnissen ge-
führt; eine qualitative Analyse wäre unverhältnismässig aufwendig gewesen.
_______________
8
„Knowledge that consists of the things that we know how to do. It underlies the
execution of all complex cognitive skills. [...] Procedural knowledge includes
mental activities such as problem solving, language reception and production, and
using learning strategies“. (O’Malley/Chamot 1990: 231)
9
Entsprechende Überlegungen zum Problem des Verhältnisses zwischen grammati-
schem Wissen und Sprachgebrauch sind auch nachzulesen bei Clahsen/Meisel/Pie-
nemann 1983: 74 und 89ff.
10
Im Anhang sind diese Erhebungsbögen abgedruckt.
10
Welche spezifischen Analyse- und Interpretationsprobleme in den verschie-
denen untersuchten Grammatikbereichen aufgetreten sind, wird in den ein-
schlägigen Kapiteln diskutiert.
Neben der eigentlichen Datenerhebung brauchten wir auch genaue Aus-
künfte über den behandelten Grammatikstoff. Wir erhielten sie von der Leh-
rerschaft direkt, sei es durch entsprechende Notizen als Beilage zu den
Schüleraufsätzen, sei es als Angabe der behandelten Lektion im Lehrbuch.
Zudem konnten wir uns auf sehr detaillierte, ebenfalls vom Lehrerteam auf
unsere Bitte durchgeführte Lehrbuchanalysen stützen, in denen zwischen dem
„expliziten“ Grammatik-Input (dem „Grammatikstoff“ der jeweiligen
Lektion) und dem „impliziten“ Input (der blossen Verwendung der entspre-
chenden Formen und Strukturen in den Texten der Lektion) unterschieden
wurde. Zusätzlich hatten wir Einblick in die Grammatikbroschüren, die von
Genfer Deutschlehrern erstellt worden waren, um dem „Manko“ an systema-
tischer Grammatikpräsentation in dem audiovisuell orientierten Lehrwerk
„Vorwärts“abzuhelfen. Gestützt auf all diese Informationen war es möglich,
die „Inkubationszeit“ zu ermitteln, die eine grammatische Regel braucht, be-
vor sie in den Schülertexten produktiv eingesetzt werden kann. Eine erhebli-
che zeitliche Verschiebung zwischen Präsentation im Unterricht und produk-
tiver Verwendung in Texten interpretieren wir als Indiz für eine Diskrepanz
zwischen der schulischen Grammatikprogression und der natürlichen Er-
werbsfolge; kann jedoch eine Regel relativ kurz nach ihrer Einführung inte-
griert werden, so sehen wir darin einen parallelen Verlauf von Grammatikin-
struktion und natürlichem Erwerb.
Und wenn es auch überflüssig erscheinen mag, so möchten wir doch noch
einmal ausdrücklich betonen, dass unsere Analysen nur für die Genfer Schü-
lerpopulation Anspruch auf Gültigkeit erhebt. Dass deren Lernmotivation für
Deutsch sich in Grenzen hält, wurde bereits angedeutet; in Kapitel 2 wird
noch näher darauf eingegangen. Wir wollen nicht ausschliessen, dass mögli-
cherweise in anderen Kontexten, in anderen Lernkulturen bei gleichem Un-
terrichtsaufwand höhere Erwerbsstände erreicht werden können, so wenig wir
ausschliessen wollen, dass auch die Genfer Schülerinnen und Schüler weiter
kommen können – vielleicht mit Hilfe einer Fremdsprachendidaktik, die sich
von unseren Projektergebnissen anregen lässt. Unsere Resultate sollen also
nicht missverstanden werden als Festschreiben dessen, was im Schulunterricht
überhaupt möglich ist.
11
1.4 Zur Gliederung des Bandes
Das Buch ist aus einer Teamarbeit hervorgegangen, in der zunächst gemein-
sam die Analysemethoden erarbeitet wurden; erst in einem zweiten Schritt
wurde die Bearbeitung der einzelnen Grammatikbereiche aufgeteilt.
Wir bemühten uns, die Kapitel so zu redigieren, dass sie auch einzeln gelesen
werden können. Wer also beispielsweise weniger an theoretischen Fragen des
Spracherwerbs interessiert ist, kann Kapitel 3 überschlagen; wer sich nur über
Kasuserwerb informieren möchte, kann sich mit der Lektüre der Abschnitte 5
und 6 aus Kapitel 5 begnügen. Beziehungen zwischen den einzelnen Kapiteln
werden durch entsprechende Querverweise hergestellt. Wer auf keines der Ka-
pitel verzichten möchte, wird auf die eine oder andere Wiederholung stossen,
was sich bei einer solchen Konzeption nicht vermeiden liess.
Der Band ist folgendermassen aufgebaut: Als Hintergrundsinformation schil-
dert Helen Christen im 2. Kapitel zunächst die Situation des Deutschen in der
Westschweiz und des Deutschunterrichts in Genf. Zur Ergänzung und Illustra-
tion zieht sie die Ergebnisse einer punktuellen Auswertung der Schüler-Frage-
bögen hinzu, die zu Beginn der Datenerhebung ausgefüllt worden waren. – Die
theoretische Ausgangslage des DiGS-Projektes umreisst Erika Diehl (3. Ka-
pitel), um einen Einblick in die Hauptströme der gegenwärtigen theoretischen
Diskussion zum Erst- und Zweitsprachenerwerb zu vermitteln. Mit Kapitel 4,
dem Erwerb der Satzmodelle (E. Diehl), beginnt der eigentliche Hauptteil, die
Analyse des DiGS-Korpus. Im umfangreichen Kapitel 5 wird der Erwerb der
Morphologie vorgeführt, die Verbalmorphologie von Sandra Leuenberger und
Isabelle Pelvat, der Genus- und Numeruserwerb von Helen Christen und der
Kasuserwerb in Nominal- und Präpositionalphrasen von Thérèse Studer.
Diesem Kapitel 5 werden Überlegungen zum derzeitigen Stand der wis-
senschaftlichen Diskussion um Beschreibung und Kategorisierung der Morpho-
logie vorangestellt (H. Christen); Th. Studer beschliesst das Kapitel mit zusam-
menfassenden Beobachtungen zum Nominalbereich. Kapitel 6 geht auf die in-
dividuellen Unterschiede und die beobachteten Erwerbsstrategien ein; das
Schlusskapitel fasst die Ergebnisse zusammen und diskutiert die didaktischen
Konsequenzen, die aus dem DiGS-Projekt gezogen werden könnten (E. Diehl).
In allen Beiträgen führen wir zahlreiche Beispiele aus unserem Korpus vor
– zur Veranschaulichung, als „Beweismaterial“ – und sicher auch zur Erhei-
terung. Bei den Quellenangaben verzeichnen wir, zusätzlich zu den jeweiligen
Vornamen (deren allermeiste mehrmals im Korpus vorkommen), den ersten
Buchstaben des Nachnamens. Auf diese Weise können Testpersonen
identifiziert werden, die in verschiedenen Kapiteln zitiert werden. In Anbe-
tracht der grossen Anzahl von Probanden ist die Anonymität der einzelnen
Testpersonen dennoch hinreichend gewährleistet. Nur diejenigen Vornamen,
12
die auf Grund ihrer Originalität eventuell doch zu einer Identifizierung führen
könnten, haben wir geändert.
Abschliessend noch einige Bemerkungen zu unserer Verwendung einiger
Termini. Wir verwenden als Synonyme die Termini „I nter imsp r ache“ und
„Ler ner sp r ache“, ebenso „ungesteuer ter “ und „natür licher “ Erwerb
in Opposition zum gesteuer ten Erwerb. Auch die Opposition zwischen
Fr emd - und Zweitsp r achener wer b halten wir nicht konsequent durch;
wir folgen dem Usus, nach dem sich in Komposita mit „Erwerbsforschung“
der Terminus „Zweitsprache“ eingebürgert hat, und verwenden ansonsten
ohnehin weitgehend das Symbol „L2“ zur Bezeichnung des Deutschen bei un-
seren frankophonen Probanden. Für diejenigen, die an der Differenzierung
„Zweitsprache“ vs. „Fremdsprache“ festhalten, sei präzisiert, dass Deutsch in
Genf für unsere frankophonen Lerner selbstverständlich eine Fremdsprache
ist, mit allen nur denkbaren Assoziationen von „Fremdheit“.11 Bedenklicher
mag erscheinen, dass wir auch die Termini Str ategien und Ver fahr en
austauschbar verwenden, da es für beide ja unterschiedliche Defintionen gibt.
In Kapitel 6 werden wir begründen, weshalb wir unseren Sprachgebrauch
dennoch für legitim halten. Ausserdem sprechen wir von Gener alisier ung
in Fällen, wo in der Literatur gewöhnlich von Üb er gener alisier ung die
Rede ist. Uns scheint der Terminus „Generalisierung“ den gemeinten Sach-
verhalt schon deutlich genug zu benennen. Andere Termini wie Chunk oder
Fo ssilisier ung werden jeweils bei ihrer ersten Verwendung in den einzel-
nen Kapiteln erläutert. Zu Chunk ist in Kapitel 6 Genaueres nachzulesen.
Und eine letzte Präzisierung betrifft die Bezeichnung weiblicher Personen.
Wir haben uns keine einheitliche Sprachregelung auferlegt; jede Autorin
wählte diejenige Lösung, die ihr angemessen erschien. Jedenfalls verbergen
sich hinter unseren individuellen Varianten keine grundlegenden weltan-
schaulichen Divergenzen.
_______________
11
Wolfgang Klein schlägt als Definitionen vor: „Mit ‘Fremdsprache’ ist [...] eine
Sprache gemeint, die ausserhalb ihres normalen Verwendungsbereichs – gewöhn-
lich im Unterricht – gelernt und dann nicht neben der Erstsprache zur alltäglichen
Kommunikation verwendet wird. [...] Eine ‘Zweitsprache’ hingegen ist eine Spra-
che, die nach oder neben der Erstsprache als zweites Mittel der Kommunikation
dient und gewöhnlich in einer sozialen Umgebung erworben wird, in der man sie
tatsächlich spricht“. (1984: 31)
2 Deutsch in Genf1
Helen Christen
_______________
3
Vgl. zu den Einstellungen zu den verschiedenen Sprachregionen: Kolde (1981,
1986); Camartin (1984); Forum Helveticum (1990); Schläpfer/Gutzwiller/Schmid
(1991); Bickel/Schläpfer (1994).
15
Inwiefern sich nun die Einstellungen der Genfer Bevölkerung, deren
Schülerinnen und Schüler im Mittelpunkt der vorliegenden Untersuchung
stehen, allenfalls von jenen in anderen (französischsprachigen) Landesteilen
unterscheiden, kann nicht genau abgeschätzt werden. Immerhin erwägen
Kolde/Rohner (1997: 211), dass „Genf geographisch, historisch und menta-
litätsmässig der am weitesten von der deutschsprachigen Schweiz entfernte
Kanton ist“. Es darf dabei nicht übersehen werden, dass Genf nicht nur die
Westschweizer Metropole ist, sondern durch seine internationalen Organisa-
tionen auch einen besonderen Status hat, was sich ja durchaus auf das kol-
lektive Selbstwertgefühl seiner Einwohnerinnen und Einwohner auswirken
kann. Die grosse mentalitätsmässige Entfernung von der deutschsprachigen
Schweiz, von der Kolde/Rohner ausgehen, mag auch durch den hohen Anteil
an ausländischer Bevölkerung zustande kommen, die hier nicht wie in ande-
ren Landesteilen in erster Linie aus Arbeitsmigranten und -migrantinnen be-
steht, sondern das ganze soziale Spektrum umfasst.4
Was den schulischen Alltag des Deutsch-als-Fremdsprache-Unterrichts
betrifft, so ist also einerseits die sozialpsychologische Einbettung einer Spra-
che entscheidend, die im vorliegenden Fall wenig günstig zu sein scheint.5
Sozusagen „verschärfend“ kommt aber noch dazu, dass sich nicht nur nega-
tive Einstellungen zum (Schweizer-) Deutschen auf die Motivation des Ler-
nens dieser Sprache auswirken können, sondern auch das Faktum, dass das
Sprachenlernen überhaupt – wie Otto Stern (1998: 5) ausführt – als ein in
vielerlei Hinsicht problematischer Fremdsprachenunterricht konzipiert ist:
„[Fremdsprachenunterricht] ist obligatorisch, er findet in vorgegebenen Ge-
fässen und in verordnetem Rhythmus statt, und die Sprache kann nicht ge-
wählt werden; die Lernenden tragen somit wenig Verantwortung für ihr
sprachliches Lernen.“
_______________
4
Der hohe Ausländeranteil hat sich direkt auf die Datenerhebung des DiGS-Projekts
ausgewirkt: in vielen Schulklassen (insbesondere solchen der école de culture
générale) bestand eine gewisse Schwierigkeit darin, genügend „rein“ frankophone
Testpersonen zu rekrutieren, weil die meisten aus anderssprachigen Elternhäusern
stammen.
5
Zur Interdependenz von Einstellungen und Spracherwerb vgl. weiterführende Lite-
ratur in Klein (1987: 48); Wode (1988: 300); Ellis (1997: 36ff.).
16
2.2 Deutsch als Schulfach
Die Testpersonen des vorliegenden Projekts sowie ihre Eltern haben je einen
Fragebogen ausgefüllt, der eine Reihe von Sozialdaten und Daten zum per-
sönlichen und familiären Sprachgebrauch sowie Angaben über den allfälligen
Kontakt mit der deutschen Sprache und die Einstellungen zum Unter-
richtsfach Deutsch erhebt.8
Im folgenden werden die Antworten kommentiert, die zum Fragenkomplex
der Einstellungen gegenüber dem Fach Deutsch und der Sprache Deutsch
eingegangen sind. Inwiefern die Einstellungen, die durch die Antworten
dokumentiert werden, einfach typisch sind für Einstellungen gegenüber von
Fremdsprachen(fächern) oder für Einstellungen von Frankophonen gegenüber
„Deutsch als Fremdsprache“, kann natürlich ohne entsprechende
Bezugsgrössen nicht beurteilt werden. Als eine Vergleichsmöglichkeit bieten
sich die Ergebnisse von Allal u.a. (1978) an, die die Einstellungen von
Schülerinnen und Schülern der Genfer Orientierungsstufe – unter den Vor-
aussetzungen des damaligen Unterrichts – gemessen haben. Zudem liegt eine
Studie von Muller (1998) vor, die am Gymnase français in Biel bei 84 Fran-
kophonen im Alter zwischen 17 und 18 Jahren Einstellungen zum Fach
_______________
8
Fragebögen und Auswertung der Fragen vgl. separate PDF-Datei:
digs_complete_anhang2.pdf.
18
Deutsch, zur deutschen Sprache und zu Deutschland rsp. zur Deutschschweiz
erhoben hat. Eines der Ziele dieser Untersuchung ist es, eine Erklärung zu
finden für jenes erstaunliche Ergebnis, das eine frühere, international ange-
legte Studie der UNESCO (1995) zur Einstellung erbracht hat, nämlich dass
„les élèves de la Suisse romande présentent à la fois une perception plus
négative concernant l’apprentissage de l’allemand et une attitude plus néga-
tive face à l’Allemagne que d’autres élèves d’autres pays.“ (Muller 1998: 31)
Absolut gesehen weisen nun die Daten der DiGS-Fragebögen darauf hin,
dass bei den Schülerinnen und Schülern eher negative Wertungen überwiegen
oder zumindest solche, die bloss den extrinsischen Nutzen des Deutschlernens
betonen und damit eher auf eine instrumentelle als eine integrative
Lernmotivation schliessen lassen.9 Eine generelle oder undifferenzierte Ab-
lehnung des Deutschen kann aber keineswegs festgestellt werden.
Auffällig ist, dass eine Mehrheit der Schülerinnen und Schüler angibt, die
allerersten Deutschstunden gemocht zu haben (Frage III 1,2; vgl. Kapitel
9.3.2). Als formulierte Begründungen findet sich eine breite Palette verschie-
dener Aspekte, die zur Beliebtheit eines (Fremdsprachen-) Fachs beitragen (z.
B. c’était nouveau; on faisait des jeux; c’était convivial; assez simple; pas
noté; c’était parce qu’on écrivait pas encore; c’est bien de pouvoir dialo-
guer; j’aime bien les langues, la maîtresse était gentille; la prof était belle).
Dabei sticht aber ins Auge, dass die Primarschülerinnen und Primarschüler,
die tatsächlich am Anfang des schulischen Deutschunterrichtes stehen, ihre
Zuneigung zu diesem Fach am häufigsten bekunden (in der 4. Klasse, also im
ersten Schuljahr mit Deutschunterricht, sind es fast alle, nämlich 38 von 41
Schulkindern). Im Gegensatz dazu sieht der Anteil jener, die von sich sagen,
Deutsch am Anfang geliebt zu haben, bei den Älteren unterschiedlich aus. Es
sind jeweils etwa ein Drittel der Schülerinnen und Schüler einer Klasse, die
angeben, Deutsch am Anfang nicht gern gehabt zu haben, bei den Jugendli-
chen der Ecole de culture générale sind es sogar über die Hälfte. Es können
mindestens zwei Erklärungslinien für diese „stufenabhängigen“ Antworten in
Erwägung gezogen werden: die Älteren hatten anfänglich tatsächlich einen
Deutschunterricht, den viele von ihnen (aus welchen Gründen auch immer)
nicht mochten; allenfalls haben aber auch eher schlechte Erfahrungen mit dem
späteren Deutschunterricht (z. B. die Benotung, die ab dem 7. Schuljahr
einsetzt) oder negative Einstellungen zum Deutschen, die man in der Soziali-
sation erworben hat, den Blick zurück getrübt und im Sinne aktuell schlechter
_______________
9
Der „dimension instrumentale“ des Deutschlernens wird auch im Bieler Gymna-
sium deutlich mehr Wichtigkeit beigemessen als der „dimension intégrative“.
Während auf die Frage „A votre avis, apprendre l’allemand est utile pour...“ 89,2%
der Testpersonen als Antwort „trouver un emploi, à l’avenir“ geben, sind es nur
gerade 14,5%, die „mieux comprendre les Suisses allemands et leur manière de
vivre“ ankreuzen (Muller 1998: 56).
19
Erfahrungen „korrigiert“ (z. B. parce que les règles de grammaire étaient
trop difficile et je trouve que l’allemand n’est pas beau lorsque on le parle).
Was die Einschätzungen des Faches Deutsch betrifft (Frage III, 2: main-
tenant l’allemand est...), so deckt sich die gute Erfahrung der Anfängerinnen
und Anfänger aus der Primarschule mit dem am häufigsten genannten Urteil,
wonach Deutsch un plaisir sei; zahlenmässig deutlich abgeschlagen ist die
Aussage, Deutsch sei une corvée mit nur 20 Nennungen aus der Gruppe der
137 Primarschülerinnen und -schüler. In den übrigen Klassen wird plaisir nur
von einem vergleichsweise kleinen Teil angekreuzt. Bemerkenswert ist, dass
von 78 Schülerinnen und Schülern des Gymnasiums deren 61 Deutsch als
enrichissement betrachten (als corvée nur deren 8);10 bei den Klassen der Se-
kundarstufe I und den postobligatorischen nicht-gymnasialen Klassen wird
am häufigsten nécessité vermerkt, aber auch hier entscheiden sich doch er-
staunlich viele für das Urteil, Deutsch sei eine Bereicherung.
In einem gewissen vordergründigen Widerspruch zu den erläuterten Wer-
tungen stehen die Antworten auf die Frage, ob das Deutsche abgewählt würde
(Frage III, 3; vgl. S. 387), wenn die Möglichkeit dazu bestünde. Dass hier 42
von 137 Primarschulkindern dies tun würden, erstaunt im Zusammenhang mit
der relativen Beliebtheit, die sich in der obigen Frage gezeigt hat.11 Bei einer
differenzierteren Durchsicht der Daten zeigt sich allerdings, dass sich bereits
in der 6. Primarklasse eine „Imageverschlechterung“ des Deutschen
abzuzeichnen beginnt. Als Grund für die zunehmend negativen Wertungen
kann hier also nicht die Benotung angesetzt werden. Zu erwägen sind
folgende Aspekte: Deutsch hat nach den ersten zwei Jahren den Nimbus des
Neuen verloren; die fachlichen Anforderungen sind komplexer geworden; die
Schülerinnen und Schüler sind bereits in einer frühpubertären Phase, in der
Schulisches generell in Frage gestellt wird; die negativen Wertungen
gegenüber dem Deutschen als Sprache und als Schulfach sind vom sozialen
Umfeld übernommen worden.12 Am höchsten ist der Anteil der potentiell
_______________
10
Dass die Gymnasiastinnen und Gymnasiasten einen gewissen Sonderfall darstellen
könnten, erwägt Muller (1998: 47). Im Gymnasium sind ausschliesslich Jugendli-
che mit guten Schulleistungen, die sich freiwillig für eine weiterführende Schule
entschlossen haben und damit wohl auch eher positive Haltungen gegenüber den
Schulfächern entwickeln, in denen sie sich ja bereits als leistungsstark bewiesen
haben.
11
Es muss mit einer gewissen Verzerrung der Daten aus der Primarschule gerechnet
werden, weil nicht bei allen Schülerinnen und Schülern dieser Schulstufe voraus-
gesetzt werden kann, dass sie die gestellten Fragen tatsächlich verstehen. Insbe-
sondere Fragen, die sich auf bloss hypothetische Sachverhalte beziehen, sind für
Kinder anspruchsvoll.
12
Es sei daran erinnert, dass die Sozialpsychologie davon ausgeht, dass Einstellun-
gen – auch sprachliche – erlernt werden und dass sich „Einstellungen schon im
Alter von zwölf Jahren stabilisieren und sich in ihrer affektiven und kognitiven
20
„Abwählenden“ in der Sekundarstufe I und in der Handelsschule, was hier in
Zusammenhang stehen könnte mit der häufig stark selektiven Funktion des
Fachs, was auch in einigen zusätzlichen Kommentaren der folgenden Art
ausgedrückt wird: cette matière me baisse la moyenne. Die sehr häufig
formulierte Begründung für eine mögliche Abwahl des Deutschen, die Spra-
che sei (zu) schwierig, kann zum Teil wohl ebenfalls als ein Urteil zustande
kommen, das indirekt mit der Selektion zusammenhängt: die komplexe For-
menvielfalt des Deutschen kann für die Schülerinnen und Schüler nämlich
tatsächlich zu einem Stolperstein werden, wenn sich die schulische Benotung
einseitig nach der sprachlichen Korrektheit ausrichtet. Zudem muss wie bei
der 6. Klasse insbesondere hier die Pubertät als beeinflussender Faktor mit in
Betracht gezogen werden.
Bei der Frage nach der Wertung des Deutschen selbst (Frage III, 4
L’allemand est...) – stehen die Einschätzungen der Sprache als difficile und
utile im Vordergrund. Das Attribut belle wird – mit Ausnahme der Primar-
klassen – immer am seltensten angekreuzt. Erstaunlicherweise sinkt der An-
teil jener, die Deutsch als moyen de communication sehen, in den postobli-
gatorischen Klassen, ist aber in der Primarschule und der Sekundarsschule
hoch, also gerade in jenen Lernerstadien, in denen eine mögliche Kommuni-
kation mit Deutschsprachigen von der sprachlichen Kompetenz her ja noch
sehr eingeschränkt ist. Dass man über das Deutsche Zugang zu einer anderen
Kultur habe, wird von höchstens einem Drittel pro Schultyp bejaht.
Jene Schülerinnen und Schüler, die die Frage III, 5 nach dem persönlichen
Nutzen des Deutschen in eigenen Worten formuliert haben, erwähnen eher
selten, dass das Deutsche als Kommunikationsmittel dienen könnte (pour
communiquer avec d’autres personnes lorsque je vais dans un pays germa-
nophone). Eine Mehrheit beschreibt den extrinsischen Nutzen hinsichtlich der
aktuellen beruflichen Anforderungsprofile (aujourd’hui, de nombreuses
places de travail demandent l’allemand). Ob man mit Muller (1998: 60), die
in ihrer Bieler Untersuchung zum gleichen Resultat kommt, dieses Ergebnis
dahingehend interpretieren will, dass dieses die Hypothese bestätige „selon
laquelle présenter un intérêt pour la culture et les locuteurs de la langue cible
peut être perçu comme un acte „déloyal“ à l’égard de son propre groupe“,
bleibt zu diskutieren.
Die Wertungen der Schülerinnen und Schüler konstituieren ein Bild des
Deutschen als wenig schöner, aber schwieriger Sprache, die zu lernen aber als
durchaus nützlich und sogar als bereichernd erachtet wird.13
________________
Die Fragebögen, welche die Testpersonen und ihre Eltern ausgefüllt haben,
erlauben die Erstellung eines rudimentären sozialen Profils der einzelnen
Schülerinnen und Schüler. Bei entsprechender Aufbereitung des Materials
bestünde zweifellos die Möglichkeit, eventuelle ein- und mehrdimensionale
Korrelationen zwischen Sozial- und Sprachdaten aufzudecken, die aber we-
gen der primär inner- und psycholinguistischen Forschungsinteressen des
DiGS-Projektes nicht im Vordergrund der Untersuchung stehen.20 Soweit wir
________________
________________
2.6 Ausblick
_______________
24
Der Aufenthalt im fremden Sprachgebiet, der von den Lehrpersonen wohl zu
Recht immer wieder empfohlen wird, bedürfte zur Überprüfung seiner Effizienz
wiederum einer eigenen Hypothesenbildung und -überprüfung. Um entsprechende
Aussagen machen zu können, müssten die Sprachdaten vor und nach dem Sprach-
aufenthalt mit jenen von Testpersonen ohne Sprachaufenhalt verglichen werden,
was die Anlage des DiGS-Projektes jedoch nicht erlaubt. Die Angaben zu Aufent-
halten im deutschen Sprachgebiet, die auf dem Fragebogen erhoben worden sind,
könnten jedoch problemlos mit den übrigen Angaben dieses Fragebogens kor-
reliert werden, wie etwa „Aufenthalt im Sprachgebiet“ mit den „Einstellungen“.
3 Theorien zum Zweitsprachenerwerb:
Standortbestimmung des DiGS-Projektes
Erika Diehl
3.1 Forschungsstand
Mit anderen Worten: Es geht uns um die „Lernbarkeit“ – und damit „Lehrbar-
keit“16 – der deutschen Grammatikregeln, um die Unterscheidung zwischen
sequentiell geordneten und „sequenzenfreien“ Bereichen der Grammatik und,
für die ersteren, um die Ermittlung der Erwerbsreihenfolge, mit der erklärten
Absicht, auf diese Weise zu einem effektiveren Grammatikunterricht
beizutragen.
Bei dieser Interessenlage kann die Frage nach den Gründen für die beob-
achteten Phänomene – also die Frage nach einem explanatorischen Modell –
unberücksichtigt bleiben; zumindest ist sie nicht prioritär.
Allerdings stiessen wir bei unseren Analysen immer wieder auf Erschei-
nungen, die uns in den verschiedenen Theorien nicht – oder nicht angemessen
– berücksichtigt scheinen. Insofern könnte unsere Untersuchung doch noch
einem dritten Zweck dienen: nämlich als Prüfstein für die Validität von
Zweitsprachen-Erwerbstheorien, wenn Validität daran gemessen werden
kann, ob in einem Erklärungsmodell alle wesentlichen Komponenten eines
Phänomens erfasst werden.
________________
Nachdem seit Beginn der siebziger Jahre eine Vielzahl von deskriptiven Un-
tersuchungen zum L2-Erwerb in all seinen Varianten vorgelegt wurde, erwies
es sich als immer notwendiger, die Fülle der Ergebnisse zu ordnen, in Mo-
delle zu fassen und theoretisch zu fundieren. So kam es im Verlauf der acht-
ziger Jahre zu einer geradezu explosionsartigen Entwicklung theoretischer
Konzepte; Alex Housen (1996) zählt über 40. Es kann nun nicht unsere Auf-
gabe sein, einen vollständigen Überblick über den augenblicklichen Stand
dieser theoretischen Reflexion zu bieten; entsprechende Bestandsaufnahmen
sind an anderer Stelle nachzulesen.17 Wir werden uns damit begnügen, die
grundlegenden Positionen der vier theoretischen „Familien“, denen sich die
verschiedenen theoretischen Ansätze zuordnen lassen, in einigen ihrer expo-
nierten Repräsentanten zu rekapitulieren – dies immer mit der Frage, inwie-
weit ihre Aussagen mit unseren Analyseergebnissen zu vereinbaren sind.
Gemeint sind:
1) mentalistische (nativistische) Theorien (die Universalgrammatik der
Chomsky-Schule, UG);
2) Theorien der Sprachverarbeitung (die Operating Principles von Slobin
und das Multidimensionale Modell der ZISA-Untersuchung);
3) konnektionistische Modelle (das Competition-Modell und das Parallel
Distributed Processing-Modell, üblicherweise als PDP bezeichnet);
4) das dualistische Modell (Pinker und Price).
_______________
19
Housen (1996: 519), Jordens (1988a: 35).
20
Jordens (1988a: 35f.).
21
Jordens (1988a: 36f.).
22
Housen (1996: 20); Ellis (1994: 458ff.).
23
Siehe dazu die Position von Jacquelyn Schachter, referiert und kritisiert von Felix
(1997: 143ff.).
24
Siehe dazu die Kontroverse zwischen Bonnie D. Schwartz und Harald Clahsen zur
Interpretation der Daten des ZISA-Korpus, auch Jürgen Meisel (1991) und Sascha
Felix (1997: 139–151).
32
„Start with L1“,25 d. h. L2-Lerner benutzen zunächst die Parameterfixierun-
gen ihrer L1; wo sich diese unverändert auf die L2 übertragen lassen, geht der
Erwerb reibungslos vonstatten; wo die Parameter für die L2 neu fixiert
werden müssen, sind Erwerbswiderstände und hohe Fehlerzahlen zu erwar-
ten.26
Die Hypothese einer nur partiellen Zugänglichkeit zur UG für L2-Lerner
gewinnt inzwischen an Boden. Bonnie Schwartz (1993) bietet die Variante
an, UG-basiertes Wissen interagiere mit allgemeinen kognitiven Lernverfah-
ren, mit deren Hilfe, ergänzend zu den Parametersetzungen und -umsetzun-
gen, ein „gelerntes Sprachwissen“ (learned linguistic knowledge – LLK) auf-
gebaut wird. Nach Birgit Haas (1993) ist der Zugang zur UG lernertypenab-
hängig: bei manchen verläuft der L2-Erwerb effektiv über die Steuerungsme-
chanismen der UG; andere dagegen sind auf explizites Regelwissen angewie-
sen. Auch für Felix (1997) ist eine Kombination aus teilweisem Zugang zur
UG und allgemeinen Problemlösungsverfahren denkbar.
Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist diese Kontroverse noch keinesfalls ab-
geschlossen. Dass die UG in irgend einer noch zu klärenden Weise im L2-
Erwerb wirksam ist, steht für die Mehrheit der UG-Theoretiker ausser Frage.
Offen ist jedoch nach wie vor, welche UG-Prinzipien unter welchen Bedin-
gungen und Beschränkungen aktiviert werden und welche zusätzlichen kom-
pensatorischen Strategien angenommen werden müssen. Offen ist nach Felix
(1997: 149) zudem die Frage, warum die Leistung der UG beim L2-Erwerb
so weit hinter der beim L1-Erwerb zurückbleibt.27
Die Diskussion wird auch dadurch nicht vereinfacht, dass – noch bevor
hinreichend empirische Evidenz für die bisher erarbeiteten theoretischen Po-
sitionen vorgelegt werden konnte – Chomsky 1991 bereits mit einer weiteren
neuen Version seiner Theorie an die wissenschaftliche Öffentlichkeit getreten
ist: dem Minimalist Program, das nur noch mit den Konzepten „logische
Form“ und „phonetische Form“ operiert und die Parameter nicht mehr formal,
sondern funktional definiert,28 was von der gesamten UG-orientierten
Erwerbsforschung eine Umorientierung verlangt, die sich, soweit wir sehen,
noch nicht in empirischen Arbeiten niedergeschlagen hat. Wenn wir in der
UG Erklärungsansätze für unsere Analyseergebnisse suchen, so beziehen wir
uns auf das „alte“ Parameter-Modell von 1981.
_______________
25
Vgl. etwa Jordens (1988a: 34, 37). Weitere Ausführungen (zu Susan Flynn und
Lydia White) bei Ellis (1994: 453ff.).
26
Vgl. die kritische Diskussion dieser Position bei Jordens (1988a: 37f.).
27
„The crucial question is this: If second language learners have knowledge of prin-
ciples of Universal Grammar, why is it that UG does not work as effectively in L2
acquisition as is does in L1 acquisition“ (Felix 1997: 149).
28
Siehe die Diskussion des „Minimalist Program“ bei White (1997: 63ff.) und Felix
(1997: 148).
33
Fest steht, dass wir in den Erwerbsverläufen unserer Probanden, jenseits
aller individuellen Unterschiede, Regularitäten beobachten können, die in sig-
nifikanter Weise vom Unterrichtsstoff abweichen und die durchaus auf UG-
gesteuerte Erwerbsprozeduren zurückgeführt werden könnten – allerdings
wohl eher in der Version „back to L1“, denn ein Vergleich zwischen dem
Satzmodell-Erwerb niederländischer Deutschlerner mit dem unserer
frankophonen Schülerinnen und Schüler zeigt sehr eindrückliche Unter-
schiede, die sich direkt aus dem Unterschied der syntaktischen Strukturen der
beiden Erstsprachen herleiten lassen. Es wären demzufolge die von allen un-
seren frankophonen Testpersonen gleichermassen verlangten Parameter-Um-
setzungen vom Französischen ins Deutsche, die die gleiche Abfolge der Er-
werbsphasen bewirkt.
Solche Parametersetzungen in unserem Material nachzuweisen, ist jedoch
schwierig. Parametersetzungen werden ja vom Input ausgelöst (triggered) und
müssten eine grammatische „Einsicht“ zur Folge haben, die – wenn auch
gewiss nicht sofort systematisch realisiert – doch als Erkenntnisfortschritt in
den Produktionen der Probanden zutagetreten müsste. Dies wäre beispiels-
weise beim Erwerb der Satzmodelle zu erwarten, die ja im Grunde formal
durchaus transparent sind, so dass sich Parametersetzungen auch unvermittelt
in den Produktionen niederschlagen könnten. Wie allerdings unsere Proban-
den verfahren, erweckt eher den Eindruck eines probierenden Auslotens der
verschiedenen Strukturen, die sich erst im Verlauf eines kürzeren oder länge-
ren Experimentier-Zeitraums etablieren; sie scheinen viel eher Hypothesen zu
testen als Parameter zu setzen bzw. umzusetzen. Und für jenen Problem-
bereich, der in unseren Analysen den grössten Platz einnimmt – die mor-
phologische Markierung – sind ohnehin keine Klärungen seitens der UG-
Theoretiker zu erwarten, da dieser Fragenkomplex (bisher) ausserhalb des
Forschungsinteresses der UG liegt.29
Ohne ausschliessen zu wollen, dass die UG zumindest teilweise in den L2-
Erwerb hineinwirkt, müssen wir doch aus unseren Daten den Schluss ziehen,
dass das UG-Modell für wesentliche Merkmale des L2-Erwerbs eine Erklä-
rung schuldig bleibt.
_______________
29
Ein weiteres Indiz, dass sich das Konzept der Parametersetzungen nicht ohne wei-
teres auf den L2-Erwerb übertragen lässt, liefern White, Usha Lakshmanan und
Gass. Sie untersuchten L2-Produktionen auf clustering- Effekte, d. h. jenes im
Rahmen der UG beobachtete Phänomen, dass mehrere Parameter miteinander ver-
bunden sind, so dass die Setzung eines Parameters zugleich die Setzung des – oder
der – anderen Parameter nach sich zieht. Sie konnten keine solchen clustering-Ef-
fekte beobachten, so dass Gass zu dem Schluss kommt: „Learners are able to per-
ceive the structural similarity in some cases, but not in others and it is the surface
similarity that allows them to connect the structures. Learners do not appear to
have access to underlying abstractions.“ (1997: 35)
34
3.2.2 Theorien der Sprachverarbeitung
Als Beispiele für OPs in der erweiterten Fassung von 1985 seien etwa Über-
markierungen wie einer Hund; meines Haus genannt als Illustration des OPs
EXTENSION:
If you have discovered the linguistic means to mark a Notion in relation to a word
class or configuration, try to mark the Notion on every member of the word class
or every instance of the configuration, and try to use the same linguistic means to
mark the Notion.38
Und die Tendenz einiger unserer Probanden, anstelle der ans Nomen affi-
gierten Dativmorpheme die Präpositionen zu oder an zu verwenden (ich gebe
das Brot an/zu meine Schwester) illustriert das OP ANALYTIC FORM:
If you discover that a complex Notion can be expressed by a single, unitary form
(syntactic expression) or by a combination of several seperate forms (analytic ex-
pression), prefer the analytic expression.39
_______________
33
Andersen (1989: 46–64). Vgl. dazu die kritische Darstellung von Ellis (1994:
378ff.).
34
Andersen (1989: 50–56).
35
Slobin (1973: 153).
36
Slobin (1973: 155).
37
Slobin (1973: 160).
38
Slobin (1985: 1222).
39
Slobin (1985: 1229).
36
Die Beispiele liessen sich beliebig fortführen – aber gerade diese Beliebigkeit
ist zugleich die Crux der OP-Modelle. Die Liste der OPs scheint offen zu
sein; die Erhöhung von sieben OPs in der Fassung von 1973 auf vierzig zwölf
Jahre später ist immerhin bezeichnend. Zudem fehlt eine Hierarchie der OPs,
die für den Fall mehrerer konkurrierender OPs im selben Kontext die
Prioritäten festlegt – alles Punkte, die Slobin zum Teil herbe Kritik zuge-
zogen haben.40
Das hat jedoch keinesfalls verhindert, dass vom Slobinschen Ansatz we-
sentliche Impulse für die L2-Erwerbsforschung ausgegangen sind. Im deut-
schen Sprachraum wurde er von Wode aufgegriffen und in die dynamische
Perspektive von Erwerbsprozessen integriert. Auf Slobin berufen sich auch
ausdrücklich die Autoren des ZI SA-P r o j ektes,41 die für das Dilemma der
Beliebigkeit der Slobinschen OPs eine überzeugende Lösung gefunden haben.
Das ZISA-Forschungsteam deduziert nicht nur aus den Erwerbsverläufen von
45 Gastarbeitern deren Erwerbssequenz für die Wortstellungsregeln im
Deutschen, sondern es nennt auch die jedem Stadium zugrundeliegenden
Sprachverarbeitungsstrategien:
1) die Canonical Order Strategy (COS), die keine Permutationen von se-
mantisch zusammengehörigen Elementen zulässt und der Wortfolge der
Phasen I (SVO) und II (ADV-Preposing: da Kinder spielen) zugrunde-
liegt, wobei sich Clahsen (1984b: 221) ausdrücklich auf Slobins OP D
bezieht: „Vermeide die Unterbrechung oder Reorganisation sprachlicher
Einheiten“ (Slobin 1973: 153);
2) die Initialization/Finalization Strategy (IFS), nach der Permutationen nur
an Satzanfang und Satzende möglich sind (dies entspricht der ZISA-Phase
III, VERB SEP: alle Kinder muss die Pause machen);
3) die Subordinate Clause Strategy (SCS), die Permutationen in Nebensät-
zen blockiert, nicht aber in Hauptsätzen (damit wird Phase IV möglich,
die Inversion: dann hat sie wieder die Knocht gebringt).42
_______________
40
Eine zusammenfassende Darstellung zur Kritik an den OPs ist nachzulesen bei El-
lis (1994: 381f.).
41
Clahsen/Meisel/Pienemann (1983).
42
Ebda.
37
lisch) und anderer Grammatikbereiche (z. B. der Morphologie) nachweisen
liessen,43 was den ZISA-Arbeiten auch ausserhalb des deutschen Sprachraums
ein hohes Ansehen verlieh.44
Nun haben wir mit der so oft bestätigten – oder auch unhinterfragt über-
nommenen – ZISA-Wortfolgensequenz das Problem, dass sie von unseren
Daten nicht bestätigt wird, zumindest nicht in den letzten beiden Phasen INV
und V-End (d. h. Inversion und Nebensatz). Unsere Schülerinnen und Schüler
zeigen mit aller wünschbaren Deutlichkeit, dass für sie die Permutation Verb-
Subjekt schwieriger ist als die Verb-Endstellung; die Strategie SCS scheint
also für sie nicht zu gelten. Das trifft allerdings nicht auf alle Inversi-
onskontexte zu: In W- und E-Fragen wenden schon unsere Primarschulkinder
die Inversion korrekt an (und behalten sie auch über den ganzen Verlauf ihrer
Schulzeit bei), was nach der ZISA-Sequenz erst in Phase IV geschehen dürfte
(und was für die ZISA-Probanden offensichtlich auch zu stimmen scheint).
Ob dies mit dem Unterschied Schriftlichkeit vs. Mündlichkeit zu tun hat
(die ZISA-Daten wurden über Interviews erhoben) oder mit dem Unterschied
natürlicher vs. gesteuerter Erwerb, wird an anderer Stelle diskutiert (siehe
unten Kapitel 4.5). Störend bleibt in jedem Fall, dass die als universal postu-
lierte ZISA-Reihenfolge eben doch nicht unter allen Bedingungen zu gelten
scheint.
Ein anderes Problem ist für uns das Kriterium für „erworben“. Während in
der Hauptveröffentlichung zum ZISA-Projekt von 1983 noch mit quantitati-
ven Kriterien gearbeitet wird (Häufigkeit der Verwendungskontexte bezogen
auf richtige bzw. fehlerhafte Realisierung),45 gilt in den Folgeveröffentli-
chungen die erstmalige korrekte Verwendung einer Form bzw. Struktur be-
_______________
43
Vgl. Ellis (1994: 383ff.).
44
Vgl etwa Ellis: „[...] the Multidimensional Model (= der ZISA-Forschungsgruppe)
is powerful not only because it provides a satisfactory explanation of observed de-
velopment in learner-language, but because it also constitutes a predictive frame-
work. [...] The predicitive power of the model is probably greater than that of any
other model of L2 acquisition, with the possible exception of the Competition
Model.“ (1994: 386f.)
Auf die anderen Aspekte des Multidimensionalen ZISA-Modells – die individuelle
Variation und die sozialpsychologischen Faktoren, die mit den lernersprachlichen
Daten korreliert werden – soll an dieser Stelle nicht weiter eingegangen werden.
Vgl. dazu die Darstellungen bei McLaughlin (1987: 114), Wode (1988: 87f.) und
Ellis. (1994: 382–388)
45
Um Aussagen darüber machen zu können, ob eine Struktur erworben ist oder
nicht, müssen nach Clahsen/Meisel/Pienemann (1983) mindestens 5 entsprechende
Verwendungskontexte vorhanden sein, wobei dieses Kriterium für ihre Quer-
schnittsanalyse gilt. Dass ein solches Kriterium immer noch willkürlich ist und
dass wirkliche Aufschlüsse über dauerhaften Erwerb nur von Longitudinalstudien
erwartet werden können, betonen sie selbst ausdrücklich (1983: 96).
38
reits als Indiz für „erworben“. Dieser Definition können wir uns nicht an-
schliessen; denn nach unseren Beobachtungen sind dergleichen korrekte
Verwendungen in sehr vielen Fällen – und keineswegs nur beim ersten Auf-
treten – nichts anderes als memorisierte, unanalysierte Floskeln (Chunks),46
die über mehrere Erwerbsphasen als „Fremdkörper“ mitgeführt werden und
oft fossilisieren, bevor sie überhaupt in ihrer Struktur durchschaut und bear-
beitet werden. Im ZISA-Korpus, das sich überwiegend aus Querschnittserhe-
bungen zusammensetzte, konnte dieses Problem wohl weniger in den Blick
kommen; im longitudinal angelegten DiGS-Korpus erweist es sich als unum-
gänglich – wenngleich in gewissen Fällen fast unlösbar –, memoriertes
Chunk-Wissen von „echtem“ Erwerb zu unterscheiden.47
Nun sind aber diese Chunks, auf deren Existenz unter der Bezeichnung
prefabricated patterns (K. Hakuta 1976: 331),48 formulaic speech (Ellis
1994: 84ff.) bzw. Formeln und Rahmen (Wode 1988: 101f.) in der Literatur
mehrfach hingewiesen wurde, keineswegs eine Randerscheinung in unserem
Korpus, sondern sie werden massiv eingesetzt – und dies nicht nur in den
Anfängen des Deutscherwerbs. Offensichtlich kann das Memorisieren und
Verwenden auch undurchschauter Wortketten nicht als Epiphänomen des L2-
Erwerbs abgetan werden; es scheint vielmehr ein konstitutives Merkmal von
Lernersprachen (übrigens auch im L1-Erwerb!) zu sein, dem eine Spracher-
werbstheorie Rechnung tragen müsste.
Die Lernersprachen unserer Probanden sind durch eine weitere, ebenso
zentrale Eigenschaft gekennzeichnet, für die weder das Parametermodell noch
die Sprachverarbeitungsmodelle eine Erklärung bereithalten: ihre Variabilität.
In den Schüleraufsätzen ist es durchaus die Regel, dass auf engstem Raum –
innerhalb desselben Satzes – normgerechte Formen und Normverstösse
koexistieren, die nach dem Zufallsprinzip miteinander kombiniert zu sein
scheinen, ohne jede rekonstruierbare Kohärenz – in „freier Variation“, wie
Ellis dieses Phänomen bezeichnet.49 Die beiden Erscheinungen – Chunks und
Inkonsistenz – treten in unserem Korpus zu häufig auf, um sie als Ne-
_______________
46
Zum Terminus „Chunk“ siehe insbesondere unten 6.2.2.
47
Vgl. dazu auch die kritischen Bemerkungen von Ellis (1994: 387f.).
48
„prefabricated patterns“: regular, patterned segments of speech used „without
knowledge of their underlying structure, but wirh the knowledge as to which par-
ticular situations call for what patterns“. (Hakuta 1976: 331, zitiert nach Elaine Ta-
rone 1988: 94) Tarone führt weiter aus: „Such prefabricated patterns can be identi-
fied in the data in that they are invariable in usage, and frequently are misused in
linguistically inappropriated contexts. (Tarone 1988: 94)
49
Ellis’ Definition der freien Variation, in Opposition zur „systematischen Varia-
tion“: „This is the variation apparent in the haphazard use of two or more alternate
forms which exist within the learner’s interlanguage. This type of variability will
be referred to as free variability (Ellis 1985: 75). Vgl. auch S. 28, Punkt 8.
39
benerscheinungen von Erwerb unter gesteuerten Bedingungen zu bagatelli-
sieren; sie verdienen einen angemessenen Platz in einer Theorie, die den An-
spruch erhebt, der psycholinguistischen Realität des Spracherwerbs gerecht
zu werden.50
_______________
55
Die folgende Darstellung orientiert sich an Bowermann (1985: 1257–1319),
MacWhinney et al. (1989: 255–277) sowie an der zusammenfassenden Darstellung
von Ellis (1994: 373–378) und Gass (1996: 335f.).
56
MacWhinney et al. (1989: 260f.).
57
Siehe die Arbeit von Gass (1996).
41
Im P ar allel-Distr ib uted -P r o cessing-Modell liegt der Akzent – wie
der Name besagt – darauf, dass das Netzwerk die kognitiven Aufgaben nicht
linear bearbeitet, sondern parallel, wobei sich syntaktische und semantische
Faktoren ständig überlagern. Dabei hat die Aktivierung eines Elementes –
oder „Knotens“ – des Netzwerks Auswirkungen auf sämliche anderen Ele-
mente, sei es im Sinne einer Erregung oder einer Hemmung. PDP-Modelle
sind dynamische, selbstregulierende Systeme; sie können über die Informa-
tionen aus dem Input hinausgehen und „spontane Generalisierungen“ produ-
zieren (Ellis 1994: 406). Es wird gerne darauf hingewiesen, dass die so kon-
zipierten Netzwerke durchaus Ähnlichkeiten mit den neuronalen Vorgängen
im Gehirn aufweisen.58
Die Validität konnektionistischer Modelle wird üblicherweise an Compu-
ter-Simulationen getestet, so z. B. der Erwerb der Genera im Deutschen von
MacWhinney et al. (1989) und der Erwerb der englischen Vergangenheits-
tempora in der vielzitierten Untersuchung von Rumelhart und McClelland
(1986);59 Housen (1996: 519) erwähnt ausserdem die Arbeit von Soho-
lik/Smith (1992) über den Erwerb der Genera im Fanzösischen und die Un-
tersuchung von Broeder (1993) über den L2-Erwerb des Niederländischen
durch Arabisch- und Türkischsprachige.
Diese computersimulierten „Sprachlernprozesse“ scheinen menschlichen
Lernprozessen durchaus ähnlich zu sein, insofern sie offenbar dieselben U-
förmigen Lernkurven, ähnliche „Entwicklungsphasen“ und gleiche Fehler
produzieren (vgl. Ellis 1994: 406; Housen 1996: 519). In Modellen dieser
Art, die ihrer Natur nach assoziativ und probabilistisch sind (Ellis 1994: 374),
fände auch die Inkonsistenz von Lernersprachen – die „freien Varianten“ von
Ellis – ohne weiteres ihren Platz: sie wäre das Ergebnis von konkurrierend
aktivierten cues, die in den verschiedenen Produktionskontexten un-
terschiedlich gewichtet werden. Ebenso liesse sich in diesen Modellen auch
erklären, weshalb unsere Probanden die Inversion in Fragen sehr früh in ih-
rem Erwerbsprozess meistern – alle vier Kriterien für eine starke Gewichtung
des cues treffen hier zu –, dieselbe Struktur aber in Matrixsätzen bis zum
_______________
58
Vgl. M. Schwarz: „Konnektionistische Modelle inkorporieren eine grosse Anzahl
einfacher Einheiten oder Knoten, die miteinander vernetzt sind. Die Verbindungen
zwischen den einzelnen Einheiten sind wie bei den Neuronen im Gehirn gewichtet
[...] Damit sind die Zusammenhänge von verschiedenen Zuständen in den Netz-
werken assoziativer Natur. Wissen ist in solchen Modellen in den Verbindungen
zwischen den Einheiten der Netzwerke enthalten. Lernen beruht hier auf einer
Modifizierung der Gewichtung von Verbindungen. Diese Annahme entspricht der
in der Neurophysiologie vertretenen Position, dass Lernvorgänge im Gehirn durch
eine Veränderung der Synapsenverbindungen zwischen Nervenzellen entstehen.“
(1992: 20f.)
59
Siehe etwa die Darstellung bei Ellis (1994: 406f.).
42
Ende ihres Erwerbsprozesses hinausschieben. Und die memorisierten Chunks
liessen sich interpretieren als Routinen des Netzwerks; dies stünde übrigens
auch durchaus im Einklang mit der Auffassung von E. Servan-Schreiber und
J. R. Anderson, die in ihrer „Competitive Chunking Theory“ Wahrnehmungs-
und Memorisierungsvorgänge als Chunkbildungen verstehen, die mit
zunehmendem Gebrauch auch an Gewichtung gewinnen:
[...] the Competitive Chunking theory of Servan-Schreiber and Anderson (1990)
models perception and memory as a process of successive chunk formation. As
well as their content, chunks have a strength parameter associated with them,
which reflects how frequently and recently they have been used. Every time a
chunk is used, its strength is increased, and then decays with time. (Berry/Dienes
1993: 85)
_______________
60
Ähnlich abwartend auch die Stellungnahme von Schwarz: „Sicherlich liegt ein
grosser Teil der Attraktivität konnektionistischer Modelle in der neuronal inspi-
rierten Modellbildung, doch scheint es beim derzeitigen Forschungsstand verfrüht,
symbolisch-funkionalistische Kognitionsmodelle aufzugeben.“ (1992: 21)
61
Die Darstellung folgt den Ausführungen von S. Bartke (1998: 24ff.). Siehe auch
die Untersuchung von Clahsen (1997) zum deutschen Pluralsystem.
44
nun mehr auf Komplementarität der theoretischen Modelle einzupendeln.62 Je
umfangreicher das Datenmaterial, auf das man sich einzulassen bereit ist, des-
to weniger wird man einem theoretischen Purismus das Wort reden können.
Dies war schon vor zehn Jahren so,63 und uns ergeht es mit unserem
Datenmaterial nicht anders. Unser Beitrag zur Theoriebildung für den L2-
Erwerb könnte bestenfalls darin bestehen, dass aufgrund unserer Untersu-
chung einer spezifischen L2-Erwerbssituation die Anteile der verschiedenen
kognitiven Leistungen, die am gesteuerten L2-Erwerb beteiligt sind, neu ge-
wichtet werden können.
Eine weitere Kontroverse, in der sich in den letzten Jahren eine Annäherung
der Extrempositionen abzeichnet, ist die Frage nach der Rolle der Bewusst-
heit in L2-Erwerbsprozessen. Sie wird in den oben erwähnten Modellen nicht
diskutiert, da es dort – dem Erkenntnisinteresse der kognitiven Linguistik
entsprechend – gerade um die Offenlegung jener Strukturen und Prozeduren
des Spracherwerbsapparates geht, die unterhalb der Bewusstseinsschwelle
liegen, eben jener „black box“, deren Beschaffenheit nur aus ihren Produk-
tionen zu erschliessen ist. Welche Konsequenzen für konkrete Spracher-
werbssituationen, etwa für die schulische Unterrichtspraxis, sich aus diesen
Modellen eventuell ableiten liesse, interessiert bei dieser Fragestellung nicht.
Aus der Perspektive der Fremdsprachendidaktik ist nun allerdings gerade
diese Frage höchst brisant, denn im L2-Unterricht dominiert bekannterweise
nach wie vor die Annahme, L2-Beherrschung werde über Regellernen er-
_______________
62
So etwa Wode: „Bis auf den behavioristischen haben alle Ansätze ihre Vorzüge.
Sie erhellen einzelne Aspekte des gesamten Lernvorgangs. Die Erklärungskraft
und der -bereich jedes einzelnen Ansatzes muss genauer abgesteckt und präzisiert
werden, damit ersichtlich wird, ob und wie sie sich ergänzen.“ (1988: 57)
Entsprechend auch Ellis: „[...] it is unlikely that any one of the theories we have
looked at here will win out over the others. The plethora of models and theories in
L2 acquisition has often been noted, and in some cases regretted [...]. It testifies to
two general points. One is that SLA research is still a very new field of enquiry,
scarcely more than twenty-five years old. The other is the enormous amount of
interest which the study of L2 learning has generated.“ (1994: 409)
63
Vgl. Adjémian/Liceras: „We have found that transfer, universal grammar, and le-
arner-produced hypotheses all interact in shaping the emerging learner grammar.“
(1984: 116)
45
worben, und von Schülern dürfe rechtens erwartet werden, dass sie sich diese
didaktisch aufgearbeiteten Regeln auch in der angebotenen Progression an-
eignen. Das Ausmass, in dem Schüler in der Lage sind, dieses Postulat zu er-
füllen, bildet die Grundlage für die Evaluation – und dies wohl nicht nur im
Deutschunterricht in Genfer Schulen. Die kognitiven L2-Erwerbsmodelle sind
daher eine Provokation für die bestehende Schulpraxis; die These von der
Eigengesetzlichkeit sprachlicher Erwerbsprozesse, die allen diesen Modellen
zugrundeliegt, scheint auf den ersten Blick jedem schulischen Gram-
matikunterricht den Boden zu entziehen.
In zugespitzter Form wurde die Frage bekanntlich von Stephen D. Krashen
in den 80er Jahren in die Debatte geworfen. Mit dem Oppositionspaar
„Lernen vs. Erwerben“ lieferte er eine griffige Terminologie, die Eingang in
die didaktische Diskussion des Fremdsprachenunterrichts finden konnte.64 Ir-
ritierend war dabei, dass Krashen jede Möglichkeit einer Durchlässigkeit
zwischen dem bewussten Lernen formaler Eigenschaften der L2 einerseits
und dem sich unbewusst vollziehenden Spracherwerbsprozess andererseits
radikal bestritt. Dem „Monitor“, der bewusst operierenden Kontrollinstanz,
wurden nur zwei Hilfsfunktionen zugebilligt: einmal für das Lernen einfacher
Regeln, zum anderen als editor für die nachträgliche Kontrolle von L2-
Äusserungen (erkennbar an Selbstkorrekturen).65 Ohnehin kann nach Krashen
der Monitor nur von fortgeschrittenen L2-Sprechern eingesetzt werden, da
diese sich im wesentlichen auf ihr unbewusstes Sprachwissen verlassen
können, so dass noch genügend Verarbeitungskapazität für die bewusste Be-
arbeitung der wenigen „Lücken“ in ihrer Kompetenz zur Verfügung steht.
Voraussetzung für das Ingangsetzen des Spracherwerbsapparates ist nach
Krashen „verständlicher Input“, wobei dessen grammatischer Schwierig-
keitsgrad leicht über dem bereits erworbenen Kenntnisstand des Lerners lie-
gen sollte.
An Krashens „Input-Hypothese“ ist inzwischen von verschiedenen Seiten
Kritik geübt worden.66 Sie entzündete sich einmal an dem Begriffspaar be-
wusst/unbewusst, das als unscharf und global und somit als unbrauchbar ab-
gelehnt wurde, zum anderen an Krashens extremer „non-interface“-Position,
also an der scharfen Trennung von „Lernen“ und „Erwerben“.
Krashens Gleichsetzung von Lernen mit Bewusstheit einerseits und Er-
werben mit Unbewusstheit andererseits wurde schon 1989 von Wolfgang
Butzkamm zurückgewiesen.67 Butzkamm glaubt den komplexen Phänomenen
_______________
64
Krashen/Terrell (1983, reprint 1985) und Krashen (1985).
65
Krashen (1985: 1f.).
66
Eine zusammenfassende Darstellung der Krashen-Kritik ist nachzulesen bei
McLaughlin (1987: 55ff.) und Ellis (1997: 54ff.).
67
Butzkamm (1989), gleichlautend in der Neuauflage (1993). Die Seitenangaben der
folgenden Zitate beziehen sich auf die Auflage von 1993.
46
des Spracherwerbs gerechter zu werden, indem er eine gleitende Skala von
Bewusstheitsgraden annimmt, das am unteren Ende mit „ratiomorphem“
Wissen beginnt und am oberen Ende mit „aufmerksamem Bewusstsein“ en-
det. Mit dem Terminus „ratiomorph“ greift er eine Begriffsprägung der
Wahrnehmungspsychologie der 30er Jahre auf, die von der Verhaltensfor-
schung der 70er Jahre übernommen wurde: als „ratiomorph“ werden dort die
Fähigkeiten lebender Organismen bezeichnet, die es ihnen ermöglichen, in
einer sich wandelnden und oft feindlichen Umwelt zu überleben.
„Ratiomorph“ ist ein Verhalten, das „den klassischen drei Schritten induktiver
Naturforschung, nämlich dem Sammeln einer Induktionsbasis, ihrem sys-
tematischen Ordnen und der Abstraktion einer Gesetzlichkeit, wahrhaft ver-
blüffend analog“ ist.68 Die bewusste Vernunft des Menschen bildet lediglich
den Abschluss einer Entwicklung, die weit in die biologische Phylogenese
zurückreicht.
In einer solchen entwicklungshistorischen Sicht sind auch Zwischenstufen
und Querverbindungen zwischen verschiedenen Bewusstseinsgraden ohne
weiteres einleuchtend:
Bewusstsein ist zwar eine neue psychische Qualität, der Weg dahin durchläuft je-
doch die gleichen Systeme, die auch die unbewusst bleibende Information passiert.
Wo Krashen eine rigide Trennung postuliert, ist vielerlei Konnex.69
Auch wenn Bewusstsein „nur die Spitze des Eisbergs [ist], eine Insel im Meer
unbewusst verlaufender Informationsverarbeitung“,70 so können dennoch
bewusste Erkenntnisse und bewusstes Üben zu effektivem Erwerb führen –
eben zu jenen Automatismen, die das Bewusstsein entlasten und für weitere
Lernprozesse freistellen (in Butzkamms Worten: der „nachbewusste
Fertigkeitserwerb“). Ebenso kann zunächst unbewusstes Wissen post festum
zu Bewusstsein gebracht werden. Aufgrund solcher Beobachtungen und Er-
fahrungstatsachen darf nach Butzkamm legitimerweise angenommen werden,
dass sich bewusst-rationale und unbewusst-ratiomorphe Leistungen vielfach
verbinden können.71
Richard Schmidt72 schlägt – ebenfalls als Reaktion auf Krashens Monitor-
Modell – anstelle der Dichotomie bewusstes Lernen – unbewusstes Erwerben
die Unterscheidung intentional learning – incidental learning vor, also wil-
lentliches, beabsichtigtes Lernen gegenüber beiläufigem, unbeabsichtigtem
Lernen als Nebenprodukt von L2-Kommunikation, bei der der Fokus nicht
_______________
68
Zitat von K. Lorenz (1953: 257), zitiert nach Butzkamm (1993: 93).
69
Butzkamm (1993: 102).
70
Ebda.
71
Butzkamm (1993: 103).
72
Vgl. dazu die Darstellung von Schmidts Position bei Robinson (1996: 9ff.) und
Ellis (1994: 361) sowie Ellis (1997: 55f.).
47
auf dem Lernen von L2-Strukturen, sondern auf dem Verstehen von Inhalten
liegt. Allerdings – so Schmidt – kommt es weder im einen noch im anderen
Lernkontext zu Aneignung von L2-Wissen, wenn sich nicht die Aufmerk-
samkeit auf gewisse L2-Elemente richtet; ohne noticing, ohne bewusstes
Achten auf spezifische Merkmale der L2, gibt es keinen Lernfortschritt. Die
Möglichkeit unbewussten Lernens – also „Erwerben“ in Krashens Sinn – wird
somit von Schmidt abgestritten.
Mit einem anderen theoretischen Hintergrund, aber doch im wesentlichen
demselben Ergebnis, kommentiert Barry McLaughlin diese Problematik. Er
macht sich die Auffassung der kognitiven Psychologie zu eigen, nach der das
menschliche Gehirn ein informationsverarbeitendes System mit begrenzter
Verarbeitungskapazität ist. Um die umfangreichen und komplexen Informa-
tionen, die bei (Zweit-)Spracherwerbsprozessen anfallen, bewältigen zu kön-
nen, bedarf es kognitiver Entlastungsprozeduren. Von den beiden Verfahren,
die McLaughlin nennt, ist nur das erste für unsere Fragestellung relevant: die
Automatisierung von zunächst kontrolliertem Wissen (das zweite ist die Re-
organisation des verfügbaren Wissensbestandes aufgrund neuer Erkennt-
nisse). Automatisierung wird durch häufiges Üben und Anwenden (practice)
erreicht; auf diese Weise wird das Verarbeitungssystem frei für die Aufnahme
neuer, wiederum zunächst kontrollierter Wissensbestände.73
Nun will aber McLaughlin die Konzepte „kontrolliertes Wissen“ und „au-
tomatisiertes Wissen“ in keiner Weise mit den Attributen „bewusst“ und „un-
bewusst“ bzw. „implizit“ und „explizit“ in Verbindung gebracht wissen. Und
das ist nicht ohne weiteres nachzuvollziehen, da zumindest für die Lernpsy-
chologie automatisiertes und implizites Wissen durchaus einige wesentliche
Charakteristika gemeinsam haben: beide sind sehr schnell abrufbar, beide
sind unflexibel und vor allem: beide sind dem Bewusstsein nicht zugänglich,
so dass doch die Frage gestellt werden darf, ob die beiden Vorgänge tatsäch-
lich so verschieden sind:
Although the learning histories of implicit learning and automatization differ, it
remains an open question as to whether the type of resulting knowledge is qualita-
tively different or not. There are suggestive similarities. (Dienes/Berry 1993: 154)
Wie dem auch sei – in jedem Fall vertritt auch McLaughlin eine dezidierte
Interface-Position, in dem Sinne, dass Wissen über zunächst kontrollierte
(wenn nicht explizite), dann durch Üben automatisierte skills ins Langzeitge-
dächtnis Eingang finden.
_______________
73
Siehe dazu die Ausführungen von MacLaughlin (1987: 133–153). Eine vergleich-
bare Position vertritt J. R. Anderson: in seinem „ACT“-Modell ist jegliches Wis-
sen zunächst „deklaratives“, bewusstes Wissen, das durch Übung in
„prozedurales“, automatisiertes Wissen überführt werden kann. Genaueres dazu
bei Ellis (1994: 388f.) und Berry/Dienes. (1993: 154)
48
Eine weitere Variante von Interface-Position bietet Ellen Bialystok an. Bei
ihr erscheint die Dichotomie explizit-implizit in dem Begriffspaar
„analysiertes“ (in früheren Versionen „kontrolliertes“) bzw. „unanalysiertes“
Wissen. Analyzed knowledge definiert sie als
propositional mental representation which makes clear the structure of the know-
ledge and its relationship to other aspects of knowledge;
Als Definition impliziten Lernens bieten Diane C. Berry und Zoltan Dienes in
ihrem Forschungsbericht „Implicit Learning“ von 1993 an:
learning the links between stimuli, or stimuli and actions, without (in some sense)
being aware of these links. (Berry/Dienes 1993: 13)
_______________
78
In Anlehung an Formulierungen von Ellis (1997: 56).
79
Ellis (1997: 57). Die Rolle und die Funktion von Regelvermittlung im Fremdspra-
chenuntrricht wird im Schlusskapitel (7.4) diskutiert.
50
Die Existenz eines solchen impliziten Lernens und Wissens ohne awareness,
unterhalb der Bewusstseinsschwelle, ist für die kognitive Lernpsychologie unbe-
stritten. Es wird auch angenommen, dass für implizite bzw. explizite Lern- und
Wissensformen verschiedene Speicher- und Abrufmechanismen existieren, wo-
bei die früher herrschende Ansicht von einer völligen Trennung der beiden Sys-
teme inzwischen nuanciert wird und man heute eher davon ausgeht, dass bei in-
tensivem Training explizites Wissen aus implizitem Wissen hervorgehen kann,80
ebenso wie explizites Wissen durch Training automatisiert werden kann. Als
Charakteristika impliziten Wissens werden aufgeführt:
1) es ist stark kontextgebunden (transfer specificity): Implizit angeeignetes
Wissen orientiert sich an Oberflächeneigenschaften und lässt sich nur
schwierig – wenn überhaupt – auf andere Wissensbereiche übertragen;
2) es wird vorrangig unter den Bedingungen „beiläufigen“ Lernens erwor-
ben, bei dem die Aufmerksamkeit nicht auf das Lernen, sondern z. B. auf
das Verstehen von Informationen gerichtet ist (associated with incidental
learning conditions);
3) es mobilisiert die Intuition (gives rise to a phenomenal sense of intuition);
das bedeutet, dass Testpersonen in Experimenten die gestellten Aufgaben
„nach dem Gefühl“ zu lösen glauben und dementsprechend ihrer Lösun-
gen oft nicht sicher sind (wobei offenbar das Ausmass an Unsicherheit
keinesfalls korreliert mit der Fehlerhaftigkeit ihrer Lösungen!);
4) es ist widerstandsfähig gegen Vergessen und äussere Störfaktoren (robust-
ness).81
Wir werden an späterer Stelle, wenn die didaktischen Konsequenzen aus dem
DiGS-Projekt gezogen werden, auf diese Beobachtungen zurückkommen
müssen. Jedenfalls zeichnet sich jetzt schon ab, dass die vielkritisierte Hy-
pothese Krashens, nur einfache Regeln könnten explizit gelernt und über den
Monitor kontrolliert werden, vielleicht doch nicht vorschnell von der Hand zu
weisen ist.
Teil II: Empirische Untersuchung
4 „Wenn sprechen sie, alles gehts besser“ –
Erwerb der Satzmodelle
Erika Diehl
4.1 Einleitung
Die Wortstellung ist ein besonders dankbarer Bereich für die Beobachtung
von Erwerbssequenzen: Zum einen lassen sie sich relativ leicht von anderen
linguistischen Ebenen – etwa semantischen oder pragmatischen – isolieren
(auch wenn dies nicht ganz unproblematisch ist; wir werden später noch dar-
auf eingehen müssen); zum anderen sind Wortstellungen und -umstellungen
relativ eindeutig zu ermitteln. So ist es gewiss kein Zufall, dass die ersten Be-
schreibungen von Erwerbsfolgen syntaktische Phänomene zum Gegenstand
hatten, zum Beispiel den Erwerb der Negation im Englischen und Deutschen
als Erst- oder Zweitsprache,1 den Erwerb von Relativsätzen im Englischen
und Schwedischen und schliesslich den Erwerb von Wortstellungsregeln im
Deutschen.2
Auf den letzteren Bereich, den Erwerb von Wortstellungsregeln – genauer,
von Verbstellungsregeln – beschränkt sich auch die folgende Analyse. Den
Erwerb der Negation haben wir ausgeklammert; er scheint unseren Probanden
keine nennenswerten Schwierigkeiten zu bereiten, und die bekannten
Frühphasen des Negationserwerbs waren bei ihnen ohnehin nicht zu beob-
achten. Ebenso blieben Imperative (mit Verbspitzenstellung) unberücksich-
tigt: die überaus seltenen Vorkommen sind mit ganz wenigen Ausnahmen
zielsprachenkonform realisiert. Dasselbe gilt für die Reihenfolge von Objek-
ten, da Sätze mit mehr als einem nominalen Objekt in unserem Korpus extrem
selten sind und keine verlässlichen Aussagen zulassen würden. Auch die
Untersuchung von Infinitivsätzen des Typs um nach Hause zu gehen erwies
sich nicht als lohnend; unsere Probanden schienen eher lexikalische als syn-
taktische Schwierigkeiten mit diesem Satztyp zu haben (vgl. frz. pour aller à
la maison; typischer Fehler: für nach Hause [zu] gehen) – insofern sie über-
haupt solche Konstruktionen benutzten. Als einziger sowohl quantitativ wie
qualitativ relevanter Untersuchungsgegenstand blieb somit der Erwerb der
Verbstellungsregeln und der darauf basierenden Satzmodelle.
_______________
1
Vgl. Felix (1977, 1978), Wode (1978), Clahsen (1982).
2
Siehe dazu den Überblick der bis Ende der 80er Jahre vorgelegten Arbeiten bei
Ellis (1994: 99ff.).
56
4.2 Der Erwerb der deutschen Satzmodelle in L1 und L2:
Forschungsstand
_______________
5
Vgl. auch die Darstellung S. 36.
6
Weitere Verweise bei Tschirner (1996: 7).
58
In diesem Punkt divergieren nun allerdings die Meinungen beträchtlich.
Die Vertreter der verschiedensten theoretischen Positionen sehen in den
ZISA-Daten die Bestätigung ihrer theoretischen Vorannahmen. Für die ZISA-
Forscher selbst liegen der ZISA-Sequenz universelle Gesetze der
Sprachverarbeitung im Sinne der Slobinschen Operating Principles (die auch
immer wieder zitiert werden) zugrunde;7 ausschlaggebend für die Abfolge der
drei Strategien und der entsprechenden Satzmuster ist der jeweils involvierte
Verarbeitungsaufwand: je komplexer die zu bearbeitende Struktur, umso
verzögerter ihr Erwerb. Mit den Worten Clahsens:
Given the limited capacity of the information processing system [...], it can be
concluded that the learner will most easily acquire those structures which are most
consistent with his language processing strategies [...]. To put this another way,
linguistic structures which require a high degree of processing capacity will be
acquired late. (Clahsen 1984b: 221)
_______________
7
Zu Slobins „Operating Principles“ vgl. S. 34.
8
Ich folge hier der Darstellung von Jeansen (1991).
9
Zu dieser und anderen innerhalb der L1- und L2-Erwerbsforschung vorgeschlage-
nen Korrelationen zwischen morphologischen und syntakischen Regularitäten
siehe unten Kapitel 7.2.
59
Abweichungen nicht zu erklären; welche weiteren Faktoren dafür verant-
wortlich zu machen sein könnten, werden wir am Ende dieses Kapitels dis-
kutieren.
Auch Jordens (1988b) meint, dass der Erwerb der Verbzweit-Regel nicht so
reibungslos vor sich geht. Seiner Beobachtung nach wird die V2-Position in
der Kindersprache zunächst nur von Auxiliaren, Modalverben oder Platzhal-
tern (wie tun) eingenommen, und es bedarf einer langen Übergangsphase, in
der das Kind zu erkennen lernt, dass auch Vollverben in finiter Form die
Zweitposition besetzen können.
_______________
12
So bei Jordens (1988b), Clahsen (1988b), Clahsen/Penke (1992) und – mit einer
Variante – bei Weissenborn (1991: 112), für den nicht die Herausbildung der
Subjekt-Verb-Kongruenz die Voraussetzung für den Erwerb der Verbzweitstellung
bildet, sondern nur die Opposition finit/infinit.
61
Bei all diesen Divergenzen darf immerhin davon ausgegangen werden –
und dies ist für unsere eigene Analyse höchst aufschlussreich –, dass
deutschsprachige Kinder mit dem Erwerb der Subjekt-Verb-Inversion schon
sehr früh beginnen und dass dieser Erwerb zumindest bei einem Teil der
Kinder nicht ganz so schnell und fehlerfrei verläuft, wie bislang angenom-
men. Die ersten Satzmodelle, die deutschen Kindern zur Verfügung stehen,
sind somit SVO und, quasi in einem Zuge, die Verbalklammer und die Inver-
sion.
Zum Erwerb von Fragesätzen ist wenig gesagt worden; sie sind selten ein
Untersuchungsgegenstand sui generis, weil zumindest die W-Fragen (= Fra-
gen mit einem Fragewort) mit unter die V2-Stellungsregeln subsumiert wer-
den, was rein syntaktisch ja auch zutrifft, da die erste Stelle vom Fragewort
besetzt ist. Dennoch haben wir gute Gründe, Fragesätze nicht nur als Unter-
gruppe einer syntaktischen Struktur zu behandeln, sondern auch als Satzmo-
dell mit einer spezifischen pragmatischen Funktion.13
Erste Fragen erscheinen bei den Kindern nach Mills in der Form von Into-
nationsfragen, teilweise auch als verblose W-Fragen; als nächstes erscheinen
W-Fragen mit Subjekt-Verb-Inversion (Mills 1985: 155f.). Denselben prob-
lemlosen Verlauf beobachtet Berman (1991: 17f.). Andere Untersuchungen
wissen hingegen von ganz anderen Erwerbsverläufen zu berichten: bei Tracys
Testkind Valle erscheinen zunächst Fragen ohne Fragewort mit
Verbzweitstellung (was sie „Lückenformate“ nennt, z. B. das auto macht an-
stelle der Frage: was macht das Auto?), dann optional Fragewörter mit V-
End, dann obligatorisch Fragewörter mit dem finiten Verb fakultativ in V2
oder V-End, bevor die zielsprachliche Norm erreicht ist (Tracy 1994: 18f.).
Bei Tracy findet sich auch ein Hinweis darauf, dass Entscheidungsfragen
(Ja/Nein-Fragen) erst nach den W-Fragen erworben werden (1994: 21); Nä-
heres dazu war in der uns bekannten Forschung nicht zu finden.
Im Alter von zweieinhalb bis dreieinhalb Jahren beginnt dann der Erwerb
komplexer Sätze. Vereinzelt finden sich Hinweise in der Literatur, dass diese
Bearbeitung mit „Vorläuferstrukturen“ beginnt,14 etwa mit koordinierten
Hauptsätzen oder mit „intendierten“ Nebensätzen ohne Konjunktion
(Meisel/Müller 1992: 120f.; Rothweiler 1993: 34). Über den eigentlichen
Nebensatz-Erwerbsverlauf divergieren jedoch die Ansichten erheblich: Mills
(1985), Rothweiler (1993), Weissenborn (1990), Meisel/Müller (1992) und
Berman (1991) zufolge wird die Verb-Endstellung schnell und weitgehend
fehlerlos erworben, sei es, dass die ersten Verwendungen von Komplemen-
tierern (= subordinierenden Konjunktionen) zugleich auch die V-Endstellung
_______________
13
Siehe unten S. 84.
14
Tracy in Wode/Piske, Abschlussbericht zum Schwerpunkt Spracherwerb (1996:
18).
62
auslösen, sei es, dass die V-Endstellung den Platz für den später einzufügen-
den Komplementierer bereitstellt. Zwar finden sich vereinzelt Hinweise auf
mögliche Fehlerquellen, so etwa bei Meisel/Müller (1992: 131), wo der Fall
von eingeleiteten Nebensätzen mit S-V-Stellung erwähnt wird; oder bei Mills
(1985: 158), die noch bis zum sechsten Lebensjahr Stellungsfehler in Neben-
sätzen mit mehrgliedrigen Verbalkomplexen feststellt. Doch scheint dies alles
peripher im Verhältnis zu den fehlerlos realisierten Nebensätzen mit V-
Endstellung. Berman (1991: 19f.) nuanciert ihre Position allerdings dahinge-
hend, dass sie zwischen raschen und erfolgreichen NS-Erwerbsverläufen und
anderen, langsameren und mühsameren unterscheidet:
There appear to be quite considerable differences between individual children in
use of these constructions [sc. subordinate clauses]. Some children manifest an
early, rapid, and almost totally error-free Pattern of acquisition, whereas others
demonstrate a slower and more gradual developmental progression in this, as in
other areas of the grammar. (1991: 19f.)
4.2.3 Bilanz
Dieser kurze Abriss wird der Subtilität gerade der neueren Forschungsarbei-
ten zum L1-Erwerb keineswegs gerecht; er erhebt auch keinerlei Anspruch
auf Vollständigkeit. Es wurde – wie oben angekündigt – nur das herausge-
griffen, was die Erwerbsfolge der Verbstellungsregularitäten in der deutschen
Kindersprache zu rekonstruieren erlaubt. Auf andere in diesen Arbeiten in-
tensiv diskutierte Fragen wie die möglichen Korrelationen zwischen ver-
schiedenen Teilbereichen – etwa der Verbalflexion und der Verbstellung –
werden wir an anderer Stelle noch einmal zurückkommen.18 Für den Augen-
blick mag es genügen, folgende grosse Linien festzuhalten, die sich gewis-
sermassen als gemeinsamer Nenner aus den bisher vorgelegten Arbeiten zum
L1-Erwerb des Deutschen herauslösen lassen:
Wenn die zehnjährigen Genfer Schüler zum ersten Mal mit deutschen Sätzen
konfrontiert werden, verfügen sie bereits über gut ausgebaute Kenntnisse der
syntaktischen Strukturen ihrer L1, bei den Schülern unseres Korpus also
grundsätzlich des Französischen.21 Dass sich dieses L1-Wissen auf den Auf-
bau ihrer L2-Kompetenz auswirkt, wird inzwischen von niemandem mehr
ernsthaft bestritten, welche theoretischen Prämissen auch immer an den L2-
Erwerb herangetragen werden, sei es in der Form von Parameter-
(Um)setzungen, sei es in der Form von Lernerhypothesen über die Struktur
der L2. Voraussetzung ist allerdings, dass die Lerner im L2-Input Anhalts-
punkte für einen möglichen Transfer von L1-Strukturen zu finden glauben.
Dies scheint nun für den Erwerb der Satzmodelle in ausgeprägtem Mass zu-
zutreffen; es mag also sinnvoll sein, der eigentlichen Datenanalyse eine Ge-
genüberstellung der einschlägigen Strukturen des Französischen und des
Deutschen vorauszuschicken.
_______________
19
Mills (1985: 158).
20
Es sei an die Ausnahme von Tracys Valle erinnert, siehe S. 63.
21
Zum Korpus siehe Kapitel 1.2. Auch wenn nicht alle unsere Testpersonen franzö-
sischer Muttersprache sind, so darf doch davon ausgegangen werden, dass alle mit
dem Französischen hinreichend vertraut sind, um dem Unterricht in einem franzö-
sischsprachigen Schulsystem folgen zu können.
65
4.3.1 Die Verbstellung im Deutschen
Bekanntlich sind im deutschen Satz drei Positionen für die finiten und infi-
niten Verbteile vorgesehen. Mit jeder Position sind auch – zumindest proto-
typisch – bestimmte Satztypen festgelegt: Die Verbzweitposition ist Deklara-
tiva vorbehalten, kommt allerdings auch in W-Fragen vor; infinite Verbal-
elemente stehen in beiden Fällen in satzfinaler Position; Verbspitzenstellung
charakterisiert E-Fragen und Imperative; Verbletztstellung ist das Merkmal
von (eingeleiteten) Nebensätzen.
Nun hat allerdings der Sprachgebrauch zu diesen Standardversionen noch
weitere hinzugefügt, die die obengenannten Zuordnungen vielfach durch-
kreuzen:
V2-Stellungen können in Nebensätzen verwendet werden:
(Ich glaube), er kommt nicht mehr.
Auch nach einigen Subjunktionen (wie weil und obwohl) sind im heutigen
gesprochenen Deutsch V2-Stellungen keine Seltenheit;22 vgl. etwa
(Er wird sicher nicht mehr kommen), weil er hat so viel anderes zu tun.
_______________
22
Siehe Müller (1998: 92f.).
23
Vgl. Gawlitzek et alii (1992: 140).
66
Und schliesslich wird auch die Verbalklammer keineswegs strikt eingehalten:
der Duden nennt sechs verschiedene Bedingungen, unten denen Ausklamme-
rungen zulässig oder sogar obligatorisch sind,24 so etwa bei Vergleichsele-
menten:
Ich habe noch selten ein so hübsches Haus gesehen wie ihres.
Somit ist zu erwarten, dass die V2-Struktur des Deutschen in der Inversions-
Variante einen der markantesten, wenn nicht den markantesten syntaktischen
Unterschied zum Französischen bildet, der von frankophonen Deutschlernern
nur schwer integriert werden kann. Hingegen dürfte jene andere Eigenschaft
des Deutschen, eine typologisch hoch ambige Sprache mit vielen konkurrie-
renden Satzmustern für identische Satzfunktionen zu sein, im Deutscherwerb
unter gesteuerten Bedingungen weniger Schwierigkeiten bereiten als im Er-
werb unter natürlichen Bedingungen: die Schulkinder bekommen die Satz-
strukturen in ihrer „prototypischen“ Rolle direkt präsentiert, ohne sie mühsam
aus der Vielzahl der konkurrierenden Verwendungsweisen herausbuch-
stabieren zu müssen. Die oben erwähnten langen „Suchwege“, die den kind-
lichen Verbstellungserwerb charakterisieren, müssten demzufolge im gesteu-
erten Erwerb entfallen – vorausgesetzt, die entsprechende Instruktion kann
verarbeitet und produktiv umgesetzt werden.
________________
Mit diesem Einschub von Klitika schafft sich das Französische eine Mög-
lichkeit, Objekte zu topikalisieren, ohne die Basisstruktur SVO zu verändern:
Objekte können an den Satzanfang vorgezogen werden, vorausgesetzt, eine
„pronominale Kopie“32 tritt als klitisches Pronomen zwischen Subjekt und
Verb. Somit bleibt die Subjekt-Verb-Reihenfolge auch hier erhalten:
Cette expérience, ils la font pour la première fois.
Doch gehören alle diese Varianten eindeutig der Schriftsprache und generell
dem gehobenen Stil an (ausser Einschüben wie dit-il, dem einzigen Fall, in
dem Inversion obligatorisch ist).34 Für alle anderen Beispiele gibt es eine all-
_______________
30
Siehe dazu z. B. Müller (1990b), Meisel (1992), Verrips-Weissenborn (1992).
31
Müller (1990b), Meisel (1986).
32
Meisel (1986).
33
Harald Weinrich (1982) an verschiedenen Stellen: 427f., 462, 659f., 765ff. (in der
französischen Ausgabe von 1989: 323f., 330, 346, 476 und 535ff.).
34
Siehe dazu Weinrich: „Eine Inversion des Subjekts deutet immer auf einen geho-
69
tagssprachliche Alternative: zu Fragen die Intonationsfrage mit S-V-Stellung
oder die Fragen-Paraphrase mit est-ce-que:
Vous faites quoi ce soir?
Qu’est-ce que vous faites ce soir?
Vous croyez qu’il fera beau?35
Auch bei allen anderen Sätzen kann auf lexikalische oder grammatische Al-
ternativen zurückgegriffen werden, wenn der Eindruck eines allzu gepflegten,
vielleicht sogar preziösen Stils vermieden werden soll:
Quoi qu’il en soit, il ne m’a jamais écrit.
Peut-être qu’il ne l’a jamais su.
Je l’ai à peine vu que je me suis retourné / Dès que je l’ai vu, je me suis retourné.
Selbst in Fragen, die durch quand eingeleitet sind und „eigentlich“ schon
deshalb Inversion verlangen, weil es sonst zu Verwechslungen mit der Kon-
junktion quand kommen könnte (so die Erklärung von Weinrich 1982: 769):
Quand pensez-vous venir? vs. Je ne peux pas dire quand je viendrai.
Selbst dort gibt es die Möglichkeit, auf Wendungen wie à quelle heure? quel
jour? zu rekurrieren oder gar das Fragewort ans Satzende zu stellen:
Elle est née en quelle année, votre fille?
Et votre fils, il est né quand?36
Nur in einigen festen Redensarten sind Fragen mit Inversion auch in der
mündlichen Sprache noch lebendig; Weinrich (1982) nennt als die häufigsten:
Comment allez-vous?
Comment se fait-il que ...?
Comment voulez-vous que je le sache?37
Und der Vollständigkeit halber sei auch noch auf die „Amen“-Formel des
Französischen – ainsi soit-il – verwiesen.
________________
benen Stil und findet sich mit grösserer Frequenz nur in der geschriebenen Spra-
che.“ (1982: 768)
35
Zur Frage mit Inversion vgl. den Kommentar von Weinrich: „La question avec in-
version ne se distingue pas du point de vue de son sens grammatical, de la question
par [εskø]. Elle est pourtant beaucoup moins employée et peut être considérée
comme variante stylistique de cette dernière. On la rencontre surtout dans le
registre soigné le plus soutenu et elle est considérée comme une forme de prestige.
On l’utilise de préférence dans le discours formel [...].“ (Weinrich 1989: 535)
36
Weinrich (1982: 769).
37
Weinrich (1982: 771).
70
So darf man resümieren, dass das Französische in seinem Satzkonstrukti-
ons-Inventar zwar Möglichkeiten für eine Subjekt-Verb-Inversion vorgesehen
hat (was Verrips/Weissenborn (1992) zu der Qualifizierung des Franzö-
sischen als einer residual verb-second language veranlasst)38, dass aber doch,
zumindest für die gesprochene Sprache, von einer recht konsequent durchge-
haltenen Anwendung der SVO-Struktur ausgegangen werden darf:39 selbst wo
V-S-Stellungen zulässig sind, werden sie von den Sprechern nach Mög-
lichkeit umgangen. Abgesehen von einigen lexikalisierten Restbeständen und
der Signalfunktion für gepflegten Sprachstil ist die Inversion im heutigen
Sprachgebrauch eine Randerscheinung.
Eine entsprechend enge Kohäsion wie zwischen dem Subjekt-Verb-Kom-
plex besteht auch innerhalb mehrgliedriger Verbalgruppen. Der finite Be-
standteil des Verbalkomplexes geht immer den infiniten Teilen voraus; alle
Elemente des Verbalkomplexes stehen grundsätzlich in Kontaktstellung; nur
wenige, genau definierte Wörter können zwischen die finiten und infiniten
Elemente eingeschoben werden (Pronomina, Negationselemente, bestimmte
Adverbien, ausserdem y und en):40
je peux te le dire
je ne veux pas le savoir
il faut y aller
je l’ai toujours dit.
4.4.1 Vorüberlegungen
_______________
43
So zum Beispiel, wenn ein Kind in der 6. Primarschulklasse schreibt: dass ich dich
besser fressen kann – gut zwei Jahre, bevor der Nebensatz unterrichtet wird! (siehe
auch unten S. 89).
44
Tracy spricht von „gradual cracking of these formulae“ (Tracy 1994: 5, Anm. 3).
73
Dementsprechend wird das Datenmaterial zum Satzmodellerwerb folgen-
dermassen präsentiert:
− die quantitative Analyse führt (pro Klassenstufe und/oder für jede Paral-
lelklasse) die absolute Zahl der Kontexte vor, in denen das jeweilige
Satzmodell verwendet werden müsste, und zwar zuerst die Zahl der ziel-
sprachenkonformen Realisierungen, dann die Zahl der Normverstösse;
− in der qualitativen Analyse werden die verschiedenen Fehlertypen und die
zugrundeliegenden Erwerbsstrategien untersucht;
− und schliesslich wird für jede Klasse (bzw. Klassenstufe) die Zahl der
Schüler genannt, die das entsprechende Satzmodell weitgehend zielspra-
chenkonform verwenden können, auch wenn sie es möglicherweise noch
nicht auf Dauer erworben haben.
In der Primarschule gibt es, wie bereits erwähnt,45 keinen gezielten Gramma-
tikunterricht; die Intention ist vielmehr, die Kinder fürs Deutsche zu
„sensibilisieren“, überwiegend durch Spiele, Lieder und Frage-Antwort-Kon-
stellationen.46 Dementsprechend sind Fragen – W- und E-Fragen – im schuli-
schen Input von Anfang an reichlich vorhanden. In Deklarativsätzen domi-
niert die S-V-Stuktur; doch erscheinen auch bereits von Anfang an – ab der 4.
Klasse – Inversionskonstruktionen, sei es in Liedern (vgl. [Mein Hut, der hat
drei Ecken,] drei Ecken hat mein Hut, und hätt’ er nicht drei Ecken, so wär’
er nicht mein Hut), sei es in Konstruktionsmustern wie jetzt bist du .../ dann
hast du ...; am Montag spielen wir .../ am Dienstag machen wir ... / am
Mittwoch haben wir ..., also nach dem Modell Adverbialbestimmung – Verb
– Personalpronomen. Von der 5. Klasse an und durchgehend bis zum Ende
der 6. nehmen diese Strukturen im Input massiv zu; neben vorangestellten
Adverbialbestimmungen kommen nun auch topikalisierte Objekte vor (den
kennt Max – Die Masken haben sie ... – Die Namen findet man ...).
Die Verbalklammer erscheint erstmals in der 6. Klasse in der Form von
Modalverben in Verbindung mit Vollverben. Hier gibt es – wenn auch ohne
explizite grammatische Erklärung – erstmals Übungen, in denen die Inversion
mit der Verbalklammer kombiniert wird; z. B. sollen die Kinder Sätze wie die
folgenden richtigstellen:
_______________
45
Siehe Kapitel 2.2, Deutsch als Schulfach.
46
Alle Angaben zum Unterrichtsstoff in der Primarschule gehen auf Lucrezia Marti
zurück, der wir die genaue Analyse des zum Zeitpunkt der Datenerhebung ver-
wendeten Lehrwerks „Cours romand“ verdanken sowie zusätzliche Informationen
zur Unterrichtspraxis.
74
Auf dem Sportplatz kann man wandern.
In der Post kann man schwimmen.
In der Bäckerei kann man Fussball spielen.
(6) Ich liks von Laur/Ich recks von Julie/Ich Gegenube von Muter (Julien D 4/5, 4)
(7) magnen Shsvester natacha (Nicolas B 4/5, 1)
(8) Das Wasser kalt (Caroline C 4/5, 4)
(9) ich tanze geren onte ich spielle geren pumpé / maine phter ich skier grene /
maine muter ich skier gerne / maine bruter ich spielle gerne fusbale (Aline G
4/5, 2)
(10) Miene Muteur hist esse gern (Françoise G 4/5, 2)
bei denen nicht eindeutig zu entscheiden ist, ob hier eine Satzreihe intendiert
ist, bei der das Pronomen getilgt wurde, oder ob hier schon ein erster Versuch
vorliegt, Relativsätze zu konstruieren.
(13) Es war einmal dans les montagnes vivait ein bauer et une payssane (Daniel M
5/6, 7)
(14) Es war einmal eine hudine [= Hündin] ist dünne (Aline G 4/5, 7)
76
Früh beginnen die Kinder auch, S-V-Sätze zu verknüpfen. Vereinzelt finden
sich bereits koordinierte Sätze am Ende der 4. Klasse, häufiger dann in der 5.
und 6. Klasse. Die Korrektheitsquote ist in diesen Fällen noch höher als bei
den einfachen S-V-Sätzen – vermutlich, weil ohnehin nur diejenigen Kinder
sich auf Satzkoordinationen einlassen, die sich in der Konstruktion einfacher
S-V-Sätze sicher fühlen. Beispiele:
(15) Ich spiel Tennis outh ich spiel fussball (Aline P 4/5, 4)
(16) Ich bine amesé [= am See] hout ich bade mich (Fanny J 4/5, 4)
(17) Ich heisse Esther ound ich bin sen. mein fater heisst Christian ound meine mu-
ter heisst Catherine (Esther P 5/6, 1)
(18) ich abbé tsway hunds eins chwar unt ainée wice main hund chwar ist Belhze-
buth unt mainée hund wice ist Danaé (Philippe B 5/6, 1)
wobei sich zeigt, dass auch bei sehr approximativer Lexik derartige Satzver-
knüpfungen keine besondere Schwierigkeit zu bereiten scheinen und auch
gerne verwendet werden.
Die äusserst selten auftretenden Fehler sind dieselben wie bei einfachen S-
V-Strukturen, also Tilgungen des Verbs:
(19) [...] Ein tag der Hund begegnen eine Kue. Guten-tag die Kue ich bin ein Hund
unt ich haben Hund [= Hunger]. Das ist doche kann Prolbem esse das gras.
Nein, nein, nein. Unt er weg. (Françoise G 4/5, 8)
(20) Sie trinkt und die Tomaten sie ist nocheinmal eine prezing [= und die Tomate
wird wieder zu einer Prinzessin] (Julien D 4/5, 7)
(24) Wie heisst du? wo wohnst du? Was ist ein Téléphone numer? (Esther P 5/6, 6)
(25) Wo wont du? Wo ist ta haus? Warum isst der Brot? (Audrey P 5/6, 6)
(26) Warum bist du chanteur? (Annick A 4/5, 6)
Allerdings zeigen die Zahlen der Tab. 2, dass der W-Fragen-Erwerb nicht
ganz so problemlos verläuft wie der des S-V-Modells. Der häufigste Fehler-
typ ist die Übernahme des S-V-Modells in die Fragekonstruktion:
In der 5. Klasse – in der das Schwergewicht auf der Produktion von W- und
E-Fragen lag – geht der prozentuale Anteil spontan richtiger Inversionssätze
deutlich zurück, dagegen steigt der Anteil an Selbstkorrekturen und Norm-
79
verstössen. Dies könnte ein Indiz dafür sein, dass ein solches gezieltes Trai-
ning grammatischer Strukturen nur kurzfristige Erfolge bringt, wenn es „zur
Unzeit“ erfolgt.
Aus dieser Vermutung wurde Gewissheit, als es uns gelang, sieben der
neun Schülerinnen und Schüler dieser Klasse zwei Jahre nach Abschluss des
Beobachtungszeitraums, nunmehr also in der 7. Klasse des Cycle
d’orientation, wiederzufinden und sie noch einmal einen Text schreiben zu
lassen, mit dem Thema „Freizeit und Hobbys“ (und der expliziten Anweisung
der Lehrerin: quand vous faites quoi, um Inversionskontexte zu elizidieren,
des Typs Am Mittwoch gehe ich ...). Tab. 5 zeigt das Ergebnis:
(38) Am Montag ich habe Physik, ich hasse, das ist langweilig. [...] Am Dienstag
habe ich Textilien es ist klasse [...] Am Donnerstag ich habe Biologie ich mag
nicht! [...] Aber Deutsch mag ich. (Christine M, 7)
(39) Am Mittwoch habe ich Französisch 2 hour [...] Am Donnerstag habe Mathe,
Geschichte und Polyteknik. [...] Am Freitag Math 4 hour. Am Montag ist
langweilig. Am Mittwoch finde ich toll. (Sarah D, 7)
80
Wenn aber Primarschülern nicht ausdrücklich Inversionskonstruktionen ab-
verlangt werden – wie in Klasse 4b/5b –, ignorieren sie diese weitgehend, sei
es, dass in ihren Aufsätzen keine inversionsfordernden Kontexte erscheinen,
sei es, dass sie konstant Verbdrittstellungen produzieren:
(40) Sontague ich bin an bergue (Annick A 4a/5a, 4 – der einzige Inversionskontext
im ganzen Schuljahr dieser 4. Klasse!)
(41) Ein tag der Hund begegnen eine Kue (Françoise G 4a/5a, 8)
(42) In Chandolin ich machen frutsalade ... Montag aben ich braten cervolas ...
Dinstag, ich male ein papagei (Sandrine M 5/6, 4)
Auch in der 6. Primarschulklasse ist offensichtlich die Zeit für den Inversi-
onserwerb noch nicht gekommen, wie der Überblick über den Erwerbsstand
von 16 Schülerinnen und Schülern aus fünf verschiedenen 6. Klassen bestätigt
(die hohe Korrektheitsquote von 0.67 bei den beiden Schülern der Klasse
6a/7a ist dabei in Relation zu den geringen Vorkommen zu sehen: beide
Schüler verwenden je eine korrekte Inversionskonstruktion). Um den Unter-
schied zum Erwerbsverlauf bei den Fragesätzen zu verdeutlichen, werden
auch hier die Zahlen für die W- und E-Fragen mit aufgeführt.
(43) Am Montag esse ich einen Banane. Am Donnerstag trinke ich einen Café. Am
Samstag mache ich einen Telefon. Am Freitag scheide ich einen Papier. [...]
Am Montag mache ich einen Torte Apfel und Zuker. (Yves D 4b/5b, 2)
(44) Eines Tages, seht Calin eine Schlemeling [?= Schmetterling?]. [...] Eines Tages,
Nimt eine Kind Caline. [...] Eines Tages, kommt zu mir! (Sophie V 4b/5b, 7)
81
Innerhalb dieses Musters können die Kinder auch Selbstkorrekturen vorneh-
men:
(45) Am Montag trinkt er [K: er trinkt] eine Limonade. Am Sonnstag esse ich [K:
ich esse] die confiture mit Zucker. Im Jeanur esst du eine Fruschat mit kainen
Zucker. [...] Am Donnerstag mache ich eine Zitronenzaft (Christine M 4b/5b, 2)
(46) Im Juli, haben wir [K: wir haben] keine Schule (Sophie V 4b/5b, 4)
(47) [...], sprecht mama Papagei / sprecht papa Papagei / sprecht Bruder Papagei
usw. (CM 4b/5b, 7)
Kein Schüler, auch nicht der schwächste, produziert Fehler in einem solchen
Kontext – übrigens dem einzigen, in dem auch im Französischen die Inver-
sion obligatorisch ist (siehe unten 4.3.2).
In gleicher Weise ist sicher auch die erste sporadische Verwendung von
trennbaren Präfixen zu interpretieren:
(51) Ich stehe die Bäckerie und ich kaufen ein Brote und ein Nussgipfel mit eine
Banane ein [...] / ich kaufen ein ball ein (BT 5/6, 3)
(52) Hör mir gut zu (FG 4/5, 7)
(53) Geoffrey liebst spilen im wasser, aund braten Servolas (Paule B 5/6, 8)
(54) Dann die Kinder geht machen der Radrennen (Rebecca L 5/6, 8)
(55) In die Küche, Lulu macht kochen die Suppe (Emilie S 5/6, 5)
82
Andere Kinder schwanken zwischen Distanz- und Kontaktstellung:
(56) aber die vatter meuter [= möchte] das nicht essen, der wollen essen ein Ei
(Thierry E 5/6, 5)
(57) Ich kann spielen Federball und ich kann nicht machen Judo. Ich kann gut
schwimmen und ich kann nicht gut piano spielen [...] Jetzt ich spiele nicht gern
fussball (Catherine E 6/7, 2)
(58) Eines Tages die Familie Holzer möchten verbrannt der wald für machen das
Haus. Aber Paul: Nein, ich gehen finden ein aderen Blatz Finden [für] meine
Haus (Liliana C 5/6, 7)
Und daneben gibt es durchaus vereinzelt auch korrekte, zum Teil erstaunlich
weit gespannte Verbalklammern, die mit Sicherheit nicht als formelhafte
Wendungen interpretiert werden können:
(59) Ich will wan ich binne grosse Circuse-shule machen (Thierry E 5/6, 8)
_______________
49
Auch Ellis geht von einem „level of .75 or above“ als Kriterium für „erworben“
aus (1989: 317).
83
In diesen Tabellen bleiben also alle diejenigen Schülerinnen und Schüler
unberücksichtigt, die weniger als vier Versuche mit einer bestimmten Satz-
struktur unternommen haben; unberücksichtigt bleiben auch alle diejenigen,
bei denen die abweichenden Lösungen mehr als 25% ausmachen.
Diese Restriktion wirkt sich vor allem bei den E-Fragen aus: sie erscheinen
vereinzelt bei fast allen Schülern der 6. Klasse, teils als Intonationsfragen,
teils mit Inversion – aber nur bei vier Schülern häufig genug (und
normgerecht), um in die Tabelle aufgenommen zu werden. Und der Gebrauch
der Verbalklammer – obwohl schon in der 5. Klasse zu beobachten, vgl. Tab.
1 und Tab. 2 – bleibt auf wenige Einzelfälle beschränkt, die ausserdem einen
stark formelhaften Charakter aufweisen, so dass von keinem Primarschüler
mit Sicherheit gesagt werden könnte, er beherrsche sie. Deshalb wird sie in
die Tab. 7 und Tab. 8 nicht aufgenommen.
4.4.2.5 Zwischenbilanz
Zusammenfassend lässt sich für den Erwerb der Satzmodelle auf der Primar-
schulstufe Folgendes festhalten:
1) Die Satzmodelle, die die Primarschulkinder im Verlauf des dreijährigen
Unterrichts angeboten bekommen – und zwar, wie oben ausgeführt,
grundsätzlich ohne explizite Grammatikunterweisung –, werden nicht in
gleicher Weise integriert:
– Mühelos und weitgehend fehlerfrei werden S-V-Sätze und koordinierte
S-V-Sätze übernommen. Bei W-Fragen dauert der Prozess etwas länger,
darf jedoch am Ende der Primarschule als abgeschlossen gelten;
– der Erwerb der E-Fragen setzt später ein und bleibt über längere Zeit
fehlerträchtig; er ist am Ende der Primarschule bei den meisten Schüler-
innen und Schülern noch im Gange;
– die Inversion in Deklarativsätzen wird ignoriert.
84
2) Diese Reihenfolge legt die Vermutung nahe, dass die Kinder zunächst von
der Übertragbarkeit der Basisstruktur ihrer L1 auf L2 ausgehen, wozu
ihnen ja auch der Input hinreichend Anhaltspunkte liefert. Diese SVO-
Hypothese liegt zweifellos den auf Anhieb zielsprachengerechten S-V-
Sätzen zugrunde, sie ist auch die häufigste Fehlerquelle in allen anderen
Satzmodellen, bei denen die Kinder keine Subjekt-Verb-Inversion
vornehmen. Auch bei zusammengesetzten Verbalgruppen (Modalverb +
Infinitiv) gehen fehlerhafte Realisierungen auf das Modell der L1 – Kon-
taktstellung anstelle Distanzstellung – zurück.
3) Subjekt-Verb-Inversionen werden von den Kindern je nach Kontext un-
terschiedlich behandelt. In Fragen hat die Inversion für sie offensichtlich
einen anderen Status als in Deklarativa. Ob dies mit der Existenz entspre-
chender Konstruktionsmöglichkeiten in ihrer L1 zu erklären ist oder mit
der eindeutigen kommunikativen Funktion von Fragesätzen, kann hier
nicht entschieden werden. Dass Letzteres durchaus eine plausible Erklä-
rung sein könnte, wird von den Resultaten von Hammarberg (1985: 157)
bestätigt, der im Schwedischen als L2 eine entsprechende Verzögerung
beim Erwerb der Inversion in Deklarativa im Vergleich zur Inversion in
Fragesätzen festgestellt hat.50
4) Da sich der Beobachtungszeitraum der DiGS-Studie auf zwei Jahre be-
schränkt, können keine sicheren Aussagen über die längerfristige Wirkung
von gezieltem Grammatik-Training (in unserem Fall: der Inversion in
Deklarativa in der 4. Klasse, der W- und E-Fragen in der 5. Klasse)
gemacht werden. Immerhin zeigen Tab. 3 und Tab. 4, dass der Erfolg des
Inversionstrainings schon im zweiten Jahr nachlässt, möglicherweise be-
dingt durch die Konzentration auf Frage-Konstruktionen; und die Ergeb-
nisse der Stichprobe, die in Tab. 5 wiedergegeben sind, lassen starke
Zweifel an der Effizienz eines solchen Inversionstrainings aufkommen.
Und was die W- und E-Fragen betrifft, so steigt offensichtlich in den
Klassen ohne spezielles Fragen-Training der Korrektheitsgrad ebenso wie
in trainierten Klassen (siehe Tab. 3, Tab. 6 und Tab. 7), allerdings in mehr
oder weniger langsam aufsteigender Linie.
5) Einige der auf der Primarschulstufe beobachteten Fehlertypen finden sich
auch im muttersprachlichen Deutscherwerb wieder, so etwa die Tilgungen
von Satzgliedern in W-Fragen, oder auch – beim Erwerb der E-Fragen –
die Beibehaltung der S-V-Reihenfolge. Hingegen bestehen beim Erwerb
von einfachen Deklarativsätzen eklatante Unterschiede: Keines der Kinder
unseres Korpus zögert zwischen Verbzweit- und Verb-Endstellung, wie
_______________
50
„In studies of L2 Swedish, there are some indications that learners acquire inver-
sion in questions earlier than in statements.“ (Hammarberg 1985: 157) Dort auch
weitere Hinweise, etwa auf die Untersuchung von Hyltenstam (1978), dessen Er-
gebnisse in dieselbe Richtung gehen.
85
dies die deutschsprachigen Kinder tun; und die Inversion wird von den
Schülern des DiGS-Korpus in dieser Phase nicht zur Kenntnis genommen,
während sie im Muttersprachenerwerb als Variante zum S-V-Modell
schon sehr früh bearbeitet wird.
Auch das Fehlerverhalten ist somit ein eindeutiges Indiz dafür, dass die
frankophonen Kinder von ihrer L1-Basisstruktur ausgehen und diese als
erste Hypothese an die L2 herantragen.
Bei der Verbalklammer zeigt sich eine kontinuierliche Zunahme, sowohl rein
quantitativ in der Vorkommenshäufigkeit als auch qualitativ in der allmählich
ansteigenden Korrektheitsquote. Der Nebensatz, obwohl erst in der 2. Hälfte
der 8. Klasse eingeführt, wird erstaunlich schnell rezipiert, während die
Inversion – obwohl schon seit frühen Primarschultagen bekannt – weiterhin
am fehleranfälligsten bleibt.
Die Zahlen zeigen ausserdem, dass die schulische Grammatikinstruktion –
zumindest in Genf – den Umweg über langwierige „Suchstrategien“ offen-
sichtlich nicht zu ersparen vermag. Von den 32 Testschülern der 7. Klassen
ist eine einzige Schülerin in der Lage, von Anfang an zielsprachenkonforme
Verbalklammern zu bilden; und nur drei der insgesamt 38 Achtklässler pro-
duzieren ausnahmslos fehlerfreie Nebensätze mit Verb-Endstellung. Alle an-
deren rekurrieren auf interimsprachliche Suchstrategien, mit deren Hilfe sie
sich schrittweise die neuen Satzmodelle erschliessen müssen.
4.4.3.3 Erwerbsstrategien
Transfer aus L1: Für viele Schüler scheint der Zugang zu einer neuen L2-
Struktur zunächst über die L1 vermittelt werden zu müssen, und gerade der
Bereich der Wortstellung scheint sich besonders dafür anzubieten.
88
Das bedeutet, angewendet auf die Verbalklammer: Kontaktstellung anstelle
von Distanzstellung, wie bereits in der Primarschule:
(60) Ich will gehen bei meine Freundin / Wir können spielen Karten. Aber meine
Freundin will spielen Federball ... (Catherine E 6/7, 8)
(61) Um 16 Uhr ich gehe trinken ein Tée und essen eine Kuche (Céline P 7/8, 3)
(62) Wir gehen kaufen in der Stadt (Jean K 6/7, 8)
(63) Mein Freund muss wohnen in New York. [...] Wir muss schlafen zu er. Wir ge-
hen kaufen in der Stadt. Mein Schwester muss einen Buch lesen. Wir müssen
warten ein halb Uhr [= eine halbe Stunde] für Taxi. (Jean K 6/7, 8)
Bei manchen Schülern ist an den Selbstkorrekturen zu erkennen, dass sie die
Regel zwar kennen, dass aber die Umsetzung in den schriftlichen Sprachge-
brauch noch nicht spontan erfolgen kann:
(64) Ulrich und Elsa können in den Wald spazieren gehen [K: können spazieren ge-
hen]. Sie wöllen eine Limonade ins Café trinken [K: wöllen trinken]. Ulrich
und Elsa wollen schreiben ein Karte, für seine Eltern [keine K]. (Yves K 6/7, 8)
(65) Ich kann nicht weil Ursula ist in die Dousche (Alexandra M 7/8, 7)
(66) Und ich muss meine Jacke nehmen weil dass Wetter ist nicht schön (Sophie R
7/8, 8)
(67) Läste woche muss ich im Hause bleiben, weil ich habe tanzen (Nathalie F 7/8,
8)
(68) [...] weil er ist Top Model / weil sie hat ein schön Stimme (Laura A 8/9, 2)
Exkurs zum Nebensatz: Bezeichnend für die Rolle der L1 als „Lückenbüsser“
für noch nicht beherrschte, aber im konkreten Kommunikationskontext
benötige Redemittel der L253 sind die frühen Versuche einiger
Primarschulkinder, Nebensätze zu bilden. Sie übernehmen dabei nicht nur die
französische S-V-Struktur, sondern auch französische Subjunktionen (sie
verwenden also nie, wie das bei deutschen Kindern im L1-Erwerb vorkommt,
„Vorläuferstrukturen“, d. h. Nebensätze ohne Einleiter):
(72) Ich isst der Brot parce que ich aime der Brot (Audrey P 5/6, 6)
(73) Paule liebt ein autre katze qui heisst Gaspard (Aurélie V 5/6, 8)
(74) es gibt der vater qui lesst ein bourt (Rachel F 5/6, 5)
Andere behelfen sich, indem sie die ihnen bekannten deutschen Fragewörter
„umfunktionieren“ zu Relativanschlüssen bzw. zu Subjunktionen (womit sie
die Doppelfunktion des französischen qui und quand auf das deutsche wer
und wann projizieren):
(75) Es war einmal ein Hund wer haben Hunger (Françoise G 4/5, 8)
(76) Ich gehe mit den Bahnhof von der Zug wer komme in um 19.00 Uhr (Céline P
7/8, 3)
(77) Wann macht gut Wetter, gehen wir draussen. Wann macht schlecht Wetter, ge-
hen wir drinnen (Martina D 6/7, 7)
(78) dass ich dich besser fressen kann (Esther P 5/6, 7);
_______________
53
Dies ist bekanntlich die einzige Rolle, die Krashen der L1 beim L2-Erwerb zubil-
ligt: „We ‘fall back’ on first-language rules when a second-language rule is needed
in production but is not available.“ (Krashen 1985: 9f.)
90
Pattern-Lernen: In den Texten anderer Schüler erscheinen – neben abwei-
chenden S-V-Konstruktionen – sporadisch auch normkonforme Verb-End-
stellungen und Inversionen, und zwar am ehesten dann, wenn sie genaue Re-
pliken der ersten Satzexemplare sind, die als Demonstration des neuen Satz-
modells dienten. Es handelt sich hierbei mit grosser Wahrscheinlichkeit um
memorisierte Patterns, die nicht aus ihrem Kontext gelöst und somit nicht als
Struktur sui generis erkannt werden können. Wird von diesem Pattern abge-
wichen, so setzt sich wieder die S-V-Struktur durch.
Dieses Pattern-Gedächtnis scheint allerdings keineswegs verlässlich zu
funktionieren; nach Kriterien, die einer linguistischen Analyse unzugänglich
sind, wird einmal die normkonforme Pattern-Struktur gewählt, einmal die
abweichende L1-Stellungsregel.
Bei der Inversion haben jene Sätze Pattern-Status, die schon seit der Pri-
marschule im schulischen Input vorkommen: heute abend gehe ich – dann
gehen wir – dann kommst du – dort kann sie – jetzt ist es, also mit Temporal-
oder Lokalangabe und einem Pronomen in der Subjektrolle. In genau densel-
ben strukturellen Kontexten erscheint aber auch und dann wir gehen – dann
ich will – am Montag ich fahre:
(79) Im Kino wir sehen „La course au jouet“ das ist ein Film auf Französisch. Dann
gehen wir bei Céline. Dort wir tanzen, wir spielen Blindekuch und wir tanzen
etwas. Blindekuch ist eine gute Spiele also ich bin aber müde. Dann wir Fern-
sehen. Dann gehen wir in Sortplatz Fussball spielen. Dann die Gaste von Céline
seht leur Mütter und dann sie geht off (Catherine E 6/7, 7)
(80) Im Juli und im August macht es 36°. Der Tag, du kannst Buch ... kaufen. [...]
Dann du kannst im Schwimmbad gehen (Sévérine B 8/9, 3)
(81) Mit dem Glück [= glücklicherweise] hältet ein Autofahrer (aber im selben Text,
weiter unten:) Vielleicht mit dem Glück einen Auto haltet. Und noch [= und
wieder ] der Autostoppist wartet (Alexis P 8/9, 3)
(82) In den anderen Tagen kannst du einkaufen (aber in demselben Text auch:)
Dann ich gehe nach Hause (Sophie N 8/9, 3)
(83) In zehn Minuten später kommt ein fleissiger Polizist (dies., 4; und in demselben
Text:) Nach dem Unfall, der armer Mann Werner muss ... / Am nächsten Tag,
Werner ist noch müde.
91
Beim Nebensatz haben weil-Sätze, vereinzelt auch dass-Sätze am ehesten den
Status eines Patterns; sie wurden als erste Nebensatzmodelle explizit einge-
führt. In diesen Sätzen die Modellhaftigkeit der Verb-Endstellung zu erken-
nen und entsprechend auf alle mit Subjunktionen eingeleiteten Sätze zu
übertragen, ist für viele Schüler offensichtlich eine Überforderung. Insofern
sie überhaupt andere als dass- und weil-Sätze produzieren, scheinen sie für
jede neue Subjunktion die Verb-Endstellung neu erarbeiten zu müssen – etwa
wie Schülerin Mélanie C (8/9), deren weil-Sätze durchgehend normkonform
sind, die abweichende dass-Sätze noch korrigieren kann, bei konditionalem
oder temporalem wann hingegen bei der S-V-Struktur bleibt:
(84) ... weil ihre Mutter gut Klavier spielt / weil seine Freudin dort ist / weil sie ein
klein Hause hat / weil seiner Vatter Fussball spielt (2)
(85) ... dass du in den Ferien nach New-York fahren kannst für 496.- Fr. [K:dass in
die Ferien du nach New-York kannst fahren] / weil N.Y. sehr gross ist / weil
meine Gross Mutter krank ist [K: ist krank] / weil mein Deutsch schlecht ist (3)
(86) ... weil er viele arbeiten hat / wann er ist durstig (5)
(87) ... dass das schön ist / dass du hässlich ist / Wann er geht zur Schule (7)
(88) Obwohl sie sehr hungrig waren, haben sie nicht gegessen / Sie haben die Vor-
_______________
54
Müller (1998: 98ff.); vgl. auch S. 62.
92
räte zu schicken beschlossen, damit die Leute essen könnten. Während Frau
Müller in der Supermarkt gegangen ist ... (Delphine F 9/ESC10, 3)
(89) Am Wochenende tue ich viel, wenn ich keine Aufgaben habe. [...] Aber dieses
Wochenende habe ich nicht viel Aufgaben, weil es das Schluss vor dem Semes-
ter war. [...] Ihr wisst sicher wie meine Partnerär vor dem Spiel in meine Klasse
sind (Nicolas B 9/C10, 2)
(90) Sie wohnt hier, seit sein Mann gestorben ist. Obwohl er ihr viele Deutsch
Marks gegeben hätte, hat sie ... / ... dass Sie die älteste Frau der Welt sind
(ders., 5)
(91) Ich kannte nicht, warum sie Melanie hiess / als ob wir Vögel wären (ders., 8)
(92) ...und er sagt wo will er fahren / ...und er sagt wo sind seine Papiere (Sévérine
B 8/9, 4)
(93) Sie haben ihr gesagt, dass sie in ihren Zimmer musste gehen (Sophie B 9/C10, 7)
(94) Seine Regenmantel ist zu Hause und regnet es. [...] Aber hat er [„K“ aus: aber
er hat] einen Igel überfahren (Jeanne W 8/9, 3)
(95) Aber ist Petra nicht nach Hause gekommen (dies., 7)
(96) Aber haben sie leider nicht die Vorräte (Delphine F 9/ESC10, 3)
(97) Es regnet, ist es um 23 Uhr 30. Der Himmel ist dunkel und schwarz, donnert es
und blitzt es. Auf einer Strasse hat ein Mann ... (Alexis P 8/9, 3)
(98) Ist es ein grosse Durcheinander. Gibt es viele packen (Corinnee P 9/ESC10, 3)
(99) When gehe ich zum Roxane hause, nehme ich um elf Uhr frühstücken / Wenn
mache ich mit Céline „babysitting“ kann ich baden die Kinder um acht Uhr
(Odette A 9/ESC10, 8)
(100) Obwohl habe ich eine schlechte Note, bin ich mit meine Familie ... / Während
sind wir im Hotel, hat es stark geregnet (Rodolfo L 9, 3; derselbe Schüler
schreibt in demselben Text:) Während meine Familie und ich in Australia sind,
haben wir Lotto gespielt. (Und derselbe Schüler im nächsten Aufsatz:) 3 Uhr
später, sie sind sehr schick, jetzt sie gehen ins Kino (4).
(101) Während die Ferien meine Schwester sein Geburstag hatte (Odette A 9/ESC 10, 3)
* Es handelt sich hierbei um dieselbe TP, die auch – als einzige – die Verbalklam-
mer zielsprachenkonform realisieren kann. Zudem produziert sie Inversion nach
vorangestelltem „Nebensatz“ (mit S-V-Stellung), was im Unterricht auf dieser
Stufe noch gar nicht behandelt wurde (Wann macht gut Wetter gehen wir draus-
sen) – ein Indiz, dass sie eine ausserschulische Deutsch-Inputquelle haben muss.
** Bei einer der beiden Testpersonen gehen sämtliche Inversionen auf Korrekturen
zurück; bei der anderen sind alle Inversionskontexte richtig realisiert, wenn sie
dem Pattern Temporal-/Lokalangabe-Verb-Pronomen entsprechen (heute gehe ich
– dort kaufen wir ..). Bei nominalem Subjekt fällt sie in Verbdrittstellungen zu-
rück.
(102) Heute, fahre ich [K: ich fahre] mit dem Strassenbahn ... Dort, kaufe ich ...
Dann, gehe ich ... Am abend, gehe ich ... Um 18 Uhr, in 10 minuten meine
Mutter und mein Vater kommen ... (7/8, 3)57
(103) Am Abend spielen wir ... Morgen, meine Eltern fahren ... In die Februarfe-
rien gehe ich ... Dort mache ich (8/9, 4)
________________
zieltes Training im Bereich der Satzmodelle stattfinden kann, liess sich in unserem
Korpus an den Daten einer Klasse mit auffallend vielen Inversions-Generalisie-
rungen in Nebensätzen beobachten. Rückfragen ergaben, dass in dieser Klasse die
Struktur „vorangestellter Nebensatz + Inversion im folgenden Hauptsatz“ Gegen-
stand intensiven Übens gewesen war.
101
Verbalklammer Nebensatz Inversion
Schule Kontexte korrekt Kontexte korrekt Kontexte korrekt
ECG (19 TP) 103/53 0.66 13/33 0.28 20/45 0.31
ESC (11 TP) 203/17 0.92 113/19 0.86 70/58 0.55
Coll. (10 TP) 190/4 0.98 192/28 0.87 174/24 0.87
Tab. 14: Erwerbsstand in der 10. Klasse in ECG, ESC und Collège
Es zeigt sich erwartungsgemäss, dass sich die Schülerinnen und Schüler mit
den höchsten Erfolgsquoten im Gymnasium wiederfinden; der Satzmodell-
erwerb kann bei ihnen für Verbalklammer und Nebensatz als abgeschlossen
gelten; die Inversion beherrschen immerhin knapp zwei Drittel. Ihnen folgen
die Schüler der höheren Handelsschule, von denen zwei Drittel den Neben-
satz und ein knappes Fünftel die Inversion quasi fehlerfrei realisieren können.
Das Schlusslicht bildet die ECG: bei einem guten Drittel der Schüler ist noch
nicht einmal der Beginn des Erwerbs der Verbalklammer nachweisbar, und
nur wenig mehr können sie überwiegend korrekt realisieren. Den Nebensatz
ignorieren 95%, und die Inversion – die rein quantitativ häufiger als der
Nebensatz vorkommt – erscheint nur in Form fester Patterns; die eine Schü-
lerin, die in Tab. 15 bei Inversion unter Rubrik III ausgewiesen ist, kann die-
sen Stand in der nächsten Klasse nicht halten: sobald sie sich häufiger auf In-
versionskontexte einlässt, geht der Korrektheitsgrad auf 0.61 zurück. – Somit
bestätigen Tab. 14 und Tab. 15 die Erwerbssequenz, die sich im Cycle ab-
zeichnete: Verbalklammer – Nebensatz – Inversion.
102
4.4.4.1 Erwerbsfolge und Erwerbsstrategien
Nicht nur in der Erwerbsfolge, auch in den Erwerbsverfahren halten die
Schüler der weiterführenden Schulen an ihren Praktiken aus dem Cycle fest.
Nach wie vor sind S-V-Strukturen in Inversions- und Nebensatzkontexten die
häufigste Fehlerquelle:
(104) Wann er offen die Türr von die Restaurant etwas fällt in sein Kopf
(Emmanuelle C ECG 10/11, 7)
(105) When ich war 15 Jahre alt, meine Vater wollte mir sprechen [...] Er sagte immer
dass sein beste moment wäre seine tot weil er konnte träumen da er wollte
(Gisèle T C 10/11, 8)
Nach wie vor sind in Sätzen, die mit (al)so eingeleitet sind, mit hoher Wahr-
scheinlichkeit S-V-Stellungen zu prognostizieren:
(106) Also ich möchte sie in der Schule lernen / So ich möchte viele Sprachen lernen
(Laure S ESC 12/M, 3) – Also sie bauen viele Sachen auf (dies., Matu)
(107) So er hat nicht bemerkt, dass dieses Spiel sehr ernst war (Sabine D C 12/M, 1)
(108) Mein Lieblingsort ist eine Strand im Meer wo gehe ich in den Ferien. [...] er ge-
fällt mir auch, weil ich habe viele freunde ud freundine dort. Neben die Strand,
gibt es auch Restauranten wo kann man sehr gut essen (Manuel C C 10/11, 1)
Und nach wie vor sind Verb-End- und V-S-Stellungen in jenen Kontexten am
ehesten fehlerlos, in denen sie erstmals präsentiert wurden: Nebensätze, die
mit dass und weil eingeleitet sind (fehleranfällig hingegen bleibt wenn):
(109) [...] weil sie am Samstagabend mit Cora zur ein Party gehen sind. Alle Leute
haben grünen Haaren, und when Cora und Petra sind gekommen um 8:00 Uhr,
Fredrench, ein Freund, hat Petra genommen bei der Arm [...] When sie ist mit
grünen Haaren zum Frühstück gekommen ... (Silvia M ECG 10/11, 7)
(110) Ich glaube, dass P. Handke dieses „Actionslos“ zeigen wollte, aber habe ich
leider nicht gemocht (Antoine K C 12/M, 1)
(111) Naher, muss man viel Deutsch hören und viel Deutsch sprechen. Kann man ein
oder zwei Monate in Deutschland fahren (ders., 4)
(112) Wenn haben wir fertig zu diskutieren, sind wir wieder herein (Cécile L ECG
10/11, 8)
(113) Es ist richtig, weil jeden Morgen kann ich mich nicht aufwachsen (Sabine D C
12/M, 4)
(114) ... weil wann es regnet, kann ich lesen zu Hause (Yann K ESC 12/M, 5)
(115) Aber ich denke, dass, wenn ich alles mitgemacht hätte, hätte ich nichts mehr zu
entdecken (Ines I C 10/11, 3)
(116) Wir wird alles machen damit haben sie ein gutes Leben (vgl. im selben Text:
Deshalb müssen wir auf der Umwelt aufpassen) (Laetitia V C 12/M, 5)
Wortartenverwechslungen dieser Art sind übrigens auch für die seltenen Fälle
von Verb-Endstellungen in S-V-Kontexten verantwortlich zu machen (was
offensichtlich nicht als Generalisierung von V-Endstellung interpretiert
werden kann):
(117) Ein afrikanisches Kind kann nicht in Ihrer Schule bleiben, deshalb ich sehr
schockiert bin (Véronique C ESC 12/D, 5)
104
Nur in einem einzigen Fall konnte im Korpus ein extremer Fall von Generali-
sierung der Verb-Endstellung beobachtet werden, die dann allerdings auf
sämtliche Satzmodelle übergreift; er sei als Kuriosum angeführt:
(118) Jeden Tag in Mainz, ein Mann getöt war. [...] Am Monttag, um 19 Uhr er sin
Arbeit vertig gehabt. Um 19h15 er nach Hause gekommen ist. Er sehr müde
war, Helmut auch sehr hungrig war. Wann er gekommen ist, er nimmt die Ha-
bendessen und eine Flache Wein getrunken hat. Nach dem drei Stunden, zwei
Einbrecher bei Helmut gekommen sind. Was passiert ist [„K“ aus: ist passiert]
nach dem 23 Uhr? Die Einbrechern Helmut getötet war und sie weckgegangen
sind. Zu Hause ein gross Durcheinander war. Helmut tot war und zwei Einbre-
cher gegangen sind. (Suzanne T ECG 10, 3)
(119) Sie fragen warum sie es gemacht hat. Petra sagte, dass sie es nicht weisst. Sie
sagte, dass heute morgen sie aufgewachten war und, dass sie grünen Haaren
hätte. Ihr klein Bruder kam mit ein klein lächeln so sie fragen ihn warum? [...]
Und er sagte, dass er es gemacht hat, weil am Schüle die Lehrer sagen haben,
dass in Schweiz heute die „Escalade“ war und für dieses Tag die ganze Leuten
trägten verückte Kleidern (ECG 11/12, 7)
Aus unseren Texten gewinnt man den Eindruck, dass solche eigenwillig vor-
gehenden Probanden langfristig gesehen durchaus Erfolgschancen haben –
jedenfalls bessere als jene, die sich bemühen, die als bekannt vorausgesetzten
Satzmodelle zu produzieren, auch wenn sie die erforderlichen Vorstufen da-
für noch nicht durchlaufen haben. So gibt es beispielsweise in unserem Kor-
pus Texte aus 10. Klassen (bezeichnenderweise vorwiegend in der ECG) mit
zielsprachengerechten Inversionen, aber ohne Nebensätze. Wenn die ersten
Nebensätze erscheinen, kommt es in Inversionskontexten wieder zu
Verbdrittstellungen (oder zu Verb-End-Generalisierungen), daneben aber
105
auch zu Verb-Endstellungen in Inversionskontexten, und diese gegenseitige
Kontamination von Nebensatz und Inversion bleibt – zumindest bis zum Ende
der Beobachtungszeit – bestehen, d. h. bis zum Ende des 11. Jahres.62
Möglicherweise sind dergleichen Phasenverschiebungen zwischen Gram-
matikinstruktion einerseits und jeweils realem individuellem Erwerbsstand
andererseits dafür verantwortlich, dass es zu Textproduktionen kommt – üb-
rigens in allen weiterführenden Schultypen, einschliesslich des Gymnasiums –
, in denen keinerlei Erwerbsstrategie und auch keinerlei Erwerbsfortschritt
mehr auszumachen ist. Über die Wahl der einen oder anderen Verbstellung
scheint der Zufall zu entscheiden; die Autoren solcher Texte haben es offen-
sichtlich aufgegeben, jemals die Zusammenhänge zwischen der Verbstellung
und ihrer jeweiligen Funktion im Satz zu durchschauen. Je ein Beispiel aus
ECG und Collège:
(120) Es war Sonntag und die Familie Bran mit der Grossmutter gegessen haben. Am
Sonntag alle die Familie sind gut anziehen aber dieses Tag, Petra mit grünen
Haaren zum Früstück gekommen. [...] Wenn sprechen sie, alles gehts besser
und war Petra glücklich. (Sandrine F ECG 11/12, 7)
(121) Die Spezialisten sagen ihr das sie konnen nicht machen für ihr. Er hat ein
Freund der nahme ist Alfred der will ihn seine Hilfe bringen, aber Max sagt das
er konnt allein machen. Also Max will in eine Insel Fliegen um alle zu verges-
sen (Manuel C C 10/11, 8)
_______________
62
Beispiele hierzu aus vier Arbeiten der Schülerin Sandra C (ECG10/11): Im 3. Auf-
satz produziert sie 3 zielsprachenkonforme Inversionen, einmal sogar mit Topika-
lisierung eines Objekts. Der erste Nebensatz erscheint im 5. Aufsatz, wobei die
Verb-Endstellung auch auf den einzigen Inversionskontext generalisiert wird. In
der 7. Arbeit sind alle drei weil-Sätze korrekt, einer von zwei dass-Sätzen richtig,
eine Inversion korrekt, eine abweichend. Die einzige richtige Inversion in der 8.
Arbeit (also am Ende der 11. Klasse) ist das Resultat einer Korrektur, die vier an-
deren sind abweichend, und von den beiden weil-Sätzen ist einer konform, der an-
dere abweichend. – Entsprechendes findet sich bei Silvia M aus derselben Klasse:
nach anfänglich korrekten Inversionen tauchen die ersten Nebensätze (mit weil) in
der 5. Arbeit auf – also Anfang der 11. Klasse –, zuerst abweichend, dann korrekt,
während nach dass und when S-V-Strukturen gebraucht werden (also offensicht-
lich wieder ein Fall von item-by-item-learning). In der 6. Arbeit gibt es keine In-
versionskontexte, in der 7. und 8. Arbeit sind 3 bzw. 4 Inversionskontexte abwei-
chend; die einzige korrekte Realisierung steht in der 8. Arbeit nach heute. In Sil-
vias Erwerbsverlauf setzt sich also offensichtlich im Endeffekt die „natürliche“
Reihenfolge Nebensatz-Inversion doch durch.
106
_______________
63
Den individuellen Unterschieden und dem Strategiengebrauch ist Kapitel 6 ge-
widmet.
107
Schule Nebensatz Inversion
Kontexte korrekt +korr/TP Kontexte korrekt +korr/TP
ESC (10 TP) 229/54 0.81 7 = 70% 98/38 0.72 4 = 40%
Collège (10 TP) 312/41 0.88 10 = 100% 169/23 0.88 9 = 90%
Gezählt: im Collège: 12. Klasse + Maturität; in der ESC: Diplom und Maturität
Tab. 17: Erwerbsstand bei der Maturität (ESC und Collège)
Im Vergleich zu Tab. 14 und Tab. 15, die den Stand zu Beginn des postobli-
gatorischen Unterrichts zeigten, bieten Tab. 16 und Tab. 17 keine Überra-
schung mehr. Sie führen lediglich vor Augen, dass der Satzmodellerwerb
kontinuierlich entlang der Achse Verbalklammer – Nebensatz – Inversion
weitergeht: in der ECG wird im Verlauf der drei Jahre bis zum Ende der 12.
Klasse der Umgang mit der Verbalklammer konsolidiert, der Nebensatz be-
findet sich in der Phase intensiver Bearbeitung, und bis zur Inversion stösst
nur eine Minderheit von Schülern vor. In der höheren Handelsschule wird der
Nebensatz von einer deutlichen Mehrheit quasi fehlerfrei produziert, im-
merhin zwei Fünftel schaffen es bis zur Inversion. Im Collège kann die ganze
Skala der Satzmodelle als beherrscht angenommen werden; nur die
Schwächsten müssen sich noch mit der Inversion auseinandersetzen.
Zum Abschluss des Analyse-Teils sei noch Tab. 18 gezeigt, die an fünf
Testpersonen exemplarisch vorführt, wie bei der quantitativen Ermittlung der
Satzmodelle vorgegangen wurde.
In der Horizontalen sind die verschiedenen untersuchten Satzmodelle auf-
geführt: Hauptsatz mit S-V-Stellung, koordinierte Hauptsätze, W- und E-
Fragen, Distanzstellung, Nebensatz und Inversion. Für jeden der acht Auf-
sätze wurde für jedes Satzmodell die Korrektheitsquote erhoben (sie gibt, wie
bereits oben ausgeführt, das Verhältnis zwischen den Kontextvorkommen und
den normgerechten Realisierungen des jeweiligen Satzmodells an; 1.0
bedeutet: alle Kontexte des entsprechenden Saztmodells sind normkonform
realisiert). Kommt nur ein Kontext vor, so steht die Korrektheitsquote in
Klammern; sind es mehr als drei, steht die Korrektheitsquote im Fettdruck.
Kursiv hinter dem Schrägstrich ist die absolute Zahl der Kontexte pro Satz-
modell aufgeführt.
Wie autonom sind nun die Erwerbsverläufe im Bereich der Satzmodelle unter
den Bedingungen gesteuerten Erwerbs? Wie „lernbar“ sind die Verbstel-
lungsregeln des Deutschen, wenn sie in der Reihenfolge unterrichtet werden,
die die zur Zeit der Datenerhebung in Genf verwendeten Lehrwerke „Cours
romand“ und „Vorwärts“ anbieten?
1) Auf den ersten Blick können unsere Ergebnisse durchaus Argumente zu-
gunsten der „Lehrbarkeit“64 bzw.“Lernbarkeit“ der Satzmodelle liefern: De-
klarativa mit der S-V-Struktur, koordinierte Deklarativa dieser Struktur, W-
und E-Fragen können von den Primarschulkindern durchaus integriert und
produktiv gebraucht werden – alles Strukturen, die in der Primarschule ef-
fektiv vermittelt werden, wenn auch implizit. Im Cycle d’orientation gehorcht
die Erwerbsfolge Verbalklammer-Nebensatz ebenfalls der Einführungsfolge
_______________
64
In Übernahme des von Pienemann in die erwerbstheoretische Debatte eingeführten
Terminus „teachability“ (Pienemann 1984). Näheres dazu im Schlusskapitel unter
7.4.
110
des Grammatikprogramms. Ob allerdings die letztere Folge wirklich als
Beweis für ihre „Lehrbarkeit“ gelten kann, ist seit Ellis’ Untersuchung zum
gesteuerten Deutscherwerb doch zweifelhaft: seine Probanden waren, anders
als unsere „Vorwärts“-Schüler, in der Reihenfolge INVERSION –
PARTIKEL (= die ZISA-Bezeichnung für Verbalklammer) – VERB-END
instruiert worden und erwarben dennoch PARTIKEL vor den beiden anderen
Satzmodellen.65 Die Vermutung kann also nicht von der Hand gewiesen
werden, dass weniger die Cycle-Schüler die „Lehr- und Lernbarkeit“ der
Reihenfolge Verbalklammer-Nebensatz demonstrieren, sondern dass sich
vielmehr die „Vorwärts“-Autoren von richtigen Intuitionen leiten liessen...
Eindeutig nicht lehr- und lernbar ist die Inversion in Deklarativa, wenn sie
entgegengesetzt zur natürlichen Erwerbsfolge instruiert wird. Weder die Prä-
senz von Inversionssätzen im impliziten Input seit der Primarschule noch das
explizite Training im Cycle vermögen die Inversion aus ihrer Endposition im
Satzmodellerwerb wegzubewegen.
2) Für die Frage der Lehr- und Lernbarkeit sind auch die Erwerbsverfahren
der Schulkinder aufschlussreich. Es zeigt sich, dass sich die Lernenden das im
Unterricht vermittelte Regelwissen wenn überhaupt, dann nur in be-
schränktem Ausmass zunutze machen können. Auf keinen Fall erlaubt es ih-
nen, neue Strukturen zielsprachenkonform anzuwenden, ohne zuvor eine
ganze Abfolge von Suchstrategien zu durchlaufen, durch die sie sich der
neuen Strukturen und ihrer Anwendungsbedingungen selbst vergewissern
müssen. Individuelle Unterschiede im Erwerbserfolg zeigen sich in erster Li-
nie darin, wie schnell die Lernenden fündig werden.
4) Diese Erwerbssequenz weist Parallelen zum L1- und zum natürlichen L2-
Erwerb des Deutschen auf, allerdings auch aufschlussreiche Unterschiede.
− Der entscheidende Unterschied zum L1-Erwerb des Deutschen besteht in
dem verzögerten Erwerb der Inversion, die von deutschen Kindern sehr
früh, fast parallel zur S-V-Stellung erworben wird, wenn auch, wie S. 60
ausgeführt, nicht ganz so zügig und fehlerlos wie in früheren Untersu-
chungen angenommen.
− Vom natürlichen Erwerb des Deutschen als L2, wie er von den ZISA-For-
schern beschrieben wird, unterscheidet sich unsere Sequenz einmal durch
das frühe Erscheinen von Inversion in Fragesätzen (also noch vor der
Verbalklammer, „PARTIKEL“), zum andern in der Umstellung der Er-
werbsfolge INVERSION – V-END.
_______________
66
Vortrag anlässlich der IDT in Amsterdam 1997; das in Canberra laufende For-
schungsprojekt ist noch nicht abgeschlossen.
112
sucht, in Anlehnung an Tracy67 zu sagen), dann würde aus dieser ungefähren
Gleichzeitigkeit vielleicht doch auch ein deutlicheres Nacheinander von Ne-
bensatz und Inversion. Dass sich auch aus sprachtheoretischen Überlegungen
heraus ein solches Nacheinander begründen liesse, hat Jordens (1988b) in
seiner Uminterpretation der ZISA-Daten vorgeführt: nach Jordens muss den
Lernern zuerst der Zusammenhang zwischen Verb-Endstellung in Verbindung
mit der Existenz eines „Komplementierers“ (einer Subjunktion) klargeworden
sein, bevor sie das Verb in Zweitposition bringen können:
We claim that ... the acquisition of the positioning of the finite verb in embedded
sentences is a prerequisite for the acquisition of Verb Second. (1988b: 156)
6) Die erste Hypothese, mit der die Schülerinnen und Schüler an die deut-
schen Satzstrukturen herangehen, ist die der Identität der Basisstruktur beider
Sprachen. Im Input der Primarschule finden sie auch hinreichend Evidenz für
die Richtigkeit dieser Annahme; sie bleiben aber zunächst auch dann bei den
S-V-Strukturen ihrer L1, wenn sie auf Cycle-Ebene mit der Verbalklammer,
der Verb-Endstellung und der Subjekt-Verb-Inversion konfrontiert werden.
Sich mehr oder weniger früh von der französischen Basisstruktur lösen zu
können, ist ein sicheres Indiz für mehr oder weniger erfolgreichen Spracher-
werb.68
_______________
67
Tracy (1994: 64) berichtet von Kindern in frühen Stadien des Deutsch-L1-Er-
werbs: „[...] they also produce expressions of more or less formulaic and idiomatic
character which already simulate the V1/V2 pattern“ (Hervorhebung im Text).
68
So stellt auch Stefanie Haberzettl in ihrer Untersuchung zum Verbstellungserwerb
durch Kinder mit L1 Türkisch bzw. Russisch fest: „Die Lerner nutzen ihr L1-Wis-
sen, nicht indem sie ‘blind’ Oberflächenstrukturen transferieren, sondern indem sie
113
7) Die starke Präsenz der muttersprachlichen S-V-Struktur könnte auch für
die oben dargestellte Erwerbssequenz verantwortlich sein. Unsere Probanden
scheinen die deutschen Satzmodelle in der Reihenfolge ihrer zunehmenden
Differenz von der L1-Basisstruktur zu erwerben:
− Die S-V-Deklarativa können direkt aus dem Französischen übernommen
werden;
− dasselbe gilt für koordinierte S-V-Deklarativa;
− bei W-Fragen sind auch im Französischen S-V-Inversionen häufig;
− E-Fragen mit Inversion gelten im Französischen zwar als schriftsprachlich,
sind aber in bestimmten Kontexten durchaus üblich;
− Verbalklammern wie im Deutschen gibt es im Französischen nicht; doch
kann das konjugierte Verb von den infiniten verbalen Elementen des Ver-
balkomplexes zumindest durch Klitika und durch Adverbien getrennt
werden. Zudem bleibt auch bei der deutschen Verbalklammer die Reihen-
folge S-V erhalten, auch wenn der Verbalkomplex aufgespalten wird und
die infiniten Verbalteile ans Satzende treten;
− Verb-Endstellungen sind im Französischen unbekannt, doch folgt auch hier
noch das Verb dem Subjekt, wenn auch in maximalem Abstand;
− Inversionen verstossen gegen die Basisstruktur S-V des Französischen; sie
sind in ihrem Gebrauch in Deklarativa stark ritualisiert und bleiben gene-
rell dem gehobenen Stil vorbehalten.
Diese Hypothese von der bestimmenden Rolle der Basisstruktur der L1 für
den Satzmodellerwerb in der L2 wird inzwischen von den Ergebnissen ver-
schiedener Arbeiten zum L2-Erwerb des Deutschen gestützt. So konnte etwa
Laure Klein-Gunnewiek bei niederländischen Deutschlernern keinerlei Er-
werbsphasen für die Satzmodelle beobachten; alle Modelle wurden mehr oder
weniger parallel erworben69 – was nicht erstaunlich ist, da das Nieder-
ländische dieselben Verbstellungsregeln kennt wie das Deutsche. – Stefanie
Haberzettl beobachtete bei türkischen Kindern, dass ihnen die Rechtsköpfig-
keit ihrer L1 für den Erwerb der deutschen Verbstellungsregeln die besseren
Ausgangshypothesen liefert als ihrem russischen Testkind seine linksköpfige
Muttersprache, so dass die türkischen Kinder sowohl in der Sequenzierung als
auch im Tempo des Verbstellungserwerbs dem russischen Kind überlegen
sind.70
________________
_______________
71
Damit kommen wir der oben (siehe S. 43) skizzierten theoretischen Position von
Wode und Ellis nahe.
116
XXX
5 Erwerb der Morphologie
Helen Christen
5.1 Einleitung
Die Ergebnisse aus Untersuchungen zum L1-Erwerb des Deutschen, die aus
den Arbeiten von Clahsen (1989) und Clahsen/Rothweiler (1992) hervorge-
gangen sind, wertet Booij (1996) als Indiz dafür, dass die inhärente Flexion,
120
die in der Regel semantische Funktionen enkodiert, zeitlich vor kontextueller
Flexion, die syntaktische Kongruenzen ausdrückt, erworben wird. Inwiefern
nun diese beiden Flexionstypen auch beim L2-Erwerb noch eine Rolle spie-
len, scheint uns überprüfenswert: Bei den Lernenden ist von einer Bewälti-
gung der gesamten Flexion in der L1 auszugehen, ob sie nun in der L2 wie-
derum mehr Leichtigkeit zeigen, inhärent als kontextuell zu flektieren, bleibt
zu überprüfen. Im Bereich der Verbalmorphologie müsste dann der Ausdruck
der Temporalität „leichter“ erworben werden als die Subjektkongruenz, im
Bereich der Nominalmorphologie der Ausdruck des Plurals „leichter“ als je-
ner des Kasus (wobei beim L2-Erwerb die L1 als Einflussfaktor nicht ausge-
schlossen werden kann und gerade im vorliegenden Fall von frankophonen
Deutschlernenden Plural vor Kasus einfach deshalb früher erscheinen könnte,
weil beim Plural im Unterschied zum Kasus Transfers aus der L1 möglich
sind).
Der Erwerb der kontextuellen Flexion ist nun bei frankophonen Deutsch-
lernenden in zweierlei Hinsicht besonders interessant: das Deutsche und
Französische ist nicht deckungsgleich was den Umfang der Kategorien be-
trifft, die kontextuell flektieren: während im Französischen die Partizipien in
einigen Fällen kontextuelle Flexion in Abhängigkeit vom Genus des Subjekts
(bei der Perfektbildung mit dem Verb être: elle est partie) oder vom Genus
vorangehender Akkusativobjekte (les femmes que j’ai vues) verlangen, sind
diese im Deutschen beim Gebrauch als Tempusformen immer nur inhärent
flektiert; im Deutschen flektieren die komplexen Nominalgruppen nach dem
Kasus, während dies im Französischen nur bei den Pronomen der Fall ist.
Natürliche Morphologie
Die Natürliche Morphologie, eine Übertragung des Konzepts der bereits frü-
her etablierten Natürlichen Phonologie auf die Morphologie, geht davon aus,
dass es in den natürlichen Sprachen Eigenschaften gibt, die der Kapazität des
menschlichen Gehirns und den Bedingungen der menschlichen Kommunika-
tion mehr oder weniger gut entsprechen. Der Zugriff zur Sprache ist damit ein
funktionalistischer und steht in einem gewissen Gegensatz zu generativis-
tischen Modellen, die „tend to focus on very specific areas of language and
come up with primarly system-internal structural explanantions based on ab-
stract notions.“ (Fabri 1998: 3)
Die Natürlichkeitstheorie postuliert Hierarchien von sprachlichen Merk-
malen, die durch die Bedingungen der biologischen und kommunikativen
Gegebenheiten des Menschen etabliert werden. Die Natürlichkeitstheorie geht
zudem von einer Teleologie sprachlicher Veränderungen aus, die darin
besteht, dass die Sprecherinnen und Sprecher aufgrund ihrer Natur zu einer
121
Sprache neigen, die – im Falle der Morphologie – den menschlichen Kodie-
rungskapazitäten und den Bedingungen der Kommunikation möglichst opti-
mal entsprechen.
In der Konzeption der Natürlichen Morphologie wird davon ausgegangen,
dass die optimalen, biologisch und kommunikativ angemessensten Kodie-
rungen sich empirisch nachweisen lassen müssen rsp. erst über die Empirie
überhaupt greifbar werden: zum Beispiel wird angenommen, dass die
„besten“ Kodierungen, d. h. damit die natürlichsten,2 auch jene sind, die in
den Einzelsprachen die grösste Verbreitung haben, die bei einem
Sprachwandel „automatisch“ angestrebt werden, die von den Kindern zuerst
erworben werden (rsp. bereits vorausgesetzt werden können) und umgekehrt
bei Aphatikern zuletzt aufgegeben werden. Die Zirkularität von definitori-
scher Festlegung von Natürlichkeitshierarchien und empirischen Auffin-
dungsprozeduren ist leider nicht zu umgehen.
Wurzel (1984; 1994), einer der massgeblichsten Vertreter der Natürlichen
Morphologie, geht davon aus, dass eine optimale Symbolisierung drei An-
forderungen genügt, dass sie nämlich konstruktionell ikonisch ist (was se-
mantisch „mehr“ ist, ist auch formal „mehr“; Plural hat mehr formalen Um-
fang als Singular), dass sie transparent ist (eine Form hat eine Bedeutung) und
uniform ist (eine Bedeutung hat eine Form).
In der Konzeption der Natürlichen Morphologie sind die Daten aus dem
Spracherwerb – wie bereits dargelegt – unabdingbar für die Etablierung von
Natürlichkeitshierarchien. Da nun Einzelsprachen in ihrer spezifischen Aus-
prägung mehr oder weniger weit von einer morphologisch idealen Symboli-
sierung entfernt sind, ist anzunehmen, dass Lernende mit diesen Eigenheiten –
in Abhängigkeit von ihrem „Natürlichkeitsgrad“ – unterschiedlich zu Rande
kommen, dass sie im L1-Erwerb „Natürliches“ vor „weniger Natürlichem“
lernen. Nicht ausgeschlossen ist, dass derartige „natürlichkeitsbedingte“
Erwerbsreihenfolgen auch beim L2-Erwerb eine Rolle spielen, was beispiels-
weise Pishwa (1985) annimmt und anhand von schwedischsprachigen
Deutschlernenden nachzuweisen versucht. Interimssprachen könnten sich
überdies dadurch auszeichnen, dass die Lernenden derart von der Zielsprache
abweichen, dass sie anstelle der dort geforderten Symbolisierungen Alternati-
ven realisieren, die eher den Prinzipien der Natürlichen Morphologie entspre-
chen, also optimalere Kodierungen sind. Es wäre also anhand der DiGS-Da-
ten die Frage zu stellen, ob die besondere Leichtigkeit, mit der bestimmte
_______________
2
Häufig werden die Begriffe „unmarkiert“ und „markiert“ statt „natürlich“ und
„weniger natürlich“ verwendet. Für Keller (1994: 164) handelt es sich dabei um
„eine unselige terminologische Doublette“, die keinerlei Erklärungskraft hat. Sein
Vorschlag zu einer sinnvollen begrifflichen Differenzierung besteht darin, dass er
„Natürlichkeit“ für die Ebene des menschlichen Verhaltens und „Markiertheit“ für
die Ebene der Sprache verwendet haben möchte.
122
morphologische Phänomene erworben werden, allenfalls damit erklärt werden
könnte, dass diese die Bedingungen an eine optimale Kodierung erfüllen. Zu-
dem wären die interimssprachlichen Phänomene, d. h. die Abweichungen da-
raufhin zu überprüfen, ob die Lernenden sich in einem gewissen Lernerstadi-
um mit Kodierungen behelfen, die im Unterschied zu den Zielformen struk-
turell ikonisch, uniformer und transparenter sind.
Bevor die Daten aus dem DiGS-Korpus auf die lernersprachliche Mor-
phologie hin überprüft werden, soll an dieser Stelle kurz darauf eingegangen
werden, worin für Anderssprachige die grundsätzlichen Besonderheiten der
deutschen Verbal- und Nominalmorphologie – auch unter dem Gesichtspunkt
der beiden oben erläuterten Aspekte – bestehen könnten. Die Schwierigkeiten
des Deutschen als Zielsprache L2-Lernender sind bei Wegener (1995b) in
bezug auf die Nominalflexion eindrücklich herausgearbeitet – obwohl natür-
lich immer bedacht werden muss, dass das, was dem Linguistenauge als
schwierig erscheint, dies für die Lernenden noch lange nicht zu sein braucht.
Deutsch ist eine flektierende Sprache und hat als solche den entschiedenen
„Nachteil“ weder transparent noch uniform zu sein: Polyfunktionale und be-
deutungsamalgamierte Flexive gibt es sowohl was die Deklination als auch
die Konjugation betrifft (vgl. die „Bedeutungsinflation“ von -e im verbalen
und nominalen Bereich). Betrachtet man etwa die starken Präteritumsformen,
so ist auch die Bedingung der konstruktionellen Ikonizität nicht gegeben (vgl.
ich gebe vs. ich gab [unter der Voraussetzung, dass Präsens die „natürlichste“
Tempusform ist]. Dass eine derart organisierte Sprache insbesondere die
lernersprachliche Analyse des Inputs erschwert, ist unmittelbar einleuchtend.
Als Besonderheit darf auch gesehen werden, dass für bestimmte Funktio-
nen nicht ein einziges Symbolisierungsverfahren zum Zuge kommt, sondern
verschiedene. So kann der Plural von Nomen infigierend durch Umlaut mar-
kiert werden (Mutter vs. Mütter), aber auch suffigierend (Auto vs. Autos),
ebenso gibt es beim Präteritum suffigierende und (pseudo-)infigierende Ver-
fahren (machte vs. ging). Eine Wortart kann zudem Trägerin verschiedener
Enkodierungen sein: Verben beispielsweise drücken „obligatorisch“ Subjekt-
kongruenz und gleichzeitig Tempus aus – in synthetischen Verbformen (wie
beim Präsens und beim Präteritum) werden die verschiedenen Funktionen an
einer einzigen Form ausgedrückt, bei analytischen Formen dagegen (wie beim
Perfekt, wie bei den Prädikaten mit Modalverben) sind die Symbolisierungen
auf verschiedene verbale Komponenten aufgeteilt.
Das blosse Wissen um verschiedene Verfahren muss bei Lernenden er-
gänzt werden um das Wissen, wo welches Verfahren in welcher konkreten
Realisierungsform zielsprachlich gefordert ist, d. h. es müssen Regularitäten,
Subregularitäten und Suppletionen bewältigt werden (z. B. muss zwischen
starken und schwachen Verben unterschieden, es müssen mögliche Ablaute in
Erwägung gezogen werden können, die Verbformen von ‘sein’ müssen als
123
„verschiedene Lexeme“ integriert werden; oder man muss wissen, dass der
Plural von „Lehrer“ Lehrer, jener von „Schwester“ aber Schwestern ist).
Für uns als analysierende Linguistinnen, die wir den Lernprozess anhand der
Lernerprodukte nachzeichnen wollen, erwächst natürlich umgekehrt gerade
aus den Besonderheiten einer Zielsprache mit polyfunktionalen Flexiven die
Schwierigkeit, dass man sowohl bei zielsprachlichen wie bei abweichenden
Äusserungen oft kaum entscheiden kann, welche der relevanten Kategorien
die Lernenden überhaupt erworben rsp. nicht erworben haben (sie trägt eine
blaue Bluse: ist die formale Richtigkeit ein Indiz für den Erwerb des Akku-
sativs? Ist er hat einen Katze tatsächlich ein Indiz dafür, dass der Akkusativ
bekannt ist, aber das Genus nicht?)
Nachfolgend werden die DiGS-Daten im Hinblick auf den Erwerb der
Verbal- und Nominalmorphologie analysiert und zwar werden folgende
Aspekte berücksichtigt:
Verbalmorphologie
− Erwerb der kontextuellen Flexion: Konjugation (Flexionsparadigmen der
regelmässigen und unregelmässigen Verben, Suppletive)
− Erwerb der inhärenten Flexion: (Infinitive, Partizipien, Präterita und ihre
Formenbildungen)
− Erwerb der Regeln des Anwendungsbereichs bestimmter kontextueller /
inhärenter Flexion bei analytischen Verbkomplexen.
Nominalmorphologie
− Genuserwerb
− Erwerb der substantivischen Pluralmarkierungen
− Kasuserwerb in Nominal- und Präpositionalgruppen
124
5.2 „Die Leute weissen nicht mehr sehen die positive Punkt des
Leben“ – Der Erwerb der Verbalflexion
_______________
3
Zur Definition siehe S. 119.
125
Da die L1 unserer frankophonen Schülerinnen und Schüler differenzierter
ausgebaut ist als die zu erwerbende L2, könnte davon ausgegangen werden,
dass ihnen das einfachere Tempus- und Modussystem des Deutschen keine
allzu grossen konzeptuellen Schwierigkeiten entgegensetzen dürfte. Auch die
Koexistenz von kontextueller und inhärenter Flexion sowie die von syntheti-
schen und analytischen Verbformen müsste ihnen vertraut erscheinen, ebenso
wie das Phänomen unregelmässiger Flexionsformen. Allerdings ist dieses
(intuitive) Wissen um die Existenz dieser grammatischen Formen und ihrer
Funktionen auf einer kognitiv anderen Ebene anzusiedeln als die jeweilige
morphologische Realisierung. Unser Korpus zeigt, wie mühsam und langwie-
rig der Erwerb dieser Verbalmorphologie sein kann, trotz aller konzeptuellen
Parallelen zur L1 und trotz aller Hilfen, die der Grammatikunterricht bereit-
stellt.
Wie oben bereits ausgeführt (vgl. S. 16), wird in den Genfer Primarschulen
kein expliziter Grammatikunterricht erteilt. Das Gewicht liegt zuerst haupt-
sächlich auf der mündlichen Reproduktion gehörter Äusserungen wie ich
heisse, ich wohne, ich bin ..., ohne dass die Verbflexion explizit vorgeführt
und erläutert würde. Es sind erwartungsgemäss genau diese Verbformen, die
stereotyp in den frühen Produktionen unserer Primarschulkinder erscheinen.
Zu den schon auftretendenVerbformen im Präsens kommt in der 6. Klasse
das Verb können im Singular hinzu, kombiniert mit Vollverben (ich kann
spielen) in festen Wendungen.
Mit diesem Inventar an Verbformeln versehen kommen die Schülerinnen
und Schüler in den Cycle d’orientation, wo sie von der 7. Klasse an mit ex-
plizitem Grammatikunterricht konfrontiert werden. Als Erstes haben sie das
Präsensparadigma der regelmässigen Verben und der Auxiliare sein und ha-
ben zu lernen, im Anschluss daran die Flexion unregelmässiger Verben im
Präsens (schlafen – schläft, essen – isst, lesen – liest). Zusätzlich zum Lehr-
werk werden den Schülern Vokabellisten4 verteilt, die auch die Verben ein-
schliesslich 3. Person Singular enthalten, die zum Auswendiglernen bestimmt
sind. Ebenfalls zum Lernstoff der 7. Klasse gehören die Flexion der Modal-
verben und ihre Kombination mit dem Infinitiv.
Im Verlauf der 8. Klasse wird das Perfekt eingeführt, zuerst anhand einiger
weniger Formen auf -en (gegessen, getrunken ...), dann mit expliziter
_______________
4
Diese Listen wurden als Zusatzmaterial zum Lehrbuch „Vorwärts“ von den Leh-
rern entwickelt.
126
Erläuterung der Partizipbildung der regelmässigen und unregelmässigen
Verben.5 Auch diese Formen werden aufgelistet (sehen – er sieht – er hat ge-
sehen), wobei die unregelmässigen Verben eindeutig dominieren.
Gegen Ende der 9. Klasse, der letzten Cycle-Klasse, beginnt der Unterricht
der Präteritumsformen der Auxiliare und Modalverben; in den weiterführen-
den Schulen wird in der zehnten Klasse das ganze Spektrum der regelmässi-
gen und unregelmässigen Präteritumsmorphologie vorgestellt und geübt, auch
hier wieder unter Zuhilfenahme von Listen mit vorwiegend unregelmässigen
Verben.
Die noch verbleibenden Tempora und Modi – Futur, Konjunktiv I und II
und das Passiv – gehören zum Unterrichtsstoff der 10. und 11. Klasse. Am
Ende der 11. Klasse wird von der Annahme ausgegangen, dass die Schüler
das gesamte deutsche Verbalsystem aktiv beherrschen. Unsere Analysen
werden zeigen, inwiefern diese Annahme als realistisch einzuschätzen ist.
Unseren eigenen Analysen sei jedoch ein kurzer Überblick über For-
schungsarbeiten zum Erstsprachenerwerb sowie zum natürlichen und gesteu-
erten Zweitsprachenerwerb vorausgeschickt, die sich mit der Verbalflexion
befassen. Aus einem Vergleich zwischen den Ergebnissen dieser Arbeiten und
unserer eigenen Analyse versprechen wir uns interessante Aufschlüsse über
die Erwerbsverfahren im gesteuerten Erwerb, die wiederum weitreichende
fremdsprachendidaktische Konsequenzen nach sich ziehen könnten.
_______________
5
Wir halten uns hier an die Terminologie der Duden-Grammatik, in der anstelle der
früher üblichen Unterscheidung von „starken“, „schwachen“ und „gemischten“
Verben nur noch von „regelmässigen“ und „unregelmässigen“ Verben gesprochen
wird. Die Begründung hierfür ist in der Duden-Auflage von 1998 auf S. 114, Fuss-
note 1 nachzulesen.
6
Darunter auch die Tagebuchaufzeichnungen, die um die Jahrhundertwende von
Scupin, später von den Sterns angefertigt wurden, vgl. Mills (1985: 151f.).
127
Nach dieser Kategorisierung verwenden die deutschen Kinder in der Ein-
Wort-Phase überwiegend Nomen; anstelle von Verben erscheinen oft nur
Präfixe (rauf, runter); wenn überhaupt Verben verwendet werden, so stehen
sie im Infinitiv – oder es sind Fragmente aus formelhaften Wendungen (z. B.
schmeckt als Reduktion von das schmeckt gut). Auch in der Zwei-Wort-Phase
steht das Verb häufig noch im Infinitiv; es erscheint aber auch in dieser Phase
als erstes Indiz für den Beginn der Subjekt-Verb-Kongruenz das -t der dritten
Person Singular. Zudem treten in dieser Phase die ersten Partizipien auf,
allerdings häufig ohne das Präfix ge- (nommen statt genommen). Erst in der
„Drei-und-mehr-Wörter-Phase“ findet nach Mills im Verbalbereich eine
sprunghafte Weiterentwicklung statt: Die Subjekt-Verb-Kongruenz wird für
alle Personen und überwiegend normkonform realisiert, Auxiliare und
Modalverben tauchen auf, letztere in Verbindung mit Vollverben, auch erste
Futur-Formen erscheinen. An Partizipien wird das Präfix ge- nun weitgehend
– wenn auch nicht immer – realisiert. Nur die unregelmässigen Fle-
xionsformen können noch nicht bearbeitet werden; reguläre Formen werden
auf irreguläre Verben generalisiert. Das gilt auch für das Präteritum, das
ebenfalls in dieser Phase erstmals erscheint (also stehlten statt stahlen), wobei
eine Präsensform offensichtlich als Basis fungiert. Beim Partizip wird
umgekehrt verfahren: hier wird die Endung der regelmässig flektierten Ver-
ben auch für die unregelmässigen übernommen (gegeht statt gegangen). Es
dauert nach Mills allerdings noch weit über das vierte Lebensjahr hinaus, bis
die irregulären Verbformen – insbesondere beim Präteritum und beim Parti-
zip – erworben sind; die grössten Schwierigkeiten bereiten den Kindern hier-
bei offenbar die Stammveränderungen.7
Es ist schwierig, diese Beobachtungen von Mills mit den Ergebnissen von
Harald Clahsen (1988) zu vergleichen. Das liegt zum einen daran, dass Clah-
sen ein anderes Kriterium für die Definition von Entwicklungsphasen wählt
(es sind die fünf Stufen, die Brown/Cadzen/Bellugi auf Grund der MLU-
Werte8 ermittelt haben), zum anderen daran, dass das zentrale Interesse der
beiden Untersuchungen unterschiedlichen Phänomenen gilt. Während Mills
einen Gesamtüberblick über den kindlichen Erwerbsverlauf – also auch den
gesamten Erwerb der Verbalflexion – vermittelt, steht für Clahsen die Sub-
jekt-Verb-Kongruenz im Vordergrund. Übereinstimmend beobachten beide
das häufige Auftreten von Infinitivformen in der Frühphase, und beide iden-
tifizieren das t-Flexiv als erstes Suffix im kindlichen Spracherwerb. Aller-
dings interpretiert Clahsen dieses Flexiv nicht als Personalendung, wie Mills
_______________
7
Mills (1985: 153ff.)
8
Bei den MLU (= mean length of utterance) -Werten „wird nach genau festgelegten
Konventionen für jeden Beobachtungszeitpunkt die Anzahl der grammatischen
Morpheme ausgezählt, die durchschnittlich in jeder sprachlichen Äusserung des
Kindes vorkommen.“ Clahsen (1988: 29f.).
128
dies tut, sondern als Markierung von Transitivität. Seinen Daten zufolge ist
der Erwerb der Subjekt-Verb-Kongruenz ohnehin ein viel langwierigerer
Prozess, der über die Zwischenstufe einer -e-Generalisierung (ich kanne) mit
vielen abweichenden Formen verläuft und erst dann als abgeschlossen gelten
kann, wenn die 2. Person Singular, das -st-Flexiv, normkonform verwendet
wird.
Ein Blick auf Forschungsarbeiten zum Erstsprachenerwerb anderer Spra-
chen (Portugiesisch, Lettisch, Finnisch)9 zeigt übrigens, dass auch dort das
Flexiv der 3. Person Singular als erstes auftritt (was die These von Clahsen in
Frage stellt); auch dort folgt als nächstes das Flexiv der 1. Person Singular.
Im weiteren Erwerbsverlauf lassen sich dann allerdings keine Übereinstim-
mungen mehr feststellen, schon auch deswegen, weil bei diesen Untersu-
chungen unterschiedliche Flexionsphänomene in den Blick genommen wer-
den.
_______________
12
„Die Basiskategorien basieren auf den prototypischen Sprechereigenschaften:
biologischer Ausstattung, Erfahrung und Kulturkreis und sprachspezifischen Ei-
genschaften. Was nun markierter, i.e. keine Basiskategorie, für diesen Sprecher
darstellt, definiert Mayertaler (1981) als ‘relativ komplexer für das menschliche
Gehirn’.“ Pishwa (1985: 7f.).
13
In dieser Untersuchung zum gesteuerten Zweitspracherwerb hat Manfred Piene-
mann (1987) den anglophonen Studenten Guy an der Universität Sydney bei sei-
nem mündlichen Deutscherwerb untersucht. Er stellte in Guys Erwerb des Verbal-
systems zwei Stufen fest. In der ersten Stufe findet der Erwerb der Flexionsmor-
pheme des schwach gebildeten Partizips (ge-V-t) statt, in der zweiten setzt sich
Guy mit dem Erwerb der Konjugation des finiten Verbs und damit der Subjekt-
Verb-Konkordanz auseinander.
131
Weniger eindeutig sind die Ergebnisse bei den Personalformen des Prä-
sensparadigmas, denn bei Boss’ Studenten wird nicht nur die 3. Person gene-
ralisiert, wie nach der Markiertheitstheorie zu erwarten wäre (ich studierst
ingenieurwissenschaften; daneben aber auch: ich liest gern und hört gern
musik). Dies erklärt sich vermutlich durch Boss’ Testanlage, bei der je zwei
Testpersonen interaktive Aufgaben zu erfüllen hatten. Insofern die australi-
schen Studenten Perfekt gebrauchen, ist die häufigste Fehlerquelle die Ver-
wendung des Infinitivs anstelle des Partizips und nicht, wie bei Blackshires
Vladimir, die Generalisierung starker oder schwacher Formen. Daneben bil-
den sie auch Formen wie der mann ist jogging, die wohl als Transfer aus dem
Englischen interpretiert werden dürfen.
Dass in den verschiedenen Arbeiten zum Zweitsprachenerwerb neben
übereinstimmenden Ergebnissen doch auch dergleichen Divergenzen auftre-
ten, mag verschiedene Gründe haben: das unterschiedliche Alter der Lernen-
den, die Korpusanlage, die unterschiedlichen Erstsprachen, unterschiedliche
Gewichtung im Unterricht. Sie könnten auch den Freiraum bezeichnen, in-
nerhalb dessen die Unterschiede zwischen einzelnen Lernerindividuen zum
Zuge kommen. Daneben wäre allerdings denkbar, dass sich die verschiedenen
Generalisierungsstrategien doch auch bestimmten Entwicklungsphasen
zuordnen lassen – vorausgesetzt, es steht ein hinreichend breit angelegtes
Korpus zur Verfügung, das individuelle Unterschiede und überindividuelle
Gemeinsamkeiten zu trennen erlaubt. Wir hoffen, mit unseren Analysen eini-
ges zur Klärung beitragen zu können.
Bei der Analyse des Konjugationserwerbs wurde ebenso verfahren wie bei
den Satzmodellen und den Nominal- und Präpositionalphrasen: erhoben
wurden sowohl die normkonformen als auch die abweichenden Formen.14
Den Beginn einer neuen Erwerbsphase setzen wir dort an, wo neue Formen
erkennbar bearbeitet werden, wobei gerade von der Norm abweichende Bil-
dungen das verlässlichste Indiz für eigenständiges Experimentieren liefern.
Eine Phase gilt für uns dann als abgeschlossen, wenn die entsprechende Form
in 75–80% der Vorkommensfälle normgerecht realisiert wird und nicht nur
sporadisch auftaucht.
Auf Grund des letztgenannten Kriteriums musste eine Reihe von Verb-
formen aus der Analyse ausgeklammert werden; sie kamen zu selten im Kor-
pus vor, um allgemeingültige Aussagen zuzulassen. Dies gilt für den Impera-
tiv und für die Subjekt-Verb-Kongruenz der 2. und 3. Person Plural (letztere
in ihrer Funktion als Höflichskeitsform). Auch das Phänomen der trennbaren
Verben wurde nicht bearbeitet.
Aus demselben Grund blieben individuelle „Kuriositäten“ unberücksich-
tigt, ebenso wie die vereinzelt vorkommenden schwer bzw. nicht interpre-
tierbaren Formen und – natürlich – die französischen Verbformen. Zudem gilt
auch für den Verbalbereich die generelle Vorgabe, dass lexikalische Aspekte
(z. B. ich bin catzé statt ich habe eine Katze oder ich habe 10 Jahre alt)
ausser Betracht bleiben.
Wenn wir nun im Folgenden die Erwerbssequenz für den Bereich der
Verbalphrase beschreiben, wie sie sich den Schülerarbeiten entnehmen lässt,
so darf doch dabei nicht vergessen werden, dass es sich um eine idealtypische
Rekonstruktion handelt, deren Konturen in der Realität der Schülerpro-
duktionen vielfach verwischt sind.
_______________
14
Erhebungsbögen siehe Anhang.
133
− Zum einen sind Anfang und Ende einer Phase in den meisten Fällen nicht
eindeutig zu bestimmen. Die morphologische Realisierung eines be-
stimmten Formenparadigmas kann auch dann noch Schwierigkeiten be-
reiten, wenn bereits die Erwerbsaufgabe der folgenden Phase in Angriff
genommen wird.
− Zum anderen werden manche Formen – wie etwa die von unregelmässigen
Verben – so selten verwendet, dass sie für die Analyse nur einen be-
grenzten Aussagewert haben. Hierfür könnte der Erwerb unter gesteuerten
Bedingungen verantwortlich sein: um der Fehlersanktion zu entgehen,
wenden die Schüler Vermeidungsstrategien an und gebrauchen zum Bei-
spiel nur eine geringe Anzahl von verschiedenen Verben.
− Andererseits sind bei einem bestimmten Schülertyp auch Konstellationen
von Verbformen – korrekten sowie abweichenden – zu beobachten, die
nach Massgabe der Erwerbssequenz gar nicht vorkommen dürften. Wir
interpretieren dies so, dass bei diesen Schülern der Erwerb schon relativ
früh zum Erliegen gekommen ist, so dass sie sich mit memorisierten Ver-
satzstücken behelfen, die je nach Kontext zufällig zielsprachenkonform
oder abweichend sind. Wir bezeichnen mit Selinker dieses Phänomen als
Fossilisierung.15
− Auch die Wahl der Aufsatzthemen erschwert teilweise die Ermittlung von
Erwerbsständen, weil bestimmte Themen zwar bestimmte Formen elizi-
dieren können, andere aber weitgehend ausschliessen. So ermöglicht das
Thema „Interview“ beispielsweise die Analyse des Erwerbs von Fragesät-
zen, überlässt aber die Wahl der Tempora den Schülern, so dass auch fort-
geschrittene Schüler hier das naheliegende Präsens verwenden und bei-
spielsweise keinerlei Auskunft über ihren Präteritumserwerb zu erhalten
ist.
_______________
15
Zur Definition bei Selinker (1972) siehe unten Kapitel 6.4, Fussnote 35.
134
Die folgende Tabelle zeigt den jeweiligen Anteil dieser verschiedenen
Vorgehensweisen, bezogen auf die Gesamtzahl der verwendeten Verben bzw.
der Sätze mit obligatorischem Verb.
(1) Ich mache Flöte. Ich zinge gern. Ich spile fussball mit mein brouder. Ich fahre
ski. Ich esse gern frurtsalat und schokolade und brot. Ich gern musik Klassik.
Ich habe kein Hund. (Evelyne L 6/7, 2)
_______________
16
Unter „Sonstige“ wurden all jene Fälle rubriziert, die wegen ihrer stark abwei-
chenden Schreibung (zur Erinnerung: in der 4. Klasse werden die Kinder nur mit
Hörtexten konfrontiert) nicht eindeutig interpretiert werden konnten, wie zum Bei-
spiel sie sähalt (Annick A 4/5, 2), wivil tend das (Annick A 4/5, 3), sie marcoren
(Annick A 4/5, 5), facer bade (Eliane F, 4/5, 4).
135
Rang Type Tokens Rang Type Tokens
1. sein bin (41)17 5. kosten kostet (9)
bist (13)
ist (22)
sind (1)
war (7)
insgesamt 84
2. machen mache (13) 6. gehen gehe (5)
machst (10) geht (2)
macht (4) gehen (1)
machen (2)
insgesamt 29 insgesamt 8
3. haben habe (16) mögen möchte (5)
hast (5) möchtest (2)
hat (1) möchtet (1)
haben (2)
insgesamt 24 insgesamt 8
heissen heisse (3) 7. wohnen wohne (3)
heisst (21) wohnst (2)
insgesamt 24 insgesamt 5
4. lieben liebe (12) 8. fahren fahre (4)
spielen spiele (12)
Tab. 21: Häufigste vorkommende Verbalformen
Es zeigt sich also, dass der weitaus grösste Anteil dieser korrekten Verbfor-
men auf die Auxiliare sein und haben sowie auf die Verben machen und heis-
sen entfällt, und zwar mit deutlicher Dominanz der ersten Person Singular bei
den drei erstgenannten und ebenso deutlicher Dominanz der dritten Person
Singular beim vierten. Diese Verben und ihre jeweilige Personalform –
ebenso wie die fünf nächsthäufigen lieben, spielen, kosten, gehen und mögen
– spiegeln recht genau die Hör- und Sprechtexte wider, mit denen die
Primarschüler ins Deutsche eingeführt werden (ich stelle mich vor – meine
Hobbys – meine Familie – Verkaufsgespräche). Ergänzt man diese Liste noch
um wohnen und fahren, so sind mit diesen elf Verben 82% aller korrekten
Verbformen erfasst. Die verbleibenden der insgesamt 265 Formen verteilen
sich auf 20 Verben, von denen 10 nur einmal, 6 zweimal und 4 dreimal
verwendet werden.
_______________
17
In Klammern steht die Anzahl der Formen, die in den Texten vorkommen.
136
Diese geringe Verbvarianz sowie das Fehlen jeglicher Abweichungen dür-
fen wohl als Indizien dafür interpretiert werden, dass die Schulkinder gehörte
Sätze aus dem Gedächtnis reproduzieren, ohne die Verbalflexion eigenständig
zu bearbeiten. Es handelt sich also um nichtanalysierte formelhafte Wen-
dungen, die wir im folgenden als Chunks bezeichnen.
Das Chunk-learning ist in der Erwerbsforschung ein längst bekanntes
Phänomen, das für Frühphasen des Spracherwerbs typisch ist. Unsere Pri-
marschulkinder verhalten sich in dieser Hinsicht nicht anders als Kinder im
Erstsprachenerwerb und generell alle Lerner in Frühphasen des natürlichen
Zweitsprachenerwerbs.18
(2) Laura machen ein Kuchen oud Vater lesen das Repzet oud klein Bruder coupen
der Salami. (Caroline C 4/5, 5)
Diese infiniten Formen machen 16,5% aller Verbformen dieser frühen Phase
aus. Dass nun gerade die infinite Form auf -en generalisiert wird, ist wohl in
erster Linie darauf zurückzuführen, dass neue Verben im Unterricht übli-
cherweise in der Infinitivform eingeführt und erklärt (und abgefragt) werden.
Es kann aber ebenso als Nachweis dafür gelten, dass sich der Infintiv auch
unter gesteuerten Erwerbsbedingungen in seiner Rolle als Basiskategorie
durchsetzt.
Diese unflektierten Formen sind ein weiteres Indiz dafür, dass die kon-
textuelle Flexion in dieser Frühphase noch nicht realisiert werden kann –
vielleicht auch, dass sie noch gar nicht als grammatische Regel der Fremd-
sprache Deutsch erkannt worden ist. Entprechendes ist übrigens auch aus dem
Erstsprachenerwerb19 bekannt; und Blackshire20 beobachtet dasselbe
Phänomen im natürlichen Zweitsprachenerwerb:
It is most interesting to note that during the early phases of L2 acquisition, adult
second language learners do not make systematic use of the inflectional system of
the target language, the infinitive-like form or the verbal stem predominates the
system.
Nur die Kopula sein wird niemals im Infinitiv gebraucht,21 was gewiss damit
in Zusammenhang steht, dass sie in der Häufigkeit so eindeutig an der Spitze
_______________
18
Zum Erstsprachenerwerb Mills (1985), zum ungesteuerten Zweitsprachenwerb
Rieck (1989), Blackshire (1991) und (1995).
19
Vgl. Mills (1985: 234f.) und Clahsen (1988).
20
Blackshire-Belay (1995: 232).
21
Siehe dazu S. 129, Fussnote 11.
137
steht (siehe Tab. 21) und in allen Personalformen zwangsläufig als Chunk
memorisiert werden muss, weil es sich ja um ein Verb mit suppletiven For-
men handelt.
Auch wenn diese verblosen Sätze zweifellos nicht das markanteste Merkmal
der präkonjugalen Phase sind, so ist ihr Vorkommen unter den Bedingungen
gesteuerten Erwerbs doch erstaunlich. Als Charakteristikum des Erstspra-
chenerwerbs und des ungesteuerten L2-Erwerbs sind sie oft beschrieben
worden,22 bei frankophonen Fremdsprachenschülern ist das Phänomen jedoch
umso erstaunlicher, als diese aus ihrer L1 das Verb als obligatorischen
Bestandteil von Sätzen kennen und zudem vom Lehrer zur Produktion
„vollständiger Sätze“ permanent angehalten werden. Die Elision des Verbs ist
also wohl als Lernerstrategie aufzufassen, die darin besteht, eine formale
Schwierigkeit dadurch zu umgehen, dass das kritische Wort weggelassen wird
– eine Strategie, auf die bereits im ZISA-Projekt hingewiesen wurde.23 Jedoch
werden in unserem Korpus meistens nicht beliebige Verben elidiert, sondern
entweder Auxiliare oder semantisch vage Verben, also solche, die vom
Rezipienten auch leicht erschlossen werden können.
_______________
22
Zum Erstprachenerwerb vgl. Wode (1995: l221) und auch Mills; zum natürlichen
Zweitsprachenwerb vgl. Rieck (1989). Riecks Annahme, Verbtilgungen seien cha-
rakteristisch für den natürlichen Zweitsprachenerwerb, muss also entsprechend re-
vidiert werden (siehe S. 128).
23
Clahsen/Meisel/Pienemann (1983: 194ff.).
138
morphologische „Rohmaterial“, das sie unter Einsatz verschiedener Erwerbs-
strategien bearbeiten.
(4) Du trinkt cafée. Ich trinkt die orangensaft mit sucker (Arbeit 2). Malika unt
Laurent kauft Kilo Birnen. Die Birnen kostet 3 Fr. Sophie und Loïc kauft einen
liter milch (Arbeit 3). Die Eier ist kaputt (Arbeit 5). Wo wohnt du ? (Arbeit 7).
(Sophie V 4/5)
(5) Gutend Tag, ich mochtet das (Arbeit 3). Napoléon tricke Flasch. Camille mache
der Kurone. (Arbeit 5). Wo woht du ? (Arbeit 6). (Rebecca L 5/6)
(6) Wie halt ist du? Kent du Lausanne? Eisse du Hamburgeurs? (Arbeit 6). Sie
wohnt alle im klienen pilz. Der idiotisch wildfanginer ast holz. Alle Wildfangi-
ner essen ount sie trinkt. (Arbeit 7). Sie trinkt wasser ount sie esse Pedigree-Pal.
(Arbeit 8). (Bernard T 5/6)
Anzahl der 19 17 10
Schüler25
Tab. 22: Generalisierungen einer Personalform26
Der Tabelle ist zu entnehmen, dass knapp die Hälfte aller Generalisierungen
auf die 3. Person Singular entfällt. Eine solche Präferenz für das -t-Flexiv
wird auch aus dem Erst- und dem natürlichem Zweitsprachenerwerb berich-
tet.27 Als Erklärung wurden verschiedene Hypothesen angeboten, so etwa im
Rahmen der Markiertheitstheorie, die die 3. Person Singular als Basiskatego-
rie auffasst.28 Andererseits könnte auch die Frequenz der 3. Person Singular
in der Kommunikation eine Rolle spielen. Welches auch immer die Gründe
sein mögen – für uns ist aufschlussreich, dass die Schulkinder sich bei der
Erarbeitung der Verbalflexion ganz ähnlich verhalten wie Lerner in natürli-
cher Erwerbssituation, trotz aller unterrichtlicher Steuerung.
_______________
24
Die Prozente wurden in Bezug auf die gesamte Anzahl der Generalisierungen einer
Personalform, das heisst auf 168 Formen, gerechnet.
25
Das sind die Schüler unseres Korpus, bei denen solche Generalisierungen vor-
kommen, insgesamt 26 Testpersonen. Manche Schüler generalisieren mehrere Per-
sonalformen.
26
Folgende Generalisierungen die Familie essen; die Familie kochen; alles schlafen
können entweder Pluralformen oder Infinitive sein und wurden deshalb nicht mit-
gezählt.
27
Siehe die Ausführungen in Kapitel 5.2.3.1 und 5.2.3.2.
28
Pishwa (1985: 8f.).
140
den Formen zeigt, ist für Schulkinder ein ausgesprochen bedauerlicher Um-
stand, solange in der Fremdsprachendidaktik am Kriterium der Fehlerzahl für
die Evaluierung von Fremdsprachenkenntnissen festgehalten wird.
Da sich offenbar die ganze Verarbeitungsenergie in dieser Phase auf die
reguläre Verbalmorphologie der Personalformen im Präsens konzentriert,
liegt es auf der Hand, dass auch ablautende Stammlautvokale regulär flektiert
werden. Regularisierungen dieser Art haben wir bei 14 der insgesamt 26
Schüler der Phase II beobachtet. Dazu einige Beispiele:
(7) Da, dem idiotisch Wildfanginerer nehmt alle Wildfanginer in dem pilz.
(Bernard T 5/6, 7)
(8) Doggy nehmt das poulet. (Stéphane D 5/6, 5)
(9) Herr Frank lesst de buch. (Marion B 5/6, 5)
(10) Vater spilet tenis (Arbeit 2). Er rennet chnu Schnell (Arbeit 5). (Nicolas B 4/5)
Entsprechendes hat auch Pishwa (1985: 17) im gemischt natürlichen und ge-
steuerten L2-Erwerb beobachtet: Bei unbekannten Verben oder bei der Ver-
lagerung der Konzentration auf andere Phänomene vernachlässigen auch ihre
Testpersonen die Verbflektion und greifen auf Infinitivformen zurück.
Flexion der Modalverben: Irregulär ist die Flexion der Modalverben einmal
in den Personalendungen (Nullsuffigierung in der 1. und 3. Person Singular),
zum zweiten in der Veränderung des Stammvokals. Dass die Schulkinder
beide Irregularitäten erkannt haben, zeigen ihre fehlgeschlagenen Versuche
bei der Anwendung dieser neuen Formen, insbesondere führt der Stamm-
wechsel des Stammvokals zu abweichenden Bildungen (Generalisierung des
Umlauts im Infinitiv auf die Personalformen des Singulars und Generalisie-
rung des nicht-umgelauteten Vokals auf Pluralformen), und zwar bei 60%
aller Testpersonen:
(12) Am Abend, er müss nach Hause kommen, weil er sein Hausaufgaben machen
müss. (Michaël R 7/8, 8)
(13) Sie könnt ein Coka trinken. [...] Sie will ein Kind machen. (Fabrice M 7/8, 8)
(14) Um 14 Uhr sie mussen mit dem Zug fahren. (Alice S 7/8, 8)
Selbst wo die Infinitivform keinen Umlaut aufweist, wird die Pluralform zu-
weilen umgelautet:
(15) Meine Eltern wöllen nicht que ich nehme der Bus mit die Harren grün. (Alice S
7/8, 7)
Flexion der unregelmässigen Verben: Auch hier liefern wieder die abwei-
chenden Bildungen die Indizien für den beginnenden Erwerb der unregelmäs-
sigen Konjugation, insbesondere dort, wo regelmässige Verben unregelmässig
flektiert werden:
142
(16) Herr Kötti käuft Spagetti (Ekaterina E 6/7, 5)
(17) Das Kotelett köcht ( Fiona D 7/8, 5)
(18) Das Hund esst eine Kotrelett. (Arbeit 5) Wo esst du? Ich esse in Café. (Arbeit
6)
Sein Bruder esst immer. Er esst die Banane, die Wursten, etc. [...] Sein Bruder
schlaft. (Arbeit 7) Die Mutter von Paul schläft um 11 Uhr. Er isst die Banane
und die Tomate. Der Vater von Paul isst für stark sein. (Arbeit 8) (Nicolas C
6/7)
(19) Für heiratet die Königin, er müss töten ein gross sehr gross Mann, und ein Tag
er siht zwei grösser Männer gegen ein Baum. (Sonia M ECG10/11, 8)
Das Definiens von Phase III ist also keineswegs der vollständige Erwerb der
unregelmässigen Flexion, sondern die Kenntnisnahme ihrer Existenz und ers-
te Versuche, ihre Gebrauchsbedingungen zu erkunden. Dabei geben die
Schüler den Personalendungen offensichtlich den Vorzug vor den Änderun-
gen des Stammvokals. Der Erwerb der irregulären Verbflexion erstreckt sich
über den gesamten Beobachtungszeitraum; er ist von diesem entscheidenden
Anfangsstadium an eher dem Lexikonerwerb gleichzusetzen, da jedes neue
unregelmässige Verb mit seinen Stammvokaländerungen gelernt werden
muss. Ohnehin sind Erwerbsfortschritte in diesem Bereich schwierig zu er-
mitteln, da die Schüler unregelmässige Verben äusserst sparsam gebrauchen –
und wenn, dann vorzugsweise in der 1. Person, die keine Stammvokalände-
rungen verlangt.
(20) Kannst du spielst instrument? Ja ich spiele die Flöte. Kannst du spielst Tennis?
[...] Kannst du tanzen? Willst du spielen Tehater? (Noélie F 7/8, 2)
Nach kurzer Zeit wird jedoch der infinitive Prädikatsteil normgerecht reali-
siert; erst durch die Konkurrenz mit dem Perfekt wird diese Struktur vor-
übergehend wieder verunsichert werden.
Der Erwerb dieser analytischen Verbformen ist zweifellos auf einer ande-
ren kategorialen Ebene anzusiedeln als der Erwerb der Flexion. Dennoch zö-
gern wir, hierfür eine neue Erwerbsphase anzusetzen, und zwar weil die
Zweigliedrigkeit von Prädikaten als solche offensichtlich nicht erworben
werden muss, sondern bei den Schülerinnen und Schülern bereits vorausge-
setzt werden kann. Das mag auf die Existenz entsprechender Strukturen im
Französischen zurückzuführen sein, die schon die Primarschulkinder aufs
Deutsche übertragen; möglicherweise sind aber auch freie Formen (zum Bei-
spiel Perfekt) natürlicher als gebundene Formen (zum Beispiel Präteritum)
und von daher leichter zugänglich, vgl. etwa zweigliedrige Prädikate in den
folgenden Anfängertexten:
(21) Geoffrey liebst spilen im Wasser, aund braten Servolas (Paule B 5/6, 8) (frz.
aime jouer)
(22) Dann die Kinder geht machen der Radrennen (Rebecca L 5/6, 8) (frz. vont
faire)
(23) In die Küche, Lulu Macht kochen die Suppe ( Emilie S 5/6, 5) (frz. fait cuire)
(24) [...] aber die vatter meuter [= möchte] das nicht essen, der wollen essen ein Ei
(Thierry E 5/6, 5) (frz. [ne] veut [pas] manger)
Die Wahl des richtigen Auxiliars bereitet unseren Probanden keine allzu gros-
sen Schwierigkeiten, auch wenn immer wieder haben-Generalisierungen
vorkommen.29 Auch sind Personalflexionen am zweiten Prädikatsteil die
Ausnahme;30 sie sind deutlich seltener als die konjugierten Vollverbformen
bei Modalverben, die in Phase III beobachtet wurden (vgl. oben, kannst du
spielst, Beispiel 20 auf S. 143). Es sieht so aus, als bestehe für die überwie-
gende Mehrheit unserer Probanden kein Zweifel mehr daran, dass die Sub-
jekt-Verb-Kongruenz nur einmal im Satz markiert werden darf, im Falle des
Perfekts also nur am Auxiliar.
Den Schülern bereitet hingegen der zweite Prädikatsteil Schwierigkeiten;
in einem ersten Schritt die Wahl zwischen Infinitiv und Partizip, dann die ei-
gentliche Bildung des Partizips. Bei einem Drittel unserer Testpersonen hat
die Auseinandersetzung mit der Partizipbildung zur Folge, dass sie nun auch
Modalverben mit Partizipien verbinden: Sie behandeln die beiden infiniten
Verbformen als freie Varianten, die mit Auxiliaren und Modalverben beliebig
kombinierbar sind; den kategorialen Unterschied zwischen Modalverb und
Auxiliar vermögen sie offensichtlich nicht nachzuvollziehen.31 Das intendierte
Tempus ist jeweils dem konjugierten Prädikatsteil zu entnehmen: Modalverb
(im Präsens) + Infinitiv/Partizip signalisiert Präsens; Auxiliar +
Infinitiv/Partizip signalisiert Vergangenheit:
(25) Es sieht sehr schön ich will gehen weil, ich will in Canada gegangen. (Sophie P
ECG10/11, 3)
_______________
29
Bei 16 von 28 Testpersonen gibt es dergleichen haben-Generalisierungen, erwar-
tungsgemäss bei Bewegungsverben wie fahren und gehen und ihren Komposita;
vgl. hat gefahren (Aisha A 8/9, 3), hat gegangen (Corinnee P 9/ESC10, 3), habe
skigefahren (Odette A 9/ESC10, 2), habe spazierengegangen (Odette A 9/ESC10,
8). Bei Verben wie gehen, bleiben und kommen sind diese Generalisierungen ein
Indiz dafür, dass sich die Schüler bei der Wahl des Auxiliars offensichtlich nicht
grundsätzlich von ihrer Muttersprache leiten lassen, da im Französischen diese
Verben ebenfalls die Verwendung von sein verlangen. Abweichende Verwendung
von sein konnten wir nur bei einer einzigen Testperson feststellen: sind bekommen,
ist geschlafen, sind gesitzen (Sandrine N ECG11/12, 4).
30
Bildungen wie hast machst sind in unserem Korpus Einzelfälle.
31
Vereinzelt werden sogar Vollverben mit Partizipien verbunden: gehen geschwim-
men, gehen geschlafen.
145
(26) Ich habe viel essen und ich habe sehr lachen [...]. Ich habe den Besser Ferien
verbracht. (Sandra M ECG11/12, 3)
(27) Die Eltern haben viel zusammen gesprochen, und sie wollen ihn in eine Frisor
geschikt. (Natacha R ECG11/12, 7)
(28) Die Savoyer wollen Genf angegriffen. (David G ESC10/11, 1)
(29) Wieviel haben sie Films machen? 20 Films habe ich machen. (Laura A 8/9, 6)
(30) Aber er hat keine Stelle besuchen. [...] Aber die Freundinnen haben keine Geld
bringen. Also sie hat in einen Bank kommen für Geld nehmen. (Vincent C
ESC10/11, 5)
(31) Ich habe viel essen und ich habe sehr lachen. (Sandra M ECG11/12, 3)
Mit Transfer aus der L1 lassen sich diese Abweichungen nicht erklären, da
auch das französische Perfekt ein Partizip als infiniten Bestandteil fordert. Es
muss also eine interimssprachliche Vereinfachungsstrategie vorliegen, die
übrigens nicht nur unsere frankophonen Lerner anwenden. Auch bei den
anglophonen Studierenden von B. Boss sind Infinitive anstelle von Partizi-
146
pien die häufigste Fehlerquelle bei der Perfektbildung;32 Rieck (1989) beob-
achtet im natürlichen L2-Erwerb Deutsch dieselbe Konstruktion, wenn auch
nur als „seltene Zwischenform“,33 und Castell und Seebold (1996) stellen sie
auch im L1-Erwerb fest. Interessanterweise sind es genau solche Bildungen,
die wir vereinzelt auch bei denjenigen unserer Primarschulkinder beobachten,
die eigenständig Perfektformen „erfinden“, um Vergangenheit auszudrücken
– vier Jahre, bevor sie im Unterricht eingeführt werden: ich habe malen und
essen, ich habe zeichen (Fanny J 4/5, 8).
Bei einigen unserer Testpersonen kommt der Erwerb an dieser Stelle zum
Stillstand; sie verwenden innerhalb des Beobachtungszeitraums keine anderen
Partizipformen ausser den wenigen, die schon sehr früh im Input aufgetaucht
sind und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit als Chunks
gespeichert sind. In fast allen anderen Perfektkontexten kombinieren sie das
Auxiliar mit einer Infinitivform.
(32) Aber die Genfer habt gewinnen. (Arbeit 1) An Weihnachten und an Neujahr ich
bin in Fribourg gegangen. [...] Ich habe nicht skifahren. [...] Ich habe auch ein
Weihnachtsbaum kaufen. (Arbeit 2) Aber er hat keine Stelle besuchen. Sie hat
bei ihre Freundin Geld kommen für Geld haben. Aber die Freundinnen haben
keine Geld bringen. (Arbeit 5) (Vincent C ESC10/11)
_______________
32
Boss (1997: 5f.).
33
Rieck (1989: 103f.).
34
Ausser natürlich bei Partizipien von präfigierten Verben, die nicht auf der ersten
Silbe betont sind, wie bekommt, begannt oder verlort. In einigen Fällen kommt es
sogar zu einer „Übermarkierung“ mit dem ge-Suffix: Er hat ein Igel übergefahren
und er ist tot. (Alexis P 8/9, 3) Früher, ein (autre) Freund hat der Mann getele-
phoniert (Sarah P ECG10/11, 2).
147
(33) Seine Eltern war gar nicht glücklich und hatten Peter gesagen warum er mit
grünen Haaren gekommen ist.
– „Ich war am Freitag in Diskotek gegangen. Es gab meinen Freund mit Fär-
bung grün“. Hat Peter gesagen.
– „Ja, aber warum hast du seinen Haaren gefärben?“ (Yvan B 8/9, 7)
(34) Eines schönes Tages, die kleine Hexe hat eine Witz gemacht. Sie hat die Haaren
von Petra grün gemalen. (Anne A 8/9, 7)
Dabei lassen sie sich durch das Nebeneinander von Präsensstämmen (in ihren
eigenständigen Partizipbildungen, vgl. gesagen) und abgelauteten Stämmen
(in den Partizipien unregelmässiger Verben, die sie mit hoher Wahrschein-
lichkeit aus dem Gedächtnis abrufen; vgl. gegangen) offensichtlich nicht ir-
ritieren, auch nicht, wenn sie einander im selben Satz unmittelbar folgen:
(35) Er ist in die Hause gegehen und er hat einen Brot, Reiz gegessen und hat fier
glasses Wein getrunken. (Patricia D ECG10/11, 2)
(36) Sie hat mit der Lehrer gesprechen und er hat gut genommen. (Sandra M ECG
11/12, 7)
_______________
35
Siehe Kapitel 5.2.2, S. 125 (zum Unterricht des Perfekts in der 8. Klasse).
148
ge- + t-Generalisierung: Die Generalisierung des regelmässigen -t-Suffixes
macht in unserem Korpus nur 11% aller Abweichungen aus. Wir beobachten
sie vorwiegend an Partizipien, die den Schülern aus dem Input weniger ver-
traut sein dürften:
(37) Der Sohn ist auf dem Schrank, wenn die Männer angekommt sind. (Corinnee P
9/ESC10, 4)
(38) Peter hat um den Tisch gesitzt. (Laura A 8/9, 7)
(39) Am Tag eine Freundin hat angeruft [...] Am Samstag bin ich zum Kino gegan-
gen und ich habe einen Freundin gesehen. (Corinnee P 9/ESC10, 2)
Die Beispiele zeigen, dass auch bei der t-Generalisierung der Stamm als Basis
dient. Es übersteigt offensichtlich die Verarbeitungskapazität unserer Pro-
banden in diesem Stadium, zwischen regelmässiger und unregelmässiger
Konjugation einerseits und -t- bzw. -en-Suffix andererseits eine Beziehung zu
erkennen.
Bei Verbalstämmen mit auslautendem -t kann es geschehen – ähnlich wie
bei der Konjugation der 3. Person Singular (siehe S. 140) –, dass dieses -t als
Partizipendung missverstanden wird: gearbeit, getöt.
Total %
Fehler 218
Formen 675
Infinitiv 91 41,7
ge- + Infinitiv-ähnliche Formen 56 25,7
ge-... -t Generalisierung 25 11,5
Änderungen im Stammvokal 7 3,2
Null-Suffix 6 2,8
überflüssiges ge- 4 1,8
Sonstige37 29 13,3
Tab. 23: Bildung des Partizips
Die Belege zum Partizip-Erwerb bestätigen, dass bei einer derart komplexen
Erwerbsaufgabe wie dem Partizip das Lernen von Listen und das Üben in ge-
steuerter Erwerbssituation von begrenztem Nutzen ist. Hilfreich ist der schu-
lische Input in erster Linie als Lieferant eines Morphemangebots; mögli-
cherweise übt er eine gewisse Steuerungsfunktion darauf aus, welches Flexiv
die Schüler für ihre Generalisierungen bevorzugen (in unserem Fall die ge-...-
en-Partizipien als Folge des intensiven Trainings von unregelmässigen
Verben).
In jedem Fall kann der Unterricht nicht verhindern, dass die Schüler ihre
eigenen Suchstrategien anwenden: Auxiliar + Infinitiv; Auxiliar + Infinitiv-
_______________
36
Oft sind die Schüler noch mit der Partizipbildung beschäftigt, während im Gram-
matikunterricht bereits das Präteritum behandelt wird, so dass Verwechslungen
dieser Art fast unvermeidlich sind.
37
In dieser Rubrik wurde alles zusammengefasst, was sich den übrigen Rubriken
nicht zuordnen liess: fehlerhafte Schreibungen, die vermutlich auf lautliche Ver-
wechslungen zurückgehen (wie gehat, gebroken, gefuden); „erfundene“ Partizipien
(wie geneben, gedieben) oder auch defiziente Formen (wie verheitet statt ver-
heiratet). Zudem enthält diese Rubrik nicht entscheidbare Fälle wie das nicht si-
cher als Partizip intendierte antwortet.
150
stamm mit ge-Präfix und mehrheitlich -en-Suffix, seltener -t-Suffix,38 erst
dann Berücksichtigung der Stammvokal-Veränderungen. Partizipien mit ab-
lautendem Stammvokal können in der Regel nur dann normkonform produ-
ziert werden, wenn sie als Chunk gespeichert sind.
Von den beiden Generalisierungsstrategien ge-...-en und ge-...-t wird zwar
die erste sehr viel häufiger in Anspruch genommen – sie ist für etwa 26%
aller Abweichungen verantwortlich; die zweite hingegen nur für 11% –, doch
lässt sich keine definierbare Erwerbsabfolge zwischen beiden ausmachen.
Beide kommen bei den meisten Schülern vor, manchmal in demselben Text
wie im folgenden Beispiel:
(40) Peter ist mit grünen Haaren in die Küche gekommen. Er hat ein schwarz Klei-
der angezogen. Er hat Kleider gewechseln. Die Familie hat Frühstück gegessen.
Peter hat um den Tisch gesitzt. Sein Vater hat gerstaunt. Seine Mutter hat viel
aufgeregt. Und sie hat laut geschriet. Sie hat gesagt: „Du bist verrückt! Seine
Mutter hat auch gesagt: „Warum?“ Seine Schwester hat nich gesagt. Sie hat
sein Bruder geschauen. (Laura A 8/9, 7)
_______________
38
In seltenen Fällen kommen auch -e-Suffixe vor, und zwar nur bei besonders
schwachen Schülern, deren Erwerb vermutlich bereits fossilisiert ist.
39
Siehe dazu etwa Ellis: „[...] free variation can be considered to occur when two or
more forms occur randomly in (1) the same situational context, (2) the same lin-
guistic context, (3) the same discourse context, (4) perform the same language
function, and (5) are performed in tasks with the same processing constraints“
(Ellis 1994: 136).
151
und abweichende) Stammveränderungen vornehmen kann, m.a.W.: wenn sich
in seinen Texten zeigt, dass er sich das Systemwissen angeeignet hat, auch
wenn die Kenntnis der unregelmässigen Formen noch lückenhaft ist.
Ein Blick auf die Literatur zum Perfekterwerb im L1- und natürlichen L2-
Erwerb zeigt sowohl Gemeinsamkeiten als auch Unterschiede. Gemeinsam ist
den Lernern unter allen Erwerbsbedingungen das Vorhandensein und die Art
der Generalisierungsstrategien: Alle einschlägigen Arbeiten berichten von
einer anfänglichen Verwendung von Infinitiven anstelle von Partizipien
und/oder von Generalisierungen von ge- + Infinitiv-ähnlichen Formen und
ge- + -t.40 Allerdings beobachten Rieck und Clahsen/Rothweiler eine weitere
Zwischenstufe: das Fehlen von -n (gewohne) und -t, letzteres auch nach Ver-
ben, deren Stamm nicht auf Dental auslautet (abgemach), ein Phänomen, das
Clahsen/Rothweiler unter der Bezeichnung „Nullsuffigierung“ zusammenfas-
sen und das in ihrem Korpus offenbar häufig vorkommt, im Unterschied zu
unseren Probanden, bei denen dergleichen Formen äusserst selten sind. Ein
weiterer Unterschied liegt offensichtlich in der Gewichtung der jeweiligen
Generalisierungsstrategien: Insofern in den vorliegenden Arbeiten überhaupt
Angaben über die Vorkommenshäufigkeit der einzelnen Generalisierungen
gemacht werden, wie etwa bei Clahsen/Rothweiler, sind im L1-Erwerb die
Infinitiv-Formen in Perfektkontexten offenbar selten; zudem konnte in ande-
ren Arbeiten zum natürlichen oder gesteuerten Erwerb keine Dominanz der
ge-...-en-Strategie nachgewiesen werden.41 Diese Unterschiede könnten mit
den verschiedenen Erwerbsbedingungen zu tun haben, in dem Sinne, dass
schulisches Grammatiktraining den Erwerb doch in gewisser Weise zu steu-
ern vermag – zwar nicht in Richtung einer grösseren Normkonformität, wohl
aber hinsichtlich der Wahl des Flexivs, das bevorzugt für Generalisierungen
eingesetzt wird.42
_______________
40
Rieck (1989) und Blackshire-Belay (1995) für den natürlichen L2-Erwerb; Mills
(1985), Clahsen/Rothweiler (1993), Clahsen (1996), Clahsen/Weyerts (1994) und
Castell/Seebold (1996) für den L1-Erwerb.
41
Siehe die Ausführungen oben ge- + Infinitiv-ähnliche Formen, S. 147.
42
Zur Diskussion der Rolle der Frequenz beim Erwerb vgl. Blackshire-Belay (1995),
oben S. 129; und die Gegenposition von Clahsen/Rothweiler (1993: 31f.): „We
found that the observed regular-irregular distinctions cannot be derived from fre-
quency differences. Instead, we proposed a linguistic analysis according to which
the child has two suffixation rules for participles, the irregular -n rule which is re-
stricted to marked participle stems/roots and the default -t suffixation rule which
applies ‘elsewhere’.“ (S. 31f.).
152
(41) Ich bin bei meiner Kusine geblieben. Wir wollten skifahren, aber es gab kein
Schnee…Ich habe das gemacht. Es war sehr gross und sehr schön. (Christine V
ESC10/11, 2)
(42) Gestern Abend, ein Mann trinkte ein Bier in einen Bar. Während drei Uhr,
bleibte der Mann und denken nach seiner Leben. (Sophie B 9/C10, 8)
_______________
43
Die erste Zahl umfasst die gesamte Anzahl der Präteritaformen, die bei den Schü-
lern vorkommen. Dann stehen in Klammern zuerst die richtigen, dann die falschen
Formen.
154
(43) Sie war reich weil sie mit einem Millionar lebte. Er heisste Peter. Der Mann ar-
beitete in eine Bank und Petra bleibte zu Hause [...] Eines Tages fuhrt Petra
weit nach ihren Eltern [...] (Fanny D ESC11/12, 5)
(44) Sie kennte seine richtige Name und sie wollte ihn töten. (Sabrina C ECG11/12,
2)
(45) Sie denkte an seinen Chef, der wirklich ihr warten sollte. (Sonia S ESC10/11,
7)
Vereinzelt wählen sie auch die Formen der 3. Person Singular als Basis:
(46) Während einige Tage, schläfte sie bei Freunden und später auf der Strasse mit
ihren Sachen. (Fanny D ESC11/12, 5)
(47) Aber sie weissten nicht, dass sie zusammen gingen. (Sabrina C ECG11/12, 4)
(48) Ich kam an ihr und spricht mit ihr. (Nathalie F ESC10/11, 7)
Zuweilen wirken Texte dieser Art dermassen inkohärent, dass sich die Frage
aufdrängt, ob hier tatsächlich nur eine morphologisch begründete Vermei-
dungsstrategie vorliegt oder ob es sich um ein Unvermögen handelt, die zeit-
liche Perspektive der Vergangenheit konsequent durchzuhalten. Entspre-
chende Vergleiche zur muttersprachlichen Kompetenz fehlen uns, so dass
beide Erklärungshypothesen offen bleiben müssen. Sicher ist jedoch, dass ein
systematisches Ausweichen auf Präsensformen in Präteritumskontexten ein
deutliches Indiz dafür ist, dass die Phase V noch nicht bearbeitet werden
kann.
_______________
47
Das dürfte mehrere Gründe haben. Einerseits befassen sich die meisten Untersu-
chungen des L2-Erwerbs mit mündlichen Daten, in denen die Vergangenheit mit
dem Perfekt ausgedrückt wird, während das Präteritum eher für schriftliche Texte
verwendet wird. Anderseits wird in L1-Erwerbsuntersuchungen mit Kindersprache
gearbeitet und oft liegt dann der Schwerpunkt der Analyse auf den ersten Lebens-
jahren, in denen noch keine Spur von Präteritum zu finden ist.
48
Victoria Fromkin/Peter Rodman (1988: 379).
49
Jordens (1988c: 65) nennt folgende Beispiele: de man zwijgde (zweeg) over ziin
verleden; in dienst verzuipte (verzoop) hij al zijn geld.
157
fekt, Futur und Passiv morphologisch problemlos zu bilden; mit zweiteiligen
Prädikaten sind sie vertraut, und für die Ableitung von Konjunktiv I und II
stehen ihnen die Infinitive und die Präteritumsformen zur Verfügung.
Die Texte von Schülerinnen und Schülern der Phase VI unterscheiden sich
dementsprechend qualitativ eindeutig von denen der vorangegangenen Pha-
sen: Die Varianz sowohl der verwendeten Verben als auch der Tempora und
Modi hat sich beträchtlich erweitert; zudem geht der Anteil an abweichenden
Formen in spektakulärer Weise zurück (von den insgesamt 1264 Verbformen,
die bei den Schülern dieser Phase gezählt wurden, sind nur 132 abweichend,
d. h. nur 9%). In den Texten präsentiert sich dieser Erwerbsstand so:
(49) Wenn ein Mädchen nicht zum Schwimmbad wegen ihrer Religion geht, könnte
man es blöd finden. Meiner Ansicht nach hat das Mädchen keine Wahl. Ihre
Eltern haben sie so erzogen und wenn sie sich weigert, den Traditionen zu fol-
gen, geschieht es manchmal, dass das Mädchen von ihrem selbsten Bruder ge-
tötet wird. (Brigitte A C11/12, 1)
In diesen wenigen Zeilen werden zwei Tempora, zwei Modi und zwei Genera
verbi verwendet, während in Texten der vorausgegangenen Phasen in der
Regel maximal zwei Tempora, und diese mit einer hohen Abweichungsquote,
erschienen. Man könnte sich legitimerweise fragen, ob einem solchen
Erwerbsstand überhaupt noch eine Phase zugeordnet werden soll, ob er nicht
vielmehr als Endzustand der Phase V zu sehen ist.
Wenn wir dennoch eine sechste Phase ansetzen, so aus zwei Gründen. Zum
einen geht der Erwerb der noch fehlenden Tempora und Modi sowie des
Passivs nicht ganz problemlos vonstatten, obwohl die „Bausteine“ für alle in
früheren Phasen erarbeitet wurden. Die Schwierigkeit liegt dabei nicht
prioritär in der Formenbildung, sondern in der funktionalen Zuordnung der
Formen, einer Schwierigkeit, die erstmals in dieser letzten Phase zutage tritt
(sieht man von den Präsensgeneralisierungen auf Vergangenheitskontexte ab,
siehe S. 155). Nicht zufällig ist vorwiegend der Modusgebrauch davon be-
troffen, ein Bereich, in dem die Normen des Deutschen und des Französi-
schen nicht deckungsgleich sind. Zudem dürfte für frankophone Lerner die
lautliche Nähe von Präteritum und Konjunktiv II verwirrend sein; oft fällt es
ihnen schwer, den Umlaut als vollgültiges grammatisches Morphem anzuer-
kennen (wie etwa in hätte vs. hatte, müsste vs. musste, kamen vs. kämen). So
kommt es bei immerhin 13 von 20 Schülern zu Verwechslungen wie:
(50) Gestern hätte ich einen Traum/ Ihre Augen waren geschlossen, aber sie könnte
sehen, wie wenn sie offnen waren. (Ines I C10/11, 7)
158
Ebenso gilt für das Passiv, dass Formenbeherrschung noch keineswegs den
normgerechten Gebrauch des Passivs garantiert. Passivsätze kamen in unse-
rem Korpus ohnehin so selten vor, dass sie für eine Analyse untauglich wa-
ren; aber selbst wo Passivformen richtig gebildet werden, sind sie nur in den
seltensten Fällen auch zielsprachengerecht angewendet.
(51) Wenn Leute sich zu eine andere Kultur angepasst werden, dann ist es Zeit, um
sie zurückzuschicken [...] Es ist doch schwer für uns zu wissen, ob sie in ihrer
Heimat noch gedroht werden. (Brigitte A C11/12, 6)
(52) Meine „cousins“, die ein Instrument zu spielen angehalten haben, hatten be-
gonnen, als sie ungafähr 14–15 Jahre alt war. (Silvia A C11/12, 1)
(53) Ihre Röcke waren so kurz, dass ihre ganze Beine am Luft hungen. (Frédéric H
C11/12, 4)
(54) Er musste 40 Grad Fieber haben und sie kennte [= konnte] nichts machen.
(Arbeit 7) [...] eines Tages war ich zu meiner Grossmutter, die auf seiner Sofa
im Wohnzimmer legte [= lag], um zu überlegen. (Arbeit 8) (Delphine G
C10/11)
159
Doch sind alle diese verbleibenden Lernaufgaben eher auf lexikalischer
Ebene anzusiedeln; es darf davon ausgegangen werden, dass bei hinreichen-
dem Kontakt zur L2 diese grammatischen Probleme in dem Masse zurückge-
hen, wie die Lexik ausgebaut wird. Von einem gewissen Niveau an ist ohne-
hin nicht mehr eindeutig zu entscheiden, inwieweit abweichende Formen
überhaupt noch Indizien für nicht abgeschlossenen Erwerb oder nicht einfach
Performanzfehler sind, wie sie bei jedem L1-Sprecher vorkommen können.
Somit ist also Phase VI für uns nach oben offen; sie endet mit Erreichung ei-
ner quasi muttersprachlichen Kompetenz.
(1) Übernahme von Wörtern aus der L1: Dieses Verfahren praktizieren
hauptsächlich die Primarschulkinder. Sie gebrauchen französische Verben,
wenn ihnen das deutsche Äquivalent fehlt, ein Verfahren, das schon Krashen
als Notlösung bei mangelnder L2-Kompetenz erwähnt hat:
(55) des Mädchen der donne (Arbeit 5) du chante (Arbeit 6) (Tamina B 4/5)
(56) veux du spilen (Eliane F 4/5, 6)
(57) mouter rentre (Arbeit 5) ich s’ait aboyer (Arbeit 7) (Françoise G 4/5)
(58) der Hund prend (Evelyne L 6/7, 5)
_______________
51
Ein Beispiel: Bei der Einführung des Präteritums im 10. Schuljahr ist bei vielen
Schülern der Perfekterwerb noch nicht abgeschlossen; manche haben ihn noch
nicht einmal in Angriff genommen.
164
Ganz vereinzelt finden sich sogar Kombinationen von französischem Stamm
und deutschem Flexiv: sie disen (Annick A 4/5, 5).
In den späteren Klassen verschwindet dieses Vorgehen weitgehend; es
würde ja auch in der schulischen Unterrichtssituation gar nicht zugelassen. Im
übrigen ist offensichtlich schon den Primarschulkindern klar, dass sich das
französische Morpheminventar nicht auf das Deutsche übertragen lässt. In
ihren Generalisierungsstrategien halten sie sich an die deutschen Flexive, bei
den Personalendungen wie beim Infinitiv.
(2) Übertragung von L1-Regeln auf die L2: Wie oben erwähnt, sind solche
Übertragungen vermutlich sehr häufig und sicher auch hilfreich, weil die
zahlreichen Parallelen zwischen den Tempussystemen der beiden Sprachen
dergleichen Übernahmen nahelegen.52 Nur im Modusgebrauch, der im Deut-
schen anders organisiert ist als im Französischen,53 kommt es erwartungsge-
mäss zu „negativem“ Transfer (Beispiel: wenn ich nur reich war), was übri-
gens auch Sprechern mit einer sehr weit entwickelten L2-Kompetenz unter-
läuft.
Nach dem französischen Modell aller + Infinitiv bilden die Schüler Futur-
formen unter Verwendung von gehen, und dies nicht nur antizipierend, so-
lange ihnen die Bildungsregeln des deutschen Futurs noch unbekannt sind
(59), sondern auch in den Gymnasialklassen (60):
5.2.5.3 Fazit
Das Fazit unserer Analyse liesse sich demnach in folgenden Thesen zusam-
menfassen:
Der Verbalflexionserwerb vollzieht sich in sechs Phasen, und zwar in
Richtung einer zunehmenden Komplexität:
I. in der präkonjugalen „Vorphase“ erscheinen nur memorisierte Chunks und
Infinitive;
II. den ersten Erwerbsschritt bildet die Subjekt-Verb-Kongruenz;
III. als erste analytische Form, bestehend aus einem flektierbaren und einem
nicht-flektierbaren Bestandteil, wird Modalverb+Infinitiv bearbeitet;
IV. es folgt als zweite analytische Form das Perfekt, bestehend aus zwei flek-
tierbaren Teilen;
V. als synthetische Vergangenheitsform folgt das Präteritum, in dessen Mor-
phologie Personalendung und Tempusmarkierung miteinander verknüpft
sind;
VI. Plusquamperfekt, Konjunktiv I und II sowie Passiv können nun aus den
„Bausteinen“ der Phasen I–V konstruiert werden.
Helen Christen
5.3.1 Ausgangslage
Das Deutsche ist eine Genussprache. Wer Deutsch lernt, sei es als Erstprache,
sei es als Zweitsprache, muss lernen, dass es die drei Nominalkategorien der
Maskulina, Feminina und Neutra gibt. Die Zugehörigkeit jedes einzelnen
Nomens zu einer der Genusklassen, die sog. Genusselektion oder gender at-
tribution, ist eine lexeminhärente Eigenschaft, die am Nomen selbst nicht
ausgedrückt wird, sondern an den Determinantien, Adjektiven und Pronomen
einer Nominalgruppe markiert und als gender agreement bezeichnet wird.56
Kategorische Genuszuweisungsregeln, die die Selektion eines bestimmten
Genus eindeutig festlegen würden, existieren nicht. Man kann jedoch von
stochastischen Regeln ausgehen, die das Genus nach phonologischen, mor-
phologischen und semantischen Gesichtspunkten zuweisen (vgl. Wegener
1995b; Köpcke 1982; Köpcke/Zubin 1984; Eisenberg 1989). Diese Regeln
sind aber relativ komplex, sodass Bussmann (1995: 122) resignierend zu be-
denken gibt, „daß für Fremdsprachige letzten Endes das Erlernen des Regel-
apparates aufwendiger ist als das Mitlernen beim einzelnen Wort“.
Genus ist im Deutschen nicht nur eine Angelegenheit des Syntagmas, in-
sofern als Elemente – also hier die Elemente der Nominalgruppe – mit einer
lexikalischen Eigenschaft des Nomens kongruieren müssten, sondern das
Genus hat gleichzeitig eine paradigmatische Dimension. Es ist nämlich nicht
so, dass sich ein bestimmtes Genus morphologisch uniform in genau einer
und immer gleichen Ausdrucksform innerhalb der Nominalgruppe äussern
würde, sondern zu einem Genus gehört ein ganzes Formenparadigma, das
zugleich die unterschiedlichen syntaktischen Funktionen der Nominalgruppe
mit ausdrückt (z. B. Dativ: einem kleinen Kind) (vgl. Kapitel 5.5).
_______________
55
Belege aus Schülerarbeiten.
56
Zur Unterscheidung von gender attribution und gender agreement vgl. Müller
(1994: 71).
168
Die (frankophonen) Lernenden werden durch die genannten Besonder-
heiten im Bereich deutscher Nominalgruppen mit komplexen Erwerbsprob-
lemen konfrontiert:
1) Es muss zu jedem deutschen Nomen gelernt werden, welches von drei
Genera zugewiesen werden muss.
2) Es muss gelernt werden, welche Elemente des Syntagmas überhaupt
„genussensitiv“ sind und entsprechend markiert werden müssen, nämlich
die Determinantien, die Adjektive und die Pronomen.
3) Es muss gelernt werden, welche Ausdrucksstrukturen an den relevanten
Stellen unter Berücksichtigung weiterer nominaler Kategorien zu realisie-
ren sind (z. B. dass der Definitartikel eines maskulinen Nomens, das in
der Funktion eines direkten Objekts im Akkusativ auftritt, die Ausdrucks-
form den hat).
Aus der Perspektive Frankophoner ist die Existenz eines nominalen Katego-
riensystems keine grundlegend neue „Spracherfahrung“. Auch das Französi-
sche kennt wie das Deutsche ein Genussystem, das sich durch das „Fehlen
eines zugrundeliegenden Konzepts, einer Funktion der Kategorie Genus“
(Wegener 1995b: 3) auszeichnet. Allerdings sind einige Unterschiede zwi-
schen den beiden Sprachen nicht zu übersehen: Das Französische spezifiziert
in die zwei nominalen Kategorien Feminina und Maskulina, beim Deutschen
kommt zusätzlich die Kategorie der Neutra hinzu. Allein schon diese Tatsa-
che macht klar, dass hinsichtlich der Genusselektion eine 1:1-Entsprechung
zwischen den beiden Sprachen ausgeschlossen ist und die Genuszuweisung
beim einzelnen deutschen Nomen nicht über Transfer aus der französischen
L1 erfolgen kann.57
Was die Genussensitivität der nominalen Teile betrifft, so decken sich das
Deutsche und Französische in weiten Teilen. Die Unterschiede sind jedoch
einschneidend: Die Possessiva kongruieren im Deutschen mit der Bezeich-
nung der Besitzenden, im Französischen mit jener des Besitzes; im Französi-
schen werden zudem die Genusunterschiede im Gegensatz zum Deutschen im
Plural nicht neutralisiert.
Als eine der Lernschwierigkeiten dürfte sich die deutsche Besonderheit des
paradigmatischen Genus herausstellen. Das Genus besteht aus einem ganzen
Flexionsparadigma, dessen einzelne Formen sich zusätzlich nach Kasus und
Numerus ausrichten. Die einzelnen Flexive sind aber nicht eineindeutig,
sondern mit bloss 8 verschiedenen Suffixen (nämlich -Ø, -e, -er, -en, -em, -es,
-as, -ie) werden alle möglichen Genus-Kasus-Numerus-Kombinationen
ausgedrückt (vgl. Werner 1975). Diese Formenökonomie ist wohl bei der
_______________
57
Vgl. zur einzelsprachlich unterschiedlichen Genusselektion die in diesem Zusam-
menhang vielzitierten die Sonne / le soleil; der Mond / la lune.
169
Vielfalt an möglichen Kombinationen (3 Genera x 4 Kasus x 2 Numerus = 24
Möglichkeiten) für eine erfolgreiche kognitive Verarbeitung unabdingbar. Für
Lernende ergibt sich aber aus der deutschen Formenökonomie rsp. der deraus
resultierenden Polysemie einerseits ein erhebliches Analyseproblem beim
Input (nur wenn das Genus von Schule bekannt ist, kann der Schule als Dativ
interpretiert werden!), andererseits ein Syntheseproblem beim Output (an
welcher syntaktischen Stelle muss welche Endung realisiert werden?) (vgl.
Kapitel 5.7).
Das Lernproblem des Genus ist also weit komplexer, als dies Wegera
(1997: 99) in seiner „Konzeption einer Grammatikeinheit zum Genus“ schil-
dert, der davon ausgeht, dass das Genus ein Merkmal sei, „das nicht am Sub-
stantiv markiert wird, sondern durch den bestimmten Artikel der, die, das
(bzw. den unbestimmten Artikel ein, eine) ausgedrückt wird. Das Genus muss
deshalb jeweils zusammen mit dem Substantiv erlernt werden.“58 Die richtige
Genusselektion ist bloss ein erster „Teilerfolg“, der noch keineswegs die
zielsprachlichen Flexive aller genussensitiven Elemente und damit formale
Korrektheit impliziert!
5.3.2 Forschungsstand
Der Genuserwerb wird gerne als ein Lernbereich charakterisiert, bei dem
ErstsprachlerInnen mühelos zu den richtigen Genusselektionen kommen, bei
dem ZweitsprachlerInnen dagegen kaum je die Fähigkeit erlangen, beliebigen
deutschen Nomen mit hundertprozentiger Sicherheit das zielsprachlich
vorgesehene Genus zuzuweisen. Die aktuellen Forschungen zum L1- und L2-
Genuserwerb relativieren und spezifizieren nun diese gängigen Vorstel-
lungen.59
Was die Ergebnisse zum L1-Genuserwerb betrifft, so sei darauf hingewie-
sen, dass der Genuserwerb in der Erstsprache keineswegs so mühelos und
rasch erfolgt, wie das oft behauptet wird. Selbst Kinder im Einschulungsalter
haben bei der Genuszuweisung in bestimmten Bereichen noch Unsicherheiten
(vgl. Mills 1986).60 Die Arbeiten von Müller (1990, 1994) und Koehn (1994)
_______________
58
Zweifellos muss das Genus zusammen mit dem Nomen gelernt werden. Allerdings
dürfte es ein Irrtum sein zu glauben, wenn die Lernenden den „richtigen Artikel“
zu einem Nomen wüssten, seien damit die Genusprobleme gelöst.
59
Zum L1-Genuserwerb bei Sprachen mit verschiedenartigen Genussystemen vgl.
Corbett (1991: 82ff.).
60
Die Daten von Mills (1986) werden von MacWhinney u.a. (1989) zur Konzeptio-
nierung eines konnektionistischen Modells bezüglich der Regelhaftigkeit des Ge-
nus verwendet, ohne dass letztere aber den Kenntnisstand mit eigenen empirischen
Untersuchungen ergänzen würden.
170
zum bilingualen L1-Erwerb haben zudem erhellen können, dass der
Genuserwerb von bestimmten Konzeptbildungen und von einzelsprachlichen
Strukturen abhängt.
Was nun den Genuserwerb in der L2 betrifft, so liegen zum Deutschen als
Zweitsprache die Untersuchungen zum gesteuerten Erwerb von Rogers
(1986) und zum ungesteuerten Erwerb von Wegener (1993, 1995a, 1995b)
vor. Rogers (1986) kann bei anglophonen Lernenden eine hohe Fehlerquote
bei den femininen Nomen feststellen und eine Fehlerabhängigkeit von der
syntaktischen Umgebung der genusmarkierten Grösse, was Rogers in einen
Erklärungszusammenhang bringt mit Schwierigkeiten der gleichzeitigen Ka-
susmarkierung, des paradigmatischen Genus also.
Im ungesteuerten Deutscherwerb bei Kindern mit den flektierenden Erst-
sprachen Polnisch und Russisch und dem agglutinierenden Türkisch als L1
kann Wegener (1993) hinsichtlich des Gebrauchs der Determinantien die fünf
folgenden Erwerbsphasen ausmachen: 1. Phase: Fehlen jeglicher Mar-
kierungen; 2. Phase: Semantische Unterscheidung zwischen bestimmten und
unbestimmten Determinantien zur Kennzeichnung bestimmter und unbe-
stimmter Referenz; 3. Phase: Reduktion der Formenvielfalt und 1:1-Zuwei-
sung von bestimmten Formen zu bestimmten Inhalten; 4. Phase: Festlegung
von Funktionswerten und Uminterpretation von Genusmarkern zu anderen
grammatischen Markern; 5. Phase: Ausbildung von eigentlichen Genusregeln.
In einer abschliessenden Beurteilung geht Wegener (unveröff.)61 in bezug auf
das gender agreement von Entwicklungsschritten aus, wobei zuerst das
genusabhängige Pronomen, dann der bestimmte und zuletzt der unbestimmte
Artikel erworben wird.
Die vorliegende Untersuchungsanordnung ist am ehesten mit jener von
Rogers vergleichbar, die gesteuerten Erwerb ebenfalls anhand schriftlicher
Texte untersucht. Allerdings erlaubt die ausgeprägte Längs- und Quer-
schnittsanordnung des Genfer Projektes Aussagen über allfällige Erwerbs-
verläufe rsp. dokumentiert den Stand des Genuserwerbs in verschiedenen
Stadien des Spracherwerbs, was bei der eher punktuellen Auswertung von
Texten einer schmalen studentischen Testgruppe, wie sie bei der erwähnten
Untersuchung von Rogers vorliegt, weniger möglich ist.
_______________
61
Referiert nach Henning Bolte: Zweitsprachenerwerb. Theorie und Unterrichtskon-
zepte. Unveröff. Gesamtbericht der Sektion 14. Internationale Deutschlehrerta-
gung. Amsterdam 1997.
171
5.3.3 Genus im gesteuerten Unterricht
Wie kommen die L1- und L2-Lernenden zu ihrem Genuswissen? Die all-
tagsweltliche Vorstellung, wonach man einfach den Definitartikel zu einem
Nomen „mit dazu bekommt“ (vgl. auch Wegera 1997), ist insbesondere beim
L1-Erwerb eine irrige Vorstellung. Kinder werden bei ihrem Spracherwerb
kaum mit Input konfrontiert, bei dem sie den Definitartikel systematisch he-
rausdestillieren könnten. Wenn man sich typische Konversationen mit Klein-
kindern vor Augen führt, kommen neben dem Definitartikel insbesondere
auch „mehrdeutige“ Indefinitartikel (das ist ein Hund, das ist ein Pferd) und
nicht nur Nominative sondern auch andere Kasus vor (siehst du den Hund,
das Pferd). Im L1-Erwerb dürfte sich vom Input her – in unterschiedlicher
Auftretenshäufigkeit – sowohl das syntagmatische als auch das paradigmati-
sche Genus zeigen. Kinder werden demzufolge – wie Rogers (1987) wohl
zutreffend vermutet – Paradigmen lernen und nicht den definiten Artikel.
Würden nämlich die Kinder das Nomen tatsächlich zusammen mit dem Defi-
nitartikel lernen, so wäre mit Fehlleistungen in dem Sinne zu rechnen, dass
die Definitartikel als eine Art obligatorischer Nominal-Präfixe in einer be-
stimmten Erwerbsphase auftauchten (z. B. *ein der Hund), was jedoch nicht
der Fall ist.62
Was nun den Erwerb des deutschen Genus im L2-Unterricht betrifft, so
kann von einigen grundsätzlichen Unterschieden zum L1-Erwerb ausgegan-
gen werden. Das betrifft zum einen das implizite Sprachwissen der Kinder,
die in ihrer französischen Erstsprache bereits Erfahrungen mit einer Genus-
sprache gemacht haben und dort um die morphologischen Konsequenzen von
nominalen Kategorien „wissen“.
Anders als im L1-Erwerb ist der Input für die (eventuell vermeintlichen)
Bedürfnisse der Lernenden aufbereitet. Was den Anfängerunterricht in der
Primarschule betrifft, so erscheinen bereits von Beginn weg Nomen mit ver-
schiedenen Genera und verschiedenen nominalen Begleitern (definiter und
indefiniter Artikel, Possessiva), als auch Nominativ- und Akkusativformen
(ich habe einen Hund, mein Hund heisst X, der Hund usw.). Die Lexeme
werden immer in einen Satzkontext eingebettet, folglich wird das Genus an
verschiedenen syntaktischen Stellen manifest.
Typisch für den Anfängerunterricht scheint allerdings auch zu sein, dass
den Lernenden syntaktische Kontexte präsentiert werden, die nicht nach ei-
nem nominalen Determinans verlangen (im Kühlschrank hat /gibt es Eier,
Milch, Schinken...). Die Schüler und Schülerinnen werden durch solche Kon-
struktionen vor Genus- und Kasusfehlern bewahrt: Sie können (hier sogar:
_______________
62
Im Genfer Korpus findet sich ein Beleg für den Definitartikel als eine Art von
„Nominalpräfix“: Der Hund stelen eines der Schinken. (6/7)
172
müssen) – wie es auch typisch ist für frühe Phasen des L1-Erwerbs (vgl. Mills
1986) und für ungesteuerten L2-Erwerb – das Determinans weglassen, mit
dem Unterschied allerdings, dass sie in solchen Fällen immer grammatisch
korrekte Sätze bilden. Die Lehrmittel scheinen also durchaus auf die
natürliche erste Phase des Fehlens jeglicher Genusmarkierung (vgl. Wegener
1993) Rücksicht zu nehmen, allerdings lassen sie diese nur dort zu, wo sie
auch der zielsprachlichen Norm entsprechen.63
Erst dann, wenn die Lernenden mit dem Lese- und Schreibunterricht be-
ginnen, in der Regel also ab der 5. oder 6. Klasse, sind sie nicht bloss mit
„syntaktisch eingebetteten“ Lexemen konfrontiert, sondern sie lernen die
Nomen auch über Wörterverzeichnisse. Dort sind sie mit dem definiten Arti-
kel im Nominativ Singular verzeichnet, in Einzelfällen werden auch noch
spezielle Syntagmen, die das aktuelle grammatische Wissen übersteigen, er-
gänzend aufgeführt (z. B. der Sommer, im Sommer). Die Schülerinnen und
Schüler im „alphabetisierten“ Stadium des Deutscherwerbs begegnen also
über den Input bei vielen Nomen mindestens zwei Formen: der Zitierform im
Nominativ Singular mit bestimmtem Artikel (der Korb) und einer im Lern-
buch /-text realisierten Form (einen Korb), die nicht unbedingt mit der Zitier-
form übereinzustimmen braucht.64 Weder die Zitierform noch die
„eingebettete Form“ garantieren nun, dass die Lernenden zur richtigen Ge-
nuszuweisung kommen (Bsp. Schülertext: *der clavier; Wortliste: das Kla-
vier) oder dass sie zu richtigen paradigmatischen Flexivzuweisungen fähig
sind (*in der Korb).
Beim gesteuerten Erwerb ist also davon auszugehen, dass von einem be-
stimmten Zeitpunkt des Erwerbs an das Genus explizit in der eindeutigsten
Form des definiten Artikels „mitgeliefert“ wird, aus dem dann die weiteren
Paradigmenstellen eventuell deduziert werden können, während die „Genus-
Information“ beim ungesteuerten Erwerb anhand verschiedener Paradigmen-
stellen induziert werden muss.
_______________
63
Es dürfte dem formorientierten gesteuerten Unterricht zuzuschreiben sein, dass in
schulischen Produktionen die grammatisch abweichenden DET-losen Nominal-
gruppen, die ja geradezu als prototypisches Merkmal des ungesteuerten kommuni-
kationsorientierten Erwerbs gelten können, im Vergleich zum ungesteuerten Er-
werb doch selten sind (vgl. Texte aus ungesteuertem Erwerb und authentischen
mündlichen Kommunikationssituationen bei Frischherz 1997).
64
Für die Schülerinnen und Schüler des postobligatorischen Unterrichts existieren
zudem Lernmaterialien, die von den Lehrpersonen in Eigeninitiative entwickelt
worden sind. Dort sind auch eigentliche Genusregeln formuliert; im speziellen
handelt es sich um das Prinzip des natürlichen Geschlechts, sowie morphologische
Regeln in Abhängigkeit von einem Wortbildungssuffix.
173
5.3.4 Die Genuszuweisung in den DiGS-Texten
Arbeit 1 2 3 4 5 6 7 8
SchülerIn
Nicolas B 4/5 2/1 2/0 1/0 2/0 4/1 0 7/0 1/0
Christine M 4/5 6/3 11/3 5/0 7/1 3/3 4/5 5/0 7/2
Sandrine M 5/6 3/1 2/1 1/2 1/0 6/3 1/0 1/1 4/1
Audrey P 5/6 4/2 0/2 2/0 - 1/0 0/6 2/0 8/1
Alexandre S 6/7 0 0 2/0 4/0 7/1 3/2 1/0 8/2
Ekaterina E 6/7 14/3 0/1 5/1 6/0 3/1 13/0 10/2 10/3
Noélie F 7/8 5/1 2/3 0 13/1 16/3 0/2 5/2 8/1
Sophie R 7/8 13/3 10/4 15/3 7/4 12/2 6/3 9/6 13/2
Cédric M 8/9 2/1 5/7 8/0 9/1 5/4 4/0 3/2 0
Sophie N 8/9 5/0 14/0 11/0 14/0 20/3 11/0 10/1 14/1
Délphine F 8/0 7/3 7/0 3/5 10/1 5/3 7/0 3/3
9/ESC10
Corinnee P 8/2 16/7 8/6 24/2 8/9 1/4 5/4 12/4
9/ESC10
Liliane N 4/1 5/1 7/5 6/4 5/3 2/2 3/0 0
ECG10/11
Jeannette C 2/4 5/2 5/4 9/6 11/10 4/1 10/3 15/11
ECG10/11
Fanny D 15/1 7/1 10/0 10/1 15/0 15/5 9/1 7/1
ESC11/12
_______________
67
Dieses Vorgehen ist arbeitspraktisch begründet, das die lernersprachlichen Pro-
dukte von der (bekannten) zielsprachlichen Form und nicht von einer
(unbekannten) potentiellen lernersprachlichen Grammatik aus angeht. Dieses Vor-
gehen hat keinen Zusammenhang mit einer vermuteten zeitlichen Aufeinanderfolge
von Genus- und Kasuserwerb.
175
Arbeit 1 2 3 4 5 6 7 8
SchülerIn
Frédéric B 15/3 6/2 7/1 8/1 10/1 11/1 9/6 12/0
C11/12
Nicolas M 14/7 4/3 1/1 4/0 M 10/3
ESC12/13
Muriel G 12/5 9/9 5/0 5/4 M 29/6
C12/13
Tab. 27: Zusammenfassung richtiges/falsches Genus pro Arbeit
Die aufgeführten Werte machen deutlich, dass bei der Genuszuweisung nicht
mit einer kontinuierlichen Zunahme richtiger Genera gerechnet werden kann,
weder auf individueller Ebene, noch über die Schulstufen hinweg. Dieser
Sachverhalt erstaunt kaum, weil mit der kontinuierlichen Zunahme des Wort-
schatzes gleichzeitig bei immer wieder neuen Nomen auch das zugehörige
Genus selektioniert werden muss. Es handelt sich ja nicht um die lerner-
sprachliche Fähigkeit, bei einem ganz bestimmten Nomen „immer besser“ zu
wissen, welches das jeweilige Genus ist.68 Bei unterschiedlichen Nomen aber
haben auch allenfalls erworbene Genuszuweisungsregeln eine unterschiedli-
che Gültigkeit. Während bei den Anfängerinnen und Anfängern der Wort-
schatz äusserst limitiert ist und das Genus rsp. seine morphologischen Folgen
quasi für Einzelfälle noch relativ problemlos auswendig gelernt werden
könnten (vgl. die „guten“ Werte der 4., 5. und 6. Klasse), ist dies bei Fortge-
schrittenen kaum mehr möglich.
Die obigen Werte dokumentieren einen beträchtlichen Anteil von richtigen
Genuszuweisungen: In den meisten Arbeiten ist die Zahl der richtigen
Genusanzeiger grösser als jene der falschen; in 32 Arbeiten sind sogar alle
Genera richtig, dagegen sind in bloss 18 Arbeiten mehr als die Hälfte der
Genera falsch. Viele richtige und viele falsche Zuweisungen finden sich
(erwartungsgemäss) sowohl bei AnfängerInnen als auch bei Fortgeschritte-
nen.
In den nachfolgenden Abschnitten 5.3.4.2 und 5.3.4.3 werden die
„Trefferquoten“ vor dem Hintergrund der Ergebnisse von Rogers (1986) in
bezug auf das zielsprachliche Genus und in bezug auf die morphosyntaktische
Umgebung, die den Genusmarker trägt, diskutiert.
_______________
68
Einen schulstufenabhängigen Zuwachs an richtigen Genuszuweisungen nachwei-
sen zu wollen – „Phasen“ sind bei dieser Art von Phänomenen ohnehin ausge-
schlossen – ist problematisch: Da sich die Lexeminventare von Text zu Text und
von Schülerin zu Schüler unterscheiden, ist ein direkter Vergleich hinsichtlich der
„Sicherheit“ der Genuszuweisung erschwert.
176
5.3.4.2 Genusregeln?
In unserem Korpus lässt sich für alle Schülerinnen und Schüler die deutsche
Spezifikation in drei Genera nachweisen. Dass sie bloss ein Genus generali-
sieren würden, kommt äusserst selten bei Anfängerinnen und Anfängern vor,
dieses Verfahren ist dann aber auf einen einzigen Text beschränkt (z. B. Ge-
neralisierung des Neutrum bei Philipp B 5/6, 2; vgl. Fussnote 72). Was die
Genusselektion betrifft, so herrscht heute weitgehend Konsens darüber, dass
Regeln der Genuszuweisung existieren, die Genuszuweisung also nicht ein-
fach arbiträr ist und für jedes Nomen – im L1- und L2-Erwerb – auswendig
gelernt werden muss.69 Welche Art der postulierten Genusregeln allerdings
psychisch real sind, darüber herrscht weniger Einigkeit.70 Was den Spracher-
werb betrifft, so ist man sich zudem nicht einig, ob semantische oder formale
Regeltypen Priorität haben: Während Mills (1986: 115) davon ausgeht, dass
„children first learn the rules which affect the largest part of the vocabulary,
have the fewest exceptions and are clearly represented in child’s lexicon“,
sieht Müller (1990) eine simultane Entwicklung von semantischen und for-
malen Regeln. Wegener (1995b) dagegen interpretiert ihre Daten dahinge-
hend, dass eine Vorrangstellung semantischer Regeln (hier insbesondere das
„Natürliche-Geschlecht-Prinzip“ NGP) angenommen werden kann.
Nachfolgend soll anhand von Gesamt- und Einzeldaten überlegt werden,
ob es Indizien für lernersprachlich vorhandene semantisch und formal be-
dingte Genusregeln gibt.
_______________
69
Häufig wird keine explizite Unterscheidung gemacht zwischen Regularitäten (des
Genus), die die Linguistik der (deutschen) Sprache zuschreiben kann und Regeln,
die psycholinguistische Grössen sind und über eine Existenz in der Kognition der
Sprecherinnen und Sprecher verfügen: „Does a rule of grammar literally corre-
spond to a data structure or comutional procedure implemented in neural hard-
ware?“ (Pinker/Prince 1991: 230). Die ungenügende Unterscheidung hat mit der
„systematischen Ambiguität“ des Ausdrucks „Grammatik“ zu tun, der einerseits
die in Grammatiken von Linguisten formulierten Regeln meint und andererseits die
eigentlichen Sprachregeln: „In Wirklichkeit aber sind die Regeln in den
Grammatiken (man könnte sie Linguistenregeln nennen) natürlich ihrerseits
sprachliche Aussagen, nicht die Sprachregeln selber“ (Haas 1998: 295).
70
Vgl. Wegener (1995b), die nicht Genusregeln an sich in Abrede stellt, sondern
jene, die Köpcke/Zubin (1984) aufgestellt haben.
177
Anzahl Nomen insgesamt: Maskulina 499 Feminina 478 Neutra 310
1287 (= 100%) (= 38%) (= 37%) (= 25%)
richtige Zuweisungen (78%) 374 (74%) 408 (85%) 216 (69%)
falsche Zuweisungen n/m: 59 (12%) m/f: 24 (5%) m/n: 33 (11%)
(22%) f/m: 66 (14%) n/f: 20 (4%) f/n: 61 (20%)
m,n/f: 26 (6%)
/: statt (n/m = neutrum statt maskulinum)
Tab. 28: Die Genuszuweisung nach zielsprachlichem Genus
(a) Neutra: Was die lernersprachlich „richtigen“ Neutra betrifft, so sind viele
Belege – wie oben erwähnt – nicht-eindeutig in bezug auf die Genuszuwei-
sung, da zahlreiche Paradigmenstellen für das Maskulinum und das Neutrum
identisch sind (ein/em Schiff, ein/em Mann); weil der Akkusativ in bestimm-
ten Lernerstadien nicht zwingend markiert wird (vgl. 5.5.3.5), ist damit auch
der formal richtige Akkusativ bei Indefinita und Possessiva neutraler Nomen
(ein Haus, Akk.) kein sicheres Indiz, dass die Lernenden tatsächlich nicht
_______________
71
Leider wird der Indefinitartikel in bezug auf das Genus selten so eindeutig
„entschlüsselt“ wie in den folgenden Belegen: Ich habe auch ein „P.C.“. Ich ar-
beite mit dieses. (ESC9/10); Hast du ein Weihnachtsbaum gemacht? Ich habe das
gemacht. Es war sehr gross und sehr schön. (ESC10/11).
178
doch von einem Maskulinum ausgehen rsp. dass die Lernenden einfach die
zwei Kategorien „+ Feminin“ und „- Feminin“ unterscheiden (dieser Fall wird
hier – wie oben erläutert – als richtig registriert, da ja tatsächlich eine kor-
rekte Form vorliegt).
Mit einiger Sicherheit kann aber in bezug auf das vorliegende Material
ausgesagt werden, dass das Neutrum von frankophonen Lernenden nicht ein-
fach generalisiert wird.72 Ob die vergleichsweise grosse Unsicherheit bei den
Nomen mit neutralem Genus damit zusammenhängt, dass in der L1 diese
Spezifikation fehlt, kann als Erklärung insbesondere deshalb erwogen wer-
den, weil sich sogar beim bilingualen deutsch-französischen L1-Erwerb vor
allem bei den Neutra Abweichungen zeigen (Müller 1994: 71), so dass Koehn
(1994: 47) in Erwägung zieht, dass „the discribed behavior could reflect the
tendency to transfer the French two-class-system to the German language.“
Allerdings kann Wegener (unveröff.73) beim L2-Erwerb von Türkisch,
Polnisch und Russisch sprechenden Kindern – jene mit den slawischen
Erstsprachen „kennen“ bereits eine Genusspezifikation in Maskulina, Femi-
nina, Neutra – ebenfalls am meisten Fehler bei den Neutrum-Markierungen
feststellen.
(c) Maskulina: Was die ebenfalls hohe Zuweisungssicherheit bei den Masku-
lina betrifft, kann hier ebenfalls die Validität von bestimmten formalen und
semantischen Genusregeln erwogen werden: Einsilber sind zu 52% masku-
lin;76 den überaus häufigen männlichen Personenbezeichnungen, die in den
_______________
75
Alle nachfolgenden Angaben zu Frequenz, Valididät und Skopus beziehen sich auf
Wegener (1995b).
76
Der Skopus der Einsilberregel liegt im Grundwortschatz bei 26%. Es gibt bei den
Maskulina Genuszuweisungsregeln mit einer bedeutend höheren Validität, aller-
dings ist der Skopus dieser Regel derart gering, dass sie hier nicht in Betracht ge-
zogen werden (vgl. Wegener 1995b: 91).
180
Texten vorkommen, könnte das Genus nach dem NGP zugewiesen werden.
Durch Anwendung der semantischen und der phonologischen Regel könnten
maximal 37% resp. 35%, insgesamt also über drei Viertel der 374 richtigen
Maskulina zustande kommen.
Wenn die Lernenden tatsächlich über die oben ausgeführten Regeln ver-
fügen und diese bei der Genuszuweisung anwenden, dann müsste sich das
daran zeigen, dass das entsprechende Genus vorzugsweise dann zugewiesen
wird, wenn die formalen und semantischen Bedingungen für eine bestimmte
Regel erfüllt sind, also auch dann, wenn in der Zielsprache die Genuszuwei-
sung ausnahmsweise nicht nach diesen Regeln erfolgt (bei Lernenden, die das
NGP anwenden, wäre also *die Mädchen zu erwarten, bei jenen, welche die
Einsilberregel anwenden *der Bett). Allerdings ist bei der Interpretation der
Belege Zurückhaltung am Platz, weil keineswegs damit zu rechnen ist, dass
Lernende kategorisch nach einigen wenigen Regeln agieren, sondern dass sie
konkurrierende Verfahren der Genuszuweisung anwenden: Einerseits könnten
sie tatsächlich Regeln ausbilden, andererseits aber auch eine Reihe von
singulären Zuweisungen einfach auswendig lernen.
Die Datenlage präsentiert sich bezüglich von ausgewählten semantischen
und formalen Regeln nun wie folgt:
(a) Potentielle Anwendung der semantischen Regel nach dem „Prinzip des
natürlichen Geschlechts“ in den Lernertexten:
− Sexus maskulin: Genus maskulin 154 / Genus nicht-maskulin 14 (8%)
− Sexus feminin: Genus feminin 116 / Genus nicht-feminin 9 (7%)
Die Übereinstimmung von Genus und Sexus wird ganz offensichtlich zu ei-
nem hohen Grad hergestellt; sie wird bezeichnenderweise oft auch dann her-
gestellt, wenn das grammatische Geschlecht im Deutschen nicht mit dem Se-
xus übereinstimmt (vgl. die Mädchen, eine Mädchen, die Fräulein; ich abbé
tsway hunds eins chwar unt eine wice main hund chwar ist Belzebuth unt
mainée hund wice ist Danaé [Philippe B 5/6, 1]; offensichtlich werden hier
die Possessiva, möglicherweise aber sogar auch die Adjektive chwar
‘schwarz’ und wice ‘weiss’ auch nach dem natürlichen Geschlecht ausge-
richtet]).
Die Abweichungen vom Prinzip des natürlichen Geschlechts kommen als
Ausnahmen in den ersten Klassen des Deutschunterrichts vor und betreffen
Determinantien, deren Genusmarkierungen möglicherweise nicht als solche
erkannt werden, was sich auch im variablen Gebrauch dieser Determinantien
zeigt (vgl. mein Bruder / meine Bruder77) (vgl. Kapitel 5.3.4.3).
_______________
77
Die Variation bei diesen Determinanten könnte wohl teilweise auch der (gelegent-
lichen) Anwendung der französischen Orthographie zugeschrieben werden.
181
(b) Potentielle Anwendung formaler Regeln in den Lernertexten
− Schwa-Regel
Validität der femininen e-Regel (Schwa-Regel) in der deutschen Sprache:
90%
belegte e-Nomen: 191, davon feminine Genuszuweisung: 167 (87%)
(davon 157 zielsprachlich feminin; richtige Genuszuweisung 94%)
(nicht-feminine Genuszuweisung 13%, davon richtig 27%, falsch 73%)
− Einsilber-Regel
Validität der maskulinen Einsilberregel: 52%
belegte Einsilber: 279, davon maskuline Genuszuweisung 163 (58%) (davon
140 zielsprachlich maskulin; richtige Genuszuweisung 86%) (nicht-
maskuline Genuszuweisung 42%, davon richtig 70%, falsch 30%)
_______________
78
Bei der Wortform Hause ist damit zu rechnen, dass die Lernenden Hause als
Chunk aus den (dativischen) Syntagmen zuhause, nach Hause extrahieren (vgl.
Kapitel 5.6.6.3).
182
Der Einfluss der L1, der z. B. von Wokusch (1994) bei der Genusselektion
in Erwägung gezogen wird, ist – wie die Anwendung potentieller Genusregeln
– schwer auszumachen. Teils könnten die Abweichungen tatsächlich damit
erklärt werden, dass das französische Genus transferiert wird (vgl. eine
Fruchtsalade hier mit zusätzlichem Lexemtransfer; ta haus bei einer Fünft-
klässlerin, die das deutsche Possessivum nicht kennt und jene feminine Form
transferiert, die mit der französischen Lexementsprechung la maison kon-
gruiert), ein systematischer Transfer des französischen Genus auf das Genus
der deutschen Lexementsprechung ist aber in keinem der Lernertexte nach-
weisbar, wahrscheinlich ist, dass der L1-Transfer eines von sich konkurren-
zierenden Verfahren der Genuszuweisung ist, dessen Ausmass dann von in-
dividuellen Präferenzen für bestimmte Strategien abhängt.
Die lernersprachliche Genuszuweisung, wie sie sich im analysierten Mate-
rial zeigt, ist in über drei Vierteln aller Vorkommensfälle richtig (vgl. Tab.
28). Obwohl der nominale Wortschatz der Lernenden eingeschränkt ist,
scheint mir das Urteil, die Frankophonen könnten sämtliche richtigen Zuwei-
sungen einfach auswendig gelernt haben, etwas vorschnell zu sein, weil doch
einige Phänomene, die sich vor allem bei falschen Zuweisungen zeigen, für
die lernersprachliche Ausbildung von semantischen und formalen Zuwei-
sungsregeln sprechen.
Wie bereits Wegener (1995b) argumentiert, kann jedoch beispielsweise
aus einer femininen Genuszuweisung bei einem Nomen mit e-Pseudosuffix
solange nicht zwingend auf eine lautliche Genuszuweisung geschlossen wer-
den, bis sicher ist, dass den Nomen mit anderer Lautstruktur nicht ebenso
„leicht“ feminines Genus zugewiesen wird. Die Beschreibungen einzelner
auffälliger Besonderheiten und die Überlegungen zu den quantitativen Wer-
ten, die sich im Gesamtmaterial in bezug auf die Zuweisung der Nomen zu
Genusklassen zeigen, können deshalb bloss den Anspruch haben, gewisse
Indizien für die Art des Genuserwerbs erfasst zu haben.
Dass das Deutsche drei nominale Genuskategorien zeigt, scheint bei den ein-
zelnen Schülerinnen und Schülern keine grösseren Schwierigkeiten zu berei-
ten – bei sämtlichen Lernenden kommen Formen vor, die diese Spezifikation
in drei Genera belegen. Allerdings gibt es nun hinsichtlich der richtigen Ge-
nus-Selektion unübersehbare Schwierigkeiten, wobei sich die Schülerinnen
und Schüler schon früh mit gewissen Genusregeln zu behelfen scheinen.
Probleme ergeben sich nun zusätzlich hinsichtlich der Markierung der ver-
schiedenen genussensitiven Elemente, die ja dann nicht nur das Genus, son-
dern auch den Kasus „ausbuchstabieren“.
Wenn der Gesamtbefund der Genuszuweisung, wie er sich in der Tabelle
Tab. 29 manifestiert, tatsächlich auf eine unterschiedliche Sicherheit des Ge-
nus (und Kasus) in Abhängigkeit von der morphosyntaktischen Stelle der
Genusmarkierung schliessen lässt, so müsste sich dieser Befund auf indivi-
dueller Ebene durch „oberflächliche Genusvarianz“ beim gleichen Nomen
(zur „gleichen Zeit“, d. h. hier im gleichen Text) in unterschiedlicher mor-
phosyntaktischer Umgebung zeigen. Die folgenden Ausführungen stützen sich
auf solche intraindividuelle Genusvariabilität bei einfachen Nominalgruppen,
die erwartungsgemäss relativ selten vorkommt. Die wenigen Belege können
aber trotzdem als Unterstützung der obigen Aussagen zum Gesamtbefund
herangezogen werden.
Es lassen sich insgesamt die folgenden Erscheinungsformen beobachten:
(1) Goudentag! Ich bin Christine. Ich haben noine iare halt. Meine Muter haisst M.
Mein Fater heisst O. Mein Bruder haisst A. Meine Muter hat 30 iare halt.
Meine Fater aur 38 iare halt. Meine Bruder hat 6 iare halt. Meine telefonumer
ist 348..... Ich haben kainen cats out kainen onts. Aufidersen! (Christine M 4/5, 1)
________________
(2) Petra hatte eine Fest von seine Freundin Eva am Samstagabend. Das Fest war
für Evas Geburtstag. Petra war sehr schön. Sie hat grünen Haaren, eine grüne
Rock und grünen Schuhen angetrage. In das Fest alle Leute war in grün anha-
ben. Das ist der Thema von das Fest. [...]. (Jeannette C ECG10/11, 7)
(3) Ich bemerke jetzt, dass mein Geschichte als den Jungen Geschichte in Sansibar
aussieht. [...] Es ist diese Geschichte in Fernsehen, die mich beeinflusst hat.
(Muriel G C12/13, 2)
Bei einer Genus-Varianz, wie sie sich im Beleg (2) zeigt, scheint die syntag-
matische Genuszuweisung beim Definitartikel sicher zu sein, während der
Indefinitartikel unsicher ist und die Kasusrelevanz der Präpositionen unbe-
achtet bleibt.
Der Beleg (3) zeigt, dass das formal mit dem Indefinitartikel sehr ähnliche
Possessivum auch ähnlich behandelt zu werden scheint wie dieser, ebenso
wird mit dem Demonstrativum wie mit dem Definitartikel verfahren.
Dieser Befund deckt sich völlig mit jenem aus dem L1-Erwerb, bei dem
sich die morphosyntaktische Umgebung des genusmarkierten Elementes in
gleicher Weise auf die Sicherheit in der Zuweisung der geforderten Genusan-
zeiger auswirkt. Was sich hier auf der Ebene individueller Werte zeigt, sum-
186
miert sich bei den Gesamtdaten zu den vergleichsweise massiven Abwei-
chungsraten bei den Genuszuweisungen der hochfrequenten Indefinitartikel.
(4) Petra fährt besuchen sein Freund Albert. [...] Sein Freund ist dick. (Liliane N
ECG 10/11, 4)
(5) Mein Bruder hat sein Arm gebrochen, ins Krankenhaus zu gehen [...] Ich habe
ein CD gekauft für mein Bruder, weil er diese CD mag. Ich gehe bei mein On-
kel, weil meine Eltern ins Krankenhaus wären. (Corinnee P ESC9/10, 8)
(6) Der Kühlschrank ist offen. [...] Das Milch ist im der Kühlschrank. (Sophie R
7/8, 5)
(7) Sie hat in einem Haus gewohnen mit seinen Mann und seine Kinder. Einen Tag
ist sie zum Haus angekommen und seinen Mann und seine Kindet waren parti.
(Délphine F 9/ESC10, 5)
(8) Er ist gut weil er der Moral des Soldaten aussteigt. [...] Alle Soldaten kennt ihm
und er ist eine sehr wischtige Mann für die Moral des Soldaten. (Nicolas M
ESC12/13, 1)
Hier deutet sich durch die Verschiedenheit des definiten Artikels beim glei-
chen Nomen unter syntaktisch verschiedenen Bedingungen das Vorhanden-
sein eines – wie auch immer gearteten – Kasuskonzepts und damit paradig-
matisches Genus an; allerdings sind die zielsprachlichen Formensets nicht
vorhanden und können gelegentlich zu „oberflächlicher“ Genusvarianz füh-
ren, ein Phänomen, dass allerdings auf Lernende aus den höheren Schulklas-
sen beschränkt ist.
Die direkte Vergleichsmöglichkeit von individuellen Genuszuweisungen
beim gleichen Nomen „zum gleichen Zeitpunkt“, d. h. hier in der gleichen
Arbeit, ist erwartungsgemäss selten belegt. Die Daten, die vorliegen, können
jedoch individuelles „Genus-Verhalten“ dokumentieren, dessen Reflex sich in
den vorher erläuterten quantitativen Gesamtdaten manifestiert: Indefinitartikel
und Possessiva sind zu Beginn des Deutscherwerbs weitestgehend ausserhalb
der Aufmerksamkeit der Lernenden. Auch später lässt sich beim
Indefinitartikel eher abweichendes Genus feststellen als beim Definitartikel.
Die Kasusrelevanz der Präpositionen wird lange nicht berücksichtigt und
führt dann zu Abweichungen in bezug auf das paradigmatische Genus, was
formal in einigen wenigen Fällen wegen der Homonymien wie ein
„Überspringen“ auf ein anderes Genusparadigma aussieht. Die Formüberein-
stimmung nach den nominalen Kategorien, ein kommunikativ eigentlich
zweitrangiges Phänomen, ist ein Stolperstein, der die L2-Lerndenden wäh-
rend überaus langer Zeit ihres Erwerbsprozesses in Anspruch nimmt. Diese
formalen Abweichungen lassen die L2-Erwerbenden „ungebührlich lange“ als
Lernende erscheinen, weil diese Verstösse, selbst wenn sie selten sind, für
Muttersprachler/innen so auffällig sind, dass sie gerne übersehen lassen, was
in vielen anderen Bereiche erfolgreich gemeistert wird.
188
5.3.6 „Eine unermessliche Erfolg“81 – Der Erwerb des
syntagmatischen und paradigmatischen Genus am Beispiel
der attributiven Adjektivflexion
Wie bereits einführend dargestellt, kann bei den L2-Lernenden trotz schuli-
scher Instruktion weder vorausgesetzt werden, dass sie auf Anhieb alle syn-
taktisch relevanten Stellen für die Genusmarkierung kennen, noch dass sie
damit vertraut sind, dass sich die Ausdrucksformen je nach syntaktischer
Funktion der Nominalphrase ändern können. Das Wissen um die grammati-
sche Komplexität gerade mehrgliedriger Nominalgruppen scheint sich bei den
L2-Lernenden erst allmählich und prozessartig herauszubilden.
Die komplexen Nominalgruppen, d. h. solche, die mindestens durch ein
Adjektiv erweitert sind, stellen höchste Anforderungen an die Lernenden.
Während bei den Determinantien die Kategorien Genus, Numerus und Kasus
ausdrucksrelevant sind, kommt bei der Adjektivflexion zusätzlich das Krite-
rium der syntaktischen Umgebung zum Tragen: je nach Art der Determinan-
tien wird das Adjektiv – unter Berücksichtigung der nominalen Kategorien
Numerus, Genus und Kasus – stark oder schwach flektiert.
Komplexe Nominalgruppen erscheinen relativ selten in den lernersprach-
lichen Texten. Von den 1287 Nomen, die oben im limitierten „Genus-Kor-
pus“ belegt sind, sind gerade 134 in eine komplexe Nominalgruppe einge-
bettet. Das mag einerseits darin begründet liegen, dass die Schülerinnen und
Schüler primär alltagssprachliches Deutsch lernen, wo attributive Adjektive
auf jeden Fall relativ selten sind. Plausibler ist aber wohl die Erklärung, dass
die Schülerinnen und Schüler erst in der achten Klasse überhaupt mit der
deutschen Adjektivflexion konfrontiert werden und wahrscheinlich die Er-
fahrung machen rsp. gemacht haben, dass komplexe Nominalgruppen poten-
tielle Fehlerquellen sind.82 Individuelle Vermeidungsstrategien sind als Ursa-
che für die niedrige Frequenz sicher nicht ganz auszuschliessen, was aller-
dings nur nachgewiesen werden kann, wenn in vergleichbaren schriftlichen
L1-Texten ein höherer Adjektivgebrauch festgestellt werden könnte.
_______________
81
Beleg aus ESC 11/12, 6.
82
E. Kwakernaak (1996: 416f.) sieht die masssiven Schwierigkeiten, die bei der
Adjektivflexion auftreten auch in einem Zusammenhang damit, dass die Adjektiv-
flexion isoliert von den nominalen Teilen „behandelt“ wird, und zwar meist erst
nachdem die Flexion der Determinantien instruiert worden ist. Er plädiert dafür,
dass jene Schülerinnen und Schülern, „denen ein längeres Curriculum in dieser
Sprache bevorsteht“ und bei denen eine gewisse formale Korrektheit im Deutschen
abverlangt wird, die nominale Flexion ausschliesslich anhand komplexer Nomi-
nalgruppen lernen.
189
Im folgenden werden in einem ersten Schritt die erwähnten 134 komplexen
Nominalgruppen auf ihre formale Korrektheit insgesamt und hinsichtlich von
Genus und/oder Kasus überprüft. In einem zweiten Schritt wird das Korpus
um Arbeiten erweitert, die aus höheren Schulklassen stammen und damit
mehr Belege für komplexe Nominalgruppen beibringen können. Beim er-
weiterten Korpus steht nicht die Frage nach formaler Richtigkeit im Vorder-
grund, sondern jene, ob es bezüglich der Adjektivflexion eine Art von Lern-
progression gibt, die darin bestehen würde, dass die Schülerinnen und Schüler
immer besser „durchschauen“, nach welchen Prinzipien die nominale Flexion
funktioniert.
Adjektive
Determinantien richtig falsch
definiter Artikel richtig 21 4
falsch 3 3
indefiniter Artikel richtig 31 7
falsch 13 30
Possessivum richtig 7 1
falsch 3 2
Demonstrativum richtig 2 1
falsch 0 0
kein Determinans 3 3
Tab. 30: Formale Richtigkeit der Flexive in DET und ADJ in derselben
Nominalgruppe
190
TOTAL
Nomen maskulin richtig falsch
DEF + ADJ 6 5
INDEF + ADJ 3 15
POSS + ADJ 3 6
DEM + ADJ 1 1
0 + ADJ 0 2
Total 13 29 (= 69%)
Nomen feminin
DEF + ADJ 11
INDEF + ADJ 19 17
POSS + ADJ 4
DEM + ADJ 1
0 + ADJ 2 1
Total 37 18 (= 33%)
Nomen neutrum
DEF + ADJ 4 5
INDEF + ADJ 9 18
POSS + ADJ
DEM + ADJ
0 + ADJ 1
Total 14 23 (= 62%)
64 70 (= 52%)
Tab. 31: Formale Richtigkeit der komplexen Nominalgruppen nach dem
Genus des Nomens und nach morphosyntaktischer Umgebung
_______________
84
Parallelbeugungen mit anderen Flexiven sind marginale Erscheinungen, d. h. die
Lernenden orientieren sich tatsächlich an einem authentischen Muster, das sie im
Input finden und dann generalisieren können.
192
abweichenden Flexiven kann aber wegen ihrer Zufälligkeit in diesem frühen
Lernerstadium wohl bloss der Status von „präsyntaktischen Proformen“
(Müller 1990) zukommen.
Stadium 0-FLEXION:
Die Adjektive werden in ihrer unflektierten Form verwendet und können
dem Nomen vor- oder nachgestellt sein.
Beispiel: ein schwarz pullover, ein blau t-shirt, ein blau Hose (9/ESC10, 2)
Stadium BELIEBIG:
nur Einzelbelege (allenfalls richtige); verschiedenste Abweichungstypen,
die keine Regelmässigkeiten erkennen lassen.
Beispiel: Text 3: eine gute Ausland, eine schönes Ausland (ESC10/11, 3)
Stadium FORMALer Ausgleich:
Die Flexion erfolgt (weitgehend) nach einem ganz bestimmten, wieder-
kehrenden formalen Muster oder nach einer formalen Anpassung an die
anderen Elemente der Nominalgruppe und ist damit syntagmatisch orien-
tiert, was dann auch zu Abweichungen führt rsp. führen kann. Das Stadium
FORMAL lässt keine „grammatische Senisitivität“ in bezug auf Genus,
Numerus, Kasus erkennen, sondern eine Ausrichtung nach ausdruckssei-
tigen Eigenschaften der Nominalgruppen (z. B. formale Anpassung an die
Form des Determinans oder wie im nachfolgenden Beispiel: Generalisie-
rung eines bestimmten Markers für die attributive Adjektivflexion).
_______________
85
Die Bedürfnisse der Genfer Lehrerschaft haben zudem zu einer Ausweitung der
Beleglage in den schulrelevanten Übergangsphasen des 9. rsp. 13. Schuljahres
(Ende der obligatorischen Schulzeit rsp. Hochschulreife) geführt.
193
Beispiel: ein grosses Mann, ein schwarzes Rock, ein oranges Krawatte,
ein schwarzes Hose, ein oranges Jacke, ein grunes Handtasche, eine
schones Pizza, braunes Haar, ein blaues Hemd, blondes Haar, ein rotes
Hemd (ECG10/11, 4)
Stadium FUNKTIONALer Ausgleich:
Es sind verschiedene Flexionen nachweisbar, die erkennbar „grammatisch
sensitiv“ sind, d. h. ausdrucksseitige Abhängigkeit von den relevanten
nominalen Kategorien Genus, Numerus, Kasus und damit eine paradig-
matische Orientierung zeigen. Formale Richtigkeit kann dabei erreicht
sein, muss aber nicht.
Beispiel: eine kleine Stadt, eine teure grüne Natur, das ganzen Tag
(Akkusativ), ein tolles Erlebnis, der beste Ort, die ganze grosse Natur,
meine ungeheure Freude. (C10/11, 1)
(9) Familie Bauer wollen umziehen, weil seine Wohnung so klein ist. Sie wolle in
eine grosse Haus wohnen, damit jeden Kinder seine Wohnzimmer hat. Die Fa-
milie hat eine Grosses Durcheinander, weil die Kinder sehr blöd sin sind. Der
Grossvater wohnt mit die Familie, weil die Grossmutter gestorben ist. Der
Lastwagen für der Umzug ist voll. Jeden Packen ist für eine Zimmer ein für die
Küche, ein für das Badzimmer ...uzw. Das grosses Kind heisst Juliana und sie
ist auf das Dach vor der Lastwagen. Und das klein Kind heisst David, und er ist
_______________
86
Zur Stellung des Adjektivs aus der Perspektive des Prinzipien- und Parameter-
Modells vgl. Parodi (1998).
195
auf der Schrank. Auf die Schtüle sitzt die Mutter, sie ist nicht glücklich, weil
die Kinder nicht zu hören sind. Aber der Grossvater ist sehr glücklich, weil er
zieht mit Familie um. In der Lasstwagen legt ein Vögel er heisst „Bouba“. Er
sprecht und er singt. Auf der Schreck (?), neben David ist ein rotes fisch, er
heisst „Roma“, weil er nach Italien geht. (Odette A 9/ESC10, 4)
(10) In den Ferien will Werner mit Autostop in Italien fahren. Er muss noch neun
hundert km machen. Ein Mann mit ein blaues Auto und ein schnelles hält an.
Er steigt in diesem ein. Karl, der Autofahrer, trinkt eine Flasche Rotwein und
gibt ihm. Aber wenn er ist vernünftig und will keinen Wein trinken. Das blaues
Auto und die zwei Männer haben einen Unfall. In zehn Minuten kommt ein
fleissiger Polizist mit ein Rad. Nach der Unfall, der armer Mann Werner muss
in der Jugendherberge schlafen. Er ist müde und will jetzt gut schlafen. Am
nächsten Tag, Werner ist noch aber er muss aufstehen. Er steht an der Strasse
und wartet ein neues Auto.87 (Sophie N 8/9, 4)
(11) Ich denke dass, eine Schulreise ausserhalb Europa eine sehr gute Idee ist. Wenn
wir in einem wecken88 Land fahren, sehen wir neue Dinge, verschiedene Perso-
nen, seltsame Sitten für uns, gute Essen usw....
Wenn wir ausserhalb Europa fahren oder fliegen, sind wir weck von seine El-
tern und werden wir wahrlich indipendent. Wir denken weniger zu unserem
Land in Genf und wir amusieren uns mehr.
Wenn der Lehrer oder die Lehrerin uns wählen lassen wurde, müssten wir zwi-
schen einem reichem Land und einem armem Land, wo wir ihm besser kom-
men, wählen. Wir können in USA fliegen, um uns zu amusieren und in India,
um die Sitten besser zu kennen.
Aber diesere Reise (!) ist nicht möglich, weil er zu teuer ist und Herr X, unserer
Lehrer (!) nicht will. (ESC12/13, 3)
Helen Christen
5.4.1 Einleitung
_______________
90
Nicolas B 9/C10, 1 (zusätzliche Pluralbelege im gleichen Text: Jahre, Meter, Brü-
der, Jahre, Fische, Freunde).
91
Eine weitere redundante Pluralmarkierung ist bei Subjektsnomen durch die eben-
falls numerussensitive Verbalflexion gegeben.
200
Nicht nur über die Zahl der Pluralallomorphe besteht nun Uneinigkeit,
sondern auch über die Art, wie einem Nomen ein bestimmter Pluralmarker
zugewiesen wird. Die Annahme einer psychischen Realität von (wie im ein-
zelnen auch immer gearteten) Regularitäten, die bestimmen, welches Nomen
mit welchem Allomorph den Plural markiert, ist durchaus plausibel (und auch
unbestritten) angesichts der Fähigkeiten der L1-Sprechenden, einem
beliebigen Nomen – und in entsprechenden Tests auch einem „Kunstwort“92 –
interindividuell konsistent einen Plural zuzuweisen.
Die Regularitäten und Irregularitäten werden nun mithilfe verschiedener
Modelle erfasst, die entweder von einer unitären oder einer dualistischen
Morphologiekonzeption ausgehen (Bartke 1998). Während erstere morpho-
logische Prozesse ausschliesslich mit einer einzigen Art von Regeltyp be-
schreiben, gehen letztere davon aus, dass zwei qualitativ unterschiedliche
Prozesse wirksam sind. Zur unitären Schule gehören zum einen Linguistinnen
und Linguisten, die die gesamte Pluralzuweisung anhand von symbolischen
Regeln modellieren (Mugdan 1977, Wegener 1995b, Neef 1998). Solche
Annahmen können zu einer grossen Anzahl von Regeln und ergänzenden
Ausnahmelisten führen, ein Ergebnis, das sich in einzelnen Fällen wie jenem
von Mugdan (1977) kaum mit dem Anspruch verträgt, die mentale Reprä-
sentation des Phänomens tatsächlich nachzubilden.93 Von symbolischen Re-
geln in einem unitaristischen Modell gehen auch Konzeptionen aus, die dem
Ebenenmodell Kiparskys (1982) verpflichtet sind und ein hierarchisch ge-
ordnetes Regelsystem annehmen. Zu den unitären Ansätzen gehören zum an-
deren auch konnektionistische Modelle (vgl. Kapitel 3.2.3), die von netz-
werkartigen Verbindungen zwischen sprachlichen Einträgen ausgehen und
eine Erscheinung wie die Pluralbildung anhand von Lautanalogien, überein-
stimmender Lautstrukturen und Erscheinungsfrequenzen erklären (Köpcke
1987; 1994). Zudem wird bei konnektionistischen Konzeptionen auch die
semantische Motiviertheit (gewisser) Pluralmarker in Erwägung gezogen: So
deckt etwa Köpcke (1994) bei der als arbiträr geltenden Umlautsetzung bei
den einsilbigen Maskulina eine auffällige Korrelation des Umlauts mit einer
anthropozentrischen Weltsicht auf.
Dualistische Modelle wie jenes von Pinker/Prince (1984) konzipieren die
Pluralzuweisung wie Kiparsky als hierarchisch ablaufenden Prozess, der –
was die Irregularitäten betrifft – jedoch konnektionistisch über lautliche
Analogien modelliert ist, während die Regularitäten über symbolische Regeln
verlaufen.
_______________
92
Vgl. entsprechende Tests bei Berko (1958), Mugdan (1977), Köpcke (1987), We-
gener (1995b).
93
Mugdan (1977), der den Nominalplural des Deutschen in Abhängigkeit von Genus
und morphonematischen Eigenschaften der Lexeme formuliert, entwirft ein Regel-
system mit 15 Pluralregeln und 21 Lexemlisten mit den Ausnahmenfällen.
201
Verkomplizierend kommt hinzu, dass Phänomene, die in der einen theo-
retischen Konzeption den Status von Regularitäten, Subregularitäten oder Ir-
regularitäten haben, in einer anderen Konzeption wieder anders bewertet
werden. Während beispielsweise Bartke (1998) von nur einer regelmässigen
Pluralbildung, nämlich jener auf -s, ausgeht, konzipieren andere mehrere re-
gelmässige Pluralbildungen, deren Regelmässigkeiten aber eine vorgeordnete
Gruppierung der Nomen in Genusklassen voraussetzen (z. B. Köpcke 1994;
Wegener 1995b, Neef 1998). Neef (1998: 261) nimmt die fünf deutschen
Pluralmarker als regelmässig an, unregelmässig sind bei ihm nur singuläre
Bildungen von der Art Lexikon vs. Lexika. Aus unterschiedlichen Konzeptio-
nen resultiert eine entsprechend unterschiedliche Zahl von Defaultformen.
Geht man von symbolischen oder konnektionistischen Regeln aus, die die
Selegierung eines Pluralmarkers für ein bestimmtes Nomen bestimmen, so
können diese in einem Zusammenhang mit dem Genus und/oder der phono-
logischen Struktur, genauer dem Auslaut des Nomens oder der Silbenstruktur
des Nomens, formuliert werden. Allerdings kann es sich – vergleichbar mit
der Genusselektion – bloss um statistische Regeln handeln, was beispiels-
weise Konsequenzen für die Wörterbuchschreibung hat: die Abweichungen
machen wegen der relativen Unsicherheit der Pluralzuweisung bei den Wör-
terbucheinträgen aller Nomen die Angabe der jeweiligen Pluralform notwen-
dig. Abweichungen von Regeln können sich natürliche Sprachen nur bei den
hochfrequenten Phänomenen „leisten“: Ihr häufiges Auftreten garantiert, dass
die Sprecherinnen und Sprecher die Sonderfälle überhaupt lernen können.
Erwartungsgemäss sind nun auch die Abweichungen von den regelmässigen
Pluralbildungen gerade im hochfrequenten Grundwortschatz zu finden. Augst
(1979: 223) geht hier beispielsweise von einem Fünftel des Lexembestandes
aus. Gerade dieser Grundwortschatz mit seinen Ausnahmen bildet aber den
Input für die Lernenden, der dann seiner Unregelmässigkeiten wegen
zwangsläufig die Deduktion von Regeln erschweren muss.
Regeln, die in Abhängigkeit von lexeminhärenten Eigenschaften wie dem
Genus,94 in Abhängigkeit von „phonologisch irgendwie auffällig[en]“
(Wegener 1995b: 22) Ausdrucksstrukturen, in Abhängigkeit von der Zugehö-
rigkeit des Nomens zum „core lexicon“ oder zum „peripheral lexicon“ (Neef
1998: 262) formuliert werden, sind Regeln, die mit Bestimmheit Regularitä-
_______________
94
Wegener (1995b: 39) nimmt beispielsweise „mehrere reguläre und teil- bzw. mar-
kiert-reguläre Flexionsklassen an, die für dieselben Genusklassen gelten und diese
weiter differenzieren.“
202
ten des Deutschen zu beschreiben vermögen, jedoch nicht das lernersprachli-
che Wissen abbilden. Aus der Lernerperspektive sind derartige Regeln mehr
als problematisch, weil die Lernenden die dafür nötige Ausgangsinformation
gar nicht haben können, da diese ja selbst Teil des Lernprozesses sind: weder
das Genus ist gegeben, noch das für die Pluralbildung entscheidende Wissen
darüber, ob eine deutsche Struktur lautlich „normal“ ist oder nicht. Dass es
nun trotz dieser Defizite möglich ist, die zielsprachlichen Pluralbildungen zu
lernen, zeigt, dass dies über andere Wege erfolgreich sein kann. Bei einem
geringen Lexembestand ist natürlich Auswendiglernen der Formen – also im
Prinzip die Memorisierung von zwei lautlich sehr ähnlichen Lexikoneinträgen
– das Naheliegendste. Es ist jenes Prinzip, das ja auch bei den nicht-
regelhaften Pluralbildungen in den verschiedenen in Kapitel 5.4.1 erläuterten
Modellen vorgesehen ist.
Im Anfangsstadium des Plural-Lernens ist es m.E. relativ plausibel, von
„Regeln“ auszugehen, die sich ausschliesslich an „externen“ Struktureigen-
schaften der Lexeme orientieren, wie etwa die äusserst validen – und nicht
von lexeminhärenten Eigenschaften abhängigen – Regeln, dass Substantive
auf -e ihren Plural auf -en bilden (und zwar unabhängig von ihrem Genus)
oder dass Substantive, die auf einen Vollvokal auslauten, einen s-Plural ha-
ben. Zudem können auch Analogiebildungen vorkommen, die Lernende auf-
grund von bereits bekannten Pluralen lautlich ähnlicher Lexeme machen.
Entscheidend könnten sich auch perzeptive Aspekte des Inputs auswirken,
wie jene der Frequenz oder der Salienz. Allerdings setzen selbst diese Ver-
fahren ein minimales Mass an Lernerwissen über die deutsche Sprache vor-
aus.
Bei L2-Lernenden im Schulalter kann davon ausgegangen werden, dass
das Konzept „Plural“ keinerlei Schwierigkeit verursacht, sondern bei der
Schulreife die begriffliche Unterscheidung zwischen einer Einzahl und einer
Vielzahl von Entitäten vorausgesetzt werden kann. Konzeptuell dürfte die
nominale Kategorie „Plural“ um einiges einfacher sein als die Kategorien
„Genus“ und „Kasus“.
Das lernersprachliche Problem liegt also auf der formalen Seite: Während
im (gesprochenen!) Französischen die ausschliesslich externe und im Ver-
gleich zum Deutschen weniger ikonisch konstruierte Pluralmarkierung am
Artikel den Normalfall darstellt ([la fam] vs. [le fam] ‘die Frau’ vs. ‘die
Frauen’), und die wenigen Ausnahmen mit Markierung am Nomen selbst
lautlich motiviert sind (auslautendes singularisches [al] hat einen lautlich so-
gar weniger umfangreichen und damit der konstruktionellen Ikonizität zuwi-
derlaufenden Plural auf [o]!), besteht im Deutschen das ersichtliche Problem,
aus einer Reihe von Möglichkeiten den „richtigen“ Pluralmarker zu wählen.
Nicht zu unterschätzen ist für Deutschlerndende das Analyseproblem, das
darin besteht, herauszufinden, welche der vorkommenden Input-Formen denn
203
nun als Plurale und welche als Singulare zu betrachten seien, was einmal
mehr mit nicht-eindeutigen Plural-Allomorphen in Zusammenhang steht (vgl.
Genus, Kasus). Es gilt nämlich folgendes zu beachten:
− jedes Pluralallomorph kann auch als „Pseudosuffix“ in Singularformen
vorkommen (Kinder Pl. vs. Lehrer Sg.; Tage Pl. vs Sache Sg.; Birnen Pl.
vs. Graben Sg.; Zirkus Sg. vs. Uhus Pl. usw.)
− das Pluralallomorph -n ist homonym mit dem Dativ-Plural-Allomorph (den
Freunden).
Welche Aussagekraft hat das vorliegende Material für die Frage der Plural-
bildung im gesteuerten L2-Erwerb? Die hier belegten Pluralbildungen können
keineswegs „beweisen“, ob die Kinder und Jugendlichen über Pluralregeln
verfügen, oder ob sie die Plurale mit Hilfe auswendig gelernter Formen
„lexikalisch“ oder über lautliche Analogien zu bereits bekannten Lexemen
setzen. Das Vorhandensein von lernersprachlichen Pluralregeln kann – wenn
überhaupt96 – nur anhand von Kunstwörtern nachgewiesen werden.
Was die vorliegenden Plurale bei Substantiven in authentischen Texten
betrifft, so kann erstens eine Bestandesaufnahme gemacht werden zu den
_______________
95
Es ist natürlich keineswegs ausgeschlossen, dass die Schülerinnen und Schüler im
Unterricht nicht weiteren Pluralformen begegnen, die über die Vorgaben des
Lehrmittels hinausgehen.
96
Ernstzunehmende Kritik gegen die Kunstwort-Experimente fomulieren Häcki Bu-
hofer u.a. (1998: 94), die zu bedenken geben, dass auch in diesem Kontext nicht
mit Sicherheit tatsächlich Pluralregeln nachgewiesen werden können, weil die
Testpersonen auch eine Analogie-Strategie anwenden könnten, wonach den
Kunstwörtern ein Plural nach lautlich ähnlichen Wörtern zugewiesen würde.
205
quantitativen Dimensionen richtiger und falscher Pluralzuweisungen. Anhand
dieser Zuweisungen kann zudem festgestellt werden, welche Pluralformen in
authentischen, inhaltsorientierten Texten vorzugsweise erscheinen und
generalisiert werden, ohne dass aber für die so ermittelten Lernerverfahren
unumstössliche psycholinguistische Erklärungen gegeben werden können.
Die Ergebnisse können zudem verglichen werden mit jenen, die Mugdan
(1977), Köpcke (1987) und Häcki Buhofer u.a. (1998) in anderen Untersu-
chungen zu ebenfalls authentischen Nomen ermittelt haben.
5.4.3.2 Ergebnisse
Zur Pluralbildung sind die Texte von 121 Testpersonen untersucht worden,
bei denen 2341 Plurale belegt sind. Hinsichtlich des Gesamterscheinungsbil-
des dieser nominalen Plurale können nun die folgenden allgemeinen Fest-
stellungen gemacht werden:
Der formalen Herausforderung sind die Schülerinnen und Schüler insofern
gewachsen, als sie von Beginn weg Plurale mit verschiedenen Endungen
realisieren (z. B. Sophie V 4/5, 1 Jahrs; 4/5, 3 Birnen; 4/5, 5 Eier; 4/5, 7
Jahre, Kinder; 4/5, 8 Bananen, Äpfel). Diese Tatsache erstaunt kaum, wenn
man bedenkt, dass die Lernenden schon im ersten Jahr Deutsch mit formal
verschiedenen deutschen Pluralallomorphen konfrontiert werden, die sie
zweifellos auch (unter Umständen unanalysiert) memorisieren können. Dass
diese Schülerin und ein weiterer Schüler der 5. Klasse abweichende Plurale
mit einem -s-Allomorph bilden, kann diese Hypothese eines lexikalischen
Lernens meines Erachtens nur stützen: Jene Plurale, die „ganzheitlich“ gelernt
worden sind, realisieren sie fehlerfrei. Was neue Bildungen betrifft, scheinen
sie dagegen noch nicht in der Lage zu sein, aus dem Input ein deutsches
Pluralallomorph zu extrahieren, und sie transferieren bei „unbekannten
Pluralen“ das (schriftliche!) französische Pluralallomorph (tatsächlich gibt es
bis zu diesem Zeitpunkt keinen Beleg für den ohnehin seltenen deutschen s-
Plural, der als „Pluralvorlage“ hätte dienen können [vgl. auch Tab. 34]; dass
eine -s-Defaultform quasi ab ovo generiert wird, ist eher unwahrscheinlich;
vgl. auch 5.4.4.2.5).
Die Generalisierungen,97 die sich bei einem Teil der Fortgeschrittenen zei-
gen, gehen in der Regel einher mit richtigen nominalen Pluralen, die mit an-
deren Allomorphen markiert sind. Eine einzige und damit eindeutige Plural-
endung – eine kognitiv ideale morphologische Kodierung also – ist in weni-
gen Ausnahmefällen bei eher fortgeschrittenen Testperson ansatzweise belegt
(vgl. Beispiel 1, S. 215).
_______________
97
Ich werde im folgenden den Terminus „Generalisierung“ für alle jene Fälle brau-
chen, bei denen eine Schülerin oder ein Schüler einen nominalen Plural bildet, der
in dieser Form von der Zielsprache abweicht. Eine solche Bildung setzt zwangs-
läufig voraus, dass die Lernenden – nach welchen Kriterien auch immer – einer
(singularischen) Basisform eine Pluralform zugewiesen haben, und das im Unter-
schied zu den richtigen Bildungen, die auch auswendig produziert sein können.
207
lernersprachliches („)0 („)-e -(e)n („)-er -s anderes Total
Pluralallomorph
zielsprachlich richtig 178 789 634 168 76 7 1852
Die Daten aus den Arbeiten von 121 Schüler/innen zeigen, dass rund 78%
(vgl. Fehleranteil 22%) aller vorkommenden Pluralformen (Tokens) richtig
sind.98 Die Tabelle zeigt ebenfalls, welche Endungen – gemessen an der rich-
tigen Zuordnung – häufig falsch verwendet und damit lernersprachlich gene-
ralisiert werden: das 0-Allomorph wird dabei anteilsmässig am häufigsten,
das er-Allomorph am seltensten bei „falschen“ Substantiven gebraucht. Was
den absoluten Anteil an abweichenden Pluralallomorphen betrifft, so gibt es
am meisten falsche -(e)n-Bildungen, was einher geht mit der höchsten Fre-
quenz dieser Plurale sowohl in der Zielsprache als auch im mutmasslichen
lernersprachlichen Input (vgl. Tab. 34).
Eine Interpretation dieses Lernerverhaltens wird versucht, indem zusätz-
lich in Betracht gezogen wird, wie sicher die einzelnen Pluralkategorien sind
(vgl. Tab. 36) und welche Plurale an Stelle der falschen zielsprachlich vorge-
sehen sind (vgl. Tab. 37).
Die Tab. 37 gibt Hinweise über die „Qualität“ der Abweichungen und kann
horizontal und vertikal gelesen werden. Die horizontale Lesart geht von der
Perspektive des zielsprachlich vorgesehenen Allomorphs aus und zeigt, wel-
che abweichenden Allomorphe an Stelle des zielsprachlich richtigen selegiert
werden. Die vertikale Lesart geht vom abweichenden Allomorph aus und er-
laubt umgekehrt eine Aussage darüber, welche zielsprachlich richtigen Al-
lomorphe bei einem bestimmten abweichenden Allomorph „betroffen“ sind.
Die tabellierten Phänomene werden in den nachfolgenden Abschnitten
kommentiert.
_______________
101
Da die Generalisierung bei den untersuchten Testpersonen zwar bevorzugt den
-(e)n-Plural betrifft, Generalisierungen anderer Marker aber auch vorkommen, bin
ich zumindest vorsichtig hinsichtlich der Schlussfolgerung Clahsens (1997), dass
es L1-abhängige Generalisierungen gäbe.
102
Nach Wegener (1995a: 16) werden bei knapp 40% der Tokens des Grundwort-
schatzes -(e)n-Plurale zugewiesen, beim Gesamtlexembestand erhöht sich ihr An-
teil auf über 50%.
103
Häcki Buhofer u.a. (1998: 100) interpretieren die hohen Generalisierungsraten bei
-(e)n im Zusammenhang m Erwerb der Standardsprache ebenfalls mit kognitiven
Eigenschaften dieses Markers. Sie gehen davon aus, „dass die Endung -(e)n zentral
mit der Vorstellung von der Explizitheit des Hochdeutschen verbunden ist.“
211
_______________
104
Inwiefern hier die französische L1 als Sprache mit dominant nomen-externer Plu-
ralmarkierung eine interferierende Rolle spielt, kann nur schwer abgeschätzt, aber
immerhin in Erwägung gezogen werden.
213
5.4.3.3 Stufenabhängiges oder individuelles Lernerverhalten?
Im folgenden soll das Augenmerk auf die individuellen Beleglagen hinsicht-
lich der Pluralbildung gelegt werden. Die Fragen, die sich nun auf der Ebene
der Lernerindividuen stellen und die mit Hilfe der Gesamtdaten nicht beant-
wortet werden können, sind die zwei folgenden:
− Gibt es individuelle und/oder stufenabhängige Präferenzen für einen oder
mehrere bestimmte Pluralmarker?
− Gibt es eine „Entwicklung“ hin zu bestimmten Pluralmarkern?
Klasse 4/5 5/6 6/7 7/8 8/9 9/10 10/11 11/12 12/13 Total
Anzahl TPs 3 2 2 3 10 18 40 22 21
pro Klasse
1 Marker 1 1 3 6 10 6 9 36
2 Marker 1 1 2 3 4 17 11 9 48
3 Marker 1 2 4 7 2 2 18
4 Marker 1 2 3 1 7
Tab. 38: Anzahl generalisierter Pluralmarker im Untersuchungszeitraum nach
Klassenstufe
214
Klasse 4/5 5/6 6/7 7/8 8/9 9/10 10/11 11/12 12/13 Total
Anzahl TPs/ 3 2 2 3 10 18 40 22 21
Klasse
generalisierte
Marker:
0105 3 1 2 4 10
e 1 2 1 1 5
(e)n 1 1 9 4 5 20
s 1 1
0,e 1 1 1 3
0,(e)n 3 2 15 5 7 32
0,s 1 1 1 1 1 5
e,(e)n 1 1 1 3
(e)n,s 1 2 3
(e)n,er 1 1 2
0,e,(e)n 1 1 3 3 1 9
0,e,s 1 1 2
0,(e)n,er 1 1
0,(e)n,s 1 1 1 1 4
e,(e)n,s 1 1 2
0,e,(e)n,s 1 2 3 1 7
Total 2 1 1 3 9 15 38 20 20 109
Tab. 39: Art der generalisierten Pluralmarker im Untersuchungszeitraum nach
Klassenstufe
Die aufgeführten Daten legen weder in bezug auf die Quantität noch in bezug
auf die Qualität der generalisierten Marker eine klassenstufenabhängige Prä-
ferenz nahe. Gerade bei den Schulklassen, die durch viele Testpersonen be-
legt sind (9. bis 12. Klasse),106 scheinen sich stufenübergreifend die gleichen
Präferenzen zu zeigen (viele Schülerinnen und Schüler, die -(e)n oder -(e)n, 0
generalisieren, dagegen nur vereinzelte, bei denen -er-Generalisierungen
nachweisbar sind).107
_______________
105
Hier sollen auch die 0-Plurale als Generalisierungen betrachtet werden, obwohl
nicht entschieden werden kann, ob die Form tatsächlich das Resultat einer 0-Plu-
ralmarkierung oder einer fehlenden Pluralisierung ist.
106
Die ungleichmässige Verteilung der Testpersonen ist bedingt durch die Bedürf-
nisse der am Projekt beteiligten Genfer Lehrpersonen, die sich vor allem die Do-
kumentation des Lernerverhaltens der Schülerinnen und Schüler am Ende der ob-
ligatorischen Schulzeit gewünscht haben.
107
Innerhalb der gleichen Arbeit ist durchaus mit Pluralvarianz zu rechnen (z. B.
Haare/Haaren).
215
Ein Reflex der hohen Gesamtwerte hinsichtlich der -(e)n-Formen zeigt sich
auf individueller Ebene nun darin, dass bei jenem Drittel der Schülerinnen
und Schüler, die einen einzigen Marker generalisieren, es sich in über zwei
Drittel aller Fälle um den -(e)n-Plural handelt. Wer zwei Marker generalisiert
– das sind knapp die Hälfte aller Schülerinnen und Schüler – benutzt meistens
0 und wiederum -(e)n.
Als Beispiel für eine Schülerin mit 0- und (e)n-Generalisierungen seien die
folgenden Daten aus 4 Arbeiten von Céline T C10/11 zur Illustration an-
geführt – allerdings mit der Anmerkung, dass ein derart auffälliges Generali-
sierungsverhalten, das hier geradezu als ein lernersprachliches Bemühen um
eine Pluralregularisierung interpretiert werden kann, nur bei einigen wenigen
Schülerinnen und Schülern in dieser Deutlichkeit festgestellt werden kann:
Arbeit 1: Palmen, *Fischen, Grilladen, *Fruschten ‘Früchte’, *Fuseen
‘Raketen’, Kometen, Sachen, Bananen, *Kilogrammen, *Freunden,
(Kompositum *Milchenstrasse ‘Milchstrasse’)
Arbeit 2: Minuten, *Wolke, *Vögeln
Arbeit 3: Damen, Herren, Augen, *Mamouthen ‘Mammute’, *Handen
‘Hände’, Minuten
Arbeit 4: Fragen, Menschen
Während bei dieser Schülerin fast nur (richtige und falsche) (e)n-Plurale vor-
kommen, sind bei anderen Schülerinnen und Schülern (e)n-Generalisierungen
festzustellen, die neben richtigen Pluralen mit anderen Markern vorkommen
(Michel M ESC12/13: Tagen [Dativ], Sachen, Museen, Spaghettis, Nächte,
*Monumenten).
Die Beliebtheit der (e)n-Markierung auf individueller Ebene zeichnet sich
in allen Schulstufen deutlich ab und kann bei 85 von 109 Testpersonen nach-
gewiesen werden, im Gegensatz etwa zu er-Generalisierungen, die einzig bei
3 Personen nachweisbar sind. Begründungen zum Erscheinungsbild dieser
Formen sind in Abschnitt 5.4.4.2.3 versucht worden.
Die vorliegende Untersuchungsanordnung erfasst das Lernerverhalten über
einen Untersuchungszeitraum von zwei Jahren, und es lässt sich die Frage
stellen, ob Veränderungen, vielleicht sogar solche interindividueller Art,
innerhalb dieses Zeitraums nachzuweisen sind. Dazu kann in Überein-
stimmung mit den Ergebnissen von Clahsen (1997: 136), der den Pluraler-
werb erwachsener Deutschlernender untersucht hat, festgestellt werden: „I
found in the longitudinal data investigated here there were no drastic deve-
lopmental changes in use of the overregularizations in noun plurals.“ Es sind
auch in keiner Weise Veränderungen in den Pluralbildungen festzustellen,
etwa in dem Sinne, dass in der ersten Arbeit ein anderer Marker oder eine
anderes „Set“ von Markern generalisiert wird als am Schluss. Zu diesen
Verläufen lässt sich wie schon zur Wahl der generalisierten Marker feststel-
216
len, dass es hier offenbar individuelle Variation gibt. Es zeichnet sich auf-
grund der Texte dieser über hundert Schülerinnen und Schüler ab, dass wir
nicht von einem Sachverhalt von der Art ausgehen könnten, dass die Lernen-
den zuerst einen bestimmten Pluralmarker X präferieren, später einen Marker
Y. So gibt es beispielsweise unabhängig von der Schulklasse Testpersonen,
die in der ersten Arbeit 0 generalisieren und in der letzten -(e)n, gleichzeitig
aber auch solche, die genau umgekehrt verfahren. Der 0-Plural, von Mugdan
(1977) als eine mögliche Strategie zur Vermeidung falscher Plurale interpre-
tiert, aber auch als Transfer-Produkt aus der L1 denkbar, kommt in der vier-
ten so gut wie in der zwölften Klasse vor. In einigen Klassen sind es die
Hälfte, in anderen drei Viertel der untersuchten Schülerinnen und Schüler, bei
denen sich überdies keine Veränderung der Pluralmarker innerhalb des
Untersuchungszeitraums nachweisen lässt – auch dieses „stabile“ Lernerver-
halten scheint nicht an ein bestimmtes Erwerbsstadium gebunden zu sein.
Insgesamt dürfen die Resultate, die sich im vorliegenden Korpus zeigen,
als Bestätigung gesehen werden für Ergebnisse, die in anderen Arbeiten zum
L2-Erwerb des Plural in authentischen Texten herausgearbeitet worden sind.
Sowohl Häcki Buhofer u.a. (1998: 90), als auch andere108 haben diesbezüg-
lich nachweisen können, dass der nominale Plural relativ individuell erwor-
ben wird und deshalb auch nicht für Sprachstandsbestimmungen herangezo-
gen werden kann rsp. werden sollte. Erstaunlicherweise sind nun diese
„individualistischen“ Resultate in Bezug auf die Art und Zahl der generali-
sierten Pluralmarker nicht nur im L2-Erwerb festzustellen, sondern – wie die
jüngsten Untersuchungen (vgl. Gawlitzek-Maiwald 1994, referiert nach
Bartke 1998: 56ff.) zeigen – auch im L1-Erwerb. Im Gegensatz zu anderen
Bereichen der Grammatik kann hier also weder im L1- noch im L2-Erwerb
von interindividuellen Erwerbsphasen ausgegangen werden.
Was den Status der generalisierten Marker betrifft, so kann über Plurale in
authentischen Texten nicht entschieden werden, ob ein Teil von ihnen als
lernersprachliche Defaultformen zu betrachten sind.
5.4.4 Schluss
Wie das Genus (vgl. Kapitel 5.3.1) so ist auch die Pluralzuweisung eine
lexeminhärente Eigenschaft des Nomens, die in der Regel nicht oder nicht
ausschliesslich mit der Ausdrucksstruktur eines Nomens in direktem Zu-
sammenhang steht.
Die Zuweisung des richtigen Pluralmarkers erfolgt nach Gesetzmässig-
keiten, die je nach morphologischer Konzeption linguistisch unterschiedlich
modelliert werden.
Die Plurale, die von den Schülerinnen und Schülern in der vorliegenden
Untersuchung (und damit in einer Situation inhaltsorientierten Schreibens)
gebildet werden, sprechen für folgende Sachverhalte:
1) Plurale können – vor allem zu Beginn des gesteuerten L2-Erwerbs – aus-
wendig gelernt werden; die vielen richtigen Plurale im grösseren nomi-
nalen Lexikon der Fortgeschritteneren sprechen jedoch dafür, dass neben
dem lexikalischen Lernen noch andere Lernerverfahren zum Zug kommen
müssen.
_______________
111
Es ist auffällig, dass jene Schülerinnen und Schüler, die sich eigene Kompo-
situmsbildungen zutrauen, besonders häufig aus dem Gymnasium sind.
220
2) Abweichende Plurale, die bereits im ersten Jahr des L2-Erwerbs erschei-
nen, weisen auf produktive Pluralbildungen hin, die ihrerseits eine ge-
wisse lernerseitige Analysefähigkeit voraussetzen.
3) Die Pluralaffixe, die generalisiert werden, legen eine Hierarchie der
Marker nahe, die sich weitgehend mit jenen deckt, die in anderen Arbeiten
zur Pluralbildung bei authentischen Lexemen in L1 und L2 festgestellt
worden sind (hier – gemessen an den absoluten Abweichungszahlen – (e)n
> 0 > e > s > er).
4) Die Generalisierungen scheinen in einem Zusammenhang zu stehen mit
den Auftretenshäufigkeiten im lernersprachlichen Input einerseits und mit
der Validität der Marker andererseits, während die grössere Salienz of-
fenbar nur bei der Wahl zwischen dem e- und en-Marker eine Rolle spielt.
Dass der nicht-ikonische 0-Marker relativ häufig generalisiert wird, läuft
zwar den Erwägungen der Natürlichen Morphologie entgegen, kann aber
möglicherweise den besonderen Lernbedingungen (Transfer aus der L1,
Vermeidungsstrategie bei unsicherer Pluralbildung, 0-Marker bei
„pluralischer Ausdrucksstruktur“) angelastet werden.
5) Der Erwerb des Plurals erfolgt nicht nach allgemeinen Phasen, sondern ist
interindividuell unterschiedlich, sowohl was die Zahl der richtigen Plural-
bildungen als auch die Art des oder der generalisierten Marker betrifft.
6) Falsche Pluralmarker führen zu einem relativ geringen Abweichungsgrad:
insgesamt sind „nur“ etwa zwei von zehn Pluralformen falsch, d. h. die
formalen Schwierigkeiten mit der deutschen Nominalflexion gehen zu ei-
nem kleinen Teil auf das Konto der Pluralbildung, insbesondere wenn
man bedenkt, dass der Grossteil der Nomen singularisch verwendet wird.
221
5.5 „... aber den Deutsch steht katastroffisch“ –
Der Erwerb der Kasus in Nominalphrasen
Thérèse Studer
Ich habe einen Diplôme. Jetzt ich bin Deutschlererinne, ich habe eine böse klasse.
Ich lerne in die klasse Accusativ und sie nicht verstanden. Das ist Normal. (Anouk
W ECG 10/11, 1 „Mein Leben in 5 Jahre“)
5.5.1.1 Funktion
Während die Numeri eine klar erkennbare semantische Funktion haben
(‘Einheit’ vs. ‘Vielheit’) und die Genera im Gegensatz dazu meistens funkti-
onslos sind (Genus als lexikalisches Merkmal des Substantivs), ist die Funk-
tion des Kasus in erster Linie syntaktisch, d. h. er drückt die Relationen im
Innern des Satzes oder innerhalb gewisser Satzglieder aus. So „dient der
Nominativ zusammen mit der Verbkongruenz dazu, das Subjekt zu kodieren,
der Akkusativ kodiert das DO, der Dativ das IO112 und der Genitiv das Attri-
but, drei adverbalen Kasus steht also ein adnominal gebrauchter gegenüber“
(Wegener 1995b: 120f.).113 Dies gilt für die unmarkierten Verwendungswei-
sen der Kasus, von denen gemäss Wegener verschiedene Arten des markier-
ten Gebrauchs unterschieden werden müssen. Für den Spracherwerb sind al-
lerdings in erster Linie die unmarkierten – prototypischen – Kasus relevant.
Wegener legt nun überzeugend dar, dass gerade in lerntheoretischer Hin-
sicht die Auffassung der Government-and-Binding Theory, laut der die Ka-
suszuweisung in den meisten Fällen durch die Satzstruktur bestimmt wird
(sog. struktureller Kasus), derjenigen der Valenztheorie vorzuziehen sei, wo-
nach die Kasus von jedem einzelnen Verb determiniert werden. Das GB-Mo-
dell impliziert, dass keineswegs für jedes Verb die Valenzeigenschaften sepa-
rat gelernt werden müssen, sondern dass es ausreicht, wenn die Lernenden
begreifen, dass die Nominalphrasen – im Normalfall – je nach Satzstruktur
ganz bestimmte Kasus zugewiesen bekommen, was zweifellos einen sehr viel
geringeren kognitiven Aufwand bedeutet. Die Kasus-Zuweisungsregeln für
Nominativ, Akkusativ und Dativ lassen sich – vereinfacht – wie folgt dar-
stellen und formulieren (vgl. auch Wegener 1995b: 129):
a)
IP
NPnom V
Wenn ein Satz nur aus Verb und NP besteht, wird die NP durch INFL (auch I,
vgl. engl. inflection) regiert, sie kongruiert mit dem Verb und steht im
Nominativ.
_______________
112
DO = direktes Objekt, IO = indirektes Objekt.
113
Ebenso bei Clahsen et al. (1994: 85).
223
b)
IP
V'
NPnom
NPakk V
Wenn in einem Satz zwei NP vorkommen, steht wiederum die durch INFL
regierte NP im Nominativ, die andere NP wird durch V regiert, ist also DO
und bekommt Akkusativ zugewiesen.
c)
IP
NPnom V''?
V'
NPdat
NPakk V
Treten in einem Satz drei NP auf, so fügt sich zu einem DO ein IO hinzu, das
nicht vom Verb direkt, sondern von V' regiert wird und im Dativ stehen muss.
Semantisch entsprechen den drei Kasus bzw. den drei syntaktischen
Funktionen – wiederum im unmarkierten Normalfall – die Thetarollen Agens
(Subjekt/Nominativ), Thema (DO/Akkusativ), Rezipiens (IO/Dativ).
Es besteht nun kein Zweifel darüber, dass eine überwiegende Mehrzahl der
von unseren Testpersonen produzierten Sätze genau diesen prototypischen
Strukturen mit den zugehörigen syntaktischen und semantischen Funktionen
entsprechen, genauer: den Strukturen a) und b), während die komplexe
Struktur c) in den DiGS-Texten ausgesprochen selten vertreten ist.114
Von den fünf markierten Kasusverwendungen, die Wegener diskutiert, sei
hier nur der singuläre Dativ erwähnt, da er als einziger für unsere Lernenden
_______________
114
Bemerkung zum Genitiv: Unmarkiert ist der Genitiv in seiner attributiven Ver-
wendung, die auch die einzige in den DiGS-Texten belegte ist. Allerdings sind die
Vorkommen so spärlich, dass sie im Folgenden nur am Rand berücksichtigt wer-
den.
224
eine gewisse Rolle spielt. Es geht um Verben wie helfen, gratulieren, die nur
ein Objekt verlangen, das – wider Erwarten – im Dativ steht. In solchen Fäl-
len muss tatsächlich das Verb mit seiner Valenz gelernt werden, da hier nicht
wie oben ein struktureller, sondern ein lexikalischer Kasus vorliegt.115
116
5.5.1.2 Zur Kasusmorphologie
Als Teilbereich des notorisch komplexen Deklinationssystems ist das Kasus-
system des Deutschen schwer durchschaubar und stellt somit für die Lernen-
den zwangsläufig ein besonderes Problem dar. Folgende Eigenschaften der
Kasusmorphologie dürften für den Erwerb nicht eben förderlich sein:
− An den Formen der NP, seien diese nun substantivisch oder pronominal,
lässt sich längst nicht immer der Kasus ablesen: ich habe eine Katze, sie
helfen uns usw. Diese Tatsache reduziert den eindeutigen Input für die
Lernenden in drastischer Weise.
− Die Kasusflexive werden an verschiedenen Stellen der (substantivischen)
NP plaziert. Nur selten finden sie sich am Substantiv: Mamas Auto; nor-
malerweise wird der Kasus an den Funktoren realisiert: der Mutter, den
Hund, dem Kind. Manchmal müssen auch alle Bestandteile einer NP ka-
susmarkiert werden: dem Menschen, ihren jungen Hunden vs. ihren jun-
gen Hund. Wann was gilt, ist für Lernende mit Sicherheit nicht leicht zu
erkennen.
− Für die Kodierung der vier Kasus an den Funktoren stehen sechs Flexive
zur Verfügung, nämlich (illustriert an den Determinantien dies- und ein-):
dies-er, dies-e, dies-en, dies-em, dies-es, ein-Ø. Zwar erscheint diese An-
zahl nicht sonderlich hoch, was – oberflächlich betrachtet – das Lernen ei-
gentlich erleichtern sollte. Doch besteht das Problem darin, dass ausser den
Formen auf -em, die nur Dativ Singular bedeuten können, alle Flexive
mehr als einen Kasus repräsentieren. Z.B. steht, bedingt durch die Fusion
von Kasus-, Genus- und Numerusmarkern, den für Akkusativ (Singular,
Maskulinum) und Dativ (Plural) oder diese für Nominativ und Akkusativ
_______________
115
Auf die von Wegener ebenfalls diskutierten marginalen bzw. sekundären Verwen-
dungen der Kasus, zu denen etwa der Genitiv als Genitivobjekt gehört, braucht
hier nicht eingegangen zu werden. Mit Ausnahme von Ausdrücken vom Typ den
ganzen Tag und eines Tages, die als Chunks gespeichert werden, spielen sie für
den Deutscherwerb unserer Testpersonen – evtl. von vereinzelten Ausnahmen ab-
gesehen – keine Rolle.
116
Eine ausführliche Beschreibung der Kasusmorphologie bzw. des Deklinationssy-
stems des Deutschen drängt sich nicht auf; sie kann in jeder Grammatik – meist ta-
bellenförmig – gefunden werden. Für eine eingehende Diskussion und präzise
Analyse der Kasus(-entwicklung) im heutigen Deutsch, vgl. Wegener (1995b:
120ff.).
225
(Singular, Femininum; Plural). Entsprechende Beispiele wären etwa: den
Kunden, diese Tulpe bzw. diese Tulpen. Das Beispiel den Kunden zeigt
überdies, dass die NP auch als Ganzes nicht unbedingt morphologisch
disambiguiert wird.117
− Schliesslich sind die speziellen Regeln für die Adjektivdeklination in
komplexen NP zu nennen.118 Zwar lassen auch sie sich – wie die übrigen
Deklinationsflexive – problemlos in Tabellenform darstellen, doch kann
kein Zweifel darüber bestehen, dass sie die Verarbeitungskapazität vieler
Lernender völlig überfordern und ihr Teil zur Undurchsichtigkeit des Sys-
tems und speziell der Kasusmorphologie beitragen.
5.5.2.2 Hypothese
Auf Grund
− der allgemeinen Erkenntnis, die heute als gesichert gelten darf, dass auch
im L2-Erwerb, sei dieser nun ungesteuert oder gesteuert, manche gram-
matischen Strukturen in unumstösslicher natürlicher Reihenfolge erworben
werden (vgl. dazu v.a. die Untersuchungen zum Erwerb der Verbstellung,
z. B. Clahsen/Meisel/Pienemann 1983, Pienemann 1988, Ellis 1989),
− der Arbeiten zum Kasuserwerb in L1, die gezeigt haben, dass deutschler-
nende Kinder das Kasussystem ihrer Muttersprache nicht irgendwie, son-
dern in geordneter Folge erwerben (vgl. dazu etwa Clahsen 1984a, Mills
1985, Tracy 1986, Clahsen et al. 1994, Stenzel 1994),
− der Untersuchungen von Wegener (1992, 1995b), in denen für den unge-
steuerten Erwerb des Deutschen als L2 hinsichtlich der Kasus ebenfalls
eine klar erkennbare Abfolge von Erwerbsphasen nachgewiesen wird,
_______________
123
Adverbal – d. h. als Objekt – kommt er nicht vor; attributiv wird er vereinzelt be-
reits im CO verwendet (Peters Schwester), daneben findet sich – allerdings auch
nicht häufig – die Variante mit von (der Vater von Petra). Nachgestellter Genitiv
ist nur bei sehr fortgeschrittenen Lernenden belegt, die das Drei-Kasus-System mit
N, A und D beherrschen, allerdings auch da nur selten.
124
Bei der Lektüre der Arbeiten zum Kasuserwerb in L1 kann man sich des Eindrucks
nicht erwehren, dass diese Schwierigkeit nicht immer gebührend berücksichtigt
wird, kommt es doch vor, dass ambige Formen kommentarlos als A interpretiert
werden, was sie gewiss in der Sprache sind, jedoch nicht unbedingt in der
kindlichen Vorstellung, vgl. z. B. Clahsen (1984a), Tracy (1986).
230
um falsche Kasuswahl und nicht um einen Genusfehler handelt, aus semanti-
schen Gründen sehr gross ist (weil sie schon ein Freund hatte).
Für die Opposition zwischen A und D wurden selbstverständlich auch fe-
minine und neutrale Syntagmen berücksichtigt (ich helfe meine Mutter vs. ich
helfe meiner Mutter), wobei auch hier sich im Prinzip jedes Mal die Frage
stellt, ob A=N in der Lernersprache als A intendiert ist, was bei fortgeschrit-
tenen Lernenden zutreffen dürfte, oder ob es sich um eine kasusneutrale De-
faultform handelt, wie dies bei AnfängerInnen anzunehmen ist.
Für die Ermittlung der Erwerbsphasen wurde nicht zwischen substantivi-
schen und pronominalen NP unterschieden. (Vgl. Kapitel 5.5.3.5.5)
Unter bestimmten Umständen und mit der nötigen Vorsicht wurden
manchmal auch Präpositionalphrasen herangezogen. So ist z. B. die Verwen-
dung des Nominativs in einer PP (der Lastwagen für der Umzug) ein starkes
Indiz dafür, dass jemand nur über einen Kasus verfügt (vgl. unten die Phasen
I und II); bei sehr fortgeschrittenen Lernenden wiederum ist die – im übrigen
seltene – gute Beherrschung der Kasus nach den Wechselpräpositionen125 ein
zusätzliches Zeichen für ein sehr weit fortgeschrittenes Stadium (vgl. unten
Phase IV).
(1) Der Hund essen ein Poulet. [...] Der chef essen ein kotelet. [...] Der hund iste
Gipsi. (Sandrine M 5/6, 5)
(2) Die Spinne wohnt im das Haus. Sie liebt der Honig. [...] Sie hat ein Freund
Hund. Der Hund humpelt. [...] Sie trinkt der Sirup hunt er trinkt Kaffee hunt
Sie bratet der Cervolas. (Audrey P 5/6, 8)
Unter dem Aspekt der Normkonformität ist eine positive Folge der oben dis-
kutierten Homonymie von N- und A-Formen, dass die Lernenden auch in
dieser frühen Phase, in der sie nur über den Nominativ verfügen, keineswegs
immer Fehler machen, wenn sie Nominalphrasen in Akkusativkontexten
verwenden. Die Chancen, dass sie es mit einer A=N-Form zu tun haben, ste-
hen sogar ausgesprochen gut, denn die Kinder verwenden im Singular natür-
lich auch zahlreiche Feminina und Neutra sowie Substantive ohne DET und
überdies eine Reihe von Pluralformen, so dass die Syntagmen, in denen A
und N zusammenfallen, alles in allem mit Sicherheit eine deutliche Mehrheit
ausmachen. Vgl. in Beispiel (1) die Syntagmen ein Poulet, ein kotelet sowie:
(3) Ich éssé bananeune. Ich spielé Tenisse. [...] Ich brate servolate. (Audrey P 5/6, 4)
_______________
128
Selbstverständlich sind auch zahlreiche A=N-Formen belegt, doch werden diese
für die Etablierung der Erwerbsphasen nicht berücksichtigt.
129
Wegener (1994: 343) spricht von „unmarkiertem bzw. neutralem Kasus“, Clahsen
et al. (1994: 104) von „citation (= nominative) form“.
130
Mit Ausnahme von Ausdrücken wie wie geht es dir, es tut mir leid, die als unana-
lysierte Einheiten gelernt werden.
131
Dies im Gegensatz zum L1-Erwerb wie zum ungesteuertem L2-Erwerb.
233
chen scheint, bleibt hier noch zu diskutieren. Es gibt in der vierten Klasse in
der Tat Kinder, die in ihren allerersten Arbeiten eindeutige Akkusativformen
in DO-Position verwenden:
(4) Ich habe eine chwester ount einen bruder. Meine chwester heisst Marjorie.
Mein bruder heisst Christophe. Ich habe einen Telefone. Mein Telefonumer ist
[...] Ich habe eine Muter. Meine Muter heisst Chantal. Ich habe einen schwiger-
fater. Mein schwigerfater heisst Stéphane. Ich habe einen fater. Mein fater
heisst Patrice. Ich habe einen Katze ount Ich habe ceinen ount. Ich habe eine
Grossmuter. Meine Grossmuter heisst Paullette. Ich habe einen Grossfater.
Mein Grossfater heisst Paul. (Sophie V 4/5, 1)
Wenn man diesen Text sowie die zweite und die dritte Arbeit derselben
Schülerin liest, könnte man leicht die Überzeugung gewinnen, sie verfüge
über ein gut ausgebautes Zwei-Kasus-System, verwendet sie doch Nominativ
und Akkusativ systemkonform – was unserer Erwerbsphase III entspräche (s.
unten). Nun ist es aber so, dass ab der vierten Arbeit in entsprechenden
Kontexten keine A-Formen mehr erscheinen; auch Sophie schreibt dann:
(5) Thomas schneidet der Salami. [...] Doggy isst der Poulet. (Sophie V 4/5, 5)
Liebst du der Kafé? [...] Hast du der Hund? (dieselbe, 6)
Dies lässt sich wohl nur so erklären, dass der Akkusativ in Wirklichkeit nicht
erworben war. Dass er dennoch verwendet wurde (was ja nicht abzustreiten
ist), muss andere Gründe haben. Vermutlich handelt es sich um einen mo-
mentanen Übungseffekt, der aber von kurzer Dauer ist und mit zunehmendem
Input völlig verschwindet. Die Schülerin hat also in der vierten Klasse
keineswegs den Akkusativ erworben, sondern sich vermutlich das Muster ich
habe (c)einen X eingeprägt, in dem sie an Stelle von X Substantive einsetzt,
die in ihrer Interimsprache keine Feminina sind (bruder, Telefone, schwiger-
fater, fater, Katze, ount, Grossfater); Feminina (eine Muter, eine Grossmuter)
dagegen verwendet sie – normkonform – in der Struktur ich habe eine X.
(6) Der Mann ist nass, weil es so viel regnet. Er hat keinen Regenmantel und sei-
nen Regenschirm ist kaputt. [...] Er hat seiner [K: seinen] Hut zu Hause verges-
sen. [...] Er hat der Bus verpassen und er hat leider keinen Geld für telefonieren.
[...] Der Igel ist tot, weil der Mann hat er überfahren. (Fanny G 8/9, 3)134
(7) Mein Vater ist in der Schweiz geboren und meine Mutter ist in die Slovaquie
geboren. Meine Familie ist in der Schweiz und in der Slovaquie. Meinen Bru-
der hat zwei Kinder [...] Ich habe zwei grossmut[unleserlich] aber kein gross-
vater. In die Slovaquie habe ich 8 Kusine. [...] Ich habe einen Computer mit
200 games. [...] Ich mache Essen gern. Und früher, mein Vater war einen Koch.
(Laurent M 9/ESC10, 1)135
(8) Frau Kurz hatte nicht den Wagen aber sie machte dem Rad. Montag sie Youpi
heraus nahm und Youpi lief sehr schnell und Frau Kurz sah ihr nie. [...] Sie
fuhr mit dem Bus zu Bahnhof dann sie nahm der Zug. (Lucie T ESC10/11, 7)
Dass in den obigen Beispielen nur ein einziges Mal ein nominativisches Pro-
nomen (er) in DO-Position erscheint, ist kein Zufall. Tatsächlich ist dieses
Phänomen im ganzen Korpus nur selten belegt, so dass man sich fragen sollte,
ob möglicherweise die Kasuswahl bei Pronomina weniger Probleme macht
als bei substantivischen NP. Wir werden dieser Frage weiter unten nachgehen
(vgl. Kapitel 5.5.3.5.5).
_______________
132
Der Schrägstrich bedeutet ‘an Stelle von, statt’: N/A = N-Form statt A-Form.
133
Zu A/N in anderen Positionen, vgl. Phasen III und IV.
134
seiner (K: seinen) bedeutet, dass -n durch -r ersetzt wurde.
135
Man beachte die Inkonsistenz der Flexive auch in den PP: in der/die Schweiz bzw.
in die/der Slovaquie.
235
(9) Am Mittwoch sind wir tanzen gegangen. Es war toll. Die Musik gefiel mich
sehr. [...] Dort habe ich einen Mann getroffen. Er war sehr schön und sehr nett.
[...] Seitdem ich ihm getroffen habe, war ich sehr glücklich. Zwei Tage später,
hat er mich angerufen. Er wollte mich treffen. Ich war sehr glücklich, ich
glaubte dass es einen Träum war. [...] Er sagte mir dass er Brad Pitt war. Ich
weisste nicht was konnte ich machen. Er sagte mich dass er mich liebt.
(Nathalie F ESC10/11, 2)
(10) Dann habe ich den Krieg den Sterne gesehen. Der Film war schlecht, sehr
schlecht. Ich glaube, dass der Film die schlechteste von alle war. [...] Um 4h50
ist Julien angekommen. [...] Ich habe ihn einen Franken gegeben, damit er ei-
nen bonbon einkaufen kann. (Sébastien B 9/C10, 2)
(11) Aber habe ich den Bus verpasst. [...] Im Krankenhaus habe ich einen
„soucoupe“ in der Nacht in dem Himmel gesehen. [...] Am nächsten Tag habe
ich mich geduscht. [...] Er hat mich nicht geglaubt. Er hat gesagt, dass ich mich
ausruhen musste [...] Glaubst du wie mich? Ich hoffe, dass du wie mich glaubst.
[...] Es ist einen Aprilfisch. (Sébastien B 9/C10, 3)
_______________
136
Vgl. dazu die sehr ausführliche Untersuchung von Peter Jordens (1983).
236
(12) Ich mag nicht den Krieg, weil das nicht interessant ist. When ich einen politi-
ken Mensch wäre, würde ich [...] Ich denke, dass jeden Mensch könnte ein we-
nig Geld geben. [...] Ich möchte, dass jeder Mensch (!) keinen Krieg macht.
(Fanny D ESC11/12, 4)
(13) Romana hat mir nämlich einen guten Eindruck gelasst. So freue ich mich, dich
kennenzulernen. [...] Ich möchten einen Antwort bekommen [...] (Frédéric H
C11/12, 3)
(14) Er fragte mich, ob ich Flüchtlinge in meinem Haus zu beherbergen akzeptieren
würde. Er warnte mich, dass es gegen das Gesetz war [...] Beschreiben Sie mir,
was für ein Erlebnis war es. (derselbe, 6)
237
(15) Wir sind nicht gezwungen, einen Kurs den wir nicht mögen zu folgen. (Laure S
ESC12/M, 4)
(16) Sie hat nicht einmal die Zeit zu sprechen, dass drei Verbrecher kommen und
alle Leute drohen. [...] Die Verbrechen [sic] fängen an, zu lachen und dann,
wenn sie sehen, dass die Dame zu ihnen geht, dirigieren sie ihren Revolver zu
Frau Kurz. Diese zieht ihren Mantel aus und gibt einen Fusstritt einem den
Verbrechen.137 [...] Frau Kurz telephoniert der Polizei [...] (Sophie N C10/11,
7)
(17) Sie hatte einen wollen Hut, einen schwarzen Rock und eine schwarze Jacke.
[...] Ich wollte ihr etwas geben [...] Wir könnten auch alte Sachen, so Kleidung,
versammeln, um ihnen das geben zu können. [...] Wenn ich das sehe, das lese,
so tut meinen Herz weh. (Delphine G C10/11, 5)
Absolute Ausnahmen sind jene Schülerinnen und Schüler, die das deutsche
Kasussystem in der Weise beherrschen, dass sie keine A/N-Fehler mehr ma-
chen und dass sie auch den lexikalischen Dativ korrekt verwenden.
(18) Einer meiner Freunde kümmert sich darum die Aufenthaltbewilligung zu ver-
längern und hatte dabei die kurdischen Flüchtlinge, die den Hungerstreik
machten, verteidigt. Sie (zwei kurdische Familien) haben bei mir versteckt ge-
wohnt. [...] Jetzt glaube ich, dass es normal ist, verfolgtes Volk zu schützen.
Wir können immer Platz finden und [sic] jemandem zu helfen, bis die Lage in
seiner Heimat verbessert wird. (Brigitte A C11/12, 6)
Ob in diesen Fällen eine Phase V anzusetzen wäre oder ob eher von einer
Differenzierung innerhalb der Phase IV die Rede sein soll, bleibe dahinge-
stellt. Die Erwerbssequenzentabelle (vgl. Tab. 55), die als Arbeitsinstrument
für die Genfer DeutschlehrerInnen erstellt wurde, enthält allein schon aus
praktischen Gründen nur vier Phasen; eine eventuelle Phase V entspricht ganz
einfach nicht dem, was bis zur Matura erworben werden kann (abgesehen von
den erwähnten seltenen Ausnahmen).
5.5.3.5.6 Diskussion
Wenn eine TP sich in einer bestimmten Phase befindet, bedeutet das nun
nicht, dass ausnahmslos alle produzierten Formen der betreffenden Phase
entsprechen müssen; in Wirklichkeit kommen auf allen Stufen Flexive vor,
die nicht ins Schema passen, was auf verschiedene Ursachen zurückzuführen
ist. So haben wir gesehen, dass bei einigen Primarschulkindern in Phase I
Akkusativformen belegt sind, die mit Sicherheit nicht als Indiz dafür inter-
pretiert werden dürfen, dass der Akkusativ erworben wäre. Die beliebige
Verwendung verschiedener Flexive in Phase II führt selbstverständlich dazu,
dass manchmal eine A- oder eine D-Form auch normgerecht verwendet wird,
ohne dass deswegen die Phase III oder gar IV erreicht wäre. Umgekehrt sind
auch fortgeschrittene Lernende nicht vor „Flüchtigkeitsfehlern“ gefeit. So
schreibt etwa die oben bereits genannte Brigitte, die gewöhnlich souverän mit
allen Kasus (inkl. Genitiv) umgeht, in der dritten Arbeit:
243
(19) Romana [...] hat die Idee gehabt, dass jeder von uns einen Freund von St-
Gallen schreibt. (Brigitte A C11/12, 3)
Selbst N/A ist bei fortgeschrittenen Lernenden belegt, und zwar findet man ab
und zu ein (bzw. mein, kein u.ä.) an Stelle von einen (bzw. meinen, keinen
u.ä.), was mit der schlechten (auditiven) Perzipierbarkeit des Akkusativ-
markers -en zu tun haben dürfte. Für diese Erklärung spricht zumindest, dass
bei denselben TP andererseits Verwechslungen wie der statt den oder dieser
statt diesen, d. h. in Fällen, wo A-Flexiv und N-Flexiv sich deutlich wahr-
nehmbar unterscheiden, kaum je zu vermerken sind. – Ebenfalls bei fortge-
schrittenen SchülerInnen kann es geschehen, dass sie sich auf besonders
komplizierte Konstruktionen einlassen, so dass ihre kognitive Verarbeitungs-
fähigkeit überfordert zu sein scheint. Appositionen beispielsweise stehen
selbst bei den besten unserer Lernenden immer im Nominativ, wie im fol-
genden Satz, der von einer Schülerin stammt, die zweifellos Phase IV erreicht
hat:143
(20) [...] und hatte zwei Kinder, ein Junge und ein Mädchen. (Sophie N C10/11, 5)
Spezieller ist der folgende Fall, der sehr schön erkennen lässt, wie bei einer
Schülerin, die ebenfalls in Phase IV ist, so dass sie die verschiedenen Kasus
normalerweise beherrscht, die Konzentration auf ein kommunikatives Be-
dürfnis, nämlich die explizite Nennung beider Geschlechter, gewissermassen
den Blick auf den Akkusativ blockiert. Nicht auszuschliessen ist übrigens
auch, dass sie eine oder einer als Chunk gespeichert hat, doch gibt es keine
Beweise – weder dafür noch dagegen.
(21) Die reichen Leute müssten eine oder einer Obdachlosen144 mitnehmen.
(Christine V ESC10/11, 5)
Gerade das letzte Beispiel illustriert, was in Wirklichkeit für alle Formen gilt,
die abweichenden wie die korrekten: Es ist prinzipiell nie möglich, festzu-
stellen, auf welche Weise und aus welchen Gründen eine bestimmte Form
zustande gekommen ist. Was die Ursache/n eines Fehlers ist/sind, aber auch
warum eine Form normgerecht produziert wurde, darüber lässt sich letztlich
nur spekulieren.
_______________
143
Es sei daran erinnert, dass der Kasus in Appositionen auch muttersprachlichen
SprecherInnen bisweilen Probleme macht.
144
Zu der Form Obdachlosen: diese interpretiere ich nicht als Akkusativ. Im selben
Text kommt sie noch dreimal vor, allerdings jeweils als Plural. Doch selbst wenn
Obdachlosen A sein sollte, bleibt einer als eindeutiger N.
244
Schliesslich soll – wenn auch nur kurz – die Frage diskutiert werden, ob es
sich für die LernerInnen bei der Kasuswahl eigentlich um ein funktionales
oder um ein morphologisches Problem oder um beides handelt. Vorstellbar ist
im Prinzip, dass sie zwar um die Funktion der jeweiligen Satzglieder wis-
sen,145 m.a.W. dass sie über die strukturellen Kasus verfügen, jedoch ignorie-
ren, wie diese zu markieren sind, so dass die Schwierigkeiten morphologi-
scher Art wären.146 Es könnte aber auch sein, dass sie die syntaktischen
Funktionen nicht auseinanderhalten und deshalb auch mit der Markierung
nicht zurecht kommen können. Es spricht nun, wie es scheint, einiges dafür,
dass in Wirklichkeit beide Faktoren eine Rolle spielen, wobei die Position der
jeweiligen Nominalphrase im Satz relevant zu sein scheint. In der Tat sieht es
so aus, als ob die Lernenden schon früh sehr wohl wüssten, welche NP im
Satz das Subjekt ist; dies lässt sich daraus ersehen, dass sie die Verb-
konjugation sehr bald stets korrekt nach dem Subjekt richten, auch wenn sie
dieses formal als Akkusativ markieren (vgl. etwa das Beispiel (7) Meinen
Bruder hat zwei Kinder). M.a.W. die semantische Rolle des Subjekts bzw.
seine Position im Strukturbaum ist ihnen klar, so dass sich in diesem Falle
wohl folgern lässt, dass es sich bei der Kasuswahl um ein morphologisches
Problem handelt. In dieselbe Richtung weist ebenfalls die frühe und prob-
lemlose Verwendung der Personalpronomen in Subjektsposition. Und auch
von ihrer Muttersprache her ist eigentlich zu erwarten, dass die Kinder wis-
sen, welches Syntagma im Satz Subjekt ist. – Demgegenüber ist anzunehmen,
dass die Schwierigkeit mit den Prädikatsnomina, wie sie bei manchen TP der
Phasen III und IV beobachtet werden kann, funktional ist; d. h. hier wissen
die Lernenden tatsächlich lange nicht, welches die Funktion des fraglichen
Syntagmas im Satz ist, gehen sie doch offenbar davon aus, dass die zweite NP
auch im Falle des Verbs sein die DO-Position einnimmt und folglich im
Akkusativ stehen muss.147 – Was die Unterscheidung von A und D anbelangt,
kann man sich vorstellen, dass in Phase III, wo A- und D-Flexive nicht
systematisch unterschieden werden, tatsächlich zunächst einmal funktional
nur Subjekt und Casus obliquus voneinander getrennt werden, so dass die
beliebige Verwendung von A und D damit zu tun hätte. Es könnte aber auch
sein, dass – zumindest wenn beide Strukturpositionen besetzt sind – in
Wirklichkeit die konzeptuelle Differenzierung zwischen DO und IO vorhan-
den ist, jedoch ohne die entsprechende formale Realisierung.
_______________
145
Damit ist natürlich nicht bewusstes Wissen gemeint.
146
Vgl. die Unterscheidung bei Teresa Parodi (1990: 178): „A distinction has to be
made between case as a phenomenon of government (abstract CASE) and case as a
phenomenon of agreement (surface case, case morphology).“
147
Dass dies keine abwegige Analyse ist, zeigt das Schweizerdeutsche, wo in genau
dieser Position (bei Pronomen) der Akkusativ verwendet wird: z. B. berndt. es isch
ne nid (= es ist ihn nicht) für er ist es nicht.
245
5.5.3.6 Vergleich mit den Phasen im L1-Erwerb und im ungesteuerten
L2-Erwerb
In knappster Form lässt sich zusammenfassen, dass der Kasuserwerb im ge-
steuerten Deutschunterricht ähnlich verläuft wie in ungesteuerten Erwerbssi-
tuationen und wie beim Erwerb des Deutschen als Muttersprache.
Für alle drei Erwerbssituationen gilt, dass der Nominativ zunächst als un-
markierte Default-Form in allen Positionen gebraucht wird, dass dann eine
erste Differenzierung zwischen Casus rectus und Casus obliquus gemacht
wird und dass schliesslich innerhalb des Casus obliquus auch noch Akkusativ
und Dativ auseinandergehalten werden. Der Dativ als lexikalischer Kasus er-
scheint im L2-Erwerb – ob gesteuert oder nicht – erst spät (Wegener 1994:
351f., 1995b: 133f.), und auch im Erstspracherwerb verwenden die Kinder
Verben wie helfen zunächst mit dem Akkusativ (Mills 1985: 184f.). Der Ge-
nitiv als Objektkasus ist im natürlichen wie im schulischen Deutscherwerb ir-
relevant, und der nachgestellte attributive Genitiv taucht so spät auf, dass er
für Untersuchungen zum L1-Erwerb und zum ungesteuerten L2-Erwerb of-
fenbar ebenfalls ausser Betracht fällt, während er in den DiGS-Texten bei
fortgeschrittenen SchülerInnen immerhin ab und zu vorkommt. Demgegen-
über sind überall bereits viel früher vorangestellte Genitive mit -s am Sub-
stantiv belegt; und zwar im ungesteuerten Erwerb (L1 und L2) häufig, wäh-
rend sie im DiGS-Korpus doch eher selten zu beobachten sind, so dass dazu
keine spezielle Untersuchung durchgeführt wurde.
Nun gibt es aber doch auch signifikante Unterschiede:
− Als erstes fällt auf, dass bei den DiGS-SchülerInnen am Anfang keine
Phase ohne Kasusmarker zu beobachten ist. Die Kinder verwenden im
Gegensatz zu dem, was für den natürlichen Erwerb (L1 und L2) festgestellt
wurde, von Anfang an Artikel und auch Pronomina (im Nominativ). Es
gibt also im DiGS-Material nur wenige Sätze vom Typ gleich wauwau
suche (Clahsen 1984a: 7) oder Katze essen Maus (Wegener 1994: 343).
Dass dem so ist, könnte ein Effekt des Unterrichts sein, reproduzieren die
Schülerinnen und Schüler doch von Anfang an (wenn auch mit individu-
ellen Variationen) das in der Klasse Gehörte, Wiederholte und Geübte –
und das sind eben keine subjektlosen Sätze und auch keine reduzierten
Nominalphrasen, wie sie im ungesteuerten Erwerb normal sind. Typische
erste Sätze unserer Testpersonen sind ich heisse X, mien fateur heisse Y,
man (= mein) bruder ist Z, du trinkt cafée (alle aus ersten Arbeiten der
vierten Klasse, ca. 2½ Monate nach Beginn des Deutschunterrichts), und –
etwas später auch mit definitem Artikel – der Herr iste Napoléon (aus ei-
ner vierten Arbeit der vierten Klasse).
− In den Arbeiten zum ungesteuerten Kasuserwerb ist nie die Rede von einer
Phase, die der DiGS-Phase II entspräche (Ein-Kasus-System mit beliebig
246
verteilten N-, A- und evtl. D-Formen). Dafür sind mindestens zwei Erklä-
rungen denkbar – die sich nicht gegenseitig auszuschliessen brauchen:
a) Die Entwicklung verläuft tatsächlich unterschiedlich; so ist es sehr wohl
möglich, dass die durch Schulbuch und Lehrplan vorgegebene einerseits
viel zu früh einsetzende und andererseits materiell und zeitlich geballte
Behandlung der Deklination148 eine derartige Verwirrung tatsächlich pro-
voziert oder zumindest stark begünstigt.
b) Es ist aber auch nicht auszuschliessen, dass die ungleichen Ergebnisse auf
eine unterschiedliche Interpretation der Daten zurückzuführen sind, ohne
dass in der Realität eine Differenz bestünde. So stuft Wegener (1994:
344/5) eines ihrer Testkinder, das im gleichen Zeitraum sowohl Der Mann
will der Junge schlagen mit fehlerhaftem N als auch Wo hast du den Frö-
sche gefunden? mit korrektem A produziert, in ihre Erwerbsphase 3 ein, d.
h. sie geht davon aus, dass hier bereits ein Zwei-Kasus-System vorliegt,
auch wenn noch „Nominativformen statt der Akkusativformen verwendet
[werden], der Nominativ also auf den Akkusativ übergeneralisiert“ wird.
Nach unseren Kriterien dagegen wäre dasselbe Kind – umso mehr als es
zur gleichen Zeit auch A/N in Erstposition braucht (den Mann schlägt den
Papa) – noch nicht in die Zwei-Kasus-Phase III einzuordnen, da hier N/A
sowie A/N in dieser Position im Prinzip nicht mehr vorkommen dürfen.149
− Im Gegensatz zu manchen Beobachtungen zum L1-Erwerb (vgl. Clahsen
1984a: 12, Tracy 1986: 54)150 und zum L2-Erwerb (Wegener 1994: 348ff.)
konnte in Bezug auf die Phase III (Zwei-Kasus-System) keine uneinge-
schränkte Vorliebe für den Akkusativ festgestellt werden. Zwar gibt es
auch im DiGS-Korpus mehr Akkusative als Dative, und A figuriert häufi-
ger an Stelle von D als umgekehrt D an Stelle von A. Letzteres kommt
aber durchaus vor; und eine Schülerin hat sogar eine deutliche Präferenz
für D-Formen (Sophie B 9/C10). Dass im Normalfall der Akkusativ häufi-
ger ist und öfter für D verwendet wird als umgekehrt, ist erwartbar und
lässt sich allein schon dadurch erklären, dass der Dativ auch im Input sehr
viel seltener ist und sich also gewissermassen weniger aufdrängt als der
Akkusativ.
_______________
148
Ab der 7. Klasse werden die SchülerInnen bis zum Ende der 9. Klasse (Ende der
obligatorischen Schulzeit) mit A und D, mit Singular und Plural, mit verschiede-
nen Pronomina, mit der Adjektivdeklination, ja selbst mit den Subtilitäten der
Wechselpräpositionen konfrontiert. Gleichzeitig müssen sie sich ebenfalls mit
grossen Bereichen der Verbalflexion sowie mit diversen Satzmodellen auseinan-
dersetzen.
149
Es sei daran erinnert, dass es in Wirklichkeit natürlich nicht möglich ist, jemanden
auf Grund von drei Sätzen einzustufen.
150
„So far no overgeneralization of datives for accusatives has been reported [...].“
(Tracy 1986: 54)
247
− Ein weiterer Unterschied betrifft die Verwendung von A statt N bei relativ
fortgeschrittenen Lernenden (Phasen III und IV). Während das Phänomen
im schulischen Erwerb vielfach beobachtet und insbesondere von Peter
Jordens 1983 ausführlich beschrieben und analysiert wurde,151 wird es in
den Untersuchungen zum natürlichen L1- und L2-Erwerb nicht oder höch-
stens am Rande erwähnt. Allerdings meint Jordens (1983: 209), auch in L1
seien genau die gleichen Fehler in den gleichen Positionen zu beobachten,
so dass diese Nicht-Übereinstimmung vielleicht eher auf andersgeartete
Interessen als auf reelle Unterschiede zurückzuführen ist.
CO 7 (11) 8 - 3 - - - -
CO 8 (13) 1 1 10 - - 1 -
CO 9 (37) 4 1 18 3 7 2 2
ECG 10 (16) 10 1 5 - - -
ECG 11 (26) 13 3 6 1 3 - -
ECG 12 (12) 2 1 4 1 4 - -
ESC 10 (10) 3 - 3 1 2 - 1
ESC11 (8) 1 - 3 1 2 - 1
ESC 12(7) - - 3 2 1 - 1
ESC M (6) - - 2 1 2 - 1
_______________
151
Vgl. aber auch Fervers (1983), Diehl (1991), Kwakernaak (1996: 370ff.).
152
I/II bedeutet: Es ist nicht mit Sicherheit zu entscheiden, ob TP noch in Phase I ist
oder bereits II erreicht hat; für Letzteres sprechen gewisse Anzeichen, doch sind
sie nicht eindeutig bzw. zahlreich genug. Analog dazu: II/III bzw. III/IV.
248
I I/II152 II II/III III III/IV IV
C 10 (8) - - - - 3 1 4
C 11 (8) - - - - 2 1 5
C 12 (8) - - 1 - 5 - 2
C M (6) - - 1 1 3 1 -
Erläuterungen zu Tab. 41: Vorausgeschickt sei, dass weder diese noch die
folgenden Tabellen Anspruch auf statistische Gültigkeit erheben können.
Nichtsdestoweniger spiegeln sie eine Realität, mit der sich Lehrerinnen und
Lehrer tagtäglich auseinandersetzen müssen.
Ausser Zweifel steht, dass alle untersuchten Primarschulkinder (mit einer
einzigen Ausnahme in der sechsten Klasse) in der Phase I sind; d. h. sie ver-
wenden in allen Kontexten bzw. Strukturpositionen den Nominativ als un-
markierten Defaultkasus. Nur scheinbar ein Gegenbeweis sind jene
„antrainierten“ Akkusative, die bei einigen Kindern in der vierten Klasse be-
obachtet wurden, die aber, wie wir gesehen haben, bestimmt nicht auf ein be-
reits erworbenes Zwei-Kasus-System hindeuten, da sie ausnahmslos überall
sehr bald verschwinden bzw. durch N ersetzt werden.
Im Cycle d’orientation beginnen die Dinge sich allmählich zu differenzie-
ren. Am Ende der siebten Klasse ist die Verschiebung noch wenig spektaku-
lär, doch haben immerhin drei Kinder (von 11) jetzt die Phase II erreicht, d.
h. sie verwenden andere als N-Flexive; eine deutliche Mehrheit (8 von 11) ist
aber immer noch in Phase I. Am Ende der achten Klasse hat sich das Ver-
hältnis umgekehrt, jetzt befinden sich die meisten Kinder (10 von 13) in
Phase II, zwei sind noch nicht so weit, und eine Schülerin steht kurz vor
IV.154 Am Ende der neunten Klasse schliesslich ist zwar immer noch etwa die
Hälfte der Testpersonen in Phase II (18 von 37), aber die Anzahl jener, die
aus dem Ein-Kasus-System ausgebrochen sind, hat deutlich zugenommen,
und nurmehr eine kleine Minderheit steckt nach wie vor in I bzw. I/II.
Wer nun erwartet, die Kompetenzen im Bereich Kasus würden weiterhin
regelmässig zunehmen, wie es bis in die neunte Klasse durchaus der Fall war,
_______________
153
Es handelt sich nicht um 208 Individuen, denn viele TP wurden doppelt (d. h. am
Ende des 1. und am Ende des 2. Testjahrs) gezählt, da es hier nicht um die Ent-
wicklung einzelner Schülerinnen und Schüler, sondern um den Stand am Ende je-
der Klassenstufe geht.
154
Als einzige scheint sie tatsächlich in der Lage zu sein, dem Lehrplan zu folgen,
d.h. Erklärungen, Regeln usw. in dem Tempo zu integrieren, wie das von der
Schule vorgesehen ist. Vgl. auch Kapitel 5.5.3.7.3, S. 257.
249
sieht sich angesichts der Zahlen für die ECG getäuscht. Zehn von sechzehn
Testpersonen der zehnten Klasse dieses Schultyps befinden sich in Phase I,
und keine einzige ist weiter als II. Auch in der elften Klasse sieht es nicht viel
anders aus, wobei hier immerhin vereinzelt auch II/III bzw. III vertreten sind.
Und in der zwölften stehen zwar nur noch zwei Schülerinnen (von 12) immer
noch ganz am Anfang, doch weiter als III kommt auch hier niemand.
Ein ziemlich anderes Bild zeigen nun aber die Ergebnisse aus ESC und
Collège. Auf einen Blick ist zu sehen, dass sich die Ziffern in der Tabelle
nach rechts verschieben, m.a.W. dass die Ergebnisse deutlich besser sind.
Doch auch zwischen ESC und Collège sind Unterschiede festzustellen: Wäh-
rend in der ESC das Gros der SchülerInnen im Bereich II, II/III, III liegt, wo-
bei die Leistungen sich von der zehnten Klasse bis zur Maturität kaum unter-
scheiden, also in den höheren Klassen nicht besser werden, liegen die Test-
personen des Collège mehrheitlich eine ganze Phase weiter vorn, nämlich im
Bereich III, III/IV, IV. Bemerkenswert – aber natürlich nicht unbedingt re-
präsentativ – ist die Tatsache, dass die sechs MaturandInnen des Collège, von
denen niemand in IV einzuordnen ist, weniger gut abschneiden als die Schü-
lerInnen der vorangehenden Stufen 10 bis 12.
Die horizontale Lektüre der Tabelle zeigt ebenfalls, dass die Niveauunter-
schiede innerhalb einer Klassenstufe zum Teil enorm sind. So umfassen die
Stufen CO 9, ESC 10 und ESC 11 jeweils das ganze Spektrum von Phase I
bis Phase IV; und sonst sind – ausser in der Primarschule und zu Beginn des
Cycle – fast immer drei Phasen vertreten.155 Bei vertikaler Lektüre stellt sich
klar dar, dass Phase I in den ersten vier Schuljahren der Normalfall ist, dass
es aber auch SchülerInnen gibt, die sich nach sieben, acht und neun Jahren
Deutschunterricht immer noch in dieser Phase befinden – dies allerdings nur
ausnahmsweise in der ESC und gar nicht im Collège. Phase II wiederum ist
ab der siebten Klasse sowohl im Cycle als auch in ECG und ESC so gut ver-
treten, dass hier nicht entschieden werden kann, für welche Schulstufe oder
welchen Schultyp sie nun als typisch gelten könnte. Was die Phase III betrifft,
die man insofern als kritische Phase bezeichnen kann, als sie den Ausbruch
aus dem Ein-Kasus-System bedeutet, so lassen die Zahlen erkennen, dass ihr
ab Ende der neunten Klasse auf allen Stufen (ausser ECG 10) und in allen
drei Schultypen verhältnismässig immerhin so viele TP zuzuzählen sind, dass
hier sicher nicht von Ausnahmen die Rede sein kann.156 Demgegenüber
_______________
155
Was das für die Realisierung eines binnendifferenzierten Unterrichts bedeutet, den
sich die Genfer Lehrerschaft in den neuen Empfehlungen für den Deutschunter-
richt ganz oben auf die Liste der Prioritäten geschrieben hat, lässt sich nur erah-
nen.
156
CO9: 10 von 37, ECG11: 4 von 26, ECG12: 5 von 12, ESC10: 3 von 10, ESC11:
3 von 8, ESC12: 3 von 7, ESC M: 3 von 6, C10: 3 von 8, C11: 2 von 8, C12: 5
von 8, C M: 4 von 6 (gezählt wurden II/III und III).
250
scheint Phase IV, d. h. die Beherrschung des Drei-Kasus-Systems,
weitgehend dem Collège vorbehalten zu sein. Allerdings sind die Zahlen für
Collège und ESC leider so niedrig, dass es sich auch um Zufallsergebnisse
handeln könnte. Kein Zufallsergebnis ist aber wohl das völlige Fehlen der
Phase IV in ECG.
Stellt man die obigen Ergebnisse den Lehrplänen der verschiedenen
Schulstufen gegenüber, so ist Folgendes festzuhalten:
Für die Primarschule sind die Ergebnisse eindeutig, und sie sähen mit Si-
cherheit auch bei einer grösseren Anzahl von TP nicht anders aus. Die kind-
lichen Kompetenzen im Bereich Kasus und der Lehrplan stimmen vollkom-
men miteinander überein. Die Kinder kennen und verwenden nur den Nomi-
nativ, der als Defaultform in allen Positionen eingesetzt wird; im Unterricht
ist Kasus kein Thema.
Im Cycle d’orientation beginnen die Leistungen der Lernenden und die
Lehrplanvorgaben auseinander zu klaffen. Bereits in der siebten Klasse wer-
den Akkusativ und Dativ eingeführt.157 In der achten Klasse kommt die Ad-
jektivdeklination im Nominativ dazu, in der neunten werden Adjektive dann
auch im Akkusativ und Dativ verwendet, so dass am Ende der obligatorischen
Schulzeit das deutsche Kasussystem (und gezwungenermassen nicht nur
dieses, sondern die gesamte deutsche Deklination) im Prinzip als behandelt
und geübt – als „durchgenommen“ – gilt. Was die betroffenen Lehrerinnen
und Lehrer wohl am besten wissen, zeigt ein Blick auf Tab. 41: Der Un-
terricht bewirkt nicht, dass die Kinder im Laufe der drei Cycle-Jahre das Ka-
sussystem zielsprachengemäss ausbauen. Die Realität sieht vielmehr so aus,
dass eine deutliche Mehrheit der SchülerInnen bis zum Ende der obligatori-
schen Schulzeit nicht aus dem Ein-Kasus-System (Phasen I und II) heraus-
findet, dass auf der entgegengesetzten Seite nur vereinzelte Lernende das vom
Programm vorgesehene Drei-Kasus-System tatsächlich beherrschen und dass
einige (wenige) immerhin über ein Zwei-Kasus-System verfügen.
ECG: Bei vielen SchülerInnen dieses Schultyps kann man sich des Ein-
drucks nicht erwehren, dass sie vor den unergründlichen Schwierigkeiten des
Deutschen, insbesondere der Nominalflexion, ein für allemal kapituliert ha-
ben – und dies vermutlich schon vor längerer Zeit. Zwar werden auch in die-
sen Klassen die Kasus wiederholt, erklärt und geübt, doch hilft das offenbar
wenig; eine grosse Mehrheit der Lernenden fossilisieren in Phase I oder II.
ESC und Collège: Dass die beobachteten Leistungen in ESC und erst recht
im Collège im Allgemeinen deutlich besser sind als in der ECG, steht ausser
Zweifel und würde sich auch bei einer grösseren Anzahl von Testpersonen
_______________
157
Und zwar nicht nur als Objekte! Im Bereich PP wird hier bereits die Verwendung
von A und D bei den Wechselpräpositionen erklärt und geübt – allerdings, wie
man sich denken kann, erfolglos! Vgl. auch 5.6.6.
251
gewiss bestätigen. Nicht nur verfügen manche SchülerInnen bereits zu Beginn
der zehnten Klasse über mehr als einen Kasus, sondern es hat zudem den
Anschein, dass eine Mehrzahl der Lernenden im Verlauf ihrer ESC- bzw.
Collège-Jahre im Kasuserwerb auch weiter kommt. Inwiefern und in welcher
Weise der Unterricht dabei eine Rolle spielt, lässt sich nicht genau sagen. Der
implizite Input dürfte seinen Anteil an der Entwicklung haben, nimmt er doch
in den höheren Klassen, wo vermehrt deutsch gesprochen wird und wo auch
deutsche Texte gelesen werden, zweifellos zu; auch expliziter Input (etwa die
Wiederholung von bestimmten Bereichen, die die Deklination und speziell
die Kasus betreffen) kann sich bei diesen Lernenden positiv auswirken. Auf
jeden Fall ist es so, dass sie offenbar jetzt endlich das tun, was man bereits
Jahre zuvor im Cycle vergeblich von ihnen verlangt hatte: Sie setzen sich
aktiv und auch mit einem gewissen Erfolg mit den Kasus auseinander.
Ein-Kasus-System Mehr-Kasus-System
CO 9 (37) 23 (62%) 14 (38%)
ECG (54) 45 (83%) 9 (17%)
ESC+C (61) 17 (28%) 44 (72%)
Total TP: 152 = 100% 85 (56%) 67 (44%)
Tab. 43: Erwerbsstand nach Behandlung im Unterricht – Ein-Kasus-System
vs. Mehr-Kasus-System
5.5.3.7.3 Diskussion
Die Ergebnisse lassen keinen Zweifel offen: Dem Lehrplan, der die Behand-
lung von Akkusativ und Dativ bereits früh vorschreibt, folgen die allerwenig-
sten Lernenden. Welche Faktoren jedoch bewirken, dass manche LernerInnen
im Gegensatz zu anderen irgendwann eben doch hinter die Geheimnisse des
deutschen Kasussystems kommen, ist nicht leicht ausfindig zu machen.
Gemäss unseren Daten kann diese Entwicklung offenbar in der neunten
Klasse in Gang kommen – also lange, nachdem im Unterricht mit der Be-
handlung der Kasus begonnen wurde. Die Frage ist nun aber, wodurch der
Prozess ausgelöst und/oder begünstigt wird. Dazu sollen im Folgenden ein
paar Vermutungen und Überlegungen angestellt werden.
Ein Vergleich der Erwerbssequenzen in den drei Bereichen „Konjugation“,
„Satzmodelle“ und „Kasus“159 zeigt, dass die entscheidende Kasus-Phase III
(Differenzierung nach Casus rectus und Casus obliquus) nur von solchen
Lernenden erreicht wird, die in den beiden anderen Bereichen weit
fortgeschritten sind, d. h. sie befinden sich in der Satzmodellphase V
(Inversion) und in der Konjugationsphase IV (Auxiliar und Partizip).
_______________
159
Vgl. Tab. 55: Erwerbssequenzen.
253
Es scheint nun nicht wahrscheinlich, dass es sich bei der Relation zwischen
dem Erwerb von Verbstellung bzw. Konjugation einerseits und dem Erwerb
der Kasus andererseits, wie sie sich in der Erwerbssequenzentabelle darstellt,
um ein rein zufälliges chronologisches Nacheinander handelt. Vielmehr ist
anzunehmen, dass es für den späten Kasuserwerb Gründe gibt.
In Bezug auf den ebenfalls relativ spät einsetzenden Kasuserwerb bei Kin-
dern mit deutscher Muttersprache hat Harald Clahsen (1984a) die Hypothese
aufgestellt, dass zwischen dem Erwerb der Verbzweitstellung bzw. der Inver-
sion und dem Auftreten von Kasusflexiven ein systematischer, ursächlicher
Zusammenhang bestehe, und zwar meint er, dass vom Moment an, wo die
Funktionen von Subjekt und Nicht-Subjekt nicht mehr durch die Wortstellung
garantiert seien,160 die Kasusmarkierung zur Disambiguierung ein Bedürfnis
werde. Ob die Entwicklung im Bereich der Verbstellung tatsächlich eine
derartige Auslöserfunktion hat, ist allerdings fragwürdig. Schon Jürgen
Meisel 1986 hält Clahsens Hypothese für nicht haltbar, aus dem einfachen
Grund, dass es in der Kindersprache kein funktionales Defizit zu kompensie-
ren gebe: „Thus, I maintain that child utterances in their communicative set-
tings do not suffer from functional deficiencies which would have to be re-
medied by means of additional markings. Moreover, initialized objects –
those constructions which are most likely to create confusion in German – are
extremely rare during this period of linguistic development. It is, therefore,
more than unlikely that they should be of such crucial importance in
triggering new developments.“ (Meisel 1986: 174)
Was nun den gesteuerten Deutscherwerb anbelangt, so scheint ein derarti-
ger kausaler Zusammenhang zwischen dem mehr oder weniger abgeschlos-
senen Erwerb der Inversion und dem Beginn des Kasuserwerbs – in dem
Sinne, dass der Erwerb der Inversion den Kasusererwerb notwendigerweise
auslösen würde – ebenfalls unwahrscheinlich.
Gegen einen zwingenden Zusammenhang spricht zum Beispiel allein schon
die Tatsache, dass – wie Kwakernaak 1996 berichtet – auch niederländische
Deutschlernende mit dem Kasuserwerb offenbar spät beginnen und dass sie
sich durchaus mit den gleichen Problemen herumschlagen wie unsere
frankophonen Testpersonen, obschon sie von ihrer Muttersprache her von
Anfang an über die deutschen Satzmodelle verfügen.161 Meisel seinerseits
_______________
160
Was vor V steht, ist nicht mehr notwendigerweise Subjekt, und was auf V folgt,
kann Subjekt sein.
161
Kwakernaak (1996: 278) schätzt, dass holländische Deutschlernende nach unge-
fähr 400 Stunden Deutschunterricht in lediglich ca. 20% der Fälle den Akkusativ
(Sg. mask.) als solchen markieren. Zum Vergleich: Am Ende der obligatorischen
Schulzeit haben die DiGS-SchülerInnen im Durchschnitt etwa 550 Deutschlektio-
nen hinter sich (vor allem in der Primarschule gibt es recht grosse Unterschiede,
und auch im Cycle kann die Anzahl der Lektionen variieren).
254
lenkt die Aufmerksamkeit auf einen Punkt, der auch im Unterricht oft
unbeachtet bleibt. Zwar kann der Akkusativ im Deutschen disambiguierend
wirken, er tut dies aber in Wirklichkeit nur in einer geradezu verschwindend
kleinen Zahl von Fällen, so dass Wegener (1992: 544) nur zugestimmt wer-
den kann, wenn sie meint, „die Funktionalität der Kasusmarkierung [werde]
gewaltig überschätzt“. Ganz offensichtlich machen die zahlreichen Akkusa-
tivobjekte, die formal mit dem Nominativ zusammenfallen, in der deutschen
Alltagskommunikation normalerweise überhaupt keine Schwierigkeiten. Und
selbst dann, wenn unsere TestschülerInnen bei Maskulina im Singular anstelle
von Akkusativ den Nominativ verwenden, ergeben sich daraus bestimmt
keine Verständnisprobleme – diese haben in Wirklichkeit ganz andere
Ursachen. Mit andern Worten: Disambiguierung durch Kasusmarkierung ist
in der Alltagssprache selten und im Deutsch der Lernenden praktisch nie ein
wirklich dringendes kommunikatives Bedürfnis.162
Eine andere Erklärungsmöglichkeit für das späte Einsetzen des Kasuser-
werbs ist die folgende: Es ist immerhin denkbar, dass die kognitive Belastung
durch die Auseinandersetzung mit der Verbalflexion und den Satzmodellen
während langer Zeit so gross ist, dass ganz einfach keine Verarbeitungskapa-
zität für den Erwerb der Kasus frei bleibt. Dass ausgerechnet mit den Kasus
solange zugewartet wird, erscheint insofern plausibel, als die Kasusmarkie-
rung als ein Teilbereich der hochkomplexen und undurchsichtigen Nominal-
flexion besonders schwer zu erfassen ist; auch erfordert das Sprachsystem ja
tatsächlich in vielen Fällen keine spezielle Kasusmarkierung, und die kom-
munikative Relevanz des Kasus ist äusserst gering. Im Grunde genommen
gibt es keinen andern Anlass, die Kasusflexion zu erwerben, als die Tatsache,
dass das deutsche Sprachsystem dies erfordert.163
Demgegenüber präsentieren sich die Dinge in Bezug auf die Verbalflexion
und die Verbstellung doch anders. So bedeutet der Verzicht auf die Konju-
gation der Verben, d. h. der ausschliessliche Gebrauch von Infinitiven, eine
erhebliche Einschränkung der Ausdrucksmöglichkeiten – selbst wenn es im
Prinzip möglich ist, temporale und personale Verhältnisse nur mit Hilfe von
entsprechenden Lexemen auszudrücken (vgl. Anna gestern nicht arbeiten),
_______________
162
Im Übrigen kommen auch die schweizerdeutschen Dialekte (wie das Niederländi-
sche), wo dieselben Inversionsregeln gelten wie im Standarddeutschen, ohne Ak-
kusativmarkierung in substantivischen NP aus, ohne dass daraus Verständnis-
schwierigkeiten entstünden.
163
Vgl. auch Meisel (1986: 178): „(i) The inventory of grammatical forms of a lan-
guage constitutes an autonomous area of language development. (ii) Therefore,
new means of expression are acquired simply because they are part of the target
system, largely independently of their semantic-pragmatic functions and in spite of
the fact that the devices already available may suffice to fulfill the child’s commu-
nicative needs.“
255
m.a.W. die Konjugationsflexive entsprechen sicher in höherem Masse einem
kommunikativen Bedürfnis als die Kasusmorpheme. Ausserdem wird in der
Schule – anders als im natürlichen Spracherwerb – von Anfang darauf insis-
tiert, dass die Kinder ihre Verben konjugieren, und auch von ihrer Mutter-
sprache her wissen sie, dass man Verben – gerade in schriftlichen Texten –
nicht im Infinitiv verwendet. Vermutlich trifft es ebenfalls zu, dass die Kon-
jugationsregeln, wenn sie auch beileibe nicht einfach sind, doch im Grossen
und Ganzen einen geringeren Komplexitätsgrad aufweisen als die Deklinati-
onsregeln, von denen die Kasusregeln nur einen – schwer identifizierbaren –
Teil ausmachen. – Was die Satzmodelle anbelangt, so decken sie zwar kein
dringendes kommunikatives Bedürfnis ab, versteht man Sätze doch auch
dann, wenn sie nicht normgerecht gebaut sind. Dafür ist das betreffende Re-
gelsystem verhältnismässig einfach; und dass einfache, klare Regeln früher
und schneller beherrscht werden als komplizierte, undurchschaubare, ist
schon fast eine Binsenwahrheit.
Nun ist aber auch noch Folgendes zu bedenken: Es trifft ja nicht zu, dass
im Bereich der Nominalphrasen jahrelang einfach nichts geschehen würde. In
Wirklichkeit befassen sich die Lernenden praktisch seit dem Beginn des
Deutschunterrichts mit der Pluralmarkierung und dem Genus, d. h. sie sind
durchaus mit der Morphologie der Nominalphrasen beschäftigt (vgl. auch die
Kapitel 5.3 und 5.4). Es deutet nun alles darauf hin, dass ihnen die Notwen-
digkeit der morphologischen Plural- und Genusmarkierung eher „einleuchtet“
als diejenige der Kasusmarkierung. Wir konnten denn auch im DiGS-Material
nicht dieselbe Erwerbsreihenfolge beobachten wie Wegener (1992: 547) im
ungesteuerten Deutscherwerb (Numerus > Kasus > Genus). Aus unseren
Daten ergibt sich klar, dass die Auseinandersetzung mit Numerus und Genus
etwa gleichzeitig – und zwar im Gegensatz zum Kasus sehr bald – beginnt.164
Weshalb das so ist, darüber lassen sich einige Vermutungen anstellen. Zwar
könnte man sagen, auch beim Plural und beim Genus sei die kommunikative
Notwendigkeit nur bedingt gegeben. Schliesslich wäre es möglich, sich mit
Lexemen wie zwei, viele usw. zu begnügen, um sich verständlich zu machen.
Das tun unsere LernerInnen aber nicht (genau so wenig wie die Wegener-
Kinder), d. h. es scheint, dass die Pluralmarker – im Gegensatz zu den
Kasusflexiven – sehr bald wahrgenommen und auch (natürlich nicht
unbedingt normkonform) verwendet werden können. – Dass es andererseits
ohne die Dreiteilung der Substantive in Feminina, Maskulina und Neutra auch
gehen würde, dafür sind Sprachen wie das Englische Beweis genug; dennoch
lassen sich unsere Testkinder schon in der Primarschule auch auf das Genus
ein. Sowohl in Bezug auf den Plural als auch auf das Genus kann man
_______________
164
Genus- und Pluralmarkierung werden nicht wie die Kasusmarkierung in einer fes-
ten Sequenz erworben, vgl. dazu die Kapitel 5.3 und 5.4.
256
annehmen, dass die Muttersprache für den frühen Erwerbsbeginn insofern
mitverantwortlich ist, als den Kindern die Prinzipien von Plural und Genus
vom Französischen her bekannt sind: Der Plural hat eine klare semantische
Funktion, und wenn auch im Deutschen drei statt nur zwei Genera existieren,
so ist den beiden Sprachen doch gemeinsam, dass das Genus in vielen Fällen
willkürlich ist, bei Personenbezeichnung aber eine semantische Funktion hat.
Diese Ähnlichkeiten scheinen die Lernenden sehr bald wahrzunehmen und
nutzen zu können. Ganz anders verhalten sich die Dinge beim Kasus:
Obschon die strukturellen Kasus im Französischen und im Deutschen
dieselben sind (Subjekt – DO – IO) und man zwischen den beiden Sprachen
auch gewisse formale Parallelen feststellen kann (z. B. er – ihn – ihm; il – le –
lui), sieht es ganz danach aus, dass die LernerInnen beim Erwerb des Deut-
schen in diesem Bereich dennoch Neuland betreten müssen, positiver Trans-
fer scheint hier nicht möglich zu sein.
Was auch immer die Gründe dafür sein mögen, eines ist sicher: Eine echte,
erfolgreiche Auseinandersetzung mit den Kasus findet nicht statt, solange
hinsichtlich Konjugation und Verbstellung allzu grosse Konfusion herrscht;
da scheint tatsächlich aller Unterricht – alles Üben und Erklären – nichts zu
helfen. Tatsache ist, dass viele Schülerinnen und Schüler im Verlauf ihrer
ganzen Schulzeit in ihrer Entwicklung niemals so weit kommen, dass sie den
Kasuserwerb in Angriff nehmen könnten. Dabei ist es möglicherweise auch
eine Frage des Temperaments (Lerntyps), ob jemand in Phase I bleibt oder ob
sie/er irgendwann doch zu II übergeht. Unter unseren SchülerInnen der
höheren Klassen finden sich beide Typen vertreten: Manche begnügen sich in
der Tat mit der konsequenten Verwendung des Nominativs als Default-Form
für alle Kasus, was – nach sechseinhalb Jahren Deutschunterricht – zum
Beispiel so aussieht:
(22) Sein Freund hat der Man (menacé), weil er hat viele Geld wollten. Sein Freund
hat der Man getötet und er war mit das Geld (parti). Früher, ein (autre) Freud
hat der Man angeruft (getelephoniert). (Comme) der Man war nicht hier, sein
(autre) Freund war gekommt. Wen, er hat sein Freund gestorben, er hat der In-
spektor Snif und sein Assistant angeruft. (Sarah P ECG10/11, 2)
(23) Inspektor Snif und seinen Assistent s’habillent la même chose. Seinen Inspektor
sieht faul aus. [...] La deuxième Person hat der Mann getötet. Der Inspektor
Snif und seinen Assistent haben nicht der meurtrier gefunden. (Francine E
ECG10/11, 2)
Eine weitere Frage, die sich im Zusammenhang mit den Phasen I und II stellt,
ist die folgende: Durchlaufen wirklich alle Lernenden – vorausgesetzt der
Kasuserwerb kommt überhaupt in Gang – die beiden Ein-Kasus-Phasen I und
II? Oder gibt es LernerInnen, die direkt von I zu III übergehen? Die Frage
lässt sich angesichts der Datenlage nicht definitiv beantworten. Bei einer
Schülerin wie Sophie N (CO 8/9), deren Sprachbeherrschung allerdings für
ihre Schulstufe ganz untypisch ist, scheint es aber zumindest denkbar, dass sie
die chaotische Phase – zumindest in der schriftlichen Sprachproduktion –
überspringt. Nachdem sie in ihrer ersten Arbeit einmal einen Nominativ an
Stelle eines Akkusativs einsetzt (ich sehe gern der Film B., daneben ich habe
einen Bruder), unterscheidet sie in den folgenden Texten stets völlig
zielsprachenkonform zwischen N und A (insgesamt verwendet sie immerhin
14 eindeutige A-Formen). Überdies zeigt ein Blick auf ihre Präpositional-
phrasen, dass sie auch mit dem Dativ kaum Schwierigkeiten hat, ja selbst den
Kasuswechsel bei den Wechselpräpositionen scheint sie im Griff zu haben.
Dass sie auch in den andern beiden Bereichen (Konjugation, Satzmodelle)
überdurchschnittlich weit fortgeschritten ist, versteht sich von selbst. Als ein-
zige von den beobachteten SchülerInnen ihrer Klassenstufe scheint sie also in
der Lage zu sein, den Erklärungen von Schulbuch und Lehrerin zu folgen, die
Regeln zu verstehen und auch anzuwenden. Dass sie dies allerdings nicht
immer spontan tut, lassen die auffallend zahlreichen grammatischen Selbst-
korrekturen erkennen. Ganz offensichtlich kontrolliert sie ihre Sprachpro-
duktion mit Hilfe des Monitors; dass sie dazu selbst im Bereich der Kasus
(und der gesamten Deklination) fähig ist, kann im Vergleich mit ihren Mit-
schülerInnen nur als ganz und gar aussergewöhnlich taxiert werden. Mit an-
dern Worten: Die ideale Schülerin, von der sowohl Schulbücher als auch
manche Lehrerinnen und Lehrer auch heute oft noch ausgehen, die Lernerin,
die fähig ist, den Erklärungen zu folgen und die gegebenen Regeln anzuwen-
den und die sich zudem selber erfolgreich korrigieren kann, erweist sich in
der Realität als die absolute Ausnahme!
258
einfach komplex
Kasus ganzes Syntagma Kasus ganzes Syntagma
OK falsch OK falsch OK falsch OK falsch
total no *K total no *K
absolut 348 99 298 149 50 58 10 26 42 32
in % 78% 22% 67% 33% 11% 85% 15% 38% 62% 47%
Total 447 447 68 68
(515) = 100% = 100% = 100% = 100%
no *K = andere als Kasusfehler
Tab. 44: Korrekt gewählter Kasus vs. korrektes Syntagma (NP Sg. mask.)
_______________
167
Dies mag Zufall sein, könnte aber auch daran liegen, dass komplexe NP eher von
fortgeschritteneren Lernenden verwendet werden, die tatsächlich über mehr als ei-
nen Kasus verfügen.
260
Ohne die Unterscheidung nach einfachen und komplexen NP ergeben sich
folgende Zahlen: Kasuskorrekt sind insgesamt 406 von den 515 NP (348 +
58); in jeder Hinsicht normgerecht realisiert sind 324 NP (298 + 26).
_______________
168
Maskuline NP ohne DET, jedoch mit Adjektiv, bei denen A und N sich morpholo-
gisch ebenfalls unterscheiden, wurden hier nicht berücksichtigt, da sie sehr selten
und nur in der Briefanredeformel vorkommen, z. B. lieber Yves.
169
Zum Beispiel: G/K? mein Bruder hat sein arm gebrochen (Corinnee P 9/ESC10),
G+K? der Vater hat ein Küchenschürze (Philippe B 5/6).
170
Als Abweichung kommt in Frage, dass ein obligatorischer Artikel fehlt, z. B. ich
habe schwester.
261
in jeder Hinsicht irgendwie abweichend
korrekt
absolut in % absolut in %
N+A mask 324 26% 191 15%
(515 = 42%) davon Kasus: 109 davon Kasus: 9%!!
A=N fem + neutr 303 24% 142 12%
(445 = 36%)
A=N ohne DET 207 17% 19 2%
(226 = 18%)
G/K? G+K? - - 51 4%
(51 = 4%)
Total 834 67% 403 33%
(1237 = 100%)
Tab. 45: Korrekte und abweichende NP (einfache und komplexe)
Betrachtet man nun den Anteil der kasusbedingten Abweichungen an der Ge-
samtheit der fehlerhaften NP, so ergibt sich, dass in 109 (99 einfachen + 10
komplexen, vgl. Tab. 44) von den 403 nicht normgerechten NP der Fehler auf
falsche Kasusmarkierung zurückzuführen ist (ev. in Kombination mit anderen
Fehlern); d. h. Kasusfehler machen kaum mehr als ein Viertel (27%) der
Deklinationsfehler aus (Tab. 45, 4. Spalte) – In drei Fünfteln der Fälle (243 =
60%)171 liegt ein anderer Verstoss gegen die Norm vor, wobei zweifellos
falsche Wahl des Genus die häufigste Fehlerursache ist. Daneben kommen
vor: falsche Form des DET (eines Haus), DET/0 (sie spielt ein Tennis), def.
DET/indef. DET (er hat die Brille), sein/ihr (sie hatte sein Gesicht in sein
Handen), 0/DET (ich habe hund) falsche Adjektivstellung (ein Koffer braun),
falsche Adjektivform (der rot Fisch), wobei auch mehrere Fehler kombiniert
sein können (wir haben ein Mantel blaue). – Übrig bleiben jene 51
Syntagmen, wo die Frage, ob ein Genus- oder ein Kasusverstoss oder beides
vorliegt, offen bleiben muss; sicher ist hier nur, dass sich die betreffenden NP
irgendwie auf die beiden andern Gruppen verteilen, so dass diese auf jeden
Fall grösser sind als oben angegeben.
Wenn wir schliesslich die Anzahl von 109 Nominalphrasen mit offen-
sichtlich falsch gewähltem Kasus auf die Gesamtheit der von den 25 Testper-
sonen produzierten Nominalphrasen beziehen, so tritt noch deutlicher zu
Tage, dass Kasusfehler in Wirklichkeit ein verhältnismässig geringes Problem
darstellen: Sie machen tatsächlich nur 9% der 1237 Nominalphrasen aus
_______________
171
142 A=N fem+neutr, 19 A=N ohne DET, 82 (=191 minus 109) N+Amask, vgl.
Tab. 45, 4. Spalte.
262
(Tab. 45, 5. Spalte). Dazu gesellt sich ein nicht zu eruierender – aber sicher
kleiner – Teil der Fehler unter G/K? bzw. G+K?, so dass der Anteil an kasus-
bedingten Abweichungen in Wirklichkeit etwas höher liegt.
5.5.3.8.3 Kommentar
Das verblüffendste Ergebnis der Untersuchung zur anzahlmässigen Relevanz
von Kasusfehlern auf Grund von 25 Testpersonen aus dem DiGS-Korpus, die
alle Klassenstufen (4/5 bis 12/M) und alle Kasus-Erwerbsphasen vertreten (I
bis IV), ist zweifellos die wider Erwarten niedrige Zahl von Kasusfehlern: 9%
bezogen auf die Gesamtzahl der produzierten korrekten und abweichenden
Nominalphrasen (dazu ein unbestimmter Teil der G/K? bzw. G+K?); 27%
bezogen auf die Anzahl irgendwie fehlerhafter Syntagmen. Das bedeutet
nichts anderes, als dass in ca. neun Zehntel der Fälle der Kasus ganz einfach
kein manifestes Problem darstellt und dass zum andern ungefähr drei Viertel
der Normverstösse nicht kasusbedingt sind. Zwar sind diese Zahlen gewiss
nicht statistisch abgestützt, doch selbst wenn sie sich auf Grund anderer Texte
nach oben verschieben sollten, so würden sie dennoch niedrig bleiben –
zumindest im Vergleich zu dem Gewicht, das dem Kasus im Unterricht
beigemessen wird.
Selbstverständlich bedeuten die Zahlen nun nicht, dass die grosse Mehrheit
der Schülerinnen und Schüler in Wirklichkeit das deutsche Kasussystem
durchschaut haben (und dass sie gewissermassen zu Unrecht viel zu niedrig in
die diversen Phasen eingestuft worden wären). Von eigentlichem Kasus-
verständnis kann nach wie vor nur in Bezug auf jene TP die Rede sein, die
sich in den Phasen III und IV befinden. Dass auch die anderen Lernenden, die
unzweifelhaft noch in den Anfängen des Kasuserwerbs stecken, so erstaunlich
gut abschneiden, hat andere Gründe, die hier nochmals zusammengestellt
werden:
− Der Nominativ kommt in den Texten naturgemäss sehr häufig vor, ist er
doch in seiner Funktion als Subjekt im Deutschen auch in den simpelsten
Sätzen obligatorisch.172 Er wird von unseren Testpersonen in Subjektspo-
sition von Anfang an im Allgemeinen problemlos gehandhabt, selbst wenn,
wie wir sahen, bisweilen Verwechslungen von A und N in Phase II, aber
auch in III und IV (hier allerdings v.a. beim Prädikatsnomen) vor-
kommen.173
_______________
172
Mit Ausnahme von Konstruktionen des Typs Jetzt wird geschlafen, die aber von
den TP nie produziert werden.
173
Der Anteil der richtig gewählten Kasus wäre übrigens noch um einiges höher,
wenn wir auch die pronominalen NP mitgezählt hätten: ich, du, er sind eindeutige
N, sie sind überaus zahlreich vertreten und werden fast immer korrekt in nomina-
tivischen Kontexten verwendet.
263
− Da der Akkusativ sich in zahlreichen Fällen morphologisch nicht vom
Nominativ unterscheidet, ist Kasuswissen für die Produktion korrekter
Akkusativobjekte längst nicht immer notwendig. Ob ich als Lernerin weiss,
dass ein poulet in der hund essen ein poulet, musik in ich mag musik hören
und – im Plural – shpagetti in ich esse gern shpagetti funktional ein
Akkusativ ist, oder ob ich davon ausgehe, dass (substantivische) NP, wo
auch immer sie sich im Satz befinden, immer gleich aussehen, hat be-
züglich der Unterscheidung von N und A bei Neutra und bei Feminina, bei
DET-losen NP und im Plural keinen Einfluss auf den Output. Dies gibt
auch jenen Lernenden, die in Bezug auf das Kasusverständnis noch ganz in
den Anfängen stecken, recht grosse Chancen, eine ganze Reihe von
Nominalphrasen trotz mangelhaftem Wissen in Bezug auf die Kasusmor-
phologie korrekt zu verwenden.
− Was den Dativ anbelangt, so stellt sich heraus, dass er in substantivischen
NP in unseren Testtexten so selten vertreten ist, dass er als Fehlerquelle
praktisch nicht ins Gewicht fällt.
− Bedenkt man dann auch noch, dass Kasusabweichungen, ungeachtet der
Tatsache, dass es sich dabei um eindeutig identifizierbare Verstösse gegen
die geltende Norm handelt, die Verständlichkeit der Texte von Deutsch-
lernenden kaum je beeinträchtigen, so drängt sich der Schluss auf, dass der
Kasus – für sich alleine genommen – bei weitem kein so dramatisches
Problem darstellt, wie immer wieder behauptet wird.
5.5.4 Schluss
Abschliessend ist zu sagen, dass diese Resultate für den Unterricht eine er-
hebliche Relevanz haben müssten, ist es doch offensichtlich so, dass alle An-
strengungen seitens der Lehrerschaft und der Schülerinnen und Schüler nicht
zu dem im Lehrplan vorgegebenen Ziel führen. Als Konsequenz müsste sich
ergeben, dass mit der expliziten Behandlung der Kasus im Unterricht erst
dann begonnen wird, wenn eine Mehrheit der Lernenden das erforderliche
Niveau für die erfolgreiche Auseinandersetzung mit dem Kasus auch wirklich
erreicht hat. Eine derartige Entlastung des Programms (im Genfer Cycle und
in entsprechenden Schulen anderswo) müsste – so ist zu hoffen – dazu führen,
dass mehr Zeit für andere lustvollere Arten der Beschäftigung mit der
fremden Sprache frei wird; dass die Motivation der Lernenden zunimmt, weil
Misserfolge und Sanktionierungen abnehmen; und schliesslich, dass der Er-
werb im Endeffekt besser und schneller vorangeht als bisher, weil die ver-
schiedenen grammatischen Strukturen nicht mehr alle mehr oder weniger
gleichzeitig unterrichtet werden, sondern nacheinander, wie es der natürlichen
Abfolge entspricht.
Thérèse Studer
5.6.1 Einleitung
Dass dieses Kapitel nicht parallel zu 5.5 den Titel ‘Der Erwerb der Kasus in
Präpositionalphrasen’ trägt, hat seine Gründe. Die Beschäftigung mit den
sogenannten Wechselpräpositionen, die sowohl hinsichtlich ihres anzahlmäs-
sigen Vorkommens als auch ihres Schwierigkeitsgrades für Deutschlernende
ein zentrales Lernobjekt darstellen, führt nämlich sehr bald zu der Erkenntnis,
dass der Kasus nur einen Teil des Problems ausmacht, da die Opposition zwi-
265
schen lokativer und direktiver Bedeutung von lokalen Präpositionalphrasen
sehr oft auch mit andern Mitteln – und zwar mit Hilfe verschiedener Präpo-
sitionen (vgl. in – nach, zu – bei) – ausgedrückt wird. Allein schon deshalb
kann der Kasus, auch wenn er durchaus im Zentrum des Interesses bleibt, hier
nicht das einzige Thema sein.
Doch auch sonst erwies es sich – in der Perspektive des gesteuerten
Deutscherwerbs – als notwendig und aufschlussreich, sich über die
Kasusproblematik hinaus mit den Präpositionen und Präpositionalphrasen
auseinander zu setzen. Insbesondere die Vorkommenshäufigkeiten der
verschiedenen Präpositionen (als Types und als Tokens) in den Schülertexten
schienen uns eine nähere Untersuchung wert: einerseits weil es offensichtlich
ist, dass hier zwischen den Lernenden sehr grosse individuelle Unterschiede
existieren, andererseits weil sehr bald der Eindruck entstand, dass das
schulische Angebot diesbezüglich weder den Verarbeitungskapazitäten noch
den kommunikativen Bedürfnissen der Schülerinnen und Schüler entspricht.
Nach einer knappen Darstellung der Schwierigkeiten und Tücken
deutscher Präpositionen im Gegensatz zum Französischen (5.6.2) sowie
einem Überblick über die Literatur zu dem Thema (5.6.3) ist ein längerer
Abschnitt den Vorkommenshäufigkeiten der Präpositionen – aufgeteilt nach
Präpositionen mit festem Kasus und Wechselpräpositionen – in einem
Teilkorpus von 58 Testpersonen gewidmet (5.6.4). Es folgt die Untersuchung
der Kasusverwendung nach Präpositionen mit festem Kasus, exemplarisch
dargestellt an den für-Phrasen und den mit-Phrasen (5.6.5); schliesslich wird
untersucht, wie die Lernenden mit den lokalen Präpositionen und der
Opposition zwischen lokativer und direktiver Bedeutung umgehen (5.6.6).
Dass das System der Präpositionen bzw. die Bildung und Verwendung von
Präpositionalphrasen im Deutschen erheblich komplexer ist als im
Französischen, wird wohl von niemandem bestritten. Für deutschsprachige
Sprecherinnen und Sprecher mag dies durchaus ein Vorteil sein, stehen doch
zum Ausdruck insbesondere von lokalen Verhältnissen Mittel zur Verfügung,
die im Französischen nicht vorhanden sind.174 In der Lernperspektive bedeu-
tet die Komplexität allerdings, dass die Schwierigkeiten, seien sie semanti-
_______________
174
Vgl. etwa Blumenthal (1997: 63): „Hier soll nun gezeigt werden, dass [...] das
Deutsche besonders durch die Opposition zwischen Dativ und Akkusativ, durch
Präpositionen und durch Verbalpräfixe reichere Möglichkeiten zur Erfassung
räumlicher Verhältnisse bietet.“
266
scher oder morphosyntaktischer Art, zwangsläufig gross sind. Probleme, die
die Wahl der Präposition und des Kasus sowie die formale Realisierung der
Präpositionalphrasen (PP) betreffen, sind vorauszusehen.175
Zwar kommt es vor, dass zwei Präpositionen der beiden Sprachen in einem
bestimmten Kontext parallel verwendet werden, z. B. sur la table – auf dem
Tisch, pendant les vacances – während der Ferien usw., doch kann von einer
Eins-zu-Eins-Entsprechung keine Rede sein, vgl. in der Schublade – in der
Küche – an der Wand vs. dans le tiroir – à la cuisine – au mur. Zudem
verlangen Präpositionen im Deutschen einen Kasus, so dass Lernende sich in
formaler Hinsicht bei den Präpositionalphrasen mit den gleichen durch die
Verquickung von Kasus, Numerus und Genus (+ Adjektivdeklination)
bedingten Deklinationsproblemen wie bei den Nominalphrasen konfrontiert
sehen (vgl. die Kapitel 5.3, 5.4, 5.5). Für die Wahl des korrekten Kasus gibt
es bezüglich einer ganzen Reihe von Präpositionen keinerlei semantischen
Hinweise, und wo die Kasuswahl semantisch motiviert ist, bedeutet dies keine
Erleichterung, im Gegenteil: Die Unterscheidung von Akkusativ und Dativ
bei den Raumpräpositionen erweist sich als eine zusätzliche Komplikation, ist
es doch, wie jede Deutschlehrerin, jeder Deutschlehrer weiss, alles andere als
einfach, die für Deutschsprachige selbstverständliche Unterscheidung
zwischen lokativer (LOK) und direktiver (DIR) Bedeutung nachzuvollziehen;
ganz abgesehen davon, dass diese Opposition sich längst nicht immer in der
Kasuswahl, sondern oftmals auch in der Wahl unterschiedlicher Präpositionen
niederschlägt.
Zur Illustration mag die folgende Gegenüberstellung dienen; dabei ist zu
bedenken, dass es sich jeweils nur um einen kleinen Ausschnitt aus den
beiden Systemen handelt, der jedoch als typisch gelten kann für die Art von
Schwierigkeiten, mit denen Lernende konfrontiert sind (WP:
Wechselpräposition; PfK: Präposition mit festem Kasus; D: Dativ; A:
Akkusativ):
_______________
175
Vgl. Fervers (1983: 156): „Die konstrastive Analyse der beiden Sprachsysteme
lässt wegen des grösseren Komplexitätsgrades des Deutschen eine hohe Fehlerhäu-
figkeit erwarten.“
267
devant la petite lokal lokativ vor dem kleinen Haus WP D
maison
direktiv vor das kleine Haus WP A
derrière la petite lokal lokativ hinter dem kleinen WP D
maison Haus
direktiv hinter das kleine WP A
Haus
avant la temporal vor der Aufführung WP D
représentation
après la temporal nach der Aufführung PfK D
représentation
Linguistische Untersuchungen, die sich speziell mit dem Erwerb von Präposi-
tionen bzw. Präpositionalphrasen befassen, gibt es auffallend wenige.178
Hauptgegenstand der Arbeiten zum Kasuserwerb sind normalerweise die No-
minalphrasen; die Präpositionalphrasen werden meistens eher beiläufig mit-
einbezogen, bisweilen auch in eine Fussnote verwiesen. Zu erklären ist dieses
Ungleichgewicht zwischen NP und PP zweifellos damit, dass in den betref-
fenden Untersuchungen das Hauptinteresse auf dem Aufbau des Systems der
strukturellen Kasus Subjekt – direktes Objekt (DO) – indirektes Objekt (IO)
liegt.179 Dennoch lassen sich manchen dieser Texte interessante Hinweise auf
den Erwerb der Präpositionen und speziell auf die Kasusverwendung in Prä-
positionalphrasen entnehmen.
_______________
180
Laut Clahsen (1984a: 21) „zeigt sich, dass Unsicherheiten nur in den Fällen zu er-
kennen sind, in denen im Deutschen Dativformen verlangt werden, also bei Reci-
pient, Source, Instrument und Location; demgegenüber treten keine Unsicherhei-
ten auf, wenn im Deutschen ohnehin die Akkusativmorphologie erforderlich ist,
also bei Goal und Direction.“ – Und Tracy (1986: 62) meint: „The data also show
that German children use accusatives in PPs requiring the dative, just as they
overgeneralize accusative markers to other noun phrases requiring datives, ...“
Ungeklärt bleibt bei Clahsen wie bei Tracy, ob und wie sie die bekanntlich sehr
häufige formale Identität von A und N berücksichtigen, d. h. ob sie nicht eine
Reihe von Defaultformen fälschlicherweise als A interpretieren. Vgl. dazu Kapitel
5.5.3.3 (Fussnote 124).
181
Prozentzahlen nach Grimm (1975: 101) in Mills (1986: 200).
271
Ziemlich anders als bei Clahsen, Tracy und Mills präsentieren sich die
Ergebnisse von Jürgen Meisel (1986). Auf Grund der Daten von zwei
bilingualen (dt.-franz.) Kindern182 kommt er zum Schluss, dass Kinder, ob sie
nun zwei- oder einsprachig aufwachsen, A und D in NP und PP in
Wirklichkeit gleichzeitig erwerben: „it is claimed that monolinguals as well as
bilinguals acquire accusative and dative inflection simultaneously.“ (166).
Speziell in Bezug auf die PP stellt er fest, dass der Dativ bei den PfK früh
auftaucht183 und keine bzw. nicht mehr Probleme als der Akkusativ macht und
dass zudem in Präpositionalphrasen mit WP nicht nur A statt D, sondern
ebenfalls D statt A zu beobachten ist. So lautet sein Fazit: Der Dativ ist
konzeptuell nicht schwerer als der Akkusativ zu erfassen, weshalb er auch
nicht später erworben wird. Dass dennoch der Eindruck entsteht, D folge in
der Entwicklung auf A, liegt an der sehr viel höheren Frequenz von
Akkusativ-NP mit Nominalkern und an der Komplexität des Deklinationssys-
tems.
Auch Swantje Klinge (1990), deren Testkinder aus dem Hamburger
DUFDE-Projekt ebenfalls mit Deutsch und Französisch aufwachsen, vertritt
die Auffassung, dass A und D gleichzeitig erworben werden. „It is evident
that children acquire the linguistic system for marking the dative and the
accusative at approximately the same stage of linguistic development.“ (144)
Wie Meisel kann sie im Falle der PfK (fast) keine Probleme mit dem Dativ
ausmachen, während bei den WP sehr wohl abweichende Formen vorkom-
men. „German prepositions that are exclusively used to encode the dative
show almost no incorrrect occurrences, whereas prepositions that can be used
either with the dative or the accusative cause a certain number of divergent
uses.“ (144) Auch Klinge beobachtet, dass bis zum Alter von ca. 3 Jahren die
Präposition fehlen kann, dass die Raumpräpositionen klar vor den Zeitpräpo-
sitionen auftauchen und erstere auch viel häufiger sind und dass überdies für
und mit bereits kurz nach den ersten räumlichen Präpositionen erscheinen.
Achim Stenzel (1996) arbeitet ebenfalls mit Daten aus dem DUFDE-Pro-
jekt; in seiner Untersuchung zum Erwerb der Kasus bei Wechselpräpositionen
stellt er deutliche Unterschiede zwischen dem Erwerb von A und D fest, und
_______________
182
Problematisch erscheint in all diesen Untersuchungen zum L1-Erwerb (ausser
Mills) die geringe Zahl von beobachteten Kindern, die ausserdem nur wenige in
Bezug auf Kasus interpretierbare Formen produzieren. Angesichts der Tatsache,
dass auch Kleinkinder sich in ihrer sprachlichen Produktion mit Sicherheit stark
voneinander unterschieden, ist nicht unbedingt auszuschliessen, dass die Dürftig-
keit des sprachlichen Materials (mit) ein Grund dafür ist, dass die Beobachtungen
der einzelnen AutorInnen und dann auch die Schlüsse, die sie daraus in Bezug auf
die natürliche Erwerbsabfolge schliessen, sich nicht decken.
183
Als Beispiele nennt Meisel mit dir, bei mir, zu mir, Dativ-PP also, die von Mills
höchst wahrscheinlich – und wohl zu Recht – als „formulae“ interpretiert würden.
272
zwar in dem Sinne, dass sein (einziges) Testkind mit dem Akkusativ weniger
Schwierigkeiten hat als mit dem Dativ.
Auf die Schwierigkeiten, die man bei der Interpretation der kindlichen
Nominalflexive unbedingt mitbedenken sollte, verweist Teresa Parodi (1990)
(1 Kind, ebenfalls aus dem DUFDE-Projekt). Sie vertritt die Auffassung, dass
die nicht zu bestreitende n-Generalisierung noch lange kein Beweis dafür sei,
dass von den Kindern auch wirklich der Akkusativ generalisiert wird, denn
möglicherweise sei längst nicht alles, was formal wie ein A aussehe, auch als
solcher intendiert; denkbar sei auch, dass das Kind das n-Flexiv zu andern
Zwecken verwendet. „The fact that the child uses the n suffix in unexpected
contexts does not necessarily indicate a generalization of the accusative. [...] I
think we can only say with certainty that overgeneralization with respect to
the n suffix has taken place; what this stands for is an open question at this
point.“ (180)
_______________
184
Vgl. dazu auch Wegener (1994: 355) und Parodi (1990: 179): „Dative is the un-
marked case for prepositional objects“.
273
− dass die Kinder mit der Opposition LOK vs. DIR grosse Probleme haben,
obgleich ihnen diese konzeptuelle Unterscheidung von ihrer L1 her
(russisch, polnisch, türkisch) eigentlich vertraut sein müsste; positiver
Transfer findet also nicht statt, die Kinder fangen für das Deutsche mit
dem Erwerb nochmals ganz von vorn an (516f.).
Für die folgende Untersuchung wurden aus dem Korpus, das der
Untersuchung des Kasuserwerbs in NP zugrunde liegt, 58 Schülerinnen und
Schüler aller Stufen ausgewählt, und zwar in der Weise, dass pro Klassenstufe
möglichst unterschiedliche Niveaus repräsentiert sind. Wo es möglich war,
erfolgte die Auswahl nach dem vorher ermittelten Erwerbsstand im Bereich
der Nominalphrasen;190 in den unteren Klassen, in denen alle Lernenden sich
in der NP-Phase I befinden, wurde so selektioniert, dass möglichst
unterschiedliche Arten des Umgangs mit Präpositionalphrasen vertreten sind
(v.a. Verwendung vieler vs. weniger PP).
Als erstes sollen einige Fakten zusammengestellt werden, die Varianz und
Frequenz der Präpositionen in den DiGS-Texten betreffen. Es geht dabei um
folgende Fragen, die zunächst in Bezug auf das PP-Korpus als Ganzes (das zu
diesem Zweck als eine Art „Grosstext“ betrachtet wird), danach auch hin-
sichtlich der einzelnen Klassenstufen bzw. Schultypen untersucht werden:
_______________
189
Getestet wurden 59 SchülerInnen zweier Gymnasien – und zwar in kommunikati-
ven Sprechsituationen.
190
Vgl. 5.5.3.
275
− Welche von den im Deutschen existierenden bzw. im Unterricht
eingeführten Präpositionen werden von den Lernenden überhaupt
verwendet? (Varianz)
− Wie oft kommen die einzelnen Präpositionen vor? Welche Präpositionen
werden am häufigsten gebraucht, welche erscheinen nur vereinzelt?
(Frequenz)
− Wie sieht das Verhältnis zwischen PfK und WP aus? Welche fallen für die
LernerInnen zahlenmässig mehr ins Gewicht?
Irrelevant ist dagegen hier die Frage, ob die betreffenden Präpositionen bzw.
PP zielsprachenkonform verwendet werden oder nicht. (Vgl. Kapitel 5.6.5
und 5.6.6)
Analog zu der Untersuchung der Nominalphrasen wurden nur
Präpositionalphrasen im Singular berücksichtigt, und zwar weil eines der
Hauptinteressen nach wie vor auf der Kasusverwendung liegt und die
Pluralmorphologie diesbezüglich (wegen der vielen Homonymien) weniger
aussagekräftig ist als jene des Singulars. Im Übrigen deutet nichts darauf hin,
dass bei Miteinbezug der Plural-PP, die zudem auch viel seltener als die
Singulare sind, die Ergebnisse sich wesentlich verschieben würden.
In den 441 Texten der 58 TP191 wurden 2269 Präpositionalphrasen im
Singular erhoben.192
Insgesamt sind 25 verschiedene Präpositionen vertreten: 9 Wechselpräpositi-
onen und 16 Präpositionen mit festem Kasus; dabei machen – um dieses in
der Perspektive des Unterrichts wirklich bemerkenswerte Ergebnis vorwegzu-
nehmen – die problemträchtigeren WP zwei Drittel, die PfK nur ein Drittel
der Vorkommen aus.
_______________
191
Von 50 SchülerInnen je 8 Arbeiten, von einem Schüler nur 7, von 6 MaturandIn-
nen jeweils 5 sowie von einer Maturandin nur 4 Arbeiten.
192
Es muss der Vollständigkeit halber erwähnt werden, dass diese Zahl in Wirklich-
keit noch grösser ist. Wegen der Vorrangstellung des Kasus auch in PP wurden bei
der Zählung jene Formen nicht miteinbezogen, die diesbezüglich nichts hergeben
(mit Zucker, von Peter, um sieben Uhr usw.). Das bedeutet allerdings nicht, dass
alle PP ohne DET weggefallen wären; denn für die Untersuchung der Opposition
LOK vs. DIR sind natürlich auch manche DET-lose PP unverzichtbar (in Genf –
nach Luzern).
276
Varianz: Im Korpus sind alle 9 WP repräsentiert: in, an, auf, über, vor, ne-
ben, unter, zwischen, hinter.
Die WP werden von den TP alles in allem überwiegend in ihrer lokalen
Bedeutung verwendet;193 erst in den höheren Klassen und bei den meisten
SchülerInnen nur ab und zu tauchen valenzbedingte WP auf (meistens
Präpositionalobjekte). Recht gut vertreten ist die temporale Verwendung von
an und in, wobei hier Ausdrücke wie im Juli, im Sommer, am Abend, die
zweifellos fast immer als unanalysierte Formeln gespeichert sind, die grosse
Mehrheit ausmachen.194
Tab. 46 zeigt zunächst (s. zweite Kolonne) für jede Präposition – in abneh-
mender Rangfolge –, von wievielen TP sie verwendet wird; den vier nächsten
Kolonnen ist zu entnehmen, bei wieviel TP die Präposition jeweils in lokaler,
temporaler, valenzbedingter oder sonstiger Verwendung belegt ist; in der letzten
Kolonne ist zu sehen, in welcher Klasse eine Präposition erstmals auftaucht.
An dieser Stelle sei als eine Art zehnte „Wechselpräposition“ auch die
Präposition nach in ihrer lokalen Funktion genannt; und zwar, weil sie bei
Substantiven ohne Determinans (also in erster Linie bei geographischen
Bezeichnungen) in Gegensatz zu in tritt und damit, wenn nicht dem Wechsel
zwischen Dativ und Akkusativ, so doch der Opposition LOK vs. DIR
unterliegt. Im Korpus ist das lokale nach bei 40 TP belegt (ab der vierten
Klasse), steht also an zweiter Stelle noch vor auf.
Bei den einzelnen TP variiert die Varianz zwischen 1 und 7; sie nimmt im
Laufe der Jahre – erwartungsgemäss – tendenziell zu, doch sind die
individuellen Unterschiede gross. So verfügt beispielsweise ein Schüler der
Stufe 5/6 (David P) bereits über vier verschiedene WP (an, in, auf, neben),
während sich andere mit in begnügen; oder auf Stufe 10/11 liegt das
Minimum bei zwei (in, auf; Jeannette C ECG10/11) und das Maximum bei
sieben (an, in, auf, über, unter, vor, hinter; Sophie N C10/11); ähnlich
frappant sind die individuellen Unterschiede auch auf den übrigen
Klassenstufen.
Präp. Anzahl in %
in 922 70
[nach] 113 8.6
auf 104 7.8
an 82 6.2
über 50 3.8
übrige* 48 3.6
Total 1319 100
*vor, neben, zwischen, unter, hinter
Tab. 47: Frequenz WP
Erläuterungen:
− Natürlich liegt in auch in Bezug auf die Frequenz mit 922 Tokens (d. h.
70% von 1319) weit vor allen anderen an der Spitze. Abgesehen von 60
temporalen sowie einer verschwindend kleinen Anzahl sonstiger
Verwendungen (verliebt sich in dem Mann, in Bezug auf) hat in lokale
Bedeutung.
− Gefolgt – wenn auch mit enormem Abstand – wird in von jener WP, die in
Wirklichkeit keine ist, jedoch aus den oben genannten Gründen trotzdem
hier mitgezählt wird: Mit 8,6% (113 Tokens) liegt nach (in seiner lokalen
Verwendung) weit hinter in und nur wenig vor auf und an, die mit 104 und
83 Tokens 7,8% und 6,2% ausmachen.
− Auf über entfallen noch bescheidene 3,8% (50), während die übrigen
Präpositionen vor, neben, zwischen, unter, hinter mit Vorkommen
zwischen 18 und 4 sich auf den kleinen Rest von 3,6% verteilen.
________________
er/sie lebt usw.; die Bildbeschreibung ‘Küche’ verlangt, dass Gegenstände situiert
werden; auch das Selbstporträt ‘Ich, meine Familie, meine Hobbies’ zieht unver-
meidlich lokale Informationen nach sich.
280
Der Anteil der valenzbedingten Präpositionen (v.a. Präpositionalobjekte) ist
jeweils sehr unterschiedlich. Keine derartigen Verwendungen sind – erwar-
tungsgemäss – für neben, zwischen, unter, hinter zu verzeichnen; vor figuriert
zweimal in Angst vor; hingegen gibt es unter den PP mit auf und an – in den
oberen Klassen – doch eine Reihe valenzbedingter Vorkommen (z. B. auf
eine Freude warten, konzentriere ich mich an diese); und über wird sogar fast
ausschliesslich in Präpositionalobjekten gebraucht (was denkst du über diese
Kleid?) – Ausserdem kommen einige der WP vereinzelt auch in andern Kon-
texten – meist in festen Ausdrücken – vor (vgl. Fussnote 194).
Frequenz: Wie bereits erwähnt, wird alles in allem ein Drittel – in Primar-
schule und Cycle jedoch nur ein Viertel – der ausgezählten Singular-PP von
einer Präposition mit festem Kasus regiert (775 von 2269 = 34%). Im Einzel-
nen präsentieren sich die Zahlen wie folgt:
Im untersuchten Korpus stellen also in und mit bereits deutlich mehr als die
Hälfte der verwendeten Präpositionen dar (ca. 56%). Mit 6 von 25 Präposi-
tionen – in, mit, an, zu, nach (alle Verwendungsweisen), für – sind fünf
Sechstel der Präpositionalphrasen abgedeckt (84%). Auf ein knappes Sechstel
der PP entfallen schliesslich die restlichen 19 Präpositionen (16%). Dies sind
Tatsachen, die in Bezug auf den Deutschunterricht zu denken geben sollten.
Wenn wirklich so wenige Präpositionen so viele Bedürfnisse – zumindest
beim freien Schreiben – abdecken, dann müsste dem in der Unterrichtspraxis
Rechnung getragen werden. Es scheint in der Tat wenig sinnvoll zu sein, den
Lernenden ein viel zu grosses Angebot von Präpositionen zu machen, die
ihnen offensichtlich nur wenig dienen, sie aber möglicherweise im
Lernvorgang belasten und behindern. Genau dies mutet nun aber der Lehrplan
den DiGS-SchülerInnen zumindest ab einer gewissen Stufe zu: Während die
jüngeren unter ihnen in den ersten Jahren des Deutschunterrichts eine
überschaubare Anzahl gebräuchlicher und somit nützlicher Präpositionen
kennen gelernt haben, wurden alle älteren SchülerInnen in der achten Klasse,
d.h. zu einem Zeitpunkt, wo dies mit Sicherheit ihren kommunikativen
Bedürfnissen und sprachlichen Fähigkeiten in keiner Weise entsprach, mit
einer Zusammenstellung praktisch aller im Deutschen existierenden PfK und
WP konfrontiert (mit Erläuterungen zum Gebrauch, insbesondere zur
Verwendung von D und A); in der Liste figurieren auch solche Präpositionen,
die im Korpus überhaupt nie belegt sind (entlang, gegenüber). Da die
Präpositionen, wie schon in Kapitel 5.6.2 dargelegt wurde und wie sich im
Folgenden noch genauer zeigen wird, ein besonders schwieriges Kapitel der
deutschen Grammatik sind, drängt sich ein Plädoyer für eine drastische
Reduktion des expliziten Inputs bereits hier auf. Auf gar keinen Fall scheint
es sinnvoll, die Kinder im Cycle (Sekundarstufe I) mit so vielen verschiede-
nen Präpositionen zu belasten, die sie dann doch nie brauchen; vielmehr wäre
es angebracht, eine Auswahl zu treffen, die auf der Häufigkeit in der Lerner-
sprache basieren müsste. Im PO kann der Vorrat an Präpositionen selbstver-
ständlich nach Bedarf weiter ausgebaut werden; dabei dürfte sich zeigen, dass
die ECG-SchülerInnen mit dem Grundstock aus dem Cycle recht gut
auskommen, während die SchülerInnnen von ESC und Collège einen grösse-
ren Bedarf an Präpositionen – und eine grössere Aufnahmebereitschaft – ha-
ben dürften.
284
5.6.4.4 Frequenz und Varianz der Präpositionen auf den verschiedenen
Klassenstufen
Dass Varianz und Frequenz der Präpositionen von den unteren zu den oberen
Klassen hin tendenziell zunehmen,200 ergibt sich bereits aus dem oben Ge-
sagten. Dass andererseits die individuellen Unterschiede innerhalb einer
Klassenstufe beträchtlich sind, wurde ebenfalls angedeutet. Diesen Unter-
schieden, die auch bei einer oberflächlichen Lektüre der Texte ins Auge
springen, soll im Folgenden nachgegangen werden.
Die Verwendung der Präpositionen durch die Lernenden ist zunächst
selbstverständlich dadurch bedingt, ob diese im Input – sei es explizit oder
möglicherweise auch nur implizit – überhaupt vorkommen. Lernende können
Präpositionen genauso wenig wie z.B. Substantive oder Adjektive verwenden,
wenn sie nie die Gelegenheit hatten, ihnen zu begegnen. So gesehen sind die
Präpositionen auch ein lexikalisches Problem. In den ersten Schuljahren und
bis zum Ende der obligatorischen Schulzeit sind nun alle Genfer Schulkinder,
was den Input anbelangt, im Prinzip in der gleichen Lage, sind doch die
Lehrbücher jeweils für alle die gleichen. Die SchülerInnen einer Klassenstufe
haben also mit Sicherheit die gleichen Präpositionen kennengelernt und sie
auch in mehr oder weniger gleicher Weise geübt.201 Umso bemerkenswerter
sind die teilweise beträchtlichen Differenzen, die auf allen Stufen beobachtet
werden können.
Am meisten überraschen vielleicht die Unterschiede im Umgang mit den
Präpositionen, die zwischen den jüngsten SchülerInnen existieren. Von An-
fang an gibt es Kinder, die sich im Bereich der PP auf ein absolutes Minimum
– an Types und Tokens – beschränken, während andere unbekümmert
möglichst viel aus dem Input in ihre Texte übernehmen. 202 Dass dabei neben
einigen Chunks zahlreiche nicht zielsprachenkonforme Formen herauskom-
men, versteht sich von selbst, ist jedoch hier nicht von Belang (vgl. Kapitel
5.6.5 und 5.6.6).
In den ersten Klassen präsentieren sich die Dinge besonders extrem: Wäh-
rend Nicolas B (4/5) sich in den acht Arbeiten mit einer PP (am See in der er-
sten Arbeit) begnügt, verwendet Christine M (ebenfalls in 4/5) ab der zweiten
Arbeit insgesamt fünf Präpositionen, die sie im Ganzen 36mal einsetzt
_______________
200
Das schliesst keineswegs aus, dass einzelne SchülerInnen der unteren Klassen
mehr bzw. öfter Präpositionen verwenden als einzelne SchülerInnen der höheren
Klassen.
201
Denkbar sind allenfalls geringfügige Unterschiede etwa in Bezug auf die Intensität,
mit der die Präpositionen behandelt werden, in Bezug auf das Tempo, auf den
impliziten Input usw.
202
Einige DiGS-TP verwenden überhaupt nie eine PP, so dass sie gar nicht in die PP-
Untersuchung miteinbezogen wurden.
285
(verteilt über die Arbeiten 2 bis 8). Selbstverständlich sehen sich viele ihrer
Syntagmen sehr ähnlich (z. B. am Montag, am Donnerstag, am Samstag
usw.), doch ändert dies nichts an der Tatsache, dass diese Schülerin versucht,
möglichst viel von dem, was ihr im Unterricht angeboten wurde, zu reprodu-
zieren. Das Verhältnis zwischen den maximalen und den minimalen Werten
beträgt auf der Stufe 4/5 also bezüglich der Frequenz 36 : 1, bezüglich der
Varianz 5 : 1. Ähnliche Extremwerte sind auch auf der nächsten Stufe 5/6 zu
beobachten, nämlich 34 : 1 (Frequenz) und 6 : 1 (Varianz).
Auf Stufe 6/7 beträgt das Verhältnis in Bezug auf die Frequenz „nur noch“
7,7 : 1. Diese deutlich geringere Differenz darf jedoch nicht darüber hin-
wegtäuschen, dass die Schülerin Catherine E insgesamt beinahe achtmal so
viele Präpositionalphrasen verwendet wie Alexandre S auf derselben Stufe –
zweifellos immer noch ein beträchtlicher Unterschied. Auch bezüglich der
Varianz klaffen der maximale und der minimale Wert wiederum deutlich
auseinander, nämlich im Verhältnis von 7 : 1.
Ab Stufe 7/8 nimmt die Frequenz der Präpositionen im Durchschnitt klar
zu, wenngleich nach wie vor deutliche Unterschiede zwischen den einzelnen
TP zu verzeichnen sind. So stehen auf Stufe 7/8 den eher spärlichen 16 PP
von Alexandra M die immerhin 42 PP von Sophie R gegenüber, was einem
Verhältnis von 2,6 : 1 entspricht. Auch in den folgenden Klassen überschrei-
ten die höchsten und tiefsten Werte pro Klassenstufe nie das Verhältnis von
2,8 : 1. Damit sind die Unterschiede gewiss längst nicht mehr so extrem wie
in den ersten Schuljahren, doch sind sie immer noch relativ gross. Bei nähe-
rem Zusehen stellt sich allerdings heraus, dass im PO innerhalb eines Schul-
typs die Differenzen im Allgemeinen203 deutlich geringer sind, d. h. das Ver-
hältnis beträgt jeweils zwischen 1,7 : 1 und 1,2 : 1. Es scheint also, dass die
SchülerInnen eines Schultyps sich bezüglich der Frequenz von Präpositional-
phrasen nicht allzusehr voneinander unterscheiden, wobei die ECG-Schüler-
Innen durchschnittlich am wenigsten, die Collège-SchülerInnen am meisten
PP verwenden.
Auch was die Varianz betrifft, verringern sich ab Stufe 7/8 die Differen-
zen, selbst wenn sie durchaus beachtlich bleiben. So kommt es nicht selten
vor, dass auf einer Stufe die TP mit der grössten Varianz doppelt bis dreimal
so viele (oder gar noch mehr) verschiedene Präpositionen verwendet als die
TP mit der geringsten Varianz. Auf Stufe 7/8 beispielsweise kontrastieren als
Extreme wiederum Sophie R und Alexandra M mit sieben bzw. drei ver-
schiedenen Präpositionen. Im PO sind die Unterschiede abermals dann be-
sonders frappant, wenn nicht nach Schultypen unterschieden wird, so etwa
zwischen Liliane N oder Jeannette C (beide ECG 10/11) mit je fünf Präposi-
tionen einerseits und Sophie N (C 10/11) andererseits, die nicht weniger als
_______________
203
Ausser für die beiden 12/M-Klassen, wo die Unterschiede wiederum höher sind.
286
siebzehn verschiedene Präpositionen verwendet. Trennt man hingegen nach
ECG, ESC und Collège, so erweisen sich die Differenzen innerhalb einer
Klassenstufe wiederum als erheblich kleiner. Tendenziell lässt sich sagen,
dass die ESC-SchülerInnen durchschnittlich mehr verschiedene Präpositionen
verwenden als die ECG-SchülerInnen, die SchülerInnen des Collège
wiederum mehr als jene der ESC.
Gegen obige Zahlen und Vergleiche, betreffend die Frequenz und Varianz
der Präpositionen auf den einzelnen Klassenstufen, lässt sich nun zweifellos
einwenden, dass sie keine Repräsentativität beanspruchen dürfen. In der Tat
sind pro Klassenstufe jeweils nur zwischen vier und – bestenfalls – zehn
SchülerInnen vertreten; und wenn im PO nach Schultypen unterschieden
wird, so umfassen einzelne Gruppen gar nur drei SchülerInnen. Das bedeutet
mit Sicherheit, dass von statistischer Relevanz keine Rede sein kann. Den-
noch ist anzunehmen, dass die obigen Ergebnisse Tendenzen widerspiegeln,
die auch durch eine genauere Untersuchung nicht grundsätzlich in Frage ge-
stellt würden. Und auf jeden Fall zeigen sie ganz konkret, dass die individu-
ellen Unterschiede im Umgang mit Präpositionen und Präpositionalphrasen
innerhalb einer Lernergruppe ausserordentlich gross sind; dies gilt vom ersten
Jahr an bis hinauf zu den Maturaklassen. Den Ansprüchen an den bin-
nendifferenzierten Unterricht gerecht zu werden, dürfte demnach für die Leh-
rerinnen und Lehrer gerade auch im Bereich der Präpositionalphrasen keine
leichte Aufgabe sein.
Im Folgenden soll nun – anhand der Präpositionen für und mit – gezeigt wer-
den, wie die Lernenden den Kasus in PP handhaben, in denen von der Präpo-
sition ein fester Kasus gefordert wird. Sowohl für als auch mit können als re-
präsentativ für die jeweilige Gruppe von PfK gelten: mit macht, wie wir ge-
sehen haben, knapp zwei Fünftel aller PfK mit Dativ aus und wird von 53 der
58 berücksichtigten TP verwendet; und für liegt mit 83% weit vor den andern
Präpositionen, die den Akkusativ verlangen, taucht allerdings nur bei 37 der
58 TP auf.204 Beide Präpositionen werden im Unterricht sehr früh eingeführt,
mit bereits in der vierten Klasse, für in der fünften; allerdings erscheint – in-
teressanterweise – nur mit im untersuchten Korpus bereits in der Primar-
schule, während für erstmals in der siebten Klasse zu finden ist.
_______________
204
Es sei daran erinnert, dass – absolut gesehen – für sehr viel weniger häufig ist als
mit (130 gegenüber 293 Tokens) und dass ganz allgemein die A-Präpositionen –
hinsichtlich Frequenz und Varianz – weit hinter den D-Präpositionen liegen. Prä-
positionen mit D: mit, von, zu, bei, nach, aus, während, seit, wegen, dank; Präpo-
sitionen mit A: für, gegen, durch, um, ohne.
287
5.6.5.1 Der Kasus in den für-Phrasen
Von den 124 kasusrelevanten für-Phrasen205 mit morphologisch markiertem –
aber nicht unbedingt eindeutig identifizierbarem – Kasus sind 109 in Bezug
auf die Wahl des Kasus korrekt: das sind nicht weniger als 88%!206 Dieses
ausgezeichnete Ergebnis ist gewiss nicht darauf zurückzuführen, dass alle
Lernenden, angefangen von der siebten Klasse bis hinauf zu den verschiede-
nen Typen von Abschlussklassen, auch wirklich wüssten, was sie tun. In
Wirklichkeit kann keine Rede davon sein, dass der Grossteil der SchülerInnen
tatsächlich über den Akkusativ verfügt. Dies zeigt allein schon ein Blick auf
die Anzahl der A=N-Formen: Sie machen zwei Drittel der korrekten Formen
aus (73 von 109, davon sind 11 pronominal) und verteilen sich auf alle
Klassenstufen.
Bei den meisten Cycle-SchülerInnen ist nun mit grosser Wahrscheinlich-
keit damit zu rechnen, dass es sich bei den in Bezug auf Kasus unzweifelhaft
korrekt realisierten A=N-Formen in Wirklichkeit sehr oft nicht um A handelt,
sondern um den ihnen allein zur Verfügung stehenden Default-Kasus.207 Die
Einstufung der betreffenden Lernenden im NP-Bereich208 zeigt, dass eine
grosse Mehrzahl sich in den Phasen I und II situiert, also noch nicht über ein
Mehr-Kasus-System verfügt.209 Dass bei diesen Lernenden auch im PP-Be-
reich nur ein Kasus vorhanden ist, illustrieren besonders deutlich jene Texte,
in denen neben A=N auch morphologisch eindeutige N figurieren:
(1) Alice kauft für sein Brüder ein Fussball. Ich habe kaufen für meine Mutter eine
Pelzmütze und für mein Vater auch. (Sophie R 7/8, 3)
(2) Der Vater, Peter und Elisa machen ein gut Essen für die Mutter. [...] Die Karotten,
die Kartofeln und die Tomaten sind für die Suppe. [...] Sie machen auch die Spa-
getti für das Essen. [...] Der Rotwein ist für der Vater. (Mélanie C 8/9, 5)
_______________
205
Sechs von den oben (Kapitel 5.6.4.2, Tab. 49) mitgezählten PP fallen weg, weil sie
in Bezug auf den Kasus keine Schlüsse zulassen (für Evas Geburtstag, gut für ei-
nes mannes éducation usw.).
206
Natürlich bedeutet dies nicht, dass all diese PP in jeder Hinsicht zielsprachenkon-
form wären, da ausser dem Kasus auch das Genus, die Wahl von DET, die Endun-
gen evtl. vorhandener Adjektive u.a. Probleme machen können; vgl. für den Inter-
view.
207
Zum Default-Kasus vgl. auch 5.5.3.5.1, S. 232.
208
Zu den Kasus-Erwerbsphasen im Bereich der Nominalphrasen vgl. 5.5.3.5.
209
Die am weitesten fortgeschrittene Schülerin im Cycle (Sophie N 8/9), die im NP-
Bereich auf jeden Fall III, vermutlich sogar IV erreicht hat, produziert keine für-
Phrasen, was erkennen lässt, dass die Frequenz von für-Phrasen alleine noch gar
nichts über das sprachliche Niveau aussagt.
288
Bemerkenswerterweise wird der Nominativ in Präpositionalphrasen nicht nur
dann verwendet, wenn Nullmarkierung vorliegt (für mein Vater), wofür man
als Erklärung allenfalls die schlechte Perzipierbarkeit des Unterschieds zwi-
schen N und A evozieren könnte, sondern ebenfalls bei salienter Markierung
(für der Vater). Was speziell die für-Phrasen betrifft, so halten sich die beiden
Fälle in etwa die Waage: 5mal liegt der vor, 6mal ∅. Hingegen ist im ganzen
PP-Korpus kein einziges Mal ein pronominaler Nominativ in für-PP zu
verzeichnen.
In den oberen Klassen (ab 9/10) sind die A=N-Formen von Fall zu Fall
unterschiedlich zu interpretieren. Jenen Testpersonen, die im NP-Bereich
Phase III (Zwei-Kasus-System) oder gar Phase IV (Drei-Kasus-System) er-
reicht haben, ist gewiss zuzutrauen, dass ihre A=N-Phrasen keine Nominative
bzw. Default-Formen sind. Solche Lernende produzieren denn auch – wie
erwartbar – einerseits eindeutige Akkusative in PP, und zwar auch in solchen,
die nicht chunkverdächtig sind (Beispiele weiter unten); und sie verwenden
andererseits in PP keine N-Formen mehr (weder nach für noch nach anderen
Präpositionen). Für SchülerInnen des PO, die nicht weiter als in NP-Phase II
sind, gilt dagegen, was bezüglich des Cycle gesagt wurde: Ihre ziel-
sprachenkonformen für-PP sind gewissermassen Glückstreffer, ein positives
Nebenprodukt der Tatsache, dass im Deutschen so oft A und N morpholo-
gisch zusammenfallen.
A=N-Formen, so einwandfrei sie auch sein mögen, sagen also nichts über
die Kasusbeherrschung aus. Demgegenüber kann man aus dem Vorhanden-
sein von N in PP schliessen, dass die betreffende TP noch in den Anfängen
des Kasuserwerbs steckt. Wie steht es nun aber diesbezüglich mit den ein-
deutigen A-Formen, von denen es im PP-Korpus zwar nicht sehr viele, aber
immerhin doch 36 gibt? Entsprechend dem Vorhandensein von N statt A in
maskulinen für-PP bei den Cycle-SchülerInnen sind eindeutige A überhaupt
erst ab Stufe 10/11 festzustellen – mit einer einzigen (pronominalen) Aus-
nahme in der achten Klasse.
Nun wäre es aber mit Sicherheit ein Fehler, aus dem Vorhandensein sol-
cher Strukturen automatisch auf die Beherrschung des Akkusativs schliessen
zu wollen. Von den 36 eindeutigen PP sind nämlich nicht weniger als 27
pronominal, und zwar findet man ausschliesslich die drei Formen für mich
(20x), für dich (4x) und für ihn (3x). Diese sind nun zweifellos stark chunk-
verdächtig, und so ist es auch nicht erstaunlich, dass selbst schwächere
SchülerInnen sie erfolgreich einsetzen (wenn auch nur vereinzelt). Bei fort-
geschrittenen Lernenden können für mich, für dich, für ihn zwar durchaus
„echte“ Akkusative sein, doch auch hier sollte formelhafte Verwendung nicht
einfach von vornherein ausgeschlossen werden. – Als Indizien für die Be-
herrschung des Akkusativs nach für bleiben somit nur noch die 9 substantivi-
schen PP übrig. Sie finden sich ausnahmslos in Texten von fünf fortgeschrit-
289
tenen Lernenden (NP-Phasen III bzw. IV) und sind von Wortwahl und Kon-
text her wohl wirklich als Eigenbildungen anzusehen. Ganz deutlich wird dies
in den beiden folgenden Beispielen (mit Selbstkorrektur bzw. mit Dis-
tanzstellung zur Präp. + Genusfehler):
(3) Es kostet 70 Fr für ein-en Tag (Nathalie F ESC10/11, 3; die Endung-en wurde
offensichtlich im Nachhinein eingefügt)
(4) Danke schön für die Antworte und den Interview Kurt. (Fanny D ESC11/12, 6)
Schliesslich sei festgehalten, dass von den 124 für-PP eine einzige hinsicht-
lich ihrer Morphologie einem zielsprachlichen Dativ entspricht, doch ist es in
Wirklichkeit nicht einmal ganz sicher, ob die betreffende Form auch tatsäch-
lich als Dativ intendiert ist; immerhin könnte es sich auch um einen übermar-
kierten Nominativ maskulinum handeln. Für D spricht allerdings, dass die
betreffende Schülerin in der gleichen Arbeit und auch sonst eine deutliche
Vorliebe für D-Formen (korrekte und abweichende) zu haben scheint:
(5) Petra hat ihnen geantwortet, dass sie das für einer Wette gemacht hätte. (Sophie
B 9/C10, 7)
Die Tatsache, dass auf für praktisch nie ein Dativ folgt, ist in dieser Eindeu-
tigkeit erstaunlich. Den Kindern sind D-Formen nach Präpositionen (speziell
mit) seit langem vertraut, und sie verwenden diese auch häufig. Man hätte al-
so durchaus erwarten können, dass sie für-PP nach dem Modell der mit-PP
bilden, also z. B. für dem Auto, für dir nach den ihnen bestens bekannten mit
dem Auto, mit dir. Ganz offensichtlich tun sie es aber nicht. Dies steht im Ge-
gensatz zu den von Wegener beobachteten Kindern, die anscheinend D auf A-
PP generalisieren (zwar besonders deutlich, aber nicht nur bei den WP), so
dass Wegener – wie bereits erwähnt – dieses Phänomen sogar als ein mögli-
ches Indiz dafür wertet, dass der Dativ in Präpositionalphrasen der unmarkier-
te Kasus sein könnte (vgl. Kapitel 6.3.2, S. 272). Die Art und Weise, wie un-
sere Genfer Schülerinnen und Schüler mit für und den anderen Präpositionen
umgehen, die mit dem Akkusativ konstruiert werden, stützt diese These mit
Sicherheit nicht. Allerdings ist es an dieser Stelle zweifellos verfrüht, wei-
tergehende Schlüsse ziehen zu wollen; zuvor gilt es die Präpositionen, die den
Dativ verlangen, sowie die Wechselpräpostionen zu betrachten. Als vorläu-
figes Fazit halten wir fest:
− Zielsprachenkonforme für-Phrasen bzw. Akkusativ-PP lassen nur wenig
Schlüsse auf das Kasuswissen der Lernenden zu.
− Kasuswissen ist für einen relativ erfolgreichen Umgang mit Akkusativ-PP aus
sprachimmanenten Gründen jedoch nicht notwendig, da A=N-Formen gegen-
über eindeutigen A-Formen bei weitem überwiegen, so dass die grosse Mehr-
heit der von den Lernenden verwendeten für-Phrasen kasuskorrekt sind.
290
− Eindeutige N-Formen kommen in frühen Erwerbsstadien in substantivi-
schen, jedoch nicht in pronominalen für-Phrasen vor.
− D wird nicht auf für-Phrasen (und auch nicht auf andere Akkusativ-PP)
generalisiert.
_______________
213
Ab Stufe 9/10 nach Klassenstufe und Schultyp getrennt.
292
Einige Unterschiede zwischen Dativ-PP und Dativ-NP sind von vornherein
evident: Dativ-PP werden überaus häufig benutzt, und sie sind (wie alle
andern Präpositionalphrasen) in der Lernersprache im Gegensatz zu den dati-
vischen Nominalphrasen sehr oft substantivisch. Ausserdem spielt das Lernen
von unanalysierten Ausdrücken – auch dies dürfte unbestritten sein – im PP-
Bereich eine sehr viel zentralere Rolle als im NP-Bereich (auch wenn sich der
Anteil an Chunk-Lernen nicht ohne weiteres messen lässt).
Hingegen ist sicher nicht auf den ersten Blick zu erkennen, ob der Kasus-
erwerb – und speziell der Erwerb des Dativs – in Präpositionalphrasen pa-
rallel zum Erwerb in Nominalphrasen verläuft oder nicht. Wäre der Erwerbs-
verlauf tatsächlich genau der gleiche, dann müssten sich die Dinge im Falle
der mit-Phrasen folgendermassen abspielen:
a) TP der NP-Phase I dürften nur mit-Phrasen mit N bzw. A=N produzieren
(dazu eventuell Chunks).
b) TP der NP-Phase II müssten verschiedene Morpheme – N, A=N, aber
auch A und D – in unsystematischer Verteilung verwenden (+ ev.
Chunks).
c) Bei TP der Phase III dürften nach mit keine N mehr vorkommen; hinge-
gen müssten sowohl A- bzw. A=N-Marker als auch D-Marker belegt sein
(+ ev. Chunks).
d) Schliesslich sollten die Lernenden der NP-Phase IV alles richtig machen,
d. h. in ihren mit-PP dürften weder N noch A=N noch A figurieren (+ ev.
Chunks).
Es wird sich zeigen, dass die obigen Annahmen zwar zu einem guten Teil,
aber eben doch nicht in jeder Hinsicht zutreffen.
Ad (a): TP der NP-Phase I dürften nur mit-Phrasen mit N bzw. A=N pro-
duzieren (dazu eventuell Chunks).
Erwartungsgemäss verbinden die TP der Phase I mit (und andere Präposi-
tionen) mit N bzw. A=N, also mit der Defaultform; zu beobachten ist dies nur
bei substantivischen PP, da die betreffenden Lernenden keine pronominalen
mit-PP verwenden.
Auf den Stufen 4/5 und 5/6 ist mit bei je zwei von vier Kindern belegt. Of-
fensichtlich haben sie die Präposition dem Input entnommen (sie taucht erst-
mals in der vierten Klasse nach wenigen Monaten Deutschunterricht in mit
Bananen auf) und verwenden sie produktiv, d. h. sie verbinden sie mit dem
Substantiv bzw. der NP in der Form, wie sie diese kennengelernt haben:
(6) Da ich schwimme, singe mit der Papagaye ount ich esse die orange mit der
Hund oun Catz. (David P 5/6, 8)
293
Noch im PO findet man bei Lernenden der NP-Phase I solche – eindeutigen –
Nominative: Der Kind wohnt mit der König (Sandrine D ECG11/12); verhei-
ratet mit der Mann reich (Liliane N ECG10/11). Daneben sind bei diesen TP
natürlich auch zahlreiche A=N-Formen zu verzeichnen, für die mit Sicherheit
gilt, dass es sich um Default-Formen – und nicht etwa um intendierten A –
handelt:
(7) Und für die 31 December habe ich mit meine Familie gesungen und haben wir
viel getrunken. Ein Tag habe ich mit mein Vater skigefahren. (Odette A
9/ESC10, 2)
Analog zu für spielt es offenbar für die Verwendung von N als Defaultform
auch hier keine Rolle, ob der N-Marker gut oder schlecht perzipierbar ist (der
– mein). – Erwähnenswert ist, dass mit-Phrasen, in denen das Substantiv ein
Mitglied des Familien- oder Freundeskreises bezeichnet, offenbar nicht als
Chunks gelernt werden, obschon dies äusserst nützlich wäre, verwenden die
SchülerInnen gerade solche Präpositionalphrasen in ihren Texten doch über-
aus häufig. Immer wieder trifft man von der Primarschule an auf mit meine
Mutter, mit mein Bruder, mit meine Freundin sowie auf mit die Familie, mit
meine Familie usw.
Ab und zu und nur in den höheren Klassen tauchen in den Texten von
Lernenden der NP-Phase I andere als N-Marker auf (ausserhalb der Chunks),
die offenbar in jener unsystematischen Weise verwendet werden, wie sie im
NP-Bereich für die Phase II typisch ist. So schreibt etwa Vincent C
(ESC10/11) in derselben Arbeit neben mit die Matura, mit meine Matura
auch mit dem Hand, eine D-Form, die gewiss nicht auf Dativ-Verständnis be-
ruht. Vielleicht handelt es sich um eine Analogiebildung zu Chunks vom Typ
mit dem Auto, mit dem Bus (vgl. dazu weiter unten) oder auch um ein rein zu-
fälliges Produkt, eine Form, die ebenso gut eine andere hätte sein können und
die dem Schüler gewissermassen „unterläuft“, weil er wahrgenommen hat,
dass neben N und A=N – die in seinen Präpositionalphrasen die erdrückende
Mehrheit ausmachen – auch noch andere Deklinationsmarker existieren. Dass
allerdings derartige Erklärungsversuche immer auch Spekulation sind und
sich letztlich nichts beweisen lässt, sei hier ausdrücklich festgehalten.
Ad (b): TP der NP-Phase II müssten verschiedene Morpheme – N, A=N,
aber auch A und D – in unsystematischer Verteilung verwenden (+ ev.
Chunks).
Erwartungsgemäss versehen die Testpersonen der NP-Phase II auch ihre
Präpositionalphrasen mit allerlei verschiedenartigen Endungen, ohne dass sie
zu wissen scheinen, dass mit bestimmten Formen auch bestimmte Kasus-
funktionen verbunden sind. Dazu ein Textausschnitt aus der letzten Testarbeit
der oben zitierten Odette A, die inzwischen von der alleinigen Verwendung
294
des Nominativs (Phase I) abgekommen ist, so dass sie in ihrer letzten
Testarbeit in unmittelbarem Nebeneinander A=N/D, N/D und A/D produziert:
(8) Am Sonntag, mit meine Familie und mein Hund in Watt ich habe spazierenge-
gangen. Meine Mutter sagt mir: kannst-du mit deinen Bruder ein Brot kaufen
ein. (Odette A 9/ESC10, 8)
Dass die scheinbare A-Phrase mit deinen Bruder von Odette tatsächlich
(irrtümlicherweise) als Akkusativ intendiert wäre, ist angesichts ihres allge-
meinen Sprachstandes nicht anzunehmen. Wahrscheinlich verhält es sich eher
so (doch ist auch dies wiederum nur eine Vermutung), dass sie ihre Endungen
nach dem Genus variiert (ein paar Zeilen weiter unten schreibt sie auch mit
meine Schwester) und dass sie überdies „gemerkt“ hat, dass bei Maskulina
manchmal eine andere als die „normale“ (Default-)Endung stehen muss.
Unklar ist ihr aber, unter welchen Bedingungen welche andere Form zu
wählen ist. – Pronominale Präpositionalphrasen werden von diesen Lerner-
Innen nur ganz vereinzelt gebraucht, sie sind jeweils korrekt, so dass sie wohl
als Chunks zu interpretieren sind (z. B. mit mir, mit ihr).
Ad (c): Bei TP der Phase III dürften nach mit keine N mehr vorkommen;
hingegen müssten sowohl A- bzw. A=N-Marker als auch D-Marker belegt
sein (+ ev. Chunks).
Die erste Annahme, wonach Lernende, die im NP-Bereich Phase III er-
reicht haben, in mit-Phrasen (und überhaupt in PP) normalerweise keine ein-
deutig markierten N mehr verwenden sollten, trifft unzweifelhaft zu. Es sieht
also ganz so aus, als ob mit der Entdeckung des Mehr-Kasus-Systems auch
die Erkenntnis einherginge, dass nach Präpositionen kein N stehen darf. Nur
in einer speziellen Konstruktion verfallen auch diese Lernenden in Präposi-
tionalphrasen in den Nominativ, und zwar setzen sie Appositionen, wenn sie
überhaupt welche verwenden, in den N (bzw. N=A), z. B. mit C.L., eine Sän-
gerin verheiratet (Fanny D ESC11/12).
Die zweite Annahme dagegen entpuppt sich als nicht richtig, schneiden
doch die betreffenden Testpersonen in auffallender Weise besser ab, als von
ihren NP-Kasuskenntnissen her zu erwarten wäre. Zwar gibt es vereinzelt
Lernende, die der Annahme entsprechen und die – bisweilen gar in derselben
Arbeit – nach mit (wie auch nach den anderen D-Präpositionen) in scheinbar
zufälliger Verteilung einmal D, dann wieder A oder A=N verwenden; zu ih-
nen gehört z. B. Sophie B (9/C10), die in mehreren Texten mit-Phrasen ver-
wendet: mit meiner Freundin, mit meiner Mutter und meiner Schwester (1),
mit dem Flugzeug (3), mit ein Kleid, mit einen Pullover (4), mit meiner Frau,
mit ihr (6), mit ihre Freundin (7). Dabei fällt auf, dass ganz im Gegensatz
zum Befund im NP-Bereich nicht etwa der Akkusativ, sondern der Dativ zah-
lenmässig überwiegt. Die meisten Schülerinnen und Schüler, die in NP-III
295
sind, produzieren jedoch fast nur kasuskorrekte mit-Phrasen (sowie andere
Dativ-PP), von denen grossenteils kaum anzunehmen ist, dass es sich um
Chunks handelt. So verwendet beispielsweise Céline M (ESC11/12) in
Verbindung mit der Präposition mit stets den Dativ, d. h. sie produziert meh-
rere Dativ-PP mit substantivischem Kern – mit eurem Vater, mit meiner
Mannschaft, mit meiner Frau (7) und mit ihrem Ehemann (2x in 8) –, wäh-
rend entsprechende Formen bei ihr wie bei den meisten unserer Testpersonen
im NP-Bereich völlig fehlen. Bei einer anderen Schülerin (Nathalie F
ESC10/11) finden sich neben einer Reihe von pronominalen PP (mit ihr, mit
mir, mit ihm) die Formen mit dem Schauspieler, mit dem Zug, mit ihrem
Tochter: Wenn hier mit dem Zug gewiss auch Chunk sein kann (vgl. weiter
unten), so trifft dies mit Sicherheit nicht für mit dem Tochter zu, wo der mas-
kuline D-Marker auf das Femininum generalisiert wurde. – Selbst was zu-
nächst wie ein Akkusativ aussieht, ist in Wirklichkeit vielleicht gar nicht als
solcher intendiert, etwa wenn eine Schülerin (Delphine G C10/11) neben ei-
ner ganzen Reihe von korrekten Dativ-PP mit verschiedenen Präpositionen
(darunter auch mit) als einzige abweichende Form mit vielen Lust schreibt. Es
könnte nämlich durchaus sein, dass der Irrtum hier nicht in der falschen Ka-
suswahl liegt, sondern in der Generalisierung einer schwachen Deklinations-
form auf einen Kontext, der die starke Deklination erfordert.
Ad (d): Schliesslich sollten die Lernenden der NP-Phase IV alles richtig
machen, d. h. in ihren mit-PP dürften weder N noch A=N noch A figurieren
(+ ev. Chunks).
Lernende, die im NP-Bereich die Phase IV erreicht haben, produzieren
erwartungsgemäss fast ausschliesslich korrekte mit-Phrasen, die zweifellos zu
einem guten Teil eigene Konstruktionen sind, wie die folgenden Beispiele
zeigen: mit aller meiner Kraft, mit meiner Mutter, mit dem Geld, mit einem
andern Mann u.a. kann man beispielsweise bei Sophie N (C10/11) in diver-
sen Arbeiten lesen; und Brigitte A (C11/12) schreibt in derselben Arbeit (5)
mit einem freundlichen reichen Mann verheiratet, mit einem schönen Haus,
mit ihrer Tochter, daneben auch mit dem Zug, mit ihr, in Bezug auf die nicht
zu entscheiden ist, ob es sich um Chunks handelt oder nicht. Fehler passieren
hier nur noch ausnahmsweise und unter speziellen Bedingungen: So stehen
die (wenigen) Appositionen auch bei diesen weit fortgeschrittenen LernerIn-
nen stets im N bzw. N=A. Diese Abweichung ist mit Sicherheit nicht als ein
Indiz für einen frühen Erwerbsstand im Kasusbereich zu werten, handelt es
sich doch um eine jener Finessen, die wirklich nur von Lernenden mit annä-
hernd muttersprachlichen Deutschkompetenzen beherrscht werden. Ähnliches
gilt wohl, wenn ein sehr fortgeschrittener Schüler (Sébastien B 9/C10, 6) auf
die Frage Mit wem? mit der Form mit Herr J.-M. antwortet. Auch dies ist
insofern kein „schlimmer Fehler“, als hier der Dativ ausnahmsweise am
Substantiv markiert werden muss – eine Schwierigkeit, die selbst von
296
Deutschsprachigen nicht ohne weiteres gemeistert wird. A=N/D ist – ausser in
Appositionen – überhaupt nicht belegt; und bei einem einzigen Schüler findet
sich nach mit ein Akkusativ: Olivier M (C10/11) verwendet in der siebten
Arbeit zweimal mit ihn, was wohl mit einer momentanen Verunsicherung zu
erklären ist, da er in seinen andern Texten mit stets korrekt mit D kombiniert
und auch sonst die Kasus in seinen zahlreichen PP mühelos richtig handhabt.
Möglicherweise nimmt er kurzfristig tatsächlich an, mit verlange den A; dass
die Verwechslung von A und D ausgerechnet im Falle der 3. Person mask.
passiert, mag damit zu tun haben, dass ihn und ihm sich lautlich sehr nahe
sind.
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass unser Material keine Indizien
dafür liefert, dass in Präpositionalphrasen mit PfK der Akkusativ auf D-
Kontexte generalisiert würde; die scheinbaren A der frühen Stadien, die for-
mal mit N zusammenfallen, sind unseres Erachtens als Defaultformen zu in-
terpretieren, und in späteren Phasen – d. h. sobald ein Kasuswissen vorhanden
ist – überwiegen ganz klar die D-Formen.
Dativ-PP als Chunks: Dass das Lernen von nicht analysierten Syntagmen im
Bereich der Dativ-PP eine wichtige Rolle spielt, wurde bereits erwähnt. Auch
wenn sich längst nicht immer mit Sicherheit sagen lässt, ob eine normgerechte
Form ein Chunk ist oder nicht, so ist es dennoch möglich, dem Chunk-Lernen
anhand unseres Materials zumindest ein Stück weit auf die Spur zu kommen.
Korrekte mit-PP, die (mit mehr oder weniger hoher Wahrscheinlichkeit)
als Chunks zu interpretieren sind, kommen in allen Phasen und auf allen Stu-
fen ausser 4/5 vor. Allerdings verwenden nicht alle TP solche formelhaften
Ausdrücke; auch treten sie bei den einzelnen TP bzw. in den verschiedenen
Arbeiten in sehr unterschiedlicher Häufung auf. Offensichtlich spielen sie auf
den Stufen 6/7 und 7/8 eine besonders wichtige Rolle; denn dass die betref-
fenden Kinder so verblüffend gut abschneiden (vgl. Tab. 51), liegt sicher
nicht an ihrer Dativkenntnis, situieren sie sich doch alle im NP-Bereich in
Phase I oder II; von eigentlichem Kasuswissen kann bei ihnen also keine
Rede sein.214 Ein Blick auf die belegten PP zeigt, dass diese sich sehr ähnlich
sehen: mit dem Velo, mit dem Auto, mit dem Taxi, mit dem Zug usw. Auch
tauchen sie – themenbedingt – gehäuft in der dritten Arbeit der Klassenstufe
7/8 auf (18 von den 23 richtigen Formen wurden in der siebten Klasse ver-
wendet, nur 5 in der achten). Es handelt sich um Syntagmen, die als ganze
Einheiten im Buch eingeführt und im Unterricht geübt wurden und deren
Struktur von den Lernenden offensichtlich nicht durchschaut wird. Dass sie
_______________
214
Eine Schülerin hat möglicherweise III erreicht, jedoch erst ganz am Ende der Test-
zeit.
297
bisweilen auch als Muster für Neubildungen dienen, zeigen die folgenden –
abweichenden – Ausdrücke: mit dem Freundin; mit dem Ski; und dann ich
fahre mit dem Strassenbahn mit dem Bachet (Sébastien R 7/8, 3).215
Wenn aus kommunikativen Gründen der DET des festen Ausdrucks durch
einen andern ersetzt werden muss, verfallen die LernerInnen – was erwartbar
ist – in das Muster mit + (DET + X)default: mit sein Freund, mit meine Freun-
din, mit S. B. und seine Familie usw., so dass man manchmal korrekte und
abweichende Formen in derselben Arbeit nebeneinander vorfindet:
(9) Um 19 Uhr will ich mit meine Auto nach Hause kommen. Aber ich kann nicht,
weil meine Auto kaputt ist. Ich muss denn der Bus haben. Ich fahre mit dem
Bus nach Hause [...] (Florian W 7/8, 8)
Wahrscheinlich verfügt dieser Schüler über mit dem Auto genauso problemlos
wie über mit dem Bus; da er aber ein Possessivum benötigt, ist er gezwungen,
einen neuen Ausdruck aus Elementen seines interimsprachlichen Wissens
zusammenzufügen: mit + mein- + Auto (= fem., vielleicht wegen
Genustransfers aus dem Französischen).
In den oberen Klassen (ab 8/9) werden die Chunks proportional weniger,
ohne dass sie vollständig verschwinden würden. Immer wieder trifft man auf
mit dem Zug, mit dem Bus usw.; gerade diese Ausdrücke aus der siebten
Klasse scheinen sich also während vieler Jahre gut zu halten. Im PO tauchen
auch vermehrt pronominale mit-Phrasen auf (mit mir, mit dir, mit ihm, mit ihr,
vereinzelt mit wem?), die in einer Reihe von Fällen vermutlich ebenfalls
Chunks sind.216 Andererseits gilt aber für all diese Schülerinnen und Schüler
– so unterschiedlich ihre grammatischen Kenntnisse auch sein mögen –, dass
sie allmählich über immer mehr Ausdrucksmöglichkeiten, insbesondere über
einen grösseren Wortschatz, verfügen und dass sie sich in ihren Texten nicht
mehr damit begnügen, in erster Linie formelhafte, nicht analysierte mit-PP als
Chunks zu verwenden, wie dies in den Klassen 6/7 und 7/8 klar der Fall war.
Unter diesen Voraussetzungen produzieren Lernende ohne Kasuswissen
zahlreiche Abweichungen (vgl. oben unter (a) und (b)), während Lernende
mit mehr oder weniger ausgebautem Kasussystem, wie oben beschrieben, in
der Verwendung von eigenen Dativ-PP durchaus erfolgreich sind.
_______________
215
mit dem Bachet anstatt bis Bachet (Bachet = Name einer Strassenbahnhaltestelle):
offenbar steht dem Schüler die passende Präposition nicht zur Verfügung, so dass
er sich mit einer ihm bekannten Form behilft. Dieses Phänomen wird hier nicht
untersucht, obgleich auch dies ohne Zweifel aufschlussreich wäre.
216
Die pronominalen mit-Phrasen machen nur 23% aus (67 von 292). Insgesamt sind
nur fünf Abweichungen zu verzeichnen, die sich auf vier TP verteilen; es sind dies:
3x mit ihn (2 TP), 1x mit dieses, 1x mit das.
298
Hier stellt sich nun auch die Frage, in welchem Masse und unter welchen
Bedingungen Chunks aufgebrochen, d. h. analysiert werden können, so dass
sie für die Bildung neuer Syntagmen nutzbar werden. Dass die Schülerinnen
und Schüler in der Primarschule und in den ersten Cycle-Jahren die zahlrei-
chen gelernten Chunks in dieser Weise produktiv verwenden, wird wohl von
niemandem ernstlich erwartet (vgl. das Beispiel (9) mit meine Auto). Ganz
offensichtlich ist es aber auch vielen Lernenden der höheren Klassen nicht
möglich, den Kasus in ihnen geläufigen Chunks zu identifizieren und ein
derart gewonnenes Wissen auf andere Kontexte zu übertragen. So tritt im
folgenden Beispiel einer Schülerin der zehnten Klasse klar zu Tage, dass dem
im längst bekannten mit dem Auto nicht als Dativ erkannt wurde, figuriert der
Ausdruck doch in einer koordinierten PP mit dem Auto und die Caravane, wo
das aus dem französischen entlehnte Caravane mit dem Default-DET er-
scheint (Jeannette C ECG 10/11, 8). Und wenn eine Schülerin in der neunten
Klasse mit mein Auto schreibt, dann zeigt dies ebenfalls, dass der Dativ aus
mit dem Auto217 nicht auf das Possessivum übertragen werden kann, weil er
nicht als solcher identifiziert wird (Corinnee P 9/ESC 10, 3). Die Vorausset-
zung für das erfolgreiche Knacken von Chunks ist Kasusbewusstsein; dieses
aber ist weder bei der einen noch bei der anderen der beiden Schülerinnen
gegeben.
Erwähnenswert ist auch, dass bei manchen schwachen LernerInnen der
oberen Klassen selbst einst verfügbare Chunks verloren gehen können, so
dass sie abweichende Formen produzieren, wo sie es vermutlich in früheren
Jahren noch richtig gemacht hätten; bei der eben genannten Jeannette bei-
spielsweise kann man auch lesen mit die Auto von mein Freund (3), mit das
Schiff (8).
All diese chunkbedingten Schwierigkeiten und Pannen sollen nun gewiss
nicht die prinzipielle Nützlichkeit des Lernens von formelhaften Einheiten in
Frage stellen. sie zeigen aber deutlich, dass keineswegs alle Schülerinnen und
Schüler in der Lage sind, Chunks in der Weise zu analysieren, dass sie die
einzelnen Elemente neu und produktiv verwenden könnten.218 Dazu sind wohl
wirklich nur fortgeschrittene Lernende fähig, die über ein gutes Kasus-
verständnis verfügen; ihnen ist es zuzutrauen, dass sie erkennen, wie eine
Präpositionalphrase vom Typ mit dem Auto intern strukturiert ist, so dass sie
daraus andere Syntagmen, z. B. mit meinem Auto ableiten können. Allerdings
lässt sich kaum nachweisen, ob und wann sie es auch wirklich tun, denn auf
welche Weise ein Ausdruck wie mit meinem Auto in Wirklichkeit entstanden
ist, lässt sich nicht nachvollziehen. Das Problem ist, dass es bei fortgeschrit-
_______________
217
Es ist wahrscheinlich, aber nicht nachzuweisen, dass mit dem Auto auch dieser
Schülerin als Chunk zur Verfügung steht.
218
Zur Frage der „Verwendbarkeit“ von Chunks für die Bildung neuer Syntagmen
vgl. auch die Spezialuntersuchung zu nach Hause/zu Hause (5.6.6.3).
299
tenen LernerInnen angesichts ihrer fast ausschliesslich korrekten Präpositio-
nalphrasen grundsätzlich schwierig ist zu entscheiden, wie sie zu der richtigen
Form gekommen sind; selbst stark chunkverdächtige Syntagmen wie mit dem
Taxi, mit dem Fahrrad werden von ihnen möglicherweise gar nicht formelhaft
verwendet, sondern sind „echte“ Dative.
Fazit:
− Die Anzahl der kasuskorrekten mit-Phrasen ist proportional weniger hoch
als jene der für-Phrasen (66% gegenüber 88%).
− Im Gegensatz zu den für-Phrasen lassen zielsprachenkonforme mit-Phrasen
durchaus einige Schlüsse über den Kasuserwerb bzw. das Kasuswissen der
Lernenden zu.
− Es sieht so aus, als würde der Kasuserwerb in Präpositionalphrasen mit
festem Kasus zumindest an einzelnen Stellen schneller verlaufen als im Be-
reich der Nominalphrasen. So tauchen bereits bei LernerInnen der NP-Pha-
se I nach mit bisweilen andere als N-Marker auf (nicht nur in Chunks). Vor
allen Dingen aber erscheint der Dativ in mit-Phrasen früher und in ungleich
grösserer Anzahl als in NP, nämlich bereits bei Lernenden der NP-Phase
III.
− Dennoch verläuft die Entwicklung im PP-Bereich sicher nicht völlig unab-
hängig von derjenigen im NP-Bereich: Die Voraussetzung dafür, dass der
Dativ in PP systematisch verwendet werden kann, ist offensichtlich der
Ausbruch aus dem Ein-Kasus-System im NP-Bereich.
− Eindeutige N-Formen kommen in frühen Phasen an Stelle von D vor, dies
aber wiederum (wie nach für) nur in substantivischen PP.219
− Auch A=N wird in den frühen Phasen anstatt D verwendet; A=N ist in die-
sem Falle nicht als A, sondern als Defaultform zu interpretieren; ab Phase
III ist A=N/D nur noch selten belegt, hier dürfte es sich um intendierten A
handeln.
− A statt D ist in mit-PP selten und fast nur bei TP der Phase II belegt, bei
denen (wie wir annehmen) A-Morpheme keine A-Funktion haben.
− Aus den beiden letztgenannten Befunden ergibt sich, dass der Akkusativ in
PP nicht auf Dativ-Kontexte generalisiert wird.
Anders als im Bereich der PfK, wo es möglich und sinnvoll war, jeweils die
Präposition mit dem höchsten Vorkommen (für + A bzw. mit + D) quasi stell-
vertretend für die andern zu behandeln, erweist sich ein derart einfaches Ver-
fahren für die Wechselpräpositionen als nicht praktikabel. Zwar stimmt es
natürlich, dass der Wechsel zwischen D und A nach in, der WP mit der
höchsten Frequenz, die Opposition zwischen lokativer und direktiver Bedeu-
tung ausdrückt; jedoch entspricht dieser Opposition, wie wir bereits gesehen
haben, keineswegs immer ein solcher Kasuswechsel. In Wirklichkeit haben
wir es mit vier Präpositionen zu tun, die alle miteinander vernetzt sind, von
denen aber nur eine (in) zu den WP gehört, während sich für eine zweite
(nach), weil sie ohne DET gebraucht wird, die Frage nach dem Kasus im
Prinzip nicht stellt220 und die beiden übrigen (zu und bei) einen festen Kasus,
nämlich den Dativ, erfordern.
Kasus ist also nur ein Faktor unter anderen und kann deshalb im Zusam-
menhang mit der Präposition in nicht der einzige Untersuchungsgegenstand
sein. Denn wer Deutsch lernt, steht im Bereich der Raumpräpositionen (wie
wir bereits sahen) vor einer äusserst komplexen Lernaufgabe: Einmal muss
die Unterscheidung zwischen lokativer und direktiver Bedeutung erfasst wer-
den, was allein schon eine erhebliche Schwierigkeit darstellt; dann ist zu ent-
scheiden, ob diese Opposition durch morphologische (Kasus) oder durch lexi-
kalische Mittel (verschiedene Präpositionen) auszudrücken ist, was davon ab-
hängt, ob es sich um Personen oder Orte handelt und ob das jeweilige Sub-
stantiv mit oder ohne Determinans verwendet wird.221 Und selbstverständlich
besteht wie immer das Problem der adäquaten Realisierung des einmal ge-
wählten Kasus, unabhängig davon, ob eine WP oder eine PfK vorliegt.
Dass die Datenlage im Bereich der Raumpräpositionen noch komplizierter
und noch undurchsichtiger ist als in den übrigen Kasus- bzw. Präpositionalbe-
reichen, ergibt sich aus dem Gesagten beinahe von selbst. Nichtsdestoweniger
_______________
220
Ganz vereinzelt gibt es in unserem Korpus allerdings Syntagmen vom Typ nach
die Jugendherberge.
221
Pronominale Raum-PP sind in den Texten so selten, dass sie praktisch vernachläs-
sigbar sind.
301
soll nun aber im Folgenden der Versuch gemacht werden, einige Punkte zu
diskutieren, die zumindest teilweise Aufschluss darüber geben können, in
welcher Weise Lernende in der Situation des gesteuerten Erwerbs mit dem
hochkomplexen Problem der Raumpräpositionen umgehen.
_______________
222
Dabei spielen Genus sowie morphologische Abweichungen nach wie vor keine
Rolle: Sowohl in den Restaurant als auch in eines Café gelten – in direktivem
Kontext – als korrekt.
302
Stufe TP NP- lokativ direktiv alle Ant.
Phase r
total r f total r f r f tot
SRo I>II 15 9 6 17 4 13 13 19 32 exp-
NF II 10 7 3 9 4 5 11 8 19 exp+
8/9 AA II/III? 6 3 3 6 4 2 7 5 12 exp+
FG II(>III) 12 11 1 17 11 6 22 7 29 ±ok
SN (II>)IV? 16 13 3 12 10 2 23 5 28 ±ok
CU II 9 5 4 11 7 4 12 8 20 exp+
MC II 8 4 4 18 14 4 18 8 26 exp+
LA I? 14 4 10 10 6 4 10 14 24 exp-
YB III? 16 6 10 11 9 2 15 12 27 exp+
9/10 PM III? 16 13 3 9 4 5 17 8 25 exp+
ESC DF II/III? 16 10 6 11 3 8 13 14 27 exp-
CP I 12 3 9 18 3 15 6 24 30 ±f
OA I>II 10 2 8 14 5 9 7 17 24 exp-
Coll SBa (II>)III 12 9 3 10 5 5 14 8 22 exp+
SBl III(>IV) 17 14 3 21 17 4 31 7 38 ±ok
SN IV/III? 19 15 4 22 13 9 28 13 41 exp+
10/11 LN I 12 7 5 6 1 5 8 10 18 exp-
ECG CL II>III 11 5 6 10 3 7 8 13 21 exp-
JC I/II? 17 10 7 9 1 8 11 15 26 exp-
ESC CV IV 16 12 4 19 10 9 22 13 35 exp+
VC I 24 9 15 22 4 18 13 33 46 exp-
NF III 13 7 6 18 5 13 12 19 31 exp-
Coll DG III>IV 22 20 2 20 17 3 37 5 42 ±ok
SN IV 13 10 3 14 9 5 19 8 27 exp+
II III>IV? 22 17 5 8 8 0 25 5 30 ±ok
OM (III>)IV 12 8 4 13 7 6 15 10 25 exp+
11/12 EC II 16 4 12 9 6 3 10 15 25 exp-
ECG SM II 11 4 7 7 3 4 7 11 18 exp-
SD I 20 7 13 3 1 2 8 15 23 exp-
ESC FD III 13 7 6 7 5 2 12 8 20 exp+
FF I 8 8 0 5 3 2 11 2 13 ±ok
CM II>III? 12 8 4 3 2 1 10 5 15 exp+
Coll FB III? 17 13 4 8 4 4 17 8 25 exp+
FH IV> 18 16 2 8 7 1 23 3 26 ±ok
BA IV> 15 15 0 7 6 1 21 1 22 ok
CD III 12 10 2 5 3 2 13 4 17 ±ok
12/M NM II(>III)? 14 7 7 5 1 4 8 11 19 exp-
303
Stufe TP NP- lokativ direktiv alle Ant.
Phase r
total r f total r f r f tot
ESC VG II? 15 12 3 5 2 3 14 6 20 exp+
LS IV 13 13 0 12 10 2 23 2 25 ±ok
Coll MG II 12 6 6 4 3 1 9 7 16 exp+
SD III 3 3 0 8 7 1 10 1 11 ±ok
SC III>(IV) 6 5 1 1 1 0 6 1 7 (±ok)
?
CG III 9 7 2 8 6 2 13 4 17 ±ok
690 429 261 540 289 251 718 512 1320
Symbol: normgerechte PP in %:
f : 0 – 5%
±f : 5 – 25%
exp- : 25 – 50%
exp+ : 50 – 75%
± ok : 75 – 95%
ok : 95 – 100%
_______________
225
Wer weniger als insgesamt 8 Raum-PP verwendet, wurde nicht berücksichtigt, so
dass von den 58 TP hier noch 52 übrig bleiben (vgl. die Klammern in Kolonne 13).
305
Die Aufstellung lässt erkennen, dass keineswegs eine grosse Mehrheit der
Lernenden mehr als die Hälfte falsch macht; dies trifft in Wirklichkeit „nur“
für 22 (3 + 19) von 52 SchülerInnen zu. Die andern 30 befinden sich über der
50%-Linie, was natürlich für die 18 TP, die zwischen 50 und 75% liegen,
nicht bedeutet, dass sie das System im Griff haben. Ob man letzteres für die
restlichen 12 annehmen kann, sei vorläufig dahingestellt.
Interessant ist an den obigen Zahlen, dass bei niemandem ausschliesslich
abweichende Strukturen zu verzeichnen sind und dass nur gerade drei TP
mehr oder weniger alles falsch machen. Es handelt sich um zwei Kinder der
Klassenstufe 5/6 sowie um eine Schülerin der Stufe ESC 9/10. Ein solches
Ergebnis ist in der Primarschule nun gewiss weder erstaunlich noch beunru-
higend – im Gegenteil: Die zahlreichen abweichenden Formen bei Philippe B,
dem einen Primarschüler, sind beispielsweise darauf zurückzuführen, dass er
überaus schreib- und risikofreudig ist. In seiner dritten Arbeit etwa verwendet
er nicht weniger als elfmal die Form im, und zwar offensichtlich als Pendant
zum französischen à, was zu ebenso vielen abweichenden Syntagmen führt:
(10) Ich bin im Genf im die Placette. [...] Ich gehe im der Kasse [...] Ich gehe im die
Bäckerei kaufen das Brot und das Nussgipfel. Im der Kasse vir franken bitte.
[...] Dann ich gehe im Coop kaufen ein Messer und das Papier. Im Kasse 3
franken bitte danke. Dann ich gehe im Migros [...] usw.
Auch in der achten Arbeit legt er nochmals seine Vorliebe für im an den Tag
(nachdem er zwischendurch auch einmal in dem Strasse und in Kanton
Graubünden produziert hat); diesmal jedoch gelingen ihm damit auch zwei
korrekte Formen, nämlich im Kanton Genf, im Kanton Graubünden – neben
im Vésenaz, im Graubünden. Dass solche Normverstösse für diese Stufe
normal und eigentlich geradezu „vernünftig“ sind, liegt auf der Hand. Anders
sieht es für die Schülerin der Stufe 9/10 aus (Corinnee P 9/ESC10): Sie hat
auch nach vielen Jahren Deutschunterricht von den Geheimnissen der Raum-
PP offensichtlich nur wenig begriffen, wimmelt es in ihren Texten doch von
Formen wie arbeitet in Fabrik, gehe in Italie, wohnt in die Strasse, gingen
zur ein Fest, bin bei mein Onkel usw., und wenn eine Form ausnahmsweise
korrekt ist, dann ist das gewiss dem Zufall zu verdanken: in Italie habe ich.
Für die 37 Testpersonen (19 exp-, 18 exp+), deren zielsprachenkonforme
Raum-PP mehr als ein Viertel, aber weniger als drei Viertel ausmachen, gilt
mit Sicherheit, dass sie das System der Raum-Präpositionen nicht beherr-
schen; aus verschiedenen Gründen sind sie aber mit ihren Produktionen mehr
oder weniger erfolgreich. So geht, wer viel zu sagen hat und sich dabei mit
diversen Elementen aus dem Input behilft, beträchtliche Risiken ein, was zu
einem Nebeneinander von korrekten und abweichenden Formen führt – in der
Weise, dass letztere sehr wohl in der Mehrzahl sein können:
306
(11) Heute Abend gehe ich zur Party von meine Freundin Céline.226 Sie wohnt in
Carouge. [...] Zur Party wir gehen zum Kino und dann wir gehen ins Restau-
rant. Wir gehen zum Kino Realto und wir gehen essen ins Restaurant „Les
Cygnes“. [...] Ins Restaurant essen wir Kotletten [...] Dann gehen wir bei
Céline. [...] Dann gehen wir in Sportplatz [...] (Catherine E 6/7, 7)
Aber auch das umgekehrte Verfahren, etwa die Verwendung einer einzigen
lokalen Präposition, kann scheitern; Jeannette C (ECG10/11) beschränkt sich
in allen acht Arbeiten auf die (fast) alleinige Verwendung von in, wobei sie
diese Präposition in den Strukturen in + X, im + X, ins + X sowie in + (DET
+ X)default in lokativen und direktiven Kontexten braucht:
(12) Ich wohne in Genf [...] er wohne in Spanien [...] Meine Familie gehen auch in
Spanien [...] Ich habe eine Hause in Madrid und eine Hause in die Meer in Ca-
longe. (1)
Im Ferien meine Familie und ich fahren mit dem Auto [...] in Spanien. In Bar-
celona wir haben eine Campingplatz finden [...] Wir haben ins Restaurant:
„eine Pizza“ die älter Freunden von meinen Eltern in der Tisch neben uns tref-
fen. [...] wo bist du in die Schule gehen hat er zu fragen. Am Morgen meine
Eltern wollen ihren Freunden mit ihren Kind in unsere Caravane für essen ein-
laden. Wir haben zu essen und wir sind in eine Insel mit die freunden mit das
schiff gefahren. (8)
Glück hat, wer viele Ortsbestimmungen vom Typ in Genf, in Amerika in lo-
kativen Kontexten verwendet und gleichzeitig möglichst auf direktive Kon-
texte verzichtet:
(13) Wo sind Sie geboren? In Deutschland, in München. [...] Wo wohnen Sie? Ich
wohne in Deutschland, in Hambourg. [...] Sind Sie glücklich in Deutschland?
Ja, ich bin gern in Deutschland. (Florian W 7/8, 6)
(14) In februar bin ich in Brézil gegangen mit meine Familie für die Ferien. Ich bin
in Rio de Jeaneiro und Sao Paulo gegangen [...] In July bin ich in Italie gegan-
gen [...] (Odette A 9/ESC10, 1)
_______________
226
Heute abend gehe ich zur Party von ... war als Schreibanlass vorgegeben.
307
Bei vielen dieser 37 TP überwiegt der Eindruck, dass sie zwar dem Input eine
Reihe von Formen (in, im, ins, in die, in der, zu, zum, zur, nach, bei) ent-
nommen haben, jedoch ohne die Prinzipien, die das System regeln, zu durch-
schauen. Nun gibt es aber bei einigen Lernenden – und zwar solchen, die
zwischen 50 und 75% der PP normgerecht verwenden – auch Hinweise da-
rauf, dass sie der konzeptuellen Unterscheidung von LOK und DIR auf der
Spur sind. Dies dürfte etwa zutreffen, wenn eine Schülerin (Christine V
ESC10/11) in derselben Arbeit (3) korrekt zwischen könnten ... in München
bleiben, könnten ... in München spazierengehen einerseits und würde ich
nach England fahren, wenn wir nach Deutschland fahren würden anderer-
seits unterscheidet. Dass sie den Wechsel zwischen LOK und DIR dennoch
nicht voll beherrscht, zeigen folgende Strukturen, die sie in späteren Texten
produziert: in der Handelsschule mag ich – wollte ich in der Handelsschule
gehen (4); in ein „Pub“ Freunde treffen – in eine Diskotheque gehen (8).
Obschon Christine als fortgeschrittene Lernerin im NP-Bereich A und D un-
terscheidet (Phase IV), kommt sie bei der Wechselpräposition in mit dem
Kasus nicht zurecht.
Bisweilen – wenn auch bedauerlicherweise nicht allzu oft – lassen gewisse
Regelmässigkeiten bei einzelnen Testpersonen bzw. in einzelnen Arbeiten auf
vermutliche Lernerhypothesen schliessen.
So scheinen manche LernerInnen – kurzfristig – anzunehmen, lokatives in
werde stets direkt mit dem Substantiv verbunden:
(15) In Zürich habe ich eine Freundin. [...] In flugzeug habe ich essen. [...] In Flug-
hafen Marianne mich warten (Mélanie M 6/7, 8)
_______________
227
Problematisch ist die Interpretation von Formen wie in der Wald, in der Kühl-
schrank, in der Korb u.ä., weil es hier nicht immer möglich ist, zu entscheiden, ob
interimsprachlich Nominativ maskulinum oder Dativ femininum vorliegt.
308
Wer die Opposition LOK – DIR entdeckt, stellt möglicherweise die Hy-
pothese auf, nach werde für jegliche Art von direktiven Präpositionalphrasen
verwendet:
(16) [...] ich nehme der Zug nach Schaffhausen. [...] Dann ich fahre mit dem Velo
nach Sportplatz [...] und dann ich fahre mit dem Taxi nach Hotel. (Catherine E
6/7, 4)228
(17) Am Montag ich fahre mit dem Schiff zu Freiburg [...] Am Samstag ich fahre mit
dem Zug zu Köln und dann mit dem Auto zu Berlin. [...] Wie komme ich am
besten zur Burg [...] und dann kommst du zur Burg. (Catherine E 6/7, 6)
Das folgende Beispiel zeigt, wie ein Lerner im Muster geht in die ... zum
Ausdruck der direktiven Bedeutung als Substantiv nicht nur Ortsbezeichnun-
gen, sondern auch eine Personenbezeichnung einsetzt:
(18) Er geht in die Schule [...] Er geht in die Hopital [...] Er geht in die Frisör [...]
(Cédric U 8/9, 7)229
– in der X, in einer X, in dieser X usw. (D fem.): Der Prozenzsatz der mit lo-
kativer Bedeutung verwendeten femininen Dativ-PP (85%, d. h. 107 von 128)
bestätigt das obige Ergebnis: Wer nach in den Dativ gebraucht, weiss
gewöhnlich auch um die lokative Bedeutung dieses Kasus. Angesichts der
hohen Übereinstimmung in Bezug auf das Verhältnis von korrekten und ab-
weichenden Formen zwischen femininen und maskulinen bzw. neutralen PP
dürfte auch der mögliche Einwand, es könnte sich im Prinzip bei in der X in
der Lernersprache auch um Nominativ maskulinum handeln, weitgehend
entkräftet sein, auch wenn solche Fälle natürlich nicht auszuschliessen sind.
Vier Testpersonen verwenden beispielsweise die PP in der Welt, doch nur bei
einer von ihnen ist in Anbetracht ihres Erwerbsstandes bzw. ihrer übrigen PP
(sie schreibt in derselben Arbeit über der Hunger in der Welt, in der Super-
markt, in der Schrank) der Verdacht gross, dass tatsächlich N vorliegt. Dass
in diesem Falle auch Genustransfer aus dem Französischen eine Rolle gespielt
haben mag, scheint zumindest denkbar (vgl. dans le monde).
Nicht verschwiegen sei, dass es sich bei immerhin 21 der 108 femininen
PP mit bestimmtem Artikel um das stark chunkverdächtige Syntagma in der
Schule handelt, welches 16mal korrekt lokativ, aber doch auch 7mal fälschli-
_______________
233
Möglicherweise spielt dabei die grosse lautliche Ähnlichkeit eine Rolle.
314
cherweise direktiv gebraucht wird, so dass das Verhältnis von normgerechtem
und abweichendem Gebrauch ungünstiger ist als für die anderen Dativ-PP.
Die Erklärung dürfte darin liegen, dass gerade in der Schule als unanalysierte
Einheit auch von Lernenden gebraucht wird, die keine Vorstellung von D
bzw. LOK (in Opposition zu A=N bzw. DIR) haben und für die es demzu-
folge eine Frage des Zufalls ist, ob sie den Ausdruck im richtigen oder im
falschen Kontext einsetzen234 (vgl. auch weiter unten in die Schule).
– nach X (geographische Namen ohne DET): Sehr hoch ist die Korrektheits-
quote für diese Struktur: Sie taucht ab Stufe 6/7 insgesamt 82mal auf – und
zwar mit 4 Ausnahmen (bei 3 TP) stets normgerecht. Es scheint demnach,
dass jene Lernenden, die nach überhaupt verwenden, sobald sie dies tun, auch
wissen, dass die Bedeutung im Gegensatz zu in direktiv ist, so dass bei ihnen
ab diesem Zeitpunkt die fälschlicherweise direktiv eingesetzten in ver-
schwinden. Dass die Verwendungsweise von nach X leichter zu durchschauen
ist als diejenige von in X, erstaunt nicht, hat das lokale nach doch stets
dieselbe direktive Bedeutung – im Gegensatz zu in, das in beiden Kontexten
gebraucht wird.
Noch deutlicher als für die Opposition im vs. ins erweist sich also für in vs.
nach, dass die beiden Formen keineswegs wahllos miteinander verwechselt
werden; in unserem Korpus ist eine derartige Verwechslung (in derselben
Arbeit) kein einziges Mal belegt.
– in die X, in eine X, in meine X usw. (A=N fem.): Auch bei den femininen
A=N überwiegen wiederum die abweichenden Vorkommen, wenn auch we-
niger eindeutig: 52% machen die lokativen Phrasen aus, 48% die direktiven
(total 136). Analog zu oben handelt sich bei den meisten abweichenden –
sowie entsprechend natürlich auch bei einer Reihe von zielsprachenkonfor-
men Formen – nicht um intendierten A, sondern um die Defaultform. Ebenso
chunkverdächtig wie die Dativ-PP in der Schule ist hier nun auch der Aus-
druck in die Schule, der zwar 15mal direktiv und damit korrekt gebraucht
wird, aber doch auch 9mal lokativ bzw. abweichend, dies ausschliesslich von
LernerInnen, die am Beginn des Kasuserwerbs stehen, sich aber auf die ver-
schiedendsten Klassenstufen von 7/8 bis 12/M verteilen.
_______________
237
Ausserdem das bereits genannte pronominale zu mich bei Frédéric H C11/12, 2.
317
– bei (+ DET) + X: Alles in allem sind bei-Phrasen im Korpus ziemlich selten
(32); die kontrahierte Form beim taucht erstaunlicherweise überhaupt nicht
auf, obschon sie (spätestens ab der achten Klasse) im expliziten Input belegt
ist. Auch finden sich die bei-Phrasen auffallenderweise häufiger in direktiven
als in lokativen Kontexten (18 : 13) und werden – falls DET vorhanden –
sowohl mit D als auch mit A bzw. A=N und selbst mit unzweifelhaftem N
kombiniert, vgl. bei meiner Kusine, bei meinen Grossvater, bei meine
Freundin, bei der Frisör. Ganz im Gegensatz zu nach und zu (zum, zur),
deren direktive Bedeutung zu erkennen, wie wir gesehen haben, nicht allzu
grosse Schwierigkeiten bereitet, tun sich die Lernenden mit der Präposition
bei und ihrer lokativen Bedeutung offensichtlich schwer, wobei die Gründe
dafür unklar sind.
Es bleiben schliesslich jene Strukturen zu nennen, die in der Zielsprache
nie vorkommen und die somit notwendigerweise abweichend sind.
– Fehlen der Präposition: Dieses Phänomen, das laut Mills im L1-Erwerb bei
Kindern bis zu drei Jahren häufig beobachtet wird (vgl. 5.6.3.1, S. 270), ist in
unserem Korpus ebenfalls belegt. Allerdings trifft es keineswegs zu, dass am
Anfang des Deutscherwerbs mehr oder weniger systematisch Raumbestim-
mungen ohne Präpositionen gebildet würden. Vielmehr ist es so, dass insbe-
sondere in den ersten Jahren bei einem Teil der Schülerinnen und Schüler
(aber nicht bei allen) ab und zu eine Präposition fehlt. So schreibt z. B. Ni-
colas B (4/5) in seiner achten Arbeit neben ich wonhe in Genf auch ich gehe
Bett, dies nachdem er in den vorangegangenen Texten immerhin bereits
13mal entweder im oder in verwendet hatte. Selbst in den höheren Klassen ist
das Phänomen vereinzelt zu beobachten, etwa bei Evelyne C (ECG 11/12),
die in ihrer siebten Arbeit neben fünf lokalen Ausdrücken mit Präposition
auch schreibt dann sind wir nicht die Kirsche gegangen (= in die Kirche).
Solche Einzelfälle ändern aber sicher nichts an der Tatsache, dass unsere
Lernenden von Anfang an um die Notwendigkeit der lokalen Präpositionen
wissen und sie im Prinzip auch verwenden.
Fazit:
− Die sprachliche Realisierung der Opposition LOK vs. DIR ist äusserst
vielschichtig und stellt für die LernerInnen ein grosses Problem dar. Er-
wartungsgemäss ist die Erfolgsquote mit 58% denn auch deutlich niedriger
als bei den beiden Präpositionen für und mit.
− In lokativen Kontexten ist der Korrektheitsgrad deutlich höher als in di-
rektiven Kontexten.
− Im Gegensatz zu den Kleinkindern, die ihre Muttersprache erlernen, wis-
sen die Genfer Schülerinnen und Schüler, dass zum Ausdruck räumlicher
Relationen eine Präposition nötig ist; diese fehlt in der Tat nur ganz selten.
− Eindeutig markierter N ist wie bei für und mit selten belegt.
total r f
zu Hause 23 16 7
nach Hause 14 12 2
Tab. 54: zu Hause vs. nach Hause
Die Aufstellung lässt erkennen, dass zu Hause offenbar mehr Probleme macht
als nach Hause; und zwar wird zu Hause siebenmal fälschlicherweise direktiv
– also an Stelle von nach Hause – verwendet. Umgekehrt steht nach Hause
nur zweimal in lokativem Kontext; im einen Fall liegt zudem das Verb
ankommen vor, wo es auch für fortgeschrittene Lernende schwierig ist, die
lokative Sichtweise konzeptuell nachzuvollziehen.
Dass nach Hause weitgehend problemlos gehandhabt wird, ist nun nicht
allzu erstaunlich. Wir haben bereits gesehen, dass nach in seiner direktiven
Funktion eindeutig ist und dass die Lernenden dies offenbar auch wissen.
Dass andererseits zu Anlass zu Irrtümern gibt, ist ebenfalls zu erwarten, wird
diese Präposition doch normalerweise nicht lokativ, sondern wie nach direk-
tiv verwendet (zu mir). Selbst fortgeschrittene SchülerInnen irren sich hier,
was dafür spricht, dass direktives zu Hause im Grunde genommen ein durch-
aus „intelligenter Fehler“ ist oder zumindest sein kann.
Solange man nur die beiden Formen nach Hause und zu Hause in Betracht
zieht, scheinen sich die Probleme also im Rahmen zu halten. Interessanter
wird es nun aber, wenn man sich jene Formen genauer ansieht, die in ihrer
internen Struktur von der Norm abweichen. Da finden sich (nach den ver-
schiedenen Typen geordnet):
− Hause (fem.):
in die Hause, in meine Hause, in seine Hause, zu meine Hause sowie als
NP habe eine Hause; ausserdem (vermutlich ebenfalls fem.) ich gehe in
der Hause im selben Text wie ich gehe in der Schule
− Hause (neutr.):
in das Hause, ins Hause
_______________
238
Probleme mit zu/nach Haus(e) gibt es auch in L1-Erwerb, wie Klinge (1990: 133)
vermerkt.
321
− Hause (neutr. oder – wenig wahrscheinlich, aber nicht auszuschliessen –
mask.):
in mein Hause, in ein klein Hause, zum Roxane Hause
− Erweiterung von nach Hause:
nach Frau Kürz’ Hause, nach Hause Martinas, nach Hause von unseren
Freunden
− Erweiterung von zu Hause:
zu meine Hause, zum Roxane Hause
Diese in Anzahl und Vielfalt doch recht bemerkenswerten Formen, die offen-
sichtlich alle auf zu Hause bzw. nach Hause zurückzuführen sind,239 lassen
einige interessante Rückschlüsse auf vermutliche Lernerhypothesen zu:
− Das Lexem lautet Hause und ist – völlig regulär240 – Femininum; Genus-
transfer aus der Muttersprache (la maison) kann dabei eine Rolle spielen,
muss aber nicht.
− Das Lexem lautet Hause und ist – möglicherweise wie für Haus gelernt –
Neutrum.
− nach Hause und zu Hause dürfen beliebig erweitert werden, d. h. Chunks der
Lernersprache werden „geknackt“ und verlieren damit ihren Chunk-Status.
Wägt man Nutzen und Schaden des Chunk-Lernens im Falle von zu Hause
und nach Hause gegeneinander ab, so kommt man nicht umhin, festzustellen,
dass das Lernen nicht analysierter Formen, dessen prinzipielle Nützlichkeit
und Notwendigkeit nicht in Frage gestellt werden sollen, doch auch seine
Grenzen hat.241 Und man muss sich fragen, wie dem Problem im Unterricht
allenfalls beizukommen ist. Die Wendungen zu Hause, nach Hause, das Sub-
stantiv Haus sind aus der Lernersprache selbstverständlich nicht wegzuden-
ken; die Frage ist also, ob und wie es möglich ist, die Lernenden davor zu
bewahren, aus dem Input allzu viele irrige Annahmen abzuleiten. Denkbar
wäre etwa, dass man sie relativ früh darauf aufmerksam macht, dass die Form
Hause trotz ihres häufigen Vorkommens in Wirklichkeit nicht die normale ist.
Und möglicherweise wäre es zumindest für fortgeschrittene Lernende auch
sinnvoll, wenn man ihnen bewusst machen würde, dass zu in zu Hause
entgegen der normalen Verwendungsweise lokativ ist. Inwiefern die
Schülerinnen und Schüler solche Hilfestellungen auch wahrzunehmen ver-
mögen, steht allerdings auf einem andern Blatt.
_______________
239
Interessanterweise ist -hause in Komposita nie belegt, auch wird das Schema nach
Hause vs. zu Hause nicht auf Komposita übertragen; Formen wie in das Kranken-
hause oder nach Schulhaus(e) o.ä. gibt es nicht.
240
Zu den Regelhaftigkeiten in der Genus-Zuweisung vgl. 5.3.4.2, S. 178.
241
Zu den Risiken des Chunk-Lernens vgl. auch Karpf (1990: 106f.) sowie Ellis
(1994: 84ff.).
322
5.6.7 Schluss
Was aus der Schulpraxis längst bekannt ist, hat auch diese Untersuchung be-
stätigt: Präpositionalphrasen sind ein äusserst komplexer und schwieriger
Lerngegenstand. Die vollständige und systematische korrekte Handhabung
des Systems der deutschen Präpositionen mit seinen WP und seinen PfK er-
fordert in konzeptueller wie in struktureller Hinsicht einen Kenntnisstand, den
in Wirklichkeit nur ein verschwindend kleiner Teil der Genfer Schülerinnen
und Schüler je erreicht. Auf der andern Seite sind Präpositionalphrasen aber
kommunikativ überaus wichtig und für die Lernenden bald einmal
unverzichtbar, so dass diese sich in der verzwickten Lage befinden, dass sie in
grosser Zahl Ausdrücke verwenden müssen und auch möchten, zu deren
Bildung sie in Wirklichkeit nicht – oder nur beschränkt – fähig sind.
Das bedeutet nun aber nicht, dass der Umgang mit den Präpositionalphra-
sen in den DiGS-Texten in jeder Hinsicht völlig chaotisch und zufällig wäre,
so wenig wie es bedeutet, dass die fehlerhaften PP gegenüber den korrekten
die grosse Mehrheit ausmachen würden. Zum einen spielt gerade im PP-Be-
reich das Chunk-Lernen eine besonders wichtige Rolle; und zumindest, was
die PfK betrifft, verhelfen Chunks den Lernenden offensichtlich dazu, präpo-
sitionale Ausdrücke zielsprachenkonform zu verwenden. Wenn man es aller-
dings mit (lokalen) WP zu tun hat (und das ist bei unseren TP sehr oft der
Fall), bewahrt auch das Memorieren fester Formeln nicht vor Normverstös-
sen, solange die Dichotomie LOK – DIR nicht ebenfalls berücksichtigt wird.
Doch auch dann, wenn die SchülerInnen ihre eigenen Präpositionalphrasen
produzieren, haben sie durchaus Chancen, manches richtig zu machen. So hat
es sich gezeigt, dass der Kasus nach der Präposition für (und den anderen A-
Präpositionen) bei Lernenden aller Stufen sehr oft korrekt ist – nicht in erster
Linie weil alle TP den Akkusativ erfasst hätten, sondern weil im Deutschen A
und N formal häufig identisch sind. Dativ ist in solchen PP praktisch
überhaupt nicht belegt – ein in seiner Eindeutigkeit wirklich bemerkenswerter
Befund. Präpositionen, die wie mit den Dativ erfordern, machen
erwartungsgemäss mehr Schwierigkeiten; doch stellt sich heraus, dass
fortgeschrittenere Lernende, d. h. solche, die nicht mehr N oder A=N als De-
faultform verwenden, in mit-Phrasen überwiegend normgerecht den Dativ
benutzen. Von einer Generalisierung des (eindeutigen) Akkusativs auf D-
Kontexte kann also keine Rede sein. Und selbst was die WP betrifft, wo die
Fehlerquote zwar noch einmal deutlich höher ist, konnten wir feststellen, dass
manche LernerInnen die Opposition LOK – DIR bzw. deren sprachliche
Realisierung zumindest teilweise erfassen; ausserdem hat sich ergeben, dass
gewisse Strukturen bzw. Oppositionen (z. B. in X – nach X, im X – ins X) of-
fenbar leichter zu erwerben sind als andere. Zu letzteren gehört der Kasus-
wechsel D vs. A nach in, der nur von einzelnen sehr fortgeschrittenen Ler-
323
nenden beherrscht wird. Was die Frage der Generalisierung von D auf A-
Kontexte bzw. von A auf D-Kontexte nach in anbelangt, so erlauben die Da-
ten keine eindeutige Antwort; eine klare Tendenz zeichnet sich hier weder in
die eine noch in die andere Richtung ab.
Ein weiteres speziell auch in Bezug auf den Deutschunterricht relevantes
Ergebnis betrifft Frequenz und Varianz der in den DiGS-Texten belegten
Präpositionen. Es erweist sich nämlich mit einer frappanten Deutlichkeit, dass
die Schülerinnen und Schüler mit einer – gemessen an den im Unterricht
behandelten – sehr kleinen Zahl von Präpositionen auskommen, die ihre
wichtigsten kommunikativen Bedürfnisse abdecken. Von einem Grossteil der
im Cycle intensiv trainierten Präpositionen wird bis in die letzten Schulklas-
sen wenig oder überhaupt kein Gebrauch gemacht, so dass eine Reduktion der
offensichtlich unnötig hohen Zahl von unterrichteten Präpositionen angezeigt
erscheint.
Angesichts der Komplexität der Präpositionalphrasen als Lerngegenstand
einerseits und ihrer hohen kommunikativen Relevanz andererseits ist anzu-
nehmen, dass im Unterricht ein möglichst „lockeres“ Verhältnis gerade zu
dieser Materie letztlich den grössten Erfolg zeitigen wird. Erklären und Üben
helfen während langer Zeit wenig bis nichts; das Lernen von Chunks ist sicher
sinnvoll, doch dürfen – wie wir gesehen haben – auch da keine Wunder
erwartet werden. Und schliesslich sollte man sich auch eingestehen, dass von
der Norm abweichende Präpositionalphrasen die Kommunikation kaum ein-
schränken, das Insistieren auf Korrektheit dagegen die Motivation und
Lernlust der Lernenden erheblich beeinträchtigen kann.
Thérèse Studer
Wer die DiGS-Texte liest, kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass der
Umgang der Lernenden mit der Nominalflexion generell ziemlich chaotisch
ist. Abweichende Nominalphrasen und Präpositionalphrasen sind – ausser bei
einer Minderzahl auffallend guter Schülerinnen und Schüler – bis in die
letzten Klassen überaus zahlreich; hinter den Schülerproduktionen eine Sys-
tematik zu erkennen, scheint oftmals unmöglich. Die Leistungen stehen in
keinem Verhältnis zum Aufwand, der von Lehrenden und Lernenden im Be-
reich Deklination getrieben wird. In der Tat lernen die Kinder praktisch von
324
Anfang an die Substantive mit dem Artikel und folglich mit dem zugehörigen
Genus kennen; auch die Pluralformen werden (in den ersten Jahren zwar noch
nicht systematisch) in Wörterlisten angegeben; die Kasus sind ab der siebten
Klasse explizites Thema (in NP und PP, mit diversen Artikelwörtern,
substantivisch und pronominal) und die Adjektivdeklination wird ab der
achten Klasse unterrichtet, so dass am Ende der obligatorischen Schulzeit
praktisch die gesamte Deklination als behandelt – d. h. erklärt, geübt und
getestet – gilt.242 Misst man den Erfolg dieses zweifellos sehr intensiven und
aufwendigen Unterrichts, der auch im PO fortgeführt wird (v.a.
Wiederholung), an der Anzahl der normkonform realisierten NP und PP, dann
ist das Ergebnis – gelinde gesagt – enttäuschend. Entsprechend entmutigt
reagieren denn auch manche Schülerinnen und Schüler, denen das Deutsche –
wie oft gesagt wird, wohl wirklich nicht zuletzt wegen der Schrecken der
Deklination – zu einer immer grösseren Last wird.
Nun sind allerdings die in der Perspektive der Norm (und der Zensuren)
zweifellos wenig befriedigenden Resultate in Wirklichkeit keineswegs er-
staunlich, im Gegenteil: Erstaunlich ist eher, dass es SchülerInnen gibt, die es
tatsächlich (fast) zur Perfektion bringen. Dass der Erwerb der Deklination so
schwierig und langwierig ist, hat mehrere Gründe:
− Die Nominalflexion ist im Deutschen weder transparent noch uniform, und
auch konstruktionelle Ikonizität ist nur bedingt gegeben (vgl. dazu 5.1). Es
besteht kein Zweifel, dass ein Teil der Lernenden angesichts der
Undurchschaubarkeit des Systems und der Erfolglosigkeit ihrer Bemü-
hungen – die, wie man annehmen kann, normalerweise zunächst einmal
vorhanden sind243 – resigniert aufgeben (Fossilisierung).
− Die kommunikative Relevanz der Deklinationsmorpheme ist gering, so
dass es in dieser Perspektive keine Rolle spielt, ob jemand der Welt statt
die Welt, die Hünde statt die Hunde, ich habe ein Bruder statt einen Bru-
der, das rotes Kleid statt das rote Kleid sagt bzw. schreibt. Dass nominale
Syntagmen dekliniert werden müssen, ist in erster Linie sprachsystematisch
bedingt, für die Verständigung aber keineswegs unentbehrlich.
− Der Lehrplan ist in den Monaten und Jahren (7. bis 9. Klasse), in denen
zahlreiche und verschiedenste Aspekte der Nominalflexion explizit be-
handelt werden, sehr gedrängt, stehen doch im gleichen Zeitraum auch
weite Bereiche der Konjugation sowie der Satzstruktur auf dem Programm.
Dieser Belastung sind die meisten Schülerinnen und Schüler nicht
_______________
242
Mit Ausnahme des Genitivs, von dem die Lernenden bis Ende Cycle nur die vor-
angestellte Verwendung kennen (Mamas Auto).
243
Dass die Genfer Schülerinnen und Schüler zu Beginn Spass am Deutschen haben
und durchaus motiviert sind, diese Sprache zu lernen, geht aus den DiGS-Frage-
bögen deutlich hervor (vgl. S. 18).
325
gewachsen, und es ist nur verständlich, wenn sie ihre Aufmerksamkeit
nicht in erster Linie auf das hochkomplexe und „unnütze“ System der
Nominalflexion richten.
− Genusfehler:
durfte P. nicht den Frühstück essen (Sophie N 8/9)
− Genusfehler + fehlende Markierung am Adjektiv:
einen gut Gewissen haben (Nicolas M ESC12/M)
− fehlende Markierung am Det:
spielst du ein anderen Sport (Fanny D ESC11/12)
_______________
244
Dass daneben rote-learning sowie die mehr oder weniger grosse Variabilität der Ler-
nersprachen ebenfalls ihre Rolle spielen, wird selbstverständlich nicht bestritten.
326
− Übermarkierung des Neutrums:
gingen in eines Café (Fanny D ESC11/12)
− sein- statt ihr-:
meine Schwester mögte seinen Kopf, seinen neuen Kopf (Nathalie F
ESC10/11)
− fehlender Umlaut bei Komparativ:
weil sie einen alteren Freund getroffen hat (Céline M ESC11/12)
− usw.
Heide Wegener überein (Wegener 1992: 547). Während Wegener für den unge-
steuerten Deutscherwerb durch Kinder mit verschiedenen Muttersprachen
(russisch, polnisch, türkisch) eine Erwerbsreihenfolge Numerus – Kasus – Genus
etabliert, laufen die DiGS-Untersuchungen klar darauf hinaus, dass Plural- und
Genusmarkierung etwa gleichzeitig – und zudem früh – in Angriff genommen
werden, während der Kasuserwerb erst Jahre danach einsetzt.
248
Zur Verbalflexion vgl. Kapitel 5.2, S. 165.
328
stantive eher den Nicht-Feminina (Maskulina und Neutra) zuordnen. Selbst-
verständlich spielt neben der Regelausbildung auch das Auswendiglernen
sowohl für die Pluralformen als auch für die Genuswahl eine wichtige Rolle,
deren Anteil allerdings nicht quantitativ nachweisbar ist. Ebenso ist –
insbesondere beim Genus – mit Transfer zu rechnen. – Noch einmal anders
verhält es sich mit der Adjektivdeklination, ist doch hier wiederum eine
interindividuelle Progression festzustellen, die sich allerdings nicht – oder nur
bedingt – in einen Zusammenhang mit den Kasusphasen bringen lässt. So
werden von Lernenden der NP-Phase II Adjektive, falls überhaupt welche
vorhanden sind, beliebig flektiert; weiter fortgeschrittene Schülerinnen und
Schüler (NP-Phasen III und IV) durchschauen die Flexion der Adjektive
allmählich immer besser in ihrer Abhängigkeit von den diversen Kategorien
(Genus, Numerus, Kasus), ohne dass die Adjektiv-Stadien des formalen bzw.
des funktionalen Ausgleichs mit den NP-Phasen III bzw. IV zusammenfallen
würden.
Es kann hier nicht darum gehen, eine Art Curriculum für die Behandlung der
Deklination im Schulunterricht auszuarbeiten; dies bleibt nach wie vor Leh-
rerInnen und SchulbuchautorInnen als den zuständigen Fachleuten vorbe-
halten. Hingegen erlauben es die DiGS-Ergebnisse, auf einige wichtige
Punkte hinzuweisen, die im Unterricht dringend berücksichtigt werden soll-
ten.249
Zentral ist, dass die Lehrenden sich klar machen, dass sie und ihre Schüle-
rinnen und Schüler es im Falle der Deklination – ganz objektiv gesehen – mit
einem ungewöhnlich komplexen Lerngegenstand zu tun haben, derart dass
während der ganzen Schulzeit mit Schwierigkeiten gerechnet werden muss.
Insbesondere sollte man sich der auf den ersten Blick paradox anmutenden
Tatsache bewusst sein, dass Strukturen wie die Deklinationsparadigmen, die
sich aus linguistischer Sicht problemlos beschreiben – und beispielsweise in
Tabellenform darstellen – lassen, sich in der Perspektive der Lernenden als
überaus komplex und schwer erwerbbar erweisen können.
Eine wichtige Voraussetzung für eine andere und angemessenere Ein-
schätzung der Schülerleistungen erscheint uns zu sein, dass Lehrerinnen und
Lehrer in ihrer Praxis Abweichungen als das erkennen, was sie wirklich sind
(selbst wenn das nicht immer leicht fällt). So ist ich habe einen Katze nicht
einfach als ein Fehler, sondern möglicherweise als ein höchst positives Indiz
_______________
249
Zu den didaktischen Konsequenzen, die sich allgemein aus der DiGS-Studie erge-
ben, vgl. auch 7.4.2.
329
dafür zu werten, dass jemand den Akkusativ entdeckt hat. Dass er oder sie
sich im Genus täuscht, ist dabei von sekundärer Bedeutung. Umgekehrt muss
man sich auch bewusst machen, dass manches, was zielsprachlich einwandfrei
ist, nicht auf Wissen beruht, sondern bestimmten glücklichen Sprachum-
ständen zu verdanken ist. Zum Beispiel ist es denkbar, dass die Präpositio-
nalphrase auf der Mauer in der Lernersprache keinen Dativ enthält, sondern
sich zusammensetzt aus auf + N (= der Mauer, vgl. auch franz. le mur). Wenn
eine Schülerin schreibt ich habe eine Schwester, beruht die Korrektheit dieses
Satzes nicht unbedingt auf ihren Kasuskenntnissen, sondern auf dem
Umstand, dass sie keinen Bruder hat. Und so erscheint es geradezu ungerecht,
wenn ihr Mitschüler, der aus pragmatischen Gründen zu schreiben gezwungen
ist ich habe ein Bruder, für seinen Kasusfehler bestraft wird.
Wenn hier die Auffassung vertreten wird, dass ganz speziell im Bereich
der Nominalflexion der Begriff des „Fehlers“ dringend relativiert werden
muss, soll damit gewiss nicht einer allgemeinen Laxheit das Wort geredet
werden. Es geht vielmehr darum, sich zu vergegenwärtigen, welche Formen
und Strukturen auf welcher Schulstufe lern- bzw. lehrbar sind, und zu klären,
was für Ansprüche zu welchem Zeitpunkt an die SchülerInnen gestellt werden
können. Nun scheint es so, dass nicht nur im Genfer Schulsystem der
Neunziger Jahre, dem unsere Testpersonen entstammen, im Bereich der De-
klination von den Schulkindern zu früh zu viel erwartet wird. Aus unseren
Untersuchungen geht klar hervor, dass die Ausdifferenzierung des Kasus-
systems sowie die Adjektivdeklination von den Lernenden erst dann in An-
griff genommen werden, wenn der Erwerb der Satzmodelle quasi abge-
schlossen und der Erwerb der Konjugation weit vorangeschritten ist.250 Dar-
auf müssten Schulbücher und Lehrpläne dringend Rücksicht nehmen. Wenn
darauf verzichtet wird, Kasus und Adjektivflexion „vor der Zeit“ explizit zu
unterrichten,251 dann ist es denkbar, dass die kognitive und vor allem auch die
zeitliche – und vielleicht gar die emotionale – Entlastung (Stichwort: Moti-
vation) so gross ist, dass der Erwerb in den anderen Bereichen schneller als
bisher vonstatten geht. Gerade dieses Argument müsste auch jene überzeugen,
die befürchten, die zeitweilige Reduktion des Lernstoffs führe notwen-
digerweise zu einer Senkung des Niveaus.252 Wenn wir hier also entschieden
für eine Entzerrung des grammatischen Unterrichtsstoffs plädieren, in dem
Sinne, dass nicht gleichzeitig unterrichtet werden soll, was offenbar nur
nacheinander erworben werden kann, dann tun wir dies eben gerade, weil wir
_______________
250
Vgl. Tab. 55: Erwerbssequenzen.
251
Selbstverständlich darf und soll der implizite Input die betreffenden Formen ent-
halten – je mehr, desto besser.
252
Auch sollte nicht verdrängt werden, dass die bisher geltenden höher gesteckten
Lernziele – nicht nur in Genf – nicht zum gewünschten Erfolg führen, da sie gros-
senteils von den SchülerInnen ganz einfach nicht erreicht werden.
330
uns letztlich davon raschere Fortschritte und bessere Ergebnisse versprechen.
Im Übrigen sollte man auch nicht vergessen, dass die Lernenden im Bereich
der Deklination ja keineswegs untätig sind, denn mit Genus und Pluralformen
beschäftigen sie sich praktisch von Anfang an; fraglich ist höchstens,
inwiefern (bzw. ob überhaupt) dabei Wörterlisten mit Angabe von Genus und
Pluralform nützlich sind.
Für die Etablierung von Unterrichtsplänen, die der natürlichen grammati-
schen Progression nicht zuwiderlaufen, ist also die Kenntnis der oben ge-
nannten Prinzipien und Gesetzmässigkeiten, die den Erwerb der Nominalfle-
xion zu einem guten Teil lenken und regeln, eine unumgängliche Vorausset-
zung. Dasselbe gilt nun auch für die Bestimmung des Sprachniveaus der ein-
zelnen Schülerinnen und Schüler (als unverzichtbare Voraussetzung für die
Verwirklichung eines binnendifferenzierten Unterrichts) sowie in Bezug auf
die Fehlerbewertung und die damit verbundene Notengebung. Aus unseren
Untersuchungen folgt, dass für die Erwerbstandsbestimmung Kasus und Ad-
jektivflexion herangezogen werden können und müssen, nicht jedoch Genus
und Pluralformen, da deren Erwerb nicht in interindividuell gleichen Phasen
verläuft. Insbesondere ist bei der Sanktionierung von Genus- und Pluralfeh-
lern zu bedenken, dass mit der Zunahme des Wortschatzes naturgemäss auch
die Risiken zunehmen, sich in Genus und Plural zu irren. Werden nun solche
Abweichungen bei schreibfreudigen Lernenden konsequent geahndet, kann
sich dies kontraproduktiv auswirken: etwa in der Weise, dass die SchülerIn-
nen ihre Textproduktion auf ein Minimum einschränken, um möglichst wenig
fehleranfällige Formen zu erzeugen. Auf der andern Seite werden sich
Unterrichtende wohl auch die Frage stellen müssen, ob eine Art Fundus an
Substantiven zu etablieren wäre, für den Genus und Plural gelernt und ver-
langt werden könnten. – Was die Kasus anbelangt, so sollte auch hier eine
differenzierte Haltung eingenommen werden. Kasusabweichungen sind wäh-
rend langer Zeit in vielen – wenn auch dank der morphologischen Eigen-
schaften des Deutschen längst nicht in allen Nominal- und Präpositionalphra-
sen – unausweichlich, so dass es wenig Sinn macht, die SchülerInnen für
„Fehler“ zu bestrafen, die sie gar nicht vermeiden können. – In Bezug auf die
Adjektivdeklination schliesslich ist festzuhalten, dass es sich dabei um so et-
was wie eine „höhere Kunst“ handelt, die nur wenigen sehr fortgeschrittenen
Lernenden zugänglich ist. Vorstellbar ist allerdings, dass gute SchülerInnen,
d. h. nur solche, die über ein ausgebautes Kasussystem verfügen, angeleitet
werden, beim Schreiben Adjektivdeklinationstabellen zu verwenden.253 In der
Tat scheint uns gerade die Adjektivflexion ein Bereich zu sein, wo die
„grammatische Nachschlagefähigkeit“, für deren Förderung sich Kwakernaak
_______________
253
Die Adjektivflexion ist ohnehin nur in der schriftlichen Kommunikation ein Prob-
lem; in der gesprochenen Sprache sind attributive Adjektive ausgesprochen selten.
331
(1996: 284ff.) – in Analogie zu der viel öfter trainierten lexikalischen
Nachschlagefähigkeit – ausspricht, mit einiger Aussicht auf Erfolg eingesetzt
und geübt werden könnte.254
Abschliessend muss nun allerdings nuancierend eingeräumt werden, dass
eine wirklich gerechte Beurteilung des Könnens von Schülerinnen und
Schülern – so wünschenswert und notwendig sie auch ist – sich in der Praxis
nicht immer als einfach erweist. Denn wenn die nominale Morphologie in den
Schülerarbeiten zu weiten Teilen auch nur scheinbar beliebig ist, so bleibt
dennoch die Tatsache bestehen, dass es oft schwer fällt, die Regelhaftigkeit,
die dahinter steckt, zu erkennen. Ausserdem sollte man nun auch nicht in die
entgegengesetzte Extremposition verfallen und davon ausgehen, dass
Lernersprache stets und in jeder Hinsicht systematisch sei. Dass dies ga-
rantiert nicht zutrifft, wissen alle, die je mit Deutschlernenden zu tun hatten.
Das Problem ist vielmehr, dass man oft nicht weiss – und auch nicht wissen
kann –, ob eine Form auf Grund irgendeiner Systematik oder durch Auswen-
diglernen (das kann z. B. die Genera und die Pluralformen betreffen, aber
auch grössere Einheiten, die als Chunks memorisiert werden) oder eben doch
aus purem Zufall entstanden ist.
_______________
254
Ein brauchbares Instrument ist hierfür der vom Verlag Durr + Kessler herausgege-
bene Grammaticus, eine Art „Rechenschieber“, der Verbal- und Nominalmorpho-
logie in kompaktester Form präsentiert.
332
XXX
Teil III: Bilanz
6 Individuelle Unterschiede
Erika Diehl
In den Kapiteln 4 und 5 ging es in erster Linie um die Identifikation von all-
gemeingültigen Gesetzmässigkeiten, denen die Schülerinnen und Schüler alle
gleichermassen unterworfen sind. Es zeigte sich aber dort schon, dass sich die
einzelnen Schülerindividuen ganz wesentlich voneinander unterscheiden –
nicht in der Abfolge der Erwerbssequenzen, wohl aber in der Art und Weise,
wie sie sich im Erwerbsprozess verhalten und wie erfolgreich sie im Ausbau
ihrer L2-Kompetenz sind. Es lohnt sich umso mehr, den Ursachen für diese
individuelle Variation nachzugehen, als wir versucht hatten, Schüler mit
zusätzlichen ausserschulischen Deutschkontakten aus der Untersuchung
auszuklammern, um die Variable des L2-Inputs möglichst niedrig zu halten.
Über die Rolle der Lehrervariable können wir uns nicht äussern; es fehlen uns
die entsprechenden Unterlagen. Wir versuchten sie immerhin insofern zu
relativieren, als wir auf jedem Niveau mindestens zwei Parallelklassen unter-
suchten. Und auf die Gesamtheit des Korpus gesehen, das 30 Klassen ver-
schiedener Deutschlehrer umfasst, schien uns die Lehrervariable hinsichtlich
der uns interessierenden Phänomene nicht wesentlich ins Gewicht zu fallen.
Wo dies doch der Fall zu sein schien – wie etwa bei der in Kapitel 4.4.2.3
erwähnten Primarschulklasse mit ihren überdurchschnittlichen Leistungen –,
war der Trainingserfolg offensichtlich nur von kurzer Dauer. Da zudem ja
auch innerhalb ein und derselben Klasse erhebliche Unterschiede zu beob-
achten sind, ist es sicher nicht abwegig, die Ursachen dafür bei den Schüle-
rinnen und Schülern selbst zu suchen.
Es sind uns dabei allerdings durch unsere Daten Grenzen auferlegt. So
können wir keine Aussagen machen über die Rolle der verschiedenen Per-
sönlichkeitsfaktoren, die von der umfangreichen ID-research, den For-
schungsarbeiten zu den individuellen Unterschieden, als mögliche Einfluss-
faktoren von Sprachlernerfolg genannt werden (wie etwa Extravertiertheit vs.
Introvertiertheit, Risikobereitschaft, allgemeine Intelligenz, Feldab- bzw.
-unabhängigkeit).1 Ebenso müssen soziopsychologische und emotionale Fak-
toren sowie kognitive Stile in unserer Analyse unberücksichtigt bleiben. Le-
diglich die Korrelation zwischen Lernerfolg und Motivation – die im allge-
meinen als die eindeutigste unter allen hypothetisierten Korrelationen gilt2 –
_______________
1
Einen ausführlichen Überblick über die ID-Forschung bieten Skehan (1989) und
Ellis (1994: 467–560).
2
„To sum up: integrative motivation has been shown to be strongly related to L2
achievement. It combines with instrumental motivation to serve as a powerful pre-
336
können wir auf Grund der Schülerfragebögen vorsichtig bestätigen. Auch
wenn wir hier keine statistisch abgesicherten Aussagen machen können, so
zeigen doch punktuelle Überprüfungen bei unseren erfolgreichsten Testper-
sonen, dass diese in der Tat eine Einstellung erkennen lassen, die in die
Richtung einer „instrumentellen“ oder „integrativen“ Motivation weist.3
Wir werden uns also in diesem Kapitel auf denjenigen Aspekt der indivi-
duellen Unterschiede beschränken, für den sich unsere Daten anbieten: die
Art und Weise, wie die Schülerindividuen mit dem schulischen Input umge-
hen, in welcher Weise sie ihn aufnehmen, bearbeiten und zu integrieren ver-
suchen – also mit dem, was in der Literatur mit dem Begriff „Strategien“ bzw.
„Verfahren“ bezeichnet wird.
Nun ist freilich die Crux, dass über die Definition und den Status des Begriffs
„Strategie“ in der Erwerbsforschung keine Einigkeit besteht. Für Naiman et
al. (1978), Skehan (1989) und Ellis (1994) beispielsweise sind Strategien
bewusst einsetzbar zur Effizienzsteigerung des Lernvorgangs; für sie kann der
Lerner je nach seinen persönlichen Präferenzen oder Erfahrungen und je nach
Situation die angemessenste Strategie wählen.4 Im Rahmen der kognitiven
Erwerbstheorie hingegen werden Verfahren wie L1-Transfer, Vereinfachung
und Übergeneralisierung als „Strategien“ bezeichnet – also genau jene, die
Naiman et al. (1978) zu den unconscious processes rechnen. In den ZISA-
Forschungsarbeiten sind Strategien definiert als Umsetzung der allgemeinen
________________
Eine andere „Behelfsstrategie“ besteht darin, die Wendungen der L1 zum Teil
wörtlich ins Deutsche zu übernehmen. Im Extremfall – wie dem folgenden –
sind solche Texte nur verständlich, wenn man sie in die L1 zurückübersetzt:
(2) Vor eine Jahre, dass wir uns nicht gesehen haben und ich frage mich wie du
geht es. Ich möchte wissen, ob du Dir in America gefällst. Also ich gehe Dich
einige Fragen stellen [...] Verpasst nicht das Essen von Schweiz? Dann in Ame-
rica muss er als die „Hambourger“ haben und nichts anderes (Céline M ESC
11/12, 2)
[„Übersetzung“: Il y a une année que nous ne nous sommes pas vues et je me
demande comment tu vas. J’aimerais savoir si tu te plais en Amérique. Alors je
vais te poser quelques questions [...] La nourriture de Suisse ne te manque pas?
Car en Amérique il ne doit y avoir que des „Hamburger“ et rien d’autre]
(3) Der Einbrecher töten Meyer und a pris la fuite. Der Inspecteur macht son en-
quête und findet der Einbrecher. Er interrogiert der Einbrecher und er geht in
Gefängnis, Er passiert devant le juge, er hat einen peine de fünf monate auf Ge-
fängnis (Bruno C ECG 10, 3)
oder:
(4) soudain Eine Frau hat frappé à la porte, c’était sein [K aus: ça] freundine Petra.
Sie hatten commençent à dischutieren. und was c’est elle qui là kaputte wann
sie hat getrunken Alcool mit Freundinnen. Sie lui hat gesagt was er allait payer
die reparations (Liliane N ECG 10, 2)
6.2.2 Chunks
Dass alle unsere Testpersonen überaus häufig von Chunks Gebrauch machen,
geht aus unseren Analysen deutlich hervor und ist auch keineswegs erstaun-
lich; die Bedeutung des Lernens fester Formeln ist inzwischen für sämtliche
Formen des Spracherwerbs, einschliesslich des L1-Erwerbs, hinlänglich nach-
gewiesen worden,13 wenn sich auch für die Bezeichungen dieses Phänomens
in der Literatur noch keine einheitliche Terminologie durchgesetzt hat.14
Entscheidend ist jedoch, ob und wie die Chunks für die Zwecke des Sprach-
erwerbs eingesetzt werden.
_______________
11
Vgl. Kapitel 5.2.5.2, S. 164.
12
Vgl. dazu Kapitel 4.4.3.3, zum Transfer beim Satzmodellerwerb.
13
Vgl. etwa Wode (1988: 101); Bolinger (1975), Peters (1983) und Pawley/Syder
(1983), alle zitiert in Skehan (1989: 37ff.); ausserdem Wong-Fillmore (1979: 242)
und Bialystok (1984: 107).
14
In der Spracherwerbsforschung findet sich eine Fülle von Bezeichnungen und Pa-
raphrasierungen für diese Strategie. Hakuta, der als erster auf dieses überaus häu-
fige und zentrale Phänomen im Spracherwerb aufmerksam gemacht hat, bezeich-
nete es als „prefabricated patterns“, als „regular, patterned segments of speech
used without knowledge of their underlying structure, but with the knowledge as to
which particular situations call for what patterns“. (Hakuta 1976: 331, zitiert nach
Tarone 1988: 94) Wong-Fillmore gebraucht die Wendung „formulaic expressions“
und definiert sie als „expressions which were acquired and used as unanalyzed
wholes“ (1979: 211). Bialystok gebraucht „chunk“ und „schemata“ als Synonyme
(1984: 107); Ellis spricht von „formulaic knowledge“, bestehend aus „ready-made
chunks of language“ (1994: 355), Tracy von „expressions of more or less
formulaic and idiomatic character“ (1994: 5), und Wode schlägt für das Deutsche
341
Vor allem die Kinder in den Primarschulklassen sind in ihren Produktionen
fast ausschliesslich auf Chunks angewiesen. Und schon auf dieser Ebene
treten die unterschiedlichen Fähigkeiten im Umgang mit diesen formelhaften
Wendungen drastisch zutage. Einige Beispiele:
(5) Es war einmal dans les montagnes vivait ein bauer et une payssane (Daniel M
5/6, 7)
Zum Vergleich eine Schülerin am Ende der 4. Klasse, also zwei Klassen unter
dem oben zitierten Schüler:
(7) Es war einmal, eine Hexe hat der König verwandeln (Sandra M ECG 11/12, 8)
________________
die Bezeichnung „Formeln und Rahmen“ vor, wobei unter „Rahmen“ Struk-
turformeln zu verstehen sind, die aus einem invarianten Teil und einer Leerstelle
bestehen (Beispiele aus dem Englischen: what’s, gimme; wir nannten dieses Phä-
nomen Pattern – siehe Kapitel 4.4.3.3, S. 90). Einen Überblick bietet Skehan 1989
im Zusammenhang mit der „Language aptitude“-Forschung, insbesondere S. 36f.
15
Ähnlich formuliert auch Bialystok: „The movement from the use of these [sc. the
342
Nun zeigen aber die oben aufgeführten Beispiele – die noch beliebig hätten
erweitert werden können –, dass offensichtlich längst nicht alle unsere Pro-
banden diese Chunks nur als vorläufigen „Vorrat“ auffassen, der zu einem
späteren Zeitpunkt der Analyse unterzogen wird. Oft bleiben die Chunks wie
erratische Blöcke in ihren Produktionen stehen, offensichtlich immun gegen
„besseres Wissen“, das sie sich inzwischen angeeignet haben. Sie scheinen
sich an die Maxime analyse only if you have to zu halten16 und nehmen lieber
die unökonomische Überlastung ihres Gedächtnisses in Kauf, anstatt sich der
Mühe einer sprachlichen Analyse zu unterziehen. Damit bilden unsere Pro-
banden offenbar keine Ausnahme: Skehan berichtet von den Ergebnissen ei-
nes breit angelegten Forschungsprogramms zum Strategiengebrauch von
Fremdsprachenschülern, geleitet von O’Malley et al. (1985). Hauptsächlich ge-
stützt auf „self-report“-Daten gelangte das Forschungsteam zu dem Schluss:
The most frequently used strategies tend to be concerned with rote learning, and
not transformation or engagement with the learning material, a disappointing fin-
ding in that evidence from cognitive psychology suggests that depth of processing
[...] is an important influence upon effective learning, as is the reorganization and
transformation of material. (Skehan 1989: 89)
6.2.3 Generalisierung
Wenn es tatsächlich zutrifft, dass sich Lerner mehrheitlich auf ihr Gedächtnis
und nicht auf ihre Analysefähigkeit verlassen, so würde dies auch erklären,
warum es uns so schwer fiel, bei unseren Probanden eindeutig jene Erwerbs-
strategie nachzuweisen, die nach der kognitiven Erwerbstheorie zentral für
den ganzen Erwerbsprozess ist: die Generalisierung als Indiz für bestimmte
Lernerhypothesen über L2-Regeln. Zwar kommt es bei einzelnen Schülerin-
________________
(8) Ich bin im Ferien. Im Auto sitze ich linxt von Adriano. [...] Wir gehen im Sar-
daigne. Im Juni ich gehe im Schule (Christinele M 4/5, 4)
bei der Adjektivflexion (-es): siehe das bereits in Kapitel 5.3.6.2, S. 193 er-
wähnte Beispiel:
(9) Helmut ist ein grosses Mann. Er hat braunes Haar und braunes Augen. Er hat
ein blaues Hemd, ein oranges Kravate, ein schwarzes Hose und ein oranges
Jacke. Er hat einen braunes Schuhen. [...] Sie hat blondes Haar und blaues Au-
gen. Sie hat ein rotes Hemd, ein schwarzes Rock, ein grunes Handtasche und
schwarzes Schuhen. Sie essen ein schones Pizza (Jeannette C ECG 10/11, 4)
(10) Um Mittagessen esse ich Grilladen und auch vielen bunten Fruschten. Am
Nachmittag mache ich eine schöne Spaziergang [...] ich esse vielen guten süs-
sen und kleinen Kometen aus Schokoladen. Ich gehe [...] einigen Sachen ein-
kaufen (Céline T C 10/11, 1)
(11) Seine Eltern [...] hatten Peter gesagen warum er mit grünen Haaren gekommen
ist. „Ich war am Freitag in Diskotek gegangen. Es gab meinen Freund mit Fär-
bung grün“. Hat Peter gesagen. „Ja, aber warum hat du deinen Haaren gefär-
ben?“ [...] Peter musste in seine Zimmer zwei Woche lang geblieben. Nach eine
Woche, die Eltern haben Peter von seine Zimmer herausgegangen lassen. Aber
nach drei Tag, Peter hat noch mit grünen Haaren gegangen (Yvan B 8/9, 7)
(12) [...] ich abbé eins chwester unt tsway bruders [...] – ich abbé tsway hunds – Ich
maré Tennis und skis – ich abbé funf tantes unt fir oncles (5/6, 1)
In der zweiten Arbeit erscheint noch ein letztes Mal ein generalisiertes Plural-
s; in den späteren Aufsätzen verwendet Philippe überwiegend normkonform -
e- und -en-Flexive (Franken – Grüsse – die Tomaten – die Kartoffeln –
Oliven). Als Nächstes scheint er sich die Genusmarkierung vorzunehmen.
Nachdem schon der erste Aufsatz eine Sensibilität für Genus erkennen liess
(vgl. maïn vater vs. maïné muter – (ich abbé tsway hunds) ein chwar unt ai-
née wice – main hund chwar ist Beelzebuth unt mainée hund wice ist Danaé
– maineé chwester vs. maïn best friend ist Bernard), „experimentiert“ er im
zweiten Aufsatz mit dem Neutrum:
(13) ich mache das Sport, das Tennis, [...] das Basket-Ball, das Ski, das hockey, ich
liebe das spile das monopoly das Taboo. Ich liebe viele das hunds (5/6, 2)
(14) Ich bin im Genf im die Placette [...] Ich gehe im der Kasse das macht 6 franken
Ich gehe im die Bäckerei Kaufen das Brot und das Nussgipfel. Im der Kasse vir
franken bitte. Dann ich gehe im Coop kaufen ein Messer und das Papier. [...]
Dann ich gehe im Migros fur kaufen die Fruch die Banane die Apfel und die
Ananas (5/6, 3)
In der fünften Arbeit „entdeckt“ Philippe die Präposition auf. Zusätzlich hat
er eine neue Hypothese für den Konjugationsbereich: die 3. Person Singular
flektiert er meistens auf e:
_______________
17
Weitere Beispiele für Lernerhypothesen, die sich Generalisierungen im Bereich der
Präpositionalphrasen entnehmen lassen, siehe Kapitel 5.6.6.1, S. 307.
345
(15) Im die Küche auf der Tisch, Paul schneidst ein Gurke. Draussen die Mütter
zahle das taxi. Lulu mische der milch mit Mehl und der Zucker. Auf der back-
ofen koche ein Kotellet. Der vater (der chef.) lese ein Buche. Der hund klaue
ein grosse Poulet. Der Erbsen auf der bauden. Auf die Kasserole die Spagehtti
kochen. Auf der Kulschranke es gibt das Milch der Ei das essig. Auf die Tisch
es gibt [...] Es gibt der wein auf das Glas (5/6, 5)
Im 7. Aufsatz korrigiert er seine Interimsregel „3. Person Singular auf -e“ und
gebraucht durchweg zielsprachenkonformes -t (er wohnt – der Hund heisst –
er geht), ausser treffen, das – vermutlich als ein neues Lexem in Philippes
Wortschatz – im Infinitiv verwendet wird. Zudem hat er nun erkannt, dass im
ein Amalgam aus Präposition und Artikel ist; möglicherweise hat ihm die
Präposition auf zu dieser Einsicht verholfen:
(16) Er wohnt in dem Strasse in der stadt – er geht auf der Strasse (5/6, 7)
Im letzten Text erscheint wieder im, nun allerdings überwiegend auf geogra-
phische Ortsbezeichnungen beschränkt (das im Input häufige im Kanton X
dürfte Philippe darin bestärkt haben):
(17) Ich wonne im Vésenaz im Kanton Genf. Im Ferien ich fahre mit meine Familie
im Kanton Graubünden [...] Im Graubünden wir spielen [...], im Frankreich;
daneben aber: in der See (5/6, 8)
(18) Ich liebe nichts singen [...] Im Graubünden wir können schwinen [...] Ich liebe
male und ich liebe Paris (5/6, 8)
Man wäre geneigt, einem solchen Schüler effektiv gute Prognosen für seine
Deutschkarriere in der Schule zu stellen, zumal er seine Erkundungszüge in
die deutsche Grammatik zu einem Zeitpunkt unternimmt, zu dem er noch
kaum mit explizitem Grammatikunterricht konfrontiert ist. Er benützt den
schulischen Input in eben der Weise, wie es von den good language learners
angenommen wird:
Good language learners show active involvement in language learning. They ap-
preciate teachers who are systematic, logical, and clear, but prefer to treat them as
„informants“ rather than to rely on them. (Ellis 1994: 549, unter Hinweis auf
Pickett 1978)
(19) Sie haben die Vorräte in die Karton gestollen [= gestellt]. Aber haben sie leider
nicht die Vorräte geschocken [= geschickt]. Sie haben in der Schrank gestollen
(9/ESC 10, 3)
Sie bleibt bei ihrem ge- ... -en-Modell auch noch in der 5. und 6. Arbeit
(gewohnen, gesuchen, gespielen neben angekommen, gefunden). Im 7. Text
hingegen hat sie ihre Generalisierungsstrategie offensichtlich revidiert; jetzt
verwendet sie normkonform sowohl regelmässige als auch unregelmässige
Partizipien:
(20) [...] weil sie wie ein Punk ausgesehen hat – Petra hat gesagt – seinen Freunden
haben sie gelacht – dass sie zum Frisör gegangen ist (9/ESC 10, 7)
(21) Aber ich trieffe eine Freundin – [...] wo wir die Freunden dachen zu finden
(9/ESC 10, 8)
Von Suzanne T (ECG 10) liegen uns bedauerlicherweise nur die ersten vier
Arbeiten vor; sie ging uns dann durch Schulwechsel verloren. Innerhalb die-
ses einen Jahres bearbeitet sie mit eindrucksvoller Konsequenz die Satzmo-
delle. Ihr erster Text besteht ausschliesslich aus S-V-Sätzen:
(22) Jetzt ich bin 16 Jahre alt, und in 10 Jahren ich bin eine Frau mit viele Kinder
[...] Jetzt ich bin in die Schule, aber in 10 Jahren ich bin fertig Ich möchte, dass
meine Famillie ist glücklich mit mich. [...] Ich glaube dass in 10 Jahren mein
Leben ist nicht egal (ECG 10, 1)
(23) Jeden Tag in Mainz, ein Mann getöt war. [...] Am Monttag, um 19 Uhr er sein
Arbeit vertig gehabt. Um 19h15 Er nach Hause gekommen ist. Er sehr müde
war. [...] Wann er gekommen ist, er nimmt die Abendessen und eine Flasche
Wein getrunken hat. Nach dem drei Stunden, zwei Einbrecher bei Helmut ge-
kommen sind. Was passiert ist nach dem 23 Uhr? Die Einbrechern Helmut ge-
töt war und sie weckgegangen sind [...] (ECG 10, 3)
In ihrem vierten und letzten Text kommt leider kein Nebensatz vor. Hingegen
hat Suzanne zum Hauptsatzmodell S-V zurückgefunden und kann nun auch
die Inversion mehrheitlich korrekt einsetzen:
(24) Helmut Müller ist ein dicker Mann. Seine Haare sind schwarz. [...] Neben, er
hat ein kleiner Koffer, zwischen Helmut und Koffer legt seine orangen Jacke.
Auf die Jacke legt die Cigaretten. In Flughafen diskutiert er mit seine Serkräte-
rin [...] (ECG 10, 4)
6.2.4 Vermeidung
Eine weitere, ebenfalls oft in der Literatur genannte Strategie, die Vermei-
dung,19 ist aus unserem Material noch schwerer zu erschliessen. Um diese
Strategien identifizieren zu können, brauchen wir relativ eindeutige Signale,
dass und was die betreffende Testperson tatsächlich zu vermeiden suchte.
_______________
18
Sie ist die bereits in Kapitel 4.4.4.1 erwähnte Schülerin, die als Einzige die Verb-
Endstellung in so konsequenter Weise generalisiert (vgl. Beispiel 118, S. 104).
19
„[...] avoidance of ‘difficult’ structures is a familiar phenomenon in SLA. It con-
forms with similar results reported by the ZISA researchers for many of their sub-
jects.“ (Ellis 1989: 317)
348
Solche Signale sind selten; wo sie erkennbar sind, zeigt sich wieder, dass
auch diese Strategie sowohl effizient als auch ineffizient eingesetzt werden
kann.
Die oben bereits genannte Schülerin Sophie R (7/8), die in ihrem 3. Text
(fast) alle abweichend realisierten Inversionskontexte korrigiert (siehe oben
Beispiel 1), scheint erkannt zu haben, dass inversionsfordernde Kontexte eine
Gefahrenzone für sie sind. In ihrem 5. Text – einer Bildbeschreibung, die
eben Inversionskontexte elizidieren sollte durch vorangestellte Lokalbestim-
mungen – geht sie der Herausforderung konsequent aus dem Weg und reiht
ausschliesslich S-V-Sätze aneinander; Adjektive verwendet sie nur prädikativ,
auch wenn auf diese Weise ein etwas befremdlicher Text entsteht, der nicht
unbedingt für eine Bildbeschreibung typisch ist:
(25) Der Kühlschrank ist offen. Die Tomate sind rot. Er liest der Kochbuch. Der
Hund laüft. Das Milch ist im der Kühlschrank. Es ist warm. Er schneidet die
Wurst. Die Pfanne ist gelb. Die Mutter kommt. Der Vater ist dick. Der Hund ist
braun. Die Schwester ist gesund. Der Bruder ist nicht schöner als seine Schwes-
ter. Das Kotellett schmekt gut. (7/8, 5)
Ein noch deutlicheres Indiz liefert der 7. Text. Sophies dritter Satz präsentiert
sich so:
(26) Zum Früst [durchgestrichen] Frühstück [durchgestrichen] Petra geht zum Früh-
stück mit grünen Haaren (7/8, 7)
Es ist also wohl nicht die Schwierigkeit der Orthografie, die Sophie von ei-
nem Satzanfang mit der Lokalangabe zurückschrecken lässt, sondern
(vermutlich) der inversionsfordernde Kontext. Sie richtet es so ein, dass sie
nur Formen und Strukturen verwendet, deren sie sicher ist, wobei sie offen-
sichtlich die Grenzen ihrer Kompetenz recht genau einzuschätzen vermag; ein
Verhalten, das sich nach den heutigen Evaluierungskriterien des Fremd-
sprachenunterrichts sicher bezahlt macht.
Wie Vermeidungsstrategien aber auch den Erwerbsprozess blockieren
können, zeigt das Beispiel von Mélanie C (8/9). Ihre Schwierigkeit liegt beim
Perfekt. In ihrem 4. Aufsatz kommen drei Perfektversuche vor, einer ist ge-
lungen, bei einem korrigiert sie sich, eine Abweichung übersieht sie:
(27) Der Mann hat zu viel Bier getrunken. Er hat gut geschläfen [K: hatte gut schläfen]
[...] weil er 50 km machen hat (8/9, 4)
(28) [...] weil er seine Mouse verlieren hat und mein Hund auch seinen Knochen ge-
ben hat (8/9, 8)
(29) Weisst du, dass du [durchgestrichen: kann kommen] gehen nach New York
kannst (8/9, 3)
(30) Paulo fährt in Italien weil er [durchgestrichen: sehen] sein Famille
[durchgestrichen: musst] sehen musst (8/9, 4)
Im 5. Aufsatz erscheint noch ein (korrekter) Nebensatz, kein Kontext für Dis-
tanzstellung; in der 6. und 7. Arbeit gibt es keinerlei Nebensatzkontexte, und
im einzigen Distanzstellungskontext fehlt der infinite Prädikatsteil. Vergan-
genheitsformen kommen in keinem seiner Texte vor, und die 8. Arbeit hat er
sich geweigert mitzuschreiben. Am Ende der 9. Klasse befindet er sich somit
sowohl bei den Satzmodellen als auch im Verbalbereich auf dem Niveau ei-
nes durchschnittlichen Cycle-Schülers der 7. Klasse.
Eine Vermeidungsstrategie dürfte vermutlich auch dann vorliegen, wenn,
wie oben ausgeführt (S. 284), Präpositionen über den ganzen Beobachtungs-
zeitraum hinweg vermieden werden. Eine solche Abstinenz schränkt aller-
dings die Kommunikationsmöglichkeiten drastisch ein, da beispielsweise für
den Ausdruck von Zeit- und Raumverhältnissen kaum auf alternative Aus-
drucksmittel ausgewichen werden kann.
Die Strategie des Monitoring, also der bewussten Kontrolle bzw. nachträgli-
chen Korrektur der eigenen Sprachproduktion unter Einsatz des Regelwis-
sens, ist nicht auf die gleiche Ebene zu stellen wie die bisher besprochenen,
350
die ja, zumindest teilweise, unterhalb der Bewusstseinsstufe operieren. Von
einer Untersuchung zum gesteuerten Grammatikerwerb darf jedoch erwartet
werden, dass sie den Indizien nachgeht, die auf bewusstes Lernen hindeuten –
zumal in der Fremdsprachendidaktik ja nach wie vor davon ausgegangen
wird, dass (bewusstes) Regelwissen und (bewusste) Regelanwendung der di-
rekteste Weg zur Beherrschung der L2-Grammatik sind. Es ist keineswegs
erstaunlich, dass monitoring und attending to form nach Auskunft von Reiss
(1985) als die häufigsten Strategien von Schülern genannt werden, die ihre
Lehrer als „gut“ bezeichnen.20
Bei allen oben erwähnten Erwerbsstrategien kann der Monitor zum Einsatz
kommen; in einigen Fällen – wie bei Sophie Rs Vermeidungsstrategien (siehe
die Beispiele 25 und 26) – sind die Indizien für bewusste Steuerung der
Produktion relativ deutlich. Meistens fehlen jedoch eindeutige Hinweise, es
sei denn, die Schülerinnen und Schüler signalisieren durch Anführungs-
zeichen (etwa bei Transfer), Einklammerungen (z. B. von Wörtern der L1)
oder Selbstkorrekturen, dass sie sich ihrer Vorgehensweisen bewusst sind
bzw. dass sie ihre Verstösse gegen ihren interimssprachlichen L2-Wissens-
stand zu erkennen vermögen.
Wir beschränken uns im Folgenden auf die grammatischen Selbstkorrekturen
als wohl eindeutigstem Indiz für Monitor-Einsatz im Grammatikerwerb. Ist das
hohe Prestige des Monitoring als effizientester Erwerbsstrategie gerechtfertigt, so
müsste sich dies auch an den Produktionen unserer Probanden ablesen lassen.
Nun zeigten schon die Selbstkorrekturen des soeben erwähnten Cédric
(vgl. Beispiele 29 und 30), dass der Monitor-Einsatz keinesfalls generell als
Garantie für erfolgreichen Spracherwerb gelten kann. Es kommt vielmehr
darauf an, wie das Regelwissen beschaffen ist, das zur Kontrolle der Sprach-
produktion herangezogen wird.
Ein aufschlussreiches Beispiel für die Grenzen des Monitor-Einsatzes
bietet Sophie V (4/5). Sie verwendet schon von ihrem 2. Text an (in der
vierten Primarschulklasse!) und durchgehend bis zum 8. Inversionen; und wo
sie sie anzuwenden vergisst, wie etwa in der 4. und in der 8. Arbeit je einmal,
korrigiert sie sich, so dass davon ausgegangen werden kann, dass Sophie – in
eklatantem Widerspruch zur Erwerbssequenz im Satzmodellbereich – am
Ende der 5. Klasse die Inversion beherrscht, weit vor Distanzstellung und
Nebensatz. Wir sind diesem erstaunlichen Phänomen nachgegangen und ha-
ben die Schülerin zwei Jahre nach Abschluss der Datenerhebung noch einmal
_______________
20
Zitiert bei Ellis (1994: 546). Ebenso gelten im Rahmen der good language lear-
ner-Forschung attention to form und monitoring one’s own and other’s speech als
Schlüsselstrategien (vgl. Ellis 1994: 546, mit Bezug auf die Arbeiten von Rubin
1975 und Naiman et al. 1978).
351
einen Text redigieren lassen.21 Alle vier Sätze ihres Textes beginnen mit einer
Zeitangabe, und in allen Sätzen verwendet Sophie die S-V-Struktur:
(31) Am Montag, ich gehe in der Stadt oder der Ciné. Heute Nachmittag, ich gehe
Mcdo und der Ciné. Am Samstag ich (reste) in der Haus mit mein klein Brüder.
Am Sonntag, ich mache mein Hausaufgaben und ich mache meine Zimmer.
(Sophie V, 7. Klasse)
Monitoring, so könnte man aufgrund dieses Befundes sagen, ist dem Erwerb
nur dann förderlich, wenn es sich auf Formen und Strukturen bezieht, für die
die erwerbsmässigen Voraussetzungen gegeben sind.
Diese Voraussetzungen sind zum Beispiel bei Yvan B (8/9) erfüllt, und
zwar für den Erwerb des Partizips. Sein 4. Text zeigt, dass er das zweiglied-
rige Prädikat Modalverb+Infinitiv beherrscht:
(32) Werner [...] will nach Italien fahren – er muss mit Auto stop fahren – er muss in
die Jugendherberge gehen – er müss zu fuss gehen
(33) Der Fahrer hat das Auto von vor nicht gesehen [K: sehen] und hat einer Unfall
gemacht [K: machen]
Die Themen der nächsten beiden Aufsätze geben keine Gelegenheit zu Ver-
gangenheitsformen; erst im siebten Text kann Yvan wieder Perfekt anbringen.
Er tut das in jedem Satz (insofern er nicht Präterita wie war oder gab
verwendet). Kein einziges Mal ist er versucht, Infinitive anstelle von Partizi-
pien zu verwenden, und seine Partizipien weisen konstant die Form ge- ... en
auf (siehe oben unter „Generalisierungen“ Beispiel Nr. 11). Seine Selbstkor-
rekturen in der vierten Arbeit bilden offensichtlich den Auftakt zum Erwerb
des Perfekts.
Es sei noch einmal darauf verwiesen: solche (relativ) eindeutigen Beispiele
sind die Ausnahme. Die Schülerarbeiten vermitteln in ihrer überwiegenden
Mehrheit nicht den Eindruck, dass sich ihre Autoren konsequent an bestimmte
Erwerbsstrategien halten. Von wenigen Einzelfällen abgesehen konnten wir
auch keine Strategienpräferenzen ermitteln; alle Schüler reduzieren komplexe
Formenparadigmen und generalisieren bestimmte Formen, alle greifen auf
_______________
21
Vgl. dazu Kapitel 4.4.2.3, insbesondere Tab. 5 mit den Ergebnissen der Nachun-
tersuchung der Primarschulklasse 4b/5b.
352
ihre L1 zurück, alle verwenden Chunks – allerdings wissen sie diese
Strategien in mehr oder weniger effizienter Weise einzusetzen. Es trifft zwar
zu, dass sich bei den erfolgreicheren Lernern eine Verlagerung im
Strategiengebrauch beobachten lässt; L1-Transferstrategien werden mehr und
mehr durch Generalisierungen von Formen und Strukturen der L2 ersetzt22
(vgl. Kapitel 4.4.3.3, S. 92); ausserdem geht der Anteil an Chunks zurück.23
Es trifft auch zu, dass bei den weniger Erfolgreichen verschiedene Verhal-
tensweisen zu beobachten sind, mit denen sie auf den Druck des schulischen
Grammatikunterrichts reagieren: bei den einen Resignation (so interpretieren
wir Texte mit völlig chaotischer Struktur und willkürlich distribuierten
grammatischen Flexiven), bei anderen Verweigerung (was sich in
„Minimaltexten“ oder hingeworfenen Satzfragmenten, auch in extremen
Vereinfachungen niederschlagen kann); wieder andere arbeiten sich unbeirrt
im eigenen Rhythmus durch die Erwerbssequenz, immun gegen den Gram-
matikinput des Unterrichts. Doch sind dies Lernerverhalten, die in den Zu-
ständigkeitsbereich der Lernpsychologie fallen; und wenn wir auch genügend
Indizien dafür zu haben glauben, dass grammatisches Erwerbsverhalten und
Persönlichkeitsstruktur sehr wohl aufeinander bezogen werden können, so
haben wir doch an dieser Stelle die Grenze unserer Kompetenz erreicht.
Es muss also angenommen werden, dass die Gründe für die individuellen
Unterschiede im Lernerfolg noch „unterhalb“ der Strategien zu suchen sind.
Eine der Erklärungshypothesen, schon 1962 von John B. Carroll aufgestellt
und bis 1983 immer wieder reformuliert, ist die „language aptitude“, die
Sprachfähigkeit – vielleicht noch deutlicher: die Sprachlernfähigkeit,24 mit
der L2-Lerner in unterschiedlichem Masse ausgestattet seien.
Nach Carroll setzt sich die Sprachlernfähigkeit aus vier Komponenten zu-
sammen:25
_______________
22
Entsprechendes beobachten auch O’Malley/A. Chamot (1990, vor allem 127).
23
Vgl. etwa den Rückgang der Chunks bei Präpositionalphrasen, oben S. 297.
24
Wir ziehen diese Bezeichnung der sonst in der Literatur verwendeten Übersetzung
„Sprachlernneigung“ (Wode 1988: 295f.) vor.
25
Eine ausführliche kommentierte Darstellung der einschlägigen Arbeiten von Car-
roll ist bei Skehan (1989: 25ff.) nachzulesen; die Zusammenstellung der Veröf-
fentlichungen zwischen 1965 und 1983 auf S. 152. Vgl. auch die eher kritische
Darstellung bei Wode (1988: 295ff.).
353
− Grammatical Sensitivity, d. h. die Fähigkeit, die grammatische Funktion
von Wörtern in Sätzen zu erkennen. Untersuchungen haben gezeigt, dass
die „grammatische Sensibilität“ weder durch verschiedene Unterrichts-
methoden noch durch entsprechendes Training oder Sprachlernerfahrung
wesentlich beeinflusst wird.
− Inductive Language Learning Ability führt noch einen Schritt weiter als
die „grammatische Sensibilität“: sie befähigt dazu, im Input bestimmte
Muster bzw. regelhafte Entsprechungen zu identifizieren und zu extrapo-
lieren. Mit den Worten von Carrol: Inductive Language Learning Ability
ist
the ability to infer linguistic forms, rules and patterns from new linguistic content
itself with a minimum of supervision or guidance. (Carroll 1962: 130)
− Rote learning activity for foreign language materials, die dritte Kompo-
nente der language aptitude, wäre in unserer Terminologie gleichzusetzen
mit der Fähigkeit, eine möglichst grosse Anzahl von Chunks im Gedächt-
nis zu speichern. So banal dies dem Laien erscheinen mag – im Kontext
der Spracherwerbsforschung der 90er Jahre erscheint es doch in einem an-
deren Licht. Nachdem der kognitive Aspekt des Regelerschliessens so sehr
in den Vordergrund gerückt worden war, ist nun offenbar der Zeitpunkt
gekommen, mit dem Verweis auf die notwendige Gedächtniskapazität
wieder der Realität des (schulischen) Fremdsprachenlernens einen Schritt
näher zu kommen. Auch good language learners kommen nicht ohne ei-
nen grossen Vorrat sprachlicher Fertigteile aus, selbst wenn sie adäquater
damit umgehen können als die weniger Begabten:
In reality language and language use are heavily dependent on memory systems,
which in turn rely to a considerable extent on prefabricated and idiomatic lan-
guage. If this second viewpoint is accepted, there is an even more enlarged role for
memory, since it suggests that language development consists of the acquisition of,
and control over, more and more language „chunks“, implying a retrieval system of
enormous scale and complexity. (Skehan 1989: 41)
Auf die vierte Komponente, die Phonemic Coding Ability, brauchen wir hier
nicht einzugehen. Caroll definiert sie als die Fähigkeit, Laute der L2 zu iden-
tifizieren, mit bestimmten Funktionen bzw. Bedeutungen zu verbinden und in
abrufbarer Form im Gedächtnis zu speichern.26 Diese Fähigkeit könnte zwar
an den frühen Verschriftungsversuchen unserer Primarschulkinder überprüft
werden; doch gehörte dies nicht zu unserem primären Forschungsinteresse.
Ob mit Carrolls „Sprachlernfähigkeit“ tatsächlich das letzte Wort zu den
individuellen Unterschieden im Erwerbserfolg gesprochen ist, bleibt abzu-
_______________
26
Carroll (1962: 128).
354
warten. Wode (1988) äussert sich skeptisch;27 Skehan (1989)28 und Ellis
(1994) hingegen halten die language aptitude für das zuverlässigste Krite-
rium für die Voraussage von Sprachlernerfolg.29 Doch welchen Status man
dieser Sprachlernfähigkeit auch immer einräumen mag – sei es als genetisch
vorgegebene Begabung, sei es als Resultante eines ganzen Bündels von per-
sönlichen und soziokulturellen Faktoren –, unsere Probanden scheinen in
unterschiedlichem Masse darüber zu verfügen. Dabei sind die good language
learners nicht nur am Erwerbserfolg zu erkennen, sondern auch an ihrem ak-
tiven Engagement im Sprachlernprozess: sie schreiben längere Texte, setzen
sich früh mit der Adjektivflexion auseinander (siehe S. 194), machen einen
extensiven Gebrauch von Präpositionen und Präpositionalphrasen (vgl. S.
284) und verstehen es, Erwerbsstrategien effizient einzusetzen. Ihren erfolg-
loseren Schulkameraden hingegen scheint es in erster Linie auf eine Mini-
malisierung von Risiko und/oder Anstrengung anzukommen, ablesbar an der
Kürze der Texte und an der Vermeidung fehlerträchtiger Formen und Struk-
turen.
Wir können also zu keiner anderen „Typologisierung“ unserer Lerner ge-
langen als zu der tautologischen Zweiteilung in „gute“ Sprachlerner – d. h.
solche, die neben einem guten Gedächtnis auch über grammatische Sensibi-
lität und Induktionsfähigkeit verfügen – und „schwache“ Sprachlerner, die
diese Fähigkeiten nicht einsetzen (können). In Fremdsprachenklassen dürfte
die grosse Mehrheit der Schülerinnen und Schüler auf einer breiten Skala von
Übergängen zwischen den beiden Extremen angesiedelt sein, wobei die Fä-
higkeit des Memorisierens und die des Analysierens in jedem Einzelfall un-
terschiedlich gewichtet sein dürften.
_______________
27
Vgl. den kritischen Kommentar in 1988: 296f., den er mit folgenden Worten ab-
schliesst: „[Es] ist noch immer nicht auszuschliessen, dass eine besondere L2- und
FU-Lernneignung oder gar eine alle Spracherwerbstypen betreffende Sprachbega-
bung nicht doch das Ergebnis einer günstigen Konstellation anderer Eigenschaften
von Sprechern wie affektive Variablen und Merkmale der Persönlichkeitsstruktur
ist.“ (1988: 297)
28
Vgl. Skehan: „aptitude is at least as important, and usually more important, than
any other varaible investigated [...] aptitude is consistently the most successful
predictor of language learning success.“ (Skehan 1989: 38)
29
Vgl. Ellis (1994: 498), dort auch das Zitat von Gardner/MacIntyre (1992: 215):
„Research makes it clear that in the long run language aptitude is probably the
single best predictor of achievement in a second language.“
355
6.4 Intraindividuelle Variation
Nun sind die Verhältnisse aber insofern noch komplizierter, als neben den
„interindividuellen Variationen“ (Wode 1988: 90), den Variationen zwischen
den verschiedenen Lernern, auch mit „intraindividuellen“ Variationen ge-
rechnet werden muss, d. h. mit Variationen bei den einzelnen Lernern. Prob-
lematisch ist dabei nicht die „diachronische Variabilität“; diese widerspiegelt
ja lediglich den individuellen Erwerbsverlauf – wohl aber die „synchronische
Variabilität“ (Ellen Bialystok 1984: 110f.). Damit ist gemeint, dass in ein und
demselben Text korrekte und abweichende Formen koexistieren, ohne er-
kenntlichen Grund, weshalb im einen Fall die zielsprachenkonforme Norm
angewendet werden konnte und im anderen nicht. Verschiedene Erklärungs-
hypothesen wurden für dieses Phänomen angeboten. Von ihrer ursprünglichen
These, dies sei mit dem unterschiedlichen Aufmerksamkeitsgrad zu erklären,
den der L2-Lerner seiner Produktion zuwende,30 nahm Elaine Tarone später
selber Abstand.31 Bialystok (1984) führt es auf die Schwierigkeit zurück,
neues Regelwissen in das lernersprachliche System zu integrieren und
anzuwenden.32 Ellis’ Variable Competence Model (1985) geht von derselben
Annahme aus. Nach Ellis koexistieren in den Lernersprachen zu jedem Zeit-
punkt konkurrierende Regeln: die bis zu diesem Zeitpunkt gebrauchten und
die der neuen Erwerbsstufe. An Phasenübergängen werden beide in denselben
Kontexten angewendet, teilweise in systematischer Variation (an bestimmte
kontextuelle Bedingungen geknüpft), teilweise in freier Variation:
The natural route does not manifest itself in a series of clearly delineated stages.
Rather each stage overlaps with the one that precedes and follows it. Each new rule
is slowly extended over a range of linguistic contexts. Therefore, at any given stage
of development, the learner’s interlanguage system will contain a number of
competing rules, with one rule guiding performance at one occasion and another
rule on a different occasion. In addition, each interlanguage system contains lin-
guistic forms that are in free variation; that is, forms that are not guided by rules
and whose use is not systematic at all. (Ellis 1985: 75)
_______________
30
„It is possible to range the styles of a speaker along a continuous dimension de-
fined by the amount of attention paid to speech.“ (1982: 151)
31
Vgl. Tarone (1988: 100f.).
32
Bialystok (1984: 110f.).
33
Vgl. Ellis (1994: 366).
356
L2-Sprechern;34 auch der Deutscherwerb der ZISA-Gastarbeiter, so Clah-
sen/Meisel/Pienemann, sei „durch eine gewisse Instabilität“, hauptsächlich an
Phasenübergängen, gekennzeichnet (1983: 140).
Nun ist aber diese synchrone intraindividuelle Variabilität, auch wenn sie
bei allen unseren Testpersonen vorkommt, sicher nicht überall dieselbe. Bei
den erfolgreichen Schülerinnen und Schülern tritt sie tatsächlich vorwiegend
dort auf, wo der Erwerb einer neuen Regel im Gange ist; sie endet mit dem
Abschluss des Erwerbs. Bei den schwächsten hingegen bewirkt jede Einfüh-
rung einer neuen Regel eine Zunahme der Variabilität: da ihr Grammatiker-
werb mit dem Grammatikunterricht nicht Schritt halten kann, sind ihnen die
Anwendungsbedingungen der vorangegangenen Regel noch unklar (was sich
in der Koexistenz konkurrierender Formen niederschlägt), während sie bereits
mit neuen Regeln konfrontiert werden, auf die sie ebenfalls nicht anders re-
agieren können als mit freier Variation. So entsteht der Eindruck, mit zu-
nehmender Überforderung gehe auch das zuvor Erarbeitete wieder verloren.
Im Extremfall wirken die Texte solcher Schüler wie die beliebige Folge freier
Varianten, durchsetzt mit willkürlich verstreuten Chunks. Der Erwerb ist in
solchen Fällen nicht nur zum Stillstand gekommen – „fossilisiert“, um
Selinkers Ausdruck zu gebrauchen35 –, sondern er wird gewissermassen
rückgängig gemacht. Als Beispiel der Text eines Schülers zu Beginn der 10.
Klasse des Handelsgymnasiums:
(34) In 1602, die Savoyer hat Genf angegriffen. Aber die Genfer habt gewinnen.
Alles Jahre man ein Fest machen. Es gibt eine grossen Umzug in der Stadt. Man
bracht ein topf in Schokolade. Man verkleidt sich. Gil sich in Fernsehen
verkleiden letzte Jahre. In der Schule das ist lustig (Vincent C ESC 10/11, 1)
Eine Collège-Schülerin, die am Ende des 10. Schuljahres mit allen Satzmo-
dellen, einschliesslich der Inversion, umzugehen wusste, schreibt am Ende
des 11. Schuljahres folgenden Text:
_______________
34
„(This kind of variation) is not restricted to the language of L2 learners, but occurs
also, albeit not always in the same linguistic areas, among L1 speakers. The diffe-
rence, if any, between L1 and L2 speakers seems to be chiefly a quantitative mat-
ter, variable phenomena being an outstanding characteristic of L2 speakers.“
(Hyltenstam 1985: 118)
35
„Fossilizable linguistic phenomena are linguistic items, rules and subsystems
which speakers of a particular NL [native language] will tend to keep in their IL
[interlanguage] relative to a particular TL [target language], no matter what the age
of the learner or amount of explanation and instruction he receives in the TL“.
(Selinker 1972: 215) Oder, einfacher formuliert von Ellis: „The term fossilization
has been used to label the process by which non-target forms become fixed in in-
terlanguage.“ (Ellis 1994: 353)
357
(35) Ich denkte unterschreiben die Wichtige des Reise in Prag, wohin wir letzte
Woche gefahren waren. Aber für eine bessere Verstandung ich werde sprechen
wie wenn ich dächte auf eine Reise in Zukunft. So jetzt ich kann anfangen. Wir
werden fliegen mit einem Flugzeug von Swissair. Wenn wir werden in Prag,
wir können trinken Bier und essen einigen „Kolonada“. Wir werden viel lachen,
weil, um besuchen eine Stadt wir mussen sein einigen Freunden wer haben zu
lieben uns. Wir werden begrüssen neuen Personnen, so am endlich wir müssen
küssen vielen Menschen (Céline T C10/11, 8)
Wir können nun auf die eingangs formulierten Fragen und Arbeitshypothesen
zurückkommen:
− Welchen Gesetzmässigkeiten unterliegt der gesteuerte Zweitsprachener-
werb?
− Gibt es Analogien zum L1- und/oder zum natürlichen L2-Erwerb?
− Welche Rolle spielt die schulische Grammatikinstruktion?
Nachdem sich für die Verbalflexion, die Satzmodelle und die Kasus (in NP)
die Existenz von natürlichen Erwerbssequenzen hat nachweisen lassen, wäre
nun die Frage wieder aufzugreifen, inwieweit sich zwischen diesen drei Be-
reichen Korrelationen beobachten lassen, d. h. inwieweit der Erwerbsfort-
schritt in einem Bereich den Fortschritt in einem anderen Bereich zwingend
bedingt.
Tab. 55 fasst unsere Ergebnisse zusammen, sowohl die Erwerbsreihenfolge
innerhalb der drei sequenziell geordneten Erwerbsbereiche als auch die
Parallelen zwischen den Bereichen, wie sie aus unseren Analysen hervorge-
gangen sind. Die Tabelle ist also sowohl vertikal als auch horizontal zu lesen:
− Die Ver tikale zeigt die Erwerbssequenzen, die in den vorausgegangenen
Kapiteln für jeden einzelnen Bereich ermittelt wurden. Dieser Erwerbs-
verlauf kann überindividuelle Gültigkeit für sich in Anspruch nehmen; wir
haben innerhalb unseres Korpus keine Ausnahmen gefunden.
− Die Ho r izo ntale zeigt die Parallelen in den Erwerbsverläufen der drei
Teilbereiche, die bei einer repräsentativen Mehrheit der Testpersonen be-
obachtet wurden. Die unterschiedliche Länge der einzelnen Phasen ent-
spricht der bei den Testpersonen mehrheitlich beobachteten Erwerbsdauer
362
pro Phase, bezogen auf die Phasen der anderen Erwerbsbereiche. Grosso
modo situiert sich also jede unserer Testpersonen auf einer der möglichen
Horizontalen in dieser Tabelle.
Bei der horizontalen Lektüre ist jedoch mehr Vorsicht geboten als bei der
vertikalen. Hier kann es auch zu Verschiebungen kommen (dies soll mit den
gepunkteten Linien angedeutet werden), und zwar nach unseren Beobachtun-
gen nur auf Diagonalen von links unten nach rechts oben, m. a. W. in der je-
weils linken Spalte kann es einen Vorsprung im Vergleich zur jeweils rechten
Spalte geben, oder noch anders gesagt: manche Probanden kommen mit dem
Erwerb der Verbalflexion schneller voran als mit dem der Satzmodelle, und
mit diesem wiederum schneller als mit der Kasusflexion. Ein Beispiel: Test-
personen, die im Verbalbereich (A) mit Phase IV (Auxiliar + Partizip) und
bei den Satzmodellen (B) ebenfalls mit Phase IV (Nebensatz) beschäftigt
sind, befinden sich üblicherweise in Kasusphase II. Es kann aber auch verein-
zelt Schüler geben, die bei gleichem Stand in (A) und (B) noch nicht über Ka-
susphase I hinausgekommen sind.
Ob es sich bei Beobachtungen dieser Art um blosse Parallelen handelt oder
um erwerbstheoretisch begründbare, zwingende Korrelationen, wird, vor
allem in den letzten Jahren, innerhalb der Erwerbstheorie intensiv debattiert,
und zwar für den natürlichen wie auch für den gesteuerten Erwerb. Zwei
mögliche Korrelationen stehen zur Diskussion: einmal zwischen Inversions-
und Kasuserwerb, zum andern zwischen Verbstellung (insbesondere Verb-
zweit- und Verbendstellung) und Verbalflexion. Auf beides soll hier kurz
eingegangen werden, bevor wir unsere eigenen Ergebnisse daraufhin über-
prüfen.
Auf die erste, von Harald Clahsen (1984a) für den L1-Erwerb formulierte
Korrelation zwischen Inversions- und Kasuserwerb sind wir oben schon kurz
eingegangen, ebenso auf die überzeugende Widerlegung durch Jürgen Meisel
(1986; vgl. S. 253). Obwohl auch bei unseren Probanden tatsächlich eine Pa-
rallele zwischen dem Erwerb der Inversion und der Klärung des Kasussys-
tems zu beobachten ist, scheint uns die funktionalistische Erklärung Clahsens
für unsere Probanden nicht zu greifen, aus denselben Gründen, die Meisel ins
363
Feld geführt hatte.1 Soweit wir sehen, wurde diese Hypothese in der weiteren
Diskussion fallengelassen, auch Clahsen scheint Abstand davon genommen
zu haben.
Auch die zweite Korrelation, diejenige zwischen Verbstellung und Verb-
flexion, wurde oben bereits kommentiert.2 Es scheint in der gegenwärtigen
Diskussion unbestritten, dass beim deutschen L1-Erwerb tatsächlich zwischen
diesen beiden Phänomenen ein ursächlicher Zusammenhang besteht. Ob
allerdings die Verbbewegung (vom Satzende an die Erst- oder Zweitposition)
mit der Subjekt-Verb-Kongruenz korreliert, wie Clahsen (1988b) meint, oder
nur mit der Dichotomie Finitheit/Infinitheit, wie Verrips/Weissenborn (1992)
einwenden, steht noch zur Debatte.
_______________
1
Zudem kann auf die Arbeit von Lise Klein-Gunnewiek verwiesen werden, die den
gesteuerten Deutscherwerb niederländischer Schüler und Studenten beschreibt: sie
bestätigt, dass niederländischen Lernern das deutsche Kasussystem genau diesel-
ben Schwierigkeiten bereitet wie anderssprachigen, obwohl sich die niederländi-
sche Syntax mit der deutschen in den einschlägigen Verbstellungsregeln deckt.
2
Siehe S. 60.
364
........................................ ........................................
III
Konjugation der unregel-
mässigen Verben im III
Präsens Distanzstellung .......................................
(Verbalklammer)
Modalverb + Infinitiv
........................................ II
Ein-Kasus-System
........................................ (beliebig verteilte
N-, A-, D-Formen)
IV IV
Auxiliar + Partizip Nebensatz
........................................
.......................................
V III
Inversion Zwei-Kasus-System
........................................ (X-Verb-Subjekt) Nominativ + Objektkasus
(N-Formen + beliebig
verteilte
V ........................................ A- und D-Formen)
Präteritum
.......................................
........................................ Erwerb der Satzmodelle IV
I – V abgeschlossen Drei-Kasus-System
VI Nominativ + Akkusativ +
übrige Formen Dativ (N-Formen +
A-Formen + D-Formen)
Tab. 55: Erwerbssequenzen
365
Die Frage nach entsprechenden Korrelationen im L2-Erwerb rührt wieder an
die alte Kontroverse bezüglich der UG-Zugänglichkeit für Zweitsprachenler-
ner (siehe S. 31). Clahsen (1988b) bestreitet als entschiedener Vertreter der
No-UG-at-all-Position die Existenz von Korrelationen im natürlichen L2-
Erwerb und sieht sich in seiner Annahme durch die Erwerbsverläufe der
ZISA-Probanden bestätigt. Höchstens in ZISA-Phase IV (Verb-Endstellung
im Nebensatz) ist nach Clahsen eine Interaktion zwischen beiden Bereichen
denkbar, insofern als die Struktur des Nebensatzes das Konzept „Finitheit“
voraussetzt.3 Nach Peter Jordens (1988b) hingegen sind schon ab ZISA-Phase
III (SEP = Distanzstellung) Verbalflexion und Verbstellung korreliert, wobei
die erste die Voraussetzung für die zweite bildet;4 dies gilt seinen Be-
obachtungen nach für den natürlichen und den gesteuerten L2-Erwerb des
Deutschen (und des Niederländischen) ebenso wie für den L1-Erwerb (siehe
S. 60).
Manfred Pienemann gelangt wieder zu anderen Ergebnissen. Analog zu
den von Clahsen (1984b) formulierten Strategien für den Wortstellungser-
werb der ZISA-Probanden konstruiert er eine entsprechende Rangfolge für
den Verbalbereich, vom verarbeitungstechnisch Einfachen zum Komplexen
aufsteigend. „Lokale Morpheme“ (was gleichbedeutend ist mit Booijs
„inhärenter Flexion“, also etwa das Präfix ge- am Partizip, siehe S. 119) sind
nach Pienemann leichter erwerbbar als „nicht-lokale“ (d. h. die „kontextuelle
Flexion“),5 denn letztere setzen ein komplexes Wissen über das Beziehungs-
gefüge im Satz voraus, das auf syntaktischer Ebene erst in der ZISA-Phase IV
„INV“ erreicht ist. Somit ist nach Pienemann der Erwerb der Subjekt-Verb-
Kongruenz mit dem Inversionserwerb korreliert. Sein australischer
Teststudent Guy verhält sich denn auch in seinem gesteuerten L2-Erwerb ge-
nauso wie von Pienemann vorausgesagt; alle normgerechten Verbflexionen,
die Guy vor der Inversionsphase gebraucht, sind nach Pienemanns Interpre-
tation Chunks.6 Allerdings ist Guys Erwerbsverhalten offenbar nicht für aus-
_______________
3
„[...] the notion of agreement is present from the beginning of the acquisition
process [...]. Moreover, the agreement paradigm is only gradually attained, and its
acquisition is independant of the development of verb placement, at least up to
Phase IV.“ (Clahsen 1988: 64)
4
„The acquisition of the distinction between the finite and the non-finite verb cate-
gory is a prerequisite to the acquisition of the positioning of both verbal categories.
Therefore L2 learners are now able to acquire the rule that the non-finite part of
the predicate has to occur in sentence-final position. Above this has been referred
to as the acquisition of the Particle Rule. As has been pointed out the use of the
non-finite part of the predicate sentence-finally enables L2 learners to acquire OV
as underlying word order instead of VO.“ (Jordens 1988b: 155)
5
Zu demselben Urteil kommt auch Booij, siehe oben S. 119.
6
„[...] the random occurence of the verbal inflectional morpheme -t varies within
the same range as the occurence of the same morpheme in contexts where it marks
366
tralische Deutschstudenten repräsentativ; die acht Testpersonen von Bettina
Boss beherrschten die Verbformen der 1. und 3. Person (Singular Präsens)
von Anfang an mit einem hohen Korrektheitsgrad und nachweislich nicht nur
als Chunks (Boss 1998). Auch die Schülerpopulation des DiGS-Korpus er-
wirbt die Subjekt-Verb-Kongruenz ganz eindeutig weit vor der Subjekt-Verb-
Inversion (wenn auch der Erwerb der Verbflexion vielleicht etwas länger
braucht als bei Boss’ Studenten), womit Pienemanns These zumindest der
Boden des empirischen Nachweises entzogen ist.
Dass in der Frage der Korrelationen verschiedener Erwerbsbereiche so di-
vergierende Positionen vertreten und zudem so unterschiedliche empirische
Befunde vorgelegt werden, mag verschiedene Gründe haben. Jeansen (1991:
25) führt dies auf das Fehlen eindeutiger Definitionen und Analysekriterien
zurück; sie zweifelt auch an der Vergleichbarkeit der verschiedenen Korpora.
Wir meinen zudem, dass oft auch die Datenbasis viel zu schmal ist, um all-
gemeingültige Aussagen daraus ableiten zu können. Nach unseren Erfahrun-
gen mit dem DiGS-Korpus wird sich immer eine Testperson finden lassen,
die – bei entsprechender Festlegung der Analysekriterien – Belege für die
verschiedensten theoretischen Postulate liefern kann.
Zu Beginn des DiGS-Projektes war die Existenz von Korrelationen eine un-
serer Arbeitshypothesen gewesen; wir waren davon ausgegangen, empirisch
abgesicherte Grundlagen für diese These liefern zu können. Wir sind nun zu-
rückhaltender geworden, denn die individuelle Variation scheint uns zu gross
zu sein, um erwerbslogische Zusammenhänge zwischen den einzelnen Berei-
chen postulieren zu können (siehe unseren Kommentar zu Tab. 55, S. 362).
Es ist sicher kein Zufall, dass Clahsen, Pienemann und Jordens zu so diver-
gierenden Schlüssen gelangt sind; jede ihrer Testpersonen repräsentiert eben
einen möglichen Einzelfall, der sicher nicht verallgemeinert werden darf. Üb-
rigens fanden wir keine dieser Korrelationen in unserem Korpus bestätigt: Die
Subjekt-Verb-Kongruenz beherrschen unsere Probanden in grossen Zügen
schon vor der Distanzstellung (= SEP), vor dem Nebensatz (= VEnd) und erst
recht vor der Inversion (in Aussagesätzen).
Dennoch kann das Erwerbsbild, das Tab. 55 zeigt, nicht zufällig sein; ab-
gesehen von den oben erwähnten „diagonalen“ Verschiebungen trifft sie im-
merhin auf über 200 französischsprachige Deutschlernende zu. Unsere Beob-
achtungen legen uns folgende Interpretation nahe:
________________
_______________
7
Vgl. S. 224; dazu Meisel (1986: 177). Zu Slobin vgl. S. 34.
8
Dies entspricht genau der „Initial Word Order Hypothesis“, die Zobl schon 1986
formulierte: „The initial word order stage in GSLA [= German Second Language
Acquisition] reflects the word order of the learner’s L1: for learners whose L1 is
SVO (head-initial) the first GSLA stage is predicted to be SVO; for learners whose
L1 is SOV (head-final) the first stage is predicted to be SOV“ (zitiert nach Jeansen
1991: 26).
368
sisstruktur: die Distanz zwischen Subjekt und Verb vergrössert sich (von S-V
zu S-Vfin ... Vinfin bis zu S ... V), und schliesslich kehrt sich die Reihenfolge
um in V-S.
Wenn allerdings die Satzstruktur eine eindeutige kommunikative Funktion
signalisiert (wie die Inversion in Fragesätzen), dann wird die dominierende
Rolle der L1 ausser Kraft gesetzt: in Fragesätzen wird die Inversion ohne
grössere Schwierigkeiten schon von den Primarschulkindern angewendet (vgl.
S. 84). Insgesamt gesehen bildet der Satzmodell-Erwerb kein unüber-
windliches Problem; es ist der einzige der drei Bereiche, der von den Erfolg-
reichsten bereits am Ende des Cycle d’orientation abgeschlossen werden
kann.
Es sind also jeweils verschiedene Faktoren – kommunikative Relevanz,
Verarbeitungskomplexität, L1-Transfer (konzeptionell oder strukturell) –, die
sich in den drei Bereichen je unterschiedlich kombinieren und den Erwerb
fördern oder verzögern. Gewiss spielt auch die jeweilige Beschaffenheit der
L2 und der L1 eine Rolle; ein derart undurchschaubares morphologisches
Geflecht wie das der deutschen Nominalflexion dürfte für alle Deutschlerner,
gleich welcher Muttersprache, schwer zu erwerben sein; beim Satzmodeller-
werb hingegen wird die Reihenfolge, wie schon nachgewiesen wurde, durch
die strukturelle Ähnlichkeit bzw. Ferne der beiden Sprachen beeinflusst.
Tab. 55 gilt somit nur für frankophone Lerner des Deutschen und ist ge-
wiss nicht unbesehen auf andere Sprachenpaare zu übertragen. Sie zeigt, wie
sich die drei Erwerbsbereiche zeitlich einander zuordnen lassen, und kann in-
sofern bei der Ermittlung von Erwerbsständen hilfreich sein, als der Stand in
einem der Bereiche Hypothesen über den Stand in den anderen Bereichen
ermöglicht, in denen vielleicht verlässliche Indizien fehlen. Wer zum Beispiel
den Nebensatz bearbeitet (= Satzmodellphase IV), in seinem Text aber jede
eindeutige Kasusmarkierung vermissen lässt, befindet sich mit einiger
Wahrscheinlichkeit in Kasusphase II, möglicherweise auch noch in Phase I,
aber sicher nicht in Phase III.
Mit diesen Ergebnissen glauben wir hinreichend glaubwürdig belegen zu
können, weshalb wir einsträngigen theoretischen Modellen zum Zweitspra-
chenerwerb gegenüber skeptisch sind. Wie oben (S. 43, insbesondere Fuss-
noten 62 und 63) bereits ausgeführt, glauben auch wir – wie Wode (1988),
wie Ellis (1994) –, dass beim Spracherwerb zu viele verschiedenartige kog-
nitive Techniken zusammenwirken, als dass er mit einer der bisher vorge-
legten Theorien vollständig erklärt werden könnte. Abschliessend zu dieser
Frage sei noch einmal Ellis zitiert, der am Ende seiner monumentalen Dar-
stellung zum gegenwärtigen Stand der L2-Erwerbsforschung zu folgendem
Schluss gelangt:
369
To sum up, we have seen that there is considerable disagreement among SLA
scholars about theories. [...] We can detect two poles, with many shades of opinion
in between. At one pole there is ‘a healthy and unusually polite acceptance of the
possibility of pluralism in the answers proposed, a willingness to concede that dif-
ferent models might be needed for different aspects of the problem, an acceptance
that different points of view might lead to different theories’ (Spolsky 1990: 613).
At the other there is the belief that research should follow the assumed methods of
the hard sciences, with no room allowed for complementarity or personal prefe-
rence (Griffiths 1990). At the moment the pluralists are winning out over the clo-
surists. This is perhaps as it should be; those theories that are found useful by re-
searchers and practitioners (such as teachers) for their varying purposes will conti-
nue to flourish. (Ellis 1994: 685f.)
2. Die Zahlen bestätigen, was aus den Analysen der einzelnen Grammatikbe-
reiche (Kapitel 4 und 5) hervorging: Es gibt drastische Unterschiede im Be-
herrrschungsgrad von Verbalflexion und Satzmodellen einerseits und der Ka-
susflexion (in NP) andererseits. Während in den beiden erstgenannten Berei-
chen eine Mehrheit auf Maturitätsebene bis zu den (vor-)letzten Phasen ge-
langt, schafft dies im Kasusbereich nur eine schmale Minderheit.
Es sei noch einmal daran erinnert, dass zur Zeit der Datenerhebung in den
Lehrplänen davon ausgegangen wurde, dass die Schülerinnen und Schüler
den gesamten Grammatikstoff, der in Tab. 55 aufgeführt ist, bis zum Ende des
Cycle beherrschten, ausgenommen die in den Verbalphasen V und VI ent-
372
haltenen Tempus- und Modusformen, die zusammen mit dem Passiv und dem
Genitiv dem Grammatikprogramm der 10. Klasse vorbehalten waren. Es sei
ausserdem noch einmal betont, dass die ermittelten Erwerbsstände das
Ergebnis eines Deutschunterrichts sind, in dem die Grammatikunterweisung
und -übung einen grossen Stellenwert einnahm – zwar nicht vom Lehrwerk so
vorgesehen, aber durch zusätzliche Grammatikbroschüren und -übungshefte
von der Lehrerschaft entsprechend „korrigiert“.
Damit kehren wir zu der zentralen Frage zurück, die das auslösende Mo-
ment des ganzen Projektes gewesen war: Wenn der gesteuerte L2-Erwerb tat-
sächlich analog zu den natürlichen Erwerbsformen verläuft, welche Konse-
quenzen sind dann für die Praxis des Deutschunterrichts, genauer: des
Grammatikunterrichts zu ziehen?
_______________
9
Ellis (1989) beispielsweise begründet seine Untersuchung zu natürlichen Er-
werbssequenzen im Fremdsprachenunterricht explizit mit der didaktischen Rele-
vanz solcher Fragestellungen. Sie seien, neben dem theoretischen Interesse, „of
applied interest because it informs about the utility of form-focused instruction.“
(1989: 306)
373
SEP vor INV), von Kindern ebenso wie von Erwachsenen, so dass Pienemann
sich in seiner Annahme bestätigt sehen kann: „The course of second language
development cannot be altered by factors external to the learner“ (1989:
91).10
Was kann unter solchen Voraussetzungen der Grammatikunterricht über-
haupt noch leisten?
Eine extreme Richtung innerhalb der Erwerbsforschung meint: nichts, und
plädiert radikal für eine Abschaffung des expliziten Grammatikunterrichts. Es
ist die Empfehlung derer, die die Non-interface-Position vertreten, die also
davon ausgehen, dass zwischen „Lernen“, Regelwissen, metasprachlichem
Wissen einerseits und „Erwerb“, praktischem Sprachgebrauch andererseits
keinerlei Vermittlung stattfinden könne (so etwa Krashen – siehe S. 45).
Ihnen zufolge kann Fremdsprachenunterricht im Klassenzimmer nur in Form
von kommunikativem Unterricht erfolgreich sein.11
Dass es dazu eine ganze Reihe von Gegenpositionen gibt, wurde oben (S.
45) bereits ausgeführt. Sei es Butzkamm mit der gleitenden Skala von Be-
wusstseinsgraden vom „ratiomorphen“ Wissen zum „aufmerksamen Be-
wusstsein“, sei es Schmidt mit dem Begriffspaar intentional learning vs. in-
cidental learning, sei es Mc Laughlins Konzeption von der Automatisierung
des Wissens oder Bialystoks These von der gegenseitigen Durchlässigkeit
von analysiertem und unanalysiertem Wissen – alle gehen davon aus, dass
vorgängiges explizites Wissen – z. B. der Grammatikregeln – den impliziten
Lernprozess fördern, beschleunigen und vertiefen kann.
An dieser Möglichkeit möchte auch Ellis festhalten. In seiner Übersicht
über die Forschungsarbeiten zum gesteuerten Fremdsprachenerwerb (1994:
561–663) stellt er zusammen, was gegenwärtig über die Auswirkungen von
Grammatikunterricht auf den L2-Erwerb an wissenschaftlichen Erkenntnissen
vorliegt. Allerdings sind diese nicht dazu angetan, die Skepsis gegenüber der
formal instruction abzubauen. Zwar meint Ellis in seiner eigenen Unter-
suchung von 1989 zu beobachten, dass seine Deutschstudierenden schnellere
Erwerbsfortschritte machen als die ZISA-Testpersonen.12 Da Ellis’ Beob-
achtungszeitraum aber nur 22 Wochen betrug (ganz zu schweigen von dem
soziokulturellen Gefälle zwischen Studenten und Gastarbeitern), hätten wir –
nach den Erfahrungen mit unseren DiGS-Probanden vorsichtig geworden –
_______________
10
Insofern es sich bei diesen Untersuchungen nur um die Reihenfolge SEP-INV
handelte (der Nebensatz, „VERB END“, blieb ausser Betracht) und insofern INV
nur Inversion in Aussagesätzen betrifft, können wir diese Abfolge bestätigen.
11
Ellis bezeichnet diese Position als „zero option“ und erwähnt als ihre Vertreter
ausser Krashen unter anderen auch Corder und Newmark (1994: 652).
12
„The classroom learners [...] did appear to be more successful than the naturalistic
learners in that they reached higher levels of acquisition in a shorter period of
time.“ (1989: 305)
374
doch gerne überprüft, wie lange dieses „erworbene“ Wissen angehalten hat ...
Dass dergleichen Lernerfolge sehr schnell wieder verloren gehen können, hat
auch Pienemann (1984) nachgewiesen.
Was die Wirksamkeit von Fehlerkorrekturen im Unterricht betrifft, sind
die vorliegenden Forschungsergebnisse widersprüchlich; wenn überhaupt,
dann scheint „negatives Feedback“ nur unter genau definierten Bedingungen
sinnvoll zu sein.13 Auch die Behauptung, Grammatikunterricht bewirke einen
höheren Korrektheitsgrad, lässt sich nur mit vielen Einschränkungen auf-
rechterhalten:
There is sufficient evidence to show that formal instruction c a n result in definite
gains in accuracy. If the structure is „simple“ in the sense that it does not involve
complex processing operations and is clearly related to a specific function, and if
the formal instruction is extensive and well-planned, i t i s l i k e l y t o wo r k .
However, if the instruction is directed at a difficult grammatical structure which is
substantially beyond the learners’ current interlanguage, it is likely that it will only
lead to improved accuracy in planned language use, when learners can pay consci-
ous attention to the structure. (Ellis 1994: 623f.; Hervorhebungen von mir)
Es könne aber auch, meint Ellis, mit einer „verzögerten Wirkung“ (delayed
effect) von Grammatikunterricht gerechnet werden, in der Weise, dass das
„auf Vorrat“ gesammelte Wissen erst zu einem späteren, dem erwerbsmässig
„richtigen“ Zeitpunkt abgerufen werde (1994: 621). Dem tritt nun allerdings
Pienemann entschieden entgegen:
[...] it can be shown that this „storing up treasures in heaven“ approach to learning,
far from promoting acquisition, can actually produce disturbances in the acquisi-
tion process. (1989: 72)
________________
sequences which appear to be unrelated to the ways in which articles are taught in
their classrooms or presented in their textbooks.“ (Pica 1985: 140)
15
Alle referiert in Ellis (1994: 621).
16
Vgl. S. 45.
376
Pienemann nimmt an, dass ein so verstandener Grammatikunterricht den na-
türlichen Erwerbsverlauf beschleunigen könnte, wenn der Beweis hierfür auch
noch aussteht. Immerhin ist Pienemanns „Unterrichtbarkeitshypothese“ – die
zugleich auch eine „Lernbarkeitshypothese“ ist – der bisher vielver-
sprechendste Vorschlag für eine Umsetzung der L2-Erwerbsforschungser-
gebnisse in die Unterrichtspraxis.
Werden die didaktischen Implikationen der „Teachability Hypothesis“
ernstgenommen, so müsste dies auch zu einer Redimensionierung des schuli-
schen Grammatikprogramms führen. Nicht nur die DiGS-Ergebnisse zeigen,
dass an die grammatische Verarbeitungskapazität der Fremdsprachenschüler
viel zu hohe Ansprüche gestellt werden. Erwin Tschirner (1996) bestätigt für
den Deutsch-Anfängerunterricht an amerikanischen Universitäten:
[...] our present grammar sequences are far too ambitious for productive purposes,
and are more likely to overwhelm than to help language learners. (1996: 10)17
Und Patsy Lightbown, die ebenfalls von der Ineffizienz gezielter Gramma-
tikinstruktion überzeugt ist (1984: 181), sieht als eine der wichtigsten prakti-
schen Auswirkungen der L2-Erwerbsforschung, dass eine informierte Leh-
rerschaft ihre Erwartungen an L2-Schüler auf ein realistisches Mass zurück-
schraubt:
[...] if teachers – especially new teachers – come to language teaching with some
knowledge of the results of language acquisition research, they will have much more
realistic expectations about what can be accomplished. (Lightbown 1985: 182)
Zunächst sei noch einmal an zwei Sachverhalte erinnert, mit denen der
Fremdsprachenuntericht nolens volens zu rechnen hat:
− Weder die grammatische Sensibilität noch die induktive Sprachlernfähigkeit,
nach John B. Carroll die beiden zentralen Komponenten der language
aptitude, sind durch Training oder durch Erfahrung beeinflussbar (vgl. S.
353). Sie können zweifellos gefördert werden, wo sie vorhanden sind,
müssen aber durch andere Fähigkeiten kompensiert werden, wo sie fehlen.
− Implizite Lernmechanismen sind bei der Bewältigung komplexer Aufgaben
(wie zum Beispiel Spracherwerb) effektiver als explizite. Verbale In-
struktion (also zum Beispiel die Explizierung von Grammatikregeln) er-
weist sich nach Auskunft der Lernpsychologie dabei als wenig hilfreich
(vgl. S. 50).
_______________
18
In dieselbe Richtung geht die Argumentation von E. Kwakernaak, mit der er eine
Umorientierung des Deutschunterrichts in den Niederlanden bewirken möchte:
„Die Lernzeit, die heute auf Strukturen verwendet wird, die im Erwerbsprozess der
meisten Lerner wirkungslos bleiben, weil sie im unbewussten Sprachproduktions-
apparat noch nicht verarbeitet und aufgenommen werden können, kann [...] auf
eine geringere Anzahl Strukturen verwendet werden, von denen mehr als heute auf
ein höheres Beherrschungsniveau gebracht werden können“ (Kwakernaak 1996:
283). Siehe auch S. 329.
19
„For variational features [...] there is no learning barrier of the kind predicted by
the Teachability Hypothesis for developmental features.“ (Pienemann 1989: 61)
378
Ausserdem sei auch zur Klärung vorausgeschickt, dass die Ergebnisse des
DiGS-Projektes nicht für oder gegen die eine oder andere Unterrichtsmethode
ins Feld geführt werden sollten. Wie Pienemann meinen wir, einige
Erkenntnisse an die Fremdsprachendidaktik weitergeben zu können, die in
jedweder Unterrichtsmethode mitbedacht werden sollten.20 Damit soll nicht
gesagt sein, dass sich unsere Empfehlungen gleich mühelos in jede didakti-
sche Konzeption integrieren lassen. Wir wollen nicht verschweigen, dass uns
beispielsweise die vielerlei Schulversuche zum bilingualen Unterricht (bzw.
der Immersion) in die richtige Richtung zu gehen scheinen. Die ungleich bes-
seren Ergebnisse, die in diesen Formen der Sprachvermittlung im Vergleich
zum üblichen Fremdsprachenunterricht erzielt werden können, sind kein Zu-
fall. Sie beweisen besser als jedes theoretische Konzept, dass auf die impli-
ziten Lernprozesse zumindest im Zweitsprachenerwerb mehr Verlass ist als
auf die expliziten.21
Die didaktische Konsequenz, die wir aus unseren Ergebnissen ziehen, lässt
sich in einem Satz zusammenfassen: Fremdsprachenunterricht sollte so be-
schaffen sein, dass die natürlichen Erwerbsmechanismen zum Zuge kommen
können. Alle weiteren Punkte lassen sich aus diesem Postulat ableiten.
_______________
20
Vgl. die Warnung von Pienemann, bezogen auf die „Nutzanwendung“ der Teach-
ability Hypothesis: „What I want to point out here, however, is that the Teachabi-
lity Hypothesis does not contain any built-in „recipes“ for teaching methodology.
It is rather a set of psycholinguistic background information on which teaching
methods should be based.“ (Pienemann 1989: 76)
21
Zum Immersionsunterricht, vor allem seinen Erfolgen in Kanada, siehe Wode
(1988: 333). In der Schweiz wurde 1994 die „Arbeitsgemeinschaft zur Förderung
des mehrsprachigen Unterrichts in der Schweiz“ gegründet, ein Forum für den Er-
fahrungsaustausch zwischen den zahlreichen verstreuten bilingualen (bzw. mul-
tilingualen) Schulversuchen in der Schweiz. Die Arbeitsgemeinschaft berät bei der
Planung und Durchführung entsprechender Projekte, fördert die Erarbeitung von
Unterrichtsmaterialien, organisiert Lehrerfortbildungsveranstaltungen und leistet
Öffentlichkeitsarbeit.
379
(2) Die Schulkinder sollten mit der L2 in ihrer „natürlichen“ Form konfron-
tiert werden und nicht mit einem reduzierten Input, aus dem alles ausgefiltert
ist, was noch nicht im Unterricht behandelt wurde – vorausgesetzt natürlich,
er ist ihrem Alter angemessen und vermittelt Inhalte, die ihren Interessen
entgegenkommen. Die Auswahl der „bearbeitbaren“ Strukturen innerhalb
dieses Inputs kann den impliziten Lernvorgängen überlassen bleiben; sie set-
zen sich, wie wir gesehen haben, unter gesteuerten Erwerbsbedingungen oh-
nehin ebenso durch wie unter natürlichen. Motivation und „reicher Input“
sind die beiden Grundvoraussetzungen für L2-Erwerb, ob natürlich oder ge-
steuert: die Motivation, damit sich der L2-Erwerbsprozess überhaupt in Gang
setzt, und der reichhaltige Input, damit er genährt wird.
Wir halten dennoch die Einführung einer solchen Praxis für möglich. Der
Entscheidungsbaum auf S. 381 zeigt, wie die Erwerbsstands-Ermittlung mit
einem zumutbaren Zeitaufwand durchgeführt werden kann, wobei die Satz-
modelle als „Leitfaden“ dienen. Es ist durchaus denkbar, zum
Schuljahresbeginn einen kurzen Text für eine erste (vorläufige) Standortbe-
stimmung schreiben zu lassen, die dann freilich durch weitere Beobachtungen
präzisiert, nuanciert und eventuell korrigiert werden muss. Der zweite Schritt
bestünde dann darin – und hier ist noch viel Raum für die Kreativität und
Erfindungsgabe der Lehrerschaft –, eine Skala von Übungsaufgaben be-
380
reitzustellen, jeweils zugeschnitten auf die Bedürfnisse und Verarbeitungska-
pazitäten der Schüler bzw. Schülergruppen. Mit der mehr und mehr verbrei-
teten Praxis von Gruppenarbeit innerhalb der Klassen ist schon eine wichtige
Voraussetzung geschaffen; was fehlt, ist differenzierend einzusetzendes Un-
terrichtsmaterial, eventuell individualisierte Grammatikkarteien oder entspre-
chende Computer-Lernprogramme. Die Lehrer und Lehrerinnen würden auf
diese Weise verfügbar für punktuelle individuelle Hilfeleistungen und Zu-
satzerläuterungen, in genauer Abstimmung auf die Bedürfnisse der einzelnen
Schüler.
381
Gibt es koordinierte Sätze? Die Einstufung von Schülerarbeiten nach der
Erwerbssequenzen-Tabelle geht am einfachsten
und schnellsten vor sich, wenn zuerst nach dem
Nein Ja
Erwerbsstand bei den Satzmodellen gefragt wird.
Dieser erste Befund muss dann ergänzt und
SM-Phase I präzisiert bzw. korrigiert werden durch die
entspricht i. allg.: Befunde in den entsprechenden Phasen im
+/-* +/-OK Verbalbereich und bei den Kasus.
Verbalphase I (Infinitive
+ Chunks) Abkürzungen:
Kasusphase I (nur Formen Gibt es Distanzstellung? SM: Satzmodell
im Nominativ) +/- OK: 75-95% der Formen und Strukturen sind
zielsprachenkonform
Nein Ja
+/- *: 75-95% der Formen und Strukturen sind
SM-Phase II im Erwerb abweichend
entspricht i. allg.:
Ende SM-Phase II
entspricht i. allg.:
+/-* +/-OK
Verbalphase II
(regelmässige Ende SM-Phase III
Konjugation im Präsens) entspricht i. allg.: Gibt es Inversionen?
Kasusphase I (Nur
Formen im Nominativ) Verbalphase IV (Beginn
des Perfekts) Nein Ja
Kasusphase II (beliebig
SM-Phase III im Erwerb verteilte N-, A-, D-Formen)
entspricht i. allg.:
+/-* +/-OK
Verbalphase III (Beginn SM-Phase IV im Erwerb
der Modalverben und der entspricht i. allg.:
unregelm. Konj. im
Präsens) Verbalphase IV (Perfekt im
Kasusphase I (nur Formen Erwerb)
im Nominativ); eventuell Kasusphase II (beliebig
Beginn von Kasusphase II verteilte N-, A-, D-Formen) SM-Phase V im Erwerb Mitte/Ende SM-Phase V
(beliebig verteilte N-, A- entspricht i. allg.: entspricht i. allg.:
und D-Formen) Ende SM-Phase IV
Verbalphase IV (Perfekt im Verbalphase V
entspricht i. allg.:
Erwerb), eventuell (Präteritum)
Verbalphase V (Präteritum) Kasusphase III
Verbalphase IV (Perfekt im
Kasusphase II (beliebig (N-formen und beliebig
Erwerb)
verteilte N-, A-, D-Formen), verteilte A- und
Kasusphase II (beliebig
eventuell Kasusphase III D-Formen)
verteilte N-, A-, D-Formen)
(N-formen und beliebig
verteilte A- und D-Formen)
(5) Es sollte ein neues Verständnis für die Funktion von Fehlern im Sprach-
erwerbsprozess entwickelt werden. Fehler sind Indizien für den jeweiligen
Erwerbsstand der Schüler, für die Phasen, in denen sie sich befinden, und für
die Prozeduren, auf die sie rekurrieren. Fehlerlose Texte sind eben nicht au-
tomatisch ein Indiz für Sprachbeherrschung; sie können das Ergebnis einer
geschickten Kombination von Vermeidungsstrategien, Chunks und morpho-
logischen Homonymien sein. Das Fehlertabu der Schule ist für den
Zweitsprachenerwerb verhängnisvoll; es könnte einer der Gründe sein, wes-
halb so viele Schüler in Genf vor der deutschen Grammatik kapitulieren.22
_______________
22
Wir befinden uns hier völlig im Einklang mit dem Plädoyer von Peter Sieber und
Horst Sitta, die für die Evaluierung der muttersprachlichen Fähigkeiten fordern,
von der „Defizit-Orientierung“ abzugehen und sich stattdessen eine
„Entwicklungsperspektive“ zu eigen zu machen, „die versucht, nicht nur Defizite
und Mängel in den Blick zu nehmen, sondern auch mögliche Qualitäten – oder
einfach neue Lösungsversuche für neue Problemstellungen.“ (Sieber/Sitta 1994:
38)
383
7.4.3 Umsetzungsvorhaben in Genf
P4 P5 P6 CO 7 CO 8 C0 9
N1 = 41 N = 38 N = 58 N = 55 N = 53 N = 77
Antworten Frage III, 1
oui 38 27 39 35 26 47
non 0 8 16 18 22 24
Antworten Frage III, 2
enrichissement 14 13 24 16 18 34
plaisir 37 17 14 14 5 15
exercice intellectuel 24 11 21 7 17 28
nécessité 4 18 29 25 27 45
corvée 1 6 13 20 20 21
autre 6 1 6 7 8 9
Tab. 59: Resultate aus den Klassen der obligatorischen Schulzeit
_______________
1
N: Anzahl der Testpersonen
387
P CO ECG ESC C
N = 137 N = 185 N = 64 N = 85 N = 78
Antworten Frage III, 1
oui 104 108 26 53 44
non 24 64 31 29 27
Antworten Frage III, 2
enrichissement 51 68 27 45 61
plaisir 65 34 11 8 10
exercice intellectuel 56 52 10 21 23
nécessité 51 107 37 60 37
corvée 20 63 16 17 8
autre 13 24 10 2 28
Tab. 61: Zusammenfassung nach Schultyp
P4 P5 P6 CO 7 CO 8 CO 9
N = 41 N = 38 N = 58 N = 55 N = 53 N = 77
Antworten Frage III, 3
oui 4 13 25 23 26 35
non 37 25 32 22 26 38
Antworten Frage III, 4
langue difficile 6 20 47 32 40 52
belle langue 26 5 8 6 2 7
langue utile 36 25 39 32 29 46
moyen de 21 26 39 29 29 46
communication
accès à une culture 7 12 16 19 12 17
autre 1 3 3
Tab. 62: Resultate aus den Klassen der obligatorischen Schulzeit
388
P CO ECG ESC C
N = 137 N = 185 N = 64 N = 85 N = 78
Antworten Frage III, 3
oui 42 84 19 34 10
non 94 97 43 47 58
Antworten Frage III, 4
langue difficile 73 124 44 69 50
belle langue 39 15 6 10 14
langue utile 100 107 37 38 50
moyen de communi- 86 104 33 49 49
cation
accès à une culture 35 48 20 31 27
autre 0 7 5 0 8
Tab. 64: Zusammenfassung nach Schultyp
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