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The delayed end. Essay on the music of Morton Feldman

Article · April 2006

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Dalibor Davidovic
University of Zagreb
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CSF Freiburg SUN1% CSF3 % UM060208 - 0082 (4) » 4 - 1« Farbe: BLACK Seite: 1 Rev.-Dat.: 20.02.06 Ausg.-Dat.: 20.02.06, 16:34:54 Uhr Höhe: 52,08 Setzer: GH ■

Das aufgeschobene Ende


Versuch über die Musik Morton Feldmans
Dalibor Davidović

Morton Feldman sei ein jovialer Typ gewesen, sagten diejenige, die ihn
persönlich kannten; immer gut gelaunt, immer bereit einen Witz zu erzäh-
len. Und er sah lustig aus: groß, mit kleinen kurzsichtigen Augen, die sich
hinter den dicken Gläsern seiner Brille versteckten. Seine brummende
Stimme kam immer aus einer Wolke von Zigarettenrauch. Allerdings läßt
sich seine Musik schwerlich als heiter charakterisieren. Seine Stücke, vor
allem die späten, welche die heutige Hörerschaft so faszinieren, sind lang-
sam, leise, sogar melancholisch. Melancholisch, wenn man die Geschichte
dieses Begriffs jeweils mitbedenkt. Der spezifisch moderne Begriff der Me-
lancholie wurde nämlich gerade durch den Gegensatz zum Begriff des Hu-
mors definiert: »Melancholiker wie Humorist zehren von dem metaphysi-
schen Widerspruch zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit, Vergänglich-
keit und Ewigkeit oder wie immer man es ausdrücken mag. Beiden ist
gemeinsam, daß sie aus dem Bewußtwerden dieses Widerspruchs zugleich
Genuß und Wehmut schöpfen. Dabei leidet der Melancholiker primär an
dem Widerspruch zwischen Endlichkeit und Unendlichkeit, bejaht aber zu-
gleich sein eigenes Leid ›sub specie aeternitatis‹, da er sich gerade durch die
Melancholie am Unendlichen teilhabend fühlt. Der Humorist hingegen er-
heitert sich primär an eben diesem Widerspruch, macht aber zugleich seine
eigene Heiterkeit ›sub specie aeternitatis‹ fragwürdig, da er sich selbst als ein
für allemal dem Endlichen verhaftet erkennt.« 1 Was ist aber das Unendliche in
bezug zu Feldmans Werk?
Viele seiner Werke sind für Streichinstrumente geschrieben. Die Kompo-
nisten, mit denen Feldman oft in Verbindung gebracht wird, wie Edgard
Varèse und John Cage, haben versucht, das Instrumentarium der europäi-
schen Kunstmusik mit anderen, alternativen Klangquellen zu ersetzen (Var-
èse verwendete Sirenen und der frühe Cage Radio-Apparate oder Testplatten
für Grammophon, beide Komponisten schrieben viele Stücke für Schlag-
zeuginstrumente usw.) oder den Klang der klassischen Instrumente zumin-
dest zu verfremden (das präparierte Klavier). Feldman hat mit diesem Instru-
mentarium nie entschieden gebrochen. Seine Stücke wie Piano, Violin, Viola,
Cello zitieren den Klang der europäischen Kunstmusik des 19. Jahrhunderts.

1 Raymond Klibansky, Erwin Panofsky und Fritz Saxl, Saturn und Melancholie: Studien zur Geschichte der
Naturphilosophie und Medizin, der Religion und der Kunst, Frankfurt a. M. 1998, S. 343.

Musik & Ästhetik − Heft 38/2006 Februar 2006


CSF Freiburg SUN1% CSF3 % UM060208 - 0083 (3) » 4 - 2« Farbe: BLACK Seite: 1 Rev.-Dat.: 20.02.06 Ausg.-Dat.: 20.02.06, 16:34:54 Uhr Höhe: 52,08 Setzer: GH ■

Der Klang seiner Streichquartette ist kaum durch die Techniken verfremdet,
welche die Komponisten und Musiker im 20. Jahrhundert in den Bereich des
musikalisch Gültigen eingeführt haben. Nur die Notation seiner früheren
Stücke war einigermaßen unkonventionell in Hinsicht auf europäische Stan-
dardnotation. Die seit den frühen 1970ern entstandenen Stücke waren wie-
derum konventionell notiert.2 Sowohl durch ihren Klang als auch durch ihre
Referenzen steht die Musik Feldmans in einem besonderen Verhältnis zur
europäischen Kunstmusik, zur Musik, die sich nicht bloß damit begnügt,
eine unter anderen Musikarten zu sein, sondern beansprucht als Musik
schlechthin zu gelten, zur Musik, deren Held Beethoven ist. Das Unendliche
der Musik Feldmans soll insofern mit einem Blick auf die Idee der absoluten
Musik betrachtet werden, die konstitutiv für das Konzept der europäischen
Kunstmusik ist.
Die Abwesenheit des Konkreten ist schon in den Titeln seiner Stücke
bemerkbar. Ähnlich jenen Musikwerken, die seit Mitte des 19. Jahrhunderts
unter dem Begriff der absoluten Musik eingeordnet werden, tragen die
Stücke Feldmans zunächst »abstrakte« Titel: Sie wurden entweder nach dem
entsprechenden Klangkörper (Piano, Violin, Viola, Cello, Piano and String
Quartet usw.) oder nach der Kompositionstechnik (Patterns in a Chromatic
Field, Crippled Symmetry) betitelt. Manchmal ist der Titel einfach eine Wid-
mung (For John Cage, For Bunita Marcus, For Samuel Beckett, For Philip
Guston, For Christian Wolff). Die Stücke Feldmans bedienen sich der Techni-
ken der Reduktion. Die Polyphonie ist aus ihnen fast verschwunden. Sogar
die melodischen Formationen der Musik Feldmans sind oft rudimentär. Was
geblieben ist, was nicht abstrahiert wurde, ist die Klangfarbe, die durch die
meist unregelmäßigen Wiederholungen kurzer »Patterns« zum Vorschein
kommt. Sound ist die Schlüsselcharakteristik seiner Musik. Wenn der Klang
eines Stückes beim Komponieren definiert wird, wird das Stück für Feldman
dadurch virtuell fertig.3 Es läßt sich auch eine Gesetzmäßigkeit in Hinsicht
auf die Relation zwischen Dauer und verwendetem Klangmaterial feststellen:
Je länger die Stücke, desto weniger Klangmaterial wird verwendet. Und desto
leiser die Musik. Das 50-minutige Orchesterstück For Samuel Beckett ist
klanglich intensiver als die sogenannten »langen« Stücke Feldmans; Crippled
Symmetry dauert beispielsweise etwa 90 Minuten und besteht nur aus Wie-
derholungen und Permutationen weniger, kaum hörbarer Töne. Würde das
Stück ewig dauern, würde es überhaupt keinen Klang mehr beinhalten. Es
wäre ein völlig leeres Stück.
Die niedrige Klangintensität wird oft als eine typische Eigenschaft der

2 Zu den Notationsformen bei Feldman vgl. Sebastian Claren, Neither: Die Musik Morton Feldmans, Hof-
heim 2000, S. 45 ff.
3 Vgl. hierzu Morton Feldman, Predeterminate/Indeterminate, in: ders., Essays, hg. v. Walter Zimmermann,
Kerpen 1985, S. 49.

Musik & Ästhetik − Heft 38/2006 Februar 2006


CSF Freiburg SUN1% CSF3 % UM060208 - 0084 (3) » 4 - 3« Farbe: BLACK Seite: 1 Rev.-Dat.: 20.02.06 Ausg.-Dat.: 20.02.06, 16:34:54 Uhr Höhe: 52,08 Setzer: GH ■

Das aufgeschobene Ende − Dalibor Davidović

Stücke Feldmans bezeichnet. Die Musik läuft ohne einen vorbestimmten


Weg, und daher der Eindruck, daß sich eigentlich nichts bewegt oder daß es
sich zumindest um ein nomadisches, zielloses Wandern handelt. In einer
bestimmten Hinsicht läßt sich bei Feldman aber doch von einem vorbe-
stimmten Weg sprechen: Sein Werk kreist wie besessen um ein Zentrum, das
sich nicht erreichen läßt. Es ist fixiert auf dieses abwesende Zentrum, auf das
nicht präsentierbare Stück, das unendlich ist und sich außerhalb des Histori-
schen befindet.
Die Frühromantiker, etwa Wackenroder und Tieck, haben von einer
Musik phantasiert, die »vollendet«, »ewig« und »unvergänglich« ist.4 Ihr
Traum, die »absolute« Musik, sollte nicht mit der empirischen, zum Hören
bestimmten Musik gleichgesetzt werden, die seit Mitte des 19. Jahrhun-
derts mit diesem Begriff gekennzeichnet wird. Das musikalische »Abso-
lut«, ähnlich wie das literarische, von dem sich die Frühromantiker eben-
falls Gedanken gemacht haben 5, ist etwas, was in sich selbst vollendet
wäre. Konstitutiv für den Diskurs der absoluten Musik ist die Behauptung,
daß diese Musik immer schon da war; was absolut sei, könne nicht gebo-
ren werden, weil es dann nicht mehr absolut sein würde, sondern endlich.
Daß der Diskurs der absoluten Musik am Anfang des 19. Jahrhunderts
artikuliert wurde, bedeutet für seine Protagonisten nicht, daß diese Musik
damals erfunden, sondern entdeckt wurde. Wenn sie absolut sei, müsse sie
schon ewig da sein, und insofern sei sie außerhalb der Geschichte. Das
heißt, daß die absolute Musik eine Geschichte erst dann haben kann,
wenn sie nicht mehr absolut ist.
Damit geriet aber die reale, historische Musik in Not: Der Diskurs der
absoluten Musik setzt ihr ein Maß, das sie ebensowenig erfüllen wie sie sich
ihm entziehen kann. Paradoxerweise haben die Frühromantiker selbst die
Bezeichnung »absolute Musik« nicht verwendet. Friedrich Schlegel schrieb
beispielsweise von der »reinen« Instrumentalmusik 6, einer Musik, die als
vollendet galt, weil sie als rein erschien. Was seit Mitte des 19. Jahrhunderts
als absolute Musik bezeichnet wird, war als technisch hervorgebrachte Mu-
sik, also als »Instrumentalmusik«, nur ein Teil dieser empirischen Musik.
Daß die empirische Instrumentalmusik an die wahre absolute Musik nicht
heranreicht, daß sie, eben als Verwirklichung einer Utopie, die Utopie selbst
vertagt, bindet sie immer schon an den Bereich des Historischen. Deswegen
ist es möglich, ihre Techniken, Logiken, Rhetoriken und Politiken zu analy-
sieren.

4 Wilhelm Henrich Wackenroder, Phantasien über die Kunst für Freunde der Kunst, in: ders., Werke und Briefe,
Bd.1, Jena 1910, S. 272.
5 Zum literarischen Absolut vgl. Philippe Lacoue-Labarthe und Jean-Luc Nancy, L’absolu littéraire: Théorie de
la littérature du romantisme allemand, Paris 1978.
6 Vgl. das Fragment auf S. 89, in: Athenaeum: Eine Zeitschrift, hg. v. Fritz Baader, Berlin 1905.

Musik & Ästhetik − Heft 38/2006 Februar 2006


CSF Freiburg SUN1% CSF3 % UM060208 - 0085 (3) » 4 - 4« Farbe: BLACK Seite: 1 Rev.-Dat.: 20.02.06 Ausg.-Dat.: 20.02.06, 16:34:55 Uhr Höhe: 52,08 Setzer: GH ■

Zum Beispiel wird das Absolute der entsprechenden Musik mit den »ab-
strakten« Titeln suggeriert: Die absolute Musik ist »Symphonie«, »Streich-
quartett«, »Klavierquintett« usw. Nun ist dieses Abstrakte, in Hinsicht auf die
unaussprechbare »Reinheit« der absoluten Musik schon konkret: man be-
nennt mit den Titeln z. B. die technischen Standards (Instrumentenbau,
Größe der Klangkörper usw.) einer Zeit. In diesem Sinne signalisieren die
»abstrakten« Titel der Stücke Feldmans ihre Verbundenheit mit dem Ideal
der absoluten Musik und weisen auf die Art und Weise hin, wie dieses Ideal
sich historisch und technisch niederschlug. Ähnlich wie seine Freunde
Samuel Beckett und Mark Rothko hat Feldman das Ideal des Absoluten nie
aufgegeben. Im Unterschied zur melancholischen Kunst hat die Kunst, welche
dieses Ideal aufgibt, nach den Protagonisten des Diskurses des Absoluten,
immer schon versagt. Diese humoristische Kunst, die sich nicht am Unmögli-
chen orientiert, die das Abwesende nicht mehr sucht, und sich mit dem
Endlichen begnügt, sei im Bestehenden stehengeblieben.
Die Spuren des Historischen in der Musik Feldmans werden auf unter-
schiedliche Art gelesen. So hat man seine Werke als »modern« bezeichnet,
eine Lesart, die im Diskurs der Neuen Musik seit den 1950ern üblich war.7
Neben »modern« wird auch die Bezeichnung »amerikanisch« verwendet,
aber eben immer in dieser Reihenfolge. Zusammen mit Cage, Earle Brown
und Christian Wolff ist Feldman, nach dieser Sichtweise, ein Komponist der
»modernen« Musik aus der »Neuen Welt«.
Die zweite Lesart betont ebenfalls das »Amerikanische« an seinem Werk,
aber anders als bei der ersten Art. Das »Amerikanische« kommt jetzt nicht
unbedingt mit dem »Modernen« zusammen; während die erste Betrach-
tungsweise die Musik Feldmans in den Bereich des vermeintlich Universalen
entläßt, hebt die zweite die partikularen, kulturspezifischen Spuren dieser
Musik hervor. Für diese Lesart, die heutzutage z. B. von John Zorn, der
Schlüsselperson der New Yorker Downtown-Musikszene und dem Urheber
der programmatischen Bezeichnung »Radical Jewish Culture«, vertreten
wird, hat das Judentum Feldmans für seine Werke eine unverzichtbare Be-
deutung. Feldman selbst war diese Sichtweise keineswegs fremd, wenn auch
seine Bestimmung des Jüdischen in der Musik jener »substantialistischen«
Definition des Musikalisch-Jüdischen, von der Zorn ausgeht, eigentlich kon-
trär ist. Abgesehen von seltenen Zitaten oder Paraphrasen der »traditionel-
len« jüdischen Musik, die in seinen Stücken (beispielsweise in Rothko Cha-
pel) vorkommen, hat sich Feldman von der Idee, daß sich das Jüdische in der
Musik substantiell feststellen läßt und daß dieses in der religiösen oder
anderen »traditionellen« Musik gesucht werden sollte, fern gehalten. In

7 Beispielhaft ist das Standardwerk von Ulrich Dibelius, Moderne Musik II: 1965-1985, München 1991.
Feldmans Stücke sind hier nicht etwa als Erscheinungen von bloß »nationaler« Bedeutung geblieben,
sondern sind zu einem der universal gültigen Modelle »moderner Musik« erhoben.

Musik & Ästhetik − Heft 38/2006 Februar 2006


CSF Freiburg SUN1% CSF3 % UM060208 - 0086 (4) » 4 - 5« Farbe: BLACK Seite: 1 Rev.-Dat.: 20.02.06 Ausg.-Dat.: 20.02.06, 16:34:55 Uhr Höhe: 52,08 Setzer: GH ■

Das aufgeschobene Ende − Dalibor Davidović

einem Gespräch mit Earle Brown und Heinz-Klaus Metzger hat er versucht,
das eigene Judentum näher zu bestimmen:
Metzger: »Seit vielen Jahren schreiben Sie nun diese leisen Stücke. Manchmal glaube ich,
sie sind eine Art Trauerepilog für die ermordete Jiddishkeit in Europa und die sterbende
Yiddishkeit in Amerika, besonders in New York. Ist daran etwas Wahres?«
Feldman: »Es ist nicht wahr. Aber gleichzeitig glaube ich: ein Aspekt meiner Haltung als
Komponist ist das Trauern, sagen wir z. B. um den Tod der Kunst. Verstehen Sie, ich bin
New Yorker und ein New Yorker befaßt sich nicht mit der Jiddishkeit. Man befaßt sich mit
Yiddishkeit, wenn man mit nur 5000 Juden in Frankfurt lebt, dieses Problem habe ich
nicht. Ich betrachte mich nicht als Jude in New York. Aber in gewisser Weise trauere ich
über etwas, das damit zu tun hat, daß – sagen wir – Schubert mich verlassen hat. Obwohl ich
wirklich nicht glaube, daß das noch sehr wichtig ist. Was ich versucht habe, in meiner Musik
festzuhalten, sind nur diese sehr wenigen, mir wirklich wesentlichen Dinge. So lasse ich es
wenigstens noch eine Weile weiter funktionieren. Ich denke, das erklärt nichts, oder? – Das
einzige, das auf mich anwendbar ist, wenn Sie von Yiddishkeit sprechen, ist die Tatsache,
daß, weil ich Jude bin, ich mich nicht, sagen wir mit der Musik der westlichen Zivilisation
identifiziere. In anderen Worten: wenn Bach uns eine verminderte Quarte vorgibt, gibt es in
mir kein Verständnis dafür, daß diese verminderte Quarte o Gott bedeutet. Ich kann diese
verminderte Quarte nicht als Symbol empfinden. Aber worüber meine Musik klagt . . . ich
weiß nicht, was ich dazu sagen soll. Ich sagte schon, daß es eine allgemeine Klage ist . . . Sie
haben etwas ins Gespräch gebracht, worüber ich nicht gern öffentlich, nur privat sprechen
möchte. Bis zu einem gewissen Grad glaube ich, wie George Steiner, daß es nach Hitler
vielleicht keine Kunst mehr geben sollte. Diese Gedanken beschäftigen mich immer. Es war
Heuchelei, ein Wahn weiterzumachen, denn jene Werte haben sich als wertlos erwiesen. Es
fehlt ihnen die moralische Basis. Und was sind unsere Moralbegriffe in der Musik? Sie sind
begründet in der deutschen Musik des 19. Jahrhunderts, nicht wahr? Darüber denke ich
nach, und außerdem beschäftigt mich der Gedanke, daß ich der erste große Komponist sein
möchte, der jüdisch ist.« 8

Für diese Leseart ist also eine Spekularität, Spiegelung, Faszination, eine
Relation der gegenseitigen Anziehung und Abstoßung zwischen dem »Jüdi-
schen« und dem »Deutschen« charakteristisch, das, was Jacques Derrida
einmal als die »jüdisch-deutsche Psyche« 9 bezeichnet hat. Die große Musik,
für Feldman mit »deutscher Musik« gleichbedeutend, von der er fasziniert
ist, sei tot. Es gebe keine große Musik mehr, solche Musik werde heute nicht
mehr geschrieben. Die große Musik der Vergangenheit habe sich aber als
wertlos erwiesen und außerdem der Kulturindustrie verfallen. (Für Feldman
scheint die populäre Kultur insgesamt irrelevant zu sein.) Um sie könne nur
noch getrauert werden. Insofern man aber um sie trauere, habe man immer
noch an ihr Anteil, obwohl sie schon abgeschlossen sei, als »Tradition«, als
»Musik der westlichen Zivilisation«. Eine berühmte ironische Selbstbezeich-
nung Feldmans, nämlich als letzter Komponist der westlichen Tradition,
kann also durchaus ernst genommen werden. Nur befindet sich der »letzte«

8 Morton Feldman, Earle Brown u. Heinz-Klaus Metzger, Aus einer Diskussion, in: Morton Feldman (=
Musik-Konzepte, Bd. 48/49), München 1986, S.154.
9 Jacques Derrida, Interpretations at War: Kant, le Juif, l’Allemand, in: Danielle Lories/Bernard Stevens (Hg.),
Phénoménologie et politique: Mélanges offerts à Jacques Taminiaux, Brüssel 1990, S. 212.

Musik & Ästhetik − Heft 38/2006 Februar 2006


CSF Freiburg SUN1% CSF3 % UM060208 - 0087 (3) » 4 - 6« Farbe: BLACK Seite: 1 Rev.-Dat.: 20.02.06 Ausg.-Dat.: 20.02.06, 16:34:55 Uhr Höhe: 52,08 Setzer: GH ■

Komponist in einem merkwürdigen Verhältnis zu dieser »Tradition". Er


gehört nicht zu ihr, da sie schon abgeschlossen und tot ist. Aber gleichzeitig
schließt er sie ab, und in dieser Weise ist er auch ein Teil von ihr. Deswegen
kann Feldman als letzter Komponist der »westlichen Zivilisation« gelten, ein
Erbe Beethovens und Schuberts, und zur gleichen Zeit der »erste große
Komponist, der jüdisch ist«, sein. Jede Ankündigung des Abschlusses der
»Tradition« signalisiert also nicht nur ihren Abschluß, sondern auch, daß
nach ihr noch etwas kommt. Die »Tradition« kann insofern nie abgeschlossen
werden, gerade deswegen nicht, weil man sie immer wieder abzuschließen
versucht.
Die Idee der großen Musik erschließt sich für Feldman weiterhin als
Möglichkeit, die verwirklicht werden soll, als Möglichkeit des Unmöglichen.
In diesem Sinne ist es möglich, daß auch Feldman ein großer Komponist ist,
der »erste große Komponist, der jüdisch ist«, wie er das selbst formulierte.
Und zugleich der letzte Komponist derjenigen Musik, deren »Moralbegriffe«
in Deutschland formuliert waren. Feldmans Musik nimmt insofern an jener
diskursiven Figuration Teil, deren Knoten Derrida im 18. Jahrhundert ge-
schnürt sieht, als die Idee der Emanzipation von Juden in deutschen Ländern
sich an die Idee der Aufklärung anschloß. Seitdem wurden die Knoten nur
noch fester gesetzt, die Spiegelungen wurden noch intensiver, und zwar
gerade dann, als es schien, dass die »Psyche« endgültig zerbrach. »Es ist das
Paradox eines Bildes, in dem die beiden Identitäten gefangen sind und sich
gegenseitig faszinieren und in dem dennoch gleichzeitig die Transzendenz
und die ›Fremdigkeit‹ (étrangèreté), die Heterogenität, die diese Identitäten
voneinander trennt, intakt bleiben. Der Deutsche fasziniert den deutschen
Juden, und der Jude fasziniert den Deutschen, das ist ein furchterregendes
Paar; und gleichzeitig ist keinerlei Identifikation möglich. Der Jude bleibt
dem Deutschen absolut fremd, unendlich fremd.« 10 Jedoch läßt sich Derrida
zufolge als »jüdisch-deutsche Psyche« nicht nur das Verhältnis zwischen
beiden Identitäten bezeichnen, sondern auch eine diskursive Struktur, die bei
manchen jüdisch-deutschen Denkern anzutreffen ist. Durch einen »Wunsch
[. . .] nach einem ›ich bin deutscher als der Deutsche‹« 11 geleitet, schlagen
diese einerseits einen nicht ungefährlichen Weg, indem sie die Vorzüge der
deutschen Kultur oder der deutschen Sprache unterstreichen. Andererseits
folgt bei ihnen auf das Lob der deutschen Sprache oder Kultur ein kritischer
Vorbehalt. So auch bei Feldman. Er supplementiert die »Tradition«, »große
Musik«, die »deutsche Musik des 19. Jahrhunderts«: diese hat für ihn so
große Anziehungskraft, dass es bei ihm zu Übertreibungen kommt, die als
»Traditionalismus«, als Besessenheit mit dem »Absoluten«, oder sogar als

10 Jacques Derrida, Zeugnis, Gabe, in: Elisabeth Weber (Hg.), Jüdisches Denken in Frankreich, Frankfurt a. M.
1994, S. 72.
11 A. a. O.

Musik & Ästhetik − Heft 38/2006 Februar 2006


CSF Freiburg SUN1% CSF3 % UM060208 - 0088 (3) » 4 - 7« Farbe: BLACK Seite: 1 Rev.-Dat.: 20.02.06 Ausg.-Dat.: 20.02.06, 16:34:56 Uhr Höhe: 52,08 Setzer: GH ■

Das aufgeschobene Ende − Dalibor Davidović

»Deutschzentrismus« erscheinen, aber zur gleichen Zeit ist er, als Jude,
dieser Tradition gegenüber distanziert, da sie »radikal schuldig« sei (wie das
Adorno, den man hier George Steiner anschließen könnte, formulierte). Sie
sei schuldig, weil sie, durch das Ideal der absoluten Musik geleitet, das
Nicht-Absolute, Nicht-Musikalische, Kontingente, Historische ausschließt.
Ihre Operation der »Reinigung« vom »Unreinen« habe virtuell immer schon
in die Katastrophe geführt. Merkwürdigerweise, wie Daniel Chua bemerkte,
hat der Diskurs der absoluten Musik neuen Aufschwung gerade nach den
historischen Katastrophen bekommen. Der Musikwissenschaftler hat darauf
hingewiesen, daß die Versuche, die Musik von allem vermeintlich Nicht-
Musikalischen zu reinigen, nach der Enttäuschung mit der Revolution und
den Napoleonischen Kriegen (als Frühromantik), nach dem Scheitern der
Revolution 1848 in deutschen Ländern (als »Formalismus« Hanslicks), nach
dem Ersten Weltkrieg (als Neoklassizismus) und nach 1945 (als Serialismus)
in Deutschland stattgefunden haben.12
Wenn man über das Verhältnis Feldmans zu Deutschland spricht, sei auch
auf das Detail hingewiesen, das von Eberhard Blum hervorgehoben wird.
Feldman hat nämlich das akademische Jahr 1971/72 als Stipendiat in Berlin
verbracht. »Zum ersten Mal in seinem Leben wohnte er für längere Zeit
außerhalb New Yorks. Seine Wohnung in Berlin befand sich in der Nähe des
Olympiastadions. Er hatte die Olympiade 1936 als Kind in den amerikani-
schen Zeitungen und im Radio verfolgt. Die Ermordung und Vertreibung der
europäischen Juden war immer Teil seines Bewußtseins. Nun lebte er, der
New Yorker Jude, am Ort dieses Geschehens. Er sprach sehr oft davon und
sagte, daß sein Aufenthalt in Berlin ihn erst zum Juden gemacht hätte.« 13 Auf
der anderen Seite sei auf den Umstand hingewiesen, daß die Frage nach
seinem Judentum im oben zitierten Gespräch gerade von einem Deutschen
gestellt wurde. In Deutschland wurde (und wird) die Musik Feldmans beson-
ders intensiv rezipiert; Peter Niklas Wilson hat diesbezüglich sogar von
einem »Kult« gesprochen.14
Die dritte Leseart sieht in der Musik Feldmans eine ambientale Musik,15
eine »musique d’ameublement« (um die berühmte Formulierung Erik
Saties zu benutzen). Die niedrige Klangintensität signalisiert für diese
Lesart eine Hintergrundmusik, eine angenehme Klangkulisse, die uns bei
alltäglichen Handlungen nicht stört. Die Figur Saties ist polemisch und

12 Daniel K. L. Chua, Absolute Music and the Construction of Meaning, Cambridge 1999, S. 288.
13 Eberhard Blum, Morton Feldman: NEITHER, in: Positionen: Beiträge zur Neuen Musik, Heft 45 (2000),
S. 52.
14 Peter Niklas Wilson, Sakrale Sehnsüchte. Über den »unstillbaren ontologischen Durst« in der Musik der
Gegenwart, in: Helga de la Motte-Haber (Hg.), Musik und Religion, Laaber 1995, S. 258.
15 Vgl. David Toop, Ocean of Sound: Klang, Geräusch, Stille, St. Andrä-Wördern 1997, S. 294 und 311. In der
rezenten Geschichte der Musik im 20. Jahrhundert (Bd. 4: 1975-2000, hg. von Helga de la Motte-Haber,
Laaber 2000, S. 275 ff.) wird Feldmans Musik unter »meditative Musikformen« eingeordnet, wenn auch
als ein Sonderfall.

Musik & Ästhetik − Heft 38/2006 Februar 2006


CSF Freiburg SUN1% CSF3 % UM060208 - 0089 (4) » 4 - 8« Farbe: BLACK Seite: 1 Rev.-Dat.: 20.02.06 Ausg.-Dat.: 20.02.06, 16:34:56 Uhr Höhe: 52,08 Setzer: GH ■

kann insofern zweifach gelesen werden: die ambientale Musik ist entweder
als ein absolutes Ende der Kunst anzusehen, oder etwa als ein Ende der
Kunst, das aber innerhalb des Kunstbegriffs selbst geschieht (die zweite
Möglichkeit ist identisch mit der ersten Leseart, von der oben die Rede
war). Mit anderen Worten, die ambientale Musik ist sowohl als Nicht-
Kunst (als Musik im Alltag, populäre Musik usw.), als auch als Kunst (als
Kunstavantgarde, als eine Kunst, die sich innerhalb der Kunst gegen be-
stimmte Arten der Kunst wehrt) möglich. Der Diskurs der absoluten Mu-
sik, der die Nicht-Kunst als irrelevant abtut, wird hier auf eine harte Probe
gesetzt. Die Musik Feldmans, wenn sie als ambientale Musik betrachtet
wird, erlaubt uns nämlich, sie sowohl als Kunst wie als Nicht-Kunst anzu-
sehen. Jeder Versuch, die beiden Seiten sauber zu trennen, um ein gesicher-
tes Wesen dieser Musik zu finden, wird dadurch erschwert. So kann einer-
seits diese Musik, ähnlich übrigens wie andere »schwebende« 16 oder »of-
fene« 17 Musiken, ein harmloser Teil der Wohnungseinrichtung, ein konsu-
mierbares, leicht verdauliches (aus dem gastronomischen Bereich kommt
auch Adornos Lieblingswort dafür: »kulinarisch«) Produkt der Marketings-
trategien, ein Medium der Selbstreproduktion der Unterhaltungsindustrie
werden. Vielleicht wird sie einmal auch, wie etliche Stücke von Satie, zur
Lieblingsmusik der TV-Werbung avancieren, zu einer »absoluten Ware« 18,
zur deterritorialisierten, unbegrenzt verfügbaren Musik, die keinem mehr
wirklich gehört, die »nicht mehr überliefert werden kann, die ein unbe-
stimmbares und gegen alle Empfänglichkeit unempfindliches Ding ist«.19
Gleichzeitig kann diese Musik gerade als äußerst hermetisch und ver-
schlüsselt angesehen werden, als etwas, was das bloß Humoristische unend-
lich übersteigt, eben dadurch, daß sie zu einem solchen Ding wird.20
Obwohl sie von Protagonisten des Diskurses der Neuen Musik (Feldman
selbst eingeschlossen) durch die Figuren des Unendlichen gelesen wird,
kann das auch durch die Figuren des bloß Endlichen geschehen. Als eine
Musik, die sich jenseits des Endes der Kunst befindet und als eine Musik,
die dieses Ende immer wieder aufschiebt, indem sie es betrauert.

16 So Daniel Charles, Zur Erotik der Stimme, oder: Vom Erotismus, als Musik betrachtet, in: ders., John Cage oder:
Die Musik ist los, Berlin 1979, S.152.
17 Toop, Ocean of Sound (Anm. 15), S. 34.
18 Zum Begriff der »absoluten Ware« vgl. Theodor W. Adorno, Ästhetische Theorie, Frankfurt a. M. 1971, S. 351.
19 Alexander García Düttmann, Entkunstung, in: ders., Kunstende: Drei ästhetische Studien, Frankfurt a. M.
2000, S.121.
20 Das »absolute Kunstwerk«, wie Adorno, Ästhetische Theorie (Anm.18), S. 39 bemerkte, »trifft sich mit der
absoluten Ware.«

Musik & Ästhetik − Heft 38/2006 Februar 2006


CSF Freiburg SUN1% CSF3 % UM060208 - 0090 (3) » 4 - 9« Farbe: BLACK Seite: 1 Rev.-Dat.: 20.02.06 Ausg.-Dat.: 20.02.06, 16:34:56 Uhr Höhe: 52,08 Setzer: GH ■

Das aufgeschobene Ende − Dalibor Davidović

Summary
The Delayed End. Essay on the music of Morton Feldman – The ambiguity of Morton
Feldman’s music lies in the fact that it must divest itself of all traces of what is not »the
music itself« in order to realise the musically »absolute«, yet fails precisely through that
realisation. This allows us to read the traces of the contingent within it. And they have been
read in different ways, to the effect that this music sometimes appeared as art, as »modern«
art, on other occasions as the expression of a cultural particularity, or indeed finally as
»ambiental". In all this, it must be left open whether it has thus already moved beyond the
end of art, or is rather delaying that end.

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