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Bibliothekarisches Blitzlicht Nr.

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© Christof Wahner 2010

Vorwort: In dieser Art von Text geht es um eine neue Lesart von Bücherregalen in Bibliotheken wie
z.B. der Badischen Landesbibliothek, die fortlaufend nummeriert sind, ohne räumliche Kategorisierung.
Nun stellt sich bei solcher Zufälligkeit die Frage, ob sich nicht doch tiefere Gründe dahinter verbergen,
wenn z.B. ein Buch mit dem Titel "Beruf Pferdewirt" direkt neben einem anderen Buch mit dem Titel
"Der Sinn des Lebens" steht. Die Titel bzw. Untertitel der ausgewählten Bücher sind hervorgehoben.

Samstag 8:30. Inge und Hans Krens sitzen gemütlich am Frühstückstisch. Während sie miteinander
den Leitfaden Chinesische Medizin besprechen, stoßen sie auf einen bisher sträflich vernachlässigten
Risikofaktor, nämlich den Risikofaktor Mutterleib. Und plötzlich wird ihnen beiden bewusst, wie sie da-
sitzen, nämlich zwischen den Stühlen, wie es ihre langjährige Arbeitskollegin Heidi Urbahn de Jauregui
in der Vergangenheit immer wieder konstatiert hat. In allerlei Hinsicht sitzen sie zwischen den Stühlen,
zum Beispiel wenn es um die Urlaubsplanung geht. Er sagt beharrlich "Galápagos". Sie erwidert jedes
Mal ebenso beharrlich "Rehe am Meer". Er hat aber nicht die leiseste Ahnung, dass sie damit ein Buch
von Ralf Rothmann meint. Als diese Konversation schließlich versandet, schreiben sie einfach nur noch.
Ja, aber WAS bitteschön schreiben sie denn da? Anarchoschnitzel schreiben sie! Ja, und zwar lauter
wüste Anarchoschnitzel zum Themenkomplex Klimakterium, Postmenopause und Hormonsubstitution.

Gemäß ihrer Familientradition werfen sie diese Anarchoschnitzel wild gestikulierend aus dem Küchen-
fenster, so dass umliegende Balkons damit bestückt werden. Genau in der Wohnung darunter wohnt
Bodo Plachta, ein Tyrann der Schaubühne. Ihm, der gewohnheitsmäßig als ambitionierter Psychopath
unterwegs ist, platzt nun wieder einmal der Kragen. Er packt in wilder Entschlossenheit ein Buch des
Karlsruher Philosophen Peter Sloterdijk mit dem Titel "Zorn und Zeit" und tobt stehenden Fußes zur
Wohnung von Inge und Hans Krens hoch. Als er breitbeinig in der Tür steht, trägt er bedächtig, aber
gleichzeitig mit leicht katatonischer Anspannung den Titel des Buches vor: "Zzzzzzorn und Zzzzzzeit."

Inge und Hans Krens weisen Bodo Plachta darauf hin, dass er mit so einem Gehabe in der Grafschaft
Mansfeld nicht viel verloren hat. Ein Fingerzeig auf den prächtigen Bildband mit dem Titel "Mansfeld -
Gebiet, Geschlecht, Geschichte" genügt als Argument. Bodo Plachta erkennt nun, dass dies hier keine
Schaubühne ist und setzt sich zur Versöhnung mit an den Frühstückstisch. Man sagt ihm, er solle sich
einfach bedienen. Sobald er jedoch mit seinen mangelhaft gepflegten Pranken über den ganzen Tisch
greift, alles mögliche anfasst und gleich wieder fallen lässt, lässt Hans Krens die Worte "Individualität
und Eigentum" in den Raum fallen. Inge Krens ergänzt in einem äußerst schnippischem Tonfall: "Tja,
da sage ich nur >Christian Schmidt<!" Offenbar ist dieser Name für Bodo Plachta ein gewisser Begriff,
denn urplötzlich ist er ungewöhnlich lieb und brav, ja geradezu lammfromm.
Dann sprechen sie noch eine Weile über Mobilfunk, Gesundheit und die Politik, bis sie kurz vor 11:00
gemeinsam zur Schlussfolgerung kommen, dass Tiger keine Yogis fressen. Ja, die Tiger verschonen
sogar die Monaco AG, so dass die Grimaldis ungestört ihr Fürstentum vergolden, was noch zu allem
Überfluss schamlos unter dem schönfärberischen Slogan Innovation und Reform angepriesen wird.

Ja, da rückt wieder Ordnungsökonomik als aktuelle Herausforderung auf den Plan, wenn sich Mode
und Zynismus dermaßen deutlich die Klinke in die Hand drücken. So ist es auch gar kein Wunder, dass
Bodo Plachta sein Lebensgefühl als Tyrann der Schaubühne nur mit zwei Worten beschreiben kann:
Einfach abgehängt. Er fühlt sich einfach existenziell in seiner Selbstverwirklichung behindert, solange
Bücher im Umlauf sind mit so nebulösen Titeln wie "Organisation der Verantwortung der Organisation"!
Geht’s noch? So ein Titel ist nicht nur jenseits von Gut und Böse, sondern schon jenseits von Bullerbü,
wie es Bodo's Exfreundin Maren Gottschalk immer so wunderschön humorvoll auf den Punkt brachte.

Führung im Wandel und Erfolgsfaktor Persönlichkeit sind die beiden Rettungsanker, die Bodo Plachta
jetzt am dringlichsten braucht, um sich irgendwie vor Morbus Crohn und Colitis ulcerosa zu schützen.
Vorerst kann er seine Hypochondrie etwas lindern, indem er in seinen kühnen Tagträumen ausgedehnte
Streifzüge durch das alte Ägypten unternimmt und auch weitere Erinnerungsorte der Antike heimsucht,
wo es stets um Liebe und Tod ging. Das heißt: in der Regel zuerst um Liebe und anschließend um Tod.
Bodo Plachta ist zwar Psychopath, aber nicht nekrophil, philosophiert nun jedoch gründlich über die
denkbaren Kombinationen dieser beiden Themen: nämlich über tödliche Liebe und liebevollen Tod.

In diesem Kontext reflektiert er außerdem eine geraume Weile über seine obligatorische Frage, worin
wohl der Sinn des Lebens bestehen könnte und beschließt urplötzlich nach einem kristallkugelklaren
Geistesblitz, auf den Beruf Pferdewirt umzusatteln, und zwar ganz einfach nach dem guten alten Motto
"Ein schöner Pferderücken kann jederman beglücken".

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