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Politik als „Kunst des Lebens“

Thomas Manns Deutschlandrede von 1945

Halten wir uns vor Augen, vor welchem persönlichen Hintergrund der Mann spricht:
„Unpolitisch“ hatte er sein wollen. Seine „Betrachtungen eines Unpolitischen“ waren der
deutschen Kriegspropaganda im Ersten Weltkrieg in keiner Weise nachgestanden. Völlig
überwältigt von einem „Wesen“ mit dem Attribut „national“, liess er sich dazu hinreissen,
Deutschtum und Zivilisation zu Gegensätzen zu erklären, vergleichbar dem Gegensatz von
Musik und Politik. Alles Gute erschien ihm deutsch, alles Andere kam von anderswoher und
war „widerdeutsch“. Insbesondere die Demokratie widerte ihn an, und der „Westen“ stieß ihn
ab. Ein widerwärtiges Buch. Aber auf die Ironie der Geschichte ist Verlass. Einige Jahre
später war es die Demokratie im Westen, die ihm Schutz bot, und er wurde ihr Bürger. Das
verschaffte ihm endlich den Blick von aussen, der not tut, wenn man sehen will, was
Deutschland ist.

Vor diesem Hintergrund also Thomas Manns Rede am 6. Juni 1945 in der Library of
Congress in Washington, einen knappen Monat nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, von
ihm selbst bereits mit einer letzten pathetischen Rundfunkansprache gewürdigt. Anlass jetzt:
der eigene 70. Geburtstag. Ohne weiteres ist ihm zu glauben, was er eingangs gesteht: „Alles
ist so seltsam, so wenig glaubhaft, so unerwartet.“ Seltsam ist auch die folgende Rede, dieser
Eiertanz eines Deutschen, der zum Kosmopoliten geworden ist und dafür nun die
Notwendigkeit einer Rechtfertigung sieht: „Weltbürger“ sei ja jeder Deutsche schon von
Natur aus, leider aber von einer angeborenen „Weltscheu“ geplagt. Vor allem hat der Eiertanz
mit der empfindlichen Frage zu tun (aber das war Manns Problem schon bei seiner Berliner
Rede „Von Deutscher Republik“ 1922): Wie lässt sich Kritik an der eigenen Herkunft üben,
ohne sich dabei des Verrats schuldig zu machen?

Thomas Mann bezieht Position gegen sich selbst: Er prangert die unterwürfige Haltung der
Deutschen vor staatlicher Obrigkeit an, die er selbst einst gepredigt hatte. Er klagt das
Verhältnis der Deutschen zur Politik als ein „Unverhältnis“ an, das er selbst jedoch
ursprünglich forciert hatte. Er kann nicht anders, als immer noch, als amerikanischer
Staatsbürger Englisch sprechend, vom „deutschen Blut“ zu reden, aber er gibt sich nun

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wenigstens die Mühe einer Reflexion über die deutsche Herkunft des Verhängnisses. Daher
spricht er, wie es ihm angemessen erscheint, von Luther, wenn auch nicht von dessen
wutspeiendem Antisemitismus, sondern allgemeiner davon, dass dieser das „Cholerisch-
Grobianische“ im deutschen Nationalcharakter deponiert habe. Er spricht über die „ungeheure
Katastrophe“, kann sich aber nicht recht entscheiden, ob sie als „Schicksal“ über die
Deutschen kam, oder ob die Deutschen sie „der Welt angetan“ haben. Auf jeden Fall könne
sie als paradigmatisch für die „Tragik des Menschseins“ überhaupt gelten – ohne ein
Paradigma für die ganze Welt fängt ein Deutscher einen Vortrag gar nicht erst an, darunter tut
er es einfach nicht.

Von Interesse aber ist die Perspektive, die nun für den Neuaufbau entworfen wird, denn es ist
die einer Politik der Lebenskunst. Das ist Thomas Manns Wortwahl: Er versucht, die Politik
als eine „Kunst des Lebens“ zu verstehen, denn es fehle den Deutschen ein Zurechtkommen
mit dem Leben und seinen Widersprüchen. Kunst des Lebens heisst, dem Leben Form zu
geben (Leben und Form: das hatte Georg Simmel noch für unvereinbar gehalten), man kann
auch sagen: dem Leben eine Äusserlichkeit zu geben, die der „Innerlichkeit“ stand hält; eine
Oberfläche, die die mystische „Tiefe“ ausbalanciert; eine pragmatische Organisation des
Lebens und Zusammenlebens, die nicht alles von der romantischen „Musikalität der Seele“
erwartet. Endlich hört hier mal einer auf, immer nur wortreich sein „Leiden an Deutschland“
zu beklagen, und geht dazu über, einen Beitrag zur Heilung, soll heissen: zur Gestaltung
Deutschlands als Gesellschaft, einer unter anderen, zu leisten.

Scheiterten die Deutschen nicht immer am Problem der Freiheit? Freiheit, der Zentralbegriff
der Moderne, wurde in Deutschland mehr als anderswo nur als Befreiung verstanden, und dies
vorzugsweise nicht nach innen, sondern nach aussen hin: als Freiheit von allem Undeutschen,
während die Freiheit, wie Thomas Mann nun zu predigen sich genötigt sieht, doch mehr ist
als immer nur „deutsch zu sein, nur deutsch und nichts anderes, nichts darüber hinaus“. Die
Nationalsozialisten müssen wohl als Erben und Vollstrecker der deutschen
Freiheitsauffassung gelten, und sie eröffneten sogar den fatalen Weg zu einer Freiheit zweiten
Grades: zu einer Befreiung von der Freiheit – keineswegs nur ein stupider Antimodernismus,
sondern die äusserste Konsequenz des modernen Freiheitsbegriffes selbst. Dieses „Attentat
auf die Freiheit“ blieb den Deutschen vorbehalten, da sie immer nur die negative Form der
Freiheit, die Befreiung kannten, nicht so sehr die positive Form einer Arbeit an den Formen
der Freiheit, die mühevoll und lästig ist und, in Manns Worten, ein „Fertigwerden mit dem

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Leben“ meint, individuell und gesellschaftlich, eine Frage der Lebenskunst, die der Deutsche
erst erwerben muss, denn er ist „nicht dazu geboren, mit dem Leben fertig zu werden“.

Zentrales Problem dieses Lebens ist der Umgang mit Macht. Statt die Macht, wie einst als
„Unpolitischer“, nur zu verteufeln und ihr damit ungestörte freie Bahn zu geben, versteht
Mann das Spiel der Macht nun als Bestandteil einer Kunst des Lebens. Er stellt sich eine
Politik im Sinne einer „Kunst des Lebens und der Macht“ vor. Ein sensibler Umgang mit
Macht und eine Aufmerksamkeit auf die Umkehrbarkeit von Machtbeziehungen ist mit dieser
Kunst gewiss gemeint. Wie andere Künste, vermittelt auch die Politik zwischen Idee und
Wirklichkeit, versteht sich dabei aber weder als hehre Exekutorin einer Idee, noch als bloße
Verwalterin einer bestehenden Wirklichkeit. Und wenn dabei auch zuzugestehen ist, dass es
kaum jemals einen Politiker gab, der „Großes erreichte und sich nicht danach hätte fragen
müssen, ob er sich noch zu den anständigen Menschen zählen dürfe“, so dürfte die als Kunst
verstandene Politik doch nie ihr Selbstkorrektiv verlieren und sich „ihres ideellen und
geistigen Bestandteils niemals völlig entäussern“, denn das „wäre nicht mehr Kunst“.

Die Politik als Kunst ist selbst ein „Fertigwerden mit dem Leben“, ihr Arsenal an
Kunstgriffen im Umgang mit der Macht genügt nicht in jedem Fall höchsten ästhetischen
Ansprüchen, sondern bedient sich aus dem Fundus geläufiger, oft verachteter Kunstgriffe und
Techniken: Unversöhnlicher Streit, gemeinsame Beratung, Tauschhandel, Kompromiss,
Koalition, Mehrheitsentscheidung, Minderheitenschutz, um zwischen den entschieden
divergierenden Interessen einen Modus vivendi zu finden. In höherem Maße als die
gewöhnliche Politik hat die Politik der Lebenskunst den Raum der Möglichkeiten im Blick
und ist eine „Kunst des Möglichen“ – nicht nur im Sinne der kunstvollen Nutzung des
Spielraums, der sich ihr aktuell bietet, sondern im Sinne einer Gestaltung des Raums der
Möglichkeiten, einer Vorstrukturierung künftiger Möglichkeiten gesellschaftlicher und
individueller Lebensgestaltung, die frühzeitig eröffnet oder verschlossen werden können. Wie
für jede Politik gilt jedoch auch hier, dass in den Raum der Möglichkeit allerlei Erwartungen
und Hoffnungen projiziert werden, die dafür sorgen, dass die reale Politik prinzipiell
enttäuschend ausfällt, denn der Raum dessen, was Wirklichkeit werden kann, ist von Natur
aus begrenzter als das breite Spektrum des Möglichen – ein unlösbares Problem.

Die Politik der Lebenskunst ist eine ernüchterte Politik; sie hofft nicht mehr auf den Umsturz
aller Verhältnisse, der mit einem Schlag alles zum „Guten“ wenden würde. Die Utopie, die sie

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selbst ist und die von ihr vertreten wird, ist eine pragmatische Utopie; sie zielt auf veränderte
Verhältnisse, an deren Realisierung die Individuen alltäglich mit ihrem Lebensvollzug selbst
arbeiten. Sie ist verbunden mit der vorsichtigen, skeptischen Veränderung bestehender
Strukturen und einer geduldigen Verbesserung einzelner Punkte, ohne an die Aufhebung des
„Negativen“ schlechthin zu denken. In keinem Fall geht die Arbeit der Veränderung in der
Politik der Lebenskunst am Subjekt selbst vorbei. Die Art der Gestaltung seiner Existenz,
seine „Ästhetik der Existenz“ selbst wird zur Politik.

Natürlich steht dies in der Tradition der Romantik, die Mann zurecht verteidigt und von einem
bloßen „Romantismus“ unterscheidet. Das Leben als Kunstwerk zu verstehen: Im Gefolge
Thomas Mann war es das Interesse des französischen Philosophen Michel Foucault, auf dieser
Basis eine neue Vorstellung von Politik entstehen zu lassen, eine Politik von unten, die von
den Individuen selbst bewerkstelligt wird. Eine nachhaltige Veränderung von Gesellschaft
kommt auf diese Weise zustande und bietet zugleich Gewähr gegen alte Versuchungen: Dass
die Lebenskunst in der Wendung „gegen alle schon vorhandenen oder drohenden Formen des
Faschismus“ ihren Sinn finden sollte, war das Anliegen Foucaults. Denn Ressentiments
keimen vorzugsweise dort, wo Menschen mit ihrem Leben nicht zurechtkommen; totalitäre
Lösungen finden dort Anklang, wo von einem einzigen Befreiungsschlag die Lösung aller
Lebensprobleme erwartet wird.

Dies ist die politische Bedeutung einer Neubegründung von Lebenskunst, unverzichtbar in
einer Gesellschaft, in der die Lebenskunst lange nur des privaten dolce vita verdächtigt wurde.
Die Kunst des Lebens trägt dazu bei, die „Masse des Guten“ (Thomas Mann) nicht in
unkultivierter Weise ins Böse umschlagen zu lassen. Von vornherein ist sie darüber hinaus,
wie Thomas Mann dies tut, in den Horizont der entstehenden Weltgesellschaft zu stellen, die
mit einer „Bedeutungsminderung politischer Grenzen“ einhergeht und vom einzelnen
Individuum im Sinne eines „sozialen Humanismus“ mitzugestalten ist, um sie nicht allein den
Prozessen der „Weltökonomie“ zu überlassen. Es ist dieser Schlussakkord der Rede von 1945,
der bis weit ins 21. Jahrhundert nachklingen wird.
WILHELM SCHMID

Thomas Mann: Deutschland und die Deutschen 1945. Mit einem Essay von Hans Mayer. Europäische
Verlagsanstalt, Hamburg 1992, 66 Seiten, 26 DM. Aus: Thomas Mann, Gesammelte Werke, Bd. XI, Reden und
Aufsätze 3, S. 1126-1148. S. Fischer Verlag, Frankfurt/M. 1974.

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