Sie sind auf Seite 1von 2

Inge Kovacs

Warum Schönberg sterben mußte ...


Pierre Boulez' musikhistorische Selbstverortung um 1950

»Let us then, without any wish to provoke indignation, but also without shame or
hypocrisy, or any melancholy sense of frustration, admit the fact that SCHÖNBERG IS
DEAD.« 1

Im Mai 1952 erscheint in der englischen Zeitschrift The Score der be-
rühmt-berüchtigte Nachruf des jungen französischen Komponisten Pierre
Boulez: »Schönberg Is Dead«. Die Aussage ist unmißverständlich: Schönberg
ist am Projekt der Reihenkomposition gescheitert, und die Nachfolge steht
bereit, die Stafette zu übernehmen. In den Kreisen der Wiener Schule, in de-
ren zweiter Reihe spätestens mit Schönbergs Tod ein erbittertes Gerangel um
das kompositorische Erbe Schönbergs einsetzte - man denke an die Ausein-
andersetzungen zwischen Josef Rufer und Rene Leibowitl -, wobei aber
dessen Autorität an sich unanfechtbar erschien, konnte eine derart respektlo-
se und prätentiöse Aussage nur schockieren.3 Obwohl die Kritik sich vor al-
lem auf Schönbergs Zwölftontechnik fokussiert - wohingegen insbesondere
die Werke zwischen dem 2. Streichquartett und Pierrot lunaire explizit po-
sitiv gewertet werden -, ist Boulez' Nachruf als versuchter Vernichtungs-

Pierre Boulez, »Schönberg Is Dead«, in: The Score 6 (1952), S. 18-22, hier S. 22; merk-
lich verändert als »Schönberg est mort«, in: ders., Releves d'apprenti, hrsg. von Paule The-
venin, Paris 1966, S. 265-272; dt. auf Grundlage der französischen Fassung als »Schön-
berg ist tot«, in: ders., Anhaltspunkte. Essays, aus dem Französischen von Josef Häusler,
Stuttgart u.a. 1975, S. 288-296.
2 Vgl. dazu Gianmario Borios Beitrag in diesem Band (»Zwölfrontechnik und Formen-
lehre«). Austragungsort der Richtungskämpfe unter den Anhängern der Zwölfronkompo-
sition waren unter anderem die beiden internationalen Zwölfronkongresse nach dem
Zweiten Weltkrieg in Mailand und Darmstadt. Hieraufbewg sich Boulez' Polemik über
doktrinäre und absurd rückständige Kongresse zu Beginn von »Eventuellement ... « (in:
La revue musicale, H. 212 [1952], Numero special: L'reuvre du XX' siecle, S. 117-148,
hier S. 117; auch in: ders., Points de repere I: Imaginer, Paris 1995, S. 263-295; dt. als
»Möglichkeiten«, in: ders., Werkstatt-Texte, aus dem Französischen von Josef Häusler,
Berlin u.a. 1972, S. 22-52).
3 Vgl. dazu auch Dominique Jameux, Pierre Boulez, London 1991, S. 56-57, sowie Klaus
Kropfinger, »)Schoenberg est mort<? Rückfragen an ein Paradigma«, in: ders., Ober Musik
im Bilde, Teilbd. 11, Köln 1995, S. 535-556.

A. Meyer und U. Scheideler (Hrsg.), Autorschaft als historische Konstruktion


© Springer-Verlag GmbH Deutschland 2001
324 Inge Kovacs

schlag gegen das komfXJsitorische Werk Schönbergs in die Geschichte einge-


gangen. 4
Boulez' markante Sprache, seine drastischen Zuspitzungen verleiten zur
vereinfachenden Rezeption der Texte (ein weiteres Beispiel ist das vornehm-
lich vom Titel her bekannte und mißverstandene Spiegel-Interview »Sprengt
die Opernhäuser in die Luft«, das eigentlich aus einer Zeit der Annäherung
an die Opernsphäre stammt). Für Boulez' Verhältnisse ist das hier gefällte
Urteil über Schänberg vergleichsweise moderat. Und auch die polemische
Stoßrichtung gegen Schönberg kann zu diesem Zeitpunkt nicht wirklich
überraschen. Denn bereits 1949 war Boulez in »Trajectoires« hart mit dem
Schuloberhaupt ins Gericht gegangen, hatte ihm seinen unmittelbar nach
dem Krieg verstorbenen Wiener Schüler Anton Webern als leuchtendes Bei-
spiel entgegengehalten. Nun beansprucht Boulez selbst die Schönberg-
Nachfolge: Der König ist tot, es lebe der König.
Die Verortung des eigenen Schaffens in der Geschichte ist für Boulez
über Jahre und Jahrzehnte hinweg geradezu Obsession gewesen. Die Zeit um
1950 stand im Zeichen der Auseinandersetzung mit den Vorgängern. Später
hat Boulez - nun selbst Lehrer - dieser Art Auseinandersetzung für den jun-
gen Komponisten eine unentbehrliche Funktion zugeschrieben:

»J'ai evoque le fait que l'imagination du compositeur prend naissance dans le contact
meme avec !'imagination des compositeurs qui le precMent dans le temps, soit tees direc-
temem, soit avec davancage de recul clans l'histoire. L'imagination s'avive a ce contacr,
existe meme d'abord grace acette connaissance.(t5

Die Wiener Komponistentrias Schönberg-Berg-Webern nimmt (neben


anderen Komponisten wie Igor Strawinsky, Claude Debussy oder Maurice
Ravel) eine zentrale Position in Boulez' Gedankenwelt ein. Seine Einstellung

4 Über die genauen EntstehungsUffistände von »Schönberg 15 Dead" ist nichts bekannt. In
der späteren französischen Fassung ist die Polemik noch deutlich schärfer gefaßt. Mögli-
cherweise wurde der ursprüngliche Text vom Übersetzer abgeschwächt oder Boulez hat
ihn umgekehrt bei der Aufnahme in Releves d'apprenti weiter zugespitzt. Später hat
Boulez rückblickend die Polemik gegen die historische Person Schönbergs relativien, sei-
ne Kritik an dessen kompositorischem CEuvre aber im wesentlichen beibehalten; vgl.
dazu erwa Pierre Boulez, ),Schönberg, der Weniggeliebte?«, in: ders., Anhaltspunkte (wie
Anm. I), sowie ders., »Through Schoenberg co the Future«, in: Journal of the Arnold
Schoenberg Institute 1 (1977), S. 18-22.
5 Pierre Boulez, »Idee, realisation, metier«, in: ders., Jaiom (pour une decennie). Dix am
d'enseignement au College Je France (1978-1988), Paris 1989, S. 33-69, hier S. 45; dt. als
»Idee, Realisation, Metier«, in: ders., Leitlinien. Gedankengänge eines Komponisten, aus
dem Französischen von JosefHäusler, Kassel u.a. 2000, S. 18-59.

Das könnte Ihnen auch gefallen