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FORUM

KRITISCHE PSYCHOLOGIE
Neue Folge – 2019

methodenfragen

ARGUMENT
FORUM KRITISCHE PSYCHOLOGIE Neue Folge 2

Redaktion: Ariane Brenssell, Ulrike Eichinger, Christian Küpper, Hans-Peter


Michels, Thomas Pappritz, Katrin Reimer-Gordinskaya, Santiago Vollmer,
Michael Zander

Beirat: Gerlinde Aumann, Julika Bürgin, Imke Dierks, Ole Dreier, Barbara Fried,
Boris Friele, Meike Günther, Josef Held, Arnd Hofmeister, Christina Kaindl,
Jochen Kalpein, Ines Langemeyer, Wolfgang Maiers, Morus Markard, Athanasios
Marvakis, Janek Niggemann, Catharina Schmalstieg, Ernst Schraube, Gisela
Ulmann, Klaus Weber

Kontakt: fkp@kritische-psychologie.de

Alle Rechte vorbehalten


© Argument Verlag 2019
Glashüttenstraße 28 · 20357 Hamburg · 040 / 40 18 00 0 · www.argument.de
Umschlag: Chago V unter Verwendung des FKP-Signets von Hans Funk
Satz: Martin Grundmann, Hamburg
Druck: docupoint magdeburg
Erste Auflage 2019
ISSN 0720-0447 · ISBN 978-3-86754-60?-?

Abo-Verwaltung:
Argument Verlag · Glashüttenstraße 28 · 20357 Hamburg
Tel.: 040 / 40 18 00 0 · Fax: 040 / 40 18 00 20 · E-Mail: verlag@argument.de
Blinde und sehbeeinträchtigte Menschen erhalten auf Wunsch eine pdf der Ausgabe.

Eingereichte Beiträge sollten nicht mehr als 50 000 Zeichen (inkl. Leerzeichen) haben.
Inhalt

Editorial ............................................................................................ 5

Wolfgang Fritz Haug


Impulse aus der Gründerzeit der Kritischen Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8

Morus Markard
Probleme und Möglichkeiten der Interpretation verbaler Daten
in einer Psychologie vom Standpunkt des Subjekts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26

Helmut Ittner
Kritisch-psychologische Forschung in Anlehnung an Verfahren
der Dokumentarischen Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45

Günter Mey
»Wir sind keine Kodierautomaten« – Positionen und Potenziale
der Grounded-Theory-Methodologie. Ein Interview . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66

Josef Held
Subjektwissenschaftliche Feldforschung.
Erfahrungen der Tübinger Forschungsgruppe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81

Michael Zander
Praxisforschung und Intervision. Erfahrungen von der Berliner Theorie-Praxis-
Konferenz und aus Seminaren an der Hochschule Magdeburg-Stendal . . . . . . . . . . . . . 99

Werkstattpapier
Grete Erckmann
Kritische Psychologie und Biographieforschung – individuelle und
kollektive Dimensionen von Erfahrung und gesellschaftlicher Realität ......... 116

Athanasios Marvakis & Ernst Schraube


Wider das halbierte Lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131

Gisela Ulmann
Elternschule – Kommentar zum Dokumentarfilm von Jörg Adolph und
Ralf Büchler über die Kinder- und Jugendklinik Gelsenkirchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149
131

Athanasios Marvakis und Ernst Schraube


Wider das halbierte Lernen1

Zusammenfassung: Die pädagogische Theorie und Praxis waren in der Phase der
Einwicklung moderner Gesellschaft von einem Begriff des Lernens geprägt, der
Inhalt und Methode, das »Was« und das »Wie« des Lernens voneinander trennt.
Das »Was« des Lernens wird den Lernenden weitgehend aus der Hand genommen
und die Möglichkeiten der Verfügung über den Lernprozess auf die Frage des »Wie«
des Lernens beschränkt. Vor dem Hintergrund kritischer Handlungs- und Lern-
theorie wird in diesem Artikel analysiert, wie eine solche Halbierung des Lernens
die Entfaltung der menschlichen Lern- und Handlungsfähigkeit untergräbt, und
es werden Grundbegriffe einer nicht-halbierten Theorie des Lernens vorgeschlagen.
Abstract: As modern society developed, educational theory and practice has been
informed by a concept of learning that divides content and method, the »what«
and »how« of the act of learning. The »what« of learning is largely taken out of the
hands of the learners, while their possibilities of participation in defining the pro-
cess are confined to questions of »how« to learn. Based on critical action and lear-
ning theory this paper analyses, how such bisection of learning undermines subs-
tantially the unfolding of the human potential to learn and presents an approach
as well as basic concepts toward a new non-bisected language of learning.

Wissenschaftshistorisch betrachtet, besteht eine der wichtigsten Errungenschaften


der Kritischen Psychologie in der Entwicklung einer theoretischen und methodo-
logischen Konzeption, die den Menschen im inneren Zusammenhang mit seiner
Welt zur Sprache bringt. Der Mensch wird nicht als ein abstraktes, isoliertes Indi-
viduum verstanden, sondern als ein Wesen, dass sein alltägliches Leben im Zusam-
menhang von Natur, Kultur, Technik und Gesellschaft entfaltet. Ausschlaggebend
dabei ist der Begriff der Handlungsfähigkeit. Menschen agieren nicht nur in der
Welt, sondern erschaffen auf der Grundlage der Besonderheit der menschlichen
Psyche und der durch sie ermöglichten spezifischen Handlungsfähigkeit ihre
gesellschaftliche Welt, in der und durch die sie ihr Leben führen. Diese Konzep-
tion ermöglicht einen umfassenden und integrierenden Blick auf die wesentlichen
Dimensionen des menschlichen Lebens und die erforderlichen Voraussetzungen
der Hervorbringung und Aneignung der geschaffenen Lebenszusammenhänge.
Die menschliche Lernfähigkeit bildet ein konstitutives Moment der Handlungsfä-
higkeit. Sie ist eine Voraussetzung der Hervorbringung sowie der Aneignung und

1 Eine englische Version dieses Artikels erschien 2019 in der Zeitschrift Annual Review of Critical
Psychology.

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zeichnet sich – wie alle anderen Dimensionen der Handlungsfähigkeit – aufgrund


der Offenheit und Künstlichkeit der gesellschaftlichen Welt durch eine inhaltliche
Unfestgelegtheit aus. Diese wird von Klaus Holzkamp als ein Grundcharakteristi-
kum menschlichen, »autarken Lernens« (1983, 260ff) beschrieben.
Vor allem die Risse und Widersprüche in den individuellen und gesellschaft-
lichen Handlungszusammenhängen bringen Lernen in Gang. Diese sind nichts
Ungewöhnliches, sie sind von Anfang an Teil der menschlichen Lebensverhält-
nisse. Aber ihre Art und ihr Ausmaß haben sich seit dem vergangenen Jahrhundert
verändert. Heute sind wir auch mit Diskrepanzen konfrontiert, die den gesamten
menschlichen Handlungszusammenhang in eine bedrohliche Schieflage gebracht
haben. In den Sozial- und Human- sowie den Naturwissenschaften wird das Aus-
maß der Gefahr erkannt (vgl. Anders 1980/2018; Haraway 2016; oder auch die
von mehr als 15.000 Naturwissenschaftlern unterzeichnete Erklärung Warning to
Humanity: A Second Notice, Ripple u.a. 2017). Offensichtlich sind wir historisch
an einem Punkt angekommen, an dem wir uns selbst und die von uns hervorge-
brachten lokalen und globalen gesellschaftlichen Verhältnisse fundamental neu zu
denken haben. Ein solches Neudenken erfordert auch eine Reflektion über unser
Verständnis des Lernens. Im Zuge der Entwicklung moderner Gesellschaft hat
sich in der pädagogischen Theorie und Praxis bis heute ein Lernverständnis festge-
setzt, dass das »Was« und das »Wie«, den Inhalt und die Methode, der Lernaktivi-
tät voneinander trennt. Das »Was« des Lernens wird den Lernenden weitgehend
aus der Hand genommen und ihre Bestimmungsmöglichkeiten auf das »Wie« des
Lernens werden beschränkt. Eine derartige Halbierung des Lernens, so unsere zen-
trale These, behindert substantiell die Entfaltung des Potentials der menschlichen
Lernfähigkeit; ein Umstand, den wir uns in einer zukünftigen Gesellschaft nicht
mehr leisten können. Eine zukünftige Gesellschaft erfordert eine pädagogische
Theorie und Praxis, die zur Ausbildung eines partizipativen und problemorien-
tierten Lernens beiträgt und zur Entwicklung der Fähigkeit, selbständig relevante
Problemstellungen in der heutigen Welt zu identifizieren, sie in ihren Zusammen-
hängen zu analysieren und kritisch und konstruktiv mit ihnen arbeiten zu können.

1. Das halbierte Lernen, seine Problematik und Konzepte zu seiner Überwindung

Trotz aller Kritik über die Jahre ist in pädagogischer Theorie und Praxis immer noch
ein Internalisierungs- und Transferdenken des Lernens verbreitet. Lernen wird als
eine Internalisierung und Akkumulation von Informationen über die äußere Welt
und als ein Transfer von Wissen von einem Lehrenden zu einem Lernenden ver-
standen, dessen Inhalt vom Lehrenden vorgegeben wird. Was der Lehrende lehrt,
ist was der Lernende lernt. Ein solches Verständnis verzerrt die praktische Realität
des Lernens. Lernen wird mit Lehren gleichgesetzt und verwechselt – mit einem
derartigen »Lehrlernkurzschluss« (Holzkamp 1993, 391ff) wird die Subjektivität

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Wider das halbierte Lernen 133

der Lernenden und deren Erfahrungs- und Handlungswelt systematisch ausgeblen-


det und werden die Lehrenden als ausschlaggebende Subjekte des Lernens gesetzt.
Das Problem des Transferdenkens liegt nicht in der Vorstellung, dass Lehren und
Lernen etwas miteinander zu tun haben, sondern in der Annahme, dass dieser
Zusammenhang auf dem Prinzip der Transmission beruht und Wissen oder Kön-
nen von einem Wissenden/Könnenden zu einem Nichtwissenden/-könnenden
eins zu eins übertragen werden könnten. Als Modell dient hier immer wieder die
Maschine. Beim Lernen wird den Lernenden wie in einen Computer Informati-
onsinput eingegeben, der dann in deren Gedächtnis gespeichert und bei Bedarf als
Output abgerufen werden kann. Lernende aber sind lebendige Wesen, die faktisch
die ausschlaggebenden Subjekte der Lernaktivität darstellen. Mit ihrem Vorver-
ständnis, ihren Fragen und ihrer Neugierde kommt die Lernaktivität in Gang und
vor dem Hintergrund ihrer jeweiligen alltäglichen Lebensführung werden gelehrte
Inhalte ganz unterschiedlich erfahren und aufgefasst, kurzum: Lehrinhalte setzen
bei Lernenden ganz unterschiedliche Lernprozesse in Gang. Ein Konzept des Ler-
nens, dass dieses nicht als eine Aktivität der Lernenden versteht, sondern als eine
isolierte Funktion, kausal durch Lehre determiniert und losgelöst von Subjektivität
und Lebensführung der Lernenden konstruiert, greift zu kurz. Das fundamentale
Problem des Transferdenkens liegt darin, dass der Lerninhalt ausschließlich als ein
von Lehrenden zu bestimmender Sachverhalt zur Sprache kommen kann. Die
inhaltlichen Komponenten der Lernprozesse werden gegenüber den Lernenden
abgeschirmt, das »Was« und »Warum« des Lernens wird den Lernenden vorgege-
ben und die Möglichkeiten des Einflusses werden auf das »Wie« des Lernens, auf
Methode und Ausführung beschränkt. Eine Theorie und Praxis des Lernens, die
eine solche systematische Trennung und unverbundene Gegenüberstellung des
»Was« und »Wie« der Lernaktivität reproduziert, bezeichnen wir als das halbierte
Lernen. Damit ist nicht gemeint, dass den Lehrenden nicht auch Verantwortung für
die Inhalte des Lernens zukommt, sondern dass wirkliches Lernen (wie wir gleich
ausführlicher zeigen werden) die Möglichkeit der Lernenden voraussetzt, nicht nur
über das »Wie«, sondern auch über das »Was« der Lernaktivität verfügen zu können.
Mit dem halbierten Lernen wird den Lernenden das Ganze der Lernhandlung aus
der Hand genommen und das Lernen auf einen unselbständigen, rein operational-
ausführenden Akt reduziert, bei dem das volle Potential der menschlichen Fähigkei-
ten weder vollständig entwickelt, noch voll zur Geltung kommen kann. Dies trübt
nicht nur die Freude der Lernenden am Lernen und schränkt deren (Lern)Handeln
substantiell ein; wir können uns aufgrund der gesellschaftlichen Herausforderun-
gen, vor denen wir heute stehen, eine derartige systematische Beschränkung der
menschlichen Lernfähigkeit gesellschaftlich »nicht leisten«. Worin liegt nun genau
die Verzerrung des halbierten Lernens und was wären mögliche Wege zu dessen
Überwindung und zur Entwicklung einer alternativen Sprache des Lernens?
In kritisch-psychologischer Tradition wird Lernen eben nicht auf Transfer und

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Internalisierung von Wissen reduziert, sondern als ein wesentliches Moment


menschlichen Handelns und des Schaffens der gesellschaftlichen Welt aufgefasst,
das auch die Entwicklung eines Zuganges und der Aneignung zu dieser von uns
Menschen durch unser Handeln geschaffenen Welt miteinschließt, kurzum: Lernen
ist ein integraler Bestandteil der alltäglichen Lebensführung der Menschen und der
Entwicklung ihrer Erkenntnis- und Handlungsfähigkeit (Dreier 2015; Holzkamp
1995; Marvakis/Schraube 2016). Auf der Grundlage eines solchen handlungs- und
praxistheoretischen Verständnisses wird deutlich, warum Lernen als eine isolierte
Funktion des Psychischen und rein individueller Prozess betrachtet unterbelichtet
bleiben würde. Lernen ist eine zentrale Dimension menschlichen Handelns im
gesellschaftlichen Zusammenhang. Es stellt eine kontextuelle sowie quer-kontextu-
elle Aktivität dar, die nicht nur im Klassenzimmer oder im Vorlesungssaal, sondern
an ganz unterschiedlichen Orten des gesellschaftlichen Lebens stattfindet. Es ist
eine Aktivität, die alleine in und aus seinem Zusammenhang mit der die unter-
schiedlichen psychischen Funktionen umgreifenden alltäglichen Lebensführung
der Lernenden angemessen erfassbar wird (Schraube/Højholt 2016). Lernen ist
aber nicht nur eine wesentliche Dimension der alltäglichen Lebensführung und des
Agierens in der gesellschaftlichen Welt, sondern wird durch diese auch konstituiert.
In den Rissen und Widersprüchen, den Problemen, Fragen und Träumen des all-
täglichen Handelns und der Lebensführung hat die Lernaktivität ihren Ursprung
und sie stellt einen Prozess dar, der nicht nur auf einer bestimmten Lernhaltung
sowie bestimmter Zyklizität, alltäglichen Routinen, Rhythmen und Gewohnheiten
beruht, sondern der vom Lernenden auf der Grundlage seiner Lebensführung aktiv
gestaltet, arrangiert und organisiert werden kann.
Lernen kann als in der alltäglichen Lebensführung verankerte, theoretische und
praktische Weise der Entdeckung der Welt verstanden werden. Als ein Prozess, der
ständig stattfindet, mehr oder weniger zufällig und unabsichtlich, und als »osmo-
tisches« (Bourdieu & Passeron 1979), »unwillkürliches« (Rubinstein 1977), »inzi-
dentelles« oder »Mitlernen« (Holzkamp 1993) beschrieben wird. Auf gewisse Weise
kann man gar nicht vermeiden, dass man ständig etwas lernt. Beispielsweise kann,
alleine durch ein Durch-die-Stadt-Schlendern, eine Stadt kennengelernt werden,
ohne dass dies eigentlich die Absicht war. Lernen kann aber auch eine beabsich-
tigte Aktivität darstellen, ein intentionaler Prozess, der entsprechend als »intentio-
nales Lernen« (ebd.) bzw. »Lernarbeit« (Rubinstein 1977) bezeichnet werden kann,
und der in menschlichen Handlungsproblemen, Konflikten und »breakdowns of
understanding« seinen Ausgangspunkt hat und in der Lernhandlung eine charak-
teristische Gestalt annimmt. Ein Beispiel wäre, dass eine Person nicht Windsurfen
kann, es aber gerne können möchte (das Nicht-Können führt dann zu einem Kon-
flikt in ihrem alltäglichen Handeln), und sie hat daher die Absicht es zu lernen.
Unabsichtliches und absichtliches Lernen stellen keine zwei völlig voneinander
unabhängigen Prozesse dar, vielmehr bilden sie zwei Seiten einer Medaille, die in

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Wider das halbierte Lernen 135

einer Lernaktivität zusammen auftreten können (Maiers 2019). In den Worten von
Sergej Rubinstein: »Es gibt […] zwei Methoden des Lernens und zwei Tätigkeitsfor-
men, die zum Erwerb neuer Kenntnisse und Fertigkeiten führen. Die eine ist spezi-
ell auf das direkte Ziel der Aneignung dieser Kenntnisse und Fertigkeiten gerichtet.
Die andere führt zur Beherrschung dieser Kenntnisse und Fertigkeiten, indem sie
andere Ziele verwirklicht« (1977, 741). Jede menschliche Aktivität ist eingebunden
in die konkreten Bedürfnisse und Motive des Subjekts und so hat auch jede Lernak-
tivität eine intentionale Dimension, die durchaus schwach ausgeprägt sein kann und
dem Lernenden auch nicht richtig klar sein muss. Selbst wenn ich mir sage, jetzt tue
ich etwas ohne jegliche Absicht – genieße das Leben und der Weg ist das Ziel –, so
wird dieses bestimmte Tun durch eine Intention erst ermöglicht. Umgekehrt gehen
in intentionale Lernaktivitäten auch zufällige und unbeabsichtigte Elemente ein, die
einem irgendwie zukommen oder auf dem Weg liegen: durch eine zufällige Gege-
benheit wird mir etwas erst richtig klar. Inzidentelles und intentionales Lernen sind
also analytische Begriffe, die unterschiedliche Formen der Lernaktivität zur Sprache
bringen und diese unterschiedlichen Lernaktivitäten stehen mehr oder weniger aus-
geprägt mit den Intentionen der Lernenden in Verbindung. Intentionen werden
hier nicht individualistisch verstanden als etwas, was im Subjekt steckt, sondern als
situiert, etwas, was sich im Verhältnis von Subjekt und Welt bildet.
Lernen zeichnet sich also durch einen mehr oder weniger stark ausgeprägten
intentionalen Charakter aus. Daher ist Lernen nicht einfach nur eine Operation oder
ein Verfahren, sondern eine Handlung. Lernen hat nicht nur seinen Ursprung im all-
täglichen Handeln, sondern ist selbst eine bestimmte Form des Handelns. Es kann
völlig zurecht vom Akt des Lernens oder von einer Lernhandlung gesprochen werden.
Wenn man nun in handlungstheoretischer Perspektive den psychologischen Pro-
zess menschlichen Handelns genauer betrachtet, dann können vier logische Bestand-
teile differenziert werden: (1) ein inhaltliches Element, also das »Was« der Handlung
(z. B. ich muss auf den Markt zum Einkaufen), (2) ein begründendes Element, das
»Warum« der Handlung (etwa, ich brauche etwas zum Essen). Diese mehr inhaltli-
chen Dimensionen der Handlung geben ihr die Richtung und aus ihnen bestimmen
sich (3) die mehr methodisch-operativen Elemente und die Frage danach, »wie« der
Handlungsprozess vom Handelnden ausgeführt wird (etwa, wie komme ich zum
Markt, welchen Weg nehme ich, gehe ich zu Fuß oder fahre mit dem Rad?); sowie
schließlich (4) ein überprüfendes Element, eine Evaluierung der Handlung, ob das,
was sie in Gang brachte, auch erreicht wurde (etwa, kam ich tatsächlich auch auf
dem Markt an und konnte etwas zum Essen besorgen) (zu allgemein geteilten Kern-
bestandteilen einer Handlungstheorie siehe z.B. Marvakis 1996, 21ff).
Diese vier Elemente jeder menschlichen Handlung können in analytischer
Absicht durchaus voneinander unterschieden und jeweils für sich betrachtet wer-
den, bezogen auf die Handlung aber bilden sie eine Einheit. Aufgrund ihres inneren
Zusammenhanges können sie psychologisch gesehen nicht losgelöst voneinander

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136 Athanasios Marvakis & Ernst Schraube

verstanden werden. Es wäre unsinnig, sich eine Handlung etwa ohne ein inhaltli-
ches Element vorzustellen; durch das »Was« wird das »Wie« ja erst bestimmt, ohne
das »Was« hingen das »Warum« und das »Wie« völlig in der Luft und faktisch
könnte gar nicht mehr von einer wirklichen Handlung gesprochen werden.
In der Handlungstheorie wird diese Einheit eingehend beschrieben. Ein Bei-
spiel wären die Arbeiten des Soziologen Anthony Giddens. »Action«, betont er,
»does not refer to a series of discrete acts combined together, but to a continuous
flow of conduct« (1979, 55) und die Struktur des Handlungsstroms des Subjekts
beschreibt er als eine Einheit von inhaltlichen (»intentions«, »motives« einschließ-
lich der »reasons, why they act as they do«), ausführenden sowie Elementen des
»reflexive monitoring« (56ff; 1984, 3ff).
Diese elementare Struktur des Handelns gilt auch für die Aktivität des Lernens.
Da diese aufgrund ihres intentionalen Charakters eine besondere Form einer
Handlung darstellt, ist auch der Lernprozess durch die vier Elemente konstituiert,
die nur als Ganzes eine distinkte Lernhandlung ausmachen. Die Vorstellung von
Lernen als einer Aktivität, bei der die Lernenden sich nur auf das »Wie« beziehen
können, aber nicht auf »Was« und »Warum«, ist daher konzeptionell unsinnig, und
hier zeigt sich, warum der Einfluss der Lernenden auf den Lerninhalt so ausschlag-
gebend ist. Halbiertes Lernen untergräbt die Praxis des Lernens und damit eben
auch die wirkliche Entfaltung der menschlichen Lern- und Handlungsfähigkeit.
Die Problematik des künstlichen Auseinanderhaltens von Lerninhalt und
Methode und die Einsicht in die analytische Einheit dieser Elemente ist in der
Geschichte der Lerntheorie keineswegs unbekannt. Holzkamp etwa betont die
entscheidende Bedeutung der Lernproblematik und der Verfügung der Lernenden
über die inhaltlichen Elemente des Lernprozesses. Lernen kommt nicht einfach in
Gang, wenn von Lehrenden Lernanforderungen gestellt werden. Lernanforderun-
gen führen nur dann zu Lernhandlungen, wenn sie von den Lernenden bewusst
als Lernproblematiken übernommen werden und für die Lernenden selbst Sinn
haben. In den inhaltlichen Problemstellungen der Lernenden liegt der Ursprung
des Lernens (1993, 183ff).
John Dewey hat vor mehr als 100 Jahren den inneren Zusammenhang zwischen
»Was« und »Wie« des Lernens beschrieben und für einen demokratischen Einbezug
der inhaltlichen Dimension des Lernens in die pädagogische Praxis plädiert. Vor
dem Hintergrund einer damals verbreiteten dualistischen Vorstellung von Mensch
und Gesellschaft erkennt er, wie sich diese in der pädagogischen Praxis als Trennung
von Lerngegenstand und Methode reproduziert. Demgegenüber argumentiert er
für eine »connection of subject matter and method with each other« (1916/2008,
145) und erklärt: »The idea that mind and the world of things and persons are two
separate and independent realms – a theory which philosophically is known as dua-
lisms – carries with it the conclusion that method and subject matter of instruction
are separate affairs […] The notion of any such split is radically false« (ebd.).

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Wider das halbierte Lernen 137

Als Schlüssel zum Verständnis der Einheit von »Was« und »Wie« des Lernens
dient Dewey das Konzept der Erfahrung. In der Ausbildung der Erfahrung sieht er
die zentrale Grundlage des Lernens und entsprechend verortet er in der Erfahrung
seine Kritik der Trennung von Inhalt und Methode. »Reflection upon experience«,
betont Dewey, »gives rise to a distinction of what we experience (the experienced)
and the experiencing – the how. When we give names to this distinction, we have
subject matter and method as our terms […] This distinction is so natural and
so important for certain purposes, that we are only too apt to regard it as a sepa-
ration in existence and not as a distinction in thought« (ebd., 147). Der Prozess
des Lernens beruhe nicht aus einer Zusammensetzung getrennter inhaltlicher und
methodischer Elemente, sondern auf der Erfahrung als einer Einheit in Bewegung.
»Experience«, erklärt er, »is not a combination of mind and world, subject and
object, method and subject matter, but is a single continuous interaction of a great
diversity (literally countless) of energies« (ebd.) und entsprechend kritisiert Dewey
auch heftig die »evils in education that flow from the isolation of method from
subject matter« (148).
Ein wichtiger Schritt der Entwicklung einer Lerntheorie besteht daher in der
Überwindung dualistischer Denkweisen und im systematischen Einbezug der
Erfahrungs-, Problem- und Handlungswelt der Lernenden. Deutlich wird damit,
warum nicht die Lehrenden, sondern die Lernenden das zentrale Subjekt der
Lernaktivität darstellen (was keineswegs bedeutet, wie wir gleich ausführlicher zei-
gen werden, dass die Aktivität des Lehrens nicht wichtig für das Lernen wäre). In
den vergangenen Jahren wird dieser Umstand in der pädagogischen Forschung
zunehmend erkannt und eine Diskussion über einen Perspektivenwechsel ist im
Gang, ob der Fokus der Forschung nicht von den Lehrenden auf die Lernenden
neu auszurichten wäre. Eine wichtige Stimme dabei ist die der Anthropologin
Jean Lave. Sie betont: »Questions about learning are almost always met by educa-
tional researchers with investigations of teaching. This disastrous shortcut equates
learning with teaching« (1996, 158) und sie fordert »a reversal in perspective so
that the vital focus of research on learning shifts from transmitters, teachers or
care givers, to learners« (155) und »an analysis of learners as subjects« (158). Im
Kontext dieser Diskussion gewinnen Konzepte wie »student-centered learning«
zunehmend an Bedeutung. Es stellt sich die Frage, inwieweit gelingt es den Denk-
weisen, die beim Verständnis des Lernens auch die Subjektivität der Lernenden
miteinbeziehen, tatsächlich, das halbierte Lernen zu überwinden?

2. Das halbierte Lernen: Auch beim »Student-Centered Learning«?

Nicht nur in der Lerntheorie, auch in der Bildungspolitik wurden die Schwächen
des traditionellen Lernverständnisses erkannt und seit ein paar Jahren besteht auf
europäischer Ebene Einigkeit, dass im Student-Centered Learning das entschei-

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138 Athanasios Marvakis & Ernst Schraube

dende Prinzip zur Verbesserung der Qualität des Lehrens und Lernens liegt. So
vereinbaren in einer Erklärung von 2010 die Bildungsminister der europäischen
Länder: »We call upon all actors […] to foster student-centered learning as a way
of empowering the learner in all forms of education« (EHEA 2010, 2). Statt Ler-
nende als passive Empfänger von Informationen aufzufassen, sollen sie ernster
genommen werden mit ihrem Engagement und ihrem Handeln, ihrer Unter-
schiedlichkeit und ihren Bedürfnissen und sie sollen die Möglichkeiten bekom-
men, aktiv ihre Lernprozesse sowie die pädagogischen Verhältnisse gestalten zu
können. »Conventional learning […] tends to consider students as passive recep-
tors of information, without consideration of the need to actively participate in
the learning process« (ESU 2010, 8), erklärt der Bericht der European Students’
Union (ESU) zum aktuellen Stand der Theorie und Praxis, im Gegensatz dazu
ermögliche »student-centered learning […] students to shape their own learning
paths and places upon them the responsibility to actively participate in making
their educational process a meaningful one« (9).
Eine solche Bewegung hin zu einem systematischen Einbezug der Lernenden
in ihren Lernprozess und die Entwicklung der Lern-Lehrverhältnisse klingt über-
zeugend. Aber sie birgt auch neue Fallgruben. Lernen kann als rein individualis-
tische Angelegenheit des Lernenden verstanden werden, als ein Konsumprodukt,
das der Logik des Marktes unterliegt, wobei der besondere Stellenwert sowie die
allgemein-gesellschaftliche Verantwortung der Lehre in den Hintergrund rückt
und als Beiwerk erscheint. Der Erziehungswissenschaftler Gerd Biesta hat wie
kaum ein anderer diese Gefahren analysiert. Er erkennt, wie eine solche neue
Sprache des Lernens zu einer »learnification« (2013, 62ff) der pädagogischen Pra-
xis führen kann, v. a. wenn diese in eine neo-liberale Ökonomisierung der Lern-
Lehrverhältnisses eingebunden ist. Der Lernende wird zum Konsumenten und
die pädagogische Institution zum Dienstleister, die dem Lernenden zu bieten hat,
was dieser »braucht«. Biesta erklärt: »One of the main problems of the new lan-
guage of learning is that it allows for a re-description of the process of education in
terms of economic transaction, that is, a transaction in which (i) the learner is the
(potential) consumer, the one who has certain needs, in which (ii) the teacher, the
educator, or the educational institution becomes the provider, that is, the one who
is there to meet the needs of the learners, and where (iii) education itself becomes
a commodity to be provided or delivered by the teacher or educational institution
and to be consumed by the learner« (2005, 58).
Die Konzeption des »student-centered learning« bezieht die subjektive Dimen-
sion des Lernens mit ein und erweitert die Einflussmöglichkeiten der Lernenden
auf ihre Lernprozesse. Diese beschränken sich aber bislang ausschließlich auf die
operativen Elemente, auf das »Wie« des Lernens. Damit verbleibt dieses Lernkon-
zept weiterhin in einem lehrfixierten Rahmen und reproduziert auf perfide Weise –
durch aktive Partizipation der Studierenden – die Halbierung des Lernens.

FORUM KRITISCHE PSYCHOLOGIE NEUE FOLGE 2


Wider das halbierte Lernen 139

Deutlich wird die Halbierung etwa bei zentralen Begriffen wie »self-regulated lear-
ning« (ESU 2010, 11) und der Forderung nach »self-management«. Die Lernenden
müssen nunmehr selbstständig Funktionen der Regulierung und des Managements
des Lernprozesses übernehmen, ohne allerdings über jene soziale Macht zu verfügen,
um auch über die Inhalte des Lernens entscheiden zu können. Durch diese impli-
zit-explizite Halbierung der Verfügung über das Handlungsganze »Lernen« bleibt
den Lernenden wiederum nur die Verfügung über die Ausführung, letztlich Anpas-
sung und Unterwerfung unter den vorgegebenen Inhalt. Selbst beim Konzept des
»problem-based learning«, das als ein wesentliches Element des »student-centered
learning« beschrieben wird (ebd.), geht es nicht um inhaltliche Problemstellungen,
die die Studierenden selbstständig identifizieren und in ihrem Lernprozess untersu-
chen, sondern um eine Methode, die durch den Einbezug aktueller Problemstellun-
gen aus der wirklichen Welt effektiveres Lernen ermöglichen soll (ebd.) (was eine
gute Idee sein mag, aber eben keineswegs eine Verfügung der Lernenden über den
Lerninhalt und Selbstbestimmung der Lernprobleme impliziert).
Damit wird aus einem selbst-regulierten, selbst-organisierten Lernen eine Fokus-
sierung der Lernenden ausschließlich auf den Lernvollzug, auf die Regulation des
»Wie« des Lernens und was man lernen soll und muss. Die Selbstregulation bezieht
sich nicht auf das Handlungsganze. Damit bedeutet das »student-centered lear-
ning« weniger eine subjektsensiblere Lerntheorie, als vielmehr den Wechsel pädago-
gischer Regulierungsstrategien innerhalb der bisherigen Strukturen, die sich durch
das modernere Charakteristikum auszeichnen, mehr Subjektivität den Lernen-
den abzufordern und zu ermöglichen. Bezogen auf die neue Sprache des Lernens
kommt Biesta zu dem Schluss: »Learning has to a large extent become an instru-
ment of domestication, […] if not […] an instrument of stultification« (2013, 70).
Biestas Kritik umfasst keine Vorschläge zur Weiterentwicklung des Lernbegriffes.
Sein Schwerpunkt liegt vielmehr auf der Neuentdeckung des Lehrens (2017). Dabei
sieht er dessen zentrale Aufgabe nicht in einem Transfer von Wissen und einem
Akt der Kontrolle der Lernenden, vielmehr in der Eröffnung von Möglichkeiten
zu entdecken, als Subjekt auf eine menschlich-entfaltete Weise in und durch die
Welt zu existieren. »Teaching […] is interested in the grown-up subject-ness of stu-
dents«, erklärt er, und es geht »about creating existential possibilities though which
students can encounter their freedom, can encounter the ›call‹ to exist in the world
in a grown-up way, as subject« (2017, 6). Lehren impliziert daher, die Lernenden
nicht als Konsumenten, sondern als Subjekte aufzufassen, und das bedeutet auch »a
refusal to accept any claim to incompetence, particularly if such claim comes from
the student« (ebd.). Durch die Betonung der »grown-up-ness« der Lernenden als
handelnde Subjekte zeigt sich, wie in Biestas Perspektive die Vorstellung zur Über-
windung des halbierten Lernens angelegt ist und tatsächlich spricht auch er sich für
die Überwindung der Dichotomie von Lerninhalt und Methode aus: »The educa-
tional question is […] never just about how to do things, but always involves jud-

FORUM KRITISCHE PSYCHOLOGIE NEUE FOLGE 2


140 Athanasios Marvakis & Ernst Schraube

gements about what is to be done« (2013, 8) und er betont: »A major problem with
the language of learning […] is that it is a language of process, but not a language of
content and purpose. […] It is a language that makes it more difficult to ask questi-
ons about content; it is a language that makes it more difficult to ask questions about
purpose; and it is a language that makes it more difficult to ask questions about the
specific role and responsibility of the teacher in the educational relationship« (127).
Wenn Biesta »against learning« (2005 u. 2006) spricht, dann ist er nicht grund-
sätzlich gegen Lernen, sondern gegen eine Theorie und Praxis des »halbierten Ler-
nens«. Auch wenn er die Lerntheorie nicht weiterdenkt, so ist ihm klar, dass jede
Theorie des Lehrens einen Begriff des Lernens erfordert. Nicht nur, weil Lehren
selbst ein Lernprozess ist, sondern weil es sich eben auf Lernen bezieht und die Vor-
stellung von zwei unabhängig voneinander stattfindenden Prozessen eine Fiktion
wäre. »My critique of the politics of learning can itself be understood as an attempt
at transgression«, schreibt Biesta, »I still want to be open to the possibility that
learning can also work for the good […] The crucial question is, where learning can
work for us, rather than that we have to work for learning« (2013, 76). An einen
solchen Versuch der Überschreitung des »student-centered learning« knüpfen wir
nun an und zeigen, wie auf der Grundlage Kritischer Psychologie und der Analyse
der besonderen Gestalt der Lernaktivität vom Standpunkt der Lernenden die Spra-
che des Lernens jenseits der Halbierung weitergedacht werden kann.

3. Partizipatives und problemorientiertes Lernen:


Theorie des Lernens vom Standpunkt der Lernenden

Was bewegt uns zum Lernen? – Was für uns Sinn hat zu können, zu wissen, uns
daran zu beteiligen, das hat für uns auch Sinn zu lernen. In den Problemen, Dilem-
mas, Fragen und Träumen des alltäglichen Handelns und der gemeinsamen
Lebensführung hat die Lernaktivität ihren Ursprung. Dann tritt sie gewissermaßen
aus dem Handlungsprozess heraus und schlägt einen Umweg ein, um zu versuchen,
das mangelnde Verständnis oder Können zu erreichen – und erweitert schließ-
lich, wenn alles gut geht, die Handlungsfähigkeit und alltägliche Lebensführung.
Holzkamp spricht dann von einer Lernschleife, die selbst wiederum eine besondere
Form der Handlung ist, eben eine Lernhandlung: »Lernen ist allgemein gesehen
ein zentrales Mittel meiner Lebensbewältigung, das immer dann für mich aktuell
wird, wenn ich […] bestimmten Handlungsproblematiken nicht direkt beikom-
men kann, sondern dazu eine Lernschleife einlegen, also die Handlungsproble-
matik als Lernproblematik übernehmen muss. Lernen ist so gesehen in meinem
unmittelbaren Verfügungs- und Lebensinteresse, ich will und muss durch Lernen
meinen Zugang zu relevanten Aspekten meiner Lebenswelt erweitern, da ich nur
so [die] […] damit verbundenen Beschränkungen meiner Lebensmöglichkeiten
schrittweise reduzieren kann. In diesem Kontext sind meine Lernhandlungen […]

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Wider das halbierte Lernen 141

expansiv begründet, d.h. motiviert aus dem Zusammenhang zwischen lernendem


Weltaufschluss, Verfügungserweiterung und erhöhter Lebensqualität« (1993, 445).
Da der Lerninhalt, den Holzkamp als »Lernproblematik« bezeichnet, in der all-
täglichen Lebensführung der Lernenden ihren Ausgangspunkt hat, ist er subjektiv
konstituiert. Das bedeutet nun aber nicht, dass es sich bei der Lernproblematik um
ein individualistisches Konzept handelt, um eine Variation intrinsischer Motiva-
tion oder ähnlichem, vielmehr entspringen die inhaltlichen Lernproblemstellungen
der sozialen und gesellschaftlichen Erfahrungs- und Handlungswelt der Lernenden.
Aufgrund ihrer subjektiven Verankerung in der Welt kann (muss aber nicht) die
Entwicklung der Lernproblematiken den Dialog mit Anderen erfordern. Nicht nur,
um die Lernproblematiken genauer fassen zu können und zu polieren; und nicht
nur, weil die Lernenden selbst begrenzt und in Vorurteilen und Common-Sense-
Denken verhaftet sind. Sondern auch, weil wesentliche und gesellschaftlich höchst
relevante Lernproblematiken sich jenseits des unmittelbaren Erfahrungs- und
Handlungshorizontes des Lernenden befinden können. »Die Bewegungsform des
Lernens ist der Widerspruch«, erklärt Frigga Haug und sie betont: »Der Wider-
spruch geistert durch die Erfahrungen und Erinnerungen der Einzelnen als Leer-
stelle, als Verschweigen, als Unsinnigkeit, als Leugnung, wie etwas, das aus der Ver-
drängung befreit werden will« (2003, 283). Lernproblematiken implizieren immer
auch einen gewissen Grad an Unmittelbarkeitsüberschreitung und Horizonterwei-
terung, ein Umstand, dem in unserer heutigen, überaus komplexen, lokal/globalen
Welt eine neue Bedeutung zukommt. Daher ist auch der Dialog mit Lehrenden
für die Entwicklung der inhaltlichen Problemstellungen der Lernenden durchaus
erforderlich. Ausschlaggebend dabei aber ist, dass zwischen Lernanforderungen und
Lernhandlungen unterschieden werden muss. Lernanforderungen werden nicht
automatisch zu Lernproblematiken und führen zu Lernhandlungen. Die Lernen-
den selbst müssen einsehen, dass die Lernproblematik Sinn hat und es für sie mit
der Lernhandlung tatsächlich etwas zu lernen gibt. »Lernen kommt nicht einfach
dadurch von selbst in Gang«, erklärt Holzkamp, »dass von dritter Seite entspre-
chende Lernanforderungen an mich gestellt werden; mein Lernen kann keineswegs
durch irgendwelche dafür zuständigen Instanzen (etwa den Lehrer oder die Schul-
behörde) über meinen Kopf hinweg geplant werden. Lernanforderungen sind nicht
eo ipso schon Lernhandlungen, sondern werden nur dann zu solchen, wenn ich
sie bewusst als Lernproblematiken übernehmen kann, was wiederum mindestens
voraussetzt, dass ich einsehe, wo es hier für mich etwas zu lernen gibt« (1993, 184f).
Durch die Einsicht, dass Lernen vom Lerninhalt ausgedacht werden muss, wird
die Lerntheorie gewissermaßen vom Kopf auf die Füße gestellt. Ein solcher Schritt
ist Voraussetzung für einen Begriff des Lernens jenseits dessen Halbierung. Von
hier aus kann ein Verständnis der besonderen Gestalt des Lernens als ein Hand-
lungsganzes und eine Aktivität der Lernenden entwickelt werden. Da Holzkamps
Lerntheorie wie keine andere einen umfassenden und systematischen Zugang zu

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142 Athanasios Marvakis & Ernst Schraube

einer solchen Konzeption eröffnet, zeigen wir ausgehend von Schlüsselkonzepten


seiner Theorie die Umrisse eines Inhalt, Gründe, Methode und Evaluierung inte-
grierenden Verständnisses von Lernen.
3.1 Lernhaltung und Lernprinzipien
Wenn ein Lernender eine bestimmte Lernproblematik als seine identifiziert und
etwa die Absicht hat Windsurfen zu lernen, geht damit immer auch eine Verän-
derung und Neuausrichtung der alltäglichen Lebensführung einher. Mit Bezug zu
dem, was man gerne lernen möchte, arrangiert und organisiert der Lernende sein
alltägliches Leben auf neue Weise und entwickelt Prinzipien, wie er das, was er
gerne lernen möchte, lernen kann. Die unterschiedlichen Lerninhalte erfordern
jeweils eine bestimmte Lernhaltung sowie bestimmte Lernprinzipien. Windsurfen-
Lernen etwa erfordert, dass ich mein Leben so einstelle, dass ich zumindest etwas
Zeit dafür habe und mich auf das Lernen konzentrieren kann und mir überlege,
wie ich Windsurfen am besten lernen könnte (etwa zuerst versuchen, auf einem
Brett im Wasser zu stehen, um ein Gefühl für die Balance bekommen). Die
Absicht, Psychologie studieren zu wollen, impliziert auch eine bestimmte Lernhal-
tung und Lernprinzipien, aber eben andere als beim Windsurfen lernen zu wollen,
vermutlich viel komplexer und umfassenderer, man wird zum »Studierenden« und
das Psychologie-Lernen steht im Zentrum der alltäglichen Lebensführung. Lern-
haltung und Lernprinzipien umfassen die Frage des »Wie« des Lernens und damit
in gewisser Weise auch Prozesse der Selbstregulation und Selbstorganisation, bezie-
hen diese aber auf den Lerninhalt: »Lernprinzipien stehen sicherlich mit regulato-
rischen Lernstrategien […] in engem Zusammenhang, sind aber dennoch diesen
gegenüber durch ihren Inhaltsbezug spezifiziert […] So ergibt sich etwa das Prin-
zip des ›Erst-langsam-Übens‹ aus der Bedeutungsstruktur des Klavierspiels […]
Mit Bezug auf die Umsetzung der Bedeutungsstruktur ›Hochsprung‹ o.ä. wäre
Langsam-Üben dagegen ein ungeeignetes Lernprinzip […] Nur in dem Maße,
wie ich mir über das jeweils zu realisierende inhaltliche Lernprinzip im Klaren
bin, steht die angemessene regulatorische Lernstrategie zur möglichst effektiven,
erfolgskontrollierten Annäherung an die Bezugshandlung überhaupt zur Frage«
(Holzkamp 1993, 187). Die Frage des »Wie«, die besondere Lernhaltung und mit
welchen Lernprinzipen anzusetzen wäre, ist also durch den Inhalt, durch das »Was«
des Lernens bestimmt. Die spezifische Ausbildung des »Wie« aber ist auch abhän-
gig von der Lernbegründung, vom »Warum«. Mit dem Begriffspaar defensives vs.
expansives Lernen bringt Holzkamp diesen Zusammenhang detailliert zu Sprache.
3.2 Defensives versus expansives Lernen
Wie jede Handlung einer Person, so hat auch die Lernhandlung Gründe. Diese
sind immer erster Person, es sind je meine Gründe. Wenn ich Windsurfen lernen
möchte, dann habe ich bestimmte Gründe dafür, selbst wenn ich sie mir gar nicht

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Wider das halbierte Lernen 143

so klargemacht habe und es durchaus unterschiedliche geben kann. Aber meine


Gründe können ganz andere sein als die eines Freundes, der auch gerne Windsur-
fen lernen möchte. Holzkamp analysiert, wie subjektive Gründe zu einer Lern-
handlung führen, und unterscheidet zwei typische Begründungsmuster, die zur
Identifizierung von Lernproblematiken und dem »Umweg« des Lernens führen.
Defensive Lerngründe beziehen sich weniger auf den Lerninhalt als auf die Abwehr
von Beeinträchtigungen und Bedrohungen oder das Verteidigen erreichter Lebens-
möglichkeiten. Etwa ich möchte Psychologie studieren, um später mal richtig viel
Geld zu verdienen (also Abwehr der Bedrohung möglicher Armut), oder ich lerne,
weil sonst eine Sanktion droht, oder ich nehme an einem Kurs teil, weil ich den eben
brauche, um in meinem Studium weiterzukommen. Defensives Lernen ist primär
von außen gesteuert und weitgehend sachentbunden, wobei die defensiven Begrün-
dungskonstellationen soweit gehen können, dass die Lernproblematik diffundiert
und zu einer reinen Handlungsproblematik (ohne Lernhandlung) wird, etwa zu der
Frage: »Wie bestehe ich eine Prüfung, egal, ob ich irgendetwas dabei lerne?«
Demgegenüber beziehen sich expansive Lerngründe auf den Lerninhalt und auf
das, was es zu lernen gilt. Etwa mich interessieren Menschen und ihr merkwürdiges
Agieren in der Welt, daher möchte ich gerne Psychologie studieren, um das besser
zu verstehen. Beim expansiven Lernen werden die zu erwartenden Anstrengungen
und Risiken des Lernens vom Lernenden unter der Annahme angenommen, dass
durch den im Lernen gewonnenen Weltaufschluss gleichzeitig eine Erweiterung
der Verfügung über relevante Aspekte der Welt und Entfaltung der subjektiven
Lebensqualität zu erwarten sind. Im expansiv begründeten Lernen ist der Lern-
prozess primär nicht an äußeren Anforderungen, sondern an den sachlichen Not-
wendigkeiten orientiert, die sich aus dem Prozess des inhaltlichen Sich-Einlassens
auf die Lernproblematik und den teilweise eben noch unzugänglichen Lerngegen-
stand ergeben. »Jedes Lernen (zur Überwindung einer Lernproblematik)«, erklärt
Holzkamp, ist »auf die Erweiterung des Weltzuganges und damit der Weltverfü-
gung gerichtet, also der Intention nach ›expansives Lernen‹« (1996, 125).
Defensives und expansives Lernen sind analytische Begriffe, d.h. es sind nicht
Begriffe, um von außen den Lernprozess Anderer zu kategorisieren oder zu bewer-
ten, sondern es sollen Lernprozesse vom Standpunkt der Lernenden verstanden
werden. Defensive und expansive Lerngründe schließen sich nicht aus, es können
beide Muster in einer Lernhandlung zusammenkommen. Von der subjektiven
Begründungskonstellation hängt nun ab, wie gelernt wird. Ob ›husch husch‹ oder
ob und inwieweit ich mich auf den Lerngegenstand einlasse, kurzum: was für eine
Lernhaltung ich einnehme und was für Lernprinzipien ich anwende. Mit dem
Begriffspaar defensives/expansives Lernen wird deutlich, wie wichtig das »Warum«
für die Art und Weise der Entfaltung des »Wie« des Lernens ist.
Expansive Lernhandlungen sind nach vorne gerichtete Aktivitäten, die Ler-
nenden möchten etwas erreichen, wozu sie bislang noch nicht in der Lage sind.

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144 Athanasios Marvakis & Ernst Schraube

In diesem Noch-nicht-Verstehen/-Können, aber Verstehen-/Können-Möchten


besteht das entscheidende Movens der nicht-halbierten Lernhandlung, wo Inhalt und
Methode vereint sind. John Dewey betont, dass es beim Lernen um die Erfahrung
von Konstruktionen geht, die Neukonstruktionen erfordern, und um ein Erwei-
tern und Neukonstruieren von Vorverständnis (1938/1997). Holzkamp spricht
von einer affinitiven und einer definitiven Lernphase (1993), wenn die Zusammen-
hänge und Affinitäten der Lernproblematik erfasst und realisiert werden.
3.3 Affinitive und definitive Lernphase
Die affinitive Lernphase als die ausschlaggebende Bewegung der nicht-halbierten
Lernhandlung setzt an der Lernproblematik und an dem Punkt an, wo wir bislang
in unserem alltäglichen Handeln nicht mehr weiterkommen und den Umweg
des Lernens einschlagen; wir versuchen uns der Sache auszusetzen, uns in die
Dinge hineinzudenken und uns inhaltlich in Bewegung zu bringen. Aufgrund
der noch teilweisen Unzugänglichkeit des Lerngegenstandes treten beim Prozess
des Sich-Einlassens ständig unvorhergesehene Schwierigkeiten auf. Lernen kann
daher nicht einfach durch geradlinige Lehrplanung und lineare Verfolgung eines
antizipierten Lernzieles gelingen. Vielmehr kann man durch eine solche Verabso-
lutierung der Zielgerichtetheit häufig gerade in die Einseitigkeiten, Fixierungen
etc. hineingeraten, die es in expansivem Lernen zu überwinden gilt. Daraus ergibt
sich, dass bei wirklich produktiv-expansivem Lernen der zielgerichtete Lernpro-
zess stets durch eine quasi gegensinnige affinitive Lernbewegung ergänzt werden
muss; eine explorierende Bewegung der De-Fixierung, Distanz- und Überblicks-
gewinnung, Zurücknahme, Besinnung etc. Lernen ist, wie auch der Anthropologe
Tim Ingold (2016) unterstreicht, mehr ein »attentionaler« als ein »intentionaler«
Prozess. Grundvoraussetzung für affinitive Lernphasen, betont Holzkamp, sind
»Unbedrohtheit, Entlastetheit, Unbedrängtheit, Vertrauen und vor allem (was
dies alles einschließt): Ruhe« (1993, 485).
Die definitive Lernphase stellt den Komplementärprozess zur affinitiven dar, in
der wir die Offenheit zentrieren, aus der Fülle das Wesentliche synthetisieren und
die Lernproblematik damit auf eine neue Ebene bringen – bis aufgrund auf die-
ser Ebene neu auftretender Schwierigkeiten wiederum eine affinitive Lernphase
angezeigt ist. Affinitives Lernen, einschließlich dessen Zusammenspiels mit defi-
nitivem Lernen, bildet daher die entscheidende Bewegung im Lernprozess. Es ist
laut Holzkamp »konstituierendes Moment der Lernhaltung expansiven Gegen-
standsaufschlusses« (1993, 481): ohne diese gibt es kein wirkliches Lernen, keine
Kreativität und Neudenken.
Der Schwerpunkt von Holzkamps Lerntheorie liegt auf der Herausarbeitung
der besonderen Gestalt des Lernens als ein Prozess der Lernenden und dessen Ana-
lyse im pädagogischen Kontext gegenwärtiger schulischer Praxis, wobei die Frage
nach dem Prozess des Lehrens und der Zusammenhang von Lernen und Lehren

FORUM KRITISCHE PSYCHOLOGIE NEUE FOLGE 2


Wider das halbierte Lernen 145

kaum Thema ist. Lernen aber schließt Lehren nicht aus, im Gegenteil. Lehren
kann geradezu zu einer Voraussetzung affinitiven Lernens und zur Überwindung
der Halbierung des Lernens werden. Daher zeigen wir abschließend noch mit
dem Begriff der Fluidität von Lernen und Lehren, warum ein nicht-halbiertes Ver-
ständnis von Lernen ein Verständnis des inneren Zusammenhanges von Lernen
und Lehren umfasst.
3.4 Fluidität von Lernen und Lehren als Grundelement affinitiven Lernens
In pädagogischen Institutionen wie Schulen oder Universitäten zeigt sich eine
besondere Form und Strukturierung des Verhältnisses von Lernen und Lehren: sie
erscheinen als klar voneinander zu unterscheidende und an bestimmte Personen-
gruppen gebundene Tätigkeiten. Auf der einen Seite steht die Aktivität des Ler-
nens, auf der anderen die des Lehrens, und entsprechend kann ihr Verhältnis als
funktionale Positionen (eventuell sogar als berufliche Positionen) tätiger Personen
beschrieben werden: der Lernende wird zum »Schüler« oder »Student« und der
Lehrende zum »Lehrer« oder »Professor«. Entsprechend fokussieren Holzkamp
wie auch Biesta jeweils auf eine dieser Tätigkeiten und auf bestimmte Weise hat
das auch Sinn. Nicht nur, weil die funktionale Positionierung der Personen der
Realität der heutigen pädagogischen Praxis entspricht. Sondern auch, weil das
menschlichen Leben in der modernen Welt eine derartige Komplexität entwickelt
hat, dass pädagogische Institutionen unabdingbar werden, in denen das für den
Erhalt und die Entwicklung des gesellschaftlichen Lebens erforderliche Wissen
und Können systematisch gelehrt und gelernt wird.
Ein Blick in die Geschichte des Lernens aber zeigt, dass Lernverhältnisse nicht
immer und nicht überall auf diese Weise strukturiert waren und sind. In der
ursprünglichen Grundform des Lernens, die, noch vorinstitutionalisiert, sich in
der alltäglichen Lebensführung und unmittelbaren Handlungspraxis der Men-
schen ausbildet, ist das Verhältnis von Lernen und Lehren als ein Zueinander logi-
scher Positionen konstituiert. Der Lernprozess individueller Subjekte ist immer
ein sozialer Prozess und im Verhältnis zu anderen situiert, wobei dieser sich als ein
ständiges Hin-und-Her zwischen Lernen und Lehren in und zwischen Personen
entfaltet. Diese Fluidität von Lernen und Lehren bildet ein Grundelement affini-
tiven Lernens und die Keimzelle einer produktiven und lebendigen Lernpraxis
(ausführlicher: Marvakis 2014a u. b; Marvakis/Schraube 2016; Schraube/Marva-
kis 2016).
Auch wenn Holzkamp nicht systematisch das Verhältnis von Lernen und Leh-
ren analysiert, so beschreibt er mit dem Konzept des kooperativen Lernens bereits
wesentliche Momente des Überganges von mehr fixierten funktionalen Positio-
nen zum fluiden Hin-und-Her der logischen Positionen von Lernen und Lehren
des expansiven Lernens. Als »kooperatives Lernen« bezeichnet Holzkamp »inter-
personale Lernverhältnisse, in welchen im Interesse unbehinderten expansiven

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146 Athanasios Marvakis & Ernst Schraube

Lernens Asymmetrien des Wissens/Könnens der Beteiligten zwar nicht beseitigt,


aber jederzeit durch wissensuchende Fragen erreichbar und begründungspflichtig
sind, wobei die besseren Argumente nicht mehr an überlegene Personen gebun-
den erscheinen, sondern von Person zu Person, wie auch innerhalb einer Person,
wechseln können« (1993, 509).
Als mit der Entwicklung formaler, institutionalisierter Lernverhältnisse und
pädagogischer Praxis die logisch-fluiden Positionen von Lernen und Lehren durch
funktionale Positionen erweitert wurden, war dies durchaus produktiv: Personen,
wie etwa Lehrende an Universitäten, mit hochentwickeltem Wissen und Fähig-
keiten sowie Forschungsaufgaben zur Forschung mit Personen ins Verhältnis zu
bringen, die begierig sind auf Lernen, birgt eine neue Qualität und Möglichkeit
expansiver Lernprozesse. In dieser neuen Form ist aber bereits die Gefahr eines
Umschwunges im Verständnis des Lernens in Richtung des Transfermodells nahe-
gelegt, die durch den Arbeitscharakter der Tätigkeit der Lehrenden weiter ver-
stärkt wird. Was ist die Aufgabe der gut bezahlten Lehrenden? Den Studierenden
etwas »beizubringen« – und schon sind wir auf dem Weg in die Falle des Lern-
lehrkurzschlusses und einem Verständnis von Lernen als Transfer von Wissen und
Können von Wissenden und Könnenden zu Unwissenden und Nichtkönnenden.
Ein genauer Blick in schulische und universitäre Lernverhältnisse zeigt, dass die
Fluidität von Lernen und Lehren bis heute eine, wenn nicht die zentrale Form des
Lernens darstellt. Studierende, gefragt, in welchen Situationen sie wirklich etwas
lernen, betonen, wie sie durch Diskussionen unter sich und mit Lehrenden und
wechselseitiges Fragen und Erklären sich in ein inhaltliches Problemfeld hinein-
denken und Phänomene in ihren Zusammenhängen zu verstehen beginnen; aber
auch viele Lehrende betonen, dass sie die Lehre gerade deswegen schätzen, weil sie
dabei ständig von und mit den Studierenden etwas lernen. Tatsächlich lassen sich
an Universitäten auch spezifische Lernpraxen finden, die gerade darauf angelegt
sind, die Fluidität von Lernen und Lehren zu ermöglichen (wie etwa besondere
Seminare, Workshops, Tagungen etc.). So bildet, auch wenn nicht ausdrücklich so
benannt, die Fluidität von Lernen und Lehren einen realen Bestandteil heutiger
Lernverhältnisse. Es zeigt sich, wie inhaltliche Problemstellungen und Lernproble-
matiken durch einen wechselseitig, kooperativen Prozess von Lernen und Lehren
in neuer Qualität in Bewegung gebracht werden können und im Zusammenspiel
von Lernen und Lehren daher eine weitere wesentliche Dimension der Überwin-
dung des halbierten Lernens zu finden ist.
Schön und gut, könnte ein Einwand lauten, eure Argumente mögen überzeu-
gend sein, aber es sind noch nur Theorien und Ideen, entscheidend ist doch die
Wirklichkeit, die pädagogische Praxis und die institutionellen Lernverhältnisse,
und in ihnen wird das Lernen eben strukturell halbiert. Sicher, könnte erwidert
werden, aber sind Theorien und Ideen nicht auch Teil der pädagogischen Wirk-
lichkeit, unsere Arbeit am Begriff des Lernens nicht Teil der Entwicklung der Pra-

FORUM KRITISCHE PSYCHOLOGIE NEUE FOLGE 2


Wider das halbierte Lernen 147

xis? Und außerdem: sind in den heutigen pädagogischen Verhältnissen nicht schon
längst Praxen zur Überwindung des halbierten Lernens zu finden? Lernende ernst
nehmen, erkennen zunehmend auch Lehrende und bildungspolitisch Verantwort-
liche, bedeutet eben auch Raum für deren inhaltlichen Fragen zu geben und ent-
sprechend entwickeln immer mehr Bildungseinrichtungen pädagogische Modelle,
die den Lernenden die Lernhandlung als Ganze in die Hand geben. Beispiel eines
an Schulen und Universitäten erfolgreich angewendeten Modells wäre »problem-
oriented project learning«, bei dem die Lernenden selbständig ihre Lernproble-
matiken wählen und diese in Gruppen gemeinsam mit anderen erkunden und
dabei die Projektarbeit durch vielfältige Lehrarrangements unterstützt und die
Horizonte erweitert werden (Andersen/Heilesen 2015; Schraube/Marvakis 2016).
Auch wenn derartige Ansätze noch rudimentär sein mögen, pädagogische Praxis
findet nicht im luftleeren Raum statt, sondern ist bezogen auf die gesellschaftliche
Welt. »Time is running out«, erklären die Naturwissenschaftler in ihrer Warning
to Humanity zum Zustand unserer heutigen Welt, »soon it will be too late to shift
course away from our failing trajectory« (Ripple u.a. 2017, 1028). Die Probleme,
mit denen die zukünftige Gesellschaft konfrontiert ist, erfordern die unbehinderte
Entfaltung der menschlichen Lernfähigkeit einschließlich der selbstständigen
und kollektiven Identifizierung von Problemstellungen und die Fähigkeit kritisch,
konstruktiv und kooperativ mit ihnen arbeiten zu können. Fast möchte man es
bedauern, aber es scheint nicht ausgeschlossen, dass der Praxis des nicht-halbier-
ten Lernens die Zukunft gilt.

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