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KRITISCHE PSYCHOLOGIE
Neue Folge – 2019
methodenfragen
ARGUMENT
FORUM KRITISCHE PSYCHOLOGIE Neue Folge 2
Beirat: Gerlinde Aumann, Julika Bürgin, Imke Dierks, Ole Dreier, Barbara Fried,
Boris Friele, Meike Günther, Josef Held, Arnd Hofmeister, Christina Kaindl,
Jochen Kalpein, Ines Langemeyer, Wolfgang Maiers, Morus Markard, Athanasios
Marvakis, Janek Niggemann, Catharina Schmalstieg, Ernst Schraube, Gisela
Ulmann, Klaus Weber
Kontakt: fkp@kritische-psychologie.de
Abo-Verwaltung:
Argument Verlag · Glashüttenstraße 28 · 20357 Hamburg
Tel.: 040 / 40 18 00 0 · Fax: 040 / 40 18 00 20 · E-Mail: verlag@argument.de
Blinde und sehbeeinträchtigte Menschen erhalten auf Wunsch eine pdf der Ausgabe.
Eingereichte Beiträge sollten nicht mehr als 50 000 Zeichen (inkl. Leerzeichen) haben.
Inhalt
Editorial ............................................................................................ 5
Morus Markard
Probleme und Möglichkeiten der Interpretation verbaler Daten
in einer Psychologie vom Standpunkt des Subjekts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26
Helmut Ittner
Kritisch-psychologische Forschung in Anlehnung an Verfahren
der Dokumentarischen Methode . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45
Günter Mey
»Wir sind keine Kodierautomaten« – Positionen und Potenziale
der Grounded-Theory-Methodologie. Ein Interview . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66
Josef Held
Subjektwissenschaftliche Feldforschung.
Erfahrungen der Tübinger Forschungsgruppe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81
Michael Zander
Praxisforschung und Intervision. Erfahrungen von der Berliner Theorie-Praxis-
Konferenz und aus Seminaren an der Hochschule Magdeburg-Stendal . . . . . . . . . . . . . 99
Werkstattpapier
Grete Erckmann
Kritische Psychologie und Biographieforschung – individuelle und
kollektive Dimensionen von Erfahrung und gesellschaftlicher Realität ......... 116
Gisela Ulmann
Elternschule – Kommentar zum Dokumentarfilm von Jörg Adolph und
Ralf Büchler über die Kinder- und Jugendklinik Gelsenkirchen . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149
131
Zusammenfassung: Die pädagogische Theorie und Praxis waren in der Phase der
Einwicklung moderner Gesellschaft von einem Begriff des Lernens geprägt, der
Inhalt und Methode, das »Was« und das »Wie« des Lernens voneinander trennt.
Das »Was« des Lernens wird den Lernenden weitgehend aus der Hand genommen
und die Möglichkeiten der Verfügung über den Lernprozess auf die Frage des »Wie«
des Lernens beschränkt. Vor dem Hintergrund kritischer Handlungs- und Lern-
theorie wird in diesem Artikel analysiert, wie eine solche Halbierung des Lernens
die Entfaltung der menschlichen Lern- und Handlungsfähigkeit untergräbt, und
es werden Grundbegriffe einer nicht-halbierten Theorie des Lernens vorgeschlagen.
Abstract: As modern society developed, educational theory and practice has been
informed by a concept of learning that divides content and method, the »what«
and »how« of the act of learning. The »what« of learning is largely taken out of the
hands of the learners, while their possibilities of participation in defining the pro-
cess are confined to questions of »how« to learn. Based on critical action and lear-
ning theory this paper analyses, how such bisection of learning undermines subs-
tantially the unfolding of the human potential to learn and presents an approach
as well as basic concepts toward a new non-bisected language of learning.
1 Eine englische Version dieses Artikels erschien 2019 in der Zeitschrift Annual Review of Critical
Psychology.
Trotz aller Kritik über die Jahre ist in pädagogischer Theorie und Praxis immer noch
ein Internalisierungs- und Transferdenken des Lernens verbreitet. Lernen wird als
eine Internalisierung und Akkumulation von Informationen über die äußere Welt
und als ein Transfer von Wissen von einem Lehrenden zu einem Lernenden ver-
standen, dessen Inhalt vom Lehrenden vorgegeben wird. Was der Lehrende lehrt,
ist was der Lernende lernt. Ein solches Verständnis verzerrt die praktische Realität
des Lernens. Lernen wird mit Lehren gleichgesetzt und verwechselt – mit einem
derartigen »Lehrlernkurzschluss« (Holzkamp 1993, 391ff) wird die Subjektivität
einer Lernaktivität zusammen auftreten können (Maiers 2019). In den Worten von
Sergej Rubinstein: »Es gibt […] zwei Methoden des Lernens und zwei Tätigkeitsfor-
men, die zum Erwerb neuer Kenntnisse und Fertigkeiten führen. Die eine ist spezi-
ell auf das direkte Ziel der Aneignung dieser Kenntnisse und Fertigkeiten gerichtet.
Die andere führt zur Beherrschung dieser Kenntnisse und Fertigkeiten, indem sie
andere Ziele verwirklicht« (1977, 741). Jede menschliche Aktivität ist eingebunden
in die konkreten Bedürfnisse und Motive des Subjekts und so hat auch jede Lernak-
tivität eine intentionale Dimension, die durchaus schwach ausgeprägt sein kann und
dem Lernenden auch nicht richtig klar sein muss. Selbst wenn ich mir sage, jetzt tue
ich etwas ohne jegliche Absicht – genieße das Leben und der Weg ist das Ziel –, so
wird dieses bestimmte Tun durch eine Intention erst ermöglicht. Umgekehrt gehen
in intentionale Lernaktivitäten auch zufällige und unbeabsichtigte Elemente ein, die
einem irgendwie zukommen oder auf dem Weg liegen: durch eine zufällige Gege-
benheit wird mir etwas erst richtig klar. Inzidentelles und intentionales Lernen sind
also analytische Begriffe, die unterschiedliche Formen der Lernaktivität zur Sprache
bringen und diese unterschiedlichen Lernaktivitäten stehen mehr oder weniger aus-
geprägt mit den Intentionen der Lernenden in Verbindung. Intentionen werden
hier nicht individualistisch verstanden als etwas, was im Subjekt steckt, sondern als
situiert, etwas, was sich im Verhältnis von Subjekt und Welt bildet.
Lernen zeichnet sich also durch einen mehr oder weniger stark ausgeprägten
intentionalen Charakter aus. Daher ist Lernen nicht einfach nur eine Operation oder
ein Verfahren, sondern eine Handlung. Lernen hat nicht nur seinen Ursprung im all-
täglichen Handeln, sondern ist selbst eine bestimmte Form des Handelns. Es kann
völlig zurecht vom Akt des Lernens oder von einer Lernhandlung gesprochen werden.
Wenn man nun in handlungstheoretischer Perspektive den psychologischen Pro-
zess menschlichen Handelns genauer betrachtet, dann können vier logische Bestand-
teile differenziert werden: (1) ein inhaltliches Element, also das »Was« der Handlung
(z. B. ich muss auf den Markt zum Einkaufen), (2) ein begründendes Element, das
»Warum« der Handlung (etwa, ich brauche etwas zum Essen). Diese mehr inhaltli-
chen Dimensionen der Handlung geben ihr die Richtung und aus ihnen bestimmen
sich (3) die mehr methodisch-operativen Elemente und die Frage danach, »wie« der
Handlungsprozess vom Handelnden ausgeführt wird (etwa, wie komme ich zum
Markt, welchen Weg nehme ich, gehe ich zu Fuß oder fahre mit dem Rad?); sowie
schließlich (4) ein überprüfendes Element, eine Evaluierung der Handlung, ob das,
was sie in Gang brachte, auch erreicht wurde (etwa, kam ich tatsächlich auch auf
dem Markt an und konnte etwas zum Essen besorgen) (zu allgemein geteilten Kern-
bestandteilen einer Handlungstheorie siehe z.B. Marvakis 1996, 21ff).
Diese vier Elemente jeder menschlichen Handlung können in analytischer
Absicht durchaus voneinander unterschieden und jeweils für sich betrachtet wer-
den, bezogen auf die Handlung aber bilden sie eine Einheit. Aufgrund ihres inneren
Zusammenhanges können sie psychologisch gesehen nicht losgelöst voneinander
verstanden werden. Es wäre unsinnig, sich eine Handlung etwa ohne ein inhaltli-
ches Element vorzustellen; durch das »Was« wird das »Wie« ja erst bestimmt, ohne
das »Was« hingen das »Warum« und das »Wie« völlig in der Luft und faktisch
könnte gar nicht mehr von einer wirklichen Handlung gesprochen werden.
In der Handlungstheorie wird diese Einheit eingehend beschrieben. Ein Bei-
spiel wären die Arbeiten des Soziologen Anthony Giddens. »Action«, betont er,
»does not refer to a series of discrete acts combined together, but to a continuous
flow of conduct« (1979, 55) und die Struktur des Handlungsstroms des Subjekts
beschreibt er als eine Einheit von inhaltlichen (»intentions«, »motives« einschließ-
lich der »reasons, why they act as they do«), ausführenden sowie Elementen des
»reflexive monitoring« (56ff; 1984, 3ff).
Diese elementare Struktur des Handelns gilt auch für die Aktivität des Lernens.
Da diese aufgrund ihres intentionalen Charakters eine besondere Form einer
Handlung darstellt, ist auch der Lernprozess durch die vier Elemente konstituiert,
die nur als Ganzes eine distinkte Lernhandlung ausmachen. Die Vorstellung von
Lernen als einer Aktivität, bei der die Lernenden sich nur auf das »Wie« beziehen
können, aber nicht auf »Was« und »Warum«, ist daher konzeptionell unsinnig, und
hier zeigt sich, warum der Einfluss der Lernenden auf den Lerninhalt so ausschlag-
gebend ist. Halbiertes Lernen untergräbt die Praxis des Lernens und damit eben
auch die wirkliche Entfaltung der menschlichen Lern- und Handlungsfähigkeit.
Die Problematik des künstlichen Auseinanderhaltens von Lerninhalt und
Methode und die Einsicht in die analytische Einheit dieser Elemente ist in der
Geschichte der Lerntheorie keineswegs unbekannt. Holzkamp etwa betont die
entscheidende Bedeutung der Lernproblematik und der Verfügung der Lernenden
über die inhaltlichen Elemente des Lernprozesses. Lernen kommt nicht einfach in
Gang, wenn von Lehrenden Lernanforderungen gestellt werden. Lernanforderun-
gen führen nur dann zu Lernhandlungen, wenn sie von den Lernenden bewusst
als Lernproblematiken übernommen werden und für die Lernenden selbst Sinn
haben. In den inhaltlichen Problemstellungen der Lernenden liegt der Ursprung
des Lernens (1993, 183ff).
John Dewey hat vor mehr als 100 Jahren den inneren Zusammenhang zwischen
»Was« und »Wie« des Lernens beschrieben und für einen demokratischen Einbezug
der inhaltlichen Dimension des Lernens in die pädagogische Praxis plädiert. Vor
dem Hintergrund einer damals verbreiteten dualistischen Vorstellung von Mensch
und Gesellschaft erkennt er, wie sich diese in der pädagogischen Praxis als Trennung
von Lerngegenstand und Methode reproduziert. Demgegenüber argumentiert er
für eine »connection of subject matter and method with each other« (1916/2008,
145) und erklärt: »The idea that mind and the world of things and persons are two
separate and independent realms – a theory which philosophically is known as dua-
lisms – carries with it the conclusion that method and subject matter of instruction
are separate affairs […] The notion of any such split is radically false« (ebd.).
Als Schlüssel zum Verständnis der Einheit von »Was« und »Wie« des Lernens
dient Dewey das Konzept der Erfahrung. In der Ausbildung der Erfahrung sieht er
die zentrale Grundlage des Lernens und entsprechend verortet er in der Erfahrung
seine Kritik der Trennung von Inhalt und Methode. »Reflection upon experience«,
betont Dewey, »gives rise to a distinction of what we experience (the experienced)
and the experiencing – the how. When we give names to this distinction, we have
subject matter and method as our terms […] This distinction is so natural and
so important for certain purposes, that we are only too apt to regard it as a sepa-
ration in existence and not as a distinction in thought« (ebd., 147). Der Prozess
des Lernens beruhe nicht aus einer Zusammensetzung getrennter inhaltlicher und
methodischer Elemente, sondern auf der Erfahrung als einer Einheit in Bewegung.
»Experience«, erklärt er, »is not a combination of mind and world, subject and
object, method and subject matter, but is a single continuous interaction of a great
diversity (literally countless) of energies« (ebd.) und entsprechend kritisiert Dewey
auch heftig die »evils in education that flow from the isolation of method from
subject matter« (148).
Ein wichtiger Schritt der Entwicklung einer Lerntheorie besteht daher in der
Überwindung dualistischer Denkweisen und im systematischen Einbezug der
Erfahrungs-, Problem- und Handlungswelt der Lernenden. Deutlich wird damit,
warum nicht die Lehrenden, sondern die Lernenden das zentrale Subjekt der
Lernaktivität darstellen (was keineswegs bedeutet, wie wir gleich ausführlicher zei-
gen werden, dass die Aktivität des Lehrens nicht wichtig für das Lernen wäre). In
den vergangenen Jahren wird dieser Umstand in der pädagogischen Forschung
zunehmend erkannt und eine Diskussion über einen Perspektivenwechsel ist im
Gang, ob der Fokus der Forschung nicht von den Lehrenden auf die Lernenden
neu auszurichten wäre. Eine wichtige Stimme dabei ist die der Anthropologin
Jean Lave. Sie betont: »Questions about learning are almost always met by educa-
tional researchers with investigations of teaching. This disastrous shortcut equates
learning with teaching« (1996, 158) und sie fordert »a reversal in perspective so
that the vital focus of research on learning shifts from transmitters, teachers or
care givers, to learners« (155) und »an analysis of learners as subjects« (158). Im
Kontext dieser Diskussion gewinnen Konzepte wie »student-centered learning«
zunehmend an Bedeutung. Es stellt sich die Frage, inwieweit gelingt es den Denk-
weisen, die beim Verständnis des Lernens auch die Subjektivität der Lernenden
miteinbeziehen, tatsächlich, das halbierte Lernen zu überwinden?
Nicht nur in der Lerntheorie, auch in der Bildungspolitik wurden die Schwächen
des traditionellen Lernverständnisses erkannt und seit ein paar Jahren besteht auf
europäischer Ebene Einigkeit, dass im Student-Centered Learning das entschei-
dende Prinzip zur Verbesserung der Qualität des Lehrens und Lernens liegt. So
vereinbaren in einer Erklärung von 2010 die Bildungsminister der europäischen
Länder: »We call upon all actors […] to foster student-centered learning as a way
of empowering the learner in all forms of education« (EHEA 2010, 2). Statt Ler-
nende als passive Empfänger von Informationen aufzufassen, sollen sie ernster
genommen werden mit ihrem Engagement und ihrem Handeln, ihrer Unter-
schiedlichkeit und ihren Bedürfnissen und sie sollen die Möglichkeiten bekom-
men, aktiv ihre Lernprozesse sowie die pädagogischen Verhältnisse gestalten zu
können. »Conventional learning […] tends to consider students as passive recep-
tors of information, without consideration of the need to actively participate in
the learning process« (ESU 2010, 8), erklärt der Bericht der European Students’
Union (ESU) zum aktuellen Stand der Theorie und Praxis, im Gegensatz dazu
ermögliche »student-centered learning […] students to shape their own learning
paths and places upon them the responsibility to actively participate in making
their educational process a meaningful one« (9).
Eine solche Bewegung hin zu einem systematischen Einbezug der Lernenden
in ihren Lernprozess und die Entwicklung der Lern-Lehrverhältnisse klingt über-
zeugend. Aber sie birgt auch neue Fallgruben. Lernen kann als rein individualis-
tische Angelegenheit des Lernenden verstanden werden, als ein Konsumprodukt,
das der Logik des Marktes unterliegt, wobei der besondere Stellenwert sowie die
allgemein-gesellschaftliche Verantwortung der Lehre in den Hintergrund rückt
und als Beiwerk erscheint. Der Erziehungswissenschaftler Gerd Biesta hat wie
kaum ein anderer diese Gefahren analysiert. Er erkennt, wie eine solche neue
Sprache des Lernens zu einer »learnification« (2013, 62ff) der pädagogischen Pra-
xis führen kann, v. a. wenn diese in eine neo-liberale Ökonomisierung der Lern-
Lehrverhältnisses eingebunden ist. Der Lernende wird zum Konsumenten und
die pädagogische Institution zum Dienstleister, die dem Lernenden zu bieten hat,
was dieser »braucht«. Biesta erklärt: »One of the main problems of the new lan-
guage of learning is that it allows for a re-description of the process of education in
terms of economic transaction, that is, a transaction in which (i) the learner is the
(potential) consumer, the one who has certain needs, in which (ii) the teacher, the
educator, or the educational institution becomes the provider, that is, the one who
is there to meet the needs of the learners, and where (iii) education itself becomes
a commodity to be provided or delivered by the teacher or educational institution
and to be consumed by the learner« (2005, 58).
Die Konzeption des »student-centered learning« bezieht die subjektive Dimen-
sion des Lernens mit ein und erweitert die Einflussmöglichkeiten der Lernenden
auf ihre Lernprozesse. Diese beschränken sich aber bislang ausschließlich auf die
operativen Elemente, auf das »Wie« des Lernens. Damit verbleibt dieses Lernkon-
zept weiterhin in einem lehrfixierten Rahmen und reproduziert auf perfide Weise –
durch aktive Partizipation der Studierenden – die Halbierung des Lernens.
Deutlich wird die Halbierung etwa bei zentralen Begriffen wie »self-regulated lear-
ning« (ESU 2010, 11) und der Forderung nach »self-management«. Die Lernenden
müssen nunmehr selbstständig Funktionen der Regulierung und des Managements
des Lernprozesses übernehmen, ohne allerdings über jene soziale Macht zu verfügen,
um auch über die Inhalte des Lernens entscheiden zu können. Durch diese impli-
zit-explizite Halbierung der Verfügung über das Handlungsganze »Lernen« bleibt
den Lernenden wiederum nur die Verfügung über die Ausführung, letztlich Anpas-
sung und Unterwerfung unter den vorgegebenen Inhalt. Selbst beim Konzept des
»problem-based learning«, das als ein wesentliches Element des »student-centered
learning« beschrieben wird (ebd.), geht es nicht um inhaltliche Problemstellungen,
die die Studierenden selbstständig identifizieren und in ihrem Lernprozess untersu-
chen, sondern um eine Methode, die durch den Einbezug aktueller Problemstellun-
gen aus der wirklichen Welt effektiveres Lernen ermöglichen soll (ebd.) (was eine
gute Idee sein mag, aber eben keineswegs eine Verfügung der Lernenden über den
Lerninhalt und Selbstbestimmung der Lernprobleme impliziert).
Damit wird aus einem selbst-regulierten, selbst-organisierten Lernen eine Fokus-
sierung der Lernenden ausschließlich auf den Lernvollzug, auf die Regulation des
»Wie« des Lernens und was man lernen soll und muss. Die Selbstregulation bezieht
sich nicht auf das Handlungsganze. Damit bedeutet das »student-centered lear-
ning« weniger eine subjektsensiblere Lerntheorie, als vielmehr den Wechsel pädago-
gischer Regulierungsstrategien innerhalb der bisherigen Strukturen, die sich durch
das modernere Charakteristikum auszeichnen, mehr Subjektivität den Lernen-
den abzufordern und zu ermöglichen. Bezogen auf die neue Sprache des Lernens
kommt Biesta zu dem Schluss: »Learning has to a large extent become an instru-
ment of domestication, […] if not […] an instrument of stultification« (2013, 70).
Biestas Kritik umfasst keine Vorschläge zur Weiterentwicklung des Lernbegriffes.
Sein Schwerpunkt liegt vielmehr auf der Neuentdeckung des Lehrens (2017). Dabei
sieht er dessen zentrale Aufgabe nicht in einem Transfer von Wissen und einem
Akt der Kontrolle der Lernenden, vielmehr in der Eröffnung von Möglichkeiten
zu entdecken, als Subjekt auf eine menschlich-entfaltete Weise in und durch die
Welt zu existieren. »Teaching […] is interested in the grown-up subject-ness of stu-
dents«, erklärt er, und es geht »about creating existential possibilities though which
students can encounter their freedom, can encounter the ›call‹ to exist in the world
in a grown-up way, as subject« (2017, 6). Lehren impliziert daher, die Lernenden
nicht als Konsumenten, sondern als Subjekte aufzufassen, und das bedeutet auch »a
refusal to accept any claim to incompetence, particularly if such claim comes from
the student« (ebd.). Durch die Betonung der »grown-up-ness« der Lernenden als
handelnde Subjekte zeigt sich, wie in Biestas Perspektive die Vorstellung zur Über-
windung des halbierten Lernens angelegt ist und tatsächlich spricht auch er sich für
die Überwindung der Dichotomie von Lerninhalt und Methode aus: »The educa-
tional question is […] never just about how to do things, but always involves jud-
gements about what is to be done« (2013, 8) und er betont: »A major problem with
the language of learning […] is that it is a language of process, but not a language of
content and purpose. […] It is a language that makes it more difficult to ask questi-
ons about content; it is a language that makes it more difficult to ask questions about
purpose; and it is a language that makes it more difficult to ask questions about the
specific role and responsibility of the teacher in the educational relationship« (127).
Wenn Biesta »against learning« (2005 u. 2006) spricht, dann ist er nicht grund-
sätzlich gegen Lernen, sondern gegen eine Theorie und Praxis des »halbierten Ler-
nens«. Auch wenn er die Lerntheorie nicht weiterdenkt, so ist ihm klar, dass jede
Theorie des Lehrens einen Begriff des Lernens erfordert. Nicht nur, weil Lehren
selbst ein Lernprozess ist, sondern weil es sich eben auf Lernen bezieht und die Vor-
stellung von zwei unabhängig voneinander stattfindenden Prozessen eine Fiktion
wäre. »My critique of the politics of learning can itself be understood as an attempt
at transgression«, schreibt Biesta, »I still want to be open to the possibility that
learning can also work for the good […] The crucial question is, where learning can
work for us, rather than that we have to work for learning« (2013, 76). An einen
solchen Versuch der Überschreitung des »student-centered learning« knüpfen wir
nun an und zeigen, wie auf der Grundlage Kritischer Psychologie und der Analyse
der besonderen Gestalt der Lernaktivität vom Standpunkt der Lernenden die Spra-
che des Lernens jenseits der Halbierung weitergedacht werden kann.
Was bewegt uns zum Lernen? – Was für uns Sinn hat zu können, zu wissen, uns
daran zu beteiligen, das hat für uns auch Sinn zu lernen. In den Problemen, Dilem-
mas, Fragen und Träumen des alltäglichen Handelns und der gemeinsamen
Lebensführung hat die Lernaktivität ihren Ursprung. Dann tritt sie gewissermaßen
aus dem Handlungsprozess heraus und schlägt einen Umweg ein, um zu versuchen,
das mangelnde Verständnis oder Können zu erreichen – und erweitert schließ-
lich, wenn alles gut geht, die Handlungsfähigkeit und alltägliche Lebensführung.
Holzkamp spricht dann von einer Lernschleife, die selbst wiederum eine besondere
Form der Handlung ist, eben eine Lernhandlung: »Lernen ist allgemein gesehen
ein zentrales Mittel meiner Lebensbewältigung, das immer dann für mich aktuell
wird, wenn ich […] bestimmten Handlungsproblematiken nicht direkt beikom-
men kann, sondern dazu eine Lernschleife einlegen, also die Handlungsproble-
matik als Lernproblematik übernehmen muss. Lernen ist so gesehen in meinem
unmittelbaren Verfügungs- und Lebensinteresse, ich will und muss durch Lernen
meinen Zugang zu relevanten Aspekten meiner Lebenswelt erweitern, da ich nur
so [die] […] damit verbundenen Beschränkungen meiner Lebensmöglichkeiten
schrittweise reduzieren kann. In diesem Kontext sind meine Lernhandlungen […]
kaum Thema ist. Lernen aber schließt Lehren nicht aus, im Gegenteil. Lehren
kann geradezu zu einer Voraussetzung affinitiven Lernens und zur Überwindung
der Halbierung des Lernens werden. Daher zeigen wir abschließend noch mit
dem Begriff der Fluidität von Lernen und Lehren, warum ein nicht-halbiertes Ver-
ständnis von Lernen ein Verständnis des inneren Zusammenhanges von Lernen
und Lehren umfasst.
3.4 Fluidität von Lernen und Lehren als Grundelement affinitiven Lernens
In pädagogischen Institutionen wie Schulen oder Universitäten zeigt sich eine
besondere Form und Strukturierung des Verhältnisses von Lernen und Lehren: sie
erscheinen als klar voneinander zu unterscheidende und an bestimmte Personen-
gruppen gebundene Tätigkeiten. Auf der einen Seite steht die Aktivität des Ler-
nens, auf der anderen die des Lehrens, und entsprechend kann ihr Verhältnis als
funktionale Positionen (eventuell sogar als berufliche Positionen) tätiger Personen
beschrieben werden: der Lernende wird zum »Schüler« oder »Student« und der
Lehrende zum »Lehrer« oder »Professor«. Entsprechend fokussieren Holzkamp
wie auch Biesta jeweils auf eine dieser Tätigkeiten und auf bestimmte Weise hat
das auch Sinn. Nicht nur, weil die funktionale Positionierung der Personen der
Realität der heutigen pädagogischen Praxis entspricht. Sondern auch, weil das
menschlichen Leben in der modernen Welt eine derartige Komplexität entwickelt
hat, dass pädagogische Institutionen unabdingbar werden, in denen das für den
Erhalt und die Entwicklung des gesellschaftlichen Lebens erforderliche Wissen
und Können systematisch gelehrt und gelernt wird.
Ein Blick in die Geschichte des Lernens aber zeigt, dass Lernverhältnisse nicht
immer und nicht überall auf diese Weise strukturiert waren und sind. In der
ursprünglichen Grundform des Lernens, die, noch vorinstitutionalisiert, sich in
der alltäglichen Lebensführung und unmittelbaren Handlungspraxis der Men-
schen ausbildet, ist das Verhältnis von Lernen und Lehren als ein Zueinander logi-
scher Positionen konstituiert. Der Lernprozess individueller Subjekte ist immer
ein sozialer Prozess und im Verhältnis zu anderen situiert, wobei dieser sich als ein
ständiges Hin-und-Her zwischen Lernen und Lehren in und zwischen Personen
entfaltet. Diese Fluidität von Lernen und Lehren bildet ein Grundelement affini-
tiven Lernens und die Keimzelle einer produktiven und lebendigen Lernpraxis
(ausführlicher: Marvakis 2014a u. b; Marvakis/Schraube 2016; Schraube/Marva-
kis 2016).
Auch wenn Holzkamp nicht systematisch das Verhältnis von Lernen und Leh-
ren analysiert, so beschreibt er mit dem Konzept des kooperativen Lernens bereits
wesentliche Momente des Überganges von mehr fixierten funktionalen Positio-
nen zum fluiden Hin-und-Her der logischen Positionen von Lernen und Lehren
des expansiven Lernens. Als »kooperatives Lernen« bezeichnet Holzkamp »inter-
personale Lernverhältnisse, in welchen im Interesse unbehinderten expansiven
xis? Und außerdem: sind in den heutigen pädagogischen Verhältnissen nicht schon
längst Praxen zur Überwindung des halbierten Lernens zu finden? Lernende ernst
nehmen, erkennen zunehmend auch Lehrende und bildungspolitisch Verantwort-
liche, bedeutet eben auch Raum für deren inhaltlichen Fragen zu geben und ent-
sprechend entwickeln immer mehr Bildungseinrichtungen pädagogische Modelle,
die den Lernenden die Lernhandlung als Ganze in die Hand geben. Beispiel eines
an Schulen und Universitäten erfolgreich angewendeten Modells wäre »problem-
oriented project learning«, bei dem die Lernenden selbständig ihre Lernproble-
matiken wählen und diese in Gruppen gemeinsam mit anderen erkunden und
dabei die Projektarbeit durch vielfältige Lehrarrangements unterstützt und die
Horizonte erweitert werden (Andersen/Heilesen 2015; Schraube/Marvakis 2016).
Auch wenn derartige Ansätze noch rudimentär sein mögen, pädagogische Praxis
findet nicht im luftleeren Raum statt, sondern ist bezogen auf die gesellschaftliche
Welt. »Time is running out«, erklären die Naturwissenschaftler in ihrer Warning
to Humanity zum Zustand unserer heutigen Welt, »soon it will be too late to shift
course away from our failing trajectory« (Ripple u.a. 2017, 1028). Die Probleme,
mit denen die zukünftige Gesellschaft konfrontiert ist, erfordern die unbehinderte
Entfaltung der menschlichen Lernfähigkeit einschließlich der selbstständigen
und kollektiven Identifizierung von Problemstellungen und die Fähigkeit kritisch,
konstruktiv und kooperativ mit ihnen arbeiten zu können. Fast möchte man es
bedauern, aber es scheint nicht ausgeschlossen, dass der Praxis des nicht-halbier-
ten Lernens die Zukunft gilt.
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