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Grundlagen

sozialwissenschaftlicher
Methodologie
2. Einheit
Historische Annäherung:
Frühe Formen der empirischen
Sozialwissenschaft
Ass. Prof. Dr. Regina Köpl
Ankündigung
Film zur Marienthal-Studie:

„Einstweilen wird es Mittag…..” von Karin


Brandauer

Freitag, 19.10. 2018, 16.45-18.15, NIG I


Formen früher empirischer
Sozialforschung

• als Hilfe für die Verwaltung


• als ethnographische Beschreibung und
Sammeln von Ethnographica
• als Weg zur Sozialreform
• zwei unterschiedliche Wege systematischer
Sozialforschung
• als Markt- und Meinungsforschung
Empirische Sozialwissenschaft
als Hilfe für die Verwaltung
• Anfänge in der Antike:

z.B. Zählungen von selbständigen


Haushalten in Ägypten im 2.
Jhd.v.Chr.

• Staatsbeschreibungen in England 1085


(Domesday Books)
Politische Arithmetik in England

Sir William Petty (1623-1687):

Untersuchungen zur Unterstützung der


englischen Kolonialverwaltung in Irland
Sir Wilhelm Petty (1623-1687)

„...anstatt nur Analogien und


superlative Wörter oder
intellektuelle Argumente zu
benutzen, habe ich es
unternommen, mich in
Zahlen, Gewichten und
Maßen auszudrücken...“
Politische Arithmetik
John Graunt (1620-1674):
Auswertung von Geburts- und
Sterbematrikel als Basis für die
Berechnung von Sterberaten

Hinweis auf das Ausbrechen


von Epedemien
Merkantilismus/Kameralistik:

z.B. deutsche Universitätsstatistik (17/18 Jhd.):


beschreibende Monographien (kaum
Quantifizierung) über

• staatliche Einnahmen/Ausgaben
• Exporte/Importe
• militär. Stärke des Staates
• Topographie etc.
Empirische Sozialforschung als
Beschreibung „anderer“ Kulturen
Sammeln und Entdecken

• Antike: erster Kulturvergleich bei Herodot, 5.


Jhd.v. Chr.
• später Berichte der Entdeckungsreisenden,
Missionare und frühen Kolonialisten bis hin zu
systematischen erhebenden Forschungsreisen im
19. Jhd.
• Sammeln von Ethnographica zunächst
unsystematisch später als intersubjektiv
nachvollziehbare, sinnvolle Tätigkeit und als
Grundlage wissenschaftlicher Studien
Berichte von frühen Entdeckern, Missionaren,
Kolonialisten bis hin zu systematisch
erhebenden Forschungsreisenden
Sammeln von Ethnographika

• zunächst unsystematisch

• später als intersubjektiv


nachvollziehbare, sinnvolle
Tätigkeit und als Grundlage
wissenschaftlicher Studien
(siehe Bastian)
Empirische Sozialforschung als
Weg zur Sozialreform
Empirische Sozialforschung als
Weg zu Sozialreformen

• 1. Sozialreportagen

• 2. Die englischen „Social surveys“


1. Sozialreportagen

Beispiel:

Viktor Adler:
„Die Lage der Ziegelarbeiter“ (1888)
Viktor Adler (1852-1918)
• Arzt, Journalist,
Parteiführer
• 1886 Gründung der
Gleichheit
• 1889 Arbeiter-Zeitung
• erster Vorsitzender der
SDAP
• Abgeordneter zum
Reichsrat ab 1905
Viktor Adler: „Die Lage der
Ziegelarbeiter (1888)“
https://youtu.be/Cc70qkO8-9g?t=135
2. Die englischen „Social
surveys“
• A) Gründung von „statistical societies“ in den
1830er und 1840er Jahren in E als lokale
Vereinigungen von Privatleuten mit bürgerlich-
reformistischem Politikverständnis
„statistical movement“

• B) Enquêten bzw. Untersuchungen


parlamentarischer und administrativer
Einrichtungen
Methodische Innovationen des
„statistical movement“:
• Primärerhebungen, standardisierte
Erhebungsinstrumente
• Einsatz professioneller Datenermittler „Agenten“
• Entwicklung von Prüftechniken um die
Zuverlässigkeit von Aussagen zu überprüfen
• Diskussion „zuverlässiger“ Indikatoren
• Perfektionierung der Techniken der
Datenaufbereitung - z.B. Versuch der
Überprüfung von vermuteten Zusammenhängen
durch Bildung von Vergleichsgruppen
b) Untersuchungen parlamentarischer und
anderer administrativer Einrichtungen

• Sozialpolitische Enquêten: Parlamentsausschüsse


des Unterhauses hatten Recht auf Einvernahme
von Zeugen etc.
• königliche Kommissionen
• Einrichtung von Fabriksinspektoren

Methodische Innovation: Prinzip der cross-


examination, d.h. Einsatz unterschiedlicher
Methoden und Quellen, deren Ergebnisse
miteinander verglichen werden
zwei unterschiedliche Wege der
empirischen Sozialforschung

Moralstatistik versus Monographie


Moralstatistik

Ziel:
Suche nach sozialen Regelmäßigkeiten/
Gleichförmgkeiten um (soziale) Gesetze
aufzuspüren

Methode: statistische Analyse,


Wahrscheinlichkeitsrechnung
Adolphe Quètelet (1796-1874)
• Astronom und Statistiker
• Präsident der statistischen
Zentralkommission für
Belgien
• Begründer der modernen
Sozialstatistik
• Organisierte 1846 die
erste Volkszählung in
Belgien
• Hauptwerk: Soziale
Physik, 1835
Quètelet

Hauptfrage:
Folgen die sozialen Handlungen der Menschen
bestimmten Gesetzen?

Ziel:
Empirisch fundierte Voraussagen aufgrund dieser
Gesetze
Adolphe Quètelet

Quètelet vermutet u.a. Gleichförmigkeiten in


folgenden Bereichen:
– Einfluss des Alters auf die Fruchtbarkeit der Ehen
– Einfluss von Beruf, Familienstand auf die Sterblichkeit
– Einfluss des Alters auf die Kreativität von
Theaterautoren

Problem: reine Zusammenstellung einer Vielzahl


von Daten -“Gesetz der großen Zahl“ – jedoch
keine theoriegeleitete Systematik
Adolphe Quètelet

wendet die Gaußsche Normalverteilung und


Wahrscheinlichkeitstheorie auf sozio-
demographische Merkmale an:

Homme moyen/Durchschnittsmensch
z.B. Quètelet index=body Mass Index
Gegenposition:

Erstellung und vergleichende Auswertung von

Monographien= Einzelfallstudien

als Forschungsstrategie
Frederic Le Play (1806-1882)
• Bergbau-Ingenieur
• Prof. für Metallurgie
• Sozialreformer/theoretiker
• Reisen durch Europa und
Russland
• Berater Napoleon III
• Hauptwerk:
ouvriers européens, 1855
Le Play

zweifelt an der Aussagefähigkeit statistischer


Größen bei der Darstellung gesellschaftlicher
Verhältnisse: die Komplexität der zwischen-
menschlichen Verhältnisse ginge in statistischen
Daten verloren

Forderung nach detailreichen


Einzelfallbeschreibungen, d.h.
Monographien als neue
Forschungsstrategie
Monographien

Methodisches Vorgehen:
Monographien von zunächst 36 Familien

Erhebungseinheit ist die Familie und nicht das


einzelne Individuum

Systematische Darstellung der Einnahmen und


Ausgaben, Konsumgewohnheiten durch
Interviews. Erstellung von Haushalts-
inventaren durch direkte Beobachtung etc.
Le Play
Forschungsziel:
Entwicklung einer Familientypologie auf Basis
lebensnaher Einzelfallbeschreibungen durch
Vergleich der in verschiedenen europäischen
Ländern und -regionen aufgezeichneten
Monographien

Problem: Kriterien für die Auswahl der unter-


suchten Familien sind unklar
Facit:

statistische (Global)Analyse
und
monographische Detailanalyse

gelten als zwei unterschiedliche, einander im


Idealfall ergänzende Forschungsstrategien
Empirische Sozialforschung als
Markt- und Meinungsforschung
Marktforschung
frühe Markt- und Meinungsforschung in
Österreich

Österr. WirtschaftspsychologischeForschungsstelle
(1927 – 1938)
u.a. über Marktforschung finanziert

Studien zum Konsumverhalten von ArbeiterInnen

RAVAG Studie als erste Radio-HörerInnenbefragung


Paul F. Lazarsfeld (1901 - 1976)

Sozialpsychologie, Mathematiker

Mitarbeiter am psychologischen Institut


der Universität Wien

Leiter der wirtschaftspsychologischen


Forschungsstelle

1933 Emigration in die USA

Professor an der Columbia University

1963 Mitbegründer des IHS (Wien)


Forschungsprogramm
(Lazarsfeld 1933)
• zu jeder Erscheinung sollen objektive
Beobachtungen wie auch introspektive Berichte
vorliegen
• statistisches Material und Fallstudien sollten
miteinander verbunden werden
• Einholen entwicklungsgeschichtlicher
Informationen über den Forschungsgegenstand
• Kombination experimentell gewonnener und
natürlicher Daten (d.h. Daten, die sich aus dem
Ablauf des alltäglichen Lebens ergeben)
Realisierung dieses Forschungsprogramms

insbesondere der gelungene Versuch


statistische Analysen und monographische
Detailanalysen zu verbinden zeichnet die

„Marienthalstudie“

aus, die wir nächste Woche kennen lernen


werden
Referenzliteratur:
• Zeisel, Hans (1982): Zur Geschichte der Ethnographie, in:
Jahoda, Marie/Lazarsfeld, Paul/Zeisel, Hans: Die
Arbeitslosen von Marienthal, Frankfurt/M., S. 113.142
• Kern, Horst (1982): Empirische Sozialforschung.
Ursprünge, Ansätze, Entwicklungslinien. München, S.
162-179
• Adler, Viktor: Die Lage der Ziegelarbeiter, in:
Maderthaner, Wolfgang (2002): Viktor Adler. Zum 150
Geburtstag, Wien, S. 7-9
• Dammann, Rüdiger (1991): Die dialogische Praxis der
Feldforschung, Frankfurt/M., S.80-97
• Chevron, Marie-France (2007): Reisen und Sammeln aus
wissenschaftlicher Überzeugung heute und zur Zeit von
Adolf Bastian, in: MAGW Bd. 136/37, S. 187-197 und
S.199-201
Danke für Ihre Aufmerksamkeit!

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