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Abstract
In diesem Aufsatz wird die frühe Rezeption von Schelers anthropologischem Denken in
Spanien untersucht. Dabei sind zwei Wege der Rezeption zu berücksichtigen: zum einen die
Verbreitung von Schelers Gedanken mittels Übersetzungen phänomenologischer Werke und
insbesondere der Texte Schelers; zum anderen die kritische Aufnahme und Weiter-
entwicklung von Schelers Denken durch spanische Autoren. Die Untersuchung dieser beiden
Wege der Schelerrezeption in Spanien wird zeigen, wie der Einfluss von Max Scheler auf die
spanische Philosophie sich um die thematische Achse der menschlichen Affektivität herum
herausbildet, in der die Liebe eine Sonderstellung erhält.
Erst von den 20er Jahren des vergangenen Jahrhunderts an entwickelt sich im
deutschsprachigen Raum das Bewusstsein, dass die philosophische Anthropolo-
gie ein eigenes thematisches Feld und eine neue Fachrichtung geworden ist. Zu
diesem Bewusstsein haben Autoren wie Scheler, Plessner, Pfänder, Verweyen
und Gehlen entscheidend beigetragen. Besonders Max Schelers Text Die Stel-
lung des Menschen in Kosmos von 1928 wird als Gründungsdokument der
zeitgenössischen philosophischen Anthropologie angesehen.
Schelers Interesse an der Frage danach, was der Mensch ist, wird aber bereits
viel früher deutlich. Schon in seinen ersten Texten – also nicht nur in dem späte-
ren Werk aus der Kölner Zeit der 20er Jahre – lässt sich die Frage als Leitfaden
seines Denkens erkennen. Scheler selbst behauptet: „Die Fragen: Was ist der
Mensch, und was ist seine Stellung im Sein? haben mich seit dem ersten Erwa-
chen meines philosophischen Bewusstseins wesentlicher beschäftigt als jede an-
dere philosophische Frage. Die langjährigen Bemühungen, in denen ich von al-
len Seiten her das Problem umringte, haben sich seit dem Jahre 1922 in der
Ausarbeitung eines größeren dieser Frage gewidmeten Werkes zusammenge-
fasst, und ich hatte das zunehmende Glück, zu sehen, dass der Großteil aller
*
Mein Dank gilt Christoph Johanssen, Kevin Mulligan und Pedro Chamizo.
Probleme der Philosophie, die ich schon behandelt, in dieser Frage mehr und
mehr koinzidierten“.1 Inwiefern diese Behauptung durch Schelers Willen moti-
viert wird, sich als Gründer der neuen Disziplin zu präsentieren und sich gegen
mögliche Rivalen wie Plessner zu positionieren, werde ich hier dahingestellt las-
sen. Offenkundig ist jedoch, dass die frühen Texte aus Schelers „realistischer“
Phase und insbesondere seine Beiträge zur Philosophie der Gefühle zwischen
1910 und 1920 Zeugen dieses anthropologischen Interesses sind. Die Texte die-
ser Phase behandeln zwar nicht direkt die Frage danach, was der Mensch ist,
wie seiner späteren Texte, aber sie können trotzdem als „anthropologisch“ be-
zeichnet werden. Denn sie befassen sich, wenn auch in embrionalem Zustand,
mit grundlegenden Fragen dieser Disziplin und sie enthalten in nuce die späte-
ren Entwicklungen Schelers philosophischer Anthropologie. In concreto finden
wir, dass Scheler in Verbindung mit der ethischen Frage nach dem richtigen
Handeln eine eigene Theorie der Gefühle und des Fühlens entwickelt und eine
ganze Reihe emotionaler Phänomene wie das Ressentiment, die Sympathie, die
Reue, die Scham und die Demut analysiert. Eine besondere Aufmerksamkeit
wird in diesem Kontext der Liebe zuteil. Gemeinsam ist den Texten dieser Pha-
se das anthropologische Postulat, dass der Mensch hauptsächlich durch sein Ge-
fühlsleben bestimmt wird, und zwar ganz besonders durch die Liebe als Kern
der Persönlichkeit und Möglichkeitsbedingung für den Zugang zur Welt.2 Die
Primordialität des Fühlens vor dem Denken und Handeln wird in diesem Text
deutlich vertreten, und der Mensch wird hauptsächlich als fühlendes Wesen
konzipiert. Es ist insofern berechtigt, von Schelers „anthropologischem Den-
ken“ zu sprechen, auch wenn wir noch nicht von „philosophischer Anthropo-
logie“ im vollen Sinne des Wortes mit dem Bewusstsein einer neuen Disziplin
sprechen können.
Diese ersten Texte Schelers sind bislang unter dem Gesichtpunkt der philo-
sophischen Anthropologie wenig beachtet worden, obgleich sie neue, fruchtbare
Forschungsstränge für die Anthropologie eröffnen könnten. Zu diesem Verges-
sen hat die Tatsache beigetragen, dass die besagte Fachrichtung sich fast aus-
schließlich auf Schelers späteres Werk konzentriert hat, in dem er selbst explizit
„Anthropologie“ betreibt, und den Gefühlen nur eine zweitrangige Stellung zu-
kommt. Eine Ausnahme stellt freilich die Rezeption von Schelers philosophi-
schem Denken in Spanien dar. Die Aufnahme von Schelers Thesen erfolgt hier
nicht über sein explizit anthropologisches Werk der Kölner Zeit, sondern über
1
In: Scheler, Gesammelte Werke 9. 9. Zitiert nach A. Pintor Ramos: Schelers Einfluß auf
das Denken der spanischsprachigen Welt. In: Phänomenologische Forschungen. 28/29 (1993).
314-331, hier 314.
2
M. Scheler: Ordo Amoris. In: ders.: GW 10, Schriften aus dem Nachlaß. Bonn 1986.
345-376
Schelers anthropologisches Denken 63
seine ersten Texte zum Thema der Gefühle, des Fühlens und der Liebe. Wie ich
im Folgenden zeigen möchte, artikuliert sich die gesamte Rezeption Schelers in
Spanien um diese Thematik, so dass Schelers Texte der realistischen Phase im
Fokus besonderer Aufmerksamkeit in diesem Land sind. Diese besondere Hin-
wendung auf die Gefühle ist in anderen Ländern nicht zu finden. So konzen-
triert sich die Rezeption von Scheler in Frankreich zum Beispiel auf die Thema-
tik der Werte, der Person und der Intersubjektivität.3
In diesem Kontext entstehen einige Fragen. Über welche Kanäle genau läuft
diese Rezeption? Wie ist die Aufnahme und Weiterentwicklung von Schelers
anthropologischem Denken in Spanien? In diesem Aufsatz möchte ich die The-
se vertreten, dass die Rezeption von Schelers Gedanken in Spanien auf zwei
Wegen stattfindet. Zum einen sind die Übersetzungen zu nennen, und zwar
nicht nur die Übersetzungen von Schelers Schriften, sondern auch die der
Schriften anderer Phänomenologen. Die Übersetzung der Werke Brentanos,
Husserls, Pfänders und Kolnais ebnet den Weg zu einer Rezeption Schelers,
denn damit wird der ganze Diskussionsrahmen vermittelt, in dem sich Schelers
Thesen entwickeln und entfalten. Der andere Rezeptionsweg besteht in der kri-
tischen Aufnahme und Weiterentwicklung von Schelers Ideen durch spanische
Philosophen und Intellektuelle. Da Schelers Übersetzer selbst Philosophen wa-
ren, die sich in der Phänomenologie gut auskannten, überschneiden sich
manchmal beide Rezeptionswege. Die besagte Weiterentwicklung artikuliert
sich um die Thematik der menschlichen Affektivität herum: die menschliche
Fähigkeit zu Fühlen, die gefühlten Werte und die Liebe als Kern der Person. Sie
zeigt zudem die Originalität spanischer Denker, die Schelers Ideen in ihr an-
thropologisches Interesse einbeziehen und in der Richtung einer eigenen phä-
nomenologischen Anthropologie weiterentwickeln.
Die Bedeutung dieses anthropologischen Postulats, dass der Mensch haupt-
sächlich durch seine Fähigkeit zu Fühlen gekennzeichnet sei, ist in den wenigen
Studien über den Einfluss Schelers in Spanien oft übersehen oder unterschätzt
worden. Dies hat damit zu tun, dass das Thema der Gefühle bislang als ein für
die Philosophie nicht wirklich wichtiges Thema betrachtet worden ist. Pintor
Ramos hat in seinen Aufsatz über den Einfluss Schelers auf Ortegas Werk die
Bedeutung der Liebe als Thema erkannt, allerdings beschränkt er seine Analyse
eben auf Ortega y Gasset.4 Dessen Bedeutung für die Rezeption Schelers ist un-
3
Vgl. H. Leroux, H.: Sur quelques aspects de la réception de Max Scheler en France. In:
Phänomenologische Forschungen. 28/29 (1993). 332-356. Ich denke aber, dass man diese
These auch auf andere Autoren übertragen kann.
4
Pintor Ramos hat auf die drei wichtigen Stränge bei Ortega y Gassets Rezeption von
Scheler hingewiesen: die Intersubjektivitätslehre, der Wertbegriff und die Liebe. Vgl. Pintor
Ramos. A.a.O. 319.
64 Íngrid Vendrell Ferran
zweifelhaft, aber andere Autoren wie García Morente oder Joaquim Xirau mit
ihren entsprechenden Konzeptionen der Werte, des Fühlens und der Gefühle
spielen ebenfalls eine bedeutende Rolle. Die Bedeutung dieser anderen Autoren
für die Weiterentwicklung der Thesen über die Rolle des Fühlens wurde bislang
ignoriert. In dem Werk von San Martin Die Phänomenologie in Spanien wird
die Bedeutung der Texte aus Schelers realistischer Phase für spanische Autoren
zum Beispiel kaum behandelt.5 Meine Arbeit verstehe ich als komplementär zu
diesen zwei Studien und als Versuch, die erwähnten Lücken zu füllen. Ich wer-
de mich auf Schelers anthropologische Thesen zwischen 1910 und 1920 kon-
zentrieren und auf die erste Phase der Rezeption von Schelers Texten in Spani-
en.6 Daher wende ich mich zunächst den historischen Entwicklungen dieser
Aufnahme von Schelers Denken in Spanien zu und danach der inhaltlichen
Aufnahme und Weiterentwicklung seines Denkens durch spanische Autoren.
Ein Blick auf die spanische Philosophie Anfang des 20. Jahrhunderts ist erforder-
lich, um die Wege der Scheler-Rezeption besser zu verstehen. Der spanischen
Philosophie Anfang des 20. Jahrhunderts mangelt die Anbindung an ihre Ver-
gangenheit (León, Nebrija, Alpizcueta, Soto, Suárez) und es fehlen ihr Einrich-
tungen wie philosophische Gesellschaften und Zeitschriften. Es gibt einen Man-
gel an kulturellen Institutionen und den Bibliotheken fehlen sogar wesentliche
Bücher.7 Seit dem 18. Jahrhundert hat Spanien die eigene intellektuelle Tradition
gleichsam verloren. Andererseits war die Verbindung zu Europa kaum existent,
5
J. San Martín (Hg.): Phänomenologie in Spanien. Würzburg 2005.
6
Spätere Rezeptionswellen in Spanien werde ich hier außer Acht lassen. Man findet dies-
bezüglich eine ausführliche Studie in dem kürzlich von Javier San Martín herausgegebenen
Buch von San Martín, a.a.O. Es sei hier nebenbei erwähnt, dass es in Spanien seit 1990 ein
erneuertes Interesse an Schelers Werk zwischen 1910 und 1920 gibt. Siehe etwa Miguel García
Barós Buch Vida y Mundo, die ethischen Untersuchungen von Juan Miguel Palacios in Bon-
dad Moral e Inteligencia ética, welche von frühphänomenologischen Texten ausgehen, die
Neuherausgabe der alten Übersetzungen von El Resentimiento en la moral (Gaos), Ordo
Amoris und Muerte y Supervivencia (Zubiri), dem Formalismusbuch (Rodríguez Sanz) und
Esencia y Formas de la Simpatía (Gaos) sowie die Übersetzungen der Idole der Selbsterkennt-
nis und von Scham und Schamgefühl durch der Autorin selbst. Eine gewisse Scheler-
Renaissance lässt sich hier eindeutig konstatieren.
7
N. Orringer: Ortega y sus fuentes germánicas. Madrid 1979. 197.
Schelers anthropologisches Denken 65
8
J. Marías: Ortega. Circunstancia y vocación. Madrid 1983. 69
9
Unamuno und Ortega wollen beide die Philosophie in Spanien dynamisieren. Allerdings
sind die Ideen zu dieser Reform der Philosophie bei beiden sehr unterschiedlich. Unamuno
entwickelt eine Existentialphilosphie und richtet sich auf Figuren wie Kierkegaard. Ortega sei-
nerseits ist stark von einer rationalistischen Auffassung der Philosophie beeinflusst und wendet
sich zunächst Kant zu und erst später der Phänomenologie. Zwischen Unamuno und Ortega
kam es zu offenen Konfrontationen. J. San Martín: Fenomenología y cultura en Ortega.
Ensayos de Interpretación. Madrid 1998. 22.
10
J. Lasaga Medina: José Ortega y Gasset (1883-1955). Vida y Filosofía. Madrid 2003. 63.
11
Deutsche Universitäten waren um die Wende des 19. zum 20. Jahrhunderts nicht nur in
Spanien, sondern weltweit renommiert. Autoren wie der Amerikaner W. James oder der Brite
E.B. Titchener haben in Deutschland ihre Dissertation geschrieben.
66 Íngrid Vendrell Ferran
gemacht. Zum einen bot die Phänomenologie den spanischen Denkern ein
reichhaltiges thematisches Feld der Forschung, das – wie in den nächsten Ab-
schnitten deutlich wird – jeder Autor gerne mit der eigenen kulturellen Traditi-
on anreichert. Zum anderen wurde die phänomenologische Bewegung als Mu-
ster für eine Neuorganisation der Philosophie im eigenen Land betrachtet. In
dieser institutionellen Hinsicht sehen wir, dass die genannten Autoren nach ih-
rer Rückkehr nach Spanien auch phänomenologische Schulen bilden und ent-
sprechende Aktivitäten organisieren. Die ‚Revista de Occidente‘ fungiert als Pu-
blikationsorgan dieser Zeit; in ihr erscheint die Mehrheit der phänomenolo-
gischen Übersetzungen und Artikel. Es kann insofern von der Eröffnung einer
philosophischen Tradition gesprochen werden, die sich sowohl auf der episte-
mischen als auch in der institutionellen Ebene eng an die phänomenologische
Bewegung im deutschsprachigen Raum anschließt und die Philosophie des Lan-
des starke Impulse gibt. Diese Dynamisierung der spanischen Philosophie endet
mit Beginn des Bürgerkriegs im Juli 1936.
In den ersten Jahren der Dynamisierung der spanischen Philosophie organi-
sierten sich die phänomenologischen Aktivitäten hauptsächlich um zwei Schu-
len herum: Die Schule von Madrid und die Schule von Barcelona.12 Die Schule
von Madrid wurde von José Ortega y Gasset gegründet, zu ihr gehören auch
Xavier Zubiri, Manuel García Morente, José Gaos und Ramiro Ledesma. Zu
der Schule gehörten auch Pedro Laín Entralgo (1908-2001), dessen Werk von
Dilthey, Ortega, Scheler, Zubiri und Heidegger beeinflusst war, und María
Zambrano (1904-1991), die bei Zubiri, García Morente und Ortega y Gasset
studierte. Nach dem Bürgerkrieg gibt es gleichsam eine Neuauflage oder zweite
Generation dieser Schule, zu der Julián Marías und Hilario Rodríguez Sanz ge-
hören. Zu der Schule von Barcelona gehörten Joaquim Xirau, der als ihr Be-
gründer gilt, Eduard Nicol und Josep Ferrater Mora. Diese Schule wurde nach
dem Krieg aufgelöst, da ihre Mitglieder im Exil waren oder mit Repressionen
während der Diktatur zu rechnen hatten.13 Für die Rezeption Schelers in beiden
Schulen haben die Übersetzungen eine große Rolle gespielt, so dass die Überset-
zungen ein wichtiger Rezeptionsweg sind. Spanische Autoren haben sich mit
großer Hingabe auf eine Übersetzertätigkeit konzentriert, damit die Werke der
Phänomenologie einem weiteren spanischen Publikum bekannt wurden und
nicht nur denjenigen, welche die deutsche Sprache verstanden. Spanisch ist so-
12
J. Lerín: Aufnahme und Entwicklung der Phänomenologie in Spanien. In: San Martín:
Phänomenologie in Spanien. A.a.O. 13-28, hier 14; A. Mora: Phänomenologie im Exil (I)
oder die Schule von Barcelona. In: San Martín. Phänomenologie in Spanien. A.a.O. 288-290,
hier 289.
13
F. Perenya Blasi: Phänomenologie in Katalonien. In: San Martín: Phänomenologie in
Spanien. 295-296.
Schelers anthropologisches Denken 67
José Ortega y Gasset (1883-1955) hat, als Begründer der Madrider Schule, für
die Rezeption Schelers in Spanien eine unbestreitbar große Bedeutung. Wegen
seiner Arbeit wird er berechtigterweise als „Wegbereiter Schelers“14 oder „Bot-
schafter der Phänomenologie in Spanien“15 bezeichnet. Die Relevanz der Figur
Ortegas für die Rezeption Schelers liegt aber nicht in seiner Übersetzungstätig-
keit, sondern in der Aufnahme von Schelers Denken in sein eigenes philosophi-
sches System und in der Tatsache, dass er eine ganze Generation künftiger Phi-
losophen prägt, welche die Phänomenologie aus seiner Hand kennen lernen.
Ortegas Denken wurde durch die Philosophie Unamunos, die französische
Literatur von Balzac, Stendhal und Flaubert16 und ganz besonders durch die
deutsche Philosophie Anfang des XX. Jahrhunderts geprägt. Von 1905 bis 1906
verbringt Ortega zwei Semester in Leipzig und Berlin und tritt mit dem Neu-
kantismus in Kontakt. 1907 unternimmt er eine zweite Reise nach Marburg, um
bei Hermann Cohen und Paul Natorp Kants Philosophie zu studieren. Erst bei
seiner dritten Reise nach Deutschland tritt Ortega 1911 mit Nicolai Hartmann,
Heinz Heimsoeth und Max Scheler in Kontakt17 und bekommt ein echtes Inter-
esse an der phänomenologischen Bewegung. Nach seiner Rückkehr nach Spani-
en fängt Ortega an, seine phänomenologischen Kenntnisse mit der Lektüre von
14
Pintor Ramos. A.a.O.
15
K. Mulligan: La fenomenologia realista. Unveröffentlichte Vortragsreihe im Institut
d’Estudis Catalans und Universitat de Barcelona. Teile davon wurden von der Autorin rezen-
siert: Í. Vendrell Ferran: Memòria del seminari de maig de 1999. Actes i Objectes. Una anàlisi
de la fenomenologia realista. Kevin Mulligan. In: Anuari de la Societat Catalana de Filosofia
(2001). 41-64.
16
Lasaga Medina: José Ortega y Gasset. A.a.O. 26.
17
Vgl. Pintor Ramos: Schelers Einfluß. A.a.O. 317; J. Lasaga: José Ortega y Gasset. In:
San Martín. Phänomenologie in Spanien. A.a.O. 298-300.
68 Íngrid Vendrell Ferran
18
San Martín; Fenomenología y cultura en Ortega. A.a.O. 54 auch 57.
19
Nach San Martín ist auch in den politischen Texten dieser Zeit eine Haltungsänderung
zu bemerken (vgl. ebd. 54).
20
Vgl. J. Ortega y Gasset: Investigaciones Psicológicas. Madrid 1981. 219. Laut San Mar-
tin veröffentlicht Ortega auch 1913 in ‚Revista de Libros‘ drei Rezensionen der Phänomenolo-
gie Husserls und ihrer Schule. Vgl. J. Marías: Acerca de Ortega. Madrid 1991. 139.
21
J. Marías: Acerca de Ortega. A.a.O. 142.
Schelers anthropologisches Denken 69
22
Ortega y Gasset: Investigaciones Psicológicas. A.a.O. 9.
23
Orringer: Ortega y sus fuentes germánicas. A.a.O. 238.
24
Lasaga Medina: José Ortega y Gasset. A.a.O. 63.
70 Íngrid Vendrell Ferran
25
J. Ortega y Gasset: Obras completas IV. Madrid 1947. 507- 511.
26
Ebd. IV. 510
27
In dieser Hinsicht auch: Pintor Ramos: Schelers Einfluß. 318.
28
Lasaga Madina: José Ortega y Gasset. A.a.O. 139
29
J. Conill: Die Phänomenologie bei Zubiri: In: San Martín: Phänomenologie in Spanien.
A.a.O. 43-56; hier 44.
Schelers anthropologisches Denken 71
gaciones Lógicas“, letzteres Werk übersetzt García Morente zusammen mit José
Gaos. Ein Jahr darauf erscheint die Übersetzung von David Katz’ „El mundo de
las sensaciones táctiles“ und 1931 die von Pfänders „Fenomenología de la volun-
tad“. Während des Bürgerkrieges emigriert García Morente nach Paris und
dann nach Argentinien, wo er einen eigenen Lehrstuhl bekommt. 1938 kehrt er
nach Spanien zurück, wird katholischer Priester und wendet sich dem Tho-
mismus zu. Schelers Einfluss ist in Morentes ethischen Schriften zu bemerken.
Besonders in Morentes Aufsatz „Juicios de Valor“ (1918) sowie in seinen „En-
sayos sobre el progreso“ (1932) und der Vortragsreihe in Argentinien „El ideal y
el estilo“ (1938) finden wir die Entwicklung eines Wertbegriffes im Ausgang von
Scheler.
Auch José Gaos (1900-1969), ein anderes Mitglied der Madrider Schule, ori-
entierte sich zunächst am Neukantianismus. 1921 geht Gaos nach Madrid, be-
sucht die Seminare von García Morente und Zubiri und bewegt sich im Kreis
von Ortegas Schülern. Unter diesem Einfluss wendet er sich der Phänomenolo-
gie zu und liest Husserl, Hartmann, Scheler, Dilthey und Heidegger.30 Während
des Bürgerkriegs emigriert er 1938 nach Mexiko und findet eine Stelle an der
UNAM. Gaos’ Beitrag zur Scheler-Rezeption besteht nicht nur in seiner Lehr-
tätigkeit und seinen Konferenzen in Spanien und Lateinamerika, sondern auch
in einer intensiven Übersetzungstätigkeit. Gaos hat Fichte, Dilthey, Brentano,
Husserl, Celms und Scheler ins Spanische übertragen. Wie schon erwähnt,
übersetzt er zusammen mit García Morente Husserls „Investigaciones lógicas“
und die vier ersten Cartesianischen Meditationen.31 Von Brentano übersetzt er
Teile der „Psicología desde un punto de vista empírico“. Allerdings ist Scheler
der Autor, dem Gaos den größten Teil seiner Übersetzertätigkeit widmet. So
erscheint 1927 „El Resentimiento en la moral“, 1929 „El puesto del hombre en
el cosmos“, 1935 “Sociología del saber”, 1943 “Esencia y formas de la simpatía”.
Unter seinen zahlreichen phänomenologischen Veröffentlichungen sind
folgende hervorzuheben: La crítica del psicologismo en Husserl (1928), Dos
exclusivas del hombre: la mano y el tiempo (1945), Ensayos sobre Ortega y
Gasset (1957), Introducción a la fenomenología (1960).
Zuletzt ist auch ein anderer Ortega-Schüler zu nennen, nämlich Ramiro Le-
desma (1905-1936). Ledesma war stark von dem Denken Husserls, Schelers
und Heideggers beeinflusst. Erwähnenswert ist sein Artikel „La última incógnita
30
Lasaga Medin: Husserls Gegenwart bei Ortega. In: San Martín: Phänomenologie in
Spanien A.a.O. 29-42; hier S. 31.
31
Diese Übersetzung wurde von einem Manuskript ausgehend erstellt, das Husserl Ortega
y Gasset 1934 gegeben hatte. Da das Manuskript im Bürgerkrieg verloren ging, konnte die
Übersetzung von 1942 nur die ersten vier Meditationen beinhalten. Lasaga: Husserls Gegen-
wart bei Ortega. Aa.O. 30.
72 Íngrid Vendrell Ferran
de M.Scheler“ aus dem Jahr 1929. Ledesma wurde während des Bürgerkriegs
getötet.
Auch das Schicksal der Autoren der Madrider Schule wird durch den Bür-
gerkrieg betroffen. Ihre eigene philosphische Produktion leidet an den menschli-
chen und kulturellen Verlusten und die aktive Übersetzungstätigkeit wird bis die
40er Jahre unterbrochen.32
Was die Schule von Barcelona angeht, so hat Joaquim Xirau (1885-1946) einen
wichtigen Beitrag zur Scheler-Rezeption geleistet, allerdings nicht durch Über-
setzungen, sondern durch die Organisation der Aktivitäten der Schule und
durch die Aufnahme von Husserls und Schelers Denken in seine eigene Philo-
sophie. Xirau studiert in Barcelona und Paris und promoviert in Madrid, wo er
bei Ortega y Gasset mehrere Seminare besucht. In Barcelona organisiert er ein
philosophisches Colloquium, wo Zubiri, García Morente, Gaos, Paul Ludwig
Landsberg, Charlotte Bühler und Jean Piaget Seminare abhalten. Landsbergs
Seminare handelten von Augustinus, Nietzsche und Scheler. 1939 emigriert Xi-
rau nach Mexiko, wo er den Lehrstuhl für Metaphysik an der UNAM leitet.
Seine phänomenologisch orientierten Werke sind La filosofia de Husserl (1941)
und La teoría de los valores en relación con la ética y el derecho (1929), wo der
Einfluss der Anthropologie Schelers zu spüren ist. Hervorzuheben sind auch
das in katalanischer Sprache veröffentlichte L´amor i la percepció dels valors
(1936) und das Werk Amor y Mundo (1940) in spanischer Sprache. In diesen
Schriften nimmt Xirau Schelers anthropologisches Postulat der Liebe als Kern
der Persönlichkeit auf und entwickelt es weiter.
Zusammenfassend können wir festhalten, dass es eine intensive Rezeption
von Schelers philosophischer Anthropologie in Spanien gab. Diese Rezeption
organisierte sich im Umfeld der Schule von Madrid und der Schule von Barce-
lona. Die Protagonisten dieser Schulen haben zu der der Einführung von Sche-
lers Denken in Spanien durch eine große Anzahl von Übersetzungen und die
Organisation phänomenologischer Aktivitäten beigetragen.
32
Auch der zweiten Generation der Madrider Schule sind zahlreiche Übersetzungen zu
verdanken. Julián Marías (1914-2005), der in Madrid bei Ortega y Gasset, Zubiri, Gaos und
García Morente studierte, übersetzte 1940 „De lo eterno en el hombre“. Hilario Rodríguez
Sanz, Schüler von García Morente, ist 1942 der Autor der ersten Übersetzung in eine Fremd-
sprache von Schelers Formalismusbuch. Rodríguez Sanz promovierte 1945 in Madrid über
Schelers Philosophie der Person.
Schelers anthropologisches Denken 73
3.1. Scheler: Der Mensch als fühlendes Wesen und die Objektivität der Werte
33
Vgl. W. Henckmann: Max Scheler. München 1998. 106.
74 Íngrid Vendrell Ferran
aber auch für andere Phänomenologen wie Geiger, Stein und Kolnai – eine gro-
ße Bedeutung. Das Fühlen wird oft als „Organ der Werterfassung“ oder „Wert-
nehmen“34 beschrieben. Dank ihm präsentiert sich die Welt nicht als eine neu-
trale monotone Ebene, sondern als ein Horizont mit gewissen Qualitäten, in
dem wir uns orientieren können. Hier formuliert Scheler ein sehr starkes an-
thropologisches Postulat, nach dem das Fühlen – also eine affektive Funktion –
grundlegender als jeder Akt des Denkens oder Wollens ist.35
Dabei entsteht die Frage, ob dieses Fühlen gleichzeitig ein Gefühl ist oder eine
eigene Kategorie bildet? Bei der Rolle des Fühlens scheiden sich die Geister in
der Phänomenologie. Während für Husserl, Stein und Kolnai Fühlen von Wer-
ten und Gefühle als Synonyme gelten – also der Ekel gleich dem Fühlen des
Ekelhaften ist –, ist für Scheler, Geiger und auch Ortega y Gasset das Fühlen
streng von den Gefühlen zu trennen.36 Für die letztgenannten Autoren erfasst
das Fühlen die Werte, und die Gefühle sind Antwortreaktionen auf die in dem
Fühlen erfassten Werte. Um bei dem vorherigen Beispiel zu bleiben: Das Ekel-
hafte wird in dem Fühlen erfasst, und wenn es zu einer angemessenen Antwort-
reaktion kommt, empfinden wir Ekel. Diese These begreift also die Gefühle
nicht als Erkenntnisakte und postuliert die Existenz einer menschlichen Fakul-
tät, die weder als bloß kognitiv im traditionellen Sinne des Wortes noch als bloß
affektiv zu bezeichnen ist und die uns die Werte vermittelt. Das Fühlen ist also
eine Art psychichen Vermögens, das als kognitiv-affektiv bezeichnet werden
kann. Mit dem Postulat des Fühlens als Erkenntnismittel der Werte zeigt Sche-
ler schon wie schwach eigentlich die Grenzen sind zwischen denjenigen Akten,
welche die Tradition als kognitiv bezeichnet hat und welche sich durch das Er-
kennen charakterisieren, und denjenigen Akten, welche man wegen ihres Po-
tenzials, in uns leibliche Regungen zu veranlassen, als affektiv charakterisierte.
Das Fühlen scheint beide Arten von Eigenschaften zu besitzen.
Auf das Fühlen sind dann die Gefühle bezogen. Im Zusammenhang mit den
gefühlten Werten gibt es vier Hauptsorten von Gefühlen: Gefühlsempfindun-
34
M. Scheler: Der Formalismus in der Ethik und die materiale Wertethik. In: ders.: Ge-
sammelte Werke. Band 2. Bern 1954. 269. Damit dieses Fühlen von Werten nicht irrational
erscheint, schließt sich Scheler der These von Husserl an, nach der neben dem Wahrnehmen
auch ein Wertnehmen möglich ist. Husserl erklärt dieses Wertnehmen in seinen „Vorlesungen
über Ethik und Wertlehre“. Hua XXVIII. Vgl. Henckmann. A.a.O.
35
Scheler: Ordo Amoris. A.a.O.
36
K. Mulligan: Husserl on the ,Logic‘ of Valuing, Values and Norms, in: Centi, B. & Gig-
liotti, G. (ed.): Fenomenologia della Ragion Practica. L’Etica di Edmund Husserl, Naples
2004. 177-225. Ders.: “eelings, Preferences and Values. Unveröffentl. Vortrag. Lisabon Au-
gust 2005 und Neuchâtel October 2005. Ders.: Schelers Herz: Was man alles fühlen kann.
Wie vielerlei man fühlen kann“ (Im Erscheinen). Í. Vendrell Ferran: Die Emotionen. Gefühle
in der realistischen Phänomenologie. Berlin 2008.
Schelers anthropologisches Denken 75
gen, vitale Gefühle, seelische Gefühle und religiöse Gefühle – je nachdem, wel-
che Werte erfasst werden.
Bei der Funktion des Fühlens selbst ist wichtig zu betonen, dass Scheler sie als
den Grundkern der Person versteht. In dem von der heutigen Phänomenologie
leider wenig beachteten Text „Ordo Amoris“ vertritt Scheler eine These, welche
die spanische Philosophie intensiv aufnehmen und bearbeiten wird. Besonders
finden wir sie bei Ortega, Morente und Xirau wieder. Es wird als anthropologi-
sches Postulat verstanden, dass der Mensch ein fühlendes Wesen ist. Allerdings
hat jeder Mensch eine bestimmte Art und Weise zu fühlen, welche den Kern
seiner Person ausmacht. Diese Art und Weise zu fühlen wird von dem histori-
schen, sozialen und kulturellen Kontext und nicht nur durch individuelle Fakto-
ren bestimmt, aber die Idee ist, dass sie für jeden Menschen anders ist und ihn
somit einzigartig macht. Der ordo amoris, welcher jedem Menschen eigen ist,
kennzeichnet die Grundlinien seiner Persönlichkeit und bestimmt auch seine
Art und Weise, Werte zu erschließen: Einige Menschen werden auf einige Wer-
te achten und andere übersehen – jeder zeigt ein unterschiedliches Präferenzsy-
stem.37
3.2. Ortega y Gasset: Die Wissenschaft der Werte und der Wert des Lebens.
37
Scheler: Ordo Amoris. A.a.O.
38
Ortega y Gasset: Obras completas, VI. A.a.O. 325, 328.
76 Íngrid Vendrell Ferran
tivität haben, da sie zwar „objektiv“ sind, aber nicht real wie Bäume oder andere
Menschen. Die Objektivität der Werte ist wie die von Farben oder Zahlen.
Werte existieren in Rangordnungen und können als positiv oder negativ klassifi-
ziert werden.
Über die Möglichkeit der Erfassung der Werte behauptet Ortega y Gasset,
dass diese uns in einem „Fühlen“ zugänglich werden und schließt sich damit der
Auffassung Schelers an. „Fühlen“ ist laut Ortega eine „kognitive Funktion“ und
funktioniert wie das Sehen oder das Verstehen. Um dies zu erläutern, arbeitet er
mit einem Parallelismus zwischen dem „Fühlen“ (von Werten) und dem Wahr-
nehmen (von Dingen). Trotz dieses Parallelismus unterscheiden sich laut Ortega
„Fühlen“ und „Wahrnehmen“ allerdings in mehreren Hinsichten. Zum einen
laufen beide Sorten von Kenntnisnahme oft nicht parallel. Wir können eine Sa-
che wahrnehmen und ihre Werte können uns dennoch verborgen bleiben. Um-
gekehrt können wir Werte erfassen, ohne dass eine Sache uns mit Klarheit gege-
ben wird. Dies ist etwa dann der Fall, wenn man den Wert vollkommener
Gerechtigkeit „fühlt“, ohne zu wissen, welche reale Situation diese Gerechtigkeit
verwirklichen könnte.39 Zum anderen sind das Wahrnehmen und das Fühlen
von unterschiedlicher Natur: Ersteres findet immer durch Abschattungen und
durch sukzessive Wahrnehmungen von Seiten statt, das zweite ist immer
„transparent“ bzw. „absolut und mathematisch“40 – d.h. für Ortega unmittelbar.
Hier stellt er einen Vergleich zwischen der Wissenschaft der Werte, die er als
„Estimativa“ bezeichnet, und der Mathematik an. Ortega beendet den Aufsatz
mit zwei Bemerkungen. Nach Ortega sind die moralischen und die Werte des
Nützlichen, im Unterschied zu anderen Sorte von Werten, durch die Existenz
ihres Objektes bedingt. Dass heißt, dass etwa das „moralisch Gute“ nur Perso-
nen zugeschrieben werden kann, während etwa der Wert des „Schönen“ an
verschiedenen Sorten von Objekten gegeben werden kann. Die andere Bemer-
kung betrifft die Klassifikation der Werte, die an Schelers eigene Klassifikation
erinnert. Ortega y Gasset unterscheidet zwischen Nutzwerten, vitalen Werten,
geistigen Werten (intellektuell, moralisch oder ästhetisch) und religiösen Wer-
ten. So finden wir, dass Ortega y Gasset die These der Trennung zwischen Füh-
len und Gefühlen engagiert vertritt und in dieser Richtung weitere Argumente
liefert.
In El tema de nuestro tiempo von 1923 präsentiert Ortega eine andere Auf-
fassung des Wertbegriffes.41 In diesem Text werden die Werte mit dem Leben in
39
Ebd. 331
40
Ebd.
41
M.S. Mateo: Los valores en Max Scheler y Ortega. In: Humanitas. Revista de la
Facultad de Filosofía y Letras. Universidad Nacional de Tucumán. IX (1961). 157-170; hier
164.
Schelers anthropologisches Denken 77
Zusammenhang gebracht, denn hier ist es die vitale Realität, welche für die
Werte eine fundierende Funktion hat. Die Realität der Werte wird somit auf der
Realität des Lebens gegründet.42 Mit dieser Auffassung entfernt sich Ortega von
der wertrealistischen Auffassung der Werte in zweierlei Hinsicht. Die Rangord-
nung der Werte, welche hier postuliert wird, ist anders als Schelers Rangord-
nung und unterscheidet sich auch von Ortegas eigener Rangordnung in „Qué
son los valores“. Dort war der höchste Wert das Heilige, hier hingegen ist es das
Leben. In der Tat gründen die geistigen Phänomene selbst auf dem Leben, auch
wenn sie sich uns anschließend mit einer gewissen Objektivität präsentieren und
erscheinen, als wären sie unabhängige Entitäten.43
Da hierüber hinaus die Werte vom menschlichen Leben abhängig sind, wird
ihre Traszendenz in Frage gestellt.44 Es ist der Mensch selbst, welcher die Werte
ausmacht. Denn Ortega versteht die Werte als Möglichkeiten, welche der
Mensch in eine Rangordnung stellen muss, je nachdem wie sein vitales Projekt
konkret aussieht. Die Werte haben damit keine von dem Menschen unabhängi-
ge Existenz, sondern sie sind Möglichkeiten, für die das Leben sich entscheidet
und die auch in Abhängigkeit vom jeweiligen historischen Zeitalter zur Ver-
wirklichung kommen.45 Diese Ansicht Ortegas nähert ihn dem Dispositionalis-
mus.
Die philosophische Arbeit von Manuel García Morente hat bislang kaum Auf-
merksamkeit erhalten und wurde durch seine umfangreiche Tätigkeit als Über-
setzer vedeckt. Ich möchte hier auf einige Ideen Morentes aufmerksam machen.
1918 veröffentlicht Morente einen Aufsatz mit den Titel „Los juicios de va-
lor“, in dem er danach fragt, was die Werte sind. Morente sucht die Antwort
nicht bei Kant und dessen Normenethik, welche er gut aus seinen Übersetzun-
gen kennt, sondern dezidiert in der damaligen Phänomenologie unter direktem
Bezug auf Scheler, Hildebrand, Hartmann46 und Ortega y Gasset, dessen schon
erwähnter Aufsatz über die Werte fünf Jahre später veröffentlicht wird.
1932 finden diese erste Ideen Morentes über die Werte bereits ihren Nieder-
schlag in der Rede zur Aufnahme in die „Academia de Ciencias Morales y Polí-
42
Ortega y Gasset: Tema de nuestro tiempo. In: Obras Completas. III. A.a.O. 179.
43
Mateo. A.a.O. 166.
44
Ortega y Gasset: Obras Completas. III. A.a.O. 188.
45
Ebd.
46
J.M. Palacios: Prólogo. In: M. García Morente: Ensayos sobre el progreso. Madrid
2002. 10.
78 Íngrid Vendrell Ferran
ticas“ in Madrid, die in dem Buch Ensayos sobre el progeso veröffentlicht wur-
de. Hauptfragen Morentes sind: Was sind die Werte? Und: Wie kann man von
Forschritt sprechen?
Morente vertritt eine wertrealistische Position in der Linie Schelers, wonach
die Werte unabhängig sind sowohl von dem menschlichen Verhalten als auch
von der Exitenz der Objekte, an denen sie uns gegeben werden. Morente ver-
steht die Werte als „irreale Eigenschaften“,47 In seiner Ontologie gibt es drei
Klassen von Objekten: die realen Dinge, die idealen Objekte und die irrealen
Werte.48 Die Werte haben somit keine Existenz, vielmehr gelten sie und haben
Wert: „Los valores no son, no tienen ser, sino que precisamente valen, tienen
valor“.49 Werte kennzeichnen sich laut Morente durch drei Merkmale: Materie,
Polarität und Rangordnung. Um die wertrealistische Position zu vertreten, ent-
wickelt Morente drei Argumente gegen den Emotivismus, die ich als Wider-
spruchsargument, Zeitlichkeitsargument und Stärkeargument bezeichnen
möchte. Das Widerspruchsargument besagt, dass die Werte keine Projektionen
unserer Gefühle sind, da uns oft auch dann etwas als wertvoll erscheint, wenn es
uns nicht gefällt. D.h. etwas kann als wertvoll wahrgenommen werden und
dennoch kein positives Gefühl in uns auslösen. Das Zeitlichkeitsargument
spricht gegen den Emotivismus, denn oft tritt das entsprechende Gefühl nach
der Erfassung eines Wertes auf und nicht zuvor, so dass hier keine Projektion
möglich ist. Das Stärkeargument besagt, dass die Projektionen oft nicht stark
genug sind, um uns zu motivieren und Orientierung zu geben.50 Mit dieser tour
de force gegen den Emotivismus entwickelt Morente seine eigene wertrealisti-
sche Position, derzufolge die Werte als Präferenzen verstanden werden. Die
Werte sind Dispositionen der Welt, in uns eine Präferenz zu erwecken.51 Dies
bringt Morente jenseits von Schelers Thesen und in die Nähe des Dispositiona-
lismus.
Den Fortschritt versteht Morente als die Verwirklichung der Werte durch
das menschliche Bemühen.52 Hier spielt die menschliche Fähigkeit, Werte zu er-
fassen, eine große Rolle. Denn nur dank des Fühlens sind uns die Werte zu-
gänglich – hier übernimmt Morente wieder Schelers Ideen. 1938 versucht Mo-
rente bei einer Vortragsreise in Argentinien, die menschliche Fähigkeit zu
Fühlen näher zu bestimmen. Morente spricht von dem Stil, den jeder von uns
47
M. García Morente: Ensayos sobre el progreso. Madrid 2002. 46.
48
Ebd. 51.
49
Ebd. 62.
50
Ebd. 48.
51
Ebd. 49.
52
Ebd. 57.
Schelers anthropologisches Denken 79
beim Empfinden von Werten hat.53 Es sind die jeweils eigenen Präferenzen „des
Herzens“, welche die intime Persönlichkeit des Menschen ausdrücken und den
persönlichen Stil konstituieren. In diesen Worten ist meines Erachtens die Idee
des Ordo Amoris von Scheler zu finden – Zubiri hatte diesen Text 1934 ins
Spanische übersetzt.
In seinen späteren Jahren, unter dem Einfluss des Tomismus, will Morente
seine Wertkonzeption von 1932 revidieren. Von diesem Versuch sind wegen
des Todes Morentes nur Fragmente geblieben.54
53
Zitiert nach Juan Miguel Palacios. Prólogo. A.a.O. 15.
54
Ebd. 17-
55
E. Voigtländer: Bemerkungen zur Psychologie der Gesinnungen“. In: Neue Münchener
Philosophische Abhandlungen. Hg. E. Heller und F. Löw. Leipzig 1933. 143-164; E. Stein:
Zum Problem der Einfühlung. Halle 1917.
80 Íngrid Vendrell Ferran
und bestimmt unseren Zugang zur Welt. Worin besteht nun der Unterschied
zwischen Liebe und Gefühlen? Die Gefühle sind Antworte auf gefühlte Werte,
die Liebe hingegen lau Scheler gerade nicht. Wenn wir lieben antworten wir
nicht auf einen gefühlten Wert, da wir Menschen mit Unwerten lieben und
Menschen mit Werten hassen können. Liebe und Hass sind demnach weder ein
Fühlen von Werten, noch Reaktionen auf Werte. Liebe und Hass sind laut
Scheler vielmehr dafür verantwortlich, dass einige Werte überhaupt entdeckt
werden und andere verborgen bleiben. Insofern sie sind dafür verantwortlich,
dass uns die Welt in einer bestimmten Art und Weise zugänglich ist, und bilden
den Kern unserer Persönlichkeit.
Die Liebe und der Hass werden als Bewegungen verstanden. In ihrer positi-
ven Charakterisierung besteht die Liebe darin, eine Bewegung in der Richtung
des höheren möglichen Wertes zu sein, ohne dass der Wert gegeben würde. Der
Hass ist die Bewegung in der Richtung des niedrigeren Wertes.56 Die Bewegung
muss nicht im Sinne eines strebenden Verhaltens verstanden werden. Es handelt
sich vielmehr um eine Bewegung, die das Höhersein des Wertes des geliebten
Gegenstandes intendiert und somit erst seine Entdeckung ermöglicht. In dieser
Hinsicht sucht die Liebe nicht neue Werte an dem Gegenstand, dies wäre Zei-
chen eines Mangels der Liebe. Wir lieben einen Gegenstand so wie er ist und
mit all seinen Werten und nicht so wie er sein soll.
Dabei wird der Hass immer als defizienter Modus angesehen. Wegen ihrer
Funktion haben die Liebe und der Hass eine Sonderstellung in Schelers ethi-
scher und anthropologischer Theorie. Denn die Liebe macht uns als Menschen
aus, sie bestimmt unseren Zugang zur Welt und sie ermöglicht die Entdeckung
der Werte. Dies gibt der Liebe eine Sonderstellung sowohl im Leben des einzel-
nen Menschen als auch in der Geschichte, denn dank der Liebe können Mensch
und Menschheit sich weiterentwickeln.
Das Thema des Hasses ist bei Scheler eher sekundär, da er die Liebe als viel
breiteres und umfassenderes Phänomen betrachtet als den Hass. Dennoch be-
handelt er den Hass in dem Ressentimentaufsatz von 1912, wo er das Ressenti-
ment als eine Form des Hasses versteht.
Die Sonderstellung der Liebe in der realistischen Phase Schelers wird auch die
spanische Philosophie beeinflussen. Schelers Ideen über die Liebe werden aufge-
nommen, weiterentwickelt, kritisiert und sind Anlass zu eigenständigen Überle-
gungen zu dem Thema von großer Originalität.
56
M. Scheler: Wesen und Formen der Sympathie“. In: ders.: Gesammelte Werke 7. Bern
und München 1973. 9-258; hier 159, auch 191.
Schelers anthropologisches Denken 81
Die Studien zur Rezeption der Phänomenologie in Spanien haben oft den Ein-
fluss von Schelers Konzeption der Gefühle und der Liebe als unwesentlich für
die spanische Philosophie betrachtet.
Ein Blick auf Ortegas Philosophie zeigt jedoch, dass die Liebe den roten Fa-
den seines Werkes bildet. Ortegas Konzeption der Liebe steht unter dem Ein-
fluss verschiedener Traditionen und Autoren: Zu nennen sind die französische
Literatur, Unamuno und die Phänomenologie Pfänders und Schelers. Von
Stendhal lernt Ortega, dass es Lieben gibt, die keine Lieben sind. Die Liebe ist
ein Phänomen, welches nicht der Macht der Täuschung entkommt. Unamuno
beeinflusst Ortegas Idee, dass der Mensch ein fühlendes Wesen ist. Im Gegen-
satz zu Unamuno, der die menschliche Natur durch eine negative und tragische
Affektivität kennzeichnet, platziert Ortega die Liebe allerdings im Kern der Per-
son. Ortega übernimmt außerdem Pfänders Konzeption der Gefühle als Phä-
nomenen mit seelischer Wärme und von Scheler die Idee des ordo amoris, die
Möglichkeit der Scheinlieben und die Idee, dass die Liebe eine Bewegung vom
niedrigen zum höheren Wert ist.
Ortegas Interesse an der Liebe ist im Unterschied zu dem der realistischen
Phänomenologen nicht durch ein ethisches Projekt motiviert, sondern durch ein
anthropologisches. Schon 1914 in den Meditaciones del Quijote versteht Ortega
die Philosophie als Wissenschaft der Liebe im Sinne des amor intellectualis Spi-
nozas. Die Liebe verbindet uns mit der Welt, erweitert unsere Individualität und
macht uns den Wert der Dinge sichtbar.57 Die Idee ist, dass wir dank der Liebe
die Welt verstehen können.
In Ortegas Werk findet sich ein interessanter Beitrag über die Möglichkeit der
Liebestäuschung. In „Die Liebe bei Stendhal“ unternimmt Ortega y Gasset eine
weitere Untersuchung dieses Phänomens. Ortega beginnt mit einer Kritik an
Stendhals Kristallisationstheorie der Liebe. Stendhals Theorie in De L´amour be-
sagt, dass die Liebe ein Verfahren ist, das in verschiedenen Schritten entsteht, als
da sind: 1. Die Bewunderung 2. Das Feststellen der Lust 3. Die Hoffnung
4. Das Erwachen der Liebe 5. Erste Kristallisation, in der der Liebende an die
Vollkommenheiten des Geliebten denkt und meint, ebenfalls geliebt zu werden.
6. Entstehen des Zweifels 7. Zweite Kristallisation, die darin besteht, erneut zu
der Überzeugung zu gelangen, dass man geliebt wird. Die Schritte dienen dazu,
dass das geliebte Wesen neue Vorzüge erhält. Dieses Verfahren soll dem Kristal-
57
J. Marías: Ortega. Circunstancia y vocación. Madrid 1983. 342.
82 Íngrid Vendrell Ferran
58
M. Scheler: Idealismus-Realismus. In: ders.: Gesammelte Werke 9. Bern und München
1976. 183- 242; hier. 213.
59
M. Scheler: Vom Ewigen im Menschen: Reue und Wiedergeburt. In: Gesammelte
Werke 5. Bern 1954. 47-48 und Über Scham und Schamgefühl. In: Gesammelte Werke 10.
Bern 1957. 100
60
J. Ortega y Gasset: Über die Liebe. Meditationen. Stuttgart 1957. 97.
61
Ebd. 104.
Schelers anthropologisches Denken 83
er dörrt ihn aus wie ein glühender Schirokko, er hebt ihn virtuell auf und zer-
stört ihn. Es ist, um es noch einmal zu sagen, nicht nötig, dass dies in Wirklich-
keit geschieht; ich spreche von der Intention, die im Hass liegt, von dem inneren
Tun, das den Hass zum Hass macht.“62 Interessant ist hier, dass Ortega Liebe
und Hass, anders als Scheler, als „Gefühle“ behandelt, wenn er ihnen innerhalb
dieser Klasse auch eine Sonderstellung zukommen lässt. Liebe und Hass sind
„aktive Gefühle“ und als solche unterscheiden sie sich von dem „passiven Ge-
fühl“ etwa der Freude und der Trauer.63 Während diese letzteren Antwortreak-
tionen auf einen Wert sind, machen die aktiven Gefühle Liebe und Hass etwas
mit dem Objekt, auf das sie sich richten, und offenbaren in diesem Sichrichten
etwas von unserer Persönlichkeit.
Auch die Verliebtheit war Gegenstand der Analyse von Ortega y Gasset.
Seine Hauptthese lautet, dass die „Verliebtheit“ ein Phänomen der Aufmerk-
samkeit ist.64 Sich zu verlieben heißt für Ortega, dass die Aufmerksamkeit an
einem Gegenstand hängen geblieben ist. Dadurch verschwindet gleichsam die
Welt und der Gegenstand unserer Aufmerksamkeit bekommt wegen des Ver-
lusts eines anderen möglichen Vergleichspunktes größere Bedeutung. Ohne die-
se Reduktion der Welt, welche etwas von Hypnotismus und Ekstase hat, kön-
nen wir uns laut Ortega nicht verlieben. Im Übrigen ist es hier wichtig
anzumerken, dass diese Fesselung der Aufmerksamkeit laut Ortega nicht nur
bei der Liebe möglich ist, sondern auch bei dem Hass. Er spricht sogar von der
Möglichkeit „sich zu verhassen“, um das Phänomen zu charakterisieren, dass
ein Mensch, obgleich er einen anderen hasst, Interesse an diesem zeigt und seine
Welt sich um das gehasste Objekt herum ordnet. Im Fall der Liebe ist die Re-
duktion der Aufmerksamkeit nicht negativ, denn diese Ausschließlichkeit der
Aufmerksamkeit hebt an dem Gegenstand wichtige Eigenschaften hervor, die
sonst im Dunkel geblieben wären. In der Liebe – so Ortega im Anschluss an
Scheler – werden neue Werte an dem Geliebten entdeckt. Genauso wie Scheler
behauptet Ortega y Gasset, dass diese Art von Aufmerksamkeit einen Mensch
am besten charakterisiert: Sie ist von Mensch zu Mensch unterschiedlich und
offenbart die Richtung seiner Interessen und die Art und Weise, in der der
Mensch der Welt und den Anderen begegnet. So verrate die Liebeswahl den
wahren Charakter eines Menschen, sagt Ortega y Gasset: „Der Menschentypus,
den wir in dem anderen Wesen bevorzugen, kennzeichnet die Beschaffenheit
62
Ebd. In demselben Sinne ist diese Vernichtungsintention des Hasses als konstitutiver
Aspekt dieser Emotion bei Kolnai zu finden. Vgl. A. Kolnai: Versuch über den Hass. In: Phi-
losophisches Jahrbuch 48 (1935). 147-187.
63
Ortega y Gasset: Über die Liebe. A.a.O. 105. Auch 129
64
Ebd. 131.
84 Íngrid Vendrell Ferran
unseres eigenen Herzens“.65 Auch hier wird die Liebe als eine Grundhaltung
verstanden, welche als Kern der Person gilt und den Zugang zur Welt be-
stimmt: „So ist die Liebe ihrem eigenen Wesen nach Wahl. Und da sie aus dem
Kern der Person, aus der Seelentiefe aufsteigt, sind die Auswahlprinzipien, die
über sie entscheiden, zugleich die innersten und geheimsten Wertungen, die un-
seren individuellen Charakter formen“.66 Insofern ist die Partnerliebe eine Wahl
aus der Tiefe unseres Herzens und dies hat die widersprüchliche Konsequenz,
dass die Liebeswahl nicht so frei ist, wie man denkt, sondern dass sie von dem
Grundcharakter des Individuums abhängig ist.67 Das Thema der Liebeswahl ist
bei Ortega sehr wichtig, er verbindet diese Idee mit der Idee Schelers des ordo
amoris. Den ordo amoris versteht er als „ratio essendi“ und „ratio cognoscen-
di“, also als dasjenige, das unsere Persönlichkeit kennzeichnet und unseren Zu-
gang zur Welt bestimmt. Ortega behauptet sogar, dass der ordo amoris jedes
Menschen sich am deutlichsten in der Liebeswahl offenbart.68
In „Para una psicología del hombre interesante“ (1925) finden sich weitere
Erläutungen über die Liebe. Wenn wir jemanden lieben, können wir laut Ortega
das Wesen des anderen intuieren und einschätzen. Dies macht uns auf den An-
deren aufmerksam und neugierig.69
Ortegas Interesse am Thema der Liebe entsteht sehr früh in seinem Werk
und wird im Lauf der Jahre wiederholt von Schelers Thesen beeinflusst. Beide
Autoren verstehen die Gemeinschaft des Menschen in der Liebe als charakteri-
stisch für das menschliche Dasein. Auch wenden sich beide Autoren gegen die
These Kants, dass die Liebe und die Gefühle im Allgemein nicht zur Ethik ge-
hören.70 Trotz dieses Einflusses Schelers auf Ortega und trotz der Parallelen zwi-
schen beiden Autoren gibt es allerdings wichtige Unterschiede.
Ortega wendet seine Aufmerksamkeit der Liebe als zwischenmenschlichem
Gefühl zu und konzentriert sich hauptsächlich auf die Liebeswahl. Dagegen hat
Scheler eine allgemeinere Auffassung der Liebe, die das Phänomen in all seinen
Formen erfassen will. Diese zwei Konzeptionen drücken sich auch in den
Merkmalen aus, die jeder der beiden Autoren der Liebe zuschreibt. Für Scheler
ist es ein Kennzeichnen der Liebe, dass sie sich – egal wie lange sie faktisch an-
hält – den Anspruch der Ewigkeit oder Unendlichkeit erhebt. Ortega hingegen
65
Ebd. 169
66
Ebd. 177.
67
In den Texten María Zambranos über die Liebe kann man m.E. auch einige Ideen Sche-
lers finden, welche diese Autorin wahrscheinlich durch das Werk von Ortega y Gasset impli-
zit übernommen hat.
68
Vgl. Mateo: Los valores en Max Scheler y Ortega. A.a.O. 163.
69
Ortega y Gasset: Obras Completas, IV. 478.
70
M. Durán: Dos filósofos de la simpatía y el amor: Ortega y Max Scheler. In: Revista La
Torre (1956). 114.
Schelers anthropologisches Denken 85
verweist mehrmals auf die Flüchtigkeit der Liebe und behauptet, dass sie ein au-
ßergewöhnliches Phänomen sei. Kennzeichnen der Liebe ist laut Ortega die
Treue zum Schicksal des Geliebten, egal wie tragisch und schwer dieses ist.
Ferner ist Ortegas Konzeption von Luckacs Buch aus dem Jahr 1913 Die drei
Stufen der Erotik geprägt und von der darin enthaltenen Idee, dass die Liebe als
Gefühl in einen historischen Kontext eingerahmt ist. Diese historische Perspek-
tive, welche uns als Lesern des 21. Jahrhunderts mitunter selbstverständlich er-
scheint, war zur damaligen Zeit bei anderen Autoren wie Scheler oder Pfänder
nicht zu finden.
Auch in der Verbindung der Liebe mit den Werten unterscheiden sich Orte-
gas und Schelers Auffassungen. Während der Mensch bei Scheler die Werte
dank der Liebe entdeckt, macht der Mensch bei Ortega mithilfe der vitalen
Vernunft die Werte selbst aus.71
Ein anderer Autor, der in dieser ersten Phase zur Rezeption von Schelers Den-
ken in Spanien beigetragen hat, ist Joaquim Xirau. Xirau entwickelt in L´amor i
la percepció dels valors und ganz besonders in Amor y Mundo eine Theorie der
Liebe und der Wahrnehmung der Werte, die im Einklang mit Scheler steht, bis-
lang allerdings kaum Aufmerksamkeit erhalten hat.72 Xirau folgt Schelers Ideen
über die Liebe und den Hass, welchen letzteren auch Xirau stark mit dem Res-
sentiment verbindet. Xirau versteht die Liebe als so wesentlich für die menschli-
che Natur, dass er sogar behauptet, dass bei einem Absehen von der Liebe auch
Geschichte, Literatur, Kunst, Philosophie und Religion verschwinden: „Unser
geistiges Leben entwickelt sich vollkommen in der Sphäre der Liebe.“73 Metho-
dologisch arbeitet er sehr nah an der Phänomenologie, indem er die Liebe zu-
nächst ex negativo definiert und danach ihre Wesensmerkmale systematisch
herausarbeitet. Nach einer Untersuchung unterschiedlicher Konzeptionen der
Liebe in Heidentum, Christentum und im Positivismus entwickelt er seinen ei-
genen Beitrag, der explizit an Scheler orientiert ist. Xirau fragt „Was ist die Lie-
be?“74 und stellt zunächst die mannigfaltige Bedeutung dieses Wortes fest, wel-
che sowohl die unterschiedlichen Phänomene, die man als Liebe bezeichnet, als
auch die vielfältigen Qualitäten, in denen die Liebe auftritt, betrifft (Vaterliebe,
71
Im selben Sinne auch Durán. A.a.O. 115.
72
Das Buch Amor y Mundo wurde als Liebe und Welt 2007 von Charlotte Frei ins Deut-
sche übersetzt.
73
J. Xirau: Amor y Mundo y otros escritos. Barcelona 1983. 15 (eigene Übersetzung).
74
Ebd. 89.
86 Íngrid Vendrell Ferran
75
Ebd. 119.
76
Ebd. 90, 94, 114, 118.
77
Ebd. 90.
78
Ebd. 98.
79
Der Begriff „ilusión“ ist eine Besonderheit der spanischen Sprache. Marías hat das Phä-
nomen untersucht und dabei der Liebe ein eigenes Kapitel gewidmet. Vgl. J. Marías: Breve
tratado de la ilusión. Madrid 2006.
80
Ebd. 108.
81
Scheler: Wesen und Formen der Sympathie. A.a.O.
82
Xirau: Amor y Mundo y otros escritos. A.a.O. 105.
Schelers anthropologisches Denken 87
metrische Gegenpole handelt. Diese Asymmetrie wurde auch von Scheler und
Kolnai angedeutet.83 Xirau behauptet nun, dass die Liebe auch den Hass um-
fasst, während das Ressentiment die Liebe ausschließt. Soll dies bedeuten, dass
in der Liebe auch Hass steckt? Dies wäre gegen Kolnais These, dass es eine
hassfreie Liebe möglich ist, und würde Xirau in die Nähe von psychoanalyti-
schen Positionen stellen. Sind Liebe und Hass gegenüber ein und demselben
Objekt gleichzeitig möglich? Die Möglichkeit von ambivalenten Gefühlen hat
auch andere Phänomenologen beschäftigt.84 Diesbezüglich meint Xirau, dass in
dem Phänomen der „Verliebtheit“ Liebe und Hass sich gegenseitig nähren; be-
sonders, weil hier die Liebe mit der Sexualität und dem Begehren zusammen
auftritt. Allerdings wird diese These Xiraus nicht explizit ausformuliert und er-
läutert, und der Leser kann hier nur Raum für eigene Interpretation finden. In
Xiraus Position scheint mir implizit die These einer Trennung zwischen ver-
schiedenen Liebesarten zu liegen, die ihre Tradition in der Geschichte der Philo-
sophie und der Psychologie hat. Zum einen gibt es demnach die Liebe als Hin-
gabe zu dem anderen, welche die Tradition als amor benevolentiae bezeichnet
hat. In dieser Liebe versteht sich das Subjekt als in Kommunion mit dem Objekt
seiend oder übersteigt sogar sein eigenes Ego in dessen Richtung. Zum anderen
aber gibt es dieser Auffassung nach die Liebe als Begehren, welche oft das Phä-
nomen der Verliebtheit charakterisiert und als amor concuspitiae in der Traditi-
on zu finden sei. Das Subjekt versucht hier das Objekt zu besitzen und zu er-
obern, so dass zwischen den Polen des Subjekts und Objekts eine Distanz
besteht. Es ist eben diese Distanz, welche die Möglichkeit des Hasses eröffnet.
Dies aber bleibt in Xiraus Postulat einer Nähe zwischen Liebe und Hass unent-
wickelt.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die erste Phase der Rezeption von
Schelers Anthropologie in Spanien von den frühen Texten Schelers ausgeht.
Durch Übersetzungen und kritische Aufnahme von Schelers Thesen wird seine
Anthropologie in Spanien verbreitet. Insbesondere drei Themenbereiche finden
in Spanien viel Beachtung: Schelers Intersubjektivitätstheorie, seine Werttheorie
und die Emotionsanalysen. Bei letzteren erhält das Thema der Liebe eine be-
sondere Aufmerksamkeit. Wir können ohne Zweifel von einer Rezeption Sche-
lers frühen anthropologischen Denkens in Spanien sprechen, in der die Liebe
und ihre Verbindung zu den Werten eine starke Aufmerksamkeit erhalten.
83
Scheler: Ordo Amoris. A.a.O. Kolnai: Versuch über den Hass. A.a.O.
84
Kolnai: A.a.O.