Sie sind auf Seite 1von 509

Inhaltsübersicht

Das Buch
Der Autor
Yanok
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Phase 1 Wave
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Kapitel 61
Kapitel 62
Kapitel 63
Kapitel 64
Kapitel 65
Kapitel 66
Kapitel 67
Kapitel 68
Kapitel 69
Kapitel 70
Yanok
Die wichtigsten Protagonisten in alphabetischer Reihenfolge (Teil 1 und
2)
Leseproben Teil 2
Danksagungen
VIRUS – Der letzte Anschlag im Internet
Die Krimiserie des Autors im Emons Verlag
Auch wenn in diesem Roman handlungsbedingt einige Persönlichkeiten
des öffentlichen Lebens vorkommen, sind alle anderen geschilderten
Handlungen und Personen frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder
verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.
Das Buch
AURORA – eine weltweit tätige Stiftung gibt vor, die Menschheit vom
Terror zu befreien. Aber wer steckt wirklich hinter AURORA? Ein elitärer
Kreis selbsternannter Weltverbesserer? Oder doch die GESA, die
Gesandten Allahs? Nichts scheint unmöglich, während die Welt mehr und
mehr im Chaos versinkt!

VIRUS – Der letzte Anschlag. Verstörend. Realistisch. Verstörend


realistisch.
Der Autor
Burkhard Rüth, Jahrgang 1965, wurde in Hagen/Westfalen geboren. Er
studierte Wirtschaftswissenschaften und war viele Jahre als freiberuflicher
Berater und Fachautor tätig, bevor er sich ganz dem Schreiben widmete.
Seine Begeisterung für die Bergwelt Südtirols und für spannungsgeladene
Literatur schlägt sich in der Südtirol-Krimireihe um Commissario
Vincenzo Bellini nieder (Emons Verlag). Dieser wird auf der gar nicht so
beschaulichen Südseite der Alpen mit Tätern konfrontiert, die ihn und sein
Ermittlungsteam bis an die persönlichen Grenzen und darüber hinaus
führen. Ebenfalls im Emons Verlag ist Rüths Emslandkrimi
„Sterbenslang“ erschienen. Rüth lebt mit seiner Familie in Kiel.
Und erschlagt die Ungläubigen, wo immer ihr auf sie stoßt,
und vertreibt sie, von wannen sie euch vertrieben; denn Verführung zum
Unglauben ist schlimmer als Totschlag.
Sure 2, Vers 191

Woher kommt Streit und Krieg unter euch?


Kommt's nicht daher: aus euren Wollüsten, die da streiten in euren
Gliedern?
Jakobus 004, 001

Ground Zero = Bodennullpunkt


Ort der Atomexplosion bei einer Detonation auf, über oder unter
dem Boden.
Überlebenschance im Ground Zero: null Prozent.
Yanok
„Ich heiße Yanok und lebe in einem Inselparadies. Naja, Paradies trifft es
nicht so ganz. Nicht mehr. Früher war es ein Paradies. Aber die Realität
hat auch uns eingeholt. Eine Realität, die wir uns in unseren kühnsten
Träumen nicht hätten vorstellen können, die für uns ganz weit weg zu sein
schien. Ein verhängnisvoller Irrtum. Ich möchte allen Menschen, die noch
leben, von diesem Irrtum erzählen.
Als Warnung.
Denn die Menschheit hat versagt!
Ich habe diese Geschichte zu Papier gebracht und erzähle sie schon
bald meinem Sohn, so wie auch viele andere meines Stammes ihren
Kindern davon erzählen werden. Damit sie ihr Wissen mit der nächsten
Generation teilen können. Denn nur, wenn die Wahrheit stets bewahrt
wird, kann der Mensch der Zukunft vielleicht aus den Fehlern des
Menschen der Vergangenheit lernen.
Ich stehe an unserem traumhaften Strand und blicke wehmütig über
das Meer. Ich muss meine langen, angegrauten Haare zurückstreichen,
weil der Wind sie mir ins Gesicht weht. Die Sonne versinkt träge im
Ozean. Sie verleiht den dünnen, unnatürlichen Schleierwolken, die den
Himmel, von Norden kommend, wie ein Fächer überziehen, ein
Farbspektrum zwischen rosa und tiefrot. Diese Stimmung verstärkt meine
Melancholie. Mit ihrem wiederkehrenden, beruhigenden Geräusch laufen
die Wellen des türkisfarbenen Wassers gleichmäßig auf dem feinen, fast
weißen Sand auf. Unser Strand ist fünfzig, an einigen Stellen sogar bis zu
zweihundert Meter breit. Palmen säumen den Übergang in den Wald,
hinter dem sich ein Gebirge erhebt.
Auch wenn es in der letzten Zeit immer kühler geworden ist und sich
die Vegetation allmählich in tiefer gelegene Regionen zurückzieht, reicht
sie immer noch bist fast auf die Gipfel der ersten Gebirgskette hinauf. Erst
auf den größten Höhen der zweiten Gebirgszone kann man die
Veränderung mit bloßem Auge erkennen. Wo bislang nur Wald die Höhen
bedeckte, bildet sich allmählich die erste tundraartige Vegetation und
manchmal fällt sogar Schnee, der die höchsten Lagen wie Puderzucker
überzieht. Irgendwann verschwinden sicherlich auch die Palmen. Dennoch
scheint meine Welt immer noch ein Paradies auf Erden zu sein.
Doch der Schein trügt.
Es ist einsam an meinem Strand. Nur meine Familie, eine Schar
anderer Stammesangehöriger, ein alter Bekannter und einige der Fremden
verteilen sich über das weitläufige Gelände. Ich kann mir gar nicht mehr
vorstellen, dass vor nicht allzu langer Zeit an diesem kleinen, entlegenen
Küstenabschnitt noch ein munteres Treiben herrschte. Weit entfernt von
größeren Ansiedlungen oder gar Städten galt meine Heimat unter
Urlaubern als Geheimtipp für die Suche nach den letzten Paradiesen auf
Erden. Der nächste internationale Flughafen war vierhundert Kilometer
entfernt. Man konnte die Insel nur mit kleinen, einmotorigen
Propellermaschinen erreichen, deren Piloten die Landung auf dem
winzigen Flughafen ein hohes fliegerisches Können abverlangte. Touristen
bevölkerten den kleinen Strand, Wassersportler das Meer. Der nervende,
ohrenbetäubende Lärm der Jetskifahrer war oft bis ins Gebirge hinein zu
hören. Er zerschnitt die Stille wie ein scharfes Messer ein dünnes Blatt
Papier.
In unserem kleinen Ort gab es nur wenige Hotels, die immer
ausgebucht waren. Am Strand schmiegten sich einige Bars unter den
Schutz der Palmen. Manchmal, vor allem in den Abendstunden, spielte der
Barkeeper irgendeine Chillout Musik. Eben das, was den Leuten gefiel. Ich
und die meisten anderen Einwohner wollten diese Touristen eigentlich
nicht. Sie störten unser ruhiges und friedliches Leben. Diese Menschen,
ihre Flugzeuge und Jetskier verbreiteten Krach und Hektik. Doch die
Regierung unseres Mikrostaates meinte, dass die Touristen viel Geld
brächten. Außerdem hatten die Politiker nur kleine, ausgewählte Zonen für
eine solche Nutzung freigegeben. Der Rest war zum Naturschutzgebiet
erklärt worden, das die Gäste nur unter Führung eines Einheimischen
erkunden durften.
In dieser unruhigen Zeit habe ich, wie die meisten
Stammesangehörigen, mit meiner Familie zurückgezogen in den Bergen
gelebt. Aber nach der Stunde null war der Strand wieder ganz allein unser
Strand. Außerdem ist es hier unten wärmer. Für das immer rauere Klima in
den Bergen reichen unsere einfachen Behausungen allmählich nicht mehr
aus.
Wir haben ein Lagerfeuer gemacht, über dem wir heute Abend den
Schwertfisch grillen, den ich zusammen mit einigen Männern gefangen
habe. Der Schwertfisch gehört zu den wenigen Gewinnern der Apokalypse.
Er lebt im Schutz der Ozeane und verträgt Wassertemperaturen zwischen
fünf und siebenundzwanzig Grad. Ihm macht es nichts aus, dass sich große
Teile der Ozeane derzeit wieder abkühlen. Deshalb wird dieser Fisch
immer wichtiger für mich und mein Volk. Denn während sein Bestand
gleichbleibt, verschwinden in beängstigendem Tempo immer mehr Arten
von der Bildfläche, vor allem an Land. Merkwürdig ruhig ist es deshalb
geworden. Einsam und ohne Leben. Manchmal fast unheimlich.
Eine andere Welt. Eine ungewisse Welt. Und eine ungewisse
Zukunft.
Bevor die ersten Touristen kamen, haben wir vom Fischfang gelebt.
Schwertfisch jagten wir traditionell mit der Harpune. Als die Nachfrage
wegen der steigenden Gästezahlen immer größer wurde, legten sich jedoch
einige der Fischer moderne Boote zu und jagten den Schwertfisch, von
jeher eine der Delikatessen der Region, mit der Langleine. Als die erste
Cessna landete, hatte auch ich erwogen, mir ein geeignetes Boot zu kaufen
und den Hotels meinen Fisch anzubieten. Doch ich habe mich bewusst für
ein klassisches Leben entschieden. Ein Leben in und mit der Natur, mit
meinem Stamm und ohne Streben nach Geld und Ruhm. Heute zeigt sich,
wie weise diese Entscheidung war.
Tja, wo soll ich nur anfangen? Meine Geschichte ist so lang.
Sie hat nur ein Ende, aber so viele Anfänge.
Zum Beispiel in einer kleinen, abgelegenen Stadt im Fernen Osten
Russlands. Einer Stadt, die im Winter in Schnee und Eis versank. Wer
weiß, zu welchen Gedanken Winterdepressionen bei einem empfänglichen
Menschen führen können, der seinem Land ewige Treue geschworen hat...“
Kapitel 1
Vilyuchinsk, Herbst 2014
Der russische U-Boot-Stützpunkt Vilyuchinsk lag im Süden der Halbinsel
Kamchatka, neuntausend Kilometer östlich von Moskau. Es gab keine
Straßenverbindung zum russischen Festland. Die Insel, auf der es seit der
Perestroika wirtschaftlich bergab ging, war nur per Hubschrauber oder
Schiff zu erreichen. Obwohl größer als Deutschland, lebten dort nur
vierhunderttausend Menschen, verteilt auf viele unterschiedliche
Volksgruppen. Rund die Hälfte der Einwohner lebte in Petropavlovsk, der
Hauptstadt Kamchatkas, siebzig Kilometer nordöstlich des Stützpunktes.
Die dünne Besiedlung hatte viele Gründe. Das extreme Klima, mit
kurzen milden Sommern und langen eisigen Wintern mit Temperaturen
unter minus dreißig Grad und Schneestürmen, die die Schneedecke bis auf
zehn Meter anwachsen ließen. Vulkanausbrüche und Erdbeben. Nirgendwo
auf der Erde gab es so viele aktive Vulkane. Insgesamt neunundzwanzig,
mit rund sechs Ausbrüchen pro Jahr. Dadurch, dass die Halbinsel sich
jahrzehntelang abgeschottet hatte, gab es immerhin eine intakte Fauna und
Flora.
Wenig tröstlich für Kapitän Alexej Sergeewitsch Koroljow, der für
weniger Vulkane und Kälte, aber mehr Abwechslung gerne auf ein wenig
Fauna und Flora verzichten würde. Immerhin gab es auf Kamchatka guten
Kaviar. Ein kleiner Trost für die vielen Entbehrungen.
Auf dem abgelegenen Stützpunkt war ein Geschwader Strategischer
Atom-U-Boote der Projekte 971, Codename Akula, 949, Codename Oscar
und 667BDR, Codename Kalmar, stationiert. Die Boote der Akula-Klasse
waren mit einer Länge von hundertzehn Metern die kleinsten. Ihre
Besonderheit bestand darin, dass sie mit RK-55 Marschflugkörpern
bestückt werden konnten, die, neben konventionellen Sprengköpfen, auch
taktische Kernsprengköpfe tragen konnten, die aus einer Tiefe von
zweihundert Metern abgefeuert werden konnten.
Außerdem war die Akula-Klasse besonders leise. Denn Geräusche
waren der größte Feind eines U-Bootes. Jede Pumpe, jede Maschine
erzeugte Geräusche, die sich als Vibration über den Bootskörper ins
Wasser übertrugen und auch in großen Entfernungen zu hören waren.
Selbst kleinste Unregelmäßigkeiten der Bootshülle konnten zu
verräterischen Wasserverwirbelungen führen. U-Boote mussten jedoch
unentdeckt operieren, um jederzeit Überraschungsangriffe starten zu
können. Abschussbasen an Land waren ortsfest. Jede Nation wusste, wo
sich die Raketen der anderen befanden. Luftabwehrsysteme konnten sich
gut darauf einstellen.
Die große Unbekannte, die heimlichen Kronjuwelen der
strategischen Kriegsführung, waren die Atom-U-Boote der Russen,
Amerikaner und Europäer. Auch die Chinesen hatten Atom-U-Boote, doch
es war nicht bekannt, wo sie gebaut wurden und über welche
Waffensysteme sie verfügten. Die Amerikaner berichteten, dass China seit
Kurzem über Atom-U-Boote der Shang-Klasse verfügte. Die genaue
Anzahl war unbekannt. Außerdem gab es Gerüchte, dass China U-Boote
der Jin-Klasse in Betrieb genommen hatte, deren Raketen bei Reichweiten
von siebentausendzweihundert Kilometern jeden Gegner erreichen
konnten.
Jedes Atom-U-Boot verfügte über das atomare Potenzial, die
Menschheit auszulöschen.
Während Kampfjets, Flugzeugträger und Panzer zur Demonstration
militärischer Stärke genutzt und der Öffentlichkeit präsentiert wurden,
waren Strategische Atom-U-Boote streng geheim und nur in abgelegenen
Regionen stationiert. Die Amerikaner verfügten über zwei Stützpunkte.
Die Basis der Atlantikflotte befand sich in Kings Bay im US-Staat
Georgia, die der Pazifikflotte in Bangor/Washington. Headquarter war das
Pentagon.
Russland hatte ebenfalls zwei Stützpunkte. Die Pazifikflotte lag in
Vilyuchinsk mit Headquarter in Wladiwostok, die Atlantikflotte in
Gadzhiyevo mit Headquarter in Severomorsk. Lautlos konnten die U-
Boote bis zu sechshundert Meter tief tauchen, die im April 1989 nach
einer Explosion des Treibstoffs einer Rakete gesunkene K-278
Konsomolez sogar bis zu eintausend Meter. Bei Geschwindigkeiten von
dreißig Knoten und mehr, sowie der Fähigkeit, wochenlang ohne
Unterbrechung zu tauchen, waren sie in der Lage, in kurzer Zeit und vom
Gegner unbemerkt auch weit entfernte Zielregionen zu erreichen. Ihre
Reichweite war aufgrund des Nuklearantriebs unbegrenzt.
Koroljow war Kommandant der Podolsk mit hundertfünfunddreißig
Mann Besatzung. Ihr Herzstück waren sechzehn Interkontinentalraketen,
die mit einem, drei oder sieben Nuklearsprengköpfen bestückt werden und
nicht nur Flächenziele wie Städte oder Hafenanlagen ansteuern konnten,
sondern auch stationäre Kleinziele wie Kommandobunker oder
Atomkraftwerke. Oder das Weiße Haus. Ihre Reichweite betrug bis zu
neuntausend Kilometer.
Besonders stolz war Kapitän Koroljow jedoch auf den D-9R-
Raketenkomplex seines U-Bootes, mit dem er alle Raketen in einer
einzigen Salve abfeuern konnte! Ihn überkam ein wohliger Schauer, wenn
er sich ausmalte, was von einem Ziel übrig blieb, wenn alle Raketen seiner
Podolsk nur mit dem einen Sprengkopf bestückt waren, mit einer
Sprengkraft von 0,45 Megatonnen. Little Boy, die Hiroshima-Bombe,
brachte es gerade mal auf dreizehn Kilotonnen. Sechzehn mal 0,45
Megatonnen auf ein Ziel. Exitus. Alles Leben in einem Umkreis von
hunderten von Kilometern ausgelöscht. Aus und vorbei. Dann kam die
Strahlung, die den Gegner auch in großen Entfernungen schleichend befiel.
Koroljow legte seine Uniform ab. Ab heute hatte er Urlaub. In
diesem Jahr würde er nicht mehr mit der Podolsk auslaufen. Für den Rest
des Jahres standen Routine- und Wartungsarbeiten auf dem Programm.
Und die üblichen Leistungs- und Stresstrainings. Der Winter stand vor der
Tür. Vor einigen Tagen hatte es zum ersten Mal geschneit. Nicht viel, keine
dreißig Zentimeter. Aber die Temperaturen hatten seitdem den
Gefrierpunkt nicht mehr überschritten.
Sieben Monate Winter standen bevor. Sieben Monate Schnee und
Frost. Gefangen im Eis. Wie er das hasste! Es gab nur einen Ort, an dem er
sich zuhause fühlte: die Podolsk. Aber sie benötigte mehr
Wartungsarbeiten als früher. Deshalb durfte er während der Wintermonate
nicht mehr mit ihr auf Tauchfahrt gehen. Die Führung hatte ihm sogar ein
anderes Boot angeboten. Aber das hatte er abgelehnt. Die Podolsk war
nicht irgendein U-Boot. Die Podolsk war sein U-Boot! Seine Heimat. So
etwas tauschte man nicht einfach ein.
Koroljow lebte allein. Zu mehr als kurzlebigen Affären war er nicht
fähig. Und mehr ließ sein Beruf auch nicht zu. Aber mit Zivilisten konnte
er ohnehin nichts anfangen. Seine Welt waren die Tiefen der Ozeane.
Diese wahre Liebe konnte er mit keiner Frau teilen, die sich nach einem
warmen Heim, Kindern und einem Versorger sehnte. Typische Bedürfnisse
verweichlichter Zivilisten. Koroljow konnte diese Liebe nur mit denen
teilen, die wie er in den Meeren zuhause waren.
Mit einem verband ihn seit der Kindheit eine enge Freundschaft:
Flottenadmiral Dmitrij Michajlowitsch Tschechow, ranghöchster Offizier
Russlands und Koroljows Vorgesetzter. Sie konnten gut damit umgehen,
dass der eine den anderen befehligte. Denn sie hatten dieselben Ideale.
Wenn sie sich, so wie heute, trafen und Wodka tranken, führten sie
stundenlange Gespräche. Koroljow war mit Mitja nach der Schule zur
Marine gegangen.
Mitja verfügte über zwei Eigenschaften im Übermaß: Disziplin und
Durchsetzungsvermögen. Damit hatte er sich gegen Dedowschtschina, die
Misshandlung neuer Rekruten, behauptet.
Schon als Kind wusste er, dass er zur Marine gehen würde. Und weil
er auch wusste, was ihn dort erwartete, hatte er ein hartes Sportprogramm
absolviert und sich bei einer Karateschule angemeldet. Koroljow konnte
sich gut an die vielen Nachmittage erinnern, als er Mitja fragte, ob er Lust
hatte, Fußball zu spielen oder eine Tour mit den Langlaufskiern zu
machen. Mitja hatte immer Lust. Aber niemals Zeit. Er musste trainieren.
Für seine Mission.
In der Schule war er ein gefürchteter Außenseiter gewesen. Doch
Koroljow hatte ihn von Anfang an bewundert. Mitja war für ihn schon
damals ein Vorbild gewesen. Und der Einzige, mit dem er sich austauschen
konnte. So war ihre ungewöhnliche Freundschaft entstanden. Manchmal
hatten sie nebeneinander am Strand gesessen und auf das Meer
hinausgeschaut. Irgendwann war Mitja aufgesprungen, hatte auf das Meer
gezeigt und gesagt: „Aljoscha, eines Tages werde ich mit meinem Boot in
diesem Ozean tauchen.“ Dann war er zum Training gegangen.
Koroljow hatte da noch keine Pläne geschmiedet. Seine Eltern,
inzwischen beide tot, waren Pazifisten gewesen und hatten seine späteren
Pläne torpediert, wo es nur ging. Pläne, die er allein Mitja verdankte.
Koroljow war gerade fünfzehn geworden, die Ferien hatten begonnen, als
Mitja ihn einlud, ihn ein paar Tage bei seinem Trainingsprogramm zu
begleiten. Anfangs hatte Koroljow geglaubt, dass Mitja bewundert werden
wollte. Doch die Wahrheit war, dass Mitja das versteckte Potenzial in
seinem Freund erkannt hatte, bevor der selbst auch nur eine Ahnung davon
hatte.
Es war gekommen, wie es kommen musste: Aljoscha war die ganzen
Ferien dabei geblieben. Und hatte nicht nur zugeschaut, sondern schon am
dritten Tag mitgemacht. Danach war er ein anderer Mensch gewesen. Am
letzten Abend der Ferien hatten sie beschlossen, nach der Schule
gemeinsam zur Marine zu gehen. Eine Tragödie für seine Eltern. Aber das
war ihm egal. Er hatte mit dieser Friede-Freude-Eier-Mentalität nie etwas
anfangen können. Als sein Vater viel zu früh einem Herzinfarkt zum Opfer
fiel, warf ihm seine Mutter vor, dass er für den Tod seines Vaters
verantwortlich war.
Koroljow betrachtete ein letztes Mal seine Podolsk. Unvorstellbar,
monatelang nicht an Bord zu sein. Er sehnte den Tag herbei, an dem
Tschechows neuer Einsatzbefehl kam. Der Befehl, der ihm sagte, in
welches Zielgebiet er mit der Podolsk fahren durfte. Vielleicht in die
Ostsee, um gegenüber der NATO militärische Stärke und
Selbstbewusstsein zu demonstrieren.
Die Vorwürfe seiner Mutter hatten ihn kalt gelassen. Sein Vater war
an seiner Schwachheit gestorben. Vielleicht auch am Suff. Oder an
beidem. Wer wusste das schon. Als die Schule endlich vorbei war,
meldeten Mitja und er sich bei der Marine. Und dort sollte sich zeigen,
dass sie trotz ihrer gemeinsamen Ideale aus unterschiedlichem Holz
geschnitzt waren.
Koroljow verließ den Hangar. Eine bleigraue Wolkendecke hatte sich
über das Land gelegt, leichter Schneefall setzte ein. Er konnte nicht
einschätzen, ob es noch kälter geworden war, oder ihm das wegen des
zunehmenden Windes nur so vorkam. Sieben Monate Tristesse. Hier gab
es nichts. Ein verlorener Ort. Umgeben von Bergen und Tundra. Einzige
Lichtblicke waren seine Treffen mit Mitja, sein Sport und seine Skitouren.
Und abends Sauna und danach Wodka am Kamin. Der wärmte nicht nur
von innen, sondern half auch, sieben Monate Winterdepression zu
überwinden. Er ging zu seinem Auto, tief in Gedanken versunken.
In der Grundausbildung gingen schon bald die befürchteten
Schikanen und Misshandlungen der Dienstälteren los. Dedowschtschina,
die Herrschaft der Großväter. Ein Phänomen, das sich bis in die Zarenzeit
zurückverfolgen ließ und jedes Jahr bis zu dreitausend russische Soldaten
das Leben kostete. Denn die Großväter beließen es nicht bei erzwungenen
Diensten wie Stiefelputzen oder Wodka besorgen. Knochenbrüche und
Prellungen waren an der Tagesordnung. Und Todesfälle.
Im Januar 2006 hatte der spektakuläre Fall des Andrei Sergejewitsch
Sytschow weltweit für Schlagzeilen gesorgt. Sytschow war mitten in der
Nacht von betrunkenen Unteroffizieren aus dem Bett gerissen und an einen
Stuhl gefesselt worden. Er wurde gezwungen, drei Stunden lang in dieser
Haltung nur auf den Zehenspitzen zu stehen. Er wurde geschlagen und
vergewaltigt. Dem Tode nah kam er in eine Klinik, wo ihm beide Beine,
die Genitalien und ein Teil eines Fingers amputiert werden mussten. Trotz
Anklage gingen die Täter straffrei aus. Zwar gab es eine öffentliche
Debatte über Dedowschtschina, aber geändert hatte sich nichts. Immer
noch desertierten hunderte von Soldaten.
Doch Mitja und er wollten nicht desertieren!
Koroljow hörte den Schnee unter seinen Schuhen knirschen. Der
Wind trieb ihm feine Schneekristalle wie Nadelstiche ins Gesicht. Er zog
sich seinen Schal bis über die Nase. In der Abenddämmerung umfing ihn
tiefe Stille. Nur seine Schritte, der Wind und das feine Rauschen des
Schnees waren zu hören. Einer der wenigen Momente, in denen sich
Koroljow nach einer Familie sehnte. Mit sechsunddreißig war es noch
nicht zu spät. Er käme nach Hause, seine Kinder stürmten auf ihn zu, seine
Frau begrüßte ihn mit einem Wodka und einem Kuss, im Kamin loderte
ein Feuer.
Und dann?
Ein paar Monate würde ihm das gefallen, er würde sich zuhause
fühlen. Und geborgen. Doch spätestens, wenn der Winter vorbei war,
würde er sich wieder nach seiner Podolsk sehnen. Nein, das war kein
Leben für ihn, mochte der Winter auch noch so hart sein.
Er schloss seinen alten Lada auf, warf die Aktentasche auf den
Rücksitz und wollte den Motor starten. Nichts. Nicht einmal ein Gurgeln.
Schon wieder ließ ihn diese Rostlaube im Stich. Koroljow zog sein Handy
aus dem Mantel, suchte Mitja in den Kontakten und wählte.
„Aljoscha, wo steckst du?“
Koroljow berichtete seinem Freund von seinem Missgeschick und
bat ihn, ihn abzuholen.
„Natürlich, ich mache mich sofort auf den Weg. Ich habe einen
besonders guten Wodka besorgt. Und extra für dich eine köstliche
Tchebureki gemacht. Aber vorher gehen wir in die Sauna. Genau das
Richtige bei dieser Kälte. Dabei können wir uns in Ruhe unterhalten. Es
gibt interessante Neuigkeiten! In spätestens einer Stunde bin ich bei dir.“
Koroljow verstaute das Handy in der Manteltasche. Er ließ den Blick
über die verschneite Landschaft schweifen. Interessante Neuigkeiten, das
hörte sich gut an. Vielleicht ein Sondereinsatz, der ihm diesen miesen
Winter ersparte. Und die destruktiven Gedanken in der Einsamkeit seines
Hauses.
Er öffnete das Handschuhfach und holte den Flachmann mit dem
Wodka heraus. Er trank einen großen Schluck. Der Alkohol brannte
angenehm in der Kehle und verbreitete eine wohltuende Wärme in seinem
Inneren. Sollte die alte Dreckskarre doch hier vor sich hin rosten! Er freute
sich auf Mitja!
Nein, Mitja und er hatten nicht desertiert. Aber ohne Mitja hätte er
es wohl getan. Sie waren noch keine Woche in ihrem gemeinsamen
Ausbildungslager gewesen, als jeweils drei Unteroffiziere sich Mitja und
ihn vornahmen. Sie wurden in zwei nebeneinander liegende Stuben
gezerrt. Koroljow hatte nicht einmal Angst. Weder vor diesen Idioten noch
vor den Schmerzen. Solche Gefühle waren ihm fremd. Aber er wollte seine
Ziele nicht auf diese Weise erreichen. Als ihn zwei der Unteroffiziere
packten, versetzte er dem Größeren ansatzlos einen Leberhaken.
Mitja hatte ihm beigebracht, dass man sich immer zuerst den
Anführer aussuchen musste. Wenn man ihn besiegte, gaben die anderen
auf. Diese Unteroffiziere aber nicht. Indem der Mann stöhnend zu Boden
ging, spürte Koroljow auch schon einen Schlag in den Rücken. Einer der
anderen hatte mit einem Stuhl zugeschlagen. Koroljow durchfuhr der
Schmerz wie ein Messerstich. Er war zu keiner Bewegung fähig. „Jetzt
machen wir dich fertig“, sagte der Stuhlschläger mit sadistischem Blick.
Doch vor ihrem ersten Schlag ertönten aus dem Nebenzimmer laute
Schmerzensschreie. Die drei Unteroffiziere, der Anführer hatte sich schon
wieder von dem Leberhaken erholt, grinsten. „Hör es dir nur an. Mit dir
geschieht jetzt dasselbe wie mit deinem Freund. Damit ihr gleich wisst,
wo euer Platz in der Rangordnung ist.“
Auch Koroljow hatte befürchtet, dass Mitja brutal
zusammengeschlagen wurde. Einer der Unteroffiziere holte gerade zu
einem Schlag aus, die beiden anderen hielten ihn fest, da flog die Tür auf.
Im Türrahmen erschien Mitja. Er ging langsam und ohne ein Wort in die
Stube, schloss die Tür hinter sich und verprügelte die drei Unteroffiziere.
Keine Schläge gegen den Kopf oder ins Gesicht. Kein Blut. Mitja wusste,
was er tat. Einer der Männer versuchte, nach seinem AK 47 zu greifen,
doch Mitja war schneller. Er packte das Sturmgewehr und rammte seinem
Gegner den Kolben in den Unterleib.
Nachdem das Spektakel vorbei war, es hatte keine zwei Minuten
gedauert, baute er sich über den stöhnenden Männern am Boden auf und
sagte ruhig und ohne jegliche Aggression: „Ab sofort gibt es in dieser
Einheit keine Misshandlungen mehr. Und ich verspreche euch: Wenn einer
von euch singt, ist er erledigt. Ihr habt es hier und jetzt selbst in der Hand,
wie es weitergeht.“
Das war alles. Mitja hatte Koroljow zugenickt und sie waren
gegangen, als wäre nichts geschehen. Weder zeigte er die Unteroffiziere an
noch sie ihn. Nie wieder gab es Übergriffe von Großvätern. Denn Mitjas
Auftritt sprach sich schnell herum. Für viele Soldaten war er ein Held. Ein
Symbol für den Widerstand gegen die Dedowschtschina.
Mitja machte eine steile Karriere und ließ Koroljow weit hinter sich.
In seiner Truppe herrschten Disziplin und gegenseitiger Respekt.
Dedowschtschina war schon bald Geschichte. Und mit der Förderung
seines Freundes schaffte es Koroljow bis zum Kommandanten dieses
großartigen U-Bootes.
Inzwischen war es fast Nacht. Koroljow stierte in die Dunkelheit.
Der Schnee fiel immer dichter auf die Windschutzscheibe. Er blieb kaum
liegen, weil der Wind ihn sofort von der glatten Fläche blies. Koroljow sah
seinen eigenen Atem. Er begann zu frösteln. Dagegen half nur Wodka.
Wenn er doch bloß einen richtigen Einsatz mit seiner Podolsk fahren
dürfte. Kein Manöver. Kein sinnloses Auf- und Abtauchen. Dieses
wahnsinnig befreiende und erregende Gefühl, ein reales Ziel anzugreifen.
Rom. Paris. Oder gar New York. Koroljow wusste um die potenziellen
Opfer seiner Waffen, doch sie waren für ihn nur etwas Abstraktes. Er hatte
keinerlei Beziehung zu ihnen. Und würde er jemals ein solches Ziel
angreifen, dann hätte er es auch mit einem konkreten Feind zu tun.
Russland wurde mit einem sich rasant entwickelnden globalen
Umfeld konfrontiert. Und dieses Umfeld richtete sich gegen sein Land.
Die EU-Osterweiterung war eine reale Bedrohung. Völlig zu Recht hatte
Putin auf der Internationalen Sicherheitskonferenz vor einigen Jahren die
Ausweitung der NATO nach Osten als ernste Provokation bezeichnet. Und
als auch noch Überlegungen angestellt wurden, der Ukraine und Georgien
eine NATO-Mitgliedschaft anzubieten, erklärte Putin, dass die Ausweitung
eines anderen Militärblocks, direkt an die Grenzen des Russischen
Reiches, eine Bedrohung der Sicherheit Russlands darstellte.
Unbeirrt errichteten die Amerikaner indes Radarstationen in
Tschechien und Abwehrstellungen in Polen.
Das provozierte Gegenmaßnahmen seines Landes. Für Koroljow
höchst erfreuliche Gegenmaßnahmen. Denn vor einiger Zeit wurde die
Verstärkung und Modernisierung der Streitkräfte und des
Atomwaffenarsenals beschlossen. Allein für das laufende Jahr hatte die
Regierung dafür eins Komma fünf Billionen Rubel zur Verfügung gestellt.
Auch für seine Einheit und sein Boot. Die Verlogenheit der NATO erhöhte
seine Chancen, seine Fähigkeiten irgendwann in einem Ernstfall unter
Beweis zu stellen.
Koroljow nahm den letzten Schluck Wodka. Inzwischen hatte sich
die Kälte so nachhaltig in seinem Lada ausgebreitet, dass selbst der
Alkohol nicht mehr wärmte. Die Scheiben begannen auch von innen
zuzufrieren. Schneekristalle jagten waagerecht vor der Windschutzscheibe
her. Der Wind legte zu, er hörte ihn heulen. Heute Nacht kam der erste
Schneesturm.
Doch bald versank Koroljow wieder so tief in seinen Gedanken, dass
er nichts mehr von Wind und Schnee mitbekam.
Hatte nicht Hans-Dietrich Genscher im Zuge der Wiedervereinigung
Eduard Schewardnadse versprochen, dass es niemals zu einer
Osterweiterung der NATO kommen würde, wenn Russland der NATO-
Mitgliedschaft des vereinten Deutschland zustimmte? Russland hatte
zugestimmt. Mit anderen Worten: Sein Land hatte den Vertrag erfüllt.
Aber die NATO hatte ihn gebrochen. Das westliche Bündnis hatte
Russland belogen und betrogen. Und jetzt dehnten sie sich wie ein
Krebsgeschwür in sein Reich aus. Der Westen wurde zu einer immer
größeren Bedrohung. Ihre Mentalität und ihr Charakter waren geprägt von
Arroganz, Ignoranz und Egoismus. Nur solche Menschen konnten so dreist
lügen und betrügen.
Koroljow schreckte auf, als Tschechow an die Scheibe der Fahrertür
klopfte. Er konnte durch das beschlagene Glas nur die Umrisse seines
Freundes erkennen. Koroljow öffnete die Fahrertür. Wie aus einem
Füllhorn wehte der Sturm Schnee ins Wageninnere. Fluchend stieg er aus
und klopfte sich den Schnee vom Mantel. Mitja stand mit ausgebreiteten
Armen vor ihm.
„Aljoscha, wie ich mich freue, dich zu sehen! Ich habe mich mit
guten Freunden getroffen. Freunde, die so sind wie du und ich. Und jetzt
haben auch wir etwas zu besprechen. Etwas, worauf du schon lange
gewartet hast. Vielleicht bedeutet gerade dieses eisige Sibirien für dich
den Aufbruch in ein neues Zeitalter.“
Kapitel 2
Salem (Oregon), November 2014
Heather King fuhr in ihrem Grand Cherokee, ein sparsamer Diesel, auf der
Interstate 5 in südlicher Richtung. Ihre Firma, die Kings Textiles
Company, lag im Süden der Stadt. Sie hatte die Fabrik nach dem Tod ihres
Vaters übernommen. Seitdem hatte der Betrieb erheblich expandiert.
Heather hatte in Harvard Wirtschaft studiert, mit dem Ziel, bei ihrem
Vater einzusteigen. Von Anfang an war es ihr nicht um Ruhm und Ehre
gegangen, sondern um Geld. Mit kaufmännischem Geschick und Charme
hatte sie es binnen weniger Jahre geschafft, den Umsatz um zweihundert
Prozent zu steigern. Es war ihr, mit Davids Hilfe, gelungen, Hauptlieferant
der United States Army zu werden.
Sie blickte aus dem Fenster, als sie durch den Enchanted Forest fuhr.
Sie mochte den Anblick und die Aura des dichten Waldes. Das erzeugte in
ihr ein Gefühl von Geborgenheit. Heather liebte die Natur. Und weil sie die
Natur liebte, verachtete sie den Menschen. Denn der Mensch zerstörte die
Natur rücksichtslos.
Sie wusste, dass diese Geisteshaltung in einem krassen Gegensatz
zum Image der knallharten Geschäftsfrau stand. Es gab die echte Heather
King, die nur ein Kreis von Auserwählten kannte. Und es gab die
Firmenchefin. Sales and After Sales. Nichts weiter als Rollen, die sie
souverän spielte. Die Rolle der Vorgesetzten. Die Rolle der smarten
Kundenbetreuerin. Ihre Rollen als Mitglied in diversen Gremien und
Komitees. Rollen, die sie längst zur zigfachen Millionärin gemacht und
ihrem Ziel ein großes Stück näher gebracht hatten.
Heather wohnte in Jefferson, unweit des Santiam River, den sie von
ihrer Dachterrasse aus sehen konnte. Ihr war es wichtig, naturnah zu
wohnen. In der Stadt fühlte sie sich nicht wohl. Sie saß abends lieber mit
einem Weißwein auf ihrer Dachterrasse und genoss den Sonnenuntergang
über dem Fluss.
Wenn es ihr vollgestopfter Terminkalender zuließ, ging sie wandern.
Meistens am Fluss oder in den umliegenden Wäldern. Einfach nur ein paar
Stunden in der Natur. Abschalten von all dem menschlichen Wahnsinn.
Manchmal fuhr sie in die Berge. Den Mount Jefferson hatte sie schon
dreimal bestiegen. Eigentlich brauchte man dafür eine behördliche
Genehmigung. Doch das waren Unannehmlichkeiten, die ihr dank ihrer
Position in der Gesellschaft erspart blieben.
Sie war gerne allein. Zum Leidwesen von Michael. Michael war
Deutschamerikaner. Ein gutaussehender, charmanter Typ. Vierundvierzig,
fünf Jahre jünger als sie. Prokurist bei einem ihrer Lieferanten. Sie ließ
sich ungern auf Beziehungen mit Männern aus ihrem geschäftlichen
Umfeld ein. Aber da sie außer Arbeit und allein sein nichts kannte, hatte
sie kaum Möglichkeiten, jemanden auf andere Weise kennenzulernen. Da
nützte ihr auch ihr hübsches Äußeres nichts. Sie war knapp eins siebzig,
sportlich, hatte markante Gesichtszüge und kurze schwarze Haare, die
einen interessanten Kontrast zu ihren hellblauen Augen bildeten.
Das gefiel auch Michael. Schon bei ihrem zweiten Treffen waren sie
im Bett gelandet. In ihrem Bett, genau genommen. Seitdem pflegten sie
eine mehr oder weniger lockere Beziehung. Liebe war das ihrerseits nicht.
Michael war für sie in erster Linie ein talentierter Sexpartner. Ein Jahr lief
das jetzt so. Aber Heather befürchtete, dass Michael inzwischen mehr
wollte als Sex und gelegentliche Ausflüge. Es hatte sie zwanzig
nervenaufreibende Minuten gekostet, ihm klarzumachen, dass sie sich
dieses Wochenende nicht sehen konnten. Es hatte sie genervt, dass er
dreimal gefragt hatte, warum nicht und mit wem sie sich treffen wollte.
Das ging ihn gar nichts an! Bei ihrem Treffen ging es um Themen,
die Michael nicht zu interessieren hatten und die er auch niemals
verstehen würde.
Heather fuhr von der Interstate 5 ab. In fünf Minuten war sie
zuhause. Sie freute sich auf eine heiße Dusche. Danach stand ihr
wichtigstes Meeting auf dem Programm. Sie trafen sich meistens bei
einem von ihnen privat zuhause. Familien hatten die wenigsten von ihnen.
Heather hatte noch ihre Mutter, die in einem Pflegeheim untergebracht
war und ihre Schwester, die in Südafrika lebte. Sie hatten keinen Kontakt.
Heather träumte zwar von einer eigenen Familie. Aber nicht in dieser
Welt. Vielleicht in einer anderen Welt. In der anderen Welt!
Als sie um die letzte Biegung fuhr, tauchte die Villa vor ihr auf.
Cremefarbener Naturstein, ein Portal mit zwei Säulen, umrahmt von hohen
Eschen.
Ein dekadentes Anwesen.
Aber sie fühlte sich trotzdem wohl in dem Familienanwesen, das ihr
Vater gebaut hatte. Er wäre stolz, wenn er wüsste, was seine Tochter aus
der Kings Textiles Company gemacht hatte. Aber er würde sich im Grab
umdrehen, wenn er wüsste, was sie mit ihrem Vermögen vorhatte.
Doch darauf konnte sie keine Rücksicht nehmen. Außerdem hatte sie
ein zwiespältiges Verhältnis zu ihm gehabt. Er war ein fürsorglicher Vater
gewesen, hatte seinen Töchtern die besten Ausbildungen ermöglicht und
Heather in die Firma geholt. Aber er stand für eine Lebensphilosophie, die
sie verabscheute. Er liebte den Luxus, wofür die Familienvilla nur eines
von vielen Beispielen war. Er hatte nie Probleme damit gehabt, für zwei
oder drei Tage zum Shoppen nach New York zu fliegen. Oder nach Paris.
Und dabei in den teuersten Hotels zu residieren.
„Heather“, hatte er immer gesagt, „unsere Firma lässt mir keine Zeit
für lange Urlaube. Dann will ich deiner Mutter und mir wenigstens ein
bisschen Luxus gönnen.“
Sein Leben lang fuhr er die schlimmsten Spritschleudern. Für jeden
noch so kleinen Weg nahm er den Wagen. Was Heather als kleines Kind
noch stolz gemacht hatte, warf bei ihr spätestens als Jugendliche jede
Menge Fragen auf. Fragen und die Fähigkeit, genauer hinzusehen. Rasch
hatte sie begriffen, dass ihr Vater nicht die Ausnahme war, sondern die
Regel. Sie kam zu dem Schluss, dass der Mensch an sich egoistisch war,
bar jeglicher Bereitschaft, die Konsequenzen seiner Egozentrik auch nur
zu hinterfragen. Sie hatte ihren Vater damit konfrontiert. Aber der hatte
unwirsch reagiert und sich jegliche Diskussion um diesen Schwachsinn
verbeten. „Heather“, hatte er gesagt, „kümmer dich lieber um die Dinge,
die wichtig sind. Also um die Firma.“
Es gab allerdings auch rühmliche Ausnahmen. Menschen mit
Verstand und Weitsicht. So wie ihre heutigen Gäste, von denen es viel zu
wenig gab, um den Weg der Menschheit mit den zur Verfügung stehenden
Mitteln der Politik zu korrigieren. Und diese Korrektur war notwendig, um
den sicheren Untergang der Spezies Mensch abzuwenden. Die rasant
zunehmenden Umweltprobleme und politischen Spannungen waren nur der
Anfang. Die Wissenschaftler warnten schon lange, wurden aber nicht
gehört. Die Interessen von Wirtschaft und Macht standen über Allem. Ihre
Folgen, Neid, Missgunst und Hass, waren nur die logische Konsequenz.
Die Lösung für die Probleme lag in den Köpfen von Menschen, die weiter
denken konnten als die anderen.
Heather betätige die Fernbedienung für das gusseiner Tor, das lautlos
aufschwang. Die Reifen erzeugten auf der Zufahrt das typische Geräusch
von Gummi auf Kies und in ihr das wohlige Gefühl, zuhause zu sein. Sie
parkte den Jeep in der riesigen Garage. Riesig, weil ihr Vater immer
mindestens drei Autos besaß. Ihr reichte der Jeep völlig. Und den fuhr sie
auch nur, weil sie für ihre Touren ins Gebirge über Stock und Stein fahren
musste. Außerdem verbanden ihre Kunden mit dem Wagen die
Vorstellung, dass die Kings Textiles Company seriös, zuverlässig und
erfolgreich war. Ein Auto als Mittel zur Kundenbindung. Ein typisches
Beispiel für die Beschränktheit und Oberflächlichkeit des Menschen.
Geräuschlos schloss sich das Garagentor. Sie ging durch den
Verbindungskorridor ins Haus. Als sie in den Hauswirtschaftsraum vor der
Küche kam, vernahm sie plötzlich ein Geräusch. Es kam aus dem ersten
Stock. So, als ob jemand über die Holzdielen ging, die so alt waren, dass
sie bei jedem Schritt knarrten.
Adrenalin flutete ihren Körper. Ihre Sinne befanden sich im
Alarmzustand. Sie schloss die Augen und lauschte in die Stille.
Sekundenlang. Nichts. Wahrscheinlich war das Geräusch doch von draußen
gekommen. Oder die Dielen reagierten auf eine Veränderung der
Luftfeuchtigkeit.
Heather ging in die Küche und nahm eine Flasche Perrier aus dem
Kühlschrank. Sie ärgerte sich über sich selbst. Sie war eigentlich nicht
schreckhaft, aber seit die Visionen des Circle Gestalt annahmen, sah sie
überall Cops und Agenten. Absoluter Schwachsinn. Aber leider konnte der
Verstand Gefühle nicht unterdrücken. Aber immerhin kontrollieren.
Plötzlich knarrten die Dielen wieder. Diesmal lauter. Erschrocken
riss sie das Glas hoch. Dabei schwappte Wasser über ihre Bluse und
verteilte sich langsam bis zum Saum ihres Rockes.
Im Obergeschoss war jemand!
Heather ließ vor ihrem geistigen Auge die Zeit vom Aufschwingen
des Straßentors bis zum Betreten der Küche Revue passieren. Auf den
ersten Blick deutete nichts auf einen Einbruch hin. Ein eingeschlagenes
Fenster an der Frontseite wäre ihr aufgefallen. Vielleicht hatte sich der
Einbrecher, oder FBI oder CIA, auf der Rückseite Zugang verschafft. Die
einzig logische Erklärung. Einbrecher oder Polizei. Einbrecher war
wahrscheinlicher. Eine solche Villa verhieß reiche Beute. Einen
Augenblick spielte Heather mit dem Gedanken, sich in der Küche
einzusperren und die Cops anzurufen. Doch Cops waren in diesen Zeiten
keine gute Idee.
Auf Zehenspitzen schlich sie zurück in die Garage und öffnete die
alte Truhe hinter dem Werkzeugregal. Sie nahm die SPAS-12 heraus und
prüfte das Acht-Schuss-Röhrenmagazin. Sie entsicherte die Waffe und lud
durch.
Vorsichtig schlich sie in die Küche zurück und lauschte. Nichts, kein
Geräusch. Wahrscheinlich waren der oder die Einbrecher in einem der
Räume und durchsuchten die Schränke. Heather stieß in gebückter Haltung
die Tür zur Wohnhalle auf, die Waffe im Anschlag. Sie scannte den Raum.
Da war niemand. Wahrscheinlich auch nicht in der Bibliothek, dem
Arbeitszimmer oder dem Salon. Denn wäre in der Zwischenzeit jemand
die Treppe hinuntergekommen, hätte sie das mitbekommen, weil auch die
Holzstufen knarzten.
Rasch schlüpfte sie durch die Tür, gradewegs zum Treppenaufgang,
unter den sie sich sofort duckte. Wie sollte sie sich verhalten? Sie konnte
hören, wenn jemand die Treppe hinunterkam. Doch das bedeutete auch,
dass dieser Jemand mitbekam, wenn sie nach oben ging. Sie brauchte aber
das Überraschungsmoment auf ihrer Seite. Deshalb entschied sie sich,
abzuwarten, bis jemand von oben den Treppenabsatz betrat.
Schweiß lief ihr von der Stirn in die Augen und von den Achseln den
Oberkörper hinab, wo er sich mit dem Perrier vermischte. Heather hatte
Angst. Wenn dort oben mehrere Einbrecher waren, ebenfalls bewaffnet,
war sie chancenlos.
Gerade als sie erwog, sich in den Jeep zu schwingen und einfach
davonzufahren, hörte sie, wie über ihr eine Tür geräuschvoll aufgestoßen
wurde. Laute Schritte auf den Holzdielen. Die Schritte eines Menschen.
Und der tat ihr den Gefallen, in diesem Augenblick auf die erste Holzstufe
zu treten, die so laut ächzte, dass Heather daraus schlussfolgerte, dass es
sich bei dem Einbrecher um einen Mann mit einem relativ hohen Gewicht
handelte. Aufreizend langsam stieg er die Treppe hinab, Stufe für Stufe.
Jede knarzte unter seinen Schritten, die eine weniger, die andere mehr.
Zwanzig Stufen, weil die Räume höher waren als in herkömmlichen
Wohnhäusern.
Heather umklammerte ihre Pumpgun so feste, dass sich ihre Knöchel
weiß verfärbten. Sie zählte jede Stufe mit. Soeben trat der Mann auf die
zwölfte. Also noch acht. Der Einbrecher konnte nicht ahnen, dass die
Hauseigentümerin mit einer Waffe unter dem Treppenaufgang auf ihn
wartete. Er ging davon aus, alleine zu sein. Sonst würde er nicht solch
einen Lärm veranstalten. Die Vorteile lagen auf ihrer Seite. Noch vier
Stufen. Sobald er den ersten Fuß auf die viktorianischen Bodenfliesen
setzte, würde sie aufspringen und ihm die Pumpgun in den Rücken
rammen. Erschießen wollte sie ihn nach Möglichkeit nicht. Das rief nur
die Cops auf den Plan. In diesem Augenblick sah sie einen dunkelbraunen
Schuh auf der ersten Fliese.
Ohne zu zögern, sprang sie auf und schlug mit dem Gewehrkolben
zu. Der Einbrecher war viel zu überrascht, um zu reagieren. Mit einem
lauten Schrei landete er vornüber auf den harten Fliesen. Heather wich
zurück, richtete die Waffe auf den Mann und herrschte ihn an, mit
erhobenen Händen aufzustehen.
Stöhnend drehte sich der Mann um und sah sie konsterniert an. „Bist
du jetzt völlig durchgedreht, oder was? Nimm sofort die Knarre runter!“
Wut stieg in ihr auf. Sie hielt das Gewehr auf ihn gerichtet. „Ist dir
eigentlich klar, dass ich dich hätte erschießen können, du gottverdammter
Trottel?“ Ihre Stimme schwoll mit jedem einzelnen Wort an. Dann ließ sie
die Waffe sinken und sich in den viktorianischen Ledersessel.
Unter Stöhnen richtete sich Michael auf. „Was ist nur in dich
gefahren? Dachtest du allen Ernstes, ich wäre ein Einbrecher? Ich wollte
dich überraschen! Geh mal nach oben und sieh dir an, was ich im Bad für
dich vorbereitet habe. Und erst im Schlafzimmer! Ich habe meinen Wagen
abseits geparkt, damit du nicht sofort siehst, dass ich da bin. Es sollte doch
eine Überraschung werden.“
Trotz der Schmerzen gelang ihm ein Lächeln. Er ging mit
ausgebreiteten Armen auf sie zu. „Ich dachte, ich lade dich zum Essen ein
und dann machen wir uns hier einen richtig schönen Abend. Ich bin schon
den ganzen Tag total scharf auf dich.“
Heather sprang aus ihrem Sessel auf. „Bleib wo du bist!“ Sie sicherte
die Pumpgun und legte sie in den Sessel. „Komm mit in die Küche, wir
müssen reden“, herrschte sie Michael an.
Fünf Minuten später verließ Michael mit hängenden Schultern das
Haus. Heather hatte sich schnörkellos von ihm getrennt. Es erschreckte sie
manchmal selbst, wie kaltschnäuzig sie sein konnte. Aber Michael wollte
sie kontrollieren. Wollte wissen, was sie vorhatte, warum sie ihn nicht
sehen wollte. Weil er eifersüchtig war. Und so etwas hasste sie wie die
Pest.
Aber er wollte ihr auch eine Freude machen. Nachdem er sich
davongeschlichen hatte, hatte sie sich seine Überraschungen angesehen.
Rosenblätter und Champagner im Bad, Kerzen im Schlafzimmer. So etwas
war ihr zwar eigentlich zu kitschig, aber es war ein Ausdruck seiner
Gefühle. Sie müsste wenigstens Mitleid empfinden. Schließlich hatte sie
ihm ohne Vorwarnung den Laufpass gegeben. Doch sie konnte es nicht. Sie
war auch nicht wütend oder traurig. Sie fühlte nur eines: Erleichterung, ein
Hindernis aus dem Weg geräumt zu haben.
Sie löste sich von ihren nutzlosen Gedanken, um sich auf das
Wesentliche zu konzentrieren. Gleich würde es klingeln. Zu spät zum
duschen. Rasch legte sie die Pumpgun zurück in die Truhe. Noch bevor sie
wieder in der Küche war, ertönte die Hausglocke. Dieser Gast war
angemeldet. Sie betätigte den Öffner für das Straßentor und sah die
hochgewachsene, breitschultrige Gestalt über den Kies kommen.
Augenblicke später blickte sie in sein männliches, markantes Gesicht. Sie
spürte einen wohligen Schauer, als seine tiefe Stimme ertönte und er mit
seinem unverwechselbaren russischen Akzent sagte: „Hallo Heather, schön
dich zu sehen. Sind die anderen schon da?“
Heather lächelte. Auch für diesen attraktiven Mann mit seinen
blonden Haaren, tiefblauen Augen und dem durchdringenden Blick
empfand sie keine Zuneigung oder sexuelle Erregung. Dafür etwas viel
Bedeutenderes: Respekt!
„Nein, du bist der Erste. Aber ich denke, die anderen kommen auch
jeden Augenblick. Komm rein, möchtest du etwas trinken?“
Tschechow betrat hinter Heather die Wohnhalle. Ehrfürchtig schaute
er sich um. „Ich bin jedes Mal tief beeindruckt, wenn ich dein Haus
betrete. Es atmet Geschichte. Und die Aura eines besonderen Menschen.
Und auch wenn es jedes Klischee bedienen mag: Ich hätte gerne einen
Wodka. Wenn du keinen hast, bitte einfach nur Wasser.“
Heather hatte immer Wodka für Mitja im Haus. Während sie
einschenkte, ertönte die Glocke erneut. Kurz darauf saßen vier Personen
um Heathers Esstisch versammelt: sie, Mitja, General David Moore und
Oswald Pfeiffer vom Bundesnachrichtendienst.
Vor Mitja stand die Flasche Wodka. David Moore und Oswald
Pfeiffer tranken am liebsten Whiskey. Heather wusste, dass Pfeiffer
Alkoholiker war, seit er seinen Bruder, Offizier bei der Bundeswehr, bei
einem Attentat in Syrien verloren hatte, das eigentlich ihm gegolten hatte.
Das war seine Motivation, bei einem Projekt mitzuwirken, das die Welt für
immer verändern würde. Man sah Pfeiffer die Abhängigkeit nicht an. Er
hatte stets ein Lächeln auf den Lippen, wirkte zeitlos, obwohl er schon auf
die sechzig zuging. Mit seinen mit viel Gel nach hinten gekämmten,
schwarzen Haaren wirkte er zwar etwas schmierig, doch das machten seine
funkelnden blauen Augen wett. Und trotz des Alkohols und seines Alters
war er noch ziemlich fit.
Mitja hingegen war Soldat durch und durch, kannte nichts anderes.
Er war stolz auf sein Vaterland. Aber er befürchtete, dass die Bedeutung
Russlands in der Welt immer weiter schrumpfte. So lange, bis es vom
Westen vollständig assimiliert war. Wie Polen, Ungarn, Tschechien und
viele andere Länder des ehemaligen Ostblocks. Er sah die größte Chance
für sein geliebtes Russland in einem Neuanfang.
David war der einzige, der Familie hatte. Er liebte seine Frau, seine
zwei Töchter und seinen Berner Sennhund. Er war, soweit Heather das
beurteilen konnte, ein guter Vater und ein treuer Ehemann. Ein Mann vom
alten Schlag, der noch echte Werte hatte. Und die betrafen, neben seiner
Familie, die Vereinigten Staaten von Amerika. Wie Mitja liebte er sein
Land, war früher überzeugter Republikaner gewesen. Doch gerade weil er
seine Familie und sein Land so liebte, waren ihm die Ansichten der
Republikaner in entscheidenden Fragen zu lasch. Sein Menschenbild war
Heathers sehr ähnlich. Und wie sie war David davon überzeugt, dass die
Welt eine bessere wäre, wenn es weniger Egoisten gäbe, dafür aber mehr
von seiner Sorte. Er hielt sich selbst für die ideale Führungspersönlichkeit:
intelligent, charismatisch, analytisch und altruistisch. Bescheidenheit
mochte eine Zier sein, war jedoch hinderlich, wenn man die Welt
verändern wollte. Heather gab ihm in allen Punkten recht.
Zwischen ihnen herrschte eine lockere, freundschaftliche
Atmosphäre. Dennoch orientierten sie sich strikt an ihrer Agenda. Heather
erwähnte ihr Erlebnis mit Michael mit keinem Wort. Lästige
Privatangelegenheiten, die in dieser Runde nichts verloren hatten. Aber sie
gestand ihre neu erworbene Paranoia, dass sie von einem Geheimdienst
überwacht werden könnte. David versicherte ihr sogleich, dass es dafür
keinen Grund gab. Er kontrollierte jederzeit die Situation. Seine
Informanten im Pentagon und im Weißen Haus hielten ihn auf dem
Laufenden.
Oswald Pfeiffer schlug in dieselbe Bresche. Auch aus Europa gab es
keine Warnsignale. Besonders gut lief es hinsichtlich seiner Verbindungen
in den Nahen Osten. Schon in Kürze würde er sich, zusammen mit dem
CIA-Kontakt, mit ihrem Verbündeten in Damaskus treffen. Doch vorher
war er in Kabul mit dem Major verabredet, um ihn auf seine neue Aufgabe
einzustimmen.
Mitja hatte die Lage im Kreml fest im Griff. Er war der
angesehenste und geachtetste Offizier Russlands. Er ging beim russischen
Präsidenten Fjodor Kowaljow ein und aus, der ihm blind vertraute. Mitja
hatte die Befehlsgewalt über die gesamte U-Boot-Flotte. Und er hatte auch
schon einen idealen Mann für das Operative auserwählt.
Das Gespräch dauerte bis tief in die Nacht. Es ging um die Frage des
Kapitals. Heather hatte, wie alle Mitglieder des Circle, zugesagt, einen
Großteil ihres Privatvermögens einzubringen. Noch wichtiger aber waren
staatliche Zuwendungen aufgrund des Status einer gemeinnützigen
Stiftung. Abschließend legten sie die nächsten Schritte fest, und wer wen
zu informieren hatte.
„Sich an den Bilderbergern zu orientieren, war ein Geniestreich von
uns. Niemand wird jemals Verdacht schöpfen“, sinnierte General Moore zu
fortgeschrittener Stunde und schon leicht benebelt von Heathers erlesenem
Whiskey.
Heather nickte und prostete Moore zu. „Stimmt. Nur, dass wir
konsequenter sind. Und noch geheimer. Wie sie haben wir die geballte
Power der einflussreichsten Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft,
Wissenschaft und von den besten Universitäten der Welt. Und aus den
Chefetagen der großen Medienunternehmen. Denn der dumme Mensch auf
der Straße will auch dumm gehalten werden. Ich trinke aber auf Menschen
wie euch, ohne die unsere Pläne aussichtslos wären!“
Heather prostete Moore und Tschechow zu. „Auf die besten Offiziere
der Welt! Und die einflussreichsten Männer der Geheimdienste. Der Circle
ist, was seine Zusammensetzung angeht, ein Abbild der Bilderberger. Auch
die strikte Orientierung an unseren Chatham House Rules ist eine
Parallele, dank derer unsere Namen niemals mit etwas anderem in
Verbindung gebracht werden können als mit unserem Dienst an der
Menschheit. Darauf erhebe ich mein Glas!“
Moore nahm einen großen Schluck und lächelte zufrieden. „Das
Vierte Reich der Reichen. Ein elitärer Zirkel als geheime Weltregierung
hinter den Kulissen, die Karrieren befeuert wie sie es braucht. Nachdem
Angela Merkel, Helmut Schmidt und Helmut Kohl an einer Bilderberg-
Konferenz teilgenommen hatten, wurden sie Kanzlerkandidaten. Ähnliches
gilt auch für die Karriere unseres geschätzten Präsidenten William Turner.
Jeder Empfänger von Sozialdienstleistungen muss haarklein nachweisen,
was er verdient und unterliegt einer amtlichen Kontrolle bis hin zur
Überwachung seines Lebens. Aber niemand weiß etwas über die
Bilderberger. Sie können schalten und walten wie sie wollen. In
bemerkenswerter Zeitnähe zu ihren Treffen wurde der Euro eingeführt,
kam es zur Lehman-Pleite und begann die Ukraine-Krise. Zufall? Hat
nicht der Ehrenpräsident der Bilderberg-Konferenz, Étienne Davignon,
freimütig zugegeben, dass der Bilderberg-Club den Euro erschaffen hat?
Die Treffen der G8 sind Kaffeekränzchen dagegen. Die Bilderberger sind
ein Paradebeispiel dafür, wie Macht wirklich funktioniert. Ein
Paradebeispiel, das wir perfektioniert haben. Angeblich streben die
Bilderberger eine Neue Welt an. Wie wir. Geführt durch eine Diktatur. Wie
wir. Nur, dass wir eine altruistische Diktatur anstreben. Die Morde an
Alfred Herrhausen und Olof Palme. Die deutsche Wiedervereinigung,
angebliche Verschwörungen der Rockefellers und Rothschilds. Selbst die
Terroranschläge vom elften September werden den Bilderbergern
angedichtet. Wie groß der Funke an Wahrheit daran auch sein mag: Von
uns können die Bilderberger noch viel lernen. Prost, meine Freunde. Auf
den Circle!“
Heather grinste über das ganze Gesicht. „Warum so bescheiden,
David? Du hast schon oft unsichtbar die Fäden gezogen. Und wenn ich
mich recht erinnere, hattest auch du eine kurze, aber nachhaltige Karriere
im Club der Bilderberger. Genau zur rechten Zeit. Weil du immer zur
rechten Zeit am rechten Ort bist. Komm schon, erzähl uns nochmal die
Geschichte von der erstaunlichen Blitzkarriere des kleines Senators
William Turner.“
Moore lachte und hielt Heather sein leeres Glas entgegen, die es
unverzüglich wieder füllte. Während der Alkohol floss, erzählte der
General von seiner Zeit im Club der Bilderberger. Drei Jahre war er dabei
gewesen. An drei Konferenzen hatte er teilgenommen. Von Anfang an nur
mit dem Ziel, Senator William Turner zu einem aussichtsreichen
Präsidentschaftskandidaten zu machen. Ohne dessen Wissen. Weil Moore
stets im Hintergrund agierte. Ihm ging es nicht um Lorbeeren, sondern um
den Erfolg seiner Mission.
Moore lachte plötzlich laut auf, sodass die anderen ihn erschrocken
ansahen.
„Keine Sorge,“, sagte er in lockerem Plauderton, „mit mir ist alles in
Ordnung. Ich habe mich nur gerade daran erinnert, was für
Gegenkandidaten der Republikaner William Turner hatte. Mein Gott, was
waren das für aalglatte Waschlappen. Die hätten die Terroristen der GESA
glatt zum Ringelpiez mit Anfassen eingeladen. Für unsere Pläne wären
diese Versager eine Katastrophe gewesen. Aber mit William können wir
rechnen. Also mussten wir seiner Karriere hier und da ein wenig auf die
Sprünge helfen. Und so Gott will, wird er ein Baustein unserer Neuen Welt
werden.“
Moore erzählte sichtlich entzückt, wie es ihm gelungen war, den
Bilderberg-Club davon zu überzeugen, dass die Welt William Turner
brauchte und mit welch perfiden Methoden die damaligen Mitglieder des
Clubs entscheidende, nicht nur legale, Weichen gestellt hatten.
„Aber wenn wir schon dabei sind, Anekdoten zu erzählen, liebe
Heather, dann darfst auch du gerne etwas dazu beitragen. Du weißt schon,
was ich meine.“
Heather grinste. Denn auch sie hatte, ohne dem Bilderberg-Club
anzugehören, maßgeblichen Anteil an Turners Erfolg. Sie hatte dessen
Wahlkampf finanziell unterstützt. Weil David sie darum gebeten hatte.
Und wenn ein Mitglied des Circle ein anderes bat, dann gab es kein Nein.
„Auf dich Heather! Und auf deinen Edelmut“, rief Moore und erhob
erneut sein Glas.
Es entstand eine feucht-fröhliche Diskussion darüber, wie der Circle
aufgebaut war und wie er funktionierte. Obwohl er vorwiegend aus
Personen bestand, die der breiten Öffentlichkeit bekannt waren, wusste
diese Öffentlichkeit nichts von der Existenz des Circle. Das Bekenntnis
aller Mitglieder zu den Chatham House Rules verpflichtete sie dazu, in der
Öffentlichkeit bei Themen, die den Circle betrafen, niemals den Namen
eines anderen Mitglieds zu erwähnen. Zuwiderhandlungen führten zum
sofortigen Ausschluss.
Doch solche Zuwiderhandlungen hatte es nie gegeben. Der Circle
war genauso prominent besetzt wie der Bilderberg-Club, dem bei seiner
Gründung Persönlichkeiten wie der damalige Premierminister
Frankreichs, der Bürgermeister von Hamburg, der Außenminister
Dänemarks und David Rockefeller angehörten.
Die jährliche Bilderberg-Konferenz hatte ähnliche Themen auf der
Agenda wie der Circle: Wirtschaftspolitik, Globalisierung, die
europäische Integration und Verteidigungsgemeinschaft. Im Laufe der Zeit
kamen weitere Themen hinzu, die beim Circle eine viel größere Rolle
spielten. Die Zerstörung der Umwelt durch den Menschen, die
bevorstehende Klimakatastrophe, das Problem des ungebremsten
Bevölkerungswachstums. Die daraus resultierenden Hungersnöte und die
in der Folge wachsenden Gefahren des Terrors und der Flüchtlingsströme
in Länder mit anderen Kulturen. Und nicht zuletzt die Tatsache, dass der
Mensch so sehr von Gier und Egoismus gesteuert wurde, dass er diese
Probleme niemals in den Griff bekommen konnte. Diese fatalen
Charaktereigenschaften der Spezies Mensch waren nach den
Überzeugungen des Circle die Wurzel allen Übels. Eine Wurzel, die
ausgerissen werden musste.
Aber es gab noch mehr Unterschiede. Der Circle war weniger
„offiziell“. Es gab keinen Vorsitzenden. Bei den Bilderbergern führte stets
ein Mitglied den Vorsitz, so wie zwischen 1980 und 1985 der
Bundespräsident der Bundesrepublik Deutschland, Walter Scheel. Der
erste Vorsitzende war Prinz Bernhard der Niederlande gewesen.
Zweiundzwanzig Jahre hatte er dieses Amt ausgefüllt. Bis zu seiner
Verwicklung in den Lockheed-Bestechungsskandal. Prinz Bernhard hatte
sich von dem amerikanischen Flugzeughersteller Lockheed schmieren
lassen. Mit einer „Zuwendung“ von eins Komma eins Millionen US-
Dollar. Seine „Gegenleistung“ bestand darin, die Entscheidung über einen
Großauftrag zugunsten der Lockheed F-104 zu beeinflussen. Damit war
die Mirage des Konkurrenten Dassault Aviation aus dem Rennen.
Und an dieser Stelle gab es eine Gemeinsamkeit zwischen den
Bilderbergern und dem Circle: Jedes Mitglied musste über einen
einwandfreien Leumund verfügen. Wer sich bestechen ließ, hatte in der
Gemeinschaft nichts verloren. Doch auch deshalb hatte bis heute kein
Mitglied ausgeschlossen werden müssen.
Anders als die Bilderberger kam der Circle nicht in einem festen
Rhythmus zusammen. Sie orientierten sich an Fragen der Notwendigkeit
und Aktualität. Der größte Unterschied zwischen den Organisationen, die
beide aus rund einhundertdreißig Mitgliedern bestanden, war ihre
Zielrichtung. Die Bilderberger hatten, zumindest offiziell, viele,
wechselnde Ziele, je nach weltpolitischer Situation. Der Circle hatte nur
ein Ziel, das sie zu einer eingeschworenen Gemeinschaft machte: die Neue
Welt.
Darüber diskutierten sie noch lange. Bis Mitja den Schlusspunkt
setzte. Mit dem letzten Tagesordnungspunkt, zu dem sich vor dem Treffen
jeder Gedanken machen sollte. Er hatte mit seinem visionären Vorschlag
abgewartet, bis die anderen ihre Vorschläge vorgestellt hatten. Keiner
wurde den Dimensionen ihrer Vision gerecht. Mitja war überzeugt, dass
diese Vision einen Namen bekommen musste, der in einem einzigen
Begriff das Ziel und Wesen ihrer Idee erfasste. Um deren Bedeutung
hervorzukehren und die Identifikation der Beteiligten und den inneren
Zusammenhalt zu stärken.
„In meiner Einheit bekommt jedes noch so unbedeutende Projekt
einen Namen“, erklärte er. „Ich meine keine militärischen Codenamen,
sondern unsere internen Bezeichnungen. Die innerhalb meiner Truppe. Das
hat sich bewährt und die Männer zusammengeschweißt. Und ich glaube,
ich habe für unsere Vision einen wahrhaft visionären Namen gefunden!“
Mitja legte eine bedeutungsvolle Sprechpause ein. Genesis,
Auferstehung, New World, Sphinx. Die anderen Mitglieder des Circle
hatten ihre Fantasie redlich bemüht, um der Vision einen Namen zu geben.
Doch keiner spiegelte sie wider. Mitja legte Pathos in seine tiefe Stimme.
Immer, wenn er emotional war, trat sein russischer Akzent deutlicher
hervor: „Es gibt nur einen Namen, der unserer Vision gerecht wird.“
Heather überkam eine wohlige Gänsehaut, als er seine Idee endlich
aussprach:
„AURORA!“
Sie erfasste ein geradezu heroisches Gefühl. Ein Gefühl des
Aufbruchs. Der Reinigung. Sie spürte auf einmal eine noch größere
Verbundenheit mit den Menschen an ihrem Tisch.
Mitja erklärte, dass AURORA mehrere Bedeutungen hatte, die
allesamt das widerspiegelten, was ihre Vision ausmachte.
„AURORA“, führte er aus, „ist die römische Göttin der Morgenröte.
AURORA bedeutet aber auch Polarlicht. Licht und Morgenröte. Begriffe,
die drei Dinge suggerieren: Hoffnung, Aufbruch und Neuanfang. Besser
kann man unsere Vision nicht beschreiben. Und noch etwas spricht für
diesen Namen. Wir haben viele Alternativen erwogen, bis wir uns für
Adams Island entschieden haben. Aber wir wussten nicht, von wem die
Insel eigentlich entdeckt wurde! Mich hat das aber interessiert. Also habe
ich recherchiert: Adams Island wurde zwischen 1911 und 1914 bei einer
Antarktisexpedition entdeckt. Der Expeditionsleiter hieß Douglas
Mawson. Er benannte die Insel nach seinem Bootsmann, mit dem ihn eine
enge Freundschaft verband. So weit, so gut. Doch was hat diese Geschichte
mit unserer Vision zu tun? Nun, Douglas Mawson entdeckte Adams Island
mit einem Dampfschiff unter Segeln, das er ein Jahr vor seiner Expedition
gekauft hatte. Das Schiff wurde 1877 fertiggestellt und, bevor Mawson es
kaufte, vorwiegend für die Wal- und Robbenjagd eingesetzt. Und dieses
Dampfschiff, mit dem Mawson unsere Insel entdeckt hat, hieß AURORA!
Das ist für mich ein Wink des Schicksals. Was sagt ihr dazu?“
„Dass das ein feierlicher Moment ist“, sagte Heather gerührt. „Es ist
so, als hätte Mawson Adams Island nur für uns entdeckt. Ich bekomme
eine Gänsehaut, wenn ich mir vorstelle, wie dieses Dampfschiff dort
anlegt und sein Name in der Sonne funkelt. Unsere Vision der Neuen Welt
soll den Namen AURORA tragen!“
Sie einigten sich einstimmig auf AURORA. Jeden hatte die
Begeisterung gepackt. Als Heather ins Bett fiel, überwältigt von den
Eindrücken dieses denkwürdigen Abends, blinkte ihr Smartphone. Eine
SMS. Von Michael. Er entschuldigte sich für sein Verhalten und flehte sie
an, ihm noch eine Chance zu geben. Heather löschte zunächst den
Chatverlauf und dann den Kontakt. Das sollte selbst dieser Mann
begreifen.
Es folgte die erste Nacht seit vielen Jahren, in der sie keinen Schlaf
fand. Doch das störte sie nicht. Sie spürte eine wahnsinnige
Aufbruchstimmung. Nie zuvor hatte sie ein so intensives Gefühl gespürt.
Das verlieh ihr eine mentale Kraft, die sie nicht für möglich gehalten
hätte. AURORA würde nicht Geschichte schreiben, sondern die Geschichte
neu erfinden. Und sie war ein Puzzleteil dieser Geschichte. Nein, ihr Vater
wäre nicht stolz auf sie. Aber dafür die Menschheit der Zukunft.
Kapitel 3
Kabul, Dezember 2014
Jamal Akbar zog seine Pistole, eine Walther-P1, aus dem Hosenbund und
feuerte ohne Vorwarnung auf die Bundeswehr-Soldaten in seiner Nähe. Es
ging viel zu schnell, als dass sie hätten reagieren können.
Jamal hatte zwei dieser Waffen vom afghanischen Innenministerium
bekommen, da er bei den Sicherheitskräften war, bevor er als
Sprachmittler ins Lager der Deutschen wechselte und, gemeinsam mit den
Soldaten, afghanische Sicherheitskräfte ausbildete. Zehntausend
ausgemusterte P1 wurden im Januar 2006 vom deutschen
Bundesverteidigungsministerium an das afghanische Innenministerium
geliefert. Zur Ausrüstung der im Aufbau befindlichen afghanischen
Streitkräfte, so die offizielle Verlautbarung.
Die P1 war ein begehrtes Prestigeobjekt. Man hatte Jamal schon
zweitausend Dollar dafür geboten. Viele ehemalige Sicherheitskräfte und
Polizisten verkauften ihre Waffe auf dem lukrativen Schwarzmarkt in
Pakistan oder Afghanistan. Aber weil das Geschäft so lukrativ war,
scheuten sich auch aktive Polizisten nicht, ihre Waffe zu verkaufen und
anschließend als gestohlen zu melden. Aber Jamal wollte seine Waffen
nicht verkaufen. Sie gefielen ihm. Und er ahnte, dass er sie eines Tages
brauchen würde. Heute war es soweit.
Seit drei Tagen wusste Jamal, dass er heute neun Schüsse abgeben
würde. Acht Patronen im Magazin und eine im Lauf. Die Mitarbeiter von
außerhalb wurden zwar gründlich gefilzt, bevor sie das Lager betreten
durften. Doch Jamal genoss bei den Deutschen aufgrund seiner früheren
Tätigkeit ein hohes Ansehen. Und er kannte die Soldaten am Checkpoint
inzwischen gut. So gut, dass sie ihn einließen, ohne ihn auf Waffen zu
untersuchen. Das wusste er. Und leider nicht nur er.
Die Soldaten schienen von der Wucht der aus nächster Nähe
abgegebenen Schüsse zu Boden geschleudert zu werden. Kein Schuss hatte
sein Ziel verfehlt. Genauso wie die Schweine es von ihm verlangt hatten.
Jeder, der mit den ausländischen Truppen kooperierte, war ein Feind
der Taliban. Es gab nur zwei Gründe, warum sie Männer wie ihn nicht
hinrichteten. Der eine waren Informationen, die er als Sprachmittler
sammelte. Die konnten den Taliban nutzen. Um das herauszufinden,
zögerten sie nicht, Afghanen auf Seiten der Regierung nach ihrer
Entlassung aus dem aktiven Dienst zu foltern, um an diese Informationen
zu kommen. Der andere waren Gelegenheiten wie diese.
Sie hatten Jamals Familie entführt, nachdem sie von ihren
Beobachtungposten in den dicht an dicht stehenden Gebäuden Kabuls
beobachtet hatten, dass Jamal ohne Kontrollen in das Lager gelassen
wurde. Eine gute Gelegenheit, eine Schusswaffe hineinzuschmuggeln. Der
Deal war einfach: Erschieß so viele Soldaten wie du kannst, versuch zu
fliehen, und Du bekommst deine Familie zurück. Oder lass es und du
bekommst deine Familie trotzdem zurück. Allerdings in Einzelteilen.
Welche Wahl hatte ein Mann wie er?
Der heutige Tag war ideal für ein Attentat. Dichter Schneefall
behinderte die Sicht. Gut für seine Flucht. Es schneite nicht oft in Kabul.
Aber wenn, dann richtig. Die Hauptstadt Afghanistans mit ihren mehr als
drei Millionen Einwohnern lag auf fast zweitausend Metern Höhe. Und
wenn sich der Hindukusch mit seinen siebentausend Meter hohen
Bergriesen wie ein Wall gegen die Fronten aus Süden stemmte, konnte es
mehrere Tage ununterbrochen schneien. Überhaupt war das Klima in
Afghanistan von extremen Gegensätzen geprägt. Es gab kaum einen Ort in
der Welt, an dem größere Temperaturunterschiede möglich waren. In
heißen Sommern konnten fünfzig Grad erreicht werden. In eisigen
Wintern ebenfalls, allerdings unter null.
Der Schnee um die gefallenen Soldaten verfärbte sich rot. Jamal
steckte die Waffe zurück in den Hosenbund und rannte los. Das
Überraschungsmoment war auf seiner Seite. Ehe die Kameraden der
getroffenen Soldaten reagieren konnten, war er schon wieselflink über die
Mauer geklettert. Er war drahtig und trotz der Qualmerei und seiner
fünfzig Jahre noch ziemlich fit.
Ursprünglich sollte er in ein Hochhaus in zwei Kilometern
Entfernung flüchten, um seine Familie in Empfang zu nehmen. Doch
aufgrund der schlechten Sichtverhältnisse war ihm kurzfristig ein Gebäude
in der Nähe des Lagers mitgeteilt worden. Der Schnee war perfekt. Die
Verfolger konnten ihn nur schwer erkennen, was ihren Auftritt
glaubwürdiger machte. Weil sie tatsächlich kaum etwas sahen. Aber
genauso ging es auch den Taliban. Immer wenn eine Schneeböe vor ihm
herjagte und sich seine langen schwarzen Haare weiß färbten, waren er und
seine Verfolger für einen Augenblick nicht zu sehen.
Jamal wusste, dass seine Familie nicht in dem Gebäude war, das vor
ihm im Schneegestöber auftauchte. Nur ein Ablenkungsmanöver der
Taliban, um nicht in eine Falle gelockt zu werden. In Wirklichkeit hielten
sie sich in irgendeinem der umliegenden Gebäude auf. Das war der
kritischste Moment des Manövers. Er schlug einen Haken und rannte in
eine kleine Seitengasse. Die Soldaten schienen seinen Winkelzug nicht
mitbekommen zu haben, denn sie rannten weiter die Hauptstraße entlang.
Jamal lief ein paar Umwege und betrat schließlich das fünfstöckige
Zielgebäude, in dem sich lediglich Büros befanden. Er ging wie befohlen
in den dritten Stock, zu dem Fenster nach Osten in dem weitläufigen Flur.
Er blickte sich um. Wie vereinbart war ihm niemand gefolgt. Das wussten
jetzt auch die Taliban. Denn er sah das verabredete Lichtzeichen, drei
Häuser weiter. Dort warteten sie. Und hoffentlich auch seine Familie. Ihm
war bewusst, dass er nur diese eine Chance hatte. Und selbst wenn heute
alles nach Plan lief, waren seine Familie und er ab sofort Freiwild.
Jamal lief die drei Etagen durch das Treppenhaus nach unten und trat
auf die Straße. Ein unmerklicher Blick nach links. Er sah sie. In zivil, wie
abgesprochen. Es musste schnell gegangen sein. Sie waren geübt, denn so
etwas geschah häufiger. Aber nicht alle Afghanen verhielten sich so wie er.
Wenn Angst alle anderen Gefühle überlagerte, ließ man sich für jeden
Hinterhalt missbrauchen. Ein paar Soldaten zu erschießen, war weniger
riskant, als das, was er tat.
Jamal ging rasch, aber nicht hastig und ohne sich umzublicken, zu
dem Gebäude, aus dem die Lichtzeichen gekommen waren. Es war kleiner,
nur zwei Stockwerke. Es wurde anscheinend allein von den Taliban
genutzt. Niemand wusste, wann sie sich wo aufhielten. Sie wechselten
permanent die Standorte, nutzten mit Vorliebe zivile Einrichtungen.
Er wurde von drei bewaffneten und maskierten Männern in Empfang
genommen. Sie richteten ihre Waffen auf ihn. Keine veralteten
Sturmgewehre aus Sowjetzeiten. Auch keine billige Kopie aus China. Die
Taliban bedienten sich längst modernster Waffen. Sie zielten mit
Sturmgewehren von Heckler & Koch auf ihn. Was konnte befriedigender
sein, als den Gegner im Heiligen Krieg im wahrsten Sinne des Wortes mit
seinen eigenen Waffen zu schlagen?
Die Männer durchsuchten Jamal und nahmen ihm seine Walther-P1
ab. Nicht weil die Pistole für sie eine Gefahr bedeutete, sondern wegen
ihres Wertes. Er ging vor den maskierten Kämpfern ins Obergeschoss,
spürte ihre Gewehre in seinem Rücken. Oben erwarteten ihn weitere
Bewaffnete. Mit einer Kopfbewegung wies einer von ihnen, ein Hüne mit
breiten Schultern, auf einen Raum hinter sich. Als Jamal hineingehen
wollte, hielt der Mann ihn zurück. Jamal konnte dennoch hineinsehen.
Seine Frau und seine drei Söhne saßen gefesselt und mit über die Köpfe
gezogenen Jutesäcken auf Stühlen, mit dem Rücken zum Fenster. Das war
nicht gut.
Der Hüne deutete auf Jamals Familie. „Jetzt kriegst du sie zurück.
Gute Arbeit, Jamal. Neun Schuss, neun Treffer. Wo hast du so gut schießen
gelernt? Und das auch noch bei Schneetreiben?“
Jamal musterte sein Gegenüber. Er hatte keine Angst vor ihm. Aber
er konnte nicht einschätzen, ob der Mann etwas ahnte. Jetzt auch nur der
kleinste Fehler und seine Familie war tot.
„Um unvorbereitete Männer aus einer Entfernung von zwei Metern
zu erschießen, bedarf es keiner besonderen Schießkünste. Man muss die
Waffe nur ruhig halten können.“
Der Hüne nickte anerkennend. „Viel Blut. Die Ungläubigen waren
wohl nicht sofort tot.“
„Schon möglich. Ich hatte keine Zeit, das zu überprüfen.“
„Gut, Jamal, gut. Ich verstehe das. Du hast deinen Teil der
Abmachung erfüllt. Und jetzt willst du deine Familie wiederhaben,
richtig?“
„So war es vereinbart.“ Jamal analysierte aus den Augenwinkeln
heraus die Situation. Hohe Gefahrenlage. Insgesamt acht Bewaffnete. Die
drei von unten. Drei von oben und nochmal zwei neben seiner Familie. Er
hoffte, dass die Deutschen Unterstützung von den Amerikanern bekamen.
Die waren kompromissloser. Aber zuerst musste er hier raus. Mit seiner
Familie. „Können wir jetzt gehen?“
Der Hüne nickte den beiden Männern in dem Raum zu. Sie lösten die
Fesseln und zogen ihre Geiseln unsanft hinaus, die Hände gefesselt, die
Jutesäcke über den Köpfen. „Du kannst sie mitnehmen. Ihr geht langsam
nach unten, du hältst die Hände hinter dem Kopf verschränkt, Jamal. Und
dreht euch nicht um!“
Jamal zog die Jutesäcke von den Köpfen seiner Familie. Jetzt
verstand er, warum sie keinen Ton von sich gegeben hatten. Sie waren
geknebelt. Sie starrten Jamal mit angstgeweiteten Augen an. Der Hüne
schubste sie zum Treppenabsatz. „Langsam und der Reihe nach die Treppe
runter! Jamal geht vor. Dann geht ihr genauso langsam nach draußen.
Wenn ihr dreihundert Meter gegangen seid, darfst du ihnen die Fesseln
abnehmen. Eine falsche Bewegung und ihr seid tot! Los jetzt!“
Jamal verschränkte die Hände hinter dem Kopf und stieg langsam
die Treppe hinab, Stufe für Stufe. Er hoffte, dass kein Kind stolperte. Es
war schwer, gefesselt Stufen zu gehen, erst recht, wenn man noch keine
fünf war. In dieser Situation konnte der Ausrutscher eines Kindes
ausreichen, um die Kämpfer aus der Fassung geraten und die ganze
Familie mit ihren Sturmgewehren durchlöchern zu lassen. Jamal konnte
den Hass der Männer förmlich riechen. Das Risiko, dass sie das Feuer
eröffneten, war nicht zu unterschätzen. Aber Jamal war machtlos. Er
konnte nur beten, mit seiner Familie den unteren Treppenabsatz zu
erreichen. Wenigstens ging keiner der Kämpfer voraus. Das hätte eine
Bedrohung von zwei Seiten bedeutet und kostbare Sekunden gekostet.
Sekunden, die über Leben und Tod entscheiden konnten.
Jamal erreichte die unterste Stufe. Er spähte unmerklich zum
Ausgang. Eine kurze Bewegung. Sie standen bereit. Er wusste, dass er
blitzschnell reagieren musste. Nach draußen konnten sie nicht. Die
Männer oben konnten aus dem Fenster heraus auf sie feuern.
Der Nachteil des Schneetreibens bestand darin, dass kein
Hubschrauber starten und das Gebäude von außen unter Beschuss nehmen
konnte. Kaum eine Waffe war in solchen Situationen effektiver als ein bis
unter die Rotorblätter bewaffneter Hubschrauber. Seine Geschütze
durchschlugen selbst Mauern. Er hatte mehr als einmal gesehen, wie ein
mehrstöckiges Gebäude unter Dauerfeuer genommen und Stockwerk für
Stockwerk, zuerst vertikal, dann horizontal, durchsiebt wurde. Danach
existierte dort kein Leben mehr.
In wenigen Augenblicken musste Jamal seine ganze Familie mit
einem Griff schnappen und unter die Treppe schleudern. Prellungen und
Knochenbrüche spielten keine Rolle. Es ging um mehr als ein paar
gebrochene Knochen.
Ein Soldat spähte um die Ecke des Hauseingangs. Major Wagner, der
Kommandant der Deutschen. Er erblickte Jamal und verständigte sich nur
mit den Augen mit ihm. Sie hatten das so abgesprochen. Ein
Augenaufschlag in Richtung Treppe. Der Major dachte dasselbe wie
Jamal. Unter die Treppe mit euch! Die einzige Chance. Jamal setzt seine
Muskeln unter Spannung. Der Major deutete ein Nicken an.
Jetzt!
Jamal wirbelte herum, packte seine Frau, die direkt hinter ihm war
und schleuderte sie unter die Treppe. Im selben Moment stürmten
bewaffnete Soldaten hinter dem Major in das Gebäude. Mehr Männer als
ihn verfolgt hatten. Vermutlich Amerikaner. Während Jamal nach seinen
Kindern griff, fielen die ersten Schüsse. Es wusste nicht, woher sie kamen.
Von oben oder von unten. Vermutlich schossen beide Seiten. Ein
Kugelhagel aus zwei Dutzend Sturmgewehren. Jamal warf sich schützend
über seine Kinder. Er hörte Männer schreien. Und permanentes
Mündungsfeuer. Jetzt ein lautes Poltern. Einer der Kämpfer fiel die Treppe
runter. Blutüberströmt. Durchsiebt im Kugelhagel. Noch mehr Soldaten
stürmten in das Gebäude. Eine Übermacht.
Die Deutschen hatten nicht nur das Schauspiel, sondern auch den
Angriff gut vorbereitet. Das Schauspiel, das damit begonnen hatte, dass
Jamal zum Major gegangen war, um ihn über die Entführung seiner
Familie und die Forderung der Taliban in Kenntnis zu setzen. Der
Kommandant hatte Jamal versprochen, seine besten Männer für die
Aufgabe abzustellen. Hervorragende Soldaten. Und Männer, die gut
schauspielern konnten. Das Schauspiel, das hoffentlich mit der Befreiung
seiner Familie endete. Auch wenn Jamal keine Vorstellung hatte, wie es
danach weitergehen sollte.
Endlich verstummten die Waffen. Der Kampf war beendet. Einer der
deutschen Soldaten, Jamal kannte ihn gut, kam zu ihm und erklärte, dass
alle gegnerischen Kämpfer gefallen waren. Ein Amerikaner hatte einen
Schuss in den Arm abbekommen. Es gab auch zwei oder drei
Körpertreffer, aber die schusssicheren Westen hatten die Kugeln
aufgehalten.
Erleichtert richtete sich Jamal auf. Er sah an sich hinab. Blut auf
seinem Mantel! War er getroffen worden? Er tastete sich ab. Nichts. Er sah
in das Gesicht seiner Frau. Entsetzen in ihren Augen. Ihr Blick wanderte
zu ihrem Sohn. Jamal folgte ihrem Blick. Und erfasste seinen Sohn. Ihr
Jüngster, vier Jahre alt. Der Letzte auf der Treppe. Sein kleiner Körper war
von mehreren Kugeln zerfetzt worden. Jamal war den Bruchteil einer
Sekunde zu spät gewesen. Die Schüsse der Taliban waren schneller
gewesen. Warum hatten sie nicht ihn anstelle des Kindes getroffen? Jamal
begann zu weinen. Der deutsche Soldat klopfte ihm sanft auf die Schulter.
Dann befreite er, zusammen mit zwei Kameraden, den Rest seiner Familie
von den Fesseln.

***

Jamals Familie wurde im Lager der Deutschen in Sicherheit gebracht.


Jamal hielt seine Frau in den Armen, die unaufhörlich weinte. Er selbst
kam kaum gegen seine Tränen an. Hätte er echte statt Platzpatronen
verwendet, wäre sein Sohn noch am Leben. Um den Preis einiger
deutscher Soldaten. Wäre er doch nur selbst draufgegangen – das wäre die
beste Lösung gewesen. Aber er hatte sich anders entschieden. Diese
Entscheidung war nun nicht mehr rückgängig zu machen. Damit musste er
leben, bis ans Ende seiner Tage. Er musste seine Familie besser
beschützen. Doch das war in diesem verfluchten Land nicht möglich.
Sie mussten weg von hier. Ein Job irgendwo in Deutschland. Einfach
nur in Frieden leben. Seine Sprachkenntnisse waren sein Kapital. Noch
heute Abend würde er zum Major gehen, ihm für seinen Einsatz danken
und ihn bitten, seine Kontakte zu nutzen, um ihm eine Stelle und eine
Aufenthaltserlaubnis zu besorgen. Jamal hatte so viel für die Deutschen
getan. Jetzt war er an der Reihe. Er redete sanft auf seine Frau ein, sagte,
dass er dafür sorgen würde, dass sie aus Afghanistan rauskämen. Als es
dämmerte, stand er auf, verließ das Zelt und ging zielstrebig zum Quartier
des Kommandanten, das einzige befestigte Gebäude in dem Lager. Er war
voller Trauer, aber auch Hoffnung. Denn er hatte ein gutes Verhältnis zum
Major. Sicherlich würde er ihm helfen.
Als er das Zelt vor dem Quartier umrundete, sah er, wie sich der
Major mit zwei Männern unterhielt, die Jamal nicht kannte. Der eine
konnte ein Europäer sein, der andere eher ein Araber. Er wich instinktiv in
den Schutz des Zeltes zurück. Jamal wollte wissen, worüber die Männer
sprachen. Was seine Neugier weckte, war die Tatsache, dass ihm die
beiden Männer unbekannt waren. Denn inzwischen kannte er jeden, der in
diesem Lager ein und aus ging. Wahrscheinlich war es klüger, winkend auf
den Kommandanten zuzugehen. Was ging es ihn an, was der mit wem auch
immer besprach? Aber er konnte nicht anders. Eine innere Stimme mahnte
ihn zum Misstrauen.
Er spähte um das Zelt herum. Außer ihm, dem Kommandanten und
den beiden fremden Männern hielt sich niemand im Freien auf. Er
umrundete das Zelt auf der anderen Seite, erreichte das Gebäude des
Kommandanten in einem toten Winkel, umrundete es und fand sich fast
neben den drei Männern wieder. Allerdings an der abgewinkelten Seite des
Quartiers. Er konnte die Männer nicht sehen und sie ihn nicht. Aber er
konnte sie hören, auch wenn sie leise sprachen. Sie unterhielten sich auf
Englisch. Jemand redete auf den Kommandanten ein. Vom Akzent her der
Araber.
„Ich sage das zum letzten Mal: Sorg dafür, dass wir die notwendigen
Pässe und Dokumente bekommen. Wir haben dir viel Geld dafür gezahlt.
Und du weißt, was passiert, wenn du versuchst, uns zu hintergehen.“
Der Major wirkte nervös. Seine sonst so feste Stimme flatterte. „Ich
schaffe das nicht so schnell. So gut sind meine Kontakte nun auch wieder
nicht. Aber das wusstet ihr vorher. Außerdem geht es mir nicht um Geld!“
Jamal vernahm ein spöttisches Lachen. Stimme unbekannt. Das
musste der Europäer sein. „Hör ihn dir an, Yefrem. So gut sind seine
Kontakte nun auch wieder nicht. Ohne meine Kontakte wärest du gar nicht
Kommandant dieser Einheit, sondern säßest in irgendeiner Schreibstube.
Also hör auf, uns zu verarschen!“
„Ich verarsche niemanden. Aber wenn ihr Pässe wollt, die durch jede
Kontrolle kommen, dauert das seine Zeit. Und ich habe bestimmt nicht
vergessen, was du für mich getan hast, Oswald. Davon abgesehen, habe ich
immer noch nicht begriffen, warum ich mich darum kümmern soll. Du
hast doch beim BND viel mehr Möglichkeiten als ich.“
Eine Weile sprach niemand. Jamal ahnte, dass er dieses Gespräch
lieber nicht mit anhören sollte. Wozu Pässe? Und was für Dokumente?
Endlich ergriff dieser Oswald wieder das Wort. „Das habe ich dir schon
einmal erklärt, Edmund. Ich darf nicht nach außen in Erscheinung treten.“
Der Tonfall des Majors ließ jetzt Erregung erkennen. Er schien
aufgebracht zu sein. „Ach ja, aber ich soll in Erscheinung treten? Und
wenn ich das getan habe, lässt du mich dann verhaften, Oswald?“
Nun schaltete sich dieser Araber wieder in das Gespräch ein.
„Niemand wird verhaftet, mein Freund. Doch der Unterschied zwischen
dir und uns ist, dass dein Job danach getan ist, während unser gerade erst
anfängt. Und dazu gehört, dich und deine Integrität zu schützen. Das klingt
doch einleuchtend, oder?“
Wieder eine kurze Unterbrechung. Dann antwortete der Major, jetzt
wieder mit ruhigerer Stimme: „Okay. Ich beschaffe euch die Pässe bis
März. Die Zeit brauche ich. Meine Möglichkeiten sind begrenzt. Das wäre
von Deutschland aus einfacher. Davon abgesehen kotzt mich dieses Land
nur noch an. Ich bin dir dankbar für diese Chance, Oswald. Aber ich habe
genug. Genug von Schießereien, Bombenangriffen, Blut, Hitze und
Schnee. Nächstes Jahr werde ich fünfundfünfzig! Ich sehne mich nach
meinem friedlichen, beschaulichen Kiel.“
Jetzt wieder der Europäer: „Gut, Edmund, dann erhöhe ich den
Einsatz. Weil wir Freunde sind. Und weil du noch mehr für die Sachte tun
kannst. Ich sorge dafür, dass du abkommandiert wirst. Mir schwebt da eine
interessante Position vor. Der Leiter der WTD 71 hatte einen Herzinfarkt.
Sieht nicht so aus, als käme er zurück. Und wenn doch, werde ich das
schon zu verhindern wissen. Du bist der ideale Nachfolger. Was für dich
einen großen Karrieresprung bedeutet. Denn der Leiter ist Oberst und
damit zwei Stufen über dir. In ein paar Wochen gehst du wieder an der
Ostsee spazieren. Im Gegenzug besorgst du die Pässe bis Februar. Und in
Kiel bist du jederzeit verfügbar. Denn auf dich kommen weitere Aufgaben
zu. Eine Reise nach Sibirien. Mit einem offiziellen Forschungsauftrag.“
„Das würdest du wirklich für mich tun? Aber wie soll das gehen? Ich
bin hier beim Heer. Die WTD 71 gehört zur Marine. Dazu noch ein Sprung
um zwei Dienstgrade. Und wieso Sibirien?“
„Wie gesagt, wir sind Freunde. Schon seit der Uni. So etwas
vergesse ich nicht. Und das mit den unterschiedlichen Einheiten und den
Dienstgraden kannst du getrost meine Sorge sein lassen. Nur dein
Gedächtnis scheint unter der afghanischen Sonne zu leiden. Kannst du dich
nicht an mein Gespräch mit dem Russen erinnern? Und an die Berichte
über die schmelzenden Permafrostböden in Sibirien? Und was man dabei
alles an interessanten Dingen finden kann?“
Jamal war konsterniert. WTD? Sibirien? Permafrostböden? Was
hatte das zu bedeuten? Und was für interessante Dinge? Der Major sagte:
„Doch, jetzt erinnere ich mich wieder. Ich habe das gar nicht ernst
genommen. Das klang wahnwitzig und entzieht sich meinem
Vorstellungsvermögen.“
Oswald lachte. „Wahnsinn, mein Lieber, ist ein Baustein des Erfolgs.
Ob sibirische Böden der Sache dienen, muss sich allerdings erst noch
zeigen. Jedenfalls könnte dein Posten bei der WTD 71 dabei von großem
Nutzen sein.“
Jamal hatte keine Ahnung, worum es sich bei dieser WTD 71
handelte. Der Araber auch nicht, denn er fragte danach. Oswald sagte
gedehnt: „W T D 7 1! Wehrtechnische Dienststelle. Die ist dem
Bundesamt für Ausrüstung, Informationstechnik und Nutzung der
Bundeswehr unterstellt. Die WTD 71 unterstützt die Deutsche Marine in
allen Fragen rund um Wehrwissenschaften und Wehrtechnik. Dazu zählen
Forschungsprojekte im maritimen Raum. Und damit, Edmund, würdest du
für uns noch wichtiger. Was sagst du dazu?“
„Ich bin überwältigt! Ich hatte mich längst darauf eingestellt, als
Major in Pension zu gehen. Aber Leiter der WTD 71. Dazu die Rückkehr
in meine Heimat. Nie wieder Bomben und Schießereien. Und ein
Forschungsprojekt in Sibirien? Für die ganz große Sache? Ja, das wäre
ganz nach meinem Geschmack. Das werde ich dir niemals vergessen,
Oswald. Du kannst jederzeit auf mich zählen!“
Kurz darauf gingen die beiden Männer. Jamal überlegte hin und her.
War er Zeuge einer Verschwörung geworden? Wenn ja, wem sollte er das
melden? Seine ranghöchste Bezugsperson war der Major. Vielleicht ging
es nur um eine Operation, von der er nichts wusste und die ihn auch nichts
anging. Aber durfte er den Major überhaupt ansprechen? Konnte er ihm
noch vertrauen?
Der Major nahm ihm die Entscheidung ab. Denn in diesem
Augenblick kam er um die Ecke und baute sich mit seinen eins neunzig
drohend vor dem schmächtigen, einen Kopf kleineren Jamal auf. Seine
blauen Augen schienen ihn zu durchbohren. Jamal stieß einen Laut des
Erschreckens aus. Der dunkle Igelschnitt des Majors ließ ihn noch
bedrohlicher wirken. „Haben mich meine Sinne also nicht getäuscht. Hast
du unser Gespräch belauscht?“
„Nein, nein, natürlich nicht! Wie käme ich dazu?“
„Das ist eine berechtigte Frage. Ebenso wie die Frage, wieso du dich
klammheimlich an eine Hauswand stiehlst.“
„Ich..., ich...will mich bei Ihnen bedanken. Für Ihren Einsatz. Dass
Sie persönlich dabei waren. Und ich möchte Sie etwas fragen. Als ich
mitbekommen habe, dass Sie im Gespräch mit diesen Männern waren,
dachte ich mir, dass es unhöflich wäre, Sie zu stören und ich lieber warten
sollte, bis Sie fertig sind.“
„Und du hast nichts von unserem Gespräch mitbekommen?“
„Nein, also, ich meine, nur zum Teil. Wortfetzen. Ich habe keine
Ahnung, worüber Sie gesprochen haben. Das geht mich auch nichts an.“
„Und wenn schon, das ist kein Geheimnis. Es geht um Projekte bei
der Bundeswehr. Ein Projekt betrifft Sibirien. Allerdings sind auch
Personen außerhalb der Bundeswehr daran beteiligt. Wir haben darüber
gesprochen, wie wir deren Identitäten schützen können. Und
erfreulicherweise auch über meine berufliche Zukunft. Aber weshalb
wolltest du überhaupt zu mir? Herzliches Beileid übrigens wegen deinem
Sohn. Schlimme Sache das. Ja, die Taliban, diese feigen Schweine. Gut,
dass wir die heute alle erledigen konnten. Also, was kann ich für dich
tun?“
Jamal folgte dem Major in sein Quartier und trug seine Bitte vor. Der
Major versprach ihm, ihn und seine Familie nach Deutschland zu bringen.
Bei der WTD 71 würden gute Dolmetscher gesucht. Doch Jamal spürte,
dass der Kommandant nicht die Wahrheit sagte. Nicht im Hinblick auf
Jamal und seine Familie. Und nicht im Hinblick auf das Projekt in
Sibirien.
Kapitel 4
Cambridge, Anfang Januar 2015
Bryan O´Connor schlenderte über den Campus der Harvard University, der
ältesten Universität der Vereinigten Staaten. Vor zwanzig Jahren hatte er
hier sein Volkswirtschaftsstudium mit summa cum laude abgeschlossen.
Einige spätere Präsidenten hatten in Harvard studiert: die entfernt
verwandten Theodore und Franklin D. Roosevelt, John F. Kennedy und
George W. Bush. Leonard Bernstein hatte in Harvard Klavier und
Komposition studiert, Robert Frost klassische Philosophie und Tommy
Lee Jones Anglistik. Die Prominentenliste der Harvardabsolventen war
lang.
O´Connor erinnerte sich an die alten Zeiten. Für ihn waren sie
ebenso wenig gut wie die neuen Zeiten. Trotz seines Erfolges war er nicht
glücklich. Dabei war er einer der am häufigsten zitierten Experten des
Forschungsnetzwerks des National Bureau of Economic Research, NBER.
Kaum ein anderer verfasste so viele Beiträge für das Macroeconomics
Annual wie er. Sein Spezialgebiet waren die Verflechtungen der
internationalen Finanz- und Gütermärkte, wechselseitige Abhängigkeiten
und die Empfindlichkeit globalisierter Märkte gegenüber Störungen.
Märkte waren ein Musterbeispiel der Chaostheorie. Kleine Ursache,
große Wirkung. Der berühmte Schmetterlingseffekt. Märkte waren
dynamische, nichtlineare Systeme, die auf Störungen höchst sensibel
reagieren konnten, bis zu ihrem Kollaps.
Die makroökonomischen Theorien gingen davon aus, dass Störungen
vorübergehender Natur waren und Märkte dank rationalen Verhaltens der
Akteure zu einem neuen Gleichgewicht tendierten. Das mochte für die
Zeiten geschlossener nationaler Finanzmärkte gegolten haben, aber nicht
für die heutige Zeit, in der sich Schocks in einem Land in
Sekundenschnelle über die hochvernetzten Finanzmärkte in der ganzen
Welt verbreiten konnten.
Die Schocks der Siebzigerjahre aufgrund der Ölpreisanstiege und die
darauf folgenden Verschuldungskrisen waren ein prominentes Beispiel für
O´Connors Überzeugung.
Vor diesem Hintergrund hatte er seine in der Wissenschaft
vielbeachtete, vom Mainstream abweichende Connor-Theorie entwickelt.
Sie basierte auf der Theorie der optimalen Währungsräume von Robert
Alexander Mundell, der dafür 1999 den Nobelpreis für
Wirtschaftswissenschaften verliehen bekam. O´Connors Modell sah vor,
Güter-, Kapital- und Arbeitsmärkte mit Währungsräumen zu
synchronisieren und zu überlappen, um so deren Komplexität auf ein
beherrschbareres Maß zu reduzieren. Was nicht zwangsläufig gegen
multinationale Handels- und Zollabkommen oder offene Finanzmärkte
sprach. Trat in einer Volkswirtschaft eine Störung auf, konnte sie gezielt
eliminiert und daran gehindert werden, auf das Gesamtsystem
überzugreifen und eine weltweite Wirtschaftskrise auszulösen.
O´Connor hatte sich gegen den Euro ausgesprochen, weil die
Wirtschaft der beteiligten Länder zu unterschiedlich und das
Gesamtgebilde nur schwer zu lenken war. Nicht die gemeinsame Währung
an sich war das Problem. Das mochte, für sich betrachtet, sogar
stabilisierende Wirkungen haben. Immerhin stellte Mundells Theorie der
optimalen Währungsräume die Basis für den Euro dar. Das Problem
bestand darin, und genau das prangerte Mundell an, dass Europa auch noch
eine Fiskal-Union anstrebte. Eine zentrale europäische Autorität, die alle
Steuern und Abgaben in der EU kontrollierte. Eine Illusion, die von
erschreckender Naivität zeugte!
Und was steckte dahinter? Genau das, wofür O´Connor die
Menschheit verachtete. Und weswegen seine Theorie nur auf
wissenschaftlicher Ebene beachtet wurde, die Regierungen sie jedoch nicht
in ihre Wirtschaftspolitik integrierten.
Schuld war eine, nein, die elementare Eigenschaft des Menschen:
Gier!
Deshalb stimmte seine Theorie in einem zentralen Punkt nicht mit
Mundell überein: Mundell forderte eine Kopplung von Euro, Dollar und
Yuan. Mit dem langfristigen Ziel einer Weltwährung, dem Bancor. Aber
genau das konnte nur funktionieren, wenn es jene elementare Eigenschaft
des Menschen nicht gab.
Bryan O´Connor war als Sohn irischer Einwanderer in Lowell
aufgewachsen. Sein Vater hatte an der auf Ingenieurwissenschaften
spezialisierten Universität von Massachusetts studiert, die eher
beschaulich war, aber über einen eigenen, atomaren Forschungsreaktor
verfügte. Nach dem Studium konzentrierte er sich auf Photovoltaik. Heute
war er Leiter des Entwicklungsteams von Konarka.
Schon als Kind hatte der sommersprossige, rothaarige Bryan sich für
die Wirtschaft seiner Heimatstadt und den Arbeitgeber seines Vaters
interessiert. Während sich seine Schulkameraden auf Bolzplätzen
rumtrieben, um stupide irgendwelchen Bällen hinterherzujagen, studierte
er bereits im Alter von zehn Jahren einschlägige Werke über die gängigen
Theorien der Volkswirtschaft. Anfangs hatte er geglaubt, dass es die ideale
Volkswirtschaft gab, in der vollkommene Transparenz und damit
Planbarkeit herrschte. Doch schon bald begriff er, dass das Ziel jeder
Volkswirtschaft in Wachstum und das des Individuums in der
Maximierung von Gewinn und Wohlstand bestand. Daraus musste sich
zwangsläufig jenes chaotische System entwickeln, das die Märkte heute
beherrschte.
Genau da setzte sein Frust an. Seine Ideale waren nicht mit der
menschlichen Realität vereinbar. Nach außen war er der freundliche,
wohlerzogene Junge geblieben, der Baseball spielte und über so
überragende Fähigkeiten verfügte, dass er an der Harvard University
angenommen wurde. Aber in seinem Inneren regierten Desillusionierung
und eine tiefe Verachtung für die Rasse Mensch, die aus Egozentrikern mit
minderbemitteltem Selbstwertgefühl bestand.
Er konnte exakt vorhersehen, wohin diese Welt steuerte. Die
Expansionsziele multinationaler Unternehmen und das politisch forcierte
Wachstum Chinas führten zu einem immer komplexeren und instabileren
System. Das beschleunigte, zusammen mit Chinas rücksichtslosem
Energiehunger, die ökologischen Probleme. Die Totschlagargumente der
sogenannten ökologischen Industrie, ihre Produkte trügen zum
Umweltschutz bei, waren nichts als Augenwischerei. Man musste sich nur
die Ökobilanzen dieser Produkte anschauen, um zu begreifen, dass es nur
eine Strategie gegen die globale Umweltzerstörung gab:
Verzicht!
Verzicht auf weiteres Wachstum. So wie es seine Theorie postulierte.
Doch die Welt befand sich in einem ungebremsten Güter- und
Ressourcenverbrauch, dessen Wachstum seit den sechziger Jahren nicht
mehr zu einer Steigerung der Lebensqualität geführt hatte. Mit anderen
Worten: Bereits seit einem halben Jahrhundert war Wachstum überflüssig.
Neben seiner Theorie hatte er unzählige Aufsätze dazu geschrieben.
Über wachsenden Arbeitsstress, über den Reboundeffekt von
Produktivitätssteigerungen, über die fatalen Risiken neuer Technologien,
das rasante Wachstum der Erdbevölkerung, die wachsende Kluft zwischen
Arm und Reich und die dadurch zunehmenden kulturellen und religiösen
Gegensätze und Feindschaften.
Nine-Eleven war kein Zufall gewesen, sondern Ausdruck einer
bedrohlichen Entwicklung des Terrorismus. Ebenso wie der verheerende
Anschlag von Bali am 12. Oktober 2002, als in Paddy´s Bar eine
elektronisch gezündete Bombe hochging, die mehr als zweihundert
Menschen in den Tod riss. Beide Anschläge waren auf islamistische
Terrorgruppen zurückzuführen. Der Islam verachtete den westlichen
Lebensstil. Und mit Militärschlägen im Irak und in Syrien, sinnlosen
Luftangriffen auf arabischem Boden, verschärfte der Westen die
Gegensätze der großen Kulturen weiter.
Und so gab es immer mehr Verblendete, die ihrem Selbsthass im
Deckmantel der Religion gewaltsam Ausdruck verliehen. Wie dumme
Schafe ließen sie sich von den Terrorführen der GESA für ein paar tausend
Dollar Handgeld und einen guten Kriegslohn anwerben und in den
Heiligen Krieg schicken. Der Terror gab ihnen das Gefühl, eine Bedeutung
zu haben. Die Führer hatten leichtes Spiel, den Hass zu schüren. Denn sie
hatten ein großes Ziel: Die von Mohammed vorausgesagte Schlacht in
Dabiq, einem kleinen, unscheinbaren Dorf im Norden Syriens, nur zehn
Kilometer von der türkischen Grenze entfernt. Die finale Schlacht des
Islam gegen die Welt der Ungläubigen, die siegreich in einer islamischen
Welt des Friedens enden sollte.
Warum gab es diese Verblendeten? Weil sie die Verlierer der
neoliberalen Modernisierung waren. Gescheiterte Existenzen, ohne
Schulabschluss und Ausbildung, die meistens schon zuvor Straftaten
begangen hatten. Gewalttaten, Diebstähle, Drogen. Die Liste ihrer
Vergehen war lang.
Und wen machten sie für ihr Scheitern verantwortlich? Die
Gesellschaft.
Sie wurden nicht von der GESA geschickt, sondern wuchsen dort
auf, wo sie ihre Anschläge verübten. Sie kamen aus den Vorstädten. So wie
vor zehn Jahren, als die Banlieues brannten. Was waren ihre Motive? Sie
wollten Franzosen sein, mit allen Rechten, aber ohne Pflichten. Das war
das giftige Gebräu, aus dem Terroristen entstanden.
Noch schlimmer wurde es, als die Jyllands-Posten unter dem Titel
„Das Gesicht Mohammeds“ eine Serie von zwölf Karikaturen des
Propheten veröffentlichte. Es folgten weitere Karikaturen in mehreren
europäischen Ländern. Karikaturen, die aus Sicht des Islam beleidigend
waren, zumal der Koran verbot, Mohammed im Bild darzustellen. Eine
überflüssige Provokation. Die verantwortlichen Medien und Zeichner
verkrochen sich hinter ihrer demokratischen Meinungsfreiheit.
Das war nicht das, was O´Connor unter Meinungsfreiheit verstand.
Denn über der Meinungsfreiheit stand der Respekt!
Die Wurzeln allen Übels waren die Arroganz und Gier des Westens.
Die Verschwendung von Ressourcen, die typische Nach-mir-die-Sintflut
Mentalität. Viele Menschen trennten ihren Müll. Aber ihn durch Verzicht
gar nicht erst entstehen zu lassen? Verzicht auf Produkte aus anderen
Erdteilen? Verzicht auf den Wochenendtripp mit dem Motorrad oder dem
Billigflieger?
Verzicht?
Undenkbar für den modernen Menschen des Westens. Verzicht war
ein nicht existentes Wort in dieser Kultur. Dabei waren Degrowth, der
Verzicht auf Wachstum, und kleine, kontrollierte Volkswirtschaften die
einzige Antwort auf die wachsenden Probleme, die auch dem
islamistischen Terror den Wind aus den Segeln nehmen würde. Doch nie
zuvor war die Menschheit so weit vom wahren Fortschritt entfernt wie
heute. Zielstrebig steuerte sie einem Abgrund entgegen, den sie selbst
geschaffen hatte. Ein Abgrund, dem auch überragende, weitsichtige
Persönlichkeiten wie er zum Opfer fallen mussten. Und wenn auch
Menschen wie er starben, Menschen mit einer höher entwickelten
Intelligenz, starb mit ihnen auch die letzte Hoffnung der Menschheit.
Soweit durfte es nicht kommen!
O`Connor sah sich um. Sein Blick fiel auf die Baumgruppe, in deren
Schatten er als Student so manches Picknick gemacht hatte. Mit Amy,
einer Studienkollegin. Die einzige feste Beziehung in seinem Leben. Das
war lange her. Amy hatte ihn nach vier Jahren verlassen, weil sie sein, wie
sie es formulierte, permanentes Lamentieren nicht länger ertragen konnte.
„Bryan O´Connor“, hatte sie gesagt, „du bist ein selbstgerechter,
arroganter Weltverbesserer. Dabei bist du keinen Deut besser als die
anderen. Mit dir kann keine Frau glücklich werden.“
Die Trennung selbst hatte Bryan nicht schockiert. Amy war ihm
intellektuell nicht gewachsen. Aber ihre Ignoranz und Gleichgültigkeit
hatten ihn zur Weißglut getrieben. Eben weil die Mehrheit der Menschen
so war wie Amy, egozentrisch, oberflächlich, konsumgeil und nicht zur
kritischen Selbstreflexion bereit, steuerte die Menschheit dem Untergang
entgegen. Gäbe es hingegen viel mehr von seiner Sorte, Altruisten von
überragender Intelligenz, die bereit waren, Verantwortung zu übernehmen
und persönlichen Verzicht zu leisten, wäre das Paradies auf Erden
möglich.
Was war der wahre Plan der Schöpfung?
Er schaute auf seinen Chronometer. 18.00 Uhr. Gleich war es soweit.
Das Ehemaligentreffen des Abschlussjahrgangs von 1992. Eines der
wenigen Highlights, auf die sich O`Connor freute. In diesem gehobenen
akademischen Kreis gab es Menschen, die seine Ansichten teilten, sie
überhaupt erst intellektuell erfassen konnten. Schon während des Studiums
hatten sie gemerkt, wie ähnlich sie tickten. Regelmäßig hatten sie sich
getroffen, um zu diskutieren. The Harvard Debaters hatten sie sich
genannt. Sie hatten Weltanschauungen hinterfragt, neue erdacht, Vor- und
Nachteile der Staatsformen erörtert.
Nach dem Studium setzten sie diese Tradition fort. Sie hatten sich
geschworen, alles in ihrer Macht Stehende zu tun, um dem Untergang der
Zivilisation Einhalt zu gebieten. Der Frust über das Versagen der
Menschheit hatte sie zu einer eingeschworenen Gemeinschaft gemacht und
den Circle ins Leben gerufen. Jeder von ihnen war beruflich und finanziell
überdurchschnittlich erfolgreich. Edward war wegen besonderer
Leistungen auf dem Gebiet der Virologie sogar für den Nobelpreis für
Medizin nominiert worden.
Seit einiger Zeit standen ihre Treffen allerdings unter einem anderen
Zeichen. Einem Zeichen der Hoffnung und des Aufbruchs. Ihr Erfolg, ihre
Stellung, ihr Geld und ihre Netzwerke machten sich endlich bezahlt.
AURORA nahm Strukturen an. Der Circle konnte immer mehr VIP-
Mitglieder verzeichnen. Der Kreis der Überlegenen, der sich von der form-
und gesichtslosen Masse abhob, mochte klein sein, aber er fand zusammen
wie starke Magnete.
Es gab noch viele offene Fragen, aber die konnten mithilfe externer
Helfer, freiwillig oder unfreiwillig, beantwortet werden. Wie bei einem
Puzzle fügte sich eins zum anderen. Und weil die Erfahrung lehrte, dass in
jedem noch so perfekt geplanten Projekt etwas schiefgehen konnte, musste
AURORA redundant sein. Scheiterte ein Meilenstein, mussten andere
voneinander unabhängige Meilensteine eingreifen. Das erforderte die
besten Experten der Welt. Die Besten der Besten, die geistige Elite, die mit
ihrem Wissen dazu beitragen konnte, dass aus der Macht von Gedanken
eine bessere Welt entstand.
Diese Leute ausfindig zu machen, war der aufwändigste Teil von
AURORA. Auf der ganzen Welt hatten die Mitglieder des Circle diese
Leute gesucht. Und viele großartige Persönlichkeiten gefunden, die keine
Ahnung hatten, worum es bei AURORA ging. Es war nicht gesagt, dass sie
hinter der Sache standen, wenn sie es erfuhren. Aber das spielte keine
Rolle. Denn wenn sie wussten, worum es ging, gab es kein Zurück mehr.
Aber Hoffnung, wenn sie sich mit AURORA identifizierten.

***

O`Connor hatte irgendwann angefangen, nervös auf die Uhr zu schauen. So


sehr er sich auch darauf gefreut hatte, diesmal fieberte er dem Ende des
Ehemaligentreffens entgegen, um sich mit dem harten Kern zurückziehen
zu können. Den meisten Mitgliedern des Circle war es so ergangen. Auch
Kimberly und Edward, die inzwischen verheiratet waren und glücklich
wirkten. Edward hatte allerdings zugenommen. Seine einst dichten
schwarzen Haare waren nur noch graue Fransen. Er war achtundvierzig,
sah aber aus wie Mitte fünfzig. Doch das schien weder ihn noch Kimberly
zu stören, die genauso alt war wie Edward, aber mit ihren blonden Locken
und der glatten Haut zehn Jahre jünger wirkte.
Obwohl die beiden am lockersten von allen waren, war es
ausgerechnet Edward, der unvermittelt erklärt hatte, dass ihn wieder
einmal seine Migräne quälte. Da war es noch nicht einmal 23.00 Uhr
gewesen. Dann hatte er O´Connor zugenickt und gesagt, dass er noch bis
halb zwölf anklopfen könne, um sein Buch abzuholen. Eine gelungene
Finte. Denn es gab kein Buch. Und Migräne hatte Edward auch nicht.
Hinter seiner aufgeräumten Fassade nagte die Ungeduld genauso wie an
Bryan. Als Bryan sagte, dass er gleich mitkommen würde, führte das fast
zur Auflösung der Runde. Nur ein paar Ehemalige, die schon ziemlich
angeheitert waren, blieben zurück. Bryan ahnte, dass auch sie auf diesen
Augenblick gewartet hatten, um sich endlich hemmungslos abschütten zu
können. Wie schon während des Studiums. Bryan verachtete sie. Weil sie
die Probleme der Welt einfach wegsoffen.
Immerhin konnten sie sich jetzt über wichtigere Themen unterhalten.
Auch wenn der Circle unvollständig war. David Moore, der General of the
Armies of the United States, war in Sibirien. Er traf sich mit
Flottenadmiral Dmitrij Michajlowitsch Tschechow, dem Bryan im
vergangenen Jahr zum ersten Mal persönlich begegnet war. Sie hatten
sofort erkannt, dass sie für dieselbe Sache brannten. Tschechow war vorher
nur einmal in der Zentrale gewesen. Das hatte ihm gereicht, um zu
erkennen, dass der Circle das war, wonach er sein Leben lang gesucht
hatte. Den Einfluss, den David in den USA hatte, hatte Tschechow in
Russland. Für die Phasen eins und drei waren die beiden Soldaten
unverzichtbar. Dank ihres Einflusses konnten sie das Unmögliche möglich
machen. Tschechow hatte einen guten Mann für das Operative, der ihm in
Treue und Freundschaft verbunden war und sich für sein Land opfern
würde. David war in Sibirien, um diesen Mann kennenzulernen.
Kimberly wusste, warum auch Richard Armstrong heute nicht dabei
war. „Richard ist in Deutschland, um sich mit Oswald Pfeiffer zu treffen.
Es geht um die Zeitplanung von Wave. Wir werden vor allem in
europäischen Gewässern operieren. Pfeiffer hat gute Verbindungen zu den
meisten Geheimdiensten und zu Interpol. Laut Richard steht Pfeiffer nicht
nur hinter AURORA, sondern verkörpert AURORA. Er kann uns helfen,
unsere Operationen im Atlantik als Übungsmanöver zu tarnen. Richard und
Pfeiffer fahren im Februar mit ein paar Terrorverdächtigen nach
Damaskus, um mit unseren islamischen Freunden in Kontakt zu bleiben
und über die Operation Ice zu sprechen. Ihr seht, AURORA kommt
planmäßig voran.“
Rebecca Eliot, die als erste jene Ideen am Rande des Wahnsinns
geäußert hatte, die mit AURORA nun den Weg in die reale Welt fanden,
nickte zufrieden.
„Genau so habe ich mir das vorgestellt. Der Circle bleibt
überschaubar und besteht nur aus überzeugten und loyalen Menschen. Das
bedeutet im Umkehrschluss, dass wir jedem von uns vertrauen können, der
sich um die nötigen Leute in seinem Bereich kümmert. Ich habe keinen
Zweifel, dass unser Mann in Sibirien erstklassige Arbeit leisten wird. Und
unser Mann in Syrien hat die notwendigen Kontakte, um „Flüchtlinge“ für
die Operation Ice anzuheuern. Ich selbst werde in Kürze nach Deutschland
reisen, um einem Hinweis aus Peking nachzugehen. Mit ein bisschen
Glück haben wir danach unseren Projektleiter für Wave gefunden. Wie
macht sich denn unser Mikrobiologe, Edward?“
Edward Coleman war wie Kimberly Arzt. Aber während sie
Kardiologin war, hatte er sich auf virale und bakteriologische Infekte
spezialisiert. Deshalb war er prädestiniert für die Operation Ice. Er wiegte
den Kopf nachdenklich hin und her.
„Ich kann ihn schwer einschätzen. Ich dachte, dass sich ein Mann
von seinem Format mit der Aussicht auf ein Projekt mit unbegrenzten
Mitteln und einen Nobelpreis ködern lässt. Ich halte es aber für denkbar,
dass er versuchen wird, abzuspringen.“
„Gut“, sagte Rebecca kühl, „dann weißt du ja, was zu tun ist. Hast du
schon einen Ersatz?“
„Ja, ich denke an eine herausragende Persönlichkeit. Ihm wurde für
seine Leistungen auf dem Gebiet der Mikrobiologie der Nobelpreis
verliehen. Er wird mit Lorbeeren überhäuft. Wir haben ihn bereits
kontaktiert, damit wir rasch einen Nachfolger haben. Ich glaube nicht, dass
er der Versuchung widerstehen kann. Außerdem gilt er als skrupelloser
Hund, wenn es um seine Forschungen geht.“
„Und wieso, mein Freund, hast du den Mann dann nicht als Ersten
angesprochen? Wenn du dir bei ihm so sicher bist?“
„Weil er eine Frau und vier Kinder hat. Unser aktueller Projektleiter
ist alleinstehend.“
Rebecca nickte. „Das ist ein Argument. Jedes Familienmitglied
bedeutet ein Risiko.“ Sie wandte sich an O´Connor. „Was machen deine
Forschungen zu den wirtschaftlichen Auswirkungen von AURORA?
Brauchst du Unterstützung?“
Bryan ließ sich einen Moment Zeit mit seiner Antwort. So sehr er
auch von der Loyalität und Zuverlässigkeit des Circle überzeugt war, bei
Rebecca überkamen ihn manchmal Zweifel. Er hatte den Eindruck, dass
sie nicht nur für die Sache brannte, sondern auch persönliche Motive
hegte. Allerdings war das nur ein Gefühl. Denn abgesehen von der
Tatsache, dass sie letztlich die Mutter von AURORA war und bei ihren
Treffen mitunter die Führung übernahm, hatte sie bislang kein
übermäßiges Machtstreben erkennen lassen. Und Vertrauen war die Basis
ihrer gemeinsamen Vision.
„Ich brauche keine Unterstützung“, sagte er. „Es dürfte nur wenige
geben, die wie ich in der Lage sind, die Auswirkungen solcher
Katastrophen auf die Weltwirtschaft zu prognostizieren. Außerdem muss
ich kaum etwas anderes machen als rechnen. Ich arbeite jede neue
Erkenntnis aus unseren Projekten in meine Modelle ein und simuliere so
auf der Basis von immer mehr Daten die möglichen Reaktionen der
Märkte. Aber Phase zwei, die Operation Ice, ist das Kernstück, das Herz
von AURORA. Sie allein würde zu Chaos führen, zu einer
Weltwirtschaftskrise bislang unbekannten Ausmaßes. Das Chaos wäre,
ceteris paribus, anhaltender Natur, weil Phase zwei, im Unterschied zu
Phase eins, nicht temporär, sondern anhaltend wirken würde. Phase drei
liegt irgendwo dazwischen. Ausmaß und Dauer des Chaos sind bislang nur
schwer abzuschätzen. Aber Phase drei ist eine abstraktere Bedrohung.
Während Phase zwei durch die rasend schnelle Verbreitung von richtigen
und falschen Informationen über soziale Netzwerke rasch zu einer
weltweiten Massenpanik führen wird, dürfte Phase drei keine solche Panik
auslösen. Aber das herauszufinden ist ja deine Aufgabe, Rebecca.“
„Stimmt. Und mich beschleicht das Gefühl, dass wir den Golfstrom
überschätzen. Umso mehr fiebere ich Deutschland entgegen. Danach
werde ich wissen, ob der Golfstrom für Phase eins geeignet ist. Wenn
nicht, werde ich mich unverzüglich um Alternativstrategien kümmern.“

***
Es ist brütend heiß. Kein Regen. Nur Hitze, Hitze, und nochmals Hitze.
Der ganze Sommer war so. Eine einzige Qual. Die Sonne flimmert über
der erhitzten Erde. Der heiße Wind wirbelt Sand und Unrat auf und
schleudert ihn in die Höhe.
Sie sind zu viert.
Sie haben Waffen.
Sie kennen keine Gnade.
Wieviel Zeit ist vergangen? Zehn Minuten? Zwanzig? Eine Stunde?
Was ist Zeit? Was spielt Zeit für eine Rolle?
Zeit ist nichts anderes als eine Maßeinheit des Grauens.
Die zweite Runde. Die zweite Maßeinheit des Grauens. Vier mal
zwei macht acht.
Hitze, Schweiß, beißender Gestank.
Heißer Atem, irre Blicke.
Boshaftes Lachen, lautes Gestöhne. Wie tollwütige Tiere.
Menschen, die achtlos vorübergehen.
Plötzlich Schüsse. Schreie. Blut, das in hohem Bogen aus zum
letzten Mal schlagenden Herzen schießt und den Sand rot verfärbt. Vier
leblose Körper am Boden. Die Augen weit aufgerissen.
Asche zu Asche.
Bekommt Zeit jetzt wieder eine andere Bedeutung?

Sie sind zu dritt.


Andere Uniformen. Andere Stimmen. Andere Waffen.
Sie kennen keine Gnade.
Der Retter ist der Schlächter.
Ein boshaftes Grinsen. Stimmen, unheimlich verzerrt, so als würde
eine alte Schallplatte zu langsam abgespielt.
Die Zeit ist wieder nur eine Maßeinheit des Grauens.
Hitze, Schweiß, beißender Gestank.
Heißer Atem, irre Blicke.
Boshaftes Lachen, lautes Gestöhne. Wie tollwütige Tiere.
Menschen, die achtlos vorübergehen.
„Komm schon, jetzt du!“
„Ich weiß nicht recht. Das ist doch nicht okay! Das ist ein
Verbrechen!“
„Was redest du für einen Blödsinn! Ein Verbrechen ist es, wenn du
deine Kameraden im Stich lässt. Und meinst du nicht auch, dass wir uns
das verdient haben, bei all der Scheiße und dem Elend, das uns hier jeden
Tag begegnet?“
Ein Zögern. Staub und Unrat, den der heiße Wind aufwirbelt.
Menschen, die achtlos vorüber gehen, als würde nichts geschehen.
Gehässiges Lachen, wie aus weiter Ferne, wie durch einen schützenden
Nebel.
Vier tote Männer. Der Geruch von Hitze, Blut und Schweiß. Und von
Tod. Schmerzen. Ein Maß des Grauens. Auf Gedeih und Verderb
ausgeliefert.
Panik. Aus und vorbei.
„Du hast recht. Das haben wir uns verdient!“
Ein Sturmgewehr, das in den Dreck geworfen wird. Staub, der dabei
aufgewirbelt wird. Überall Stiefel. Hände, die Beine brutal auseinander
reißen.
Gehässiges Lachen. Schmerzen. Grauen. Alles dreht sich im Kreis.
Hitze, Schweiß, beißender Gestank.
Heißer Atem, irrer Blick.
Boshaftes Lachen, lautes Gestöhne. Wie ein tollwütiges Tier.
Menschen, die achtlos vorübergehen.
Minuten des Grauens, die vergehen wie Stunden des Sterbens.

Schweißgebadet schreckte Rebecca Eliot auf. Es war stockfinster.


Nichts konnte sie sehen. Wo war sie? Hörte sie nicht jemanden atmen?
Wie jedes Mal dauerte es eine Weile, bis sie begriff, dass sie nur
geträumt hatte. Und wieder überkam sie das lähmende Gefühl von Panik.
Und diese unerträgliche Ungerechtigkeit, die sie bis ans Ende ihrer Tage
verfolgen würde. Sie hatte fürchterliche Kopfschmerzen. Der Wecker
zeigte fünf Uhr dreißig. Sie wusste, dass ihr nur zwei Dinge helfen
würden, aus diesem Alptraum aufzuwachen. Wenn auch nur für heute.
Kopfschmerztabletten und ein ausgedehnter Waldlauf. Sie ignorierte das
Pochen in ihren Schläfen, ging ins Bad und drückte drei Aspirin aus der
Packung.
AURORA bedeutete den Neubeginn der Welt und das Ende des
Grauens. Ihres Grauens.
Kapitel 5
Kabul, Mitte Januar 2015
Jamal Akbar hatte seit seinem Gespräch mit dem Major nichts mehr von
ihm gehört. Im Gegenteil, er ging ihm aus dem Weg. Und er und seine
Familie durften das Lager nicht verlassen. Warum nicht? Er durfte sich
doch frei bewegen. Und seine Familie war freiwillig hier. Das musste
etwas mit dem Gespräch zu tun haben, dessen Zeuge er geworden war.
Zumal man ihnen die Handys abgenommen hatte. Offiziell hieß es, man
wolle verhindern, dass sie geortet werden. Das diene ihrer Sicherheit.
Blödsinn! Sie sollten keinen Kontakt nach außen haben! Sie waren dem
Wohl und Wehe des Majors auf Gedeih und Verderb ausgeliefert. Wen
würde es kümmern, wenn sie plötzlich verschwanden?
Es gab nur zwei Erklärungen: Entweder das diente tatsächlich ihrer
Sicherheit. Theoretisch denkbar. Aber unlogisch. Handys, die geortet
wurden? Von wem denn? Von den Taliban? Und selbst wenn, was hätte das
für Folgen? Keine. Also musste es um dieses verdammte Gespräch gehen.
Jamal war ein gefährlicher Zeuge. Aber Zeuge wovon? Was kam als
nächstes? Was hatte der Major vor? Hier konnte er ihnen nichts antun. Das
wäre zu riskant. Es sei denn, die ganze Einheit war in eine Verschwörung
verstrickt. Sehr unwahrscheinlich. Dann hätte der Major sich nicht
heimlich mit diesen Leuten unterhalten müssen, als die Soldaten in ihren
Betten lagen. Außerdem grenzte es an Paranoia, dass eine Einheit
ausgerechnet der Bundeswehr in eine Verschwörung verstrickt war.
Jamal stand vor seinem Zelt, rauchte, und schaute in den
sternenklaren Himmel. Bei Nacht hatte Afghanistan etwas Mystisches. Der
Schnee aus dem Vormonat war längst geschmolzen, aber erneut herrschte
Frost. Eine klare, kalte Nacht. Ruhig und friedlich. Warum durften er und
seine Familie und viele andere afghanische Familien nicht in Frieden in
ihrem Land leben?
Mehr als eine Millionen Afghanen waren der militärischen
Intervention Russlands zum Opfer gefallen. Und was war danach
gekommen? Noch größeres Chaos. Die einst von den USA mit Waffen
ausgestatteten Mudschahedin hatten Kabul eingekesselt, das nur über eine
Luftbrücke der Russen versorgt werden konnte. Weder die Regierung unter
Mohammed Nadschibullāh noch der heterogene Widerstand waren in der
Lage, das Land zu führen. Viele Kämpfe und ergebnislose
Vermittlungsversuche folgten. Die Taliban gingen schließlich als Sieger
daraus hervor und errichteten einen islamischen Gottesstaat. Einen
Terrorstaat. Und weil der für die Anschläge vom 11. September
verantwortlich gemacht wurde, mischten sich die USA erneut ein,
verbündeten sich mit der Vereinigten Front gegen die Taliban und lieferten
Unterstützung in Form von Luftangriffen.
Kabul und andere Städte konnten befreit werden. Die Taliban erlitten
empfindliche Verluste. Doch auch die danach eingesetzte Regierung
konnte keine Strukturen schaffen. Vielmehr waren seit einigen Jahren die
Neo-Taliban auf dem Vormarsch und attackierten den verhassten
westlichen Feind mit ihrer Guerillataktik. Immer wieder gab es Versuche
der Kooperation zwischen den USA oder Europa und seinem Land. Doch
die Taliban erwiesen sich als dauerhafter und zäher Gegner. Nein, auf diese
Weise würde er keinen Frieden in seinem Land finden.
Jamal rauchte viel und dachte nach. Er erwog Optionen, die er
eigentlich gar nicht hatte. Der Morgen dämmerte schon, als er endlich
einen Entschluss gefasst hatte, den er sogleich in die Tat umzusetzen
gedachte. Er ging zum Quartier des Majors und klopfte an. Keiner der
Soldaten in der Nähe hielt ihn auf. Das wertete Jamal als gutes Zeichen.
Als der Kommandant öffnete, noch im Schlafanzug, wirkte er überrascht.
„Jamal, was willst du denn in aller Herrgottsfrühe hier?“ Sein Tonfall
klang nicht sonderlich freundlich.
Jamal kam direkt zur Sache. „Ich möchte noch heute mit meiner
Familie weg von hier. Wir leben in ständiger Angst. Haben Sie etwas
erreicht? Wenn nicht, versuchen wir, das Land auf eigene Faust zu
verlassen.“
Jamal wusste, dass sein Auftritt respektlos war. Aber er wollte die
Reaktion des Majors testen. Er musste wissen, woran er war. Der Deutsche
musterte Jamal aus zusammengekniffen Augen. Seine Kiefer mahlten.
Jamal fühlte sich unwohl. Er spürte, wie sich trotz der Kälte Schweiß unter
seinen Achseln bildete. Sekundenlang ging das so. Plötzlich entspannten
sich die Gesichtszüge des Majors und wichen einem freundlichen Lächeln.
„Deswegen musst du mich doch nicht gleich aus dem Bett holen.
Natürlich habe ich etwas erreicht. Das habe ich dir doch versprochen.
Komm rein.“
Jamal folgte dem Major, drehte sich um und vergewisserte sich, dass
ihm niemand folgte. Wagner bedeutete Jamal, sich zu setzen.
„Also“, begann er mit gedehnter Stimme. „Ich habe mit Oswald
Pfeiffer telefoniert. Du erinnerst dich? Und weil wir alte Freunde sind, hat
er sich in Kiel umgehört. Und was soll ich sagen? Sie benötigen bei
meiner neuen Einheit, der WTD 71, dringend einen Dolmetscher mit
deinen Sprachkenntnissen. Es gab schon einen aussichtsreichen
Kandidaten, aber...“. Der Major zwinkerte Jamal verschwörerisch zu.
„Aber Pfeiffer hat dafür gesorgt, dass der Mann in letzter Sekunde
abgelehnt wurde und du mit deinen Erfahrungen und Referenzen an erste
Stelle gerückt bist. Du kannst schon nächsten Monat anfangen. Geregelte
Arbeitszeiten, ordentliches Gehalt, Frieden, wohin du schaust. Und eine
Wohnung in der Nähe der Kaserne hat Pfeiffer auch schon für euch
besorgt. Nur mit dem schlechten Wetter wirst du dich abfinden müssen.
Pfeiffer kommt nächste Woche. Er wird die Verträge mitbringen, die du
nur noch unterschreiben musst, und schon sitzt ihr mit ihm im Flieger
nach Deutschland. Wie hört sich das für dich an?“
Jamal wurde übel. Er spürte, wie Magensäure seine Speiseröhre
flutete. Was ihm der Major anbot, war das Paradies auf Erden. Einen
Moment musste er gegen die Tränen ankämpfen. Warum konnte nicht
genau das geschehen? Jamal träumte davon, mit seiner Familie in
Deutschland zu leben. Seine Frau war intelligent. Sie würde Deutsch
lernen. Und die Kinder kämen auf eine ordentliche Schule. Ein Leben wie
aus dem Bilderbuch. Doch Bilderbücher waren Fiktion. Und Jamal war
klug. Er hatte das innere Auge. Er durchschaute den Major. Jamal hatte
sich nicht geirrt: Er war Zeuge eines illegalen Plans geworden. Bestimmt
steckte noch mehr dahinter. Das herauszufinden, konnte eine
Lebensversicherung für ihn und seine Familie bedeuten.
Doch in diesem Augenblick versuchte der Major, ihn in eine Falle zu
locken. Jamal musste herausfinden, wie genau diese Falle aussah. Eine
Hinrichtung in den Bergen, wo sie niemand jemals finden würde?
Auslieferung an die Taliban? Eine Entführung mithilfe dieses Pfeiffers?
Jamal erwiderte den freundlichen Blick des Deutschen. „Ich bin
sprachlos. Damit hätte ich niemals gerechnet. Jetzt verstehe ich auch,
warum wir mit niemandem telefonieren sollten. Und erst recht nicht das
Lager verlassen. Das diente unserem Schutz. Ich hatte schon befürchtet,
Sie würden mir sagen, dass Ihre Bemühungen fruchtlos waren. Ich werde
Ihnen bis in den Tod dankbar sein. Wie geht es jetzt weiter?“
Der Major lächelte jovial. „Wir warten, bis Oswald Pfeiffer kommt,
dann unterschreibst du die Verträge, und ruck zuck seid ihr in Deutschland.
So läuft das, wenn man die richtigen Verbindungen hat. Aber eines muss
dir klar sein, Jamal: Das ist ein richtiger Job, sehr anspruchsvoll. Viel
anspruchsvoller als deine Aufgaben hier. Und du wirst viel zu tun haben.
Mach mir also keine Schande. Ich zähle auf dich!“
Während Jamal antwortete, entwickelte er bereits einen Fluchtplan.
Dieser Pfeiffer kam in einer Woche. Er stand über dem Major. Das hatte
sich aus dem Gespräch ergeben. Das bedeutete, dass der Major nichts ohne
Pfeiffer entscheiden konnte. Und eine Entscheidung war noch nicht
gefallen. Sonst würde Jamal nicht mehr unbehelligt in dem Lager
herumlaufen und an die Tür des Majors klopfen. Sie würde spätestens
fallen, wenn Pfeiffer nach Kabul kam. In diesem Punkt hatte der Major die
Wahrheit gesagt. Pfeiffer kam tatsächlich. Dann ging es nur noch um die
Frage, wie Jamal und seine Familie ausgeschaltet werden sollten. Jamal
hatte lange genug in diesem Krieg gelebt. Er wusste, wozu Menschen fähig
waren.
Er verabschiedete sich mit dem Versprechen, auf Pfeiffer zu warten,
mit niemandem außerhalb des Lagers zu sprechen, was er ohnehin nicht
konnte, und seine Aufgabe an der Ostsee mit vollem Engagement
anzugehen.
Jamal kehrte in das Zelt seiner Familie zurück. Die Kinder schliefen
noch. Seine Frau empfing ihn mit einem besorgten Gesicht und fragte, wo
er die ganze Nacht gewesen sei. Doch anstatt darauf einzugehen, erklärte
er ihr, dass sie das Lager verlassen mussten. Sie waren hier nicht mehr
sicher.
Drei Dinge waren wichtig, doch die behielt er vorläufig für sich. Die
Flucht musste innerhalb der nächsten fünf Tage vonstattengehen. Bevor
Pfeiffer kam. Sie mussten einen Tag, besser eine Nacht wählen, in der
Wachen Dienst hatten, die Jamal gut kannte und die ihm seine
Lügengeschichte glauben würden. Und er musste vorher den Fluchtweg
festlegen. Innerhalb Afghanistans und durch die Länder, durch die sie am
ehesten unbehelligt nach Deutschland kamen.
Jamal breitete vor seinem geistigen Auge eine Landkarte aus.
Zunächst mussten sie es schaffen, aus Afghanistan rauszukommen.
Turkmenistan bot sich an. Das war weniger gefährlich als Usbekistan.
Vielleicht war es klug, zunächst nach Westen zu fahren und ein Stück
durch den Iran zu fliehen. Gefährlich, aber damit würde niemand rechnen.
Am besten bewegten sie sich dort nur nachts. Waren sie erst einmal aus
Afghanistan raus, war schon eine große Hürde genommen. Dann ging es
weiter über Aserbaidschan, Georgien, Russland, die Ukraine, die Slowakei,
vielleicht alternativ Ungarn, Österreich und schließlich Süddeutschland.
Von dort aus war es nur noch ein Katzensprung nach Kiel. Sein Gefühl
sagte ihm, dass er dort Antworten finden würde.
Er schätzte die Strecke auf sechs- bis siebentausend Kilometer. Jetzt
machte es sich bezahlt, dass er jahrelang Bargeld beiseite geschafft hatte.
Außerdem besaß er ein Auto. Damit würden sie zunächst bis nach
Turkmenistan oder Aserbaidschan fahren. Dort konnte er das Auto
verkaufen. Vielleicht in Afghanistan zuvor auch seine zweite deutsche
Pistole. Er hatte gute Kontakte, über die er die Waffe loswerden konnte,
für einen guten Preis und ohne Spuren zu ihm. Davon konnte er sich einen
Geländewagen kaufen. Den würden sie brauchen, denn sie mussten
Hauptverkehrsstraßen meiden. Nebenstrecken, querfeldein, durchs Gebirge
und durch Matsch, Nachtfahrten. Das würde sehr anstrengend.
Unter guten Bedingungen war die Strecke in acht bis zehn Tagen zu
schaffen. Aber Jamal kalkulierte mindestens zwei Wochen ein. Es war
möglich, dass sie pausieren mussten. Wegen schlechten Wetters, oder weil
sie sich verstecken mussten. Vielleicht würde es sogar drei oder gar vier
Wochen dauern. Aber sie hatten es nicht eilig.
In Deutschland lag ein Schlüssel. Jamal wusste nur noch nicht,
wofür.
Kapitel 6
Vilyuchinsk
Kapitän Alexej Sergeewitsch Koroljow blickte missmutig aus dem Fenster.
Seit zwei Tagen schneite es ohne Unterbrechung. An die drei Meter waren
schon gefallen. Skilanglauf war nicht mehr möglich. Damit konnte er
eines seiner Hobbys vergessen, das nur dazu diente, die Zeit zwischen
seinen Einsätzen totzuschlagen.
Dabei war es nicht einmal kalt. Kaum zehn Grad minus. Viel mehr
Schnee, aber immer milder. Dieser gottverdammte Klimawandel!
Verursacht von Menschen, die er nicht nur deshalb verachtete. Und wegen
derer er jetzt in dieser Einöde vor sich hinvegetieren musste.
Nach seinem letzten Treffen mit Mitja war er noch voller Hoffnung
gewesen. Mitja hatte angedeutet, dass ein echter Einsatz bevorstand. Der
Ernstfall. Ihm war das wie eine Verheißung erschienen. Danach hatte er
tagelang an nichts anderes mehr denken können. Hatte unentwegt darüber
sinniert, was in der heutigen Zeit unter Ernstfall zu verstehen sein könnte.
Aber er hatte seitdem nichts mehr von Mitja gehört. Und erreichen
konnte er ihn auch nicht. Gut, Mitja hatte ihm schon gesagt, dass der
bevorstehende Ernstfall mit vielen Vorbereitungen und Reisen verbunden
war. So gesehen, war es sogar ein gutes Zeichen, dass Mitja nicht zu
erreichen war.
Aber ihm fiel die Decke auf den Kopf! Er hing in seinem Haus rum,
schlief sich aus, ging ein paar Stunden in seinen Kraftraum, dann in die
Sauna, um sich danach zu besaufen. Anfangs hatte er noch Skitouren
gemacht. Wobei ihn diese Tristesse aus Schnee und Eis nur noch anödete.
Sie machte ihn depressiv. Und es war gerade mal Januar! Vor April war an
einen neuen Einsatz nicht zu denken.
Koroljow heizte die Sauna vor, zog sich um und ging in den Keller.
Er war vormittags nur zwei Stunden auf dem Laufband gewesen. Also
sollte er, bevor er sich betrank, Krafttraining machen. Er schob Gewichte
auf die Langhantelstange. Hundert Kilo. Gutes Aufwärmgewicht. Er legte
sich auf die Bank, nahm die Hantel aus der Halterung und drückte das
Gewicht langsam vom Brustkorb aus in die Höhe, ließ es wieder sinken,
stemmte es wieder in die Höhe. Insgesamt dreißig Mal. Er nahm das
Gewicht kaum noch wahr.
Er hatte erwogen, eine CD einzulegen. Anständige Bässe gegen die
quälenden Stunden aufkeimender Depression. Doch inzwischen ging ihm
selbst die Musik auf die Nerven. Tagtäglich dieselben Abläufe. Aufstehen,
Thermometer und Schneehöhe prüfen, vergeblich versuchen, Mitja zu
erreichen, Sport, Sauna, saufen, komatöser Schlaf. Einfach nur zum
Kotzen.
Während er die nächsten zwanzig Kilo auflegte, dachte er voller
Wehmut an seine Podolsk. An ihre ästhetische, perfekt verarbeitete
Außenhaut. Wie er es liebte, mit den Fingern sanft darüber zu streichen.
An den Maschinenraum, in dem der Atomantrieb leise und zuverlässig
arbeitete. Und an die Nuklearsprengköpfe, die auf ein Kommando von ihm
die größten Städte der Welt ausradieren konnten. Sechzehn Sprengköpfe,
sechzehn Weltstädte.
Doch was machte er? Stumpfsinniges Bankdrücken in seinem
schimmeligen Keller. Nachdem er hundertfünfzig Kilo zwanzig Mal
gedrückt hatte, wechselte er das Trainingsgerät. An der Eisenstange, die er
zwischen zwei Eisenpfeilern installiert hatte, machte er Klimmzüge. Das
war eine sehr effektive Übung, vor allem, wenn man sich zusätzlich eine
Weste mit dreißig Kilo Bleigewichten überzog. Mühelos machte er damit
zwanzig Klimmzüge. Das war die Pumpphase, wie er das Training selbst
nannte, das vor allem eines nicht kannte: Pausen. Sofort ging er zu Boden
und machte mit den Gewichten fünfzig Liegestütze. Dann wieder
Klimmzüge. Liegestütze, Klimmzüge. Immer so weiter, bis er keine drei
Klimmzüge mehr schaffte.
Gerade als er sich entschieden hatte, mal wieder auszutesten, wie
viel er auf der Hantelbank schaffte, zuletzt waren es zweihundertzehn Kilo
gewesen, klingelte es an der Tür. Koroljow war wie elektrisiert. Wer sollte
ihn nach Einbruch der Dunkelheit bei diesem Schneechaos besuchen? Weit
und breit gab es keinen Nachbarn, zu dem er Kontakt pflegte. Der Instinkt
des Soldaten erwachte. Rasch lief er aus dem Kellerraum in den nächsten
nebenan und nahm eine Kalaschnikow aus dem Regal. Gereinigt,
inspiziert, geölt und geladen. Oben klingelte es schon zum dritten Mal.
Wieselflink lief Koroljow in den hintersten Kellerraum, von dem aus
eine Tür ins Freie führte. Er streifte sich einen Parka über, entsicherte die
Waffe, schlich die zugeschneiten Stufen nach oben und kämpfte sich durch
den tiefen Schnee um sein Haus herum. Wer immer der Besucher war, mit
einem Angriff aus dem Hinterhalt rechnete er bestimmt nicht. Vorsichtig
spähte er um die Ecke zur Haustür. Dort stand eine Person, eingepackt in
einen dicken Mantel und eine Wollmütze. Eine Waffe hielt sie nicht in der
Hand. Eine Hand haftete an der Klingel, die andere hing schlaff herunter.
Koroljow blickte in jede Richtung. Keine weiteren Personen. Auch keine
Fußspuren. Jedenfalls nicht, soweit er durch Schneegestöber und
Dunkelheit blicken konnte. Die Entfernung zu seiner Haustür betrug
maximal fünf Meter
Koroljow atmete einmal tief durch, dann sprang er, die
Kalaschnikow im Anschlag, in zwei großen Sätzen zu dem Besucher, der
nicht einmal dazu kam, sich umzudrehen.
Koroljow stieß ihm die Kalaschnikow ins Kreuz und schrie: „Keine
falsche Bewegung! Hände hinter dem Kopf verschränken und umdrehen.
Aber ganz langsam, verstanden!“
Der Mann folgte seinen Anweisungen. Langsam und ohne Hektik.
Und schon sah Koroljow in Tschechows grinsendes Gesicht.
Koroljow ließ erleichtert die Kalaschnikow sinken und umarmte
seinen Freund. „Mitja! Mit dir hätte ich am allerwenigstens gerechnet!
Was machst du hier? Ich dachte schon, dass mich jemand überfallen will.“
Der Flottenadmiral lächelte. „Du hast deine Reflexe nicht verlernt,
Aljoscha. Du bist eben Soldat mit Leib und Seele. Das ist gut. Gut für
deinen Auftrag. Und jetzt bring die Kalaschnikow zurück in den Keller.
Hast du genug Bier und Wodka im Haus? Ist die Sauna vorgeheizt? Wir
haben etwas Wichtiges zu besprechen. Etwas, das dich sehr glücklich
machen wird.“
Kurz darauf saßen die beiden Männer in der Sauna und tranken Bier.
Zunächst sprachen sie über Belanglosigkeiten. Das Wetter, der viele
Schnee, die Einsamkeit. Doch bald konnte Koroljow seine Neugier nicht
mehr zügeln. Beim letzten Saunagang fragte er Tschechow nach dem
Auftrag, von dem er gesprochen hatte.
Tschechow lächelte. „Ich habe zwei gute Nachrichten und eine
schlechte. Die schlechte lautet, dass ich dir noch nicht sagen kann, wo und
wann du mit deiner Podolsk angreifen wirst.“
Koroljow starrte seinen Freund entgeistert an. „Hast du gerade
gesagt, mit der Podolsk angreifen? Habe ich das richtig verstanden?“
Tschechow nickte bedächtig. „Ja, das hast du richtig verstanden. Wir
steuern auf den Ernstfall zu. So, wie ich es schon angedeutet habe. Aber
mir fehlen noch etliche Informationen. Deshalb gibt es noch kein Wann
und Wo.“
So sehr Koroljow auch davon träumte, seinem großartigen Land
einen heldenhaften Dienst zu erweisen, Russland zu dem Respekt zu
verhelfen, den es verdiente, und so oft er sich den Ernstfall auch in seiner
Fantasie ausmalte: Das, was Mitja ihm in seiner Sauna lächelnd bei Bier
erzählte, war jenseits des Vorstellbaren.
„Aber das wäre der Dritte Weltkrieg“, sagte er. „Egal, wer die erste
Atomrakete abfeuert, und egal gegen wen, es gibt Gegenangriffe. Eine
unkontrollierbare Kettenreaktion! Wie oft haben wir solche Szenarien
durchgespielt. Das wäre der letzte Krieg der Menschheit, Mitja! Ein Krieg,
den keiner gewinnen kann. Dann ist es aus und vorbei.“
„Nein, mein Freund. Es wird keinen Dritten Weltkrieg geben.
Schade, dass ich dir nicht schon mehr verraten kann. Aber du denkst in
lange überholten Kategorien. Die Grenzen zwischen Freund und Feind sind
fließend. Die Feindschaften von damals sind Vergangenheit. Die Gefahr
droht aus einer ganz anderen Richtung.“
Koroljow dachte darüber nach. „Du denkst also an islamistische
Terroristen? Geht es um eine Gemeinschaftsoffensive im Nahen Osten?
Mit den USA und Europa? Und mit China? Wobei ich mich frage, was
Russland damit zu tun haben soll.“
Tschechow wiegte nachdenklich den Kopf hin und her. „Sagen wir
mal so: Du hast viel von den Gesandten Allahs und ihren Gräueltaten
gehört. Sie spielen eine Rolle. Eine Rolle, wohlbemerkt. Aber es geht nicht
um Religion. Es gibt Feinde, Aljoscha, die sich nicht an Grenzen halten.
Feinde, die überall sind. Feinde, die sich verbreiten wie ein tödliches
Virus. Unaufhaltsam befällt es seinen Wirt. Und irgendwann hat es den
Organismus, in dem es wütet, vernichtet. Stell dich darauf ein, dass es bald
auf Tauchfahrt geht.“
Koroljow hatte keine Ahnung, worauf sein Freund anspielte. Aber er
konnte sein Glück kaum fassen. Endlich geschah das, wovon er sein Leben
lang geträumt hatte. „Und das soll die schlechte Nachricht gewesen sein?
Wie lauten denn dann erst die guten?“
„Die eine habe ich dir schon gesagt: Du gehst demnächst auf
Tauchfahrt und du wirst nicht so bald zurückkehren. Und die zweite
Nachricht wird dich nicht minder freuen. Denn Du bist die längste Zeit
Kapitän dritten Ranges gewesen. Für die Aufgaben, die auf dich warten,
befördere ich dich außer der Reihe zum Kapitän ersten Ranges.“
Koroljow kam sich vor wie im siebten Himmel. Noch vor einer
Stunde hatte er sich miserabel gefühlt. Empfand sein Dasein als sinnlos.
Und jetzt das. Doch was waren Feinde ohne Grenzen? Wo gab es eine
Krise, die den Einsatz eines Atom-U-Bootes rechtfertigte? Als Mitja von
Ernstfall gesprochen hatte, dachte er an eine Provokation gegenüber den
Amerikanern. Oder an einen Spionageeinsatz. Aber ein Angriff? Mit
Atomraketen? Unmöglich. Egal gegen wen und unter welchen Vorzeichen.
Koroljows Begeisterung wich Verunsicherung. Er fragte nach Details.
Tschechow stand auf und schwang sich sein Handtuch um die Hüfte.
„Okay, aber jetzt gehen wir erst mal hier raus, bevor wir ausgetrocknet
sind. Ich brauche noch viel Bier. Und Hunger habe ich auch. Wir machen
jetzt Essen. Sobald wir den ersten Wodka im Glas haben, erkläre ich dir in
groben Zügen, worum es geht. Soweit ich das zu diesem Zeitpunkt sagen
kann. Und vor allem darf.“
Schweigend bereiteten sie Golubtsi zu, mit Hackfleisch und Reis
gefüllte Kohlrouladen. Dazu tranken sie schon ihr sechstes Bier. Aber die
Soldaten waren das gewohnt. Sie vertrugen sehr viel.
Draußen pfiff der Wind durch die Fensterläden. Das
Außenthermometer zeigte minus fünfzehn Grad an. Koroljow kannte diese
Wettererscheinungen zur Genüge. Er wusste, dass dies die Auswirkungen
einer polaren Kaltfront waren. Die kommende Nacht würde einen
schweren Schneesturm bringen. Aber dann hörte das widerliche
Schneegestöber auf und es würde zwar eisiges, aber sonniges und
trockenes Wetter folgen. Ein Wetterumschwung, der zu seinem
Stimmungsumschwung passte.
Nachdem sie gegessen und ihre Wodkagläser gefüllt hatten, setzten
sie ihre Unterhaltung fort. Was Tschechow erzählte, war jenseits von
Koroljows Vorstellungsvermögen. Mitja erklärte, dass es um einen
Gemeinschaftseinsatz ging. Zusammen mit den Europäern, Amerikanern
und weiteren Nationen. Genau genommen handelte es sich um mehrere
teils parallele, teils zeitversetzte Einsätze, zu denen er aber noch nichts
sagen durfte. „Für diese Einsätze brauchen wir jedenfalls die besten und
vertrauenswürdigsten Männer. Solche wie dich!“
„Aber was soll ich angreifen? Oder wen? Und warum? Wenn da zig
Nationen beteiligt sind, vor allem die Großmächte, gibt es doch keinen
Feind mehr. Oder hat sich die Weltgemeinschaft, wenn es schon nicht um
den Nahen Osten geht, plötzlich entschlossen, China auszuradieren? Und
warum kooperieren wir überhaupt mit dem Feind? Ich verstehe das alles
nicht.“
Tschechow stand auf und ging nachdenklich auf und ab. Dann setzte
er sich wieder und räusperte sich. „Das ist eine diffizile Angelegenheit.
Einerseits unterliegt das Projekt der höchsten Geheimhaltungsstufe. Nicht
einmal dir darf ich schon alles erzählen. Andererseits ist noch vieles im
Unklaren. Ich will es mal so formulieren, Aljoscha: Du magst dir immer
vorgestellt haben, wie es wäre, Berlin anzugreifen, Paris, London, oder
Washington. Doch du hast eben selbst gesagt, dass das utopisch ist und
niemals geschehen wird. Das wäre wirklich der Dritte Weltkrieg. Wir
leben in einer anderen Welt. Heute sind wir mit allem und jedem vernetzt.
Politisch und wirtschaftlich. Durch weltweit tätige Konzerne, durch Öl,
Gas und Banken. Es gibt so viele wechselseitige Abhängigkeiten, dass
jeder Angriff zugleich Selbstmord wäre. Auch ohne Atomwaffen. Das mag
geeignet sein, um große Konflikte zu verhindern. Aber es ist zugleich die
Wurzel allen Übels. Und um diese Wurzel geht es. Sie muss ausgerissen
werden!“
Koroljow war konsterniert. „Ich verstehe kein Wort, Mitja. Was für
eine Wurzel? Bitte erklär mir wenigstens ansatzweise, welches Ziel ich
haben werde und warum. Und ich wiederhole meine Frage: Warum
kooperieren wir mit dem Feind?“
Tschechow schüttelte den Kopf. „Das kann ich dir nicht sagen. Nur
so viel: Wir kooperieren nicht mit dem Feind, sondern mit einflussreichen
Menschen aus der ganzen Welt, die voll hinter der Sache stehen und über
die notwendige Macht verfügen. Präge dir schon einen Namen gut ein,
Aljoscha: AURORA. Das ist der Codename unseres Projektes. Einen der
Mächtigsten, General David Moore, wirst du schon bald kennenlernen.
Stell dir vor, dass es sich um ein weltumspannendes Projekt handelt. Es
geht nicht um Westen und Osten. Nicht um Religionskonflikte. Nicht um
Erste, Zweite oder Dritte Welt. Es geht um nicht weniger als eine neue
Weltordnung. Und du wirst dabei eine zentrale Rolle spielen, Aljoscha. Du
wirst zu einem der größten Helden des Russischen Reiches, ja der ganzen
Welt werden! Versuch nicht, dir das Ziel deiner Podolsk vorzustellen. Es
übersteigt dein Vorstellungsvermögen. Wichtig ist, dass ich auf dich
zählen kann. Bedingungslos! Kann ich das? Und ebenso wichtig ist, dass
du meinen Befehlen folgst, ohne Fragen zu stellen. Wirst du das tun?“
Koroljow fühlte eine wohlig kribbelnde Gänsehaut. Er spürte sogar,
wie seine Augen feucht wurden. Mitjas Worte hatten ihn berührt. Er,
Kapitän Alexej Sergeewitsch Koroljow, Kommandant der Podolsk, wurde
auserwählt, an einem Projekt teilzunehmen, das die Welt verändern sollte.
Nicht einmal dem Präsidenten würde er diese aberwitzige Geschichte
glauben. Er würde ihn für verrückt halten oder annehmen, dass er ihn auf
den Arm nehmen wollte. Doch wenn Mitja, sein Freund, sein Bruder, so
etwas erzählte, gab es keine Zweifel. Sie kannten sich seit ihrer Kindheit,
waren zusammen durch dick und dünn gegangen. Mitja hatte ihn gefördert,
wo immer es ging. Und niemals war etwas nicht geschehen, was Mitja
angekündigt hatte. Nein, er sagte die Wahrheit. Und was immer hinter
seinen Plänen steckte, es war gut. Denn Mitja war ein guter Mensch, der
helfen wollte. So wie damals, als er ihn vor den folternden Soldaten
beschützt hatte.
Er erhob sein Wodkaglas und verkündete feierlich: „Flottenadmiral
Dmitrij Michajlowitsch Tschechow, du kannst bedingungslos auf mich
zählen. Ich werde deinen Befehlen folgen, wie immer sie lauten. Und ich
verspreche, keine weiteren Fragen zu stellen. Wenn es soweit ist, wirst du
mir sagen, was ich wissen muss. Auf uns! Auf Russland! Und auf die
Zukunft! Nastrovje!“
Koroljow leerte sein Glas in einem Zug und füllte es sofort wieder.
Ihm war nach Feiern zumute. Er fühlte sich frei. Frei und stark und
unbesiegbar.
Auch Tschechow leerte sein Glas und goss sich augenblicklich nach.
„Ausgezeichnet, Aljoscha. So kenne ich dich. Ich wusste immer, warum
ich dich fördere. Einen besseren Soldaten gibt es nicht. Du und ich, wir
sind aus demselben Holz geschnitzt. Bald tauchst du mit deiner Podolsk
wieder in den Ozeanen. Und irgendwann bekommst du deinen
Einsatzbefehl. Direkt von mir. Komm, mach die Stereoanlage an, volle
Lautstärke! Ich will unsere Hymne hören!“
Sekunden später erklang, vorgetragen vom berühmten Red Army
Choir, die russische Nationalhymne aus Koroljows fünfhundert-Watt-
Lautsprechern:

O Russland, geheiligte, kostbare Erde.


O Russland, Dir sei unsre Liebe geweiht.
Aus mächtigem Willen erwachse und wird
ein ruhmreicher Staat für ewige Zeit!
Ruhm gebührt Dir, freies Vaterland!
Brüderlich der Völker Bund entstand,
eint seit Jahrhunderten Tatkraft und Geist,
von den Ahnen fest geknüpft das Band,
von uns Heutigen mit Stolz bekannt:
Heimat, die Ruhm uns und Ehre verheißt!

Die Männer erhoben sich und stießen an. Tschechow ballte die freie
Hand zur Faust. „Das große Russische Reich erwacht aus seinem
Dornröschenschlaf! Aus unserem Willen erwachse ein ruhmreicher Staat
für ewige Zeit! Hol noch eine Flasche Wodka, Aljoscha. Ich will feiern.
Feiern und saufen! Nastrovje!“
Kapitel 7
Kabul, wenige Tage später
Aufgrund erhöhter Aktivitäten der Taliban herrschte im Lager der
Deutschen mehr Hektik als üblich. Die Wachen waren verstärkt worden.
Permanent patrouillierten bewaffnete Zweierteams durch das Lager. Auch
nachts.
Jamal wurde von Stunde zu Stunde nervöser. Spätestens in zwei
Tagen kam Pfeiffer. Was auch immer geschah, heute Nacht mussten sie
fliehen, auch mit dem Risiko, geschnappt zu werden. Gut, dass die Kinder
schliefen. Schlaf konnten sie gut gebrauchen. Es war fraglich, wann sie das
nächste Mal Gelegenheit dazu bekamen.
Jamal zog seine Frau zur Seite und erklärte ihr seinen einfachen
Fluchtplan: nach Einsetzen der Dunkelheit beobachten, wer Wache am
Haupttor hat. Sobald dort ein Soldat stand, den Jamal gut kannte,
versuchen, ihn zum Öffnen des Tores zu bewegen.
Erfolgsaussichten: gering. Alternativen: keine.
Viel konnten sie nicht mitnehmen. Wenn sie jetzt anfingen, großartig
zu packen, flogen sie auf. Also nur das Notwendigste in Jamals Rucksack:
Pässe, Geld, etwas zu essen und zu trinken, ein Kompass, die zweite
Walther-P1. Die Soldaten wussten, dass er die Waffe legal besaß. Er
konnte argumentieren, dass er sie für einen möglichen Angriff der Taliban
brauchte.
Nervös blickte Jamal abwechselnd auf seine Uhr und zog an seiner
Zigarette. Er merkte nicht, wie viel er rauchte. Und jetzt fing es auch noch
an zu schneien. Das war doppelt schlecht. Erstens hinterließen sie
deutliche Spuren und zweitens hatte sein Wagen keine Winterreifen. Doch
auf das Auto waren sie angewiesen, bis sie in Turkmenistan waren. Jamal
trat seine Zigarette aus und zündete sich eine neue an. Seine Nervosität
steigerte sich ins Unerträgliche. Denn jetzt setzte die Dunkelheit ein.
Gleich war es soweit. Müsste nur er alleine fliehen, wäre er viel ruhiger.
Doch die Verantwortung für seine Familie brachte ihn aus der Fassung.
Hoffentlich schaffen wir das. Allah, beschütze uns!
Und dann ging alles sehr schnell.
Plötzlich ertönte ein ohrenbetäubender Alarm, der gespenstisch
durch Dunkelheit und Schneetreiben dröhnte. In Bruchteilen von Sekunden
brach Chaos aus. Jamal wusste, was dieses durchdringende Geräusch
bedeutete: ein Angriff mit Raketenwerfern. Die Taliban waren nämlich gut
bewaffnet. Abgesehen von einem Sammelsurium an Schusswaffen aus
deutscher, amerikanischer und chinesischer Produktion, verfügten sie über
Panzerfäuste, Granaten und Raketenwerfer. Niemand konnte mit
Gewissheit sagen, woher sie die Waffen hatten. Wahrscheinlich gab es
mehrere Quellen wie illegalen Handel, Bestechung und Kriegsbeute.
Aber nicht jede Rakete oder Granate detonierte auch. Aber weil das
niemand wissen konnte, suchte jeder Schutz, sobald dieser Signalton des
Überwachungsballons ertönte. Jede Waffengattung hatte einen eigenen
Alarm, der automatisch ausgelöst wurde, wenn die Überwachungstechnik
des Ballons einen Geschosstyp identifiziert hatte. Von der Meldung des
Angriffs bis zu Sicherungsmaßnahmen vergingen nur Sekunden.
Raketenwerfer waren die gefährlichsten Waffen. Ihre Geschosse konnten
auch Soldaten töten, die hinter Mauern in Deckung gegangen waren.
Und das war ihre Chance!
Jamal rannte ins Zelt, schnappte sich seinen Rucksack und schrie:
„Los jetzt!“ Er riss seine Kinder aus dem Bett, die noch zu schlaftrunken
waren, um zu reagieren. Seine Frau hingegen wusste auch, was der Lärm
bedeutete. Als sie aus dem Zelt rannten, ein Kind in Jamals Armen, das
andere an der Hand der Mutter, schlug das Geschoss schon ein.
Gottseidank am anderen Ende des Lagers, denn diese Rakete detonierte
mit einem lauten Knall. Soldaten liefen hektisch durcheinander, von
überall waren Schreie zu hören. Unaufhörlich brüllte der Alarm. Das
perfekte Chaos.
„Jetzt oder nie“, schrie Jamal. Zielstrebig rannten sie auf das Tor zu.
Viele Soldaten kreuzten ihren Fluchtweg, doch niemand kümmerte sich
um sie. Als sie dicht an der Einschlagstelle der Rakete vorbeirannten, sah
Jamal, dass mehrere Soldaten regungslos auf dem Boden lagen und sich
der Schnee um sie herum rot verfärbte. Diesmal war es schiefgegangen.
Jamal betete für die Toten zu Allah, während sie sich dem Tor näherten.
Die Soldaten taten ihm leid. Doch was für eine Ironie des Schicksals, dass
ausgerechnet die Taliban seine Chancen, zu entkommen, dramatisch
erhöhten. Nur ein Soldat stand an dem massiven Stahltor. Jamal erkannte
ihn sofort. Der Zweimetermann gehörte zu den Sanitätern. Ein feiner Kerl.
Mit kaum jemandem kam Jamal besser zurecht. Dennoch richtete er sein
Sturmgewehr auf sie. Jamal konnte sehen, dass er kreidebleich war.
„Stehenbleiben, verdammt nochmal!“, befahl er.
Jamal bedeutete seiner Familie, stehenzubleiben und ging langsam
mit erhobenen Händen auf den Soldaten zu. „Ich bin es, Jamal“, sagte er in
beruhigendem Ton. Das waren entscheidende Sekunden. Der Soldat konnte
sie aufhalten. Oder seine Kameraden bekamen trotz des Chaos mit, was
am Ausgang geschah. Auch dann war es vorbei. Er blieb gut drei Meter
vor dem Hünen stehen und sagte ihm die Wahrheit. Warum sie fliehen
mussten, dass Major Wagner möglicherweise in eine Verschwörung
verstrickt war und dass der Sanitäter auch vorsichtig sein sollte. „Und
wenn du uns jetzt nicht gehen lässt, sprichst du damit unser Todesurteil.
Ich habe keine Wahl. Aber du.“
Jamal wusste, wie der Hüne tickte. Er war zu den Sanitätern
gegangen, weil er helfen wollte, nicht aber töten. Er nahm das Gewehr
runter und nickte. „Ich glaube dir, Jamal. Auch ich fand die Erklärung,
warum wir euch nicht aus dem Lager lassen sollen, merkwürdig. Wir
machen es so: Ihr verschwindet im Wachhäuschen. Ich laufe zu den Toten
und Verwundeten, wo ich in dieser Situation sowieso hingehöre. Aber
irgendwer musste ja das Tor bewachen. Sobald ich zwanzig Meter entfernt
bin, öffnest du das Tor. Deine Familie geht zuerst raus. Dann drückst du
auf „Schließen“ und läufst durch das Tor, bevor es sich wieder geschlossen
hat. Ich wünsche euch viel Glück, Jamal.“
Wortlos verschwand der Soldat. Sofort drängte Jamal seine Familie
in das Wachhäuschen und drückte die Taste „Öffnen“. Lautlos schwang das
Tor auf und wirbelte Schnee vom Boden auf. Jamal nickte seiner Frau zu.
Sie packte ihre Söhne und rannte mit ihnen durch das halboffene Tor
hinaus. Noch bevor es sich vollständig geöffnet hatte, betätigte Jamal
zweimal die „Schließen“-Taste. Das Tor stoppte, dann schwang es langsam
wieder zu. Im Hinausrennen blickte sich Jamal noch einmal um. Niemand
schien ihre Flucht zu bemerken. Er hoffte, dass der Major den Sanitäter
nicht für ihre Flucht verantwortlich machte.
Immer dichter wirbelten ihnen Schneeflocken ins Gesicht. In diesem
Augenblick bedeutete das einen Vorteil, da sie kaum auszumachen waren.
Doch der schwierigste Teil der Flucht stand ihnen erst noch bevor. Mehr
als zwei Stunden Fußmarsch bis zu ihrem Dorf, um das Auto zu holen und
die Pistole zu verkaufen. Jamal hatte für so etwas einen zuverlässigen
Kontaktmann, der zwar nur als Zwischenhändler fungierte, aber tausend
Dollar waren besser als nichts. Außerdem stellte der Mann keine Fragen.
Vielleicht konnten sie noch ein paar Sachen mitnehmen, vor allem warme
Pullover. Vorausgesetzt, der Major schickte keine Soldaten, die ihnen
auflauerten. Danach lagen sechshundert Kilometer bis zur Grenze vor
ihnen. Sechshundert Kilometer Gefahr. Durch die Taliban. Durch den
Major. Durch den Schnee.
Als sie ihr Dorf nach einem dreistündigen Marsch durch zehn
Zentimeter Neuschnee endlich erreichten, waren die Kinder am Rande der
Erschöpfung. Jamal beobachtete das Dorf. Nichts deutete auf ungebetene
Gäste hin. Jamal befahl seiner Familie, hinter den Felsen auf ihn zu
warten. Er nahm seine Pistole aus dem Rucksack und schlich in sein Dorf.
Niemand hielt sich im Freien auf. Alle suchten in ihren Hütten Schutz vor
Schnee und Kälte. Jamal ging zielstrebig zur Behausung seines
Kontaktmannes. Als er klopfte, öffnete der sofort und zog Jamal hinein.
„Wo kommst du her? Wo ist deine Familie? Ihr ward plötzlich
verschwunden. Ich habe mir große Sorgen gemacht!“
Jamal erklärte, was geschehen war und vage, was er vorhatte. Der
Mann prüfte Jamals Waffe. „Guter Zustand. Normalerweise würde ich
sagen: siebenhundertfünfzig.“
Jamal riss entsetzt die Augen auf. „Siebenhundertfünfzig Dollar?
Die ist doch mindestens zweitausend wert!“
„Ich sagte: normalerweise. Aber ich will euch helfen. Ich gebe dir
tausendzweihundert. Mehr ist nicht drin.“ Er musterte Jamals Ring.
„Schönes Stück. Der ist von deinem Vater, oder?“
Jamal nickte.
„Der ist wertvoll.“
Jamal nickte.
„Zweitausend für Pistole und Ring.“
„Niemals“, sagte Jamal entschieden. „Das ist ein Erbstück!“
„Das dir bei deiner Flucht aber nichts nützt. Davon abgesehen,
könnte es sein, dass ihr überfallen werdet. Dann ist der Ring ohnehin weg.
Und mit deinem Auto kommst du nur langsam voran. Ihr seid leichte
Beute.“
Jamal lächelte gequält. Der Mann hatte leider recht. Eigentlich hatte
er keine andere Wahl. „Einverstanden. Aber du legst noch vier neue Pässe
für uns drauf!“
Als er den Ring schon abziehen wollte, hob der Mann die Hand.
„Augenblick!“
„Was ist denn noch? Wir müssen zusehen, dass wir von hier
verschwinden!“
„Eben. Das Problem ist, dass ich gar nicht so viel Geld hier habe.“
Jetzt wurde Jamal wütend. „Was soll das? Warum sagst du das nicht
gleich? Ich verliere hier wertvolle Zeit!“
„Beruhige dich und folge mir.“
Ohne eine Antwort abzuwarten, trat der Mann aus dem
Hinterausgang hinaus auf seinen kleinen Hof. Die meisten Hütten hatten
Hinterausgänge. Für eine mögliche Flucht. Jamal folgte ihm. Der Mann
zeigte auf eine kleine Remise. „Ich glaube, das kannst du besser
gebrauchen als Geld.“
Jamal sah durch das Schneegestöber, dass in der Remise ein
Geländewagen stand.
„Mein Jeep gegen deine Pistole, deinen Ring und deine alte Karre.
Plus die vier Pässe. Und fünfhundert Dollar lege ich auch noch drauf.
Mehr kann ich nicht für dich tun. Der Jeep ist neuwertig. Starker
Dieselmotor, Klimaanlage. Vollgetankt. Reservekanister im Kofferraum.
Mit dem kommst du überall hin. Was sagst du zu meinem Angebot?“
„Dass ich sprachlos bin.“ Jamal zog den Ring von seinem Finger und
gab ihn dem Mann, zusammen mit seiner Pistole. „Komm mit in mein
Haus. Dort sind die Schlüssel für mein Auto. Ich nehme nur das Nötigste
mit. Und das bisschen Bargeld, das ich dort versteckt habe. Wir werden
niemals zurückkommen. Das Haus und alles, was du darin findest, möge
dir gehören.“
Wenig später fuhr Jamal mit seiner Familie Richtung Westen. Er
hatte sich doch für den Umweg über den Iran entschieden. Die Kinder
waren in den bequemen Sitzen schnell eingeschlafen. Auch seiner Frau fiel
immer häufiger der Kopf auf die Brust. Bei jeder Unebenheit, über die er
fuhr, schreckte sie wieder hoch. Der Jeep ließ sich sehr gut fahren. Sie
kamen viel rascher voran als befürchtet. Zweimal hatten sie Glück gehabt.
Zweimal hatte ihnen Allah die richtigen Menschen zur richtigen Zeit
geschickt. Hoffentlich war er ihnen auch weiterhin gnädig. Denn vor ihnen
lag eine Odyssee voller Gefahren.
Kapitel 8
Damaskus, Februar 2015
Oswald Pfeiffer vom BND und Richard Armstrong von der CIA waren am
Vortag mit ihren Gefangenen in Damaskus gelandet. Sie arbeiteten seit
Jahren vertrauensvoll mit dem syrischen Geheimdienst zusammen. In
Deutschland und den USA wurden Terrorverdächtige viel zu sehr durch
Gesetze und Menschenrechte geschützt. Es war unmöglich, sie zu
Geständnissen oder Hinweisen auf bevorstehende Anschläge zu bewegen.
Dabei waren diese Menschen doch nichts weiter als Abschaum. Was gab es
da zu schützen?
Zwar hatte der CIA Guantanamo Bay, aber dort waren die
Verhörmethoden nichts im Vergleich zu den Folterkellern von Damaskus.
Dort fand sich alles, was das Herz begehrte. Eine Folterkammer wie im
Mittelalter: Streckbank, Daumenschrauben, Stachelrollen und Garotten.
Aber auch so schlichte, nicht weniger effiziente Gedächtnisstützen wie
Messer, Klingen und Zangen, eisigem oder brühend heißem Wasser und
elektrischen Gerätschaften.
Pfeiffer und Armstrong hatten die Gefangenen, zwei auf deutscher,
drei auf amerikanischer Seite, direkt bei ihrer Ankunft an die syrischen
Sicherheitskräfte übergeben. Danach hatten sie sich mit Yefrem Abu Tarik
getroffen, dem Chef des syrischen Geheimdienstes und Mitglied des
Circle. Sie waren Freunde und teilten viele Ansichten. Nicht nur in der
Auswahl der besten Verhörmethoden.
Sie hatten wie immer vorab mit Yefrem besprochen, wer die
Gefangenen waren, welcher Taten oder Tatpläne sie bezichtigt wurden und
wie sicher ihre Tatbeteiligung war. Die war bei diesen Gefangenen sicher,
denn bei Unschuldigen führte Folter höchstens zu einem falschen
Geständnis. Und das nutzte weder dem BND noch der CIA. Es ging darum,
mit diesem nicht ganz einwandfreien Druckmittel Anschläge zu
verhindern, die viele Menschenleben kosten konnten. Ein paar Stunden
Schmerz, Verletzungen, vielleicht sogar der Tod eines Verbrechers als
Preis für das Leben vieler Unschuldiger waren ein gutes Preis-Leistungs-
Verhältnis. Zumal diese Art der Zusammenarbeit mit dem syrischen
Geheimdienst gängige Praxis war, die Politiker in den USA und Europa
stillschweigend billigten. Denn es war eine sehr erfolgreiche Praxis.
Yefrem hatte am Vorabend nicht ohne Stolz erklärt, dass er einen
hervorragenden Mann für diese anspruchsvolle Aufgabe gefunden hatte.
Es gab viele Männer, die ihr Handwerk verstanden und Gefangene
ausgesprochen redselig machen konnten. Aber dieser Mann hatte noch
mehr Talente. Eine ungewöhnliche Hingabe bei allem, was er tat. Ein
Mann mit Überzeugung, ein Mann mit Glauben und ein Mann von großer
Loyalität. Und ein Mann, der über das seltene Gespür verfügte, ob sein
Patient schuldig war oder nicht, ob also sein Geständnis echt war oder
nicht. Denn das war das Problem bei den etwas härteren Verhörmethoden.
Man konnte niemals sicher sein, ob der Befragte nicht aus reiner Angst
sagte, was sein Peiniger hören wollte. Vielleicht hatte ein
Terrorverdächtiger tatsächlich vor, einen Anschlag zu verüben, aber noch
keinen konkreten Plan. Er hatte nur die Absicht. Doch unter den
Schmerzen einer Folter dachte er sich ein Attentat aus, nicht mehr als ein
Produkt seiner Fantasie.
Und da kam eben Yefrems Mann ins Spiel. In wenigen Stunden
wussten Pfeiffer und Armstrong, ob ihre Gefangenen Anschläge geplant
hatten, die vereitelt werden konnten. Jeder vereitelte Anschlag versprach
zusätzliche Lorbeeren und diente der Karriere. Karrieren, die allerdings
von ganz anderer Seite befeuert wurden. Das war der Hauptgrund ihres
Besuches.
Abu Tarik hatte Pfeiffer und Armstrong morgens in ihrem Hotel
abgeholt. Damaskus war selbst für Agenten kein sicheres Pflaster mehr. Es
war nur eine Frage der Zeit, bis es eine Rebellion gegen das Assad-Regime
gab. Dann waren solche Besuche nahezu unmöglich.
Der Syrer führte seine Gäste in die Katakomben unter den Büros, wo
man vor neugierigen Blicken geschützt war und niemand die Gefangenen
schreien hörte. Yefrem hatte sie auf die blinde Seite des Einwegspiegels
geführt. Dahinter sahen sie nur zwei der Gefangenen. Einen von Pfeiffer
und einen von Armstrong. Offensichtlich wollte Yefrems Mann in zwei
oder drei Etappen vorgehen. Nur jeweils zwei, maximal drei Verbrecher.
Clever. So musste der eine mit ansehen, was mit dem anderen geschah und
seine Schreie hören. Das erzeugte von Anfang an Druck. Außerdem
bestand nicht die Gefahr, dass sich eine unerwünschte Gruppendynamik
entwickelte. Panik und Todesangst, die sich bei beiden Delinquenten
gegenseitig hochschaukelten. Ganz ausgezeichnet.
Die Gefangenen waren nackt und mit Handschellen an ein
Heizungsrohr unter der Decke gefesselt. Eine unangenehme und
schmerzhafte Position. Auch das war nur ein zermürbendes Druckmittel.
Ebenso wie diverse blaue Flecken und Hautabschürfungen am ganzen
Körper. Ein sicherer Hinweis, dass die Gefangenen von Yefrems Mann
schon angemessen auf das Verhör vorbereitet worden waren.
Abu Tarik schien die Bewunderung seiner Gäste in ihren Blicken zu
lesen und ihre Gedanken zu erraten. Denn er sagte: „Das mit den zwei
Gefangenen war nicht meine Idee. Das war seine.“ Er deutete auf eine Tür
hinter den Gefangenen, die sich in diesem Moment öffnete. Ein großer,
sehr kräftiger Mann mit schwarzen Haaren, schwarzem Bart und
grimmigem Gesichtsausdruck betrat den Raum. Armstrong schätzte, dass
er in seinem Alter war, Mitte vierzig. Er war mit seinen eins neunzig
schon groß, zudem muskulös und er konnte auch finster dreinblicken. Aber
mit seinem blonden Igelschnitt und dem Grübchen am Kinn konnte er
niemals so furchteinflößend wirken wie Yefrems Spezialist.
Der Mann ging langsam mit hinter dem Rücken verschränkten
Armen um die Gefangenen herum, baute sich vor ihnen auf, betrachtete sie
von oben bis unten und sprach kein Wort. Schon nach wenigen
Augenblicken waren die Nervosität und Angst der Terrorverdächtigen zu
sehen. In ihren Blicken, und in ihren sinnlosen Versuchen, sich
loszureißen.
„Darf ich vorstellen? Tarkan Jafari“, sagte abu Tarik voller Stolz.
„Kommt aus schwierigen Verhältnissen. Ist nicht dumm, spricht, neben
Englisch, auch Deutsch. Hatte kein Glück im Leben. Wahrscheinlich ist er
zu einem normalen Leben nicht fähig. Sicherlich ist er geschlagen und
misshandelt worden. Vielleicht noch Schlimmeres. Er hat nie darüber
gesprochen. Tarkan ist streng gläubig und möchte genau das unter Beweis
stellen. Deshalb war er von meinem Angebot sofort begeistert. Aber er ist
auch extrem aggressiv. Ich habe ihn zufällig entdeckt. Bei einer
Straßenschlägerei. Er hat drei Gegner grün und blau geprügelt, nur weil
einer aus der Gruppe ihn versehentlich angerempelt hatte. Der wollte sich
sogar entschuldigen. Doch noch bevor er seine Entschuldigungsformel
aussprechen konnte, war seine Nase gebrochen. Die beiden anderen
wollten ihrem Freund zu Hilfe eilen. Sie waren chancenlos. So eine
wütende Aggression. So ein vernichtender Hass. So etwas habe ich noch
nie erlebt. Und ich habe schon verdammt viel erlebt. Hätte ich nicht
eingegriffen, hätte er sie mit seinem Dolch massakriert, als sie schon
kampfunfähig auf der Straße lagen. Ich habe in seine Augen gesehen.
Darin lag abgrundtiefer Hass. Er war wild entschlossen, seine Opfer zu
töten. Ich wusste sofort, dass ich diesen Mann gut gebrauchen kann. Und
bis heute hat er mich nicht enttäuscht. Er folgt meinen Befehlen
bedingungslos. Er wird auch euch nicht enttäuschen. Viel Vergnügen bei
seiner einzigartigen Show. Exklusiv für euch! Ich bin in meinem Büro.“
Tarkan rief etwas in den Flur hinein, ohne seine Opfer aus den Augen
zu lassen. Kurz darauf betraten drei Männer den Raum und verteilten
diverse Folterinstrumente, Werkzeuge und Kabel auf zwei Stahltischen.
Erst jetzt fiel Armstrong auf, was er vorher vermisst hatte: eben jene
Instrumente. Denn die gehörten doch dorthin.
Ebenfalls sehr clever. Die Gefangenen ein bisschen verprügeln, dann
in einen kalten Raum bringen und sie in ihrer schmerzhaften Haltung und
entwürdigend nackt vorgaren. Um sie dann allein mit Blicken und
Schweigen unter Druck zu setzen. Danach wurde jedes Instrument einzeln
auf den Tischen aufgereiht. Direkt vor den Augen der panischen Opfer.
Was für ein perfider Psychoterror. Alle Achtung, dieser Tarkan Jafari
verstand sein Handwerk. Und dass es ihm höchsten Genuss bereitete, war
unverkennbar. Armstrong war gespannt, was er zuerst zum Einsatz bringen
würde. Vielleicht den Schlagstock, um den Gefangenen Schmerzen ohne
sichtbare Verletzungen zuzufügen? Oder direkt eine der zahlreichen
Stichwaffen?
Doch zunächst nahm Tarkan jedes Werkzeug einzeln in die Hand,
betrachtete es, unterzog es einem prüfenden Blick, polierte hier ein wenig,
kratzte dort nicht vorhandene Rostspuren ab, legte es behutsam wieder ab:
die obligatorischen Stichwaffen sowie Hämmer und Nägel. Den
Schlagstock. Eine Auswahl feiner und grober Zangen. Damit konnte man
einem Gefangenen extreme Schmerzen zufügen. Eine elektrische Nadel,
die sicherlich unangenehm hohe Spannungen erzeugen konnte. Ein
Elektrobohrer. Besonders rustikal und brutal. Und schließlich die Garotte,
das einzige Instrument, das nicht auf den Tischen lag, weil es zu groß war.
Damit konnte Jafari den Gefangenen die Luftröhre zupressen. Ganz
langsam. Eigentlich weniger ein Folter- als vielmehr ein
Hinrichtungswerkzeug. Aber man konnte den Druck ja auch wieder
lockern. Vielleicht hatte Tarkan die Garotte aber nur zwecks psychischen
Drucks auffahren lassen. Armstrong schätzte Yefrems Mann nämlich eher
so ein, dass er kleine, handliche Instrumente bevorzugte. Damit konnte er
besser gegen den Mann arbeiten. Direkter, Auge in Auge. So wie damals,
bei seiner Straßenschlägerei.
Nachdem Tarkan jedes einzelne Werkzeug sorgfältig begutachtet
hatte, trat er unvermittelt an die Gefangenen heran und bedachte beide der
Reihe nach und ohne Vorwarnung mit einer Salve kurzer, aber harter
Faustschläge in den Magen und die Genitalien. Sie wurden
zurückgeschleudert, aufgefangen allein durch die stählernen Handschellen.
Mit etwas Pech brach schon jetzt das erste Handgelenk. Ihre Schreie waren
gut zu hören.
Armstrong betrachtete Pfeiffer verstohlen aus dem Augenwinkel
heraus. Wenn er sich nicht täuschte, ging es seinem Kollegen genauso wie
ihm. Bis zum Schluss wollte er sich das Spektakel nicht ansehen.
Armstrong hatte kein Problem damit, einen Verbrecher mit einem Schuss
zu töten. Oder auch mit drei oder vier. Aber eine systematische Folter,
womöglich über Stunden oder gar Tage, übertraf seine Gewaltbereitschaft.
Umso erfreulicher war es, dass es Leute wie diesen Tarkan Jafari gab.
Leute ohne jegliche Skrupel. Wahrscheinlich sogar eine Spur sadistisch
veranlagt.
Tarkan trat von seinen Gefangenen zurück, aus denen nach den
Schlägen jegliche Spannung gewichen war, und begann, sie zu befragen.
Er stellte die richtigen Fragen. Seine Stimme war kalt. Eisig. Aber ruhig.
Die Gefangenen gaben Antworten. Aber falsche Antworten. Nicht die, die
Tarkan hören wollte. Und auch nicht die, die Pfeiffer und Armstrong hören
wollten.
Tarkan nahm mit einer geschmeidigen Bewegung die elektrische
Nadel vom Tisch und ging damit bedrohlich auf die Gefangenen zu. Er
schaute wiederholt von einem zum anderen, rieb sich nachdenklich das
Kinn. So, als könne er sich nicht entscheiden, wen er zuerst in seiner
Wahrheitsliebe bestärken sollte. Sicherlich war auch das nichts weiter als
ein psychisches Druckmittel. Er entschied sich schließlich für Armstrongs
Gefangenen. Er stieß ihm die Nadel hart in die Genitalien und drückte auf
einen Knopf. Die Reaktionen des Opfers legten den Schluss nahe, dass sich
Tarkan von Anfang an für eine eher hohe Spannung entschieden hatte. Das
war genau richtig. Die Männer mussten begreifen, dass sie keine Schonzeit
hatten. Es ging sofort zur Sache.
Um ansatzlos zu solch drastischen Maßnahmen greifen zu können,
bedurfte es einer großen Brutalität und Skrupellosigkeit. Yefrem hatte aber
auch wirklich ein Händchen für die richtigen Leute. Das musste der Neid
ihm lassen. Als Armstrongs Gefangener zum ersten Mal ohnmächtig
wurde, wiederholte Jafari die Prozedur bei Pfeiffers Mann. Der hielt etwas
länger durch.
Als die Gefangenen aus ihrer Bewusstlosigkeit erwachten, versah
Tarkan sie mit ein paar schlichten Ohrfeigen. Allerdings recht kräftigen
Ohrfeigen, die laut durch den Raum hallten und die Köpfe der Opfer so
heftig zur Seite schleuderten, dass Armstrong schon befürchtete, sein
Gefangener könne sich das Genick gebrochen haben. Doch er lebte noch.
Vermutlich war auch das nur eine Art Aufwärmübung.
Erneut stellte Tarkan Fragen. Diesmal waren die Auskünfte schon
etwas gehaltvoller. Aber immer noch nicht gehaltvoll genug.
Als Tarkan zu einer eher kleinen Zange griff, die nach Armstrongs
Kenntnissen dem Entfernen von Finger- oder Fußnägeln diente, schlug er
vor, doch in aller Ruhe in Yefrems Büro einen Kaffee zu trinken, mit ihm
über die strategischen Pläne zu sprechen und unterdessen Jafari seine
Arbeit verrichten zu lassen. Pfeiffer stimmte sofort begeistert zu.
Bevor sie die Tür von außen schlossen, konnten sie noch einen
gellenden Schrei hören. Es war aber nicht zu erkennen, ob der Schrei von
dem deutschen oder dem amerikanischen Gefangenen stammte. Die
Stimme war zu hoch, zu schrill, um sie einer Person zuordnen zu können.
Armstrong stellte beruhigt fest, dass sie keinen Augenblick zu früh
gegangen waren.
Yefrems Büro war für seine Position eher schmucklos. Aber
Armstrong wusste, dass er sich nichts aus Luxus in seinem Arbeitsumfeld
machte. Das behielt er seinem Privatbereich vor. Villa mit Pool, Mercedes
S-Klasse, teure Uhren. Aber vor seinen Untergebenen wollte er nicht
protzen. Das stand ihm zwar zu, war aber nicht förderlich für die
Arbeitsmoral. Eine Meinung, für die Armstrong Abu Tarik schätzte. Und
nicht nur dafür.
Der Geheimdienstchef kochte sehr fein gemahlenes Kaffeemehl in
einem Kupferkesselchen und verteilte kleine Tassen.
„Verdammt guter Mann, dieser Tarkan Jafari“, stellte Pfeiffer
anerkennend fest. „Kennt weder Mitleid noch Skrupel. Aber wie fähig ist
er wirklich? Ist er auch für anspruchsvollere Aufgaben geeignet?“
Abu Tarik schüttete vorsichtig den brühendheißen Kaffee in die
Tassen. „Darüber will ich mit euch sprechen. Wie läuft es denn mit den
Russen?“
Armstrong nippte an seinem Kaffee. „Nach Plan. Aber die
Manipulation der U-Boote stellt uns vor eine große Herausforderung.“
„Das kann ich mir vorstellen.“ Abu Tarik nahm bedächtig einen
Schluck des starken Kaffees, darauf achtend, dass der Bodensatz blieb, wo
er war. „Doch das ist eure Angelegenheit. Aber es geht ja auch um den Job
in Sibirien. Um Phase zwei.“
„In der Tat“, bestätigte Armstrong, der sich wunderte, dass ein
Kaffee so stark sein konnte. „Ice ist technisch einfacher, aber riskant. Ein
alter Freund aus Harvard hat schon die nötigen Fäden gezogen. Und wir
haben noch genug Zeit. Am Anfang stehen ohnehin die
Forschungsprojekte.“
„Mag sein“, sagte Abu Tarik nachdenklich. „Umso mehr brauchen
wir für Sibirien einen absolut verlässlichen Mann. Eben wegen der
Risiken, von denen du sprichst, Richard. Immerhin ist Ice die Krone von
AURORA. Die Phasen eins und drei mögen schlimmstenfalls scheitern.
Aber keinesfalls zwei. Nur Phase zwei erzielt auch unabhängig von den
anderen Phasen die erforderliche Wirkung. Deshalb denke ich dabei an
Tarkan.“
Armstrong blickte nachdenklich aus dem Fenster. In der Ferne sah er
Rauch aufsteigen. Vielleicht war in der Nähe ein Geschoss eingeschlagen.
„Wäre es nicht besser, damit jemanden aus dem Circle zu betrauen? Wer
immer die Mission leitet, trägt eine große Verantwortung. Und muss
absolut loyal sein. Voll und ganz hinter der Sache stehen.“
„Eben. Deshalb halte ich Tarkan für die ideale Besetzung. Seine
Dankbarkeit und Loyalität mir gegenüber kennen keine Grenzen. Ich
werde ihm vor Augen führen, dass er als Gesandter Allahs eine heroische
Aufgabe übernimmt, die ihm seinen Platz im Paradies sichert. Diese
Motivation ist bei ihm wirkungsvoller als Geld. Und eines dürfen wir nicht
vergessen: Die Mission in Sibirien mag wissenschaftlicher Natur sein.
Aber es ist möglich, dass sich auch in der Einöde unvorhergesehene Dinge
ereignen. Und was wir dann brauchen, ist absolute Kompromisslosigkeit.“
Pfeiffer schürzte die Lippen. „Ein Team von Wissenschaftlern im
Niemandsland. Was sollte da an unvorhergesehenen Dingen geschehen?“
„Schon die Fahrt ist gefährlich“, wandte Armstrong ein. „Kontrollen
durch die Wasserschutzpolizei. Oder durch die russische Marine.
Vielleicht tauchen in Sibirien Soldaten auf. Oder andere Forschungsteams.
Wenn bei einer Kontrolle Waffen gefunden werden, kann es brenzlig
werden. Unser Führungsoffizier sollte bereit sein, nötigenfalls auch zu
unkonventionellen Maßnahmen zu greifen.“
Yefrem prüfte die Tassen seiner Gäste und füllte sie erneut, ohne zu
fragen. Er kannte ihre Gewohnheiten.
„Genau das meine ich. Und da wir uns in Zurückhaltung üben
müssen, wäre es schlecht, wenn bei Gefahr ein bekanntes Gesicht aus
Politik oder Wirtschaft auftauchen würde. Tarkan kennt niemand. Und ich
lege meine Hand für ihn ins Feuer. Nur weil er aus chaotischen
Verhältnissen stammt, heißt das noch lange nicht, dass er dumm ist. Im
Gegenteil, er ist sogar sehr intelligent. Einer der intelligentesten Krieger,
denen ich je begegnet bin. Ihr habt ihm bei seiner Arbeit zugesehen. Ihr
dürft davon ausgehen, dass ihr bald eure Geständnisse habt. Und diese
Konsequenz wird Tarkan auch in einer Krisensituation in Sibirien oder auf
dem Weg dorthin zeigen. Wichtig ist, dass er seine Mission erfüllt. Aber
wenn nicht, dürfen die Spuren nicht zu uns führen.“
„Der Kaffee ist der beste, den ich je getrunken habe“, sagte Pfeiffer
anerkennend. „Wie groß schätzt du denn die Gefahr ein, dass Tarkan, falls
sie ihn schnappen, unter Folter auspacken würde? Nicht, dass ihm jemand
glauben würde, aber dennoch...“
„Gering. Tarkan kennt keine Schmerzen. Er tickt nicht wie eure
üblichen Terrorverdächtigen. Seine Mission steht über allem, weil es eine
göttliche Mission ist. Weil ich ihm genau das eintrichtere. Er ist davon
überzeugt, dass er umso schneller ins Paradies kommt, je mehr Schmerzen
er erträgt. Wer von uns könnte das von sich behaupten? Und wie du schon
sagst, Oswald, wer würde einem wie ihm glauben, wenn die Aussage eines
Offiziers, Politikers oder Nobelpreisträgers gegen seine steht?“
Pfeiffer rieb sich nachdenklich das Kinn. „So weit so gut. Wie
geeignet ist er denn für das Projektmanagement? Eine zweckmäßige und
zuverlässige Mannschaft zusammenstellen, Ausrüstung und Waffen
besorgen, Routenplanung, die nötigen Genehmigungen einholen und, und,
und?“
„Das meine ich mit sehr intelligent. Er ist nicht nur eine
Kampfmaschine, sondern auch ein hervorragender Anführer und Manager.
Seine Mission ist zwar nur ein Baustein von AURORA. Aber der
entscheidende. Ich bin davon überzeugt, dass er uns bringen wird, wonach
wir suchen.“
„Gut, ich muss noch mit meinen Kontaktleuten im Weißen Haus
sprechen. Aber ich gehe davon aus, dass sie zustimmen werden. Bitte
achte darauf, dass Tarkan auch und vor allem Europäer akquiriert. Eine
Mission ins ewige Eis, die nur aus Arabern besteht, wäre zu auffällig.“
Yefrem nickte. „Das ist selbstverständlich. Tarkan erledigt das. Für
Geld bekommt er jeden. Und Geld haben wir mehr als genug. Also, meine
Freunde, auf AURORA!“
Pfeiffer legte die Stirn in Falten. Was er zu sagen hatte, würde die
Stimmung trüben. Aber das ließ sich nicht vermeiden. „Das ist alles sehr
erfreulich. Ich habe aber auch eine schlechte Nachricht. Vielleicht kann
uns Tarkan helfen, auch dieses Problem aus der Welt zu schaffen.“ Er
leerte seine Tasse und stellte sie ab. „Jamal Akbar ist es gelungen, zu
entkommen. So wie es aussieht, hat er die Konfusion bei einem
Talibanangriff genutzt, um mit seiner Familie zu fliehen.“
Jetzt legte Abu Tarik die Stirn in Falten. „Ich weiß nicht, wovon du
sprichst.“
„Dieser Sprachmittler aus Kabul! Erinnerst du dich nicht? Er hat
unser Gespräch mit Wagner belauscht.“
Abu Tarik nickte. „Richtig, jetzt erinnere ich mich wieder. Du
wolltest ihn und seine Familie doch auf dem Flug nach Deutschland
verschwinden lassen. Was ist schiefgelaufen und wie gefährlich ist der
Mann?“
Pfeiffer zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Edmund hält ihn
für harmlos. Und du warst ja selbst dabei, Yefrem. Was sollte er aus den
paar Wortfetzen, die er mitbekommen hat, schon für Schlüsse ziehen? Und
an wen sollte er sich damit wenden? Leider wissen wir nicht, wohin er
fliehen will. Folglich kennen wir auch seinen Fluchtweg nicht. Edmund
meinte, Akbar hätte Freunde in Pakistan. Vielleicht will er sich dort
verkriechen. Aber wir haben nicht genug Personal für eine langatmige
Suche. Oder sollen wir Akbar offiziell des Hochverrats beschuldigen und
anklagen? Dann würde von offizieller Seite nach ihm gefahndet. Irgendein
Grund wird uns schon einfallen.“
Armstrong hob abwehrend die Hände. „Ich kenne diesen Jamal
Akbar nicht. Aber bitte bedenkt, dass es in dieser Phase kaum Risiken gibt.
Die fangen an, wenn die Forschungstrupps unterwegs sind, und erst recht,
wenn sie Ergebnisse liefern. Lasst den Mann laufen. Bloß keinen Wirbel
veranstalten, durch den wir unnötig auffallen.“
Abu Tarik stimmte Armstrong zu. „Allerdings würde ich
vorschlagen, dass ich in den Ländern, in denen ich gute Kontakte habe,
eine kleine Suchanfrage starte. Ich muss ja nicht gleich von Hochverrat
sprechen. Er könnte etwas gestohlen haben. Das wäre eine kleine Chance.
Tarkan würde ich dafür nicht abstellen. Den brauchen wir für
vordringlichere Aufgaben.“
Kapitel 9
Adams Island, März 2015
Ethan Dearing rannte über die grünen Matten des weiten Hochlandes um
sein Leben. Sein Vorsprung war hauchdünn. Er spürte Tarkan und den
anderen in seinem Nacken. Seine einzige Chance war sein Motorboot an
der Küste, mit dem er, entgegen der Anweisungen, alleine gekommen war.
Es war den Teilnehmern untersagt, die Insel ohne Begleitung zu betreten.
Jemand aus dem Führungskreis empfing die Gäste an der Küste und
geleitete sie auf die Insel. So sahen es die Statuten vor.
Aber Ethan war nicht blöd. Er hatte gleich bei seinem ersten Besuch
erkannt, wo er sich befand. Wie oft war er schon mit seiner Yacht an den
kleinen, weit verstreuten Inseln zwischen Neuseeland und dem
antarktischen Eisschild vorbeigefahren. Er fand diese einsamen,
menschenleeren Landschaften faszinierend. Außerdem erforderten die
starken Westwinde, das unberechenbare Treibeis und die heimtückischen
Felsen großes seemännisches Geschick. Eine Herausforderung für einen
Skipper wie ihn. Und weil er diesmal nach seinem Besuch auf
Erkundungstour gehen wollte, war er mit seiner Yacht gekommen. Das
hatte ihm zwar Ärger eingebracht, aber den nahm er für sein Hobby gerne
in Kauf.
Hätte er jedoch vorher gewusst, was ihn erwartete, wäre er gar nicht
erst gekommen. Er wäre nie mehr gekommen, sondern hätte sich sofort an
das FBI gewendet. Vielleicht war es dafür noch nicht zu spät. Er musste
nur sein Boot erreichen.
Ethan blickte sich um. Tarkan war vielleicht zweihundert Meter
hinter ihm. Zu weit für seine Glock. Und erst recht für sein martialisches
Schwert. Das Ding musste ziemlich schwer sein. Was wollte er damit,
wenn er jemanden verfolgte, der sich ohne Gepäck in unwegsamem
Gelände schnell bewegte? Sei´s drum, das war nicht sein Problem. Der
andere bereitete ihm im Moment viel mehr Sorgen. Denn er konnte ihn
nicht mehr sehen. Wenn dieses verdammte Eiland wenigstens Deckung
böte. Wälder, Sträucher, irgendwas. Fehlanzeige. Nur Gras, soweit das
Auge reichte.
Ethan schätzte die Entfernung bis zur Küste ab. Noch knapp zwei
Kilometer. Er müsste es schaffen. Sofort auf´s Boot und nichts wie weg
von hier. Wenn Tarkan ihn zu fassen kriegte, war es aus. Wo war nur der
andere? Egal, um den konnte er sich nicht kümmern.
Plötzlich zerriss ein Schuss die Stille. Ethan drehte sich im Laufen
um. Tarkan war stehengeblieben und schoss. Was für ein Idiot! Ethan lief
zickzack. Ein zweiter Schuss. Noch mehr Schüsse, dann Stille. Gut. Das
erhöhte seinen Vorsprung auf mehr als dreihundert Meter, als auch Tarkan
nach etlichen Fehlschüssen wieder losrannte. Ethans Lungenflügel
brannten. Er war schon an die drei Kilometer im Sprinttempo gerannt.
Bergauf, bergab, durch hohes Gras. Gegen den Wind. Er war am Ende
seiner Kräfte. Aber stehenbleiben bedeutete den Tod. Er musste laufen!
Immer weiter!
Endlich sah er sein Boot vor sich. Noch tausend Meter. Der andere
war bestimmt erschöpft und lag nach Atem ringend im Gras. Wie gut, dass
Ethan sich mit Waldläufen fit hielt. Das rettete ihm jetzt das Leben. Aufs
Boot springen, nicht umdrehen, Motor an, volle Pulle aufs offene Meer,
sofort die Küstenwache informieren und dem Schrecken ein Ende bereiten.
Denn was er erst jetzt begriffen hatte, und weswegen er auf der Flucht war,
hatte ihn schockiert.
Er war mittlerweile schon einige Male auf Adams Island gewesen,
der kleinen unbewohnten Insel im Schatten der Auckland Islands. Wenn
man über die entsprechenden Mittel verfügte, konnte man dieses wilde
Eiland hervorragend nutzen, um den Weltuntergang zu planen. Als Ethan
dem Ruf der Stiftung gefolgt und vor einigen Monaten zum ersten Mal zu
der versteckten Anlage im Herzen der Insel gekommen war, auf weiß Gott
wie vielen Umwegen, war er davon ausgegangen, von einem elitären
Zirkel eingeladen worden zu sein, der in der Lage war, die Welt, unter
anderem mit seinem Wissen, vom Terrorismus zu befreien.
Die beiden ersten Treffen bei der Stiftung mit dem poetischen
Namen AURORA waren noch unverfänglich gewesen, wenngleich ihn
schon da erste Zweifel beschlichen hatten. Sibirien machte als Ziel seines
Forschungsauftrags angesichts der neuesten, alarmierenden Erkenntnisse
über die Permafrostböden zwar Sinn. Es bestand die ernstzunehmende
Gefahr, dass dort Viren und Bakterien lauerten, die nur darauf warteten,
aus der Eisstarre zu erwachen und ihr unheilvolles Werk zu verrichten.
Aber die Möglichkeiten einer mikrobiologischen Manipulation des
isolierten Materials und die Entwicklung eines neuen Impfstoffs als
zentrale Fragestellungen seiner Forschung waren ihm spanisch
vorgekommen.
So hatte David Moore in seiner ominösen Rede angekündigt, dass
der große Ethan Dearing zu einem Meilenstein der Weltgeschichte würde,
weil seine Meriten als Virologe von Weltruhm den Weg zu einem neuen
Zeitalter ebnen würden. Ethan hatte nicht verstanden, was Moore damit
sagen wollte. Und noch weniger, warum er im Anschluss an seine
merkwürdige Rede diesen Tarkan Jafari auf die Bühne geholt und als
zentrales Element der Strategieumsetzung vorgestellt hatte. Tarkan, von
dem Ethan nie zuvor gehört hatte, war unverkennbar arabischer
Abstammung. Schwarze Haare und Augen, dunkler Teint, nicht unattraktiv.
Sehr maskulin. Aber aggressiv, ein wild entschlossener Gesichtsausdruck,
der keine Zweifel ließ, dass er wusste, warum er dort auf der kleinen
Bühne in der unterirdischen Festung im Niemandsland stand.
Einer Festung, die von außen nicht zu erkennen war. Denn sie war in
den Fels hinein gebaut worden. Ein unterirdischer Komplex mit
modernster, aber auch längst überholter Technik, bis hin zu Faxgeräten.
Die Zugänge waren perfekt getarnt. Auch das hatte Ethan misstrauisch
gemacht. Warum sollte sich eine gemeinnützige Stiftung unter der Erde
einer unbewohnten Insel verkriechen?
Die Gruppe der Zuhörer war überschaubar gewesen. Mehr als beim
ersten Treffen, aber trotzdem weniger als dreißig Teilnehmer. Einige
kannte Ethan von den vorherigen Treffen und den Gesprächen, für die
teilweise veraltete Funkgeräte benutzt wurden. Faxgeräte und Walkie
Talkies. Analoge Technologie aus der Steinzeit. Was für ein Schwachsinn.
Aber ganz allmählich, spätestens nach dieser denkwürdigen Ansprache des
Generals, hatte Ethan begriffen, dass das keineswegs schwachsinnig war,
sondern im Gegenteil genial.
Nach Davids Auftritt und der Kurzvorstellung des arabischen
Schweigers, hatte Ethan Andrew noch im Sitzungssaal um ein Gespräch
gebeten. Er wollte wissen, worum es bei dieser ominösen Veranstaltung
wirklich ging. Andrew hatte ihn nur verwundert angesehen und gesagt,
dass Ethan das nach den zahlreichen Vorgesprächen doch längst begriffen
haben müsste. Es gehe darum, mögliche Terrorziele in der Natur zu
identifizieren und vor Angriffen zu schützen.
Aber Ethan hatte das gar nicht für bare Münze genommen.
Denkansätze waren das für ihn gewesen, die Möglichkeit, Bedrohungen
aus der Natur zu begegnen, mehr nicht. Aber was die Stiftung plante,
waren detaillierte Anweisungen für Terroranschläge ungeahnten
Ausmaßes. Deshalb hatte er Andrew eröffnet, dass er aussteigen und
Adams Island umgehend verlassen würde. In dem Augenblick, als Andrew
Tarkan zugenickt und der seine Glock gezückt hatte, begriff Ethan, dass er
sich in höchste Lebensgefahr begeben hatte. Er hatte die ganze Situation
komplett fehlgedeutet, weil seine Fantasie und sein Vorstellungsvermögen
für ein solches Szenario nicht ausreichten. Hier ging es ganz und gar nicht
um den Schutz von Terrorzielen. Denn das wäre kein Grund, einen Killer
auf ihn zu hetzen. Da würde ein Pochen auf die Erfüllung seiner Verträge
mit AURORA völlig ausreichen.
Seine Yacht! Noch zweihundert Meter, zum Schluss noch eine kurze
Kraxelei die Steilklippe hinab. Tarkan war noch weiter zurückgefallen. In
wenigen Augenblicken hatte er es geschafft.
Nachdem Tarkan die Waffe gezogen hatte, hatte Ethan blitzschnell
reagiert. Er hatte Andrew gepackt und dem heranstürmenden Tarkan
entgegengeschleudert. Beide waren mit einem lauten Poltern zu Boden
gegangen. Ethan war sofort in Richtung Ausgang gesprintet. Der General
stellte sich ihm in den Weg. Die anderen Teilnehmer waren wie
versteinert. Weil Ethan in vollem Lauf war, konnte er den Soldaten
mühelos zu Boden stoßen, der sich unter Flüchen wieder aufrichtete und
schrie: „Lasst ihn unter keinen Umständen entkommen!“ Doch als Tarkan
und der Andere losliefen, war Ethan schon draußen.
Er erreichte den kleinen Felsabsatz. Seine Todesangst wich einem
Gefühl des Triumphes. Rückwärts kletterte er die paar Meter ab, ruhig und
konzentriert in der sicheren Drei-Punkt-Technik, die er bei jeder
Klettertour konsequent anwendete. Er hörte das Rauschen der meterhohen
Wellen, aufgepeitscht durch den stürmischen Wind. Gischt spritze ihm in
den Nacken. Eigentlich genau sein Ding. Aber jetzt ging es nur darum, zu
verschwinden und dem Wahnsinn ein Ende zu bereiten.
Plötzlich brach unter seinem Fuß krachend ein großer Stein ab, den
er für einen sicheren Tritt gehalten hatte. Fast hätte er das Gleichgewicht
verloren, doch er reagierte blitzschnell und sprang von der Wand ab, auf
einen Felsvorsprung. Er blickte nach unten. Er sah den Sand, kaum zwei
Meter unter ihm. Wenn Tarkan jetzt oben am Rand der Klippe erschien,
war er verloren. Ohne zu zögern, stieß sich Ethan erneut von der Felswand
ab und landete im weichen Sand. Sofort sprang er wieder auf und griff
dabei in seine Jacke. Das Klimpern des Schlüsselbundes erschien ihm wie
eine Erlösung. Mit einem Hochgefühl sprintete er auf sein Boot zu, keine
fünf Meter mehr entfernt. Er löste den Blick vom Sand und schaute zu
seiner Yacht, die für ihn die Rettung bedeutete.
Und dort stand er. An der Reling, breitbeinig, mit einem boshaften
Grinsen im Gesicht. Der Andere. Es musste einen kürzeren Weg an die
Küste geben. Als Ethan realisierte, dass der Mann eine Waffe auf ihn
richtete, fiel auch schon der Schuss. Ein Knall. Möwen flogen mit lautem
Geschrei davon.
Ethan spürte einen harten Schlag an seinem rechten Oberschenkel.
Kaum Schmerzen, aber er sah, wie sich seine Jeans dunkel verfärbte. Er
fiel zu Boden. Der Mann sprang von der Yacht und baute sich drohend
über ihm auf. Auch Tarkan war inzwischen da. Die Männer sprachen
aufgeregt miteinander. Schließlich packte der Andere Ethan am Kragen
und riss ihn brutal hoch. Als Ethan in sein Gesicht sah, erkannte er blanken
Hass. Der Mann zwang ihn auf die Knie. Ethan wartete darauf, dass der
nächste Schuss fiel. Doch es fiel kein Schuss. Als Ethan gegen den Druck
des Anderen den Kopf ein wenig hob, sah er Tarkans Schwert, das in
diesem Augenblick mit Wucht auf ihn hinab raste und seinen Kopf mit
einem einzigen glatten Schnitt vollständig vom Rumpf trennte.
Kapitel 10
Kiel, Geomar-Institut, Ende März 2015
Chang Zhou hatte sich auf diesen Tag gefreut. Heute hielt einer der
bedeutendsten Klimaforscher der Welt, Siegmund Böllner, am Institut für
Meereswissenschaften einen Vortrag über den Golfstrom. Zhou war vor
zwei Tagen in der Stadt an der Förde angekommen. Er hatte eine große
Suite mit Blick auf die Ostsee im Kieler Kaufmann gebucht. Zhou hatte
Meteorologie an der Tsinghua-Universität in Peking studiert. Als bester
Absolvent seines Jahrgangs hatte er sofort eine Stelle beim staatlichen
Wetterdienst bekommen. Zehn Jahre hatte er sich dort hochgearbeitet. Was
ihn von seinen Kollegen unterschied, war seine Intuition. Eine Intuition,
die ihn in Fachkreisen weltweit bekannt und zu einem beliebten Objekt der
Medien gemacht hatte.
Während sich die Meteorologen des staatlichen Wetterdienstes strikt
an Wetterkarten und Strömungsmustern orientierten, hatte Zhou ein
angeborenes Gespür dafür, wie das Wetter in den jeweiligen
Vorhersagegebieten tatsächlich wurde. Er arbeitete zwar wie jeder
Meteorologe mit den Modellen der Großrechner, aber er konnte die
Zugrichtung eines Tiefdruckgebietes erahnen. Wenn der Rechner ein unter
Abschwächung landeinwärts ziehendes Tief vorhersagte, spürte Zhou, dass
es das nicht machen, sondern auf das offene Meer abdrehen, sich mit
Feuchtigkeit vollsaugen und erst dann als Sturmtief auf das Festland
übergreifen würde. Entgegen aller mathematischen Logik.
Schon als Kind hatte ihn das Wetter fasziniert. Es kam vor, dass er
mit seinen Eltern spazieren ging und sie plötzlich warnte, dass ein
Gewitter kommen würde. Sein Vater hatte ihn angesehen wie ein
Fragezeichen, denn nicht eine Wolke trübte den Himmel. Und doch ging
kaum eine Stunde später die Welt unter. Irgendwann hatten seine Eltern
aufgehört sich zu wundern. Sie befolgten einfach seine Ratschläge.
Bald langweilte Zhou seine Arbeit beim Wetterdienst. Er nahm
Kontakt zu Investoren auf, kündigte, und gründete seinen eigenen
Wetterdienst. Und weil die Symbiose aus moderner Technologie und
Intuition dazu führte, dass seine Wettervorhersagen die zuverlässigsten
waren, wuchs sein Unternehmen von Jahr zu Jahr. Einziges Problem: sein
Erfolg hing von genau einem Faktor ab: ihm. Wenn er ausfiel, wurden
auch die Vorhersagen ungenauer.
Um dem entgegenzuwirken, hatte Zhou frühzeitig begonnen, nach
einem Meteorologen zu suchen, der dieselben Fähigkeiten mitbrachte wie
er. Im vergangenen Jahr war er fündig geworden. Sharif ibn Abdulaziz von
der Universität Bagdad. Während einer Chinareise hatte Sharif die Anzeige
gelesen, mit der Zhous Wetterdienst einen Mitarbeiter suchte. Mit der
Aussicht auf eine Partnerschaft bei entsprechender Eignung. Sharif machte
seine Sache prima. Er hatte ein ähnliches Wettergespür wie Zhou. Und ihr
Gespür sagte ihnen stets dasselbe. Sie waren ein perfektes Team.
Zhou, der zu Fuß von seinem Hotel aufgebrochen war, um sich die
Umgebung anzuschauen, stand vor dem großen Aquarium neben dem
GEOMAR-Institut. Er beobachtete die Seehunde, die mit einer angesichts
ihres plumpen Körpers beeindruckenden Geschmeidigkeit durch das
Wasser glitten. Die Ozeane und ihre Bewohner waren eine weitere
Leidenschaft, die er mit Sharif teilte.
Ihre kulturellen und religiösen Unterschiede spielten keine Rolle.
Wie er selbst, empfand auch Sharif Groll auf die menschliche Rasse, weil
sie ihre Lebensgrundlagen systematisch zerstörte. Sharif war ein gläubiger
Muslim, aber kein Fanatiker. Er verurteilte religiösen Fanatismus und
Gewalt. Sharif war davon überzeugt, dass der Kampf der Religionen über
kurz oder lang zu einem globalen Krieg führen würde.
Dabei hatten die drei monotheistischen Religionen, Islam, Judentum
und Christentum, gemeinsame Wurzeln in der Geschichte Abrahams, der
die Religionen ebenso einte wie trennte. Alle drei sahen in Abraham ihr
Vorbild für den Glauben an den einen Schöpfergott. Andererseits
beanspruchte jede Religion Abraham exklusiv für sich. Wegen dieser
gemeinsamen Wurzeln waren sich Bibel und Koran ähnlicher, als
gemeinhin bekannt war. Der größte Unterschied zwischen Islam und
Christentum war die Dreifaltigkeit, auch als Dreieinigkeit oder Trinität
bezeichnet, die es nur in der christlichen Theologie gab. Sie besagte, dass
es zwar nur einen Gott gab, in ihm aber drei Personen vereint waren: der
Vater, sein Sohn Jesus Christus und der Heilige Geist. Deshalb wurden
Christen im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes
getauft.
Das bestritt der im Jahr 570 nach Christus geborene Mohammed. Als
Kaufmann unternahm er viele Handelsreisen, auf denen er christliche und
jüdische Glaubensgemeinschaften kennenlernte. Als er im Jahr 610 seine
ersten Offenbarungen erhielt, waren sie voller Botschaften des Alten und
Neuen Testaments. Zwanzig Jahre nach seinem Tod wurden diese
Offenbarungen im Koran niedergeschrieben.
Es gab also eine Verbindung zwischen Koran und Bibel, zwischen
Christentum und Islam. Differenzen gab es wegen der Dreifaltigkeit, aber
auch, weil Mohammed der Überzeugung war, dass er nicht nur der
Bestätiger der christlichen und jüdischen Überlieferung war, sondern ihr
Vollender, der, als letzter Prophet Gottes, den Auftrag hatte, die Irrtümer
des Menschen in den Überlieferungen zu korrigieren. In Jesus sah er einen
Propheten Gottes, seinen Botschafter.
Zhou betrachtete die Dinge aus der Sicht des Wissenschaftlers. Aber
er kam zu demselben Ergebnis wie Sharif: Der Mensch brachte sich
aufgrund seiner Gier und Ignoranz an den Rand des Abgrunds. Und auf
diesem Weg war er schon weit vorangekommen.
Zhou wusste, dass die Klimaveränderungen schon in naher Zukunft
sprunghaft zunehmen würden. Die Folgen waren das sechste große
Artensterben der Erde, das bereits begonnen hatte, Wirtschaftskrisen und
schließlich globale Kriege. Im Grunde recht simpel. Aber der Mensch war
in seiner Ichzentrierung zu dumm, diese schlichten Zusammenhänge zu
begreifen. Das betraf den einfachen Bürger auf der Straße ebenso wie
Politiker, Konzernbosse und Top-Manager.
Je länger Sharif und Zhou über diese düsteren Aussichten diskutiert
hatten, desto mehr waren sie zu dem Schluss gekommen, dass der Planet
mit seiner Vielfalt des Lebens nur gerettet werden konnte, wenn die
menschliche Rasse verschwand, bevor sie sämtliche Lebensgrundlagen
zerstört hatte. Denn allein die bevorstehenden Klimasprünge hatten das
Potenzial, einen unumkehrbaren Zerstörungsmechanismus in Gang zu
setzen.
Genau darum ging es in dem Vortrag von Siegmund Böllner. Der
Klimaforscher würde gleich die neuesten Erkenntnisse zum Golfstrom
vorstellen und ein Worst-Case Szenario aufspannen, was schlimmstenfalls
passieren könnte, wenn diese für Europa so wichtige Fernheizung
ausfallen sollte.
Zhou verfolgte aufmerksam die Berichterstattung in den Medien.
Die Negativ-Schlagzeilen, die seine Einstellung zur menschlichen Rasse
maßgeblich mitgeprägt hatten, hatten sich in seinem Gedächtnis
eingebrannt:
„Messungen am Ross-Schelfeis höchst beunruhigend: Potenzial für
einen dramatischen Meeresspiegelanstieg“
„Riesiger Eisabbruch in der Arktis“
„Erderwärmung: Wir nehmen Fahrt auf - Klimawandel bestätigt und
übertrifft Prognosen“
„Meere könnten um sieben Meter ansteigen“
„Höchste CO2 Konzentration seit 800.000 Jahren“
Solche Schlagzeilen wiesen auf ein gefährliches Phänomen des
Systems Erde hin. In den Ozeanen, der Atmosphäre, den Böden und im
„ewigen“ Eis lauerten Kipppunkte des Klimasystems, die bei sich
ändernden Rahmenbedingungen zunächst träge reagierten. Doch plötzlich
brachen sie zusammen.
Einer dieser Kippunkte war die Fähigkeit der Ozeane,
Kohlenstoffdioxid, jenes farb- und geruchslose Treibhausgas mit der
chemischen Formel CO2, aufzunehmen. Sie waren der größte CO2-
Speicher. In ihnen war fünfzigmal mehr CO2 gespeichert als in der
Atmosphäre und zwanzigmal mehr als in der Biosphäre und den Böden.
Sie waren die wichtigste CO2-Senke, denn sie hatten seit Beginn der
Industrialisierung die Hälfte des vom Menschen emittierten CO2
aufgenommen, hundertfünfzig Milliarden Tonnen, und damit noch
dramatischere Klimaveränderungen verhindert.
Bis jetzt.
Denn die Fähigkeit des Wassers, CO2 zu speichern, hing von seiner
Temperatur ab. Kaltes Wasser konnte mehr CO2 lösen und damit speichern
als warmes. Wenn sich die Ozeane erwärmten, nahmen sie weniger CO2
auf. Und irgendwann waren sie so warm, dass sie das CO2 wieder an die
Atmosphäre abgaben. Der Kipppunkt, bei dem die Ozeane den
Treibhauseffekt selbst dann weiter anheizen würden, wenn der Mensch
sich seiner Verantwortung endlich bewusst wurde und kein CO2 mehr
emittierte.
Eine fatale Kettenreaktion kam in Gang, mit vielen unkalkulierbaren
Wechselwirkungen. Denn bei steigenden Wassertemperaturen löste sich
auch Methan aus den Hydraten und gelangte in die Atmosphäre. Methan
hatte das fünfundzwanzigfache Treibhauspotenzial wie CO2.
Methanhydrat war stark verdichtet und quasi in gefrorenem Wasser
eingelagert. Ging das Hydrat in die Gasphase über, nahm das Volumen des
Methans um das Hundertsiebzigfache zu. Denn Methanhydrate waren nur
unter engen Bedingungen stabil: hoher Druck und niedrige Temperaturen.
Solche Bedingungen herrschten am Meeresboden ab etwa fünfhundert
Metern Wassertiefe. Dort konnte die Dicke der Methanhydratschicht
einige hundert Meter betragen. Sobald die Erwärmung diese Tiefen
erreichte, kam es zu Blowouts, bei denen explosionsartig gewaltige
Methanmengen freigesetzt wurden, die sogar schon Schiffe hatten sinken
lassen. Dieses Methan verstärkte, wie das CO2, als positive Rückkopplung
den Treibhauseffekt. Das eine bedingte das andere. So funktionierte die
Natur.
Zhou wusste, dass es noch etliche solcher auf den Klimawandel
reagierenden Kipppunkte gab. Das Ausbleiben des indischen
Monsunregens, die Instabilität der Sahel-Zone in Afrika. Die
Austrocknung und der Kollaps des Amazonas-Regenwaldes, dem Genpool
und größten tropischen Regenwaldgebiet der Erde, mit acht Millionen
Quadratkilometern fast so groß wie die USA. Dort gab es mehr als
vierhundert Säugetierarten, tausendzweihundert Vogelarten, dreitausend
Fischarten, über eine Million Insektenarten und mindestens vierzigtausend
Pflanzenarten.
Täglich verschwand von dieser Lebensader der Erde durch
Brandrodung eine Fläche von der Größe Hamburgs. Sie wich
Ölpalmenkulturen und Weideland, das binnen weniger Jahre austrocknete,
weil sich ein Großteil des Wasseraustauschs über der Erdoberfläche
abspielte, inmitten der gewaltigen Bäume. Wie ein Schwamm saugten sie
das Regenwasser auf und gaben es über ihre Blätter wieder an die Luft ab.
Daraus entstanden neue Regenwolken mit neuem Regen, jeden Tag aufs
Neue. Ein von der Natur genial ausgeklügeltes System, das sich selbst
erhielt. Die Wurzeln der Pflanzen waren deshalb nur kurz, aber groß
genug, um das wenig nährstoffreiche Erdreich zu halten.
Und was taten der Mensch, die Unternehmen, die Weltbank? Sie
zerstörten dieses Wunderwerk der Natur trotz des sicheren Wissens um die
Folgen, allein aufgrund der Gier nach kurzfristigen Profiten. Ab einem
bestimmten Punkt der Rodung, dem Kipppunkt, trocknete der Amazonas-
Regenwald aus. Unaufhaltsam und unumkehrbar. Das Klima würde dort
umkippen, die Fähigkeit des Waldes, CO2 zu speichern zerstört, die CO2-
Konzentration auch aus dieser Quelle weiter ansteigen.
Und es gab weitere Kipppunkte. Der Kollaps der borealen Wälder
zwischen dem vierzigsten und siebzigsten Breitengrad über Nordamerika,
Europa und Asien, das Auftauen des Permafrostbodens mit der Folge der
Freisetzung von noch mehr Methan und CO2 sowie die große Eisschmelze
mit der Folge steigender Meeresspiegel und der Bedrohung von
Abermillionen Menschen, die weltweit in der Nähe von Küsten lebten.
Und eben den Golfstrom.
Zhou schaute auf seine Uhr. Gleich ging es los. Er betrat den großen
Hörsaal des GEOMAR-Institutes und nahm in einer der mittleren Reihen
Platz. Siegmund Böllner betrat die Bühne, begrüßte das Publikum und
erklärte anhand diverser Graphiken und Statistiken, dass sich einige
Wissenschaftler aufgrund aktueller Studien sicher waren, dass sich der
Golfstrom bereits abgeschwächt hatte. In einer Größenordnung zwischen
zwanzig und dreißig Prozent. Das entsprach aber, wie er später begründen
würde, nicht seiner Überzeugung.
Er erläuterte zunächst, wie der Golfstrom funktionierte. Diese für
das Klimagleichgewicht so wichtige, von der Karibik nach Nordeuropa
driftende Meeresströmung, transportierte mehr Wasser als sämtliche
Flüsse des Planeten zusammen. Die von ihr beförderte Energie überstieg
die aller Kraftwerke Europas um mehr als das Tausendfache. Böllner
erklärte, dass die Stabilität der Meeresströmung von Temperatur und
Salzgehalt des Wassers abhing.
„Ohne den Golfstrom, meine Damen und Herren, würde es Europa
mit seiner Wirtschaft und stabilen politischen Situation nicht geben. Der
Westen Norwegens liegt auf derselben geografischen Breite wie der Süden
Grönlands und der Osten Kanadas. Während es dort kaum Vegetation und
keine florierende Wirtschaft gibt, aber Permafrostböden, wachsen an der
Westküste Norwegens Obstbäume und Gemüse. An der Südwestküste
Irlands gedeihen sogar Palmen, in Schottland üppige Rhododendren. Der
Golfstrom ist Europas Klimamotor. Und damit Europas Wirtschaftsmotor,
Tourismusmotor und Grundlage einer prosperierenden Landwirtschaft.
Wir können ohne zu übertreiben konstatieren, dass der Golfstrom der
Schlüssel zur Bedeutung Europas ist. Nach der Pause werde ich Ihnen
erläutern, was geschieht, wenn dieser Schlüssel gezogen wird, wenn die
Zentralheizung Europas ausfällt. Leider unterliegt die Wissenschaft der
Problematik der Irrtumswahrscheinlichkeit, sprich, was ich Ihnen bis jetzt
erzählt habe, sind Fakten. Sobald wir aber versuchen, Dinge in der Zukunft
zu prognostizieren, unterliegen wir der Unsicherheit.
Vielen von Ihnen sind sicherlich die Chaostheorie und der berühmte
butterfly effect ein Begriff. Der Vater der Chaostheorie, Edward Lorenz,
entdeckte, dass der Flügelschlag eines Schmetterlings in Shanghai einen
Wirbelsturm in Florida auslösen kann. Das glauben Sie nicht? Und doch
ist es so, denn das Klimasystem der Erde ist komplex, hochgradig
vernetzt, und, mathematisch gesehen, nichtlinear, dynamisch und
deterministisch. Und damit ist dieses System unvorhersehbar. Eine
geringfügige Veränderung in den Anfangsbedingungen, der Schmetterling
in Shanghai, kann eine gewaltige Wirkung entfalten, den Wirbelsturm in
Florida. Über Rückkopplungsmechanismen kann sich diese kleine Ursache
wie ein Tsunami zu einer riesigen Welle hochschaukeln. So etwas ist über
längere Zeiträume, sprich Jahre oder Jahrzehnte, kaum vorhersehbar.
Trotzdem glauben wir heute, die Folgen eines Versiegens des Golfstroms
innerhalb gewisser Toleranzgrenzen prognostizieren zu können. Warum?
Weil wir uns der Klimageschichte bedienen. Denn der Golfstrom ist schon
mehrfach versiegt, zuletzt vor rund zwölftausend Jahren. Anhand von
Eiskernbohrungen auf Grönland können wir nachvollziehen, welche
Auswirkungen das hatte und versuchen, diese Erkenntnisse auf die Zukunft
zu übertragen. Nach der Pause gehen wir der Frage nach, ob sich der
Golfstrom tatsächlich abgeschwächt hat.“
Die Pause nutzte Zhou, um sich die Grafiken an den Wänden
anzuschauen. Vieles kannte er aus seinem Beruf. Dem Vortrag konnte er
problemlos folgen. Zhou war gespannt, was Böllner zum aktuellen Stand
der Forschung sagen würde. Er selbst war davon überzeugt, dass ein
Versiegen des Golfstroms in Teilen Europas eine Eiszeit auslösen würde.
Schon der Ausfall der Zentralheizung an sich würde zu einer deutlichen
Abkühlung führen. Aber auch andere Meeresströmungen und die globalen
Windsysteme würden sich ändern. Der Jet Stream, jene fünfhundert
Stundenkilometer schnelle Westwinddrift in zehn Kilometern Höhe, die
um den Globus raste und für die vorherrschenden Westwetterlagen in
großen Teilen Europas sorgte, würde sich abschwächen. Also käme die
Luft häufiger aus Norden oder Osten. Das bedeutete einen zusätzlichen
Abkühlungseffekt.
Der Gong kündigte das Ende der Pause an. Als Zhou an seinem Platz
ankam, sah er einige Reihen vor sich die Frau. Nur kurz konnte er einen
Blick in ihr Gesicht erhaschen, bevor sie sich setzte. Doch dieser
Augenblick reichte, um ihn zu elektrisieren. Mit zittrigen Händen ließ er
sich in seinen Stuhl sinken. Böllner trat ans Mikrofon. Und erklärte
sogleich, dass der Golfstrom nicht eine, sondern ein komplexes System
aus Strömungen war, das im Golf von Mexiko begann und, vorbei an der
Ostküste der USA, mehr oder weniger nach Nordeuropa floss.
„Mehr oder weniger“, erläuterte er anhand einer Strömungsgraphik,
„weil sich das System teilt. Das detailliert zu erklären, würde zu weit
führen. Zwei Dinge sind für Europa wichtig. Zum einen der Teil des
Golfstroms, der bis in den Norden Europas fließt und als
Nordatlantikstrom bezeichnet wird. Zum anderen die Tatsache, dass der
Motor des Golfstroms an dessen nördlichen Ende liegt. Durch kalte Winde
drastisch abgekühlt, sinkt das salzhaltigere Wasser des Golfstroms in
gewaltigen Mengen ab und fließt in mehreren tausend Metern Tiefe zurück
zu seinem Ursprung. Es sinkt ab, weil kaltes, salzreiches Wasser schwerer
ist als warmes und salzarmes. Aber eigentlich sinkt es nicht ab, es stürzt!
Wir sprechen von den größten Wasserfällen der Erde, mit einer vertikalen
Erstreckung von mehreren Kilometern. Dieser Absinkvorgang saugt wie
eine gewaltige Pumpe das Wasser aus der Karibik an. Wir haben es also
mit einer Umwälzpumpe zu tun. Dieser Teil des Golfstroms ist für das
günstige Klima in Europa verantwortlich. Wenn er versiegt, wird es in
Europa ein paar Grad kälter. Besonders betroffen wäre Nordeuropa, mit
fünf oder sechs Grad. Aber auch in Deutschland müssten wir uns auf
kältere Winter mit langen Frostperioden und einer monatelangen
Schneebedeckung einstellen. Was uns jedoch nicht drohen würde, ist eine
neue Eiszeit. Wenden wir uns damit den beiden entscheidenden Fragen zu:
Erstens: Wodurch könnte sich der Golfstrom abschwächen oder zum
Stillstand kommen und was hat der menschengemachte Treibhauseffekt
damit zu tun? Und zweitens: Wie ist es um den Golfstrom bestellt? Hat er
sich nun abgeschwächt oder nicht?“
Böllner erklärte, dass Süßwasser der größte Feind des Golfstroms
war. Aufgrund der rasch voranschreitenden Erwärmung schmolz das ewige
Eis. Daran, dass diese Erwärmung vom Menschen verursacht wurde,
bestand längst kein Zweifel mehr. Das Schmelzwasser, vor allem
Süßwasser aus Grönland, floss in den Nordatlantik. Das reduzierte den
Salzgehalt und brachte einen der Motoren des Golfstromsystems ins
Stottern.
Hinsichtlich der zweiten Frage war sich die Wissenschaft nicht
einig. Paradoxerweise kühlten sich –trotz Erderwärmung- Teile des
Nordatlantiks wieder ab. Das könnte darauf hindeuten, dass weniger
Golfstromwasser in diese Region floss. Allerdings ließ sich die vom
Golfstrom insgesamt transportierte Wasser- und Energiemenge nicht
anhand der Oberflächenströmungen nachweisen. Der Golfstrom flackerte
wie eine Kerze, verlor sich in riesigen Wirbeln, änderte, je nach Wind,
immer wieder seinen Kurs. Deshalb ließ er sich an der Wasseroberfläche
nur mit großen Unsicherheiten kontrollieren.
„Viel wichtiger als das Oberflächenwasser ist für uns deshalb das
Tiefenwasser, das zurück gen Süden fließt. Denn an der Ostküste der USA,
am sogenannten Deep Western Boundary Current, sammelt sich all das
Wasser, das an verschiedenen Stellen in die Tiefsee gestürzt ist, zu einem
einzigen Strom, der sich besser messen lässt als die aufgefächerten
Oberflächenströmungen. Und was soll ich sagen? Bislang verzeichnen wir
keine signifikanten Veränderungen dieser Tiefenströmung. Das führt zu
dem Schluss, dass der Golfstrom stabil ist. Warum sich Teile des
Nordatlantiks abkühlen, erklärt das aber nicht. Im Gegenteil, diese
Beobachtungen widersprechen sich. Sie sehen also, meine Damen und
Herren, auch wenn wir heute über wesentlich bessere Methoden verfügen,
um den Golfstrom zu vermessen, können wir nicht mit Gewissheit sagen,
wie es um unsere Fernheizung bestellt ist.“
Dann bat Böllner das Publikum um Fragen. Die Frau, die Zhou nach
der Pause aufgefallen war, meldete sich zuerst. Erst jetzt bemerkte er, dass
sie in Begleitung von drei Männern war. Zhou faszinierte diese Frau, aber
er wusste nicht, warum. Sie war schlank und ziemlich groß, sicherlich eins
achtzig. Und damit größer als er. Sie hatte lange blonde Haare, eisblaue
Augen und volle, sinnliche Lippen. Das dunkle Kostüm stand ihr gut. Sie
war bildhübsch. Aber das waren viele. Das war es nicht, was Zhou so
faszinierte, ja magisch anzog. Immer wieder sah er sie verstohlen an, um
herauszufinden, warum er genau das tun musste: sie immerzu verstohlen
ansehen. Aber erst jetzt, als er sie reden hörte, mit einer weichen, sanften,
fast engelhaften Stimme, begriff er, worin ihre Anziehungskraft bestand:
Sie hatte etwas nachgerade Sphärisches. So als wäre sie nicht von dieser
Welt. Das passte nicht zu ihrer eher nüchternen Frage, die sie in einem
Englisch und mit einem Vokabular stellte, das nahelegte, dass sie ein
Native Speaker war und an einer Eliteuniversität studiert hatte. Vielleicht
Oxford. Oder Harvard.
„Professor Böllner, Sie haben uns anschaulich erklärt, warum ein
Versiegen des Golfstroms keine verheerenden Folgen hätte. Aber konnte
man nicht anhand von Sedimentbohrungen unterhalb des Laacher Sees in
der Eifel feststellen, welche Auswirkungen der letzte Abbruch des
Golfstroms in dieser Region hatte? Bevor der Golfstrom versiegte,
herrschte dort ein noch wärmeres Klima als heute. Heute heißt, inklusive
der bereits von uns verursachten Erwärmung. Die Vegetation war üppig
und ähnelte einem Urwald. Doch dann versiegte die Fernheizung im
Atlantik. Wenn ich richtig informiert bin, geschah etwas Unglaubliches:
Innerhalb von nur zehn Jahren verwandelte sich die Vegetation von einem
Urwald in eine Tundra, ähnlich der in Sibirien! Und wo zuvor selbst im
Winter kaum Schnee fiel, entstanden in dieser kurzen Zeit
Permafrostböden. Könnte eine solch gravierende Veränderung innerhalb
eines so kurzen Zeitraums denn nur durch ein bisschen Abkühlung
zustande gekommen sein? Spricht das nicht vielmehr für einen abrupten
Klimasprung? Eine Klimakatstrophe?“
Die Frau wirkte selbstbewusst und schien vom Fach zu sein. Der
Referent war verunsichert. Ob durch ihre Frage oder ihre Ausstrahlung,
konnte Zhou nicht einschätzen, der nur wusste, dass er dieses
faszinierende Wesen kennenlernen musste. Böllner räusperte sich.
„Diese Studie ist in wissenschaftlichen Kreisen nicht anerkannt. Sie
ist nach herrschender Meinung zu kleinräumig angelegt. Kleinräumig im
Sinne von Landfläche, auf welche die Ergebnisse dieser Studie, die im
Übrigen auf der Analyse von Lavasedimenten beruht, bezogen sind. Und
sie kommt vor allem mittels Extrapolation zu ihren Ergebnissen, sprich,
wir befinden uns im Zustand großer Unsicherheit. Keinesfalls können wir
daraus einen Klimasprung oder gar eine weltweite Klimakatastrophe
ableiten.“
Mit dieser Erklärung gab sich die Frau jedoch nicht zufrieden.
„Unsicherheit bedeutet aber im Umkehrschluss auch, dass es genauso
gewesen sein könnte. Dass sich also binnen eines Jahrzehnts eine Tundra
gebildet hat, wo vorher Urwald war. Und das passiert nicht nur, weil die
Winter härter werden. Also können wir auch eine Klimakatstrophe nicht
ausschließen, oder?“
„Nein“, bestätigte der Redner, „das können wir nicht. Aber glauben
Sie mir, ein Versiegen des Golfstroms würde keine Eiszeit auslösen. Und
es würde nicht verhindern, dass die Erderwärmung weiter voranschreitet.
Vor allem in großen Teilen Europas gäbe es aber eine längere Pause, ja,
sogar eine Abkühlung. Plötzliche Eiszeiten gibt es nur in Hollywood. Der
Temperatursturz in der Eifel wurde im Übrigen wahrscheinlich durch
einen Vulkanausbruch ausgelöst, schon vor dem Versiegen des
Golfstroms!“
„Wie schätzen Sie die politischen und wirtschaftlichen
Auswirkungen ein, Professor Böllner? Führt ein Versiegen des Golfstroms
zu einer weltweiten Wirtschaftskrise?“
Zhou war irritiert über die Fragen der sphärischen Schönheit. Wie
kam sie bei einem Vortrag über den Golfstrom auf wirtschaftliche
Auswirkungen? Das dachte sich offensichtlich auch der Klimaexperte,
denn er verwies darauf, dass sein Wissenschaftszweig sich nicht mit
solchen Fragen auseinandersetzte. Als er schon im Begriff war, das
Mikrofon für die Frage eines anderen Teilnehmers weiterreichen zu lassen,
ergriff die Frau erneut das Wort.
„Sie haben gesagt, dass der Mensch für die Klimaveränderungen
verantwortlich ist. Folglich wäre er auch für ein mögliches Versiegen des
Golfstroms verantwortlich, richtig?“
Jetzt wirkte Böllner zum ersten Mal genervt. Er bestätigte, dass es
als wissenschaftlich erwiesen galt, dass der Mensch für den
Treibhauseffekt und seine Folgen verantwortlich ist. „Aber“, und dabei
wandte er sich dem gesamten Publikum zu, „das sind philosophische
Fragen, die wir hier und heute nicht diskutieren können. Wenn also noch
jemand Fragen zu meinem Vortrag… Ah, der Herr dort hinten rechts. Bitte
sprechen Sie deutlich in das Mikrofon.“
Doch bevor der junge Wissenschaftler aus Böllners Arbeitsgruppe
der Frau das Mikrofon abnehmen konnte, ergriff sie wieder das Wort, ohne
in Hektik zu verfallen.
„Nur noch zwei Fragen, bitte. Der Golfstrom versiegte vor
zwölftausend Jahren wegen eines Süßwassereinbruchs aus Grönland.
Durch die Eisschmelze brach eine Eisbarriere, die einen riesigen
Schmelzwassersee im Landesinneren wie ein Stauwerk aufgestaut hatte.
Doch schließlich gab die Eisbarriere dem Druck nach und das Süßwasser
ergoss sich in den Nordatlantik. Mit der Folge, dass der Golfstrom abrupt
zum Stillstand kam. Können Sie das a) bestätigen und besteht b) auch
heute wieder ein solches Risiko? Sprich, gibt es auf Grönland genügend
Schmelzwasser, um den Golfstrom zu stoppen?“
Für einen Augenblick war es ganz still. Diese merkwürdige Frau
zeigte ein über reine Neugier hinausgehendes Interesse an der Materie.
Schließlich räusperte sich der Redner.
„Gut, auch diese Fragen werde ich, ich hoffe, im Sinne aller
Anwesenden, noch beantworten. Ihre Informationen stimmen nicht ganz.
Der Golfstrom versiegte damals zwar durch einen enormen
Süßwassereintrag. Das stammte aber nicht aus Grönland, sondern von dem
gewaltigen Laurentidischen Eisschild in Nordamerika, der im Süden bis zu
den heutigen Städten New York City und Chicago reichte. Und das geschah
nicht von heute auf morgen, sondern war ein längerer Prozess. Ihre Frage,
ob uns Ungemach aus Grönland droht, kann ich relativ klar beantworten:
nein. Das sich dort sammelnde Süßwasser reicht nicht aus, um eine so
gewaltige Meeresströmung zum Erliegen zu bringen. Da müsste schon
ganz Grönland in kurzer Zeit abschmelzen. Dass grundsätzlich die Gefahr
besteht, dass der Golfstrom in ferner Zukunft aufgrund verschiedener
Süßwasserquellen versiegt, steht auf einem anderen Blatt. So…“, der
Klimaexperte bedeutete dem jungen Kollegen mit einer energischen
Kopfbewegung, der neugierigen Besucherin das Mikrofon abzunehmen,
„…und jetzt wollen wir erfahren, was der Herr dort hinten wissen
möchte.“
Zhou bekam nichts mit von der Frage des Mannes und ebenso wenig
von Böllners Antwort. Diese Frau interessierte ihn viel mehr. Faszinierend,
was für Fragen sie gestellt hatte. Darauf wäre er nie gekommen, obwohl
sie so naheliegend waren. Warum war sie so beharrlich? Zhou konnte das
Ende der Veranstaltung kaum abwarten. Er würde sie ansprechen und auf
einen Drink einladen, zur Not mit ihren Begleitern.
Kurz darauf löste Böllner die Veranstaltung auf. Die Frau und ihre
Begleiter waren näher am Ausgang als Zhou, weil sie weiter vorne
gesessen hatten. Zhou vergaß seine gute Erziehung für einen Augenblick
und drängelte sich mit diversen sorry zwischen den zum Ausgang
strömenden Menschen hindurch. Er hatte wenig Erfahrung mit Frauen,
weil er nur für seine Wettervorhersagen lebte. Flirten gehörte nicht gerade
zu seinen Königsdisziplinen. Zumal ihn diese Frau nervös machte. Allein
schon ihr schwebender Gang, so als würde sie sich knapp oberhalb des
Bodens bewegen. Als Zhou die kleine Gruppe erreichte, entschied er sich
für die direkte Ansprache, von Fachmann zu Fachfrau. Damit konnte er
nichts falsch machen.
„Bitte entschuldigen Sie“, sagte er, als er auf Höhe der Frau war,
„ich war beeindruckt von den Fragen, die Sie Professor Böllner gestellt
haben und mit denen Sie ihn ganz schön ins Schwitzen gebracht haben.“
Die Frau blieb überrascht stehen und sah Zhou direkt in die Augen.
Er konnte ihrem Blick nicht standhalten, sah abwechselnd zu ihr und ihren
Begleitern. „Danke“, sagte sie ohne erkennbare Emotionen. „Ich fand, dass
Böllner das zu einseitig dargestellt hat. Meine Fragen nach dem Ereignis
am Laacher See hat er regelrecht abgebügelt. Aber mit wem habe ich das
Vergnügen?“
Zhou stellte sich vor. „Angenehm“, erwiderte die Frau. „Ich heiße
Rebecca Eliot, Ozeanologin aus Boston.“ Sie zeigte der Reihe nach auf
ihre Begleiter. „Und diese Gentleman sind Oberst Edmund Wagner,
Oswald Pfeiffer vom BND und Bryan O´Connor, einer meiner ältesten
Freunde.“
Pfeiffer lächelte und offenbarte in perfektem Englisch einen
witzigen Charme, der bei Zhou einen Anflug von Eifersucht auslöste.
„Pfeiffer mit drei f, wie ich betonen möchte.“ Zhou verstand nicht, was
Pfeiffer damit meinte, aber Rebecca und dieser Bryan O´Connor lachten.
Wagner schien ernster zu sein. Jedenfalls reagierte er nur mit einem
angedeuteten Kopfnicken. O´Connor hatte rote Haare und
Sommersprossen. Das ließ ihn jünger wirken, als er vermutlich war. Er
hatte fast etwas Lausbubenhaftes. Sympathischer Typ. Ebenso wie Pfeiffer,
der zwar ein wenig schmierig wirkte, aber Humor hatte. Wagner konnte
Zhou nicht einschätzen. Gut aussehend. Kernig, wie ein Soldat.
„Interessant“, bemerkte Zhou, „ich bin Meteorologe. Eine
Ozeanologin kann ich mir bei einem solchen Vortrag ja noch vorstellen.
Aber was führt einen Oberst und den BND hierhin?“
Oswald Pfeiffer mit drei f lachte. „Edmund und ich sind Kieler und
gute Freunde. Rebecca haben wir im Studium kennengelernt. Aber das ist
eine andere Geschichte. Wir haben sie heute begleitet, weil sie uns darum
gebeten hat. Für die Marine ist die Frage, wie sich der Golfstrom
zukünftig verhält, allerdings auch von Interesse. Aber jetzt wollen wir in
dem schönen Restaurant nebenan eine Kleinigkeit essen und danach
vielleicht noch in eine Bar gehen. Wie sieht es aus, Mister Zhou, wollen
Sie uns nicht begleiten? Beim Drink unterhält es sich besser als in einer zu
einem Ausgang strömenden Menschenmenge.“
Zhou war froh. Genau das hatte er erreichen wollen. Er sagte sofort
zu. Während Rebecca verheißungsvoll lächelte, fing er sich von dem
wortkargen Edmund Wagner einen misstrauischen Blick ein, in dem Zhou
sogar eine gewisse Ablehnung meinte erkennen zu können. Keine
Eifersucht. Eher..., eher was? Vorurteile? Der Oberst war ihm
unsympathisch und suspekt.

***

Kieler Kaufmann, am Tag darauf


Ein Blick auf den Wecker verriet Chang Zhou, dass es Zeit für das
Frühstücksbuffet war. Er hatte dem Empfang mitgeteilt, dass noch jemand
daran teilnehmen würde.
Er konnte sein Glück kaum fassen. Sein Leben hatte sich im
Bruchteil einer Sekunde verändert. In dem Moment, als er zum ersten Mal
in Rebeccas Augen gesehen hatte. Als er sie angesprochen hatte, hätte er
es nicht für möglich gehalten, dass er wenige Stunden später mit ihr in
seiner Suite schlafen würde.
Sie könnte jeden haben. Warum er? Ein netter, zuvorkommender,
aber unscheinbarer Meteorologe aus China. Er war einundvierzig, sah aber
aus wie Anfang dreißig, hatte spröde schwarze Haare, die Augen waren
von einem undefinierbaren Grau. Und er war dünn. Nicht schlank, nein,
dünn. Und ausgerechnet mit ihm ging diese Traumfrau ins Bett, die auch
noch einen halben Kopf größer war.
Sie hatten bis Mitternacht zusammengesessen und Rotwein
getrunken. Wagner und Pfeiffer waren zu Zhous Freude schon um elf
gegangen. Bryan hielt noch eine halbe Stunde länger durch, aber dann
übermannte auch ihn die Müdigkeit. Sie hatten über Böllners Vortrag
gesprochen. O`Connor interessierten vor allem die wirtschaftlichen Folgen
einer solchen Naturkatastrophe. Rebecca, Bryan und er hatten angeregt
diskutiert. Wagner und Pfeiffer hielten sich auffallend zurück. Außer
einem gelegentlichen Grunzen hatte Wagner eigentlich den ganzen Abend
nichts zu der Diskussion beigetragen. Pfeiffer beschränkte sich auf
oberflächliche Floskeln und den einen oder anderen Scherz.
Als die Männer gegangen waren, entbrannte zwischen Rebecca und
ihm ein kontroverser Disput. Aber so vertraut, als würden sie sich schon
seit Ewigkeiten kennen. Zhou erkannte, dass Rebecca besessen war. Sie
fragte ihn, ob er als Experte auch der Meinung war, dass der Golfstrom
überschätzt wurde. Und ob es nicht doch denkbar war, dass das
Schmelzwasser auf Grönland ausreichte, um ihn zu stoppen.
Zhou war der Ansicht, dass sie als Ozeanologin eigentlich besser
darüber Bescheid wissen müsste. Doch Rebecca war auf andere Gebiete
spezialisiert. Dann fragte sie ihn nach seinem Wetterdienst, nach seiner
persönlichen Meinung zu dies und das. Zu fortgeschrittener Stunde fragte
sie Zhou, wie er zur Menschheit stand. Und zu ihrer Verantwortung und
ihrer Zukunft. Und wie sein islamischer Kollege das beurteilte. Sie
merkten, dass sie ähnliche Ansichten vertraten.
„Bist du denn auch bereit, für deine Ansichten einzustehen, Chang?“,
hatte sie ihn mit ihrer Engelsstimme gefragt. Natürlich sei er das, hatte er
beteuert. Daraufhin hatte sie ihn geheimnisvoll angesehen. So
geheimnisvoll, dass ihn ein Frösteln überkam. Und dann erzählte sie ihm
eine Geschichte. Fasziniert hatte Zhou zugehört. Ihm kam es vor, als
tauche er in eine neue Welt ein, in ihm unbekannte Dimensionen.
Schließlich hatten sie eine Weile geschwiegen, erschöpft von der
angeregten Diskussion. Und dann war das geschehen, was für Zhou
unvorstellbar gewesen war. Rebecca fragte ihn, wo er wohnte. In einer
Suite im Kieler Kaufmann, hatte er gesagt.
„Nimmst du mich mit in deine Suite, Chang Zhou aus Peking?“,
hatte sie mit einem verheißungsvollen Lächeln gefragt. Er war zu keiner
Antwort fähig gewesen. Sie dafür umso mehr: „Ich will, dass du mich
heute Nacht fickst.“
Und jetzt lag sie neben ihm, noch schlafend, umhüllt von der Aura
eines Engels. Und zugleich einer Aura der Kälte. Beides gleichzeitig. Wie
war so etwas nur möglich? Er drehte sich zu ihr um, nahm sie in den Arm,
streichelte sie. Plötzlich öffnete sie die Augen und sah ihn direkt an. Ein
Schauer überfiel ihn. Automatisch wich er ein Stück zurück.
„Guten Morgen, Chang“, sagte sie mit ihrer sanften Engelsstimme,
die in diesem Augenblick einen krassen Gegensatz zum Ausdruck in ihren
Augen bildete. „Gut geschlafen? Und warum schreckst du vor mir zurück?
Was du gerade gemacht hast, war sehr schön.“
Rebecca nahm Changs Hand und führte sie an ihre Brust. Zhou war
erregt, aber auch unsicher, trotz der Nacht. Er sagte stotternd, dass es Zeit
für das Frühstück sei.
„Sei nicht albern“, flüsterte sie und nahm seinen Schwanz in die
Hand, „in so einem Hotel darf man auch ein paar Minuten zu spät
kommen. Jetzt will ich dich erst nochmal spüren!“
Eine Stunde später saßen sie frisch geduscht am Frühstückstisch.
Allein dieser Frau beim Essen zuzuschauen, erregte Zhou. Egal was sie tat,
alles wirkte so sinnlich und verführerisch. Und warum er, ausgerechnet er,
fragte er sich immer wieder. Dann nahm sie seine Hand und sprach ihre
Einladung aus. „Du kannst dich erinnern, was ich dir gestern erzählte habe,
als wir alleine waren?“
Zhou nickte. „Natürlich.“
„Gut“, sagte Rebecca lächelnd. „Hiermit lade ich dich zum nächsten
Treffen des Circle ein. Du kannst auch einfach mal reinschnuppern. Wenn
du dich nicht mit unseren Ansichten identifizieren kannst, fährst du wieder
nach Hause. Hast du Interesse?“
Es gab nichts, was Zhou nicht an und mit dieser Frau interessierte.
Er sagte zu.
„Bitte informier dich vorher über den Stand der Forschung. Wieviel
Süßwasser ist nötig, um den Golfstrom zum Stillstand zu bringen? Welche
Auswirkungen hätte das? Gibt es Bedrohungen aus den Ozeanen, auf die
selbst ich als Ozeanologin noch nicht gekommen bin?“
Zhou sah Rebecca befremdet an. „Wieso zum Stillstand bringen?“
Sie lachte. „Das war doch nur so daher gesagt. Mich interessiert
einfach, ob es eine konkrete Gefahr gibt, zum Beispiel aus Grönland, oder
nicht.“
Zhou kratzte sich nachdenklich am Kopf. „Ich erinnere mich an
etwas, was mir Sharif erzählt hat und wovon auch Böllner gestern
gesprochen hat. Sharif hat an einem Forschungsprojekt zu den
Methanhydraten teilgenommen. Ich nehme an, das muss ich dir als
Ozeanologin nicht erklären?“
Rebecca lächelte und schüttelte den Kopf.
„Ich halte den Vortrag von Böllner für überzeugend. Ich glaube ihm,
dass der Golfstrom überschätzt wird. Aber Böllner hat auch gesagt, dass
die Erwärmung der Ozeane allmählich das Tiefenwasser erreicht. Und
damit die Methanhydrate zum Schmelzen bringt. Böllner hat über die
Klimafolgen gesprochen. Aber in Sharifs Projekt ging es um die direkten
Folgen. Und die wären noch fataler. Weil ganze Kontinentalhänge
abrutschen würden, gäbe es Tsunamis, die große Küstenabschnitte
verwüsten würden. So etwas würde sicherlich zu einem Schock an den
Finanzmärkten führen. Zumal Seekabel zerstört würden, ohne die unser
heutiges Leben nicht mehr funktioniert. Ich frage mich, warum kaum
jemand darüber spricht. Das ist doch viel konkreter als der Golfstrom.“
Rebecca sah nachdenklich durch Zhou hindurch. „Weil der
Golfstrom populärer ist? Und du sagst, Sharif kennt sich gut mit der
Geologie der Kontinentalhänge aus?“
„Ich denke schon. Er hat auch erzählt, dass das Risiko vor den
Kanaren besonders groß ist. Eine Hangrutschung könnte dort einen ganzen
Vulkan zum Einsturz bringen. Und ein paar Stunden später würde New
York von einem gigantischen Tsunami dem Erdboden gleichgemacht.“
„Faszinierend.“
„Findest du? Ich finde das grässlich.“
Wieder lachte Rebecca. Und auch ihr Lachen war warm und kalt
zugleich. „Natürlich ist das grässlich. Ich meine diese Urgewalten der
Natur. Wenn du möchtest, kannst du Sharif gerne mitbringen. Nach dem,
was du von ihm erzählt hast, scheint er unsere Ansichten zu teilen.“
Zhou dachte darüber nach. Einerseits befürchtete er, Sharif, den er
für wesentlich attraktiver und männlicher hielt als sich selbst, könnte ihm
Konkurrenz machen. Andererseits wollte er Rebecca keinen Wunsch
abschlagen. „Wäre das für dich denn wichtig?“, fragte er deshalb.
„Oh ja, für mich, vor allem aber für den Circle. Wir brauchen
Menschen wie euch, intelligente Menschen, Andersdenkende, die über den
Tellerrand hinausschauen und bereit sind, sich auch unbequemen Fragen
zu stellen. Und sie konsequent zu beantworten. Grundvoraussetzung ist
bedingungsloses Vertrauen. Das bei Sharif zu beurteilen, obliegt deiner
Einschätzung.“
Zhou versprach, Sharif, den er für absolut vertrauenswürdig hielt,
einzuladen. Rebecca blieb noch den ganzen Tag mit ihm zusammen. Sie
redeten nicht mehr viel. Dafür verführte sie ihn mehrfach. Ein letztes Mal
in seiner Suite, dann an gewagteren Orten. In dem Park oberhalb der
Förde. Auf einer öffentlichen Toilette. Zhou hätte sich ein solch
animalisches Verhalten niemals zugetraut. Auch nicht diesen Trieb.
Rebecca zeigte ihm, dass diese Instinkte unentdeckt in ihm geschlummert
hatten. Zhou fühlte ein ihm unbekanntes Glück.
„Ich freue mich sehr, dass du zum nächsten Treffen des Circle
kommst“, sagte Rebecca beim Abschied und hielt dabei Zhous Hand.
„Bitte versteh aber, dass ich dir nicht alle Details zu unserer Organisation
verraten kann. Die Mitgliedschaft im Circle und die Teilnahme an
unserem großen Projekt AURORA setzen großes Vertrauen voraus, das
sich Neulinge erst verdienen müssen. Deshalb kann ich nicht alleine
entscheiden, ob ihr kommen dürft. Außerdem haben wir eigene Strukturen
und Kommunikationswege, die sich dir erst nach und nach erschließen
werden. Das ist notwendig, um zu verhindern, dass unser Bündnis aus
Denkern und Philosophen von Menschen untergraben oder aufgeweicht
wird, die es nicht verdienen, dem Circle anzugehören, oder ihm sogar
bewusst schaden wollen. Wie sehr ich dir schon nach unserer kurzen
Begegnung vertraue, kannst du daran erkennen, dass ich dir die
Entscheidung überlasse, ob Sharif zu den Auserwählten des Circle zählen
könnte."
„Gehören deine Begleiter eigentlich auch zum Circle?“, fragte Zhou
mit Unbehagen.
„Bryan und Oswald: ja. Edmund: nein.“
„Ich habe den Eindruck, dass Edmund etwas gegen mich hat. Ich
weiß nicht warum, wir haben schließlich kaum ein Wort gewechselt. Aber
ich kann mir vorstellen, dass er einer Einladung nicht zustimmen wird.“
„Edmund gehört nicht zum Circle und hat damit auch kein
Mitspracherecht. Aber er ist ein geradliniger Mensch. Zuverlässig,
kompetent, konsequent. Er hat immer gehofft, dass ich irgendwann mit
ihm zusammen sein werde. Ich habe ihm schon oft gesagt, dass es niemals
mehr als Freundschaft zwischen uns geben wird. Dennoch tut er sich
schwer, andere Männer bei mir zu akzeptieren. Aber obwohl er nicht dem
Circle angehört, entscheidet er stets in dessen Sinne und niemals aus
Egoismus. Das gilt übrigens für uns alle.“
Zhou empfand eine Mischung aus Neugier, immer mehr Faszination,
aber auch Furcht. Eine diffuse Furcht. Aber wovor? Vor dem
Unbekannten? Oder war er schon blind vor Liebe? Oder Opfer seiner
Hormone? Er wusste es nicht.
Rebecca versprach, dass sie sich bald bei ihm melden würde, um ihm
mitzuteilen, wie der Circle entschieden hatte. Bei einem positiven
Beschluss musste sich Zhou um nichts kümmern. Der Circle besorgte
Flugtickets und schickte sie ihm per Post. Er und Sharif mussten ein paar
Mal umsteigen, wurden aber an jedem Flughafen von einem Mitglied des
Circle in Empfang genommen. Den Rest der Strecke mussten sie mit dem
Hubschrauber zurücklegen. Ein spannender Flug voller landschaftlicher
Highlights. Zhous Frage, warum die Reise so kompliziert war,
beantwortete Rebecca mit der Sicherheit des Circle.
„Mach dir keine Sorgen, Zhou“, sagte sie, den Griff der Beifahrertür
ihres Taxis schon in der Hand, „alles ist bestens organisiert. Ihr müsst uns
auch keine Kosten erstatten. Wir denken und handeln als Gemeinschaft.
Wenn du Mitglied des Circle werden solltest, wird sich dein Leben von
Grund auf ändern. Auf wunderbare und faszinierende Weise. Nie hast du
eine solche Gemeinschaft empfunden. Und wenn du zum Circle gehörst,
können du und ich für immer zusammen sein. Denn was uns verbindet, ist
ein starkes Band aus Liebe und einem gemeinsamen großen Ziel."
Nachdenklich winkte Zhou dem davonfahrenden Taxi nach. Er
spürte, dass sein Leben eine neue Richtung einschlug. Er stand vor einer
Weichenstellung. Sie führte ihn entweder zurück in seine eigene Welt.
Eine ihm bekannte und vertraute Welt. Eine Welt, in der er sich wohl und
sicher fühlte.
Oder in eine ihm völlig unbekannte Welt, die Rebecca hieß. Eine
innere Stimme warnte ihn davor, sich auf diesen Circle einzulassen. Aber
ein anderer Teil seines Ichs sendete gänzlich andere Signale. Zhou erklärte
sich diesen Zwiespalt damit, dass er schon viel zu lange auf der Stelle
verharrte. Er hatte sich häuslich in seiner kleinen Meteorologenwelt
eingerichtet. Die warnende Stimme war nichts anderes als die Furcht,
diese Welt verlassen zu müssen. Eine normale Reaktion. Sobald er bei
Rebecca und all diesen großartigen Menschen war, würde er über seine
Ängste lachen.
Zhou kehrte in sein Hotel zurück. Verschiedene Stationen lagen noch
vor ihm. Er wusste, dass er sich darauf nicht mehr würde konzentrieren
können. Er dachte nur noch an einen Engel.
Kapitel 11
Kiel, wenige Tage später
Dreißig Tage und Nächte war Jamal mit einem Pass auf den Namen Abdul
Rahimi mit seiner Familie auf der Flucht gewesen. Niemand hatte sie
aufgehalten oder kontrolliert. Denn sie waren vorsichtig. Irgendwo im
Niemandsland hatte sich Jamal den Bart abrasiert, seine Frau ihre Haare
gekürzt. Sie mieden Hauptstraßen und Städte, fuhren im Schutz der
Dunkelheit, möglichst ohne Licht.
Kurz vor der österreichischen Grenze hatte er den Jeep an einen
Händler verkauft, der keine Fragen stellte. Dann waren sie zu Fuß über die
Grenze marschiert, mit dem Bus nach Graz gefahren, wo sie schließlich in
einen Zug nach München gestiegen waren. Dort hatte Jamal Hauke, einen
Freund in Kiel, angerufen, der angeboten hatte, Jamal und seine Familie
unterzubringen. Hauke war dreiundfünfzig, Unternehmer, hatte Geld und
ein großes Haus mit vielen Zimmern und drei Bädern. Er nahm
Flüchtlinge auf, bis sie einen Platz in einer Flüchtlingsunterkunft oder auf
einer Fähre nach Skandinavien bekamen.
Die Reise war zunächst problemlos verlaufen. Sofern man
Schneestürme, überflutete Straßen und eisige Nächte im Jeep als
problemlos bezeichnen wollte. Doch das Elend hatte sie in einem Dorf
westlich der russischen Großstadt Woronesch ereilt, fünfhundert
Kilometer südöstlich von Moskau. Das Wetter war fürchterlich gewesen.
Es hatte heftig geschneit, bei minus zwanzig Grad. Drei Tage lang,
weshalb sie in dem Dorf abgewartet hatten, bis das Unwetter vorüber war.
Schon dreihundert Kilometer vor dem Dorf hatte aber sein ältester
Sohn über Halsschmerzen geklagt, gefolgt von einem Husten, der Jamal
durch Mark und Bein gegangen war. Nachdem sie vor dem Ort eine Nacht
im Jeep verharren mussten, weil der Sturm zu stark geworden war, setzte
Fieber ein, das stündlich anstieg. Sie konnten nichts tun. Sie hatten,
abgesehen von ein paar Schmerztabletten und Verbandsmaterial, keine
Medikamente dabei. Als das Fieber immer höher stieg, der Junge
halluzinierte bereits, waren sie in ihrer Verzweiflung endlich in den Ort
gefahren und hatten nach einem Arzt Ausschau gehalten.
Sie fanden ihn in Person von Jegor Sokolow, einem grobschlächtigen
und wortkargen Russen zwischen vierzig und fünfzig. Mit Gesten und
Jamals rudimentären Russischkenntnissen gelang es ihnen, sich zu
verständigen. Der Arzt stellte keine unnötigen Fragen. Er erkundigte sich
nach den Symptomen und Jamals Reiseplänen. Ihm ging es nur um das
kranke Kind. Und um eine angemessene Bezahlung. Sokolow, der sie eine
Nacht bei sich aufnahm, diagnostizierte eine Lungenentzündung. Und da
Jamals Sohn geschwächt war und zu der Lungenentzündung weitere
Infektionen gekommen sein konnten, stufte er ihn als nicht reisefähig ein.
Vielmehr war eine Reihe weiterer Untersuchungen nötig. Dafür fehlten
ihm aber die erforderlichen Mittel. Also musste er Kollegen hinzuziehen.
Und das konnte dauern.
Doch Jamal konnte nicht länger warten. Sein Geld ging zur Neige. Er
hatte sich mit seiner Frau und Sokolow beraten. Der machte ihnen ein
ungewöhnliches Angebot: Weil Jamal nicht mehr viel Geld hatte, sollte er
ihm fünfhundert Dollar geben. Als Anzahlung. Dafür durfte das Kind bis
auf Weiteres bei dem Arzt und seiner Familie bleiben. In Deutschland
sollte Jamal tausend Euro besorgen. Und für jede Woche, die der Junge bei
dem Arzt blieb, zweihundert. Sokolow versprach, dass er Jamals Sohn
nach seiner Genesung nach Kiew bringen würde. Dort würde er ihm eine
Fahrkarte besorgen und ihn in einen durchgängigen Zug nach Berlin
setzen. Jamal nahm das Angebot an. Weil er musste und ihm seine
Menschenkenntnis sagte, dass er Jegor Sokolow vertrauen konnte. Der
Arzt gab ihm Adresse und Telefonnummer.
Hauke besaß, neben seiner Villa, in Kiel und Umgebung diverse
Mietshäuser. Nachdem in der Wik eine möblierte Wohnung freigeworden
war, durfte Jamal dort mietfrei wohnen, anstatt bei Hauke einzuziehen.
Und nicht nur das. Zusätzlich lieh er ihm das Geld für den Arzt, mit dem
Jamal regelmäßig telefonierte. Der Junge war sehr krank gewesen. Erst
nach mehr als einem Monat konnte er das Krankenbett verlassen. Und
morgen war es soweit: Sokolow versprach, Jamals Sohn
vereinbarungsgemäß nach Kiew zu bringen und in den Zug nach Berlin zu
setzen. Hauke bot an, Jamal nach Berlin zu begleiten.
Doch seine Hilfsbereitschaft ging noch weiter: Ab sofort konnte
Jamal als Dolmetscher in Haukes Werft arbeiten, die auch Auftraggeber
im Nahen Osten hatte. Drei Tage in der Woche sollte Jamal arbeiten. In der
übrigen Zeit durfte er versuchen, mit Haukes Hilfe herauszufinden, was
der Major und dieser Pfeiffer für Pläne hatten, die wichtig genug waren,
um Menschenleben dafür zu opfern. Denn genau davon war Jamal
überzeugt.
Kapitel 12
Byron Bay, New South Wales, April 2015
Byron Bay war knapp eine Autostunde von Southport entfernt. Weil Rileys
Vater, James Perkins, auch von zuhause aus arbeiten konnte, hatte er dem
Drängen seiner Familie nachgegeben und war vor zehn Jahren in das
Natur- und Surferparadies umgezogen.
Vor allem Riley hatte es dorthin gezogen. Southport war zwar auch
eine super Area zum Surfen, aber Byron Bay war viel schöner, hatte ein
bunt gemischtes Publikum voller Spiritueller, Weltenbummler und
Backpacker. Und Surfer. Surfen war Rileys größte Leidenschaft, wegen der
er nach seinem unrühmlichen Ausscheiden aus der Armee auch wieder
nach Byron Bay zurückgekehrt war. In seine erste eigene Wohnung,
keinesfalls in die dekadente Villa seiner Alten. Er hatte es satt, sich jeden
Tag anhören zu müssen, wie erfolgreich James in seinem Beruf war.
Immer ging es nur darum, wie groß seine Fortschritte bei der Entwicklung
von Impfstoffen gegen Grippe, HIV und andere Viren waren.
James Perkins war Nobelpreisträger und einer der angesehensten
Dozenten an der Griffith University, betrieb aber seit einigen Jahren vor
allem Forschungen, um der zunehmenden Bedrohung durch Viren und
multiresistente Keime Herr zu werden. Forschungseinrichtungen aus der
ganzen Welt interessierten sich für seine Studien. Und auch die
Pharmakonzerne standen Schlange. Auf diese Weise flossen ihm immer
mehr Gelder für seine Forschungen zu.
James war eine Kapazität auf dem Gebiet der Virologie und
Mikrobiologie und unverzichtbar für die Universität. Deshalb hatte ihm
die Universitätsleitung auch sämtliche Freiheiten bei seiner Arbeit
eingeräumt. Und deshalb konnte Riley an den Stränden von Byron Bay
surfen, dem östlichsten Punkt des fünften Kontinents, den James Cook am
15. Mai 1770 entdeckt und nach dem britischen Seefahrer John Byron
benannt hatte.
Der Umzug nach Byron Bay war das Einzige, wofür Riley seinem
Vater jemals dankbar war. Ansonsten konnte er nichts mit ihm anfangen,
mit seinem Leben nur für seine Arbeit, mit all den Spießern, mit denen er
zu tun hatte und all den Wichtigtuern, die davon überzeugt waren, dass
ohne sie und ihre grandiose Arbeit die Welt untergehen würde.
Wie Riley es hasste, wenn diese aalglatten Pharmatypen bei ihnen
zuhause um den feudalen Esstisch versammelt waren und seine Mutter,
Olivia, sie bewirten musste. Wobei es musste nicht einmal traf, denn
Olivia zerfloss förmlich vor Stolz auf ihren erfolgreichen Vorzeigegatten.
Wie sie sich in Schale schmiss, wenn irgendein Vorstandsaffe samt
Gefolge anrückte, um über die Finanzierung neuer Forschungsprojekte zu
sprechen. Allein im Dienste der Wissenschaft, ohne jegliches persönliches
Interesse.
Olivia merkte gar nicht, wie gekünstelt sie bei solchen Anlässen
wirkte. Ihr aufgesetztes Lachen über Witze, die sie nicht verstand, weil es
sich um irgendwelche faden Insidergags handelte. Dabei hatte James
anfangs sogar Wert darauf gelegt, Beruf und Privatleben zu trennen. Es
war Olivia, die so lange auf ihn eingeredet hatte, bis er sich schließlich
überreden ließ, wichtige Treffen zuhause und zusammen mit seiner Gattin
abzuhalten, die dafür eigens diverse Kochkurse besucht hatte, um den
Ansprüchen der Konzernvorstände aus aller Welt, zumeist Herren, selten
waren Damen dabei, gerecht zu werden. Kaiseki und Sashimi für die
Delegationen aus Japan, Pelmeni und Perepetschi für Investoren aus dem
Russischen Reich, deren Investitionsfreude auch gerne mit dem einen oder
anderen Gläschen Wodka angeregt wurde. Aber auch für Gäste aus den
Staaten und Europa hatte Olivia spezielle Rezepte.
Riley, der heute zu nichts Lust hatte, war im Laufe des Tages zu Fuß
die Lighthouse Road und die steile Treppe zum ganz in weiß erstrahlenden
Cape Byron Leuchtturm hinaufgestiegen, um die Zeit bis zum Abend zu
überbrücken. Der Leuchtturm war die bedeutendste Sehenswürdigkeit in
Byron Bay. Sie lockte alljährlich eine halbe Million Besucher an. Man
hatte einen atemberaubenden Blick zum Treffpunkt von Tasmanischem
Meer und Korallenmeer. Bei Sonnenauf- und -untergang konnte man Wale
beobachten. Zum Sonnenaufgang hatte Riley es noch nicht geschafft.
Dafür umso häufiger zum Sonnenuntergang. So wie heute. Er freute sich
auf dieses Naturspektakel. Und auf seine Freunde, mit denen er am Main
Beach verabredet war. Reden, Bier trinken, hinterher am Strand ein paar
Joints aus Nimbin rauchen und Goon trinken. Das machten sie häufiger.
Die meisten von ihnen verdienten sich das Geld für Alkohol und
Marihuana als Surflehrer.
Riley hatte sich allerdings eine weitere Einnahmequelle erschlossen,
von der weder seine Freunde noch seine Familie etwas wussten. Es war
Zufall gewesen. Vor allem ältere Touristinnen, die zwischen vierzig und
fünfzig, fühlten sich magisch angezogen von seinen blonden Locken,
strahlend blauen Augen und dem Grübchen am Kinn. In Southport war er
von diesen Frauen nicht so unverblümt angemacht worden. Hier aber
schon. Anfangs luden sie ihn meistens zum Essen ein, jedes Mal mit dem
Ziel, mit dem smarten Australier ins Bett zu gehen. Und weil Riley kein
Interesse an einer Beziehung hatte, aber an Sex, ließ er sich gerne auf
diese Avancen ein.
Nur einmal, vor gut einem halben Jahr, hatte er keine Lust gehabt. Er
war irgendwie schon den ganzen Tag total neben der Spur gewesen.
Vielleicht, weil sein Alter darauf bestanden hatte, dass sein Sohn am
Wochenende zuhause zu sein hatte, wenn der amerikanische
Spitzenvirologe, sein Name war, wenn sich Riley recht erinnerte, Edward
Coleman, mit seiner entzückenden Gattin, Kimberly, zu Gast im Hause der
Perkins war, um über irgendein epochales Projekt zu sprechen. James
erwartete von seinen Kindern, dass sie sich um den Besuch kümmerten,
der, so hatte James es wörtlich formuliert, eine Entdeckung gemacht hatte,
die so gefährlich war, dass sie das Potenzial hatte, die Menschheit zu
vernichten. Um das zu verhindern, sollte er, der Nobelpreisträger, ein
unverzichtbarer Bestandteil des Forschungsteams werden. Als Riley das
selbstgefällige Grinsen seines Alten gesehen hatte, als Coleman vom
unverzichtbaren Bestandteil sprach, hätte er kotzen können.
Jedenfalls war er wegen der tristen Aussichten für das Wochenende
ziemlich down gewesen. Er war mit einer Neuseeländerin, eine mäßig
attraktive, aber temperamentvolle Endvierzigerin, in einer Bar etwas
trinken gegangen. Aber nur, um ein wenig Abwechslung zu haben, einfach
eine nette Plauderei. Doch als sie ihn ohne Umschweife aufforderte, sie in
ihr Hotel zu begleiten, um sie zu vögeln, hatte er gesagt, dass er total
müde sei. Doch sie hatte gelächelt, drei Hundert-Dollar-Scheine aus ihrer
Handtasche gezaubert, und ihn mit einem obszönen Lächeln gefragt, ob
ihn das wohl wieder munter machen könne.
Nur einen Augenblick hatte Riley nachgedacht. Darüber, dass er sich
damit prostituierte, und darüber, dass er damit seinen angesehen Vater in
Verruf bringen konnte. Die Sache mit der Prostitution hatte an seinem Ego
genagt. Doch der Gedanke an den Ruf seines Vaters gewann das Rennen
eindeutig.
Er begriff schnell, dass die Masche mit dem müden Krieger eine
einträgliche war. Das war auch keine Prostitution, sondern das Ausnutzen
sporadischer, sich zufällig ergebender Gelegenheiten. Einen kleinen Teil
des Geldes nutzte er zur Aufbesserung seines Salärs als Surflehrer. Doch
das meiste sparte er. Denn er hatte ein Ziel: Er wollte weg von hier. Nicht
weg von diesem traumhaften Ort, aber so weit weg wie möglich von
seinem karrieregeilen Vater, seiner nach Anerkennung lechzenden Mutter
und seinen duckmäuserischen Geschwistern. Weg von dieser ungesunden
Mischung aus Spießbürgertum und Größenwahn. Sein Traumziel war
Kalifornien. Da war es genauso schön und man konnte prima surfen. Doch
dafür brauchte er das Geld der Touristinnen. Fünftausend Dollar hatte er
schon zusammen. Wenn es so weiter ging, konnte er in ein paar Jahren ins
Flugzeug steigen und in Kalifornien ein neues Leben anfangen. Und ein
freies.
Riley blinzelte gegen die Sonne. Er erinnerte sich an die Delegation
eines japanischen Pharmakonzerns. Olivia hatte für die Begrüßung sogar
japanische Grußformeln auswendig gelernt. Und James hatte den Kindern
befohlen, anzutreten, um die Japaner angemessen zu begrüßen. Auf keinen
Fall die Hand geben! Man hatte sich zu verbeugen. Schon da hatte sich
Riley gefragt, wo sie eigentlich waren. In Japan oder in Bayron Bay? Wer
war hier bei wem zu Gast? Hätten die Japaner ihm umgekehrt wohl in
ihrer Heimat die Hand gegeben?
Es war jedenfalls um viel Geld gegangen. Während seine
Schwestern, Ella und Chloe, sich mit geröteten Wangen vor den affektiert
grinsenden Japanern verneigt hatten, waren sein kleiner Bruder, Noah, und
er, klammheimlich abgehauen. Riley hatte sich fürchterlich
fremdgeschämt. Und in diesem Augenblick beschlossen, diesem Irrsinn
den Rücken zu kehren.
Außer ihm hatte nur Noah nicht gemacht, was sein Vater von seinen
Kindern verlangte: Karriere. Ella hatte ihren Doktor in Chemie gemacht
und arbeitete jetzt in den Projekten ihres Vaters. Chloe studierte Physik.
Ihr Weg war ebenso vorbestimmt wie der ihrer Schwester. Klaglos fügte
sie sich in das Schicksal, das James für sie vorbestimmt hatte. Noah hatte
sein Chemiestudium abgebrochen, weil er es hasste, und gegen den Willen
seines Vaters eine Band gegründet. Noah war ein begnadeter Schlagzeuger.
Er liebte Musik. Aber er hasste Chemie. Und mit seinen Byron Dynamits
war er so erfolgreich, dass er sich bald ein eigenes Haus würde leisten
können. Aber der finanzielle Erfolg seines Sohnes interessierte James
nicht. Musiker war nicht standesgemäß. Surflehrer noch weniger. Und
Callboy schon gar nicht, dachte Riley in einem Anflug von Gehässigkeit.

***

Wenig später saß Riley im Rails und trank sein erstes Carlton Draught.
Seine Freunde waren noch nicht da, aber er war auch eine halbe Stunde zu
früh. Der Durst auf kaltes Bier nach einem heißen Tag hatte ihn in die Bar
getrieben.
Wale hatte er nicht gesehen, aber immerhin einen traumhaften
Sonnenuntergang. Mitten in das Naturschauspiel hinein war jedoch eine
dieser für James typischen enervierend langen Sprachnachrichten
eingegangen, die ihm die gute Laune verdorben hatte. Für das Wochenende
hatten sich schon wieder diese amerikanischen Virologen angekündigt.
Und schon wieder gab sein Vater ihm unmissverständlich zu verstehen,
dass er dabei zu sein hatte. Es war damit zu rechnen, dass James bald zu
einem Forschungsprojekt aufbrechen musste. Wegen irgendwelcher Viren.
Olivia würde ihn begleiten, Ella sowieso. Chloe würde ihr Studium in
Brisbane unterbrechen und zwei oder drei Semester am Zielort studieren.
Wie geheimnisvoll. Aber so war es immer. Jedes von James
Projekten unterlag der höchsten Geheimhaltung, weil irgendeine
Regierung daran beteiligt war und es um todbringende Viren ging. Oder
um einen Impfstoff dagegen. Das war nicht für unbefugte Augen und
Ohren bestimmt, denn es ging um Milliarden. Wem immer es gelang,
einen Impfstoff gegen HIV zu entwickeln, hatte für den Rest seines Lebens
ausgesorgt. Und so musste die Familie strammstehen, wenn
entsprechender Besuch kam. Aber sobald die ehrenwerten Herren übers
Geschäft sprachen, durften sie sich in ihre Gemächer zurückziehen.
Doch diesmal verhielt es sich anscheinend anders. Diesmal sollte die
Familie den Vater auf seiner Reise begleiten. Es wäre zwar interessant zu
erfahren, worum es dabei ging und was diese aalglatten Harvard-Virologen
damit zu tun hatten. Aber Riley hatte weder Lust, diesen schönen Ort vor
der Zeit zu verlassen, noch wollte er am Rockzipfel seines Vaters hängen,
wenn der dem Ruf weiteren Ruhms folgte.
Riley bedeutete dem Kellner, ihm noch ein Bier zu bringen. Er
würde am Wochenende gar nicht erst zu seinen Eltern gehen. Er hatte
keinen Bock, wieder den Lakai zu geben.
Plötzlich kam ihm ein wundervoller Gedanke. Wenn bis auf Noah,
der James auch nicht folgen würde, die ganze Familie für lange Zeit weg
war, hieß das im Umkehrschluss, dass Noah und er, offiziell damit
beauftragt, die Villa in Schuss zu halten, selbige für geile Partys nutzen
konnten. Reizvoll war auch der Gedanke, die eine oder andere Eroberung
mit in das Haus zu nehmen. Und sich in der väterlichen Villa auch noch
fürstlich dafür bezahlen zu lassen. So ein altehrwürdiges Gemäuer
schindete mächtig Eindruck. Und wenn seine Familie zurückkam, war er
vielleicht schon in Kalifornien.
Er fuhr erschrocken herum, als ihm jemand auf die Schulter klopfte.
Dabei ergoss sich ein Schwall Bier über sein Hawaiihemd. Er war so in
seine Gedanken vertieft, dass er nicht bemerkt hatte, dass Mark und Chris
gekommen waren. Fluchend wischte er sich mit einer Serviette das Bier
vom Hemd.
„Hey, Riley, du sollst das Zeug trinken, nicht auf dein Hemd
schütten“, begrüßte ihn Mark lachend. „Wir haben dich heute vermisst.
Wo warst du mit deinem Surfbrett?“
„Zu wenig Wind, kaum Wellen. Das bringt nichts.“
„Stimmt“, pflichtete Mark ihm bei, „dennoch ist es auf dem Wasser
schöner als an Land. Vor allem bei der Affenhitze. Du siehst beschissen
aus. Alles okay mit dir?“
Riley verzog angewidert das Gesicht. „Eben hat mir mein Alter eine
Nachricht geschickt. Er will, dass wir ihn bei einem seiner blöden Projekte
begleiten. Weil er für lange Zeit weg sein wird. Da will er anscheinend
seine Familie bei sich haben. Aber ohne mich.“
Chris schürzte die Lippen. „Ich weiß nicht, was du hast. Dein Vater
führt ein megaspannendes Leben. Ich wäre froh, wenn meiner auch so
berühmt wäre. Und stolz, wenn er mich dabei haben will. Wann soll es
denn losgehen?“
Riley bedeutete dem Kellner, für seine Freunde und ihn drei Bier zu
bringen. „Hast du mir nicht zugehört, Chris? Ich werde auf keinen Fall
mitkommen.“
„Verstehe ich nicht. Du hast doch noch nicht einmal einen festen Job.
Und keine Freundin. Wenn einer frei ist, dann doch wohl du. Ich würde an
deiner Stelle keine Sekunde zögern. Ich finde das irre spannend. Wohin
verschlägt es deinen Dad denn diesmal?“
Riley zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Ich mir auch
scheißegal.“
„Wie kannst du nur so gleichgültig sein? Es geht schließlich um
deinen Vater!“
Wütend schüttete Riley einen großen Schluck Carlton Draught in
sich hinein. „Ihr habt doch keine Ahnung, wie es ist, so einen Vater zu
haben“, lamentierte er aufgebracht. „Der lebt nur für seinen beschissenen
Beruf. Aber das ist ja gar kein Beruf, sondern eine Berufung. Wenn ich das
schon höre! Monatelang ist der unterwegs, auf irgendwelchen
bescheuerten Forschungsreisen. Und uns missbraucht er für seine Zwecke,
indem er uns heile Familie spielen lässt. Vor allem die Japaner stehen total
da drauf. Wenn die wüssten, dass mein Alter sich einen Scheiß um uns
gekümmert hat. Und erst meine Mutter, wie die sich lächerlich macht mit
ihren peinlichen Auftritten zu Ehren der erlauchten Gäste. Lachen müsste
man, wenn es nicht so deprimierend wäre. Und bei allem immer dem
holden Gatten zu Diensten. Ich kann vor so einer Mutter keine Achtung
haben.“
Mark betrachtete die Whiskey-Auswahl in den Regalen, ohne sie
wahrzunehmen. „Mein Alter ist durchgebrannt, als ich noch ein Baby war.
Ich habe den nie kennengelernt. Und meine Mum hat alle Mühen, genug
Geld für uns zu verdienen. Wie auch, mit schlechtbezahlten Jobs in
Supermärkten? Ich wäre happy, wenn ich so eine Familie hätte wie du.
Mann, und was ihr für Kohle habt! Du hast doch jetzt schon ausgesorgt!
Weißt du eigentlich, wie gut du es hast, Riley Perkins?“
„So kann nur einer daherreden“, echauffierte sich Riley nach einem
weiteren Schluck Bier, „der bloß den äußeren Schein sieht. Mein Vater
interessiert sich nur für Viren und Impfstoffe. Und von seinen Kindern
erwartet er, dass sie Karriere machen und bei ihm einsteigen. So wie Ella
und Chloe. Noah verachtet er, obwohl er mit seiner Band inzwischen eine
Menge Kohle verdient. Die gehen demnächst sogar auf Europatournee!
Aber Musik ist ja nur was für die Zerstreuung. Damit leistet man keinen
Dienst an der Menschheit. So ein Schwachsinn! Musik ist die Weltsprache
Nummer eins! Und ich bin sowieso das schwarze Schaf der Familie. Und
wenn ich das immer höre, Kohle. Mein Gott, mein Vater hat uns immer
kurz gehalten. Und obwohl ich finanziell nicht auf Rosen gebettet bin,
lässt der mich am langen Arm verhungern. Lern was Anständiges, dann
bist du nicht von deinem Vater abhängig, sagt er jedes Mal, wenn ich ihn
um einen Zuschuss bitte. Ich kann das nicht mehr hören. Selbst meinen
Entschluss, in die Armee einzutreten, fand er unangemessen. Es sei denn,
ich würde dort was Vernünftiges studieren. Ich und studieren? Schlechter
Scherz. Unser Vater hat uns nie geschlagen. Er hat nie geschrien. Aber er
hat uns auch nie wahrgenommen.“
„Nimm´s mir nicht übel, Riley“, sagte Mark, „aber dein Vater hat
nicht ganz unrecht. Du bist intelligent, siehst super aus. Du könntest echt
was aus dir machen. Du hast den Endurance Course als bester deiner
Einheit geschafft. Du warst spitze in der Kampfschwimmerausbildung und
bei den Anti-Terror-Lehrgängen. Und dann ziehst du dir mitten auf einer
Übung einen Joint rein. Direkt neben deinem Vorgesetzten! Mann, wie
kann man nur so dämlich sein? Außerdem ermöglicht euch James ein
Leben in Saus und Braus. Ihr seid jedes Jahr in Urlaub gefahren. Dazu
dieses Wahnsinnshaus, in dem du umsonst wohnen könntest, wenn du nicht
so eigensinnig wärest. Dass dein Vater tierisch für den Job schuften muss,
ist doch wohl klar. Mit seinen Forschungen rettet der hunderttausende von
Menschenleben. Ach was, Millionen! Hast du das mal von der Seite
betrachtet, Riley?“
Riley bestellte missmutig sein sechstes Bier. Er war schon ziemlich
angeheitert, aber wenn jetzt auch noch seine Freunde mit diesem Mist
anfingen, hatte er gar keine andere Wahl, als sich zu besaufen.
„Menschenleben zu retten“, erklärte er, schon leicht lallend, „ist nur
ein erfreuliches Nebenprodukt. An allererster Stelle geht es ihm um Kohle
und Bewunderung. Ganz einfach. Jetzt wisst ihr es. Und es ist ein Scheiß-
Gefühl, wenn dein eigener Vater sich für ein paar Scheiß-Viren mehr
interessiert als für dich. Und dass die einen wegen ein paar Joints gleich
aus der Armee werfen, ist eine Riesensauerei!“
„Von wegen Sauerei. Meinst du, die können sich im Ernstfall
bekiffte Soldaten erlauben? Du hättest es weit bringen können. Und das
weißt du auch. Aber dir fehlt der Drive, das Adrenalin, der Kick. Was soll
´s, das ist Schnee von gestern. Wurde dein Vater nicht sogar mal für den
Nobelpreis nominiert?“ Chris erinnerte sich an die Berichte in den Medien
vor ein paar Jahren. „Weil er einen Durchbruch geschafft hat bei der
Entwicklung von Impfstoffen gegen die Grippe?“
Riley lachte bitter auf. „Durchbruch. Dass ich nicht lache.
Gentechnisch verändert hat der die Biester! Stellt euch vor, das gerät in
die falschen Hände! Zum Beispiel von Terroristen! Dann ist Schluss mit
lustig. Versteht ihr das unter Menschenleben retten, ihr Naivlinge? Mit so
was könnte man die Menschheit ausrotten! Und dafür wurde er nicht nur
für den Nobelpreis nominiert! Nein, für diesen Schwachsinn hat er ihn
sogar bekommen!“
„Was genau hat der gentechnisch verändert?“
„Mann, bist du schwer von Begriff? Oder hörst du mir nicht zu?“.
Riley wurde immer wütender. Das Gewese um seinen heroischen Vater
ging ihm höllisch auf die Nerven. „Der hat Viren gentechnisch verändert!
Hat sie hypergefährlich gemacht! Angeblich, um wirksamere Impfstoffe
zu entwickeln. Was meint ihr wohl, was dann passiert ist?
Millionenangebote hat der bekommen, von Pharmakonzernen aus der
ganzen Welt. Und dabei lief gegen ihn und seine Forschungsgruppe sogar
mal eine Anzeige wegen der Anleitung zu einem Terrorakt. Das war
natürlich Quatsch. Nahezu jede Forschung trägt dieses Risiko in sich. Aber
das zeigt, dass mein Alter skrupellos ist und nur nach Kohle und
Anerkennung giert.“
Mark schüttelte den Kopf. „Das glaube ich einfach nicht. Ich habe in
den Medien verfolgt, was dein Dad und sein Team geleistet haben. Auch
das Internet ist voll davon. Mich hat das beeindruckt. Der hat die Viren
nicht genetisch manipuliert. So wie ich das verstanden habe, hat der in ein
harmloses Grippevirus irgendwelche genetischen Informationen des
Influenzavirus von 1918 eingebaut. Ihr wisst schon, das war die berühmt-
berüchtigte Spanische Grippe. Extrem aggressiv, das Schlimmste, was es
bislang gab. Fünfzig Millionen Tote. Und dein Vater, Riley, hat dieses
Virus quasi nachgebaut, bei Mäusen getestet und kann jetzt damit
Impfstoffe entwickeln. Außerdem ist es ihm ein paar Jahre vorher
gelungen, Influenzaviren künstlich herzustellen. Harmloses Zeug, mit dem
er aber ebenfalls Impfstoffe entwickeln konnte. Komplizierte Sache. Für
mich ist der Mann ein Held. Völlig zu recht hat der den Nobelpreis
bekommen! Und du als sein Sohn kapierst das nicht, Riley?“
Riley trank sein siebtes Bier auf ex und bestellte das achte. Dieses
Geschwafel kotzte ihn nur noch an. Sein Vater, ein Held, das Idol seiner
einfältigen Freunde. Es war nicht zu fassen. Das war nur im Suff zu
ertragen. Seine Tonfall wurde aggressiver. „Ich könnte meinen Alten
fragen, ob er dich adoptieren will, Mark. Im Tausch gegen mich. Dann hast
du endlich einen Vater und dazu auch noch einen Superhelden. Und ich
habe meine Ruhe und muss mir nicht mehr so einen Schwachsinn anhören.
Wenn jemand mit den Arbeiten meines Vaters ein Killervirus herstellt und
uns ausrottet, ist mein Alter dann immer noch ein Held für dich, Mark?“
Mark schüttelte den Kopf. „Ich glaube, du stehst zu sehr im Schatten
deines Vaters. Aber dafür kann er doch nichts. Du musst dich von ihm und
seinem Erfolg lösen und dein eigenes Ding machen. Du musst ihm nicht
nacheifern. Aber du darfst ihn nicht für seinen Erfolg verachten. Und jede
große Entdeckung birgt doch die Gefahr, dass böse Menschen versuchen,
das für ihre Zwecke zu missbrauchen. Denk an Niels Bohrs Atommodell,
oder an die Kernspaltung. Natürlich wurde auf Basis dieser Entdeckungen
auch die Atombombe entwickelt. Aber andererseits sorgt die doch für die
Abschreckung, die den Weltfrieden erhält. Was können wir von der
Genforschung erwarten, oder von intelligenten Robotern? Von
Quantencomputern? Ohne all diese Entdeckungen wäre die Menschheit
nicht so weit gekommen. Dass das auch Risiken birgt, ist halt so. No risk,
no fun. Deinem Vater kannst du das nicht vorwerfen, Riley.“
Bei Niels Bohr hatte Riley auf Durchzug geschaltet. Marks Worte
gingen in das eine Ohr hinein und aus dem anderen wieder hinaus. Es war
genau dieses hochgestochene Gelaber, das er auf den Tod nicht ausstehen
konnte. Da hatte er sich auf einen lockeren Abend mit Freunden gefreut.
Auf Bier, die Planung der nächsten Surfsession, vielleicht eine geile Frau
für die Nacht. Stattdessen wurde er mit Elogen über seinen Vater und
weltbewegenden Entdeckungen zugetextet.
Allmählich vernebelte das Bier seine Sinne, sodass er kaum noch zu
einem ernsthaften Gespräch in der Lage war. Genau das, was er jetzt
brauchte. Er bestellte noch ein Bier. Vielleicht sollte er zukünftig alleine
trinken. Das war zwar langweilig, aber dafür blieben ihm solche
Diskussionen erspart. Außerdem lernte man, wenn man alleine unterwegs
war, immer nette Leute kennen. Er sowieso. Leute, mit denen man einfach
über irgendwas reden konnte. Oder Scherze machen und ein bisschen
kiffen. Oder ficken. Aber keine tiefgründigen, philosophischen
Abhandlungen. Und erst recht keine Lobhudeleien auf seinen Alten.
Als Riley weit nach Mitternacht in sein Bett fiel, war er betrunken.
Schon zum dritten Mal in dieser Woche. Das Letzte, was er zustande
brachte, war eine WhatsApp-Nachricht an seinen Vater:
Du kanns allein zu dienem projekt fahrn. habe null bock da drauf.
und am wochenende komm ich auch nicht. gute nacht
Als Riley die Augen schloss, begann sich seine Welt im Kreis zu
drehen. Sie nahm ihn mit auf eine atemberaubende Achterbahnfahrt. Wirre
Gedanken folgten reflexartig den schnellen Wechseln des Tempos. Rettete
James Leben? War das sein Antrieb? War Riley ungerecht? Liebt er uns
auf seine Art? War er als sein Sohn verpflichtet mitzukommen? Oder
wollte der Alte ihn nur wieder ausnutzen? Heile Familie spielen, damit
profitgeile Investoren noch mehr springen ließen.
Killervirus. Superimpfstoff. Nobelpreis. Untergang. Leid. Tod.
Mark, Chris, was für feine Freunde! Kalifornien! Ja, Kalifornien, das
klang wie eine Verheißung. In Kalifornien würde alles besser.
Während Riley in einen unruhigen Schlaf voller düsterer, surrealer
Träume fiel, bestieg in Boston das Ehepaar Edward und Kimberly
Coleman in Begleitung eines weiteren Mannes ein Flugzeug der American
Airlines. Ihr Ziel: Gold Coast, mit Zwischenlandungen in San Francisco
und Auckland. Reisedauer: dreißig Stunden.
Kapitel 13
Kiel, Ende April 2015
Jamal Akbar glotzte auf die Tageszeitung, die er vor sich ausgebreitet
hatte. Er stellte die Tasse Tee ab, ohne einen Schluck getrunken zu haben.
Vom Aufmacher auf Seite eins grinste ihn sein Major aus Afghanistan an,
Edmund Wagner. Darunter folgte ein Artikel mit kleineren Fotos eines
Mannes und einer Frau sowie dem Hinweis, dass sich im Lokalteil
Hintergrundberichte zur Ernennung Wagners zum Leiter der WTD 71
befanden. Wagners Verdienste in Afghanistan wurden hervorgehoben und
dass seine Ernennung zum Leiter dieser Einheit, und damit zum Oberst,
einen großen Karrieresprung bedeutete. Genau das, was Pfeiffer Wagner
im Dezember versprochen hatte, nur, dass es mit der Versetzung etwas
länger gedauert hatte. Woran das lag, konnte Jamal aus den Erläuterungen
zu den beiden anderen Fotos schlussfolgern. Was dort stand, schockierte
ihn. Nicht die Informationen zu Wagners Ernennung, sondern die zu den
kleinen Fotos.
Der Mann auf dem einen Foto war der bisherige Leiter der WTD 71.
Er wollte nach seinem überstandenen Herzinfarkt wider Erwarten doch
noch ein weiteres Jahr im Amt bleiben, um Projekte zu Ende zu führen, die
er selbst angestoßen hatte. Außerdem hatte er bereits einen Nachfolger
vorgeschlagen. Und das war nicht Wagner. So weit, so gut. Doch das
andere Foto zeigte die Frau dieses Mannes. Denn die war bei einem
tragischen Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Danach hatte der Leiter
der WTD 71 seinen sofortigen Rücktritt erklärt und Wagner als seinen
Nachfolger vorgeschlagen.
Jamal schwante Böses. Sein Hirn stellte automatisch Verknüpfungen
her. Rasch blätterte er zum Lokalteil weiter. Dort fanden sich mehrere
Berichte. Über Wagner. Über den bisherigen Leiter der Dienststelle. Und
über den Unfall seiner Frau. Jamal las zuerst den letzten Beitrag, zu dem
ein Foto gehörte, das einen BMW zeigte, der nachts auf einer Landstraße
frontal gegen einen Baum geprallt und vollständig zerstört worden war.
Die Frau des Oberst hatte in dem Wagen gesessen. Alleine. Sie war sofort
tot gewesen. Aber es gab einen Unfallzeugen, der ausgesagt hatte, dass der
Frau auf ihrer Fahrbahn ein Geländewagen entgegenkam. Dieser Wagen
hatte auch aufgeblendet. Die Frau hatte wahrscheinlich im Reflex das
Lenkrad verrissen. Der Zeuge konnte aber wegen der Dunkelheit und des
Fernlichts weder etwas zur Marke sagen, noch zur Farbe, geschweige denn
zum Kennzeichen. Die Polizei hatte Ermittlungen aufgenommen, doch die
führten zu nichts. Und da es nur diesen einen Zeugen und seine spärlichen
Informationen gab, stellte sie sie bald wieder ein.
In keinem der Berichte tauchte der Name Pfeiffer auf. Der Leiter der
WTD 71 hatte aus eigenem Antrieb Wagner als Nachfolger vorgeschlagen,
obwohl der nicht die Voraussetzungen erfüllte und er den Mann nicht
einmal persönlich kannte. Aber er hatte angeblich viel von seinen
außergewöhnlichen Leistungen gehört. Was für Leistungen, fragte sich
Jamal. Das Führen einer kleinen Einheit in Afghanistan? Der Unfall seiner
Frau hatte dem Oberst gezeigt, wie schnell das Leben vorbei sein konnte.
Nach seinem Herzinfarkt war der Ruhestand die richtige Entscheidung.
Das Ganze stank doch zum Himmel! Aber was steckte dahinter?
Pfeiffer verspricht Wagner eine reizvolle Führungsposition nebst
Beförderung zum Oberst. Sicherlich auch finanziell interessant. Wagner
soll dafür irgendwelche Pässe besorgen, Pfeiffer zur Verfügung stehen und
nach Sibirien fahren. Warum auch immer. Doch der amtierende Leiter
kehrt zurück und schlägt einen eigenen Nachfolger vor. Niemand würde
dem Ansinnen eines solchen Mannes widersprechen. Dann kommt seine
Frau bei einem Unfall mit Fahrerflucht ums Leben. Daraufhin erklärt der
Leiter doch seinen Rücktritt und schlägt überraschend Wagner als
Nachfolger vor.
Jamal musste nur eins und eins zusammenzählen. Die Frau des
ehemaligen Leiters der WTD 71 war einem Attentat zum Opfer gefallen.
Und Pfeiffer oder irgendwer sonst hatte dem Mann gedroht, dass ihn
dasselbe Schicksal ereilen würde, wenn er nicht zurücktrat und Wagner als
Nachfolger vorschlug.
Sein Instinkt hatte Jamal also nicht getäuscht. Er war einer großen
Sache auf der Spur. Aber was sollte er mit seinen Mutmaßungen anstellen?
Zur Polizei gehen? Um denen was zu erzählen? Dass er in Kabul ein
merkwürdiges Gespräch mitbekommen hatte, an dem auch Major Wagner,
jetzt Oberst, beteiligt war? Würden die auf Basis solch dürftiger
Anschuldigungen gegen einen so einflussreichen Mann ermitteln? Würden
die einem Jamal Akbar alias Abdul Rahimi glauben? Kaum. Vielleicht
sollte er mit dem zurückgetretenen Leiter sprechen, um herauszufinden, ob
er von Pfeiffer unter Druck gesetzt worden war. Aber würde sich der alte
Oberst einem Wildfremden anvertrauen, wenn er sich selbst der Polizei
gegenüber nicht geäußert hatte? Wahrscheinlich war es das Beste, zunächst
mit Hauke zu sprechen.
Kapitel 14
Atlantik
Mit zehn Knoten bewegte sich die Podolsk in südwestlicher Richtung.
Angetrieben von dem aus zwei WM-4-S-Druckwasserreaktoren
bestehenden OK-700A-Reaktorkomplex mit Kernreaktoren und Wasser als
Kühlmittel und Moderator zur Abbremsung freier Neutronen.
Zwanzigtausend PS. Vierundzwanzig Knoten Höchstgeschwindigkeit.
Reichweite: unendlich. Allein die Versorgung mit Nahrungsmitteln
begrenzte die Tauchzeit auf achtzig Tage. Normalerweise. Doch diesmal
fuhr die Podolsk mit reduzierter Besatzung. Auf diese Weise konnte sie
den Atlantik fast vier Monate durchqueren, ohne aufzutauchen.
Die Podolsk war Ende Februar nach einem Schneesturm ausgelaufen
und befand sich nun zweihundert Seemeilen südlich von Island in einer
Tiefe von zweihundert Metern. Kapitän Alexej Sergeewitsch Koroljow
hatte die Raketensektionen überprüft. Die Sprengköpfe hatte
Flottenadmiral Tschechow austauschen lassen. Weil das Ziel das
erforderte, hatte er erklärt. Koroljow war das recht. Denn jetzt hatte die
Podolsk sechzehn R-29RL-Interkontinentalraketen statt der R-29RK an
Bord. Zweistufige Raketen mit Flüssigtreibstoff-Antrieb. Zwei Meter im
Durchmesser und dreizehn Meter lang. Die R-29RL-Raketen hatten nur
einen Sprengkopf statt der drei der R-29R und der sieben der R-29RK.
Aber dieser Sprengkopf hatte es in sich: 0,45 Megatonnen Sprengkraft.
Doppelt so viel wie die R-29R, viermal so viel wie die R-29RK. Mit
neuntausend Kilometern Reichweite konnten die Raketen noch mehr Ziele
erreichen als die anderen Sprengkopftypen.
Jedes Mal, wenn er die Raketensektionen überprüfte, häufiger als
vorgesehen, überkam ihn dasselbe heroische Gefühl wie an jenem eisigen
Winterabend mit Mitja. Sein Freund hatte Wort gehalten. Nur wenige
Wochen nach ihrem Treffen durfte Koroljow mit der Podolsk auslaufen.
Zielgebiet Nordatlantik. Vorläufig. Auftrag: noch unbekannt.
Nachdem er wusste, dass er schon bald zu einer Mission aufbrechen
durfte, welche die Welt verändern würde, war Koroljow der nicht enden
wollende Winter mit Schnee, Eis und Einsamkeit völlig gleichgültig
gewesen. Er existierte gar nicht. Bis zu seinem Aufbruch hatte er täglich
mehrere Stunden trainiert. Auch mental, um sich auf den Ernstfall
vorzubereiten. Denn mentale Kraft war noch wichtiger als physische.
Noch einmal war Mitja zu ihm gekommen, nur eine Woche nach
ihrer Feier. Er hatte, wie angekündigt, General David Moore aus den USA
mitgebracht. Eine weitere wichtige Persönlichkeit für das Projekt
AURORA. Ein Mann von Ehre und Anstand. So hatte Mitja ihn
vorgestellt. Und genau so trat Moore auf. Er war Koroljow auf Anhieb
sympathisch. Eine starke Persönlichkeit mit einem ausgeprägten
Charisma. Eine Führungspersönlichkeit wie Mitja. Moore war nur
gekommen, um den legendären Kapitän Alexej Sergeewitsch Koroljow
kennenzulernen, von dem er schon so viel gehört hatte. Den Mann, der mit
seinen Fähigkeiten dazu beitragen sollte, dass das Projekt AURORA, von
dem Koroljow auch jetzt nicht mehr wusste als seinen Namen, ein voller
Erfolg wurde. Allein der Tonfall, in dem Moore das gesagt hatte, hatte
Koroljow wohlige Schauer über den Rücken laufen lassen.
Der über eins neunzig große Moore hatte ihm beide Hände auf die
Schultern gelegt und versprochen, dass er mit seiner Podolsk ein Ziel ins
Visier nehmen durfte, mit dem er das Gesicht der Welt für immer
verändern würde. Danach kam Mitja ein letztes Mal, um ihm den
Einsatzbefehl persönlich zu überbringen. Jetzt glitt er mit seinem U-Boot
durch den Atlantik. Langsam, um unsichtbar zu bleiben.
Dennoch hatte es auf der Reise von Vilyuchinsk nach Island zwei
kritische Begegnungen gegeben. Mit einem U-Boot der Amerikaner und
einem der Europäer. Und weil die Zeichen nach der Annexion der Krim
nicht auf Entspannung standen, waren solche Begegnungen heikel. Aber
Koroljow hatte seinen Kurs unaufgeregt fortgesetzt und danach jeweils
mehrere Kurskorrekturen vorgenommen. Wenn eines der U-Boote den
vorgeschriebenen Eskalationsstufen für eine Provokation gefolgt wäre,
hätte es ein Gefecht gegeben. Mit unvorhersehbaren Folgen für die
Weltordnung. Kaum jemand wusste, was für ein Pulverfass sich in den
Tiefen der Ozeane befand.
Koroljow prüfte die Koordinaten der Podolsk. Dann ging er in seine
Koje und begann sein tägliches Training. Er musste auch unter Wasser fit
bleiben. Denn als Koroljow Mitja und Moore gefragt hatte, wie lange er
tauchen würde, bevor er Zielkoordinaten und Angriffsbefehl bekam, hatte
Moore angedeutet, dass es nicht um Tage oder Wochen ging, sondern um
Monate. Oder gar Jahre.
Kapitel 15
Ein Dorf im Norden Syriens, Juni 2015
Der Hügel war steil und bot keine natürliche Deckung. Deshalb konnte er
sich nur wie in Zeitlupe bewegen, kriechend, das Gesicht am Boden. Sein
Tarnanzug verschmolz mit dem Sand. Wie ein Chamäleon. Selbst in einer
Entfernung von zehn Metern würde ihn niemand sehen. Das war auch
nötig, denn nicht nur in dem Dorf hinter dem Hügel wimmelte es von
Feinden. Die Kämpfer der GESA waren überall.
Er war vor zwei Tagen gekommen. Mit einem Flugzeug. In
zehntausend Metern Höhe war er, zusammen mit seinem Späher,
abgesprungen, hatte die Reißleine erst wenige hundert Meter über dem
Boden gezogen. Unbemerkt war er mitten zwischen den feindlichen Linien
gelandet. Zwei Tage hatte er sich nur von Wasser ernährt. Er hatte sein
Gewehr, ein paar Messgeräte und Wasser. Sonst nichts. Wenn sein Auftrag
erledigt war, würde er so schnell wieder verschwinden, wie er gekommen
war. Nicht einmal pinkeln konnte er. Aber dafür hatte er, wie alle Soldaten
des Special Air Service, eine Spezialwindel.
Noch gut dreihundert Meter bis zum Kamm des Hügels. Seit drei
Stunden bewegte er sich kriechend den Hügel hinauf. In der prallen Sonne,
bei fünfzig Grad. Aber für solche Situationen war er ausgebildet worden.
Das machte ihm nichts aus. Endlich erreichte er den Kamm. Ein Fels bot
eine gute natürliche Deckung. Ausgezeichnet. So konnte er sich voll auf
das Ziel konzentrieren.
Er duckte sich hinter den Fels und baute sein Barret M107 auf. Das
Hochleistungs-Präzisionsgewehr war mit einem ausklappbaren Zweibein
aus Leichtmetall ausgestattet. Er richtete es auf das Dorf aus. Durch das
Zielfernrohr analysierte er die Lage. In einem Halbkreis lagen im
blutgetränkten Sand acht Tote, deren Köpfe ordentlich neben ihnen
aufgereiht waren. Vor den Hütten knieten dreißig weitere Gefangene. Vor
den Gefangenen gingen Männer mit langen Bärten und Sturmgewehren auf
und ab. Die Situation war ernst. Das waren die Henker der GESA. Sie
hatten das Dorf überfallen und vergewaltigten und ermordeten nun nach
Belieben die Dorfbewohner. Wenn er nicht so vorsichtig den Hang hätte
hinaufkriechen müssen, hätte er vielleicht ein paar Leben mehr retten
können. Jetzt war es wichtig, schnell zu handeln, um weitere
Hinrichtungen zu verhindern.
Er analysierte die Bedingungen. Die Entfernung betrug exakt
eintausend Meter. Er musste die vier bewaffneten GESA-Kämpfer bei den
Gefangenen gleichzeitig ausschalten. Vier Treffer mit kaltem Gewehrlauf.
Das war so, als würde man einen Boxer am offenen Herzen operieren.
Während eines Kampfes!
Vier Cold Bore-Shots. Eine große Herausforderung.
Von Vorteil waren das große Kaliber und die Geschwindigkeit der
Munition. Kaliber fünfzig und fast zweifache Schallgeschwindigkeit. Eine
gigantische kinetische Energie. Fünfmal größer als die der Waffe eines
Großwildjägers. Da bedeutete jeder Körpertreffer den Exitus. Die
Schockwelle der Geschosse verursachte große Wunden. Alles wurde
zerfetzt. Fleisch, Muskeln, Sehnen, und auch das Herz. Selbst wenn es
nicht direkt getroffen wurde. Die Munition des M107 konnte sogar zwei
Zentimeter dicke Panzerstahlplatten, Steinmauern und Motorblöcke
durchschlagen. Aus einer Entfernung von tausendfünfhundert Metern!
Bevor er das Gewehr millimetergenau ausrichtete, gab ihm sein
Späher diverse Daten durch. Windrichtung, Temperatur, Luftfeuchtigkeit
und Erdanziehungskraft. Alles Faktoren, die Einfluss auf die Flugbahn
eines Projektils hatten. Aus dieser Entfernung bedeutete ein Fehler in der
Berechnung der Anfangsbedingungen selbst im unteren Promillebereich
einen Fehlschuss. Ein Fehlschuss aber bedeutete ein Scheitern der
Mission.
Er prüfte die Mündungsbremse. Sie sorgte dafür, dass die beim
Schuss entstehenden Gase seitlich abgelenkt wurden, was wiederum den
Rückstoß verringerte. Das war bei vier Cold Bore-Shots von Vorteil. Er
überprüfte, ob der Lauf gut geölt war. Zu viel Öl war noch schlechter als
zu wenig, denn dann entstand beim Schuss eine Rauchfahne, die dem
Gegner seine Position signalisieren konnte. Das galt auch für den
Schalldämpfer, den er in diesem Augenblick befestigte. Es ging ihm nicht
um die Dämpfung des Schusses. Das spielte bei dieser Entfernung keine
Rolle. Viel wichtiger war, dass der Schalldämpfer das verräterische
Aufflackern am Lauf beim Schuss unterdrückte. Deshalb hatte er sich auch
erst nachmittags an das Dorf herangeschlichen. So hatte er die Sonne im
Rücken. Der Rest an Mündungsfeuer, der vielleicht noch übrigblieb, war
für den Gegner dank Sonne nicht mehr wahrnehmbar. Er war unsichtbar.
Lautlos. Und dennoch absolut tödlich. Er war ein Schatten. Vor den
Schüssen und nach den Schüssen.
Er steckte das Magazin in das Gewehr. Maximal zehn Patronen. Aber
er hatte es nur mit acht bestückt. Das steigerte die Leistung der
Magazinfeder. Das wiederum reduzierte die Ladezeit und erhöhte die
Wahrscheinlichkeit, dass ihm vier Cold Bore-Shots gelangen.
Er legte sich hinter das Gewehr.
Dieses Gewehr ist für dich nicht mehr als die künstliche Erweiterung
deines Körpers, hatte sein Ausbilder gesagt. Wie recht er damit hatte.
Durch das Zielfernrohr beobachtete er jede Bewegung der vier
bewaffneten GESA-Kämpfer. Er musste wissen, wer von ihnen der
Anführer war. Es war leicht, das herauszufinden. Einer von ihnen, klein,
untersetzt, aggressiver Gesichtsausdruck, gab permanent Anweisungen
und schrie die Gefangenen an. Der war sein erstes Ziel.
Was er grundsätzlich vermied, waren Kopfschüsse. Schwer zu
treffen. Hohes Risiko eines Fehlschusses. Und bei panzerbrechenden
Projektilen überflüssig. Er zeichnete bei dem Anführer gedanklich ein
Dreieck zwischen Kinn und Brustwarzen.
Er wollte auch die anderen Ziele präparieren. Doch dazu kam er
nicht. Denn der Anführer gab den anderen Waffenträgern wild
gestikulierend Anweisungen. Eine Frau und ein Junge, vielleicht acht
Jahre alt, wurden von zwei maskierten Henkern zu den geköpften Leichen
gezerrt und mussten sich in ihre Mitte knien. Die Frau war bereits
vergewaltigt worden. Dafür sprachen ihre zerrissene Kleidung und ihr
blutiges Gesicht.
Es ging um Sekunden!
Das Gewehr war exakt ausgerichtet und durchgeladen. Er visierte
den Raum um die beiden knieenden Geiseln an und nutzte diesen kurzen
Augenblick, um seinen Herzschlag durch konzentriertes, taktisches Atmen
so weit zu verlangsamen, dass er vier präzise Schüsse abgeben konnte.
Plötzlich zückte einer der GESA-Kämpfer eine Machete. Einer ohne
Sturmgewehr, der sich im Rückraum aufgehalten hatte und plötzlich
vortrat, direkt neben den Jungen. Den hatte er nicht auf der Rechnung
gehabt.
Also fünf Cold Bore-Shots!
Der Mann mit der Machete baute sich neben dem Jungen auf. Die
anderen GESA-Kämpfer lachten und klatschten in die Hände. Sie feuerten
den Mann mit der Machete an. Er visierte dessen Brust an. Kein Dreieck.
Dafür war keine Zeit. Bis der Schlächter zugeschlagen hatte, würde es ein
bis zwei Sekunden dauern. Das Projektil brauchte weniger als eine
Sekunde. Während der Henker ausholte, atmete er tief aus. Der Terrorist
hatte die Machete über den Kopf gehoben, bereit zum Schlag. Zwischen
zwei Herzschlägen drückte er ab. Das Geschoss schlug mit einer
Geschwindigkeit von neunhundert Metern pro Sekunde im Körper des
GESA-Kämpfers ein, der nach hinten geschleudert wurde, als hätte ihn
eine riesige eiserne Faust getroffen. Blut und Fleisch spritzten in hohem
Bogen aus ihm heraus. Er war sofort tot.
Selbst beim fünften Schuss hatte noch keiner der GESA-Henker
begriffen, was in diesem Augenblick vor sich ging. Innerhalb von
Bruchteilen von Sekunden hatte er mit fünf Schüssen fünf Terroristen
liquidiert. Die übrigen GESA-Kämpfer flohen panisch aus dem Dorf, als
sie endlich kapierten, dass auf sie geschossen wurde.
Vor nichts und niemandem hatten sie mehr Angst als vor Männern
wie ihm. Vor den lautlosen Schatten. Unbesiegbar und tödlich.
Gefährlicher als jeder Luftangriff.
Wieder einmal hatte er einen Auftrag sauber ausgeführt. Sauber und
präzise. Mit schnellen, geübten Fingergriffen nahm er das Gewehr
auseinander. Er musste sich unsichtbar machen. Bis er in dreißig Stunden
abgeholt wurde.
Gerade, als er wieder den Hang hinunter robben wollte, vernahm er
hinter sich ein Räuspern. Erschrocken fuhr er herum. Wie war es möglich,
dass sich ihm jemand unbemerkt genähert hatte? Ihm, dem Schatten!
Instinktiv schnellte er aus seiner Deckung hoch, ließ sich zur Seite
fallen, holte im Fallen mit den Beinen aus und trat dem Ursprung des
Räusperns gegen die Füße. Er sah, wie der Mann zu Boden ging. Sofort
prüfte er, welche Waffen der Gegner hatte. Und stellte mit wenigen
Blicken fest, dass sich keine weiteren Männer in seiner Nähe befanden.
Und der, der auf dem Boden lag und eine Hand in die Höhe reckte, hatte
keine Waffen. Jedenfalls nicht in der Hand.
„Ich bin kein Feind. Ich will nur mit Ihnen reden“, sagte er stöhnend
in gutem Englisch.
„Los, hinter den Fels“, befahl er.
Sekunden später standen sich hinter dem Fels zwei Männer
gegenüber. Er, zwei Meter groß, athletisch, blond, glatt rasiert, der andere
klein, schwarzhaarig und bärtig. Er musterte den Mann, analysierte, wo er
Waffen tragen könnte. Aber mehr als ein Messer konnte er nicht haben.
„Wie haben Sie es geschafft, sich mir unbemerkt zu nähern?“, fragte
er. „Das ist unmöglich!“
Der Bärtige zuckte mit den Schultern. „Ich beobachte Sie schon seit
Ihrer Ankunft. Ich kenne hier jeden Stein, jeden Strauch und jedes
Sandkorn. Nacht für Nacht habe ich darauf gewartet, dass ein Flugzeug
kommt und jemand wie Sie mit einem Fallschirm daraus abspringt. Ich
war auf Ihr Kommen vorbereitet. Ich bin Ihnen gefolgt, habe jede Ihrer
Aktionen beobachtet. Das war wirklich beeindruckend. Aber mit mir
haben Sie trotzdem nicht gerechnet. Weil ich nicht Ihr Feind bin.“
Er musterte sein Gegenüber. Seine Erfahrung und sein Instinkt
sagten ihm, dass von dem Mann keine Gefahr ausging. „Was wollen Sie
von mir? Warum haben Sie mich beobachtet?“
„Ich will gar nichts von Ihnen“, sagte der Mann, „aber mein
Vorgesetzter würde sich gerne mit Ihnen unterhalten. Er ist da hinten, in
seinem Zelt.“ Der Bärtige wies mit dem Daumen nach rechts. Dort war ein
Zelt aufgebaut, das ihm schon zuvor aufgefallen war. Es war so gut hinter
einem Felsvorsprung verborgen, dass er es nur auf einer Strecke von
wenigen Metern hatte sehen, oder eher erahnen können.
„Es gibt niemanden, mit dem ich etwas zu besprechen hätte. Gehen
Sie oder ich muss Sie töten.“
Der Mann wedelte mit den Händen. „Ich glaube, das könnte ein
interessantes Gespräch für Sie werden. Mein Vorgesetzter möchte Ihre
Dienste in Anspruch nehmen. Und er zahlt sehr gut.“
Seine Kiefer mahlten. Allein die Tatsache, dass jemand Notiz von
ihm genommen hatte, war eine Katastrophe.
Denn er war ein Chamäleon!
Andererseits war er mit seiner Bezahlung unzufrieden. Sie stand in
keinem angemessenen Verhältnis zu seinem Risiko und seinem Einsatz.
Und eines war klar: Wenn es jemandem gelang, ihn auch nur
wahrzunehmen, dann war er ein Profi. Und zwar ein verdammt guter. Und
nachdem der Bärtige nun schon sein Gesicht gesehen hatte...
„Wofür zahlt er gut?“
„Ich bin nicht befugt, diese Frage zu beantworten. Es ist Ihre
Entscheidung. Wenn Sie kein Interesse haben, verschwinde ich und diese
Unterhaltung hat nie stattgefunden. Oder Sie sprechen mit meinem
Vorgesetzten und entscheiden sich dann.“
„Gehen wir.“
Wortlos gingen sie zu dem achthundert Meter entfernten Zelt. Die
GESA-Kämpfer hatten sich nach dem Angriff weit zurückgezogen. Er
genoss jedes Mal aufs Neue das Gefühl, dass Männer wie er ihre größte
Bedrohung waren. Männer, die sie in Panik versetzten. Nicht die
Luftangriffe der Amerikaner oder Russen. Nicht die Androhung von
Bodenoffensiven. Sondern Schatten. Tödliche Schatten.
Ihr schlimmster Alptraum.
Das Zelt war nicht groß, aber in zwei Bereiche unterteilt. Der eine
war von dem anderen durch eine Plane abgetrennt, durch die er wie einen
Schattenriss einen Menschen erkennen konnte. Er analysierte rasch, ob
sich sonst noch jemand in dem einen oder anderen Bereich des Zeltes
aufhielt. Aber es gab nur drei Personen: ihn, den Bärtigen und den
Schattenriss.
„Bitte, nehmen Sie Platz“, sagte der Bärtige und wies auf einen
Klappstuhl aus Metall, der außen vor der Zeltwand im Sand stand, genau
auf Höhe des Schattenrisses. „Darf ich Ihnen etwas anbieten? Einen Tee
vielleicht?“
„Nein danke. Und ich stehe lieber. Sie bleiben in Sichtweite. Keine
falschen Bewegungen. Am besten gar keine. Verstanden?“
Der Bärtige nickte, trat ein paar Schritte zurück und blieb wie
angewurzelt stehen. Auch der Schattenriss bewegte sich nicht. Von ihnen
ging keine Bedrohung aus. „Was kann ich für Sie tun?“, fragte er den
Schattenriss.
Durch die Zeltplane klang die Stimme des Mannes verzerrt. Sollte er
ihn kennen, erkannte er ihn jedenfalls nicht an seiner Stimme. „Ich habe
noch nie einem so hervorragenden Scharfschützen zugesehen wie Ihnen.
Wir würden gerne Ihre Dienste in Anspruch nehmen. Gegen eine
angemessene Bezahlung.“
„Warum? Und wofür?“
„Für eine großartige Sache. Dass wir keine Amateure sind, haben Sie
sicherlich schon gemerkt. Sie kennen die Regeln. Keine Details. Keine
Namen.“
„Was wollen Sie? Wann, wo und für wie viel?“
„Nur gelegentlich. Vielleicht zwei- oder dreimal. Das Ziel kann
überall in der Welt sein. Aber einfacher als hier. Es ist unwahrscheinlich,
dass großer Zeitdruck besteht. Wenn Sie anderweitig im Einsatz sind, lässt
sich das koordinieren. Wir brauchen jemanden für besondere Aufgaben.
Und was die Bezahlung angeht: Sagen Sie uns Ihren Preis.“
Der Schattenriss war Profi. So wie er. Ein Fremder auf Augenhöhe.
Die Aussicht auf ein lukratives Geschäft. „Zweihunderttausend in bar bei
Auftragserteilung. Dreihunderttausend danach. Dollar oder Euro. Ich
brauche Vorbereitungszeit. Ich muss das Ziel und die Zielbedingungen
analysieren. Kontakt ausschließlich über wechselnde Chats und Prepaid-
Handys.“
„Diese Bedingungen kann ich akzeptieren. Und den ersten Auftrag
habe ich auch schon. Über den können wir im Anschluss sprechen. Wie
kann ich Sie danach erreichen?“
Das war der kritische Punkt. Der Schutz seiner Identität. Sie kannten
sein Gesicht. Aber nicht seinen Namen. Dabei sollte es bleiben. Das
Geschäft war lukrativ. Fünfhunderttausend Euro oder Dollar, steuerfrei,
waren attraktiv. Auch wenn der Aufwand und das Risiko hoch waren. „Ich
hinterlasse Ihnen eine anonyme E-Mail Adresse. Für den Erstkontakt. Sie
geben mir eine Rufnummer. Von jemandem, der mit Ihnen in Kontakt
treten kann. Der Rest sind Peanuts.
„Gut“, sagte der Schattenriss. „Das ist problemlos zu machen. Wir
haben ein Handy nur für den Kontakt mit Ihnen. Die nicht registrierte
Nummer schicke ich an Ihre E-Mail-Adresse. Mein Vertrauter steht vor
Ihnen. Sollen wir jetzt über Ihren Auftrag sprechen? Und wäre es im
August möglich?“
„August? Ja, das würde passen. Schießen Sie los.“
Kapitel 16
Bayron Bay
„Es gibt zum einen den Vertrag, den wir Ihnen beim letzten Mal
hiergelassen haben. Der ist nur für Sie und Ihren Forschungsauftrag
gedacht, Dr. Perkins. Wie Sie wissen, geht es um die Finanzierung, die
Zuteilung der Ressourcen, den groben Fahrplan und natürlich die Ziele
Ihrer Forschung. Sie hatten genügend Zeit, sich damit auseinanderzusetzen
und einen Anwalt zu Rate zu ziehen.“
„Das hier“, sagte Edward Coleman und schob allen jeweils zwei
geheftete Papierstapel über den Tisch zu, „sind die
Verschwiegenheitserklärungen. Ab heute sind Sie verpflichtet, absolutes
Stillschweigen zu wahren über Ihren Forschungsauftrag, unsere Stiftung
und alles, was Sie im Laufe des Projektes erfahren. Das schließt diesen
Abend mit ein. Sie müssen sich darüber im Klaren sein, dass dieses
Projekt einen Einschnitt bedeutet. Jeder von Ihnen muss für die Dauer der
Forschung von seinem bisherigen Leben Abschied nehmen und sich in die
Hände der Stiftung begeben. So sehen es unsere Statuten vor. Wir wollen
verhindern, Dr. Perkins, dass Ihre Erkenntnisse zu früh an die
Öffentlichkeit oder gar in falsche Hände geraten. Oder die Stiftung von
Geheimdiensten, Neidern oder Nachahmern torpediert wird. Noch können
Sie aussteigen. Es ist Ihre Entscheidung. Aber um es klar zu sagen“,
Coleman nickte jedem am Tisch zu, „das Projekt läuft nur, wenn Sie alle
dabei sind. Ohne Ausnahme. Und nur, wenn jeder von Ihnen diese
Verschwiegenheitserklärung unterschrieben hat. Denn danach gibt es kein
Zurück mehr.“
Riley kam sich vor wie in einem schlechten Film. Sein Alter hatte
unter Androhung der Enterbung darauf bestanden, dass er an dem Treffen
mit diesen aalglatten Amerikanern teilnahm. Und zwar in einem Anzug,
einem grauen Einreiher! Eigens angeschafft für diesen überflüssigen
Termin. Riley Perkins in einem Anzug. Das war so ziemlich das
Lächerlichste, was man sich vorstellen konnte. Und jetzt sollte er diesen
Scheiß-Vertrag unterschreiben und mit seinen dekadenten Alten zu
irgendeiner beschissenen Insel fahren. Ohne Surfbrett. Weil sein
ehrgeiziger Vater dieses Projekt nur bekam, wenn die Familie mitspielte.
Selbst Noah hatte seine Prinzipien verraten, sich ebenfalls in einen
Anzug gezwängt, in dem er genauso albern wirkte wie Riley, und zugesagt,
James zu begleiten. Weil das für ihn so unglaublich wichtig war, hatte er
Riley gegenüber geäußert. Die einmalige Chance auf einen zweiten
Nobelpreis. Denn das war vor ihm erst vier Preisträgern gelungen: Marie
Curie im Jahr 1903 für Physik und 1911 für Chemie, Linus Carl Pauling
1954 für Chemie und 1962 für Frieden, John Bardeen 1956 und 1972
jeweils für Physik und Frederick Sanger 1958 und 1980 jeweils für
Chemie. Woher wusste sein Bruder das? Hatte der sich jemals für so was
interessiert?
Außerdem beteuerte Noah, dass es die Pflicht seines Vaters war, das
menschliche Überleben zu sichern. Und in diesem Augenblick
unterschrieb sein Bruder doch tatsächlich diesen fuck Vertrag! Was war
nur los mit dem? Was hatte James ihm versprochen? Kohle? Hatte Noah
doch selbst. Er erkannte seinen Bruder nicht wieder. Und seine Mutter,
dieses wachsweiche Chamäleon! Hatte extra amerikanischen Whiskey
besorgt. Booker´s Kentucky straight Bourbon stand auf der Flasche.
Absolutes Sauzeug, völlig ungenießbar. Aber dreiundsechzig Prozent
Alkohol. Ein ordentlicher Wert.
Aber was machte James denn da? Tröpfelte der doch tatsächlich mit
einer Pipette Wasser in die Gläser! Wasser im Whiskey? Mit einer Pipette?
Wie abgefahren war das denn?
Weil dieser edle Tropfen nur auf diese Weise all seine einzigartigen
Geschmacksnuancen entfalten kann, erklärte James mit feierlicher
Stimme, hochgezogenen Augenbrauen und wichtigtuerisch erhobenem
Zeigefinger.
Was für ein abgehobenes, dekadentes Gebrabbel. Riley verzichtete
auf die Geschmacksnuancen. Der Alkoholgehalt dieser amerikanischen
Geschmacksverirrung war das einzig Gute daran. Das durfte man nicht mit
Leitungswasser verdünnen.
Im Hintergrund lief Frank Sinatra. Riley hatte nichts gegen Sinatra,
im Gegenteil, ein geiler Musiker. Aber wenn er missbraucht wurde, um
amerikanische Goldesel zu becircen, war er mit seiner Toleranz am Ende.
„Mister Perkins?“
„Hm?“ Riley schreckte aus seinen Gedanken hoch, als Edwards Frau,
diese affektierte Kimberly mit dem schrillen Kostüm und der unerotischen
Piepsstimme, ihn unvermittelt ansprach.
„Riley, haben Sie verstanden, was mein Mann Ihnen gerade erklärt
hat?“
Riley nahm einen ordentlichen Schluck Booker´s Kentucky straight
Bourbon. Immer noch ungenießbar, aber immer noch reichlich Alkohol.
Brannte gut in der Kehle. „Klar. War ja nicht sonderlich kompliziert.“
„Schön“, sagte sie mit ihrer fast kindlichen Stimme, mit der sie
keine Chance hatte, so etwas wie Autorität zu vermitteln, „und warum
unterschreiben Sie dann nicht den Vertrag?“
Haben Sie verstanden, was mein Mann Ihnen gerade erklärt hat?
Warum unterschreiben Sie dann nicht den Vertrag? Laber, sabber, lall,
schwall.
Du kannst dir deinen dämlichen Vertrag sonst wo hinschieben, du
dumme Gans! Das Gute selbst an dem schlechtesten Fusel war, dass er mit
jedem Schluck besser wurde und sich sogar dumme Gänse mit
Piepsstimmen ertragen ließen.
Er nahm die Flasche, füllte sein Glas bis zum Rand, trank die Hälfte
auf Ex und füllte es wieder bis zum Rand. Begleitet von den entsetzten
Blicken seines Vaters. Seine Mutter verdrehte die Augen. Seine
Schwestern schauten betreten zu Boden. Noah grinste. Wenigstens etwas.
Riley beugte sich über den Papierstapel und betrachtete die Blätter,
so, als blicke er über einen imaginären Brillenrand. „Ich bitte um
Nachsicht, aber ich habe den Vertrag noch gar nicht geprüft“, sagte er
gedehnt und betont provokant und fing sich sogleich den nächsten
bitterbösen Blick seines Alten ein, der noch einen Schritt weiter gegangen
war als seine Söhne. Er hatte gar seinen uralten Frack aus dem Schrank
geholt. Nebst schwarzer Fliege. Einfach nur hochnotpeinlich.
Piepsstimme meldete sich wieder zu Wort. Wahrscheinlich konnte
sie nicht anders. „Riley, wenn Sie noch Zeit brauchen, ist das okay. Dann
unterschreiben Sie später und schicken uns den Vertrag zu. Wir sind auch
noch bis übermorgen hier. Wenn Sie bis dahin unterschreiben, bringen Sie
den Vertrag zu uns ins Hotel. Ansonsten befürchte ich, dass Ihr Vater diese
einmalige Chance, in die Geschichtsbücher einzugehen, verliert. Am
ersten Juli geht es los. Dann holen wir Sie ab. Und wenn der Stiftung bis
dahin nicht alle Verträge unterschrieben vorliegen... Pech gehabt.“
James giftete seinen Sohn an. Wenn Blicke töten könnten. Riley
konnte die Gedanken seines Alten förmlich lesen. Das haben wir doch
alles in epischer Breite besprochen. Wir waren uns einig. Und du
bekommst eine Menge Geld dafür. Was habe ich dir bloß getan? Du
Versager!
Stimmte schon, getan hatte James ihm nichts. Jedenfalls nicht im
wörtlichen Sinne. Aber es war sowieso scheißegal, ob er diesen Quatsch
unterschrieb oder nicht. Denn Riley wusste etwas, was niemand sonst an
diesem Tisch wusste.
Aufreizend langsam zog er die Papiere näher zu sich heran, kniff die
Augen zusammen und tat so, als würde er die Paragraphen lesen. Tat er
natürlich nicht. Von diesem hirnlosen Juristen-Kauderwelsch verstand er
kein Wort. Aber ein bisschen auskosten musste er das schon. Schließlich
hatten alle außer ihm längst unterschrieben.
„Okay“, murmelte er, leerte langsam das Glas und griff nach dem
edlen Füllfederhalter, den Kimberly ihm mit einer fordernden Geste
zuschob, „ich unterschreibe das. Ist schließlich zum Wohle der
Menschheit. Und nicht zu vergessen, und noch viel wichtiger: zum Wohle
meines Vater.“
Riley wusste, was er sich anhören musste, wenn die Gäste gegangen
waren. Aber diese Gelegenheit würde er seinem Alten gar nicht erst geben.
Der Rest des Abends plätscherte mit überflüssigem Smalltalk dahin.
Riley war klar, dass die Amerikaner bewusst darauf verzichteten, über
Details von James Forschung zu sprechen. Das ging niemanden etwas an.
Nicht einmal die Familie. Das war Riley nur recht. Für diesen Blödsinn
interessierte er sich nicht die Bohne. Immer wieder schaute er auf seine
neue Armbanduhr, die keiner seiner lieben Verwandten bemerkt hatte.
Nicht einmal sein Bruder, der in bemerkenswert kurzer Zeit von einem
ambitionierten und coolen Musiker zu einem willenlosen Zombie im
Anzug mutiert war.
Die Uhr war ein Geschenk von Emma. Teuer und edel. Aber trotzdem
wunderschön und gar nicht protzig. In einer Stunde war er bei ihr. Dann
begann sein neues Leben. Mit ihr. Er konnte sein Glück kaum fassen.
Diesmal meinte es das Schicksal gut mit ihm.
Einziger Wermutstropfen: Er musste seinen Alten verarschen und
dann auch noch hängenlassen. Das ging ihm zwar, bei aller Ablehnung,
gegen den Strich, doch letztlich hatte James sich das mit seinem
unersättlichen Geltungsbedürfnis selbst eingebrockt. Sollte er doch
zusehen, wie er ohne seinen Sohn zurechtkam. Das hatte doch sein ganzes
Leben bestens funktioniert. Und auf die versprochene Kohle fürs
Mitmachen und Stillhalten verzichtete Riley gerne. Er würde nämlich
schon bald sein eigenes Geld verdienen! Wenn auch nicht in Kalifornien...

***

10.000 Meter über dem Pazifik, wenige Tage später


Riley kam sich immer noch vor wie in einem Traum. Wie war es möglich,
dass ausgerechnet er, ein kiffender Surfer ohne Perspektiven, jetzt mit der
schönsten, klügsten und faszinierendsten Frau der Welt in einem
luxuriösen Learjet saß und Bier trank? Bier, das die Piloten extra für ihn
besorgt hatten. Denn zu einem solchen Flugzeug gehörte Champagner. Den
trank Emma, die ihm gegenüber saß. Sie waren vor zwei Stunden gestartet.
Die Strecke erforderte mehrere Zwischenlandungen, um aufzutanken. Aber
Emma meinte, dass sie das für ein paar Ausflüge nutzen könnten.
Außerdem bot ihr das die Gelegenheit, sich mit einem Kunden zu treffen,
der Landmaschinen und Traktoren für zehn Millionen Dollar kaufen
wollte.
Emma hatte eine Firma, die Landmaschinen, Traktoren, Motoren
und Pumpstationen herstellte. Damit war sie steinreich geworden. Eine
Selfemade-Frau par excellence. Eine Top-Managerin. Und damit
eigentlich überhaupt nicht Rileys Typ. Doch diese Frau entsprach so gar
nicht dem Klischee der knallharten Geschäftsfrau.
Riley beugte sich über den Tisch und gab Emma einen Kuss, den sie
so sinnlich erwiderte, dass ihm beinahe schwindelig wurde. Der direkte
Weg ins Paradies. Irgendwie hatte er ständig das Bedürfnis, diese Frau
anzusehen und zu berühren. Ihr zuzuhören, ihr Lachen aufzusaugen, ihre
Sorgen wegzuküssen. So etwas hatte er noch nie erlebt. Sie zog ihn auf
eine Weise an, die er bislang nicht kannte. Ein irre schönes Gefühl. Ganz
tief drinnen. Riley vermutete, dass er zum ersten Mal richtig verliebt war.
Ein Gefühl, zu dem er sich gar nicht für fähig gehalten hatte. So konnte
man sich irren.
Dabei hatte er Emma erst vor drei Wochen kennengelernt. Sie hatte
einen Surflehrer gesucht und ihn gefunden. Die Chemie zwischen ihnen
stimmte auf Anhieb. Ihre Unterhaltung lief so, als würden sie sich schon
seit Ewigkeiten kennen. Und sie erwies sich als Naturtalent auf dem Brett.
Schon nach einer Woche konnte sie fast mit ihm mithalten und wollte auch
noch Kitesurfen lernen.
Am zweiten Abend hatte er sie zum Essen eingeladen. Und was ihn
total überrascht hatte: Sie waren danach nicht im Bett gelandet. Sie hatten
bis in die Morgenstunden gequatscht. Danach wusste er, dass Emma eine
achtjährige Tochter aus erster Ehe hatte. Cathy. Emma war seit sechs
Jahren geschieden. Weil ihr Ex nicht damit zurechtkam, dass sie
permanent in der Weltgeschichte rumreiste. Und weil er es hasste, dass er
mit Emma niemals richtig Urlaub machen konnte. In Bayron Bay war sie
auch in erster Linie wegen eines Kunden gewesen. Aber sie verband diese
Reisen gerne mit ein wenig Zerstreuung.
„Sag mal, Riley“, sagte sie unvermittelt, „was ich mich schon die
ganze Zeit frage: Ist dein Vater eigentlich dieser berühmte Virologe, der
sogar den Nobelpreis für Medizin bekommen hat?“
Riley stöhnte auf, nicht schon wieder diese Leier. Aber Emmas
Neugier war verständlich. „Ja, ist er“, entgegnete er knapp.
Emma betrachtete ihn eine Weile. „Dann kann ich gut
nachvollziehen, warum du abhauen willst. Es ist nicht einfach, mit so
einem Übervater zu leben, oder?“
Wahnsinn! Diese Frau traf den Nagel auf den Kopf! Seine besten und
ältesten Freunde verstanden ihn nicht, sondern laberten ihn mit seinem
Alten und dessen weltbewegenden Erfolgen voll. Aber diese himmlische
Frau, die er gerade erst kennengelernt hatte, erfasste seine Gefühle mit
einem einzigen Satz!
„Du sagst es, Süße! Ein Übervater, der seine Kinder ihr Leben lang
bedrängt hat, es ihm gleichzutun. Und es bei mindestens zweien auch
geschafft hat. Aber nicht mit mir. Ich bin froh, dass der eine Weile von der
Bildfläche verschwunden ist.“
Emma sah ihn erstaunt an. „Inwiefern von der Bildfläche
verschwunden?“
Richtig, das hatte er ihr noch gar nicht erzählt. Sie hatten vor allem
über seine Pläne gesprochen, nach Kalifornien auszuwandern und eine
Surfschule aufzumachen. Emma war seiner Meinung, dass Kalifornien bei
Surfern bekannter und beliebter war als Florida. Aber ihre Heimat, Cocoa
Beach, war auch ein Surferparadies. Nachdem er ihr von seinen Plänen
erzählt hatte, so lange zu sparen, bis es für ein Flugticket und die erste Zeit
in Kalifornien reichte, ohne darauf einzugehen, wovon er sparte, war das
Unglaubliche geschehen. Emma hatte ihm spontan angeboten, sein
Unternehmen zu finanzieren. Inklusive ordentlichem Gehalt für ihn. Riley
war gar nicht bewusst gewesen, wie viel Geld diese tolle Frau besaß. Sie
war im Gegenteil die erste seit langem, für deren Geld er sich nicht
interessierte.
Er hatte gezögert. Wollte nicht von einer Frau ausgehalten werden.
Nicht von ihr abhängig sein. Doch Emma hatte ihm klargemacht, dass das
kein Geschenk war, sondern eine Beteiligung. Eine seriöse Geldanlage,
mit der sie an seinem Erfolg partizipieren wollte. Denn sie hielt ihn für
einen klugen Mann mit einem guten Riecher für´s Geschäft. Wie Öl war
ihm das runtergegangen. Niemals hatte sein Vater so etwas zu ihm gesagt.
Riley nahm Emmas Hand, und erzählte ihr von der Stiftung, den
amerikanischen Virologen und James Forschungsauftrag.
„Merkwürdig“, sagte Emma stirnrunzelnd, „ich kenne viele
Stiftungen. Weil ich mir meiner gesellschaftlichen Verantwortung bewusst
bin, habe ich selbst eine gegründet und mich intensiv mit dem Thema
auseinandergesetzt. Eine Stiftung mit dem Namen AURORA ist mir dabei
nicht begegnet. Die müssen recht neu sein. Deine ganze Familie muss
mitkommen? Kein Kontakt zur Außenwelt?“
Weil ich mir meiner gesellschaftlichen Verantwortung bewusst
bin...Würde James so etwas behaupten, würde Riley ihn auslachen. Aber
wenn Emma das sagte, dann meinte sie das genauso. Und sie tat es, weil
sie Gutes bewirken wollte. Nicht um sich selbst zu inszenieren. So wie
sein Alter.
Riley nickte. „So ist es. Ich bin dem Knast nur mit Mühe und Not
entkommen.“
„Das ist eine komische Geschichte. So etwas habe ich noch nie
gehört. Eine Stiftung, die den von ihr geförderten Personenkreis nebst
Angehörigen kaserniert. Das kommt mir spanisch vor.“
„Mag sein. Aber James ist kein Idiot. Seine Anwälte haben das
geprüft. Schien alles seine Richtigkeit zu haben. Und wenn man bedenkt,
wie viel Kohle die in sein Projekt stecken. Mein lieber Mann.“
Emma rieb sich nachdenklich das Kinn. „Trotzdem. Ich finde das
eigenartig. Aber sei´s drum. Hauptsache, du ziehst dein Ding durch. Prost,
Riley, auf Dich!“ Sie erhob ihr Champagnerglas.
Riley prostete Emma mit einem Luftkuss zu. „Nicht auf mich, Süße,
auf uns!“
Was für eine Geschichte. Erst vor drei Wochen hatten sie sich
kennengelernt. Emma war sieben Jahre älter als er. Na und? Erst nach zwei
Wochen hatten sie zum ersten Mal Sex. Das war sein persönlicher Rekord.
Der lag zuvor bei achtzehn Stunden. Und auch noch verdammt guten Sex.
Mit richtig viel Gefühl dabei. Und total selbstverständlich. Ohne jeden
Druck. Nicht mit dem Gefühl, den allzeit bereiten Hengst geben zu
müssen, so wie sonst. Danach Zukunftspläne, und schon saßen sie
zusammen in Emmas Jet. Ein Flug in die Freiheit und ein Flug ins Glück.
Seine Träume wurden wahr. So etwas verstand man wohl unter Schicksal.
Was auch völlig verrückt war: Riley, der niemals über so etwas wie
Heirat oder gar Familie nachgedacht hatte, freute sich plötzlich auf dieses
Kind! Auf Cathy. Allein die Vorstellung, dass das Mädchen von seiner
Emma war! Emma hatte ihm ein Foto von ihrer Tochter gezeigt. Total süß,
die Kleine. Kam ganz auf ihre Mutter. Blond, braune Augen, die ihren
Betrachter fröhlich anstrahlten, dieselben Grübchen beim Lachen. Er
würde sich bestimmt prima mit Cathy verstehen. Das musste er auch, denn
er schlüpfte automatisch in eine Vaterrolle, wenn Emma so viel unterwegs
war. Womit er im Gegensatz zu ihrem Ex kein Problem hatte. Dafür war
dann die Wiedersehensfreude umso größer. Bis jetzt kümmerte sich ein
Kindermädchen um Cathy. Aber das war nicht das Richtige für ein Kind.
Cathy brauchte jemanden, der immer für sie da war. Der für sie, zusammen
mit ihrer Mutter, eine richtige Familie war. Sie hatte bestimmt Lust,
Surfen zu lernen.
Riley war glücklich und voller Hoffnungen. Er fühlte sich innerlich
befreit.
Und doch gingen ihm Emmas Worte nicht aus dem Kopf. Eine
Stiftung, die Leute kaserniert, ist merkwürdig. Das war leider richtig.
Kapitel 17
Kiel, Juli 2015
Tarkan zwang sich, genauso beiläufig durch die Holtenauer Straße zu
bummeln wie die anderen Passanten. Er durfte unter keinen Umständen
auffallen. Denn er hatte eine Mission zu erfüllen, über die er gleich mit
Yefrem sprechen würde. Er kannte das Ziel, aber keine Details, wie den
Zeitplan und die Frage, wie konsequent er vorgehen durfte. Am liebsten
würde er die Ungläubigen abschlachten, wie sie ihm über den Weg liefen.
So wie sie es verdienten. Aber ihm war eingeschärft worden, dass er
vorläufig im Verborgenen agieren musste. Denn eines wusste er schon:
Das war nur der Anfang, der Auftakt zu einem epochalen Projekt, das sich
über einige Jahre hinziehen und die Welt für immer verändern würde.
Ziel war ein Islamischer Gottesstaat. Aber weil der Feind militärisch
überlegen war, mussten sie unsichtbar sein, sodass er gar nicht mitbekam,
was sich gegen ihn zusammenbraute. Und wenn sie losschlugen, war es zu
spät.
Allah war wahrhaftig groß!
David gegen Goliath. So hatten sich das Yefrem und die anderen
Führer ausgedacht. Tarkan war sich sicher, dass einige von ihnen ihm
kürzlich zugesehen hatten, als er in Damaskus in Yefrems Auftrag
ausländische Delinquenten einem Spezialverhör unterzogen hatte. Er hatte
ihre Anwesenheit auf der anderen Seite des Einwegspiegels gespürt. Er
hatte sie gerochen. Denn er besaß einen untrüglichen Instinkt. Und er
ahnte schon damals, dass diese Leute für ihn wichtig waren. Nein, er ahnte
es nicht. Er wusste ja nicht einmal, ob er wirklich beobachtet worden war.
Er fühlte es. Und was er fühlte, entsprach immer der Realität. Deshalb
hatte er sich besonders ins Zeug gelegt.
Diese Leute, vermutlich sogar Yefrems Auftraggeber, sollten mit
eigenen Augen sehen, wozu Tarkan Jafari fähig war! Er hatte alles aus den
Delinquenten herausgepresst. Es hatte zwar einige Stunden gedauert, denn
sie erwiesen sich als zäher als erwartet, und sie hatten es auch nicht
überlebt. Aber was zählte, war das Ergebnis. Und damit war Yefrem
zufrieden gewesen. Und ebenso seine Auftraggeber. Sonst hätte Yefrem ihn
später nicht so außerordentlich gelobt.
Die Erinnerung an das Verhör hob Tarkans Stimmung. Es war
berauschend, mit welchen einfachen Mitteln sich welche unvorstellbaren
Schmerzen erzeugen ließen und selbst die härtesten Kerle
zusammenbrachen. Jedenfalls, wenn sie von einem Tarkan Jafari behandelt
wurden. Er hatte die Todesangst in ihren Augen gesehen. Und das Flehen,
sie zu verschonen. Das hatte ihm den ultimativen Kick gegeben. Und jetzt
durfte er an der größten Mission teilnehmen, die es je gegeben hatte. Ein
gerechter Lohn für seine aufopferungsvolle Arbeit.
Gleich würde Yefrem ihm detailliert schildern, wie er vorzugehen
hatte, welche Waffen ihm zur Verfügung standen, wie viele Leute er
benötigte. Und wie lange seine Mission höchstens dauern durfte.
Spätestens wenn die letzten Wissenschaftler akquiriert waren, sollte er
wieder auf der Insel sein. Dann konnte er ihnen demonstrieren, was
geschah, wenn sie sich weigerten, ihren Job zu machen.
So wie dieser Virologe, Ethan Dearing, der glaubte, sein irdischer
Erfolg, sein Ruhm und sein Geld würden ihm den Weg ins Paradies ebnen.
Doch es hatte ihn nur seinen Kopf gekostet. In Wahrheit war er bis zum
Tag des Jüngsten Gerichts der Peinigung ausgesetzt!
Wenn der Himmel sich spaltet, und wenn die Sterne zerstreut sind,
und wenn die Meere über die Ufer treten, und wenn die Gräber aufgewühlt
werden. Dann wird seine verdammte Seele wissen, was sie getan und was
sie unterlassen hat.
Tarkan beobachtete die Leute vor den Schaufenstern. Einige
betrachteten sehnsüchtig die Auslagen eines Schmuck- und
Uhrengeschäftes, andere kamen mit glückseligen Gesichtern aus dem
Geschäft. Wie Ameisen rannten Menschen hektisch in einen Supermarkt
und kamen mit prall gefüllten Einkaufstüten wieder hinaus. Kinder, die
quengelten und am Ärmel ihrer Mutter zerrten, weil sie irgendetwas
gesehen hatten und es unbedingt haben wollten.
Haben, Haben, Haben. Das war das Einzige, was zählte in dieser dem
Untergang geweihten Gesellschaft. H A B E N, das Credo, das Mantra des
Westens. Schon ihre Bälger kannten nichts anderes.
Er hasste diesen frevelhaften, gottesfeindlichen Lebensstil. Und die
Menschen, die ihn verkörperten, Männer wie Frauen, Kinder wie Alte. Und
sie hielten sich für etwas Besseres? Für die Krone der Schöpfung?
Ausgerechnet sie? Sie waren davon überzeugt, dass ihre Gesellschaft allen
anderen überlegen war, dass sie deshalb die ganze Welt missionieren
mussten und dass sich mit Geld alles kaufen ließ? Die Amerikaner und
Europäer waren die schlimmsten. Was Yefrem gesagt hatte, war
vollkommen richtig. Man musste diese Ungläubigen und ihren Lebensstil
ausrotten wie ein bösartiges Krebsgeschwür.
Tarkan empfand tiefe Zufriedenheit, weil sich die Gläubigen endlich
gegen den Todfeind verbündeten anstatt sich gegenseitig zu bekämpfen.
Endlich hatte eine Organisation das Kommando, die über die notwendigen
Strukturen, das Geld und die relevanten Verbindungen verfügte, um die
islamische Welt zu einigen. Yefrem hatte ihm erklärt, dass die religiösen
Führer der Organisation den Feind an einer Stelle angreifen würden, mit
der er niemals rechnen würde: von innen.
„Allah wird stolz auf dich sein, wenn du deinen Auftrag erfüllt hast,
Tarkan“, hatte Yefrem ihm versprochen. „Dann steht dir der Weg ins
Paradies offen.“
Denn der Tod ist wahrhaftiger als das Leben.
Wenn man die Lasten des Lebens im Sinne Allahs getragen hatte,
glich der Tod einer Reise in die ewige Glückseligkeit. Tarkan hatte zeit
seines Lebens an Allah und seinen Propheten geglaubt und seine Gebete
nach Vorschrift verrichtet. Mit eiserner Disziplin hielt er die Fastenzeit
des Ramadan ein.
Wenn er seinen letzten Auftrag erfüllt hatte, würde Tarkans Seele als
makellos Gläubiger in den Barzach eintreten. Wenn der Engel des Todes an
seinem Kopf stand, würde Tarkan wissen, wohin seine Seele gehen würde.
Denn der Engel würde zu ihm sagen: „Friede sei mit dir, tritt ein ins
Paradies für das, was du getan hast.“ Und die Engel, denen seine Seele
einst begegnen würde, wenn sie mit den zwei Engeln aufstieg, würden
sagen: „Was ist das für eine gute und wohlriechende Seele?“ Und weil
Tarkan ein Mujahid war, ein Heiliger Krieger, der im Dschihad fallen
würde, würde seine Seele von Allah selbst im Al-Firdaus, der höchsten
Stufe des Paradieses, empfangen, direkt unter Allahs Thron. Dort, wo die
Flüsse des Paradieses entsprangen. Und ihm würden zur Belohnung
zweiundsiebzig schwarzäugige Huris mit schwellenden Brüsten
beigegeben, die weder Mensch noch Dschinn zuvor berührte.
Sollte er wider Erwarten überleben, würde Allah ihn sicher und mit
reicher Belohnung nach Hause führen. Doch im Dschihad zu sterben, war
für einen gläubigen Muslim das höchste Ziel.
Denn ein Mann kam zum Propheten Allahs und sagte: „Unterweise
mich hinsichtlich einer Tat, die dem Dschihad in der Belohnung ebenbürtig
ist.“ Und der Prophet antwortete: „Ich finde keine solche Tat.“
Den Ungläubigen jedoch, den Selbstgerechten, Arroganten,
Gottlosen, würde bei ihrem Tod Übel und Schande verheißen: „Heute wird
euch mit der Pein der Schande das vergolten, was ihr an Falschem gegen
Gott gesprochen habt, und weil ihr euch hochmütig von seinen Zeichen
abgewendet habt.“ Mit Gewalt würde der Engel des Todes ihre Seelen aus
ihren Körpern reißen müssen! Und die Engel, denen sie begegneten,
würden sagen: „Was ist das für eine böse Seele?“ Ihnen würde siedendes
Wasser zu trinken gegeben, das ihnen die Eingeweide zerreißt!
Doch noch war es nicht soweit.
Um wie ein normaler Kieler zu wirken, hatte sich Tarkan in einem
Fitnessstudio eingeschrieben. Er hasste diese Art von Sport zwar, sie war
stupide und eintönig, aber förderlich für seine Mission. Was ihn
verzweifeln ließ, waren diese aufgetakelten, selbstverliebten Egomanen,
die ihm jedes Mal über den Weg liefen, egal, zu welcher Zeit er dort war.
Ungeniert stellten sich Möchtemalgern-Rambos mit freiem Oberkörper
vor den Spiegel und spannten ihre Muskeln an, um sich selbst unverhohlen
zu bewundern. Vor den Augen der anderen!
Oder sie stolzierten an den Spiegeln hinter den Geräten entlang und
betrachteten sich selbst mit einem verklärten Gesichtsausdruck. Das war
abartig. Obszön. Und diese kleinen, dummen Gören, die stundenlang an
irgendeinem Gerät saßen und mit ihrem Smartphone herumspielten anstatt
zu trainieren, und die Kraftmaschine damit für andere blockierten.
Und wie sie erst herumliefen! Nicht etwa verschleiert! Nein, in
knappen, engen Höschen und T-Shirts, die obszöner waren, als wenn sie
nackt wären. In seinem Kulturkreis würde sich keine Frau ungestraft so
gebaren!
Siedend heißes Wasser wird ihre Eingeweide zerreißen!
Am schlimmsten aber waren ihre Gespräche. Bewusst hörte Tarkan
ihnen zu, um sich ein ums andere Mal zu bestätigen, wie notwendig seine
Mission war. Diese Menschen tauschten sich nicht aus, sondern
beweihräucherten sich selbst. Jeder stellte sich in den Mittelpunkt, als sei
er der Nabel der Welt. Daraus ergaben sich sinnentleerte und überflüssige
Dialoge.
Wenn der eine erzählte, dass er mit einem neuen Trainingsprogramm
begonnen hatte, fragte der andere nicht nach dem Erfolg, sondern prahlte
damit, dass sein Oberarmumfang aufgrund seines neuen Programms
bereits um einen Zentimeter gewachsen war. Der andere erwiderte, dass
dafür sein neues Programm mehr Kalorien verbrannte als das alte.
Woraufhin der Ein-Zentimeter-Mann entgegnete, dass es auf jeden Fall
sinnvoll war, Eiweiß zu nehmen. Und so ging es immer weiter. Jeder
sprach über sich selbst. Stets am anderen vorbei. Keiner hörte zu. Aber
jeder war froh, weil er glaubte, ihm höre jemand zu.
Diese Menschen interessierten sich nicht füreinander. Jeder wollte
sich nur vor den anderen produzieren, Aufmerksamkeit erzeugen,
Bewunderung erheischen. Ein zusätzlicher Zentimeter Muskelumfang statt
Hirn. Sie drehten sich um sich selbst, benutzten sich gegenseitig als
Publikum. Was für armselige Kreaturen! Welch ehrenvolle Aufgabe, sie
auszulöschen! Sein direkter Weg ins Paradies.
Siedend heißes Wasser wird ihre Eingeweide zerreißen!
Er diente seinem Gott. Allah, der mit seinem Volk eine
Gemeinschaft geschaffen hatte, in der sich jeder für den anderen
interessierte und die nicht aus egozentrischen Zombies bestand.
Und ihre krankhafte Vergnügungssucht! Drei Wochen, nachdem er in
der Stadt an der Förde angekommen war, hatte die Kieler Woche
begonnen, das größte Sommerfest Nordeuropas. Er hatte sich einen Tag
dort aufgehalten. Er wollte die Gier der Menschen auf sich wirken lassen,
um sie noch besser zu verstehen. Es sollte sich zeigen, dass es da nicht viel
zu verstehen gab. Zunächst war er auf den Internationalen Markt auf dem
Rathausplatz gegangen. Eines der Highlights dieser frevelhaften
Gotteslästerung. Unzählige Länder boten ihre „Spezialitäten“ feil. Schon
mittags war es unerträglich voll gewesen. Die Vergnügungssucht dieser
gottlosen Menschen war schier grenzenlos. Sie stopften alles Mögliche in
sich hinein als gäbe es kein morgen.
Und dann hatte er den Stand gesehen, der sein Land repräsentierte.
Tarkans Land. Hinter dem Tresen standen seine Landsleute! Es war
unfassbar, wie sie sich anbiederten, damit die Leute den Fraß kauften, der
alles sein mochte, nur gewiss keine Spezialität seines Landes. Seine
eigenen Landsmänner verrieten ihr Volk und ihren Glauben für eine
Handvoll Euro. Am liebsten hätte Tarkan sie über den Tresen gezogen und
ihnen vor den Augen aller die Kehlen durchgeschnitten, um sie ausbluten
zu lassen. Damit jeder sah, was mit denen geschah, die ihr Land und ihren
Glauben verrieten. Ihre Seelen würden dort enden, wo die Seelen aller
Ungläubigen endeten: in der Hölle!
Süchtige der Lust und des Fleisches! Nicht genug, dass sie jeden
Stand leerfraßen. Nein, wenn sie satt waren, wenn ihre Gier größer war als
ihr Hunger, schmissen sie das halbe Essen einfach weg! In den Mülleimer!
Lebensmittel, die Leben erhielten. Genug, um sein Volk ein Jahr zu
ernähren. Was ging in den Köpfen dieser Gottlosen vor sich? Ging dort
überhaupt etwas vor sich? In Gedanken hatte sich Tarkan auf diesem
Markt der Gottlosigkeiten baden sehen. Im Blut der Verdammten!
Siedend heißes Wasser wird ihre Eingeweide zerreißen!
Er war rasch weitergegangen, um sich dieses Elend nicht länger
ansehen zu müssen, in dem Wissen, dass die Zeit der Rache gekommen
war. Zum Abschluss seiner Erkundungstour war er über die Kiellinie
gebummelt, wo sich Bude an Bude und Kleinkünstler an Kleinkünstler
reihte. Wobei er nur selten so etwas wie Kunst hatte ausmachen können.
Zu Hunderten standen die Menschen zusammengepfercht in Schlangen,
um zu horrenden Preisen irgendein fades Fischbrötchen oder ein Bier zu
ergattern. Obwohl erst früher Abend, lagen schon unzählige Besoffene in
den Wiesen.
Am schlimmsten war es in diesem Bayernzelt gewesen, in dem es
offensichtlich nur darum ging, möglichst schnell betrunken zu sein und
aus dem grässliche Musik in unerträglicher Lautstärke dröhnte. Was für
eine heldenhafte Großtat hätten ein paar seiner Brüder mit ein wenig
Sprengstoff dort vollbringen können!
Vor einer Bude, an der es ungesundes, fettes Essen gab, hatte Tarkan
beobachtet, wie sich ein Junge, acht oder neun Jahre alt, lautstark bei
seinem Vater beschwerte, weil seine Currywurst zu scharf war. Als der ihm
erklärte, dass eine Currywurst nun einmal scharf sei und er sie jetzt essen
müsse, war der Junge in Tränen ausgebrochen. Keine Tränen der
Enttäuschung, sondern Tränen der Wut, weil er seinen Willen nicht
bekommen hatte. Das war abstoßend. In Tarkans Heimat, in der man den
Wert des Essens schätzte, waren Gier und Undankbarkeit verboten und
wurden hart bestraft. Schon nach dem ersten Tag in dieser Stadt war
Tarkans Drang, die Welt der Ungläubigen zu vernichten, ins
Unermessliche gestiegen.
Langsam schlenderte er die Holtenauer Straße bergan. Hin und
wieder blieb auch er vor einem der unzähligen Schaufenster stehen und
betrachtete die Auslagen. Nicht, weil ihn irgendetwas von diesem
nutzlosen Zeug interessierte, sondern weil er den Anschein erwecken
wollte, als wäre er einer von ihnen.
Dabei war er eines ganz gewiss nicht: einer von ihnen!
Er nahm weder die schicken Uhren wahr noch ihre astronomischen
Preise. Er sah durch den ganzen Laden hindurch ins Nichts. Er sah mit
seinem inneren Auge. Er sah sich selbst, wie er mit Handgranaten und
einer Maschinenpistole durch diese Straße der Gottlosigkeit zog und um
sich schoss, um die irdische Welt zu reinigen und auf den Tag des Jüngsten
Gerichts vorzubereiten. Das waren seine Gedanken, seine Bilder. Und doch
wusste niemand von den Ungläubigen, was im Kopf des hünenhaften
Mannes vor sich ging, der in diesem Augenblick vor dem
Schmuckgeschäft stand. In gewisser Weise verlieh ihm das ein Gefühl von
Macht. Ein gutes Gefühl.
Mit hinter dem Rücken verschränkten Armen ging Tarkan weiter.
Noch eine Viertelstunde, dann saß er mit Yefrem zusammen, um neue
Instruktionen zu erhalten. Er kannte weder das exakte geographische Ziel
seiner Reise noch die Ausrüstung, die ihm zur Verfügung stand. Nur eines
wusste er schon jetzt: In dem Augenblick, in dem er das Schiff bestieg,
nahm das Schicksal der Welt seinen Lauf.
Eines störte ihn jedoch: dass dieser arrogante James Perkins dabei
war. Und das auch noch als Projektleiter. Er war Tarkan gegenüber
weisungsbefugt. Ausgerechnet dieser aufgeblasene Virologe. Vor Männern,
die sich ihre Augenbrauen zupften, deren Zähne weißer waren als der
Schnee in den Bergen, die sich wie Gockel gebärdeten, hatte er keinen
Respekt. Wenigstens war Coleman mit von der Partie. Der würde diesem
Frevler schon auf die Finger schauen.
Endlich hatte Tarkan sein Ziel erreicht. Wie vereinbart, betrat er das
schmucklose Gebäude, ohne zu klingeln oder anzuklopfen.

***

Tarkan war gut gelaunt. Was ihm Yefrem mitgeteilt hatte, hob seine
Stimmung nachhaltig. Ganz besonders freute ihn, dass nicht Perkins
Projektleiter war, sondern Coleman. Weil bei allen Projekten ein Mitglied
der Stiftung Projektleiter sein musste. Damit war der Gottlose ihm
gegenüber nur bei Fragen rund um Viren weisungsbefugt. Mit Glück
erwies sich Perkins als Feigling oder noch besser als Verräter. Denn die
Stiftung hatte klare Regeln, was unter Verrat zu verstehen war. Und ebenso
klare Regeln, wie Verrat zu bestrafen war. Diese Regeln waren nirgendwo
niedergeschrieben. Tarkan hatte sie im Kopf.
Yefrem hatte Tarkan auch über die Ausrüstung und den Zeitplan
informiert. Und betont, dass auf Tarkan noch weitere anspruchsvolle
Aufgaben zukamen. Tarkans Boot lag in Eckernförde. Es hieß FS PLANET.
Ein Forschungsschiff der Marine. Ein komplett ausgestattetes
Doppelrumpfschiff mit der modernsten Technik. Es war nicht für Fahrten
durch meterdickes Eis ausgelegt, aber da die Arktis im Sommer
inzwischen nahezu eisfrei war, waren von dieser Seite keine Probleme zu
erwarten. Damit konnte Tarkan den Auftrag in Sibirien fehlerfrei
erledigen.
Und das ganz offiziell! Das hatten Yefrem und Wagner sauber
eingefädelt. Mit diesem Schiff würden sie keinen Verdacht erregen. Und
die PLANET verfügte über wegweisende, technische Neuerungen. Dank
Flossenstabilisatoren konnte sie selbst bei stürmischer See fast
vibrationsfrei fahren. Damit waren auch unter widrigsten Bedingungen
exakte Messungen und Ergebnisse möglich. Das entlastete Tarkan
erheblich. Er musste sich weder um die Ausrüstung kümmern, von der er
nicht die geringste Ahnung hatte, noch um Alternativstrategien bei
anhaltend schlechtem Wetter. Ihm stand ein einsatzbereites Schiff zur
Verfügung. Einschließlich Besatzung, die keine Vorstellung hatte, was der
eigentliche Zweck dieser Forschungsreise war. Brav würden sie im Eis
bohren, in dem Glauben, das Klima zu erforschen und zu untersuchen, was
sich alles im auftauenden Eis der Permafrostböden tummelte.
Gut gelaunt entschied sich Tarkan, noch ein wenig spazieren zu
gehen, bevor er in seine Wohnung zurückkehrte. Analyse des Feindes.
Studium seiner Gewohnheiten. Allerdings war auf den Straßen um diese
Uhrzeit, es ging schon auf Mitternacht zu, nicht mehr viel los. Doch
gerade als er umkehren wollte, kamen drei Jugendliche um die Ecke, keine
zehn Meter entfernt. Ihrem Torkeln nach zu urteilen, waren sie betrunken.
Und das in der Öffentlichkeit! Widerwärtig. So etwas duldete ihr Gott?
Das erklärte so manches. Um seinen aufkeimenden Zorn zu ersticken,
beachtete er die drei nicht weiter, sondern setzte seinen Weg fort.
In diesem Augenblick ertönte hinter ihm eine Stimme. Laut,
aggressiv, dümmlich und etwas lallend. „Bleib stehen, mieses
Terroristenschwein! Wir wollen dir in die Fresse hauen!“
Tarkan hielt abrupt inne. Was hatte dieses Tier gesagt? Er hörte ihre
Schritte näherkommen. Aber er drehte sich nicht um. Sie durften sein
Gesicht nicht sehen. Seine Muskeln spannten sich an.
Wieder hörte er eine Stimme. Eine andere Stimme. Höher, fast
schrill. „Was machst du um diese Zeit auf der Straße, Kanake? Willst wohl
irgendwo eine Bombe zünden, was? Im Auftrag deines dreckigen Allah
oder wie dein Scheiß Gott heißt!“
Tarkan rührte sich nicht. Sie mochten noch fünf Meter hinter ihm
sein. Dreckiger Allah. Kanake. Scheiß Gott! Eine Bombe zünden. Zu
gerne, direkt in deinem widerlichen stinkenden Arsch. Nicht so
schüchtern, kommt ruhig näher, dachte Tarkan.
„Dreh dich rum. Wir wollen deine Visage sehen, Ölauge. Mach
schon, sonst polieren wir dir erst recht die Fresse!“
Eine Hand legte sich unsanft auf seine Schulter und versuchte, ihn
umzudrehen. Viel zu schwächlich. Der Hass erreichte in Tarkans Herz den
Maximallevel. Er war bereit für ein Massaker historischen Ausmaßes. Die
Eingeweide der Gottlosen zuckend mitten auf dieser Straße...
„Was ist jetzt, Kanake? Rumdrehen, habe ich gesagt! Drecks Visage
zeigen! Wir wissen auch so, dass du potthässlich bist. Das seid ihr alle,
Scheiß Islamistenpack!“
Tarkan hatte seine Umgebung gescannt, während sich das
Schlachtvieh in todbringenden Beleidigungen erging. Schräg vor ihm ging
eine kleine Straße ab, die im hinteren Teil anscheinend unbeleuchtet war.
Siedend heißes Wasser wird ihre Eingeweide zerreißen!
Er vergewisserte sich, dass kein Auto kam oder in der Nähe war,
ebenso keine Passanten. Dann riss er sich mit einem energischen Schütteln
los und lief in die Straße hinein. Nicht zu schnell, damit die Todgeweihten
ihm folgen konnten. Denn schnell waren sie wahrlich nicht.
Was für ein Glück! Nach hundert Metern endete die
Straßenbeleuchtung. Dahinter öffnete sich ein Feld. Vielleicht ein
Sportplatz. Auch dort keine Beleuchtung. Perfekt. Allah hatte ihn hierhin
geführt, um seinen beschmutzten Namen zu reinigen!
Tarkan lief bis zu einem Zaun, der den Sportplatz begrenzte. Er hatte
darauf geachtet, sein Tempo so weit zu drosseln, dass seine Verfolger
aufholen konnten. Er ließ den Kopf auf die Brust sinken und hob die Hand
nach hinten. Ich bin erschöpft, signalisierte er den hirnlosen Viechern.
Dann standen sie im Dunklen um ihn herum. Der mit der quäkenden
Stimme schien ihr Anführer zu sein, denn er weihte Tarkan in ihre Pläne
ein: „Warum bist du geflohen, Araberschwein? Hast wohl was zu
verbergen. Bist einer von der GESA, hm? Jetzt gibt es richtig in die
Fresse, du miese Kanakensau. Terroristendreck! Bist mit den Flüchtlingen
gekommen, was? Willst unsere Frauen vergewaltigen, stimmt’s? Aber
nicht mit uns! Wenn wir mit dir fertig sind, zündest du keine Bombe mehr!
Verpiss dich dahin, wo du hergekommen bist! Geh zu deinem Scheiß Allah
zurück! Aber dazu kommst du Sau gar nicht mehr!“
Tarkan holte nur einmal tief Luft. Es war stockfinster. Wenn sie sein
Gesicht nicht länger als eine Zehntelsekunde sahen, konnten sie ihn bei
einer Gegenüberstellung nicht wiedererkennen. Dazu kam ihr
Alkoholrausch, der zehn Meilen gegen den Wind stank und jede
Erinnerung in ihrem Spatzenhirn in einem dichten Nebel verschwinden
ließ.
Tarkan zögerte keine Sekunde. Er war ein Krieger! Ein Heiliger
Krieger! Ein Gesandter Allahs! Allah, der ihm im Kampf gegen
Gotteslästerer übermenschliche Kräfte verlieh.
Tarkan packte aus einer schnellen Drehung heraus den Arm des
quäkenden Waschweibes und riss ihn mit einem Ruck brutal hinter den
Rücken, gegen die normale Bewegungsrichtung. Mit großem Genuss
vernahm Tarkan das laute Krachen, als der Arm des Frevlers aus dem
Schultergelenk sprang und er vor Schmerz und Überraschung laut
aufschrie. Auf diesen Arm würde das Schlachtvieh in nächster Zeit
verzichten müssen. Und wenn er geheilt war, folgte Allahs ultimativer
Schlag...
Tarkan drehte sich um die eigene Achse, packte den Kopf des
Zweiten, riss ihn nach unten und schlug die Nase des Gottlosen auf sein
Knie. Die Nase brach mit einem geräuschvollen Knacken. Auch der
Schmerzensschrei dieses Schweins zeigte ihm, dass er seine Reflexe
beherrschte.
Schließlich war der Dritte an der Reihe. Genauso widerwärtig aus
dem Mund stinkend wie die anderen. Ihm rammte er zunächst den
Ellenbogen mit waagerecht angewinkeltem Unterarm in die Magengrube,
damit er in die Knie ging. Sonst bestand die Gefahr eines zu langen
Blickkontaktes. Dann holte er zu einem satten Schwinger aus und ließ
seine Faust auf das Nasenbein seines Opfers krachen, das ebenfalls brach.
Seitwärts, nicht von unten, sonst konnten Knochensplitter in das
Spatzenhirn eindringen, seine wenigen Funktionen lahmlegen und es töten.
Das musste er leider vermeiden. Die drei Viecher lagen wimmernd am
Boden.
Tarkans Angriff hatte keine Minute gedauert. Es kostete ihn eine
schier übermenschliche Überwindung, an dieser Stelle aufzuhören. Nichts
würde ihm mehr Genugtuung bereiten, als sein göttliches Werk zu
vollenden und die Welt von diesem Dreck zu befreien. Ein Schritt auf dem
Weg ins Paradies und zu einem Gottesstaat. Doch sein Auftrag war
eindeutig. Keinerlei Auffälligkeiten. Keine Provokationen. Denn die
Rache folgt später...
Tarkan war sich aber sicher, dass auch diese kleine, unbedeutende
Lektion ihre Wirkung nicht verfehlt hatte. Beim nächsten Mal würde
dieser Abschaum keinen seiner Brüder mehr beleidigen oder bedrohen. Sie
hatten begriffen, wie mächtig Allah ist. Trotz ihrer Dummheit, die weit
unter dem stand, was für die unterste Stufe Mensch noch soeben zulässig
war.
Als sich das erste Vieh aufrappelte und die Polizei anrief, hatte
Tarkan längst die Hauptstraße erreicht, die er gemächlich entlang
schlenderte, als wäre nichts geschehen. Während Martinshörner die Stille
der Nacht zerschnitten, betrat er seine Wohnung mit einem ausgesprochen
guten Gefühl.
Kapitel 18
Damaskus, wenige Tage später
Fatima al Shaar konnte es kaum erwarten, nach Hause zu kommen. Sie
wollte endlich den Schleier ablegen, denn seit Wochen lag eine
Hitzeglocke über der Stadt, mit Temperaturen über vierzig Grad. Ihre
Kinder gingen auf eine französische Privatschule. Jeden Tag brachte
Fatima sie dorthin und holte sie wieder ab. Denn auf den Straßen tobte der
Krieg zwischen Regierungstruppen und Rebellen. Die Gefechte waren
seitens des Assad-Regimes forciert worden, nachdem bei einem
Selbstmordattentat drei Regierungsmitglieder ums Leben gekommen
waren, unter ihnen Verteidigungsminister Daud Radschha und Assads
Schwager Assef Schaukat.
Fatima brachte die Kinder zur Schule, wenn Bassam, ihr Mann, das
Haus verlassen hatte. Sein Büro lag in al-Merjeh. Wenn Bassam flexibler
wäre, hätten sie Damaskus und Syrien längst verlassen. Denn in den
umkämpften Bezirken war es lebensgefährlich, das Haus zu verlassen.
Hamsterkäufe waren an der Tagesordnung. Auch Fatima hatte die
Vorratskammer bis obenhin gefüllt.
Fatimas Familie lebte seit der Hochzeit in Bassams großem Zwei-
Generationen-Haus am Rand der Altstadt unweit der Umayyaden-
Moschee. Durch die Wirren des Bürgerkriegs hatte es erheblich an Wert
verloren. Ein weiterer Grund, nicht umzuziehen. Der Verlust wäre nicht
akzeptabel, auch wenn die Gefahr bestand, dass das Haus durch eine
Granate beschädigt und noch wertloser wurde.
Fatima schlängelte sich mit ihren beiden Kindern, jedes an einer
Hand, durch die schmalen Gassen der Altstadt, die heute trotz der
Gefechte überraschend gut frequentiert waren. Früher hatte sie es geliebt,
durch die schmalen Passagen zu bummeln und an den Marktständen zu
feilschen. Heute fühlte sie sich eingeengt, ohne Fluchtmöglichkeit, wenn
plötzlich Schüsse fielen.
Endlich tauchte Bassams Haus vor ihr auf, in dem schon seine
Großeltern gelebt hatten und dessen straßenseitiges Küchenfenster
kürzlich von einer Maschinengewehrsalve getroffen wurde. Zum Glück
hatte sich niemand dort aufgehalten. Es waren nur Scherben zu beseitigen.
Bassam arbeitete beim syrischen Geheimdienst, dem Idarat al-Amn
al-Amm. Er sprach mit Fatima niemals über seinen Beruf. Sie durfte auch
mit niemandem darüber reden. Sie wusste deshalb nicht, ob Bassam
Büroangestellter oder aktiver Agent war. Letzteres würde seine
zahlreichen Reisen ins Ausland erklären. Und wenn er nur im Innendienst
tätig wäre, könnte er sich in der Türkei eine neue Arbeit suchen.
Wahrscheinlich war er ein Spion. Dann kamen sie niemals aus Syrien raus.
Fatima hatte im Rahmen offizieller Anlässe einige Leute aus
Bassams Umfeld kennengelernt. Seinen Chef, einige Minister, grimmig
dreinblickende Bodyguards. Fatima durfte Hände schütteln, sich
Komplimente anhören, nett lächeln. Aber sie erfuhr niemals, worum es bei
einem Treffen ging. Aber das war ihr egal. Viel mehr Sorge bereitete ihr
die Frage, ob Bassams Beruf Gefahren für ihre Kinder mit sich brachte.
Fatima drehte den Schlüssel im Schloss herum. Mit einem Knarren
öffnete sich die schwere Tür. Angenehm kühle Luft schlug ihr entgegen.
Sie betrat die Diele, von der drei Räume abgingen: die Essküche, das
Wohnzimmer und Bassams Arbeitszimmer. Die Schlafräume und das Bad
befanden sich im oberen Stockwerk. Eine weitere Tür in der Diele führte
in die Einliegerwohnung, in der Bassams Eltern wohnten. Weil es Bassmas
Mutter seit einiger Zeit nicht mehr gut ging, er aber kaum Zeit hatte, sich
um sie zu kümmern, verbrachten seine Eltern jedoch inzwischen die
meiste Zeit bei Bassams widerlichem Bruder Sinan in Al-Harah.
Einerseits empfand Fatima das als befreiend. Sie verstand sich nicht
gut mit Bassams Vater, der seine Frau schlug. Andererseits fühlte sie sich
allein mit den Kindern in einem so großen Haus manchmal unwohl. Sie
war von einer drückenden Stille umgeben, die in ihr ein unterschwelliges
Gefühl von Furcht erzeugte. Das hatte sie Bassam auch gestanden und
vorgeschlagen, die Wohnung unterzuvermieten, aber er hatte sie nur
ausgelacht. Vom Verstand her wusste sie, dass er recht hatte. Was sollte
ihr, außer den Gefahren des Bürgerkriegs, hier, am Rand der belebten
Altstadt, schon passieren? Aber gegen solche Gefühle kam man nicht an.
Fatima bedeutete den Kindern, in die Küche zu gehen. Essenszeit.
Heute gab es Bamya mit Reis und Lammfleisch. Während sie die Stiele
der Okraschoten abschälte, erinnerte sie sich an die letzte Begegnung mit
Yefrem abu Tarik, Bassams Chef. Sie waren bei ihm und seiner Frau zum
Essen eingeladen. Yefrem war ein finsterer, bulliger Typ, mit eng
beieinander liegenden, dunklen Augen und buschigen schwarzen
Augenbrauen. Fatima hatte sich anfangs vor ihm gefürchtet. Aber bei den
wenigen Anlässen, bei denen sie ihm begegnete, offenbarte er einen
gewissen Charme, der in einem krassen Gegensatz zu seinem Äußeren
stand.
Vielleicht ist er gar nicht so übel, hatte Fatima irgendwann gedacht.
Aber beim letzten Mal war er ihr verändert vorgekommen. Stiller. Nicht
abwesend. Eher beobachtend. Etwas Lauerndes lag in seinem Blick. Eine
merkwürdige Kälte ging von ihm aus. Bassam schien das nicht
aufzufallen. Er hatte munter mit Yefrems Frau geplaudert. Bis sich Yefrem
mit ihm in sein Arbeitszimmer zurückzog. Danach wirkte auch Bassam
bedrückt. Zwischen den Paaren entstand ein unangenehmes Schweigen.
Fatima schnitt das Fleisch in kleine Stücke, erhitzte die Butter und
briet das Lamm von beiden Seiten scharf mit dem Knoblauch und dem
Koriander an. Ihr Blick traf den ihres Sohnes, der ihr die ganze Zeit
neugierig zugeschaut hatte.
„Hol deine Schwester und deckt schon mal den Tisch! Und dann geht
auf eure Zimmer. Ich rufe euch, wenn das Essen fertig ist.“
Später, auf dem Heimweg, hatte Fatima Bassam auf seinen
Stimmungsumschwung und Yefrems merkwürdiges Verhalten
angesprochen. Aber Bassam war nicht darauf eingegangen. Doch Fatima
hatte gespürt, dass etwas nicht stimmte. Bassam wirkte nervös. Fahrig.
Hörte ihr nicht zu, musste mehrfach nachfragen, was sie gesagt hatte. Er
war nicht so souverän wie sonst.
Ein paar Tage später hatte sie dann den Stick in Bassams Laptop
entdeckt. Sie hatte sein Büro sauber gemacht. Und dabei war ihr Blick auf
den Laptop gefallen, der auf dem Schreibtisch stand und sich im Standby-
Modus befand. Mit dem Stick in einem der USB-Ports. Normalerweise
war das durch ein Passwort geschützte Gerät ausgeschaltet, wenn Bassam
das Haus verließ. Dass er vergaß, den Rechner herunterzufahren, wertete
sie als weiteren Beleg für seine Zerstreutheit. Und als gute Gelegenheit,
den Dingen auf den Grund zu gehen. Sie wusste, dass sie nichts an
Bassams Rechner verloren hatte. Aber die Versuchung war zu groß
gewesen.
Fatima gab die passierten Tomaten und das Wasser in die Pfanne. Sie
streute Salz und Pfeffer dazu. Aus der Pfanne stieg ein köstlicher Duft auf,
der ihr das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ. Sie liebte Bamya mit
Lamm. Noch lieber mochte sie allerdings Kabsah bil Lahm. Aber ihr Sohn
mochte weder Cashewkerne noch Mandeln und noch weniger Rosinen. Er
mochte überhaupt keine Nüsse. Deshalb gab es Kabsah nur, wenn sie allein
für Bassam und sich kochte. Weil sie gerne kochte und ihr Mann ihre
Kochkünste zu schätzen wusste, zauberte sie dann oft ein Menü mit
mehreren Gängen. Sie liebte Maamoul bil Tamr als Dessert, er Mhamra als
Vorspeise.
Um ungestört stöbern zu können, hatte sie die Kinder in ihre Zimmer
geschickt. Dann hatte sie den Stick geöffnet. Darauf befand sich
Schriftwechsel mit ausländischen Geheimdiensten. Den Inhalt konnte sie
nur ansatzweise erfassen, denn sie waren in Englisch verfasst. Mehrfach
tauchte aber der Name Yefrem abu Tarik auf. Das hatte sie irritiert. Was
hatte Bassam mit einem Stick zu schaffen, auf dem es um ausländische
Geheimdienste und seinen Chef ging?
Fatima setzte den Reis auf und ließ das Essen vor sich hin köcheln.
In einer halben Stunde konnte sie die Teller füllen. Sie kochte sich einen
Tee, gab reichlich Zucker dazu und setzte sich an den Küchentisch. Auf
den Stuhl, der am weitesten vom Fenster entfernt war.
Neben den ominösen Schreiben hatte sie auch merkwürdige
Zahlenreihen gefunden. Es schien sich um recht beachtliche
Überweisungen zu handeln. Aber wofür? Von wem und an wen? Was
hatten westliche, also feindliche Geheimdienste, damit zu tun? Und was
hatte Bassam damit zu tun? Oder Yefrem? Sie konnte sich keinen Reim
darauf machen. Aber es beunruhigte sie. Wäre nicht dieses merkwürdige
Essen bei Bassams Chef gewesen, hätte sie sich keine Gedanken gemacht.
Sie wäre gar nicht erst an Bassams Laptop gegangen. Wenn sie dumme
Gans es dann wenigstens dabei belassen hätte!
Sie stand auf, ging zum Herd, rührte den Reis um, damit er nicht
anbrannte. Dann setzte sie sich wieder und nippte gedankenverloren an
ihrem Tee.
Wieder ein paar Tage später, sie hatte den Stick schon fast vergessen,
begegnete sie auf dem Markt Yefrems Frau. Sie hätte einfach nur Selam
Aleykum sagen und weiter ihre Einkäufe tätigen müssen. Aber nein, sie
musste das Gespräch ja auf diesen Stick lenken. Wenn auch indirekt.
Indem sie Yefrems Frau fragte, ob der syrische Geheimdienst Beziehungen
zu anderen Geheimdiensten unterhielt. Und ob es so etwas wie
wechselseitige Geschäfte gab.
Dass das ein Fehler war, wusste sie in dem Augenblick, als Yefrems
Frau sie kühl anschaute und sagte, dass ihr Mann nicht mit ihr über seine
Geschäfte spreche und sie das auch nichts anging. Dann hatte sie sich
umgedreht und war gegangen. Fatima hatte gespürt, wie sie vor Scham rot
anlief. Zugleich überkam sie die bange Ahnung, dass ihre dummen Fragen
Konsequenzen haben könnten.
Aber, Allah sei Dank, es war nichts geschehen. Bassam war wieder
der Alte. Er hatte auch keinen Verdacht wegen seines Laptops geäußert.
Und Yefrem sprudelte wieder vor Charme. Sogar ihre superkritische
Schwester, Alima, und ihre Cousine Sahar, die einzigen Menschen, denen
sie sich anvertraut hatte, waren der Meinung, dass dieser Stick nichts zu
bedeuten hatte. Wahrscheinlich hatte Yefrems Frau nur gedacht, dass
Fatima ziemlich neugierig war und das längst wieder vergessen.
Sie schmeckte das Lamm ab, es war perfekt auf den Punkt gebraten,
und füllte die Teller. Während sie aßen, beobachtete sie ihre Kinder. Sie
waren gut geraten. Gehorsam, gute Manieren, gut in der Schule. Und das,
obwohl sie ständig mit der Angst vor dem Krieg leben mussten. Umso
mehr hatten sie sich das nächste Wochenende verdient.
Auch Fatima freute sich darauf. Wann immer es Bassams
Terminkalender zuließ, flohen sie vor dem Lärm, der Hektik und den
allgegenwärtigen Gefahren der Stadt. Meistens in die Ghouta-Oase südlich
von Damaskus. Wo früher Obstplantagen und Olivenhaine wuchsen, ragte
heute eine grelle und bunte Vergnügungsstadt in den Himmel.
Hauptattraktion war das Bawabe Dimashq, das Platz für siebenhundert
Gäste bot und damit das größte Restaurant der Welt war.
Sechshundert Kellner kümmerten sich um das leibliche Wohl der
Gäste. Vor einiger Zeit hatte der Oberkellner, ein Freund ihres Mannes,
lachend erzählt, dass er zwanzig Minuten brauchte, um einmal quer durch
das Restaurant zu gehen.
Ins Bawabe Dimashq wollten sie auch am Wochenende wieder. Nicht
wegen der Küche, die gut, aber nicht spektakulär war, sondern wegen der
einzigartigen Atmosphäre. Mit den vielen Wasserspielen, schmucken
Passagen, Palmenalleen und Nachbauten berühmter Denkmäler fühlte man
sich in eine andere Welt versetzt. Vor dem Eingang des zweiunddreißig-
Millionen Dollar-Projektes hatte der Investor eine Replik des
Triumphtores von Palmyra errichten lassen.
Diese Ausflüge machten auch den Kindern Spaß. Am Wochenende
waren sie mit Sahar und ihrer Familie verabredet. Harun, Sahars Mann,
war intelligent und sympathisch. Internist in Damaskus mit eigener Praxis.
Attraktiv, sanftmütig und ehrlich. Fatima mochte ihn sehr.
In besonders schöner Erinnerung hatte sie die Woche im
vergangenen Mai, als sie nach Wien geflogen waren. Ganz spontan, weil
Wien so eine wunderschöne Stadt war. Mit einer traumhaften Umgebung
und köstlichen Kaffeespezialitäten. Am beeindruckendsten hatten sie und
Bassam das Riesenrad im Prater gefunden. Während die Kinder nach einer
Runde genug hatten, waren sie noch fünfmal mitgefahren. Danach hatten
sie lachend beschlossen, dass das Riesenrad das Symbol ihrer Liebe war.
Ein ewiger Kreislauf. Ein ewiges Auf und Ab.
Während die Kinder den Tisch abräumten, bereitete Fatima einen
Qahwa zu. Dann schickte sie sie wieder in ihre Zimmer, in denen die
Vorhänge zugezogen waren. Sie setzte sich an den Esstisch. Bevor sie sich
um den Abwasch kümmerte, wollte sie zunächst in Ruhe ihren Kaffee
trinken. Ihr tägliches Ritual.
Als sie den letzten Schluck nahm, klingelte es an der Haustür. Wer
mochte das sein? Sie erwartete keinen Besuch. Wieder klingelte es.
Vielleicht Alima und Sahar? Die beiden kamen gerne spontan vorbei,
um einen Kaffee zu trinken und zu plaudern. Fatima stellte Tasse und
Untertasse zu dem Essgeschirr in die Spüle und ging zur Haustür. Sie
blickte durch den Spion. Nicht Alima und Sahar. Sondern Yefrem. Mit
zwei Männer, die Fatima nicht kannte. Sie sahen aus wie Europäer. Oder
Amerikaner.
„Bassam ist nicht hier“, sagte sie durch die geschlossene Tür.
„Ich weiß“, erwiderte Yefrem mit seiner tiefen Stimme, „der ist im
Büro. Wir wollen zu dir, Fatima. Wir haben ein paar Fragen. Machst du
bitte auf?“
„Worum geht es denn?“, fragte sie verunsichert. Sie konnte sich
nicht vorstellen, was Bassams Chef von ihr wollen könnte. Ging es um ihr
Gespräch mit seiner Frau auf dem Markt? Aber dann hätte Bassam sie
doch schon viel früher darauf angesprochen.
„Fatima“, sagte Yefrem, jetzt ungeduldiger, „es geht nur um ein paar
Informationen. Aber nicht durch eine geschlossene Tür. Mach bitte auf!“
Von Yefrems harten Tonfall verunsichert, öffnete sie.
„Danke“, sagte Yefrem und betrat die Diele, gefolgt von den beiden
Männern, die Fatima mit einem Nicken begrüßten. Sie führte sie nicht in
die Essküche, sondern ins Wohnzimmer. Sie wollte nicht, dass Bassams
Chef die Unordnung sah. Sie bot ihnen Kaffee an, aber sie lehnten ab.
Erwartungsvoll, aber auch mit einem mulmigen Gefühl, sah sie Yefrem in
die Augen. Der erwiderte ihren Blick und begann zu sprechen.
„Fatima, neulich hat mir meine Frau erzählt, dass ihr euch auf dem
Markt getroffen und unterhalten habt. Stimmt das?“
Ein Stich durchfuhr Fatima. Also doch! Als hätte sie es geahnt. Seine
Frau hatte es ihm sehr wohl erzählt. Der ärgerte sich nun über Fatima und
würde ihr gleich eine Moralpredigt halten. Die beiden Männer waren
wahrscheinlich Mitarbeiter der Behörde und sollten als Zeugen fungieren.
Das verhieß Ärger. Hätte sie doch bloß die Klappe gehalten! Aber sie
wusste, dass sie es nicht besser verdient hatte. Sie bestätigte, Yefrems Frau
getroffen und mit ihr gesprochen zu haben.
„Gut“, sagte Yefrem mit einem gütigen Lächeln um die
Augenwinkel. „Ich kann mir nämlich nicht vorstellen, dass meine Frau
mich anlügen würde. Du hast ihr merkwürdige Fragen gestellt. Ob wir mit
ausländischen Geheimdiensten kooperieren und wechselseitige
Geschäftsbeziehungen unterhalten. Was auch immer darunter zu verstehen
ist. Ist auch das korrekt?“
Was sie geahnt hatte, wurde Gewissheit. Sie hatte einen Fehler
gemacht. Sie hatte Angst vor Yefrem. Weniger wegen dem, was er sagte,
sondern wie er es sagte. Und Yefrems Begleiter, die noch kein Wort gesagt
hatten, schienen sie mit ihren Blicken zu durchbohren. Fatima stammelte,
stotterte, gab zu, diese Fragen gestellt zu haben.
„Warum, Fatima? Warum hast du meiner Frau diese Fragen
gestellt?“
Verschämt blickte sie zu Boden. Sie fragte sich, ob Yefrem Bassam
davon erzählt hatte. Aber warum hatte der sie dann nicht darauf
angesprochen? Yefrem konnte sie schlecht danach fragen. Sie wiederholte
wortgetreu das, was sie zu Yefrems Frau gesagt hatte.
Yefrem nickte. „Ich verstehe. Du warst also nur neugierig? Wolltest
wissen, was genau dein Mann beim Geheimdienst macht?“
Fatima nickte. Yefrems Stimme klang wieder viel ruhiger.
Wahrscheinlich war er erleichtert, dass nicht mehr hinter den Fragen der
Frau eines seiner Mitarbeiter steckte.
„Ja“, murmelte er, „das ist nachvollziehbar. Weißt du, was mein
Problem ist, Fatima?“
Sie schüttelte den Kopf.
„Dass ich dir nicht glaube. Ich kann dir nicht glauben, so gerne ich
es auch täte.“
Ein kurzes Lächeln zuckte um den Mundwinkel eines der Begleiter.
Fatima überkam Furcht. „Aber ich habe die Wahrheit gesagt! Ganz
bestimmt!“
Yefrem stieß schnaubend die Luft durch die Nasenflügel aus. Er
stand auf und durchquerte den Raum mit hinter dem Rücken verschränkten
Händen, ließ den Blick in alle Richtungen schweifen. Dann setzte er sich
wieder.
„Wie gesagt, Fatima. Ich würde dir gerne glauben. Aber ich kann es
nicht. Ich darf es auch gar nicht! Wir sind ein Geheimdienst! Verstehst du
das?“
Doch Fatima verstand gar nichts. Sie wusste nur, dass sie einen
Fehler gemacht und deshalb jetzt Angst hatte.
„Was hat dich zu deinen Fragen bewogen, Fatima? Von alleine bist
du bestimmt nicht darauf gekommen. Was hast du gesehen? Oder gehört?
Du solltest es mir erzählen. Wenn ich weiß, was geschehen ist, sind wir
nämlich ganz schnell wieder weg.“
Was sollte sie nur tun? Wenn sie behauptete, von selbst darauf
gekommen zu sein, würde er ihr nicht glauben. Aber wenn sie die
Wahrheit sagte? Andererseits, was sollte daran so schlimm sein?
Immerhin hatte ihr Mann den Stick doch selbst mit nach Hause gebracht.
Er war nicht durch ein Passwort geschützt. Und waren geheime
Informationen nicht immer durch Passwörter geschützt? Sie berichtete
also von dem Stick, was sie darauf gefunden und dass sie nichts davon
verstanden hatte.
„Nichts? Dann wärest du wohl kaum auf ausländische
Geheimdienste gekommen. Tisch uns keine Märchen auf! So allmählich
verliere ich die Geduld!“
Aus Yefrems schwarzen Augen funkelten wieder Wut und
Verachtung. In Bruchteilen von Sekunden konnte er zwischen Güte und
Verständnis und Wut und Kompromisslosigkeit wechseln. Was war bloß
sein wahres Gesicht? Unter diesem Druck gab Fatima auch ihr letztes
Wissen preis. Dass sie einige Absender erkannt und die Zahlenreihen für
Überweisungen gehalten hatte.
Yefrem nickte zufrieden. „Siehst du, genau so habe ich mir das
gedacht. Jetzt kann ich dir glauben.“ Er lächelte wieder. Güte und
Verständnis.
Fatima spürte, wie sie sich entkrampfte. Ganz so schlimm war ihr
Verhalten also doch nicht.
„Doch leider habe ich noch ein Problem.“
Fatima sah Yefrem fragend an. Kompromisslosigkeit.
„Ja, Fatima, mein Problem ist, dass du das gar nicht wissen dürftest.
Ich meine, wir sind nicht umsonst ein Geheimdienst.“ Er blickte sich
suchend um. „Wo sind eigentlich deine Kinder? Bassams Eltern sind ja bei
seinem Bruder.“
Fatima war irritiert. „Was willst du denn von meinen Kindern?“
„Nichts, ich frage nur.“
„Sie sind oben, in ihren Zimmern.“
Yefrem nickte. Güte oder Wut? „Ich verstehe. Und sonst ist niemand
hier?“
„Nein, wer sollte denn hier sein? Warum fragst du das? Was wollt ihr
von mir?“
Yefrem deutete auf seine Begleiter. „Das sind Freunde von mir.“ Er
zeigte auf den größeren seiner Begleiter. „Der Herr im dunklen Einreiher
ist von der CIA. Und der andere ist Oswald Pfeiffer vom BND.
Bundesnachrichtendienst heißt das. Das ist der deutsche Geheimdienst.“
Fatima war konsterniert. Was wollten die CIA und der BND von ihr?
Was hatte Yefrem mit denen zu tun?
„Ich weiß, was BND bedeutet. Aber sag mir bitte, worum es geht. Ich
verstehe kein Wort. Warum CIA und BND? Hat Bassam irgendwas damit
zu tun? Hat er etwas Schlimmes angestellt?“
Yefrem lachte. „Bassam und was angestellt? Nein, keine Sorge, der
hat nichts angestellt. Es geht um dich. Oder besser gesagt um euch.“
Keine Güte.
„Yefrem, ich verstehe dich nicht!“
Die beiden Geheimdienstler erhoben sich wortlos. Sie stellten sich
zwischen Fatima und die Tür. Yefrem legte seine Hand auf Fatimas Arm.
„Fatima, würdest du uns bitte nach oben begleiten?“
Eine gütige Stimme. Verständnis. Nichts als Schein. Dahinter
Kompromisslosigkeit und Wut. Das wahre Gesicht.
Fatima blickte angsterfüllt von einem zum anderen. Was immer sie
vorhatten, es verhieß nichts Gutes. Sie schaute über ihre Schulter,
versuchte abzuschätzen, ob sie die Tür zum Garten erreichen konnte. Aber
selbst wenn, was sollte aus den Kindern werden? Vielleicht schätzte sie die
Situation auch falsch ein. „Warum soll ich euch nach oben begleiten?“
Yefrem antwortete nicht, sondern nickte dem Deutschen zu. Der
ergriff zum ersten Mal das Wort und sagte in bemerkenswert reinem
Hocharabisch: „Weil Yefrem dich darum gebeten hat. Und weil jetzt
Schluss ist mit diesen Spielchen. Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit!“
Er griff in sein Jackett. Augenblicke später blickte Fatima in den
Lauf einer Pistole. Sie schrie auf und wich erschrocken auf ihrem Stuhl
zurück. Auch Yefrem erhob sich und orientierte sich in Richtung Diele.
„Würdest du bitte mitkommen?“
Die Gedanken rasten durch Fatimas Kopf. Was hatte das zu
bedeuten? Wozu die Waffe? Sollte sie versuchen zu fliehen, um Hilfe zu
holen? Aber wer sollte ihr helfen? Vielleicht schaffte sie es in die Küche
zu laufen und sich einzuschließen. Dort lag das Telefon. Sie konnte
Bassam anrufen. Und hoffen, dass die Männer ihren Kindern nichts taten.
Doch in diesem Moment packte der Mann von der CIA ihren Arm und riss
sie unsanft aus dem Stuhl. Erst jetzt registrierte sie, dass er Handschuhe
trug. Und die anderen auch. Sein Arabisch war schlechter, aber sie
verstand ihn trotzdem.
„Vorwärts, nach oben!“
Aus den Augenwinkeln heraus nahm Fatima wahr, dass der Deutsche
etwas auf den Lauf seiner Waffe schraubte. Die Kinder mussten bemerkt
haben, dass jemand gekommen war. Denn in diesem Augenblick sprang
die Tür auf und sie rannten ins Wohnzimmer. Als sie die Männer sahen,
der eine mit einer Waffe, der andere, der ihre Mutter festhielt, blieben sie
abrupt stehen. Für einen Augenblick herrschte vollkommene Stille. Als die
Kinder sich umdrehten, um davonzulaufen, packte sie der Deutsche am
Kragen und hielt sie mühelos über dem Boden.
„Nicht!“, schrie Fatima und versuchte sich loszureißen, doch der
Mann vom FBI versetzte ihr eine so heftige Ohrfeige, dass sie einer
Ohnmacht nahe war. Dann richtete er die Waffe auf sie und deutete mit
einer Kopfbewegung nach oben. Der Deutsche trug die schreienden und
panisch um sich schlagenden Kinder aus dem Wohnzimmer und die
Treppe hinauf. Sie selbst wurde von dem anderen unsanft die Treppe
hinauf gezerrt. Yefrem folgte als Letzter. Oben angekommen, ging er an
den anderen vorbei und öffnete zielstrebig die Tür zum
Elternschlafzimmer. Er nickte seinen Begleitern zu. Sie zerrten Fatima und
ihre Kinder in den Raum und warfen sie auf das Bett.
Kapitel 19
Nord-Ostsee-Kanal, Ende Juli 2015
Tarkan winkte einer Familie zu, die neugierig zu seinem ungewöhnlichen
Schiff hinübersah, das durch die Holtenauer Schleuse in den überwiegend
von Fracht- und Segelschiffen genutzten Kanal gefahren war. Ein solcher
Katamaran begegnete den Menschen selten.
Die FS PLANET war ideal für Tarkans Mission geeignet, denn sie
war vollständig für ein solches Projekt ausgestattet. Yefrem hatte das
perfekt organisiert. Sie waren mehrere Wochen unterwegs, konnten dank
der Eisschmelze im Nordpolarmeer aber die Nordostpassage nutzen, was
ihre Fahrt erheblich verkürzte. Ihr Ziel waren die Permafrostböden
Sibiriens.
Der Junge hatte seinen Vater am Ärmel gezogen und, wild
gestikulierend, auf die PLANET gezeigt. Daraufhin hatte die ganze
Familie zu ihnen hinübergeschaut. Und weil Yefrem bei ihrem letzten
Treffen wieder betont hatte, dass sich Tarkan unauffällig und freundlich
verhalten musste, hatte er dieser Familie zugewinkt, die sofort freudig
zurückwinkte.
Es fiel ihm schwer, gegenüber den Ungläubigen Freundlichkeit zu
heucheln, aber Yefrem hatte verständnislos auf Tarkans Begegnung mit
den drei widerlichen Jugendlichen reagiert. „Was ist in dich gefahren?“,
hatte er wütend gefragt, „habe ich dir nicht ausdrücklich befohlen, dich
unauffällig zu verhalten? Betrunkene zu verprügeln, gehört nicht dazu!“
Auch Tarkans Beteuerungen, dass niemand in der Nähe war, die
Ungläubigen sein Gesicht nicht gesehen hatten und er es für seine Pflicht
hielt, Schmähungen gegen Allah zu rächen, konnten Yefrem nicht
besänftigen.
Also blieb ihm nichts anderes übrig, als freundlich zu winken. Aber
die Gedanken waren frei! Wenn ihr wüsstet! Wenn ihr wüsstet, wohin
dieses Schiff fährt, wer die Besatzung ist und wie ihr Auftrag lautet. Dann
würdet ihr zum wahren Glauben konvertieren und die Schahãda sprechen,
um der Hölle zu entgehen!
Mit der Zeit und viel Überwindung schaffte es Tarkan inzwischen,
den Menschen in seiner Umgebung freundlich zu begegnen. Er malte sich
einfach aus, was mit den Elenden geschah, wenn er seine Mission erfüllt
hatte. Sein Gegenüber konnte nicht wissen, was der Grund seiner
Freundlichkeit war.
Wie diese arroganten, gottlosen, Ich-zentrierten Studenten. Eben
weil er sich unauffällig verhalten sollte, hatte Tarkan sich an der Christian-
Albrechts-Universität eingeschrieben und ein Appartement in der Nähe
des Blücherplatzes gemietet. Das hatte ihm sogar gefallen. Im Nachhinein
war ihm allerdings klar geworden, dass er in einem anderen Stadtteil
besser aufgehoben gewesen wäre. In Gaarden, wo er schon optisch weniger
aufgefallen wäre und sich viel wohler gefühlt hätte. Denn bereits am
ersten Wochenende musste er erkennen, dass er sich falsch entschieden
hatte. Er hatte die Wohnung Anfang Juni unter falschem Namen bezogen
und die Miete für ein halbes Jahr im Voraus bezahlt. Yefrem hatte ihm
nahegelegt, schon einige Zeit vor Beginn seiner Mission nach Deutschland
zu gehen. Zum Startpunkt seiner Reise.
„Der Weltuntergang beginnt in Kiel“, hatte Yefrem mit Pathos in der
Stimme gesagt. „Lebe dort mitten unter ihnen. Lebe so, als wärest du einer
von ihnen. Wenn du meinst, es geht nicht mehr, dann denk daran, was
Allah mit ihnen macht, wenn du deine Aufgabe erfüllt hast. Du sollst
lernen, Tarkan! Lerne deinen Feind kennen. Dann lernst du, wie er denkt.
Dann weißt du, wie er handelt. Und dann kannst du deine Aufgabe zu
meiner vollsten Zufriedenheit erfüllen!“
Tarkan hatte gelernt. Er wusste schon vorher einiges über diese
Menschen. Doch was er mit eigenen Augen hatte sehen, mit eigenen Ohren
hatte hören müssen, übertraf seine kühnsten Erwartungen. Jetzt wusste er,
mit wem er es zu tun hatte.
Schon während der ersten Woche hatte ihn die Geräuschkulisse beim
täglichen Salãt gestört. Die Motorengeräusche, das alte Kopfsteinpflaster,
das laut donnerte, wenn ein Auto darüber fuhr. Aber das hatte er
vorhergesehen. Und sich damit arrangiert. Ebenso wie mit dem
hellhörigen Altbau. Er hörte Kinder im Haus schreien, ja einfach nur
rumlaufen. Er hörte irgendwo eine Kaffeemaschine kreischen und die alten
Holzdielen in der Wohnung über ihm, die bei jedem Schritt knarrten. Aber
all das war nicht zu vermeiden. Es war den Umständen geschuldet.
Er vermied den Kontakt zu den Nachbarn. Wenn er ihnen im
Treppenhaus begegnete, grüßte er. Wenn ihn jemand ansprach und nach
seinem Beruf oder seiner Familie fragte, erzählte er, dass er in Kiel
studierte, seine Familie in Hamburg wohnte und er so exotisch aussah,
weil sein Vater Marokkaner war. Bedeutungsloser Smalltalk, der rasch
vergessen wurde.
Was er aber nicht vorhergesehen hatte, waren die studentischen
Wohngemeinschaften, die sich unter die Familien, Paare und Singles in
diesem Viertel gemischt hatten. Vielleicht deshalb, weil nur eine WG sich
die exorbitanten Mieten leisten konnte, die nichts anderem entsprangen als
der unersättlichen Gier der Vermieter.
Gleich am ersten Wochenende war er mitten in der Nacht aus dem
Schlaf hochgeschreckt. Geweckt von einem infernalischen Krach. Ganz in
der Nähe. Er hörte laute Musik, ebenso laute Stimmen. Oder eher
tierartiges Gebrüll. Entsetzt war er aus seinem Bett und an das Fenster zur
Straße gestürzt. Im Haus gegenüber standen Menschen auf dem Balkon.
Die Tür stand offen. Aus der Wohnung dröhnte fürchterliche Musik, die
Tarkan nicht kannte. Und die Leute auf dem Balkon, sie wirkten betrunken,
grölten laut mit. Rücksichtlos. Egoistisch. Dumm. Und, Allah sei Dank,
dem Untergang geweiht.
In Tarkan war dennoch wieder dieser zerstörerische Hass
hochgekocht. Er wusste, dass diese Horde Ich-bezogener, rücksichtloser
Idioten nicht den Hauch einer Chance gegen ihn hatte. Er kam aus einer
anderen Kultur. Er war anders als sie. Er war ein Heiliger Krieger Allahs!
Er fürchtete weder Schmerzen noch den Tod. Sie hingegen waren
Waschlappen ohne Glauben und Brusthaar, weil sie es regelmäßig
rasierten, um sich danach auf dem Balkon zu präsentieren. Abstoßend und
weibisch. Ehe sie begriffen hätten, wie ihnen geschah, hätte sein Schwert
sie schon in Stücke geschnitten. Die erste praktische Lehrstunde in
angewandter Anatomie. Und zugleich ihre letzte.
Und lautete sein Befehl nicht totale Zurückhaltung, hätte er genau
das in diesem Augenblick getan. Er hätte sein Schwert unter dem Bett
hervorgeholt, wäre in das andere Haus gestürmt und hätte die Bande
massakriert.
Stattdessen begnügte er sich mit seinen Phantasien, ging wieder ins
Bett und schlief nicht mehr ein. Als er am nächsten Tag einem von den
Todgeweihten auf der Straße begegnete und der ihn auch noch in
ironischem Tonfall fragte, ob es vergangene Nacht zu laut gewesen sei,
hatte er brav gelächelt und gesagt, dass ihn das überhaupt nicht störe.
Feiern sei schließlich eine schöne Sache und gehöre zu jedem anständigen
Studium. Hätte diese Missgeburt in diesem Augenblick Tarkans Gedanken
lesen können, wäre sie schon vor Entsetzen gestorben.
Doch ein Mal hatte er seinen Gefühlen freien Lauf gelassen, ohne es
Yefrem zu erzählen. Denn abgesehen von den Studenten gab es auch
Individuen, Jugendliche vornehmlich, die nachts schreiend und grölend
durch die Straßen zogen. Ohne ersichtlichen Grund. Vollkommen
sinnentleert. So wie ihr Hirn. Wissend, dass in den vielen Häusern
Menschen ihretwegen keinen Schlaf fanden oder daraus hochschreckten.
Ältere Menschen. Berufstätige. Familien mit Kindern. Dummheit und die
Lust, Menschen aus purer Gehässigkeit zu stören. Das überstieg sein
Fassungsvermögen. Das also war die Welt der Ungläubigen!
In seiner Heimat war es auf den Straßen noch lauter. Aber nur, weil
es dort lebendiger zuging und die Leute viel mehr miteinander sprachen
als in dieser Brutstätte des Narzissmus. Dieser grölende, primitive Mob
auf der Straße war aber weder lebhaft noch kommunikativ. Sondern
abgrundtief ichfixiert und von Grund auf böse. In seiner Heimat bestand
die Strafe für derartig ungebührliches Verhalten in einer erheblichen
Anzahl an Stockhieben. Aber was sollte man von einer gottlosen Welt wie
dieser auch anderes erwarten? Sie brachte nur Abschaum hervor.
Vor zwei Wochen war er wegen solcher Missgeburten aus dem
Schlaf gerissen worden. Er war in geduckter Haltung auf seinen Balkon
geschlichen und hatte über die Brüstung geschaut. Und da sah er sie: zwei
Typen, Mitte zwanzig, betrunken, die grölten und in Kung-Fu-Manier
irgendwelche Baustellenschilder umtraten.
Da war Tarkans Zorn übermächtig geworden! Dieser Dreck musste
weg!
Lautlos war er zurück in sein Schlafzimmer geschlichen und hatte
seine selbst gefertigte Kriegsschleuder aus ihrem Versteck hervorgeholt.
Er war ein Meister im Umgang mit dieser Waffe. Selbst Ziele in einer
Entfernung von dreihundert Metern traf er damit noch punktgenau. Bei
manchen Aufträgen benutzte er sie, vor allem, wenn er lautlos töten sollte.
Töten durfte er diese Ungläubigen nicht. Aber er durfte ihnen Schmerzen
zufügen!
Rasch war er in die Küche gegangen und hatte einen kleinen
Eiswürfel geholt. Normalerweise benutzte er Bleigeschosse, aber mit
dieser Munition und aus dieser Nähe wäre der hohle Schädel der
Schreihälse wie eine Seifenblase geplatzt. Mit Schleuder und Munition
war er wieder auf den Balkon geschlichen. Und sie taten ihm den Gefallen.
Sie ließen ihre Aggressionen, ihre angeborene Stumpfheit, weiter grölend
an Baustellengeräten aus.
Unfassbar war auch, dass sich niemand aus den umliegenden
Häusern beschwerte. Oder wenigstens die Polizei rief. Waren die
Menschen in diesem Kulturkreis wirklich so feige? Ohne jegliche
Courage?
Er guckte sich denjenigen aus, den er widerlicher fand. Es war der
größere. Im Licht der Straßenlaterne konnte er seine abstoßende Visage
sehen. Hochrotes Gesicht, Glubschaugen, klare Anzeichen unheilbarer
Dummheit. Der Habitus eines Primaten. Noch weniger als ein
Ungläubiger.
Er spannte den Eiswürfel in die Schleuder und zielte. Ruhig und
konzentriert. Niemand beherrschte dieses Kriegsgerät besser als er. Er
durfte nicht zu hart durchziehen. Auch ein Eiswürfel konnte töten. Jetzt
drehte die Missgeburt ihm den Rücken zu, um sich ein Halteverbotsschild
vorzunehmen. Perfekt. Er fixierte seinen Hinterkopf. Dann ließ er los. In
Bruchteilen von Sekunden hatte der Eiswürfel völlig geräuschlos sein Ziel
erreicht.
Volltreffer! Das Tier schrie auf. Dann wurde es totenstill. Der Primat
sackte zu Boden. Er hielt sich den Hinterkopf. Tarkan war sich sicher
gewesen, dass Blut aus seiner Wunde tropfte. Der andere Primat stierte
zunächst den Getroffenen an. Dann scannte sein besoffener Blick die
Umgebung. Er schien zwischen den Nebelschwaden seines Rausches zu
ahnen, dass sich wohl doch ein Anwohner durch sein Verhalten gestört
fühlte. Aber er konnte niemanden entdecken.
Wie auch. Tarkan war ein Großmeister der Kriegskunst. Jedem
Einzelnen in dieser gottlosen Gesellschaft überlegen. Der Eiswürfel, der
einzige Beweis, war rasch geschmolzen. Auf der Straße herrschte tiefe
Stille. Eine große Genugtuung. Die beiden zu töten, im Namen Allahs,
hätte zwar eher seinem Naturell entsprochen. Aber auch diese kleine
Lösung war befriedigend. In dieser Nacht grölte niemand mehr. Auch nicht
in den folgenden. Tarkan schloss daraus, dass stets derselbe Abschaum für
den Krach verantwortlich war. Oder es hatte sich herumgesprochen, dass
man sich in diesem Viertel besser ruhig verhielt. Niemand kam zu ihm.
Keine Polizei, die die Anwohner befragte. Wie immer hatte er fehlerfrei
agiert.
Siedend heißes Wasser wird ihre Eingeweide zerreißen!
Es war dieses allem übergeordnete Wissen, das ihn dazu befähigte,
sich wie ein Schatten in einer Welt zu bewegen, die er zutiefst verachtete.
Das Wissen um seinen Weg ins Paradies. Das Wissen um den Weg der
Gottlosen in die Hölle. Und das Wissen um die Endgültigkeit seiner
Mission. Niemand in dieser Stadt teilte mit ihm auch nur den Hauch dieses
Wissens. Und niemand von ihnen ahnte, dass Kiel, wie viele andere Städte
in der Welt der Gottlosen, bald zu einer Geisterstadt verkommen würde.
Der Junge winkte ihm noch immer zu. Sein Vater tat es ihm gleich.
Die Mutter und die beiden Töchter standen dahinter, aber auf die kurze
Distanz konnte Tarkan sehen, dass sie lachten. Tatsächlich erweckten diese
Menschen den Eindruck von Zufriedenheit. Schein und Wirklichkeit...
Yefrem hatte Tarkan anhand von Seekarten erklärt, wohin er das
Schiff führen und wie er das Material bergen sollte. Seekarten in
Papierform, die Tarkan mit an Bord genommen hatte, weil er damit am
besten zurechtkam. Er hatte die auslaufbereite PLANET in Eckernförde
nur noch besteigen müssen. Mit drei seiner Leute und Coleman. Perkins
kam erst in zwei oder drei Wochen nach. Er musste in der Zentrale noch
auf das Projekt vorbereitet werden. Der Rest der vierzig Mann starken
Besatzung war schon an Bord gewesen. Männer und Frauen, die ihm
untergeordnet waren und seine Befehle befolgen mussten. Zwanzig Mann
Besatzung und zwanzig Wissenschaftler. Für Tarkan bedeutete das ein
Minimum an Aufwand. Denn die Zusammenstellung eines geeigneten
Teams war der schwierigste, langwierigste Part einer solchen Mission.
Dass Yefrem das in so kurzer Zeit geschafft hatte, sprach einmal
mehr Bände über seine tatsächliche Macht. Er musste sogar hochrangige
Verbindungen zur deutschen Küstenwache unterhalten. Tarkan war
bewusst, dass er nur ein kleines Rädchen war. Aber Allah unterschied nicht
zwischen großen und kleinen Rädchen.
Er verfolgte aus dem Augenwinkel heraus, wie die fünfköpfige
Familie kleiner und kleiner wurde. Die PLANET hatte die zulässige
Reisegeschwindigkeit von fünfzehn Stundenkilometern erreicht. Die
Familie schlenderte wieder am Kanal entlang, der Ostsee und Nordsee
miteinander verband. Sie hatten das Interesse an dem Boot und dem
winkenden Mann verloren.
Informiert zu sein gehörte zu Tarkans wichtigsten Aufgaben. Er hatte
recherchiert, dass er ausgerechnet hier, in diesem kleinen Deutschland,
den am meisten befahrenen künstlichen Seeweg der Welt befuhr. Über
dreißigtausend Schiffe jährlich nutzten diese Route. 98,26 Kilometer
zwischen der Ostsee in Kiel-Holtenau, wo sein Schiff in den Kanal
eingefahren war, und Brunsbüttel an der Elbmündung in die Nordsee.
Inklusive aller potenziellen Hindernisse, Gegenverkehr und sonstiger
Unwägbarkeiten, hatte Tarkan sieben bis acht Stunden für die Fahrt
einkalkuliert. Viel für diese kurze Strecke und die Möglichkeiten des
Katamarans. Aber wenig für das Ziel der PLANET.
Der Unterschied zu Tarkans bisherigen Einsätzen war die hochgradig
organisierte Führung. Nüchternes Kalkül schien sich symbiotisch mit dem
Temperament und der Opferbereitschaft der Mujaheddin zu vereinigen. Er
kannte nicht alle Details des Plans. Aber er begriff, dass die Führer
inzwischen gelernt hatten, die Mentalität, die Denkweise des Gegners
bewusst zu nutzen, um ihn zu vernichten. Ein großer Schritt nach vorne!
Kapitel 20
Adams Island, Neuseeland, August 2015
Harvard - Volcano Center stand auf dem Schild. So, wie Shoemaker es
beschrieben hatte. Hier also begann, im fortgeschrittenen Alter von
fünfundfünfzig, das größte Projekt seines Lebens. Mason Foley fand es
allerdings befremdlich, dass er jedes Mal auf unzähligen Umwegen
hierher gebracht wurde und immer noch nicht wusste, wer zu seinem Team
gehörte. Das war ungewöhnlich. Ebenso ungewöhnlich war aber auch, dass
eine Stiftung vorab fünfhunderttausend US-Dollar auf ein Projektkonto
einzahlte, über das Foley uneingeschränkte Verfügungsgewalt hatte.
Shoemaker, dem man seine sechzig nicht ansah, hatte erklärt, dass
AURORA aus hochrangigen, teils prominenten Persönlichkeiten bestand.
Sie hatten nicht nur mehr als eine Milliarde US-Dollar eingebracht,
sondern sich auch verpflichtet, die Hälfte aller zukünftigen Einnahmen auf
die Stiftung zu übertragen. Die Stiftung war elitär. Wer Mitglied werden
wollte, musste viele Voraussetzungen erfüllen.
Letztlich hatte Foleys Neugier gegen sein Misstrauen gesiegt. Zumal
die Stiftung auf eigene Kosten dafür sorgte, dass seine Familie während
des Projektes bei ihm war. Seine Frau, Kim, war heute mit den Mädchen in
der Suite geblieben. Er stand, zusammen mit einigen Leuten, die er noch
nicht kannte, im Foyer und wartete bei Champagner auf den
Stiftungsvorstand. Er bestand aus mehreren Personen, unter ihnen
Shoemaker, die erklären wollten, wie die Projekte abliefen.
Foley hatte den agilen Shoemaker bei einem Vortrag in London
kennengelernt. Shoemaker hatte ihn während der Pause angesprochen und
sich als Geologe aus Harvard vorgestellt. Ihm waren Foleys
herausragender Ruf in der Erforschung von Supervulkanen und seine
Arbeiten mit Hans-Ulrich Schmincke zu Ohren gekommen. Schmincke
zählte zu den renommiertesten Vulkanologen der Welt. Die Schwerpunkte
seiner Arbeit waren die Vulkane in der Eifel und auf den Kanarischen
Inseln. Schmincke hatte zahleiche Preise für seine Arbeiten bekommen, so
auch den Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Zuletzt
war er Direktor der Abteilung Vulkanologie und Petrologie am Leibniz-
Institut für Meereswissenschaften in Kiel gewesen.
Shoemaker war nach London gereist, um eine so außergewöhnliche
Forscherpersönlichkeit kennenzulernen. Allerdings hatte er auch ein
spannendes Projekt im Gepäck, das er Foley vorstellen wollte. Sie hatten
sich zum Abendessen verabredet. Was Shoemaker Foley dabei
vorgeschlagen hatte, war in der Tat spannend. International agierende
Investoren hatten sich in einer Stiftung zusammengeschlossen, deren
Zweck in der Finanzierung von Forschungsprojekten zu möglichen
Bedrohungen aus der Natur bestand. Mit dem Ziel, sich besser darauf
einstellen zu können.
Shoemaker hatte ausgeführt, dass es in der Stiftung mit dem Namen
AURORA Leute wie ihn gab, deren Aufgabe darin bestand, die besten
Forscher aufzuspüren, um ihnen Projekte im Sinne des Stiftungszwecks
anzubieten, die vollumfänglich von der Stiftung finanziert wurden. Mason
Foley war aufgrund seines Wissens über Supervulkane ins Visier der
Stiftung geraten. Denn der Ausbruch eines Supervulkans war so ziemlich
die schlimmste Naturkatastrophe, die auf der Erde eintreten konnte.
In London hatte Foley dem staunenden Publikum erklärt, was der
Ausbruch eines solchen Vulkans bewirken würde. Als Supervulkane
wurden Vulkane bezeichnet, die mindestens tausend Kubikkilometer
Tephra, unverfestigte pyroklastische Ablagerungen, beförderten. Die
größten Supervulkane der Erde waren die Yellowstone-Caldera im US-
Bundesstaat Wyoming und der Toba auf der zu Indonesien gehörenden
Insel Sumatra. Weitere, kleinere Supervulkane brodelten mit dem Taupo in
Neuseeland, in den Phlegräischen Feldern bei Neapel sowie in
Griechenland, den Anden, Japan, Mittelamerika und auf den Philippinen.
Doch die Gefährlichsten waren der Toba und der Yellowstone. Mit
Auswurfmengen von über zweitausendfünfhundert Kubikkilometern
Material rangierten sie weit oben auf Stufe 8 des VEI, des Volcanic
Explosivity Index.
Foley veranschaulichte solche für den Laien abstrakte Zahlen mit
Beispielen und Vergleichen. Als er von Auswurfmengen gesprochen hatte,
hatte er als Vergleich den letzten Ausbruch des Mount St. Helens im Mai
1980 herangezogen, einem der größten Ausbrüche des zwanzigsten
Jahrhunderts. Dabei war Energie in einer Größenordnung von
vierundzwanzig Megatonnen TNT freigesetzt worden. Das entsprach dem
Tausendsechshundertfachen der Hiroshima-Bombe. Die Folgen für
Wirtschaft, Tourismus und Landwirtschaft waren verheerend gewesen. Das
ausgeworfene Material umfasste einen Kubikkilometer.
„Doch das, meine Damen und Herren“, hatte Foley in dem sicheren
Gefühl, es in seinen Bann gezogen zu haben, dem Publikum erklärt, „war
nichts im Vergleich zu dem, was uns an Ungemach aus Indonesien oder
Wyoming drohen würde. Denn einem bereits brandgefährlichen
Kubikkilometer Asche stünden zweitausendfünfhundert gegenüber!“
Foley hatte diese Fakten wirken lassen. An den teils staunenden, teils
ungläubigen, teils auch ängstlichen Gesichtern konnte er ablesen, was er
an Emotionen ausgelöst hatte. Denn eines war ihm besonders wichtig:
Seine Vorträge sollten das Publikum begeistern, es über Emotionen
wachrütteln.
Er nippte an seinem Champagner, während er darüber nachdachte,
wie merkwürdig diese Stiftung war. Wäre seine Familie nicht dabei, hätte
er sich trotz der großzügigen Finanzierung nicht darauf eingelassen.
Eine Hand legte sich auf seine Schulter. Erschrocken fuhr er herum
und verschüttete dabei etwas Champagner. „Bitte verzeihen Sie, Dr. Foley.
Ich wollte Sie nicht erschrecken.“
Er war so in Gedanken gewesen, dass er Shoemaker nicht bemerkt
hatte, der sich zu ihm gesellte. Er stellte sein Glas ab. Der übergelaufene
Champagner bildete eine kleine Pfütze um das Glas. „Ich war in Gedanken
versunken. Schön Sie zu sehen, Dr. Shoemaker.“
Shoemaker schüttelte ihm die Hand. „Ebenfalls. Darf ich Ihnen einen
interessanten Mann vorstellen, Dr. Foley? Dr. James Perkins. Er ist wie Sie
mit seiner Familie gekommen.“
Foley musterte Perkins. Er kam ihm bekannt vor. „Ich freue mich,
Sie kennenzulernen, Dr. Perkins. Kennen wir uns von irgendwoher?“
Perkins lachte. „Ich glaube nicht. Vielleicht ist Ihnen mein Konterfei
in einer Zeitung oder im Fernsehen begegnet. Daher kenne ich übrigens
auch Sie. Vulkanologie, auch ein sehr spannendes Gebiet. Weltbewegend,
wie man mit Fug und Recht behaupten darf.“
Foley schüttelte Perkins die Hand. „Aber natürlich! Jetzt erkenne ich
Sie! Sie sind Virologe! Sie haben in das Influenzavirus den genetischen
Code der Spanischen Grippe eingebaut. Damit haben Sie maßgeblich dazu
beigetragen, neue Impfstoffe zu entwickeln. Und erinnere ich mich richtig,
dass gegen Sie in diesem Zusammenhang sogar ermittelt worden ist?
Wegen der Anleitung zu einem terroristischen Akt?“
Perkins schien peinlich berührt. Er sah an Foley vorbei und räusperte
sich. „Nun ja, das sind mitunter die Nebenwirkungen unserer Forschung,
nicht wahr? Denken Sie nur an die Entdeckung der Atomkraft. Alles, was
wir im Dienste der Menschheit erforschen, kann auch für das Gegenteil
missbraucht werden. Ich habe ein tödliches Influenzavirus entwickelt.
Aber kurz darauf eben auch einen weitreichenden Impfschutz.“
Shoemaker klopfte Perkins auf die Schulter. „Sie haben sich damit
ein Denkmal gesetzt, Dr. Perkins. Risiken und Nebenwirkungen gibt es bei
jeder Forschung. Wer weiß das besser als wir.“
Foley nickte. „Da haben Sie recht. Um dieses Dilemma beneide ich
meinen Kollegen nicht. Ich habe es leichter. Bei meinen Forschungen gibt
es keine Risiken und Nebenwirkungen. Ich erforsche Vulkane, versuche,
die Vorhersage von Ausbrüchen zu verbessern, ihre Folgen abzuschätzen
und Warnsysteme zu optimieren. Ich erreiche entweder gar nichts oder
Gutes.“
Shoemaker lächelte in einer undefinierbaren Weise. „Glauben Sie
mir, Dr. Foley, Sie werden eine Menge erreichen. Sie werden in die
Geschichtsbücher eingehen.“
Der Vulkanologe winkte ab. „Ihre lobenden Worte in Ehren, Dr.
Shoemaker. Aber ich mache mit Ihrem Geld letztlich nichts weiter, als die
größten Supervulkane der Erde zu erforschen. Mit der Fragestellung, wann
ein Ausbruch zu erwarten ist und welche exogenen Faktoren ihn
beschleunigen könnten. Zusätzlich zu einem endogenen und damit
unvermeidlichen Ausbruch. Ein sinnvolles und innovatives Projekt, da
mögliche Auslöser blockiert werden könnten. Außerdem können wir dann
vielleicht den Zeitraum eines Ausbruchs besser eingrenzen.“
Perkins hatte die Ausführungen des Vulkanologen aufmerksam
verfolgt. Jetzt wandte er sich an Shoemaker. „Ihre Stiftung ist sehr
ungewöhnlich. Sie finanzieren Projekte auf dem Gebiet der Virologie
ebenso wie auf dem der Vulkanologie. Da gibt es keine Überschneidungen.
Hat sich AURORA nicht einem bestimmten Zweck verschrieben, einem
speziellen Forschungsgebiet?“
Shoemaker bedeutete einem Kellner, eine neue Flasche Champagner
zu bringen. „Wir unterstützen Projekte, die sich mit Bedrohungen aus der
Natur beschäftigen. Dazu zählen Supervulkane ebenso wie Viren und
Bakterien. Im Zuge des Abschmelzens der Permafrostböden ist damit zu
rechnen, dass über Jahrtausende im Eis eingefrorene Erreger mit dem
Menschen in Kontakt kommen. Wieder oder zum ersten Mal. So etwas
muss rechtzeitig erforscht werden. Rechtzeitig heißt, bevor sie mit dem
Menschen in Kontakt kommen. Also unterstützen wir dieses Projekt. Aber
auch Ihr Projekt über Supervulkane. Denn die Natur und das Schicksal
werden uns nicht so wohlgesonnen sein, nur in einem Forschungsbereich
zuzuschlagen, den wir finanziert haben. Wie Sie sehen, verfolgt unsere
Stiftung einen klaren Zweck. Sind Sie bereit, aufzubrechen, Dr. Perkins?
Im hohen Norden wartet eine Überraschung auf Sie! Sie kennen Ihr Ziel,
aber nicht Ihre Ausrüstung. Und die ist wirklich außergewöhnlich.“
Perkins beteuerte, es kaum abwarten zu können, endlich loszulegen,
während Shoemaker die Champagnergläser der Wissenschaftler füllte. Er
erklärte, dass gleich alle Forscher ihren Vortrag hielten, um den anderen
Begünstigten der Stiftung einen Überblick über die ausgewählten Projekte
zu verschaffen. Im Anschluss war ein lockeres Kennenlernen geplant und
jedem Forscher wurde, zusätzlich zu seinen eigenen Mitarbeitern, ein
spezielles Team und ein Mentor zugeordnet. Perkins Team war schon
unterwegs. In den nächsten Tagen starteten auch die übrigen.
Familienmitglieder blieben während der Forschungsreisen auf Adams
Island.
Das sei wie bei einer Weltmeisterschaft, sagte Shoemaker. Man
musste sich voll auf das eine, das große Ziel fokussieren und deshalb einen
klaren Cut machen. Niemand durfte abgelenkt werden. Weder von privaten
Dingen noch vom Weltgeschehen. Zudem durfte das Wissen aus den
Projekten nicht in falsche Hände geraten. Shoemaker stellte in Aussicht,
dass einige der Wissenschaftler sicherlich einen Nobelpreis verliehen
bekämen. Weil ihre Projekte für die Menschheit von existenzieller
Bedeutung waren. Und von überaus praktischer Relevanz.
Shoemaker nickte den Wissenschaftlern zu, betrat die Bühne,
erklärte den Mitgliedern der Stiftung und den geladenen Gästen den
Ablauf des Abends und kündigte die Kurzvorträge an. „Zum Einstieg wird
Ihnen Dr. Foley erläutern, welche Folgen der Ausbruch eines Supervulkans
hätte.“ Er streckte den Arm in Richtung des Vulkanologen aus. „Darf ich
bitten, Dr. Foley?“
Foley betrat die Bühne. Er war froh, an seinem zweiten Champagner
nur genippt zu haben. Der erste hatte ihn lockerer gemacht. Er war ein
guter Redner, aber dieser Rahmen wich von seinem gewohnten Umfeld ab.
Da konnte ein wenig Alkohol nicht schaden. Aber zu viel war
kontraproduktiv.
Er nahm die Fernbedienung für den Beamer entgegen, prüfte das
Mikrofon und begann seinen gut vorbereiteten Vortrag. Zunächst bedankte
er sich bei der Stiftung für das ihn ehrende Vertrauen in seine Fähigkeiten
und bekundete sein Interesse an den anderen Projekten. Dann schaltete er
den Beamer ein. Ein hochwertiger Laserbeamer, der gerade erst auf den
Markt gekommen war. Ultrahohe Auflösung, perfektes Farbspektrum. Und
er barg nicht die Gefahr eines klassischen Beamers, dass die Lampe mitten
in der Präsentation ihren Dienst verweigerte. Eine solche Qualität war
ideal für seine anspruchsvollen Bilder und Animationen.
Sein erster Beitrag zeigte ein computeranimiertes Szenario eines
Ausbruchs des Supervulkans im Yellowstone Nationalpark. Die Animation
bot ein Bild völliger Verwüstung. Foley holte sein Publikum wie immer
auf der emotionalen Ebene ab. Das verfehlte auch bei Kollegen aus
anderen Wissenschaftszweigen nicht seine Wirkung. Abgesehen von
einigen Lauten der Faszination oder auch Erschütterung wurde es
mucksmäuschenstill. Er ließ der ersten Animation kommentarlos weitere
in Form einer Serie folgen, die den hypothetischen Ausbruch eines
Supervulkans visualisierten. Jetzt war es an der Zeit, den eigentlichen
Vortrag zu beginnen. Foley legte Pathos in seine Stimme.
„Meine Damen und Herren, Sie sind soeben Zeugen des Ausbruchs
eines der größten Vulkane der Welt geworden. Theoretisch könnte ich
meinen Vortrag also an dieser Stelle beenden. Aber wie Sie in wenigen
Augenblicken verstehen werden, wären die unmittelbaren Auswirkungen
eines Ausbruchs nur ein unbedeutendes Intro. Relativ betrachtet. Denn
danach geht es erst richtig los. Nehmen wir als Beispiel den Yellowstone
Nationalpark.“
Foley blendete das nächste Bild ein. Es zeigte eine Graphik. Einen
Querschnitt durch den Supervulkan, gespickt mit Fachbegriffen wie
Shallow hot water reservoirs, Granitic magma und Basalt magma. Anhand
der Graphik erläuterte Foley, wie der Supervulkan aufgebaut war und über
welche Mechanismen es zum Ausbruch kommen konnte. Ein solcher
Vulkan hatte Triggerpunkte. Das Material war noch relativ zäh. Aber
externe Einflüsse könnten es sehr schnell erhitzen oder zur Ausdehnung
bringen. Zum Beispiel ein Eintritt großer Wassermengen. Das Wasser
würde bei diesen Temperaturen spontan verdampfen und einen enormen
Druck erzeugen, der zu einer spontanen Ausdehnung und damit vielleicht
zu einem Ausbruch führen könnte.
Er erklärte anhand weiterer Graphiken und Animationen die
unmittelbaren Auswirkungen einer Eruption. Anders als bei einem
klassischen Vulkan trat im Yellowstone das Magma nicht an einer Stelle
aus, sondern an mehreren. Nach dem Austritt einer bestimmten Menge an
Material entstand in der Caldera ein Hohlraum, der zu einem Einbruch des
darüber liegenden Matrials führte. Erst dann machte der Vulkan so richtig
ernst.
Er entschuldigte sich mit einem Lächeln für die vielen Animationen.
„Leider, oder wohl eher gottseidank, meine Damen und Herren, kann ich
Ihnen nur Animationen zeigen. Denn bislang war es nicht möglich, einen
Ausbruch live zu verfolgen. Nach meinen bisherigen Ausführungen sind
Sie sicher mit mir einer Meinung, dass das auch verdammt gut so ist!“
Gelächter. Foley schickte seine Zuhörer durch ein Wechselbad der
Gefühle. Der richtige Moment für den ultimativen Schocker. Er blendete
wortlos ein Foto aus der Arktis ein. Verständnisloses Gemurmel löste das
vorherige Lachen ab. Dafür lachte jetzt Foley.
„Ich habe das Pferd der Anschaulichkeit halber von hinten
aufgezäumt. So sähe es nach kurzer Zeit, wir sprechen über Wochen,
höchstens Monate, in vielen Regionen der Erde aus. Denn der gigantische
Ausstoß von Tephra, unverfestigte pyroklastische Ablagerungen, oder
verständlicher, wenngleich wissenschaftlich nicht korrekt: Asche, würde
aufgrund des thermischen Auftriebs in die Stratosphäre gelangen. In
kurzer Zeit würde sie sich über globale Windsysteme in der Atmosphäre
verteilen und die Sonneneinstrahlung drastisch reduzieren. Ein global
dimming, das zu Ernteausfällen und einem großen Artensterben führen
würde. Wobei auch wir nichts anderes sind als eine Art.
Das Ausmaß des vulkanischen Winters hängt davon ab, wie sich das
ausgeworfene Material zusammensetzt. Wie hoch ist der Anteil der Asche,
des Schwefels, der Aerosole? Schwefel und Aerosole haben eine
wesentlich größere Trübungswirkung als Asche. Je nach Verdunklungsgrad
würden die globalen Mitteltemperaturen um bis zu fünf Grad fallen, im
schlimmsten Fall um zehn oder gar fünfzehn Grad. Die Modelle sind sich
da nicht einig. Mit viel Glück wären es nur drei Komma fünf Grad.
Aber ganz gleich, wie viel Grad es wirklich sind, die Kälte käme
binnen kürzester Zeit! Zum Vergleich: Der Temperaturunterschied
zwischen Warm- und Eiszeiten beträgt im globalen Mittel nur fünf Grad
Celsius. In der Folge der Verdunklung würde es in Regionen wie den
Britischen Inseln, Deutschland, den Beneluxländern, aber auch in anderen
Teilen der nördlichen Hemisphäre selbst im Sommer schneien. Die
Landwirtschaft würde kollabieren. Weltweit wären diese Auswirkungen zu
spüren. Beim letzten Ausbruch des Supervulkans Toba vor rund
vierundsiebzigtausend Jahren wurde der Homo Sapiens bis auf wenige
tausend Individuen vernichtet. Es hätte also nicht viel gefehlt, und wir
würden hier und heute keine wissenschaftlichen Projekte starten.
Welche Folgen der Ausbruch eines Supervulkans heute hätte, ist
schwer einzuschätzen. Wir sind völlig anders entwickelt als vor
vierundsiebzigtausend Jahren. Es käme sicherlich zu einer weltweiten
Wirtschaftskrise. Hungersnöte wären unausweichlich. Allein die direkten
Folgen des Ausbruchs wären verheerend. Alles Leben im Umkreis von
einigen hundert Kilometern würde vernichtet.
Die entscheidenden Fragen lauten: Wie wahrscheinlich ist ein
Ausbruch? Gibt es exogene Faktoren, die ihn beschleunigen könnten?
Könnte sich der moderne Mensch, die hochentwickelte Zivilisation, darauf
einstellen? Oder würden Wirtschaftskrisen, Inflation und Hunger zu
Anarchie und Kriegen führen? Ist die Globalisierung bei einer solchen
Katastrophe von Vorteil oder im Gegenteil ein tödlicher Nachteil?
Niemand hat sich bislang ernsthaft mit diesen Fragen auseinandergesetzt.
Insofern kann ich die Ziele der Stiftung nur begrüßen. Sie sind ein
Meilenstein in der Katastrophenprävention. AURORA erweist der
Menschheit damit einen großen Dienst. Und ich bin stolz, Bestandteil
dieses epochalen Projektes zu sein.“
Foley schaltete den Beamer aus und verließ die Bühne unter dem
tosenden Beifall des Publikums. Shoemaker führte ihn mit lobenden
Worten zurück an den Stehtisch.
Während Foley Champagner trank, betrat der nächste Redner die
Bühne. Der Mann war Foley schon vorher aufgefallen. Ein unscheinbarer
Typ asiatischer Herkunft. Nicht er war auffällig, sondern die Frau an seiner
Seite. Eine fast surreale Schönheit. Irgendwie sphärisch. Nicht von dieser
Welt. Die beiden hatten sich immer wieder geküsst und auch ansonsten
keinen Zweifel daran gelassen, dass sie ein Paar waren. Foley fragte sich,
was eine solche Frau von einem so unscheinbaren Mann wollte. Er musste
über andere Qualitäten verfügen. Auf jeden Fall ein ungewöhnliches Paar.
Der Asiate stellte sich als Chang Zhou vor. Er war Meteorologe. Sein
Vortrag beschäftigte sich mit Kontinentalhängen und dem Golfstrom. Er
erläuterte den Zweck seines Projektes. Er war der Meinung, dass der
Golfstrom in seiner Bedeutung überschätzt wurde, sich die Wissenschaft
in dieser Frage aber noch uneins war. Zhou stellte die verschiedenen
Meinungen gegenüber. Sein Projekt beschäftigte sich nicht nur mit der
Frage, wie wahrscheinlich ein Versiegen des Golfstroms war, sondern auch
mit exogenen Einflüssen.
Interessant, dachte Foley, wie bei meinem Projekt. Wobei ihm, wenn
er es recht bedachte, keine exogenen Einflüsse einfielen, über die er, mit
den leeren Worthülsen des Politikers, selbst in seinem Vortrag gesprochen
hatte. Im Freudentaumel der astronomischen Fördersumme hatte er sich
gar keine Gedanken dazu gemacht. Und mit Shoemaker hatte er darüber
noch nicht gesprochen. Er hatte unreflektiert exogen mit
Eintrittswahrscheinlichkeit gleichgesetzt.
Was bedeutete „exogen“ in Bezug auf die Kontinentalhänge oder den
Golfstrom? War Schmelzwasser aus Grönland oder Sibirien exogen? Eher
nicht. Das gehörte zum System, war also endogen. Exogen wäre der
Einschlag eines Asteroiden auf Grönland, der zu einem schnellen
Abschmelzen des Eispanzers führen würde. Wobei fraglich wäre, ob das
Eis tatsächlich schmelzen würde. Gut, das wäre dann in der Tat eine Frage,
die das Projekt beantworten musste. Aber von welchen
Wahrscheinlichkeiten sprach man hier? Ein Asteroideneinschlag,
ausgerechnet auf Grönland? Oder konnte ein Asteroid einen
Kontinentalhang zum Einsturz bringen? Außerdem hätte der Aufprall
eines großen Asteroiden bei Weitem schwerwiegendere Folgen als ein
Versiegen des Golfstroms.
Was aber würde geschehen, wenn ein solcher Gesteinsbrocken genau
in der Yellowstone Caldera landete? Sowohl der Himmelskörper als auch
die Asche führten zu einem vulkanischen Winter. Aber beides
gleichzeitig? Doch, das wäre schon eine handfeste Apokalypse. Was
könnte man aber dagegen tun? Abwehrsysteme im Weltall installieren?
Aber gab es die nicht längst? Und auch hier stellte sich die Frage nach der
Wahrscheinlichkeit. Ein Asteroideneinschlag ausgerechnet im Yellowstone
Nationalpark. Nette Geschichte für einen Blockbuster á la The Day After
Tomorrow. Aber kein Grund, zig Millionen Dollar zu investieren.
Foley war verunsichert. Die nächste Pause musste er nutzen, um
Shoemaker darauf anzusprechen. Da bestand Klärungsbedarf. Ungeduldig
folgte er dem Vortrag des Asiaten nur noch mit einem Ohr. Endlich verließ
der Mann die Bühne. Foley sprach Shoemaker unvermittelt auf die
Definition von exogenen Einflüssen an.
Shoemaker setzte eine geheimnisvolle Miene auf. „Asteroiden
wären, wie Sie selbst sagen, ein exogener Faktor. Aber ein höchst
unwahrscheinlicher. In unseren Projekten geht es um etwas anderes. Etwas,
das viel wahrscheinlicher ist als ein Asteroid. Und naheliegender. Direkt
nebenan.“
Foley hatte keine Ahnung, wovon der Mann sprach. „Was für
näherliegende exogene Faktoren sollen das sein, die einen Supervulkan
zum Ausbruch bringen könnten?“
Shoemaker lächelte. „Denken Sie doch mal an den Menschen.“
„Ich verstehe rein gar nichts. Und ich mag diese Art von Spielchen
nicht.“
„Sagen wir mal so, Dr. Foley: Alles Wissen dieser Welt haben nicht
nur die Guten.“
Foleys Blick verfinsterte sich. „Würden Sie bitte aufhören, in
Rätseln zu sprechen, und meine Frage beantworten?“
Shoemaker legte eine Hand auf Foleys Arm und sah ihn schweigend
an. Dann sagte er: „Ich spreche von Terrorismus, Dr. Foley.“
Jetzt war Foley noch verwirrter. Shoemaker schien seine Verwirrung
zu bemerken, denn endlich setzte er zu einer Erklärung an.
„Ich spreche von der Bedrohung des Menschen durch den Menschen.
Ein Supervulkan bricht garantiert irgendwann aus. Darauf haben wir
keinen Einfluss. Wir können nur beten, dass es noch möglichst lange
dauert. Asteroiden können wir versuchen, mit Abwehrsystemen im Weltall
zu stoppen. Worüber indes noch nie jemand nachgedacht hat, ist die
Möglichkeit, dass der Mensch selbst ein solches Ereignis auslöst.
Vorsätzlich.“
Foley betrachtete Shoemaker aus zusammengekniffenen Augen.
Meinte der Mann das ernst? „Wollen Sie mir allen Ernstes weismachen,
dass Sie es für denkbar halten, dass Terroristen einen Supervulkan zum
Ausbruch bringen? Und selbst wenn das möglich wäre, was ich für
ausgeschlossen halte, mit welchem Ziel sollten sie das tun?“
„Das Ziel verblendeter Terroristen muss uns nicht interessieren.
Solche Menschen folgen nicht den Gesetzen der Logik. Wir gehen davon
aus, dass sie es tun würden, wenn sie die Gelegenheit dazu hätten. Und ob
das möglich wäre, kann ich nicht beurteilen. Diese Frage zu beantworten,
ist ja gerade Ziel Ihres Projektes. Sollten Sie zu dem Schluss kommen,
dass Terroristen technisch zu einem solch apokalyptischen Anschlag in der
Lage wären, würden wir zunächst die betroffenen Regierungen
informieren, dann die Öffentlichkeit. Solche Anschläge könnten dann
verhindert werden.“
Foley überfielen vage Zweifel, ob es klug war, sich auf dieses
Projekt einzulassen. Er hatte sich zu sehr von dem Dollarzeichen in seinen
Augen leiten lassen. Andererseits waren Shoemakers Gedankenspiele gar
nicht so abwegig. Jedenfalls naheliegender als ein Asteroid. „Sind alle
Projekte auf diese Frage ausgerichtet?“
Shoemaker nickte. „Im Endeffekt schon.“
„Und was sagen meine Kollegen dazu? Oder haben Sie die noch
nicht darauf angesprochen?“
Shoemaker schmunzelte. „Doch, haben wir. Viel früher als Sie,
ehrlich gesagt. Alle sind von der Relevanz dieser Thematik überzeugt.
Wobei es leichter ist, sich vorzustellen, dass Terroristen Anschläge mit
Viren verüben, als dass sie einen Supervulkan in die Luft jagen oder den
Golfstrom zum Erliegen bringen. Aber wenn Ihre Forschung, Dr. Foley,
oder die von Chang Zhou, zu dem Ergebnis kommt, dass ein solcher
Terroranschlag faktisch unmöglich ist, ist auch das ein Ergebnis. Und zwar
ein verdammt gutes. Wir haben uns auf die Fahne geschrieben, keine
Bedrohung außer Acht zu lassen. Das kann ein Asteroid sein. Das kann
jedoch auch ein Terroranschlag sein. Ich werde aber den Terrorismusaspekt
nochmals zur Sprache bringen. Damit es keine Missverständnisse gibt.“
Diese Erklärung konnte Foley akzeptieren. Sie machte Sinn.
Außerdem war eine Forschung unter diesem Aspekt eine neue
Herausforderung. Wie könnten Terroristen einen Supervulkan in die Luft
jagen? Selbstmordattentäter mit Sprengstoffgürteln? Der Vulkan würde
nicht einmal husten. Bomben? Dieselbe Reaktion. Es brauchte mehr als
ein paar Bomben, um einen Supervulkan zu aktivieren. Das wusste Foley
auch ohne Forschung. Er spürte nun doch eine gewisse
Aufbruchstimmung. Er war sich sicher, dass ihm bei seinen Forschungen
bessere Ideen kamen als ein bisschen TNT.
Shoemaker ging auf die Bühne und schnappte sich das Mikrofon. Er
sprach die Möglichkeit von Terroranschlägen direkt an. Schnörkellos kam
er zur Sache. Foley beobachtete die anderen Gäste. Die meisten reagierten
mit einem Kopfnicken, einige hörten gar nicht zu, sondern widmeten sich
weiterhin ihren Gesprächspartnern. Anscheinend hatten sie sich schon
vorher Gedanken zu den Gefahren durch Terroranschläge gemacht. Foley
spürte eine gewisse Form von Scham in sich aufsteigen.
Shoemaker brauchte keine zwei Minuten für seinen Hinweis. Er kam
zurück an Foleys Tisch. „So, Dr. Foley, jetzt habe ich es offiziell zur
Sprache gebracht. Ich denke, Sie waren zu überrascht, als ich dieses
Thema angeschnitten habe. Sie haben vorher nicht darüber nachgedacht.“
Gerade als Foley fragen wollte, ob ihm für sein Projekt relevante
Experten zur Verfügung standen, etwa Waffenspezialisten, gesellten sich
der Asiate und seine sphärische Schönheit zu ihnen. Sie war aus der Nähe
noch schöner. Helle, makellose Haut. Dichtes blondes Haar. Wie ein Engel.
Bildschön. Eisblaue Augen, sanfter, aber durchdringender, fast stechender
Blick. Ein äußerlich zartes Wesen, aber sprudelnd vor Energie und
Selbstbewusstsein. Interessante Gegensätze.
Die Frau stellte sich als Rebecca Eliot vor. Sie war die Freundin des
Asiaten und Mitglied seines Projektteams. Sie sprachen in lockerem
Smalltalk über ihre Projekte, ihre Herkunft, ihre Berufe. Rebecca Eliot war
sehr eloquent. Man merkte dem Asiaten einen fast demütigen Respekt an.
Und große Bewunderung. Zhou sprach kaum. Er hielt Rebeccas Hand und
himmelte sie an.
Vielleicht brauchte diese Frau genau das: ein unscheinbares,
hechelndes Hündchen, das sie von morgens bis abends bewunderte. Das
Letzte, was Rebecca, nicht etwa Zhou, zum Ausdruck brachte, bevor das
Abendessen angekündigt wurde, war ihr Bedauern darüber, dass Zhous
Partner beim Wetterdienst, Sharif ibn Abdulaziz, dem Ruf der Stiftung
nicht gefolgt war.
Foley wandte sich bewusst dem Asiaten zu und fragte ihn nach dem
Grund der Ablehnung. Jetzt blickte Zhou ihm zum ersten Mal in die
Augen. Ein offener Blick. Er wirkte sympathisch. Und durchaus
selbstbewusst. Er hatte scheinbar zwei Gesichter. Eines ohne Rebecca
Eliot. Und eines mit.
„Aus mehreren Gründen“, erklärte er. „Jemand muss sich um
unseren Wetterdienst kümmern. Die nächste Zeit stecken wir alle rund um
die Uhr in unseren Projekten. Ich falle also vorläufig aus. Das passt
meinem Partner überhaupt nicht. Aber er kann sich auch nicht mit den
Zielen der Stiftung identifizieren. Er unterstellt ihr sogar unlautere
Absichten. Glaubt, dass sie das Wissen aus den Projekten nicht nutzen
will, um es den Regierungen zur Verfügung zu stellen, sondern um es an
den Meistbietenden zu verkaufen. Aber wir wissen es besser, nicht wahr,
mein Engel?“
Sofort änderte sich seine Ausstrahlung wieder. Er himmelte Eliot an
und schien in eine andere Dimension zu wechseln.
Sie streichelte Zhou, der einen halben Kopf kleiner war als sie, über
die Wange. Eher wie bei einem Kind als bei seinem Lebensgefährten,
dachte Foley irritiert. „Sicherlich, Darling. Aber du hast Sharif auch zu
viel erzählt. Konntest deine Begeisterung nicht zügeln. Du sollst ja auch
begeistert sein. Aber du bist Wissenschaftler. Du weißt, wann
Begeisterung passend ist und wann nicht. Wäre dein Partner gekommen,
hätten wir ihn überzeugen können. Aber so müssen wir gar befürchten,
dass er uns irgendwo anschwärzt oder unseren Ruf durch den Kakao zieht,
bevor wir an die Öffentlichkeit getreten sind. Das ist höchst unerfreulich.
Um nicht zu sagen: ein großes Ärgernis!“
Zhou schüttelte den Kopf. „Nein, so etwas würde Sharif niemals tun.
Er ist mir gegenüber hundertprozentig loyal. Ich habe ihm klar gemacht,
wie wichtig Diskretion für AURORA ist. Wir haben ausgemacht, dass er
sich während meiner Abwesenheit um unseren Wetterdienst kümmert und
wir uns bei meinem ersten Urlaub näher über AURORA unterhalten.“
Rebecca lächelte sanft und tätschelte Zhous Arm. „Aber du hast
schon verstanden, dass er dafür eine Menge Geduld aufbringen muss?“
Zhou wirkte ehrlich überrascht. „Wie meinst du das?“
Rebecca nahm Zhous Hände in ihre. Eigentlich eine sehr liebevolle
Geste. Doch in dem Blick der Frau lag etwas, das dazu in einem
Widerspruch stand. Sie sagte mit sanfter Stimme: „Während des Projektes
darf niemand sein Team verlassen. Wir bleiben bis zum Schluss
zusammen. Unsere Projektserie ist einzigartig. Weder die Öffentlichkeit
noch die Politik dürfen zu früh davon erfahren. Und erst recht keine
islamistischen Terrorgruppen. Deshalb bleiben wir zusammen. Deshalb
gibt es in dieser Zeit keinen Kontakt zur Außenwelt. Und deshalb haben
wir darauf bestanden, dass die Familien mitkommen und für die Kinder
eine Kinderbetreuung und eine Schule eingerichtet. Und für die
Studierenden haben wir Verträge mit Fernuniversitäten abgeschlossen.“
„Das habe ich wohl verdrängt“, sagte Zhou mit Unbehagen in der
Stimme, „Sharif geht davon aus, dass wir uns in ein paar Wochen sehen.
Zumal in einem so großen Wetterdienst eine Menge Arbeit anfällt. Was
mache ich jetzt nur?“
Foley verfolgte die Unterhaltung mit einem Gefühl der Befremdung.
Dieser Zhou schien ausgesprochen naiv zu sein. Rebecca hingegen das
genaue Gegenteil. Es passte nicht, dass sie mit ihm zusammen war. Sie
befanden sich nicht auf Augenhöhe. Foley hatte das Gefühl, dass Rebecca
etwas anderes von Zhou wollte. Es ging ihr gar nicht darum, angehimmelt
zu werden. Ihr Tonfall verhärtete sich nur eine Nuance, aber das reichte,
um Zhou zusammenzucken und die Stimmung spürbar abkühlen zu lassen.
„Ich habe dir das bei deinem ersten Besuch unmissverständlich
gesagt. Und du hast zu allem Ja und Amen gesagt. Du bist viel zu tief
involviert. Du kannst nicht nach Peking fliegen, und du kannst auch nicht
mit Sharif telefonieren. Mehr als diese Bedingungen klar und deutlich
anzusprechen, kann ich nicht. So steht es auch in dem Vertrag, den du
unterschrieben, aber vermutlich nicht gelesen hast. Ich nehme an, Ihnen
war das von Anfang bewusst, Dr. Foley?“
Sie sah ihn nur kurz an, aus dem Augenwinkel heraus. Dennoch
fröstelte er. Sie war ein Vulkan. Und sie war ein Eisberg. Allerdings hatte
sie recht, mit dem was sie sagte. Er nickte.
Rebecca wandte sich wieder Zhou zu, der nachgerade verstummt
war. „Du siehst also, dass der Fehler allein bei dir liegt. Das ist auch nicht
weiter schlimm. Du musst jetzt halt nur dazu stehen. Viel schlimmer ist
die Tatsache, dass du Sharif zu viel erzählt hast. Ich habe darauf vertraut,
dass du ihm nicht mehr sagst, als dass er dich begleiten darf. So wie du es
mir versprochen hast! Das war ein großer Fehler von dir!“
Zhou duckte sich unter Rebeccas vorwurfsvollem Blick und Tonfall
geradezu weg. Sie übte unverkennbar große Macht auf ihn aus. Shoemaker
hatte die Szene mit einem herablassenden Lächeln verfolgt. Foley
überkam das Gefühl einer latenten Bedrohung. Vielleicht irgendein
verloren geglaubter Instinkt. Irgendetwas stimmte nicht mit dieser
Stiftung.
Kapitel 21
Peking, wenige Tage später
Er kniete seit Stunden zusammengekauert hinter dem VW Transporter, der
von Anfang an dort stand. Wahrscheinlich war der Halter vereist. Gut für
seinen Auftrag. Er kannte sein Ziel, das Was. Aber nicht das Warum. Das
musste er auch nicht. Er wurde nur für das Was bezahlt. Und zwar sehr gut.
Wie in Syrien vereinbart, hatten ihn Mittelsmänner kontaktiert, im
Sinne seiner Regel, den Auftraggeber niemals persönlich kennenzulernen.
Denn das bedeutete auch für ihn eine Gefahr. Dass er es mit Profis zu tun
hatte, war klar. Auch, dass der Auftraggeber ein hohes Tier sein musste.
Wahrscheinlich eine Regierung. Oder ein Geheimdienst. Doch das war
unwichtig. Wichtig war hingegen, dass er wie vereinbart eine
Vorauszahlung bekommen hatte. In bar, wie bei solchen Geschäften
üblich.
Unüblich war hingegen die Höhe des Vorschusses. Denn in dem
Koffer befanden sich nicht zweihunderttausend, sondern
fünfhunderttausend Dollar. Und ein Zettel mit dem Hinweis, dass dies ein
Vertrauensvorschuss sei, der sich danach nochmals verdopple. Ein Grund
mehr, keine Fragen zu stellen. Wer freiwillig so viel zahlte, hatte auch viel
zu verlieren.
Nach Erledigung des Auftrags wollten die Mittelsmänner wieder auf
demselben Weg mit ihm in Kontakt treten. Indem sie plötzlich in einer
Seitengasse vor ihm standen. Also hatten sie ihn überwacht. Professionell,
aber unheimlich. Denn er war unsichtbar. Diesmal hätte er gerne erfahren,
wer am Anfang des Deals stand.
Nachdem er den Koffer in ein Schließfach gelegt hatte, niemals
rührte er einen Vorschuss an, bevor der Auftrag erledigt war, hatte er
begonnen, das Ziel auszukundschaften. Eine lückenlose, solide Analyse
war der Grundpfeiler des Erfolgs. Nicht den kleinsten Fehler durfte er sich
erlauben. Er befand sich inmitten einer Stadt mit neun Millionen
Einwohnern. Da ging es um Millimeterarbeit. Hier gab es, anders als in
Syrien, keine Feinde, aber Hunderte Zeugen.
Leider hatte ihm der Auftraggeber, entgegen der Absprache, nur eine
kurze Bearbeitungszeit eingeräumt. Binnen einer Woche musste der
Auftrag erledigt sein. Das passte ihm nicht. Er war es gewohnt, ruhig und
ohne Zeitdruck die notwendigen Informationen zu sammeln und daraus
eine zielgerichtete Strategie abzuleiten. Vielleicht war das der Grund für
die Verdoppelung seines Honorars.
Vier Tage waren schon vorbei. Und was hatte er herausgefunden? Er
kannte den Beruf des Ziels. Er wusste, wo es wohnte. Dass es joggen ging.
Aber ob es das in einem festen Rhythmus tat, wusste er nach der kurzen
Zeit nicht. Den Weg zum Arbeitsplatz und zurück ging es zu Fuß. Nie zur
selben Zeit, aber stets umgeben von Auto- und Menschenmassen. Weitere
Aktivitäten, insbesondere regelmäßige und damit für ihn planbare, waren
nicht zu verzeichnen.
Sein Arbeitsplatz und seine Wohnung im achten Stock befanden sich
in belebten Vierteln. Vor dem straßenseitigen Fenster seiner Wohnung
waren die Gardinen immer zugezogen. Vielleicht befand sich dahinter das
Schlafzimmer. Das rückseitige Fenster hatte zwar keine Vorhänge. Aber
dort gab es keinen Beobachtungsposten. Also schied die Wohnung als Ort
der Auftragserfüllung aus. Es sei denn, er würde..
Vielleicht eine letzte Alternative, wenn ihm nichts Besseres einfiel.
Dann musste er aber gehörig umdisponieren. Und das in so kurzer Zeit.
Am Arbeitsplatz sah es nicht besser aus. Mehrstöckiges Gebäude,
Pförtner, Sicherheitsdienst und ein turmartiger Aufbau auf dem Flachdach
mit riesigen Antennen. Räume mit und ohne Fenster, einige mit
heruntergelassenen Jalousien. Vielleicht Technik- und Serverräume.
Ideal wäre ein Büro, in dem sich das Ziel jeden Tag aufhielt. Denn
fünfzig Meter vis-à-vis befand sich das Parkhaus mit dem Transporter.
Ideal für seinen Job. Gute Verstecke zwischen den Autos. Vor allem hinter
dem Transporter. Optimaler Schusswinkel. Weil das Ziel das Gebäude
bislang erst nach Einbruch der Dämmerung verlassen hatte, bot Selbige
eine weitere, natürliche Tarnung. Aber leider hatte das Ziel kein solches
Büro. Entweder es war ständig zwischen den verschiedenen Abteilungen
unterwegs oder es arbeitete in einem der Technikräume. Ein- bis zweimal
täglich tauchte es in einem Raum mit Fenstern auf. Das wäre eine gute
Gelegenheit. Aber nicht planbar.
Da er nicht mehr herausgefunden und keine Zeit für eine solide
Observierung hatte, gab es nur zwei Möglichkeiten. Die eine war, im
Schutz des Transporters auf eine gute Gelegenheit zu warten. Er hatte sich
aufgrund des urbanen Umfelds für die WSS-Wintores entschieden, das
Gegenteil des M107, das er in Syrien eingesetzt hatte. Kaliber 9x39,
sowjetische Unterschall-Mittelpatronen. Hohe Präzision bis zweihundert
Meter. Der größte Vorteil der Waffe, die schon in den
Tschetschenienkriegen zum Einsatz gekommen war, war der bereits
integrierte Schalldämpfer, der beinahe völlige Lautlosigkeit
gewährleistete. Und die war hier wichtiger als in Syrien. Mit einer Länge
von knapp unter einem Meter war es auch nicht besonders groß. Er konnte
so dicht an den Transporter heranfahren, dass er das Gewehr unbeobachtet
dahinter verbergen konnte. Das hatte er ein paar Mal geübt. Sollte sich
ihm jemand nähern, was unwahrscheinlich war, weil er gar nicht erst
gesehen wurde, konnte er das Gewehr unter den Transporter schieben.
Sicherlich keine Ideallösung für einen Profi wie ihn, aber der
bestmögliche Kompromiss angesichts des Zeitdilemmas.
Er musste versuchen, das Ziel innerhalb des Gebäudes oder auf der
Straße zu liquidieren. Aber dafür brauchte er Glück. Und daran glaubte er
nicht. Abgesehen davon, dass der Winkel zur Straße ungünstig war, musste
er das Ziel auch frei anvisieren können. Nicht umgeben von
undurchdringlichen Menschenmassen. Aber vielleicht gab es ja diese eine
Chance.
Gab es sie nicht, würde er es morgen versuchen. Blieb auch das
erfolglos, griff übermorgen Plan B. Er hatte zwar noch einen Tag mehr zur
Verfügung. Aber eine weitere Regel sah vor, ein Zeitkontingent niemals
bis zur allerletzten Reserve auszuschöpfen.
Kapitel 22
Adams Island, zwei Tage später
Kim Foley hatte sich drohend vor ihrem Mann aufgebaut. Sie wollte nur
noch weg von dieser Insel. Weg von diesen Geistesgestörten. Nach Hause
in ihr geliebtes Heim und ihre vertraute Umgebung. Nachdem Mason ihr
von dieser merkwürdigen Rebecca und ihrem Sklaven erzählt hatte und sie
diese impertinente Person beim Abendessen, bei dem Mason sie lüstern
angestarrt hatte, auch noch selbst kennenlernen musste, stand ihr
Entschluss fest. Sie würde keinen Tag länger bleiben als nötig.
Sie war davon ausgegangen, dass Mason das genauso sah. Irrtum. Er
hatte versucht, ihre Einwände zu entkräften. Die Aussicht, sich aus einer
unerschöpflichen Geldquelle zu bedienen, um einen Supervulkan zu
erforschen, machte ihn anscheinend blind. Als verpflichtenden Dienst an
der Menschheit hatte er sein Projekt bezeichnet. Er war überzeugt, dass die
Analyse von Faktoren, die so ein Ding hochgehen lassen konnten, die
Menschheit vor dem Untergang bewahren würde.
Wie hatte er es nach dem Abendessen so schön formuliert? Es ist
leichter, externe Faktoren zu eliminieren als einen Supervulkan
beherrschen zu wollen.
Sie hatte auch nichts gegen das Projekt ihres Mannes. Er war
Vulkanologe mit Leib und Seele. Das war er auch schon, als sie ihn
kennenlernte. Sie akzeptierte das, auch wenn es ihr schwerfiel, ihm zu
folgen, wenn er in epischer Breite über die unterschätzte Macht der
Vulkane schwadronierte. Sie hatte trotzdem keine Angst, ihr Leben wegen
irgendeines Vulkanes zu verlieren. Egal, ob Super oder nicht.
Doch hier ging es nicht um externe Faktoren. Da wurden
Wissenschaftler aus aller Welt mit Wahnsinnsprojekten und einem
Vermögen auf eine abgelegene Insel gelockt. Angeblich wegen der
Geheimhaltung. Deshalb durfte auch niemand sein Team verlassen, das
von Vertretern der Stiftung geleitet wurde. Kontrolliert traf es wohl besser.
Sie hatte letzte Nacht kein Auge zugetan. Immer wieder hatte sie
sich gefragt, was hinter dieser ominösen Stiftung steckte. Fakt war, dass
sie gesetzeskonform gegründet worden war und ihr Zweck in den Statuten
stand. Mason hatte sich informiert. Alles hatte seine Ordnung. Es gab
keinen objektiven Grund für ihr Misstrauen. Doch ihre Intuition
signalisierte ihr Gefahr. Vor allem diese Rebecca strahlte genau das aus:
Gefahr. Und dass sie sich diesen gesichtslosen Asiaten hörig gemacht
hatte, war offensichtlich. Fragte sich nur, warum. Aus Liebe sicherlich
nicht. Nein, hier stimmte etwas nicht. Zeit für den Rückzug.
Sie funkelte ihren Mann aus wütenden Augen an: „Mason, ich sage
es jetzt zum letzten Mal: Pack deinen Koffer. Wir reisen sofort ab!“
Auch Masons Tonfall wurde eine Nuance aggressiver. „Das kommt
überhaupt nicht infrage! Dieses Projekt ist eine einmalige Chance für
mich! Damit kann ich mir selbst ein Denkmal setzen. Der Yellowstone ist
längst überfällig! Wenn der ausbricht, ist es mit deiner schönen heilen
Welt vorbei. Nur interessiert dich das leider genauso wenig wie den Rest
der gleichgültigen Menschheit. Folglich liegt es auf der Hand, zu
erforschen, was seinen Ausbruch forcieren könnte und diese Bedrohungen
zu beseitigen oder zumindest ihre Eintrittswahrscheinlichkeit zu
untersuchen.
Du immer mit deinen Gefühlen. Wenn ich daran denke, was für einen
Aufstand du gemacht hast, als ich für ein halbes Jahr nach Island sollte.
Von politischen Verschwörungen hast du gefaselt. Glaub mir, du siehst zu
viel fern. Und jetzt beruhige dich wieder, gleich komme ich zum ersten
Mal mit meinem Team zusammen. Da kann ich solche Diskussionen
überhaupt nicht gebrauchen.“
Doch Kim ließ sich nicht beirren. Sie schob Mason mit dem Koffer
in der Hand beiseite. „Wenn du unbedingt bleiben willst, kann ich dich
nicht daran hindern. Aber ich werde gehen. Und die Kinder nehme ich
mit.“
„Du weißt doch, dass das nicht geht. Wir haben einen Vertrag
unterschrieben.“
„Und wenn schon. Da wusste ich auch noch nicht, was uns hier
erwartet.“
„Außerdem kommst du hier nicht weg. Oder gedachtest du zu
schwimmen?“
„Ich bin ein freier Mensch. Wenn ich hier weg will, muss mich die
Stiftung zum Festland bringen. Von mir aus sollen sie mich ruhig
verklagen. Dem sehe ich gelassen entgegen.“
„Kim, bitte! Du bringst damit das ganze Projekt in Gefahr!“
„Dir geht es doch um die Rettung der Menschheit, nicht wahr?“
„Nicht so pathetisch bitte. So habe ich das nicht gesagt.“
„Aber es geht dir nicht um deine Eitelkeit und deinen Stolz?“
„Natürlich nicht. So gut solltest du mich kennen.“
Sie lächelte. „Gut, wenn das so ist, dann komm mit. Die finden
problemlos Ersatz für dich. Der kann dann an deiner Stelle die Menschheit
retten. Ganz so einzigartig bist du nämlich gar nicht.“
Mason schüttelte resigniert den Kopf. „Nein, werden sie nicht. Die
haben mich nicht zufällig ausgewählt, sondern weil ich der Beste bin. Aber
wenn du unbedingt deinen Dickkopf durchsetzen willst, bitte. Dann geh
ruhig. Aber die Kinder bleiben hier.“
Kim dachte darüber nach. Die Mädchen fühlten sich hier wohl. Sie
fanden das ungeheuer spannend. Die Stiftung kümmerte sich vorbildlich
um sie. Kim fürchtete sich auch nicht um Leib und Leben. Sie hatte Sorge,
dass hier etwas Illegales im Gang war. Außerdem langweilte sie sich, im
Gegensatz zu ihren Töchtern, zu Tode. Es gab kaum Freizeitmöglichkeiten,
die Suite war äußerst dürftig, weit unter ihrem Niveau. Und nach
Smalltalk mit langweiligen Professorengattinnen stand ihr nicht der Sinn.
„Okay“, sagte sie, „wir fragen sie. Sie sollen selbst entscheiden.
Einverstanden?“
Mason nickte. Ihr blieb nicht verborgen, wie enttäuscht er war. Aber
sie konnte darauf keine Rücksicht nehmen. Sie musste weg von hier. Der
Gedanke, ihre Familie monatelang nicht zu sehen und zu hören, war zwar
auch nicht viel besser, doch auch diese Zeit ging vorüber. Das war
schließlich nicht das erste Mal.
Die Mädchen waren sich sofort einig: Sie wollten bleiben. Kim
beugte sich ihren Wünschen und erinnerte Mason an seine Verantwortung
als Vater. Kurz darauf standen sie in Shoemakers Büro. Dieser rothaarige
Ire war auch da. Shoemaker war wenig begeistert. Er hob die Bedeutung
des Projektes hervor. Die Notwendigkeit der Geheimhaltung. Und den
Vertrag, den Kim unterschrieben hatte. Doch ihr Entschluss stand fest.
Noch heute wollte sie zum Festland gebracht werden.
„Miss Foley, wollen Sie sich das nicht noch mal überlegen? Sie sind
wichtig für Ihren Mann! Er braucht Sie hier. Was meinen Sie, weshalb wir
so viel Geld in die Hand nehmen, um die Familien bei uns unterzubringen?
Außerdem haben wir ein Freizeitprogramm mit vielen Ausflügen und
Events zusammengestellt. Da ist doch bestimmt auch etwas für Sie dabei.“
Doch Kim Foley blieb bei ihrem Entschluss.
„Gut“, sagte Shoemaker nachdenklich, „dann gedulden Sie sich noch
einen Augenblick. Ich muss zuerst den Skipper instruieren. Warten Sie in
Ihrer Suite. Der Mann holt Sie dort ab. Und denken Sie an die
Verschwiegenheitserklärung! Sie kennen die Folgen bei
Zuwiderhandlungen! Ihnen muss auch bewusst sein, dass Sie während des
Projektes keinen Kontakt zu Ihrer Familie haben werden. Und das kann
lange dauern.“
Schweigend kehrten sie zurück in ihre Suite. Jetzt, da der Abschied
für lange Zeit feststand, überkam sie Traurigkeit. Doch ihnen blieb kaum
Zeit für eine lange Verabschiedungszeremonie, denn schon nach wenigen
Minuten klopfte es an der Tür. Kim öffnete und sah in das Gesicht eines
großen, dunklen Mannes, der etwas Animalisches hatte. Sie blickte über
die Schulter zurück. Mason stand mit den Kindern hinter ihr. Er glotzte
den schwarzhaarigen Kerl mit offenem Mund an. Doch der lächelte
freundlich und offenbarte einen gewissen Charme, der in einem krassen
Gegensatz zu seinem äußeren Erscheinungsbild stand.
„Mein Name ist Tarkan Jafari“, stellte er sich vor. „Ich bringe Sie
zum Festland, Miss Foley. Abschied ist ein scharfes Schwert“, sagte er zu
Mason, „doch auch diese Zeit geht vorbei.“
Mason blickte Kim nach, die hinter Jafari die Treppe hinunterging.
Auf dem Treppenabsatz drehte sie sich noch einmal um und warf ihm
einen letzten Luftkuss zu.

***

Kim Foley stand am Bug des Schiffes und genoss den Wind in ihrem
Gesicht. Tarkan Jafari hatte ihre Koffer in den Jeep getragen und war
querfeldein mit ihr an die Küste gefahren, wo das schnittige Motorboot
bereitstand. Jafari redete kaum. Eigentlich gar nicht. Aber er hatte gute
Umgangsformen und war höflich.
Sie hatte widersprüchliche Gefühle. Einerseits vermisste sie ihre
Familie schon jetzt. Nie zuvor waren sie so lange getrennt gewesen. Und
nie zuvor waren die Kinder während eines Projektes bei ihrem Vater
gewesen. Andererseits hatte sie in der merkwürdigen Zentrale der Stiftung
fast Platzangst bekommen. Vielleicht hatte das ihre Zweifel genährt.
Vielleicht lag sie auch falsch.
Doch jetzt fühlte sie sich, mit der Nase im Wind auf diesem
schnellen Schiff, wie befreit. Wenn sie zuhause war, würde sie all die
Dinge tun, die nicht möglich waren, wenn man sich die ganze Zeit um die
Familie kümmern musste. Endlich mal den Garten auf Vordermann
bringen. Sich mit Freundinnen treffen, eine Wellnesswoche in einem
schicken Hotel. Außerdem las sie für ihr Leben gern. Langeweile würde
nicht aufkommen. Und warum sollte sie, falls sie es sich doch noch anders
überlegte, nicht zu der Insel zurückkehren können?
Kim schaute auf ihre Armbanduhr. 14.30 Uhr. Noch fünf Stunden bis
zum Festland. Dann Weiterflug nach Sidney. Spontan beschloss sie, dort
ein paar Tage zu bleiben, um sich die Stadt anzuschauen. Denn ab Sidney
hatte die Stiftung keinen Flug mehr für sie gebucht. Dort war sie auf sich
alleine gestellt. Und Sidney hatte auf ihrer Wunschliste schon immer weit
oben gestanden.
Sie blickte in die Ferne. Wasser, soweit das Auge reichte. Irgendwie
majestätisch, dachte sie. Sie nahm bewusst den Geschmack des salzigen
Wassers wahr, genoss die Wasserspritzer der Gischt in ihrem Gesicht.
Doch plötzlich wurde das Boot langsamer. Was mochte der Grund
sein? Vielleicht eine gefährliche Oberströmung? Sie blickte sich um,
konnte aber keine verräterischen Wirbel im Ozean entdecken. In diesem
Augenblick kam das Boot ganz zum Stillstand und der Motor wurde
abgeschaltet. Hatten sie etwa einen Motorschaden? Die Vorstellung, dem
Ozean, allein mit diesem finsteren Araber, in einem fahruntüchtigen Boot
ausgesetzt zu sein, erfüllte sie mit Unbehagen.
Als sie in Richtung Führerkabine ging, um sich nach dem Grund des
Stopps zu erkundigen, kam ihr Jafari entgegen. Sie bemerkte das Funkeln
in seinen pechschwarzen Augen, das sie sofort in Panik versetzte. Sie
drehte sich instinktiv um, auf der Suche nach einer Fluchtmöglichkeit.
Doch wo sollte es auf einem Boot in der Weite des Meeres eine
Fluchtmöglichkeit geben? Sie ging auf den Skipper zu. Wahrscheinlich
gab es eine harmlose Erklärung. Ein Motorschaden, zum Beispiel. Als sie
dicht vor ihm stand, fragte sie, warum er das Boot gestoppt hatte.
Jafari lächelte. Mitleidig, wie es ihr schien. Er griff in sein Jackett.
„Ich befürchte“, sagte er leise, aber bedrohlich, „es war eine
Fehlentscheidung, nicht bei Ihrem Mann zu bleiben.“
Kapitel 23
Peking
Seine Rechnung war nicht aufgegangen. Stundenlang hatte er hinter dem
Transporter ausgeharrt und auf die eine Chance gewartet, dass das Ziel in
einen Raum mit Fernstern kam, sich ruhig verhielt und nicht abgeschirmt
wurde. Um dann freihändig zu zielen und sofort abzudrücken.
Fünfmal war das Ziel hinter einem Fenster aufgetaucht. Das erste
Mal im fünften Stock, zweites Fenster von links, dann, zehn Minuten
später auf derselben Etage, drittes Fenster von rechts. Er hatte kaum fünf
Sekunden freie Schussbahn. Zu wenig für einen platzierten Schuss und die
Gewissheit, dass es sich wirklich um das Ziel handelte. Er hatte
Adleraugen, aber wenige Sekunden durch ein geschlossenes Fenster...
Danach geschah zwei Stunden nichts. Schließlich tauchte das Ziel im
ersten Stock auf. Dasselbe: Keine fünf Sekunden freies Schussfeld. Es gab
noch zwei Sichtkontakte. Beide zu kurz.
Als das Ziel das Gebäude verließ, war es fast Nacht. Auf den Straßen
herrschte dennoch dichtes Gedränge. Er hatte nicht den Hauch einer
Chance für einen platzierten Schuss. In diesem Augenblick tat er etwas,
was er noch nie getan hatte. Er änderte seinen Plan. Er würde dieses
hoffnungslose Unterfangen am folgenden Tag nicht wiederholen. Vielmehr
griff sofort Plan B.
Und weil er keinen Plan C hatte, nutzte er den folgenden Tag für eine
genaue Umfeldanalyse der Wohnung. Was ihm schon zuvor positiv
aufgefallen war, war die Feuerleiter auf der Rückseite des Gebäudes, das
mit einigen anderen einen weitläufigen Hinterhof bildete, in dem sich
abends, wenn das Ziel zuhause war, niemand aufgehalten hatte.
Damit regelte sich Plan B von selbst. Am Anfang stand die Wahl des
Weges. Der beste, weil am wenigsten frequentierte, war der um das
Nachbargebäude herum. Ein Sprung über einen Zaun, und schon war er in
dem Hinterhof. Dann im Schutze der Dunkelheit zur Feuerleiter laufen,
und dann...
Er fuhr in seine Absteige am Stadtrand und tauschte die WSS-
Wintores gegen eine Glock, 9 mm Luger, mit Schalldämpfer.
Dreiunddreißig-Schuss Magazin, leicht zu handhaben, zuverlässig. Dann
packte er geeignete Kleidung in seinen Straßenrucksack. Schwarz. Dazu
schwarze Sturmmaske, Sneakers mit Gummisohlen, sicherheitshalber mit
Alufolie umwickelt. Sein Smartphone mit Prepaid-Karte, um das
vereinbarte Video zu drehen. Er stellte es auf lautlos. Dann fuhr er zurück
in die Stadt.
Er erreichte das Zielgebäude um 18.07 Uhr. Den Wagen hatte er
etwas abseits geparkt, damit es später keine Zeugen gab, die ein
verdächtiges Fahrzeug in der Nähe des Tatortes gesehen hatten. Den Rest
ging er zu Fuß. Mitten durch die Menschenmassen. Er fiel genauso wenig
auf wie jeder andere in diesem Gewühl.
Jetzt musste er warten, bis das Ziel nach Hause kam. Er wechselte
oft den Standort, um nicht aufzufallen, indem er sich zu lange an einem
Ort aufhielt. Er ging in Geschäfte, trank einen Kaffee in einer Bar,
betrachtete Auslagen. Den Hauseingang verlor er keinen Moment aus den
Augen. Sollte das Ziel wider Erwarten nicht kommen, hatte er noch ein,
vielleicht zwei Tage für einen neuen Versuch.
Doch diesmal hatte er Glück. Eine Stunde später, exakt um 19.08
Uhr, kam das Ziel um die Ecke und verschwand im Hauseingang. Perfekt.
Den Eingang unter ständiger Beobachtung, wartete er die Nacht ab. Wie
beiläufig ging er um das Nachbargebäude herum in die Seitenstraße.
Als er den Zaun erreichte, näherte sich von links ein Pärchen. Er
drehte sich unauffällig weg, zog sein Smartphone aus der Gesäßtasche, tat
so, als schreibe er eine Nachricht und wartete, bis das Pärchen vorüber
war. Dann war die Straße frei. Geschmeidig flankte er über den Zaun und
duckte sich sofort dahinter. Wie erwartet, war niemand in dem Hinterhof.
Im Schutz der Dunkelheit schlich er zum Zielgebäude. Unter der
Feuerleiter wechselte er die Kleidung. Ganz in schwarz, sodass er mit der
Nacht verschmolz. Alles lief nach Plan.
Jetzt kam aber erst der schwierigste Teil. Er scannte noch einmal das
Umfeld, auch die Fenster der umliegenden Wohnungen. Niemand zu
sehen. Wieselflink lief er die Feuerleiter hinauf. Vor jeder Biegung
vergewisserte er sich, dass nicht doch jemand hinter einem Fenster oder
im Hof auftauchte. Aber es blieb ruhig. Schließlich erreichte er die
Zielwohnung im achten Stock.
Er spähte durch das geöffnete Fenster. Wie vermutet, befand sich
dort das Wohnzimmer. Das offene Fenster war ein Segen und ein Risiko
weniger. Endlich lief es optimal. Das Ziel saß an einem Schreibtisch, mit
dem Rücken zu ihm. Er könnte sofort zuschlagen, aber es war besser, das
Objekt in der Wohnung zu liquidieren. Er schlich ein halbes Stockwerk
tiefer, zog sein Smartphone aus der Jeans und wählte die Nummer des
Ziels, die er auswendig gelernt hatte. Der Mann meldete sich nach dem
ersten Klingelton. Sein Telefon musste auf dem Schreibtisch stehen.
„Ja, bitte?“
„Ich habe ein Paket für Sie“, sagte er. „Kann es sein, dass ihre
Klingel nicht funktioniert?“
„Nein, wie kommen Sie darauf?“
„Weil ich hier seit mindesten fünf Minuten stehe und
ununterbrochen klingel. Würden Sie bitte aufmachen?“
„Oh, das tut mir leid. Ich sage morgen dem Hausmeister Bescheid.
Einen Augenblick bitte.“
In Windeseile steckte er das Smartphone in die Haltevorrichtung auf
Höhe der Brust und schaltete die Kamera ein. Sekunden später stand er in
der Wohnung. Er orientierte sich sofort zu der Wand neben der Tür. Das
Ziel kam fluchend zurück, weil es glaubte, Opfer eines Streichs geworden
zu sein. Hätte der Mann gewusst, was ihn erwartet, hätte er über eine
solche Lappalie gelacht.
Als der Mann mit dem Rücken zu ihm im Wohnzimmer stand, warf
er mit Schwung die Tür zu. Der Mann wirbelte erschrocken herum. Eine
kurze Sichtprüfung. Eindeutig das Ziel. Der Mann starrte ihn mit offenem
Mund an.
Er visierte das Herz des Ziels an und drückte dreimal ab. Mehr als
das feine, fast schon wohlig sanfte Geräusch des Schalldämpfers war nicht
zu hören. Das Ziel fiel zu Boden, ohne auch nur einen Mucks von sich
gegeben zu haben. Wahrscheinlich war schon der erste Schuss tödlich
gewesen. Dennoch, nichts war bei einem solchen Auftrag wichtiger, als
auf Nummer sich zu gehen.
Er trat an sein Opfer heran und gab zwei weitere Schüsse auf den
Kopf ab, darauf achtend, dass es keine Schmauchspuren gab. Er hielt den
Arm so, dass die Kamera die beiden Treffer detailgetreu filmte.
Er sammelte die fünf Patronenhülsen ein und warf sie in eine
Plastikhülle, die er in seinem Rucksack verschwinden ließ. Er lief die
Feuerleiter hinunter und wechselte die Kleidung. Wenn alles lief wie
besprochen, war er beobachtet worden. Dann wussten sie, dass er seinen
Auftrag erledigt hatte.
Auch der Rückzug verlief komplikationslos. Keine fünf Minuten
nach seinem letzten Schuss stand er wieder in der Seitengasse. Weit und
breit niemand zu sehen. Keine Zeugen. Blitzsaubere Arbeit. Er begab sich
zurück auf die Hauptstraße, ging sie in Richtung Süden und bog hier und
da in eine Nebenstraße ein.
Er musste nicht lange warten. Schon beim dritten Anlauf tauchten
seine Mittelsmänner auf. Er ging auf sie zu. Sie bedeuteten ihm, ihnen mit
einem Sicherheitsabstand zu folgen. Nach fünf Minuten kamen sie in eine
nur spärlich beleuchtete Nebenstraße. Dort stand ein Mercedes C-Klasse.
Kombi, silbergrau metallic. Einer der Männer stieg auf der Fahrerseite ein,
der andere nahm im Fond Platz. Ohne zu zögern setzte er sich auf den
Beifahrersitz, startete das Video und gab das Handy dem Mann neben sich.
Der Mann im Fond beugte sich nach vorne. Beide sahen sich das Video
zweimal an. Dann gab der Mann auf dem Fahrersitz ihm das Gerät zurück.
„Saubere Arbeit. Und auch noch einen Tag vor Fristablauf. So wollen
wir das haben.“
Der Mann ihm Fond gab ihm einen ähnlich unauffälligen Koffer, wie
bei der Anzahlung. Er steckte den kleinen Koffer in seinen Rucksack, ohne
den Inhalt zu kontrollieren. Eine weitere Regel besagte: Zähle niemals
Geld in Gegenwart deines Auftraggebers. Vertrauen ist eine wichtige
Stütze deines Geschäftsmodells. Als er den Türgriff schon in der Hand
hatte, hielt ihn der Kerl auf dem Fahrersitz zurück.
„Stehst du für weitere Aufträge zur Verfügung? Wir sind sehr
zufrieden mit deiner Arbeit.“
„Jederzeit wieder. Ich arbeite gern mit Profis zusammen. Ich nehme
an, wenn etwas anliegt, kommt ihr genauso auf mich zu wie dieses Mal?“
Der Mann nickte.
Kapitel 24
Sibirische Antarktis
Coleman und Perkins, der erst vor einigen Tagen dazugestoßen war,
lehnten an der Reling der PLANET und sahen staunend zu, wie Methan an
die Meeresoberfläche perlte. Trotz unruhiger See waren sie gut
vorangekommen. Dank seines Small-Waterplane-Area Twin-Hull-Rumpfs
war der Katamaran durchgängig mit fünfzehn Knoten über das Wasser
geglitten, als herrsche Flaute. Sie lagen gut im Zeitplan. Und der Anblick
des Methans zeigte Coleman einmal mehr, wie wichtig es war, dass
AURORA ein Erfolg wurde. Dieser ganze menschliche Wahnsinn musste
endlich aufhören.
„Üble Sache“, stellte auch Perkins fest und deutete auf die
Methanblasen. „Es würde mich interessieren, wie viel von dem Zeug da
unten in der Tiefe schlummert.“
Coleman musterte Perkins. Er war der richtige Mann für Phase zwei.
In wissenschaftlicher Hinsicht. Menschlich war er nicht von ihm
überzeugt. Nach Colemans Einschätzung war es ihm egal, was das Methan
anrichtete. Aber seine Frage konnte er ihm beantworten. Denn alle
Mitglieder des Circle wussten über die Gefahren des Klimawandels
Bescheid.
„Bis vor wenigen Jahren hat man vermutet, dass sich vom Grund des
nordsibirischen Kontinentalschelfs, das sechsmal so groß ist wie
Deutschland, jedes Jahr rund acht Millionen Tonnen Methan lösen.
Inzwischen weiß man aber, dass es noch weit größere Mengen sind. Jeder
spricht vom CO2. Aber Sie werden in diesem Moment Zeuge, wie Methan
in die Atmosphäre aufsteigt. Das kann es nur deshalb, weil die
Temperaturen in der Arktis besonders stark angestiegen sind und sich das
Meereis rapide zurückzieht. Das setzt riesige Methanmengen frei.
Dasselbe gilt für die auftauenden Permafrostböden im Landesinneren.
Allein im sibirischen Raum werden mehrere hundert Millionen Tonnen
Methan vermutet! Angesichts der Geschwindigkeit, in der hier alles
wegtaut, ist zu befürchten, dass das Methan in kürzester Zeit freigesetzt
wird. Und in diesem Methan, werter Dr. Perkins, ist mehr Kohlenstoff
gespeichert als in allen Kohlenstoffreserven der Welt zusammen.
Vermutlich mehr als fünfhundertvierzig Milliarden Tonnen! Ihnen ist
bekannt, dass Methan pro Molekül ein zwanzig- bis fünfundzwanzigmal
stärkeres Treibhausgas ist als Kohlendioxid?“
Perkins schüttelte den Kopf. „Nein, das wusste ich nicht. Warum
schmilzt das Eis denn gerade hier so schnell? So viel wärmer ist es doch
gar nicht geworden. Gerade mal ein Grad weltweit.“
„Ist Ihre Frage ernst gemeint?“
Perkins zog eine Augenbraue in die Höhe. „Wie darf ich das
verstehen?“
Coleman spürte Zorn in sich aufsteigen. Wie lange hatte er die
Ignoranz der Menschheit mit ansehen und darüber verzweifeln müssen.
Und jetzt stand der hochdekorierte Nobelpreisträger Prof. Dr. James
Perkins neben ihm und gab freimütig zu, keine Ahnung vom Klimawandel
zu haben. Es hatte eine pikante Note, dass ausgerechnet er dazu beitrug,
den Einfluss des Menschen auf das Klima zu stoppen. Mühsam
beherrschte Coleman seine Stimme.
„Nun, ich konnte mir nicht vorstellen, dass ein Mann wie Sie nicht
darüber informiert ist. Ein Mann, der doch sicherlich über seinen
Tellerrand hinausschaut, nicht wahr? Die Menschheit hat in ihrem
unersättlichen Konsum- und Mobilitätswahn, in ihrer Gier, das Klima der
Erde in so kurzer Zeit auf den Kopf gestellt, dass längst Kettenreaktionen
in Gang gesetzt wurden, die nicht mehr aufzuhalten sind. Die Freisetzung
des Methans gehört dazu. Es ist keine Frage von Jahrzehnten, bis dieses
Methan zu einer weiteren, drastischen Erwärmung führt, sondern von ein
paar Jahren. Und hier, im arktischen Raum, insbesondere aber auf
Grönland, sind die Temperaturen doppelt so stark gestiegen wie im
globalen Mittel. In einigen Regionen sogar um fünf bis sechs Grad. Im
Januar, also während der Polarnacht, lagen die Temperaturen am Nordpol
über dem Gefrierpunkt!
Wenn Sie glauben, eine Erhöhung der Erdmitteltemperatur um ein
Grad sei nicht viel, möchte ich Sie daran erinnern, dass der
Temperaturunterschied zwischen einer Warm- und einer Eiszeit gerade
mal fünf Grad beträgt. Fünf Grad! Und Sie wissen selbst, wie
unterschiedlich die Welt zwischen diesen beiden Extremen aussieht.
Außerdem dauern die Wechsel zwischen Warm- und Eiszeiten
Jahrtausende, Dr. Perkins! Jahrtausende für eine Erwärmung, oder
Abkühlung, von fünf Grad. Aber hier hat das nur wenige Jahrzehnte
gedauert! Das sollten Sie sich vor Augen führen.“
Perkins musterte Coleman ungläubig. „Wenn das so wäre, müsste ich
das doch wohl aus den Medien wissen. Aber ich höre das jetzt zum ersten
Mal. Und warum sind Sie sich so sicher, dass der Mensch dafür
verantwortlich ist? Solche raschen Klimaveränderungen hat es doch schon
früher gegeben. Auch ohne Mensch.“
Was für ein Ignorant. Die Rasse Mensch verschloss die Augen vor
den Konsequenzen ihres egoistischen Handelns, sie leugnete ihre
Verantwortung für die bevorstehende Klimakatastrophe, um genauso
gewissenlos weitermachen zu können wie bisher. Armselig.
Vielleicht hatte die Schöpfung dem Menschen zu ihrem Schutz ein
Selbstzerstörungsgen eingepflanzt, das sich aktivierte, wenn die Spezies
eine kritische Obergrenze erreichte. Wie bei den Lemmingen. Perkins war
keine Ausnahme.
Bedauerlich, dass alle externen, nichts ahnenden Wissenschaftler,
die bei AURORA mitwirkten, die Chance bekamen, Teil der Neuen Welt
zu werden. Aus Gründen der Fairness und Anerkennung. Er bezweifelte,
dass Perkins für diese Welt geschaffen war. Es wurde Zeit, das Thema zu
wechseln, sonst bestand die Gefahr, dass er ihn über Bord warf.
„Immerhin war unsere Fahrt deshalb weitgehend eisfrei“, bemerkte
er deshalb, „zumal die PLANET nicht für Fahrten durch Eis ausgelegt ist.
Wir liegen gut in der Zeit. Ich könnte mir vorstellen, dass wir angesichts
der Eisschmelze noch schneller an das Material herankommen. Was
meinen Sie?“
Perkins beobachtete, wie sich der nächste große Schub Methan an
der Meeresoberfläche sammelte. „Kann ich nicht einschätzen. Aber
natürlich sind wir umso schneller, je weniger Eis uns behindert. Wobei ich
nicht weiß, inwieweit der Schlamm ein Problem ist. Wenn ich daran
denke, dass auch islamistische Terroristen auf diese Idee kommen
könnten, dreht sich mir der Magen um. Der GESA ist alles zuzutrauen.
AURORA ist brillant, Dr. Coleman. Hoffentlich sind wir nicht zu spät.“
Islamistische Terroristen. Perkins dachte noch eindimensionaler als
er vermutet hatte. Aber es gab halt unterschiedliche Formen von
Intelligenz. Dann sollte man auch nur diese eine Intelligenz des Dr.
Perkins bemühen. Denn auf dem Gebiet der Virologie war er Coleman um
Längen voraus.
„Sie haben reichlich einschlägige Erfahrungen, Dr. Perkins. Wie
hoch schätzen Sie die Wahrscheinlichkeit ein, dass Sie die fraglichen Viren
finden und es Ihnen gelingt, sie im Sinne eines wort case Szenarios zu
manipulieren? Und wie lange wird es dauern, sie aufzuspüren?“
Perkins wiegte nachdenklich den Kopf hin und her. „Schwer zu
sagen. Wir bohren ja nicht in der Antarktis oder auf Grönland. Da müssten
wir zwei- bis dreitausend Meter tief bohren. Hier wird das schneller gehen.
Das Pithovirus sibericum wurde unlängst in einer Tiefe von nur dreißig
Metern von französischen Forschern entdeckt. Und zwar im Bereich der
Kolyma, also genau dort, wo auch wir suchen. Ich habe keine Zweifel, dass
es dort Viren gibt. Viren mögen es kalt und dunkel. Wir kühlen Viren, die
wir längere Zeit aufbewahren wollen, mit flüssigem Stickstoff auf fast
zweihundert Grad minus. Aber gerade das Virus zu finden, das wir für
besonders bedrohlich halten, hat durchaus etwas von der Nadel im
Heuhaufen. Wir brauchen auch ein Quäntchen Glück. Die Möglichkeiten,
daraus eine unbesiegbare Killermaschine zu machen, werden davon
abhängen, wie stark die DNA fragmentiert ist. Je besser die von uns
isolierten viralen Genome erhalten sind, desto eher kann ich sie im Sinne
von AURORA verändern.“
In der Ferne tauchte das Festland vor ihnen auf. Es war so früh, dass
sie noch das Basislager aufschlagen konnten. Morgen ging es los. Vier
Teams in vier Richtungen, um dem Eis die letzten Geheimnisse zu
entlocken, ehe es endgültig verschwunden war.
Perkins unbesiegbare Killermaschine ließ Coleman schaudern. Der
Mann hatte keine Ahnung, wovon er sprach. Natürlich wusste Coleman
über den sensationellen Fund der Franzosen Bescheid. Das Pithovirus
sibericum war mit 0,0015 Millimetern das größte jemals entdeckt Virus.
So groß wie ein Bakterium und unter einem einfachen Lichtmikroskop zu
beobachten.
Auch das Pockenvirus zählte zu den Riesenviren. Es galt als
unwahrscheinlich, dass der Menschheit durch dieses seit den Achtzigern
für ausgestorben erklärte Virus jemals wieder Gefahr drohen könnte.
Selbst wenn das Eis Sibiriens vollständig auftauen und das Virus freisetzen
würde.
Aber dabei hatte niemand an eine gezielte Isolation des Virus
gedacht. An AURORA. Wenn der Circle nicht so eng zusammenstehen
würde, und weltweit nicht so vernetzt wäre, dass er über eine grenzenlose
Macht verfügte, würde AURORA eine ewige Illusion bleiben. Nur die
vage Vorstellung von einer besseren Welt. Einer Welt der Intelligenz. Aber
um welchen Preis?
Wie oft hatte Rebecca ihm schon gut zugeredet, wenn ihn seine
verdammten Gewissensbisse plagten. Sobald Coleman AURORA unter
dem Aspekt der Menschlichkeit sah, wurde ihm schlecht. Vor allem
Heather und seine Frau Kimberly waren genauso zart besaitet wie er. Der
coolste war Bryan. Nicht, weil er gefühlskalt war, sondern weil er die
Fehlentwicklung der Spezies Mensch und AURORA aus der
analysierenden Perspektive des Volkswirtschaftlers betrachtete. Für ihn
war das nichts weiter als mathematische Logik:
a) Menschheit ≠ Überleben
b) AURORA = Überleben der Besten
c) b) = Überleben der Menschheit
daraus folgt
d) AURORA = Überleben der Menschheit
Die Kompromisslosesten waren Rebecca, David und Richard.
Gebetsmühlenartig erinnerten sie die anderen Mitglieder daran, dass es bei
AURORA nicht um Einzelschicksale ging. AURORA war nicht weniger
als der Beginn eines neuen Zeitalters. Die Rettung der Menschheit durch
ihre Dezimierung.
Rebeccas liebster Vergleich war der Einschlag eines Meteoriten.
Wenn ihn Skrupel überkamen, sagte sie: „Vor fast siebzig Millionen
Jahren hat ein Meteorit zum Aussterben der Dinosaurier geführt. Und
damit zum Beginn eines neuen Zeitalters. Ohne diesen Meteoriten würde
es uns gar nicht geben. Stell dir einfach vor, AURORA wäre ein Meteorit.
Ein reinigender Einschlag.“
***

Östliches Sibirien, Kolyma, einige Tage später


Die vier Teams kamen angesichts des guten Wetters rasch voran. Ihre
Mission war eindeutig: Suche nach für den Menschen gefährlichen Viren
im Permafrostboden.
Tarkan leitete eines dieser Teams. Nicht in wissenschaftlicher
Hinsicht. Dafür war Coleman zuständig. Aber er hatte die Route geplant
und die Stellen markiert, an denen am ehesten mit einem Erfolg zu
rechnen war und die relativ leicht zugänglich waren.
Ihr Weg führte sie seit zwei Tagen den Omolon hinauf, den größten
Nebenfluss der Kolyma, die im Kolymagebirge entsprang. Perkins war der
Überzeugung, dass die Chancen, Viren zu finden, dort am größten waren,
wollte aber selbst entlang des Hauptstroms suchen. Tarkan ahnte, dass er
das nur tat, weil er nicht in seinem Team sein wollte. Ihm war nicht
entgangen, dass Perkins sehr viel Respekt, wenn nicht Angst, vor ihm
hatte. Ein gutes Gefühl. Denn er konnte Perkins nicht leiden. Einer seiner
Leute war in Perkins Team und überwachte jeden seiner Schritte. Dem
Australier war nicht über den Weg zu trauen.
Sie waren sechs Stunden unterwegs, als sie die dritte markierte
Stelle erreichten. Das Team machte sich sofort an die Arbeit. Tarkan hatte
keine Ahnung, was für Gerätschaften das waren, mit denen sie rasch in den
angetauten Boden vorstießen. Aber das spielte auch keine Rolle. Das war
nicht seine Aufgabe. Er gesellte sich zu Coleman, der eine erste Eisprobe
gegen das Licht hielt.
„Was meinen Sie, Doktor, werden wir heute fündig?“
Coleman, der neben dem Bohrloch kniete, musterte Tarkan von
unten. „Das kann ich dir nicht sagen. Wir haben ja gerade erst angefangen.
Wir nehmen so viele Proben wie möglich und untersuchen sie später auf
dem Schiff. Da haben wir die notwendigen Geräte.“
Fasziniert betrachtete Tarkan die kleinen Eiskerne. Es konnte sich
nicht vorstellen, dass darin etwas lauerte, das in der Lage war, die
Ungläubigen so weit zu dezimieren, dass sie nur noch einen kümmerlichen
Haufen in die letzte Schlacht nach Dabiq schicken konnten. Allahs Macht
war wahrlich grenzenlos.
Allerdings war Tarkan, wie die anderen, zu sehr auf Bohrloch und
Proben konzentriert, um zu bemerken, dass sich ihnen vier Personen
näherten, drei Männer und eine Frau. Er registrierte sie erst in dem
Moment, als einer der Männer in gebrochenem Englisch fragte, wer sie
seien, woher sie kämen, und wie ihr Forschungsauftrag lautete.
Coleman reagierte am schnellsten. Er stellte sich und das Team vor
und erklärte, dass sie diverse Boden- und Eisproben unter verschiedenen
Aspekten analysieren wollten.
Der Mann beäugte misstrauisch die Proben. „Was soll das heißen,
verschiedene Aspekte? Haben Sie überhaupt eine Genehmigung, hier zu
bohren?“
Natürlich hatten sie eine Genehmigung. Die FS PLANET war ein
offizielles Forschungsschiff der Bundeswehr. Also hatte es auch eine
Genehmigung. Wer wagte es, eine solche Frage zu stellen?
„Und wer sind Sie?“, konterte Tarkan, der schon wieder diesen Zorn
in sich aufsteigen spürte, mit einer Gegenfrage. Eine seiner wenigen
Schwächen. Er war zu unbeherrscht. Er zwang sich zur Konzentration.
Analysierte. Die vier Leute wirkten auch wie Forscher. Ähnliche Kleidung,
ähnliche Behälter, in denen Tarkan ebenfalls Proben vermutete. Wovon
auch immer.
„Wir suchen nach im Eis konservierten Viren“, erklärte der Mann.
„Im Auftrag der russischen Regierung. Uns ist nicht bekannt, dass derzeit
noch andere Forschungsteams hier angemeldet sind.“
Coleman sah Tarkan fragend an. Du hast dich doch um die
Genehmigungen gekümmert, oder etwa nicht, schien sein Blick zu sagen.
Tarkan war jedoch davon ausgegangen, dass alle notwendigen Papiere an
Bord waren, weil sich Oberst Wagner darum gekümmert hatte, der jedoch
Team drei leitete. Ihn könnten sie jetzt gut gebrauchen.
Tarkan musste improvisieren. „Unsere Genehmigung ist an Bord
unseres Schiffes. Warum sollten wir die mitnehmen und Wind und Wetter
aussetzen? Zeigen Sie uns doch mal Ihre Genehmigung! Im Auftrag der
russischen Regierung. Das kann jeder behaupten.“
Die vier Forscher unterhielten sich untereinander auf Russisch.
Schließlich sagte die Frau: „Da wir im Auftrag der Regierung hier sind,
müssen wir Ihnen als Ausländer überhaupt nichts zeigen. Wir sind zwar
nicht befugt, Sie zu überprüfen, aber wir werden uns über Sie informieren.
Sagen Sie uns, wonach Sie in wessen Auftrag suchen, und mit welchem
Schiff Sie woher gekommen sind.“
Tarkan musterte die Frau mit zunehmender Wut. Slawischer Typ.
Platinblonde Haare, hohe Wangenknochen, Sattelnase, schmale
Augenbrauen. Objektiv hübsch, aber harte Gesichtszüge. Und ihr Tonfall
gefiel ihm gar nicht. Herrisch und herablassend. Das stand einer Frau nicht
zu! Sie war eine Bedrohung für seinen Auftrag.
Er erinnerte sich an Yefrems Worte: Jedes Hindernis beseitigen, das
AURORA im Weg steht. Denn AURORA ist der Wille Allahs.
„Ich mache Ihnen einen Vorschlag“, sagte Tarkan zu der Frau. „Wir
sind morgen wieder auf unserem Schiff. Dann komme ich mit den
Papieren zu Ihnen. Wo finde ich Sie?“
Die Frau tauschte sich wieder auf Russisch mit ihren Kollegen aus.
„Einverstanden“, sagte sie schließlich versöhnlicher. „Unser Lager ist am
Unterlauf der Kolyma, nicht weit entfernt von Tscherski. Und wo ankern
Sie?“
Tarkan erklärte, dass die FS PLANET auch in der Nähe von
Tscherski lag und er morgen Abend kommen und die Papiere vorlegen
würde. Das russische Forscherteam stimmte zu.
„Sind Sie zu viert oder sind noch mehr Forscher in Ihrem Team“,
erkundigte sich Tarkan, für den die Anzahl der Personen in dem Lager von
größter Bedeutung war.
„Außer uns gibt es noch einen Kollegen, der sich um das
Organisatorische kümmert, um die Versorgung, und der uns den Rücken
freihält und das Lager bewacht. Warum interessiert Sie das?“
Also insgesamt fünf Personen. Tarkan fasste schon in diesem
Augenblick einen Plan, während er behauptete, dass es ihn interessiere, ob
das russische Team genauso groß war wie sein eigenes. Er bekam nur am
Rande mit, wie Coleman die Russen nach den Details ihrer Suche befragte.
Zwischen den Wissenschaftlern entwickelte sich ein lebhafter Disput. Das
Misstrauen war dank Tarkans Geistesblitz dahingeschmolzen. Jetzt waren
sie in ihrem Element. Coleman schlug sogar vor, die Erkenntnisse
untereinander auszutauschen.
Daraus würde nichts werden.
Auf dem Rückweg, die Koffer voller Proben, erklärte ihm Coleman,
dass er diesen Vorschlag nur gemacht hatte, um an die Ergebnisse der
Russen zu kommen. Für den Fall, dass sie das Pockenvirus zuerst fanden.
Coleman war ein kluger Mann.

***

FS PLANET, der folgende Tag


Die vier Teams hatten viele Proben genommen, in die sich Coleman und
Perkins so vertieft hatten, dass sie nicht mehr ansprechbar waren. Tarkan
sprach mit Oberst Wagner über die Begegnung mit den Russen.
Selbstverständlich waren alle Genehmigungen an Bord, die bestätigten,
dass die FS PLANET ein Forschungsschiff der Bundeswehr war. Ihr
Auftrag: Suche nach im Permafrost eingefrorenen Viren und Analyse der
sibirischen See hinsichtlich Salzgehalt, Strömungen und
Methanentwicklung.
Wagner erinnerte Tarkan daran, dass die Stiftung sogar ein eigenes
Büro in Kiel unterhielt, das die Russen überprüfen konnten und gab ihm
die Papiere am Nachmittag. Das Lager der Russen war nur zehn Kilometer
entfernt. Tarkan entschied sich, erst in der Abenddämmerung
aufzubrechen. Wagner bot an, ihn zu begleiten, doch das lehnte er ab. Er
war in Yefrems Auftrag unterwegs, nicht in Wagners. Insofern gingen den
Oberst seine Pläne auch nichts an.
Während Tarkan sich die Zeit mit Beten vertrieb, erkannten Perkins
und Coleman, dass die Proben nicht erfolgreich waren. Die Teams mussten
erneut aufbrechen, diesmal mit anderen Zielen. An eine Rückkehr nach
Kiel war vorerst nicht zu denken. Umso größer war die Gefahr, die von
den Russen ausging.
Als die Sonne langsam hinter den Bergen im Westen versank, packte
Tarkan seinen Rucksack mit den notwendigen Utensilien und brach auf. Er
fuhr die ersten acht Kilometer mit dem Jeep. Der Boden war schlammig.
Er kam nur langsam voran. Als er den Geländewagen am Rand eines
Waldes versteckte, herrschte schon fast Dunkelheit. Genauso, wie er es
geplant hatte.
Er stieg aus, holte die Tarnkleidung aus dem Rucksack und schlüpfte
hinein, zusammen mit der schwarzen Sturmmaske. Dann schraubte er den
Schalldämpfer auf die Glock 17, die er für seinen Auftrag ausgewählt
hatte, weil sie über ein Magazin mit dreiunddreißig Schuss verfügte.
Damit war sie auch für längere Gefechte oder viele Gegner geeignet.
Tarkan schloss den Jeep ab und lief nahezu lautlos durch den Wald
zum Lager der russischen Forscher. Er hatte ein fotographisches
Gedächtnis. Hatte er einmal auf einer Karte ein Ziel gesehen, fand er es in
der Realität auch noch nach Wochen, ohne nachdenken zu müssen.
Das Lager befand sich unweit des Flusses an einer Schotterpiste,
umgeben von Wald und schlammiger Erde. Tarkan wartete, bis es
vollkommen dunkel war, dann näherte er sich dem Lager von der
Waldseite her. Der Untergrund war so lehmig, dass er kaum vorwärtskam.
Auf den letzten zweihundert Metern gab es keinen natürlichen Sichtschutz
mehr. Das war die kritischste Phase.
Als er sich dem Lager auf rund einhundert Meter genähert hatte,
ging er in die Hocke und beobachtete es durch sein Victory
Nachtsichtgerät. Im Hauptzelt sah er fünf Personen. Das entsprach den
Aussagen der arroganten Russin. In den Nebenzelten war niemand. Die
einzige Möglichkeit, wo noch jemand sein konnte, war die mobile
Toilettenkabine. Ein Modell, wie es auch bei größeren Veranstaltungen
zum Einsatz kam. Sie war etwa zwanzig Meter vom Lager entfernt und
befand sich zwischen dem Lager und ihm.
Tarkan schlich in geduckter Haltung zu der Kabine. Ihre Tür zeigte
in Richtung Lager. Das war ungünstig. Dennoch riss er, nachdem er sich
vergewissert hatte, dass sich niemand aus dem Lager näherte, die Tür auf,
die Glock im Anschlag. Dort war niemand. Die Russin hatte nicht gelogen.
Tarkan hockte sich neben die mobile Toilette und sah erneut durch
sein Nachtsichtgerät. Er hatte Glück. Die fünf Russen, die er wie
Schattenrisse durch die Zeltwand sehen konnte, hatten sich um einen Tisch
versammelt. Wahrscheinlich aßen sie zu Abend. Wie viel einfacher war
sein Plan, wenn er alle Forscher beisammen hatte. Sitzend und essend an
einem Tisch.
Er schlich zum Eingang des Zeltes, duckte sich hinter einen Balken
und scannte die Umgebung durch das Nachtsichtgerät. Weit und breit
niemand zu sehen. Es gab nur die fünf Russen und ihn.
Tarkan ließ das Nachtsichtgerät im Rucksack verschwinden, den er
an den Balken lehnte. Er zückte die Glock, vergewisserte sich, dass sie
durchgeladen war und holte tief Luft. Um den Reißverschluss zu öffnen,
benötigte er zwei oder drei Sekunden. Möglicherweise genug Zeit für eine
Reaktion der Russen. Aber er konnte schlecht abwarten, bis irgendwer aus
dem Zelt kam.
Mit einem energischen Handgriff riss Tarkan den Reißverschluss in
die Höhe und schlüpfte in das Zelt. Die fünf Russen schreckten auf und
sahen einen Mann in schwarzer Tarnkleidung und mit Sturmmaske vor
sich stehen, eine Waffe auf sie gerichtet. In einer Entfernung von wenigen
Metern. Der Anblick des bewaffneten Angreifers versetzte sie in eine
Schockstarre. Niemand von ihnen reagierte oder sagte etwas. Sie starrten
den Maskierten mit aufgerissenem Mund an. Einer ließ seine Gabel fallen,
die geräuschvoll auf seinem Teller landete.
Tarkan drückte ab. Innerhalb weniger Sekunden hatten zehn Patronen
den Lauf der Glock mit einer Geschwindigkeit von vierhundert Metern in
der Sekunde verlassen. Keine einzige verfehlte ihr Ziel. Es ging so schnell,
dass keines der Opfer auch nur hätte aufschreien können. Lautlos sackten
sie auf ihren Stühlen zusammen. Tarkan ging an den Tisch und schoss
jedem noch einmal in den Kopf.
Er blickte sich in dem Zelt um. Es handelte sich offenbar um eine
Art Versammlungszelt. Es gab eine kleine Küchenzeile, den Esstisch, ein
Radio und diverse Bücher und Zeitschriften in einem Regal. Aber keine
wissenschaftlichen Instrumente. Also befanden sich die
Forschungseinrichtungen und Nachtlager in den Nebenzelten. Allah war
gnädig gewesen, Tarkan die Russen komplett um diesen einen Tisch
versammelt zu präsentieren.
Auf dem Tisch befand sich in diversen Schüsseln eine Auswahl
köstlich duftender Speisen, die Tarkan nicht kannte. Besonders appetitlich
wirkte ein Gemüse, das ihn an Kartoffeln erinnerte. Er nahm die Gabel
eines der Toten und probierte das Gericht. Es schmeckte noch besser als es
aussah und roch. Weil er hungrig war, leerte er die ganze Schüssel. Er
holte den Rucksack, verstaute Schüssel, Gabel und Glock darin, setzte ihn
auf und schlenderte zu seinem Jeep. Einmal mehr hatte Tarkan Jafari seine
Professionalität und Kompromisslosigkeit unter Beweis gestellt. Yefrem
wäre stolz auf ihn. Und er hatte einen weiteren Schritt auf dem Weg ins
Paradies gemacht.
Kapitel 25
Yellowstone Nationalpark, September 2015
Mason Foley stand ehrfürchtig am Rand des Kraters inmitten des am 01.
März 1872 gegründeten Yellowstone Nationalparks im amerikanischen
Teil der Rocky Mountains. Der älteste Nationalpark der Welt hatte eine
Fläche von neuntausend Quadratkilometern, das entsprach der Größe
Korsikas, und lag zu sechsundneunzig Prozent in Wyoming. Drei Prozent
verteilten sich auf Montana und ein Prozent auf Idaho.
Der Boden unter Foleys Füßen befand sich über der Caldera des
Supervulkans in Tiefen zwischen zwei- und achttausend, teilweise sogar
fünfzehntausend Metern. Sie umfasste eine prall mit Magma gefüllte
Kammer von neunzig mal vierzig mal zehn Kilometern. Neuere
Forschungen deuteten darauf hin, dass sie sogar noch größer war. Dort
köchelten über zweitausendfünfhundert Kubikkilometer Tephra vor sich
hin, auswurffähiges Material, das darauf wartete, das Antlitz der Welt für
immer zu verändern.
Foley stellte in solchen Situationen gedankliche Vergleiche her, um
sich das Ausmaß einer Katastrophe bildhaft vorstellen zu können. Beim
Ausbruch des Pinatobu im Jahr 1991, einer der größten Eruptionen des 20.
Jahrhunderts, waren zehn Kubikkilometer Tephra ausgetreten. Das war
zehnmal so viel wie beim Ausbruch des Mount St. Helens. Aber hier
brodelte zweihundertfünfzigmal so viel Tephra vor sich hin wie beim
Pinatobu, dessen Asche bereits zu einer Abkühlung von einem halben Grad
geführt hatte. Genug, um zu weltweiten Ernteausfällen zu führen. Zehn
Kubikkilometer Tephra gleich ein halbes Grad Abkühlung. Was bedeutete
dann das Zweihundertfünfzigfache?
Diese Dimensionen, die Vorstellung, welche gigantischen Kräfte
einige Kilometer unter Foley seit Jahrtausenden darauf warteten,
losgelassen zu werden, waren der Grund für seine Faszination. Von
Kindheit an. Und der Grund, warum er sich der Erforschung der größten
Vulkane der Erde mit Leib und Seele verschrieben hatte. Sprudelnde
Heißwasserquellen und der typische, unangenehme Schwefelgeruch
deuteten auf eine drohende Apokalypse hin.
Erst kürzlich hatte es hier ein Erdbeben der Stärke drei Komma acht
gegeben. Anhand der von Erdstößen ausgehenden Schallwellen hatte Foley
schon vor einigen Jahren herausgefunden, dass sich, zusätzlich zu der
ohnehin schon gewaltigen Caldera, ein mindestens sechshundertfünfzig
Kilometer langer Magmaschlauch gebildet hatte, der in einem Winkel von
rund vierzig Grad in den Untergrund führte. Dieser Schlauch war mehr als
tausend Grad heiß und damit dreihundert Grad heißer als die für einen
Ausbruch vermutete Mindesttemperatur. Er erstreckte sich bis nach
Montana und Idaho. Das hieß, dass der Supervulkan vielleicht noch mehr
als zweitausendfünfhundert Kubikkilometer Tephra ausstoßen konnte.
Außerdem war der Schlauch von einer explosiven Mischung aus Magma
und Fluiden umhüllt, die die Triggerpunkte des Vulkans reizen konnten.
Der Yellowstone war sechzigtausend Jahre überfällig. Foley wusste
aus seinen früheren Forschungen, dass das Material in der Magmakammer
noch eher schwerfällig vor sich hin blubberte. Menge und Druck
stimmten. Aber es fehlte ein letzter, heißer Anstoß, um dem zähen Magma
Beine zu machen.
Deshalb war er hier. Um herauszufinden, was dem Magma Beine
machen könnte. Und um Strategien zu entwickeln, dieses Was zu
verhindern. Doch was sollte einen tausend Grad heißen Magmaschlauch
aufhalten können? Aus dem sich schon seit Jahren Blasen lösten, die aus
den geschmolzenen Gesteinsmassen entstanden. Blasen, die sich in der
Magmakammer sammelten. Was könnte diesem explosiven Gemisch,
dieser tickenden Zeitbombe, die das Potenzial hatte, die Menschheit zu
vernichten, den finalen Impuls geben?
Shoemaker gesellte sich zu ihm. Als Geologe war er vom Fach. Aber
sein Wissen über die Supervulkane der Erde hielt sich in Grenzen. Ein
guter Mann für AURORA in der Verwaltung. Aber nach Foleys
Einschätzung kein idealer Forscher vor Ort.
Shoemaker blickte in den Krater, während er sprach. „Nun stehen
wir also hier, inmitten eines der größten und gefährlichsten Vulkane der
Welt. Jedes Mal, wenn ich im Yellowstone bin, und all die Geysire und
Bodenabsenkungen mit eigenen Augen sehe, oder wenn ich mich an den
See erinnere, der nach der Hebung eines Kraters von der Landkarte
verschwunden ist, kann ich mir verdammt gut vorstellen, was los wäre,
wenn dieses Ding tatsächlich in die Luft fliegt. Überkommt Sie da gar kein
Schaudern, Dr. Foley?“
Foley sah Shoemaker verstohlen von der Seite an. Seine Faszination
war echt. Aber er hatte ja schon Probleme mit den Begrifflichkeiten.
Vielleicht war Foley für das Projekt noch wichtiger, als er dachte. Sie
waren auf sein Expertenwissen angewiesen. Das verschaffte ihm Macht.
Macht durch Wissensvorsprung.
„Formulieren wir es mal so, lieber Andrew“, sagte er mit einem
süffisanten Unterton, „es weckt in mir Urängste. Ehrfurcht vor der
Schöpfung. Und bei allem Respekt, ich kann mir nicht nur vorstellen, was
passieren wird, wenn der Vulkan ausbricht, ich weiß es sogar.“
Shoemaker spitzte die Lippen und schaute wieder in den Krater. „Das
wage ich zu bezweifeln. Sie waren niemals Zeuge eines Ausbruchs. Sie
sind, wie wir alle, auf Erkenntnisse aus der Vergangenheit angewiesen. Ich
könnte mir vorstellen, dass, neben dem vulkanischen Winter, vor allem die
pyroklastischen Ströme ein Problem für Nordamerika wären.“
Vulkanischer Winter. Pyroklastische Ströme. Immerhin. Vielleicht
taugte Foley doch nicht nur für die Verwaltung. Hinter seiner burschikosen
Art verbarg sich vielleicht doch mehr als halbseidenes Wissen. Vielleicht
war er ein Mann des Understatements.
„Sie sagen es. Diese Ströme haben eine unvorstellbar zerstörerische
Kraft, die alles vernichtet, was ihr im Weg ist. Ein Teil des ausgeworfenen
Materials geht in die Atmosphäre. Vor allem Schwefel, Aerosole, und
natürlich Asche.“ Foley grinste. „Ich nehme an, Sie wissen, was ich mit
Asche meine, Dr. Shoemaker?“
Shoemaker zog eine Augenbraue in die Höhe. „Dr. Foley, ich weiß
um Ihre Verdienste und Erfolge. Und um Ihre Projekte mit dem großen
Hans-Ulrich Schmincke. Aber ein Idiot bin ich deshalb nicht. Asche, im
Sprachgebrauch nichts anderes als Brandrückstände, zum Beispiel im
Kamin, ist für Vulkanologen eine Maßeinheit. Ein Korngrößenmaß,
genauer gesagt. Als Asche bezeichnen wir zerkleinertes, also
fragmentiertes, Bimsmaterial mit einer Korngröße von unter zwei
Millimetern. Alles zwischen zwei und sechs Komma vier Millimetern sind
Lapilli. Lapilli ist Italienisch und bedeutet, passenderweise, so viel wie
„Steinchen“. Passend, weil es sich dabei um erbsen-, maximal nussgroße
Pyroklasten handelt. Und alles, was noch größer ist, bezeichnen wir als
Blöcke oder Bomben. Jetzt werden Sie mir sicherlich erklären, woraus ein
pyroklastischer Strom besteht. Also das, was nicht in die Atmosphäre
gelangt. Und, Mister Foley, habe ich Teil eins der Eignungsprüfung
bestanden?“
Shoemakers Tonfall hatte sich überhaupt nicht verändert. Er musste
ziemlich selbstbewusst sein. Und sein Vortrag war korrekt.
„Haben Sie! Gerne beantworte ich Ihre Frage. Der pyroklastische
Strom besteht aus Material, das nicht in die Atmosphäre gelangt, sondern
die umliegende Landfläche wie eine Lawine überrollt. Das Material
gelangt, anders als bei einem normalen Vulkan, aus zwei Gründen nicht in
die Atmosphäre. Entweder es ist zu groß und damit zu schwer. Also keine
Asche! Oder es ist nicht genügend thermische Energie vorhanden. Denn so
viel Auftrieb gebende Luft, um die gesamte Tephra des Yellowstone in die
Atmosphäre zu schleudern, ist in ganz Nordamerika nicht vorhanden. Der
pyroklastische Strom ist achthundert Grad heiß und achthundert
Stundenkilometer schnell. Er löscht jedes Leben in einem Umkreis von bis
zu vierhundert Kilometern aus. Selbst Bakterien. Wyoming würde nicht
mehr existieren. Idaho wäre zu mindestens zwei Dritteln verwüstet.
Montana zu einem Drittel. Tja, und auch Utah und Washington bekämen,
salopp formuliert, noch kräftig einen vor den Bug. Was pyroklastische
Ströme zu so effizienten Tötungsmaschinen macht, ist eine Kombination
aus mehreren, nennen wir es mal Mordmethoden.“
Foley grinste in sich hinein. Sein Kurzvortrag saß. Geballtes
Fachwissen, verpackt in eine lockere Sprache. Sein Markenzeichen.
Spätestens jetzt trennte sich die Spreu vom Weizen. Niemals wusste
Shoemaker, was einen pyroklastischen Strom so gefährlich machte.
Doch Shoemaker ging eine Weile nachdenklich vor dem Krater auf
und ab. Schaute hinein. Schaute sich um oder suchend in den Himmel.
Lächelte Foley zu. Die ganze Zeit die Hände provokant hinter dem Rücken
verschränkt. Er legte Pathos in seine Stimme. Es war offensichtlich, dass
er Foley zeigen wollte, dass sie sich auf Augenhöhe begegneten.
„Ein pyroklastischer Strom, verehrter Herr Kollege, ist ein
Alptraum. Wenn der Vulkan unter unseren Füßen ausbricht und einen
solchen Strom auslöst, wird, wie Sie sagen, alles Leben in dem von Ihnen
genannten Umkreis vernichtet. Aber nachdem der Strom binnen einer
halben Stunde vierhundert Kilometer zurückgelegt und dabei alles, was
ihm im Weg war, unter seinem Ignimbrit begraben hat, ist noch genügend
Material vorhanden, um zumindest alle Täler in einem weiteren Radius
von, sagen wir mal, dreihundert Kilometern damit aufzufüllen. Würden
Sie mir soweit zustimmen, Herr Kollege?“
Foley war beeindruckt. Shoemaker hatte bewusst den Unwissenden
gemimt. Aber nur, um nun dieses grandiose Finale zu zelebrieren. Foley
wusste nicht so recht, ob er ihn nun mögen oder verabscheuen sollte.
„Ich stimme Ihnen zu. Aber meine Frage haben Sie dennoch nicht
beantwortet. Soll ich das für Sie übernehmen?“
Shoemaker lachte. „Natürlich, Ihre Mordphantasien. Aber klar.
Pyroklastische Ströme töten auf dreierlei Weise. Erstens aufgrund ihrer
Hitze. Rund achthundert Grad am Ausbruchsherd. Aber immer noch gut
zweihundert am Rand des drei- oder vierhundert Kilometer großen Radius.
Das ist ebenso profan wie die Tatsache, dass wir unter Tonnen von
Material begraben würden. Also schon zwei hundertprozentig sichere
Mordmethoden. Sozusagen ein redundantes System. Tja, aber dann kommt
auch noch eine wirklich perfide Methode dazu, eine für den
Rechtsmediziner kaum nachweisbare. Ein alter Bekannter aus der Welt der
Krimis.“
Welt der Krimis? Jetzt konnte Foley nicht mehr folgen. Shoemakers
Stimme hatte einen sarkastischen Unterton angenommen. Wahrscheinlich
hatte er den Mann beleidigt. Sein Wissen war jedenfalls größer, als Foley
vermutet hatte. Dem Mann gebührte Respekt.
„Dr. Shoemaker, ich wollte Sie nicht beleidigen. Mir war nicht klar,
dass Sie so tief in der Materie stecken. Wir können unser kleines Spiel
gerne beenden. Auch wenn es mir, das kann ich nicht leugnen, Spaß
gemacht hat.“
Shoemaker zwinkerte Foley zu. „Mir doch auch. Ich weiß, wie gut
Sie sind, Dr. Foley. Besser als ich. Sonst hätten wir nicht gerade Sie
auserwählt. Aber hier und da mithalten kann ich trotzdem. Beenden wir
unser kleines Scharmützel. Aber nicht ohne die Auflösung des letzten
Rätsels. Die perfide Mordmethode pyroklastischer Ströme. Der alte
Bekannte aus der Krimiwelt. Um es kurz zu machen: Ein pyroklastischer
Strom erzeugt einen solchen Druck, dass in seinem Umfeld sämtlicher
Sauerstoff verdrängt wird. Mit anderen Worten: Selbst wenn ein
Erdenbürger resistent gegen Hitze und Steinschlag wäre, würde er
ersticken. Tod durch Ersticken. Sehr beliebt bei Mördern. Wobei
pyroklastische Ströme Massenmörder historischen Ausmaßes sind. Denn
ihr Morden betrifft jede Form von Leben. Kann man das so sagen, Herr
Kollege?“
Foley grinste über das ganze Gesicht. Ein wahrhaft anregender
Gedankenaustausch. „Ja, Dr. Shoemaker, das kann man. Jetzt könnten wir
uns auch noch über den Ascheregen unterhalten, der binnen weniger Tage
Dreiviertel der USA unter sich begraben und Viehbestände und
Kornkammer vernichten würde. Eine bis zu dreißig Zentimeter dicke
Ascheschicht. Vielleicht noch dicker. Und schon ein Millimeter reicht aus,
um elektrische Geräte, großflächig sogar das gesamte Stromnetz, ausfallen
zu lassen. Denn Vulkanasche ist sehr fein. Die kommt überall durch.
Riesige Landstriche versinken wochenlang in der Dunkelheit, gräuliche
Asche rieselt wie Schneeflocken hinab. Der Flugverkehr bricht zusammen.
Von der Asche eingeschlossene Menschen, die überlebt haben, können
nicht versorgt werden. Sie verhungern und verdursten. Es sei denn, die
Dächer ihrer Häuser brechen schon vorher unter der Last der Asche
zusammen. Dafür reichen schon zwanzig Zentimeter Asche aus. Dann
verklumpen ihre Lungen. Noch schlimmer ist es, wenn es auch noch
regnet. Denn die Asche, Bimsstein, saugt sich wie ein Schwamm voll.
Dann reichen auch schon zehn Zentimeter aus, um Dächer zum Einsturz zu
bringen.
Oder wir philosophieren über die globale Klimakatastrophe, wenn
sich das Schwefeldioxid zunächst über die Nordhalbkugel verteilt und
wenig später auch über die Südhalbkugel. Die Sonne wird verdunkelt. Der
vulkanische Winter beginnt. Spätestens einen Monat nach dem Ausbruch
geht es los. In Europa sinken die Temperaturen um fünf, in einigen
Gebieten bis zu zwanzig Grad. Das bedeutet das Ende der Landwirtschaft
und den Beginn einer Eiszeit. Weite Teile der Welt erstarren unter Schnee
und Eis. Eine Massenflucht nicht nur aus den skandinavischen Ländern ist
die Folge. Und dieser Zustand würde lange andauern. Die Weltwirtschaft
bricht zusammen. Ebenso die Lebensmittelversorgung. Es kommt zu
anarchistischen Zuständen. Vielleicht sogar zu einem Weltkrieg.
Wir sprechen von der Zeit vor Christus und der Zeit nach Christus.
Doch nach einem Ausbruch dieses Vulkans, der größten, endogenen
Naturkatastrophe der Welt, werden die Überlebenden nur noch von der
Zeit vor Yellowstone und der Zeit nach Yellowstone sprechen. Von der
Zeit, als der schlafende Drache erwacht ist.“
„Amen“, sagte Shoemaker schmunzelnd. „Dann lassen Sie uns doch
erforschen, was diesen Drachen aus seinem Schlaf erwachen lassen
könnte. Haben Sie sich dazu schon Gedanken gemacht?“
Foley blickte nachdenklich in den Krater. Er war über das Ergebnis
seiner Recherchen selbst entsetzt. Einen Supervulkan künstlich zum
Ausbruch zu bringen, hatte er für Utopie gehalten. Gedankenspiele fernab
der Realität. Mit Eintrittswahrscheinlichkeiten im Promillebereich.
Aber inzwischen wusste er, dass AURORA klüger und durchdachter
war, als er angenommen hatte. Die wussten, wovon sie sprachen. Zwar
mussten einige Thesen noch verifiziert werden, durch Hinzuziehung
weiterer Experten, aber eigentlich stand für ihn fest, dass die Chancen,
diesen schlafenden Drachen zu wecken, weitaus höher waren als ein paar
Promille. Sie lagen bei fünfzig zu fünfzig, aufgrund des Magmaschlauchs
vielleicht noch höher. Vorausgesetzt, die Attentäter hatten Zugang zu den
erforderlichen Ressourcen. Und vorausgesetzt, sie fanden in dem Park das,
wonach er suchte.
Foley nickte gedankenverloren. „Habe ich. Und ich kann Ihnen
sagen, dass es vielleicht möglich ist, die Apokalypse unter unseren Füßen
ausbrechen zu lassen. Der Drache hat schon viel zu lange geschlafen. Sein
Schlaf ist nur noch sehr oberflächlich.“

***

Wenige Tage später


Foley hatte eine vage Vorstellung, wo er das wichtige Mosaikstück finden
könnte, das für einen exogenen Super-GAU nötig war. Sicherlich gab es
auch noch andere Möglichkeiten, den Drachen zu wecken, aber keine war
so naheliegend und so einfach umzusetzen. Relativ betrachtet.
Die Magmakammer hatte zwei Triggerpunkte: Druck und
Temperatur. Das mit dem Druck war so eine Sache. Mit einer massiven
Wasserzufuhr mitten in das Magma hinein wäre das denkbar. Aber dafür
müsste man alle Seen des Parks leerpumpen, wobei fraglich war, ob das
ausreichen würde. Außerdem hätte man das Wasser dann noch lange nicht
am Ort des Geschehens. Druck als Ziel eines Attentats schied nach Foleys
Überzeugung aus. Blieb die Temperatur. Da gab es erfolgversprechendere
Ansätze. Leider, denn bei dem Gedanken, was er hier und heute tat, war
Foley mulmig zumute.
Die Geister, die ich rief...
„In welche Richtung soll ich abbiegen, Dr. Foley?“
Foley war mit Shoemaker und drei Assistenten in einem Jeep
unterwegs. Das Wetter war schlecht. Nebel und viel Regen. Deshalb war es
leer in dem großen Naturpark. Eine wilde, einsame Landschaft im Nebel.
Er schaute auf die Karte auf seinen Knien. Vulkane waren ein
Sammelbecken für wertvolle Kristalle. Und boten damit Zugang zu einem
Triggerpunkt. Er vermutete die Anlagen eher am Rand der Caldera.
Angesichts der Ausdehnung der Magmakammer bedeutete das eine Fahrt
von mehr als dreihundert Kilometern. In diesem Gelände war das an einem
Tag nicht zu schaffen. Er musste die Fahrt auf mindestens zwei Tage
verteilen. Heute waren der Norden und Osten des Parks an der Reihe.
„Dr. Foley“, wiederholte der Fahrer ungeduldiger, „wohin soll ich
fahren?“
„Augenblick“, murmelte er und vertiefte sich wieder in die Karte.
Sie konnten beide Wege nehmen. Aber nach rechts kamen sie näher an den
Rand der Kammer, wo sich die Anlage nach den alten Aufzeichnungen
befinden musste. Auch die Geländestruktur passte. Was ihn entmutigte,
war die Tatsache, dass er das, was er suchte, eben nicht auf der Karte fand.
Da war gar nichts.
„Biegen Sie rechts ab“, befahl er dem Fahrer.
Allerdings war die Karte relativ neu. Wenn, dann waren die Anlagen
uralt und deshalb vielleicht nicht mehr in den Karten verzeichnet.
„Wonach suchen wir eigentlich, Dr. Foley?“, fragte Shoemaker
neugierig.
Foley lächelte. „Sie sind doch so versiert. Dann sind Sie bestimmt
schon von alleine darauf gekommen, oder?“
„Sehr witzig. Nun erzählen Sie schon!“
„Lieber nicht“, antwortete Foley. „Denn ganz sicher bin ich mir
selbst nicht. Ich möchte mich nicht blamieren. Wenn wir nicht finden,
wonach ich suche, entfällt eine besonders aussichtsreiche Möglichkeit, den
Drachen zu wecken. Was nicht heißt, dass es nicht noch andere gibt. Wobei
ich glücklicher wäre, wenn unser Projekt zu keinem Ergebnis führt. Denn
dieser Drache kann die menschliche Rasse vernichten.“
Shoemaker nickte. „Der vulkanische Winter würde weltweit zu
Ernteausfällen führen und in dicht besiedelten, hochentwickelten Gebieten
selbst im Sommer Frost und Schnee bringen. Es käme zu einem
Zusammenbruch der Finanzmärkte, einer Rezession und anarchistischen
Zuständen. Angesichts des Waffenarsenals auf dem Planeten sind das keine
rosigen Aussichten. Und Sie haben selbstverständlich recht, Dr. Foley! Ein
negatives Ergebnis bedeutet ein Terrorziel weniger.“
In Gedanken versunken fuhren sie noch gut zwanzig Kilometer
schweigend in östlicher Richtung, ohne auf etwas anderes zu treffen als
Wald. Der vermutete Rand der Caldera war nur noch zwei Kilometer
entfernt. Foley wollte die Hoffnung schon aufgeben, als aus dem Nebel
plötzlich ein bizarres Monstrum aus verrostetem Eisen auftauchte.
„Ja!“, stieß er hervor und ballte die Fäuste. „Wusste ich´s doch!
Fahren Sie direkt darauf zu.“
Shoemaker war sichtlich überrascht. „Wohin haben Sie uns geführt?
Was ist das?“
„Warten Sie´s ab.“
Der Jeep rollte auf ein verwittertes Tor zu. Die Forscher und
Assistenten stiegen aus und schauten durch das verschlossene Tor. Sie
konnten einen großen Förderturm, diverse halb oder ganz zerfallene
Hütten, eine überwucherte Schienenanlage, einen Göpel, einen
Flachkegelbrecher sowie einige Pendelwagen und Dahlbuschbomben
erkennen. Alles mehr oder weniger verrottet. In dem wabernden Nebel und
dem diffusen Licht wirkte dieses Szenario abweisend und bedrohlich.
„Das ist ein stillgelegter Bergbaubetrieb“, stellte Shoemaker fest.
„Jetzt müssen Sie uns nur noch erklären, was das mit unserer Forschung zu
tun hat, Dr. Foley.“
Foley fingerte an dem Schloss des großen Tores herum. Soweit man
die Anlage überblicken konnte, war sie von einem Metallzaun
umschlossen und hatte nur diesen einen Zugang. „Mist, wir kommen nicht
rein. Ich frage mich, ob wir das Tor aufbrechen können oder ob wir eine
Genehmigung dafür brauchen. Diese Anlage dürfte seit Jahrzehnten
stillgelegt sein.“
Einer der Assistenten meldete sich zu Wort. „Genehmigungen sind
mein Spezialgebiet. Und ich kann Ihnen versichern, dass wir hier ohne
Genehmigung gar nichts unternehmen dürfen.“
Shoemaker rieb sich nachdenklich das Kinn. „Das mag sein. Aber
wie Sie alle wissen, ist das ein geheimes Forschungsprojekt. Genehmigung
hin, Genehmigung her. Wenn Dr. Foley sagt, dass wir da rein müssen, dann
brechen wir das Tor auf. Wenn wir später mit unseren Erkenntnissen an die
Öffentlichkeit gehen, wird man uns auf Knien danken. Dann fragt kein
Mensch mehr nach einer Genehmigung. Sie sollten uns aber vorher an
Ihren Gedanken teilhaben lassen, Dr. Foley. Warum sollten wir da unbefugt
eindringen?“
Ohne zu antworten, ging Foley zum Heck des Jeeps und nahm ein
Brecheisen aus dem Kofferraum. Er machte sich sofort ans Werk,
getrieben von der unstillbaren Neugier des Forschers. Doch das Schloss
erwies sich als widerspenstig. Er drehte sich zu den anderen um, die seine
Aktion staunend verfolgt hatten. „Kommen Sie mal her“, befahl er einem
Assistenten, der besonders kräftig wirkte, „und helfen Sie mir!“
Der Assistent blickte fragend zu Shoemaker. Der nickte nur. Der
Assistent ging zu dem Tor, nahm Foley das Werkzeug ab und klemmte es
in das Schloss. Er drückte nur einmal zu. Mit einem lauten Knall flog das
Schloss aus der Verankerung und das Tor öffnete sich wenige Zentimeter
mit einem lauten Quietschen.
„Bitte sehr“, sagte der Assistent triumphierend und drückte Foley
das Brecheisen wieder in die Hand.
Mit einem Gefühl höchster Anspannung ließ Foley das Werkzeug zu
Boden fallen, schob das Tor weit auf, das dabei so fürchterliche Geräusche
von sich gab, dass es in den Ohren schmerzte, und ging auf das Gelände.
Er drehte sich um. „Worauf warten Sie? Kommen Sie. Und jemand möge
doch bitte den Jeep reinfahren.“
Shoemaker hatte Foley rasch eingeholt, der zielstrebig auf den
Förderturm zuging. „So, Dr. Foley, jetzt reden Sie aber endlich Klartext!
Was machen wir hier?“
Foley hob abwehrend eine Hand. „Gedulden Sie sich noch einen
Augenblick und folgen mir!“
Shoemaker verdrehte genervt die Augen, sagte aber nichts.
Augenblicke später standen sie am Rand eines großen Schachtes. Foley
schaute hinein. Der Schacht war riesig und schien unendlich in die Tiefe
zu führen. Ein Schlund, ein magischer Sog. Ein Kribbeln überfiel ihn.
Diese Entdeckung konnte zu einem Meilenstein der
Menschheitsgeschichte werden. Er, Dr. Mason Foley, enttarnte ein
Terrorziel, das zig Milliarden Menschenleben auslöschen konnte. Doch
dank seiner Arbeit ließ sich dieses Ziel entschärfen. Er hatte auch schon
eine Vorstellung, wie. Die Stoßrichtung seiner Forschung war klar. Was für
ein triumphaler Erfolg!
Auch Shoemaker blickte gebannt in die Tiefe. „So etwas habe ich
hier nicht erwartet. Dieser Stollen ist ja riesig. Die ganze Anlage ist riesig.
Und das ausgerechnet auf einem Supervulkan.“
„Nicht ausgerechnet, sondern weil das ein Supervulkan ist, Dr.
Shoemaker. Genau deshalb gibt es hier diesen Stollen.“
Shoemaker sah ihn fragend an. Hier endete sein Wissen.
„Riesige Vorkommen von Kristallen, Erzen und Mineralien“,
erklärte Foley. „Und nicht zu vergessen die siebzehn Metalle aus der
Gruppe der Seltenen Erden. Der wertvollste Rohstoff der Welt. Sie stecken
in vielen Geräten, die wir täglich nutzen. Mobiltelefone, Computer,
Bildschirme. In der Erdkruste gibt es mehr Seltene Erden als Gold und
Platin. Aber anders als Letztere, sind die Seltenen Erden eher gleichmäßig
verteilt, sodass sich ein Abbau in der Regel nicht lohnt. Mit einer
Ausnahme: vulkanisches Gestein. Dort unten schlummert ein Vermögen.“
Shoemaker schüttelte verwundert den Kopf. „Warum hat man diese
Anlage dann stillgelegt? Wenn das doch so ein Goldesel ist.“
„Das liegt auf der Hand. Hier entwickeln sich ständig gefährliche
Gase und eine große Hitze. Wenn man der Caldera zu nahe kommt,
provoziert man einen Einbruch von Magma in die Stollen des Bergwerkes.
Aber damals wusste man das noch nicht. Es ist wie mit der Radioaktivität.
Anfangs arbeiteten die Forscher arglos mit reinem Uran. Und wurden
verstrahlt. Ähnlich dürfte es hier gewesen sein. Sicherlich hat es Unfälle
und Opfer gegeben. Daraufhin wurde das Bergwerk stillgelegt. Und hier,
so weit draußen in der entlegenen Natur, ist das irgendwann in
Vergessenheit geraten.“
„Gehe ich recht in der Annahme, dass Ihr Hinweis auf die Nähe zur
Caldera ein versteckter in meine Richtung war?“
Foley grinste. „Das könnte man so sagen.“
„Okay, aber selbst wenn Selbstmordattentäter noch tiefer graben und
Sprengstoffgürtel in der Nähe der Magmakammer zünden, was sollte dann
passieren? Da tritt ein wenig Magma aus. Aber zum einen ist die nach
Ihren Ausführungen nicht heiß genug und insofern dickflüssig. Zum
anderen wäre die Menge, die dabei austreten könnte, doch verschwindend
gering.“
Mason Foley blickte sich um. Er versuchte, sich die Abmessungen
und die Geographie des Geländes vorzustellen. Ohne dieses Bergwerk war
seine Theorie völlig abwegig. Doch hier könnte es funktionieren. Erst
recht, wenn es mehr als dieses eine Bergwerk gab.
„Sprengstoffgürtel? Sie denken in zu kleinen Dimensionen, werter
Dr. Shoemaker. In viel zu kleinen Dimensionen! Machen wir uns ans Werk.
Wir fahren zurück ins Lager und fordern die notwendige Ausrüstung an.
Und dann kommen wir zurück.“
Kapitel 26
Nord-Atlantik, zwischen Neufundland und Irland, Januar 2016
Die Podolsk tauchte an den vereinbarten Koordinaten auf. Koroljow hatte
sich vergewissert, dass sich kein anderes Boot in der Nähe befand. Die
Messgeräte zeigten eine Lufttemperatur von vier Komma acht und eine
Wassertemperatur an der Oberfläche von null Komma acht Grad Celsius.
Kein Sturm, aber Böen aus Westnordwest. Die mittlere
Windgeschwindigkeit betrug vierzig Stundenkilometer. Sturm begann bei
Windstärke neun, das entsprach fünfundsiebzig Stundenkilometern. Kein
Problem für die Podolsk. Aber für den Trawler. Laut Seewetterbericht
braute sich ein Orkan mit Böen von hundertfünfzig Stundenkilometern
zusammen. Aber erst ab den frühen Abendstunden. Es blieb also genügend
Zeit für die Übergabe.
Koroljow öffnete die Luke. Die Sensoren hatten eine Entfernung zu
dem von der irischen Küste ausgelaufenen Boot von zweitausend Metern
angezeigt. Zu weit, um es schon mit bloßem Auge sehen zu können. Der
Regen reduzierte die Sicht, zusammen mit der Gischt des aufgepeitschten
Wassers, auf ein Minimum.
Er schloss die Augen und streckte dem Regen sein Gesicht entgegen.
Was andere als eisige Kälte empfanden, war für ihn angesichts des
sibirischen Winters nur ein laues Lüftchen. Der Wind schien zu brüllen,
obwohl er noch gar nicht so heftig war. Koroljow wusste, dass dieses
bedrohliche Geräusch vor allem von den schon bis zu drei Meter hohen
Wellen stammte. Wasser, Wolken und Regen summierten sich zu einer
grauen, undurchdringlichen Suppe.
Endlich tauchte der zivile Trawler aus der bleiernen Masse auf.
Zuerst nur schemenhaft, dann als größer werdender, blauroter Farbklecks.
Wie vereinbart war er als Fischerboot getarnt. Er machte nicht den
Eindruck, dass ihm Wind oder Wellen Probleme bereiteten. Koroljow gab
das vereinbarte Zeichen. Ein Lichtsignal mit einer schlichten, aber starken
Taschenlampe. Kurz darauf stoppte das Boot neben der Podolsk.
Jetzt kam der kritische Augenblick: Der Kapitän des Bootes musste
die Brücke auf die Podolsk legen. Er gab Koroljow und den Männern, die
neben ihm standen, ein Zeichen, die Brücke am U-Boot zu fixieren.
Koroljow wusste, was er zu tun hatte. Er dirigierte seinen Steuermann.
Trotz des Windes war die Brücke rasch befestigt. Der Kapitän des
Trawlers betrat den Übergang. Hinter ihm tauchte ein weiterer, größerer
Mann auf: Mitja.
Tschechow umarmte Koroljow, während der Kapitän des Trawlers
seiner Besatzung Anweisungen gab, die Lebensmittel in das U-Boot zu
bringen.
„Ich komme aus zwei Gründen, Aljoscha. Erstens, um Deine Crew
einzuschwören. Und zweitens, um dir etwas persönlich mitzuteilen.“
Tschechow bestieg vor Koroljow das U-Boot. Dahinter brachten
Besatzungsmitglieder beider Boote den Proviant an Bord. Tschechow
schüttelte jedem Soldaten die Hand und dankte ihm für seinen
unermüdlichen Einsatz. Dann begleitete er Koroljow in dessen Kabine.
„Viel Zeit haben wir nicht“, kündigte er an, noch bevor er Platz
genommen hatte. „Obwohl ich mich gerne länger mit dir unterhalten
würde. Denn es gibt Neuigkeiten. Ich werde auch zukünftig mitkommen,
wenn du Nachschub bekommst. Die einzige Möglichkeit, dich ohne
Verschlüsselung zu informieren.“
Koroljow, der seinem Einsatz mit jedem Tag mehr entgegenfieberte,
konnte seine Spannung kaum im Zaum halten. „Erzähl schon, Mitja, geht
es endlich los? Wie lautet mein Ziel?“
Tschechow winkte ab. „So weit ist es noch nicht. Aber Du musst
wissen, dass weitere U-Boote auslaufen und zu Dir stoßen. Ich habe den
Präsidenten über eine außerplanmäßige Gemeinschaftsübung informiert.
Das wird auch das Statement des Kreml sein, wenn es Anfragen seitens der
Europäer gibt. Wenn es soweit ist, starten die Raketen, bevor die
ahnungslosen Kommandanten auch nur begriffen haben, was geschieht. Du
bist der Einzige, der eingeweiht ist, mein Freund!“
Koroljow war verunsichert. „Wieso ich? Und warum sind die
anderen Kommandanten nicht über den bevorstehenden Ernstfall
informiert worden?“
„Was hast du mir in deinem Haus versprochen, Aljoscha?“, fragte
Tschechow streng.
„Dass ich keine Fragen stelle und deinen Befehlen bedingungslos
folge.“
Es klopfte an der Kabinentür. Ein Bootsmann teilte mit, dass alle
Lebensmittel an Bord waren und der Wind zulegte. Der Kapitän wollte so
schnell wie möglich zurück nach Irland. Tschechow befahl dem
Bootsmann, dem Kapitän zu sagen, dass die Mannschaft des Trawlers
zurück auf ihr Schiff gehen sollte. Er würde in wenigen Minuten folgen.
Tschechow wandte sich wieder Koroljow zu. „Vertrau mir, Aljoscha.
Du fährst einem Einsatz entgegen, den Du Dir selbst in Deinen kühnsten
Träumen nicht ausmalen könntest. Dein Ziel liegt jenseits des
menschlichen Vorstellungsvermögens!“
Mit einer Umarmung verabschiedete sich Tschechow von seinem
Freund. Kurz darauf tauchte die Podolsk wieder in die Tiefen des
Nordatlantiks ab. Kurs Südsüdost.
So sehr sich Koroljow darüber gefreut hatte, Mitja wiederzusehen, so
viele Fragezeichen hatte er jetzt zusätzlich im Kopf.
Kapitel 27
Cocoa Beach, Florida, Februar 2016
„Nein, nein, nein, ich will nicht!“
„Nun komm schon, kleine Prinzessin. Stell dich nicht so an. Ich
möchte keine Kinderfrau mehr für dich bezahlen. Riley kann auf dich
aufpassen. Du magst Riley doch auch.“
„Ich will aber nicht!“
Es lief nicht nach Plan. Denn Cathy hatte sich entschieden,
eifersüchtig zu sein. Riley stahl ihr die Aufmerksamkeit ihrer Mutter. Das
konnte sie nicht hinnehmen. Dabei hatte Riley alles getan, um sich mit ihr
anzufreunden. Er hatte ihr vorgeschlagen, ihr Surfen beizubringen. Aber
sie wollte nicht. Er lockte sie mit dem Bauen der schönsten Sandburgen.
Er sei ein ausgewiesener Spezialist für diese Kunstwerke. Doch Cathy
wollte nicht. Sie wollte gar nicht erst, dass er in ihre Nähe kam. Emma
hatte selbst nicht mit diesem Verhalten gerechnet. Aber seit der Scheidung
war Riley der erste Mann in Emmas und damit Cathys Leben. Bis dahin
hatte sie ihre Mutter immer für sich gehabt. Und daran sollte sich nichts
ändern.
Riley wusste nicht, ob er sauer sein sollte, oder beleidigt, oder
einfach nur enttäuscht. Denn alles andere entwickelte sich prächtig. Mit
Emma lief es super. Er konnte sich ein Leben ohne sie nicht mehr
vorstellen. Letztes Wochenende hatte er bei einem romantischen
Abendessen mit Kerzenschein und Weißwein zum ersten Mal in seinem
Leben die drei magischen Worte gesagt. Und Emma hatte geantwortet:
„Riley Perkins, ich liebe dich auch.“
Aus Verliebtheit war Liebe geworden. Genau das, was einige
Freunde Riley erzählt hatten, nachdem sie ihre Frau fürs Leben gefunden
hatten. Damals waren das für Riley Waschlappen gewesen, die wegen einer
Beziehung die Freunde von einst hängen ließen. Aber jetzt verstand er sie.
Nur Cathy, die verstand das nicht. Emma erklärte Riley, dass Kinder nun
einmal so waren und sie Geduld haben müssten. Irgendwann käme Cathy
von ganz alleine.
Aber Riley war von Natur aus kein geduldiger Mensch. Immerhin
lief seine Surfschule gut. Er nahm keine Drogen mehr und trank weniger.
Seine Arbeit machte ihm tierisch Spaß. Er kam gut bei seinen Schülern an.
Und noch mehr bei seinen Schülerinnen, die bei ihm im Unterschied zu
früher aber nichts mehr auslösten.
Mithilfe von Emmas Kontakten und unternehmerischen Fähigkeiten
hatte er sogar Verträge mit Reiseunternehmen aus den USA und Europa
geschlossen und drei Mitarbeiter eingestellt. Zwei Surflehrer und einer für
die Organisation. Bald standen Verhandlungen mit dem ersten
chinesischen Reiseunternehmen an. Riley verdiente zum ersten Mal richtig
Geld. Und fühlte sich gut damit. Auch, weil er Emma ihr Geld viel
schneller zurückzahlen konnte als geplant. Nur Cathy wollte einfach nicht
mitspielen.
Und noch etwas beunruhigte ihn. Seit seiner Abreise aus Byron Bay
hatte er nichts mehr von seiner Familie gehört. Weder in der elterlichen
Villa noch über ihre Handys konnte er sie erreichen.
Er erinnerte sich an den letzten Abend bei seinen Eltern, im Anzug
und mit diesen affektierten Amerikanern, und daran, dass James Projekt
absoluter Geheimhaltung unterlag. Aber dass der Kontakt vollständig
abgebrochen war, gab ihm dennoch zu denken.
Er wurde von Emmas strenger Stimme aus seinen Gedanken
gerissen. „Cathy, ich möchte dich zu nichts zwingen. Aber nicht du
entscheidest, wer auf dich aufpasst, wenn ich unterwegs bin, sondern ich.
Ich muss für zwei Wochen auf Geschäftsreise. Wir können meinetwegen
ein letztes Mal das Kindermädchen holen. Aber du versprichst mir, dass
du nett zu Riley bist und ihm eine Chance gibst, dir zu zeigen, wie gerne er
dich hat. Was hältst du von diesem Deal?“
Cathy war einverstanden. Aber Riley fühlte sich nicht wohl bei dem
Gedanken, gleich für zwei Wochen alleine mit Cathy und dieser spröden,
altbackenen Kinderfrau zu sein, zu der er keinen Draht hatte. Andererseits
wusste er, dass er sich in eine Frau verliebt hatte, die eine Tochter hatte,
und ein Unternehmen, das regelmäßig auch längere Geschäftsreisen
erforderte.
„Wir drei machen das schon“, sagte er mit einem gequälten Lächeln.
Wenigstens konnte er jeden Tag draußen sein, um den Leuten Surfen
beizubringen. Ein kleiner Trost, wenn nach Emmas Abreise dicke Luft
herrschte. Außerdem nahm er sich vor, jeden Tag ein oder zwei Stunden
im Internet zu surfen, um mehr über diese ominöse Stiftung und den
Verbleib seiner Familie in Erfahrung zu bringen.
„Ihr könnt doch mal was zusammen unternehmen“, ermunterte
Emma Cathy und ihn, schien aber zu bemerken, dass beide nicht begeistert
waren. Das hielt sie nicht davon ab, ihnen Vorschläge zu machen.
„Ihr könnt einen Ausflug nach Disney World machen. Du bist doch
so ein großer Donald-Fan, Cathy! Oder zu den Universal Studios. Da
waren wir noch nie. Und erst die Sea World. Das fandest du immer
spannend, Cathy. Außerdem könnt ihr nach Cape Canaveral fahren. Das
wird euch gefallen. Was sagst du dazu, Riley? Würdest du das tun?“
Am liebsten hätte Riley geantwortet, dass er in ein Hotel gehen
würde. Aber er wollte Emma nicht enttäuschen. Außerdem bestand eine
Chance, dass Cathy auf diese Weise auftaute. Auf Dauer konnte es nicht so
weitergehen. Also versprach er, Ausflüge zu machen.
Riley schaute wehmütig aus dem Fenster. Emmas Haus lag in erster
Strandlinie. Eine schöne, aber nicht protzige Villa. Mit einer großen
Terrasse, von der man einen wunderschönen Blick über den Strand auf den
Atlantik hatte. Auf dieser Terrasse hatte er Emma seine Liebe gestanden.
Heute war es stürmisch. Kein schlechtes Wetter. Aber diesig und mit
elf Grad deutlich zu kühl. Dafür war das Wasser schon über zwanzig Grad
warm. Ideal zum Surfen. Aber nicht für Surfstunden. Nicht, wenn an den
Türmen der Rettungsschwimmer die roten Flaggen wehten, die Badegäste
davor warnten, ins Wasser zu gehen. Doch ihn reizte gerade diese
Herausforderung immer wieder aufs Neue. Und weil Cathy soeben ihr
Lieblingsspiel holte, Die Siedler von Catan, um eine Runde mit Emma zu
spielen, sagte er, dass er lieber surfen gehen wolle.
„Okay, aber sei bitte vorsichtig. Heute ist ein ziemlicher
Wellengang.“
Riley gab Emma einen Kuss. „Keine Sorge, ich mache das ja nicht
zum ersten Mal.“
Zwanzig Minuten später raste Riley dem offenen Meer entgegen,
froh, den Siedlern von Catan und der gedrückten Stimmung entgangen zu
sein. Auch die Gedanken an die kommenden zwei Wochen verloren sich in
den tosenden Wellen. Hier war Riley in seinem Element. Welle über Welle
bezwang er, mal in der Nähe des Strandes, mal weiter draußen. Außer ihm
war niemand im Wasser. Auch der Strand war menschenleer. Er spürte
jeden Muskel. Der Kraftaufwand, solchen Brechern zu trotzen, war enorm.
Die Zeit verging wie im Flug. Erst als seine Muskeln brannten, ließ er es
gemächlicher angehen. Noch zehn Minuten, dachte er, dann gehe ich raus
und habe zum Abschied einen schönen Abend mit Emma. Und mit Cathy
müssen wir Geduld haben. Das Surfen hatte ihn innerlich befreit.
Er war eins mit sich und den Elementen.
Doch plötzlich irritierte ihn etwas.
Aber er wusste nicht, was. Es war etwas, das nicht hierhin gehörte.
Er blickte über das Wasser, an sich hinab auf das Surfbrett, wieder
über das Meer, wieder auf sein Brett. Dann zum Strand.
Und dann sah er ihn.
Ein merkwürdiger roter Punkt.
Plötzlich war er da. Wie aus dem Nichts war er gekommen.
Lautlos glitt er über das Wasser und die Wellen. Rauf und runter, im
Rhythmus des Ozeans. Ausgehend vom Strand in seine Richtung. Er
näherte sich dem Surfbrett. Riley schaute angestrengt zum Strand. Er war
siebzig oder achtzig Meter entfernt. Der rote Punkt erreichte sein
Surfbrett, wanderte sein linkes Bein hinauf.
Dann sah er sie: drei Gestalten am Strand, die in seine Richtung
blickten. Einer von ihnen hielt etwas vor sein Gesicht. Jetzt war der rote
Punkt auf Höhe seines Herzens angekommen.
In diesem Moment begriff Riley: Da zielte jemand mit einem
Gewehr auf ihn! Was hatte das zu bedeuten? Wer hätte einen Grund, auf
ihn zu schießen? Eine Verwechslung, ganz klar. Aber eine tödliche
Verwechslung!
Nichts wie weg!
Sein Adrenalinspiegel schnellte in die Höhe. Seine Sinne
konzentrierten sich auf Wind und Wellen. Die Schmerzen in seinen
Muskeln waren verschwunden. Sie waren bereit, zu reagieren.
In dem Moment, als der Schuss fiel, hatte er sein Surfbrett mit
einem riskanten Sprung in die Luft abrupt gewendet. Weg vom Strand und
in Richtung einer großen Felsnase, die weit ins Meer hineinragte und keine
dreihundert Meter von ihm und seinem Surfbrett entfernt war.
Er spürte einen Schlag gegen den Arm, aber keine Schmerzen. Hatte
ihn der Mast erwischt? Er raste in irrem Tempo direkt auf die Felsnase zu.
Jetzt ein Fehler und es war sein letzter. Immer wieder traf ihn für den
Bruchteil einer Sekunde der rote Punkt. Und immer wieder fielen Schüsse,
die Riley nicht hören konnte. Aber er sah sie neben seinem Brett im
Wasser einschlagen. Eine Kugel durchschlug das Segel.
Emma und Cathy schossen ihm durch den Kopf. Was, wenn dort
auch jemand war? Wenn das gar keine Verwechslung war?
Zusätzliche Panik erfasste ihn. Er musste nach Hause, die beiden
beschützen! Aber wie? Die drei Gestalten am Strand befanden sich
zwischen Emmas Haus und ihm. Wie sollte er an ihnen vorbeikommen?
Endlich erreichte er in einem Höllentempo die Felsnase, die er mit
Schwung umrundete. Beinahe hätte er das Gleichgewicht verloren, doch er
konnte sich, gegen den sich jetzt ausbreitenden Schmerz in seinem Arm,
halten und raste direkt auf den Strand zu. Ohne nennenswert abzubremsen,
landete er, zusammen mit seinem Surfbrett, mit einem artistischen Sprung
im Sand. Während sein Surfbrett in zwei Teile zerbrach, blieb er
unverletzt. Abgesehen von der Schusswunde am Arm, die den Surfanzug
dunkel verfärbte. Vorsichtig begutachtete Riley seinen Arm. Er musste
kein Arzt sein, um festzustellen, dass das nur ein Streifschuss war. Er hatte
Glück. Noch.
Er sprang auf und hechtete auf den Felsen. Bevor er den Grat
erreichte, ging er in die Hocke und spähte auf die andere Seite. Die drei
Gestalten, durchweg Männer, wie er nun erkennen konnte, rannten in seine
Richtung. Keine hundert Meter mehr entfernt. Ihm blieben nur Sekunden.
Er stieß sich ab und sprang in den Sand, gute vier Meter, und ließ
sich seitlich abrollen. Einer Eingebung folgend, raffte er die beiden Teile
seines Surfbretts vom Strand auf und warf sie in hohem Bogen aufs Meer
hinaus. Dann stürmte er wieder ins Wasser und kraulte mit kräftigen
Schwimmbewegungen zum Ende der Felsnase. Den pochenden Schmerz in
seinem Arm ignorierte er.
Er wusste von einer seiner Erkundungstouren, dass sich am Ende der
Felsnase unter der Wasseroberfläche der Zugang zu einer Höhle befand,
von der aus man den Strand im Blick hatte. Ohne sich umzudrehen,
tauchte er ab und stieß sich unter dem Fels hindurch in die Höhle. Das
Wasser reichte ihm dort nur bis zu den Oberschenkeln. Sofort watete er zu
einem natürlichen Fenster im Fels, das das Wasser wahrscheinlich im
Laufe von Jahrhunderten ausgewaschen hatte.
Die Männer standen am Strand, mit den Füßen im Wasser, und
unterhielten sich aufgeregt. Einer hielt etwas in der Hand. Ein Fernglas?
Er schien das zerstörte Surfbrett zu entdecken, das in den Wellen trieb,
denn er redete wild gestikulierend auf die beiden anderen ein. Einige
Minuten blieben sie dort stehen. Anscheinend unschlüssig, was sie tun
sollten. Dann setzten sie sich wieder in Bewegung. Geradewegs auf
Emmas Villa zu, die von hier aus gut einen Kilometer entfernt war.
Niemand war am Strand. Nur die drei Männer und er. Und die
Rettungsschwimmer, deren Turm aber zu weit entfernt war, um
mitzubekommen, welches Drama sich hier abspielte.
Riley hechtete aus der Höhle, schwamm zum Strand und rannte los.
Nicht über den Strand, sondern durch die Dünen. Dort, wo ihn die Männer
nicht sehen konnten.

***

„Du hast verloren“, freute sich Cathy.


„Wie immer“, jammerte Emma, die jedoch gerne gegen ihre Tochter
verlor, weil sie sich so schön freuen konnte. Allerdings wurde sie immer
unruhiger. Wo blieb Riley? Er war schon über zwei Stunden fort. Bald
wurde es dunkel. Und der Wind war inzwischen ein ausgewachsener
Sturm. Er heulte durch die Holzbalken und rüttelte die Hollywoodschaukel
durch. Das war selbst für Riley zu viel des Guten. Noch eine Viertelstunde,
dann musste sie ihn suchen.
„Spielen wir noch eine Runde?“, fragte Cathy.
„Nein, ich muss ja auch noch packen.“ Aber Emma dachte nicht ans
Packen, sondern an Riley. Er war sehr zuverlässig. Er mochte nach außen
anders wirken. Dem Klischee des coolen, smarten Surflehrers entsprechen,
dem seine Schülerinnen zu Füßen lagen. Denn er sah verdammt gut aus.
Aber das war es nicht, worin sich Emma verliebt hatte. Kiffende,
oberflächliche Typen, die Frauen reihenweise umlegten, ließen sie kalt.
Aber bei Riley hatte sie etwas ganz anderes entdeckt. Seine Augen. Sein
Blick. So cool er sich anfangs gegeben hatte, in seinen klugen, wachen
Augen hatte etwas Flehendes gelegen. Etwas Melancholisches. Und seine
Stimme hatte ihr seine Unsicherheit verraten. Unsicherheit ihr gegenüber.
Nach der Scheidung von Cathys Vater hatte Emma nicht damit
gerechnet, sich jemals neu zu verlieben. Aber wenn, dann in einen
erfolgreichen, bodenständigen Unternehmer. In einen Mann auf ihrer
Ebene, mit ihren Interessen. In ihrem Alter. Aber in einen blonden, sieben
Jahre jüngeren Surflehrer, der zugab, geregelte Arbeitszeiten zu hassen,
gerne zu kiffen und sich zu besaufen? Hätte ihr das jemand vorher gesagt,
hätte sie ihn für verrückt erklärt.
Noch bevor sie wusste, wer sein Vater war, hatte sie erkannt, dass
dieser Surflehrer über andere Qualitäten verfügte. Das sagte ihr all ihre
Erfahrung im Umgang mit Menschen, den sie als Inhaberin einer Firma
mit vielen Mitarbeitern hatte. Riley war ein herzensguter, interessanter
Mensch mit viel mehr Verantwortungsgefühl als ihm selbst bewusst war.
Und als ihm lieb war. Denn das Image des coolen, unangepassten
Schönlings pflegte er gerne. Aber nur, weil er nicht wusste, was er wollte.
Und weil er gegen seinen Übervater rebellierte.
Riley mochte seinen Vater verachten. Den erfolgreichen,
prominenten, mit Preisen überhäuften Nobelpreisträger, der seine Kinder
zu seinen Abziehbildern machen wollte. Doch in Riley steckten viel mehr
von James Genen, als er ahnte. Und er verfügte über eine Intelligenz, die
wichtiger war, als jede mit Tests messbare: emotionale Intelligenz.
Wie viele Menschen waren ihr begegnet, die irrsinnige
Computerprogramme basteln oder mathematische Algorithmen
entschlüsseln konnten. Ausnahmetalente der Physik oder Chemie, oder
Sprachgenies. Aber keiner von ihnen war in der Lage, sich in einen
anderen Menschen hineinzuversetzen, ja hinein zu fühlen. So wie Riley es
konnte, in den sie sich so verliebt hatte, dass sie sich schon nach einer
halben Stunde Verspätung wahnsinnige Sorgen machte.
Von innerer Unruhe erfasst, ging sie auf ihre Terrasse, blickte über
die Dünengräser auf´s Meer hinaus. Keine Spur von Riley. Und allmählich
wurde es dunkel. Nicht wegen der Tageszeit, sondern weil es sich vom
Atlantik her bedrohlich zuzog. Feiner Nieselregen setzte ein. Und es wurde
immer kälter. Fröstelnd schlang Emma, die nur eine dünne Bluse trug, die
Arme um die Taille.
Plötzlich meinte sie, aus dem Augenwinkel heraus eine Bewegung
wahrzunehmen. Rechts von ihr. Vom Rand des Strandes, am Übergang zu
den Dünen. Angestrengt blickte sie in diese Richtung, konnte aber nichts
erkennen. „Riley?“, rief sie. „Riley, bist du das?“

***

Von düsteren Vorahnungen getrieben, rannte Riley durch die hügelige


Dünenlandschaft. Inzwischen stürmte es und dichter Nieselregen hatte
eingesetzt. Er musste unbedingt vor diesen Männern zuhause sein. Immer
wieder versuchte er, einen Blick auf den Strand zu erhaschen. Um
abschätzen zu können, auf welcher Höhe sich die Männer befanden. Doch
er sah sie nicht. Er sah niemanden. Hier herrschte totale Einsamkeit. Kein
Wunder, bei diesem Wetter.
Riley achtete aber nicht auf den Weg. In vollem Lauf geriet er in
eine tiefe Bodendelle. Er knickte mit dem linken Fuß um und ging sofort
zu Boden. Ein heftiger Schmerz durchfuhr seinen Knöchel. Er meinte
außerdem, es knacken zu hören. Auch das noch. Aber er durfte sich nicht
von einem verstauchten Knöchel ausbremsen lassen. Emma und Cathy
schwebten in Lebensgefahr! Ohne dass er eine Vorstellung hatte, warum.
Riley ignorierte den Schmerz. Seine Angst um Emma und Cathy war
größer. Er rappelte sich auf und lief humpelnd weiter, immer mit Blick
zum Strand.
Und dort sah er ihn plötzlich.
Daran hätte er schon vorher denken sollen. Der Wachturm der
Rettungsschwimmer! Nur den Bruchteil einer Sekunde zögerte er, wog ab,
was besser war. Weiterlaufen? Oder ein kurzer Umweg zum Turm, um die
Rettungsschwimmer zu bitten, die Polizei anzurufen?
Rasch entschied er sich für die zweite Alternative. Denn alleine hatte
er gegen drei, zumal bewaffnete, Männer keine Chance. Er humpelte zum
Turm und schrie zu den Rettungsschwimmern hinauf, die ihn gut kannten.
In wenigen Worten erklärte er die Situation. Der eine reckte den Daumen
und sein Smartphone in die Höhe. Er hatte verstanden.
Riley lief weiter. Was ihn beunruhigte, war die Tatsache, dass er auch
hier, am Rand des Strandes, die Männer nicht sehen konnte. Entweder sie
hatten gar nicht vor, zum Haus zu laufen, und waren längst wieder
verschwunden.
Oder aber sie waren schon dort!
Riley erfasste erneut panische Angst. Trotz der Schmerzen gelang es
ihm, wieder zu rennen.

***

Emma hatte sich nicht getäuscht. Wieder nahm sie eine Bewegung wahr,
vielleicht hundert Meter in Richtung Wasser.
„Riley?“
Immer wieder schrie sie seinen Namen in die fortschreitende
Dämmerung. Aber Riley antwortete nicht. Sie ging zum Rand der Terrasse,
dort, wo der Strand begann.
„Riley? Bist du das?“
Keine Antwort. Eine Gänsehaut kroch ihre Arme hinauf. Sie witterte
Gefahr. Wer außer Riley sollte bei diesem Wetter dort sein? Sie ging ein
paar Schritte durch den Sand. Bis zu den Dünen.
„Riley!“, schrie sie von Panik erfasst. Wieder keine Antwort.
Stattdessen ein roter Punkt vor ihr im Gras, der rasch auf sie zukam und
schon ihr Bein erfasst hatte. Mit offenem Mund verfolgte sie, wie der
Punkt an ihr hochwanderte und Sekunden später fast auf Kopfhöhe war.
Schlagartig begriff sie, dass jemand auf sie zielte. Mit einem
beherzten Sprung wich sie zurück und landete schmerzhaft mit ihrer Hüfte
auf den Holzdielen der Terrasse. In diesem Moment hörte sie den Schuss
und das Geräusch von zerberstendem Glas. Sie riss den Kopf herum und
sah, wie die Reste ihres bodentiefen Fensters mit einem Klirren zu Boden
fielen.
Cathy!
Doch Cathy war längst in ihr Zimmer gegangen. Aber der Krach
hatte sie aufgescheucht. Sie kam die Treppe hinunter und starrte mit
offenem Mund auf die Scherben und das zerstörte Fenster.
„Cathy“, schrie Emma gegen den heulenden Wind, „sofort zurück
nach oben! Schließ dich ein. Nimm das Telefon mit und ruf die Polizei!
Schnell!“
Emma wollte aufspringen. Doch in diesem Augenblick sah sie
wieder den roten Punkt. Auf Höhe ihres Herzens. Und sie sah die Quelle
des Punktes. Der Mann stand breitbeinig keine fünf Meter entfernt im
Sand und hielt ein Gewehr im Anschlag, ein Auge auf das Zielfernrohr
gepresst. Hinter ihm standen zwei weitere Männer. Sie hatten keine
Gewehre. Alle trugen Sturmhauben.
Emma wusste, dass sie jetzt sterben musste. Hatten sie auch Riley
erschossen? Ihr letzter Gedanke galt Cathy. Hoffentlich taten sie ihr nichts.
Emma schloss die Augen. Ihr Herz raste.
Doch anstatt eines Schusses ertönte ein infernalischer Schrei.
Erschrocken riss sie die Augen wieder auf. Sie sah, wie Riley sich mit
einem Hechtsprung auf den Mann mit dem Gewehr stürzte, ihn zu Boden
riss und mit irgendetwas auf seinen Kopf einschlug. Der Mann wurde
völlig überrascht, er hatte keine Chance, diesen plötzlichen Angriff aus
dem Hinterhalt abzuwehren.
Noch bevor die beiden anderen Männer reagieren konnten, hatte
Riley schon von seinem ersten Opfer abgelassen und sprang direkt auf die
anderen Angreifer zu. Er holte aus. Jetzt erkannte Emma, dass er nichts
weiter als einen Stein hatte. Riley schlug zu. Aber der Mann konnte seine
Arme hochreißen und bekam lediglich einen Schlag gegen den Unterarm
ab. Dennoch schrie er vor Schmerz auf. Ehe Riley ein weiteres Mal
zuschlagen konnte, entwendete ihm der andere Mann mit einer schnellen,
eleganten Bewegung den Stein. Mit dem er nun auf Riley einschlug.
Aber auch Riley reagierte gut und konnte dem ersten Schlag
ausweichen. Emma erblickte das Gewehr neben dem Mann, den Riley
niedergeschlagen hatte. Blut strömte aus seinem Kopf und verfärbte die
hellen Holzdielen der Terrasse dunkel. Wenn sie das Gewehr zu fassen
bekam...
Sie sprang darauf zu.
Doch der Mann, der Riley den Stein entwendet hatte, war schneller.
Er blockierte die Waffe mit dem Fuß. Emma blickte zu ihm auf. Durch die
schmalen Schlitze der Sturmmaske sah sie den Hass in seinen Augen. Aber
warum und worauf? Sie wollte etwas sagen. Aber der Mann holte aus und
zielte mit dem Stein auf Emmas Kopf.
Doch noch einmal konnte Riley sie retten. Er schlug dem Mann mit
voller Wucht in die Nieren und entriss ihm den Stein. Aber inzwischen
hatte sich der andere Angreifer erholt und ging jetzt mit einem Messer auf
Riley los. Riley warf mit dem Stein nach ihm. Doch der Mann konnte
ausweichen. Der Stein verfehlte sein Ziel und landete mit einem dumpfen
Geräusch in den Dünen. Und der Mann, dem Riley den Nierenhaken
verpasst hatte, hielt nun das Gewehr in Händen.
Jetzt war es vorbei. Selbst wenn Cathy die Polizei verständigt hatte,
kamen sie zu spät. Riley und sie waren verloren. Sie würden sterben, ohne
zu wissen, warum.
Doch in dem Moment, als der Mann das Gewehr hob, ertönte ein
Martinshorn. Das Geräusch war sehr nah, schon dicht am Haus. In der
Dämmerung war sogar schon das Blaulicht zu sehen, das die Dunkelheit
stakkatoartig auf unheimliche Weise erhellte. Wie hatten die das so
schnell geschafft?
Wagentüren schlugen zu, Stimmen waren zu hören. Die beiden
Männer tauschten einen kurzen Blick aus. Dann rannten sie wie auf
Kommando los, in Richtung Wasser. Den dritten ließen sie blutend zurück.
Noch bevor die Cops um das Haus gerannt waren, hatte Riley den Mann
am Boden gepackt. Er riss ihm die Maske vom Kopf. Darunter kam das
Gesicht eines Mannes arabischer Herkunft zum Vorschein. Emma schätzte
ihn auf Mitte dreißig. Riley schrie ihn an: „Wer seid ihr? Warum wolltet
ihr uns töten? Rede, du Schwein, oder ich breche dir jeden Knochen
einzeln.“
Der eigentlich gutaussehende Araber grinste verzerrt und biss auf
etwas. Emma hörte ein leises Knacken. Als die ersten Cops auf der
Terrasse erschienen, sahen sie, wie das Leben aus dem jungen Mann wich.
Mit einem Aufschrei prallte sein Kopf auf die Dielen, die Augen weit
aufgerissen.

***

Es wimmelte nur so von Cops. Mehrere Einsatzfahrzeuge standen vor dem


Haus. Drei Polizisten befragten Emma und Riley. Eine Polizistin
kümmerte sich um Cathy. Weitere Cops, wie viele genau, konnte Emma
nicht feststellen, durchkämmten die Dünen, den Strand und den Bereich
um das Haus. Ein Notarzt stellte den Tod des Arabers fest. Ein weiterer
behandelte Rileys Verletzungen. Ein Polizist fotografierte das Gesicht des
Toten mit seinem Smartphone und ging zu einem der Einsatzwagen.
Drei Stunden waren die Einsatzkräfte vor Ort. Als sie abrückten,
nahmen sie Emma, Cathy und Riley mit. Sie mussten zumindest die erste
Nacht in einem Polizeiquartier verbringen. Falls die Angreifer
zurückkamen. Eine Nachtwache bei Emmas Haus lehnte der leitende
Beamte ab, weil er das Gelände für zu unübersichtlich hielt.
Die Ergebnisse der Spurensicherung und der Prüfung, ob der tote
Araber bereits polizeilich in Erscheinung getreten war, waren alarmierend.
Die beiden flüchtigen Attentäter waren mit einem Motorboot geflohen, das
unweit der Villa an einem Steg gelegen hatte. Die Cops, die zuerst an den
Strand gelaufen waren, hatten noch seine Positionslichter gesehen. Und
weil Sturm herrschte, hoher Wellengang und Dunkelheit, war klar, dass es
sich um ein großes Boot gehandelt haben musste. Das sprach nicht für
Amateure.
Der tote Araber war polizeibekannt. Er war unter mehreren Namen
in den Akten vermerkt. Aber nicht nur bei der Polizei. Denn abgesehen
von kleineren Delikten wie Schlägereien, Drogenhandel und
Vergewaltigung, tauchte er auch im Zusammenhang mit terroristischen
Aktivitäten auf. Einschließlich der Anschläge vom 11. September. Das FBI
übernahm den Fall.
Emma durfte ihre Geschäftsreise nicht antreten. Sie wurden bis auf
Weiteres unter Bewachung gestellt. Das FBI nahm Rileys Geschichte über
AURORA, James ominöses Projekt und die Kasernierung seiner Familie
sehr ernst.
Kapitel 28
Adams Island, Mitte März 2016
James Perkins reckte triumphierend das Reagenzglas in die Höhe. „Ich
glaube, wir haben es geschafft, Dr. Coleman!“
Coleman nahm das hauchdünne Gläschen und betrachtete die
wässrige Lösung. Seit der erfolgreichen Mission der FS PLANET
arbeiteten die beiden Wissenschaftler daran, aus dem Virus aus dem Eis
eine unbesiegbare Killermaschine zu machen. In der Zentrale auf Adams
Island stand ihnen dafür ein vollständig eingerichtetes Labor zur
Verfügung.
Der Circle hatte mit Perkins die richtige Wahl getroffen. Der Mann
war auf seinem Gebiet ein Genie. Coleman kannte sich mit Viren aus, aber
nicht mit deren Manipulation. Er nahm an, dass das in zwei Proben
enthaltene Virus genetisch entschlüsselt und neu zusammengesetzt werden
musste. Doch Perkins hatte das Virus nicht genetisch entschlüsselt,
sondern genetisch erweitert. Er hatte ihm Eigenschaften hinzugefügt, dank
derer Phase zwei von AURORA hohe Erfolgsaussichten hatte.
Vorsichtig stellte Coleman die Probe zurück in den
Reagenzglasständer. Wenn dieses kleine Glas zu Bruch ging, war das
Laboratorium verseucht.
„Seien wir ehrlich, Dr. Perkins, Sie haben es geschafft“, sagte er mit
aufrichtiger Bewunderung. „Ich war nicht mehr als Ihr Assistent“.
„Seien Sie nicht so bescheiden, Dr. Coleman. Ohne Sie hätte ich das
niemals geschafft. Ich bin selbst überrascht, wie gefährlich dieses Virus
ist. Bei ummantelten Viren besteht die Gefahr, dass sie schnell
eintrocknen. Aber unser Virus überlebt außerhalb eines Wirtes unter
idealen Bedingungen zwei oder drei Wochen. Oder noch länger! Es ist
resistent gegen extreme Hitze und Kälte. Im Gegenteil: Bei eisigen
Temperaturen lebt es erst so richtig auf. Wenn ich daran denke, dass die
GESA auf dieselbe Idee hätte kommen können, wird mir immer noch
schlecht.“
Coleman sah sich in der zwiespältigen Einschätzung seines Kollegen
bestätigt. Ein Fachgenie. Aber auch ein Fachidiot. „Sie überschätzen die
GESA. Sicherlich, wenn sie die Möglichkeit hätten, uns auf diese Weise
anzugreifen, würden sie es wohl tun. Aber der GESA mangelt es an Genies
wie Ihnen, Dr. Perkins.“
Perkins grinste. „Warum? Die könnten mich doch entführen und mit
meiner Familie unter Druck setzen. Die sie ebenfalls entführt haben und
mit deren Enthauptung sie drohen.“
Coleman musste lachen. Wenn Perkins wüsste. Aber bald würde er
wissen. „Ich könnte mir vorstellen, dass es der GESA auch an den
finanziellen Mitteln mangelt. Angeblich machen die zwar jedes Jahr zwei
bis drei Milliarden Dollar Umsatz. Aber selbst das würde für die Projekte
der Stiftung nicht reichen.“
Perkins legte die Stirn in Falten. „Eines verstehe ich dann aber nicht.
Wir haben dieses Virus doch verändert, um Terroranschlägen vorzubeugen.
Wenn aber die GESA, wie Sie sagen, dazu gar nicht in der Lage wäre, aus
welcher Richtung sollte denn dann eine Bedrohung kommen? Welche
Terroristen wären bereit, so etwas zu tun und hätten auch die Mittel dazu?“
„Ich sage nicht, dass die GESA nicht dazu in der Lage ist. Ich sage
nur, dass ich das für unwahrscheinlich halte. Aber denken Sie doch an eine
Regierung, ein totalitäres System. So wie Nordkorea. Wir wissen jetzt,
dass es möglich ist, ein Killervirus zu züchten. Und wir wissen, dass der
Klimawandel die Möglichkeiten dafür erheblich erweitert. Im Eis könnte
doch auch das Norovirus eingefroren sein. Oder ein besonders gefährlicher
Grippeerreger, oder noch unbekannte Viren.“
Perkins nickte. „Das ist sogar wahrscheinlich. Da kommt noch eine
Menge Arbeit auf uns zu.“
„Inwiefern?“
Perkins war sichtlich überrascht. „Was soll das heißen, inwiefern?
Wenn wir Terrorangriffe mit Viren verhindern wollen, müssen wir alle
Kandidaten durch die genetische Mangel drehen.“
Jetzt fing Dr. Perkins also endlich an, logisch zu denken. Gottlob war
er bis jetzt allein auf seinen Erfolg fokussiert gewesen. „Eins nach dem
anderen, Dr. Perkins. Wir sind mit unserer ersten Aufgabe schließlich noch
nicht am Ende.“
„Sie meinen den Impfstoff?“
Coleman nickte. Er wollte gerade fragen, wie lange die Entwicklung
des Impfstoffes noch dauern würde, als die Tür aufschwang und Bryan O
´Connor das Labor betrat.
„Bryan“, herrschte Coleman ihn an. „Bist du verrückt, ohne
Schutzanzug hier reinzukommen? Das ist ein Labor. Und in diesem
kleinen, unscheinbaren Reagenzglas lauert der Tod!“
O´Connor winkte ab. „Solange das Reagenzglas in diesem Ständer
steckt, passiert gar nichts. Ich wollte dir nur Bescheid sagen, dass Rebecca
angerufen hat. In zwei Wochen ist unser nächstes Meeting. Dann müssen
alle Forschungsgruppen erklären, wie weit sie sind. Du weißt am besten,
dass Phase zwei, also dein Projekt, das wichtigste ist. Wir haben zwar
keinen Zeitdruck, aber die Gefahr, dass uns das FBI auf die Schl...“
O´Connor stockte. Er hatte Perkins nicht bemerkt, der von der
offenen Tür halb verdeckt wurde. O´Connor blickte zu Perkins, dann zu
Coleman, der ihm einen bitterbösen Blick zuwarf.
„Was ist mit dem FBI?“, fragte Perkins mit Unbehagen in der
Stimme.
Coleman schüttelte den Kopf. „Nichts, Dr. Perkins. Gar nichts.“
„Ich bin nicht taub. Sie haben gesagt, dass uns das FBI auf die
Schl...“
In dem Labor entstand ein unangenehmes Schweigen. Schließlich
drehte sich O´Connor um und ging hinaus. „Du weißt also Bescheid“,
murmelte er mit dem Rücken zu Coleman.
„So, Dr. Coleman“, sagte Perkins mit Nachdruck, nachdem O
´Connor die Tür hinter sich geschlossen hatte, „raus mit der Sprache: Was
meinte O´Connor mit das FBI auf die Schl..?. Schliche meinte er, habe ich
recht? Auf welche Schliche soll Ihnen das FBI nicht kommen? Und von
was für Phasen hat O´Connor gesprochen?“
Coleman rieb sich nachdenklich das Kinn. Eine unschöne Situation.
Machte es Sinn, Perkins schon jetzt einzuweihen? Nein, die Gefahr war zu
groß, dass er es dann ablehnte, weiter an dem Impfstoff zu arbeiten. Er
musste improvisieren.
„Also gut, ich will ehrlich sein: Mit Phasen sind die Phasen der
Projektreihen gemeint. Also nichts Spektakuläres. Aber wir waren bei der
Erschließung der einen oder anderen Geldquelle, sagen wir mal, nicht ganz
korrekt. Wir unterliegen als Stiftung leider strengen Auflagen. Aber weil
unser Finanzbedarf exorbitant hoch ist, waren wir zu einigen nicht ganz
legalen Transaktionen gezwungen. Und jetzt befürchtet unser
Volkswirtschaftler, dass das FBI uns auf die Schliche kommt und unsere
Stiftung dichtmacht. Aber das muss wirklich nicht Ihr Problem sein, Dr.
Perkins. Erzählen Sie mir lieber, wie weit wir mit dem Impfstoff sind.“
Coleman spürte, wie ihn Perkins Blick durchbohrte. Seine Kiefer
mahlten. Es war fraglich, ob er ihm die Sache mit den Geldquellen
abnahm. Immerhin beantwortete er die Frage ruhig und sachlich.
„Theoretisch ist das Mittel schon einsatzfähig. Aber ich möchte, dass der
Impfstoff auch gegen Mutationen wirksam ist. Und das wird noch eine
Weile dauern.“
Kapitel 29
Kiel, Ende März 2016
Jamal fiel dank seines gefälschten Passes auf den Namen Abdul Rahimi
nicht auf. Er durfte nur nicht dem Major über den Weg laufen. Seine
Familie hatte sich gut eingelebt. Jamals Frau konnte schon eine
Unterhaltung auf Deutsch führen. Die Kinder gingen auf eine Schule und
kamen gut mit den anderen Kindern zurecht. Sie waren auf
Kindergeburtstagen eingeladen und hatten viel Spaß. Demnächst stand der
erste Geburtstag in Jamals Wohnung an. Man konnte sich schließlich nicht
immer nur einladen lassen.
Jamal arbeitete in der Werft und war aufgrund seiner nahbaren Art
beliebt. Hauke erwies sich als angenehmer Chef und echter Freund. Jamal
fühlte sich in seinen Plänen bestätigt, in Kiel zu bleiben. Hier fühlte er
sich wohl. Er liebte die Ostsee und mochte die Menschen.
Alles könnte perfekt sein. Wenn nicht die Trauer um sein totes Kind
allgegenwärtig wäre. Und wenn nicht dieses Gespräch zwischen dem
Major und diesen Leuten in Afghanistan und der vermeintliche Unfall der
Frau des ehemaligen Leiters der WTD 71 im Raum stünden.
Hauke hatte Kontakt zu dem Mann aufgenommen. Er hatte ihm
angeboten, nach seinem Rücktritt für Haukes Werft als freier Berater tätig
zu werden. Ein Mann mit solchen Erfahrungen und einem solchen
Renommee würde jeder Kieler Firma guttun. Hauke meinte das sogar
ernst. Er hätte den Mann gerne beschäftigt.
Doch der lehnte ab, und zwar eher unfreundlich. Er ließ sich auch
nicht auf ein Gespräch über seine ehemalige Funktion oder den Tod seiner
Frau ein. Und das, obwohl Hauke ein bekannter und alteingesessener
Kieler Unternehmer war, der zu den Stargästen des alljährlichen
Hutempfangs im Kieler Kaufmann gehörte. Hauke war für den ehemaligen
Leiter der WTD 71 also kein Fremder.
Dennoch blockte der Mann rundherum ab. Folglich musste Jamal
mit seiner Vermutung richtig liegen, dass er unter Druck gesetzt wurde
und seine Frau nicht durch einen Unfall ums Leben gekommen war. Doch
was nützte ihm diese Erkenntnis? Nichts.
Die Zeit plätscherte dahin, ohne dass sich etwas tat. Hauke hatte die
Angelegenheit ohnehin längst abgeschrieben. Jamal wusste, dass sein
Engagement vor allem ein Freundschaftsdienst war. Es war wieder ein
Beitrag in der größten Tageszeitung, der Jamal zu Hilfe kam.
Jamal saß am Frühstückstisch, trank Tee und aß Brot aus
Weizenmehl. Er blätterte in der Zeitung. Im Schleswig-Holstein-Teil stieß
er auf einen Bericht über eine Stiftung namens AURORA. Er las den
Bericht nur, weil er jede Art des Engagements für das Allgemeinwohl
schätzte. Die Zakāt, die dritte Säule des Islam, besagte, dass jeder Muslim
verpflichtet war, einen Teil seines Besitzes an Bedürftige abzugeben.
Daran hielt sich Jamal zeit seines Lebens.
In dem Beitrag stand nichts Weltbewegendes. AURORA war eine
weltweit operierende Stiftung mit Hauptsitz in den USA. Ihre Projekte
waren über den ganzen Globus verteilt, eines auch in Norddeutschland.
Deshalb hatte AURORA eine Niederlassung in Kiel gegründet. Und weil
das Projekt von Schleswig-Holstein aus gesteuert wurde, bekam die
Stiftung, zusätzlich zu vielen steuerlichen Vergünstigungen, sogar
Zuschüsse aus Landesmitteln.
Das muss aber eine ganz besondere Stiftung sein, dachte Jamal, und
las den Beitrag mit wachsendem Interesse weiter. Im letzten Drittel fand
sich etwas zu den Hintergründen der Stiftung und ihrem geplanten Projekt.
AURORA finanzierte sich zu einem Teil über das Vermögen namentlich
nicht genannter Mitglieder aus der ganzen Welt, alle aus gehobenen
gesellschaftlichen Schichten. Ziemlich elitär, schoss es Jamal durch den
Kopf. Der Rest stammte aus diversen Fördergeldtöpfen.
Der Zweck der Stiftung bestand darin, besonders gefährliche
Terrorziele zu erkennen, ihr Gefahrenpotenzial und ihre
Wahrscheinlichkeit zu erforschen und Abwehrstrategien zu entwickeln.
Das sollte dazu beitragen, die Menschheit vor den größtmöglichen
Existenzbedrohungen zu schützen. Das Kieler Projekt unterlag, wie alle
Projekte, der Geheimhaltung.
Terrorgefahr. Das war der erste Passus, bei dem Jamal stutzte. Er las
weiter, bemerkte nicht, dass er die Tasse nun schon seit fünf Minuten in
der Hand hielt, ohne etwas damit zu machen.
Die Ergebnisse der Projekte durften der Öffentlichkeit zunächst
nicht bekannt gemacht werden. Von dem Kieler Projekt war aber immerhin
bekannt, dass es in einer kalten Region der Erde durchgeführt worden war
und es um eine ernstzunehmende terroristische Bedrohung ging.
Eine kalte Region.
Das Lager. Sibirien.
Zum zweiten Mal stutzte Jamal.
Doch erst der dritte Hinweis ließ Jamals Blutdruck rasant in die
Höhe schnellen: Die WTD 71 in Eckernförde hatte an dem Projekt
teilgenommen. Mit ihrem Forschungsschiff, der FS PLANET, und ihrem
ranghöchsten Mitarbeiter, dem Leiter persönlich, Oberst Edmund Wagner.
Endlich machte Jamal etwas mit seiner Tasse. Er stellte sie mit
einem lauten Knall auf der Untertasse ab, wobei die Hälfte des inzwischen
kalten Tees überschwappte und eine große Pfütze auf der Untertasse
bildete. Jamal bemerkte auch das nicht.
Terrorgefahr. Sibirien. Der Major, jetzt Oberst. Das konnte kein
Zufall sein. Da war etwas Großes im Gange. So, wie er es schon damals in
Afghanistan vermutet hatte.
Jamal zog seine Jacke an und fuhr mit der Zeitung in die Werft. Er
ging direkt zum Büro des Chefs. Hauke hörte aufmerksam zu uns las den
Bericht über AURORA selbst.
„Ich kann da nichts Verdächtiges erkennen“, sagte er. Doch Jamal
berichtete seinem Freund nochmals von dem merkwürdigen Gespräch in
Afghanistan und davon, dass er und seine Familie seitdem in Lebensgefahr
schwebten.
„Da passiert etwas Bedrohliches!“, prophezeite Jamal mit
erhobenem Zeigefinger, „ich bin kein Phantast. Und warum sollte der
Leiter dieser WTD 71, mein ehemaliger Major, für dieses Projekt
abgestellt werden? Hat der als Chef nicht ganz andere Dinge zu tun?“
Nachdenklich blickte Hauke aus dem Fenster seines Büros im
fünften Stock. Er hatte von hier aus einen großartigen Blick über die Förde
bis nach Heikendorf und Laboe mit seinem trutzigen, weithin sichtbaren
Marine-Ehrenmal. Aber er hatte das schon so oft gesehen, dass er den
Anblick nicht mehr bewusst wahrnahm.
„Ich kann dir folgen, Jamal. Aber was sollen wir jetzt machen? So
weit reicht mein Einfluss nun auch wieder nicht. Die Polizei würde uns nur
auslachen. Eine Bundeswehreinheit wie die WTD 71 genießt einen guten
Ruf. Und warum sollte die nicht an einem Projekt in Sibirien teilnehmen?
Die WTD 71 verfügt mit der FS PLANET über die notwendige Ausrüstung
für so ein Vorhaben. Das ergibt also Sinn. Und je bedeutender ein Projekt
ist, und Projekte zur Terrorabwehr sind bedeutend, desto wahrscheinlicher
ist es, dass auch der Leiter einer Einheit daran teilnimmt. Selbst das
Gespräch, das du in Kabul mit angehört hast, geht in diese Richtung! Eine
Absprache unter Militärs. Wo also witterst du da eine Verschwörung?“
Jamal verdrehte die Augen. „Na, weil ich in Kabul mit eigenen
Ohren gehört habe, wie dieser Oswald Major Wagner den Posten bei der
WTD 71 angeboten hat und ihm gleich mitgeteilt hat, dass er in dieser
Funktion nach Sibirien reisen soll! Und dann diese komische Sache mit
den Pässen. Das stinkt doch zum Himmel, oder etwa nicht?“
„Reg dich nicht auf, Jamal, ich verstehe dich ja. Aber was spricht
dagegen, dass das Projekt in Sibirien, wenn es denn überhaupt um Sibirien
geht, zu diesem Zeitpunkt längst geplant war? Vielleicht war da auch
schon klar, dass Wagner gut dafür geeignet wäre. Das mit den Pässen kann
tausend Gründe haben! Und wie ich schon sagte, an wen sollen wir uns
damit wenden, ohne entweder ausgelacht oder in die Psychiatrie
eingeliefert zu werden?“
Resigniert ließ Jamal den Kopf sinken. „Mit anderen Worten: Wir
können nichts tun. Und wenn etwas Fürchterliches geschieht, was wir, und
nur wir, mit unseren Erkenntnissen in Verbindung bringen können, sind
wir dafür verantwortlich! Ist dir das eigentlich klar, Hauke?“
Nachdenklich musterte Hauke seinen Freund. „Stimmt schon“, sagte
er, „wenn tatsächlich etwas passiert, werden wir unseres Lebens nicht
mehr froh. Wobei ich mir keinen Terrorakt vorstellen kann, der im
Zusammenhang mit Sibirien bedrohlich sein sollte. Da ist nichts als Eis,
Jamal! Und im Sommer Schlamm und Horden von Mücken. Was sollte uns
von da bedrohen? Mückenterror? Außerdem sprechen wir bei dieser
Stiftung von verdammt einflussreichen Leuten und Institutionen. Schwer,
an die ranzukommen. Und was für ein Motiv sollten solche Menschen
haben, die sowieso im Mittelpunkt der Gesellschaft stehen? Das sind
Menschen, für die nichts wichtiger ist, als ihren Status zu bewahren!
Warum sollten sie den selbst angreifen?“
Jamal schüttelte den Kopf. „Woher soll ich das wissen? Ich weiß nur,
was ich mit meinen eigenen Ohren gehört, und mit meinen eigenen Augen
gelesen habe. Und das ist Grund genug für Misstrauen.“
In Gedanken versunken rieb sich Hauke das Kinn. Schließlich sagte
er zögernd: „Eines könnte ich vielleicht doch versuchen.“
„Was?“, stieß Jamal hervor. „Was könntest du versuchen?“
„Ich bin mit einem Staatssekretär befreundet.“
„Meinst du etwa den Staatssekretär von Schleswig-Holstein? Und
das erzählst du mir erst jetzt?“
Hauke hob abwehrend die Hände. „Nein, was Du meinst, ist der
Ministerpräsident. Der ist noch eine Etage höher. Ich meine den
Staatssekretär des Finanzministeriums. Ich kann aber auch einem
Staatssekretär nicht mit jedem Scheiß kommen. Aber die Summe aus dem
Gespräch in Afghanistan, dem Tod der Frau und deinen
Schlussfolgerungen könnte ihn dazu bewegen, sich mit mir zu einem
Gespräch unter Freunden zu treffen. Wobei sein Einfluss begrenzt ist. Er
kennt im Idealfall andere, noch einflussreichere Leute, die er seinerseits
ansprechen könnte.“
„Würdest du das tun? Nicht für mich, Hauke! Sondern für die
Menschen, die betroffen sind, wenn wir nichts unternehmen.“
Hauke nickte. „Ja, behutsam, denn ich habe wie du Familie. Meine
Kinder sollen nicht als Halbwaisen aufwachsen. Aber ich kann dich
einschätzen. Ich kenne nur wenige Altruisten. Aber du bist einer von
ihnen. Deshalb glaube ich dir diese verrückte Geschichte. Ich rufe den
Staatssekretär noch heute an. Vielleicht kann ich ihn am Wochenende auf
ein Bierchen treffen. Auf meinem Boot. Wir sind nämlich beide Segler.
Und auf hoher See abhörsicher. Aber auch du musst etwas tun, Jamal!“
„Was?“
„Du musst dich bei dieser Stiftung umsehen. Unauffällig!
Undercover, sozusagen. Achte darauf, wer bei AURORA ein und aus geht.
AURORA. Komischer Name für eine Stiftung gegen den Terror. AURORA
ist die Göttin der Morgenröte. Was hat das mit Terrorismus zu tun? Aber
das muss uns nicht interessieren. Wichtig ist, diese Stiftung unauffällig zu
observieren. Vielleicht erscheinen dort Menschen, die du kennst oder die
dir bekannt vorkommen. Wagner wäre keine große Überraschung. Der war
schließlich für die Stiftung in Sibirien. Vielleicht taucht auch dieser
Oswald auf. Oder der andere, dieser Araber. Wie hieß der noch gleich?“
Jamal musste einen Augenblick nachdenken. „Jefram, glaube ich.“
„Gut, auf diese Leute musst du achten. Du kannst jederzeit früher
Feierabend machen, Jamal. Es ist mir egal, wann du deine Übersetzungen
machst, solange du sie nur pünktlich ablieferst.“
„Aber ich habe weder Oswald noch Jefram, nein Yefrem, so hieß der,
gesehen, Hauke. Ich habe sie bloß gehört. Wie soll ich sie also erkennen,
wenn sie die Räume der Stiftung betreten?“
Hauke verdrehte die Augen. „Jamal, du bist doch kein Kind mehr!
Lass dir was einfallen! Versuch, sie sprechen zu hören. Google diesen
Oswald. Was auch immer. Und jetzt an die Arbeit!“
„Ich soll Oswald googlen?“
„Jamal, ich habe gleich einen Termin!“

***

AURORA hatte ihren Sitz in einer gründerzeitlichen Villa in


Düsternbrook, dem vornehmsten Stadtteil Kiels, womit Jamal sich in
seiner Einschätzung bestätigt sah, dass diese Stiftung mit dem Geld nur so
um sich warf. Die Villa war riesig und in bestem Zustand, soweit er das
beurteilen konnte.
Hätte sich an dem gusseisernen Tor, dem einzigen Zugang zu dem
vollständig von einer Mauer eingefassten Grundstück, nicht ein kleines
Schild mit einem Hinweis befunden, wer und was dort residierte, hätte
man an eine private Nutzung denken müssen. Denn an dem Haus selbst
war kein Schild angebracht. Es wirkte genau so, wie die anderen Villen in
der Nachbarschaft. Und auf dem Schild an der Straße stand, außer ihrem
Namen, nur noch die Anschrift der Zentrale der Stiftung in den USA. Aber
weder fanden sich dort die Namen deutscher Mitglieder der Stiftung, noch
eine Rufnummer oder ein Ansprechpartner.
Jamal, der nach Feierabend direkt zu der Stiftung gegangen war,
fand das merkwürdig. Und was nicht zum Erscheinungsbild der Stiftung
passte, war das Auto davor. Jamal kannte sich nicht gut damit aus, hielt
das aber für einen französischen Kleinwagen. Jedenfalls kein Auto, das zu
dieser protzigen Villa passte.
Gerne hätte er einfach geklingelt, unter dem Vorwand, sich
informieren und vielleicht etwas spenden zu wollen. Aber er hatte Sorge,
dort auf ein bekanntes Gesicht zu treffen. Also suchte er sich ein
unauffälliges Versteck in der Nähe, um das Haus zu beobachten. Wenn sich
heute nichts tat, dann eben morgen. Oder übermorgen oder irgendwann. Er
wählte eine Bank als Überwachungszentrum. Vorher ging er zu einem
Kiosk, um sich eine Zeitung zu kaufen. Wenn jemand kam, den er kannte,
konnte er sein Gesicht dahinter verbergen.
Zehn Minuten später saß er auf seiner Bank. Und er musste nicht
lange warten. Er hatte die Zeitung noch nicht aufgeschlagen, da fuhr schon
ein Fahrzeug der Deutschen Bundeswehr vor. Er erkannte darin auf Anhieb
Major Wagner, jetzt Oberst. Jamals Herzschlag beschleunigte sich. Rasch
schlug er die Zeitung auf und lugte vorsichtig über deren Rand zu dem Tor,
das in diesem Augenblick lautlos aufschwang. Der Wagen fuhr im
Schritttempo über die gekieste Zufahrt direkt vor die Villa. Jamal sprang
auf und rannte im Schutz der Mauer so weit, bis er unbemerkt durch das
Tor spähen konnte. Er bekam nur noch mit, wie zwei Männer das Gebäude
betraten. Er zückte sein Smartphone und fotografierte den Wagen der
Besucher und das Kennzeichen.
Inzwischen waren die Nachbarn auf ihn aufmerksam geworden. Ein
Mann hinter einem Fenster beobachtete ihn. Auf der gegenüberliegenden
Straßenseite blickten zwei ältere Damen zu ihm hinüber und tuschelten.
Er musste sich etwas anderes einfallen lassen. Er faltete die Zeitung,
ging ein paar Straßen weiter und rief Hauke an. Der hatte die rettende Idee.
Und so observierte Jamal eine halbe Stunde später wieder die Villa.
Diesmal aber in einem neutralen Firmenwagen der Werft. Da es aber auch
auffällig war, wenn tagelang ein fremder Wagen in einer Wohnstraße
stand, den die Anwohner nicht kannten, durfte er sich jeden Tag ein
anderes Auto aus dem Firmenfuhrpark ausleihen.
Das Auto der Bundeswehr stand noch vor dem Haus. Wenig später
öffnete sich die Tür. Wagner. Aber die zweite Person, die auf dem
Beifahrersitz Platz nahm, war nicht die, die vorher in das Gebäude
gegangen war, sondern eine auffallend schöne Frau, die er ebenso
fotografierte wie den Major. Sie war groß, größer als Jamal. Sicherlich
eins achtzig. Sie hatte lange blonde Haare, die über ihren dunklen Pullover
fielen. Auffällig war ihr sinnlicher Mund. Volle, herzförmige Lippen, wie
Jamal sie noch nie bei einer Frau gesehen hatte. Auch ihr Gang war
ungewöhnlich. Sie schien zu schweben. Jamal musste unweigerlich an
einen Engel denken.
Als der Wagen auf die Straße fuhr, duckte sich Jamal auf seinem
Sitz. Er schickte Hauke das Foto der Frau und fragte, ob er sie kenne.
Die Antwort kam postwendend: Nein, die habe ich noch nie gesehen.
Sie ist aber verdammt hübsch:).

***

An den folgenden Tagen tauchte die Frau nur noch einmal auf. Alleine. Die
Haare hochgesteckt und mit einem Aktenordner unter dem Arm. Sie blieb
zwei Stunden. Wagner kam gar nicht mehr. Überhaupt tat sich rein gar
nichts. Stundenlang saß Jamal in einem neutralen Firmenwagen und
langweilte sich zu Tode. So wie heute. Wenigstens hatte das Auto ein gutes
Radio.
Plötzlich rief Hauke an. Jamal erkannte seine Handynummer. Er
drückte auf dem Display der Multifunktionsanzeige auf „Gespräch
annehmen“.
„Jamal, wo bist du gerade?“
„Vor der Villa. Aber hier tut sich nichts. Ich glaube, das Ganze ist...“
Weiter kam er nicht. Denn Hauke fiel ihm ins Wort. „Wir müssen
uns treffen. Sofort. Fahr runter an die Förde. Wir treffen uns an der Seebar
und machen einen Spaziergang.“
Jamal wollte noch fragen, was es denn so Eiliges gab, da hatte Hauke
schon aufgelegt. Er fuhr neugierig zur Seebar, wo Hauke bereits auf ihn
wartete. Jamal stellte den Wagen ab und stieg aus.
Hauke kam direkt zur Sache. Er verzichtete sogar auf eine
Begrüßung. „Ich war heute mit dem Staatssekretär Mittagessen. Er wollte
mich dringend sprechen. Ich glaube, wir haben in ein Wespennest
gestochen, Jamal.“
„Was für ein Wespennest?“, fragte Jamal aufgeregt.
„Weiß ich noch nicht. Er hat Nachforschungen angestellt, nachdem
ich ihn angerufen habe. Über AURORA. Über deinen Major und noch
einiges mehr. Das Ganze wird immer mysteriöser. Eine Beförderung vom
Major zum Oberst ist nicht spektakulär, aber ungewöhnlich. So etwas hat
es seines Wissens in Schleswig-Holstein noch nicht gegeben. Die
Anweisung zu Wagners Beförderung soll direkt aus dem
Verteidigungsministerium gekommen sein. Als Staatssekretär hat man
allerlei gute Kontakte und kann so etwas in Erfahrung bringen. Er kennt
auch einige Leute beim BND. Und weißt du, was er dort herausgefunden
hat? Diese Stiftung bezieht Gelder vom BND! Und von vielen anderen
Einrichtungen. Auch aus Ministerien! Aber der BND beteiligt sich doch
nicht an einer Stiftung! Und jetzt rat mal, wer beim BND dafür zuständig
ist!“
Jamal zuckte mit den Schultern. „Woher soll ich das wissen?“
„Pfeiffer. OSWALD Pfeiffer“, sagte Hauke triumphierend. „Klingelt
da was bei dir?“
„Ist das etwa der Mann, den ich damals in Kabul mit Wagner habe
reden hören?“
„So sieht es aus. Zumal der Name Oswald nicht häufig ist. Dann
auch noch zwei davon beim BND? Und der Staatssekretär hat Pfeiffer
einfach angerufen!“
„Sag bloß, das ist ja fantastisch! Und was hat Pfeiffer gesagt?“
„Dass der BND die Stiftung unterstützt, weil sie sich die
Bekämpfung des Terrorismus auf die Fahne geschrieben hat. Er hat
eingeräumt, dass das ungewöhnlich ist. Aber der BND ist der Meinung,
dass das Geld in dieser Stiftung besser angelegt ist als in aussichtslosen
Überwachungsaktionen. Der Staatssekretär hat Pfeiffer noch eine Menge
gefragt. Nach konkreten Projekten der Stiftung. Nach ihren Mitgliedern.
Er hat Pfeiffer ohne Umschweife gesagt, dass er diese Stiftung
merkwürdig findet. Auch deshalb, weil ihr Sitz hier in Kiel nicht etwa
gemietet ist. Nein, die Stiftung hat das Objekt gekauft, Jamal. Als Käufer
ist AURORA in den USA eingetragen. In Oregon, genauer gesagt. Es gibt
aber keinen Namen einer Person. Außer einem Kieler Rechtsanwalt, der
das Geschäft für die Stiftung abgewickelt hat. Diese Villa hat drei Komma
fünf Millionen Euro gekostet! Mal eben so, für eine Niederlassung. Ich
meine, wenn die schon was kaufen, dann doch wohl irgendwo, wo es
günstig ist.“
Jamal dachte über das nach, was Hauke ihm erzählt hatte. „Ich kann
nicht beurteilen, ob so etwas für eine Stiftung ungewöhnlich ist. Ich kenne
mich überhaupt nicht damit aus. Aber dass der Name Oswald Pfeiffer in
diesem Zusammenhang auftaucht, macht mich stutzig. Ich meine, der
Oswald, den ich in dem Lager habe reden hören, hat Wagner diesen Posten
angeboten. Insofern ist doch wohl klar, dass das ein und derselbe ist. Was
hat Pfeiffer denn dazu gesagt?“
„Noch gar nichts. Aber er hat dem Staatssekretär angeboten, ihn zu
treffen, um ihm Rede und Antwort zu stehen. Die beiden wollen sich
nächste Woche informell treffen. Danach wissen wir mehr. Aber noch
etwas ist merkwürdig, Jamal. Der Staatssekretär hat Pfeiffer gefragt, ob er
den neuen Leiter der WTD 71, Edmund Wagner, kennt. Und weißt du, was
der darauf geantwortet hat? Nur aus der Zeitung. Aber du weißt es besser!
Jetzt ist auch mein Misstrauen geweckt. Ich sage dir, Jamal, da ist was
oberfaul!“
Kapitel 30
Salem (Oregon), Hauptsitz der Stiftung AURORA
AURORA hatte ihren Sitz in der Innenstadt. Wie die Niederlassungen,
gehörte auch das Gebäude der Zentrale zum Stiftungseigentum. Es gab nur
drei Mitarbeiter. Eine Dame für Empfang und Sekretariat. Einen
Kaufmann für das Controlling. Und eine Dame im Backoffice. Die
Stiftungsmitglieder und der Vorstand waren sporadisch und in
wechselnden Besetzungen vor Ort.
Heute hatten sich Heather King und David Moore getroffen, um zu
prüfen, ob die Verwendung der Mittel, ihre Verteilung auf die
Forschungsprojekte, korrekt ablief. Im Fokus standen die drei Phasen
Wave unter Leitung von Rebecca Eliot und Chang Zhou, Ice unter Leitung
von Edward Coleman und James Perkins und Caldera unter Leitung von
Andrew Shoemaker und Mason Foley. Für diese Projekte wurden mehrere
Hundert Millionen Dollar zur Verfügung gestellt, mit der Möglichkeit
einer Aufstockung in beliebiger Höhe.
Heather und David hatten sich mit Akten und einer Kanne Kaffee in
das Besprechungszimmer zurückgezogen. Sie waren sehr zufrieden. Alle
Mittel waren korrekt geflossen, für jede Zahlung gab es einen
Verwendungsnachweis, der jeder behördlichen Prüfung standhielt. Alles
musste seine Ordnung haben, wenn AURORA ungestört vorbereitet
werden sollte. Erst wenn die drei Phasen umsetzungsreif waren und die
notwendige Infrastruktur bereitgestellt, konnte sich die Stiftung auch
unangenehmen Fragen stellen. Denn dann war es zu spät für
Abwehrmaßnahmen.
Es klopfte an der Tür. Die Dame vom Empfang meldete den Besuch
von zwei Agenten des FBI. Heather und Moore sahen sich fragend an.
Wieso FBI?
„Führen Sie die Herren herein und bieten Sie ihnen etwas zu trinken
an“, befahl Moore.
Die Special Agents stellten sich als Chris Walker und Jake Bishop
vor. Moore bemerkte sofort, dass Heather nervös wurde. Sie hatte die
schwächsten Nerven im Circle. Deshalb war es besser, wenn er das
Gespräch führte. Denn ihn, den Sechssternegeneral, General of the Armies
of the United States, und damit ranghöchsten Offizier der USA, ließen
auch zwei Special Agents des FBI kalt.
„Was führt Sie zu uns, meine Herren?“, fragte Moore und deutete auf
zwei Stühle. „Aber bitte nehmen Sie doch Platz.“
Special Agent Jake Bishop setzte sich, Chris Walker blieb stehen und
sah sich in dem kleinen, aber edel eingerichteten Raum um. In seinem
Habitus erinnerte er Moore an Inspektor Columbo. Trenchcoat, die Arme
hinter dem Rücken verschränkt, wacher Blick. Äußerlich hinkte der
Vergleich allerdings. Denn Walker war über eins neunzig groß, blond, und
strahlte die Selbstsicherheit eines Special Agent aus.
„Nett haben Sie es hier“, lobte er, „macht alles einen kostspieligen
Eindruck. Diese Stühle habe ich mal in einem Möbelhaus gesehen.
Sündhaft teuer. So was könnte ich mir nicht leisten. Und ich dachte immer,
dass eine Stiftung die Gelder für das ausgibt, wofür sie gegründet wurde.
Womit wir schon bei unserer ersten Frage wären.“
Moore lächelte. Er kannte diesen Typus. Den gab es bei der Army
zuhauf. Walkers Verhalten hatte Methode. Er gab sich locker, machte
wahrscheinlich auch mal einen kleinen Scherz, preschte aber im
entscheidenden Moment vor wie ein Bluthund. Bei Heather könnte er
damit Erfolg haben.
„Für unsere Stiftung ist die Außendarstellung von großer
Bedeutung“, erklärte Moore. „Wir sind auf umfangreiche Finanzmittel
angewiesen. Ein erheblicher Teil des Geldes stammt aus privater Hand.
Allesamt bedeutende Persönlichkeiten aus gehobenen, gesellschaftlichen
Kreisen, die wir schlecht in einer Kaschemme empfangen können.
Beantwortet das Ihre erste Frage?“
Walker setzte sich und musterte Moore ganz unverhohlen. Der
General wusste, dass der Mann versuchte, sein Gegenüber einzuschätzen.
Walkers Gesichtszüge entspannten sich. Er lächelte und bedankte sich für
den Kaffee, den die Dame vom Empfang vor ihm abstellte.
„Nein, General, das war nicht meine Frage. Uns interessiert der
Zweck Ihrer Stiftung.“
Moore füllte in aller Ruhe sein Wasserglas. Dann sah er Walker
direkt in die Augen. „Ich gehe davon aus, Special Agent, dass das eine
rhetorische Frage ist. Wenn Sie vom FBI sind, haben Sie sich schon vorher
über uns informiert. Was kein Problem ist. Das könnte jeder Praktikant.
Google reicht völlig. Insofern wäre es hilfreich, wenn Sie uns einfach
sagen, weshalb Sie gekommen sind. Möchte sich das FBI finanziell an
unserer Stiftung beteiligen? Das wäre eine überaus lohnende Investition.“
Walker nickte bedächtig. Er war der Wortführer. Bishop sagte nichts,
obwohl er noch größer als Walker war und deutlich kräftiger. Aber er
blickte nur grimmig aus seinen dunklen Augen drein. Das gehörte wohl
zur abgesprochenen Taktik.
„Natürlich haben wir uns informiert, General. Auch über Sie. Sie
sind unser General of the Armies. Dennoch wüsste ich gerne, welche Art
von Terrorismus mit Ihrer Stiftung bekämpft werden soll. Das findet sich
nämlich nicht bei Google. Und auch nicht bei der einen oder anderen
Quelle, auf die nur ein ausgewählter Personenkreis beim FBI Zugriff hat.
Im Gegensatz zu einem Praktikanten.“
Moore lächelte. Walker war ein arroganter Affe. „Das kann ich mir
vorstellen. Aber Ihre Frage kann ich dennoch beantworten. Unsere
Projekte zielen darauf ab, Bedrohungen zu untersuchen, die schon da sind,
aber durch einen Terrorakt, sagen wir mal, künstlich angestoßen werden
könnten. Wie der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Insofern
wäre es gar keine schlechte Idee, wenn sich das FBI finanziell beteiligt.
Projekte zur Terrorabwehr fallen schließlich in Ihr Ressort.“
Jetzt wirkte Walker sichtlich überrascht, ging aber nicht auf Moores
Angebot ein. „Was heißt schon da sind?“
Der General rieb sich nachdenklich das Kinn. „Da haben wir jetzt ein
Problem. Das kann ich Ihnen nämlich nicht sagen.“
„Und warum nicht?“
Moore erklärte, dass der Zweck der Projekte darin bestand, diese
potenziellen Bedrohungen zu identifizieren, ihre Gefährlichkeit
einzuschätzen und schließlich zu analysieren, ob und inwieweit sie ins
Fadenkreuz von Terroristen geraten könnten.
„Und jetzt verstehen Sie sicherlich unser Problem, meine Herren.
Wir können uns damit erst an die Öffentlichkeit wenden, wenn die
Projekte beendet sind. Stellen Sie sich vor, die Ergebnisse unserer Projekte
würden in die Hände von Terroristen geraten, bevor wir Abwehrstrategien
entwickelt haben. Das wäre eine Katastrophe, nachgerade eine Anleitung
zu einem Terrorakt!“
Wieder musterte Walker Moore, der dessen Blick mühelos
standhielt. Plötzlich zog er einige Fotos aus seiner Jackentasche, breitete
sie vor Heather aus und fragte sie, Moore ignorierend, ob sie jemanden auf
diesen Bildern kenne. Heather betrachtete die Fotos. Eines zeigte einen
blonden Schönling vom Typ Surflehrer, ein weiteres Emma Chaplin, eine
erfolgreiche Unternehmerin und das dritte einen offensichtlich toten
Araber. Es war der Araber, der Heather verunsicherte. Auch Moore kannte
ihn. Eine brenzlige Situation, die es zu entschärfen galt. Moore versuchte,
das Wort zu ergreifen, wurde jedoch unwirsch von Walker unterbrochen.
„Ich möchte das von Miss King hören! Also, Miss, sehen Sie sich die
Bilder genau an. Wen erkennen Sie?“
Moore spitzte die Lippen. Zuerst kennen Sie jemanden, und jetzt wen
erkennen Sie. Nettes Psychospielchen. Hoffentlich hielt Heather diesem
billigen Versuch stand. Sie tat es. Indem sie sich räusperte und auf das
Bild von Chaplin zeigte. „Diese Frau kenne ich. Das ist Emma Chaplin. Ihr
gehört eine Firma, die mit Landmaschinen handelt. Ich kenne sie aus den
Medien. Sie hat auch eine Stiftung gegründet.“
Walker zeigte auf die anderen Fotos. „Und diese Männer? Kennen
Sie die?“
Heather schüttelte den Kopf.
„Sind Sie sich ganz sicher?“
Sie nickte. Klasse, Heather, weiter so, dachte Moore.
„Gut“, sagte Walker, nahm die Fotos und breitete sie nun vor Moore
aus. „Und Sie, General? Kennen Sie diese Leute?“
Moore musste innerlich grinsen. Du kennst doch die Antwort,
Special Agent Affe. „Auch ich kenne nur Miss Chaplin. Wären Sie wohl so
freundlich, uns zu verraten, was unsere Stiftung mit diesen Leuten zu tun
hat? Wer ist das? Und warum sind Sie hier?“
Walker zeigte auf den Araber und erklärte, dass der, zusammen mit
zwei anderen, einen Anschlag auf Emma Chaplin und einen Australier
namens Riley Perkins verübt hatte. Walker deutete auf das Foto des
blonden Mannes. Riley Perkins hatte ausgesagt, dass seine Familie sich,
für ihn unerreichbar, bei AURORA aufhielt, weil diese seinem Vater, dem
Nobelpreisträger James Perkins, ein Projekt von historischen Ausmaßen
finanzierte.
„Und insofern“, resümierte Walker, „fragen wir uns, welche
Verbindungen es zwischen Riley Perkins und AURORA gibt, warum ihn
jemand beseitigen will und warum Sie diesen Mann nicht kennen, obwohl
doch seine Eltern und seine Geschwister irgendwo bei Ihrer Stiftung
untergebracht sind. Wo finden wir Familie Perkins, General? Warum kann
der Sohn seine Eltern nicht erreichen?“
Moore ließ sich von so etwas nicht beirren. Er war zufrieden, weil es
ihm gelungen war, das Gespräch wieder an sich zu reißen. Er verwies
darauf, dass er nichts mit dem operativen Geschäft, sprich den Projekten,
zu tun habe, sondern allein mit der Verwaltung und den Finanzen.
Dasselbe gelte auch für Miss King. Aber natürlich wisse er, wer James
Perkins ist, und auch, dass sein Sohn sich geweigert hatte, seinen Vater zu
begleiten.
„Das bedauern wir sehr, weil wir die Familien möglichst beieinander
haben wollen. Im Sinne der Wissenschaftlicher, denn eine so lange
Trennung von der Familie ist kontraproduktiv für den Projekterfolg. Wir
sind als Stiftung stolz darauf, diesen ungewöhnlichen, menschlichen Weg
zu gehen. Aber wenn Riley Perkins das nicht möchte, ist das seine
Entscheidung. Dennoch kenne ich ihn nur vom Hörensagen. Wo sich seine
Familie aufhält, kann ich Ihnen aus den schon genannten Gründen nicht
sagen. Aber Sie können ganz beruhigt sein, Special Agent, alle
Projektteilnehmer sind freiwillig bei uns und haben Verträge
unterschrieben, die Sie jederzeit einsehen dürfen. “
Walker war jetzt eine gewisse Verärgerung anzumerken. Er wusste,
dass er von dem Offizier vorgeführt wurde. Moore spürte, dass sich der
Mann zusammenreißen musste. Denn er atmete ein paar Mal tief durch,
bevor er antwortete.
„Wenn jemand einen Anschlag auf den Sohn eines Ihrer
Wissenschaftler verübt, müssen Sie uns unsere Fragen beantworten. Zumal
die Verbindung zu Ihrer Stiftung offensichtlich ist. Und selbstverständlich
möchten wir die Verträge einsehen!“
Moore griff zum Telefonhörer und bat die Dame vom Empfang, die
Verträge für das FBI zu kopieren. Dann schüttelte er energisch den Kopf.
„Ich muss Ihnen das nicht sagen! Dafür müssen Sie mich vorladen. Aber
ohne konkreten Vorwurf, der, nebenbei bemerkt, lächerlich wäre, haben
Sie schlechte Karten. Werfen Sie mal einen Blick in unsere Statuten. Und
bedenken Sie, welche Lawine Sie, Mister Walker, persönlich lostreten
könnten, wenn Sie versuchen, das zu torpedieren, was das Wichtigste für
unsere Projekte ist: Geheimhaltung! Wer auch immer Riley Perkins
angegriffen hat, hat nichts mit AURORA zu tun. Sie sollten sich lieber auf
Emma Chaplins Umfeld konzentrieren. Sie steht im Fokus der
Öffentlichkeit und wird Feinde haben. War´s das, meine Herren?“
„Für´s Erste. Aber wir kommen wieder. Verlassen Sie sich darauf!“
Moore blickte den beiden nach. Dann betrachtete er Heather. Ihr
stand der Schweiß auf der Stirn. Sie zitterte. Sie war nervös. Zu nervös.
„Heather, ist alles okay?“
Heather schluckte und wischte sich den Schweiß mit einem
Taschentuch von der Stirn. „Das war knapp.“
Moore tätschelte ihren Arm. „Gar nichts war knapp, meine Liebe.
Dass sie irgendwann zu uns kommen würden, war doch klar.“
„Aber der Anschlag auf Perkins und Chaplin ist schiefgegangen!“
„Na und? Hast du ernsthaft geglaubt, dass niemals etwas schiefgehen
wird? Dass immer alles glatt läuft? Der Araber hat versagt. Immerhin hat
er das Zyankali geschluckt. Also hat er getan, was ihm befohlen wurde.“
Heather dachte darüber nach. „Ist Selbstmord im Islam nicht eine
Sünde? Ewiges Feuer statt Paradies? Das hat Yefrem uns doch mal erklärt.
Wieso hat der Mann dann diese Kapsel geschluckt?“
Moore nickte. „Du hast recht. Ich habe mit Yefrem darüber
diskutiert. Wir müssen schließlich sicher sein, dass ein Auftragnehmer
nicht gegen uns aussagt, wenn er auffliegt. Aber Yefrem weiß genau, wie
diese Leute ticken. Deshalb wählen er oder Tarkan sie ja auch aus. Die
erzählen ihnen, dass das kein Selbstmord ist, weil sie Allah nicht mehr
schaden könnten als durch ihre Verhaftung. Das Schlucken einer
Zyankalikapsel ist also gleichzustellen mit einem ehrenvollen Tod im
Gefecht mit dem Feind. Oder bei einem Attentat.“
Heather schüttelte den Kopf. „Wie kann man nur so dumm und naiv
sein und sich so leicht hinters Licht führen lassen?“
Auch Moore schüttelte den Kopf. „Nicht dumm, Heather.
Verblendet! Diese Leute kommen häufig aus dem Nichts, aus der Armut,
der Bedeutungslosigkeit. Solche Menschen kann man sich leicht zu Nutze
machen, wenn man es richtig anstellt. So wie Yefrem.“
„Wie auch immer, jedenfalls ist Yefrems Mann jetzt tot. Er hat den
Auftrag nicht ausgeführt.“
„Und nun schicken wir jemand anderen.“
Heather schloss die Augen und atmete tief durch. „Jemand anderen.
Wie stellst du dir das vor? Die werden doch mit Sicherheit überwacht.
Außerdem kommen die Probleme auch aus anderer Richtung. Denk an
Pfeiffer! Sie kommen uns zu früh auf die Schliche. Ich habe ein mieses
Gefühl.“
Wieder einmal war er als Krisenmanager gefragt. Moore stand auf,
stellte sich hinter Heather und massierte sanft ihren Nacken.
„Niemand kommt uns auf die Schliche, meine Liebe. Wir haben uns
perfekt getarnt. Und in unseren Positionen sind wir unantastbar. Unsere
Verträge mit den Wissenschaftlern und ihren Familien sind juristisch hieb-
und stichfest. Niemand kann uns zwingen, zu sagen, wo sie sich aufhalten
und was genau sie machen. In einem Jahr sind wir soweit, Heather, dann
startet AURORA. Das ist nicht viel Zeit. Bis dahin müssen wir
handlungsfähig bleiben. Danach ist alles egal. Hat die heiße Phase erst
einmal begonnen, ist AURORA nicht mehr aufzuhalten. So, und ich nutze
mal wieder unser gutes altes Analogtelefon und spreche mit einem Freund
über unfähige Araber und Menschen mit einem Faible für guten Whiskey.“
Kapitel 31
Kiel, Anfang April 2016
Er hatte seine Sekretärin angewiesen, so wenige Termine wie möglich zu
vereinbaren. Haukes Anruf und sein Gespräch mit dem BND hatten ihn
nervös gemacht. Er musste sich unbedingt Klarheit in dieser
Angelegenheit verschaffen. Als Staatssekretär des Finanzministeriums
musste er wissen, wer in Schleswig-Holstein von wem und wofür Gelder
bekam. Es war unerklärlich, dass eine Stiftung aus den USA mit einer
Niederlassung in Kiel für ein Projekt zur Terrorismusbekämpfung in
Sibirien Geld vom BND und vom Land Schleswig-Holstein bekam, er aber
nichts davon wusste.
Er hatte seine Mitarbeiter zur Rede gestellt und zig Telefonate
geführt. Aber niemand konnte ihm etwas Konkretes zu AURORA sagen.
Außer dem, was er schon wusste Dass die Stiftung öffentliche Zuschüsse
bekam, war, nach Aktenlage, zulässig. Ihr Zweck, die Verhinderung von
Terroranschlägen, war förderungswürdig. Denn das diente unbestreitbar
dem öffentlichen Interesse. Aber er hatte keine konkreten Hinweise
gefunden, was für Projekte AURORA eigentlich mit ihrem riesigen
Vermögen finanzierte. Er stieß lediglich auf so abstrakte Formulierungen
wie Abwehr von Terrorgefahren, Identifizierung von Terrorzielen,
Abwehrstrategien gegen Terrorangriffe.
Er war persönlich zu AURORA gefahren, die ihren Sitz in dieser
mondänen, drei Komma fünf Millionen Euro teuren Villa in der
Moltkestraße hatte, um mehr in Erfahrung zu bringen. Aber dort hatte ihm
eine ebenso schöne wie unterkühlte Amerikanerin erklärt, dass sie derlei
Auskünfte nicht erteilen dürfe, weil das die Projekte gefährde. Seine
Versuche, diese Informationen anderweitig zu erhalten, waren ebenfalls
ergebnislos geblieben.
Also hatte er Pfeiffer gestern wieder angerufen und unter Druck
gesetzt. Mit der Drohung, dafür zu sorgen, dass keine Mittel mehr aus
Schleswig-Holstein fließen würden, wenn er nicht endlich Rede und
Antwort stand.
Das hatte seine Wirkung nicht verfehlt. Denn jetzt war der
Staatssekretär auf dem Weg in den Naturpark Westensee. Pfeiffer hatte
ihm eröffnet, dass er den Naturpark liebte und dort ein Ferienhaus besaß,
in das er gerne fuhr, wenn seine knappe Zeit das zuließ.
Und weil er gerade dort war, hatte er den Staatssekretär auf einen
Whiskey eingeladen, um seine Fragen zu beantworten. Da der
Staatssekretär in Ruhe und ohne Druck mit Pfeiffer sprechen wollte, und
da ihn die Aussicht auf einen feinen Whiskey lockte, hatte er seinen Fahrer
angewiesen, zuhause zu bleiben.
Er fuhr alleine in seiner S-Klasse in den Naturpark. Das Wetter war
fürchterlich. Ein Graupelschauer jagte den nächsten. Die Sicht war
schlecht. Der Staatssekretär hasste es, mit seiner schweren Limousine bei
so einer Witterung über einsame und enge Straßen zu fahren, zumal auf
der Rückfahrt wahrscheinlich schon tiefste Dunkelheit herrschte.
Immerhin kam die Sonne durch, als er Pfeiffers Haus in der Nähe von
Deutsch-Nienhof erreichte. So kam er trockenen Fußes ins Haus.
Das Haus war größer, als der Staatssekretär erwartet hatte. Mit
großem Grundstück am See und schönen, alten Bäumen. Sehr idyllisch.
Aber auch sehr einsam. Nichts für ihn. Pfeiffer empfing ihn grinsend, in
der Hand ein Glas mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit. Er erklärte zur
Begrüßung, dass es sich dabei um einen Macallan Select Oak handelte.
Gereift in einem vom Master of Wood persönlich handverlesenen
Eichenfass.
„Kommen Sie rein“, sagte er mit einem freundlichen und offenen
Lächeln, „und probieren Sie diese Köstlichkeit. Sie wissen einen guten
Whiskey doch zu schätzen, oder?“
Und ob er den zu schätzen wusste! Whiskey war eine seiner größten
Leidenschaften. Aber deshalb war er nicht hier. Angesichts der Rückfahrt
musste er sich ohnehin zurückhalten. Vorsichtig nippte der Staatssekretär
an seinem Glas. In der Tat ein exzellenter Whiskey. Mild. Viel Vanille und
Nuancen von reifen Pflaumen.
Während Pfeiffer in der Küche war, um Brot, Käse und Nüsse zu
holen, blickte sich der Staatssekretär neugierig um. Das Wohnzimmer mit
Kamin und Chesterfield-Sofa und Ledersessel davor maß dreißig
Quadratmeter oder mehr. Die knisternden Holzscheite im Kamin
verströmten eine wohlige Wärme. Zusammen mit dem dunklen Parkett
und Möbeln aus Echtholz eine gediegene Atmosphäre. Das passte in den
Naturpark Westensee. Und zu einem guten Whiskey.
Trotz der entspannten Atmosphäre, Pfeiffer erwies sich als
eloquenter und unterhaltsamer Gesprächspartner, lenkte der Staatssekretär
das Gespräch bald auf den eigentlichen Zweck seines Besuches.
„Nun seien Sie doch nicht so förmlich“, entgegnete Pfeiffer mit
seinem offenen Lachen. „Jetzt hole ich uns erst mal einen schönen
Lagavulin. Distillers Edition. Schon eine andere Nummer als der
Macallen. Immer noch relativ mild, aber doch schon um einiges kräftiger.
Ein bisschen wie das Meer! Da schmecken Sie sozusagen schon Ihre
Heimat, Herr Staatssekretär!“
Pfeiffer verschwand in der Küche und kam mit zwei Gläsern zurück.
Der Staatssekretär hatte den Eindruck, dass sie noch etwas großzügiger
gefüllt waren als zuvor. Dennoch fiel es ihm schwer, dieser Verlockung zu
widerstehen. Der Lagavulin war großartig.
„Aber nun habe ich einige Fragen an Sie, Herr Pfeiffer. Ist das
okay?“
Pfeiffer nickte. „Tun Sie sich keinen Zwang an. Deshalb sind Sie
schließlich hier.“
Der Staatssekretär fragte nach Pfeiffers Funktion bei AURORA.
Nach den Projekten der Stiftung und ihren Geldquellen. Und nach
konkreten Ansprechpartnern. Auch die Fragen, warum Major Wagner zum
Oberst blitzbefördert worden war, und warum Pfeiffer vorgab, ihn nicht zu
kennen, hielt er nicht zurück. Ihm sei zu Ohren gekommen, dass Pfeiffer
Wagner sogar höchstpersönlich die Nachfolge des Leiters der WTD 71
angetragen hatte.
Pfeiffer hatte dem Staatssekretär andächtig zugehört, ohne ihn zu
unterbrechen, und ihm dabei immer wieder zugeprostet. Dann
beantwortete er der Reihe nach alle Fragen, nicht ohne vorher einen
Glenmorangie Tùsail zu holen.
„Ein limitierter Single Malt, wie ich betonen möchte! Eine Rarität.
Genießen Sie ihn. Scheuen Sie sich nicht, von der Pipette und dem Wasser
Gebrauch zu machen! Aber nun will ich Ihre Fragen beantworten. Ich
glaube, Sie haben sich zu viele Gedanken gemacht. Wenn ich Ihnen alles
erzählt habe, wollen Sie selbst zahlendes Mitglied bei AURORA werden.“
Wieder dieses herzliche, offene Lachen, das Pfeiffer eine gewisse
Wärme verlieh.
Nach gut zwei Stunden und vier weiteren Whiskeys war der
Staatssekretär umfassend im Bilde. Pfeiffer hatte kein Detail ausgelassen.
Der Mann vom BND war nicht nur persönlich an AURORA beteiligt,
sondern auch eines ihrer Gründungsmitglieder. Auch hochrangige
Offiziere und Geheimdienste aus aller Welt unterstützten AURORA.
Die Forschungsprojekte richteten ihren Fokus auf Terrorgefahren,
auf die zuvor noch niemand auf Seiten der westlichen Regierungen
gekommen war. Aber eben auch nicht auf Seiten von Terrororganisationen
wie der GESA. Es ging um Anschläge mit Viren und auf Vulkane, um
Erdbeben und gestohlene Atomwaffen.
Um Terroristen nicht mit der Nase darauf zu stoßen, mussten die
Projekte bis zu ihrem Abschluss streng geheim bleiben. Das galt auch für
Regierungen und Geheimdienste. Denn überall, so O-Ton Pfeiffer, gibt es
schwarze Schafe. Es bestand der Verdacht, dass es der GESA mittels
Überläufern geglückt sein könnte, das eine oder andere Projekt zu
infiltrieren. Daran arbeitete AURORA mit Hochdruck. Auch die
Geheimdienste waren aktiv. Die Forschungsergebnisse stellten in den
Händen der GESA eine Bedrohung für die freiheitliche Grundordnung des
Westens dar. Pfeiffer befürchtete gar, dass das das Ende der Welt bedeuten
könnte.
Die Forschungsergebnisse wurden deshalb erst nach ihrer
wissenschaftlichen Verifizierung allen demokratischen Regierungen und
der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt. Wegen ihrer Brisanz
unterstützten viele staatliche Stellen auf der ganzen Welt AURORA
finanziell.
Auch die Frage nach seinem Verhältnis zu Wagner konnte Pfeiffer
beim sechsten Whiskey beantworten. Er war ihm in Afghanistan begegnet.
Wagner unterstützte AURORA. Aber Pfeiffer hatte ihm keineswegs eine
Beförderung zum Oberst angeboten.
„Wie auch? Was habe ich mit der Bundeswehr zu schaffen? Wer
immer Ihnen das erzählt hat, verfügt über falsche Informationen oder sagt
bewusst die Unwahrheit, aus welchen Gründen auch immer. Sehr wohl ist
Wagner aber bestens für diese Position geeignet. Er hat schon früher an
Forschungsprojekten teilgenommen. Dass ich ihn nach der langen Zeit
nicht sofort erkannt habe... Sei´s drum.“
Pfeiffer grinste breit. Dann fuhr er fort. „Nichts für ungut, und bei
allem Respekt, aber ehrlich gesagt sind Sie mir mit Ihrer Fragerei ganz
schön auf die Nerven gegangen, Herr Staatssekretär. Und so leicht lässt
sich der Leiter der Abteilung TE des BND nicht hinter dem Ofen
hervorlocken.“
Mit den Details zu dem bereits abgeschlossenen Projekt in Sibirien
kannte sich Pfeiffer nicht aus. Das war nicht sein Fachgebiet. Aber er habe
schon viel zu viel erzählt. Doch sein Gast sei auch kein Geringerer als der
Staatssekretär des Finanzministeriums.
„Dennoch bitte ich Sie, Stillschweigen über unser Gespräch zu
wahren. Ich habe Ihnen das nur anvertraut, weil ich wusste, dass Sie
sowieso nicht aufhören würden zu fragen. Und weil ich Ihnen vertraue. Sie
stehen für eine ehrliche, gradlinige Politik. Und so schätze ich Sie auch als
Mensch ein. So, zum Abschluss gönnen wir uns aber noch ein absolutes
Highlight.“
Ohne eine Antwort abzuwarten, verschwand Pfeiffer in der Küche.
„Für mich bitte nicht!“, rief ihm der Staatssekretär halbherzig
hinterher. Er war müde, schon angetrunken und überfrachtet mit
Informationen, die sein Hirn nicht so recht in die Kategorien wahr und
unwahr unterteilen konnte.
Wahr war allerdings die Bezeichnung absolutes Highlight. Pfeiffer
brachte diesmal zwei leere Gläser und eine Flasche mit, die er auf den
Tisch stellte. „Ein fünfundzwanzig Jahre gereifter Bowmore. Von der Insel
Isley. Jede Menge Torf und Sherry. Und auch die Nuancen von Holz und
Früchten sind aller Ehren wert. Aber da Sie noch fahren müssen, überlasse
ich es Ihnen, ob Sie den Bowmore zum Abschied noch verkosten wollen.
Ich biete Ihnen auch gerne das Zimmer meines Sohnes an. Einziges
Manko: Weil ich diesmal alleine hier bin, ist es nicht aufgeräumt und
Bettwäsche habe ich auch nicht. Aber den Schlafsack meines Sohnes! Ich
meine, was tut man nicht alles für einen solchen Whiskey! Wenn Sie über
Nacht bleiben, schenke ich gerne noch häufiger nach.“
Der Staatssekretär schüttelte den Kopf. Der Schlafsack seines
Sohnes. Nicht zu fassen. Und so schlimm war die Strecke nun auch wieder
nicht. Zwanzig Kilometer. Ein bisschen Wald. Lächerlich. Er bedeutete
Pfeiffer mit Daumen und Zeigefinger, wie weit er das Glas bitte füllen
möge. Pfeiffer meinte es jedoch gut mit ihm und erhöhte ungefähr auf das
Doppelte. Dabei bat er seinen Gast, ihn kurz auf dem Festnetz anzurufen,
wenn er zuhause angekommen war.
„Ist eine ziemlich blöde Fahrt, mitten in der Nacht und bei diesem
Scheiß Wetter. Ich kann besser schlafen, wenn ich weiß, dass Sie gut zu
Hause angekommen sind.“
Der Staatssekretär versprach, anzurufen, während er sich mit der
gebotenen Ehrfurcht dem Whiskey widmete. Der Bowmore von der Insel
Isley erwies sich als gigantisch. Als er sich auf den sofaartigen Fahrersitz
fallen ließ, brannte er ihm noch wohlig in der Kehle.

***

Langsam rollte die S-Klasse über den schmalen Schotterweg. Die


Unebenheiten des Untergrunds waren in dem schweren Wagen kaum zu
spüren. Rechterhand lag der See, zu dem Pfeiffers Ferienhaus einen
direkten Zugang hatte. Hier gab es nur ein paar weitläufig verstreute Höfe
und Ferienhäuser. Ansonsten nur Landschaft. Man musste schon über ein
entsprechendes Naturell verfügen, um sich in dieser Einsamkeit wohl zu
fühlen. Vielleicht gab es in dem Ferienhaus deshalb ein so großzügiges
Sortiment erlesener Whiskeys. Pfeiffer hatte ihn bei der Verabschiedung
noch einen Blick in seine Bar werfen lassen. Dort hatte er dreißig
verschiedene Whiskeys gezählt.
Der Mond spiegelte sich geheimnisvoll im See, über dem ein flacher
Nebelschleier stand, der das Mondlicht gespenstisch diffundieren ließ. Der
Staatssekretär hielt noch vor der Landesstraße an und betätigte den
elektrischen Fensterheber. Er schloss die Augen, um die Stille einzusaugen
und über sein Gespräch mit Pfeiffer nachzudenken. Eisig kalte Luft
strömte ins Wageninnere. Sie roch nach Schnee, aber nicht nach Frühjahr.
Kein Geräusch war zu hören. Jetzt, da der Mond hinter einer dichten
Wolke verschwand, entstand eine undurchdringliche Dunkelheit.
Der Staatssekretär kam sich vor wie in einer anderen Welt. Einer
Welt, in der die Dimensionen verschwammen. Sie wurden eins. Und er
gehörte dazu. Der Alkohol steigerte seine Wahrnehmungen.
Seine Gedanken wanderten zu Pfeiffer. Er ärgerte sich über sich
selbst, dass er sich vor dem Treffen nicht hinreichend über dessen
Funktion beim BND informiert hatte. Dabei wäre das doch das
Naheliegendste gewesen. Wahrscheinlich war er zu sehr damit beschäftigt
gewesen, sich darüber aufzuregen, dass er nicht informiert worden war.
Wie ein Volltrottel war er sich vorgekommen.
Pfeiffer war Leiter der Abteilung TE, Internationaler Terrorismus
und Organisierte Kriminalität. Schwerpunkt islamistischer Terror. Das
untermauerte die Sinnhaftigkeit von Pfeiffers Mitwirkung bei AURORA
und der finanziellen Zuwendungen seiner Behörde. Pfeiffer hatte ihm alle
Fragen beantworten können. Der Zweck der Stiftung. Der Grund für die
Geheimhaltung. Details zu den Projekten. Einfach alles.
Und alles verständlich.
Absolut verständlich.
Absolut nachvollziehbar.
Absolut schlüssig.
Zu schlüssig!
Der Staatssekretär traute Pfeiffers Aussagen nicht, weil sie zu
schlüssig waren. Konstruiert. Er musste weitere Nachforschungen über
Pfeiffer anstellen. Was hatte er mit Afghanistan und Oberst Wagner zu
tun?
Das galt auch für AURORA. Die Stiftung musste von vorne bis
hinten durchleuchtet werden. Geheimhaltung hin oder her. Außerdem
musste er Hauke fragen, woher er eigentlich wusste, dass sich Wagner und
Pfeiffer schon vorher kannten. Er hatte keine Ahnung, was dahinter
steckte, hielt aber die Veruntreuung öffentlicher Gelder im großen Stil für
möglich. Und das ließ sich lückenlos aufdecken, wenn man tief genug
bohrte.
Er blickte auf die digitale Uhr im Cockpit seiner S-Klasse. 22.10
Uhr. Eigentlich noch nicht zu spät, um Hauke anzurufen und einen Termin
für morgen zu vereinbaren. Er suchte Haukes Nummer im Adressbuch
heraus und ließ sich in seinen Sitz sinken, während das Autotelefon
wählte. Aber anstatt eines Freizeichens erklang der typische Ton bei Nicht-
Empfang. Ein weiterer Grund, einen großen Bogen um diese Wildnis zu
machen. Dann musste das eben bis morgen warten. Vielleicht sollte er
auch die Kanzlerin informieren.
Stille und Dunkelheit umfingen ihn und die Welt um ihn herum
begann sich zu drehen. Das konnte unmöglich von den paar Whiskeys
kommen. Oder doch umkehren und im Schlafsack eines Teenagers auf
einer Pritsche übernachten?
Plötzlich erwachte er aus der Geborgenheit der Stille und dachte mit
Schrecken an die Rückfahrt. Er musste sich konzentrieren und gegen die
alkoholische Betäubung ankämpfen. Komme was da wolle, so weit, dass er
im Schlafsack eines fremden Kindes schlief, würde er nicht sinken.
Ein plötzlicher Windstoß durchbrach die Stille und rauschte im noch
jungen Laub der Bäume. Mit der nächsten Böe wirbelten die ersten
Schneeflocken gegen die Seitenscheibe. Auch das noch.
Er lenkte die S-Klasse auf die Landesstraße und fuhr langsam in
Richtung Kiel. Nichts hetzte ihn. Die Bäume glitten an ihm vorbei. Der
Schneeschauer wurde heftiger. Nach wenigen Minuten war die Fahrbahn
weiß. Das Außenthermometer zeigte minus zwei Grad. Als er losgefahren
war, waren es noch plus zwei Grad gewesen. Die Bäume waren in
Minutenschnelle weiß. Die Scheibenwischer arbeiteten auf höchster Stufe.
Das war ein ausgewachsener Schneesturm. Die Flocken hafteten wie
Klebstoff an den Bäumen, weil das Holz so nass war.
Der Staatssekretär gab Gas und bremste dann scharf, um die
Situation einzuschätzen. Die Reifen griffen zwar, dennoch rutschte das
schwere Gefährt weiter. Unglaublich, so ein Schneegestöber mitten im
April.
Er durchfuhr eine Lichtung, die der Schnee bereits in eine
Winterlandschaft verwandelt hatte. Plötzlich zuckte ein Blitz, gefolgt von
einem Donnerschlag, der sogar in der S-Klasse zu hören war. Der
Schneefall legte weiter zu. Ein Schneegewitter. Ausgerechnet hier und
jetzt. Er spürte Hitze in sich aufsteigen und Schweißperlen auf der Stirn.
Er drosselte das Tempo weiter, fuhr keine fünfzig mehr.
Dann dauert es eben bis morgen früh. Hauptsache, ich komme nach
Hause.
Als er ungefähr einen Kilometer durch das nächste Waldstück
gefahren war, ihm war kein einziges Fahrzeug begegnet, tauchten in
seinem Rückspiegel plötzlich zwei Lichter auf, die rasch näherkamen. So
ein Idiot, dachte der Staatssekretär, wie kann man bei diesem Wetter nur
so rasen!
Augenblicke später war der Wagen direkt hinter ihm. Ein
Geländewagen oder SUV. Der war für solche Witterungsverhältnisse
besser geeignet als seine S-Klasse mit Hinterradantrieb. Hätte er damals
doch die paar Euro draufgelegt und einen Allradantrieb genommen.
Er konzentrierte sich wieder auf die Fahrbahn. Der Schneefall ließ
etwas nach. Solche Schauer hielten gottlob nicht lange an. Hoffentlich
überholte ihn dieser Idiot bald. Vielleicht konnte er sich sogar an seine
Rücklichter heften. Er schaute wieder in den Rückspiegel. Was sollte das
denn? Der Spinner hing ihm so dicht auf der Stoßstange, dass er seine
Scheinwerfer nicht mehr sehen konnte. Ein Draufgänger, dem die S-Klasse
viel zu langsam war. Alter Mann in altem Auto. Der Staatssekretär deutete
mit dem Rechtsblinker an, dass der Fahrer des Geländewagens überholen
solle. Doch anstatt zu überholen, schaltete der das Fernlicht ein und hupte.
Der Staatssekretär erschreckte sich so sehr, dass er für einen
Moment die Gewalt über seinen Wagen verlor. Bedrohlich kam der Wald
auf ihn zu. Doch er schaffte es irgendwie, die S-Klasse zurück in die Spur
zu bringen. Seine Alkoholschwere war mit einem Mal verschwunden. Sie
wich einem Gefühl von Bedrohung. Was lief hier ab? Wie ein Irrer hupte
der Spinner und deutete mehrfach einen Überholvorgang an, um sofort
wieder hinter der Stoßstange seiner S-Klasse zu verschwinden.
Ohne es zu merken, beschleunigte der Staatssekretär auf achtzig,
angetrieben von einem unterbewussten Fluchtinstinkt. Der SUV
beschleunigte ebenfalls und hing ihm sofort wieder auf der Stoßstange.
Dabei blendete er auf und hupte in immer kürzeren, enervierenden
Intervallen. Der Schneefall ließ zwar weiter nach, auch der Mond schien
für einen kurzen Augenblick durch die über den Himmel rasenden Wolken
hindurch, aber auf der Straße hatte sich eine Schneedecke gebildet. Die
Fahrbahn war nicht mehr zu erkennen. Allerdings war die Temperatur, wie
für den April typisch, schon wieder über den Gefrierpunkt gestiegen,
sodass sich der Schnee rasch in nicht weniger rutschigen Matsch
verwandelte.
Der Staatssekretär umfasste krampfhaft das Lenkrad. Die Knöchel
seiner Hände traten weiß hervor. Noch fünf Kilometer bis zur viel
befahrenen Hauptstraße, dann war der Spuk vorbei. Er fuhr jetzt neunzig.
Der SUV hing ihm auf der Stoßstange. Sein Hupen nahm er nicht mehr
wahr.
Dann tauchten auch von vorne zwei Scheinwerfer auf. Ein
beruhigendes Gefühl, nicht mehr alleine mit diesem Irren zu sein.
Vielleicht besann der sich darauf, mehr Abstand zu halten und mit diesem
Scheiß Gehupe aufzuhören!
Doch plötzlich wechselte der entgegenkommende Wagen die
Fahrbahn und fuhr direkt auf den Staatssekretär zu. Reflexartig wollte er
das Lenkrad nach links reißen, um auf die Gegenfahrbahn auszuweichen.
Doch in diesem Augenblick war der SUV genau neben ihm. Die Bruchteile
von Sekunden, die ihm blieben, reichten nicht, um richtig zu reagieren:
scharf abbremsen und dann auf die Gegenfahrbahn ausweichen.
Stattdessen verriss er das Lenkrad nach rechts und knallte ungebremst
gegen einen Baum.
Nasser Schnee klatschte laut von dem Baum auf den Wagen. Der
Staatssekretär wurde nach vorne und nach hinten geschleudert. Der Airbag
öffnete sich. Er war bewegungslos zwischen Airbag und Fahrersitz
eingeklemmt. Glas splitterte. Der Motorblock schob sich ins Wageninnere.
Der Staatssekretär spürte, wie ihm etwas Warmes am Kopf herunterlief
und er hatte einen metallischen Geschmack im Mund. Das Atmen fiel ihm
schwer, seine Lunge rasselte. Er war der Ohnmacht nahe, nahm aber aus
dem Augenwinkel heraus wahr, dass sich jemand dem Wrack näherte.
Hoffentlich holen sie rechtzeitig Hilfe, flehte der Staatssekretär, der
spürte, wie seine Kräfte schwanden.
Die Wagentür wurde geöffnet. Sie hatte sich verkantet und gab erst
nach mehreren Versuchen unter lautem Ächzen nach. Er wollte fragen,
warum der Fahrer des SUV so aggressiv gefahren war, bekam aber kein
Wort heraus. Als er den Kopf nach links drehte, um zu sehen, wer an
seinem Wagen stand, hörte er ein leises Knacken, direkt aus seinem
Nacken, den ein heftiger, stechender Schmerz durchfuhr. Ein Stöhnen
entwich ihm. Aber er sah den Mann. Er kannte ihn nicht. Ein großer Mann
arabischer Herkunft. Hinter ihm stand noch jemand.
„Hilf mir“, presste der Staatssekretär unter größten Schmerzen
hervor.
Der Araber beugte sich zu ihm hinunter. Er trug Einmalhandschuhe.
Solche, wie sie auch die Spurensicherung benutzte. Ein paar nasse
Schneeflocken wirbelten in das Wrack und schmolzen in seinem Blut. Ruf
endlich den Notarzt, wollte er sagen, schaffte es aber nicht. Dann legte
sich eine Hand über seinen Mund und seine Nase. Er nahm den typischen
Geruch von Gummi wahr. Die Hand drückte zu. Er bekam keine Luft mehr.
Sein letzter Gedanke war, dass er niemals zu Pfeiffer hätte fahren dürfen.

***

Kiel, zwei Tage später


Jamal blieb der Bissen im Hals stecken. Er starrte fassungslos auf die
Schlagzeile und die Bilder des Staatssekretärs und seines Mercedes,
zerschellt an einem Baum. Mit einem Gefühl von Panik vertiefte sich
Jamal in den Beitrag und weitere im Schleswig-Holstein-Teil.
Der Staatssekretär im Finanzministerium war mit seinem Wagen in
der Nähe des Westensees tödlich verunglückt. Er war von der
schneeglatten Fahrbahn abgekommen und gegen einen Baum geprallt. Es
gab keine Bremsspuren. Der Rechtsmediziner mutmaßte, dass der Mann
nach dem Aufprall noch gelebt hatte, aber mangels rechtzeitiger Hilfe
verblutet war. Bei der Untersuchung des Unfallortes hatte die Polizei keine
weiteren Spuren gefunden. Allerdings war der Schnee beim Eintreffen von
Polizei und Notarzt schon wieder geschmolzen. Und mit ihm auch die
Spuren möglicher anderer Fahrzeuge.
Schon diese Informationen versetzten Jamal in ein Gefühl von
Todesangst. Noch schlechter aber ging es ihm, als er las, wie der
Staatssekretär gefunden worden war. Nämlich aufgrund eines Anrufs bei
der Polizei. Ziemlich genau um Mitternacht. Der Anrufer hieß Pfeiffer.
Oswald Pfeiffer. Er hatte die Polizei verständigt, weil er sich Sorgen um
den Staatssekretär machte. Denn der hatte Pfeiffer in seinem Ferienhaus
besucht und versprochen, Bescheid zu sagen, wenn er zuhause
angekommen war. Und weil er das nicht getan hatte, Pfeiffer ihn auch
nicht auf seiner Mobilfunknummer erreichen konnte, hatte er die Polizei
angerufen. Er hatte zu Protokoll gegeben, dass er mit dem Staatssekretär
ziemlich viel Whiskey getrunken und ihm angeboten hatte, in seinem
Ferienhaus zu übernachten. Das hatte der aber abgelehnt.
Der Staatssekretär hatte eins Komma eins Promille Alkohol im Blut.
Das unterstrich die Vermutung, dass er auf schneeglatter Fahrbahn die
Kontrolle über sein Fahrzeug verloren hatte.
Aber es kam noch schlimmer. Pfeiffer hatte auf die Frage, warum der
Staatssekretär ihn besucht hatte, geantwortet, dass es um AURORA
gegangen sei. Der Staatssekretär hatte Fragen dazu, weil er meinte, nicht
hinreichend informiert worden zu sein. Und weil sich die Stiftung, der
auch Pfeiffer angehörte, über jedes hochrangige Mitglied freute, hatte er
dem Staatssekretär angeboten, einzusteigen. Auch finanziell wollte der
sich angeblich beteiligen. Und diesen Entschluss hatten sie mit Whiskey
begossen.
Pfeiffer sagte, dass er sehr traurig über den Verlust dieses
großartigen Menschen und Politikers sei, der so viel für Schleswig-
Holstein getan hatte. Für AURORA wäre er eine Bereicherung gewesen.
Jamals Magen verkrampfte sich schmerzhaft. Er schwitzte wie bei
körperlicher Anstrengung. Erst die Frau des ehemaligen Leiters der WTD
71. Dann der Staatssekretär. Zwei angebliche Unfälle.
Aber er wusste es besser.
Der Staatssekretär hatte etwas über die Stiftung herausgefunden, was
ihr schaden konnte. Und gedroht, sich damit an die Polizei oder die
Öffentlichkeit zu wenden. Also musste er aus dem Weg geräumt werden.
Und weil auch Jamal ein Mitwisser war, war er ein toter Mann, wenn sie
wussten, wo er sich aufhielt.
Er griff zum Telefon und rief in der Werft an. „Hast du schon die
Zeitung gelesen, Hauke?“
Hauke schnaufte durch den Hörer. „Mir fehlen die Worte. Ich kann
das noch gar nicht glauben. Er hat mir noch selbst erzählt, dass er sich mit
Pfeiffer treffen wollte. Und jetzt ist er tot! Ich begreife aber auch nicht,
warum er bei so einem Wetter alleine in diese Einöde gefahren ist. Er hätte
doch seinen Fahrer mitnehmen oder sich irgendwo in der Stadt mit
Pfeiffer treffen können.“
„Heißt das, dass du auch glaubst, dass das ein Unfall war?“
„Was denn sonst? Pfeiffers Aussagen sind für mich glaubwürdig.
Und auch die Spuren deuten auf einen Unfall hin.“
„Was erzählst du denn da? Es liegt doch auf der Hand, dass das kein
Unfall war! Worüber haben wir denn erst vor ein paar Tagen gesprochen?“
„Hör zu, Jamal. Mir wird die Sache zu heiß. Ich habe eine Familie.
Ich halte mich ab jetzt da raus. Wenn du tatsächlich glaubst, dass das Mord
war, dann geh damit zur Polizei. Mehr kannst du nicht tun. Aber bedenke,
dass dann deine ohnehin dürftige Tarnung auffliegt. Und auch du hast eine
Familie. Glaub mir, Jamal, das ist ein paar Nummern zu groß für uns.
Wozu den Helden spielen? Da bin ich doch lieber ein quicklebendiger
Feigling.“
Enttäuscht beendete Jamal das Gespräch. Er war auf sich alleine
gestellt. Und hatte keine Ahnung, was er machen sollte. Wahrscheinlich
war die Polizei der einzig richtige Weg. Er dachte nach. Keinesfalls konnte
er die Sache wie Hauke auf sich beruhen lassen. Er musste zur Polizei
gehen und bitten, seinen Namen aus der Sache herauszuhalten und keine
Bilder von ihm zu veröffentlichen. Bestimmt waren die dazu verpflichtet,
wenn ein Zeuge das wollte. Deutschland war schließlich ein sicheres Land.
Solange man AURORA nicht in die Quere kam.
Jamal rief Hauke nochmals an, um ihm mitzuteilen, dass er heute
später kommen würde, weil er zur Polizei gehen wolle. Überleg dir das
gut war alles, was Hauke dazu zu sagen hatte.
Eine halbe Stunde später saß Jamal auf einer Polizeiwache und
sprach mit einem älteren Polizisten, der ihn auf eine Weise musterte, die
verriet, was der Mann von einem Araber auf seiner Dienststelle hielt. Kein
guter Einstieg. Da er aber schlecht einen anderen Beamten fordern konnte,
vertraute er dem Mann seine Geschichte und seine Einschätzung an, dass
die beiden angeblichen Verkehrsunfälle Morde waren.
Der Polizist hatte seine Ausführungen mit wenig Interesse verfolgt.
Das jedenfalls schloss Jamal aus seinem gelangweilten Gesichtsausdruck.
Der Beamte betrachtete den Stift in seiner Hand und fragte dann, was er
denn nach Jamals Meinung jetzt unternehmen solle.
Er sah den Polizisten ungläubig an: „Woher soll ich das denn
wissen? Deshalb bin ich doch zu Ihnen gekommen!“
„Sie sprechen ziemlich gut Deutsch. Wie kommt das?“
Jamal verstand nicht, was seine Deutschkenntnisse mit dem Tod des
Staatssekretärs zu tun hatten. „Das spielt doch keine Rolle. Die Frage ist
viel mehr, was Sie jetzt unternehmen!“
Der Polizist rieb sich nachdenklich das Kinn. „Gute Frage.
Sicherlich noch mal mit diesem Pfeiffer sprechen. Am Unfallort haben
meine Kollegen nichts Verdächtiges gefunden. Sieht aus wie ein
klassischer Unfall unter Alkoholeinfluss. Eins Komma eins Promille. Das
ist eine Menge. Insofern können wir nicht viel tun. Und die Geschichte,
die Sie erzählt haben, klingt nicht nur abenteuerlich, sondern entbehrt auch
jeglicher Fakten. Alles Vermutungen und Spekulationen. Auf dieser Basis
kann keine Polizeibehörde aktiv werden. Zumal diese Stiftung allem
Anschein nach doch ein Segen für die Menschheit ist.“
Ein Segen für die Menschheit. War es nicht eher so, dass die
Menschheit verrückt geworden war? Jamal konnte die Haltung des
Polizisten nicht verstehen. Es ging doch um seinen Staatssekretär! Jamal
verabschiedete sich mit der Bitte, ihn aus der Sache herauszuhalten. Kein
Wort über Afghanistan. Zu seinem Schutz und dem seiner Familie.
Der Polizist lachte. „Zu Ihrem Schutz? Sie sind ein lustiger Vogel,
wissen Sie das eigentlich? Aber keine Sorge, ich werde mir kein Schild
mit Ihrem Namen und Ihrem Konterfei um den Hals hängen und damit
durch Kiel laufen. Aber eine Adresse lassen Sie mir freundlicherweise
doch noch da, ja? Es kann sein, dass wir noch ein paar Fragen haben. Eine
Mordanschuldigung ist schließlich keine Bagatelle.“

***

Nachdem Jamal das Präsidium verlassen hatte, beratschlagte sich der


Polizist mit einem Kollegen. Sie kamen zu der Überzeugung, dass dieser
Araber sich nur wichtigmachen wollte. Pfeiffer war als Führungskraft
beim BND integer und absolut glaubwürdig. Und die Ergebnisse der
Spurensicherung sprachen für einen Unfall.
Da es aber um einen Staatssekretär ging, konnten ein Anruf bei
Pfeiffer und ein Besuch bei der Stiftung nicht schaden. Sie teilten sich auf.
Der Kollege, der mit Jamal gesprochen hatte, sollte mit einem weiteren
Kollegen zu AURORA fahren. Der andere sollte Pfeiffer anrufen.
Und so griff ein Polizist zu einem Telefonhörer und wählte die
Nummer des Ferienhauses, die Pfeiffer bei seiner Befragung angegeben
hatte. Pfeiffer meldete sich nach dem dritten Klingeln. Das
Telefongespräch brachte keine neuen Erkenntnisse. Pfeiffer wiederholte
wortgetreu, was er schon in der Unfallnacht zu Protokoll gegeben hatte.
Und er kannte auch keinen Araber mit dem Namen Abdul Rahimi. Ebenso
wenig konnte er sich erinnern, in Afghanistan mit Major Wagner
gesprochen zu haben und ihm die Leitung der WTD 71 angeboten zu
haben. Was er auch gar nicht könne, weil er schließlich beim BND sei, und
nicht bei der Bundeswehr. Er kenne Wagner aus Afghanistan und arbeite
bei AURORA mit ihm zusammen. Mehr aber nicht. Pfeiffer konnte sich
nicht erklären, warum dieser Rahimi behauptete, ihn zu kennen. Das sei
eine Unverschämtheit.
Ob dieser Rahimi in Kiel lebe, fragte Pfeiffer. Ob er seine
Telefonnummer haben könne, denn dem wolle er mal ordentlich den
Marsch blasen. Doch der Polizist verwies auf seine Schweigepflicht. Er
bestätigte lediglich, dass der Zeuge in Kiel lebte, denn sonst wäre er kaum
auf einer Polizeiwache in Düsternbrook erschienen. Damit beendete
Pfeiffer das Gespräch.
Und weil die Kollegen nur herausgefunden hatten, dass die Stiftung
sehr attraktive Mitarbeiterinnen hatte und offiziell zugelassen war, ging
die Kieler Polizei den Phantastereien irgendeines dahergelaufenen Arabers
nicht weiter nach.
Gut zwanzig Kilometer entfernt, in südwestlicher Richtung, wählte
ein Mann in einem Ferienhaus eine ihm bekannte Rufnummer.
Kapitel 32
Adams Island, Mitte April 2016
„Wir sind schneller vorangekommen als geplant. Unsere Teams haben gute
Arbeit geleistet. Das verkürzt unseren Zeitplan und minimiert die Risiken
eines Fehlschlags. Für diejenigen, die noch nicht auf dem neuesten Stand
sind, stelle ich jetzt die Maßnahmen vor, die auf Grundlage der bisherigen
Forschungsergebnisse eingeleitet wurden. Danach holen wir die externen
Wissenschaftler und lassen sie ausführlich erklären, was sie erreicht
haben.“
Der Circle und alle Teams hatten sich in der Zentrale auf Adams
Island versammelt. AURORA trat nun in die entscheidende Phase ein. Bis
zur Umsetzung der nächsten Stufe würden zwar noch einige Monate
vergehen, doch die vorbereitenden Maßnahmen mussten jetzt festgelegt
werden. General Moore hatte einen Maßnahmenkatalog zusammengestellt,
den er dem Circle vorstellte.
Er betätigte die Fernbedienung des Beamers. Auf der großen
Leinwand erschien ein Foto des Pico de Teide auf Teneriffa, auf dem in
breiten Lettern der Titel prangte: AURORA, Phase 1 - Wave.
Moore erklärte das Foto. „Unser Team vor Ort konnte mittels
Seitensichtsonaren eine exakte Karte der Insel und der Kontinentalhänge
erstellen. Wir wussten schon vorher, dass der Teide ein freistehender Berg
von fast achttausend Metern Höhe ist.“
Über das Foto schob sich ein Raster, in dem Moore mit einem
Laserpointer den Weg vom Gipfel des Teide bis zum Meer nachzeichnete.
„Das sind exakt 3.718 Meter.“
Er ließ den Lichtpunkt weiter an dem Raster hinabgleiten, tief ins
Meer hinein. „Weitere viertausend Meter befinden sich unter der
Meeresoberfläche. Vor achthunderttausend Jahren kam es an der
Südostflanke Teneriffas zu einer Hangrutschung mit einem Volumen von
hundertzwanzig Kubikkilometern. Ihr Material bedeckt eine Fläche von
tausendsechshundert Quadratkilometern. Würde man das über Belgien
verteilen, wäre das ganze Land von einer vier Meter mächtigen
Schuttschicht bedeckt! Und das ist nichts im Vergleich zum Storegga-
Ereignis im Nordmeer vor gut achttausend Jahren. Dabei lösten sich nicht
hundertzwanzig, sondern fünftausendsechshundert Kubikkilometer
Material! Also fast das Fünfzigfache! Führt euch vor Augen, was das
heißt, wenn schon ein Bruchteil reicht, um Belgien vier Meter unter Schutt
zu begraben! Nach der Analyse aller potenziellen Ziele haben wir
beschlossen, sämtliche Ressourcen auf diese Region zu konzentrieren.
Flottenadmiral Tschechow und ich werden die U-Boote für die Phasen eins
und drei in Position bringen. Heather kennt einen erstklassigen Hacker, der
für uns ein Tool programmiert, mit dem wir die U-Boote fernsteuern
können. Die Erfolgswahrscheinlichkeit von Phase eins beträgt stolze
siebzig Prozent. Es sieht also gut aus für unser Intro.“
Als nächstes blendete Moore ein Bild mit dem Querschnitt zweier
Viren ein und bat Edward Coleman auf die Bühne. „Mit Kontinentalhängen
mag ich mich vielleicht noch ein wenig auskennen. Aber das“, er leuchtete
ein paar Mal mit dem Laserpointer zwischen den beiden
Virenquerschnitten hin und her, „ist mir mindestens zwei Nummern zu
groß. Edward, würdest du das bitte übernehmen? Ich mache dann bei
Phase drei weiter.“
Coleman übernahm die Kontrolle über Beamer und Laserpointer.
Ruhig und sachlich erklärte er, was es mit den Querschnitten auf sich
hatte. Er richtete den Laserpointer auf einen davon.
„Das ist ein Pockenvirus aus der Familie der Poxviridae und der
Gattung der Orthopoxviren. Sie unterteilen sich in drei Arten:
Orthopoxviren variola, alastrim und vaccinia. Es handelt sich um
doppelsträngige DNA-Viren mit Hülle. Das Pockenvirus ist eines der
größten bekannten Viren der Welt. Es hat einen Durchmesser von
zweihundertdreißig bis dreihundertfünfzig Nanometern und ist damit unter
dem Lichtmikroskop sichtbar. Das Bild zeigt ein Variolavirus, das
eigentliche Pockenvirus. Aufgrund des weltweiten Impfschutzes gelten die
Pocken seit Oktober 1977 als ausgerottet. Das Variolavirus hatte eine
Inkubationszeit von sieben bis elf Tagen und eine Letalität von zwanzig
bis fünfzig Prozent. Also schon ziemlich gefährlich. Doch James Perkins,
der seine Arbeit gleich im Detail vorstellen wird, hat das erschaffen:“
Coleman zielte mit dem Laserpointer auf den anderen Querschnitt.
„Das ist das von ihm genetisch veränderte Variolavirus, das wir in Sibirien
gefunden haben. Anhand unserer Animation“, er blendete ein neues Bild
ein, „könnt ihr sehen, wie Perkins das Virus verändert hat. Links haben wir
die Genome des Ursprungsvirus. Und rechts die der Schöpfung meines
Kollegen, dem ich nicht weniger bescheinigen muss als Genialität. Sein
Virus hat folgende Eigenschaften“, Coleman blendete eine Tabelle ein, in
die die von ihm vorgetragenen Fakten der Reihe nach eingefügt wurden.
„Größe: dreihundertachtzig Nanometer. Übertragung:
Tröpfcheninfektion, Schmierinfektion und Staubinfektion. Reaktion auf
Impfstoffe: keine. Sprich: totale Resistenz! Inkubationszeit: zwei bis vier
Wochen. Und last but not least: Letalität...“
Coleman legte eine Sprechpause ein und beobachtete den Circle.
Phase zwei, Ice, war das Herzstück von AURORA. Das letzte Faktum über
Variola Perkinsa, wie Perkins sein Werk wenig bescheiden getauft hatte,
war deshalb von größter Bedeutung. Er sah in faszinierte und ungeduldige
Gesichter. Als Perkins ihm die Eigenschaften des Variola Perkinsa
vorgestellt hatte, war es ihm selbst als Fachmann nicht anders ergangen.
Und bei der Letalität hatte ihm buchstäblich der Atem gestockt.
Coleman wiederholte langsam und gedehnt das Wort Letalität. Dann
blendete er die Zahl ein. Er sprach sie ebenso gedehnt aus: „über neunzig
Prozent! Bei einer Fehlerwahrscheinlichkeit von drei Prozent. Anders
formuliert: Ice gelingt mit einer Wahrscheinlichkeit von siebenundneunzig
Prozent!“
Ein Raunen ging durch das Publikum. Niemand hatte mit einem
derartig sensationellen Ergebnis gerechnet. Für Coleman bedeutete das,
dass der Allmächtige selbst AURORA für gut befand. Und er durfte sich
auf die Fahne schreiben, Perkins ausgewählt zu haben.
Nachdem sich die Zuhörer wieder beruhigt hatten, wies er darauf
hin, dass Perkins auch schon einen Impfstoff entwickelt hatte. Er musste
nur noch einige Testreihen durchlaufen. Yefrem hatte der GESA gegenüber
absolut loyale Schläfer ausgewählt, die sich unter Flüchtlingsströme
mischen würden. Nur geeignete Pässe mussten noch besorgt werden. Aber
Yefrem lag gut in der Zeit.
Damit übergab Coleman wieder an Moore, der angekündigt hatte,
sich einen der großen Flughäfen persönlich vorzunehmen.
Moore beglückwünschte das Team von Phase zwei zu seinem
großartigen Erfolg. Dann zeigte er wieder diverse Bilder und Animationen.
Viele hätten sich zunächst auf den Golfstrom versteift. Vielleicht
unbewusst angeregt durch Filme wie „The Day After Tomorrow“ und die
Berichte über die Meeresströmung in den Medien. Doch Rebecca Eliots
Team war zu dem Ergebnis gekommen, dass kein Terrorakt den Golfstrom
zum Erliegen bringen konnte. Die Wahrscheinlichkeit lag im Idealfall bei
zwei Prozent. Aber die Klimafolgen genügten den Anforderungen von
AURORA ohnehin nicht.
Dafür war das Team um Andrew Shoemaker und Mason Foley umso
erfolgreicher. Phase drei, Caldera, wies eine Erfolgsquote von über fünfzig
Prozent aus, vorausgesetzt, die eingesetzten Systeme erreichten die
erforderliche Präzision, wovon man heutzutage allerdings ausgehen
konnte. Die Stollen mussten stabilisiert und erweitert, Hindernisse
beseitigt werden. Shoemaker hatte bereits ein versiertes Team darauf
angesetzt
Moore schlug vor, nun auch die Wissenschaftler zu holen, doch
Rebecca Eliot bat um das Mikrophon. Sie schaltete die Präsentation aus.
„Ich habe eine Idee: Wir müssen so lange wie möglich von uns
ablenken. Außerdem ist es für AURORA von Vorteil, wenn vor den Phasen
zwei und drei eine möglichst große Konfusion herrscht. Dafür gibt es
Wave. Aber was ist, wenn Wave fehlschlägt? Dann ist die Welt trotzdem
auf uns aufmerksam geworden. Sie weiß nicht, wer der Verursacher ist.
Aber sie weiß, dass es einen Verursacher gibt. Mein Vorschlag würde
schon im Vorfeld für Chaos sorgen, unsere Tarnung schützen und den
Verdacht auf die GESA lenken. Yefrem hat versichert, dass er über eine
beliebig große Zahl an Schläfern verfügt. Ich schlage vor, dass wir über
die Flüchtlingsströme nicht nur infizierte, sondern vorher bereits eine
Schar nicht infizierter Terroristen nach Europa schicken. Einige Wochen
vor Wave lassen wir sie Anschläge auf bedeutende Einrichtungen verüben.
Den Eiffelturm, das Pantheon, die Sagrada Familia, was auch immer.
Hauptsache Verwirrung. Wir statten die Schläfer mit Pässen aus und legen
Spuren, die dahin führen, wo wir sie haben wollen. Was haltet ihr davon?“
Für einen Moment wurde es totenstill. Es war Bryan O´Connor, der
schließlich das Wort ergriff. Er erklärte, dass eine Reihe solcher
Anschläge, dicht nacheinander, nicht nur zu Verwirrung, Angst und Chaos,
sondern auch zu Einbrüchen an den Börsen führen würden.
„Das ist genau das, was wir erreichen wollen“, resümierte er. „Selbst
wenn Wave scheitern würde, nähme das Chaos zu! Rebecca, das ist
genial.“ O`Connor deutete ein Klatschen an.
Der Circle stimmte Rebeccas Vorschlag nach einer kurzen
Diskussion einhellig zu
Dann wurden die externen Wissenschaftler abgeholt, die
enthusiastisch Abwehrstrategien gegen mögliche Terrorangriffe
präsentierten: eine U-Boot Flotte der internationalen Gemeinschaft vor
den Kanarischen Inseln und weiteren, eruierten Zielen zu deren Schutz.
Versiegeln und Ausgießen von Bergwerksschächten und anderen Zugängen
im Bereich der Supervulkane.
Auch Perkins wartete mit einem ausgeklügelten Plan auf:
Einrichtung von Flüchtlingslagern in grenznahen Sicherheitszonen in den
von Flüchtlingsströmen betroffenen Ländern und Untersuchung aller
Flüchtlinge durch geschultes Personal. Da sein Plan vorsah, dass die
Menschen in den Lagern selbige nur in einer Richtung verlassen konnten,
nämlich zurück, bestand kein Zeitdruck. Diese Sicherheitszone verhinderte
den Kontakt der Flüchtlinge mit der Bevölkerung. Und reduzierte damit
die Erfolgsaussichten eines Terroraktes. Auch das Naheliegende schlug er
vor: Virenabwehrpläne für Flughäfen und Einrichtung eines weltweiten
Virenschutzdienstes. Bei jedem Vorschlag applaudierten die Mitglieder
des Circle.
Kapitel 33
Bayron Bay, Anfang Mai 2016
Emma und Riley standen nach dem Attentat rund um die Uhr unter
Bewachung. Keinen Schritt konnten sie mehr ohne Schatten gehen. Auch
Cathys Schule wurde überwacht. Das Gefühl, bedroht zu werden, jederzeit
mit einem Angriff rechnen zu müssen, war unerträglich. Aber dieser
Eingriff in die Privatsphäre war auch nur eine Scheinsicherheit. Irgendein
Scharfschütze auf irgendeinem Dach. Bums. Aus.
Deshalb war Riley nach Byron Bay geflogen, um Nachforschungen
anzustellen. Vor allem in der Villa seiner Familie. Das FBI hatte ihn vor
dem Risiko gewarnt, dass die Drahtzieher des Anschlags auf dieselbe Idee
kommen könnten, sah aber keinen Grund, selbst in dieser Richtung zu
ermitteln. Special Agent Walker hatte gesagt, dass Rileys Familie nicht
verschollen oder entführt worden war, sondern einen Vertrag
unterschrieben hatte, den sie erfüllte. Das hatte das FBI überprüft und sah
den Grund für das Attentat inzwischen eher in Emmas Umfeld. Aber Riley
wollte nicht länger untätig bleiben. Egal, wie sein Verhältnis zu James
war, er war sein Vater. Und Riley war sich sicher, dass der Anschlag mit
James Forschung zu tun hatte.
Er logierte weder in seiner Wohnung noch in seinem Elternhaus,
sondern in einer Ferienwohnung. In die Villa ging er nur tagsüber und
nachdem er sich vergewissert hatte, dass dort keine ungebetenen Gäste
waren. James besaß gottlob einige Waffen. Riley hatte sich einen Revolver
ausgeliehen. Man konnte nie wissen.
An den ersten beiden Tagen hatte er außer den Verträgen, die er
bereits kannte, nichts gefunden, was ihn weiterbrachte. Die Suche fiel ihm
schwer, weil er nicht wusste, wonach er eigentlich suchen sollte. Wahl-
und ergebnislos hatte er sich durch Schränke und Regale gewühlt. Vor
einem Möbelstück hatte er allerdings bis jetzt zu viel Respekt gehabt: der
Schreibtisch seines Vaters. Alle Schubladen waren verschlossen. Riley
wusste, dass er dort nichts verloren hatte. Das hatte James ihm oft genug
eingebläut.
Doch nun gab es kein Zurück mehr. Wo, wenn nicht in James
Schreibtisch, konnten Hinweise sein?
Riley ging in James Arbeitszimmer im ersten Stock. Mit vierzig
Quadratmetern der größte der vier Räume auf dieser Ebene. Nur das
Wohnzimmer war noch größer. An den beiden Seitenwänden des
quadratischen Raums, der mit dunklen Landhausdielen ausgelegt war,
standen Bücherregale aus ebenfalls dunklem Holz, die bis unter die Decke
reichten. Und die hatte eine Höhe von drei Meter achtzig. Um an die
Bücher in den oberen Regalreihen zu kommen, stand eine rollbare
Trittleiter vor den Regalen. Der Schreibtisch befand sich zwischen den
großen Fenstern auf der Seite gegenüber der Tür. Ein richtiges Monstrum.
Riesig, schwer, und wie die Regale aus irgendeinem dunklen Holz.
Trotz der großen Fenster und des schönen Blicks auf das
parkähnliche Grundstück fühlte sich Riley hier unwohl. Das dunkle Holz
engte ihn ein. Nie und nimmer würde er sich so einrichten.
Riley setzte sich auf James Drehsessel, der aus einem Leder gefertigt
war, das fast genauso dunkel war wie die Regale. Er legte den Revolver
vor sich auf der Schreibtischunterlage ab. Da er keinen Schlüssel gefunden
hatte, setzte er widerstrebend den Schraubenzieher an. Wenn James das
sehen würde...
Vorsichtig bewegte er den Schraubenzieher hin und her. Da tat sich
gar nichts. Die Schlösser und das Holz waren zu massiv. Er zögerte. James
Schreibtisch. Unantastbar.
Er hielt die Luft an, steckte den Schraubenzieher beherzt wieder ins
Schloss und rüttelte energisch daran, mit jedem Stoß wütender. Das Holz
zerbarst zunächst nur an einigen Stellen, ohne, dass die Schubladen sich
öffnen ließen. Doch nach weiteren, noch kompromissloseren Versuchen
sprang das Schloss endlich auf. Der Bruch von Holz und eines Tabus.
Er wiederholte die Prozedur auf der anderen Seite. Endlich waren
alle Schubladen auf. Er ging sie systematisch durch, fand einiges über
AURORA. Zunächst aber nur das, was er im Internet selbst schon
herausgefunden hatte. Imagebroschüren, Registerauszüge, Berichte in den
Medien.
Doch in der untersten Schublade rechts fand er etwas anderes: eine
Karte von Sibirien. Und einige Ausdrucke aus dem Internet. Auf der Karte
war eine Region rot eingekreist. Absolute Pampa. Die mit einer
Büroklammer an die Karte gehefteten Ausdrucke erwiesen sich als
Berichte über Viren im Eis Sibiriens. Dazu ein Interview mit einem
Klimaforscher über das Abtauen der Permafrostböden. Mehrere Berichte
handelten von den Pocken. An diese Berichte waren wiederum
verschiedene Graphiken und Listen geheftet. Mit vielen Zahlen und
komischen Figuren. Da stand etwas von Genomen und spanischer Grippe.
Alle Ausdrucke waren neueren Datums. Riley konnte sich keinen Reim
darauf machen.
Er legte die Unterlagen auf dem Schreibtisch ab und nahm sich den
zweiten Unterschrank vor. Dort fand er zwei Dinge, die sein Interesse
weckten: das Tagebuch seines Vaters und dessen Tablet. Sofort schlug
Riley das Tagebuch auf und blätterte vor bis Juni 2015, bis zu dem Tag, an
dem diese affektierten Colemans gekommen waren und er die Verträge
unterschreiben sollte.
Zunächst las Riley nichts von Belang, doch ab Juli 2015 wurde es
spannender. Er fand einen Eintrag, in dem es hieß, dass es endlich soweit
war. Sie fuhren bald zu der grünen Insel und James später von dort aus
nach Sibirien. Die Familie musste auf der Insel bleiben, bis er fündig
wurde.
Was für eine Insel? Wieso grün? Und inwiefern fündig?
Er blätterte vor. Weitere Hinweise auf den Verbleib seiner Familie
fand er nicht. Dafür täglich Superlative. Meilenstein der
Menschheitsgeschichte. Weiterer Nobelpreis. Tolle Zusammenarbeit mit
Coleman. Solche Enthusiasmen waren für James untypisch.
Die Eintragungen endeten am zwölften Juli. Dort stand: Heute Abend
sind wir auf der Insel. Hieß das, dass sie an diesem Tag aufgebrochen
waren? Von was für einer grünen Insel war die Rede? Nannte man nicht
Irland so? Also war seine Familie in Irland?
Riley schaltete das Tablet ein. Gottseidank war es nicht durch ein
Password geschützt. Er fand einen Ordner mit dem Namen AURORA.
Neugierig öffnete er ihn, fand aber nur das, was er bereits als Ausdruck
gefunden hatte. Frustriert öffnete er Outlook. E-Mails von und an die
Stiftung. Aber nichts von Belang. Dann nahm er sich den Terminkalender
vor. Am zwölften Juli gab es zwei Einträge:
08.30 Uhr: Dr. Bedford, und: ca. 18.00 Uhr: Ankunft auf der Insel.
Dr. Bedford, Dr. Bedford... Wer war Dr. Bedford?
Riley googelte den Namen in Bayron Bay. Und fand ihn. Dr. Bedford
war Internist. James Hausarzt? Aber wie sollte James um 08.30 Uhr bei
diesem Arzt gewesen sein und um 18.00 Uhr in Irland? Das passte doch
nicht zusammen. Das war schlichtweg unmöglich.
Er rief diesen Dr. Bedford an. Nachdem dessen Sprechstundenhilfe
Riley nach einigen Daten zu seinem Vater befragt hatte, bestätigte sie, dass
James Perkins am zwölften Juli um 08.30 Uhr einen Termin hatte, den er
auch wahrgenommen hatte. Das bedeutete, dass James mit grüner Insel
gar nicht Irland meinte. Das musste irgendwas in der Nähe sein, das man
abends erreichen konnte, nachdem man morgens noch einen Arzttermin
hatte. Aber was gab es in der Nähe? Neuseeland? Würde James das als
grüne Insel bezeichnen? Vielleicht Tasmanien. Oder eine der
Aucklandinseln?
Er kam so nicht weiter. Einer Eingebung folgend rief er den
Gitarristen von Noahs Band an. Schließlich war sein Bruder seinem Vater
brav gefolgt, sodass seine Band lange auf ihn verzichten musste.
Erwartungsgemäß äußerte sich der Musiker wenig begeistert über Noahs
Abtauchen. Aber nach einigem Hin und Her konnte er zumindest berichten,
dass Noah von einer Insel in der Nähe gesprochen hatte und dass er am
zwölften Juli in einen Flieger nach Auckland steigen würde.
Endlich ein verwertbarer Hinweis. Also befand sich seine Familie
auf den Aucklandinseln oder einer der Nebeninseln. Zeitlich passte das
perfekt. Denn der Flieger brauchte vom Gold Coast Airport dreieinhalb
Stunden bis nach Auckland. Achtzehn Uhr war also realistisch. Einziges
Problem: Ohne konkretere Hinweise war das die berühmte Suche nach der
Stecknadel im Heuhaufen. Denn Inseln gab es dort zuhauf. Und die waren
alle grün.
Frustriert kehrte Riley zurück in seine Ferienwohnung. Wenigstens
jagten ihn keine Killer. Er fuhr seinen Laptop hoch, rief Skype auf und
klickte auf Emma74 und Videoanruf. Sekunden später sah er in Emmas
schönes und besorgtes Gesicht. Er erzählte ihr, was er herausgefunden und
dass er keine Ahnung hatte, was er damit anfangen sollte. Er fragte, ob das
FBI erfolgreicher war.
„Nein“, sagte Emma frustriert, „an einen Zusammenhang zwischen
dem Attentat auf uns und AURORA glauben sie immer weniger. Sie
ermitteln nur noch halbherzig. Stattdessen muss ich ihnen detaillierte
Listen erstellen von meinen Kunden, Lieferanten und Konkurrenten.
Außerdem haben sie mich stundenlang zu meinem Ex-Mann befragt. Aber
Riley, ich bin mir sicher, dass das nichts damit zu tun hat! Ich habe keine
Feinde. Und Wettbewerber hat jeder. Meinen Ex sehe ich nur, wenn er
Cathy abholt und wieder bringt. Unser Verhältnis ist so gut, wie es nach
einer Trennung sein kann. Und diese Dauerüberwachung macht mich
fertig. Selbst in der Firma ist immer jemand in meiner Nähe. Schrecklich.
Cathy will gar nicht mehr in die Schule, weil ihre Klassenkameraden sie
andauernd fragen, warum sie von fremden Männern gebracht und abgeholt
wird. Die finden das spannend. Aber Cathy nicht. Wann kommst du nach
Hause, Riley? Ich vermisse dich. Und ich mache mir solche Sorgen um
dich. Du bist am anderen Ende der Welt und völlig schutzlos.“
Riley spürte einen Kloß im Hals. Er sehnte sich nach Emma. „Dieser
ganze Mist hat damit angefangen, dass im letzten Jahr diese Colemans
gekommen sind und meinen Vater zugequatscht haben. Ich nehme den
nächsten Flieger. Dann war das hier wohl alles für die Katz.“
„Demnächst fliegen wir beide nach Auckland, Riley. Wir chartern
ein Boot und klappern jede Insel ab. Und wenn es Wochen dauert. Cathy
muss dann eben solange zu ihrem Vater. Irgendwas müssen wir doch
finden!“
Riley ballte die Fäuste. „Ja, so machen wir das! Mein Vater besitzt
einige Waffen. Wir können das Boot in Bayron Bay chartern und ein paar
davon mitnehmen. Man kann nie wissen.“
Emma sah ihn entsetzt durch die Webcam an. „Kannst du damit
überhaupt umgehen?“
„Du vergisst, dass ich in der Army war. Ich war ein ziemlich guter
Schütze.“
„Pass auf dich auf, Riley. Sieh zu, dass du so schnell wie möglich ein
Flugticket bekommst.“
Kapitel 34
Kiel, Anfang Juni 2016
Mit einem lauten Knall zerplatzte die Scheibe.
Die Menschen in dem zur Hälfte besetzten Lokal reagierten
unterschiedlich. Einige reagierten gar nicht, sondern starrten regungslos
und mit offenem Mund zu dem Fenster, von dem nur noch ein paar
messerscharfe Splitter übrig waren, die aus dem Rahmen ragten. Einige
rannten, teils schreiend, aus dem Lokal. Wieder andere hockten sich unter
ihre Tische. Der Kellner wählte die 110.
Jamal gehörte zur Gruppe der Reaktionslosen. Er glotzte ins Freie
und registrierte, dass sich dem Lokal aus einiger Entfernung jemand in
dunkler Kleidung näherte.
Jamal hatte sich hier mit Hauke getroffen. Ihr vorerst letztes Treffen.
Nachdem Jamal seine Aussage bei der Polizei gemacht hatte, waren viele
Beiträge über den Tod des Staatssekretärs in den Zeitungen erschienen.
Und zu Jamals Verdruss waren die Hinweise auf ihn deutlich genug, um
eine ernsthafte Gefahr für ihn und seine Familie darzustellen.
Hauke befürchtete, auch ins Visier des Killers zu geraten, weil er mit
dem Staatssekretär gesprochen hatte. Heute wollte er Jamal die Schlüssel
für eine möblierte Wohnung in Laboe geben. Dorthin sollte er schon
morgen umziehen. Von einer möblierten Wohnung in die andere. Von der
einen Seite der Förde auf die andere.
„Was glaubst du, was das war?“, fragte Jamal, der es für undenkbar
hielt, dass jemand am helllichten Tag in einer belebten Stadt wie Kiel
durch ein Fenster geschossen haben könnte. „Ist da irgendwas
reingeflogen? Hat jemand einen Stein geworfen?“
Aber Hauke antwortete nicht. Der dunkel gekleidete Mensch kam
rasch näher. Er hielt etwas Großes in der Hand, das er jetzt anhob. Jamal
konnte nicht erkennen, worum es sich dabei handelte.
„Hauke?“ Jamal wandte sich seinem Freund zu. Mit einem Aufschrei
wich er in seinem Stuhl zurück und duckte sich instinktiv von dem
zerstörten Fenster weg. Ein lebensrettender Reflex, denn im selben
Augenblick fiel der zweite Schuss, der offensichtlich ihm galt, denn die
Kugel durchschlug dicht neben ihm den Bistrotisch.
Jamal sah sich panisch um. Vorne raus ging nicht. Von dort kam der
Schütze. Einen weiteren Ausgang gab es nicht. Zur Toilette, um durch ein
Fenster zu fliehen, schied auch aus. Dafür hätte er am Eingang
vorbeilaufen müssen. Blieb nur noch die Küche, zu der eine Pendeltür
hinter dem Tresen führte. Jamal betete, dass es dort einen Ausgang oder
ein Fenster gab.
Er sprang auf und rannte zu der Pendeltür. Ein letztes Mal traf sein
Blick Hauke, der mit einer Gesichtshälfte auf dem Bistrotisch lag. Die
Kugel musste ihn am Kopf getroffen haben. Alles war voller Blut. Jamal
wusste nicht, ob sein Freund noch lebte.
Er kam in die Küche. Verängstigte Gesichter sahen ihn an. Jemand
fragte ihn, was da draußen los war. Aber Jamal hatte keine Zeit, Fragen zu
beantworten. Am Ende der Küche entdeckte er ein großes Fenster. Er
rannte dorthin. Abgeschlossen. Kein Schlüssel. Ohne zu zögern schnappte
er sich einen schweren Topf und zertrümmerte damit die Scheibe.
Gerade als er auf die Arbeitsplatte sprang, um durch das Fenster zu
fliehen, hörte er einen weiteren Schuss. Jamals Herz blieb beinahe stehen.
Er wusste, dass Hauke spätestens jetzt nicht mehr lebte.
Er sprang aus dem Fenster, rannte um sein Leben. Die kleine Straße
hinab in Richtung Innenstadt. Er drehte sich um. Der Schütze sprang in
diesem Augenblick ebenfalls aus dem Fenster. Er blickte sich um und
entdeckte Jamal sofort. Sein Vorsprung betrug ungefähr zweihundert
Meter. Der Schütze sprintete los. Er war schneller als Jamal. Der Abstand
verringerte sich. Viele Menschen begegneten ihm, die ihn verwundert
ansahen. Doch niemand konnte ihm helfen.
Jamal bog in eine Seitenstraße ab. Er musste raus aus dem Sichtfeld
des Schützen, der bewiesen hatte, dass er gut zielen konnte. Martinshörner
ertönten und näherten sich rasch. Wieder ein lauter Knall. Jamal sah, wie
ein Abfallbehälter neben ihm regelrecht explodierte. Unrat flog in hohem
Bogen auf die Straße und den Bürgersteig. Menschen flüchteten schreiend
in Geschäfte und Hauseingänge. Welche Waffe auch immer sein Verfolger
einsetzte, sie hatte ein großes Kaliber.
Jamal konnte nirgendwo eine Fluchtmöglichkeit entdecken. Egal,
wohin er rannte, der Schütze bekam es mit und folgte ihm. Auf eine
Konfrontation konnte er es nicht ankommen lassen. Selbst wenn es ihm
gelang, sich hinter irgendetwas zu verstecken, um dann unvermittelt auf
seinen Verfolger einzuschlagen, waren seine Chancen verschwindend
gering. Er war schmächtig und kein ausgebildeter Kämpfer. Der Andere
mit Sicherheit schon.
Jamal entschied sich für die einzige Möglichkeit, die ihm einfiel. Er
rannte zickzack in einem Halbkreis durch einige Straßen zurück zu dem
Lokal. Denn dort musste ja inzwischen die Polizei sein.
Wieder ein Schuss. Er schlug in einem Fenster ein. Links neben
seinem Kopf. Hoffentlich hatte niemand dahinter gestanden. Er rannte um
die nächste Ecke und erblickte mehrere Polizeiwagen und bewaffnete
Polizisten. Damit sie ihn nicht sahen, verringerte er sein Tempo. Er hatte
den Bauwagen schon registriert, als er in das Lokal gegangen war. Jamal
drehte sich um. Da tauchte der Schütze auch schon auf, die Waffe erhoben.
Dreißig Meter bis zu den Polizisten, deren Aufmerksamkeit allein dem
Tatort galt. Sechzig Meter bis zu dem sich schnell nähernden Schützen.
Es ging um Bruchteile von Sekunden. Sein Verfolger blieb stehen
und richtete seine Waffe auf Jamal. Der verschanzte sich, soeben
rechtzeitig, mit einem Hechtsprung hinter dem Bauwagen. Der Schuss fiel.
Jamal konnte noch im Fallen sehen, wie die Kugel ausgerechnet die
Scheibe eines der Einsatzfahrzeuge traf. Er schlich zu der den
Einsatzwagen abgewandten Seite des Bauwagens und spähte vorsichtig um
die Ecke. Schüsse fielen. Viele Schüsse.
Einer der Polizisten ging zu Boden.
Dann wurde es plötzlich still.
Sie mussten den Schützen erwischt haben. Hoffentlich war das
Schwein tot, das seinen Freund Hauke auf dem Gewissen hatte! Hauke, der
nichts mit der Sache zu tun hatte und heute ganz aussteigen wollte.
Jamal nutzte die Verwirrung und entfernte sich rasch vom Tatort. Er
bestieg einen Bus und fuhr zu seiner Familie. Während der Fahrt
betrachtete er nachdenklich den Schließfachschlüssel, den Hauke ihm,
zusammen mit den neuen Wohnungsschlüsseln, gegeben hatte. Hauke war
nicht mehr dazu gekommen, ihm zu sagen, wo das Schließfach war und
was sich darin befand.
Als er zuhause ankam, befahl er seiner Frau, sofort alle Sachen
zusammenzuraffen und sie ins Auto zu werfen. Zehn Minuten später
fuhren sie los. Sie umrundeten die Förde. Eine halbe Stunde nach ihrer
überstürzten Flucht waren sie in Haukes Wohnung in Laboe.
Jamal beschloss, den russischen Arzt zu kontaktieren, der ihm schon
einmal geholfen hatte, als sein Sohn auf der Flucht schwer erkrankt war.
Vielleicht konnte er wenigstens Frau und Kinder aus der Schusslinie
bringen. Denn Jamal würde bleiben. Seine Wut war entfacht. Wer immer
für das sinnlose Morden verantwortlich war, musste dafür büßen. Das war
er Hauke schuldig. Seinem Freund, der alles für ihn getan und sein Leben
für ihn geopfert hatte.
Erst sein Sohn, jetzt Hauke. Eine Witwe und zwei Waisenkinder.
Wegen eines Gesprächs in einem Lager in Afghanistan, das er zufällig
mitbekommen hatte. So viel Schicksal für so wenig Zufall...
Abends sah sich Jamal die Nachrichten im Fernsehen an. Die
spektakuläre Schießerei in Kiel war Thema Nummer eins. Jamal hatte nun
die traurige Gewissheit, dass Hauke tot war. Auch er hatte eine Familie
gehabt. Kinder, die nun ohne Vater aufwuchsen.
Jamal wurde von seiner Trauer übermannt. Er begann zu weinen.
Der Attentäter war arabischer Abstammung und bei der Schießerei
mit der Polizei getötet worden. Noch war nichts bewiesen, aber die
Umstände der Tat deuteten auf einen terroristischen Hintergrund hin. So
war die Waffe des Täters schon bei anderen Anschlägen eingesetzt worden,
zu denen sich die GESA bekannt hatte. Nach Informationen des BND war
der Attentäter erst vor Kurzem nach Deutschland eingereist. Syrer,
dreiundzwanzig Jahre alt, polizeilich bisher nicht in Erscheinung getreten.
Jamal ließ diese Informationen sacken. GESA, Syrer, BND. Ihm
dämmerte, dass er in Kabul nicht nur Zeuge der Verabredung
irgendwelcher Anschläge geworden war, sondern dass es, wie er schon
vermutet hatte, um sehr viel mehr ging. Ihn beschlich ein zutiefst
beunruhigendes Gefühl. Eine Vorahnung, dass etwas im Gange war, das
die Welt erschüttern konnte.
Kapitel 35
Kiel/Laboe, Juli 2016
Jegor Sokolow hatte sich von Jamal überreden lassen, seine Familie bis
auf Weiteres aufzunehmen. Im Gegenzug musste Jamals Frau ihm in der
Praxis und Sokolows Frau im Haushalt helfen. Jamal war ein Stein vom
Herzen gefallen. Damit war er seine größte Sorge los. Zwei Tage später
hatte er seine Familie nach Berlin gefahren und in den Zug gesetzt. Seine
und Sokolows Kinder verstanden sich gut. Zur Schule gingen sie nicht.
Aber immerhin lernten sie bei der Familie Russisch. Und dort war Jamals
Familie vor allem eines: sicher!
Die ersten Tage hatte Jamal die Wohnung nicht verlassen. Er war
immer noch wie paralysiert. Diese Angst würde niemals weichen, wenn er
sich ihr nicht stellte und aktiv wurde. Er betrachtete den Schlüssel in
seiner Hand. Er könnte zu einem der Schließfächer am Hauptbahnhof
gehören. Er schloss die Augen, konzentrierte sich auf sich selbst und
versuchte, gegen die Panik anzukämpfen.
Zehn Minuten saß er regungslos auf seinem Stuhl.
Dann sprang er abrupt auf, stieß dabei den Stuhl um, ohne sich
darum zu kümmern, raffte ein paar Kleidungsstücke zusammen, warf sie
achtlos in eine kleine Reisetasche, stieg in seinen Wagen und fuhr zum
Hauptbahnhof, wo er keinen Parkplatz fand, sodass er den Wagen ins
absolute Halteverbot stellen musste. Aber er wollte auf keinen Fall zu weit
entfernt parken. Um wie ein harmloser Reisender zu wirken, hatte er extra
die Reisetasche mitgenommen. Außerdem konnte er dort auch das
unterbringen, was sich in dem Schließfach befand.
Er betrat das Bahnhofsgebäude, begleitet von Panikattacken. In
jedem Fahrgast sah er einen Killer. Dann stand er endlich vor dem
Schließfach. Ohne zu zögern schloss er auf. Mehrere große
Briefumschläge, sonst nichts. Er nahm sie heraus, steckte sie beiläufig in
seine Reisetasche und verließ zügig das Bahnhofsgebäude. Er schaffte es
ohne Panikattacke zum Wagen und fuhr zurück nach Laboe.
Als er die Wohnungstür hinter sich schloss, zitterte er am ganzen
Körper, Schweiß brach ihm aus und ihm wurde schwindelig. Er setzte sich
an den Küchentisch und rauchte drei Zigaretten. Dann setzte er einen Tee
auf. Erst viel später war er in der Lage, die Reisetasche zu öffnen und die
insgesamt fünf Umschläge herauszunehmen.
Er riss den ersten auf. Darin befand sich Bargeld. In zehn-, zwanzig-
und fünfzig-Euro-Scheinen. Sonst nichts. Irritiert öffnete er den zweiten
Umschlag. Dasselbe. Zehn-, zwanzig- und fünfzig-Euro Scheine. In allen
Umschlägen war Geld, nur in einem auch ein kleiner Briefumschlag.
Jamal öffnete ihn. Ein Brief von Hauke. Mit einem Kloß im Hals las
Jamal den Brief:

Lieber Jamal,
ich schreibe dir diesen Brief für den Fall, dass ich nicht mehr dazu komme,
mit dir persönlich zu sprechen. Der Tod des Staatssekretärs hat gezeigt, in
welch großer Gefahr wir schweben! Wo immer du da hineingeraten bist, es
muss von großer Tragweite sein und etwas mit AURORA zu tun haben. Ich
halte mich, wie du weißt, aus der Sache raus. Ich habe eine Familie und
eine Firma. Wir dürfen keinen Kontakt mehr haben. Du kannst auch nicht
mehr in meiner Firma arbeiten. Aber ich kann zwei Dinge für euch tun: Ich
kann euch eine andere Wohnung zur Verfügung stellen. So lange, bis es
vorbei ist. Die Wohnung ist in Laboe. Kein Mietvertrag, kein
Einwohnermeldeamt. Ihr könnt da problemlos untertauchen. Und ich kann
dir, weil du kein Geld mehr bei mir verdienst und es im Moment auch nicht
klug wäre, wenn du dir woanders einen Job suchst, wenigstens Geld geben.
Du musst das nicht zurückzahlen. 150.000 Euro kann ich gut
verschmerzen. Und ihr kommt damit eine Weile über die Runden. Ich habe
kleine Scheine genommen, weil große zu auffällig wären. Ich hoffe, dass
der ganze Wahnsinn irgendwann vorbei ist, und wir wieder zusammen
lachen können. So wie früher.
Euch alles Gute, mein Freund! In Gedanken bin ich bei Euch.
Auf ein baldiges Wiedersehen!
Dein Hauke

Jamal ließ Haukes Brief auf seine Knie sinken. Bittere Tränen liefen ihm
minutenlang die Wangen hinunter und tropften auf seine Hose, ohne, dass
er es bemerkte. Sein Freund Hauke war tot, Janne, seine Frau, Witwe.
Seine Kinder Halbwaisen. Weil er, Jamal Akbar, ihn in etwas
hineingezogen hatte, womit er nicht das Geringste zu tun hatte. Und was
machte Hauke? Anstatt wütend auf ihn zu sein, schenkte er ihm ein
Vermögen und überließ ihm kostenlos eine Wohnung und einen Wagen.
Jamal wünschte sich, dass die Kugeln ihn anstatt Hauke getroffen
hätten. Sein Sohn war tot, weil in seiner Heimat ein sinnloser Krieg tobte.
Und sein Freund war tot, weil Jamal dieses verdammte Gespräch
mitbekommen hatte. Kleine Ursache, große Wirkung. Wer immer hinter
all dem steckte, war zu weit gegangen. Für diesen sinnlosen Mord würde
er büßen!

***

Kiel, wenige Tage später


Es dauerte eine Weile, bis Jamal seine Panik überwunden hatte. Er war nur
einmal aus dem Haus gegangen, um sich mit Vorräten einzudecken. In
einem großen Supermarkt, um so wenig aufzufallen wie möglich. Er lebte
so bescheiden, dass er mit Haukes Geld eine Ewigkeit auskommen würde.
Er konnte sich voll und ganz der Rache für dessen Tod widmen.
Er observierte seit drei Tagen wieder die pompöse Villa der Stiftung.
Aus Angst, gesehen zu werden, wurde er immer in den frühen
Morgenstunden, und dann erst wieder spätabends in der Dämmerung aktiv.
Im Winter hätte er viel mehr Zeit gehabt, die Wurzel des Übels zu
beobachten.
Zweimal täglich fuhr er die Strecke Laboe-Kiel. Fast
hundertzwanzig Kilometer. Ihm schwante, dass Haukes Geld vor allem für
Benzin draufging. Den Wagen stellte er in der Nähe der Stiftung an
wechselnden Plätzen ab. Er hatte sich auf gähnende Langeweile
eingestellt. Doch kaum fünf Minuten, nachdem er seinen
Beobachtungsposten bezogen hatte, tat sich etwas. Ein hünenhafter,
breitschultriger Mann, offensichtlich wie Jamal Araber, trat aus dem
Gebäude und ging zur Straße. Er hatte einen schwarzen Bart und schwarze,
eng beieinanderliegende Augen. Sein Anblick war furchteinflößend. Jamal
fotografierte ihn.
Kurz nachdem sich der Araber an die Straße gestellt hatte, näherte
sich ein großer schwarzer Wagen mit einem Stern auf der Motorhaube. Er
rollte langsam auf den Vorhof, der Hüne ging hinter ihm her. Jamal fasste
Mut und schlich sich näher heran. Zwei Männer stiegen aus dem Wagen
und unterhielten sich mit dem Araber. Dabei konnte Jamal ihre Gesichter
sehen. Ihm wäre beinahe das Herz stehengeblieben. In dem einen der
Männer erkannte Jamal eindeutig den Major, jetzt Oberst. Und der andere
sah so aus wie der Mann, den Hauke ihm im Internet gezeigt hatte. Oswald
Pfeiffer, mit dem sich der Staatssekretär kurz vor seinem Tod getroffen
hatte und dessen Stimme er im Lager der Deutschen gehört hatte. Jamal
machte weitere Fotos.
Dann drehten sich die drei Männer um und gingen in die Villa.
Obwohl Wagner schon groß und kräftig war, verschwand er vollkommen
vor dem hinter ihm gehenden Araber. Jamals Herz pochte vor Aufregung.
Ihn überfiel eine Mischung aus erneuter Panik und Aufregung. Er hatte,
das stand für ihn außer Frage, den Auftraggeber von Haukes Mörder
gefunden. Diese Verbrecher waren nur einen Steinwurf von ihm entfernt.
Wenn sie ihn hier zu Gesicht bekamen, war er verloren. Er überlegte, wie
er sich verhalten sollte. Wieder zur Polizei gehen? Aber denen verdankte
er doch den ganzen Schlamassel. Er entschied sich, abzuwarten, bis dieser
Araber das Haus verließ, um ihn zu beschatten.
Es dauerte über zwei Stunden, bis sich die Tür wieder öffnete. Es
war längst helllichter Tag. Doch darauf konnte Jamal keine Rücksicht
nehmen. Pfeiffer und Oberst Wagner stiegen in den Wagen und fuhren
davon, keine drei Meter an Jamal vorbei, der es soeben gerade schaffte,
sich hinter einem Baum zu verstecken. Direkt danach kam auch der Araber
aus dem Haus. In Begleitung der sphärischen, blonden Schönheit, die
Jamal schon im März gesehen hatte. Sie gingen direkt an Jamals Versteck
vorbei, der sich beherrschen musste, nicht laut schreiend davonzulaufen.
Er zwang sich, an seine Familie und Hauke zu denken. Vorsichtig
verließ er sein Versteck und folgte dem ungleichen Paar in sicherer
Entfernung, immer wieder natürliche Verstecke nutzend. Nach zehn
Minuten Fußmarsch erreichten sie eine Straße mit Kopfsteinpflaster und
blieben vor einem Hauseingang stehen. Jamal verbarg sich in sicherer
Entfernung hinter einigen Mülltonnen und machte Fotos von den beiden,
die ihm erfreulicherweise das Gesicht zuwandten. Schließlich betrat der
Araber das Haus. Die Frau stieg in ein Auto und fuhr davon.
An den folgenden Tagen traute sich Jamal, den Hünen vom Auto aus
zu beschatten. Der Araber traf sich wiederholt mit dem Major und
Pfeiffer, tat ansonsten aber nichts Verdächtiges. Weil es ihm gelang,
unentdeckt zu bleiben und auch die Anwohner wider Erwarten keine Notiz
von ihm nahmen, wurde er mutiger. Er fuhr schon um drei Uhr in der
Frühe nach Düsternbrook und schlich sich auf das Grundstück der
Stiftung. Er hatte am Tag zuvor die Grünanlagen inspiziert und einige gute
Verstecke entdeckt. Hunde gab es in der Villa nicht. Er kauerte sich in sein
Versteck, eine Hecke direkt neben dem Haupteingang. Er musste sich
irgendwann wieder an die Polizei wenden. Aber da die ihn offensichtlich
nicht ernst nahm, wollte er diesmal mehr vorweisen als Vermutungen.
Um acht Uhr dreißig fuhr ein Wagen auf dem gekiesten Vorplatz vor.
Kein Mercedes. In der Tür erschien die blonde Frau. Aus dem Wagen
stiegen Pfeiffer und ein Araber, den Jamal noch nie gesehen hatte. Er ließ
die Videofunktion seiner Kamera laufen, in der Hoffnung, dass er nah
genug war, um ihr Gespräch aufzeichnen zu können.
Sie taten ihm den Gefallen und unterhielten sich direkt vor ihm,
nicht ahnend, dass ihnen hinter der Hecke jemand zuhörte und ihre
Unterhaltung aufnahm. Schon als sie sich begrüßten, fiel Jamal erneut die
Kinnlade herunter. Der Araber war ihm doch schon begegnet. Im Lager der
Deutschen in Afghanistan. Er erkannte seine Stimme. Dieser Mann war
der dritte im Bunde bei dem Gespräch mit dem Major gewesen. Yefrem.
Auch das war kein Zufall. Eins fügte sich zum anderen.
Die Frau fragte die Männer, ob sich in Florida etwas getan hatte.
Pfeiffer verneinte das und verwies darauf, dass die Lage derzeit zu
unsicher war. Er schätzte aber die Gefahr nicht hoch ein. Yefrem schlug
vor, Tarkan die Sache übernehmen zu lassen. Doch Pfeiffer lehnte das ab,
weil Tarkan zu sehr auffiel und man die Angelegenheit besser dem General
überlassen sollte.
Dann stiegen sie die fünf Steinstufen zum Eingang hinauf. Für einige
Sekunden konnte Jamal die drei durch die Hecke hindurch sehen. Er hielt
mit der Kamera drauf und schoss ins Blaue hinein eine Bilderreihe. Rasch
notierte er sich die Namen, die er mitbekommen hatte. Er hatte genug
gesehen und gehört. Er entfernte sich seitlich von der Villa, kletterte über
den Zaun auf ein nicht umzäuntes Nachbargrundstück und lief zu der
nahen Polizeidienststelle. Kurz darauf saß er auf der derselben
Polizeiwache demselben Polizisten gegenüber wie vor einigen Wochen.
Der begrüßte ihn mit den Worten: „Sie werden hier ja zu einem
Dauergast. Das trifft sich aber gut, denn nach Ihnen fahnden wie sowieso.“
Noch bevor Jamal darauf eingehen konnte, sprach ihn der Beamte in
vorwurfsvollem Ton auf die Schießerei in Kiel an. „Wir haben wegen
dieser Wildwestgeschichte nach Ihnen gefahndet. Einige Zeugen in dem
Lokal konnten sich an Sie erinnern. Wir sind daraufhin zu der Adresse
gefahren, die Sie angegeben haben. Aber wir haben Sie nicht angetroffen.
Mehrfach haben wir es versucht. Jedes Mal vergeblich. Schließlich haben
wir einen Wagen dort postiert, um Sie abzufangen. Aber seit dieser
Schießerei sind Sie untergetaucht. Vielleicht haben Sie nie dort gewohnt.
Was soll ich Ihrer Meinung nach davon halten?“
Auch Jamals Tonfall war unbeabsichtigt vorwurfsvoll. „Das habe ich
Ihnen doch schon beim letzten Mal gesagt!“
Der Polizist lachte. Ein unfreundliches, abweisendes Lachen.
„Natürlich, die böse Stiftung und eine noch viel bösere Verschwörung.
Dass ich da nicht von selbst drauf gekommen bin. Also, was können Sie
uns zu der Schießerei sagen? Woher kannten Sie Hauke Petersen? Der
Mann, der erschossen, nein, hingerichtet, wurde und mit dem Sie laut
Aussage mehrerer Gäste und des Kellners an einem Tisch gesessen
haben!“
Bei hingerichtet schossen Jamal wieder Tränen in die Augen. Dieser
Polizist war boshaft und rücksichtslos. Es war ein Fehler, wieder
hierherzukommen. Dennoch beantwortete er die Frage und berichtete, was
er unternommen und was er gehört und gesehen hatte. Er zog seine kleine
Kamera aus der Jacke und legte sie auf den Tisch. „Ich habe alles
fotografiert und gefilmt.“
Er erwähnte weder seine Wohnung in Laboe noch Haukes Geld.
Der Polizist spitzte die Lippen, nahm die Kamera und betrachtete sie
von allen Seiten. „An Ihnen ist ja ein richtiger Sherlock Holmes verloren
gegangen! Respekt“, sagte er spöttisch, nahm die Speicherkarte aus der
Kamera, steckte sie in seinen Rechner und sah sich die Fotos und das
Video an. „Sie haben doch sicherlich nichts dagegen, wenn ich die auf
meine Festplatte ziehe, oder?“
„Natürlich nicht. Ich habe die schließlich extra für Sie gemacht.“
„Sie meinen, weil wir zu blöd dafür sind? Kann das ein
dahergelaufener Araber besser als die deutsche Polizei? Aber trotzdem
danke.“
Jamal fühlte sich nicht nur unbehaglich, er spürte auch wieder eine
latente Panik. Der Mann glaubte ihm nicht. Niemand glaubte ihm. Es kam
ihm so vor, als hätten Aliens von der Menschheit Besitz ergriffen. Und
jetzt wollte er die Menschheit vor diesen Aliens warnen, aber alle außer
ihm waren schon von ihnen besessen und somit seine Feinde. Ein Gefühl
totaler Ohnmacht.
Aber es kam noch schlimmer.
„Die müssen wir behalten. Als Beweismittel“, sagte der Polizist und
ließ Jamals Kamera in einer Tüte und dann in einer Schublade
verschwinden. „Und jetzt möchte ich wissen, was Sie mit dem Schwein zu
tun haben, das einen meiner Leute schwer verletzt hat.“
Wenigstens hatte der Polizist überlebt.
„Ich habe Ihnen alles erzählt, was ich weiß. Sie können auf meinen
Fotos und Videos mit eigenen Augen sehen, wer sich bei dieser Stiftung
getroffen hat. Genau die Leute, die ich schon in Afghanistan habe reden
hören. Das ist doch kein Zufall!“
Der Polizist nickte einem jungen Kollegen zu, der in der Tür
gestanden hatte, ohne sich an dem Gespräch zu beteiligen. Der Jüngere
nickte zurück und verließ das Büro. „Ich habe da ein Problem“, sagte der
Ältere und bedachte Jamal mit einem mitleidigen Blick.
„Was?“, fragte Jamal genervt.
„Ich glaube Ihnen kein Wort. Und wissen Sie auch, warum nicht?“
Jamal spürte, wie sich Magensäure schmerzhaft den Weg in seine
Speiseröhre bahnte. Niemals hätte er hierherkommen dürfen. „Nein, weiß
ich nicht“, krächzte er.
„Weil ich die Leute auf Ihren Fotos kenne. Wenn Sie die Berichte in
den Medien verfolgt hätten, wüssten Sie, dass die alle zu AURORA
gehören. Und dann wüssten Sie auch, dass AURORA ein weltweiter
Zusammenschluss hochrangiger Persönlichkeiten ist! Ich habe Oberst
Wagner und General abu Tarik, oberster Chef des Idarat al-Amn al-Amm,
dem größten syrischen Geheimdienst, persönlich kennenlernen dürfen, als
wir der Stiftung einen Besuch abgestattet haben. Wegen Ihrer Aussage!
War das peinlich, wir haben uns lächerlich gemacht. Und Ihr finsterer
Araber gehört auch zum Idarat al-Amn al-Amm. Er wurde für AURORA
abgestellt. Wissen Sie, was ich glaube?“
Resigniert schüttelte Jamal den Kopf.
„Dass Sie selbst etwas mit der Schießerei zu tun haben. Wir machen
eine Gegenüberstellung. Wenn die Zeugen Sie identifizieren, beantragen
wir beim zuständigen Richter einen Haftbefehl!“
Danach ging alles sehr schnell. Die Gegenüberstellung schien von
langer Hand vorbereitet worden zu sein. Mehrere Personen erkannten
Jamal wieder. Nicht nur Leute aus dem Lokal, wie der Polizist betonte. Der
Richter gab dem Ersuchen der Polizei statt, weil die nationale Sicherheit
auf dem Spiel stand.
Jetzt saß Jamal in einer Zelle, würde zig Verhöre über sich ergehen
lassen müssen und konnte doch nicht mehr sagen, als er schon zu Protokoll
gegeben hatte. Er befand sich in einem Realität gewordenen Alptraum.
Einem Alptraum, der gerade erst angefangen hatte.
Denn wieder kam es noch schlimmer.

***

Drei Tage und Nächte schmorte er in seiner Zelle. Er wurde nicht verhört.
Am vierten Tag holte ihn schließlich ein Polizist ab. „Da ist jemand für
Sie“, teilte er Jamal mit. Er wurde in das Büro des älteren Kollegen
geführt. Jamal sah ihn in seinem Drehstuhl und zwei Männer auf den
Besucherstühlen ihm gegenüber sitzen, die Jamal den Rücken zukehrten.
Doch einen der Besucher erkannte er auch von hinten. Die Angst schnürte
ihm die Kehle zu.
„Da ist ja unser arabischer Hobbydetektiv“, sagte der Polizist mit
vor Sarkasmus triefender Stimme. „Hat er uns doch tatsächlich einen
gefälschten Pass untergeschoben. Was soll man davon nur halten?“
Die beiden Männer standen auf und wandten sich Jamal zu. Pfeiffer
und dieser Tarkan.
Pfeiffer blickte Jamal direkt in die Augen. Ein attraktiver Mann,
vielleicht ein wenig schmierig. Funkelnde blaue Augen, aber ein eiskalter
Blick.
„Wir übernehmen ab hier“, sagte er in ebenso eisigem Tonfall.
„Jamal Akbar, alias Abdul Rahimi, ist schon lange bei uns aktenkundig. Er
ist im Zusammenhang mit islamistisch motivierten Anschlägen ins Visier
meiner Behörde geraten. Wir beobachten ihn schon länger. Zusammen mit
der NSA, die uns einiges an zusätzlichem, belastenden Material zur
Verfügung gestellt hat. Jamal Akbar war zur Ausbildung in einem
Terroristencamp in Afghanistan. Nach ihm wird international gefahndet.
Er ist illegal nach Deutschland eingereist. Vermutlich, um Anschläge auf
AURORA vorzubereiten. Freundlicherweise unterstützt uns der syrische
Geheimdienst. Akbar wird nach Berlin verlegt.“
Jetzt schlägt meine letzte Stunde, schoss es Jamal durch den Kopf.
Tarkans Blick sprach Bände. Er wollte protestieren, war aber zu keinem
Wort fähig und wusste, dass ihm das nichts nützen würde.
Jamal wurden Handschellen angelegt. Tarkan stieß ihn unsanft
hinaus ins Freie, wo ein Fahrzeug des BND bereitstand. Pfeiffer setzte sich
ans Steuer, Tarkan mit Jamal in den Fond. Pfeiffer fuhr in Richtung
Kiellinie. Ein warmer Regenschauer trommelte gleichförmig auf das
Autodach. Die Luft war frisch und roch nach Sommer. Wasserdampf stieg
vom erhitzten Asphalt auf.
Pfeiffer beobachtete seinen Gefangenen durch den Rückspiegel.
„Dachtest wohl, du könntest uns entkommen, hm? Aber so einfach ist das
nicht“, sagte er boshaft.
„Wohin bringen Sie mich?“
„Das wirst du schon sehen“, sagte Tarkan mit tiefer Stimme in einem
guten Deutsch.
Jamal musste alles auf eine Karte setzen. Er hatte nichts mehr zu
verlieren. „Ich habe Ihnen in Afghanistan zugehört. Sie wissen so gut wie
ich, dass ich kein Terrorist bin. Was steckt hinter Ihrer Stiftung? Was
vertuschen Sie damit?“
Pfeiffer lachte. „Hör ihn dir an, Tarkan. Kein Terrorist. Was für ein
Witzbold. Jamal Akbar, über dich gibt es eine lange Akte. Du bist ein
Terrorist. Gut, du wusstest das bis jetzt vielleicht noch nicht. Aber deshalb
sage ich es dir ja.“
„Was haben Sie mit mir vor? Soll ich in irgendeiner Zelle
verrecken?“
Tarkan lachte gehässig. „Verrecken trifft es ganz gut. Aber nicht in
einer Zelle.“ Auch Pfeiffer lachte dreckig.
Jamal sah nach draußen. Sie fuhren durch ein kleines Wäldchen auf
Höhe des großen Hotels, kurz oberhalb der Kiellinie. Seine Trumpfkarte.
Das Überraschungsmoment. „Hören Sie, ich muss dringend zur Toilette!
Die ganze Zeit schon.“
„Das hättest du dir vorher überlegen müssen.“
„Es ist, weil ich Angst habe. Ich mache mir gleich in die Hose!“
„Blödsinn.“
Jamal zwang sich zur Konzentration. Er schaffte es, ein wenig Urin
herauszupressen. Seine Hose verfärbte sich dunkel. Tarkan fluchte laut auf.
„So eine ekelhafte Schweinerei! Der Kerl macht sich tatsächlich in die
Hose!“
„Widerlich“, stimmte Pfeiffer zu und fuhr rechts ran.
Tarkan löste Jamals Handschellen, sprang aus dem Wagen und zerrte
ihn unsanft aus dem Fond. Er wies mit dem Kopf auf einen Baum. „Beeil
dich, sonst erledige ich dich gleich hier.“
Jamal verschwand hinter dem Baum. Blitzschnell analysierte er die
Situation, getrieben von einem unbändigen Überlebenswillen und den
Gedanken an seine Familie und Hauke. Hinter ihm verlief ein Waldweg,
über den just in diesem Moment ein Pärchen schlenderte, einen
Kinderwagen vor sich her schiebend. Die Entfernung zur Kiellinie betrug
zweihundert Meter. Nach dem kurzen Schauer flanierten dort schon wieder
viele Leute.
Sobald ihn Pfeiffer und Tarkan aus der Stadt gebracht hatten, war er
verloren. Wie weit würden sie gehen? Würde ein Agent des BND inmitten
einer Menschenmenge um sich schießen?
Jamal atmete tief durch, bückte sich und hob etwas auf. „Fertig“, rief
er und trat aus dem Schatten des Baumes. Tarkan war sich seiner
Überlegenheit scheinbar so bewusst, dass er gar nicht auf Jamal achtete,
sondern nur „das wurde auch Zeit“ brummte, den Türgriff schon in der
Hand.
Das war der entscheidende Moment. Der einzige Moment.
Jamal überwand die restlichen drei Meter mit zwei Riesenschritten,
holte aus und schlug den kleinen, aber dicken Ast, der, Allah sei Dank,
neben dem Baum gelegen hatte, mit voller Wucht gegen Tarkans
Schienbein. Der Hüne ging mit einem Aufschrei zu Boden. Ehe Pfeiffer
realisiert hatte, was geschehen war, dass überhaupt etwas geschehen war,
rannte Jamal auch schon los, zielstrebig auf die Ostsee zu.
Als Tarkan sich aufrappelte, hatte sich Jamal schon unter die Leute
auf der Promenade gemischt. Was es dort nicht gab, war Deckung. Er sah,
wie Tarkan auf den Beifahrersitz kroch. Pfeiffer wollte anfahren, doch von
oben kamen drei Fahrzeuge angeschossen. Pfeiffer musste warten.
Wertvolle Sekunden. Jamal erblickte ein Schiff, das genau auf ihn zuhielt.
Er begriff, dass er sich auf einem Anleger befand, auf dem viele Menschen
standen. Das musste eine Fähre sein. Er sprintete zum Ende des Anlegers.
Die Fähre beendete soeben das Anlegemanöver.
Jamal drängte sich mit einigen Entschuldigungen durch die Schlange
der Fahrgäste, die auf das Schiff wollten. Seine einzige Chance bestand
darin, dass seine Verfolger nicht mitbekamen, was er vorhatte. Er betrat
den Steg auf das Schiff. Dort stand ein Matrose, der ihn bat, zu bezahlen.
Jamal kramte in seinen Hosentaschen. Er fand einen zehn-Euro-Schein.
Den hatte die Polizei anscheinend übersehen, als sie ihn durchsucht hatte.
Welch ein Glück im Unglück.
„Wohin fährt das Schiff?“, fragte Jamal.
„Nach Laboe“, antwortete der Matrose.
Laboe, was für ein Glück! So viele Zufälle konnte es doch gar nicht
geben. Allah wollte, dass Jamal Akbar weiterlebte. Weil er eine Mission
zu erfüllen hatte.
Er ging an Bord und beobachtete die Kiellinie aus dem Innenraum
der Fähre. Der Wagen des BND fuhr im Schritttempo an der Promenade
entlang. In Richtung des Marinehafens. Und damit in die falsche Richtung.
Das schien auch Pfeiffer begriffen zu haben, denn jetzt wendete der
Wagen.
Zu spät. Die Fähre legte ab.
Er war an Bord eines Schiffes in der Ostsee. Seinen Verfolgern in
letzter Not entkommen. Aber was kam jetzt? Er war ein international
gesuchter Terrorist ohne gültige Papiere und ohne Schlüssel. Das hatte ihm
die Polizei abgenommen und Pfeiffer gegeben. Jamal dankte Allah für
seine Eingebung, den Zweitschlüssel unter einem Blumentopf deponiert zu
haben. So konnte er wenigstens in seine Wohnung. Dort musste er
entscheiden, ob er es riskieren konnte, mit dem Reserveschlüssel den
Wagen zu holen. Eines war jedenfalls klar: Ab jetzt musste er sich
unsichtbar machen und den Kontakt zu seiner Familie bis auf Weiteres
einstellen.
Kapitel 36
Pentagon, Oktober 2016
General Moore betrachtete mit seinen Einsatzleitern auf einer Weltkarte
des Pentagon-Programms die Positionen der Atom-U-Boote. Offiziell, um
die Planungen für das Jahr 2017 abzuschließen. Er teilte seinen
Untergebenen mit, dass er lange mit Präsident Turner gesprochen hatte.
Die aktuelle weltpolitische Situation, die wachsende Bedrohung durch die
GESA, das Gemetzel Russlands in Aleppo und Präsident Kowaljows harter
Kurs in der Ukrainefrage erforderten aus militärischer Sicht erhöhte
Aufmerksamkeit. Er erklärte, dass er deshalb ein anspruchsvolles Manöver
mit Auftauch- und Absinkübungen plane, als Vorbereitung auf einen
Ernstfall.
Bei Ernstfall zuckten einige Einsatzleiter zusammen. Doch Moore
lächelte und ergänzte, dass es sich nur um eine theoretische Frage
handelte. Denn entgegen des offiziellen Statements ging es nicht darum,
den Ernstfall zu proben, sondern darum, zu testen, wie sich die
Kommandanten und Besatzungen unter Stress verhielten. Und mehr Stress
als einen Ernstfall gab es nicht. Das war der kritische Moment. Seine
Einsatzleiter waren erfahren und intelligent. Sie mussten ihm die Sache
mit dem Stresstest abkaufen. Sie mussten ihm blind vertrauen.
Während er mit ihnen Routen und Positionen festlegte, verteilte er
die Boote im Sinne von AURORA gedanklich ganz anders. Wenn Heathers
Hacker so gut war, wie sie sagte, konnte Moore das Pentagon-Programm
austricksen. Der Hacker hatte diverse Vorstrafen. Er war skrupellos,
käuflich und diskret. Genau der Typ Söldner, den man für solche Aufgaben
brauchte. Keine Fragen, keine Diskussionen. Leistung gegen Geld. Viel
Leistung gegen viel Geld.
Nach diesem überflüssigen Meeting, das allein der Beruhigung
seiner Einsatzleiter und des Präsidenten diente, war er mit Heather
verabredet, die ihm nach ihrem letzten Treffen mit Jimmy, dem Hacker,
mitgeteilt hatte, dass das Pferd bereitstand. Damit meinte sie Jimmys
Trojaner, den Moore auch Flottenadmiral Tschechow zukommen lassen
musste, wenn das Pferd in die gewünschte Richtung lief. Das würden die
Probeläufe zeigen, die nicht nur dazu dienten, zu prüfen, wie trojanisch
das Tool tatsächlich war, sondern auch, um es sicher zu beherrschen. Denn
eines war ab Phase eins strikt untersagt: Fehler.
Die Einsatzleiter diskutierten, welches Boot warum für welche
Region geeignet war. Welcher Kommandant hatte die größte Erfahrung
und konnte in besonders gefährliche Gewässer geschickt werden? Sie
machten Vorschläge und sahen Moore fragend an.
Ihn langweilte diese sinnlose Diskussion. Zeitverschwendung.
Selbstdarsteller, die nach seiner Gunst hechelten. Er gewährte sie ihnen
gnädig, lächelte, klopfte Schultern, stellte Beförderungen in Aussicht. Nur
der Einladung eines Einsatzleiters zum Diner, selbstverständlich mit
Gattin, folgte er nicht. Wegen der Dringlichkeit der Probleme. Aber
aufgeschoben sei ja nicht aufgehoben.
Lautes Lachen. Moore war sich gar nicht bewusst, einen Scherz
gemacht zu haben. Und nach Scherzen stand ihm auch gar nicht der Sinn.
Wie ihn dieses Gehabe, diese Egozentrik anwiderte. Sie hatten ihrem Land
Treue geschworen, dachten aber nur an ihr eigenes unbedeutendes Ego.
Ein opulentes Abendessen, guter Wein, lachende Ehefrauen, erlesene
Whiskeys und Zigarren. Mit dem Ziel, den Vorgesetzten zu beeindrucken
und die Karriereleiter weiter emporzusteigen. Abscheulich.
Und, Herr General, wie weit ist Ihre Personalplanung denn schon
vorangeschritten? Immer dieselbe Leier. Wenn diese Idioten wüssten, wie
weit seine Personalplanung tatsächlich vorangeschritten war! Dann
würden sie begreifen, wie nutzlos ihr Dasein war.
Nach einer endlosen Stunde war es endlich vorbei. Eine Stunde, die
Moore so vorkam, als habe er die Hälfte seines Lebens im Abgrund der
Bedeutungslosigkeit verloren. Die Einsatzleiter gingen nach Hause, in der
Überzeugung, den besten Einsatzplan aller Zeiten entwickelt zu haben und
es noch weit zu bringen. Weil sie den General of the Armies beeindruckt
hatten. Zuhause warteten Frauen auf sie, die nur deshalb auf sie warteten,
weil sie hochrangige Offiziere waren. Nicht der Mann machte diese
Frauen an, sondern seine Uniform.
Moore blickte auf seine Uhr. Ihm blieben noch zwanzig Minuten bis
zu seinem Treffen mit Heather. Einem Treffen mit einem Menschen, der
anders war als seine gesichtslosen Offiziere. Und bei ihm zuhause wartete
keine Frau auf eine Uniform, sondern ein Mensch, der ihn so liebte, wie er
war. Eine Frau, die es verdiente, Teil der Neuen Welt zu sein. Und Kinder,
die schon nach den Regeln und Werten der Neuen Welt erzogen wurden. Er
nutzte die Zeit bis zu seiner Verabredung, um sich in seinem Büro zu
sammeln und einen Cognac zu trinken.
Dann machte er sich auf den Weg.
Heather saß auf einer Bank in einem Park. Er kam in zivil, um nicht
aufzufallen. Der Park war belebt. Sie wirkten wie eines von vielen Paaren.
Aber sie waren kein Paar. Sie verband etwa anderes. Auf einer anderen
Ebene. Einer höheren Ebene.
„Wie ist es gelaufen?“, fragte Heather, „haben deine Einsatzleiter dir
die Geschichte mit dem Auftauch- und Absinkmanöver abgenommen?“
Moore schnaubte verächtlich durch die Nase. „Diese Wichte würden
mir alles glauben. Nur, um bei mir möglichst hoch im Kurs zu stehen.
Wenn ich behaupten würde, dass Wasser bergauf fließt, würden sie mir
zustimmen. Natürlich haben sie mir geglaubt. Und so ungewöhnlich ist
dieses Manöver gar nicht. Viel entscheidender ist die Frage, was du
erreicht hast.“
Heather schnalzte mit der Zunge und klopfte auf ihre Handtasche.
„Wenn das kleine Ding in meiner Tasche das kann, was Jimmy behauptet,
könnte es zu einer der bedeutendsten Waffen für AURORA werden.“
„Hat euch jemand gesehen?“
„Natürlich nicht. Jimmy ist die Diskretion in Person. Er weiß, dass
er nur so zu seinem Geld kommt. Und er weiß, dass er eine Indiskretion
nicht überleben würde.“
„Hast du ihm die zweihunderttausend gegeben?“
Heather nickte. „Und nochmal zweihundert, wenn die Testläufe
erfolgreich waren.“
„Und er weiß, dass weder Mitja noch ich EDV-Profis sind? Ist sein
Tool anwenderfreundlich?“
„Kinderleicht. Er hat es mir auf seinem Laptop vorgeführt. Selbst ich
könnte das. Und ich habe noch weniger Ahnung als du. Das Programm
erklärt sich von selbst. Die Krux besteht darin, dass du es schaffst, es
unbemerkt auf dem Hauptserver des Pentagon zu installieren. Dasselbe
gilt für den Kreml. Den Rest erledigt das Programm für euch. Jimmy hat
das Tool um diverse Extras erweitert. Eines hat er „Triple-Hacker-Wham!“
getauft. Es sorgt dafür, dass die Spuren dahin führen, wo wir sie haben
wollen. Darum musst Du Dich nicht kümmern. Das macht das Tool von
selbst. Yefrem sollte aber dafür sorgen, dass es einen Pfad in Damaskus
zugewiesen bekommt. Das wäre am sichersten. Wenn nicht, werden die
Spuren trotzdem nach Syrien führen. Jimmys Programm ist wie ein Geist.
Du brauchst nur deinen Laptop und kannst von jedem Ort der Welt aus
arbeiten.“
„Aber wie soll das gehen? Sowohl im Pentagon als auch im Kreml
gibt es Sicherheitssysteme. Daran haben sich schon andere die Zähne
ausgebissen.“
„Systeme, die Jimmy aber schon einmal gehackt hat! Dafür hat er ja
auch gesessen.“
„Genau das macht mich skeptisch. Er ist geschnappt worden. Also ist
er nicht so gut, wie er behauptet. Außerdem gibt es dann eine Akte über
ihn.“
Heather grinste. „Das habe ich auch gesagt. Aber Jimmy hat nur
gelacht, und gefragt, ob ich ihn wirklich für so bescheuert halte. Er hat die
Systeme diverser Behörden und Konzerne gehackt. Es ging ihm aber nicht
darum, Schaden anzurichten oder irgendwas zu stehlen. Er wollte nur
deren Systeme kennenlernen. Das waren Versuchsballons. Tests, mit denen
er später viel anfangen kann. Es war ihm egal, aufzufliegen und für eine
Weile in den Knast zu wandern. Im Gegenteil. Dadurch, dass das Pentagon
ihn gefunden hat, konnte er umgekehrt weitere Informationen über deren
System ausspähen. Ohne, dass die irgendetwas davon mitbekommen
hätten. Aber bitte frag mich nicht nach Details. Ich habe wirklich keine
Ahnung davon.“
„Und was hat es mit diesem „Triple-Hacker-Wham!“ auf sich?“
„Ich weiß nicht genau, wie das funktioniert. Ich habe aber das
verstanden, was für uns wichtig ist: Die Spuren werden zu deinem Laptop
führen. Das ist nicht zu verhindern. Von da aus werden sie aber auf dem
Umweg über Adams Island nach Syrien führen. Also sozusagen ein
dreifaches Hacken. Du ziehst das Programm ganz easy auf deinen Rechner.
Sobald es da drauf ist, vernetzt es sich mit unserem Server auf Adams
Island. Von da aus gelangt es auf einen Server in Damaskus. Das hat
irgendwas mit den IP-Adressen zu tun. Im Ergebnis entsteht der Eindruck,
dass das Schadprogamm nicht unmittelbar von deinem Rechner
gekommen ist, sondern aus Damaskus. Und unser Server in der Zentrale
kann da irgendwas verschleiern.“
„Okay, und was muss ich jetzt machen?“
„Jimmy hat dir Anweisungen aufgeschrieben. Mit zehn
verschiedenen Kugelschreiben, die er irgendwo hat mitgehen und danach
auf dem Grund des Meeres verschwinden lassen. Wie du siehst, denkt er
mit. Du gehst in dein Büro, steckst den BadUSB-Stick in deinen Rechner
und folgst Jimmys Anweisungen. Er meinte, dass du keine zehn Minuten
dafür brauchst. Den Rechner solltest du noch eine Weile laufen lassen,
damit das Zusatztool seine Arbeit machen kann. Danach sollst du den
Zettel vernichten. Den Stick kannst du Mitja beim nächsten Treffen
mitgeben.“
Heather kramte in ihrer Handtasche und streckte David eine
Schachtel Hershey's entgegen. „Greif zu. Nimm den ganz rechts. Darin
findest du den Stick. Iss ein Hershey's und lass den Stick in deiner
Jackentasche verschwinden.“

***

David Moore wartete in seinem Büro, bis alle Mitarbeiter gegangen waren.
Erst dann traute er sich, den USB-Stick in einen Port zu schieben. Er war
zwar abgebrüht, doch der Umgang mit einer ihm fremden Materie
verunsicherte ihn. Aber Jimmy erwies sich als exzellent. Der Stick war mit
einem Notizzettel mit Anweisungen und Informationen umwickelt.
Er las zunächst die Informationen. Wenn das alles stimmte, war
Jimmy in der Tat ein Genie und jeden Dollar wert. Auch wenn ihm das
Geld nicht mehr viel nützte. Moore musste innerlich grinsen, wenn er
daran dachte, was für eitle und bestechliche Menschen AURORA schon
für viel Geld geholfen hatten, ohne zu ahnen, dass sie sich damit ihr
eigenes Grab schaufelten. Jimmy war bestimmt ein netter Kerl. Aber für
Geld machte er alles. Dafür würde er sogar seine eigene Mutter verraten.
Grund genug, ihn zu verachten.
Sobald der Stick in Moores Rechner steckte, übertrug sich das
Programm in den Ordner Program Files. Mittels einiger Befehle musste
Moore dafür sorgen, dass es über Umwege den Server befiel. Wenn das
erledigt war, musste er den Stick in seinen eigenen Laptop stecken und per
Hand eine Datei öffnen. Das war, wie Jimmy verständlich erklärte, das
Kontrolltool. Damit konnte Moore die gesamte U-Boot-Flotte der USA
kontrollieren. Weder Schad- noch Kontrolltool waren nach außen sichtbar.
Sie aktivierten sich erst, wenn Moore einen Befehl auf seinem Laptop
eingab. Ab diesem Moment konnte er, und nur er, die tatsächlichen
Positionen und Routen aller U-Boote verfolgen.
Und nicht nur verfolgen.
Er konnte die U-Boote damit fernsteuern. Indem er ihnen
Koordinaten vorgab und sie zu ihrem jeweiligen Ziel schickte. Absolut
flexibel. Auf den Rechnern des Pentagon waren hingegen nur die
offiziellen Positionen zu sehen.
Das Tool speicherte die offiziellen Erkennungssignale und Routen
eines jeden Bootes und gaukelte dem Zentralrechner genau diese Daten
vor, während Moore im Hintergrund und von jedem beliebigen Ort aus die
Boote hinschicken konnte, wohin er wollte. Sobald er einen passenden
Befehl eingab, aktivierte sich das Programm und gab den Befehl an das
jeweilige U-Boot weiter, das dem Kurs automatisch folgte. Danach
schaltete sich das Programm wieder in einen Ruhemodus, in dem es selbst
für die besten Experten kaum zu erkennen war.
Nur wenn Moore auf ein U-Boot zugriff, war Jimmys Programm für
kurze Zeit sichtbar. Und das auch nur, wenn jemand genau hinsah, und
zwar mit der Absicht, ein solches Programm zu entdecken. Das Programm
war selbst im aktiven Modus nahezu unsichtbar. Wie ein
Tarnkappenbomber, dachte Moore.
Er steckte den Stick in einen USB-Port und ließ Jimmys Programm
annähernd in Lichtgeschwindigkeit den Zentralrechner des Pentagon
befallen. Der erste, der wichtigste, Schritt, war damit bereits getan.
An den kommenden Tagen würde er ein paar Boote ihren aktuellen
Kurs ändern lassen. Nur ein bisschen, damit die Spezialisten des Pentagon
im schlimmsten Fall an einen Programmfehler dachten. Wenn die
Kursänderungen nur auf seinem Laptop zu sehen waren, nicht aber auf den
Pentagon-Rechnern, hatte Jimmys Programm den Test bestanden. Der
Stick musste dann noch zu Tschechow und danach vernichtet werden. Im
Anschluss würde sich das Programm im Pentagon ebenso wie im Kreml in
den Ruhemodus schalten. Und warten. Warten, bis jemand ein paar Tasten
auf einem unscheinbaren Laptop drückte.
Kapitel 37
Adams Island, Januar 2017
General Moore verfolgte mit gemischten Gefühlen, wie sich Rebecca vor
der riesigen Weltkarte aufbaute. Er fragte sich, wie lange sein Geheimnis
noch ein wohlgehütetes bleiben würde. Er ahnte, was Rebecca sagen
würde. Und nur er kannte ihre wahren Motive.
„Es ist soweit“, begann sie. „So wie wir es im vergangenen Jahr
beschlossen haben, sollten wir als Intro Chaos stiften. Die Anschläge der
letzten Zeit, das humanitäre Desaster in Syrien, die nicht enden wollenden
Flüchtlingsströme belegen, wie sehr sich die Situation zuspitzt und die
Verunsicherung wächst. Die Geister, die die Supermächte riefen. Wer will
schon nachweisen, auf welchen Wegen sie gekommen sind? Überall
menschliche Abgründe, Hass, Arroganz und Gier. Mich überkommt ein
Gefühl des Ekels.“
Heather nickte zustimmend. „Da hast du recht. Aber dafür haben wir
AURORA erschaffen. Oder besser gesagt dagegen. Spielst du auf
Anschläge auf die Symbole westlicher Macht an?“
„Natürlich. Was könnte mehr von uns ablenken, als die
Konzentration der Welt auf die Achse des Bösen? Auf die GESA, die uns in
die Karten spielt, ohne es zu ahnen.“
„Was wahrhaft ein Ausdruck von überragender Intelligenz ist.“
„Du sagst es. Der Sieg der Intelligenz.“
Doch Richard Armstrong hatte Zweifel. „Wenn wir jetzt Gewalt
säen, es uns aber nicht gelingt, die Spuren zur GESA zu legen, werden wir
zu früh enttarnt und ernten Verfolgung. Das könnte das Aus für AURORA
bedeuten!“
„Es geht doch nicht um Gewalt! Ich spreche von Angriffen auf die
Symbole des Westens.“
„Das geht nicht ohne Opfer. Und das Risiko, dass wir die Spuren
nicht zur GESA legen können, ist groß.“
Rebecca schüttelte den Kopf. „Und wenn schon. Angesichts der
jüngsten Entwicklungen würde die GESA für die Anschläge verantwortlich
gemacht. In gewisser Weise wäre das ja sogar zutreffend. Außerdem wird
sich die GESA zu den Anschlägen bekennen, um sich damit zu brüsten.“
„Ein wahrhaft perfides Gedankenspiel“, bemerkte Armstrong
anerkennend. „Das könnte funktionieren. Ich denke, nach den sexuellen
Übergriffen von Flüchtlingen auf europäische Frauen, nach Angriffen auf
Polizei und Sicherheitsbehörden, droht die Stimmung in der Bevölkerung
zu kippen. Die Politiker sind verunsichert. Wenn wir jetzt auch noch
solche Anschläge initiieren und die Spuren genau dahin legen, woher die
Flüchtlinge kommen, wird die Welt nur noch in den Nahen Osten schauen.
Niemand wird sich um uns kümmern. Das ist genial.“
„Und würde sich nahtlos in AURORA einfügen“, bemerkte Moore.
„Es ist schon amüsant, zu sehen, mit welcher Naivität Europa, allen voran
Deutschland, der Flüchtlingskrise begegnet. Dieses Integrationsgeschwafel
zeugt von Verblendung oder Intelligenzmangel. Oder von beidem. Als ob
sich eine islamische Kultur in eine europäische integrieren ließe. Und wir
haben es jetzt leicht, uns das zunutze zu machen. Ein Hoch auf AURORA!“
„Gut, dass du das angesprochen hast“, sagte Rebecca, deren Stimme
vor Zorn bebte. „Dieses dreckige Pack, das Frauen wie Freiwild benutzt
und vergewaltigt, muss vernichtet werden! Ebenso wie die, die
weggucken. Aber vielleicht gucken die Leute auch gar nicht weg, sondern
geilen sich auch noch daran auf. Eigentlich ist AURORA noch viel zu
gnädig für diesen Abschaum. Man müsste sie öffentlich nackt anketten
und ihnen die Eier abschneiden. Sie sollen schön langsam ausbluten. Und
bis der Tod diesen Dreck erlöst hat, soll jede Frau an ihnen vorübergehen,
ihnen ins Gesicht spucken und in ihr blutiges Fleisch treten. Das wäre eine
gerechte Strafe!“
Es wurde still in dem Raum. Rebeccas Ausbruch hatte den Circle
erschüttert. Nicht nur wegen der Dinge, die sie gesagt hatte, sondern vor
allem wegen ihres Hasses. Sie stand dort mit hochrotem Kopf, ein irrer
Blick, sie zitterte, hatte jegliche Contenance verloren.
Und nur Moore wusste, warum. Er konnte sie sogar verstehen. Er
wusste, wo sie mit ihren Gedanken war. Sie lag wieder im Sand, irgendein
stinkender Soldat auf und in ihr. Sie war nicht im Hier und Jetzt. Das war
ein kritischer Moment, der jederzeit eskalieren konnte. Er musste Rebecca
in die Gegenwart zurückholen.
Er stand auf, nahm sie in den Arm und flüsterte ihr etwas ins Ohr.
Dann wandte er sich dem Publikum zu und sagte mit ruhiger Stimme:
„Wir sind uns alle einig, dass der Dreck, der Frauen vergewaltigt, kein
Recht hat, zu leben. Ich verstehe Rebecca. Jede Frau muss so fühlen. Denn
jede Frau lebt doch inzwischen mit der Angst, von einer Horde Araber
belästigt oder vergewaltigt zu werden. Wir verachten diese Menschen.
Aber wir verachten genauso die Gutmenschen, weil sie der Nagel zum
Sarg unserer Welt sind. Umso mehr müssen wir uns auf AURORA
konzentrieren! Denn AURORA wird diese Probleme lösen. Ich stimme
Rebecca zu, dass wir die Gunst der Stunde nutzen und den Hass des
Westens noch mehr auf den Nahen Osten richten sollten. Lasst uns die
Symbole des Westens angreifen. Ich habe dafür auch ein nettes Extra.“
Moore nahm Rebecca in den Arm und ging mit ihr von der Bühne.
Im Gehen wandte er sich abu Tarik zu. „Wie viele Schläfer hast du seit
damals in Europa eingeschleust, Yefrem?“
Abu Tarik wiegte nachdenklich den Kopf hin und her. „An die
hundert. Das Problem ist, dass wir für so große Ziele viel Sprengstoff
brauchen. Und wir müssen sicherstellen, dass die Materialien zum
richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort sind. Darin sehe ich eine gewisse
Gefahr, dass wir auffliegen. Sollen wir das Risiko wirklich eingehen? In
wenigen Wochen startet Wave. Ich bin der Meinung, das reicht und ist früh
genug.“
„Wer sagt, dass die Angriffe erfolgreich sein müssen?“, beharrte
Rebecca, die sich immer noch nicht beruhigt hatte. „Es geht nur um
Verwirrung und Ablenkung. Und um Spuren zur GESA.“
„Da ist was dran“, überlegte abu Tarik. „Du meinst, dass der
Eiffelturm gar keinen großen Schaden nehmen muss, sondern es reicht,
einen Anschlag darauf zu verüben? Weil der Erfolg nicht in den Schäden
liegt, sondern in der Symbolträchtigkeit des Ziels.“
„Das meine ich. Heute genauso wie damals. Wie wird die Allianz
gegen den islamistischen Terror darauf reagieren? Der Eiffelturm ist ein
gutes Beispiel. Ein großartiges Symbol Frankreichs und ganz Europas! So
ein Bauwerk steht für die Leistungen und Errungenschaften eines ganzen
Systems. Schon der Angriff an sich wird den Zorn des Westens schüren.
Die GESA steht unter Generalverdacht. Und sie wird die Verantwortung
übernehmen. Und kurz darauf trifft Wave die USA und Europa. Und wieder
wird man die Schuldigen bei der GESA suchen. Es wird ein nie
dagewesenes Chaos geben. Und wenig später fällt Ice im wahrsten Sinne
des Wortes über die Welt her. Lautlos, tödlich, noch mehr Chaos stiftend.
Tja, und wer selbst das überstanden hat...“
Kimberly betrachtete Rebecca nachdenklich. „Wir sind alle der
Überzeugung, dass nur ein Neustart das Überleben der menschlichen Rasse
sichern kann. Aber manchmal frage ich mich, woher dein Hass kommt. Du
scheinst das persönlich zu nehmen.“
„Nein!“, antwortete Rebecca entschieden. „Ich nehme gar nichts
persönlich. Ich mache mir nur jeden Tag Gedanken, wie wir die
Erfolgsaussichten von AURORA erhöhen können. Egal wie.“
Moore beobachtete Rebecca genau. Ihre Mimik, ihre Anspannung,
die Wut in ihren Augen. Er kannte ihre Geschichte besser als sie selbst.
Denn sie hatte keine Ahnung, dass er eine entscheidende Rolle dabei
gespielt hatte. Eine höchst unrühmliche dazu. Aber er hatte keine andere
Wahl gehabt. Er musste doch seine Männer schützen! Und damit sein
Land! Wehe, diese Geschichte wäre an die Öffentlichkeit geraten. Er hatte
Interessen und Auswirkungen gegeneinander abwägen müssen. Es ging
nicht um Recht und Gerechtigkeit! Es ging allein um die Sache. Als ob
Recht und Gerechtigkeit jemals einer Sache gedient hätten.
Entsprach AURORA dem gängigen Verständnis von Recht und
Gerechtigkeit?
Er fühlte sich mit seiner damaligen Entscheidung selbst nicht gut
und litt bis heute darunter. Aber er sagte sich immer wieder: Was
geschehen ist, ist nicht mehr rückgängig zu machen! Jetzt kam es darauf
an, dass Rebecca auch weiterhin unwissend blieb.
„Beruhige dich“, sagte er. „Wir sind doch alle deiner Meinung.
Yefrem, leite bitte das Nötige in die Wege. Aber wir dürfen nicht zu viel
Energie darauf verwenden. Wir müssen uns auf Wave konzentrieren. Und
wir dürfen uns keine Fehler erlauben.“

***

Paris, März 2017


Die fünfköpfige Familie aus Marokko hatte wegen des schlechten Wetters
noch einen Tag mit der Besichtigung des Eiffelturms gewartet. Denn eines
der Kinder hatte sich erkältet. Dabei war es das erste Mal seit Jahren, dass
sich die Familie einen Urlaub leisten konnte. Sie hatten lange darauf
gespart. Und den Eiffelturm wollten sie auf jeden Fall besichtigen. Es
machte ihnen nichts aus, dass sie lange am Schalter anstehen mussten,
weil sie keine Karten vorbestellt hatten. Sie hatten doch Zeit. Sie waren im
Urlaub.
Seit zwanzig Minuten standen sie in der Schlange. Und der Weg bis
zu den Kassen war noch weit. Der Vater alberte mit seinen Kindern herum,
um ihnen das Warten zu versüßen. Als er seinen Sohn kitzelte, lachte der
laut los. So laut, dass die Leute um sie herum auf sie aufmerksam wurden.
Er hob entschuldigend die Hände und mahnte seine Kinder zur Ruhe. Aber
die Leute reagierten verständnisvoll und herzlich auf diese freundliche
Familie. Niemand beschwerte sich. Im Gegenteil. Der Mann hinter ihnen
fing auch an, mit den Kindern herumzualbern. Er war noch sehr jung, hatte
ein sympathisches, attraktives Gesicht und schien arabischer Herkunft zu
sein.
Zu Füßen des mächtigen Wahrzeichens Frankreichs entwickelte sich
ein multinationaler Dialog in Form von Gesten und Gelächter. Die drei
Kinder der Marokkaner standen dabei eindeutig im Mittelpunkt. Eine
Aufmerksamkeit, die sie sichtlich genossen. Abwechselnd kicherten sie
und versteckten sich dann wieder hinter ihren Eltern. Der Araber tat jedes
Mal so, als würde er sich von der anderen Seite anschleichen. Die Kinder
quietschten vor Vergnügen, wenn es ihnen gelang, ihrem Verfolger doch
wieder zu entkommen, der die Eltern in gebrochenem Englisch fragte, ob
es okay sei, dass er mit ihren Kindern herumtolle. Er habe Kinder sehr
gerne. Und weil die anderen Leute in der Schlange auch ihren Spaß dabei
hatten, den Laiendarstellern zuzuschauen, nickte der Vater dem Araber
aufmunternd zu.
Der Marokkaner ahnte nicht, dass der kinderliebende Araber kein
Tourist war. Niemand sah ihm an, dass er, wie die übrigen neun Terroristen
der GESA, nach Frankreich eingereist war, um sich im Dschihad zu opfern
und den Weg ins Paradies anzutreten. Die zehn Männer waren unabhängig
voneinander mit Flüchtlingen aus Syrien, dem Irak und Afghanistan
gekommen. Yefrem abu Tarik, der größte Führer der GESA, hatte sie
persönlich auserwählt. Er hatte ihnen Pässe besorgt und die Kontakte
hergestellt, über die sie sich mit Sprengstoff eindecken konnten. Er hatte
sie angewiesen, sich unauffällig, freundlich und zugewandt zu verhalten.
Sie verständigten sich über einen Chatroom und koordinierten dort auch
ihren gemeinsamen Einsatz.
Zwei Attentäter hatten sich dem dreihundertvierundzwanzig Meter
hohen Eiffelturm über den Champ-de-Mars genähert, weitere vier von der
gegenüberliegenden Seite, dem Jardin du Trocadéro. Die übrigen waren
aus Nordosten und Südwesten gekommen.
Niemand beachtete sie. Sie wirkten wie harmlose Touristen. Sie
waren gekleidet wie harmlose Touristen. Sie hatten Kameras wie harmlose
Touristen. Doch sie waren Gesandte Allahs. Unter ihren Mänteln trugen sie
mit Nägeln und Schrauben versetzte Sprengstoffgürtel.
Der Araber, der mit den marokkanischen Kindern spielte, war über
den Champ-de-Mars gekommen. Er hatte von Anfang an hinter der
Familie aus Marokko in der Schlange gestanden. Der Eiffelturm gehörte
zu den attraktivsten touristischen Zielen der Welt. Also musste er warten.
Doch das machte ihm und den anderen nichts aus. Zeit spielte für sie keine
Rolle. Geduldig und ohne sich anzusehen, wartete jeder für sich darauf, ein
Ticket zu bekommen.
Dann war es soweit. Die Familie aus Marokko war an der Reihe. Als
der Vater die Karten bekam und sie an seine Familie verteilte, tat der
Araber so, als würde er dem Mädchen seine Karte wegnehmen wollen.
Doch die rannte wieder hinter ihren Vater, lugte um seine Hüfte und
streckte dem Araber spielerisch die Zunge heraus. Der Vater ermahnte das
Mädchen zur Höflichkeit, doch der Araber winkte ab und erklärte in
gebrochenem Englisch, dass er selbst viel Spaß gehabt habe.
Doch nun war der Spaß vorbei.
Über die drei Aufzüge am Nord-, Ost- und Westpfeiler verteilten
sich die Attentäter im Turm. Zwei begaben sich in das voll besetzte Kino
auf der ersten Etage, zwei weitere in das Restaurant, einer in den
Souvenirladen. Drei Attentäter fuhren zu der Aussichtsplattform auf der
dritten Etage, die übrigen zwei in die zweite Etage. Ihr Auftrag lautete,
dem Bauwerk so viel Schaden zuzufügen wie möglich. Also orientierten
sie sich nicht an der größten Menschendichte, sondern an den mächtigen
Stützpfeilern aus Eisenfachwerk. Der Araber, der mit der marokkanischen
Familie gekommen war, steuerte die Aussichtsplattform an.
Sie hatten ein perfektes Timing. Gleichzeitig um 14.35 Uhr
Mitteleuropäischer Zeit wollten sie ihre Sprengstoffgürtel zünden.
Niemand von ihnen dachte an das Elend, das er damit auslöste. Es
interessierte sie auch nicht. Es berührte sie nicht. Denn sie waren im
Auftrag Allahs gekommen.
Auch den Araber auf der Aussichtsplattform berührte das Schicksal
der Menschen nicht. Lediglich als die marokkanische Familie die
Aussichtsplattform betrat und sich, freundlich lächelnd, zu ihm gesellte,
spürte er für einen kurzen Augenblick ein flaues Gefühl in der
Magengegend. Die Kleine war wirklich süß gewesen. Als er in seinen
Mantel griff, wendete er den Blick von dem Kind ab, das ihn anstrahlte,
als wäre er ihr Freund. Er musste sich auf seinen Auftrag konzentrieren!
Als die zehn Attentäter zeitgleich ihre Sprengstoffgürtel zündeten,
starben auf der ersten Ebene zweiundsiebzig Menschen: fünfundvierzig im
Kino, fünfzehn im Restaurant und zwölf im Souvenirladen. Auf der
zweiten Ebene gab es sechsundzwanzig Tote, auf der dritten, neben den
Marokkanern, sechsundzwanzig.
Noch vor Polizei und Feuerwehr kam General Moores Extra zum
Einsatz. In einer Entfernung von mehreren Kilometern und in
verschiedenen Richtungen widmeten sich weitere fünf Attentäter mit
höchster Konzentration ihren Handys. Wie ihre Kollegen vor Ort fielen sie
nicht auf. Sie waren Touristen, die ihren Angehörigen eine SMS oder eine
WhatsApp schickten. Vielleicht mit einem schönen Urlaubsfoto im
Anhang.
Doch sie schrieben keine Nachrichten.
Sie hatten das mehrfach geprobt und sich minutengenau mit den
anderen Kämpfern, denen im Turm, abgesprochen. Nur drei Minuten nach
den Explosionen, in und rund um den Eiffelturm war längst Panik
ausgebrochen, steuerten sie mit Sprengstoff vollgepackte Drohnen mitten
hinein in das Chaos. Drei Drohnen explodierten innerhalb des Turms, zwei
in der sich gegenseitig behindernden Menschenmasse davor. Nochmals
hundertfünfzig Menschen starben. Weitere fünfzehn wurden von in wilder
Panik umher rennenden Menschen zu Tode getrampelt.
Mehr als dreihundert Kinder, Frauen und Männer aus der ganzen
Welt ließen an diesem Tag ihr Leben. Es gab hunderte Verletzte. Unter den
Opfern befanden sich eine Familie aus Syrien, eine aus Eritrea, zwei aus
Afghanistan, ein Mann aus dem Libanon und das Kind einer Familie aus
dem Irak, das mit seinen Freunden in Frankreich einen Ausflug gemacht
hatte. Und die fünfköpfige Familie aus Marokko. Sie waren bis zur
Unkenntlichkeit verstümmelt. Sie mussten unmittelbar neben dem
Attentäter gestanden haben. Die Helfer waren bei diesem Anblick in
Tränen ausgebrochen.
Der Turm wurde kaum beschädigt. Die Stahlkonstruktion hielt der
geringen Sprengkraft mühelos stand. Vor allem die Anstreicher und
Innenausstatter würden in der nächsten Zeit eine Menge Arbeit bekommen.
Der Turm blieb eine Woche geschlossen. Das Gebiet um ihn herum wurde
hermetisch abgeriegelt.
Wenige Tage nach dem Anschlag tauchte im Internet ein
Bekennerschreiben der GESA auf, das von Experten als echt eingestuft
wurde. Die GESA begründete das Bombenattentat mit der Aufstockung
französischer Truppen im Nahen Osten. Das sei eine Verschärfung der
Kriegserklärung Frankreichs gegen die Islamische Bewegung. Die GESA
drohte mit weiteren Anschlägen, wenn Frankreich seine Soldaten nicht
abzog.
In einem Video kündigte ein GESA-Kämpfer österreichischer
Abstammung an, dass Frankreich im Blut versinken würde. So wie jedes
Land, das sich an dem kollektiven Verbrechen gegenüber dem Islam
beteiligte. Der Österreicher wiederholte, was im Jahr 2014 ein deutscher
Dschihadist in einem Propagandavideo veröffentlicht hatte:
Kommt, wir warten auf euch! Seit über 1400 Jahren warten wir auf
euch.
Auf politischer Ebene setzte der Anschlag eine Kettenreaktion in
Gang. Nachdem es bereits zuvor verheerende Anschläge gegeben hatte,
nicht nur in Paris, lagen die Nerven blank. Zumal erstmals Drohnen zum
Einsatz kamen. Was Geheimdienste befürchtet hatten, und wogegen sie
noch Strategien entwickeln wollten, war bereits eingetreten. Alle Spuren
im Bereich des Eiffelturms, wie Pässe, oder das, was von ihnen übrig war,
sowie die Kommunikation der Attentäter in Chats, wiesen eindeutig zur
GESA.
Paris beschloss die sofortige Aufstockung der Einheiten im Nahen
Osten um hundert Jagdflugzeuge, zwanzig Bomber und zehn Aufklärer.
Zusätzlich regte die französische Regierung an, die Entsendung von
Bodentruppen vorzuziehen und binnen eines Monats in Syrien und dem
Irak einzumarschieren. Mit der Option, alle Länder zu besetzen, in denen
die GESA vertreten war oder vermutet wurde. Darüber hinaus sollte
endlich der Plan einer Sicherheitszone in den Anrainerstaaten umgesetzt
werden.
Während die wachsende Allianz gegen die GESA über Maßnahmen
beriet, wurde Europa von der größten Anschlagsserie seit Veröffentlichung
der Mohammed-Karikaturen heimgesucht.
In London zündeten zwölf Selbstmordattentäter Sprengstoffgürtel
und Bomben auf und in der Tower Bridge sowie in der City Hall. Es gab
zwar nur dreiunddreißig Todesopfer. Aber die Technik der Tower Bridge
wurde erheblich in Mitleidenschaft gezogen, sodass eine der
Hauptverkehrsadern Londons bis auf Weiteres geschlossen werden musste.
Auch die fünfundvierzig Meter hohe City Hall, das Rathaus von
London, wurde beschädigt. Ein Teil der gläsernen Fassade wurde
herausgerissen. Es bestand die Gefahr, dass die Statik betroffen war und
Einsturzgefahr bestand. Dieser Verdacht bestätigte sich aber nicht.
Wie in Paris, hatten sich auch die Attentäter von London über
verschiedene Chats minutiös auf ihre Anschläge vorbereitet. Der MI6
hatte keine Erklärung, wie es einem Dutzend islamistischer Terroristen
gelungen war, den Nerv Großbritanniens zu treffen. Nur bei vier der
Attentäter konnte rückverfolgt werden, wie sie ins Land gekommen waren.
Keiner war bislang ermittlungstechnisch in Erscheinung getreten. Laut
ihrer Pässe waren sie syrischer, irakischer und afghanischer Abstammung.
Wie sie an den Sprengstoff gekommen waren, blieb im Dunkeln.
Der Premierminister konstatierte, dass der islamistische Terror eine
neue Dimension erreicht hatte. Diesem Akt der Unmenschlichkeit müsse
man mit aller Härte begegnen. Wenn sich der Verdacht erhärte, dass die
GESA auch hinter diesen feigen Anschlägen steckte, würde
Großbritannien mit einer militärischen Antwort aufwarten, wie sie die
feige Bande von Terroristen im Nahen Osten noch nicht erlebt hatte.
Tatsächlich bekannte sich die GESA zu dem Anschlag und drohte
auch England einen Krieg bis zum Äußersten an, der in einer friedlichen,
islamischen Welt enden würde. Kurz darauf verkündete der
Premierminister einen von der Regierung einhellig beschlossenen
Maßnahmenkatalog gegen den Terror. Der Etat für die Geheimdienste
wurde mit sofortiger Wirkung um siebzig Prozent aufgestockt. Statt der
bis 2025 geplanten zwei Brigaden mit jeweils fünftausend Soldaten,
sollten umgehend vier mit jeweils zehntausend Soldaten in die GESA-
Hochburgen geschickt werden. Der Premierminister rief die
Bündnispartner auf, sich an der Großoffensive zu beteiligen und die GESA
auszurotten.
In dieser aufgeheizten Stimmung detonierten am Brandenburger Tor
mehrere Sprengsätze während einer Großveranstaltung, unterstützt durch
acht Drohnen nach Pariser Vorbild. Aufgrund der dicht gedrängten Menge
kamen achthundertfünfzig Menschen ums Leben. Unter ihnen siebzig
islamischer Herkunft, überwiegend Kinder.
Wieder übernahm die GESA die Verantwortung, die auch
Deutschland den Krieg erklärte. Bislang sei Deutschland eine wohltuende
Ausnahme gewesen. Aber indem es sich von der doppelzüngigen Ideologie
des Westens zu kriegerischen Handlungen habe anstacheln lassen, sei es
nun auch Bestandteil der letzten Schlacht gegen die Ungläubigen, die noch
nicht einmal richtig begonnen habe.

***

Adams Island, kurz darauf


Zufrieden nippte Rebecca Eliot an ihrem Champagnerglas. Der Erfolg der
Anschlagsserie in Europa übertraf ihre kühnsten Erwartungen. Unfassbar,
wie naiv die Europäer waren. Wie einfach es war, sie mit ihren dummen
Nasen direkt auf die GESA zu stoßen, die mit ihren Bekennerschreiben
nicht weniger dumm reagierte. Und die einbrechenden Aktienkurse waren
nur ein Vorgeschmack auf Wave, gegen das die Anschläge nichts als
Peanuts waren.
„David“, rief sie General Moore zu, der vorne saß und die
Fernbedienung hatte, „machst du das bitte lauter?“ Moore drehte sich zu
ihr um. „Gerne, das interessiert uns schließlich alle.“
Er erhöhte die Lautstärke. Gerade lief ein Interview mit einer
deutschen Politikerin. Der Reporter stellte eine provokante Frage, die
Rebecca amüsierte: „Sie preisen Ihre Willkommenskultur an und lassen
jeden Menschen ins Land, nicht nur aus dem Nahen Osten, um ihn dann in
eine nicht immer gewollte Integration zu drängen. Aber jetzt debattieren
Sie darüber, das Grundgesetz zu ändern, um Flüchtlinge gar nicht mehr ins
Land zu lassen und schicken Tornados, Eurofighter und Hubschrauber vom
Typ Eurocopter in den Nahen Osten. Welche Erklärung haben Sie für
diesen krassen Kurswechsel? Haben Ihre Kritiker recht? Waren Sie zu
blauäugig?“
Beim Circle brach Gelächter aus. Einige klatschten höhnisch. Jetzt
gingen die Menschen in Europa schon aufeinander los. Einen besseren
Wegbereiter für Phase eins konnte es gar nicht geben.
Die Politikerin erklärte unbeirrt, dass Deutschland für die
Menschenrechte stehe und eine historische Verantwortung trage. Deshalb
sei eine offene Willkommenspolitik –ohne Obergrenzen- alternativlos
gewesen. Das hätte selbst die Opposition so gesehen. Doch die GESA
nutze die Gutmütigkeit der Europäer aus und habe keine Skrupel, die von
ihnen selbst zu solchen gemachten Flüchtlinge als Trojanisches Pferd zu
missbrauchen. Das zeige einmal mehr deren feige Gesinnung, der man mit
der Kraft des Bündnisses begegnen müsse. Was nichts daran ändere, dass
Flüchtlinge weiterhin ein Recht auf Asyl hätten. Die Änderung des
Grundgesetzes habe im Übrigen nichts mit der Flüchtlingskrise zu tun.
Das habe der Reporter wohl nicht richtig verstanden.
Auch die nächste Frage erheiterte Rebecca, die lächelnd das
Champagnerglas an die Lippen setzte.
„Ich habe das sehr wohl verstanden. Es geht um Auslandseinsätze.
Aber Fakt ist, dass Regierung und Opposition in bemerkenswerter
Einigkeit jeden Flüchtling und jeden Nicht-Flüchtling einladen, nein,
ermuntern, nach Deutschland zu kommen, um jetzt, in ebensolcher
Einigkeit, Artikel 24 des Grundgesetzes zu ändern. Würden Sie sagen, dass
Ihre Politik von Kontinuität geprägt ist? Dass sie noch glaubwürdig ist?“
Während der Reporter seine Frage stellte, lief am unteren
Bildschirmrand die Meldung, dass das Bundesgesetz zur Änderung des
Grundgesetzes soeben mit einer Mehrheit von 95% im Bundestag und 98%
im Bundesrat verabschiedet worden war.
Die Politikerin hob hervor, dass eine solche Mehrheit, die nur durch
die Zustimmung der Linken zustande kommen konnte, belege, dass die
Politiker aller Parteien geschlossen die Innere Sicherheit Deutschlands
verteidigten und dass dies glaubwürdig sei und von Kontinuität zeuge. Es
zeige sich, wie gut die Demokratie in der Bundesrepublik Deutschland
funktioniere. Im Sinne der Inneren Sicherheit würden deshalb, nach der
nun beschlossenen Verfassungsänderung, weitere Soldaten der
hundertachtzigtausend Mann starken Truppe in die Krisenländer entsendet.
Es gelte, die Missstände im Nahen Osten zu beseitigen, nicht aber,
Menschen in Not abzuweisen. Deshalb stünde Artikel 16a des
Grundgesetzes gar nicht erst zur Debatte.
Der Reporter schüttelte den Kopf. „Wenn Sie so einen krassen
Kurswechsel einschlagen, wieso widersprechen Sie dann dem Vorschlag
des britischen Premierministers, in Europa eine Puffer- und
Sicherheitszone einzurichten? Wäre das nicht ein guter Kompromiss aus
Innerer Sicherheit und Wahrung der Menschenrechte?“
Auch durch diese Frage ließ sich die deutsche Politikerin nicht aus
dem Konzept bringen. Sie beantwortete sie mit derselben stoischen Ruhe.
Eine Puffer- und Sicherheitszone lasse sich nicht mit den humanitären
Werten Deutschlands vereinbaren. Flüchtlinge seien weiterhin
willkommen. Auch eine Obergrenze werde es mit Deutschland nicht
geben. Eine solche Puffer- und Sicherheitszone sei menschenunwürdig und
bedeute, sich mit den Terroristen auf eine Stufe zu stellen.
Bryan O´Connor, der sich noch nicht zu den Berichten geäußert
hatte, bemerkte nun voller Unverständnis: „Diese Naivität wird mir immer
ein Rätsel bleiben. Wie kann man als Politiker die Augen nur so vor dem
Offensichtlichen verschließen? Das erfordert doch nicht mal eine
besondere Intelligenz. Diese Dummheit belegt einmal mehr, warum
AURORA so wichtig ist, aber...“
Weiter kam er nicht. Denn Rebecca fauchte ihn erbost an. „Halt die
Klappe, Bryan. Ich will das hören!“
Bryan verstummte. „...letzte Frage stellen“, sagte der Reporter. „Wie
wollen Sie das alles finanzieren? Sie haben doch mehrfach beteuert, wegen
der Flüchtlingskrise keine zusätzlichen Schulden zu machen. Da stellt sich
die Frage, woher das Geld sonst kommen soll.“
Die Politikerin bekräftigte, keine neuen Schulden zu machen. Das
Kabinett habe deshalb beschlossen, eine Abgabe für die Flüchtlingshilfe
einzuführen. So wie es die EU bereits Ende 2015 in Erwägung gezogen
habe. Ähnlich wie der Solidaritätszuschlag, der nur den Zweck habe, den
Aufbau Ost voranzutreiben, diene diese Abgabe der Finanzierung der
Flüchtlingskosten. Dazu zählten, neben Sprachkursen, die Integration
bleibewilliger und die psychologische Betreuung traumatisierter
Flüchtlinge. Damit ließen sich Konflikte eher verhindern als durch mehr
Polizei. Die Bundesregierung hege keinen Zweifel, dass diese Abgabe, die,
abweichend vom Vorschlag der EU, nicht an die Mineralölsteuer, sondern,
wie der Solidaritätszuschlag, an die Einkommen-, Körperschaft- und
Kapitalertragsteuer gekoppelt werden solle, bei der Bevölkerung auf große
Zustimmung stoßen werde.
„Schalt das ab!“, rief Andrew Shoemaker. „Ich kann das nicht mehr
hören. Was redet die für einen Unsinn? Das ist ja unerträglich.“
Moore betätigte die Fernbedienung. Die Leinwand wurde schwarz.
Sofort entstand eine lebhafte Diskussion. Rebecca beschwerte sich, weil
sie den Bericht zu Ende sehen wollte, aber die anderen waren der
politischen Phrasen ebenso überdrüssig wie Shoemaker. Also gab Rebecca
nach und füllte ihr Champagnerglas.
Moore schüttelte den Kopf. „Wie oft haben wir uns mit der
Arroganz, der Dummheit und Ignoranz des Menschen auseinandergesetzt.
Wir haben AURORA erschaffen, um das zu ändern. Und dennoch: Ich bin
jedes Mal erschüttert, wenn ich erlebe, wie abgrundtief naiv und
verblendet diese Menschen sind. Ich kann nicht begreifen, wie Yefrems
Schläfer unbehelligt mit Flüchtlingen in Europa einreisen konnten. Das
Ende der selbsternannten Krone der Schöpfung ist nur noch ein
Kinderspiel.“
„Dabei ist der Vorschlag des britischen Premiers doch gut“, sagte O
´Connor. „Eine militärisch gesicherte Puffer- und Sicherheitszone gegen
die Flüchtlingsströme wäre zielführend. Es müssten lediglich genügend
und ordentlich ausgestattete Auffanglager errichtet werden. Spätestens
nach der jüngsten Anschlagsserie würde ich als Politiker dafür votieren,
auch bereits eingereiste Flüchtlinge dort unterzubringen. Zudem belegen
meine Studien, dass diese Strategie weniger Kosten verursachen würde, als
eine unreflektierte Willkommenskultur.“
„Ich bin ganz deiner Meinung“, stimmte Moore zu. „Auf diese Weise
ließe sich dem Terror schon ein scharfer Zahn ziehen. Außerdem ist es
nicht an Europa, Millionen von Flüchtlingen aus anderen Kulturkreisen zu
integrieren. Glaubt diese deutsche Politikerin tatsächlich, das
funktioniert? Ob die jemals in Syrien war? Oder in Afghanistan? Ich sage,
das ist dem Wunschdenken verblendeter Politiker und der wachsenden
Zahl an Gutmenschen entsprungen, die sich auf diese Weise selbst ein
Denkmal setzen wollen. Eine vernünftige Politik würde versuchen,
Menschen, die politisch verfolgt werden, vor Verfolgung und Hunger zu
schützen. Aber nicht mit dem Ziel der Integration in das westliche
Wertesystem! Das ist utopisch. Nachgerade absurd. Genauso absurd wie
andersherum.“
Rebecca nahm einen Schluck Champagner. Sie hatte die Reportage
im Fernsehen und die Diskussion mit Genugtuung verfolgt. Sie hatte
erreicht, was sie wollte. Verwirrung in der Welt stiften und dafür sorgen,
dass der Circle noch enger zusammenrückte. Der Weg für AURORA war
geebnet. Eine neue Ära brach an. Eine Ära ohne Gutmenschen. Ohne
dumme Politiker. Ohne Terroristen und Flüchtlinge. Ohne
Umweltzerstörung und Egoismus. Und ohne Männer, für die Gewalt gegen
Frauen eine Selbstverständlichkeit war, weil sie sie bloß als Objekte ihrer
primitiven Triebe ansahen.
Sie stand auf und erhob ihr Glas. Die Gespräche verstummten, die
Blicke richteten sich auf sie. „Liebe Freunde“, setzte sie an, „wir haben
genug über die Dummheit und Gier des Menschen gesprochen, uns genug
über die Verlogenheit von Politikern und Wirtschaftsbossen aufgeregt.
Damit ist es jetzt vorbei! Erhebt das Glas und stoßt mit mir an: auf
AURORA!“
Kapitel 38
Kiel, Anfang April 2017
Jamals Frau und den Kindern ging es bei Jegor Sokolow gut. Er hatte
Janne vorgeschlagen, mit ihren Kindern auch bei Sokolow unterzutauchen.
Denn nach Haukes Tod war sie in Kiel nicht mehr sicher. Doch das lehnte
sie kategorisch ab. Ich lasse mich nicht von irgendwelchen Verbrechern
aus meinem Haus vertreiben, hatte sie gesagt. Janne war eine tapfere Frau.
Die meiste Zeit verbrachte Jamal mit Nachdenken. Und je länger er
nachdachte, desto mehr war er davon überzeugt, dass sich hinter AURORA
eine große und mächtige Organisation verbergen musste, die etwas höchst
Gefährliches plante. Gewaltige Anschläge, wobei angesichts der
Beteiligung verschiedener Nationen und Kulturen nicht klar war, gegen
wen sie sich richten sollten. Was könnte hinter einer Stiftung stecken, an
der die Bundeswehr, der BND, Araber und Amerikaner beteiligt waren?
Und wahrscheinlich die deutsche Polizei. Das ergab doch keinen Sinn.
Zweck der Stiftung war die Bekämpfung des Terrorismus. Und hätte
es nicht diese ominöse Unterhaltung in Afghanistan und die Anschläge
gegeben, würde er das auch sofort glauben. Denn das ergab Sinn. Und
wenn man dem Terror erfolgreich begegnen wollte, mussten sich alle
Länder daran beteiligen. Auch die, aus denen der Terror kam. Terrorziele
zu identifizieren und Abwehrstrategien zu entwickeln, war ausgesprochen
intelligent.
Was war nur faul an dieser Stiftung?
Es gab nur eine logische Erklärung. Aber die war so abwegig, dass es
keinen Sinn machte, länger darüber nachzudenken: AURORA wollte keine
potenziellen Ziele finden, um sie zu schützen, sondern um sie anzugreifen.
Auch dann machten hochrangige Mitglieder und eine multinationale
Beteiligung Sinn. Aber was hätten sie davon? Es gäbe Krieg und dann
wären die Attentäter genauso verloren wie der Rest der Menschheit. Nein,
das ergab von allen Erklärungsansätzen am wenigstens Sinn. Auch, wenn
es so merkwürdig naheliegend war.
Irgendetwas musste er tun. Er konnte nicht länger untätig in seiner
Wohnung rumsitzen. Hatte Hauke nicht erzählt, dass seine Firma Kunden
in der ganzen Welt hatte? Und hatte er in diesem Zusammenhang nicht von
einigen interessanten Kontakten gesprochen?
Jamal rief Janne an. Einen Versuch war es wert. Das Telefonat
dauerte fast eine Stunde. Janne erzählte ihm von einem Kontakt Haukes in
den USA. Er hatte dort mal jemanden von der CIA kennengelernt. Der
Mann hieß Aiden Winterbuttom. Hauke war ihm bei der Eröffnung einer
Niederlassung eines Kunden in Boston begegnet. Sie waren ins Gespräch
gekommen und hatten sich auf Anhieb verstanden. Sie hatten danach ein
paar Mal telefoniert und sich privat getroffen. Aber bald war der Kontakt
eingeschlafen. Janne versprach, die Kontaktdaten dieses Mannes zu suchen
und ihn anzurufen, wenn sie fündig wurde. Sie notierte sich die Nummer
von Jamals Prepaid-Handy.
Es dauerte keine Stunde, bis sich sein Handy meldete. Eine
unterdrückte Rufnummer. War das etwa schon dieser Winterbuttom? Er
nahm das Gespräch an.
Aiden Winterbuttom stellte sich mit tiefer Stimme und sehr
amerikanischem Akzent vor. Er erklärte, dass er früher bei der Delta Force
war und jetzt bei der SAD, der Special Activities Division. Was er denn für
Jamal Akbar tun könne, fragte er ohne Umschweife.
Jamal kannte den Mann nicht und wusste nicht, ob er
vertrauenswürdig war. Oder ob er Jamal in die nächste Falle lockte. Aber
er hatte keine andere Wahl. Dieser Mann war seine einzige Hoffnung.
Wenn auch er ihm nicht helfen konnte, würde Jamal zu seiner Familie
fahren, ein zurückgezogenes Leben auf dem russischen Land führen und
der Dinge harren, die vielleicht demnächst geschahen. Er erzählte
Winterbuttom jedes einzelne Detail. Von der Unterhaltung in Afghanistan
bis zu seiner Flucht aus dem Fahrzeug des BND.
Der Amerikaner hatte bis zum Ende zugehört, ohne ihn zu
unterbrechen. Erst dann ergriff er das Wort.
„Mister Akbar, ich habe mich über AURORA informiert. Einiges von
dem, was Sie erzählt haben, wusste ich schon. Ich habe auch mit Chris
Walker vom FBI gesprochen. Und mit dem General of the Armies, David
Moore, einem der Vorstände von AURORA. Er hat in den letzten Jahren so
ziemlich jeden ausländischen Kampfeinsatz amerikanischer Einheiten
geplant. Er genießt in den USA Kultstatus. So ein hoher Offizier ist nahezu
unantastbar. Insofern wiegen Ihre Vorwürfe schwer, Mister Akbar.“
Genau das hatte Jamal erwartet. Es hatte keinen Zweck. Er kam nicht
gegen diese verfluchte Stiftung an. Eine Stiftung, die aus den mächtigsten
Menschen der Welt zu bestehen schien. Ein unbesiegbarer Krake. Haukes
Tod würde für immer ungesühnt bleiben.
„Ich weiß, aber ich habe nun mal dieses Gespräch in Kabul
mitbekommen, habe meinen und Ihren Freund im Kugelhagel verloren, bin
selbst nur haarscharf mit dem Leben davongekommen und genauso knapp
war es, als mich die Polizei an den BND ausgeliefert hat. All das steht in
einem Zusammenhang mit AURORA. Mehr kann ich dazu nicht sagen.
Und wenn Sie mir erklären, dass AURORA legal ist und auch Sie nichts
unternehmen werden, dann war es das für mich.“
„Beruhigen Sie sich, Mister Akbar. Ich habe nicht gesagt, dass ich
nichts unternehmen werde. Ich sage nur, dass es schwierig ist. Aber die
SAD kann auch außerhalb der, sagen wir mal, üblichen Hierarchiewege
agieren. Denn auch in Florida hat es einen Anschlag gegeben. Auf die
Unternehmerin Emma Chaplin und ihren Lebensgefährten, einen
Surflehrer namens Riley Perkins. Auch in diesem Zusammenhang ist der
Name AURORA gefallen. Und wie bei Ihnen, sind die Ermittlungen relativ
schnell eingestellt worden. Der Vater dieses Surflehrers, James Perkins,
ein angesehener, weltweit bekannter Virologe und Nobelpreisträger,
arbeitet für AURORA, ist aber seit seiner Rekrutierung mitsamt seiner
Familie von der Bildfläche verschwunden. Ich werde diesen Dingen auf
den Grund gehen. Denn das ist mein Job.“
Jamal spürte eine Mischung aus Erleichterung und Misstrauen. „Was
für eine Einheit ist das denn, in der Sie sind, Mister Winterbuttom?“
„Darüber darf ich Ihnen keine Auskünfte erteilen. Das ist aber auch
nicht wichtig für Sie. Wichtig ist zunächst, dass wir Sie in Sicherheit
bringen.“
In Sicherheit bringen. Und dann wieder an den BND ausliefern?
„Es ist Ihre Entscheidung, Mister Akbar“, fuhr Winterbuttom fort.
„Sie können natürlich auch irgendwo untertauchen. Aber unter meiner
Obhut sind Sie sicherer. Außerdem sind Sie, zusammen mit Perkins und
Chaplin, meine einzigen Zeugen. Insofern bitte ich Sie, in die USA zu
kommen. So könnten wir uns gegenseitig helfen.“
Ein Durchbruch oder eine Falle? Und was wurde aus seiner Familie?
Jamal war gefangen im Auf und Ab seiner Gefühle, dem Hin und Her
zwischen Hoffen und Bangen. Als hätte er seine Gedanken gelesen, bot
Winterbuttom an, auch Jamals Familie in Sicherheit zu bringen. Auch das
sei allein seine Entscheidung.
Jamal fühlte sich nicht gut bei dem Gedanken, sich und seine
Familie vom Wohl und Wehe eines Fremden abhängig zu machen. Aber er
sah keine Alternativen. „Gut, Mister Winterbuttom. Ich vertraue Ihnen.
Bleibt aber immer noch ein großes Problem.“
„Was?“ Winterbuttom wirkte überrascht.
„Ich kann mit meinem Auto rumfahren oder mir am Bahnhof eine
Fahrkarte kaufen. Aber ich kann kein Flugzeug besteigen. Ich habe keinen
Pass mehr und werde als Terrorist gesucht.“
Der Amerikaner lachte laut. Ein herzliches, sympathisches Lachen.
Verbindlich. So wie Hauke. „Das ist unser kleinstes Problem“, erklärte
Winterbuttom, nachdem er sich von seinem Lachanfall erholt hatte.
„Wie heißt das?“, fragte Jamal zweifelnd.
„Dass ich persönlich nach Kiel komme, Mister Akbar“, erklärte er,
„mit den notwendigen Dokumenten im Gepäck. Und dann nehme ich Sie
mit. Und zwar als meinen Gefangenen!“
Jamal glaubte, seinen Ohren nicht trauen zu können. „Als Ihr
Gefangener?“
Wieder lachte Winterbuttom. „Ja, Mister Akbar! Als was denn
sonst? Sie sind schließlich ein gesuchter Terrorist. Einen sichereren Weg
in die USA gibt es nicht für Sie. Ich werde in Deutschland einen
offiziellen Auslieferungsantrag stellen. Auf den Namen, der in Ihrem Pass
steht. Sie werden wegen Mordes in den USA gesucht. Was der BND dazu
sagt, ist, bei allem Respekt, ohne Bedeutung. Wenn die USA Europa bitten,
gibt es weder Verzögerungen noch überflüssige Nachfragen. Wir beide
werden schon bald einen Flieger in die USA besteigen. Sie müssen sich
nur damit abfinden, dass Sie während des Fluges Handschellen tragen.“
Das waren stichhaltige Argumente. Aber wieso konnte Winterbuttom
ihm das so locker am Telefon erzählen? „Sagen Sie mal, haben Sie
eigentlich keine Angst, dass unser Gespräch abgehört wird? Sie sprechen
mit mir so, als würden wir uns über das Wetter unterhalten.“
Wieder dieses verbindliche, herzhafte Lachen. „Das ist
selbstverständlich eine abhörsichere Verbindung. Meine Einheit verfügt
über recht moderne und nützliche Technologien. Was ist nun mit Ihrer
Familie? Wo hält die sich derzeit auf?“
Diese Frage weckte sofort wieder Jamals Misstrauen. Das musste der
Amerikaner gar nicht wissen. Andererseits hatte Jamal keine Ahnung, wie
seine Frau und seine Kinder sonst in die USA kommen sollten. Er sagte
Winterbuttom widerstrebend die Wahrheit. Der sagte zu, sich auch darum
zu kümmern. Er würde das mit seinen russischen Kollegen regeln. Kein
Problem.
„Ich besorge die nötigen Papiere. Dann komme ich nach Deutschland
und rufe Sie unter dieser Nummer an. Sie verlassen bitte in der
Zwischenzeit so wenig wie möglich das Haus. Am besten gar nicht. Wenn
wir beide in den USA sind, lernen Sie Emma Chaplin und Riley Perkins
kennen. Bis bald, Mister Akbar!“
Kapitel 39
Bayron Bay, Mitte April 2017
Riley und Emma hatten ein Boot gechartert, um die Inseln abzuklappern,
auf die der Begriff grün zutraf. Das Boot war schnell, doch trotz
Eingrenzung der Region gestaltete sich ihr Versuch, Rileys Familie zu
finden, wie die Suche nach der Stecknadel im Heuhaufen. Es gab einfach
zu viele Inseln. Einige waren so klein, dass sich schon vom Boot aus
erkennen ließ, dass sie nicht infrage kamen, andere zu dicht besiedelt.
Aber viele waren groß genug, dünn oder gar nicht besiedelt und vor allem
grün. Ein Fehlversuch folgte dem nächsten. Erschöpft hatten sie ihre
Suche unterbrochen, um sich für zwei Tage in einem Hotel in Tauranga zu
erholen und die weitere Route zu planen.
„Riley“, begann Emma, „ich kann nicht ewig bleiben. Ich habe eine
Tochter und eine Firma.“
„Wann musst du denn spätestens zurück?“
Emma studierte die Seekarte. „Ich kann dich noch bis Wellington
begleiten. Wenn wir bis dahin nichts gefunden haben, musst du alleine
weitersuchen, Riley. So schwer mir das auch fällt.“
„Ich habe mir das anders vorgestellt“, sagte Riley traurig. „Du und
ich, deine Firma, meine Surfschule, Cathy. Vielleicht noch ein Kind und
später Enkelkinder. Und so zusammen alt werden. Für mich ist das kein
Lebenstraum, den ich schon immer hatte, sondern eine späte Erkenntnis.
Wieso sind wir nur in so eine beschissene Sache hineingeraten?“
Emma nahm Riley in den Arm. „Ich weiß es nicht. Ich weiß nur, dass
das nichts mit meiner Firma zu tun hat. Es gibt keine Geschäftspartner, die
wütend auf mich sind. Das FBI ist auf dem Holzweg. Ich frage mich nur
die ganze Zeit, warum. Warum sind die so zurückhaltend? Und von der
Polizei haben wir auch nichts mehr gehört. Apropos Polizei: Hast du die
Nachrichten verfolgt?“
„Nein, wieso?“
„Weil es in Europa eine Serie von Terroranschlägen gegeben hat.
Ziel waren die Wahrzeichen Europas. Der Eiffelturm. Und das
Brandenburger Tor. Da hat es die meisten Opfer gegeben.“
Riley pfiff durch die Zähne. „Eiffelturm? Brandenburger Tor? Das
ist ja wie Nine-Eleven. Aber warum erzählst du mir das gerade jetzt?“
„Weil ich es merkwürdig finde, dass gerade jetzt so etwas passiert.
Nicht die Terroranschläge an sich, aber ihre Dimensionen. Die wollen eine
multinationale Truppe unter Führung der USA in den Nahen Osten
schicken. AURORA dient doch angeblich der Bekämpfung des
Terrorismus, oder?“
Riley sah Emma verwundert an. „Das stimmt, aber wo ist da der
Zusammenhang?“
„Ich weiß nicht, ob es den gibt. Ich finde es nur merkwürdig, dass
deine Familie bei einer Stiftung gegen den Terrorismus untertaucht, du als
einziger zurückbleibst, dann ein Anschlag auf uns verübt wird und es jetzt
diese Terroranschläge auf die Wahrzeichen Europas gibt.“
„Willst Du damit andeuten, dass AURORA für diese Anschläge
verantwortlich ist? Warum?“
Emma zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Ich weiß nur, dass
ich das merkwürdig finde. Ebenso wie das Verhalten des FBI. Lass uns mal
an den Hotelrechner gehen.“
„Wieso, was hast du vor?“
„Warte es ab.“
Auf dem Weg in den Internetraum betrachtete Riley Emma. Er liebte
diese Frau. Doch ihre Beziehung wurde nicht von Gefühlen dominiert,
sondern von strategischen Fragen. Er hatte in Emma eine Zukunft voller
Hoffnungen gefunden. Doch es schien, als sei jede Hoffnung ohne
Zukunft.
Emma gab „AURORA“ und diverse Zusatzbegriffe in die Suchleiste
ein. Sie fanden die Homepage der Stiftung und diverse Berichte über ihr
Engagement. Aber sie stießen auch auf einige Beiträge aus Deutschland.
Es ging um den Tod eines Schleswig-Holsteinischen Staatssekretärs, um
eine Schießerei mitten in Kiel und um einen verschwundenen Araber, der
unter Terrorverdacht stand. Und jedes Mal tauchte der Name AURORA
auf.
„Das kann unmöglich alles Zufall sein“, sagte Emma bestimmt,
„ganz gleich, wie die Medien das darstellen.“
„Aber da steht doch, dass sich bei diesen Ereignissen keine
Verdachtsmomente gegen AURORA ergeben haben“, wandte Riley ein, der
jedoch selbst nicht an Zufälle glaubte.
„Riley, bist du wirklich so blind? Der BND steckt da mit drin.
Genauso wie das FBI. Die stecken alle irgendwie da drin. Und wenn solche
Leute zu AURORA gehören, ist das ganze Konstrukt unangreifbar. Überleg
doch mal, über was für einen Einfluss die verfügen! Ich glaube, dass deine
Familie in eine ganz üble Sache geraten ist!“
Riley sah Emma konsterniert an. „Willst du damit andeuten, dass
hinter AURORA Terroristen stecken, zum Beispiel die GESA? Und die
haben meine Familie entführt, damit mein Vater irgendwelche
todbringenden Viren bastelt?“
Emma schüttelte den Kopf. „Keine gewöhnlichen Terroristen. Das
müssen einflussreiche Persönlichkeiten sein. Mit viel Macht und Geld...“
In diesem Moment klingelte Emmas Handy. Sie nahm das Gespräch an,
sagte ein paar Mal „ja“, „ich verstehe“, und dann „komme morgen
zurück“.
„Was hast du gesagt?“, fragte Riley ungläubig „du musst morgen
zurück? Warum? Wer war das?“
Emma erklärte, dass ihr Büro ihr mitgeteilt hatte, dass sie in der
kommenden Woche nach New York musste. Ein europäischer Konzern
interessierte sich für die Produkte ihrer Firma und wollte Emma im
Rahmen der Internationalen Messe treffen. Das Ganze würde eine Woche
dauern. Wenn die Geschäftsführung überzeugt war, würde sie sich Emmas
Firma ansehen und nicht nur einen Großauftrag vergeben, sondern auch
einen langfristigen Rahmenvertrag.
„Aber sie haben ausdrücklich gesagt, mit Partner! Sie wollen auch
dich kennenlernen! Was hältst du davon, wenn du mich begleitest? Wir
hätten bestimmt auch Zeit für uns.“
Riley dachte über Emmas Vorschlag nach. Eine verlockende
Vorstellung. Er mit Emma in New York. Außerdem fand er es spannend,
seine Zukünftige in action zu erleben, als Geschäftsfrau. Davon
abgesehen, dass ihm bei dem Gedanken, sie auch nur einen Tag nicht zu
sehen, ganz flau wurde.
Aber es ging nicht. „Ich muss das hier durchziehen, Emma, verstehst
du? Es ist ja in unserem Sinne, wenn wir den Dingen auf den Grund gehen.
Kommst du später wieder hierher?“
„Ich glaube nicht. Ich muss mich um Cathy kümmern. Sie ist viel zu
oft allein in letzter Zeit. Ihr Vater kann mich nicht ersetzen. Aber so viele
Inseln sind es doch gar nicht mehr.“
Sie aßen, tranken Wein und liebten sich die ganze Nacht.
Leidenschaftlich, sinnlich. Es war ein Zauber. Ein Gefühl von Ewigkeit.
Riley wollte diese Frau! Für immer! Niemals würde es eine andere für ihn
geben. Das Wir hatte längst sein tiefstes Inneres erreicht. Und zu diesem
Wir gehörte auch Cathy.
Sobald der ganze Mist vorbei war, begann ihr gemeinsames Leben.
Ein Leben, das sich Riley niemals hätte vorstellen können. Familie, Job,
ein Glas Wein auf der Terrasse. Sich gemeinnützig engagieren. Es wäre
ihm vorgekommen wie der Inbegriff des Spießertums. Aber Emma zeigte
ihm mit ihrer Art, wie sie war, wie sie dachte, wie sie sich um ihre Firma
und Cathy kümmerte, wie sie ihn liebte, dass das mit Spießertum nichts zu
tun hatte. Er war ein Idiot gewesen.
Riley brach am nächsten Vormittag auf. Emma bekam für den Abend
einen Flug. Als sie sich verabschiedeten, konnte Riley seine Tränen kaum
zurückhalten. Auch Emma weinte. Sie schworen sich, dass sie, wenn
dieses Grauen vorbei war, nie mehr auseinandergehen würden.
Kapitel 40

Salem, Oregon
General Moore hatte sich vor dem sitzenden Special Agent Chris Walker
aufgebaut und sah auf ihn herab. Special Agent Jake Bishop, der
hünenhafte Schweiger, stand mit grimmigem Blick und verschränkten
Armen daneben. Sein Hemd spannte sich über seinem gewaltigen Bizeps.
„Haben Sie das verstanden, Special Agent Walker?“, fragte Moore in
herrischem Tonfall. Er konnte Wichtigtuer wie diese Superagenten nicht
ausstehen. Schon ihr erster Auftritt war eine Respektlosigkeit
sondergleichen gewesen. Moore hatte sich danach mit einem Freund
getroffen, dem stellvertretenden Direktor des FBI, und sich über den
Auftritt seiner Untergebenen beschwert.
„Ja“, antwortete Walker kleinlaut. „Wir begleiten Miss Chaplin nach
New York und weichen nicht von ihrer Seite. Wir sind mindestens eine
Woche unterwegs. Und wir berichten Ihnen jeden Abend, was sie tagsüber
gemacht hat und wen sie getroffen hat.“
Moore lächelte kalt. Wieder einmal zeigte sich, wie wichtig die
Verbindungen des Circle für AURORA waren. Wohl dem, der einen
hochrangigen Freund beim FBI hatte. Dass Walker ihm nicht traute, blieb
Moore nicht verborgen. Aber das störte ihn nicht. Im Gegenteil, es
amüsierte ihn, dass die Superhelden ihm, dem Sechssternegeneral,
gehorchen mussten.
Er blickte weiter genüsslich auf Walker herab, eine Augenbraue in
die Höhe gezogen. „Sie haben gut aufgepasst, Special Agent Walker.
Genau das ist Ihr Job. Bei Rückfragen oder Unklarheiten wenden Sie sich
an Ihren Vorgesetzten.“
Walker verzog das Gesicht in eindeutiger Manier. Moore bereitete es
Freude, mit anzusehen, wie der Mann seine Gefühle unterdrückte. In ihm
brodelte ein Vulkan. Er würde dem arroganten General am liebsten ins
Gesicht schlagen. Moore setzte noch einen drauf: „Aber ich denke, wir
haben uns auch so verstanden, Special Agent, oder?“
Walkers Kiefer mahlten.
„Special Agent Walker?“ Moores Tonfall sprühte nur so vor
Verachtung.
„Ja, Sir, haben wir!“
„Gut. Dann dürfen Sie jetzt wegtreten.”
Moore blickten den beiden Männern nach. Gute Agenten. Aber nicht
gut genug für den General of the Armies. Er wartete, bis sie die Gebäude
der Stiftung verlassen hatten, dann nahm er seine Jacke vom Haken,
verließ die Zentrale und stieg in seinen Chrysler, um zum letzten Treffen
des Circle bei Heather zu fahren. Dann ging es nach Adams Island. Phase
eins stand unmittelbar bevor.
Doch eines war noch zu erledigen, bevor Wave mit der Reinigung des
Planeten begann: der Meilenstein Flughäfen der Phase zwei, Ice. Wenn
Wave das Ende der Zivilisation einläutete, war Ice schon angelaufen.
Lautlos, im Hintergrund und absolut tödlich. Was für ein Zeitplan! Und
dann hieß es Abschied nehmen. Ein Abschied ohne Wiederkehr. Abschied
von der Heimat. Abschied von Freunden und Bekannten. Abschied von
einem überkommenen Leben. Und Aufbruch in ein neues Leben. Ein
großartiges Leben.

***

„Hoffentlich kommt Riley mit Emma Chaplin zurück in die USA“, sagte
Heather. Sie wurde von Woche zu Woche nervöser. Moore sah in ihr ein
Sicherheitsrisiko, wusste aber, dass sie ihm genug vertraute, um ruhig zu
bleiben. Die taffe Unternehmerin zeigte bei AURORA ein anderes,
ängstliches Gesicht. Moore war für sie eine Art Vaterfigur. Er strahlte
Ruhe und Souveränität aus. Und konnte sich gut in die junge Frau
hineinversetzen.
„Das wäre gut“, stimmte er ihr zu, „aber ich denke, der wird weiter
im Pazifik rumfahren und seine Familie suchen.“
„Aber das wäre eine Katastrophe!“, rief Heather besorgt. „Dann
besteht das Risiko, dass wir auffliegen und im Gefängnis landen.
Lebenslang statt Neuer Welt.“
Moore lächelte sanft. „Keine Sorge, der findet uns nicht. Und wenn
doch, was sollte dann passieren? Er findet unsere Zentrale, aber nur die
obere Ebene. Und seinen Vater, der ihm vor Glück um den Hals fällt, weil
er seine großartige Arbeit endlich auch dem verlorenen Sohn präsentieren
kann. Dass unsere Zentrale auf einer einsamen Insel liegt, ist nicht
verdächtig. Unsere Statuten verlangen absolute Geheimhaltung. Wo ginge
das besser als auf einem Eiland wie Adams Island? Und die zweite Ebene
ist für Riley unsichtbar.“
„Und wenn Riley Schwierigkeiten macht, kümmert sich Tarkan um
ihn“, schlug Rebecca vor.
„Das glaube ich nicht“, wandte Yefrem abu Tarik ein.
Die anderen sahen ihn fragend an.
„Tarkan ist gescheitert“, erklärte Yefrem. „Und ehe ihr fragt, ja, er
hat Sibirien gut gemanagt. Und ja, er hat den von ihm erwarteten Erfolg
erzielt. Aber er hat auf anderer Ebene versagt. Aber damit müsst ihr euch
nicht belasten. Das ist meine Angelegenheit.“
„Inwiefern ist Tarkan gescheitert?“, fragte Moore ungläubig, der von
den außergewöhnlichen Qualitäten dieses Mannes überzeugt war.
Abu Tarik schüttelte den Kopf. „Es geht um seine Unbeherrschtheit.
Aber er ist mein Untergebener und damit meine Angelegenheit. Können
wir es bitte dabei belassen?“
Moore nickte. „Selbstverständlich.“
„Was ist eigentlich mit diesem Afghanen, diesem..., wie hieß der
noch gleich...“, sinnierte Heather mit gerunzelter Stirn, „ich komme nicht
auf seinen Namen. Hat Pfeiffer ihn ausgeschaltet?“
„Du meinst Jamal Akbar“, sagte Yefrem.
„Ja, genau!“
„Nein, leider nicht“, sagte Moore bedauernd. „Der ist Pfeiffer und
Tarkan entkommen. Sie haben eine Weile nach ihm gefahndet, die Suche
dann aber eingestellt. Es ist dasselbe wie mit Riley. Beide haben eine vage
Ahnung, dass AURORA nicht das ist, was sie vorgibt zu sein. Aber beide
stellen keine ernstzunehmende Gefahr dar. Das sind Nobodys. Da wendet
sich dieser Akbar an die deutsche Polizei. Und was macht die? Informiert
den BND. Ich denke, diesen Spinner können wir vergessen.“
„Und was ist mit der Familie dieses Unternehmers, Hanke Peters?“
Moore lächelte. Heathers Namensgedächtnis zählte nicht zu ihren
Stärken. „Hauke Petersen. Dessen Familie hat nichts mit der Sache zu tun.
Im Nachhinein bin ich betrübt, dass wir Petersen ausgeschaltet haben. Der
Mann hatte nicht genügend Einfluss, um uns zu schaden. Dazu wäre einzig
der Staatssekretär im Finanzministerium in der Lage gewesen. Ihn
mussten wir liquidieren. Aber nicht Petersen. Das war ein Fehler.“
„Naja“, bemerkte Rebecca trocken, „auf die paar Monate kommt es
auch nicht an, oder?“
„Rebecca, du bist ein Miststück“, bemerkte O´Connor anerkennend,
„aber jetzt sollten wir uns dringlicheren Fragen zuwenden: Wave. Bist du
sicher, David, dass du die U-Boote fernsteuern kannst? Es darf keine
Pannen geben!“
Moore winkte ab und erklärte, dass Tschechow und er das oft genug
getestet hätten. Das Programm lief reibungs- und fehlerlos und war für das
Pentagon und den Kreml unsichtbar. Eine Rückverfolgbarkeit zu ihnen als
Urheber war unmöglich.
„Okay, kommen wir zu den Phasen zwei und drei. Kimberly, was sagt
dein Mann? Sind das Virus und der Impfstoff valide getestet? Ist genug
von beidem vorhanden? Und“, damit wandte er sich an abu Tarik, „sind
deine GESA-Kämpfer bereit, sich die Spritzen zu setzen und
aufzubrechen?“
„Ja“, antworteten beide wie aus einem Mund.
„Ausgezeichnet. Caldera beginnt wenige Wochen nach Ice. Sobald
die Menschheit begriffen hat, dass sie ein todbringendes Virus befallen
hat.“ O´Connor wandte sich Moore zu. „Befinden sich Mitjas U-Boote in
der Nähe des Einsatzgebietes, David?“
„Derzeit kreuzt nur ein russisches U-Boot vor der
nordamerikanischen Küste. Die Mehrzahl unserer Boote befindet sich vor
den Kanaren. Durch diese Zuteilung, amerikanische Boote für Wave und
russische für Caldera, können wir verhindern, dass jemand nach Wave auf
die Idee kommt, dass gleich zwei Supermächte daran beteiligt waren. Für
den unwahrscheinlichen Fall, dass die Welt unseren Spuren zur GESA
nicht folgen sollte. Die anderen Boote der Russen sind aber in der Nähe
und können binnen eines Tages das Zielgebiet erreichen.“
Rebecca Eliot erhob ihr Glas. „Nun denn, Freunde, lasst uns zum
letzten Mal hier in Salem anstoßen. Den nächsten Champagner gibt es in
der Neuen Welt! Cheers!“
Moore stieß mit Rebecca an. Er dachte an ihren jüngsten Ausbruch
und sah sie wieder im Dreck liegen. Übersät von blauen Flecken und
Schürfwunden. Nach Schweiß, Sperma, Blut und Angst stinkend.
Gedemütigt für den Rest ihres Lebens. Und statt Wiedergutmachung eine
weitere, kaum weniger schlimme Demütigung.
Er hatte sich nach Rebeccas Ausbruch Richard Armstrong anvertraut.
Zu viel Alkohol hatte seine Zunge locker gemacht. Ein Fehler, den er
schon am nächsten Tag bereut hatte. Aber Richard konnte als
Abteilungsleiter der CIA Moores Verhalten am besten nachvollziehen.
Richard hatte ihm versichert, dass er damals als Führungsoffizier richtig
gehandelt hatte. Aber jetzt teilte Moore mit Richard ein zuvor einsames
Wissen. Wehe, der gab es in einem unbedachten Moment an Rebecca
weiter. Dann drohte ein Vulkan auszubrechen, der die Neue Welt
erschüttern konnte.
Moore war so in seine Gedanken versunken gewesen, dass er nicht
mitbekommen hatte, dass Heather ihm ein Glas hingestellt hatte und nach
Rebeccas Trinkspruch aufgestanden und in die Küche gegangen war, um
eine neue Flasche Champagner zu holen. Und ebenso wenig, dass sie ihn
verteilt und darauf hingewiesen hatte, dass dieser Anlass nichts anderes
dulde als Champagner.
„Was ist los mit dir, David?“, fragte sie.
„Sorry“, sagte Moore und erhob sein Glas, „ich war in Gedanken.
Worauf stoßen wir an?“
Heather bedachte ihn mit einem vorwurfsvollen Blick. „Wir trinken
darauf, dass die Zerstörung unserer Umwelt durch den Menschen aufhört.
Wir trinken darauf, dass Hass, Missgunst, Egoismus, Arroganz und Gier,
Krebsgeschwüre wie die GESA, Scheindemokratien nach westlichem
Vorbild, Heuschrecken wie China, für immer von diesem wundervollen
Planeten gefegt werden. Wir trinken auf die Schönheit der Welt. Und
damit trinken wir auf AURORA, auf den Beginn der Neuen Welt. Auf
uns!“
Kapitel 41
Damaskus, Ende April 2017
Tarkan fragte sich auf dem Weg in das Kellergewölbe, warum Yefrem ihn
herbestellt hatte. Wartete ein neuer Auftrag auf ihn? Durfte er wieder
einen Europäer oder Amerikaner foltern? Aber warum hatte ihm Yefrem
das nicht vorher mitgeteilt? Dann hätte er sich optimal darauf vorbereiten
können. Oder wurde er zu einem Treffen der Stiftung gerufen, um eine
neue Mission zu übernehmen? So wie in Sibirien. Eine seiner größten
Meisterleistungen.
Tarkan öffnete die schwere Stahltür zum großen Verhörraum. Als er
über die Schwelle trat, bekam er aus den Augenwinkeln mit, wie von
beiden Seiten Arme nach vorne schnellten. Es folgte ein heftiger Schmerz
in Nacken und Rücken, dann fiel er in Ohnmacht.
Als er wieder aufwachte, war er in dem kalten, sterilen Raum an
einen Metallstuhl gefesselt, an dem das Blut zahlloser Ungläubiger klebte,
die Tarkan einer Behandlung unterzogen hatte. Auf beiden Seiten des
Stuhls stand einer von Yefrems Bodyguards, die Arme vor der Brust
verschränkt. Tarkans Rücken und Nacken schmerzten höllisch. Er
vermutete, dass ihn die Gorillas mit Tasern außer Gefecht gesetzt hatten.
Aber warum?
Er hörte, wie sich die Tür hinter ihm öffnete. Schritte hallten auf
dem Betonboden wider und kamen rasch näher. Im nächsten Augenblick
baute sich Yefrem vor ihm auf.
Entgeistert starrte er ihn an. „Was soll das, Yefrem? Warum hast du
mich auf diesen Stuhl fesseln lassen?“
Yefrem betrachtete ihn eine Weile schweigend aus
zusammengekniffenen Augen. Schließlich spitzte er die Lippen und sagte:
„Weil du versagt hast, Tarkan.“
„Ich habe was?“, fragte Tarkan ungläubig.
„Versagt.“
Er verstand kein Wort, ging in Gedanken alle Aufträge der letzten
Jahre durch. Er hatte jeden einzelnen ausgeführt, und zwar mit großem
Erfolg. Keine Fehler. Keine Spuren. Kein Versagen.
„Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst. Ich habe nicht ein
einziges Mal versagt.“
„Ich spreche davon, dass du die Mission gefährdet hast, Tarkan. Die
ganz große Mission. Die Mission, die über allem steht: AURORA.“
Yefrem sprach ohne erkennbare Emotionen.
Tarkan verstand weiterhin nicht, wovon Yefrem sprach, aber sehr
wohl, was es bedeutete, bei einer Mission zu versagen. Seine Zeit war
gekommen. Allah wartete auf ihn. Aber er wollte wissen, was genau ihm
vorgeworfen wurde.
Yefrem zog seine Pistole und zielte auf Tarkans Kopf. „Du kennst die
Regeln. Mach´s gut, mein Freund.“
„Warum?“, fragte Tarkan nochmals ohne Furcht. „Ich habe meine
Aufträge alle ausgeführt. Konsequent. Ohne irgendeinen Fehler.“
„Doch, du hast Fehler gemacht. Leider.“
„Welche?“
„Du hast Spuren hinterlassen!“
„Was für Spuren?“
„Du konntest dich nicht beherrschen. Wie so oft. Du hast die
russischen Wissenschaftler in Sibirien getötet. Und auf offener Straße drei
Jugendliche zusammengeschlagen. Das hast du mir zwar gebeichtet, aber
du wusstest, dass dir so etwas strikt untersagt war.“
Woher wusste Yefrem von Sibirien? „Ich hatte keine andere Wahl!“
„Man hat immer eine andere Wahl, Tarkan.“
„Aber die Wissenschaftler hätten uns verraten“, protestierte Tarkan,
„außerdem warst du derjenige, der mir unmissverständlich zu verstehen
gegeben hat, dass ich mit absoluter Konsequenz vorgehen soll, um
AURORA zu schützen. Ich dachte, du bist stolz auf mich, weil ich diese
Russen so unauffällig und ohne Spuren zu hinterlassen aus dem Weg
geräumt habe. Sonst wären wir schließlich kaum unbehelligt wieder aus
Russland rausgekommen.“
Yefrem schnaubte verächtlich durch die Nase. „Unauffällig? Hast du
eine Vorstellung, was für Überredungskünste es Tschechow gekostet hat,
den Kreml davon zu überzeugen, dass die Forscher aus Deutschland nichts
mit dem Tod der russischen Wissenschaftler zu tun hatten? Für wie blöd
hältst du die russischen Behörden eigentlich? Diese Wissenschaftler waren
in deren Auftrag unterwegs! Selbstverständlich wurde nach ihrem Tod
ermittelt! Und selbstverständlich wollte die russische Polizei euch
vernehmen. Ohne Tschechow wäre keiner von euch zurückgekommen, du
Idiot! Aber wenn du das einzig Richtige getan und den Russen eure
Genehmigung gezeigt hättest, hätten sie euch für Kollegen gehalten. Du
hast mich schwer enttäuscht, Tarkan. Zu schwer.“
Tarkan schluckte. Das hatte er nicht gewusst. „Aber sie könnten
unsere Waffen gesehen haben! Wir hatten sie dabei.“
„Na und? Ihr ward in einer gefährlichen Mission unterwegs. Da gibt
es Bären, Schlangen, Räuber und was weiß ich noch alles. Du hättest dich
lediglich als Sicherheitsoffizier ausweisen müssen. Niemand hätte
Verdacht geschöpft.“
„Ich wollte die Mission schützen! Wie sollte ich ahnen, dass diese
Leute im ewigen Eis so schnell gefunden werden?“‘
„Ewiges Eis? Blödsinn. Ein bisschen angefrorener Boden, sonst
nichts. Da gibt es Straßen und Ortschaften. Wie kommst du auf die Idee,
dass niemand diese Menschen findet? Du hast AURORA nicht geschützt.
Du hast das Gegenteil erreicht. Und jetzt zahlst du den Preis dafür.“
„Das ist ungerecht! Ich habe immer bedingungslos hinter der Sache
gestanden! Du hast mich auserwählt, AURORA bis zur letzten Phase zu
dienen. Und du weißt, dass ich dir treu ergeben bin. Ich kann noch viele
Aufträge für dich erledigen!“
„Bedingungslos hinter der Sache gestanden? Und deshalb
verprügelst du drei angetrunkene Kinder, nur weil sie ein paar
fremdenfeindliche Sprüche ablassen? Nein, Tarkan, du bist das Problem.
Du bist jähzornig und unbeherrscht. Als ich dich damals von der Straße
geholt und verhindert habe, dass du ein paar harmlose Spinner
abschlachtest, habe ich dir prophezeit, dass dich dein Jähzorn irgendwann
noch umbringen wird, wenn du ihn nicht kontrollieren kannst. Und jetzt ist
es soweit.“
Tarkan wurde wütend. Seine Stimme wurde lauter.
„Fremdenfeindliche Sprüche? Sie haben Allah beleidigt! Ich war
gezwungen, sie zu bestrafen. In Allahs Namen. Das hat nicht das Geringste
mit Jähzorn zu tun. Das weißt du genauso gut wie ich!“
Yefrem deutete ein Nicken an. „Das stimmt. Allah zu beleidigen, ist
ein schweres Verbrechen, das geahndet werden muss. Aber du wusstest,
dass sie ihre gerechte Strafe bald ereilen würde. Und eine viel
grauenvollere dazu. Aber du musstest wieder einmal deinem jämmerlichen
Jähzorn freien Lauf lassen. Das hatte nichts mit Allah zu tun. Armselig,
Tarkan. Wirklich armselig. Ich bin sehr enttäuscht von Dir.“
„Sie hatten es nicht besser verdient“, versuchte Tarkan ein letztes
Mal sich zu verteidigen, wissend, dass das sinnlos war, „und wenn sie viel
später wegen eines Virus qualvoll verenden, bringen sie das nicht mehr mit
ihrem Frevel in Verbindung. Nur meine sofortige Reaktion hat ihnen
gezeigt, warum sie in diesem Moment Schmerzen erleiden mussten.“
Yefrem bestätigte Tarkans Einschätzung der Erfolgsaussichten seiner
Verteidigung: „Genauso wenig wie du, Tarkan. Du hast es auch nicht
besser verdient.“
„In die Hölle mit dir!“
Yefrem spannte den Hahn seines Revolvers. „Nein, Tarkan, in die
Hölle komme ich nicht. Du glaubst doch an Allah. Du glaubst an das
Paradies. An die höchste Stufe direkt zu den Füßen Allahs. Du stirbst als
Heiliger Krieger. Wenn es Allah gibt, bist du bald bei ihm.“
„Was soll das heißen: wenn es Allah gibt?“
Yefrem lachte spöttisch. „Ich glaube nicht an den einen Gott der
Menschen, nicht an Allah, nicht an Jehova. Ebenso wenig glaube ich an
Brahma oder Shiva oder Xian. Ich glaube an das, was ich mit meinen
eigenen Augen sehen und was ich anfassen kann. So wie das hier.“ Er
tätschelte den Lauf seines Revolvers, in dessen Trommel sich sechs
Patronen vom Kaliber 357 Magnum befanden. In wenigen Augenblicken
waren es nur noch drei.
Tarkan schrie. Yefrem lächelte. „Du hast mich belogen. Du hast mich
nur benutzt. Du bist ein Verräter! Du hast Allah verraten! Jahrelang hast du
mich getäuscht. Warum begreife ich das erst jetzt?“
Tarkans Wut schäumte über. Er rüttelte an dem Stuhl, versuchte,
seine Fesseln zu lösen. Yefrem hatte ihn all die Zeit getäuscht, um seine
Treue für seine Zwecke zu missbrauchen. Seit dem Moment, als er den
Streit auf der Straße beendet hatte. Er wollte ihm nicht helfen, sondern ihn
benutzen. Und jetzt brauchte er seinen treuen Gefolgsmann nicht mehr.
„Du wirst in der Hölle schmoren, Yefrem. Denn du hast Allah wahrhaftig
verraten.“
Tarkan versuchte, gegen die Fesseln aufzuspringen. Fast wäre es ihm
sogar gelungen, doch sofort legten sich schwere und kräftige Hände auf
seine Schultern und drückten ihn gewaltsam in den Sitz zurück.
„Warum du das erst jetzt begreifst? Weil du verblendet bist, Tarkan.
So wie die meisten Krieger der GESA. Nicht ich habe dich verraten. Du
hast dich selbst verraten. Ich hingegen habe dich von Anfang an gewarnt.
Du hättest es noch weit bringen können. Du hättest nur auf mich hören
müssen. So muss AURORA ihren Glanz ohne dich entfalten.“
„Du widerliche Ratte!“ Tarkan unternahm einen weiteren Versuch,
aufzuspringen. Doch mit hinter dem Rücken gefesselten Händen und dem
erneuten Druck von zwei kräftigen Händen auf den Schultern blieb das ein
hoffnungsloses Unterfangen.
Yefrem setzte die Mündung der Waffe an Tarkans Stirn auf, der ihm
direkt in die Augen sah. Darin war keinerlei Furcht zu erkennen. Nur
blanker Hass.
„Ich sage andererseits nicht, dass ich recht habe“, sinnierte Yefrem.
„Vielleicht gibt es Allah. Oder Gott. Oder irgendeinen anderen. Oder sie
alle sind ein- und derselbe. Oder wer weiß, vielleicht gibt es sie sogar alle.
Du bist in der wunderbaren Lage, diese Frage gleich klären zu können,
Tarkan. Schade, dass du es mir nicht mehr sagen kannst. Es hätte mich
brennend interessiert.“
Tarkan wollte etwas erwidern, doch in diesem Augenblick zerschnitt
der erste Schuss die Stille in dem alten Kellergewölbe. Die Kugel drang in
Tarkans Stirn ein, zerstörte Teile des Gehirns, und trat zusammen mit Blut
und Hirnmasse am Hinterkopf wieder aus. Tarkan wurde auf seinem Stuhl
nach hinten geschleudert. Yefrem zielte und feuerte die beiden nächsten
Schüsse auf Tarkans Herzregion ab. Die Schüsse hallten in dem
schmucklosen Raum aus Stahl und Beton mehrfach wider. Eine perfekte
Methode des Tötens. Schnell. Effizient. Und todsicher.
Yefrem wandte sich seinen Bodyguards zu, die bei den Schüssen
nicht einmal mit der Wimper gezuckt hatten. „Wo er jetzt wohl ist? Bei
Allah? Oder nirgendwo? Ist er einfach nur tot? Leider kann er uns diese
Frage nicht beantworten. Egal, wir haben ein Problem weniger. Lasst seine
Überreste verschwinden. Aber bitte mit der gebotenen Würde!“
Er sah zu, wie die beiden Männer den leblosen Körper des
hünenhaften Tarkan über den Betonboden zum Ausgang schleiften. Er
hinterließ dabei eine breite Blutspur. Sein zerfetzter Kopf hing schlaff zur
Seite herab. Ein geradezu bizarrer Anblick. Yefrem hasste das. Diese Art
zu töten war zwar effizient. Er machte das immer so. Genauso wie bei
Fatima und ihrer Brut. Aber es machte ihm keinen Spaß. Der Anblick von
Blut und Hirnmasse widerte ihn an. Und oft empfand er sogar Mitleid mit
seinen Opfern. Wie bei Tarkan, dem es viel leichter gefallen war,
Menschenleben auszulöschen. Der dabei sogar Vergnügen empfunden
hatte. Und noch mehr Vergnügen, das Sterben seiner Opfer zu zelebrieren.
Ein wahrhaftiger Künstler hatte die bunte, facettenreiche Bühne des
Tötens vor der Zeit verlassen.
Und nun musste auch er eine Bühne für immer verlassen. Die Bühne
des Geheimdienstes. Damaskus. Syrien. Die Welt vor AURORA. Auf
Adams Island wartete die Neue Welt auf ihn. Die Welt nach AURORA.
Nur eines war vorher noch zu erledigen.
Yanok
„So hat die Apokalypse also ihren Anfang genommen. Die Gedanken von
Menschen unterschiedlicher Herkunft haben AURORA erschaffen. Das
Projekt AURORA, das nicht nur Tod und Trauer gebracht hatte, sondern
auch das letzte Kapitel der Zivilisation einläuten sollte.
Auch wir, die wir nichts mit den Verbrechen und dem Versagen der
Menschheit zu tun hatten, die wir nur friedlich in unserer Welt leben
wollten, wurden von der Apokalypse überrollt.
Die plötzliche Flut hat die Bewohner am Meer und die Touristen
innerhalb von Minuten ausgelöscht. Die Bars wurden förmlich fortgespült,
unser beschauliches Städtchen dem Erdboden gleichgemacht. Von den
Hotels sind nur Ruinen übrig. Wie aus dem Nichts ist das Chaos
gekommen. Und genauso schnell ist es auch wieder gegangen.
Zurückgelassen hat es Tod und Zerstörung.
Doch das war nur AURORAS Anfang! Erst später kam der Sturm
und hat unser Klima zerstört.
Es hatte schon eine Weile gedauert, bis wir begriffen hatten, was
geschehen war. Was wir aber nicht kannten, war die Antwort auf die Frage
nach dem Warum. Das erfuhren wir erst von den Fremden, die nach und
nach den Weg zu uns fanden. Wir lernten und lernen viel von ihnen. Auch,
dass ich vielleicht nicht mehr viel Zeit habe. Wir alle nicht. Was
geschehen ist, ist jenseits des Vorstellbaren. Niemand hätte für möglich
gehalten, dass sich eine solche Katastrophe in der Geschichte der
Menschheit jemals ereignen könnte.
Doch sie ereignete sich. Und sie verschonte niemanden.
Ich empfinde Liebe und Wehmut zugleich, wenn ich sehe, wie sich
Bjanik in die Fluten stürzt. Das Kind hat keine Ahnung, dass sich sein
Leben für immer verändern wird. Ob sich Bjanik den Wellen dann immer
noch so unbeschwert entgegenwirft? Seine letzten Stunden als Kind sind
gezählt. Gerne würde ich noch warten. Wenigstens ein paar Jahre, bis auch
die Jüngeren alt genug sind, um zu verstehen.
Doch ich spüre, dass ich schwächer werde. So, wie die Fremden es
vorausgesagt haben. Mir wird oft schlecht, ich habe Durchfall, bin müde
und manchmal desorientiert. Nicht wegen meines Alters. Ich bin erst
vierzig. Vielen von uns ergeht es so. Wir müssen handeln. Unser Wissen
an unsere Kinder weitergeben.
Ich kann nicht einmal sagen, ob ich den Fremden dankbar sein soll,
weil sie uns erzählt haben, was geschehen ist und unser Volk vielleicht nur
dank ihrer Technik und ihrer Möglichkeiten, in den Rest der Welt
auszuschwärmen, überleben wird. Oder ob ich sie lieber den Haien zum
Fraß vorwerfen würde. Einige von ihnen sind Henker der Apokalypse. Sie
sind Zahnräder in der Untergangsmaschinerie.
All das im Namen eines Gottes? Doch auch das nur Lug und Trug.
Mein Volk hat einen anderen Glauben. Unser Gott ist die Schöpfung. Wir
fühlen uns als ihr demütiger Bestandteil, aber nicht als ihre Krone. Alles
hat eine Seele, nicht nur der Mensch. Auch jedes Tier, jede Pflanze, jeder
Stein. Hier und im ganzen Universum. Ein Leben nach dem Tod gibt es nur
in Form der Einswerdung mit der Schöpfung, auf einer energetischen
Ebene.
Unser Glaube ist tolerant und kennt keine Feindseligkeit. Denn
niemand hat eine Antwort auf alle Fragen. Jeder Glaube könnte die
Wahrheit sein, ein Teil davon oder ein Irrtum.
Vor einigen Tagen ist wieder ein Fremder bei uns gelandet. Der
Russe. Mit einer kleinen Schar an Menschen ist er in dem großen
Unterseeboot gekommen, das ich aus dem Meer habe auftauchen sehen.
Als sie die Insel erreicht hatten, öffneten sich die Luken und Menschen
kamen heraus, zusammen mit vielen großen Kisten. Wichtige Ausrüstung,
wie mir der Russe mit einem bedeutungsvollen Nicken versichert hat.
Und er hat mir erzählt, wie die Apokalypse begann. Von Wave, der
ersten Phase von AURORA. Was an einem weit entfernten Ort geschehen
ist. Einem Ort, der für viele Menschen ein Urlaubsparadies war. So wie
meine Insel. Bis zu jenem verhängnisvollen Tag...“
Phase 1 WAVE

Und so soll kämpfen in Allahs Weg, wer das irdische Leben verkauft für
das Jenseits. Und wer da kämpft in Allahs Weg, falle er oder siege er,
wahrlich dem geben wir gewaltigen Lohn.
Sure 4, Vers 74

Denn siehe, ich will eine Sintflut kommen lassen auf Erden, zu verderben
alles Fleisch, darin Odem des Lebens ist, unter dem Himmel.
Alles, was auf Erden ist, soll untergehen.
1 Buch Mose, 6, 17
Kapitel 42
Adams Island, Anfang Mai 2017
General Moore hatte sich mit seinem Laptop in seine Suite
zurückgezogen. Für seine Aufgabe brauchte er absolute Ruhe und höchste
Konzentration. Zehn U-Boote der Ohio-Klasse musste er koordinieren.
Und zwar so, dass sie zeitgleich ihr Ziel erreichten. Derzeit tauchten die
Boote im Atlantik rund um Teneriffa, in Entfernungen von drei bis fünf
Stunden. Die Kommandanten gingen davon aus, sich auf einer
Gemeinschaftsübung zu befinden. Und die Sicherheitsbeauftragten und
Offiziere im Pentagon wähnten die Boote auf gänzlich anderen Positionen.
Denn Jimmys Tool leistete ganze Arbeit. Ohne in der Schaltzentrale
der US-amerikanischen Militärgewalt bemerkt zu werden, hatte es die
Atom-U-Boote rings um die Kanareninsel verteilt. Und es konnte noch
viel mehr. Es verfügte nämlich über wichtige Zusatztools, die schon bald
wertvolle Dienste leisten würden. Eines dieser Tools musste Moore
allerdings schon jetzt nutzen.
Für so etwas hatte er eigentlich seine Leute. Die Zeiten, in denen er
sich mit militärischer Software auseinandersetzen musste, lagen lange
zurück. Sein Pendant in Russland, Flottenadmiral Tschechow, kam besser
mit so etwas zurecht. Er beherrschte das Tool mühelos. Moore hingegen
waren Fehler unterlaufen! Das durfte ihm heute nicht passieren! Denn jetzt
trat der Ernstfall ein.
Es war ein merkwürdiges, befremdliches Gefühl, nicht in der
technologisch hochgerüsteten, durch zig Sicherheitssysteme
abgeschirmten Schaltzentrale der Macht zu sitzen, umgeben von den
besten Spezialisten der Welt, sondern mutterseelenalleine an einem
schmucklosen Schreibtisch auf einer menschenleeren Insel, um eine
Atom-U-Boot-Flotte mit einem Laptop fernzusteuern.
Moore konzentrierte sich auf den Monitor. Er verfolgte die
Bewegungen der Boote. Während er auf den riesigen Monitoren im
Pentagon alle Boote in einer dreidimensionalen Realdarstellung sehen
konnte, waren sie auf seinem fünfzehn Komma sechs Zoll kleinen
Bildschirm nur winzige Punkte. Daneben wurden stets die aktuellen
Koordinaten eingeblendet. So klein, dass er mit dem Gesicht dicht an den
Monitor herangehen musste, um sie lesen zu können. Dass die
Beschriftung so klein war, hatte einen guten Grund: Zusätzlich zu den
aktuellen Positionen konnte Moore für jedes Boot weitere Daten vorgeben:
Zielkoordinaten, Zeit und Geschwindigkeit.
Heather hatte Jimmy perfekt gebrieft. Er wusste genau, was wichtig
war, was das Programm leisten und dass es sehr anwenderfreundlich sein
musste. Diese Anforderungen hatte Jimmy erfüllt. Traurig, dass seine
Stunden gezählt waren. Etwas mehr emotionale Intelligenz, eine Prise
Altruismus, etwas weniger Gier, und Jimmy hätte in den Circle berufen
werden können.
Moore folgte einem minutiösen Zeitplan. Eine fixe Uhrzeit, zu der
alle U-Boote vor der Nordwestküste Teneriffas angekommen und sich
gleichmäßig auf die zwanzig Kilometer zwischen Garachico und Puerto de
la Cruz verteilt haben mussten. Alle zwei Kilometer ein U-Boot. Niemand
an Land würde etwas davon mitbekommen. Nicht in Garachico, nicht in
Puerto de la Cruz, und auch nicht in Icod de los Vinos oder San Juan de la
Rambla. Nichtsahnend würden die Menschen in Cafés sitzen oder am
Strand spazieren gehen, während zehn Atom-U-Boote in Position gingen,
ausgestattet mit einem Atomantrieb und vierundzwanzig dreistufigen
ballistischen Trident II-Raketen vom Typ UGM-133. Sie hatten die
höchste Treffergenauigkeit aller U-Boot-basierten Interkontinentalraketen.
Elftausenddreihundert Kilometer Reichweite, einundzwanzigtausend
Stundenkilometer schnell.
Doch diese Superlative spielten keine Rolle. Sie brauchten weder
eine hohe Präzision, noch eine große Reichweite oder eine hohe
Geschwindigkeit. Sie brauchten nur eine gewaltige Sprengkraft und eine
große Hitzeentwicklung. Diese Anforderungen erfüllten sie. Jeder
Gefechtskopf verfügte über eine Sprengkraft von
vierhundertfünfundsiebzig Kilotonnen. Zehn U-Boote mit jeweils
vierundzwanzig Sprengköpfen, zweihundertsiebzig mal
vierhundertfünfundsiebzig Kilotonnen Sprengkraft. Ihm wurde
schwindelig beim Ausmaß der Explosion. Zumal sich die Atomantriebe
und Dutzende von Torpedos dazu addierten.
Moore hatte sich über die großen Hangrutschungen informiert. Je
mehr er darüber erfuhr, desto mehr war er davon überzeugt, dass Wave
bereits großes Chaos auslösen würde, in das Ice und Caldera mit
brachialer Urgewalt einschlugen und es unbeherrschbar machten.
Unbeherrschbar für strauchelnde Regierungen. Aber nicht für den Circle.
Zwischen 1900 und 1950 war über dem norwegischen See Lovatn bei
Bergen gleich dreimal ein Berg abgebrochen und hatte jedes Mal über eine
halbe Million Kubikmeter Gestein ins Wasser geschleudert. Am
gegenüberliegenden, zehn Kilometer entfernten Ufer, vernichteten Wellen
von bis zu siebzig Metern Höhe ganze Dörfer und schleuderten ein
Ausflugsschiff vierhundert Meter weit ins Landesinnere.
Faszinierend war auch die höchste, jemals gemessenen Welle, in den
Fünfzigern, im Süden Alaskas in der Lituya Bay. Aus fast tausend Metern
Höhe waren vierzig Millionen Kubikmeter Fels in die Bucht gestürzt und
hatten am anderen Ufer eine alles vernichtende Welle mit einer Höhe von
mehr als fünfhundert Metern aufgetürmt.
Bei der großen Storegga-Rutschung vor der norwegischen Westküste
hatten Tsunamis die Küsten Nordeuropas verwüstet. Damals lebten dort
vergleichsweise wenig Menschen. Aber heute wäre eine ganze Zivilisation
davon betroffen.
Auf den Kanaren waren der Teide auf Teneriffa und der Cumbre
Vieja auf La Palma tickende Zeitbomben. Bei einer Hangrutschung würden
mehr als eintausend Milliarden Tonnen Gestein ins Meer stürzen. Eine
Katastrophe biblischen Ausmaßes. Auch ohne AURORA tickten dort
Zeitbomben. Ein Erdbeben konnte ausreichen, um die instabilen Hänge
kollabieren und einen Vulkan ins Meer stürzen zu lassen. Abgesehen von
Tod und Zerstörung auf den betroffenen Inseln würden vor Nordafrika,
einigen europäischen Küsten und vor der amerikanischen Ostküste riesige
Tsunamis auftauchen und alles verwüsten.
Vor AURORA wusste Moore weder, welche Zeitbomben auf dem
Planeten tickten, noch, dass sie sich mit vergleichsweise einfachen Mitteln
zünden ließen. Atom-U-Boote, die mit Maximalschub in einen
Kontinentalhang rasten, explodierten samt ihrer nuklearen Fracht und
destabilisierten ihn auf zweierlei Weise. Durch die Wucht der Explosion
und durch Hitze, durch die die Methanhydrate schmolzen. Methanhydrate
waren in gefrorenem Zustand nämlich so etwas wie ein Klebstoff für die
labilen Hänge. Sie hielten zusammen, was ohne sie abrutschen musste.
Die von der dümmsten Rasse des Planeten ausgelöste
Klimaerwärmung gefährdete die Hänge ohnehin schon. Die Meere
erwärmten sich rapide und wurden für die Methanhydrate zu warm.
Deshalb waren Hangrutschungen auch ohne AURORA vorprogrammiert.
Doch die Menschheit war nicht auf so etwas vorbereitet. Weder auf
eine solche Rutschung, noch auf die folgenden Tsunamis. Dafür gab es
kein Tsunami-Warnsystem. Wie ein Kaninchen vor der Schlange stand der
Schöpfungsirrtum Mensch vor Naturkatastrophen, die er in seiner
Beschränktheit und Gier selbst auslöste. Die Folge waren Kriege, die das
Potenzial hatten, die Menschheit bis auf das letzte Individuum zu
vernichten.
Es sei denn, man hinderte das Virus Mensch an seiner Ausbreitung.
Indem man der Natur zuvorkam, ihr ein wenig unter die Arme griff.
Moore fand die Vorstellung, dass AURORA der Impfstoff der Erde war,
immer wieder höchst erfreulich und belebend.
Er schaute auf die Uhrzeit am unteren rechten Bildschirmrand. 15.34
Uhr Ortszeit. Also 10.34 Uhr in New York City. Zwischen Teneriffa und
NYC lagen fünftausend Kilometer. Wave würde rund sechs Stunden
benötigen. Es gab ein Zeitfenster, wann Wave über New York
hereinbrechen sollte: übermorgen während der Rush Hour. Wenn die
Straßen verstopft waren und es kein Entrinnen gab. Vor allem nicht für
einige ganz spezielle Damen und Herren...
Moore wusste nicht genau, wann die Tsunamis ausgelöst wurden.
Das hatte Rebecca mit ihrem Asiatensklaven nicht exakt vorausberechnen
können. Das hing von zu vielen unkalkulierbaren Faktoren wie der
Zeitspanne zwischen Explosionen und Hangrutschung, und Menge,
Geschwindigkeit und Ausdehnung des Materials ab.
Aber das spielte keine Rolle. Selbst wenn es dem
Katastrophenschutz gelang, Teile der Bevölkerung zu evakuieren, war das
Chaos perfekt. Die New York Stock Exchange, die berühmte Wall Street,
war die größte Wertpapierbörse der Welt und Sitz der wichtigsten Banken.
Wenn das zusammenbrach, überfiel das Chaos den Rest der Welt auch wie
ein Tsunami. Es kam zu einem Zusammenbruch der Finanzmärkte. Zumal
auch Unterseekabel zerstört wurden.
Doch Moore bezweifelte, dass irgendjemand evakuiert würde. Der
Katastrophenschutz rechnete mit vielem. Aber nicht mit einer
Hangrutschung vor den Kanarischen Inseln. Und erst recht nicht aufgrund
der Explosion von zehn Atom-U-Booten.
Moore ordnete den U-Booten in Jimmys Tool Zielkoordinaten und
Zeiten zu. Das Tool schlug für jedes Boot eine Aktivierungszeit vor. So
abgestimmt, dass alle Boote ihr Ziel zur selben Zeit erreichten. Mit einem
Puffer von fünf Stunden für Unvorhergesehenes.
Er drückte die Enter-Taste. Ein mehrmaliges Aufblinken jedes
Lichtpunktes bestätigte, dass Positionsänderungen und Zeiten jetzt aktiv
waren. Die Befehle zur Kursänderung wurden in wenigen Stunden an die
U-Boote übermittelt. Mit der Begründung, dass sie sich zu der
konzertierten Auftauch- und Absinkübung im Atlantik begeben mussten.
Niemand würde Verdacht schöpfen, zumal jeder Kommandant von Moore
persönlich instruiert worden war.
Seine Gedanken schweiften ab. Er dachte an Rebecca und ihren
Sklaven. Es war kein Zufall, dass sie sich auf so ein schwanzwedelndes
Hündchen eingelassen hatte, obwohl es nur darum ging, ihn für AURORA
zu gewinnen. Das hätte sie auch auf andere Weise erreichen können.
Moore wusste, wie zwiegespalten sie war. Wie die meisten
Menschen sehnte sie sich nach einer Beziehung und Sex. Aber über allem
stand ihr Männerhass, den ihr auch der beste Therapeut der Welt nicht
würde austreiben können. Mit Zhou hatte sie Sex und eine Beziehung. Und
zwar nach ihren Vorstellungen. Aber gleichzeitig konnte sie ihre
Verachtung an ihm auslassen. Er würde sich nicht trauen, sich gegen die
Frau zu wehren, ihr auch nur zu widersprechen, die er vergötterte. Eine
Zweckbeziehung, ohne dass sich einer von beiden dessen bewusst war.
Das Fatale war, dass Rebecca beizeiten jegliche Achtung vor Zhou
verlieren würde. Gerade wegen seines devoten Verhaltens. Denn eigentlich
suchte sie einen Mann auf Augenhöhe. Jemanden, zu dem sie auch mal
aufsehen konnte. So wie zu ihm. Doch sie war beziehungsunfähig. Ein
Pulverfass. Viel gefährlicher, als ein paar besonders schlaue
Programmierer im Pentagon oder im Kreml.
Wenn doch nur seine Männer damals nicht diesen gottverdammten
Mist gemacht hätten!
Kapitel 43
Waiheke Island, Onerea
„Chris Walker und Jake Bishop haben mich begleitet, die Special Agents,
mit denen wir nach dem Anschlag auf uns zu tun hatten.“
„Also wirst du doch wieder überwacht?“, fragte Riley verwundert. Er
war in seinem Hotelzimmer und skypte zum ersten Mal seit ihrer Abreise
mit Emma. „Ich dachte, die hätten das inzwischen aufgegeben.“
„Das dachte ich auch“, sagte Emma, die ihn durch die Cam
anstrahlte. Riley war glücklich, sie zu sehen und mit ihr zu sprechen. Ihre
Stimme zu hören, die jedes Mal einen wohligen Schauer in ihm auslöste.
Es zerriss ihm das Herz, dass tausende von Kilometern zwischen ihnen
lagen. Zumal er immer noch nichts gefunden hatte. Die ganze Suche
erwies sich bis jetzt als Flop.
„...Moore beauftragt worden...“
„Was hast du gerade gesagt? Sorry, aber ich war total in Gedanken.“
Emma lachte. „Woran hast du denn gedacht?“
„An Dich! Ich habe mir vorgestellt, wie du in meinen Armen liegst.
Mein Gott, wie sehr ich dich liebe. Ich verzehre mich nach dir. Ich halte es
ohne dich kaum noch aus!“
„Das geht mir genauso“, sagte Emma traurig. „Steig in den nächsten
Flieger nach New York. Dann bist du schon morgen bei mir.“
Riley presste die Lippen aufeinander. Nichts täte er lieber. Aber
wenn das Verschwinden seiner Familie mit den Anschlägen auf Emma und
ihn zu tun hatte, half er Emma mehr, wenn er auch noch die letzten Inseln
abklapperte. Der Skipper hatte ihm erklärt, dass sie in zwei Tagen bis auf
ein paar unbewohnbare Inseln, die nur aus Fels und Schotter bestanden und
winzig klein waren, alles angefahren hatten, was mit einem Boot
erreichbar war.
„Die paar Tage sollten wir in unserem eigenen Interesse noch
durchhalten. Dann bringt uns nichts und niemand mehr auseinander. Aber
was hast du eben von beauftragt gesagt?“
Emma erklärte, dass die beiden Special Agents von General David
Moore beauftragt worden waren, sie nach New York zu begleiten. Als
Personenschützer.
„Das ist ja merkwürdig“, fand Riley. „Was mischt sich denn das
Militär da ein?“
„Keine Ahnung“, gestand Emma mit einem Achselzucken. „Aber
dieser General ist ziemlich bekannt. Den habe ich schon oft in der Zeitung
und im Fernsehen gesehen. Er ist unser ranghöchster Offizier. Ich glaube,
der hat sogar sechs Sterne! Das hat vor ihm kaum jemand geschafft. Er gilt
als enger Vertrauter und Berater des Weißen Hauses. Ich könnte mir
vorstellen, dass die inzwischen neue Hinweise gefunden haben. Wegen
dieser Stiftung. Oder wegen deiner Eltern. Und Moore gehört ja auch zum
Vorstand der Stiftung.“
Riley fragte, ob sich Emma nicht bei den FBI-Agenten nach Details
erkundigt hatte.
„Doch, habe ich. Aber Walker sagte, dass sie nicht befugt sind, mir
Auskünfte zu erteilen. Aber die beiden sind okay. Und ehrlich gesagt“,
ergänzte sie mit einem verheißungsvollen Lächeln, „bin ich aus
gegebenem Anlass ganz froh, von zwei gestandenen Profis beschützt zu
werden.“
Riley war verwirrt. Was für ein Anlass? Wenn Emma etwas hasste,
dann waren es Störungen bei ihren Kundenkontakten. Er sah sie nur
fragend an.
„Denk doch mal nach“, sagte Emma und wirkte sehr glücklich.
Glücklich... Es dauerte einen Augenblick, bis Riley begriff. Er lachte
Emma durch die Webcam an. „Ist..., ist das..., ist das dein Ernst?“,
stammelte er.
Emma strahlte über das ganze Gesicht. „Ja, Riley. Das ist mein
Ernst! Du wirst Vater!“
Riley brauchte eine Weile, um diese Information zu verarbeiten. Er,
Riley Perkins, Sohn des weltberühmten James Perkins, kiffender und
saufender Surflehrer, unehrenhaft aus der Armee entlassen, wurde Vater!
Sein ganzes Leben war auf den Kopf gestellt. Plötzlich hatte er ein Ziel:
eine eigene Familie mit Emma, Cathy und einem eigenen Kind. Oder auch
zwei oder drei. Hauptsache mit Emma. Riley konnte sein Glück kaum
fassen. Tränen schossen ihm in die Augen. Verstohlen wischte er sie mit
dem Handrücken weg.
„Du musst deine Tränen nicht unterdrücken, Riley“, sagte Emma,
„was meinst du wohl, wie es mir geht, seit ich das weiß? Vor meiner
Abreise war ich noch bei meinem Frauenarzt. Und der hat mir die frohe
Botschaft verkündet. Ich kann mich kaum auf meine Verhandlungen
konzentrieren. Und dabei ist das ein dicker Fisch. Wenngleich ein wenig
merkwürdig. Ich wollte dir das eigentlich erst sagen, wenn du zurück bist.
Aber du hast ein Recht darauf, es sofort zu erfahren. Außerdem will ich
meine Freude mit dir teilen.“
Plötzlich waren AURORA, der Anschlag und das mysteriöse
Abtauchen seiner Familie weit weg. Er wurde Vater. Bekam mit seiner
Emma ein Kind. Liebe durchflutete ihn wie eine Urgewalt. „Ich nehme den
nächsten Flieger“, kündigte er an. „Morgen bin ich bei dir. Und dann
überlegen wir gemeinsam, wie es heißen soll. Weiß du schon, ob es eine
Junge oder ein Mädchen wird?“
Emma winkte ab. „Nein, das kann man noch nicht sagen. Wobei ich
das vorher auch gar nicht wissen möchte. Aber bitte bleib die paar Tage
noch dort, Riley. Du hast recht. Wir sollten auch die letzten Möglichkeiten
prüfen. In Cocoa Beach feiern wir! Ich war noch nie so glücklich!“
Riley ging es genauso. Es fiel ihm schwer, sich vorzustellen, wieder
zwischen irgendwelchen verlassenen Inseln rumzuschippern. Aber er
musste an seine Familie denken. An seine neue, aber auch an seine alte.
„Ich umarme dich ganz feste, Emma! In Gedanken bin ich jede
Sekunden bei dir. Und bei unserem Kind. Ich klappere die paar Inseln noch
ab, dann komme ich nach Hause. Mach dir bitte nicht so viel Stress. Das
ist bestimmt nicht gut, wenn man schwanger ist.“
Emma lachte. „Da mach dir mal keine Sorgen. Ist ja nicht das erste
Mal. Ich bin gespannt, wie Cathy darauf reagieren wird.“
Riley versprach Emma, dass er ihr den Rücken freihalten würde,
wenn das Kind erst mal da war. Er würde sich um das Haus und die Kinder
kümmern, damit sie ihre Firma nicht vernachlässigen musste. Und mit
Cathy würde es mit einem Schwesterchen oder Brüderchen bestimmt viel
einfacher werden.
Sie sahen sich noch eine Weile an. Riley kam sich vor wie in einem
schützenden Kokon. Es gab nur Emma, Cathy, ihn und ihr Kind. Der Rest
der Welt war außen vor. Die Welt, mit der er sich noch zwei Tage
rumplagen musste. Es fiel ihnen schwer, Lebewohl zu sagen. Emma warf
ihm einen Handkuss zu und beendete die Videoübertragung. In dieser
Nacht fand Riley keinen Schlaf. Vor Glück.
Kapitel 44
Atlantik, einen Tag später
Der Kommandant des amerikanischen Atom-U-Bootes freute sich über die
Meldung „autorisierter Code“. Das bedeutete, dass es jetzt endlich ein
bisschen Action gab. Diese Warterei machte ihn nämlich allmählich
mürbe. Wobei er es befremdlich fand, dass sein Boot bei dieser
ungewöhnlichen Gemeinschaftsübung mehr oder weniger ferngesteuert
wurde. Aber das war laut seines Vorgesetzten, dem großen General David
Moore, gerade Sinn und Zweck der Übung. Wie präzise ließen sich in
einem Ernstfall die marinen Streitkräfte der Bündnispartner koordinieren
und innerhalb welcher Zeit? Was war effizienter: die Steuerung durch die
Kommandanten oder eine zentrale Steuerung?
Er glaubte zwar nicht an die Sinnhaftigkeit einer solchen zentralen
Steuerung, aber wenn das ein General Moore anders beurteilte, war seine
Meinung nicht von Belang. Moore war der höchstdekorierte Offizier der
USA. Und er schätzte ihn nicht nur als Vorgesetzten. Moore war für ihn
auch ein Vorbild. Ein Elitesoldat, für den seine Männer stets an erster
Stelle standen.
Der Kommandant prüfte die neuen Koordinaten. Das Ziel lautete
Kanarische Inseln. Teneriffa, genauer gesagt. Ziemlich zerklüftete Küste,
ausgeprägte Kontinentalhänge. Gutes Gebiet für Absink- und
Auftauchübungen. Sechs Stunden Fahrt. Er fragte sich, wie viele Boote
sich dort treffen würden. Leider wurde er nur mit den notwendigsten
Informationen versorgt. Das war auch Teil der Übung. Die Kommandanten
sollten sich auf das Wesentliche konzentrieren: ihr Boot und ihre Aufgabe.
Auch das gefiel ihm eigentlich gar nicht. Aber was ein David Moore sagte,
war Gesetz.
Er erinnerte sich an eine Begebenheit vor einigen Jahren, bei der
Moore eine zentrale Rolle gespielt hatte. In Offizierskreisen hatte diese
Geschichte rasch die Runde gemacht. Moore hatte eindrucksvoll unter
Beweis gestellt, wie weit seine Loyalität für seine Soldaten ging. Eine
junge Frau war irgendwo im Nahen Osten vergewaltigt worden. In Syrien?
Oder Afghanistan? Er wusste es nicht mehr genau. Aber das war sowieso
alles dasselbe.
Woran er sich aber noch gut erinnerte, waren die Umstände der
Vergewaltigung. Die Frau war von ein paar stinkenden Taliban
rangenommen worden. Auf offener Straße. Die waren wie die Tiere.
Einfach nur ekelhaft. Doch dann waren einige von Moores Soldaten
aufgetaucht und hatten diese feigen Schweine abgeknallt. Anstatt der Frau
aber zu helfen, hatten die Soldaten sie angeblich auch noch vergewaltigt.
Das hatte sie zumindest behauptet und die Soldaten angezeigt.
Doch Moore hatte sich schützend vor seine Männer gestellt und eine
Strafverfolgung und unehrenhafte Entlassung aus der Armee verhindert.
Freilich ohne dass die Frau seine Beteiligung auch nur hätte erahnen
können. Für sie war das Gericht, das die Soldaten freigesprochen hatte, der
Schuldige. Moore war eben in allem, was er tat, ein Perfektionist. Seine
Männer waren straffrei ausgegangen und verrichteten weiterhin ihren
Dienst.
Sicherlich war das für die Frau ein schwerer Schlag gewesen. Aber
andererseits hatten die Jungs ihr doch das Leben gerettet! Diese Drecks
Taliban hätten sie abgeschlachtet. Oder glaubte die Frau, diese
mordlüsternen Viecher hätten sie am Leben gelassen? Denen machte es
Spaß, Frauen zu Tode zu quälen. So etwas geilte sie auf. Das wusste man
doch. Hatte die überhaupt eine Vorstellung, was es für Soldaten hieß,
jahrelang in einem fremden, feindseligen Land stationiert zu sein? Tagaus
tagein um sein Leben zu fürchten? Nichts als Entbehrungen, Angst und
Tod. Keinerlei Zerstreuung, geschweige denn eine Frau.
Natürlich war das Verhalten der Soldaten nicht okay, aber man
musste sie auch verstehen. Wenn die Frau nicht nur ihr eigenes kleines
Schicksal gesehen hätte, sondern versucht hätte, sich in ihre Lebensretter
und deren Nöte hineinzuversetzen, hätte sie ihnen bestimmt verzeihen
können.
General Moore hatte genau richtig gehandelt. Seine Männer zu
schützen, war seine Pflicht gewesen. Und ob sie nun bestraft wurden oder
nicht, die Vergewaltigung war nicht mehr rückgängig zu machen.
Moore hatte wie so oft seine Ehrbarkeit unter Beweis gestellt. An der
Gemeinschaftsübung gab es nicht den Hauch eines Zweifels. Er war froh,
unter einem solchen Offizier dienen zu dürfen. Er würde seinen Teil dazu
beitragen, dass diese Operation ein voller Erfolg wurde.
Kapitel 45
New York City
Emma war mit Walker und Bishop in eine Bar gegangen. Sie war dankbar
für ihre Anwesenheit. Denn die Schwangerschaft weichte sie innerlich auf.
Sie war weniger belastungsfähig, manchmal grundlos den Tränen nah. Sie
wusste, dass das hormonelle Ursachen hatte. Dennoch hatte sie ein latentes
Gefühl von Bedrohung. Da waren zwei Special Agents des FBI
willkommen. Zumal die Begegnungen mit ihren Kunden sonderbar waren.
Sie waren zu fünft: der Chief Executive Officer, der Chief Financial
Officer, ein leitender Techniker, ein Mitarbeiter aus dem Marketing und
der Einkaufsleiter.
„Wo sind Sie denn mit Ihren Gedanken, Miss Chaplin?“, fragte
Bishop plötzlich, der sich als überraschend sensibel erwies.
„Wieso fragen Sie?“
Bishop lachte und erklärte ihr, dass er sie nun schon zweimal gefragt
habe, wie ihre heutigen Gespräche verlaufen waren und dass sie zweimal
nicht reagiert hatte.
Jetzt lachte auch Emma. Walkers Mund verzog sich zu einem breiten
Grinsen. Sie erzählte den Männern, warum sie diese Kunden merkwürdig
fand. Das waren gleich mehrere Aspekte. So waren sowohl der CEO als
auch der CFO der deutschen Firma arabischer Abstammung, hatten aber
deutsche Namen. Und der Techniker, der einzige Deutsche, hatte
auffallend wenig Ahnung von Landmaschinen. Aber für dieses
Spezialwissen war er als Techniker zuständig. Der Einkaufsleiter machte
den Eindruck, als habe er noch nie ein Lieferantengespräch geführt. Aber
die Firma existierte. Und die Leute hatten ihr Visitenkarten gegeben.
Bishop gestand Emma, dass auch das FBI sich im Vorfeld über die
Firma erkundigt hatte. Alles sauber. Ansprechpartner waren zwar nicht auf
Anhieb im Internet zu finden, das lag aber daran, dass die Corporate
Identity der Firma auf Zurückhaltung und Bescheidenheit ausgerichtet war.
Deshalb gab es auf der Homepage keine Fotos von Mitarbeitern. Aber die
Namen des CEO und des CFO befanden sich entsprechend der Bedeutung
ihrer Funktionen im Impressum.
„Trotzdem finde ich das unglaubwürdig“, insistierte Emma, „ein
Techniker, der nicht einmal die wichtigsten Fachbegriffe kennt. Ein
Einkaufsleiter, der mich nicht auf Qualitätsanforderungen und Lastenhefte
anspricht. Ein CFO, der wie selbstverständlich ein Auftragsvolumen von
einer viertel Milliarde Dollar aus dem Ärmel schütteln will! Eine viertel
Milliarde! Dazu ein Marketingmitarbeiter, der mir keine Fragen zur
Marketingstrategie seiner Firma beantworten kann. Da stimmt was nicht!“
Walker bot an, über seine Behörde mehr Informationen über die
Gesellschaft einzuholen und dort anzurufen, um zu prüfen, ob die
Mitarbeiter der Firma auch tatsächlich das waren: Mitarbeiter.
Emma nahm das Angebot des Agenten dankbar an. Sie war noch
zwei Tage in New York. Und wenn diese Leute nicht zu der Firma
gehörten, konnte das vor dem Hintergrund der jüngsten Ereignisse nur
eines bedeuten: Jemand wollte ihr eine Falle stellen. Aber was für eine
Falle? Mitten in New York, mit zwei Special Agents an ihrer Seite? Das
war verwirrend. Ebenso verwirrend war, dass General Moore nach Walkers
und Bishops Überzeugung den Direktor des FBI überredet hatte, sie zu
ihrem Schutz abzustellen.
Warum?
Außerdem hatten Walker und Bishop AURORA einen Besuch
abgestattet und dort General Moore angetroffen und befragt. Kurz darauf
hatte ihr Vorgesetzter sie von dem Fall abgezogen. Weil es gar keinen Fall
gab!
Emma hatte die Ereignisse Revue passieren lassen. Zuerst tauchte
Rileys Familie wegen eines Projektes der Stiftung unter. Dann wurde ein
Anschlag auf sie verübt. AURORA rückte ins Visier der Ermittler. Doch
der ranghöchste Offizier der USA stand hinter der Stiftung und wendete
jeglichen Verdacht von ihr ab. Plötzlich stellte der Direktor des FBI
ausgerechnet die Agenten zu ihrem Schutz ab, die gegen AURORA
ermittelt hatten.
Warum?
Und schließlich begegnete sie in New York Leuten, von denen sie
sich nicht vorstellen konnte, dass sie einen großen und über Europa hinaus
bekannten europäischen Konzern vertraten. Morgen war sie wieder mit
ihnen verabredet. Angeblich hatte man sich nach Rücksprache mit der
Muttergesellschaft bereits entschieden, den Auftrag an ihre Firma zu
vergeben. Ohne vorherige Werksbesichtigung! Und ohne spezifische
Qualitätsanforderungen, die für Konzerne dieser Größenordnung üblich
waren.
Sie würde die Männer bitten, in ihrer Gegenwart in der Zentrale
anzurufen. Unter der Rufnummer im Impressum der Homepage. Wenn sie
sich weigerten, war das eine Bestätigung ihres Verdachts. Und dann
musste sie so schnell wie möglich raus aus New York. Welche Falle man
ihr auch stellen wollte, der Fallensteller war in der Stadt.
Kapitel 46
Teneriffa, einen Tag später
Über der Insel und dem noch schneebedeckten Teide schien die Sonne von
einem wolkenlosen Himmel. Ein Frühlingstag wie aus dem Bilderbuch.
Von April bis September fiel kaum Regen. Es wurde niemals unerträglich
heiß oder eisig kalt, abgesehen von der Hochgebirgsregion des Teide. Die
Temperaturen schwankten im Jahresverlauf nur um sechs Grad. Deshalb
war die Insel des ewigen Frühlings das ganze Jahr über ein beliebtes
Reiseziel.
Teneriffa war von einem farbenprächtigen Blütenmeer überzogen.
Das strahlende Gelb des Retama zog die Blicke der Menschen in seinen
Bann. Schon früh hatten sich die Geschäfte, Bars und Strände gefüllt.
Inzwischen ging es in den Orten am Meer zu wie in einem Bienenstock.
Kinder spielten am Strand, an dem auch Jogger ihrem Sport nachgingen.
Das Meer war voller Menschen und Touristenbusse füllten die Parkplätze.
Die Menschen freuten sich über einen schönen Urlaubstag. Einen Tag, an
den sie sich gerne erinnerten. Einen Tag, der etwas ganz Besonderes war.
Der Kommandant des US-Amerikanischen Atom-U-Bootes hatte
sein Ziel vor zwei Stunden erreicht: Puerto de la Cruz, die sechstgrößte
Stadt Teneriffas und touristisches Zentrum des Nordens. Sein Boot war nur
noch wenige Kilometer von der Küste entfernt. Die Motoren hatten
gestoppt. Der Kommandant wartete auf den Startschuss für die Operation
„Ocean Drive“, zusammen mit den anderen Booten. Ferngesteuert durch
das Pentagon. Eingriffsmöglichkeiten nur im Notfall. Und natürlich, wenn
er es wollte. Er war der Kommandant! Eine interessante Übung. So viele
Boote auf so engem Raum. Etwas Vergleichbares hatte es seines Wissens
noch nicht gegeben.
Teneriffa. Er hatte schon viel von den Kanaren gehört. Schon immer
wollte er dort Urlaub mit seiner Familie machen. Dass ihn das Manöver
ausgerechnet an diesen Ort führte, deutete er als Wink des Schicksals. Im
nächsten Urlaub ging es nach Teneriffa! Allein diese Blumenvielfalt. Die
schönen Lorbeer- und Kiefernwälder und seltenen Drachenbäume mit
ihrem schopfartigen Laub. Er lächelte in sich hinein. Heute Manöver,
morgen Urlaub.
War der Teide eigentlich noch aktiv? Bestand die Gefahr eines
Ausbruchs? Darüber musste er sich vorher informieren. Nicht, dass ihm
irgendein Vulkan Sorgen bereitete. Aber als Familienvater trug er eine
große Verantwortung.
Begleitet von einem roten Dauerblinken erschien wieder die
Meldung „autorisierter Code“. Endlich war es soweit. In wenigen
Augenblicken begann eine der spannendsten Übungen der vergangenen
Jahre. Auftauchen und Absinken im harmonischen Einklang mit den
anderen Booten seiner Flotte und denen der Bündnispartner. Mit
abnehmender Amplitude, weil das Wasser mit jeder Annäherung an die
Küste flacher wurde. Erst abrupt, am Beginn des Kontinentalhangs, vor
dem sein Boot noch fünf Kilometer entfernt war. Danach nur noch ganz
allmählich.
Die Motoren starteten wie von Geisterhand. Ein leichtes Vibrieren.
Das sanfte, tieffrequente Dröhnen der Maschinen. Nur ganz gedämpft. Ein
wohliger Schauer lief seinen Rücken hinunter. Das Boot setzte sich in
Bewegung. Langsam, ganz langsam. Das Gefühl, nicht alleiniger Herr
seines Bootes zu sein, irritierte ihn nach wie vor. Das erste
Auftauchmanöver stand unmittelbar bevor. Noch deutlich vor Beginn des
Hangs. Das zweite sollte auf Höhe des Hangs stattfinden. So viel wusste er
immerhin schon.
Auf dem Monitor lief ein Countdown rückwärts. Er zeigte
zweiundachtzig an. Zweiundachtzig Sekunden bis zum ersten Auftauchen.
In Puerto de la Cruz ging es zu wie in einem Taubenschlag.
Menschen liefen geschäftig in den Straßen umher, Kinder tobten und
kreischten. Die Busparkplätze waren überfüllt. Die Leute waren fröhlich
und unbeschwert. Sie genossen das Gefühl der Sonne auf der Haut, die
Vielfalt der Frühlingsdüfte, das Geräusch der Wellen. Sie wähnten sich für
ein paar Tage oder Wochen im Paradies.
Der Countdown zeigte einundsechzig Sekunden an. Was für ein
dramatisches Detail, dachte der Kommandant und fühlte sich irgendwie
gut.
Kapitel 47
Adams Island
General Moore traten Schweißperlen auf die Stirn. Er war in vielen
Einsätzen gewesen, hatte Gegner getötet, Gefangene befreit. Und später
Entscheidungen von großer Tragweite getroffen. Aber diese Situation, auf
sich alleine gestellt, mit einem Laptop und einem Hackerprogramm, mit
dem er ein Geschwader Atom-U-Boote fernsteuern sollte, überforderte
ihn. Der Countdown, den auch die Kommandanten sahen, machte ihn
nervös. Ihre Boote waren so vor der Küste verteilt, dass die Kollisionen
jeweils nur eine halbe Minute auseinanderlagen. Wenn er denn alles
richtig gemacht hatte.
Vielleicht hätte er in seiner Rede vor dem Circle doch nicht so laut
tönen sollen, dass für einen gestandenen Soldaten wie ihn das
Computerprogramm irgendeines Hackers, noch dazu Zivilist, keine
Herausforderung war. Er hätte auf Andrew hören sollen, der vorsichtig
angemerkt hatte, dass das vielleicht doch nicht ganz so einfach war.
Schwieriger, als ein Maschinengewehr abzufeuern.
Andrew hatte vorgeschlagen, eine Hacker-Task-Force einzurichten
und Jimmy ins Boot zu holen. Weil keiner ein Programm besser
beherrsche, als derjenige, der es geschrieben hatte. Außerdem sei Jimmy
mit seinem Wissen, seinen Erfahrungen und seiner Professionalität ein
guter Mann für die Neue Welt.
Aber Moore hatte nur müde gelächelt. Task-Force? Jimmy?
Lächerlich!
Und jetzt zahlte er den Preis für seine Überheblichkeit. So einfach
das Programm auch zu bedienen war, er als Anwender konnte viele Fehler
machen. Von der Berechnung von Koordinaten und Zeiten, bis hin zur
Gefahr der Kollision von dicht an dicht positionierten Booten und damit
einem Scheitern von Wave. Und dafür wollte er nicht verantwortlich sein.
Immer wieder starrte er auf die zweidimensionale Landkarte
Teneriffas auf seinem Monitor. Auf die leuchtenden Pünktchen. Jeder
Punkt ein Boot. Exakte Abstände. Von Boot zu Boot. Und von den Booten
zur Küste. Da war kein Fehler zu erkennen.
Oder doch?
War das Boot am südlichen Ende der Kette nicht zu weit von der
Küste entfernt? Dafür das in der Mitte zu nah? Oder bildete er sich das
angesichts dieser Miniaturdarstellung nur ein? Außerdem machte das
Programm das doch alles automatisch. Das Programm war genauer als
seine Augen.
Nervös fuchtelte Moore mit seiner Maus herum, ohne es zu merken.
Ebenso wenig merkte er, dass er auf die rechte Maustaste drückte, als der
Zeiger gerade über eines der U-Boote lief. Sofort erschien neben dem
Pünktchen ein Auswahlmenü mit sechs Optionen in so kleiner Schrift, dass
er ganz dicht an den Bildschirm herangehen musste, um sie lesen zu
können. Dort stand untereinander:
Auftauchen–Abtauchen–Maximalschub–Schubumkehr–Zerstörung–
Abbruch des Programms.
Erschrocken ließ Moore die Maus los und wich ein Stück auf seinem
Drehstuhl zurück. Was hatte er denn jetzt angestellt? Das Programm lief
doch nach einem voreingestellten Automatismus ab. Was geschah, wenn er
keine der Optionen anklickte? Und da war nichts anzuklicken. Er konnte
keinen dieser vermaledeiten Befehle gebrauchen. Im Gegenteil, jeder war
beschissen!
Bis auf den Maximalschub. Aber der war vorprogrammiert. Sauber
abgestimmt mit den anderen Booten. Was passierte, wenn er da drauf
drückte? Dann raste das Boot sofort los! Eine Katastrophe!
Während Moore sich, nervös den unbarmherzig rückwärts laufenden
Countdown verfolgend, überlegte, ob ihm vielleicht die Escapetaste
weiterhelfen könnte, oder ob er damit nur den nächsten Fehler beging,
verschwand das Auswahlmenü von seinem Bildschirm. Gottseidank! Es
war so wie bei den meisten Programmen. Wählte man keinen Befehl aus
einem Menü aus, schloss sich das Fenster nach kurzer Zeit von selbst
wieder. Moore atmete tief durch und schob die Mouse weit von sich.
Die Kommandanten warteten auf das erste Auftauchmanöver.
Noch zweiunddreißig Sekunden.

***

Teneriffa
Das U-Boot bewegte sich weiterhin nur langsam vorwärts. Der
Kommandant verfolgte gebannt den Countdown. Dreiundzwanzig
Sekunden. In wenigen Augenblicken tauchte ein ganzes Geschwader
Atom-U-Boote gleichzeitig und dicht nebeneinander auf. Was für eine
geballte Ladung Macht!
So weit draußen bekam das an Land niemand mit. Aber er fand den
Gedanken amüsant, wie Hunderte Zivilisten einige Auftauchmanöver
später reagieren würden, wenn sie, auf einen Hocker gefläzt und Weißwein
schlürfend, plötzlich hörten und dann sahen, wie ein riesiges U-Boot direkt
vor ihnen aus den Fluten auftauchte. Unglaublich, dass Moore das im
Pentagon hatte durchsetzen können. Es bestand durchaus das Risiko, dass
jemand vor Schreck einen Herzschlag bekam.
Aber Moore war eben Moore.
Der Countdown lief rückwärts: Sieben–sechs–fünf–vier–drei–zwei–
eins–
null!
Der Kommandant spürte wieder das sanfte Vibrieren der Motoren.
Was für ein erhebendes Gefühl. Wie es wohl den anderen Kommandanten
erging? Waren sie genauso erregt wie er? Er wartete auf die Meldung, dass
das Boot aufgetaucht war, in unverändertem Sicherheitsabstand zu den
Nachbarbooten.
Doch diese Meldung kam nicht. Das Boot tauchte auch nicht auf. Im
Gegenteil, es begann zu sinken. Und gleichzeitig beschleunigte es. Es trieb
mit Maximalmalschub vorwärts. Direkt auf die Küste zu.
Nein, nicht auf die Küste. Auf den Hang! Weil das Boot tiefer
getaucht war. Mit fast sechzig Stundenkilometern auf den Hang zu! Was
hatte das zu bedeuten? Gehörte das zur Übung? Ein Stresstest für
Kommandanten und Besatzungen? Ein Test, ob sie in einer
Gefahrensituation schnell genug reagieren konnten?
Oder etwa ein Programmfehler? Ein Programmfehler in dieser
Situation!
Gab es denn keine automatische Notabschaltung?
Das wäre eine Katastrophe biblischen Ausmaßes! Adrenalin flutete
seine Adern.
Er riss die Tür des Kommandoturms auf und rannte in den
Maschinenraum. Dort packte er einen der Matrosen am Kragen und
schüttelte ihn durch.
„Was soll das? Was geschieht hier? Stoppen Sie die Maschinen,
sonst passiert ein Unglück!“
Der Matrose stieß einen Schrei aus. Panik trat in seinen Blick. Er
stammelte, dass er keine Ahnung habe, was hier geschah und dass er die
Maschinen nicht stoppen könne. Außerdem hätten sich soeben die
Atomsprengköpfe selbstständig entriegelt und scharf gemacht.
Der Kommandant ließ den Matrosen los. „Die Atomsprengköpfe
haben was?“
„Sie haben sich entriegelt und scharf gestellt!“, brüllte der Matrose
wie von Sinnen, „einfach so! Wie von Geisterhand! Und wir können nichts
machen. Wir sind offline!“ Jegliche Farbe wich aus seinem Gesicht, über
das Rinnsale aus Schweiß liefen, um von seinem Kinn auf den Boden zu
tropfen.
Dem Kommandanten wurde schwindelig.
Die Atomsprengköpfe waren scharf. Und das Motorensystem dieses
Bootes war gewaltig. Es bestand aus zwei Druckwasserreaktoren. Kochend
heiße Flüssigkeit im radioaktiven Primärkreislauf. Hochreines Wasser im
nicht radioaktiven Sekundärkreislauf.
Was passierte bei einem Aufprall? Das Kühlsystem fiel aus. Der
Atomkern würde sich...der Atomkern würde...er würde sich rasend schnell
erhitzen! So wie in Fukushima! Dasselbe Prinzip. Nur dass es hier auch
noch vierundzwanzig entriegelte und scharf gestellte
Interkontinentalraketen gab!
Gott, steh uns bei!
Der Kommandant versuchte ebenso kopflos wie vergeblich, die
Maschinen mittels manueller Notabschaltung zu stoppen. Aus dem Rumpf
ertönten Sirenen, aufgeregte Stimmen und Schreie. Jemand kreischte
hysterisch, dass sie gleich in den verdammten Scheiß Hang rasen würden.
Das U-Boot reagierte nicht. Es musste vollständig auf externe
Steuerung und Kontrolle umgestellt worden sein. Ihm war nicht bewusst,
dass so etwas technisch überhaupt möglich war. Es gab auch keinerlei
Kommunikationsmöglichkeiten nach außen.
In diesem Augenblick akzeptierte er sein Schicksal. Es war vorbei.
Er fragte sich, ob die anderen Boote auch von dem Programmfehler
betroffen waren oder ob sie sich rechtzeitig aus der Gefahrenzone bringen
konnten.
Dann begriff er, dass sein Schicksal nicht in einem Programmfehler
bestand.
Das war Sabotage!
Irgendjemand wollte diesen Hang zum Einsturz bringen. Mit U-
Booten mit Nuklearantrieb und jeweils vierundzwanzig
Atomsprengköpfen. Das war ein Terroranschlag biblischen Ausmaßes. Die
Besatzungen wurden zu unfreiwilligen Selbstmordattentätern. Was um
Himmels Willen war das Ziel dieses Anschlags? Dem Kommandanten
wurde schlecht.
Ein lautes Rattern und Quietschen erfüllte das Boot, gefolgt von
heftigen Erschütterungen. Viele Soldaten fielen zu Boden, einige
verletzten sich. Doch das spielte keine Rolle mehr. Das Boot hatte die
ersten Gesteinsformationen gerammt, ohne dabei nennenswert an
Vorschub zu verlieren. Der Atomantrieb war einfach zu mächtig.
Der Kommandant war nicht hingefallen. Er würde bis zur letzten
Sekunde stehenbleiben. Er war der Kommandant dieses U-Bootes! Seines
U-Bootes, das Opfer eines Sabotageaktes wurde.
Und es gab nur einen, der dahinter stecken konnte: General David
Moore persönlich. Nur er konnte dem Präsidenten und dem Pentagon eine
solche Übung unterjubeln. Und nur er hatte jederzeit Zugriff auf die Server
des Pentagon. Er verfügte über uneingeschränkte Zugriffsrechte.
Aber warum? Was um Himmels Willen bezweckte er damit? Wollte
er auf diese Weise den Teide zum Ausbruch bringen? Wollte er einen
Massenmord begehen? Das ergab doch keinen Sinn!
Der Kommandant kam nicht mehr dazu, seinen Gedanken
fortzuführen. Sein U-Boot stieß ungebremst in den Kontinentalhang und
verkeilte sich. Fürchterliche Geräusche erfüllten den Schiffsrumpf. So
laut, dass die panischen Schreie der Besatzung darin untergingen. Männer
flogen wie Papier durch die Gänge und knallten gegen die Bordwand oder
Instrumente.
Knochen brachen. Schreie verstummten. Herzen hörten auf zu
schlagen.
Auch der Kommandant blieb nicht stehen. Er wurde durch die Wucht
des Aufpralls durch den Gang geschleudert. Er knallte gegen etwas Hartes.
Er vernahm ein Knacken. Ein stechender Schmerz durchfuhr sein rechtes
Bein. Gleichzeitig bohrte sich etwas in seine Brust, länglich und spitz. Er
spürte, wie es am Rücken wieder austrat. Was immer das war, es hatte ihn
durchbohrt. Warum war er dann nicht tot? Oder träumte er das nur?
Müsste er sich, wenn er tot war, nicht selbst aufgespießt im Gang liegen
sehen? Weil seine Seele im Augenblick des Todes aus seinem Körper trat?
Warum sah er stattdessen überall Blut, hörte Schreie, Knarren,
Ächzen? Warum sah er, wie der Rumpf an mehreren Stellen aufriss und
Wasser mit großer Wucht in den Bootskörper eindrang? Und warum spürte
er, wie das Wasser gewaltsam an ihm riss, es ihn aber nicht fortspülen
konnte, weil er an diesem Ding festhing? War die Seele zu solch realen
Wahrnehmungen fähig? Funktionierte sie wie seine Sinne? Oder war das
nur ein Alptraum, aus dem er gleich hochschreckte? Und während er sich
noch fragte, ob das wirklich nur ein fürchterlicher Traum war, nahm ihn
seine Frau in den Arm und flüsterte ihm mit ihrer beruhigenden Stimme
ins Ohr, dass alles in Ordnung war. Er war zuhause, die Kinder deckten
gerade den Tisch. Er war in Sicherheit und musste sich nie wieder Sorgen
machen oder vor etwas Angst haben.
Langsam verstummten die Schreie um ihn herum. Das Wasser
umschmeichelte ihn. Wie in einer Wiege. Es war schön. Geborgen. Er
fühlte nichts mehr. Er war frei.

***

Zehn Atom-U-Boote fraßen sich im Kontinentalhang vor der


Nordwestküste Teneriffas fest. Alle dreißig Sekunden eins. General Moore
konnte das, weit entfernt vom Ort der Katastrophe, auf seinem Laptop
verfolgen, indem alle dreißig Sekunden ein Licht auf der fünfzehn Komma
sechs Zoll kleinen Fläche des Monitors aufhörte zu blinken.
Nach fünf Minuten war nur noch die Landkarte Teneriffas zu sehen.
Was General Moore nicht sehen konnte, waren die Folgen der von ihm
ausgelösten Kollisionen. Jimmys Schadprogramm war schließlich nur für
die Fernsteuerung der U-Boot-Flotten der USA und Russlands entwickelt
worden, nicht aber, um geologische Großereignisse live zu verfolgen.
Die Wucht des Aufpralls übertrug sich auf und in die instabilen
Gesteinsformationen des Kontinentalhangs. Dadurch wurden zunächst
viele kleine Erdstöße ausgelöst. Sie waren in den Küstenorten und am
Strand kaum zu spüren. Aber die Erschütterungen erhöhten die Kraft, die
auf die Boote einwirkte, die zum Grab mehrerer hundert Seeleute wurden.
Die Reaktorkerne erhitzten sich noch schneller als von den
Spezialisten vorausgesagt. Und weil alle U-Boote derselben Bootsklasse
angehörten, erfolgten auch die Explosionen fast zeitgleich. Die
Spezialisten hatten auch nicht damit gerechnet, dass Wave so reibungslos
laufen würde. Sie waren davon ausgegangen, dass sich nicht alle Boote in
dem Kontinentalhang verkeilen würden. Die meisten würden
wahrscheinlich einfach nur zerbersten. Ohne die Gewalt der Explosionen
direkt in den Hang zu übertragen. Doch das Ergebnis war noch besser als
der Plan.
Mit den Kernreaktoren explodierten auch die Interkontinentalraketen
und Torpedos. Die beiden prognostizierten Wirkungen traten binnen
weniger Minuten ein. Der Kontinentalhang war nicht nur den
Hauptdruckwellen der Atomsprengköpfe ausgesetzt, sondern auch den
Druckwellen, die durch das mehrmalige Pulsieren der Gasblasen
entstanden.
Gewaltige Felsformationen lösten sich, zusammen mit den
Trümmern der U-Boote, aus dem Hang und stürzten in die Tiefsee. Durch
die enorme Hitze schmolzen die Methanhydrate, welche den Hang wie ein
Superklebstoff zusammengehalten hatten. Das beschleunigte den
Materialfluss und damit die Hangrutschung. Die radioaktive Strahlung war
unbedeutend. Zweihundert Meter unter der Meeresoberfläche richtete sie
keine Schäden an. Niemand an Land wurde durch sie bedroht.
Doch das war für diese Menschen ohnehin nicht mehr von
Bedeutung.
Kapitel 48
Teneriffa
Die Familie aus Nieuwegein in den Niederlanden war erst vor zwei Tagen
auf Teneriffa gelandet. Die Eltern hatten zunächst gezögert, weil sie sich
Sorgen machten, dass die Belastungen des Fluges und die kosmische
Strahlung ihren einjährigen Zwillingen schaden könnten. Deshalb hatten
sie erwogen, wieder Urlaub im eigenen Land zu machen. In Domburg.
Dort gab es auch einen traumhaften Strand, nette Restaurants und ein
schönes Hinterland. Das wäre auch viel günstiger gewesen und leicht mit
dem Auto zu erreichen. Aber da sie auf diese noch eher unattraktive
Reisezeit angewiesen waren und ihren Urlaub nicht im Regen verbringen
wollten, hatten sie sich für die Kanaren entschieden.
Die Mutter hatte vorher mit einer Hotline der Fluggesellschaft
telefoniert. Daraufhin hatte sie zwei Maxi Cosi besorgt. Das war zwar eine
ziemliche Schlepperei, aber hier ging es ja auch um die Sicherheit ihrer
Kinder. Im Bordgepäck waren Nasentropfen, um den Druckausgleich für
die Kleinen zu erleichtern. Außerdem hatte sie die Zwillinge im
Zwiebellook angezogen. Bei ihrem Abflug waren es keine zehn Grad
gewesen. Auf Teneriffa hingegen sechsundzwanzig. Bei dem Telefonat mit
der Fluggesellschaft hatte sie auch gleich die Kindermenüs vorbestellt.
Was die kosmischen Strahlen anging, hatte sie der Kinderarzt lachend
beruhigt. Ein gesundes Baby konnte schon ab dem achten Tag ohne
gesundheitliche Risiken fliegen.
Nach der Landung wussten sie, dass sie die richtige Entscheidung
getroffen hatten. Teneriffa war ein Traum. Eine samtweiche, von
herrlichen Gerüchen erfüllte Luft, vierzig traumhafte Strände. Wilde
Schluchten im Westen, karibisches Flair im Nordosten, schwarze
Lavastrände im Nordwesten und rotes Vulkangestein im Südosten. Die
Insel verfügte über schier grenzenlose Möglichkeiten.
Weil sie gerne bummelten, und wegen der Kinder kurze Wege
bevorzugten, hatten sie sich für Puerto de la Cruz entschieden. Eine gute
Wahl, denn nur fünfzig Meter von ihrem Hotel entfernt hatten sie eine
süße kleine Bar entdeckt, direkt am Hafen und mit herrlichem Teide-Blick.
Sie waren nach dem nachmittäglichen Kaffee dorthin gegangen. Die
machten da einen fantastischen Barraquito. Alkohol am helllichten Tag
entsprach zwar nicht ihren Gepflogenheiten. Aber hier und jetzt gehörte
das einfach zum Lebensgefühl dazu.
Während sie ihre Kaffeespezialität genossen, überlegten sie, wie sie
den Rest des Tages verbringen sollten. Mit der süßen Bimmelbahn in den
nahen Loro-Parque fahren, um sich die Orca-Show anzusehen und in das
größte Pinguinarium der Welt zu gehen? Die Pyramiden von Güimar
besichtigen? Ein Spaziergang im Hinterland? Oder an den Strand mit
seinem ungewöhnlichen, schwarzen Sand? Als der Kellner den zweiten
Barraquito brachte, entschieden sie sich für den Strand. Zeit für Ausflüge
blieb genug. Das Leben war schön.
Eines der Kinder begann zu schreien. Während die Mutter sich um
den Kleinen kümmerte, betrachtete ihr Mann versonnen den Teide. Er war
als Kind oft mit seinen Eltern in den Bergen gewesen. Mit Begeisterung
hatte er jeden Gipfel erklommen.
Vielleicht konnte er einen Deal mit seiner Frau machen. Jeder durfte
einen Tag alleine etwas unternehmen, während sich der andere um die
Kinder kümmerte. Sie waren zwei Wochen hier. Da war das kein Problem.
Sie würden so viel zusammen machen. Seinen Tag konnte er nutzen, um
den höchsten Vulkan Europas zu besteigen.
Er hatte sich schon im Internet schlau gemacht. Für die letzten
hundertsiebzig Höhenmeter bis zum Gipfel brauchte man eine
Genehmigung. Die hatte er vor der Abreise in weiser Voraussicht online
bei der Parkverwaltung beantragt. Angeblich waren die Ranger zwar
locker drauf und winkten die Wanderer ohne Kontrolle durch, aber sicher
war sicher. Die Wanderung würde ein Traum. Tausendvierhundert Meter
An- und Abstieg, acht Stunden Gehzeit. Er musste früh aufbrechen und an
zwei Dinge denken: viel Wasser und Sonnencreme mit einem hohen
Lichtschutzfaktor.
Kapitel 49
New York City
Emma hatte kaum geschlafen. Nach ihrem Gespräch mit Walker und
Bishop hatte sie sich immer mehr in die Vorstellung hineingesteigert, in
eine Falle gelockt worden zu sein. Bis halb zwei hatte sie wach gelegen
und gegrübelt. Und als sie endlich eingeschlafen war, hatte sie irgendein
besoffener Vollidiot im Hotelflur mit seinem Gegröle geweckt. Das war
um vier Uhr gewesen. Eine Stunde hatte sie danach wach gelegen und sich
von einer Seite auf die andere gewälzt.
Schließlich war sie aufgestanden, hatte Kaffee bestellt, den Laptop
hochgefahren, um die Website ihres Kunden zu durchforsten und die
Namen der fünf Männer durch diverse Suchmaschinen laufen lassen.
Irgendetwas über sie musste es doch im Netz geben! Bescheidenheit hin
oder her. Aber sie fand nichts. Keine Bilder, keine Vita. Nur ihre Namen
und Funktionen und seit wann sie bei der Firma waren. Das deckte sich
mit dem, was die Leute ihr gesagt hatten. Aber so etwas Banales konnte
sich jeder merken.
Inzwischen ging es auf sieben Uhr zu. Sie war mit den FBI-Leuten
um acht Uhr zum Frühstück verabredet. Sie erwog, bei Bishop
anzuklopfen. Aber einerseits war das eine Dreistigkeit um diese Uhrzeit.
Und andererseits konnte er das gründlich missverstehen. Nervös griff sie
zum Telefon und bestellte sich noch einen Kaffee, wohlwissend, dass sie
das Koffein noch unruhiger, aber keinesfalls wacher machen würde.
Nachdem der Hotelservice den Kaffee gebracht hatte, setzte sie sich
wieder an den Rechner. Diesmal recherchierte sie nach AURORA und
David Moore. Und wieder stieß sie auf nichts, was sie nicht schon wusste.
Es war zum Haare raufen.
Dann hatte sie eine Idee. Sie würde jetzt in der deutschen
Konzernzentrale anrufen und sich beschreiben lassen, wie der CEO und
der CFO aussahen. Ob sie arabische Wurzeln hatten und ob bekannt war,
wo sie sich gerade aufhielten.
Sie hatte den Hörer schon in der Hand, ließ ihn aber wieder auf den
Schreibtisch sinken. Dieser Anruf musste noch warten. Denn wenn diese
Leute zu der Firma gehörten und erfuhren, dass sie sich heimlich über sie
informiert hatte, war das Vertrauen dahin. Aber Vertrauen war die Basis
einer Geschäftsbeziehung. Und ein Auftrag über zweihundertfünfzig
Millionen Dollar wahrlich kein Pappenstiel.
Der Wecker zeigte halb acht. Noch eine halbe Stunde. Sie beschloss,
in Ruhe mit Bishop und Walker zu frühstücken. Danach würde sie ihren
Koffer packen und das Kundentreffen vorziehen. Wenn sie sich nicht
darauf einließen, musste sie sich halt noch ein paar Stunden gedulden. Auf
jeden Fall würde sie die Leute bitten, in ihrer Konzernzentrale in
Deutschland anzurufen.
Sie leerte die Kaffeetasse, fuhr ihren Laptop runter und ging unter
die Dusche. Minutenlang ließ sie heißes Wasser aus der Regendusche über
ihren Kopf laufen. Das war fantastisch. Aber ungleich fantastischer wäre
es, wenn Riley jetzt bei ihr wäre und sie langsam von oben bis unten
einseifen würde. Es wurde Zeit, dass sie nach Hause kam.
Kapitel 50
Puerto de la Cruz
Der Teide war beschlossene Sache. Seine Frau hatte dem Vorschlag,
jeweils einen Tag alleine zu verbringen, begeistert zugestimmt. Sie wollte
nämlich einen ganztägigen Segeltörn entlang der Küste mitmachen, um
von dort aus die Schönheiten der Insel zu bewundern und sich die sanfte
Brise um die Nase wehen zu lassen. Schon morgen war sie an der Reihe.
Er würde in vier Tagen den Gipfel besteigen. Dann war er auch schon
akklimatisiert. Hoffentlich hielt sich das Wetter. Aber das war hier doch
immer gut. Behauptete zumindest der Reiseführer.
Als der Kellner die Rechnung brachte, sie wollten ins Hotel, um ihre
Badesachen zu holen, gab es plötzlich eine Erschütterung. Wie bei einem
Erdbeben. So etwas hatten die Holländer schon einmal erlebt. Ein eher
schwaches Beben der Stärke vier Komma acht. Aber einprägsam genug,
um zu ahnen, dass diese Erschütterung kein normaler Erdstoß war.
Aber was sollte das sonst sein?
Sie sahen den Kellner fragend an, doch der zuckte nur ratlos mit den
Achseln. Die Menschen auf den Straßen blieben stehen und sahen sich
ebenso ratlos um. Einige Stühle kippten um, Gläser fielen von den Tischen
und gingen klirrend zu Bruch. Niemand konnte sich einen Reim auf diese
eigenartigen Erscheinungen machen. Vielleicht machte das Militär in der
Nähe eine Gefechtsübung, dachte der Holländer und legte einen Zwanzig-
Euro-Schein auf den Tisch.
In diesem Augenblick folgte eine weitere, bei weitem stärkere
Erschütterung, begleitet von einem merkwürdigen, unheimlichen und
tiefen Geräusch, das allmählich anschwoll. Wie das Heulen eines Wolfes.
Nur viel tiefer.
Menschen gingen zu Boden, die ersten rannten orientierungslos
herum. Am Hafen, auf den man von der Bar aus blickte, sprang der
Asphalt auf. Sirenen ertönten und kamen rasch näher. Der
Katastrophenschutz schien auf Zack zu sein. Während sich die Menschen
wieder aufrappelten, folgte eine Serie weiterer Erschütterungen in
Abständen von nur wenigen Sekunden. Nicht nur in unmittelbarer Nähe.
Auch in der Umgebung schien irgendetwas zu passieren.
Panik brach aus. Menschen rannten ziellos durcheinander.
Der Asphalt sprang mit lautem Getöse an vielen Stellen gleichzeitig
auf. Ein Auto geriet in eine solche Fuge, brach aus und stürzte mitsamt
Fahrer in den Hafen. Scheiben gingen zu Bruch, in den Hauswänden taten
sich erste Risse auf. Wie von Geisterhand begannen sie im Putz unter den
Dächern und wanden sich dann wie eine Schlange abwärts, ohne einem
bestimmten Muster zu folgen. Aus dem Inneren der Bar ertönte ein irres,
angsteinflößendes Rasseln. Es klang metallisch. Ein gespenstisches
Phänomen. Waren das Erschütterungen in den Gebäudestrukturen? Ein
Fischstand fiel in sich zusammen und begrub den Verkäufer unter sich.
Das Paar aus den Niederlanden sah sich entsetzt an. Die Frau
umklammerte ihre Kinder mit verkrampften Armen. Der Kellner stand wie
angewurzelt da. Er hatte sein Portemonnaie fallen lassen und starrte mit
offenem Mund auf das Meer hinaus.
Der Holländer folgte seinem Blick. Ein Stück weit draußen, die
Entfernung ließ sich kaum schätzen, schien das Meer zu kochen. Es
blubberte und der Wind trug ein merkwürdiges, pfeifendes Geräusch an
Land, das immer nur zwischen den Erschütterungen zu hören war, die an
gewaltige Detonationen erinnerten. Und noch weiter draußen kam es auf
dem Wasser zu seltsamen Eruptionen. In kurzen Zeitabständen schossen
unwirkliche Säulen aus dem Wasser, die nicht nur aus Wasser, sondern
auch aus Dampf zu bestehen schienen.
Der Anblick war surreal. Befremdlich. Angsteinflößend. Wäre es
nicht so abwegig, hätte der Holländer sie für Atomexplosionen gehalten.
Aber das war unmöglich. Schließlich war nicht über Nacht der Dritte
Weltkrieg ausgebrochen!
Dann begann die ganze Erde zu beben. Keine einzelnen Detonationen
mehr, sondern der Eindruck einer gigantischen Eisscholle, die großflächig
zerbricht.
Der Holländer wunderte sich, dass er in diesem Augenblick
ausgerechnet dachte, dass sie lieber nach Domburg hätten fahren sollen.
Und er fragte sich, warum die Tiere noch alle da waren. Bis zur ersten
Erschütterung hatten doch die Vögel gezwitschert. Folgten Tiere nicht
einem natürlichen Instinkt, der sie vor Naturkatastrophen warnte? Hätten
die Vögel nicht schon vorher davonfliegen müssen? Das war merkwürdig.
Plötzlich sprang er mit einem Satz auf und schrie, dass sie sofort ins
Hotel müssten. Bei einem Erdbeben seien sie dort am sichersten!
Kaum dass er stand, merkte er, dass er sogleich anfing zu
schwanken. Als er zu Boden blickte, sah er, dass selbiger sich plötzlich
bewegte. Eine rollende Bewegung. Wie auf einer der endlos langen
Rolltreppen auf Flughäfen oder in Bahnhöfen. Oder wie das Gefühl, an
Deck eines Bootes in schwerem Seegang zu stehen.
Seine Frau begann zu weinen und drückte ihre Kinder noch fester an
sich. Wie paralysiert, schwankte der Holländer, mit den Armen um sein
Gleichgewicht rudernd, ein paar Meter weiter in Richtung Hafen. Er
musste wissen, was es mit diesem eigenartigen Blubbern und den
geisterhaften Eruptionen auf sich hatte. Das konnte doch nur bedeuten,
dass sie Zeugen eines Seebebens direkt vor Teneriffa wurden. Das würde
diese Erschütterungen und die Risse im Asphalt erklären.
Oder nicht?
Er drehte sich um und rief seiner Frau zu, dass das Hotel doch keine
gute Idee war. Sie müssten versuchen, ins Landesinnere zu kommen. Auf
eine Anhöhe. Gleich käme ein Tsunami. Das hier sei nämlich ein
Seebeben!
Unmittelbar hinter dem Holländer verschwand ein Kinderwagen wie
von Geisterhand in einem riesigen Riss im Asphalt. Die Mutter versuchte
kreischend, den Kinderwagen festzuhalten, doch er verschwand vor ihren
Augen im Abgrund. Als sie einen Schritt vortrat, um in den Krater zu
blicken, in der irrationalen Hoffnung, ihr Kind noch irgendwie retten zu
können, stürzte auch sie mit einer neuen Erschütterung in die endlose
Schwärze. Es ging so schnell, dass ihr nicht einmal die Zeit blieb, zu
schreien.
Auch das Meer schien jetzt zu beben. Keine Wellen. Eher so, als
würde es mit einem riesigen Kartoffelstampfer aufgewühlt. Die ersten
Häuser fielen in sich zusammen. Panisch und ohne sich um die Risse zu
kümmern, die im Sekundentakt um ihn herum entstanden, blickte der
Holländer sich um. Wo konnte er seine Familie in Sicherheit bringen? Das
Hotel würde auch einstürzen. Einem Tsunami hielt es nicht stand.
Er schaute zu seiner Familie. Seine Frau hatte sich so tief über ihre
Kinder gebeugt, dass sie nicht mehr zu sehen waren. Ihre Schultern
zuckten. Sie schien zu weinen. Plötzlich übermannte den Holländer die
Liebe zu seiner Familie. Diese drei Menschen an dem Tisch vor der
kleinen Bar waren sein Leben. Ohne sie war er nichts. Er spürte, dass diese
Liebe ihm jetzt die Kraft gab, sie in Sicherheit zu bringen. Er durfte nur
nicht die Nerven verlieren. Nicht um das Chaos kümmern.
Denk nach! Was ist das richtige Verhalten bei einem Erdbeben?
Am sichersten war man auf einer freien Fläche. Ohne Häuser,
Bäume, Laternen oder andere Dinge in der Nähe, unter denen man
begraben oder von denen man erschlagen werden konnte. Auch Strom- und
Wasserleitungen stellten eine Gefahr dar. Sie durften auf keinen Fall in ein
Gebäude fliehen. Und sie mussten unbedingt weg vom Wasser!
Um den Holländer herum, der den Urgewalten trotzte und sich
mannhaft auf den Beinen hielt, stürzten Menschen wie Streichhölzer um
oder stürzten in einen Abgrund oder ins Wasser. Die ganze Luft war von
einem infernalischen Getöse erfüllt, eine Erschütterung folgte der
nächsten. Das Meer war inzwischen so aufgewühlt, dass es über die
zusammenstürzenden Uferbefestigungen trat.
So, als habe jemand eine einzelne Karte aus einem Kartenhaus
gezogen, fielen Häuser in sich zusammen. Außer der Bar, deren Außenputz
aber von Rissen durchzogen war, standen nur noch wenige Gebäude.
Jemand sprang auf ein Boot und versuchte, auf das offene Meer
hinaus zu fahren. Nur wenige Menschen bekamen mit, wie das Boot
urplötzlich vom Meer verschluckt wurde. Auch nicht die Holländerin, die
den Kopf hob und ihren Mann mit vor Entsetzen geweiteten Augen
anstarrte. Sie sah, dass sein Blick auf Irgendetwas im Hinterland geheftet
war. Er stand wie angewurzelt da, den Mund weit aufgerissen.
Das Letzte, was der Holländer sah, bevor ihn unter den fassungslosen
Blicken seiner Frau ein riesiger Schlund im Erdreich, der sich wie aus dem
Nichts öffnete, in die Tiefe zog, war der Teide, der sich irgendwie
veränderte.
Kapitel 51
New York City
Das Duschen hatte gutgetan. Nachdem Emma sich minutenlang heißes
Wasser auf den Kopf hatte prasseln lassen, hatte sie eiskalt abgeduscht.
Danach fühlte sie sich wie neugeboren. Beim Frühstück weihte sie Walker
und Bishop in ihre Pläne ein, denen die Erleichterung anzumerken war.
Bishop gab zu, dass auch er sich Sorgen machte, dass etwas passieren
könnte. Je eher sie aus New York rauskamen, desto besser. Walker bot
Emma an, in Deutschland anzurufen und sich über den CEO und CFO ihres
Kunden zu informieren.
Danach packte Emma ihren Koffer. Als sie fertig war, öffnete sie
Skype. Riley war offline, hatte ihr aber eine Sprachnachricht geschickt,
um ihr zu sagen, dass nur noch Adams Island auf dem Programm stand
und er danach doch noch nach New York kommen wollte. Allein seine
Stimme zu hören, war für Emma wie eine Befreiung. Je nach Flugplan war
Riley schon morgen Abend wieder bei ihr. Allerdings nicht in New York.
Denn selbst wenn sich ihre Kunden als echt erwiesen, wollte sie früher
nach Hause fahren. Sie würde das den Kunden gegenüber damit
begründen, dass sie ihre Tochter nicht noch länger alleine lassen konnte.
Und das war nicht einmal gelogen.
Emma antwortete Riley, dass er direkt nach Hause kommen sollte.
Sie würde nämlich noch heute abreisen. Gerade als sie ihren Laptop
heruntergefahren hatte, klopfte es an der Tür. Sie öffnete. Jake Bishop
stand mit seinen breiten Schultern im Rahmen, den er fast ganz ausfüllte.
Sein Blick wirkte besorgt. Emma bat ihn herein.
„Was gibt es, Jake?“, fragte sie und bot ihm einen Platz an dem
kleinen Besuchertisch an. Sie hatten sich beim Frühstück darauf
verständigt, sich ab sofort mit dem Vornamen anzusprechen.
Bishop setzte sich und schob sein Tablet zu ihr hinüber. Er deutete
mit dem Zeigefinger auf ein Foto. „Bitte sehen Sie sich dieses Bild genau
an, Emma.“
Neugierig zog sie das Gerät noch etwas näher an sich heran und
betrachtete das Foto. Es zeigte einen circa fünfzigjährigen Mann. Sein
schon schütteres Haar war fast vollständig ergraut. Aber trotz des ernsten
Blickes lag in seinen dunkelbraunen Augen etwas Jugendliches. Soweit
sich das anhand dieses Fotos erkennen ließ, war er sportlich. Er trug einen
blauen Trainingsanzug, der ihm gut stand. Er war attraktiv und wirkte
selbstbewusst. Die Art von Unternehmertyp, den sich Emma nach ihrer
Scheidung eher als Partner hatte vorstellen können als einen Surflehrer.
„Wer ist das“, fragte sie erwartungsvoll.
„Kennen Sie den Mann?“, antwortete Bishop mit einer Gegenfrage.
Emma schüttelte den Kopf. „Nein, den habe ich noch nie gesehen.“
„Ganz sicher?“
„Natürlich bin ich mir sicher. Also, wer ist das?“
Bishop erklärte, dass er die Zeit bis zum Aufbruch genutzt hatte, um
etwas über Emmas Kunden in Erfahrung zu bringen. „Und das könnte“,
sagte er, „wohlgemerkt: könnte, der CFO Ihres Kunden sein.“
Emma betrachtete das Foto. Das war nicht der Mann, mit dem sie
über ein Auftragsvolumen von zweihundertfünfzig Millionen Dollar
verhandelt hatte. Aber während sie sich den Mann, mit dem sie gesprochen
hatte, eher als talentierten Verkäufer auf einem Basar vorstellen konnte,
dem anzumerken war, wie unwohl er sich in einem Anzug fühlte,
entsprach der Mann auf dem Foto genau ihren Vorstellungen von einem
Menschen in einer solchen Position. Der Habitus war das Entscheidende.
Nicht das Äußere.
„Was hat das zu bedeuten? Wo haben Sie das her?“
Bishop hatte unter verschiedenen Aspekten nach den Mitarbeitern
der Firma gesucht. Und war auf der Homepage eines Sportvereins fündig
geworden. Dort hatte er einen Mann mit dem Namen des CFO gefunden.
Er war Marathonläufer. Und weil er kürzlich bei einem Lauf Bester seines
Jahrgangs geworden war, hatte eine örtliche Zeitung dieses Foto von ihm
veröffentlicht. Das einzige Bild, das er von dem Mann im Netz gefunden
hatte. In dem Zeitungsartikel gab es keinen Hinweis auf seinen Beruf.
„Ich frage Sie, Emma: Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass
dieser Mann nicht der CFO ist? Der Sitz der Firma ist München. Und der
Lauf war in Augsburg. Ich habe mir das bei maps angesehen. Das ist nur
einen Katzensprung von München entfernt. Und sein Name ist nicht allzu
häufig. Das habe ich nämlich auch schon recherchiert. Was meinen Sie?“
Sie betrachtete das Foto. „Ich gebe Ihnen recht. Das muss der CFO
sein. Marathonlaufen ist typisch für diesen ehrgeizigen Managertypus. Das
ist kein Hobby für diese Leute, sondern eine weitere Plattform, auf der sie
sich beweisen können. Der war nicht umsonst Bester seines Jahrgangs.
Gut, dann packen Sie bitte auch. Wir müssen so schnell wie möglich von
hier verschwinden.“
Doch Bishop schüttelte den Kopf. „Auf keinen Fall! Sie sollten sich
wie verabredet mit diesen Leuten treffen.“
„Warum? Dann laufe ich doch vielleicht geradewegs in eine Falle.“
„Nein, das glaube ich nicht. Sie treffen sich an einem öffentlichen
Platz. Wir werden in der Nähe sein. Es geht nicht darum, Ihnen hier etwas
anzutun. Das hätten sie früher haben können. Da steckt etwas anderes
dahinter.“
Bishop erklärte, dass Walker gleich in München anrufen würde, um
sich die fünf Mitarbeiter der Firma beschreiben und ihre aktuellen
Termine durchgeben zu lassen. Das war leicht mit der Realität
abzugleichen.
„Wenn diese Leute nicht von der Firma kommen, müssen wir sie in
eine Falle locken! Wenn wir sicher sind, dass Ihre Gesprächspartner Fakes
sind, geben wir Ihnen dieses Zeichen.“
Bishop kratzte sich am rechten Ohr. Ein unauffälliges
Verständigungszeichen. „Dann wissen Sie, dass wir die Bar stürmen, die
Männer festnehmen und ihre Hotelzimmer durchsuchen. Ich weiß nicht, ob
ich meinen Chef informieren soll. Vielleicht ist er auch in die Sache
verstrickt.“
Kapitel 52
Flughafen Teneriffa Nord
Langsam rollte der Learjet auf die Startbahn. Das war seine einzige
Chance, von dieser verdammten Insel wegzukommen!
Er war zum ersten Mal auf Teneriffa gewesen. Seine Gesellschaft
investierte in Ferienanlagen und Hotels. In den USA war sie an
zahlreichen Projekten beteiligt. Aber seit einigen Jahren investierte sie
immer mehr auch in Europa. Ihre Gelder waren in Appartementanlagen in
den Alpen, in Südfrankreich, in Italien und an der Nord- und Ostsee
geflossen. Aber er wollte weiter diversifizieren. Deshalb war er nach
Teneriffa gekommen. Um sich hier, und auf den anderen Kanareninseln,
lukrative Objekte anzuschauen.
Es war bis jetzt auch optimal gelaufen. Er hatte sich mit Maklern,
Projektentwicklern und Betreibergesellschaften getroffen und sich auf der
ganzen Insel mögliche Investitionsziele angesehen. In den meisten
Ferienanlagen war die Auslastungsquote hoch. Höher als in anderen
Ferienregionen.
Zwar waren auch die Investitionsvolumina hoch, aber er hatte die
Daten aller Objekte, die er besichtigt hatte, durch sein
Kalkulationsprogramm laufen lassen. Und das errechnete Brutto-Renditen
von sieben bis zehn Prozent. Er war sich mit Projektentwicklern und
Maklern auch schon einig. Er musste nur noch mit seinen Partnern in
Boston Rücksprache halten.
Doch dann musste dieses gottverdammte Erdbeben kommen!
Ausgerechnet jetzt. Da kam er zum ersten Mal auf diese Insel, freute sich
auf profitable Anlagemöglichkeiten, und dann machte ihm diese
überflüssige Naturgewalt einen Strich durch die Rechnung. Es war einfach
nicht zu fassen. Wie konnte man nur so ein Pech haben? Er hoffte
inständig, dass es nicht so schlimm würde, wie es sich im Augenblick
anfühlte. Dann konnte er seine Pläne begraben.
Zum ersten Mal hatte die Erde gebebt, als er gerade mit einem
Projektentwickler einen Letter of Intend unterzeichnen wollte. Zur
Unterschrift war es aber nicht mehr gekommen. Denn dieser Erdstoß hatte
das Flughafengebäude wie aus dem Nichts erschüttert. Der
Projektentwickler war aufgesprungen und davongerannt.
Aber so kopflos war er nicht. Er war aufgestanden, hatte die Papiere
vom Tisch genommen und in den Aktenkoffer gelegt, selbigen geschlossen
und war dann zu seinem Flugzeug gegangen. Zügig, aber ohne Hektik.
Gottlob hatte er sich mit dem Projektentwickler am Flughafen Nord
getroffen.
Als er auf das Rollfeld ging, waren hinter ihm die ersten Scheiben
zersprungen und im Asphalt taten sich kleine Risse auf. Typisch für ein
Erdbeben. Überall rannten die Leute in Panik ziellos umher. Ohne Sinn
und Verstand. Dabei war Ruhe bewahren das einzig Richtige.
Er konnte nicht begreifen, warum manche Menschen so kopflos
waren. Selbst dieser Projektentwickler, der eigentlich ganz souverän
gewirkt hatte. War einfach davongelaufen. Wie lange hätte es gedauert, die
fertigen Vorverträge zweifach zu unterzeichnen und ein Exemplar
mitzunehmen? Fünf Sekunden? Zehn? Fünf oder zehn Sekunden zwischen
Nichts und der Aussicht auf ein Vermögen, das jetzt ein anderer machte.
Unbegreiflich.
Der Learjet beschleunigte. Da er keine offizielle Starterlaubnis hatte
und die ihm auch niemand mehr erteilen würde, musste er höllisch
aufpassen, nicht mit einem anderen Flugzeug zu kollidieren. Denn nicht
nur er versuchte, auf diese Weise zu entkommen.
Die Startbahn öffnete sich vor ihm. Tausenddreihundert Meter
Startrollstrecke. Ein Blick in alle Richtungen. Kein anderes Flugzeug in
der Nähe. Er drückte den Schubhebel durch. Der Learjet schoss vorwärts
und erreichte in Sekundenschnelle einhundertfünfzig Stundenkilometer.
Noch ein Kilometer bis zum Abheben.
Plötzlich riss die Startbahn vor ihm auf. In einer Entfernung von
vielleicht hundert Metern. Keine Chance, noch zu reagieren. Okay, Augen
zu und durch. Darauf konzentrieren, wo man hinwill! Nicht auf das, was
einen daran hindern könnte. Wenn man auf Glatteis geriet und ausbrach,
durfte man nicht in die Richtung schauen, in die man ausbrach, sondern
auf die Straße vor sich. Dorthin, wo man das Auto hinsteuern wollte. Und,
o Wunder, das funktionierte immer. Also konzentrierte er sich nicht auf
den Riss, sondern auf den Punkt, an dem sein Learjet abheben sollte.
Eine kurze, aber heftige Erschütterung. Das Flugzeug trudelte
bedenklich, hob kurz ab, setzte wieder auf. Doch Bruchteile von Sekunden
später schoss es wieder kerzengerade über die Startbahn.
Dann hatte er es geschafft. Der Learjet startete mit dreihundert
Stundenkilometern. Mehrere Flugzeuge hoben unkoordiniert ab. Der
Tower zeigte große Risse und war menschenleer. Er drehte nach Süden ab,
weg von dem Chaos in der Luft. Er hatte rasch eine Höhe von neunhundert
Metern erreicht. Unter ihm konnte er immer mehr Risse sehen. Überall. So
weit das Auge reichte. Er sah Gebäude einstürzen. Bäume knickten um wie
Streichhölzer.
Vielleicht einen Kilometer westlich von ihm stießen zwei
Sportflugzeuge zusammen und stürzten vor seinen Augen ab. Sie fielen
wie Steine zu Boden. Für die Piloten gab es keine Hoffnung. Da konnte
man sehen, wohin kopflose Panik führte.
Aber selbst ihn überkam nun doch eine gewisse Unruhe. Für ein
Erdbeben war das arg heftig. Konnte die ganze Insel davon betroffen sein?
Und warum hörte das nicht auf, sondern wurde immer schlimmer? Gab es
bei einem gewöhnlichen Erdbeben nicht zuerst einige heftige Erdstöße und
dann schwächere Nachbeben? Aber nicht solche Erdstöße im
Sekundentakt, die ganze Krater aufrissen. Und nicht über eine so riesige
Fläche.
Und warum war das Meer so merkwürdig aufgewühlt?
Und warum fiel ein ganzer Berg in sich zusammen?
Er war inzwischen so weit südwärts geflogen, dass er den Teide bei
dem klaren Wetter gut sehen konnte. Und was sich dort abspielte, versetzte
ihn in einen Schockzustand. Der Teide, dieser fast viertausend Meter hohe
Berggigant, stürzte ein wie eine Sandburg in der Flut! Nicht nur eine
seiner Flanken. Nein, der ganze Vulkan fiel in sich zusammen! Gewaltige
Felsstürze jagten in immer kürzeren Abständen in die Tiefe und wie eine
Walze auf die Küste zu. Der Schnee auf dem Gipfel war verschwunden.
Aber da war auch kein Gipfel mehr! Und an der Küste versanken ganze
Orte im Meer! Er sah, wie ein Hotelkomplex zusammenstürzte und
einfach ins Meer fiel. Wie ein Puppenhaus.
War das nicht Puerto de la Cruz? Oder das, was davon übrig war?
War für eine biblische Katastrophe lief hier ab? Eines war jedenfalls klar:
Hier gab es absolut nichts mehr zu investieren.
Ein Gefühl von Verzweiflung überkam ihn, als er endlich an das
Schicksal all der Menschen dachte, die hoffnungslos verloren waren. Wie
viele Menschen waren wohl gerade auf der Insel? Eine Million?
Anderthalb? Wie viele würden dieses Inferno überleben?
Auf einmal hasste er sich, weil er es versäumt hatte, wenigstens ein
paar Menschenleben zu retten. So viele, wie sein Flugzeug zuließ. Elf
Plätze. Zwei für die Besatzung, neun für Passagiere. Und vielleicht auch
noch zwei oder drei zusätzlich. Er hätte mehr als zehn Menschen retten
können! Sie liefen doch panisch um ihn herum. Er hätte nur sagen müssen:
„Kommt mit, ich habe ein Flugzeug!“ Und was hatte er getan? War sich
fürchterlich cool und abgeklärt vorgekommen und hatte nur sich gesehen.
Sich allein.
Was bin ich für ein egoistisches Drecksschwein, dachte er und
spürte, wie ihm Tränen in die Augen schossen. Niemals würde er sich das
verzeihen können.
Durch den Tränenschleier sah er, wie sich die Geographie im Süden
und Westen der Insel in atemberaubender Geschwindigkeit veränderte.
Ganze Dörfer versanken im Boden. In einem Moment waren sie noch da,
im nächsten verschwunden. Überall bildeten sich gewaltige Krater, nur um
sofort wieder einzustürzen. Der Teide schien jede Sekunde hunderte von
Höhenmetern zu verlieren. Und was noch verrückter war, vollkommen
surreal, war der Eindruck, dass sich der komplette Westteil der Insel wie
ein Schnellboot weiter nach Westen schob, um dort im Meer zu versinken.
Er drehte westwärts ab, auf die Küste zu, weg von dem einstürzenden
Berg und der Gefahr, von Gesteinstrümmern getroffen zu werden. Er kam
aber nicht auf die Idee, auch höher zu steigen. Im Gegenteil. Er ging wie
ferngesteuert wieder in den Sinkflug. Weil ihn dieses biblische Chaos wie
ein Magnet anzog. Eine Mischung aus Faszination, Urängsten und
Sensationslust. Er wollte, nein, er musste, aus der Nähe sehen, was sich
unter ihm abspielte.
Die Küste war noch zwei Kilometer entfernt. Der Jet war auf
vierhundert Meter gesunken und verlor weiter an Höhe. Und endlich
konnte er genau erkennen, was dort unten geschah. Es war so, wie er es
vermutet hatte. Ganze Teile der Insel rutschten einfach in den Atlantik. So,
als hätte jemand zwischen zwei Aquarien, einem leeren und einem vollen,
eine Trennwand gezogen. Genauso sah das aus. Und genau so schnell ging
das auch. Und weil der Westen der Insel im Meer versank, rutschte auch
der Teide ab. Er verlor einfach den Halt, sein Fundament.
Nein, das war kein Erdbeben!
Denn er erinnerte sich an einen Bericht, den er vor einiger Zeit im
Fernsehen gesehen hatte. Es ging um eine Hangrutschung vor der
norwegischen Westküste vor rund achttausend Jahren. Storkerrutschung
hieß die. Oder Torecker-Rutschung? Egal, jedenfalls war bei diesem
Ereignis ein ganzer Kontinentalhang vom Ausmaß Islands eingestürzt und
hatte große Teile Nordeuropas verwüstet. Und das, was der Sprecher
erzählt und was die Animation gezeigt hatte, erinnerte ihn stark an das,
was in diesem Augenblick vor seinen Augen auf Teneriffa geschah.
Ihm fiel auch wieder ein, dass in dem Bericht die Kanaren erwähnt
wurden. Alle Kanarischen Inseln lebten mit dem Risiko einer
Hangrutschung. Besonders gefährdet waren La Palma mit der Cumbre
Vieja und Teneriffa mit dem Teide. An der Cumbre Vieja könnten bis zu
tausendzweihundert Milliarden Tonnen Gestein ins Meer stürzen. Dagegen
war ein Seebeben, gleich welcher Stärke, nicht mehr als ein sanftes
Zittern.
Ach du heilige Scheiße! Tausendzweihundert Milliarden Tonnen
Gestein! Das überstieg sein Vorstellungsvermögen. Doch er ahnte, dass
das, was vor seinen Augen ins Meer raste, noch mehr war. Ein eisiger
Schauer lief ihm den Rücken hinunter. Blankes Entsetzen überfiel ihn. Er
zitterte am ganzen Körper. Seine Augen füllten sich erneut mit Tränen.
Vor ihm tauchte das offene Meer auf. Seine Flughöhe betrug
dreihundert Meter. Er blickte aus dem Seitenfenster. Das war sonderbar.
Warum blubberte das Meer so komisch? Das waren doch keine Wellen.
Das sah eher so aus, als würde das Wasser kochen oder aus der Tiefe
Milliarden riesige Blasen aufsteigen.
Mit einem Mal begriff er, dass er steigen musste! Und zwar schnell!
Denn er erinnerte sich wieder, dass ein Geologe in dem Bericht auch etwas
von einer einzelnen, initialen Welle gefaselt hatte. Er hatte keine Ahnung
mehr, was das war, aber es klang nicht gut.
Er zog das Steuerhorn zu sich und erhöhte den Schub. Der Learjet
stieg und erreichte rasch eine Höhe von dreihundertfünfzig Metern. Nichts
wie weg hier. Rauf auf dreizehntausend Meter. Das Flugzeug befand sich
nun im maximalen Steigflug. Seine Höhe betrug vierhundert Meter. Es
hatte den offenen Ozean erreicht. Er sah nur noch den Himmel vor sich.
Hellblau, überzogen lediglich von ein paar Schönwetterwolken.
Doch plötzlich sah er noch etwas anderes.
Es tauchte wie aus dem Nichts vor ihm auf, und es raste direkt auf
ihn zu. Oder er raste darauf zu. Es war höher als er. Viel höher. Es war
gewaltig. Vor ihm baute sich eine gigantische Wand aus Wasser auf. Kein
Tsunami. Eher eine einzelne Welle. Wobei Welle dafür viel zu harmlos
klang. Es war eher eine Hölle aus Wasser.
Das also war eine initiale Welle.
Nicht schnell, nicht nachhaltig, nur die erste Reaktion des Meeres
auf das Bombardement mit Gesteinsmassen. Die Wasserwand sah so aus,
als würde sie in der Luft stehen und bis in den Himmel ragen. Aber sie
stand nicht. Sie fiel. Instinktiv verriss er das Steuerhorn. Weg von der
Wasserwand, die jeden Moment über den Resten der Westinsel
hereinbrechen würde.
Zu spät. Die Welle traf sein Flugzeug. Sein Flugzeug traf die Welle.
Mit voller Wucht. Und mit einem infernalischen Krach. Glas splitterte.
Wasser drang in das Innere des Jets ein. Das Flugzeug geriet ins Trudeln.
Die Motoren erstarben unter den Wassermassen. Der Learjet gehorchte
ihm nicht mehr. Er stürzte ab.
Als die initiale Welle in sich zusammenfiel, und dabei an Land kaum
noch Schäden anrichtete, weil bereits alles zerstört war, versank sein Jet in
dem brodelnden Wasser. Aber ohne ihn. Er war samt Pilotensitz durch die
zerstörte Cockpitscheibe ins Freie geschleudert worden. Er fiel. Er sah das
Meer auf sich zurasen. Und den Jet einschlagen. Und all die Blasen. Dann
versank die Welt um ihn herum in der Dunkelheit.
Die übrigen Inseln der Kanaren wurden von bis zu zweihundert, die
Küste Nordafrikas von bis zu einhundert Meter hohen Wellen
heimgesucht. Sie forderten hunderttausende von Todesopfern. Doch auch
die durch die Hangrutschung und den Teide ausgelösten Tsunamis
bewegten sich bereits mit Schallgeschwindigkeit auf die Küsten
Nordafrikas, Spaniens und Englands zu.
Und auf die amerikanische Ostküste.
Kapitel 53
New York City, wenige Stunden später
Emma wartete in einer Bar auf ihre Kunden. Sie bestellte einen Kaffee und
schaute auf die Uhr an der Wand hinter der Theke. 16.45 Uhr. Um 16.30
Uhr waren sie verabredet gewesen und noch keine Spur von den Kunden.
Ein weiteres Indiz für ein Täuschungsmanöver. Denn kein CEO und kein
CFO eines großen europäischen Konzerns würden einen Geschäftspartner
unentschuldigt warten lassen. Stellte sich die Frage nach dem Grund. Bis
jetzt waren die Leute immerhin pünktlich gewesen.
Sie kramte ihr Handy aus der Handtasche und die Visitenkarten aus
dem Portemonnaie. Sie wählte die Handynummer des CEO. Das
Freizeichen erschien, aber nach zweimaligem Klingeln wurde ihr
mitgeteilt, dass der Teilnehmer vorübergehend nicht erreichbar war.
Sie versuchte es beim CFO. Dasselbe: The person you are calling is
temporarily unavailable, please try later.
Auch um 17.00 Uhr war noch kein Kunde gekommen. Immer wieder
wählte Emma die Nummern der fünf Männer. Es war bei allen dasselbe:
Der Teilnehmer war nicht erreichbar. Schließlich zahlte sie. Sie würde jetzt
mit Walker und Bishop zu dem Hotel gehen, in dem die Leute abgestiegen
waren und wo sie sich beim ersten Mal getroffen hatten.
Gerade als sie aufstehen wollte, hörte sie, wie jemand dem
Barkeeper befahl, den Fernseher über dem Tresen lauter zu stellen.
Neugierig ging sie an den Tresen. Ein Sonderbericht auf CNN, der ein
Amateurvideo zeigte, das scheinbar aus einem Flugzeug aufgenommen
worden war. Darauf war zu sehen, wie Teile einer Insel im Meer
versanken. Ein befremdlicher Anblick. Emma nahm an, dass es um einen
mit dem Stilmittel des Amateurvideos arbeitenden Endzeitthriller von
Roland Emmerich ging. Das war nicht ihr Ding. Viel zu utopisch. Aber
warum kam dazu ein Bericht auf CNN? Sie konnte kaum verstehen, was
der Reporter sagte. Die Hintergrundgeräusche überlagerten alles andere.
„Noch lauter“, befahl der Gast ungeduldig und unter dem
zustimmenden Nicken vieler Gäste, die sich zunehmend um das
Fernsehgerät versammelten.
„Schon gut“, murmelte der Barkeeper und drehte das Gerät voll auf.
Endlich konnte Emma gut verstehen, was der Reporter sagte, zumal die
Gespräche in der Bar verstummten. Was sie sah und hörte, verstörte sie. Es
ging nicht um einen Blockbuster. Es ging um eine reale Hangrutschung vor
Teneriffa, die zu einer Katastrophe apokalyptischen Ausmaßes geführt
hatte. Im Westteil der Insel gab es keine, im Ostteil nur wenige
Überlebenden. Was für ein humanitäres Desaster! Der Teide, das
Wahrzeichen der Insel, war zu Zweidritteln eingebrochen und, zusammen
mit Teilen der Insel, ins Meer gestürzt. Das hatte zu einer initialen Welle
geführt, die angeblich eine Höhe von über fünfhundert Metern erreicht
hatte.
Emma war fassungslos. So etwas hatte sie noch nie gehört.
Fünfhundert Meter hohe Wellen. Das war unvorstellbar. Diese Bilder sahen
aus wie das Ende der Welt. Und sie führten sie zu einer düsteren
Vorahnung. So düster, dass sie diesen Gedanken kaum zulassen konnte.
Das war einfach nicht möglich!
Doch in diesem Augenblick teilte der Sprecher mit, dass es noch
keine Hinweise gab, was diese folgenschwere Rutschung ausgelöst hatte.
Zumindest Vorbeben wären nach Meinung der eilig befragten Experten zu
erwarten gewesen. Doch diese Beben hatte es nicht gegeben. Die
Katastrophe war von jetzt auf gleich eingetreten. Ohne Vorankündigung.
Ohne Fluchtbewegungen von Tieren.
Als der Sprecher mit Grabesstimme erklärte, dass die Küsten
Englands, Nordafrikas und Spaniens von verheerenden Tsunamis
heimgesucht worden waren, hatte sich die gesamte Gästeschaft um den
Fernseher versammelt. Alle starrten ungläubig auf den Bildschirm. Auch
Passanten von der Straße strömten in die Bar, als sie die Menschentraube
vor dem Fernseher sahen. Unter ihnen Walker und Bishop, die versuchten,
durch das Gewühl zu Emma zu gelangen.
Öffentliche Orte, an denen ein Fernsehgerät lief, füllten sich rasch.
Auf den Straßen waren bald kaum noch Menschen zu sehen. Eine
gespenstische Atmosphäre.
In der Bar, in der zuvor dreißig Menschen für einen enervierenden
Geräuschpegel gesorgt hatten, war es, trotz inzwischen mehr als hundert
Gästen, totenstill. Der Barkeeper, der gerade ein Glas abgetrocknet hatte,
hielt in seiner Bewegung inne und das Trockentuch in der einen, das Glas
in der anderen Hand. Wie hypnotisiert starrte er auf den Bildschirm. Nur
die blecherne Stimme des Reporters war zu hören. Wie eine biblische
Prophezeiung verbreiteten sich seine Botschaften. Sie drangen in das
Bewusstsein der Zuhörer ein und versetzten sie in eine kollektive
Schockstarre. Hunderttausende von Toten. Zerstörte Unterseekabel, zu
erwartende Crashs an den Börsen und Finanzmärkten.
Jetzt wurden Animationen eingeblendet. Sie zeigten Teneriffa. Und
von der Insel ausgehende Ringe, ähnlich einem Stein, der ins Wasser
geworfen wird. Mit jeder Animation veränderten sich die Ringe und
diverse Zahlen wurden eingefügt. Der Reihe nach erschienen vier
Animationen. Bei der zweiten ertönten draußen Sirenen. Zuerst eine, dann
immer mehr. Aber die Leute waren so gefangen von dem, was aus dem TV-
Gerät dröhnte, dass sie davon nichts mitbekamen.
Auf der ersten Animation stand t=0,5, auf der zweiten t=1, auf der
dritten t=3 und auf der vierten t=6. Erst jetzt bemerkte Emma, dass sich
die Animationen in einem weiteren Punkt veränderten. Sie zeigten immer
größere Kartenausschnitte.
Als der Sprecher die Animationen erläuterte, erreichten Walker und
Bishop Emma. Aber sie führte den Zeigfinger an die Lippen. Still, das will
ich hören! Auch die FBI-Agenten lauschten gebannt den Ausführungen des
Sprechers, der erklärte, dass die Animationen die von der Hangrutschung
ausgelösten Tsunamis zeigten. Und ihre Ausbreitung im Atlantik. Und
zwar nach einer halben Stunde nach der Hangrutschung, nach einer Stunde,
nach drei und nach sechs.
Emma wurde schwindelig, als der Sprecher sagte, dass schon über
fünf Stunden vergangen waren. Nach der vierten Animation bedeutete das,
dass eine Serie von Tsunamis auf New York City und die ganze Ostküste
zuraste und in weniger als einer Stunde eintraf. Experten rechneten mit
Scheitelhöhen von mehr als dreißig Metern, einige hielten deutlich höhere
Wellenberge für möglich. Die Bewohner der Ostküste wurden
aufgefordert, sich umgehend ins Landesinnere und auf Anhöhen zu
begeben. Dort sollten sie abwarten, bis die FEMA und die zuständigen
Landesbehörden Maßnahmen einleiteten, um sie in Sicherheit zu bringen.
Die Federal Emergency Management Agency war eine Unterbehörde des
Department of Homeland Security.
„Emma“, sagte Walker und drehte sie an der Schulter zu sich herum.
„Sie haben es selbst gesehen. Ein Tsunami rast auf uns zu. Hören Sie die
Sirenen nicht? Wir müssen weg hier!“
Walker sprang mit erstaunlicher Geschmeidigkeit auf den Tresen,
riss dem Barkeeper dabei die Fernbedienung aus der Hand, schaltete das
Fernsehgerät aus und forderte die Leute auf, sich ruhig und geordnet nach
draußen zu begeben und dort abzuwarten, bis die FEMA die notwendigen
Maßnahmen eingeleitet hatte. Er sei vom FBI.
Obwohl er ruhig gesprochen hatte, brach Panik unter den Menschen
aus. Schreiend strömten sie zum Ausgang und rissen sich dabei
gegenseitig um. Bishop hatte Emma am Arm gepackt und aus der
Gefahrenzone gezogen. Hinter die Bar. So feste, dass Emmas zierlicher
Arm höllisch schmerzte.
„Wir müssen warten, bis der Mob verschwunden ist. Die sind
imstande und trampeln Sie zu Tode“, rief Bishop.
Emma sah, wie Menschen zu Boden gerissen wurden und versuchten,
wieder aufzustehen. Doch es gelang ihnen nicht. Immer wieder traf sie der
Fuß eines in Panik fliehenden Menschen. Die ersten reagierten nicht mehr.
Sie blieben regungslos liegen, als sie wieder und wieder getreten wurden.
Auch am Ausgang spielten sich dramatische Szenen ab. Die schmale Tür
wirkte wie ein Nadelöhr. Nur ein Mensch passte hindurch. Rasch bildete
sich ein Rückstau. Die ersten stießen absichtlich jemanden zu Boden oder
schlugen ihn nieder, um zuerst ins Freie zu gelangen.
„Haben wir eine Chance?“, fragte Emma.
Bishop presste die Lippen aufeinander und schwieg. Auch Walker
ging nicht auf Emmas Frage ein, sondern erzählte, dass er die Bar gar
nicht beobachtet hatte. Sie hatten sich vielmehr aufgeteilt. Jake hatte die
Bar im Auge behalten. Er war zum Hotel der angeblichen Kunden
gegangen, das keine fünf Fußminuten entfernt war, um es zu überwachen.
Nachdem die Kunden zehn Minuten nach dem verabredeten Termin noch
nicht herausgekommen waren, war er hineingegangen, zu der Frau am
Empfang, und hatte seinen Ausweis gezückt.
„Und was soll ich sagen, Emma, Ihre Kunden haben heute in aller
Frühe ausgecheckt!“
Emma sah Walker entgeistert an. „Wollen Sie damit andeuten, dass
die gewusst haben, dass wir von einem Tsunami bedroht werden?“
Walker nickte, Bishop senkte seinen Blick. „Das befürchte ich. Wir
müssen davon ausgehen, dass wir alle, Sie, Jake und ich, in eine Falle
gelockt worden sind, aus der es kein Entrinnen gibt. Diese
Naturkatastrophe kommt sicherlich nicht aus der Natur. Zumal ich in
Deutschland angerufen habe, bei Ihrem Kunden! Und was Sie schon
geahnt haben, Emma, ist nun Gewissheit: Die Männer, mit denen Sie sich
getroffen haben, kommen definitiv nicht von Ihrem Kunden!“
„Aber..., aber...“, stammelte Emma, „wie sollten die denn..., wie
sollte AURORA eine ganze Insel im Meer versinken lassen? Einen
Kontinentalhang und einen Vulkan zum Einsturz bringen? Das ist doch
Irrsinn! Das ist Science Fiction!“
„Ich weiß es nicht“, sagte Walker und nahm Emma an der Hand. Er
nickte Bishop zu. „Raus hier! Los, kommt schon!“
Das Lokal war jetzt fast leer. Einige hatten in ihrer Panik die Fenster
zur Straße eingeschlagen und damit zusätzliche Fluchtkanäle geschaffen.
Bishop meinte, dass es nur deshalb nicht noch mehr Opfer in der Bar
gegeben hatte. Emma musste über vier von Scherben bedeckte Körper
steigen. Walker fühlte ihren Puls und schüttelte den Kopf. Auf der Straße
entstand in Minutenschnelle Chaos. Menschen rannten ziellos umher.
Sirenen heulten. Autos rasten über rot-beampelte Kreuzungen. Das
Geräusch von zerberstendem Blech gesellte sich zu dem der Sirenen.
„Habt ihr einen Plan?“, fragte Emma, die sich wie ein verängstigtes
Kind in Bishops Arme geschmiegt hatte. Bishop blickte sich um:
verstopfte Straßen, zerstörte Autos, Menschen, die keinen Ausweg sahen.
Der Katastrophenschutz versuchte, die Menschenmenge zu kanalisieren,
auch aus der Luft. Doch die Leute reagierten nicht. Wie tollwütig rannten
sie umher. Plünderer drangen in von der panischen Menge zerstörte
Geschäfte ein und kamen bald drauf voll beladen wieder hinaus.
„Das ist Anarchie“, stellte Bishop fest. „So, wie wir es in der
Ausbildung gelernt haben. Niemals hätte ich gedacht, tatsächlich damit
konfrontiert zu werden. Begreifen diese Idioten nicht, dass sie so gut wie
tot sind? Wo wollen die mit ihrer Beute hin? Was soll das?“
„Jake!“, schrie Emma und riss sich los. „Haben Sie einen Plan? Oder
Sie?“, fragte sie und stieß Walker mit beiden Händen vor die Brust. Walker
wich nur einen halben Schritt zurück.
„Sehen Sie sich um, Emma. Diese Nachricht kommt ausgerechnet
während der Rush Hour. Die Straßen sind ohnehin schon verstopft. Und
jetzt wollen über acht Millionen Menschen aus der Stadt fliehen.
Gleichzeitig!“
Er packte Emma, die ihn ungläubig anstarrte, an den Schultern und
schüttelte sie. „Sie sollen sich umsehen! Welchen Eindruck macht die
Feuerwehr auf Sie? Oder die Polizei? Niemand ist darauf vorbereitet! Wie
auch, wenn Terroristen eine ganze Insel im Meer versenken? Wer soll mit
so was rechnen? Es gibt dafür keine Vorwarnstufe. Keinen
Katastrophenplan. Keinen Evakuierungsplan. Es gibt gar nichts. Die Zeit
reicht einfach nicht aus. Weil das, was geschieht, jenseits den
menschlichen Vorstellungsvermögens liegt.
Unsere einzige, theoretische und wirklich nur minimale Chance
besteht darin, in eines der höchsten Gebäude der Stadt zu fliehen. Höher
als die Welle. Das da vorne ist das MetLife-Building. Dieser
Wolkenkratzer ist eine Legende. Dort spielt die Schlussszene von Coogans
großer Bluff, in der ein Hubschrauber vom Dach abhebt. Damals hieß das
noch Pan Am Building, weil Pan Am dort seine Verwaltung hatte. Tja, aber
wen interessiert das jetzt. Jedenfalls ist der Tower zweihundertfünfzig
Meter hoch. So hoch ist kein Tsunami. Entweder das Gebäude stürzt ein
und wir mit ihm. Oder der Sog des zurückweichenden Wassers reißt es mit
sich. Oder wir haben Glück und es hält den Urgewalten stand. Was sollen
wir auch sonst tun?“
Sie rannten zu dem Gebäude, aus dem ihnen Dutzende von
Menschen schreiend entgegen kamen. Emma sah den Menschen nach und
fand es befremdlich, sich gegen den Strom zu bewegen. Diese Menschen
flohen aus dem Gebäude, weil sie wussten, dass sie dort keine
Überlebenschance hatten! Welches Gebäude sollte einer Welle standhalten,
die dreißig oder vierzig Meter hoch war und mehrere hundert
Stundenkilometer schnell? War die moderne Zivilisation jemals von einem
Tsunami nach einer Hangrutschung bedroht worden? Wie gewaltig musste
diese Welle sein? Konnte man das überhaupt vorhersagen?
Aber sie vertraute Walker und Bishop. Welche Wahl hatte sie auch
schon? Denn auf den Straßen tobte das Chaos. Es wurde von Minute zu
Minute schlimmer. Sie hatte selbst noch gesehen, wie sich sechs
Fahrzeuge ineinander verkeilten, weil eines bei Rot über eine Kreuzung
geschossen war, und dadurch jetzt gleich vier Straßenzüge blockiert
waren. Wie sollte man aus dieser Todesfalle entkommen?
Ihre Gedanken wanderten zu ihrem Bauch und zu Riley, während sie
den Fahrstuhl betrat. Im Foyer war ihnen schon niemand mehr begegnet.
Walker tippte auf dem Display auf 60. Die höchste Etage des Towers.
Lautlos setzte sich der Fahrstuhl in Bewegung.
Kapitel 54
Adams Island
Der Skipper hielt auf Adams Island zu, das letzte Ziel. Hundertzehn
Quadratkilometer groß und keineswegs flach. Die Insel hatte den
Charakter eines Mittelgebirges, der Mount Dick, ihre höchste Erhebung,
war siebenhundert Meter hoch.
Adams Island gehörte zu den durchweg unbewohnten
subantarktischen Aucklandinseln. Deshalb hielt Riley es nicht für
abwegig, dass AURORA sich dort niedergelassen hatte. War das die grüne
Insel, von der sein Vater in seinem Tagebuch gesprochen hatte?
Wegen der Größe und Geographie der unberührten Insel hatte Riley
beschlossen, zwei Tage für seine Suche einzuplanen, auch wenn er dann
noch länger auf Emma verzichten musste. Aber die Insel war an einem Tag
nicht zu schaffen. Sie bot einen idealen Stützpunkt für jemanden, der sich
unsichtbar machen wollte.
Außerdem war die Küste stark zerklüftet. Es gab kaum
Möglichkeiten, sich ihr gefahrlos zu nähern und zu ankern, wie auch der
Skipper fluchend bemerkte. Wer immer diesem Eiland einen Besuch
abstatten wollte, hatte also vom Wasser her Probleme. Zumal die Insel
über weite Strecken des Jahres von Packeis eingeschlossen war und es
viele Stürme gab.
Riley kam der Gedanke, dass sich AURORA gar nicht auf, sondern in
der Insel befand. Eine bessere Tarnung konnte es kaum geben. Außerdem
hieß das Schiff, mit dem Adams Island entdeckt wurde, AURORA. Das
konnte doch kein Zufall sein.
Endlich hatte der Skipper einen Ankerplatz gefunden. Er deutete auf
das Beiboot. „Viel Glück, Riley. Wenn was ist...“ Er deutete auf sein
Funkgerät.
Als Riley das Beiboot aus der Verankerung löste, schaltete der
Skipper das Radio ein. Ein Sonderbericht über eine Hangrutschung vor den
Kanaren, der Riley das Blut in den Adern gefrieren ließ. Denn ein Tsunami
raste auf New York City zu. Er würde in fünfzehn Minuten das Festland
treffen und konnte eine Höhe von sechzig, nach neuen Berechnungen sogar
bis zu einhundert Metern erreichen. In NYC war Panik ausgebrochen, die
es dem Katastrophenschutz unmöglich machte, wenigstens einen Teil der
Bevölkerung zu evakuieren. Ein Feuerwehrsprecher sagte, dass man mit
dem Schlimmsten rechne.
Riley stand wie angewurzelt vor dem Beiboot, die Augen weit
aufgerissen.
„Was ist denn mit dir los?“, fragte der Skipper. „Ist dir ein Geist
begegnet? Ich meine, diese Nachricht ist natürlich unfassbar. Eine
Katastrophe. Doch weit von uns entfernt. Aber du siehst so aus, als wärest
du selbst in diesem Moment in New York.“
„Emma“, stammelte Riley.
„Wie bitte?“
Riley erklärte dem Skipper mit brüchiger Stimme, dass Emma in
New York war. Er zog sein Handy aus der Gesäßtasche. „Shit“, flucht er,
„kein Empfang. Ich kann Emma nicht einmal anrufen!“
Der Skipper gab Riley sein Satellitentelefon. „Probier es damit. Das
sollte funktionieren.“
Endlich hörte Riley das Freizeichen. Aber Emma meldete sich nicht.
„Wo bist du“, sprach Riley mit zitternder Stimme auf ihre Mailbox. Er
merkte nicht, dass ihm Tränen über die Wangen liefen. Schon einmal hatte
er Emma um ein Haar verloren. Er probierte es wieder und wieder. Nichts.
Sie wollte doch heute nach Cocoa Beach zurückkehren! Vielleicht
war sie längst zuhause und hatte ihr Handy irgendwo liegen lassen, weil
sie selbst gerade erschüttert die Nachrichten sah. Riley wählte die
Festnetznummer. Cathys Kindermädchen meldete sich. Du musst dich
beherrschen, mahnte sich Riley zur Ruhe, der die Frau nicht in Panik
versetzen wollte.
„Hi, hier ist Riley. Ist Emma schon zurück?“
Aber Emma wollte erst morgen zurückkommen. Und Cathy war noch
in der Schule.
Mit einem Kloß im Hals beendete Riley das Gespräch. Von Panik
erfüllt, dachte er nicht daran, dass auch Cocoa Beach an der Ostküste lag.
Der Skipper sah ihn mitleidig an. „Es ist nicht gesagt, dass deine Freundin
noch in New York ist. Vielleicht sitzt sie längst im Auto.
Riley schüttelte den Kopf. „Nein, sie ist geflogen, direkt von
Melbourne aus.“
„Scheiße!“
Sie schwiegen. Schließlich fragte der Skipper, ob Riley die Insel
dennoch erkunden wolle.
Riley machte das Beiboot wieder fest. „Auf keinen Fall. Ich muss
sofort zurück. Bitte lass das Radio laufen, okay?“
Kapitel 55
Adams Island
„Das ist großartig!“ David Moore klatschte laut in die Hände. Er war zwar
immer noch total erschöpft, konnte aber die Begeisterung über seinen
Erfolg kaum verhehlen. Er war stolz auf sich. Das sollte ihm erst mal einer
nachmachen.
Nachdem er sein Werk vollendet hatte, war er in den
Versammlungsraum gegangen, wo der Circle bereits auf ihn wartete. Sie
verfolgten die Nachrichten über die Leinwand. Nervös hatten sie darauf
gewartet, dass endlich Meldungen über die Hangrutschung kamen. Sie
konnten nicht wissen, ob die Atom-U-Boote mit ihrer atomaren Fracht die
erhoffte Wirkung erzielt hatten.
Als endlich der erste Bericht lief, waren sie vor Begeisterung
aufgesprungen. Die Bilder, die gezeigt wurden, die Videos aus der Luft,
waren zutiefst beeindruckend. Das übertraf ihre kühnsten Erwartungen.
Nach Schätzungen von Wissenschaftlern waren fast dreitausend
Milliarden Tonnen Gestein ins Meer gestürzt. Mit der Geschwindigkeit
eines Hochgeschwindigkeitszuges. Das Team um Chang Zhou hatte nach
der Analyse früherer Ereignisse und eigener Messungen mit dem Side
Scan Sonar mit dreihundert bis fünfhundert Milliarden Tonnen Gestein
gerechnet. Die Realität überstieg selbst den Best Case um das Sechsfache.
Es war eben unmöglich, die Auswirkungen zehn explodierender und bis
obenhin bewaffneter Atom-U-Boote exakt zu prognostizieren.
Wave löste das erhoffte Chaos aus und bereitete Ice den Weg.
Monsterwellen und Tsunamis hatten bereits erhebliche Schäden
angerichtet. Doch in zehn Minuten traf es New York City.
Über den unteren Bildschirmrand lief ein Live-Ticker, der besagte,
dass das Ausmaß der Hangrutschung mit dem Einschlag eines Asteroiden
vergleichbar war. Daher rührte die gigantische initiale Welle mit einer
Scheitelhöhe von über fünfhundert Metern. Und deshalb konnte der
Tsunami, der auf New York zuraste, eine Höhe von einhundert Metern
erreichen.
Dass die Menschen selbst mit ihrer Panik ihre Evakuierung
verhinderten, war perfekt. Das Chaos würde schlimmer ausfallen und
länger andauern als vermutet. An den Börsen würde es zu schweren
Einbrüchen kommen. Eine Weltwirtschaftskrise war möglich. Denn mit
New York verlor die Welt ihre führende Finanzmetropole und einen der
größten Finanzstandorte der Welt. Der New York Stock Exchange war die
weltweite Leitbörse und größte Wertpapierbörse der Welt, mit einem
Handelsvolumen von neunzehn Billionen US-Dollar jährlich. Der Dow-
Jones-Index war der älteste und bedeutendste Aktienindex der Welt.
Die Vernichtung der Superlative der Zivilisation verschaffte Ice
optimale Startbedingungen. Denn die Augen der Welt waren auf Teneriffa
gerichtet. Auf New York City und die Ostküste der USA. Auf Spanien,
England und Nordafrika.
Aber nicht auf Flüchtlingsströme aus dem Nahen Osten oder die
Passagiere auf den größten Flughäfen der Welt.
„Wenn ich an die Toten denke, ist mir trotzdem mulmig zumute“,
bemerkte Edward Coleman mit belegter Stimme, mitten in den Jubel
hinein. „All die Menschen auf Teneriffa! Familien, die dort nichtsahnend
Urlaub gemacht haben. Kinder, die am Strand gespielt haben. Alle tot!
Und acht Millionen Menschen, die in New York in der Falle sitzen und auf
ihr sicheres Ende warten. Ich weiß nicht, ob ich mit diesem Gewissen
leben kann. Ein Grund zum Jubeln ist das jedenfalls nicht.“
Kimberly nahm ihren Mann in den Arm. „Mir geht es doch genauso,
Darling. Uns allen geht es so. Aber wir haben doch so oft darüber
diskutiert. Und sind stets zu demselben Ergebnis gekommen: Die
Menschheit steht an einem von ihr selbst geschaffenen Abgrund. Wir
helfen nur ein klein wenig nach, um wenigstens einen Teil zu retten. Du
darfst dich weder von Einzelschicksalen noch von Opferzahlen
beeindrucken lassen!“
Rebecca erzählte wieder ihre Geschichte von dem Asteroiden, der
die Dinosaurier zum Aussterben gebracht hatte und dass AURORA nichts
anderes war als ein reinigender Asteroid. Bryan rechnete wie immer
gebetsmühlenartig vor, wie viele Menschen ohne AURORA überleben
würden, nämlich keine, und wie viele mit.
Moore schenkte Edward großzügig Whiskey nach. „Der wird dir
guttun. Glaub mir, wenn wir erst einmal begonnen haben, die Welt neu zu
ordnen, ist es vorbei mit deinen Gewissensbissen. Dann hast du das
Paradies vor Augen und begreifst, wie notwendig AURORA ist. Die
Menschheit ist eine Krankheit, Edward. Eine Krankheit! Und wir sind die
Medizin! In wenigen Minuten ist es soweit!“
„Apropos wenige Minuten“, rief Rebecca. „Ich muss mal. Auf dem
Rückweg hole ich den Schampus aus dem Kühlschrank, damit wir
anstoßen können, wenn New York dem Erdboden gleichgemacht wird.
Denn erst dann war Wave ein voller Erfolg.“
Sie kam mit sechs Flaschen Champagner in einer Tragekiste zurück.
Aber David Moore und Richard Armstrong, die sich derweil etwas
abgesetzt hatten, bemerkten sie nicht, als sie um die Ecke kam. Sie kehrten
ihr den Rücken zu und unterhielten sich. Und zwar über sie. Instinktiv
wich sie zurück und belauschte sie.
Sie glaubte, ihren Ohren nicht trauen zu können. Andrew fragte
David, ob es nicht besser sei, ihr die Wahrheit zu sagen. Dieser heroische
Augenblick, in dem auch Rebecca in Hochstimmung war, sei ein idealer
Zeitpunkt. Wenn nicht jetzt, wann dann? Aber David verneinte das und
meinte, dass sie, weil sie sehr labil war, in jeder Stimmung ausflippen
konnte, wenn sie erfuhr, dass er persönlich verhindert hatte, dass seine
Männer wegen ihrer Vergewaltigung zur Rechenschaft gezogen wurden.
Rebecca traten Tränen in die Augen. War David derjenige, der
damals... Aber das war doch unmöglich! David war doch ihr Freund! Aber
Moore verlieh seiner Aussage mit scharfen Worten Nachdruck und
ergänzte sie um seine Einschätzung, dass man geschehenes Unrecht nicht
wiedergutmachen könne. Jetzt gehe es nur darum, zu verhindern, dass
Rebecca jemals davon erfuhr.
Von plötzlichem Zorn erfasst, sprang Rebecca wie eine Wildkatze
um die Ecke, nahm eine Flasche aus der Kiste und holte aus. „Du mieses
Schwein“, schrei sie. Andrew reagierte blitzschnell und entwand ihr die
Flasche, bevor sie Moores Kopf traf. Durch ihr Geschrei waren die
anderen auf sie aufmerksam geworden und gesellten sich neugierig zu
ihnen. Moore, Armstrong und Eliot standen da und starrten sich an.
„Rebecca, Liebes“, begann Moore, kam aber nicht dazu,
weiterzureden, weil Rebecca ihn wieder anschrie. In ihren Augen spiegelte
sich blanker Hass. Fünf Minuten vor dem Aufprall des Tsunamis in New
York City wusste der gesamte Circle über Rebeccas Vergewaltigung und
Davids Rolle dabei Bescheid. Heather betätigte sich als Streitschlichterin
und betonte, dass private Zwistigkeiten jetzt unangebracht seien. Das
könnten die beiden später untereinander regeln. Es ging in diesem
historischen Augenblick nur um AURORA und den gemeinsamen Erfolg.
„Mir ist die Lust auf feiern vergangen“, sagte Rebecca mit
monotoner Stimme. „Ihr könnt ohne mich anstoßen. Und wie Heather
richtig bemerkt hat: Wir beide werden das untereinander regeln, David!
Verlass dich drauf! Ihr findet mich in meinem Zimmer.“
Wortlos verließ sie den Raum. Unbeeindruckt öffnete Bryan einige
Flaschen und verteilte den Champagner in den Gläsern. „Die beruhigt sich
schon wieder“, war er sich sicher, „schließlich hast du sie ja nicht
vergewaltigt, David. So, und nun erhebt eure Gläser. Der Countdown
läuft!“
Kapitel 56
Cocoa Beach
Nervös lief das Kindermädchen auf und ab. Nachdem ein Nachbar nach
dem anderen davongefahren war, hatte sie den Fernseher eingeschaltet. Es
musste doch eine Erklärung für dieses sonderbare Verhalten geben, das sie
irgendwie an eine Massenflucht erinnerte. Genau das bestätigte eine
Sondersendung zu einer Hangrutschung bei den Kanarischen Inseln, der
größten Naturkatastrophe der Neuzeit. Was immer auch darunter zu
verstehen sein mochte. So ganz verstanden hatte sie das jedenfalls nicht.
Ein ganzer Vulkan, der ins Meer rutscht? Das klang doch arg nach
Hollywood.
Was sie allerdings voll und ganz verstanden hatte, war die
Ankündigung, dass in Folge dieser Rutschung Tsunamis auf die Ostküste
zurasten und bereits innerhalb der nächsten halben Stunde ankommen
würden. Deshalb also hatte Riley angerufen und sich nach Emma
erkundigt. Ihr war sein besorgter Tonfall nicht entgangen, hatte ihn sich
aber nicht erklären können. Jetzt kannte sie den Grund, wunderte sich
jedoch, warum er sie nicht gewarnt hatte.
Sie war nach dem Bericht sofort vor die Tür gegangen, um sich
selbst ein Bild zu machen. Das Meer schien ein wenig unruhig zu sein, sie
hatte den Eindruck, dass es sich in kurzen Zeitabständen ein wenig hob
und wieder senkte. Aber was damals in Indonesien geschehen war, als sich
nämlich das ganze Meer plötzlich zurückgezogen hatte, passierte hier
eindeutig nicht. Wahrscheinlich kamen da nur ein paar größere Wellen.
Man musste ja auch bedenken, dass die Kanarischen Inseln ganz
woanders waren. Wie sollte ein Tsunami von dort nach Cocoa Beach
kommen? Dennoch, Emmas Haus stand in erster Strandlinie. Schon bei
normalen Sturmfluten kam das Wasser manchmal bedrohlich nahe an das
Haus heran. Wenn jetzt wegen eines fernen Berges einige besonders hohe
Wellen hier aufschlugen, wurde das Haus vielleicht überflutet. Emma
würde stinksauer sein, wenn ihr die Einrichtung wegschimmelte.
Aber sie wusste nicht, was sie tun sollte. Cathy war immer noch
nicht zuhause. Sie hätte längst daheim sein müssen. Nun hatten die
Sprecher im Fernsehen alle Bewohner der Ostküste, die noch eine
Möglichkeit dazu hatten, aufgefordert, so schnell und so weit wie möglich
ins Binnenland zu flüchten. Idealerweise auf große Anhöhen. Eigentlich
hätte sie, so abwegig das auch klang, diese Warnung befolgt. Aber sie
konnte doch Emmas Tochter nicht ihrem Schicksal überlassen! Also hatte
sie versucht, Emma anzurufen. Aber da sprang immer nur der AB an.
Als sie wieder ins Haus ging, stellte sie mit Unbehagen fest, dass im
Fernsehen auf allen Kanälen Berichte über die Katastrophe liefen und
unvorstellbare Verwüstungen auf den Kanaren zeigten. Eine Welle von
über fünfhundert Metern Höhe hatte alles unter sich begraben, was nach
der Hangrutschung noch hatte begraben werden können. Es gab kaum
Überlebende. Aber das musste sie falsch verstanden haben. So große
Wellen gab es nicht. Ganz und gar unmöglich. Und immer wieder der
Appell der Nachrichtensprecher, aus den küstennahen Gebieten zu fliehen.
Wahrscheinlich kreisten heute deshalb auch so viele Hubschrauber über
der Gegend. Das war ihr schon vor einer Stunde aufgefallen. Wieder lief
sie nervös auf die Terrasse und blickte auf das Meer hinaus.
Was war denn das? Zog sich das jetzt tatsächlich zurück oder bildete
sie sich das nur ein?
Sie wurde immer unruhiger. Wenn eine Monsterwelle kam, war sie
ihr hier schutzlos ausgeliefert. Die Nachbarn waren schon alle weg. Die
nahmen die Warnungen offenbar ernst. Erneut wählte sie Emmas Nummer.
Wieder nur der Anrufbeantworter.
Gerade als ihr einfiel, dass es doch viel gescheiter war, in Emmas
Schule anzurufen und sie sich dafür tadelte, nicht schon früher daran
gedacht zu haben, klingelte es an der Tür.
Cathy?
Sie rannte durch die Wohnhalle und die Diele zur Haustür und riss
sie auf. Und da stand das Mädchen. Sie wirkte ziemlich aufgelöst und
redete wie ein Wasserfall auf das Kindermädchen ein.
„Da kommt ein Tsunami! Das haben sie im Radio gesagt. Dann sind
die Lehrer und der Direktor in alle Klassen gegangen und haben uns nach
Hause geschickt. Die, die weiter weg wohnen, haben sie gefahren. Wir
sollen alle sofort die Küste verlassen. Aber ich habe mitbekommen, wie
mein Mathelehrer dem Direktor gesagt hat, dass man in vielen Straßen gar
nicht mehr fahren kann. Und jetzt müssen wir auch ganz schnell weg hier!
Und Mum warnen! Und schnell noch packen! Und...“
Das Kindermädchen unterbrach Cathys Redeschwall. Sie befahl ihr,
ihre Schulsachen in die Diele zu werfen, eine warme Jacke aus der
Garderobe zu nehmen und zum Auto zu gehen. Sie rannte hektisch durch
das ganze Haus, auf der Suche nach ihren Autoschlüsseln. Wo hatte sie die
nur hingelegt? Sie fand sie schließlich in der Küche, hinter dem Brotkorb.
Schon an der Haustür, fiel ihr ein, dass die Terrassentür noch offenstand.
Die musste sie unbedingt noch zumachen, sonst kam doch jeder hier rein!
Sie warf Cathy die Wagenschlüssel zu, trug ihr auf, einzusteigen, und
rannte in die Wohnhalle.
Als sie über die Schwelle trat, schlang ihr jemand von hinten einen
Arm um die Brust und hielt ihr eine Hand vor den Mund. Sie war wie
paralysiert. Vor ihr stand ein großer Mann in Uniform. Wo kam der denn
her? Er hatte eine Maschinenpistole. Der Mann schaute sie an und führte
einen Zeigefinger zu den Lippen. Sei still!
Der Mann, der sie so fest umschlossen hielt, dass sie sich keinen
Millimeter bewegen konnte, trug auch eine Uniform. Das konnte sie aus
dem Augenwinkel heraus erkennen. Und die anderen Männer im
Wohnzimmer und auf der Terrasse, die sie erst jetzt registrierte, auch. Sie
hatten alle eine Maschinenpistole. Hinter der Terrasse, schon am Strand,
der inzwischen riesig wirkte, weil sich das Meer tatsächlich weit
zurückzog, stand ein Hubschrauber, den sie in ihrer Hektik nicht einmal
bemerkt hatte.
Panische Angst erfasste das Kindermädchen, denn sie erinnerte sich
an den Anschlag auf Emma und Riley. Was hatten diese Männer vor? Sie
versuchte vergeblich, sich loszureißen. Die Arme des Angreifers waren
wie Schraubstöcke. Der große Mann vor ihr nickte zwei der Männer in der
Wohnhalle zu. Sie gingen zur Haustür. Jetzt waren sie und Cathy verloren.
Es spielte keine Rolle mehr, dass gleich irgendwelche Wellen kamen.
Augenblicke später hörte sie Stimmen aus der Diele. Sie erkannte
Cathy, deren Tonfall aber keine Furcht erkennen ließ. Der große Mann
raunte ihr zu, dass sie jetzt losgelassen würde, dass sie sich aber ruhig
verhalten solle. Sie wusste, dass sie diese Aufforderung ernst nehmen
musste. Als der Mann sie losließ, blieb sie regungslos stehen und sagte
nichts.
Cathy kam in die Wohnhalle, nahm sie an der Hand und sagte:
„Komm mit, diese netten Männer bringen uns jetzt mit einen
Hubschrauber weg von hier. Ich bin noch nie mit einem Hubschrauber
geflogen. Du?“
Der große Mann lächelte und sagte mit einer auffallend tiefen
Stimme: „Wir müssen in der Luft sein, wenn der Tsunami kommt. Würden
Sie mir bitte folgen, Miss?“
Der Mann nahm Cathy an die Hand, die bereitwillig mit ihm ging.
Das Kindermädchen folgte ihnen, flankiert von zwei Uniformierten,
hinaus auf die Terrasse und zum Strand. Sie bekam mit, wie der Mann mit
Cathy redete.
„Weißt du, was ein Tsunami ist?“, fragte er sie.
Cathy nickte.
„Und weiß du auch, wie so etwas entsteht und wie schnell der ist?“
„Nein, das weiß ich nicht“, sagte das Kind und schaute erstaunt zu
dem Mann auf, dessen Stimme merkwürdigerweise etwas
Vertrauenerweckendes, Beruhigendes hatte. Vielleicht wollten die sie gar
nicht umbringen.
„Dann erkläre ich dir das während unseres Fluges. So, und jetzt steig
ein! Willkommen zu einer spannenden Reise!“
Der Mann hob das Kind lachend in die Höhe. Auch Cathy quietschte
vor Vergnügen. Ein Uniformierter nahm das Mädchen entgegen und
bedeutete dem Kindermädchen, auch einzusteigen. Komisch, dachte sie,
der sieht gar nicht aus wie ein Militärhubschrauber. Sekunden später hoben
sie ab und gewannen rasch an Höhe. Sie flogen zunächst ein Stück in
Richtung offenes Meer. Wenige Minuten später sahen sie den Tsunami von
Osten her kommend. Zunächst noch eher niedrig, aber rasend schnell,
baute er sich mit Annäherung an die flache Küste rasch auf.
Der große Mann drehte sich zu dem Kindermädchen und Cathy um
und sagte, dass dieser Tsunami nicht so hoch würde wie an anderen
Abschnitten der Ostküste. Man erwartete hier eine Scheitelhöhe von rund
zwanzig Metern. Für das flache Cocoa Beach würde das aber reichen.
Das Kindermädchen sah den Mann an und sagte, nur mit den Lippen:
New York City? Sie hatte in den Fernsehberichten gehört, dass die Stadt
von einem fast hundert Meter hohen Tsunami getroffen werden sollte. Als
sie Emma nicht erreichte, schwante ihr Böses.
Der Mann presste die Lippen aufeinander und deutete ein leichtes
Kopfschütteln an. Cathy hatte von der wortlosen Unterhaltung nichts
mitbekommen. Sie sollte nicht damit belastet werden, solange nicht sicher
war, ob ihre Mutter rechtzeitig aus der Stadt gekommen war.
Das Kindermädchen schaute traurig aus dem Fenster und wurde
Zeuge, wie die Welle Cocoa Beach erfasste. Auch, wenn sie nur zwanzig
Meter hoch war, zerstörte sie den Ort vollständig. Sie sah mit Entsetzen,
wie Emmas große, massive Villa in sich zusammenstürzte, als wäre sie aus
Pappe. Genauso, wie die der Nachbarn. Dennoch würde der Tsunami hier
nur ein paar Häuser zerstören. Aber Emma war in New York!
Kapitel 57
New York City
Nicht nur die sechzigste Etage war menschenleer, sondern das ganze
MetLife-Building. Bis auf Emma, Walker und Bishop. Emma wusste, dass
sie keine Chance hatten. Wäre man im obersten Stockwerk eines
Wolkenkratzers vor einem Tsunami sicher, wäre es hier so voll, dass man
sich nicht mehr rühren könnte. Aber es war einerlei, wo man sich befand,
wenn es soweit war. Sie hatte nicht einmal Angst, akzeptierte, dass es in
wenigen Minuten vorbei war. Dabei hatte sie mit Riley ihr Lebensglück
gefunden. Dass sie von ihm schwanger war, war ein Geschenk des
Himmels. Aber nun saß sie in der Falle und hatte keine Chance, daraus zu
entkommen. Da fiel ihr ein, dass sie die beiden Agenten noch gar nicht
nach ihren Familien gefragt hatte. Sie holte das jetzt nach.
Beide waren verheiratet. Walker hatte Kinder und zwei Enkel. Er war
mit dreiundfünfzig älter als er aussah. Emma hatte ihn auf Mitte vierzig
geschätzt. Dafür sah Bishop älter aus als dreißig. Vielleicht wegen seiner
kantigen Gesichtszüge. Und weil er durch seine Ansichten und Gedanken
schon so reif, fast weise, wirkte. Er hatte noch keine Kinder, wollte aber
welche. Emma war überrascht zu erfahren, dass er Geologie studiert hatte.
Das erklärte, warum er den Bericht über die Hangrutschung und die
Tsunamis so gut verstanden hatte. Seine Stimme klang beinahe
entschuldigend, als er sein Studium mit seinem großen Interesse an der
Natur begründete. Der knallharte Actionheld. In Wahrheit ein
familienliebender Geologiestudent. Emma hätte ihn drücken können, so
nah war er ihr in diesem Augenblick.
„Was für ein gespenstischer Anblick“, sagte Walker plötzlich und
deutete mit einem Nicken zur Küste. Sie hatten sich ans Fenster gestellt,
um den Tsunami sehen zu können. Das war ihnen immer noch lieber als
urplötzlich davon überrollt zu werden.
Auch Emma und Bishop blickten durch die hochauflösenden
Ferngläser des FBI. „Was meinst du, wie weit es sich zurückgezogen
hat?“, fragte Bishop.
Walker wiegte den Kopf hin und her. „Schwer zu sagen. Wir sind ein
Stück von der Küste entfernt. Aber auf jeden Fall ist es viel weiter weg als
bei Ebbe.“
Das Meer war nicht mehr zu sehen. Boote lagen zuhauf auf dem
Trockenen. Darüber schien die Sonne von einem wolkenlosen Himmel,
überzogen von den letzten Vogelschwärmen, die ins Landesinnere flohen.
Es war totenstill. So weit oben kam nichts von der Panik und den Sirenen
an.
Bishops Stimme klang sehr traurig. „Wer hier oben steht und die
Zeichen nicht zu deuten vermag, würde niemals auf den Gedanken
gekommen, dass dieser friedliche Augenblick in wenigen Minuten durch
eine brachiale Urgewalt zerstört wird. Und er könnte sich nicht vorstellen,
dass auf den Straßen die größte Massenpanik in der Geschichte New Yorks
tobt. Viel schlimmer als bei Nine Eleven. Nur wenigen Menschen dürfte es
gelungen sein, aus der Stadt zu entkommen.“
Walker blickte wieder durch sein Fernglas. „Sehr ihr auch diesen
Streifen am Horizont?“
Bishop versuchte, das heran rauschende Meer zu erblicken.
„Ob ich Cathy und Riley Lebewohl sagen soll? Was meint ihr?“,
fragte Emma plötzlich.
„Ich weiß nicht“, antwortete Bishop, ohne den Blick vom Horizont
abzuwenden, wo er das Meer vage erkennen konnte. „Vielleicht wäre es
besser, wenn sie nichts davon mitbekommen. Cathy auf keinen Fall! Und
Riley erfährt es sowieso. Mir wäre es lieber, wenn meine Frau mich nicht
mehr anrufen würde.“
„Ich stimme dir zu, was Cathy angeht. Sie würde das nicht begreifen.
Aber wenn ich Riley wäre, würde ich es wollen“, sagte Walker, während er
etwas in sein Smartphone tippte. „So wie die Menschen, die bei einem
Flugzeugabsturz eine letzte Nachricht an ihre Liebsten schicken. Auch ich
schreibe meiner Frau. Ich habe Riley kennengelernt. Und ich glaube, er
würde diese letzte Erinnerung gerne mitnehmen.“ Walker ließ sein Handy
wieder in seine Jacke gleiten.
Bishop nickte. „Stimmt auch wieder.“
Emma wühlte in ihrer Handtasche, aber sie fand ihr Handy nicht. „So
ein Mist“, fluchte sie, „ich habe es in der Bar vergessen.“ Walker griff in
seine Innentasche und gab ihr sein Handy. „Hier, nimm meins.“ Emma
wählte Rileys Nummer. Aber nur sein Anrufbeantworter sprang an. „Ich
erreiche ihn nicht“, sagte sie frustriert und streckte Walker sein Handy
entgegen.
Doch der schüttelte den Kopf. „Schreib ihm eine SMS. Wie ich. Das
ist besser als nichts. Und für Riley eine ewige Erinnerung.“
Emma nickte und tippte ihre letzte Nachricht:
Liebster, wenn ich dir das schreibe, bleiben mir nur noch wenige
Augenblicke, bis der Tsunami über uns hereinbricht. Ich liebe dich über
alles. Ich wollte für immer mit dir zusammen sein. Und mit unserem Kind.
Es tut mir unendlich leid. Bitte kümmer dich um Cathy, bis sie bei ihrem
Vater ist. Versuch sie zu trösten. Danke für eine wundervolle Zeit! Wie
gern hätte ich noch viel mehr davon gehabt. Deine Emma.
Sie gab Walker das Gerät zurück und brach in Tränen aus. Die
Gefühle übermannten sie. Erst jetzt realisierte sie in letzter Konsequenz,
dass ihr Leben vorbei war, dass sie in wenigen Minuten in den Fluten
sterben musste. Bishop nahm sie tröstend in den Arm und drückte sie an
sich.
„Ach du heilige Scheiße“, rief Walker und starrte mit offenem Mund
und weit aufgerissenen Augen aus dem Fenster. Emma und Bishop folgten
seinem Blick. Emma schrie auf und schlug sich eine Hand vor den Mund.
Bishop drückte sie noch fester an sich. Eine vereinzelte Träne lief über
seine Wange. Er tippte eine Nachricht in sein Handy. Also schickte er
seiner Frau doch einen Abschiedsgruß.
In der Ferne tauchte die Welle auf. Sie näherte sich rasend schnell,
war auch ohne Fernglas gut zu erkennen. Aber sie wirkte nicht wie eine
Welle, sondern wie eine undurchdringliche Wand.
Der Tsunami erreichte eine Höhe von einhundert Metern. So, wie es
einige Experten vorausgesagt hatten. Emma zog Walker zu sich und hielt
seine Hand. Er legte seinen Arm um sie. Alle drei nahmen sich in den Arm
und steckten ihre Köpfe zusammen. Die Welle war noch vier oder fünf
Kilometer vom Festland entfernt. Wieviel Zeit blieb bis zum Aufprall?
Hundert Meter Welle, die über das Schicksal von acht Millionen
Menschen entschieden. Vier Minuten? Oder fünf oder sechs?
Plötzlich riss sich Bishop aus der Umarmung. Regungslos und mit
zusammengekniffenen Augen blickte er aus dem Fenster. Emma war
irritiert. Sie erkannte in seinem Gesicht eine wilde Entschlossenheit.
„Was ist los?“, fragte sie. „Kannst du uns von hier wegbeamen?“
Kapitel 58
Adams Island
Rebecca hatte sich wie ein Kind, das sich schämt, hinter der nächsten Ecke
versteckt, lautlos geweint, und zugehört, wie der Circle diesen Tsunami
wie eine Erlösung feierte. Dank der Kreativität des Circle verloren
Milliarden von Menschen ihr Leben und machten den Weg frei für die
letzte Phase von AURORA, die Erneuerung.
Aber in diesem Augenblick interessierte sie nur, was die anderen
über sie sagten. Wie David, diese Ausgeburt der Hölle, sich aus seiner
Verantwortung stahl. Sie malte sich aus, wie sie diese Missgeburt
massakrierte. Sie würde ihn fesseln, ihm ins Gesicht treten und seinen
Drecks Schwanz abschneiden. Und zusehen, wie er ganz langsam
verblutete. Wie war es nur möglich, dass er sich ihr gegenüber nie etwas
hatte anmerken lassen? Sie waren doch beide Mitbegründer des Circle!
Hatten stundenlang über ihre Einstellungen, ihren Frust und ihre Ideen,
etwas gegen den stumpfsinnigen Mob zu unternehmen, philosophiert! All
die Zeit hatte er alles gewusst. Und sie nichts. Wenn aber der Circle auf
Vertrauen basierte, was hatte dieser genetische Irrtum dann hier verloren?
Aber am frustrierendsten war, dass sie gar nicht über sie sprachen.
Sie verfolgten gebannt das Geschehen auf der Leinwand, prosteten sich zu,
versicherten sich gegenseitig, dass sie genau das Richtige taten. Niemand
sprach über sie und ihr grausames Schicksal. Über die Vergewaltigung, die
ihr Leben zerstört hatte, über den Verrat des David Moore, dem legendären
Sechssternegeneral, dem man eine ach so große Loyalität nachsagte und
der in diesem Augenblick lachend Kimberly und Heather umarmte. Die
eine rechts, die andere links. Sie konnte förmlich riechen, wie sich der
selbstverliebte Gockel in seiner Rolle weidete. Die Rolle des großen
Führers. Der Präsident der Neuen Welt. Bereit, jederzeit wieder Bauern zu
opfern. Oder Bäuerinnen.
Rebecca sah den Countdown rückwärts laufen. Noch hundertzwanzig
Sekunden bis zum Aufprall. Dann würde New York City nicht mehr
existieren. Allein dort verloren acht Millionen Menschen ihr Leben. Und
sie standen da, prosteten sich zu, umarmten sich, lachten. Als wäre
Sylvester. Mit einem zerstörerischen Jahrtausend-Tsunami als
Mitternachts-Highlight.
Aber niemand dachte an sie! Niemand vermisste sie bei diesem
ultimativen Countdown! Sie, Rebecca Eliot, die Mutter von AURORA!
Den Hauch eines Augenblicks zog sie in Erwägung, sich
dazuzugesellen, mit ihnen anzustoßen und gute Miene zum bösen Spiel zu
machen. Sonst verpasste sie einen historischen Augenblick. Den
Augenblick, in dem die Geschichte der Menschheit neu geschrieben
wurde. Aber sie konnte es nicht. Sie wusste, dass sie irgendwann auf David
einschlagen oder ein Messer aus der Küche holen würde. Sie musste eine
Nacht darüber schlafen. Morgen sah die Welt schon wieder ganz anders
aus.
Sie wandte sich ab und lief wutentbrannt den Gang entlang, in den
sie etwas mehr hätten investieren sollen. Er war schmucklos und düster.
Immerhin passte das bestens zu ihrer Stimmung.
Als sie vor ihrer Tür stand und aufschließen wollte, vernahm sie
Geräusche aus ihrem Zimmer. Das konnte nur Chang sein. Eigentlich
waren alle Externen angewiesen worden, für einige Stunden in ihren
Zimmern zu bleiben. Sie sollten nicht zu früh von den Geschehnissen in
der Welt erfahren und voreilig die richtigen Schlüsse ziehen. Das galt auch
für Chang. Nur weil er mit einer Frau aus dem Circle liiert war, hieß das
noch lange nicht, dass er eine Sonderstellung hatte. Im Gegenteil,
keinesfalls durfte er erfahren, was mit Sharif geschehen war.
Doch Chang war ihr in letzter Zeit verändert vorgekommen. Er
himmelte sie nicht mehr so an wie früher, wirkte manchmal abwesend. Sie
befürchtete, dass er, im Unterschied zu den meisten anderen Externen,
schon dabei war, die richtigen Schlüsse zu ziehen.
Rebecca drückte behutsam die Klinke nach unten und schob die Tür
einen Spalt weit auf. Nur so weit, dass sie in ihr Zimmer spähen konnte. Er
saß an ihrem Schreibtisch, mit dem Rücken zu ihr. Die Schubladen waren
aufgezogen, ihr Computer eingeschaltet. Die Tür des großen
Aktenschranks stand offen, Ordner lagen auf dem Boden. Sie war
fassungslos. Chang, der davon ausging, dass die Frau, der er ewige Liebe
geschworen hatte, im Versammlungsraum war, hatte sich heimlich in ihr
Reich gestohlen und schnüffelte herum.
Gleich zweimal wurde sie von Männern enttäuscht, denen sie
vertraut hatte. Für David hatte sie tiefe Freundschaft empfunden, für
Chang immerhin das Maß an Liebe, zu dem sie fähig war. Arabische
Männer hatten sie vergewaltigt. Amerikanische Männer hatten zugesehen
und sie dann auch vergewaltigt. Ein Amerikaner belog und betrog sie. Ein
Chinese, der vorgab, sie zu lieben, betrog sie und würde sie gewiss gleich
auch noch belügen.
Sie hatte noch einen Funken Hoffnung gehabt, dass es einige wenige
Männer auf der Welt gab, die kein Dreck waren. Aber in einem Hauch von
Zeit starb auch der letzte Rest an Hoffnung.
Geräuschvoll stieß sie die Tür auf. Chang war dermaßen
erschrocken, dass er sich so abrupt in ihrem Drehsessel umdrehte, dass er
samt Sessel zu Boden ging. Wäre sie nicht voller Enttäuschung und Wut,
würde sie lachen. Aber ihr war nicht nach Lachen zumute. Chang rappelte
sich auf und starrte sie an wie das siebte Weltwunder. Sie starrte zurück,
sagte aber nichts. Dann betrat sie langsam ihr Zimmer, blieb einige
Schritte vor Chang stehen. Sie standen sich gegenüber wie zwei
Revolverhelden. In der Ferne brach Jubel aus. Wahrscheinlich wurde in
diesem Augenblick eine Acht-Millionen-Metropole dem Erdboden
gleichgemacht.
„Was machst du denn hier?“, war das Einzige, was Chang
hervorbrachte. Sonst stürmte er jedes Mal, wenn sie kam, auf sie zu, nahm
sie in den Arm, küsste sie und hauchte ihr liebevolle Dinge ins Ohr. Und
jetzt? Was machst du denn hier... So schnell konnten sich die Zeiten
ändern.
„Ich denke, diese Frage steht wohl eher mir zu“, entgegnete sie
trocken.
Chang wies auf die Ordner und ihren Rechner. „Das ist doch wohl
offensichtlich“, sagte er, „ich habe in deinen Sachen rumgeschnüffelt.“
Alle Achtung. Er belog sie nicht. Damit stand er in der Werteskala
des Männerdrecks eine Stufe über David.
„Und hättest du vielleicht auch die Güte, mir zu erklären, warum du
das getan hast und was du hier zu finden gedachtest?“
Chang hob einen Ordner auf und streckte ihn ihr entgegen. „Genau
das“, sagte er in einem Tonfall, den sie nicht von ihm kannte. „Seit
Monaten habe ich das Gefühl, dass das, was AURORA macht, nicht ganz
koscher ist. Und ich habe mich nicht getäuscht. Ihr habt diese Projekte
nicht finanziert, um Terroranschläge zu verhindern, sondern um sie zu
verüben!“
Rebecca musterte Chang. So viel Courage hatte sie ihm gar nicht
zugetraut. Eine verzwickte Situation. Sie schaute an ihm vorbei auf ihren
Monitor. Dort liefen Bilder von der Hangrutschung. Chang war klug. Eine
gefährliche Klugheit. Fragte sich nur, für wen.
„Ich denke nicht, dass der Begriff „Terroranschläge“ es korrekt
beschreibt. Wir sind ganz sicherlich keine gewöhnlichen Terroristen.“
In Changs Augen funkelte Wut. Er wies auf den Bildschirm. „Und
wie würdest du das da nennen? Das sind die Ergebnisse meiner Arbeit. Ihr
habt meine Arbeit missbraucht, um zig Millionen Menschen zu töten. Ihr
habt mich zu eurem Mittäter gemacht. Du hast mich zu einem Mittäter
gemacht! Oder wirst du mir gleich erzählen, dass ihr gar nichts damit zu
tun habt?“
Diese Situation war nicht aufzulösen. Hier half nur noch
schonungslose Offenheit. „Du bist kein Mittäter, Chang. Du wusstest
schließlich nichts davon. Und wenn ich es dir gesagt hätte, wärest du
abgesprungen. Das zeigt sich ja gerade in deinem Verhalten. Und ganz so
groß scheint deine Liebe wohl auch nicht zu sein. Weißt du noch, was du
mir mal geschworen hast? Damals, in Kiel?“
„Natürlich liebe ich dich! Über alles! Aber hier geht es doch nicht
um unsere Liebe. Hier geht es um Massenmord!“
Rebecca hob ihren Drehsessel auf und setzte sich. Sie war erschöpft.
Von Aufbruchstimmung keine Spur. Voller Hoffnung war sie gewesen.
Hoffnung auf eine bessere Welt. Mit einem Mann an ihrer Seite. Aber
anscheinend war ihr dieses Glück nicht vergönnt.
Auf dem Monitor erschienen die ersten Luftaufnahmen aus New
York. Der Tsunami leistete ganze Arbeit. Riesige Hotelkomplexe und
Wolkenkrater stürzten ein wie Kartenhäuser. Der Reporter sagte, dass
dieser Tsunami einhundert Meter hoch war. Das war noch verheerender als
Changs Team es vorausgesagt hatte. In wenigen Minuten würde es New
York nicht mehr geben. Die Metropole wurde ausradiert. Von der
Landkarte getilgt.
„...an der Menschheit“, hörte sie Chang sagen.
„Was hast du gesagt?“, fragte sie. „Ich war mit meinen Gedanken
gerade ganz woanders.“
„Dazu hast du auch allen Grund!“ Chang schrie fast. „Ich habe
gesagt, das ist ein schweres Verbrechen an der Menschheit! Du bist eine
skrupel- und gewissenlose Schlächterin, Rebecca Eliot! Wie konnte ich
mich nur so in dir täuschen!“
Rebecca fühlte, wie sich eine lähmende Müdigkeit in ihr ausbreitete.
Sie wollte einfach nur noch schlafen. Schlafen und woanders wieder
aufwachen.
„Ich bin keine Schlächterin, Chang. Und auch nicht skrupellos oder
gewissenlos. Ich tue nur das, was getan werden muss. Wir haben uns so oft
darüber unterhalten. Darüber, dass die menschliche Rasse sich selbst
vernichtet. Weil sie so unendlich dumm und gierig ist. Weil sie den Begriff
„Verzicht“ aus ihrem Wortschatz verbannt hat. Über die
menschenverachtenden Taten des islamistischen Terrors. Über die
Selbstgerechtigkeit und Arroganz des Westens. Über den Egoismus und
die Gleichgültigkeit des Menschen und seine Nach-mir-die-Sintflut-
Mentalität.“
Rebeccas Stimme schwoll an. Wut verdrängte ihre Müdigkeit. „Und
du, mein lieber Chang, hast getönt, dass es das Beste wäre, wenn eine
große Katastrophe käme und den Großteil der Menschheit auslöschen
würde, damit wir von vorne anfangen können. Weil die Menschheit nur so
zu retten ist. Das waren deine Worte! Also spiel du hier jetzt nicht den
Moralapostel!“
Der Circle schien frenetisch zu feiern. Die Jubelschreie schwollen
weiter an. Chang schloss die Tür, zum ersten Mal unbeeindruckt von
Rebeccas Dominanz.
„Und jetzt feiert ihr euren Massenmord wie den Gewinn einer
Weltmeisterschaft. Du sagst, der islamistische Terror ist
menschenverachtend? Ich sage, menschenverachtend ist das, was ihr tut!
Pervers! Abstoßend! Ich bin kein Moralapostel, weil ich es nicht gutheiße,
Millionen von Menschen zu töten. Und irgendeine Naturkatastrophe ist
verdammt nochmal was anderes als vorsätzlicher Völkermord!“
Er baute sich drohend vor Rebecca auf. Sie schob ihn zurück und
sagte leise: „Würdest du dich bitte setzen?“
„Häh?“
Ihre Stimme wurde wieder lauter. „Du sollst dich hinsetzen, habe ich
gesagt!“
Chang ließ sich auf die kleine Couch fallen, die einzige
Sitzgelegenheit neben dem Drehstuhl. Sein Gesicht war vor Zorn rot
angelaufen. Das würde kein gutes Ende nehmen.
„Chang, das hat nichts mit Völkermord zu tun“, verteidigte sie sich,
„ohne AURORA hätte die Menschheit keine Chance. Es ist fünf nach
zwölf. Nur dank uns wird es auch noch ein Morgen geben. Eine neue Welt.
Die Neue Welt. Und du, Chang Zhou aus Peking, hast die Chance, dabei zu
sein. Mit der Frau an deiner Seite, die du liebst und die dich liebt. Das,
Chang, wäre ein großer Dienst an der Menschheit. Und du und ich, wir
könnten Kinder bekommen! Kinder für die Neue Welt!“
Er glotzte sie feindselig an. „Kinder und Liebe? Wie soll ich eine
Massenmörderin lieben? Was habt ihr eigentlich mit den Ergebnissen der
anderen Forschungsteams vor? Muss sich die Menschheit auf noch mehr
Terror einstellen?“
Rebecca schüttelte resigniert den Kopf. „Massenmörderin. Ich fasse
es nicht. Das sagt mir der Mann, von dem ich dachte, dass er mich
bedingungslos liebt und dass er immer an meiner Seite sein wird. Aber ich
will deine Frage beantworten. Selbstverständlich passiert noch mehr. Oder
hast du gedacht, dass eine lächerliche Hangrutschung und ein paar
Tsunamis die Menschheit entscheidend dezimieren? Gut, ein paar
Millionen trifft es schon. Aber was sind schon ein paar Millionen? Auf der
Erde leben mehr als sieben Komma fünf Milliarden! Und jedes Jahr
kommen achtzig Millionen dazu. So viel verkraftet keine Erde. Da braucht
es schon mehr als ein paar Wellen. Wave, so haben wir Phase eins von
AURORA getauft, dient mehr der Ablenkung. Wir wollen Chaos stiften. In
dieser Situation wird niemand auf die Idee kommen, dass ein
mikrobiologisch verändertes Pockenvirus in den nächsten Wochen einen
Großteil der Menschheit auslöschen wird.“
Chang fiel die Kinnlade herunter. Er war zu keinem Wort mehr fähig.
Also redete sie einfach weiter. „Naja, und für den Fall, dass das immer
noch nicht reicht, Ice haben wir diese Phase übrigens getauft, weil das
Virus aus dem sibirischen Eis stammt, haben wir mit Caldera Phase drei
vorbereitet. Caldera, sagt dir das was?“
Endlich fand Chang seine Sprache wieder. „Willst du damit
andeuten, dass ihr ein tödliches Virus verbreiten wollt? Aber damit bringt
ihr euch doch selbst in Gefahr!“
Rebecca lachte. „Für wie bescheuert hältst du uns eigentlich? James
Perkins ist ein Genie! Er hat nicht nur ein Virus zu einer unbesiegbaren
Killermaschine weiterentwickelt, sondern auch den passenden Impfstoff
hergestellt. Wir sind alle geimpft. Schon vor Wave waren wir auf den
größten Flughäfen der Welt und haben das Virus dort verteilt. Optimaler
Verbreitungsweg. Genauso wie die Flüchtlinge.“
„Flüchtlinge?“
Rebecca erklärte, dass Yefrem abu Tarik etliche GESA-Kämpfer
akquiriert hatte, die sich selbst infiziert und unter die Flüchtlingsströme
gemischt hatten. Dadurch wurde das Virus in diesem Augenblick in ganz
Europa verbreitet. Außerdem wurden die anderen Flüchtlinge auf den
Schiffen angesteckt und dadurch, wie Chang, zu unfreiwilligen Mittätern.
Das war, zusammen mit den Flughäfen, gut geeignet, die Menschheit
binnen weniger Tage zu infizieren und bis auf einige wenige Überlebende
auszulöschen. Genau so, wie der berühmte Dr. James Perkins es
vorgeschlagen hatte, auch wenn ihm dabei vermutlich etwas anderes
vorschwebte.
Besonders clever fand sie den Schachzug, Kämpfer der GESA für
diesen Job zu gewinnen. Jeder traute diesen Leuten so etwas schließlich
zu. Und die GESA würde sicherlich nichts lieber tun, als die
Verantwortung zu übernehmen. So wie bei den jüngsten Anschlägen in
Europa. Ein Baustein des großen Plans von AURORA. Yefrem kümmerte
sich um Dinge wie Pässe, Geld und Infrastruktur. Eine bessere Tarnung als
die GESA konnte es nicht geben.
Dann erklärte sie, wie das Virus funktionierte und dass die Erde bald
von ein paar Milliarden Exemplaren der Spezies Mensch befreit sein
würde. „Naja, ein paar trifft es nicht so ganz. Eher um die sieben
Milliarden. Aber das sind nur vage Hochrechnungen.“
Chang hatte nur ungläubig zugehört. „Rebecca“, sagte er nun mit
Resignation in der Stimme, „ihr missbraucht tausende von Flüchtlingen
für eure abartigen Pläne? Darunter Frauen und Kinder? Babys? Menschen,
deren Leben in ihrer Heimat bedroht ist und die sich voller Hoffnung auf
einen weiten, beschwerlichen und gefährlichen Weg machen, nur um in
Sicherheit leben zu können? Menschen, die niemandem etwas getan haben
und völlig arglos sind? Menschen, die ihr damit unter Generalverdacht
stellt? Es wird keine Willkommenskultur mehr geben, sondern nur noch
eine Kultur des Hasses! Hass auf all jene, die nicht das Geringste damit zu
tun haben. Das ist abartig, widerlich, feige und hinterhältig!“
Jetzt war es Rebecca, deren Tonfall Resignation erkennen ließ. „Du
hast nichts verstanden, Chang. Rein gar nichts.“
„Was gibt es da zu verstehen? Ihr seid Massenmörder! So einfach ist
das“, spie Chang voller Hass und Verachtung hervor.
„Es spielt keine Rolle, ob Menschen auf der Flucht von einer
Verfolgung in die nächste geraten. Sie sind dem Untergang geweiht. Es
geht nicht um gut oder schlecht, um falsch oder richtig. Und erst recht
nicht um Religion, Glauben oder Politik. Es geht darum, dass die
Menschheit versagt hat! AURORA ist ein Heilmittel der Schöpfung. Stell
dir die Menschen wie Bakterien vor. Bei den meisten handelt es sich um
gefährliche Erreger. Gefährlich und bösartig. Eine tödliche Bedrohung für
ihren Wirt. Aber einige sind gutartig. Sie bringen Heilung und Gesundheit.
Die bösartigen Erreger werden vernichtet. Es lässt sich leider nicht
vermeiden, dass auch gutartige darunter sind. AURORA kann nicht bis auf
Individualebene differenzieren. Wir haben nur eine Chance: die
Reduzierung auf ein Minimum. Und dann ein Neuanfang, um zu
verhindern, dass sich die Menschheit jemals wieder zu einem bösartigen
Krebsgeschwür entwickelt. Eigentlich ist die ganze Menschheit längst auf
der Flucht. Sie hat es nur noch nicht begriffen! Geht das in deinen Kopf?“
Zhou hatte Rebeccas Vortrag mit offenem Mund verfolgt. Leise
sagte er: „Rebecca, die Welt braucht niemanden, der Gott spielt und sich
zu einer geistigen und moralischen Elite aufschwingt. Es mag sein, dass
wir am Abgrund stehen. Und es mag sein, dass wir es nicht schaffen.
Vielleicht schaffen wir es aber doch. Denn ich bin davon überzeugt, dass
die Mehrheit der Menschen gut ist. Das Verhalten der Europäer in der
Flüchtlingskrise ist das beste Beispiel. Und letztendlich reguliert sich die
Schöpfung selbst. Vielleicht ohne uns. Aber dann gehört auch das zum
Plan der Schöpfung. Ihr seid geisteskrank und größenwahnsinnig. Ist dir
das wirklich nicht bewusst? Ihr müsst mit diesem Wahnsinn
augenblicklich aufhören und euch stellen!“
Rebecca sah ihn gelangweilt an. „In gewisser Weise ehrt dich deine
Naivität. Aber ich greife deine Argumentation gerne auf. Du sprichst vom
Plan der Schöpfung. Dann sollest du dir bewusst machen, dass AURORA
zu diesem Plan gehört! Außerdem hast du meine Frage noch nicht
beantwortet, ob dir Caldera etwas sagt.“
Chang stieß wütend hervor, dass Völkermord nicht zum Plan der
Schöpfung gehöre und ihm schleierhaft sei, warum sie ihn in dieser
Situation ausgerechnet nach einer Magmakammer frage.
Rebecca grinste breit, als sie es ihm erklärte. Als sie ihm, wie eine
Lehrerin vor ihrer Klasse, ein Impulsreferat darüber hielt, warum eine
Hangrutschung und ein genmanipuliertes Pockenvirus noch nicht genug
waren, um der Seuche Mensch Herr zu werden.
„Und nun“, schloss sie ihren Kurzvortrag, „musst du dich
entscheiden, mein geliebter Chang, auf welcher Seite du stehst. Wirst du
zu mir stehen? Zu uns? Und zu AURORA? Oder wirst du dich von uns,
und damit von mir, abwenden? Es ist deine Entscheidung.“
Chang schüttelte den Kopf. „Ich kann immer noch nicht glauben,
was ich eben gehört habe. Ich komme mir vor wie einem irren, bizarren
Traum. So etwas kann es doch gar nicht geben! Das ist unmöglich! Aber
wenn ich das nicht träume, wenn sich all das nicht als großer Irrtum
herausstellt, dann ist doch klar, dass ich bei diesem Irrsinn nicht
mitmache! Kein Mensch hat das Recht, Gott zu spielen! Hitler war gegen
euch ein Waisenknabe! Aber was wirst du jetzt tun? Mich einsperren?“
Rebecca legte ihre Hand auf Zhous Arm. „Liebst du mich denn gar
nicht mehr?“
Zhou zog seinen Arm ruckartig weg. „Machst du Witze? Ich soll
eine größenwahnsinnige Massenmörderin lieben? Ich habe die Rebecca
geliebt, die ich in Kiel kennengelernt habe. Doch nun muss ich erkennen,
dass mir diese Rebecca nur etwas vorgespielt hat. Heute hast du mir dein
wahres Gesicht gezeigt. Die Fratze des Irrsinns und der Schizophrenie.“
„Wenn das so ist, kannst du jetzt gehen“, sagte Rebecca tonlos.
„Ich kann einfach von hier verschwinden?“
Rebecca nickte. „Du bist ein freier Mann. Aber nimm den Impfstoff.
Sonst hast du keine Überlebenschance. Die Pocken werden gnadenlos
wüten. Es wird für dich auch so schwer genug.“
Chang Zhou verengte die Augen zu Schlitzen und bat schnaubend um
den Impfstoff.
„Gut, dann hole ich jetzt eine Spritze. Setz sie dir selbst. Ich bin in
so etwas nicht geübt. Es dauert ein paar Stunden, bis er wirkt. Warte hier
auf mich.“
Rebecca stand auf, verließ das Zimmer und kam nach wenigen
Minuten mit einer Spritze zurück, die sie Chang gab. Er stach sie sich
ansatzlos in den Oberarm und beobachtete, wie die wässrige Lösung in
seinen Körper eindrang. Dann stand er auf.
„Ich gehe jetzt packen. Und dann ist es an der Zeit, Lebewohl zu
sagen.“
„Es hätte so schön mit uns sein können“, sagte Rebecca traurig.
„Ja, das hätte es. Aber nicht unter diesen Umständen. Würdest du
mir noch ein paar von den Spritzen mitgeben? Dann kann ich wenigstens
meine Freunde und Verwandten retten. Und Sharif.“
Rebecca lachte kurz auf. „Sharif? Sharif ist nicht mehr.“
Wieder starrte Chang sie an. „Was soll das heißen, Sharif ist nicht
mehr?“
Sie erklärte ihm lapidar, dass er Sharif zu viel erzählt hatte und sie
deshalb gezwungen waren, ihn zu liquidieren.
Chang wollte zu einer Antwort ansetzen, aber plötzlich sackten ihm
die Beine weg und er fiel zu Boden. Rebecca stand auf, kniete sich neben
ihn und nahm seinen Kopf in den Schoß.
„Was ist los mit mir?“, fragte er mit schwacher Stimme. „Sind das
Nebenwirkungen?“
Sie streichelte ihm sanft über den Kopf. „Nein, Liebster, das sind
keine Nebenwirkungen. Ich kann dich doch nicht einfach gehen lassen.
Dann hättest du uns bestimmt verraten! Wer weiß, ob die Menschheit nicht
doch noch hätte reagieren können. Das verstehst du sicher, oder? Aber
keine Sorge, Liebster, es geht schnell. Du wirst nicht viel spüren!“
Changs letzter Blick offenbarte vollkommene Fassungslosigkeit.
Dann fiel er in Ohnmacht. Bis seine Atmung erlahmte, hielt sie seinen
Kopf, streichelte ihn und summte dabei vor sich hin. Eine einsame Träne
lief ihr über die Wange. Als sie keinen Puls mehr bei ihm fühlte, legte sie
seinen Kopf vorsichtig ab, ging in den Versammlungsraum und bat die
Männer, Chang zu beerdigen.
Kapitel 59
New York City
Der Tsunami traf New York mit der Wucht einer Atomrakete. Ihm ging ein
Schallinferno voraus, das an einen startenden Düsenjet erinnerte. Nur viel
lauter. Die Menschen in den Straßen konnten die Todeswelle nicht sehen.
Aber hören. Die meisten hielten in ihrer Bewegung inne und blickten mit
offenem Mund in Richtung Atlantik. Rasch schwoll das markerschütternde
Gebrüll an, bis es jedes andere Geräusch überlagerte. Sirenen, Schreie,
zerberstendes Blech, und Glas, wenn Plünderer Scheiben einschlugen.
Nichts davon war mehr zu hören.
Menschen nahmen sich in den Arm. Ein Mann seine Frau, Eltern ihre
Kinder, ein Freund den anderen. Ein Fremder einen anderen Fremden.
Andere rannten los, weg vom Meer. Hubschrauber, die über der Stadt
kreisten, drehten landeinwärts ab.
Dann erreichte die erste Welle das Festland. Staten Island, Brooklyn
und Long Island wurden innerhalb von Sekunden dem Erdboden
gleichgemacht. Kein Gebäude hielt der Wucht des Aufpralls stand. Die
Flugzeuge auf dem John F. Kennedy Airport, dem sechstgrößten Flughafen
der USA, wurden wie Federn durch die Luft gewirbelt und ins Innere der
Stadt oder in Gebäude geschleudert. Einigen wenigen Maschinen war aber
noch der Start gelungen.
So auch der Boeing 777-300ER der American Airlines. Als die viel
zu späte Tsunami-Warnung eingegangen war, versank der Airport in
Minutenschnelle in totalem Chaos. Die Flugkapitäne wollten ihre
Maschinen aus der Gefahrenzone bringen. Die Fluglotsen versuchten,
anfliegende Maschinen großräumig umzuleiten, um den Maschinen auf
dem Airport die Chance zum Start zu geben. Doch Fluglotsen und die
Zuweisung von Startbahnen interessierten keinen Flugkapitän mehr.
Auch nicht den Kapitän der Boeing 777-300ER. Er hatte die Motoren
bereits gestartet, als die Fluggäste panisch in sein Flugzeug stürmten. Er
ließ so viele Menschen an Bord, wie zugelassen waren. Und noch ein paar
mehr. Fast sechshundert Menschen rettete er das Leben.
Er lenkte die Maschine auf die nächstgelegene Startbahn und leitete
das Startmanöver ein, ohne sich um andere Flugzeuge zu kümmern. Sein
Blick und der des Co-Piloten waren starr auf die Rollbahn geheftet, über
die das Flugzeug in Richtung Meer raste, das vor ihnen auftauchen sollte.
Aber da war kein Meer. Nur Sand, der übersät war von Schiffen und toten
Fischen.
Als das Flugzeug abhob, brach unter den Fluggästen lauter Jubel aus.
Sie hatten es geschafft. Jetzt nur noch weg von hier und einen Flughafen
ansteuern, für den sie eine Landegenehmigung bekamen.
Während die Boeing im Steigflug auf das Meer hinausschoss,
tauchte dicht unter ihr die gewaltige Welle auf. Sie war rasend schnell,
würde innerhalb von Sekunden den Flugplatz erreichen. Der Kapitän sah
erleichtert seinen Co-Piloten an, der schweißgebadet war. Der Jubel der
Passagiere war verstummt. Alle starrten aus den Fenstern auf das
Wasserungetüm direkt unter ihnen. So nah, dass sie den Eindruck hatten,
mit bloßen Händen nach ihm greifen zu können.
Trotz der Warnungen der Flugbegleiterinnen lösten die Passagiere,
die keinen Fensterplatz hatten, die Gurte und sprangen auf, um sich dieses
tödliche Naturschauspiel aus nächster Nähe anzusehen. Der Kapitän griff
zum Mikrophon. Er wollte diesen sensationslüsternen Idioten sagen, dass
sie sich sofort wieder hinsetzen und anschnallen sollten.
Doch bevor er etwas sagen konnte, heulten die Triebwerke der
Boeing plötzlich laut auf und das Flugzeug begann zu trudeln. Unter den
Passagieren brach erneut Panik aus. Einige, die aufgestanden waren,
gingen zu Boden. Was geschah mit ihnen und der Maschine? Sie waren
diesem Tsunami doch entkommen! Der Kapitän zog mit aller Kraft am
Steuerhorn.
Doch das Flugzeug reagierte nicht mehr.
Anstatt zu steigen, wurde es von einer brachialen Urgewalt
mitgerissen und überschlug sich dabei mehrfach in der Luft.
Die Menschen an Bord schrien. Diejenigen, die nicht angeschnallt
waren, wurden wie Blätter durch das Flugzeug gewirbelt, gegen die
Bordwände, auf den Boden, gegen andere Passagiere. Sie bekamen nicht
mehr mit, wie die Boeing erbarmungslos in den gewaltigen Sog der
Todeswelle geriet, gegen den selbst das Mantelstromtriebwerk einer
Boeing 777-300ER machtlos war. Wie ein Stück Papier wirbelte es durch
die Luft, folgte der Welle, bis es schließlich dort abstürzte und am Boden
zerschellte, wo es hergekommen war: über der Startbahn des John F.
Kennedy International Airport.
Die meisten Flugzeuge, deren Kapitäne versuchten, der Todeszone zu
entkommen, wurden mitten im Steigflug direkt von der Welle oder von
ihrem Sog erfasst. Nur wenigen Maschinen gelang das Wunder...
In Manhattan, Queens und in der Bronx hielten einige Wolkenkratzer
der Wucht der Welle stand, die einen Teil ihrer Energie bereits in den
vorgelagerten Stadtteilen verloren hatte. Dennoch drang sie mehr als zehn
Kilometer ins Landesinnere ein.
Als sich das Wasser zurückzog, brachte sein gewaltiger Sog auch die
Überreste des Bank of America Towers, des Chrysler Buildings, des
Trump Towers und vieler anderer Wolkenkratzer zum Einsturz. Und den
MetLife Tower, der sich in einem spitzen Winkel zwischen Empire State
Building und Times Square befand und dessen Glasfassade bis in den
fünfzigsten Stock bereits von der Welle zerstört worden war. Die Reste der
Gebäude wurden kilometerweit aufs offene Meer hinausgezogen. Und mit
ihnen alles Leben, das in ihnen Schutz gesucht hatte. Schiffe wurden wie
an einer Perlenschnur vom Wasser und seinem Sog mitgerissen. Nach der
ersten Welle folgten weitere. Die ersten erreichten noch Höhen bis zu
vierzig Meter. Wo noch ein Stein auf dem anderen stand, besorgten sie den
Rest.
Auch andere Städte wie Boston und Portland wurden völlig zerstört.
Der dicht besiedelte und überwiegend flache Bundesstaat New Jersey, der
so große Persönlichkeiten hervorgebracht hatte wie Frank Sinatra und
Bruce Springsteen, wurde großflächig zerstört. Die Opferzahlen waren
immens. Es gab kaum weniger Tote als in New York City.
Aber betroffen waren letztlich alle Bundesstaaten an der Ostküste.
Überall gab es große Verwüstungen und zahlreiche Opfer.
Kapitel 60
Pentagon, einen Tag später
Sprach- und fassungslos standen Präsident Turner und sein Stab vor dem
hochauflösenden 3D-Monitor und betrachteten die zehn Atom-U-Boote
der Ohio-Klasse, die sich laut System immer noch auf ihren
vorgeschriebenen Positionen im Atlantik befanden.
Wie sollten diese U-Boote in den Kontinentalhang vor Teneriffa
gerast und explodiert sein? Samt Atomsprengköpfen, was auch noch
voraussetzte, dass sie entriegelt und scharfgemacht worden sein mussten,
was aber ohne Autorisierung des Präsidenten unmöglich war? Diese U-
Boote sollten die größte Katastrophe der Neuzeit ausgelöst haben?
Am Morgen waren die ersten Hinweise darauf im Pentagon
eingegangen. Jetzt schienen sie sich zu bestätigen. Aus einer Vermutung
wurde Gewissheit. Denn es schien relativ eindeutige Beweise zu geben:
die Sichtung entsprechender Wrackteile, ein kurzzeitiger
Strahlungsanstieg in der Tiefsee und die weltweite Messung der
Explosionen mit Unterwassermikrofonen. Denn unter Wasser konnten sich
Druckwellen besonders gut ausbreiten. Und viermal so schnell wie in der
Luft.
„Diese Boote befinden sich auf einer Auftauch- und Absinkübung im
Atlantik“, behauptete der Stabschef mit der Inbrunst der Überzeugung.
„Wie sollen die ohne Autorisierung nach Teneriffa gekommen sein? Und
wieso sehen wir sie dann immer noch auf unseren Bildschirmen? Und
zwar genau dort, wo sie hingehören? Ich glaube, dass uns jemand aus
Übelste mitspielen will. Stellt sich die Frage, wer und warum? Wo steckt
überhaupt unser General of the Armies?“
Der Pressesprecher hielt die Angelegenheit für einen
verhängnisvollen Irrtum. Die zehn U-Boote waren immer noch an Ort und
Stelle, wie es das System auch bewies. Die Hangrutschung war durch ein
Erdbeben ausgelöst worden. Oder durch ein Seebeben. Die Wrackteile
konnten auch von Booten stammen, die bei dem Beben untergegangen
waren. Und die gemessene Strahlung war für ein solches Beben sicherlich
typisch. Ein Seebeben, das war die einzig logische Erklärung.
„Was Sie nicht sagen, Sie Schlaumeier“, echauffierte sich Turner,
„warum erreichen wir die U-Boot-Kommandanten dann nicht? Und warum
empfangen wir keine Signale von ihnen? Ist das auch Teil der Übung? Und
holen Sie Moore, verdammt nochmal!“
Der Pressesprecher schwieg, peinlich berührt, weil er den
Präsidenten erzürnt hatte.
Ein Offizier schlug vor, Aufklärer in den Atlantik zu schicken, um
nach den U-Booten zu suchen. Außerdem wisse niemand, wo General
Moore war. Denn es gehöre gerade zu dieser Übung, dass sich der General
of the Armies an einem geheimen Ort aufhielt, um bei Gegenangriffen
nicht dort zu sein, wo der Gegner zuerst zuschlagen würde. Zum Beispiel
im Pentagon.
Der Stabschef schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn. „Ich
Depp, wie konnte ich das nur vergessen. Klar, General Moore hat hier
nichts verloren. Wir dürfen gar nicht wissen, wo er sich aufhält. Das haben
wir doch alles mit ihm in epischer Breite besprochen. Das kommt nur von
diesem heillosen Chaos. Eine solche Katastrophe ausgerechnet während
einer solchen Übung. Schlimme Sache. Moore hat die Boote planmäßig
koordiniert. Und wir haben sie planmäßig ab- und auftauchen sehen. Aber
nicht mit Kurs auf die Kanaren, sondern mitten im Atlantik. So oder so
muss ein Irrtum vorliegen. Entweder die Beobachter vor Teneriffa
täuschen sich. Oder unser System täuscht sich.“
Der Chef-Programmierer lachte spöttisch. „Unser System und sich
täuschen? Soll das ein Witz sein? Ausgeschlossen.“
Ein Offizier fragte ihn, wie er sich denn dann erkläre, dass
vierundzwanzig Stunden nach der Katastrophe vor der Küste Teneriffas
Wrackteile gesichtet wurden, die mit an Sicherheit grenzender
Wahrscheinlichkeit von U-Booten der Ohio-Klasse stammten, die aber laut
Programm arglos im Atlantik umherfuhren.
Der Programmierer fand die Erklärung des Pressesprechers zwar
nachvollziehbar. Doch sie war unbefriedigend. Denn es war nicht
schwierig, die Trümmer eines Atom-U-Bootes von denen eines
Fischkutters zu unterscheiden.
Der Stabschef stellte vorsichtig die These in den Raum, dass, und
diese Mutmaßung möge man ihm bitte verzeihen, das sei nur ein haltloses
Gedankenspiel, mehr nicht, aber dennoch, General David Moore
höchstpersönlich diese Übung sabotiert hatte.
Trotz des Ernstes der Lage brach Gelächter aus. General Moore und
ein Saboteur. Was für ein herrlicher Witz. Selten so gelacht.
Nur Turner hatte nicht gelacht. Weit weniger freundlich erinnerte er
seinen Stabschef daran, dass New York City und Teile der Ostküste
zerstört worden waren, dass es zig Millionen Tote gab, nicht nur in den
USA, und dass es weltweit zu Einbrüchen an den Börsen kam. Weil
angeblich US-amerikanische Atom-U-Boote in einen Kontinentalhang
gerast waren!
Er riet dem Stabschef, nur noch mit seriösen und intelligenten
Beiträgen zur Auflösung des Rätsels beizutragen. Sonst könne es mit der
Karriere ein wenig holprig weitergehen. Oder gar steil bergab! General
Moore sabotiert unsere U-Boote. Was für ein ausgemachter Schwachsinn.
Welch impertinente Dreistigkeit! Eine Respektlosigkeit sondergleichen!
Der Stabschef murmelte mit gesenktem Kopf eine Entschuldigung
und schwor, ab sofort nichts mehr zu sagen. Dafür meldete sich der Chef-
Programmierer wieder zu Wort. Er hatte nämlich etwas höchst
Verdächtiges entdeckt.
„Ich bin gerade mal auf den Schlüsselcode für die Eingabe der
Zielkoordinaten gegangen. Und da finden sich doch tatsächlich Befehle,
die ich nicht kenne.“
Turner ging zu seinem Chef-Programmierer und starrte auf dessen
Rechner. „Was soll das heißen, Befehle, die Sie nicht kennen?“
Der Programmierer rieb sich nachdenklich das Kinn. „Ich kenne
natürlich nicht jeden Befehl des Quellcodes auswendig. Ich meine, das
sind hunderte! Das ist das Problem. Ich weiß nicht, was passiert, wenn ich
die lösche oder versuche zu isolieren, um sie einem Scan zu unterziehen.
Dafür müsste ich mich in die entsprechende Anweisung vertiefen. In die
Verknüpfungen mit anderen Befehlen. Und das dauert. Ganz schön heikel.
Und ich bin mir, wie gesagt, nicht einmal sicher, dass das überhaupt
systemfremde Befehle sind. Denn sie passen zur Programmstruktur. Ich
kann auch nicht sehen, wofür sie geschrieben wurden. Das ist auch kein
Virus. Aber vielleicht so etwas wie ein Trojanisches Pferd. Wie gesagt,
ganz schön heikel.“
Ein Sicherheitsoffizier fragte, ob es sich nicht doch um ein Virus
handeln könne, und wie es, wenn es so wäre, an Dutzenden von
Sicherheitssystemen und Firewalls vorbeigekommen war. Wer war
überhaupt in der Lage, so etwas zu programmieren und dann auch noch auf
dem Hauptserver des Pentagon zu installieren? Das sei ein aberwitziger
Gedanke.
Der Chef-Programmierer spitzte die Lippen. „Nun ja, vor nicht allzu
langer Zeit haben uns Hacker angegriffen. 2011 war das. Dabei wurden
vierundzwanzigtausend Geheimdaten gestohlen. Ich denke, ganz so
aberwitzig ist dieser Gedanke gar nicht.“
„Doch, ist er“, widersprach der Sicherheitsoffizier energisch.
„Erstens traf der Cyberangriff einen unserer Kooperationspartner und
nicht den Pentagon-Server. Der Angriff erfolgte also indirekt. Und
zweitens war ich damals, nach dem Hackerangriff, als leitender Offizier
dafür verantwortlich, Sicherheitslücken zu schließen und aus unserem
Server eine uneinnehmbare Festung zu machen. Damit sich solche
Angriffe nicht wiederholen. Wollen Sie andeuten, das wäre mir nicht
gelungen?“
Der Programmierer hob abwehrend die Hände. Das wolle er
natürlich keinesfalls. Aber was er soeben entdeckt habe, seien nun mal
wahrscheinlich Befehle unbekannter Herkunft. Und wenn die nicht hierhin
gehörten, müssten sie logischerweise von außen gekommen sein. Im
Übrigen sei der Angriff aus dem Jahr 2011 auch eine Art Trojanisches
Pferd gewesen.
Der Sicherheitsoffizier schien sich nun persönlich angegriffen zu
fühlen. Er sagte mit belegter Stimme: „Trojanisches Pferd hin,
Trojanisches Pferd her. Es mag kommen, woher es will und gehen, wohin
es will. Aber garantiert nicht durch mein Sicherheitssystem!“
Die Offiziere redeten wild durcheinander. Turner stierte mit
finsterem Blick auf den Rechner des Programmierers. Zwischendurch ging
die Meldung ein, dass weiterhin keines der fraglichen U-Boote im Atlantik
erreichbar war.
Schließlich bat der Chef-Programmierer um Aufmerksamkeit. Die
Gespräche verstummten. Der Präsident löste seinen Blick von dem Laptop.
Der Programmierer trug die These vor, dass es sich gar nicht um einen
Hackerangriff handelte, sondern dass der Angriff von innen stattgefunden
hatte. Also kein Trojanisches Pferd, sondern ein Trojanischer Insider auf
einem ganz normalen Pferd. Das wäre eine Antwort auf alle im Raum
stehenden Fragen.
Der Sicherheitsoffizier glotzte den Programmierer feindselig an.
„Wollen Sie damit sagen, dass sich einer meiner Programmierer an
unserem zentralen Steuerungssystem zu schaffen gemacht hat? Verrat im
Pentagon? Unter meiner Leitung? Ihre Trojanertheorien sind ziemlich
schwach, mein Lieber. Sie sollten äußerst vorsichtig sein mit solchen
Mutmaßungen.“
Aber der Programmierer ließ sich nicht beirren. Er konstatierte, dass
nur ein begrenzter Kreis interner und erfahrener Mitarbeiter in der Lage
war, ein ganzes Bündel von Befehlen, vereint in einem Programm, in das
System des Pentagon einzuschleusen. Befehle, mit denen sich
offensichtlich die wahren Koordinaten von U-Booten verschleiern ließen.
Das sei ein Schadprogramm, das wie ein Tarnkappenbomber zu
funktionieren scheine. Um das ad hoc zu überprüfen, müssten diese
Befehle gelöscht und vorher auf ein externes Laufwerk kopiert werden.
Mit der Gefahr eines kompletten Systemabsturzes, weil man nicht
erkennen konnte, über welche und wie viele Ebenen das Schadprogramm
mit dem des Pentagon verknüpft war. Das habe durchaus etwas von dem
berühmten Kartenhaus, aus dem man nur eine einzige Karte entfernen
musste. Schon stürzte das ganze Haus ein.
Wieder redeten die Offiziere aufgeregt durcheinander. Dann fragte
der Sicherheitsoffizier, ob der Programmierer die fraglichen Befehle
wirklich auf einem Stick sichern könne.
Das Sichern an sich sei kein Problem, versicherte der
Programmierer. Allerdings könne er, wie gesagt, nicht ausschließen, dass
es dadurch zu einem Systemabsturz kam. Oder zu anderen unerwünschten
Reaktionen, wie zum Beispiel dem Abfeuern irgendwelcher Atomraketen
oder der Fernsteuerung weiterer U-Boote.
Er sah sich gleichermaßen fragenden wie entsetzten Blicken
ausgesetzt. Also erläuterte er, dass nicht auszuschließen war, dass diese
Befehle über auf die Schnelle nicht erkennbare Algorithmen mit anderen
Befehlen, Systembereichen oder gar Steuerungsprogrammen verknüpft
waren. Und zwar mit offiziellen, sprich systemimmanenten Befehlen oder
Systembereichen der Pentagon-Software. Und wenn nun die schädlichen
Befehle merkten, dass man sie löschen oder kopieren wolle, sei der
Gedanke gar nicht so abwegig, dass sie automatisch andere, bisher nicht
erkannte, fremde Befehle aktivierten, ohne dass man das von hier aus
verhindern könne. Das sei im Grunde ein bisschen so wie Domino.
Der Sicherheitsoffizier fand das alles zum Kotzen. Ein
Systemabsturz sei aber vertretbar. Damit habe man schließlich Erfahrung.
Aber Atomraketen, die sich selbständig machten...
„Außerdem könnte es doch sein, dass der unbekannte Hacker nur
darauf wartet, dass wir versuchen, seine Befehle zu löschen oder zu
isolieren“, warf der Stabschef ein. „Vielleicht hat er vor, den von ihm
geplanten Systemabsturz zu nutzen, um sich in unsere atomaren
Raketensysteme einzuschleusen und sie zu aktivieren. Damit könnten
Terroristen den Dritten Weltkrieg auslösen. Dann würden wir, ohne es zu
merken, zu Werkzeugen von Terroristen. Sie würden uns dazu bringen, uns
selbst zu vernichten. Ganz schön perfide.“
Turner verdrehte die Augen. „Ihnen dürfte bekannt sein, dass nur ich
persönlich den Einsatz von Atomwaffen autorisieren kann! Ohne den
Nuclear Football geht da gar nichts. Ich beurteile das so:
Schlimmstenfalls stehen unsere Tore kurzzeitig offen und es gelingt
wieder jemandem, ein paar Daten zu stehlen. Das Risiko sollten wir
eingehen. Hier steht mehr auf dem Spiel als ein paar Daten. Die Welt hat
Fragen an uns!“
„Sind Sie sich da so sicher, Mister President?“, fragte der Chef-
Programmierer.
Erneut blickte er in fragende Gesichter. Er erläuterte seine
Überlegungen: „Der Gedanke ist doch ganz einfach, um nicht zu sagen,
von nachgerade simpler Logik: Wenn es jemandem gelungen ist, unsere
Atom-U-Boote umzuprogrammieren, und zwar über unseren Zentralserver,
und ohne, dass wir das bemerken, und ohne dass Sie, Mister President, das
autorisiert hätten, warum sollte ihm das dann nicht auch mit unseren
Atomraketen gelingen? Ohne dass wir das merken? Und ohne Nuclear
Football?“
„Alles Hirngespinste“, meinte der Sicherheitsoffizier.
„Wenn Sie es sagen.“
„Sage ich. Und ich sage: kopieren, löschen und abwarten, was
passiert.“
„Sind Sie sich wirklich ganz sicher?“
Der Sicherheitsoffizier knirschte nervös mit den Zähnen. Das machte
er immer, wenn er unter Stress stand. Was, wenn dieser vorlaute Bursche
recht hatte? Wenn jemand am Präsidenten vorbei eine Atomrakete zünden
konnte? Niemals! Unmöglich! Nichts als Utopie. Bestenfalls geeignet für
einen Endzeitthriller.
„Ich bleibe dabei: kopieren, löschen, abwarten. Was meinen Sie,
Mister President? Sie haben das letzte Wort.“
William Turner presste die Lippen aufeinander und ballte die Fäuste.
Seine Stimme ließ eine gewisse Wut erkennen. „Kopieren, löschen,
abwarten!“
Der Chef-Programmierer schürzte die Lippen und zog eine
Augenbraue in die Höhe. „Wie Sie meinen. Ich habe Sie über die Risiken
aufgeklärt. Sie alle sind meine Zeugen. Ich möchte nur, dass das ganz klar
ist. Ich will hinterher nicht der Schuldige sein, wenn die USA Atomraketen
abfeuern und der Dritte, und damit letzte, Weltkrieg ausbricht. Mister
President?“
Der Präsident sah dem Chef-Programmierer direkt in die Augen und
deutete ein Nicken an.
Der zuckte mir den Achseln und kramte einen winzigen USB-Stick
aus einer Schublade, steckte ihn in einen Port, markierte die vermeidlich
fremden Befehle, drückte auf copy und auf dem Stick auf taste. Gebannt
sahen ihm die Anwesenden zu. Gesicht und Hemd des Sicherheitsoffiziers
waren nass vor Schweiß.
„Ups“, rutschte es dem Chef-Programmierer heraus.
„Was heißt hier ups?“, fragte der Sicherheitsoffizier gereizt. „Ist was
passiert oder nicht?“
Der Programmierer stieß laut die Luft aus. „Kann man so sagen.
Komische Sache das.“
Turner war mit seiner Geduld am Ende. Genervt forderte er seinen
Chef-Programmierer auf, zu sagen, was passiert war und unqualifizierte
Äußerungen zu unterlassen. Der Sicherheitsoffizier schloss sich der
Meinung seines Präsidenten an.
„Tja“, meinte der EDV-Profi lapidar. „Gelöscht. Damit hätte ich jetzt
eher nicht gerechnet.“
„Was ist gelöscht, Mann? Sprechen Sie gefälligst nicht in Rätseln!“
Der Programmierer erklärte, dass sich die fremden Befehle soeben
selbst gelöscht hatten. Und zwar sowohl auf dem Server als auch auf dem
Stick. Sie waren einfach weg. Weg, ohne Spuren zu hinterlassen.
„Das gibt es doch gar nicht“, murmelte der Sicherheitsoffizier, „was
ist das bloß für eine Sauerei?“ Er sah den Präsidenten verstohlen aus dem
Augenwinkel heraus an und betonte, dass zumindest nichts Schlimmes
passiert sei. Der Server laufe schließlich immer noch fehlerfrei.
Der Stabschef räusperte sich vernehmlich. „Wenn Sie bitte allesamt
die Güte hätten, den Blick zur Abwechslung mal wieder auf die Monitore
zu richten.“
„Das gibt es doch gar nicht“, wiederholte der Sicherheitsoffizier.
Alle starrten gebannt auf die Monitore. Und sie sahen dasselbe wie
der Sicherheitsoffizier: nichts. „Was hat das zu bedeuten?“, fragte Turner.
Sein Chef-Programmierer spitzte die Lippen. „Dass die Mär von den
zehn explodierten Atom-U-Booten der Ohio-Klasse vor Teneriffa wohl
doch keine Mär ist.“
„So eine elende Sauerei! Wie ist so etwas nur möglich?“
„Das kann ich Ihnen sagen“, behauptete der Programmierer. „Ich
vermute, dass mit der Zerstörung des Trojanischen Pferdes auch die
Tarnung der zehn U-Boote zerstört wurde. Und weil da gar keine U-Boote
sind, sehen wir nur noch blinde Flecken auf der Landkarte.“
„Womit wir wieder bei der alles entscheidenden Frage sind“,
sinnierte der Sicherheitsoffizier, „wer diese Befehle geschrieben hat und
wie sie auf unserem Server gelandet sind. Da stößt selbst meine Fantasie
an ihre Grenzen.“
Für einen Augenblick wurde es still in dem großen Computerraum.
Dann begann eine wilde Spekuliererei, die dazu führte, dass sich einige der
Offiziere gegenseitig beschuldigten. Der Stabschef bekräftigte seine
Einschätzung, dass das Programm über den Laptop eines der ranghöchsten
Offiziere auf dem Zentralserver installiert worden sein könnte. Und zuvor
auf eben jenen Laptop, zum Beispiel mit einem banalen Stick.
Der Programmierer schloss sich der These des Stabschefs an. „Ein
externer Hacker gibt einem hochrangigen Offizier den Stick, der steckt ihn
in seinen persönlichen Laptop, verbindet sich mit dem Server, und
schwups, schon ist das Programm auf dem Server.“ Das sei ganz simpel,
setze lediglich voraus, dass dafür der Laptop eines autorisierten Offiziers
genutzt wurde. Das aber sei eine überschaubare Anzahl. Das könne er
locker überprüfen. Sofern ihm alle in Frage kommenden Laptops vorgelegt
würden.
Niemand hatte etwas gegen den Vorschlag einzuwenden. Es dauerte
nicht lange, bis der Programmierer alle fraglichen Laptops einer
eingehenden Prüfung unterzogen hatte. Sein Befund war eindeutig: Mit
keinem dieser Geräte war der Zentralserver infiziert worden.
„Das ist beruhigend“, meinte Turner. „Wenn jemand von Ihnen dafür
verantwortlich wäre, wäre das eine Katastrophe, deren Folgen kaum
abzusehen wären. Das käme einer Destabilisierung der Weltordnung
gleich!“
Der Programmierer gab zu bedenken, dass er nicht alle Laptops habe
überprüfen können.
„Wieso? Wir haben Ihnen doch alle unsere persönlichen Laptops
gegeben.“
„Und was ist mit General Moore?“
„Jetzt hören Sie endlich mal mit diesem Quatsch auf“, echauffierte
sich Turner. „Moore hat damit nicht das Geringste zu tun! Ohne ihn
würden Sie gar nicht hier sitzen! Ich vermute, dass islamistische
Terroristen dahinter stecken. Die GESA macht zig Milliarden Dollar
Umsatz. Die wären damit auch in der Lage, unseren Server zu hacken. Ihr
Sicherheitssystem mag theoretisch unfehlbar sein, aber wenn es
Terroristen gelungen ist, den Laptop eines Offiziers zu verseuchen, der von
diesem Sicherheitssystem nicht aufgehalten wird, oder wenn sie
anderweitig getarnt in unser System gekommen sind, dann ist das
bestimmt möglich. Und was ich eben sagte, die Destabilisierung der
Weltordnung, ist doch genau das, was die GESA will. Fragen? Aber wenn
es Sie beruhigt: Ich werde versuchen, General Moore zu erreichen. Und
Sie suchen die Ursache gefälligst woanders! In zwei Tagen will ich Ihren
Bericht! Und Sie, meine Herren“, er deutete auf einige der Stabsoffiziere,
„werden mich begleiten. Und zwar zu den Kanaren. Oder zu dem, was
noch davon übrig ist. Außerdem werden unverzüglich alle U-Boote auf See
in ihre Häfen zurückbeordert und bis auf Weiteres stillgelegt. Damit nicht
noch mehr Unheil geschieht. Außerdem richten Sie eine Task Force ein,
die überprüft, ob der Hackerangriff aus dem Nahen Osten gekommen ist!
Und wir schicken eine Spezialeinheit zu den Kanaren. Und zwar so lange,
bis wir genau wissen, was für ein gottverdammter Mist da passiert ist!“
Kapitel 61
Hartsfield–Jackson Atlanta International Airport, einen Tag später
„Riley Perkins?“
Riley musterte die beiden Männer misstrauisch. Er war vor einer
halben Stunde gelandet. Wegen der Zerstörungen durch die Tsunamis
mussten hunderte von Flügen in die USA umgeleitet werden. Das galt auch
für den Orlando Melbourne International Airport, dem Hausflughafen von
Emma und ihm, der nur zwanzig Meilen von Cocoa Beach entfernt war.
Der Flughafen war vollständig zerstört worden. Deshalb war sein Flug
nach Atlanta umgeleitet worden. Mit großer Verspätung. Er hatte zuvor
eine ganze Nacht auf dem Flughafen Auckland verbringen müssen.
Die Männer waren in zivil, aber man brauchte nicht viel
Beobachtungsgabe, um zu erkennen, dass sie Soldaten waren. Sie wirkten
professionell, hatten eine hohe Körperspannung und machten den
Eindruck, als könnten sie Riley mit einem einzigen Handgriff erledigen.
„Wer will das wissen?“, fragte er vorsichtig und scannte die
Umgebung. Am Ausgang stand ein Mann, der vom Typ her zu den beiden
passte. An Flucht war also nicht zu denken.
Einer der Männer hielt Riley einen Ausweis vor die Nase und ließ
ihn rasch wieder in seiner Jacke verschwinden. Er stellte sich als Michael
Harper von der SAD vor. Der andere sei sein Kollege, Tyler Smith.
Riley nickte zu dem Dritten. „Und der am Ausgang? Und was ist
diese SAD und was wollen Sie von mir?“
Harper lachte. „Respekt, Sie sind ein guter Beobachter. Aber Sie
stellen zu viele Fragen. Ich werde sie Ihnen aber beantworten. Der
Gentleman am Ausgang ist Ethan Stark. Die SAD gehört zur CIA. SAD
bedeutet Special Activities Division. Wir übernehmen gewisse
Sonderaufgaben. Mehr müssen Sie nicht wissen. Sie begleiten uns in unser
Ausbildungslager in Cherokee. Mein Vorgesetzter hat nämlich eine Menge
Fragen an Sie.“
„Und wenn ich mich weigere?“
Harper grinste.
Riley verstand.
„Außerdem wartet dort jemand auf Sie“, ergänzte Harper.
Riley war sofort wie elektrisiert. „Emma? Emma Chaplin? Hat sie
es doch geschafft?“
In Harpers Stimme war ehrliche Anteilnahme zu spüren. „Das leider
nicht. Ich befürchte, was Miss Chaplin angeht, habe ich keine guten
Nachrichten. Aber das können wir unterwegs besprechen. Wir wollten Sie
eigentlich in unser Ausbildungszentrum Camp Peary in Williamsburg
bringen. Doch leider wurde auch das von einem Tsunami zerstört.“
Riley folgte den Männern zu einem unauffälligen Jeep ohne
Beschriftung. Harper setzte sich mit ihm in den Fond. Stark fuhr. Sie
verließen die Stadt ohne zu reden. Riley übermannte die Trauer von
Neuem. Er hatte in einem Augenblick Hoffnung geschöpft, nur, um im
nächsten in ein tiefes Loch zu fallen.
Sie durchfuhren einen Wald und kamen zu einer Lichtung. Dort stand
ein Hubschrauber.
„Sie sind gut organisiert“, sagte Riley, der sich verstohlen eine Träne
aus dem Auge wischte.
Stark hielt direkt auf den Hubschrauber zu. Davor stand ein weiterer
Mann mit verschränkten Armen, der offensichtlich schon auf sie wartete.
Vermutlich der Pilot.
„Gut organisiert zu sein, Mister Perkins, ist für uns so etwas wie eine
Lebensversicherung“, erklärte Stark, während er seinen Gurt löste. Sie
stiegen aus und gingen zu dem Hubschrauber, in geduckter Haltung, weil
die Rotorblätter liefen. Der Hubschrauber war startbereit.
Der Pilot stellte sich als Liam Bennett vor. Ohne Titel oder Rang.
Wie die anderen. Darauf schienen sie bei der SAD keinen Wert zu legen.
Oder das war Tarnung. Denn auch der Hubschrauber wirkte nicht
militärisch. Es bedurfte einer gewissen Vorkenntnis, um zu erkennen, dass
er bewaffnet war.
Sein Inneres zeugte umso mehr von seiner Funktion. Mit dem Task
Management System konnten auch kleinste Einsatzziele punktgenau
angeflogen werden. Ein weiterer Hinweis auf die militärische Nutzung war
die Tandemanordnung. Der Schütze vorne, der Pilot dahinter.
Als der Hubschrauber in der Luft war, fragte Riley, was genau die
SAD war, was für Aufgaben sie hatte und was sie von ihm wollte.
Harper stöhnte. „Sie sind beharrlich. Aber was ich Ihnen jetzt sage,
ist ein offenes Geheimnis. Die SAD ist dem National Clandestine Service,
kurz NCS, unterstellt, der die geheimdienstlichen Aktivitäten aller
Nachrichtendienste der USA im Bereich der HUMINT koordiniert.“
Als Harper Rileys fragendes Gesicht sah, hob er entschuldigend die
Hände. „Sorry, wir immer mit unserem militärischen Fachgelaber.
HUMINT steht für Human Intelligence. Dabei geht es, vereinfacht
ausgedrückt, darum, aus Menschen so viele Informationen
herauszubekommen wie möglich. Und zwar in der Regel in einem
Einsatzraum. Das können Kriegsgefangene, aber auch zivile Personen sein.
Die SAD wurde vor etwas mehr als zehn Jahren von dem ehemaligen
Kommandeur der Delta Force, Lieutenant General William G. Boykin,
gegründet. Ein umstrittener Mann, weil er unter der Bush-Regierung
öffentlich von einem Kampf des Christentums gegen das Böse gesprochen
hat. Es war klar, dass er damit den Islam meinte. Sie erinnern sich
sicherlich an Bushs Achse des Bösen. Dass diese Aussagen zur selben Zeit
kamen, war kein Zufall.
Die Regierung beschloss Mitte der Neunziger, die Verantwortung für
verdeckte militärische Operationen wieder verstärkt bei der CIA
anzusiedeln. Ziel war, im Falle einer Enttarnung die Verantwortung
glaubwürdig abstreiten zu können. Die SAD besteht aus ehemaligen
Special Forces-Angehörigen. Wir kommen von den United States Army
Rangers, den Seals, den Green Berets, und, wie ich, von der Delta Force.
Dort habe ich meinen heutigen Vorgesetzten kennengelernt. Was den Job
so spannend macht, ist die Tatsache, dass wir jederzeit Operationen
durchführen können, ohne sie vorher langatmig dem US-Kongress
mitteilen zu müssen. Befriedigt das Ihre Neugier?“
Riley versicherte, dass er überaus beeindruckt sei, es ihn aber umso
mehr interessiere, was die SAD ausgerechnet von ihm wolle. Harper
deutete an, dass es um eine potenzielle terroristische Bedrohung ging, dass
Riley aber nicht verdächtigt wurde, sondern ein wichtiger Zeuge war.
„Dann kann es nur um diese Stiftung gehen“, stellte Riley fest. „Um
AURORA.“
„Im Prinzip schon. Aber das besprechen Sie mit meinem
Vorgesetzten. Das mit Ihrer Freundin, Miss Chaplin, tut mir übrigens
aufrichtig leid! So, wie ich das sehe, hatte sie mit der Sache nicht das
Geringste zu tun.“
Ein Stich durchfuhr Riley. Emma. Ihre SMS von einem fremden
Handy. Ihr Abschiedsgruß. Eine Mischung aus Hass und Trauer ließ seinen
Puls in die Höhe schnellen. „Sind Sie sich denn ganz sicher, dass Emma
nicht fliehen konnte?“
Harper presste die Lippen zusammen. „Kein Lebenszeichen“, sagte
er leise. „So hart das auch ist, es besteht keine Hoffnung. New York ist zu
einem Massengrab geworden.“
„Also ist nicht Emma in Cherokee, sondern Cathy, ihre Tochter?“
Harper nickte. „Wir konnten sie und ihr Kindermädchen in letzter
Sekunde vor dem Tsunami retten. Fünf Minuten später und es wäre aus
gewesen. Wir haben viel zu spät von der Hangrutschung erfahren. Uns
blieb kaum Zeit. Wir vermuten, dass das biblische Ausmaß dieser
Katastrophe die Menschen in eine Schockstarre versetzt hat. Sie haben
zunächst gar nicht reagiert. Und dann viel zu unkoordiniert. Hinzu kommt,
dass es im Atlantik kein Tsunami-Warnsystem gibt. Das ist eigentlich ein
Unding.“
„Apropos Tsunami“, sagte Riley, der schon wieder einen Kloß im
Hals spürte, „wie schlimm hat es die Ostküste getroffen?“
Harpers Blick sprach Bände. Ihm war seine Bestürzung anzusehen.
Sympathischer Typ. Riley schätzte ihn auf Mitte vierzig. Knapp eins
neunzig, dunkle Haare, blaue Augen, Dreitagebart und ein schmales,
markantes Gesicht. Riley fand, dass er äußerlich das genaue Gegenteil zu
ihm war.
Harper schilderte das ganze Ausmaß der Katastrophe. Die gesamte
Ostküste war betroffen. Einige Küstenabschnitte waren, wie NYC, von den
höchsten und langwelligsten Tsunamis verwüstet worden, die jemals
registriert wurden. Aber die Hangrutschung war auch die erste Katastrophe
dieser Art in der Geschichte der modernen Zivilisation. Aus kleinen
Städten und Ortschaften konnten die meisten Menschen gerettet werden
oder sich selbst in Sicherheit bringen. Aber gerade in dicht besiedelten
Regionen, vor allem in den Großstädten, hatte es Kollateralschäden
gegeben. New York war, wie viele andere Städte an der Ostküste, dem
Erdboden gleichgemacht worden. Unterseekabel waren zerstört worden. Es
kam weltweit zu Netzzusammenbrüchen und Börsencrashs.
„Deshalb gibt es für Miss Chaplin keine Hoffnung“, sagte Harper
mit einem mitleidigen Blick.
Riley durchfuhr ein heftiger Stich. Er wollte nicht wahrhaben, dass
Emma nicht mehr lebte. Immer wieder dachte er, dass jeden Augenblick
sein Handy klingeln und er ihre süße Stimme hören würde. Er äußerte die
Hoffnung, dass es ihr vielleicht doch gelungen war, zu fliehen. Immerhin
waren zwei FBI-Agenten bei ihr.
Doch Harper zerstreute auch diese Hoffnung. Die SAD hatte ihre
Handys orten können. „Die drei Geräte befanden sich zum Zeitpunkt des
Tsunamis in unmittelbarer Nähe zueinander. Mitten in Manhattan.“
Das war´s, schoss es Riley durch den Kopf. Meine Hoffnung auf ein
glückliches Leben wurde unwiderruflich gelöscht. Wieder stiegen ihm
Tränen in die Augen. Sein Leben hatte keinen Sinn mehr.
In der Ferne tauchte Cherokee auf. Endlich. Ab jetzt war er
wenigstens abgelenkt. Er zwang sich, nicht an sein Schicksal zu denken
und blickte auf die Geschwindigkeitsanzeige des Helikopters. Dreihundert
Stundenkilometer, das war fiel. Doch als Riley ihn darauf ansprach,
erklärte Bennett, dass die Höchstgeschwindigkeit sogar bei fünfhundert
km/h lag. Die SAD war mit der modernsten Technik ausgestattet.
Sie überflogen in niedriger Höhe Wälder, Seen und Berge.
Traumhaft schön, aber einsam. Ideal für eine Spezialeinheit, die im
Hintergrund agieren muss, dachte Riley. Der Hubschrauber flog auf ein
umzäuntes Gelände mitten im Wald. Riley sah schmucklose Gebäude,
einen Hangar, Fahrzeuge und einen Landeplatz, auf dem der Hubschrauber
sanft aufsetzte. Als Harper die Tür öffnete, lief ihnen ein Mann entgegen.
Dunkelhäutig, noch größer als Harper und breitschultrig. Er offenbarte bei
der Begrüßung das breiteste Grinsen, das Riley jemals gesehen hatte.
Er schüttelte Riley so kräftig die Hand, dass er befürchtete, dass der
Hüne sie ihm brechen würde. Doch seine Hand blieb unversehrt.
„Willkommen Mister Perkins“, sagte der Mann mit einer auffallend
tiefen Stimme, die sich in Rileys Hirn einbrannte, „wir haben Sie schon
sehnsüchtig erwartet. Mein Name ist Winterbuttom, Aiden Winterbuttom.
Ich bin der Leiter dieser Einheit. Harper ist meine rechte Hand. Er hat
Ihnen sicherlich schon gesagt, dass Miss Chaplins Tochter hier ist. Aber
ich möchte Ihnen noch jemanden vorstellen. Jemanden, der es kaum
erwarten kann, Sie kennenzulernen. Jetzt bringe ich Sie aber erst mal auf
Ihr Zimmer. Sie sehnen sich bestimmt nach einer heißen Dusche. Dann
gibt es ein leckeres Abendessen und dann geht´s ab ins Bett. Morgen
mache ich Sie bekannt.“
Kapitel 62
Adams Island, einen Tag später
Changs Tod war sinnlos gewesen. Man hätte ihn einsperren können. Moore
war sich sicher, dass er ihn auf die Seite des Circle hätte ziehen können.
Ein Außenstehender musste entsetzt sein, wenn er erfuhr, dass AURORA
ganz andere Ziele verfolgte, als ihm vorgegaukelt worden war. Und das
auch noch von seiner Angebeteten. Aber spätestens, wenn Moore ihm in
schillernden Farben ausgemalt hätte, welches Paradies ihm offenstand, mit
Rebecca, wären seine Skrupel dahingeschmolzen. Das wusste auch
Rebecca. Sie hatte Chang nicht getötet, weil er eine Gefahr darstellte,
sondern weil sie ihren Männerhass auf ihn projiziert hatte.
Sie sprach nicht mit Moore, aber mit den anderen. Sie legte ihre
Motive dar, brachte ihr Bedauern über ihre Tat zum Ausdruck, betonte
aber, dass sie alternativlos gewesen war. Moore hatte sie beobachtet. Ihm
konnte sie nichts vormachen. Rebecca versuchte, normal, beherrscht und
cool zu wirken. Aber ihre Stimme bebte, ihr Blick flackerte.
Niemand außer ihm schien das zu merken. Aber wahrscheinlich
achtete auch niemand außer ihm darauf. Er wusste, dass ein Vulkan in ihr
brodelte, der jederzeit ausbrechen konnte. Er musste sie im Auge behalten.
Wie verhielt sie sich den Externen gegenüber? Denn heute war es soweit.
Sie hatten beschlossen, den Externen reinen Wein einzuschenken. Eine der
kritischsten Projektphasen.
Aber zuvor stand noch etwas anderes auf der Tagesordnung. Sie
zogen um, von der oberen auf die untere, die uneinnehmbare Ebene. Sie
verfrachteten Technik und Proviant, weil die Gefahr wuchs, dass sie
aufflogen. Alarmierend war das Auftauchen eines unbekannten Bootes an
der Südküste unmittelbar nach der Hangrutschung gewesen. Das Boot war
zunächst vor Anker gegangen, jedoch unverrichteter Dinge wieder
verschwunden. Das war kein Zufall. Niemand setzte sich freiwillig dem
unberechenbaren Meer vor Adams Island aus.
Moore schnappte sich einen Karton und ging neben Tschechow zu
dem großen Lift, der auf die untere Ebene führte. Tschechow trug zwei
Kartons. Der Mann verfügte über erstaunliche Kräfte. Sie waren beide
kampferprobt, aber Moore wusste, dass er im Kampf Mann gegen Mann
chancenlos gegen den Russen war.
„Bist du wirklich der Meinung, dass wir das machen müssen?“,
fragte Tschechow genervt.
„Absolut“, sagte Moore entschieden, „meine Freunde im Pentagon
haben die Wrackteile vor Teneriffa eindeutig unseren U-Booten zuordnen
können. Und ich komme nicht mehr auf unseren Server. Mit anderen
Worten: Sie haben Jimmys Programm entdeckt und neutralisiert. Das
Risiko, dass sie eins und eins zusammenzählen, ist hoch. Zumal ich nicht
mehr erreichbar bin.“
„Aber die Spuren führen doch zur GESA“, grummelte Tschechow,
der offensichtlich wenig Gefallen daran fand, stundenlang Kisten zu
schleppen. „Außerdem bist du der General of the Armies. Niemand wird
dich mit der Katastrophe in Verbindung bringen. Erst recht nicht, wenn du
von der GESA hingerichtet wirst.“
„Da wäre ich mir nicht so sicher. Ganz so dumm sind die nun auch
wieder nicht. Außerdem gilt Dasselbe für dich und den Kreml.“
„Du hast ja recht. Dann schleppen wir eben weiter Kisten.“
Die Zentrale bestand aus zwei voneinander unabhängigen Ebenen.
Die Funktion der unteren Ebene, die sich hundert Meter tiefer über eine
Fläche von zehntausend Quadratmetern erstreckte, bestand darin, sich
komplett abzuschotten. Sie war nach dem Vorbild des Doomsday
Underground Command Centers in der Nähe des Pentagon gebaut worden.
Im Katastrophenfall waren der Präsident und sein Stab dort sicher.
Das DUCC lag in Virginia, achtzig Kilometer westlich von
Washington D.C. Der gewaltige, unterirdische Schutzbunker umfasste
zwanzig mehrstöckige Gebäude, einen aus dem Basaltgestein gehauenen
Wasserspeicher mit einem Durchmesser von sechzig Metern in einer Tiefe
von neunzig Metern und eine eigene Kläranlage. Damit war auch eine
Langzeitversorgung sichergestellt. Das DUCC verfügte über eine moderne
Krankenstation, ein Krematorium und Vorräte für einen Monat für
zweihundert Personen. Betten gab es sogar für zweitausend. Eine Stadt
unter der Erde. Ein eigenes Fernsehstudio erlaubte es dem Präsidenten, in
einer Krisensituation zum Volk zu sprechen.
Ein zehn Kilometer langer Tunnel verband das DUCC mit einem
weiteren Bunker, dem Side A. Dort gab es eine Kapelle, einen Friseur, ein
Fitnesscenter und eine Kommandozentrale. Im Side A konnten dreitausend
Personen wochenlang von der Außenwelt abgeschirmt überleben.
Eine dritte, sechshundert Meter unter der Erde gelegene
Bunkeranlage, die Cheyenne Mountain Airforce Station in Colorado, von
der Army nur „The Mountain“ genannt, war so gut geschützt, dass sie
selbst der Explosion einer fünf-Megatonnen-Atombombe in nächster
Umgebung standhielt. Sie verfügte über ein Kraftwerk, mit dem eine
Kleinstadt versorgt werden konnte. Die Wasserversorgung stellten vier
Speicher sicher, die insgesamt zweihunderttausend Hektoliter Wasser
fassten.
Die Zentrale des Circle war das kleine Abbild des DUCC, das Moore
in- und auswendig kannte. Denn er hatte die Regierung bei diversen
Erweiterungs- und Modernisierungsmaßnahmen beraten. Eine Erfahrung,
die dem Circle zugutekam.
Während Feinde die obere Ebene mit Waffengewalt einnehmen, oder
mit Hohlladungen zerstören konnten, war die untere Ebene eine
uneinnehmbare, strahlensichere Festung. Auch Hohlladungen hatten hier
keine Chance.
Eine unterirdische Straße führte an die Küste. Eine künstliche
Unterwasserhöhle bot Platz für bis zu drei U-Boote. Die Zugänge waren
getarnt und hermetisch und strahlensicher abgeriegelt. Schnellboote und
drei Kampfhubschrauber aus russischen Beständen standen für eine Flucht
bereit. Auf der unteren Ebene konnten zweihundertfünfzig Personen
untergebracht werden. Mit Proviant und Wasser für drei Monate. Für jeden
gab es einen strahlensicheren Schutzanzug.
Die Errichtung der Zentrale hatte eine Vorarbeit von mehreren
Jahren und ein Vermögen gekostet. Es war ein Drahtseilakt gewesen, ein
solches Projekt zu stemmen, ohne aufzufallen. Moore war immer der
Überzeugung gewesen, dass die Bauphase die eigentliche Schwachstelle
von AURORA war. Irgendein dummer Zufall und sie wären aufgeflogen.
Nachdem sie die Anlage bezogen hatten, fürchtete Moore kaum noch
Risiken. Er hatte, wie die anderen, einen Großteil seines Vermögens in die
Zentrale gesteckt. Eine lohnende Investition. Denn hier würde die Neue
Welt beginnen, in der Dollar, Rubel, Euro, Pfund, Yen und Renmimbi
keine Rolle mehr spielten.
Der Lift war bis unter die Decke vollgepackt. Moore und Tschechow
fuhren damit in die untere Ebene, wo die anderen das Material verteilten.
Sie arbeiteten Hand in Hand, waren ein eingespieltes Team. Auch Rebecca
öffnete Kisten und verteilte deren Inhalt. Und zum ersten Mal seit ihrer
Auseinandersetzung erwiderte sie Moores Blick. Ein gutes Zeichen?
Die beiden Generäle fuhren wieder auf die obere Ebene, um die
nächste Fuhre einzuladen. Moore hatte zehn bis fünfzehn Fuhren
kalkuliert. Am frühen Abend musste alles erledigt sein. Dann sollten die
Gäste die untere Ebene kennenlernen und die Wahrheit erfahren. Und dann
trennte sich die Spreu vom Weizen.
Kapitel 63

Cherokee, derselbe Tag, nachmittags


Sie mochten sich auf Anhieb. Denn sie einten ähnliche Schicksale. Jamal
hatte seinen Sohn verloren. Riley seine Emma, die sein Kind in sich trug
und die er heiraten wollte. Winterbuttom hatte sie nach dem Frühstück
bekanntgemacht und ihnen eine Stunde gegeben, um sich zu beschnuppern.
Freundet euch an, denn ab jetzt seid ihr Tag und Nacht zusammen, hatte er
gesagt.
Danach wurde es ernst. Zunächst wurde Riley vernommen, dann
versammelten sie sich in der modernen Einsatzzentrale der SAD. Jamal,
Riley, Winterbuttom, Harper und Stark. Und eine Protokollführerin. Das
Verhör wurde gefilmt. Im Mittelpunkt stand Riley, denn Jamal hatte schon
alles erzählt, was er wusste.
Riley wirkte sehr emotional. Jamal hielt ihn für ehrlich und
geradlinig. Es tat ihm sehr leid, dass er Emma und sein ungeborenes Kind
verloren hatte. Da ging es ihm eigentlich besser. Denn er hatte noch seine
Frau und zwei seiner Kinder. Denn Winterbuttom hatte in allem Wort
gehalten, und nicht nur ihn sicher aus Deutschland gebracht, sondern auch
seine Familie aus Russland. Als Winterbuttom in Laboe aufgetaucht war,
waren Jamals Sorgen mit einem Mal verflogen gewesen. Er hatte dem
Mann ins Gesicht gesehen und wusste, dass er ihm vertrauen konnte. Es
wunderte ihn nicht, dass Hauke ihn so sehr mochte.
Jamal hatte dem Moment entgegengefiebert, in dem er Riley
kennenlernte. Denn mit ihm bestand die Chance, dass er endlich
Antworten bekam. Allerdings wusste Riley weniger als er selbst. Am
interessantesten fand Jamal, dass sein Vater, James Perkins, von AURORA
gefördert wurde und Riley die Leute kennengelernt hatte, die James und
seine Familie unter Vertrag genommen hatten.
Als Riley alle Fragen beantwortet hatte, erhob sich Winterbuttom
aus seinem Freischwinger und ergriff das Wort.
„Nach Ihren Aussagen“, er zeigte auf Riley und Jamal, „wären
Terroristen für die Hangrutschung verantwortlich. Aber ich kann mir nicht
vorstellen, dass ausgerechnet David Moore einer von ihnen sein soll. Der
Mann ist eine Legende zu Lebzeiten! Ich habe stets zu ihm aufgeschaut!
Um es klar zu sagen: Ich bin davon überzeugt, dass er nichts mit den
Anschlägen zu tun hat, auch wenn er der leitende Offizier der Operation
„Ocean Drive“ im Atlantik war!
Wenn sich jedoch bewahrheiten sollte, dass amerikanische U-Boote
einen Kontinentalhang weggesprengt haben, ihre Atomsprengköpfe am
Präsidenten vorbei scharfgestellt wurden, und wenn Anschläge Europa
erschüttern, deren Spuren arg offensichtlich zur GESA weisen, und wenn
auf Sie dann auch noch Anschläge verübt werden, dann klingt das nach
einer Verschwörung. Und in diesem Ausmaß ist das nur möglich, wenn
Menschen dahinterstecken, die über genügend Einfluss und die
erforderlichen Mitteln verfügen. Zum Beispiel Atom-U-Boote. Es wäre
perfide, wenn AURORA mit dem Nimbus des Weltretters mit staatlichen
Zuschüssen überhäuft würde, aber tatsächlich eine terroristische
Vereinigung ist. Dann würde die Menschheit ihren eigenen Untergang
finanzieren. Bevor wir uns aber überlegen, welche Ziele, außer einem
Kontinentalhang, noch für solche Anschläge geeignet wären, müssen wir
uns eine ganz einfach Frage stellen: warum?“
Das war genau die Frage, die sich Jamal von Anfang an gestellt
hatte. Warum? Das ergab einfach keinen Sinn. Wenn die GESA dahinter
steckte, ja, das machte Sinn. Aber eine Stiftung und ein amerikanischer
General?
Winterbuttom schien seine Gedanken zu lesen, denn er bekräftigte
Jamals Einschätzung, dass nur die GESA eine stichhaltige Antwort auf die
Frage nach dem Warum liefern würde.
„Diese Leute verachten uns und unsere Lebensweise. Sie würden vor
nichts zurückschrecken, um uns zu schaden. Je mehr, desto besser. Sie
wollen Angst und Schrecken verbreiten. Uns zwingen, unsere Lebensweise
zu ändern. Sie wollen einen Islamischen Gottesstaat errichten. Aus ihrer
Sicht macht der Angriff auf Teneriffa Sinn. Und wie!“
„Dann wird mir aber Angst und Bange, wenn ich daran denke, in
welchem Fachgebiet mein Vater tätig ist“, warf Riley ein. „Und mich
beschleicht ein ungutes Gefühl, wenn ich an das Gespräch denke, das du in
Kabul mitbekommen hast, Jamal. Irgendwas mit Eis. Mit Kälte. Ich habe
zwar nicht viel Ahnung von Viren und dem ganzen Kram. Das interessiert
mich nicht. Aber das eine oder andere schnappt man doch auf, wenn man
so einen Vater hat.“
Winterbuttom nickte Riley aufmunternd zu. Der stand auf und stellte
sich vor das einzige, nicht-technische Equipment in diesem Raum: eine
riesige Weltkarte, die eine ganze Wand einnahm. Mehr zu sich selbst sagte
er: „Wo gibt es Permafrostböden, die wegen des Klimawandels auftauen?“
Er ließ den Blick über die Karte schweifen und zuckte zusammen,
als plötzlich rechts von ihm, in Augenhöhe, ein roter Punkt aufblitzte und
Indien traf. Genau in der Mitte.
Riley wirbelte herum und sah in das grinsende Gesicht von Ethan
Stark, der, sich auf seinem Stuhl fläzend, lässig einen Laserpointer
schwang. Stark war der Jüngste in Winterbuttoms Team. Er war klein und
drahtig und erweckte den Eindruck großer Zähigkeit. Er hatte einen
blonden Igelschnitt und eisblaue Augen. Jamal hielt ihn für den Inbegriff
eines Soldaten.
„Sorry Riley“, sagte Stark mit einem süffisanten Grinsen, „ich
wollte dich nicht erschrecken. Aber ich schlage vor, du entspannst dich,
drehst dich wieder um und schaust auf die Karte.“
Riley musste angesichts der plötzlichen Laserpointer-Attacke
ziemlich konsterniert gewirkt haben. Jedenfalls lachte Winterbuttom
wieder so laut, dass auch alle anderen lachen mussten. Nur nicht Riley.
Schließlich räusperte sich Winterbuttom, entschuldigte sich für seine
Albernheiten und bat Riley, zu erklären, warum er nach Permafrostböden
gefragte habe.
„Nun“, kam Ethan Riley zuvor, „lasst uns diese Böden doch zuerst
mal suchen. Bist du bereit für eine spannende Weltreise, Riley?“
Riley nickte, jetzt auch grinsend, und verfolgte den Weg des Lichts:
Von Indien wanderte es nordwärts, streifte den Westen Chinas, dann den
Osten Kasachstans, drang von dort in Russland ein, überquerte den Ural,
wanderte weiter bis zur Küste und noch ein Stück nordwärts in den
Arktischen Ozean hinein, etwa bis zur russischen Doppelinsel Nowaja
Semlja. Dort stoppte der Punkt für den Bruchteil einer Sekunde, um dann
wild hin- und her zu wandern, in Ost-West-Ost-Richtung.
„In Sibirien gibt es Permafrostböden“, erklärte Ethan, „und die tauen
auf. Ich sehe mir gerne Naturdokus an. Vor ein paar Monaten habe ich eine
gesehen, in der es um Methan aus tauenden Permafrostböden ging. Methan
ist ein gefährliches Treibhausgas. Und da steht Sibirien an erster Stelle.
Aber jetzt bist du dran, Riley. Warum willst du das wissen?“
„Weil in den Permafrostböden Unmassen an eingefrorenen Viren
vermutet werden. Auch sehr gefährliche Kandidaten. Wenn das Eis
schmilzt, werden diese Biester freigesetzt und können Epidemien
auslösen. Tja, und weil mein Vater Virologe ist...“
„...glauben Sie, dass AURORA mithilfe Ihres Vaters so ein
heimtückisches Biest finden will“, führte Winterbuttom Rileys
Gedankengang fort. „Was dem Stiftungszweck entspräche. Also, nicht,
diese Viecher auf die Menschheit loszulassen, sondern sie zu finden und
zum Beispiel einen Impfstoff dagegen zu entwickeln. Das wäre dann die
Aufgabe Ihres Vaters.“
Plötzlich fiel es Jamal wie Schuppen von den Augen. Edmund
Wagner! Der Major! Noch bevor Riley etwas erwidern konnte, sprang er
auf, stürmte nach vorne und erzählte aufgeregt, dass Wagner doch eine
Mission der Bundeswehr in Sibirien geleitet hatte!
Winterbuttom beugte sich über die Glasplatte des Konferenztischs,
der Platz für vierzehn Personen bot, zu Harper hinüber und flüsterte ihm
etwas ins Ohr. Harper nickte, stand auf und verließ den Raum durch die
stählerne Sicherheitstür. Als Winterbuttom die fragenden Blicke sah,
erklärte er, dass er Harper beauftragt hatte, eine Fahndung nach Moore und
Wagner einzuleiten. Und nach allen Vorstandsmitgliedern von AURORA.
Außerdem sollten die Räumlichkeiten der Stiftung bis auf den letzen
Papierschnipsel durchsucht werden.
Jamal wandte ein, dass Wagner ohne die deutsche Polizei oder den
BND gar nicht verhaftet werden könne, diese Behörden aber
wahrscheinlich selbst infiltriert seien. Er selbst sei schließlich von Pfeiffer
in die Falle gelockt worden. Mit Hilfe der Kieler Polizei!
Winterbuttom lächelte. „Wir brauchen keine Polizei, um jemanden
festzunehmen. Die merken das erst, wenn Wagner längst auf unserem
Stützpunkt ist und unsere Fragen beantwortet. Wenn Rileys Vater Viren im
Eis sucht, die auf die Menschheit losgelassen werden sollen, stellt sich
einmal mehr die Frage nach dem Warum. Was soll das? Selbst wenn die
GESA dahinter steckt, würde sie sich doch selbst schaden. Ein Virus würde
die ganze Menschheit bedrohen. Die Hangrutschung, ja, die schadet nur
dem Westen. Das kann ich noch nachvollziehen. Aber Viren kennen keine
Grenzen, unterscheiden nicht nach Religionszugehörigkeit oder Hautfarbe.
Und sie können nicht verhaftet oder mit Waffen getötet werden.
Naheliegender ist doch der Gedanke, dass Perkins Aufgabe darin besteht,
im Sinne des Stiftungszwecks Impfstoffe zu entwickeln.“
Jamal und Riley setzten sich und starrten ratlos vor sich hin.
Winterbuttom hatte den Nagel auf den Kopf getroffen. Die Frage nach
dem Warum war nicht zu beantworten. Bis Riley sich an James frühere
Arbeiten erinnerte. An dessen Experimente mit Grippeviren und die
Diskussion mit seinen Freunden.
„Oh Gott“, entfuhr es ihm. „Aber das ist doch ganz und gar
unmöglich.“
„Wären Sie wohl so gütig, uns an Ihren Gedanken teilhaben zu
lassen?“ Winterbuttom reagierte zum ersten Mal ungehalten. „Es geht
immerhin um den Fortbestand der Menschheit“, ergänzte er mit einem
spöttischen Unterton.
Riley wurde blass. „Das wäre ein Hammer!“ Er hielt inne. Dann
erzählte er von den Arbeiten und Erfolgen seines Vaters.
Winterbuttom pfiff durch die Zähne. „Was für eine Scheiße ist das
denn? Soll das heißen, Ihr Daddy kann ein Virus so manipulieren, dass es
so richtig, richtig fies wird, gleichzeitig aber einen Impfstoff entwickeln,
mit dem sich die Terroristen selbst schützen können?“
Riley presste die Lippen aufeinander und nickte. „Ich befürchte, ja.“
„Damit hätten wir eine Antwort auf die Frage nach dem Wie. Aber
das Warum bleibt ein Rätsel. Was haben ein General und eine Stiftung
davon, die Menschheit auszurotten?“
Niemand hatte eine Antwort darauf. Es wurde still in dem Raum.
Stark öffnete eine Coke an seinem Gürtel. Die Protokollführerin nutzte die
ungeplante Pause, um sich einen Kaffee am Automaten zu holen. Das
kreischende Geräusch des Mahlwerks hallte von den Wänden des gut
zweihundert Quadratmeter großen Raumes wider, der keine Fenster hatte,
aber ein ausgeklügeltes Be- und Entlüftungssystem mit allerlei Filtern.
Jamal versank in seinem Freischwinger und in seinen Gedanken. Um
sich herum bekam er kaum noch etwas mit. Er dachte daran, dass es in
seinem Kulturkreis Menschen gab, die im Namen Allahs fürchterliches
Unheil anrichteten und mit Gewalt einen Islamischen Gottesstaat errichten
wollten. Andererseits verhielt sich der Westen arrogant, herablassend und
herrisch. Sie hielten sich für etwas Besseres und missbrauchten seinen
Kulturkreis als Manege für ihre Machtspiele. Wegen des Öls? Wegen ihrer
unermesslichen Gier? Und das, obwohl sie genau wussten, was sie taten.
Jeder einzelne von ihnen wusste, was er tat und war deshalb schuldig.
Schuldig! Ja, das könnte es sein...
Wieder sprang Jamal auf und brach das ratlose Schweigen. Die
Motive der Terroristen hatten gar nichts mit Religion zu tun, erklärte er.
Sie waren des Menschen und seiner Unvollkommenheit überdrüssig. Und
sie waren der Überzeugung, dass es nur einen Weg gab, die Welt zu retten:
durch die Vernichtung der Menschheit. Bis auf einen kleinen Kreis, der
einen Impfstoff besaß. Ein einflussreicher Kreis, der sich selbst für
auserwählt hielt, die zukünftige Menschheit zu führen.
„Ich habe mich manchmal gefragt, warum noch niemand auf diese
Idee gekommen ist“, gab Winterbuttom zu. „Wenn wir ehrlich sind, sind
wir auf diesem Planeten doch die allerletzten Arschlöcher. Aber der Weg
von einem Gedanken zu seiner Umsetzung ist weit. Dachte ich zumindest.
Aber wenn Sie recht haben, stehen uns weitere Terrorakte bevor, deren
Ausmaß wir uns nicht einmal ausmalen können. Ich habe auch keine
Ahnung von Viren, aber ich kann mir vorstellen, dass uns schon das allein
ausrotten könnte. Ich hatte schon immer Schiss vor diesen Biestern. Mehr
als vor gegnerischen Kugeln.“
Winterbuttom strickte einen eiligen Notfallplan: abwarten, bis seine
Leute die Zentrale von AURORA durchsucht und Unterlagen zu Projekten
und damit Angriffszielen gefunden hatten. Alle greifbaren
Stiftungsmitglieder befragen. Ebenso Wagner. Und einen Spezialisten
fragen, auf welchen Wegen man Viren verbreiten würde, wenn man
finstere Absichten hegte. Er kam selbst auf Flughäfen als
vielversprechende Ziele. Diese sollten ab sofort im Rahmen des
Möglichen überwacht werden.
„Was ziemlich schwierig ist, wenn man niemandem trauen kann.
Denn meine Einheit verfügt nicht über genügend Leute für so eine große,
globale Operation. Ich spreche mit ein paar Leuten, die ich persönlich
kenne und denen ich vertraue. Vielleicht können die uns unterstützen. Und
wir dürfen diesen Stützpunkt vorläufig nicht verlassen! Da draußen könnte
schon der Tod lauern! Wer weiß, vielleicht haben wir uns nur mit viel
Glück noch nicht mit irgendwas infiziert. Wir kommunizieren mit meinen
Leuten außerhalb des Stützpunktes nur noch virtuell. Und wir warten ab,
was der Spezialist sagt. Dann planen wir die nächsten Schritte.“
Als Winterbuttom die Runde auflöste, kam Jamal zu ihm und fragte,
ob er etwas mit ihm besprechen könne.
„Na klar, Jamal“, sagte der Leiter der SAD freundlich, „was gibt es
denn?“
Jamal erzählte Winterbuttom, dass die Familie seines getöteten
Freundes, Hauke Petersen, in Kiel war. Um die machte er sich große
Sorgen. Er bat Winterbuttom, seine Leute nach der Verhaftung Wagners zu
der Familie zu schicken und ihnen anzubieten, sie mit in die USA zu
nehmen. Auf das Gelände der SAD. So lange, bis das Schlimmste
überstanden war. Bis die Täter gefasst waren.
Winterbuttom nickte. „Ja, das sage ich meinen Jungs. Schön, dass
Sie an Haukes Familie denken, Jamal. Hauke war ein verdammt feiner
Kerl. Zwingen können wir sie aber nicht.“
Kapitel 64

Adams Island, derselbe Tag, abends


Die Gäste hatten mit Verwunderung auf die Existenz einer unteren Ebene
reagiert. Moore musste sich beherrschen, nicht zu lachen, als er das
Fragezeichen in Mason Foleys Gesicht gesehen hatte, der mit seinen
beiden Kindern gekommen war. Er hatte ihn und Andrew mit offenem
Mund angestarrt. Den meisten Gästen erging es so. Es war auch das erste
Mal, dass wirklich alle beisammen waren. Der Circle, der Wachdienst,
bestehend aus fünfzig Elitesoldaten und den von abu Tarik ausgewählten
Heiligen Kriegern, sowie die Wissenschaftler mit ihren Familien. Damit
war der Raum voll.
Moore hatte sich das Einzige geschnappt, was noch auf der oberen
Ebene war: das Mikro. Er hatte den Externen erklärt, dass es eine untere
Ebene gab und sich die Stiftung entschlossen hatte, aus Sicherheitsgründen
dorthin umzuziehen. Er bat alle Gäste auf die untere Ebene, wo er etwas
Bedeutendes zu verkünden habe. Im Anschluss gebe es etwas Großartiges
zu feiern.
Der Aufzug war für zwanzig Erwachsene ausgelegt. Sie mussten elf
Mal fahren, um alle nach unten zu bringen. Da hundert Meter zu
überwinden waren, dauerte das eine Weile. Aber nun saßen sie endlich in
dem Versammlungsraum zusammen, der dem oberen glich wie ein Ei dem
anderen.
Die beiden Ebenen waren auf den ersten Blick identisch. Aber in der
unteren befanden sich zusätzlich die Sicherheitstechnik, Fahrzeuge und
geheimen Räume, die kein Externer jemals betreten durfte. Die untere
Ebene war deshalb größer als die obere. Hier gab es genügend Waffen, um
einen Kleinkrieg zu führen.
Die Soldaten waren in zivil, weil sie heute Kellner und Köche waren,
die Putzkolonne und die Müllabfuhr. Sie taten all das, was notwendig war,
um ein Unternehmen wie AURORA zu führen. Aber das taten sie gerne.
Denn sie waren eingeweiht und fieberten dem Augenblick entgegen, Teil
der Neuen Welt zu werden.
Nur rund achtzig der Anwesenden wussten noch nichts von ihrem
Glück. Doch das würde sich gleich ändern. Gleich sollten sie erfahren,
dass sie für eine neue Zukunft bestimmt waren, dass es ihr altes Leben
nicht mehr gab und es auch nie wieder geben würde.
Der Plan sah vor, Adams Island demnächst nach und nach zu
räumen. Denn das Risiko einer Entdeckung stieg von Tag zu Tag. Doch
bevor die Externen in eine Welt zurückkehrten, die nichts mehr gemein
hatte mit der Welt, die sie kannten, mussten sie auf AURORA
eingeschworen werden. Jeder von ihnen musste stolz sein, Teil der Neuen
Welt werden zu dürfen.
Und deshalb war, wie immer, Moore derjenige, der die Rede hielt. Er
war der beste Redner des Circle, hatte Charme und die größte
Überzeugungskraft. Eigenschaften, die unverzichtbar waren, wenn man
achtzig Menschen davon überzeugen musste, das Richtige zu tun. Eine
Herausforderung, selbst für einen General Moore, der Menschen nach
Belieben manipulieren konnte.
Doch noch war es nicht soweit. Die Nichtsahnenden sollten sich
zunächst auflockern, indem sie sich an Champagner, Wein und den
Köstlichkeiten labten, die von den Soldatenköchen durchaus professionell
zubereitet wurden. Dazu Smalltalk, Schulterklopfen für die sensationellen
Leistungen, und schon waren sie locker und entspannt. Und damit
empfänglich für wahrhaft weltbewegende Informationen.
Moore hatte sich von jedem Wissenschaftler ein Bild gemacht und
deren Akten sorgfältig studiert. Auch die der Angehörigen. Von der Geburt
bis heute. Die meisten waren Mitläufer mit einem unspektakulären
Lebenslauf. Wichtig für die Neue Welt allein aufgrund ihres Wissens.
Aber ungeeignet als Führer.
Doch zwei stachen heraus: Mason Foley und James Perkins. Sie
waren anders. Und grundverschieden. Hinter Perkins aalglatter Fassade
verbargen sich ein überdurchschnittlicher Ehrgeiz und eine rücksichtlose
Führungspersönlichkeit.
Foley war hochintelligent, sensibel, aber auch zielstrebig und
selbstbewusst. Ein Typ mit Ecken und Kanten, auf den man sich verlassen
konnte. Das deckte sich mit Andrews Einschätzung nach ihrem
gemeinsamen Projekt im Yellowstone Nationalpark.
Perkins war nach Moores Einschätzung leicht davon zu überzeugen,
sich aktiv in die Neue Welt einzubringen. Er würde sich einreden, dass er
von falschen Voraussetzungen ausgegangen und damit unschuldig war.
Fertig. Schon hatte er vor seinem Gewissen den Tod von mehreren
Milliarden Menschen gerechtfertigt. Außerdem würde ihm sein
Selbstwertgefühl sagen, dass niemand es mehr verdiente, und niemand
nützlicher für die Neue Welt war, als er und sein großer, genialer Geist.
Mason war ein anderer Typ. Viel Idealismus. Neigung zur
Selbstlosigkeit und zum Altruismus. Ein Mann, der eigentlich für das Gute
im Menschen stand. Und damit eine wichtige Säule für die Neue Welt
bildete. Denn Altruismus war die Basis der zukünftigen Politik und der
Menschen, die sie verkörperten. Die Kunst bestand darin, die Neue Welt zu
Foleys Ideal zu machen. Dann war er mit Feuereifer dabei.
Allerdings stand die Sache mit seiner Frau Kim im Raum.
Keinesfalls durfte er erfahren, was Tarkan ihr angetan hatte. Was musste
diese dumme Gans auch für einen Aufstand machen und darauf pochen,
Adams Island zu verlassen. Wie konnte man nur so stur und engstirnig
sein! Dass Tarkan sie eliminiert hatte, geschah ihr nur recht. Aber wehe,
Mason erfuhr davon. Dann wurde er zu einem Pulverfass und sie müssten
ihn ausschalten. Das wäre ein großer Verlust. Aber Moore wäre nicht
Moore, wenn er nicht längst einen Plan hätte. Eine plausible Erklärung.
Die Stimmung war jetzt ausgelassen. Viele kannten sich inzwischen
untereinander, einige Freundschaften waren entstanden. Nun war der
Augenblick gekommen, diese Menschen in etwas einzuweihen, das ihr
Fassungsvermögen überstieg.
Er nickte einem der Kellner zu. Der verließ mit weiteren Soldaten
den Saal. Moores Nicken hatte ihm signalisiert, dass sie sich bewaffnen
sollten. Es bestand das Risiko einer Eskalation, weil nicht abzusehen war,
wie achtzig Menschen auf eine solche Nachricht reagieren würden. Das
Letzte, was sie gebrauchen konnten, war ein Aufstand. Ihn zu unterbinden,
war angesichts der personellen Überlegenheit und Waffen zwar das
kleinste Problem, aber die Konsequenzen wären verheerend. Jedes
Vertrauen wäre ein für allemal zerstört. Niemand wäre mehr bereit, an der
Neuen Welt mitzuarbeiten.
Deshalb war eines jetzt ganz besonders wichtig: er.
Auf ihn kam es an. Er musste diese Menschen auf seine Seite ziehen.
Sie überzeugen und motivieren. Ihnen klar machen, wie wertvoll sie waren
und wie sehr sie die Welt von morgen prägen konnten. Wer sich dennoch
querstellte, wurde zu seinem Glück gezwungen. Und wer sich nicht
zwingen ließ...
Die Kellner kamen zurück. Einer nickte Moore zu und deutete auf
seine Kellnerjacke. Jetzt war es soweit. Moore betrat die Bühne, nahm das
Mikrophon und hüstelte dezent. Sofort verstummten die Gespräche und
die Augen aller Anwesenden richteten sich auf ihn. Er war nicht
übermäßig eitel, lechzte nicht nach Anerkennung, aber er genoss es, im
Rampenlicht zu stehen. Er lächelte seiner Frau zu, die in seiner Nähe
stand. Ihr Stolz stand ihr ins Gesicht geschrieben.
Bevor er anfing zu reden, sah Moore die Menschen an und lächelte.
Sympathien wecken. Spannung erzeugen. Ein ebenso einfacher wie
effektiver Icebreaker. Auf mediale Unterstützung verzichtete er. Das
brauchte er nicht. Im Gegenteil, das war kontraproduktiv. Die Leute
mussten an seinen Lippen hängen!
Dann begann er zu erzählen. Er sprach frei, ohne Notizen. Die hatte
er im Kopf. Zunächst schwärmte er von den Projekten der genialen
Wissenschaftler. Sie hätten Meilensteine in der Geschichte der Menschheit
geschaffen und sich selbst Denkmäler gesetzt.
Bei Menschheit legte er eine Sprechpause ein, lächelte das Publikum
wieder an, genoss die wachsende Spannung, die sich in der vollkommenen
Stille offenbarte. Dann ging er auf das Versagen eben dieser Rasse ein. Er
listete keine knallharten Fakten auf, verzichtete auf Formulierungen, die
wie Vorwürfe klangen. Er stellte eher rhetorische und Suggestivfragen,
bezog das Publikum ein. Mit Formulierungen wie: „haben Sie sich
sicherlich auch schon überlegt“, „ist ja nichts Neues, weil...“, „aber das
wissen Sie schon längst“, „überragende Persönlichkeiten wie Sie ticken
anders...“. Viele der Externen nickten zustimmend. Was ihm zeigte, dass er
auf dem richtigen Weg war.
Erst als er auf die Frage einging, was man gegen diese
Entwicklungen unternehmen könnte, änderte sich die Stimmung. Aus
Spannung wurde Anspannung. Moore wusste, dass die ersten bereits die
richtigen Schlussfolgerungen zogen. Und an ihren Gesichtern konnte er
ablesen, dass das, was noch nicht mehr als eine vage Ahnung war,
Unbehagen auslöste. Es war wichtig, nicht mehr lange zu reden. Sie sollten
die richtigen Schlüsse eben nicht selbst ziehen.
Zwanzig Minuten hatte seine Rede bis jetzt gedauert. Exakt das
richtige Maß zwischen Spannung und Ermüdung. Ab jetzt hatte er noch
fünf Minuten. Dann drohte die Stimmung zu kippen. Nahezu beiläufig
erwähnte er, dass die Forschungsteams hervorragende Vorarbeit geleistet
hätten. Ihre Erkenntnisse seien in die entscheidende Phase von AURORA
eingeflossen.
Er stellte die drei Phasen Wave, Ice und Caldera vor, in knappen
Worten, sachlich, und ohne die Opfer auch nur mit einem Wort zu
erwähnen. Dann malte er mit deutlich mehr Worten und in schillernden
Farben aus, wie die Neue Welt aussehen könnte, was für ein Paradies das
sei. Friedlich, still und erhaben. Er traf die richtigen Worte, um den
Externen klarzumachen, dass sie Privilegierte waren, auserwählt, die
Reinigung des Planeten zu überstehen und zu Architekten der Neuen Welt
zu werden.
Wie abgesprochen, brachen die Mitglieder des Circle und ihre
Angehörigen in tosenden Beifall aus. Automatisch begannen auch die
meisten Externen zu klatschen. Moore bedeutete den Kellnern, jedes leere
Glas wieder zu füllen. Jetzt hieß es abwarten, wie die Externen reagierten.
Er blieb auf der Bühne stehen, weil er versprochen hatte, für Fragen zur
Verfügung zu stehen.
Lässig setzte er das Champagnerglas an seine Lippen, ließ sich
nachschenken, lächelte. Souveränität war eine zentrale
Führungseigenschaft. Souveränität war überzeugend. Souveränität
erweckte Vertrauen. Und Menschen, die vertrauten, waren bereit zu folgen.
Als sich der Applaus legte, wurden die ersten Fragen gestellt. Und
zwar von Angehörigen des Circle. Fragen, die sie zuvor festgelegt hatten.
Ebenso wie die Antworten. So fragte einer der Söhne Yefrems, ob es nicht
verwerflich sei, Gott zu spielen. Yefrems Sohn war Moslem und erschien
Moore als Idealbesetzung für diese Frage. Um mögliches Misstrauen
gegen den Islam abzubauen. Ein Syrer, der philosophische Fragen stellte!
Dem konnte man trauen.
Moore erklärte mit sanfter Stimme, dass das im Prinzip richtig sei,
es aber nicht darum ging, Gott zu spielen, sondern darum, die Menschheit
zu retten! Leider sei das auf andere Weise nicht möglich. Weil sich sieben
Komma fünf Milliarden Menschen nicht kollektiv umprogrammieren
ließen. Genau das wäre aber nötig. Sieben Komma fünf Milliarden
Menschen müssten ihre Einstellungen und ihr Verhalten ändern und ihren
Bestand durch konsequente Geburtenkontrolle langfristig reduzieren. Weil
der Planet nicht für sieben Komma fünf Milliarden Menschen geschaffen
sei. Er ersticke daran. Ohne AURORA würde diese Zahl bis 2050 sogar auf
zehn Milliarden steigen! Das bedeute den totalen Kollaps. Und weil die
Vorstellung, dass sich sieben Komma fünf Milliarden Menschen änderten,
utopisch sei, sei AURORA unvermeidbar, wenn man die Menschheit retten
wolle.
Es folgten zunächst weitere, vorbereitete Fragen. Sauber aufeinander
abgestimmt. Weg von dem Grauen der Vernichtung, hin zu der Frage, wie
sich die Neue Welt, wie sich mithin das Paradies erschaffen ließ.
Die Rechnung ging zunächst auf. Allmählich kamen auch Fragen von
den Externen. Kritische Fragen, aber keine feindseligen Fragen. In seiner
Einschätzung von Perkins Charakter sah sich Moore bestätigt, als der stolz
seine Bereitschaft erklärte, all sein Wissen und seine Fähigkeiten in die
Neue Welt einzubringen. Seine Frau sah ihn verständnislos an, doch
Perkins flüsterte ihr etwas ins Ohr. Ihr Gesichtsausdruck entspannte sich.
Als eine lebhafte Diskussion entstand, ließ Moore den Blick über das
Publikum schweifen. Foley wirkte in sich gekehrt, aber nicht entsetzt.
Wahrscheinlich dachte er gerade intensiv nach. Gut so. Niemand machte
den Eindruck, als wäre er so vom Donner gerührt, dass er gleich
aufspringen und schreiend davonlaufen würde. Moores Rede hatte einfach
gesessen. So wie immer.
Sein Blick wanderte weiter. Er blieb an Rebecca hängen. Er zuckte
zusammen. Die Art, wie sie ihn ansah, ließ ihn erschauern. Kalt.
Abweisend. Feindselig. Hatte sie ihn die ganze Zeit so angestarrt? Er hatte
sie gar nicht beachtet. Es gelang ihm nicht, diesem Blick standzuhalten.
Als er die Bühne verlassen und sich unter die Leute mischen wollte,
sprang plötzlich jemand auf, ein externer Assistent aus Andrews Team,
rannte auf die Bühne, entriss Moore mit einem „Sie gestatten“ das
Mikrophon und begann mit schriller Stimme zu reden: „Seid ihr alle völlig
von Sinnen? Was faselt ihr die ganze Zeit von Neue Welt und Paradies?
Das ist kein Paradies, das ist Massenmord! Völkermord, schlimmer als die
Nazis! Dagegen ist die GESA ja der reinste Wohltätigkeitsverein!“
Eine brenzlige Situation. Aber damit hatte Moore gerechnet. Bei
jeder Veranstaltung gab es bestimmte Typen. Wer niemals fehlte, war der
Typ Stinkstiefel. Der Quoten-Querulant. Kein Problem.
Er wollte ihm das Mikrophon abnehmen, um auf seine Aussagen
einzugehen, aber der Assistent hielt das Mikrophon eisern umschlossen.
Doch Moore hatte eine markante Stimme, deren Lautstärke er nach
Belieben regulieren konnte. Also redete er ohne Mikrophon gegen die
aufkeimende Unruhe im Publikum an. Er erklärte, dass dies eine
verständliche, menschliche Reaktion sei, er aber klargemacht habe, warum
AURORA alternativlos sei. Aber der Herr könne jederzeit gehen, wenn er
nicht zu den Menschen der ersten Stunde gehören wolle. Niemand werde
zu seinem Glück gezwungen.
Gehen konnte er natürlich nicht. Aber das musste niemand wissen.
So ein Bullshit“, schrie der Mann. „Woher wollt ihr wissen, dass die
Menschheit untergeht? Vielleicht retten wir uns selbst! Oder kriegen
rechtzeitig die Kurve. Wir sind eine intelligente Rasse! Euch geht es doch
nur um Macht. Koste es, was es wolle. Das ist pervers. Lieber gehe ich
unter, als dass ich bei so einem Scheiß mitmache! Der Teufel soll euch
holen!“
„Das kannst du haben!“
Moore wirbelte herum. Rebecca war unbemerkt auf die Bühne
gekommen. Sie stand drei Meter vor ihm und dem Assistenten. Ihr
Gesichtsausdruck war leer. Sie wirkte teilnahmslos, so wie ihr Tonfall.
Völlig ungerührt. In der Hand hielt sie eine Waffe, die sie auf den
Assistenten richtete. Der glotzte Rebecca an. Moore blickte abwechselnd
zu Rebecca und zu dem Assistenten. Aus dem Publikum ertönten Ausrufe
des Entsetzens.
Bevor Moore reagieren konnte, knallte es. Rebecca schoss dreimal.
Eine Patrone schlug in der Wand ein, die beiden anderen trafen den
Assistenten. Eine in den Unterleib, die andere am Kopf. Er sackte blutend
zusammen. Ausdruckslos drehte sich Rebecca ein wenig und zielte auf
Moore. Geistesgegenwärtig sprang er auf sie zu, wich dabei zur Seite aus
und schlug ihr auf den Unterarm. Der Schuss krachte, die Kugel schlug in
der Wand ein. Moore entriss ihr die Waffe und versetzte ihr einen
Faustschlag in den Magen und einen unter das Kinn. Es war das erste Mal,
dass Moore eine Frau schlug. Rebecca blieb ohnmächtig liegen. Moore
blickte zu dem Assistenten. Der blutete stark, stöhnte aber. Er lebte also
noch.
Inzwischen waren Rettungssanitäter der Eliteeinheit auf die Bühne
geeilt. Sie kümmerten sich um den Assistenten. Moore bedeutete einigen
Soldaten, Rebecca Handschellen anzulegen und sie in eine Zelle zu
bringen. Jetzt war es soweit: Sie drehte durch. Geistig umnachtet. Niemals
hätte so etwas geschehen dürfen. Vor den Augen aller Externen. Eine
Katastrophe.
Moore schnappte sich das Mikrophon. Er erklärte, dass der Stress
und die Belastung für die arme Rebecca Eliot zu groß geworden waren, er
schon länger den Eindruck hatte, dass sie psychisch am Ende war. Leider
habe sich das soeben bewahrheitet. Das Opfer lebe aber und man würde
alles tun, damit es so blieb. Er bat um Besonnenheit und schlug vor, dass
jetzt alle auf ihre Zimmer gingen, um eine Nacht darüber zu schlafen.
Morgen sähe die Welt schon wieder ganz anders aus.
Abschließend wagte er einen deeskalierenden Scherz. Er mutmaßte,
dass es auch im Paradies Verbrechen zu geben scheine. Ein Grund mehr,
morgen mit frischem Mut daran zu gehen, die Neue Welt zu erschaffen.
Hier und da ein kurzes Auflachen. Besser als nichts. Dann löste sich die
Versammlung auf.
Moore wusste, dass der Assistent durch seinen Tod zu einem
Märtyrer werden konnte. Er durfte nicht sterben, auch wenn Moore nichts
lieber wäre als das. Aber er würde es schon schaffen, aus einem
Aufwiegler einen folgsamen Untertan zu machen.
Kapitel 65
Cherokee, Mitte Mai 2017
„Wagner ist auf dem Weg hierhin. Er wird in einen Schutzraum gebracht.
Vorher nimmt ihm ein Arzt Blut ab und macht Abstriche. Wir können ja
nicht wissen, ob er mit irgendwas infiziert ist. Was AURORA angeht,
meine Herren, habe ich eine dicke Überraschung für Sie.“
Diesmal lachte Winterbuttom nicht. Scheinbar keine erfreuliche
Überraschung. Riley ahnte, was er berichten würde. Das Team der SAD
saß zusammen, mit Jamal und ihm. Sie gehörten jetzt sogar dazu. Riley
erinnerte sich an seine Militärzeit und war stolz, von Winterbuttom
einbezogen zu werden. Außerdem lenkte ihn das tagsüber ab. Denn sobald
er abends im Bett lag, ging es mit ihm bergab. Dann hatte er nur noch
einen Gedanken. Jeden Abend flennte er sein Kissen nass und wollte nicht
mehr leben. Nachts wachte er oft schweißgebadet auf und wusste zuerst
nicht, wo er sich befand, tastete dann die andere Bettseite ab, weil er
glaubte, Emma läge dort. Aber dort war niemand. Brutal holte ihn die
Realität wieder ein. Und damit war die Nacht gelaufen.
Mit Cathy lief es auch nicht gut. Sie fragte immer nur nach ihrer
Mutter und wollte nach Hause. Ihn ließ sie gar nicht mehr an sich heran.
Riley hatte sich schon oft gefragt, wie sie reagieren würde, wenn sie die
Wahrheit erfuhr. Dass sie keine Mutter mehr hatte und kein Zuhause. Und
irgendwann musste sie es erfahren.
Riley löste sich von seinen destruktiven Gedanken, als Winterbuttom
seine Vermutung bestätigte: Die Räume der Stiftung waren geräumt
worden. Das Gebäude stand leer. Es gab keinerlei Spuren oder Hinweise.
Außerdem war kein einziges Mitglied der Stiftung erreichbar.
Die Unternehmerin, Heather King, hatte die Geschäftsführung auf
ihren Stellvertreter übertragen. Mit der lapidaren Begründung, dass sie
eine Auszeit brauche. Der Arzt Edward Coleman hatte seinen
Assistentinnen gesagt, dass er auf einen Kongress müsse. Die Ozeanologin
Rebecca Eliot befand sich auf einer Forschungsreise. Ebenso wie der
Geologe Andrew Shoemaker. Es war überall dasselbe. Und ihre Familien
hatten sie offensichtlich mitgenommen. Denn auch von ihnen fehlte jede
Spur.
Winterbuttom hatte die Handys der Stiftungsvorstände orten lassen.
Sie lagen alle herrenlos bei den Leuten zuhause herum. Die Sekretärin der
Stiftung hatten Winterbuttoms Männer daheim angetroffen. Sie gab zu
Protokoll, dass General Moore ihr empfohlen hatte, Urlaub zu nehmen.
Die Projekte waren abgeschlossen, neue noch nicht angelaufen. Es gab im
Moment nicht viel für sie zu tun. Als sie erfuhr, dass AURORA geräumt
worden war, hatte sie gestammelt: „Was wird denn dann aus mir?“ Es gab
keinen Grund, ihr nicht zu glauben.
„Das sieht aus wie von langer Hand vorbereitet“, meinte
Winterbuttom, „zumal auch alle Niederlassungen der Stiftung betroffen
sind. Nirgendwo findet sich auch nur eine Spur von AURORA. Alle Büros
wurden geräumt. Das wissen wir von Augenzeugen. Zum Beispiel in Kiel,
wo Anwohner beobachtet haben, wie einige Männer Kisten und Geräte auf
einem LKW verladen haben.“
Riley fragte, ob die SAD auch seinem Hinweis auf Adams Island
nachgegangen war. Das konnte Winterbuttom bejahen. Er hatte einen
Aufklärer zu der Insel geschickt und sie von Satelliten scannen lassen.
Aber dort war nichts zu erkennen. Keinerlei Hinweise auf die Anwesenheit
von Menschen.
„Sagen Sie mal, Aiden“, fragte Riley neugierig, „wenn die SAD so
eine kleine Einheit ist, woher haben Sie denn dann all diese Geräte? Ich
meine, gleich einen Satelliten dorthin zu schicken, ist doch ein ziemlicher
Aufwand. Und woher haben Sie die Leute, um alle Niederlassungen zu
überprüfen, Zeugen zu befragen, und, und, und?“
Riley sah Winterbuttom abwartend an. Winterbuttom zog aber nur
eine Augenbraue in die Höhe und grinste. „Verstehe“, meinte Riley,
„dennoch bin ich davon überzeugt, dass AURORA etwas mit dieser Insel
zu tun hat. Das geht aus den Aufzeichnungen meines Vaters hervor.
Vielleicht haben die sich in einem Berg eingegraben. Das könnte Ihr
Aufklärer bestimmt nicht sehen, oder?“
Das konnte der Aufklärer nicht. Winterbuttom hielt das aber für
ausgeschlossen, weil der Aufwand, so etwas zu bauen, schlichtweg nicht
zu stemmen war. Und selbst wenn, wie sollten die all das Zeug unbemerkt
dorthin geschafft haben? Schweres Gerät, Maschinen, Fahrzeuge,
Baumaterial, Technik? Viel zu aufwendig. Und unbezahlbar. So etwas gab
es nur bei James Bond.
„Aufwändiger, als zehn Atom-U-Boote zu entführen und damit eine
ganze Insel in die Luft zu sprengen?“, beharrte Riley.
Winterbuttoms Blick fixierte Riley. Seine Kiefer mahlten.
„Wobei ich mich frage“, kam Riley spontan ein weiterer Gedanke,
„was wir eigentlich davon halten sollen, dass zu AURORA auch ein
Geologe mit dem Schwerpunkt Vulkanologie zählt. Rebecca Eliot ist
Ozeanologin. Das passt zu einer Hangrutschung. Mein Vater ist Virologe.
Das passt zu der Vorstellung, dass AURORA Viren aus dem Eis befreit.
Aber was macht der Vulkanologe?“
Winterbuttom starrte Riley immer noch an, fand aber zumindest
seine Sprache wieder. „Sie haben eine blühende Fantasie, Riley, wissen Sie
das eigentlich? Aber der Vulkanologe würde doch für die Sprengung des
Kontinentalhangs benötigt, oder nicht?“
Riley zuckte mit den Schultern. „Warum? Da ist doch kein Vulkan
ausgebrochen. Da braucht man bestimmt eher so etwas wie Atomforscher
und Geologen. Und eine Ozeanologin.“
„Einverstanden. Aber wie sollte man einen Vulkan künstlich zum
Ausbruch bringen?“
„So, wie man einen Kontinentalhang künstlich sprengt?“, schlug
Riley vor.
Winterbuttom schüttelte den Kopf. „Nie und nimmer. Zumal ein
Vulkanausbruch nicht so dramatisch wäre. Wenn überhaupt, käme nur ein
Supervulkan in Betracht. Der hat das Potenzial, die Menschheit
auszurotten. Aber erstens kann sich dagegen auch kein Terrorist impfen.
Und zweitens kommen Sie an einen Kontinentalhang direkt ran. Nicht aber
an einen Supervulkan. Der schlummert nämlich ein paar tausend Meter
tief unter der Erde. Was immer Sie da drauf ballern, es explodiert in einer
Entfernung zur Magma, die den Vulkan nicht einmal husten lässt. Ein
sinnloses Unterfangen. Aber ich werde dennoch ein paar Experten
befragen. Ihre Einwände, was Adams Island angeht, sind da schon
handfester. Sobald wir hier rauskommen, fahren wir dorthin. Mein Team,
Jamal und Sie. Ach, und Jamal, kann ich Sie noch kurz unter vier Augen
sprechen?“
Er zog Jamal zur Seite. Der wusste, was ihm Winterbuttom sagen
wollte. Haukes Frau war nicht mit in die USA gekommen.
„Sie wollte ihre Heimat nicht verlassen, Jamal. Sie ist in Kiel
geboren. Ihre Kinder gehen dort zur Schule. Ihre Verwandten und Freunde
leben dort. In Kiel ist Hauke begraben. Und in Kiel hat sie mit Hauke
gelebt. Sie sagte, dass nichts und niemand sie von dort wegbringen kann.
Sie hat keine Angst vor weiteren Anschlägen. Und die Gefahren globaler
Attacken, zum Beispiel durch ein Virus, bezeichnete sie als Schicksal, das
sie und ihre Kinder auch an jedem anderen Ort der Welt treffen könnte.
Tut mir leid, Jamal.“
Jamal presste die Lippen aufeinander. Er kannte Haukes Frau. Sie
war sehr, sehr tapfer. Er wusste schon vorher, dass sie ablehnen würde.
„Ich musste es zumindest versuchen“, sagte er mehr zu sich selbst.
Winterbuttom klopfte ihm auf die Schulter. „Ich weiß, Jamal. Ich weiß.“
Kapitel 66

Adams Island
Andrews Assistent hatte überlebt. Wenigstens etwas. Denn die Stimmung
war auf dem Tiefpunkt. Moore hatte alles versucht, die Externen von
AURORA zu überzeugen, sie zu begeistern, sie von Gewissensbissen und
Skrupeln zu befreien. Aber außer Perkins waren alle noch geschockt von
Rebeccas geisteskrankem Ausraster. Das Misstrauen der Leute war
allenthalben zu spüren. Dem Circle blieb nichts anderes übrig, als die
Phasen zwei und drei abzuwarten und die Zeit zu nutzen, um das Vertrauen
wiederherzustellen. Schritt für Schritt.
Bryan O´Connor war auf dem Weg zu Rebecca. In Begleitung von
zwei bewaffneten Soldaten. Moore hatte Bryan gebeten, Rebecca zu
befragen. Er war der Sachlichste im Circle und hatte einen guten Draht zu
ihr. Und da es nicht zu den Werten von AURORA passte, ein Mitglied in
einer Zelle schmoren zu lassen, sollte Bryan versuchen, Rebecca zur
Vernunft zu bringen. Einer der Soldaten schloss ihre Zelle auf.
Während sich die Unterkünfte auf der Meeresseite befanden, für eine
schnelle Flucht bei Gefahr, lag der kleine Zellentrakt am bergseitigen
Rand der unteren Ebene. Im Falle einer Flucht musste der Häftling die
gesamte Ebene durchqueren, um zu entkommen. Es war unwahrscheinlich,
dass das jemandem gelang. Zumal die ganze Anlage nicht nur
einbruchsicher war, sondern ebenso ausbruchsicher.
Die Zellen waren deutlich komfortabler als gewöhnliche
Gefängniszellen. Sie bestanden aus einem kombinierten Wohn- und
Schlafraum und einem separaten Bad. Es gab einen Fernseher und einen
DVD-Player, Bücher und Zeitschriften, und sogar einen gut gefüllten
Kühlschrank. AURORA sah keine Verbrechen mehr vor. Die Zellen waren
eher für unwahrscheinliche Notfälle gedacht. Aber Rebeccas Anfall hatte
auf erschreckende Weise offenbart, dass selbst der Circle nicht unfehlbar
war.
Sie begrüßte Bryan sachlich, aber nicht unterkühlt. Sie sah ihm offen
in die Augen. Keine Spur von Aggressivität. Ein gutes Zeichen. Bryan
bedeutete den Soldaten, draußen zu warten und setzte sich. Dann fragte er
Rebecca auf seine für ihn typische, nüchterne Art, warum sie den
Assistenten angeschossen und Chang Zhou vergiftet hatte.
„Und bitte, Rebecca, lüg mich nicht an. Ich merke das. Nur die
Wahrheit hilft dir und damit uns allen. Es geht doch um AURORA! Um
die Neue Welt, die dich braucht!“
Rebecca wiederholte, dass sie Chang als Bedrohung und ihr
Verhalten als loyal gegenüber dem Circle empfunden hatte. Sie betonte,
dass niemand Chang besser kannte als sie. Er war keine starke
Persönlichkeit, hatte aber Prinzipien und einen Dickkopf. Er hätte keine
Gelegenheit ausgelassen, sich mit seinem Wissen an Außenstehende zu
wenden oder die Externen gegen den Circle aufzubringen. Sie beteuerte,
dass ihr die Schüsse auf den Assistenten leid taten. Sie hatte befürchtet,
dass er es schaffte, die Externen aufzuwiegeln. Das wollte sie verhindern.
Mit gänzlich ungeeigneten Mitteln, wie sie unumwunden eingestand.
„Da ist der Gaul mit mir durchgegangen, Bryan. Ich wollte ihn zum
Schweigen bringen, damit er die Leute nicht weiter aufhetzen kann, habe
aber vor einem entsetzten Publikum genau das Gegenteil erreicht. Ich bin
so froh, dass der arme Kerl überlebt hat.“
„Das sagst du jetzt. Aber hast du denn im entscheidenden
Augenblick nicht daran gedacht, dass du mit deiner Tat die Leute erst recht
gegen uns aufbringen würdest? David hatte die Sache doch im Griff. Und
wieso hast du auch noch auf ihn gezielt?“
Bryan achtete genau auf Rebeccas Mimik. Aber sie reagierte
zumindest nicht sichtbar auf die Erwähnung des Generals.
„Nein, in dem Moment habe ich überhaupt nicht daran gedacht. Ich
habe nur den Circle und einen Feind gesehen. Das war eine emotionale
Reaktion, wegen meiner Vorgeschichte und meiner Zerrissenheit wegen
Chang. Ich nehme an, deshalb habe ich auch auf David gezielt. Ich war wie
in Trance! Und das bereue ich zutiefst. Das kann ich nicht oft genug sagen.
Als Mitglied des Circle darf mir so etwas nicht passieren. Aber du kennst
mich, Bryan. Ich kann Fehler eingestehen und meine Lehren daraus
ziehen. Es wird keine weiteren Ausraster geben. David wird für mich nie
wieder ein Freund sein. Aber es ist richtig, dass es meine Vergewaltigung
nicht ungeschehen gemacht hätte, wenn die Schuldigen bestraft worden
wären. Wenn ich mich in Davids Lage versetze, kann ich sein Verhalten
sogar nachvollziehen. AURORA steht über allem. Deshalb begrabe ich das
Kriegsbeil.“
Bryan, der ein Gespür für Zahlen, aber weniger für die menschliche
Psyche hatte, konnte schwer einschätzen, ob sie die Wahrheit sagte oder ob
David mit seiner Einschätzung richtig lag, dass sie wegen ihrer
posttraumatischen Belastungsstörung einen so krankhaften Männerhass
entwickelt hatte, dass ihm praktisch jeder zum Opfer fallen konnte. Erst
recht, nachdem sie erfahren hatte, wer ihre Vergewaltiger gedeckt hatte.
Das wiederum würde bedeuten, dass sie niemals aus ihrer Zelle entlassen
werden durfte. Sie hatten bei der Auswahl geeigneter Persönlichkeiten für
die Neue Welt an vieles gedacht. Aber nicht an Psychotherapeuten.
Deshalb oblag es Bryan, eine Einschätzung abzugeben. In dieser Rolle
fühlte er sich nicht wohl. Er fragte Rebecca, ob sie David hasste. Wieder
beobachtete er sie genau.
Rebecca verzog keine Miene, als sie erklärte, dass sie keine
Freundschaft mehr für David empfand. Aber hassen? Um Gottes willen,
nein! Sie hatte einen väterlichen Freund verloren. Das war traurig, aber
nicht mehr zu ändern.
Bryan stellte noch einige Fragen, unterzog sie Tests, die er für klug
hielt. Sie bestand jeden mühelos. Sie kam ihm so vor wie damals, als er sie
kennengelernt hatte. Nichts deutete seiner Meinung nach auf eine
Persönlichkeitsstörung hin. Die Sache mit Chang und dem Assistenten war
angesichts der Ausnahmesituation, in der sie sich befand, verständlich.
Er versprach Rebecca, dass er dem Circle raten würde, sie
freizulassen. Man musste die Vergangenheit ruhen lassen. Die jüngste
Vergangenheit, und die weit zurückliegende. Dann ging er zurück in den
Versammlungsraum, in dem der Circle auf ihn wartete. Bryan teilte den
anderen seine Einschätzung mit. Alle stimmten Rebeccas Entlassung zu.
Auch Moore.
Kapitel 67
Cherokee
Oberst Wagner wurde in einen Verhörraum gebracht. Auf der anderen Seite
des Einwegspiegels verfolgten Winterbuttom, Jamal und Riley die
Befragung durch einen geschulten Elitesoldaten.
Zunächst musste Jamal Wagner identifizieren. Ein stechender
Schmerz durchfuhr ihn, als er den Mann wiedererkannte, der der Anfang
allen Übels war. Der Mann, dem Jamal und seine Familie ihre
kräftezehrende Flucht verdankten. Und der für Haukes Tod und den des
Staatssekretärs verantwortlich sein musste, in welcher Rolle auch immer.
Jamal bestätigte, dass es sich bei dem Mann, der betont lässig auf seinem
unbequemen Stuhl hing, um Edmund Wagner handelte.
Wagner verhielt sich in dem Verhör genauso, wie Jamal ihn in
Afghanistan kennengelernt hatte: cool. Er beteuerte sein Entsetzen über all
die schrecklichen Dinge, die geschehen waren. Der Tod so vieler
Menschen. So viel Leid. Aber weder er noch AURORA hatten etwas damit
zu tun. AURORA wollte schließlich genau das Gegenteil: Tod und Leid
verhindern.
Er führte aus, dass es sich bei dem Projekt in Sibirien um einen
offizieller Forschungsauftrag gehandelt hatte, der darin bestand, die
Meeresströmungen und das Methan in der Tiefsee zu untersuchen und
Viren in den schmelzenden Permafrostböden zu finden, die zu einer Gefahr
für die Menschheit werden konnten. Dass die Bundeswehr für ein solches
eigentlich ziviles Projekt eingesetzt worden war, begründete Wagner
damit, dass das Projekt von außerordentlicher Brisanz war. Spätestens die
Folgen eines Anschlags mit Viren würden die Bundeswehr auf den Plan
rufen. Also hatte das Marinekommando entschieden, die FS PLANET
präventiv einzusetzen.
In Sibirien wurden zwar Erreger gefunden, aber, entgegen der
vorherigen Einschätzung, keine, die eine ernsthafte Bedrohung darstellten.
Das ließ sich aber alles in dem Forschungsbericht nachlesen, welcher der
SAD sicherlich vorlag.
Auf Jamal Akbar angesprochen, verdrehte er die Augen. Akbar war
ein Terrorist mit einem Hang zu Verschwörungstheorien. Er konnte sich
gut an das Gespräch mit ihm in Kabul erinnern. Akbar hatte sich in die
Vorstellung hineingesteigert, dass sein Vorgesetzter in eine Verschwörung
verwickelt war. Diese Unterstellung war eine menschliche Enttäuschung,
denn am Tag des Gesprächs hatte Wagner persönlich Akbars Familie das
Leben gerettet! Wagner mutmaßte, dass ihn der Tod seines Sohnes aus der
Bahn geworfen hatte. Vielleicht gab Akbar ihm sogar unbewusst die
Schuld und wollte sich an ihm rächen. Durch bewusste Falschaussagen.
Aber die Anschläge auf ihn und den Tod seines Freundes habe sich
Jamal Akbar doch nicht eingebildet, hakte der Soldat nach. Das fand
Wagner sehr betrüblich, aber auch damit hatten er und AURORA nichts zu
tun. Wahrscheinlich hatte sich Akbar so tief hineingeritten, dass er
jemandem auf die Füße getreten war, dessen Motive nicht astrein waren.
Wagner hielt der gesamten Befragung stand. Er ließ sich weder durch
den muskelbepackten Elitesoldaten aus der Ruhe bringen, noch durch die
Androhung eines etwas kernigeren Verhörs. Er hatte auch eine Erklärung,
warum die Mitglieder der Stiftung untergetaucht waren: Als AURORA mit
Anschlägen in Verbindung gebracht worden war und sich sogar das FBI
einschaltete, waren sie zum Rückzug gezwungen. Das Schlimmste, was
passieren konnte, war ein Abbruch der Projekte, wenn die terroristischen
Bedrohungspotenziale zwar erkannt, aber noch keine Gegenstrategien
entwickelt worden waren. „Wehe, die Erkenntnisse der Stiftung fallen in
dieser Phase Terroristen in die Hände!“
Wagner äußerte seinen Unmut über dieses skandalöse
Misstrauensvotum. Da schloss sich die geistige Elite des Planeten
zusammen, um das Überleben der angeschlagenen Rasse Mensch zu
sichern, doch die hatte nichts Besseres zu tun, als ihre Heilsbringer auch
noch zu verdächtigen.
Der Oberst bestätigte, in dauerhaftem Kontakt zu AURORA,
insbesondere Pfeiffer, gestanden zu haben. Wegen des Projektes in
Sibirien. Von David Moore, für ihn persönlich ein großes Vorbild,
menschlich ebenso wie als Soldat, wusste er auch, dass die Stiftung sich
zurückziehen wollte. Der General war deshalb betrübt, hatte ihm aber aus
Sicherheitsgründen nicht sagen können, wohin sich AURORA
zurückziehen wollte. Moore hatte versprochen, sich an die Öffentlichkeit
zu wenden, wenn die Projekte abgeschlossen waren.

***
Wagner genoss das Verhör. Er hatte damit gerechnet, dass ihn irgendwann
eine Spezialeinheit verhaften würde. Das war Ausdruck ihrer Hilflosigkeit.
Sie wussten nichts und hatten nichts in der Hand. Die Hangrutschung und
die Tsunamis hatten die Welt ins Chaos gestürzt. Nichts war jetzt wichtiger
als ein Schuldiger. Das hatte der Circle vorhergesehen. Wagner wusste,
welche Fragen gestellt würden und welche Antworten er liefern musste.
Bis jetzt waren die Fragen des grimmig dreinblickenden Muskelberges in
dem gelben Schutzanzug harmlos. Wagner wartete auf die alles
entscheidende Frage. Immerhin wussten sie, dass es im sibirischen Eis
gefährliche Erreger gab. Wozu sonst diese Schutzanzüge und die
Blutentnahme?
Und dann kam sie endlich, jene einzig wahre Frage. Die
Gretchenfrage. Sie war so naheliegend. Wahrscheinlich dienten die
einführenden Fragen nur dazu, ihn weichzukochen.
„Mister Wagner, ist Ihnen bekannt, ob sich eines der Projekte der
Stiftung AURORA mit Angriffen auf die Kontinentalhänge
auseinandersetzt?“
Jetzt war die Zeit für seinen großen Auftritt gekommen. Ob sich
AURORA mit Angriffen auf die Kontinentalhänge auseinandersetzt.
Wagner musste sich beherrschen, nicht zu lachen. Es gelang ihm sogar,
bedrückt zu wirken.
„Meine Herren“, sagte er mit belegter Stimme, „das, was ich Ihnen
jetzt sage, darf nicht an die große Glocke gehängt werden. Es sei denn, Sie
wollen noch mehr schlafende Hunde wecken.“
Er legte eine Sprechpause ein, die er ebenso genoss wie die Irritation
des Superhelden.
Er presste die Lippen so fest aufeinander wie möglich und zwang
sich zu einem besorgten Blick. Auf Situationen wie diese war er
vorbereitet. Sein Blutdruck dürfte nicht einmal gestiegen sein.
„Also“, sagte er gedehnt und freute sich, dass der Muskelberg an
seinen Lippen hing, „ich weiß leider auch nur von einigen Projekten der
Stiftung. Die Statuten sehen vor, dass nur der Vorstand über alle Projekte
Bescheid weiß und die jeweiligen Teams im Detail über ihr spezielles
Projekt. Ich wusste natürlich über die Suche nach Bedrohungen aus dem
Eis in Form von Viren Bescheid, denn ich war ja selbst daran beteiligt.
Was glauben Sie, wie erleichtert ich war, dass unser Projekt kein Erfolg
war! Nicht auszudenken, was passieren würde, wenn die GESA in den
Besitz einer solch tödlichen Waffe käme! Allerdings gehe ich davon aus,
dass AURORA auch an anderen Orten der Welt nach solchen
mikroskopisch kleinen Bedrohungen sucht. Alles andere macht ja auch
keinen Sinn. Allerdings hat mir General Moore in einem persönlichen
Gespräch anvertraut, und das ist die Antwort auf Ihre Frage, dass sich
eines der Projekte mit den Kontinentalhängen beschäftigt. Die Menschheit
sorgt sich um den Golfstrom. Aber die schmelzenden Methanhydrate in
den Kontinentalhängen sind die Lunte für ein Pulverfass, neben dem der
Golfstrom lächerlich wirkt. Und diese Lunte zu zünden, ist keineswegs
abwegig, wie uns die Realität schmerzlich vor Augen geführt hat. Was
glauben Sie wohl, wie ich geschluckt habe, als ich diese Bilder im
Fernsehen gesehen habe? Mir ist schlecht geworden!“
Wagner legte eine weitere Sprechpause ein und täuschte Entsetzen
vor, indem er hektische Bewegungen mit den Fingern machte, sein Haar
nervös nach hinten schob, das viel zu kurz war, um irgendwohin
geschoben zu werden und seine Atmung hörbar beschleunigte. Er wusste,
dass er absolut überzeugend war. Der Soldat fragte ihn, ob Moore ihm
noch mehr Details anvertraut hatte.
Er atmete tief aus. Dann sagte er: „Ja, hat er. Sicherlich nicht alles.
Ich war erstaunt, dass er mir überhaupt etwas anvertraut hat. Aber ein
Team der Stiftung ist der Frage nachgegangen, ob es der GESA gelingen
könnte, die Kontrolle über Atom-U-Boote zu übernehmen und sie in einen
Kontinentalhang zu steuern. Ich habe das für utopisch gehalten. Bis zu
jener fürchterlichen Katastrophe.“
Der Soldat musterte ihn. „Wollen Sie damit andeuten, dass die GESA
amerikanische Atom-U-Boote entführt und in den Kontinentalhang
gesteuert hat? Am Präsidenten vorbei, der den Einsatz jeder Atomwaffe
autorisieren muss? Ziemlich abenteuerlich, finden Sie nicht?“
Wagner zuckte mit den Achseln. „Ich habe nur wiedergegeben, was
General Moore mir anvertraut hat. Und ich erzähle das nur, weil ich helfen
möchte, die Ursache dieser Katastrophe aufzuklären. Ich will also gar
nichts andeuten. Das heißt, eines doch. Es ist eher meine persönliche
Meinung. Interessiert Sie das?“
Der Soldat senkte den Kopf.
„Verstehe. Also gut. AURORA untersucht, ob und mit welchen
Mitteln Terroristen einen Kontinentalhang zum Einsturz bringen könnten.
Doch bevor das Projektteam der Stiftung Wege aufzeigen kann, wie sich
das verhindern ließe, passiert genau das. Sie verhören mich, weil Sie
glauben, dass AURORA dahinter steckt. Aber ich sage Ihnen, durch Ihre
Ermittlungen gegen AURORA haben Sie selbst für eine Aufhebung der
Geheimhaltung gesorgt! Ich gehe jede Wette ein, dass dadurch
hochbrisante Informationen nach außen gelangt sind, in wessen Hände
auch immer. Und diese Hände hatten die Mittel, genau das umzusetzen,
was AURORA verhindern wollte. Jetzt dürfen Sie sich mal ganz brav an
die eigene Nase fassen!“

***
„Glauben Sie dem etwa, Aiden?“, fragte Jamal aufgebracht.
Winterbuttom blickte finster durch den Einwegspiegel. „Glauben
bringt uns nicht weiter. Dieser Typ ist unglaublich gut geschult. Ich habe
noch nie erlebt, dass jemand so mühelos einem Verhör standhält. Selbst
wenn wir den foltern würden, würde er nichts sagen. Aber was er sagt, ist
nicht abwegig. Und wir haben keine gegenteiligen Beweise. Das Pentagon
hat ein Schadprogramm in seinem System entdeckt, das Moore installiert
haben könnte. Das könnte aber auch jeder andere. Auch irgendein
Hackergenie in Bagdad oder Damaskus. Und Sie wissen, Jamal, ich halte
islamistische Terroristen für viel wahrscheinlicher. Nur die haben ein
Motiv.“
„Aber wir haben doch über das Motiv gesprochen“, wiedersprach
Jamal. „Diese Terroristen wollen einen Großteil der Menschheit
vernichten, weil sie sie nicht für überlebensfähig halten. Den Rest wollen
sie nach ihren Vorstellungen führen. Wer könnte das besser als ein Mann
wie Moore?“
Winterbuttom blickte auf den kleinen Jamal herab. „Das ist viel
unwahrscheinlicher als die GESA. Aber wir gehen dem ja nach. Wir fahren
nach Adams Island. Aber etwas anderes steht im Vordergrund: weitere
Anschläge verhindern! Die Schuldfrage spielt erst danach eine Rolle. Aber
an ein todbringendes Virus glaube ich nicht. Dass ich uns hier kaserniere,
entspricht den Vorschriften in einer solchen Situation und den
Anweisungen des Präsidenten. Ich hätte zwar auch nicht für möglich
gehalten, dass Atom-U-Boote einen Kontinentalhang zum Einsturz bringen
können. Aber dass eine Handvoll Terroristen die Menschheit mit einem
Virus nahezu ausrottet, halte ich für Schwachsinn!“
Kapitel 68
Hartsfield–Jackson Atlanta International Airport, neun Tag nach der
Hangrutschung
Winterbuttoms Außenteam hatte sich mit Ärzten und Virologen in dem
Flughafen getroffen, in dem Riley Perkins erst vor wenigen Tagen
abgefangen worden war. Die Ärzte baten die teils belustigt, teils
misstrauisch auf die Schutzanzüge reagierenden Fluggäste um Blutproben.
Die Virologen nahmen Proben aus allen Bereichen der Flughafenhallen T,
A, B, C und D für Reisen innerhalb der USA und der Hallen E und F für
Auslandreisen im neuen Maynard H. Jackson Jr. International Terminal.
Die Soldaten sahen sich die Videoaufzeichnungen der letzten zwei Wochen
an. Bis zum Abtauchen des Stiftungsvorstands. Dasselbe machten andere
Teams auf anderen internationalen Flughäfen.
Um nach den Katastrophen zusätzliche Panik zu vermeiden, agierte
das Team diskret. Die Ärzte begründeten ihr Ansinnen mit einer Studie,
bei der es um die Frage ging, mit wie vielen –harmlosen- Erregern ein
Passagier während eines Fluges durchschnittlich in Berührung kam.
Zugleich sollte eine neue Generation von Schutzanzügen auf ihre
Praxistauglichkeit getestet werden. Das war zwar Blödsinn, aber das
konnten die Passagiere nicht wissen. Die meisten spendeten bereitwillig
Blut. Zumal die Studie anonym war, wie die zu Scherzen aufgelegten
Ärzte erklärten. Es ging allein um statistische Durchschnittswerte.
Deshalb musste niemand persönliche Daten preisgeben oder gar einen
Ausweis vorlegen.
Die drei Soldaten, die sich die Videoaufzeichnungen ansehen
mussten, langweilten sich zu Tode. Sie sahen nichts außer der üblichen
Hektik, die nach den Tsunamis erheblich zugenommen hatte. Sie gingen
rückwärts, beginnend mit den Aufzeichnungen von heute. Einer der
Soldaten stellte fest, dass es hier ziemlich scharfe Bräute gab. Der Älteste,
zugleich Ranghöchste von ihnen, mahnte seine Kameraden zu Disziplin
und höchster Konzentration. Der dritte fand aber auch, dass das Thema
Frauen das einzig Spannende sei. Ansonsten sei das nichts als
Zeitverschwendung.
„Seht nur“, rief er plötzlich aufgeregt, „die Blonde mit dem
schwarzen Minirock! Da hinten, am Security Checkpoint im Departures
Level! Mein Gott, was für Beine! Und was für geile Titten! Jede Wette,
dass die keinen BH trägt. Oh Mann, wie gerne hätte ich auf dem Flug
neben der gesessen, um einen Blick in ihren Ausschnitt zu erhaschen!“
Der Älteste verdrehte die Augen, fragte den Soldaten, ob seine
Entwicklung in der Pubertät stehengeblieben war, untersagte ihm weitere
Peinlichkeiten und bat den Sicherheitsdienst, den nächsten Tag
abzuspielen. Ein Flughafenmitarbeiter brachte Kaffee. „Ein Lichtblick in
der Ödnis“, fand der Jüngste, handelte sich einen vorwurfsvollen Blick
seines Vorgesetzten ein und musste frustriert zur Kenntnis nehmen, dass
das mit dem Kaffeetrinken in Schutzanzügen so eine Sache war.
Die Videoaufzeichnung zeigte nun den dritten Tag vor der
Hangrutschung. Allen viel auf, wie viel ruhiger es auf dem Flughafen
zugegangen war. Nicht nur weniger Passagiere, sondern auch viel weniger
Hektik. So entspannt wirkten die Mädels noch anregender, meinte der
Soldat und kassierte einen Rüffel seines Vorgesetzten und das
Versprechen, das Winterbuttom zu erzählen, wenn auch nur noch ein solch
dämlicher Kommentar von ihm käme. Ob er je aus der Pubertät
herausgekommen sei, wiederholte der Ranghöchste seine Frage.
Gerade, als der so Gescholtene seinen Vorgesetzten fragen wollte, ob
sich bei ihm denn bei solchen Anblicken überhaupt nichts rege, meldete
sich der Dritte zu Wort. Denn am vierten Tag vor der Hangrutschung gab
es mehr zu sehen, als schöne Frauen.
Der Ranghöchste starrte auf das Video. „Aber..., aber das da hinten,
im Delta Sky Club, das ist doch General Moore“, stellte er konsterniert
fest.
„Eben.“
„Aber was macht der da? Und warum läuft der quer durch den
ganzen Flughafen?“
Minutenlang war zu sehen, wie General Moore über das Gelände
schlenderte. Er ging in ein Geschäft, blätterte im International Atrium
durch Zeitschriften, ging zweimal auf die Toilette, an verschiedenen Orten,
spazierte in eine ganze Reihe der mehr als fünfundachtzig Geschäfte, ohne
etwas zu kaufen und besuchte zwei der gut frequentierten
Kunstausstellungen.
„Seht nur, jetzt geht er ins Maison Mathis“, bemerkte einer der
Soldaten. „Und ein Bier hat er auch bestellt. Bestimmt eins von den
leckeren belgischen. Ich glaube, der hatte einfach noch Zeit, bis sein Flug
ging.“
„Mag sein“, murmelte der Ranghöchste und rieb sich nachdenklich
das Kinn. „Trotzdem finde ich sein Verhalten merkwürdig. Jetzt fummelt
der auch noch an irgendwelchen Türgriffen rum. Das ist doch nicht
normal.“
„Und der da hinten, der jetzt direkt auf Moore zugeht“, rief der
Gescholtene aufgeregt, „erkennt ihr den auch?“
Der Ranghöchste kratzte sich am Kopf und verfolgte das Geschehen
auf dem Monitor. Der Mann ging schnurstracks auf Moore zu und sprach
ihn an. Die Männer unterhielten sich scheinbar angeregt. Moores
Gesprächspartner war in Begleitung.
„Interessant, das ist doch Colonel Brewster, samt Familie. Aber was
hat denn Brewster hier von Moore gewollt? Und wieso ist Moore so
auffallend herzlich zu dem? Wo doch jeder weiß, dass der Brewster nicht
ausstehen kann. Der fällt dem ja fast um den Hals. Ist das eine
Zufallsbegegnung? Soll ich euch was sagen? Das ist eine heiße Spur!
Diese Info muss sofort zu Winterbuttom! Aber vorher checken wir die
Passagierlisten. Ich will wissen, wohin die beiden geflogen sind.“
Kapitel 69
Oval Office
„Es waren eindeutig unsere U-Boote, Mister President. Daran besteht
leider kein Zweifel mehr. Zehn Atom-U-Boote der Ohio-Klasse sind in den
Hang gerast.“
Präsident Turner, der von den Überresten Teneriffas zurückgekehrt
war, blickte finster in die Info-Mappe in seiner Hand. „Was für eine
Katastrophe. Wie sollen wir das der Weltöffentlichkeit erklären?
Verheimlichen lässt sich das wohl kaum. Wir waren nicht der einzige
Erkundungstrupp vor Ort. Ich hatte heute schon einen aufgeregten Anruf
aus dem Kreml. Dabei hat es uns doch am schlimmsten getroffen!“
„Naja, ich weiß nicht recht, Sir“, warf der Soldat aus Winterbuttoms
Außenteam ein, „ich finde, die Menschen auf den Kanaren und in
Nordafrika sind nicht weniger betroffen.“
„Sie wissen genau, wie ich das meine“, grummelte Turner. „Es geht
nicht nur um die Anzahl der Opfer, sondern auch darum, dass wir unsere
wichtigste Metropole verloren haben! New York City, getilgt von der
Landkarte. Nicht bloß zwei Zwillingstürme! Nein, die ganze, verdammte
Stadt!“
„Und ich befürchte, es kommt noch schlimmer“, sagte der Soldat
zögernd.
Turner verdrehte stöhnend die Augen. „Noch schlimmer? Wie soll
das denn gehen?“
Der Soldat erklärte, dass es den EDV-Spezialisten gelungen war, den
Pfad zurückzuverfolgen, über den das Schadprogramm den Server befallen
hatte. Der letzte Beweis ließ sich zwar nicht erbringen, weil der fragliche
Laptop nicht verfügbar war, aber anhand früherer Zugriffe ließen sich
immerhin bestimmte Muster wiedererkennen.
„Ja, und?“, fragte Turner verärgert, „warum spannen Sie mich auf
die Folter? Was haben die Spezialisten herausgefunden?“
„Das Schadprogramm wurde tatsächlich von Moores persönlichem
Laptop überspielt“, nuschelte der Soldat mit gesenktem Kopf.
„Was haben Sie gesagt? Können Sie nicht lauter sprechen?“
Der Mann hob Kopf und Stimme. „Das Schadprogramm wurde von
General Moores persönlichem Laptop überspielt!“
Eine angespannte Stille breitete sich aus. Turner und der
Pentagonchef starrten sich wortlos an. Die Soldaten des SAD-Außenteams
blickten betreten zu Boden. Schließlich beendete der Präsident das
Schweigen mit einem knappen Kommentar: „So eine gottverdammte
Scheiße!“
Der Pentagonchef nickte. „Stimmt. Ich kann es auch nicht fassen.
David, unser Vertrauter, unser Berater, unser Freund, der Held, ja, das Idol
der ganzen Truppe. David und ein Terrorist? Das würde bedeuten, dass wir
dem besten Offizier, den wir jemals hatten, die größte Katastrophe in der
Geschichte der Vereinigten Staaten verdanken! Das halte ich für
ausgeschlossen.“
Der Soldat blätterte in seinen Unterlagen. „Das ist auch nicht
unbedingt gesagt, Sir.“
„Sagen Sie mal“, sagte Turner gereizt, „können Sie mal aufhören,
sich in Andeutungen zu verlieren? Reden Sie gefälligst, wenn Sie etwas zu
sagen haben, und zwar gerade heraus!“
„Entschuldigung, Sir, aber ich schaue gerade nochmal..., einen
Moment bitte, wo war das noch gleich? Ah, jetzt habe ich es. Hier steht es
schwarz auf weiß! Also, das Schadprogramm kam zwar mit an Sicherheit
grenzender Wahrscheinlichkeit von Moores Laptop. Aber es gibt
Hinweise, dass es zuvor selbst Opfer eines Hackerangriffs geworden ist.
Fragen Sie mich bitte nicht, wie die das herausfinden konnten, ohne den
Laptop zu haben. Aber einiges deutet darauf hin, dass es einen Zugriff gab
von einem Server in Damaskus!“
Turner presste die Lippen aufeinander. „Dachte ich es mir doch! Die
GESA. Wer sonst? Dennoch kapiere ich nicht, wie es denen gelungen sein
soll, durch alle Sicherheitssysteme hindurch zuerst auf Davids Rechner zu
kommen, und warum ausgerechnet David, und von da aus auf unseren
Server. Und wie sollen die es geschafft haben, ohne Autorisierung
Atomsprengköpfe zu entriegeln und scharfzustellen?“
Winterbuttoms Soldat führte aus, dass die Spur nach Damaskus nicht
sicher war. Und selbst wenn, einen Beweis, dass die GESA für die
Cyberattacke verantwortlich war, gab es nicht. Allerdings hatte ein
Programmierer erklärt, wie ein Schadprogramm aufgebaut sein musste,
um so etwas zu leisten. Das war überaus anspruchsvoll, aber möglich. Wer
immer das Programm geschrieben hatte, war nicht weniger als ein Genie.
Gerade als der Präsident seine Frage wiederholen wollte, warum sich
Attentäter in Damaskus ausgerechnet einen der am besten gesicherten
Laptops der USA ausgesucht haben sollten, flog die Tür auf. Ein
Mitarbeiter des Oval Office erschien im Türrahmen und rief aufgeregt,
dass etwas Interessantes im Fernsehen lief.
Der Pentagonchef nahm die Fernbedienung vom Schreibtisch und
schaltete den Fernseher an der Wand ein. Ein Sonderbericht auf CNN. Die
Gespräche verstummten.
„...soeben gerade zugespielt“, sagte die Nachrichtensprecherin. Dann
wurde ein Screenshot eines Bekennerschreibens der GESA eingeblendet,
das bei den größten Nachrichtensendern der Welt eingegangen war. Die
GESA übernahm in dem Schreiben, das derzeit von Fachleuten auf seine
Echtheit geprüft wurde, die Verantwortung für die Hangrutschung vor
Teneriffa. Es beinhaltete Täterwissen. Eine Fälschung galt als
unwahrscheinlich. Die GESA schilderte detailliert, wie sie einen Trojaner
über den Laptop eines hochrangigen Offiziers im System des Pentagon
installiert und damit die U-Boote ferngesteuert hatte.
„Das gibt es doch nicht“, sagte Turner fassungslos. „Woher haben die
solche Spezialisten?“
Die Nachrichtensprecherin beantwortete die Frage des Präsidenten.
Die GESA verwies auf ein Sicherheitsleck im System des Pentagon, durch
das der Trojaner eindringen konnte.
„Wenn sich das bewahrheitet, bedeutet das, dass uns die GESA den
Krieg erklärt hat!“
„Aber das hat sie doch längst“, bemerkte einer der Soldaten.
Turner verdrehte die Augen. „Wir sprechen nicht mehr von ein paar
Terroranschlägen, sondern von einem echten Krieg. Mit Opferzahlen wie
in einem echten Krieg. Sie wissen, was das bedeutet.“
„Was haben Sie vor?“, fragte Winterbuttoms Soldat.
„Abwarten, bis die Echtheit des Schreibens zweifelsfrei bewiesen
wurde. Und wenn es echt ist, werde ich eine Dringlichkeitssitzung des UN-
Sicherheitsrates einberufen. Es geht um den Weltfrieden. Wenn das eine
Kriegserklärung war, müssen wir entsprechend darauf antworten. Wir
haben viel zu lange gewartet!“
Kapitel 70
Adams Island
Der Circle verfolgte interessiert den Sonderbericht auf CNN. Mason Foley
und James Perkins hatten sich dazugesellt. Rebecca saß als Geste der
Entspannung neben David. Außerdem hatte sie sich bei dem verletzten
Assistenten und in einer Ansprache auch bei den Externen entschuldigt.
Perkins und Foley waren bislang die Einzigen, die sich zu AURORA
bekannten und demnächst in den Circle berufen würden. Sie waren Führer
und Meinungsbildner. Moore hoffte, dass viele der Externen ihrem
Beispiel folgen würden.
„Fast schon erschreckend, wie glatt das läuft“, sagte O´Connor.
„Vom Bau der Zentrale bis zu Phase eins. Kein Fehler, kein Stolperstein,
nichts. Damit habe ich nicht gerechnet.“
„Ich auch nicht“, stimmte Moore zu, „man muss aber fairerweise
konstatieren, dass das ohne Jimmy und sein geniales Programm nicht
möglich gewesen wäre.“
Perkins hatte den Sonderbericht aufmerksam verfolgt. Er wandte
sich an Moore und fragte, ob dieser Jimmy auch dafür verantwortlich war,
dass die Welt die GESA für den Schuldigen hielt.
Moore lächelte. „Nicht er allein. Ich denke, da dürfen wir uns auch
selbst auf die Schulter klopfen. Aber er hat einen großen Anteil daran.“
„Stammt dieses Bekennerschreiben von euch? Habt ihr das der
GESA untergejubelt?“, fragte Mason Foley.
Moore schüttelte den Kopf. Es war kaum möglich, das so zu
bewerkstelligen, dass die Echtheit des Schreibens nachgewiesen wurde.
Aber der Circle hatte der GESA anonym Informationen zugespielt und das
Verhalten der Terroristen vorhergesehen. Sie würden jede Gelegenheit
nutzen, sich zu Anschlägen zu bekennen, die keiner anderen Organisation
zugeordnet werden konnten. Genauso, wie bei den vorbereitenden
Anschlägen in Europa. Jetzt richtete sich die Welt gegen den Islam und die
Phasen zwei und drei konnten, perfekt getarnt, AURORA krönen.
„Wobei wir nicht vergessen dürfen, dass unsere eigentliche Arbeit
erst nach Beendigung der aktiven Phase beginnt“, wandte Richard
Armstrong ein. „Und abgesehen von unseren Kontakten im Weißen Haus,
im Kreml und bei den Europäern, seid ihr beide“, er zeigte auf Moore und
Tschechow, „tragende Säulen des Erfolgs. Nur wenn euch die Armeen der
USA und Russlands folgen, werden wir die Neue Welt in die richtige
Richtung lenken können. Seid ihr sicher, dass eure Soldaten euch folgen
werden?“
„Bedingungslos“, sagten Moore und Tschechow wie aus einem
Mund.
„Aber China ist außen vor, oder?“
Moore nickte. „Wie ich schon damals in Salem erklärt habe, haben
wir kaum Verbindungen nach China. Überhaupt nur wenig nach Asien. Das
ist riskant, aber ich denke, mit den Ländern Asiens werden wir verhandeln
können. Hauptsache, wir beherrschen die USA, Russland und Europa.“
„Und ich habe damals schon darauf hingewiesen, dass in China fast
anderthalb Milliarden Menschen leben. In Japan immerhin hundertdreißig
Millionen. Und die chinesische Armee darf durchaus als ernstzunehmende
Bedrohung angesehen werden. Ich weiß, ihr hört das nicht gerne, aber für
mich ist die Frage der nicht vom Circle infiltrierten Flecken auf der
Weltkarte noch wichtiger als die Frage, wie erfolgreich Ice und Caldera
sein werden.“
„China wird sich niemals auf einen Konflikt mit einem großen
vereinigten Reich, bestehend aus den ehemaligen USA, Russland und
großen Teilen Europas einlassen“, mutmaßte Tschechow. „Zumal Ice die
Menschheit nachhaltig dezimieren wird. Vor allem wir werden zu den
Überlebenden zählen. Über wie viel Macht wird also ein Land wie China
noch verfügen, wenn es vorbei ist?“
„Eben“, sagte Perkins und erhob sich. Er schien große Auftritte zu
mögen. Mit Pathos in der Stimme erklärte er, dass sein Virus die Erde von
einem Großteil der Menschheit befreien würde. Und es würde weder vor
China noch vor Japan Halt machen.
„Danke“, übernahm Moore wieder das Kommando, „wir halten also
fest, dass unser Plan auch für die Zeit nach AURORA, für die Neue Welt,
perfekt ist. In den entscheidenden Schaltkreisen der Macht ziehen wir
schon jetzt die Fäden. Aber danach entsteht ein Machtvakuum und wir
werden die Mächtigsten der Welt sein. China soll nicht unsere Sorge sein.
Sie werden mit dem paktieren, der ihnen nutzt. Wir müssen unseren Plan
konsequent durchziehen und dürfen uns von nichts und niemandem
ablenken lassen. Totale Zielfokussierung. Und vergesst nicht, dank Yefrem
und seinem Netzwerk werden wir auch im Nahen Osten die Macht
übernehmen. Dann haben wir Zugang zum Öl. Und damit machen wir
China gefügig. So einfach ist das.“
Plötzlich erhob sich Foley. „Ich weiß, das ist ein krasser
Themenwechsel. Aber ich wollte das schon die ganze Zeit ansprechen. Ich
bin bereit, AURORA zu unterstützen. Ich bin von der Idee überzeugt.
Obwohl mich Milliarden von Opfern nicht mehr ruhig schlafen lassen.
Aber ich verdränge meine Skrupel, indem ich mir einrede, dass ich das
ohnehin nicht verhindern kann. Zumal der Mensch dumm genug ist, sich
selbst auszuradieren, wenn ihn niemand aufhält. Dann ist es doch besser,
aktiv an der Gestaltung der Neuen Welt mitzuwirken. Aber nicht ohne
Kim! Nicht ohne meine Frau. Sie gehört, wie meine Kinder, in der Neuen
Welt an meine Seite! Bitte sorgt dafür, dass sie zurückkommt. Ich habe
seit ihrer Abreise nichts mehr von ihr gehört. Wie auch?“
Das war der kritische Moment, mit dem Moore schon lange
gerechnet hatte. Eine gefährliche Situation. Nach Rebeccas Ausbruch
durfte es keine weiteren Störfeuer geben. Er hatte den anderen damals, als
Tarkan Kim Foley getötet hatte, gesagt, dass er das mit Mason regeln
würde, wenn es soweit war. Moore stand auf, legte einen Arm um Foleys
Schulter und führte ihn in den Salon. Dort nahm er zwei Gläser und eine
Flasche Whiskey aus dem Schrank, füllte die Gläser und gab eines Foley,
der ihn misstrauisch beäugte.
„Mason“, begann Moore, „ich weiß nicht, wie ich dir das sagen soll.
Du weißt, wie viel ich von dir halte und wie sehr ich dich auch menschlich
schätze...“
Foleys Augen weiteten sich. „Was ist mit Kim?“
„Trink erst mal einen Schluck, Mason. Ich brauche auch was. Du
kannst dir nicht vorstellen, wie sehr mich das belastet. Und nicht erst seit
heute.“
Moore leerte sein Glas, schenkte sich nach und prostete Foley mit
zusammengepressten Lippen zu. Dann erzählte er die Geschichte, die er
sich zurechtgelegt hatte. Eine glaubwürdige Geschichte. Und eine
Geschichte, deren Gegenteil sich nicht beweisen ließ.
„Tarkan Jafari sollte Kim zum Festland bringen. Aber Tarkan war
nicht nur Yefrem abu Tariks treuer Gefolgsmann, sondern auch ein von den
USA gesuchter Agent des syrischen Geheimdienstes. Das FBI hat Jafari
abgefangen, als er mit Kim das Boot verlassen wollte, um an Land zu
gehen. Ich habe keine Ahnung, wie sie Tarkan finden konnten. Jedenfalls
hat der seine Waffe gezogen. Kim ist in den Schusswechsel geraten. Ein
Special Agent des FBI hat sie erschossen. Tarkan hat ihn vor Wut mit dem
Messer massakriert und die übrigen erschossen. Tarkan war eine lebende
Kampfmaschine. Deshalb konnte er entkommen. Aber anderthalb Jahre
später ist er nicht mehr entkommen.“
„Kim ist tot?“, stammelte Foley.
„Eigentlich wollte ich dir das ersparen“, sagte Moore und nahm ihn
in den Arm, „ich hatte gehofft, dass du niemals fragen würdest. Aber jetzt
hast du gefragt und ich kann dich nicht anlügen. Du hast ein Recht, die
Wahrheit zu erfahren. Eine bittere Wahrheit. Ich kann dir gar nicht sagen,
wie leid mir das tut.“
Foley sah Moore ungläubig an. Die Erkenntnis, dass er Kim niemals
wiedersehen würde, war noch nicht in sein Bewusstsein vorgedrungen.
„Du willst mir weismachen, dass die Amerikaner meine Frau auf dem
Gewissen haben? Das glaube ich nicht.“
„Tja, Mason, aber so ist es nun mal. Kim war zur falschen Zeit am
falschen Ort. Es war Zufall, riesengroßes Pech. Die Amerikaner hatten es
auf Tarkan abgesehen. Nicht auf Kim.“
Foleys Gesichtsausdruck veränderte sich langsam. Zunächst
reagierte er erschüttert und wurde leichenblass. Seine Tränen waren
beredte Zeugen, dass er nun begriffen hatte, dass Kim nicht mehr lebte.
Immer wieder stammelte er ihren Namen. Moore nahm ihn in den Arm
und redete beruhigend auf ihn ein.
Doch plötzlich lief Foleys Gesicht rot an und er ballte die Fäuste.
„Bis vor wenigen Minuten hatte ich noch Zweifel, ob wir das Recht haben,
Gott zu spielen. Die Idee hinter AURORA hat mich von Anfang an
überzeugt, nicht aber deren Umsetzung. Ich dachte, es muss auch ohne
Verluste gehen. Mit Überzeugungsarbeit. Doch jetzt sehe ich das anders.
Schon wieder ist eine Unschuldige, meine Frau Kim, Opfer abartiger
Machtspiele geworden. Ich weiß gar nicht, wie ich das meinen Kindern
beibringen soll. Mit Kim wurde mir ein wichtiger Teil meines Lebens aus
dem Herzen gerissen. Jetzt reicht es endgültig. Es wird Zeit, das Geschwür
Mensch zu entfernen!“
Moore drückte Foley noch fester an sich. Sein Plan war aufgegangen.
Er wusste, dass der Vulkanologe nicht an den Worten des
Sechssternegenerals zweifeln würde, der so einfühlsam auf ihn einging.
Und er hatte geahnt, dass diese Erklärung bei Foley Rachegelüste auslösen
würde. Er war, bei aller Wissenschaftlichkeit, hochemotional.
Wieder einmal war es Moore gelungen, negative Energie in positive
umzuwandeln. Die Entscheidung, Kim zu eliminieren, entpuppte sich im
Nachhinein als doppelt richtig. Jedenfalls dann, wenn man diese Tat so
eigennützig verpacken konnte wie er. Jetzt war Foleys Loyalität gegenüber
AURORA unerschütterlich.
Moore versprach ihm, dass er in der Neuen Welt eine tragende Rolle
spielen würde. Sie tranken schweigend Whiskey. Dann kehrten sie zurück
zu den anderen und damit zur Tagesordnung. Doch Moore wusste, dass
Foley noch meilenweit von jeder Tagesordnung entfernt war.
Er gesellte sich zu abu Tarik und Tschechow und flüsterte ihnen
etwas ins Ohr. Die beiden Männer erhoben sich und stellten sich mit
Moore vor die Gruppe, der Bryan bat, den Fernseher auszuschalten. Sie
hatten genug gesehen.
„Wir haben für euch noch ein paar Infos zu Ice und Caldera“,
kündigte Moore an. „Mitja, würdest du bitte beginnen?“
Tschechow nickte und brachte seine Sorge zum Ausdruck, dass der
Kreml nach der Explosion amerikanischer U-Boote seine Offiziere
überprüfen würde. Trotz des Bekennerschreibens war nicht
ausgeschlossen, dass der russische Präsident mit dem amerikanischen
sprach und sie vereinbarten, alle Atom-U-Boote bis auf Weiteres in die
Häfen zurückzubeordern. In dieser Situation musste er in Moskau sein.
Deshalb hatte er die Verantwortung für Caldera auf seinen besten Soldaten
und Freund übertragen, Kapitän Alexej Sergeewitsch Koroljow.
Koroljow hatte die Gewalt über sein eigenes Boot, die Podolsk, und
drei weitere Boote der Akula- und Oscar-Klasse. Kein Kommandant, außer
Koroljow selbst, war eingeweiht. Für die U-Boote bestand keine
Kommunikationsmöglichkeit. Die einzige Verbindung war die zwischen
Koroljow und ihm. Noch. Denn auch diese Verbindung sollte aus
Sicherheitsgründen in Kürze eingestellt werden. Die Boote lagen in
Entfernungen von drei bis fünf Stunden vor der West- und vor der
Ostküste. Koroljow hatte die genauen Zielkoordinaten im Südwesten und
Nordosten des Parks. Wenn der Kreml ihnen keinen Strich durch die
Rechnung machte, konnten beide Ziele mit einer Raketensalve unter
Beschuss genommen werden.
Rebecca bezweifelte trotz der positiven Ergebnisse des
Projektteams, dass es möglich war, einen Supervulkan künstlich zum
Ausbruch zu bringen. Doch Mason Foley ergriff energisch das Wort und
bestätigte, dass der Hitzeimpuls, der von so vielen Atomraketen ausging,
ausreichte, um eine Kettenreaktion in Gang zu setzen. Sofern die Raketen
ihr Ziel trafen.
Tschechow erklärte, dass die Raketen sogar eine Briefmarke treffen
konnten. Keine würde ihr Ziel verfehlen. Koroljow hatte einen exakten
Zeitplan. Und er war unfehlbar.
Abu Tarik berichtete, dass alle infizierten Schläfer vor ein bis zwei
Wochen mit Flüchtlingen in Europa angekommen waren und sich dort auf
Hauptstädte und Metropolen verteilten.
Perkins ergänzte, dass vermutlich schon ein Drittel der Menschheit
befallen war. Das ergab sich aus den Hochrechnungen seines Teams. Und
weil die ersten Symptome frühesten nach zwei Wochen auftraten und
zunächst an eine Erkältung erinnerten, war damit zu rechnen, dass die
ganze Erde verseucht war, ehe die Menschen begriffen, womit sie sich
tatsächlich infiziert hatten.
Zufrieden ergriff Moore das Wort. „Ihr seht, auch Ice verläuft nach
Plan. Und wenn irgendein oberschlauer Mediziner Verdacht schöpft, ist es
zu spät. Bis der Katastrophenschutz die richtigen Maßnahmen ergriffen
hat, ist die Verbreitung längst erfolgt. Außerdem haben wir ja auch noch
den Projektbereich Flughäfen. Stellvertretend für die anderen Verteiler des
Circle, will ich euch nun erzählen, wie ich das Virus platziert habe.
Anfangs hatte ich ein mulmiges Gefühl. Immerhin trug ich eine Lösung
mit dem tödlichsten Virus der Welt bei mir. Ich war geimpft. Sicherlich.
Aber ein Restzweifel blieb trotzdem. Also, ich hatte einen regulären Flug
nach Moskau gebucht...“
Ende Teil 1

Ihr sollt nicht meinen, daß ich gekommen bin, Frieden zu bringen auf die
Erde. Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert.
Matthäus 10,34f

Der Kampf ist euch befohlen, auch wenn er euch missfällt; aber es ist wohl
möglich, dass euch etwas missfällt, was gut für euch ist; und es ist wohl
möglich, dass euch etwas gefällt, was für euch übel ist.
Sure 2, Vers 216
Die wichtigsten Protagonisten in alphabetischer Reihenfolge (Teil 1
und 2)

Abdul, Sinans engster Vertrauter


Aiden Winterbuttom, Leiter der SAD (Special Activities Division), eine
Sondereinheit der CIA
Alexej Sergeewitsch Koroljow (Aljoscha), Kommandant der Podolsk
(russisches Atom-U-Boot)
Andrew Shoemaker, Mitglied des Circle, Geologe
Aubrey, Logans Frau, sind mit ihrem Camper im Yellowstone
Nationalpark
Bassam al Shaar, Mitarbeiter des syrischen Geheimdienstes
Bruno Stöckli, Leiter der Gavi in Genf (eine internationale Impfallianz)
Bryan O´Connor, Mitglied des Circle, Volkswirtschaftler, hat die Connor-
Theorie entwickelt
Cathy, Emma Chaplins Tochter
Chang Zhou, Meteorologe aus Peking, Rebecca Eliots Freund
Chris Walker, Special Agent des FBI, ermittelt gegen AURORA
Clara Meili, Krankenschwester in einer Genfer Klinik
David Moore, Mitglied und faktischer Führer des Circle,
Sechssternegeneral, General of the Armies
Denzel, Mitglied eines autonomen Wohnprojektes
Dmitrij Michajlowitsch Tschechow (Mitja), Mitglied des Circle,
russischer Flottenadmiral
Edmund Wagner, Major, später Oberst bei der Bundeswehr, Lakai des
Circle
Edward Coleman, Mitglied des Circle, Arzt, verheiratet mit Kimberly
Emma Chaplin, bekannte Unternehmerin, Freundin von Riley Perkins
Erik Lundqvist, Flüchtling aus Schweden
Ethan Stark, Soldat der SAD
Fatima al Shaar, Bassam al Shaars Frau
Fjodor Kowaljow, Präsident Russlands
Hauke Petersen, bekannter Kieler Unternehmer, befreundet mit Jamal
Akbar
Harun Skeif, Syrer auf der Flucht, Sahars Mann
Heather King, Mitglied des Circle, Unternehmerin
Ingvar Lundqvist, Sohn von Erik und Irene
Irene Lundqvist, Frau von Erik
Jackson Parker, Soldat der SAD
Jake Bishop, Special Agent des FBI, ermittelt gegen AURORA
Jamal Akbar, afghanischer Sprachmittler
James Perkins, Rileys Vater, Virologe, Nobelpreisträger
Janne Petersen, Haukes Frau, befreundet mit Jamal Akbar
Jimmy, genialer Programmierer und Hacker
Kamal Bagsani, Terrorist der GESA (Gesandte Allahs)
Kimberly Stark, Mitglied des Circle, Ärztin, verheiratet mit Edward
Liam Bennett, Soldat der SAD
Lindsey Hoover, Senatorin und spätere Vize-Präsidentin der USA
Logan, Aubreys Mann, sind mit ihrem Camper im Yellowstone
Nationalpark
Mason Foley, Vulkanologe
Matteo Demaurex, Hotelier in Genf
Michael Harper, Soldat der SAD
Oswald Pfeiffer, Mitglied des Circle, hohes Tier beim BND
Qabel Skeif, Sohn von Harun und Sahar
Ray, Mitglied eines autonomen Wohnprojektes
Rebecca Eliot, Mitglied des Circle, Ozeanologin
Richard Armstrong, Mitglied des Circle, hohes Tier bei der CIA
Riley Perkins, Sohn von James Perkins, Surflehrer, Emma Chaplins
Freund
Sahar Skeif, Syrerin auf der Flucht, Haruns Frau
Sinan al Shaar, der höchste Führer der GESA, genialer Stratege
Tarkan Jafari, Mann für die besonders heiklen Aufträge des Circle,
lebende Kampfmaschine
Tyler Smith, Soldat der SAD
Urs Zollinger, Schweizer Arzt in Genf, macht eine wahrhaft
weltbewegende Entdeckung
William Turner, Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika
Yanok (seine Frau Ainoa und sein Sohn Bjanik), lebt mit seinem Stamm
auf einer abgelegenen Insel und erzählt die Geschichte vom letzten
Anschlag
Yefrem abu Tarik, Mitglied des Circle, Chef des syrischen Geheimdienstes
Idarat al-Amn al-Amm
Der Sniper, Mann für die besonders heiklen Aufträge des Circle
Leseproben Teil 2

Clara
In der Nacht war Evelyne Demaurex ins Koma gefallen, die
lebenserhaltenden Maschinen wurden abgestellt. Als Clara eintraf, lebte
Evelyne schon nicht mehr. Wenigstens hatten ihre Kinder nichts
mitbekommen. Sie schliefen noch.
Clara hatte Evelyne, deren Körper und Gesicht sich nochmals
verändert hatten und einen fürchterlichen Anblick boten, aus dem Zimmer
tragen lassen, bevor die Kinder aufwachten. Andrea fragte nach dem
Aufwachen sofort nach ihrer Mutter. Auch sie hatte sich über Nacht
verändert und wirkte mehr tot als lebendig. Die Medikamente linderten
zwar die Schmerzen. Aber die großflächigen Blutungen und Pusteln und
das eingefallene Gesicht, das bei einem Kind noch viel grausamer wirkte
als bei einer erwachsenen Frau, sprachen eine deutliche Sprache.
Die hässliche Fratze der Krankheit, dachte Clara wieder. Den Tod
konnte sie akzeptieren. Er gehörte zu ihrem Beruf. Auch die Tatsache, dass
es Krankheiten gab, Krebs zum Beispiel, die einen Patienten in kurzer Zeit
um Jahre altern und schließlich sterben lassen konnten. Doch ein solches
Grauen war mehr als sie verkraften konnte. Sie fühlte Mitleid, einen
Anflug von Ekel und panische Angst. Aber sie war fest entschlossen, den
Tod bei ihr um sein perverses Vergnügen zu bringen...
Aubrey
Trotz ihrer flehentlichen Bitte, sofort zu verschwinden, hatte Logan darauf
bestanden, den Jeep mit der Seilwinde zu dem großen Schacht zu fahren,
ihn dort mit den Unterlegkeilen, die sich ebenfalls auf der Ladefläche
befanden, zu sichern und sich dann mit der kleinen Gondel abzuseilen.
„Wenn ich etwas finde, haben wir viel mehr in der Hand, was wir der
Parkverwaltung oder der Polizei melden können“, meinte Logan. Für sie
war das nur ein Vorwand.
Als Aubrey zugesehen hatte, wie er mit dem Lift langsam in dem
Schacht abgetaucht war, bis er aus ihrem Blickfeld verschwunden war, war
es ihr richtig schwindelig geworden. Das Surren und Quietschen der
Seilwinde, deren Fernbedienung Logan auch noch mitgenommen hatte,
war ihr vorgekommen wie ein gehässiges Lachen des Teufels.
Und jetzt stand sie hier mutterseelenalleine herum und musste die
Seilwinde von oben kontrollieren. Aufpassen, dass die Verankerung hielt.
Wobei sie sich fragte, was sie als einzelne Frau wohl ausrichten konnte,
wenn sich die Seilwinde tatsächlich plötzlich aus der Verankerung löste
oder gar eines von den wenig Vertrauen erweckenden Halterohren abbrach.
Ein weiterer Grund, warum Aubrey Angst hatte. Rasch trat sie an die
Befestigungen heran und prüfte die Schrauben und Haken. Das Konstrukt
wirkte zumindest halbwegs stabil.
Ein paar Blätter wirbelten dicht an ihrem Ohr vorbei. Das Heulen in
dem morschen Gebälk nahm zu. Es klang unheimlich, flehentlich,
geisterhaft. Die Sonne war jetzt ganz verschwunden. Es wurde immer
dunkler. Dicke Regentropfen klatschten in den Sand und wirbelten ihn auf.
Aubrey öffnete den Rucksack und nahm ihren Regenponcho heraus. Sie
fröstelte. Anscheinend kühlte es schnell ab. Oder kam das von ihrer Angst?
Sie fühlte sich so ausgesetzt, schutzlos, den Elementen ausgeliefert. Sie
wollte auch nicht zum Camper. Sie wollte nach Hause, in ihr gemütliches
Heim, sich an den Kamin setzen, Tee trinken, sich in Logans Schoß
kuscheln und ein gutes Buch lesen.
Was sollte sie eigentlich tun, wenn Logan nicht wiederkam? Wenn
ihm etwas zugestoßen war? Warum sonst sollte er so lange wegbleiben? Er
wusste doch, dass sie Angst hatte. Und er wusste, dass das Wetter
umschlug!
Als die dicken Tropfen laut auf das Polyester ihres Ponchos
aufschlugen, der Wind ihr wahre Sintfluten ins Gesicht trieb und sich die
Wolken bedrohlich hinab senkten, spürte sie, wie ihre Angst allmählich in
Panik umschlug. Sie trat dicht an den Rand des umzäunten Schachtes
heran und rief so laut sie konnte in die Tiefe: „Logan! Logan, kannst du
mich hören? Wo bleibst du so lange? Logan!“
Doch Logan antwortete nicht.
Der Angriff
Nachdem der Kommandant den Einsatzbefehl gegeben hatte, stiegen
zeitgleich zweiundzwanzig Apache Kampfhubschrauber von drei
Stützpunkten unweit Kabuls auf. Jeder Stützpunkt bedeutete eine Staffel
mit eigenen Angriffszielen. Staffel eins war die größte mit allein zehn
Hubschraubern. Staffel zwei umfasste sieben und Staffel drei fünf
Apaches. Im Tiefflug näherten sie sich der Stadt. Ihre Rotoren
verursachten einen höllischen Lärm. Ihr Anblick bot ein
furchteinflößendes Szenario.
Staffel zwei erreichte die Stadt zuerst. Den Kommandanten überfiel
ein wohliger Schauer, als sich die sieben Apaches im geordneten
Formationsflug aus Nordwesten näherten. Zunächst waren sie nur als
kleine Punkte zu erkennen. Nur allmählich schwoll der tiefe Sound ihrer
Rotorblätter an.
Die Symphonie der Macht. Diese Scheiß Islamisten mit ihren
verrosteten Kalaschnikows hatten ihnen nichts entgegenzusetzen. Endlich
konnte er jeden Hubschrauber mit bloßem Auge ausmachen. Sie flogen in
V-Formation. Natürlich. Der Führungshelikopter vorne. Dahinter zwei
weitere, dahinter nochmal vier. Metergenaue Abstände. Was für ein
erhabener und imponierender Anblick. Diese Piloten waren Virtuosen der
Lüfte.
Als sich Staffel zwei bis auf rund zwei Kilometer genähert hatte,
tauchte im Südwesten Staffel drei auf. Die kleinste Staffel. Sie flogen in
einer nicht weniger beeindruckenden Dreiecksformation. Dann näherte
sich Staffel zwei Kabul auf Zielreichweite. Synchron feuerten die sieben
Apaches ihre Luft-Boden-Raketen ab. Ein überwältigender Anblick, als
sich die Raketen ihren Zielen in Bruchteilen von Sekunden näherten,
begleitet von einem grellen Feuerstoß. Schon schlugen sie ein. Jede traf
ihr Ziel. Aus dieser Entfernung gab es keine Fehlschüsse. Jedes Ziel trug
schwere Schäden davon. Die Explosionen waren in der Kommandozentrale
gut zu hören. Rauchschwaden stiegen auf. Aber der Kommandant wusste,
dass zu viel von diesem feigen Pack noch nicht das Zeitliche gesegnet
hatte. Aber das würde sich gleich ändern...
Danksagungen

Auch bei diesem Roman haben mich viele Menschen mit ihrem
Fachwissen, kreativen Ideen und kritischen Rückmeldungen begleitet. Das
Wissen und die Hilfebereitschaft dieser Menschen waren für „VIRUS –
Der letzte Anschlag“ ein wichtiger Input! Ich war erstaunt, wie nahe die
Fiktion der Realität ist. Und es ist überaus faszinierend, in so viele
spannende Welten einzutauchen! Ich bedanke mich herzlich für diese
wertvolle Unterstützung!
Allen voran danke ich der wunderbaren Frau an meiner Seite, die mich
inspiriert und meinen gesamten Schreibprozesses kreativ und ideenreich
begleitet hat.
Frank Behling, Schiffs- und Militärexperte der „Kieler Nachrichten“.
Frank hat mit erklärt, welche Schiffstypen es gibt, für welche Arten von
Einsätzen sie geeignet sind und wie im Speziellen Atom-U-Boote
funktionieren und wie gefährlich sie sind.
Prof. Dr. Helmut Fickenscher, Direktor des Instituts für Infektionsmedizin
in Kiel. Prof. Fickenscher hat mich umfassend über die verschiedenen
Arten, Wirkungsweisen und die Gefährlichkeit von Viren aufgeklärt. Wir
haben auch über die Möglichkeiten einer mikrobiologischen Veränderung
von Viren gesprochen.
Dr. Wolfram Geier, Bundesamt für Bevölkerungsschutz und
Katastrophenhilfe, Bonn. Dr. Geier hat mit erklärt, wie Katastrophenschutz
funktioniert, nicht nur in Deutschland, sondern weltweit. Er hat aufgezeigt,
wann der Katastrophenschutz an seine Grenzen stößt und die
Terroranschläge in „VIRUS – Der letzte Anschlag“ hinsichtlich ihrer
Gefährdung und Beherrschbarkeit im realen Katastrophenfall beurteilt.
Dr. Steffen Kutterolf, Vulkanologe, GEOMAR Helmholtz-Zentrum für
Ozeanforschung Kiel und Universität Kiel. Steffen hat mir erklärt, wie ein
Supervulkan funktioniert, welche dieser Giganten besonders gefährlich
sind und unter welchen Bedingungen ein „schlafender Drache“ durch
äußere Einflussnahme geweckt werden könnte. Steffen hat außerdem Teile
meines Textes fachlich geprüft.
Prof. Dr. Rolf Langhammer, Institut für die Weltwirtschaft IFW. Prof.
Langhammer hat mir geholfen, die Auswirkungen globaler Katastrophen
auf die Weltwirtschaft und die Wechselwirkungen zwischen den
Volkswirtschaften zu verstehen und als Gedankenspiel so etwas wie eine
„ideale Volkswirtschaft“ zu entwickeln. Prof. Langhammer hat außerdem
Teile meines Textes fachlich geprüft.
Prof. Dr. Mojib Latif, Ozeanzirkulation und Klimadynamik, GEOMAR
Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel und Universität Kiel. Prof.
Latif hat mich über den aktuellen Stand der Forschungen über den
Golfstrom informiert. Und wir haben über Kontinentalhänge und die
möglichen Klimafolgen des Ausbruchs eines Supervulkans gesprochen,
die bei weitem schwerwiegender wären als ein Versiegen des Golfstroms.
Prof. Latif hat darüber hinaus Teile meines Textes fachlich geprüft.
Prof. Dr. Thomas Lux, Lehrstuhl für Geld, Währung und Internationale
Finanzmärkte, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Prof. Lux hat mir
erklärt, wie Volkswirtschaften auf solche Anschläge reagieren würden und
welches Gefährdungspotenzial von solchen Katastrophen ausgeht. Prof.
Lux hat außerdem Teile meines Textes fachlich geprüft.
Prof. Dr. Werner Ruf, Kassel. Werner Ruf ist Professor für Internationale
und intergesellschaftliche Beziehungen und Außenpolitik. Er hat mich
rund um das Thema Islam beraten. Es war mir wichtig, dieses Thema
realitätsnah zu behandeln, aber nicht polemisch oder wertend. Prof. Ruf
hat außerdem Teile meines Textes fachlich geprüft.
Paul Wagner, Atomspezialist. Paul hat mich über die unterschiedlichen
Arten von Atomwaffen aufgeklärt, mir ihre grauenvolle Wirkungsweise
erklärt und Teile meines Textes fachlich geprüft.
Nils W. aus M., der mir von seinen Erlebnissen bei seinem
Auslandseinsatz erzählt hat. Erst dadurch habe ich ein Verständnis dafür
entwickelt, was es heißt, im Nahen Osten stationiert zu sein. Und vielen
Dank, dass Du mir eine Uniform besorgt und mich bei unseren
Dreharbeiten unterstützt hast!
Marco Kindermann und sein Team, die meinen Social Media Auftritt
geplant und umgesetzt haben und mich auch zukünftig begleiten werden.
Ohne euch hätte ich das nicht geschafft!
Das Kieler Innovations- und Technologiezentrum, das uns Räume für
unsere Dreharbeiten zur Verfügung gestellt hat.
Der Deutsche Marinebund e.V., der uns freundlicherweise genehmigt hat,
in seinem berühmten U-Boot in Laboe, der U-995, zu drehen. Er wahrhaft
realistischer Schauplatz...
Hugo Hamann GmbH & Co. KG, Kiel, die mich großzügig mit diversen
Ausdrucken unterstützt haben.
Kai Teichmann, der mir sein sensationelles Foto für mein Cover zur
Verfügung gestellt hat.
Heiko Hartmann, für seine wertvollen Ratschläge rund um Kindle und
Social Media.
Meine Mutter und Christian, die mein Manuskript vorab gelesen und mir
viele wertvolle Tipps gegeben haben.
VIRUS – Der letzte Anschlag im Internet

Sie wollen mehr erfahren? Die Hintergründe zur Geschichte, Leseproben


und Videoclips finden Sie auch im Internet:

http://www.virus-buch.de

https://www.facebook.com/VirusDerletzteAnschlag/

https://www.youtube.com/channel/UCp9Zqn_0T7ktdm1Q5HjSecQ
Die Krimiserie des Autors im Emons Verlag

Der Südtirolkrimi
http://www.emons-verlag.de/programm/das-monster-von-bozen
http://www.emons-verlag.de/programm/eiszeit-in-bozen
http://www.emons-verlag.de/programm/goldrausch-in-bozen
http://www.emons-verlag.de/programm/schatten-ueber-bozen

Der Emslandkrimi
http://www.emons-verlag.de/programm/sterbenslang

Alle Krimis auch bei: http://www.burkhard-rueth-krimis.de/

Das könnte Ihnen auch gefallen