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Das Buch
Der Autor
Yanok
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Phase 1 Wave
Kapitel 42
Kapitel 43
Kapitel 44
Kapitel 45
Kapitel 46
Kapitel 47
Kapitel 48
Kapitel 49
Kapitel 50
Kapitel 51
Kapitel 52
Kapitel 53
Kapitel 54
Kapitel 55
Kapitel 56
Kapitel 57
Kapitel 58
Kapitel 59
Kapitel 60
Kapitel 61
Kapitel 62
Kapitel 63
Kapitel 64
Kapitel 65
Kapitel 66
Kapitel 67
Kapitel 68
Kapitel 69
Kapitel 70
Yanok
Die wichtigsten Protagonisten in alphabetischer Reihenfolge (Teil 1 und
2)
Leseproben Teil 2
Danksagungen
VIRUS – Der letzte Anschlag im Internet
Die Krimiserie des Autors im Emons Verlag
Auch wenn in diesem Roman handlungsbedingt einige Persönlichkeiten
des öffentlichen Lebens vorkommen, sind alle anderen geschilderten
Handlungen und Personen frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder
verstorbenen Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.
Das Buch
AURORA – eine weltweit tätige Stiftung gibt vor, die Menschheit vom
Terror zu befreien. Aber wer steckt wirklich hinter AURORA? Ein elitärer
Kreis selbsternannter Weltverbesserer? Oder doch die GESA, die
Gesandten Allahs? Nichts scheint unmöglich, während die Welt mehr und
mehr im Chaos versinkt!
***
***
***
Es ist brütend heiß. Kein Regen. Nur Hitze, Hitze, und nochmals Hitze.
Der ganze Sommer war so. Eine einzige Qual. Die Sonne flimmert über
der erhitzten Erde. Der heiße Wind wirbelt Sand und Unrat auf und
schleudert ihn in die Höhe.
Sie sind zu viert.
Sie haben Waffen.
Sie kennen keine Gnade.
Wieviel Zeit ist vergangen? Zehn Minuten? Zwanzig? Eine Stunde?
Was ist Zeit? Was spielt Zeit für eine Rolle?
Zeit ist nichts anderes als eine Maßeinheit des Grauens.
Die zweite Runde. Die zweite Maßeinheit des Grauens. Vier mal
zwei macht acht.
Hitze, Schweiß, beißender Gestank.
Heißer Atem, irre Blicke.
Boshaftes Lachen, lautes Gestöhne. Wie tollwütige Tiere.
Menschen, die achtlos vorübergehen.
Plötzlich Schüsse. Schreie. Blut, das in hohem Bogen aus zum
letzten Mal schlagenden Herzen schießt und den Sand rot verfärbt. Vier
leblose Körper am Boden. Die Augen weit aufgerissen.
Asche zu Asche.
Bekommt Zeit jetzt wieder eine andere Bedeutung?
Die Männer erhoben sich und stießen an. Tschechow ballte die freie
Hand zur Faust. „Das große Russische Reich erwacht aus seinem
Dornröschenschlaf! Aus unserem Willen erwachse ein ruhmreicher Staat
für ewige Zeit! Hol noch eine Flasche Wodka, Aljoscha. Ich will feiern.
Feiern und saufen! Nastrovje!“
Kapitel 7
Kabul, wenige Tage später
Aufgrund erhöhter Aktivitäten der Taliban herrschte im Lager der
Deutschen mehr Hektik als üblich. Die Wachen waren verstärkt worden.
Permanent patrouillierten bewaffnete Zweierteams durch das Lager. Auch
nachts.
Jamal wurde von Stunde zu Stunde nervöser. Spätestens in zwei
Tagen kam Pfeiffer. Was auch immer geschah, heute Nacht mussten sie
fliehen, auch mit dem Risiko, geschnappt zu werden. Gut, dass die Kinder
schliefen. Schlaf konnten sie gut gebrauchen. Es war fraglich, wann sie das
nächste Mal Gelegenheit dazu bekamen.
Jamal zog seine Frau zur Seite und erklärte ihr seinen einfachen
Fluchtplan: nach Einsetzen der Dunkelheit beobachten, wer Wache am
Haupttor hat. Sobald dort ein Soldat stand, den Jamal gut kannte,
versuchen, ihn zum Öffnen des Tores zu bewegen.
Erfolgsaussichten: gering. Alternativen: keine.
Viel konnten sie nicht mitnehmen. Wenn sie jetzt anfingen, großartig
zu packen, flogen sie auf. Also nur das Notwendigste in Jamals Rucksack:
Pässe, Geld, etwas zu essen und zu trinken, ein Kompass, die zweite
Walther-P1. Die Soldaten wussten, dass er die Waffe legal besaß. Er
konnte argumentieren, dass er sie für einen möglichen Angriff der Taliban
brauchte.
Nervös blickte Jamal abwechselnd auf seine Uhr und zog an seiner
Zigarette. Er merkte nicht, wie viel er rauchte. Und jetzt fing es auch noch
an zu schneien. Das war doppelt schlecht. Erstens hinterließen sie
deutliche Spuren und zweitens hatte sein Wagen keine Winterreifen. Doch
auf das Auto waren sie angewiesen, bis sie in Turkmenistan waren. Jamal
trat seine Zigarette aus und zündete sich eine neue an. Seine Nervosität
steigerte sich ins Unerträgliche. Denn jetzt setzte die Dunkelheit ein.
Gleich war es soweit. Müsste nur er alleine fliehen, wäre er viel ruhiger.
Doch die Verantwortung für seine Familie brachte ihn aus der Fassung.
Hoffentlich schaffen wir das. Allah, beschütze uns!
Und dann ging alles sehr schnell.
Plötzlich ertönte ein ohrenbetäubender Alarm, der gespenstisch
durch Dunkelheit und Schneetreiben dröhnte. In Bruchteilen von Sekunden
brach Chaos aus. Jamal wusste, was dieses durchdringende Geräusch
bedeutete: ein Angriff mit Raketenwerfern. Die Taliban waren nämlich gut
bewaffnet. Abgesehen von einem Sammelsurium an Schusswaffen aus
deutscher, amerikanischer und chinesischer Produktion, verfügten sie über
Panzerfäuste, Granaten und Raketenwerfer. Niemand konnte mit
Gewissheit sagen, woher sie die Waffen hatten. Wahrscheinlich gab es
mehrere Quellen wie illegalen Handel, Bestechung und Kriegsbeute.
Aber nicht jede Rakete oder Granate detonierte auch. Aber weil das
niemand wissen konnte, suchte jeder Schutz, sobald dieser Signalton des
Überwachungsballons ertönte. Jede Waffengattung hatte einen eigenen
Alarm, der automatisch ausgelöst wurde, wenn die Überwachungstechnik
des Ballons einen Geschosstyp identifiziert hatte. Von der Meldung des
Angriffs bis zu Sicherungsmaßnahmen vergingen nur Sekunden.
Raketenwerfer waren die gefährlichsten Waffen. Ihre Geschosse konnten
auch Soldaten töten, die hinter Mauern in Deckung gegangen waren.
Und das war ihre Chance!
Jamal rannte ins Zelt, schnappte sich seinen Rucksack und schrie:
„Los jetzt!“ Er riss seine Kinder aus dem Bett, die noch zu schlaftrunken
waren, um zu reagieren. Seine Frau hingegen wusste auch, was der Lärm
bedeutete. Als sie aus dem Zelt rannten, ein Kind in Jamals Armen, das
andere an der Hand der Mutter, schlug das Geschoss schon ein.
Gottseidank am anderen Ende des Lagers, denn diese Rakete detonierte
mit einem lauten Knall. Soldaten liefen hektisch durcheinander, von
überall waren Schreie zu hören. Unaufhörlich brüllte der Alarm. Das
perfekte Chaos.
„Jetzt oder nie“, schrie Jamal. Zielstrebig rannten sie auf das Tor zu.
Viele Soldaten kreuzten ihren Fluchtweg, doch niemand kümmerte sich
um sie. Als sie dicht an der Einschlagstelle der Rakete vorbeirannten, sah
Jamal, dass mehrere Soldaten regungslos auf dem Boden lagen und sich
der Schnee um sie herum rot verfärbte. Diesmal war es schiefgegangen.
Jamal betete für die Toten zu Allah, während sie sich dem Tor näherten.
Die Soldaten taten ihm leid. Doch was für eine Ironie des Schicksals, dass
ausgerechnet die Taliban seine Chancen, zu entkommen, dramatisch
erhöhten. Nur ein Soldat stand an dem massiven Stahltor. Jamal erkannte
ihn sofort. Der Zweimetermann gehörte zu den Sanitätern. Ein feiner Kerl.
Mit kaum jemandem kam Jamal besser zurecht. Dennoch richtete er sein
Sturmgewehr auf sie. Jamal konnte sehen, dass er kreidebleich war.
„Stehenbleiben, verdammt nochmal!“, befahl er.
Jamal bedeutete seiner Familie, stehenzubleiben und ging langsam
mit erhobenen Händen auf den Soldaten zu. „Ich bin es, Jamal“, sagte er in
beruhigendem Ton. Das waren entscheidende Sekunden. Der Soldat konnte
sie aufhalten. Oder seine Kameraden bekamen trotz des Chaos mit, was
am Ausgang geschah. Auch dann war es vorbei. Er blieb gut drei Meter
vor dem Hünen stehen und sagte ihm die Wahrheit. Warum sie fliehen
mussten, dass Major Wagner möglicherweise in eine Verschwörung
verstrickt war und dass der Sanitäter auch vorsichtig sein sollte. „Und
wenn du uns jetzt nicht gehen lässt, sprichst du damit unser Todesurteil.
Ich habe keine Wahl. Aber du.“
Jamal wusste, wie der Hüne tickte. Er war zu den Sanitätern
gegangen, weil er helfen wollte, nicht aber töten. Er nahm das Gewehr
runter und nickte. „Ich glaube dir, Jamal. Auch ich fand die Erklärung,
warum wir euch nicht aus dem Lager lassen sollen, merkwürdig. Wir
machen es so: Ihr verschwindet im Wachhäuschen. Ich laufe zu den Toten
und Verwundeten, wo ich in dieser Situation sowieso hingehöre. Aber
irgendwer musste ja das Tor bewachen. Sobald ich zwanzig Meter entfernt
bin, öffnest du das Tor. Deine Familie geht zuerst raus. Dann drückst du
auf „Schließen“ und läufst durch das Tor, bevor es sich wieder geschlossen
hat. Ich wünsche euch viel Glück, Jamal.“
Wortlos verschwand der Soldat. Sofort drängte Jamal seine Familie
in das Wachhäuschen und drückte die Taste „Öffnen“. Lautlos schwang das
Tor auf und wirbelte Schnee vom Boden auf. Jamal nickte seiner Frau zu.
Sie packte ihre Söhne und rannte mit ihnen durch das halboffene Tor
hinaus. Noch bevor es sich vollständig geöffnet hatte, betätigte Jamal
zweimal die „Schließen“-Taste. Das Tor stoppte, dann schwang es langsam
wieder zu. Im Hinausrennen blickte sich Jamal noch einmal um. Niemand
schien ihre Flucht zu bemerken. Er hoffte, dass der Major den Sanitäter
nicht für ihre Flucht verantwortlich machte.
Immer dichter wirbelten ihnen Schneeflocken ins Gesicht. In diesem
Augenblick bedeutete das einen Vorteil, da sie kaum auszumachen waren.
Doch der schwierigste Teil der Flucht stand ihnen erst noch bevor. Mehr
als zwei Stunden Fußmarsch bis zu ihrem Dorf, um das Auto zu holen und
die Pistole zu verkaufen. Jamal hatte für so etwas einen zuverlässigen
Kontaktmann, der zwar nur als Zwischenhändler fungierte, aber tausend
Dollar waren besser als nichts. Außerdem stellte der Mann keine Fragen.
Vielleicht konnten sie noch ein paar Sachen mitnehmen, vor allem warme
Pullover. Vorausgesetzt, der Major schickte keine Soldaten, die ihnen
auflauerten. Danach lagen sechshundert Kilometer bis zur Grenze vor
ihnen. Sechshundert Kilometer Gefahr. Durch die Taliban. Durch den
Major. Durch den Schnee.
Als sie ihr Dorf nach einem dreistündigen Marsch durch zehn
Zentimeter Neuschnee endlich erreichten, waren die Kinder am Rande der
Erschöpfung. Jamal beobachtete das Dorf. Nichts deutete auf ungebetene
Gäste hin. Jamal befahl seiner Familie, hinter den Felsen auf ihn zu
warten. Er nahm seine Pistole aus dem Rucksack und schlich in sein Dorf.
Niemand hielt sich im Freien auf. Alle suchten in ihren Hütten Schutz vor
Schnee und Kälte. Jamal ging zielstrebig zur Behausung seines
Kontaktmannes. Als er klopfte, öffnete der sofort und zog Jamal hinein.
„Wo kommst du her? Wo ist deine Familie? Ihr ward plötzlich
verschwunden. Ich habe mir große Sorgen gemacht!“
Jamal erklärte, was geschehen war und vage, was er vorhatte. Der
Mann prüfte Jamals Waffe. „Guter Zustand. Normalerweise würde ich
sagen: siebenhundertfünfzig.“
Jamal riss entsetzt die Augen auf. „Siebenhundertfünfzig Dollar?
Die ist doch mindestens zweitausend wert!“
„Ich sagte: normalerweise. Aber ich will euch helfen. Ich gebe dir
tausendzweihundert. Mehr ist nicht drin.“ Er musterte Jamals Ring.
„Schönes Stück. Der ist von deinem Vater, oder?“
Jamal nickte.
„Der ist wertvoll.“
Jamal nickte.
„Zweitausend für Pistole und Ring.“
„Niemals“, sagte Jamal entschieden. „Das ist ein Erbstück!“
„Das dir bei deiner Flucht aber nichts nützt. Davon abgesehen,
könnte es sein, dass ihr überfallen werdet. Dann ist der Ring ohnehin weg.
Und mit deinem Auto kommst du nur langsam voran. Ihr seid leichte
Beute.“
Jamal lächelte gequält. Der Mann hatte leider recht. Eigentlich hatte
er keine andere Wahl. „Einverstanden. Aber du legst noch vier neue Pässe
für uns drauf!“
Als er den Ring schon abziehen wollte, hob der Mann die Hand.
„Augenblick!“
„Was ist denn noch? Wir müssen zusehen, dass wir von hier
verschwinden!“
„Eben. Das Problem ist, dass ich gar nicht so viel Geld hier habe.“
Jetzt wurde Jamal wütend. „Was soll das? Warum sagst du das nicht
gleich? Ich verliere hier wertvolle Zeit!“
„Beruhige dich und folge mir.“
Ohne eine Antwort abzuwarten, trat der Mann aus dem
Hinterausgang hinaus auf seinen kleinen Hof. Die meisten Hütten hatten
Hinterausgänge. Für eine mögliche Flucht. Jamal folgte ihm. Der Mann
zeigte auf eine kleine Remise. „Ich glaube, das kannst du besser
gebrauchen als Geld.“
Jamal sah durch das Schneegestöber, dass in der Remise ein
Geländewagen stand.
„Mein Jeep gegen deine Pistole, deinen Ring und deine alte Karre.
Plus die vier Pässe. Und fünfhundert Dollar lege ich auch noch drauf.
Mehr kann ich nicht für dich tun. Der Jeep ist neuwertig. Starker
Dieselmotor, Klimaanlage. Vollgetankt. Reservekanister im Kofferraum.
Mit dem kommst du überall hin. Was sagst du zu meinem Angebot?“
„Dass ich sprachlos bin.“ Jamal zog den Ring von seinem Finger und
gab ihn dem Mann, zusammen mit seiner Pistole. „Komm mit in mein
Haus. Dort sind die Schlüssel für mein Auto. Ich nehme nur das Nötigste
mit. Und das bisschen Bargeld, das ich dort versteckt habe. Wir werden
niemals zurückkommen. Das Haus und alles, was du darin findest, möge
dir gehören.“
Wenig später fuhr Jamal mit seiner Familie Richtung Westen. Er
hatte sich doch für den Umweg über den Iran entschieden. Die Kinder
waren in den bequemen Sitzen schnell eingeschlafen. Auch seiner Frau fiel
immer häufiger der Kopf auf die Brust. Bei jeder Unebenheit, über die er
fuhr, schreckte sie wieder hoch. Der Jeep ließ sich sehr gut fahren. Sie
kamen viel rascher voran als befürchtet. Zweimal hatten sie Glück gehabt.
Zweimal hatte ihnen Allah die richtigen Menschen zur richtigen Zeit
geschickt. Hoffentlich war er ihnen auch weiterhin gnädig. Denn vor ihnen
lag eine Odyssee voller Gefahren.
Kapitel 8
Damaskus, Februar 2015
Oswald Pfeiffer vom BND und Richard Armstrong von der CIA waren am
Vortag mit ihren Gefangenen in Damaskus gelandet. Sie arbeiteten seit
Jahren vertrauensvoll mit dem syrischen Geheimdienst zusammen. In
Deutschland und den USA wurden Terrorverdächtige viel zu sehr durch
Gesetze und Menschenrechte geschützt. Es war unmöglich, sie zu
Geständnissen oder Hinweisen auf bevorstehende Anschläge zu bewegen.
Dabei waren diese Menschen doch nichts weiter als Abschaum. Was gab es
da zu schützen?
Zwar hatte der CIA Guantanamo Bay, aber dort waren die
Verhörmethoden nichts im Vergleich zu den Folterkellern von Damaskus.
Dort fand sich alles, was das Herz begehrte. Eine Folterkammer wie im
Mittelalter: Streckbank, Daumenschrauben, Stachelrollen und Garotten.
Aber auch so schlichte, nicht weniger effiziente Gedächtnisstützen wie
Messer, Klingen und Zangen, eisigem oder brühend heißem Wasser und
elektrischen Gerätschaften.
Pfeiffer und Armstrong hatten die Gefangenen, zwei auf deutscher,
drei auf amerikanischer Seite, direkt bei ihrer Ankunft an die syrischen
Sicherheitskräfte übergeben. Danach hatten sie sich mit Yefrem Abu Tarik
getroffen, dem Chef des syrischen Geheimdienstes und Mitglied des
Circle. Sie waren Freunde und teilten viele Ansichten. Nicht nur in der
Auswahl der besten Verhörmethoden.
Sie hatten wie immer vorab mit Yefrem besprochen, wer die
Gefangenen waren, welcher Taten oder Tatpläne sie bezichtigt wurden und
wie sicher ihre Tatbeteiligung war. Die war bei diesen Gefangenen sicher,
denn bei Unschuldigen führte Folter höchstens zu einem falschen
Geständnis. Und das nutzte weder dem BND noch der CIA. Es ging darum,
mit diesem nicht ganz einwandfreien Druckmittel Anschläge zu
verhindern, die viele Menschenleben kosten konnten. Ein paar Stunden
Schmerz, Verletzungen, vielleicht sogar der Tod eines Verbrechers als
Preis für das Leben vieler Unschuldiger waren ein gutes Preis-Leistungs-
Verhältnis. Zumal diese Art der Zusammenarbeit mit dem syrischen
Geheimdienst gängige Praxis war, die Politiker in den USA und Europa
stillschweigend billigten. Denn es war eine sehr erfolgreiche Praxis.
Yefrem hatte am Vorabend nicht ohne Stolz erklärt, dass er einen
hervorragenden Mann für diese anspruchsvolle Aufgabe gefunden hatte.
Es gab viele Männer, die ihr Handwerk verstanden und Gefangene
ausgesprochen redselig machen konnten. Aber dieser Mann hatte noch
mehr Talente. Eine ungewöhnliche Hingabe bei allem, was er tat. Ein
Mann mit Überzeugung, ein Mann mit Glauben und ein Mann von großer
Loyalität. Und ein Mann, der über das seltene Gespür verfügte, ob sein
Patient schuldig war oder nicht, ob also sein Geständnis echt war oder
nicht. Denn das war das Problem bei den etwas härteren Verhörmethoden.
Man konnte niemals sicher sein, ob der Befragte nicht aus reiner Angst
sagte, was sein Peiniger hören wollte. Vielleicht hatte ein
Terrorverdächtiger tatsächlich vor, einen Anschlag zu verüben, aber noch
keinen konkreten Plan. Er hatte nur die Absicht. Doch unter den
Schmerzen einer Folter dachte er sich ein Attentat aus, nicht mehr als ein
Produkt seiner Fantasie.
Und da kam eben Yefrems Mann ins Spiel. In wenigen Stunden
wussten Pfeiffer und Armstrong, ob ihre Gefangenen Anschläge geplant
hatten, die vereitelt werden konnten. Jeder vereitelte Anschlag versprach
zusätzliche Lorbeeren und diente der Karriere. Karrieren, die allerdings
von ganz anderer Seite befeuert wurden. Das war der Hauptgrund ihres
Besuches.
Abu Tarik hatte Pfeiffer und Armstrong morgens in ihrem Hotel
abgeholt. Damaskus war selbst für Agenten kein sicheres Pflaster mehr. Es
war nur eine Frage der Zeit, bis es eine Rebellion gegen das Assad-Regime
gab. Dann waren solche Besuche nahezu unmöglich.
Der Syrer führte seine Gäste in die Katakomben unter den Büros, wo
man vor neugierigen Blicken geschützt war und niemand die Gefangenen
schreien hörte. Yefrem hatte sie auf die blinde Seite des Einwegspiegels
geführt. Dahinter sahen sie nur zwei der Gefangenen. Einen von Pfeiffer
und einen von Armstrong. Offensichtlich wollte Yefrems Mann in zwei
oder drei Etappen vorgehen. Nur jeweils zwei, maximal drei Verbrecher.
Clever. So musste der eine mit ansehen, was mit dem anderen geschah und
seine Schreie hören. Das erzeugte von Anfang an Druck. Außerdem
bestand nicht die Gefahr, dass sich eine unerwünschte Gruppendynamik
entwickelte. Panik und Todesangst, die sich bei beiden Delinquenten
gegenseitig hochschaukelten. Ganz ausgezeichnet.
Die Gefangenen waren nackt und mit Handschellen an ein
Heizungsrohr unter der Decke gefesselt. Eine unangenehme und
schmerzhafte Position. Auch das war nur ein zermürbendes Druckmittel.
Ebenso wie diverse blaue Flecken und Hautabschürfungen am ganzen
Körper. Ein sicherer Hinweis, dass die Gefangenen von Yefrems Mann
schon angemessen auf das Verhör vorbereitet worden waren.
Abu Tarik schien die Bewunderung seiner Gäste in ihren Blicken zu
lesen und ihre Gedanken zu erraten. Denn er sagte: „Das mit den zwei
Gefangenen war nicht meine Idee. Das war seine.“ Er deutete auf eine Tür
hinter den Gefangenen, die sich in diesem Moment öffnete. Ein großer,
sehr kräftiger Mann mit schwarzen Haaren, schwarzem Bart und
grimmigem Gesichtsausdruck betrat den Raum. Armstrong schätzte, dass
er in seinem Alter war, Mitte vierzig. Er war mit seinen eins neunzig
schon groß, zudem muskulös und er konnte auch finster dreinblicken. Aber
mit seinem blonden Igelschnitt und dem Grübchen am Kinn konnte er
niemals so furchteinflößend wirken wie Yefrems Spezialist.
Der Mann ging langsam mit hinter dem Rücken verschränkten
Armen um die Gefangenen herum, baute sich vor ihnen auf, betrachtete sie
von oben bis unten und sprach kein Wort. Schon nach wenigen
Augenblicken waren die Nervosität und Angst der Terrorverdächtigen zu
sehen. In ihren Blicken, und in ihren sinnlosen Versuchen, sich
loszureißen.
„Darf ich vorstellen? Tarkan Jafari“, sagte abu Tarik voller Stolz.
„Kommt aus schwierigen Verhältnissen. Ist nicht dumm, spricht, neben
Englisch, auch Deutsch. Hatte kein Glück im Leben. Wahrscheinlich ist er
zu einem normalen Leben nicht fähig. Sicherlich ist er geschlagen und
misshandelt worden. Vielleicht noch Schlimmeres. Er hat nie darüber
gesprochen. Tarkan ist streng gläubig und möchte genau das unter Beweis
stellen. Deshalb war er von meinem Angebot sofort begeistert. Aber er ist
auch extrem aggressiv. Ich habe ihn zufällig entdeckt. Bei einer
Straßenschlägerei. Er hat drei Gegner grün und blau geprügelt, nur weil
einer aus der Gruppe ihn versehentlich angerempelt hatte. Der wollte sich
sogar entschuldigen. Doch noch bevor er seine Entschuldigungsformel
aussprechen konnte, war seine Nase gebrochen. Die beiden anderen
wollten ihrem Freund zu Hilfe eilen. Sie waren chancenlos. So eine
wütende Aggression. So ein vernichtender Hass. So etwas habe ich noch
nie erlebt. Und ich habe schon verdammt viel erlebt. Hätte ich nicht
eingegriffen, hätte er sie mit seinem Dolch massakriert, als sie schon
kampfunfähig auf der Straße lagen. Ich habe in seine Augen gesehen.
Darin lag abgrundtiefer Hass. Er war wild entschlossen, seine Opfer zu
töten. Ich wusste sofort, dass ich diesen Mann gut gebrauchen kann. Und
bis heute hat er mich nicht enttäuscht. Er folgt meinen Befehlen
bedingungslos. Er wird auch euch nicht enttäuschen. Viel Vergnügen bei
seiner einzigartigen Show. Exklusiv für euch! Ich bin in meinem Büro.“
Tarkan rief etwas in den Flur hinein, ohne seine Opfer aus den Augen
zu lassen. Kurz darauf betraten drei Männer den Raum und verteilten
diverse Folterinstrumente, Werkzeuge und Kabel auf zwei Stahltischen.
Erst jetzt fiel Armstrong auf, was er vorher vermisst hatte: eben jene
Instrumente. Denn die gehörten doch dorthin.
Ebenfalls sehr clever. Die Gefangenen ein bisschen verprügeln, dann
in einen kalten Raum bringen und sie in ihrer schmerzhaften Haltung und
entwürdigend nackt vorgaren. Um sie dann allein mit Blicken und
Schweigen unter Druck zu setzen. Danach wurde jedes Instrument einzeln
auf den Tischen aufgereiht. Direkt vor den Augen der panischen Opfer.
Was für ein perfider Psychoterror. Alle Achtung, dieser Tarkan Jafari
verstand sein Handwerk. Und dass es ihm höchsten Genuss bereitete, war
unverkennbar. Armstrong war gespannt, was er zuerst zum Einsatz bringen
würde. Vielleicht den Schlagstock, um den Gefangenen Schmerzen ohne
sichtbare Verletzungen zuzufügen? Oder direkt eine der zahlreichen
Stichwaffen?
Doch zunächst nahm Tarkan jedes Werkzeug einzeln in die Hand,
betrachtete es, unterzog es einem prüfenden Blick, polierte hier ein wenig,
kratzte dort nicht vorhandene Rostspuren ab, legte es behutsam wieder ab:
die obligatorischen Stichwaffen sowie Hämmer und Nägel. Den
Schlagstock. Eine Auswahl feiner und grober Zangen. Damit konnte man
einem Gefangenen extreme Schmerzen zufügen. Eine elektrische Nadel,
die sicherlich unangenehm hohe Spannungen erzeugen konnte. Ein
Elektrobohrer. Besonders rustikal und brutal. Und schließlich die Garotte,
das einzige Instrument, das nicht auf den Tischen lag, weil es zu groß war.
Damit konnte Jafari den Gefangenen die Luftröhre zupressen. Ganz
langsam. Eigentlich weniger ein Folter- als vielmehr ein
Hinrichtungswerkzeug. Aber man konnte den Druck ja auch wieder
lockern. Vielleicht hatte Tarkan die Garotte aber nur zwecks psychischen
Drucks auffahren lassen. Armstrong schätzte Yefrems Mann nämlich eher
so ein, dass er kleine, handliche Instrumente bevorzugte. Damit konnte er
besser gegen den Mann arbeiten. Direkter, Auge in Auge. So wie damals,
bei seiner Straßenschlägerei.
Nachdem Tarkan jedes einzelne Werkzeug sorgfältig begutachtet
hatte, trat er unvermittelt an die Gefangenen heran und bedachte beide der
Reihe nach und ohne Vorwarnung mit einer Salve kurzer, aber harter
Faustschläge in den Magen und die Genitalien. Sie wurden
zurückgeschleudert, aufgefangen allein durch die stählernen Handschellen.
Mit etwas Pech brach schon jetzt das erste Handgelenk. Ihre Schreie waren
gut zu hören.
Armstrong betrachtete Pfeiffer verstohlen aus dem Augenwinkel
heraus. Wenn er sich nicht täuschte, ging es seinem Kollegen genauso wie
ihm. Bis zum Schluss wollte er sich das Spektakel nicht ansehen.
Armstrong hatte kein Problem damit, einen Verbrecher mit einem Schuss
zu töten. Oder auch mit drei oder vier. Aber eine systematische Folter,
womöglich über Stunden oder gar Tage, übertraf seine Gewaltbereitschaft.
Umso erfreulicher war es, dass es Leute wie diesen Tarkan Jafari gab.
Leute ohne jegliche Skrupel. Wahrscheinlich sogar eine Spur sadistisch
veranlagt.
Tarkan trat von seinen Gefangenen zurück, aus denen nach den
Schlägen jegliche Spannung gewichen war, und begann, sie zu befragen.
Er stellte die richtigen Fragen. Seine Stimme war kalt. Eisig. Aber ruhig.
Die Gefangenen gaben Antworten. Aber falsche Antworten. Nicht die, die
Tarkan hören wollte. Und auch nicht die, die Pfeiffer und Armstrong hören
wollten.
Tarkan nahm mit einer geschmeidigen Bewegung die elektrische
Nadel vom Tisch und ging damit bedrohlich auf die Gefangenen zu. Er
schaute wiederholt von einem zum anderen, rieb sich nachdenklich das
Kinn. So, als könne er sich nicht entscheiden, wen er zuerst in seiner
Wahrheitsliebe bestärken sollte. Sicherlich war auch das nichts weiter als
ein psychisches Druckmittel. Er entschied sich schließlich für Armstrongs
Gefangenen. Er stieß ihm die Nadel hart in die Genitalien und drückte auf
einen Knopf. Die Reaktionen des Opfers legten den Schluss nahe, dass sich
Tarkan von Anfang an für eine eher hohe Spannung entschieden hatte. Das
war genau richtig. Die Männer mussten begreifen, dass sie keine Schonzeit
hatten. Es ging sofort zur Sache.
Um ansatzlos zu solch drastischen Maßnahmen greifen zu können,
bedurfte es einer großen Brutalität und Skrupellosigkeit. Yefrem hatte aber
auch wirklich ein Händchen für die richtigen Leute. Das musste der Neid
ihm lassen. Als Armstrongs Gefangener zum ersten Mal ohnmächtig
wurde, wiederholte Jafari die Prozedur bei Pfeiffers Mann. Der hielt etwas
länger durch.
Als die Gefangenen aus ihrer Bewusstlosigkeit erwachten, versah
Tarkan sie mit ein paar schlichten Ohrfeigen. Allerdings recht kräftigen
Ohrfeigen, die laut durch den Raum hallten und die Köpfe der Opfer so
heftig zur Seite schleuderten, dass Armstrong schon befürchtete, sein
Gefangener könne sich das Genick gebrochen haben. Doch er lebte noch.
Vermutlich war auch das nur eine Art Aufwärmübung.
Erneut stellte Tarkan Fragen. Diesmal waren die Auskünfte schon
etwas gehaltvoller. Aber immer noch nicht gehaltvoll genug.
Als Tarkan zu einer eher kleinen Zange griff, die nach Armstrongs
Kenntnissen dem Entfernen von Finger- oder Fußnägeln diente, schlug er
vor, doch in aller Ruhe in Yefrems Büro einen Kaffee zu trinken, mit ihm
über die strategischen Pläne zu sprechen und unterdessen Jafari seine
Arbeit verrichten zu lassen. Pfeiffer stimmte sofort begeistert zu.
Bevor sie die Tür von außen schlossen, konnten sie noch einen
gellenden Schrei hören. Es war aber nicht zu erkennen, ob der Schrei von
dem deutschen oder dem amerikanischen Gefangenen stammte. Die
Stimme war zu hoch, zu schrill, um sie einer Person zuordnen zu können.
Armstrong stellte beruhigt fest, dass sie keinen Augenblick zu früh
gegangen waren.
Yefrems Büro war für seine Position eher schmucklos. Aber
Armstrong wusste, dass er sich nichts aus Luxus in seinem Arbeitsumfeld
machte. Das behielt er seinem Privatbereich vor. Villa mit Pool, Mercedes
S-Klasse, teure Uhren. Aber vor seinen Untergebenen wollte er nicht
protzen. Das stand ihm zwar zu, war aber nicht förderlich für die
Arbeitsmoral. Eine Meinung, für die Armstrong Abu Tarik schätzte. Und
nicht nur dafür.
Der Geheimdienstchef kochte sehr fein gemahlenes Kaffeemehl in
einem Kupferkesselchen und verteilte kleine Tassen.
„Verdammt guter Mann, dieser Tarkan Jafari“, stellte Pfeiffer
anerkennend fest. „Kennt weder Mitleid noch Skrupel. Aber wie fähig ist
er wirklich? Ist er auch für anspruchsvollere Aufgaben geeignet?“
Abu Tarik schüttete vorsichtig den brühendheißen Kaffee in die
Tassen. „Darüber will ich mit euch sprechen. Wie läuft es denn mit den
Russen?“
Armstrong nippte an seinem Kaffee. „Nach Plan. Aber die
Manipulation der U-Boote stellt uns vor eine große Herausforderung.“
„Das kann ich mir vorstellen.“ Abu Tarik nahm bedächtig einen
Schluck des starken Kaffees, darauf achtend, dass der Bodensatz blieb, wo
er war. „Doch das ist eure Angelegenheit. Aber es geht ja auch um den Job
in Sibirien. Um Phase zwei.“
„In der Tat“, bestätigte Armstrong, der sich wunderte, dass ein
Kaffee so stark sein konnte. „Ice ist technisch einfacher, aber riskant. Ein
alter Freund aus Harvard hat schon die nötigen Fäden gezogen. Und wir
haben noch genug Zeit. Am Anfang stehen ohnehin die
Forschungsprojekte.“
„Mag sein“, sagte Abu Tarik nachdenklich. „Umso mehr brauchen
wir für Sibirien einen absolut verlässlichen Mann. Eben wegen der
Risiken, von denen du sprichst, Richard. Immerhin ist Ice die Krone von
AURORA. Die Phasen eins und drei mögen schlimmstenfalls scheitern.
Aber keinesfalls zwei. Nur Phase zwei erzielt auch unabhängig von den
anderen Phasen die erforderliche Wirkung. Deshalb denke ich dabei an
Tarkan.“
Armstrong blickte nachdenklich aus dem Fenster. In der Ferne sah er
Rauch aufsteigen. Vielleicht war in der Nähe ein Geschoss eingeschlagen.
„Wäre es nicht besser, damit jemanden aus dem Circle zu betrauen? Wer
immer die Mission leitet, trägt eine große Verantwortung. Und muss
absolut loyal sein. Voll und ganz hinter der Sache stehen.“
„Eben. Deshalb halte ich Tarkan für die ideale Besetzung. Seine
Dankbarkeit und Loyalität mir gegenüber kennen keine Grenzen. Ich
werde ihm vor Augen führen, dass er als Gesandter Allahs eine heroische
Aufgabe übernimmt, die ihm seinen Platz im Paradies sichert. Diese
Motivation ist bei ihm wirkungsvoller als Geld. Und eines dürfen wir nicht
vergessen: Die Mission in Sibirien mag wissenschaftlicher Natur sein.
Aber es ist möglich, dass sich auch in der Einöde unvorhergesehene Dinge
ereignen. Und was wir dann brauchen, ist absolute Kompromisslosigkeit.“
Pfeiffer schürzte die Lippen. „Ein Team von Wissenschaftlern im
Niemandsland. Was sollte da an unvorhergesehenen Dingen geschehen?“
„Schon die Fahrt ist gefährlich“, wandte Armstrong ein. „Kontrollen
durch die Wasserschutzpolizei. Oder durch die russische Marine.
Vielleicht tauchen in Sibirien Soldaten auf. Oder andere Forschungsteams.
Wenn bei einer Kontrolle Waffen gefunden werden, kann es brenzlig
werden. Unser Führungsoffizier sollte bereit sein, nötigenfalls auch zu
unkonventionellen Maßnahmen zu greifen.“
Yefrem prüfte die Tassen seiner Gäste und füllte sie erneut, ohne zu
fragen. Er kannte ihre Gewohnheiten.
„Genau das meine ich. Und da wir uns in Zurückhaltung üben
müssen, wäre es schlecht, wenn bei Gefahr ein bekanntes Gesicht aus
Politik oder Wirtschaft auftauchen würde. Tarkan kennt niemand. Und ich
lege meine Hand für ihn ins Feuer. Nur weil er aus chaotischen
Verhältnissen stammt, heißt das noch lange nicht, dass er dumm ist. Im
Gegenteil, er ist sogar sehr intelligent. Einer der intelligentesten Krieger,
denen ich je begegnet bin. Ihr habt ihm bei seiner Arbeit zugesehen. Ihr
dürft davon ausgehen, dass ihr bald eure Geständnisse habt. Und diese
Konsequenz wird Tarkan auch in einer Krisensituation in Sibirien oder auf
dem Weg dorthin zeigen. Wichtig ist, dass er seine Mission erfüllt. Aber
wenn nicht, dürfen die Spuren nicht zu uns führen.“
„Der Kaffee ist der beste, den ich je getrunken habe“, sagte Pfeiffer
anerkennend. „Wie groß schätzt du denn die Gefahr ein, dass Tarkan, falls
sie ihn schnappen, unter Folter auspacken würde? Nicht, dass ihm jemand
glauben würde, aber dennoch...“
„Gering. Tarkan kennt keine Schmerzen. Er tickt nicht wie eure
üblichen Terrorverdächtigen. Seine Mission steht über allem, weil es eine
göttliche Mission ist. Weil ich ihm genau das eintrichtere. Er ist davon
überzeugt, dass er umso schneller ins Paradies kommt, je mehr Schmerzen
er erträgt. Wer von uns könnte das von sich behaupten? Und wie du schon
sagst, Oswald, wer würde einem wie ihm glauben, wenn die Aussage eines
Offiziers, Politikers oder Nobelpreisträgers gegen seine steht?“
Pfeiffer rieb sich nachdenklich das Kinn. „So weit so gut. Wie
geeignet ist er denn für das Projektmanagement? Eine zweckmäßige und
zuverlässige Mannschaft zusammenstellen, Ausrüstung und Waffen
besorgen, Routenplanung, die nötigen Genehmigungen einholen und, und,
und?“
„Das meine ich mit sehr intelligent. Er ist nicht nur eine
Kampfmaschine, sondern auch ein hervorragender Anführer und Manager.
Seine Mission ist zwar nur ein Baustein von AURORA. Aber der
entscheidende. Ich bin davon überzeugt, dass er uns bringen wird, wonach
wir suchen.“
„Gut, ich muss noch mit meinen Kontaktleuten im Weißen Haus
sprechen. Aber ich gehe davon aus, dass sie zustimmen werden. Bitte
achte darauf, dass Tarkan auch und vor allem Europäer akquiriert. Eine
Mission ins ewige Eis, die nur aus Arabern besteht, wäre zu auffällig.“
Yefrem nickte. „Das ist selbstverständlich. Tarkan erledigt das. Für
Geld bekommt er jeden. Und Geld haben wir mehr als genug. Also, meine
Freunde, auf AURORA!“
Pfeiffer legte die Stirn in Falten. Was er zu sagen hatte, würde die
Stimmung trüben. Aber das ließ sich nicht vermeiden. „Das ist alles sehr
erfreulich. Ich habe aber auch eine schlechte Nachricht. Vielleicht kann
uns Tarkan helfen, auch dieses Problem aus der Welt zu schaffen.“ Er
leerte seine Tasse und stellte sie ab. „Jamal Akbar ist es gelungen, zu
entkommen. So wie es aussieht, hat er die Konfusion bei einem
Talibanangriff genutzt, um mit seiner Familie zu fliehen.“
Jetzt legte Abu Tarik die Stirn in Falten. „Ich weiß nicht, wovon du
sprichst.“
„Dieser Sprachmittler aus Kabul! Erinnerst du dich nicht? Er hat
unser Gespräch mit Wagner belauscht.“
Abu Tarik nickte. „Richtig, jetzt erinnere ich mich wieder. Du
wolltest ihn und seine Familie doch auf dem Flug nach Deutschland
verschwinden lassen. Was ist schiefgelaufen und wie gefährlich ist der
Mann?“
Pfeiffer zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Edmund hält ihn
für harmlos. Und du warst ja selbst dabei, Yefrem. Was sollte er aus den
paar Wortfetzen, die er mitbekommen hat, schon für Schlüsse ziehen? Und
an wen sollte er sich damit wenden? Leider wissen wir nicht, wohin er
fliehen will. Folglich kennen wir auch seinen Fluchtweg nicht. Edmund
meinte, Akbar hätte Freunde in Pakistan. Vielleicht will er sich dort
verkriechen. Aber wir haben nicht genug Personal für eine langatmige
Suche. Oder sollen wir Akbar offiziell des Hochverrats beschuldigen und
anklagen? Dann würde von offizieller Seite nach ihm gefahndet. Irgendein
Grund wird uns schon einfallen.“
Armstrong hob abwehrend die Hände. „Ich kenne diesen Jamal
Akbar nicht. Aber bitte bedenkt, dass es in dieser Phase kaum Risiken gibt.
Die fangen an, wenn die Forschungstrupps unterwegs sind, und erst recht,
wenn sie Ergebnisse liefern. Lasst den Mann laufen. Bloß keinen Wirbel
veranstalten, durch den wir unnötig auffallen.“
Abu Tarik stimmte Armstrong zu. „Allerdings würde ich
vorschlagen, dass ich in den Ländern, in denen ich gute Kontakte habe,
eine kleine Suchanfrage starte. Ich muss ja nicht gleich von Hochverrat
sprechen. Er könnte etwas gestohlen haben. Das wäre eine kleine Chance.
Tarkan würde ich dafür nicht abstellen. Den brauchen wir für
vordringlichere Aufgaben.“
Kapitel 9
Adams Island, März 2015
Ethan Dearing rannte über die grünen Matten des weiten Hochlandes um
sein Leben. Sein Vorsprung war hauchdünn. Er spürte Tarkan und den
anderen in seinem Nacken. Seine einzige Chance war sein Motorboot an
der Küste, mit dem er, entgegen der Anweisungen, alleine gekommen war.
Es war den Teilnehmern untersagt, die Insel ohne Begleitung zu betreten.
Jemand aus dem Führungskreis empfing die Gäste an der Küste und
geleitete sie auf die Insel. So sahen es die Statuten vor.
Aber Ethan war nicht blöd. Er hatte gleich bei seinem ersten Besuch
erkannt, wo er sich befand. Wie oft war er schon mit seiner Yacht an den
kleinen, weit verstreuten Inseln zwischen Neuseeland und dem
antarktischen Eisschild vorbeigefahren. Er fand diese einsamen,
menschenleeren Landschaften faszinierend. Außerdem erforderten die
starken Westwinde, das unberechenbare Treibeis und die heimtückischen
Felsen großes seemännisches Geschick. Eine Herausforderung für einen
Skipper wie ihn. Und weil er diesmal nach seinem Besuch auf
Erkundungstour gehen wollte, war er mit seiner Yacht gekommen. Das
hatte ihm zwar Ärger eingebracht, aber den nahm er für sein Hobby gerne
in Kauf.
Hätte er jedoch vorher gewusst, was ihn erwartete, wäre er gar nicht
erst gekommen. Er wäre nie mehr gekommen, sondern hätte sich sofort an
das FBI gewendet. Vielleicht war es dafür noch nicht zu spät. Er musste
nur sein Boot erreichen.
Ethan blickte sich um. Tarkan war vielleicht zweihundert Meter
hinter ihm. Zu weit für seine Glock. Und erst recht für sein martialisches
Schwert. Das Ding musste ziemlich schwer sein. Was wollte er damit,
wenn er jemanden verfolgte, der sich ohne Gepäck in unwegsamem
Gelände schnell bewegte? Sei´s drum, das war nicht sein Problem. Der
andere bereitete ihm im Moment viel mehr Sorgen. Denn er konnte ihn
nicht mehr sehen. Wenn dieses verdammte Eiland wenigstens Deckung
böte. Wälder, Sträucher, irgendwas. Fehlanzeige. Nur Gras, soweit das
Auge reichte.
Ethan schätzte die Entfernung bis zur Küste ab. Noch knapp zwei
Kilometer. Er müsste es schaffen. Sofort auf´s Boot und nichts wie weg
von hier. Wenn Tarkan ihn zu fassen kriegte, war es aus. Wo war nur der
andere? Egal, um den konnte er sich nicht kümmern.
Plötzlich zerriss ein Schuss die Stille. Ethan drehte sich im Laufen
um. Tarkan war stehengeblieben und schoss. Was für ein Idiot! Ethan lief
zickzack. Ein zweiter Schuss. Noch mehr Schüsse, dann Stille. Gut. Das
erhöhte seinen Vorsprung auf mehr als dreihundert Meter, als auch Tarkan
nach etlichen Fehlschüssen wieder losrannte. Ethans Lungenflügel
brannten. Er war schon an die drei Kilometer im Sprinttempo gerannt.
Bergauf, bergab, durch hohes Gras. Gegen den Wind. Er war am Ende
seiner Kräfte. Aber stehenbleiben bedeutete den Tod. Er musste laufen!
Immer weiter!
Endlich sah er sein Boot vor sich. Noch tausend Meter. Der andere
war bestimmt erschöpft und lag nach Atem ringend im Gras. Wie gut, dass
Ethan sich mit Waldläufen fit hielt. Das rettete ihm jetzt das Leben. Aufs
Boot springen, nicht umdrehen, Motor an, volle Pulle aufs offene Meer,
sofort die Küstenwache informieren und dem Schrecken ein Ende bereiten.
Denn was er erst jetzt begriffen hatte, und weswegen er auf der Flucht war,
hatte ihn schockiert.
Er war mittlerweile schon einige Male auf Adams Island gewesen,
der kleinen unbewohnten Insel im Schatten der Auckland Islands. Wenn
man über die entsprechenden Mittel verfügte, konnte man dieses wilde
Eiland hervorragend nutzen, um den Weltuntergang zu planen. Als Ethan
dem Ruf der Stiftung gefolgt und vor einigen Monaten zum ersten Mal zu
der versteckten Anlage im Herzen der Insel gekommen war, auf weiß Gott
wie vielen Umwegen, war er davon ausgegangen, von einem elitären
Zirkel eingeladen worden zu sein, der in der Lage war, die Welt, unter
anderem mit seinem Wissen, vom Terrorismus zu befreien.
Die beiden ersten Treffen bei der Stiftung mit dem poetischen
Namen AURORA waren noch unverfänglich gewesen, wenngleich ihn
schon da erste Zweifel beschlichen hatten. Sibirien machte als Ziel seines
Forschungsauftrags angesichts der neuesten, alarmierenden Erkenntnisse
über die Permafrostböden zwar Sinn. Es bestand die ernstzunehmende
Gefahr, dass dort Viren und Bakterien lauerten, die nur darauf warteten,
aus der Eisstarre zu erwachen und ihr unheilvolles Werk zu verrichten.
Aber die Möglichkeiten einer mikrobiologischen Manipulation des
isolierten Materials und die Entwicklung eines neuen Impfstoffs als
zentrale Fragestellungen seiner Forschung waren ihm spanisch
vorgekommen.
So hatte David Moore in seiner ominösen Rede angekündigt, dass
der große Ethan Dearing zu einem Meilenstein der Weltgeschichte würde,
weil seine Meriten als Virologe von Weltruhm den Weg zu einem neuen
Zeitalter ebnen würden. Ethan hatte nicht verstanden, was Moore damit
sagen wollte. Und noch weniger, warum er im Anschluss an seine
merkwürdige Rede diesen Tarkan Jafari auf die Bühne geholt und als
zentrales Element der Strategieumsetzung vorgestellt hatte. Tarkan, von
dem Ethan nie zuvor gehört hatte, war unverkennbar arabischer
Abstammung. Schwarze Haare und Augen, dunkler Teint, nicht unattraktiv.
Sehr maskulin. Aber aggressiv, ein wild entschlossener Gesichtsausdruck,
der keine Zweifel ließ, dass er wusste, warum er dort auf der kleinen
Bühne in der unterirdischen Festung im Niemandsland stand.
Einer Festung, die von außen nicht zu erkennen war. Denn sie war in
den Fels hinein gebaut worden. Ein unterirdischer Komplex mit
modernster, aber auch längst überholter Technik, bis hin zu Faxgeräten.
Die Zugänge waren perfekt getarnt. Auch das hatte Ethan misstrauisch
gemacht. Warum sollte sich eine gemeinnützige Stiftung unter der Erde
einer unbewohnten Insel verkriechen?
Die Gruppe der Zuhörer war überschaubar gewesen. Mehr als beim
ersten Treffen, aber trotzdem weniger als dreißig Teilnehmer. Einige
kannte Ethan von den vorherigen Treffen und den Gesprächen, für die
teilweise veraltete Funkgeräte benutzt wurden. Faxgeräte und Walkie
Talkies. Analoge Technologie aus der Steinzeit. Was für ein Schwachsinn.
Aber ganz allmählich, spätestens nach dieser denkwürdigen Ansprache des
Generals, hatte Ethan begriffen, dass das keineswegs schwachsinnig war,
sondern im Gegenteil genial.
Nach Davids Auftritt und der Kurzvorstellung des arabischen
Schweigers, hatte Ethan Andrew noch im Sitzungssaal um ein Gespräch
gebeten. Er wollte wissen, worum es bei dieser ominösen Veranstaltung
wirklich ging. Andrew hatte ihn nur verwundert angesehen und gesagt,
dass Ethan das nach den zahlreichen Vorgesprächen doch längst begriffen
haben müsste. Es gehe darum, mögliche Terrorziele in der Natur zu
identifizieren und vor Angriffen zu schützen.
Aber Ethan hatte das gar nicht für bare Münze genommen.
Denkansätze waren das für ihn gewesen, die Möglichkeit, Bedrohungen
aus der Natur zu begegnen, mehr nicht. Aber was die Stiftung plante,
waren detaillierte Anweisungen für Terroranschläge ungeahnten
Ausmaßes. Deshalb hatte er Andrew eröffnet, dass er aussteigen und
Adams Island umgehend verlassen würde. In dem Augenblick, als Andrew
Tarkan zugenickt und der seine Glock gezückt hatte, begriff Ethan, dass er
sich in höchste Lebensgefahr begeben hatte. Er hatte die ganze Situation
komplett fehlgedeutet, weil seine Fantasie und sein Vorstellungsvermögen
für ein solches Szenario nicht ausreichten. Hier ging es ganz und gar nicht
um den Schutz von Terrorzielen. Denn das wäre kein Grund, einen Killer
auf ihn zu hetzen. Da würde ein Pochen auf die Erfüllung seiner Verträge
mit AURORA völlig ausreichen.
Seine Yacht! Noch zweihundert Meter, zum Schluss noch eine kurze
Kraxelei die Steilklippe hinab. Tarkan war noch weiter zurückgefallen. In
wenigen Augenblicken hatte er es geschafft.
Nachdem Tarkan die Waffe gezogen hatte, hatte Ethan blitzschnell
reagiert. Er hatte Andrew gepackt und dem heranstürmenden Tarkan
entgegengeschleudert. Beide waren mit einem lauten Poltern zu Boden
gegangen. Ethan war sofort in Richtung Ausgang gesprintet. Der General
stellte sich ihm in den Weg. Die anderen Teilnehmer waren wie
versteinert. Weil Ethan in vollem Lauf war, konnte er den Soldaten
mühelos zu Boden stoßen, der sich unter Flüchen wieder aufrichtete und
schrie: „Lasst ihn unter keinen Umständen entkommen!“ Doch als Tarkan
und der Andere losliefen, war Ethan schon draußen.
Er erreichte den kleinen Felsabsatz. Seine Todesangst wich einem
Gefühl des Triumphes. Rückwärts kletterte er die paar Meter ab, ruhig und
konzentriert in der sicheren Drei-Punkt-Technik, die er bei jeder
Klettertour konsequent anwendete. Er hörte das Rauschen der meterhohen
Wellen, aufgepeitscht durch den stürmischen Wind. Gischt spritze ihm in
den Nacken. Eigentlich genau sein Ding. Aber jetzt ging es nur darum, zu
verschwinden und dem Wahnsinn ein Ende zu bereiten.
Plötzlich brach unter seinem Fuß krachend ein großer Stein ab, den
er für einen sicheren Tritt gehalten hatte. Fast hätte er das Gleichgewicht
verloren, doch er reagierte blitzschnell und sprang von der Wand ab, auf
einen Felsvorsprung. Er blickte nach unten. Er sah den Sand, kaum zwei
Meter unter ihm. Wenn Tarkan jetzt oben am Rand der Klippe erschien,
war er verloren. Ohne zu zögern, stieß sich Ethan erneut von der Felswand
ab und landete im weichen Sand. Sofort sprang er wieder auf und griff
dabei in seine Jacke. Das Klimpern des Schlüsselbundes erschien ihm wie
eine Erlösung. Mit einem Hochgefühl sprintete er auf sein Boot zu, keine
fünf Meter mehr entfernt. Er löste den Blick vom Sand und schaute zu
seiner Yacht, die für ihn die Rettung bedeutete.
Und dort stand er. An der Reling, breitbeinig, mit einem boshaften
Grinsen im Gesicht. Der Andere. Es musste einen kürzeren Weg an die
Küste geben. Als Ethan realisierte, dass der Mann eine Waffe auf ihn
richtete, fiel auch schon der Schuss. Ein Knall. Möwen flogen mit lautem
Geschrei davon.
Ethan spürte einen harten Schlag an seinem rechten Oberschenkel.
Kaum Schmerzen, aber er sah, wie sich seine Jeans dunkel verfärbte. Er
fiel zu Boden. Der Mann sprang von der Yacht und baute sich drohend
über ihm auf. Auch Tarkan war inzwischen da. Die Männer sprachen
aufgeregt miteinander. Schließlich packte der Andere Ethan am Kragen
und riss ihn brutal hoch. Als Ethan in sein Gesicht sah, erkannte er blanken
Hass. Der Mann zwang ihn auf die Knie. Ethan wartete darauf, dass der
nächste Schuss fiel. Doch es fiel kein Schuss. Als Ethan gegen den Druck
des Anderen den Kopf ein wenig hob, sah er Tarkans Schwert, das in
diesem Augenblick mit Wucht auf ihn hinab raste und seinen Kopf mit
einem einzigen glatten Schnitt vollständig vom Rumpf trennte.
Kapitel 10
Kiel, Geomar-Institut, Ende März 2015
Chang Zhou hatte sich auf diesen Tag gefreut. Heute hielt einer der
bedeutendsten Klimaforscher der Welt, Siegmund Böllner, am Institut für
Meereswissenschaften einen Vortrag über den Golfstrom. Zhou war vor
zwei Tagen in der Stadt an der Förde angekommen. Er hatte eine große
Suite mit Blick auf die Ostsee im Kieler Kaufmann gebucht. Zhou hatte
Meteorologie an der Tsinghua-Universität in Peking studiert. Als bester
Absolvent seines Jahrgangs hatte er sofort eine Stelle beim staatlichen
Wetterdienst bekommen. Zehn Jahre hatte er sich dort hochgearbeitet. Was
ihn von seinen Kollegen unterschied, war seine Intuition. Eine Intuition,
die ihn in Fachkreisen weltweit bekannt und zu einem beliebten Objekt der
Medien gemacht hatte.
Während sich die Meteorologen des staatlichen Wetterdienstes strikt
an Wetterkarten und Strömungsmustern orientierten, hatte Zhou ein
angeborenes Gespür dafür, wie das Wetter in den jeweiligen
Vorhersagegebieten tatsächlich wurde. Er arbeitete zwar wie jeder
Meteorologe mit den Modellen der Großrechner, aber er konnte die
Zugrichtung eines Tiefdruckgebietes erahnen. Wenn der Rechner ein unter
Abschwächung landeinwärts ziehendes Tief vorhersagte, spürte Zhou, dass
es das nicht machen, sondern auf das offene Meer abdrehen, sich mit
Feuchtigkeit vollsaugen und erst dann als Sturmtief auf das Festland
übergreifen würde. Entgegen aller mathematischen Logik.
Schon als Kind hatte ihn das Wetter fasziniert. Es kam vor, dass er
mit seinen Eltern spazieren ging und sie plötzlich warnte, dass ein
Gewitter kommen würde. Sein Vater hatte ihn angesehen wie ein
Fragezeichen, denn nicht eine Wolke trübte den Himmel. Und doch ging
kaum eine Stunde später die Welt unter. Irgendwann hatten seine Eltern
aufgehört sich zu wundern. Sie befolgten einfach seine Ratschläge.
Bald langweilte Zhou seine Arbeit beim Wetterdienst. Er nahm
Kontakt zu Investoren auf, kündigte, und gründete seinen eigenen
Wetterdienst. Und weil die Symbiose aus moderner Technologie und
Intuition dazu führte, dass seine Wettervorhersagen die zuverlässigsten
waren, wuchs sein Unternehmen von Jahr zu Jahr. Einziges Problem: sein
Erfolg hing von genau einem Faktor ab: ihm. Wenn er ausfiel, wurden
auch die Vorhersagen ungenauer.
Um dem entgegenzuwirken, hatte Zhou frühzeitig begonnen, nach
einem Meteorologen zu suchen, der dieselben Fähigkeiten mitbrachte wie
er. Im vergangenen Jahr war er fündig geworden. Sharif ibn Abdulaziz von
der Universität Bagdad. Während einer Chinareise hatte Sharif die Anzeige
gelesen, mit der Zhous Wetterdienst einen Mitarbeiter suchte. Mit der
Aussicht auf eine Partnerschaft bei entsprechender Eignung. Sharif machte
seine Sache prima. Er hatte ein ähnliches Wettergespür wie Zhou. Und ihr
Gespür sagte ihnen stets dasselbe. Sie waren ein perfektes Team.
Zhou, der zu Fuß von seinem Hotel aufgebrochen war, um sich die
Umgebung anzuschauen, stand vor dem großen Aquarium neben dem
GEOMAR-Institut. Er beobachtete die Seehunde, die mit einer angesichts
ihres plumpen Körpers beeindruckenden Geschmeidigkeit durch das
Wasser glitten. Die Ozeane und ihre Bewohner waren eine weitere
Leidenschaft, die er mit Sharif teilte.
Ihre kulturellen und religiösen Unterschiede spielten keine Rolle.
Wie er selbst, empfand auch Sharif Groll auf die menschliche Rasse, weil
sie ihre Lebensgrundlagen systematisch zerstörte. Sharif war ein gläubiger
Muslim, aber kein Fanatiker. Er verurteilte religiösen Fanatismus und
Gewalt. Sharif war davon überzeugt, dass der Kampf der Religionen über
kurz oder lang zu einem globalen Krieg führen würde.
Dabei hatten die drei monotheistischen Religionen, Islam, Judentum
und Christentum, gemeinsame Wurzeln in der Geschichte Abrahams, der
die Religionen ebenso einte wie trennte. Alle drei sahen in Abraham ihr
Vorbild für den Glauben an den einen Schöpfergott. Andererseits
beanspruchte jede Religion Abraham exklusiv für sich. Wegen dieser
gemeinsamen Wurzeln waren sich Bibel und Koran ähnlicher, als
gemeinhin bekannt war. Der größte Unterschied zwischen Islam und
Christentum war die Dreifaltigkeit, auch als Dreieinigkeit oder Trinität
bezeichnet, die es nur in der christlichen Theologie gab. Sie besagte, dass
es zwar nur einen Gott gab, in ihm aber drei Personen vereint waren: der
Vater, sein Sohn Jesus Christus und der Heilige Geist. Deshalb wurden
Christen im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes
getauft.
Das bestritt der im Jahr 570 nach Christus geborene Mohammed. Als
Kaufmann unternahm er viele Handelsreisen, auf denen er christliche und
jüdische Glaubensgemeinschaften kennenlernte. Als er im Jahr 610 seine
ersten Offenbarungen erhielt, waren sie voller Botschaften des Alten und
Neuen Testaments. Zwanzig Jahre nach seinem Tod wurden diese
Offenbarungen im Koran niedergeschrieben.
Es gab also eine Verbindung zwischen Koran und Bibel, zwischen
Christentum und Islam. Differenzen gab es wegen der Dreifaltigkeit, aber
auch, weil Mohammed der Überzeugung war, dass er nicht nur der
Bestätiger der christlichen und jüdischen Überlieferung war, sondern ihr
Vollender, der, als letzter Prophet Gottes, den Auftrag hatte, die Irrtümer
des Menschen in den Überlieferungen zu korrigieren. In Jesus sah er einen
Propheten Gottes, seinen Botschafter.
Zhou betrachtete die Dinge aus der Sicht des Wissenschaftlers. Aber
er kam zu demselben Ergebnis wie Sharif: Der Mensch brachte sich
aufgrund seiner Gier und Ignoranz an den Rand des Abgrunds. Und auf
diesem Weg war er schon weit vorangekommen.
Zhou wusste, dass die Klimaveränderungen schon in naher Zukunft
sprunghaft zunehmen würden. Die Folgen waren das sechste große
Artensterben der Erde, das bereits begonnen hatte, Wirtschaftskrisen und
schließlich globale Kriege. Im Grunde recht simpel. Aber der Mensch war
in seiner Ichzentrierung zu dumm, diese schlichten Zusammenhänge zu
begreifen. Das betraf den einfachen Bürger auf der Straße ebenso wie
Politiker, Konzernbosse und Top-Manager.
Je länger Sharif und Zhou über diese düsteren Aussichten diskutiert
hatten, desto mehr waren sie zu dem Schluss gekommen, dass der Planet
mit seiner Vielfalt des Lebens nur gerettet werden konnte, wenn die
menschliche Rasse verschwand, bevor sie sämtliche Lebensgrundlagen
zerstört hatte. Denn allein die bevorstehenden Klimasprünge hatten das
Potenzial, einen unumkehrbaren Zerstörungsmechanismus in Gang zu
setzen.
Genau darum ging es in dem Vortrag von Siegmund Böllner. Der
Klimaforscher würde gleich die neuesten Erkenntnisse zum Golfstrom
vorstellen und ein Worst-Case Szenario aufspannen, was schlimmstenfalls
passieren könnte, wenn diese für Europa so wichtige Fernheizung
ausfallen sollte.
Zhou verfolgte aufmerksam die Berichterstattung in den Medien.
Die Negativ-Schlagzeilen, die seine Einstellung zur menschlichen Rasse
maßgeblich mitgeprägt hatten, hatten sich in seinem Gedächtnis
eingebrannt:
„Messungen am Ross-Schelfeis höchst beunruhigend: Potenzial für
einen dramatischen Meeresspiegelanstieg“
„Riesiger Eisabbruch in der Arktis“
„Erderwärmung: Wir nehmen Fahrt auf - Klimawandel bestätigt und
übertrifft Prognosen“
„Meere könnten um sieben Meter ansteigen“
„Höchste CO2 Konzentration seit 800.000 Jahren“
Solche Schlagzeilen wiesen auf ein gefährliches Phänomen des
Systems Erde hin. In den Ozeanen, der Atmosphäre, den Böden und im
„ewigen“ Eis lauerten Kipppunkte des Klimasystems, die bei sich
ändernden Rahmenbedingungen zunächst träge reagierten. Doch plötzlich
brachen sie zusammen.
Einer dieser Kippunkte war die Fähigkeit der Ozeane,
Kohlenstoffdioxid, jenes farb- und geruchslose Treibhausgas mit der
chemischen Formel CO2, aufzunehmen. Sie waren der größte CO2-
Speicher. In ihnen war fünfzigmal mehr CO2 gespeichert als in der
Atmosphäre und zwanzigmal mehr als in der Biosphäre und den Böden.
Sie waren die wichtigste CO2-Senke, denn sie hatten seit Beginn der
Industrialisierung die Hälfte des vom Menschen emittierten CO2
aufgenommen, hundertfünfzig Milliarden Tonnen, und damit noch
dramatischere Klimaveränderungen verhindert.
Bis jetzt.
Denn die Fähigkeit des Wassers, CO2 zu speichern, hing von seiner
Temperatur ab. Kaltes Wasser konnte mehr CO2 lösen und damit speichern
als warmes. Wenn sich die Ozeane erwärmten, nahmen sie weniger CO2
auf. Und irgendwann waren sie so warm, dass sie das CO2 wieder an die
Atmosphäre abgaben. Der Kipppunkt, bei dem die Ozeane den
Treibhauseffekt selbst dann weiter anheizen würden, wenn der Mensch
sich seiner Verantwortung endlich bewusst wurde und kein CO2 mehr
emittierte.
Eine fatale Kettenreaktion kam in Gang, mit vielen unkalkulierbaren
Wechselwirkungen. Denn bei steigenden Wassertemperaturen löste sich
auch Methan aus den Hydraten und gelangte in die Atmosphäre. Methan
hatte das fünfundzwanzigfache Treibhauspotenzial wie CO2.
Methanhydrat war stark verdichtet und quasi in gefrorenem Wasser
eingelagert. Ging das Hydrat in die Gasphase über, nahm das Volumen des
Methans um das Hundertsiebzigfache zu. Denn Methanhydrate waren nur
unter engen Bedingungen stabil: hoher Druck und niedrige Temperaturen.
Solche Bedingungen herrschten am Meeresboden ab etwa fünfhundert
Metern Wassertiefe. Dort konnte die Dicke der Methanhydratschicht
einige hundert Meter betragen. Sobald die Erwärmung diese Tiefen
erreichte, kam es zu Blowouts, bei denen explosionsartig gewaltige
Methanmengen freigesetzt wurden, die sogar schon Schiffe hatten sinken
lassen. Dieses Methan verstärkte, wie das CO2, als positive Rückkopplung
den Treibhauseffekt. Das eine bedingte das andere. So funktionierte die
Natur.
Zhou wusste, dass es noch etliche solcher auf den Klimawandel
reagierenden Kipppunkte gab. Das Ausbleiben des indischen
Monsunregens, die Instabilität der Sahel-Zone in Afrika. Die
Austrocknung und der Kollaps des Amazonas-Regenwaldes, dem Genpool
und größten tropischen Regenwaldgebiet der Erde, mit acht Millionen
Quadratkilometern fast so groß wie die USA. Dort gab es mehr als
vierhundert Säugetierarten, tausendzweihundert Vogelarten, dreitausend
Fischarten, über eine Million Insektenarten und mindestens vierzigtausend
Pflanzenarten.
Täglich verschwand von dieser Lebensader der Erde durch
Brandrodung eine Fläche von der Größe Hamburgs. Sie wich
Ölpalmenkulturen und Weideland, das binnen weniger Jahre austrocknete,
weil sich ein Großteil des Wasseraustauschs über der Erdoberfläche
abspielte, inmitten der gewaltigen Bäume. Wie ein Schwamm saugten sie
das Regenwasser auf und gaben es über ihre Blätter wieder an die Luft ab.
Daraus entstanden neue Regenwolken mit neuem Regen, jeden Tag aufs
Neue. Ein von der Natur genial ausgeklügeltes System, das sich selbst
erhielt. Die Wurzeln der Pflanzen waren deshalb nur kurz, aber groß
genug, um das wenig nährstoffreiche Erdreich zu halten.
Und was taten der Mensch, die Unternehmen, die Weltbank? Sie
zerstörten dieses Wunderwerk der Natur trotz des sicheren Wissens um die
Folgen, allein aufgrund der Gier nach kurzfristigen Profiten. Ab einem
bestimmten Punkt der Rodung, dem Kipppunkt, trocknete der Amazonas-
Regenwald aus. Unaufhaltsam und unumkehrbar. Das Klima würde dort
umkippen, die Fähigkeit des Waldes, CO2 zu speichern zerstört, die CO2-
Konzentration auch aus dieser Quelle weiter ansteigen.
Und es gab weitere Kipppunkte. Der Kollaps der borealen Wälder
zwischen dem vierzigsten und siebzigsten Breitengrad über Nordamerika,
Europa und Asien, das Auftauen des Permafrostbodens mit der Folge der
Freisetzung von noch mehr Methan und CO2 sowie die große Eisschmelze
mit der Folge steigender Meeresspiegel und der Bedrohung von
Abermillionen Menschen, die weltweit in der Nähe von Küsten lebten.
Und eben den Golfstrom.
Zhou schaute auf seine Uhr. Gleich ging es los. Er betrat den großen
Hörsaal des GEOMAR-Institutes und nahm in einer der mittleren Reihen
Platz. Siegmund Böllner betrat die Bühne, begrüßte das Publikum und
erklärte anhand diverser Graphiken und Statistiken, dass sich einige
Wissenschaftler aufgrund aktueller Studien sicher waren, dass sich der
Golfstrom bereits abgeschwächt hatte. In einer Größenordnung zwischen
zwanzig und dreißig Prozent. Das entsprach aber, wie er später begründen
würde, nicht seiner Überzeugung.
Er erläuterte zunächst, wie der Golfstrom funktionierte. Diese für
das Klimagleichgewicht so wichtige, von der Karibik nach Nordeuropa
driftende Meeresströmung, transportierte mehr Wasser als sämtliche
Flüsse des Planeten zusammen. Die von ihr beförderte Energie überstieg
die aller Kraftwerke Europas um mehr als das Tausendfache. Böllner
erklärte, dass die Stabilität der Meeresströmung von Temperatur und
Salzgehalt des Wassers abhing.
„Ohne den Golfstrom, meine Damen und Herren, würde es Europa
mit seiner Wirtschaft und stabilen politischen Situation nicht geben. Der
Westen Norwegens liegt auf derselben geografischen Breite wie der Süden
Grönlands und der Osten Kanadas. Während es dort kaum Vegetation und
keine florierende Wirtschaft gibt, aber Permafrostböden, wachsen an der
Westküste Norwegens Obstbäume und Gemüse. An der Südwestküste
Irlands gedeihen sogar Palmen, in Schottland üppige Rhododendren. Der
Golfstrom ist Europas Klimamotor. Und damit Europas Wirtschaftsmotor,
Tourismusmotor und Grundlage einer prosperierenden Landwirtschaft.
Wir können ohne zu übertreiben konstatieren, dass der Golfstrom der
Schlüssel zur Bedeutung Europas ist. Nach der Pause werde ich Ihnen
erläutern, was geschieht, wenn dieser Schlüssel gezogen wird, wenn die
Zentralheizung Europas ausfällt. Leider unterliegt die Wissenschaft der
Problematik der Irrtumswahrscheinlichkeit, sprich, was ich Ihnen bis jetzt
erzählt habe, sind Fakten. Sobald wir aber versuchen, Dinge in der Zukunft
zu prognostizieren, unterliegen wir der Unsicherheit.
Vielen von Ihnen sind sicherlich die Chaostheorie und der berühmte
butterfly effect ein Begriff. Der Vater der Chaostheorie, Edward Lorenz,
entdeckte, dass der Flügelschlag eines Schmetterlings in Shanghai einen
Wirbelsturm in Florida auslösen kann. Das glauben Sie nicht? Und doch
ist es so, denn das Klimasystem der Erde ist komplex, hochgradig
vernetzt, und, mathematisch gesehen, nichtlinear, dynamisch und
deterministisch. Und damit ist dieses System unvorhersehbar. Eine
geringfügige Veränderung in den Anfangsbedingungen, der Schmetterling
in Shanghai, kann eine gewaltige Wirkung entfalten, den Wirbelsturm in
Florida. Über Rückkopplungsmechanismen kann sich diese kleine Ursache
wie ein Tsunami zu einer riesigen Welle hochschaukeln. So etwas ist über
längere Zeiträume, sprich Jahre oder Jahrzehnte, kaum vorhersehbar.
Trotzdem glauben wir heute, die Folgen eines Versiegens des Golfstroms
innerhalb gewisser Toleranzgrenzen prognostizieren zu können. Warum?
Weil wir uns der Klimageschichte bedienen. Denn der Golfstrom ist schon
mehrfach versiegt, zuletzt vor rund zwölftausend Jahren. Anhand von
Eiskernbohrungen auf Grönland können wir nachvollziehen, welche
Auswirkungen das hatte und versuchen, diese Erkenntnisse auf die Zukunft
zu übertragen. Nach der Pause gehen wir der Frage nach, ob sich der
Golfstrom tatsächlich abgeschwächt hat.“
Die Pause nutzte Zhou, um sich die Grafiken an den Wänden
anzuschauen. Vieles kannte er aus seinem Beruf. Dem Vortrag konnte er
problemlos folgen. Zhou war gespannt, was Böllner zum aktuellen Stand
der Forschung sagen würde. Er selbst war davon überzeugt, dass ein
Versiegen des Golfstroms in Teilen Europas eine Eiszeit auslösen würde.
Schon der Ausfall der Zentralheizung an sich würde zu einer deutlichen
Abkühlung führen. Aber auch andere Meeresströmungen und die globalen
Windsysteme würden sich ändern. Der Jet Stream, jene fünfhundert
Stundenkilometer schnelle Westwinddrift in zehn Kilometern Höhe, die
um den Globus raste und für die vorherrschenden Westwetterlagen in
großen Teilen Europas sorgte, würde sich abschwächen. Also käme die
Luft häufiger aus Norden oder Osten. Das bedeutete einen zusätzlichen
Abkühlungseffekt.
Der Gong kündigte das Ende der Pause an. Als Zhou an seinem Platz
ankam, sah er einige Reihen vor sich die Frau. Nur kurz konnte er einen
Blick in ihr Gesicht erhaschen, bevor sie sich setzte. Doch dieser
Augenblick reichte, um ihn zu elektrisieren. Mit zittrigen Händen ließ er
sich in seinen Stuhl sinken. Böllner trat ans Mikrofon. Und erklärte
sogleich, dass der Golfstrom nicht eine, sondern ein komplexes System
aus Strömungen war, das im Golf von Mexiko begann und, vorbei an der
Ostküste der USA, mehr oder weniger nach Nordeuropa floss.
„Mehr oder weniger“, erläuterte er anhand einer Strömungsgraphik,
„weil sich das System teilt. Das detailliert zu erklären, würde zu weit
führen. Zwei Dinge sind für Europa wichtig. Zum einen der Teil des
Golfstroms, der bis in den Norden Europas fließt und als
Nordatlantikstrom bezeichnet wird. Zum anderen die Tatsache, dass der
Motor des Golfstroms an dessen nördlichen Ende liegt. Durch kalte Winde
drastisch abgekühlt, sinkt das salzhaltigere Wasser des Golfstroms in
gewaltigen Mengen ab und fließt in mehreren tausend Metern Tiefe zurück
zu seinem Ursprung. Es sinkt ab, weil kaltes, salzreiches Wasser schwerer
ist als warmes und salzarmes. Aber eigentlich sinkt es nicht ab, es stürzt!
Wir sprechen von den größten Wasserfällen der Erde, mit einer vertikalen
Erstreckung von mehreren Kilometern. Dieser Absinkvorgang saugt wie
eine gewaltige Pumpe das Wasser aus der Karibik an. Wir haben es also
mit einer Umwälzpumpe zu tun. Dieser Teil des Golfstroms ist für das
günstige Klima in Europa verantwortlich. Wenn er versiegt, wird es in
Europa ein paar Grad kälter. Besonders betroffen wäre Nordeuropa, mit
fünf oder sechs Grad. Aber auch in Deutschland müssten wir uns auf
kältere Winter mit langen Frostperioden und einer monatelangen
Schneebedeckung einstellen. Was uns jedoch nicht drohen würde, ist eine
neue Eiszeit. Wenden wir uns damit den beiden entscheidenden Fragen zu:
Erstens: Wodurch könnte sich der Golfstrom abschwächen oder zum
Stillstand kommen und was hat der menschengemachte Treibhauseffekt
damit zu tun? Und zweitens: Wie ist es um den Golfstrom bestellt? Hat er
sich nun abgeschwächt oder nicht?“
Böllner erklärte, dass Süßwasser der größte Feind des Golfstroms
war. Aufgrund der rasch voranschreitenden Erwärmung schmolz das ewige
Eis. Daran, dass diese Erwärmung vom Menschen verursacht wurde,
bestand längst kein Zweifel mehr. Das Schmelzwasser, vor allem
Süßwasser aus Grönland, floss in den Nordatlantik. Das reduzierte den
Salzgehalt und brachte einen der Motoren des Golfstromsystems ins
Stottern.
Hinsichtlich der zweiten Frage war sich die Wissenschaft nicht
einig. Paradoxerweise kühlten sich –trotz Erderwärmung- Teile des
Nordatlantiks wieder ab. Das könnte darauf hindeuten, dass weniger
Golfstromwasser in diese Region floss. Allerdings ließ sich die vom
Golfstrom insgesamt transportierte Wasser- und Energiemenge nicht
anhand der Oberflächenströmungen nachweisen. Der Golfstrom flackerte
wie eine Kerze, verlor sich in riesigen Wirbeln, änderte, je nach Wind,
immer wieder seinen Kurs. Deshalb ließ er sich an der Wasseroberfläche
nur mit großen Unsicherheiten kontrollieren.
„Viel wichtiger als das Oberflächenwasser ist für uns deshalb das
Tiefenwasser, das zurück gen Süden fließt. Denn an der Ostküste der USA,
am sogenannten Deep Western Boundary Current, sammelt sich all das
Wasser, das an verschiedenen Stellen in die Tiefsee gestürzt ist, zu einem
einzigen Strom, der sich besser messen lässt als die aufgefächerten
Oberflächenströmungen. Und was soll ich sagen? Bislang verzeichnen wir
keine signifikanten Veränderungen dieser Tiefenströmung. Das führt zu
dem Schluss, dass der Golfstrom stabil ist. Warum sich Teile des
Nordatlantiks abkühlen, erklärt das aber nicht. Im Gegenteil, diese
Beobachtungen widersprechen sich. Sie sehen also, meine Damen und
Herren, auch wenn wir heute über wesentlich bessere Methoden verfügen,
um den Golfstrom zu vermessen, können wir nicht mit Gewissheit sagen,
wie es um unsere Fernheizung bestellt ist.“
Dann bat Böllner das Publikum um Fragen. Die Frau, die Zhou nach
der Pause aufgefallen war, meldete sich zuerst. Erst jetzt bemerkte er, dass
sie in Begleitung von drei Männern war. Zhou faszinierte diese Frau, aber
er wusste nicht, warum. Sie war schlank und ziemlich groß, sicherlich eins
achtzig. Und damit größer als er. Sie hatte lange blonde Haare, eisblaue
Augen und volle, sinnliche Lippen. Das dunkle Kostüm stand ihr gut. Sie
war bildhübsch. Aber das waren viele. Das war es nicht, was Zhou so
faszinierte, ja magisch anzog. Immer wieder sah er sie verstohlen an, um
herauszufinden, warum er genau das tun musste: sie immerzu verstohlen
ansehen. Aber erst jetzt, als er sie reden hörte, mit einer weichen, sanften,
fast engelhaften Stimme, begriff er, worin ihre Anziehungskraft bestand:
Sie hatte etwas nachgerade Sphärisches. So als wäre sie nicht von dieser
Welt. Das passte nicht zu ihrer eher nüchternen Frage, die sie in einem
Englisch und mit einem Vokabular stellte, das nahelegte, dass sie ein
Native Speaker war und an einer Eliteuniversität studiert hatte. Vielleicht
Oxford. Oder Harvard.
„Professor Böllner, Sie haben uns anschaulich erklärt, warum ein
Versiegen des Golfstroms keine verheerenden Folgen hätte. Aber konnte
man nicht anhand von Sedimentbohrungen unterhalb des Laacher Sees in
der Eifel feststellen, welche Auswirkungen der letzte Abbruch des
Golfstroms in dieser Region hatte? Bevor der Golfstrom versiegte,
herrschte dort ein noch wärmeres Klima als heute. Heute heißt, inklusive
der bereits von uns verursachten Erwärmung. Die Vegetation war üppig
und ähnelte einem Urwald. Doch dann versiegte die Fernheizung im
Atlantik. Wenn ich richtig informiert bin, geschah etwas Unglaubliches:
Innerhalb von nur zehn Jahren verwandelte sich die Vegetation von einem
Urwald in eine Tundra, ähnlich der in Sibirien! Und wo zuvor selbst im
Winter kaum Schnee fiel, entstanden in dieser kurzen Zeit
Permafrostböden. Könnte eine solch gravierende Veränderung innerhalb
eines so kurzen Zeitraums denn nur durch ein bisschen Abkühlung
zustande gekommen sein? Spricht das nicht vielmehr für einen abrupten
Klimasprung? Eine Klimakatstrophe?“
Die Frau wirkte selbstbewusst und schien vom Fach zu sein. Der
Referent war verunsichert. Ob durch ihre Frage oder ihre Ausstrahlung,
konnte Zhou nicht einschätzen, der nur wusste, dass er dieses
faszinierende Wesen kennenlernen musste. Böllner räusperte sich.
„Diese Studie ist in wissenschaftlichen Kreisen nicht anerkannt. Sie
ist nach herrschender Meinung zu kleinräumig angelegt. Kleinräumig im
Sinne von Landfläche, auf welche die Ergebnisse dieser Studie, die im
Übrigen auf der Analyse von Lavasedimenten beruht, bezogen sind. Und
sie kommt vor allem mittels Extrapolation zu ihren Ergebnissen, sprich,
wir befinden uns im Zustand großer Unsicherheit. Keinesfalls können wir
daraus einen Klimasprung oder gar eine weltweite Klimakatastrophe
ableiten.“
Mit dieser Erklärung gab sich die Frau jedoch nicht zufrieden.
„Unsicherheit bedeutet aber im Umkehrschluss auch, dass es genauso
gewesen sein könnte. Dass sich also binnen eines Jahrzehnts eine Tundra
gebildet hat, wo vorher Urwald war. Und das passiert nicht nur, weil die
Winter härter werden. Also können wir auch eine Klimakatstrophe nicht
ausschließen, oder?“
„Nein“, bestätigte der Redner, „das können wir nicht. Aber glauben
Sie mir, ein Versiegen des Golfstroms würde keine Eiszeit auslösen. Und
es würde nicht verhindern, dass die Erderwärmung weiter voranschreitet.
Vor allem in großen Teilen Europas gäbe es aber eine längere Pause, ja,
sogar eine Abkühlung. Plötzliche Eiszeiten gibt es nur in Hollywood. Der
Temperatursturz in der Eifel wurde im Übrigen wahrscheinlich durch
einen Vulkanausbruch ausgelöst, schon vor dem Versiegen des
Golfstroms!“
„Wie schätzen Sie die politischen und wirtschaftlichen
Auswirkungen ein, Professor Böllner? Führt ein Versiegen des Golfstroms
zu einer weltweiten Wirtschaftskrise?“
Zhou war irritiert über die Fragen der sphärischen Schönheit. Wie
kam sie bei einem Vortrag über den Golfstrom auf wirtschaftliche
Auswirkungen? Das dachte sich offensichtlich auch der Klimaexperte,
denn er verwies darauf, dass sein Wissenschaftszweig sich nicht mit
solchen Fragen auseinandersetzte. Als er schon im Begriff war, das
Mikrofon für die Frage eines anderen Teilnehmers weiterreichen zu lassen,
ergriff die Frau erneut das Wort.
„Sie haben gesagt, dass der Mensch für die Klimaveränderungen
verantwortlich ist. Folglich wäre er auch für ein mögliches Versiegen des
Golfstroms verantwortlich, richtig?“
Jetzt wirkte Böllner zum ersten Mal genervt. Er bestätigte, dass es
als wissenschaftlich erwiesen galt, dass der Mensch für den
Treibhauseffekt und seine Folgen verantwortlich ist. „Aber“, und dabei
wandte er sich dem gesamten Publikum zu, „das sind philosophische
Fragen, die wir hier und heute nicht diskutieren können. Wenn also noch
jemand Fragen zu meinem Vortrag… Ah, der Herr dort hinten rechts. Bitte
sprechen Sie deutlich in das Mikrofon.“
Doch bevor der junge Wissenschaftler aus Böllners Arbeitsgruppe
der Frau das Mikrofon abnehmen konnte, ergriff sie wieder das Wort, ohne
in Hektik zu verfallen.
„Nur noch zwei Fragen, bitte. Der Golfstrom versiegte vor
zwölftausend Jahren wegen eines Süßwassereinbruchs aus Grönland.
Durch die Eisschmelze brach eine Eisbarriere, die einen riesigen
Schmelzwassersee im Landesinneren wie ein Stauwerk aufgestaut hatte.
Doch schließlich gab die Eisbarriere dem Druck nach und das Süßwasser
ergoss sich in den Nordatlantik. Mit der Folge, dass der Golfstrom abrupt
zum Stillstand kam. Können Sie das a) bestätigen und besteht b) auch
heute wieder ein solches Risiko? Sprich, gibt es auf Grönland genügend
Schmelzwasser, um den Golfstrom zu stoppen?“
Für einen Augenblick war es ganz still. Diese merkwürdige Frau
zeigte ein über reine Neugier hinausgehendes Interesse an der Materie.
Schließlich räusperte sich der Redner.
„Gut, auch diese Fragen werde ich, ich hoffe, im Sinne aller
Anwesenden, noch beantworten. Ihre Informationen stimmen nicht ganz.
Der Golfstrom versiegte damals zwar durch einen enormen
Süßwassereintrag. Das stammte aber nicht aus Grönland, sondern von dem
gewaltigen Laurentidischen Eisschild in Nordamerika, der im Süden bis zu
den heutigen Städten New York City und Chicago reichte. Und das geschah
nicht von heute auf morgen, sondern war ein längerer Prozess. Ihre Frage,
ob uns Ungemach aus Grönland droht, kann ich relativ klar beantworten:
nein. Das sich dort sammelnde Süßwasser reicht nicht aus, um eine so
gewaltige Meeresströmung zum Erliegen zu bringen. Da müsste schon
ganz Grönland in kurzer Zeit abschmelzen. Dass grundsätzlich die Gefahr
besteht, dass der Golfstrom in ferner Zukunft aufgrund verschiedener
Süßwasserquellen versiegt, steht auf einem anderen Blatt. So…“, der
Klimaexperte bedeutete dem jungen Kollegen mit einer energischen
Kopfbewegung, der neugierigen Besucherin das Mikrofon abzunehmen,
„…und jetzt wollen wir erfahren, was der Herr dort hinten wissen
möchte.“
Zhou bekam nichts mit von der Frage des Mannes und ebenso wenig
von Böllners Antwort. Diese Frau interessierte ihn viel mehr. Faszinierend,
was für Fragen sie gestellt hatte. Darauf wäre er nie gekommen, obwohl
sie so naheliegend waren. Warum war sie so beharrlich? Zhou konnte das
Ende der Veranstaltung kaum abwarten. Er würde sie ansprechen und auf
einen Drink einladen, zur Not mit ihren Begleitern.
Kurz darauf löste Böllner die Veranstaltung auf. Die Frau und ihre
Begleiter waren näher am Ausgang als Zhou, weil sie weiter vorne
gesessen hatten. Zhou vergaß seine gute Erziehung für einen Augenblick
und drängelte sich mit diversen sorry zwischen den zum Ausgang
strömenden Menschen hindurch. Er hatte wenig Erfahrung mit Frauen,
weil er nur für seine Wettervorhersagen lebte. Flirten gehörte nicht gerade
zu seinen Königsdisziplinen. Zumal ihn diese Frau nervös machte. Allein
schon ihr schwebender Gang, so als würde sie sich knapp oberhalb des
Bodens bewegen. Als Zhou die kleine Gruppe erreichte, entschied er sich
für die direkte Ansprache, von Fachmann zu Fachfrau. Damit konnte er
nichts falsch machen.
„Bitte entschuldigen Sie“, sagte er, als er auf Höhe der Frau war,
„ich war beeindruckt von den Fragen, die Sie Professor Böllner gestellt
haben und mit denen Sie ihn ganz schön ins Schwitzen gebracht haben.“
Die Frau blieb überrascht stehen und sah Zhou direkt in die Augen.
Er konnte ihrem Blick nicht standhalten, sah abwechselnd zu ihr und ihren
Begleitern. „Danke“, sagte sie ohne erkennbare Emotionen. „Ich fand, dass
Böllner das zu einseitig dargestellt hat. Meine Fragen nach dem Ereignis
am Laacher See hat er regelrecht abgebügelt. Aber mit wem habe ich das
Vergnügen?“
Zhou stellte sich vor. „Angenehm“, erwiderte die Frau. „Ich heiße
Rebecca Eliot, Ozeanologin aus Boston.“ Sie zeigte der Reihe nach auf
ihre Begleiter. „Und diese Gentleman sind Oberst Edmund Wagner,
Oswald Pfeiffer vom BND und Bryan O´Connor, einer meiner ältesten
Freunde.“
Pfeiffer lächelte und offenbarte in perfektem Englisch einen
witzigen Charme, der bei Zhou einen Anflug von Eifersucht auslöste.
„Pfeiffer mit drei f, wie ich betonen möchte.“ Zhou verstand nicht, was
Pfeiffer damit meinte, aber Rebecca und dieser Bryan O´Connor lachten.
Wagner schien ernster zu sein. Jedenfalls reagierte er nur mit einem
angedeuteten Kopfnicken. O´Connor hatte rote Haare und
Sommersprossen. Das ließ ihn jünger wirken, als er vermutlich war. Er
hatte fast etwas Lausbubenhaftes. Sympathischer Typ. Ebenso wie Pfeiffer,
der zwar ein wenig schmierig wirkte, aber Humor hatte. Wagner konnte
Zhou nicht einschätzen. Gut aussehend. Kernig, wie ein Soldat.
„Interessant“, bemerkte Zhou, „ich bin Meteorologe. Eine
Ozeanologin kann ich mir bei einem solchen Vortrag ja noch vorstellen.
Aber was führt einen Oberst und den BND hierhin?“
Oswald Pfeiffer mit drei f lachte. „Edmund und ich sind Kieler und
gute Freunde. Rebecca haben wir im Studium kennengelernt. Aber das ist
eine andere Geschichte. Wir haben sie heute begleitet, weil sie uns darum
gebeten hat. Für die Marine ist die Frage, wie sich der Golfstrom
zukünftig verhält, allerdings auch von Interesse. Aber jetzt wollen wir in
dem schönen Restaurant nebenan eine Kleinigkeit essen und danach
vielleicht noch in eine Bar gehen. Wie sieht es aus, Mister Zhou, wollen
Sie uns nicht begleiten? Beim Drink unterhält es sich besser als in einer zu
einem Ausgang strömenden Menschenmenge.“
Zhou war froh. Genau das hatte er erreichen wollen. Er sagte sofort
zu. Während Rebecca verheißungsvoll lächelte, fing er sich von dem
wortkargen Edmund Wagner einen misstrauischen Blick ein, in dem Zhou
sogar eine gewisse Ablehnung meinte erkennen zu können. Keine
Eifersucht. Eher..., eher was? Vorurteile? Der Oberst war ihm
unsympathisch und suspekt.
***
***
Wenig später saß Riley im Rails und trank sein erstes Carlton Draught.
Seine Freunde waren noch nicht da, aber er war auch eine halbe Stunde zu
früh. Der Durst auf kaltes Bier nach einem heißen Tag hatte ihn in die Bar
getrieben.
Wale hatte er nicht gesehen, aber immerhin einen traumhaften
Sonnenuntergang. Mitten in das Naturschauspiel hinein war jedoch eine
dieser für James typischen enervierend langen Sprachnachrichten
eingegangen, die ihm die gute Laune verdorben hatte. Für das Wochenende
hatten sich schon wieder diese amerikanischen Virologen angekündigt.
Und schon wieder gab sein Vater ihm unmissverständlich zu verstehen,
dass er dabei zu sein hatte. Es war damit zu rechnen, dass James bald zu
einem Forschungsprojekt aufbrechen musste. Wegen irgendwelcher Viren.
Olivia würde ihn begleiten, Ella sowieso. Chloe würde ihr Studium in
Brisbane unterbrechen und zwei oder drei Semester am Zielort studieren.
Wie geheimnisvoll. Aber so war es immer. Jedes von James
Projekten unterlag der höchsten Geheimhaltung, weil irgendeine
Regierung daran beteiligt war und es um todbringende Viren ging. Oder
um einen Impfstoff dagegen. Das war nicht für unbefugte Augen und
Ohren bestimmt, denn es ging um Milliarden. Wem immer es gelang,
einen Impfstoff gegen HIV zu entwickeln, hatte für den Rest seines Lebens
ausgesorgt. Und so musste die Familie strammstehen, wenn
entsprechender Besuch kam. Aber sobald die ehrenwerten Herren übers
Geschäft sprachen, durften sie sich in ihre Gemächer zurückziehen.
Doch diesmal verhielt es sich anscheinend anders. Diesmal sollte die
Familie den Vater auf seiner Reise begleiten. Es wäre zwar interessant zu
erfahren, worum es dabei ging und was diese aalglatten Harvard-Virologen
damit zu tun hatten. Aber Riley hatte weder Lust, diesen schönen Ort vor
der Zeit zu verlassen, noch wollte er am Rockzipfel seines Vaters hängen,
wenn der dem Ruf weiteren Ruhms folgte.
Riley bedeutete dem Kellner, ihm noch ein Bier zu bringen. Er
würde am Wochenende gar nicht erst zu seinen Eltern gehen. Er hatte
keinen Bock, wieder den Lakai zu geben.
Plötzlich kam ihm ein wundervoller Gedanke. Wenn bis auf Noah,
der James auch nicht folgen würde, die ganze Familie für lange Zeit weg
war, hieß das im Umkehrschluss, dass Noah und er, offiziell damit
beauftragt, die Villa in Schuss zu halten, selbige für geile Partys nutzen
konnten. Reizvoll war auch der Gedanke, die eine oder andere Eroberung
mit in das Haus zu nehmen. Und sich in der väterlichen Villa auch noch
fürstlich dafür bezahlen zu lassen. So ein altehrwürdiges Gemäuer
schindete mächtig Eindruck. Und wenn seine Familie zurückkam, war er
vielleicht schon in Kalifornien.
Er fuhr erschrocken herum, als ihm jemand auf die Schulter klopfte.
Dabei ergoss sich ein Schwall Bier über sein Hawaiihemd. Er war so in
seine Gedanken vertieft, dass er nicht bemerkt hatte, dass Mark und Chris
gekommen waren. Fluchend wischte er sich mit einer Serviette das Bier
vom Hemd.
„Hey, Riley, du sollst das Zeug trinken, nicht auf dein Hemd
schütten“, begrüßte ihn Mark lachend. „Wir haben dich heute vermisst.
Wo warst du mit deinem Surfbrett?“
„Zu wenig Wind, kaum Wellen. Das bringt nichts.“
„Stimmt“, pflichtete Mark ihm bei, „dennoch ist es auf dem Wasser
schöner als an Land. Vor allem bei der Affenhitze. Du siehst beschissen
aus. Alles okay mit dir?“
Riley verzog angewidert das Gesicht. „Eben hat mir mein Alter eine
Nachricht geschickt. Er will, dass wir ihn bei einem seiner blöden Projekte
begleiten. Weil er für lange Zeit weg sein wird. Da will er anscheinend
seine Familie bei sich haben. Aber ohne mich.“
Chris schürzte die Lippen. „Ich weiß nicht, was du hast. Dein Vater
führt ein megaspannendes Leben. Ich wäre froh, wenn meiner auch so
berühmt wäre. Und stolz, wenn er mich dabei haben will. Wann soll es
denn losgehen?“
Riley bedeutete dem Kellner, für seine Freunde und ihn drei Bier zu
bringen. „Hast du mir nicht zugehört, Chris? Ich werde auf keinen Fall
mitkommen.“
„Verstehe ich nicht. Du hast doch noch nicht einmal einen festen Job.
Und keine Freundin. Wenn einer frei ist, dann doch wohl du. Ich würde an
deiner Stelle keine Sekunde zögern. Ich finde das irre spannend. Wohin
verschlägt es deinen Dad denn diesmal?“
Riley zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Ich mir auch
scheißegal.“
„Wie kannst du nur so gleichgültig sein? Es geht schließlich um
deinen Vater!“
Wütend schüttete Riley einen großen Schluck Carlton Draught in
sich hinein. „Ihr habt doch keine Ahnung, wie es ist, so einen Vater zu
haben“, lamentierte er aufgebracht. „Der lebt nur für seinen beschissenen
Beruf. Aber das ist ja gar kein Beruf, sondern eine Berufung. Wenn ich das
schon höre! Monatelang ist der unterwegs, auf irgendwelchen
bescheuerten Forschungsreisen. Und uns missbraucht er für seine Zwecke,
indem er uns heile Familie spielen lässt. Vor allem die Japaner stehen total
da drauf. Wenn die wüssten, dass mein Alter sich einen Scheiß um uns
gekümmert hat. Und erst meine Mutter, wie die sich lächerlich macht mit
ihren peinlichen Auftritten zu Ehren der erlauchten Gäste. Lachen müsste
man, wenn es nicht so deprimierend wäre. Und bei allem immer dem
holden Gatten zu Diensten. Ich kann vor so einer Mutter keine Achtung
haben.“
Mark betrachtete die Whiskey-Auswahl in den Regalen, ohne sie
wahrzunehmen. „Mein Alter ist durchgebrannt, als ich noch ein Baby war.
Ich habe den nie kennengelernt. Und meine Mum hat alle Mühen, genug
Geld für uns zu verdienen. Wie auch, mit schlechtbezahlten Jobs in
Supermärkten? Ich wäre happy, wenn ich so eine Familie hätte wie du.
Mann, und was ihr für Kohle habt! Du hast doch jetzt schon ausgesorgt!
Weißt du eigentlich, wie gut du es hast, Riley Perkins?“
„So kann nur einer daherreden“, echauffierte sich Riley nach einem
weiteren Schluck Bier, „der bloß den äußeren Schein sieht. Mein Vater
interessiert sich nur für Viren und Impfstoffe. Und von seinen Kindern
erwartet er, dass sie Karriere machen und bei ihm einsteigen. So wie Ella
und Chloe. Noah verachtet er, obwohl er mit seiner Band inzwischen eine
Menge Kohle verdient. Die gehen demnächst sogar auf Europatournee!
Aber Musik ist ja nur was für die Zerstreuung. Damit leistet man keinen
Dienst an der Menschheit. So ein Schwachsinn! Musik ist die Weltsprache
Nummer eins! Und ich bin sowieso das schwarze Schaf der Familie. Und
wenn ich das immer höre, Kohle. Mein Gott, mein Vater hat uns immer
kurz gehalten. Und obwohl ich finanziell nicht auf Rosen gebettet bin,
lässt der mich am langen Arm verhungern. Lern was Anständiges, dann
bist du nicht von deinem Vater abhängig, sagt er jedes Mal, wenn ich ihn
um einen Zuschuss bitte. Ich kann das nicht mehr hören. Selbst meinen
Entschluss, in die Armee einzutreten, fand er unangemessen. Es sei denn,
ich würde dort was Vernünftiges studieren. Ich und studieren? Schlechter
Scherz. Unser Vater hat uns nie geschlagen. Er hat nie geschrien. Aber er
hat uns auch nie wahrgenommen.“
„Nimm´s mir nicht übel, Riley“, sagte Mark, „aber dein Vater hat
nicht ganz unrecht. Du bist intelligent, siehst super aus. Du könntest echt
was aus dir machen. Du hast den Endurance Course als bester deiner
Einheit geschafft. Du warst spitze in der Kampfschwimmerausbildung und
bei den Anti-Terror-Lehrgängen. Und dann ziehst du dir mitten auf einer
Übung einen Joint rein. Direkt neben deinem Vorgesetzten! Mann, wie
kann man nur so dämlich sein? Außerdem ermöglicht euch James ein
Leben in Saus und Braus. Ihr seid jedes Jahr in Urlaub gefahren. Dazu
dieses Wahnsinnshaus, in dem du umsonst wohnen könntest, wenn du nicht
so eigensinnig wärest. Dass dein Vater tierisch für den Job schuften muss,
ist doch wohl klar. Mit seinen Forschungen rettet der hunderttausende von
Menschenleben. Ach was, Millionen! Hast du das mal von der Seite
betrachtet, Riley?“
Riley bestellte missmutig sein sechstes Bier. Er war schon ziemlich
angeheitert, aber wenn jetzt auch noch seine Freunde mit diesem Mist
anfingen, hatte er gar keine andere Wahl, als sich zu besaufen.
„Menschenleben zu retten“, erklärte er, schon leicht lallend, „ist nur
ein erfreuliches Nebenprodukt. An allererster Stelle geht es ihm um Kohle
und Bewunderung. Ganz einfach. Jetzt wisst ihr es. Und es ist ein Scheiß-
Gefühl, wenn dein eigener Vater sich für ein paar Scheiß-Viren mehr
interessiert als für dich. Und dass die einen wegen ein paar Joints gleich
aus der Armee werfen, ist eine Riesensauerei!“
„Von wegen Sauerei. Meinst du, die können sich im Ernstfall
bekiffte Soldaten erlauben? Du hättest es weit bringen können. Und das
weißt du auch. Aber dir fehlt der Drive, das Adrenalin, der Kick. Was soll
´s, das ist Schnee von gestern. Wurde dein Vater nicht sogar mal für den
Nobelpreis nominiert?“ Chris erinnerte sich an die Berichte in den Medien
vor ein paar Jahren. „Weil er einen Durchbruch geschafft hat bei der
Entwicklung von Impfstoffen gegen die Grippe?“
Riley lachte bitter auf. „Durchbruch. Dass ich nicht lache.
Gentechnisch verändert hat der die Biester! Stellt euch vor, das gerät in
die falschen Hände! Zum Beispiel von Terroristen! Dann ist Schluss mit
lustig. Versteht ihr das unter Menschenleben retten, ihr Naivlinge? Mit so
was könnte man die Menschheit ausrotten! Und dafür wurde er nicht nur
für den Nobelpreis nominiert! Nein, für diesen Schwachsinn hat er ihn
sogar bekommen!“
„Was genau hat der gentechnisch verändert?“
„Mann, bist du schwer von Begriff? Oder hörst du mir nicht zu?“.
Riley wurde immer wütender. Das Gewese um seinen heroischen Vater
ging ihm höllisch auf die Nerven. „Der hat Viren gentechnisch verändert!
Hat sie hypergefährlich gemacht! Angeblich, um wirksamere Impfstoffe
zu entwickeln. Was meint ihr wohl, was dann passiert ist?
Millionenangebote hat der bekommen, von Pharmakonzernen aus der
ganzen Welt. Und dabei lief gegen ihn und seine Forschungsgruppe sogar
mal eine Anzeige wegen der Anleitung zu einem Terrorakt. Das war
natürlich Quatsch. Nahezu jede Forschung trägt dieses Risiko in sich. Aber
das zeigt, dass mein Alter skrupellos ist und nur nach Kohle und
Anerkennung giert.“
Mark schüttelte den Kopf. „Das glaube ich einfach nicht. Ich habe in
den Medien verfolgt, was dein Dad und sein Team geleistet haben. Auch
das Internet ist voll davon. Mich hat das beeindruckt. Der hat die Viren
nicht genetisch manipuliert. So wie ich das verstanden habe, hat der in ein
harmloses Grippevirus irgendwelche genetischen Informationen des
Influenzavirus von 1918 eingebaut. Ihr wisst schon, das war die berühmt-
berüchtigte Spanische Grippe. Extrem aggressiv, das Schlimmste, was es
bislang gab. Fünfzig Millionen Tote. Und dein Vater, Riley, hat dieses
Virus quasi nachgebaut, bei Mäusen getestet und kann jetzt damit
Impfstoffe entwickeln. Außerdem ist es ihm ein paar Jahre vorher
gelungen, Influenzaviren künstlich herzustellen. Harmloses Zeug, mit dem
er aber ebenfalls Impfstoffe entwickeln konnte. Komplizierte Sache. Für
mich ist der Mann ein Held. Völlig zu recht hat der den Nobelpreis
bekommen! Und du als sein Sohn kapierst das nicht, Riley?“
Riley trank sein siebtes Bier auf ex und bestellte das achte. Dieses
Geschwafel kotzte ihn nur noch an. Sein Vater, ein Held, das Idol seiner
einfältigen Freunde. Es war nicht zu fassen. Das war nur im Suff zu
ertragen. Seine Tonfall wurde aggressiver. „Ich könnte meinen Alten
fragen, ob er dich adoptieren will, Mark. Im Tausch gegen mich. Dann hast
du endlich einen Vater und dazu auch noch einen Superhelden. Und ich
habe meine Ruhe und muss mir nicht mehr so einen Schwachsinn anhören.
Wenn jemand mit den Arbeiten meines Vaters ein Killervirus herstellt und
uns ausrottet, ist mein Alter dann immer noch ein Held für dich, Mark?“
Mark schüttelte den Kopf. „Ich glaube, du stehst zu sehr im Schatten
deines Vaters. Aber dafür kann er doch nichts. Du musst dich von ihm und
seinem Erfolg lösen und dein eigenes Ding machen. Du musst ihm nicht
nacheifern. Aber du darfst ihn nicht für seinen Erfolg verachten. Und jede
große Entdeckung birgt doch die Gefahr, dass böse Menschen versuchen,
das für ihre Zwecke zu missbrauchen. Denk an Niels Bohrs Atommodell,
oder an die Kernspaltung. Natürlich wurde auf Basis dieser Entdeckungen
auch die Atombombe entwickelt. Aber andererseits sorgt die doch für die
Abschreckung, die den Weltfrieden erhält. Was können wir von der
Genforschung erwarten, oder von intelligenten Robotern? Von
Quantencomputern? Ohne all diese Entdeckungen wäre die Menschheit
nicht so weit gekommen. Dass das auch Risiken birgt, ist halt so. No risk,
no fun. Deinem Vater kannst du das nicht vorwerfen, Riley.“
Bei Niels Bohr hatte Riley auf Durchzug geschaltet. Marks Worte
gingen in das eine Ohr hinein und aus dem anderen wieder hinaus. Es war
genau dieses hochgestochene Gelaber, das er auf den Tod nicht ausstehen
konnte. Da hatte er sich auf einen lockeren Abend mit Freunden gefreut.
Auf Bier, die Planung der nächsten Surfsession, vielleicht eine geile Frau
für die Nacht. Stattdessen wurde er mit Elogen über seinen Vater und
weltbewegenden Entdeckungen zugetextet.
Allmählich vernebelte das Bier seine Sinne, sodass er kaum noch zu
einem ernsthaften Gespräch in der Lage war. Genau das, was er jetzt
brauchte. Er bestellte noch ein Bier. Vielleicht sollte er zukünftig alleine
trinken. Das war zwar langweilig, aber dafür blieben ihm solche
Diskussionen erspart. Außerdem lernte man, wenn man alleine unterwegs
war, immer nette Leute kennen. Er sowieso. Leute, mit denen man einfach
über irgendwas reden konnte. Oder Scherze machen und ein bisschen
kiffen. Oder ficken. Aber keine tiefgründigen, philosophischen
Abhandlungen. Und erst recht keine Lobhudeleien auf seinen Alten.
Als Riley weit nach Mitternacht in sein Bett fiel, war er betrunken.
Schon zum dritten Mal in dieser Woche. Das Letzte, was er zustande
brachte, war eine WhatsApp-Nachricht an seinen Vater:
Du kanns allein zu dienem projekt fahrn. habe null bock da drauf.
und am wochenende komm ich auch nicht. gute nacht
Als Riley die Augen schloss, begann sich seine Welt im Kreis zu
drehen. Sie nahm ihn mit auf eine atemberaubende Achterbahnfahrt. Wirre
Gedanken folgten reflexartig den schnellen Wechseln des Tempos. Rettete
James Leben? War das sein Antrieb? War Riley ungerecht? Liebt er uns
auf seine Art? War er als sein Sohn verpflichtet mitzukommen? Oder
wollte der Alte ihn nur wieder ausnutzen? Heile Familie spielen, damit
profitgeile Investoren noch mehr springen ließen.
Killervirus. Superimpfstoff. Nobelpreis. Untergang. Leid. Tod.
Mark, Chris, was für feine Freunde! Kalifornien! Ja, Kalifornien, das
klang wie eine Verheißung. In Kalifornien würde alles besser.
Während Riley in einen unruhigen Schlaf voller düsterer, surrealer
Träume fiel, bestieg in Boston das Ehepaar Edward und Kimberly
Coleman in Begleitung eines weiteren Mannes ein Flugzeug der American
Airlines. Ihr Ziel: Gold Coast, mit Zwischenlandungen in San Francisco
und Auckland. Reisedauer: dreißig Stunden.
Kapitel 13
Kiel, Ende April 2015
Jamal Akbar glotzte auf die Tageszeitung, die er vor sich ausgebreitet
hatte. Er stellte die Tasse Tee ab, ohne einen Schluck getrunken zu haben.
Vom Aufmacher auf Seite eins grinste ihn sein Major aus Afghanistan an,
Edmund Wagner. Darunter folgte ein Artikel mit kleineren Fotos eines
Mannes und einer Frau sowie dem Hinweis, dass sich im Lokalteil
Hintergrundberichte zur Ernennung Wagners zum Leiter der WTD 71
befanden. Wagners Verdienste in Afghanistan wurden hervorgehoben und
dass seine Ernennung zum Leiter dieser Einheit, und damit zum Oberst,
einen großen Karrieresprung bedeutete. Genau das, was Pfeiffer Wagner
im Dezember versprochen hatte, nur, dass es mit der Versetzung etwas
länger gedauert hatte. Woran das lag, konnte Jamal aus den Erläuterungen
zu den beiden anderen Fotos schlussfolgern. Was dort stand, schockierte
ihn. Nicht die Informationen zu Wagners Ernennung, sondern die zu den
kleinen Fotos.
Der Mann auf dem einen Foto war der bisherige Leiter der WTD 71.
Er wollte nach seinem überstandenen Herzinfarkt wider Erwarten doch
noch ein weiteres Jahr im Amt bleiben, um Projekte zu Ende zu führen, die
er selbst angestoßen hatte. Außerdem hatte er bereits einen Nachfolger
vorgeschlagen. Und das war nicht Wagner. So weit, so gut. Doch das
andere Foto zeigte die Frau dieses Mannes. Denn die war bei einem
tragischen Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Danach hatte der Leiter
der WTD 71 seinen sofortigen Rücktritt erklärt und Wagner als seinen
Nachfolger vorgeschlagen.
Jamal schwante Böses. Sein Hirn stellte automatisch Verknüpfungen
her. Rasch blätterte er zum Lokalteil weiter. Dort fanden sich mehrere
Berichte. Über Wagner. Über den bisherigen Leiter der Dienststelle. Und
über den Unfall seiner Frau. Jamal las zuerst den letzten Beitrag, zu dem
ein Foto gehörte, das einen BMW zeigte, der nachts auf einer Landstraße
frontal gegen einen Baum geprallt und vollständig zerstört worden war.
Die Frau des Oberst hatte in dem Wagen gesessen. Alleine. Sie war sofort
tot gewesen. Aber es gab einen Unfallzeugen, der ausgesagt hatte, dass der
Frau auf ihrer Fahrbahn ein Geländewagen entgegenkam. Dieser Wagen
hatte auch aufgeblendet. Die Frau hatte wahrscheinlich im Reflex das
Lenkrad verrissen. Der Zeuge konnte aber wegen der Dunkelheit und des
Fernlichts weder etwas zur Marke sagen, noch zur Farbe, geschweige denn
zum Kennzeichen. Die Polizei hatte Ermittlungen aufgenommen, doch die
führten zu nichts. Und da es nur diesen einen Zeugen und seine spärlichen
Informationen gab, stellte sie sie bald wieder ein.
In keinem der Berichte tauchte der Name Pfeiffer auf. Der Leiter der
WTD 71 hatte aus eigenem Antrieb Wagner als Nachfolger vorgeschlagen,
obwohl der nicht die Voraussetzungen erfüllte und er den Mann nicht
einmal persönlich kannte. Aber er hatte angeblich viel von seinen
außergewöhnlichen Leistungen gehört. Was für Leistungen, fragte sich
Jamal. Das Führen einer kleinen Einheit in Afghanistan? Der Unfall seiner
Frau hatte dem Oberst gezeigt, wie schnell das Leben vorbei sein konnte.
Nach seinem Herzinfarkt war der Ruhestand die richtige Entscheidung.
Das Ganze stank doch zum Himmel! Aber was steckte dahinter?
Pfeiffer verspricht Wagner eine reizvolle Führungsposition nebst
Beförderung zum Oberst. Sicherlich auch finanziell interessant. Wagner
soll dafür irgendwelche Pässe besorgen, Pfeiffer zur Verfügung stehen und
nach Sibirien fahren. Warum auch immer. Doch der amtierende Leiter
kehrt zurück und schlägt einen eigenen Nachfolger vor. Niemand würde
dem Ansinnen eines solchen Mannes widersprechen. Dann kommt seine
Frau bei einem Unfall mit Fahrerflucht ums Leben. Daraufhin erklärt der
Leiter doch seinen Rücktritt und schlägt überraschend Wagner als
Nachfolger vor.
Jamal musste nur eins und eins zusammenzählen. Die Frau des
ehemaligen Leiters der WTD 71 war einem Attentat zum Opfer gefallen.
Und Pfeiffer oder irgendwer sonst hatte dem Mann gedroht, dass ihn
dasselbe Schicksal ereilen würde, wenn er nicht zurücktrat und Wagner als
Nachfolger vorschlug.
Sein Instinkt hatte Jamal also nicht getäuscht. Er war einer großen
Sache auf der Spur. Aber was sollte er mit seinen Mutmaßungen anstellen?
Zur Polizei gehen? Um denen was zu erzählen? Dass er in Kabul ein
merkwürdiges Gespräch mitbekommen hatte, an dem auch Major Wagner,
jetzt Oberst, beteiligt war? Würden die auf Basis solch dürftiger
Anschuldigungen gegen einen so einflussreichen Mann ermitteln? Würden
die einem Jamal Akbar alias Abdul Rahimi glauben? Kaum. Vielleicht
sollte er mit dem zurückgetretenen Leiter sprechen, um herauszufinden, ob
er von Pfeiffer unter Druck gesetzt worden war. Aber würde sich der alte
Oberst einem Wildfremden anvertrauen, wenn er sich selbst der Polizei
gegenüber nicht geäußert hatte? Wahrscheinlich war es das Beste, zunächst
mit Hauke zu sprechen.
Kapitel 14
Atlantik
Mit zehn Knoten bewegte sich die Podolsk in südwestlicher Richtung.
Angetrieben von dem aus zwei WM-4-S-Druckwasserreaktoren
bestehenden OK-700A-Reaktorkomplex mit Kernreaktoren und Wasser als
Kühlmittel und Moderator zur Abbremsung freier Neutronen.
Zwanzigtausend PS. Vierundzwanzig Knoten Höchstgeschwindigkeit.
Reichweite: unendlich. Allein die Versorgung mit Nahrungsmitteln
begrenzte die Tauchzeit auf achtzig Tage. Normalerweise. Doch diesmal
fuhr die Podolsk mit reduzierter Besatzung. Auf diese Weise konnte sie
den Atlantik fast vier Monate durchqueren, ohne aufzutauchen.
Die Podolsk war Ende Februar nach einem Schneesturm ausgelaufen
und befand sich nun zweihundert Seemeilen südlich von Island in einer
Tiefe von zweihundert Metern. Kapitän Alexej Sergeewitsch Koroljow
hatte die Raketensektionen überprüft. Die Sprengköpfe hatte
Flottenadmiral Tschechow austauschen lassen. Weil das Ziel das
erforderte, hatte er erklärt. Koroljow war das recht. Denn jetzt hatte die
Podolsk sechzehn R-29RL-Interkontinentalraketen statt der R-29RK an
Bord. Zweistufige Raketen mit Flüssigtreibstoff-Antrieb. Zwei Meter im
Durchmesser und dreizehn Meter lang. Die R-29RL-Raketen hatten nur
einen Sprengkopf statt der drei der R-29R und der sieben der R-29RK.
Aber dieser Sprengkopf hatte es in sich: 0,45 Megatonnen Sprengkraft.
Doppelt so viel wie die R-29R, viermal so viel wie die R-29RK. Mit
neuntausend Kilometern Reichweite konnten die Raketen noch mehr Ziele
erreichen als die anderen Sprengkopftypen.
Jedes Mal, wenn er die Raketensektionen überprüfte, häufiger als
vorgesehen, überkam ihn dasselbe heroische Gefühl wie an jenem eisigen
Winterabend mit Mitja. Sein Freund hatte Wort gehalten. Nur wenige
Wochen nach ihrem Treffen durfte Koroljow mit der Podolsk auslaufen.
Zielgebiet Nordatlantik. Vorläufig. Auftrag: noch unbekannt.
Nachdem er wusste, dass er schon bald zu einer Mission aufbrechen
durfte, welche die Welt verändern würde, war Koroljow der nicht enden
wollende Winter mit Schnee, Eis und Einsamkeit völlig gleichgültig
gewesen. Er existierte gar nicht. Bis zu seinem Aufbruch hatte er täglich
mehrere Stunden trainiert. Auch mental, um sich auf den Ernstfall
vorzubereiten. Denn mentale Kraft war noch wichtiger als physische.
Noch einmal war Mitja zu ihm gekommen, nur eine Woche nach
ihrer Feier. Er hatte, wie angekündigt, General David Moore aus den USA
mitgebracht. Eine weitere wichtige Persönlichkeit für das Projekt
AURORA. Ein Mann von Ehre und Anstand. So hatte Mitja ihn
vorgestellt. Und genau so trat Moore auf. Er war Koroljow auf Anhieb
sympathisch. Eine starke Persönlichkeit mit einem ausgeprägten
Charisma. Eine Führungspersönlichkeit wie Mitja. Moore war nur
gekommen, um den legendären Kapitän Alexej Sergeewitsch Koroljow
kennenzulernen, von dem er schon so viel gehört hatte. Den Mann, der mit
seinen Fähigkeiten dazu beitragen sollte, dass das Projekt AURORA, von
dem Koroljow auch jetzt nicht mehr wusste als seinen Namen, ein voller
Erfolg wurde. Allein der Tonfall, in dem Moore das gesagt hatte, hatte
Koroljow wohlige Schauer über den Rücken laufen lassen.
Der über eins neunzig große Moore hatte ihm beide Hände auf die
Schultern gelegt und versprochen, dass er mit seiner Podolsk ein Ziel ins
Visier nehmen durfte, mit dem er das Gesicht der Welt für immer
verändern würde. Danach kam Mitja ein letztes Mal, um ihm den
Einsatzbefehl persönlich zu überbringen. Jetzt glitt er mit seinem U-Boot
durch den Atlantik. Langsam, um unsichtbar zu bleiben.
Dennoch hatte es auf der Reise von Vilyuchinsk nach Island zwei
kritische Begegnungen gegeben. Mit einem U-Boot der Amerikaner und
einem der Europäer. Und weil die Zeichen nach der Annexion der Krim
nicht auf Entspannung standen, waren solche Begegnungen heikel. Aber
Koroljow hatte seinen Kurs unaufgeregt fortgesetzt und danach jeweils
mehrere Kurskorrekturen vorgenommen. Wenn eines der U-Boote den
vorgeschriebenen Eskalationsstufen für eine Provokation gefolgt wäre,
hätte es ein Gefecht gegeben. Mit unvorhersehbaren Folgen für die
Weltordnung. Kaum jemand wusste, was für ein Pulverfass sich in den
Tiefen der Ozeane befand.
Koroljow prüfte die Koordinaten der Podolsk. Dann ging er in seine
Koje und begann sein tägliches Training. Er musste auch unter Wasser fit
bleiben. Denn als Koroljow Mitja und Moore gefragt hatte, wie lange er
tauchen würde, bevor er Zielkoordinaten und Angriffsbefehl bekam, hatte
Moore angedeutet, dass es nicht um Tage oder Wochen ging, sondern um
Monate. Oder gar Jahre.
Kapitel 15
Ein Dorf im Norden Syriens, Juni 2015
Der Hügel war steil und bot keine natürliche Deckung. Deshalb konnte er
sich nur wie in Zeitlupe bewegen, kriechend, das Gesicht am Boden. Sein
Tarnanzug verschmolz mit dem Sand. Wie ein Chamäleon. Selbst in einer
Entfernung von zehn Metern würde ihn niemand sehen. Das war auch
nötig, denn nicht nur in dem Dorf hinter dem Hügel wimmelte es von
Feinden. Die Kämpfer der GESA waren überall.
Er war vor zwei Tagen gekommen. Mit einem Flugzeug. In
zehntausend Metern Höhe war er, zusammen mit seinem Späher,
abgesprungen, hatte die Reißleine erst wenige hundert Meter über dem
Boden gezogen. Unbemerkt war er mitten zwischen den feindlichen Linien
gelandet. Zwei Tage hatte er sich nur von Wasser ernährt. Er hatte sein
Gewehr, ein paar Messgeräte und Wasser. Sonst nichts. Wenn sein Auftrag
erledigt war, würde er so schnell wieder verschwinden, wie er gekommen
war. Nicht einmal pinkeln konnte er. Aber dafür hatte er, wie alle Soldaten
des Special Air Service, eine Spezialwindel.
Noch gut dreihundert Meter bis zum Kamm des Hügels. Seit drei
Stunden bewegte er sich kriechend den Hügel hinauf. In der prallen Sonne,
bei fünfzig Grad. Aber für solche Situationen war er ausgebildet worden.
Das machte ihm nichts aus. Endlich erreichte er den Kamm. Ein Fels bot
eine gute natürliche Deckung. Ausgezeichnet. So konnte er sich voll auf
das Ziel konzentrieren.
Er duckte sich hinter den Fels und baute sein Barret M107 auf. Das
Hochleistungs-Präzisionsgewehr war mit einem ausklappbaren Zweibein
aus Leichtmetall ausgestattet. Er richtete es auf das Dorf aus. Durch das
Zielfernrohr analysierte er die Lage. In einem Halbkreis lagen im
blutgetränkten Sand acht Tote, deren Köpfe ordentlich neben ihnen
aufgereiht waren. Vor den Hütten knieten dreißig weitere Gefangene. Vor
den Gefangenen gingen Männer mit langen Bärten und Sturmgewehren auf
und ab. Die Situation war ernst. Das waren die Henker der GESA. Sie
hatten das Dorf überfallen und vergewaltigten und ermordeten nun nach
Belieben die Dorfbewohner. Wenn er nicht so vorsichtig den Hang hätte
hinaufkriechen müssen, hätte er vielleicht ein paar Leben mehr retten
können. Jetzt war es wichtig, schnell zu handeln, um weitere
Hinrichtungen zu verhindern.
Er analysierte die Bedingungen. Die Entfernung betrug exakt
eintausend Meter. Er musste die vier bewaffneten GESA-Kämpfer bei den
Gefangenen gleichzeitig ausschalten. Vier Treffer mit kaltem Gewehrlauf.
Das war so, als würde man einen Boxer am offenen Herzen operieren.
Während eines Kampfes!
Vier Cold Bore-Shots. Eine große Herausforderung.
Von Vorteil waren das große Kaliber und die Geschwindigkeit der
Munition. Kaliber fünfzig und fast zweifache Schallgeschwindigkeit. Eine
gigantische kinetische Energie. Fünfmal größer als die der Waffe eines
Großwildjägers. Da bedeutete jeder Körpertreffer den Exitus. Die
Schockwelle der Geschosse verursachte große Wunden. Alles wurde
zerfetzt. Fleisch, Muskeln, Sehnen, und auch das Herz. Selbst wenn es
nicht direkt getroffen wurde. Die Munition des M107 konnte sogar zwei
Zentimeter dicke Panzerstahlplatten, Steinmauern und Motorblöcke
durchschlagen. Aus einer Entfernung von tausendfünfhundert Metern!
Bevor er das Gewehr millimetergenau ausrichtete, gab ihm sein
Späher diverse Daten durch. Windrichtung, Temperatur, Luftfeuchtigkeit
und Erdanziehungskraft. Alles Faktoren, die Einfluss auf die Flugbahn
eines Projektils hatten. Aus dieser Entfernung bedeutete ein Fehler in der
Berechnung der Anfangsbedingungen selbst im unteren Promillebereich
einen Fehlschuss. Ein Fehlschuss aber bedeutete ein Scheitern der
Mission.
Er prüfte die Mündungsbremse. Sie sorgte dafür, dass die beim
Schuss entstehenden Gase seitlich abgelenkt wurden, was wiederum den
Rückstoß verringerte. Das war bei vier Cold Bore-Shots von Vorteil. Er
überprüfte, ob der Lauf gut geölt war. Zu viel Öl war noch schlechter als
zu wenig, denn dann entstand beim Schuss eine Rauchfahne, die dem
Gegner seine Position signalisieren konnte. Das galt auch für den
Schalldämpfer, den er in diesem Augenblick befestigte. Es ging ihm nicht
um die Dämpfung des Schusses. Das spielte bei dieser Entfernung keine
Rolle. Viel wichtiger war, dass der Schalldämpfer das verräterische
Aufflackern am Lauf beim Schuss unterdrückte. Deshalb hatte er sich auch
erst nachmittags an das Dorf herangeschlichen. So hatte er die Sonne im
Rücken. Der Rest an Mündungsfeuer, der vielleicht noch übrigblieb, war
für den Gegner dank Sonne nicht mehr wahrnehmbar. Er war unsichtbar.
Lautlos. Und dennoch absolut tödlich. Er war ein Schatten. Vor den
Schüssen und nach den Schüssen.
Er steckte das Magazin in das Gewehr. Maximal zehn Patronen. Aber
er hatte es nur mit acht bestückt. Das steigerte die Leistung der
Magazinfeder. Das wiederum reduzierte die Ladezeit und erhöhte die
Wahrscheinlichkeit, dass ihm vier Cold Bore-Shots gelangen.
Er legte sich hinter das Gewehr.
Dieses Gewehr ist für dich nicht mehr als die künstliche Erweiterung
deines Körpers, hatte sein Ausbilder gesagt. Wie recht er damit hatte.
Durch das Zielfernrohr beobachtete er jede Bewegung der vier
bewaffneten GESA-Kämpfer. Er musste wissen, wer von ihnen der
Anführer war. Es war leicht, das herauszufinden. Einer von ihnen, klein,
untersetzt, aggressiver Gesichtsausdruck, gab permanent Anweisungen
und schrie die Gefangenen an. Der war sein erstes Ziel.
Was er grundsätzlich vermied, waren Kopfschüsse. Schwer zu
treffen. Hohes Risiko eines Fehlschusses. Und bei panzerbrechenden
Projektilen überflüssig. Er zeichnete bei dem Anführer gedanklich ein
Dreieck zwischen Kinn und Brustwarzen.
Er wollte auch die anderen Ziele präparieren. Doch dazu kam er
nicht. Denn der Anführer gab den anderen Waffenträgern wild
gestikulierend Anweisungen. Eine Frau und ein Junge, vielleicht acht
Jahre alt, wurden von zwei maskierten Henkern zu den geköpften Leichen
gezerrt und mussten sich in ihre Mitte knien. Die Frau war bereits
vergewaltigt worden. Dafür sprachen ihre zerrissene Kleidung und ihr
blutiges Gesicht.
Es ging um Sekunden!
Das Gewehr war exakt ausgerichtet und durchgeladen. Er visierte
den Raum um die beiden knieenden Geiseln an und nutzte diesen kurzen
Augenblick, um seinen Herzschlag durch konzentriertes, taktisches Atmen
so weit zu verlangsamen, dass er vier präzise Schüsse abgeben konnte.
Plötzlich zückte einer der GESA-Kämpfer eine Machete. Einer ohne
Sturmgewehr, der sich im Rückraum aufgehalten hatte und plötzlich
vortrat, direkt neben den Jungen. Den hatte er nicht auf der Rechnung
gehabt.
Also fünf Cold Bore-Shots!
Der Mann mit der Machete baute sich neben dem Jungen auf. Die
anderen GESA-Kämpfer lachten und klatschten in die Hände. Sie feuerten
den Mann mit der Machete an. Er visierte dessen Brust an. Kein Dreieck.
Dafür war keine Zeit. Bis der Schlächter zugeschlagen hatte, würde es ein
bis zwei Sekunden dauern. Das Projektil brauchte weniger als eine
Sekunde. Während der Henker ausholte, atmete er tief aus. Der Terrorist
hatte die Machete über den Kopf gehoben, bereit zum Schlag. Zwischen
zwei Herzschlägen drückte er ab. Das Geschoss schlug mit einer
Geschwindigkeit von neunhundert Metern pro Sekunde im Körper des
GESA-Kämpfers ein, der nach hinten geschleudert wurde, als hätte ihn
eine riesige eiserne Faust getroffen. Blut und Fleisch spritzten in hohem
Bogen aus ihm heraus. Er war sofort tot.
Selbst beim fünften Schuss hatte noch keiner der GESA-Henker
begriffen, was in diesem Augenblick vor sich ging. Innerhalb von
Bruchteilen von Sekunden hatte er mit fünf Schüssen fünf Terroristen
liquidiert. Die übrigen GESA-Kämpfer flohen panisch aus dem Dorf, als
sie endlich kapierten, dass auf sie geschossen wurde.
Vor nichts und niemandem hatten sie mehr Angst als vor Männern
wie ihm. Vor den lautlosen Schatten. Unbesiegbar und tödlich.
Gefährlicher als jeder Luftangriff.
Wieder einmal hatte er einen Auftrag sauber ausgeführt. Sauber und
präzise. Mit schnellen, geübten Fingergriffen nahm er das Gewehr
auseinander. Er musste sich unsichtbar machen. Bis er in dreißig Stunden
abgeholt wurde.
Gerade, als er wieder den Hang hinunter robben wollte, vernahm er
hinter sich ein Räuspern. Erschrocken fuhr er herum. Wie war es möglich,
dass sich ihm jemand unbemerkt genähert hatte? Ihm, dem Schatten!
Instinktiv schnellte er aus seiner Deckung hoch, ließ sich zur Seite
fallen, holte im Fallen mit den Beinen aus und trat dem Ursprung des
Räusperns gegen die Füße. Er sah, wie der Mann zu Boden ging. Sofort
prüfte er, welche Waffen der Gegner hatte. Und stellte mit wenigen
Blicken fest, dass sich keine weiteren Männer in seiner Nähe befanden.
Und der, der auf dem Boden lag und eine Hand in die Höhe reckte, hatte
keine Waffen. Jedenfalls nicht in der Hand.
„Ich bin kein Feind. Ich will nur mit Ihnen reden“, sagte er stöhnend
in gutem Englisch.
„Los, hinter den Fels“, befahl er.
Sekunden später standen sich hinter dem Fels zwei Männer
gegenüber. Er, zwei Meter groß, athletisch, blond, glatt rasiert, der andere
klein, schwarzhaarig und bärtig. Er musterte den Mann, analysierte, wo er
Waffen tragen könnte. Aber mehr als ein Messer konnte er nicht haben.
„Wie haben Sie es geschafft, sich mir unbemerkt zu nähern?“, fragte
er. „Das ist unmöglich!“
Der Bärtige zuckte mit den Schultern. „Ich beobachte Sie schon seit
Ihrer Ankunft. Ich kenne hier jeden Stein, jeden Strauch und jedes
Sandkorn. Nacht für Nacht habe ich darauf gewartet, dass ein Flugzeug
kommt und jemand wie Sie mit einem Fallschirm daraus abspringt. Ich
war auf Ihr Kommen vorbereitet. Ich bin Ihnen gefolgt, habe jede Ihrer
Aktionen beobachtet. Das war wirklich beeindruckend. Aber mit mir
haben Sie trotzdem nicht gerechnet. Weil ich nicht Ihr Feind bin.“
Er musterte sein Gegenüber. Seine Erfahrung und sein Instinkt
sagten ihm, dass von dem Mann keine Gefahr ausging. „Was wollen Sie
von mir? Warum haben Sie mich beobachtet?“
„Ich will gar nichts von Ihnen“, sagte der Mann, „aber mein
Vorgesetzter würde sich gerne mit Ihnen unterhalten. Er ist da hinten, in
seinem Zelt.“ Der Bärtige wies mit dem Daumen nach rechts. Dort war ein
Zelt aufgebaut, das ihm schon zuvor aufgefallen war. Es war so gut hinter
einem Felsvorsprung verborgen, dass er es nur auf einer Strecke von
wenigen Metern hatte sehen, oder eher erahnen können.
„Es gibt niemanden, mit dem ich etwas zu besprechen hätte. Gehen
Sie oder ich muss Sie töten.“
Der Mann wedelte mit den Händen. „Ich glaube, das könnte ein
interessantes Gespräch für Sie werden. Mein Vorgesetzter möchte Ihre
Dienste in Anspruch nehmen. Und er zahlt sehr gut.“
Seine Kiefer mahlten. Allein die Tatsache, dass jemand Notiz von
ihm genommen hatte, war eine Katastrophe.
Denn er war ein Chamäleon!
Andererseits war er mit seiner Bezahlung unzufrieden. Sie stand in
keinem angemessenen Verhältnis zu seinem Risiko und seinem Einsatz.
Und eines war klar: Wenn es jemandem gelang, ihn auch nur
wahrzunehmen, dann war er ein Profi. Und zwar ein verdammt guter. Und
nachdem der Bärtige nun schon sein Gesicht gesehen hatte...
„Wofür zahlt er gut?“
„Ich bin nicht befugt, diese Frage zu beantworten. Es ist Ihre
Entscheidung. Wenn Sie kein Interesse haben, verschwinde ich und diese
Unterhaltung hat nie stattgefunden. Oder Sie sprechen mit meinem
Vorgesetzten und entscheiden sich dann.“
„Gehen wir.“
Wortlos gingen sie zu dem achthundert Meter entfernten Zelt. Die
GESA-Kämpfer hatten sich nach dem Angriff weit zurückgezogen. Er
genoss jedes Mal aufs Neue das Gefühl, dass Männer wie er ihre größte
Bedrohung waren. Männer, die sie in Panik versetzten. Nicht die
Luftangriffe der Amerikaner oder Russen. Nicht die Androhung von
Bodenoffensiven. Sondern Schatten. Tödliche Schatten.
Ihr schlimmster Alptraum.
Das Zelt war nicht groß, aber in zwei Bereiche unterteilt. Der eine
war von dem anderen durch eine Plane abgetrennt, durch die er wie einen
Schattenriss einen Menschen erkennen konnte. Er analysierte rasch, ob
sich sonst noch jemand in dem einen oder anderen Bereich des Zeltes
aufhielt. Aber es gab nur drei Personen: ihn, den Bärtigen und den
Schattenriss.
„Bitte, nehmen Sie Platz“, sagte der Bärtige und wies auf einen
Klappstuhl aus Metall, der außen vor der Zeltwand im Sand stand, genau
auf Höhe des Schattenrisses. „Darf ich Ihnen etwas anbieten? Einen Tee
vielleicht?“
„Nein danke. Und ich stehe lieber. Sie bleiben in Sichtweite. Keine
falschen Bewegungen. Am besten gar keine. Verstanden?“
Der Bärtige nickte, trat ein paar Schritte zurück und blieb wie
angewurzelt stehen. Auch der Schattenriss bewegte sich nicht. Von ihnen
ging keine Bedrohung aus. „Was kann ich für Sie tun?“, fragte er den
Schattenriss.
Durch die Zeltplane klang die Stimme des Mannes verzerrt. Sollte er
ihn kennen, erkannte er ihn jedenfalls nicht an seiner Stimme. „Ich habe
noch nie einem so hervorragenden Scharfschützen zugesehen wie Ihnen.
Wir würden gerne Ihre Dienste in Anspruch nehmen. Gegen eine
angemessene Bezahlung.“
„Warum? Und wofür?“
„Für eine großartige Sache. Dass wir keine Amateure sind, haben Sie
sicherlich schon gemerkt. Sie kennen die Regeln. Keine Details. Keine
Namen.“
„Was wollen Sie? Wann, wo und für wie viel?“
„Nur gelegentlich. Vielleicht zwei- oder dreimal. Das Ziel kann
überall in der Welt sein. Aber einfacher als hier. Es ist unwahrscheinlich,
dass großer Zeitdruck besteht. Wenn Sie anderweitig im Einsatz sind, lässt
sich das koordinieren. Wir brauchen jemanden für besondere Aufgaben.
Und was die Bezahlung angeht: Sagen Sie uns Ihren Preis.“
Der Schattenriss war Profi. So wie er. Ein Fremder auf Augenhöhe.
Die Aussicht auf ein lukratives Geschäft. „Zweihunderttausend in bar bei
Auftragserteilung. Dreihunderttausend danach. Dollar oder Euro. Ich
brauche Vorbereitungszeit. Ich muss das Ziel und die Zielbedingungen
analysieren. Kontakt ausschließlich über wechselnde Chats und Prepaid-
Handys.“
„Diese Bedingungen kann ich akzeptieren. Und den ersten Auftrag
habe ich auch schon. Über den können wir im Anschluss sprechen. Wie
kann ich Sie danach erreichen?“
Das war der kritische Punkt. Der Schutz seiner Identität. Sie kannten
sein Gesicht. Aber nicht seinen Namen. Dabei sollte es bleiben. Das
Geschäft war lukrativ. Fünfhunderttausend Euro oder Dollar, steuerfrei,
waren attraktiv. Auch wenn der Aufwand und das Risiko hoch waren. „Ich
hinterlasse Ihnen eine anonyme E-Mail Adresse. Für den Erstkontakt. Sie
geben mir eine Rufnummer. Von jemandem, der mit Ihnen in Kontakt
treten kann. Der Rest sind Peanuts.
„Gut“, sagte der Schattenriss. „Das ist problemlos zu machen. Wir
haben ein Handy nur für den Kontakt mit Ihnen. Die nicht registrierte
Nummer schicke ich an Ihre E-Mail-Adresse. Mein Vertrauter steht vor
Ihnen. Sollen wir jetzt über Ihren Auftrag sprechen? Und wäre es im
August möglich?“
„August? Ja, das würde passen. Schießen Sie los.“
Kapitel 16
Bayron Bay
„Es gibt zum einen den Vertrag, den wir Ihnen beim letzten Mal
hiergelassen haben. Der ist nur für Sie und Ihren Forschungsauftrag
gedacht, Dr. Perkins. Wie Sie wissen, geht es um die Finanzierung, die
Zuteilung der Ressourcen, den groben Fahrplan und natürlich die Ziele
Ihrer Forschung. Sie hatten genügend Zeit, sich damit auseinanderzusetzen
und einen Anwalt zu Rate zu ziehen.“
„Das hier“, sagte Edward Coleman und schob allen jeweils zwei
geheftete Papierstapel über den Tisch zu, „sind die
Verschwiegenheitserklärungen. Ab heute sind Sie verpflichtet, absolutes
Stillschweigen zu wahren über Ihren Forschungsauftrag, unsere Stiftung
und alles, was Sie im Laufe des Projektes erfahren. Das schließt diesen
Abend mit ein. Sie müssen sich darüber im Klaren sein, dass dieses
Projekt einen Einschnitt bedeutet. Jeder von Ihnen muss für die Dauer der
Forschung von seinem bisherigen Leben Abschied nehmen und sich in die
Hände der Stiftung begeben. So sehen es unsere Statuten vor. Wir wollen
verhindern, Dr. Perkins, dass Ihre Erkenntnisse zu früh an die
Öffentlichkeit oder gar in falsche Hände geraten. Oder die Stiftung von
Geheimdiensten, Neidern oder Nachahmern torpediert wird. Noch können
Sie aussteigen. Es ist Ihre Entscheidung. Aber um es klar zu sagen“,
Coleman nickte jedem am Tisch zu, „das Projekt läuft nur, wenn Sie alle
dabei sind. Ohne Ausnahme. Und nur, wenn jeder von Ihnen diese
Verschwiegenheitserklärung unterschrieben hat. Denn danach gibt es kein
Zurück mehr.“
Riley kam sich vor wie in einem schlechten Film. Sein Alter hatte
unter Androhung der Enterbung darauf bestanden, dass er an dem Treffen
mit diesen aalglatten Amerikanern teilnahm. Und zwar in einem Anzug,
einem grauen Einreiher! Eigens angeschafft für diesen überflüssigen
Termin. Riley Perkins in einem Anzug. Das war so ziemlich das
Lächerlichste, was man sich vorstellen konnte. Und jetzt sollte er diesen
Scheiß-Vertrag unterschreiben und mit seinen dekadenten Alten zu
irgendeiner beschissenen Insel fahren. Ohne Surfbrett. Weil sein
ehrgeiziger Vater dieses Projekt nur bekam, wenn die Familie mitspielte.
Selbst Noah hatte seine Prinzipien verraten, sich ebenfalls in einen
Anzug gezwängt, in dem er genauso albern wirkte wie Riley, und zugesagt,
James zu begleiten. Weil das für ihn so unglaublich wichtig war, hatte er
Riley gegenüber geäußert. Die einmalige Chance auf einen zweiten
Nobelpreis. Denn das war vor ihm erst vier Preisträgern gelungen: Marie
Curie im Jahr 1903 für Physik und 1911 für Chemie, Linus Carl Pauling
1954 für Chemie und 1962 für Frieden, John Bardeen 1956 und 1972
jeweils für Physik und Frederick Sanger 1958 und 1980 jeweils für
Chemie. Woher wusste sein Bruder das? Hatte der sich jemals für so was
interessiert?
Außerdem beteuerte Noah, dass es die Pflicht seines Vaters war, das
menschliche Überleben zu sichern. Und in diesem Augenblick
unterschrieb sein Bruder doch tatsächlich diesen fuck Vertrag! Was war
nur los mit dem? Was hatte James ihm versprochen? Kohle? Hatte Noah
doch selbst. Er erkannte seinen Bruder nicht wieder. Und seine Mutter,
dieses wachsweiche Chamäleon! Hatte extra amerikanischen Whiskey
besorgt. Booker´s Kentucky straight Bourbon stand auf der Flasche.
Absolutes Sauzeug, völlig ungenießbar. Aber dreiundsechzig Prozent
Alkohol. Ein ordentlicher Wert.
Aber was machte James denn da? Tröpfelte der doch tatsächlich mit
einer Pipette Wasser in die Gläser! Wasser im Whiskey? Mit einer Pipette?
Wie abgefahren war das denn?
Weil dieser edle Tropfen nur auf diese Weise all seine einzigartigen
Geschmacksnuancen entfalten kann, erklärte James mit feierlicher
Stimme, hochgezogenen Augenbrauen und wichtigtuerisch erhobenem
Zeigefinger.
Was für ein abgehobenes, dekadentes Gebrabbel. Riley verzichtete
auf die Geschmacksnuancen. Der Alkoholgehalt dieser amerikanischen
Geschmacksverirrung war das einzig Gute daran. Das durfte man nicht mit
Leitungswasser verdünnen.
Im Hintergrund lief Frank Sinatra. Riley hatte nichts gegen Sinatra,
im Gegenteil, ein geiler Musiker. Aber wenn er missbraucht wurde, um
amerikanische Goldesel zu becircen, war er mit seiner Toleranz am Ende.
„Mister Perkins?“
„Hm?“ Riley schreckte aus seinen Gedanken hoch, als Edwards Frau,
diese affektierte Kimberly mit dem schrillen Kostüm und der unerotischen
Piepsstimme, ihn unvermittelt ansprach.
„Riley, haben Sie verstanden, was mein Mann Ihnen gerade erklärt
hat?“
Riley nahm einen ordentlichen Schluck Booker´s Kentucky straight
Bourbon. Immer noch ungenießbar, aber immer noch reichlich Alkohol.
Brannte gut in der Kehle. „Klar. War ja nicht sonderlich kompliziert.“
„Schön“, sagte sie mit ihrer fast kindlichen Stimme, mit der sie
keine Chance hatte, so etwas wie Autorität zu vermitteln, „und warum
unterschreiben Sie dann nicht den Vertrag?“
Haben Sie verstanden, was mein Mann Ihnen gerade erklärt hat?
Warum unterschreiben Sie dann nicht den Vertrag? Laber, sabber, lall,
schwall.
Du kannst dir deinen dämlichen Vertrag sonst wo hinschieben, du
dumme Gans! Das Gute selbst an dem schlechtesten Fusel war, dass er mit
jedem Schluck besser wurde und sich sogar dumme Gänse mit
Piepsstimmen ertragen ließen.
Er nahm die Flasche, füllte sein Glas bis zum Rand, trank die Hälfte
auf Ex und füllte es wieder bis zum Rand. Begleitet von den entsetzten
Blicken seines Vaters. Seine Mutter verdrehte die Augen. Seine
Schwestern schauten betreten zu Boden. Noah grinste. Wenigstens etwas.
Riley beugte sich über den Papierstapel und betrachtete die Blätter,
so, als blicke er über einen imaginären Brillenrand. „Ich bitte um
Nachsicht, aber ich habe den Vertrag noch gar nicht geprüft“, sagte er
gedehnt und betont provokant und fing sich sogleich den nächsten
bitterbösen Blick seines Alten ein, der noch einen Schritt weiter gegangen
war als seine Söhne. Er hatte gar seinen uralten Frack aus dem Schrank
geholt. Nebst schwarzer Fliege. Einfach nur hochnotpeinlich.
Piepsstimme meldete sich wieder zu Wort. Wahrscheinlich konnte
sie nicht anders. „Riley, wenn Sie noch Zeit brauchen, ist das okay. Dann
unterschreiben Sie später und schicken uns den Vertrag zu. Wir sind auch
noch bis übermorgen hier. Wenn Sie bis dahin unterschreiben, bringen Sie
den Vertrag zu uns ins Hotel. Ansonsten befürchte ich, dass Ihr Vater diese
einmalige Chance, in die Geschichtsbücher einzugehen, verliert. Am
ersten Juli geht es los. Dann holen wir Sie ab. Und wenn der Stiftung bis
dahin nicht alle Verträge unterschrieben vorliegen... Pech gehabt.“
James giftete seinen Sohn an. Wenn Blicke töten könnten. Riley
konnte die Gedanken seines Alten förmlich lesen. Das haben wir doch
alles in epischer Breite besprochen. Wir waren uns einig. Und du
bekommst eine Menge Geld dafür. Was habe ich dir bloß getan? Du
Versager!
Stimmte schon, getan hatte James ihm nichts. Jedenfalls nicht im
wörtlichen Sinne. Aber es war sowieso scheißegal, ob er diesen Quatsch
unterschrieb oder nicht. Denn Riley wusste etwas, was niemand sonst an
diesem Tisch wusste.
Aufreizend langsam zog er die Papiere näher zu sich heran, kniff die
Augen zusammen und tat so, als würde er die Paragraphen lesen. Tat er
natürlich nicht. Von diesem hirnlosen Juristen-Kauderwelsch verstand er
kein Wort. Aber ein bisschen auskosten musste er das schon. Schließlich
hatten alle außer ihm längst unterschrieben.
„Okay“, murmelte er, leerte langsam das Glas und griff nach dem
edlen Füllfederhalter, den Kimberly ihm mit einer fordernden Geste
zuschob, „ich unterschreibe das. Ist schließlich zum Wohle der
Menschheit. Und nicht zu vergessen, und noch viel wichtiger: zum Wohle
meines Vater.“
Riley wusste, was er sich anhören musste, wenn die Gäste gegangen
waren. Aber diese Gelegenheit würde er seinem Alten gar nicht erst geben.
Der Rest des Abends plätscherte mit überflüssigem Smalltalk dahin.
Riley war klar, dass die Amerikaner bewusst darauf verzichteten, über
Details von James Forschung zu sprechen. Das ging niemanden etwas an.
Nicht einmal die Familie. Das war Riley nur recht. Für diesen Blödsinn
interessierte er sich nicht die Bohne. Immer wieder schaute er auf seine
neue Armbanduhr, die keiner seiner lieben Verwandten bemerkt hatte.
Nicht einmal sein Bruder, der in bemerkenswert kurzer Zeit von einem
ambitionierten und coolen Musiker zu einem willenlosen Zombie im
Anzug mutiert war.
Die Uhr war ein Geschenk von Emma. Teuer und edel. Aber trotzdem
wunderschön und gar nicht protzig. In einer Stunde war er bei ihr. Dann
begann sein neues Leben. Mit ihr. Er konnte sein Glück kaum fassen.
Diesmal meinte es das Schicksal gut mit ihm.
Einziger Wermutstropfen: Er musste seinen Alten verarschen und
dann auch noch hängenlassen. Das ging ihm zwar, bei aller Ablehnung,
gegen den Strich, doch letztlich hatte James sich das mit seinem
unersättlichen Geltungsbedürfnis selbst eingebrockt. Sollte er doch
zusehen, wie er ohne seinen Sohn zurechtkam. Das hatte doch sein ganzes
Leben bestens funktioniert. Und auf die versprochene Kohle fürs
Mitmachen und Stillhalten verzichtete Riley gerne. Er würde nämlich
schon bald sein eigenes Geld verdienen! Wenn auch nicht in Kalifornien...
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Tarkan war gut gelaunt. Was ihm Yefrem mitgeteilt hatte, hob seine
Stimmung nachhaltig. Ganz besonders freute ihn, dass nicht Perkins
Projektleiter war, sondern Coleman. Weil bei allen Projekten ein Mitglied
der Stiftung Projektleiter sein musste. Damit war der Gottlose ihm
gegenüber nur bei Fragen rund um Viren weisungsbefugt. Mit Glück
erwies sich Perkins als Feigling oder noch besser als Verräter. Denn die
Stiftung hatte klare Regeln, was unter Verrat zu verstehen war. Und ebenso
klare Regeln, wie Verrat zu bestrafen war. Diese Regeln waren nirgendwo
niedergeschrieben. Tarkan hatte sie im Kopf.
Yefrem hatte Tarkan auch über die Ausrüstung und den Zeitplan
informiert. Und betont, dass auf Tarkan noch weitere anspruchsvolle
Aufgaben zukamen. Tarkans Boot lag in Eckernförde. Es hieß FS PLANET.
Ein Forschungsschiff der Marine. Ein komplett ausgestattetes
Doppelrumpfschiff mit der modernsten Technik. Es war nicht für Fahrten
durch meterdickes Eis ausgelegt, aber da die Arktis im Sommer
inzwischen nahezu eisfrei war, waren von dieser Seite keine Probleme zu
erwarten. Damit konnte Tarkan den Auftrag in Sibirien fehlerfrei
erledigen.
Und das ganz offiziell! Das hatten Yefrem und Wagner sauber
eingefädelt. Mit diesem Schiff würden sie keinen Verdacht erregen. Und
die PLANET verfügte über wegweisende, technische Neuerungen. Dank
Flossenstabilisatoren konnte sie selbst bei stürmischer See fast
vibrationsfrei fahren. Damit waren auch unter widrigsten Bedingungen
exakte Messungen und Ergebnisse möglich. Das entlastete Tarkan
erheblich. Er musste sich weder um die Ausrüstung kümmern, von der er
nicht die geringste Ahnung hatte, noch um Alternativstrategien bei
anhaltend schlechtem Wetter. Ihm stand ein einsatzbereites Schiff zur
Verfügung. Einschließlich Besatzung, die keine Vorstellung hatte, was der
eigentliche Zweck dieser Forschungsreise war. Brav würden sie im Eis
bohren, in dem Glauben, das Klima zu erforschen und zu untersuchen, was
sich alles im auftauenden Eis der Permafrostböden tummelte.
Gut gelaunt entschied sich Tarkan, noch ein wenig spazieren zu
gehen, bevor er in seine Wohnung zurückkehrte. Analyse des Feindes.
Studium seiner Gewohnheiten. Allerdings war auf den Straßen um diese
Uhrzeit, es ging schon auf Mitternacht zu, nicht mehr viel los. Doch
gerade als er umkehren wollte, kamen drei Jugendliche um die Ecke, keine
zehn Meter entfernt. Ihrem Torkeln nach zu urteilen, waren sie betrunken.
Und das in der Öffentlichkeit! Widerwärtig. So etwas duldete ihr Gott?
Das erklärte so manches. Um seinen aufkeimenden Zorn zu ersticken,
beachtete er die drei nicht weiter, sondern setzte seinen Weg fort.
In diesem Augenblick ertönte hinter ihm eine Stimme. Laut,
aggressiv, dümmlich und etwas lallend. „Bleib stehen, mieses
Terroristenschwein! Wir wollen dir in die Fresse hauen!“
Tarkan hielt abrupt inne. Was hatte dieses Tier gesagt? Er hörte ihre
Schritte näherkommen. Aber er drehte sich nicht um. Sie durften sein
Gesicht nicht sehen. Seine Muskeln spannten sich an.
Wieder hörte er eine Stimme. Eine andere Stimme. Höher, fast
schrill. „Was machst du um diese Zeit auf der Straße, Kanake? Willst wohl
irgendwo eine Bombe zünden, was? Im Auftrag deines dreckigen Allah
oder wie dein Scheiß Gott heißt!“
Tarkan rührte sich nicht. Sie mochten noch fünf Meter hinter ihm
sein. Dreckiger Allah. Kanake. Scheiß Gott! Eine Bombe zünden. Zu
gerne, direkt in deinem widerlichen stinkenden Arsch. Nicht so
schüchtern, kommt ruhig näher, dachte Tarkan.
„Dreh dich rum. Wir wollen deine Visage sehen, Ölauge. Mach
schon, sonst polieren wir dir erst recht die Fresse!“
Eine Hand legte sich unsanft auf seine Schulter und versuchte, ihn
umzudrehen. Viel zu schwächlich. Der Hass erreichte in Tarkans Herz den
Maximallevel. Er war bereit für ein Massaker historischen Ausmaßes. Die
Eingeweide der Gottlosen zuckend mitten auf dieser Straße...
„Was ist jetzt, Kanake? Rumdrehen, habe ich gesagt! Drecks Visage
zeigen! Wir wissen auch so, dass du potthässlich bist. Das seid ihr alle,
Scheiß Islamistenpack!“
Tarkan hatte seine Umgebung gescannt, während sich das
Schlachtvieh in todbringenden Beleidigungen erging. Schräg vor ihm ging
eine kleine Straße ab, die im hinteren Teil anscheinend unbeleuchtet war.
Siedend heißes Wasser wird ihre Eingeweide zerreißen!
Er vergewisserte sich, dass kein Auto kam oder in der Nähe war,
ebenso keine Passanten. Dann riss er sich mit einem energischen Schütteln
los und lief in die Straße hinein. Nicht zu schnell, damit die Todgeweihten
ihm folgen konnten. Denn schnell waren sie wahrlich nicht.
Was für ein Glück! Nach hundert Metern endete die
Straßenbeleuchtung. Dahinter öffnete sich ein Feld. Vielleicht ein
Sportplatz. Auch dort keine Beleuchtung. Perfekt. Allah hatte ihn hierhin
geführt, um seinen beschmutzten Namen zu reinigen!
Tarkan lief bis zu einem Zaun, der den Sportplatz begrenzte. Er hatte
darauf geachtet, sein Tempo so weit zu drosseln, dass seine Verfolger
aufholen konnten. Er ließ den Kopf auf die Brust sinken und hob die Hand
nach hinten. Ich bin erschöpft, signalisierte er den hirnlosen Viechern.
Dann standen sie im Dunklen um ihn herum. Der mit der quäkenden
Stimme schien ihr Anführer zu sein, denn er weihte Tarkan in ihre Pläne
ein: „Warum bist du geflohen, Araberschwein? Hast wohl was zu
verbergen. Bist einer von der GESA, hm? Jetzt gibt es richtig in die
Fresse, du miese Kanakensau. Terroristendreck! Bist mit den Flüchtlingen
gekommen, was? Willst unsere Frauen vergewaltigen, stimmt’s? Aber
nicht mit uns! Wenn wir mit dir fertig sind, zündest du keine Bombe mehr!
Verpiss dich dahin, wo du hergekommen bist! Geh zu deinem Scheiß Allah
zurück! Aber dazu kommst du Sau gar nicht mehr!“
Tarkan holte nur einmal tief Luft. Es war stockfinster. Wenn sie sein
Gesicht nicht länger als eine Zehntelsekunde sahen, konnten sie ihn bei
einer Gegenüberstellung nicht wiedererkennen. Dazu kam ihr
Alkoholrausch, der zehn Meilen gegen den Wind stank und jede
Erinnerung in ihrem Spatzenhirn in einem dichten Nebel verschwinden
ließ.
Tarkan zögerte keine Sekunde. Er war ein Krieger! Ein Heiliger
Krieger! Ein Gesandter Allahs! Allah, der ihm im Kampf gegen
Gotteslästerer übermenschliche Kräfte verlieh.
Tarkan packte aus einer schnellen Drehung heraus den Arm des
quäkenden Waschweibes und riss ihn mit einem Ruck brutal hinter den
Rücken, gegen die normale Bewegungsrichtung. Mit großem Genuss
vernahm Tarkan das laute Krachen, als der Arm des Frevlers aus dem
Schultergelenk sprang und er vor Schmerz und Überraschung laut
aufschrie. Auf diesen Arm würde das Schlachtvieh in nächster Zeit
verzichten müssen. Und wenn er geheilt war, folgte Allahs ultimativer
Schlag...
Tarkan drehte sich um die eigene Achse, packte den Kopf des
Zweiten, riss ihn nach unten und schlug die Nase des Gottlosen auf sein
Knie. Die Nase brach mit einem geräuschvollen Knacken. Auch der
Schmerzensschrei dieses Schweins zeigte ihm, dass er seine Reflexe
beherrschte.
Schließlich war der Dritte an der Reihe. Genauso widerwärtig aus
dem Mund stinkend wie die anderen. Ihm rammte er zunächst den
Ellenbogen mit waagerecht angewinkeltem Unterarm in die Magengrube,
damit er in die Knie ging. Sonst bestand die Gefahr eines zu langen
Blickkontaktes. Dann holte er zu einem satten Schwinger aus und ließ
seine Faust auf das Nasenbein seines Opfers krachen, das ebenfalls brach.
Seitwärts, nicht von unten, sonst konnten Knochensplitter in das
Spatzenhirn eindringen, seine wenigen Funktionen lahmlegen und es töten.
Das musste er leider vermeiden. Die drei Viecher lagen wimmernd am
Boden.
Tarkans Angriff hatte keine Minute gedauert. Es kostete ihn eine
schier übermenschliche Überwindung, an dieser Stelle aufzuhören. Nichts
würde ihm mehr Genugtuung bereiten, als sein göttliches Werk zu
vollenden und die Welt von diesem Dreck zu befreien. Ein Schritt auf dem
Weg ins Paradies und zu einem Gottesstaat. Doch sein Auftrag war
eindeutig. Keinerlei Auffälligkeiten. Keine Provokationen. Denn die
Rache folgt später...
Tarkan war sich aber sicher, dass auch diese kleine, unbedeutende
Lektion ihre Wirkung nicht verfehlt hatte. Beim nächsten Mal würde
dieser Abschaum keinen seiner Brüder mehr beleidigen oder bedrohen. Sie
hatten begriffen, wie mächtig Allah ist. Trotz ihrer Dummheit, die weit
unter dem stand, was für die unterste Stufe Mensch noch soeben zulässig
war.
Als sich das erste Vieh aufrappelte und die Polizei anrief, hatte
Tarkan längst die Hauptstraße erreicht, die er gemächlich entlang
schlenderte, als wäre nichts geschehen. Während Martinshörner die Stille
der Nacht zerschnitten, betrat er seine Wohnung mit einem ausgesprochen
guten Gefühl.
Kapitel 18
Damaskus, wenige Tage später
Fatima al Shaar konnte es kaum erwarten, nach Hause zu kommen. Sie
wollte endlich den Schleier ablegen, denn seit Wochen lag eine
Hitzeglocke über der Stadt, mit Temperaturen über vierzig Grad. Ihre
Kinder gingen auf eine französische Privatschule. Jeden Tag brachte
Fatima sie dorthin und holte sie wieder ab. Denn auf den Straßen tobte der
Krieg zwischen Regierungstruppen und Rebellen. Die Gefechte waren
seitens des Assad-Regimes forciert worden, nachdem bei einem
Selbstmordattentat drei Regierungsmitglieder ums Leben gekommen
waren, unter ihnen Verteidigungsminister Daud Radschha und Assads
Schwager Assef Schaukat.
Fatima brachte die Kinder zur Schule, wenn Bassam, ihr Mann, das
Haus verlassen hatte. Sein Büro lag in al-Merjeh. Wenn Bassam flexibler
wäre, hätten sie Damaskus und Syrien längst verlassen. Denn in den
umkämpften Bezirken war es lebensgefährlich, das Haus zu verlassen.
Hamsterkäufe waren an der Tagesordnung. Auch Fatima hatte die
Vorratskammer bis obenhin gefüllt.
Fatimas Familie lebte seit der Hochzeit in Bassams großem Zwei-
Generationen-Haus am Rand der Altstadt unweit der Umayyaden-
Moschee. Durch die Wirren des Bürgerkriegs hatte es erheblich an Wert
verloren. Ein weiterer Grund, nicht umzuziehen. Der Verlust wäre nicht
akzeptabel, auch wenn die Gefahr bestand, dass das Haus durch eine
Granate beschädigt und noch wertloser wurde.
Fatima schlängelte sich mit ihren beiden Kindern, jedes an einer
Hand, durch die schmalen Gassen der Altstadt, die heute trotz der
Gefechte überraschend gut frequentiert waren. Früher hatte sie es geliebt,
durch die schmalen Passagen zu bummeln und an den Marktständen zu
feilschen. Heute fühlte sie sich eingeengt, ohne Fluchtmöglichkeit, wenn
plötzlich Schüsse fielen.
Endlich tauchte Bassams Haus vor ihr auf, in dem schon seine
Großeltern gelebt hatten und dessen straßenseitiges Küchenfenster
kürzlich von einer Maschinengewehrsalve getroffen wurde. Zum Glück
hatte sich niemand dort aufgehalten. Es waren nur Scherben zu beseitigen.
Bassam arbeitete beim syrischen Geheimdienst, dem Idarat al-Amn
al-Amm. Er sprach mit Fatima niemals über seinen Beruf. Sie durfte auch
mit niemandem darüber reden. Sie wusste deshalb nicht, ob Bassam
Büroangestellter oder aktiver Agent war. Letzteres würde seine
zahlreichen Reisen ins Ausland erklären. Und wenn er nur im Innendienst
tätig wäre, könnte er sich in der Türkei eine neue Arbeit suchen.
Wahrscheinlich war er ein Spion. Dann kamen sie niemals aus Syrien raus.
Fatima hatte im Rahmen offizieller Anlässe einige Leute aus
Bassams Umfeld kennengelernt. Seinen Chef, einige Minister, grimmig
dreinblickende Bodyguards. Fatima durfte Hände schütteln, sich
Komplimente anhören, nett lächeln. Aber sie erfuhr niemals, worum es bei
einem Treffen ging. Aber das war ihr egal. Viel mehr Sorge bereitete ihr
die Frage, ob Bassams Beruf Gefahren für ihre Kinder mit sich brachte.
Fatima drehte den Schlüssel im Schloss herum. Mit einem Knarren
öffnete sich die schwere Tür. Angenehm kühle Luft schlug ihr entgegen.
Sie betrat die Diele, von der drei Räume abgingen: die Essküche, das
Wohnzimmer und Bassams Arbeitszimmer. Die Schlafräume und das Bad
befanden sich im oberen Stockwerk. Eine weitere Tür in der Diele führte
in die Einliegerwohnung, in der Bassams Eltern wohnten. Weil es Bassmas
Mutter seit einiger Zeit nicht mehr gut ging, er aber kaum Zeit hatte, sich
um sie zu kümmern, verbrachten seine Eltern jedoch inzwischen die
meiste Zeit bei Bassams widerlichem Bruder Sinan in Al-Harah.
Einerseits empfand Fatima das als befreiend. Sie verstand sich nicht
gut mit Bassams Vater, der seine Frau schlug. Andererseits fühlte sie sich
allein mit den Kindern in einem so großen Haus manchmal unwohl. Sie
war von einer drückenden Stille umgeben, die in ihr ein unterschwelliges
Gefühl von Furcht erzeugte. Das hatte sie Bassam auch gestanden und
vorgeschlagen, die Wohnung unterzuvermieten, aber er hatte sie nur
ausgelacht. Vom Verstand her wusste sie, dass er recht hatte. Was sollte
ihr, außer den Gefahren des Bürgerkriegs, hier, am Rand der belebten
Altstadt, schon passieren? Aber gegen solche Gefühle kam man nicht an.
Fatima bedeutete den Kindern, in die Küche zu gehen. Essenszeit.
Heute gab es Bamya mit Reis und Lammfleisch. Während sie die Stiele
der Okraschoten abschälte, erinnerte sie sich an die letzte Begegnung mit
Yefrem abu Tarik, Bassams Chef. Sie waren bei ihm und seiner Frau zum
Essen eingeladen. Yefrem war ein finsterer, bulliger Typ, mit eng
beieinander liegenden, dunklen Augen und buschigen schwarzen
Augenbrauen. Fatima hatte sich anfangs vor ihm gefürchtet. Aber bei den
wenigen Anlässen, bei denen sie ihm begegnete, offenbarte er einen
gewissen Charme, der in einem krassen Gegensatz zu seinem Äußeren
stand.
Vielleicht ist er gar nicht so übel, hatte Fatima irgendwann gedacht.
Aber beim letzten Mal war er ihr verändert vorgekommen. Stiller. Nicht
abwesend. Eher beobachtend. Etwas Lauerndes lag in seinem Blick. Eine
merkwürdige Kälte ging von ihm aus. Bassam schien das nicht
aufzufallen. Er hatte munter mit Yefrems Frau geplaudert. Bis sich Yefrem
mit ihm in sein Arbeitszimmer zurückzog. Danach wirkte auch Bassam
bedrückt. Zwischen den Paaren entstand ein unangenehmes Schweigen.
Fatima schnitt das Fleisch in kleine Stücke, erhitzte die Butter und
briet das Lamm von beiden Seiten scharf mit dem Knoblauch und dem
Koriander an. Ihr Blick traf den ihres Sohnes, der ihr die ganze Zeit
neugierig zugeschaut hatte.
„Hol deine Schwester und deckt schon mal den Tisch! Und dann geht
auf eure Zimmer. Ich rufe euch, wenn das Essen fertig ist.“
Später, auf dem Heimweg, hatte Fatima Bassam auf seinen
Stimmungsumschwung und Yefrems merkwürdiges Verhalten
angesprochen. Aber Bassam war nicht darauf eingegangen. Doch Fatima
hatte gespürt, dass etwas nicht stimmte. Bassam wirkte nervös. Fahrig.
Hörte ihr nicht zu, musste mehrfach nachfragen, was sie gesagt hatte. Er
war nicht so souverän wie sonst.
Ein paar Tage später hatte sie dann den Stick in Bassams Laptop
entdeckt. Sie hatte sein Büro sauber gemacht. Und dabei war ihr Blick auf
den Laptop gefallen, der auf dem Schreibtisch stand und sich im Standby-
Modus befand. Mit dem Stick in einem der USB-Ports. Normalerweise
war das durch ein Passwort geschützte Gerät ausgeschaltet, wenn Bassam
das Haus verließ. Dass er vergaß, den Rechner herunterzufahren, wertete
sie als weiteren Beleg für seine Zerstreutheit. Und als gute Gelegenheit,
den Dingen auf den Grund zu gehen. Sie wusste, dass sie nichts an
Bassams Rechner verloren hatte. Aber die Versuchung war zu groß
gewesen.
Fatima gab die passierten Tomaten und das Wasser in die Pfanne. Sie
streute Salz und Pfeffer dazu. Aus der Pfanne stieg ein köstlicher Duft auf,
der ihr das Wasser im Mund zusammenlaufen ließ. Sie liebte Bamya mit
Lamm. Noch lieber mochte sie allerdings Kabsah bil Lahm. Aber ihr Sohn
mochte weder Cashewkerne noch Mandeln und noch weniger Rosinen. Er
mochte überhaupt keine Nüsse. Deshalb gab es Kabsah nur, wenn sie allein
für Bassam und sich kochte. Weil sie gerne kochte und ihr Mann ihre
Kochkünste zu schätzen wusste, zauberte sie dann oft ein Menü mit
mehreren Gängen. Sie liebte Maamoul bil Tamr als Dessert, er Mhamra als
Vorspeise.
Um ungestört stöbern zu können, hatte sie die Kinder in ihre Zimmer
geschickt. Dann hatte sie den Stick geöffnet. Darauf befand sich
Schriftwechsel mit ausländischen Geheimdiensten. Den Inhalt konnte sie
nur ansatzweise erfassen, denn sie waren in Englisch verfasst. Mehrfach
tauchte aber der Name Yefrem abu Tarik auf. Das hatte sie irritiert. Was
hatte Bassam mit einem Stick zu schaffen, auf dem es um ausländische
Geheimdienste und seinen Chef ging?
Fatima setzte den Reis auf und ließ das Essen vor sich hin köcheln.
In einer halben Stunde konnte sie die Teller füllen. Sie kochte sich einen
Tee, gab reichlich Zucker dazu und setzte sich an den Küchentisch. Auf
den Stuhl, der am weitesten vom Fenster entfernt war.
Neben den ominösen Schreiben hatte sie auch merkwürdige
Zahlenreihen gefunden. Es schien sich um recht beachtliche
Überweisungen zu handeln. Aber wofür? Von wem und an wen? Was
hatten westliche, also feindliche Geheimdienste, damit zu tun? Und was
hatte Bassam damit zu tun? Oder Yefrem? Sie konnte sich keinen Reim
darauf machen. Aber es beunruhigte sie. Wäre nicht dieses merkwürdige
Essen bei Bassams Chef gewesen, hätte sie sich keine Gedanken gemacht.
Sie wäre gar nicht erst an Bassams Laptop gegangen. Wenn sie dumme
Gans es dann wenigstens dabei belassen hätte!
Sie stand auf, ging zum Herd, rührte den Reis um, damit er nicht
anbrannte. Dann setzte sie sich wieder und nippte gedankenverloren an
ihrem Tee.
Wieder ein paar Tage später, sie hatte den Stick schon fast vergessen,
begegnete sie auf dem Markt Yefrems Frau. Sie hätte einfach nur Selam
Aleykum sagen und weiter ihre Einkäufe tätigen müssen. Aber nein, sie
musste das Gespräch ja auf diesen Stick lenken. Wenn auch indirekt.
Indem sie Yefrems Frau fragte, ob der syrische Geheimdienst Beziehungen
zu anderen Geheimdiensten unterhielt. Und ob es so etwas wie
wechselseitige Geschäfte gab.
Dass das ein Fehler war, wusste sie in dem Augenblick, als Yefrems
Frau sie kühl anschaute und sagte, dass ihr Mann nicht mit ihr über seine
Geschäfte spreche und sie das auch nichts anging. Dann hatte sie sich
umgedreht und war gegangen. Fatima hatte gespürt, wie sie vor Scham rot
anlief. Zugleich überkam sie die bange Ahnung, dass ihre dummen Fragen
Konsequenzen haben könnten.
Aber, Allah sei Dank, es war nichts geschehen. Bassam war wieder
der Alte. Er hatte auch keinen Verdacht wegen seines Laptops geäußert.
Und Yefrem sprudelte wieder vor Charme. Sogar ihre superkritische
Schwester, Alima, und ihre Cousine Sahar, die einzigen Menschen, denen
sie sich anvertraut hatte, waren der Meinung, dass dieser Stick nichts zu
bedeuten hatte. Wahrscheinlich hatte Yefrems Frau nur gedacht, dass
Fatima ziemlich neugierig war und das längst wieder vergessen.
Sie schmeckte das Lamm ab, es war perfekt auf den Punkt gebraten,
und füllte die Teller. Während sie aßen, beobachtete sie ihre Kinder. Sie
waren gut geraten. Gehorsam, gute Manieren, gut in der Schule. Und das,
obwohl sie ständig mit der Angst vor dem Krieg leben mussten. Umso
mehr hatten sie sich das nächste Wochenende verdient.
Auch Fatima freute sich darauf. Wann immer es Bassams
Terminkalender zuließ, flohen sie vor dem Lärm, der Hektik und den
allgegenwärtigen Gefahren der Stadt. Meistens in die Ghouta-Oase südlich
von Damaskus. Wo früher Obstplantagen und Olivenhaine wuchsen, ragte
heute eine grelle und bunte Vergnügungsstadt in den Himmel.
Hauptattraktion war das Bawabe Dimashq, das Platz für siebenhundert
Gäste bot und damit das größte Restaurant der Welt war.
Sechshundert Kellner kümmerten sich um das leibliche Wohl der
Gäste. Vor einiger Zeit hatte der Oberkellner, ein Freund ihres Mannes,
lachend erzählt, dass er zwanzig Minuten brauchte, um einmal quer durch
das Restaurant zu gehen.
Ins Bawabe Dimashq wollten sie auch am Wochenende wieder. Nicht
wegen der Küche, die gut, aber nicht spektakulär war, sondern wegen der
einzigartigen Atmosphäre. Mit den vielen Wasserspielen, schmucken
Passagen, Palmenalleen und Nachbauten berühmter Denkmäler fühlte man
sich in eine andere Welt versetzt. Vor dem Eingang des zweiunddreißig-
Millionen Dollar-Projektes hatte der Investor eine Replik des
Triumphtores von Palmyra errichten lassen.
Diese Ausflüge machten auch den Kindern Spaß. Am Wochenende
waren sie mit Sahar und ihrer Familie verabredet. Harun, Sahars Mann,
war intelligent und sympathisch. Internist in Damaskus mit eigener Praxis.
Attraktiv, sanftmütig und ehrlich. Fatima mochte ihn sehr.
In besonders schöner Erinnerung hatte sie die Woche im
vergangenen Mai, als sie nach Wien geflogen waren. Ganz spontan, weil
Wien so eine wunderschöne Stadt war. Mit einer traumhaften Umgebung
und köstlichen Kaffeespezialitäten. Am beeindruckendsten hatten sie und
Bassam das Riesenrad im Prater gefunden. Während die Kinder nach einer
Runde genug hatten, waren sie noch fünfmal mitgefahren. Danach hatten
sie lachend beschlossen, dass das Riesenrad das Symbol ihrer Liebe war.
Ein ewiger Kreislauf. Ein ewiges Auf und Ab.
Während die Kinder den Tisch abräumten, bereitete Fatima einen
Qahwa zu. Dann schickte sie sie wieder in ihre Zimmer, in denen die
Vorhänge zugezogen waren. Sie setzte sich an den Esstisch. Bevor sie sich
um den Abwasch kümmerte, wollte sie zunächst in Ruhe ihren Kaffee
trinken. Ihr tägliches Ritual.
Als sie den letzten Schluck nahm, klingelte es an der Haustür. Wer
mochte das sein? Sie erwartete keinen Besuch. Wieder klingelte es.
Vielleicht Alima und Sahar? Die beiden kamen gerne spontan vorbei,
um einen Kaffee zu trinken und zu plaudern. Fatima stellte Tasse und
Untertasse zu dem Essgeschirr in die Spüle und ging zur Haustür. Sie
blickte durch den Spion. Nicht Alima und Sahar. Sondern Yefrem. Mit
zwei Männer, die Fatima nicht kannte. Sie sahen aus wie Europäer. Oder
Amerikaner.
„Bassam ist nicht hier“, sagte sie durch die geschlossene Tür.
„Ich weiß“, erwiderte Yefrem mit seiner tiefen Stimme, „der ist im
Büro. Wir wollen zu dir, Fatima. Wir haben ein paar Fragen. Machst du
bitte auf?“
„Worum geht es denn?“, fragte sie verunsichert. Sie konnte sich
nicht vorstellen, was Bassams Chef von ihr wollen könnte. Ging es um ihr
Gespräch mit seiner Frau auf dem Markt? Aber dann hätte Bassam sie
doch schon viel früher darauf angesprochen.
„Fatima“, sagte Yefrem, jetzt ungeduldiger, „es geht nur um ein paar
Informationen. Aber nicht durch eine geschlossene Tür. Mach bitte auf!“
Von Yefrems harten Tonfall verunsichert, öffnete sie.
„Danke“, sagte Yefrem und betrat die Diele, gefolgt von den beiden
Männern, die Fatima mit einem Nicken begrüßten. Sie führte sie nicht in
die Essküche, sondern ins Wohnzimmer. Sie wollte nicht, dass Bassams
Chef die Unordnung sah. Sie bot ihnen Kaffee an, aber sie lehnten ab.
Erwartungsvoll, aber auch mit einem mulmigen Gefühl, sah sie Yefrem in
die Augen. Der erwiderte ihren Blick und begann zu sprechen.
„Fatima, neulich hat mir meine Frau erzählt, dass ihr euch auf dem
Markt getroffen und unterhalten habt. Stimmt das?“
Ein Stich durchfuhr Fatima. Also doch! Als hätte sie es geahnt. Seine
Frau hatte es ihm sehr wohl erzählt. Der ärgerte sich nun über Fatima und
würde ihr gleich eine Moralpredigt halten. Die beiden Männer waren
wahrscheinlich Mitarbeiter der Behörde und sollten als Zeugen fungieren.
Das verhieß Ärger. Hätte sie doch bloß die Klappe gehalten! Aber sie
wusste, dass sie es nicht besser verdient hatte. Sie bestätigte, Yefrems Frau
getroffen und mit ihr gesprochen zu haben.
„Gut“, sagte Yefrem mit einem gütigen Lächeln um die
Augenwinkel. „Ich kann mir nämlich nicht vorstellen, dass meine Frau
mich anlügen würde. Du hast ihr merkwürdige Fragen gestellt. Ob wir mit
ausländischen Geheimdiensten kooperieren und wechselseitige
Geschäftsbeziehungen unterhalten. Was auch immer darunter zu verstehen
ist. Ist auch das korrekt?“
Was sie geahnt hatte, wurde Gewissheit. Sie hatte einen Fehler
gemacht. Sie hatte Angst vor Yefrem. Weniger wegen dem, was er sagte,
sondern wie er es sagte. Und Yefrems Begleiter, die noch kein Wort gesagt
hatten, schienen sie mit ihren Blicken zu durchbohren. Fatima stammelte,
stotterte, gab zu, diese Fragen gestellt zu haben.
„Warum, Fatima? Warum hast du meiner Frau diese Fragen
gestellt?“
Verschämt blickte sie zu Boden. Sie fragte sich, ob Yefrem Bassam
davon erzählt hatte. Aber warum hatte der sie dann nicht darauf
angesprochen? Yefrem konnte sie schlecht danach fragen. Sie wiederholte
wortgetreu das, was sie zu Yefrems Frau gesagt hatte.
Yefrem nickte. „Ich verstehe. Du warst also nur neugierig? Wolltest
wissen, was genau dein Mann beim Geheimdienst macht?“
Fatima nickte. Yefrems Stimme klang wieder viel ruhiger.
Wahrscheinlich war er erleichtert, dass nicht mehr hinter den Fragen der
Frau eines seiner Mitarbeiter steckte.
„Ja“, murmelte er, „das ist nachvollziehbar. Weißt du, was mein
Problem ist, Fatima?“
Sie schüttelte den Kopf.
„Dass ich dir nicht glaube. Ich kann dir nicht glauben, so gerne ich
es auch täte.“
Ein kurzes Lächeln zuckte um den Mundwinkel eines der Begleiter.
Fatima überkam Furcht. „Aber ich habe die Wahrheit gesagt! Ganz
bestimmt!“
Yefrem stieß schnaubend die Luft durch die Nasenflügel aus. Er
stand auf und durchquerte den Raum mit hinter dem Rücken verschränkten
Händen, ließ den Blick in alle Richtungen schweifen. Dann setzte er sich
wieder.
„Wie gesagt, Fatima. Ich würde dir gerne glauben. Aber ich kann es
nicht. Ich darf es auch gar nicht! Wir sind ein Geheimdienst! Verstehst du
das?“
Doch Fatima verstand gar nichts. Sie wusste nur, dass sie einen
Fehler gemacht und deshalb jetzt Angst hatte.
„Was hat dich zu deinen Fragen bewogen, Fatima? Von alleine bist
du bestimmt nicht darauf gekommen. Was hast du gesehen? Oder gehört?
Du solltest es mir erzählen. Wenn ich weiß, was geschehen ist, sind wir
nämlich ganz schnell wieder weg.“
Was sollte sie nur tun? Wenn sie behauptete, von selbst darauf
gekommen zu sein, würde er ihr nicht glauben. Aber wenn sie die
Wahrheit sagte? Andererseits, was sollte daran so schlimm sein?
Immerhin hatte ihr Mann den Stick doch selbst mit nach Hause gebracht.
Er war nicht durch ein Passwort geschützt. Und waren geheime
Informationen nicht immer durch Passwörter geschützt? Sie berichtete
also von dem Stick, was sie darauf gefunden und dass sie nichts davon
verstanden hatte.
„Nichts? Dann wärest du wohl kaum auf ausländische
Geheimdienste gekommen. Tisch uns keine Märchen auf! So allmählich
verliere ich die Geduld!“
Aus Yefrems schwarzen Augen funkelten wieder Wut und
Verachtung. In Bruchteilen von Sekunden konnte er zwischen Güte und
Verständnis und Wut und Kompromisslosigkeit wechseln. Was war bloß
sein wahres Gesicht? Unter diesem Druck gab Fatima auch ihr letztes
Wissen preis. Dass sie einige Absender erkannt und die Zahlenreihen für
Überweisungen gehalten hatte.
Yefrem nickte zufrieden. „Siehst du, genau so habe ich mir das
gedacht. Jetzt kann ich dir glauben.“ Er lächelte wieder. Güte und
Verständnis.
Fatima spürte, wie sie sich entkrampfte. Ganz so schlimm war ihr
Verhalten also doch nicht.
„Doch leider habe ich noch ein Problem.“
Fatima sah Yefrem fragend an. Kompromisslosigkeit.
„Ja, Fatima, mein Problem ist, dass du das gar nicht wissen dürftest.
Ich meine, wir sind nicht umsonst ein Geheimdienst.“ Er blickte sich
suchend um. „Wo sind eigentlich deine Kinder? Bassams Eltern sind ja bei
seinem Bruder.“
Fatima war irritiert. „Was willst du denn von meinen Kindern?“
„Nichts, ich frage nur.“
„Sie sind oben, in ihren Zimmern.“
Yefrem nickte. Güte oder Wut? „Ich verstehe. Und sonst ist niemand
hier?“
„Nein, wer sollte denn hier sein? Warum fragst du das? Was wollt ihr
von mir?“
Yefrem deutete auf seine Begleiter. „Das sind Freunde von mir.“ Er
zeigte auf den größeren seiner Begleiter. „Der Herr im dunklen Einreiher
ist von der CIA. Und der andere ist Oswald Pfeiffer vom BND.
Bundesnachrichtendienst heißt das. Das ist der deutsche Geheimdienst.“
Fatima war konsterniert. Was wollten die CIA und der BND von ihr?
Was hatte Yefrem mit denen zu tun?
„Ich weiß, was BND bedeutet. Aber sag mir bitte, worum es geht. Ich
verstehe kein Wort. Warum CIA und BND? Hat Bassam irgendwas damit
zu tun? Hat er etwas Schlimmes angestellt?“
Yefrem lachte. „Bassam und was angestellt? Nein, keine Sorge, der
hat nichts angestellt. Es geht um dich. Oder besser gesagt um euch.“
Keine Güte.
„Yefrem, ich verstehe dich nicht!“
Die beiden Geheimdienstler erhoben sich wortlos. Sie stellten sich
zwischen Fatima und die Tür. Yefrem legte seine Hand auf Fatimas Arm.
„Fatima, würdest du uns bitte nach oben begleiten?“
Eine gütige Stimme. Verständnis. Nichts als Schein. Dahinter
Kompromisslosigkeit und Wut. Das wahre Gesicht.
Fatima blickte angsterfüllt von einem zum anderen. Was immer sie
vorhatten, es verhieß nichts Gutes. Sie schaute über ihre Schulter,
versuchte abzuschätzen, ob sie die Tür zum Garten erreichen konnte. Aber
selbst wenn, was sollte aus den Kindern werden? Vielleicht schätzte sie die
Situation auch falsch ein. „Warum soll ich euch nach oben begleiten?“
Yefrem antwortete nicht, sondern nickte dem Deutschen zu. Der
ergriff zum ersten Mal das Wort und sagte in bemerkenswert reinem
Hocharabisch: „Weil Yefrem dich darum gebeten hat. Und weil jetzt
Schluss ist mit diesen Spielchen. Wir haben nicht den ganzen Tag Zeit!“
Er griff in sein Jackett. Augenblicke später blickte Fatima in den
Lauf einer Pistole. Sie schrie auf und wich erschrocken auf ihrem Stuhl
zurück. Auch Yefrem erhob sich und orientierte sich in Richtung Diele.
„Würdest du bitte mitkommen?“
Die Gedanken rasten durch Fatimas Kopf. Was hatte das zu
bedeuten? Wozu die Waffe? Sollte sie versuchen zu fliehen, um Hilfe zu
holen? Aber wer sollte ihr helfen? Vielleicht schaffte sie es in die Küche
zu laufen und sich einzuschließen. Dort lag das Telefon. Sie konnte
Bassam anrufen. Und hoffen, dass die Männer ihren Kindern nichts taten.
Doch in diesem Moment packte der Mann von der CIA ihren Arm und riss
sie unsanft aus dem Stuhl. Erst jetzt registrierte sie, dass er Handschuhe
trug. Und die anderen auch. Sein Arabisch war schlechter, aber sie
verstand ihn trotzdem.
„Vorwärts, nach oben!“
Aus den Augenwinkeln heraus nahm Fatima wahr, dass der Deutsche
etwas auf den Lauf seiner Waffe schraubte. Die Kinder mussten bemerkt
haben, dass jemand gekommen war. Denn in diesem Augenblick sprang
die Tür auf und sie rannten ins Wohnzimmer. Als sie die Männer sahen,
der eine mit einer Waffe, der andere, der ihre Mutter festhielt, blieben sie
abrupt stehen. Für einen Augenblick herrschte vollkommene Stille. Als die
Kinder sich umdrehten, um davonzulaufen, packte sie der Deutsche am
Kragen und hielt sie mühelos über dem Boden.
„Nicht!“, schrie Fatima und versuchte sich loszureißen, doch der
Mann vom FBI versetzte ihr eine so heftige Ohrfeige, dass sie einer
Ohnmacht nahe war. Dann richtete er die Waffe auf sie und deutete mit
einer Kopfbewegung nach oben. Der Deutsche trug die schreienden und
panisch um sich schlagenden Kinder aus dem Wohnzimmer und die
Treppe hinauf. Sie selbst wurde von dem anderen unsanft die Treppe
hinauf gezerrt. Yefrem folgte als Letzter. Oben angekommen, ging er an
den anderen vorbei und öffnete zielstrebig die Tür zum
Elternschlafzimmer. Er nickte seinen Begleitern zu. Sie zerrten Fatima und
ihre Kinder in den Raum und warfen sie auf das Bett.
Kapitel 19
Nord-Ostsee-Kanal, Ende Juli 2015
Tarkan winkte einer Familie zu, die neugierig zu seinem ungewöhnlichen
Schiff hinübersah, das durch die Holtenauer Schleuse in den überwiegend
von Fracht- und Segelschiffen genutzten Kanal gefahren war. Ein solcher
Katamaran begegnete den Menschen selten.
Die FS PLANET war ideal für Tarkans Mission geeignet, denn sie
war vollständig für ein solches Projekt ausgestattet. Yefrem hatte das
perfekt organisiert. Sie waren mehrere Wochen unterwegs, konnten dank
der Eisschmelze im Nordpolarmeer aber die Nordostpassage nutzen, was
ihre Fahrt erheblich verkürzte. Ihr Ziel waren die Permafrostböden
Sibiriens.
Der Junge hatte seinen Vater am Ärmel gezogen und, wild
gestikulierend, auf die PLANET gezeigt. Daraufhin hatte die ganze
Familie zu ihnen hinübergeschaut. Und weil Yefrem bei ihrem letzten
Treffen wieder betont hatte, dass sich Tarkan unauffällig und freundlich
verhalten musste, hatte er dieser Familie zugewinkt, die sofort freudig
zurückwinkte.
Es fiel ihm schwer, gegenüber den Ungläubigen Freundlichkeit zu
heucheln, aber Yefrem hatte verständnislos auf Tarkans Begegnung mit
den drei widerlichen Jugendlichen reagiert. „Was ist in dich gefahren?“,
hatte er wütend gefragt, „habe ich dir nicht ausdrücklich befohlen, dich
unauffällig zu verhalten? Betrunkene zu verprügeln, gehört nicht dazu!“
Auch Tarkans Beteuerungen, dass niemand in der Nähe war, die
Ungläubigen sein Gesicht nicht gesehen hatten und er es für seine Pflicht
hielt, Schmähungen gegen Allah zu rächen, konnten Yefrem nicht
besänftigen.
Also blieb ihm nichts anderes übrig, als freundlich zu winken. Aber
die Gedanken waren frei! Wenn ihr wüsstet! Wenn ihr wüsstet, wohin
dieses Schiff fährt, wer die Besatzung ist und wie ihr Auftrag lautet. Dann
würdet ihr zum wahren Glauben konvertieren und die Schahãda sprechen,
um der Hölle zu entgehen!
Mit der Zeit und viel Überwindung schaffte es Tarkan inzwischen,
den Menschen in seiner Umgebung freundlich zu begegnen. Er malte sich
einfach aus, was mit den Elenden geschah, wenn er seine Mission erfüllt
hatte. Sein Gegenüber konnte nicht wissen, was der Grund seiner
Freundlichkeit war.
Wie diese arroganten, gottlosen, Ich-zentrierten Studenten. Eben
weil er sich unauffällig verhalten sollte, hatte Tarkan sich an der Christian-
Albrechts-Universität eingeschrieben und ein Appartement in der Nähe
des Blücherplatzes gemietet. Das hatte ihm sogar gefallen. Im Nachhinein
war ihm allerdings klar geworden, dass er in einem anderen Stadtteil
besser aufgehoben gewesen wäre. In Gaarden, wo er schon optisch weniger
aufgefallen wäre und sich viel wohler gefühlt hätte. Denn bereits am
ersten Wochenende musste er erkennen, dass er sich falsch entschieden
hatte. Er hatte die Wohnung Anfang Juni unter falschem Namen bezogen
und die Miete für ein halbes Jahr im Voraus bezahlt. Yefrem hatte ihm
nahegelegt, schon einige Zeit vor Beginn seiner Mission nach Deutschland
zu gehen. Zum Startpunkt seiner Reise.
„Der Weltuntergang beginnt in Kiel“, hatte Yefrem mit Pathos in der
Stimme gesagt. „Lebe dort mitten unter ihnen. Lebe so, als wärest du einer
von ihnen. Wenn du meinst, es geht nicht mehr, dann denk daran, was
Allah mit ihnen macht, wenn du deine Aufgabe erfüllt hast. Du sollst
lernen, Tarkan! Lerne deinen Feind kennen. Dann lernst du, wie er denkt.
Dann weißt du, wie er handelt. Und dann kannst du deine Aufgabe zu
meiner vollsten Zufriedenheit erfüllen!“
Tarkan hatte gelernt. Er wusste schon vorher einiges über diese
Menschen. Doch was er mit eigenen Augen hatte sehen, mit eigenen Ohren
hatte hören müssen, übertraf seine kühnsten Erwartungen. Jetzt wusste er,
mit wem er es zu tun hatte.
Schon während der ersten Woche hatte ihn die Geräuschkulisse beim
täglichen Salãt gestört. Die Motorengeräusche, das alte Kopfsteinpflaster,
das laut donnerte, wenn ein Auto darüber fuhr. Aber das hatte er
vorhergesehen. Und sich damit arrangiert. Ebenso wie mit dem
hellhörigen Altbau. Er hörte Kinder im Haus schreien, ja einfach nur
rumlaufen. Er hörte irgendwo eine Kaffeemaschine kreischen und die alten
Holzdielen in der Wohnung über ihm, die bei jedem Schritt knarrten. Aber
all das war nicht zu vermeiden. Es war den Umständen geschuldet.
Er vermied den Kontakt zu den Nachbarn. Wenn er ihnen im
Treppenhaus begegnete, grüßte er. Wenn ihn jemand ansprach und nach
seinem Beruf oder seiner Familie fragte, erzählte er, dass er in Kiel
studierte, seine Familie in Hamburg wohnte und er so exotisch aussah,
weil sein Vater Marokkaner war. Bedeutungsloser Smalltalk, der rasch
vergessen wurde.
Was er aber nicht vorhergesehen hatte, waren die studentischen
Wohngemeinschaften, die sich unter die Familien, Paare und Singles in
diesem Viertel gemischt hatten. Vielleicht deshalb, weil nur eine WG sich
die exorbitanten Mieten leisten konnte, die nichts anderem entsprangen als
der unersättlichen Gier der Vermieter.
Gleich am ersten Wochenende war er mitten in der Nacht aus dem
Schlaf hochgeschreckt. Geweckt von einem infernalischen Krach. Ganz in
der Nähe. Er hörte laute Musik, ebenso laute Stimmen. Oder eher
tierartiges Gebrüll. Entsetzt war er aus seinem Bett und an das Fenster zur
Straße gestürzt. Im Haus gegenüber standen Menschen auf dem Balkon.
Die Tür stand offen. Aus der Wohnung dröhnte fürchterliche Musik, die
Tarkan nicht kannte. Und die Leute auf dem Balkon, sie wirkten betrunken,
grölten laut mit. Rücksichtlos. Egoistisch. Dumm. Und, Allah sei Dank,
dem Untergang geweiht.
In Tarkan war dennoch wieder dieser zerstörerische Hass
hochgekocht. Er wusste, dass diese Horde Ich-bezogener, rücksichtloser
Idioten nicht den Hauch einer Chance gegen ihn hatte. Er kam aus einer
anderen Kultur. Er war anders als sie. Er war ein Heiliger Krieger Allahs!
Er fürchtete weder Schmerzen noch den Tod. Sie hingegen waren
Waschlappen ohne Glauben und Brusthaar, weil sie es regelmäßig
rasierten, um sich danach auf dem Balkon zu präsentieren. Abstoßend und
weibisch. Ehe sie begriffen hätten, wie ihnen geschah, hätte sein Schwert
sie schon in Stücke geschnitten. Die erste praktische Lehrstunde in
angewandter Anatomie. Und zugleich ihre letzte.
Und lautete sein Befehl nicht totale Zurückhaltung, hätte er genau
das in diesem Augenblick getan. Er hätte sein Schwert unter dem Bett
hervorgeholt, wäre in das andere Haus gestürmt und hätte die Bande
massakriert.
Stattdessen begnügte er sich mit seinen Phantasien, ging wieder ins
Bett und schlief nicht mehr ein. Als er am nächsten Tag einem von den
Todgeweihten auf der Straße begegnete und der ihn auch noch in
ironischem Tonfall fragte, ob es vergangene Nacht zu laut gewesen sei,
hatte er brav gelächelt und gesagt, dass ihn das überhaupt nicht störe.
Feiern sei schließlich eine schöne Sache und gehöre zu jedem anständigen
Studium. Hätte diese Missgeburt in diesem Augenblick Tarkans Gedanken
lesen können, wäre sie schon vor Entsetzen gestorben.
Doch ein Mal hatte er seinen Gefühlen freien Lauf gelassen, ohne es
Yefrem zu erzählen. Denn abgesehen von den Studenten gab es auch
Individuen, Jugendliche vornehmlich, die nachts schreiend und grölend
durch die Straßen zogen. Ohne ersichtlichen Grund. Vollkommen
sinnentleert. So wie ihr Hirn. Wissend, dass in den vielen Häusern
Menschen ihretwegen keinen Schlaf fanden oder daraus hochschreckten.
Ältere Menschen. Berufstätige. Familien mit Kindern. Dummheit und die
Lust, Menschen aus purer Gehässigkeit zu stören. Das überstieg sein
Fassungsvermögen. Das also war die Welt der Ungläubigen!
In seiner Heimat war es auf den Straßen noch lauter. Aber nur, weil
es dort lebendiger zuging und die Leute viel mehr miteinander sprachen
als in dieser Brutstätte des Narzissmus. Dieser grölende, primitive Mob
auf der Straße war aber weder lebhaft noch kommunikativ. Sondern
abgrundtief ichfixiert und von Grund auf böse. In seiner Heimat bestand
die Strafe für derartig ungebührliches Verhalten in einer erheblichen
Anzahl an Stockhieben. Aber was sollte man von einer gottlosen Welt wie
dieser auch anderes erwarten? Sie brachte nur Abschaum hervor.
Vor zwei Wochen war er wegen solcher Missgeburten aus dem
Schlaf gerissen worden. Er war in geduckter Haltung auf seinen Balkon
geschlichen und hatte über die Brüstung geschaut. Und da sah er sie: zwei
Typen, Mitte zwanzig, betrunken, die grölten und in Kung-Fu-Manier
irgendwelche Baustellenschilder umtraten.
Da war Tarkans Zorn übermächtig geworden! Dieser Dreck musste
weg!
Lautlos war er zurück in sein Schlafzimmer geschlichen und hatte
seine selbst gefertigte Kriegsschleuder aus ihrem Versteck hervorgeholt.
Er war ein Meister im Umgang mit dieser Waffe. Selbst Ziele in einer
Entfernung von dreihundert Metern traf er damit noch punktgenau. Bei
manchen Aufträgen benutzte er sie, vor allem, wenn er lautlos töten sollte.
Töten durfte er diese Ungläubigen nicht. Aber er durfte ihnen Schmerzen
zufügen!
Rasch war er in die Küche gegangen und hatte einen kleinen
Eiswürfel geholt. Normalerweise benutzte er Bleigeschosse, aber mit
dieser Munition und aus dieser Nähe wäre der hohle Schädel der
Schreihälse wie eine Seifenblase geplatzt. Mit Schleuder und Munition
war er wieder auf den Balkon geschlichen. Und sie taten ihm den Gefallen.
Sie ließen ihre Aggressionen, ihre angeborene Stumpfheit, weiter grölend
an Baustellengeräten aus.
Unfassbar war auch, dass sich niemand aus den umliegenden
Häusern beschwerte. Oder wenigstens die Polizei rief. Waren die
Menschen in diesem Kulturkreis wirklich so feige? Ohne jegliche
Courage?
Er guckte sich denjenigen aus, den er widerlicher fand. Es war der
größere. Im Licht der Straßenlaterne konnte er seine abstoßende Visage
sehen. Hochrotes Gesicht, Glubschaugen, klare Anzeichen unheilbarer
Dummheit. Der Habitus eines Primaten. Noch weniger als ein
Ungläubiger.
Er spannte den Eiswürfel in die Schleuder und zielte. Ruhig und
konzentriert. Niemand beherrschte dieses Kriegsgerät besser als er. Er
durfte nicht zu hart durchziehen. Auch ein Eiswürfel konnte töten. Jetzt
drehte die Missgeburt ihm den Rücken zu, um sich ein Halteverbotsschild
vorzunehmen. Perfekt. Er fixierte seinen Hinterkopf. Dann ließ er los. In
Bruchteilen von Sekunden hatte der Eiswürfel völlig geräuschlos sein Ziel
erreicht.
Volltreffer! Das Tier schrie auf. Dann wurde es totenstill. Der Primat
sackte zu Boden. Er hielt sich den Hinterkopf. Tarkan war sich sicher
gewesen, dass Blut aus seiner Wunde tropfte. Der andere Primat stierte
zunächst den Getroffenen an. Dann scannte sein besoffener Blick die
Umgebung. Er schien zwischen den Nebelschwaden seines Rausches zu
ahnen, dass sich wohl doch ein Anwohner durch sein Verhalten gestört
fühlte. Aber er konnte niemanden entdecken.
Wie auch. Tarkan war ein Großmeister der Kriegskunst. Jedem
Einzelnen in dieser gottlosen Gesellschaft überlegen. Der Eiswürfel, der
einzige Beweis, war rasch geschmolzen. Auf der Straße herrschte tiefe
Stille. Eine große Genugtuung. Die beiden zu töten, im Namen Allahs,
hätte zwar eher seinem Naturell entsprochen. Aber auch diese kleine
Lösung war befriedigend. In dieser Nacht grölte niemand mehr. Auch nicht
in den folgenden. Tarkan schloss daraus, dass stets derselbe Abschaum für
den Krach verantwortlich war. Oder es hatte sich herumgesprochen, dass
man sich in diesem Viertel besser ruhig verhielt. Niemand kam zu ihm.
Keine Polizei, die die Anwohner befragte. Wie immer hatte er fehlerfrei
agiert.
Siedend heißes Wasser wird ihre Eingeweide zerreißen!
Es war dieses allem übergeordnete Wissen, das ihn dazu befähigte,
sich wie ein Schatten in einer Welt zu bewegen, die er zutiefst verachtete.
Das Wissen um seinen Weg ins Paradies. Das Wissen um den Weg der
Gottlosen in die Hölle. Und das Wissen um die Endgültigkeit seiner
Mission. Niemand in dieser Stadt teilte mit ihm auch nur den Hauch dieses
Wissens. Und niemand von ihnen ahnte, dass Kiel, wie viele andere Städte
in der Welt der Gottlosen, bald zu einer Geisterstadt verkommen würde.
Der Junge winkte ihm noch immer zu. Sein Vater tat es ihm gleich.
Die Mutter und die beiden Töchter standen dahinter, aber auf die kurze
Distanz konnte Tarkan sehen, dass sie lachten. Tatsächlich erweckten diese
Menschen den Eindruck von Zufriedenheit. Schein und Wirklichkeit...
Yefrem hatte Tarkan anhand von Seekarten erklärt, wohin er das
Schiff führen und wie er das Material bergen sollte. Seekarten in
Papierform, die Tarkan mit an Bord genommen hatte, weil er damit am
besten zurechtkam. Er hatte die auslaufbereite PLANET in Eckernförde
nur noch besteigen müssen. Mit drei seiner Leute und Coleman. Perkins
kam erst in zwei oder drei Wochen nach. Er musste in der Zentrale noch
auf das Projekt vorbereitet werden. Der Rest der vierzig Mann starken
Besatzung war schon an Bord gewesen. Männer und Frauen, die ihm
untergeordnet waren und seine Befehle befolgen mussten. Zwanzig Mann
Besatzung und zwanzig Wissenschaftler. Für Tarkan bedeutete das ein
Minimum an Aufwand. Denn die Zusammenstellung eines geeigneten
Teams war der schwierigste, langwierigste Part einer solchen Mission.
Dass Yefrem das in so kurzer Zeit geschafft hatte, sprach einmal
mehr Bände über seine tatsächliche Macht. Er musste sogar hochrangige
Verbindungen zur deutschen Küstenwache unterhalten. Tarkan war
bewusst, dass er nur ein kleines Rädchen war. Aber Allah unterschied nicht
zwischen großen und kleinen Rädchen.
Er verfolgte aus dem Augenwinkel heraus, wie die fünfköpfige
Familie kleiner und kleiner wurde. Die PLANET hatte die zulässige
Reisegeschwindigkeit von fünfzehn Stundenkilometern erreicht. Die
Familie schlenderte wieder am Kanal entlang, der Ostsee und Nordsee
miteinander verband. Sie hatten das Interesse an dem Boot und dem
winkenden Mann verloren.
Informiert zu sein gehörte zu Tarkans wichtigsten Aufgaben. Er hatte
recherchiert, dass er ausgerechnet hier, in diesem kleinen Deutschland,
den am meisten befahrenen künstlichen Seeweg der Welt befuhr. Über
dreißigtausend Schiffe jährlich nutzten diese Route. 98,26 Kilometer
zwischen der Ostsee in Kiel-Holtenau, wo sein Schiff in den Kanal
eingefahren war, und Brunsbüttel an der Elbmündung in die Nordsee.
Inklusive aller potenziellen Hindernisse, Gegenverkehr und sonstiger
Unwägbarkeiten, hatte Tarkan sieben bis acht Stunden für die Fahrt
einkalkuliert. Viel für diese kurze Strecke und die Möglichkeiten des
Katamarans. Aber wenig für das Ziel der PLANET.
Der Unterschied zu Tarkans bisherigen Einsätzen war die hochgradig
organisierte Führung. Nüchternes Kalkül schien sich symbiotisch mit dem
Temperament und der Opferbereitschaft der Mujaheddin zu vereinigen. Er
kannte nicht alle Details des Plans. Aber er begriff, dass die Führer
inzwischen gelernt hatten, die Mentalität, die Denkweise des Gegners
bewusst zu nutzen, um ihn zu vernichten. Ein großer Schritt nach vorne!
Kapitel 20
Adams Island, Neuseeland, August 2015
Harvard - Volcano Center stand auf dem Schild. So, wie Shoemaker es
beschrieben hatte. Hier also begann, im fortgeschrittenen Alter von
fünfundfünfzig, das größte Projekt seines Lebens. Mason Foley fand es
allerdings befremdlich, dass er jedes Mal auf unzähligen Umwegen
hierher gebracht wurde und immer noch nicht wusste, wer zu seinem Team
gehörte. Das war ungewöhnlich. Ebenso ungewöhnlich war aber auch, dass
eine Stiftung vorab fünfhunderttausend US-Dollar auf ein Projektkonto
einzahlte, über das Foley uneingeschränkte Verfügungsgewalt hatte.
Shoemaker, dem man seine sechzig nicht ansah, hatte erklärt, dass
AURORA aus hochrangigen, teils prominenten Persönlichkeiten bestand.
Sie hatten nicht nur mehr als eine Milliarde US-Dollar eingebracht,
sondern sich auch verpflichtet, die Hälfte aller zukünftigen Einnahmen auf
die Stiftung zu übertragen. Die Stiftung war elitär. Wer Mitglied werden
wollte, musste viele Voraussetzungen erfüllen.
Letztlich hatte Foleys Neugier gegen sein Misstrauen gesiegt. Zumal
die Stiftung auf eigene Kosten dafür sorgte, dass seine Familie während
des Projektes bei ihm war. Seine Frau, Kim, war heute mit den Mädchen in
der Suite geblieben. Er stand, zusammen mit einigen Leuten, die er noch
nicht kannte, im Foyer und wartete bei Champagner auf den
Stiftungsvorstand. Er bestand aus mehreren Personen, unter ihnen
Shoemaker, die erklären wollten, wie die Projekte abliefen.
Foley hatte den agilen Shoemaker bei einem Vortrag in London
kennengelernt. Shoemaker hatte ihn während der Pause angesprochen und
sich als Geologe aus Harvard vorgestellt. Ihm waren Foleys
herausragender Ruf in der Erforschung von Supervulkanen und seine
Arbeiten mit Hans-Ulrich Schmincke zu Ohren gekommen. Schmincke
zählte zu den renommiertesten Vulkanologen der Welt. Die Schwerpunkte
seiner Arbeit waren die Vulkane in der Eifel und auf den Kanarischen
Inseln. Schmincke hatte zahleiche Preise für seine Arbeiten bekommen, so
auch den Leibniz-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft. Zuletzt
war er Direktor der Abteilung Vulkanologie und Petrologie am Leibniz-
Institut für Meereswissenschaften in Kiel gewesen.
Shoemaker war nach London gereist, um eine so außergewöhnliche
Forscherpersönlichkeit kennenzulernen. Allerdings hatte er auch ein
spannendes Projekt im Gepäck, das er Foley vorstellen wollte. Sie hatten
sich zum Abendessen verabredet. Was Shoemaker Foley dabei
vorgeschlagen hatte, war in der Tat spannend. International agierende
Investoren hatten sich in einer Stiftung zusammengeschlossen, deren
Zweck in der Finanzierung von Forschungsprojekten zu möglichen
Bedrohungen aus der Natur bestand. Mit dem Ziel, sich besser darauf
einstellen zu können.
Shoemaker hatte ausgeführt, dass es in der Stiftung mit dem Namen
AURORA Leute wie ihn gab, deren Aufgabe darin bestand, die besten
Forscher aufzuspüren, um ihnen Projekte im Sinne des Stiftungszwecks
anzubieten, die vollumfänglich von der Stiftung finanziert wurden. Mason
Foley war aufgrund seines Wissens über Supervulkane ins Visier der
Stiftung geraten. Denn der Ausbruch eines Supervulkans war so ziemlich
die schlimmste Naturkatastrophe, die auf der Erde eintreten konnte.
In London hatte Foley dem staunenden Publikum erklärt, was der
Ausbruch eines solchen Vulkans bewirken würde. Als Supervulkane
wurden Vulkane bezeichnet, die mindestens tausend Kubikkilometer
Tephra, unverfestigte pyroklastische Ablagerungen, beförderten. Die
größten Supervulkane der Erde waren die Yellowstone-Caldera im US-
Bundesstaat Wyoming und der Toba auf der zu Indonesien gehörenden
Insel Sumatra. Weitere, kleinere Supervulkane brodelten mit dem Taupo in
Neuseeland, in den Phlegräischen Feldern bei Neapel sowie in
Griechenland, den Anden, Japan, Mittelamerika und auf den Philippinen.
Doch die Gefährlichsten waren der Toba und der Yellowstone. Mit
Auswurfmengen von über zweitausendfünfhundert Kubikkilometern
Material rangierten sie weit oben auf Stufe 8 des VEI, des Volcanic
Explosivity Index.
Foley veranschaulichte solche für den Laien abstrakte Zahlen mit
Beispielen und Vergleichen. Als er von Auswurfmengen gesprochen hatte,
hatte er als Vergleich den letzten Ausbruch des Mount St. Helens im Mai
1980 herangezogen, einem der größten Ausbrüche des zwanzigsten
Jahrhunderts. Dabei war Energie in einer Größenordnung von
vierundzwanzig Megatonnen TNT freigesetzt worden. Das entsprach dem
Tausendsechshundertfachen der Hiroshima-Bombe. Die Folgen für
Wirtschaft, Tourismus und Landwirtschaft waren verheerend gewesen. Das
ausgeworfene Material umfasste einen Kubikkilometer.
„Doch das, meine Damen und Herren“, hatte Foley in dem sicheren
Gefühl, es in seinen Bann gezogen zu haben, dem Publikum erklärt, „war
nichts im Vergleich zu dem, was uns an Ungemach aus Indonesien oder
Wyoming drohen würde. Denn einem bereits brandgefährlichen
Kubikkilometer Asche stünden zweitausendfünfhundert gegenüber!“
Foley hatte diese Fakten wirken lassen. An den teils staunenden, teils
ungläubigen, teils auch ängstlichen Gesichtern konnte er ablesen, was er
an Emotionen ausgelöst hatte. Denn eines war ihm besonders wichtig:
Seine Vorträge sollten das Publikum begeistern, es über Emotionen
wachrütteln.
Er nippte an seinem Champagner, während er darüber nachdachte,
wie merkwürdig diese Stiftung war. Wäre seine Familie nicht dabei, hätte
er sich trotz der großzügigen Finanzierung nicht darauf eingelassen.
Eine Hand legte sich auf seine Schulter. Erschrocken fuhr er herum
und verschüttete dabei etwas Champagner. „Bitte verzeihen Sie, Dr. Foley.
Ich wollte Sie nicht erschrecken.“
Er war so in Gedanken gewesen, dass er Shoemaker nicht bemerkt
hatte, der sich zu ihm gesellte. Er stellte sein Glas ab. Der übergelaufene
Champagner bildete eine kleine Pfütze um das Glas. „Ich war in Gedanken
versunken. Schön Sie zu sehen, Dr. Shoemaker.“
Shoemaker schüttelte ihm die Hand. „Ebenfalls. Darf ich Ihnen einen
interessanten Mann vorstellen, Dr. Foley? Dr. James Perkins. Er ist wie Sie
mit seiner Familie gekommen.“
Foley musterte Perkins. Er kam ihm bekannt vor. „Ich freue mich,
Sie kennenzulernen, Dr. Perkins. Kennen wir uns von irgendwoher?“
Perkins lachte. „Ich glaube nicht. Vielleicht ist Ihnen mein Konterfei
in einer Zeitung oder im Fernsehen begegnet. Daher kenne ich übrigens
auch Sie. Vulkanologie, auch ein sehr spannendes Gebiet. Weltbewegend,
wie man mit Fug und Recht behaupten darf.“
Foley schüttelte Perkins die Hand. „Aber natürlich! Jetzt erkenne ich
Sie! Sie sind Virologe! Sie haben in das Influenzavirus den genetischen
Code der Spanischen Grippe eingebaut. Damit haben Sie maßgeblich dazu
beigetragen, neue Impfstoffe zu entwickeln. Und erinnere ich mich richtig,
dass gegen Sie in diesem Zusammenhang sogar ermittelt worden ist?
Wegen der Anleitung zu einem terroristischen Akt?“
Perkins schien peinlich berührt. Er sah an Foley vorbei und räusperte
sich. „Nun ja, das sind mitunter die Nebenwirkungen unserer Forschung,
nicht wahr? Denken Sie nur an die Entdeckung der Atomkraft. Alles, was
wir im Dienste der Menschheit erforschen, kann auch für das Gegenteil
missbraucht werden. Ich habe ein tödliches Influenzavirus entwickelt.
Aber kurz darauf eben auch einen weitreichenden Impfschutz.“
Shoemaker klopfte Perkins auf die Schulter. „Sie haben sich damit
ein Denkmal gesetzt, Dr. Perkins. Risiken und Nebenwirkungen gibt es bei
jeder Forschung. Wer weiß das besser als wir.“
Foley nickte. „Da haben Sie recht. Um dieses Dilemma beneide ich
meinen Kollegen nicht. Ich habe es leichter. Bei meinen Forschungen gibt
es keine Risiken und Nebenwirkungen. Ich erforsche Vulkane, versuche,
die Vorhersage von Ausbrüchen zu verbessern, ihre Folgen abzuschätzen
und Warnsysteme zu optimieren. Ich erreiche entweder gar nichts oder
Gutes.“
Shoemaker lächelte in einer undefinierbaren Weise. „Glauben Sie
mir, Dr. Foley, Sie werden eine Menge erreichen. Sie werden in die
Geschichtsbücher eingehen.“
Der Vulkanologe winkte ab. „Ihre lobenden Worte in Ehren, Dr.
Shoemaker. Aber ich mache mit Ihrem Geld letztlich nichts weiter, als die
größten Supervulkane der Erde zu erforschen. Mit der Fragestellung, wann
ein Ausbruch zu erwarten ist und welche exogenen Faktoren ihn
beschleunigen könnten. Zusätzlich zu einem endogenen und damit
unvermeidlichen Ausbruch. Ein sinnvolles und innovatives Projekt, da
mögliche Auslöser blockiert werden könnten. Außerdem können wir dann
vielleicht den Zeitraum eines Ausbruchs besser eingrenzen.“
Perkins hatte die Ausführungen des Vulkanologen aufmerksam
verfolgt. Jetzt wandte er sich an Shoemaker. „Ihre Stiftung ist sehr
ungewöhnlich. Sie finanzieren Projekte auf dem Gebiet der Virologie
ebenso wie auf dem der Vulkanologie. Da gibt es keine Überschneidungen.
Hat sich AURORA nicht einem bestimmten Zweck verschrieben, einem
speziellen Forschungsgebiet?“
Shoemaker bedeutete einem Kellner, eine neue Flasche Champagner
zu bringen. „Wir unterstützen Projekte, die sich mit Bedrohungen aus der
Natur beschäftigen. Dazu zählen Supervulkane ebenso wie Viren und
Bakterien. Im Zuge des Abschmelzens der Permafrostböden ist damit zu
rechnen, dass über Jahrtausende im Eis eingefrorene Erreger mit dem
Menschen in Kontakt kommen. Wieder oder zum ersten Mal. So etwas
muss rechtzeitig erforscht werden. Rechtzeitig heißt, bevor sie mit dem
Menschen in Kontakt kommen. Also unterstützen wir dieses Projekt. Aber
auch Ihr Projekt über Supervulkane. Denn die Natur und das Schicksal
werden uns nicht so wohlgesonnen sein, nur in einem Forschungsbereich
zuzuschlagen, den wir finanziert haben. Wie Sie sehen, verfolgt unsere
Stiftung einen klaren Zweck. Sind Sie bereit, aufzubrechen, Dr. Perkins?
Im hohen Norden wartet eine Überraschung auf Sie! Sie kennen Ihr Ziel,
aber nicht Ihre Ausrüstung. Und die ist wirklich außergewöhnlich.“
Perkins beteuerte, es kaum abwarten zu können, endlich loszulegen,
während Shoemaker die Champagnergläser der Wissenschaftler füllte. Er
erklärte, dass gleich alle Forscher ihren Vortrag hielten, um den anderen
Begünstigten der Stiftung einen Überblick über die ausgewählten Projekte
zu verschaffen. Im Anschluss war ein lockeres Kennenlernen geplant und
jedem Forscher wurde, zusätzlich zu seinen eigenen Mitarbeitern, ein
spezielles Team und ein Mentor zugeordnet. Perkins Team war schon
unterwegs. In den nächsten Tagen starteten auch die übrigen.
Familienmitglieder blieben während der Forschungsreisen auf Adams
Island.
Das sei wie bei einer Weltmeisterschaft, sagte Shoemaker. Man
musste sich voll auf das eine, das große Ziel fokussieren und deshalb einen
klaren Cut machen. Niemand durfte abgelenkt werden. Weder von privaten
Dingen noch vom Weltgeschehen. Zudem durfte das Wissen aus den
Projekten nicht in falsche Hände geraten. Shoemaker stellte in Aussicht,
dass einige der Wissenschaftler sicherlich einen Nobelpreis verliehen
bekämen. Weil ihre Projekte für die Menschheit von existenzieller
Bedeutung waren. Und von überaus praktischer Relevanz.
Shoemaker nickte den Wissenschaftlern zu, betrat die Bühne,
erklärte den Mitgliedern der Stiftung und den geladenen Gästen den
Ablauf des Abends und kündigte die Kurzvorträge an. „Zum Einstieg wird
Ihnen Dr. Foley erläutern, welche Folgen der Ausbruch eines Supervulkans
hätte.“ Er streckte den Arm in Richtung des Vulkanologen aus. „Darf ich
bitten, Dr. Foley?“
Foley betrat die Bühne. Er war froh, an seinem zweiten Champagner
nur genippt zu haben. Der erste hatte ihn lockerer gemacht. Er war ein
guter Redner, aber dieser Rahmen wich von seinem gewohnten Umfeld ab.
Da konnte ein wenig Alkohol nicht schaden. Aber zu viel war
kontraproduktiv.
Er nahm die Fernbedienung für den Beamer entgegen, prüfte das
Mikrofon und begann seinen gut vorbereiteten Vortrag. Zunächst bedankte
er sich bei der Stiftung für das ihn ehrende Vertrauen in seine Fähigkeiten
und bekundete sein Interesse an den anderen Projekten. Dann schaltete er
den Beamer ein. Ein hochwertiger Laserbeamer, der gerade erst auf den
Markt gekommen war. Ultrahohe Auflösung, perfektes Farbspektrum. Und
er barg nicht die Gefahr eines klassischen Beamers, dass die Lampe mitten
in der Präsentation ihren Dienst verweigerte. Eine solche Qualität war
ideal für seine anspruchsvollen Bilder und Animationen.
Sein erster Beitrag zeigte ein computeranimiertes Szenario eines
Ausbruchs des Supervulkans im Yellowstone Nationalpark. Die Animation
bot ein Bild völliger Verwüstung. Foley holte sein Publikum wie immer
auf der emotionalen Ebene ab. Das verfehlte auch bei Kollegen aus
anderen Wissenschaftszweigen nicht seine Wirkung. Abgesehen von
einigen Lauten der Faszination oder auch Erschütterung wurde es
mucksmäuschenstill. Er ließ der ersten Animation kommentarlos weitere
in Form einer Serie folgen, die den hypothetischen Ausbruch eines
Supervulkans visualisierten. Jetzt war es an der Zeit, den eigentlichen
Vortrag zu beginnen. Foley legte Pathos in seine Stimme.
„Meine Damen und Herren, Sie sind soeben Zeugen des Ausbruchs
eines der größten Vulkane der Welt geworden. Theoretisch könnte ich
meinen Vortrag also an dieser Stelle beenden. Aber wie Sie in wenigen
Augenblicken verstehen werden, wären die unmittelbaren Auswirkungen
eines Ausbruchs nur ein unbedeutendes Intro. Relativ betrachtet. Denn
danach geht es erst richtig los. Nehmen wir als Beispiel den Yellowstone
Nationalpark.“
Foley blendete das nächste Bild ein. Es zeigte eine Graphik. Einen
Querschnitt durch den Supervulkan, gespickt mit Fachbegriffen wie
Shallow hot water reservoirs, Granitic magma und Basalt magma. Anhand
der Graphik erläuterte Foley, wie der Supervulkan aufgebaut war und über
welche Mechanismen es zum Ausbruch kommen konnte. Ein solcher
Vulkan hatte Triggerpunkte. Das Material war noch relativ zäh. Aber
externe Einflüsse könnten es sehr schnell erhitzen oder zur Ausdehnung
bringen. Zum Beispiel ein Eintritt großer Wassermengen. Das Wasser
würde bei diesen Temperaturen spontan verdampfen und einen enormen
Druck erzeugen, der zu einer spontanen Ausdehnung und damit vielleicht
zu einem Ausbruch führen könnte.
Er erklärte anhand weiterer Graphiken und Animationen die
unmittelbaren Auswirkungen einer Eruption. Anders als bei einem
klassischen Vulkan trat im Yellowstone das Magma nicht an einer Stelle
aus, sondern an mehreren. Nach dem Austritt einer bestimmten Menge an
Material entstand in der Caldera ein Hohlraum, der zu einem Einbruch des
darüber liegenden Matrials führte. Erst dann machte der Vulkan so richtig
ernst.
Er entschuldigte sich mit einem Lächeln für die vielen Animationen.
„Leider, oder wohl eher gottseidank, meine Damen und Herren, kann ich
Ihnen nur Animationen zeigen. Denn bislang war es nicht möglich, einen
Ausbruch live zu verfolgen. Nach meinen bisherigen Ausführungen sind
Sie sicher mit mir einer Meinung, dass das auch verdammt gut so ist!“
Gelächter. Foley schickte seine Zuhörer durch ein Wechselbad der
Gefühle. Der richtige Moment für den ultimativen Schocker. Er blendete
wortlos ein Foto aus der Arktis ein. Verständnisloses Gemurmel löste das
vorherige Lachen ab. Dafür lachte jetzt Foley.
„Ich habe das Pferd der Anschaulichkeit halber von hinten
aufgezäumt. So sähe es nach kurzer Zeit, wir sprechen über Wochen,
höchstens Monate, in vielen Regionen der Erde aus. Denn der gigantische
Ausstoß von Tephra, unverfestigte pyroklastische Ablagerungen, oder
verständlicher, wenngleich wissenschaftlich nicht korrekt: Asche, würde
aufgrund des thermischen Auftriebs in die Stratosphäre gelangen. In
kurzer Zeit würde sie sich über globale Windsysteme in der Atmosphäre
verteilen und die Sonneneinstrahlung drastisch reduzieren. Ein global
dimming, das zu Ernteausfällen und einem großen Artensterben führen
würde. Wobei auch wir nichts anderes sind als eine Art.
Das Ausmaß des vulkanischen Winters hängt davon ab, wie sich das
ausgeworfene Material zusammensetzt. Wie hoch ist der Anteil der Asche,
des Schwefels, der Aerosole? Schwefel und Aerosole haben eine
wesentlich größere Trübungswirkung als Asche. Je nach Verdunklungsgrad
würden die globalen Mitteltemperaturen um bis zu fünf Grad fallen, im
schlimmsten Fall um zehn oder gar fünfzehn Grad. Die Modelle sind sich
da nicht einig. Mit viel Glück wären es nur drei Komma fünf Grad.
Aber ganz gleich, wie viel Grad es wirklich sind, die Kälte käme
binnen kürzester Zeit! Zum Vergleich: Der Temperaturunterschied
zwischen Warm- und Eiszeiten beträgt im globalen Mittel nur fünf Grad
Celsius. In der Folge der Verdunklung würde es in Regionen wie den
Britischen Inseln, Deutschland, den Beneluxländern, aber auch in anderen
Teilen der nördlichen Hemisphäre selbst im Sommer schneien. Die
Landwirtschaft würde kollabieren. Weltweit wären diese Auswirkungen zu
spüren. Beim letzten Ausbruch des Supervulkans Toba vor rund
vierundsiebzigtausend Jahren wurde der Homo Sapiens bis auf wenige
tausend Individuen vernichtet. Es hätte also nicht viel gefehlt, und wir
würden hier und heute keine wissenschaftlichen Projekte starten.
Welche Folgen der Ausbruch eines Supervulkans heute hätte, ist
schwer einzuschätzen. Wir sind völlig anders entwickelt als vor
vierundsiebzigtausend Jahren. Es käme sicherlich zu einer weltweiten
Wirtschaftskrise. Hungersnöte wären unausweichlich. Allein die direkten
Folgen des Ausbruchs wären verheerend. Alles Leben im Umkreis von
einigen hundert Kilometern würde vernichtet.
Die entscheidenden Fragen lauten: Wie wahrscheinlich ist ein
Ausbruch? Gibt es exogene Faktoren, die ihn beschleunigen könnten?
Könnte sich der moderne Mensch, die hochentwickelte Zivilisation, darauf
einstellen? Oder würden Wirtschaftskrisen, Inflation und Hunger zu
Anarchie und Kriegen führen? Ist die Globalisierung bei einer solchen
Katastrophe von Vorteil oder im Gegenteil ein tödlicher Nachteil?
Niemand hat sich bislang ernsthaft mit diesen Fragen auseinandergesetzt.
Insofern kann ich die Ziele der Stiftung nur begrüßen. Sie sind ein
Meilenstein in der Katastrophenprävention. AURORA erweist der
Menschheit damit einen großen Dienst. Und ich bin stolz, Bestandteil
dieses epochalen Projektes zu sein.“
Foley schaltete den Beamer aus und verließ die Bühne unter dem
tosenden Beifall des Publikums. Shoemaker führte ihn mit lobenden
Worten zurück an den Stehtisch.
Während Foley Champagner trank, betrat der nächste Redner die
Bühne. Der Mann war Foley schon vorher aufgefallen. Ein unscheinbarer
Typ asiatischer Herkunft. Nicht er war auffällig, sondern die Frau an seiner
Seite. Eine fast surreale Schönheit. Irgendwie sphärisch. Nicht von dieser
Welt. Die beiden hatten sich immer wieder geküsst und auch ansonsten
keinen Zweifel daran gelassen, dass sie ein Paar waren. Foley fragte sich,
was eine solche Frau von einem so unscheinbaren Mann wollte. Er musste
über andere Qualitäten verfügen. Auf jeden Fall ein ungewöhnliches Paar.
Der Asiate stellte sich als Chang Zhou vor. Er war Meteorologe. Sein
Vortrag beschäftigte sich mit Kontinentalhängen und dem Golfstrom. Er
erläuterte den Zweck seines Projektes. Er war der Meinung, dass der
Golfstrom in seiner Bedeutung überschätzt wurde, sich die Wissenschaft
in dieser Frage aber noch uneins war. Zhou stellte die verschiedenen
Meinungen gegenüber. Sein Projekt beschäftigte sich nicht nur mit der
Frage, wie wahrscheinlich ein Versiegen des Golfstroms war, sondern auch
mit exogenen Einflüssen.
Interessant, dachte Foley, wie bei meinem Projekt. Wobei ihm, wenn
er es recht bedachte, keine exogenen Einflüsse einfielen, über die er, mit
den leeren Worthülsen des Politikers, selbst in seinem Vortrag gesprochen
hatte. Im Freudentaumel der astronomischen Fördersumme hatte er sich
gar keine Gedanken dazu gemacht. Und mit Shoemaker hatte er darüber
noch nicht gesprochen. Er hatte unreflektiert exogen mit
Eintrittswahrscheinlichkeit gleichgesetzt.
Was bedeutete „exogen“ in Bezug auf die Kontinentalhänge oder den
Golfstrom? War Schmelzwasser aus Grönland oder Sibirien exogen? Eher
nicht. Das gehörte zum System, war also endogen. Exogen wäre der
Einschlag eines Asteroiden auf Grönland, der zu einem schnellen
Abschmelzen des Eispanzers führen würde. Wobei fraglich wäre, ob das
Eis tatsächlich schmelzen würde. Gut, das wäre dann in der Tat eine Frage,
die das Projekt beantworten musste. Aber von welchen
Wahrscheinlichkeiten sprach man hier? Ein Asteroideneinschlag,
ausgerechnet auf Grönland? Oder konnte ein Asteroid einen
Kontinentalhang zum Einsturz bringen? Außerdem hätte der Aufprall
eines großen Asteroiden bei Weitem schwerwiegendere Folgen als ein
Versiegen des Golfstroms.
Was aber würde geschehen, wenn ein solcher Gesteinsbrocken genau
in der Yellowstone Caldera landete? Sowohl der Himmelskörper als auch
die Asche führten zu einem vulkanischen Winter. Aber beides
gleichzeitig? Doch, das wäre schon eine handfeste Apokalypse. Was
könnte man aber dagegen tun? Abwehrsysteme im Weltall installieren?
Aber gab es die nicht längst? Und auch hier stellte sich die Frage nach der
Wahrscheinlichkeit. Ein Asteroideneinschlag ausgerechnet im Yellowstone
Nationalpark. Nette Geschichte für einen Blockbuster á la The Day After
Tomorrow. Aber kein Grund, zig Millionen Dollar zu investieren.
Foley war verunsichert. Die nächste Pause musste er nutzen, um
Shoemaker darauf anzusprechen. Da bestand Klärungsbedarf. Ungeduldig
folgte er dem Vortrag des Asiaten nur noch mit einem Ohr. Endlich verließ
der Mann die Bühne. Foley sprach Shoemaker unvermittelt auf die
Definition von exogenen Einflüssen an.
Shoemaker setzte eine geheimnisvolle Miene auf. „Asteroiden
wären, wie Sie selbst sagen, ein exogener Faktor. Aber ein höchst
unwahrscheinlicher. In unseren Projekten geht es um etwas anderes. Etwas,
das viel wahrscheinlicher ist als ein Asteroid. Und naheliegender. Direkt
nebenan.“
Foley hatte keine Ahnung, wovon der Mann sprach. „Was für
näherliegende exogene Faktoren sollen das sein, die einen Supervulkan
zum Ausbruch bringen könnten?“
Shoemaker lächelte. „Denken Sie doch mal an den Menschen.“
„Ich verstehe rein gar nichts. Und ich mag diese Art von Spielchen
nicht.“
„Sagen wir mal so, Dr. Foley: Alles Wissen dieser Welt haben nicht
nur die Guten.“
Foleys Blick verfinsterte sich. „Würden Sie bitte aufhören, in
Rätseln zu sprechen, und meine Frage beantworten?“
Shoemaker legte eine Hand auf Foleys Arm und sah ihn schweigend
an. Dann sagte er: „Ich spreche von Terrorismus, Dr. Foley.“
Jetzt war Foley noch verwirrter. Shoemaker schien seine Verwirrung
zu bemerken, denn endlich setzte er zu einer Erklärung an.
„Ich spreche von der Bedrohung des Menschen durch den Menschen.
Ein Supervulkan bricht garantiert irgendwann aus. Darauf haben wir
keinen Einfluss. Wir können nur beten, dass es noch möglichst lange
dauert. Asteroiden können wir versuchen, mit Abwehrsystemen im Weltall
zu stoppen. Worüber indes noch nie jemand nachgedacht hat, ist die
Möglichkeit, dass der Mensch selbst ein solches Ereignis auslöst.
Vorsätzlich.“
Foley betrachtete Shoemaker aus zusammengekniffenen Augen.
Meinte der Mann das ernst? „Wollen Sie mir allen Ernstes weismachen,
dass Sie es für denkbar halten, dass Terroristen einen Supervulkan zum
Ausbruch bringen? Und selbst wenn das möglich wäre, was ich für
ausgeschlossen halte, mit welchem Ziel sollten sie das tun?“
„Das Ziel verblendeter Terroristen muss uns nicht interessieren.
Solche Menschen folgen nicht den Gesetzen der Logik. Wir gehen davon
aus, dass sie es tun würden, wenn sie die Gelegenheit dazu hätten. Und ob
das möglich wäre, kann ich nicht beurteilen. Diese Frage zu beantworten,
ist ja gerade Ziel Ihres Projektes. Sollten Sie zu dem Schluss kommen,
dass Terroristen technisch zu einem solch apokalyptischen Anschlag in der
Lage wären, würden wir zunächst die betroffenen Regierungen
informieren, dann die Öffentlichkeit. Solche Anschläge könnten dann
verhindert werden.“
Foley überfielen vage Zweifel, ob es klug war, sich auf dieses
Projekt einzulassen. Er hatte sich zu sehr von dem Dollarzeichen in seinen
Augen leiten lassen. Andererseits waren Shoemakers Gedankenspiele gar
nicht so abwegig. Jedenfalls naheliegender als ein Asteroid. „Sind alle
Projekte auf diese Frage ausgerichtet?“
Shoemaker nickte. „Im Endeffekt schon.“
„Und was sagen meine Kollegen dazu? Oder haben Sie die noch
nicht darauf angesprochen?“
Shoemaker schmunzelte. „Doch, haben wir. Viel früher als Sie,
ehrlich gesagt. Alle sind von der Relevanz dieser Thematik überzeugt.
Wobei es leichter ist, sich vorzustellen, dass Terroristen Anschläge mit
Viren verüben, als dass sie einen Supervulkan in die Luft jagen oder den
Golfstrom zum Erliegen bringen. Aber wenn Ihre Forschung, Dr. Foley,
oder die von Chang Zhou, zu dem Ergebnis kommt, dass ein solcher
Terroranschlag faktisch unmöglich ist, ist auch das ein Ergebnis. Und zwar
ein verdammt gutes. Wir haben uns auf die Fahne geschrieben, keine
Bedrohung außer Acht zu lassen. Das kann ein Asteroid sein. Das kann
jedoch auch ein Terroranschlag sein. Ich werde aber den Terrorismusaspekt
nochmals zur Sprache bringen. Damit es keine Missverständnisse gibt.“
Diese Erklärung konnte Foley akzeptieren. Sie machte Sinn.
Außerdem war eine Forschung unter diesem Aspekt eine neue
Herausforderung. Wie könnten Terroristen einen Supervulkan in die Luft
jagen? Selbstmordattentäter mit Sprengstoffgürteln? Der Vulkan würde
nicht einmal husten. Bomben? Dieselbe Reaktion. Es brauchte mehr als
ein paar Bomben, um einen Supervulkan zu aktivieren. Das wusste Foley
auch ohne Forschung. Er spürte nun doch eine gewisse
Aufbruchstimmung. Er war sich sicher, dass ihm bei seinen Forschungen
bessere Ideen kamen als ein bisschen TNT.
Shoemaker ging auf die Bühne und schnappte sich das Mikrofon. Er
sprach die Möglichkeit von Terroranschlägen direkt an. Schnörkellos kam
er zur Sache. Foley beobachtete die anderen Gäste. Die meisten reagierten
mit einem Kopfnicken, einige hörten gar nicht zu, sondern widmeten sich
weiterhin ihren Gesprächspartnern. Anscheinend hatten sie sich schon
vorher Gedanken zu den Gefahren durch Terroranschläge gemacht. Foley
spürte eine gewisse Form von Scham in sich aufsteigen.
Shoemaker brauchte keine zwei Minuten für seinen Hinweis. Er kam
zurück an Foleys Tisch. „So, Dr. Foley, jetzt habe ich es offiziell zur
Sprache gebracht. Ich denke, Sie waren zu überrascht, als ich dieses
Thema angeschnitten habe. Sie haben vorher nicht darüber nachgedacht.“
Gerade als Foley fragen wollte, ob ihm für sein Projekt relevante
Experten zur Verfügung standen, etwa Waffenspezialisten, gesellten sich
der Asiate und seine sphärische Schönheit zu ihnen. Sie war aus der Nähe
noch schöner. Helle, makellose Haut. Dichtes blondes Haar. Wie ein Engel.
Bildschön. Eisblaue Augen, sanfter, aber durchdringender, fast stechender
Blick. Ein äußerlich zartes Wesen, aber sprudelnd vor Energie und
Selbstbewusstsein. Interessante Gegensätze.
Die Frau stellte sich als Rebecca Eliot vor. Sie war die Freundin des
Asiaten und Mitglied seines Projektteams. Sie sprachen in lockerem
Smalltalk über ihre Projekte, ihre Herkunft, ihre Berufe. Rebecca Eliot war
sehr eloquent. Man merkte dem Asiaten einen fast demütigen Respekt an.
Und große Bewunderung. Zhou sprach kaum. Er hielt Rebeccas Hand und
himmelte sie an.
Vielleicht brauchte diese Frau genau das: ein unscheinbares,
hechelndes Hündchen, das sie von morgens bis abends bewunderte. Das
Letzte, was Rebecca, nicht etwa Zhou, zum Ausdruck brachte, bevor das
Abendessen angekündigt wurde, war ihr Bedauern darüber, dass Zhous
Partner beim Wetterdienst, Sharif ibn Abdulaziz, dem Ruf der Stiftung
nicht gefolgt war.
Foley wandte sich bewusst dem Asiaten zu und fragte ihn nach dem
Grund der Ablehnung. Jetzt blickte Zhou ihm zum ersten Mal in die
Augen. Ein offener Blick. Er wirkte sympathisch. Und durchaus
selbstbewusst. Er hatte scheinbar zwei Gesichter. Eines ohne Rebecca
Eliot. Und eines mit.
„Aus mehreren Gründen“, erklärte er. „Jemand muss sich um
unseren Wetterdienst kümmern. Die nächste Zeit stecken wir alle rund um
die Uhr in unseren Projekten. Ich falle also vorläufig aus. Das passt
meinem Partner überhaupt nicht. Aber er kann sich auch nicht mit den
Zielen der Stiftung identifizieren. Er unterstellt ihr sogar unlautere
Absichten. Glaubt, dass sie das Wissen aus den Projekten nicht nutzen
will, um es den Regierungen zur Verfügung zu stellen, sondern um es an
den Meistbietenden zu verkaufen. Aber wir wissen es besser, nicht wahr,
mein Engel?“
Sofort änderte sich seine Ausstrahlung wieder. Er himmelte Eliot an
und schien in eine andere Dimension zu wechseln.
Sie streichelte Zhou, der einen halben Kopf kleiner war als sie, über
die Wange. Eher wie bei einem Kind als bei seinem Lebensgefährten,
dachte Foley irritiert. „Sicherlich, Darling. Aber du hast Sharif auch zu
viel erzählt. Konntest deine Begeisterung nicht zügeln. Du sollst ja auch
begeistert sein. Aber du bist Wissenschaftler. Du weißt, wann
Begeisterung passend ist und wann nicht. Wäre dein Partner gekommen,
hätten wir ihn überzeugen können. Aber so müssen wir gar befürchten,
dass er uns irgendwo anschwärzt oder unseren Ruf durch den Kakao zieht,
bevor wir an die Öffentlichkeit getreten sind. Das ist höchst unerfreulich.
Um nicht zu sagen: ein großes Ärgernis!“
Zhou schüttelte den Kopf. „Nein, so etwas würde Sharif niemals tun.
Er ist mir gegenüber hundertprozentig loyal. Ich habe ihm klar gemacht,
wie wichtig Diskretion für AURORA ist. Wir haben ausgemacht, dass er
sich während meiner Abwesenheit um unseren Wetterdienst kümmert und
wir uns bei meinem ersten Urlaub näher über AURORA unterhalten.“
Rebecca lächelte sanft und tätschelte Zhous Arm. „Aber du hast
schon verstanden, dass er dafür eine Menge Geduld aufbringen muss?“
Zhou wirkte ehrlich überrascht. „Wie meinst du das?“
Rebecca nahm Zhous Hände in ihre. Eigentlich eine sehr liebevolle
Geste. Doch in dem Blick der Frau lag etwas, das dazu in einem
Widerspruch stand. Sie sagte mit sanfter Stimme: „Während des Projektes
darf niemand sein Team verlassen. Wir bleiben bis zum Schluss
zusammen. Unsere Projektserie ist einzigartig. Weder die Öffentlichkeit
noch die Politik dürfen zu früh davon erfahren. Und erst recht keine
islamistischen Terrorgruppen. Deshalb bleiben wir zusammen. Deshalb
gibt es in dieser Zeit keinen Kontakt zur Außenwelt. Und deshalb haben
wir darauf bestanden, dass die Familien mitkommen und für die Kinder
eine Kinderbetreuung und eine Schule eingerichtet. Und für die
Studierenden haben wir Verträge mit Fernuniversitäten abgeschlossen.“
„Das habe ich wohl verdrängt“, sagte Zhou mit Unbehagen in der
Stimme, „Sharif geht davon aus, dass wir uns in ein paar Wochen sehen.
Zumal in einem so großen Wetterdienst eine Menge Arbeit anfällt. Was
mache ich jetzt nur?“
Foley verfolgte die Unterhaltung mit einem Gefühl der Befremdung.
Dieser Zhou schien ausgesprochen naiv zu sein. Rebecca hingegen das
genaue Gegenteil. Es passte nicht, dass sie mit ihm zusammen war. Sie
befanden sich nicht auf Augenhöhe. Foley hatte das Gefühl, dass Rebecca
etwas anderes von Zhou wollte. Es ging ihr gar nicht darum, angehimmelt
zu werden. Ihr Tonfall verhärtete sich nur eine Nuance, aber das reichte,
um Zhou zusammenzucken und die Stimmung spürbar abkühlen zu lassen.
„Ich habe dir das bei deinem ersten Besuch unmissverständlich
gesagt. Und du hast zu allem Ja und Amen gesagt. Du bist viel zu tief
involviert. Du kannst nicht nach Peking fliegen, und du kannst auch nicht
mit Sharif telefonieren. Mehr als diese Bedingungen klar und deutlich
anzusprechen, kann ich nicht. So steht es auch in dem Vertrag, den du
unterschrieben, aber vermutlich nicht gelesen hast. Ich nehme an, Ihnen
war das von Anfang bewusst, Dr. Foley?“
Sie sah ihn nur kurz an, aus dem Augenwinkel heraus. Dennoch
fröstelte er. Sie war ein Vulkan. Und sie war ein Eisberg. Allerdings hatte
sie recht, mit dem was sie sagte. Er nickte.
Rebecca wandte sich wieder Zhou zu, der nachgerade verstummt
war. „Du siehst also, dass der Fehler allein bei dir liegt. Das ist auch nicht
weiter schlimm. Du musst jetzt halt nur dazu stehen. Viel schlimmer ist
die Tatsache, dass du Sharif zu viel erzählt hast. Ich habe darauf vertraut,
dass du ihm nicht mehr sagst, als dass er dich begleiten darf. So wie du es
mir versprochen hast! Das war ein großer Fehler von dir!“
Zhou duckte sich unter Rebeccas vorwurfsvollem Blick und Tonfall
geradezu weg. Sie übte unverkennbar große Macht auf ihn aus. Shoemaker
hatte die Szene mit einem herablassenden Lächeln verfolgt. Foley
überkam das Gefühl einer latenten Bedrohung. Vielleicht irgendein
verloren geglaubter Instinkt. Irgendetwas stimmte nicht mit dieser
Stiftung.
Kapitel 21
Peking, wenige Tage später
Er kniete seit Stunden zusammengekauert hinter dem VW Transporter, der
von Anfang an dort stand. Wahrscheinlich war der Halter vereist. Gut für
seinen Auftrag. Er kannte sein Ziel, das Was. Aber nicht das Warum. Das
musste er auch nicht. Er wurde nur für das Was bezahlt. Und zwar sehr gut.
Wie in Syrien vereinbart, hatten ihn Mittelsmänner kontaktiert, im
Sinne seiner Regel, den Auftraggeber niemals persönlich kennenzulernen.
Denn das bedeutete auch für ihn eine Gefahr. Dass er es mit Profis zu tun
hatte, war klar. Auch, dass der Auftraggeber ein hohes Tier sein musste.
Wahrscheinlich eine Regierung. Oder ein Geheimdienst. Doch das war
unwichtig. Wichtig war hingegen, dass er wie vereinbart eine
Vorauszahlung bekommen hatte. In bar, wie bei solchen Geschäften
üblich.
Unüblich war hingegen die Höhe des Vorschusses. Denn in dem
Koffer befanden sich nicht zweihunderttausend, sondern
fünfhunderttausend Dollar. Und ein Zettel mit dem Hinweis, dass dies ein
Vertrauensvorschuss sei, der sich danach nochmals verdopple. Ein Grund
mehr, keine Fragen zu stellen. Wer freiwillig so viel zahlte, hatte auch viel
zu verlieren.
Nach Erledigung des Auftrags wollten die Mittelsmänner wieder auf
demselben Weg mit ihm in Kontakt treten. Indem sie plötzlich in einer
Seitengasse vor ihm standen. Also hatten sie ihn überwacht. Professionell,
aber unheimlich. Denn er war unsichtbar. Diesmal hätte er gerne erfahren,
wer am Anfang des Deals stand.
Nachdem er den Koffer in ein Schließfach gelegt hatte, niemals
rührte er einen Vorschuss an, bevor der Auftrag erledigt war, hatte er
begonnen, das Ziel auszukundschaften. Eine lückenlose, solide Analyse
war der Grundpfeiler des Erfolgs. Nicht den kleinsten Fehler durfte er sich
erlauben. Er befand sich inmitten einer Stadt mit neun Millionen
Einwohnern. Da ging es um Millimeterarbeit. Hier gab es, anders als in
Syrien, keine Feinde, aber Hunderte Zeugen.
Leider hatte ihm der Auftraggeber, entgegen der Absprache, nur eine
kurze Bearbeitungszeit eingeräumt. Binnen einer Woche musste der
Auftrag erledigt sein. Das passte ihm nicht. Er war es gewohnt, ruhig und
ohne Zeitdruck die notwendigen Informationen zu sammeln und daraus
eine zielgerichtete Strategie abzuleiten. Vielleicht war das der Grund für
die Verdoppelung seines Honorars.
Vier Tage waren schon vorbei. Und was hatte er herausgefunden? Er
kannte den Beruf des Ziels. Er wusste, wo es wohnte. Dass es joggen ging.
Aber ob es das in einem festen Rhythmus tat, wusste er nach der kurzen
Zeit nicht. Den Weg zum Arbeitsplatz und zurück ging es zu Fuß. Nie zur
selben Zeit, aber stets umgeben von Auto- und Menschenmassen. Weitere
Aktivitäten, insbesondere regelmäßige und damit für ihn planbare, waren
nicht zu verzeichnen.
Sein Arbeitsplatz und seine Wohnung im achten Stock befanden sich
in belebten Vierteln. Vor dem straßenseitigen Fenster seiner Wohnung
waren die Gardinen immer zugezogen. Vielleicht befand sich dahinter das
Schlafzimmer. Das rückseitige Fenster hatte zwar keine Vorhänge. Aber
dort gab es keinen Beobachtungsposten. Also schied die Wohnung als Ort
der Auftragserfüllung aus. Es sei denn, er würde..
Vielleicht eine letzte Alternative, wenn ihm nichts Besseres einfiel.
Dann musste er aber gehörig umdisponieren. Und das in so kurzer Zeit.
Am Arbeitsplatz sah es nicht besser aus. Mehrstöckiges Gebäude,
Pförtner, Sicherheitsdienst und ein turmartiger Aufbau auf dem Flachdach
mit riesigen Antennen. Räume mit und ohne Fenster, einige mit
heruntergelassenen Jalousien. Vielleicht Technik- und Serverräume.
Ideal wäre ein Büro, in dem sich das Ziel jeden Tag aufhielt. Denn
fünfzig Meter vis-à-vis befand sich das Parkhaus mit dem Transporter.
Ideal für seinen Job. Gute Verstecke zwischen den Autos. Vor allem hinter
dem Transporter. Optimaler Schusswinkel. Weil das Ziel das Gebäude
bislang erst nach Einbruch der Dämmerung verlassen hatte, bot Selbige
eine weitere, natürliche Tarnung. Aber leider hatte das Ziel kein solches
Büro. Entweder es war ständig zwischen den verschiedenen Abteilungen
unterwegs oder es arbeitete in einem der Technikräume. Ein- bis zweimal
täglich tauchte es in einem Raum mit Fenstern auf. Das wäre eine gute
Gelegenheit. Aber nicht planbar.
Da er nicht mehr herausgefunden und keine Zeit für eine solide
Observierung hatte, gab es nur zwei Möglichkeiten. Die eine war, im
Schutz des Transporters auf eine gute Gelegenheit zu warten. Er hatte sich
aufgrund des urbanen Umfelds für die WSS-Wintores entschieden, das
Gegenteil des M107, das er in Syrien eingesetzt hatte. Kaliber 9x39,
sowjetische Unterschall-Mittelpatronen. Hohe Präzision bis zweihundert
Meter. Der größte Vorteil der Waffe, die schon in den
Tschetschenienkriegen zum Einsatz gekommen war, war der bereits
integrierte Schalldämpfer, der beinahe völlige Lautlosigkeit
gewährleistete. Und die war hier wichtiger als in Syrien. Mit einer Länge
von knapp unter einem Meter war es auch nicht besonders groß. Er konnte
so dicht an den Transporter heranfahren, dass er das Gewehr unbeobachtet
dahinter verbergen konnte. Das hatte er ein paar Mal geübt. Sollte sich
ihm jemand nähern, was unwahrscheinlich war, weil er gar nicht erst
gesehen wurde, konnte er das Gewehr unter den Transporter schieben.
Sicherlich keine Ideallösung für einen Profi wie ihn, aber der
bestmögliche Kompromiss angesichts des Zeitdilemmas.
Er musste versuchen, das Ziel innerhalb des Gebäudes oder auf der
Straße zu liquidieren. Aber dafür brauchte er Glück. Und daran glaubte er
nicht. Abgesehen davon, dass der Winkel zur Straße ungünstig war, musste
er das Ziel auch frei anvisieren können. Nicht umgeben von
undurchdringlichen Menschenmassen. Aber vielleicht gab es ja diese eine
Chance.
Gab es sie nicht, würde er es morgen versuchen. Blieb auch das
erfolglos, griff übermorgen Plan B. Er hatte zwar noch einen Tag mehr zur
Verfügung. Aber eine weitere Regel sah vor, ein Zeitkontingent niemals
bis zur allerletzten Reserve auszuschöpfen.
Kapitel 22
Adams Island, zwei Tage später
Kim Foley hatte sich drohend vor ihrem Mann aufgebaut. Sie wollte nur
noch weg von dieser Insel. Weg von diesen Geistesgestörten. Nach Hause
in ihr geliebtes Heim und ihre vertraute Umgebung. Nachdem Mason ihr
von dieser merkwürdigen Rebecca und ihrem Sklaven erzählt hatte und sie
diese impertinente Person beim Abendessen, bei dem Mason sie lüstern
angestarrt hatte, auch noch selbst kennenlernen musste, stand ihr
Entschluss fest. Sie würde keinen Tag länger bleiben als nötig.
Sie war davon ausgegangen, dass Mason das genauso sah. Irrtum. Er
hatte versucht, ihre Einwände zu entkräften. Die Aussicht, sich aus einer
unerschöpflichen Geldquelle zu bedienen, um einen Supervulkan zu
erforschen, machte ihn anscheinend blind. Als verpflichtenden Dienst an
der Menschheit hatte er sein Projekt bezeichnet. Er war überzeugt, dass die
Analyse von Faktoren, die so ein Ding hochgehen lassen konnten, die
Menschheit vor dem Untergang bewahren würde.
Wie hatte er es nach dem Abendessen so schön formuliert? Es ist
leichter, externe Faktoren zu eliminieren als einen Supervulkan
beherrschen zu wollen.
Sie hatte auch nichts gegen das Projekt ihres Mannes. Er war
Vulkanologe mit Leib und Seele. Das war er auch schon, als sie ihn
kennenlernte. Sie akzeptierte das, auch wenn es ihr schwerfiel, ihm zu
folgen, wenn er in epischer Breite über die unterschätzte Macht der
Vulkane schwadronierte. Sie hatte trotzdem keine Angst, ihr Leben wegen
irgendeines Vulkanes zu verlieren. Egal, ob Super oder nicht.
Doch hier ging es nicht um externe Faktoren. Da wurden
Wissenschaftler aus aller Welt mit Wahnsinnsprojekten und einem
Vermögen auf eine abgelegene Insel gelockt. Angeblich wegen der
Geheimhaltung. Deshalb durfte auch niemand sein Team verlassen, das
von Vertretern der Stiftung geleitet wurde. Kontrolliert traf es wohl besser.
Sie hatte letzte Nacht kein Auge zugetan. Immer wieder hatte sie
sich gefragt, was hinter dieser ominösen Stiftung steckte. Fakt war, dass
sie gesetzeskonform gegründet worden war und ihr Zweck in den Statuten
stand. Mason hatte sich informiert. Alles hatte seine Ordnung. Es gab
keinen objektiven Grund für ihr Misstrauen. Doch ihre Intuition
signalisierte ihr Gefahr. Vor allem diese Rebecca strahlte genau das aus:
Gefahr. Und dass sie sich diesen gesichtslosen Asiaten hörig gemacht
hatte, war offensichtlich. Fragte sich nur, warum. Aus Liebe sicherlich
nicht. Nein, hier stimmte etwas nicht. Zeit für den Rückzug.
Sie funkelte ihren Mann aus wütenden Augen an: „Mason, ich sage
es jetzt zum letzten Mal: Pack deinen Koffer. Wir reisen sofort ab!“
Auch Masons Tonfall wurde eine Nuance aggressiver. „Das kommt
überhaupt nicht infrage! Dieses Projekt ist eine einmalige Chance für
mich! Damit kann ich mir selbst ein Denkmal setzen. Der Yellowstone ist
längst überfällig! Wenn der ausbricht, ist es mit deiner schönen heilen
Welt vorbei. Nur interessiert dich das leider genauso wenig wie den Rest
der gleichgültigen Menschheit. Folglich liegt es auf der Hand, zu
erforschen, was seinen Ausbruch forcieren könnte und diese Bedrohungen
zu beseitigen oder zumindest ihre Eintrittswahrscheinlichkeit zu
untersuchen.
Du immer mit deinen Gefühlen. Wenn ich daran denke, was für einen
Aufstand du gemacht hast, als ich für ein halbes Jahr nach Island sollte.
Von politischen Verschwörungen hast du gefaselt. Glaub mir, du siehst zu
viel fern. Und jetzt beruhige dich wieder, gleich komme ich zum ersten
Mal mit meinem Team zusammen. Da kann ich solche Diskussionen
überhaupt nicht gebrauchen.“
Doch Kim ließ sich nicht beirren. Sie schob Mason mit dem Koffer
in der Hand beiseite. „Wenn du unbedingt bleiben willst, kann ich dich
nicht daran hindern. Aber ich werde gehen. Und die Kinder nehme ich
mit.“
„Du weißt doch, dass das nicht geht. Wir haben einen Vertrag
unterschrieben.“
„Und wenn schon. Da wusste ich auch noch nicht, was uns hier
erwartet.“
„Außerdem kommst du hier nicht weg. Oder gedachtest du zu
schwimmen?“
„Ich bin ein freier Mensch. Wenn ich hier weg will, muss mich die
Stiftung zum Festland bringen. Von mir aus sollen sie mich ruhig
verklagen. Dem sehe ich gelassen entgegen.“
„Kim, bitte! Du bringst damit das ganze Projekt in Gefahr!“
„Dir geht es doch um die Rettung der Menschheit, nicht wahr?“
„Nicht so pathetisch bitte. So habe ich das nicht gesagt.“
„Aber es geht dir nicht um deine Eitelkeit und deinen Stolz?“
„Natürlich nicht. So gut solltest du mich kennen.“
Sie lächelte. „Gut, wenn das so ist, dann komm mit. Die finden
problemlos Ersatz für dich. Der kann dann an deiner Stelle die Menschheit
retten. Ganz so einzigartig bist du nämlich gar nicht.“
Mason schüttelte resigniert den Kopf. „Nein, werden sie nicht. Die
haben mich nicht zufällig ausgewählt, sondern weil ich der Beste bin. Aber
wenn du unbedingt deinen Dickkopf durchsetzen willst, bitte. Dann geh
ruhig. Aber die Kinder bleiben hier.“
Kim dachte darüber nach. Die Mädchen fühlten sich hier wohl. Sie
fanden das ungeheuer spannend. Die Stiftung kümmerte sich vorbildlich
um sie. Kim fürchtete sich auch nicht um Leib und Leben. Sie hatte Sorge,
dass hier etwas Illegales im Gang war. Außerdem langweilte sie sich, im
Gegensatz zu ihren Töchtern, zu Tode. Es gab kaum Freizeitmöglichkeiten,
die Suite war äußerst dürftig, weit unter ihrem Niveau. Und nach
Smalltalk mit langweiligen Professorengattinnen stand ihr nicht der Sinn.
„Okay“, sagte sie, „wir fragen sie. Sie sollen selbst entscheiden.
Einverstanden?“
Mason nickte. Ihr blieb nicht verborgen, wie enttäuscht er war. Aber
sie konnte darauf keine Rücksicht nehmen. Sie musste weg von hier. Der
Gedanke, ihre Familie monatelang nicht zu sehen und zu hören, war zwar
auch nicht viel besser, doch auch diese Zeit ging vorüber. Das war
schließlich nicht das erste Mal.
Die Mädchen waren sich sofort einig: Sie wollten bleiben. Kim
beugte sich ihren Wünschen und erinnerte Mason an seine Verantwortung
als Vater. Kurz darauf standen sie in Shoemakers Büro. Dieser rothaarige
Ire war auch da. Shoemaker war wenig begeistert. Er hob die Bedeutung
des Projektes hervor. Die Notwendigkeit der Geheimhaltung. Und den
Vertrag, den Kim unterschrieben hatte. Doch ihr Entschluss stand fest.
Noch heute wollte sie zum Festland gebracht werden.
„Miss Foley, wollen Sie sich das nicht noch mal überlegen? Sie sind
wichtig für Ihren Mann! Er braucht Sie hier. Was meinen Sie, weshalb wir
so viel Geld in die Hand nehmen, um die Familien bei uns unterzubringen?
Außerdem haben wir ein Freizeitprogramm mit vielen Ausflügen und
Events zusammengestellt. Da ist doch bestimmt auch etwas für Sie dabei.“
Doch Kim Foley blieb bei ihrem Entschluss.
„Gut“, sagte Shoemaker nachdenklich, „dann gedulden Sie sich noch
einen Augenblick. Ich muss zuerst den Skipper instruieren. Warten Sie in
Ihrer Suite. Der Mann holt Sie dort ab. Und denken Sie an die
Verschwiegenheitserklärung! Sie kennen die Folgen bei
Zuwiderhandlungen! Ihnen muss auch bewusst sein, dass Sie während des
Projektes keinen Kontakt zu Ihrer Familie haben werden. Und das kann
lange dauern.“
Schweigend kehrten sie zurück in ihre Suite. Jetzt, da der Abschied
für lange Zeit feststand, überkam sie Traurigkeit. Doch ihnen blieb kaum
Zeit für eine lange Verabschiedungszeremonie, denn schon nach wenigen
Minuten klopfte es an der Tür. Kim öffnete und sah in das Gesicht eines
großen, dunklen Mannes, der etwas Animalisches hatte. Sie blickte über
die Schulter zurück. Mason stand mit den Kindern hinter ihr. Er glotzte
den schwarzhaarigen Kerl mit offenem Mund an. Doch der lächelte
freundlich und offenbarte einen gewissen Charme, der in einem krassen
Gegensatz zu seinem äußeren Erscheinungsbild stand.
„Mein Name ist Tarkan Jafari“, stellte er sich vor. „Ich bringe Sie
zum Festland, Miss Foley. Abschied ist ein scharfes Schwert“, sagte er zu
Mason, „doch auch diese Zeit geht vorbei.“
Mason blickte Kim nach, die hinter Jafari die Treppe hinunterging.
Auf dem Treppenabsatz drehte sie sich noch einmal um und warf ihm
einen letzten Luftkuss zu.
***
Kim Foley stand am Bug des Schiffes und genoss den Wind in ihrem
Gesicht. Tarkan Jafari hatte ihre Koffer in den Jeep getragen und war
querfeldein mit ihr an die Küste gefahren, wo das schnittige Motorboot
bereitstand. Jafari redete kaum. Eigentlich gar nicht. Aber er hatte gute
Umgangsformen und war höflich.
Sie hatte widersprüchliche Gefühle. Einerseits vermisste sie ihre
Familie schon jetzt. Nie zuvor waren sie so lange getrennt gewesen. Und
nie zuvor waren die Kinder während eines Projektes bei ihrem Vater
gewesen. Andererseits hatte sie in der merkwürdigen Zentrale der Stiftung
fast Platzangst bekommen. Vielleicht hatte das ihre Zweifel genährt.
Vielleicht lag sie auch falsch.
Doch jetzt fühlte sie sich, mit der Nase im Wind auf diesem
schnellen Schiff, wie befreit. Wenn sie zuhause war, würde sie all die
Dinge tun, die nicht möglich waren, wenn man sich die ganze Zeit um die
Familie kümmern musste. Endlich mal den Garten auf Vordermann
bringen. Sich mit Freundinnen treffen, eine Wellnesswoche in einem
schicken Hotel. Außerdem las sie für ihr Leben gern. Langeweile würde
nicht aufkommen. Und warum sollte sie, falls sie es sich doch noch anders
überlegte, nicht zu der Insel zurückkehren können?
Kim schaute auf ihre Armbanduhr. 14.30 Uhr. Noch fünf Stunden bis
zum Festland. Dann Weiterflug nach Sidney. Spontan beschloss sie, dort
ein paar Tage zu bleiben, um sich die Stadt anzuschauen. Denn ab Sidney
hatte die Stiftung keinen Flug mehr für sie gebucht. Dort war sie auf sich
alleine gestellt. Und Sidney hatte auf ihrer Wunschliste schon immer weit
oben gestanden.
Sie blickte in die Ferne. Wasser, soweit das Auge reichte. Irgendwie
majestätisch, dachte sie. Sie nahm bewusst den Geschmack des salzigen
Wassers wahr, genoss die Wasserspritzer der Gischt in ihrem Gesicht.
Doch plötzlich wurde das Boot langsamer. Was mochte der Grund
sein? Vielleicht eine gefährliche Oberströmung? Sie blickte sich um,
konnte aber keine verräterischen Wirbel im Ozean entdecken. In diesem
Augenblick kam das Boot ganz zum Stillstand und der Motor wurde
abgeschaltet. Hatten sie etwa einen Motorschaden? Die Vorstellung, dem
Ozean, allein mit diesem finsteren Araber, in einem fahruntüchtigen Boot
ausgesetzt zu sein, erfüllte sie mit Unbehagen.
Als sie in Richtung Führerkabine ging, um sich nach dem Grund des
Stopps zu erkundigen, kam ihr Jafari entgegen. Sie bemerkte das Funkeln
in seinen pechschwarzen Augen, das sie sofort in Panik versetzte. Sie
drehte sich instinktiv um, auf der Suche nach einer Fluchtmöglichkeit.
Doch wo sollte es auf einem Boot in der Weite des Meeres eine
Fluchtmöglichkeit geben? Sie ging auf den Skipper zu. Wahrscheinlich
gab es eine harmlose Erklärung. Ein Motorschaden, zum Beispiel. Als sie
dicht vor ihm stand, fragte sie, warum er das Boot gestoppt hatte.
Jafari lächelte. Mitleidig, wie es ihr schien. Er griff in sein Jackett.
„Ich befürchte“, sagte er leise, aber bedrohlich, „es war eine
Fehlentscheidung, nicht bei Ihrem Mann zu bleiben.“
Kapitel 23
Peking
Seine Rechnung war nicht aufgegangen. Stundenlang hatte er hinter dem
Transporter ausgeharrt und auf die eine Chance gewartet, dass das Ziel in
einen Raum mit Fernstern kam, sich ruhig verhielt und nicht abgeschirmt
wurde. Um dann freihändig zu zielen und sofort abzudrücken.
Fünfmal war das Ziel hinter einem Fenster aufgetaucht. Das erste
Mal im fünften Stock, zweites Fenster von links, dann, zehn Minuten
später auf derselben Etage, drittes Fenster von rechts. Er hatte kaum fünf
Sekunden freie Schussbahn. Zu wenig für einen platzierten Schuss und die
Gewissheit, dass es sich wirklich um das Ziel handelte. Er hatte
Adleraugen, aber wenige Sekunden durch ein geschlossenes Fenster...
Danach geschah zwei Stunden nichts. Schließlich tauchte das Ziel im
ersten Stock auf. Dasselbe: Keine fünf Sekunden freies Schussfeld. Es gab
noch zwei Sichtkontakte. Beide zu kurz.
Als das Ziel das Gebäude verließ, war es fast Nacht. Auf den Straßen
herrschte dennoch dichtes Gedränge. Er hatte nicht den Hauch einer
Chance für einen platzierten Schuss. In diesem Augenblick tat er etwas,
was er noch nie getan hatte. Er änderte seinen Plan. Er würde dieses
hoffnungslose Unterfangen am folgenden Tag nicht wiederholen. Vielmehr
griff sofort Plan B.
Und weil er keinen Plan C hatte, nutzte er den folgenden Tag für eine
genaue Umfeldanalyse der Wohnung. Was ihm schon zuvor positiv
aufgefallen war, war die Feuerleiter auf der Rückseite des Gebäudes, das
mit einigen anderen einen weitläufigen Hinterhof bildete, in dem sich
abends, wenn das Ziel zuhause war, niemand aufgehalten hatte.
Damit regelte sich Plan B von selbst. Am Anfang stand die Wahl des
Weges. Der beste, weil am wenigsten frequentierte, war der um das
Nachbargebäude herum. Ein Sprung über einen Zaun, und schon war er in
dem Hinterhof. Dann im Schutze der Dunkelheit zur Feuerleiter laufen,
und dann...
Er fuhr in seine Absteige am Stadtrand und tauschte die WSS-
Wintores gegen eine Glock, 9 mm Luger, mit Schalldämpfer.
Dreiunddreißig-Schuss Magazin, leicht zu handhaben, zuverlässig. Dann
packte er geeignete Kleidung in seinen Straßenrucksack. Schwarz. Dazu
schwarze Sturmmaske, Sneakers mit Gummisohlen, sicherheitshalber mit
Alufolie umwickelt. Sein Smartphone mit Prepaid-Karte, um das
vereinbarte Video zu drehen. Er stellte es auf lautlos. Dann fuhr er zurück
in die Stadt.
Er erreichte das Zielgebäude um 18.07 Uhr. Den Wagen hatte er
etwas abseits geparkt, damit es später keine Zeugen gab, die ein
verdächtiges Fahrzeug in der Nähe des Tatortes gesehen hatten. Den Rest
ging er zu Fuß. Mitten durch die Menschenmassen. Er fiel genauso wenig
auf wie jeder andere in diesem Gewühl.
Jetzt musste er warten, bis das Ziel nach Hause kam. Er wechselte
oft den Standort, um nicht aufzufallen, indem er sich zu lange an einem
Ort aufhielt. Er ging in Geschäfte, trank einen Kaffee in einer Bar,
betrachtete Auslagen. Den Hauseingang verlor er keinen Moment aus den
Augen. Sollte das Ziel wider Erwarten nicht kommen, hatte er noch ein,
vielleicht zwei Tage für einen neuen Versuch.
Doch diesmal hatte er Glück. Eine Stunde später, exakt um 19.08
Uhr, kam das Ziel um die Ecke und verschwand im Hauseingang. Perfekt.
Den Eingang unter ständiger Beobachtung, wartete er die Nacht ab. Wie
beiläufig ging er um das Nachbargebäude herum in die Seitenstraße.
Als er den Zaun erreichte, näherte sich von links ein Pärchen. Er
drehte sich unauffällig weg, zog sein Smartphone aus der Gesäßtasche, tat
so, als schreibe er eine Nachricht und wartete, bis das Pärchen vorüber
war. Dann war die Straße frei. Geschmeidig flankte er über den Zaun und
duckte sich sofort dahinter. Wie erwartet, war niemand in dem Hinterhof.
Im Schutz der Dunkelheit schlich er zum Zielgebäude. Unter der
Feuerleiter wechselte er die Kleidung. Ganz in schwarz, sodass er mit der
Nacht verschmolz. Alles lief nach Plan.
Jetzt kam aber erst der schwierigste Teil. Er scannte noch einmal das
Umfeld, auch die Fenster der umliegenden Wohnungen. Niemand zu
sehen. Wieselflink lief er die Feuerleiter hinauf. Vor jeder Biegung
vergewisserte er sich, dass nicht doch jemand hinter einem Fenster oder
im Hof auftauchte. Aber es blieb ruhig. Schließlich erreichte er die
Zielwohnung im achten Stock.
Er spähte durch das geöffnete Fenster. Wie vermutet, befand sich
dort das Wohnzimmer. Das offene Fenster war ein Segen und ein Risiko
weniger. Endlich lief es optimal. Das Ziel saß an einem Schreibtisch, mit
dem Rücken zu ihm. Er könnte sofort zuschlagen, aber es war besser, das
Objekt in der Wohnung zu liquidieren. Er schlich ein halbes Stockwerk
tiefer, zog sein Smartphone aus der Jeans und wählte die Nummer des
Ziels, die er auswendig gelernt hatte. Der Mann meldete sich nach dem
ersten Klingelton. Sein Telefon musste auf dem Schreibtisch stehen.
„Ja, bitte?“
„Ich habe ein Paket für Sie“, sagte er. „Kann es sein, dass ihre
Klingel nicht funktioniert?“
„Nein, wie kommen Sie darauf?“
„Weil ich hier seit mindesten fünf Minuten stehe und
ununterbrochen klingel. Würden Sie bitte aufmachen?“
„Oh, das tut mir leid. Ich sage morgen dem Hausmeister Bescheid.
Einen Augenblick bitte.“
In Windeseile steckte er das Smartphone in die Haltevorrichtung auf
Höhe der Brust und schaltete die Kamera ein. Sekunden später stand er in
der Wohnung. Er orientierte sich sofort zu der Wand neben der Tür. Das
Ziel kam fluchend zurück, weil es glaubte, Opfer eines Streichs geworden
zu sein. Hätte der Mann gewusst, was ihn erwartet, hätte er über eine
solche Lappalie gelacht.
Als der Mann mit dem Rücken zu ihm im Wohnzimmer stand, warf
er mit Schwung die Tür zu. Der Mann wirbelte erschrocken herum. Eine
kurze Sichtprüfung. Eindeutig das Ziel. Der Mann starrte ihn mit offenem
Mund an.
Er visierte das Herz des Ziels an und drückte dreimal ab. Mehr als
das feine, fast schon wohlig sanfte Geräusch des Schalldämpfers war nicht
zu hören. Das Ziel fiel zu Boden, ohne auch nur einen Mucks von sich
gegeben zu haben. Wahrscheinlich war schon der erste Schuss tödlich
gewesen. Dennoch, nichts war bei einem solchen Auftrag wichtiger, als
auf Nummer sich zu gehen.
Er trat an sein Opfer heran und gab zwei weitere Schüsse auf den
Kopf ab, darauf achtend, dass es keine Schmauchspuren gab. Er hielt den
Arm so, dass die Kamera die beiden Treffer detailgetreu filmte.
Er sammelte die fünf Patronenhülsen ein und warf sie in eine
Plastikhülle, die er in seinem Rucksack verschwinden ließ. Er lief die
Feuerleiter hinunter und wechselte die Kleidung. Wenn alles lief wie
besprochen, war er beobachtet worden. Dann wussten sie, dass er seinen
Auftrag erledigt hatte.
Auch der Rückzug verlief komplikationslos. Keine fünf Minuten
nach seinem letzten Schuss stand er wieder in der Seitengasse. Weit und
breit niemand zu sehen. Keine Zeugen. Blitzsaubere Arbeit. Er begab sich
zurück auf die Hauptstraße, ging sie in Richtung Süden und bog hier und
da in eine Nebenstraße ein.
Er musste nicht lange warten. Schon beim dritten Anlauf tauchten
seine Mittelsmänner auf. Er ging auf sie zu. Sie bedeuteten ihm, ihnen mit
einem Sicherheitsabstand zu folgen. Nach fünf Minuten kamen sie in eine
nur spärlich beleuchtete Nebenstraße. Dort stand ein Mercedes C-Klasse.
Kombi, silbergrau metallic. Einer der Männer stieg auf der Fahrerseite ein,
der andere nahm im Fond Platz. Ohne zu zögern setzte er sich auf den
Beifahrersitz, startete das Video und gab das Handy dem Mann neben sich.
Der Mann im Fond beugte sich nach vorne. Beide sahen sich das Video
zweimal an. Dann gab der Mann auf dem Fahrersitz ihm das Gerät zurück.
„Saubere Arbeit. Und auch noch einen Tag vor Fristablauf. So wollen
wir das haben.“
Der Mann ihm Fond gab ihm einen ähnlich unauffälligen Koffer, wie
bei der Anzahlung. Er steckte den kleinen Koffer in seinen Rucksack, ohne
den Inhalt zu kontrollieren. Eine weitere Regel besagte: Zähle niemals
Geld in Gegenwart deines Auftraggebers. Vertrauen ist eine wichtige
Stütze deines Geschäftsmodells. Als er den Türgriff schon in der Hand
hatte, hielt ihn der Kerl auf dem Fahrersitz zurück.
„Stehst du für weitere Aufträge zur Verfügung? Wir sind sehr
zufrieden mit deiner Arbeit.“
„Jederzeit wieder. Ich arbeite gern mit Profis zusammen. Ich nehme
an, wenn etwas anliegt, kommt ihr genauso auf mich zu wie dieses Mal?“
Der Mann nickte.
Kapitel 24
Sibirische Antarktis
Coleman und Perkins, der erst vor einigen Tagen dazugestoßen war,
lehnten an der Reling der PLANET und sahen staunend zu, wie Methan an
die Meeresoberfläche perlte. Trotz unruhiger See waren sie gut
vorangekommen. Dank seines Small-Waterplane-Area Twin-Hull-Rumpfs
war der Katamaran durchgängig mit fünfzehn Knoten über das Wasser
geglitten, als herrsche Flaute. Sie lagen gut im Zeitplan. Und der Anblick
des Methans zeigte Coleman einmal mehr, wie wichtig es war, dass
AURORA ein Erfolg wurde. Dieser ganze menschliche Wahnsinn musste
endlich aufhören.
„Üble Sache“, stellte auch Perkins fest und deutete auf die
Methanblasen. „Es würde mich interessieren, wie viel von dem Zeug da
unten in der Tiefe schlummert.“
Coleman musterte Perkins. Er war der richtige Mann für Phase zwei.
In wissenschaftlicher Hinsicht. Menschlich war er nicht von ihm
überzeugt. Nach Colemans Einschätzung war es ihm egal, was das Methan
anrichtete. Aber seine Frage konnte er ihm beantworten. Denn alle
Mitglieder des Circle wussten über die Gefahren des Klimawandels
Bescheid.
„Bis vor wenigen Jahren hat man vermutet, dass sich vom Grund des
nordsibirischen Kontinentalschelfs, das sechsmal so groß ist wie
Deutschland, jedes Jahr rund acht Millionen Tonnen Methan lösen.
Inzwischen weiß man aber, dass es noch weit größere Mengen sind. Jeder
spricht vom CO2. Aber Sie werden in diesem Moment Zeuge, wie Methan
in die Atmosphäre aufsteigt. Das kann es nur deshalb, weil die
Temperaturen in der Arktis besonders stark angestiegen sind und sich das
Meereis rapide zurückzieht. Das setzt riesige Methanmengen frei.
Dasselbe gilt für die auftauenden Permafrostböden im Landesinneren.
Allein im sibirischen Raum werden mehrere hundert Millionen Tonnen
Methan vermutet! Angesichts der Geschwindigkeit, in der hier alles
wegtaut, ist zu befürchten, dass das Methan in kürzester Zeit freigesetzt
wird. Und in diesem Methan, werter Dr. Perkins, ist mehr Kohlenstoff
gespeichert als in allen Kohlenstoffreserven der Welt zusammen.
Vermutlich mehr als fünfhundertvierzig Milliarden Tonnen! Ihnen ist
bekannt, dass Methan pro Molekül ein zwanzig- bis fünfundzwanzigmal
stärkeres Treibhausgas ist als Kohlendioxid?“
Perkins schüttelte den Kopf. „Nein, das wusste ich nicht. Warum
schmilzt das Eis denn gerade hier so schnell? So viel wärmer ist es doch
gar nicht geworden. Gerade mal ein Grad weltweit.“
„Ist Ihre Frage ernst gemeint?“
Perkins zog eine Augenbraue in die Höhe. „Wie darf ich das
verstehen?“
Coleman spürte Zorn in sich aufsteigen. Wie lange hatte er die
Ignoranz der Menschheit mit ansehen und darüber verzweifeln müssen.
Und jetzt stand der hochdekorierte Nobelpreisträger Prof. Dr. James
Perkins neben ihm und gab freimütig zu, keine Ahnung vom Klimawandel
zu haben. Es hatte eine pikante Note, dass ausgerechnet er dazu beitrug,
den Einfluss des Menschen auf das Klima zu stoppen. Mühsam
beherrschte Coleman seine Stimme.
„Nun, ich konnte mir nicht vorstellen, dass ein Mann wie Sie nicht
darüber informiert ist. Ein Mann, der doch sicherlich über seinen
Tellerrand hinausschaut, nicht wahr? Die Menschheit hat in ihrem
unersättlichen Konsum- und Mobilitätswahn, in ihrer Gier, das Klima der
Erde in so kurzer Zeit auf den Kopf gestellt, dass längst Kettenreaktionen
in Gang gesetzt wurden, die nicht mehr aufzuhalten sind. Die Freisetzung
des Methans gehört dazu. Es ist keine Frage von Jahrzehnten, bis dieses
Methan zu einer weiteren, drastischen Erwärmung führt, sondern von ein
paar Jahren. Und hier, im arktischen Raum, insbesondere aber auf
Grönland, sind die Temperaturen doppelt so stark gestiegen wie im
globalen Mittel. In einigen Regionen sogar um fünf bis sechs Grad. Im
Januar, also während der Polarnacht, lagen die Temperaturen am Nordpol
über dem Gefrierpunkt!
Wenn Sie glauben, eine Erhöhung der Erdmitteltemperatur um ein
Grad sei nicht viel, möchte ich Sie daran erinnern, dass der
Temperaturunterschied zwischen einer Warm- und einer Eiszeit gerade
mal fünf Grad beträgt. Fünf Grad! Und Sie wissen selbst, wie
unterschiedlich die Welt zwischen diesen beiden Extremen aussieht.
Außerdem dauern die Wechsel zwischen Warm- und Eiszeiten
Jahrtausende, Dr. Perkins! Jahrtausende für eine Erwärmung, oder
Abkühlung, von fünf Grad. Aber hier hat das nur wenige Jahrzehnte
gedauert! Das sollten Sie sich vor Augen führen.“
Perkins musterte Coleman ungläubig. „Wenn das so wäre, müsste ich
das doch wohl aus den Medien wissen. Aber ich höre das jetzt zum ersten
Mal. Und warum sind Sie sich so sicher, dass der Mensch dafür
verantwortlich ist? Solche raschen Klimaveränderungen hat es doch schon
früher gegeben. Auch ohne Mensch.“
Was für ein Ignorant. Die Rasse Mensch verschloss die Augen vor
den Konsequenzen ihres egoistischen Handelns, sie leugnete ihre
Verantwortung für die bevorstehende Klimakatastrophe, um genauso
gewissenlos weitermachen zu können wie bisher. Armselig.
Vielleicht hatte die Schöpfung dem Menschen zu ihrem Schutz ein
Selbstzerstörungsgen eingepflanzt, das sich aktivierte, wenn die Spezies
eine kritische Obergrenze erreichte. Wie bei den Lemmingen. Perkins war
keine Ausnahme.
Bedauerlich, dass alle externen, nichts ahnenden Wissenschaftler,
die bei AURORA mitwirkten, die Chance bekamen, Teil der Neuen Welt
zu werden. Aus Gründen der Fairness und Anerkennung. Er bezweifelte,
dass Perkins für diese Welt geschaffen war. Es wurde Zeit, das Thema zu
wechseln, sonst bestand die Gefahr, dass er ihn über Bord warf.
„Immerhin war unsere Fahrt deshalb weitgehend eisfrei“, bemerkte
er deshalb, „zumal die PLANET nicht für Fahrten durch Eis ausgelegt ist.
Wir liegen gut in der Zeit. Ich könnte mir vorstellen, dass wir angesichts
der Eisschmelze noch schneller an das Material herankommen. Was
meinen Sie?“
Perkins beobachtete, wie sich der nächste große Schub Methan an
der Meeresoberfläche sammelte. „Kann ich nicht einschätzen. Aber
natürlich sind wir umso schneller, je weniger Eis uns behindert. Wobei ich
nicht weiß, inwieweit der Schlamm ein Problem ist. Wenn ich daran
denke, dass auch islamistische Terroristen auf diese Idee kommen
könnten, dreht sich mir der Magen um. Der GESA ist alles zuzutrauen.
AURORA ist brillant, Dr. Coleman. Hoffentlich sind wir nicht zu spät.“
Islamistische Terroristen. Perkins dachte noch eindimensionaler als
er vermutet hatte. Aber es gab halt unterschiedliche Formen von
Intelligenz. Dann sollte man auch nur diese eine Intelligenz des Dr.
Perkins bemühen. Denn auf dem Gebiet der Virologie war er Coleman um
Längen voraus.
„Sie haben reichlich einschlägige Erfahrungen, Dr. Perkins. Wie
hoch schätzen Sie die Wahrscheinlichkeit ein, dass Sie die fraglichen Viren
finden und es Ihnen gelingt, sie im Sinne eines wort case Szenarios zu
manipulieren? Und wie lange wird es dauern, sie aufzuspüren?“
Perkins wiegte nachdenklich den Kopf hin und her. „Schwer zu
sagen. Wir bohren ja nicht in der Antarktis oder auf Grönland. Da müssten
wir zwei- bis dreitausend Meter tief bohren. Hier wird das schneller gehen.
Das Pithovirus sibericum wurde unlängst in einer Tiefe von nur dreißig
Metern von französischen Forschern entdeckt. Und zwar im Bereich der
Kolyma, also genau dort, wo auch wir suchen. Ich habe keine Zweifel, dass
es dort Viren gibt. Viren mögen es kalt und dunkel. Wir kühlen Viren, die
wir längere Zeit aufbewahren wollen, mit flüssigem Stickstoff auf fast
zweihundert Grad minus. Aber gerade das Virus zu finden, das wir für
besonders bedrohlich halten, hat durchaus etwas von der Nadel im
Heuhaufen. Wir brauchen auch ein Quäntchen Glück. Die Möglichkeiten,
daraus eine unbesiegbare Killermaschine zu machen, werden davon
abhängen, wie stark die DNA fragmentiert ist. Je besser die von uns
isolierten viralen Genome erhalten sind, desto eher kann ich sie im Sinne
von AURORA verändern.“
In der Ferne tauchte das Festland vor ihnen auf. Es war so früh, dass
sie noch das Basislager aufschlagen konnten. Morgen ging es los. Vier
Teams in vier Richtungen, um dem Eis die letzten Geheimnisse zu
entlocken, ehe es endgültig verschwunden war.
Perkins unbesiegbare Killermaschine ließ Coleman schaudern. Der
Mann hatte keine Ahnung, wovon er sprach. Natürlich wusste Coleman
über den sensationellen Fund der Franzosen Bescheid. Das Pithovirus
sibericum war mit 0,0015 Millimetern das größte jemals entdeckt Virus.
So groß wie ein Bakterium und unter einem einfachen Lichtmikroskop zu
beobachten.
Auch das Pockenvirus zählte zu den Riesenviren. Es galt als
unwahrscheinlich, dass der Menschheit durch dieses seit den Achtzigern
für ausgestorben erklärte Virus jemals wieder Gefahr drohen könnte.
Selbst wenn das Eis Sibiriens vollständig auftauen und das Virus freisetzen
würde.
Aber dabei hatte niemand an eine gezielte Isolation des Virus
gedacht. An AURORA. Wenn der Circle nicht so eng zusammenstehen
würde, und weltweit nicht so vernetzt wäre, dass er über eine grenzenlose
Macht verfügte, würde AURORA eine ewige Illusion bleiben. Nur die
vage Vorstellung von einer besseren Welt. Einer Welt der Intelligenz. Aber
um welchen Preis?
Wie oft hatte Rebecca ihm schon gut zugeredet, wenn ihn seine
verdammten Gewissensbisse plagten. Sobald Coleman AURORA unter
dem Aspekt der Menschlichkeit sah, wurde ihm schlecht. Vor allem
Heather und seine Frau Kimberly waren genauso zart besaitet wie er. Der
coolste war Bryan. Nicht, weil er gefühlskalt war, sondern weil er die
Fehlentwicklung der Spezies Mensch und AURORA aus der
analysierenden Perspektive des Volkswirtschaftlers betrachtete. Für ihn
war das nichts weiter als mathematische Logik:
a) Menschheit ≠ Überleben
b) AURORA = Überleben der Besten
c) b) = Überleben der Menschheit
daraus folgt
d) AURORA = Überleben der Menschheit
Die Kompromisslosesten waren Rebecca, David und Richard.
Gebetsmühlenartig erinnerten sie die anderen Mitglieder daran, dass es bei
AURORA nicht um Einzelschicksale ging. AURORA war nicht weniger
als der Beginn eines neuen Zeitalters. Die Rettung der Menschheit durch
ihre Dezimierung.
Rebeccas liebster Vergleich war der Einschlag eines Meteoriten.
Wenn ihn Skrupel überkamen, sagte sie: „Vor fast siebzig Millionen
Jahren hat ein Meteorit zum Aussterben der Dinosaurier geführt. Und
damit zum Beginn eines neuen Zeitalters. Ohne diesen Meteoriten würde
es uns gar nicht geben. Stell dir einfach vor, AURORA wäre ein Meteorit.
Ein reinigender Einschlag.“
***
***
***
***
***
***
Emma hatte sich nicht getäuscht. Wieder nahm sie eine Bewegung wahr,
vielleicht hundert Meter in Richtung Wasser.
„Riley?“
Immer wieder schrie sie seinen Namen in die fortschreitende
Dämmerung. Aber Riley antwortete nicht. Sie ging zum Rand der Terrasse,
dort, wo der Strand begann.
„Riley? Bist du das?“
Keine Antwort. Eine Gänsehaut kroch ihre Arme hinauf. Sie witterte
Gefahr. Wer außer Riley sollte bei diesem Wetter dort sein? Sie ging ein
paar Schritte durch den Sand. Bis zu den Dünen.
„Riley!“, schrie sie von Panik erfasst. Wieder keine Antwort.
Stattdessen ein roter Punkt vor ihr im Gras, der rasch auf sie zukam und
schon ihr Bein erfasst hatte. Mit offenem Mund verfolgte sie, wie der
Punkt an ihr hochwanderte und Sekunden später fast auf Kopfhöhe war.
Schlagartig begriff sie, dass jemand auf sie zielte. Mit einem
beherzten Sprung wich sie zurück und landete schmerzhaft mit ihrer Hüfte
auf den Holzdielen der Terrasse. In diesem Moment hörte sie den Schuss
und das Geräusch von zerberstendem Glas. Sie riss den Kopf herum und
sah, wie die Reste ihres bodentiefen Fensters mit einem Klirren zu Boden
fielen.
Cathy!
Doch Cathy war längst in ihr Zimmer gegangen. Aber der Krach
hatte sie aufgescheucht. Sie kam die Treppe hinunter und starrte mit
offenem Mund auf die Scherben und das zerstörte Fenster.
„Cathy“, schrie Emma gegen den heulenden Wind, „sofort zurück
nach oben! Schließ dich ein. Nimm das Telefon mit und ruf die Polizei!
Schnell!“
Emma wollte aufspringen. Doch in diesem Augenblick sah sie
wieder den roten Punkt. Auf Höhe ihres Herzens. Und sie sah die Quelle
des Punktes. Der Mann stand breitbeinig keine fünf Meter entfernt im
Sand und hielt ein Gewehr im Anschlag, ein Auge auf das Zielfernrohr
gepresst. Hinter ihm standen zwei weitere Männer. Sie hatten keine
Gewehre. Alle trugen Sturmhauben.
Emma wusste, dass sie jetzt sterben musste. Hatten sie auch Riley
erschossen? Ihr letzter Gedanke galt Cathy. Hoffentlich taten sie ihr nichts.
Emma schloss die Augen. Ihr Herz raste.
Doch anstatt eines Schusses ertönte ein infernalischer Schrei.
Erschrocken riss sie die Augen wieder auf. Sie sah, wie Riley sich mit
einem Hechtsprung auf den Mann mit dem Gewehr stürzte, ihn zu Boden
riss und mit irgendetwas auf seinen Kopf einschlug. Der Mann wurde
völlig überrascht, er hatte keine Chance, diesen plötzlichen Angriff aus
dem Hinterhalt abzuwehren.
Noch bevor die beiden anderen Männer reagieren konnten, hatte
Riley schon von seinem ersten Opfer abgelassen und sprang direkt auf die
anderen Angreifer zu. Er holte aus. Jetzt erkannte Emma, dass er nichts
weiter als einen Stein hatte. Riley schlug zu. Aber der Mann konnte seine
Arme hochreißen und bekam lediglich einen Schlag gegen den Unterarm
ab. Dennoch schrie er vor Schmerz auf. Ehe Riley ein weiteres Mal
zuschlagen konnte, entwendete ihm der andere Mann mit einer schnellen,
eleganten Bewegung den Stein. Mit dem er nun auf Riley einschlug.
Aber auch Riley reagierte gut und konnte dem ersten Schlag
ausweichen. Emma erblickte das Gewehr neben dem Mann, den Riley
niedergeschlagen hatte. Blut strömte aus seinem Kopf und verfärbte die
hellen Holzdielen der Terrasse dunkel. Wenn sie das Gewehr zu fassen
bekam...
Sie sprang darauf zu.
Doch der Mann, der Riley den Stein entwendet hatte, war schneller.
Er blockierte die Waffe mit dem Fuß. Emma blickte zu ihm auf. Durch die
schmalen Schlitze der Sturmmaske sah sie den Hass in seinen Augen. Aber
warum und worauf? Sie wollte etwas sagen. Aber der Mann holte aus und
zielte mit dem Stein auf Emmas Kopf.
Doch noch einmal konnte Riley sie retten. Er schlug dem Mann mit
voller Wucht in die Nieren und entriss ihm den Stein. Aber inzwischen
hatte sich der andere Angreifer erholt und ging jetzt mit einem Messer auf
Riley los. Riley warf mit dem Stein nach ihm. Doch der Mann konnte
ausweichen. Der Stein verfehlte sein Ziel und landete mit einem dumpfen
Geräusch in den Dünen. Und der Mann, dem Riley den Nierenhaken
verpasst hatte, hielt nun das Gewehr in Händen.
Jetzt war es vorbei. Selbst wenn Cathy die Polizei verständigt hatte,
kamen sie zu spät. Riley und sie waren verloren. Sie würden sterben, ohne
zu wissen, warum.
Doch in dem Moment, als der Mann das Gewehr hob, ertönte ein
Martinshorn. Das Geräusch war sehr nah, schon dicht am Haus. In der
Dämmerung war sogar schon das Blaulicht zu sehen, das die Dunkelheit
stakkatoartig auf unheimliche Weise erhellte. Wie hatten die das so
schnell geschafft?
Wagentüren schlugen zu, Stimmen waren zu hören. Die beiden
Männer tauschten einen kurzen Blick aus. Dann rannten sie wie auf
Kommando los, in Richtung Wasser. Den dritten ließen sie blutend zurück.
Noch bevor die Cops um das Haus gerannt waren, hatte Riley den Mann
am Boden gepackt. Er riss ihm die Maske vom Kopf. Darunter kam das
Gesicht eines Mannes arabischer Herkunft zum Vorschein. Emma schätzte
ihn auf Mitte dreißig. Riley schrie ihn an: „Wer seid ihr? Warum wolltet
ihr uns töten? Rede, du Schwein, oder ich breche dir jeden Knochen
einzeln.“
Der eigentlich gutaussehende Araber grinste verzerrt und biss auf
etwas. Emma hörte ein leises Knacken. Als die ersten Cops auf der
Terrasse erschienen, sahen sie, wie das Leben aus dem jungen Mann wich.
Mit einem Aufschrei prallte sein Kopf auf die Dielen, die Augen weit
aufgerissen.
***
***
***
An den folgenden Tagen tauchte die Frau nur noch einmal auf. Alleine. Die
Haare hochgesteckt und mit einem Aktenordner unter dem Arm. Sie blieb
zwei Stunden. Wagner kam gar nicht mehr. Überhaupt tat sich rein gar
nichts. Stundenlang saß Jamal in einem neutralen Firmenwagen und
langweilte sich zu Tode. So wie heute. Wenigstens hatte das Auto ein gutes
Radio.
Plötzlich rief Hauke an. Jamal erkannte seine Handynummer. Er
drückte auf dem Display der Multifunktionsanzeige auf „Gespräch
annehmen“.
„Jamal, wo bist du gerade?“
„Vor der Villa. Aber hier tut sich nichts. Ich glaube, das Ganze ist...“
Weiter kam er nicht. Denn Hauke fiel ihm ins Wort. „Wir müssen
uns treffen. Sofort. Fahr runter an die Förde. Wir treffen uns an der Seebar
und machen einen Spaziergang.“
Jamal wollte noch fragen, was es denn so Eiliges gab, da hatte Hauke
schon aufgelegt. Er fuhr neugierig zur Seebar, wo Hauke bereits auf ihn
wartete. Jamal stellte den Wagen ab und stieg aus.
Hauke kam direkt zur Sache. Er verzichtete sogar auf eine
Begrüßung. „Ich war heute mit dem Staatssekretär Mittagessen. Er wollte
mich dringend sprechen. Ich glaube, wir haben in ein Wespennest
gestochen, Jamal.“
„Was für ein Wespennest?“, fragte Jamal aufgeregt.
„Weiß ich noch nicht. Er hat Nachforschungen angestellt, nachdem
ich ihn angerufen habe. Über AURORA. Über deinen Major und noch
einiges mehr. Das Ganze wird immer mysteriöser. Eine Beförderung vom
Major zum Oberst ist nicht spektakulär, aber ungewöhnlich. So etwas hat
es seines Wissens in Schleswig-Holstein noch nicht gegeben. Die
Anweisung zu Wagners Beförderung soll direkt aus dem
Verteidigungsministerium gekommen sein. Als Staatssekretär hat man
allerlei gute Kontakte und kann so etwas in Erfahrung bringen. Er kennt
auch einige Leute beim BND. Und weißt du, was er dort herausgefunden
hat? Diese Stiftung bezieht Gelder vom BND! Und von vielen anderen
Einrichtungen. Auch aus Ministerien! Aber der BND beteiligt sich doch
nicht an einer Stiftung! Und jetzt rat mal, wer beim BND dafür zuständig
ist!“
Jamal zuckte mit den Schultern. „Woher soll ich das wissen?“
„Pfeiffer. OSWALD Pfeiffer“, sagte Hauke triumphierend. „Klingelt
da was bei dir?“
„Ist das etwa der Mann, den ich damals in Kabul mit Wagner habe
reden hören?“
„So sieht es aus. Zumal der Name Oswald nicht häufig ist. Dann
auch noch zwei davon beim BND? Und der Staatssekretär hat Pfeiffer
einfach angerufen!“
„Sag bloß, das ist ja fantastisch! Und was hat Pfeiffer gesagt?“
„Dass der BND die Stiftung unterstützt, weil sie sich die
Bekämpfung des Terrorismus auf die Fahne geschrieben hat. Er hat
eingeräumt, dass das ungewöhnlich ist. Aber der BND ist der Meinung,
dass das Geld in dieser Stiftung besser angelegt ist als in aussichtslosen
Überwachungsaktionen. Der Staatssekretär hat Pfeiffer noch eine Menge
gefragt. Nach konkreten Projekten der Stiftung. Nach ihren Mitgliedern.
Er hat Pfeiffer ohne Umschweife gesagt, dass er diese Stiftung
merkwürdig findet. Auch deshalb, weil ihr Sitz hier in Kiel nicht etwa
gemietet ist. Nein, die Stiftung hat das Objekt gekauft, Jamal. Als Käufer
ist AURORA in den USA eingetragen. In Oregon, genauer gesagt. Es gibt
aber keinen Namen einer Person. Außer einem Kieler Rechtsanwalt, der
das Geschäft für die Stiftung abgewickelt hat. Diese Villa hat drei Komma
fünf Millionen Euro gekostet! Mal eben so, für eine Niederlassung. Ich
meine, wenn die schon was kaufen, dann doch wohl irgendwo, wo es
günstig ist.“
Jamal dachte über das nach, was Hauke ihm erzählt hatte. „Ich kann
nicht beurteilen, ob so etwas für eine Stiftung ungewöhnlich ist. Ich kenne
mich überhaupt nicht damit aus. Aber dass der Name Oswald Pfeiffer in
diesem Zusammenhang auftaucht, macht mich stutzig. Ich meine, der
Oswald, den ich in dem Lager habe reden hören, hat Wagner diesen Posten
angeboten. Insofern ist doch wohl klar, dass das ein und derselbe ist. Was
hat Pfeiffer denn dazu gesagt?“
„Noch gar nichts. Aber er hat dem Staatssekretär angeboten, ihn zu
treffen, um ihm Rede und Antwort zu stehen. Die beiden wollen sich
nächste Woche informell treffen. Danach wissen wir mehr. Aber noch
etwas ist merkwürdig, Jamal. Der Staatssekretär hat Pfeiffer gefragt, ob er
den neuen Leiter der WTD 71, Edmund Wagner, kennt. Und weißt du, was
der darauf geantwortet hat? Nur aus der Zeitung. Aber du weißt es besser!
Jetzt ist auch mein Misstrauen geweckt. Ich sage dir, Jamal, da ist was
oberfaul!“
Kapitel 30
Salem (Oregon), Hauptsitz der Stiftung AURORA
AURORA hatte ihren Sitz in der Innenstadt. Wie die Niederlassungen,
gehörte auch das Gebäude der Zentrale zum Stiftungseigentum. Es gab nur
drei Mitarbeiter. Eine Dame für Empfang und Sekretariat. Einen
Kaufmann für das Controlling. Und eine Dame im Backoffice. Die
Stiftungsmitglieder und der Vorstand waren sporadisch und in
wechselnden Besetzungen vor Ort.
Heute hatten sich Heather King und David Moore getroffen, um zu
prüfen, ob die Verwendung der Mittel, ihre Verteilung auf die
Forschungsprojekte, korrekt ablief. Im Fokus standen die drei Phasen
Wave unter Leitung von Rebecca Eliot und Chang Zhou, Ice unter Leitung
von Edward Coleman und James Perkins und Caldera unter Leitung von
Andrew Shoemaker und Mason Foley. Für diese Projekte wurden mehrere
Hundert Millionen Dollar zur Verfügung gestellt, mit der Möglichkeit
einer Aufstockung in beliebiger Höhe.
Heather und David hatten sich mit Akten und einer Kanne Kaffee in
das Besprechungszimmer zurückgezogen. Sie waren sehr zufrieden. Alle
Mittel waren korrekt geflossen, für jede Zahlung gab es einen
Verwendungsnachweis, der jeder behördlichen Prüfung standhielt. Alles
musste seine Ordnung haben, wenn AURORA ungestört vorbereitet
werden sollte. Erst wenn die drei Phasen umsetzungsreif waren und die
notwendige Infrastruktur bereitgestellt, konnte sich die Stiftung auch
unangenehmen Fragen stellen. Denn dann war es zu spät für
Abwehrmaßnahmen.
Es klopfte an der Tür. Die Dame vom Empfang meldete den Besuch
von zwei Agenten des FBI. Heather und Moore sahen sich fragend an.
Wieso FBI?
„Führen Sie die Herren herein und bieten Sie ihnen etwas zu trinken
an“, befahl Moore.
Die Special Agents stellten sich als Chris Walker und Jake Bishop
vor. Moore bemerkte sofort, dass Heather nervös wurde. Sie hatte die
schwächsten Nerven im Circle. Deshalb war es besser, wenn er das
Gespräch führte. Denn ihn, den Sechssternegeneral, General of the Armies
of the United States, und damit ranghöchsten Offizier der USA, ließen
auch zwei Special Agents des FBI kalt.
„Was führt Sie zu uns, meine Herren?“, fragte Moore und deutete auf
zwei Stühle. „Aber bitte nehmen Sie doch Platz.“
Special Agent Jake Bishop setzte sich, Chris Walker blieb stehen und
sah sich in dem kleinen, aber edel eingerichteten Raum um. In seinem
Habitus erinnerte er Moore an Inspektor Columbo. Trenchcoat, die Arme
hinter dem Rücken verschränkt, wacher Blick. Äußerlich hinkte der
Vergleich allerdings. Denn Walker war über eins neunzig groß, blond, und
strahlte die Selbstsicherheit eines Special Agent aus.
„Nett haben Sie es hier“, lobte er, „macht alles einen kostspieligen
Eindruck. Diese Stühle habe ich mal in einem Möbelhaus gesehen.
Sündhaft teuer. So was könnte ich mir nicht leisten. Und ich dachte immer,
dass eine Stiftung die Gelder für das ausgibt, wofür sie gegründet wurde.
Womit wir schon bei unserer ersten Frage wären.“
Moore lächelte. Er kannte diesen Typus. Den gab es bei der Army
zuhauf. Walkers Verhalten hatte Methode. Er gab sich locker, machte
wahrscheinlich auch mal einen kleinen Scherz, preschte aber im
entscheidenden Moment vor wie ein Bluthund. Bei Heather könnte er
damit Erfolg haben.
„Für unsere Stiftung ist die Außendarstellung von großer
Bedeutung“, erklärte Moore. „Wir sind auf umfangreiche Finanzmittel
angewiesen. Ein erheblicher Teil des Geldes stammt aus privater Hand.
Allesamt bedeutende Persönlichkeiten aus gehobenen, gesellschaftlichen
Kreisen, die wir schlecht in einer Kaschemme empfangen können.
Beantwortet das Ihre erste Frage?“
Walker setzte sich und musterte Moore ganz unverhohlen. Der
General wusste, dass der Mann versuchte, sein Gegenüber einzuschätzen.
Walkers Gesichtszüge entspannten sich. Er lächelte und bedankte sich für
den Kaffee, den die Dame vom Empfang vor ihm abstellte.
„Nein, General, das war nicht meine Frage. Uns interessiert der
Zweck Ihrer Stiftung.“
Moore füllte in aller Ruhe sein Wasserglas. Dann sah er Walker
direkt in die Augen. „Ich gehe davon aus, Special Agent, dass das eine
rhetorische Frage ist. Wenn Sie vom FBI sind, haben Sie sich schon vorher
über uns informiert. Was kein Problem ist. Das könnte jeder Praktikant.
Google reicht völlig. Insofern wäre es hilfreich, wenn Sie uns einfach
sagen, weshalb Sie gekommen sind. Möchte sich das FBI finanziell an
unserer Stiftung beteiligen? Das wäre eine überaus lohnende Investition.“
Walker nickte bedächtig. Er war der Wortführer. Bishop sagte nichts,
obwohl er noch größer als Walker war und deutlich kräftiger. Aber er
blickte nur grimmig aus seinen dunklen Augen drein. Das gehörte wohl
zur abgesprochenen Taktik.
„Natürlich haben wir uns informiert, General. Auch über Sie. Sie
sind unser General of the Armies. Dennoch wüsste ich gerne, welche Art
von Terrorismus mit Ihrer Stiftung bekämpft werden soll. Das findet sich
nämlich nicht bei Google. Und auch nicht bei der einen oder anderen
Quelle, auf die nur ein ausgewählter Personenkreis beim FBI Zugriff hat.
Im Gegensatz zu einem Praktikanten.“
Moore lächelte. Walker war ein arroganter Affe. „Das kann ich mir
vorstellen. Aber Ihre Frage kann ich dennoch beantworten. Unsere
Projekte zielen darauf ab, Bedrohungen zu untersuchen, die schon da sind,
aber durch einen Terrorakt, sagen wir mal, künstlich angestoßen werden
könnten. Wie der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Insofern
wäre es gar keine schlechte Idee, wenn sich das FBI finanziell beteiligt.
Projekte zur Terrorabwehr fallen schließlich in Ihr Ressort.“
Jetzt wirkte Walker sichtlich überrascht, ging aber nicht auf Moores
Angebot ein. „Was heißt schon da sind?“
Der General rieb sich nachdenklich das Kinn. „Da haben wir jetzt ein
Problem. Das kann ich Ihnen nämlich nicht sagen.“
„Und warum nicht?“
Moore erklärte, dass der Zweck der Projekte darin bestand, diese
potenziellen Bedrohungen zu identifizieren, ihre Gefährlichkeit
einzuschätzen und schließlich zu analysieren, ob und inwieweit sie ins
Fadenkreuz von Terroristen geraten könnten.
„Und jetzt verstehen Sie sicherlich unser Problem, meine Herren.
Wir können uns damit erst an die Öffentlichkeit wenden, wenn die
Projekte beendet sind. Stellen Sie sich vor, die Ergebnisse unserer Projekte
würden in die Hände von Terroristen geraten, bevor wir Abwehrstrategien
entwickelt haben. Das wäre eine Katastrophe, nachgerade eine Anleitung
zu einem Terrorakt!“
Wieder musterte Walker Moore, der dessen Blick mühelos
standhielt. Plötzlich zog er einige Fotos aus seiner Jackentasche, breitete
sie vor Heather aus und fragte sie, Moore ignorierend, ob sie jemanden auf
diesen Bildern kenne. Heather betrachtete die Fotos. Eines zeigte einen
blonden Schönling vom Typ Surflehrer, ein weiteres Emma Chaplin, eine
erfolgreiche Unternehmerin und das dritte einen offensichtlich toten
Araber. Es war der Araber, der Heather verunsicherte. Auch Moore kannte
ihn. Eine brenzlige Situation, die es zu entschärfen galt. Moore versuchte,
das Wort zu ergreifen, wurde jedoch unwirsch von Walker unterbrochen.
„Ich möchte das von Miss King hören! Also, Miss, sehen Sie sich die
Bilder genau an. Wen erkennen Sie?“
Moore spitzte die Lippen. Zuerst kennen Sie jemanden, und jetzt wen
erkennen Sie. Nettes Psychospielchen. Hoffentlich hielt Heather diesem
billigen Versuch stand. Sie tat es. Indem sie sich räusperte und auf das
Bild von Chaplin zeigte. „Diese Frau kenne ich. Das ist Emma Chaplin. Ihr
gehört eine Firma, die mit Landmaschinen handelt. Ich kenne sie aus den
Medien. Sie hat auch eine Stiftung gegründet.“
Walker zeigte auf die anderen Fotos. „Und diese Männer? Kennen
Sie die?“
Heather schüttelte den Kopf.
„Sind Sie sich ganz sicher?“
Sie nickte. Klasse, Heather, weiter so, dachte Moore.
„Gut“, sagte Walker, nahm die Fotos und breitete sie nun vor Moore
aus. „Und Sie, General? Kennen Sie diese Leute?“
Moore musste innerlich grinsen. Du kennst doch die Antwort,
Special Agent Affe. „Auch ich kenne nur Miss Chaplin. Wären Sie wohl so
freundlich, uns zu verraten, was unsere Stiftung mit diesen Leuten zu tun
hat? Wer ist das? Und warum sind Sie hier?“
Walker zeigte auf den Araber und erklärte, dass der, zusammen mit
zwei anderen, einen Anschlag auf Emma Chaplin und einen Australier
namens Riley Perkins verübt hatte. Walker deutete auf das Foto des
blonden Mannes. Riley Perkins hatte ausgesagt, dass seine Familie sich,
für ihn unerreichbar, bei AURORA aufhielt, weil diese seinem Vater, dem
Nobelpreisträger James Perkins, ein Projekt von historischen Ausmaßen
finanzierte.
„Und insofern“, resümierte Walker, „fragen wir uns, welche
Verbindungen es zwischen Riley Perkins und AURORA gibt, warum ihn
jemand beseitigen will und warum Sie diesen Mann nicht kennen, obwohl
doch seine Eltern und seine Geschwister irgendwo bei Ihrer Stiftung
untergebracht sind. Wo finden wir Familie Perkins, General? Warum kann
der Sohn seine Eltern nicht erreichen?“
Moore ließ sich von so etwas nicht beirren. Er war zufrieden, weil es
ihm gelungen war, das Gespräch wieder an sich zu reißen. Er verwies
darauf, dass er nichts mit dem operativen Geschäft, sprich den Projekten,
zu tun habe, sondern allein mit der Verwaltung und den Finanzen.
Dasselbe gelte auch für Miss King. Aber natürlich wisse er, wer James
Perkins ist, und auch, dass sein Sohn sich geweigert hatte, seinen Vater zu
begleiten.
„Das bedauern wir sehr, weil wir die Familien möglichst beieinander
haben wollen. Im Sinne der Wissenschaftlicher, denn eine so lange
Trennung von der Familie ist kontraproduktiv für den Projekterfolg. Wir
sind als Stiftung stolz darauf, diesen ungewöhnlichen, menschlichen Weg
zu gehen. Aber wenn Riley Perkins das nicht möchte, ist das seine
Entscheidung. Dennoch kenne ich ihn nur vom Hörensagen. Wo sich seine
Familie aufhält, kann ich Ihnen aus den schon genannten Gründen nicht
sagen. Aber Sie können ganz beruhigt sein, Special Agent, alle
Projektteilnehmer sind freiwillig bei uns und haben Verträge
unterschrieben, die Sie jederzeit einsehen dürfen. “
Walker war jetzt eine gewisse Verärgerung anzumerken. Er wusste,
dass er von dem Offizier vorgeführt wurde. Moore spürte, dass sich der
Mann zusammenreißen musste. Denn er atmete ein paar Mal tief durch,
bevor er antwortete.
„Wenn jemand einen Anschlag auf den Sohn eines Ihrer
Wissenschaftler verübt, müssen Sie uns unsere Fragen beantworten. Zumal
die Verbindung zu Ihrer Stiftung offensichtlich ist. Und selbstverständlich
möchten wir die Verträge einsehen!“
Moore griff zum Telefonhörer und bat die Dame vom Empfang, die
Verträge für das FBI zu kopieren. Dann schüttelte er energisch den Kopf.
„Ich muss Ihnen das nicht sagen! Dafür müssen Sie mich vorladen. Aber
ohne konkreten Vorwurf, der, nebenbei bemerkt, lächerlich wäre, haben
Sie schlechte Karten. Werfen Sie mal einen Blick in unsere Statuten. Und
bedenken Sie, welche Lawine Sie, Mister Walker, persönlich lostreten
könnten, wenn Sie versuchen, das zu torpedieren, was das Wichtigste für
unsere Projekte ist: Geheimhaltung! Wer auch immer Riley Perkins
angegriffen hat, hat nichts mit AURORA zu tun. Sie sollten sich lieber auf
Emma Chaplins Umfeld konzentrieren. Sie steht im Fokus der
Öffentlichkeit und wird Feinde haben. War´s das, meine Herren?“
„Für´s Erste. Aber wir kommen wieder. Verlassen Sie sich darauf!“
Moore blickte den beiden nach. Dann betrachtete er Heather. Ihr
stand der Schweiß auf der Stirn. Sie zitterte. Sie war nervös. Zu nervös.
„Heather, ist alles okay?“
Heather schluckte und wischte sich den Schweiß mit einem
Taschentuch von der Stirn. „Das war knapp.“
Moore tätschelte ihren Arm. „Gar nichts war knapp, meine Liebe.
Dass sie irgendwann zu uns kommen würden, war doch klar.“
„Aber der Anschlag auf Perkins und Chaplin ist schiefgegangen!“
„Na und? Hast du ernsthaft geglaubt, dass niemals etwas schiefgehen
wird? Dass immer alles glatt läuft? Der Araber hat versagt. Immerhin hat
er das Zyankali geschluckt. Also hat er getan, was ihm befohlen wurde.“
Heather dachte darüber nach. „Ist Selbstmord im Islam nicht eine
Sünde? Ewiges Feuer statt Paradies? Das hat Yefrem uns doch mal erklärt.
Wieso hat der Mann dann diese Kapsel geschluckt?“
Moore nickte. „Du hast recht. Ich habe mit Yefrem darüber
diskutiert. Wir müssen schließlich sicher sein, dass ein Auftragnehmer
nicht gegen uns aussagt, wenn er auffliegt. Aber Yefrem weiß genau, wie
diese Leute ticken. Deshalb wählen er oder Tarkan sie ja auch aus. Die
erzählen ihnen, dass das kein Selbstmord ist, weil sie Allah nicht mehr
schaden könnten als durch ihre Verhaftung. Das Schlucken einer
Zyankalikapsel ist also gleichzustellen mit einem ehrenvollen Tod im
Gefecht mit dem Feind. Oder bei einem Attentat.“
Heather schüttelte den Kopf. „Wie kann man nur so dumm und naiv
sein und sich so leicht hinters Licht führen lassen?“
Auch Moore schüttelte den Kopf. „Nicht dumm, Heather.
Verblendet! Diese Leute kommen häufig aus dem Nichts, aus der Armut,
der Bedeutungslosigkeit. Solche Menschen kann man sich leicht zu Nutze
machen, wenn man es richtig anstellt. So wie Yefrem.“
„Wie auch immer, jedenfalls ist Yefrems Mann jetzt tot. Er hat den
Auftrag nicht ausgeführt.“
„Und nun schicken wir jemand anderen.“
Heather schloss die Augen und atmete tief durch. „Jemand anderen.
Wie stellst du dir das vor? Die werden doch mit Sicherheit überwacht.
Außerdem kommen die Probleme auch aus anderer Richtung. Denk an
Pfeiffer! Sie kommen uns zu früh auf die Schliche. Ich habe ein mieses
Gefühl.“
Wieder einmal war er als Krisenmanager gefragt. Moore stand auf,
stellte sich hinter Heather und massierte sanft ihren Nacken.
„Niemand kommt uns auf die Schliche, meine Liebe. Wir haben uns
perfekt getarnt. Und in unseren Positionen sind wir unantastbar. Unsere
Verträge mit den Wissenschaftlern und ihren Familien sind juristisch hieb-
und stichfest. Niemand kann uns zwingen, zu sagen, wo sie sich aufhalten
und was genau sie machen. In einem Jahr sind wir soweit, Heather, dann
startet AURORA. Das ist nicht viel Zeit. Bis dahin müssen wir
handlungsfähig bleiben. Danach ist alles egal. Hat die heiße Phase erst
einmal begonnen, ist AURORA nicht mehr aufzuhalten. So, und ich nutze
mal wieder unser gutes altes Analogtelefon und spreche mit einem Freund
über unfähige Araber und Menschen mit einem Faible für guten Whiskey.“
Kapitel 31
Kiel, Anfang April 2016
Er hatte seine Sekretärin angewiesen, so wenige Termine wie möglich zu
vereinbaren. Haukes Anruf und sein Gespräch mit dem BND hatten ihn
nervös gemacht. Er musste sich unbedingt Klarheit in dieser
Angelegenheit verschaffen. Als Staatssekretär des Finanzministeriums
musste er wissen, wer in Schleswig-Holstein von wem und wofür Gelder
bekam. Es war unerklärlich, dass eine Stiftung aus den USA mit einer
Niederlassung in Kiel für ein Projekt zur Terrorismusbekämpfung in
Sibirien Geld vom BND und vom Land Schleswig-Holstein bekam, er aber
nichts davon wusste.
Er hatte seine Mitarbeiter zur Rede gestellt und zig Telefonate
geführt. Aber niemand konnte ihm etwas Konkretes zu AURORA sagen.
Außer dem, was er schon wusste Dass die Stiftung öffentliche Zuschüsse
bekam, war, nach Aktenlage, zulässig. Ihr Zweck, die Verhinderung von
Terroranschlägen, war förderungswürdig. Denn das diente unbestreitbar
dem öffentlichen Interesse. Aber er hatte keine konkreten Hinweise
gefunden, was für Projekte AURORA eigentlich mit ihrem riesigen
Vermögen finanzierte. Er stieß lediglich auf so abstrakte Formulierungen
wie Abwehr von Terrorgefahren, Identifizierung von Terrorzielen,
Abwehrstrategien gegen Terrorangriffe.
Er war persönlich zu AURORA gefahren, die ihren Sitz in dieser
mondänen, drei Komma fünf Millionen Euro teuren Villa in der
Moltkestraße hatte, um mehr in Erfahrung zu bringen. Aber dort hatte ihm
eine ebenso schöne wie unterkühlte Amerikanerin erklärt, dass sie derlei
Auskünfte nicht erteilen dürfe, weil das die Projekte gefährde. Seine
Versuche, diese Informationen anderweitig zu erhalten, waren ebenfalls
ergebnislos geblieben.
Also hatte er Pfeiffer gestern wieder angerufen und unter Druck
gesetzt. Mit der Drohung, dafür zu sorgen, dass keine Mittel mehr aus
Schleswig-Holstein fließen würden, wenn er nicht endlich Rede und
Antwort stand.
Das hatte seine Wirkung nicht verfehlt. Denn jetzt war der
Staatssekretär auf dem Weg in den Naturpark Westensee. Pfeiffer hatte
ihm eröffnet, dass er den Naturpark liebte und dort ein Ferienhaus besaß,
in das er gerne fuhr, wenn seine knappe Zeit das zuließ.
Und weil er gerade dort war, hatte er den Staatssekretär auf einen
Whiskey eingeladen, um seine Fragen zu beantworten. Da der
Staatssekretär in Ruhe und ohne Druck mit Pfeiffer sprechen wollte, und
da ihn die Aussicht auf einen feinen Whiskey lockte, hatte er seinen Fahrer
angewiesen, zuhause zu bleiben.
Er fuhr alleine in seiner S-Klasse in den Naturpark. Das Wetter war
fürchterlich. Ein Graupelschauer jagte den nächsten. Die Sicht war
schlecht. Der Staatssekretär hasste es, mit seiner schweren Limousine bei
so einer Witterung über einsame und enge Straßen zu fahren, zumal auf
der Rückfahrt wahrscheinlich schon tiefste Dunkelheit herrschte.
Immerhin kam die Sonne durch, als er Pfeiffers Haus in der Nähe von
Deutsch-Nienhof erreichte. So kam er trockenen Fußes ins Haus.
Das Haus war größer, als der Staatssekretär erwartet hatte. Mit
großem Grundstück am See und schönen, alten Bäumen. Sehr idyllisch.
Aber auch sehr einsam. Nichts für ihn. Pfeiffer empfing ihn grinsend, in
der Hand ein Glas mit einer bernsteinfarbenen Flüssigkeit. Er erklärte zur
Begrüßung, dass es sich dabei um einen Macallan Select Oak handelte.
Gereift in einem vom Master of Wood persönlich handverlesenen
Eichenfass.
„Kommen Sie rein“, sagte er mit einem freundlichen und offenen
Lächeln, „und probieren Sie diese Köstlichkeit. Sie wissen einen guten
Whiskey doch zu schätzen, oder?“
Und ob er den zu schätzen wusste! Whiskey war eine seiner größten
Leidenschaften. Aber deshalb war er nicht hier. Angesichts der Rückfahrt
musste er sich ohnehin zurückhalten. Vorsichtig nippte der Staatssekretär
an seinem Glas. In der Tat ein exzellenter Whiskey. Mild. Viel Vanille und
Nuancen von reifen Pflaumen.
Während Pfeiffer in der Küche war, um Brot, Käse und Nüsse zu
holen, blickte sich der Staatssekretär neugierig um. Das Wohnzimmer mit
Kamin und Chesterfield-Sofa und Ledersessel davor maß dreißig
Quadratmeter oder mehr. Die knisternden Holzscheite im Kamin
verströmten eine wohlige Wärme. Zusammen mit dem dunklen Parkett
und Möbeln aus Echtholz eine gediegene Atmosphäre. Das passte in den
Naturpark Westensee. Und zu einem guten Whiskey.
Trotz der entspannten Atmosphäre, Pfeiffer erwies sich als
eloquenter und unterhaltsamer Gesprächspartner, lenkte der Staatssekretär
das Gespräch bald auf den eigentlichen Zweck seines Besuches.
„Nun seien Sie doch nicht so förmlich“, entgegnete Pfeiffer mit
seinem offenen Lachen. „Jetzt hole ich uns erst mal einen schönen
Lagavulin. Distillers Edition. Schon eine andere Nummer als der
Macallen. Immer noch relativ mild, aber doch schon um einiges kräftiger.
Ein bisschen wie das Meer! Da schmecken Sie sozusagen schon Ihre
Heimat, Herr Staatssekretär!“
Pfeiffer verschwand in der Küche und kam mit zwei Gläsern zurück.
Der Staatssekretär hatte den Eindruck, dass sie noch etwas großzügiger
gefüllt waren als zuvor. Dennoch fiel es ihm schwer, dieser Verlockung zu
widerstehen. Der Lagavulin war großartig.
„Aber nun habe ich einige Fragen an Sie, Herr Pfeiffer. Ist das
okay?“
Pfeiffer nickte. „Tun Sie sich keinen Zwang an. Deshalb sind Sie
schließlich hier.“
Der Staatssekretär fragte nach Pfeiffers Funktion bei AURORA.
Nach den Projekten der Stiftung und ihren Geldquellen. Und nach
konkreten Ansprechpartnern. Auch die Fragen, warum Major Wagner zum
Oberst blitzbefördert worden war, und warum Pfeiffer vorgab, ihn nicht zu
kennen, hielt er nicht zurück. Ihm sei zu Ohren gekommen, dass Pfeiffer
Wagner sogar höchstpersönlich die Nachfolge des Leiters der WTD 71
angetragen hatte.
Pfeiffer hatte dem Staatssekretär andächtig zugehört, ohne ihn zu
unterbrechen, und ihm dabei immer wieder zugeprostet. Dann
beantwortete er der Reihe nach alle Fragen, nicht ohne vorher einen
Glenmorangie Tùsail zu holen.
„Ein limitierter Single Malt, wie ich betonen möchte! Eine Rarität.
Genießen Sie ihn. Scheuen Sie sich nicht, von der Pipette und dem Wasser
Gebrauch zu machen! Aber nun will ich Ihre Fragen beantworten. Ich
glaube, Sie haben sich zu viele Gedanken gemacht. Wenn ich Ihnen alles
erzählt habe, wollen Sie selbst zahlendes Mitglied bei AURORA werden.“
Wieder dieses herzliche, offene Lachen, das Pfeiffer eine gewisse
Wärme verlieh.
Nach gut zwei Stunden und vier weiteren Whiskeys war der
Staatssekretär umfassend im Bilde. Pfeiffer hatte kein Detail ausgelassen.
Der Mann vom BND war nicht nur persönlich an AURORA beteiligt,
sondern auch eines ihrer Gründungsmitglieder. Auch hochrangige
Offiziere und Geheimdienste aus aller Welt unterstützten AURORA.
Die Forschungsprojekte richteten ihren Fokus auf Terrorgefahren,
auf die zuvor noch niemand auf Seiten der westlichen Regierungen
gekommen war. Aber eben auch nicht auf Seiten von Terrororganisationen
wie der GESA. Es ging um Anschläge mit Viren und auf Vulkane, um
Erdbeben und gestohlene Atomwaffen.
Um Terroristen nicht mit der Nase darauf zu stoßen, mussten die
Projekte bis zu ihrem Abschluss streng geheim bleiben. Das galt auch für
Regierungen und Geheimdienste. Denn überall, so O-Ton Pfeiffer, gibt es
schwarze Schafe. Es bestand der Verdacht, dass es der GESA mittels
Überläufern geglückt sein könnte, das eine oder andere Projekt zu
infiltrieren. Daran arbeitete AURORA mit Hochdruck. Auch die
Geheimdienste waren aktiv. Die Forschungsergebnisse stellten in den
Händen der GESA eine Bedrohung für die freiheitliche Grundordnung des
Westens dar. Pfeiffer befürchtete gar, dass das das Ende der Welt bedeuten
könnte.
Die Forschungsergebnisse wurden deshalb erst nach ihrer
wissenschaftlichen Verifizierung allen demokratischen Regierungen und
der Öffentlichkeit zur Verfügung gestellt. Wegen ihrer Brisanz
unterstützten viele staatliche Stellen auf der ganzen Welt AURORA
finanziell.
Auch die Frage nach seinem Verhältnis zu Wagner konnte Pfeiffer
beim sechsten Whiskey beantworten. Er war ihm in Afghanistan begegnet.
Wagner unterstützte AURORA. Aber Pfeiffer hatte ihm keineswegs eine
Beförderung zum Oberst angeboten.
„Wie auch? Was habe ich mit der Bundeswehr zu schaffen? Wer
immer Ihnen das erzählt hat, verfügt über falsche Informationen oder sagt
bewusst die Unwahrheit, aus welchen Gründen auch immer. Sehr wohl ist
Wagner aber bestens für diese Position geeignet. Er hat schon früher an
Forschungsprojekten teilgenommen. Dass ich ihn nach der langen Zeit
nicht sofort erkannt habe... Sei´s drum.“
Pfeiffer grinste breit. Dann fuhr er fort. „Nichts für ungut, und bei
allem Respekt, aber ehrlich gesagt sind Sie mir mit Ihrer Fragerei ganz
schön auf die Nerven gegangen, Herr Staatssekretär. Und so leicht lässt
sich der Leiter der Abteilung TE des BND nicht hinter dem Ofen
hervorlocken.“
Mit den Details zu dem bereits abgeschlossenen Projekt in Sibirien
kannte sich Pfeiffer nicht aus. Das war nicht sein Fachgebiet. Aber er habe
schon viel zu viel erzählt. Doch sein Gast sei auch kein Geringerer als der
Staatssekretär des Finanzministeriums.
„Dennoch bitte ich Sie, Stillschweigen über unser Gespräch zu
wahren. Ich habe Ihnen das nur anvertraut, weil ich wusste, dass Sie
sowieso nicht aufhören würden zu fragen. Und weil ich Ihnen vertraue. Sie
stehen für eine ehrliche, gradlinige Politik. Und so schätze ich Sie auch als
Mensch ein. So, zum Abschluss gönnen wir uns aber noch ein absolutes
Highlight.“
Ohne eine Antwort abzuwarten, verschwand Pfeiffer in der Küche.
„Für mich bitte nicht!“, rief ihm der Staatssekretär halbherzig
hinterher. Er war müde, schon angetrunken und überfrachtet mit
Informationen, die sein Hirn nicht so recht in die Kategorien wahr und
unwahr unterteilen konnte.
Wahr war allerdings die Bezeichnung absolutes Highlight. Pfeiffer
brachte diesmal zwei leere Gläser und eine Flasche mit, die er auf den
Tisch stellte. „Ein fünfundzwanzig Jahre gereifter Bowmore. Von der Insel
Isley. Jede Menge Torf und Sherry. Und auch die Nuancen von Holz und
Früchten sind aller Ehren wert. Aber da Sie noch fahren müssen, überlasse
ich es Ihnen, ob Sie den Bowmore zum Abschied noch verkosten wollen.
Ich biete Ihnen auch gerne das Zimmer meines Sohnes an. Einziges
Manko: Weil ich diesmal alleine hier bin, ist es nicht aufgeräumt und
Bettwäsche habe ich auch nicht. Aber den Schlafsack meines Sohnes! Ich
meine, was tut man nicht alles für einen solchen Whiskey! Wenn Sie über
Nacht bleiben, schenke ich gerne noch häufiger nach.“
Der Staatssekretär schüttelte den Kopf. Der Schlafsack seines
Sohnes. Nicht zu fassen. Und so schlimm war die Strecke nun auch wieder
nicht. Zwanzig Kilometer. Ein bisschen Wald. Lächerlich. Er bedeutete
Pfeiffer mit Daumen und Zeigefinger, wie weit er das Glas bitte füllen
möge. Pfeiffer meinte es jedoch gut mit ihm und erhöhte ungefähr auf das
Doppelte. Dabei bat er seinen Gast, ihn kurz auf dem Festnetz anzurufen,
wenn er zuhause angekommen war.
„Ist eine ziemlich blöde Fahrt, mitten in der Nacht und bei diesem
Scheiß Wetter. Ich kann besser schlafen, wenn ich weiß, dass Sie gut zu
Hause angekommen sind.“
Der Staatssekretär versprach, anzurufen, während er sich mit der
gebotenen Ehrfurcht dem Whiskey widmete. Der Bowmore von der Insel
Isley erwies sich als gigantisch. Als er sich auf den sofaartigen Fahrersitz
fallen ließ, brannte er ihm noch wohlig in der Kehle.
***
***
***
Lieber Jamal,
ich schreibe dir diesen Brief für den Fall, dass ich nicht mehr dazu komme,
mit dir persönlich zu sprechen. Der Tod des Staatssekretärs hat gezeigt, in
welch großer Gefahr wir schweben! Wo immer du da hineingeraten bist, es
muss von großer Tragweite sein und etwas mit AURORA zu tun haben. Ich
halte mich, wie du weißt, aus der Sache raus. Ich habe eine Familie und
eine Firma. Wir dürfen keinen Kontakt mehr haben. Du kannst auch nicht
mehr in meiner Firma arbeiten. Aber ich kann zwei Dinge für euch tun: Ich
kann euch eine andere Wohnung zur Verfügung stellen. So lange, bis es
vorbei ist. Die Wohnung ist in Laboe. Kein Mietvertrag, kein
Einwohnermeldeamt. Ihr könnt da problemlos untertauchen. Und ich kann
dir, weil du kein Geld mehr bei mir verdienst und es im Moment auch nicht
klug wäre, wenn du dir woanders einen Job suchst, wenigstens Geld geben.
Du musst das nicht zurückzahlen. 150.000 Euro kann ich gut
verschmerzen. Und ihr kommt damit eine Weile über die Runden. Ich habe
kleine Scheine genommen, weil große zu auffällig wären. Ich hoffe, dass
der ganze Wahnsinn irgendwann vorbei ist, und wir wieder zusammen
lachen können. So wie früher.
Euch alles Gute, mein Freund! In Gedanken bin ich bei Euch.
Auf ein baldiges Wiedersehen!
Dein Hauke
Jamal ließ Haukes Brief auf seine Knie sinken. Bittere Tränen liefen ihm
minutenlang die Wangen hinunter und tropften auf seine Hose, ohne, dass
er es bemerkte. Sein Freund Hauke war tot, Janne, seine Frau, Witwe.
Seine Kinder Halbwaisen. Weil er, Jamal Akbar, ihn in etwas
hineingezogen hatte, womit er nicht das Geringste zu tun hatte. Und was
machte Hauke? Anstatt wütend auf ihn zu sein, schenkte er ihm ein
Vermögen und überließ ihm kostenlos eine Wohnung und einen Wagen.
Jamal wünschte sich, dass die Kugeln ihn anstatt Hauke getroffen
hätten. Sein Sohn war tot, weil in seiner Heimat ein sinnloser Krieg tobte.
Und sein Freund war tot, weil Jamal dieses verdammte Gespräch
mitbekommen hatte. Kleine Ursache, große Wirkung. Wer immer hinter
all dem steckte, war zu weit gegangen. Für diesen sinnlosen Mord würde
er büßen!
***
***
Drei Tage und Nächte schmorte er in seiner Zelle. Er wurde nicht verhört.
Am vierten Tag holte ihn schließlich ein Polizist ab. „Da ist jemand für
Sie“, teilte er Jamal mit. Er wurde in das Büro des älteren Kollegen
geführt. Jamal sah ihn in seinem Drehstuhl und zwei Männer auf den
Besucherstühlen ihm gegenüber sitzen, die Jamal den Rücken zukehrten.
Doch einen der Besucher erkannte er auch von hinten. Die Angst schnürte
ihm die Kehle zu.
„Da ist ja unser arabischer Hobbydetektiv“, sagte der Polizist mit
vor Sarkasmus triefender Stimme. „Hat er uns doch tatsächlich einen
gefälschten Pass untergeschoben. Was soll man davon nur halten?“
Die beiden Männer standen auf und wandten sich Jamal zu. Pfeiffer
und dieser Tarkan.
Pfeiffer blickte Jamal direkt in die Augen. Ein attraktiver Mann,
vielleicht ein wenig schmierig. Funkelnde blaue Augen, aber ein eiskalter
Blick.
„Wir übernehmen ab hier“, sagte er in ebenso eisigem Tonfall.
„Jamal Akbar, alias Abdul Rahimi, ist schon lange bei uns aktenkundig. Er
ist im Zusammenhang mit islamistisch motivierten Anschlägen ins Visier
meiner Behörde geraten. Wir beobachten ihn schon länger. Zusammen mit
der NSA, die uns einiges an zusätzlichem, belastenden Material zur
Verfügung gestellt hat. Jamal Akbar war zur Ausbildung in einem
Terroristencamp in Afghanistan. Nach ihm wird international gefahndet.
Er ist illegal nach Deutschland eingereist. Vermutlich, um Anschläge auf
AURORA vorzubereiten. Freundlicherweise unterstützt uns der syrische
Geheimdienst. Akbar wird nach Berlin verlegt.“
Jetzt schlägt meine letzte Stunde, schoss es Jamal durch den Kopf.
Tarkans Blick sprach Bände. Er wollte protestieren, war aber zu keinem
Wort fähig und wusste, dass ihm das nichts nützen würde.
Jamal wurden Handschellen angelegt. Tarkan stieß ihn unsanft
hinaus ins Freie, wo ein Fahrzeug des BND bereitstand. Pfeiffer setzte sich
ans Steuer, Tarkan mit Jamal in den Fond. Pfeiffer fuhr in Richtung
Kiellinie. Ein warmer Regenschauer trommelte gleichförmig auf das
Autodach. Die Luft war frisch und roch nach Sommer. Wasserdampf stieg
vom erhitzten Asphalt auf.
Pfeiffer beobachtete seinen Gefangenen durch den Rückspiegel.
„Dachtest wohl, du könntest uns entkommen, hm? Aber so einfach ist das
nicht“, sagte er boshaft.
„Wohin bringen Sie mich?“
„Das wirst du schon sehen“, sagte Tarkan mit tiefer Stimme in einem
guten Deutsch.
Jamal musste alles auf eine Karte setzen. Er hatte nichts mehr zu
verlieren. „Ich habe Ihnen in Afghanistan zugehört. Sie wissen so gut wie
ich, dass ich kein Terrorist bin. Was steckt hinter Ihrer Stiftung? Was
vertuschen Sie damit?“
Pfeiffer lachte. „Hör ihn dir an, Tarkan. Kein Terrorist. Was für ein
Witzbold. Jamal Akbar, über dich gibt es eine lange Akte. Du bist ein
Terrorist. Gut, du wusstest das bis jetzt vielleicht noch nicht. Aber deshalb
sage ich es dir ja.“
„Was haben Sie mit mir vor? Soll ich in irgendeiner Zelle
verrecken?“
Tarkan lachte gehässig. „Verrecken trifft es ganz gut. Aber nicht in
einer Zelle.“ Auch Pfeiffer lachte dreckig.
Jamal sah nach draußen. Sie fuhren durch ein kleines Wäldchen auf
Höhe des großen Hotels, kurz oberhalb der Kiellinie. Seine Trumpfkarte.
Das Überraschungsmoment. „Hören Sie, ich muss dringend zur Toilette!
Die ganze Zeit schon.“
„Das hättest du dir vorher überlegen müssen.“
„Es ist, weil ich Angst habe. Ich mache mir gleich in die Hose!“
„Blödsinn.“
Jamal zwang sich zur Konzentration. Er schaffte es, ein wenig Urin
herauszupressen. Seine Hose verfärbte sich dunkel. Tarkan fluchte laut auf.
„So eine ekelhafte Schweinerei! Der Kerl macht sich tatsächlich in die
Hose!“
„Widerlich“, stimmte Pfeiffer zu und fuhr rechts ran.
Tarkan löste Jamals Handschellen, sprang aus dem Wagen und zerrte
ihn unsanft aus dem Fond. Er wies mit dem Kopf auf einen Baum. „Beeil
dich, sonst erledige ich dich gleich hier.“
Jamal verschwand hinter dem Baum. Blitzschnell analysierte er die
Situation, getrieben von einem unbändigen Überlebenswillen und den
Gedanken an seine Familie und Hauke. Hinter ihm verlief ein Waldweg,
über den just in diesem Moment ein Pärchen schlenderte, einen
Kinderwagen vor sich her schiebend. Die Entfernung zur Kiellinie betrug
zweihundert Meter. Nach dem kurzen Schauer flanierten dort schon wieder
viele Leute.
Sobald ihn Pfeiffer und Tarkan aus der Stadt gebracht hatten, war er
verloren. Wie weit würden sie gehen? Würde ein Agent des BND inmitten
einer Menschenmenge um sich schießen?
Jamal atmete tief durch, bückte sich und hob etwas auf. „Fertig“, rief
er und trat aus dem Schatten des Baumes. Tarkan war sich seiner
Überlegenheit scheinbar so bewusst, dass er gar nicht auf Jamal achtete,
sondern nur „das wurde auch Zeit“ brummte, den Türgriff schon in der
Hand.
Das war der entscheidende Moment. Der einzige Moment.
Jamal überwand die restlichen drei Meter mit zwei Riesenschritten,
holte aus und schlug den kleinen, aber dicken Ast, der, Allah sei Dank,
neben dem Baum gelegen hatte, mit voller Wucht gegen Tarkans
Schienbein. Der Hüne ging mit einem Aufschrei zu Boden. Ehe Pfeiffer
realisiert hatte, was geschehen war, dass überhaupt etwas geschehen war,
rannte Jamal auch schon los, zielstrebig auf die Ostsee zu.
Als Tarkan sich aufrappelte, hatte sich Jamal schon unter die Leute
auf der Promenade gemischt. Was es dort nicht gab, war Deckung. Er sah,
wie Tarkan auf den Beifahrersitz kroch. Pfeiffer wollte anfahren, doch von
oben kamen drei Fahrzeuge angeschossen. Pfeiffer musste warten.
Wertvolle Sekunden. Jamal erblickte ein Schiff, das genau auf ihn zuhielt.
Er begriff, dass er sich auf einem Anleger befand, auf dem viele Menschen
standen. Das musste eine Fähre sein. Er sprintete zum Ende des Anlegers.
Die Fähre beendete soeben das Anlegemanöver.
Jamal drängte sich mit einigen Entschuldigungen durch die Schlange
der Fahrgäste, die auf das Schiff wollten. Seine einzige Chance bestand
darin, dass seine Verfolger nicht mitbekamen, was er vorhatte. Er betrat
den Steg auf das Schiff. Dort stand ein Matrose, der ihn bat, zu bezahlen.
Jamal kramte in seinen Hosentaschen. Er fand einen zehn-Euro-Schein.
Den hatte die Polizei anscheinend übersehen, als sie ihn durchsucht hatte.
Welch ein Glück im Unglück.
„Wohin fährt das Schiff?“, fragte Jamal.
„Nach Laboe“, antwortete der Matrose.
Laboe, was für ein Glück! So viele Zufälle konnte es doch gar nicht
geben. Allah wollte, dass Jamal Akbar weiterlebte. Weil er eine Mission
zu erfüllen hatte.
Er ging an Bord und beobachtete die Kiellinie aus dem Innenraum
der Fähre. Der Wagen des BND fuhr im Schritttempo an der Promenade
entlang. In Richtung des Marinehafens. Und damit in die falsche Richtung.
Das schien auch Pfeiffer begriffen zu haben, denn jetzt wendete der
Wagen.
Zu spät. Die Fähre legte ab.
Er war an Bord eines Schiffes in der Ostsee. Seinen Verfolgern in
letzter Not entkommen. Aber was kam jetzt? Er war ein international
gesuchter Terrorist ohne gültige Papiere und ohne Schlüssel. Das hatte ihm
die Polizei abgenommen und Pfeiffer gegeben. Jamal dankte Allah für
seine Eingebung, den Zweitschlüssel unter einem Blumentopf deponiert zu
haben. So konnte er wenigstens in seine Wohnung. Dort musste er
entscheiden, ob er es riskieren konnte, mit dem Reserveschlüssel den
Wagen zu holen. Eines war jedenfalls klar: Ab jetzt musste er sich
unsichtbar machen und den Kontakt zu seiner Familie bis auf Weiteres
einstellen.
Kapitel 36
Pentagon, Oktober 2016
General Moore betrachtete mit seinen Einsatzleitern auf einer Weltkarte
des Pentagon-Programms die Positionen der Atom-U-Boote. Offiziell, um
die Planungen für das Jahr 2017 abzuschließen. Er teilte seinen
Untergebenen mit, dass er lange mit Präsident Turner gesprochen hatte.
Die aktuelle weltpolitische Situation, die wachsende Bedrohung durch die
GESA, das Gemetzel Russlands in Aleppo und Präsident Kowaljows harter
Kurs in der Ukrainefrage erforderten aus militärischer Sicht erhöhte
Aufmerksamkeit. Er erklärte, dass er deshalb ein anspruchsvolles Manöver
mit Auftauch- und Absinkübungen plane, als Vorbereitung auf einen
Ernstfall.
Bei Ernstfall zuckten einige Einsatzleiter zusammen. Doch Moore
lächelte und ergänzte, dass es sich nur um eine theoretische Frage
handelte. Denn entgegen des offiziellen Statements ging es nicht darum,
den Ernstfall zu proben, sondern darum, zu testen, wie sich die
Kommandanten und Besatzungen unter Stress verhielten. Und mehr Stress
als einen Ernstfall gab es nicht. Das war der kritische Moment. Seine
Einsatzleiter waren erfahren und intelligent. Sie mussten ihm die Sache
mit dem Stresstest abkaufen. Sie mussten ihm blind vertrauen.
Während er mit ihnen Routen und Positionen festlegte, verteilte er
die Boote im Sinne von AURORA gedanklich ganz anders. Wenn Heathers
Hacker so gut war, wie sie sagte, konnte Moore das Pentagon-Programm
austricksen. Der Hacker hatte diverse Vorstrafen. Er war skrupellos,
käuflich und diskret. Genau der Typ Söldner, den man für solche Aufgaben
brauchte. Keine Fragen, keine Diskussionen. Leistung gegen Geld. Viel
Leistung gegen viel Geld.
Nach diesem überflüssigen Meeting, das allein der Beruhigung
seiner Einsatzleiter und des Präsidenten diente, war er mit Heather
verabredet, die ihm nach ihrem letzten Treffen mit Jimmy, dem Hacker,
mitgeteilt hatte, dass das Pferd bereitstand. Damit meinte sie Jimmys
Trojaner, den Moore auch Flottenadmiral Tschechow zukommen lassen
musste, wenn das Pferd in die gewünschte Richtung lief. Das würden die
Probeläufe zeigen, die nicht nur dazu dienten, zu prüfen, wie trojanisch
das Tool tatsächlich war, sondern auch, um es sicher zu beherrschen. Denn
eines war ab Phase eins strikt untersagt: Fehler.
Die Einsatzleiter diskutierten, welches Boot warum für welche
Region geeignet war. Welcher Kommandant hatte die größte Erfahrung
und konnte in besonders gefährliche Gewässer geschickt werden? Sie
machten Vorschläge und sahen Moore fragend an.
Ihn langweilte diese sinnlose Diskussion. Zeitverschwendung.
Selbstdarsteller, die nach seiner Gunst hechelten. Er gewährte sie ihnen
gnädig, lächelte, klopfte Schultern, stellte Beförderungen in Aussicht. Nur
der Einladung eines Einsatzleiters zum Diner, selbstverständlich mit
Gattin, folgte er nicht. Wegen der Dringlichkeit der Probleme. Aber
aufgeschoben sei ja nicht aufgehoben.
Lautes Lachen. Moore war sich gar nicht bewusst, einen Scherz
gemacht zu haben. Und nach Scherzen stand ihm auch gar nicht der Sinn.
Wie ihn dieses Gehabe, diese Egozentrik anwiderte. Sie hatten ihrem Land
Treue geschworen, dachten aber nur an ihr eigenes unbedeutendes Ego.
Ein opulentes Abendessen, guter Wein, lachende Ehefrauen, erlesene
Whiskeys und Zigarren. Mit dem Ziel, den Vorgesetzten zu beeindrucken
und die Karriereleiter weiter emporzusteigen. Abscheulich.
Und, Herr General, wie weit ist Ihre Personalplanung denn schon
vorangeschritten? Immer dieselbe Leier. Wenn diese Idioten wüssten, wie
weit seine Personalplanung tatsächlich vorangeschritten war! Dann
würden sie begreifen, wie nutzlos ihr Dasein war.
Nach einer endlosen Stunde war es endlich vorbei. Eine Stunde, die
Moore so vorkam, als habe er die Hälfte seines Lebens im Abgrund der
Bedeutungslosigkeit verloren. Die Einsatzleiter gingen nach Hause, in der
Überzeugung, den besten Einsatzplan aller Zeiten entwickelt zu haben und
es noch weit zu bringen. Weil sie den General of the Armies beeindruckt
hatten. Zuhause warteten Frauen auf sie, die nur deshalb auf sie warteten,
weil sie hochrangige Offiziere waren. Nicht der Mann machte diese
Frauen an, sondern seine Uniform.
Moore blickte auf seine Uhr. Ihm blieben noch zwanzig Minuten bis
zu seinem Treffen mit Heather. Einem Treffen mit einem Menschen, der
anders war als seine gesichtslosen Offiziere. Und bei ihm zuhause wartete
keine Frau auf eine Uniform, sondern ein Mensch, der ihn so liebte, wie er
war. Eine Frau, die es verdiente, Teil der Neuen Welt zu sein. Und Kinder,
die schon nach den Regeln und Werten der Neuen Welt erzogen wurden. Er
nutzte die Zeit bis zu seiner Verabredung, um sich in seinem Büro zu
sammeln und einen Cognac zu trinken.
Dann machte er sich auf den Weg.
Heather saß auf einer Bank in einem Park. Er kam in zivil, um nicht
aufzufallen. Der Park war belebt. Sie wirkten wie eines von vielen Paaren.
Aber sie waren kein Paar. Sie verband etwa anderes. Auf einer anderen
Ebene. Einer höheren Ebene.
„Wie ist es gelaufen?“, fragte Heather, „haben deine Einsatzleiter dir
die Geschichte mit dem Auftauch- und Absinkmanöver abgenommen?“
Moore schnaubte verächtlich durch die Nase. „Diese Wichte würden
mir alles glauben. Nur, um bei mir möglichst hoch im Kurs zu stehen.
Wenn ich behaupten würde, dass Wasser bergauf fließt, würden sie mir
zustimmen. Natürlich haben sie mir geglaubt. Und so ungewöhnlich ist
dieses Manöver gar nicht. Viel entscheidender ist die Frage, was du
erreicht hast.“
Heather schnalzte mit der Zunge und klopfte auf ihre Handtasche.
„Wenn das kleine Ding in meiner Tasche das kann, was Jimmy behauptet,
könnte es zu einer der bedeutendsten Waffen für AURORA werden.“
„Hat euch jemand gesehen?“
„Natürlich nicht. Jimmy ist die Diskretion in Person. Er weiß, dass
er nur so zu seinem Geld kommt. Und er weiß, dass er eine Indiskretion
nicht überleben würde.“
„Hast du ihm die zweihunderttausend gegeben?“
Heather nickte. „Und nochmal zweihundert, wenn die Testläufe
erfolgreich waren.“
„Und er weiß, dass weder Mitja noch ich EDV-Profis sind? Ist sein
Tool anwenderfreundlich?“
„Kinderleicht. Er hat es mir auf seinem Laptop vorgeführt. Selbst ich
könnte das. Und ich habe noch weniger Ahnung als du. Das Programm
erklärt sich von selbst. Die Krux besteht darin, dass du es schaffst, es
unbemerkt auf dem Hauptserver des Pentagon zu installieren. Dasselbe
gilt für den Kreml. Den Rest erledigt das Programm für euch. Jimmy hat
das Tool um diverse Extras erweitert. Eines hat er „Triple-Hacker-Wham!“
getauft. Es sorgt dafür, dass die Spuren dahin führen, wo wir sie haben
wollen. Darum musst Du Dich nicht kümmern. Das macht das Tool von
selbst. Yefrem sollte aber dafür sorgen, dass es einen Pfad in Damaskus
zugewiesen bekommt. Das wäre am sichersten. Wenn nicht, werden die
Spuren trotzdem nach Syrien führen. Jimmys Programm ist wie ein Geist.
Du brauchst nur deinen Laptop und kannst von jedem Ort der Welt aus
arbeiten.“
„Aber wie soll das gehen? Sowohl im Pentagon als auch im Kreml
gibt es Sicherheitssysteme. Daran haben sich schon andere die Zähne
ausgebissen.“
„Systeme, die Jimmy aber schon einmal gehackt hat! Dafür hat er ja
auch gesessen.“
„Genau das macht mich skeptisch. Er ist geschnappt worden. Also ist
er nicht so gut, wie er behauptet. Außerdem gibt es dann eine Akte über
ihn.“
Heather grinste. „Das habe ich auch gesagt. Aber Jimmy hat nur
gelacht, und gefragt, ob ich ihn wirklich für so bescheuert halte. Er hat die
Systeme diverser Behörden und Konzerne gehackt. Es ging ihm aber nicht
darum, Schaden anzurichten oder irgendwas zu stehlen. Er wollte nur
deren Systeme kennenlernen. Das waren Versuchsballons. Tests, mit denen
er später viel anfangen kann. Es war ihm egal, aufzufliegen und für eine
Weile in den Knast zu wandern. Im Gegenteil. Dadurch, dass das Pentagon
ihn gefunden hat, konnte er umgekehrt weitere Informationen über deren
System ausspähen. Ohne, dass die irgendetwas davon mitbekommen
hätten. Aber bitte frag mich nicht nach Details. Ich habe wirklich keine
Ahnung davon.“
„Und was hat es mit diesem „Triple-Hacker-Wham!“ auf sich?“
„Ich weiß nicht genau, wie das funktioniert. Ich habe aber das
verstanden, was für uns wichtig ist: Die Spuren werden zu deinem Laptop
führen. Das ist nicht zu verhindern. Von da aus werden sie aber auf dem
Umweg über Adams Island nach Syrien führen. Also sozusagen ein
dreifaches Hacken. Du ziehst das Programm ganz easy auf deinen Rechner.
Sobald es da drauf ist, vernetzt es sich mit unserem Server auf Adams
Island. Von da aus gelangt es auf einen Server in Damaskus. Das hat
irgendwas mit den IP-Adressen zu tun. Im Ergebnis entsteht der Eindruck,
dass das Schadprogamm nicht unmittelbar von deinem Rechner
gekommen ist, sondern aus Damaskus. Und unser Server in der Zentrale
kann da irgendwas verschleiern.“
„Okay, und was muss ich jetzt machen?“
„Jimmy hat dir Anweisungen aufgeschrieben. Mit zehn
verschiedenen Kugelschreiben, die er irgendwo hat mitgehen und danach
auf dem Grund des Meeres verschwinden lassen. Wie du siehst, denkt er
mit. Du gehst in dein Büro, steckst den BadUSB-Stick in deinen Rechner
und folgst Jimmys Anweisungen. Er meinte, dass du keine zehn Minuten
dafür brauchst. Den Rechner solltest du noch eine Weile laufen lassen,
damit das Zusatztool seine Arbeit machen kann. Danach sollst du den
Zettel vernichten. Den Stick kannst du Mitja beim nächsten Treffen
mitgeben.“
Heather kramte in ihrer Handtasche und streckte David eine
Schachtel Hershey's entgegen. „Greif zu. Nimm den ganz rechts. Darin
findest du den Stick. Iss ein Hershey's und lass den Stick in deiner
Jackentasche verschwinden.“
***
David Moore wartete in seinem Büro, bis alle Mitarbeiter gegangen waren.
Erst dann traute er sich, den USB-Stick in einen Port zu schieben. Er war
zwar abgebrüht, doch der Umgang mit einer ihm fremden Materie
verunsicherte ihn. Aber Jimmy erwies sich als exzellent. Der Stick war mit
einem Notizzettel mit Anweisungen und Informationen umwickelt.
Er las zunächst die Informationen. Wenn das alles stimmte, war
Jimmy in der Tat ein Genie und jeden Dollar wert. Auch wenn ihm das
Geld nicht mehr viel nützte. Moore musste innerlich grinsen, wenn er
daran dachte, was für eitle und bestechliche Menschen AURORA schon
für viel Geld geholfen hatten, ohne zu ahnen, dass sie sich damit ihr
eigenes Grab schaufelten. Jimmy war bestimmt ein netter Kerl. Aber für
Geld machte er alles. Dafür würde er sogar seine eigene Mutter verraten.
Grund genug, ihn zu verachten.
Sobald der Stick in Moores Rechner steckte, übertrug sich das
Programm in den Ordner Program Files. Mittels einiger Befehle musste
Moore dafür sorgen, dass es über Umwege den Server befiel. Wenn das
erledigt war, musste er den Stick in seinen eigenen Laptop stecken und per
Hand eine Datei öffnen. Das war, wie Jimmy verständlich erklärte, das
Kontrolltool. Damit konnte Moore die gesamte U-Boot-Flotte der USA
kontrollieren. Weder Schad- noch Kontrolltool waren nach außen sichtbar.
Sie aktivierten sich erst, wenn Moore einen Befehl auf seinem Laptop
eingab. Ab diesem Moment konnte er, und nur er, die tatsächlichen
Positionen und Routen aller U-Boote verfolgen.
Und nicht nur verfolgen.
Er konnte die U-Boote damit fernsteuern. Indem er ihnen
Koordinaten vorgab und sie zu ihrem jeweiligen Ziel schickte. Absolut
flexibel. Auf den Rechnern des Pentagon waren hingegen nur die
offiziellen Positionen zu sehen.
Das Tool speicherte die offiziellen Erkennungssignale und Routen
eines jeden Bootes und gaukelte dem Zentralrechner genau diese Daten
vor, während Moore im Hintergrund und von jedem beliebigen Ort aus die
Boote hinschicken konnte, wohin er wollte. Sobald er einen passenden
Befehl eingab, aktivierte sich das Programm und gab den Befehl an das
jeweilige U-Boot weiter, das dem Kurs automatisch folgte. Danach
schaltete sich das Programm wieder in einen Ruhemodus, in dem es selbst
für die besten Experten kaum zu erkennen war.
Nur wenn Moore auf ein U-Boot zugriff, war Jimmys Programm für
kurze Zeit sichtbar. Und das auch nur, wenn jemand genau hinsah, und
zwar mit der Absicht, ein solches Programm zu entdecken. Das Programm
war selbst im aktiven Modus nahezu unsichtbar. Wie ein
Tarnkappenbomber, dachte Moore.
Er steckte den Stick in einen USB-Port und ließ Jimmys Programm
annähernd in Lichtgeschwindigkeit den Zentralrechner des Pentagon
befallen. Der erste, der wichtigste, Schritt, war damit bereits getan.
An den kommenden Tagen würde er ein paar Boote ihren aktuellen
Kurs ändern lassen. Nur ein bisschen, damit die Spezialisten des Pentagon
im schlimmsten Fall an einen Programmfehler dachten. Wenn die
Kursänderungen nur auf seinem Laptop zu sehen waren, nicht aber auf den
Pentagon-Rechnern, hatte Jimmys Programm den Test bestanden. Der
Stick musste dann noch zu Tschechow und danach vernichtet werden. Im
Anschluss würde sich das Programm im Pentagon ebenso wie im Kreml in
den Ruhemodus schalten. Und warten. Warten, bis jemand ein paar Tasten
auf einem unscheinbaren Laptop drückte.
Kapitel 37
Adams Island, Januar 2017
General Moore verfolgte mit gemischten Gefühlen, wie sich Rebecca vor
der riesigen Weltkarte aufbaute. Er fragte sich, wie lange sein Geheimnis
noch ein wohlgehütetes bleiben würde. Er ahnte, was Rebecca sagen
würde. Und nur er kannte ihre wahren Motive.
„Es ist soweit“, begann sie. „So wie wir es im vergangenen Jahr
beschlossen haben, sollten wir als Intro Chaos stiften. Die Anschläge der
letzten Zeit, das humanitäre Desaster in Syrien, die nicht enden wollenden
Flüchtlingsströme belegen, wie sehr sich die Situation zuspitzt und die
Verunsicherung wächst. Die Geister, die die Supermächte riefen. Wer will
schon nachweisen, auf welchen Wegen sie gekommen sind? Überall
menschliche Abgründe, Hass, Arroganz und Gier. Mich überkommt ein
Gefühl des Ekels.“
Heather nickte zustimmend. „Da hast du recht. Aber dafür haben wir
AURORA erschaffen. Oder besser gesagt dagegen. Spielst du auf
Anschläge auf die Symbole westlicher Macht an?“
„Natürlich. Was könnte mehr von uns ablenken, als die
Konzentration der Welt auf die Achse des Bösen? Auf die GESA, die uns in
die Karten spielt, ohne es zu ahnen.“
„Was wahrhaft ein Ausdruck von überragender Intelligenz ist.“
„Du sagst es. Der Sieg der Intelligenz.“
Doch Richard Armstrong hatte Zweifel. „Wenn wir jetzt Gewalt
säen, es uns aber nicht gelingt, die Spuren zur GESA zu legen, werden wir
zu früh enttarnt und ernten Verfolgung. Das könnte das Aus für AURORA
bedeuten!“
„Es geht doch nicht um Gewalt! Ich spreche von Angriffen auf die
Symbole des Westens.“
„Das geht nicht ohne Opfer. Und das Risiko, dass wir die Spuren
nicht zur GESA legen können, ist groß.“
Rebecca schüttelte den Kopf. „Und wenn schon. Angesichts der
jüngsten Entwicklungen würde die GESA für die Anschläge verantwortlich
gemacht. In gewisser Weise wäre das ja sogar zutreffend. Außerdem wird
sich die GESA zu den Anschlägen bekennen, um sich damit zu brüsten.“
„Ein wahrhaft perfides Gedankenspiel“, bemerkte Armstrong
anerkennend. „Das könnte funktionieren. Ich denke, nach den sexuellen
Übergriffen von Flüchtlingen auf europäische Frauen, nach Angriffen auf
Polizei und Sicherheitsbehörden, droht die Stimmung in der Bevölkerung
zu kippen. Die Politiker sind verunsichert. Wenn wir jetzt auch noch
solche Anschläge initiieren und die Spuren genau dahin legen, woher die
Flüchtlinge kommen, wird die Welt nur noch in den Nahen Osten schauen.
Niemand wird sich um uns kümmern. Das ist genial.“
„Und würde sich nahtlos in AURORA einfügen“, bemerkte Moore.
„Es ist schon amüsant, zu sehen, mit welcher Naivität Europa, allen voran
Deutschland, der Flüchtlingskrise begegnet. Dieses Integrationsgeschwafel
zeugt von Verblendung oder Intelligenzmangel. Oder von beidem. Als ob
sich eine islamische Kultur in eine europäische integrieren ließe. Und wir
haben es jetzt leicht, uns das zunutze zu machen. Ein Hoch auf AURORA!“
„Gut, dass du das angesprochen hast“, sagte Rebecca, deren Stimme
vor Zorn bebte. „Dieses dreckige Pack, das Frauen wie Freiwild benutzt
und vergewaltigt, muss vernichtet werden! Ebenso wie die, die
weggucken. Aber vielleicht gucken die Leute auch gar nicht weg, sondern
geilen sich auch noch daran auf. Eigentlich ist AURORA noch viel zu
gnädig für diesen Abschaum. Man müsste sie öffentlich nackt anketten
und ihnen die Eier abschneiden. Sie sollen schön langsam ausbluten. Und
bis der Tod diesen Dreck erlöst hat, soll jede Frau an ihnen vorübergehen,
ihnen ins Gesicht spucken und in ihr blutiges Fleisch treten. Das wäre eine
gerechte Strafe!“
Es wurde still in dem Raum. Rebeccas Ausbruch hatte den Circle
erschüttert. Nicht nur wegen der Dinge, die sie gesagt hatte, sondern vor
allem wegen ihres Hasses. Sie stand dort mit hochrotem Kopf, ein irrer
Blick, sie zitterte, hatte jegliche Contenance verloren.
Und nur Moore wusste, warum. Er konnte sie sogar verstehen. Er
wusste, wo sie mit ihren Gedanken war. Sie lag wieder im Sand, irgendein
stinkender Soldat auf und in ihr. Sie war nicht im Hier und Jetzt. Das war
ein kritischer Moment, der jederzeit eskalieren konnte. Er musste Rebecca
in die Gegenwart zurückholen.
Er stand auf, nahm sie in den Arm und flüsterte ihr etwas ins Ohr.
Dann wandte er sich dem Publikum zu und sagte mit ruhiger Stimme:
„Wir sind uns alle einig, dass der Dreck, der Frauen vergewaltigt, kein
Recht hat, zu leben. Ich verstehe Rebecca. Jede Frau muss so fühlen. Denn
jede Frau lebt doch inzwischen mit der Angst, von einer Horde Araber
belästigt oder vergewaltigt zu werden. Wir verachten diese Menschen.
Aber wir verachten genauso die Gutmenschen, weil sie der Nagel zum
Sarg unserer Welt sind. Umso mehr müssen wir uns auf AURORA
konzentrieren! Denn AURORA wird diese Probleme lösen. Ich stimme
Rebecca zu, dass wir die Gunst der Stunde nutzen und den Hass des
Westens noch mehr auf den Nahen Osten richten sollten. Lasst uns die
Symbole des Westens angreifen. Ich habe dafür auch ein nettes Extra.“
Moore nahm Rebecca in den Arm und ging mit ihr von der Bühne.
Im Gehen wandte er sich abu Tarik zu. „Wie viele Schläfer hast du seit
damals in Europa eingeschleust, Yefrem?“
Abu Tarik wiegte nachdenklich den Kopf hin und her. „An die
hundert. Das Problem ist, dass wir für so große Ziele viel Sprengstoff
brauchen. Und wir müssen sicherstellen, dass die Materialien zum
richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort sind. Darin sehe ich eine gewisse
Gefahr, dass wir auffliegen. Sollen wir das Risiko wirklich eingehen? In
wenigen Wochen startet Wave. Ich bin der Meinung, das reicht und ist früh
genug.“
„Wer sagt, dass die Angriffe erfolgreich sein müssen?“, beharrte
Rebecca, die sich immer noch nicht beruhigt hatte. „Es geht nur um
Verwirrung und Ablenkung. Und um Spuren zur GESA.“
„Da ist was dran“, überlegte abu Tarik. „Du meinst, dass der
Eiffelturm gar keinen großen Schaden nehmen muss, sondern es reicht,
einen Anschlag darauf zu verüben? Weil der Erfolg nicht in den Schäden
liegt, sondern in der Symbolträchtigkeit des Ziels.“
„Das meine ich. Heute genauso wie damals. Wie wird die Allianz
gegen den islamistischen Terror darauf reagieren? Der Eiffelturm ist ein
gutes Beispiel. Ein großartiges Symbol Frankreichs und ganz Europas! So
ein Bauwerk steht für die Leistungen und Errungenschaften eines ganzen
Systems. Schon der Angriff an sich wird den Zorn des Westens schüren.
Die GESA steht unter Generalverdacht. Und sie wird die Verantwortung
übernehmen. Und kurz darauf trifft Wave die USA und Europa. Und wieder
wird man die Schuldigen bei der GESA suchen. Es wird ein nie
dagewesenes Chaos geben. Und wenig später fällt Ice im wahrsten Sinne
des Wortes über die Welt her. Lautlos, tödlich, noch mehr Chaos stiftend.
Tja, und wer selbst das überstanden hat...“
Kimberly betrachtete Rebecca nachdenklich. „Wir sind alle der
Überzeugung, dass nur ein Neustart das Überleben der menschlichen Rasse
sichern kann. Aber manchmal frage ich mich, woher dein Hass kommt. Du
scheinst das persönlich zu nehmen.“
„Nein!“, antwortete Rebecca entschieden. „Ich nehme gar nichts
persönlich. Ich mache mir nur jeden Tag Gedanken, wie wir die
Erfolgsaussichten von AURORA erhöhen können. Egal wie.“
Moore beobachtete Rebecca genau. Ihre Mimik, ihre Anspannung,
die Wut in ihren Augen. Er kannte ihre Geschichte besser als sie selbst.
Denn sie hatte keine Ahnung, dass er eine entscheidende Rolle dabei
gespielt hatte. Eine höchst unrühmliche dazu. Aber er hatte keine andere
Wahl gehabt. Er musste doch seine Männer schützen! Und damit sein
Land! Wehe, diese Geschichte wäre an die Öffentlichkeit geraten. Er hatte
Interessen und Auswirkungen gegeneinander abwägen müssen. Es ging
nicht um Recht und Gerechtigkeit! Es ging allein um die Sache. Als ob
Recht und Gerechtigkeit jemals einer Sache gedient hätten.
Entsprach AURORA dem gängigen Verständnis von Recht und
Gerechtigkeit?
Er fühlte sich mit seiner damaligen Entscheidung selbst nicht gut
und litt bis heute darunter. Aber er sagte sich immer wieder: Was
geschehen ist, ist nicht mehr rückgängig zu machen! Jetzt kam es darauf
an, dass Rebecca auch weiterhin unwissend blieb.
„Beruhige dich“, sagte er. „Wir sind doch alle deiner Meinung.
Yefrem, leite bitte das Nötige in die Wege. Aber wir dürfen nicht zu viel
Energie darauf verwenden. Wir müssen uns auf Wave konzentrieren. Und
wir dürfen uns keine Fehler erlauben.“
***
***
Salem, Oregon
General Moore hatte sich vor dem sitzenden Special Agent Chris Walker
aufgebaut und sah auf ihn herab. Special Agent Jake Bishop, der
hünenhafte Schweiger, stand mit grimmigem Blick und verschränkten
Armen daneben. Sein Hemd spannte sich über seinem gewaltigen Bizeps.
„Haben Sie das verstanden, Special Agent Walker?“, fragte Moore in
herrischem Tonfall. Er konnte Wichtigtuer wie diese Superagenten nicht
ausstehen. Schon ihr erster Auftritt war eine Respektlosigkeit
sondergleichen gewesen. Moore hatte sich danach mit einem Freund
getroffen, dem stellvertretenden Direktor des FBI, und sich über den
Auftritt seiner Untergebenen beschwert.
„Ja“, antwortete Walker kleinlaut. „Wir begleiten Miss Chaplin nach
New York und weichen nicht von ihrer Seite. Wir sind mindestens eine
Woche unterwegs. Und wir berichten Ihnen jeden Abend, was sie tagsüber
gemacht hat und wen sie getroffen hat.“
Moore lächelte kalt. Wieder einmal zeigte sich, wie wichtig die
Verbindungen des Circle für AURORA waren. Wohl dem, der einen
hochrangigen Freund beim FBI hatte. Dass Walker ihm nicht traute, blieb
Moore nicht verborgen. Aber das störte ihn nicht. Im Gegenteil, es
amüsierte ihn, dass die Superhelden ihm, dem Sechssternegeneral,
gehorchen mussten.
Er blickte weiter genüsslich auf Walker herab, eine Augenbraue in
die Höhe gezogen. „Sie haben gut aufgepasst, Special Agent Walker.
Genau das ist Ihr Job. Bei Rückfragen oder Unklarheiten wenden Sie sich
an Ihren Vorgesetzten.“
Walker verzog das Gesicht in eindeutiger Manier. Moore bereitete es
Freude, mit anzusehen, wie der Mann seine Gefühle unterdrückte. In ihm
brodelte ein Vulkan. Er würde dem arroganten General am liebsten ins
Gesicht schlagen. Moore setzte noch einen drauf: „Aber ich denke, wir
haben uns auch so verstanden, Special Agent, oder?“
Walkers Kiefer mahlten.
„Special Agent Walker?“ Moores Tonfall sprühte nur so vor
Verachtung.
„Ja, Sir, haben wir!“
„Gut. Dann dürfen Sie jetzt wegtreten.”
Moore blickten den beiden Männern nach. Gute Agenten. Aber nicht
gut genug für den General of the Armies. Er wartete, bis sie die Gebäude
der Stiftung verlassen hatten, dann nahm er seine Jacke vom Haken,
verließ die Zentrale und stieg in seinen Chrysler, um zum letzten Treffen
des Circle bei Heather zu fahren. Dann ging es nach Adams Island. Phase
eins stand unmittelbar bevor.
Doch eines war noch zu erledigen, bevor Wave mit der Reinigung des
Planeten begann: der Meilenstein Flughäfen der Phase zwei, Ice. Wenn
Wave das Ende der Zivilisation einläutete, war Ice schon angelaufen.
Lautlos, im Hintergrund und absolut tödlich. Was für ein Zeitplan! Und
dann hieß es Abschied nehmen. Ein Abschied ohne Wiederkehr. Abschied
von der Heimat. Abschied von Freunden und Bekannten. Abschied von
einem überkommenen Leben. Und Aufbruch in ein neues Leben. Ein
großartiges Leben.
***
„Hoffentlich kommt Riley mit Emma Chaplin zurück in die USA“, sagte
Heather. Sie wurde von Woche zu Woche nervöser. Moore sah in ihr ein
Sicherheitsrisiko, wusste aber, dass sie ihm genug vertraute, um ruhig zu
bleiben. Die taffe Unternehmerin zeigte bei AURORA ein anderes,
ängstliches Gesicht. Moore war für sie eine Art Vaterfigur. Er strahlte
Ruhe und Souveränität aus. Und konnte sich gut in die junge Frau
hineinversetzen.
„Das wäre gut“, stimmte er ihr zu, „aber ich denke, der wird weiter
im Pazifik rumfahren und seine Familie suchen.“
„Aber das wäre eine Katastrophe!“, rief Heather besorgt. „Dann
besteht das Risiko, dass wir auffliegen und im Gefängnis landen.
Lebenslang statt Neuer Welt.“
Moore lächelte sanft. „Keine Sorge, der findet uns nicht. Und wenn
doch, was sollte dann passieren? Er findet unsere Zentrale, aber nur die
obere Ebene. Und seinen Vater, der ihm vor Glück um den Hals fällt, weil
er seine großartige Arbeit endlich auch dem verlorenen Sohn präsentieren
kann. Dass unsere Zentrale auf einer einsamen Insel liegt, ist nicht
verdächtig. Unsere Statuten verlangen absolute Geheimhaltung. Wo ginge
das besser als auf einem Eiland wie Adams Island? Und die zweite Ebene
ist für Riley unsichtbar.“
„Und wenn Riley Schwierigkeiten macht, kümmert sich Tarkan um
ihn“, schlug Rebecca vor.
„Das glaube ich nicht“, wandte Yefrem abu Tarik ein.
Die anderen sahen ihn fragend an.
„Tarkan ist gescheitert“, erklärte Yefrem. „Und ehe ihr fragt, ja, er
hat Sibirien gut gemanagt. Und ja, er hat den von ihm erwarteten Erfolg
erzielt. Aber er hat auf anderer Ebene versagt. Aber damit müsst ihr euch
nicht belasten. Das ist meine Angelegenheit.“
„Inwiefern ist Tarkan gescheitert?“, fragte Moore ungläubig, der von
den außergewöhnlichen Qualitäten dieses Mannes überzeugt war.
Abu Tarik schüttelte den Kopf. „Es geht um seine Unbeherrschtheit.
Aber er ist mein Untergebener und damit meine Angelegenheit. Können
wir es bitte dabei belassen?“
Moore nickte. „Selbstverständlich.“
„Was ist eigentlich mit diesem Afghanen, diesem..., wie hieß der
noch gleich...“, sinnierte Heather mit gerunzelter Stirn, „ich komme nicht
auf seinen Namen. Hat Pfeiffer ihn ausgeschaltet?“
„Du meinst Jamal Akbar“, sagte Yefrem.
„Ja, genau!“
„Nein, leider nicht“, sagte Moore bedauernd. „Der ist Pfeiffer und
Tarkan entkommen. Sie haben eine Weile nach ihm gefahndet, die Suche
dann aber eingestellt. Es ist dasselbe wie mit Riley. Beide haben eine vage
Ahnung, dass AURORA nicht das ist, was sie vorgibt zu sein. Aber beide
stellen keine ernstzunehmende Gefahr dar. Das sind Nobodys. Da wendet
sich dieser Akbar an die deutsche Polizei. Und was macht die? Informiert
den BND. Ich denke, diesen Spinner können wir vergessen.“
„Und was ist mit der Familie dieses Unternehmers, Hanke Peters?“
Moore lächelte. Heathers Namensgedächtnis zählte nicht zu ihren
Stärken. „Hauke Petersen. Dessen Familie hat nichts mit der Sache zu tun.
Im Nachhinein bin ich betrübt, dass wir Petersen ausgeschaltet haben. Der
Mann hatte nicht genügend Einfluss, um uns zu schaden. Dazu wäre einzig
der Staatssekretär im Finanzministerium in der Lage gewesen. Ihn
mussten wir liquidieren. Aber nicht Petersen. Das war ein Fehler.“
„Naja“, bemerkte Rebecca trocken, „auf die paar Monate kommt es
auch nicht an, oder?“
„Rebecca, du bist ein Miststück“, bemerkte O´Connor anerkennend,
„aber jetzt sollten wir uns dringlicheren Fragen zuwenden: Wave. Bist du
sicher, David, dass du die U-Boote fernsteuern kannst? Es darf keine
Pannen geben!“
Moore winkte ab und erklärte, dass Tschechow und er das oft genug
getestet hätten. Das Programm lief reibungs- und fehlerlos und war für das
Pentagon und den Kreml unsichtbar. Eine Rückverfolgbarkeit zu ihnen als
Urheber war unmöglich.
„Okay, kommen wir zu den Phasen zwei und drei. Kimberly, was sagt
dein Mann? Sind das Virus und der Impfstoff valide getestet? Ist genug
von beidem vorhanden? Und“, damit wandte er sich an abu Tarik, „sind
deine GESA-Kämpfer bereit, sich die Spritzen zu setzen und
aufzubrechen?“
„Ja“, antworteten beide wie aus einem Mund.
„Ausgezeichnet. Caldera beginnt wenige Wochen nach Ice. Sobald
die Menschheit begriffen hat, dass sie ein todbringendes Virus befallen
hat.“ O´Connor wandte sich Moore zu. „Befinden sich Mitjas U-Boote in
der Nähe des Einsatzgebietes, David?“
„Derzeit kreuzt nur ein russisches U-Boot vor der
nordamerikanischen Küste. Die Mehrzahl unserer Boote befindet sich vor
den Kanaren. Durch diese Zuteilung, amerikanische Boote für Wave und
russische für Caldera, können wir verhindern, dass jemand nach Wave auf
die Idee kommt, dass gleich zwei Supermächte daran beteiligt waren. Für
den unwahrscheinlichen Fall, dass die Welt unseren Spuren zur GESA
nicht folgen sollte. Die anderen Boote der Russen sind aber in der Nähe
und können binnen eines Tages das Zielgebiet erreichen.“
Rebecca Eliot erhob ihr Glas. „Nun denn, Freunde, lasst uns zum
letzten Mal hier in Salem anstoßen. Den nächsten Champagner gibt es in
der Neuen Welt! Cheers!“
Moore stieß mit Rebecca an. Er dachte an ihren jüngsten Ausbruch
und sah sie wieder im Dreck liegen. Übersät von blauen Flecken und
Schürfwunden. Nach Schweiß, Sperma, Blut und Angst stinkend.
Gedemütigt für den Rest ihres Lebens. Und statt Wiedergutmachung eine
weitere, kaum weniger schlimme Demütigung.
Er hatte sich nach Rebeccas Ausbruch Richard Armstrong anvertraut.
Zu viel Alkohol hatte seine Zunge locker gemacht. Ein Fehler, den er
schon am nächsten Tag bereut hatte. Aber Richard konnte als
Abteilungsleiter der CIA Moores Verhalten am besten nachvollziehen.
Richard hatte ihm versichert, dass er damals als Führungsoffizier richtig
gehandelt hatte. Aber jetzt teilte Moore mit Richard ein zuvor einsames
Wissen. Wehe, der gab es in einem unbedachten Moment an Rebecca
weiter. Dann drohte ein Vulkan auszubrechen, der die Neue Welt
erschüttern konnte.
Moore war so in seine Gedanken versunken gewesen, dass er nicht
mitbekommen hatte, dass Heather ihm ein Glas hingestellt hatte und nach
Rebeccas Trinkspruch aufgestanden und in die Küche gegangen war, um
eine neue Flasche Champagner zu holen. Und ebenso wenig, dass sie ihn
verteilt und darauf hingewiesen hatte, dass dieser Anlass nichts anderes
dulde als Champagner.
„Was ist los mit dir, David?“, fragte sie.
„Sorry“, sagte Moore und erhob sein Glas, „ich war in Gedanken.
Worauf stoßen wir an?“
Heather bedachte ihn mit einem vorwurfsvollen Blick. „Wir trinken
darauf, dass die Zerstörung unserer Umwelt durch den Menschen aufhört.
Wir trinken darauf, dass Hass, Missgunst, Egoismus, Arroganz und Gier,
Krebsgeschwüre wie die GESA, Scheindemokratien nach westlichem
Vorbild, Heuschrecken wie China, für immer von diesem wundervollen
Planeten gefegt werden. Wir trinken auf die Schönheit der Welt. Und
damit trinken wir auf AURORA, auf den Beginn der Neuen Welt. Auf
uns!“
Kapitel 41
Damaskus, Ende April 2017
Tarkan fragte sich auf dem Weg in das Kellergewölbe, warum Yefrem ihn
herbestellt hatte. Wartete ein neuer Auftrag auf ihn? Durfte er wieder
einen Europäer oder Amerikaner foltern? Aber warum hatte ihm Yefrem
das nicht vorher mitgeteilt? Dann hätte er sich optimal darauf vorbereiten
können. Oder wurde er zu einem Treffen der Stiftung gerufen, um eine
neue Mission zu übernehmen? So wie in Sibirien. Eine seiner größten
Meisterleistungen.
Tarkan öffnete die schwere Stahltür zum großen Verhörraum. Als er
über die Schwelle trat, bekam er aus den Augenwinkeln mit, wie von
beiden Seiten Arme nach vorne schnellten. Es folgte ein heftiger Schmerz
in Nacken und Rücken, dann fiel er in Ohnmacht.
Als er wieder aufwachte, war er in dem kalten, sterilen Raum an
einen Metallstuhl gefesselt, an dem das Blut zahlloser Ungläubiger klebte,
die Tarkan einer Behandlung unterzogen hatte. Auf beiden Seiten des
Stuhls stand einer von Yefrems Bodyguards, die Arme vor der Brust
verschränkt. Tarkans Rücken und Nacken schmerzten höllisch. Er
vermutete, dass ihn die Gorillas mit Tasern außer Gefecht gesetzt hatten.
Aber warum?
Er hörte, wie sich die Tür hinter ihm öffnete. Schritte hallten auf
dem Betonboden wider und kamen rasch näher. Im nächsten Augenblick
baute sich Yefrem vor ihm auf.
Entgeistert starrte er ihn an. „Was soll das, Yefrem? Warum hast du
mich auf diesen Stuhl fesseln lassen?“
Yefrem betrachtete ihn eine Weile schweigend aus
zusammengekniffenen Augen. Schließlich spitzte er die Lippen und sagte:
„Weil du versagt hast, Tarkan.“
„Ich habe was?“, fragte Tarkan ungläubig.
„Versagt.“
Er verstand kein Wort, ging in Gedanken alle Aufträge der letzten
Jahre durch. Er hatte jeden einzelnen ausgeführt, und zwar mit großem
Erfolg. Keine Fehler. Keine Spuren. Kein Versagen.
„Ich habe keine Ahnung, wovon du sprichst. Ich habe nicht ein
einziges Mal versagt.“
„Ich spreche davon, dass du die Mission gefährdet hast, Tarkan. Die
ganz große Mission. Die Mission, die über allem steht: AURORA.“
Yefrem sprach ohne erkennbare Emotionen.
Tarkan verstand weiterhin nicht, wovon Yefrem sprach, aber sehr
wohl, was es bedeutete, bei einer Mission zu versagen. Seine Zeit war
gekommen. Allah wartete auf ihn. Aber er wollte wissen, was genau ihm
vorgeworfen wurde.
Yefrem zog seine Pistole und zielte auf Tarkans Kopf. „Du kennst die
Regeln. Mach´s gut, mein Freund.“
„Warum?“, fragte Tarkan nochmals ohne Furcht. „Ich habe meine
Aufträge alle ausgeführt. Konsequent. Ohne irgendeinen Fehler.“
„Doch, du hast Fehler gemacht. Leider.“
„Welche?“
„Du hast Spuren hinterlassen!“
„Was für Spuren?“
„Du konntest dich nicht beherrschen. Wie so oft. Du hast die
russischen Wissenschaftler in Sibirien getötet. Und auf offener Straße drei
Jugendliche zusammengeschlagen. Das hast du mir zwar gebeichtet, aber
du wusstest, dass dir so etwas strikt untersagt war.“
Woher wusste Yefrem von Sibirien? „Ich hatte keine andere Wahl!“
„Man hat immer eine andere Wahl, Tarkan.“
„Aber die Wissenschaftler hätten uns verraten“, protestierte Tarkan,
„außerdem warst du derjenige, der mir unmissverständlich zu verstehen
gegeben hat, dass ich mit absoluter Konsequenz vorgehen soll, um
AURORA zu schützen. Ich dachte, du bist stolz auf mich, weil ich diese
Russen so unauffällig und ohne Spuren zu hinterlassen aus dem Weg
geräumt habe. Sonst wären wir schließlich kaum unbehelligt wieder aus
Russland rausgekommen.“
Yefrem schnaubte verächtlich durch die Nase. „Unauffällig? Hast du
eine Vorstellung, was für Überredungskünste es Tschechow gekostet hat,
den Kreml davon zu überzeugen, dass die Forscher aus Deutschland nichts
mit dem Tod der russischen Wissenschaftler zu tun hatten? Für wie blöd
hältst du die russischen Behörden eigentlich? Diese Wissenschaftler waren
in deren Auftrag unterwegs! Selbstverständlich wurde nach ihrem Tod
ermittelt! Und selbstverständlich wollte die russische Polizei euch
vernehmen. Ohne Tschechow wäre keiner von euch zurückgekommen, du
Idiot! Aber wenn du das einzig Richtige getan und den Russen eure
Genehmigung gezeigt hättest, hätten sie euch für Kollegen gehalten. Du
hast mich schwer enttäuscht, Tarkan. Zu schwer.“
Tarkan schluckte. Das hatte er nicht gewusst. „Aber sie könnten
unsere Waffen gesehen haben! Wir hatten sie dabei.“
„Na und? Ihr ward in einer gefährlichen Mission unterwegs. Da gibt
es Bären, Schlangen, Räuber und was weiß ich noch alles. Du hättest dich
lediglich als Sicherheitsoffizier ausweisen müssen. Niemand hätte
Verdacht geschöpft.“
„Ich wollte die Mission schützen! Wie sollte ich ahnen, dass diese
Leute im ewigen Eis so schnell gefunden werden?“‘
„Ewiges Eis? Blödsinn. Ein bisschen angefrorener Boden, sonst
nichts. Da gibt es Straßen und Ortschaften. Wie kommst du auf die Idee,
dass niemand diese Menschen findet? Du hast AURORA nicht geschützt.
Du hast das Gegenteil erreicht. Und jetzt zahlst du den Preis dafür.“
„Das ist ungerecht! Ich habe immer bedingungslos hinter der Sache
gestanden! Du hast mich auserwählt, AURORA bis zur letzten Phase zu
dienen. Und du weißt, dass ich dir treu ergeben bin. Ich kann noch viele
Aufträge für dich erledigen!“
„Bedingungslos hinter der Sache gestanden? Und deshalb
verprügelst du drei angetrunkene Kinder, nur weil sie ein paar
fremdenfeindliche Sprüche ablassen? Nein, Tarkan, du bist das Problem.
Du bist jähzornig und unbeherrscht. Als ich dich damals von der Straße
geholt und verhindert habe, dass du ein paar harmlose Spinner
abschlachtest, habe ich dir prophezeit, dass dich dein Jähzorn irgendwann
noch umbringen wird, wenn du ihn nicht kontrollieren kannst. Und jetzt ist
es soweit.“
Tarkan wurde wütend. Seine Stimme wurde lauter.
„Fremdenfeindliche Sprüche? Sie haben Allah beleidigt! Ich war
gezwungen, sie zu bestrafen. In Allahs Namen. Das hat nicht das Geringste
mit Jähzorn zu tun. Das weißt du genauso gut wie ich!“
Yefrem deutete ein Nicken an. „Das stimmt. Allah zu beleidigen, ist
ein schweres Verbrechen, das geahndet werden muss. Aber du wusstest,
dass sie ihre gerechte Strafe bald ereilen würde. Und eine viel
grauenvollere dazu. Aber du musstest wieder einmal deinem jämmerlichen
Jähzorn freien Lauf lassen. Das hatte nichts mit Allah zu tun. Armselig,
Tarkan. Wirklich armselig. Ich bin sehr enttäuscht von Dir.“
„Sie hatten es nicht besser verdient“, versuchte Tarkan ein letztes
Mal sich zu verteidigen, wissend, dass das sinnlos war, „und wenn sie viel
später wegen eines Virus qualvoll verenden, bringen sie das nicht mehr mit
ihrem Frevel in Verbindung. Nur meine sofortige Reaktion hat ihnen
gezeigt, warum sie in diesem Moment Schmerzen erleiden mussten.“
Yefrem bestätigte Tarkans Einschätzung der Erfolgsaussichten seiner
Verteidigung: „Genauso wenig wie du, Tarkan. Du hast es auch nicht
besser verdient.“
„In die Hölle mit dir!“
Yefrem spannte den Hahn seines Revolvers. „Nein, Tarkan, in die
Hölle komme ich nicht. Du glaubst doch an Allah. Du glaubst an das
Paradies. An die höchste Stufe direkt zu den Füßen Allahs. Du stirbst als
Heiliger Krieger. Wenn es Allah gibt, bist du bald bei ihm.“
„Was soll das heißen: wenn es Allah gibt?“
Yefrem lachte spöttisch. „Ich glaube nicht an den einen Gott der
Menschen, nicht an Allah, nicht an Jehova. Ebenso wenig glaube ich an
Brahma oder Shiva oder Xian. Ich glaube an das, was ich mit meinen
eigenen Augen sehen und was ich anfassen kann. So wie das hier.“ Er
tätschelte den Lauf seines Revolvers, in dessen Trommel sich sechs
Patronen vom Kaliber 357 Magnum befanden. In wenigen Augenblicken
waren es nur noch drei.
Tarkan schrie. Yefrem lächelte. „Du hast mich belogen. Du hast mich
nur benutzt. Du bist ein Verräter! Du hast Allah verraten! Jahrelang hast du
mich getäuscht. Warum begreife ich das erst jetzt?“
Tarkans Wut schäumte über. Er rüttelte an dem Stuhl, versuchte,
seine Fesseln zu lösen. Yefrem hatte ihn all die Zeit getäuscht, um seine
Treue für seine Zwecke zu missbrauchen. Seit dem Moment, als er den
Streit auf der Straße beendet hatte. Er wollte ihm nicht helfen, sondern ihn
benutzen. Und jetzt brauchte er seinen treuen Gefolgsmann nicht mehr.
„Du wirst in der Hölle schmoren, Yefrem. Denn du hast Allah wahrhaftig
verraten.“
Tarkan versuchte, gegen die Fesseln aufzuspringen. Fast wäre es ihm
sogar gelungen, doch sofort legten sich schwere und kräftige Hände auf
seine Schultern und drückten ihn gewaltsam in den Sitz zurück.
„Warum du das erst jetzt begreifst? Weil du verblendet bist, Tarkan.
So wie die meisten Krieger der GESA. Nicht ich habe dich verraten. Du
hast dich selbst verraten. Ich hingegen habe dich von Anfang an gewarnt.
Du hättest es noch weit bringen können. Du hättest nur auf mich hören
müssen. So muss AURORA ihren Glanz ohne dich entfalten.“
„Du widerliche Ratte!“ Tarkan unternahm einen weiteren Versuch,
aufzuspringen. Doch mit hinter dem Rücken gefesselten Händen und dem
erneuten Druck von zwei kräftigen Händen auf den Schultern blieb das ein
hoffnungsloses Unterfangen.
Yefrem setzte die Mündung der Waffe an Tarkans Stirn auf, der ihm
direkt in die Augen sah. Darin war keinerlei Furcht zu erkennen. Nur
blanker Hass.
„Ich sage andererseits nicht, dass ich recht habe“, sinnierte Yefrem.
„Vielleicht gibt es Allah. Oder Gott. Oder irgendeinen anderen. Oder sie
alle sind ein- und derselbe. Oder wer weiß, vielleicht gibt es sie sogar alle.
Du bist in der wunderbaren Lage, diese Frage gleich klären zu können,
Tarkan. Schade, dass du es mir nicht mehr sagen kannst. Es hätte mich
brennend interessiert.“
Tarkan wollte etwas erwidern, doch in diesem Augenblick zerschnitt
der erste Schuss die Stille in dem alten Kellergewölbe. Die Kugel drang in
Tarkans Stirn ein, zerstörte Teile des Gehirns, und trat zusammen mit Blut
und Hirnmasse am Hinterkopf wieder aus. Tarkan wurde auf seinem Stuhl
nach hinten geschleudert. Yefrem zielte und feuerte die beiden nächsten
Schüsse auf Tarkans Herzregion ab. Die Schüsse hallten in dem
schmucklosen Raum aus Stahl und Beton mehrfach wider. Eine perfekte
Methode des Tötens. Schnell. Effizient. Und todsicher.
Yefrem wandte sich seinen Bodyguards zu, die bei den Schüssen
nicht einmal mit der Wimper gezuckt hatten. „Wo er jetzt wohl ist? Bei
Allah? Oder nirgendwo? Ist er einfach nur tot? Leider kann er uns diese
Frage nicht beantworten. Egal, wir haben ein Problem weniger. Lasst seine
Überreste verschwinden. Aber bitte mit der gebotenen Würde!“
Er sah zu, wie die beiden Männer den leblosen Körper des
hünenhaften Tarkan über den Betonboden zum Ausgang schleiften. Er
hinterließ dabei eine breite Blutspur. Sein zerfetzter Kopf hing schlaff zur
Seite herab. Ein geradezu bizarrer Anblick. Yefrem hasste das. Diese Art
zu töten war zwar effizient. Er machte das immer so. Genauso wie bei
Fatima und ihrer Brut. Aber es machte ihm keinen Spaß. Der Anblick von
Blut und Hirnmasse widerte ihn an. Und oft empfand er sogar Mitleid mit
seinen Opfern. Wie bei Tarkan, dem es viel leichter gefallen war,
Menschenleben auszulöschen. Der dabei sogar Vergnügen empfunden
hatte. Und noch mehr Vergnügen, das Sterben seiner Opfer zu zelebrieren.
Ein wahrhaftiger Künstler hatte die bunte, facettenreiche Bühne des
Tötens vor der Zeit verlassen.
Und nun musste auch er eine Bühne für immer verlassen. Die Bühne
des Geheimdienstes. Damaskus. Syrien. Die Welt vor AURORA. Auf
Adams Island wartete die Neue Welt auf ihn. Die Welt nach AURORA.
Nur eines war vorher noch zu erledigen.
Yanok
„So hat die Apokalypse also ihren Anfang genommen. Die Gedanken von
Menschen unterschiedlicher Herkunft haben AURORA erschaffen. Das
Projekt AURORA, das nicht nur Tod und Trauer gebracht hatte, sondern
auch das letzte Kapitel der Zivilisation einläuten sollte.
Auch wir, die wir nichts mit den Verbrechen und dem Versagen der
Menschheit zu tun hatten, die wir nur friedlich in unserer Welt leben
wollten, wurden von der Apokalypse überrollt.
Die plötzliche Flut hat die Bewohner am Meer und die Touristen
innerhalb von Minuten ausgelöscht. Die Bars wurden förmlich fortgespült,
unser beschauliches Städtchen dem Erdboden gleichgemacht. Von den
Hotels sind nur Ruinen übrig. Wie aus dem Nichts ist das Chaos
gekommen. Und genauso schnell ist es auch wieder gegangen.
Zurückgelassen hat es Tod und Zerstörung.
Doch das war nur AURORAS Anfang! Erst später kam der Sturm
und hat unser Klima zerstört.
Es hatte schon eine Weile gedauert, bis wir begriffen hatten, was
geschehen war. Was wir aber nicht kannten, war die Antwort auf die Frage
nach dem Warum. Das erfuhren wir erst von den Fremden, die nach und
nach den Weg zu uns fanden. Wir lernten und lernen viel von ihnen. Auch,
dass ich vielleicht nicht mehr viel Zeit habe. Wir alle nicht. Was
geschehen ist, ist jenseits des Vorstellbaren. Niemand hätte für möglich
gehalten, dass sich eine solche Katastrophe in der Geschichte der
Menschheit jemals ereignen könnte.
Doch sie ereignete sich. Und sie verschonte niemanden.
Ich empfinde Liebe und Wehmut zugleich, wenn ich sehe, wie sich
Bjanik in die Fluten stürzt. Das Kind hat keine Ahnung, dass sich sein
Leben für immer verändern wird. Ob sich Bjanik den Wellen dann immer
noch so unbeschwert entgegenwirft? Seine letzten Stunden als Kind sind
gezählt. Gerne würde ich noch warten. Wenigstens ein paar Jahre, bis auch
die Jüngeren alt genug sind, um zu verstehen.
Doch ich spüre, dass ich schwächer werde. So, wie die Fremden es
vorausgesagt haben. Mir wird oft schlecht, ich habe Durchfall, bin müde
und manchmal desorientiert. Nicht wegen meines Alters. Ich bin erst
vierzig. Vielen von uns ergeht es so. Wir müssen handeln. Unser Wissen
an unsere Kinder weitergeben.
Ich kann nicht einmal sagen, ob ich den Fremden dankbar sein soll,
weil sie uns erzählt haben, was geschehen ist und unser Volk vielleicht nur
dank ihrer Technik und ihrer Möglichkeiten, in den Rest der Welt
auszuschwärmen, überleben wird. Oder ob ich sie lieber den Haien zum
Fraß vorwerfen würde. Einige von ihnen sind Henker der Apokalypse. Sie
sind Zahnräder in der Untergangsmaschinerie.
All das im Namen eines Gottes? Doch auch das nur Lug und Trug.
Mein Volk hat einen anderen Glauben. Unser Gott ist die Schöpfung. Wir
fühlen uns als ihr demütiger Bestandteil, aber nicht als ihre Krone. Alles
hat eine Seele, nicht nur der Mensch. Auch jedes Tier, jede Pflanze, jeder
Stein. Hier und im ganzen Universum. Ein Leben nach dem Tod gibt es nur
in Form der Einswerdung mit der Schöpfung, auf einer energetischen
Ebene.
Unser Glaube ist tolerant und kennt keine Feindseligkeit. Denn
niemand hat eine Antwort auf alle Fragen. Jeder Glaube könnte die
Wahrheit sein, ein Teil davon oder ein Irrtum.
Vor einigen Tagen ist wieder ein Fremder bei uns gelandet. Der
Russe. Mit einer kleinen Schar an Menschen ist er in dem großen
Unterseeboot gekommen, das ich aus dem Meer habe auftauchen sehen.
Als sie die Insel erreicht hatten, öffneten sich die Luken und Menschen
kamen heraus, zusammen mit vielen großen Kisten. Wichtige Ausrüstung,
wie mir der Russe mit einem bedeutungsvollen Nicken versichert hat.
Und er hat mir erzählt, wie die Apokalypse begann. Von Wave, der
ersten Phase von AURORA. Was an einem weit entfernten Ort geschehen
ist. Einem Ort, der für viele Menschen ein Urlaubsparadies war. So wie
meine Insel. Bis zu jenem verhängnisvollen Tag...“
Phase 1 WAVE
Und so soll kämpfen in Allahs Weg, wer das irdische Leben verkauft für
das Jenseits. Und wer da kämpft in Allahs Weg, falle er oder siege er,
wahrlich dem geben wir gewaltigen Lohn.
Sure 4, Vers 74
Denn siehe, ich will eine Sintflut kommen lassen auf Erden, zu verderben
alles Fleisch, darin Odem des Lebens ist, unter dem Himmel.
Alles, was auf Erden ist, soll untergehen.
1 Buch Mose, 6, 17
Kapitel 42
Adams Island, Anfang Mai 2017
General Moore hatte sich mit seinem Laptop in seine Suite
zurückgezogen. Für seine Aufgabe brauchte er absolute Ruhe und höchste
Konzentration. Zehn U-Boote der Ohio-Klasse musste er koordinieren.
Und zwar so, dass sie zeitgleich ihr Ziel erreichten. Derzeit tauchten die
Boote im Atlantik rund um Teneriffa, in Entfernungen von drei bis fünf
Stunden. Die Kommandanten gingen davon aus, sich auf einer
Gemeinschaftsübung zu befinden. Und die Sicherheitsbeauftragten und
Offiziere im Pentagon wähnten die Boote auf gänzlich anderen Positionen.
Denn Jimmys Tool leistete ganze Arbeit. Ohne in der Schaltzentrale
der US-amerikanischen Militärgewalt bemerkt zu werden, hatte es die
Atom-U-Boote rings um die Kanareninsel verteilt. Und es konnte noch
viel mehr. Es verfügte nämlich über wichtige Zusatztools, die schon bald
wertvolle Dienste leisten würden. Eines dieser Tools musste Moore
allerdings schon jetzt nutzen.
Für so etwas hatte er eigentlich seine Leute. Die Zeiten, in denen er
sich mit militärischer Software auseinandersetzen musste, lagen lange
zurück. Sein Pendant in Russland, Flottenadmiral Tschechow, kam besser
mit so etwas zurecht. Er beherrschte das Tool mühelos. Moore hingegen
waren Fehler unterlaufen! Das durfte ihm heute nicht passieren! Denn jetzt
trat der Ernstfall ein.
Es war ein merkwürdiges, befremdliches Gefühl, nicht in der
technologisch hochgerüsteten, durch zig Sicherheitssysteme
abgeschirmten Schaltzentrale der Macht zu sitzen, umgeben von den
besten Spezialisten der Welt, sondern mutterseelenalleine an einem
schmucklosen Schreibtisch auf einer menschenleeren Insel, um eine
Atom-U-Boot-Flotte mit einem Laptop fernzusteuern.
Moore konzentrierte sich auf den Monitor. Er verfolgte die
Bewegungen der Boote. Während er auf den riesigen Monitoren im
Pentagon alle Boote in einer dreidimensionalen Realdarstellung sehen
konnte, waren sie auf seinem fünfzehn Komma sechs Zoll kleinen
Bildschirm nur winzige Punkte. Daneben wurden stets die aktuellen
Koordinaten eingeblendet. So klein, dass er mit dem Gesicht dicht an den
Monitor herangehen musste, um sie lesen zu können. Dass die
Beschriftung so klein war, hatte einen guten Grund: Zusätzlich zu den
aktuellen Positionen konnte Moore für jedes Boot weitere Daten vorgeben:
Zielkoordinaten, Zeit und Geschwindigkeit.
Heather hatte Jimmy perfekt gebrieft. Er wusste genau, was wichtig
war, was das Programm leisten und dass es sehr anwenderfreundlich sein
musste. Diese Anforderungen hatte Jimmy erfüllt. Traurig, dass seine
Stunden gezählt waren. Etwas mehr emotionale Intelligenz, eine Prise
Altruismus, etwas weniger Gier, und Jimmy hätte in den Circle berufen
werden können.
Moore folgte einem minutiösen Zeitplan. Eine fixe Uhrzeit, zu der
alle U-Boote vor der Nordwestküste Teneriffas angekommen und sich
gleichmäßig auf die zwanzig Kilometer zwischen Garachico und Puerto de
la Cruz verteilt haben mussten. Alle zwei Kilometer ein U-Boot. Niemand
an Land würde etwas davon mitbekommen. Nicht in Garachico, nicht in
Puerto de la Cruz, und auch nicht in Icod de los Vinos oder San Juan de la
Rambla. Nichtsahnend würden die Menschen in Cafés sitzen oder am
Strand spazieren gehen, während zehn Atom-U-Boote in Position gingen,
ausgestattet mit einem Atomantrieb und vierundzwanzig dreistufigen
ballistischen Trident II-Raketen vom Typ UGM-133. Sie hatten die
höchste Treffergenauigkeit aller U-Boot-basierten Interkontinentalraketen.
Elftausenddreihundert Kilometer Reichweite, einundzwanzigtausend
Stundenkilometer schnell.
Doch diese Superlative spielten keine Rolle. Sie brauchten weder
eine hohe Präzision, noch eine große Reichweite oder eine hohe
Geschwindigkeit. Sie brauchten nur eine gewaltige Sprengkraft und eine
große Hitzeentwicklung. Diese Anforderungen erfüllten sie. Jeder
Gefechtskopf verfügte über eine Sprengkraft von
vierhundertfünfundsiebzig Kilotonnen. Zehn U-Boote mit jeweils
vierundzwanzig Sprengköpfen, zweihundertsiebzig mal
vierhundertfünfundsiebzig Kilotonnen Sprengkraft. Ihm wurde
schwindelig beim Ausmaß der Explosion. Zumal sich die Atomantriebe
und Dutzende von Torpedos dazu addierten.
Moore hatte sich über die großen Hangrutschungen informiert. Je
mehr er darüber erfuhr, desto mehr war er davon überzeugt, dass Wave
bereits großes Chaos auslösen würde, in das Ice und Caldera mit
brachialer Urgewalt einschlugen und es unbeherrschbar machten.
Unbeherrschbar für strauchelnde Regierungen. Aber nicht für den Circle.
Zwischen 1900 und 1950 war über dem norwegischen See Lovatn bei
Bergen gleich dreimal ein Berg abgebrochen und hatte jedes Mal über eine
halbe Million Kubikmeter Gestein ins Wasser geschleudert. Am
gegenüberliegenden, zehn Kilometer entfernten Ufer, vernichteten Wellen
von bis zu siebzig Metern Höhe ganze Dörfer und schleuderten ein
Ausflugsschiff vierhundert Meter weit ins Landesinnere.
Faszinierend war auch die höchste, jemals gemessenen Welle, in den
Fünfzigern, im Süden Alaskas in der Lituya Bay. Aus fast tausend Metern
Höhe waren vierzig Millionen Kubikmeter Fels in die Bucht gestürzt und
hatten am anderen Ufer eine alles vernichtende Welle mit einer Höhe von
mehr als fünfhundert Metern aufgetürmt.
Bei der großen Storegga-Rutschung vor der norwegischen Westküste
hatten Tsunamis die Küsten Nordeuropas verwüstet. Damals lebten dort
vergleichsweise wenig Menschen. Aber heute wäre eine ganze Zivilisation
davon betroffen.
Auf den Kanaren waren der Teide auf Teneriffa und der Cumbre
Vieja auf La Palma tickende Zeitbomben. Bei einer Hangrutschung würden
mehr als eintausend Milliarden Tonnen Gestein ins Meer stürzen. Eine
Katastrophe biblischen Ausmaßes. Auch ohne AURORA tickten dort
Zeitbomben. Ein Erdbeben konnte ausreichen, um die instabilen Hänge
kollabieren und einen Vulkan ins Meer stürzen zu lassen. Abgesehen von
Tod und Zerstörung auf den betroffenen Inseln würden vor Nordafrika,
einigen europäischen Küsten und vor der amerikanischen Ostküste riesige
Tsunamis auftauchen und alles verwüsten.
Vor AURORA wusste Moore weder, welche Zeitbomben auf dem
Planeten tickten, noch, dass sie sich mit vergleichsweise einfachen Mitteln
zünden ließen. Atom-U-Boote, die mit Maximalschub in einen
Kontinentalhang rasten, explodierten samt ihrer nuklearen Fracht und
destabilisierten ihn auf zweierlei Weise. Durch die Wucht der Explosion
und durch Hitze, durch die die Methanhydrate schmolzen. Methanhydrate
waren in gefrorenem Zustand nämlich so etwas wie ein Klebstoff für die
labilen Hänge. Sie hielten zusammen, was ohne sie abrutschen musste.
Die von der dümmsten Rasse des Planeten ausgelöste
Klimaerwärmung gefährdete die Hänge ohnehin schon. Die Meere
erwärmten sich rapide und wurden für die Methanhydrate zu warm.
Deshalb waren Hangrutschungen auch ohne AURORA vorprogrammiert.
Doch die Menschheit war nicht auf so etwas vorbereitet. Weder auf
eine solche Rutschung, noch auf die folgenden Tsunamis. Dafür gab es
kein Tsunami-Warnsystem. Wie ein Kaninchen vor der Schlange stand der
Schöpfungsirrtum Mensch vor Naturkatastrophen, die er in seiner
Beschränktheit und Gier selbst auslöste. Die Folge waren Kriege, die das
Potenzial hatten, die Menschheit bis auf das letzte Individuum zu
vernichten.
Es sei denn, man hinderte das Virus Mensch an seiner Ausbreitung.
Indem man der Natur zuvorkam, ihr ein wenig unter die Arme griff.
Moore fand die Vorstellung, dass AURORA der Impfstoff der Erde war,
immer wieder höchst erfreulich und belebend.
Er schaute auf die Uhrzeit am unteren rechten Bildschirmrand. 15.34
Uhr Ortszeit. Also 10.34 Uhr in New York City. Zwischen Teneriffa und
NYC lagen fünftausend Kilometer. Wave würde rund sechs Stunden
benötigen. Es gab ein Zeitfenster, wann Wave über New York
hereinbrechen sollte: übermorgen während der Rush Hour. Wenn die
Straßen verstopft waren und es kein Entrinnen gab. Vor allem nicht für
einige ganz spezielle Damen und Herren...
Moore wusste nicht genau, wann die Tsunamis ausgelöst wurden.
Das hatte Rebecca mit ihrem Asiatensklaven nicht exakt vorausberechnen
können. Das hing von zu vielen unkalkulierbaren Faktoren wie der
Zeitspanne zwischen Explosionen und Hangrutschung, und Menge,
Geschwindigkeit und Ausdehnung des Materials ab.
Aber das spielte keine Rolle. Selbst wenn es dem
Katastrophenschutz gelang, Teile der Bevölkerung zu evakuieren, war das
Chaos perfekt. Die New York Stock Exchange, die berühmte Wall Street,
war die größte Wertpapierbörse der Welt und Sitz der wichtigsten Banken.
Wenn das zusammenbrach, überfiel das Chaos den Rest der Welt auch wie
ein Tsunami. Es kam zu einem Zusammenbruch der Finanzmärkte. Zumal
auch Unterseekabel zerstört wurden.
Doch Moore bezweifelte, dass irgendjemand evakuiert würde. Der
Katastrophenschutz rechnete mit vielem. Aber nicht mit einer
Hangrutschung vor den Kanarischen Inseln. Und erst recht nicht aufgrund
der Explosion von zehn Atom-U-Booten.
Moore ordnete den U-Booten in Jimmys Tool Zielkoordinaten und
Zeiten zu. Das Tool schlug für jedes Boot eine Aktivierungszeit vor. So
abgestimmt, dass alle Boote ihr Ziel zur selben Zeit erreichten. Mit einem
Puffer von fünf Stunden für Unvorhergesehenes.
Er drückte die Enter-Taste. Ein mehrmaliges Aufblinken jedes
Lichtpunktes bestätigte, dass Positionsänderungen und Zeiten jetzt aktiv
waren. Die Befehle zur Kursänderung wurden in wenigen Stunden an die
U-Boote übermittelt. Mit der Begründung, dass sie sich zu der
konzertierten Auftauch- und Absinkübung im Atlantik begeben mussten.
Niemand würde Verdacht schöpfen, zumal jeder Kommandant von Moore
persönlich instruiert worden war.
Seine Gedanken schweiften ab. Er dachte an Rebecca und ihren
Sklaven. Es war kein Zufall, dass sie sich auf so ein schwanzwedelndes
Hündchen eingelassen hatte, obwohl es nur darum ging, ihn für AURORA
zu gewinnen. Das hätte sie auch auf andere Weise erreichen können.
Moore wusste, wie zwiegespalten sie war. Wie die meisten
Menschen sehnte sie sich nach einer Beziehung und Sex. Aber über allem
stand ihr Männerhass, den ihr auch der beste Therapeut der Welt nicht
würde austreiben können. Mit Zhou hatte sie Sex und eine Beziehung. Und
zwar nach ihren Vorstellungen. Aber gleichzeitig konnte sie ihre
Verachtung an ihm auslassen. Er würde sich nicht trauen, sich gegen die
Frau zu wehren, ihr auch nur zu widersprechen, die er vergötterte. Eine
Zweckbeziehung, ohne dass sich einer von beiden dessen bewusst war.
Das Fatale war, dass Rebecca beizeiten jegliche Achtung vor Zhou
verlieren würde. Gerade wegen seines devoten Verhaltens. Denn eigentlich
suchte sie einen Mann auf Augenhöhe. Jemanden, zu dem sie auch mal
aufsehen konnte. So wie zu ihm. Doch sie war beziehungsunfähig. Ein
Pulverfass. Viel gefährlicher, als ein paar besonders schlaue
Programmierer im Pentagon oder im Kreml.
Wenn doch nur seine Männer damals nicht diesen gottverdammten
Mist gemacht hätten!
Kapitel 43
Waiheke Island, Onerea
„Chris Walker und Jake Bishop haben mich begleitet, die Special Agents,
mit denen wir nach dem Anschlag auf uns zu tun hatten.“
„Also wirst du doch wieder überwacht?“, fragte Riley verwundert. Er
war in seinem Hotelzimmer und skypte zum ersten Mal seit ihrer Abreise
mit Emma. „Ich dachte, die hätten das inzwischen aufgegeben.“
„Das dachte ich auch“, sagte Emma, die ihn durch die Cam
anstrahlte. Riley war glücklich, sie zu sehen und mit ihr zu sprechen. Ihre
Stimme zu hören, die jedes Mal einen wohligen Schauer in ihm auslöste.
Es zerriss ihm das Herz, dass tausende von Kilometern zwischen ihnen
lagen. Zumal er immer noch nichts gefunden hatte. Die ganze Suche
erwies sich bis jetzt als Flop.
„...Moore beauftragt worden...“
„Was hast du gerade gesagt? Sorry, aber ich war total in Gedanken.“
Emma lachte. „Woran hast du denn gedacht?“
„An Dich! Ich habe mir vorgestellt, wie du in meinen Armen liegst.
Mein Gott, wie sehr ich dich liebe. Ich verzehre mich nach dir. Ich halte es
ohne dich kaum noch aus!“
„Das geht mir genauso“, sagte Emma traurig. „Steig in den nächsten
Flieger nach New York. Dann bist du schon morgen bei mir.“
Riley presste die Lippen aufeinander. Nichts täte er lieber. Aber
wenn das Verschwinden seiner Familie mit den Anschlägen auf Emma und
ihn zu tun hatte, half er Emma mehr, wenn er auch noch die letzten Inseln
abklapperte. Der Skipper hatte ihm erklärt, dass sie in zwei Tagen bis auf
ein paar unbewohnbare Inseln, die nur aus Fels und Schotter bestanden und
winzig klein waren, alles angefahren hatten, was mit einem Boot
erreichbar war.
„Die paar Tage sollten wir in unserem eigenen Interesse noch
durchhalten. Dann bringt uns nichts und niemand mehr auseinander. Aber
was hast du eben von beauftragt gesagt?“
Emma erklärte, dass die beiden Special Agents von General David
Moore beauftragt worden waren, sie nach New York zu begleiten. Als
Personenschützer.
„Das ist ja merkwürdig“, fand Riley. „Was mischt sich denn das
Militär da ein?“
„Keine Ahnung“, gestand Emma mit einem Achselzucken. „Aber
dieser General ist ziemlich bekannt. Den habe ich schon oft in der Zeitung
und im Fernsehen gesehen. Er ist unser ranghöchster Offizier. Ich glaube,
der hat sogar sechs Sterne! Das hat vor ihm kaum jemand geschafft. Er gilt
als enger Vertrauter und Berater des Weißen Hauses. Ich könnte mir
vorstellen, dass die inzwischen neue Hinweise gefunden haben. Wegen
dieser Stiftung. Oder wegen deiner Eltern. Und Moore gehört ja auch zum
Vorstand der Stiftung.“
Riley fragte, ob sich Emma nicht bei den FBI-Agenten nach Details
erkundigt hatte.
„Doch, habe ich. Aber Walker sagte, dass sie nicht befugt sind, mir
Auskünfte zu erteilen. Aber die beiden sind okay. Und ehrlich gesagt“,
ergänzte sie mit einem verheißungsvollen Lächeln, „bin ich aus
gegebenem Anlass ganz froh, von zwei gestandenen Profis beschützt zu
werden.“
Riley war verwirrt. Was für ein Anlass? Wenn Emma etwas hasste,
dann waren es Störungen bei ihren Kundenkontakten. Er sah sie nur
fragend an.
„Denk doch mal nach“, sagte Emma und wirkte sehr glücklich.
Glücklich... Es dauerte einen Augenblick, bis Riley begriff. Er lachte
Emma durch die Webcam an. „Ist..., ist das..., ist das dein Ernst?“,
stammelte er.
Emma strahlte über das ganze Gesicht. „Ja, Riley. Das ist mein
Ernst! Du wirst Vater!“
Riley brauchte eine Weile, um diese Information zu verarbeiten. Er,
Riley Perkins, Sohn des weltberühmten James Perkins, kiffender und
saufender Surflehrer, unehrenhaft aus der Armee entlassen, wurde Vater!
Sein ganzes Leben war auf den Kopf gestellt. Plötzlich hatte er ein Ziel:
eine eigene Familie mit Emma, Cathy und einem eigenen Kind. Oder auch
zwei oder drei. Hauptsache mit Emma. Riley konnte sein Glück kaum
fassen. Tränen schossen ihm in die Augen. Verstohlen wischte er sie mit
dem Handrücken weg.
„Du musst deine Tränen nicht unterdrücken, Riley“, sagte Emma,
„was meinst du wohl, wie es mir geht, seit ich das weiß? Vor meiner
Abreise war ich noch bei meinem Frauenarzt. Und der hat mir die frohe
Botschaft verkündet. Ich kann mich kaum auf meine Verhandlungen
konzentrieren. Und dabei ist das ein dicker Fisch. Wenngleich ein wenig
merkwürdig. Ich wollte dir das eigentlich erst sagen, wenn du zurück bist.
Aber du hast ein Recht darauf, es sofort zu erfahren. Außerdem will ich
meine Freude mit dir teilen.“
Plötzlich waren AURORA, der Anschlag und das mysteriöse
Abtauchen seiner Familie weit weg. Er wurde Vater. Bekam mit seiner
Emma ein Kind. Liebe durchflutete ihn wie eine Urgewalt. „Ich nehme den
nächsten Flieger“, kündigte er an. „Morgen bin ich bei dir. Und dann
überlegen wir gemeinsam, wie es heißen soll. Weiß du schon, ob es eine
Junge oder ein Mädchen wird?“
Emma winkte ab. „Nein, das kann man noch nicht sagen. Wobei ich
das vorher auch gar nicht wissen möchte. Aber bitte bleib die paar Tage
noch dort, Riley. Du hast recht. Wir sollten auch die letzten Möglichkeiten
prüfen. In Cocoa Beach feiern wir! Ich war noch nie so glücklich!“
Riley ging es genauso. Es fiel ihm schwer, sich vorzustellen, wieder
zwischen irgendwelchen verlassenen Inseln rumzuschippern. Aber er
musste an seine Familie denken. An seine neue, aber auch an seine alte.
„Ich umarme dich ganz feste, Emma! In Gedanken bin ich jede
Sekunden bei dir. Und bei unserem Kind. Ich klappere die paar Inseln noch
ab, dann komme ich nach Hause. Mach dir bitte nicht so viel Stress. Das
ist bestimmt nicht gut, wenn man schwanger ist.“
Emma lachte. „Da mach dir mal keine Sorgen. Ist ja nicht das erste
Mal. Ich bin gespannt, wie Cathy darauf reagieren wird.“
Riley versprach Emma, dass er ihr den Rücken freihalten würde,
wenn das Kind erst mal da war. Er würde sich um das Haus und die Kinder
kümmern, damit sie ihre Firma nicht vernachlässigen musste. Und mit
Cathy würde es mit einem Schwesterchen oder Brüderchen bestimmt viel
einfacher werden.
Sie sahen sich noch eine Weile an. Riley kam sich vor wie in einem
schützenden Kokon. Es gab nur Emma, Cathy, ihn und ihr Kind. Der Rest
der Welt war außen vor. Die Welt, mit der er sich noch zwei Tage
rumplagen musste. Es fiel ihnen schwer, Lebewohl zu sagen. Emma warf
ihm einen Handkuss zu und beendete die Videoübertragung. In dieser
Nacht fand Riley keinen Schlaf. Vor Glück.
Kapitel 44
Atlantik, einen Tag später
Der Kommandant des amerikanischen Atom-U-Bootes freute sich über die
Meldung „autorisierter Code“. Das bedeutete, dass es jetzt endlich ein
bisschen Action gab. Diese Warterei machte ihn nämlich allmählich
mürbe. Wobei er es befremdlich fand, dass sein Boot bei dieser
ungewöhnlichen Gemeinschaftsübung mehr oder weniger ferngesteuert
wurde. Aber das war laut seines Vorgesetzten, dem großen General David
Moore, gerade Sinn und Zweck der Übung. Wie präzise ließen sich in
einem Ernstfall die marinen Streitkräfte der Bündnispartner koordinieren
und innerhalb welcher Zeit? Was war effizienter: die Steuerung durch die
Kommandanten oder eine zentrale Steuerung?
Er glaubte zwar nicht an die Sinnhaftigkeit einer solchen zentralen
Steuerung, aber wenn das ein General Moore anders beurteilte, war seine
Meinung nicht von Belang. Moore war der höchstdekorierte Offizier der
USA. Und er schätzte ihn nicht nur als Vorgesetzten. Moore war für ihn
auch ein Vorbild. Ein Elitesoldat, für den seine Männer stets an erster
Stelle standen.
Der Kommandant prüfte die neuen Koordinaten. Das Ziel lautete
Kanarische Inseln. Teneriffa, genauer gesagt. Ziemlich zerklüftete Küste,
ausgeprägte Kontinentalhänge. Gutes Gebiet für Absink- und
Auftauchübungen. Sechs Stunden Fahrt. Er fragte sich, wie viele Boote
sich dort treffen würden. Leider wurde er nur mit den notwendigsten
Informationen versorgt. Das war auch Teil der Übung. Die Kommandanten
sollten sich auf das Wesentliche konzentrieren: ihr Boot und ihre Aufgabe.
Auch das gefiel ihm eigentlich gar nicht. Aber was ein David Moore sagte,
war Gesetz.
Er erinnerte sich an eine Begebenheit vor einigen Jahren, bei der
Moore eine zentrale Rolle gespielt hatte. In Offizierskreisen hatte diese
Geschichte rasch die Runde gemacht. Moore hatte eindrucksvoll unter
Beweis gestellt, wie weit seine Loyalität für seine Soldaten ging. Eine
junge Frau war irgendwo im Nahen Osten vergewaltigt worden. In Syrien?
Oder Afghanistan? Er wusste es nicht mehr genau. Aber das war sowieso
alles dasselbe.
Woran er sich aber noch gut erinnerte, waren die Umstände der
Vergewaltigung. Die Frau war von ein paar stinkenden Taliban
rangenommen worden. Auf offener Straße. Die waren wie die Tiere.
Einfach nur ekelhaft. Doch dann waren einige von Moores Soldaten
aufgetaucht und hatten diese feigen Schweine abgeknallt. Anstatt der Frau
aber zu helfen, hatten die Soldaten sie angeblich auch noch vergewaltigt.
Das hatte sie zumindest behauptet und die Soldaten angezeigt.
Doch Moore hatte sich schützend vor seine Männer gestellt und eine
Strafverfolgung und unehrenhafte Entlassung aus der Armee verhindert.
Freilich ohne dass die Frau seine Beteiligung auch nur hätte erahnen
können. Für sie war das Gericht, das die Soldaten freigesprochen hatte, der
Schuldige. Moore war eben in allem, was er tat, ein Perfektionist. Seine
Männer waren straffrei ausgegangen und verrichteten weiterhin ihren
Dienst.
Sicherlich war das für die Frau ein schwerer Schlag gewesen. Aber
andererseits hatten die Jungs ihr doch das Leben gerettet! Diese Drecks
Taliban hätten sie abgeschlachtet. Oder glaubte die Frau, diese
mordlüsternen Viecher hätten sie am Leben gelassen? Denen machte es
Spaß, Frauen zu Tode zu quälen. So etwas geilte sie auf. Das wusste man
doch. Hatte die überhaupt eine Vorstellung, was es für Soldaten hieß,
jahrelang in einem fremden, feindseligen Land stationiert zu sein? Tagaus
tagein um sein Leben zu fürchten? Nichts als Entbehrungen, Angst und
Tod. Keinerlei Zerstreuung, geschweige denn eine Frau.
Natürlich war das Verhalten der Soldaten nicht okay, aber man
musste sie auch verstehen. Wenn die Frau nicht nur ihr eigenes kleines
Schicksal gesehen hätte, sondern versucht hätte, sich in ihre Lebensretter
und deren Nöte hineinzuversetzen, hätte sie ihnen bestimmt verzeihen
können.
General Moore hatte genau richtig gehandelt. Seine Männer zu
schützen, war seine Pflicht gewesen. Und ob sie nun bestraft wurden oder
nicht, die Vergewaltigung war nicht mehr rückgängig zu machen.
Moore hatte wie so oft seine Ehrbarkeit unter Beweis gestellt. An der
Gemeinschaftsübung gab es nicht den Hauch eines Zweifels. Er war froh,
unter einem solchen Offizier dienen zu dürfen. Er würde seinen Teil dazu
beitragen, dass diese Operation ein voller Erfolg wurde.
Kapitel 45
New York City
Emma war mit Walker und Bishop in eine Bar gegangen. Sie war dankbar
für ihre Anwesenheit. Denn die Schwangerschaft weichte sie innerlich auf.
Sie war weniger belastungsfähig, manchmal grundlos den Tränen nah. Sie
wusste, dass das hormonelle Ursachen hatte. Dennoch hatte sie ein latentes
Gefühl von Bedrohung. Da waren zwei Special Agents des FBI
willkommen. Zumal die Begegnungen mit ihren Kunden sonderbar waren.
Sie waren zu fünft: der Chief Executive Officer, der Chief Financial
Officer, ein leitender Techniker, ein Mitarbeiter aus dem Marketing und
der Einkaufsleiter.
„Wo sind Sie denn mit Ihren Gedanken, Miss Chaplin?“, fragte
Bishop plötzlich, der sich als überraschend sensibel erwies.
„Wieso fragen Sie?“
Bishop lachte und erklärte ihr, dass er sie nun schon zweimal gefragt
habe, wie ihre heutigen Gespräche verlaufen waren und dass sie zweimal
nicht reagiert hatte.
Jetzt lachte auch Emma. Walkers Mund verzog sich zu einem breiten
Grinsen. Sie erzählte den Männern, warum sie diese Kunden merkwürdig
fand. Das waren gleich mehrere Aspekte. So waren sowohl der CEO als
auch der CFO der deutschen Firma arabischer Abstammung, hatten aber
deutsche Namen. Und der Techniker, der einzige Deutsche, hatte
auffallend wenig Ahnung von Landmaschinen. Aber für dieses
Spezialwissen war er als Techniker zuständig. Der Einkaufsleiter machte
den Eindruck, als habe er noch nie ein Lieferantengespräch geführt. Aber
die Firma existierte. Und die Leute hatten ihr Visitenkarten gegeben.
Bishop gestand Emma, dass auch das FBI sich im Vorfeld über die
Firma erkundigt hatte. Alles sauber. Ansprechpartner waren zwar nicht auf
Anhieb im Internet zu finden, das lag aber daran, dass die Corporate
Identity der Firma auf Zurückhaltung und Bescheidenheit ausgerichtet war.
Deshalb gab es auf der Homepage keine Fotos von Mitarbeitern. Aber die
Namen des CEO und des CFO befanden sich entsprechend der Bedeutung
ihrer Funktionen im Impressum.
„Trotzdem finde ich das unglaubwürdig“, insistierte Emma, „ein
Techniker, der nicht einmal die wichtigsten Fachbegriffe kennt. Ein
Einkaufsleiter, der mich nicht auf Qualitätsanforderungen und Lastenhefte
anspricht. Ein CFO, der wie selbstverständlich ein Auftragsvolumen von
einer viertel Milliarde Dollar aus dem Ärmel schütteln will! Eine viertel
Milliarde! Dazu ein Marketingmitarbeiter, der mir keine Fragen zur
Marketingstrategie seiner Firma beantworten kann. Da stimmt was nicht!“
Walker bot an, über seine Behörde mehr Informationen über die
Gesellschaft einzuholen und dort anzurufen, um zu prüfen, ob die
Mitarbeiter der Firma auch tatsächlich das waren: Mitarbeiter.
Emma nahm das Angebot des Agenten dankbar an. Sie war noch
zwei Tage in New York. Und wenn diese Leute nicht zu der Firma
gehörten, konnte das vor dem Hintergrund der jüngsten Ereignisse nur
eines bedeuten: Jemand wollte ihr eine Falle stellen. Aber was für eine
Falle? Mitten in New York, mit zwei Special Agents an ihrer Seite? Das
war verwirrend. Ebenso verwirrend war, dass General Moore nach Walkers
und Bishops Überzeugung den Direktor des FBI überredet hatte, sie zu
ihrem Schutz abzustellen.
Warum?
Außerdem hatten Walker und Bishop AURORA einen Besuch
abgestattet und dort General Moore angetroffen und befragt. Kurz darauf
hatte ihr Vorgesetzter sie von dem Fall abgezogen. Weil es gar keinen Fall
gab!
Emma hatte die Ereignisse Revue passieren lassen. Zuerst tauchte
Rileys Familie wegen eines Projektes der Stiftung unter. Dann wurde ein
Anschlag auf sie verübt. AURORA rückte ins Visier der Ermittler. Doch
der ranghöchste Offizier der USA stand hinter der Stiftung und wendete
jeglichen Verdacht von ihr ab. Plötzlich stellte der Direktor des FBI
ausgerechnet die Agenten zu ihrem Schutz ab, die gegen AURORA
ermittelt hatten.
Warum?
Und schließlich begegnete sie in New York Leuten, von denen sie
sich nicht vorstellen konnte, dass sie einen großen und über Europa hinaus
bekannten europäischen Konzern vertraten. Morgen war sie wieder mit
ihnen verabredet. Angeblich hatte man sich nach Rücksprache mit der
Muttergesellschaft bereits entschieden, den Auftrag an ihre Firma zu
vergeben. Ohne vorherige Werksbesichtigung! Und ohne spezifische
Qualitätsanforderungen, die für Konzerne dieser Größenordnung üblich
waren.
Sie würde die Männer bitten, in ihrer Gegenwart in der Zentrale
anzurufen. Unter der Rufnummer im Impressum der Homepage. Wenn sie
sich weigerten, war das eine Bestätigung ihres Verdachts. Und dann
musste sie so schnell wie möglich raus aus New York. Welche Falle man
ihr auch stellen wollte, der Fallensteller war in der Stadt.
Kapitel 46
Teneriffa, einen Tag später
Über der Insel und dem noch schneebedeckten Teide schien die Sonne von
einem wolkenlosen Himmel. Ein Frühlingstag wie aus dem Bilderbuch.
Von April bis September fiel kaum Regen. Es wurde niemals unerträglich
heiß oder eisig kalt, abgesehen von der Hochgebirgsregion des Teide. Die
Temperaturen schwankten im Jahresverlauf nur um sechs Grad. Deshalb
war die Insel des ewigen Frühlings das ganze Jahr über ein beliebtes
Reiseziel.
Teneriffa war von einem farbenprächtigen Blütenmeer überzogen.
Das strahlende Gelb des Retama zog die Blicke der Menschen in seinen
Bann. Schon früh hatten sich die Geschäfte, Bars und Strände gefüllt.
Inzwischen ging es in den Orten am Meer zu wie in einem Bienenstock.
Kinder spielten am Strand, an dem auch Jogger ihrem Sport nachgingen.
Das Meer war voller Menschen und Touristenbusse füllten die Parkplätze.
Die Menschen freuten sich über einen schönen Urlaubstag. Einen Tag, an
den sie sich gerne erinnerten. Einen Tag, der etwas ganz Besonderes war.
Der Kommandant des US-Amerikanischen Atom-U-Bootes hatte
sein Ziel vor zwei Stunden erreicht: Puerto de la Cruz, die sechstgrößte
Stadt Teneriffas und touristisches Zentrum des Nordens. Sein Boot war nur
noch wenige Kilometer von der Küste entfernt. Die Motoren hatten
gestoppt. Der Kommandant wartete auf den Startschuss für die Operation
„Ocean Drive“, zusammen mit den anderen Booten. Ferngesteuert durch
das Pentagon. Eingriffsmöglichkeiten nur im Notfall. Und natürlich, wenn
er es wollte. Er war der Kommandant! Eine interessante Übung. So viele
Boote auf so engem Raum. Etwas Vergleichbares hatte es seines Wissens
noch nicht gegeben.
Teneriffa. Er hatte schon viel von den Kanaren gehört. Schon immer
wollte er dort Urlaub mit seiner Familie machen. Dass ihn das Manöver
ausgerechnet an diesen Ort führte, deutete er als Wink des Schicksals. Im
nächsten Urlaub ging es nach Teneriffa! Allein diese Blumenvielfalt. Die
schönen Lorbeer- und Kiefernwälder und seltenen Drachenbäume mit
ihrem schopfartigen Laub. Er lächelte in sich hinein. Heute Manöver,
morgen Urlaub.
War der Teide eigentlich noch aktiv? Bestand die Gefahr eines
Ausbruchs? Darüber musste er sich vorher informieren. Nicht, dass ihm
irgendein Vulkan Sorgen bereitete. Aber als Familienvater trug er eine
große Verantwortung.
Begleitet von einem roten Dauerblinken erschien wieder die
Meldung „autorisierter Code“. Endlich war es soweit. In wenigen
Augenblicken begann eine der spannendsten Übungen der vergangenen
Jahre. Auftauchen und Absinken im harmonischen Einklang mit den
anderen Booten seiner Flotte und denen der Bündnispartner. Mit
abnehmender Amplitude, weil das Wasser mit jeder Annäherung an die
Küste flacher wurde. Erst abrupt, am Beginn des Kontinentalhangs, vor
dem sein Boot noch fünf Kilometer entfernt war. Danach nur noch ganz
allmählich.
Die Motoren starteten wie von Geisterhand. Ein leichtes Vibrieren.
Das sanfte, tieffrequente Dröhnen der Maschinen. Nur ganz gedämpft. Ein
wohliger Schauer lief seinen Rücken hinunter. Das Boot setzte sich in
Bewegung. Langsam, ganz langsam. Das Gefühl, nicht alleiniger Herr
seines Bootes zu sein, irritierte ihn nach wie vor. Das erste
Auftauchmanöver stand unmittelbar bevor. Noch deutlich vor Beginn des
Hangs. Das zweite sollte auf Höhe des Hangs stattfinden. So viel wusste er
immerhin schon.
Auf dem Monitor lief ein Countdown rückwärts. Er zeigte
zweiundachtzig an. Zweiundachtzig Sekunden bis zum ersten Auftauchen.
In Puerto de la Cruz ging es zu wie in einem Taubenschlag.
Menschen liefen geschäftig in den Straßen umher, Kinder tobten und
kreischten. Die Busparkplätze waren überfüllt. Die Leute waren fröhlich
und unbeschwert. Sie genossen das Gefühl der Sonne auf der Haut, die
Vielfalt der Frühlingsdüfte, das Geräusch der Wellen. Sie wähnten sich für
ein paar Tage oder Wochen im Paradies.
Der Countdown zeigte einundsechzig Sekunden an. Was für ein
dramatisches Detail, dachte der Kommandant und fühlte sich irgendwie
gut.
Kapitel 47
Adams Island
General Moore traten Schweißperlen auf die Stirn. Er war in vielen
Einsätzen gewesen, hatte Gegner getötet, Gefangene befreit. Und später
Entscheidungen von großer Tragweite getroffen. Aber diese Situation, auf
sich alleine gestellt, mit einem Laptop und einem Hackerprogramm, mit
dem er ein Geschwader Atom-U-Boote fernsteuern sollte, überforderte
ihn. Der Countdown, den auch die Kommandanten sahen, machte ihn
nervös. Ihre Boote waren so vor der Küste verteilt, dass die Kollisionen
jeweils nur eine halbe Minute auseinanderlagen. Wenn er denn alles
richtig gemacht hatte.
Vielleicht hätte er in seiner Rede vor dem Circle doch nicht so laut
tönen sollen, dass für einen gestandenen Soldaten wie ihn das
Computerprogramm irgendeines Hackers, noch dazu Zivilist, keine
Herausforderung war. Er hätte auf Andrew hören sollen, der vorsichtig
angemerkt hatte, dass das vielleicht doch nicht ganz so einfach war.
Schwieriger, als ein Maschinengewehr abzufeuern.
Andrew hatte vorgeschlagen, eine Hacker-Task-Force einzurichten
und Jimmy ins Boot zu holen. Weil keiner ein Programm besser
beherrsche, als derjenige, der es geschrieben hatte. Außerdem sei Jimmy
mit seinem Wissen, seinen Erfahrungen und seiner Professionalität ein
guter Mann für die Neue Welt.
Aber Moore hatte nur müde gelächelt. Task-Force? Jimmy?
Lächerlich!
Und jetzt zahlte er den Preis für seine Überheblichkeit. So einfach
das Programm auch zu bedienen war, er als Anwender konnte viele Fehler
machen. Von der Berechnung von Koordinaten und Zeiten, bis hin zur
Gefahr der Kollision von dicht an dicht positionierten Booten und damit
einem Scheitern von Wave. Und dafür wollte er nicht verantwortlich sein.
Immer wieder starrte er auf die zweidimensionale Landkarte
Teneriffas auf seinem Monitor. Auf die leuchtenden Pünktchen. Jeder
Punkt ein Boot. Exakte Abstände. Von Boot zu Boot. Und von den Booten
zur Küste. Da war kein Fehler zu erkennen.
Oder doch?
War das Boot am südlichen Ende der Kette nicht zu weit von der
Küste entfernt? Dafür das in der Mitte zu nah? Oder bildete er sich das
angesichts dieser Miniaturdarstellung nur ein? Außerdem machte das
Programm das doch alles automatisch. Das Programm war genauer als
seine Augen.
Nervös fuchtelte Moore mit seiner Maus herum, ohne es zu merken.
Ebenso wenig merkte er, dass er auf die rechte Maustaste drückte, als der
Zeiger gerade über eines der U-Boote lief. Sofort erschien neben dem
Pünktchen ein Auswahlmenü mit sechs Optionen in so kleiner Schrift, dass
er ganz dicht an den Bildschirm herangehen musste, um sie lesen zu
können. Dort stand untereinander:
Auftauchen–Abtauchen–Maximalschub–Schubumkehr–Zerstörung–
Abbruch des Programms.
Erschrocken ließ Moore die Maus los und wich ein Stück auf seinem
Drehstuhl zurück. Was hatte er denn jetzt angestellt? Das Programm lief
doch nach einem voreingestellten Automatismus ab. Was geschah, wenn er
keine der Optionen anklickte? Und da war nichts anzuklicken. Er konnte
keinen dieser vermaledeiten Befehle gebrauchen. Im Gegenteil, jeder war
beschissen!
Bis auf den Maximalschub. Aber der war vorprogrammiert. Sauber
abgestimmt mit den anderen Booten. Was passierte, wenn er da drauf
drückte? Dann raste das Boot sofort los! Eine Katastrophe!
Während Moore sich, nervös den unbarmherzig rückwärts laufenden
Countdown verfolgend, überlegte, ob ihm vielleicht die Escapetaste
weiterhelfen könnte, oder ob er damit nur den nächsten Fehler beging,
verschwand das Auswahlmenü von seinem Bildschirm. Gottseidank! Es
war so wie bei den meisten Programmen. Wählte man keinen Befehl aus
einem Menü aus, schloss sich das Fenster nach kurzer Zeit von selbst
wieder. Moore atmete tief durch und schob die Mouse weit von sich.
Die Kommandanten warteten auf das erste Auftauchmanöver.
Noch zweiunddreißig Sekunden.
***
Teneriffa
Das U-Boot bewegte sich weiterhin nur langsam vorwärts. Der
Kommandant verfolgte gebannt den Countdown. Dreiundzwanzig
Sekunden. In wenigen Augenblicken tauchte ein ganzes Geschwader
Atom-U-Boote gleichzeitig und dicht nebeneinander auf. Was für eine
geballte Ladung Macht!
So weit draußen bekam das an Land niemand mit. Aber er fand den
Gedanken amüsant, wie Hunderte Zivilisten einige Auftauchmanöver
später reagieren würden, wenn sie, auf einen Hocker gefläzt und Weißwein
schlürfend, plötzlich hörten und dann sahen, wie ein riesiges U-Boot direkt
vor ihnen aus den Fluten auftauchte. Unglaublich, dass Moore das im
Pentagon hatte durchsetzen können. Es bestand durchaus das Risiko, dass
jemand vor Schreck einen Herzschlag bekam.
Aber Moore war eben Moore.
Der Countdown lief rückwärts: Sieben–sechs–fünf–vier–drei–zwei–
eins–
null!
Der Kommandant spürte wieder das sanfte Vibrieren der Motoren.
Was für ein erhebendes Gefühl. Wie es wohl den anderen Kommandanten
erging? Waren sie genauso erregt wie er? Er wartete auf die Meldung, dass
das Boot aufgetaucht war, in unverändertem Sicherheitsabstand zu den
Nachbarbooten.
Doch diese Meldung kam nicht. Das Boot tauchte auch nicht auf. Im
Gegenteil, es begann zu sinken. Und gleichzeitig beschleunigte es. Es trieb
mit Maximalmalschub vorwärts. Direkt auf die Küste zu.
Nein, nicht auf die Küste. Auf den Hang! Weil das Boot tiefer
getaucht war. Mit fast sechzig Stundenkilometern auf den Hang zu! Was
hatte das zu bedeuten? Gehörte das zur Übung? Ein Stresstest für
Kommandanten und Besatzungen? Ein Test, ob sie in einer
Gefahrensituation schnell genug reagieren konnten?
Oder etwa ein Programmfehler? Ein Programmfehler in dieser
Situation!
Gab es denn keine automatische Notabschaltung?
Das wäre eine Katastrophe biblischen Ausmaßes! Adrenalin flutete
seine Adern.
Er riss die Tür des Kommandoturms auf und rannte in den
Maschinenraum. Dort packte er einen der Matrosen am Kragen und
schüttelte ihn durch.
„Was soll das? Was geschieht hier? Stoppen Sie die Maschinen,
sonst passiert ein Unglück!“
Der Matrose stieß einen Schrei aus. Panik trat in seinen Blick. Er
stammelte, dass er keine Ahnung habe, was hier geschah und dass er die
Maschinen nicht stoppen könne. Außerdem hätten sich soeben die
Atomsprengköpfe selbstständig entriegelt und scharf gemacht.
Der Kommandant ließ den Matrosen los. „Die Atomsprengköpfe
haben was?“
„Sie haben sich entriegelt und scharf gestellt!“, brüllte der Matrose
wie von Sinnen, „einfach so! Wie von Geisterhand! Und wir können nichts
machen. Wir sind offline!“ Jegliche Farbe wich aus seinem Gesicht, über
das Rinnsale aus Schweiß liefen, um von seinem Kinn auf den Boden zu
tropfen.
Dem Kommandanten wurde schwindelig.
Die Atomsprengköpfe waren scharf. Und das Motorensystem dieses
Bootes war gewaltig. Es bestand aus zwei Druckwasserreaktoren. Kochend
heiße Flüssigkeit im radioaktiven Primärkreislauf. Hochreines Wasser im
nicht radioaktiven Sekundärkreislauf.
Was passierte bei einem Aufprall? Das Kühlsystem fiel aus. Der
Atomkern würde sich...der Atomkern würde...er würde sich rasend schnell
erhitzen! So wie in Fukushima! Dasselbe Prinzip. Nur dass es hier auch
noch vierundzwanzig entriegelte und scharf gestellte
Interkontinentalraketen gab!
Gott, steh uns bei!
Der Kommandant versuchte ebenso kopflos wie vergeblich, die
Maschinen mittels manueller Notabschaltung zu stoppen. Aus dem Rumpf
ertönten Sirenen, aufgeregte Stimmen und Schreie. Jemand kreischte
hysterisch, dass sie gleich in den verdammten Scheiß Hang rasen würden.
Das U-Boot reagierte nicht. Es musste vollständig auf externe
Steuerung und Kontrolle umgestellt worden sein. Ihm war nicht bewusst,
dass so etwas technisch überhaupt möglich war. Es gab auch keinerlei
Kommunikationsmöglichkeiten nach außen.
In diesem Augenblick akzeptierte er sein Schicksal. Es war vorbei.
Er fragte sich, ob die anderen Boote auch von dem Programmfehler
betroffen waren oder ob sie sich rechtzeitig aus der Gefahrenzone bringen
konnten.
Dann begriff er, dass sein Schicksal nicht in einem Programmfehler
bestand.
Das war Sabotage!
Irgendjemand wollte diesen Hang zum Einsturz bringen. Mit U-
Booten mit Nuklearantrieb und jeweils vierundzwanzig
Atomsprengköpfen. Das war ein Terroranschlag biblischen Ausmaßes. Die
Besatzungen wurden zu unfreiwilligen Selbstmordattentätern. Was um
Himmels Willen war das Ziel dieses Anschlags? Dem Kommandanten
wurde schlecht.
Ein lautes Rattern und Quietschen erfüllte das Boot, gefolgt von
heftigen Erschütterungen. Viele Soldaten fielen zu Boden, einige
verletzten sich. Doch das spielte keine Rolle mehr. Das Boot hatte die
ersten Gesteinsformationen gerammt, ohne dabei nennenswert an
Vorschub zu verlieren. Der Atomantrieb war einfach zu mächtig.
Der Kommandant war nicht hingefallen. Er würde bis zur letzten
Sekunde stehenbleiben. Er war der Kommandant dieses U-Bootes! Seines
U-Bootes, das Opfer eines Sabotageaktes wurde.
Und es gab nur einen, der dahinter stecken konnte: General David
Moore persönlich. Nur er konnte dem Präsidenten und dem Pentagon eine
solche Übung unterjubeln. Und nur er hatte jederzeit Zugriff auf die Server
des Pentagon. Er verfügte über uneingeschränkte Zugriffsrechte.
Aber warum? Was um Himmels Willen bezweckte er damit? Wollte
er auf diese Weise den Teide zum Ausbruch bringen? Wollte er einen
Massenmord begehen? Das ergab doch keinen Sinn!
Der Kommandant kam nicht mehr dazu, seinen Gedanken
fortzuführen. Sein U-Boot stieß ungebremst in den Kontinentalhang und
verkeilte sich. Fürchterliche Geräusche erfüllten den Schiffsrumpf. So
laut, dass die panischen Schreie der Besatzung darin untergingen. Männer
flogen wie Papier durch die Gänge und knallten gegen die Bordwand oder
Instrumente.
Knochen brachen. Schreie verstummten. Herzen hörten auf zu
schlagen.
Auch der Kommandant blieb nicht stehen. Er wurde durch die Wucht
des Aufpralls durch den Gang geschleudert. Er knallte gegen etwas Hartes.
Er vernahm ein Knacken. Ein stechender Schmerz durchfuhr sein rechtes
Bein. Gleichzeitig bohrte sich etwas in seine Brust, länglich und spitz. Er
spürte, wie es am Rücken wieder austrat. Was immer das war, es hatte ihn
durchbohrt. Warum war er dann nicht tot? Oder träumte er das nur?
Müsste er sich, wenn er tot war, nicht selbst aufgespießt im Gang liegen
sehen? Weil seine Seele im Augenblick des Todes aus seinem Körper trat?
Warum sah er stattdessen überall Blut, hörte Schreie, Knarren,
Ächzen? Warum sah er, wie der Rumpf an mehreren Stellen aufriss und
Wasser mit großer Wucht in den Bootskörper eindrang? Und warum spürte
er, wie das Wasser gewaltsam an ihm riss, es ihn aber nicht fortspülen
konnte, weil er an diesem Ding festhing? War die Seele zu solch realen
Wahrnehmungen fähig? Funktionierte sie wie seine Sinne? Oder war das
nur ein Alptraum, aus dem er gleich hochschreckte? Und während er sich
noch fragte, ob das wirklich nur ein fürchterlicher Traum war, nahm ihn
seine Frau in den Arm und flüsterte ihm mit ihrer beruhigenden Stimme
ins Ohr, dass alles in Ordnung war. Er war zuhause, die Kinder deckten
gerade den Tisch. Er war in Sicherheit und musste sich nie wieder Sorgen
machen oder vor etwas Angst haben.
Langsam verstummten die Schreie um ihn herum. Das Wasser
umschmeichelte ihn. Wie in einer Wiege. Es war schön. Geborgen. Er
fühlte nichts mehr. Er war frei.
***
Adams Island
Andrews Assistent hatte überlebt. Wenigstens etwas. Denn die Stimmung
war auf dem Tiefpunkt. Moore hatte alles versucht, die Externen von
AURORA zu überzeugen, sie zu begeistern, sie von Gewissensbissen und
Skrupeln zu befreien. Aber außer Perkins waren alle noch geschockt von
Rebeccas geisteskrankem Ausraster. Das Misstrauen der Leute war
allenthalben zu spüren. Dem Circle blieb nichts anderes übrig, als die
Phasen zwei und drei abzuwarten und die Zeit zu nutzen, um das Vertrauen
wiederherzustellen. Schritt für Schritt.
Bryan O´Connor war auf dem Weg zu Rebecca. In Begleitung von
zwei bewaffneten Soldaten. Moore hatte Bryan gebeten, Rebecca zu
befragen. Er war der Sachlichste im Circle und hatte einen guten Draht zu
ihr. Und da es nicht zu den Werten von AURORA passte, ein Mitglied in
einer Zelle schmoren zu lassen, sollte Bryan versuchen, Rebecca zur
Vernunft zu bringen. Einer der Soldaten schloss ihre Zelle auf.
Während sich die Unterkünfte auf der Meeresseite befanden, für eine
schnelle Flucht bei Gefahr, lag der kleine Zellentrakt am bergseitigen
Rand der unteren Ebene. Im Falle einer Flucht musste der Häftling die
gesamte Ebene durchqueren, um zu entkommen. Es war unwahrscheinlich,
dass das jemandem gelang. Zumal die ganze Anlage nicht nur
einbruchsicher war, sondern ebenso ausbruchsicher.
Die Zellen waren deutlich komfortabler als gewöhnliche
Gefängniszellen. Sie bestanden aus einem kombinierten Wohn- und
Schlafraum und einem separaten Bad. Es gab einen Fernseher und einen
DVD-Player, Bücher und Zeitschriften, und sogar einen gut gefüllten
Kühlschrank. AURORA sah keine Verbrechen mehr vor. Die Zellen waren
eher für unwahrscheinliche Notfälle gedacht. Aber Rebeccas Anfall hatte
auf erschreckende Weise offenbart, dass selbst der Circle nicht unfehlbar
war.
Sie begrüßte Bryan sachlich, aber nicht unterkühlt. Sie sah ihm offen
in die Augen. Keine Spur von Aggressivität. Ein gutes Zeichen. Bryan
bedeutete den Soldaten, draußen zu warten und setzte sich. Dann fragte er
Rebecca auf seine für ihn typische, nüchterne Art, warum sie den
Assistenten angeschossen und Chang Zhou vergiftet hatte.
„Und bitte, Rebecca, lüg mich nicht an. Ich merke das. Nur die
Wahrheit hilft dir und damit uns allen. Es geht doch um AURORA! Um
die Neue Welt, die dich braucht!“
Rebecca wiederholte, dass sie Chang als Bedrohung und ihr
Verhalten als loyal gegenüber dem Circle empfunden hatte. Sie betonte,
dass niemand Chang besser kannte als sie. Er war keine starke
Persönlichkeit, hatte aber Prinzipien und einen Dickkopf. Er hätte keine
Gelegenheit ausgelassen, sich mit seinem Wissen an Außenstehende zu
wenden oder die Externen gegen den Circle aufzubringen. Sie beteuerte,
dass ihr die Schüsse auf den Assistenten leid taten. Sie hatte befürchtet,
dass er es schaffte, die Externen aufzuwiegeln. Das wollte sie verhindern.
Mit gänzlich ungeeigneten Mitteln, wie sie unumwunden eingestand.
„Da ist der Gaul mit mir durchgegangen, Bryan. Ich wollte ihn zum
Schweigen bringen, damit er die Leute nicht weiter aufhetzen kann, habe
aber vor einem entsetzten Publikum genau das Gegenteil erreicht. Ich bin
so froh, dass der arme Kerl überlebt hat.“
„Das sagst du jetzt. Aber hast du denn im entscheidenden
Augenblick nicht daran gedacht, dass du mit deiner Tat die Leute erst recht
gegen uns aufbringen würdest? David hatte die Sache doch im Griff. Und
wieso hast du auch noch auf ihn gezielt?“
Bryan achtete genau auf Rebeccas Mimik. Aber sie reagierte
zumindest nicht sichtbar auf die Erwähnung des Generals.
„Nein, in dem Moment habe ich überhaupt nicht daran gedacht. Ich
habe nur den Circle und einen Feind gesehen. Das war eine emotionale
Reaktion, wegen meiner Vorgeschichte und meiner Zerrissenheit wegen
Chang. Ich nehme an, deshalb habe ich auch auf David gezielt. Ich war wie
in Trance! Und das bereue ich zutiefst. Das kann ich nicht oft genug sagen.
Als Mitglied des Circle darf mir so etwas nicht passieren. Aber du kennst
mich, Bryan. Ich kann Fehler eingestehen und meine Lehren daraus
ziehen. Es wird keine weiteren Ausraster geben. David wird für mich nie
wieder ein Freund sein. Aber es ist richtig, dass es meine Vergewaltigung
nicht ungeschehen gemacht hätte, wenn die Schuldigen bestraft worden
wären. Wenn ich mich in Davids Lage versetze, kann ich sein Verhalten
sogar nachvollziehen. AURORA steht über allem. Deshalb begrabe ich das
Kriegsbeil.“
Bryan, der ein Gespür für Zahlen, aber weniger für die menschliche
Psyche hatte, konnte schwer einschätzen, ob sie die Wahrheit sagte oder ob
David mit seiner Einschätzung richtig lag, dass sie wegen ihrer
posttraumatischen Belastungsstörung einen so krankhaften Männerhass
entwickelt hatte, dass ihm praktisch jeder zum Opfer fallen konnte. Erst
recht, nachdem sie erfahren hatte, wer ihre Vergewaltiger gedeckt hatte.
Das wiederum würde bedeuten, dass sie niemals aus ihrer Zelle entlassen
werden durfte. Sie hatten bei der Auswahl geeigneter Persönlichkeiten für
die Neue Welt an vieles gedacht. Aber nicht an Psychotherapeuten.
Deshalb oblag es Bryan, eine Einschätzung abzugeben. In dieser Rolle
fühlte er sich nicht wohl. Er fragte Rebecca, ob sie David hasste. Wieder
beobachtete er sie genau.
Rebecca verzog keine Miene, als sie erklärte, dass sie keine
Freundschaft mehr für David empfand. Aber hassen? Um Gottes willen,
nein! Sie hatte einen väterlichen Freund verloren. Das war traurig, aber
nicht mehr zu ändern.
Bryan stellte noch einige Fragen, unterzog sie Tests, die er für klug
hielt. Sie bestand jeden mühelos. Sie kam ihm so vor wie damals, als er sie
kennengelernt hatte. Nichts deutete seiner Meinung nach auf eine
Persönlichkeitsstörung hin. Die Sache mit Chang und dem Assistenten war
angesichts der Ausnahmesituation, in der sie sich befand, verständlich.
Er versprach Rebecca, dass er dem Circle raten würde, sie
freizulassen. Man musste die Vergangenheit ruhen lassen. Die jüngste
Vergangenheit, und die weit zurückliegende. Dann ging er zurück in den
Versammlungsraum, in dem der Circle auf ihn wartete. Bryan teilte den
anderen seine Einschätzung mit. Alle stimmten Rebeccas Entlassung zu.
Auch Moore.
Kapitel 67
Cherokee
Oberst Wagner wurde in einen Verhörraum gebracht. Auf der anderen Seite
des Einwegspiegels verfolgten Winterbuttom, Jamal und Riley die
Befragung durch einen geschulten Elitesoldaten.
Zunächst musste Jamal Wagner identifizieren. Ein stechender
Schmerz durchfuhr ihn, als er den Mann wiedererkannte, der der Anfang
allen Übels war. Der Mann, dem Jamal und seine Familie ihre
kräftezehrende Flucht verdankten. Und der für Haukes Tod und den des
Staatssekretärs verantwortlich sein musste, in welcher Rolle auch immer.
Jamal bestätigte, dass es sich bei dem Mann, der betont lässig auf seinem
unbequemen Stuhl hing, um Edmund Wagner handelte.
Wagner verhielt sich in dem Verhör genauso, wie Jamal ihn in
Afghanistan kennengelernt hatte: cool. Er beteuerte sein Entsetzen über all
die schrecklichen Dinge, die geschehen waren. Der Tod so vieler
Menschen. So viel Leid. Aber weder er noch AURORA hatten etwas damit
zu tun. AURORA wollte schließlich genau das Gegenteil: Tod und Leid
verhindern.
Er führte aus, dass es sich bei dem Projekt in Sibirien um einen
offizieller Forschungsauftrag gehandelt hatte, der darin bestand, die
Meeresströmungen und das Methan in der Tiefsee zu untersuchen und
Viren in den schmelzenden Permafrostböden zu finden, die zu einer Gefahr
für die Menschheit werden konnten. Dass die Bundeswehr für ein solches
eigentlich ziviles Projekt eingesetzt worden war, begründete Wagner
damit, dass das Projekt von außerordentlicher Brisanz war. Spätestens die
Folgen eines Anschlags mit Viren würden die Bundeswehr auf den Plan
rufen. Also hatte das Marinekommando entschieden, die FS PLANET
präventiv einzusetzen.
In Sibirien wurden zwar Erreger gefunden, aber, entgegen der
vorherigen Einschätzung, keine, die eine ernsthafte Bedrohung darstellten.
Das ließ sich aber alles in dem Forschungsbericht nachlesen, welcher der
SAD sicherlich vorlag.
Auf Jamal Akbar angesprochen, verdrehte er die Augen. Akbar war
ein Terrorist mit einem Hang zu Verschwörungstheorien. Er konnte sich
gut an das Gespräch mit ihm in Kabul erinnern. Akbar hatte sich in die
Vorstellung hineingesteigert, dass sein Vorgesetzter in eine Verschwörung
verwickelt war. Diese Unterstellung war eine menschliche Enttäuschung,
denn am Tag des Gesprächs hatte Wagner persönlich Akbars Familie das
Leben gerettet! Wagner mutmaßte, dass ihn der Tod seines Sohnes aus der
Bahn geworfen hatte. Vielleicht gab Akbar ihm sogar unbewusst die
Schuld und wollte sich an ihm rächen. Durch bewusste Falschaussagen.
Aber die Anschläge auf ihn und den Tod seines Freundes habe sich
Jamal Akbar doch nicht eingebildet, hakte der Soldat nach. Das fand
Wagner sehr betrüblich, aber auch damit hatten er und AURORA nichts zu
tun. Wahrscheinlich hatte sich Akbar so tief hineingeritten, dass er
jemandem auf die Füße getreten war, dessen Motive nicht astrein waren.
Wagner hielt der gesamten Befragung stand. Er ließ sich weder durch
den muskelbepackten Elitesoldaten aus der Ruhe bringen, noch durch die
Androhung eines etwas kernigeren Verhörs. Er hatte auch eine Erklärung,
warum die Mitglieder der Stiftung untergetaucht waren: Als AURORA mit
Anschlägen in Verbindung gebracht worden war und sich sogar das FBI
einschaltete, waren sie zum Rückzug gezwungen. Das Schlimmste, was
passieren konnte, war ein Abbruch der Projekte, wenn die terroristischen
Bedrohungspotenziale zwar erkannt, aber noch keine Gegenstrategien
entwickelt worden waren. „Wehe, die Erkenntnisse der Stiftung fallen in
dieser Phase Terroristen in die Hände!“
Wagner äußerte seinen Unmut über dieses skandalöse
Misstrauensvotum. Da schloss sich die geistige Elite des Planeten
zusammen, um das Überleben der angeschlagenen Rasse Mensch zu
sichern, doch die hatte nichts Besseres zu tun, als ihre Heilsbringer auch
noch zu verdächtigen.
Der Oberst bestätigte, in dauerhaftem Kontakt zu AURORA,
insbesondere Pfeiffer, gestanden zu haben. Wegen des Projektes in
Sibirien. Von David Moore, für ihn persönlich ein großes Vorbild,
menschlich ebenso wie als Soldat, wusste er auch, dass die Stiftung sich
zurückziehen wollte. Der General war deshalb betrübt, hatte ihm aber aus
Sicherheitsgründen nicht sagen können, wohin sich AURORA
zurückziehen wollte. Moore hatte versprochen, sich an die Öffentlichkeit
zu wenden, wenn die Projekte abgeschlossen waren.
***
Wagner genoss das Verhör. Er hatte damit gerechnet, dass ihn irgendwann
eine Spezialeinheit verhaften würde. Das war Ausdruck ihrer Hilflosigkeit.
Sie wussten nichts und hatten nichts in der Hand. Die Hangrutschung und
die Tsunamis hatten die Welt ins Chaos gestürzt. Nichts war jetzt wichtiger
als ein Schuldiger. Das hatte der Circle vorhergesehen. Wagner wusste,
welche Fragen gestellt würden und welche Antworten er liefern musste.
Bis jetzt waren die Fragen des grimmig dreinblickenden Muskelberges in
dem gelben Schutzanzug harmlos. Wagner wartete auf die alles
entscheidende Frage. Immerhin wussten sie, dass es im sibirischen Eis
gefährliche Erreger gab. Wozu sonst diese Schutzanzüge und die
Blutentnahme?
Und dann kam sie endlich, jene einzig wahre Frage. Die
Gretchenfrage. Sie war so naheliegend. Wahrscheinlich dienten die
einführenden Fragen nur dazu, ihn weichzukochen.
„Mister Wagner, ist Ihnen bekannt, ob sich eines der Projekte der
Stiftung AURORA mit Angriffen auf die Kontinentalhänge
auseinandersetzt?“
Jetzt war die Zeit für seinen großen Auftritt gekommen. Ob sich
AURORA mit Angriffen auf die Kontinentalhänge auseinandersetzt.
Wagner musste sich beherrschen, nicht zu lachen. Es gelang ihm sogar,
bedrückt zu wirken.
„Meine Herren“, sagte er mit belegter Stimme, „das, was ich Ihnen
jetzt sage, darf nicht an die große Glocke gehängt werden. Es sei denn, Sie
wollen noch mehr schlafende Hunde wecken.“
Er legte eine Sprechpause ein, die er ebenso genoss wie die Irritation
des Superhelden.
Er presste die Lippen so fest aufeinander wie möglich und zwang
sich zu einem besorgten Blick. Auf Situationen wie diese war er
vorbereitet. Sein Blutdruck dürfte nicht einmal gestiegen sein.
„Also“, sagte er gedehnt und freute sich, dass der Muskelberg an
seinen Lippen hing, „ich weiß leider auch nur von einigen Projekten der
Stiftung. Die Statuten sehen vor, dass nur der Vorstand über alle Projekte
Bescheid weiß und die jeweiligen Teams im Detail über ihr spezielles
Projekt. Ich wusste natürlich über die Suche nach Bedrohungen aus dem
Eis in Form von Viren Bescheid, denn ich war ja selbst daran beteiligt.
Was glauben Sie, wie erleichtert ich war, dass unser Projekt kein Erfolg
war! Nicht auszudenken, was passieren würde, wenn die GESA in den
Besitz einer solch tödlichen Waffe käme! Allerdings gehe ich davon aus,
dass AURORA auch an anderen Orten der Welt nach solchen
mikroskopisch kleinen Bedrohungen sucht. Alles andere macht ja auch
keinen Sinn. Allerdings hat mir General Moore in einem persönlichen
Gespräch anvertraut, und das ist die Antwort auf Ihre Frage, dass sich
eines der Projekte mit den Kontinentalhängen beschäftigt. Die Menschheit
sorgt sich um den Golfstrom. Aber die schmelzenden Methanhydrate in
den Kontinentalhängen sind die Lunte für ein Pulverfass, neben dem der
Golfstrom lächerlich wirkt. Und diese Lunte zu zünden, ist keineswegs
abwegig, wie uns die Realität schmerzlich vor Augen geführt hat. Was
glauben Sie wohl, wie ich geschluckt habe, als ich diese Bilder im
Fernsehen gesehen habe? Mir ist schlecht geworden!“
Wagner legte eine weitere Sprechpause ein und täuschte Entsetzen
vor, indem er hektische Bewegungen mit den Fingern machte, sein Haar
nervös nach hinten schob, das viel zu kurz war, um irgendwohin
geschoben zu werden und seine Atmung hörbar beschleunigte. Er wusste,
dass er absolut überzeugend war. Der Soldat fragte ihn, ob Moore ihm
noch mehr Details anvertraut hatte.
Er atmete tief aus. Dann sagte er: „Ja, hat er. Sicherlich nicht alles.
Ich war erstaunt, dass er mir überhaupt etwas anvertraut hat. Aber ein
Team der Stiftung ist der Frage nachgegangen, ob es der GESA gelingen
könnte, die Kontrolle über Atom-U-Boote zu übernehmen und sie in einen
Kontinentalhang zu steuern. Ich habe das für utopisch gehalten. Bis zu
jener fürchterlichen Katastrophe.“
Der Soldat musterte ihn. „Wollen Sie damit andeuten, dass die GESA
amerikanische Atom-U-Boote entführt und in den Kontinentalhang
gesteuert hat? Am Präsidenten vorbei, der den Einsatz jeder Atomwaffe
autorisieren muss? Ziemlich abenteuerlich, finden Sie nicht?“
Wagner zuckte mit den Achseln. „Ich habe nur wiedergegeben, was
General Moore mir anvertraut hat. Und ich erzähle das nur, weil ich helfen
möchte, die Ursache dieser Katastrophe aufzuklären. Ich will also gar
nichts andeuten. Das heißt, eines doch. Es ist eher meine persönliche
Meinung. Interessiert Sie das?“
Der Soldat senkte den Kopf.
„Verstehe. Also gut. AURORA untersucht, ob und mit welchen
Mitteln Terroristen einen Kontinentalhang zum Einsturz bringen könnten.
Doch bevor das Projektteam der Stiftung Wege aufzeigen kann, wie sich
das verhindern ließe, passiert genau das. Sie verhören mich, weil Sie
glauben, dass AURORA dahinter steckt. Aber ich sage Ihnen, durch Ihre
Ermittlungen gegen AURORA haben Sie selbst für eine Aufhebung der
Geheimhaltung gesorgt! Ich gehe jede Wette ein, dass dadurch
hochbrisante Informationen nach außen gelangt sind, in wessen Hände
auch immer. Und diese Hände hatten die Mittel, genau das umzusetzen,
was AURORA verhindern wollte. Jetzt dürfen Sie sich mal ganz brav an
die eigene Nase fassen!“
***
„Glauben Sie dem etwa, Aiden?“, fragte Jamal aufgebracht.
Winterbuttom blickte finster durch den Einwegspiegel. „Glauben
bringt uns nicht weiter. Dieser Typ ist unglaublich gut geschult. Ich habe
noch nie erlebt, dass jemand so mühelos einem Verhör standhält. Selbst
wenn wir den foltern würden, würde er nichts sagen. Aber was er sagt, ist
nicht abwegig. Und wir haben keine gegenteiligen Beweise. Das Pentagon
hat ein Schadprogramm in seinem System entdeckt, das Moore installiert
haben könnte. Das könnte aber auch jeder andere. Auch irgendein
Hackergenie in Bagdad oder Damaskus. Und Sie wissen, Jamal, ich halte
islamistische Terroristen für viel wahrscheinlicher. Nur die haben ein
Motiv.“
„Aber wir haben doch über das Motiv gesprochen“, wiedersprach
Jamal. „Diese Terroristen wollen einen Großteil der Menschheit
vernichten, weil sie sie nicht für überlebensfähig halten. Den Rest wollen
sie nach ihren Vorstellungen führen. Wer könnte das besser als ein Mann
wie Moore?“
Winterbuttom blickte auf den kleinen Jamal herab. „Das ist viel
unwahrscheinlicher als die GESA. Aber wir gehen dem ja nach. Wir fahren
nach Adams Island. Aber etwas anderes steht im Vordergrund: weitere
Anschläge verhindern! Die Schuldfrage spielt erst danach eine Rolle. Aber
an ein todbringendes Virus glaube ich nicht. Dass ich uns hier kaserniere,
entspricht den Vorschriften in einer solchen Situation und den
Anweisungen des Präsidenten. Ich hätte zwar auch nicht für möglich
gehalten, dass Atom-U-Boote einen Kontinentalhang zum Einsturz bringen
können. Aber dass eine Handvoll Terroristen die Menschheit mit einem
Virus nahezu ausrottet, halte ich für Schwachsinn!“
Kapitel 68
Hartsfield–Jackson Atlanta International Airport, neun Tag nach der
Hangrutschung
Winterbuttoms Außenteam hatte sich mit Ärzten und Virologen in dem
Flughafen getroffen, in dem Riley Perkins erst vor wenigen Tagen
abgefangen worden war. Die Ärzte baten die teils belustigt, teils
misstrauisch auf die Schutzanzüge reagierenden Fluggäste um Blutproben.
Die Virologen nahmen Proben aus allen Bereichen der Flughafenhallen T,
A, B, C und D für Reisen innerhalb der USA und der Hallen E und F für
Auslandreisen im neuen Maynard H. Jackson Jr. International Terminal.
Die Soldaten sahen sich die Videoaufzeichnungen der letzten zwei Wochen
an. Bis zum Abtauchen des Stiftungsvorstands. Dasselbe machten andere
Teams auf anderen internationalen Flughäfen.
Um nach den Katastrophen zusätzliche Panik zu vermeiden, agierte
das Team diskret. Die Ärzte begründeten ihr Ansinnen mit einer Studie,
bei der es um die Frage ging, mit wie vielen –harmlosen- Erregern ein
Passagier während eines Fluges durchschnittlich in Berührung kam.
Zugleich sollte eine neue Generation von Schutzanzügen auf ihre
Praxistauglichkeit getestet werden. Das war zwar Blödsinn, aber das
konnten die Passagiere nicht wissen. Die meisten spendeten bereitwillig
Blut. Zumal die Studie anonym war, wie die zu Scherzen aufgelegten
Ärzte erklärten. Es ging allein um statistische Durchschnittswerte.
Deshalb musste niemand persönliche Daten preisgeben oder gar einen
Ausweis vorlegen.
Die drei Soldaten, die sich die Videoaufzeichnungen ansehen
mussten, langweilten sich zu Tode. Sie sahen nichts außer der üblichen
Hektik, die nach den Tsunamis erheblich zugenommen hatte. Sie gingen
rückwärts, beginnend mit den Aufzeichnungen von heute. Einer der
Soldaten stellte fest, dass es hier ziemlich scharfe Bräute gab. Der Älteste,
zugleich Ranghöchste von ihnen, mahnte seine Kameraden zu Disziplin
und höchster Konzentration. Der dritte fand aber auch, dass das Thema
Frauen das einzig Spannende sei. Ansonsten sei das nichts als
Zeitverschwendung.
„Seht nur“, rief er plötzlich aufgeregt, „die Blonde mit dem
schwarzen Minirock! Da hinten, am Security Checkpoint im Departures
Level! Mein Gott, was für Beine! Und was für geile Titten! Jede Wette,
dass die keinen BH trägt. Oh Mann, wie gerne hätte ich auf dem Flug
neben der gesessen, um einen Blick in ihren Ausschnitt zu erhaschen!“
Der Älteste verdrehte die Augen, fragte den Soldaten, ob seine
Entwicklung in der Pubertät stehengeblieben war, untersagte ihm weitere
Peinlichkeiten und bat den Sicherheitsdienst, den nächsten Tag
abzuspielen. Ein Flughafenmitarbeiter brachte Kaffee. „Ein Lichtblick in
der Ödnis“, fand der Jüngste, handelte sich einen vorwurfsvollen Blick
seines Vorgesetzten ein und musste frustriert zur Kenntnis nehmen, dass
das mit dem Kaffeetrinken in Schutzanzügen so eine Sache war.
Die Videoaufzeichnung zeigte nun den dritten Tag vor der
Hangrutschung. Allen viel auf, wie viel ruhiger es auf dem Flughafen
zugegangen war. Nicht nur weniger Passagiere, sondern auch viel weniger
Hektik. So entspannt wirkten die Mädels noch anregender, meinte der
Soldat und kassierte einen Rüffel seines Vorgesetzten und das
Versprechen, das Winterbuttom zu erzählen, wenn auch nur noch ein solch
dämlicher Kommentar von ihm käme. Ob er je aus der Pubertät
herausgekommen sei, wiederholte der Ranghöchste seine Frage.
Gerade, als der so Gescholtene seinen Vorgesetzten fragen wollte, ob
sich bei ihm denn bei solchen Anblicken überhaupt nichts rege, meldete
sich der Dritte zu Wort. Denn am vierten Tag vor der Hangrutschung gab
es mehr zu sehen, als schöne Frauen.
Der Ranghöchste starrte auf das Video. „Aber..., aber das da hinten,
im Delta Sky Club, das ist doch General Moore“, stellte er konsterniert
fest.
„Eben.“
„Aber was macht der da? Und warum läuft der quer durch den
ganzen Flughafen?“
Minutenlang war zu sehen, wie General Moore über das Gelände
schlenderte. Er ging in ein Geschäft, blätterte im International Atrium
durch Zeitschriften, ging zweimal auf die Toilette, an verschiedenen Orten,
spazierte in eine ganze Reihe der mehr als fünfundachtzig Geschäfte, ohne
etwas zu kaufen und besuchte zwei der gut frequentierten
Kunstausstellungen.
„Seht nur, jetzt geht er ins Maison Mathis“, bemerkte einer der
Soldaten. „Und ein Bier hat er auch bestellt. Bestimmt eins von den
leckeren belgischen. Ich glaube, der hatte einfach noch Zeit, bis sein Flug
ging.“
„Mag sein“, murmelte der Ranghöchste und rieb sich nachdenklich
das Kinn. „Trotzdem finde ich sein Verhalten merkwürdig. Jetzt fummelt
der auch noch an irgendwelchen Türgriffen rum. Das ist doch nicht
normal.“
„Und der da hinten, der jetzt direkt auf Moore zugeht“, rief der
Gescholtene aufgeregt, „erkennt ihr den auch?“
Der Ranghöchste kratzte sich am Kopf und verfolgte das Geschehen
auf dem Monitor. Der Mann ging schnurstracks auf Moore zu und sprach
ihn an. Die Männer unterhielten sich scheinbar angeregt. Moores
Gesprächspartner war in Begleitung.
„Interessant, das ist doch Colonel Brewster, samt Familie. Aber was
hat denn Brewster hier von Moore gewollt? Und wieso ist Moore so
auffallend herzlich zu dem? Wo doch jeder weiß, dass der Brewster nicht
ausstehen kann. Der fällt dem ja fast um den Hals. Ist das eine
Zufallsbegegnung? Soll ich euch was sagen? Das ist eine heiße Spur!
Diese Info muss sofort zu Winterbuttom! Aber vorher checken wir die
Passagierlisten. Ich will wissen, wohin die beiden geflogen sind.“
Kapitel 69
Oval Office
„Es waren eindeutig unsere U-Boote, Mister President. Daran besteht
leider kein Zweifel mehr. Zehn Atom-U-Boote der Ohio-Klasse sind in den
Hang gerast.“
Präsident Turner, der von den Überresten Teneriffas zurückgekehrt
war, blickte finster in die Info-Mappe in seiner Hand. „Was für eine
Katastrophe. Wie sollen wir das der Weltöffentlichkeit erklären?
Verheimlichen lässt sich das wohl kaum. Wir waren nicht der einzige
Erkundungstrupp vor Ort. Ich hatte heute schon einen aufgeregten Anruf
aus dem Kreml. Dabei hat es uns doch am schlimmsten getroffen!“
„Naja, ich weiß nicht recht, Sir“, warf der Soldat aus Winterbuttoms
Außenteam ein, „ich finde, die Menschen auf den Kanaren und in
Nordafrika sind nicht weniger betroffen.“
„Sie wissen genau, wie ich das meine“, grummelte Turner. „Es geht
nicht nur um die Anzahl der Opfer, sondern auch darum, dass wir unsere
wichtigste Metropole verloren haben! New York City, getilgt von der
Landkarte. Nicht bloß zwei Zwillingstürme! Nein, die ganze, verdammte
Stadt!“
„Und ich befürchte, es kommt noch schlimmer“, sagte der Soldat
zögernd.
Turner verdrehte stöhnend die Augen. „Noch schlimmer? Wie soll
das denn gehen?“
Der Soldat erklärte, dass es den EDV-Spezialisten gelungen war, den
Pfad zurückzuverfolgen, über den das Schadprogramm den Server befallen
hatte. Der letzte Beweis ließ sich zwar nicht erbringen, weil der fragliche
Laptop nicht verfügbar war, aber anhand früherer Zugriffe ließen sich
immerhin bestimmte Muster wiedererkennen.
„Ja, und?“, fragte Turner verärgert, „warum spannen Sie mich auf
die Folter? Was haben die Spezialisten herausgefunden?“
„Das Schadprogramm wurde tatsächlich von Moores persönlichem
Laptop überspielt“, nuschelte der Soldat mit gesenktem Kopf.
„Was haben Sie gesagt? Können Sie nicht lauter sprechen?“
Der Mann hob Kopf und Stimme. „Das Schadprogramm wurde von
General Moores persönlichem Laptop überspielt!“
Eine angespannte Stille breitete sich aus. Turner und der
Pentagonchef starrten sich wortlos an. Die Soldaten des SAD-Außenteams
blickten betreten zu Boden. Schließlich beendete der Präsident das
Schweigen mit einem knappen Kommentar: „So eine gottverdammte
Scheiße!“
Der Pentagonchef nickte. „Stimmt. Ich kann es auch nicht fassen.
David, unser Vertrauter, unser Berater, unser Freund, der Held, ja, das Idol
der ganzen Truppe. David und ein Terrorist? Das würde bedeuten, dass wir
dem besten Offizier, den wir jemals hatten, die größte Katastrophe in der
Geschichte der Vereinigten Staaten verdanken! Das halte ich für
ausgeschlossen.“
Der Soldat blätterte in seinen Unterlagen. „Das ist auch nicht
unbedingt gesagt, Sir.“
„Sagen Sie mal“, sagte Turner gereizt, „können Sie mal aufhören,
sich in Andeutungen zu verlieren? Reden Sie gefälligst, wenn Sie etwas zu
sagen haben, und zwar gerade heraus!“
„Entschuldigung, Sir, aber ich schaue gerade nochmal..., einen
Moment bitte, wo war das noch gleich? Ah, jetzt habe ich es. Hier steht es
schwarz auf weiß! Also, das Schadprogramm kam zwar mit an Sicherheit
grenzender Wahrscheinlichkeit von Moores Laptop. Aber es gibt
Hinweise, dass es zuvor selbst Opfer eines Hackerangriffs geworden ist.
Fragen Sie mich bitte nicht, wie die das herausfinden konnten, ohne den
Laptop zu haben. Aber einiges deutet darauf hin, dass es einen Zugriff gab
von einem Server in Damaskus!“
Turner presste die Lippen aufeinander. „Dachte ich es mir doch! Die
GESA. Wer sonst? Dennoch kapiere ich nicht, wie es denen gelungen sein
soll, durch alle Sicherheitssysteme hindurch zuerst auf Davids Rechner zu
kommen, und warum ausgerechnet David, und von da aus auf unseren
Server. Und wie sollen die es geschafft haben, ohne Autorisierung
Atomsprengköpfe zu entriegeln und scharfzustellen?“
Winterbuttoms Soldat führte aus, dass die Spur nach Damaskus nicht
sicher war. Und selbst wenn, einen Beweis, dass die GESA für die
Cyberattacke verantwortlich war, gab es nicht. Allerdings hatte ein
Programmierer erklärt, wie ein Schadprogramm aufgebaut sein musste,
um so etwas zu leisten. Das war überaus anspruchsvoll, aber möglich. Wer
immer das Programm geschrieben hatte, war nicht weniger als ein Genie.
Gerade als der Präsident seine Frage wiederholen wollte, warum sich
Attentäter in Damaskus ausgerechnet einen der am besten gesicherten
Laptops der USA ausgesucht haben sollten, flog die Tür auf. Ein
Mitarbeiter des Oval Office erschien im Türrahmen und rief aufgeregt,
dass etwas Interessantes im Fernsehen lief.
Der Pentagonchef nahm die Fernbedienung vom Schreibtisch und
schaltete den Fernseher an der Wand ein. Ein Sonderbericht auf CNN. Die
Gespräche verstummten.
„...soeben gerade zugespielt“, sagte die Nachrichtensprecherin. Dann
wurde ein Screenshot eines Bekennerschreibens der GESA eingeblendet,
das bei den größten Nachrichtensendern der Welt eingegangen war. Die
GESA übernahm in dem Schreiben, das derzeit von Fachleuten auf seine
Echtheit geprüft wurde, die Verantwortung für die Hangrutschung vor
Teneriffa. Es beinhaltete Täterwissen. Eine Fälschung galt als
unwahrscheinlich. Die GESA schilderte detailliert, wie sie einen Trojaner
über den Laptop eines hochrangigen Offiziers im System des Pentagon
installiert und damit die U-Boote ferngesteuert hatte.
„Das gibt es doch nicht“, sagte Turner fassungslos. „Woher haben die
solche Spezialisten?“
Die Nachrichtensprecherin beantwortete die Frage des Präsidenten.
Die GESA verwies auf ein Sicherheitsleck im System des Pentagon, durch
das der Trojaner eindringen konnte.
„Wenn sich das bewahrheitet, bedeutet das, dass uns die GESA den
Krieg erklärt hat!“
„Aber das hat sie doch längst“, bemerkte einer der Soldaten.
Turner verdrehte die Augen. „Wir sprechen nicht mehr von ein paar
Terroranschlägen, sondern von einem echten Krieg. Mit Opferzahlen wie
in einem echten Krieg. Sie wissen, was das bedeutet.“
„Was haben Sie vor?“, fragte Winterbuttoms Soldat.
„Abwarten, bis die Echtheit des Schreibens zweifelsfrei bewiesen
wurde. Und wenn es echt ist, werde ich eine Dringlichkeitssitzung des UN-
Sicherheitsrates einberufen. Es geht um den Weltfrieden. Wenn das eine
Kriegserklärung war, müssen wir entsprechend darauf antworten. Wir
haben viel zu lange gewartet!“
Kapitel 70
Adams Island
Der Circle verfolgte interessiert den Sonderbericht auf CNN. Mason Foley
und James Perkins hatten sich dazugesellt. Rebecca saß als Geste der
Entspannung neben David. Außerdem hatte sie sich bei dem verletzten
Assistenten und in einer Ansprache auch bei den Externen entschuldigt.
Perkins und Foley waren bislang die Einzigen, die sich zu AURORA
bekannten und demnächst in den Circle berufen würden. Sie waren Führer
und Meinungsbildner. Moore hoffte, dass viele der Externen ihrem
Beispiel folgen würden.
„Fast schon erschreckend, wie glatt das läuft“, sagte O´Connor.
„Vom Bau der Zentrale bis zu Phase eins. Kein Fehler, kein Stolperstein,
nichts. Damit habe ich nicht gerechnet.“
„Ich auch nicht“, stimmte Moore zu, „man muss aber fairerweise
konstatieren, dass das ohne Jimmy und sein geniales Programm nicht
möglich gewesen wäre.“
Perkins hatte den Sonderbericht aufmerksam verfolgt. Er wandte
sich an Moore und fragte, ob dieser Jimmy auch dafür verantwortlich war,
dass die Welt die GESA für den Schuldigen hielt.
Moore lächelte. „Nicht er allein. Ich denke, da dürfen wir uns auch
selbst auf die Schulter klopfen. Aber er hat einen großen Anteil daran.“
„Stammt dieses Bekennerschreiben von euch? Habt ihr das der
GESA untergejubelt?“, fragte Mason Foley.
Moore schüttelte den Kopf. Es war kaum möglich, das so zu
bewerkstelligen, dass die Echtheit des Schreibens nachgewiesen wurde.
Aber der Circle hatte der GESA anonym Informationen zugespielt und das
Verhalten der Terroristen vorhergesehen. Sie würden jede Gelegenheit
nutzen, sich zu Anschlägen zu bekennen, die keiner anderen Organisation
zugeordnet werden konnten. Genauso, wie bei den vorbereitenden
Anschlägen in Europa. Jetzt richtete sich die Welt gegen den Islam und die
Phasen zwei und drei konnten, perfekt getarnt, AURORA krönen.
„Wobei wir nicht vergessen dürfen, dass unsere eigentliche Arbeit
erst nach Beendigung der aktiven Phase beginnt“, wandte Richard
Armstrong ein. „Und abgesehen von unseren Kontakten im Weißen Haus,
im Kreml und bei den Europäern, seid ihr beide“, er zeigte auf Moore und
Tschechow, „tragende Säulen des Erfolgs. Nur wenn euch die Armeen der
USA und Russlands folgen, werden wir die Neue Welt in die richtige
Richtung lenken können. Seid ihr sicher, dass eure Soldaten euch folgen
werden?“
„Bedingungslos“, sagten Moore und Tschechow wie aus einem
Mund.
„Aber China ist außen vor, oder?“
Moore nickte. „Wie ich schon damals in Salem erklärt habe, haben
wir kaum Verbindungen nach China. Überhaupt nur wenig nach Asien. Das
ist riskant, aber ich denke, mit den Ländern Asiens werden wir verhandeln
können. Hauptsache, wir beherrschen die USA, Russland und Europa.“
„Und ich habe damals schon darauf hingewiesen, dass in China fast
anderthalb Milliarden Menschen leben. In Japan immerhin hundertdreißig
Millionen. Und die chinesische Armee darf durchaus als ernstzunehmende
Bedrohung angesehen werden. Ich weiß, ihr hört das nicht gerne, aber für
mich ist die Frage der nicht vom Circle infiltrierten Flecken auf der
Weltkarte noch wichtiger als die Frage, wie erfolgreich Ice und Caldera
sein werden.“
„China wird sich niemals auf einen Konflikt mit einem großen
vereinigten Reich, bestehend aus den ehemaligen USA, Russland und
großen Teilen Europas einlassen“, mutmaßte Tschechow. „Zumal Ice die
Menschheit nachhaltig dezimieren wird. Vor allem wir werden zu den
Überlebenden zählen. Über wie viel Macht wird also ein Land wie China
noch verfügen, wenn es vorbei ist?“
„Eben“, sagte Perkins und erhob sich. Er schien große Auftritte zu
mögen. Mit Pathos in der Stimme erklärte er, dass sein Virus die Erde von
einem Großteil der Menschheit befreien würde. Und es würde weder vor
China noch vor Japan Halt machen.
„Danke“, übernahm Moore wieder das Kommando, „wir halten also
fest, dass unser Plan auch für die Zeit nach AURORA, für die Neue Welt,
perfekt ist. In den entscheidenden Schaltkreisen der Macht ziehen wir
schon jetzt die Fäden. Aber danach entsteht ein Machtvakuum und wir
werden die Mächtigsten der Welt sein. China soll nicht unsere Sorge sein.
Sie werden mit dem paktieren, der ihnen nutzt. Wir müssen unseren Plan
konsequent durchziehen und dürfen uns von nichts und niemandem
ablenken lassen. Totale Zielfokussierung. Und vergesst nicht, dank Yefrem
und seinem Netzwerk werden wir auch im Nahen Osten die Macht
übernehmen. Dann haben wir Zugang zum Öl. Und damit machen wir
China gefügig. So einfach ist das.“
Plötzlich erhob sich Foley. „Ich weiß, das ist ein krasser
Themenwechsel. Aber ich wollte das schon die ganze Zeit ansprechen. Ich
bin bereit, AURORA zu unterstützen. Ich bin von der Idee überzeugt.
Obwohl mich Milliarden von Opfern nicht mehr ruhig schlafen lassen.
Aber ich verdränge meine Skrupel, indem ich mir einrede, dass ich das
ohnehin nicht verhindern kann. Zumal der Mensch dumm genug ist, sich
selbst auszuradieren, wenn ihn niemand aufhält. Dann ist es doch besser,
aktiv an der Gestaltung der Neuen Welt mitzuwirken. Aber nicht ohne
Kim! Nicht ohne meine Frau. Sie gehört, wie meine Kinder, in der Neuen
Welt an meine Seite! Bitte sorgt dafür, dass sie zurückkommt. Ich habe
seit ihrer Abreise nichts mehr von ihr gehört. Wie auch?“
Das war der kritische Moment, mit dem Moore schon lange
gerechnet hatte. Eine gefährliche Situation. Nach Rebeccas Ausbruch
durfte es keine weiteren Störfeuer geben. Er hatte den anderen damals, als
Tarkan Kim Foley getötet hatte, gesagt, dass er das mit Mason regeln
würde, wenn es soweit war. Moore stand auf, legte einen Arm um Foleys
Schulter und führte ihn in den Salon. Dort nahm er zwei Gläser und eine
Flasche Whiskey aus dem Schrank, füllte die Gläser und gab eines Foley,
der ihn misstrauisch beäugte.
„Mason“, begann Moore, „ich weiß nicht, wie ich dir das sagen soll.
Du weißt, wie viel ich von dir halte und wie sehr ich dich auch menschlich
schätze...“
Foleys Augen weiteten sich. „Was ist mit Kim?“
„Trink erst mal einen Schluck, Mason. Ich brauche auch was. Du
kannst dir nicht vorstellen, wie sehr mich das belastet. Und nicht erst seit
heute.“
Moore leerte sein Glas, schenkte sich nach und prostete Foley mit
zusammengepressten Lippen zu. Dann erzählte er die Geschichte, die er
sich zurechtgelegt hatte. Eine glaubwürdige Geschichte. Und eine
Geschichte, deren Gegenteil sich nicht beweisen ließ.
„Tarkan Jafari sollte Kim zum Festland bringen. Aber Tarkan war
nicht nur Yefrem abu Tariks treuer Gefolgsmann, sondern auch ein von den
USA gesuchter Agent des syrischen Geheimdienstes. Das FBI hat Jafari
abgefangen, als er mit Kim das Boot verlassen wollte, um an Land zu
gehen. Ich habe keine Ahnung, wie sie Tarkan finden konnten. Jedenfalls
hat der seine Waffe gezogen. Kim ist in den Schusswechsel geraten. Ein
Special Agent des FBI hat sie erschossen. Tarkan hat ihn vor Wut mit dem
Messer massakriert und die übrigen erschossen. Tarkan war eine lebende
Kampfmaschine. Deshalb konnte er entkommen. Aber anderthalb Jahre
später ist er nicht mehr entkommen.“
„Kim ist tot?“, stammelte Foley.
„Eigentlich wollte ich dir das ersparen“, sagte Moore und nahm ihn
in den Arm, „ich hatte gehofft, dass du niemals fragen würdest. Aber jetzt
hast du gefragt und ich kann dich nicht anlügen. Du hast ein Recht, die
Wahrheit zu erfahren. Eine bittere Wahrheit. Ich kann dir gar nicht sagen,
wie leid mir das tut.“
Foley sah Moore ungläubig an. Die Erkenntnis, dass er Kim niemals
wiedersehen würde, war noch nicht in sein Bewusstsein vorgedrungen.
„Du willst mir weismachen, dass die Amerikaner meine Frau auf dem
Gewissen haben? Das glaube ich nicht.“
„Tja, Mason, aber so ist es nun mal. Kim war zur falschen Zeit am
falschen Ort. Es war Zufall, riesengroßes Pech. Die Amerikaner hatten es
auf Tarkan abgesehen. Nicht auf Kim.“
Foleys Gesichtsausdruck veränderte sich langsam. Zunächst
reagierte er erschüttert und wurde leichenblass. Seine Tränen waren
beredte Zeugen, dass er nun begriffen hatte, dass Kim nicht mehr lebte.
Immer wieder stammelte er ihren Namen. Moore nahm ihn in den Arm
und redete beruhigend auf ihn ein.
Doch plötzlich lief Foleys Gesicht rot an und er ballte die Fäuste.
„Bis vor wenigen Minuten hatte ich noch Zweifel, ob wir das Recht haben,
Gott zu spielen. Die Idee hinter AURORA hat mich von Anfang an
überzeugt, nicht aber deren Umsetzung. Ich dachte, es muss auch ohne
Verluste gehen. Mit Überzeugungsarbeit. Doch jetzt sehe ich das anders.
Schon wieder ist eine Unschuldige, meine Frau Kim, Opfer abartiger
Machtspiele geworden. Ich weiß gar nicht, wie ich das meinen Kindern
beibringen soll. Mit Kim wurde mir ein wichtiger Teil meines Lebens aus
dem Herzen gerissen. Jetzt reicht es endgültig. Es wird Zeit, das Geschwür
Mensch zu entfernen!“
Moore drückte Foley noch fester an sich. Sein Plan war aufgegangen.
Er wusste, dass der Vulkanologe nicht an den Worten des
Sechssternegenerals zweifeln würde, der so einfühlsam auf ihn einging.
Und er hatte geahnt, dass diese Erklärung bei Foley Rachegelüste auslösen
würde. Er war, bei aller Wissenschaftlichkeit, hochemotional.
Wieder einmal war es Moore gelungen, negative Energie in positive
umzuwandeln. Die Entscheidung, Kim zu eliminieren, entpuppte sich im
Nachhinein als doppelt richtig. Jedenfalls dann, wenn man diese Tat so
eigennützig verpacken konnte wie er. Jetzt war Foleys Loyalität gegenüber
AURORA unerschütterlich.
Moore versprach ihm, dass er in der Neuen Welt eine tragende Rolle
spielen würde. Sie tranken schweigend Whiskey. Dann kehrten sie zurück
zu den anderen und damit zur Tagesordnung. Doch Moore wusste, dass
Foley noch meilenweit von jeder Tagesordnung entfernt war.
Er gesellte sich zu abu Tarik und Tschechow und flüsterte ihnen
etwas ins Ohr. Die beiden Männer erhoben sich und stellten sich mit
Moore vor die Gruppe, der Bryan bat, den Fernseher auszuschalten. Sie
hatten genug gesehen.
„Wir haben für euch noch ein paar Infos zu Ice und Caldera“,
kündigte Moore an. „Mitja, würdest du bitte beginnen?“
Tschechow nickte und brachte seine Sorge zum Ausdruck, dass der
Kreml nach der Explosion amerikanischer U-Boote seine Offiziere
überprüfen würde. Trotz des Bekennerschreibens war nicht
ausgeschlossen, dass der russische Präsident mit dem amerikanischen
sprach und sie vereinbarten, alle Atom-U-Boote bis auf Weiteres in die
Häfen zurückzubeordern. In dieser Situation musste er in Moskau sein.
Deshalb hatte er die Verantwortung für Caldera auf seinen besten Soldaten
und Freund übertragen, Kapitän Alexej Sergeewitsch Koroljow.
Koroljow hatte die Gewalt über sein eigenes Boot, die Podolsk, und
drei weitere Boote der Akula- und Oscar-Klasse. Kein Kommandant, außer
Koroljow selbst, war eingeweiht. Für die U-Boote bestand keine
Kommunikationsmöglichkeit. Die einzige Verbindung war die zwischen
Koroljow und ihm. Noch. Denn auch diese Verbindung sollte aus
Sicherheitsgründen in Kürze eingestellt werden. Die Boote lagen in
Entfernungen von drei bis fünf Stunden vor der West- und vor der
Ostküste. Koroljow hatte die genauen Zielkoordinaten im Südwesten und
Nordosten des Parks. Wenn der Kreml ihnen keinen Strich durch die
Rechnung machte, konnten beide Ziele mit einer Raketensalve unter
Beschuss genommen werden.
Rebecca bezweifelte trotz der positiven Ergebnisse des
Projektteams, dass es möglich war, einen Supervulkan künstlich zum
Ausbruch zu bringen. Doch Mason Foley ergriff energisch das Wort und
bestätigte, dass der Hitzeimpuls, der von so vielen Atomraketen ausging,
ausreichte, um eine Kettenreaktion in Gang zu setzen. Sofern die Raketen
ihr Ziel trafen.
Tschechow erklärte, dass die Raketen sogar eine Briefmarke treffen
konnten. Keine würde ihr Ziel verfehlen. Koroljow hatte einen exakten
Zeitplan. Und er war unfehlbar.
Abu Tarik berichtete, dass alle infizierten Schläfer vor ein bis zwei
Wochen mit Flüchtlingen in Europa angekommen waren und sich dort auf
Hauptstädte und Metropolen verteilten.
Perkins ergänzte, dass vermutlich schon ein Drittel der Menschheit
befallen war. Das ergab sich aus den Hochrechnungen seines Teams. Und
weil die ersten Symptome frühesten nach zwei Wochen auftraten und
zunächst an eine Erkältung erinnerten, war damit zu rechnen, dass die
ganze Erde verseucht war, ehe die Menschen begriffen, womit sie sich
tatsächlich infiziert hatten.
Zufrieden ergriff Moore das Wort. „Ihr seht, auch Ice verläuft nach
Plan. Und wenn irgendein oberschlauer Mediziner Verdacht schöpft, ist es
zu spät. Bis der Katastrophenschutz die richtigen Maßnahmen ergriffen
hat, ist die Verbreitung längst erfolgt. Außerdem haben wir ja auch noch
den Projektbereich Flughäfen. Stellvertretend für die anderen Verteiler des
Circle, will ich euch nun erzählen, wie ich das Virus platziert habe.
Anfangs hatte ich ein mulmiges Gefühl. Immerhin trug ich eine Lösung
mit dem tödlichsten Virus der Welt bei mir. Ich war geimpft. Sicherlich.
Aber ein Restzweifel blieb trotzdem. Also, ich hatte einen regulären Flug
nach Moskau gebucht...“
Ende Teil 1
Ihr sollt nicht meinen, daß ich gekommen bin, Frieden zu bringen auf die
Erde. Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert.
Matthäus 10,34f
Der Kampf ist euch befohlen, auch wenn er euch missfällt; aber es ist wohl
möglich, dass euch etwas missfällt, was gut für euch ist; und es ist wohl
möglich, dass euch etwas gefällt, was für euch übel ist.
Sure 2, Vers 216
Die wichtigsten Protagonisten in alphabetischer Reihenfolge (Teil 1
und 2)
Clara
In der Nacht war Evelyne Demaurex ins Koma gefallen, die
lebenserhaltenden Maschinen wurden abgestellt. Als Clara eintraf, lebte
Evelyne schon nicht mehr. Wenigstens hatten ihre Kinder nichts
mitbekommen. Sie schliefen noch.
Clara hatte Evelyne, deren Körper und Gesicht sich nochmals
verändert hatten und einen fürchterlichen Anblick boten, aus dem Zimmer
tragen lassen, bevor die Kinder aufwachten. Andrea fragte nach dem
Aufwachen sofort nach ihrer Mutter. Auch sie hatte sich über Nacht
verändert und wirkte mehr tot als lebendig. Die Medikamente linderten
zwar die Schmerzen. Aber die großflächigen Blutungen und Pusteln und
das eingefallene Gesicht, das bei einem Kind noch viel grausamer wirkte
als bei einer erwachsenen Frau, sprachen eine deutliche Sprache.
Die hässliche Fratze der Krankheit, dachte Clara wieder. Den Tod
konnte sie akzeptieren. Er gehörte zu ihrem Beruf. Auch die Tatsache, dass
es Krankheiten gab, Krebs zum Beispiel, die einen Patienten in kurzer Zeit
um Jahre altern und schließlich sterben lassen konnten. Doch ein solches
Grauen war mehr als sie verkraften konnte. Sie fühlte Mitleid, einen
Anflug von Ekel und panische Angst. Aber sie war fest entschlossen, den
Tod bei ihr um sein perverses Vergnügen zu bringen...
Aubrey
Trotz ihrer flehentlichen Bitte, sofort zu verschwinden, hatte Logan darauf
bestanden, den Jeep mit der Seilwinde zu dem großen Schacht zu fahren,
ihn dort mit den Unterlegkeilen, die sich ebenfalls auf der Ladefläche
befanden, zu sichern und sich dann mit der kleinen Gondel abzuseilen.
„Wenn ich etwas finde, haben wir viel mehr in der Hand, was wir der
Parkverwaltung oder der Polizei melden können“, meinte Logan. Für sie
war das nur ein Vorwand.
Als Aubrey zugesehen hatte, wie er mit dem Lift langsam in dem
Schacht abgetaucht war, bis er aus ihrem Blickfeld verschwunden war, war
es ihr richtig schwindelig geworden. Das Surren und Quietschen der
Seilwinde, deren Fernbedienung Logan auch noch mitgenommen hatte,
war ihr vorgekommen wie ein gehässiges Lachen des Teufels.
Und jetzt stand sie hier mutterseelenalleine herum und musste die
Seilwinde von oben kontrollieren. Aufpassen, dass die Verankerung hielt.
Wobei sie sich fragte, was sie als einzelne Frau wohl ausrichten konnte,
wenn sich die Seilwinde tatsächlich plötzlich aus der Verankerung löste
oder gar eines von den wenig Vertrauen erweckenden Halterohren abbrach.
Ein weiterer Grund, warum Aubrey Angst hatte. Rasch trat sie an die
Befestigungen heran und prüfte die Schrauben und Haken. Das Konstrukt
wirkte zumindest halbwegs stabil.
Ein paar Blätter wirbelten dicht an ihrem Ohr vorbei. Das Heulen in
dem morschen Gebälk nahm zu. Es klang unheimlich, flehentlich,
geisterhaft. Die Sonne war jetzt ganz verschwunden. Es wurde immer
dunkler. Dicke Regentropfen klatschten in den Sand und wirbelten ihn auf.
Aubrey öffnete den Rucksack und nahm ihren Regenponcho heraus. Sie
fröstelte. Anscheinend kühlte es schnell ab. Oder kam das von ihrer Angst?
Sie fühlte sich so ausgesetzt, schutzlos, den Elementen ausgeliefert. Sie
wollte auch nicht zum Camper. Sie wollte nach Hause, in ihr gemütliches
Heim, sich an den Kamin setzen, Tee trinken, sich in Logans Schoß
kuscheln und ein gutes Buch lesen.
Was sollte sie eigentlich tun, wenn Logan nicht wiederkam? Wenn
ihm etwas zugestoßen war? Warum sonst sollte er so lange wegbleiben? Er
wusste doch, dass sie Angst hatte. Und er wusste, dass das Wetter
umschlug!
Als die dicken Tropfen laut auf das Polyester ihres Ponchos
aufschlugen, der Wind ihr wahre Sintfluten ins Gesicht trieb und sich die
Wolken bedrohlich hinab senkten, spürte sie, wie ihre Angst allmählich in
Panik umschlug. Sie trat dicht an den Rand des umzäunten Schachtes
heran und rief so laut sie konnte in die Tiefe: „Logan! Logan, kannst du
mich hören? Wo bleibst du so lange? Logan!“
Doch Logan antwortete nicht.
Der Angriff
Nachdem der Kommandant den Einsatzbefehl gegeben hatte, stiegen
zeitgleich zweiundzwanzig Apache Kampfhubschrauber von drei
Stützpunkten unweit Kabuls auf. Jeder Stützpunkt bedeutete eine Staffel
mit eigenen Angriffszielen. Staffel eins war die größte mit allein zehn
Hubschraubern. Staffel zwei umfasste sieben und Staffel drei fünf
Apaches. Im Tiefflug näherten sie sich der Stadt. Ihre Rotoren
verursachten einen höllischen Lärm. Ihr Anblick bot ein
furchteinflößendes Szenario.
Staffel zwei erreichte die Stadt zuerst. Den Kommandanten überfiel
ein wohliger Schauer, als sich die sieben Apaches im geordneten
Formationsflug aus Nordwesten näherten. Zunächst waren sie nur als
kleine Punkte zu erkennen. Nur allmählich schwoll der tiefe Sound ihrer
Rotorblätter an.
Die Symphonie der Macht. Diese Scheiß Islamisten mit ihren
verrosteten Kalaschnikows hatten ihnen nichts entgegenzusetzen. Endlich
konnte er jeden Hubschrauber mit bloßem Auge ausmachen. Sie flogen in
V-Formation. Natürlich. Der Führungshelikopter vorne. Dahinter zwei
weitere, dahinter nochmal vier. Metergenaue Abstände. Was für ein
erhabener und imponierender Anblick. Diese Piloten waren Virtuosen der
Lüfte.
Als sich Staffel zwei bis auf rund zwei Kilometer genähert hatte,
tauchte im Südwesten Staffel drei auf. Die kleinste Staffel. Sie flogen in
einer nicht weniger beeindruckenden Dreiecksformation. Dann näherte
sich Staffel zwei Kabul auf Zielreichweite. Synchron feuerten die sieben
Apaches ihre Luft-Boden-Raketen ab. Ein überwältigender Anblick, als
sich die Raketen ihren Zielen in Bruchteilen von Sekunden näherten,
begleitet von einem grellen Feuerstoß. Schon schlugen sie ein. Jede traf
ihr Ziel. Aus dieser Entfernung gab es keine Fehlschüsse. Jedes Ziel trug
schwere Schäden davon. Die Explosionen waren in der Kommandozentrale
gut zu hören. Rauchschwaden stiegen auf. Aber der Kommandant wusste,
dass zu viel von diesem feigen Pack noch nicht das Zeitliche gesegnet
hatte. Aber das würde sich gleich ändern...
Danksagungen
Auch bei diesem Roman haben mich viele Menschen mit ihrem
Fachwissen, kreativen Ideen und kritischen Rückmeldungen begleitet. Das
Wissen und die Hilfebereitschaft dieser Menschen waren für „VIRUS –
Der letzte Anschlag“ ein wichtiger Input! Ich war erstaunt, wie nahe die
Fiktion der Realität ist. Und es ist überaus faszinierend, in so viele
spannende Welten einzutauchen! Ich bedanke mich herzlich für diese
wertvolle Unterstützung!
Allen voran danke ich der wunderbaren Frau an meiner Seite, die mich
inspiriert und meinen gesamten Schreibprozesses kreativ und ideenreich
begleitet hat.
Frank Behling, Schiffs- und Militärexperte der „Kieler Nachrichten“.
Frank hat mit erklärt, welche Schiffstypen es gibt, für welche Arten von
Einsätzen sie geeignet sind und wie im Speziellen Atom-U-Boote
funktionieren und wie gefährlich sie sind.
Prof. Dr. Helmut Fickenscher, Direktor des Instituts für Infektionsmedizin
in Kiel. Prof. Fickenscher hat mich umfassend über die verschiedenen
Arten, Wirkungsweisen und die Gefährlichkeit von Viren aufgeklärt. Wir
haben auch über die Möglichkeiten einer mikrobiologischen Veränderung
von Viren gesprochen.
Dr. Wolfram Geier, Bundesamt für Bevölkerungsschutz und
Katastrophenhilfe, Bonn. Dr. Geier hat mit erklärt, wie Katastrophenschutz
funktioniert, nicht nur in Deutschland, sondern weltweit. Er hat aufgezeigt,
wann der Katastrophenschutz an seine Grenzen stößt und die
Terroranschläge in „VIRUS – Der letzte Anschlag“ hinsichtlich ihrer
Gefährdung und Beherrschbarkeit im realen Katastrophenfall beurteilt.
Dr. Steffen Kutterolf, Vulkanologe, GEOMAR Helmholtz-Zentrum für
Ozeanforschung Kiel und Universität Kiel. Steffen hat mir erklärt, wie ein
Supervulkan funktioniert, welche dieser Giganten besonders gefährlich
sind und unter welchen Bedingungen ein „schlafender Drache“ durch
äußere Einflussnahme geweckt werden könnte. Steffen hat außerdem Teile
meines Textes fachlich geprüft.
Prof. Dr. Rolf Langhammer, Institut für die Weltwirtschaft IFW. Prof.
Langhammer hat mir geholfen, die Auswirkungen globaler Katastrophen
auf die Weltwirtschaft und die Wechselwirkungen zwischen den
Volkswirtschaften zu verstehen und als Gedankenspiel so etwas wie eine
„ideale Volkswirtschaft“ zu entwickeln. Prof. Langhammer hat außerdem
Teile meines Textes fachlich geprüft.
Prof. Dr. Mojib Latif, Ozeanzirkulation und Klimadynamik, GEOMAR
Helmholtz-Zentrum für Ozeanforschung Kiel und Universität Kiel. Prof.
Latif hat mich über den aktuellen Stand der Forschungen über den
Golfstrom informiert. Und wir haben über Kontinentalhänge und die
möglichen Klimafolgen des Ausbruchs eines Supervulkans gesprochen,
die bei weitem schwerwiegender wären als ein Versiegen des Golfstroms.
Prof. Latif hat darüber hinaus Teile meines Textes fachlich geprüft.
Prof. Dr. Thomas Lux, Lehrstuhl für Geld, Währung und Internationale
Finanzmärkte, Christian-Albrechts-Universität zu Kiel. Prof. Lux hat mir
erklärt, wie Volkswirtschaften auf solche Anschläge reagieren würden und
welches Gefährdungspotenzial von solchen Katastrophen ausgeht. Prof.
Lux hat außerdem Teile meines Textes fachlich geprüft.
Prof. Dr. Werner Ruf, Kassel. Werner Ruf ist Professor für Internationale
und intergesellschaftliche Beziehungen und Außenpolitik. Er hat mich
rund um das Thema Islam beraten. Es war mir wichtig, dieses Thema
realitätsnah zu behandeln, aber nicht polemisch oder wertend. Prof. Ruf
hat außerdem Teile meines Textes fachlich geprüft.
Paul Wagner, Atomspezialist. Paul hat mich über die unterschiedlichen
Arten von Atomwaffen aufgeklärt, mir ihre grauenvolle Wirkungsweise
erklärt und Teile meines Textes fachlich geprüft.
Nils W. aus M., der mir von seinen Erlebnissen bei seinem
Auslandseinsatz erzählt hat. Erst dadurch habe ich ein Verständnis dafür
entwickelt, was es heißt, im Nahen Osten stationiert zu sein. Und vielen
Dank, dass Du mir eine Uniform besorgt und mich bei unseren
Dreharbeiten unterstützt hast!
Marco Kindermann und sein Team, die meinen Social Media Auftritt
geplant und umgesetzt haben und mich auch zukünftig begleiten werden.
Ohne euch hätte ich das nicht geschafft!
Das Kieler Innovations- und Technologiezentrum, das uns Räume für
unsere Dreharbeiten zur Verfügung gestellt hat.
Der Deutsche Marinebund e.V., der uns freundlicherweise genehmigt hat,
in seinem berühmten U-Boot in Laboe, der U-995, zu drehen. Er wahrhaft
realistischer Schauplatz...
Hugo Hamann GmbH & Co. KG, Kiel, die mich großzügig mit diversen
Ausdrucken unterstützt haben.
Kai Teichmann, der mir sein sensationelles Foto für mein Cover zur
Verfügung gestellt hat.
Heiko Hartmann, für seine wertvollen Ratschläge rund um Kindle und
Social Media.
Meine Mutter und Christian, die mein Manuskript vorab gelesen und mir
viele wertvolle Tipps gegeben haben.
VIRUS – Der letzte Anschlag im Internet
http://www.virus-buch.de
https://www.facebook.com/VirusDerletzteAnschlag/
https://www.youtube.com/channel/UCp9Zqn_0T7ktdm1Q5HjSecQ
Die Krimiserie des Autors im Emons Verlag
Der Südtirolkrimi
http://www.emons-verlag.de/programm/das-monster-von-bozen
http://www.emons-verlag.de/programm/eiszeit-in-bozen
http://www.emons-verlag.de/programm/goldrausch-in-bozen
http://www.emons-verlag.de/programm/schatten-ueber-bozen
Der Emslandkrimi
http://www.emons-verlag.de/programm/sterbenslang