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AUSLÄNDISCHE ARBEITNEHMER BEI SIEMENS BERLIN IN DEN

1960ER/70ER JAHREN

Hausarbeit zur Erlangung eines akademischen Grades des Magister Artium


(M.A.)

vorgelegt von Marcel Michels


31. März 2001

Referent: Prof. Dr. Hans Günter Hockerts


Korreferent: Prof. Dr. Martin H. Geyer

Historisches Seminar der Ludwigs-Maximilians-Universität München


Abteilung für Neueste Geschichte und Zeitgeschichte
A b k ü r z u n g s v e r z e i c h n i s :

BMW Bayerische Motoren Werke AG


SSW Siemens-Schuckertwerke AG
AEG Allgemeine Elektrizitäts Gesellschaft
S&H Siemens & Halske AG
ERP European Recovery Program
AVAV Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung
Soz Pol Sozialpolitische Abteilung
ZP, ZPS Zentrale Personalstelle
WWB Wernerwerk für Bauelemente
FA Fabrikationsabteilung
IBA Informationen zur Beschäftigung von Ausländern
Wv Weitverkehr
UB Unternehmensbereich
B Bauelemente
N Nachrichtentechnik
I Installationstechnik

2
I. Einleitung

Die Geschichte der vorliegenden Magisterarbeit beginnt mit einem zufälligen


„Schatzfund“. Bei einer Dienstreise an den Berliner Firmensitz der Firma Siemens
stießen Mitarbeiter des Unternehmensarchivs in lange vergessenen Speicherräumen
des ehemaligen SSW-Verwaltungsgebäudes in Siemensstadt, dem von der Firma
maßgeblich gestalteten Stadtteil Berlins, auf den nahezu lückenlos erhaltenen
Aktenbestand der ehemaligen gemeinsamen Sozialpolitischen Abteilung der beiden
Siemens-Stammfirmen Siemens & Halske AG und Siemens-Schuckertwerke AG. Der
von den Akten abgedeckte Zeitraum erstreckt sich in etwa von 1930 bis 1980, mit
Schwerpunkten der Überlieferung nach Ende des Zweiten Weltkriegs. Darunter
fanden sich auch Akten zur Beschäftigung sogenannter „Gastarbeiter“ seit Anfang
der 1960er Jahre. Dieser Themenkomplex war schon vorher innerhalb des Siemens-
Archivs ins Interesse gerückt und sollte in absehbarer Zeit durch eine
wissenschaftliche Arbeit behandelt werden. Die schon im Siemens-Archiv lagernden
Quellen der Sozialpolitischen Abteilung München ließen aber keine erschöpfende
Behandlung des Themas zu. Die bisher ungünstige Quellenlage änderte sich nun
schlagartig. Durch die umfassende Zuständigkeit der Sozialpolitischen Abteilung am
Standort Berlin und den Zusammenhalt der dortigen, in „Insellage“ verharrenden
Werke waren in den Akten fast sämtliche Aspekte der Ausländerbeschäftigung
behandelt.
Aus dieser Motivation heraus ist die vorliegende Arbeit entstanden. Sie ist die erste,
die sich ausschließlich mit der Beschäftigung von Ausländern in einem deutschen
Unternehmen beschäftigt. Bisher ist, abgesehen von zwei kürzeren Vorberichten, die
der Publikation zweier Dissertationen zur Ausländerbeschäftigung bei der
Volkswagen AG1 und bei der Salzgitter AG2 vorausgehen, eine Magisterarbeit zur
Personalpolitik in den 1960er Jahren bei BMW, in der die Ausländerbeschäftigung
aber nur einen Aspekt darstellt,3 entstanden.

1
Anne von Oswald: „Arbeitseinsatz der ‚Gastarbeiter‘ im Volkswagenwerk (1962-1974/75): Wolfsburger
Sonderfall oder bundesdeutscher Normalfall?“, in: Katja Dominik, Marc Jünemann, Jan Motte, Astrid Reinecke
(Hrsg. im Auftrag der Geschichtswerkstatt Göttingen): Angeworben – eingewandert – abgeschoben: ein anderer
Blick auf die Einwanderungsgesellschaft Bundesrepublik Deutschland, Münster, 1999, S. 83-100.
2
Jan Motte: „Gedrängte Freiwilligkeit. Arbeitsmigration, Betriebspolitik und Rückkehrförderung 1983/84“, in:
Jan Motte, Rainer Ohliger, Anne von Oswald (Hrsg.): 50 Jahre Bundesrepublik – 50 Jahre Einwanderung.
Nachkriegsgeschichte als Migrationsgeschichte, Frankfurt/New York, 1999, S. 165-183.
3
Tanja Schmidhofer: Personalpolitik in Zeiten chronischen Arbeitskräftemangels. BMW in den sechziger Jahren,
Magisterarbeit an der Universität Konstanz, 2000

3
Das Beispiel Siemens in Berlin ist in vielerlei Hinsicht bemerkenswert: Es handelt
sich um einen der größten privaten Arbeitgeber in Deutschland überhaupt, Berlin war
zur fraglichen Zeit der größte Produktionsstandort der Siemens AG innerhalb
Deutschlands mit einer sehr hohen Zahl ausländischer Mitarbeiter, die wirtschaftliche
Lage Berlins war in der Nachkriegszeit durch Isolation geprägt und ganz besonders
von der Arbeitskräfteknappheit betroffen und schließlich waren die Siemens-Werke
mit Abstand größter Arbeitgeber Westberlins, dessen Einfluß auf die
Beschäftigungspolitik des Berliner Senats und die Haltung der Berliner
Arbeitgeberverbände nicht unterschätzt werden darf.
Aufgrund dieser speziellen Voraussetzungen sind aber auch Nachteile mit der
Untersuchung der Ausländerbeschäftigung bei Siemens Berlin verbunden. Einerseits
ist zu prüfen, ob sich die Anwerbung von Arbeitnehmern in Berlin von der Anwerbung
in Westdeutschland nur durch eine zeitliche Verschiebung unterscheidet, oder ob
schwerwiegende strukturelle Unterschiede ein völlig unterschiedliches Konzept der
Ausländerbeschäftigung bedingten, zum zweiten fehlt der direkte Vergleich zu einem
anderen, vorzugsweise Berliner Unternehmen der Elektroindustrie. Dafür würden
sich die in anderen Arbeiten zur Geschichte des Hauses Siemens immer zum
Vergleich herangezogene AEG mit ihrem Hauptsitz in Berlin oder die Bergmann-
Elektrizitätswerke AG, ebenfalls in Berlin, anbieten. Leider ist die Quellenlage für
beide Unternehmen nicht annähernd so günstig wie für die Siemens AG, da sie nicht
mehr in ihrer eigenständigen Rolle bestehen. Bergmann ist in der Siemens AG
aufgegangen und die AEG besteht nur noch als Markenname. Die Aktenbestände
der Bergmann-Elektrizitätswerke AG gingen nach dem Unternehmenskauf verloren,
und das AEG-Archiv befindet sich im Museum für Technik in Berlin. Aufgrund des
relativ kurz zurückliegenden Zeitraums des behandelten Themas sind viele wichtige
Unterlagen vielleicht noch in den Registraturen ehemaliger Abteilungen oder wurden
beim Verkauf von Unternehmensteilen dem neuen Eigentümer übergeben. Nur durch
die Auflösung der Sozialpolitischen Abteilung der Siemens AG Ende der 1970er
Jahre ist der Aktenbestand so geschlossen überliefert worden.
Ich stelle in dieser Arbeit alle Aspekte der Ausländerbeschäftigung vor, die aus
unternehmerischer Sicht so wichtig waren, daß sie sich in der Quellen
niedergeschlagen haben. Nicht erfaßt sind dadurch bedingt Erfahrungsberichte der
ausländischen Arbeitnehmer selbst. Um durch sie ein ausgeglichenes Bild zu
erlangen und aus vielen Einzelschicksalen eine Gesamtdarstellung zu machen, hätte

4
es zahlreicher Einzelinterviews bedurft, die im Rahmen einer Magisterarbeit nicht
eingeholt und ausgewertet hätten werden können. Dadurch bedingt ist auch die
Darstellung aus der Perspektive des Unternehmens entstanden.
Im letzten Teil dieser Arbeit habe ich, soweit das möglich war, die Situation bei
Siemens Berlin mit den vorgenannten Firmen VW, BMW und Salzgitter AG sowie mit
der in der Standardliteratur4 dargestellten Entwicklung der Ausländerbeschäftigung in
der deutschen Gesamtwirtschaft verglichen. Dabei soll gezeigt werden, ob die
Situation bei Siemens dem Normalfall entsprach oder eine Ausnahme darstellte.

Der Einsatz ausländischer Arbeitskräfte in der deutschen Wirtschaft ist keine


Erscheinung, die erst in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg auftrat, sondern hat
schon lange Tradition. Gesamtdarstellungen des Themas, wie die von Ulrich Herbert
und anderen beginnen gewöhnlich mit der Beschäftigung von Saisonarbeitern im
wilhelminischen Kaiserreich und gelangen über den Einsatz von Zwangsarbeitern im
Zweiten Weltkrieg dann zum Einsatz von „Gastarbeitern“ in der vom
„Wirtschaftswunder“ geprägten Wirtschaft der Bundesrepublik nach 1955. Das
Phänomen der „Arbeitsmigration“ hat in räumlich begrenztem Umfang schon viel
längere Tradition, ob nun in der Form saisonaler Wanderarbeiter wie der deutschen
„Hollandgänger“, der Tiroler Wanderarbeiter im 18. und 19. Jahrhundert, oder der
sogenannten „Schwabenkinder“ die noch bis in die 1930er Jahre auf Vorarlberger
Bauernhöfen arbeiteten, oder in dauerhafter Migration, vor allem deutscher Siedler in
Osteuropa. Allerdings bewegten sich diese Migrationen meist aus Deutschland
heraus, oder von einem Staatsgebilde des Alten Reiches in ein anderes, ohne dabei
das ganze Land zu beeinflussen.
Diese Migrationsströme vergangener Jahrhunderte waren von ihrem Umfang her
deutlich kleiner als die, erzwungene und freiwillige, Arbeitsmigration im Zwanzigsten
Jahrhundert. Der Einsatz von 7,7 Millionen ausländischen Zwangsarbeitern (Stand
Juli 1944) in der deutschen Industrie während des Zweiten Weltkriegs 5 übertraf die
Zahl der „Gastarbeiter“, die von 1955 bis 1973 durch die Bundesanstalt für AVAV
angeworben worden, bei weitem und hat, wie man heute wieder an der Diskussion
über die Entschädigung der ehemaligen Zwangsarbeiter erkennen kann, immer noch

4
Die beiden grundlegenden Werke zur „Gastarbeiterbeschäftigung“ stammen von Ulrich Herbert (1986) und
Klaus Bade (1983).
5
Vgl. Ulrich Herbert: „Geschichte der Ausländerbeschäftigung in Deutschland 1880 bis 1980: Saisonarbeiter,
Zwangsarbeiter, Gastarbeiter“, Berlin/Bonn, 1986, S. 180.

5
starken Bezug zur Gegenwart. Aber die noch junge, bundesdeutsche Gesellschaft
der frühen Nachkriegszeit ist durch dieses recht kurz (1940-1945) dauernde
Phänomen, das von Anfang an als, durch die Kriegswirtschaft bedingte, befristete
Maßnahme konzipiert war, weit weniger geprägt worden, als unsere heutige
Gesellschaft durch die Beschäftigung von ausländischen Arbeitnehmern nach 1955
und die Niederlassung ausländischer Familien seit den späten 1960er Jahren, deren
Auswirkungen bis auf den heutigen Tag im Straßenbild und in der gesellschaftlichen
Entwicklung spürbar sind.

An dieser Stelle möchte ich mich herzlich bei allen Freunden und Kollegen
bedanken, die mich bei der Erstellung dieser Magisterarbeit unterstützt
haben: Prof. Dr. Wilfried Feldenkirchen, Klaus-Giselher Reiter, Dr. Frank
Wittendorfer, Ulrich Fritz, Andrée Michel, Claudius Schaar, Birgit Söllner,
Alessandro Celli und meinen Eltern, ohne die ich niemals so weit gekommen
wäre.

6
II. Arbeitsmarkt und wirtschaftliche Situation Berlins unter besonderer
Berücksichtigung der Elektroindustrie und Siemens

Nach einem kurzen Rückblick auf die wirtschaftliche Entwicklung der Elektroindustrie
in der Reichshauptstadt während des Zweiten Weltkriegs sollen in diesem Kapitel die
wichtigsten Stationen im Wiederaufbau der Westberliner Industrie bis zum Mauerbau
1961 verfolgt werden. Darüber hinaus wird auf den Zusammenhang zwischen
Mauerbau, Arbeitskräfteknappheit und der Haltung des Berlin Senats zur
Ausländerbeschäftigung eingegangen.

1. Die Berliner Elektroindustrie und Siemens während des Zweiten Weltkriegs

Die deutsche Elektroindustrie, wie auch andere Industriezweige, die direkt oder
indirekt an der Produktion von Rüstungsgütern für die nationalsozialistische
Kriegsmaschinerie beteiligt waren, war 1939 mit stark ausgeweiteten Kapazitäten
und Produktionanlagen auf dem neuesten Stand der Technik für die Kriegsfertigung
gerüstet.6 Bis zum Ende des Jahres 1941 wurden neben der kriegswichtigen
Produktion auch noch Güter des zivilen Bedarfs produziert, deren Absatz und Preis
aber in zunehmendem Maße durch den Staat kontrolliert wurden. Mit der Entwicklung
hin zum „Totalen Krieg“ wurde auch die Herstellung von Zivilprodukten immer weiter
eingeschränkt, vor allem Luxusgüter durften nur noch in sehr geringem Umfang
produziert werden. Für einzelne Produkte der Elektroindustrie, wie Staubsauger,
Bohnermaschinen, Küchenmotoren, Toaster und dergleichen, wurden
Fertigungsverbote verhängt, Elektrizitätszähler durften nur noch zu 30%,
Elektrowärmegeräte zu 20% und Kühlschränke nur noch zu 10% des
Fertigungsvolumens 1938/39 produziert werden. 7 Mit zunehmender Zahl der
Luftangriffe auf Berlin nach 1943 konnte der im Sommer 1943 erreichte Höchststand
der industriellen Waffenproduktion nur noch schwer gehalten werden. Nach der
Jahresmitte 1944 nahm er kontinuierlich ab, eine Entwicklung, die auch durch die
zahlreichen Verlagerungen von Fertigungen in „bombensichere“ Gebiete, nicht
aufgehalten werden konnte. Allein S & H und SSW mit ihren Tochtergesellschaften
hatten ihre Fertigungen von der Zentrale Berlin aus an 140 Orte im ganzen Reich,

6
Vgl. Wilfried Feldenkirchen: Siemens 1918-1945, München/Zürich, 1995, S. 144f.
7
Vgl. ebenda S. 146f.

7
einschließlich Österreich, Oberkrain, Elsaß-Lothringen, Sudetenland und nach Polen
und Tschechien verlagert.8 Diese Dezentralisierung der Elektroindustrie, die mit über
50% aller in diesem Industriezweig Beschäftigten in Berlin konzentriert war, hatte
schon in den ersten Jahren der nationalsozialistischen Herrschaft begonnen und war
auch aufgrund des sehr hohen Berliner Lohnniveaus und des ausgeschöpften
Arbeitsmarktes von den Firmen unterstützt worden. Die Verlagerungen der Kriegszeit
wurden im Gegensatz dazu nicht aus wirtschaftlichen Überlegungen ausgeführt – als
Vorbedingungen zur Ansiedlung waren nur gute Verkehrsanbindungen,
ausreichendes Arbeitskräftepotential und geringe Gefährdung durch Luftangriffe
entscheidend.9 Einige dieser während des Krieges entstandenen Standorte waren bis
in die jüngste Zeit oder sind immer noch wichtige Produktionsstandorte der Siemens
AG die sich nach Kriegsende und nach dem Verlust der Geschäftsstellen und
Werken in Ostdeutschland als wichtige Keimzellen für den Wiederaufbau der Firma
im Westen Deutschlands herauskristallisierten. Dazu gehören die Werke in Bocholt,
Hof, Balingen, Neustadt/Coburg, Pirmasens, Meitingen (bei Augsburg), Speyer,
Rodach, Redwitz, Hochstadt und Bad Neustadt/Saale, die alle während des Krieges
oder unter dem Einfluß des letzten Vierjahresplanes ab 1936 entstanden waren.
Die Beschäftigtenzahlen während des Krieges entwickelten sich entsprechend des
Kriegsverlaufs. Während bis 1941 der Druck auf den Arbeitsmarkt durch die nur
zeitweise Einberufung der Soldaten relativ gering war, stieg mit zunehmender
Verschärfung der militärischen Lage die Zahl der Einberufenen an; bisher als
unabkömmlich geltende industrielle Arbeitskräfte wurden plötzlich einberufen und
mußten ersetzt werden. Aus ideologischen Gründen wurde die Zahl der in der
Industrie eingesetzten Frauen während des Krieges konstant niedrig gehalten. Die
dadurch entstehenden Lücken wurden durch den zwangsweisen Einsatz von
ausländischen Zivilarbeitern, Kriegsgefangenen und Juden ausgeglichen. 10 Bei S & H
war auf dem Höchststand der Belegschaft im September 1943 jeder fünfte von
71.524 Arbeitern ein Ausländer.11 Bei SSW waren sogar ein Viertel der Belegschaft
von 85.623 Personen im September 1943 Ausländer.12
Als Anfang 1945 absehbar wurde, daß eine militärische Niederlage Deutschlands
nicht mehr abzuwenden war und der Firmenleitung von S & H und SSW in Berlin
8
Vgl. Wolfgang Schieder: „Staat und Wirtschaft im ‚Dritten Reich‘: Der Weg in die Katastrophe“, in: Berlin und
seine Wirtschaft. Ein Weg aus der Geschichte in die Zukunft, hgg. von der IHK Berlin, 1987, S. 218.
9
Vgl. Wilfried Feldenkirchen: Siemens 1918-1945, München/Zürich, 1995, S. 154f.
10
Vgl. ebenda S. 158f.
11
Vgl. ebenda S. 284.
12
Vgl. ebenda S. 331.

8
bekannt wurde, daß bei einer Aufteilung Deutschlands durch die Alliierten Berlin in
der russischen Zone liegen würde, begann man mit einer Verlagerung der zentralen
Abteilungen beider Stammhäuser in die westlichen Gebiete Deutschlands. Dabei
wurde die Administration der Siemens-Werke und -Geschäftsstellen in den
westlichen Landesteilen drei Gruppenleitungen (West, Mitte, Süd) übertragen, die in
Mülheim/Ruhr, Hof und München etabliert wurden. 13 Neben administrativen
Bereichen des Unternehmens wurden in der Folgezeit auch Produktionsstätten in die
Westzonen verlegt, was bei Berliner Arbeitnehmerschaft, Öffentlichkeit und Politik
immer wieder zu Protesten führte.14
Die militärische Lage in Berlin führte am 20. April 1945 zur Schließung der Siemens-
Werke. Nach Einnahme der Stadt durch die Rote Armee und der bedingungslosen
Kapitulation des Deutschen Reiches begannen die Demontagen von Maschinen und
die Beschlagnahme von Inventar, Vorräten, Halb- und Fertigprodukten sowie
technischen Unterlagen der Laboratorien und Konstruktionsbüros in der
Siemensstadt. Dabei wurden von 23.100 noch funktionsfähigen Maschinen 22.700
abtransportiert. Die Demontagen entsprachen bei SSW 85% des Maschinenparks,
bei S & H betrugen sie sogar 98%. 15 Nach Ende der Demontagen waren durch die
Kriegseinwirkungen insgesamt etwa 40% der Produktionsfläche zerstört. Insgesamt
entstanden dem Haus Siemens 2,58 Milliarden Reichsmark Kriegsschäden, was
etwa 4/5 der Unternehmenssubstanz entspricht.16

2. Der Wiederaufbau der Berliner Elektroindustrie nach 1945

Neben Siemens hatten auch alle anderen großen Firmen eine faktische
Totaldemontage ihres Maschinenparks erlebt, 17 Zu diesen Verlusten kamen noch die
in Ausweichwerke, die jetzt in der sowjetisch besetzten Zone lagen, verlagerten
Maschinen, die ebenfalls verloren waren, Stromsperrungen und
Versorgungsengpässe. Daher war die Fertigung zunächst auf einfache Dinge des

13
Vgl. Frank Wittendorfer: „Das Haus Siemens in Erlangen 1945-1955.“, in: Jürgen Sandweg/Gertraud
Lehmann: Hinter unzerstörten Fassaden. Erlangen 1945-1955, Erlangen 1996, S. 434.
14
Vgl. ebenda.
15
Vgl. Wolfgang Matz: Struktur und Entwicklungslinien der Westberliner Elektroindustrie seit 1945, Berlin,
1953, S. 21.
16
Vgl. Wilfried Feldenkirchen: Siemens 1918-1945, München/Zürich, 1995, S. 216f.
17
Vgl. Wolfgang Matz: Struktur und Entwicklungslinien der Westberliner Elektroindustrie seit 1945, Berlin,
1953, S. 21.

9
täglichen Bedarf, wie Behelfsöfen, Karren und ähnliches ausgerichtet. 18 Bis zur
Blockade 1948 stieg die Zahl der Beschäftigten in der Elektroindustrie kontinuierlich
von 36.000 (1946) auf 54.000 Personen an, der Wert der Produktion wurde von 85
Millionen Reichsmark auf 203 Millionen gesteigert. 19 Die Blockade 1948/49 hatte auf
die Großfirmen der Elektroindustrie nur wenig Einfluß. Die Materialversorgung über
die Luftbrücke und der Abtransport der gefertigten Güter in die Westzonen auf dem
selben Weg, hat wesentlich dazu beigetragen. Trotz dieser logistischen
Meisterleistung mußten sämtliche Materiallager geräumt werden, Stromkürzungen
waren an der Tagesordnung, und in vielen Fällen mußte Kurzarbeit geleistet werden.
Aber immerhin waren 60% der aus Berlin ausgeflogenen Güter Erzeugnisse der
elektrotechnischen Industrie.20 Die demontierten Berliner Siemens-Werke erhielten
von den Werken der Westzonen Schützenhilfe in Form von Material und Maschinen;
so daß eine erste, provisorische Fertigung von Rundfunkgeräten aufgenommen
werden konnte.21 Aufgrund der Kapitalhilfen in Form von ERP-Krediten aus dem
Marshallplan konnten in den westlichen Werken schon 1950 wieder 90% der
Vorkriegsproduktion erreicht werden. 22 In Berlin war die Förderung durch ERP-Mittel
erst im Frühjahr 1950 angelaufen, wurde aber bis 1952 massiv forciert. Insgesamt
flossen Kredite über 180 Millionen DM in die Westberliner Elektroindustrie (55% des
Gesamtkreditvolumens für die gesamte Berliner Industrie), die hauptsächlich in einen
neuen, hochwertigen Maschinenpark investiert wurden. 23 Bis 1960 stieg das
Kreditvolumen für die Elektroindustrie auf 624,7 Millionen DM an und betrug damit
etwa 1/3 des Gesamtkreditvolumens. 24 Die wirtschaftliche Entwicklung beschleunigte
sich nach Einführung der DM als alleinigem Zahlungsmittel und dem Inkrafttreten des
Dritten Überleitungsgesetzes 1953, in dem sich Berlin zur Übernahme aller Gesetze
und Bestimmungen der Bundesrepublik verpflichtete. Bis 1960 stieg der
Produktionsindex (bezogen auf den Vorkriegsstand 1936) von 32% (1950) auf 153%.

18
Vgl. Wilfried Feldenkirchen: Siemens. Von der Werkstatt zum Weltunternehmen, München/Zürich, 1997, S.
254f.
19
Vgl. Wolfgang Matz: Struktur und Entwicklungslinien der Westberliner Elektroindustrie seit 1945, Berlin,
1953, S. 23.
20
Vgl. ebenda.
21
Vgl. Wilfried Feldenkirchen: Siemens. Von der Werkstatt zum Weltunternehmen, München/Zürich, 1997, S.
270f.
22
Vgl. ebenda.
23
Vgl. Wolfgang Matz: Struktur und Entwicklungslinien der Westberliner Elektroindustrie seit 1945, Berlin,
1953, S. 25.
24
Vgl. ERP und die Stadt Berlin, hgg. von „Internationale Wirtschaftswerbung Alfred F. Koska“ in
Zusammenarbeit mit dem Bundesministerium für wirtschaftlichen Besitz des Bundes, Wien/Berlin, 1961, S. 45.

10
Dieser Erfolg wurde hauptsächlich durch die Erschließung neuer Märkte und die
stärkere Anbindung Berlins an das westdeutsche Wirtschaftsleben erreicht.25
Das größte Hindernis auf dem Weg zum wirtschaftlichen Erfolg war aber die
Massenarbeitslosigkeit. 1950 waren noch 295.900 Erwerbspersonen in Westberlin
arbeitslos. Das entsprach einer Quote von 31,2%. Im Laufe der 1950er Jahre
steigerte sich die Zahl der Erwerbstätigen von 772.800 Personen auf 1.015.300
Personen im Jahre 1960. Die Arbeitslosigkeit sank auf 33.300 Personen ab, was eine
faktische Vollbeschäftigung bedeutete. 26 Seit 1955 war die Arbeitsmarktsituation in
Westdeutschland so gespannt, daß den Berlinern Einkommens- und
Körperschaftssteuervergünstigungen eingeräumt werden mußten, um eine
Abwanderung in das Bundesgebiet zu verhindern. 27 Lücken im Arbeitkräftepotential
konnten durch den steten Strom von Flüchtlingen aus Ostberlin und der DDR
aufgefüllt werden, zusätzlich waren 1961 immer noch 51.000 Grenzgänger aus dem
östlichen Sektor bei Westberliner Firmen beschäftigt.28

3. Der Mauerbau 1961 – Tiefer Einschnitt in den Westberliner Arbeitsmarkt?

In dieser angespannten Arbeitsmarktsituation schlug der Bau der Mauer und der
damit verbundene Ausfall von Zehntausenden Arbeitskräften vom einen auf den
anderen Tag wie eine Bombe ein. Dazu kam noch der Wegfall des Flüchtlingsstroms,
der den Berliner Arbeitsmarkt entlastet hatte. Der Ausfall, der immerhin jeden
zwanzigsten Arbeitsplatz betraf und in der Elektroindustrie etwa 7.000 Personen
umfaßte, wurde in relativ kurzer Zeit durch Mehrarbeit der verbliebenen Mitarbeiter
und Rationalisierungsmaßnahmen ausgeglichen. Er führte aber um so deutlicher vor
Augen, daß für ein Überleben der Westberliner Wirtschaft ein stetiger Zuzug junger
Arbeitskräfte nötig war.29 Dieses Ziel sollte zunächst ohne die Anwerbung
ausländischer Arbeitskräfte erreicht werden, was in Form einer stillschweigenden
Absprache zwischen dem Landesarbeitsamt und der Zentralstelle der Berliner
Arbeitgeberverbände vereinbart wurde. Daher wurde von den Landesbehörden eine
umfangreiche Werbeaktion in Westdeutschland veranstaltet, deren Erfolg vom
25
Vgl. Günter Braun: „Der Wiederaufbau Berlins – Eine Stadt auf dem Weg zu neuen Aufgaben“, in: Berlin und
seine Wirtschaft. Ein Weg aus der Geschichte in die Zukunft, hgg. von der IHK Berlin, 1987, S. 227f.
26
Vgl. ebenda S. 226ff.
27
Vgl. ebenda S. 228.
28
Vgl. ebenda S. 231.
29
Vgl. SAA 7435: Verband der Berliner Elektroindustrie (VBEI), Geschäftsbericht 1961.

11
Landesarbeitsamt positiv bewertet wurde. 30 Durch sehr hohe Fluktuationsquoten war
aber der tatsächliche Zuwachs an Arbeitskräften weitaus geringer (siehe unten), als
es die Zahlen des Arbeitsamts glauben machen wollten. Viele Arbeitgeber stellten
trotz des inoffiziellen Verbots ausländische Arbeitskräfte ein und unterliefen so die
offizielle Haltung des Senats. Daher wurde ab April 1962 die Vergabe von
Arbeitserlaubnissen an Ausländer generell gestoppt. Einzige Ausnahme waren
ausländische Facharbeiter, für deren Arbeitsplätze in „absehbarer“ Zeit kein
deutscher Arbeitnehmer gefunden werden konnte. 31 Anfang des Jahres 1963 war die
bisherige Haltung des Senats nicht mehr zu halten, der Druck auf den Arbeitsmarkt
konnte durch westdeutsche Arbeitnehmer allein nicht mehr gelindert werden. Der
Senat genehmigte daher am 8. Januar 1963 die Anwerbung ausländischer
Arbeitskräfte für das Land Berlin. Zu diesem Zeitpunkt waren schon 5.575 Ausländer
in Berlin beschäftigt, fast die Hälfte davon erst seit Mitte 1960. Die Genehmigung
hatte also eher den Charakter einer rückwirkenden Rechtfertigung der Politik für eine
Entwicklung, die außer Kontrolle zu geraten drohte. Die Arbeitgeber mußten sich
verpflichten, für jeden Ausländer die Flugkosten von Hannover nach Berlin und
zurück zu übernehmen und „angemessene“ Einzelunterkünfte zu stellen.
Massenunterkünfte wurden als „nicht tragbar“ abgelehnt. 32 So waren die politischen
Rahmenbedingungen geschaffen, die den Einsatz von offiziell angeworbenen
ausländischen Arbeitskräften bei Siemens Berlin möglich werden ließen.

30
Vgl. SAA 10588: Rundschreiben M 42/62 des Arbeitgeberverbandes der Berliner Metallindustrie vom
12.4.1962.
31
Ebenda.
32
Vgl. SAA 10586: Zeitungsartikel „Nun doch ausländische Arbeitskräfte. Senat hat gestern Werbeaktion
genehmigt“, in: „Die Welt“ vom 9.1.1963.

12
III. Ausländische Arbeitnehmer bei Siemens in Berlin

Die Darstellung der Ausländerbeschäftigung bei Siemens habe ich in vier große
Themenkomplexe unterteilt. Sie entsprechen der Organisation der
Ausländerbeschäftigung, wie sie sich in den Akten niederschlägt. Der erste Komplex
erfaßt alle Aktivitäten und Entwicklungen, die sich bis zur Ankunft der ausländischen
Arbeitnehmer in Berlin abspielten. Darunter fallen die Feststellung eines Bedarfs an
Arbeitskräften, die Anwerbung der Ausländer im jeweiligen Heimatland, die Auswahl
und Eignungsprüfung der Bewerber und die Reise nach Deutschland, aber auch die
Förderung von Ausbildungsmaßnahmen in den Anwerbeländern. Der zweite
Themenkomplex beschäftigt sich mit der Unterbringung der Ausländer. Dieser
wichtige Aspekt war nicht nur Vorbedingung zur Anwerbung, sondern stellte auch
nach Ankunft der Ausländer in Berlin ein ständiges Thema in den Quellen dar.
Insofern steht die Unterbringung zwischen dem ersten und dem dritten
Themenkomplex, der sich mit der Integration der Ausländer in den Betrieb, Fragen
der Entlohnung und sozialen Sicherung und dem Einfluß des Unternehmens auf die
eventuelle Integration der Ausländer in die deutsche Gesellschaft beschäftigt. Der
vierte Themenkomplex erfaßt eine Gruppe von Arbeitsmigranten, die nicht in das
rechtliche Schema der Ausländerbeschäftigung paßt. Es handelt sich um sogenannte
„Leiharbeiter“, die von ausländischen Firmen an deutsche Unternehmen vermietet
wurden und deren rechtlicher Status lange Zeit unsicher war. Aufgrund ihrer relativ
hohen Zahl (bis zu 10% der ausländischen Belegschaft) stellt diese Gruppe einen
wichtigen Faktor der Ausländerbeschäftigung dar, der auch von anderen
Unternehmen als Reservepotential genutzt wurde.

1. Der Weg nach Berlin – Bedarf, Anwerbung, Auswahl, Reise

In Berlin mußte Siemens – anders als an den westdeutschen Standorten – bei der
Ausländerbeschäftigung nicht völliges Neuland zu betreten, man konnte sich
vielmehr auf die schon in München, Nürnberg und an anderen, kleineren Standorten
gemachten Erfahrungen stützen.33

Die Rundschreiben der Sozialpolitischen Abteilung bis 1963 wurden auch in Berlin verteilt (Vgl. zum Beispiel
33

SAA 11041: Rundschreiben Nr. 438, 449 und 486 von 1960 zur Beschäftigung Ausländischer Arbeitnehmer).

13
Zudem waren schon seit 1960, also noch vor dem Mauerbau und dem damit
verbundenen Verlust an Arbeitskräften, Überlegungen seitens der Sozialpolitischen
Abteilung angestellt worden, wie man eine eventuelle Beschäftigung von Ausländern
in Berlin sinnvoll durchführen könne. In dieser ersten Analyse werden schon die
später wichtigen Probleme genannt: Einstellung von „unbekannten Arbeitskräften“,
Bereitstellung von Wohnraum als Voraussetzung der Anwerbung, Zusatzkosten bei
Unterbringung, Einarbeitung, eventueller Neid der deutschen Belegschaft wegen
garantierter „Sparraten“ für Ausländer.34
Diesen Nachteilen stand aber der Arbeitskräftemangel der Berliner Siemens-Werke
gegenüber.

1.1 Allgemeine Arbeitskräfteknappheit und Facharbeitermangel der Berliner Werke

Die Beschäftigtenzahlen des Berliner Siemens-Bereichs waren seit 1945 stark


angestiegen. Sie erreichten 1961 mit 34.418 Arbeitern bei S & H, SSW und SE 35
zusammengenommen einen ersten Höchststand.

Beschäftigtenzahlen Siemens Berlin 1945-1968

35000
30000
25000
SE
20000
SSW
15000
S&H
10000
5000
0
45

47

49

51

53

55

57

61

63

65

67
59
19

19

19

19

19

19

19

19

19

19

19

19

(Grafik erstellt aus SAA 11008•8-17, erhoben jeweils am 31. Oktober des Jahres)

34
Vgl. Vgl. SAA 10586: Entwurf einer Denkschrift zur Beschäftigung von Ausländern bei Siemens in Berlin
(27.5.1960).
35
Vgl. Vgl. SAA 7439: Übersicht über Angestellte und Arbeiter bei S & H, SSW und SE am 31.7.1961,
31.8.1961 und Grenzgängerverluste am 13.8.1961.

14
Durch die Abriegelung der Sektorengrenze am 13. August 1961 verloren die Berliner
Werke auf einen Schlag 4.211 Arbeitnehmer, davon 3.934 Arbeiter (11,4%).36
Hinzu kam das Problem der generellen Überalterung der Westberliner Bevölkerung 37,
die sich auch auf die Belegschaft der Siemens-Werke auswirkte, bei denen der Anteil
der 55 bis 65-jährigen Arbeitnehmer deutlich über dem Durchschnitt der
westdeutschen Standorte lag.38 Bei der Anwerbung neuer Arbeitskräfte war vor dem
13. August 1961 hauptsächlich auf Grenzgänger und Flüchtlinge aus der DDR und
Ost-Berlin zurückgegriffen worden, nach dem Bau der Mauer mußten neue Quellen
zur Arbeitskräftebeschaffung erschlossen werden, zumal der Westberliner
Arbeitsmarkt fast vollständig ausgeschöpft war.39 Grenzgänger, die es noch in den
Westen „geschafft“ hatten, die aber alles zurücklassen mußten, wurden von der
Firma und der firmeneigenen Fürsorgestiftung „Siemensstadt“ unterstützt. 40 Es
handelte sich um 528 Personen, etwa jeden zehnten der vor dem 13. August 1961
beschäftigten Ostberliner.41
Nach 1961 stieg der Arbeitskräftebedarf weiter stetig an. Dazu kam noch eine
Fluktuationsrate von 25% bei männlichen und 33% bei weiblichen Arbeitern, eine
Größe, die sich gegenüber dem Geschäftsjahr 1950/51 fast verdreifacht hatte. 42 Im
Juni 1962 fehlten bei S & H 1.000 weibliche und 300 männliche Arbeitskräfte, bei
SSW waren es 126 Frauen und 360 Männer. 43 Die weitaus größere Zahl der
unbesetzten Stellen war für ungelernte Arbeiter vorgesehen, nur ca. 25% (396 von
1.573) waren Facharbeiterstellen. Sämtliche mit Frauen zu besetzenden Stellen
waren für ungelerntes Personal vorgesehen.44
Eine ähnliche Situation herrschte auch in anderen Großfirmen der Berliner
Elektroindustrie vor.45
Neben Arbeitern fehlte es auch an Absolventen der Ingenieursstudiengänge. Die
Abgänger der Berliner Hochschulen bewarben die sich bei S & H und SSW, konnten
36
Vgl. ebenda.
37
Vgl. Günter Braun: Der Wiederaufbau Berlins – Eine Stadt auf dem Weg zu neuen Aufgaben, in: Berlin und
seine Wirtschaft. Ein Weg aus der Geschichte in die Zukunft, hgg. von der IHK Berlin, 1987, S. 232.
38
Vgl. SAA 7436: Protokoll einer Sitzung der Firmenleitung mit den Wirtschaftsausschüssen von S & H, SSW
und SE am 14.11.1961.
39
Vgl. ebenda.
40
Vgl. ebenda.
41
Vgl. SAA 7439: Übersicht über Angestellte und Arbeiter bei S & H, SSW und SE am 31.7.1961, 31.8.1961
und Grenzgängerverluste am 13.8.1961.
42
Vgl. SAA 7439: Bericht der Sozialpolitischen Abteilung über die Entwicklung der Fluktuation bei S & H und
SSW von 1950/51 bis 1960/61.
43
Vgl. SAA 7437: Protokoll einer Besprechung zwischen ZBL und Betriebsausschuß Berlin vom 22.6.1962.
44
Vgl. SAA 7437: Aktennotiz einer ZBL-Besprechung vom 7.8.1962, Anlage: Sondererhebung für gewerbliche
Arbeitnehmer vom 2.8.1962.
45
Vgl. SAA 7437: Protokoll einer Besprechung zwischen ZBL und Betriebsausschuß Berlin vom 22.6.1962.

15
aber den Bedarf bei weitem nicht decken, vor allem da durch die Überalterung der
Belegschaft und die damit verbundene überdurchschnittliche Zahl der
Pensionierungen die zu schließende Lücke immer größer wurde. Angesichts des
Bedarfs an Ingenieuren für die Jahre 1962 bis 1967 wurde die Lage von der Berliner
Firmenleitung insgesamt als kritisch eingeschätzt.46
In den folgenden Jahren blieb der Arbeitskräftebedarf eines der dringlichsten
Probleme des Berliner Siemens-Bereichs. Abhängig von der Auftragslage der
einzelnen Werke schwankte die Zahl der benötigten Arbeiter und Arbeiterinnen, der
Anteil der unbesetzten Stellen an der ständig abnehmenden Zahl der
Gesamtbelegschaft blieb aber immer etwa gleich.

Belegschaftsstand und Arbeitskräftebedarf bei Siemens Berlin 1962-196647


Monat/Jahr 09/1962 09/1963 09/1964 09/1965 03/1966 08/1966
Belegschaftsstand 42.059 40.310 38.444 38.090 37.738 37.499
Arbeitskräftebedarf 1.801 1.152 1.307 1.593 1.462 1.236
In Prozent 4,3% 2,9% 3,4% 4,2% 3,9% 3,3%

Bis November 1964 hatte sich das Verhältnis zwischen Facharbeiterbedarf und
Bedarf an ungelernten Arbeitskräften, vor allem bei S & H, weiter zuungunsten der
Facharbeiter verschoben. Der Facharbeiterbedarf lag bei S & H bei 20% (154 von
754 fehlenden Arbeitskräften), bei SSW bei 25% (79 von 315). Gesuchte
Berufsgruppen waren Dreher, Blech- und Montageschlosser, Schaltmonteure,
Elektroprüfer, Elektromonteure, Maschinenschlosser, Spinnerinnen, Gießereiarbeiter,
Fernmelde- und Starkstrommonteure, Mechaniker, Werkzeugmacher, Fräser,
Stanzer, Bohrer und Einrichter. Die weiblichen ungelernten Arbeitskräfte sollten als
Montiererinnen, Löterinnen, Kabelformerinnen, Prüferinnen, Justiererinnen,
Wicklerinnen sowie für Boten- und Küchen- und Reinigungsdienste eingesetzt
werden. Ihre männlichen ungelernten Kollegen waren als Transport- und
Lagerarbeiter, Metallhilfsarbeiter, Aufzugführer und als Helfer für diverse Tätigkeiten
(Schlosser, Rohrleger, usw.) vorgesehen. 48 Wie man an der Vielzahl der benötigten
Berufe sehen kann, war der Arbeitskräftemangel auf fast allen Gebieten der
Fertigung zu spüren, und hielt auch die nächsten Jahre unvermindert an.
46
Vgl. SAA 7437: Protokoll einer ZBL-Besprechung vom 7.8.1962.
47
Vgl. SAA 7437: Aufstellung der Sozialpolitischen Abteilung vom 1.9.1966.
48
Vgl. SAA 7441: Aufstellung der Sozialpolitischen Abteilung für das Landesarbeitsamt Berlin über den
Arbeitskräftebedarf im November 1964 (13.11.1964).

16
Mit dem Einsetzen der ersten größeren Rezession nach dem Zweiten Weltkrieg
1966/67, entschärfte sich der Arbeitskräftebedarf etwas. Zum Teil wurden Kräfte
entlassen, in anderen Bereichen (vor allem S & H) wurde Kurzarbeit geleistet, um
den Personalstand nicht noch weiter reduzieren zu müssen. 49 Der Personalstand
wurde vom 30. Juni 1966 bis zum 30. April 1967 von 37.239 auf 34.358 abgesenkt.
Dabei wurden 679 Stellen von Pensionierten nicht neu besetzt, der Rest der
abgebauten Stellen verteilte sich auf Berliner, Westdeutsche (394) und Ausländer
(645), wobei das Verhältnis zwischen Eigenkündigungen und Firmenkündigungen 60
zu 40 betrug. Ausländischen Arbeitnehmern wurden auslaufende einjährige
Arbeitsverträge nicht mehr verlängert.50
Aber schon im Oktober 1967 war die wirtschaftliche Situation wieder günstiger, die
Beschäftigtenzahlen von SE und SSW bewegten sich langsam wieder aufwärts. Die
Auftragslage bei S & H blieb zunächst schwach und führte nicht zur Schaffung neuer
Arbeitsplätze. Bei SE war der Personalabbau des Geschäftsjahres 1966/67 schon im
ersten Quartal 1968 wieder ausgeglichen, bei SSW wurden in den meisten Werken
neue Facharbeiter eingestellt, nur im Dynamowerk war die Beschäftigungslage
weiterhin rückläufig.51 Bis Ende des Jahres hatte sich die Auftragslage in allen
Werken erholt, und man mußte erneut Anwerbemaßnahmen durchführen, um den
Arbeitskräftebedarf zu decken. 52 Zwischen Mai 1968 und Dezember 1969 bestand
permanent ein Arbeitskräftebedarf von ca. 1.500 Personen, davon je ein Drittel
Facharbeiter, ungelernte männliche Arbeiter und ungelernte weibliche Arbeiter. 53 Der
Betriebsrat sorgte sich um die ständig fallenden Belegschaftszahlen des Berliner
Siemens-Bereichs; von der ZBL wurde dieser Zustand, neben der Rezession
1966/67, vor allem mit der generellen Überalterung des Berliner Arbeitsmarktes und
dem stetig steigenden Arbeitskräftemangel begründet. 54 Der Mangel hielt bis 1971
an, insbesondere fehlte es an jungen Facharbeitern. 55 Im folgenden Jahr wurde der
Belegschaftsstand in allen Werken aufgrund von Konjunktureinbrüchen
vorübergehend leicht reduziert, was sich vermehrt auf ungelernte Arbeiter auswirkte,

49
Vgl. SAA 7437: Protokoll einer ZBL-Besprechung vom 8.2.1967.
50
Vgl. SAA 7437: Protokoll einer ZBL-Besprechung vom 30.5.1967.
51
Vgl. SAA 7437: Protokoll einer ZBL-Besprechung vom 12.10.1967.
52
Vgl. SAA 7437: Protokoll einer ZBL-Besprechung vom 4.12.1967.
53
Vgl. SAA 7438•2: Aufstellung der Sozialpolitischen Abteilung über den Arbeitskräftebedarf von Mai 1968 bis
Dezember 1969 (undatiert, wahrscheinlich Anfang 1970 entstanden).
54
Vgl. SAA 7437: Protokoll einer Besprechung zwischen ZBL und Betriebsausschuß Berlin vom 8.4.1968.
55
Vgl. SAA (unverzeichnete Akten aus dem Bestand Soz Pol, Berlin, Altsignatur 10.2): Aktenvermerk über eine
ZBL-Sitzung vom 31.8.1970.

17
Facharbeiterbedarf bestand jedoch auch weiterhin. 56 Der von
Konjunkturschwankungen weitgehend beeinflußte Dauerzustand der personellen
Unterbesetzung bewegte die Berliner Firmenleitung dazu, während der
konjunkturschwachen Periode der Ölkrise 1973 nicht selbst Personal abzubauen,
sondern in Gegenden mit starker Grundstoff- und Kfz-Industrie entlassene
Facharbeiter für den Berliner Standort anzuwerben. Die Krise wirkte sich in Berlin
aufgrund der anders zusammengesetzten Struktur der Industrie (kein Primärsektor,
keine Kfz-Industrie) nicht so dramatisch aus wie in der Bundesrepublik. Auch war ein
größeres finanzielles Polster vorhanden, um den Konjunkturabfall aufzufangen. 57
Nach der Ölkrise sanken die Beschäftigtenzahlen stetig, auch der Bedarf an
Facharbeitern nahm deutlich ab. Das Verhältnis zwischen Fach- und ungelernten
Arbeitern verschob sich nun zugunsten der Facharbeiter, deren Arbeitsplätze
bedeutend weniger rationalisiert werden konnten, als dies mit Arbeitsplätzen
ungelernter Arbeitskräfte der Fall war.

Mitarbeiter der Siemens AG in Berlin


(einschließlich SE) 1969-1980

30000
25000
20000
15000 SE
10000 Siemens AG
5000
0
69

71

73

75

77

79
19

19

19

19

19

19

(Grafik erstellt aus SAA 11008•18-24, erhoben jeweils am 31. Oktober des Jahres)
Im Geschäftsjahr 1974/75 mußten 3.500 Stellen abgebaut werden, nur noch 60
Facharbeiter wurden benötigt.58 Dieser Trend setzte sich fort, im Geschäftsjahr
1976/77 wurden weitere 1.000 Stellen abgebaut, 59 danach stabilisierte sich der
Mitarbeiterstand (siehe Grafik oben). Andererseits stieg der Facharbeiterbedarf
56
Vgl. SAA (unverzeichnete Akten aus dem Bestand Soz Pol, Berlin, Altsignatur 10.2): Aktenvermerk über eine
ZBL-Sitzung vom 9.2.1972.
57
Vgl. SAA (unverzeichnete Akten aus dem Bestand Soz Pol, Berlin (Altsignatur 10.2): Aktenvermerk über eine
ZBL-Sitzung vom 18.12.1973.
58
Vgl. SAA (unverzeichnete Akten aus dem Bestand Soz Pol, Berlin (Altsignatur 10.2): Aktenvermerk über eine
ZBL-Sitzung vom 25.6.1975.

18
wieder an, vor allem Technische Zeichner, Werkstoffprüfer und Facharbeiter der
energietechnischen, nachrichtentechnischen und mechanischen Berufe waren nach
1976 gesucht. Der Nachwuchskräftebedarf nahm zwar von 1976 (292 Personen) bis
1986 (154 Personen) kontinuierlich ab, lag aber deutlich über dem Bedarf der Jahre
nach der Ölkrise.60

1.1.1 Erste Maßnahmen zur Beschaffung von Arbeitskräften:


Westdeutsche, Strafgefangene, Pensionäre und Hausfrauen

Als Reaktion auf die ständige Arbeitskräfteknappheit in Berlin wurde schon vor dem
Mauerbau eine Anwerbung von westdeutschen Arbeitnehmern für Berlin betrieben.
Nach 1961 intensivierten sich die Bemühungen von Seiten der Firma, 61 aber auch
der Senat startete ein Programm zur Werbung. 62 Die Anzahl westdeutscher
Arbeitnehmer in Berlin betrug im März 1962 ca. 3.500 Personen, davon waren etwa
340 bei Siemens tätig.63 Diese Zahl scheint, gemessen am Anteil der Firma an der
Westberliner Industrie, gering, doch in der Gesamtzahl waren auch die in der
Bauindustrie saisonal beschäftigten Westdeutschen enthalten. Aufgrund der höheren
Löhne absorbierte sie – vor allem im Sommer – den Löwenanteil der westdeutschen
Arbeitsmigranten.64 Das Hauptproblem bei der Anwerbung von Westdeutschen war
die katastrophale Wohnungssituation in Westberlin. Der Senat 65 errichtete neue
Wohnheim- und Appartementbauten, konnte aber den Bedarf bei weitem nicht
decken. Das führte zu schlechten Erfolgsquoten bei der dauerhaften Ansiedlung der
westdeutschen Arbeitnehmer, die oft schon nach kurzem Aufenthalt frustriert Berlin
wieder verließen.66 Die Firma Siemens versuchte über die Anmietung von
Privatzimmern und Pensionsbetten des Wohnungsproblems Herr zu werden, stieß

59
Vgl. SAA (unverzeichnete Akten aus dem Bestand Soz Pol, Berlin (Altsignatur 10.2): Aktenvermerk über eine
ZBL-Sitzung vom 2.12.1976.
60
Vgl. SAA (unverzeichnete Akten aus dem Bestand Soz Pol, Berlin (Altsignatur 10.2): Vorausberechnung des
Facharbeiter Nachwuchsbedarf (Umfrage vom 29.10.1975).
61
Vgl. SAA 7437: Protokoll einer Werksleiterbesprechung vom 1.6.1962.
62
Vgl. SAA 7441: Aktenvermerk über eine Besprechung zwischen der Sozialpolitischen Abteilung Berlin und
dem Senator für Arbeit und soziale Angelegenheiten Exner vom 4.11.1963 mit dem Verweis auf die
Werbekampagne „Deine Chance ist Berlin“.
63
Vgl. SAA 7439: Aktenvermerk über Arbeitskräfte aus dem Bundesgebiet vom 29.3.1962.
64
Vgl. SAA 7437: Protokoll einer Werksleiterbesprechung vom 1.6.1962.
65
Vgl. SAA 7441: Aktenvermerk über eine Besprechung zwischen der Sozialpolitischen Abteilung Berlin und
dem Senator für Arbeit und soziale Angelegenheiten Exner vom 4.11.1963.
66
Vgl. SAA 7439: Aktenvermerk über Arbeitskräfte aus dem Bundesgebiet vom 29.3.1962. Statistik der
Fluktuation von Westdeutschen bei SSW: von 357 eingestellten Westdeutschen sind 146 wieder ausgeschieden,
nur 211 verbleiben im Arbeitsverhältnis.

19
aber auf ähnliche Schwierigkeiten. 67 Der Bau von Wohnheimen für Westdeutsche
wurde von der Firmenleitung mit dem Hinweis auf unnötige „Kasernierung“ der
Arbeiter und fehlender Möglichkeit zur Assimilation abgelehnt. Stattdessen forderte
man den Senat auf, dem Beispiel der Firma zu folgen 68 und endlich das
Wohnungsbauprogramm aufzustocken, um den Standort Berlin dauerhaft interessant
zu machen.69 Wichtige Gründe für den Abgang von westdeutschen Arbeitnehmern
waren neben Unzufriedenheit mit der Unterbringung (28,5%), nicht zusagende Arbeit
(23,5%), zu niedriger Lohn (19,1%) und Berufswechsel bzw. Weiterbildung (14%). 70
Dazu kamen psychologische Gründe wie ein Gefühl des Eingesperrtseins,
mangelnder freier „Auslauf“ und Angst vor der Entwicklung der politischen Situation
Westberlins.71 Eine große Mehrheit von 90% der Arbeiter, die angeblich nach
Westdeutschland zurückkehren wollten, kam bei anderen Berliner Firmen unter, 72 die
höhere Einstellöhne boten (siehe unten, III.3.2.1.). Zur Deckung des steigenden
Arbeitskräftebedarfs, des natürlichen Abgangs und der Belegschaftskündigungen bei
Siemens waren jährlich 5.000 bis 7.000 westdeutsche Arbeitsmigranten nötig,
zwischen 1. Oktober 1961 und 31. Juli 1962 betrug der reale Zuwachs an
Westdeutschen aber nur 68 Personen. 73 Siemens versuchte, einen Teil der
Auswanderungswilligen aus Westdeutschland nicht ins Ausland abwandern zu
lassen, sondern nach Berlin zu ziehen und erhielt dabei auch Unterstützung durch
das Berliner Landesarbeitsamt.74 Der Vorteil dieser speziellen Form der
Arbeitskräfteanwerbung lag darin, daß nicht nur die Männer, sondern auch Frauen
und Kinder nach Berlin gezogen wurden und damit Nachwuchsprobleme und
Frauenmangel dauerhaft eingedämmt werden konnten. 75 Um die Westdeutschen auf
Dauer in Berlin anzusiedeln, wurde eine soziale Betreuung von seiten der Firma
eingerichtet. Über die Meister und Vorarbeiter wurden die „Neu-Berliner“ auf
bestehende soziale Einrichtungen, Vereine und Freizeitangebote der Firma
67
Vgl. SAA 7437: Protokoll einer Werksleiterbesprechung vom 1.6.1962.
68
Vgl. SAA 7437: Protokoll einer Besprechung zwischen der ZBL und dem Betriebsausschuß Berlin vom
11.9.1963 mit dem Hinweis auf den Bau eines firmeneigenen Appartamenthauses am Schuckertplatz.
69
Vgl. SAA 7439: Vertraulicher Aktenvermerk über den Besuch des Landesarbeitsamtspräsidenten Potratz bei
Siemens vom 28.8.1962.
70
Vgl. SAA 7438•2: Aufstellung der Sozialpolitischen Abteilung über Gründe für den Abgang westdeutscher
Arbeitnehmer im 1. Halbjahr 1964/65 vom 22.4.1965.
71
Vgl. SAA 7437: Aktenvermerk über eine ZBL-Besprechung vom 25.6.1968.
72
Vgl. SAA 7437: Protokoll einer ZBL-Besprechung vom 1.6.1965.
73
Vgl. SAA 7439: Vertraulicher Aktenvermerk über den Besuch des Landesarbeitsamtspräsidenten Potratz bei
Siemens vom 28.8.1962.
74
Vgl. SAA 7441: Aktenvermerk über eine Besprechung zwischen der Sozialpolitischen Abteilung Berlin und
dem Senator für Arbeit und soziale Angelegenheiten Exner vom 4.11.1963.
75
Vgl. SAA 7437: Protokoll einer Besprechung zwischen der ZBL und dem Betriebsausschuß Berlin vom
11.9.1963.

20
aufmerksam gemacht und zur Teilnahme animiert. Außerdem veranstaltete man
zusammen mit dem Senat „Kaffeefahrten“ mit westdeutschen Siemens-Angehörigen,
die die Integration fördern sollten. 76 Neben dieser sozialen Komponente gab es für
die Westdeutschen auch handfeste finanzielle Vorteile, wenn sie zur
Arbeitsaufnahme nach Berlin kamen. Zum einen lag der Nettoverdienst durch
niedrigere Lohnsteuer und Berlin-Zulage bis zu 8% höher als im Westen, zum
anderen lag der Lebenshaltungskosten-Index unterhalb des Standes im Westen, was
vor allem durch zum Teil erheblich niedrigere Mieten bedingt war (1968: Index BRD
144, Index Berlin 123). Außerdem lagen die Preise für den ÖPNV bis zu 50% unter
dem Niveau der Großstädte im Westen, und auch Flüge von Berlin in die BRD, die
die Reisezeit wegen entfallender Grenzkontrollen erheblich verkürzten, wurden von
der Bundesregierung mit bis zu 50% subventioniert.77
Trotz dieser Maßnahmen und Vorteile und der sich verbessernden
Wohnungssituation blieb die Rückwanderung bei den westdeutschen Arbeitnehmern
bedeutend. Die Gesamtzahl der Westdeutschen stieg nur sehr langsam an und
erreichte 1966 einen Stand von 1860 Personen, ein Anteil von 7,4% an der
Gesamtbelegschaft von 25.125 Personen.

Bestand, Zuwanderung und Abwanderung westdeutscher


Arbeitnehmer bei Siemens Berlin (1962-1971)

3000
2500
2000 Bestand
1500 Zugänge
1000 Abgänge
500
0
62

63

64

65

66

67

68

69

70
p

p
p

p
Se

Se

Se

Se

Se

Se

Se

Se

Se

(Grafik erstellt aus SAA unverzeichnete Akten der Sozialpolitischen Abteilung, Berlin, Altsignatur 10.2:
Übersicht über die Belegschaftsentwicklung in Berlin von Sept. 1960 bis Mai 1971, erstellt von der
Sozialpolitischen Abteilung am 15.6.1971)

76
Vgl. SAA 7437: Protokoll einer ZBL-Besprechung vom 7.8.1962.
77
Vgl. SAA 7437: Protokoll einer ZBL-Besprechung vom 25.6.1968: Anlage mit Aufstellung der
Sozialpolitischen Abteilung über Vorteile für Arbeitnehmer in Berlin.

21
Die dauerhafte Ansiedlung von Westdeutschen durch Bevorzugung bei der Verteilung
von Wohnraum und günstigen Werkswohnungen führte bei der Berliner Belegschaft
zu Verstimmung, so daß 1968 eine Informationsschrift zur Notwendigkeit der
Ansiedlung herausgegeben werden mußte, um das Betriebsklima nicht weiter zu
belasten.78 Trotzdem blieb die Zuwanderung aus Westdeutschland hinter den
Erwartungen zurück und wurde immer mehr durch Anwerbung von ausländischen
Arbeitskräften ersetzt.
Eine weitere Maßnahme zur Behebung des Arbeitskräftemangels war der im Herbst
1965 mit dem Justiz-Senator geplante Einsatz von weiblichen und männlichen
Strafgefangenen. Weibliche Gefangene sollten unter Anleitung weiblicher Einrichter
und Meister einfache Handarbeiten ohne lange Anlernzeit verrichten. Der Lohn für
diese Arbeit sollte an die Strafanstalt abgeführt werden. Zunächst war der Einsatz
einer zusammenhängenden Gruppe von 35 bis 40 Frauen geplant. Männliche
Gefangene sollten nur einzeln eingesetzt werden, um die Fluchtgefahr zu verringern.
Eine Alternative war auch, unter der Voraussetzung freier Räumlichkeiten, eine
Teilfertigung in die Haftanstalt zu verlegen. 79 Diese Möglichkeit konnte aufgrund von
zu kurzen Haftzeiten und des Fehlens weiblicher Vorarbeiter nicht ausgeschöpft
werden. Sie sollte zu einem späteren Zeitpunkt wieder aufgegriffen werden 80, ist aber
in den Quellen nicht weiter zu verfolgen.
Ein weiteres Arbeitskräftepotential waren die Pensionäre der eigenen Firma, die man
teilweise reaktivieren wollte. Der Stand der Rentnerbeschäftigung im gewerblichen
Bereich war aber niedrig, und es standen der Beschäftigung das Problem der
wirtschaftlichen Unabhängigkeit der Pensionäre und das damit verbundene
Desinteresse an einer Weiterbeschäftigung sowie die angestrebte Verjüngung der
Siemens-Belegschaft entgegen. Auch der Gewinn an zusätzlichen Arbeitskräften
durch eine Auflockerung der Pensionsgrenze wurde als gering eingeschätzt.81
Um den immensen Bedarf an weiblichen Arbeitskräften wenigstens zu mildern, wurde
von der Firmenleitung die Wiedereinstellung von ehemaligen Arbeiterinnen, die
wegen Schwangerschaft ausgeschieden waren, vorangetrieben. Ein Drittel der
angeschriebenen Frauen antwortete auf das Angebot, davon 65% positiv. 82 Eine

78
Vgl. SAA 7437: Protokoll einer Besprechung zwischen der ZBL und dem Betriebsausschuß Berlin vom
5.1.1968.
79
Vgl. SAA 7441: Aktennotiz über eine Besprechung beim Senator für Justiz Herrn Kirsch vom 8.11.1965.
80
Vgl. SAA 7441: Aktenvermerk über den Einsatz weiblicher und männlicher Strafgefangener vom 28.12.1965.
81
Vgl. SAA 7437:Aktenvermerk über eine ZBL-Besprechung vom 12.3.1965.
82
Vgl. SAA 7437: Protokoll einer Besprechung zwischen der ZBL und dem Betriebsausschuß Berlin vom
2.12.1964.

22
Grundvoraussetzung zur Rückkehr der Frauen in das aktive Arbeitsleben war das
Vorhandensein von Krippen- und Kindergartenplätzen, deren Vermehrung und
Finanzierung von der Firma angestrebt wurde. Als Beispiel soll eine Kinderkrippe in
Neukölln dienen, in der 10 Plätze von S & H mit je 1.000 DM finanziert wurden. 83 Da
viele Frauen ihre Kinder in Siemensstadt unterbringen wollten, um sich lange Wege
zu sparen, wurde eine Erweiterung des Kinderheims Siemensstadt beschlossen und
weitere 20 Plätze in einer Kindertagesstätte in Haselhorst für Siemens gesichert. 84 Im
Vergleich mit einem Bedarf von ca. 1.100 Frauen zu dieser Zeit waren diese
Maßnahmen von geringer Wirkung und in der Folgezeit mußte vor allem auf
ausländische weibliche Arbeitskräfte zurückgegriffen werden.

1.2 Die Anwerbung ausländischer Arbeitnehmer

Der Anteil ausländischer Arbeitnehmer in den Berliner Werken stieg relativ bald nach
Kriegsende 1945 an, zunächst waren es Österreicher und Staatenlose, doch relativ
früh kamen auch andere Nationalitäten dazu. Schon 1952 wurde wieder, analog zur
Vorkriegs- und Kriegszeit, eine zentralisierte Aufstellung der Ausländer bei Siemens
Berlin angelegt.85 In diesem Jahr erreichte der Stand der Ausländer 76 Personen,
hauptsächlich aus Österreich, Holland, und osteuropäischen Staaten, sowie
Staatenlose und Menschen mit ungeklärter Staatsangehörigkeit. 86 Zu einem kleinen
Teil waren sie schon während der Kriegsjahre bei Siemens beschäftigt gewesen und
nach dem Krieg in Berlin geblieben. 87 Im Laufe der 1950er Jahre blieb die Zahl der
Ausländer relativ konstant, noch 1961 waren nur ca. 60 Personen in Berlin
beschäftigt.88 Nach dem Mauerbau stieg die Anzahl rapide an, 1962 waren es schon
422 Personen, wobei der Anteil der Arbeitnehmer aus den damaligen
Anwerbeländern Italien (47 Personen), Spanien (23 Personen) und Griechenland (44

83
Vgl. SAA 7437: Aktennotiz über eine ZBL-Besprechung vom 7.8.1962.
84
Vgl. SAA 7437: Protokoll einer Besprechung zwischen der ZBL und dem Betriebsausschuß Berlin vom
2.12.1964.
85
Vgl. SAA (unverzeichnete Akten aus dem Bestand Soz Pol, Berlin, Altsignatur B VII/2, Band 1):
Rundschreiben der Sozialpolitischen Abteilung an die Personal- und Lohnbüros in Berlin vom 16.6.1952.
86
Vgl. SAA (unverzeichnete Akten aus dem Bestand Soz Pol, Berlin, Altsignatur B VII/2, Band 1): Meldungen
der einzelnen Werke und Gesellschaften an die Sozialpolitische Abteilung vom 19.6.1952 bis 1.9.1952.
87
Vgl. SAA (unverzeichnete Akten aus dem Bestand Soz Pol, Berlin, Altsignatur B VII/2, Band 1): Aktenkundig
sind Fälle von einem Italiener, einem Holländer, einem Ukrainer, vier Österreichern, einem Staatenlosen und drei
Menschen mit ungeklärter Staatsangehörigkeit (Meldungen der einzelnen Werke und Gesellschaften an die
Sozialpolitische Abteilung vom 19.6.1952 bis 1.9.1952).
88
Vgl. SAA 15.Li 81: Jahresbericht 1960/61 der Zentral-Personalverwaltung.

23
Personen) sehr niedrig war.89 Der Großteil der ausländischen Arbeitnehmer stammte
aus anderen Ländern, außereuropäischen und Entwicklungsländern, wovon viele
zum Aufbau einer Auslandsvertriebsstruktur und von Fertigungsstätten für Siemens in
Berlin ausgebildet wurden. 90 Zur selben Zeit wurden zusammen mit dem Wernerwerk
für Bauelemente in München Überlegungen angestellt, eine zusammenhängende
Gruppe von etwa 50 Griechinnen, die schon bei Siemens in München tätig waren,
nach Berlin zu versetzen. Dieser Vorstoß wurde aber, mit Verweis auf die immer noch
schwierige politische Lage Berlins und die Wohnraumnot, nicht weiter verfolgt. 91
Nachdem der Berliner Senat am 8. Januar 1963 seine bisherigen Vorbehalte gegen
die Anwerbung von Ausländern aufgegeben hatte, traten Vertreter des Dynamowerks
der SSW schon Anfang Februar an das Berliner Arbeitsamt heran, um über die
Vermittlung von zwölf Arbeiterinnen zu verhandeln. Die geringe Anzahl an Personen
war durch den Charakter eines Pilotprojektes bedingt. Da die größte Schwierigkeit in
dem vom Gesetzgeber vorgeschriebenen Nachweis über vorhandene
Unterbringungsmöglichkeiten und soziale Betreuung lag, schloß sich die
Personalabteilung des Dynamowerks (SSW) mit denen des Kabelwerks (SSW), des
Hausgerätewerks (SE) und des Wernerwerks (S & H) zusammen, um dieses
Problem durch Anmietung von Wohnraum und Organisation der sozialen Betreuung
durch die Caritas zu lösen. 92 Der Frauenanteil an der ausländischen Belegschaft
betrug im November 1963 ca. 18%, mit starkem Schwerpunkt auf den Werken von S
& H.93
Am 6. August 1963 war es dann soweit, die erste Gruppe von 76 griechischen
Frauen als Maschinenarbeiterinnen für S & H wurde beim Arbeitsamt angeworben. 94
Sie sollten bis Weihnachten 1963 eintreffen, 95 wurden aber erst im Laufe des Jahres
1964 eingestellt.96 Nach der ersten Gruppe von Griechinnen wurden weitere
Kleingruppen im Laufe des Jahres 1964 angeworben. Zwischen Anforderung und

89
Vgl. SAA 10586: Aufstellung der Sozialpolitischen Abteilung Berlin über ausländische Arbeitnehmer in Berlin
(Stand 30.9.1962), Fernschreiben vom 29.10.1962.
90
Vgl. SAA (unverzeichnete Akten aus dem Bestand Soz Pol, Berlin, Altsignatur B VII/2, Band 1): Brief der
ZBL an die Sozialpolitische Abteilung vom 7.7.1953.
91
Vgl. SAA 10586: Schreiben der Sozialpolitischen Abteilung an die Personalabteilung des WWB in München
vom 25.4.1962.
92
Vgl. SAA 10586: Brief des DW an die Sozialpolitische Abteilung vom 7.3.1962.
93
Vgl. SAA 10586: Notiz der Sozialpolitischen Abteilung über ausländische Arbeiter bei Siemens Berlin vom
4.11.1963.
94
SA 7441: Übersicht der Sozialpolitischen Abteilung über bisher angeworbene Arbeitergruppen
(Stand 13.11.1964).
95
Vgl. SAA 10586: Aktenvermerk über die Betreuung ausländischer Arbeitnehmer vom 4.11.1963.
96
Vgl. SAA 7441: Übersicht der Sozialpolitischen Abteilung über bisher angeworbene Arbeitergruppen
(Stand 13.11.1964).

24
tatsächlicher Arbeitsaufnahme lagen in dieser frühen Phase ca. 3 bis 4 Monate, mit
regionalen Unterschieden. Die Gesamtzahl der 1963/64 angeforderten Arbeitskräfte
lag bei 377 Personen,97 bei einem Arbeitskräftebedarf von ca. 1.300 Personen im
selben Jahr (siehe oben).
Die untenstehende Tabelle gibt Aufschluß über die geschlechtsspezifische
Zusammensetzung der Arbeiter, Nationalität, Einsatzort und Tätigkeit. Die bei S & H
eingesetzten Frauen überwiegen stark, sie wurden als Maschinenarbeiterinnen in der
Fertigung eingesetzt.

97
Vgl. ebenda.

25
Übersicht über angeforderten Arbeitergruppen 1964-196598
Angeforderte Anforderung
Bereich Nationalität Beschäftigung als
Zahl vom
Griechinnen 76 6.8.1963 Maschinenarbeiterinnen
Griechinnen 30 10.7.1964 Maschinenarbeiterinnen
Türken 10 11.8.1964 Metallhilfsarbeiterinnen
Griechen
42 Ehepaare 9.9.1964 Maschinenarbeiter
Griechinnen
Griechinnen 50 25.9.1964 Montiererinnen
S&H Griechinnen 50 28.9.1964 Maschinenarbeiterinnen
Portugiesinnen 20 14.10.1964 Montiererinnen
Griechen 7 27.10.1964 Metallhilfsarbeiter
Griechinnen 30 22.1.1965 Montiererinnen
Griechinnen 30 23.2.1965 Montiererinnen
Türkinnen 30 23.2.1965 Montiererinnen
Türkinnen 30 23.2.1965 Montiererinnen
Türkinnen 15 16.9.1964 Spinnerinnen
Türken 20 6.11.1964 Transport-/Lagerarbeiter
Türkinnen 15 11.11.1964 Spinnerinnen
Türken 10 22.1.1965 Transportarbeiter
Türken 7 22.1.1965 Hilfsarbeiter
SSW Griechinnen 7 16.2.1965 Spinnerinnen
(Kabelwerk) Türkinnen 10 17.2.1965 Spinnerinnen
Türkinnen 10 17.2.1965 Maschinenarbeiterinnen
Türken 7 22.3.1965 Transportarbeiter
Türken Transport- und Hilfsarbeiter
32 Ehepaare 12.4.1965
Türkinnen Spinnerinnen
Türken 8 18.5.1965 Transport- und Hilfsarbeiter
MEG Türken 10 30.6.1964 Gießereiarbeiter
(Metall-/ Türken 10 30.9.1964 Gießereiarbeiter
Eisen-
gießerei) Türken 14 6.4.1965 Maschinenformer
Türken 15 10.5.1965 Maschinenformer

Bis zum Juli 1965 war der Stand an Gastarbeitern bei Siemens in Berlin schon auf
1.300 Personen angewachsen, 550 dieser Arbeitnehmer wurden über die Deutschen

Übersicht erstellt aus: SAA 7441: Übersicht der Sozialpolitischen Abteilung, Berlin über ausländische
98

Arbeitergruppen (Stand 13.11.1964) und SAA 10586: Übersicht über ausländische Arbeitergruppen (19.5.1965).

26
Kommissionen in den Anwerbeländern vermittelt. Der größte Teil der Arbeitnehmer zu
diesem Zeitpunkt stammte aus Griechenland, gefolgt von der Türkei und mit Abstand
Spanien und Italien.99 Die meisten der besetzten Stellen waren für ungelernte
Arbeitskräfte vorgesehen. Diese Entwicklung wurde von den Personalabteilungen
weiter vorangetrieben. Für den Schwachstrombereich (S & H) war für den Zeitraum
1965/66 bis 1970/71 ein jährlicher Zuwachs von 300 ausländischen Arbeitskräften
vorgesehen, um den durchschnittlichen Verlust von jährlich 600 deutschen
Arbeitskräften wenigstens zum Teil auszugleichen. Bei einer errechneten
Verringerung der Gesamtarbeitnehmerschaft von 13.877 (1963/63) auf 11.412
(1970/71) sollte die Zahl der Ausländer von 75 auf 1.902 steigen, was einer
Quotensteigerung von 0,5% auf 16,7% entspricht. 100 Die tatsächliche wirtschaftliche
Entwicklung, trotz der Rezession 1966/67 übertraf diese Vorausschätzung bei
weitem, so daß der Stand an ausländischen Arbeitnehmern bei S & H schon im
September 1969 über 2.500 Personen betrug. Dabei hatte sich die
Nationalitätenverteilung deutlich zugunsten der Türken verschoben, die mit bereits
1.560 Personen, gefolgt von den Jugoslawen mit 625 Personen, die mit Abstand
stärkste Gruppe waren.101 Gegen Ende der 1960er Jahre wurden die Anwerbungen
ausgeweitet, und anhand erhaltener Vermittlungsberichte lassen sich die Anteile von
Nationalitäten und Geschlecht für den Zeitraum November 1968 bis September 1969
genau verfolgen. Von insgesamt 3.940 angeforderten Arbeitskräften waren 2.770
Türkinnen und Türken, 1.120 Jugoslawinnen und Jugoslawen und 50 Griechinnen.
Die Zahlenverhältnisse zwischen den Geschlechtern variierten unter den
verschiedenen Nationen. Während bei den Türken 67% der Angeworbenen Frauen
waren, lag bei den Jugoslawen die Quote mit 54,5% etwas niedriger. 102 Die
Unterschiede lagen in den gesellschaftlichen Systemen der Heimatländer begründet,
die der Frau jeweils unterschiedliche Rollen zudachten. Der hohe Frauenanteil ist vor
allem auf den hohen Bedarf an Arbeiterinnen bei S & H zurückzuführen. Ende 1969
waren bei allen Berliner Siemens-Stellen (einschließlich SE) 5.717 Ausländer

99
Vgl. SAA 10586: Aktenvermerk der Sozialpolitischen Abteilung über den bisherigen Einsatz von Gastarbeitern
in Berlin vom 3.8.1965.
100
Vgl. SAA 7437: Personal- und FI-Stundenplanung GJ 1965/66 bis 1970/71 für S & H Berlin (9.3.1966).
101
Vgl. SAA (unverzeichnete Akten aus dem Bestand Z Bericht Berlin): Anlage zum Personalbericht für Arbeiter
(Teil 1) mit einer Aufstellung der ausländischen Arbeitnehmer nach Nationalitäten für September 1969.
102
Vgl. SAA 10581•1: Vermittlungsberichte des UB B für November 1968 bis September 1969.

27
beschäftigt, die Zahlen stiegen bis Ende 1970 weiter auf 7.241 Personen an 103 und
fielen dann bis Juni 1972 wieder auf 6.248 Personen ab.104

Ausländische Arbeiter bei Siemens in Berlin 1972 bis 1983 (nach Geschlecht) 105

Jahr 1972 1973 1974 1975 1976 1977 1978 1979 1980 1981 1982 1983
Frauen 3165 3598 3397 2530 1939 1724 1800 2089 2353 2383 2148 1841
Männer 3584 3065 3092 2545 2090 1899 1869 1820 1993 1992 1864 1584
Gesamt 6749 6663 6489 5075 4029 3623 3669 3909 4346 4375 4012 3425

Setzt man diese Zahlen mit der Gesamtentwicklung der Berliner Belegschaft in
Zusammenhang, ergibt sich eine parallele Entwicklung. Zwar fiel die Anzahl der
ausländischen Arbeiter nach dem Anwerbestopp 1973 zunächst stärker ab als die
der Gesamtbelegschaft, aber in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre konsolidierte
sich Zahl der Ausländer und stieg sogar wieder leicht an. Dabei veränderte sich das
Verhältnis von weiblichen und männlichen Arbeitnehmern zugunsten der Frauen. Die
Ausländerquote fiel zunächst von 25,6% im Jahre 1972 auf 17% im Jahre 1977 und
stieg dann bis 1980 wieder auf 20% an. Bis 1973 war die Anwerbung vor allem über
die Deutschen Vermittlungsstellen im Ausland erfolgt, unterstützt durch firmeneigene
Anwerbemaßnahmen. Nach dem Anwerbestopp im November 1973 war eine weitere
Anwerbung von Ausländern aus ihren Heimatländern nicht mehr möglich, und neue
Maßnahmen richteten sich auf die Erschließung neuer Arbeitskräftepotentiale, wie
zum Beispiel die Kinder der ersten Ausländergeneration.

1.2.1 Anwerbung über die Deutschen Kommissionen in den Anwerbeländern

Schon vor Beginn der Anwerbung 1963 mußten die Bedingungen und Prämissen der
Beschaffung ausländischer Arbeitnehmer für Siemens Berlin festgestellt werden. Für
Arbeitnehmer aus den Anwerbestaaten Italien, Spanien, Griechenland und der Türkei
war entweder die Einzelwanderung oder eine durch die deutschen Arbeitsbehörden

103
Vgl. SAA 10580: Übersicht über den Stand der Ausländischen Arbeitnehmer bei Siemens Berlin von
31.12.1969 bis 30.6.1972.
104
Vgl. SAA 10580: Anlage zum Personalbericht für Arbeiter (Teil 1), Berichtsmonat Juni 1972.
105
Erstellt aus: SAA 10580 und SAA 10581•1: Quartalsmäßige Anlagen zum Personalbericht für Arbeiter
(Teil 1) von 1972 bis 1983 (bis 1979 Berichtsmonat Dezember, ab 1980 Berichtsmonat Juni).

28
organisierte Gruppenwanderung möglich. Die Berliner Behörden behielten sich eine
Genehmigung des Arbeitseinsatzes vor, sie wurde nur erteilt, wenn für den freien
Arbeitsplatz kein deutscher Bewerber gefunden werden konnte. Einzelwanderer
mußten bei der deutschen Vertretung im Ausland einen Sichtvermerk beantragen,
der nur nach Erteilung von Aufenthaltsgenehmigung und Arbeitserlaubnis durch die
zuständigen deutschen Stellen erteilt wurde. 106 Das setzte einen persönlichen
Kontakt zwischen zukünftigem Arbeitgeber und dem Arbeitnehmer voraus, war also
für die breite Masse der zu beschäftigenden Ausländer ein zu aufwendiger und
zeitintensiver Weg. Zur Erleichterung der Wanderungen wurde in den jeweiligen
Anwerbevereinbarungen zwischen der Bundesrepublik und den Anwerbeländern die
Einrichtung einer Deutschen Kommission vor Ort und die Zusammenarbeit zwischen
deutschen und einheimischen Arbeitsbehörden festgeschrieben. 107 Die für den
Arbeitgeber direkt zuständige Stelle der Arbeitsverwaltung war das jeweilige
Arbeitsamt, in diesem Fall das Arbeitsamt Berlin III. Der Vermittlungsauftrag mußte
dem Arbeitsamt schriftlich eingereicht werden, und es mußte eine
Unkostenpauschale zwischen 124 DM (Italiener) und 234 DM (Griechen) entrichtet
werden,108 die hauptsächlich für den von der Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und
Arbeitslosenversicherung (AVAV) übernommenen Transport der Ausländer von der
Landesgrenze zum deutschen Einsatzort verwandt wurde. Die Unkostenpauschale
lag für Berlin höher als für die übrigen Bundesländer, da in den Transportkosten auch
ein Direktflug von Hannover eingeschlossen war. 109 Wahrscheinlich sollten den
Ausländern die schikanösen Kontrollen der DDR-Grenzbeamten erspart bleiben. Das
deutsche Arbeitsamt gab die Anforderung der Arbeitgeber an die Deutsche
Kommission im jeweiligen Anwerbeland weiter, die wiederum an die örtlichen
Arbeitsbehörden herantrat, um die gesuchten Arbeitskräfte zu beschaffen. Schon bei
der Einreichung der Anträge an das deutsche Arbeitsamt mußte der Arbeitgeber die
Stellung angemessener Unterkünfte für die anzuwerbenden Ausländer zusagen. In

106
Vgl. SAA 10586: Aktenvermerk der Sozialpolitischen Abteilung Berlin über die Beschäftigung ausländischer
Arbeitnehmer in der Bundesrepublik und West-Berlin vom 27.3.1963.
107
Die Grundzüge aller Vereinbarungen waren gleich und basierten auf dem Deutsch-Italienischen Abkommen
von 1955, hier ist als Beispiel das Deutsch-Griechische Abkommen gewählt: Vgl. SAA 10582: Vereinbarung
zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung des Königreichs Griechenland über
die Anwerbung und Vermittlung von griechischen Arbeitnehmern nach der Bundesrepublik Deutschland
(Dienstblatt 1960 Nr. 26).
108
Vgl. SAA 10586: Aktenvermerk der Sozialpolitischen Abteilung Berlin über die Beschäftigung ausländischer
Arbeitnehmer in der Bundesrepublik und West-Berlin vom 27.3.1963.
109
Vgl. SAA 10582: Vereinbarung zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung
des Königreichs Griechenland über die Anwerbung und Vermittlung von griechischen Arbeitnehmern nach der
Bundesrepublik Deutschland (Dienstblatt 1960 Nr. 26).

29
Berlin untersagte das Landesarbeitsamt die Unterbringung der Arbeitnehmer in
Baracken. Es mußten zumindest Gemeinschaftsunterkünfte in Wohnheimform erstellt
werden. Ihr Zustand wurde vom Landesgesundheitsamt laufend überprüft. 110 Das
hing vermutlich mit der Stellung Berlins im Blickfeld der internationalen Politik zu
Zeiten des Kalten Krieges zusammen, in denen ein positives Image der Stadt
überlebenswichtig war und keine Assoziationen zur Zwangsarbeiterbeschäftigung der
Kriegszeit aufkommen sollten - in den Quellen finden sich allerdings keine Belege für
diese These.
Da die Deutschen Kommissionen nicht für die Werbung der Arbeitnehmer zuständig
waren, sondern nur eingehende Aufträge bearbeiteten, entwickelte sich zwischen der
Firma als größtem Arbeitgeber Westberlins 111 und dem Landesarbeitsamt eine
Zusammenarbeit, um die Werbung für den Standort Berlin anzukurbeln. Der Direktor
des Landesarbeitsamtes Potratz und Vertreter der Firma verständigten sich auf
Maßnahmen zur Förderung der Vermittlung von Arbeitnehmern nach Berlin. Da die
Arbeitskräfte der Anwerbeländer Italien und Spanien zum großen Teil schon von den
westdeutschen Bundesländern absorbiert worden waren, wollte man sich auf eine
Anwerbung von Griechen und Türken konzentrieren sowie die gerade erst
anlaufende Vermittlung von Portugiesen in Richtung Berlin forcieren. Um die
einzelnen Vermittlungen zu erleichtern, sollte der Umfang einer solchen Anforderung
30 Personen nicht übersteigen, um von einem lokalen Arbeitsamt in relativ kurzer
Zeit durchgeführt werden zu können. 112 Die Sozialpolitische Abteilung bat die
Siemens-Landesgesellschaften Griechenlands, Portugals und der Türkei um Mithilfe
und Unterstützung bei der Anwerbung von Arbeitskräften für Berlin, die dann
namentlich angefordert werden konnten. 113 Berlin war gegenüber den anderen
Bundesländern im Nachteil, da diese, aufgrund des viel höheren Bestands an
Ausländern, längst die meisten Anforderungen nur noch namentliche durchführten
und so ein großer Anteil der vermittlungswilligen Ausländer für Berlin grundsätzlich
nicht zu interessieren waren. Die Landesgesellschaft sollte den persönlichen Kontakt
zu den Arbeitsbehörden und der Deutschen Kommission suchen und aktiv Werbung

110
Vgl. SAA 10586: Aktenvermerk der Sozialpolitischen Abteilung Berlin über die Beschäftigung ausländischer
Arbeitnehmer in der Bundesrepublik und West-Berlin vom 27.3.1963.
111
Vgl. SAA 7437: Aktenvermerk über eine ZBL-Besprechung vom 11.2.1964 mit dem Hinweis auf Siemens als
größten Arbeitgeber Westberlins mit 14% aller in Westberlin beschäftigten Arbeitnehmer und 37% aller
Beschäftigten in der Elektroindustrie.
112
Vgl. SAA 10586: Aktenvermerk über eine Besprechung zwischen dem Präsidenten des Landesarbeitsamtes
und Firmenvertretern vom 28.5.1964.
113
Vgl. SAA 10582: Brief der Soz Pol Erlangen an die Soz Pol Berlin mit dem Hinweis auf Briefe an die
Vertretungen in Griechenland, Portugal und der Türkei (8.6.1964).

30
für das Haus Siemens und ganz besonders den Standort Berlin betreiben. 114 Der
Frauenbedarf war aber auch bei anderen deutschen Unternehmen und
westdeutschen Siemens-Standorten so groß, daß schon bald längere Wartezeiten für
die Vermittlung weiblicher Arbeitskräfte auftraten. Auch die gerade anlaufende
Vermittlung von Portugiesen konnte in diesem Falle keine Abhilfe schaffen, da die
portugiesischen Arbeitsbehörden alleinstehende Frauen aus moralischen Gründen
nicht alleine ausreisen lassen wollten. 115 Im Juni 1964 lagen allein in der Deutschen
Kommission in Saloniki 2.500 Anforderungen weiblicher Arbeitskräfte vor, weitere
3.000 waren es in Athen. Daraus ergaben sich Wartezeiten von bis zu sechs
Monaten. Jede zehnte dieser Anforderungen in Saloniki und jede sechste in Athen
kam von einem der westdeutschen Siemens-Standorte. Die sich aus diesem Andrang
und Konkurrenzdruck ergebenden Probleme sollten auf zwei Arten angegangen
werden: zum einen durch eine innerbetriebliche Präferenz des Standorts Berlin, oder
aber durch eine behördliche Bevorzugung Berlins vor den anderen Bundesländern.
Beide Maßnahmen sollten nur solange gelten, bis der „Rückstand“ Berlins in der
Ausländerbeschäftigung ausgeglichen war.116 Ein weiterer erschwerender Faktor bei
der Anwerbung von Arbeitskräften für Berlin war das schlechte Image der Stadt als
Frontstadt, die als gefährlich galt 117. Das spanische Arbeitsministerium ging sogar so
weit, in einer Informationsbroschüre für spanische Arbeitnehmer, die nach
Deutschland gingen, Berlin als „Insel im roten Meer des sie umgebenden
kommunistischen Regimes“ zu bezeichnen.118 Dementsprechend niedrig war auch
der Anteil der Spanier an der ausländischen Erwerbsbevölkerung in Berlin.119
Aber auch zu lange Bearbeitungszeiten der Deutschen Kommissionen und zu
strenge Auswahlkontrollen der für den Einsatz in Berlin bestimmten Arbeitnehmer
verzögerten die Ausländerbeschäftigung immer wieder. Für die Durchführung der
ersten Anforderung für 76 griechische Frauen vom 6. August 1963 benötigte die
Deutsche Kommission in Athen ein Jahr, und auch von der zweiten Gruppe von 30
Frauen waren innerhalb von fünf Monaten nur sechs in Berlin eingetroffen. Von einer
Gruppe Ehepaare, die innerhalb von sechs Wochen zum Einsatz kommen sollten,

114
Vgl. SAA 10582: Brief der Sozialpolitischen Abteilung Berlin an Siemens Hellas in Athen vom 8.6.1964.
115
Vgl. SAA 10582: Aktenvermerk der Sozialpolitischen Abteilung zur Beschaffung und Unterbringung
auswärtiger Arbeitskräfte vom 22.6.1964.
116
Vgl. SAA 10582: Brief der Soz Pol München an die Soz Pol Berlin vom 18.6.1964.
117
Vgl. SAA 7438•1: Aktenvermerk über eine Besprechung mit Oberverwaltungsrat Weicken von der
Bundesanstalt für AVAV über ausländische Arbeitskräfte vom 2.12.1964.
118
Vgl. SAA 10566: „Esquema de la Republica Federal de Alemania“ Informationsbroschüre über Deutschland,
herausgegeben vom spanischen Arbeitsministerium 1960.
119
So waren im Juni 1972 von insgesamt 6.535 Ausländern bei Siemens Berlin nur 46 Spanierinnen und Spanier.

31
wurde die Hälfte von der Deutschen Kommission als untauglich abgelehnt, obwohl
sie für ungelernte Aufgaben eingesetzt werden sollten.
Besonders die Deutsche Kommission in Athen scheint relativ langsam gearbeitet zu
haben. Selbst eine namentliche Anforderung von Ehemännern bereits in Berlin
beschäftigten Griechinnen war nach mehreren Monaten immer noch nicht erledigt.120
Aufgrund dieser Erfahrungen wurden die Werbemaßnahmen nun verstärkt und
zunächst eine Werbebroschüre über Siemens Berlin in griechischer und türkischer
Sprache entworfen.121 Gleichzeitig setzte sich die Berliner Firmenleitung beim
Landesarbeitsamt erneut für eine Bevorzugung Berlins ein, um den Rückstand bei
den Vermittlungszahlen auf die westdeutsche Wirtschaft auszugleichen. Dabei wurde
von Seiten der Arbeitsbehörden auf stärkere Eigeninitiative der Berliner Firmen bei
der Werbung gedrungen, um die Bemühungen der Behörde zu unterstützen. 122 Die
Bundesanstalt für AVAV gab nach einigem Zögern schließlich nach und versprach,
sich bei den griechischen Arbeitsbehörden für eine bevorzugte Bedienung des
Berliner Bedarfs einzusetzen.123
Zur Koordinierung der Werbemaßnahmen reiste eine Siemens-Delegation im April
1964 nach Griechenland und in die Türkei. Das Ergebnis der Besprechungen war vor
allem, daß nur eine persönliche Werbung von bereits in Berlin arbeitenden Griechen
bzw. Türken Erfolg verspräche; vor allem Frauen bewarben sich zu 80 bis 85% mit
festem Ziel bei den Kommissionen und ließen sich in die Umgebung von
Familienmitgliedern oder Freunden vermitteln. Werbungen in Zeitungen oder Kinos
wurde von den Deutschen Kommissionen vor Ort, aber auch von den lokalen
Arbeitsbehörden negativ beurteilt. Vor allem sollte die nach wie vor schwierige
Anwerbung weiblicher Arbeitskräfte forciert werden, da die Arbeitsplätze in Berlin im
Verhältnis 2 zu 1 mit Frauen und Männern besetzt werden mußten. 124
Dementsprechend waren in der Werbebroschüre für Siemens Berlin vor allem
Arbeiterinnen abgebildet, die an sauberen Arbeitsplätzen arbeiteten und sich in ihren
Wohnheimen in „den hellen und freundlichen Räumen [wohlfühlten]“, es wurde auf

120
Vgl. SAA 7441: Beschwerdebrief von S & H an den Direktor der Deutschen Kommission in Athen, Eichner,
vom 10.11.1964.
121
Vgl. SAA 7441: Aktenvermerk über eine Besprechung zu allgemeinen Verwaltungsfragen und Betreuung von
Ausländern vom 11.11.1964.
122
Vgl. SAA 10586: Aktenvermerk über eine Besprechung im Arbeitsamt III über Arbeitskräfte für Berlin vom
24.11.1964.
123
Vgl. SAA 7438•1: Aktenvermerk über eine Besprechung mit Oberverwaltungsrat Weicken von der
Bundesanstalt für AVAV über ausländische Arbeitskräfte vom 2.12.1964.
124
Vgl. SAA 7438•2: Bericht über eine Reise nach Athen, Saloniki und Istanbul zur Klärung der Anwerbung
griechischer und türkischer Gastarbeiter (5.-11.4.1965).

32
die familiäre Atmosphäre bei Siemens, die guten Verdienstmöglichkeiten und nicht
zuletzt auf die kulturellen Angebote und Freizeitmöglichkeiten in der Metropole Berlin
hingewiesen. Die abgebildeten Arbeiterinnen in der türkischen und griechischen
Version der Broschüre sind identisch, 125 da nur das Konzept der „Gastarbeit“
vermittelt werden sollte, nationalitätenspezifisch aber keine Unterschiede gemacht
wurden. Diese Broschüre sollte in türkischen und griechischen Arbeitsämtern
ausgelegt werden und zu Information derjenigen dienen, die sich bereits zur Ausreise
entschlossen hatten. Zusätzlich wurde noch eine Postkartenaktion gestartet, bei der
die ausländischen Arbeitnehmer Werbepostkarten an Freunde und Verwandte
schicken sollten. Die Motive waren die Berliner griechisch-orthodoxe Kirche bzw. die
Berliner Moschee. Sämtliche Kosten, einschließlich des Portos, wurden von der
Firmenleitung übernommen.126 Die Auswahl gerade dieser Motive für die
Postkartenaktion deutet auf die Zielgruppe der noch in der dörflichen Gemeinschaft
verbliebenen potentiellen Arbeitnehmer hin. Für sie muß eine Großstadt bedrohlich
gewirkt haben, weshalb ihnen mit dem vertrauten Motiv eines Gotteshauses die
Angst genommen werden sollte.
In den folgenden Jahren verlief die Zusammenarbeit mit den Arbeitsbehörden
reibungslos. Seit Januar 1969 wurden auch aus Jugoslawien offiziell Arbeitskräfte
vermittelt, Vermittlungsaufträge waren aber schon im Laufe des Jahres 1968
angelaufen.127 In den anderen Vermittlungsländern hatte sich dadurch die zuvor
angespannte Vermittlungssituation entschärft, z.B. konnten türkische Frauen
innerhalb einer Woche vermittelt werden.128
Die Anwerbung von Jugoslawen war von Anfang an nicht so problemlos wie in den
anderen Ländern. Die jugoslawischen Behörden erteilten nur ungelernten
Arbeitskräften die Genehmigung zur Ausreise, Facharbeiter und Frauen konnten fast
ausschließlich über den sogenannten „Zweiten Weg“, eine großzügig ausgelegte
Familienzusammenführung, nach Deutschland gelangen.129 Die Arbeit der Deutschen
Delegation in Belgrad war von Anfang an sehr bürokratisch und führte zu ständigen
Problemen, langen Wartezeiten bei der Vermittlung und Nichterfüllung der

125
Vgl. SAA 10585•1: Werbebroschüre in türkischer und griechischer Sprache für Berlin und Siemens Berlin
(1965).
126
Vgl. SAA 10585•1: Werbepostkarten (1965).
127
Vgl. SAA 10585•1: Rundschreiben der Sozialpolitischen Abteilung München über die Anwerbung von
Arbeitskräften vom 27.1.1969.
128
Vgl. SAA 10585•1: Rundschreiben der Sozialpolitischen Abteilung München über die Anwerbung von
Arbeitskräften vom 28.2.1969.
129
Vgl. SAA 10585•1: Rundschreiben der Sozialpolitischen Abteilung München über die Anwerbung von
Arbeitskräften vom 13.5.1969.

33
Vermittlungsaufträge.130 Ob bei diesen Verwaltungshürden auf der jugoslawischen
Seite auch ideologische Gründe eine Rolle spielten, um zum Beispiel die im Ausland
arbeitenden eigenen Staatsangehörigen vor kapitalistischer „Infiltrierung“ zu
schützen, ist in den Quellen nicht thematisiert. Aufgrund des hohen
Arbeitskräftebedarf der deutschen Industrie im Jahr 1969 verlängerten sich die
Bearbeitungszeiten für Vermittlungsaufträge auch in den anderen Ländern
zusehends. Die durchschnittliche Vermittlungsdauer lag bei ca. 8 Wochen, für die
Vermittlung weiblicher Arbeitskräfte mußten bis zu zwölf Wochen Vorlaufzeit
eingeplant werden.131 Dadurch war der Charakter einer flexiblen Arbeitskraftreserve
natürlich stark eingeschränkt, und die Anwerbung verschiedener Stellen und
Standorte des Hauses mußte koordiniert werden, um eine Konkurrenzsituation bei
der Anwerbung zu vermeiden und die Haltung der Firma den Behörden gegenüber
zu verstärken.132 Zu diesem Zweck wurden als Vermittlungsstellen innerhalb des
Hauses „Drehscheiben“ für die einzelnen Anwerbeländer eingerichtet. 133 Dabei war
jeweils ein Werk für die Betreuung eines Landes zuständig und diente den anderen
Werken als Vermittler, wenn Arbeiter aus dem entsprechenden Land angeworben
werden sollten. Die Berliner Stellen des Hauses Siemens traten geschlossen auf und
entsandten den Chef der betriebsärztlichen Versorgung Dr. Schmidt in die Deutsche
Verbindungsstellen in Istanbul, um die Anwerbung von Türken zu begutachten,
gerade in Hinblick auf die ärztliche Tauglichkeitsuntersuchung.134
Von 1971 bis zum Anwerbestopp im November 1973 vermehrten sich die Hürden, die
vor allem von behördlicher Seite bei der Anwerbung aufgestellt wurden.
Insbesondere Länder und Kommunen versuchten schon Ende 1971, den Zuzug von
Ausländern zu verlangsamen, um der schon eingetretenen Überlastung der
Infrastruktur entgegenzutreten. Gleichzeitig nahm der Antragsstand in den
Deutschen Kommissionen um 30% ab, und die namentliche Anforderung von
Arbeitskräften wurde von den einheimischen Arbeitsbehörden mit wachsender
Abneigung bearbeitet. Man befürchtete ein gezieltes Abwerben von Fachkräften, die
in der eigenen Wirtschaft benötigt wurden. 135 Im März 1972 erfolgte die insgesamt

130
Vgl. SAA 10590: Protokoll einer Sitzung des „Arbeitskreises Ausländische Arbeitnehmer“ in Berlin
(18.6.1969).
131
Vgl. SAA 10585•1: Rundschreiben der Sozialpolitischen Abteilung München über die Anwerbung von
Arbeitskräften vom 8.9.1969.
132
Vgl. SAA 10590: Protokoll der KOMAK-Sitzung vom 29.10.1970 in München.
133
Vgl. SAA 11041: Rundschreiben der Soz Pol München zur Anwerbung von Ausländern (19.11.1968).
134
Vgl. SAA 10585•1: Beschäftigung von Gastarbeitern. Bisherige Ergebnisse des Arbeitskreises
Ausländerfragen im Berliner Siemens-Bereich (2.10.1970).
135
Vgl. SAA 11041: Information zur Beschäftigung ausländischer Arbeitnehmer vom 26.11.1971.

34
2.000.000ste Vermittlung eines ausländischen Arbeitnehmers, eine jugoslawische
Frau, die bei Siemens in München beschäftigt wurde.136

Trotz weiter steigender Vermittlungszahlen zeichnete sich eine Wende der deutschen
Ausländerpolitik ab – im Oktober 1973 wurde bereits innerhalb der Firma über
eventuelle Auswirkungen von Zuzugsbeschränkungen für überlastete Ballungsräume
und eine generelle Erschwerung des Ausländerzuzugs in die Bundesrepublik
diskutiert.137 Am 23. November 1973 erfolgte dann, mit Verweis auf die Ölkrise und
die damit einhergehende Abflachung der Konjunktur, der absolute Vermittlungsstopp
für ausländische Arbeitnehmer in die Bundesrepublik Deutschland. Davon waren
auch jene Ausländer betroffen, die in Anlernmaßnahmen im Heimatland beschäftigt
waren, oder die ihren Arbeitsvertrag noch nicht unterschrieben hatten. 138 Der
Bundesverband der Deutschen Arbeitgeberverbände protestierte gegen den Stopp
als eine zu undifferenzierte Maßnahme, die der tatsächlichen Situation auf dem
Arbeitsmarkt nicht Rechnung trage, indem nämlich auch solche ausländischen
Arbeitnehmer ausgeschlossen würden, die an mit deutschen Arbeitnehmern nicht zu
besetzenden Stellen eingesetzt werden sollten. 139 Die Berliner Personalabteilung
versuchte, in Zusammenarbeit mit dem Leiter des Berliner Arbeitsamtes, eine Lösung
für den nun ungedeckten Arbeitskräftebedarf des Berliner Siemens-Bereichs zu
finden. Ergebnis dieser Besprechung war vor allem die Zusage von seiten der
Behörde, schon eingestellten ausländischen Arbeitskräften die Arbeitserlaubnis zu
verlängern, wenn kein gleich qualifizierter deutscher Bewerber für den Arbeitsplatz
zur Verfügung stand. Die Firma mußte die wirtschaftliche Notwendigkeit für den
Einsatz eines Ausländers auf dem betroffenen Arbeitsplatz nachweisen. 140 Für bereits
in berufsvorbereitenden Maßnahmen stehende ausländische Arbeitskräfte,
namentlich 160 zukünftige türkische Mitarbeiter des Dynamowerks und des

136
Vgl. SAA 11041: Information zur Beschäftigung ausländischer Arbeitnehmer vom 24.3.1972.
137
Vgl. SAA 10590: Protokoll einer Sitzung des Arbeitskreises „Ausländische Arbeitnehmer“ in München vom
12.10.1973.
138
Vgl. SAA 11041: Rundschreiben der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände zur Einstellung
der Vermittlung ausländischer Arbeitnehmer vom 23.11.1973.
139
Vgl. SAA 11041: Pressemitteilung der Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände: „Arbeitgeber:
Anwerbestopp nicht differenziert genug“ (undatiert).
140
Vgl. SAA 10585•2: Protokoll einer Besprechung zwischen Dir. Strunk, Leiter des Arbeitsamtes 3 von Berlin,
ZPS 6 und den Berliner Personalabteilungsleitern vom 10.12.1973.

35
Schaltwerks, forderte die Firma eine Ausnahmeregelung 141, die im März 1974 auch
vom Bundesministerium für Arbeit erteilt wurde.142
Die weitere Beschäftigung von Ausländern wurde von der Firmenleitung, bei
Beibehaltung der bisherigen Firmenpolitik, als unbedingt notwendig zum weiteren
Umsatzwachstum im Inland angesehen.143 Dementsprechend mußte ein neues
Konzept zur Ausländerbeschäftigung unter veränderten Bedingungen entwickelt
werden. Dies sollte in Berlin vor allem durch die Bindung „förderungswürdiger und
integrations-würdiger“ ausländischer Arbeitnehmer an das Haus Siemens erfolgen.
Man befürchtete ein „Ausbluten“ der Berliner Siemens-Belegschaft, vor allem der
Facharbeiter und begegnete diesem Problem mit einem „Aktionsprogramm“, das
einen Ausbau der Wohnungsbeschaffung, Förderung der deutschen
Sprachkenntnisse durch das firmeneigene „Bildungszentrum Berlin“ und vor allem
berufliche Weiterbildungsmaßnahmen zur Heranbildung einer „unteren
Führungsschicht“ von ausländischen Vorarbeitern, Einrichtern und Bandführern
beinhaltete.144 Unternehmensweit erarbeitete die Zentralpersonalstelle in München
ein neues Konzept zur Ausländerbeschäftigung. Dies beinhaltete vor allem Senkung
des Ausländeranteils durch genauere Prüfung des Bedarfs und der vorhandenen
deutschen Bewerber, Auflockerung und Entballung von zusammenhängenden
Ausländergruppen einer Nationalität, Verstärkung der Integration durch
Sprachförderprogramme, personelle und berufliche Betreuung, Unterstützung von
Freizeitaktivitäten, Sozialberatung für Probleme außerhalb des Beschäftigungsfeldes
und eine durch einen Ausländerreferenten überwachte innerbetriebliche Betreuung,
die über das zuvor geleistete Maß hinaus gehen sollte. 145 Die Ergebnisse dieses und
anderer Programme zur Integration der verbliebenen Ausländer in die
Stammbelegschaft wurden in einer Studie der Zentralabteilung Personal 1976
festgehalten. Seit 1973 waren die absolute Zahl der Ausländer und ihr Anteil an der
Gesamtbelegschaft rückläufig. Dienstalter, Lohngruppe und Aufenthaltsdauer in der
Bundesrepublik waren dagegen deutlich gegenüber 1973 angestiegen. Eine große
Mehrheit von 65% der gewerblichen Arbeitnehmer brauchten keine

141
Vgl. SAA 10585•2: Protokoll einer Besprechung zwischen Dir. Strunk, Leiter des Arbeitsamtes 3 von Berlin,
ZPS 6 und den Berliner Personalabteilungsleitern vom 10.12.1973.
142
Vgl. SAA 10585•2: Fernschreiben der ZPS 12 München an die ZPS 6 Berlin vom 22.3.1974.
143
Vgl. SAA 10590: Protokoll einer Sitzung des Arbeitskreises Ausländische Arbeitnehmer vom 29.1.1974.
144
Vgl. SAA 10585•2: Rundbrief der ZP Berlin an Werkleiter und Personalabteilungsleiter zur „Bindung
förderungswürdiger und integrationswilliger ausländischer Arbeitnehmer an das Haus Siemens in Berlin“ vom
24.6.1974.
145
Vgl. SAA 10585•2: Entwurf eines neuen Konzeptes zur Ausländerbeschäftigung vom 14.1.1974.

36
Aufenthaltsgenehmigung mehr, Krankenstand und Fluktuation der ausländischen
Arbeitnehmer waren z.T. sogar unter den Stand der deutschen Arbeiter gesunken.146

1.2.2 Direktanwerbungen

In den frühen Stadien der Ausländerbeschäftigung wurde neben der Anwerbung über
die Deutschen Kommissionen auch versucht, Arbeitnehmer direkt anzuwerben.
Neben Angehörigen der Staaten der EWG konnten auch griechische Arbeitnehmer
ohne Einschaltung der Deutschen Kommission angeworben werden. Dieses
Verfahren setzte aber eine Zustimmung von Fremdenpolizei und Arbeitsamt
voraus.147 Türkische Direktbewerber wurden mit dem Hinweis auf ein Verbot der
Einzelanwerbung durch die Behörden, an die Deutsche Kommission in Istanbul
verwiesen.148 Wichtig war die Einzelanwerbung vor allem für Arbeiter, die nicht aus
einem der Anwerbeländer stammten. Dazu zählten vor allem Arbeitskräfte aus nicht-
europäischen Ländern, aber auch Arbeiter aus Großbritannien, deren Anwerbung
erst 1971 über eine Dienststelle der Bundesanstalt für AVAV möglich wurde und
vorher nur als Einzelanwerbung durchzuführen war. 149 Für nicht-europäische Arbeiter
waren zumeist die erforderlichen Genehmigungen der Behörden problematisch. Da
von einigen Werken des Unternehmensbereichs Bauelemente (UB B) weibliche
Arbeitskräfte aus Indonesien und Südkorea angeworben werden sollten, mußten
Aufenthaltserlaubnisse und Arbeitsgenehmigungen für diesen Personenkreis
gruppenweise beantragt und erteilt werden. 150 Die Zusammenarbeit mit den
Behörden gestaltete sich aber problematisch und wurde seit 1970 firmenintern nur
noch durch eine Personalstelle zentral für das ganze Unternehmen abgewickelt. 151 In
Berlin spielten diese außereuropäischen Arbeitergruppen fast keine Rolle, für den
Zeitraum 1972 bis 1983 war ihre Anzahl, mit nie mehr als 20 Personen einer
außereuropäischen Nationalität im Berliner Siemens-Bereich, sehr gering.152

146
Vgl. SAA 11041: Zusammenfassung der Ergebnisse der ZP-Ausländerstudie von ZPS 12 (13.9.1976).
147
Vgl. SAA 10590: Aktenvermerk der Sozialpolitischen Abteilung über Ausländer – allgemeine
Verwaltungsfragen und Betreuung vom 18.3.1965.
148
Vgl. SAA 10589: Direktbewerbung des Yavuz Kuruoglu aus Istanbul an Siemens Berlin und
Antwortschreiben vom 12.9.1963.
149
Vgl. SAA 10592: Protokoll einer KOMAK-Sitzung vom 19.5.1971.
150
Vgl. SAA 10590: Protokoll einer KOMAK-Sitzung vom 29.10.1970.
151
Vgl. SAA 10590: Protokoll einer Sitzung des Arbeitskreises Ausländische Arbeitskräfte vom 24.7.1970.
152
Vgl. SAA 10580: Aufstellungen der gewerblichen Arbeitnehmer bei Siemens in Berlin von 1972-1983
(quartalsmäßige Berichte).

37
1.2.3 Arbeitsverträge, Arbeitserlaubnis und Aufenthaltsgenehmigung

In den Anwerbeabkommen mit den Vermittlungsländern wurden die rechtlichen


Rahmenbedingungen für den Einsatz der ausländischen Arbeitskräfte festgelegt.
Standardisierte, zweisprachige Arbeitsverträge mußten von Bewerber und
Arbeitgeber schon vor der Ausreise aus dem Heimatland unterschrieben werden. 153
Desweiteren wurde dem Angeworbenen von der jeweiligen Deutschen Kommission
eine Legitimationskarte ausgestellt, die für die Geltungsdauer des Arbeitsvertrags,
gewöhnlich ein Jahr, sowohl Sichtvermerk (Visum) als auch Arbeitserlaubnis
ersetzte.154 Nach Ablauf des Jahres mußte vom Arbeitnehmer bei den deutschen
Behörden vor Ort eine Verlängerung beantragt werden. 155 Die außerdem notwendige
Aufenthaltsgenehmigung mußte vom Arbeitgeber bei den örtlichen
Ausländerbehörden beantragt werden und galt zunächst nur für den Zeitraum der
Beschäftigung.156
Die Arbeitgeber mußten dem Arbeitsamt gegenüber eine Verpflichtungserklärung
über eine Mindestbeschäftigungsdauer von einem Jahr leisten, um an der
behördlichen Vermittlung von ausländischen Arbeitnehmern teilnehmen zu können. 157
Diese Regelung wurde von den Berliner Siemens-Stellen kritisch beurteilt, da von
seiten der Firma nur unter besonderen Umständen zurückgetreten werden konnte.
Der häufigste Grund für eine vorzeitige Lösung des Arbeitsverhältnisses war die
fehlende Eignung eines Mitarbeiters für die ihm zugedachte Tätigkeit. 158 Darüber
hinaus waren rechtliche Probleme wie Vertragsbrüche und Kündigungen von
ausländischen Arbeitnehmern in der Anfangsphase der Ausländerbeschäftigung eher
selten. Die Produktivität der meisten Arbeiter war hoch 159, die Fluktuation bedeutend

153
Vgl. SAA 10582: Vereinbarung zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung
des Königreichs Griechenland über die Anwerbung und Vermittlung von griechischen Arbeitnehmern nach der
Bundesrepublik Deutschland (in Dienstblatt 1960, Nr. 26), Artikel 11.
154
Vgl. SAA 10582: Vereinbarung zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung
des Königreichs Griechenland über die Anwerbung und Vermittlung von griechischen Arbeitnehmern nach der
Bundesrepublik Deutschland (in Dienstblatt 1960, Nr. 26), Artikel 12.
155
Vgl. SAA 10566: „Hinweise für Arbeitgeber zur Einstellung und Beschäftigung ausländischer Arbeitnehmer“
(Stand 1966), hg. Von der Bundesanstalt für AVAV, Nürnberg.
156
Vgl. SAA 11041: Rundschreiben der Sozialpolitischen Abteilung Erlangen Nr. 449 „Beschäftigung von
Ausländern“ (28.6.1960).
157
Vgl. SAA 10586: Auszug aus einem FA-Besprechungsbericht vom 28.5.1964.
158
Vgl. SAA 10586: Brief des WWB an die Zentralpersonalstelle (Hr. Molzahn) vom 17.1.1964.
159
Vgl. SAA 10586: Aktenvermerk der Sozialpolitischen Abteilung über Arbeitsvertragsbrüche von
Gastarbeitern und Dolmetschern vom 21.10.1965.

38
niedriger als die der westdeutschen und Berliner Arbeiter. Von Dezember 1963 bis
September 1965 kamen auf 477 Zugänge von Ausländern nur 72 Abgänge (ca.
6,5%), während die Abgänge der Berliner für den gleichen Zeitraum um 160% über
der Zahl der Neueinstellungen lag. 160 Die standardisierten Arbeitsverträge blieben im
wesentlichen bis 1972 unverändert, mußten aber schließlich revidiert werden, um
den sich verändernden Gegebenheiten Rechnung zu tragen. Diese
Verbesserungsvorschläge gingen vom Berliner Senat aus und umfaßten präzisierte
Formulierungen zu den Vertragsgegenständen Vertragsdauer, Akkordentlohnung,
Arbeitszeit, Unterkunftsregelung und Lohnzuschlägen. 161 Nach Einbeziehung der
Arbeitgeberseite162 wurde vom Bundesministerium für Arbeit für 1973 ein neuer
Vertragsentwurf konzipiert, der das Berliner Konzept zum Teil aufgriff und
hauptsächlich die Vertragsdauer und die Übernahme der Reisekosten bei sofortiger
Rückkehr ins Heimatland klarer formulierte. Diese Änderung scheint aber wegen des
Anwerbestopps nicht mehr wirksam geworden zu sein. 163 Mit zunehmender
Knappheit der verfügbaren ausländischen Arbeitskräfte und dem sich dadurch
ergebenden Konkurrenzdruck unter den Unternehmen in den frühen 1970er Jahren
wurden Fälle von Abwerbung und Vertragsbruch häufiger. Gleichzeitig wich die
Bundesanstalt für AVAV im März 1972 von ihrer bisherigen Praxis, vertragsbrüchig
gewordene Ausländer für bestimmte Zeit von der Weitervermittlung auszuschließen,
ab. Die Aufgabe der Sperrung wurde mit einem Hinweis auf den
Gleichheitsgrundsatz zwischen deutschen und ausländischen Arbeitnehmern
begründet und nahm den Arbeitgebern ein sehr wirkungsvolles Mittel, gegen die
Fluktuation anzukämpfen.164 In Einzelfällen konnte auch nach der Einführung der
neuen Regelung zwischen Arbeitsbehörden und Firma ein Kompromiß gefunden
werden, nach dem vertragsbrüchige Ausländer zumindest für ihren bisherigen
Einsatzort gesperrt wurden, um nicht weitere Vertragsbrüche nach sich zu ziehen.165

160
Vgl. SAA 10586: Brief der Sozialpolitischen Abteilung an Dir. Bremeier über Gastarbeiter vom 22.10.1965.
161
Vgl. SAA 10588: PL-Information für die Personalleitung (Heft 4, 1972), hg. von der Zentralvereinigung
Berliner Arbeitgeberverbände (14.2.1972).
162
Vgl. SAA 10588: Rundschreiben der Soz Pol 1 (München) über Jahresverträge für ausländische Arbeitnehmer
vom 10.3.1972.
163
Vgl. SAA 10590: Protokoll einer Sitzung des Arbeitskreises Ausländische Arbeitnehmer vom 12.10.1975.
164
Vgl. SAA 10583: Aktenvermerk der Sozialpolitischen Abteilung über die Sperrung vertragsbrüchiger
ausländischer Arbeitnehmer durch die Arbeitsverwaltung vom 11.12.1972.
165
Vgl. SAA 10590: Protokoll einer Sitzung des Arbeitskreises Ausländische Arbeitnehmer vom 12.10.1975 mit
dem Verweis auf „Ketten-Arbeitsvertragsbrüche“ am Siemens Standort Bruchsal; Protokoll einer Sitzung des
Arbeitskreises Ausländische Arbeitnehmer vom 29.1.1974 mit dem Verweis auf eine Vereinbarung zwischen dem
Siemens Werk Speyer und der örtlichen Arbeitsverwaltung, vertragsbrüchige Ausländer nicht am Ort weiter zu
vermitteln.

39
Die Arbeitsbehörden hielten durch die Erteilung bzw. Nicht-Erteilung von
Arbeitserlaubnissen ein wirksames Mittel zur Regulierung des Ausländeranteils auf
dem deutschen Arbeitsmarkt in der Hand. In Zeiten der Hochkonjunktur war die
Erteilung und Verlängerung von Arbeitserlaubnissen problemlos. Arbeitserlaubnisse
waren arbeitsplatzgebunden und wurden generell nur für den Zeitraum eines Jahres
erteilt . Nach durchgehender Beschäftigung über fünf Jahre wurde der Ausstellungs-
zeitraum auf drei Jahre verlängert. Nach zehn Jahren Arbeitstätigkeit konnte eine
unbefristete Arbeitserlaubnis beantragt werden. 166 Nach dem Vermittlungsstopp im
November 1973 wurde die Verlängerung von Arbeitserlaubnissen zunehmend
erschwert, und es zeigte sich die große Einflußmöglichkeit der Arbeitsbehörden. Die
Firma versuchte, mit direkter Einflußnahme auf das Berliner Arbeitsamt die
Verlängerungen zu ermöglichen. 167 Zwischen 1973 und 1980 wurde die
Arbeitserlaubnisverordnung fünfmal geändert, um sie der sich ständig verändernden
Arbeitsmarktsituation anzupassen. Dabei wurde zunehmend der Vorrang von
arbeitslosen Inländern in der Verordnung verankert. 168 Gleichzeitig wurden Verstöße
seitens der Arbeitgeber gegen die Verordnung schwerer als bisher geahndet. 169 Auf
der anderen Seite wurden in der zweiten Hälfte der 1970er Jahre die Bestimmungen
für schon lange in Deutschland lebende Ausländer und vor allem deren Kinder immer
weiter gelockert. Der ursprünglich auf den 30. November 1974 festgelegte Stichtag
für die Einreise von ausländischen Jugendlichen, die eine Arbeitserlaubnis
beantragen wollten, wurde auf den 31. Dezember 1976 verlängert. 170 Die Frist zur
Erteilung einer unbefristeten Arbeitserlaubnis für erwachsene Arbeitnehmer wurde
von zehn auf acht Jahre verkürzt.171 1980 wurde allen Jugendlichen der sogenannten
„Zweiten Ausländergeneration“ ein Rechtsanspruch auf eine besondere (nicht vom
Arbeitsplatz abhängige) Arbeitserlaubnis zugesprochen.172

166
Vgl. SAA 10588: Merkblatt für die Beschäftigung von ausländischen Arbeitnehmern in der Bundesrepublik
Deutschland (hg. von der Bundesanstalt für AVAV, 1960).
167
Vgl. SAA 10588: Brief der Personalabteilung des Dynamowerks an das Arbeitsamt III vom 4.12.1973, mit
dem Hinweis auf die Notwendigkeit der eingearbeiteten türkischen Mitarbeiter für den reibungslosen
Produktionsablauf und einem Hinweis auf eventuelle Kurzarbeit für alle Mitarbeiter, wenn der
Produktionsablauf gestört werde.
168
Vgl. SAA 10588: Schnellbrief der Bundesanstalt für Arbeit vom 13.11.1974.
169
Vgl. SAA 10588: Rundschreiben M 65/75 des Arbeitgeberverbandes der Berliner Metallindustrie vom
5.6.1975.
170
Vgl. SAA 10588: Rundschreiben M 97/77 des Arbeitgeberverbandes der Berliner Metallindustrie vom
7.7.1977.
171
Vgl. SAA 10588: Rundschreiben der ZP München über die Beschäftigung ausländischer Arbeitnehmer vom
10.10.1978.
172
Vgl. SAA 10588: Verordnung über die Arbeitserlaubnis für nichtdeutsche Arbeitnehmer, veröffentlicht im
Gesetz- und Verordnungsblatt für Berlin, 36. Jahrgang, Nr. 71 (18.10.1980).

40
Neben den Arbeitsbehörden konnten auch die Fremdenpolizei bzw. das
Ausländeramt über die Erteilung von Aufenthaltsgenehmigungen Einfluß auf die
Ausländerbeschäftigung nehmen. Die Aufenthaltsgenehmigung war grundsätzlich vor
der Einreise nach Deutschland einzuholen und in Deutschland bei der
Ausländerbehörde zu bestätigen. Für Arbeitnehmer aus Vermittlungsländern wurde
auch die Aufenthaltsgenehmigung im ersten Jahr der Beschäftigung durch die
Legitimationskarte ersetzt.173

1.3 Auswahlkriterien und –verfahren

Die ausländischen Arbeitnehmer wurden zunächst von der Arbeitsverwaltung des


Heimatlandes einer Vorauswahl unterzogen, wobei berufliche Eignung und guter
Gesundheitszustand die Hauptkriterien für die Bewerber waren. 174 Dann wurden die
Namen der Vorausgewählten der jeweiligen Deutschen Kommission gemeldet und
die Bewerber wurden dort einer ärztlichen Untersuchung und teilweise einem
Eignungstest unterzogen.175 Die zukünftigen deutschen Arbeitgeber waren von der
Bundesanstalt für AVAV ausdrücklich eingeladen, an den Eignungstests
teilzunehmen und Einfluß auf die Auswahl der Bewerber auszuüben. 176 Zur
beruflichen Überprüfung wurde von der Firma Siemens eine Reihe von
Eignungstests entworfen, die von Firmenvertretern bei der Anwerbung vor Ort
ausgegeben und auch sofort ausgewertet werden konnten. Diese Tests waren
sprachfrei und dienten zur Überprüfung aller Einsatzmöglichkeiten vom ungelernten
Hilfsarbeiter bis zum Facharbeiter. Die Durchführung der Tests war auf eine Kapazität
von 50 Bewerbern pro Tag bei einem Prüfungsteam von drei Personen ausgelegt.
Die zum Einsatz bei den Deutschen Kommissionen bestimmen Firmenangehörigen
wurden von betriebspsychologischen Dienst auf den Einsatz des Testes
vorbereitet.177 Zur besseren Kontrolle der Eignungstest richtete der

173
Vgl. SAA 10566: „Hinweise für Arbeitgeber zur Einstellung und Beschäftigung ausländischer Arbeitnehmer“
(Stand 1966), hg. Von der Bundesanstalt für AVAV, Nürnberg.
174
Vgl. Kulturreferat der Landeshauptstadt München, Franziska Dunkel, Gabriella Stramaglia-Faggion: Zur
Geschichte der Gastarbeiter in München: „für 50 Mark einen Italiener“, München 2000, S. 69ff.
175
Vgl. ebenda, S. 72ff.
176
Vgl. SAA 10566: „Beschäftigung ausländischer Arbeitskräfte. Was der Arbeitgeber bei Anwerbung,
Vermittlung, Einstellung und Beschäftigung ausländischer Arbeitskräfte beachten sollte.“, hg. von der
Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, Köln 1961, S. 21f.
177
Vgl. SAA 10585•1: Aktenvermerk der Sozialpolitischen Abteilung über Eignungsuntersuchungen von
ausländischen Mitarbeitern im Gastland (gemeint ist Heimatland) vom 3.12.1971

41
Unternehmensbereich Bauelemente (UB B) in Istanbul ein Verbindungsbüro ein, das
allen Stellen des Hauses Siemens zur Eignungsprüfung zur Verfügung stand. Das
Werk für Bauelemente hielt schon seit Anfang der 1960er Jahre gute Kontakte zu
Griechenland und der Türkei. Seit 1962 wurde in Griechenland (wahrscheinlich beim
Werk Thessaloniki) eine Werkstatt betrieben, die ebenfalls zur Eignungsprüfung
genutzt wurde.178 Sie diente als Vorbild für das Verbindungsbüro in Istanbul. Die
Werke des UB B hatten innerhalb des Unternehmens die Zuständigkeit für die
Anwerbung türkischer Staatsangehöriger und koordinierten Anwerbung,
Eignungsprüfung und Kontrolle von zuvor abgewiesenen Bewerbern.179
Für die Untersuchung des Gesundheitszustands der Bewerber waren die Ärzte der
jeweiligen Deutschen Kommissionen in den Anwerbeländern zuständig. Die Werke
des Berliner Siemens-Bereichs beobachteten bei ihren türkischen Arbeitnehmern
einen dramatisch erhöhten Krankenstand und führten dies auf unzureichende
ärztliche Untersuchung bei der Anwerbung zurück. 180 Im August 1970 lag der
Krankenstand der deutschen Mitarbeiter bei 9%, dagegen erreichten die
ausländischen Arbeitnehmer Werte von 11,25% bis 12,3%. 181 Der Chef der
Betriebsärztlichen Dienstelle für Siemens Berlin, Dr. Schmidt, untersuchte diesen
Problemkreis und stellte bei den türkischen Arbeitnehmern vor allem Untergewicht,
Herzfehler, offene Tuberkulose, bei den Frauen auch vielfach
Unterleibserkrankungen und fortgeschrittene Schwangerschaften fest. Dr. Schmidt
reiste im Sommer 1970 nach Istanbul, um sich vom Zustand der ärztlichen
Untersuchung in der Deutschen Kommission zu überzeugen. 182 Dort lag das Problem
einer zu oberflächlichen medizinischen Untersuchung vor allem in dem Mißverhältnis
zwischen täglich 500 bis 650 Bewerbern und nur wenigen deutschen Ärzten
begründet.183 Dazu kamen das Fehlen einer eigenen Röntgenanlage 184 und die
Bereitschaft der Bewerber, die oft schon alles hinter sich gelassen hatten und auf

178
Vgl. SAA 7443•11: Protokoll einer Sitzung der Vorstandskommission für sozialpolitische Fragen vom
8.1.1965.
179
Vgl. SAA 10590: Protokoll einer Sitzung des Arbeitskreises Ausländische Arbeitnehmer vom 9.3.1973
180
Vgl. SAA 10590: Aktenvermerk der Sozialpolitischen Abteilung über Ergebnisse des Arbeitskreises
Ausländerfragen im Berliner Siemens Bereich vom 2.10.1970
181
Vgl. SAA (unverzeichnete Akten aus dem Bestand Soz Pol, Berlin, Altsignatur 1.6.4.2): Brief des Chefs der
ZBL D.Bremeier an Dr. Kukies von der Soz Pol, Berlin vom 11.1.1971
182
Vgl. SAA 10590: Bericht des Dr. Schmidt über ein Gespräch mit der deutschen Verbindungsstelle in der
Türkei (Dir. Henke) und Besuch in der ärztlichen Dienststelle des Bundesarbeitsamtes in Istanbul (Dr. Jansen)
vom 3.8.1970
183
Vgl. SAA 10590: Gedanken zum erhöhten Krankenstand türkischer Mitarbeiter vom 6.8.1970.
184
Vgl. SAA 10590: Bericht des Dr. Schmidt über ein Gespräch mit der deutschen Verbindungsstelle in der
Türkei, Herrn Dir. Henke und Besuch in der ärztlichen Dienststelle des Bundesarbeitsamtes in Istanbul (Dr.
Jansen) vom 3.8.1970.

42
einen Arbeitsvertrag in Deutschland angewiesen waren, kleinere Gebrechen, aber
auch schwerwiegende Krankheiten bei der Untersuchung zu verschweigen, um nicht
abgewiesen zu werden.185
Die Lösung dieses Problemkreises lag für Dr. Schmidt in verstärkter
betriebsärztlicher Betreuung und Untersuchung direkt nach Eintreffen der Ausländer
am Arbeitsplatz. Er setzte sich für ein vereinfachtes Verfahren zur Rücksendung von
kranken Arbeitnehmern in ihre Heimatländer ein.186

1.4 Ausbildungsmaßnahmen im Heimatland

Ausbildungsmaßnahmen zur Qualifikation ausländischer Arbeitnehmer in den


Heimatländern wurden schon früh organisiert und von deutschen Firmen
unterstützt.187 Träger dieser Ausbildungseinrichtungen waren zum Teil internationale
Organisationen, wie z.B. ICEM (Intergovernmental Commitee for European
Migration) in Athen188, zum Teil staatliche Berufsschulen, wie z.B. die türkischen
Gewerbeschulen in Ankara und Istanbul 189, staatliche Stellen, die dem
Arbeitsministerium angegliedert waren, z.B. die PPO (Promoción Profesional Obrera)
in Spanien190, halbstaatliche Ausbildungsstätten wie ANAP/CISO in Italien 191, aber
auch die „Deutschen Gewerbeschulen“ und Ausbildungsstätten der Firma selbst.192
Besonders ausgeprägt war das kooperative Ausbildungswesen in Italien, wo durch
die EWG-Zugehörigkeit eine größere Freizügigkeit des einzelnen Arbeitnehmers
gewährleistet war und nach abgeschlossener Ausbildung kein Bewerbungsverfahren
bei der Deutschen Kommission durchlaufen werden mußte. Dementsprechend
wurden Absolventen der ANAP (Associazione Nazionale Addrestamento

185
Vgl. ebenda.
186
Vgl. SAA 10590: Gedanken zum erhöhten Krankenstand türkischer Mitarbeiter vom 6.8.1970.
187
Vgl. SAA 10585•1: Rundschreiben der Soz Pol München über die Beschäftigung von Ausländern vom
8.10.1964, darin der Hinweis auf die Einrichtung einer Ausbildungsstätte für griechische Metallarbeiter in Athen
und Unterstützung der Ausbildung durch die künftigen Arbeitgeber.
188
Vgl. SAA 10585•1:Rundschreiben der Soz Pol München über die Beschäftigung von Ausländern vom
8.10.1964.
189
Vgl. SAA 10584: Ausbildungsverträge zwischen den Berufsschulen in Ankara und Istanbul und dem
Schaltwerk Berlin vom 30.10.1973.
190
Vgl. SAA 11041: IBA 1/71, Bericht über die Informationsreise einer deutschen Delegation zu spanischen
Ausbildungseinrichtungen (7.-12.6.1971).
191
Vgl. SAA 10587: Tätigkeitsbericht der ANAP/CISO vom 1.10.1965.
192
Vgl. SAA 10590: Protokoll einer KOMAK-Sitzung vom 5.11.1970.

43
Professionale) oft über die Arbeitgeberverbände den Unternehmen direkt
angeboten.193
Bereits 1965 arbeitete die ANAP/CISO mit den deutschen Arbeitsbehörden und
einem Arbeitskreis der späteren Arbeitgeber zusammen, um die Ausbildung den
deutschen Verhältnissen anzupassen und die Sprachkenntnisse der Absolventen zu
verbessern.194 Im Herbst 1966 wurde zwischen der ANAP/CISO und Siemens Berlin
eine Zusammenarbeit vereinbart. Dabei wollte man Ausbilder austauschen, den
Lehrplan in Italien gemäß den Anforderungen von Siemens umgestalten und nach
der einjährigen Ausbildung die angelernten Fräser, Bohrer, Blechschlosser und
Stanzer in Berlin weiter anlernen und für mindestens 2 Jahre beschäftigen. 195 Die
erste Versuchsgruppe von Arbeitern umfaßte 37 Personen, von denen Ende 1968
nur noch 21 Absolventen bei Siemens beschäftigt waren, davon hatten 67% nach
einem Jahr in Berlin noch nicht die volle Arbeitsleistung eines vergleichbaren
deutschen Arbeitnehmers erreicht. 196 In den folgenden Jahren war daher das
Interesse der Berliner Werke nicht sonderlich stark, 197 obwohl sie jedes Jahr über die
voraussichtlichen Anzahl der Absolventen informiert wurden. 198 Als das Angebot an
qualifizierten Arbeitskräften in den frühen 1970er Jahren immer mehr abnahm, rückte
die Anwerbung von ANAP/CISO-Absolventen wieder stärker ins Blickfeld der
Personalpolitik. Für die italienischen Arbeitskräfte waren bedeutend geringere
Gebühren fällig (60 DM), zusätzlich waren die Formalitäten von
Aufenthaltsgenehmigung und Arbeitserlaubnis durch die EWG-Mitgliedschaft Italiens
stark vereinfacht. Nach dem Anwerbestopp im November 1973 wurde die
Zusammenarbeit mit ANAP/CISO intensiviert, da die italienischen Facharbeiter vom
Stopp nicht berührt waren. Schon im Laufe des Jahres 1973 hatten in der
Ausbildungsstätte Calambrone bei Pisa zwei Siemens-Modellehrgänge zur
Ausbildung von Drehern und Maschinenschlossern stattgefunden, bei denen
Vertreter der Siemens AG an Prüfungen beteiligt waren und Siemens-spezifische
Inhalte auf dem Lehrplan standen. 199 Doch auch in diesem Fall waren die
193
Vgl. SAA 10587: diverse Rundschreiben des Arbeitgeberverbandes der Berliner Metallindustrie zur
Vermittlung von ANAP-Absolventen (z.B. 29.10.1968, 22.07.1976).
194
Vgl. SAA 10587: Tätigkeitsbericht der ANAP/CISO vom 1.10.1965.
195
Vgl. SAA 10587: Aktenvermerk über einen Besuch von ANAP-Vertretern aus Calambrone in Berlin
(5.10.1966).
196
Vgl. SAA 7438•2: Brief der Sozialpolitischen Abteilung an ZBL über ANAP-CISO-Absolventen vom
1.11.1968.
197
Vgl. SAA 10587: Brief der Zentralpersonalstelle an die Berliner Personalstellen vom 14.11.1973.
198
Vgl. SAA 10587: Rundschreiben des Arbeitgeberverbandes der Berliner Metallindustrie vom 17.11.1967,
29.1.1968.
199
Vgl. SAA 10587: Brief der Zentralpersonalstelle an die Berliner Personalstellen vom 14.11.1973.

44
Erfahrungen mit den Absolventen nicht sonderlich positiv. Vor allem wurden die
mangelnden Deutschkenntnisse bemängelt, die aber auch nach Eintreffen der
Absolventen in Deutschland durch firmenseitige Maßnahmen nicht verbessert
wurden.200 In der Folgezeit konzentrierte sich die ANAP/CISO auf kurzzeitige
(sechsmonatige) Programme zum Anlernen von Schlossern, Schweißern und
Drehern.201 Da die Ausbildungszeit sehr kurz war, wurde von seiten der Firma auf
eine weitere Zusammenarbeit verzichtet und stattdessen die Ausbildung der Kinder
ausländischer Arbeitnehmer in Berlin vorangetrieben.
In den anderen Vermittlungsländern lief die Ausbildung von Facharbeitern für
Deutschland später an. So waren 1971 in Griechenland nur fünf Gewerbeschulen in
Betrieb, die nicht einmal den griechischen Eigenbedarf decken konnten. In
Jugoslawien waren Ausbildungsmaßnahmen mit insgesamt 1.700 Plätzen in Betrieb,
allerdings war die Vermittlung der Absolventen mit hohen bürokratischen Hürden
verbunden.202 Ein Ausbildungswesen nach Vorbild der ANAP/CISO war in
Jugoslawien schon seit Beginn der Anwerbung 1968 in Planung. Dabei sollten auch
die deutschen Arbeitgeber über die Teilnahme an einem Arbeitskreis an den
Ausbildungsinhalten und -methoden beteiligt werden. 203 Durch hohe Kosten, die der
Firma ohne garantierte Gegenleistung entstanden, wurde die Beteiligung an
jugoslawischen Ausbildungsmaßnahmen verzögert. 204 Nachdem man sich aber auf
den Abschluß von Zweijahresverträgen einigen konnte 205, begann eine Kooperation
mit jugoslawischen Ausbildungseinrichtungen. Die Bundesanstalt für AVAV benannte
eine Reihe von Berufsschulen, vor allem in Bosnien, Südserbien, Mazedonien und
Kosovo, die für eine Kooperation besonders geeignet schienen. 206 Die Berliner Werke
der Siemens AG kooperierten allerdings vor allem mit den Berufsschulen in Maribor
(Slowenien) und Kikinda (Nordserbien). In den gemeinsam konzipierten Lehrgängen
wurden Bohrer, Dreher und Fräser praktisch und theoretisch in Werkstoffkunde,
Zeichnungslesen, und Fachdeutsch ausgebildet und unter Beteiligung von
firmeneigenen Prüfern geprüft.207

200
Vgl. SAA 10587: Brief der Zentralpersonalstelle in München an WMW WL vom 18.4.1974.
201
Vgl. SAA 10585•2: Rundschreiben des Arbeitgeberverbandes der Berliner Metallindustrie vom 15.8.1974.
202
Vgl. SAA 11041: IBA 1/71 mit einem Bericht über Vorqualifizierung im Anwerbeland (26.11.1971).
203
Vgl. SAA 10590: Protokoll einer Sitzung des Arbeitskreises Ausländische Arbeitnehmer vom 18.7.1969.
204
Vgl. SAA 10590: Protokoll einer Sitzung des Arbeitskreises Ausländische Arbeitnehmer vom 19.3.1970.
205
Vgl. SAA 10590: Protokoll einer Sitzung des Arbeitskreises Ausländische Arbeitnehmer vom 24.7.1970.
206
Vgl. SAA 11041: IBA 1/71 mit einem Brief der Bundesanstalt für AVAV an die Bundesvereinigung der
Deutschen Arbeitgeberverbände vom 13.7.1971.
207
Vgl. SAA 10584: Prüfungsunterlagen der Berufsschulen Maribor und Kikinda.

45
In der Türkei wurde aufgrund des großen Potentials an Arbeitskräften eine
Ausbildung im größeren Stil betrieben. 1971 bestand bereits eine Kooperation
zwischen deutschen Firmen und einzelnen türkischen Gewerbeschulen. Der
Ausbildungsstand lag relativ hoch – um gehalten zu werden, mußten die Schulen
aber auch von den deutschen Arbeitgebern subventioniert werden. 208 Die
Zusammenarbeit von türkischen Ausbildungsstellen und Siemens Berlin erstreckte
sich auf die Yildirim-Beyazit-Gewerbeschule in Ankara und die Sultan-Ahmed-
Gewerbeschule in Istanbul. Dort wurden für das Schaltwerk Berlin in sechsmonatigen
Kursen Dreher, Blechschlosser, Bohrer und Fräser ausgebildet. 209 Für diese
Zusatzausbildung waren nur Bewerber zugelassen, die entweder über eine
dreijährige türkische Ausbildung verfügten oder den Beruf durch mehrjähriges
Arbeiten erlernt hatten. Großer Wert wurde in der Zusatzausbildung auf das Lesen
technischer Zeichnungen, Arbeitssicherheit, Messen und Prüfen gelegt. 210 Auch in
den türkischen Schulen wurden die Prüfungen von einheimischen und deutschen
Prüfern abgenommen. Ausbildungsprogramm und Prüfungsinhalt waren von der
Lehrlingswerkstatt des Schaltwerks in Berlin entwickelt worden. 211 Die Erfahrungen
mit den angelernten Türken waren recht gut, nur Sprachprobleme blieben weiterhin
bestehen.212 Nach diesen Anfangserfolgen wurde von türkischer Seite eine
Intensivierung des Programms angestrebt. Man wollte von 1974 bis 1978 30.000
Arbeitnehmer zu Fachkräften ausbilden und hoffte auf Unterstützung des
Europarates, des deutschen Bundesministeriums für Arbeit und der deutschen
Arbeitgeber.213 Nach der Verhängung des Anwerbestopps fanden geplante
Ausbildungsmaßnahmen türkischer Arbeitnehmer nicht mehr statt.214
In Portugal, Spanien und Tunesien bestand bis 1971 noch kein auf den Einsatz in
Deutschland ausgerichtetes Ausbildungssystem.215 Erste vorhandene Ansätze
wurden durch die veränderte Ausländerpolitik der Bundesrepublik nach 1973
zunichte gemacht.

208
Vgl. SAA 11041: IBA 1/71: mit einem Bericht über Vorqualifizierung im Anwerbeland (26.11.1971).
209
Vgl. SAA 10584: Ausbildungsverträge zwischen dem Schaltwerk Berlin und türkischen Gewerbeschulen vom
30.10.1973.
210
Vgl. SAA 10584: Richtlinien für Ausbildungsmaßnahmen in der Türkei vom 11.9.1973.
211
Vgl. SAA 10584: Prüfungsunterlagen für Dreher, Fräser, Bohrer und Blechschlosser (27.11.1972).
212
Vgl. SAA 10583 Brief der Sozialpolitischen Abteilung an den Gesamtverband der metallindustriellen
Arbeitgeberverbände vom 7.2.1973.
213
Vgl. SAA 10590: Protokoll einer Sitzung des Arbeitskreises Ausländische Arbeitnehmer vom 12.10.1973.
214
Vgl. SAA 10583: Brief der Personalabteilung des Kabelwerks an das Arbeitsamt III vom 17.1.1974.
215
Vgl. SAA 11041: IBA 1/71 mit einem Bericht über Vorqualifizierung im Anwerbeland (26.11.1971).

46
1.5 Transport der Arbeiter nach Deutschland

Der Transport ausländischer Arbeitnehmer an ihre Arbeitsplätze in Deutschland


wurde durch die Bundesanstalt für AVAV durchgeführt. Die Transporte wurden meist
in Sonderzügen durchgeführt und endeten entweder in der Weiterleitungsstelle Köln-
Deutz (für spanische und portugiesische Arbeitnehmer) oder in der
Weiterleitungsstelle München (für griechische, türkische, jugoslawische und
italienische Arbeitskräfte). Während der Reise kam die Bundesanstalt für die
Versorgung der Menschen auf. Nach der Ankunft in den Weiterleitungsstellen wurden
die Neuankömmlinge registriert und mit Bussen und Regelzügen an ihre zukünftigen
Wohnorte befördert.216 Für Berlin war eine Sonderregelung getroffen worden, nach
der die Ausländer von Hannover direkt nach Berlin geflogen wurden, um den DDR-
Grenzkontrollen zu entgehen. Für die Abholung am Flughafen waren die
Einstellbüros der Werke, die die Ausländer angefordert hatten, zuständig. Sie
übergaben einen Vorschuß von 20 DM, sowie ein einheitlich gefülltes
Verpflegungspäckchen217 und sorgten für den Transport der Ausländer in das für sie
vorgesehene Wohnheim.218 Aufgrund der umständlichen Transportsituation vom
Heimatland über München bzw. Köln nach Berlin und des damit verbundenen
mehrmaligen Wechsels der Verkehrsmittel gingen einige der Berliner Werke dazu
über, die Ausländer direkt aus dem Heimatland nach Berlin einfliegen zu lassen. Man
einigte sich dann aber auf ein einheitliches Vorgehen des gesamten Standortes und
beförderte die Ausländer nur noch von München nach Berlin mit dem Flugzeug.219
Der Transport und die Abholung scheinen mit fortschreitender Zeit und steigender
Ausländerzahl Routine geworden zu sein, weshalb sich in den Quellen kein weiterer
Hinweis darauf findet.

2. Unterbringung der Ausländer in Berlin

216
Vgl. SAA 10566: „Hinweise für Arbeitgeber zur Einstellung und Beschäftigung ausländischer Arbeitnehmer“
(Stand 1966), hgg. von der Bundesanstalt für AVAV, Nürnberg.
217
Berliner Geschichtswerkstatt e.V. (Hg.): „... da sind wir keine Ausländer mehr“. Eingewanderte
ArbeiterInnen in Berlin 1961-1993, Berlin 1993 S. 29.
218
Vgl. SAA 10586: Aktenvermerk der Sozialpolitischen Abteilung über allgemeine Verwaltungsfragen und die
Betreuung von Ausländern vom 11.11.1964.
219
Vgl. SAA 10586: Aktenvermerk der Sozialpolitischen Abteilung über Ausländerfragen am Standort Berlin
vom 12.7.1965.

47
Die Unterbringung der ausländischen Arbeitnehmer war eines der zentralen
Probleme der Ausländerbeschäftigung. Schon in der ersten Anwerbevereinbarung
mit Italien 1955 war die Bereitstellung von angemessenem Wohnraum als
Vorbedingung für die Bearbeitung eines Vermittlungsauftrags durch die Deutsche
Kommission festgelegt worden. 220 Die weiteren zwischenstaatlichen
Vermittlungsvereinbarungen folgten diesem Beispiel. Die gesetzlich vorgeschriebene
Mindestausstattung der Gemeinschaftsunterkünfte wurde durch die „Richtlinien für
die Unterkünfte Italienischer Arbeitnehmer in der Bundesrepublik Deutschland“ vom
1. April 1964 geregelt, die auch für Wohnheime für Ausländer anderer Nationalitäten
galt.221 Sie sah eine Unterbringung in Wohnschlafräumen mit ein bis sechs Betten
(höchstens doppelstöckig) vor. Dabei sollten jedem Bewohner 10 m³ „Luftraum“ und
mindestens 4 m² Wohnfläche zur Verfügung stehen. Neben den Schlafräumen
mußten ein Tagesraum, Wasch- und Trockengelegenheit, Kochstellen in
ausreichender Zahl und sanitäre Anlagen vorhanden sein. Eine Toilette war für
höchstens zehn Personen und eine Waschstelle für höchstens fünf Personen
vorgesehen, die Bereitstellung von warmem Wasser war nur bei Verrichtung von
„Schmutzarbeit“ vorgeschrieben.222
In Berlin war die Einrichtung von Schlafplätzen besonders schwierig. Das lag zum
einen an der großen Wohnungsknappheit in Westberlin, zum anderen an der
Vorgabe des Berliner Landesarbeitsamtes, keine Ausländer in Baracken
unterzubringen.223 Zu Beginn der Ausländerbeschäftigung 1964 fehlten alleine für
westdeutsche Familien 3.300 Wohnungen, für alleinstehende Arbeitnehmer
(Westdeutsche und Ausländer) mußten 5.200 Wohnheimplätze geschaffen werden.224
Die Einrichtung von Wohnheimplätzen war schon vor der Anwerbung ausländischer
Arbeitskräfte von Siemens vorangetrieben worden, um westdeutsche Arbeitnehmer
unterzubringen. Die ersten Plätze waren 1963 in einem Heim des Jugendsozialwerks

220
Vgl. SAA 10566: Vereinbarung zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung
der Italienischen Republik über die Anwerbung und Vermittlung von italienischen Arbeitskräften nach der
Bundesrepublik Deutschland, in: „Beschäftigung ausländischer Arbeitskräfte. Rechtsvorschriften die bei der
Anwerbung, Vermittlung und Beschäftigung ausländischer Arbeitnehmer zu beachten sind“, hgg. von der
Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, Köln 1961.
221
Vgl. SAA 10566: „Hinweise für Arbeitgeber zur Einstellung und Beschäftigung ausländischer Arbeitnehmer“
(Stand 1966), hg. Von der Bundesanstalt für AVAV, Nürnberg.
222
Vgl. SAA 10566: Richtlinien für die Unterkünfte italienischer Arbeitnehmer in der Bundesrepublik, in:
„Hinweise für Arbeitgeber zur Einstellung und Beschäftigung ausländischer Arbeitnehmer“ (Stand 1966), hgg.
von der Bundesanstalt für AVAV, Nürnberg.
223
Vgl. SAA 10586: Aktenvermerk der Sozialpolitischen Abteilung über Beschäftigung ausländischer
Arbeitnehmer in der Bundesrepublik und West-Berlin vom 27.3.1963.
224
Vgl. SAA 7441: „Dritter Bericht über die Lage der Berliner Wirtschaft und die Maßnahmen zu ihrer
Weiterentwicklung“, hg. vom Senat von Berlin am 18. Juni 1964.

48
angemietet worden. Das Jugendsozialwerk übernahm die soziale Betreuung der
Bewohner.225 Gleichzeitig wurde auch die Planung zum Bau eigener Wohnheime in
Siemensstadt und umliegenden Stadtteilen von Berlin begonnen. In einer ersten
Phase wurden insgesamt 450 Plätze in drei vorhandenen Gebäuden (Gebäude
Gruppe 11, ehemaliges Verwaltungsgebäude des Elektromotorenwerks und
Lazarettflügel des SSW-Verwaltungsgebäudes) mit Umbaukosten von 3.300 bis
5.000 DM geplant.226 Da nicht genügend Wohnheimplätze für die Arbeitnehmer, die
von den Berliner Werken benötigt wurden, vorhanden waren, und auch durch einen
Umbau vorhandener Siemens-Gebäude nicht zu erlangen waren, kooperierte die
Firma zunächst mit der 1964 vom Senat und der Berliner Handelskammer
gegründeten Arbeitnehmer-Wohnheimbaugesellschaft mbH, die 1964 2.000
Wohnheimplätze in Berlin errichtete. Die Arbeitgeber konnten ein Anrecht auf
Bettplätze für 15 Jahre durch eine einmalige Zahlung von 2.000 DM erwerben. Ein
Bettplatz in den Heimen der Gesellschaft kostete monatlich 80 DM, einschließlich
aller Nebenkosten und sozialer Betreuung durch das Jugendsozialwerk. 227 Zunächst
wurde von Siemens ein Anrecht auf 100 Plätze für Männer im Wohnheim Halemweg
(Charlottenburg) und 70 Plätze für Frauen im Wohnheim Niederneuendorfer Allee
(Spandau) erworben.228 Diese Heime lagen in unmittelbarer Umgebung von
Siemensstadt. Mit der Anmietung von Wohnheimplätzen in größerem Umfang wurde
die zuvor betriebene Unterbringung von Arbeitnehmern in Pensionen aufgegeben. 229
Im Laufe des Jahre 1964 stieg der Bedarf an Wohnheimplätzen weiter an und bis
Mitte 1965 wurden 400 Plätzen für Frauen und 160 Plätzen für Männer benötigt.
Während der Platz für die Unterbringung der Männer vorhanden war, fehlten für
weibliche Arbeitskräfte 70 Bettplätze. 230 Daraufhin wurden in einem Heim der
Bürgermeister-Reuter-Stiftung in der Iranischen Straßen (Wedding) weitere 190
Bettplätze in Einzel- und Doppelzimmern mit Duschzelle erworben, deren Mietpreis
von 96 DM mit 16 DM pro Monat von der Firma bezuschußt wurde. 231 Desweiteren
wurde der Wohnheimbau auf firmeneigenem Gelände in Siemensstadt
225
Vgl. SAA 11038•1: Brief des Jugendsozialwerk e.V. an die Sozialpolitische Abteilung Berlin vom 3.4.1963.
226
Vgl. SAA 11038•1: Brief der Bauabteilung der Siemens Werke Berlin an die ZBL vom 24.4.1963.
227
Vgl. SAA 11038•1: Mitteilung der Arbeitnehmer-Wohnheimbaugesellschaft mbH (April 1964).
228
Vgl. SAA 11038•1: Aktenvermerk der Sozialpolitischen Abteilung über die Inanspruchnahme von Plätzen in
Heimen der Berliner Arbeitnehmer-Wohnheimbaugesellschaft vom 2.6.1964.
229
Vgl. SAA 11038•1: Brief der Geschäftsstelle des Wohnungswesens an das Hotel Reichskanzler vom
10.6.1964.
230
Vgl. SAA 11038•1: Aktenvermerk der Sozialpolitischen Abteilung über Ausländische Arbeitskräfte vom
31.7.1964.
231
Vgl. SAA 11038•1: Aktenvermerk der Sozialpolitischen Abteilung über die Wohnraumbeschaffung für
ausländische Arbeitskräfte vom 28.9.1964.

49
vorangetrieben. Geplant waren 200 Plätze für Arbeiterinnen in einem Wohnheim in
Haselhorst und 220 Plätze für Alleinstehende und Ehepaare im ehemaligen
Verwaltungsgebäude des Elektromotorenwerks. Beide Projekte sollten Mitte 1966
fertiggestellt werden.232 Umbauprojekte der Firma wurden vom Landesarbeitsamt
Berlin bezuschußt und konnten teilweise aus öffentlichen Mitteln vorfinanziert werden
(Etat des Landesarbeitsamtes 1965 8 Mio DM, 1966 10.7 Mio DM). 233 Mit stark
ansteigender Anzahl ausländischer Arbeitnehmer nahm auch das Platzproblem in
den Wohnheimen immer mehr zu, alleine für 1966 wurde ein Bedarf von 1.050
Plätzen erwartet, für die Folgejahre ca. 450 zusätzliche Plätze pro Jahr. 234 Bis Anfang
1966 war die Zahl der zum Teil oder ganz durch Siemens-Belegschaft bezogenen
Wohnheime schon auf 17 angestiegen und eine zentrale Stelle für die
Wohnheimverwaltung wurde eingerichtet. 235 In einem neuen Flächennutzungsplan für
die firmeneigenen Wohn- und Industrieflächen in Siemensstadt wurde ein Endziel
von 3.600 neuen Wohnungen für Firmenangehörige angestrebt. 236 Die hohe Zahl der
Wohnungen lag auch in der Absicht der Firmenleitung begründet, die angeworbenen
Ausländer auf Dauer in Berlin seßhaft zu machen und ihnen und ihren Familien
firmeneigene Wohnungen zur Verfügung zu stellen. 237 Mit der Rezession 1966/67
verringerte sich auch der Wohnraumbedarf drastisch. Zu diesem Zeitpunkt waren
610 firmeneigene Wohnheimplätze vorhanden, und der Bestand an Plätzen in
firmenfremden Wohnheimen hatte sich von 1.891 Plätzen am 30. September 1966
auf 1.612 Plätze am 1. Mai 1967 verringert. Die damit verbundenen
Mieteinsparungen betrugen monatlich über 21.000 DM. 238 Schon im folgenden Jahr
1968 stieg der Platzbedarf mit der sich schnell erholenden wirtschaftlichen Lage
wieder rapide an.239 Die Anzahl der Wohnheimplätze verdreifachte sich bis März
1969 auf 4.646 Plätze in 48 Wohnheimen, verteilt über ganz Berlin. 240 Im Laufe des

232
Vgl. SAA 11038•1: Aktenvermerk der Bauabteilung der Siemens Werke über Wohnungsbau und
Unterbringung auswärtiger Arbeitskräfte vom 21.4.1966.
233
Vgl. SAA 11038•1: Aktenvermerk der Zentralen Werkstätten Berlin über Arbeitnehmer-Wohnheime vom
13.5.1965.
234
Vgl. SAA 11038•1: Aktenvermerk der Sozialpolitischen Abteilung über die Unterbringung ausländischer
Arbeitskräfte vom 16.12.1965.
235
Vgl. SAA 11038•1: Rundschreiben der Sozialpolitischen Abteilung an alle Berliner Personalstellen vom
7.1.1966.
236
Vgl. SAA 11038•1: Aktenvermerk der Sozialpolitischen Abteilung über den Bau von Wohnungen und von
Unterkünften für ausländische Arbeitnehmer in Siemensstadt vom 2.5.1966.
237
Vgl. SAA 11038•1: Protokoll einer ZBL-Besprechung vom 2.9.1965.
238
Vgl. SAA 11038•1: Aktenvermerk der Bauabteilung über Wohnplätze in möblierten Zimmern und Heimen
vom 1.2.1967.
239
Vgl. SAA 11038•1: Rundschreiben M 113/68 des Arbeitgeberverbandes der Berliner Metallindustrie vom
6.11.1968.
240
Vgl. SAA 11038•1: Aufstellung aller Wohnheimkapazitäten vom 3.3.1969.

50
Jahres 1970 stieg die Bettenzahl noch weiter an, bis 30. September 1970 waren in
53 Heimen 6.071 Plätze für Ausländer und Westdeutsche reserviert. Davon waren
ca. 5/6 ständig belegt.241 Der Anteil der leerstehenden Betten stieg in den folgenden
Jahren weiter an, am 30. April 1971 waren es schon 2.200 Betten. Da dieser
Zustand, aufgrund der Überkapazitäten bei vielen Berliner Firmen, allgemein
vorherrschte, stellte der Senat die Zahlung der sogenannten „Bettplatzprämie“ für die
Einrichtung eines Wohnheimplatzes für ausländische Arbeitnehmer zum Ende des
Jahres 1971 ein.242 Zum Abbau der Kapazitäten und der damit verbundenen
Kosteneinsparung gab die Wohnheimverwaltung bis Ende 1971 rund 1.500 Betten
auf.243 Bis zum Anwerbestopp 1973 mußten weitere Wohnheime wegen fehlender
Auslastung geschlossen werden, gleichzeitig stieg der Eigenanteil der Arbeitnehmer
aufgrund gestiegener Verbrauchskosten ebenfalls an. 244 Damit paßte sich der
Berliner Siemens Standort den Verhältnissen in Erlangen und München an, wo
dieser Eigenanteil deutlich höher als in Berlin war (München 100 DM, Berlin 80 DM).
Der sich daraus ergebende Firmenzuschuß von 77 DM lag im Vergleich zu München
mit 59 DM und Erlangen mit nur 41 DM viel höher. 245 Zur Senkung des
Firmenzuschusses wurden, je nach Wohnheimpreis, Erhöhungen des Eigenanteils
zwischen 18% und 22% beschlossen. 246 Die durchschnittliche Verweildauer der
ausländischen Arbeitnehmer in den Wohnheimen betrug 1973 2,8 Jahre, 43,5%
blieben allerdings nur ein Jahr oder kürzer. Nur sehr wenige Arbeitnehmer hatten sich
seit 1965 noch keine eigene Wohnung gesucht (0,3%). Unter Vernachlässigung der
Ausländer, die weniger als ein Jahr blieben, worin auch alle fluktuierenden
Arbeitnehmer mit erfaßt waren, lag die mittlere Verweildauer bei ungefähr fünf
Jahren.247 Nach dem Anwerbestopp nahm der Strom der ausländischen
Arbeitnehmer, die neu nach Deutschland kamen und in firmeneigenen Wohnheimen
untergebracht werden mußten, deutlich ab. Die schon länger beschäftigten
Ausländer, die zum Teil ihre Familien nachholten, stellten höhere Ansprüche an ihre
Wohnunterkünfte. Bei der Wohnheimunterbringung entwickelte sich ein deutlicher

241
Vgl. SAA 11038•2: Aufstellung der Wohnheimverwaltung über Unterkünfte für westdeutsche und
ausländische Arbeitnehmer, Stand: 30.9.1970.
242
Vgl. SAA 10585•1: Präsidialnotiz der Industrie- und Handelskammer zu Berlin Nr. 4/71 vom 10.2.1971.
243
Vgl. SAA 11038•2: Brief der Wohnheimverwaltung an die Sozialpolitische Abteilung vom 14.5.1971.
244
Aktenvermerk der Zentralpersonalstelle vom 16.10.1973.
245
Vgl. SAA 11038•2: Brief der Wohnheimverwaltung an die Sozialpolitische Abteilung vom 7.9.1973.
246
Vgl. SAA 10585•2: Rundschreiben der Wohnheimverwaltung über Eigenanteile für Wohnheimbettplätze vom
19.12.1973.
247
Vgl. SAA unverzeichnete Akten aus dem Bestand Sozialpolitische Abteilung, Berlin (Altsignatur: Wohnheime
IV): Aufstellung der Wohnheimverwaltung über die Verweildauer der Schläfer in Wohnheimen vom 21.1.1974.

51
Trend zu sogenannten „Appartementhäusern“, in denen den Arbeitnehmern
abgeschlossene Einzelappartements mit Wohn-Schlafraum, eigener Küche, Flur und
Bad zur Verfügung standen. 248 In den folgenden Jahren nahm der Bedarf an
Wohnheimplätzen kontinuierlich ab, auch durch die Bemühungen der Werke, die
laufenden Kosten zu senken. 249 Bis Anfang Oktober 1977 hatte sich die Zahl der
verwalteten Bettplätze bis auf 206 reduziert. 250 Daraufhin wurde eine Auflösung der
Zentralen Wohnheimverwaltung zum Ende des Geschäftsjahres 1976/77
beschlossen. Die Restaktivitäten sollten an die Personalabteilungen derjenigen
Werke übergehen, die noch Plätze in Wohnheimen gemietet hatten. 251 Mittelfristig
wurde die Unterbringung von Ausländern in Wohnheimen ganz aufgegeben und alle
gemieteten Wohnheimplätze gekündigt.252

3. In Berlin – innerbetriebliche Integration, Entlohnung und


soziale Sicherung, Integration in die Gesellschaft

Nach Ankunft der Ausländer in Berlin war sowohl für den Arbeitgeber als auch für die
Arbeitnehmer zunächst eine reibungslose Eingliederung in den neuen Lebensraum
und Arbeitsplatz wichtig. Zur Koordination der Ausländerbeschäftigung am Standort
Berlin wurde deshalb schon im Dezember 1964 ein zentraler Arbeitskreis gegründet,
der sich mit allen relevanten Fragen der Ausländerbeschäftigung befaßte. 253 Die
Arbeitgeber hatten ein berechtigtes Interesse an möglichst kurzen
Eingewöhnungszeiten, die Arbeitnehmer wollten möglichst schnell viel Geld
verdienen, und dies war hauptsächlich durch Akkordarbeit und Überstunden möglich,

248
Vgl. SAA 11038•2: Brief der Hauptabteilung Sozialpolitik an die Bundesvereinigung der Deutschen
Arbeitgeberverbände über einen Entwurf einer Verordnung über Gemeinschaftsunterkünfte für Arbeitnehmer
vom 29.4.1974.
249
Vgl. SAA unverzeichnete Akten aus dem Bestand Sozialpolitische Abteilung, Berlin (Altsignatur: Wohnheime
IV): Aufstellung der Wohnheimverwaltung über die Situation der Wohnheime vom 12.8.1977.
250
Vgl. SAA unverzeichnete Akten aus dem Bestand Sozialpolitische Abteilung, Berlin (Altsignatur: Wohnheime
IV): Rundschreiben der Wohnheimverwaltung über Wohnheime vom 22.8.1977.
251
Vgl. SAA unverzeichnete Akten aus dem Bestand Sozialpolitische Abteilung, Berlin (Altsignatur: Wohnheime
IV): Brief der Wohnheimverwaltung an Dr. Münzesheimer vom 24.8.1977.
252
Vgl. SAA unverzeichnete Akten aus dem Bestand Sozialpolitische Abteilung, Berlin (Altsignatur: Wohnheime
IV): Aufstellung der Wohnheimverwaltung über die Situation der Wohnheime vom 12.8.1977.
253
Vgl. SAA 10585•1: Rundschreiben der ZBL an alle Berliner Dienststellen vom 8.12.1964.

52
die erst nach der Einarbeitungsphase abgeleistet werden konnten. Die Bundesanstalt
für AVAV beriet die Arbeitgeber in Fragen der Eingliederung.254

3.1 Eingliederung in den Arbeitsprozeß

Die reibungslose Eingliederung ausländischer Arbeitnehmer in den Arbeitsprozeß


hing neben deren Anpassungsbereitschaft vor allem auch vom Verhalten der
deutschen Mitarbeiter ab. Ein Abbau von eventuell vorhandenen Vorurteilen
gegenüber einzelnen Nationalitäten war für eine zukünftige Zusammenarbeit von
Deutschen und Ausländern notwendig. 255 Zu diesem Zweck wurden
Werbekampagnen und Vorträge veranstaltet, die sich an Vorgesetzte und betroffene
Mitarbeiter wandten.256 Auch eine Broschüre mit dem Titel „Hallo Günther! Der
ausländische Arbeiter spricht zu seinem deutschen Kollegen“ sollte helfen, Vorurteile
auf deutscher Seite abzubauen. Der Ton dieser und ähnlicher Schriften ist belehrend,
zum Teil sogar plump einschmeichelnd: „Wir Südländer sind uns bewußt, daß wir in
Bezug auf Organisation nicht besonders gut abschneiden“, oder:
Der Südländer ist zunächst begeistert von der deutschen Frau, weil sie ihm aufgeschlossener und
natürlicher in ihrem ganzen Wesen vorkommt als die südländische Frau. [...] Die Art vieler Südländer
wird als aufdringlich empfunden. Diese Aufdringlichkeit ist jedoch mehr eine Ungeschicklichkeit und für
viele von uns eine Verlegenheitslösung. Deshalb kommt es auch zu Eifersüchteleien zwischen
Deutschen und Ausländern auf den Tanzflächen, die gelegentlich in Handgemenge ausarten. Ihr
solltet dabei immer daran denken, daß wir temperamentvoller, impulsiver und in vielen Fällen sogar
leidenschaftlicher sind257

Bei der Information der Siemens-eigenen Mitarbeiter ging man nicht so weit, sondern
blieb auf der sachlich-beruflichen Ebene, wobei die Werke bei der Information der
deutschen Arbeitnehmer verschiedene Wege einschlugen. In München wurde eine
„Gebotstafel zum Umgang mit Mitarbeitern fremder Staatsangehörigkeit“ entworfen.
Darauf wurden höfliche und korrekte Umgangsformen gegenüber den Ausländern
angemahnt. Desweiteren wurde den deutschen Mitarbeitern nahegelegt, nicht ihre
Verhaltensformen unreflektiert auf ausländische Arbeitnehmer zu übertragen und
Verständnis für zunächst seltsam oder falsch erscheinende Verhaltensmuster zu

254
Vgl. SAA 10566: „Hinweise für Arbeitgeber zur Einstellung und Beschäftigung ausländischer Arbeitnehmer“
(Stand 1966), hgg. von der Bundesanstalt für AVAV, Nürnberg.
255
Vgl. ebenda.
256
Vgl. SAA 10586: Ergebnisprotokoll eines Vortrags von Dr. Giacomo Maturi, zuständiger Werkfürsorger der
italienischen Arbeitnehmer bei Ford, über Probleme im Umgang mit den ausländischen Arbeitnehmern vom
13.4.1965.
257
Vgl. SAA (unverzeichneter Bestand zum Thema Unfallschutz): „Hallo Günther! Der ausländische Arbeiter
spricht zu seinem deutschen Kollegen.“, hg. von Dr. Giacomo Maturi (Ford AG), 1966.

53
zeigen. Der Aufruf schließt mit dem Ratschlag: „Urlaub im Hotel führt nicht zum
Kennenlernen fremder Länder“ und sollte den betroffenen Deutschen Respekt für
ihre ausländischen Kollegen näherbringen. 258 Der Ton dieser Ermahnungen ist
absolut politisch korrekt und steht in krassem Gegensatz zu dem in anderen
Broschüren angeschlagenen Ton. In Berlin scheinen allerdings solch offensichtliche
Ermahnungen nicht direkt an die deutsche Belegschaft verteilt worden zu sein.
Vielmehr versuchte die Berliner Firmenleitung über die Meister und Vorarbeiter eine
behutsamere Schulung des deutschen Personals zu erreichen. 1965 wurde für alle
Berliner Meister und Betriebsingenieure eine Informationsschrift über die Behandlung
ausländischer Mitarbeiter herausgegeben. Sie enthielt auch alle wichtigen
Regelungen bezüglich Verträgen, Entlohnung und sozialer Sicherung. 259 In einem
Rundbrief für alle Meister des Hauses Siemens 1972 wurden die Ziele der
innerbetrieblichen Ausländerintegration zusammengefaßt: Schnelle Einarbeitung in
eine genaue, gewissenhafte, unfallsichere und schnelle Arbeitsausführung,
Erweckung von Interesse am Betrieb und innerer Beziehung zum Tätigkeitsfeld und
Wohlbefinden des Arbeitnehmers am Arbeitsplatz und in der Umwelt. Dabei sollten
die Meister den neuen Mitarbeitern behilflich sein und ihnen als Ansprechpartner zur
Verfügung stehen. Neben Fragen des Arbeitsablaufes traten vor allem Probleme im
Umgang mit Behörden, Formalitäten und auch der relativ komplizierten Berechnung
des Akkordlohns auf. Daneben sollte auch Verständnis für andere Lebensformen und
Werte der ausländischen Arbeitnehmer geweckt werden, um mentalitätsbedingte
Mißverständnisse zu beseitigen.260 Neben den gedruckten Informationsmaterialien für
Ausländer über Berlin und Siemens in Berlin, 261 gab es auch Filme, die speziell zur
Eingliederung ausländischer Arbeitnehmer in die Themenkreise „Geld“, „Arbeit“,
„Ordnung“ und „Der Markt“ produziert und vorgeführt wurden.262

3.1.1 Überbrückung von Sprachbarrieren und soziale Betreuung im Betrieb

258
Vgl. SAA 10585•1: Gebote im Umgang mit Mitarbeitern fremder Staatsangehörigkeit (Personalbüro für
Lohnempfänger des Wv-Betriebs München, 1971).
259
Vgl. SAA 10590: Brief der Sozialpolitische Abteilung an ZFS über Information für Ausländerbetreuung vom
15.12.1965.
260
Vgl. SAA 10583: Quiriner Brief für Meister des Hauses Siemens, Nr. 20 vom 16.10.1972, hgg. von der
Sozialpolitische Abteilung. (In St. Quirin besteht ein Siemens-eigenes Schulungszentrum für Meister).
261
Vgl. SAA 10585•1: Werbebroschüre in türkischer und griechischer Sprache für Berlin und Siemens Berlin
(1965).
262
Vgl. SAA 10590: Protokoll einer Sitzung des Arbeitskreises Ausländische Arbeitnehmer vom 12.10.1973.

54
Die Hauptursache mangelnder Verständigung zwischen Vorarbeitern und Meistern
einerseits und den ausländischen Arbeitnehmern andererseits waren schlechte
Deutschkenntnisse vieler Ausländer. Diesem Problem versuchte man durch
Deutschkurse im Heimatland und am Arbeitsort sowie durch den Einsatz von
Dolmetschern beizukommen. Deutschkurse für ausländische Arbeitnehmer wurden
schon seit Anfang der 1960er Jahre von einigen Werken in Zusammenarbeit mit der
Volkshochschule Spandau angeboten. Diese Kurse fanden wöchentlich nach der
Arbeitszeit in firmeneigenen Räumen statt und kosteten 3 DM pro Trimester und
Teilnehmer.263 Mit der Zeit ging man zu einer betriebsinternen Organisation von
Deutschkursen über, die der weiteren Qualifikation ausländischer Mitarbeiter dienen
sollten und die für die Mitarbeiter kostenlos durch die Arbeiterwohlfahrt während der
Arbeitszeit veranstaltet wurden. 264 Mitarbeiter die an diesen Kursen teilnahmen,
wurde wöchentlich vier Stunden bezahlte Freizeit gewährt. 265 Der Berliner Senat
förderte die Durchführung von Deutschkursen für ausländische Arbeitnehmer und
beteiligte sich mit 50% der Kosten von Kursen mit Intensivcharakter. 266 Obwohl bei
einer Befragung ausländischer Arbeitnehmer durch die Bundesanstalt für AVAV im
März 1972 die Hälfte der befragten Ausländer angaben, ihre Deutschkenntnisse
ausschließlich durch betriebsinterne Sprachkurse erworben zu haben, wurde
firmenseitig der Erfolg der bisherigen Kurse als gering eingeschätzt. Bis 1971 waren,
außer im Kabelwerk, aller werksinternen Deutschkurse aus mangelndem Interesse
eingestellt worden.267 Neben Motivationsproblemen der Ausländer wurden veraltete
und wenig ansprechende Lehrmethoden und Lernmaterialien für den Mißerfolg
verantwortlich gemacht. Man stellte Versuche mit neuen, speziell für die Ausbildung
gewerblicher Arbeitnehmer konzipierten Ausbildungsmethoden an. 268 Diese
Bemühungen wurden von der Bundesanstalt für AVAV mit 20 Millionen DM
bundesweit gefördert. Dabei wurden vor allem audiovisuelle Kurse entwickelt, die
spielerischen Charakter besaßen und das Motivationsverhalten der Ausländer

263
Vgl. SAA 10586: Brief des Lohnbüros des Dynamowerks an die Sozialpolitische Abteilung über
Deutschunterricht für ausländische Arbeitnehmer vom 5.10.1962.
264
Vgl. SAA 10590: Rundschreiben des Kabelwerks WL 5/69 über Deutschunterricht für türkische Gastarbeiter
vom 2.4.1969.
265
Vgl. SAA 10590: Brief der Sozialpolitischen Abteilung Berlin an die Sozialpolitische Abteilung Erlangen
vom 16.3.1971.
266
Vgl. SAA 10585•1: Richtlinien zur Förderung der Durchführung von Deutschkursen für ausländische
Arbeitnehmer in der Fassung vom 10.11.1970 (Amtsblatt für Berlin S. 1282).
267
Vgl. SAA 10590: Brief der Sozialpolitischen Abteilung Berlin an die Sozialpolitische Abteilung Erlangen
vom 16.3.1971.
268
Vgl. SAA 10590: Protokoll einer Sitzung des Arbeitskreises Ausländische Arbeitnehmer vom 9.3.1973.

55
steigern sollten.269 Nach dem Anwerbestopp wurde zwar das Volumen der Förderung
von Sprachkursen durch die Bundesanstalt für AVAV auf acht Millionen DM
verringert270, aber Förderprogramme blieben noch weiter bestehen und wurden in der
Folgezeit unter dem Patronat des Vereins „Deutsch für ausländische Arbeitnehmer
e.V.“ vereinheitlicht.271 Mit dem sich abzeichnenden Anwerbestopp und der damit
verbundenen Notwendigkeit, ausländische Arbeitnehmer möglichst stabil an die
Firma zu binden, waren sich die Verantwortlichen der Siemens Personalstellen einig,
die Vermittlung von zumindest rudimentären Deutschkenntnissen voranzutreiben. Sie
sollten später die Grundlage für weitere Ausbildung und perfektes Erlernen der
deutschen Sprache als langfristiges Ziel bilden. 272 Die Sprachkurse, die in der
zweiten Hälfte der 1970er Jahre abgehalten wurden, waren folglich in ein System von
Fortbildungskursen für ausländische Arbeitnehmer eingebettet, das – neben
Grundkursen zur Einführung in die deutsche Sprache – Aufbaukurse zu Schreiben
und Lesen sowie Fachkurse und Vorarbeiterkurse beinhaltete. Nach dem Abschluß
aller Kurse waren die ausländischen Mitarbeiter in der Lage, an den regulären
innerbetrieblichen Fortbildungsmaßnahmen, die allen Mitarbeitern offen standen,
teilzunehmen.273
Um den neuangekommenen Arbeitern entgegenzukommen und die erste Zeit der
meist völligen Sprachlosigkeit zu erleichtern, wurden viele Aushänge,
Bekanntmachungen und Rundschreiben in die jeweiligen Heimatsprachen übersetzt.
Die Betriebsordnung der Siemens Werke wurde 1962 auf Italienisch, Spanisch und
Griechisch übersetzt274, 1965 folgte die Übersetzung auf Türkisch275 und schließlich
1969 auch auf Serbokroatisch. 276 Neben den betriebsinternen Übersetzungen gab es
auch von Verlagen angebotene Sprachführer für die Metallindustrie 277, Leitfäden für
sicheres Arbeiten und auch Übersetzungshilfen für Krankenversicherung und
Arztbesuch.278 Informationen über soziale Leistungen, wie Erfolgsbeteiligung,
269
Vgl. SAA 10590: Protokoll einer Sitzung des Arbeitskreises Ausländische Arbeitnehmer vom 12.10.1973.
270
Vgl. SAA 10590 Protokoll einer Sitzung des Arbeitskreises Ausländische Arbeitnehmer vom 29.1.1974.
271
Vgl. SAA 10588: Rundschreiben der Zentralvereinigung Berliner Arbeitgeberverbände 1/76 mit Richtlinien
zur Förderung von Sprachkursen des Sprachverbandes „Deutsch für ausländische Arbeitnehmer e.V.“.
272
Vgl. SAA 10590: Protokoll einer Sitzung des Arbeitskreises Ausländische Arbeitnehmer vom 12.10.1973.
273
Vgl. SAA 10583: Brief der Zentralpersonalstelle an Gerhard Stammler vom 9.9.1975 mit einer
Zusammenstellung aller Fortbildungsmaßnahmen für ausländische Arbeitnehmer.
274
Vgl. SAA 10585•1: 4. Nachtrag zum Soz Pol-Rundschreiben Nr. 499 (28.12.1962).
275
Vgl. SAA 10585•1: Rundschreiben der Sozialpolitischen Abteilung an die Personaldienststellen von S & H,
SSW und SE vom 23.3.1965.
276
Vgl. SAA 10585•1: Rundschreiben der Sozialpolitischen Abteilung an die Personaldienststellen von S & H,
SSW und SE vom 16.4.1965.
277
Vgl. SAA 10585•1: Rundschreiben der Sozialpolitischen Abteilung vom 7.8.1962.
278
Vgl. SAA 10566: Broschüre „Sicher arbeiten“ in spanischer und griechischer Sprache; „Der
Sprechstundenhelfer“ in griechischer, spanischer und italienischer Sprache (ca. 1962).

56
Belegschaftsaktien oder Weihnachtsgeld wurden zunächst einzeln übersetzt. Da
diese Informationen aber unternehmensweit und für alle Mitarbeiter identisch waren,
ging man dazu über, sie in der Mitarbeiterzeitung „Siemens Mitteilungen“ zu
veröffentlichen.279 Teile der Zeitung wurden schon seit 1961 in die spanische und
griechische Sprache übersetzt280, ab 1966 gab es zu jeder monatlichen Ausgabe der
„Siemens Mitteilungen“ eine Übersetzung der wichtigsten Artikel auf Spanisch,
Griechisch, Italienisch, Türkisch, und ab 1968 auch Serbokroatisch. 281 Die Siemens-
Mitteilungen waren als Mitarbeiterzeitung für alle deutschen Siemens-Standorte
konzipiert. Entsprechend weitgefächert war das Informationsangebot, das ich hier
präsentieren möchte: Es gab Artikel zu Ereignissen an einzelnen Standorten,
Werkseröffnungen282, Wirtschaftliche Entwicklung des Unternehmens, 283
Großaufträge,284 Entwicklung der Siemens-Betriebskrankenkasse (SBK), 285
Erfolgsbeteiligungen und Vorzugsaktien für Mitarbeiter, 286 Betriebsratswahlen,287
Unfallschutz, Verkehrssicherheit, firmeneigene Erholungsheime 288 und die
innerbetriebliche medizinische Versorgung289, aber auch Berichte über politische
Entwicklungen, wie das neue Regierungsprogramm zur Ausländerbeschäftigung
1973290, Schutz vor anarchistischen Gewalttaten291, Kindergeld292,
Tarifverhandlungen293 und die gesamtwirtschaftliche Entwicklung Deutschlands 294,
sowie spektakuläre Ereignisse wie die die Fußball-WM 1970, die Olympiade 1972 295
oder den Atomunfall in Harrisburg 1979.296 Daneben gab es viele Berichte über die im
Unternehmen eingesetzten ausländischen Arbeitnehmer, soziale Aktivitäten wie

279
Vgl. SAA 10590: Protokoll einer Sitzung des Arbeitskreises Ausländische Arbeitnehmer vom 29.1.1974.
280
Vgl. SAA 10566: Siemens Mitteilungen, Heft Mai 1961 mit partieller Übersetzung ins Spanische.
281
Vgl. SAA (Interne Zeitschriften): Sammlung der Fremdsprachigen Beilagen der Siemens-Mitteilungen.
282
Vgl. SAA (Interne Zeitschriften): „Eröffnung des neuen Gerätewerks in Erlangen“, in: Siemens-Mitteilungen
Nr.9, 1971.
283
Vgl. SAA (Interne Zeitschriften): Siemens-Mitteilungen Nr.6/7, 9, 1970; Nr.7/8, 1971; Nr.10, 1972; Nr.2/3/4,
5/6/7, 1973.
284
Vgl. SAA (Interne Zeitschriften): Siemens-Mitteilungen Nr.1, 6/7, 8, 1970; Nr.2, 1971.
285
Vgl. SAA (Interne Zeitschriften): Siemens-Mitteilungen Nr.10, 1970; Nr.1, 1973.
286
Vgl. SAA (Interne Zeitschriften): Siemens-Mitteilungen Nr. 2, 1971; Nr. 2, 1972; Nr.11, 1975; Nr.11, 1977.
287
Vgl. SAA (Interne Zeitschriften): Siemens-Mitteilungen Nr.5/6, 1972.
288
Vgl. SAA (Interne Zeitschriften): Siemens-Mitteilungen Nr.7/8, 1971; Nr.11/12, 1973.
289
Vgl. SAA (Interne Zeitschriften): Siemens-Mitteilungen Nr.4, 6/7, 1970; Nr.4, 1971; Nr.3/4, 5/6, 10, 1972;
Nr.1, 2/3/4, 5/6/7, 8/9 1973.
290
Vgl. SAA (Interne Zeitschriften): Siemens-Mitteilungen Nr.8/9, 1973.
291
Vgl. SAA (Interne Zeitschriften): Siemens-Mitteilungen Nr.5/6, 1972.
292
Vgl. SAA (Interne Zeitschriften): Siemens-Mitteilungen Nr.8/9, 1978.
293
Vgl. SAA (Interne Zeitschriften): Siemens-Mitteilungen Nr.6/7, 1970.
294
Vgl. SAA (Interne Zeitschriften): Siemens-Mitteilungen Nr.1, 1970.
295
Vgl. SAA (Interne Zeitschriften): Siemens-Mitteilungen Nr.5, 1970; Nr.2, 1971.
296
Vgl. SAA (Interne Zeitschriften): Siemens-Mitteilungen Nr.5, 1979.

57
Fußballspiele297 und Freizeitgruppen der Belegschaftsmitglieder 298, Ausstellung von
„Gastarbeiterkunst“ in Berlin299, Besuch von Annemarie Renger in einem Siemens-
Wohnheim300, Sparverhalten der Ausländer301, Entwicklung der Ausländerzahl bei
Siemens302, Besuch des türkischen Arbeitsministers 303, Lehrlingsausbildung für
Ausländerkinder304, Integration von Ausländern 305, Betriebsunfälle von Ausländern306
und Benennung eines türkischen Sicherheitsbeauftragten 307, Tätigkeit der Berliner
Fürsorgerin für Ausländer308, aber auch über wirtschaftliche Entwicklungen in den
Heimatländern.309 Die Herausgabe der fremdsprachigen Beilagen der Siemens-
Mitteilungen (heute Siemens-Welt) wird bis auf den heutigen Tag beibehalten.
Der Einsatz von Dolmetschern zur Überbrückung von Schwierigkeiten, die innerhalb
der Abteilung nicht lösbar waren, wurde im ganzen Unternehmen befürwortet. Neben
professionellen Dolmetschern, die neu eingestellt wurden, kamen auch langjährige
Betriebszugehörige mit entsprechenden Sprachkenntnissen zum Einsatz. 310 Im
Kabelwerk waren schon Mitte 1965 neun Mitarbeiter deutscher, griechischer und
türkischer Nationalität als Gelegenheitsdolmetscher im Einsatz. 311 Bei der Einstellung
von hauptamtlichen Dolmetschern wurde firmenseitig verstärkter Wert auf
Muttersprachler gelegt, die mit der Mentalität ihrer Landsleute besser vertraut waren
und schneller ihr Vertrauen gewinnen konnten als vergleichbare deutsche Kräfte. Für
die Führung der Wohnheime wurden allerdings deutsche Kräfte mit entsprechenden
Sprachkenntnissen bevorzugt.312 Wahrscheinlich wollte man die große Verantwortung
lieber einem Deutschen übertragen. Viele der Dolmetscher etablierten sich als

297
Vgl. SAA (Interne Zeitschriften): Siemens-Mitteilungen Nr.11/12, 1971.
298
Vgl. SAA (Interne Zeitschriften): Siemens-Mitteilungen Nr.3, 1971.
299
Vgl. SAA (Interne Zeitschriften): Siemens-Mitteilungen Nr.7/8/9, 1972.
300
Vgl. SAA (Interne Zeitschriften): Siemens-Mitteilungen Nr.5/6/7, 1973.
301
Vgl. SAA (Interne Zeitschriften): Siemens-Mitteilungen Nr.2, 1971.
302
Vgl. SAA (Interne Zeitschriften): Siemens-Mitteilungen Nr.3, 1970; Nr.3, 1971.
303
Vgl. SAA (Interne Zeitschriften): Siemens-Mitteilungen Nr.10, 1970.
304
Vgl. SAA (Interne Zeitschriften): Siemens-Mitteilungen Nr.3, 1971, Nr.8, 1979; Nr.12, 1982.
305
Vgl. SAA (Interne Zeitschriften): Siemens-Mitteilungen Nr.5, 1971.
306
Vgl. SAA (Interne Zeitschriften): Siemens-Mitteilungen Nr.5/6, 1972.
307
Vgl. SAA (Interne Zeitschriften): Siemens-Mitteilungen Nr.10/11/12, 1973.
308
Vgl. SAA (Interne Zeitschriften): Siemens-Mitteilungen Nr.8/9, 1973.
309
Vgl. SAA (Interne Zeitschriften): Siemens-Mitteilungen Nr.11/12, 1971.
310
Vgl. SAA 10586: Brief der Sozialpolitischen Abteilung an Dir. Bremeier über den Einsatz von Dolmetschern
für ausländische Arbeitnehmer vom 22.10.1965.
311
Vgl. SAA 10586: WL-Rundschreiben Nr. 122 des Kabelwerks über Dolmetscher für die ausländischen
Arbeitnehmer vom 15.6.1965.
312
Vgl. SAA 10586: Aktenvermerk zum Einsatz von Dolmetschern in Wohnheimen und Werkstätten vom
21.10.1965.

58
Angestellte fest im Sozialgefüge der Firma und wurden Vertrauensmänner oder
Betriebsratsmitglieder.313
Neben der sprachlichen Betreuung durch die Dolmetscher konnten die
ausländischen Arbeitnehmer aber auch die firmeneigene Sozialbetreuung in
Anspruch nehmen. Vor Beginn der ersten Anwerbungen wurden die ca. 400 bei
Siemens in Berlin eingesetzten Ausländer durch die allgemeine Betriebsfürsorge mit
betreut. Für jedes Werk waren eine oder mehrere Betriebsfürsorgerinnen im Einsatz,
die Mitarbeitern bei Problemen mit Kollegen oder im Arbeitsablauf, aber auch mit
Problemen außerhalb des Arbeitsfeldes, wie Geldsorgen, Unterkunftssuche und
ähnlichem half.314
Ende 1964 wurde für die Werke von S & H zentral eine Betriebsfürsorgerin für die
Betreuung aller ausländischen Arbeitnehmer eingestellt, um die jeweiligen
Betriebsfürsorgerinnen der Werke zu entlasten. Sie stand Arbeitnehmern und
Vorgesetzten während der Arbeitszeit zur Verfügung und hielt außerdem in den
Wohnheimen Sprechstunden ab.315 Dort war sie auch für die Betreuung von
Arbeiterinnen zuständig, die nach ihrer Ankunft in Deutschland schwanger geworden
waren. Diese Problematik bestand schon seit Beginn der Anwerbung ausländischer
Arbeitskräfte,316 wurde durch die Weigerung der Wohnheimträger, Kinder in den
Wohnheimen für Ehepaare aufzunehmen, verschärft und mußte schließlich
firmenintern durch Schaffung von speziellen Unterkünften für Paare mit Kind und
Unterbringung der Kinder im Kinderheim und Kindertagesstätte Siemensstadt gelöst
werden.317 Mit ansteigender Zahl der Ausländerinnen hatte sich das Kinderproblem
so verschärft, daß 1971 extra ein Appartement-Wohnheim angemietet werden
mußte, wo die Frauen nach der Entbindung bis zu ein Jahr untergebracht werden
konnten.318 Die Zahl der Plätze in Siemens-eigenen Kinderheimen und
Kindertagesstätten betrug 1968 236 und wurde durch Neu- und Umbauten von
Kindertagesstätten bis 1969 um 120 Plätze ausgedehnt. Für die folgenden Jahre war
ein weiterer Ausbau der Kapazitäten nach Bedarf geplant. 319 Bis 1981 war die Zahl
313
Vgl. SAA (Interne Zeitschriften): Siemens Mitteilungen, Heft 12 (Dezember 1982), S. 4-6: „Anpassen ohne
die Identität zu verlieren. Gespräche mit ausländischen Mitarbeitern“.
314
Vgl. SAA 10586: Aktenvermerk der Sozialpolitischen Abteilung über die Betreuung ausländischer
Arbeitnehmer vom 4.11.1963.
315
Vgl. SAA 10586: ZKA Bln-Rundschreiben Nr. 1/65 vom 22.12.1964.
316
Vgl. SAA 7437: Protokoll einer ZBL-Sitzung vom 12.3.1965.
317
Vgl. SAA 10586: Brief der Wohnheimverwaltung an die Sozialpolitische Abteilung vom 11.3.1965.
318
Vgl. SAA 10590: Brief der Sozialpolitischen Abteilung Berlin an die Sozialpolitische Abteilung Erlangen
vom 16.3.1971.
319
Vgl. SAA 7438•2: Aktenvermerk der Sozialpolitischen Abteilung über die Unterbringung von Kindern vom
6.11.1968.

59
ausländischer Kinder in den Siemens-eigenen Kindertagesstätten auf 250
angestiegen, was einer Ausländerquote von 70% entspricht! 320 Die
Betriebsfürsorgerin für Ausländer übernahm die Schwangerenberatung und
kümmerte sich um Wohnraum, Genehmigungen der Heimatbehörden, Erledigung der
Hochzeitsformalitäten der deutschen Behörden und Unterbringung des
neugeborenen Kindes.321 Während der Hochzeit der Ausländerbeschäftigung in den
frühen 1970er Jahren konnte die anfallende Arbeit nicht mehr nur von einer Kraft
übernommen werden, und eine zweite Fürsorgerinnenstelle wurde eingerichtet. 322
Nach dem Anwerbestopp und mit der fortschreitenden Integration der Ausländer in
die Stammbelegschaft wurde die Ausländerbetreuung als unabhängige Stelle
aufgegeben und die Sozialbetreuung der Ausländer wieder den Sozialberaterinnen
(Betriebsfürsorgerinnen) übertragen.323

3.1.2 Anlernmaßnahmen und berufliche Weiterbildung innerhalb der Firma

Viele der ausländischen Arbeitnehmer hatten vor ihrer Arbeitsaufnahme in


Deutschland noch nie in einem industriellen Unternehmen gearbeitet. Sie kamen aus
ländlichen Gebieten und mußten zunächst an Produktionsabläufe, Arbeitszeiten und
Arbeitssicherheit und natürlich auch an den Alltag in einer Großstadt gewöhnt
werden.324 Dazu wurden die Arbeiter je nach Tätigkeit sechs Wochen bis ein Jahr
eingelernt. In dieser ersten Phase stellte sich schnell die Eignung eines
Arbeitnehmers für die ihm zugedachte Arbeit heraus. Die Arbeitsintensität der
Ausländer lag trotz erschwerter Anlernphase auf gleichem Niveau mit den deutschen
Arbeitskräften.325 Die der Firma entstehenden Mehrkosten, die neben der
320
Vgl. SAA 10590: Aktenvermerk der ZPS über Schule im Betrieb/Berufsqualifikation für türkische Mitarbeiter
vom 19.5.1981.
321
Vgl. SAA 10589: Aktenvermerk der Betriebsfürsorgerin für Ausländer, Frau Fritz über die Ereignisse während
der Schwangerschaft einer tunesischen Arbeiterin des UB N (14.8.1970).
322
Vgl. SAA 10590: Brief der Sozialpolitischen Abteilung Berlin an die Sozialpolitische Abteilung Erlangen
vom 16.3.1971.
323
Vgl. SAA 10590: Aktenvermerk der ZPS über Schule im Betrieb/Berufsqualifikation für türkische Mitarbeiter
vom 19.5.1981.
324
Vgl. SAA 10566: „Hinweise für Arbeitgeber zur Einstellung und Beschäftigung ausländischer Arbeitnehmer“
(Stand 1966), hgg. von der Bundesanstalt für AVAV, Nürnberg.
325
Vgl. SAA 10586: Brief der Sozialpolitischen Abteilung an Dir. Bremeier vom 22.10.1965.

60
Einarbeitung auch die Anwerbung umfaßten, betrugen für das Geschäftsjahr 1972/73
rund fünf Millionen DM bei einer Zahl von 3.000 neu eingestellten
Vertragsausländern. Davon betrugen die Vermittlungskosten pro Arbeitnehmer 1.000
DM, die restlichen 660 DM waren Anlern- und Einarbeitungskosten.326
Nachdem schon 1965 durch die Zentrale Berliner Leitung (ZBL) das Ziel definiert
wurde, Ausländer für Siemens Berlin dauerhaft anzuwerben und ansässig zu
machen327 und die Ausländer schon durch die Anwerbeabkommen die selben Rechte
wie ihre deutschen Kollegen zugesichert bekommen hatten, was auch Angebote zur
innerbetrieblichen Weiterbildung mit einschloß, wurde 1968 zwischen Betriebsrat und
Berliner Firmenleitung vereinbart, für Ausländer die Möglichkeit zu eröffnen, durch
Weiterbildungsmaßnahmen Vorarbeiter oder Vizemeister zu werden. 328 Mit
steigender Zahl ausländischer Arbeitnehmer nahm die Notwendigkeit, Ausländer zu
Führungskräften heranzubilden, immer mehr zu. 329 Nach dem absoluten
Anwerbestopp 1973 änderten sich die Voraussetzungen für die Beschäftigung von
Ausländern komplett, die vollständige Integration der schon beschäftigten Ausländer
wurde angestrebt und durch berufliche Aufstiegsmöglichkeiten unterstützt, so daß die
Weiterbildung ausländischer Arbeitnehmer neu organisiert werden mußte. 330 Das
Ergebnis dieser Reform war ein System der Ausländer-Weiterbildung in
Baukastenform. Es beinhaltete, neben Sprachkursen verschiedener
Schwierigkeitsstufen, vor allem Kurse zur technischen Weiterbildung, wie
Zeichnungslesen, Messen, Einrichten und Prüfen. Den Abschluß dieses Kurssystems
stellten die Vorarbeiterkurse dar, in denen Mitarbeiterunterweisung, Führung und
Kooperation, Grundfragen der Lohntechnik, Arbeitsschutz und Arbeitssicherheit
vermittelt, sowie ein Überblick über wichtige Vorgänge in den Personalabteilungen
gegeben wurde. Nach Abschluß des gesamten Kurssystems stand dem
ausländischen Vorarbeiter der weitere berufliche Aufstieg in die untere
Führungsebene des Unternehmens offen, deren Kräfte durch ein weiteres System
von Weiterbildungsmaßnahmen geschult wurden.331 Diese Kurse wurden im
Siemens-eigenen „Bildungszentrum Berlin“ abgehalten und standen allen

326
Vgl. SAA 10590: Protokoll einer Sitzung des Arbeitskreises Ausländische Arbeitnehmer vom 29.1.1974.
327
Vgl. SAA 11038•1: Protokoll einer ZBL-Besprechung vom 2.9.1965.
328
Vgl. SAA 10590: Protokoll einer ZBL-Besprechung vom 18.12.1968.
329
Vgl. SAA 10590: Protokoll einer ZBL-Besprechung vom 15.12.1969.
330
Vgl. SAA 10590: Protokoll einer ZBL-Besprechung vom 4.11.1970.
331
Vgl. SAA 10583: Brief der Zentralpersonalstelle an Gerhard Stammler vom 9.9.1975 mit einer
Zusammenstellung aller Fortbildungsmaßnahmen für ausländische Arbeitnehmer.

61
interessierten Mitarbeitern offen. 332 Die Dokumentation absolvierter
Weiterbildungsmaßnahmen erfolgte im Berufsbildungspaß (BBP), den jeder
Arbeitnehmer freiwillig führen konnte.333
Um dem steigenden Anspruch der Ausländer an betriebliche Ausbildungsprogramme,
der allgemeinen Tendenz zur beruflichen Qualifikation und dem Facharbeitermangel
der Berliner Werke Rechnung zu tragen, wurde 1980 ein Projekt zur einjährigen
Berufsqualifikation türkischer Mitarbeiter, in Zusammenarbeit mit der Technischen
Universität Berlin und der Volkshochschule Kreuzberg entwickelt und durchgeführt.
Es fand im Rahmen des Aktionsprojektes „Humanisierung des Arbeitslebens“ statt
und vermittelte neben Deutsch und Mathematik auch Grundlagen der Elektrotechnik,
der Betriebswirtschaft, des Arbeitsschutzes und der Unfallverhütung, mit dem Ziel,
die Mitarbeiter für die untere Führungsschicht zu qualifizieren. Diese von der Firma
voll bezahlte Ausbildungsmaßnahme während der Arbeitszeit wurde mit einer
Versuchsgruppe von 14 Männern und 4 Frauen des Hausgerätewerks Berlin
durchgeführt und hatte Modellcharakter für die weitere Ausländerweiterbildung.334

3.1.3 Repräsentation durch und Engagement in Gewerkschaften und Betriebsrat

Der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) und die in ihm vereinigten Gewerkschaften


hatten sich im Jahre 1955 grundsätzlich damit einverstanden erklärt, daß
ausländische Arbeitnehmer zur Überbrückung von Beschäftigungsengpässen in
Deutschland beschäftigt werden können.335 Um nicht einen die deutschen
Arbeitnehmer gefährdenden Niedriglohnsektor entstehen zu lassen, hatten sie von
Anfang an darauf bestanden, die Ausländer über staatlichen Stellen anzuwerben,
und sie den deutschen Arbeitern tariflich und arbeits-, bzw. sozialrechtlich
gleichzustellen. Der DGB verstand sich als Interessenvertretung aller Arbeitnehmer
und hatte deshalb beim Abschluß der bilateralen Abkommen mit den späteren
Anwerbeländern auf dem Grundsatz "gleicher Lohn für gleiche Arbeit bestanden“. 336

332
Vgl. SAA 10590: Aktenvermerk der ZPS über Schule im Betrieb/Berufsqualifikation für türkische Mitarbeiter
vom 19.5.1981.
333
Vgl. SAA 10585•2: Rundschreiben M 112/77 des Arbeitgeberverbandes der Berliner Metallindustrie vom
11.8.1977.
334
Vgl. SAA 10590: Aktenvermerk der ZPS über Schule im Betrieb/Berufsqualifikation für türkische Mitarbeiter
vom 19.5.1981.
335
„Die deutschen Gewerkschaften und die ausländischen Arbeitnehmer“ (Stellungnahme des Bundesvorstands
des DGB vom 2.11.1971), in: DGB Bundesvorstand: Die deutschen Gewerkschaften und die ausländischen
Arbeitnehmer. Beschlüsse. Forderungen. Stellungnahmen. Empfehlungen. o.O., o.J. (nach 1986). S. 4.
336
Vgl. ebenda.

62
Dementsprechend wurde von den Gewerkschaften Informationsmaterial für die
ausländischen Arbeitnehmer zur Verfügung gestellt 337, so z.B. Übersetzungen des
Manteltarifvertrages und ähnliches 338, die auch zur Eigenwerbung benutzt wurden. In
Berlin wandte sich der Landesverband des DGB schon 1963, also noch vor dem
Beginn der eigentlichen Anwerbung, an den Gesamtbetriebsrat der Siemens &
Halske AG und der Siemens-Schuckertwerke AG mit der Bitte um namentliche Listen
der bei Siemens beschäftigten Griechen, deren Betreuung er übernehmen wollte. Es
wurde ein Mittelsmann vom griechischen Gewerkschaftsbund nach Berlin entsandt,
der seine Landsleute unterstützen sollte. 339 Dem Wunsch wurde nach Rücksprache
mit der Firmenleitung entsprochen 340, danach verliert sich die Spur dieser
Betreuung.341 Der DGB forderte schon 1971, als „bei vielen Unternehmen,
Organisationen, öffentlichen Einrichtungen und in weiten Kreisen der Bevölkerung
eine Haltung vor[herrschte], als ob die Ausländerbeschäftigung eine vorübergehende
und nur zeitweilige Erscheinung sei“, die ausländischen Arbeitnehmer im Betrieb und
im sozialen Netz zu integrieren und nicht länger außen vor zu lassen. 342 Auch in der
Folgezeit hat sich der DGB häufig zu Themen, die vor allem die ausländischen
Arbeitnehmer betrafen, geäußert, zur geplanten Verschärfung des Ausländerrechts
1972343, zum Unterricht für Kinder ausländischer Arbeitnehmer 1973 344, zur
beruflichen Aus- und Fortbildung für ausländische Arbeitnehmer 1974 345, zum
Anwerbestopp 1973 und der irrigen Annahme, die Arbeitslosigkeit könne durch eine

337
Vgl. ebenda, S. 8.
338
Vgl. SAA 10566: Ins Spanische übersetzte Auszüge aus dem Manteltarifvertrag für die bayerische
Metallindustrie, herausgegeben von der IG Metall, 1962.
339
Vgl. SAA 10586: Brief des Landesverbandes Berlin des DGB an den Gesamtbetriebsrat bei Siemens vom
13.1.1963.
340
Vgl. SAA 7437: Protokoll einer Besprechung zwischen der Zentralen Berliner Leitung (ZBL) und dem
Betriebsausschusses des Gesamtbetriebsrats vom 8.2.1963.
341
Überhaupt ist die gewerkschaftliche Betreuung der ausländischen Arbeitnehmer in den Akten kaum
dokumentiert.
342
„Die deutschen Gewerkschaften und die ausländischen Arbeitnehmer“ (Stellungnahme des Bundesvorstands
des DGB vom 2.11.1971), in: DGB Bundesvorstand: Die deutschen Gewerkschaften und die ausländischen
Arbeitnehmer. Beschlüsse. Forderungen. Stellungnahmen. Empfehlungen. o.O., o.J. (nach 1986). S. 4f.
343
„Geplante Verschärfung des Ausländerrechts. Beschluß des 9. Ordentlichen Bundeskongresses, Juni 1972“, in:
DGB Bundesvorstand: Die deutschen Gewerkschaften und die ausländischen Arbeitnehmer. Beschlüsse.
Forderungen. Stellungnahmen. Empfehlungen. o.O., o.J. (nach 1986). S. 17.
344
„Stellungnahmen und Forderungen des DGB zum Unterricht für Kinder Ausländischer Arbeitnehmer“
(Stellungnahme des Bundesvorstandes des DGB vom 7.5.1973), in: DGB Bundesvorstand: Die deutschen
Gewerkschaften und die ausländischen Arbeitnehmer. Beschlüsse. Forderungen. Stellungnahmen.
Empfehlungen. o.O., o.J. (nach 1986). S. 22ff.
345
„Empfehlungen über Maßnahmen der beruflichen Aus- und Fortbildung für Ausländische Arbeitnehmer“
(Stellungnahme des Bundesvorstandes des DGB vom 3.9.1974), in: DGB Bundesvorstand: Die deutschen
Gewerkschaften und die ausländischen Arbeitnehmer. Beschlüsse. Forderungen. Stellungnahmen.
Empfehlungen. o.O., o.J. (nach 1986). S. 32ff.

63
Abschiebung der ausländischen Arbeitnehmer beseitigt werden, 346 usw. Die
Ausländer traten den Gewerkschaften bei, schon 1972 hatten die unter dem Dach
des DGB organisierten Arbeitnehmervertretungen zusammen über 500.000
ausländische Mitglieder.347 Für Berlin liegen die Mitgliederzahlen der IG Metall am 31.
Dezember 1978 vor, nach denen von 57.140 registrierten Mitgliedern 8.280
Ausländer waren, was einem Anteil von 14,5% entspricht. Unter den ausländischen
Mitgliedern waren die Türken mit 5.683 (68,5%) die stärkste Gruppe, gefolgt von den
Jugoslawen mit 1.955 (23,5%) und den Griechen mit 415 (5%).348
Auch der Siemens-Betriebsrat verstand sich als Vertretung aller
Belegschaftsmitglieder. Ausländische Arbeitnehmer hatten ausnahmslos das aktive
Wahlrecht für die Betriebsratswahl, konnten aber zunächst nicht selber in den
Betriebsrat gewählt werden. 349 Der Betriebsrat und die Berliner Leitung tauschten
sich auf regelmäßiger Basis über grundlegende Probleme der Lohn-, Personal- und
Sozialpolitik aus, wobei auch der Arbeitskräftebedarf und die Einstellung
ausländischer Arbeitnehmer diskutiert wurden. 350 Seit 1972 hatte der Betriebsrat ein
Mitbestimmungsrecht bei der Anwerbung ausländischer Arbeitnehmer,
Vermittlungsaufträge wurden von der Bundesanstalt für AVAV nur noch bearbeitet,
wenn eine schriftliche Zustimmung des Betriebsrats vorlag. 351 Mit der Neufassung
des Betriebsverfassungsgesetzes 1972 wurde der Turnus der allgemeinen
Betriebsratswahlen auf 3 Jahre, beginnend mit 1972 festgelegt. Ausländische
Mitarbeiter ohne deutsche Sprachkenntnisse mußten in der jeweiligen Fremdsprache
über die Wahl informiert werden und erhielten neben dem aktiven Wahlrecht nun
auch das uneingeschränkte passive Wahlrecht. 352 Der Anteil ausländischer
Betriebsratsmitglieder, die in der ersten Wahl nach neuem Recht 1972 gewählt
wurden lag, nach einer Erhebung des Arbeitgeberverbandes der Berliner
Metallindustrie, in Betrieben mit mehr als 600 Belegschaftsmitgliedern bei 9,6% - das
346
„DGB-Bundesvorstand zu: Ausländische Arbeitnehmer und Arbeitsmarktsituation“ (Erklärung vom 5.3.1975),
in: DGB Bundesvorstand: Die deutschen Gewerkschaften und die ausländischen Arbeitnehmer. Beschlüsse.
Forderungen. Stellungnahmen. Empfehlungen. o.O., o.J. (nach 1986). S. 38f.
347
„Ausländische Arbeitnehmer“ (Antrag 263). Beschluß des 9. Ordentlichen Bundeskongresses, Juni 1972, in:
DGB Bundesvorstand: Die deutschen Gewerkschaften und die ausländischen Arbeitnehmer. Beschlüsse.
Forderungen. Stellungnahmen. Empfehlungen. o.O., o.J. (nach 1986). S. 15f.
348
Vgl. SAA 10592: Mitgliederstand der IG Metall, Ortverwaltung Berlin am 31.12.1978.
349
10566: „Hinweise für Arbeitgeber zur Einstellung und Beschäftigung ausländischer Arbeitnehmer“ (Stand
1966), hgg. von der Bundesanstalt für AVAV, Nürnberg.
350
Vgl. SAA 7437: diverse Protokolle über Sitzungen der ZBL und des Gesamtbetriebsrats (monatliches
Intervall), 1960er Jahre.
351
Vgl. SAA 10585•1: ZP-Rundschreiben Nr. 5/73 über Beschäftigung ausländischer Arbeitnehmer –
Mitwirkung des Betriebsrats bei Einstellung von Vertragsausländern vom 11.10.1972.
352
Vgl. SAA (unverzeichnete Akten aus dem Bestand Sozialpolitische Abteilung Berlin, Altsignatur 5.4.1):
Rundschreiben M 29/72 des Arbeitgeberverbandes der Berliner Metallindustrie vom 7.3.1972.

64
war weniger als die Hälfte dessen, was ihnen nach ihrem Anteil an der
Gesamtbelegschaft von 23% zugestanden hätte. Die Hälfte aller gewählten
Betriebsratsmitglieder waren Türken, gefolgt von Jugoslawen mit 35,5%, Griechen
mit 11,8% und Italienern mit 3,6%. 353 Bei den Berliner Siemens Werken lag der Anteil
ausländischer Betriebsräte mit 7% deutlich unter dem Berliner Durchschnitt. Dieser
relativ niedrige Anteil ist hauptsächlich mit dem Fehlen ausländischer Angestellter zu
erklären. Betrachtet man nur den Ausländeranteil an den Betriebsräten der
gewerblichen Mitarbeiter, liegt er bei 9,4%. 354 Besonders wenig waren die
ausländischen Arbeitnehmerinnen repräsentiert, nur eine gewerbliche Mitarbeiterin
des Kabelwerks wurde in den Betriebsrat gewählt. 355 Eine jugoslawische Angestellte
des Schaltwerks, die als Dolmetscherin zu Siemens gekommen war, war seit 1972 im
Betriebsrat und blieb bis mindestens 1987 in dieser Position. 356 Bis 1975 hatte sich
die Beteiligung der Ausländer in den Betriebsräten ausgeweitet. Im Hausgerätewerk
waren auf den zweisprachig deutsch/türkisch gehaltenen Wahlankündigungen von 41
Kandidaten 23 Türken und eine Türkin, sie stellten ein Drittel der tatsächlich
gewählten Betriebsräte.357 Für alle Berliner Siemens Werke waren 1975 18 der 217
gewählten Betriebsräte Ausländer (8,5%), die Zahl der weiblichen ausländischen
Betriebsräte hatte sich von zwei auf vier verdoppelt. 358 Bis zur nächsten Wahl 1978
hatte sich die Position der ausländischen Arbeitnehmer noch weiter stabilisiert. Im
Hausgerätewerk herrschte starke Konkurrenz zwischen den zur Wahl stehenden
Listen. Neben der türkischen Beteiligung an der Liste der IG Metall stellten türkische
Arbeiter eine eigene Liste auf. Die Gründer einer dritten, alternativen Liste warben
mit fremdsprachigem Informationsmaterial um die Unterstützung der türkischen
Mitarbeiter. Die Türken sahen sich in verschiedene Fraktionen gespalten, eine
„Gewerkschaftskonforme Fraktion“, eine Fraktion der „Ausländereigenen Interessen“
und eine unabhängige Fraktion „Wehrt Euch“ gegen die Übermacht der IG Metall. 359

353
Vgl. SAA (unverzeichnete Akten aus dem Bestand Sozialpolitische Abteilung Berlin, Altsignatur 5.4.1):
Rundschreiben M 124/72 des Arbeitgeberverbandes der Berliner Metallindustrie vom 23.11.1972.
354
Vgl. SAA (unverzeichnete Akten aus dem Bestand Sozialpolitische Abteilung Berlin, Altsignatur 5.4.1):
Ergebnismeldungen der einzelnen Werke für die Betriebsratswahl 1972 an die Sozialpolitische Abteilung.
355
Vgl. SAA (unverzeichnete Akten aus dem Bestand Sozialpolitische Abteilung Berlin, Altsignatur 5.4.1):
Ergebnis der Betriebsratswahl 1972 für UB I/Bereich Starkstromkabel und –leitungen (Kabelwerk).
356
Vgl. SAA (Interne Zeitschriften): Siemens-Mitteilungen, Nr.12, 1982, S. 4-6: „Anpassen ohne die Identität zu
verlieren. Gespräche mit ausländischen Mitarbeitern“.
357
Vgl. SAA (unverzeichnete Akten aus dem Bestand Sozialpolitische Abteilung Berlin, Altsignatur 5.4.1):
Ankündigung und Ergebnis der Betriebsratswahl 1975 für das Siemens-Hausgerätewerk.
358
Vgl. SAA (unverzeichnete Akten aus dem Bestand Sozialpolitische Abteilung Berlin, Altsignatur 5.4.1):
Ergebnismeldungen der einzelnen Werke für die Betriebsratswahl 1975 an die Sozialpolitische Abteilung.
359
Vgl. SAA (unverzeichnete Akten aus dem Bestand Sozialpolitische Abteilung Berlin, Altsignatur 5.4.1):
Flugblätter der Listen 1, 2 und 3 für die Betriebsratswahl 1978 im Hausgerätewerk.

65
Die Ausländer hatten begonnen, eigene Interessen mit Einsatz zu verteidigen und im
deutschen Mitbestimmungsapparat Akzente zu setzen. Drei Mitglieder der türkischen
Liste und weitere drei der Liste „Wehrt Euch“ wurden neben 13 Mitgliedern der IG
Metall in den Betriebsrat gewählt. 360 Für alle Berliner Werke war die Zahl der
ausländischen Betriebsratsmitglieder wiederum gestiegen, der Anteil der Ausländer
am Betriebsrat betrug nun über 12%.361 Dieser Stand konnte nicht gehalten werden –
bei der folgenden Wahl 1981 sackte der Anteil wieder auf 9,5% ab. 362 Im
Hausgerätewerk gab es weiterhin Machtkämpfe zwischen der IG Metall einerseits
und den nun vereinigten Listen 2 und 3 andererseits. Die türkische Liste und die Liste
„Wehrt Euch“ hatten sich zur „Revolutionären Gewerkschaftsopposition – RGO“
zusammengeschlossen.363 Diese Liste war mit der „Betriebszelle der
Kommunistischen Partei Deutschland bei Siemens-Gartenfeld“ verbunden und gab
die Zeitung „Roter Gartenfelder“ in deutscher und türkischer Sprache für die
Werksangehörigen heraus. Der IG Metall wurde Kooperation mit der Arbeitgeberseite
und mangelnde Unterstützung der eigenen Kollegen vorgeworfen. Weitere Themen
der Zeitung waren die politische Situation in der Türkei, Kommunales Wahlrecht für
Ausländer, die Friedensbewegung und die wirtschaftliche Lage Berlins. 364 Die
Betriebsratswahl im Jahre 1984 verlief ruhig. Der Anteil der Ausländer an den
Betriebsräten in Berlin stieg auf über 15% an, was als Zeichen der weitgehenden
Integration der ausländischen Arbeitnehmer bei den Berliner Siemens Werken
gewertet werden kann.365 Berlin lag damit in der Anzahl der ausländischen
Betriebsräte weit über dem Durchschnitt der Siemens AG, der etwa 3% betrug.366

3.1.6 Vom „Gastarbeiter“ zum Mitarbeiter. Integration in die Stammbelegschaft

360
Vgl. SAA (unverzeichnete Akten aus dem Bestand Sozialpolitische Abteilung Berlin, Altsignatur 5.4.1):
Ergebnismeldung der Betriebsratswahl 1978 im Hausgerätewerk.
361
(unverzeichnete Akten aus dem Bestand Sozialpolitische Abteilung Berlin, Altsignatur 5.4.1):
Ergebnismeldungen der einzelnen Werke für die Betriebsratswahl 1978 an die Sozialpolitische Abteilung.
362
Vgl. SAA (unverzeichnete Akten aus dem Bestand Sozialpolitische Abteilung Berlin, Altsignatur 5.4.1):
Ergebnismeldungen der einzelnen Werke für die Betriebsratswahl 1981 an die Sozialpolitische Abteilung.
363
Vgl. SAA (unverzeichnete Akten aus dem Bestand Sozialpolitische Abteilung Berlin, Altsignatur 5.4.1):
Wahlwerbe-Flugblatt der RGO (Liste 1).
364
Vgl. SAA (unverzeichnete Akten aus dem Bestand Sozialpolitische Abteilung Berlin, Altsignatur 5.4.1):
„Roter Gartenfelder“ Nr. 4/81.
365
Vgl. SAA (unverzeichnete Akten aus dem Bestand Sozialpolitische Abteilung Berlin, Altsignatur 5.4.1):
Ergebnismeldungen der einzelnen Werke für die Betriebsratswahl 1984 an die Sozialpolitische Abteilung.
366
Vgl. SAA (unverzeichnete Akten aus dem Bestand Sozialpolitische Abteilung Berlin, Altsignatur 5.4.1):
Rundschreiben der Zentralpersonalstelle München über die Betriebsratswahlen 1984 vom 26.7.1984.

66
Die Berliner Siemens-Firmenleitung hatte schon früh den Einsatz von Ausländern als
dauerhafte Maßnahme verstanden. 367 Das lag zum einen an den größtenteils
zeitintensiven Anlernmaßnahmen, die für die meisten Fertigungsbereiche notwendig
waren und zum Teil bis zu ein Jahr andauern konnten, zum anderen an den
Bemühungen der Firmenleitung, die Fluktuation aller Arbeitnehmer möglichst niedrig
zu halten und relative Kontinuität im Personalbestand zu erreichen. Die Fluktuation
der ausländischen Arbeitnehmer war seit Anfang der Anwerbung Gegenstand von
Untersuchungen der Sozialpolitischen Abteilung, sie lag, vor allem in der
Anfangsphase, deutlich unter der Fluktuation Berliner und westdeutscher
Arbeitnehmer.368 In den folgenden Jahren glich sich die Fluktuation der Ausländer
derjenigen der Deutschen an, gleichzeitig rückten die Ausländer in bessere
Positionen (Vorarbeiter, Einrichter) auf. 369 Bis zum Anwerbestopp 1973 erhöhte sich
die Anzahl der ausländischen „Stammbelegschaft“ in den Berliner Werken
zunehmend. Das Dienstalter der ausländischen Arbeitnehmer stieg entsprechend:
13% der Männer und 12% der Frauen waren schon zwischen fünf und zehn Jahren
bei Siemens beschäftigt, weitere 4%, beziehungsweise 2% schon über zehn Jahre. 370
Nach dem Anwerbestopp wurden die Bemühungen der Integration ausländischer
Arbeitnehmer verstärkt. Ein Gutachten im Auftrag des Berliner Senators für Arbeit
und Soziales über das langfristige Arbeitskräfte- und Bildungspotential in Westberlin
konstatierte für den Zeitraum 1970 bis 1980 einen Facharbeitermangel von
insgesamt 82.000 Personen,371 wovon Siemens, als größter Arbeitgeber Westberlins,
besonders betroffen war. Deshalb wurde Ende 1973 ein neues Konzept für die
Beschäftigung ausländischer Mitarbeiter unter den veränderten Voraussetzungen
entwickelt. Ausländische Arbeitnehmer, die schon längere Zeit bei Siemens
beschäftigt waren, sollten durch verstärkte Integrationsmaßnahmen an die Firma
gebunden werden. Dazu gehörten personelle und berufliche Betreuung,
Sprachausbildung, Verbesserung der Wohnraumversorgung, Sozialberatung des
Arbeitnehmers und seiner Familie, verbesserte Informationsflüsse und stärkere
Förderung von Freizeitinitiativen ausländischer Arbeitnehmer. 372 In Berlin wurden
diese Maßnahmen konkretisiert und umgehend angewandt. Die
367
Vgl. 11038•1: Protokoll einer ZBL-Sitzung vom 2.9.1965.
368
Vgl. SAA 10586: Brief der Sozialpolitischen Abteilung an Dir. Bremeier über die Beschäftigung
ausländischer Arbeitnehmer vom 22.10.1965.
369
Vgl. SAA 10590: Protokoll einer ZBL-Sitzung vom 15.12.1969.
370
Vgl. SAA 10596: Belegschaftsstatistik 1973 der Siemens AG (zusammengestellt vom Zentralbereich
Personal): Dienstalter der ausländischen gewerblichen Mitarbeiter (nach Geschlecht).
371
Vgl. SAA 7406: Rundschreiben der Zentralvereinigung Berliner Arbeitgeberverbände vom 11.1.1974 mit
Anlage DIW-Gutachten (undatiert).

67
Wohnungsbeschaffung zugunsten der Ausländer wurde intensiviert, neue
Wohnungen aus eigenem Bestand und vom freien Markt wurden beschafft.
Sprachkurse und berufliche Weiterbildungsmaßnahmen wurden verbessert und
ausgebaut, geeignete ausländische Mitarbeiter wurden gezielt auf Weiterbildung und
den damit verbundenen beruflichen Aufstieg angesprochen. 373 Als Folge dieser
Maßnahmen stieg das durchschnittliche Dienstalter ausländischer gewerblicher
Mitarbeiter deutlich an. Bei der nächsten Erhebung 1978 waren 50% der männlichen
Ausländer und 54% der weiblichen Ausländer zwischen fünf und zehn Jahre, 8%,
bzw. 7% zehn bis 15 Jahre und weitere 4% bzw. 1% schon über 15 Jahre bei
Siemens beschäftigt.374 Gleichzeitig war ein verstärkter Aufstieg der Ausländer in
höhere Lohngruppen feststellbar.375

3.2 Entlohnung, Soziale Sicherung, Arbeitsschutz

Ausländische Arbeitnehmer waren rechtlich den deutschen Arbeitnehmern


gleichgestellt. Dies betraf Arbeitsverträge, Lohn, Arbeitsbedingungen, Arbeitsschutz,
Sozialversicherung (Kranken-, Unfall- und Rentenversicherung), Arbeitslosen-
versicherung und Kindergeldanspruch.376 Diese generelle Gleichstellung war eine der
unbedingten Voraussetzungen für die Zustimmung der deutschen Gewerkschaften
zur Beschäftigung von Ausländern in Deutschland gewesen. Durch sie sollte die
Entstehung eines Niedriglohnsektors unterhalb der deutschen Arbeitnehmerschaft
verhindert werden, was von den Gewerkschaften befürchtet wurde, und Konkurrenz
zu den untersten deutschen Einkommensklassen ausgelöst hätte. 377 Die Bezahlung
ausländischer Arbeitnehmer richtete sich folglich nach den deutschen Tarifverträgen,
in unserem Fall nach den Tarifen der Metallindustrie.

372
Vgl. SAA 11041: Aktenvermerk der Zentralpersonalstelle über ein neues Konzept zur Beschäftigung
ausländischer Mitarbeiter vom 14.1.1974.
373
Vgl. SAA 10585•2: Rundschreiben der Zentralpersonalstelle Berlin über die Bindung förderungswürdiger und
integrationswilliger ausländischer Arbeitnehmer an das Haus Siemens in Berlin vom 24.6.1974.
374
Vgl. SAA 10596: Belegschaftsstatistik 1978 der Siemens AG (zusammengestellt vom Zentralbereich
Personal): Dienstalter der ausländischen gewerblichen Mitarbeiter (nach Geschlecht).
375
Vgl. SAA 10596: Belegschaftsstatistiken 1973 und 1978 der Siemens AG (zusammengestellt vom
Zentralbereich Personal): Lohngruppenstruktur der ausländischen gewerblichen Arbeitnehmer.
376
Vgl. SAA 10566: „Hinweise für Arbeitgeber zur Einstellung und Beschäftigung ausländischer Arbeitnehmer“
(Stand 1966), hgg. von der Bundesanstalt für AVAV, Nürnberg.
377
„Die deutschen Gewerkschaften und die ausländischen Arbeitnehmer“ (Stellungnahme des Bundesvorstands
des DGB vom 2.11.1971), in: DGB Bundesvorstand: Die deutschen Gewerkschaften und die ausländischen
Arbeitnehmer. Beschlüsse. Forderungen. Stellungnahmen. Empfehlungen. o.O., o.J. (nach 1986). S. 4.

68
3.2.1 Stunden- und Akkordlöhne

Der Grundsatz „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ für ausländische und deutsche
Arbeitnehmer wurde im Musterarbeitsvertrag für ausländische Arbeitnehmer
ausdrücklich hervorgehoben.378 Der in den Arbeitsvertrag eingetragene Lohn durfte
den tariflich vereinbarten Mindestlohn nicht unterschreiten, wenn die gewerblichen
Arbeitnehmer einer Firma über Tarif bezahlt wurden, mußten auch die ausländischen
Arbeitnehmer in diese Regelung mit einbezogen werden. 379 Der zukünftige
Arbeitgeber war verpflichtet, dem zu vermittelnden Ausländer, als Anlage zum
Vermittlungsantrag, eine Modellrechnung der zu erwartenden Einkünfte, der
gesetzlichen Abzüge und der zu erwartenden monatlichen Lebensunterhaltskosten
zu liefern.380 In den Arbeitsvertrag wurden, je nach Art der Bezahlung, der
Stundenlohn mit besonderer Ausweisung der Zuschläge für Überstunden,
Nachtarbeit, Sonntagsarbeit und Feiertagsarbeit, oder der zu erwartenden
Akkordlohn bei „normaler“ Leistung des Arbeitnehmers eingetragen.381
Die in den Werken von S & H zu besetzen Stellen für weibliche Arbeitskräfte –
hauptsächlich wurden Maschinenarbeiterinnen, Montiererinnen und Schweißerinnen
für Anlerntätigkeiten gesucht – wurden alle in der Berliner Lohngruppe 02 im Akkord
bezahlt, was 1964 einem Grundlohn von 1,96 DM pro Stunde (plus 10% nach 13
Wochen Probezeit) und einem Akkordrichtsatz von 2,17 DM entsprach. Für
männliche Fach- und Hilfsarbeiter lag der Verdienst höher, ausgebildete Monteure
wurden in den Berliner Lohngruppen 5 und 6 (2,70 bzw. 2,95 DM Einstellohn)
bezahlt. Für ungelernte Anlernkräfte (Lagerarbeiter, Stoßer, Fräser, Hobler) war eine
Akkordbezahlung in Lohngruppe 4 (2,49 DM Grundlohn, 2,86 DM Akkordrichtsatz)
vorgesehen.382 Durch unterschiedliche Einstellöhne machten sich verschiedene
Werke von S & H und SSW zeitweilig Konkurrenz bei der Einstellung ausländischer

378
Vgl. SAA 10566: Abschnitt II eines deutsch-türkischen Musterarbeitsvertrag zwischen S & H und einem
Arbeitnehmer (1966).
379
Vgl. SAA 10566: „Beschäftigung ausländischer Arbeitskräfte. Was der Arbeitgeber bei Anwerbung,
Vermittlung, Einstellung und Beschäftigung ausländischer Arbeitskräfte beachten sollte.“, hgg. von der
Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, Köln 1961, S. 18.
380
Vgl. SAA10566 „Beschäftigung ausländischer Arbeitskräfte. Was der Arbeitgeber bei Anwerbung,
Vermittlung, Einstellung und Beschäftigung ausländischer Arbeitskräfte beachten sollte.“, hgg. von der
Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, Köln 1961, S. 19.
381
Vgl. SAA 10588: Musterarbeitsverträge zwischen S & H, SSW und einem Arbeitnehmer (1966).
382
Vgl. SAA 7441: Aufstellung der Arbeitskräfteanforderungen für SiemenS & Halske AG (11.11.1964) und
SAA 7438•1:Lohntabelle für die Berliner Betriebe (Februar 1964).

69
Arbeitnehmer.383 Doch das eigentliche Problem war die relativ komplizierte
Lohnstruktur der Siemens AG, die sich aus vergleichsweise niedrigen Einstellöhnen,
Wechselschichtprämien, Jahreszuwendung und einer zweistufigen Erfolgsbeteiligung
für die Mitarbeiter zusammensetzte. Der Einstellohn bei S & H, SSW und SE lag bis
zu 68 Pfennig (11%) unter dem durchschnittlichen Einstellohn anderer Berliner
Großfirmen (ab 2.000 Mitarbeiter), nach Auszahlung der diversen Prämien und
Erfolgsbeteiligungen lag der Stundenlohn aber 74 Pfennige (12%) über dem
Durchschnitt der anderen Großfirmen. Die Differenzen variierten von Lohngruppe zu
Lohngruppe und von Akkord- zu Zeitlohnsystem. Die Zuwendungen und
Erfolgsbeteiligungen der Siemens AG lagen deutlich über Sonderzahlungen anderer
Firmen, wodurch der durchschnittliche Einstellohn um insgesamt 95 Pfennig pro
Stunde angehoben wurde. Die Erfolgsbeteiligung wurde teilweise durch Auszahlung
von Prämien, die von Leistung, Lebensalter und Dienstalter abhingen384, und
teilweise durch einen jährlichen Verkauf von Vorzugsaktien zu verbilligten Preisen
abgegolten385. Wegen der niedrigen Löhne während der Anfangszeit fluktuierten
relativ viele Arbeitnehmer zu anderen Unternehmen in Berlin. Mit andauernder
Firmenzugehörigkeit und dem damit verbundenen Anstieg des Einkommens, nahm
die Fluktuation deutlich ab. 386 Aufgrund zunehmender Konkurrenz der Arbeitgeber um
Arbeitskräfte in den frühen 1970er Jahren wurden von einigen Firmen erhöhte
Einstellöhne bezahlt, die nach Ablauf der Anlernzeit wieder gekürzt wurden. Dieses
Verhalten bedeutete für lautere Arbeitnehmer zunächst scharfen Wettbewerbsdruck
auf dem Arbeitsmarkt und wurde von der Siemens AG bekämpft. 387 Die Lohnkosten
für die Beschäftigung ausländischer Arbeitnehmer lagen, bedingt durch Zuschüsse
für Wohnheimplätze, Dolmetscherkosten, zusätzlichen Betreuungsaufwand und den
erhöhten Krankenstand der Ausländer, deutlich über denen vergleichbarer deutscher
Arbeitnehmer. Pro Arbeitsstunde lagen diese Zusatzkosten bei durchschnittlich 50
Pfennig, zuzüglich einer Umlage der einmalig anfallenden Mehrkosten für Anwerbung
und Einarbeitung von weiteren 11 Pfennig. Für die gesamte Siemens AG addierten
sich diese Mehrkosten immerhin auf 27 Millionen DM im Geschäftsjahr 1972/73.388

383
Vgl. SAA 10586: Auszug aus dem FA-Besprechungsbericht Nr. 3/64 vom 28.5.1964.
384
Vgl. SAA (Interne Zeitschriften): Fremdsprachige Beilagen der Siemens-Mitteilungen Nr.2, 1971; Nr.2, 1972.
385
Vgl. SAA (Interne Zeitschriften): Fremdsprachige Beilage der Siemens-Mitteilungen Nr.11, 1975; Nr.11,
1977; Nr.9/10, 1980.
386
Vgl. SAA 7438•2: Brief der Sozialpolitischen Abteilung an Dir. Bremeier über die Lohnsituation der Siemens-
Betriebe in Berlin vom 19.1.1968.
387
Vgl. SAA 10590: Protokoll einer Sitzung des Arbeitskreises Ausländische Arbeitnehmer vom 13.10.1970.
388
Vgl. SAA 10590: Aktenvermerk der Zentralpersonalstelle über Mehrkosten durch die Beschäftigung von
ausländischen gewerblichen Mitarbeitern vom 29.10.1973.

70
Die Bezahlung der meisten Ausländer in der Fertigung erfolgte im Akkord, was
teilweise zu Schwierigkeiten in der Bezahlung führte. Während der Einarbeitungszeit
wurde der vertraglich vereinbarte Akkordrichtsatz auch ohne Erbringung der
hundertprozentigen Leistung gezahlt. Nach Ablauf dieser Phase, die doppelt so lange
wie bei deutschen Anlernern in gleicher Position dauern konnte, wurden die
Regelungen des Tarifvertrags angewandt, die beinhalteten, daß bei
unterdurchschnittlichen Leistungen nur ein garantierter Lohn von 90% des
Akkordrichtsatzes gezahlt werden mußte. Die Anwendung dieser Regelung auf 18
Türken des Prozeßgerätewerks Berlin führte zu Protesten des zuständigen
Betriebsrats, der eine garantierte Zahlung des Akkordrichtsatz für die Dauer des
einjährigen Arbeitsvertrags für ausländische Arbeitnehmer forderte.389

Vgl. SAA 10583: Brief der Personalabteilung des Prozeßgerätewerks Berlin an die Sozialpolitische Abteilung
389

vom 17.1.1974.

71
Mit zunehmender Dauer der Betriebszugehörigkeit der Ausländer erfolgte ein
langsamer Aufstieg in höhere Lohngruppen, der sich vor allem bei männlichen
Mitarbeitern bemerkbar machte.

Lohngruppenverteilung ausländischer gewerblicher


Arbeitnehmer 1973/1978 (in Prozent)

100
90
80
70
60
50
40
30
20
10
0
0 1 2 3 4 5 6 7 8
Männer 1973 Männer 1978
Frauen 1973 Frauen 1978

(Grafik erstellt aus SAA: 10596: Belegschaftsstatistiken 1973 und 1978 der Siemens AG)

Im Zusammenhang mit den gleichen Rechten der ausländischen Arbeitnehmer waren


natürlich auch gleiche Pflichten zu erfüllen, was bei der Entlohnung hauptsächlich die
Entrichtung der Lohnsteuer und den Lohnsteuerjahresausgleich bedeutete. Die
Bundesanstalt für AVAV gab zur Information der Ausländer spezielle Broschüren
heraus, die bei der Antragstellung helfen sollten 390, aber wohl ihren Zweck verfehlten,
wie an ständigen Problemen mit dem Lohnsteuerjahresausgleich zu ersehen ist. Das
Finanzamt München-Ost warnte schon 1969 mit Aushängen in den Betrieben vor
Betrügern, die den Lohnsteuerjahresausgleich im Auftrag der Ausländer ausfüllten
und dann eventuelle Erstattungsbeträge aus der Lohnsteuerrückerstattung
veruntreuten.391 Die Ausländer nahmen bei der Ausfüllung der Anträge die
betriebseigenen Dolmetscher in Anspruch, was schließlich zu einer Überlastung des
Dolmetschersystems führte und die Firma veranlaßte, bei den Finanzämtern auf eine

390
10566: „Hinweise für Arbeitgeber zur Einstellung und Beschäftigung ausländischer Arbeitnehmer“ (Stand
1966), hgg. von der Bundesanstalt für AVAV, Nürnberg.
391
Vgl. SAA 10585•1: Rundschreiben der Sozialpolitischen Abteilung an die Personalabteilungen vom
16.12.1969.

72
Übersetzung des Steuererklärungsformulars zu drängen. 392 Bis 1974 war dies immer
noch nicht geschehen, die Bundesanstalt für AVAV widmete aber eine ganze
Ausgabe ihrer Zeitschrift „AD – Arbeitsplatz Deutschland“, die in die Heimatsprachen
der ausländischen Arbeitnehmer übersetzt wurde, dem „Papierkrieg“, der mit der
Lohnsteuerrückerstattung verbunden war. Es wurde sogar ein umfangreiches
„Lexikon des Alltags: Der Lohnsteuerjahresausgleich“ mitgeliefert. 393 Trotzdem
scheint das Problem der Lohnsteuerbetrügerei immer schwerwiegender geworden zu
sein. Die Berliner Kriminalpolizei warnte in einem sechssprachigen Faltblatt mit dem
Titel „Sei klüger als der Betrüger“ mit einem Hinweis auf Tausende betrogene
ausländische Arbeitnehmer, vor sogenannten „Lohnsteuerhelfern“. 394 Die Firma
veröffentlichte in den fremdsprachigen Teilausgaben der „Siemens-Mitteilungen“
jährlich Anleitungen verständlicher Art, die Hilfestellung beim
Lohnsteuerjahresausgleich bieten sollten, und verwies auf hilfreiches
Informationsmaterial.395

3.2.2 Kontakt mit dem Heimatland – Lohntransfer und Urlaubsregelungen

Im deutsch-italienischen Anwerbeabkommen von 1955 war eine Klausel zur


Regelung des Lohntransfers festgeschrieben. Sie sah die Möglichkeit des Transfers
eines frei wählbaren Anteils des Verdienstes (bis 100%) ins Heimatland vor. 396 Die
späteren Anwerbeabkommen folgten diesem Beispiel: Das deutsche Banken- und
Sparkassensystem sah sich mit einem enormen monatlichen Volumen von
Auslandsüberweisungen konfrontiert. 397 Die Berliner Bank bot für türkische
Arbeitnehmer die Möglichkeit, ihren Lohn kostengünstig auf ein DM-Sonderkonto
einer türkischen Bank einzuzahlen und mit einem verbilligten, durch die türkische
Regierung geförderten Wechselkurs in türkische Lira zu umzutauschen. 398 Die 1965
392
Vgl. SAA 10590: Protokoll einer Sitzung des Arbeitskreises Ausländische Arbeitnehmer vom 19.3.1970.
393
Vgl. SAA 10585•2: „AD – Arbeitsplatz Deutschland“ Nr. 1/74.
394
Vgl. SAA 10585•2: Broschüre „Sei klüger als der Betrüger“ herausgegeben vom Landeskriminalamt Berlin
(1974).
395
Vgl. SAA (Interne Zeitschriften): Fremdsprachige Beilagen der Siemens-Mitteilungen Nr.1, 1973; Nr.11/12,
1973; Nr.1, 1975; Nr.11, 1976; Nr.11, 1977; Nr.11, 1978.
396
Vgl. SAA 10566: Vereinbarung zwischen der Regierung der Bundesrepublik Deutschland und der Regierung
der Italienischen Republik über die Anwerbung und Vermittlung von italienischen Arbeitskräften nach der
Bundesrepublik Deutschland vom 20.12.1955.
397
Vgl. SAA 10566: „Beschäftigung ausländischer Arbeitskräfte. Was der Arbeitgeber bei Anwerbung,
Vermittlung, Einstellung und Beschäftigung ausländischer Arbeitskräfte beachten sollte“, hgg. von der
Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände, Köln 1961, S. 54f.
398
Vgl. SAA 10586: Brief der Berliner Bank an die Sozialpolitische Abteilung vom 13.1.1965.

73
bei Siemens Berlin eingesetzten Türken waren nach Berechnungen der
Sozialpolitischen Abteilung theoretisch in der Lage, bei einem Stundenlohn von drei
DM im Akkord und einem Eigenanteil von 40 DM für die Wohnheimunterbringung,
jeden Monat bis zu 188 DM zu sparen und ins Heimatland zu überweisen. 399 Mit
steigender Aufenthaltsdauer in Deutschland stieg auch die Bereitschaft der
Ausländer, Teile ihres Lohns in Deutschland anzulegen und an staatlich geförderten
Programmen zur Vermögensbildung von Arbeitnehmern teilzunehmen. Zu diesem
Zweck wurde 1973 ein türkischer Leitfaden für Prämiensparen und
Vermögenswirksame Leistungen herausgegeben. 400 Während sich der Geldtransfer
als vergleichsweise einfach darstellte, waren mit der Durchführung des
Jahresurlaubs weit größere Schwierigkeiten verbunden.
Aufgrund der zumeist sehr großen Entfernungen zwischen Heimatort und
Arbeitsplatz der ausländischen Arbeitnehmer, stellte sich die Urlaubsgestaltung als
Zeit- und Geldproblem dar. Zumeist wurde der Tarifurlaub zu großen Familienfesten
wie Weihnachten oder Ostern genommen, da mit 2 Wochen jährlichem Tarifurlaub
keine zwei Reisen durchführbar waren. Die Deutsche Bundesbahn setzte zu den
Hauptreisezeiten vor und nach den Feiertagen Sonderzüge in die Heimatländer der
Ausländer ein, die zu verbilligten Tarifen gebucht werden konnten.401
Ausländischen Arbeitnehmern, die nur für das Vertragsjahr bei Siemens beschäftigt
blieben, wurde durch die Gewährung einer Woche unbezahltem Sonderurlaub der
lange Heimreiseweg ausgeglichen. Allerdings versuchte man, um Arbeitsausfall
durch Sonderurlaub zu vermeiden, die Ausländer mit dem Argument der
Kostenersparnis dazu zu bewegen, ihren Urlaub am Ende der Vertragslaufzeit zu
nehmen.402 Wurde der Arbeitsvertrag verlängert, sollten die Urlaubsreisen der
Ausländer ab dem zweiten Jahr firmenseitig gefördert werden. Man wollte
Ungerechtigkeiten innerhalb des Unternehmens (verschiedene Entfernung der
Standorte zum Heimatort) vermeiden und erstattete nach Rückkehr des
Arbeitnehmers aus dem Urlaub die Bahnfahrt von Berlin nach Salzburg (deutsche
Landesgrenze) und zurück.403 Zusätzlich wurden bis zu einer Woche (fünf
Urlaubstage) unbezahlter Sonderurlaub gewährt. Diese zwei Maßnahmen wurden

399
Vgl. SAA 10586: Aktenvermerk der Sozialpolitischen Abteilung vom 10.3.1965.
400
Vgl. SAA 10585•2: „Prämienbegünstigtes Sparen und Vermögenswirksame Anlagemöglichkeiten“ von Dipl.-
Ing. Erdal Gürkaynak, 1973.
401
Vgl. SAA 10585•1: Rundschreiben der Sozialpolitischen Abteilung über die Beschäftigung von Ausländern
vom 8.10.1964.
402
Vgl. SAA 10590: Brief der ZFA Berlin an die ZBL vom 24.11.1964.
403
Vgl. ebenda.

74
von der Berliner Firmenleitung aufgrund der Sonderlage Berlin für nötig gehalten, um
die Ausländer an den Standort zu binden 404 und um zu vermeiden, daß die Ausländer
ihren Arbeitsvertrag nach einem Jahr auslaufen ließen, um die vertraglich vereinbarte
Rückfahrt vom Arbeitgeber bezahlt zu bekommen und sich danach wieder neu
anwerben zu lassen, wie dies schon an westdeutschen Siemens-Standorten, die
keinen Fahrtkostenzuschuß bezahlten, passiert war.405 Die besondere Verkehrslage
Berlins erforderte größere Aufwendungen und bereitete größere Schwierigkeiten bei
der Organisation von Urlaubsreisen der ausländischen Mitarbeiter. Die auch für
Westberlin zuständige Deutsche Reichsbahn gab für deutsche Arbeitnehmer, die im
Bundesgebiet ihren Wohnsitz hatten, aber in Berlin wohnten, verbilligte
Arbeiterrückfahrkarten (75% Ermäßigung) aus. Nach 1965 wurden aber ausländische
Arbeitnehmer, die zuvor auch Arbeiterrückfahrkarten erhalten hatten, von dieser
Vergünstigung ausgenommen und mußten den vollen Fahrpreis bezahlen. 406. Die für
Berlin praktikabelste Alternative war die Beförderung der Ausländer direkt ins
Heimatland. Diese Möglichkeit wurde vor allem von griechischen Arbeitnehmern
zunehmend in Anspruch genommen, zumal ein Direktflug von Berlin nach Athen für
360 DM zu haben war und neben der extremen Zeitersparnis auch die lästigen
Grenzkontrollen durch die DDR-Grenzer umgangen werden konnten. 407 Mit
zunehmender Ausländerzahl nach der Rezession 1966/67 nahmen die finanziellen
Belastungen der Firma durch die freiwilligen Zuschüsse zu den Reisekosten so stark
zu, daß 1971 schon 13.000 DM monatlich aufgewendet werden mußten. 408 Allein von
der Ausländerbetreuung für die Werke des Geschäftsbereichs N (Nachrichtentechnik)
wurden im Geschäftsjahr 1970/71 110.000 DM für die Bezuschussung von
Fahrtkosten bezahlt. Aufgrund des erwarteten weiteren Anstiegs der Ausländerzahl
wurde die bisherige Praxis ab dem 1.1.1972 eingestellt und der zu gewährende
Sonderurlaub auf vier Tage gekürzt. 409 Diese Regelung blieb zumindest bis nach dem
Anwerbestopp 1973 bestehen und wurde im Januar 1974 von den Berliner
Personalabteilungen als wichtige personalerhaltende Maßnahme bezeichnet, die
unbedingt bestehen bleiben müsse. 410 Die Durchführung des Urlaubs war ein
weiteres Problem, was sich durch eventuelle Überschreitung der geplanten
404
Vgl. SAA 7437: Protokoll einer ZBL-Sitzung vom 12.3.1965.
405
Vgl. SAA 7438: Brief der Sozialpolitischen Abteilung an Dir. Bremeier vom 25.2.1965.
406
Vgl. SAA 10590: Aktennotiz der Sozialpolitischen Abteilung vom 16.6.1965.
407
Vgl. SAA 10586: Protokoll einer Sitzung zum Thema Ausländerfragen Standort Berlin vom 12.7.1965.
408
Vgl. SAA 10590: Brief der Sozialpolitischen Abteilung Berlin an die Sozialpolitische Abteilung Erlangen
vom 16.3.1971.
409
Vgl. SAA 10590: Rundschreiben der Personalabteilung des UB N an alle Berliner Dienststellen vom
10.11.1971.

75
Urlaubsdauer auch auf die Arbeitgeber auswirkte. Dabei lag das Hauptproblem oft in
fehlenden oder abgelaufenen Reisepapieren, Versicherungsbescheinigungen oder
auch an mitgenommenen Waren, die nicht zollfrei in die Heimatländer eingeführt
werden durften.411 Diese Fälle scheinen auch bei Siemens in einer spürbaren
Größenordnung vorgekommen zu sein, denn es gab von der Stelle für
Ausländerbetreuung ein Urlaubsmerkblatt in griechischer und türkischer Sprache,
das deutlich auf korrekte Reisepapiere und Genehmigungen der deutschen
Behörden hinwies, aber auch die Ausländer vor Konsequenzen bei
selbstverschuldeter Überschreitung der Urlaubszeit warnte. Unentschuldigtes
Fernbleiben vom Arbeitsplatz konnte aufgrund des Arbeitsrechts zu fristloser
Kündigung führen. Im ersten Jahr der Firmenzugehörigkeit, als die Vertragsausländer
noch an ihre einjährigen Vermittlungsverträge gebunden waren, konnte außerdem
von der Bundesanstalt für AVAV eine Sperre der Wiedervermittlung nach
Deutschland verhängt werden.412 Solange noch firmenseitig ein Fahrtkostenzuschuß
gewährt wurde, diente die Auszahlung erst nach Wiederaufnahme der Arbeit dazu,
die Ausländer zur genauen Einhaltung der Urlaubszeit zu bewegen. Bei
Überschreitung wurde der freiwillige Zuschuß nicht ausgezahlt und der Arbeitnehmer
schriftlich verwarnt.413 Aufgrund der weiten Entfernungen, des massierten
Reiseaufkommens zur Ferienzeit und anderer äußerer Einflüsse konnte es auch
ohne Verschulden des Arbeitnehmers zu Verzögerungen und Verspätungen bei
Wiederantritt zur Arbeit kommen. Auch die Angst vor Krankheiten, zum Beispiel vor
einer Choleraepidemie 1970 in der Türkei, führte aufgrund von Impfbestimmungen
und Restriktionen der Transitländer zu größeren Schwierigkeiten bei der
Rückreise.414

410
Vgl. SAA 10585•2: Protokoll einer Sitzung zwischen der Zentralpersonalstelle und den
Personalabteilungsleitern vom 21.1.1974.
411
Vgl. SAA 10566: „Hinweise für Arbeitgeber zur Einstellung und Beschäftigung ausländischer Arbeitnehmer“
(Stand 1966), hgg. von der Bundesanstalt für AVAV, Nürnberg.
412
Vgl. SAA 10590: Urlaubsmerkblatt für griechische Mitarbeiter vom (undatiert, wohl 1971).
413
Vgl. SAA 10590: Rundschreiben der ZFA an alle Berliner Dienststellen vom 12.9.1966.
414
Vgl. SAA 10585•1: Diverse Rundschreiben und Merkblätter zum Cholera-Ausbruch in der Türkei
(22.10.1970-13.11.1970).

76
3.2.3 Sozialversicherung und Kindergeld

Ausländer aus EWG-Staaten (Italien) und aus den Staaten, mit denen
Anwerbeabkommen abgeschlossen wurden (Spanien, Griechenland, Türkei,
Portugal, Jugoslawien), wurden sowohl bei der Sozial- und Arbeitslosenversicherung
als auch bei der Zahlung von Kindergeld den deutschen Arbeitnehmern
gleichgestellt. Sie mußten sich bei Arbeitsbeginn bei der zuständigen gesetzlichen
Krankenkasse anmelden und die ihrem Lohn entsprechenden Beiträge zahlen. 415 Um
im Heimatland verbliebene Familienmitglieder (Ehepartner und Kinder) in die
Vergünstigungen des deutschen Sozialversicherungssystems mit einbeziehen zu
können, wurden zwischen der Bundesrepublik und Spanien, beziehungsweise
Griechenland Abkommen zur Gültigkeit des Versicherungsschutzes und der Zahlung
von Kindergeld auch an im Heimatland wohnende Kinder geschlossen. 416 Für
Italiener galten, wie für Angehörige der anderen EWG-Staaten auch, generell die
gleichen Bestimmungen wie für deutsche Arbeitnehmer. 417 Da die Bestimmungen
nicht vom deutschen „Normalfall“ abwichen, ist die Sozialversicherung der Ausländer
kaum in den die Ausländerbeschäftigung betreffenden Akten thematisiert. Lediglich
Änderungen in der Höhe der Zuwendungen oder im Verfahren der Auszahlung und
Bestätigung von Leistungen418 sind aktenkundig.
In Berlin lag die Zahl der sozialversicherungspflichtig beschäftigen Ausländer
zwischen 1975 und 1983 in etwa bei 85.000 Personen (ca. 12% der Erwerbstätigen),
die Hälfte davon türkischer Nationalität. Der Anteil weiblicher Arbeitskräfte betrug
etwa 40%.419 Eine ausländische Familie hatte im Durchschnitt mehr Kinder als eine
vergleichbare deutsche Familie. Bei Siemens kamen 1973 auf 100 männliche
gewerbliche ausländische Arbeitnehmer 120 Kinder, während dieser Wert bei
Deutschen nur bei 78 lag. Bei den weiblichen gewerblichen Arbeitnehmern lag die
Kinderzahl mit 64 zu 34 noch deutlicher auseinander. 420 Bis 1978 hatten sich die
Verhältnisse noch weiter von einander entfernt. Auf je 100 Männer kamen 140

415
Vgl. SAA 10566: „Hinweise für Arbeitgeber zur Einstellung und Beschäftigung ausländischer Arbeitnehmer“
(Stand 1966), hgg. von der Bundesanstalt für AVAV, Nürnberg.
416
Vgl. SAA 10585•1: Nachträge zu den Soz Pol Rundschreiben 449 und 455 vom 27.12.1960 bis 26.7.1961.
417
Vgl. SAA 10585•1: Soz Pol Rundschreiben 455 vom 7.10.1960.
418
Vgl. SAA 10585•1: Rundschreiben der Sozialpolitischen Abteilung über Verdienstbescheinigungen für
türkische Arbeitnehmer vom 23.9.1971.
419
Vgl. SAA 10592: „Mitteilungen des Präsidenten des Abgeordnetenhauses von Berlin“, Drucksache 9/2355
vom 15.1.1985, S. 27.
420
Vgl. SAA 10596: Belegschaftsstatistik 1973 der Siemens AG (zusammengestellt vom Zentralbereich
Personal): Familienstand und Kinderzahl der deutschen und ausländischen Mitarbeiter.

77
ausländische Kinder, aber nur 70 deutsche Kinder, während auf je 100 Frauen 92
ausländische Kinder und nur 33 deutsche Kinder kamen. 421 Korrespondierend
stiegen die Arbeitslosenzahlen ausländischer Jugendlicher in Berlin von 1978 bis
1983 von 540 Personen auf 1.480 Personen an. Der Anteil der Ausländer an der
Gesamtzahl der arbeitslosen Jugendlichen stieg von 20,2% auf 28,5% an. 422 Damit
verbunden, nahmen die Ausländer Teile der Sozialversicherungsleistungen
(Arbeitslosenversicherung, Sozialhilfeleistungen) stärker in Anspruch als deutsche
Arbeitnehmer. Der Anteil der Ausländer an der Auszahlung des Kindergeldes lag
1983 doppelt so hoch wie die Quote der sozialversicherungspflichtigen Ausländer.
Gleichzeitig stieg seit den frühen 1980er Jahren die Zahl der ins Rentenalter
gelangenden Ausländer stark an. 1982 wurden von deutschen
Rentenversicherungsträgern 2,5 Milliarden DM ins Ausland überwiesen, mit
steigender Tendenz für die Folgejahre. 423 Daraus läßt sich ein großer Anteil von
Ausländern, die im Rentenalter in ihr Heimatland zurückkehrten erschließen. Auch
der Anteil ausländischer Pensionäre an der betrieblichen Altersversorgung stieg an,
läßt sich aber mangels überlieferter Akten nicht nachvollziehen.

3.2.4 Ärztliche Versorgung und Krankenstand

Aufgrund der Gleichstellung der ausländischen Arbeitnehmer im Sozialsystem


konnten diese entweder am betriebsärztlichen Versorgungssystem teilnehmen oder
private Ärzte aufsuchen. Die Ausländer wurden durch Broschüren in ihrer Sprachen
über das Verfahren der Krankmeldung, den Arztbesuch und das deutsche
Apothekensystem informiert.424 Den bei Siemens beschäftigten Ausländern wurde ein
Verzeichnis der in Berlin ansässigen Ärzte mit Fremdsprachenkenntnissen zur
Verfügung gestellt. Allerdings beherrschen nur relativ wenige Ärzte die Sprachen
Türkisch (2 Ärzte), Griechisch (3 Ärzte) und Serbokroatisch (1 Arzt), und nicht alle
waren Praktische Ärzte.425 Dieses Problem scheint nicht nur in Berlin aufgetreten zu
sein. Deshalb wurde ein praktischer Dolmetscher für den Arztbesuch „Der
421
Vgl. SAA 10596: Belegschaftsstatistik 1978 der Siemens AG (zusammengestellt vom Zentralbereich
Personal): Familienstand und Kinderzahl der deutschen und ausländischen Mitarbeiter.
422
Vgl. SAA 10592:“Mitteilungen des Präsidenten des Abgeordnetenhauses von Berlin“, Drucksache 9/2355
vom 15.1.1985, S. 30.
423
Vgl. SAA 10592: „Sozialnetz für Ausländer“, Argumente zu Unternehmerfragen Nr. 10/1983, hgg. Vom
Institut der deutschen Wirtschaft.
424
Vgl. SAA 10566: „A los Obreros Españoles en Alemania. Reglamento de Caja de Enfermedad.“, hgg. von
Kohlhammer, Stuttgart (undatiert, wohl um 1962).

78
Sprechstundenhelfer“ entworfen, mit dessen Hilfe die für die Krankheitsdiagnose
wichtigsten Fragen gestellt und Ratschläge erteilt werden konnten.426
Der Krankenstand der Ausländer stellte sich nicht einheitlich dar. Während von den
Griechen durchschnittlich nur 4,33% krankgemeldet waren (Deutsche: 7,14%), waren
es gleichzeitig 10,93% der Türken. Das lag zum einen an der hohen Zahl an
Betriebsunfällen der Türken (siehe unten, III.3.2.5.), zum anderen vermutete die
Sozialpolitische Abteilung, daß ein türkischer Arzt in Spandau die Arbeitnehmer zu
leichtfertig krank schrieb.427 Da dieser Trend sich weiter fortsetzte, wurde zunehmend
die Vertrauensärztliche Dienststelle eingeschaltet, um die Rechtmäßigkeit der
Krankschreibungen zu überprüfen. Die von der AOK Spandau unterhaltene
Dienststelle war aber mit zu wenig Dolmetscherpersonal ausgestattet, um Diagnosen
ohne größere sprachliche Schwierigkeiten stellen zu können. Darum wurde von den
Firmen die Stellung von Dolmetschern gefordert, die bei etwa 60 zu untersuchenden
Patienten wöchentlich einen ganzen Tag in der Dienststelle verbringen mußten und
so im Betreuungsdienst der Wohnheime fehlten.428
Innerhalb des Unternehmens war der Einsatz von Dolmetschern wesentlich besser
organisiert. Ausländische Arbeitnehmer waren angehalten, eine Adreßkarte mit
Angabe der Nationalität ständig bei sich zu tragen, damit im Bedarfsfall sofort der
richtige Dolmetscher verständigt werden konnte. Durch den dreischichtigen Betrieb in
den meisten Werken war ständig ein Dolmetscher für die wichtigsten Fremdsprachen
im Einsatz. Den Ausländern wurde empfohlen, die Karte ebenfalls in der Freizeit mit
sich zu tragen und sie mit der Telefonnummer des Dolmetschers zu versehen.
Darüber hinaus wurde über die Einrichtung einer Dolmetscherzentrale für alle
Berliner Werke nachgedacht. 429 Der Krankenstand, vor allem der türkischen
Mitarbeiter, stieg trotz aller Bemühungen weiterhin so stark an, daß nun die
betriebsärztliche Dienststelle nach den Ursachen für die negative Entwicklung
suchte. Neben einem saisonbedingten starken Anstieg des Krankenstandes in der
Hauptreisezeit ab Juni430 wurde vor allem die mangelhafte ärztliche Untersuchung bei
der Anwerbung in der Deutschen Kommission in Istanbul verantwortlich gemacht.

425
Vgl. SAA 10583: Ärzte mit Fremdsprachenkenntnissen für die Versorgung ausländischer Arbeitnehmer in
Berlin (undatierte Aufstellung, um 1968).
426
Vgl. SAA 10566: „Der Sprechstundenhelfer“ in griechischer, spanischer und italienischer Sprache, hgg. vom
Kohlhammer Verlag, Stuttgart (undatiert, nach 1961).
427
Vgl. SAA 10586: Brief der Sozialpolitischen Abteilung an Dir. Bremeier vom 22.10.1965.
428
Vgl. SAA 10583: Brief der ZKA an die Sozialpolitische Abteilung vom 25.10.1968.
429
Vgl. SAA 10583: Protokoll einer Sitzung zum Thema Dolmetschereinsatz im Krankendienst vom 30.4.1969.
430
Vgl. SAA (Unverzeichnete Akten aus dem Bestand Sozialpolitische Abteilung, Altsignatur 1.6.4.2): Protokoll
einer ZBL-Sitzung vom 31.8.1970.

79
Dazu kamen noch die Umstellung von ländlichen Gegenden der Türkei auf die
Großstadt Berlin, die veränderten Arbeitsgewohnheiten und die
Ernährungsumstellung.431 Die betriebsärztliche Dienststelle sah Lösungsansätze zu
diesem Problemkreis vor allem in stärkerer Beteiligung der Betriebsärzte an der
medizinischen Versorgung der Ausländer. Sie sollten als „Drehscheibe“ fungieren
und die Ausländer bei Bedarf an die richtigen Fachärzte überweisen, mußten dazu
aber stärker mit fremdsprachigem Personal ausgestattet werden. 432 Seit August 1970
wurde der Krankenstand der Ausländer für alle größeren Fertigungsstandorte in
Deutschland nach Nationalitäten aufgeschlüsselt von der Betriebskrankenkasse
erfaßt. Dabei ergab sich für den Standort Berlin ein besonders hoher Krankenstand
von 8,96% bei deutschen und 11,25% bei ausländischen Arbeitern im August 1970.
Diese Werte vergrößerten sich noch bis zum Jahresende 1970, vor allem stieg der
Krankenstand der Deutschen stark an, bis er demjenigen der Ausländer entsprach.
Unter den Ausländern war der Krankenstand der Jugoslawen und Türken am
höchsten, bei den kleineren Nationalitätengruppen der Griechen und Italiener wirkte
sich aber die Krankheit einzelner stärker auf die Statistik aus, was zu Verfälschungen
führen konnte.433 Der hohe Krankenstand und die damit verbundenen Fehlzeiten
veranlaßte die Berliner Firmenleitung, drastischere Maßnahmen einzuleiten. So
wurde Anfang 1971 an alle Mitarbeiter mit Fehlzeiten über 10% (außer nach
Betriebsunfällen und Mutterschutz) ein schriftlicher Hinweis auf ihre Fehlleistung und
ein Angebot zum persönlichen Gespräch verschickt. Dabei sollte den Ausländern klar
gemacht werden, daß sie, wenn sich ihre Ausfallzeiten nicht drastisch reduzieren
würden, gekündigt werden würden. 434 Nach Kontaktaufnahme mit Institutionen zur
sozialen Betreuung der Ausländer erklärten sich auch diese bereit, an der Aufklärung
der Arbeiter zum Krankenstand und den damit verbundenen wirtschaftlichen
Faktoren mitzuwirken.435 Der Erfolg dieser Maßnahmen war schnell spürbar, im
nächsten Monat nach der Briefaktion sank der Krankenstand dramatisch auf 5,3%
und im folgenden Monat noch einmal auf 4,6%. Gleichzeitig sank auch der
Krankenstand der deutschen Arbeiter ab. 436 Mitarbeiter, deren Krankenstand
unverändert hoch blieb und deren Genesung nicht zu erwarten war, oder deren
431
Vgl. ebenda.
432
Vgl. SAA 10585•1: Gedanken zum erhöhten Krankenstand türkischer Mitarbeiter vom 6.8.1970.
433
Vgl. SAA (Unverzeichnete Akten aus dem Bestand Sozialpolitische Abteilung, Altsignatur 1.6.4.2):
Aufstellungen der SBK über den Krankenstand ausländischer Arbeitnehmer von August bis November 1970.
434
Vg. SAA (Unverzeichnete Akten aus dem Bestand Sozialpolitische Abteilung, Altsignatur 1.6.4.2):
Rundschreiben der Sozialpolitischen Abteilung vom 21.1.1971.
435
Vg. SAA (Unverzeichnete Akten aus dem Bestand Sozialpolitische Abteilung, Altsignatur 1.6.4.2):
Rundschreiben der Sozialpolitischen Abteilung vom 5.2.1971.

80
Krankheitsbild häufige Rückfälle erwarten ließ, wurden entlassen. Waren die
Ausländer noch mit dem ersten, einjährigen Arbeitsvertrag beschäftigt, wurde ihnen
eine Rückfahrkarte in ihr Heimatland bezahlt. 437 Die hohen Werte für Februar und
März in der untenstehenden Tabelle hängen mit der Massierung von Entlassungen
nach der Briefaktion zusammen. Danach normalisiert sich die Zahl der Entlassungen,
mit leichten Anstiegen nach der Sommerurlaubssaison 1971 und nach den
Weihnachtsferien 1971/72.

Entlassungen ausländischer Mitarbeit wegen hoher Fehlzeiten am


Standort Berlin 1971-1972

160
140
120
100
80
60
40
20
0
Okt 71

Aug 72
Apr 71

Apr 72
Aug 71
Feb 71

Jun 71

Feb 72

Jun 72
Dez 71

(Graphik erstellt aus: SAA (Unverzeichnete Akten aus dem Bestand Sozialpolitische Abteilung,
Altsignatur 1.6.4.2): Monatliche Aufstellungen der Entlassungen von Februar 1971 bis August 1972)

Bis zum Anwerbestopp 1973 waren die Bemühungen zur Reduzierung des
Krankenstands noch im vollen Gange, vor allem weil die Zahl der krankgemeldeten
Ausländer im Geschäftsjahr 1971/72 immer noch um 20% über der Zahl der kranken
deutschen Belegschaftsmitglieder lag. Für die gesamte Bundesrepublik waren die
Zahlen für Deutsche und Ausländer in etwa gleich. Der um 20% höhere Wert bei
Siemens Berlin kam durch den deutlich höheren Frauenanteil (etwa 65%) und die
Großstadtlage des Standorts zustande,438 zwei Faktoren die sich negativ auf die
Krankenstatistik auswirkten. Bei der hohen Gesamtzahl der ausländischen
436
Vgl. SAA (Unverzeichnete Akten aus dem Bestand Sozialpolitische Abteilung, Altsignatur 1.6.4.2): Brief der
Personalabteilung Erlangen vom 30.3.1972.
437
Vgl. SAA (Unverzeichnete Akten aus dem Bestand Sozialpolitische Abteilung, Altsignatur 1.6.4.2):
Rundschreiben der Sozialpolitischen Abteilung vom 21.1.1971.
438
Vgl. SAA 10590: Protokoll einer Sitzung des Arbeitskreises Ausländische Arbeitnehmer vom 9.3.1973.

81
Arbeitnehmer lag es wahrscheinlich nahe, Tips zur Verlängerung der
Arbeitsunfähigkeit auszutauschen, wodurch die Fehlzeiten nach oben getrieben
wurden. Da die bisherigen Maßnahmen nicht ausreichend gewesen waren, wurde
nun eine weitergefaßte Strategie zur Verminderung des Krankenstandes angewandt.
Sie bestand aus zwei Säulen, Veränderungen im Anwerbeverfahren im Heimatland
und Verbesserung der ärztlichen Versorgung in Berlin. Die Firma wollte bei der
Bundesanstalt für AVAV eine Dezentralisierung des Anwerbeverfahrens (vor allem in
der Türkei) erreichen, um den zeitlichen und personellen Druck auf die völlig
überlastete Deutsche Kommission in Istanbul zu erleichtern und damit eine
gründlichere ärztliche Untersuchung der Bewerber zu ermöglichen. Darüber hinaus
bestand auch die Möglichkeit, in den Vermittlungsaufträgen schärfere
gesundheitliche Voraussetzungen für die Bewerber anzugeben, um
Fehlvermittlungen zu vermeiden. Bei offensichtlichen Fehlvermittlungen konnten die
Arbeitgeber von einem siebentägigem „Rückgaberecht“ Gebrauch machen, die
Kosten für die Rückführung der Ausländer hatte dann die Bundesanstalt für AVAV zu
tragen.439 Für die bereits in Berlin beschäftigten Ausländer sollten die
Lebensumstände verbessert werden, womit hauptsächlich die Einstellung von
Ehepartnern und die damit verbundene Familienzusammenführung gemeint war.
Anstatt neue Ausländer anzuwerben sollten die Kinder der schon bei Siemens
arbeitenden Ausländer als neue Auszubildende gewonnen und schon früh an das
Unternehmen gebunden werden.440
Nach dem Anwerbestopp finden sich keine weiteren Angaben über erhöhten
Krankenstand der Ausländer mehr, was sicherlich mit der fortschreitenden Integration
in die Stammbelegschaft und den damit einhergehenden statistischen Ausgleich
zwischen deutschen und ausländischen Beschäftigten zusammenhängt.

3.2.5 Betriebsunfälle und Unfallverhütung

Ausländische Arbeitnehmer waren, ganz besonders während der Anlernzeit, viel


häufiger in Betriebsunfälle verwickelt als deutsche Arbeitnehmer. Dies lag zum einen

439
Vgl. SAA (Unverzeichnete Akten aus dem Bestand Sozialpolitische Abteilung, Altsignatur 1.6.4.2):Protokoll
einer Sitzung zu Fehlzeiten ausländischer Arbeitnehmer vom 20.3.1973.
440
Vgl. ebenda.

82
in den fehlenden Sprachkenntnissen, zum anderen in der Herkunft der Ausländer aus
ländlich geprägten Gegenden und der damit zusammenhängenden Unkenntnis von
Technik begründet. Deshalb war eine gründliche Einweisung auf dem Gebiet der
Arbeitsicherheit besonders wichtig.441 Arbeitsschutz wurde hauptsächlich über die
Meister und Vorarbeiter in den Abteilungen vermittelt. In einer Broschüre für Meister
zur Unfallverhütung heißt es: „Überall in der Welt haben die Jugendlichen und die
Neulinge im Betrieb mehr Unfälle als ältere oder langjährige Mitarbeiter.“ 442 Diese
beiden Kriterien wurden von den neu angestellten ausländischen Mitarbeitern erfüllt.
Zur Unterstützung der Meister wurden alle relevanten Sicherheitsbestimmungen in
die wichtigsten Fremdsprachen italienisch, serbokroatisch, slowenisch, türkisch,
griechisch, spanisch, englisch und französisch übersetzt, wobei zur leichteren
Unterscheidung die Karten mit einem farbigen Balken für die entsprechende Sprache
markiert waren und die Numerierung der entsprechenden deutschsprachigen
Sicherheitsanweisung übernommen wurde.443 Arbeitgeber und
Berufsgenossenschaften bildeten innerhalb der Arbeitsgemeinschaft für
Arbeitssicherheit, in der sie unter der Federführung des Bundesinstituts für
Arbeitsschutz in Koblenz auf dem Gebiet der Unfallverhütung zusammenarbeiteten,
eine Arbeitsgruppe „Ausländische Arbeitskräfte“. In den Genossenschaften und
Firmen entstandene Filme, Merkblätter und Plakate in Fremdsprachen konnten von
allen anderen Mitgliedern der Arbeitsgemeinschaft bestellt werden. Siemens war
einer der größten Anbieter fremdsprachiger Sicherheitshinweise, mit 55 Broschüren
schon im Jahre 1967.444 Zusätzlich wurden die wichtigsten Warnschilder
mehrsprachig gestaltet,445 und textlose Warntafeln nach DIN 4819 (Pictogramme)
kamen vermehrt zum Einsatz.446 Sie ersetzten nach und nach die vorher verbreiteten
Warnschilder mit Text und sind heute fast ausschließlich in Gebrauch. Neben den
neutralen Sicherheitshinweisen wurde auch auf dem Gebiet der Unfallverhütung mit
plumpen Broschüren wie „Sicherheit auch für ‚Enrico‘“ versucht, bei den deutschen
Kollegen und Vorgesetzten Verständnis für die besondere Lage der Ausländer zu
441
Vgl. SAA 10566: „Hinweise für Arbeitgeber zur Einstellung und Beschäftigung ausländischer Arbeitnehmer“
(Stand 1966), hgg. von der Bundesanstalt für AVAV, Nürnberg.
442
Vgl. SAA (unverzeichnete Akten aus dem Bestand ZDV 205): „Wie verhüte ich Arbeitsunfälle. Ein Brevier
für Meister.“ Verlag Moderne Industrie, München (undatiert).
443
Vgl. SAA (unverzeichnete Akten aus dem Bestand ZDV 205): Siemens-Arbeitsschutz-Merkblätter Nr. 1-100.
444
Vgl. SAA (unverzeichnete Akten aus dem Bestand ZDV 205): Broschüre „Deutsches Arbeitsschutzmaterial in
Fremdsprachen 1967“, hgg. vom Bundesinstitut für Arbeitsschutz , Koblenz.
445
Vgl. SAA (unverzeichnete Akten aus dem Bestand ZDV 205): Katalog „Moderne Unfallverhütung durch
Warnschilder 1968“, hgg. von Friedrich W. Schnürle Schilderfabrik, Duisburg.
446
Vgl. SAA 10585•1: Brief der Sozialpolitischen Abteilung an die Sicherheitsingenieure der Berlin Werke vom
30.12.1970.

83
wecken. Dabei kam es auch hier zu sprachlichen Entgleisungen wie: „Der
ausländische Arbeiter kann fleißig und arbeitswillig sein und auch richtig schuften. Oft
will er aus lauter Ungeduld, die für ihr typisch ist, dauernd Überstunden machen.
Aber er es sich leisten kann, ist er leger und auch nachlässig.“ 447 Daneben ist ein Bild
eines dunkelhaarigen Mannes mit Dreitagebart abgebildet, der einen Strohhut trägt
und aus einem spanischen Porrón (traditionelle Weinflasche) trinkt, sowie der
Merksatz: „Begegnen Sie unseren Gastarbeitern ohne Vorurteile. Sie erleichtern
ihnen damit die Anpassung.“ Ob diese Kombination aus Ermahnung zur Toleranz,
und gleichzeitiger visueller Bestätigung des Vorurteils bei den Meistern und
Vorarbeitern die gewünschte Wirkung erzielt hat, oder ob ihre Vorurteile nur noch
weiter bestätigt wurden, kann leider nicht nachvollzogen werden. Ungeachtet aller
vorgenannten Maßnahmen, lagen die Unfallzahlen der ausländischen gewerblichen
Mitarbeiter der Siemens AG deutlich über denen der deutschen Belegschaft. Dabei
ist eine Tendenz zur Verringerung der Unfallzahlen nach dem Anwerbestopp 1973
festzustellen, was sicherlich mit der abnehmenden Fluktuationsrate, den damit
verbundenen niedrigeren Einstellungszahlen und dem steigenden Dienstalter
zusammenhängt.

Betriebsunfälle je 100 gewerbliche Mitarbeiter (männlich) 1965-1978

12

10

8
Ausländer
6
Deutsche
4

0
1965

1967

1970

1977
1966

1968

1969

1971

1972

1973

1974

1975

1976

1978

(Graphik erstellt aus: SAA (unverzeichnete Akten aus dem Bestand ZDV 205):
Arbeitsschutzberichte 1975 bis 1978)

Vgl. SAA (unverzeichnete Akten aus dem Bestand ZDV 205): Broschüre „Sicherheit auch für ‚Enrico‘. Eine
447

Anleitung für betriebliche Vorgesetzte“, hgg. von der Berufsgenossenschaft der Feinmechanik und
Elektrotechnik, Köln (undatiert).

84
Seit dem Ende der Rezession 1966/67 waren mit stark steigenden Ausländerzahlen
auch die Zahlen der Betriebsunfälle dieser Gruppe von Mitarbeitern rasant
angestiegen. Im Jahre 1970 war beinahe jeder zehnte ausländische Mitarbeiter von
einem Betriebsunfall betroffen. Deshalb wurden alle Möglichkeiten der
Unfallvermeidung angewandt, neben Betriebssicherheit wurde auch häusliche
Sicherheit448 und Sicherheit im Straßenverkehr propagiert (siehe oben, Kapitel 3.1.1).
Um Sprachschwierigkeiten bei der Behandlung von verunfallten
Belegschaftsmitgliedern zur verringern, wurde eine türkische Krankenschwester für
das Unfallambulatorium eingestellt, die den sonst notwendigen Einsatz von
Dolmetschern bei der Behandlung überflüssig machte. 449 Die Türken waren die
größte Gruppe der in Berlin eingesetzten Ausländer und hatten gleichzeitig die
höchste Unfallquote. Sie lag mit 13,7% im Geschäftsjahr 1969/70 weit über dem Wert
für Griechen (5,4%) und Jugoslawen (7,6%). Deshalb wurde auch der Einsatz
ausländischer Sicherheitsbeauftragter für die Betreuung größerer Gruppen von
Ausländern in Erwägung gezogen.450 Zumindest die Beschäftigung eines türkischen
Sicherheitsbeauftragten im Kabelwerk ist bekannt geworden (siehe oben, Kapitel
III.3.1.1).

3.3 Integrationsfördernde Maßnahmen außerhalb des Betriebs

Die Integrationspolitik des Berliner Senats über einen Zeitraum von zwanzig Jahren
zu verfolgen würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen. Deshalb habe ich nur
Entwicklungen aufgeführt, die direkten Einfluß auf Siemens ausübten.
Die von Siemens Berlin durchgeführten integrationsfördernden Maßnahmen lassen
sich in zwei chronologische Phasen unterteilen. In der ersten Phase, von 1964 bis
1973, stand die soziale Betreuung und Freizeitgestaltung der in den Wohnheimen
untergebrachten Arbeitnehmer im Vordergrund. Daneben wurden auch frühe Fälle
von Familienzusammenführung unterstützt. In einer zweiten Phase, von 1974 bis in

448
Vgl. SAA 10590: Protokoll einer Sitzung des Arbeitskreises Griechen vom 13.8.1970 mit dem Hinweis auf
Unfälle im Haushalt und Kurse der Berliner Stadtwerke zur Benutzung von elektrischen Haushaltsgeräten für
Ausländer.
449
Vgl. SAA 10583: Schriftverkehr zwischen der Sozialpolitischen Abteilung und dem Unfallambulatorium am
Popitzweg vom Dezember 1970.
450
Vgl. SAA 10585•1: Brief der Sozialpolitischen Abteilung an die Sicherheitsingenieure der Berlin Werke vom
30.12.1970.

85
die frühen 1980er Jahre, als die Ausländer nicht mehr dauerhaft in den
firmeneigenen Wohnheimen wohnten, sondern mit ihren nachgeholten Familien in
eigene Wohnungen zogen, konzentrierten sich die Maßnahmen auf die
Unterstützung der Familienzusammenführung weiterer Kreise und die Ausbildung der
sogenannten „Gastarbeiterkinder“, der zweiten Generation ausländischer
Arbeitnehmer.

3.3.1 Soziale Betreuung und Freizeitgestaltung in den Wohnheimen (1964-1973)

In den ersten Wohnheimen, die 1963 eingerichtet wurden, übernahm der Träger der
Wohnheime, das Jugendsozialwerk, auch die soziale Betreuung der Bewohner
(siehe oben, Kapitel 2). Das Jugendsozialwerk betrieb 1962 bundesweit 21
Ausländerwohnheime mit über 2000 Plätzen, für die auch die soziale Betreuung und
Hilfestellungen für die Freizeitgestaltung übernommen wurden. 451 Daneben boten
sich noch weitere Träger für die Betreuung in den Wohnheimen an, darunter die Carl-
Duisberg-Gesellschaft und das Jugendaufbauwerk. 452 In welcher Form die soziale
Betreuung der ausländischen Arbeitnehmer gestaltet werden sollte, war zu diesem
Zeitpunkt noch unklar und sollte durch eine Befragung der Ausländer durch den
Senator für Arbeit und Soziale Angelegenheiten ausgelotet werden. Dabei wurde,
neben Angaben zu Art der Unterkunft und deutschen Sprachkenntnissen, vor allem
nach den Vorstellungen und Wünschen der Ausländer in Bezug auf Sprachunterricht,
Treffen mit Landsleuten, Teilnahme an Sportveranstaltungen, fremdsprachigen
Filmvorführungen, Unterhaltungsprogrammen, Stadtrundfahrten, Museumsbesuchen,
Nähkursen und Basteln, und kirchlichen Veranstaltungen gefragt. 453 In München, wo
ausländische Arbeitnehmer bei der Firma Siemens schon länger beschäftigt waren,
war im Betreuungssystem das Zusammenspiel mit Trägerorganisationen schon
Routine geworden. Die verschiedenen Wohlfahrtsorganisationen hatten die
Betreuung der verschiedenen Nationalitäten unter sich aufgeteilt. So war die Innere
Mission für die Betreuung der Griechen zuständig und führte in einem Freizeitheim
soziale Betreuung, Tanz- und Musikabende, Sprachkurse und Filmvorführungen
451
Vgl. SAA 10586: „Ausländische Arbeiter in den Heimen des Jugendsozialwerks“ (Sonderausgabe der
Zeitschrift „Das Jugendsozialwerk berichtet“, Tübinger Brief I/1962).
452
Vgl. SAA 10586: Rundschreiben M 57/62 des Arbeitgeberverbandes der Berliner Metallindustrie vom
4.6.1962.
453
Vgl. SAA 10586: Brief der Zentralstelle der Berliner Arbeitgeber-Verbände an die Sozialpolitische Abteilung
mit beigelegtem Fragebogen vom 14.4.1964. (Leider sind mir die Ergebnisse der Umfrage nicht bekannt).

86
durch. Der Caritas-Verband betreute Spanier und Italiener; mit der Unterstützung
einiger Priester aus den Heimatländern wurde auch für sie eine Sozialberatung
betrieben und ähnliche Freizeitaktivitäten durchgeführt wie für die Griechen. Die
Arbeiterwohlfahrt schließlich war für die Betreuung der Türken zuständig und
verfügte über ähnliche Möglichkeiten wie die anderen Organisationen. Firmenseitig
wurden vor allem fremdsprachige Büchern und Zeitschriften beschafft, Filme
vorgeführt und die Ausländer ärztlich betreut. Für die weiblichen Arbeitskräfte wurde
außerdem Aufklärung über Frauenkrankheiten und Empfängnisverhütung
betrieben.454 Von der Sozialpolitischen Abteilung wurde eine Aufstellung empfohlener
ausländischer Tages- und Wochenzeitungen sowie Illustrierten herausgegeben, die
die gängigen und politisch unbedenklichen Printmedien Italiens, Griechenlands,
Spaniens und der Türkei umfaßte. Kommunistische und kommunistenfreundliche
Zeitungen aus Italien wurden gesondert aufgeführt. 455 In Berlin wurde schon im
Oktober 1964 der erste türkische Verein, der „Verein Türkischer Arbeitnehmer e.V.“,
zur Förderung des Verhältnisses zwischen deutschen Arbeitgebern und türkischen
Arbeitnehmern und zur Pflege der kulturellen Beziehungen zwischen Deutschen und
Türken gegründet. Die Berliner Siemens-Leitung begrüßte die Vereinsgründung und
wies die Sozialpolitische Abteilung an, bei gegebener Gelegenheit mit dem Verein in
Kontakt zu treten.456 Nur zwei Monate später wurde auch ein – von der Inneren
Mission in Zusammenarbeit mit der griechisch-orthodoxen Gemeinde Berlin –
betriebenes „Griechen-Freizeitheim“ eröffnet, das allen Griechen offenstand und das
neben Sprachkursen auch Freizeitaktivitäten aller Art veranstaltete und jeden Tag
nach Dienstschluß (18 Uhr) geöffnet war.457
Die Betreuung durch firmenfremde Organisationen in den Wohnheimen funktionierte
nicht immer reibungslos. So beschwerte sich der griechische Generalkonsul über
nicht ausreichende Betreuung in einem von Siemens belegten Wohnheim des
Jugendaufbauwerks. Dort waren zur Betreuung von 300 Griechen nur eine
griechische und zwei deutsche Angestellte vorhanden, soviel wie seit Eröffnung des
Heims mit nur 60 Bewohnern. Der Betreuungsvertrag zwischen Siemens und dem
Jugendaufbauwerk richtete sich aber im Volumen nach der Anzahl der betreuten
Personen, für die eine „angemessene“ Betreuung verlangt wurde. In anderen
454
Vgl. SAA 10586: Aktenvermerk über die Betreuung der ausländischen Arbeitnehmer in München vom
1.7.1964.
455
Vgl. SAA 10585•1: Soz Pol-Rundschreiben Nr. 486 vom 27.9.1961.
456
Vgl. SAA 10586: Brief der Sozialpolitischen Abteilung an den Verein Türkischer Arbeitnehmer e.V. vom
1.12.1964. (Ob dies auch geschehen ist, läßt sich leider den Quellen nicht entnehmen)
457
Vgl. SAA 10586: Brief der Inneren Mission an die Siemens-Wohnheimverwaltung vom 12.1.1965.

87
Wohnheimen von Siemens und anderen Berliner Firmen kam auf etwa 30 bis 40 zu
betreuende Bewohner eine Fachkraft. 458 Die Griechinnen wandten sich mit ihren
Anliegen an die Griechische Militärmission und an den Dienst für
Ausländerbetreuung bei Siemens und blockierten deren eigentliche Aufgaben. 459 Der
Konsul alarmierte auch die Berliner Arbeitsbehörden und drohte mit Verweis der
Angelegenheit an höhere Dienststellen in Griechenland. Da weder das
Landesarbeitsamt noch die Firma Siemens an einem Imageschaden des Standortes
Berlin interessiert waren,460 wurde die Angelegenheit schnell durch eine
Ortsbegehung und die Übernahme der Betreuung in besagtem Wohnheim und auch
in neu zu belegenden Häusern durch die Firma selbst, erledigt. 461 Bis zur Auflösung
der Wohnheimverwaltung 1977 lassen sich in den Akten keine weiteren Fälle von
Beschwerden feststellen. Neben der direkten Betreuung in den Wohnheimen wurden
auch weitere Aktivitäten veranstaltet. Die Kaffeetafel für ausländische Arbeiterinnen
in der Siemens-eigenen Erholungsstätte Siemenswerder, die zwischen April 1964
und August 1970 einhundertmal stattfand diente den Arbeiterinnen zur Information
über wichtige Ereignisse im Betrieb. 462 Im Rahmen des „Siemens-Kulturkreises“
waren jugoslawische und türkische Folkloregruppen organisiert, 463 die vielfach vor
deutschen und ausländischen Kollegen auftraten. 464 Darüber hinaus gab es
einmalige Veranstaltungen wie eine Bootsfahrt für Türken 465, ein Fest in
Siemenswerder für jugoslawische Mitarbeiter anläßlich des jugoslawischen
Nationalfeiertags 1969,466 oder eine Ausstellung von „Gastarbeiterkunst“ in Siemens-
eigenen Ausstellungsräumen 1972. 467 Mit steigenden Ausländerzahlen wurden die
Bemühungen um eine Förderung der Ausländer verstärkt. Man organisierte mehr
deutsch-ausländische Veranstaltungen468 und förderte Vereine der Ausländer. 469 1971
wurde der Versuch unternommen, unternehmensweit eine einheitliche Strategie zur

458
Vgl. SAA 11038•1: Brief des griechischen Generalkonsuls in Berlin an das Jugendaufbauwerk vom
22.6.1965.
459
Vgl. ebenda.
460
Vgl. SAA 11038•1: Brief des Landesarbeitsamtes an die Sozialpolitische Abteilung vom 6.7.1965.
461
Vgl. SAA 10586: Protokoll einer Sitzung zum Thema Ausländerfragen am Standort Berlin vom 12.7.1965.
462
Vgl. SAA 68. Lr 590: Regionalbeilage Berlin der „Siemens-Mitteilungen“, Nr. 8, 1970.
463
Vgl. SAA 68. Lr 590: Regionalbeilage Berlin der „Siemens-Mitteilungen“, Nr. 1, 1971.
464
Vgl. SAA 68. Lr 590: Regionalbeilage Berlin der „Siemens-Mitteilungen“, Nr. 3, 1971, Nr. 2, 1972.
465
Vgl. SAA 10586: Brief des Senators für Arbeit und Soziale Angelegenheiten an die Sozialpolitische Abteilung
vom 28.6.1965.
466
Brief der Sozialpolitischen Abteilung an Botschaftsrat Jelić bei der Jugoslawischen Militärmission vom
24.11.1969.
467
Vgl. SAA 68. Lr 590: Regionalbeilage Berlin der „Siemens-Mitteilungen“, Nr. 8/9, 1972.
468
Vgl. SAA 10590: Protokoll einer ZBL-Sitzung vom 19.5.1969.
469
Vgl. SAA 10583: Brief der Sozialpolitischen Abteilung an den Verein „Heimatrhythmen e.V.“ vom 19.5.1972.

88
Integration der ausländischen Mitarbeiter zu entwerfen. 470 Aus Personalmangel und
der großen Verschiedenheit der Voraussetzungen an den einzelnen Standorten
scheint dies jedoch nicht verfolgt worden zu sein und der Standort Berlin mußte sein
eigenes Konzept zur weitergehenden Betreuung der Ausländer entwerfen. Diese
Bemühungen mußten vor allem nach dem Anwerbestopp 1973 verstärkt werden,
damit die wertvollen, schon in den Produktionsablauf integrierten Mitarbeiter nicht
abwanderten. Dazu war vor allem die Verbesserung der Wohnsituation vieler
Ausländer nötig.

3.3.2 Wohnungssituation und Familienzusammenführung

Anträge auf Zusammenführung von Ehegatten und anderen Familienmitgliedern


sollten laut den Anwerbevereinbarungen zwischen der Bundesrepublik und den
Vertragsstaaten von den zuständigen deutschen Behörden „wohlwollend“ geprüft und
ermöglicht werden.471 In der Realität mußten die Arbeitgeber zum Teil vermehrt Druck
auf die Arbeitsbehörden ausüben, um die Vermittlung von Ehepartnern und
Familienmitgliedern zu ermöglichen. Während der Nachzug von Ehefrauen noch
relativ leicht durchzuführen war, verweigerte Berliner Fremdenpolizei die
Aufenthaltsgenehmigung für männliche Familienmitglieder in vielen Fällen 472 und die
Firmenleitung mußte intervenieren, um doch noch eine Genehmigung zu
erreichen.473 Nach dem Anwerbestopp verschärfte sich die Situation noch weiter,
namentliche Anforderungen konnten bei den Deutschen Kommissionen nicht mehr
bearbeitet werden und den Ehemännern blieb zunächst nur die Möglichkeit, für
jeweils drei Monate als Tourist nach Deutschland einzureisen.474
Falls der Ehepartner eines in Berlin beschäftigten ausländischen Arbeitnehmers im
Bundesgebiet arbeitete und eine Familiezusammenführung angestrebt wurde, stellte
Siemens den Arbeitnehmer normalerweise frei, um Störungen im Produktionsablauf
470
Vgl. SAA 10590: Protokoll einer KOMAK-Sitzung vom 19.5.1971.
471
Vgl. SAA 10566: „Hinweise für Arbeitgeber zur Einstellung und Beschäftigung ausländischer Arbeitnehmer“
(Stand 1966), hgg. von der Bundesanstalt für AVAV, Nürnberg.
472
Vgl. SAA 10588: „Sichtvermerk fürs Ehebett. Bundesrepublik: Immer noch müssen viele türkische Frauen
ohne ihre Ehemänner arbeiten.“, in: Vorwärts vom 28.12.1973.
473
Vgl. z.B. SAA 10588: Brief des Einstellbüros des Meßgerätewerks an die Sozialpolitische Abteilung vom
28.8.1969 mit einem Hinweis auf den Fall eines türkischen Minderjährigen, dessen Eltern beide bei Siemens in
Berlin arbeiteten, und der trotz fehlender weiterer Verwandter in der Türkei keine Aufenthaltsgenehmigung
erhalten sollte.
474
Vgl. SAA 10589: Fall des Türken Kemal P., der als Hilfs-Elektriker eingestellt werden sollte und der vom
Polizeipräsidenten ausgewiesen wurde (Januar 1974).

89
zu vermeiden. Die Firma lastete diese Art von Fehlvermittlung den Deutschen
Kommissionen in den Heimatländern an, berechtigterweise, denn die Ausländer
gaben oft an, gar nicht zu Siemens oder nach Berlin gewollt zu haben. 475 Für die
Genehmigung der Familienzusammenführung war das Vorhandensein
ausreichenden Wohnraums Grundvoraussetzung. Dabei staffelte sich die notwendige
Quadratmeter- und Zimmerzahl nach der Anzahl der nachziehenden
Familienmitglieder. Bis zu zwei Personen durften einen Raum mit mindestens 25 m²,
drei Personen mußten mindestens zwei Räume mit 35 m² bewohnen. 476 Zur
Erleichterung der Wohnungssituation wurden die Ausländer seit 1974
gleichberechtigt mit den deutschen Arbeitnehmern an der Vergabe von
Werkswohnungen beteiligt. Vor allem günstigere, noch mit Ofenheizung
ausgestattete Wohnungen bei den Ausländern beliebt, auch die Firma vermietete sie
gerne an Ausländer, weil vielen Deutschen der Standart zu niedrig war. 477 Die
Sozialpolitische Abteilung versuchte auch zu beeinflussen, daß bei Wohnungen des
freien Marktes auf „zumutbare“ Wohnverhältnisse geachtet wurde und bei Siemens
angestellte Ausländer nicht in Absteigen oder „Slumähnlichen“ Verhältnissen
wohnten.478 Neben dem Aspekt der Gesundheitserhaltung und hohen Arbeitsmoral
durch gute Wohnverhältnisse war sicherlich auch die Sorge um das Firmenimage
ausschlaggebend für diese Bemühungen.

3.3.3 Ausbildung der „zweiten Ausländergeneration“

Spätestens seit 1968 wurden türkische Jugendliche in der Lehrlingswerkstatt der


Berliner Siemens-Werke ausgebildet. Sie waren zum Teil Kinder von
Firmenangehörigen und konnten nach dem vollendeten neunten oder zehnten
Schuljahr unter Nachweis ausreichender Deutschkenntnisse eine Lehre zu einem
Facharbeiterberuf machen. Daneben wurde auch jungen Türken, die schon in
unqualifizierten Tätigkeiten bei Siemens beschäftigt waren, die Möglichkeit gegeben,
nach der Absolvierung eines Sprachkurses während der Freizeit, durch

475
Vgl. SAA 10583: Brief der Ausländerbetreuung des UB N an die Sozialpolitische Abteilung vom 25.3.1971.
476
Vgl. SAA 10590: Brief der Sozialpolitischen Abteilung an die Wohnheimverwaltung vom 28.5.1974.
477
Vgl. SAA (Unverzeichnete Akten aus dem Bestand Sozialpolitische Abteilung Berlin, Altsignatur 5.8.2):
Protokoll einer Sitzung der Zentralpersonalstelle und dem Betriebsrat vom 9.5.1974.
478
Vgl. SAA 10585•2: Von der Zentralpersonalstelle erstellte Überlegungen zu einem neuen Konzept zur
Beschäftigung ausländischer Arbeitnehmer vom 14.1.1974.

90
Anlernmaßnahmen in qualifiziertere Positionen aufzusteigen. 479 Während der 1970er
Jahre läßt sich die Ausbildung jugendlicher Ausländer nicht in den Akten der
Sozialpolitischen Abteilung der Siemens AG verfolgen, aber in dem Anstieg des
Ausländeranteils an der Gesamtzahl der Ausbildungsverhältnisse in Berlin von 3,4%
Ende 1974 auf 7,2% Ende 1983 werden sicherlich auch viele ausländische Lehrlinge
bei Siemens erfaßt sein.480 Gegen Ende der 1970er Jahre stieg das Interesse von
Firmen, Politik und Gesellschaft an der Ausbildung der „Zweiten
Ausländergeneration“ sprunghaft an. Innerhalb der Siemens AG wurde von
November 1979 bis Juli 1980 in einem Arbeitskreis „2. Ausländergeneration“ die
bestehende Situation der ausländischen Jugendlichen analysiert und ein
Maßnahmenkatalog entwickelt. Darin wurde auf die geringe Quote der Ausländer bei
der gewerblichen Ausbildung und den generell zu niedrigen Bildungsstand vieler
Jugendlicher, die erst relativ spät nach Deutschland gekommen waren, sowie auf
mangelnde Deutschkenntnisse hingewiesen. Der Arbeitskreis empfahl, unter
Berücksichtigung der „gesellschaftspolitischen Verantwortung der Siemens AG“ und
des Facharbeiterbedarfs für die 1980er Jahre, mehr ausländische Jugendliche in die
gewerbliche Ausbildung aufzunehmen, aber die Politik und das deutsche
Bildungssystem in Bezug auf das Erlernen der deutschen Sprache und elementarer
Kenntnisse in Mathematik und Naturwissenschaften stärker in die Pflicht zu
nehmen.481 Schon im August 1979 waren die ausländischen Mitarbeiter in den
„Siemens-Mitteilungen“ dazu aufgefordert worden, ihren Kindern eine gewerbliche
Ausbildung bei Siemens schmackhaft zu machen. Es gab sogar eine Anleitung zur
Ausfüllung des Bewerbungsbogens und eine genaue Beschreibung der zu
erlernenden Berufe und der Standorte mit Lehrlingsausbildung. 482 Zur Vorbereitung
der Ausländer auf die gewerbliche Ausbildung wurden staatlich geförderte
„Maßnahmen zur Berufsvorbereitung und sozialen Eingliederung ausländischer
Jugendlicher“ (MBSE) durchgeführt, die oft in freien Kapazitäten der
Lehrlingswerkstätten der Unternehmen stattfanden. In der Berliner Siemens-
Lehrwerkstatt war ein türkischer Ausbilder beschäftigt, der helfen sollte,
Sprachbarrieren abzubauen und die jugendlichen Türken auf die Aufnahme einer

479
Vgl. SAA 10590: Aktenvermerk der Sozialpolitischen Abteilung über die Aus- und Weiterbildung türkischer
Schulabgänger und Mitarbeiter vom 13.12.1968.
480
Vgl. SAA 10592: Entwicklung der Gesamtzahl der Ausbildungsverhältnisse in Berlin und Ausländeranteil,
“Mitteilungen des Präsidenten des Abgeordnetenhauses von Berlin“, Drucksache 9/2355 vom 15.1.1985, S. 31.
481
Vgl. SAA 10592: Ergebnisse des Arbeitskreises „2. Ausländergeneration“ vom 16.7.1980.
482
Vgl. SAA (Interne Zeitschriften): Fremdsprachige Beilage der Siemens-Mitteilungen Nr. 8, 1979.

91
Lehre vorzubereiten.483 MBSE war ein auf einjährige Dauer angelegtes Programm,
daß sich auf die Ausbildungssäulen Berufsschule, betriebliche Ausbildung und
spezialisierter Sprachunterricht stützte. Zur Durchführung der sprachlichen
Ausbildung wurde von der Bundesanstalt für AVAV der Sprachverband „Deutsch für
Ausländische Arbeitnehmer e.V.“ herangezogen. 484 1981 startete ein größeres, von
der Vereinigung der Berliner Arbeitgeberverbände initiiertes MSBE-Projekt, an dem
auch die Ausbildungsstätten der Siemens AG beteiligt waren. 485 Organisatorisch
wurden die Maßnahmen vom Bildungswerk der Berliner Wirtschaft e.V. abgewickelt,
daß von den Berliner Arbeitgeberverbänden getragen wurde.486 Leider lassen sich die
Erfolgsquoten dieser und ähnlicher Maßnahmen nur schwer verfolgen. Ein 1985
gestarteter Kurs, der in Kooperation zwischen dem Bildungswerk, dem „Christlichen
Jugenddorf“ und den Arbeitgebern Ford und Siemens durchgeführt wurde, ergab
eine Erfolgsquote von 50%,487 ein Wert, der sich wahrscheinlich auf viele andere
Maßnahmen übertragen läßt. Ob MBSE-Maßnahmen die Leistungen und Abschlüsse
ausländischer Lehrlinge bei Siemens stark beeinflußten, ist hier nicht zu klären.
Abschließend ist zur Integration der ausländischen Arbeitnehmer bei Siemens zu
sagen, daß die Eingliederung in den Arbeitsprozeß und die sozialen Systeme des
Hauses, weit schneller von statten ging, als die Eingliederung in die Gesellschaft
Westberlins. Der Senat reagierte erst recht spät, 1971 mit einer Befragung der
Ausländer nach ihren Lebensumständen 488 und erstellte bis September 1972 einen
„Abschlußbericht über die Eingliederung der ausländischen Arbeitnehmer und ihrer
Familien.“489 Darin wurde ein „Bedarfsorientiertes Integrationsmodell“ favorisiert, daß
sich entweder nicht durchsetzen konnte, oder am wirklichen Bedarf der Ausländer
vorbeiging. Daß die Firma Siemens sich auch ungeachtet theoretischer Modell für
ihre ausländischen Mitarbeiter und deren Kinder einsetzte, ist dargestellt worden.
Gesetzesänderungen zur Gleichstellung der Ausländer liegen nicht im Machtbereich
der Wirtschaft und müssen von der Politik durchgeführt werden. Eine Firma kann sich

483
Vgl. SAA (Interne Zeitschriften): Siemens-Mitteilungen Nr. 12, 1982.
484
Vgl. SAA 10592: Vertrag zwischen der Bundesanstalt für AVAV und dem Sprachverband „Deutsch für
ausländische Arbeitnehmer e.V.“ vom 8.12.1979.
485
Vgl. SAA 10592: Rundschreiben M 19/81 des Arbeitgeberverbandes der Berliner Metallindustrie vom
12.2.1981.
486
Vgl. SAA 10592: Rundschreiben der Zentralpersonalstelle an alle Berliner Personalleiter vom 18.12.1981.
487
Vgl. SAA 10592: Zeitungsartikel „Ausländer helfen Siemens und Ford. Modellprojekt für Jugendliche.“ (TAZ
vom 28.8.1985).
488
Vgl. SAA 10585•1: Rundschreiben der Sozialpolitischen Abteilung an alle Personalleiter vom 26.11.1971.
489
Vgl. SAA 10577: Abschlußbericht der Ressortübergreifenden Planung zur „Eingliederung der ausländischen
Arbeitnehmer und ihrer Familien.“, vorgelegt im September 1972.

92
nur durch beispielhaftes Verhalten gegenüber „ihren“ Ausländern und Einflußnahme
über die Arbeitgeberverbände für eine solche Änderung der Politik engagieren.

4. Alternative zur innerbetrieblichen Ausländerbeschäftigung –


Der Einsatz von Leiharbeitern:

Der Einsatz von Leiharbeitern im Hause Siemens läßt sich ab 1964 über einen
Zeitraum von zwanzig Jahren verfolgen. Betroffene Standorte waren neben Berlin
auch München, Amberg, Regensburg, Nürnberg, Erlangen und Frankfurt 490. Der
Einsatz der Leiharbeiter erfolgte von Anfang an auf der rechtlichen Basis von
Werkverträgen. Da der erste und wichtigste Kooperationspartner dieser Art die
jugoslawische (genauer gesagt slowenische) Firma Rudis war und deren Arbeiter zu
einer Zeit nach Deutschland kamen, als das deutsch-jugoslawische
Anwerbeabkommen noch vier Jahre auf sich warten ließ, konnten die Arbeiter nur auf
diesem Weg in Deutschland eine Arbeitserlaubnis bekommen. Die deutschen
Arbeitsbehörden waren aber mißtrauisch dieser Art von Beschäftigung gegenüber.491

4.1 Rechtliche Grundlagen der Leiharbeit – Werkverträge mit Fremdfirmen:

Werkverträge setzten sich im allgemeinen aus drei Teilen zusammen: einem Grund-
oder Rahmenvertrag, der das Interesse der beiden Vertragspartner an einer
Zusammenarbeit bekundete, einem oder mehreren Zusatzverträgen, die die
Vertragsbedingungen präzisierten und schließlich den Teilleistungsverträgen, die den
eigentlichen Arbeitsauftrag enthielten.
Der Gegenstand des Rahmenvertrages war die Ausführung von Montagearbeiten
durch die Fremdfirma in Werken der Auftragsfirma mit eigenem Werkzeug,
Arbeitsschutzmitteln und Personal. Die Einhaltung der geforderten Qualitätsstandarts
lag bei der Fremdfirma und die Bezahlung der Aufträge erfolgte nach
unbeanstandeter Abnahme der Arbeit. Die Bezahlung erfolgte entweder nach zuvor
bestimmten Festpreisen für technisch und wirtschaftlich einheitliche Teilleistungen
490
Vgl. SAA 10591•2: Aktennotiz der Zentralpersonalstelle in München (ZPS 12) über die Beschäftigung von
Fremdpersonal im Rahmen von Werksverträgen mit der Firma Rudis (8.1.1974)
491
Vgl. SAA 10591•2: Brief des Apparatewerks München (AM) an die Zentrale Berliner Leitung (ZBL) in dem
über den Einsatz von Sloweninnen in München seit Anfang 1964 und die damit verbundenen Bedenken der
bayerischen Arbeitsbehörden berichtet wird

93
oder durch eine vereinbarte Pauschalsumme. Die Fremdfirma verpflichtete sich, nur
qualifiziertes Personal einzusetzen und sowohl Krankheitsfälle als auch Unfälle
finanziell und personell abzudecken. Im Gegenzug mußte die Auftragsfirma bei der
Beschaffung von Visa und Arbeitserlaubnissen helfen, den Leiharbeitern Wohnraum
zur Verfügung stellen, den Zugang zu allen Werks- und Betriebseinrichtungen
ermöglichen, usw. In den in Rechnung gestellten Beträgen der Fremdfirma sollten
alle Kosten für Lohnsteuer, Sozialversicherung, Urlaubs- und Fahrgeld sowie alle
weiteren Nebenkosten bereits enthalten sein. Im Rahmenvertrag waren aber noch
keine konkreten Kosten und Preise festgelegt.492
In einem Zusatzvertrag wurden die generellen Kosten des Einsatzes von
Leiharbeitern festgelegt. Im ersten dokumentierten Vertrag (1965) 493 wurde der
Stundenlohn für männliche (weibliche) Arbeitskräfte auf 7,60 DM (5,90 DM)
festgelegt. Entsprechend höhere Sätze galten für Überstunden bzw. Feiertagsarbeit.
Ebenso wurde ein Satz von 5,35 DM (4,15 DM) für fertigungstechnisch bedingte
Wartestunden festgelegt. Da ein Teil der anfallenden Arbeit im Akkord abgeleistet
werden sollte, wurden auch die Akkordlöhne und Bedingungen genau festgelegt.
Neben diesen Details der Entlohnung wurde auch der für Siemens kostenlose
Einsatz einer Kontaktperson für je 80 jugoslawische Arbeitnehmer als
Ansprechpartner für die Werksleitung vereinbart.494
In den Teilleistungsverträgen schließlich wurde der eigentliche Arbeitsgegenstand
festgelegt. Auch hier soll als Beispiel der erste, zum Rahmenvertrag vom 18. Februar
1965 gehörige, dienen. In diesem wurde der Arbeitseinsatzbereich – in diesem Fall
die Herstellung von Halbleiter-Bauelementen – sowie die Auftragssumme (350.000
DM) festgelegt. Der genaue Fertigungsauftrag war Bestandteil des Vertrages, ist aber
nicht erhalten. Daneben wurde der Zeitrahmen des Auftrags sowie
Kündigungsbedingungen und eventuelle Mehrarbeiten geregelt.495

4.2 Entwicklung der Verträge mit der sich ändernden Rechtslage:

492
Vgl. SAA 10591•1: Grundvertrag zwischen der jugoslawischen Firma Rudis und des Apparatewerks München
der Siemens-Schuckertwerke AG vom 18.2.1965, der anderen Werken als Vorlage diente
493
Vgl. SAA 10591•1: Zusatzvertrag zum Grundvertrag vom 18.2.1965 (Vertragspartner siehe oben)
494
Vgl. SAA 10591•1: Zusatzvertrag zum Grundvertrag vom 18.2.1965
495
Vgl. SAA 10591•1: Teilleistungsvertrag für weibliches Personal zum Grundvertrag vom 18.2.1965

94
Wie schon eingangs festgestellt, wurde der Einsatz von Leiharbeitern von der
Arbeitsverwaltung argwöhnisch beobachtet. Auch wollte man von jugoslawischer
Seite diese Verträge genau kontrollieren. Daher wurden die Verträge mit
zunehmender Verschärfung der Rechtslage immer komplexer und genauer. Die
anfängliche, relativ laxe Formulierung mußte weiter präzisiert werden. Schon 1966
machte die Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosenversicherung
(AVAV) in einem Schnellbrief klar, daß eine Beschäftigung von jugoslawischen
Leiharbeitern nur noch genehmigt werden würde, wenn die Bezahlung nach
deutschen Lohnsätzen erfolgen, und Lohnsteuer sowie Sozialabgaben an deutsche
Stellen abgeführt würden.496 Bei einer Unterredung mit der Bundesanstalt für AVAV
wurde zusätzlich der Einsatz von geschlossenen Gruppen an eigenen Maschinen
verlangt, um den Charakter des Werkvertrags zu erfüllen. 497 Diese Forderungen
schlugen sich zum Teil in dem neuen, mit der Firma Rudis abgeschlossenen
Rahmenvertrag nieder, der die Pflichtversicherung in der deutschen Kranken-,
Renten-, Arbeitslosen- und Unfallversicherung, aber keine Bestimmung zum
gruppenweisen Einsatz enthielt. 498 Dieser Mangel wurde durch ein firmeninternes
Merkblatt zum Einsatz der Leiharbeiter behoben, das den Passus zum
gruppenweisen Einsatz enthielt499 und an alle mit dem Einsatz von Jugoslawen
befaßten Führungskräfte verteilt wurde. 500 Da sich die Bedenken der
Arbeitsverwaltung in den folgenden Jahren nicht verringerten 501, sondern weitere
Auflagen gemacht wurden, wurde seit 1970 ein neuer Rahmenvertrag vorbereitet 502,
der 1971 in Kraft trat. 503 Die wichtigste neue Bestimmung war eine weitgehende
Kooperation bei der Fertigung und eine Verlagerung von einzelnen
Fertigungsaufträgen an den Stammsitz der Firma Rudis nach Slowenien. Schon im
folgenden Jahr 1972 wurde die Überlassung von Arbeitnehmern weiter erschwert.
Sowohl Jugoslawien als auch Deutschland erließen Gesetze zur Regelung der

496
Vgl. SAA 10591•2: Schnellbrief des Präsidenten der Bundesanstalt für Arbeitsvermittlung und Arbeitslosen-
versicherung (AVAV) vom 9.2.1966
497
Vgl. SAA 10591•2: Aktenvermerk der Sozialpolitischen Abteilung Erlangen über ein Gespräch bei der
Bundesanstalt für AVAV vom 4.3.1966
498
Vgl. SAA 10591•1: Grundvertrag zwischen Rudis und SiemenS & Halske AG, Berlin vom 16.3.1966
499
Vgl. SAA 7438•2: Merkblatt der Sozialpolitischen Abteilung, Berlin zur Ausführung von Montagearbeiten
durch jugoslawische Firmen vom 14.6.1966
500
Vgl. SAA 7438•2: Aktenvermerk der Sozialpolitischen Abteilung, Berlin vom 15.6.1966
501
vgl. z.B. Vgl. SAA 10591•2: Aktenvermerk über eine Besprechung zwischen Firmenvertretern und der
Bundesanstalt für AVAV vom 1.11.1968; Vgl. SAA 10590: Protokoll einer Sitzung des AK „Ausländische
Arbeitnehmer“ am 9.10.1970 in München in dem auf eine anstehende Entscheidung des Bundessozialgerichtes
und die befürchtete Verschärfung der Bestimmungen zum Einsatz von Leiharbeitern verwiesen wird
502
Vgl. SAA 10591•2: Entwurf eines neuen Rahmenvertrages vom 16.3.1970
503
Vgl. SAA 10591•1: Rahmenvertrag vom 27.5.1971

95
Arbeitnehmerüberlassung.504 Das jugoslawische Gesetz schrieb eine enge
Zusammenarbeit im technischen und wirtschaftlichen Bereich vor, sowie eine
Produktionskooperation, die langfristig auf eine Verlagerung einzelner Produktionen
nach Jugoslawien abzielte. Die Verträge sollten für mindestens drei Jahre
abgeschlossen werden und mußten beim jugoslawischen Bundesministerium für
Wirtschaft registriert werden, was direkte staatliche Kontrolle ermöglichte. 505 Die
Entsendung von Mitarbeitern ins Ausland wurde durch eine Zusatzvereinbarung
geregelt, die vorsah, jugoslawische Arbeitnehmer nur zwecks fachlicher
Vervollkommnung oder technischer Hilfsleistung ins Ausland zu entsenden, sie aber
nicht dem ausländischen Kooperationspartner dauerhaft zu überlassen. 506 Das
deutsche Gesetz zur Regelung der gewerbsmäßigen Arbeitnehmerüberlassung
(AÜG) beschränkte die Überlassung von Arbeitnehmern generell auf drei Monate, bei
längerer Verleihdauer ging der Gesetzgeber von unerlaubter Arbeitsvermittlung aus,
die mit empfindlichen Geldstrafen geahndet wurde. Außerdem wurde der Einsatz von
Leiharbeitern generell genehmigungspflichtig und der Aufsicht der Bundesanstalt für
Arbeit unterstellt. Der schon bestehende arbeits- und sozialversicherungsrechtliche
Schutz des Arbeitnehmers wurde durch eine Mithaftung des Entleihers ausgebaut
und weitere Kontrollmöglichkeiten ermöglicht. Trotzdem konnten weiterhin
Werkverträge abgeschlossen werden, wobei ein erkennbar abgegrenzter Teilauftrag
vorliegen mußte. Desweiteren wurden die Vorschriften zur Erteilung von
Arbeitserlaubnissen für Leiharbeiter neu geregelt die illegale Beschäftigung mit
Strafen von 1.000 bis 10.000 DM pro Arbeitnehmer belegt. 507 Als Reaktion auf diese
beiden Gesetze wurde am 22. Juni 1973 von Rudis und Siemens ein neuer
Rahmenvertrag über wirtschaftlich-technische Zusammenarbeit geschlossen, der
über die bisher bestehenden Verträge hinausging und der gemeinsame Fertigung
von Einzelteilen und Halbfertigprodukten, den gruppenweisen Einsatz von
jugoslawischen Fachkräften in deutschen Siemens-Werken, den Austausch von
Know-how und die damit verbundene Verlagerung der Fertigung von Halb- oder
Endfabrikaten nach Jugoslawien, zu einem „angemessenen Zeitpunkt“, sowie einen
weiteren Ausbau der Fertigung im Rahmen von Werkverträgen vorsah. 508 Dieser
504
Vgl. SAA 10591•2: Schreiben der SozPol 1 (München) an die SozPol Berlin vom 8.11.1972
505
Vgl. SAA 10591•2: Übersetzung des „Erlasses über die langfristige Geschäfts-technische Zusammenarbeit
und langfristige Produktionskooperation zwischen inländischen Organisationen vereinter Arbeit“ vom 31.1.1973
506
Vgl. SAA 10591•2: Übersetzung der Zusatzvereinbarung „III. Grundbedingungen unter welchen
Organisationen vereinter Arbeit Arbeiter zwecks Arbeit ins Ausland entsenden können“ (ohne Datum)
507
Vgl. SAA 10591•1: Rundschreiben der SozPol 1 (München) vom 29.9.1972 über das Gesetz zur Regelung der
gewerbsmäßigen Arbeitnehmerüberlassung (Arbeitnehmerüberlassungsgesetz – AÜG)
508
Vgl. SAA 10591•1: Rahmenvertrag über wirtschaftlich-technische Zusammenarbeit vom 22.6.1973

96
Rahmenvertrag blieb zusammen mit dem 1974 abgeschlossenen „Einzelvertrag
No.1“509, der die Arbeitsfelder präzisierte, als Grundlage der Zusammenarbeit bis in
die Achtziger Jahre bestimmend.510 Alle weiteren Teilleistungsverträge basierten auf
diesen beiden Vereinbarungen. Mit der sich verschärfenden Beschäftigungslage
wurde die Toleranz der Arbeitsbehörden für Werkverträge immer geringer. Bis 1981
hatte sich die Situation auf dem Arbeitsmarkt soweit verschlechtert, daß das Berliner
Arbeitsamt keine Arbeitserlaubnisse mehr verlängern wollte. 511 Schließlich konnte
man sich auf 20 Facharbeiter einigen. 512 Für die nächsten Jahre blieb der Stand der
Teilleistungsverträge mit Rudis gleich und nahm schließlich sogar ab 513, weshalb man
von einer Tolerierung der bestehenden Situation ausgehen kann. Neben diesen 20
Arbeitern scheint es weitere 29 gegeben zu haben, die mit einer unbefristeten
Arbeitserlaubnis ausgestattet waren und wahrscheinlich die Verträge der
darauffolgenden Jahre erfüllten.514

4.3 Einsatz von Leiharbeitern/Abschluß von Werksverträgen im Berliner Siemens-


Bereich:

Die Anzahl der bei Berliner Siemens-Werken beschäftigten Leiharbeiter schwankte


stark. Zu Beginn der Entwicklung (1966) waren ca. 50 jugoslawische Frauen bei S &
H in Berlin eingesetzt, die zum Teil zuvor im SSW Apparatewerk München eingesetzt
gewesen waren.515 Im Laufe des folgenden Jahres wurden weitere 30 Arbeitskräfte,
männliche Elektromonteure, von der Zentralniederlassung der SSW in Berlin
eingestellt.516 Die Zentralniederlassung der S & H forderte weitere 13 Facharbeiter
an, davon sechs Elektromonteure, zwei Schwachstrommonteure und fünf
Schlosser.517 Der erste größere Einsatz erfolgte noch im selben Jahr im Schaltwerk
der SSW, wo 30 männliche Facharbeiter und 60 ungelernte weibliche Arbeitskräfte

509
Vgl. SAA 10591•1: Einzelvertrag No.1 (17.1.1974) zum Rahmenvertrag vom 22.6.1973
510
Der letzte aktenkundige Werkvertrag stammt vom 25.10.1985 (Vgl. SAA 10591•1)
511
Vgl. SAA 10591•1: Brief des Arbeitsamtes III Berlin (West) an die Sozialpolitische Abteilung
512
Vgl. SAA 10591•1: Telefonnotiz eines Anrufs des Herrn Köppen vom Arbeitsamt III wegen Arbeitserlaubnis
für Rudis-Mitarbeiter (2.6.1981)
513
Vgl. SAA 10591•1: Werkverträge vom 22.10.1982, 18.11.1983, 20.12.1984 und 25.10.1985
514
Vgl. SAA 10591•1: Brief der Personalabteilung an den Direktor des Arbeitsamtes III vom 11.6.1981
515
Vgl. SAA 10591•2: Aktenvermerk der Sozialpolitischen Abteilung Berlin über jugoslawische Arbeiter der
Firma Rudis vom 23.12.1965
516
Vgl. SAA 10591•2: Aktenvermerk der Sozialpolitischen Abteilung Berlin über die Einstellung von 30
jugoslawischen Facharbeitern bei der ZN Berlin vom 15.2.1966
517
Vgl. SAA 10591•2: Brief der S & H an das Landesarbeitsamt Berlin vom 5.4.1966 mit beigefügter
namentlicher Aufstellung der Arbeiter

97
für die Selenfertigung eingesetzt wurden. 518 Den Jugoslawen wurden firmeneigene
Wohnheimplätze vermietet519 und ein pauschales Weihnachtsgeld von 100 DM
gezahlt.520 Nach der Rezession 1966/67 lag die Anzahl der Rudis-Mitarbeiter für alle
Berliner Siemens-Werke zusammen bei ca. 100 Männern und Frauen. 521 Mit den
allgemein steigenden Ausländerzahlen nahm auch die Zahl der Rudis-Mitarbeiter
rapide zu. Für den Zeitraum 1970 bis 1983 läßt sich die Anzahl der Rudis-Mitarbeiter
anhand erhaltener Teilleistungsverträge genau bestimmen.

518
Vgl. SAA 10591•2: Aktenvermerk des Schaltwerks der SSW an die Sozialpolitische
519
Vgl. SAA 10591•2: Brief an Slavko Potrata [Vertreter von Rudis in Frankfurt] vom 3.10.1966
520
Vgl. SAA 10591•2: Diverse Aktenvermerke zur Auszahlung von Weihnachtsgeld (Die Auszahlung eines
pauschalen Weihnachtsgeldes an Rudis-Mitarbeiter ist von 1968 bis 1976 aktenkundig)
521
Vgl. SAA 10591•2: Brief des Siemens Lohnbüros an das Landesarbeitsamt vom 15.6.1967

98
Bei Siemens Berlin eingesetzte Rudis-Mitarbeiter (1970-1983) 522

Stichtag 01/70 01/71 07/72 07/73 01/74 01/76 05/81 10/83


Männer 461 461 387 360 145 68 68
Frauen 389 389 274 230 80 - -
Gesamt 850 850 661 590 389 225 68 20

Das Auftragsvolumen entwickelte sich nicht entsprechend der Mitarbeiterzahl,


sondern hing von der Wertigkeit der in den Teilleistungsverträgen vereinbarten
Arbeiten ab. Rudis-Mitarbeiter arbeiteten in den Berliner Werken für Datentechnik
(UB D), Fernsprechtechnik (UB N Fg), Weitverkehrstechnik (UB N Wv), Meßtechnik
(UB E MWB), Schaltgeräte (UB E SW), Werkzeugbau und Spritz- und Gußtechnik
(ZT WMW/KPW) und im Hausgerätewerk Berlin (SE HWB) in Facharbeitertätigkeiten
als Dreher, Fräser, Schweißer und Montierer an der Herstellung von
Fernschreibgeräten, Einzelbaugruppen und Endprodukten, sowie an der Einrichtung
von Werkzeugmaschinen, im Prüffeld und im Reparaturpool.523

Volumen der Werkverträge mit Rudis (in DM)

10.000.000

8.000.000

6.000.000

4.000.000

2.000.000

0
66

72

75

80

83

85
69

73

74

76

77
79

81

82

84
19
19
19
19

19

19
19
19

19
19

19
19

19

19

19

Graphik erstellt aus: SAA 10591•1/2: Teilleistungsverträge mit der Firma Rudis (1966-1985)

522
Vgl. SAA 10591•1/2: selbst erstellte Tabelle aus den von 1970-1983 erhaltenen Teilleistungsverträgen.
523
Vgl. SAA 10591•1: Anlage zum Teilleistungsvertrag für die Zeit vom 1.7.1974 bis 30.6.1975.

99
Nach dem Vorbild Rudis traten weitere jugoslawische Firmen an Siemens Berlin
heran, um Werkverträge abzuschließen, darunter die Firmen Generalexport 524 und
INGRA525, mit denen es aber zu keinem Vertragsabschluß kam. Die einzige
nennenswerte Verleihfirma neben Rudis war die Hamburger Firma
Metallverarbeitungsgesellschaft Schubert & Co, die seit mindestens 1969 im
Meßgerätewerk Berlin ein Büro zur Betreuung ihrer Arbeitnehmer unterhielt. 526 Auch
diese Arbeitnehmer waren Jugoslawen, die die Firma Schubert selbst in Jugoslawien
angeworben hatte. Der Umfang der Arbeiten belief sich monatlich etwa 80.000 DM im
Meßgerätewerk, 50.000 im Hausgerätewerk und 40.000 in der Abteilung für
Werkzeugbau.527 Die Facharbeiter wurden zu einem festgelegten Verleihpreis, der
nach der Lohngruppe und dem ausgeübten Beruf zwischen 14,70 und 17,70 DM
schwankte, bezahlt.528 Die Zusammenarbeit mit der Firma Schubert endete mit Ablauf
des Jahres 1976 nach der Veräußerung des Geschäftsbereichs Industriemontagen
von Schubert an die Firma Intranit.529
Insgesamt scheinen die Leiharbeiter in Zeiten der zunehmenden Integration der
„firmeneigenen“ ausländischen Mitarbeiter, deren eigentliche Rolle als
„Konjunkturpuffer“ übernommen zu haben. Die Teilleistungsverträge waren flexibel
und konnten der wirtschaftlichen Lage entsprechend verändert werden, was sich
direkt auf die Zahl der Leiharbeiter auswirkte.

524
Vgl. SAA 10590: Protokoll einer Sitzung des Arbeitskreises Ausländische Arbeitkräfte vom 18.7.1969
525
Vgl. SAA 10585•2: Teilprotokoll einer Sitzung der Zentralpersonalstelle und der Personalabteilungsleitern
vom 21.1.1974
526
Vgl. SAA 10587: Brief der Sozialpolitischen Abteilung an Dir. Bremeier vom 22.10.1969
527
Vgl. SAA 10587: Abrechnungen für Mitarbeiter der Firma Schubert für Februar bis April 1973
528
Vgl. SAA 10587: Preisliste für Mitarbeiter der Firma Schubert & Co. vom 1.2.1976
529
Vgl. SAA 10587: Brief der Rechtsabteilung Berlin an Schubert & Co. vom 29.12.1976

100
IV. Ausländerbeschäftigung bei Siemens Berlin. Ausnahme oder
Normalfall?

Wie läßt sich die Ausländerbeschäftigung bei Siemens Berlin in Perspektive zur
Gesamtentwicklung der deutschen Wirtschaft setzen? Wie eingangs schon bemerkt,
ist dabei vor allem die Sonderrolle Berlins zu beachten, deren instabile politische und
wirtschaftliche Situation bedeutenden Einfluß auf die Ausländerbeschäftigung hatte.
Die viel zitierte Wende zur Vollbeschäftigung auf dem Arbeitsmarkt, die in der
Bundesrepublik schon 1959 erreicht wurde,530 trat in Berlin erst mit mehr als
zweijähriger Verzögerung ein (siehe oben, II.2.). Aufgrund des fehlenden Umlandes
in Berlin konnten sich die Arbeitgeber nicht auf die in Westdeutschland bestehende
Land-Stadt-Wanderung von Jugendlichen, die ins Erwerbsalter eintraten verlassen,
sondern mußten für eine künstliche Verjüngung der Berliner Erwerbstätigen durch
Zuwanderung sorgen. Wie schon gezeigt wurde (siehe oben, III.1.1.), erfolgte die
Zuwanderung westdeutscher Arbeitnehmer nicht in dem Maße, wie es für eine
positive Bevölkerungsbilanz nötig gewesen wäre, da nicht nur der Abgang von
Berlinern nach Westdeutschland ausgeglichen werden mußte sondern auch die
Fluktuation innerhalb der Westdeutschen Arbeitnehmerschaft sehr hoch war. Dieser
Umstand erklärt die frühe Einsicht der Berliner Siemens-Leitung, daß die
Ausländerbeschäftigung kein vorübergehendes Phänomen war, sondern die
Ausländer in die Stammbelegschaft integriert werden mußten (siehe oben, III.3.1.2.).
Damit zusammenhängend war auch eine möglichst niedrige Fluktuationsquote der
Ausländer erwünscht.
Die dauerhafte Niederlassung und Beschäftigung der Ausländer bei einer Firma an
einem Standort entsprach nicht der Funktion der Ausländer als „mobile
Reservetruppe“, auf die meistens verwiesen wurde, wenn die
Ausländerbeschäftigung verteidigt werden sollte. 531 Vielmehr wurde eine Entwicklung
zur Niederlassung vorweg genommen, die erst deutlich später in der
bundesdeutschen Gesamtwirtschaft auftrat und sich in einem Ansteigen der
Aufenthaltsdauer und verstärktem Familiennachzug in den frühen 1970er Jahren
manifestierte.532 Die damit verbundenen Probleme mußten von der Berliner Siemens-
530
Vgl. Ulrich Herbert, Karin Hunn: „Gastarbeiterpolitik in der Bundesrepublik. Vom Beginn der offiziellen
Anwerbung bis zum Anwerbestopp (1955-1973).“, in: Axel Schildt, Detlef Siegfried, Karl Christian Lammers
(Hrsg.): „Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften.“ (Hamburger Beiträge zur
Sozial- und Zeitgeschichte, Bd. 37), Hamburg, 2000, S. 281.
531
Vgl. ebenda S. 285.
532
Vgl. ebenda S. 304.

101
Leitung schon seit 1964/65 gelöst werden, als die ersten Ehepaare angeworben
wurden und die ersten Kinder zur Welt kamen (siehe oben, III.1.2.).
Bei anderen deutschen Unternehmen lag die Fluktuationsquote der Ausländer
bedeutend höher als bei Siemens am Standort Berlin. Bei der Volkswagen AG betrug
sie 93,4% im Jahre 1963,533 bei der BMW AG lag sie bei immerhin 67% (1967). 534 In
beiden Unternehmen war die Produktion fordistisch geprägt, mit Taktzeiten unter
zwei Minuten, nach denen der gleiche Handgriff wieder ausgeführt werden mußte. 535
Daher lag die Anlernzeit deutlich niedriger als bei Siemens. Bei der Volkswagen AG
war der extrem hohe Fluktuationsanteil durch das firmeneigene Konzept der
Ausländerbeschäftigung bedingt, das auf einem Rotationsverfahren mit personellem
Wechsel nach Ablauf des Vertragsjahres fußte. Nach 1963 wurden viele der,
ausschließlich italienischen, Arbeiter nur noch mit sechsmonatigen Verträgen
beschäftigt,536 was auf einen großen Anteil direkt Angeworbener hindeutet, deren
Verträge nicht an die Jahresfrist der Bundesanstalt für AVAV gebunden waren. Die
Wolfsburger Firmenleitung betrieb eine bewußte Politik der „Anti-Eingliederung“
(Oswald 1999), die auch vom Betriebsrat mitgetragen wurde, 537 und bei der auf
Kosten der Ausländer eine „deutsche VW-Familie“ entstehen sollte, die durch eine
instabile ausländische separierte Arbeiterschaft unterschichtet wurde. 538 Diese
Unterschichtung wurde durch den Betriebsrat noch forciert, indem gefordert wurde,
alle Italiener, ungeachtet ihrer beruflichen Qualifikation als Hilfsarbeiter am untersten
Rand des Lohnspektrums anfangen zu lassen.539 Den Ausländern wurde in
Wolfsburg keinerlei Infrastruktur, abgesehen von den gesetzlich vorgeschriebenen
Schlafstellen, zur Verfügung gestellt. Es gab keine Ausbildungsplätze für
ausländische Arbeitnehmer und der Nachzug von Ehefrauen wurde durch ein
Beschäftigungsverbot für ausländische Arbeiterinnen und dem Fehlen alternativer
Arbeitgeber in Wolfsburg unterdrückt. 540 Bis 1974 hatten nur etwa 15% der

533
Vgl. Anne von Oswald: „Arbeitseinsatz der ‚Gastarbeiter‘ im Volkswagenwerk (1962-1974/75): Wolfsburger
Sonderfall oder bundesdeutscher Normalfall?“, in: Katja Dominik, Marc Jünemann, Jan Motte, Astrid Reinecke
(Hrsg. im Auftrag der Geschichtswerkstatt Göttingen): „Angeworben – eingewandert – abgeschoben: ein anderer
Blick auf die Einwanderungsgesellschaft Bundesrepublik Deutschland.“, Münster, 1999, S. 87 (im folgenden
zitiert als: Oswald 1999).
534
Vgl. Tanja Schmidhofer: „Personalpolitik in Zeiten chronischen Arbeitskräftemangels. BMW in den sechziger
Jahren.“, Magisterarbeit an der Universität Konstanz, 2000, S. 34f. (im folgenden zitiert als: Schmidhofer 2000).
535
Vgl. Oswald 1999, S. 91 und Schmidhofer, S. 45.
536
Vgl. Oswald 1999, S. 91.
537
Vgl. ebenda S. 93.
538
Vgl. ebenda S. 89f.
539
Vgl. ebenda S. 95.
540
Vgl. ebenda S. 90f.

102
verheirateten Ausländer ihre Ehefrauen nach Wolfsburg nachgeholt, 541 während
dieser Wert für das gesamte Bundesgebiet um ein vielfaches höher lag.
Bei BMW hingegen war schon seit Mitte der 1960er Jahre eine längerfristige
Beschäftigung eingearbeiteter Ausländer und ein damit verbundener Aufstieg in
höherqualifizierte Arbeitsplätze geplant.542 Ebenso wie bei Siemens Berlin kamen die
bei BMW beschäftigten Ausländer aus allen Anwerbeländern, 543 im Gegensatz zu der
reinen Italienerbeschäftigung bei VW544 und der „national homogenen“ Gruppe
türkischer Arbeiter bei der Salzgitter AG. 545 Daraus ist zu schließen, daß BWM wie
Siemens zunächst einen großen Teil ihrer ausländischen Arbeitnehmer über das
unspezifische Anwerbeverfahren der Bundesanstalt für AVAV anforderten und erst
später, mit zunehmender Zahl schon im Betrieb befindlicher Ausländer, der Anteil
namentlicher Anforderungen anstieg. Die Möglichkeit für Arbeitgeber, bei der
Anwerbung im Heimatland vor Ort zu sein, wurde von VW, 546 BMW547 und Siemens
(siehe oben, III.1.3.) genutzt. Inwieweit auch kleiner Firmen diesen Aufwand
betrieben ist nicht nachzuvollziehen.
Die Einstufung der ausländischen Arbeitnehmer in den untersten Lohngruppen war
ein typisches Element der Ausländerbeschäftigung, daß den deutschen
Arbeitnehmern ermöglichte, in besser bezahlte Positionen aufzusteigen. 548 Aufgrund
der arbeitsintensiven Fertigungstechnik in der Elektroindustrie waren auch bei
Siemens Berlin viele Stellen in den unteren Lohngruppen zu vergeben, die
vorzugsweise mit Frauen besetzt werden sollten. Daher ergab sich für die Berliner
Siemens-Werke ein Frauenanteil von zeitweilig bis zu 2/3 der Gesamtausländerzahl
(siehe oben, III.1.2.). Auch hier wurde nicht der gängigen Praxis, „die offenen
Frauenarbeitsplätze im untersten Segment des Arbeitsmarktes durch sehr junge und
hochmobile Frauen wieder- oder neubesetzen zu können“ 549 gefolgt, sondern eine
541
Vgl. ebenda S. 91.
542
Vgl. Schmidhofer 2000, S. 35.
543
Vgl. ebenda S. 39f.
544
Vgl. Oswald 1999, S. 84.
545
Vgl. Jan Motte: „Gedrängte Freiwilligkeit. Arbeitsmigration, Betriebspolitik und Rückkehrförderung
1983/84“, in: Jan Motte, Rainer Ohliger, Anne von Oswald (Hrsg.): „50 Jahre Bundesrepublik – 50 Jahre
Einwanderung. Nachkriegsgeschichte als Migrationsgeschichte.“, Frankfurt/New York, 1999, S. 167.
546
Vgl. Oswald 1999, S. 85. Darin wird über einen Verbindungsmann der Firma VW berichtet, der zusammen
mit einem katholischen Geistlichen süditalienische Dörfer besuchte und Arbeiter für Wolfsburg anwarb, die dann
namentlich bei der Deutschen Kommission in Verona angefordert wurden.
547
Vgl. Schmidhofer 2000, S. 41.
548
Vgl. Ulrich Herbert, Karin Hunn: „Gastarbeiterpolitik in der Bundesrepublik. Vom Beginn der offiziellen
Anwerbung bis zum Anwerbestopp (1955-1973).“, in: Axel Schildt, Detlef Siegfried, Karl Christian Lammers
(Hrsg.): „Dynamische Zeiten. Die 60er Jahre in den beiden deutschen Gesellschaften.“ (Hamburger Beiträge zur
Sozial- und Zeitgeschichte, Bd. 37), Hamburg, 2000, S. 292.
549
Monika Mattes: „Zum Verhältnis von Migration und Geschlecht. Anwerbung und Beschäftigung von
‚Gastarbeiterinnen‘ in der Bundesrepublik 1960 bis 1973.“, in: Jan Motte, Rainer Ohliger, Anne von Oswald

103
dauerhafte Ansiedlung durch Nachzug der Ehemänner gefördert (siehe oben,
III.3.3.2.).
Auch bei der Unterbringung der Ausländer ergeben sich zum Teil erhebliche
Unterschiede zwischen den Firmen. Während gerade in der zeitgenössischen Presse
Negativbeispiele thematisiert wurden 550 und der Zustand vieler Unterkünfte
tatsächlich desolat war,551 stellte sich die Situation in Berlin aufgrund der
Bestimmungen des Landesarbeitsamtes und der Stadtregierung, die das ohnehin
negative Image Berlins als „Frontstadt“ nicht noch durch Berichte über schlechte
Unterkünfte für Ausländer beschädigt sehen wollten, besser dar (siehe oben, III.2.).
Allerdings gab es auch hier negative Berichte in den Zeitungen und in der Nähe von
Wohnheimen wohnende Deutsche protestierten gegen die Unterbringung von
Ausländern.552 Die Wohnheime der Firma Siemens hoben sich durch ihre Ausstattung
und ihre teilweise gemischte Belegung mit deutschen und ausländischen
Arbeitnehmern von anderen Gemeinschaftsunterkünften ab (siehe oben, III.2.).
Dagegen entsprachen Heime bei VW oder Opel eher den gängigen Klischees über
Unterkünfte für Ausländer. In Wolfsburg waren die Italiener in zweigeschossigen
Holzhäusern untergebracht, die sie zu je 100 Personen bewohnten und die direkt an
das VW-Werksgelände anschlossen.553 Bei Opel in Rüsselsheim baute man zunächst
feste Wohnbauten, ging aber nach der Rezession 1966/67 auch auf den Bau von
Baracken über, die kostengünstiger erschienen und temporären Charakter
ausstrahlten.554 Auch bei BMW wurden die Ausländer zunächst in relativ primitiven
Baracken untergebracht, aber schon ab 1962 erfolgte eine Unterbringung in
Wohnheimen, die allerdings nur angemietet waren. BMW erstellte während der
Hauptphase der Ausländerbeschäftigung 1965 bis 1973 keine eigenen
Wohnheime.555
(Hrsg.): „50 Jahre Bundesrepublik – 50 Jahre Einwanderung. Nachkriegsgeschichte als Migrationsgeschichte.“,
Frankfurt/New York, 1999, S. 290
550
Vgl. Ulrich Herbert: „Geschichte der Ausländerbeschäftigung in Deutschland 1880 bis 1980. Saisonarbeiter,
Zwangsarbeiter, Gastarbeiter“, Berlin/Bonn, 1986, S. 202f.
551
Vgl. Aytac Erylmaz, Mathilde Jamin (Hrsg.): „Yaban, Silun olur. Fremde Heimat. Eine Geschichte der
Einwanderung aus der Türkei.“, Essen, 1998, S. 172f. Darin wird über einen Anteil von 40% aller
Ausländerunterkünfte in Hamburg berichtet, die nicht den gesetzlichen Auflagen entsprachen sowie über einen
Anteil von 16% stacheldrahtumzäunter Baracken an der Gesamtzahl nordrhein-westfälischer Unterkünfte.
552
Vgl. „‘...da sind wir keine Ausländer mehr‘ Eingewanderte ArbeiterInnen in Berlin 1961-1993.“ (hgg. von der
Berliner Geschichtswerkstatt), Berlin, 1993, S. 51f.
553
Vgl. Anne von Oswald/Barbara Schmidt: „‘Nach Schichtende sind sie immer in ihr Lager zurückgekehrt...‘.
Leben in ‚Gastarbeiter‘-Unterkünften in den sechziger und siebziger Jahren.“, in: Jan Motte, Rainer Ohliger,
Anne von Oswald (Hrsg.): 50 Jahre Bundesrepublik – 50 Jahre Einwanderung. Nachkriegsgeschichte als
Migrationsgeschichte, Frankfurt/New York, 1999, S. 194.
554
Vgl. ebenda S. 196f.
555
Vgl. Schmidhofer 2000, S. 42.

104
Die soziale Betreuung und Integration der Ausländer schwankte zwischen
Gleichbehandlung mit den deutschen Arbeitnehmern bis zu der bei VW praktizierten
„Anti-Eingliederung“ (siehe oben). Dabei gab es viele Zwischenstufen, wie bei BMW,
wo zwar keine soziale Betreuung in den Wohnheimen vorhanden war, den
Ausländern aber mit der Zeit Möglichkeiten zu Fortbildung und Aufstieg gegeben
wurden.556
Auch in der Ausbildung der „2. Ausländergeneration“ war Siemens (siehe oben,
III.3.3.3.) der allgemeinen Entwicklung um zehn Jahre voraus. In der Öffentlichkeit
wurden Strategien zur Eingliederung und damit auch Ausbildung ausländischer
Kinder und Jugendlicher erst Ende der 1970er Jahre thematisiert, als es aufgrund
der rasant steigenden Zahlen der „Gastarbeiterkinder“ schon zu spät war. 557 Zu
diesem Zeitpunkt waren bereits knapp unter 500.000 ausländische Schüler an
deutschen Schulen, in Ballungszentren betrug der Ausländeranteil einiger Klasse
über 50%. 558
Nimmt man die hier angeführten Trends zusammen, läßt sich ein gewisser zeitlicher
Vorsprung der Firma Siemens vor der allgemeinen Entwicklung ablesen. Dabei ist
besonders bemerkenswert, daß der Standort Berlin, trotz eines relativ späten Starts
in die Ausländerbeschäftigung, bei der Integration der ausländischen Mitarbeiter
besonders aktiv gewesen ist.

556
Vgl. Schmidhofer 2000, S. 44ff.
557
Vgl. Klaus J. Bade: „Vom Auswanderungsland zum Einwanderungsland? Deutschland 1880-1980.“ (Beiträge
zur Zeitgeschichte, Bd. 3), Berlin 1983, S. 101.
558
Vgl. ebenda S. 107.

105
V. Resümee

Die Firma Siemens als größter Arbeitgeber Berlins wurde dem an sie gestellten
Anspruch als Vorbild und Vorreiter in der Durchführung der Ausländerbeschäftigung
gerecht.
Die Erkenntnis, die Ausländer als Dauerarbeitskräfte zu erhalten wurde, vor allem im
Vergleich zur bundesdeutschen Gesamtentwicklung, zu einem erstaunlich frühen
Zeitpunkt erreicht. Darauf basieren alle weiteren Maßnahme zur
Ausländerbeschäftigung bei Siemens in Berlin.
Die ausländischen Arbeitnehmer waren ihren deutschen Kollegen gegenüber
gleichberechtigt und konnten alle Sozialleistungen und Vergünstigungen des
Unternehmens nutzen. Sie wurden ebenfalls im beruflichen Fortkommen gefördert
und konnten nach Erlangen entsprechender Sprachkenntnisse in der
Unternehmenshierarchie aufsteigen. In Fragen der sozialen Betreuung,
Unterbringung und medizinischen Versorgung waren sie durch den Einsatz
fremdsprachlichen Personals deutlich besser betreut als dies durchschnittlich der Fall
war.
Diese Grundzüge der Ausländerbeschäftigung bei Siemens fußen meiner Meinung
nach auf zwei wesentlichen Punkten:
Der Siemens-Konzern ist allein durch seine enorme Größe und Verästelung dazu
verpflichtet, grundlegende Fragen wie die Ausländerbeschäftigung durch
standortübergreifende Kommissionen und Abteilungen zu behandeln und eine
unternehmensweite Linie vorzugeben, damit die einzelnen Werke und Standorte
nicht in Unwissenheit von einander abweichende Strategien verfolgen, die
zuwiderlaufen können. Dabei wird der Erfahrungsschatz durch die vielen
verschiedenen Standorte so bereichert, daß weitblickende Maßnahmen viel besser
zu planen sind, als dies in einem kleineren Unternehmen mit nur einem großen
Produktionsstandort der Fall wäre.
Das Haus Siemens ist schon seit der Gründung der „Telegraphen-Bauanstalt von
Siemens & Halske“ in Berlin 1847 ein Unternehmen, das auf internationale
Expansion und Absatz ausgelegt ist. Diese Internationalität ist aufgrund der über
150-jährigen Geschichte der Firma tief in der Unternehmenskultur verwurzelt.
Siemens ist mit Werken und Geschäftsstellen in 190 Ländern weltweit vertreten
(Stand 1999), darunter auch Produktionsstätten in Spanien, Italien, Griechenland und

106
der Türkei. Alle diese Länder waren und sind immer noch wichtige Absatzmärkte für
Produkte der Firma, vor allem im Kraftwerkbau und anderen Großprojekten, deren
Auftragsvolumen teilweise die „Eine-Milliarde-Mark-Grenze“ überschreitet. Durch
internationalen Kontakt innerhalb der Firma und Verbindungen zwischen Ausländern,
die in deutschen Siemens-Werken arbeiten und dem Heimatland wird das Bild einer
Firma entscheidend geprägt. Daher muß die korrekte und völlig gleichberechtigte
Behandlung aller Mitarbeiter, unabhängig von ihrer Nationalität, den gesetzlichen
Vorschriften des jeweiligen Einsatzortes nach, sichergestellt sein. Dies ist auch einer
der Leitsätze, deren Einhaltung das Unternehmen weltweit von allen Mitarbeitern
erwartet. Fehlverhalten gegenüber einer nationalen Gruppe würde zwangsläufig zu
politischen Konsequenzen, einem Gesichtsverlust der Firma im entsprechenden
Land und letztlich zu Absatzeinbußen führen.
Der Anteil der ausländischen Arbeitnehmer an der Gesamtbelegschaft der deutschen
Siemens-Werke hat sich seit 1975 von 15% auf 7% halbiert. In Berlin sind noch 900
ausländische Mitarbeiter beschäftigt (Stand 1999), bei einer Gesamtbelegschaft von
etwa 16.000 Personen. Damit liegt die Ausländerquote in Berlin knapp unterhalb des
Durchschnitts aller Werke.
Meiner Meinung nach stellt sich die Frage, ob der besondere Umgang des Siemens-
Standortes Berlin mit der Ausländerbeschäftigung ein Einzelfall ist, oder ob andere
Berliner Großunternehmen eine ähnliche Ausländerpolitik betrieben haben. Zu einem
Vergleich würde sich vor allem die AEG anbieten, die aufgrund einer ähnlichen
Produktpalette und relativer Firmengröße von den Ausländern ein Bewerberprofil
verlangte, das demjenigen bei Siemens entsprach. Neben diesem Vergleich würde
sich eine genauere Untersuchung der ausländischen Arbeiterinnen anbieten, die in
Berlin einen weitaus größeren Anteil der Ausländer als im Bundesgebiet stellten.
Besonderheiten in deren Beschäftigung konnten hier aufgrund der vorhandenen
Quellen nur im Rahmen der „normalen“ Ausländerbeschäftigung behandelt werden,
würden aber durch eine Befragung von Ausländerinnen der „Ersten Generation“ eine
neue Dimension erreichen.

107
QUELLENVERZEICHNIS:

Akten der Zentralen Berliner Leitung:

SAA 7435 SAA 7441


SAA 7436 SAA 7438•1
SAA 7437 SAA 7438•2
SAA 7439

Akten der Sozialpolitischen Abteilung Berlin:

SAA 10586
SAA 10588
SAA unverzeichnete Akten, Altsignatur 10.2
SAA unverzeichnete Akten, Altsignatur B VII/2, Band 1
SAA unverzeichnete Akten, Altsignatur 1.6.4.2
SAA unverzeichnete Akten, Altsignatur: Wohnheime IV
SAA 15.Li 81
SAA 10581•1
SAA 10580
SAA 10582
SAA 10590
SAA unverzeichnete Akten, Altsignatur 5.4.1
SAA 10585•1 SAA 10585•2
SAA 11041 SAA 10587
SAA 11038•1SAA 11038•2
SAA 10584
SAA 10583
SAA 11008•8-24
SAA 10589

Akten anderer Provenienzen:

SAA 10566 (Provenienz: Nürnberger Maschinen- und Apparatewerk)


SAA unverzeichnete Akten aus dem Bestand ZDV 5 (Provenienz: Werksfeuerwehr)

108
L I T E R A T U R V E R Z E I C H N I S :

Anne von Oswald: „Arbeitseinsatz der ‚Gastarbeiter‘ im Volkswagenwerk


(1962-1974/75): Wolfsburger Sonderfall oder bundesdeutscher Normalfall?“, in: Katja
Dominik, Marc Jünemann, Jan Motte, Astrid Reinecke (Hrsg. im Auftrag der
Geschichtswerkstatt Göttingen): Angeworben – eingewandert – abgeschoben: ein
anderer Blick auf die Einwanderungsgesellschaft Bundesrepublik Deutschland,
Münster, 1999, S. 83-100.

Jan Motte: „Gedrängte Freiwilligkeit. Arbeitsmigration, Betriebspolitik und


Rückkehrförderung 1983/84“, in: Jan Motte, Rainer Ohliger, Anne von Oswald
(Hrsg.): 50 Jahre Bundesrepublik – 50 Jahre Einwanderung. Nachkriegsgeschichte
als Migrationsgeschichte, Frankfurt/New York, 1999, S. 165-183.

Tanja Schmidhofer: Personalpolitik in Zeiten chronischen


Arbeitskräftemangels. BMW in den sechziger Jahren, Magisterarbeit an der
Universität Konstanz, 2000.

Wilfried Feldenkirchen: Siemens 1918-1945, München/Zürich, 1995.

Wolfgang Schieder: „Staat und Wirtschaft im ‚Dritten Reich‘: Der Weg in die
Katastrophe.“, in: Berlin und seine Wirtschaft. Ein Weg aus der Geschichte in die
Zukunft, hgg. von der IHK Berlin, 1987, S. 198-221.

Frank Wittendorfer: „Das Haus Siemens in Erlangen 1945-1955.“, in: Jürgen


Sandweg/Gertraud Lehmann: Hinter unzerstörten Fassaden. Erlangen 1945-1955,
Erlangen 1996, S. 433-457.

Wolfgang Matz: Struktur und Entwicklungslinien der Westberliner Elektroindustrie


seit 1945, Berlin, 1953.

Wilfried Feldenkirchen: Siemens. Von der Werkstatt zum Weltunternehmen,


München/Zürich, 1997.

„Internationale Wirtschaftswerbung Alfred F. Koska“ in Zusammenarbeit mit


dem Bundesministerium für wirtschaftlichen Besitz des Bundes (Hrsg.): ERP
und die Stadt Berlin, Wien/Berlin, 1961.

Günter Braun: Der Wiederaufbau Berlins – Eine Stadt auf dem Weg zu neuen
Aufgaben, in: Berlin und seine Wirtschaft. Ein Weg aus der Geschichte in die
Zukunft, hgg. von der IHK Berlin, 1987, S. 223-245.

Kulturreferat der Landeshauptstadt München, Franziska Dunkel, Gabriella


Stramaglia-Faggion: Zur Geschichte der Gastarbeiter in München: „für 50 Mark
einen Italiener“, München 2000

Berliner Geschichtswerkstatt e.V. (Hrsg.): „... da sind wir keine Ausländer mehr“
Eingewanderte ArbeiterInnen in Berlin 1961-1993, Berlin 1993

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MARCEL MICHELS

PERSÖNLICHE ANGABEN:

14 Familienstand: ledig
15 Staatsangehörigkeit: deutsch
16 Geburtstag: 16. Juli 1974
17 Geburtsort: Krefeld/Rhld.
18 Eltern: Inge Michels; Olaf Michels, Kaufmann

SCHULBILDUNG:
09/1981 bis 07/1985 Gemeinschaftsgrundschule St. Hubert, Kempen

09/1985 bis 07/1991 Städtisches Gymnasium Thomäum, Kempen

09/1991 bis 07/1992 Städtisches Fichte-Gymnasium, Krefeld


09/1992 bis 06/1993 Westbrook High School, Westbrook, Maine, U.S.A.
09/1993 bis 05/1995 Städtisches Fichte-Gymnasium, Krefeld; Abschluß
mit der Allgemeinen Hochschulreife (Notendurchschnitt 2,0)

STUDIUM:
11/1996 bis 02/1997 Studium der Biologie (Diplom) an der Julius-
Maximilians-Universität, Würzburg

05/1997 bis 02/1998 Studium der Geschichte (Magister) an der Julius-


Maximilians-Universität, Würzburg
seit 05/1998 Studium der Geschichte (Magister) an der Ludwig-
Maximilians-Universität, München; Studienende SS 2001
Hauptfach: Neuere und Neueste Geschichte, 1. Nebenfach: Historische
Hilfswissenschaften, 2. Nebenfach: Vor- und Frühgeschichte

JOERGSTRASSE 86 • 80689 MÜNCHEN


T E L E F O N 0 8 9 / 5 4 6 6 2 0 4 9 • FA X 0 8 9 / 5 4 6 4 6 8 4 1
E-MAIL marcelmichels@yahoo.it
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PRAKTISCHE TÄTIGKEITEN NEBEN DEM STUDIUM:
03-04/1997 Werksstudent bei Prophete Fahrradmontage, Würzburg

08-09/1998 Werkstudent beim BayHStA, München, Abteilungen IV


(Kriegsarchiv) und II (Neuere Bestände)

01-08/1999 Werkstudent beim Humanitären Hilfsfonds für


Zwangsarbeiter der Siemens AG (HHZ), München
seit 10/1999 Werkstudent beim Konzernarchiv der Siemens AG,
München

SPRACHKENNTNISSE:
Englisch fließend in Wort und Schrift; Fortgeschrittene
Italienischkenntnisse; großes Latinum; Grundkenntnisse in Französisch,
Spanisch und Niederländisch

ERSATZDIENST:
1995-1996 an der Rheinischen Schule für Schwerhörige in Krefeld-Hüls
geleistet

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