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WIR

Betreuende Angehörige
in Graubünden
EIN WORT VORWEG ES KOMMT DER TAG
Wer die Betreuung eines Angehörigen nicht übernehmen
kann oder will, ist deshalb kein schlechter Mensch. Nein zu
sagen, kann auch verantwortungsvoll sein. Es bedeutet zum
Beispiel, dass einem die verwandtschaftliche (Beziehungs-)
Liebe Leserin, lieber Leser Wenn sich ankündigt, dass jemand aus der Familie auf Rolle wichtiger ist und man sie nicht aufgeben will.
Unterstützung angewiesen ist, sollten sich Angehörige Zeit Ganz Vater, Tochter, Ehefrau, Partner, Freundin zu sein
Veränderungen gehören zum Leben. nehmen, wichtige Fragen zu klären, bevor sie sich in das bedeutet, emotionale Stütze und liebevolle, vertraute Per-
Menschen stossen manche Verände- Abenteuer stürzen und Betreuungs- beziehungsweise Pflege- son zu bleiben. Das Fachpersonal in der Pflegeeinrichtung
rungen selber an und freuen sich rie- aufgaben übernehmen. schätzt diese Unterstützung sehr.
sig auf das, was sie erwartet; ein biss-
chen Respekt, vielleicht sogar Angst Genau hinzuschauen hilft, mögliche Wege und Abzweigun- Sich selber fragen: Könnte mir die Betreuung auch Freude
gen vor sich zu sehen. Es geht nicht nur um einen Wende- machen? Bin ich dafür motiviert? Finde ich dafür überhaupt
ALLES VERÄNDERT
vor dem Neuen schwingt immer mit.
Andere Veränderungen klopfen unge- punkt, es geht um einen Prozess, dessen Länge und Verände- die nötige Zeit? So denke ich von Anfang an daran, dass ich
fragt an unsere Tür. rungen unklar bleiben werden. Wichtig: Gefällte Entscheide ein Betreuungsnetz und Alternativen brauche für alles, was
dürfen stets neu überdacht werden. kommen könnte.
SICH. IMMER.
Eine Krankheit, ein Unfall, eine folgenschwere Diagnose –
sie erschüttern selbst das bestens organisierte Alltagsleben Wenn es darum geht, Pflege- und Betreuungsaufgaben in Fa-
einer Familie oder Partnerschaft. Es kann jede und jeden von
uns treffen. Mich selbst oder meine Liebsten. Wie umgehen
milie und Partnerschaft zu übernehmen, stellen Sie sich ganz
persönlich folgende Fragen: Könnte ich das? Will ich das
Was steht uns da ins Haus?
mit all den Fragen, die sich stellen, mit den Entscheidungen, überhaupt? Fühle ich mich dazu verpflichtet? Habe ich das Erst allmählich beschlich uns der Gedanke, dass mit unserem
Entdeckt man im Begriff «Betreuende» die Worte «treu»
die gefällt werden müssen? Eine Achterbahn der Gefühle be- versprochen? Sehe ich das als meine Pflicht an? Habe ich Kleinen etwas nicht stimmt. Seine älteren Geschwister ent-
und «Ende», könnte man gedanklich auf Abwege geraten.
ginnt – flankiert vom Wunsch und der Notwendigkeit sich dafür Zeit? Was bedeutet das finanziell? Wie weit würde ich wickelten sich doch anders. Viele Abklärungen später hat-
Treue leisten heisst nicht, ganz allein verantwortlich zu
zu informieren, zu organisieren und einzuordnen. gehen? Wer könnte, wenn ich nicht (mehr) kann? Welche ten wir die Gewissheit, dass wir niemals alle zusammen wie
sein, schon gar nicht bis zum Ende. Wer mit der Betreuung
Alternativen gibt es? andere Familien zum schönen Badesee in der Nähe unseres
WIR ergänzt das weiterhin aktuelle Heft «Du&Ich – Betreu- einer nahen Person betraut ist, wähnt sich vielleicht auf
Maiensässes wandern werden. Der Kleinste wird das Laufen
ende und Betreute in Graubünden», das der Verein Curvita einer vorgegebenen Bahn, sieht sich im Räderwerk des
nie lernen, nie mit Freunden draussen Fussball spielen, nie
im Jahr 2020 herausgegeben hat. Auch dient der «Kompass Unausweichlichen. Dabei ist das Gegenteil der Fall:
Der Einbezug der pflegebedürftigen Person, aber auch der eine Lehre machen können. Er wird dann, wenn andere sich
Graubünden» weiterhin als Orientierungshilfe für betreuen- Betreuende Angehörige können eine Menge planen und
weiteren Familienmitglieder ist zentral für alle folgenden zum ersten Mal verlieben, nicht mehr leben.
de Angehörige. Wer WIR zum «Tag der betreuenden An- beeinflussen. Und sie können, ja, sollten auf ständige
Entscheidungen. Denn die Nächsten und unmittelbar Be-
gehörigen» und darüber hinaus zum Lesen in die Hände Veränderungen möglichst flexibel reagieren. Genau Dass ein Kleinkind rund um die Uhr betreut und versorgt
troffenen haben alle auch eigene Ansprüche, Vorstellungen
bekommt, sollte beim Verein Curvita auch das kostenlose darum geht es in diesem Heft. Nichts ist einfach, aber werden muss, ist für alle Eltern selbstverständlich. Bei uns
und Wünsche.
«Du&Ich» dazubestellen. vieles machbar. aber wird das Windelnwechseln niemals aufhören. Der Kin-
Auch Kinder bzw. Minderjährige einbeziehen.
derwagen wird zum Rollstuhl und das Babybettchen zum
Wir, das sind Menschen, die tagtäglich Angehörigenbetreu- Früh Kontakt mit allen möglichen Dienstleistern und Bera- Pflegebett. Statt modische Jeans wird der Junge allenfalls
ung leisten. Wir, das sind aber auch alle Institutionen und tungsstellen suchen. Das bedeutet: aufgleisen und strukturie- Haus- und Trainerhosen tragen. Der Pürierstab wird bleiben
Gruppen, die betreuende Angehörige mit ihren Angeboten ren, bevor es zu viel wird. und das Skateboard niemals kommen.
unterstützen. Für betreuende Angehörige ist es wichtig, die Involvierte Ärzte und Ärztinnen nicht vergessen.
eigene psychische und physische Gesundheit zu erhalten und Das Gewicht unseres Sohnes wird zunehmen. Unsere ver-
zu stärken, damit sie nicht selber krank werden. «WIR» bie- Den Kontakt zu anderen Betroffenen suchen. Diese findet winkelte Wohnung im Hochparterre muss nicht erst auf
tet Einblick in sehr unterschiedliche Situationen und Phasen man in Selbsthilfegruppen, Austauschforen, spezifischen Or- unser Alter hin rollstuhlgängig werden. Haben wir das Geld
der Angehörigenbetreuung. Unser neustes Heft soll nach- ganisationen. Das heisst: hinhören und lernen, was alles auf für ein grösseres Auto?
denklich machen, inspirieren und immer wieder Möglich- mich zukommen kann.
Wird der träumende Blick des Kleinen seine Weichheit be-
keiten aufzeigen, wie es betreuenden Angehörigen gelingen Darauf achten, dass auch in der Selbsthilfe das Geben
halten? Kann er überhaupt glücklich werden, obwohl er nie-
und Nehmen in der Balance bleibt.
Zeig Herz!
kann, all die Veränderungen mit Umsicht zu bewältigen. mals selbstständig sein wird?
Margrit Dobler
Präsidentin
Curvita – Verein für betreuende Angehörige
Denken Sie an jemanden, der einen Angehörigen pflegt und be-
treut. Gehen Sie auf ihn oder sie zu, bereiten Sie eine kleine Freu-
de und schenken Sie etwas Zeit. Zeigen Sie Ihre Wertschätzung
für jemanden, dessen Alltag beschwerlicher ist als Ihrer.
Verein für betreuende Angehörige Tag der pflegenden und
Mit Unterstützung von: betreuenden Angehörigen,
Gesundheitsamt Graubünden jährlich am 30. Oktober
IMPRESSUM: Herausgeberin: Curvita, Verein für betreuende Angehörige, Tulpenweg 8, 7000 Chur, 079 130 26 99, info@curvita.ch, www.curvita.ch
Redaktion: Doris Deflorin, Carsten Michels Konzeption, Gestaltung und Produktion: Reto Sommerau, Agentur Aufwind, Chur Druck: Tipografia Menghini,
Poschiavo Auflage: 5000 Expl. Erscheinungsdatum: 30. Oktober 2021 Folgende Institutionen haben uns finanziell unterstützt: Gesundheitsamt
Graubünden; Maurer Hausmann-Stiftung; Wilhelm Doerenkamp-Stiftung; GKB Beitragsfonds; Pro Senectute Graubünden; Ria und Arthur Dietschweiler-Stiftung;
Stiftung Jacques Bischofberger; Katholische Kirchgemeinde Chur
Familie als Pflegeteam? gebote zurückgreifen, bevor die Last zu gross wird. Es gibt
beispielsweise Spitex speziell für Kinder, Entlastungsdiens- «Pflege kann nur gut gehen, wenn es
der Arbeit, meine Freundinnen und Freunde zu vernachlässi-
gen, zu wenig Zeit und Geduld mit meinen Eltern zu haben.
Nachbarn, Freundinnen, Verwandte bieten gerne ihre Hilfe te für Familien, Kostenübernahmen für Hilfsmittel, spezifi- den Pflegenden selbst gut geht. Um ihre Was mache ich überhaupt richtig?
an. Kurzfristig ist das kein Problem, zum Beispiel nach einer sche Beratungen und Finanzierungshilfen je nach Situation.
eigene Lebensqualität zu erhalten, brauchen
Unfallverletzung, die irgendwann wieder heilt. Auch wenn
bei langfristiger Betreuung helfende Hände aus dem Um-
feld zur Verfügung stehen, braucht es unbedingt zusätzlich

Ebenfalls lohnt es sich, bei der Krankenkasse nachzufra-


gen, welche Unterstützungsangebote sie bietet und mit wel-
chen Partnern sie allenfalls bei speziellen Dienstleistungen
sie ganz individuelle Entlastung. Solche
finden sie im guten Beratungsgespräch mit
Was ist mit Beruf und Karriere?
Und was, wenn es meinem Vater noch schlechter geht? Die
professionelle Unterstützung. Denn das «Ein-bisschen-mehr- kooperiert. Fachpersonen, aber auch in praktischer Eltern in einer Pflegeinstitution unterbringen? Mein Pensum
Herumtragen» kann bald zur riesigen Last werden. Und die Lektüre zum Thema.» reduzieren? Zu meinen Eltern ziehen? Ich liebe meinen Job.
Last wird nicht nur körperlich schwer sein. Wie können Angehörige selber zu einem Lohn für ihre
Claudio Senn Meili, Geschäftsleiter Pro Senectute Graubünden Ich liebe meine Wohnung. Ich liebe mein Privatleben. Und –
grundpflegerischen Leistungen kommen?
Familie sein und nicht ein Pflegeteam. Miteinander spielen, ich liebe meine Eltern.
Ausflüge machen, kuscheln, einfach mal wieder als Paar in Organisatorische und administrative Hilfe liefert hier als gutes
Die Eltern zu lieben, bedeutet nicht, das eigene Leben aufzu-
den Ausgang gehen, mit nur einem Kind einen Erlebnistag Beispiel die noch junge Spitexorganisation Solicare AG, wel-
Dass ich meiner Frau jetzt die Schuhe binde, hätte ich noch geben, wenn Eltern Hilfe benötigen. Das Zurückstellen der
geniessen, Hausaufgaben besprechen, Sport treiben, mu- che auch in Graubünden tätig ist. Sobald Angehörige Kontakt
vor Kurzem nicht als Selbstverständlichkeit angesehen. Da- eigenen Wünsche und Pläne könnte irgendwann in Unzufrie-
sizieren, einmal alleine sein und nichts oder nur etwas für aufnehmen, kümmert sich ein professionelles Team bei der zu-
bei scherzt sie manchmal. Zum Beispiel, ich solle doch ja denheit münden. In Frust. Wut. Trauer. Eigene Not in der
sich tun. Als Familie mit allen «normalen» Herausforderun- ständigen Krankenkasse um die Erlangung einer Kostengut-
nicht vergessen, ihr die Füsse zu küssen. Zukunft. Arbeitslosigkeit.
gen leben, lachen, lieben – genau wie andere Familien ohne sprache. Bei Erfolg steht dann betreuenden Angehörigen eine
schlechtes Gewissen. Fallverantwortliche zur Seite, welche auch auf Veränderungen Dass meine Frau aber für die Körperpflege gerne die profes- Berufstätige müssen nicht alles alleine stemmen. Es gibt
eingehen kann. sionelle Hilfe der Spitex annimmt, hat mich zuerst beleidigt. Unterstützung vonseiten professioneller und gemeinnützi-
Das Lebensumfeld leistet nicht automatisch Hilfe. Es könnte
Das könnte ich doch auch! ger Organisationen. Mahlzeitendienst. Spazierengehen mit
gleichgültig oder sogar abweisend reagieren. Nicht verstehen, Lohn für Angehörigenbetreuung bedeutet neben Wertschät-
Papa. Seniorentreff für Mama. Reinigungskraft. Freiwillige
warum das Kind teilweise oder ganz in einer Pflegeinstitution zung für die geleistete Arbeit auch eine finanzielle Absiche- Es sind genau diese kleinen Unterschiede, die mir helfen,
Helferinnen und Helfer. Tageweise Rundumbetreuung von
betreut wird, warum sich die Familie erlaubt, auch einmal rung. Er beträgt 33.50 Franken pro Stunde inklusive privater meine Frau stets als meine Partnerin ernst zu nehmen. Mit
Vater im nahe gelegenen Heim. Ferienbett. Die Spitex pflegt
Ferien ohne den beeinträchtigten Buben zu machen. Hat die Sozialversicherungsbeiträge wie z. B. AHV, ALV, KTG, UVG, BVG. ihr scherzen, diskutieren, streiten.
und betreut mehrmals am Tag.
Familie nicht schon genug Probleme? Warum wollen die jetzt
Auch wenn wir beide jetzt schon wissen, dass ihr Fenster zur
noch ein weiteres Kind? Weshalb hat die Mutter noch einen Wer Familie sein und bleiben will – also eine eng miteinan- Damit Berufstätige eine sorgfältige Auslegeordnung machen
Aussenwelt zunehmend trüber wird, lerne ich mit jedem Tag
Job angenommen? Warum schaut nicht die Schwiegermutter, der verbundene und vertraute Gemeinschaft –, tut gut dar- können, wie die Vereinbarkeit von Angehörigenbetreuung
besser, mich in den feinen Unterschieden zu üben. Die Li-
die doch so nahe lebt, mehr zu dem Kleinen? – Solche Reak- an, frühzeitig diesen vertrauten Kernbereich um ein ebenso und Berufstätigkeit gelingen kann, gibt es die hilfreiche In-
nie verläuft genau zwischen dem Verrichten von nicht mehr
tionen aus dem Umfeld sind ungerecht, sie können aber kom- vertrauensvolles professionelles Milieu zu erweitern. formationsplattform www.info-workcare.ch. Um auch Ar-
möglichen Alltäglichkeiten, also dem Erbringen von Dienst-
men. Und plötzlich geraten betreuende Angehörige in Erklä- beitgebende gut zu informieren, wie sie unterstützen können
leistungen – und dem Einander-Begegnen mit Gesten der Be-
rungsnot. Sich gegenüber Aussenstehenden zu erklären oder
gar zu rechtfertigen, dafür bringen die wenigsten Energie auf.
Der Alltag ist kräftezehrend genug, der Akku ohnehin meist
Sind du und ich eigentlich noch wir? rührung, der Nähe und des Austausches.
Mit ihren Reaktionen gestaltet meine Frau unsere Partner-

und welche rechtlichen Bestimmungen gelten, gibt es explizit


für sie einen Bereich auf der kantonalen Website
www.angehoerige-betreuen.gr.ch Stichwort «für Arbeit-
Gemeinsam das Leben zu gestalten und stetig weiterzuent-
leer. Und das Umfeld? Es sollte die Betroffenen eher fragen, schaft weiterhin mit. Ich weiss, dass es später vielleicht nur gebende».
wickeln: Mit diesem Gedanken haben wir doch damals in
wie es ihnen geht, statt ihnen unterschwellig Vorhaltungen zu noch ihr Lächeln sein wird, das uns verbindet und bereichert.
Liebe Ja zueinander gesagt. Partnerschaft war für uns ein
machen. Betreuende Angehörige sind einfach primär Mutter,
Miteinander und weniger ein Zustand, in dem ich etwas von
Vater, Bruder, Schwester, Frau, Mann, Kind – ebenso, wie Differenzieren von Anfang an:
dir brauche oder du von mir. Etwas geben, weil jemand was
diejenigen, die Unverständnis zeigen.
braucht, zählt für mich zu einer anderen Art von Beziehung. Streicheln, massieren, eincremen, kämmen, schminken, ge-
Das Krankheitsmanagement ist natürlich ein Teil dieser Fa- Eine Beziehung, bei der man in ein neues Verhältnis eintritt, meinsame Turnübungen… sind mögliche partnerschaftliche
milie. Dennoch sollte sie auf bestehende professionelle An- schwierigstenfalls in ein Abhängigkeitsverhältnis. Gestaltungselemente.
Intimpflege, Umlagerungen, Verbände wechseln, Mobilisie-
rung… sind Dienstleistungen, die unbedingt – und am besten
von Anfang an – Professionellen abgegeben werden sollen.
Wer möglichst früh damit beginnt, ist eher bereit, die entlas-
tende Hilfe Dritter aufzustocken, bevor sich Überforderung
einstellt.
Zwei Welten
Aufstehen um 5.30 Uhr. Katze füttern. Und alles andere, was
jede und jeder vor der Arbeit so tut. Auf dem Weg ins Büro
fahre ich bei meinen Eltern vorbei. Ich helfe meiner Mutter,
Papa bis an den Frühstückstisch zu bringen. Das dauert bei
meinem Vater eine Stunde. Mama hat gar nicht mehr die
Kraft dazu.
Jeder Arbeitstag ohne ausserordentliche Termine ist ein
Glückstag. Abends fahre ich wieder zu den Eltern. Gemein-
sames Abendessen. Administratives. Handreichungen. Hilfe
beim Zubettgehen. Bei mir daheim ankommen und – nichts
mehr. Schlafen, traumlos. Aufwachen, gut. Mutter hat nicht
angerufen. Papa ist nicht aus dem Bett gefallen.
Meine Arbeitgeberin weiss, dass ich mich um meine Eltern
kümmere. Trotz grossem Verständnis am Arbeitsplatz plagt
mich ständig ein schlechtes Gewissen. Nicht zu genügen bei
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WENN AUS PRIVAT PROFESSIONELL WIRD Miteinander sprechen, um einander
zu verstehen
In der Regel stellen betreuende Angehörige bei regelmässi-
gem Austausch fest, dass sich ihr Verhältnis zu den Fach-
personen positiv verändert. Sie bemerken, dass diese bei
Fragen konkrete Antworten geben und sich auch Zeit für
Die Ferien mit meiner Familie stehen schon bald vor der Tür, Angehörige, die im Alltag früh stundenweise Entlastung Erklärungen nehmen. Spüren Angehörige bei Gesprächen,
und ich verschiebe den Gedanken täglich auf morgen. Wie annehmen, werden sich auch mit weiterreichenderen Verän- Die Kommunikation mit allen beteiligten Fachpersonen ist
dass sie nicht allein sind und dass sich ihre Last auf mehrere
wird sich meine Mutter im Heim in ihrem Ferienzimmer derungen auseinandersetzen. Wenn die Zeit dafür gekommen äusserst wichtig. Dennoch beinhaltet sie einige Fallstricke.
Schultern verteilt, dann können sie ihre eigene Rolle – auch
fühlen? Abgeschoben? Glücklich? Vollends verwirrt? Wir ist, ist ein temporärer oder definitiver Umzug in eine Pflegein- Was tun, um nicht hineinzutappen?
ihre Grenzen – wieder klarer sehen. Als betreuende Angehö-
sind doch gemeinsam schon dort zu Besuch gewesen. Das stitution als weiterer Schritt auf der Reise der unterstützungs- Natürlich kenne ich mein Kind am besten. Ich verstehe jede rige sind Sie Teil eines ganzen Teams, das für Ihren Nächsten
Pflegepersonal hat uns sehr herzlichen empfangen. Der Ein- bedürftigen Person besser nachvollziehbar und annehmbarer. minimale körperliche Veränderung und weiss, was ihm so eigentlich nur das Beste will.
druck war stimmig, das mulmige Gefühl bleibt. Mama wirkt Veränderungen in der Betreuungsarbeit können von Angehö- richtig gut tut. Im Grunde genommen bin ich ja Tag und
unruhig – oder empfinde nur ich das? rigen objektiver wahrgenommen werden, und die dafür adä-
Meine Hausärztin hat mir schon vor einem halben Jahr
quate Veränderung in der Betreuung kann eingeleitet und ak-
zeptiert werden.
Nacht mit dem Lesen kleinster Zeichen beschäftigt. Allen
Therapeutinnen und Pflegehilfen, die bei uns ein- und aus-
gehen, ist nur ein Bruchteil des Wesens meines Kindes be-
Reden hilft – Gerede schadet
dringend dazu geraten, meiner eigenen Gesundheit mehr Man kennt solche Sätze: «Also ich habe meinen Vater bis
Aufmerksamkeit zu schenken. Es gebe nicht für alles eine kannt. Stimmt das? Ja und nein.
Was für die einen noch lange kein Notfall ist, wird für be- zu seinem Tod zuhause gepflegt!» – «Mit wenigen Änderun-
Pille, sagte sie. Ruhe. Entspannung. Keinen Rangierbahn- gen in der Wohnung hätte sie sicher noch viel länger daheim
treuende Angehörige schnell zu einem Riesenproblem: Nicht
hof betreiben, sondern wieder öfter einen Provinzbahnhof bleiben können. Waren die Bekannten dazu zu geizig?» –
rechtzeitig wieder daheim zu sein. Für einen Arbeitsauftrag
ohne Nachtfahrplan. Ferien eben. Auch im Alltag nicht noch «Die wollten doch einfach wieder ihre Freiheit und so wie
weiter weg müssen. Den Arm zuhause auf der Treppe ver-
1000 Baustellen gleichzeitig leiten. früher auf Reisen gehen können.» Was andere denken und
staucht. Schulprobleme beim anderen Kind. Der Anstands-
Auszeiten für sich selber finden und aktiv auftanken, besuch bei Verwandten. Ein Unwohlsein. Selber das Bett daherreden, sollte einem doch egal sein. Ist es aber nicht.
Freundschaften pflegen. In den Liegestuhl, wenn die Kin- hüten müssen. Denn die Dinge sind meist viel komplexer und liegen viel nä-
der beschäftigt sind. Mehr Spontanität statt Taktfahrplan. her am Herzen. Oft fehlt die pointierte Antwort im jeweili-
Jeder Mensch braucht Erholung. Warum fällt es mir nur so Gut zu wissen: gen Moment. Eine Antwort, die alles sagt: «Ich will einfach
schwer, auf mich selber zu achten? Ich sollte dringend mit wieder die emotionale Beziehung zu meinem Partner pflegen
Bei Ferienaufenthalt oder bei dauerhaftem Umzug in ein Heim können und nicht weiter seine Krankenschwester sein, dazu
meiner Schwester darüber reden und auch darüber, wie es
werden die Pflegekosten von der Krankenkasse übernommen habe ich keine Kraft mehr. Weil ich ihn liebe und weiss, dass
mit der Betreuung unserer Mutter weitergehen könnte. Jetzt.
(exklusive Selbstbehalt und Franchise). Betreuungs- und Pen- er mich liebt. Darum.»
Im Sommer. In einigen Monaten…
sionskosten werden aber in Rechnung gestellt.
Verschiedene Organisationen bieten für betreuungsbedürf-
«Der Übertritt in eine Pflegeeinrichtung ist
Annehmen üben und abgeben lernen tige Kinder, Jugendliche oder Erwachsene auch Ferien an
(Alzheimer Graubünden, MS-Gesellschaft, Krebsliga, Procap, nicht nur für die Betroffenen, sondern auch
Betreuende Angehörige laufen Gefahr, krank zu werden, Behindertenorganisationen…). Ein Rettungsanker für Eltern für die Angehörigen oft mit viel Unsicherheit
sich selber zu überfordern, auszubrennen. Wer sich nicht in Not kann beispielsweise auch die Kinderbetreuung vom Betreuende Angehörige sind die engsten Vertrauten. Die sol-
len sie bleiben. Sie kennen die pflegebedürftige Person am
– und schlechtem Gewissen – verbunden.
regelmässig Zeit zur Erholung gönnt, nicht immer wieder Schweizerischen Roten Kreuz Graubünden sein.
Abstand gewinnen kann, sich keine Abwechslung mehr zu- besten. Sie machen Beobachtungen und bemerken Verände- Eine offene und ehrliche Kommunikation
gesteht, ist für Notsituationen schlecht gerüstet. In privaten Lernt die auf Unterstützung angewiesene Person frühzeitig rungen als Erste. Fachpersonen bringen grosses Fachwissen erscheint mir in diesem Zusammenhang zen-
Dingen sieht man sich schnell als Einzelkämpfer/in. Wichtig: mehrere Betreuende als «Normalzustand» kennen, gelingt und Erfahrungen mit und kennen die unterschiedlichsten tral. Ziel ist es, dass durch die Entlastung,
professionellen Techniken und Behandlungsmethoden, um
Hilfe annehmen darf und soll sein – und muss manchmal die Umstellung auf mehr externe Betreuung oder der Über-
die Erkrankten und Hilfsbedürftigen spezifisch zu unter-
die eine Pflegeeinrichtung bringt, Angehörige
erst gelernt werden. tritt in eine Institution für alle Beteiligten besser.
stützen. losgelöst von pflegerischen und medizini-
schen Sorgen sich wieder mehr dem betreu-
Wenn Angehörige ihre Beobachtungen mitteilen, sie viel-
leicht auch aufnotieren, leisten sie eine wertvolle Hilfe. ten Menschen widmen und ihn weiter im
Angehörige und Fachpersonen sollen als Team zusammen- Leben begleiten können.»
arbeiten, sich regelmässig austauschen. Dieser Austausch Dipl. med. Petra Hug, Heimärztin, Chur
hört nicht auf, wenn jemand teilweise oder ganz in einer
Pflegeeinrichtung betreut wird. Angehörige dürfen ruhig die
Haltung einnehmen, dass das Gespräch mit den Zuständi-
gen jeweils nur als unterbrochen betrachtet und regelmässig
wieder aufgenommen wird. Pflegende, Ärztinnen und wei-
tere Beteiligte schätzen den Angehörigenblick und lernen
ihrerseits durch diesen Austausch.
Fallstricke:
Wenn Angehörige auftreten, als ob sie alles besser wüssten,
führt das schnell zu Spannungen. Wenn sie therapeutische An-
sätze nicht verstehen, kann das hinderlich sein und lässt wo-
möglich wertvolle Zeit verstreichen.
Wichtige Brücken:
Äussern Sie Ihre Beobachtungen. Stellen Sie offen Fragen,
wenn etwas unklar ist oder nicht verstanden wurde. Das Hin-
terfragen von Entscheidungen der Fachpersonen ist erlaubt:
Erzählen Sie, was Sie beschäftigt. Im vertrauensvollen Ge-
spräch lässt sich vieles klären.
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SO NIMM DENN MEINE HÄNDE
Fachpersonen und Selbsthilfegruppen leisten wertvolle Un- Wenn Angehörige nicht mehr betreuen und pflegen, sondern
terstützung beim Einordnen und Finden von wirksamen die emotionale Nähe und Verbundenheit ins Zentrum rü-
Strategien im Umgang mit solchen Situationen. Schlechtes cken dürfen, weil die auf Hilfe angewiesene Person rundum
Gewissen überfällt hinterrücks. Rechtfertigungen kommen gut betreut ist, entsteht oft eine stressfreiere und von Erwar-
schneller über die Lippen als ein liebevolles und ehrliches tungshaltungen und Erwartungsdruck befreitere Beziehung. «Mit den besten Wünschen für die Zukunft…!» Und dann: steter Prozess des Abschiednehmens – von Hoffnungen und
Sich-auf-die Schulter-Klopfen, weil dieser Schritt der richtige Quantitativ weniger gemeinsame Zeit, dafür innigere Qua- Ballon geplatzt. Plänen, von scheinbaren Gewissheiten.
ist. Der Wunsch nach eigener Erholung oder wieder mehr lität in der Beziehung – und ja: Wir haben wieder eine Be-
Freiraum wird von Aussenstehenden schnell verteufelt. ziehung. Kinder wissen, was sie werden wollen – Prinzessin oder Rit- Ein Hin und Her beginnt zwischen rationalen Entscheidun-
ter. Junge Erwachsene freuen sich auf die Weltreise nach der gen und spontanen Reaktionen, zwischen emotionaler Ebbe
Ein Spaziergang zu zweit wird zum gemeinsamen Erlebnis abgeschlossenen Ausbildung. Werdende Eltern malen sich und Flut. Hoffnung, begleitet von Sorge. Zwischen den Leit-
Hilfreicher Leitsatz:
jenseits der mitschwingenden Verpflichtungen. Zusammen ihr Familienleben aus und das Kinderzimmer an. Paare pla- planken eigener Kräfte und Möglichkeiten. Einsamkeit spü-
Zeit, Kraft und Beharrlichkeit soll nicht in Erklärungen für Aus- hinausgehen. nen die Zeit nach ihrer Pensionierung. Hobbys. Gemeinsa- ren inmitten von Mitmenschen.
senstehende investiert werden, sondern in einen gelingenden me Abenteuer. Wer mitten im Leben eingespannt ist, träumt
neuen Abschnitt für Angehörige und Betreute.
Eine Strecke mit vielen Stationen vom Sabbatical im nächsten Jahr.
Alles kommt anders als gedacht: Die Mutter erkrankt psy-
Willkommen im Gefühlschaos
Rollenwechsel – oder: Vertraut Wenn sich Angehörige auf die Reise «Betreuungsarbeit»
begeben, lassen sie sich auf eine weitestgehend unplanbare
chisch, noch bevor ihr Kind in die Pubertät kommt und
schon nicht mehr Prinzessin werden will. Der Arbeitsunfall
Professionelle Betreuungs- und Pflegekräfte lernen in der
Ausbildung, wie sie ihre emotionale Distanz bewahren
in neuem Raum Fahrt ein. Was heute gilt, ist morgen vielleicht schon nicht
mehr möglich oder nicht mehr passend. Das Reiseprogramm
im Lehrbetrieb macht aus der Weltreise eine lange Odys-
see durch Reha-Stufen. Und aus der Unabhängigkeit wird
können. Diese Distanz heisst aber keinesfalls, dass Fach-
leute ohne Wärme ihren Beruf ausüben. Im Gegenteil. Sie
Ruhe finden. Energie entdecken. Lust empfinden. Leere ver- könnte wie folgt zusammengefasst werden: Intensiv einge- ein langer Kampf zurück zu etwas Selbständigkeit. Ohne schützen sich damit vor seelischer Überlastung und erhalten
spüren, auch Trauer – und all dies zulassen. spannt sein und trotzdem stets offen für Veränderungen blei- Unterstützung der Eltern unmöglich. Die Tochter kommt sich so langfristig in ihrer Tätigkeit. Betreuende Angehörige
ben. Kleine Anpassungen und grössere Schritte werden sich mit einem schweren Herzfehler zur Welt; wenn die Farbe hingegen sind in der Regel dafür nicht ausgebildet und lau-
Es ist gar nicht so leicht, wieder zu lernen, dass ich das Haus
aneinanderreihen. im Kinderzimmer nur das Herz heilen könnte. Die Partnerin fen Gefahr, die seelische Last und psychische Überlastungen
spontan verlassen kann. Einfach mal nichts tun, nichts orga-
nisieren müssen. Ein langes Vollbad nehmen. Ausschlafen. Es lohnt sich, von Anfang an verschiedene Szenarien für sich erkrankt noch vor der Pensionierung an Parkinson. Gerade nicht oder zu spät zu erkennen. Selbst dann, wenn Naheste-
selbst zu durchdenken und möglichst offen mit allen Betei- jetzt kommt die völlig unerwartete Diagnose Krebs im End- hende sie darauf hinweisen.
Sorgfältig bereite ich mich auf den nächsten Besuch vor. Was stadium bei meinem Vater. Statt in italienische Kunstmet-
ligten zu besprechen. Wer kann was leisten? Wo ist die beste
ziehe ich an? Was nehme ich mit? Ein Foto? Eine Wühl- ropolen führt die Bildungsreise ins Zentrum der palliativen Selbsthilfegruppen, Mitarbeitende von Beratungsstellen, Be-
Betreuung möglich? Die beste Betreuung bedeutet gleichzei-
schachtel? Ein Schneckenhaus? Ein Haarband? Es gibt so Betreuung zuhause. gleitangebote von Fachorganisationen wie z. B. die Psychoonko-
tig optimale Pflege und Begleitung für die darauf angewie-
viel, das ich gerne während der Besuchszeiten in kleinen logische Begleitung der Krebsliga Graubünden, Haus- und Fach-
sene Person. Die beste Betreuung heisst aber auch: optimale Mit den grössten Herausforderungen gilt es, die Zukunft
Happen mit meiner Schwester wieder erleben und beleben ärztinnen, Psychologen: Sie alle sind wichtige Anlaufstellen.
und realistische Machbarkeit für die Angehörigen. anzupacken. Die geplatzten Ballone wegkehren. Die Zu-
möchte. Fenster öffnen. Licht hereinlassen. Gemeinsam la-
chen, weinen. Türe wieder schliessen. Mich freuen auf das Wenn der teilweise oder vollständige Übertritt in eine Pfle- kunft neu denken. Pläne am Machbaren und Realistischen
Wenn Angehörige während der Betreuungsarbeit ablehnen-
nächste Zusammensein. Dazwischen das eigene Meer durch- geinstitution ansteht, sollten sich Angehörige vor allem ge- ausrichten. Rollen überdenken und klären. Neue Wünsche
de oder gar aggressive Gefühle der betreuten Person gegen-
schwimmen. In mein Leben eintauchen. Darin versinken. nügend Zeit und Raum geben, sich mit den emotionalen entdecken.
über entwickeln, sind sie bestürzt. Ich möchte meinem be-
Luft schnappen. Mich darin allein fühlen und gleichzeitig Veränderungen auseinanderzusetzen. Sie werden damit kon- Wenn Angehörige damit konfrontiert werden, sich der Frage tagten Vater helfen, stattdessen bin ich ihm böse. Ich will
neue Ufer entdecken, alte Häfen anpeilen. Wieder spüren, frontiert sein. Und diese Auseinandersetzung trägt wesent- zu stellen, ob sie Betreuungsarbeit übernehmen sollen, wol- meine beeinträchtigte Tochter unterstützen, doch mit ihrer
was ich brauche und was mir gut tut. lich zum Gelingen dieser neuen Phase für alle Beteiligten bei. len oder können, betreten sie in der Regel Neuland. Es ist ein Eigensinnigkeit treibt sie mich in den Wahnsinn. Darüber zu
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reden, erweist sich für betreuende Angehörige oft als schwie- womöglich? Will ich es annehmen oder nicht? Das ist nicht tionen gibt. Das Gegenteil davon wäre Teilnahmslosigkeit. Die Krebsdiagnose meiner liebsten Freundin hat sie und
rig, weil diese Gefühle als Tabu empfunden werden. Sie sind die Frage. Es kommt. Es ist da. Es schreitet fort. Lieben heisst: innig Anteil nehmen am Schicksal eines Men- mich zunächst wie mit der Faust getroffen. Mitten ins Ge-
es nicht! Wut und Ärger sind menschliche Reaktionen. Der schen. Ich liebe ihn, und ich bin wütend. Auf ihn und auf sicht. Sprachlosigkeit. Sie und ich wussten es: Jeder Kampf
Menschen planen gern und hegen Zukunftsträume. Als mein
jederzeit selbstlose Engel gehört ins Reich der Fantasie. mich selber. war zwecklos. Sie musste sterben. Bald. Uns blieb nur eine
Mann sein Leben zusehends nicht mehr in der Hand halten
Wichtig ist jedoch, sich diese Gefühle einzugestehen, bevor begrenzte Zeit, das gemeinsame Leben wertzuschätzen. Die
konnte, habe ich das für ihn übernommen. Selbstverständ- Ein Schicksal anzunehmen bedeutet, gleichzeitig einen Trau-
sie zu aggressiven Handlungen und Taten werden. Reden Trauer mit all ihren Phasen rollte unablässig über mich he-
lich und gerne. Aber es wurde eine immer grössere Belastung erprozess zu durchlaufen. Der Trauerprozess wird zum Ma-
Sie, bevor sich physische oder verbale Gewalt manifestiert. rein.
für mich. Die Belastung habe ich ans Pflegeheim übergeben. rathon über Distanzen voller intensiver Gefühle.
Sprechen Sie mit jemandem.
Nun stehe ich mit leeren Händen da und weiss nicht, womit Jetzt musst du kämpfen. Stark sein. Solche Sätze von aussen
Freundinnen oder Arbeitskollegen sind auch zum Zuhören ich sie sinnvoll füllen kann. Abwechselnd wäge ich Wut und versuchte ich weitestmöglich von ihr fernzuhalten. Zu unser
1. Es nicht wahrhaben wollen. Vielleicht wendet sich noch
da. Wer sich traut, über seine Belastungen und die damit ver- Frust darin ab. Und ich finde nichts, was mir Freude machen beider Schutz. Die Hoffnung loderte anfangs in uns beiden.
alles zum Guten. Fehldiagnose. Verwechslung.
bundenen Empfindungen und Gefühle offen zu sprechen, ist könnte. So elend habe ich mich noch nie gefühlt. Dann nur noch in mir. Nun nicht mehr. Weit vor ihrem Tod
für die Mitmenschen nur selten eine Zumutung. Im Gegen- 2. Wut und Zorn stellen sich vor den Schmerz, sind ein trauerten wir. Laut. Leise. Gemeinsam. Einsam. Hielten uns
teil: Man bereichert sie, indem man ihnen Einblicke in einen
Alltag gibt, den sie so (noch) nicht kennen. Denn wer heute
nicht mit Angehörigenbetreuung konfrontiert ist, könnte es
Wie soll man das aushalten? Schutzschild vor dem Unerträglichen, vor dem möglichen
Zusammenbruch.
die Hände, die sich bald nicht mehr hatten. Nur noch von-
einander wussten.
Es ist ganz natürlich, dass sich bei Angehörigen Wut über 3. Hadern mit dem Schicksal. Nach Möglichkeiten suchen, Wie oft hat sie mir gezeigt und gesagt, wie dankbar sie für
morgen schon sein. Darüber reden bedeutet auch, ein Tabu-
das Verlassenwerden Bahn bricht. Auch Wut auf den ande- das Unausweichliche zu beeinflussen. Aufbegehren. Da- unsere schöne gemeinsame Zeit sei. Jetzt warte ich, dass
thema zu benennen und in die Gesellschaft einzubringen –
ren. Die Demenz ist schuld, sie hat ihn mitgenommen, aber gegen auflehnen. – Mit dem Schicksal lässt sich aber nicht Dankbarkeit mir hilft, die ungestümen Wogen der Trauer
aus erster Hand.
er hat mich zurückgelassen! Wut ist eine Kraft, die nur dort verhandeln. zu glätten. Ich weiss, dass diese Dankbarkeit irgendwo tief
entstehen kann, wo es auch Leidenschaft und starke Emo- in mir wohnt. Etwas verstört und verunsichert, ob ich auch
Das Eingestehen von Schwierigkeiten ist kein Zeichen von 4. Die Wucht dieser Erkenntnis löst Resignation aus. Tiefste
jeden Augenblick unserer gemeinsamen Zeit ausgekostet
Schwäche. Es zeigt, dass jemand seine Aufgabe, aber auch sich Traurigkeit. Hilflosigkeit. Alleinsein. Bis zur Depression.
habe; etwas verärgert, weil ich weiss, dass ich das niemals
selber ernst nimmt. «Je schwieriger der Alltag wird, desto wich- 5. Frieden schliessen mit dem Schicksal. Das Leben wieder getan habe; schon etwas versöhnt, weil ich weiss, dass das
tiger ist es für betreuende Angehörige, auch schätzen lernen mit dem, was es ist. Am Schicksal reifen. auch kein Mensch je könnte – in dieser Form spüre ich jene
Alles ist im Fluss für sich selbst zu sorgen. Sind aber die Kräfte
bald aufgebraucht, ist niemandem geholfen.
Trost finden und Trost geben können. Dankbarkeit zuweilen schon. Sie ganz in mein Leben ein-
zulassen, gelingt mir wohl nur allmählich. Es braucht Zeit.
Welches Schicksal hat uns zusammengebracht? Ein spätes
Glück, für immer gedacht. Und dann doch nur auf Zeit ge-
schmiedet. Dass ich meinem Mann unspektakulär vor dem
Zwar spüren die meisten, was ihrer Seele gut
tun würde. Doch oft braucht es ein offenes Trauer beginnt vor der letzten Stunde
Postschalter begegnet bin und er mir galant beim Weiter- Ohr und einen Blick von aussen, um im Es ist nicht so, dass ein Trauerprozess einfach über einen
schieben meiner Weihnachtspakete in der Warteschlange be- überlasteten Alltag gute Prioritäten zu set- hinwegrollt und dann abgeschlossen ist. Nein, er ist wie ein
hilflich war, hat zum Gespräch geführt und später vor den Ozean, der durchschwommen werden will. Mit stetem Wel-
Traualtar. Jetzt gibt er keine schönen Briefe mehr in den Ver- zen. Wir haben Zeit zum Zuhören, Mit-Aus- lengang – die eine Welle stärker, die andere schwächer.
sand, sondern muss in rasantem Tempo seinen einst klaren halten, Ordnen, Worte finden, um Platz für
Irgendwann aber wird man feststellen, dass sich die Wogen
Verstand an Alzheimer abgeben. Und ich ihn nach Jahren die Seele zu schaffen und ganz konkret zu langsam glätten, dass die Trauer schwächer geworden ist.
der Pflege zuhause im Altersheim.
unterstützen.» Dass die Wut nicht mehr dieselbe Macht hat und das Leben
Im Leben von uns allen gibt es Ereignisse und Wendungen, wieder Farbe bekommt. Zunächst noch blass vielleicht, dann
Marianna Iberg Garcia, reformierte Pfarrerin, Grüsch, Spitalseelsorge,
die wir nicht steuern können, die aber trotzdem unser Leben wieder mit dem einen oder anderen leuchtenden Farbtupfer
Leiterin Ausbildung im Verein TECUM
entscheidend bestimmen. Ist das Schicksal? Ein tragisches in Gestalt neuer freudiger Augenblicke. Es braucht Zeit.
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Wege zurück ins Leben
In der Regel schaffen es Trauernde nur langsam, unter der BETREUENDE ANGEHÖRIGE ZEIGEN
TÄGLICH STÄRKE. MACHEN WIR UNS
schweren Glocke ihrer Trauer hervorzukriechen. Wieder den
Himmel über sich zu entdecken. Dankbarkeit für das eigene
Leben zu empfinden. Erinnerungen zulassen. Dicke Mauern
durchstossen und hohe Zäune überwinden. Unsicherheit,
Selbstzweifel, Wut, Frustration und Perspektivlosigkeit ab-
streifen. Endlich aufleben.
Jeder Mensch muss seine eigenen Wege zurück ins Leben
WAS NOCH ZU SAGEN STARK FÜR SIE. Tag der pflegenden und
betreuenden Angehörigen,
BLEIBT
finden, falsche gibt es nicht. Das Leben – es wird kein voll-
kommen neues sein, aber es fällt ein neues Licht darauf. jährlich am 30. Oktober
Manches ändert sich, aber nicht alles. – Schweigen. Reden.
Ablenkung. Zeit. – Professionelle Begleitung. Neue Begeg-
Wir alle lassen uns von starren Rollenbildern leiten,
nungen. Austausch mit Gleichgesinnten. Sport. Zeit. – Rei-
denen wir unterliegen. Meist überschätzen wir das Müssen
sen. Schreiben. Umziehen. Ärztliche Unterstützung. Zeit. –
und unterschätzen manchmal unser Können. Zum betreuen-
DU&ICH
Zeit geben und nehmen. Tagebuch. Briefe schreiben an den e Betreuende und Betreute
den oder zur betreuenden Angehörigen zu werden, ist ein ehörig
Menschen, um den man trauert. e Ang in Graubünden
schwieriger Moment, mehr noch: ein verwirrender Prozess. uend n
Betreraubünde
WIR
Es geht um individuelle Entscheidungen, um gewichtige
Seelsorgedienste in Anspruch nehmen, in Selbsthilfegrup-
Dinge, deren Gewicht uns bisweilen fast erdrückt. in G
pen gehen, ein Trauercafé besuchen. Sich in Erinnerung rufen,
Es geht um Fürsorge, Vertrauen und Mündigkeit, um sehr ende und
Betreu
te
was sich mein Partner für mein Leben nach seinem Tod ge-
Betreu nden.
DU&ICH
in Graubü
ss
Persönliches in privaten und damit intimen Zusammen- Kompbaünden
wünscht hätte. Grau
hängen. Rechtfertigen Sie Ihre Entscheidungen weniger vor lfe ge
anderen, sondern in erster Linie vor sich selbst und Ihren
gshi höri
erun Ange
enti de en
Trauer muss nicht überwunden werden. Es geht darum, sie
Ori euen bünd
betr in Grau
für
anzunehmen, mit ihr leben zu lernen. Sie darf sein. Jeder-
Nächsten. Und bleiben Sie vor allem eines: Ihren Nächsten DU&ICH Betreuende und Betreute
in Graubünden.
angehörig. Ein Angehöriger, der mitfühlt und mitdenkt – Angehörige
zeit. In jeder Form. Überall. Gepaart mit wieder entdeckter
Freude. Die Trauer ist Teil unseres neuen Lebens. Sie wird
eine Angehörige, die handelt und entscheidet. Zum Wohl
der Betroffenen und zu Ihrem eigenen Wohl.
tragen Sorge.
Wer trägt sie?
Kompass
zur Lebensbegleiterin. Sie gehört jetzt dazu.
«Nicht was wir erleben, sondern wie wir empfinden, was Confamigliars
Graubünden
portan levgiament.
wir erleben, macht unser Schicksal aus.» Tgi porta els?
Marie Ebner-Eschenbach (19. Jh.)
Familiari
curanti – chi ngs- e
si cura di loro? tieru d
Orien betreuen
für e
hilfe ngehörig
Pflege und Betreuung – A
ein Räderwerk und wie es läuft
Was betreuende Angehörige leisten, soll nicht nur an
einem Tag im Jahr gewürdigt werden. Curvita sagt
mehr als Danke. Als Zeichen der Wertschätzung und
als konkreter Werkzeugkasten für jeden Tag stehen
Betreuenden unterdessen diese drei Produkte kostenlos
zur Verfügung: Informationen, Tipps, Wahrnehmung.
Nachbestellen oder herunterladen unter:
www.duundich-gr.ch
Verein für betreuende Angehörige
Wir engagieren uns für betreuende Angehörige.
Werden auch Sie Mitglied.
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Betreuende und pflegende Angehörige
erhalten ein politisches Gewicht
Angehörige erbringen unzählige Stun- I familiari assistenti e curanti ricevono un peso politico
- Circa 15´000 cittadini grigionesi assistono, accompagnano o cu-
rano i propri parenti soggetti a malattie. Non si tratta solo di aiuti
emotivamente importanti per le persone interessate, bensì anche
sanitario.
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«Mir selber und anderen gehört Ihnen Respekt und Anerken- «Mi prendo cura di me e meriti rispetto e riconoscenza. Ma devi
Gutes tun» – eine Broschüre für nung. Wichtig ist, dass Sie auch immer dei miei cari» – Un opuscolo per pensare anche a te stessa o a te stesso.
- betreuende Angehörige zu sich selbst schauen! Es ist wichtig, gli assistenti familiari È importante che tu stia bene! Solo così
dass es Ihnen gut geht! So können Sie potrai aiutare
Vielleicht kümmern Sie sich intensiv der nahestehenden Person noch lange forse ti prendi cura intensamente o da la persona a te cara ancora per molto
- oder schon länger um eine Person, die helfen. Wenn es Ihnen gut geht, kommt molto tempo di una persona che ti sta tempo. Se tu stai bene, ne trae vantag-
Ihnen nahesteht. Diese Person braucht das auch der anderen Person zugute. vicino. Questa persona ha bisogno del gio anche la persona che assisti.
Ihre Hilfe, weil sie alt oder krank ist. tuo aiuto perché è anziana o malata. La
- Sie kümmern sich zum Beispiel um Darum geht es in dieser persona che assisti può essere tuo pa- Questo opuscolo tratta proprio
- Ihren Vater oder um Ihre Frau. Sie Broschüre dre o tua madre, tuo marito o tua mog- questi temi
- helfen der Person mehrmals in der • Was tut Ihnen gut? lie oppure un’altra persona • Cosa ti fa stare bene?
Woche, ganz praktisch oder auf der • Auf was können Sie stolz sein? a te cara. • Di cosa puoi essere orgogliosa
Peter Peyer, Regierungsrat emotionalen Ebene. Vielleicht müssen • Wie können andere Menschen o orgoglioso?
Vorsteher des Departements für Justiz, Sie immer mehr für diese Person über- Sie unterstützen? Aiuti questa persona più volte alla • Come ti possono aiutare gli altri?
Sicherheit und Gesundheit nehmen und müssen mit der Zeit sogar settimana, sia nelle cose pratiche sia
Persunas che assistan e tgiran confamigliars den ganzen Tag und die ganze Nacht sul piano emotivo. Con il passare del Die Broschüre finden Sie
survegnan sustegn politic da sein. tempo ti devi occupare di sempre più als Download unter:
cose. Forse ha bisogno diassistenza
Var 15’000 Grischunas e Grischuns assistan, accumpognan u Vielleicht ist all das selbstverständlich costante, sia di giorno che di notte.
tgiran confamigliars malsauns. Ellas ed els n’èn betg mo in’im- für Sie. Sie machen das gerne für die
andere Person. Aber möglicherweise Può darsi che tutto questo sia naturale
purtanta pitga emoziunala per las pertutgadas ed ils pertutgads, merken Sie auch, dass Sie immer we- per te e lo fai volentieri. Ma magari ti
- niger Kraft haben. Sie werden schneller rendi conto che cominciano a mancarti
tur da la sanadad. ungeduldig oder ärgern sich immer le forze. Perdi più in fretta la pazienza o
öfter. Manchmal haben Sie das Gefühl, ti arrabbi sempre più spesso. A volte ti
- dass Sie es nicht mehr schaffen. sembra di non farcela più.
Non sei l’unica persona ad avere questi
- Damit sind Sie nicht alleine. So geht es pensieri e questi sentimenti.
vielen anderen Menschen in ähnlichen Ci sono molte altre persone in situa-
Situationen. In der Fachwelt spricht zioni simili alla tua. Tra gli addetti ai
man von Menschen wie Ihnen oft als lavori, le persone come te sono
- «betreuende Angehörige». chiamate «familiari curanti».
- Sie tun, was Sie können, und dafür Tu fai tutto quello che puoi e per questo
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Ältere Angehörige
Ein Handbuch für Graubünden

Weil Pro Senectute Graubünden diese Er-

und

Wir

unter

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