Nervenarzt H. Helmchen
https://doi.org/10.1007/s00115-017-0464-2 Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie, Campus Benjamin Franklin, Charité – Universitätsmedizin Berlin,
Berlin, Deutschland
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Nicht zuletzt als Reaktion auf die kol- und den anstaltserfahrenen1 Tübinger dete Sicht auf den psychisch Kranken
lektivistische Ideologie und den biolo- (1960–1972) Lehrstuhlinhaber Walter zur sozialpsychiatrischen Reform der
gistischen Reduktionismus des Natio- Schulte (1910–1972) breiteten sich diese bundesdeutschen Psychiatrie führten
nalsozialismus gewannen in der Nach- Gedanken in den 1950er und 1960er Jah- [31].
kriegszeit wieder geisteswissenschaftli- ren vornehmlich im südwestdeutschen Bisher historisch kaum systema-
che Aspekte wie Lebensgeschichte und Raum sowie auch durch ein Netzwerk tisch bearbeitet ist jedoch die Frage,
sozialer Kontext des Individuums Ein- („Rhein-Main-Kreis“) junger Psychiater wie die sich gleichzeitig entwickelnde
fluss auf das psychiatrische Denken. aus diesen Kliniken aus [30]. Schließlich Psychopharmakotherapie2 diese Ent-
Diese Entwicklung konkretisierte sich in motivierte die „brutale Wirklichkeit“ der wicklung beeinflusste3. Zwar wurde sie
der anthropologischen Psychiatrie. Sie durch die nationalsozialistischen Ver- anfänglich als „eine der wichtigsten Vor-
entstand mit der verstehenden Anthro- brechen und die Not der Nachkriegszeit aussetzungen für die Forcierung sozial-
pologie um den Frankfurter Lehrstuhl- verelendeten und vernachlässigten psy- psychiatrischerBemühungen“ angesehen
inhaber für Psychiatrie (1950–1967) Jürg chiatrischen Anstalten [17] junge Psych- [1, S. 20], jedoch mit unterschiedlicher
Zutt (1893–1980; [27]) sowie mit dem iater zu einer Reformbewegung, aus Relevanz und Begründung in verschie-
psychiatrischen Lehrstuhlinhaber Wal- der der „Mannheimer Kreis“ und 1971 denen Kontexten [1, S. 79; 14, S. 24; 21]
ter v. Baeyer (1904–1987) in Heidelberg die Deutsche Gesellschaft für soziale bis hin zu nur geringer, fraglicher oder
(1955–1972), der 1955 im „Begriff der Psychiatrie (DGSP) hervorgingen [23]. gar keiner Bedeutung [24, 25, 29]. Auf
Begegnung“ [32] den Blick auf das we- Dazu passt nicht ganz die Feststellung, Wechselwirkungen zwischen dieser bio-
sentliche therapeutische Moment der dass „an der Frankfurter Klinik unter logischen und der sozialen Dimension
beziehungsstiftenden Begegnung mit Leitung von Zutt die erste sozialpsych- psychischen Krankseins sei deshalb aus
dem kranken Individuum lenkte. Be- iatrische Abteilung auf Bundesgebiet eigener Kenntnis anhand einiger histo-
reits 1947 ließ ihn seine Erfahrung als entstand, von der die Reformbewegung rischer Daten aus Berlin aufmerksam
Chefarzt der psychiatrischen Abteilung der Versorgung psychisch Kranker ihren gemacht.
des großen Klinikums in Nürnberg Ausgang nahm“ [28, S. 223]. Denn sol-
(1945–1955) in einem Vortrag über „So- che Feststellung wird der Tatsache nicht
zialpsychiatrie“ sprechen [19], die dann gerecht, dass Heinz Häfner 1963 einen 2 Mit der psychiatrischen Pharmakotherapie
von seinen Schülern Heinz Häfner und Antrag auf Errichtung einer Abteilung
wurde nicht nur die Behandlung der Patienten
Karl-Peter Kisker in den 1960er Jahren für Sozialpsychiatrie und Rehabilitation auf eine neue Grundlage gestellt, sondern sie
vorbereitet [6] und mit der Psychiatrie- an der Psychiatrischen Klinik der Uni- wurde auch ein Instrument zur Erforschung
Enquète des Deutschen Bundestages zur versität Heidelberg stellte, der schluss- biologischer Mechanismen psychischer Störun-
Psychiatrie-Reform in der Umgestal- endlich 1975 in der Eröffnung des neu gen und führte zum Begriff der „biologischen
Psychiatrie“ [8].
tung der psychiatrischen Versorgung errichteten Zentralinstituts für seelische
3 „Heute setzen sich in Deutschland moderne
institutionalisiert wurde. Vorsitzender Gesundheit in Mannheim mündete. Al-
sozialpsychiatrische Konzepte nur sehr zögernd
der Enquètekommission wurde Caspar lerdings ist der Eindruck begründet, durch. So verfügen in der deutschen Bundes-
Kulenkampff, der ab 1959 eine sozial- dass die menschenunwürdigen Zustän- republik und West-Berlin bisher nur drei der
psychiatrische Abteilung an der Frank- de psychiatrischer Versorgungsanstalten einundzwanzig psychiatrischen Universitäts-
furter Universitätsklinik aufgebaut hatte. und eine neue, anthropologisch begrün- kliniken über mehrjährige Erfahrungen mit
Über den psychotherapeutisch enga- einer sozialpsychiatrischen Nachsorge-Einheit
mit Tag- und Nachtklinik. Voraussetzung und
gierten Lehrstuhlinhaber Hanns Ruffin 1
1947–1954 leitender Oberarzt in Bethel, Anlass zur Einrichtung einer solchen Institution
(1902–1979) in Freiburg (1951–1967) 1954–1960 Direktor der Psychiatrischen Anstalt inBerlinwarendieermutigendenErfolgemitder
Gütersloh. medikamentösen Dauertherapie.“ [11, S. 392/1].
Der Nervenarzt
Zusammenfassung · Abstract
Der Nervenarzt
Symptome auf die Wiedereingliederung am ehesten hoffen, dass die Langstrecken- men wurde das Haus Phönix 1962 zum
der Remittierten in den Beruf und die prognose bei Schizophrenen verbessert „Übergangsheim mit Tag- und Nacht-Kli-
Familie . . . Dadurch werden häufig für werden könnte. nik“ erweitert.6
die psychiatrische Therapie Probleme aus Die eigenen Erfahrungen und die
dem soziologischen Bereich bedeutungs- Deshalb startete „am 01.07.1957 die zunehmende Diskussion notwendi-
voller als die rein medizinischen. Wenn erste Katamnese mit 241 schizophren ger Änderungen der psychiatrischen
diese Faktoren übersehen oder vernach- Kranken“, indem „systematisch die schi- Versorgungsstrukturen7 motivierten
lässigt werden, besteht die Gefahr, dass der zophrenen Kranken von zwei geschlos- Hippius, bei Bleibeverhandlungen zur
Auftrieb, den die psychiatrische Therapie senen Stationen nach Abschluss einer Abwendung eines Rufes nach Hamburg
durch die Einführung der Psychophar- stationären Erstbehandlung von durch- 1968 eine Abteilung für psychiatrische
maka erhielt, versickert. Die Impulse der schnittlich 6–12-Wochen Dauer in eine Epidemiologie und Sozialpsychiatrie zu
Pharmakopsychiatrie müssen von der so- ambulante Dauerbehandlung mit Pera- fordern; sie wurde von Fakultät und
zialen Psychiatrie aufgegriffen werden [2, zin übernommen“ [3, S. 1916] wurden. akademischem Senat der Freien Univer-
S. 529]. Geprüft werden sollte, ob die ambulante sität Berlin 1970 beschlossen8 und 1972
Pharmakotherapie mit dem nebenwir- mit Gregor Bosch als Leiter besetzt, der
Damit wurde die Perspektive einer reha- kungsarmen Perazin [3] die Rezidivquote seine sozialpsychiatrische Expertise u. a.
bilitativ orientierten ambulanten Lang- nach 5 Jahren signifikant senkt.5 Es zeigte beim Aufbau der von Caspar Kulen-
zeitbehandlung eröffnet. sich, dass die Ausdauer eines Kranken kampff initiierten sozialpsychiatrischen
Diese Erfahrungen mit langfristig bei der Durchführung einer Dauerthe- Einrichtung in Frankfurt erworben hatte.
pharmakotherapierten Patienten be- rapie „nicht nur durch individuale und
gründeten die Forderung, „. . . den re- medizinische, sondern auch durch sozia- Korrespondenzadresse
mittierten Kranken störungsfrei in sein le Faktoren determiniert ist“ [2, S. 533].
Prof. Dr. H. Helmchen
soziales Milieu wiedereinzugliedern“ Nicht nur der erzielte Remissionsgrad,
Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie,
[2, S. 529], um „. . . den Erfordernis- sondern „ebenso entscheidend für die Campus Benjamin Franklin, Charité –
sen einer sozialpsychiatrischen gestuften Zuverlässigkeit in der Dauertherapie Universitätsmedizin Berlin
Rehabilitation gerecht“ [2, S. 531] zu sind die Wohnsituation, die häusliche Hindenburgdamm 30, 12200 Berlin,
werden. Folgerichtig suchte Hanns Hip- Atmosphäre sowie die Einstellung der Deutschland
hanfried.helmchen@charite.de
pius mit einigen Kollegen, insbesondere Bezugspersonen zur Krankheit und zur
mit Hildegard Enss, diese Forderungen Therapie des Patienten“ [26, S. 529]. Des-
Interessenkonflikt. H. Helmchen gibt an, dass kein
umzusetzen. So nahm er Kontakt mit halb wurde die fürsorgerische Betreuung Interessenkonflikt besteht.
dem Präsidenten des DRK-Landesver- der Patienten in einem gestuften Reha-
bandes Berlin, Dr. Dietrich Blos auf, bilitationsprozess ausgebaut und 1960 in
der „1956 das Haus Phönix zur Auf- einer Sozialabteilung institutionalisiert 6
Pers.MitteilungvonH.Hippius am 27.08.2017:
nahme entlassener Schizophrener“ – [2, S. 531]. Hanns Hippius hatte Caspar Kulenkampff seine
und zwar „als erstes Übergangsheim Die intensive ärztliche und fürsorge- Eindrücke vom Besuch sozialpsychiatrischer
Einrichtungen in Kanada berichtet; danach
in der Bundesrepublik und West-Berlin rische Begleitung der medikamentösen
besuchte Kulenkampff Hippius 1961 in Berlin,
mit Unterstützung durch das Berliner Dauerbehandlung führte zu unterschied- besichtigte die sozialpsychiatrischen Einrich-
Zahlenlotto“ [2, S. 531] einrichtete. „Es lichen Modifikationen der Interventio- tungen um Haus Phönix – und publizierte über
diente zunächst als Übergangsheim der nen, um drohende Rezidive zu verhin- die in Frankfurt eingerichtete Nachtklinik: [20].
Aufnahme entlassener Schizophrener, dern oder abzumildern, nicht nur durch 7
Auch durch einen „sozialpsychiatrischen
die durch lange Krankheit ihre Woh- – teilweise auch von erfahrenen Patien- Arbeitskreis Berlin“ (SPAK), der sich 1970
nung verloren und keinen Kontakt mehr ten selbst durchgeführte – Dosisanpas- vornehmlich aus „Assistenten der Universi-
tätspsychiatrie“ gebildet hatte und 1972 ein
zu Angehörigen hatten“ [2, S. 529]. sungen, sondern auch durch kurzfristige rosa Papier „Grundlagen für eine Reform der
Die bis dahin vorhandenen (somati- Aufnahmen nur über Nacht für eine Me- Psychiatrie in West-Berlin“ vorlegte [22, S. 340];
schen „Schock“-)Behandlungsverfahren dikationsanpassung und Gespräche mit ab 1967 wurden unter maßgeblicher Initiative
konnten zwar die Prognose akuter schi- dem Arzt. Noch nicht wieder arbeitsfähi- der Senatsdirigentin Dr. Ruth Mattheis an den
zophrener Schübe, nicht jedoch die Lang- ge, aber schon weitgehend entlassungs- Bezirks-Gesundheitsämtern in Anlehnung an
Reformmodelle der 1920er Jahre sozialpsychia-
zeitprognose verbessern. fähige Patienten blieben nur tagsüber in trische Dienste eingerichtet [23]; dazu bemerkte
der Klinik, verbrachten aber die Nacht die Senatsdirektorin Dr. Barbara v. Renthe-Fink
Die Suche nach einer therapeutischen
bei ihren Angehörigen [4]. Zur Insti- „Wirklich erfolgreich war lediglich eine langjäh-
Methode, deren Anwendung über einen rig geplante Entwicklung sozialpsychiatrischer
tutionalisierung dieser Interventionsfor-
langen Zeitraum oder sogar für die Dauer Dienste.Lange,bevordieEnquetederBundesre-
wirksam ist, blieb daher weiterhin eine der gierung für die psychiatrische Versorgung in der
vordringlichsten Aufgaben der psychiatri- 5
Nach 3 Jahren waren noch 59 % der phar- Bundesrepublik Deutschland vorlag, wurde hier
schen Therapie; eine langfristig anwend- makotherapierten Patienten rezidivfrei, aber ein Modell für die dezentralisierte Psychiatrie
nur 20 % der Patienten ohne Dauertherapie [9, geschaffen“ [33, S. 88].
bare Behandlungsform lässt nämlich noch 8
S. 329]. Pers.MitteilungvonH.Hippius am 03.02.2006.
Der Nervenarzt
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