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2.20

Rätsel
Deutsche Ausgabe des SCIENTIFIC AMERICAN

Bewusstsein
8,90 € (D/A/L) · 14,– sFr. D6179E

Wie das Gehirn


die Welt erschafft

KOSMOLOGIE Erste Einblicke ins junge Weltall


GENE DRIVES Erbgut mit Durchsetzungskraft
NATURGESETZE Wie universell sind sie wirklich?
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EDITORIAL IN DIESER AUSGABE

RÄTSELHAFTES
GEHIRN
Hartwig Hanser, Redaktionsleiter
hanser@spektrum.de

 Als ich mich an das Schreiben dieses Editorials machte, fiel mir sofort meine
allererste Arbeitswoche im Verlag ein. Damals, im September 2001, musste
ich ein passendes Titelthema für die Startausgabe des gerade neu gegründeten DANIEL T. KSEPKA
Magazins »Gehirn&Geist« finden. Ich begann mental die großen Fragen der Am Bruce Museum in Greenwich,
Neurowissenschaft durchzugehen und hatte schnell die Antwort – ganz klar: USA, forscht der Paläontologe
»Auf der Suche nach dem Bewusstsein«! über Reptilien, die im Schatten
Bald zwei Jahrzehnte später zählt das Thema immer noch zu den großen der Dinosaurer lebten und heute
ungelösten Rätseln der Wissenschaft. Wie schaffen es knapp drei Pfund glibbe­ nahezu unbekannt sind (S. 36).
riges Nervengewebe, ein Gefühl für das eigene Selbst zu erzeugen? Seit Jahr­
zehnten fahnden Neurowissenschaftler nach den »neuronalen Korrelaten des
Bewusstseins« im Gehirn, ohne eine definitive Antwort zu finden. Was ist so
besonders an diesem Organ aus knapp 100 Milliarden Nervenzellen im Unter­
schied zu anderen Geweben? Einfach die schiere Anzahl an Zellen? Nicht unbe­
dingt, denn rund drei Viertel aller Hirnneurone befinden sich im Kleinhirn, das für
das Bewusstsein keine Rolle spielt. Wichtiger scheint hier die spezielle neuronale
Verschaltung in der Großhirnrinde zu sein. Der Neurowissenschaftler Christof
Koch, Direktor des Allen Institute for Brain Science in Seattle, berichtet ab S. 12
über den aktuellen Stand der Forschung zum Thema und stellt die beiden heute ERNST A. WIMMER,
populärsten Theorien dazu vor, wie Bewusstsein im Gehirn entsteht. GEORG OBERHOFER
Daneben ist unser Denkorgan ständig damit beschäftigt, die einlaufenden Die beiden Biologen erkunden
Sinneseindrücke zu einem Abbild der Welt um uns herum zusammenzufügen. neue Ansätze zur Schädlings­
Laut neueren Erkenntnissen läuft dieser Vorgang aber gewissermaßen rückwärts bekämpfung. Dabei setzen sie
ab, wie der Kognitionsforscher Anil Seth von der University of Sussex ab S. 18 auf »Gene Drives«: die beschleu­
beschreibt. Demzufolge stellt das Gehirn zunächst Prognosen über die Umwelt nigte Ausbreitung von Genen
auf und gleicht diese erst danach mit den Sinnessignalen ab. Somit leben wir alle in ­Po­pulationen, etwa um Krank­
in einer Art kontrollierter Halluzination und in unserer jeweils eigenen, einzigarti­ heitsüberträger unschädlich
gen Welt. Das könnte nicht nur soziale Phänomene wie Filterblasen im Internet zu ­machen (S. 46).
erklären, sondern auch das Entstehen psychischer Störungen wie Schizophrenie.
Bei diesen Patienten dominiert die innere Hypothese derart, dass sie nicht mehr
gemäß den Umweltinformationen korrigiert wird und ein Eigenleben entfaltet.
Das nennen wir dann Wahnvorstellung.

Mit diesen beiden Artikeln beginnen wir unsere neue Serie über die Erforschung
des menschlichen Gehirns und seiner Aufgaben. Eine bewusstseinserweiternde
Lektüre wünscht Ihnen

TEVA VERNOUX,
CHRISTOPHE GODIN,
FABRICE BESNARD
Drei Wissenschaftler von der
Archäologie Geschichte Kultur
Ecole normale supérieure in Lyon
4.19
SPEZIAL bringen ab S. 52 Botanik und
Geschichte Kultur Helden 4.19

In Kooperation mit
SPEZIAL Archäologie Geschichte Kultur

Mathematik zusammen, um die


der Wissenschaft SPEZIAL Archäologie

NEU AM KIOSK! Bildung der erstaunlichen Muster


HeldenDie ewige Sehnsucht
nach Ruhm und Größe In unserem Spektrum SPEZIAL Archäologie – Geschichte – von Pflanzen nachzuvollziehen.
Kultur 4.19 dreht sich alles um Helden: von der Antike
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bis zur Neuzeit.


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OLYMPIA Von antiken Siegern


und Versagern
MÄRTYRER Glaubensstärke
unter der Folter
NAPOLEON General, Kaiser
und Meister der Propaganda

28.11.19 15:10

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Spektrum der Wissenschaft  2.20 3


ü
INHALT
3 EDITORIAL Neue Serie: Das menschliche Gehirn

6 SPEKTROGRAMM 12 KOGNITION WAS IST BEWUSSTSEIN?


Erst allmählich lüften Naturwissenschaftler ein Geheimnis, das Philoso-
26 FORSCHUNG AKTUELL phen seit der Antike beschäftigt.
Form versus Textur Von Christof Koch
Bilderkennung bei Mensch
und KI.
18 WAHRNEHMUNG UNSERE INNEREN UNIVERSEN
Detektoren für die Lücke Mittels ständig aktualisierter Prognosen über die äußere Welt konstruiert das
im Spektrum Gehirn seine eigene Realität als kontrollierte Halluzination.
Ein Graphentransistor für Von Anil K. Seth
Terahertzstrahlung.
Auf der ganzen Erde wird
es wärmer
Zum ersten Mal in den 36 PALÄONTOLOGIE
letzten 2000 Jahren steigt DAS GEHEIMNIS DER VERBORGENEN REPTILIEN
die Temperatur global. Die Choristodera, eine wenig bekannte Reptiliengruppe, überlebte im Gegen-
Wie Knochen entstehen satz zu den Dinosauriern das Massenaussterben am Ende der Kreidezeit.
Von Daniel T. Ksepka
Neue Einblicke in den
Wachstumsmechanismus.
46 GENETIK IM BUND MIT SELBSTSÜCHTIGEN GENEN
35 SPRINGERS EINWÜRFE Wie »Gene Drives« dabei helfen können, Schädlingsorganismen und Krank-
Der Haken an der Sache heitserreger zu bekämpfen.
Von Ernst A. Wimmer und Georg Oberhofer
Ist Werkzeuggebrauch eine
Frage der Kultur oder der
Umwelt? 52 BOTANIK ZAHLENSPIELE IM REICH DER PFLANZEN
Pflanzen weisen komplizierte Formen auf, die uns schon lange faszinieren.
62 ZEITREISE Nach und nach entschlüsseln Forscher die dazugehörigen Mechanismen.
Von Teva Vernoux, Christophe Godin und Fabrice Besnard
78 SCHLICHTING!
Schneeverlust unter dem 64 ATMOSPHÄRE DER WOLKENSTAUBSAUGER VON SPITZBERGEN
Gefrierpunkt
Um Klimamodelle zu verbessern, untersucht ein Wissenschaftler Wasser-
Bei Phasenübergängen ist
dampf und Feinstaub aus der saubersten Luft der Welt.
die Temperatur nicht alles.
Von Tamara Worzewski

80 IMPRESSUM
69 CHEMISCHE UNTERHALTUNGEN ATEMNOT AUF ZELLULOID
81 FREISTETTERS FORMELWELT Wie realistisch ist die Chemie in den Filmen »Das Boot« und »Apollo 13«?
Von Matthias Ducci und Marco Oetken
Vollkommen logisch
Die Mathematik der Such-
maschinen. 72 ASTRONOMIE BLICK INS DUNKLE ZEITALTER
Eine neue Generation von Radioteleskopen liefert Signale aus der Frühzeit des
86 REZENSIONEN Kosmos.
Von Davide Castelvecchi

94 LESERBRIEFE
82 WISSENSCHAFTSPHILOSOPHIE
96 FUTUR III – KURZGESCHICHTE WIE UNIVERSELL SIND NATURGESETZE?
Neue Serie: Grundbegriffe der Wissenschaft Die fundamentalen Regeln der
98 VORSCHAU Physik gelten nur unter idealen Bedingungen. Doch die gibt es praktisch nie.
Von Alexander Mäder

TITELBILD:
HANK GREBE / STOCK.ADOBE.COM;
BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

4 Spektrum der Wissenschaft  2.20


ü
12

MONSITJ / STOCK.ADOBE.COM
TITELTHEMA
WAS IST BEWUSSTSEIN?
EMMA SKURNICK

52
BOTANIK
ZAHLENSPIELE
IM REICH DER
PFLANZEN

36
PALÄONTOLOGIE
GEHEIMNIS-
RAZZEL / STOCK.ADOBE.COM

VOLLE
REPTILIEN
TAMARA WORZEWSKI

ARCHANGELWORKS / STOCK.ADOBE.COM; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

82
WISSENSCHAFTSPHILOSOPHIE
WIE UNIVERSELL SIND
NATURGESETZE?
64 Alle Artikel auch digital
auf Spektrum.de
ATMOSPHÄRE Auf Spektrum.de berichten
DER WOLKEN- unsere Redakteure täglich
STAUBSAUGER VON aus der Wissenschaft: fundiert,
SPITZBERGEN aktuell, exklusiv.

Spektrum der Wissenschaft  2.20 5


ü
SPEKTROGRAMM

STÉPHANE LANCELOT / INRAP

STEINZEIT-SCHÖNHEIT

 Kurze Ärmchen, hängende Brüste,


ein schwerer Bauch und ein aus­
ladendes Gesäß – diese Körpermerk­
aus Europa bekannt. Das wohl be­
rühmteste Exemplar ist die »Venus von
Willendorf« aus Österreich.
(Inrap) eine gut erhaltene, etwa vier
Zentimeter große Figurine aus Kalk­
stein ausgegraben – am Fundplatz
male sind typisch für die so genannten Nun haben französische Archäolo­ Renancourt bei Amiens im Norden des
Venusfigurinen. Mehr als 100 solcher gen des Institut national des recher­ Landes. Die Forscher entdeckten die
Steinzeitstatuetten sind inzwischen ches archéologiques préventives Figur in den Überresten eines Jagd­

6 Spektrum der Wissenschaft  2.20


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STÉPHANE LANCELOT / INRAP

lagers, in dem Menschen vor 23 000 Paläolithikums am Ende der letzten handelte. Einige Archäologen vertreten
Jahren ihre Beute zerteilten und neben Eiszeit. Wen die üppige Nachbildung hingegen die Meinung, dass sie eine
Steingeräten auch Figurinen anfertig­ darstellen soll oder welche Bedeutung an­gesehene Frau der Gemeinschaft
ten. Der Fund, der hier von allen Seiten sie hatte, ist dagegen unklar. Denkbar wiedergibt.
zu sehen ist, stammt aus dem Gravet­ wäre, dass es sich um Bildnisse von Pressemitteilung des Inrap, Dezember
tien, einer der letzten Kulturstufen des Mutter- oder Fruchtbarkeitsgöttinnen 2019

Spektrum der Wissenschaft  2.20 7


ü
SPEKTROGRAMM
ASTRONOMIE
WEISSER ZWERG KNABBERT AN EXOPLANET

 Astronomen haben ein besonderes


Sternsystem aufgespürt, in dem
ein Weißer Zwerg das Gas eines nahen
Gebilde sind im Orbit von Weißen
Zwergen alles andere als selten: Da die
ausgebrannten Sterne sehr dicht sind,
ren, der den Weißen Zwerg am Rand
der Scheibe umkreist.
Der Planet wird demnach von der
Riesenplaneten aufsaugt. Bisher können ihre Gezeitenkräfte Klein­ extremen Ultraviolettstrahlung des
hielten Experten die ferne Region des planeten zerreißen und die Trümmer 27 500 Grad Celsius heißen Weißen
Weltalls für ein Doppelsternsystem, zu einer kreisenden Staubscheibe Zwergs getroffen. Das müsste die
in dem zwei Weiße Zwerge um einen zermahlen. Atmosphäre des Planeten nach und
gemeinsamen Schwerpunkt kreisen. Im Fall von WD J0914+1914 besteht nach verdampfen lassen. Langfristig
Ein Team um Boris Gänsicke von die Scheibe allerdings lediglich zu wird WD J0914+1914 seinen planeta­
der University of Warwick hat nun kleinen Teilen aus Eisen oder Silizium, ren Begleiter jedoch nicht ganz auf­
mit dem Very Large Telescope in wie sie typisch wären für zerstückeltes fressen, sondern weiterhin nur daran
Chile genauer hingesehen und die Gestein. Stattdessen enthält sie vor­ knabbern: Sofern der Planet heute so
Zusammensetzung des Lichts von rangig Wasserstoff, Sauerstoff und groß wie Neptun ist, könnte der Weiße
WD J0914+1914 analysiert. Schwefel. Damit gleiche die Zusam­ Zwerg gerade einmal vier Prozent von
Die Forscher fanden dabei klare mensetzung dem Inneren der Eisriesen ihm verputzen, bevor er in 350 Millio­
Indizien dafür, dass es sich bei dem Uranus und Neptun in unserem Son­ nen Jahren so weit erkaltet ist, dass
System bloß um einen einzelnen nensystem, so das Team. Am besten kein Gasdiebstahl mehr messbar ist.
Zwergstern handelt, der aber von einer ließen sich die Messdaten daher durch
Trümmerscheibe umgeben ist. Solche einen solchen Riesenplaneten erklä­ Nature 10.1038/s41586-019-1789-8, 2019

So stellen sich Forscher das


System WD J0914+1914 vor:
Ein weißer Zwergstern (links)
saugt Gas von einem Plane­
ten (rechts) ab und sammelt
das Material in einer ausge­
dehnten Scheibe.

ESO/M. KORNMESSER (WWW.ESO.ORG/PUBLIC/GERMANY/IMAGES/ESO1919A/) /


CC BY 4.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY/4.0/LEGALCODE)

8 Spektrum der Wissenschaft  2.20


ü
MEDIZIN
DNA-STERN LEGT
VIREN LAHM

 Ein Gerüst aus Makromolekülen


schnappt sich zielgenau bestimmte
Viren aus der Blutbahn und leuchtet
dann auf. Die Nanostruktur besteht

XING WANG, RENSSELAER POLYTECHNIC INSTITUTE (RPI)


aus DNA-Ketten und erinnert an einen
fünf­zackigen Stern, wie die Entwickler
um Xing Wang von der University
of Illinois berichten. An den Enden
hängen dabei jeweils zwei spezielle
Aptamere – kurze Nukleotidketten, die
wegen ihrer räumlichen Anordnung
an die ED3-Hüllprotein-Cluster des
Denguevirus andocken. Ein aus DNA konstruiertes stern­ Nebenwirkungen verursachen, hoffen
Der Stern verbindet sich daher bei förmiges ­Makromolekül kann sich die Biochemiker. DNA-Gerüste werden
Kontakt an mehreren Stellen fest mit an Dengueviren heften. üblicherweise innerhalb von 24 Stun­
Dengueviren. Die Erreger können den in Leber und Niere von Säugetie­
danach deutlich schlechter in die ren abgebaut. Im Prinzip kann man die
Wirtszelle eindringen. Vor allem aber säure-Ketten, die das Forscher- vielseitigen Fallen für verschiedenste
erlauben es die DNA-Sterne, eine team vor einiger Zeit getestet hat: Viren verwenden, indem man die
Infektion nun deutlich besser nachzu­ Die Ketten banden sehr spezifisch Gerüststruktur verändert und andere
weisen, weil sie nach dem Andocken an Grippeviren und verhinderten bei Aptamere einbaut. Folgegenerationen
an die Viren aktiv fluoreszieren. Im Mäusen, dass die eingefangenen der sternförmigen DNA-Virusfalle
Vergleich zum Standardtest auf Den­ Erreger an Sialinsäure-Andockstatio­ könnten außerdem Anhänge erhalten,
gueviren im Blut sei der neue Ansatz nen von Lungenzellen binden, was die nach dem Kontakt mit Viren das
etwa 100-mal sensitiver, so die Gruppe für den Fortgang der Infektion ent­ Immunsystem alarmieren und dafür
um Wang. scheidend ist. sorgen, dass Falle und gebundenes
Die DNA-Bastelarbeit ist eine Die DNA-Sternfalle sollte nun Virus abgebaut werden.
verbesserte und weiterentwickelte ebenso gut funktionieren, dabei aber Nature Chemistry 10.1038/s41557-019-
Version einer Virusfalle aus Sialin­ deutlich verträglicher sein und keine 0369-8, 2019

EVOLUTION
SIND HEUTIGE MENSCHENAFFEN SCHLAUER ALS UNSERE VORFAHREN?

 Möglicherweise würden die heuti­


gen Schimpansen und Gorillas in
einem fiktiven Intelligenztest besser
Anforderungen an die Energieversor­
gung – das menschliche Gehirn
wendet etwa 70 Prozent seiner Ener­
Homo sapiens in den vergangenen
Millionen Jahren aus einer schlech­
teren Startposition stark aufholen
abschneiden als die frühen Mitglieder gie für deren Aktivität auf. Deshalb müssen. Heute liegen wir bei einem
unseres Stammbaums wie Australopi- schlagen Seymour und sein Team vor, Verhältnis von Gehirngröße zu Blut­
thecus. Das vermuten Wissenschaftler die Gehirne der Primatenarten anhand zufuhr, das dem der Menschenaffen
um Roger Seymour von der University ihrer Blutversorgung zu vergleichen. entspricht – haben allerdings ein viel
of Adelaide in Australien. Je leistungsfähiger ein Gehirn, desto größeres Gehirn.
Ihre Einschätzung beruht auf der mehr »Treibstoff« muss über das Blut Nach derzeitigem Kenntnisstand
Annahme, dass sich die Gehirnleistung zugeführt werden. Und die Blutver­ haben Australopithecinen keine Werk­
am besten über die Dichte der Ver­ sorgung, die sich an der Größe der zeuge angefertigt. Erst von ihren
knüpfungen zwischen Neuronen Arterien ablesen lässt, sei bei einem Nachkommen, den frühen Angehöri­
messen lässt. Diese Kennzahl, so Gorilla beispielsweise doppelt so gen der Gattung Homo, existieren
argumentieren sie, sei aufschlussrei­ hoch wie bei »Lucy« und ihren weiter Hinweise auf ein solches Verhalten,
cher als ein reiner Größenvergleich der entfernten Verwandten, etwa Ardi­ das höhere kognitive Leistungen
Gehirne. Die Synapsen genannten pithecus. erfordert.
Kontaktstellen zwischen Nervenzellen Insgesamt wirkt es so, als hätten Proceedings of the Royal Society B
stellen anteilsmäßig die höchsten die Mitglieder der Ahnenreihe des 10.1098/rspb.2019.2208, 2019​

Spektrum der Wissenschaft  2.20 9


ü
SPEKTROGRAMM
BIOLOGIE EKG-Gerät anzuheften. Mitunter eine rate von bis zu 35 Schlägen in der
Viertelstunde lang konnten sie so den Minute (beats per minute, bpm). Das
HERZSCHLAG Herzschlag der Tiere erfassen. Dann ist zwar immer noch etwa halb so
VON BLAUWALEN lösten sich die Saugnäpfe der Senso­ schnell wie der Ruhepuls eines Men­
ren, und die Forscher fischten die schen, aber höher, als Forscher bislang

 Wenn Blauwale tauchen, reduzieren


sie ihren Pulsschlag auf ein extre­
mes Minimum – und das, obwohl sie
Gerät aus dem Meer.
Den Daten zufolge schlägt das Herz
der Giganten beim Tauchen lediglich
errechnet hatten.
Eine Taktrate von zirka 40 Schlägen
pro Minute dürfte ungefähr das Maxi­
in der Tiefe akrobatische Hochleis­ alle 7 bis 15 Sekunden einmal. Der Puls mum dessen sein, was ein so großes
tungen erbringen: Bei ihren »Fress­ beschleunigt sich erst wieder, wenn Herz leisten kann. Oberhalb dieses
sprüngen« pflügen sie mit weit aufge­ die Tiere nach mehreren Minuten an Wertes müssten sich die Wände
rissenem Maul durch den Ozean, um die Wasseroberfläche zurückkehren. wieder zusammenziehen, noch bevor
eine möglichst große Menge kleiner Beim Atemholen und Auftanken ihrer sie ihre volle Ausdehnung erreicht
Krebse aufzunehmen. Das kostet Sauerstoffreserven legt das geschätzt hätten.
immens viel Kraft, ändert aber den 300 Kilogramm schwere Herz dann PNAS 10.1073/pnas.1914273116,
Herzschlag nur unwesentlich. kräftig an Tempo zu – mit einer Takt­ 2019
Diese und andere Einblicke in
den Puls der größten Tiere, die

ALEX BOERSMA FÜR STANFORD UNIVERSITY


je auf der Erde gelebt haben,
hat nun eine Forschergruppe
um Jeremy Goldbogen von der
Stanford University zu Tage
gefördert. Den Meeresbiologen
gelang es, Blauwalen in der
kalifornischen Monterey Bay ein

Oberfläche Abtauchen Fresssprung Filtern Auftauchen Oberfläche


Beim Abtauschen und Jagen
senken Blauwale ihren Herz­
schlag bis auf wenige Schläge 35–30 bpm 4 bpm 8 bpm 4 bpm 4–35 bpm 35–30 bpm
pro Minute (bpm). beschleunigter verlangsamter beschleunigter
Herzschlag Herzschlag Herzschlag

INFORMATIK
DER KOAUTOR VON SHAKESPEARE

 William Shakespeares Bühnenstück


»Heinrich VIII.« ist nicht nur bekannt
dafür, dass bei seiner Aufführung 1613
Diesem Problem widmete sich nun
Petr Plecháč von der Tschechischen
Akademie der Wissenschaften mit
ab Zeile 2200 ein Abschnitt gemisch­
ter Autorenschaft beginnt. Erst am
Ende der Szene, mit dem Beginn des
das Globe Theater niederbrannte, Hilfe einer künstlichen Intelligenz. Er vierten Akts, übernimmt wieder allein
sondern auch für seine merkwürdige trainierte ein neuronales Netz mit Shakespeare das Ruder – und nicht
Entstehungsgeschichte. Wie Mitte des Wort- und Reimstatistiken darauf, Fletcher, wie Experten im 19. Jahrhun­
19. Jahrhunderts dem englischen Shakespeare und Fletcher auseinan­ dert vermuteten.
Literaturwissenschaftler James Sped­ derzuhalten. Zusätzlich nahm der Insgesamt jedoch decken sich die
ding auffiel, stammen weite Passagen Wissenschaftler noch Dramen eines Ergebnisse des tschechischen For­
des Stücks überhaupt nicht aus der weiteren Zeitgenossen in die Trai- schers sehr gut mit den Erkenntnissen
Feder des berühmten Schriftstellers. ningsbeispiele auf: die eines gewissen Speddings. Auch wenn sein Modell
Stattdessen ermittelte Spedding Philip Massinger, der ebenfalls als für die Frage nach dem Autor eines
einen anderen Vielschreiber namens möglicher als Koautor von »Hein­ Abschnitts immer nur Wahrscheinlich­
John Fletcher als wahrscheinlichen rich VIII.« gilt. keiten ausspuckt und keine definitiven
Koautor. Dieser These hat sich seitdem Plecháč betrachtete dabei ein Antworten, kann Plecháč immerhin
die Mehrheit der Experten angeschlos­ Fenster, das er Vers für Vers weiter­ praktisch ausschließen, dass der
sen. Offen ist allerdings, an welchen schob. Dadurch war es ihm möglich, vermeintliche Dritte im Bunde, Philip
Stellen des Dramas genau die Auto­ auch einen fliegenden Wechsel der Massinger, einen substanziellen Bei­
renschaft wechselt und ob manche Autorenschaft zu identifizieren. Bei­ trag geleistet hat.
Szenen eine Gemeinschaftsprodukti­ spielsweise ergaben seine Tests, dass
on sind. in der zweiten Szene des dritten Akts arXiv 1911.05652, 2019

10 Spektrum der Wissenschaft  2.20


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Täglich aktuelle Nachrichten auf Spektrum.de

dene Gruppen einteilen. Ein Teil der Alkoholproblem entwickeln würden.


HIRNFORSCHUNG Tiere schleckte nur gelegentlich am Schalteten sie das Netzwerk mit opto­
BIOMARKER Alkohol, andere wiederum häufig. Die genetischen Methoden ein, konnten sie
FÜR ALKOHOLSUCHT dritte Gruppe entwickelte hingegen das Verlangen der Tiere nach Alkohol
ein regelrechtes Suchtverhalten und steigern. Deaktivierten sie es, interes­

 Ein Team um Cody Siciliano vom


Massachusetts Institute of Techno­
logy ist auf einen Hirnschaltkreis
konsumierte die Flüssigkeit selbst
dann noch, wenn die Autoren ihr einen
besonders bitteren Beigeschmack
sierten sich die Tiere nur noch wenig
dafür.
Aus Sicht der Forscher hat man
gestoßen, an dem sich ablesen lässt, zusetzten. Mit Hilfe eines speziellen damit zum ersten Mal einen Hirnschalt­
ob Mäuse einmal süchtig nach Alko­ Bildgebungsverfahren beobachteten kreis entdeckt, mit dem sich präzise
hol werden. Die Forscher trainierten die Forscher vor, während und nach vorhersagen lässt, welche Mäuse
mehrere Versuchstiere zunächst dem Versuch die Aktivität in zwei einmal zwanghaft Alkohol zu sich
darauf, ein akustisches Signal mit Hirnregionen, die an der Verhaltens­ nehmen werden – noch Wochen, bevor
einer wohlschmeckenden Zucker­ steuerung beteiligt sind: im medialen sie dieses Verhalten überhaupt zeigen.
lösung zu assoziieren. Anschließend präfrontalen Kortex und im zentralen Ob das Netzwerk auch an der Entste­
bekamen die Nager jedes Mal, wenn Höhlengrau, einer Ansammlung von hung anderer Verhaltenssüchte beteiligt
es ertönte, Alkohol zur Verfügung Nervenzellen im Hirnstamm. ist, weiß man aber noch nicht. Ebenso
gestellt. Mehrere Tage lang durften Siciliano und seine Kollegen ent­ ist unklar, ob sich die Erkenntnisse auf
sie sich nach Herzenslust bedienen. deckten, dass sich anhand der Kom­ den Menschen übertragen lassen.
Am Ende konnten die Wissen­ munikation dieser beiden Areale
schaftler die Mäuse in drei verschie­ vorhersagen ließ, ob die Mäuse ein Science 10.1126/science.aay1186, 2019

SONNENSYSTEM
ENCELADUS’
TIGERSTREIFEN

 Der Saturnmond Enceladus ist


berühmt für seine »Tigerstreifen«:
Die parallel verlaufenden Klüfte sind
von Geysiren gespickt, die immer wie­
NASA/JPL/SPACE SCIENCE INSTITUTE (PHOTOJOURNAL.JPL.NASA.GOV/CATALOG/PIA06254)

der Wasserdampf und Eispartikel aus


Enceladus’ unterirdischem Ozean ins
Weltall feuern. Ein Team um Douglas
Hemingway von der Carnegie Institu­
tion for Science in Washington D.C.
glaubt nun erklären zu können, woher
die Fissuren kommen und wieso sie Die vier Tiger­
sich nur am Südpol gebildet haben. streifen (von
Demnach sind Mutterplanet Saturn links): Damaskus,
und die elliptische Bahn des Mondes Bagdad, Kairo
für die Risse verantwortlich: Die und Alexandria.
Schwerkraft des riesigen Gasplaneten
zerrt mal stärker und mal schwächer
an Enceladus’ Ozean, was diesen am Nordpol. Dafür ließ Bagdad seine Damaskus und Kairo wiederholten
immer wieder aufheizt und anschlie­ Schwestern »Damaskus« und »Kairo« dieses Spiel, was zu zwei weiteren
ßend abkühlen lässt. Beim Abkühlen ­ent­stehen. Sie gehen vermutlich auf Streifen führte: Einer von ihnen heißt
dehnt sich das Wasser aus und drückt Eisbrocken aus den Geysiren des »Alexandria«, der andere ist weniger
von innen gegen die Eiskruste. Da ersten Risses zurück: Das in die Höhe gut sichtbar und trägt daher keinen
diese an den Polen vergleichsweise geschossene Material fiel wieder Namen. Was den Dominoeffekt letzt­
dünn ist, brach sie dort zuerst. herab, sammelte sich auf Bagdads lich gestoppt hat, ist nicht sicher.
Eher per Zufall habe es dabei den Rändern und bog diese etwas nach Möglicherweise setzten die neuen
Südpol getroffen, vermuten die For­ unten. Risse weniger Eispartikel frei, oder die
scher, wodurch sich zunächst ledig­ Das setzte die Eiskruste großflä­ Kruste ist weiter abseits des Südpols
lich der Riss namens »Bagdad« bilde­ chig unter Spannung – und ließ sie zu dick, als dass sie brechen könnte.
te. Da der Ozean die Spalte schnell letztlich auf beiden Seiten aufreißen, Nature Astronomy 10.1038/s41550-019-
ausfüllte, verringerte sich der Druck 35 Kilometer von Bagdad entfernt. 0958-x, 2019

Spektrum der Wissenschaft  2.20 11


ü
KOGNITION

MONSITJ / STOCK.ADOBE.COM
WAS IST
BEWUSSTSEIN?
Erst allmählich lüften
Naturwissenschaftler
ein ­Geheimnis, das
Philosophen seit der
Antike beschäftigt.

Christof Koch ist wissen­


schaftlicher Direktor und
Präsident des Allen Institute
for Brain Science in Seattle
(USA). Zusammen mit dem
Nobelpreisträger Francis Crick
(1916–2004) entwickelte er
eine neue Theorie des Bewusstseins.

 spektrum.de/artikel/1693092

NEUE SERIE
Das menschliche Gehirn

Teil 1: Februar 2020


Was ist Bewusstsein?
Christof Koch
Unsere inneren Universen
Anil K. Seth

Teil 2: März 2020


Das Netzwerk des Geistes
Max Bertolero und Danielle S. Bassett
Tief verbunden
Sarah Deweerdt

Teil 3: April 2020


Die Intentionsmaschine
Richard Andersen
Der freie Wille und die Algorithmen
Liam Drew

12 Spektrum der Wissenschaft  2.20


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Das menschliche Gehirn
MONSITJ / STOCK.ADOBE.COM

gehört zu den größten


Rätseln der Biologie:
Wo sitzt hier der
Ursprung unseres
Bewusstseins?

Spektrum der Wissenschaft  2.20 13


ü

Unser Bewusstsein setzt sich aus dem zusammen, was NCC), also den minimalen Hirnaktivitäten, die notwendig
wir erleben: einer Melodie, die sich im Kopf festgesetzt sind, um eine spezifische Bewusstseinserfahrung zu erzeu­
hat; dem süßen Geschmack von Schokoladenmousse gen. Was muss zum Beispiel in Ihrem Kopf geschehen,
auf der Zunge; einem pochenden Zahnschmerz; der bedin­ damit Sie Zahnschmerzen spüren? Feuern dafür einige
gungslosen Liebe für das eigene Kind – sowie der schmerz­ Nervenzellen in einer magischen Frequenz? Regen sich
lichen Gewissheit, dass all diese Gefühle irgendwann spezielle »Bewusstseinsneurone«? Und in welchen Hirn­
einmal enden werden. regionen lägen jene Zellen?
Die Herkunft und Art solcher Wahrnehmungen, in der Wichtig bei der Definition der NCC ist das Wörtchen
Philosophie Qualia genannt, blieben von der Antike bis zur »minimal«. Schließlich könnte das gesamte Gehirn als NCC
Gegenwart ein Rätsel. Etliche moderne Philosophen, betrachtet werden, da es Tag für Tag Wahrnehmung er­
­darunter Daniel Dennett von der Tufts University, empfin­ zeugt. Der Sitz des Bewusstseins lässt sich aber weiter
den die Existenz eines Bewusstseins in einem bedeutungs­ eingrenzen. Betrachten wir etwa das Rückenmark, den
leeren Universum als derartige Zumutung, dass sie es einen halben Meter langen Nervenfaser­strang in der Wir­
schlicht zur Illusion erklären. Sie leugnen also entweder belsäule mit ungefähr einer Milliarde Nervenzellen. Wird es
die Existenz von Qualia, oder sie argumentieren, dass diese durch eine Verletzung in der Nackenregion vollständig
niemals sinnvoll wissenschaftlich untersucht werden durchtrennt, ist der Betroffene gelähmt. Er kann in der
k­ önnen. Folge weder Arme noch Beine bewegen, Berührungen auf
Würde ich dieser Annahme zustimmen, könnte ich mich seinem Körper spüren oder Darm und Blase kontrollieren.
kurzfassen. Ich bräuchte nur zu erklären, warum Sie und Er erfährt das Leben allerdings weiterhin in all seiner Viel­
ich, wie die meisten Menschen, überzeugt sind, überhaupt falt – er sieht, hört, riecht und fühlt, und sein Gedächtnis
Gefühle zu haben. Wenn mich aber ein Zahnabszess plagt, funktioniert wie vor dem Ereignis, das sein Leben so radikal
wird selbst das scharfsinnigste Argument dafür, dass der verändert hat.
Schmerz reine Einbildung sei, meine Qualen um keinen
Deut lindern. Da ich dieser zweifelhaften Lösung des Leib- Das Kleinhirn ist – trotz hoher Neuronenzahl –
Seele-Problems wenig Sympathie entgegenbringe, fahre für das Bewusstsein ohne Belang
ich also fort. Oder nehmen wir das Kleinhirn. Dieser evolutionsgeschicht­
Nehmen wir das Bewusstsein als gegeben hin, können lich alte Hirnteil im hinteren Bereich des Kopfs kontrolliert
wir versuchen, seine Beziehung zur objektiven, natur­­­­wis­ die Motorik, also die Körperhaltung, den Gang sowie den
sen­schaftlich erfassbaren Welt zu verstehen. Mein früherer flüssigen Ablauf komplexer Bewegungen. Schreiben,
Kollege, der Nobelpreisträger Francis Crick, und ich ent­ Klavierspielen, Eiskunstlaufen oder Bergsteigen – an sol­
schieden uns vor mehr als einem Vierteljahrhundert, philo­ chen Tätigkeiten ist das Kleinhirn beteiligt. Hier findet man
sophische Diskussionen über das Bewusstsein beizu­legen die wohl schönsten Neurone des Gehirns, die Purkinje­
und uns lieber auf dessen materielle Hintergründe zu kon­ zellen, deren Dendriten sich wie eine Fächerkoralle ausbrei­
zentrieren. Denn erst wenn wir verstehen, wie unser Gehirn ten und komplexe elektrische Dynamiken aufweisen. Und
Bewusstsein erzeugt, können wir uns der Lösung des besonders verblüffend: Das Kleinhirn besitzt viermal mehr
grundlegenderen Problems – was ein solches ausmacht – Nervenzellen als das gesamte restliche Gehirn, etwa 69 Mil­
widmen. liarden.
Wir suchten insbesondere nach neuronalen Korrelaten Was passiert mit dem Bewusstsein, wenn Teile des
des Bewusstseins (neural correlates of consciousness, Kleinhirns durch einen Schlaganfall oder durch das Messer
eines Chirurgen verloren gehen? Sehr wenig! Die Betroffe­
nen beklagen zwar zahlreiche Beeinträchtigungen – sie
können etwa nicht mehr flüssig Klavier spielen oder auf der
Tastatur tippen –, jedoch nie den Verlust einer Facette ihres
AUF EINEN BLICK Bewusstseins. Sie sehen, hören und fühlen normal, sie
DAS RÄTSEL DES behalten eine Ich-Empfindung, sie erinnern sich an Vergan­
BEWUSSTEN ERLEBENS genes und planen die Zukunft. Selbst wer bereits ohne
Kleinhirn auf die Welt kommt, leidet kaum unter einem

1 In den hinteren Bereichen der Großhirnrinde suchen


Forscher nach den neuronalen Korrelaten des Bewusst­
seins (NCC).
eingeschränkten Bewusstsein.
Die gesamte Struktur des Kleinhirns ist demnach für das
Bewusstsein ohne Belang. Warum? Die Antwort liegt
möglicherweise in seiner außerordentlich gleichförmigen

2 Bewusstseinszustände lassen sich per Elektroenzepha­


lografie grob quantifizieren.
Verschaltung. Im Kleinhirn finden wir einen fast gänzlich
vorwärtsgerichteten Informationsfluss: Eine Neuronen­
gruppe leitet Signale an die nächste, welche sie an eine
3 Zwei Haupttheorien wollen den Ursprung des Bewusst­
seins erklären: die eine über einen globalen neuronalen
Arbeitsraum, die andere als Summe der im System
­dritte weitergibt. Komplexe Rückkopplungsschleifen, in
denen elektrische Aktivität hin und her kreist, fehlen. Da
integrierten Information. das Entstehen bewusster Wahrnehmungen Zeit braucht,
gehen die meisten Experten davon aus, dass Rückkopplun­
gen daran beteiligt sein müssen. Außerdem ist das Klein­

14 Spektrum der Wissenschaft  2.20


ü
Spuren des Bewusstseins
Bewusstes Denken ist eng mit der Großhirnrinde verknüpft, einer kompliziert gefalteten Schicht aus
­Nerven­gewebe. Jede Erfahrung geht mit einem spezifischen Zusammenspiel von Nervenzellakti­vitäten einher,
den neuronalen Korrelaten des Bewusstseins (NCC). Sie ereignen sich in der so genannten hinteren heißen
Zone des Scheitel-, Schläfen- und Hinterhauptlappens. Anhand der Komplexität neuro­naler Reize nach einem
magnetischen Impuls lässt sich der Grad des Bewusstseins einer Person messen.

primärer somatosensorischer Kortex


neuronale Korrelate des
Bewusstseins (NCC)
primärer
motorischer
Kortex Während einer
bewussten Erfahrung
Scheitellappen ist die »hintere heiße
Zone« aktiv.

Stirnlappen

MESA SCHUMACHER / SCIENTIFIC AMERICAN JUNI 2018


Hinterhaupt­lappen
Schläfenlappen
primärer
auditorischer
Kortex primärer
Kleinhirn visueller Kortex

Hirnstamm

hirn funktional in hunderte oder mehr eigenständige ten. Naheliegend wäre, dass Sie eine eigenartige Überlage­
Rechen­module aufgeteilt. Jedes arbeitet parallel mit eige­ rung von Trump und Merkel wahrnähmen. Doch tatsächlich
nen, sich gegenseitig nicht überlappenden Ein- und Aus­ werden Sie für einige Sekunden Trump sehen, der dann
gangssignalen, um Bewegungen oder kognitive Prozesse zu verschwindet und von Merkel ersetzt wird, bevor wiederum
steuern. Die einzelnen Module interagieren nur sehr selten Trump erscheint. In einem endlosen Tanz wechseln sich die
miteinander, was für bewusstes Erleben unabdingbar wäre. ­beiden Bilder ab. Neurowissenschaftler nennen dieses
Das Bewusstsein erscheint folglich nicht wie der Geist Phänomen binokulare Rivalität. Auf Grund des mehrdeuti­
aus der Flasche, sobald ein beliebiges Nervengewebe gen Inputs kann sich das Gehirn nicht entscheiden: Ist es
gereizt wird. Es braucht einen zusätzlichen Faktor. Den Trump oder Merkel?
finden wir in der grauen Substanz der Großhirnrinde: dem Wenn Sie während dieses Versuchs in einem Magnet­
komplex vernetzten Nervenzellgewebe an der Außenseite resonanztomografen liegen, der Ihre Hirnaktivität aufzeich­
des Gehirns. Alle verfügbaren Anhaltspunkte sprechen net, werden die Experimentatoren sehen, wie sich Neurone
dafür, dass der sensorische und motorische Teil der Groß­ in einem breiten Areal im Kortex regen. Diese so genannte
hirnrinde, der so genannte Neokortex, Gefühle erzeugt. »hintere heiße Zone« (posterior hot zone, PHZ) erstreckt
Der Sitz des Bewusstseins lässt sich weiter eingrenzen, sich über Teile des Scheitel-, des Schläfen- und des Hinter­
beispielsweise durch Experimente, bei denen den beiden hauptlappens (siehe »Spuren des Bewusstseins«, oben).
Augen verschiedene Reize präsentiert werden. Stellen Sie Sinneseindrücke, wie die Bilder von Merkel und Trump,
sich vor, ein Foto von Donald Trump erscheint vor Ihrem nehmen wir erst wahr, wenn sie in diesem Areal verarbeitet
linken Auge und eines von Angela Merkel vor Ihrem rech­ werden. Eine Information, die über den Sehnerv im primä­

Spektrum der Wissenschaft  2.20 15


ü
ren visuellen Kortex ankommt, entspricht somit nicht dem, gen sie einen kurzzeitigen elektrischen Strom im dem
was wir bewusst sehen; das Bild, das wir wahrnehmen, Magnetfeld ausgesetzten Hirngewebe. Die zum Feuern
entsteht erst in der hinteren heißen Zone. angeregten Neurone lösen eine Kettenreaktion aus: Sie
Stimuliert man dieses Areal mit Stromstößen – zum erregen oder hemmen weitere Nervenzellen, und deren
Beispiel, um es vor der chirurgischen Entfernung eines Aktivität breitet sich wie eine Welle in der Großhirnrinde
nahe gelegenen Hirntumors oder Epilepsieherds genauer zu aus. Mittels am Schädel angebrachter Elektroden lassen
untersuchen –, löst das bei Patienten eine Vielzahl ausge­ sich diese elektrischen Signale im Elektroenzephalogramm
prägter Wahrnehmungen und Gefühle aus. Manche sehen (EEG) messen. Zusammen bilden die Aufzeichnungen
Lichtblitze, geometrische Formen oder verzerrte Gesichter, von unterschiedlichen Stellen am Schädel eine Art Video­
andere berichten von akustischen Halluzinationen oder sequenz der Nerven­zell­aktivität.
einem Gefühl von Vertrautheit oder Irrealität, einige über­ Die Aktivitätsmuster waren weder vorhersehbar noch
kommt das Bedürfnis, einen bestimmten Körperteil zu wirkten sie völlig zufällig. Vielmehr erwies es sich als umso
bewegen, und so fort. Anders, wenn der vordere Teil des wahrscheinlicher, dass eine Person bewusstlos war, je
Gehirns erregt wird: Dann treten so gut wie keine Wahrneh­ vorhersagbarer die elektrischen Rhythmen an- und ab­
mungen auf. schwollen. Die Wissenschaftler werteten die Muster aus,
indem sie die Daten mit dem aus der Computertechnik
bekannten »Zip«-Algorithmus komprimierten. So ließ sich
die Komplexität der Hirnreaktion abschätzen: Wache Pro­
Mehr Wissen auf banden wiesen einen »Störungskomplexitätsindex« (pertur­
Spektrum.de bational complexity index, PCI) zwischen 0,31 und 0,70 auf.
Im Tiefschlaf oder in Narkose sank der Wert auf unter 0,31.
Unser Online-Dossier zum Thema
finden Sie unter Massimini und Tononi testeten ihre Zap-and-Zip-Methode
spektrum.de/t/bewusstsein an 48 hirngeschädigten, aber ansprechbaren Patienten. Bei
ISTOCK / SVISIO ­allen Probanden bestätigte die Messung das Vorliegen von
Bewusstsein.
Anschließend wandte das Team Zap-and-Zip bei 81 Per­
Weitere Erkenntnisse verdanken wir Neurologiepatienten sonen an, bei denen entweder ein minimales Bewusstsein
aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Um Tumoren zu oder ein Wachkoma diagnostiziert worden war. Die Körper­
entfernen oder um epileptische Anfälle zu lindern, schnitten reaktionen aller 38 Patienten der ersten Gruppe gingen
Chirurgen damals bisweilen große Teile des präfrontalen über einfache Reflexe hinaus. 36 von ihnen klassifizierte
Kortex aus dem Gehirn. Auffällig an den Behandelten war die Methode korrekt als bei Bewusstsein; zwei wurden als
vor allem, wie unauffällig sie danach blieben. Zwar litten bewusstlos fehldiagnostiziert. Bei den 43 Wachkoma­
viele nach der Operation unter Nebenwirkungen wie moto­ patienten war jeder Kommunikationsversuch am Kranken­
rischen Störungen, Tics oder Problemen mit der Impuls­ bett fehlgeschlagen. Die Technik erkannte bei 34 von ihnen
kontrolle. Die meisten erholten sich aber rasch vom Eingriff eine Bewusstlosigkeit, die restlichen neun zeigten ähnliche
und lebten etliche Jahre ohne Anzeichen dafür, dass dieser Hirnaktivitäten wie Wache. Diese Patienten waren womög­
ihre bewusste Erfahrung deutlich verändert hätte. Dagegen lich bei Bewusst­sein, jedoch unfähig, sich mit anderen zu
kann das Entfernen bereits kleiner Bereiche der hinteren verständigen.
Großhirnrinde, wo die heiße Zone liegt, das Empfindungs­ Aktuell arbeiten die Forscher daran, Zap-and-Zip zu
spektrum stark einschränken. Die Patienten verlieren etwa standardisieren und zu optimieren. Sie wollen die ­Methode
die Fähigkeit, Gesichter zu erkennen oder Bewegungen, auch bei psychiatrischen und pädiatrischen Pa­tienten
Farben oder Räume wahrzunehmen. anwenden können. Doch selbst wenn sie die e ­ xakten
neuronalen Mechanismen aufspüren, die jeglicher bewuss­
Mittels »Zap-and-Zip« lässt sich das ten Erfahrung zu Grunde liegen, wird das zahlreiche fun­
Bewusstsein messen damentale Fragen zum Bewusstsein nicht beantworten
Demnach scheint alles, was wir sehen, hören oder sonst können, darunter: warum diese Neurone und nicht andere?
empfinden, von Regionen im hinteren Kortex erzeugt zu Warum diese Frequenz und nicht eine andere? Und das
werden. Doch worin unterscheidet sich dieses Areal vom zentrale Mysterium: Wie erzeugt ein hochvernetzter Klum­
Rest der Großhirnrinde? Die Wahrheit lautet: Wir wissen es pen Hirnmasse jegliche Wahrnehmung?
nicht. Allerdings, und das ist das Spannende, kommen Um uns solchen Fragen zuwenden zu können, braucht
Neurowissenschaftler der Antwort jetzt womöglich näher. es zunächst ein testbares wissenschaftliches Modell, das
Anfang der 2000er Jahre entwickelten Giulio Tononi vorhersagt, unter welchen Voraussetzungen ein physikali­
von der amerikanischen University of Wisconsin-Madison sches System – wie ein komplexer Schaltkreis, sei er aus
und Marcello Massimini, heute an der Universität Mailand Neuronen oder aus Siliziumtransistoren – etwas wahr­
in Italien, eine »Zap-and-Zip« genannte Technik, mit der nimmt. Nur mit einem solchen Modell können wir erschlie­
sie prüfen können, ob jemand bei Bewusstsein ist oder ßen, welche Systeme prinzipiell dazu fähig sind, bewusst zu
nicht. Das »Zap« der Methode ist ein starker magnetischer erleben. Ohne überprüfbare Vorhersagen basiert jede
­Impuls, ausgehend von einer isolierten Drahtspule, die Spekulation über Bewusstsein auf Intuition, die erfahrungs­
Forscher an den Schädel ihrer Probanden halten. So erzeu­ gemäß kaum als Leitfaden taugt.

16 Spektrum der Wissenschaft  2.20


ü
Zum Ursprung von Bewusstsein haben sich zwei Spielen zusehen, lassen sich Teile des Erlebten – die durch
­ aupttheorien herauskristallisiert. Eine ist die des globalen
H Ihre Haare wehende Brise oder die Freude über Ihr lachen­
neuronalen Arbeitsraums (global neuronal workspace, des Kind – nicht in Einzelphänomene zerstückeln, die wei­
GNW) des Psychologen Bernard Baars sowie der Neurowis­ terhin denselben Gesamteindruck vermitteln.
senschaftler Stanislas Dehaene und Jean-Pierre Changeux. Tononi postulierte, dass jedes komplexe Netzwerk, das
Sie fußt auf der Beobachtung, dass mehrere Hirnbereiche in seiner Struktur Zusammenhänge zwischen Ursache und
Zugriff auf Informationen haben, die wir bewusst wahrneh­ Wirkung codiert, diese Eigenschaften besitzt und so ein
men. Wenn Sie aber zum Beispiel schnell tippen, machen gewisses Maß an Bewusstsein mitbringt. Wenn es einem
Sie das automatisch. Fragt man Sie, wie Sie das schaffen, System aber, wie dem Kleinhirn, an Verschaltung mangelt,
können Sie es nicht erklären, denn: Ihnen fehlt der bewuss­ wird es nichts bewusst wahrnehmen. Gemäß der IIT
te Zugang zu dieser Information, die nur den zerebralen ­verfügt ein System über umso mehr Bewusstsein, je mehr
Schaltkreisen im sensorisch-motorischen System zur Ver­- Information es in sich integrieren und vielfältig verarbei­
fügung steht. ten kann.
Aus der IIT lässt sich auch der numerische Wert Φ (Phi)
Werden Maschinen jemals ableiten, der das im System inhärente Bewusstsein bezif­
Bewusstsein ­erlangen? fert. Ist Φ gleich null, fehlt dem System ein Gefühl seiner
Laut der GNW-Theorie entsteht Bewusstsein aus einer selbst. Mit dem Wert steigt die in dem System steckende
bestimmten Art der Informationsverarbeitung. Demnach »kausale Fähigkeit« und damit das Bewusstsein. Das
gibt es im Gehirn so etwas wie eine »Informationstafel«, menschliche Gehirn, mit seinen Milliarden hochspezifisch
auf die verschiedene Hirnprozesse zugreifen können. Ein vernetzten Nervenzellen, besitzt ein sehr hohes Φ, was auf
Teil der eingehenden sensorischen Eindrücke schafft es ein großes Maß an Bewusstsein schließen lässt. Die IIT
auf diese Plattform und steht so für kurze Zeit anderen erklärt eine Reihe von Beobachtungen, etwa warum das
kognitiven Prozessen zur Verfügung. Sie können hier Kleinhirn nicht zum Bewusstsein beiträgt und warum das
­abgelegte Daten verarbeiten und darauf reagieren: eine Zap-and-Zip-Meter (das eine sehr grobe Annäherung von Φ
Antwort formulieren, eine Erinnerung abrufen oder spei­ misst) funktioniert.
chern, eine Bewegung starten. Weil der Platz auf der Tafel Die IIT sagt voraus, dass keine noch so ausgereifte
begrenzt ist, wird uns zu jedem Zeitpunkt nur wenig gleich­ Computersimulation eines menschlichen Gehirns Bewusst­
zeitig bewusst. Das neuronale Netzwerk, das die Informa­ sein erlangen kann – selbst, wenn sich ihre Antworten nicht
tionen bereitstellt, liegt vermutlich im Stirn- und Scheitel­ von denen eines Menschen unterscheiden lassen. So wie
lappen. Heutige Computer besitzen eine vergleichbare die Simulation der Gravitation eines Schwarzen Lochs nicht
kognitive Raffinesse noch nicht; das dürfte aber lediglich die Raumzeit um den Computer verformt, kann die Pro­
eine Frage der Zeit sein. GNW-Forscher gehen jedenfalls grammierung eines Bewusstseins niemals eine bewusste
davon aus, dass Maschinen in Zukunft Bewusstsein erlan­ Maschine hervorbringen. Bewusstsein lässt sich nicht
gen werden. »nachrüsten«; es muss im System integriert sein.
Zwei Herausforderungen liegen nun vor uns. Zum einen
müssen wir die neuronalen Spuren des Bewusstseins

Nur mit einem Modell ­ weiter herausarbeiten. Immer bessere Werkzeuge helfen
uns dabei, denn sie erlauben uns, das vielschichtige Zusam­

können wir erschließen, menwirken der Neurone unseres Gehirns genauer zu unter­
suchen. In Anbetracht der immensen Komplexität unseres

welche ­Systeme dazu fähig zentralen Nervensystems wird d ­ ieses Unterfangen aller­
dings noch Jahrzehnte in Anspruch nehmen. Zum Zweiten

sind, bewusst zu erleben müssen wir die beiden konkurrierenden Theorien des
Bewusstseins mit Daten bestätigen oder widerlegen.
Vielleicht entsteht auch aus den Trümmern der beiden eine
bessere Theorie, die das große Rätsel unserer Existenz
Die Theorie der integrierten Information (integrated befriedigend erklärt: wie aus einem drei Pfund schweren
information theory, IIT), die Tononi und andere, ich einge­ Organ mit der Konsistenz von Tofu ein Gefühl für das Selbst
schlossen, entwickelten, wählt einen anderen Ausgangs­ entspringt. 
punkt: das Erlebte selbst. Jede erlebte Erfahrung besitzt
bestimmte grundlegende Eigenschaften. Sie ist intrinsisch,
existiert also nur für ihren »Besitzer«; sie folgt einer zeit­ QUELLEN
lichen Chronologie (zum Beispiel registrieren wir, wie ein Casarotto, S. et al.: Stratification of unresponsive patients by
gelbes Taxi bremst, während ein brauner Hund über die an independently validated index of brain complexity. Annals of
Straße läuft), und sie ist spezifisch; sie unterscheidet sich Neurology 80, 2016

von anderen bewussten Wahrnehmungen wie Szenen in Crick, F., Koch, C.: A framework for consciousness. Nature
einem Kinofilm. Außerdem bilden alle Eindrücke eine Neuroscience 6, 2003
untrennbare Einheit. Wenn Sie etwa an einem warmen Tononi, G.: An information integration theory of consciousness.
Sommertag auf einer Parkbank sitzen und Kindern beim BMC Neuroscience 5, 2004

Spektrum der Wissenschaft  2.20 17


ü
WAHRNEHMUNG
UNSERE INNEREN
UNIVERSEN
Fortlaufend stellt unser Gehirn Vermutungen
über die Welt da draußen an und gleicht
­Sinneseindrücke ab. Damit konstruiert es die
Realität, die wir wahrnehmen, als eine Art
kontrollierte Halluzination.

KEVIN CARDEN / STOCK.ADOBE.COM

18 Spektrum der Wissenschaft  2.20


ü
Anil K. Seth ist Professor für
Kognitionsforschung und
Computerneurowissenschaft
sowie Kodirektor des Sackler
Centre for Consciousness
Science der University of
Sussex in Chichester (Groß­
britannien). Im Mittelpunkt
seiner Forschung stehen die biologischen
Grundlagen des Bewusstseins.

 spektrum.de/artikel/1693094

»Wir sehen die Dinge nicht, wie sie


sind; wir sehen sie so, wie wir sind«
Anaïs Nin (1903–1977)


Am 10. April 2019 saßen Papst Franziskus, der süd­
sudanesische Präsident Salva Kiir Mayardit sowie der
frühere Rebellenführer Riek Machar im Vatikan zusam­
men beim Abendessen. Sie speisten schweigend. Es war
der Beginn einer zweitägigen Klausur. Ihr Ziel: die Versöh­
nung nach einem Bürgerkrieg, in dem seit 2013 rund
400 000 Menschen ums Leben gekommen waren.
Ungefähr zur gleichen Zeit bereitete mein Doktorand
Alberto Mariola ein neues Experiment vor. Sein Ziel: Ver­
suchspersonen sollten erleben, wie sie in einem Zimmer
saßen, das es in Wirklichkeit so nicht gab.
Mancher Psychiatriepatient klagt, die Welt um ihn herum
oder sogar sein eigenes Ich sei nicht mehr »real«. Was echt
ist und was nicht, erscheint in unseren heutigen Gesell­
schaften zunehmend beliebig zu werden. Kriegsparteien
nehmen unterschiedliche Realitäten wahr und glauben fest
daran. Dann kann es helfen, schweigend zusammen zu
essen, schafft man doch so ein kleines Stückchen gemein­
same Realität, auf das sich alle einigen können – eine
sta­bile Plattform für die weitere Verständigung.
Grundlegend unterschiedliche innere Universen finden
wir aber nicht nur bei Kriegen oder Psychosen. 2015 kur­
sierte im Internet das schlecht belichtete Foto eines Kleids
(siehe Weblink S. 24) und spaltete die Welt: Für die einen
(darunter ich) war es blau und schwarz, für die anderen
(darunter die Hälfte meiner Institutsbelegschaft) erschien es
weiß und golden. Beide Seiten waren von ihrer Sichtweise
vollkommen überzeugt und konnten sich schlicht nicht
vorstellen, dass andere das nicht so sahen.
Wie leicht sich unsere Wahrnehmungssysteme austrick­
sen lassen, wissen wir alle. Von dem Phänomen zeugen
etwa die allseits beliebten optischen Täuschungen: Zwei
Linien scheinen unterschiedlich lang zu sein. Wenn man
allerdings nachmisst, erweisen sie sich als exakt gleich. Wir

Unser Geist schafft sich unsere Realität.


Somit lebt jeder von uns in seiner
KEVIN CARDEN / STOCK.ADOBE.COM

eigenen Welt, die sich von derjenigen der


Mitmenschen unterscheidet.

Spektrum der Wissenschaft  2.20 19


ü
Den Schatten geben sie Namen, weil sie diese für real
halten. Gut ein Jahrtausend später schrieb der arabische
AUF EINEN BLICK Gelehrte Alhazen (um 965–1040), die Wahrnehmung im
DAS GEHIRN KENNT Hier und Jetzt entspringe nicht einem unmittelbaren Zu­
KEINE OBJEKTIVE WIRKLICHKEIT gang zu einer objektiven Realität, sondern hänge von
Prozessen des »Urteilens und Schließens« ab. Nochmals

1 Die Realität, die wir wahrnehmen, ist kein unmittel­ einige Jahrhunderte danach argumentierte Immanuel Kant
bares Abbild der objektiven Außenwelt. (1724–1804), das Chaos der uneingeschränkten sensori­
schen Eindrücke bleibe immer sinnlos, wenn es nicht durch

2 Wahrnehmung beruht vielmehr auf Vorhersagen,


die das Gehirn über die Ursachen eintreffender Sinnes­
signale anstellt.
bereits vorhandene Vorstellungen oder »Überzeugungen«
eine Struktur erhielte, einschließlich vorgegebener Rahmen
wie dem von Raum und Zeit. Kant verwies auf das »Ding an
sich«, eine objektive Realität, die der menschlichen Wahr­

3 Durch Abweichungen von diesen Prognosen korrigie­


ren wir laufend unser Weltbild. Wahrnehmung beruht
somit auf einer kontrollierten Halluzination.
nehmung immer unzugänglich bleiben werde.
Diese Ideen gewinnen heute neuen Auftrieb auf Grund
einflussreicher Theorien, laut denen das Gehirn wie eine
Art Vorhersagemaschine funktioniert. Demnach beruht die
Wahrnehmung der Welt – und des Ichs in ihr – auf einem
Prozess der neurobiologischen Vorhersage über die Ursa­
sehen Bewegung in einem Bild, obwohl wir wissen, dass es chen sensorischer Signale. Zurückgeführt werden solche
stillsteht. Die übliche Erklärung für solche Täuschungen Theorien in der Regel auf den deutschen Physiker und
lautet: Sie nutzen Eigenheiten der Wahrnehmungsschalt­ Physiologen Hermann von Helmholtz (1821–1894), der
kreise aus, und deshalb nehmen wir etwas wahr, was von Wahrnehmung als einen Prozess der unbewussten Rück­
der Realität abweicht. In dieser Begründung steckt jedoch schlüsse betrachtete. Gegen Ende des 20. Jahrhunderts
die unausgesprochene Annahme, ein richtig funktionieren­ griffen Kognitionsforscher sowie Experten für künstliche
des System würde dem Bewusstsein die Dinge genau so Intelligenz Helmholtz’ Gedanken wieder auf und prägten
präsentieren, wie sie wirklich sind. Begriffe wie prädiktive Codierung (predictive coding) und
Tatsächlich besitzen wir kein direktes Fenster zu einer prädiktive Verarbeitung (predictive processing).
objektiven Realität. Nehmen wir zum Beispiel das Erleben
von Farbe – wie etwa das leuchtende Rot meiner Kaffeetas­ Das Gehirn entwickelt und aktualisiert plausible
se. Ihre Farbe wirkt ebenso real wie ihre runde Form oder Hypothesen über die Sinneseindrücke
ihre Festigkeit. Solche Aspekte empfinden wir als objektive Nach dieser Vorstellung versucht das Gehirn festzustellen,
Eigenschaften der Welt, die von unseren Sinnen aufgenom­ was in der Welt draußen oder im Körperinneren vorgeht,
men und unserem Geist durch die komplexen Mechanis­ indem es ständig möglichst plausible Hypothesen über die
men der Wahrnehmung kundgetan werden. Ursachen seiner sensorischen Eindrücke aufstellt und ak-
Andererseits wissen wir seit Isaac Newton, dass Farben tualisiert. Hierfür kombiniert es frühere Erwartungen oder
in der Außenwelt eigentlich nicht existieren. Sie werden »Überzeugungen« über die Welt mit den neu hinzukom­
vielmehr vom Gehirn aus Mischungen farbloser elektro­ menden sensorischen Daten und berücksichtigt dabei auch
magnetischer Strahlung unterschiedlicher Wellenlängen die Zuverlässigkeit der Signale. Wissenschaftler formulieren
zusammengebraut. Farben sind ein kluger Trick der Evolu­ diesen Prozess in der Regel mit Hilfe der bayesschen Statis­
tion, denn damit kann der Organismus Oberflächen unter tik, die Vermutungen mit neuen Daten optimiert.
wechselnden Lichtverhältnissen besser im Auge behalten. Dabei macht das Gehirn laufend Vorhersagen über
Und wir Menschen registrieren nur einen winzigen Aus­ sen­sorische Signale und vergleicht sie mit denen, die über
schnitt aus dem elektromagnetischen Spektrum, eingebet­ Augen und Ohren sowie über die Nase, die Fingerspitzen
tet zwischen Infrarot und Ultraviolett. Jede Farbe, die wir und alle weiteren sensorischen Kanäle eintreffen. Aus den
sehen, jeder Teil aus der Gesamtheit unserer einzelnen Unterschieden zwischen vorhergesagtem und tatsächli­
visuellen Welten entspringt diesem Schnipsel der Realität. chem Input resultiert der »Vorhersagefehler«, mit dem das
Damit können Wahrnehmungserlebnisse keine umfassen­- Gehirn die Prognosen aktualisiert und sich auf die nächste
de Wiedergabe einer objektiven Außenwelt darstellen. Sie Runde vorbereitet. Dabei versucht es stets, die Abweichung
sind einerseits weniger, andererseits aber auch mehr als so niedrig wie möglich zu halten. Die daraus entstehende
das. Die Realität, die wir erleben – wie Dinge zu sein schei- plausible Vermutung ist das, was wir letztlich wahrnehmen.
nen –, spiegelt nicht unmittelbar wider, was tatsächlich vor- Um zu verstehen, wie dramatisch eine solche Sichtweise
handen ist. Es handelt sich vielmehr um eine Konstruktion unsere intuitiven Vorstellungen von den neurobiologischen
des Gehirns für das Gehirn. Und wenn mein Gehirn anders Grundlagen der Wahrnehmung auf den Kopf stellt, muss
ist als deins, dürfte auch meine Realität eine andere sein. man sich die Richtung der Signalströme im Gehirn verge­
Im Höhlengleichnis des griechischen Philosophen Platon genwärtigen: Wenn wir die Wahrnehmung für ein direktes
(um 427–347 v. Chr.) sind Gefangene ihr ganzen Leben lang Fenster zu einer äußeren Realität halten, erscheint es
vor einer Wand gefesselt und sehen nur das Schattenspiel logisch, dass Informationen von den Sinnesorganen zum
der Objekte, die sich an einem Feuer hinter ihnen bewegen. Gehirn fließen, also von unten nach oben (»bottom up«).

20 Spektrum der Wissenschaft  2.20


ü
Die Ursprünge der Wahrnehmung

Nach klassischer Vorstellung (links) fließende Signale dienen nur dazu, lage früherer Erfahrungen anstellt.
funktioniert die Wahrnehmung als das Wahrgenommene zu verfei­ Aus den einströmenden Sinnes­
direktes Fenster zur äußeren Reali­ nern. Im Gegensatz dazu beruht signalen ermittelt das Gehirn Unter­
tät. Augen, Ohren, Nase, Zunge und nach der Theorie der Vorhersage­ schiede zur Vorhersage, den Vor­
Haut senden ihre Sinnessignale von maschine (rechts) die Wahrneh­ hersagefehler, die dann in neue
unten nach oben (»bottom up«) zum mung auf von oben nach unten Hypothesen eingehen. Demnach
Gehirn und präsentieren uns die (»top down«) gerichteten Progno­ entsteht Wahrnehmung aus einer
Außenwelt, wie sie ist. Umgekehrt sen, die das Gehirn auf der Grund­ kontrollierten Halluzination.

Klassisch: Bottom up Vorhersagemaschine: Top down

Kontext:
Essen
To
p-
owd
n-
Si
gn
al
e

Top-down-Signale
Bottom-up-Signale

Bottom-up-Signale

Sinneseindruck:
Vorhersagefehler

Apfel
sensorischer

Gesicht
oder
Apfel?
MATTEO FARINELLA / SCIENTIFIC AMERICAN SEPTEMBER 2019

Spektrum der Wissenschaft  2.20 21


ü
Umgekehrt gerichtete Signale könnten lediglich Zusam­ bereits im 17. Jahrhundert zwischen »primären« und
menhänge oder Verfeinerungen des Wahrgenommenen ­»sekundären« Qualitäten. Die primären Qualitäten eines
beisteuern – mehr nicht. In einer solchen Sichtweise Objekts wie seine Festigkeit oder der Raum, den es ein­
scheint es, als offenbare sich die Welt uns unmittelbar nimmt, existieren unabhängig von demjenigen, der sie
durch unsere Sinne. wahrnimmt. Sekundäre Qualitäten – wie etwa Farbe – gibt
Ganz anders das Szenario der Vorhersagemaschine: Hier es dagegen nur durch den Betrachter. Daher bedeutet die
erfolgt der Hauptteil der Wahrnehmungstätigkeit durch von Interpretation der Wahrnehmung als kontrollierte Halluzina­
oben nach unten gerichtete Signale (»top down«), die Vor- tion nicht, dass es klug wäre, vor einen Bus zu springen.
hersagen über die Wahrnehmung liefern. Der zum Gehirn Der Bus besitzt unabhängig von unserem Wahrnehmungs­
gerichtete Strom der Sinneseindrücke dient nur dazu, diese apparat die primären Qualitäten der Festigkeit und räum­
Prognosen zu verfeinern und angemessen mit ihren realen lichen Ausdehnung, die uns verletzen können. Die kontrol­
Ursachen zu verbinden. Somit beruht unsere Wahrneh­ lierte Halluzination ist also nicht der Bus als solcher, son­
mung mindestens so stark auf einem zur Peri­pherie gerich­ dern die Art, wie er uns erscheint.
teten Informationsfluss wie umgekehrt, wenn nicht noch
stärker. Es handelt sich also nicht um ein pas­sives Aufneh­ Scheinbar sinnlose Flecken
men einer äußeren, objektiven Realität, sondern um einen Immer mehr Befunde bestätigen mittlerweile die These von
aktiven Konstruktionsprozess – eine kon­trollierte Hallu­ der kontrollierten Halluzination. Betrachten Sie einmal das
zination (siehe »Die Ursprünge der Wahrnehmung«, S. 21). Bild rechts unten! Vermutlich erkennen Sie nur eine An­
Beim Wort Halluzination denkt man meist an Sinnes­ sammlung schwarzer und weißer Flecken. Nun blättern Sie
eindrücke, die in klarem Widerspruch zur realitätstreuen zum Foto auf S. 24, und gehen Sie dann zurück zu S. 23!
normalen Wahrnehmung stehen. Die Theorie der Vorher­ Jetzt sieht das erste Bild für Sie wahrscheinlich anders aus:
sagemaschine geht dagegen von einem kontinuierlichen Wo zuvor nur ein Durcheinander von Flecken erschien, sind
Übergang zwischen Halluzination und normaler Wahrneh­ nun abgegrenzte Objekte zu erkennen.
mung aus. Beide beruhen auf der Interaktion zwischen den Bemerkenswerterweise haben sich die von den Augen
Top-down-Prognosen des Gehirns und den Bottom-up-­ aufgenommenen Sinnessignale beim zweiten Betrachten
Signalen der Sinnesorgane, aber während einer Halluzina­ des Bilds überhaupt nicht verändert. Verändert haben sich
tion ist diese Verknüpfung gestört. Was wir so nennen, lediglich die Vorhersagen des Gehirns über die Ursachen
erweist sich als eine Art unkontrollierter Wahrnehmung. der Sinnessignale. Indem Sie eine neue Wahrnehmungs­
Daraus folgt keineswegs, dass nichts real wäre. Der erwartung auf höherem Niveau gewonnen haben, sehen
englische Philosoph John Locke (1632–1704) unterschied Sie bewusst etwas anderes als zuvor.

Kurz erklärt: Das Theorem des Thomas Bayes


Als Reverend Thomas Bayes 1761 etwa in Form dieser Aufgabe: Ein der heutigen Form lautet Bayes’
in der südenglischen Stadt Tun­ Mann beobachtet eine Lotterie, in Theorem:
brigde Wells starb, ahnte niemand, der kontinuierlich Gewinne gezo­
dass einmal eine berühmte mathe­ gen werden, aber die Wahrschein­
matische Methode nach ihm lichkeit eines Gewinns ist unbe­
benannt werden würde. Der Auf­ kannt. Wie groß ist die Wahr­
satz, in dem er ein Problem aus der scheinlichkeit, dass x Prozent aller Die bayesianische Statistik lässt
Wahrscheinlichkeits­rechnung Lose gewinnen (in der Formel also Vorwissen in die Berechnung
löste, wurde erst Jahre nach rechts: A), wenn bei den bisherigen einfließen. Um etwa die mittlere
seinem Tod ver­öffentlicht. Rund Ziehungen y Prozent Gewinne Schuhgröße in der Bevölkerung zu
200 Jahre später entwickelten waren (B)? bestimmen, könnte man die Füße
Mathematiker daraus das, was Dieses Problem lässt sich von 100 Personen ausmessen.
man heute »bayesianische Statis­ theoretisch lösen, indem man Dabei kann jedoch zufällig auch ein
tik« nennt. umgekehrt die Wahrscheinlichkeit extremer Wert herauskommen,
Die Wahrscheinlichkeitstheorie betrachtet, dass y Prozent Ge­winne etwa eine mittlere Schuhgröße bei
entstand historisch aus der Be­ aufgetreten wären, wenn x Prozent Männern von 48, was eher unplau­
schäftigung mit Glücksspielen. aller Lose Gewinnlose sind (B|A). sibel ist. Um dies zu vermeiden,
Viele spielbegeisterte (oder spiel­ Der entscheidende Dreh ist, be­ sollte man Vorwissen berücksichti­
süchtige) Fürsten beauftragten Ma­ dingte Wahrscheinlichkeiten zu gen – zum Beispiel Messungen
thematiker mit der Lösung von berechnen (etwa die von A voraus- aus den letzten Jahren. Bayes’
Problemen am Spieltisch. Auch gesetzt, dass B), was Statistiker als ­Theorem kalkuliert dieses Wissen
Thomas Bayes befasste sich damit, vertikalen Strich darstellen (A|B). In mit ein.

22 Spektrum der Wissenschaft  2.20


ü
Man kann Menschen dazu sondern von einer seiner mittleren Schichten aus rück­
wärtslaufen, glaubten die Probanden, statt ganzer Objekte

bringen, eine unwirkliche nur Teile davon zu sehen.


Das ist sicherlich beeindruckend, allerdings merkt jeder,

Umgebung so zu erleben, dass das Erlebte nicht echt ist, denn trotz ausgeklügelter
Computergrafiken liefert derzeit kein VR-Umfeld ein so

als wäre sie real überzeugendes Erlebnis, dass es nicht von der Realität zu
unterscheiden wäre. Dieser Herausforderung stellen wir
uns inzwischen mittels einer neuen Einrichtung zur »Ersatz­
realität«. Anfang 2019, just als Papst Franziskus mit Salva
Forscher um Christoph Teufel von der britischen Cardiff Kiir Mayardit und Riek Machar in Klausur ging, entwickelten
University testeten damit Patienten, die im Frühstadium wir ein System, in dem Versuchspersonen eine Umwelt als
einer Psychose zu Halluzinationen neigten. Wie sich zeigte, real erleben – und sie für real halten –, obwohl sie das in
erkennen diese Personen, nachdem sie mehrfach die Wirklichkeit nicht ist.
vollständigen Abbildungen gesehen hatten, besser als
gesunde Kontrollprobanden, was sich hinter solchen Zwei­ Das irreale Zimmer
tonbildern verbirgt. Mit anderen Worten: Die Neigung zu Dahinter steckt ein einfacher Trick: Wir machen wieder
Halluzinationen wirkt sich auf die Wahrnehmung aus. Panoramaaufnahmen, diesmal allerdings im Innern unseres
Genau das ist zu erwarten, wenn psychotische Halluzinatio­ Labors. Wir bitten unsere Versuchspersonen, auf einem
nen durch eine zu starke Gewichtung der Prognosen des Schemel in der Mitte des Raums Platz zu nehmen und ein
Gehirns ausgelöst werden, so dass sie dominieren und die VR-Headset aufzusetzen, in das vorne eine Kamera einge­
Wahrnehmung von ihren äußeren Ursachen entkoppeln. baut ist. Die Probanden sollen sich damit im Zimmer um­
Mit einem simplen Versuchsaufbau lösten Philip Corlett schauen. Aber ohne es ihnen zu sagen, schalten wir irgend­
von der Yale University in New Haven (USA) und seine wann um, so dass das Headset jetzt statt der echten Szene
Kollegen Halluzinationen aus: Ihre Probanden sahen zu­ das zuvor aufgenommene Panoramavideo zeigt. Die meis­
nächst einen Lichtreiz, wobei gleichzeitig ein Ton erklang. ten Menschen erleben das Gesehene weiterhin als real,
Nach einigen Durchgängen glaubten die Versuchspersonen obwohl es sich um eine vorproduzierte Aufnahme handelt.
den Ton zu hören, wenn nur das Licht aufleuchtete. Wie Offensichtlich kann man Menschen dazu bringen, eine
bildgebende Verfahren dabei offenbarten, sind an dieser unwirkliche Umgebung so zu erleben, als wäre sie vollstän­
prädiktiven Wahrnehmung bestimmte Hirnareale wie der dig real. Allein diese Erkenntnis eröffnet Neuland für die
tief im Schläfenlappen liegende Sulcus temporalis superior VR-Forschung: Wir können ausprobieren, wo die Grenzen
beteiligt, der spezifisch die Top-down-Vorhersagen mit dessen liegen, was Menschen als real erleben und für echt
akustischen Signalen koppelt. halten. Außerdem können wir erkunden, wie sich das
Statt Hirnaktivitäten zu untersuchen, simulieren wir in Erlebnis, Dinge für real zu halten, auf andere Aspekte der
meinem Institut an der University of Sussex verschobene Wahrnehmung auswirkt.
Wahrnehmungsprioritäten mittels virtueller Realität (VR). Die Idee, die Welt unseres Erlebens sei nicht real, taucht
Keisuke Suzuki konstruierte dafür eine »Halluzinations­ immer wieder in Philosophie und Sciencefiction, aber
maschine«: Mit einer 360-Grad-Kamera filmten wir zu­ auch bei manch nächtlichem Stammtischgespräch auf. Im
nächst an einem Dienstagmittag einen belebten Platz auf
dem Unigelände. Die Aufnahmen verarbeiteten wir dann
mit einem Algorithmus auf der Grundlage des Programms Dieses Zweitonbild erscheint wie ein Durch­einander aus
»DeepDream«. Dabei wird der Lernprozess eines künst­ schwarzen und weißen Flecken. Jetzt blättern Sie bitte um!
lichen neuronalen Netzes  – eines der Arbeitspferde der
künstlichen Intelligenz – quasi umgedreht. Unser Netzwerk
GETTY IMAGES / EYEEM / RICHARD ARMSTRONG; BEARBEITUNG: SCIENTIFIC AMERICAN SEPTEMBER 2019

war darauf trainiert, Gegenstände auf Bildern zu erkennen;


wenn es jedoch mehrfach rückwärtsläuft und somit statt
des Outputs den Input aktualisiert, projiziert es die Dinge
auf das Bild, von denen es »glaubt«, sie seien dort. Die
Vorhersagen gewinnen gegenüber den einlaufenden Daten
die Oberhand und lassen das Gleichgewicht der Wahrneh­
mungsvermutungen in Richtung dieser Prognosen kippen.
Unser Netzwerk konnte insbesondere verschiedene Hunde­
rassen erkennen; und so tauchten in dem Video plötzlich
überall Hunde auf. Versuchspersonen, die sich solche
verarbeiteten Aufnahmen mit einem VR-Headset ansahen,
kamen sich vor wie auf einem psychedelischen Trip.
Mit der Halluzinationsmaschine konnten wir zudem ganz
unterschiedliche Erlebnisse erzeugen. Ließen wir beispiels­
weise das neuronale Netz nicht von der Output-Schicht,

Spektrum der Wissenschaft  2.20 23


ü
wozu das Ganze? Vielleicht lautet die Antwort: Eine plausib­
le Annahme über die Welt, die der Realität möglichst nahe­
kommt, ist für unser Dasein sinnvoller als eine, die das nicht
tut. Wir verhalten uns beim Anblick einer Kaffeetasse, eines
heranfahrenden Busses oder unseres Partners eher ange­
messen, wenn wir diese als real existierend erleben.

Eine Fülle verschiedener Realitäten


Das Ganze hat auch eine Kehrseite. Sie zeigt sich an der
optischen Täuschung mit dem Kleid: Wenn wir Dinge als

GETTY IMAGES / EYEEM / RICHARD ARMSTRONG


real erleben, können wir schlecht einschätzen, ob unsere
wahrgenommene Welt von den Welten anderer abweicht.
Solche Unterschiede mögen zunächst gering sein; sie
können sich jedoch festsetzen und verstärken, wenn wir
immer mehr unterschiedliche Informationen aufnehmen,
die am besten mit unseren individuellen Weltbildern über­
einstimmen, um mit Hilfe solch einseitiger Daten unsere
Wenn Sie dieses Foto betrachten und dann wieder Modelle zu aktualisieren. Wir alle kennen diesen Prozess
zurückblättern, werden Sie auf dem Zweitonbild aus den Filterblasen der sozialen Medien und den von uns
auf S. 23 etwas erkennen. gelesenen Zeitungen. Ich glaube, dass die gleichen Prinzi­
pien genauso auf einer tieferen Ebene unterhalb unserer
gesellschaftlich-politischen Überzeugungen gelten, bis hin
Spielfilm »Matrix« schluckt der Held Neo eine rote Pille zu unserer wahrgenommenen Realität. Sie gelten wahr­
und erkennt, dass alles, was er für real gehalten hat, eine scheinlich sogar für unsere Selbstwahrnehmung – für die
raffinierte Simulation ist, während er in Wirklichkeit in Empfindung, ich zu sein –, denn auch das Ich-Erlebnis stellt
einer Art Brutkasten liegt und intelligenten Maschinen als seinerseits eine Wahrnehmung dar.
Energiequelle dient. Der schwedische Philosoph Nick Damit bekommen die konstruktiven, kreativen Wahrneh­
Bostrom von der University of Oxford schloss aus statisti­ mungsmechanismen eine unerwartete gesellschaftliche
schen Berechnungen, wir könnten in einer Computersimu­ ­Relevanz. Wenn wir die Fülle der erlebten Realitäten, die
lation leben, die aus einem postmenschlichen Zeitalter sich auf die Milliarden Gehirne auf unserem Planeten vertei­
stammt. Ich stimme seiner Argumentation nicht zu, setzt len, besser einschätzen können, finden wir vielleicht eine
sie doch voraus, dass sich Bewusstsein simulieren lässt – Basis, auf der sich ein gemeinsames Verständnis und eine
wovon man meiner Meinung nach nicht mit Sicherheit bessere Zukunft aufbauen lassen – ob zwischen Bürger­
ausgehen kann –, die Vorstellung macht allerdings schon kriegsgegnern, zwischen Anhängern verschiedener politi­
nachdenklich. scher Parteien oder zwischen zwei Menschen, die zusam­
Solche Gedankenspiele mögen zwar reizvoll sein, brin­ men wohnen und Geschirr spülen müssen. 
gen uns aber nicht viel weiter. Beschränken wir uns auf die
Erkenntnis: Unsere Wahrnehmungswelt besteht aus kon­
QUELLEN
trollierten Halluzinationen, mit denen das Gehirn Vermutun­
gen über die letztlich unergründlichen Ursachen der senso­ Corlett, P. R. et al.: Hallucinations and strong priors. Trends in
Cognitive Sciences 23, 2019
rischen Signale aufstellt. Und die meisten von uns erleben
solche kontrollierten Halluzinationen als real – allerdings Powers, A. R. et al.: Pavlovian conditioning-induced hallucina­
nicht immer. Manche Menschen mit dissoziativen Störun­ tions result from overweighting of perceptual priors. Science
357, 2017
gen empfinden ihre wahrgenommene Welt oder sogar ihr
eigenes Ich als irreal. Durch psychedelische Substanzen Seth, A. K., Tsakiris, M.: Being a beast machine: the somatic
ausgelöste Wahnvorstellungen verbinden ein Gefühl der basis of selfhood. Trends in Cognitive Sciences 22, 2018
Unwirklichkeit mit lebhafter Wahrnehmung; das Gleiche gilt Suzuki, K. et al.: A deep-dream virtual reality platform for
für so genannte Klarträume. Synästhetiker kombinieren ihre studying altered perceptual phenomenology. Scientific Reports
7, 2017
sinnlichen Erfahrungen; beim Anblick von schwarzer Schrift
auf einem weißen Blatt Papier erkennen manche beispiels­ Teufel, C. et al.: Shift toward prior knowledge confers a
weise Farben, die sie als nicht real empfinden. Selbst in der ­ er­ceptual advantage in early psychosis and psychosis-prone
p
healthy individuals. PNAS 112, 2015
normalen Wahrnehmung sehen wir etwa nach einem
direkten Blick in eine Lampe das unwirklich erscheinende
Nachbild auf der Netzhaut. Somit gibt es zahlreiche Fälle, WEBLINK
bei denen wir unseren Augen nicht trauen. www.tagesspiegel.de/gesellschaft/panorama/
Für mich bedeutet das, dass wir die empfundene Realität dressgate-die-farbe-des-kleides/11437560.html​
nicht für gegeben halten sollten. Sie stellt nur einen Aspekt Auf diesem schlecht belichteten Foto sieht das Kleid für
dar, mit dem unser Gehirn seine bayesschen Vermutungen manche Menschen blau und schwarz aus, anderen erscheint
über die Ursachen von Sinneseindrücken anstellt. Doch es weiß und golden.

24 Spektrum der Wissenschaft  2.20


ü
AUSSCHREIBUNG 2020
Der Preis wurde von der Verlagsgruppe von Holtzbrinck Die Auswahl erfolgt jährlich durch eine hochkarätige
1995 anlässlich des 150-jährigen Jubiläums von Scientific Jury. Eine Shortlist mit den Nominierten wird vor der
American, einer der ältesten Wissenschaftszeitschriften Bekanntgabe der Preisträgerinnen und Preisträger
der Welt, ins Leben gerufen. auf der Webpage veröffentlicht. Der Rechtsweg ist
ausgeschlossen.
Teilnahmeberechtigt sind alle in deutschsprachigen Medien
veröffentlichenden Journalistinnen und Journalisten.
Die Mitglieder der Jury sind:
Die eingereichten Arbeiten sollen allgemeinverständlich
sein und zur Popularisierung von Wissenschaft und DR. STEFAN VON HOLTZBRINCK (VORSITZ)
Forschung, insbesondere in den Bereichen Naturwissen- Vorsitzender der Geschäftsführung,
schaften, Technologie und Medizin, beitragen. Holtzbrinck Publishing Group
Entscheidend ist die originelle journalistische Bearbeitung
aktueller wissenschaftlicher Themen. PROF. DR. DR. ANDREAS BARNER
Mitglied des Gesellschafterausschusses,
Es wird jeweils ein Preis in der Kategorie Text (Wort- Boehringer Ingelheim
beiträge Print und Online) und ein Preis in der Kategorie
Elektronische Medien (TV, Hörfunk und Multimedia) ULRICH BLUMENTHAL
sowie ein Nachwuchspreis (Jahrgang 1991 oder jünger) Redakteur „Forschung aktuell“, Deutschlandfunk
vergeben.
PROF. DR. ANTJE BOËTIUS
Der Preis in den Kategorien Text und Elektronische Direktorin, Alfred-Wegener-Institut,
Medien ist mit je 10.000 Euro dotiert. Der Nachwuchs- Helmholtz-Zentrum für Polar- und Meeresforschung (AWI)
preis ist mit 5.000 Euro dotiert. Bewerben Sie sich bis
zum 1. April 2020 mit 3 Beiträgen (Text) bzw. 2 – 3 PROF. DR. MARTINA BROCKMEIER
Beiträgen (Elektronische Medien) aus den letzten zwei Vorsitzende, Wissenschaftsrat
Jahren und einem Kurzlebenslauf.
PROF. DR.-ING. MATTHIAS KLEINER
Die detaillierten Teilnahmebedingungen erhalten Sie unter Präsident, Leibniz-Gemeinschaft e.V.
www.vf-holtzbrinck.de/gvhpreis.
PROF. DR. CARSTEN KÖNNEKER
Mitglied der Geschäftsführung, Klaus Tschira Stiftung gGmbH
KONTAKT
JOACHIM MÜLLER-JUNG
Veranstaltungsforum Leiter des Ressorts Natur und Wissenschaft,
Holtzbrinck Publishing Group Frankfurter Allgemeine Zeitung

Torstraße 42, 10119 Berlin ANDREAS SENTKER


Telefon +49/30/27 87 18 20 Geschäftsführender Redakteur und Leiter Redaktion Wissen,
Telefax +49/30/27 87 18 18 DIE ZEIT

gvhpreis@vf-holtzbrinck.de RANGA YOGESHWAR


www.vf-holtzbrinck.de Publizist und Moderator ARD-Sendungen

ü
FORSCHUNG AKTUELL
INFORMATIK künstlicher Neurone, die in tieferen
Lagen immer abstraktere Merkmale

FORM VERSUS TEXTUR eines Bilds extrahieren. Nach der


Trainingsphase ist das Programm in
der Lage, Bilder zu beschriften, die es
Moderne Bilderkennungsprogramme funktionieren meist beein- noch nie zuvor gesehen hat. Doch was
druckend treffsicher. Doch manchmal unterlaufen ihnen peinliche genau zur richtigen Antwort führt –
Fehler. Das könnte daran liegen, dass sich die Algorithmen und woran es andererseits scheitern
auf den Aufbau von Objekten statt auf deren Form konzentrieren. kann –, wissen Computerwissen­
schaftler nicht. Meist können sie erst


Eine der größten Stärken aktueller Conference on Learning Representa­ nachträglich versuchen, die kompli­
künstlicher Intelligenzen (KIs) ist tions (ICLR) erklärten: Während Men­ zierten Vorgänge innerhalb der Syste­
das Klassifizieren von Bildern – schen größtenteils auf die Form eines me nachzuvollziehen. 
­einige übertreffen dabei sogar Men­ Objekts achten, fokussieren sich Dazu untersuchen Forscher unter
schen. Allerdings können gelegentlich maschinell lernende Algorithmen auf anderem, wie Netzwerke auf bearbei­
kleinste Veränderungen diese Algorith­ ihre Textur. Dieses überraschende tete Bilder reagieren. Zum Beispiel
men aus dem Konzept bringen. Be­ Ergebnis verdeutlicht, wie unterschied­ trainierten Matthias Bethge und Felix
arbeitet man etwa Bilder, so dass das lich Menschen und Maschinen Dinge Wichmann 2018 mit ihrer Arbeits­
Fell einer Katze getigert, gepunktet »wahrnehmen«. gruppe von der Universität Tübingen
oder gefleckt erscheint, erkennen Damit ein Deep-Learning-Algorith­ ein neuronales Netzwerk so lange, bis
Menschen die Tiere in den meisten mus zuverlässig funktioniert, braucht es Bilder teilweise besser klassifizieren
Fällen immer noch problemlos, wäh­ er enorm viele Beispieldaten. Man konnte als ein Mensch. Als sie die
rend Maschinen völlig versagen. zeigt einem neuronalen Netz etwa Bilder jedoch verrauschten, versagte
Forscher von der Universität Tübin­ Tausende von Tierbildern mit der das Netzwerk plötzlich.
gen haben nun die mögliche Ursache dazugehörigen Bezeichnung »Bild
dafür entdeckt, wie sie auf der im Mai zeigt eine Katze« oder »Bild zeigt keine Bilder mit seltsamen Eigenschaften
2019 stattgefundenen International Katze«. Es sucht in den Daten darauf­ Den Forschern fiel auf, dass sich in
hin nach Mustern, anhand derer es sie diesen Fällen die Textur der Objekte
klassifizieren kann. Die Netzwerke sind am stärksten gewandelt hatten. »Die
Forscher veränderten Bilder dabei an das visuelle System des Form bleibt mehr oder weniger intakt,
von Hunden, indem sie deren Textur Menschen angelehnt: Sie bestehen wenn man Rauschen hinzufügt«,
beispielsweise mit Uhren füllten. aus mehreren verbundenen Schichten erklärt Robert Geirhos, ein Doktorand
von Wichmann und Bethge. »Die
lokale Struktur, zu der etwa die Textur
eines Objekts gehört, verzerrt sich
dagegen sehr schnell.« Es schien, als
hingen die Ergebnisse der KIs stark
von diesen lokalen Merkmalen ab.
Um ihren Verdacht zu testen, er­
stellten Geirhos und sein Team Bilder
mit widersprüchlichen Eigenschaften,
indem sie die Form eines Objekts mit
der Textur eines anderen paarten:
etwa die Silhouette einer Katze mit
einer rissigen grauen Elefantenhaut,
ein Bär aus Glasflaschen oder die
Kontur eines Hundes, das mit Ziffer­
blättern gefüllt ist. Als sie verschiede­
nen Personen Hunderte dieser Bilder
MIT FRDL. GEN. VON ROBERT GEIRHOS, UNIVERSITÄT TÜBINGEN

zeigten, kategorisierten Menschen sie


meist gemäß ihrer Form – Katze, Bär,
Hund. Die vier Algorithmen, denen sie
die gleichen Bilder vorsetzten, benann­
ten sie dagegen nach ihren Texturen:
Elefant, Flasche, Uhr.
So merkwürdig die Vorliebe von
Maschinen für Texturen erscheinen

26 Spektrum der Wissenschaft  2.20


ü
Täglich aktuelle Nachrichten auf Spektrum.de

sie nicht gelernt hatten, mit derartigen


Verzerrungen umzugehen. Das könnte
erklären, warum Menschen Dinge eher
nach ihrer Form identifizieren. Schließ­
lich ist es wichtig für uns, Objekte un-
ter verschiedensten Bedingungen zu
erkennen, etwa wenn sie in weiter Fer-
ne liegen oder von etwas anderem be-
deckt werden. Indem man sich auf Um-
risse konzentriert, macht man weniger

MIT FRDL. GEN. VON ROBERT GEIRHOS, UNIVERSITÄT TÜBINGEN


Fehler. Außerdem verfügen Menschen
noch über andere Sinne und können
Texturen etwa ertasten. Daher erscheint
In diesem Bild er- es nachvollziehbar, dass unser visuelles
kennt eine KI bloß System verstärkt auf Formen achtet.
einen Elefanten, Die Ergebnisse der Informatiker
­ eine Katze.
k verdeutlichen einmal mehr, wie ent­
scheidend die Auswahl geeigneter
Trainingsdaten ist, um zuverlässige
mag, ist sie bei genauerem Hinsehen jeweiligen Teile zeigen könnten. Wenn Algorithmen zu entwickeln. Gesichts­
schlüssig. Immerhin enthalten Bilder die Mehrheit der Ausschnitte beispiels­ erkennungsprogramme, automatisier­
viel mehr Pixel mit Texturinformatio­ weise auf eine Ente hindeuten, klassifi­ te Software zur Selektion von Bewer­
nen als solche, die ein Objekt begren­ ziert der Algorithmus das gesamte bern und andere neuronale Netze
zen und dessen Form festlegen.  Objekt im Bild als Ente. Dabei beachtet haben sich häufig als »voreingenom­
Wie die Forscher zeigten, kommen er nicht, wie die einzelnen Elemente men« erwiesen, weil man sie mit zu
neuronale Netze sogar ganz ohne räumlich zusammenhängen. Selbst einseitigen Daten trainiert hat. Meist
globale Information über die Form aus; wenn das Programm der Forscher viel ist es schwer, solche Verzerrungen
ihnen genügen die lokalen Eigenschaf­ rudimentärer ist als eine KI, funktio­ loszuwerden. Die Arbeit der Wissen­
ten. Um das näher zu untersuchen, niert es erstaunlich gut. schaftler zeigt aber, dass es grundsätz­
entwickelten die Informatiker ein »Das stellt die Annahme in Frage, lich möglich ist. 
neuronales Netz, das jenen überholten wonach sich maschinelles Lernen Jordana Cepelewicz gehört zum
Klassifikationsprogrammen gleicht, grundlegend von älteren Methoden ­Autorenteam des »Quanta Magazine«.
die man vor dem maschinellen Lernen unterscheidet«, sagt der Informatiker
QUELLEN
nutzte. Ihr Programm teilt – wie aktu­ Wie­land Brendel, ebenfalls an der Uni
elle KIs auch – ein Bild in winzige Tübingen. »Vielleicht sind die Fort­ Brendel, W., Bethge, M.: Approxima­
ting CNNs with bag-of-local-features
Ausschnitte auf. Aber statt die Infor­ schritte doch nicht so groß, wie einige
models works surprisingly well on
mationen nach und nach zusammen­ Leute gehofft haben.« Laut Amir ImageNet. International Conference on
zuführen, beurteilt es sofort, was die Rosenfeld von der York University gibt Learning Representations, 2019
es »große Unterschiede zwischen
Geirhos, R. et al.: ImageNet-trained
dem, was Netzwerke unserer Meinung CNNs are biased towards texture;
Ein Bär oder Flaschen – was sehen nach tun, und dem, was sie tatsächlich increasing shape bias improves ac­
Sie in diesem Bild? machen«.  curacy and robustness. International
Geirhos und seine Kollegen wollten Conference on Learning Representa­
tions, 2019
MIT FRDL. GEN. VON ROBERT GEIRHOS, UNIVERSITÄT TÜBINGEN

daraufhin herausfinden, ob sie KIs


zwingen können, die Textur eines Geirhos, R. et al.: Generalisation in
Objekts zu ignorieren. Dazu trainierten humans and deep neural networks.
Advances in Neural Information Proces­
sie die Programme nicht bloß mit sing Systems 31, 2018
gewöhnlichen Bildern, sondern färbten
die abgebildeten Objekte zudem in Von »Spektrum der Wissenschaft« übersetzte
verschiedenen Stilen ein. Und tatsäch­ und bearbeitete Fassung des Artikels »Where
lich: Die Deep-Learning-Modelle We See Shapes, AI Sees Textures« aus
»Quanta Magazine«, einem inhaltlich unab­
konzentrierten sich plötzlich auf globa­ hängigen Magazin der Simons Foundation,
le Merkmale und berücksichtigten die sich die Verbreitung von Forschungser­
vermehrt die Form. gebnissen aus Mathematik und den Natur­
Nach einem solchen Training konn­ wissenschaften zum Ziel gesetzt hat.
ten die Algorithmen auch verrauschte
Bilder besser erkennen, selbst wenn

Spektrum der Wissenschaft  2.20 27


ü
FORSCHUNG AKTUELL
FESTKÖRPER
DETEKTOREN FÜR DIE LÜCKE IM SPEKTRUM
Terahertzwellen waren nur mit großen Geräten nachzuweisen. Jetzt haben Physiker mit dem
­zweidimensionalen Material Graphen einen kompakten Empfänger gebaut.


Der Frequenzbereich der so (darum taucht sie gelegentlich im längenbereich interessant: In dem
genannten Terahertzstrahlung Kontext von »Nacktscannern« in den Energiebereich zeigen viele Moleküle
liegt zwischen der Infrarotstrah­ Medien auf). Außerdem ist sie nicht charakteristische Schwingungen und
lung und den Mikrowellen. Lange Zeit ionisierend, schädigt also kein Gewe­ Übergänge zwischen Rotationszu­
gab es nur aufwändig herzustellende, be, und ist deshalb für Mediziner ständen.
teure Sender und Empfänger für interessant, die sie in der Diagnostik Bisher funktioniert die Detektion
diesen Teil des Spektrums. Forscher einsetzen wollen. In der Werkstoff­ von Terahertzwellen etwa mit so
haben nun den Prototyp eines kom­ prüfung spielt sie bereits trotz der genannten Bolometern, welche die
pakten Terahertzdetektors entwickelt. sperrigen und komplexen Sender und Strahlungsleistung in Wärme umwan­
Dieser besteht aus einem herkömmli­ Empfänger eine wichtige Rolle. Auch deln. Das ändert dann den Widerstand
chen Feldeffekttransistor mit einer für die Radioastronomie ist der Wellen­ messbar. Die dafür verwendeten
leitenden Schicht aus Graphen. Bei
weiteren Versuchen stellte sich her­
aus, dass sich dazu auch kommerziel­ Terahertzstrahlen werden unter anderem in
les Graphen eignet. Dessen Struktur ­Ganzkörperscannern an Flughäfen eingesetzt.
ist weniger perfekt, aber es lässt sich

BLUBERRIES / GETTY IMAGES / ISTOCK


billiger und einfacher produzieren.
In Graphen ordnen sich Kohlen­
stoffatome in einem zweidimensiona­
len, hexagonalen Gitter an. Elektronen
können äußerst widerstandsarm durch
das Material fließen. Nach seiner
Entdeckung 2004 sollte es als Ersatz
für Silizium eine neue Mikroelektronik
ermöglichen. Doch die Euphorie ließ in
diesem Bereich bald nach, denn
Graphen weist keine »Bandlücke« auf.
Diese bestimmt, wie viel Energie man
den Elektronen mitgeben muss, damit
sie sich aus ihrem gebundenen Zu­
stand von den Atomkernen lösen und
das Material elektrischen Strom leitet.
Darauf basiert die Funktionsweise von
Transistoren. Allerdings kann Graphen
im Fall von Terahertzwellen einen
anderen Vorteil ausspielen: In dem
Material werden die Ladungsträger
von einem breiten Teil des Frequenz­
spektrums angeregt. Die Terahertz­
strahlung kann mit ihrem elektromag­
netischen Wechselfeld Elektronen­
wellen im Graphen auslösen, mit
denen sie sich dann in Verbindung mit
einem klassischen Transistor nachwei­
sen lässt.
Terahertzstrahlung durchdringt
viele Materialien wie Textilien oder
Kunststoffe, wird aber von Wasser
absorbiert und von Metallen reflektiert

28 Spektrum der Wissenschaft  2.20


ü
Bauteile sind aber meist sehr groß
und müssen mit flüssigem Stickstoff
gekühlt werden. Ein Transistor aus Graphen
2018 haben Forscher um Denis Ban­
durin an der University of Manchester Der zentrale Teil des Detektors ist eine Schicht aus Graphen. Eine
in einer ersten Konzeptstudie einen Steuerspannung zwischen ihr und einer Lage aus dem Halbleiter Silizi­
Terahertzdetektor aus Graphen entwi­ um – getrennt durch eine isolierende Schicht Siliziumdioxid – reguliert
ckelt. Dazu betteten sie zwei Lagen die Elektronendichte. Der Aufbau entspricht dem eines Feldeffekttran­
dieses Stoffs zwischen Kristalle aus sistors. Mit diesem lässt sich einfallende Terahertzstrahlung messen.
Bornitrid und koppelten sie an eine Ein aufliegendes Metallgitter verhindert, dass die durch die Strahlung
Antenne. Eine Schicht aus reinem angeregten Elektronen im Graphen zu stark gestreut werden.
Graphen würde normalerweise nur
einen sehr geringen Anteil der Tera­
Kontakte Metallgitter
hertzstrahlung aufnehmen. Doch
eingesperrt im Kanal aus Bornitrid
Steuerspannung
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT / MIKE BECKERS

schaukelten sich die Elektronenwellen


Bornitrid
unter dem Wechselfeld der einfallen­
den Strahlung zu einer kollektiven Graphenlagen
Schwingung auf. Diese Resonanz
isolierende
zeigte sich deutlich in Form von Aus­
Schicht
schlägen im Signal des Transistors –
die Terahertzwellen ließen sich mit Silizium
dem Detektor nachweisen. Die Leis­
tung des Prototyps war bereits ver­
gleichbar mit kommerziell erhältlichen
Bolometern. ein Metallgitter. Es fungiert gewisser­ noch etwa halb so groß wie für den
maßen als Schleuse für die einfallende Gleichstromfall.
Wellen im Elektronenmeer Terahertzstrahlung und kanalisiert ihr Als das Team untersuchte, um
In dem bei diesen Versuchen verwen­ elektrisches Feld: Nur die Komponen­ welche Stellen die Elektronenwellen
deten hochreinen Graphen können te, die senkrecht zu den Metallstäben kreisten, befanden sich diese direkt
sich die Elektronen mühelos bewegen, auftrifft, regt die Elektronen zu einer unterhalb der Metallstäbe. Das konn­
aber seine Herstellung ist mit großem Wellenbewegung in der Graphen­ ten die Physiker mit einer Bindung
Aufwand verbunden. Einfacher lässt ebene an. der Elektronen an die Stäbe erklären,
sich Graphen beispielsweise in einem In ersten Tests, welche die Wissen­ ähnlich wie geladene Teilchen in
Spezialofen produzieren. Dort zersetzt schaftler mit Gleichstrom durchführ­ Kristallgittern vom Atomrumpf ange­
sich ein methanhaltiges Gasgemisch ten, wurden die Elektronen im kom­ zogen werden. Mit derart lokalisierten
zu Wasserstoff und Kohlenstoff, und merziellen Graphen wie zu erwarten Wellen eignet sich selbst kommerziel­
Letzterer scheidet sich als Graphen auf stark an Defekten gestreut. Als die les Graphen zur Konstruktion eines
einem Metallsubstrat ab. Von diesem Forscher den Transistor dem Wechsel­ Transistors, der gegenüber Terahertz­
muss es dann mit Chemikalien gelöst feld der Terahertzstrahlung aussetzten, strahlung empfindlich ist. Sollte sich
werden. Bei den Vorgängen bilden konnten sie dennoch Resonanzen die Konstruktion in weiteren Ver­
sich zahlreiche Risse und Defekte. Die beobachten. Da das Metallgitter die suchen bewähren, dürfte das neue
elektrische Leitfähigkeit von solchem einzelnen Pakete der Elektronenwelle Einsatzzwecke für den bislang so
kommerziellen Graphen ist geringer, nun stärker an einen Ort bindet, schlecht handhabbaren Wellenlängen­
da die Elektronenwellen an den fehler­ ­wandern die Teilchen weniger und bereich eröffnen. 
haften Stellen gestreut und stark werden nicht so stark gestreut. Stefan-Johannes Reich ist
gedämpft werden. Eigentlich dürfte Die Rate, mit der die Elektronen auf Physiker und Praktikant bei »Spektrum
sich kommerzielles Graphen des­ ­De­fekte stießen, war dadurch nur der Wissenschaft«.
wegen nicht zum Nachweis von Tera­
hertz­strahlung eignen. QUELLEN
Doch die Forscher um Andrei
Bylinkin vom Moskauer Institut für Das Metallgitter Bandurin, D. A. et al.: Resonant tera­
hertz detection using graphene plas­
Physik und Technologie lösten das
Problem 2019 mit einem Konzept, das
fungiert als Schleuse mons. Nature Communications 9, 2018

Physiker bereits Jahrzehnte zuvor


theoretisch vorgeschlagen hatten.
für die einfallende Bylinkin, A. et al.: Tight-binding tera­
hertz plasmons in chemical-vapor-depo­

Terahertzstrahlung
sited graphene. Physical Review Applied
Dazu fixierten sie auf dem Transistor 11, 2019

Spektrum der Wissenschaft  2.20 29


ü
FORSCHUNG AKTUELL
KLIMAWANDEL Daten über ebendiese indirekten
Anzeiger für die Temperatur, die das

HEUTE ERWÄRMT SICH internationale Forschungskonsortium


PAGES (Past Global Changes) zusam­

DIE GANZE ERDE AUF EINMAL mengetragen hat. Die von ihnen
erstellte PAGES-2k-Datenbank enthält
fast 700 Datenreihen, die auf der
Die aktuelle Aufheizung ist fast rund um den Globus Analyse von Baumringen, Eisbohrker­
zu b
­ eobachten. Damit unterscheidet sie sich grundsätzlich nen, Sedimenten, Korallen und Höh­
von anderen Temperaturschwankungen in den lenablagerungen basieren, außerdem
letzten 2000 Jahren, wie Klimarekonstruktionen zeigen. auf urkundlichen Belegen und weite­
ren Archiven. Unter anderem dank der


In der Erdgeschichte gab es ven, deren Material, chemische Zu­ Vielzahl an Informationen konnten die
immer wieder Epochen, in denen sammensetzung oder Struktur Autoren die geografische Verbreitung
es für längere Zeit wärmer, kälter, Informa­tionen über die Temperatur ungewöhnlich warmer und kalter
feuchter oder trockener wurde. liefern, zählen Sedimente von Seen, Temperaturen rund um den Globus
­Während der letzten 2000 Jahre waren Glet­scher­eis und Muscheln. Auch die aufs Jahr genau ermitteln.
dies vor allem die mittelalterliche daraus gewonnenen Datensätze Demnach war zwar die kleine
Klimaanomalie, eine warme, trockene verraten, welche Temperaturen vor Eiszeit die kälteste Epoche des letzten
Periode etwa von 950 bis 1250 n. Chr., Jahrhunderten bis Jahrtausenden Jahrtausends, die tiefsten Temperatu­
sowie die kleine Eiszeit, eine kühle herrschten. Weil die so gewonnenen ren traten jedoch an verschiedenen
Phase vom 16. bis zum 19. Jahrhun­ Informationen stellvertretend für Orten zu unterschiedlichen Zeiten auf
dert. Viele Menschen nehmen an, Klimadaten stehen, bezeichnen (siehe Grafik S. 32). Zwei Fünftel der
diese Phasen seien weltweit synchron ­Wissenschaftler sie als Proxy­daten Erde erlebten die eisigste Kälte um die
verlaufen. Doch ein Team um Raphael (englisch proxy: Stellvertreter). Mitte des 19. Jahrhunderts, andere
Neukom von der Universität Bern hat Die Gruppe um Neukom rekons­ Regionen bereits einige Jahrhunderte
2019 gezeigt, dass sich diese und truierte anhand dieser Hinweise die früher. Und selbst auf dem Höhepunkt
frühere Klimaepochen der vergan­ Oberflächentemperaturen der letzten der mittelalterlichen Klimaanomalie
Number
genen 2000 Jahre wesentlich klein­ 2000 Jahre für den gesamten Erdball wurden die Spitzentemperaturen nie
30° N

60° N

90° N
90° S

60° S

30° S

of records
räumiger bemerkbar machten als die im Detail. Grundlage ihrer Arbeit sind auf mehr als 40 Prozent der Erdober­

100
150
200

aktuelle, menschengemachte Erwär­


50
0

mung, die fast überall auf der Erde

Muscheln
0

nachweisbar ist. Forscher haben das Erdklima der letzten 2000 Jahre im Detail rekonstruiert.
Da instrumentelle Temperaturmes­ Dazu haben sie fast 700 Datenreihen ausgewertet, die ­vergangene Tempera-
200

sungen für die gesamte Erde erst seit turen anzeigen, beispielsweise Korallen und Jahresringe von Bäumen.
etwa 1850 vorliegen, rekonstruieren
Korallen
60° O
400

Fachleute das Klima in der Zeit davor Muscheln Korallen Eisbohrkerne Seesedimente Jahresringe
mit Hilfe anderer Daten. So lässt sich

1000 2000 3000 4000 5000 6000


NEUKOM, R. ET AL.: NO EVIDENCE FOR GLOBALLY COHERENT WARM AND COLD PERIODS OVER THE PREINDUSTRIAL COMMON ERA.
90° N
600

beispielsweise an der Breite und

Abstand zum nächsten Datensatz (km)


Eisbohrkerne

Holzdichte der Jahresringe von Bäu­


180°

60° N
men ablesen, wie die Sommertempe­
800

NATURE 571, 2019, FIG. 1A; NUTZUNG GENEHMIGT VON SPRINGER NATURE / CCC
raturen von Jahr zu Jahr schwankten.
xlim

30° N
Insbesondere die Klimabedingungen in
1000
Year ad

60° W

kühlen Regionen wie der Arktis oder in


Seesedimente

Gebirgen lassen sich damit nachvoll­ 0°


1200

ziehen. Korallen wiederum geben


Aufschluss darüber, welche Tempera­ 30° S
1400

60° O

turen in der Vergangenheit in den


Ozeanen herrschten: Denn sie bauen
1600

60° S
beim Wachsen Spurenelemente aus
Jahresringe

dem Umgebungswasser in ihre Ske­ 90° S


0
1800

lette ein. Da die chemische Zusam­


mensetzung des Meerwassers von 60° O 180° 60° W 60° O
2000

Mean CI width

seiner Temperatur abhängt, sind 200 3.0


xlim 2.9
of records

Korallen Zeugen für Schwankungen


Number

150
(s.d.)

2.8
2.5
2.6
2.7
2.8
2.9
3.0

der Ozeantemperatur. Zu weiteren 100 0 1000 2000 3000 4000 5000 6000
2.7
geologischen und biologischen Archi­ Mean
50 CI width Abstand zum nächsten Datensatz (km) 2.6
2.5
0(s.d.)
30 Spektrum der Wissenschaft  2.20 0 200 400 600 800 1000 1200 1400 1600 1800 2000
ü Year ad
fläche gleichzeitig erreicht. Insofern ist
die aktuelle globale Erwärmung einzig­
Grundlage der weisgeber – vor allem Daten aus
Meeres- und Seesedimenten – über­
artig: Auf 98 Prozent der Erdoberflä­
che stellte das ausgehende 20. Jahr­
Arbeit sind fast 700 treiben wiederum Schwankungen, die
sich innerhalb mehrerer Jahrzehnte bis
hundert die wärmste Phase der letzten Datenreihen aus zu etwa einem Jahrhundert abspielen.
2000 Jahre dar. Den weiter fortschrei­
tenden Temperaturanstieg zu Beginn ­Klimaarchiven rund Für wenige zehn Jahre umfassen-
de Zeitrahmen können Fachleute
des 21. Jahrhunderts haben die Auto­
ren nicht berücksichtigt, da viele ihrer
um die Welt jedoch sicherer beurteilen, wie und
warum sich die Erde erwärmt oder
Proxydaten schon vor über zwei abkühlt. In einer weiteren Veröffentli­
Jahrzehnten erhoben wurden. zeigt, dass ihre Schlussfolgerungen chung zeigten die Wissenschaftler,
Die Paläoklimatologen John Mat­ verlässlich sind. dass im vorindustriellen Zeitalter (1300–
thews und Keith Briffa warnten bereits Noch gibt es allerdings Grenzen bei 1800 n. Chr.) größere Vulkanausbrüche
2005 davor, die kleine Eiszeit als der Interpretation der Proxydaten, die die Hauptursache für Umschwünge
»ununterbrochene, weltweit synchro­ es erschweren, Warm- und Kaltphasen hin zu kalten Temperaturen waren, die
ne kalte Periode« zu begreifen. Neu­ über die gesamten letzten zwei Jahr­ dann einige Jahrzehnte lang anhielten.
kom und sein Team stützen diese tausende hinweg miteinander zu Veränderungen der Treib­hausgas­
Auffassung jetzt mit ihren neuen vergleichen. Jahresringkalender, das konzentrationen hatten eine geringere,
Erkenntnissen. Unabhängig von der am häufigsten genutzte Klimaproxy­ aber immer noch nachweisbare Wir­
Wahl der statistischen Instrumente, Archiv in der von Neukoms Gruppe kung. Das Team fand keine Anzeichen
welche die Proxydaten den entspre­ genutzten Datensammlung, können dafür, dass die Schwankungen der
chenden Temperaturmessungen sehr langsame Klimaveränderungen Sonneneinstrahlung die globale Durch­
zuordneten, kamen die Forscher dabei über Jahrhunderte hinweg nur sehr schnittstemperatur über vergleichbare
zu den gleichen Ergebnissen – was unzuverlässig abbilden. Andere Hin­ Zeiträume hinweg beeinflusst haben.

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Spektrum der Wissenschaft  2.20 31
ü
FORSCHUNG AKTUELL
römische Warmzeit römische Warmzeitmittelalterliche Klimaanomalie
mittelalterliche Klimaanomalieaktuelle Warmperiode aktuelle Warmperiode
60º O 180º 60º W 60º
60º O 60º O
O 180º 60º W 60º
60º O 60º W 60º
60ºOO 180º 60º W 60º
60º O
a a O 180º 60º W 60º b O 180º
b c O 180º 60º W 60º O
c
90º N 90º N 90º N 90
5e+06

5e+06

5e+06
60º N 60º N

5e+06

5e+06

5e+06
60º N 60

30º N 30º N

NEUKOM, R. ET AL.: NO EVIDENCE FOR GLOBALLY COHERENT WARM AND COLD PERIODS OVER THE PREINDUSTRIAL COMMON ERA.
30º N 30
−5e+06 0e+00

−5e+06 0e+00
ylim

0º ylim 0º
0º 0º

30º S 30º S 30º S 30

NATURE 571, 2019, FIG. 3; NUTZUNG GENEHMIGT VON SPRINGER NATURE / CCC
60º S 60º S 60 60º S
90º S 90º S 90º S 90
−1.5e+07 −5.0e+06
0.0e+00 5.0e+06
−1.5e+07 1.0e+07
1.5e+07
−5.0e+06
0.0e+00−1.5e+07
5.0e+06 −5.0e+06
1.0e+07 0.0e+00
1.5e+07 5.0e+06
1.0e+07
−1.5e+07 1.5e+07
−5.0e+06 −1.5e+07
0.0e+00 5.0e+06 −5.0e+06
1.0e+07 0.0e+00
1.5e+07 5.0e+06
−1.5e+071.0e+07
1.5e+07
−5.0e+06
0.0e+005.0e+06
1.0e+07
1.5e+07
0 200 400
xlim0 600200 800400 700 600 900 800xlim 1100
700 1300
900 0
1100 500
1300 1000
xlim0 1500
500 2000
1000 1500 2000
xlim xlim xlim
Jahr (n. Chr.) Jahr (n. Chr.) Jahr (n. Chr.) Jahr (n. Chr.) Jahr (n. Chr.) Jahr (n. Chr.)
frühmittelalterliches Pessimum
frühmittelalterliches Pessimum kleine Eiszeit kleine Eiszeit
60º O 180º 60º W 60º
60º O 180º e 60º W 60º
60º O 180º 60º W 60º
d d O O e 60º O
O 180º 60º W 60º O
Für verschiedene Zeiträume
90º N haben 90º N 90º N 90º N
−5e+06 0e+00 5e+06

5e+06
die Forscher ermittelt, wann
60º N wo auf 60º N
−5e+06 0e+00 5e+06

5e+06
60º N 60º N
der Erde die höchsten (oben)
30º N sowie 30º N
30º N 30º N
tiefsten (unten) Temperaturen
ylim

ylim
ylim

ylim
0º 0º
herrschten. Vergangene Kalt- und 0º 0º

Warmzeiten verliefen demnach


30º S nicht 30º S 30º S 30º S
weltweit synchron, sondern
60º S
teils um 60º S
60º S 60º S
hunderte Jahre versetzt. Nur
90º S die 90º S
90º S 90º S
aktuelle Erwärmung ist überall −1.5e+07 −5.0e+06
0.0e+00 5.0e+06
1.0e+07
1.5e+07 −1.5e+07 −5.0e+06
0.0e+00 5.0e+06
1.0e+07
1.5e+07
−1.5e+07 −5.0e+06
0.0e+005.0e+06
1.0e+07
1.5e+07 −1.5e+07 −5.0e+06
0.0e+005.0e+06
1.0e+07
1.5e+07
0
gleichzeitig spürbar (oben rechts). 200 400 xlim600
0 800
200 1000 1000
400 1200
800 14001000xlim1600 1200
1800 14002000 1600
xlim600 1000 xlim 1800 2000
Jahr (n. Chr.) Jahr (n. Chr.) Jahr (n. Chr.) Jahr (n. Chr.)

Im Allgemeinen bilden Klimamodel­ QUELLEN rature reconstructions and simulations


le die Schätzungen, die mittels Proxy­ over the Common Era. Nature Geoscien­
Neukom, R. et al.: No evidence for
ce 12, 2019
daten für die Klimageschichte des globally coherent warm and cold
letzten Jahrtausends gemacht werden, periods over the preindustrial Common
genau nach. Diese Modelle überschät­ Era. Nature 571, S. 2019
© Springer Nature Limited
zen jedoch das Ausmaß der Kälte­ PAGES 2k Consortium: Consistent www.nature.com
einbrüche, die auf die größten Vulkan­ multidecadal variability in global tempe­ Nature 571, S. 483–484, 2019
eruptionen unserer Zeitrechnung
folgten: die Ausbrüche des Samalas
auf der indonesischen Insel Lombok
(1257) und des Tambora auf der eben­ MEDIZIN
falls indonesischen Insel Sumbawa
östlich von Java (1815). Daher lässt
sich nicht mit Sicherheit sagen, wie
WIE ENTSTEHEN KNOCHEN?
heftig eine Kälteperiode ausfiele, die Eine spezielle Knorpelschicht sorgt dafür, dass unsere ­Röhren-
auf eine künftige, vergleichbare Erup­ knochen in die Länge wachsen. Forscher haben in ihr nun
tion folgen würde. ­Stammzellen entdeckt, die sowohl Knorpel- als auch Knochenmark-
Die bekannte Maxime, dass sich stammzellen hervorbringen.
das Klima stetig ändert, stimmt sicher­


lich. Doch selbst, wenn wir bis in die Für das Wachstum von Röhren­ rieren) und sich entlang der Knochen­
frühesten Tage des Römischen Reichs knochen – etwa die langen längsachse in Säulen anordnen. Dieser
zurückblicken, finden wir kein Ereignis, ­Knochen in unseren Armen und Säulenknorpel entwickelt sich weiter
das in Stärke oder geografischer Aus- Beinen – sind spezielle Knorpel­ zu hypertrophen Chondro­zyten, wel­
dehnung auch nur annähernd dem Tem- schichten zuständig, die so genannten che ihre Teilungsaktivität einstellen,
peraturanstieg der letzten Jahrzehnte Wachstumsfugen. Diese trennen die durch Wasseraufnahme ihr Volumen
entspricht. Dieser ist in seiner weltwei­ Knochenenden vom Schaft und ent­ vergrößern und später durch Knochen
ten Synchronizität beispiellos.  halten drei verschiedene Arten von ersetzt werden.
Scott St. George ist Professor für Knorpelzellen (Chondrozyten): Rundli­ Um das Längenwachstum eines
Geografie und forscht an der University che Zellen bringen flache Abkömmlin­ Röhrenknochens aufrechtzuerhalten,
of Minnesota in Minneapolis. ge hervor, die sich stark teilen (prolife­ müssen die Chondrozyten der Wachs­

32 Spektrum der Wissenschaft  2.20


ü
tumsfugen kontinuierlich nachgeliefert Zellen in der Reservezone vermehren. sich zu den verschiedenen Stadien der
werden. Forscher suchen schon seit Sie erkannten, dass diese zumeist monoklonalen Chondrozytensäulen
Langem nach den Stammzellen, die inaktiv sind, gelegentlich aber eine weiterentwickeln. Diese Beobachtun­
dies bewerkstelligen. Zwei Teams, asymmetrische Teilung durchlaufen, gen weisen darauf hin, dass die neu
einem um Phillip T. Newton vom bei der zwei Tochterzellen entstehen: entdeckten Zellen in der Reservezone
Karolinska-Institut in Stockholm und eine, die als Stammzelle in der Reser­ Stammzellen ähneln und mittels
einem um Koji Mizuhashi von der vezone verbleibt, und eine, die sich asymmetrischer Teilung den Chondro­
University of Michigan, ist dies nun in weiter teilt und deren Abkömmlinge zytenvorrat der Wachstumsfuge
parallelen Ansätzen gelungen. Beide
Gruppen haben in der äußeren Schicht
der Wachstumsfuge, der so genannten
Reservezone, einen Stammzelltyp Wie Röhrenknochen wachsen
identifiziert, der sämtliche Knorpelzell­
varianten der Wachstumsfuge sowie Die Wachstumsfugen eines Röhrenknochens befinden sich zwischen
einige langlebige mesenchymale (nicht den Enden und dem Schaft eines Knochens und bestehen aus Knor­
Blut bildende) Stammzellen des Kno­ pelgewebe (dieses ist blau, verknöchertes Gewebe braun dargestellt).
chenmarks hervorbringt. Sie untergliedern sich in Zonen unterschiedlicher Knorpelzellen: Die
Reservezone enthält rundliche Knorpelzellen (Chondrozyten); die
Verräterische Fluoreszenz Proliferationszone weist Säulen aus flachen, sich schnell teilenden
Die Forscher haben die Entwicklung Chondrozyten auf; die hypertrophe Zone ist durch vergrößerte
einzelner Chondrozyten verfolgt, Chondrozyten gekennzeichnet, die sich nicht mehr teilen.
indem sie diese gentechnisch verän­ Forscher haben jetzt in der Reservezone bestimmte Stammzellen
derten und so dazu brachten, jeweils (rot) identifiziert, deren Tochterzellen sich in Säulen anordnen, welche
verschiedene fluoreszierende Proteine von einer einzigen Stammzelle abstammen und sich durch alle Zonen
herzustellen. Wenn derart abgewan­ der Wachstumsfuge ziehen (gestrichelt umrandet). Eine solche Säule
delte Zellen sich teilen, leuchten ihre enthält sowohl flache als auch hypertrophe Chondrozyten. Letztere
Tochterzellen im Mikroskop in entspre­ können sich in Knochen bildende Osteoblasten oder in mesenchyma­
chendem Fluoreszenzlicht und sind le Stammzellen des Knochenmarks umwandeln. Die Selbsterneue­
daher leicht als solche zu erkennen. rung der Stammzellen in der Reservezone wird vom Proteinkomplex
Dabei nutzten die beiden Arbeitsgrup­ mTORC1 reguliert. Weiterhin sind die beiden Signalmoleküle PTHrP,
pen unterschiedliche Strategien zum gebildet in der Reservezone, und Ihh, hergestellt von hypertrophen
Markieren der Zellen: Während die Chondrozyten (schraffiert), im Zusammenspiel für die Vermehrung
Gruppe um Newton auf das Gen für und Reifung dieser Stammzellen wichtig.
Kollagen Typ 2 abzielte (ein Marker für
alle proliferierenden Chondrozyten),
konzentrierte sich das Team um Mizu­
hashi auf das Gen für das Hormon mTORC1 Stammzellen
PTHrP (ParaThyroid Hormon-related Wachstumsfuge Reserve-
Protein), das von relativ unreifen PTHrP zone

Chondrozyten hergestellt wird. Die


Zellgruppen, die sich mit diesen bei­ Proliferations-
zone
den Markern erfassen lassen, überlap­
Chondrozytensäule

pen einander.
NATURE; WÜLLING, M., VORTKAMP, A.: THE FOUNTAIN OF BONE GROWTH. NATURE 567, 2019, FIG. 1

Beide Forscherteams identifizierten Ihh


in der Reservezone der Wachstums­
fuge spezielle Zellen, die sich langsam
hypertrophe
teilen und den Ursprung für die mono­ Zone
klonalen (von einer einzigen Zelle
abstammenden) Chondrozytensäulen
bilden. Diese ziehen sich durch die
gesamte Wachstumsfuge und enthal­
Stamm-
ten sowohl die stark proliferierenden, zelle
Knochenmark
flachen Zellen als auch die hyper­ Osteoblast
trophen Chondrozyten (siehe »Wie
Röhrenknochen wachsen«, rechts).
Newton und seine Kollegen haben
genauer untersucht, wie sich die

Spektrum der Wissenschaft  2.20 33


ü
FORSCHUNG AKTUELL
immer wieder auffüllen. Ihre Nach­ in der Reservezone zur Herstellung des Studien haben jedoch gezeigt, dass
kommen, die flachen, proliferierenden bereits erwähnten Hormons PTHrP. sich ein Teil der hypertrophen
Chondrozyten, vermehren sich dann Dies wiederum verhindert den vorzeiti­ Chondrozyten in Osteoblasten sowie
rasch und sorgen so für Nachschub an gen Übergang der stark proliferieren­ in langlebige Stammzellen des Kno­
Knorpelmasse. den Knorpelzellen in den hypertrophen chenmarks umwandeln kann. Durch
Das Team um Mizuhashi untersuch­ Zustand. Zusätzlich fördern sowohl Ihh ihre Markierungsexperimente fanden
te den Stammzellcharakter der neu als auch PTHrP die Teilung der flachen Mizuhashi und seine Kollegen nun
entdeckten Zellen im Detail und fand Chondrozyten. heraus: Einige Abkömmlinge der
heraus, dass sie – obwohl sie ganz Eine Hemmung des Ihh-Signalwegs Stammzellen gelangen aus der Reser­
eindeutig zur Linie der Knorpelzellen führte zur Verkürzung der Chondro­ vezone in das Knochenmark und sind
gehören – ähnliche Merkmale aufwei­ zytensäulen in der Wachstumsfuge, dort an dessen Aufbau beteiligt.
sen wie die mesenchymalen Stamm­ wohingegen seine Aktivierung bewirk­ Ausdifferenzierte Zellen entwickeln
zellen des Knochenmarks und auch te, dass die Zellen in der Reservezone sich in der Regel nicht in einen undiffe­
einen ähnlichen Reifungsprozess sich häufiger teilten. Beide Gruppen renzierten Zustand zurück – die
durchlaufen wie diese. Welche Mecha­ Stammzellen der Reservezone durch­
nismen die Ausdifferenzierung beider laufen mithin einen ungewöhnlichen
Stammzelltypen regeln, ist allerdings Stammzellen des Differenzierungsprozess, indem sie
sich von undifferenzierten Chondro­
Knochenmarks
noch weitgehend unbekannt.
Newton und seine Kollegen mar­ zytenvorläufern in ausdifferenzierte
kierten embryonale Chondrozyten und
konnten damit zeigen: Einige davon
­sorgen lebenslang Chondrozyten und anschließend in
multipotente, mesenchymale Stamm­
entwickeln sich zu Stammzellen der
Reservezone. Weiterhin ergaben die
für die Erneuerung zellen des Knochenmarks umwandeln.
Künftige Untersuchungen müssen
Experimente, dass in embryonalen des Skeletts klären, wie viele der mesenchymalen
Entwicklungsstadien die Chondro­ Knochenmarkstammzellen von
zytensäulen einen multiklonalen schlossen daraus, dass Ihh ebenfalls Stammzellen der Reservezone abstam­
Ursprung haben – sie stammen also den Stammzellcharakter der Zellen in men und ob sie sich funktional von
nicht nur von einer einzigen sich selbst der Reservezone reguliert. Als Newton anderen mesenchymalen Knochen­
erneuernden Stammzelle ab. Das und seine Kollegen den Ihh-Signalweg markzellen unterscheiden. Da die
embryonale Knochenwachstum und hemmten und zugleich den Protein­ mesenchymalen Stammzellen des
das im Kindheits- und Jugendstadium komplex mTORC1 aktivierten, wander­ Knochenmarks lebenslang für die
sind demnach überraschend unter­ ten einige Stammzellen aus der Re­ Erneuerung des Skeletts und die
schiedlich organisiert. servezone in die Zone des sich stark Heilung von Knochenbrüchen sorgen,
teilenden Säulenknorpels, jedoch ohne ist das Verständnis der zu Grunde
Verwickelte Zellregulation dabei zu flachen, proliferierenden liegenden zellulären Mechanismen von
Um die Mechanismen zu identifizieren, Chondrozyten zu werden. Ihh scheint großer klinischer Bedeutung. 
die den Stammzellcharakter aufrecht­ folglich eher die Teilungshäufigkeit als Andrea Vortkamp ist Professorin am
erhalten, untersuchte das Team um die Identität der Stammzellen zu Zentrum für Medizinische Biotechnologie
Newton den Proteinkomplex mTORC1, steuern. Da die Bildung von PTHrP der Universität Duisburg-Essen.
der in anderen Stammzellen häufig aber direkt von Ihh beeinflusst wird Manuela Wülling forscht ebenfalls dort
als wissenschaftliche Mitarbeiterin.
aktiv ist. Eine künstlich erhöhte Aktivi­ und beide auf die Teilungsrate
tät dieses Komplexes führte dazu, dass und Ausdifferenzierung der flachen
sich Stammzellen nicht mehr asymme­ Chondrozyten einwirken, werden QUELLEN

trisch, sondern vermehrt symmetrisch weitere Versuche nötig sein, um Mizuhashi, K. et al.: Resting zone of the
teilten. Infolgedessen stieg die Anzahl zwischen deren Einflüssen auf die growth plate houses a unique class of
skeletal stem cells. Nature 563, 2018
der Stammzellen in der Reservezone, Stammzellen beziehungsweise den
während der Anteil der proliferieren­ Säulenknorpel unterscheiden zu Newton, P. T. et al.: A radical switch in
den Zellen des Säulenknorpels ab­ können. clonality reveals a stem cell niche in the
epiphyseal growth plate. Nature 567,
nahm. Der mTORC1-Komplex spielt Die Vorstellung davon, wie Knorpel
2019
somit offenbar eine wichtige Rolle bei durch Knochen ersetzt wird, hat sich
der Selbsterneuerung dieser knorpel­ in den zurückliegenden Jahren stark Ohba, S.: Hedgehog Signaling in
Endochondral Ossification. Journal of
spezifischen Stammzellen. gewandelt. Früher nahm man an, in
Developmental Biology 4, 2016
Beide Gruppen analysierten zudem der so genannten Verknöcherungs­
die Rolle des Proteins Indian Hedge­ zone der Wachstumsfuge würden die
hog (Ihh), das eine große Bedeutung hypertrophen Chondrozyten abgebaut © Springer Nature Limited
für die embryonale Knochenentwick­ und durch Knochen bildende Zellen, www.nature.com
lung hat. Ihh veranlasst Chondrozyten die Osteoblasten, ersetzt. Neuere Nature 567, S. 178–179, 2019

34 Spektrum der Wissenschaft  2.20


ü
SPRINGERS EINWÜRFE
DER HAKEN AN DER SACHE
Kluge Krähen gebrauchen Werkzeug, um an Nahrung zu
gelangen. Die erstaunlichen Fähigkeiten beruhen nicht
allein auf gegenseitigem Abschauen, sondern machen sich
die natürlichen Gegebenheiten flexibel zu Nutze.

Michael Springer ist Schriftsteller und Wissenschaftspublizist. Eine


neue Sammlung seiner Einwürfe ist 2019 als Buch unter dem Titel
»Lauter Überraschungen. Was die Wissenschaft weitertreibt« erschienen.

 spektrum.de/artikel/1693112

V
or allem der Gebrauch von Werkzeugen galt eignen – fast so, als hätten sie ein genaues Bild davon
lange als eine singuläre Errungenschaft, die im Kopf. Außerdem sparen sie sich unnötige Arbeit:
vermeintlich ausschließlich den Menschen Den fertigen Haken bewahren sie an einem sicheren
auszeichne. Mit dieser Sonderstellung ist es Ort zur wiederholten Verwendung auf.
freilich vorbei, seit die Verhaltensforscherin Jane Goo­ Zudem setzen nicht alle Krähen Neukaledoniens für
dall 1964 nachwies, dass manche Menschenaffen die Fabrikation ihres Werkzeugs auf ein und dieselbe
durchaus fähig sind, mit Hölzchen und Stöckchen Technik. Die Forscherin fragte sich, ob diese Variabilität
Termiten aus deren Bauten zu fischen oder mit Steinen wie meist angenommen für ein rein »kulturelles«, das
Nüsse zu knacken. Mittlerweile hat man Vergleichbares heißt einmal hier oder da zufällig erfolgreiches und
auch an ganz anderen Ästen unseres Stammbaums dann durch soziales Lernen weitergegebenes Verhalten
gefunden, insbesondere bei Vögeln. Unter ihnen tun spricht – oder ob dabei Umweltfaktoren eine prägende
sich Raben und Krähen durch ausgesprochen schlaues Rolle spielen.
Benehmen hervor.

T
Auf eine Krähenart, die auf der entlegenen süd­ atsächlich konnte Klump zeigen, dass die Vari­
pazifischen Inselgruppe Neukaledonien heimisch ist, anten der Herstellungsmethode von den mecha­
hat sich Barbara C. Klump vom Max-Planck-Institut nischen Eigenschaften der verfügbaren Flora
für Verhaltensbiologie in Radolfzell spezialisiert. Ihr bei abhängen, also lang oder kurz, dick oder dünn,
der Zeitschrift »Science« eingereichter Essay zum elastisch oder brüchig. Zwei ökologische Randbedin­
Thema Krähen und Werkzeuge wurde 2019 von den gungen sind für den Werkzeuggebrauch der neukale­
Herausgebern des Magazins mit einem ersten Preis donischen Krähen entscheidend: Die Vegetation bietet
für junge Forschende in der Kategorie Ökologie und den geschickten Vögeln reichhaltiges Rohmaterial,
Umwelt ausgezeichnet (Science 366, S. 965, 2019). und die isolierte Lage der pazifischen Inseln hat sie
lange vor Konkurrenten verschont, etwa Spechten so-

Was steckt hinter der Vielfalt wie großen Raubtieren.


Auch unter den Frühmenschen, spekuliert Klump,
der Techniken: kulturelle Weiter- könnte sich der Nutzen einfacher Geräte herumge­
sprochen haben, sobald sie nicht mehr als Einzelne
gabe oder Umweltfaktoren? dauernd auf der Flucht waren, sondern schützende
Gruppen bildeten. Die Antworten auf das Problem der
Die neukaledonische Geradschnabelkrähe ist die Menschwerdung pendeln seit jeher zwischen der
einzige wild lebende Tierart, die aus kleinen Zweig­ Betonung unserer einzigartigen Stellung im Tierreich
gabeln geschickt schlanke Haken herstellt, um damit und dem Auffinden überraschender Gemeinsamkeiten.
Larven und Insekten aus abgestorbenem Holz zu Zu Letzteren zählen gewiss die scheinbar simplen
angeln. Wie kommen die Tiere darauf? Klump präsen­ kulturell vererbten Methoden, mit deren Hilfe einige
tierte ihnen verschiedene künstliche Kombinationen höhere Lebewesen gelernt haben, zusätzlichen Nutzen
von Blättern und Zweigen und beobachtete, dass die aus ihrer Umwelt zu ziehen. Dabei dürfen die natur­
Vögel zielsicher die Pflanzensorten herauspicken, die gegebenen Rahmenbedingungen nicht aus dem Blick
sich zur Produktion ihres hakenförmigen Werkzeugs geraten – Technik braucht Ökologie.

Spektrum der Wissenschaft  2.20 35


ü
PALÄONTOLOGIE
DAS GEHEIMNIS
DER VERBORGENEN
REPTILIEN
Eine wenig bekannte Reptilien­
gruppe mit verblüffenden
Eigenschaften überlebte im
Gegensatz zu den Dinosauriern
das Massenaussterben am
Ende des Erdmittelalters. Doch
dann musste auch sie abtreten.

Daniel T. Ksepka ist promovierter Paläon-


tologe und wissenschaftlicher Kurator am
Bruce Museum in Greenwich (USA).
Neben Choristodera-Fossilien interessiert
er sich für die Evolution der Vögel.

 spektrum.de/artikel/1679066

Choristodera waren krokodil­


artige Reptilien des Erd-
mittelalters, die im Wasser
lebten. Manche von ihnen,
wie hier die Gattung Phily­dro­
saurus, haben sich vielleicht
sogar fürsorglich um ihren
Nachwuchs gekümmert.
EMMA SKURNICK

36 Spektrum der Wissenschaft  2.20


ü
EMMA SKURNICK

Spektrum der Wissenschaft  2.20 37


ü
fernten. Sobald ich eintrat, fuhr ich oft mit den Fingern
durch den Sand einer Kiste, die einen riesigen Dinosaurier-
AUF EINEN BLICK knochen barg. Der leichte Brandgeruch von der Gesteins­
ZEITGENOSSEN DER DINOSAURIER poliermaschine, die ein Fossilstück für die mikroskopische
Untersuchung zu einer papierdünnen Scheibe schliff, drang

1 Die Choristodera waren eine formenreiche Reptilien-


gruppe, die im Jura des Erdmittelalters auftauchten
und erst in der Erdneuzeit aus unbekannten Gründen
mir in die Nase.
Vermutlich war es Klausen lästig, dass ich so oft herein-
schneite, aber ich wollte unbedingt wissen, wie viel von
ausstarben. dem urzeitlichen Reptil in dem Felsbrocken erhalten geblie-
ben war. Als Erstes wurde der Unterkieferknochen freige-
2 Alle Choristodera lebten im Wasser und ernährten sich
hauptsächlich von Fisch. Mit ihrer langen Schnauze
erinnern sie an Krokodile, mit denen sie aber nicht nä-
legt – die spitzen Zähne standen noch an ihrem Platz. Als
ich den rosa gesprenkelten Knochen in der Hand hielt,
her verwandt waren. erwachte in mir eine lebenslange Zuneigung zu den Choris-
todera.

3 Viele Arten blieben klein, einige wurden jedoch bis Als immer mehr von dem Skelett aus dem Gestein zu
zu fünf Meter lang. Manche Choristodera könnten Brut- Tage trat, kristallisierte sich heraus, dass wir es mit einer
pflege betrieben haben. neuen Art zu tun hatten. Zu Ehren von James Klausens
Präparationskünsten nannten mein Betreuer Mark Norell
sowie Ke-Qin Gao von der Universität Peking und ich das
Fossil Tchoiria klauseni (siehe Foto unten). Als ich die ältere


Hätten sie bis heute durchgehalten, wären sie be- Literatur sowie die ersten Berichte über weitere Entdeckun-
stimmt die Stars in Zoos und Tierhandlungen. Statt­ gen aus China las, wurde mir klar, dass es sich bei den
dessen blieben sie eine versteckte Fußnote in den Choristodera um eine arg unterschätzte Reptiliengruppe
Annalen der Evolution. Die Rede ist von Choristodera – Rep- handelte. Es erschien mir schier unglaublich, wie lange sie
tilien, die im Schatten der Dinosaurier erfolgreich urzeitliche überlebt und sich dabei an so viele verschiedene Umgebun-
Flüsse und Seen besiedelten und erst vor etwa 20 Millionen gen angepasst hatten. Unsere neue Spezies gehörte zur
Jahren ausstarben. Die meisten Menschen haben den größten Gruppe namens Neochoristodera, deren Gattungen
Namen Choristodera vermutlich noch nie gehört, aber heutigen Krokodilen ähnelten, wie der eher kleine Ikecho­
manch einer hat vielleicht schon in einem Museum oder saurus mit seiner schlanken Schnauze oder der riesige
Mineraliengeschäft ein Fossil von ihnen gesehen, ohne es Simoedosaurus mit seinem breiten Maul.
zu wissen.
Meine persönliche Vorliebe für diese fast vergessenen Die Funde des Knochenkriegers
Tiere reicht etwa 15 Jahre bis in die Studienzeit zurück. Für Krokodilähnliche Neochoristodera kennen Paläontologen
meine Masterarbeit beschrieb ich ein neues Choristo­dera- schon seit über einem Jahrhundert. Erstmals beschrieb
Fossil, das man kurz zuvor in der Mongolei aus kreidezeitli- solche Fossilien 1876 der US-amerikanische Dinosaurier­
chem Gestein geborgen hatte. Das Fundstück war fest in forscher Edward Drinker Cope (1840–1897), der mit seinem
einem harten Gesteinsbrocken eingeschlossen. Es freizule- Kollegen Othniel Charles Marsh (1831–1899) in erbitterter
gen, erforderte monatelange gewissenhafte Arbeit. Konkurrenz stand. Im Rahmen ihrer »Knochenkriege«
Täglich ging ich ins Fossilienpräparationslabor des schreckten Cope und Marsh nicht vor Bestechung und
American Museum of Natural History in New York, wo der Diebstahl zurück, ja sie zerstörten sogar Fossilien, nur damit
ehrenamtliche Mitarbeiter James Klausen das Fossil von sie nicht dem jeweils anderen in die Hände fielen. Anderer-
seinem Sarg aus Schluffstein befreite. Überall lagen hier seits befeuerte der Wettbewerb die beiden Kontrahenten zu
neu entdeckte Fossilien herum, viele davon noch unberührt umfangreichen Forschungsarbeiten. Allein Cope benannte
in Holzkisten oder Gipsumhüllungen. Kratzen und Surren zu Lebzeiten mehr als 1000 neue Arten. Als seine Feldfor-
erfüllten den Raum, weil eine ganze Schar von Präparatoren scherteams das Ödland im Westen der Vereinigten Staaten
die Gesteinsschichten mit Feilkolben und Luftpinseln ent- durchkämmten, sammelte Cope Hunderte von Choristode-

Der etwa 35 Zentimeter


MICK ELLISON; MIT FRDL. GEN. VON DANIEL T. KSEPKA

lange Schädel eines


krokodilartigen Choris­
todera-Fossils wurde
aus kreidezeitlichem
Gestein im Süden der
Mongolei geborgen.
Anhand des Fundes
beschrieb unser Autor
Daniel Ksepka die neue
Art Tchoiria klauseni.

38 Spektrum der Wissenschaft  2.20


ü
Die mannigfaltigen Choristodera
Das Spektrum der im Wasser lebenden Choristodera reicht von winzigen, eidechsenartigen Tieren
wie Cteniogenys antiquus über Kreaturen, die wie Hyphalosaurus baitaigouensis an eine Miniatur-
ausgabe des Monsters von Loch Ness erinnern, bis hin zu riesigen, krokodilähnlichen Arten wie
Simoedosaurus dakotensis. Oft existierten unterschiedliche Formen zur gleichen Zeit am selben
Ort. So kommen etliche Fossilien zusammen in Seesedimenten von Liaoning vor; die Tiere waren
demnach in der frühen Kreidezeit im heutigen China zu Hause.

Cteniogenys antiquus Philydrosaurus proseilus


300 Millimeter 700 Millimeter
Monjurosuchus splendens Hyphalosaurus baitaigouensis
Lazarussuchus inexpectatus
600 Millimeter 1,1 Meter
250 Millimeter

Ikechosaurus pijiagouensis
1,7 Meter

Champsosaurus gigas
3,3 Meter

Simoedosaurus dakotensis
5,0 Meter

Hyphalosaurus baitaigouensis

Ikechosaurus pijiagouensis

Philydrosaurus proseilus
EMMA SKURNICK

Spektrum der Wissenschaft  2.20 39


ü
ra-Wirbeln, die damit zu den hier am häufigsten gefunde- eingestülpt. Anhand dieser einzigartigen Skelettmerkmale
nen Wirbeltierfossilien aus der Kreidezeit und der frühen können Paläontologen die Stellung der vielen verschiede-
Erdneuzeit wurden. Er erkannte an den Wirbeln eine einzig- nen Choristodera im Evolutionsstammbaum der Reptilien
artige Eigenschaft: Ihre beiden Hauptteile, der Wirbelkörper verorten. Außerdem liefern sie Hin­weise, wie die Tiere einst
in der Mitte und der Wirbelbogen, der das Rückenmark lebten.
umschließt, verschmolzen im ausgewachsenen Zustand Alle Choristodera waren Wasserbewohner, und ihr
nicht, sondern blieben getrennt. Cope ordnete die Funde ganzes Skelett spiegelt die Spezialisierung auf das nasse
einer neuen Fossiliengattung namens Champsosaurus zu, Element wider. Bei Champsosaurus saßen die Nasen­
was so viel wie »Krokodilechse« bedeutet. öffnungen an der Spitze der Schnauze und nicht oben wie
Als ich Copes Berichte und die seiner Nachfolger las, bei heutigen Krokodilen. Durch den harten Gaumen verlief
merkte ich sehr schnell, dass ich zunächst Vokabeln lernen eine Rinne, die das Tier mit der Zunge luftdicht verschließen
musste, da in den wissenschaftlichen Beschreibungen der konnte, so dass Luft von den Nasenöffnungen zur Lunge
ersten Choristodera-Fossilien exotisch klingende Begriffe gelangen konnte, Wasser aber ferngehalten wurde. Damit
auftauchten. So wurden die spulenförmigen Wirbel als konnte das Tier knapp unter der Wasseroberfläche schnor-
»amphiplat« bezeichnet – was nichts weiter bedeutet, als cheln (siehe Grafik rechts).
dass sie an beiden Enden flach sind. Im Schädel saß bei Außerdem verfügte Champsosaurus über spitz zulaufen-
den Choristodera im Gegensatz zu anderen Reptilien ein de, konisch geformte Zähne, wie man sie häufig bei Räu-
»neomorpher«, also ein neuartig gestalteter Knochen, der bern findet, die glitschige Beutetiere wie Fische fangen.
mit anderen das Gehirn plattenförmig umschloss. Am Neben normalen Zähnen im Ober- und Unterkiefer saßen
ungewöhnlichsten klingt die Bezeichnung für die Zähne: Sie am Munddach mehr als 100 so genannter Gaumenzähne,
sind »labyrinthodont« – ihr Zahnschmelz ist labyrinthartig die eine raue, sandpapierartige Oberfläche bildeten, so dass
das Tier seine Beute noch besser festhalten konnte.
Von oben betrachtet, erkennt man am Schädel von
Die Choristodera teilen einen gemeinsamen Vorfahren Champsosaurus zwei kleine und vier sehr große Öffnungen.
mit den Archosauriern, aus denen die Krokodile, Dino- Die kleineren, die Augenhöhlen, waren oben so positioniert,
saurier und Vögel hervorgingen. Sie sind aber – trotz dass das Tier wie mit einem Periskop über der Wasserober-
des krokodilartigen Äußeren (hier nicht maßstabs­ fläche sehen konnte. Die größeren, von Knochenbögen
gerecht gezeichnet) – nicht näher mit ihnen verwandt. eingerahmten Öffnungen boten Platz für kräftige Kiefer-
muskeln, die Champsosaurus einsetzte, wenn er mit der
Schnauze nach arglosen Beutetieren schnappte.

Ballast zum Tauchen


Archosauria Um leichter unter die Wasseroberfläche absinken zu kön-
nen, umgab sich Champsosaurus buchstäblich mit Ballast,
denn seine dicken, verdichteten Rippen wirkten wie der
Lazarussuchus
Bleigürtel eines Tauchers. Zusätzlich zu den echten Rippen
säumten Reihen dichter, spindelförmiger Gastralia oder
Cteniogenys
Bauchrippen den Unterleib. Die Knochen zeichneten sich
durch eine so genannte pachyosteosklerotische Struktur
Hyphalosaurus aus: Die Knochenrinde war erweitert, und die Markhöhle
nicht hohl, sondern massiv, was insgesamt zu einer höhe-
BARBARA AULICINO MIT SILHOUETTEN VON EMMA SKURNICK, NACH: DANIEL T. KSEPKA / AMERICAN SCIENTIST JULI-AUGUST 2018

Shokawa
ren Dichte führt als etwa bei menschlichen Knochen. Für
den unbedarften Besucher eines Fossiliensteinbruchs
ähneln die Rippen von Champsosaurus mit ihrer bauchigen
Philydrosaurus Form sowie der tiefbraunen Farbe überreifen Bananen.
Pachyosteosklerotische Knochen sind fest, schwer und
Monjurosuchus widerstandsfähig gegen Verwitterung und Erosion. Wohl
auch deshalb fand Copes Team so viele Champsosaurus-
Fossilien.
Tchoiria
Im Gegensatz zu den dichten Rippen von Champsosau­
rus blieben andere Teile des Skeletts überhaupt nicht als
Ikechosaurus Fossilien erhalten. Viele Hand- und Fußgelenksknochen der
Choristodera waren wie häufig bei Wassertieren knorpelig.
Simoedosaurus Da sein Gewicht meist vom Auftrieb getragen wurde,
brauchte Champsosaurus keine Ressourcen für vollständig
verknöcherte Extremitäten aufzuwenden.
Champsosaurus
Mehr als ein Jahrhundert lang glaubten Paläontologen,
alle Choristodera ähnelten in Größe und krokodilartiger
Gestalt Champsosaurus. Diese Überzeugung änderte sich in

40 Spektrum der Wissenschaft  2.20


ü
Knochenbögen
für kräftige
Kiefermuskulatur
Augenhöhlen
Gaumenzähne Nasenloch

Gaumenrinne Zähne

verdichtete
knorpelige
Rippen
Extremität

Gastralia
EMMA SKURNICK

(Bauchrippen)

Die Gattung Champsosaurus (Krokodilechse), 1876 als proseilus lebte im heutigen China. Sie besaß an der Schnau-
erster Vertreter der Choristodera im Westen der USA ze zwei Leisten, die vermutlich als Schmuck zum Anlocken
entdeckt, lebte in der späten Kreidezeit bis zum Paläo­ von Weibchen dienten.
gen in der Erdneuzeit. Das über drei Meter lange Skelett Eine große Zahl weiterer Choristodera blieben wie Mon­
verrät Anpassungen an eine aquatische Lebensweise, jurosuchus zunächst unterm Radar. Einer der kleinsten,
darunter eine Nase zum Schnorcheln, als Ballast dienen­ Cteniogenys, war so winzig, dass man ihn leicht in einer
de schwere Rippen sowie Zähne, mit denen die Krea- Hand gehalten hätte. Die Gattung wurde ursprünglich als
tur glitschige Beutetiere festhalten konnte. Eidechse eingestuft; erst bei näherer Betrachtung erwies
sich Cteniogenys mit einem Alter von etwa 170 Millionen
Jahren als ältester Vertreter der Choristodera.
den 1990er Jahren, als immer neue Fossilien in die Museen Am seltsamsten wirkt Hyphalosaurus. Man kann sich
gelangten, die man aus Seesedimenten in der chinesischen dieses Tier als Loch-Ness-Ungeheuer in einer Badewanne
Provinz Liaoning geborgen hatte. Wiederholte Vulkanaus- vorstellen. Ein winziger Kopf saß am Ende eines durch
brüche ließen die Gewässer in der Kreidezeit schrumpfen; zusätzliche Wirbel außerordentlich verlängerten Halses
die Tiere wurden schnell im Sediment begraben, so dass (siehe Fotos S. 42). Ein langer, peitschenförmiger Schwanz
spektakuläre Fossilien erhalten blieben, bei denen häufig am anderen Körperende trieb Hyphalosaurus mittels wellen-
sogar noch weiches Gewebe wie Haut und Federn intakt förmiger Bewegungen durchs Wasser. Und zu allem Über-
blieb. Unter den dort gefundenen prähistorischen Schätzen fluss schmückten auffällige Reihen großer, kielförmiger
stieß man auch auf neue Choristodera-Fossilien mit stump- Schuppen an den Flanken die Kreatur und verliehen ihr ein
fer Schnauze, darunter ein wunderschönes Exemplar von schlankes, gestreiftes Äußeres.
Monjurosuchus splendens. In Liaoning kamen wohl durch Vulkanausbrüche in der
Diese Spezies kannten Paläontologen schon lange, denn Kreidezeit viele tausend Exemplare von Hyphalosaurus ums
das erste Monjurosuchus-Exemplar tauchte im Zweiten Leben. Die noch vor 20 Jahren völlig unbekannte Gattung
Weltkrieg während der japanischen Besetzung der Mand- zählt heute weltweit zu den häufigsten fossilen Reptilien.
schurei auf. Die damaligen Wissenschaftler missdeuteten Bei den meisten Funden aus Liaoning handelt es sich um
allerdings das Fossil als einen Verwandten der Brücken­ Jungtiere mit einer Länge von unter 25 Zentimetern. Trotz
echse; dann ging es in den Kriegswirren verloren. Ein der chinesischen Exportbeschränkungen für Fossilien
halbes Jahrhundert später gefundene Exemplare mit ausge- finden Jahr für Jahr Hunderte von kleinen Hyphalosaurus-
zeichnet erhaltenen Schuppen präsentierten Monjurosuchus Fossilien ihren Weg aus dem Land in die Souvenirläden auf
nun als eine Art Minikaiman im Pyjama. Er teilte mit heuti- der ganzen Welt.
gen Kaimanen die breite, u-förmige Schnauze, aber die Diese sonderbaren Choristodera zeigen, welch breites
fossilen Schuppen deuteten auf eine weiche, geschmeidige Größen- und Formenspektrum die Gruppe im Lauf der
Haut hin, auf der eine Doppelreihe aus größeren, dekorati- Evolution entwickelte. Das brachte Paläontologen dazu,
ven Schuppen am Schwanz entlanglief. Auch eine weitere sich die Reptilien genauer anzuschauen, um mehr über ihre
kleine, kaimanähnliche Spezies namens Philydrosaurus Biologie herauszufinden. Jetzt wurden die Choristodera

Spektrum der Wissenschaft  2.20 41


ü
Neben einem Ei lag ein frisch geschlüpftes Junges – ein
magerer, noch nicht einmal acht Zentimeter langer Bursche
(siehe Foto unten rechts). Ein adulter Hyphalosaurus konnte
vom Kopf bis zum Schwanz eine Länge von gut einem
Meter erreichen. Aber solche ausgewachsenen Tiere tau-
chen im Vergleich zu den fingerlangen Jungtieren sehr
selten auf. Die Diskrepanz lässt darauf schließen, dass
Hyphalosaurus ein hartes Leben führte, bei dem von jeweils
hundert geschlüpften Jungtieren nur eines oder zwei
überlebten und zur vollen Größe heranwuchsen.
DANIEL T. KSEPKA Auf Grund der dünnen Schale vermuteten wir zunächst,
dass Choristodera ihre Eier in geschützten Nestern unweit
vom Wasser legten, wo sie nicht so schnell austrockneten.
Ein überraschender, 2010 veröffentlichter Befund ließ uns
aber umdenken: In der Körperhöhle eines ausgewachsenen
Hyphalosaurus lagen zwei sauber angeordnete Reihen von
Embryonen, die deutlich weiterentwickelt waren, als es bei
einem Eier legenden Tier zu erwarten gewesen wäre.
Brachte Hyphalosaurus lebende Junge zur Welt? Dagegen
sprechen allerdings Funde von Eiern, die allein erhalten
geblieben sind.

Bizarrer Fund: Ein Minimonster mit zwei Köpfen


und zwei Hälsen
Vielleicht liegt die Wahrheit in der Mitte. Hyphalosaurus
könnte vivipar gewesen sein, das heißt, die Jungen schlüpf-
ten im Mutterleib und kamen dann lebend zur Welt, so wie
es auch viele heutige Echsen und Schlangen praktizieren.
Wenn dem so war, könnten die frei liegenden Eier von
einem kranken oder sterbenden Weibchen abgestoßen
worden sein. Oder aber Hyphalosaurus behielt dotterreiche
Eier im Körper und legte sie erst kurz vor dem Zeitpunkt des
1999 beschrieben chinesische Forscher die Gattung Schlüpfens. Beide Fortpflanzungsstrategien sollten sich in
Hyphalosaurus. In Seen der heutigen Provinz Liaoning einer Umwelt mit zahlreichen natürlichen Feinden bewäh-
verendeten während der frühen Kreidezeit durch Vul- ren, denn so müssten die Eier nicht ungeschützt tage- oder
kanausbrüche offenbar Tausende dieser etwa einen wochenlang am Ufer liegen, bevor die Jungen schlüpfen
Meter langen Choristodera. Am Skelett fällt neben dem und sich dann sofort ins Wasser begeben können.
langen Schwanz vor allem der Hals auf, der einen win­ Im Inneren der weichschaligen Eier ging manchmal
zigen Kopf über Wasser hielt (oben). An der Körperseite etwas schief. Eines der bizarrsten Fossilien, die in Liaoning
saßen große, mit Leisten versehene Schuppen (unten). ans Licht kamen, ist ein Hyphalosaurus-Baby mit zwei
Köpfen und zwei Hälsen, die mit einem einzigen Körper
verwachsen waren (siehe kleines Foto rechts). Solche
nicht länger ignoriert, sondern erregten weltweit die Auf- Fehlbildungen entstehen in der Regel durch eine Störung
merksamkeit von Wissenschaftlern. im Frühstadium der Entwicklung, wenn der Embryo nur aus
Neue Fossilien haben uns inzwischen verraten, auf einer Zellkugel besteht. Es gibt sie auch heute immer wie-
welch erstaunliche Weise sich diese Tiere einst fortpflanz- der. Ich selbst hielt einmal eine frisch geschlüpfte Schild-
ten. In der Regel legen Reptilien Eier. Krokodile sowie die kröte mit zwei Köpfen in der Hand – das Tier konnte sich
meisten Schildkröten besitzen harte, dicke Eierschalen; bei nur schwer entscheiden, in welche Richtung es laufen
Echsen sind die Schalen dagegen eher weich und dünn. wollte. Aber solche Anomalien treten selten auf; deshalb
Wie sieht es bei den Choristodera aus? Hier ist die Sache hatte man so etwas bis zur Entdeckung des zweiköpfigen
etwas komplizierter. Hyphalosaurus noch nie bei einem Fossil gesehen.
Wir kennen tausende Skelette von Hyphalosaurus, aber Die Fossilfunde verraten uns nicht nur die Fortpflan-
nur eine Hand voll Eier. 2007 hatte ich die Gelegenheit, zwei zungsstrategie der Choristodera, sondern lüften auch das
davon zusammen mit chinesischen Kollegen zu untersu- Geheimnis, wie sie ihre Jungen großzogen. Bis vor wenigen
chen. Jedes dieser kostbaren Gebilde war so groß wie eine Jahren gingen Paläontologen davon aus, dass Choristo­dera-
Rosine – und auch so runzelig. Die mineralisierte Schicht Babys ihre Eltern nie sahen. Die meisten heutigen Reptilien
der weichen Eierschale war mit einem hunderstel Millime- kümmern sich nicht um ihren Nachwuchs; eine bemerkens-
ter so dünn, dass wir sie mit dem Rasterelektronenmikros- werte Ausnahme stellen allerdings Krokodile dar, die frisch
kop vermessen mussten. geschlüpfte Jungtiere im Maul herumtragen. Die sanfte

42 Spektrum der Wissenschaft  2.20


ü
Seite der Choristodera sollte ein Fossilfund von 2014 ans
Licht bringen – und gleichzeitig einen bösen Verdacht
widerlegen. Mehr Wissen auf
2005 hatten chinesische Wissenschaftler ein bemer- Spektrum.de
kenswertes Monjurosuchus-Exemplar beschrieben: Sein
Unser Online-Dossier zum Thema
Inneres barg sieben Schädel von Jungtieren. Die Forscher finden Sie unter
interpretierten das Fossil als Kannibalen, der vielleicht spektrum.de/t/fossilien
wegen Futterknappheit seine eigenen Jungen gefressen ISTOCK / SCOTTORR

hatte. Ätzspuren an den winzigen Schädeln schienen auf


teilweisen Abbau durch Magensäure hinzudeuten. Aller-
dings hatten die Fossilpräparatoren die Knochen mit Säure ausgewachsenen Philydrosaurus gepasst. Es handelte sich
vom Gestein befreit. Die Schädel könnten also auch erst also nicht um Neugeborene, sondern um mindestens einige
während der Freilegung verätzt worden sein. Wochen alte Tiere. Die Halbwüchsigen waren offensichtlich
Ein Jahrzehnt später ließ ein neues Fossil die Paläontolo- vor ihrem frühzeitigen Ende mit einem Elternteil unterwegs
gen umdenken. Eine Steinplatte enthielt ein ausgezeichnet gewesen. Solche Entdeckungen lassen für den »kannibali-
erhaltenes Exemplar von Philydrosaurus zusammen mit schen« Monjurosuchus eine andere Interpretation vorstel-
sechs Jungtieren, die nur wenige Zentimeter von dem len: Vielleicht gehörten die kleinen Schädel nicht zu Jung-
ausgewachsenen Skelett entfernt lagen (Bild S. 44/45). tieren, die von einem ausgewachsenen Exemplar verschlun-
Diese Jungen waren größer als die Überreste, die man im gen worden waren, sondern es handelte sich um Föten, die
Brustkorb des Monjurosuchus-»Kannibalen« gefunden kurz davor standen, das Licht der Welt zu erblicken.
hatte, und hätten mit ihren Ausmaßen auch nicht in den Demnach sieht es so aus, als hätten sich die Choristode-
ERIC BUFFETAUT; MIT FRDL. GEN. VON DANIEL T. KSEPKA

ra zumindest nach Maßstäben von Reptilien als gute Eltern


erwiesen, die ihren Nachwuchs begleiteten, um sie vor
Neben zahlreichen Hyphalosaurus-­Fossilien stieß Feinden zu schützen. Nach Ansicht der Arbeitsgruppe,
man auch auf einige Eier. Das große Foto zeigt ein welche die Philydrosaurus-Familie beschrieben hatte,
Jungtier von Hyphalosaurus baitaigouensis, das ergeben sich aus ihrer Entdeckung der Brutpflege bei
offenbar kurz vor seinem Ende aus dem rosinen­ Choristodera weit reichende Folgerungen für die Evolution
großen Ei geschlüpft war. Ein 2007 der Reptilien: Wenn Choristodera, Krokodile und Dinosau­
beschriebenes Fossil belegt den ganz rier ihre Jungen versorgten, könnte dies eine ursprüngliche
seltenen Fall eines missgebildeten Eigenschaft aller Reptilien gewesen sein – Schildkröten und
Choristodera-Embryos mit zwei Köpfen Eidechsen hätten dann die Brutpflege erst auf ihrem weite-
(kleines Foto). ren Evolutionsweg wieder aufgegeben.
Am Ende der Kreidezeit schlug ein großer Asteroid in der
Region der heutigen Halbinsel Yukatan ein. Unmittelbar
DANIEL T. KSEPKA

danach raste ein Feuerball von der Einschlagstelle über das


Land, ihm folgten mehrere hundert Meter hohe Meereswel-
len sowie weltweite Waldbrände. Monatelang verdunkelten
in die Atmosphäre geschleuderter Staub und Dampf den
Himmel. Ohne Sonnenlicht kam die Fotosynthese weitge-
hend zum Erliegen; damit brach die Nahrungskette von
Pflanzen über Pflanzenfresser zu Fleischfressern zusam-
men. Drei Viertel aller Arten starben aus – darunter die
Dinosaurier mit Ausnahme der Vögel.

Überleben nach dem Untergang


Inmitten der Zerstörung überlebten die Choristodera.
Champsosaurus ging es in Nordamerika anscheinend nach
dem Asteroideneinschlag genauso gut wie davor. Das
Geheimnis der Choristodera lag wohl in ihren geringen
Ansprüchen an eine Mahlzeit. Denn im Gegensatz zu den
meisten anderen Lebewesen des Erdmittelalters, die von
der auf Fotosynthese basierenden Nahrungskette abhingen,
begnügten sich Choristodera mit Abfällen. Sie verspeisten
auch mal einen toten Fisch, der schon seit Wochen am
Boden eines Sees verweste, oder den von Fäulnisgasen
aufgeblähten Kadaver eines verhungerten Dinosauriers. Die
Detritusnahrungskette blieb noch einige Zeit bestehen:
Winzige Aasfresser, die am Boden der Seen verwesendes
Material verwerteten, bildeten ihrerseits die Nahrungs-

Spektrum der Wissenschaft  2.20 43


ü
grundlage für größere Gliederfüßer und Fische, und die 2014 entdeckten chinesische Paläontolo­
wiederum wurden zur Beute für Reptilien, die das Massen- gen ein ausgewachsenes Philydrosaurus-
aussterben überstanden hatten – so wie die Choristodera, Fossil zusammen mit mehreren Jung­tieren
die sich weggeduckt hatten und nun auf bessere Zeiten (Maßstab = 5 Zentimeter). Der Fund legt
warteten. nahe, dass Choristo­dera Brutpflege betrie­
Zwar überlebten die Choristodera den Asteroidenein- ben hatten.
schlag, doch während der Erdneuzeit verschwanden sie.
Immer wieder suchte ich bei den Fossilien nach einem
plausiblen Grund für diesen Untergang – ohne auf eine
heiße Spur zu stoßen. Manche Wissenschaftler
vermuten, die Krokodile hätten die Choristodera
überflügelt; zu jener Zeit hatten beide Gruppen

LÜ, J. ET AL.: POST-NATAL PARENTAL CARE IN A CRETACEOUS DIAPSID FROM NORTHEASTERN CHINA.
GEOSCIENCES JOURNAL 19, 2015, FIG. 1B; NUTZUNG GENEHMIGT VON SPRINGER NATURE / CCC
jedoch schon seit Jahrmillionen nebeneinan-
der gelebt. Klimaschwankungen wurden
ebenfalls in Erwägung gezogen, aber Choris-
todera gediehen nicht nur in der warmen
Welt des Erdmittelalters, sondern schafften
es auch bis zum nördlichen Polarkreis, wo es
selbst in der Kreidezeit im Winter ziemlich
kühl werden konnte.
Nach Ansicht mancher Fachleute liegt die
Antwort in einer Kombination aus Klimawan-
del und Konkurrenz. Etwa zu der Zeit, als die
meisten noch verbliebenen Choristodera
ausstarben, hatten die Temperaturen einen
Höhepunkt erreicht. Offensichtlich kamen Kroko-
dile mit dem nun herrschenden Treibhausklima
besser zurecht und verdrängten so vielleicht die
5 cm
Choristodera aus ihrem Lebensraum. Was auch
immer die Ursache war: Einst sehr verbreitete Choristo-

Karriere im Erdmittelalter
Die Choristodera tauchten im Jura vor etwa 170 Mil­lionen Jahren auf und entwickelten sich während des
Erdmittelalters parallel zu den Dinosauriern. Im Gegensatz zu Letzteren überlebten sie den Asteroideneinschlag
am Ende der Kreidezeit vor 66 Millionen Jahren und schafften es bis in die Erdneuzeit.

247 Millionen Jahre


ältester Archosaurier 167 Millionen
Jahre
243 ältestes Säugetier
Millionen
Jahre 150 Millionen
ältester
Jahre
Dinosaurier 168 Millionen Jahre ältester Vogel
ältester Choristodera
(Cteniogenys)

TRIAS JURA

250 200 150


Millionen Jahre vor heute
BARBARA AULICINO MIT SILHOUETTEN VON EMMA SKURNICK /
AMERICAN SCIENTIST JULI-AUGUST 2018

44 Spektrum der Wissenschaft  2.20


ü
Das Leben auf der Erde steckt voller vergessener Ge-
schichten. Die Choristodera hinterließen eine Fülle an

LÜ, J. ET AL.: POST-NATAL PARENTAL CARE IN A CRETACEOUS DIAPSID FROM NORTHEASTERN CHINA.
GEOSCIENCES JOURNAL 19, 2015, FIG. 1A; NUTZUNG GENEHMIGT VON SPRINGER NATURE / CCC
Fossilienmaterial, so dass wir im Gegensatz zu vielen ande-
ren Organismen ihre Existenz und Evolution belegen kön-
nen. Auch wenn nie ein Kind ein Hyphalosaurus-Baby in
einem Glasgefäß als Haustier mitbringen oder bei der
Champsosaurus-Fütterung im Zoo zusehen wird, diese
Fossilien regen zumindest unsere Fantasie an.
Immer noch kommen Jahr für Jahr weitere Choristodera-
Fossilien ans Licht. Manchmal befinden sich neue Arten
darunter, und manchmal verschaffen sie uns eine Ahnung
davon, wie ihre Haut aussah, wie lang ihr Schwanz war
oder sogar welches Gehirn sie besaßen. Es gehört zu den
kleinen Nervenkitzeln meines Berufs, eine E-Mail zu öffnen,
um das grobkörnige Foto eines Choristodera-Fossils aus
China mit einer Zigarette als Größenvergleich zu bewun-
dern. Vielleicht wird uns schon der nächste Fund verraten,
warum genau diese rätselhaften Reptilien am Ende ver-
schwanden. 
dera wie Champsosaurus räumten etwa zehn Millionen
Jahre nach dem Ende der Dinosaurier das Feld. QUELLEN
Eine kleine Gruppe hielt etwas länger durch. So über- Gao, K.-Q., Ksepka, D. T.: Osteology and taxonomic revision of
raschte ein Fossil aus Frankreich die Paläontologen, lag es Hyphalosaurus (Diapsida: Choristodera) from the Lower Creta­
doch in einem Gestein, das auf 30 Millionen Jahre nach ceous of Liaoning, China. Journal of Anatomy 212, 2008
dem mutmaßlichen Ende der Choristodera datiert wurde. Hou, L.-H. et al.: Implications of flexible-shelled eggs in a
Die Entdeckung barg sogar eine doppelte Überraschung: Es Cretaceous choristoderan reptile. Proceedings of the Royal
handelte sich um ein kleines, primitives Mitglied einer Ab­- Society B 277, 2010
stammungslinie, die sich offensichtlich mindestens 100 Mil­- Ksepka, D. T. et al.: A new choristodere from the Cretaceous of
lionen Jahre lang verborgen hatte, ohne in den Fossil­funden Mongolia. American Museum Novitates 3468, 2005
irgendwelche Spuren zu hinterlassen. Die Paläontologen
Lü, J. et al.: Post-natal parental care in a Cretaceous diapsid
tauften das Fossil auf den Namen Lazarussuchus – schien from northeastern China. Geosciences Journal 19, 2015
doch hier eine für ausgestorben gehaltene Tierart quasi wie
der biblische Lazarus »von den Toten auferstanden« zu sein.
Die Auferstehung währte allerdings nur kurz: Lazarussuchus
verschwand wenige Millionen Jahre später, und damit © American Scientist
waren die Choristodera endgültig ausgestorben. www.americanscientist.org

125 Millionen 18 Millionen


Jahre Jahre
älteste Monjuro­ 66 Millionen Mit Lazarus­
suchidae und Jahre 50 Millionen Jahre suchus ver-
Hyphalosauridae Massenausster- Neochoristodera sterben schwinden die
ben an der bis auf Lazarussuchus aus. letzten Ver-
122 Millionen
120 Millionen Kreide-Paläogen- treter der
Jahre
Jahre Grenze Choristodera.
ältester
jüngste Monjuro­ Neochoristodera
suchidae und
Hyphalosauridae

KREIDE PALÄOGEN

100 50 0
BARBARA AULICINO MIT SILHOUETTEN VON EMMA SKURNICK /
AMERICAN SCIENTIST JULI-AUGUST 2018

Spektrum der Wissenschaft  2.20 45


ü
GENETIK
IM BUND MIT
SELBSTSÜCHTIGEN
GENEN
Wie »Gene Drives« dabei helfen
können, Schädlinge und
­Krankheitserreger zu bekämpfen.

Stechmücken der
­ attung Anopheles
G
übertragen Malaria­
erreger und verursachen
jährlich dutzende Mil­
lionen Erkrankungsfälle.
Mit Hilfe von »Gene
Drives« könnte es gelin­
gen, sie massenweise
unschädlich zu machen.
CDC / JAMES GATHANY

46 Spektrum der Wissenschaft  2.20


ü
ten, dann ist es in überproportional vielen Nachkommen zu
Ernst A. Wimmer (links) ist finden (im Extremfall in allen) und verdrängt somit sein
Professor für Entwicklungs- Gegenstück. Das Drive-Allel wird folglich in die Population
biologie an der Georg-­ »eingetrieben«.
August-Universität Göttin-
gen. Georg Oberhofer ist
Wie funktioniert das? Etwa, indem das Drive-Allel die
wissenschaftlicher Mitarbei- Übergabe seines Schwester-Allels an die nächste Genera­
ter am California Institute of tion sabotiert. Fachleute bezeichnen das als Interferenz.
Technology. Beide erforschen neuartige Ansätze zur Schäd- Das Drive-Allel kann beispielsweise die Zellen des Eltern­
lingsbekämpfung, die auf entwicklungsbiologischen Genen
organismus dazu bringen, ein Gift herzustellen, welches
und molekularbiologischen Werkzeugen beruhen.
während der sexuellen Fortpflanzung an die Geschlechts-
 spektrum.de/artikel/1693096 zellen und die daraus hervorgehenden Embryonen weiter-
gegeben wird (siehe Grafik S. 48). Zugleich enthält das
Drive-Allel den Bauplan für das Gegengift. Embryonen, die
bloß Schwester-Allele abbekommen haben, können das
Gegengift nicht bilden und sterben. Nur jene mit mindes-
tens einem Drive-Allel sind dazu in der Lage und überleben.
Im Ergebnis besitzen alle Nachkommen die Drive-Variante.

Den eigenen Nachwuchs vergiften


Ein solcher Mechanismus ist vom Reismehlkäfer Tribolium
castaneum bekannt. Forscher haben ihn »Medea« genannt
(maternaler Effekt dominanter embryonaler Arretierung) – in
Anlehnung an die Frauengestalt der griechischen Mytholo-
gie, die ihre eigenen Kinder tötet. Reismehlkäfer tragen
sogar mehrere verschiedene Gene, von denen Medea-Allele
existieren. Diese sind, mit Ausnahme von Indien, weltweit
verbreitet. In indischen Käferpopulationen kursiert ein


Seit einigen Jahren berichten die Medien vermehrt genetisches Element namens Hybrid-Inkompatibilitätsfak-
über so genannte Gene Drives – und vermelden Er- tor, das aus Medea-Allelen Selbstmordgene macht. Indivi-
staunliches. Mittels Gene Drive könnte man ganze duen mit solchen Allelen können sich deshalb dort nicht
Populationen von Krankheitsüberträgern vollständig un- vermehren. Dies ist ein Beispiel dafür, dass die Natur immer
schädlich machen oder ausrotten, heißt es. Vielleicht ließen wieder Wege findet, »selbstsüchtige« Gene in Schach zu
sich damit sogar Arten vernichten. Die Methode kommt halten.
besonders im Hinblick auf Malaria-Mücken immer wieder Neben der Interferenz gibt es in der Natur noch weitere
ins Gespräch. Was soll man davon halten? Was ist Gene Strategien, mit deren Hilfe sich Gene überproportional stark
Drive, was lässt sich damit erreichen – und was nicht? verbreiten. Etwa die so genannte Überreplikation: Wenn
Gene Drive, im Deutschen auch als »Genturbo« bezeich- eine Zelle sich teilt und zwei Tochterzellen mit je eigenem
net, wird zwar oft als innovatives gentechnisches Verfahren Erbgut hervorbringt, wird normalerweise jedes ihrer Chro-
dargestellt, ist aber keine neue Erfindung von Molekular­
biologen. Vielmehr handelt es sich um ein natürlich
­vorkommendes Phänomen bei bestimmten Genen, die
gewissermaßen selbstsüchtig handeln, indem sie die
mendelschen Vererbungsregeln aushebeln und sich in AUF EINEN BLICK
überproportional viele Nachkommen einschreiben. ZWEISCHNEIDIGES SCHWERT
In einem Organismus mit dem üblichen zweifachen DER MOLEKULARBIOLOGIE
(»diploiden«) Chromosomensatz liegt ein bestimmtes Gen

1
meist in zwei Varianten vor, den »Allelen«. Diese unterschei- Von einem Gene Drive spricht man, wenn »selbstsüch-
den sich in der Regel leicht voneinander. Eines der Allele tige« Gene sich in überproportional viele Nachkommen
kommt von der Mutter, das andere vom Vater. Bei der einschreiben und dadurch übermäßig stark in der
sexuellen Fortpflanzung gibt ein Organismus nur eines Population verbreiten.
CDC / JAMES GATHANY

seiner beiden Allele an den Nachwuchs weiter – welches,


hängt in der Regel vom Zufall ab und wird bei jedem Paa-
rungsakt neu ausgewürfelt. Im Schnitt erhält die eine Hälfte 2 Gene Drives lassen sich nutzen, um Schädlingsorganis-
men gezielt zu bekämpfen: Sie machen es möglich,
ganze Populationen zu vernichten oder auszutauschen.
der Nachkommen das eine Allel und die andere Hälfte das
andere. Liegt kein Selektionsdruck vor, ändert sich
die Häufigkeit eines bestimmten Allels in
einer Population daher normalerweise
3 Dies geht jedoch mit ökologischen Risiken einher.
Forscher arbeiten daher an Verfahren, um die Wirkung
von Gene Drives örtlich oder zeitlich zu begrenzen.
nicht. Zeigt eines der Allele
jedoch ein »Drive«-Verhal-

Spektrum der Wissenschaft  2.20 47


ü
Weitere Erbanlagen, die einen Mechanismus der Über­

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT / BUSKE-GRAFIK, NACH: ERNST A. WIMMER


replikation zeigen, sind die so genannten Homing-Elemente.
Dabei handelt es sich um Nukleotidsequenzen, die den Bau-
plan einer Endonuklease enthalten – eines Proteins, das die
DNA an einer bestimmten Stelle schneidet. Wenn in einem
Organismus mit zweifachem Chromosomensatz auf einem
Geschlechtszellen von zwei homologen Chromosomen ein Homing-Element
Geschlechts-
zelle liegt und der Zellapparat daraus die entsprechende Endo­
nuklease herstellt, dann erkennt diese auf dem anderen
Chromosom eine bestimmte Zielsequenz und spaltet die
Zygoten (aus verschmolzenen DNA dort. Der Schnitt erfolgt dabei exakt an jener Position,
Geschlechtszellen entstanden)
an der sich auf dem ersten Chromosom das Homing-­
Element befindet. Ein zelleigener Reparaturmechanismus,
die so genannte homologiedirigierte Reparatur, flickt die
Zygoten (aus verschmolzenen Stelle daraufhin. Er nutzt dafür das intakte erste Chromo-
Geschlechtszellen entstanden) som (mit dem Homing-Element) als Vorlage, um die DNA
wieder korrekt zusammenzufügen. Dabei baut er das
Gen für Gen für zygotisches Homing-Element in das andere Chromosom ein. Infolgedes-
mütterliches Gift Gegengift
sen liegt dieses anschließend auf beiden homologen Chro-
mosomen vor. Als Ergebnis erhalten alle Nachkommen des
Unter Reismehlkäfern kursieren »selbstsüchtige« Organismus das Homing-Element, das somit »Drive« zeigt,
­Gen­varianten, »Medea« genannt, mit den Bauplänen für sprich in die Population eingetrieben wird.
ein Gift und dessen Gegengift. Weibchen mit solchen Bereits in den 1980er und 1990er Jahren haben
Erbanlagen stellen das Gift (gelb) her und geben es bei ­Wissenschaftler versucht, Konzepte zu entwickeln, um
der Fortpflanzung an ihren Nachwuchs weiter. Nur die- »selbstsüchtige« Gene wie Transposons zur Schädlings­
jenigen Embryonen, die eine selbstsüchtige Genvariante bekämpfung zu nutzen. Zunächst ließ sich das jedoch nicht
erben, können das Gegengift bilden und überleben. erfolgreich umsetzen. 2003 schlug der Evolutions­­genetiker
Austin Burt vom Imperial College (Großbritannien) vor, die
in Hefen gefundenen Homing-Elemente nachzubauen,
mosomen – und jedes daraufliegende Gen – genau einmal gezielt zu modifizieren und für einen absichtlichen Gene
kopiert. Einige genetische Elemente haben es im Zuge der Drive zu nutzen. Dabei lassen sich zwei verschiedene
Evolution aber geschafft, zusätzliche Kopien von sich selbst Strategien unterscheiden, der »Austausch-Drive« und der
zu erzeugen, ohne dabei den regulären Kopierapparat der »Unterdrückungs-Drive«.
Zelle zu nutzen. Zu ihnen gehören die springenden Gene,
die auch »Transposons« genannt werden. Ein Transposon Auswechseln oder auslöschen?
kann sich gezielt aus dem Chromosom herausschneiden Beim Austausch-Drive geht es darum, eine bestimmte
und an einer anderen Stelle wieder einfügen (cut and paste) Schädlingspopulation zu verändern, indem man deren
oder eine Kopie seiner selbst woanders einbauen (copy and Mitglieder durch gentechnisch veränderte Individuen
paste). Letzterer Mechanismus führt dazu, dass das sprin- ersetzt (siehe Grafik rechts). Oft wird das im Hinblick auf
gende Gen häufiger im Genom präsent ist und somit vom Stech­mücken diskutiert, die verschiedene Krankheitskeime
Zellapparat entsprechend zahlreicher vervielfältigt und übertragen, darunter die Erreger der Malaria, des Zika­
vererbt wird. fiebers, Gelbfiebers und Denguefiebers. Forscher haben
Ein gut untersuchtes Transposon ist das P-Element im künstliche Gene entwickelt, die Stechmücken entweder
Genom der Taufliege Drosophila melanogaster. Es nistete immun gegen solche Krankheitserreger machen oder
sich vermutlich erst vor zirka 100 Jahren im Erbgut dieser verhindern, dass die Insekten entsprechende Keime auf ihre
Tiere ein. Innerhalb weniger Jahrzehnte breitete es sich Wirte übertragen. Um Moskitos in freier Wildbahn durch
dann in allen natürlich vorkommenden Populationen welt- gentechnisch veränderte zu ersetzen, die keine Krankheiten
weit aus. Die einzigen D.-melanogaster-Stämme, die heute mehr verbreiten, koppeln Forscher das künstliche, unschäd-
kein P-Element besitzen, haben Wissenschaftler vor der lich machende Gen an einen Drive-Mechanismus, der dafür
Mitte des 20. Jahrhunderts gesammelt und seither isoliert sorgt, dass es in die gesamte Stechmückenpopulation
im Labor gehalten. Das Umherspringen dieses Transposons eingetrieben wird.
im Genom der Fliegen per »cut and paste« oder »copy and Beim Unterdrückungs-Drive hingegen soll die Zielpopu-
paste« erzeugt Mutationen, die wichtige Gene zerstören lation reduziert oder ausgelöscht werden. Erreichen lässt
können. Daher haben sich, evolutionär bedingt, bestimmte sich das, indem man ein künstliches Gen, das die Fitness
genetische Elemente bei den Tieren verbreitet, die das stark beeinträchtigt, mit einem Drive-Mechanismus verbin-
Transposon unter Kontrolle halten. Auch unser eigenes det und so in die Population eintreibt – oder dadurch, dass
Genom besteht fast zur Hälfte aus Transposons oder deren man mit Hilfe eines Drive-Elements gezielt ein Gen verän-
Überresten, was diese zusammengefasst zur wohl erfolg- dert, das für einen unverzichtbaren biologischen Prozess
reichsten Klasse »egoistischer« Gene macht. benötigt wird. Beispielsweise lassen sich per Gene Drive

48 Spektrum der Wissenschaft  2.20


ü
bestimmte Erbanlagen in die Population einschleusen, die basieren, werden die Zielorganismen sehr schnell resistent.
gezielt dafür sorgen, dass die Weibchen absterben, steril Ein genauerer Blick auf die Funktionsweise von CRISPR-Cas
werden oder sich in Männchen umwandeln. Unter norma- hilft das zu verstehen. Das Molekülsystem besteht aus einer
len Umständen würde sich so ein Gen nie ausbreiten kön- Endonuklease (einem DNA spaltenden Protein) und einer so
nen, da es in kürzester Zeit aus dem Genpool verschwände. genannten Leit-RNA (Guide-RNA). Letztere besitzt einen
Der Gene Drive soll aber dafür sorgen, dass es auf alle programmierbaren, variablen Teil, der sich aus 20 Nukleoti-
Nachkommen der betroffenen Tiere übergeht, was ein den zusammensetzt. Wenn der Komplex aus Leit-RNA und
Einbrechen oder vollständiges Verschwinden der Populati- Endonuklease einen Abschnitt auf dem DNA-Strang findet,
on zur Folge haben kann. Die Methode ließe sich beispiels- dessen Sequenz exakt zur Abfolge der 20 Nukleotide passt,
weise anwenden, um invasive Schädlinge zu bekämpfen, spaltet er den Strang an dieser Stelle. Sobald die betroffene
die ein Ökosystem zu vernichten drohen – etwa Ratten, die Zelle den Strangbruch registriert, aktiviert sie ihre DNA-­
auf Inseln eingeschleppt wurden und nun die dortige Reparatursysteme, um ihr Erbmolekül wieder zu flicken.
Fauna dezimieren. Ein großer Vorteil von Unterdrückungs-
Drives besteht darin, dass sie – zumindest in der Theorie – Gentechnischer Eingriff mit CRISPR-Cas
­ausschließlich auf die Zielspezies einwirken, da sich Drive- erzeugt Resistenz gegen sich selbst
Elemente über sexuelle Fortpflanzung verbreiten. Im Zuge der Evolution haben Zellen diverse Reparatur­
Lange Zeit war es jedoch schwierig, geeignete mole­ mechanismen entwickelt, die bei solchen Vorfällen zum
kulare Werkzeuge zu finden, die an einer ganz bestimmten Einsatz kommen können. Ein Gene Drive stellt sich aber
Stelle im Genom schneiden, um eine Überreplikation lediglich bei einem davon ein, nämlich bei der bereits
und somit einen Gene Drive einzuleiten. Das änderte sich erwähnten homologiedirigierten Reparatur. Leider ist in viel-
tief greifend mit der Entdeckung der Genschere CRISPR- zelligen Tieren aber ausgerechnet diese nur begrenzt aktiv –
Cas (siehe Spektrum Oktober 2017, S. 50). Dieses Molekül- hier erfolgt die Reparatur des Strangbruchs in der Regel
system vermittelt in der Natur vielen Mikroben eine ge­ durch »nichthomologe Endverknüpfung«, also das einfache
wisse Immunität gegenüber Viren und lässt sich in abge- Zusammenstückeln der Strangenden. Dabei kommt es
wandelter Form nutzen, um die Genome aller möglichen häufig zu Fehlern, beispielsweise dem Einfügen zusätzlicher
Organismen gezielt zu verändern. Mit CRISPR-Cas be­ Nukleotide oder dem Verlust ebensolcher. Mit anderen
kamen die Forscher ein Werkzeug an die Hand, das DNA-­ Worten: Die DNA-Reparatur erzeugt Mutationen, indem sie
Moleküle an beliebigen, genau vorzugebenden Stellen die Nukleotidsequenz an der Reparaturstelle verändert.
schneiden kann. Forscher um Kevin Esvelt und George Infolgedessen kann das CRISPR-Cas-System den entspre-
Church – beide an der Harvard Medical School in Boston – chenden Abschnitt auf dem geflickten Strang nicht wieder-
haben in einer Konzeptstudie im Jahr 2014 dargelegt, wie erkennen, denn seine veränderte Sequenz passt jetzt nicht
sich damit künstliche Homing-Elemente bauen lassen, die mehr zu den 20 Nukleotiden der Leit-RNA. Falls das Gen,
Drive-Eigenschaften aufweisen, um in der Natur vorkom- das in diesem Abschnitt liegt, trotz der eingefügten Muta­
mende Populationen zu verändern. tionen funktionstüchtig bleibt, kann der Organismus unbe-
Die anfängliche Euphorie legte sich aber bald wieder, als einträchtigt weiterleben, hat aber nun eine Resistenz gegen
herauskam, dass CRISPR-Cas hier nicht so effizient funktio- das Drive-Element erworben.
niert wie anfänglich vermutet. Eines der Hauptprobleme Mehrere Arbeitsgruppen haben gezeigt, dass solche
dabei: Gegen Homing-Elemente, die auf dieser Genschere Resistenzen mitunter sehr schnell entstehen und den Gene
Drive verhindern – darunter ein Team um Tony Noland vom
Imperial College (Großbritannien) im Jahr 2017, ein weiteres
Mit Hilfe von Gene Drives lassen sich die Mitglieder um Philipp W. Messer von der Cornell Univer­sity im Jahr
einer Schädlingspopulation entweder durch gen­ 2017 sowie ein drittes um einen von uns (­Wimmer) im Jahr
technisch veränderte Individuen ersetzen (links) oder 2018. Das grundsätzliche Problem bei Homing-Elementen,
vollständig vernichten (rechts). Die roten Pfeile die für Endonukleasen codieren, liegt somit darin, dass sie
­kennzeichnen jeweils die Freisetzung des Drive-Gens. genau an ihrer Zielsequenz für eine erhöhte Mutationsrate

A B
1,0 0,0 hoch
Häufigkeit der gentechnisch
Häufigkeit der Wildform

Größe der Population


ET AL.: ENGINEERING THE CONTROL OF MOSQUITO-BORNE INFECTIOUS
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT / BUSKE-GRAFIK, NACH GABRIELI, P.

veränderten Form
DISEASES. GENOME BIOLOGY 15, 2014, FIG. 1

Aussterben
0,0 1,0

Zeit Zeit

Spektrum der Wissenschaft  2.20 49


ü
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT / BUSKE-GRAFIK, NACH: ERNST A. WIMMER
Prinzip eines hoch- a
schwelligen Gene Drive
Der genetische Bauplan für Gift A ist mit
dem für Gegengift B gekoppelt; ebenso
der Bauplan für Gift B mit dem für Gegen-
gift A (a). Erhalten die Nachkommen bloß

Gegengift B

Gegengift A
Gift A

Gift B
eines dieser Kopplungskonstrukte, können
sie nur ein Gegengift herstellen und
sterben an dem Toxin, das sie nicht neu­
tralisieren können. Individuen, die diese
Konstrukte »heterozygot« tragen, also b
lediglich auf je einem von zwei homolo-
100
gen Chromosomen, haben deshalb weni-

Überleben der Nachkommen (Prozent)


Unterdominanz-Effekt
ger überlebende Nachkommen (»Unter­
dominanz-Effekt«, b). Die Kopplungs­
konstrukte verbreiten sich nur dann in der
Population, wenn mehr als die Hälfte der
Individuen sie in ihrem Erbgut tragen. Ein
Gene Drive, der darauf basiert, setzt sich
also nur durch, wenn entsprechend viele
gentechnisch veränderte Tiere freigesetzt
werden – was die Möglichkeit bietet, seine
0
Verbreitung zu kontrollieren.

sorgen. Gene Drives, die auf solchen Elementen basieren, vom California Institute of Technology 2007 erstmals, ein
vermitteln folglich eine Resistenz gegen sich selbst. solches System künstlich zu bauen und in Taufliegen anzu-
Mehrere Forschergruppen haben sich in letzter Zeit wenden. Die gleiche Forschergruppe, zu der mittlerweile
damit befasst, wie man das vermeiden kann. Dabei haben einer von uns (Oberhofer) gestoßen ist, hat kürzlich auch
sich zwei Strategien als erfolgreich herausgestellt. Zum eine Medea-Version entwickelt, die auf CRISPR-Cas basiert.
einen lassen sich an Stelle einer einzigen Leit-RNA einfach Sie funktioniert nicht wie ein Homing-Element, sondern
mehrere davon verwenden. Die Idee dahinter lautet, dass erzeugt gezielt Mutationen an einem anderen Genort, was
es mit zunehmender Anzahl an Leit-RNAs immer unwahr- das Problem der verstärkten Resistenzentwicklung umgeht.
scheinlicher wird, dass alle Zielsequenzen gleichzeitig
mutieren und das Zielgen trotzdem funktionstüchtig bleibt. Gift und Gegengift in einem
Zum anderen kann man eine Zielsequenz auswählen, die in Das Prinzip dieser neuen Variante ist denkbar einfach: Der
einem hochkonservierten Abschnitt des Erbguts liegt, der CRISPR-Cas-Komplex zerschneidet ein Gen, das für das
eine sehr geringe Toleranz gegenüber Mutationen aufweist. Überleben des Organismus unerlässlich ist – worauf dieses
Hochkonservierte DNA-Sequenzen haben eine überlebens- im Zuge der nichthomologen Endverknüpfung mutiert
wichtige Bedeutung für den Organismus; Veränderungen und seine Funktion verliert. Das »Gegengift« besteht aus
darin führen sehr häufig zu einem kritischen Funktions­ einer funktionierenden Version des Gens, deren Nukleotid-
verlust und zum Tod des betroffenen Individuums. In Stech­ sequenz aber so verändert wurde, dass der CRISPR-­
mücken haben Andrea Crisanti vom Imperial College Cas-Komplex sie nicht mehr erkennt und folglich nicht
­London und sein Team 2018 eine solche Sequenz ausfindig schneidet. Werden die Baupläne für die Genschere und
gemacht und einen Unterdrückungs-Drive entwickelt, der das G
­ egengift miteinander gekoppelt und ins Genom
auf einem Homing-Element basiert und diese Sequenz zum eingebaut, bilden sie zusammen ein Drive-Element. Ist
Ziel hat. Er konnte im Experiment mehrere Moskitopopula­ dieses im Erbgut der mütterlichen Zellen enthalten, dann
tionen, die in Käfigen gehalten wurden, zu 100 Prozent gibt die Mutter die aktive Genschere über ihre Eizellen
vernichten, ohne dass Resistenzen auftraten. Diese Strate- an den Nachwuchs weiter. Infolgedessen sammeln sich in
gie eignet sich allerdings nur für Unterdrückungs-Drives. sämt­lichen Embryonen kontinuierlich Mutationen in
Wie aber kann ein Austausch-Drive funktionieren? Etwa dem über­lebenswichtigen Gen an, und es wird inaktiviert.
mit Hilfe einer Sabotagestrategie, wie sie im bereits er- Nur jene Nachkommen, die das Drive-Element mit dem
wähnten Medea-System des Reismehlkäfers umgesetzt ist. Gegengift geerbt haben, überleben – alle anderen sterben,
Auch wenn dieses System bisher molekulargenetisch nicht da sie keine funktionierende Kopie des unverzichtbaren
verstanden ist, gelang es Wissenschaftlern um Bruce Hay Gens besitzen. Damit erhalten alle überlebenden Nach­

50 Spektrum der Wissenschaft  2.20


ü
kommen das Drive-Element. An dieses lässt sich nun Tiere ohne Kopplungskonstrukt geht es ebenfalls gut, da sie
zusätzlich eine weitere Erbanlage koppeln, die dafür sorgt, ihren Nachkommen kein Zellgift vererben. Paaren sich
dass der Organismus keine Krankheitserreger mehr über- Männchen der Wildform jedoch mit Weibchen, die zwar
trägt. beide Konstrukte besitzen, bei denen die Konstrukte aber
Mit der Anwendung von Gene Drives verbinden sich jeweils nur auf einem der beiden homologen Chromosomen
aber verschiedene Sicherheitsbedenken. So könnten sich liegen (Fachleute bezeichnen das als »heterozygot«), ster-
die bisher beschriebenen Gene-Drive-Varianten im Prinzip ben im Durchschnitt drei Viertel der Nachkommen. Denn
weltweit unkontrolliert ausbreiten, selbst wenn nur eine diese erhalten dann von den mütterlichen Zellen zwar beide
sehr kleine Anzahl von Individuen freigesetzt wird, deren Gifte, jedoch nicht die genetischen Baupläne für beide
Erbgut das jeweilige Drive-Element enthält. Ein Unter­ Gegengifte. Heterozygote Individuen haben also weniger
drückungs-Drive beispielsweise, der sich gegen eine inva­ überlebende Nachkommen, was Genetiker als
sive Art richtet, könnte auf die Heimatregion dieser Spezies Unterdominanz-­Effekt bezeichnen.
überspringen und die dortigen Populationen dezimieren.
Selbst wenn es sehr unwahrscheinlich ist, dass ein Gene Gene Drives: Regionale Begrenzung
Drive seine Zielspezies global ausrottet, erscheint dies zu­- dank ausgeklügelten Gendesigns
mindest theoretisch möglich. Insekten, die Drive-­Elemente Unterdominanz hat zur Folge, dass die Medea-Genkons­
in sich tragen, halten sich nicht an Ländergrenzen und trukte nur dann in die Population eingetrieben werden,
schleppen ihre Fracht in Nachbarstaaten ein – was die wenn mehr als die Hälfte der Individuen sie in ihrem Genom
schwierige Frage aufwirft, wer darüber entscheiden soll, tragen. Liegt der Anteil der Genträger niedriger, verschwin-
wann, wo und ob überhaupt ein Gene Drive eingesetzt den ihre Nachkommen allmählich aus der Population. Der
werden kann. Gene Drive bleibt folglich auf Regionen begrenzt, in denen
Lassen sich solche Bedenken ausräumen? Die oben Tiere mit Medea-Konstrukten in großer Zahl freigesetzt
vorgestellten Gene-Drive-Methoden sind recht kosten­ werden. Das bietet den Vorteil einer kontrollierbaren Popu-
günstig, da sie das gewünschte Gen selbst dann in die lationsentwicklung, bringt allerdings den Nachteil hoher
Zielpopulation eintreiben, wenn nur wenige gentechnisch Kosten für wiederholte Massenfreisetzungen.
veränderte Tiere mit Drive-Elementen freigesetzt werden. Gene Drives könnten künftig eine Möglichkeit bieten,
Sie werden daher als niederschwellig bezeichnet und Schädlinge artspezifisch, umweltschonend und kontrollier-
stehen, etwa hinsichtlich des Einsatzes in Entwicklungslän- bar zu manipulieren oder zu bekämpfen. Der potenzielle
dern, vor keinen großen finanziellen Hürden. Das hat freilich Nutzen ist gewaltig – man denke nur an die Perspektive,
den Preis, dass bereits eine Einschleppung weniger Indivi- jährlich viele Millionen Malariaerkrankungen zu verhindern.
duen ausreicht, um einen ungewollten Gene Drive loszutre- Bevor jedoch erste Anwendungen im Freiland erfolgen,
ten. Deshalb arbeiten Forscher parallel an hochschwelligen müssen unbedingt Verfahren etabliert werden, Gene Drives
Gene Drives. Hier müssen die Tiere, die das jeweilige Drive- zeitlich oder regional zu begrenzen. Gelänge dies, hätten
Element in sich tragen, die Mehrheit der Population stellen, wir Werkzeuge an der Hand, um gezielt gegen Agrarschäd-
sonst funktioniert das Eintreiben nicht. Eine solche Metho- linge und Krankheitsüberträger vorzugehen beziehungs­
de könnte man regional relativ gefahrlos anwenden: Selbst weise invasive Arten zu bekämpfen, die sonst zu verheeren-
wenn einige gentechnisch veränderte Individuen in Nach- den Umweltschäden führen würden. 
barregionen auswandern, werden sie nicht die nötige
Mehrheit der dortigen Populationen stellen und folglich mit
QUELLEN
der Zeit wieder verschwinden.
Hochschwellige Gene-Drives erfordern allerdings einen Burt, A.: Site-specific selfish genes as tools for the control and
genetic engineering of natural populations. Proceedings of the
ausgeklügelten molekularen Mechanismus. Eine Möglich-
Royal Society B: Biological Sciences, 2003
keit ist die Erzeugung eines doppelten »Medea«-Systems
(siehe »Prinzip eines hochschwelligen Gene Drive«, links). Esvelt, K. M. et al.: Emerging Technology: Concerning RNA-­
guided gene drives for the alteration of wild populations. eLife,
Hierbei koppeln die Forscher zweimal zwei Gene aneinan-
2014
der. Das erste Kopplungskonstrukt besteht aus einem Gen,
das den Bauplan für ein Zellgift A enthält, und einem weite- Karami Nejad Ranjbar, M. et al.: Consequences of resistance
evolution in a Cas9-based sex conversion-suppression gene
ren Gen mit der Bauanleitung für ein Gegengift gegen B. drive for insect pest management. PNAS 115, 2018
Das zweite Konstrukt enthält den Plan für das Gegengift A
sowie für das Zellgift B. Setzt man gentechnisch veränderte Oberhofer, G. et al.: Cleave and Rescue, a novel selfish genetic
element and general strategy for gene drive. PNAS 116, 2019
Individuen frei, die diese Konstrukte in ihrem Erbgut tragen,
können deren Nachkommen nur überleben, wenn sie Wimmer, E. A.: Insect biotechnology: Controllable replacement
of disease vectors. Current Biology 23, 2013
entweder beide Genkopplungen geerbt haben oder keines
davon. Im ersten Fall bilden sie beide Zellgifte aus, aber
auch beide Gegengifte. Im zweiten Fall produzieren sie LITERTURTIPP
weder noch. Burt, A., Trivers, R.: Genes in conflict: The biology of selfish
Tiere, die beide Kopplungskonstrukte auf jeweils beiden genetic elements. Harvard University Press, 2008
homologen Chromosomen tragen, haben keine Probleme, Ein Überblick über das Phänomen »egoistischer« Gene, die sich
da alle ihre Nachkommen beide Genkopplungen erhalten. überproportional stark verbreiten

Spektrum der Wissenschaft  2.20 51


ü
BOTANIK
ZAHLENSPIELE IM
REICH DER PFLANZEN
Ästhetische gekreuzte Spiralmuster, regelmäßig angeordnete Blätter entlang
des Stängels, die geometrische Struktur eines Tannenzapfens – Pflanzen
weisen oft komplizierte Formen auf, die Biologen schon lange faszinieren. Nach
und nach entschlüsseln Forscher nun dank biophysikalischer Modelle die
Mechanismen, die zu diesen erstaunlichen Konstruktionen führen.

Teva Vernoux (links) ist Forschungsleiter am CNRS im Labor für Fortpflanzung und
Entwicklung der Pflanzen an der École normale superieure von Lyon. Christophe
Godin (Mitte) ist Forschungsleiter und Fabrice Besnard Forschungsbeauftragter am
Institut national de la recherche agronomique (Inra) im selben Labor.

 spektrum.de/artikel/1693098
RAZZEL / STOCK.ADOBE.COM

52 Spektrum der Wissenschaft  2.20


ü
AUF EINEN BLICK
BOTANISCHE MUSTERBILDUNG

1 Pflanzen zieren oft erstaunliche geometrische Muster.


Beispielsweise hängt der Winkel zwischen aufein­
ander folgenden Organen häufig mit dem goldenen
Schnitt zusammen.

2 Seit einigen Jahren untersuchen Biologen mit Metho­


den aus der Physik, Mathematik und Informatik ver­
schiedene Mechanismen, die diese außergewöhnlich
regelmäßigen Strukturen in Pflanzen erzeugen.

3 Offenbar sind winzige Bereiche aus Stammzellen, in


denen Organe entstehen, für die ästhetischen Muster
verantwortlich. Doch der Prozess läuft vielleicht gar
nicht so deterministisch ab, wie bisher angenommen.

Die zahlreichen Blätter der Aloe


polyphylla, einer in Südafrika
heimischen Art, bilden wunder-
schöne rechts- und links­
drehende Spiralen.
RAZZEL / STOCK.ADOBE.COM

Spektrum der Wissenschaft  2.20 53


ü

Wen hat die Schönheit von Pflanzen nicht schon Schon lange suchen Forscher nach Mechanismen,
einmal berührt? Seit Jahrtausenden faszinieren die oft welche die komplexen Geometrien in so vielen unterschied­
symmetrisch wirkenden Regelmäßigkeiten viele Men­ lichen Pflanzen erzeugen. Sie wollen verstehen, wie die
schen. Wie die Blätter – und etwas weiter gefasst jedes regelmäßigen Muster auf molekularer Ebene entstehen und
andere Organ – einer Pflanze angeordnet sind, beschreibt sich dann über die ganze Pflanze ausbreiten. Dazu kom­
die so genannte Phyllotaxis. binieren sie seit mehr als 200 Jahren Methoden aus der
Die außergewöhnlich vielfältigen Blattstellungen inspi­ Mathematik, Physik, Informatik und Biologie. Doch erst in
rierten etliche Künstler, wie etwa Werke der islamischen den vergangenen 20 Jahren machten sie bedeutende Fort-
Kunst oder des Jugendstils belegen. Aber das ist noch schritte auf dem Gebiet. Im letzten Jahrzehnt haben ver­
lange nicht alles: Die botanischen Muster weisen auch schiedene interdisziplinäre Forschungsgruppen, darunter
erstaunliche mathematische Eigenschaften auf, deren auch unsere, neueste Ansätze aus der Molekularbiologie
biologischen Ursprung Wissenschaftler jetzt allmählich mathematisch modelliert, um die Musterbildung näher zu
entschlüsseln. beleuchten.

Wozu die schönen Muster?


Evolutionär begründen lässt sich chen auf. Der englische Mediziner
die Phyllotaxis mit verbesserter Hubert Airy (1838–1903) vermutete
Lichtausbeute: Wenn die Blätter beispielsweise 1873, dass die
sich kaum überdecken, können sie gleichmäßigen Strukturen junge
möglichst viel Sonnenlicht aufneh­ Organe vor äußerem Stress schüt­
men. Doch diese einfache Erklä­ zen, der etwa durch Temperatur-
rung hält nicht lange stand. Etliche änderungen oder Verletzungen
Pflanzen zeigen beispielsweise verursacht wird. 
Phyllotaxen, bei denen die Blätter Solche Hypothesen sind aller­
übereinandergeschichtet sind und dings experimentell schwer zu MILANVACHAL / STOCK.ADOBE.COM
Die Phyllotaxis einer Pflanze führt
sich gegenseitig beschatten. Au­ belegen. Verschiedene Phyllotaxen nicht immer dazu, dass mehr Licht
ßerdem bestimmt die Phyllotaxis lassen sich kaum miteinander zu den Blättern dringt, wie hier bei
nur, wo die Blätter aus dem Stängel vergleichen oder modifizieren, ohne einem strauchartigen Ehrenpreis.
dringen. Bei den meisten Pflanzen dass sich gleichzeitig auch andere
orientieren sich die Blätter aber zu Eigenschaften der Pflanze ändern –
einer Lichtquelle, indem sie sich ganz zu schweigen davon, dass die scheint die komplizierte Organbil­
drehen oder biegen. Darüber hinaus genaue Messung selektiver Anpas­ dung der Pflanzen viele geometri­
ist es nicht für alle Pflanzen vorteil­ sungen extrem schwierig ist. sche Eigenschaften der Phyllotaxen
haft, sich der Sonne voll auszuset­ Eine andere mögliche Erklärung zu belegen. Das schließt jedoch
zen, vor allem bei Trockenheit. Das wäre, dass die geometrischen nicht aus, dass die regelmäßigen
obige Argument kann zudem nicht Muster indirekt entstehen, während Strukturen Vorteile bringen, wo­
erklären, warum andere Elemente, die Pflanze wächst. Damit wären durch sich ein bestimmter Mecha­
die keine Fotosynthese betreiben, sie keine direkte Folge einer evolu­ nismus zur Organentstehung durch­
wie Schuppen von Zapfen, Röhren­ tionären Selektion. Und tatsächlich gesetzt hat.
blüten (kleine Einzelblüten) oder
Blütenorgane (außer den Kelchblät­ zweizeilig kreuz-
tern) ebenfalls regelmäßig angeord­ wechselständig spiralig quirlständig gegenständig spirodistich

net sind.  j = 1, δ = 180° j = 1, δ = 137,5° j = 4, δ = 45° j = 2, δ = 90° j = 2, δ = 68,8°

Biologen kamen daher mit


allerlei weiteren Erklärungsversu­
POUR LA SCIENCE AUGUST 2018, NACH: FABRICE BESNARD

Die wichtigsten Phyllotaxis-


Typen, charakterisiert durch die
Zahl j der Organe, die aus dem­
selben Knoten der Sprossachse
entspringen, sowie durch den
Divergenzwinkel δ zwischen
aufeinander folgenden Organen.

54 Spektrum der Wissenschaft  2.20


ü
Eine wichtige Rolle spielt dabei ein winziger Bereich –
kleiner als ein Stecknadelkopf – an den Sprossspitzen einer
Pflanze, das so genannte Meristem. Dieser spezielle Gewe­ Kurz erklärt
betyp besteht aus Stammzellen und produziert neue Orga­
ne (siehe »Meristem, goldener Winkel und Modellierung«, Phyllotaxis (griechisch phyllon = Blatt, taxis =
S. 57), die in der Nähe seines Zentrums entstehen. Während Anordnung) bezeichnet die Anordnung von
der Stängel wächst und die Organe dadurch größer wer­ Pflanzenorganen wie Blättern, Ästen, Knospen,
den, bilden sich die regelmäßigen Muster aus, die man mit Schuppen, Früchten, Blüten, Blütenblättern oder
bloßem Auge erkennen kann. In dieser Phase verändern die Staubgefäßen um eine Sprossachse.
Organe kaum noch ihre Anordnung. Das heißt, die Phyllota­
xis einer Pflanze ist bereits sehr früh festgelegt, sobald die Beim Meristem (griechisch meristos = geteilt)

POUR LA SCIENCE AUGUST 2018


Organe erstmals im Meristem erscheinen.  handelt es sich um undifferenziertes Pflanzen­
Um die außergewöhnlichen Strukturen einer Pflanze zu gewebe, das teilungsfähig ist und sich somit
verstehen, muss man herausfinden, wie genau das Meris­ zu neuem Gewebe oder neuen Organen entwi­
tem die Organe erzeugt. Biologen näherten sich dieser ckeln kann.
schwierigen Aufgabe, indem sie zunächst die verschiede­
nen geometrischen Muster untersuchten, wodurch sie Der goldene Winkel ist der kleinere
erstaunliche Eigenschaften enthüllten. der zwei komplementären Winkel und
Dazu klassifizieren sie die verschiedenen Phyllotaxen der , die den Kreisumfang im goldenen
Pflanzen durch zwei einfache Kriterien: die Anzahl der Schnitt teilen. Die Definition setzt
Elemente an einem Knoten, also am selben Abschnitt der voraus, dass / = (goldener Schnitt)
Sprossachse, sowie den Winkel zwischen zwei aufeinander und dass der goldene Winkel 2π/ (1+ ),
folgenden Organen, den so genannten Divergenzwinkel. also etwa 137,5 Grad, beträgt.
Dadurch lassen sich vier große Phyllotaxis-Typen definie­
ren: die wechselständigen, die spiraligen (oder schraubi­
gen), die wirtel- oder quirlständigen und die zweizeilig
schraubigen (oder spirodistichen) Phyllotaxen. goldenen Schnitt . Jahrhundertelang tauchte diese Zahl
Bisherige Studien deuten darauf hin, dass spiralige immer wieder in Abhandlungen über Architektur, Kunst und
Blattstellungen am verbreitetsten sind. In diesen Anordnun­ sogar Musik auf und wurde als harmonische, ja nahezu
gen tauchen meist mehrere spiralförmige Muster auf. Eines göttliche Proportion angesehen. 
davon verbindet die Organe vom jüngsten zum ältesten, in Auch in der Botanik trifft man auf den goldenen Schnitt.
der Reihenfolge ihrer Entstehung. Diese Generationenspira­ Insbesondere wenn man den Divergenzwinkel zwischen
le windet sich vertikal um die Sprossachse, Blatt um Blatt, zwei nacheinander auftretenden Organen in einer spiraligen
wie die Stufen einer Wendeltreppe.  Blattstellung untersucht: Dieser beträgt durchschnittlich
137,5 Grad. Multipliziert man ihn mit dem Zahlenwert des
Die erstaunliche Mathematik der goldenen Schnitts, erhält man 222,5 Grad – also den
Pflanzenwelt dazu komplementären Winkel (die Summe beider beträgt
In Strukturen wie Pinienzapfen, deren Schuppen dicht 360 Grad)! Entsprechend bezeichnet man einen Winkel von
gepackt sind, kann man weitere Spiralen ausmachen, die 137,5 Grad auch als »goldenen Winkel« (siehe »Kurz erklärt«,
sich mal mit und mal gegen den Uhrzeigersinn drehen. Der oben).
deutsche Botaniker Alexander Braun (1805–1877) machte Mathematisch lässt sich zeigen, dass verschiedene
1831 eine überraschende Entdeckung, als er bei verschiede­ Spiralmuster entstehen, wenn die Organe um jeweils den
nen Pflanzen die unterschiedlich gewundenen Spiralen goldenen Winkel gegeneinander verdreht sind. Zählt man,
zählte. Denn wie sich herausstellte, nehmen deren Anzahl wie viele sich mit und gegen den Uhrzeigersinn drehen,
keine zufälligen Werte an (siehe »Goldener Schnitt: Wissen­ ergeben sich daraus stets zwei konsekutive Fibonacci-
schaftliche Realität oder subjektive Konstruktion?«, S. 56): Folgenglieder.
Es handelt sich immer um zwei nachfolgende Zahlen der So drehen sich bei einem Pinienzapfen in der Regel 8 Spi­-
Fibonacci-Folge, deren Glieder sich aus der Summe der ralen in die eine Richtung und 13 in die andere. Bei einer
zwei vorhergehenden ergeben: Margerite lassen sich dagegen 21 beziehungsweise 34 Spi­
1, 1, 2, 3, 5, 8, 13, 21, 34, 55, 89, … ralen erkennen (siehe » Goldener Schnitt: Wissenschaftli­
Benannt ist die unendliche Zahlenfolge nach Leonardo che Realität oder subjektive Konstruktion?«, S. 56).
da Pisa (um 1170–1240), auch Leonardo Fibonacci genannt, Aber wie können die Zellen im Meristem so präzise den
der sie bereits im 13. Jahrhundert erforschte. Sie besitzt Ort und die Zeit festlegen, an dem sich ein neues Organ
viele bemerkenswerte mathematische Eigenschaften. Be- bildet? Bereits im 19. und 20. Jahrhundert spekulierten
sonders interessant ist die Folge der Quotienten aus aufein­ Wissenschaftler über die möglichen Mechanismen, die zu
ander folgenden Fibonacci-Zahlen (Fn+1 /Fn): den verschiedenen Phyllotaxen führen. Die mikroskopi­
1/1, 2/1, 3/2, 5/3, 8/5, … schen Vorgänge, die sich tief verborgen in der Pflanze in
Denn anders als die Fibonacci-Folge konvergiert diese der Nähe des Meristems abspielen, waren damals experi­
gegen einen endlichen Wert: (1+ √5) /2 (etwa 1,618), den mentell noch unerreichbar. Dennoch gelang es den For­

Spektrum der Wissenschaft  2.20 55


ü
Goldener Schnitt: Wissenschaftliche Realität oder subjektive Konstruktion?
Die spiraligen Blattstellungen kennt man auch aus ganz anderen
hängen auf mindestens zwei Arten Zusammenhängen, etwa aus der
mit der Fibonacci-Folge zusam­ antiken Architektur oder bei Ge­
men: durch die Anzahl der Spira­ mälden der Meister des Cinque­

BRINGOLO / STOCK.ADOBE.COM; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT


len, die sich im und gegen den cento. In der Biologie findet man
Uhrzeigersinn drehen (siehe Bilder), den goldenen Schnitt bei den
sowie durch den goldenen Winkel Schalen von Perlbooten oder in
(siehe » Meristem, goldener Winkel den Proportionsverhältnissen
und Modellierung«, rechts). Diesen zwischen verschiedenen Teilen des
menschlichen Körpers. 
Allerdings sollte man aufpassen.
Die Margerite besitzt eine spirali- Häufig ergibt sich der Zahlenwert
ge Phyllotaxis vom Typ (21, 34): nur aus groben Rundungen, will­
Ihre Röhrenblüten stehen zu 21 kürlichen Ausgrenzungen oder
Spiralen in eine (grün) sowie zu Verzerrungen der Probenauswahl.
34 in die andere Richtung (rot). Schließlich ist es nicht sehr
Die Zahlen entsprechen zwei schwer, einen Quotienten zu
aufeinander folgenden Gliedern finden, der ungefähr 1,6 beträgt. Der Pinienzapfen weist eine spiralige
der Fibonacci-Folge. Häufig wird argumentiert, der Phyllotaxis des Typs (8, 13) auf: Seine
gemessene Wert weiche wegen Schuppen zeichnen 8 Spiralen in eine
Messungenauigkeiten leicht vom (grün) und 13 in die andere Richtung
BIGEMRG / STOCK.ADOBE.COM; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

goldenen Schnitt ab. Genauso (rot) – abermals zwei aufeinander


verhält es sich mit dem Divergenz- folgende Zahlen der Fibonacci-Folge.
winkel der Phyllotaxis: Misst man
ihn bei der Ackerschmalwand,
kommt man selten auf die exakte sich um ganze Zahlen, die sich
Zahl 137,5 Grad. Erst der Durch­ nicht runden oder ungenau mes­
schnitt aller Winkel ergibt den sen lassen. Unseres Wissens nach
erwarteten Wert. ist das die einzige biologische
Bei den links- und rechtsdrehen­ Größe, die zweifellos mit der
den Spiralen der Pflanzen bleibt da­ Fibonacci-Folge und dem goldenen
gegen kein Zweifel. Hier handelt es Schnitt zusammenhängt. 

schern, einige spannende Zusammenhänge offenzulegen, mehrerer Pflanzen mit mikrochirurgischen Eingriffen. In
indem sie sich auf makroskopische Versuche stützten. einem ihrer Schlüsselexperimente teilten sie das Meristem
So lassen beispielsweise mehrere Beobachtungen an der Sprossachse eines Zottigen Weidenröschens (Epilo-
darauf schließen, dass der Divergenzwinkel zwischen zwei bium hirsutum), dessen Blätter normalerweise gegenstän­
Organen nicht genetisch festgelegt ist. Denn innerhalb dig angeordnet sind. Die beiden Meristemhälften wuchsen
derselben Art können unterschiedliche Phyllotaxen auftau­ unabhängig voneinander weiter, doch plötzlich wies die
chen. Zum Beispiel gibt es unter Sonnenblumen einige mit Pflanze eine spiralige Blattstellung auf. 
einem goldenen Divergenzwinkel und andere, bei denen er Aus diesem und ähnlichen Versuchen lässt sich schlie­
99,5 Grad beträgt. Zählt man die darin vorkommenden ßen, dass der gleiche Mechanismus die verschiedenen
Spiralen, entspricht deren Anzahl den Folgengliedern der Phyllotaxen erzeugt. Demnach führen Anzahl und Position
Lucas-Folge, einer speziellen Variante der Fibonacci-Folge. der bereits vorhandenen Organe sowie ihre Wechselwir­
Die genaue Anordnung der Organe scheint daher spontan kungen untereinander zu einem bestimmten Muster. Die
zu entstehen. Das verdeutlichen Pflanzen, die an unter­ dazugehörige Grundidee kann man einfach zusammenfas­
schiedlichen Zweigen verschiedene Blattstellungen aufwei­ sen: An einer Stelle in der Nähe des Meristems entsteht
sen. Bei einigen kann das Meristem sogar plötzlich die immer dann ein neues Organ, wenn es ausreichend Platz
Phyllotaxis ändern.  dafür gibt.
Durch gezielte Laborversuche bestätigten die beiden In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelten
britischen Botaniker Mary und George Snow in den 1930er Forscher zahlreiche Modelle, die dieses selbstorganisieren­
Jahren die Hypothese, dass die Phyllotaxis nicht genetisch de Prinzip widerspiegeln. Dabei zeichnete sich immer
bestimmt ist. Dazu störten sie die Funktion des Meristems stärker ab, dass junge Organe die Entstehung neuer Ele­

56 Spektrum der Wissenschaft  2.20


ü
mente in ihrer unmittelbaren Nähe unterdrücken, indem sie
ein Signal abgeben. Die Überlagerung aller Signale lässt
sich als Hemmfeld modellieren, das bestimmt, wann und Meristem, goldener Winkel
wo sich die nächsten Organe ausbilden.  und Modellierung
Als die Physiker Yves Couder und Stéphane Douady von
der École normale supérieure in Paris zu Beginn der 1990er Ein Meristem (im unteren Bild das Apikalmeris­
Jahre kleine Tropfen aus flüssigem Metall in Magnetfeldern tem der Ackerschmalwand) ist eine Ansamm­
beobachteten, erkannten sie, dass die Flüssigkeit die gän­ lung von Stammzellen, die sich während des
gigsten Phyllotaxis-Typen nachbildet. Couder und Douady gesamten Lebens einer Pflanze stets erneuern
arbeiteten daraufhin ein physikalisches Modell aus, welches und Organe bilden. Bei einer spiraligen Phyllota­
das wachsende Meristem als dynamisches System behan­ xis, wie hier dargestellt, beträgt der Divergenz­
delt. Demnach können präzise Divergenzwinkel entstehen, winkel δ zwischen zwei Organen durchschnitt­
ohne dass sie vorher (etwa genetisch) festgelegt sind. lich 137,5 Grad, was etwa dem goldenen Winkel
Stattdessen bestimmen die hemmenden Mechanismen der entspricht. Dies lässt sich theoretisch durch
Pflanze, wann und wo sich neue Organe ausbilden. Modelle nachbilden, in denen jedes neue Organ
Erstaunlicherweise erklärt das Modell alle beobachteten (nummeriert vom ältesten, 1, zum jüngsten, 11)
Phyllotaxen – sowohl die verbreitetsten Typen (siehe »Wozu ein Hemmfeld mit dem Wirkungsbereichd d umR
die schönen Muster?«, S. 54) als auch seltenere Muster. sich herum erzeugt (violette Scheiben) und in
­Zudem beschreibt es, wie verschiedene Phyllotaxen inein­ denen im Radius R um das Zentrum eines Meris­
ander übergehen, sei es auf natürliche Weise oder durch tems kein Organ entstehen kann. Jedes neue
Störungen des Meristems wie bei Mary und George Snow.  Organ erscheint an einer Stelle am Rand der
zentralen Zone, wo sich
Ein einziges Modell das Hemmfeld am zentrale Zone 2Position des
des Meristems
für alle Blattstellungen geringsten auswirkt. nächsten Organs
Im Ansatz von Couder und Douady bestimmt ein einziger Während des Pflanzen­ 5
10 7
geometrischer Parameter, = d/R, die Anordnung der wachstums schwächen
d
R d R
Organe einer Pflanze. Dabei steht d für die Reichweite des sich die Hemmfelder R
4
8
Hemmfelds, das von jedem Organ ausgeht, und R ent­ mit zunehmender Meristem 9
spricht dem Radius der zentralen Zone des Meristems, in Distanz vom Zentrum
3 6
der sich kein neues Organ bilden kann (siehe »Meristem, immer weiter ab.  1

goldener Winkel und Modellierungen«, rechts). Position


seitliche Ansicht des nächsten
Bei einer sehr jungen Sprossachse ist das Meristem
2 2 Organs
anfangs klein und damit auch der Radius R, so dass sich der 2
Meristem
Parameter vergrößert. Wenn das erste Organ ein starkes 5 5
10 7 5
10 7
Hemmfeld erzeugt, wird das nächste wahrscheinlich auf 10 7
FABRICE BESNARD

der gegenüberliegenden Seite entstehen, also um 180 Grad R R


4 4 4
8
versetzt. Während das Meristem wächst, nimmt R zu und 8 8
9 9 9
folglich ab. Das nächste Organ erscheint dann nicht um 11
genau 180 Grad zum vorhergehenden versetzt, weil es das 3 6 1 3 6 1
3 6
Feld des ersten Organs auch noch spürt.  Position
Während die Pflanze wächst und dabei immer kleiner des nächsten
Ansicht von oben –
Organs Zeitpunkt 2
wird, bilden sich Organe innerhalb eines Zeitpunkt 1 VUE DE CÔTÉ
2 2
Winkels von 2π(1 – 1/b) aus, wobei b ein
d
FABRICE BESNARD

Element aus der Folge der Quotienten von 5


7 5
7
10 10
Fibonacci-Zahlen ist. Weil die entsprechen­
5
de Folge gegen den goldenen Schnitt 8
4 4
8
konvergiert, nähert sich der Divergenzwinkel 9 2 9
11 11
dem goldenen Winkel 2π(1 – 1/ ). Diesem
geometrisch determinierten Modell zufolge 3 6 3 6
8
führen also das Pflanzenwachstum, das VUE DE DESSUS
verkleinert, und die geometrischen Eigen­
3
schaften des Meristems zu den erstaunli­
5
chen botanischen Mustern.  7
Gegen Ende des 20. Jahrhunderts akzep­
tierten die meisten Wissenschaftler das
8
Modell der beiden Physiker Douady und
Couder, das auf zwei einfachen Bausteinen 9
Endroit
basiert: einem Zentrum, das keine Organe du prochain 3 d
organe
produzieren kann, und Organen, die das
6 4

1 Spektrum der Wissenschaft  2.20 57


ü

5
Wachstum neuer Elemente in der unmittelbaren Nähe Kollegen von der Universität Bern konnten im Jahr 2000
unterdrücken. zeigen, dass bei der Ackerschmalwand und der Tomate die
Auch wenn es viele Beobachtungen erklärt, lässt das Indol-3-Essigsäure, ein pflanzliches Hormon aus der Gruppe
Modell einige grundlegende Fragen unbeantwortet. Es der Auxine, neue Organe bildet. Das Auxin kann sich dank
bleibt beispielsweise unklar, woraus die Hemmfelder beste­ Transportproteinen, die das Molekül durch die Zellmembra­
hen. In den letzten 15 Jahren machten Biologen diesbezüg­ nen schleusen, frei in der Pflanze bewegen. Als Kuhlemeier
lich große Fortschritte, unter anderem indem sie die Blüten­ und sein Team diesen Transport unterbanden, bildete die
bildung der Ackerschmalwand (Arabidopsis thaliana) unter­ Ackerschmalwand keine Blüten mehr. Trugen sie das Auxin
suchten, die sich im Labor leicht kultivieren lässt. danach jedoch lokal auf, entstanden Blüten.
Überraschenderweise fanden Biologen erste Hinweise Biologen gehen daher davon aus, dass sich das Auxin
auf einen hemmenden Mechanismus, als sie ein Aktivie­ lokal häufen muss, um ein neues Organ auszubilden. Dem­
rungssignal identifizierten. Cris Kuhlemeier und seine nach könnten junge Blüten die Indol-3-Essigsäure so stark

Die Phyllotaxis der Moose


Neben Blütenpflanzen weisen auch Die Mechanismen, die in den Signale, bei Blütenpflanzen die
Moose eine vielfältige Phyllotaxis verschiedenen Pflanzengruppen Phyllotaxis kontrollieren, auch eine
auf. Diese landlebenden Gewächse die auffallenden Muster erzeugen, Rolle bei Moosen spielen, da man
entstanden vor 340 bis 440 Millio­ scheinen sich stark zu unterschei­ in ihnen die gleichen Pflanzenhor­
nen Jahren und sind damit wesent­ den: In Blütenpflanzen sind es mone findet. 
lich älter als Blütenpflanzen, deren Hemmfelder, während sich bei
Yoan Goudert ist Biologe am Labora­
Ursprung nur etwa 200 bis 245 Moosen die Form und Lage der toire Reproduction et Développement
Millionen Jahre zurückreicht.  Zellteilung entscheidend auswirkt. des Plantes an der École normale

CHMEE2 (COMMONS.WIKIMEDIA.ORG/WIKI/FILE:POLYTRICHUM_COMMUNE_IN_NATURAL_MONUMENT_
KNEZ_U_HRAZAN_(1).JPG) / CC BY-SA 3.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY-SA/3.0/LEGALCODE)
Der gemeinsame Vorfahre Allerdings könnten die molekularen superieure de Lyon.
beider Gruppen besaß vermutlich
noch keine Blätter. Forscher gehen
davon aus, dass diese bei Moosen
und Blütenpflanzen unabhängig
voneinander entstanden. In beiden
haben sich derartige Organe
offenbar evolutionär durchgesetzt,
weil sie Lichtenergie optimal
einfangen, die sie für die Fotosyn­
these benötigen. Moose und
Blütenpflanzen ähneln sich aber
ebenso in anderen Merkmalen,
POUR LA SCIENCE AUGUST 2018

etwa in der regelmäßigen Anord­


nung ihrer Blätter. Allerdings

HERMANNSCHACHNER (COMMONS.WIKIMEDIA.ORG/WIKI/FILE:FISSIDENS_TAXIFOLIUS_(F,_144714-
481009)_2776.JPG) / CC0 (CREATIVECOMMONS.ORG/PUBLICDOMAIN/ZERO/1.0/LEGALCODE)
besteht das Meristem von Moosen
aus einer einzigen Zelle, gegenüber
einigen hundert in Blütenpflanzen.
Jedes Mal, wenn sich im Moos
die Meristemzelle teilt, bleibt eine
davon an der Spitze der Sprossach­
se, während sich die andere zu
einem Blatt entwickelt. Die Anord­
nung der Blätter ist daher vorwie­
gend durch die Form der meriste­
malen Zelle und die Lage ihrer
Teilungsebene festgelegt. Wie bei
Blütenpflanzen führt bei Moosen Bei Moosen besteht das Meristem aus einer einzigen Zelle. Je nachdem,
die rhythmische Produktion von welche Form sie annimmt und wo die Teilungsebene verläuft, bilden die
Blättern zu einer regelmäßigen Blätter eine spiralige Phyllotaxis, wie beim Goldenen Frauenhaarmoos
Phyllotaxis, die entweder spiralig (Polytrichum commune, oberes Bild), oder eine zweizeilig wechselständige,
oder wechselständig ist. etwa beim Eibenblättrigen Spaltzahnmoos (Fissidens taxifolius, unten).

58 Spektrum der Wissenschaft  2.20


ü
sammeln, dass die Zellen in ihrer Nachbarschaft leer ausge­
hen und dadurch keine Organe produzieren. Um diesen
Verdacht zu überprüfen, verbanden weltweit mehrere Die Moleküle der Phyllotaxis
Teams biologische Studien mit mathematischen Modellen
(siehe »Die Moleküle der Phyllotaxis«, rechts). Im Meristem prägen mehrere Moleküle Ort und
All diese Prozesse finden in der Epidermis statt, der Zeitpunkt, an denen das nächste Organ entsteht.
äußersten Zellschicht der Pflanze. Um sich vom überschüs­ Ein Hormon aus der Gruppe der Auxine häuft
sigen Auxin zu befreien, leiten die jungen Organe das sich in den neuen Organen (Bild unten rechts,
angesammelte Hormon in die inneren Gewebeschichten ab. sichtbar gemacht durch einen fluoreszierenden
Während sie wachsen, entfernen sich die Blüten vom Biomarker) dank bestimmter Transportproteine
Meristem, so dass sie nicht mehr mit den jüngeren Organen an, die das Auxin durch die Zellmembran (Bild
um das Auxin konkurrieren. Forscher beobachteten diesen oben) schleusen. Ohne Auxin bildet sich kein
Mechanismus auch bei anderen Pflanzen, die evolutiv recht Organ. Durch die Anhäufung des Hormons an
weit von der Ackerschmalwand entfernt sind, etwa bei der einer Stelle wird es der unmittelbaren Umge­
Tomate, dem Mais oder der Gerste. bung entzogen. Ein weite­
Ein einziges Molekül dient also offenbar gleichzeitig als res Protein, AHP6, sam­
Aktivator und Hemmstoff. Doch die Realität scheint we­ melt sich ebenfalls in den
sentlich komplizierter zu sein. Zunächst weiß man immer Bereichen späterer Orga­
noch nicht, was die Transportproteine veranlasst, an ne an (unten links). Solan­
einigen Stellen das Auxin anzuhäufen und an anderen zu ge es sich dort in ausrei­
entfernen. Dazu gibt es verschiedene Vermutungen. chender Konzentration
Die Transporter könnten sich beispielsweise an der höchs­ befindet, hemmt es die
ten Auxinkonzentration orientieren oder sie sorgen dafür, Aktivität des Hormons
dass der Fluss des Hormons maximal ausfällt.  Zytokinin, wodurch sich
das Wachstum verzögert.
Welche Rolle spielt die Mechanik? Diese beiden Mechanis­
Aber nicht nur chemische Mechanismen könnten das men führen dazu, dass die

FABRICE BESNARD
Wachstum der Pflanze und ihrer Organe beeinflussen, Organe in regelmäßigen
sondern auch mechanische Prozesse. Pflanzliche Zellen Abständen entstehen.
stehen wegen der sie umgebenden starren Wand und des
Wassers, das sie speichern, unter Druck. Zudem erzeugt

VERNOUX, T. ET AL.: THE AUXIN SIGNALLING NETWORK TRANSLATES DYNAMIC INPUT INTO ROBUST PATTERNING AT
THE SHOOT APEX. MOLECULAR SYSTEMS BIOLOGY 7, 2011, FIG. 5B; MIT FRDL. GEN. VON TEVA VERNOUX
FABRICE BESNARD
die Form des Gewebes Spannungen, welche die Moleküle
im Zytoskelett stören. Diese großen Polymere kontrollieren
wiederum die Form der Zellen.
Während das Gewebe also wächst und sich verformt,
reagieren die Zellen und ihr Zytoskelett auf diese neuen
Spannungen, indem sie die Eigenschaften der Zellwände
(etwa Festigkeit und Richtung des Wachstums) anpassen,
was im Gegenzug die mechanischen Kräfte verändert. So
entstehen komplexe mechanische Wechselwirkungen im
wachsenden Gewebe. Man konnte zwar noch nicht direkt
nachweisen, dass diese Prozesse die Anordnung der neuen
Organe beeinträchtigen, doch wie unter anderem unsere AHP6 (Arabidopsis histidine
Forschungsgruppe herausfand, deuten experimentelle phosphotransfer protein 6), das die Aktivität von Zytokinin
Ergebnisse zumindest bei der Ackerschmalwand darauf hin. unterdrückt, einem weiteren Pflanzenhormon (siehe »Die
Zusammen mit anderen Teams erforschten wir dazu Moleküle der Phyllotaxis«, oben). Erstaunlicherweise be­
Mutationen, bauten gezielt genetische Veränderungen ein einflusst das von AHP6 erzeugte Feld nicht den Divergenz­
und beobachteten das Zellwachstum auf mikroskopischer winkel, sondern zwingt der Pflanze vielmehr einen regelmä­
Ebene. Es zeigte sich, dass das angesammelte Auxin die ßigen Rhythmus auf, in dem sie die Organe bildet. Dank
Zellwandsynthese fördert sowie das Wachstum der Zelle dieses Moleküls sind die Blätter entlang der Sprossachse
unterstützt. All diese Prozesse sind offenbar notwendig, extrem gleichmäßig verteilt. 
damit sich Blätter oder Blüten entwickeln. Offenbar setzt sich das Hemmfeld also aus mehreren
Nun hatten wir chemische und mechanische Kräfte Komponenten zusammen. Neben dem Auxin sind auch
identifiziert, welche die Phyllotaxis einer Pflanze prägen. andere Faktoren an den regelmäßigen mathematischen
Eine weitere Entdeckung ließ uns allerdings vermuten, dass Mustern beteiligt. Diese Zusammenhänge sind Gegenstand
darüber hinaus noch andere Mechanismen beteiligt sind. aktueller Forschungsarbeiten.
Nach langer Suche hatten wir nämlich doch einen Hemm­ Während sich die meisten Biologen auf die Natur der
stoff gefunden, der sich um die wachsenden Organe einer Hemmfelder konzentrierten, rückten andere ungeklärte
Pflanze verteilt. Dabei handelt es sich um das Molekül Fragen in den Hintergrund. Unsere Modelle können bei­

Spektrum der Wissenschaft  2.20 59


ü
ten wir kleine Abweichungen im erwarteten Muster. Die
Pflanzen wuchsen nicht vollkommen regelmäßig, sondern

PIERRE BONA (COMMONS.WIKIMEDIA.ORG/WIKI/FILE:MONTR%C3%A9AL_JARDIN_BOTANIQUE_MAMMILLAIRE_CACTUS.JPG) / CC BY-SA 3.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY-SA/3.0/LEGALCODE)


wiesen Unvollkommenheiten auf. Zum Beispiel wich der
Divergenzwinkel bei einigen vom goldenen Winkel ab. Die
Variationen scheinen nicht zufällig aufzutreten, sondern
folgen einer auffälligen Struktur: Immer wenn zwei Organe
gleichzeitig entstehen und deren Reihenfolge sich von
Zeit zu Zeit entlang der Sprossachse umkehrt, finden sich
Unregelmäßigkeiten.
Bei der Ackerschmalwand ereignen sich solche Permuta­
tionen relativ häufig. Auch andere Pflanzen mit einem
langen Stiel, der die einzelnen Elemente wie Blätter vonein­
ander trennt, weisen die Eigenschaft auf. Das geometrisch
determinierte Modell sagt zwar derartige Störungen voraus,
doch wesentlich seltener und weniger komplex, als man sie
in der Natur antrifft.
Diese Abweichungen von einem regelmäßigen Muster
sind überaus spannend, denn sie zeigen, welche Mechanis­
men die Phyllotaxis der Pflanze prägen. Daher suchten wir
nach Möglichkeiten, um das geometrisch determinierte
Modell so anzupassen, dass es die realen Beobachtungen
besser wiedergibt. 
Im ursprünglichen Modell bestimmt das Hemmfeld, wo
und wann sich ein Organ bildet. Dazu berechnete ein Com­
puter für jeden Zeit- und Raumpunkt am Rand des zentralen
Meristems, ob die Felder der benachbarten Organe ein
neues Organ zulassen. Das Programm erzeugt dann überall
dort ein Organ, wo das Hemmfeld einen bestimmten
Schwellenwert unterschreitet. Aber viele experimentelle
Ergebnisse weisen darauf hin, dass der Prozess nicht so
Kakteen weisen häufig geometrische Muster auf, einfach abläuft. 
wie dieses hier mit einer Phyllotaxis vom Typ (8, 13), Deshalb versuchten wir einen anderen Ansatz. Unser
das man auch auf Pinienzapfen findet. neues Modell enthält zwar weiterhin die geometrischen
Aspekte des vorherigen, die Organbildung ereignet sich
dabei jedoch probabilistisch statt deterministisch. Ein
spielsweise nicht erklären, welche Prozesse das kontinu­ Organ wird also mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit
ierliche Wachstum sicherstellen oder warum keine Organe erzeugt, die davon abhängt, wie stark und lange die Zellen
im Zentrum des Meristems entstehen, selbst wenn sich einem Hemmfeld ausgesetzt sind. Durch diesen Ansatz
dort Auxin ansammelt. Zudem ist noch unbekannt, ob sich konnten wir die bei Arabidopsis thaliana gemessenen Unre­
der Parameter wirklich nur durch das Wachstum der gelmäßigkeiten wesentlich besser reproduzieren als mit
Pflanze ändert oder ob auch ein anderer Mechanismus anderen Modellen. 
beteiligt ist. 
In den letzten Jahren lieferten Forscher verschiedene Die Rolle des Zufalls
Antworten auf diese Frage, doch bisher konnte sie niemand Außerdem verwenden wir neue Kontrollparameter, die nicht
in ein schlüssiges molekulares Modell integrieren. Daher nur mit der Geometrie zusammenhängen, sondern ebenso
kamen uns Zweifel, ob ein geometrisch determinierter mit der Anzahl der Permutationen und der Frequenz, in der
Ansatz überhaupt dazu geeignet ist, um die Phyllotaxis sich Organe bilden. Durch das stochastische System kön­
einer Pflanze zu beschreiben. Eventuell laufen die Vorgänge nen wir sogar einige Eigenschaften einer Pflanze bestim­
gar nicht so deterministisch ab, wie wir es immer vermutet men, die sich nicht direkt messen lassen, etwa wie emp­
hatten. Der Verdacht beschlich uns, als wir den bisherigen findlich die Zellen auf das Hemmfeld reagieren. 
Ansatz genauer unter die Lupe nahmen. So viel versprechend er auch aussieht, muss unser
Die Stärke eines wissenschaftlichen Modells liegt in Ansatz jedoch noch einigen experimentellen Tests standhal­
seiner Fähigkeit, zu erklären und korrekt vorherzusagen. Je ten. Das stellt sich oftmals als schwierig heraus. Eine erste
genauer es vergangene Beobachtungen nachbildet, desto Herausforderung besteht darin, präzise und schnell den
besser lassen sich neue Phänomene verstehen, indem man exakten Aufbau einer Pflanze zu bestimmen. Um die Ergeb­
die Parameter und die Funktionsweise des Modells studiert. nisse statistisch abzusichern oder die Effekte einzelner
Nur kann der geometrisch determinierte Ansatz leider nicht Gene zu unterscheiden, muss man dazu zahlreiche Pflanzen
alle experimentellen Daten reproduzieren. Als wir die spirali­ analysieren. Leider ist es bisher aber nicht möglich, so
ge Phyllotaxis der Ackerschmalwand untersuchten, erkann­ große Sammlungen effektiv auf ihre Divergenz­winkel,

60 Spektrum der Wissenschaft  2.20


ü
Permutationen, Sprossachsenlänge oder die Bildungsrate
der Organe zu untersuchen. Viele Wissenschaftler versu­
chen derartige Messungen zu automatisieren, denn sie sind Mehr Wissen auf
unverzichtbar, um die Phyllotaxis nicht nur qualitativ, son­ Spektrum.de
dern auch quantitativ zu verstehen.
Unser Online-Dossier zum Thema
Eine weitere Hürde besteht darin, die oftmals abstrakten finden Sie unter spektrum.de/t/
Kontrollparameter eines theoretischen Modells mit experi­ wunderwelt-der-pflanzen
mentellen Größen zu verbinden. Beispielsweise lässt sich ISTOCK / SULTANCICEKGIL

die Stärke eines Hemmfelds nur schwer im Labor messen.


Um solche Parameter zu bestimmen, muss man zumindest
einige der vielen molekularen Abläufe kennen.
Wenn man beispielsweise annimmt, dass das Auxin die
Stärke der Hemmfelder bestimmt, kann man die Hormon­ QUELLEN
konzentration im Meristem messen. Zu diesem Zweck Besnard, F. et al.: Cytokinin signalling inhibitory fields
entwickelte unsere Forschungsgruppe 2012 einen neuen provide robustness to phyllotaxis. Nature 505, 2014
Biosensor (ein fluoreszierendes Protein, das sensibel auf
Brunoud, G. et al.: A novel sensor to map auxin
Auxin reagiert, siehe » Die Moleküle der Phyllotaxis«, S. 59), response and distribution at high spatio-temporal
der empfindlich genug ist, um die Auxinkonzentrationen resolution. Nature 482, 2012
extrem genau abzubilden. Indem man den Sensor mit
Golé, C. et al.: Fibonacci or quasi-symmetric phyllo­
anderen Markern koppelt, welche die Aktivität und Zelldif­ taxis. Part I: Why? Acta Societatis Botanicorum Poloni­
ferenzierung messen, kann man zeitlich verfolgen, wie das ae 85(4), 2016
Meristem hemmende Signale räumlich verteilt. Diese neuen
Refahi, Y. et al.: A stochastic multicellular model
experimentellen Möglichkeiten der Molekularbiologie identifies biological watermarks from disorders in
könnten künftig zu genaueren theoretischen Modellen self-organized patterns of phyllotaxis. eLife 5, 2016
führen, die uns hoffentlich dabei helfen werden, die er­ Vernoux, T. et al.: The auxin signalling network trans­
staunliche phyllotaktische Vielfalt der Pflanzenwelt besser lates dynamic input into robust patterning at the shoot
zu verstehen.  apex. Molecular Systems Biology 7, 2011

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Spektrum der Wissenschaft  2.20 61


ü
ZEITREISE
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für Wissenschafts- und Technikgeschichte des Deutschen Museums

PER U-BOOT-BOHRER
AUFS POLAREIS
1920 KEINE SUCHTGEFAHR DURCH
MARIHUANA
1970
»Den Kampf um die Erd­ »Diese Feststellung trifft Lester Grinspoon in Scientific
pole [führte man] mit dem American, Dez. 1969. Wenn ein Konsument aufhört, die
Erfolg, daß der Nordpol wie Droge zu gebrauchen, so entstehen keine Entzugssympto­
der Südpol endlich erreicht me; die Gewöhnung ist nicht so stark wie im Fall von
wurde. Noch ist aber die Tabak oder Alkohol. Somit erscheint es fraglich, ob man
Polarforschung nicht am bei Marihuana von Mißbrauch sprechen kann. Marihuana
Ende angelangt; ist doch steigert auch nicht die Kriminalität und fördert nicht
die Hauptaufgabe die sexuelle Ausschweifungen. In gewissem Sinne scheint
Erkundung der polaren chronischer Alkoholmißbrauch gefährlicher zu sein als
Natur. Der Amerikaner Marihuana.« Die Umschau 4, S. 120
Simon Lake hat nämlich
den Plan eines Polarunter­
seebootes entworfen. Beim
KIFFEN MACHT DOCH ABHÄNGIG
Bau ist zu beachten, daß »P. Kielholz und D. Ladewig berichten jetzt, daß bei chro-
selbst im Winter eisfreie Skizze des U-Boot-Bohrers. nischem Mißbrauch [von Marihuana] ängstlich-depres­
oder höchstens mit einer sive Verstimmungszustände auftreten und daß sich
dünnen Eiskruste überdeckte Stellen vorhanden sind. Lake schnell eine psychische Abhängigkeit entwickelt. Bei
gedenkt, das Boot mit einer Vorrichtung zu versehen, um hohen Dosen lassen sich leichte Abstinenzsymp­tome
beim Auftauchen dünnere Eisschichten zu durchstoßen. nachweisen. Auch in der Schweiz hat sich – ähnlich wie
Diese Vorrichtung stellt einen nach oben hervorschiebba­ in anderen europäischen Ländern – der Marihuanamiß­
ren Zylinder dar, durch den man einen Eisbohrer gegen die brauch fast explosionsartig unter Mittelschülern, Stu­
Eisdecke arbeiten läßt.« Kosmos 2, S. 51–52 denten, Kunstgewerbeschülern und Lehrlingen ausge­
breitet.« Die Umschau 5, S. 152
SALZSÄURETEST ERKENNT GLASART
»Für die Aufbewahrung von Getränken aller Art muß das
MILLIONEN JAHRE ALTES HOLZ
Glas eine bestimmte Zusammensetzung besitzen, damit die NOCH FAST INTAKT
Getränke nicht in ihrer Güte leiden. Gutes Glas soll neben »Untersuchungen an Proben
der Kieselsäure mindestens 2 Metalloxyde, darunter ein Al- eines miozänen [zirka 5,3 bis
kali enthalten, und dabei keinen zu hohen Kalkgehalt zei­ 23 Millionen Jahre alten]
gen. Übersteigt letzterer 20%, so wird das Glas angreifbar Senckenberg-Ligniten erga­
durch organische Säuren, sodaß die Getränke bei längerem ben, daß das Holzgewebe
Lagern benachteiligt werden müssen. Das Glas läßt sich strukturell intaktes Lignin
prüfen, wenn man es den Dämpfen von konzentrierter und Zellulose enthielt. Quer­
Salzsäure aussetzt: zeigt es nach dem Trocknen einen wei- schnitte zeigen ein gut
ßen Beschlag, so ist es nicht geeignet.« Die Umschau 7, S. 134 erhaltenes axiales und hori­
zontales Zellsystem im
Spätholz. Die relativ dünn­
NESTBAU, SEX UND SAUGMUND wandigen Zellen des Früh­
»Das Meerneunauge bewohnt die Meere Europas und Nord- holzes hingegen sind erheb­
amerikas. Von ihrem Laichgeschäft weiß man nur so viel, lich zusammengedrückt.
daß die Meerbricke in Flüssen emporsteigt und Nester baut. Das Braunkohleholz stammt Querschnitt durch den Ligniten.
Die Art [des Nestbaus] ist höchst interessant. Zunächst wer- sehr wahrscheinlich von
den Steine gesucht und mit dem Saugmund zu einer kreis­ einer Taxodium-Art oder einer eng verwandten Gattung.
runden Fläche zusammengetragen. Daran nimmt sowohl Die Zellulose ist in dem Ligniten als Polysaccharid vorhan­
das Männchen als auch das Weibchen teil. Manchmal ge- den. Die Mineralisierung des Holzes während eines frühen
sellt sich ein anderes Weibchen hinzu. Die Arbeit wird durch Stadiums der Ablagerung dürfte den Abbau der organi­
die Paarung unterbrochen, wobei das Männchen keinen schen Zellwandsubstanzen verlangsamt oder verhindert
Unterschied zwischen den Weibchen macht.« Kosmos 2, S. 54 haben.« Naturwissenschaftliche Rundschau 2, S. 66

62 Spektrum der Wissenschaft  2.20


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FEINSTAUB
DER WOLKENSTAUBSAUGER
VON SPITZBERGEN
Warum weichen selbst die besten Klimamodelle immer noch vonein-
ander ab? Die Antwort hofft ein Forscher in der Arktis zu finden: Dort
untersucht er Wolken und Feinstaub aus der saubersten Luft der Welt.

tengemeinschaft Ende 2018 nicht schlecht, als Ziegers


Tamara Worzewski ist promovierte Geo­ Team nach einer zweijährigen Messung in der Arktis zeigte,
physikerin und Wissenschaftsjournalistin. Die dass sogar winzige Partikel von nur 15 bis 20 Nanometer
Reise nach Ny-Ålesund auf Spitzbergen Größe einen wichtigen und regelmäßigen Beitrag zur
wurde ihr durch ein Stipendium von der Ro­-
bert-­Bosch-Stiftung und n-ost im Rahmen
Wolkenbildung liefern.
des Cross-Border-Journalisten-Programms Jetzt berichten die Fachleute von weiteren überraschen-
»Reporters in the Field« ermöglicht. den Beobachtungen: Diese kleinen Partikel spielen vor
allem im arktischen Winter eine große Rolle bei der Entste-
 spektrum.de/artikel/1693100 hung von Wolken. »Das ist besonders interessant, weil man
weiß, dass die stärkste Erwärmung in der Arktis im Winter
stattfindet«, bemerkt Zieger.


Wenn Paul Ziegers Familie von ihm wissen will, warum Laut Weltklimarat tragen die komplexen Prozesse um
er in der Arktis Wolken nachjagt, antwortet er: um Wolken und Aerosole (siehe »Kurz erklärt«, S. 66) zu den
Klimavorhersagen zu verbessern. Für seine Fachkolle- größten Unsicherheiten im Strahlungshaushalt von Klima-
gen sind die Ergebnisse des Professors für Atmosphären- projektionen bei. Deswegen fährt Zieger seit fünf Jahren
physik von der Universität Stockholm eine kleine Sensation: regelmäßig auf fast 79 Grad nördlicher Breite zum Zeppelin-
»Wir haben gemessen, dass Nanopartikel doch zur Wolken- Berg bei der nördlichsten Siedlung der Welt, dem internati-
bildung in der Arktis beitragen, und suchen jetzt ihre Quel- onalen Forscherdorf Ny-Ålesund auf Spitzbergen.
len.« Das schien erst einmal nicht zu einer bedeutenden
Theorie der Wolkenbildung zu passen – und könnte bei der
Erklärung helfen, warum die Arktis plötzlich so warm wird. Täuschend nah scheinen die 14 Kilometer entfernten
Lange meinten Fachleute, um Nanopartikel könnten sich Gletscher auf der anderen Seite des Fjords. Dank der
keine Wassertröpfchen formen, da dazu nach der so ge- extrem sauberen Luft im hohen Norden kann man vom
nannten Köhler-Theorie eine extrem hohe und damit un- Zeppelin-Berg bei Ny-Ålesund auf Spitzbergen unge-
wahrscheinliche Übersättigung der Luft mit Wasserdampf wohnt weit blicken. Aber auch hier gibt es Feinstaub in
TAMARA WORZEWSKI
erforderlich ist. Deshalb staunte die internationale Exper- der Luft, der die Wolkenbildung beeinflusst.

64 Spektrum der Wissenschaft  2.20


ü
Auf dem Berg thront das Zeppelin-Observatorium, von
dessen Terrassen aus die kalbenden Gletscher auf der
anderen Fjordseite nur eine Spazierfahrt entfernt scheinen.
Doch weit gefehlt: Im Jahr 2018 machten zwei deutsche
Forscher einen sonnigen Kanuausflug zum nächstgelege-
nen Gletscher – um auf halbem Weg wieder umzukehren.
Wer zum ersten Mal in die Arktis kommt, verschätzt sich
wegen der extrem sauberen Luft: Hier ist die Trübung durch
Feinstaub und Wasser so gering, dass die Sicht ungewohnt
weit reicht. »Sie hätten vorher die Karte studieren sollen«,
bemerkt Helge Markussen schmunzelnd, der die norwegi-
sche Polarstation in Ny-Ålesund samt Zeppelin-Observatori-
um leitet. »Dann hätten die Freizeitpaddler wohl festgestellt,
dass dieser Gletscher nicht nur ein paar, sondern ganze
14 Kilometer entfernt ist.«

Hotspot für Forschungsgruppen weltweit


Etliche Nationen betreiben eine beeindruckende Auswahl
verschiedener spezialisierter Messinstrumente auf der

TAMARA WORZEWSKI
Zeppelin-Station. So untersuchen Norweger meteorologi-
sche Parameter, Gase und Schadstoffe in der Luft, Schwei-
zer messen die Rußkonzentrationen, Japaner die Größen-
verteilung der Wolkentröpfchen, wieder andere Gruppen
interessieren sich für die Strahlung. Alle zusammen erfüllen Ein ausgeklügeltes Trennverfahren mit zwei ent­
sie eine Art Wächterfunktion: Denn von hier aus schlugen gegengesetzten Luftströmungen trennt »aktivierte«
Wissenschaftler 2015 Alarm, als die globale CO2-Durch- Staubteilchen, an denen Wasser zu Wolkentröpf-
schnittskonzentration in der Atmosphäre die Grenze von chen kondensiert, von inaktiven Partikeln, die nicht
400 ppm (Millionstel Teile) überschritt. Ein Jahr zuvor zur Wolkenbildung beitragen.
stellten sie fest, dass schädliche Substanzen von Pflegepro-
dukten ihren Weg nach Spitzbergen gefunden hatten, und
Jahre vorher meldeten sie bereits gefährlich hohe Quecksil- strömungen sowie die gesamte Luftsäule bis in acht Kilo-
berkonzentrationen in der arktischen Atmosphäre, die auch meter Höhe wärmer. Doch gänzlich geklärt ist die rasante
auf die europäische Kohleindustrie zurückgingen. arktische Aufheizung, die mit dem Klima des gesamten
Warum sich die nördlichen Polargebiete doppelt so Planeten auf komplexe Weise verbunden ist, noch nicht.
schnell erwärmen wie die Erde insgesamt, ist immer noch Das erschwert es Klimamodellierern, die Zusammenhän-
rätselhaft. Das gilt vor allem für den arktischen Winter, der ge in eine für Computer verdauliche Form zu bringen.
besonders rasch milder wird und sich dadurch gebietswei- Unsicherheiten in diesen mathematischen Vereinfachungen
se um Wochen verkürzt. Zu einem guten Teil lassen sich die pflanzen sich fort und führen letztlich zu den unterschiedli-
höheren Temperaturen auf veränderte Luftströmungen chen Klimaprojektionen. Der Weltklimarat IPCC zeigt in
zurückführen, die mehr Tiefdruckgebiete in den hohen seinem Report mit der generellen Erwärmung durchaus den
Norden bringen – und mit ihnen warme Luft. Konsens sämtlicher Modelle. Die projizierten Endtempera-
Ein weiterer Teil hängt mit Rückkopplungseffekten turen für 2100 klaffen aber für jedes berechnete CO2-Emis-
zusammen: Wo beispielsweise die isolierende Meereis­ sionsszenario um einige Grad auseinander.
decke schmilzt, kann der Ozean seine Wärme direkt an die Nanometergroße Partikel als Wolkenbildner würden
TAMARA WORZEWSKI

Luft abgeben. Im Winter sind auch eintreffende Meeres- derzeit gar nicht in Klimamodellen berücksichtigt, betont

Spektrum der Wissenschaft  2.20 65


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sphäre, sagt Zieger. »Andererseits«, betont er, »braucht nicht
nur jedes Wolkentröpfchen, sondern auch jedes Eiskriställ-
AUF EINEN BLICK chen ein Aerosolpartikel, um zu entstehen.«
STOCHERN IM NEBEL In der Arktis wird die Wolkenbildung daher noch komple-
xer. Hier gibt es drei Arten von Wolken: Wolken aus Wasser-

1 Weil die Prozesse der Wolkenbildung noch nicht


im Detail verstanden sind, tragen sie zu den größten
Unsicherheiten in Klimamodellen bei.
tröpfchen, Eiswolken aus Eiskristallen sowie Mischphasen-
wolken, die aus Eiskristallen und Wassertropfen bestehen.
»Bei Eisbildung ist es allerdings etwas komplizierter, denn
hier kommen zusätzliche, oft ungenügend verstandene

2 Wissenschaftler wollen den Mechanismen auf die


Spur kommen, indem sie auf Spitzbergen die kleinsten
Bestandteile von Wolken untersuchen.
Prozesse hinzu«, erklärt Zieger, »so genannte sekundäre
Eisprozesse.«
Um arktische Wolken besser zu verstehen, dringt Ziegers
Team wörtlich bis zu ihrem Kern vor und misst Aerosole,
3 Schon jetzt überraschen die Messungen die Fachge-
meinschaft mit der Erkenntnis, dass viel kleinere
Teilchen als bislang gedacht die Entstehung von Wol-
Wolkentröpfchen und Eiskristalle im Einzelnen: »Wir trocknen
die Tröpfchen und gucken dann nur den Nukleus an, der zur
ken initiieren. Wolkenbildung geführt hat. Also den Wolkentropfenkern –
und zwar fast gänzlich ohne Wasser.« Die getrockneten
Kerne werden hinsichtlich Größe und chemischer Eigen-
schaften analysiert.
­Zieger. Ihr Einfluss könnte allerdings erheblich sein. Arkti- Überhaupt bedeuten die Nanopartikel eine Herausforde-
sche Wolken spielen vermutlich eine Schlüsselrolle bei der rung, denn ihre Masse ist so gering, dass sie sich nicht mit
raschen arktischen Erwärmung, denn sie regulieren den konventionellen Methoden untersuchen lassen. Dafür sind
Strahlungshaushalt: Manche von ihnen reflektieren die verschiedene Aufrüstungen der Messeinrichtung notwendig,
Sonnenenergie in den Weltraum zurück und kühlen somit die im Lauf des Jahres 2020 erfolgen sollen.
die Atmosphäre. Im arktischen Winter dagegen, wenn die Eine davon ist bereits im Gange: Ziegers Doktorand Gabri-
Sonne kaum oder überhaupt nicht scheint, wirkt praktisch el Freitas will Fluoreszenz und Form der Wolkenkerne unter
jede Wolke wie eine Wärmedecke. die Lupe nehmen. Wenn sie nach einer speziellen Bestrah-
Dank der üblicherweise geringen Konzentration an lung leuchten und eine bestimmte Gestalt aufweisen, sind sie
Aerosolen ist die Arktis der ideale Ort, um die Wolken­ höchstwahrscheinlich biologischen Ursprungs. Das Material
bildung unverfälscht zu studieren. Im Großraum Frankfurt stammte dann aus dem Ozean, von Pflanzen – zum Beispiel
misst der Deutsche Wetterdienst bei sehr trockener von Pollen – oder Bakterien. Freitas nutzt hierfür eine Art
Luft bestenfalls eine atmosphärische Sichtweite von Bioaerosoldetektor, der ursprünglich für militärische Zwecke
75 Kilometern – das ist die Messgrenze des Geräts. Auf entwickelt wurde, um biologische Kampfstoffe zu registrie-
der Zeppelin-Station hingegen bestimmt ein Laser eine ren, und funktioniert ihn für die Wolkenforschung um. »Wir
maximale theoretische Sichtweite von mehr als 200 Kilo- wollen Wolken besser beschreiben, indem wir die Quellen
metern. besser verstehen«, erklärt Zieger. »Wir wissen gar nicht so
genau, wo die ganz kleinen Partikel in der Arktis herkom-
Aerosole und Wolken können die Atmosphäre sowohl men – es ist alles möglich.« Die Kondensationskerne könnten
kühlen als auch wärmen natürlichen, aber auch menschlichen Ursprungs sein. Denn
Den Unterschied macht der Feinstaub: Aerosole sind nano- die Arktis wird regelmäßig von »arctic haze« (arktischer
bis mikrometergroße, in der Luft schwebende Partikel aus Dunst) heimgesucht, einem Phänomen, das verstärkt ver-
anorganischen und organischen Stoffen wie Ruß, Sulfaten,
Meersalz, Pollen, Bakterien oder Schwefelsäure. Gemäß
der Köhler-Theorie entstehen Wolkentröpfchen um ein
solches Aerosolpartikel herum; es dient als Kondensations- Kurz erklärt
keim. Zieger erläutert: »Sobald wir Menschen zusätzliche
Partikel in die Atmosphäre bringen, ändern wir den Strah- Aerosole
lungstransport und, da jedes Wolkentröpfchen ein Aerosol- Nano- bis mikrometergroße, in der Luft schweben­-
partikel braucht, auch die Wolkenbildung.« de Partikel aus anorganischen und orga­nischen
Wie sich Wolken bilden und ob sie das Klima erwärmen Stoffen, beispielsweise Ruß, Sulfaten, Meersalz,
oder abkühlen, hängt von der Höhe und der Wassersätti- Pollen, Bakterien oder Schwefelsäure
gung sowie vom Gehalt und der Verteilung der Aerosole
ab – und davon, woraus die Aerosole bestehen und wie sie Arktische Verstärkung
mit den Wolken wechselwirken. Denn die Teilchen selbst Im Zuge des Klimawandels erwärmen sich die
beeinflussen das Klima ebenfalls: Schwarze Rußpartikel nördlichen Polarregionen etwa doppelt so schnell
nehmen beispielsweise Sonnenenergie auf und erwärmen wie die anderen Gebiete auf der Erde. Warum,
dadurch die Atmosphäre. Die meisten Partikel, darunter ist nur teilweise geklärt.
Meersalz und Sulfate, seien jedoch weiß, reflektierten das
Sonnenlicht und wirkten daher abkühlend auf die Atmo-

66 Spektrum der Wissenschaft  2.20


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TAMARA WORZEWSKI

Im Labor auf dem Zeppelin-Berg kalibriert ein Forscher geht er nur, wenn es unbedingt notwendig ist, und notiert
gerade ein Messgerät, das Rußteilchen in der Luft im Logbuch anschließend seine genaue Aufenthaltsdauer.
erfasst. Die vielen Instrumente heizen den Raum so Denn manche Schadstoffmessgeräte sind hochempfindlich
stark auf, dass er gekühlt werden muss – obwohl vor der und spüren menschliche Ausdünstungen. So darf man die
Tür fast das ganze Jahr über Schnee liegt. Terrasse auch nicht mit bestimmten Kleidungsstücken und
Parfüms betreten – das könnte Messpunkte verfälschen.

schmutzte Luft aus Asien und Europa gen Norden transpor- Mit lautem Getöse wird die Wolke eingesaugt
tiert. Dieser jährliche Zyklus beeinflusst die Wolkenbildung Jetzt jedoch steht der Stationsleiter draußen bei eisigem
zwar ebenfalls, allerdings liegt sein Höhepunkt nicht im Wind, da eine Wolke das Observatorium passiert: ein
Winter, sondern im Frühling. perfekter Zeitpunkt für Zieger, um die Funktionsweise des
Gerade montieren der Professor und sein Doktorand das Wolkenstaubsaugers zu demonstrieren, den Markussens
Fluoreszenzmessgerät an ihr liebevoll Wolkenstaubsauger Team in Zukunft auch betreuen soll. Ähnlich, wie ein Rauch-
genanntes Messinstrument. Die raketenförmige, offiziell als melder Alarm schlägt, startet der Sichtweitenmesser den
Wolkeneinlass bezeichnete Apparatur bildet das Herzstück Wolkenstaubsauger, sobald der Wert unter einen Kilometer
der neuen Einrichtung zur detaillierten Analyse der Wolken- fällt und damit eine Wolke ankündigt.
kerne. Sie ist eine von wenigen weltweit – und die einzige in Dann öffnet sich der Raketenkopf und saugt mit einer
der Arktis. Pumpe laut tosend das Gemisch aus Luft, Wolkentröpf-
Aber sie ist hier nur eine von einer Vielzahl unterschiedli- chen, Eiskristallen und Aerosolen ein. Zieger hält seine
cher Apparaturen, mit denen Forschungsgruppen aus aller Hand demonstrativ in den Sog, während er dem Stationslei-
Welt die Atmosphäre observieren. Es erscheint paradox ter das Funktionsprinzip erklärt: Die Wolke wird durch das
angesichts der bitteren Kälte draußen: Doch es stehen so Vakuum im Inneren des Geräts mit einer Geschwindigkeit
viele Wärme produzierende Instrumente in den Räumlich- von etwa 100 Metern pro Sekunde auf einen spitzen Pro-
keiten, dass eine Klimaanlage das arktische Observatorium beneinlass gelenkt. »In dieser Spitze herrscht ein kleiner
auf angenehme 20 Grad herunterkühlen muss. Zudem sind Gegenstrom. So selektieren wir nur die Wolkentröpfchen
zahlreiche Fenster mit Aluminiumfolie abgedunkelt, damit und Eiskristalle.« Die nämlich sind groß und schwer genug,
im Sommer die 24 Stunden lang scheinende Sonne die um einfach weiterzufliegen. Die nicht aktivierten Partikel,
Labore nicht noch zusätzlich erwärmt. also jene, die kein Wasser anlagern und deswegen auch
Der Stationsleiter Helge Markussen und sein Team aus nicht als Keime für Tropfen oder Kristalle dienten, lenkt der
Ingenieuren und Technikern warten täglich die Instrumente Gegenstrom um; sie werden separat gesammelt. So kön-
der internationalen Arbeitsgruppen, wechseln Filter, füllen nen die Wissenschaftler Tröpfchen und Kristalle getrennt
Lösungen nach, machen Wetterbeobachtungen und führen von den Partikeln untersuchen, die nicht zur Wolkenbildung
etwaige Reparaturen durch. Nach draußen auf die Terrasse beigetragen haben.

Spektrum der Wissenschaft  2.20 67


ü
Diese Differenzierung zwischen aktivierten und nicht einen Überblick und stellt zufrieden fest: »Es gibt hier eine
aktivierten Staubteilchen, und zwar in der Wolke selbst, ist Notfalltoilette via Tüte, zwei Schlafsäcke und eine Dose
die entscheidende Neuerung bei Ziegers Verfahren. Andere Kichererbsen, falls wir hier übernachten müssen.« Denn
Messmethoden bestimmen die Wolkenkernkonzentration in ohne Strom fährt die Gondel nicht ins Tal.
einem Quäntchen Luft, indem alle Aerosole gesammelt, Nach einigen Stunden ist das Problem zum Glück beho-
getrocknet und anschließend verschiedenen festgelegten ben. Markussen ruft die Forscher auf dem Berg an und lässt
Übersättigungsdrücken ausgesetzt werden. So führt man sie die Geräte überprüfen – wo sie schon mal da sind. Fast
eine künstliche Aktivierung zu Wolkenkernen herbei, die alle internationalen Geräte starten automatisch wieder und
dann erst gemessen wird. Die Messeinrichtung des Stock- setzen ihre Messreihen unbehelligt fort, genauso der Wol-
holmer Forschers hingegen studiert die Originalkerne und kenstaubsauger.
unterscheidet, welche Partikel natürlich aktiviert wurden Dieser soll 2020 das ganze Jahr über im Zeppelin-Obser-
und welche nicht. vatorium messen und mit weiteren Analysetechniken ausge-
Die eingesaugte Luft wird in die Innenräume des Obser- stattet werden. Die Forscher kooperieren darüber hinaus mit
vatoriums geleitet und dort automatisch analysiert. Ein MOSAiC (Multidisciplinary drifting Observatory for the Study
Computersystem erfasst die Ergebnisse und stellt sie in of Arctic Climate), der bisher größten Arktisexpedition, bei
Echtzeit ins interne Netz, so dass die Forscher später jede der sich die Wissenschaftler auf dem Forschungseisbrecher
Änderung live aus ihren Universitätsbüros mitverfolgen Polarstern eingefroren ins Meereis ein Jahr lang durch die
können. Noch sind sie aber unter dem frostgrauen Himmel Arktis treiben lassen, um das dortige Klimasystem zu verste-
und müssen sich sputen, ihre Apparaturen zu installieren hen (siehe »Spektrum« Oktober 2019, S. 56). »Während des
und zu kalibrieren, denn in wenigen Tagen fliegen sie zu- MOSAiC-Jahrs werden wir hier auf Zeppelin unsere Messun-
rück nach Schweden. gen intensivieren, um mit den Daten zur wissenschaftlichen
Auswertung beitragen zu können«, sagt Zieger und fügt stolz
Globaler Datenabgleich hinzu: »Unsere Daten werden für die MOSAiC-Auswertun-
Stationsleiter Markussen hat sich derweil verabschiedet gen eine wichtige Referenz sein.«
und fährt mit der Gondel hinunter, um auf der Bodenstation Im November 2019 ist Zieger wieder zum Zeppelin-­
seiner täglichen Routine nachzugehen. Freitas versucht mit Observatorium gefahren, um mit seinen Kollegen ein Mas-
vom Wind steif gefrorenen Fingern, einen Feuchtigkeits- senspektrometer zu installieren, das die chemischen Be-
messer an das Geländer zu schrauben. Währenddessen standteile der Wolkenkeime vor Ort identifizieren kann. Seit
kalibriert Zieger drinnen mit Schallschutzkopfhörern das im Frühjahr 2019 andere Atmosphärenforscher in den Pyre-
Ultraschall-Anemometer, das 100-mal pro Sekunde Rich- näen weit außerhalb einer Stadt Mikroplastik in der Luft
tung und Geschwindigkeit des arktischen Winds aufzeich- gefunden haben, steht die Frage im Raum, ob es solche
net – schließlich will man auch wissen, woher die einge- Kunststoffteilchen sogar in die Arktis schaffen könnten. Zur
saugte Wolke kommt und wie schnell. Die Daten lassen Wolkenbildung werden diese Partikel wahrscheinlich nicht
sich später mit großflächigen Wolkenradarmessungen nennenswert beitragen. Aber falls doch, dann werden es die
vergleichen. Und noch besser: Mit direkten Echtzeitmes- Forscher auf dem Zeppelin-Berg als Erste erfahren. 
sungen aus dem Zeppelin-Observatorium überprüft man
Daten aus Fernerkundungsmethoden, die reale Werte ja nur QUELLEN
indirekt bestimmen können. Dahlke, S. und Maturilli, M.: Contribution of atmospheric
Plötzlich fällt der Strom aus. Die Labore liegen im Dun- advection to the amplified winter warming in the Arctic North
keln, die Notstromaggregate springen piepend an und Atlantic region. Advances in Meteorology 2017, 2017
versorgen noch etwa eine halbe Stunde lang die diversen Karlsson, L. et al.: The annual cycle of Arctic cloud residual size
blinkenden Apparate. Dann wird es still in der Station, und (in review).
Zieger nimmt seinen Kopfhörer ab. Nizzetto, P. B. et al.: Monitoring of environmental contaminants
Die Zwangspause spendet einige Momente Ruhe. Denn in air and precipitation, annual report 2014. Norwegian Environ-
die Forscher sind stets von früh bis spät am Schrauben, ment Agency, M-368, 2015
Programmieren, Kalibrieren – mit Ausnahme der Mittags-
pause, für die sie mit der Gondel ins Tal zum Essen mit allen WEBLINKS
anderen Wissenschaftlern in Ny-Ålesund fahren. Zieger hat https://tinyurl.com/mosj-diagramme
sich hier angewöhnt, mittags nichts zu trinken, da es auf Aktuelle Treibhausgaskonzentrationen auf Spitzbergen in Dia­
dem Observatorium keine Toilette gibt und es bei den grammen
sensiblen Instrumenten streng verboten ist, sich draußen zu www.ipcc.ch/report/ar5/wg1
erleichtern. Der 5. Bericht des Weltklimarats (IPCC) mit zahlreichen Grafiken
Der Stromausfall überrascht ihn. Das sei ungewöhnlich, https://tinyurl.com/svalbard2100
weil Ny-Ålesund seinen eigenen Generator sowie einen Ein umfassender Überblick über die arktische Situation mit wissen­
Notfallgenerator betreibt. Er ist aber nicht beunruhigt. schaftlichen Publikationen der letzten Jahre
Schließlich sei ein Stromausfall nur im Winter bedenklich,
wenn die elektrischen Heizungen ausfallen und die tiefen VIDEOTIPP
Minustemperaturen lebensgefährlich werden können – da- www.spektrum.de/news/1681024
für gäbe es dann Evakuierungspläne. Er verschafft sich Die Autorin begleitet Paul Zieger mit der Kamera auf der Station.

68 Spektrum der Wissenschaft  2.20


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CHEMISCHE UNTERHALTUNGEN
ATEMNOT AUF ZELLULOID
Wie genau nehmen es Filmregisseure mit
­naturwissenschaftlichen Zusammenhängen?
Hier werfen wir einen Blick auf die Chemie
hinter den Blockbustern »Das Boot« und »Apollo 13«.

Matthias Ducci (links) ist Professor für Chemie und ihre


Didaktik am Institut für Chemie an der Pädagogischen
Hochschule Karlsruhe. Marco Oetken ist Abteilungsleiter
und Lehrstuhlinhaber in der Abteilung Chemie der
­Pädagogischen Hochschule Freiburg.

 spektrum.de/artikel/1693102


In Spielfilmen finden sich häufig naturwissenschaftli-
che Fragestellungen, die kritisch hinterfragt und expe-
rimentell nachgestellt werden können. Anhand der
Streifen »Das Boot« und »Apollo 13« lässt sich zum Beispiel
nachvollziehen, wie Alkalimetallverbindungen der Luft Koh-
lenstoffdioxid (CO2) entziehen und dadurch Leben retten.
Die »U-96« ist eines der berühmtesten Unterseeboote
des Zweiten Weltkriegs. Lothar-Günther Buchheim
­be­gleitete das Gefährt als Kriegsberichterstatter auf einer
Patrouille und veröffentlichte seine Erinnerungen an die
Ereignisse dieser Fahrt anschließend in dem Bestseller-­
Roman »Das Boot«, der später unter dem gleichen Namen
verfilmt wurde.
Am 16. September 1939 wurde die »U-96« in Kiel zu
Wasser gelassen und ein Jahr später unter dem ersten
Kommandanten Heinrich Lehmann-Willenbrock in Einsatz
gestellt. Die Besatzung bestand aus 48 bis 52 Mann. Am
30. März 1945 wurde die »U-96« in Wilhelmshaven bei
einem Bombenangriff der Alliierten versenkt.
Im Film »Das Boot« ist eine Szene zu sehen, bei der ein
Fliegerangriff das U-Boot bei der Durchquerung der Straße
von Gibraltar schwer beschädigt. Nahezu manövrierunfä-
hig, sinkt das U-Boot daraufhin auf den in 280 Meter Tiefe
liegenden Meeresgrund.
PICTURE ALLIANCE / SAMMLUNG BERLINER VERLAG ARCHIV

Eine weitere Filmszene zeigt eine Lagebesprechung, in


der der Leitende Ingenieur und der Kapitänleutnant mit
Hilfe eines Konstruktionsplans des Boots diskutieren, ob es
möglich ist, wiederaufzutauchen:
Die Geschichte des Unterseeboots »U-96« Leitender Ingenieur (LI): »Wir haben nur einen Versuch!«
lieferte die Vorlage für den Spielfilm »Das Boot«. Kapitänleutnant (KaLeu): »Wann?«
LI: »Wenn alle Reparaturen gemacht sind. In sechs bis
acht Stunden.«

Spektrum der Wissenschaft  2.20 69


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50 ml leerer
K
­ ohlenstoffdioxid Kolbenprober

1g­
Kaliumhydroxid

MARCO OETKEN
Wie Kohlenstoffdioxid (CO2) mit Kaliumhydroxid (KOH) wobei Kaliumcarbonat (K2CO3) und Wasser entstehen.
reagiert, kann man anhand dieses Versuchsaufbaus Gleichzeitig wird Wärme frei.
nachvollziehen. Im Quarzrohr (Mitte) befindet sich KOH,
2 KOH + CO2 —› K2CO3 + H2O
durch den linken Kolbenprober wird CO2 darübergeleitet.
Kaliumhydroxid + Kohlenstoffdioxid —› Kaliumcarbonat + Wasser
Daraufhin bildet sich im Quarzrohr Wasser, der rechte
Kolbenprober bleibt leer. Es tritt also kein Gas aus, was
zeigt, dass das gesamte CO2 gebunden wurde. Da das Versuchsergebnis gezeigt hat, dass das Kalium­
hydroxid das Kohlenstoffdioxid vollständig in Form von
Kaliumcarbonat gebunden hat, stellt sich jetzt die Frage,
KaLeu: »CO2-Gehalt?« wie sich der Einsatz der Tauchretter auf die Situation der
LI: »1,8 Prozent.« U-Boot-Fahrer ausgewirkt hat. Oder konkret: Wie lange
KaLeu: »Reicht der Sauerstoff?« konnte die 50 Mann starke Besatzung der »U-96« ohne
LI: »Nein.« weitere Frischluftzufuhr überleben?
KaLeu: »Kalipatronen! Für alle, die nicht arbeiten. Die Bei einem CO2-Gehalt in der Luft von fünf Prozent tritt
freien Leute in die Kojen.« bereits akute Atemnot und Ohnmacht ein, bei etwa acht
Hier wird die zentrale Problematik offenkundig, dass Prozent der Tod. Ein erwachsener Mensch atmet pro
der Sauerstoffgehalt im Boot nicht ausreichen wird, Atemzug zirka 500 Milliliter Luft ein und setzt beim Aus­
­während der Anteil an CO2 stetig zunimmt. Gleichzeitig atmen 20 Milliliter Kohlenstoffdioxid frei. Pro Minute
stellt sich die Frage, welche Funk­tion die Kalipatronen produziert ein Seemann bei durchschnittlich 20 Atem­
haben und was sie in dieser Situation bewirken sollen. zügen demnach rund 400 Milliliter CO2.
Aus weiteren Filmszenen geht hervor, dass diese offen-
sichtlich das CO2 binden können, das Gas also aus der
Umgebungsluft entfernen. Wie aber funktioniert diese Das Bodenkontrollteam der NASA sucht nach einer Lösung,
CO2-Fixierung, und wie sind die Tauchretter-Kalipatronen um das CO2 aus der Apollo-13-Kapsel zu entfernen.
aufgebaut? Die Bauanweisung zur Luftfilteranlage, b
­ estehend unter
Ein solcher Tauchretter besteht aus zwei zentralen anderem aus Lithiumhydroxid-Patronen, gibt das Team
Bauteilen, einer Alkalipatrone und einer Sauerstoffflasche. an die Astronauten durch.
Über einen Atemschlauch wird die ausgeatmete Luft in die
Alkalipatrone (befüllt mit rund einem Kilogramm Kalium­
NASA (SPACEFLIGHT.NASA.GOV/GALLERY/IMAGES/APOLLO/APOLLO13/HTML/S70-35013.HTML)

hydroxid, KOH) geleitet. Gleichzeitig gelangt durch diese


lebenswichtiger Sauerstoff aus der Vorratsflasche in die
Lunge.
Mit einem Experiment lässt sich die chemische Funkti-
on des Kaliumhydroxids in den Tauchrettern untersuchen
(die exakte Versuchsbeschreibung, eine genaue Auflistung
der Geräte und Chemikalien sowie weitere Versuchsvarian-
ten sind unter spektrum.de/artikel/1693102 zu finden).
Zunächst gibt man dazu etwa ein Gramm Kaliumhydroxid
in ein Quarzrohr, das zu beiden Seiten mit Glaswolle
verschlossen wird. (Vorsicht, KOH ist ätzend – bei Haut-
kontakt mit viel Wasser nachspülen.) In einen von zwei
Kolbenprobern füllt man 50 Milliliter Kohlenstoffdioxid und
integriert ihn gemeinsam mit dem Quarzrohr in den Ver-
suchsaufbau (siehe Bild oben). Anschließend wird das
Kohlenstoffdioxid vorsichtig über das Kaliumhydroxid
geleitet. Dabei erhöht sich die Temperatur am Quarzrohr
deutlich (das Rohr vorsichtig kurz mit dem Finger berüh-
ren). Der zweite Kolbenprober bleibt leer; dies zeigt, dass
kein Gas austritt, das Kohlenstoffdioxid also vollständig
gebunden wurde. Im Quarzrohr ist außerdem die Bildung
von Wasser zu beobachten.
Was ist passiert? Bei der stattfindenden chemischen
Reaktion bindet Kaliumhydroxid das Kohlenstoffdioxid,

70 Spektrum der Wissenschaft  2.20


ü
Anhand dieser Daten kann man grob überschlagen,
dass eine 50 Mann starke Besatzung in einer Stunde
1200 Liter CO2 freisetzt; in 15 Stunden produziert die
Mannschaft dann 18 000 Liter und in 25 Stunden 30 000
Liter des Gases. Bezogen auf ein Innenvolumen des
U-Boots aus dieser Baureihe von etwa 350 000 Litern
beträgt der CO2-Anteil der Luft im Boot nach 15 Stunden
etwa 5,1 Prozent, es würde also bereits akute Atemnot
herrschen. Nach 25 Stunden enthält die Luft im Boot
8,6 Prozent CO2. Ohne weitere Luftzufuhr oder eine Re-
duktion des Kohlenstoffdioxidgehalts wäre die Besatzung
dann demnach nicht mehr am Leben.
Unter Einsatz der Kalipatronen-Tauchretter mit insge-

NASA, JSC (IMAGES.NASA.GOV/DETAILS-S70-35614)


samt 50 Kilogramm Kaliumhydroxid ließen sich bezogen
auf die zu Grunde liegende Reaktionsgleichung insgesamt
446 Mol CO2 binden; dies entspricht einem Volumen
von 10 704 Litern (bei einem molaren Gasvolumen von
24 l/mol). Vergleicht man nun dieses maximal durch den
Einsatz der Tauchretter gebundene CO2-Volumen mit
demjenigen, das die Besatzung in einer Stunde freisetzt,
so zeigt sich, dass die Männer durch den Einsatz von Noch einmal gut gegangen: die drei Astronauten der
Tauchrettern neun Stunden länger überleben können! Apollo-13-Mission nach der Landung am 17. April 1970.
Eine ähnlich gelagerte kritische Situation sieht man im
Spielfilm »Apollo 13«. Bei der 1970 durchgeführten gleich-
namigen Mission explodierte während des Flugs ein
2 LiOH + CO2 —› Li2CO3 + H2O
Sauerstofftank, was ein Leck in den danebenliegenden
zweiten Sauerstofftank riss. Damit konnten die Brennstoff- Lithiumhydroxid + Kohlenstoffdioxid —› Lithiumcarbonat + Wasser
zellen, die mit Gas aus den beiden Tanks gespeist wurden,
die notwendige Strom- und Wasserversorgung nicht lange Hier stellt sich die Frage, warum in der Raumfahrttechno-
genug gewährleisten. Zudem stieg in der Raumkapsel logie Lithiumhydroxid anstatt Kaliumhydroxid eingesetzt
schon nach kurzer Zeit die CO2-Konzentration rapide an. wurde. Dazu muss man die Molmassen in den Reaktions-
Daher blieb nur die Möglichkeit, die Apollo-13-Mission gleichungen betrachten:
abzubrechen und die Astronauten schnellstmöglich zurück
2 KOH + CO2 —› K2CO3 + H2O
zur Erde zu holen.
Molmasse KOH = 56 g/mol
Eine Filmsequenz zeigt, dass der CO2-Anteil in der
Raumkapsel innerhalb kurzer Zeit stark zunimmt. Gleich-
zeitig arbeitet das Bodenkontrollteam der NASA fieberhaft 2 LiOH + CO2 —› Li2CO3 + H2O
an der Frage, wie sich das Gas aus der Kapsel entfernen Molmasse LiOH = 24 g/mol
lässt. Hierzu erhält die Besatzung vom Leiter des Kontroll-
teams am Boden die Arbeitsanweisung zum Bau einer Um die gleiche Menge an CO2 zu absorbieren, benötigt
Luft-­Filteranlage, bei dem unter anderem zwei Kanister man bei Verwendung von LiOH weniger als die Hälfte der
mit Lithiumhydroxid (LiOH) zum Einsatz kommen. eingesetzten Masse im Vergleich zu KOH – ein entschei-
Mit der oben beschriebenen Vorgehensweise lässt sich dender Vorteil, da es in der Raumfahrttechnologie zentral
auch die Funktion des Lithiumhydroxids experimentell ist, das Gewicht möglichst stark zu minimieren.
untersuchen. Dazu werden 0,5 Gramm LiOH in ein Quarz- So spannend die Funktionsweise von Tauchrettern aus
rohr gefüllt, welches anschließend an beiden Seiten mit der chemischen Perspektive auch ist – wichtiger ist die
Glaswolle verschlossen wird. Nach Befüllen eines Kolben- Frage, ob die Besatzungen des U-Boots und der Apollo-
probers mit 50 Milliliter CO2 baut man wieder die Ver- 13-Kapsel durch den Einsatz von Kalium- beziehungsweise
suchsanordnung aus dem Experiment mit KOH auf (eben- Lithiumhydroxid überlebt haben.
falls entsprechend dem Bild links oben). Der Streifen »Das Boot« zeigt eindrucksvoll, dass die
Nun wird das Kohlenstoffdioxid langsam über das »U-96« dank der Tauchretter nach vielen Stunden tatsäch-
Lithiumhydroxid geleitet, mit ähnlichem Resultat: Es lässt lich wieder auftauchen und unbemerkt aus der Meerenge
sich ein deutlicher Temperaturanstieg verzeichnen, das von Gibraltar nach La Rochelle entkommen konnte. Und
Kohlenstoffdioxid wird vollständig umgesetzt, und im auch im Spielfilm »Apollo 13« führte der Einsatz von
Quarzrohr bildet sich Wasser. ­Lithiumhydroxid zu einem glücklichen Ausgang für die
Analog zu Kaliumhydroxid bindet Lithiumhydroxid in Besatzung. Nach einem außergewöhnlich langen »Black-
einer exothermen (Wärme freisetzenden) Reaktion das out« (Funkstille beim Wiedereintritt) wasserte die Apollo-
Kohlenstoffdioxid, wobei Lithiumcarbonat und Wasser ent- 13-Kapsel am 17. April 1970 im Pazifik, wo sie von der
stehen: »USS Iwo Jima« aufgenommen wurde. 

Spektrum der Wissenschaft  2.20 71


ü
NATASHA HURLEY-WALKER (COMMONS.WIKIMEDIA.ORG/WIKI/FILE:MWA_32T_TILE.JPG) /
CC BY-SA 3.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY-SA/3.0/LEGALCODE)
ASTRONOMIE
BLICK INS
DUNKLE ZEITALTER
Lange schien die erste Jahrmilliarde des Univer­
sums hoffnungslos vor Teleskopen verborgen,
denn die Strahlung aus jener Zeit wurde während
ihrer Reise durch den Kosmos enorm geschwächt.
Doch mit Hilfe moderner Technik spüren Radio­
astronomen nun den Signalen aus der Frühzeit
des Kosmos nach. Das Radioteleskop
des Murchison Wide­
field Array besteht aus
zahlreichen Kacheln
Davide Castelvecchi ist
mit einfachen Anten­
Wissenschaftsjournalist
in London. nen, verteilt über eine
große Fläche im
 spektrum.de/ australischen Outback.
artikel/1693104

72 Spektrum der Wissenschaft  2.20


ü

Um eine vage Vorstellung von der Struktur des Univer- the Global Epoch of Reionisation Signature, auf Deutsch:
sums aus irdischer Sicht zu bekommen, kann man an Experiment zum Nachweis charakteristischer Spuren der
eine große Wassermelone denken. Unsere Milchstraße Epoche der Reionisierung). Es handelt sich um eine erstaun-
ist dann ein Kern in der Mitte. Das Weltall um uns herum – lich einfach aufgebaute Antenne im australischen Outback.
das Fruchtfleisch – enthält zahlreiche weitere Galaxien- Darüber hinaus geht eine ganze Reihe von weiteren Experi-
»Kerne«, die wir von unserem zentralen Kern aus mit Teles- menten an den Start, die empfindlich genug sind, um die
kopen beobachten können. Licht breitet sich mit endlicher Verteilung des Wasserstoffs dreidimensional zu kartieren –
Geschwindigkeit aus. Darum erscheinen uns andere Galaxi- und damit den sehr jungen Kosmos insgesamt. Der theore-
en so, wie sie in der Vergangenheit ausgesehen haben. tische Astrophysiker Avi Loeb vom Harvard-Smithsonian
Die am weitesten vom Zentrum der Melone entfernten Center for Astrophysics im US-amerikanischen Cambridge
Kerne sind die jüngsten Objekte, die wir mit Hilfe von nennt es das »letzte Grenzgebiet der Kosmologie«. Es
Teleskopen wahrnehmen können. Wir sehen sie zu einer enthalte den Schlüssel zu dem Geheimnis, wie sich aus
Zeit, als das Universum etwa ein Dreißigstel seines heuti- einer recht gleichförmigen Masse von Teilchen Sterne,
gen Alters von 13,8 Milliarden Jahren hatte. Jenseits davon Galaxien und Planeten bilden konnten. »Das ist Teil unserer
liegt die dünne grüne Schale der Wassermelone. Sie reprä- Entstehungsgeschichte, unserer Wurzeln«, betont Loeb.
sentiert den gerade einmal 380 000 Jahre alten Kosmos. Er Etwa 380 000 Jahre nach dem Urknall hatte sich das
war erfüllt von einer warmen, leuchtenden Suppe subato- Universum so weit abgekühlt, dass sich Protonen und
marer Teilchen. Wir wissen von dieser frühen kosmischen Elektronen zu Atomen verbunden haben – hauptsächlich zu
Epoche, weil wir ihr Licht detektieren können. Dessen Wasserstoff. Dessen Atome lassen sich mit Hilfe eines
Wellen wurden allerdings im Verlauf der langen Reise zu subtilen Mechanismus detektieren: Sein einziges Elektron
uns mitsamt dem übrigen Kosmos gestreckt. Es erreicht kann dessen quantenmechanische Orientierung relativ zum
uns heute als schwaches Glimmen im Bereich der Mikro- Proton wechseln. Bei dem Vorgang sendet es entweder ein
wellenstrahlung. Lichtteilchen aus oder absorbiert eins. Die Energien der
Zwischen der grünen Schale und dem roten Frucht- beiden Zustände liegen sehr dicht beieinander. Wegen
fleisch liegt ein besonders geheimnisvoller Abschnitt des dieser geringen Differenz hat das entsprechende Photon
beobachtbaren Universums: der weißliche Teil am inneren eine recht kleine Frequenz und eine große Wellenlänge von
Rand der Wassermelone. Er entspricht der ersten Jahr­ rund 21 Zentimetern.
milliarde der kosmischen Geschichte. Astronomen hatten – Diese typische Signatur des Wasserstoffs offenbarte
mit Ausnahme einiger weniger, äußerst leuchtkräftiger Astronomen in den 1950er Jahren die Spiralstruktur
Objekte – bislang kaum Einblick in diese Epoche. der Milchstraße. In den späten 1960er Jahren erkannte der
sowjetische Kosmologe Rashid Sunyaev – seit 1995 am
Ein Babytagebuch des Universums Max-Planck-Institut für Astrophysik in Garching tätig – als
Ausgerechnet in dieser weitgehend unbekannten Ära einer der ersten Wissenschaftler die mögliche Bedeutung
durchlief das Universum gewaltige und entscheidende der 21-Zentimeter-Spektrallinie für die Erforschung des
Veränderungen. Der Kosmos, in dem wir uns heute befin- jungen Kosmos. Die damals entstandene Strahlung wurde
den, ist offensichtlich deren Endergebnis. Aber zum Weg seither mit der Expansion des Weltalls gestreckt. Darum
dorthin gibt es zahlreiche offene Fragen: Wie und wann hat sie heute, wenn sie die Erde erreicht, Wellenlängen im
bildeten sich die ersten Sterne, und wie sahen sie aus? Bereich von 1,5 bis 20 Meter mit Frequenzen zwischen
Welche Rolle spielten Schwarze Löcher bei der Entwicklung
der Galaxien? Und was können wir von diesem kritischen
Zeitabschnitt über die Natur der rätselhaften Dunklen
Materie und ihren Einfluss auf die Evolution des Kosmos AUF EINEN BLICK
lernen?
Mit einer ganzen Batterie von kleinen und großen radio-
SIGNAL VOM JUNGEN ALL
astronomischen Projekten erkunden Wissenschaftler
derzeit das kosmische Neuland. Dabei ist eine ganz speziel-
le Informationsquelle ausschlaggebend: Strahlung mit einer
1 Die Entwicklung des Kosmos und der frühesten Sterne
schlägt sich in der Strahlung nieder, die Wasserstoff­
atome in den ersten hunderten Millionen Jahren ausge-
bestimmten Wellenlänge, die von atomarem Wasserstoff sendet und absorbiert haben.
ausgesandt und absorbiert wird. Es ist das einfachste und
mit Abstand häufigste Element der normalen Materie, die
nach dem Urknall entstanden ist. Um das schwache Signal 2 Das charakteristische Signal wurde im Lauf der Expan-
sion des Alls auf Wellenlängen gedehnt, die jahr­
zehntelang unmessbar waren. Das ändert sich nun.
aufzuspüren, bauen Astronomen immer empfindlichere
Observatorien an entlegenen Orten überall auf der Erde,
beispielsweise auf einem Floß in einem See des tibetani-
schen Hochlands und auf einer Insel in der kanadischen 3 Mit Radioteleskopen an abgelegenen Orten wollen
Astronomen die Strahlung registrieren. Sie hoffen,
damit zu rekonstruieren, wie sich die ersten Galaxien
Arktis.
und großräumigen Strukturen geformt haben.
Einen ersten Hinweis auf ursprünglichen Wasserstoff in
der Umgebung der frühesten Sterne könnte 2018 das
Instrument EDGES gefunden haben (Experiment to Detect

Spektrum der Wissenschaft  2.20 73


ü
15 und 200 Megahertz. Sunyaev und sein damaliger Men- umgebenden 21-Zentimeter-Strahlung absorbieren konnte.
tor, der 1987 verstorbene Jakow Seldowitsch, überlegten, Als Folge dieser kosmischen Morgendämmerung erwarten
wie man mit der Strahlung Theorien zur Entstehung der die Astronomen eine zweite Absenkung der Intensität der
Galaxien überprüfen könnte. »Doch als ich darüber mit Hintergrundstrahlung. Sie liegt entsprechend dem damali-
Radioastronomen sprach, sagten sie mir: ›Rashid, du bist gen Alter des Kosmos bei einer etwas kleineren Wellen­
verrückt!‹ «, erinnert sich der Forscher. »Sie meinten, wir länge. Genau diese Mulde im Intensitätsverlauf scheint
würden niemals in der Lage sein, das zu beobachten.« EDGES aufgespürt zu haben.
Das Problem: Die kosmische Expansion hat nicht nur die Eine halbe Milliarde Jahre nach dem Urknall durchlief der
Wellenlänge der Strahlung vergrößert, sondern diese Wasserstoff dann eine noch dramatischere Veränderung:
zugleich stark geschwächt. Es schien damals unmöglich, Die ultraviolette Strahlung der Sterne und Galaxien wurde
das Signal aus der Kakofonie der übrigen Radiofrequenzen nun intensiv genug, um den Wasserstoff zur Fluoreszenz
aus der Milchstraße sowie der auf der Erde künstlich er- anzuregen – er begann selbst, Photonen mit einer Wellen-
zeugten herauszufiltern. länge von 21 Zentimetern auszusenden. jener Wasserstoff,
Die Idee, den jungen Kosmos mit Hilfe der 21-Zentimeter- der sich am nächsten an den jungen Galaxien befand,
Strahlung zu kartieren, fand drei Jahrzehnte lang kaum absorbierte von diesen so viel Energie, dass die Atome ihre
Beachtung. Aber in den vergangenen Jahren ließen techni- Elektronen verloren. Sie wurden wieder unsichtbar. Die
sche Fortschritte die Methode zusehends machbar erschei- dunklen Blasen dergestalt ionisierten Wasserstoffs wuch-
nen. Die grundlegenden Konstruktionen haben sich dabei sen im Verlauf einer weiteren halben Milliarde Jahre weiter
nicht geändert: Radioteleskope bestehen seit jeher aus an. Während die Galaxien miteinander verschmolzen und
einfachen Materialien wie Kunststoffrohren und Drahtgit- größer wurden, blieb zwischen ihnen immer weniger
tern. Die damit empfangenen Signale lassen sich heute leuchtender Wasserstoff zurück. Heute ist der größte Teil
allerdings wesentlich besser verarbeiten. Bauteile, die des Wasserstoffs im Kosmos ionisiert. Kosmologen be-
ursprünglich für Spielkonsolen, Mobiltelefone und andere zeichnen den Übergang als Epoche der Reionisierung.
Unterhaltungselektronik für den Massenmarkt entwickelt Auf diese Zeit zielen viele der derzeit laufenden und der
wurden, erlauben es inzwischen, bei geringen Kosten mit geplanten radioastronomischen 21-Zentimeter-Untersu-
immensen Datenmengen umzugehen. Parallel zu dieser chungen ab. Die Forscher möchten den Verlauf der Reioni-
Entwicklung haben theoretische Kosmologen detaillierte sierung in drei Dimensionen abbilden, indem sie Schnapp-
und überzeugende Konzepte dazu ersonnen, was genau schüsse des Himmels bei verschiedenen Wellenlängen
die 21-Zentimeter-Spektrallinie verraten könnte. anfertigen. Das entspricht unterschiedlichen Rotverschie-
bungen der 21-Zentimeter-Spektrallinie. »Wir werden ir-
Die kosmische Entwicklung hinterließ Spuren gendwann einen vollständigen Film dieser Epoche erstel-
im Signal des Wasserstoffs len«, hofft Emma Chapman, Astrophysikerin am Imperial
Unmittelbar nach der Entstehung des atomaren Wasser- College London.
stoffs war das einzige Licht im All jenes, das uns heute Einzelheiten der Entstehung der ionisierten Blasen,
gleichmäßig aus allen Richtungen als schwache, langwelli- ihre Form und ihr Wachstum sollen Rückschlüsse auf den
ge kosmische Hintergrundstrahlung erreicht. Vor knapp Werdegang der Galaxien erlauben. Wenn Sterne den
14 Milliarden Jahren war seine Wellenlänge allerdings Hauptanteil zur Reionisierung geliefert haben, dann dürften
erheblich kleiner und hätte menschlichen Augen ein ein- die Blasen einfache, regelmäßige Formen besitzen, so
heitliches Orange geboten. Langsam wäre das Licht weni- Chapman. »Wenn es aber viele Schwarze Löcher gab, dann
ger intensiv und rötlicher erschienen und schließlich im wuchsen sie schneller und unregelmäßiger«, weil die
Infrarotbereich verschwunden – das Universum wurde Strahlung aus der Umgebung der Schwarzen Löcher ener-
dunkel. Und es gab noch nichts, das sichtbare Strahlung giereicher und durchdringender ist als jene der Sterne.
hätte erzeugen können. Deshalb nennen Kosmologen die Die Epoche der Reionisierung eignet sich zudem beson-
Epoche das dunkle Zeitalter. ders gut, um die aktuell besten Modelle der kosmischen
Im Verlauf der Zeit, so vermuten Theoretiker, müsste das Evolution zu überprüfen. Trotz reichlicher Hinweise auf die
sich entwickelnde Universum drei deutliche Spuren im Dunkle Materie weiß bislang niemand, worum es sich bei
Signal des Wasserstoffs hinterlassen haben. Die erste dem Stoff genau handelt. Die Strahlung könnte Indizien
Veränderung begann etwa fünf Millionen Jahre nach dem dazu liefern, ob Dunkle Materie eher aus relativ schweren
Urknall. Die Atome hatten sich inzwischen so weit abge- und langsamen, »kalten« Teilchen besteht – das ist das
kühlt, dass sie mehr Strahlung absorbierten als aussandten. heute favorisierte Modell – oder aus »warmen«, leichteren
Das sollte die Intensität der Hintergrundstrahlung bei einer und schnelleren.
bestimmten Wellenlänge absenken (siehe »Irdischer Blick Erst in jüngster Zeit steht Astronomen die Technik zur
aufs junge All«, rechts). Verfügung, mit der sich Strahlung aus der Epoche der
Bei einem zweiten Vorgang etwa 200 Millionen Jahre Reionisierung nachweisen lässt. Die wichtigste Rolle dabei
später hatte sich die Materie bereits in einigen Regionen spielen Interferometer: Anlagen aus vielen einzelnen, aber
stark angesammelt. Die ersten Galaxien und Sterne waren miteinander gekoppelten Radioantennen. Der Vergleich der
schon entstanden und entsandten ultraviolette Strahlung in an den jeweiligen Antennen empfangenen Signale offen-
den intergalaktischen Raum. Das brachte den dort befindli- bart Unterschiede bei der Intensität der Strahlung in ver-
chen Wasserstoff in einen Zustand, in dem er mehr von der schiedene Richtungen am Himmel.

74 Spektrum der Wissenschaft  2.20


ü
kosmische Hintergrundstrahlung
380 000 Jahre Photonen
auf dem
Irdischer Blick erste Sterne
50 Millionen Jahre
Weg zur
Erde
aufs junge All Zeit seit dem Urknall

Aufheizung beginnt 21 Zentimeter


180 Millionen Jahre
Je tiefer Astronomen ins Weltall
rstoff
r Wasse
blicken, desto weiter schauen sie d neutrale
Ze unk stärkste Phase der Ionisierung
zugleich zurück in die Zeit. Das ita les 478 Millionen Jahre
lte
älteste beobachtbare Signal ist die r
he
kosmisc rung Ende der Reionisierung
kosmische Hintergrundstrahlung e n d ä m me 940 Millionen Jahre
Morg
aus der Zeit, in der das Universum Re
io
gerade einmal 380 000 Jahre alt ni
Materie sie
ru
war. Damals vereinten sich Proto- formt die ng

Wellenlänge
ersten
nen und Elektronen zu Wasser- Galaxien
Sterne.
stoffatomen. Deren Geschichte ionisieren den
umgebenden
lässt sich anhand der von ihnen Wasserstoff
ausgesandten oder absorbierten 40 und bilden
dunkle Blasen.
Strahlung verfolgen. Die charakte-
30
ristische Strahlung von Wasser- 40 es
stoff hat eine Wellenlänge von 21 reionisiert
20 Universum
Zentimetern. Sie nimmt jedoch an 30
der Expansion des Weltalls teil und mitb 10
vergrößert sich bis zur Beobach- Berechnet man die in M ewegte 20
illiar E
Expansion des den ntfernu 1,5 bis
tung auf der Erde entsprechend. Weltalls ein, ist die Lich n 20 Meter
tjah g
Deshalb können Astronomen mit Quelle der heute ren 0
10
empfangenen
dem Signal die Entwicklung des Hintergrundstrah- Als mitbewegte Erde
Universums vom dunklen Zeitalter lung – also die Entfernung bezeich- 0
Grenze des beo- nen Kosmologen die
vor der Entstehung der ersten bachtbaren Univer- Strecke, die Licht Astronomen können Objekte in
Sterne bis heute kartieren: Je sums – heute 45,5 im gleichzeitig expan- solchen Entfernungen beobach-
Milliarden Lichtjahre dierenden Universum
jünger das All zum Entstehungs- von uns entfernt.
ten, sehen sie allerdings nicht
zurücklegt. so, wie sie heute – im Zustand
zeitpunkt der Strahlung war, desto
der mitbewegten Entfernung –
niedriger ist ihre Frequenz. aussehen. Vielmehr erscheinen
sie uns entsprechend der Zeit,
die ihr Licht zu uns gebraucht
Anfangs hat Die Strahlung der Ultraviolettes Anwachsende hat so, wie sie im jungen
Wasserstoff ersten Sterne Licht der Sterne Galaxien ionisierten Kosmos ausgesehen haben.

Atomare Photonen der und Galaxien


Hintergrundstrah- trieb die Absorp-
regte den
Wasserstoff zur
den Wasserstoff, der
dadurch immer
Spurensuche lung absorbiert. tion an. Emission an. weniger hell leuchtete.

Zeit nach
Die Kurve zeichnet dem Urknall 10 100 250 500 1000
die Gesamtinten­ (Millionen
Emission

PRITCHARD, J.R., LOEB, A.: CONSTRAINING THE UNEXPLORED


Jahre) erste Galaxien
sität des 21-Zenti-
NIK SPENCER/NATURE; CASTELVECCHI, D. INTO THE DARK
0

PERIOD BETWEEN THE DARK AGES AND REIONIZATION


10 100 250 500 1000

WITH OBSERVATIONS OF THE GLOBAL 21 CM SIGNAL.


Absorption
AGES. NATURE 572, 2019; DIAGRAMM UNTEN NACH
meter-Signals im Epoche der Reionisierung
Helligkeit

Verlauf der ersten Mulde des Um die Sterne herum entste-


dunklen 0 hen Regionen aus ionisiertem
Jahrmilliarde der
PHYSICAL REVIEW D 82, 2010, FIG. 1
Zeitalters Gas. Sie bilden Blasen im
kosmischen kosmische 21-Zentimeter-Signal.
Morgendämmerung
­Geschichte nach.
0 20 40 60 80 100 120 140 160 180 200
beobachtete Frequenz (in Megahertz)

0 20 40 60 80 100 120 140 160 180 200

Zu den modernsten Interferometern zählt LOFAR (Low besonders kalt ist, erläutert Léon Koopmans von der Uni-
Frequency Array). Seine Antennen sind über viele europäi- versität Groningen in den Niederlanden. Er leitet die LOFAR-
sche Länder verstreut, wobei das Zentrum nahe der nieder- Beobachtungen zur Epoche der Reionisierung. Im Septem-
ländischen Stadt Exloo liegt. Es ist das derzeit weltweit ber 2019 gelang es der Konkurrenz vom MWA (Murchison
größte Radioobservatorium für niedrige Frequenzen. Den- Widefield Array) in der Wüste von Westaustralien nach
noch konnte es bislang lediglich grobe Grenzwerte für die einer technischen Aufrüstung, diese Grenzen noch enger zu
Größenverteilung der Blasen liefern. Immerhin ließen sich ziehen.
damit bereits extreme Modelle ausschließen, in denen In Zukunft dürften die besten Aussichten für eine tat-
beispielsweise ein Teil des intergalaktischen Mediums sächliche Messung – im Gegensatz zur Bestimmung von

Spektrum der Wissenschaft  2.20 75


ü
M. ALVAREZ, R. KAEHLER, T. ABEL / ESO (WWW.ESO.ORG/PUBLIC/GERMANY/IMAGES/
ESO1041A/) / CC BY 4.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY/4.0/LEGALCODE)
In einer Simulation der Epoche der Reionisierung sendet ist nur möglich, wenn die Radioastronomen exakt wissen,
das ionisierte Gas um junge Galaxien (hellblau) nicht wie ihr Instrument auf die verschiedenen Wellenlängen
länger 21-Zentimeter-Strahlung aus. Neutraler Wasser­ reagiert. Ähnlich wie die Empfangsqualität bei einem
stoff ist dunkel eingezeichnet. UKW-Radio davon abhängen kann, wo genau man sich im
Zimmer befindet, sorgen kleinste Veränderungen in der
Umgebung – etwa die Zunahme der Feuchtigkeit im Boden
Grenzwerten – der statistischen Eigenschaften der Epoche oder der Beschnitt naher Büsche – für eine andere Empfind-
der Reionisierung bei der Anlage HERA (Hydrogen Epoch lichkeit.
of Reionization Array) liegen. Sie besteht aus 300 Parabol­ Wenn alles nach Plan geht, will Parsons mit dem HERA-
antennen in der südafrikanischen Provinz Nordkap. Wäh- Team bereits Anfang der 2020er Jahre erste Ergebnisse zur
rend es sich bei LOFAR und MWA um Allzweckobservato­ Epoche der Reionisierung vorliegen haben. Und Nichole
rien für große Wellenlängen handelt, ist HERA für den Barry, Astrophysikerin an der University of Melbourne und
Empfang der Strahlung von Wasserstoff im jungen Kosmos Mitglied des MWA-Teams, zeigt sich geradezu enthusias-
optimiert. Die eng beieinanderstehenden Antennen mit tisch: »Sobald die systematischen Effekte im Griff sind, wird
jeweils 14 Meter Durchmesser decken den Frequenz- HERA empfindlich genug für einen echten Durchbruch sein.
bereich von 50 bis 250 Megahertz ab. Theoretisch sollte Dann benötigt eine einzelne Messung nur wenig Zeit.«
HERA damit sowohl die Abschwächung während der Ära Ähnlich wie alle anderen existierenden Interferometer
sehen können, in der das Licht der ersten Galaxien den wird auch HERA noch keine dreidimensionale Karte der
Kosmos erhellte, als auch die Epoche der Reionisierung. Epoche der Reionisierung produzieren. Hier liegt die größte
Wie jedes Experiment dieser Art hat auch HERA mit Hoffnung auf dem geplanten SKA (Square Kilometre Array),
störender Strahlung aus der Milchstraße zu kämpfen. So einer Anlage, die in den 2020er Jahren in Australien und
betont Aaron Parsons, Radioastronom an der University of Südafrika entstehen soll. Es wird sich um das anspruchs-
California in Berkeley und Chefwissenschaftler von HERA, vollste je konstruierte Radioobservatorium handeln. Der
die Radiosignale aus der Galaxis und anderen Galaxien australische Teil soll Frequenzen von 50 bis 350 Megahertz
seien 1000-mal stärker als die Spektrallinie des Wasser- entsprechend den Wasserstoffsignalen aus dem frühen All
stoffs aus dem frühen Universum. Glücklicherweise besitzt empfangen. Die Hälfte in Südafrika wird auf höhere Fre-
die Radiostrahlung der Milchstraße ein vorhersagbares quenzen ausgerichtet sein.
Spektrum, das sich vom Gesamtsignal abziehen lässt, um Trotz der Tendenz zu immer größeren und teureren
die gesuchte kosmologische Strahlung zu finden. Das Projekten gibt es auch bescheidenere Ansätze. Viele davon

76 Spektrum der Wissenschaft  2.20


ü
sammeln ihre Daten mit einer einzigen Antenne. Die For- Observatorien im Weltall, vielleicht sogar auf der erdabge-
scher analysieren damit eine bestimmte Eigenschaft der wandten Seite des Mondes. »Das ist die einzige hinsichtlich
Strahlung gemittelt über den gesamten Himmel. Wegen Radiostrahlung ruhige Region im inneren Sonnensystem«,
ihres geradezu primitiven Aufbaus bezeichnet Lincoln erläutert der Astrophysiker Jack Burns von der University
Greenhill, Radioastronom am Center for Astrophysics im of Colorado in Boulder. Er spielt eine führende Rolle bei
US-amerikanischen Cambridge, die Ausrüstung als »Cro- Vorschlägen für ein einfaches Radioteleskop in einer Mond-
Magnon-Antennen«. Allerdings investieren die beteiligten umlaufbahn sowie für ein von einem robotischen Rover zu
Forscher Jahre in die Feinabstimmung der Geräte und in installierendes Interferometer auf der Oberfläche des
Computermodelle für die systematischen Effekte. Greenhill, Erdtrabanten.
der das Projekt LEDA (Large-Aperture Experiment to Detect Mit konventionelleren Methoden sind Forschern bereits
the Dark Ages) leitet, spricht von »einer masochistischen kleine Vorstöße in die erste Jahrmilliarde der kosmischen
Obsession«. Häufig reist der Wissenschaftler selbst zu den Geschichte gelungen. Dabei haben sie Galaxien und Quasa-
Antennen von LEDA im Owens Valley in Kalifornien, um re entdeckt. Quasare sind von Schwarzen Löchern angetrie-
dort etwa Metallreflektoren im Wüstensand auszulegen bene Leuchtfeuer und zählen zu den leuchtstärksten Phä-
und andere Verbesserungsarbeiten zu erledigen. nomenen des Kosmos. Künftige Instrumente, insbesondere
das James-Webb-Weltraumteleskop, dessen Start die US-
Ein überraschend ausgeprägtes Signal Raumfahrtbehörde NASA für 2021 vorsieht, werden weitere
widerspricht bisherigen Modellen derartige Entdeckungen liefern. In der absehbaren Zukunft
Solche technischen Finessen sind mit daran schuld, dass gelangen so aber nur einige der hellsten Objekte ins Visier.
Astronomen den Ergebnissen von EDGES bislang mit Kosmologen hoffen indes auf eine vollständige Durch-
vorsichtiger Skepsis begegnet sind. Das von diesem eben- musterung des Himmels, eine detaillierte dreidimensionale
falls einfach aufgebauten Instrument aufgespürte Signal ist Karte des Wasserstoffs nicht nur während der Epoche der
nämlich unerwartet stark. Demnach müsste das Wasser- Reionisierung, sondern bis zurück ins dunkle Zeitalter. In
stoffgas 200 Millionen Jahre nach dem Urknall erheblich Folge der kosmischen Expansion macht die sichtbare erste
kühler gewesen sein, als die Theorie vorhersagt: etwa vier Jahrmilliarde des Kosmos etwa 80 Prozent seines heutigen
statt sieben Kelvin. Seit der Veröffentlichung der Ergebnisse Volumens aus. Die bislang besten Kataloge der Galaxien-
Anfang 2018 haben Theoretiker Dutzende von Arbeiten verteilung, die vor allem nähere und hellere Objekte erfas-
publiziert und darin Mechanismen zur Abkühlung des sen, enthalten hingegen gerade einmal ein Prozent, betont
Gases vorgeschlagen. Doch viele Radioastronomen – dar- der Kosmologe Max Tegmark vom Massachusetts Institute
unter das EDGES-Team selbst – wollen die Ergebnisse of Technology in Cambridge. Loeb, Tegmark und weitere
zunächst unabhängig bestätigt sehen, bevor sie sie akzep- Kollegen in Cambridge haben ausgerechnet, dass die
tieren. Schwankungen der Wasserstoffdichte vor der Epoche der
Genau das soll mit LEDA und anderen Experimenten in Reionisierung mehr Informationen tragen als die kosmische
teilweise noch unzugänglicheren Regionen geschehen. Ravi Hintergrundstrahlung – und die war bislang der Goldstan-
Subrahmanyan vom Raman Research Institute im indischen dard für die Bestimmung der grundlegenden Eigenschaften
Bangalore beispielsweise arbeitet mit der kleinen, sphäri- des Universums. Dazu zählen dessen Alter, der Anteil an
schen Antenne SARAS 2. Sie steht im Hochland von Tibet, Dunkler Materie und seine geometrische Gestalt. Die
könnte in Zukunft aber vielleicht auf einem Floß in der Mitte technische Herausforderung ist enorm. Aber eine derartige
eines Sees verankert werden. Das Wasser gibt im Gegen- Kartierung wäre für die Forschung ein immenser Gewinn,
satz zum Erdboden »die Sicherheit, unter der Antenne ein sagt Loeb: »Das 21-Zentimeter-Signal bietet uns den um-
homogenes Medium zu haben«, sagt Subrahmanyan. Das fangreichsten Datensatz über das Universum, der uns
vereinfache es, das Verhalten der Antenne bei verschiede- jemals zugänglich sein wird.« 
nen Frequenzen zu verstehen.
Die Physikerin Hsin Cynthia Chiang und ihre Kollegen an QUELLEN
der Universität von KwaZulu-Natal im südafrikanischen Dur-
Barry, N. et al.: Improving the epoch of reionization power
ban wählten für ihr Experiment die Marion-Insel auf halbem spectrum results from Murchison Widefield Array season 1
Weg zwischen Südafrika und der Antarktis. Chiang, die observations. Astrophysical Journal 884, 2019
jetzt an der McGill University im kanadischen Montreal tätig Bowman, J. D. et al.: An absorption profile centred at 78
ist, reist inzwischen außerdem zur Axel-Heiberg-Insel in der megahertz in the sky-averaged spectrum. Nature 555, 2018
kanadischen Arktis. Dort hoffen sie und ihr Team, Strahlung
Loeb, A.: The optimal cosmic epoch for precision cosmology.
bis hinunter zu 30 Megahertz aus dem dunklen Zeitalter Journal of Cosmology and Astroparticle Physics, 2012
nachzuweisen.
Mao, Y. et al.: How accurately can 21 cm tomography constrain
Bei derart niedrigen Frequenzen wirkt sich auch die
cosmology? Physical Review D 78, 2008
Hochatmosphäre auf die Messungen aus. Der beste Ort für
Beobachtungen in diesem Bereich könnte darum der
3200 Meter hoch gelegene Eisdom Dome Charlie in der
Ostantarktis sein, hofft Greenhill. Von dort aus befänden © Springer Nature Limited
sich die störenden Polarlichter unterhalb des Horizonts. www.nature.com
Andere Radioastronomen richten ihre Hoffnungen auf Nature 572, S. 298–301, 2019

Spektrum der Wissenschaft  2.20 77


ü
SCHLICHTING!
SCHNEEVERLUST
UNTER DEM GEFRIERPUNKT
Manchmal verschwindet die Schneedecke, obwohl das Thermome-
ter unter null Grad anzeigt. Oder aber sie schmilzt selbst bei
Plusgraden kaum. Die Temperatur allein ist nicht entscheidend – bei
den Vorgängen spielen weitere Einflüsse eine wichtige Rolle.

H. Joachim Schlichting war Direktor des Instituts für Didaktik der Physik an der Universität
Münster. Seit 2009 schreibt er für »Spektrum« über physikalische Alltagsphänomene.

 spektrum.de/artikel/1693106

Oh welch ein Schreck: mung lässt sich objektiv untermauern: Umwickelt man
Der Schnee ist weg! beispielsweise den Sensor eines Thermometers mit
einem feuchten Wattebausch, liest man eine niedrigere
Wo ist er nur geblieben?
Temperatur ab als im trockenen Zustand. Es gibt spezielle
Anita Menger (*1959) Doppelthermometer, so genannte Psychrometer, die
basierend auf diesem Prinzip neben der normalen


Wenn uns der Winter Schnee beschert, wird die Trockentemperatur die Feuchttemperatur anzeigen (siehe
Schicht auch bei anhaltenden negativen Temperatu­ Illustration auf S. 80).
ren gelegentlich dünner und verschwindet an einigen Die Verdunstung des Wassers entzieht der Umgebung
Stellen sogar ganz. Etwa nach dem Schneeschieben, Energie in Form von Wärme. Die Temperatur sinkt umso
wenn die zurückgebliebenen Reste sich anschließend in mehr, je geringer die relative Feuchte ist – das Verhältnis
nichts aufzulösen scheinen. Schuld daran sind mechani­ aus der tatsächlichen Konzentration von Wasserdampf
sche und thermodynamische Vorgänge, die weitgehend und der bei der Temperatur maximal möglichen. Bei einer
im Verborgenen stattfinden. Insbesondere spielen Wech­ relativen Feuchte von 100 Prozent kondensiert genauso
selwirkungen zwischen den drei Aggregatzuständen des viel Wasser wie verdunstet. Die Temperatur, bei der das
Wassers – fest, flüssig und gasförmig – eine entscheiden­ passiert, nennt man Taupunkt. Er liegt stets unterhalb der
de Rolle.
Das Volumen des Schnees nimmt bereits ab, kurz
nachdem er gefallen ist. Eine frische, trockene Flocken­ Warme Regentropfen durchschlagen die Schneedecke
decke hat zahlreiche Hohlräume und daher eine geringe und beschleunigen den Schmelzvorgang.
Dichte. Bald darauf sackt das Gefüge unter dem eigenen
Gewicht mehr und mehr in sich zusammen. Die Höhe
H. JOACHIM SCHLICHTING

wird geringer, und die Dichte wächst. Dafür sind unter


anderem Sinterungsprozesse verantwortlich, bei denen
sich die Verbindungen zwischen den einzelnen Kristallen
neu organisieren (siehe »Knirschender Schnee«, »Spekt­
rum« Januar 2018, S. 70). Dabei bleibt die Gesamtmasse
aber noch überwiegend erhalten. Zu echten Schneever­
lusten kommt es dann durch Wechselwirkungen zwi­
schen dem Wasserdampf in der Atmosphäre und dem
Schnee.
Strandurlauber kennen das Gefühl, wenn sich die Luft
nach einem Bad im Meer kälter anfühlt. Die Wahrneh­

78 Spektrum der Wissenschaft  2.20


ü
H. JOACHIM SCHLICHTING
Sonnenschein kann die Schneedecke trotz negativer groß, und der Taupunkt ist schnell erreicht. Der Vorgang
Temperaturen allmählich schrumpfen lassen. entzieht der Umgebung, das heißt hier vor allem dem
gerade entstandenen Wasser, viel Energie. Teilweise
gefriert es wieder, und im neu hervorgegangenen Gleich­
Feuchttemperatur, außer bei 100 Prozent relativer Feuch­ gewicht kommt der Schneeverlust bald zum Erliegen.
te. Nur dann sind normale Temperatur, Feuchttemperatur Diese Blockade wird erst überwunden, wenn der
und Taupunkt gleich. Taupunkt einen positiven Wert annimmt. Das Schmelzen
Bei niedrigen Plusgraden kann es vorkommen, dass des Schnees sorgt nun zwar ebenfalls für eine Abküh­
die Feuchttemperatur negativ wird. Die entsprechende lung, aber er wird nicht erneut fest. Jetzt taut es: Die
Seite des Psychrometers würde vereisen. Obendrein liegt flüssige Phase nimmt kontinuierlich zu, während die
dann die relative Feuchte unter 100 Prozent (sonst gäbe fortschreitende Benetzung des Schnees den Vorgang
es keinen Temperaturunterschied), der Taupunkt ist also noch beschleunigt. Denn indem das kalte Oberflächen­
noch niedriger. In einem solchen Fall schmilzt der Schnee wasser im Schnee versickert, geraten die frei gelegten
nicht, sondern er geht direkt von der festen in die gasför­ Schnee­flächen jeweils direkt mit der noch wärmeren Luft
mige Phase über. Diese Sublimation ist umso stärker, je in Verbindung. Das ist wesentlich effektiver als das bloße
niedriger die relative Feuchte ist. Schmelzen bei negativem Taupunkt.
Für einen im Wortsinn weitaus durchschlagenderen
Schnee ist hartnäckig – nur mit Aufwand Taueffekt sorgt die Zufuhr von Wasser. Das passiert bei
kann er entrinnen Regen: Die fallenden Tropfen dringen (sofern es sich nicht
Die Sublimation erfordert nicht nur die nötige Energie, um gerade um unterkühlten Eisregen handelt) wegen der
Wasser in den gasförmigen Zustand zu überführen (Ver­ großen Wärmekapazität des Wassers oft tief in den
dampfungswärme), sondern zusätzlich die, um das Eis zu Schnee ein und durchlöchern ihn (siehe Foto links). Das
schmelzen (Schmelzwärme). Diese große Gesamtenergie vergrößert die Oberfläche des Schnees stark und gibt der
wird zunächst der unmittelbaren Umgebung entzogen. Luft Gelegenheit, im Inneren Energie auszutauschen und
Daraufhin kühlt sich insbesondere die Schneedecke wei­- den Tauvorgang zu beschleunigen. Die wachsenden
ter ab. Dadurch rückt aber zumindest lokal die Feuchttem­ Löcher lassen schließlich außerdem die Sonne bis zum
peratur zusehends an den Taupunkt – der Sublimations­ dunkleren Boden vordringen. Dieser absorbiert die Strah­
prozess wird langsamer und begrenzt sich selbst. lung und heizt damit zusätzlich von unten. So kann
Falls die Feuchttemperatur positiv ist und der Tau­ letztendlich, selbst wenn die Umgebungstemperatur
punkt negativ, schmilzt der Schnee mit einer Temperatur unter null Grad liegt, beispielsweise ein Stück frei geleg­
von null Grad Celsius an der Grenzschicht zur Luft. Er ter Asphalt im Sonnenlicht sich über den Gefrierpunkt
wird von einem dünnen Wasserfilm bedeckt. Entspre­ hinaus erwärmen und Schneeresten in der Umgebung
chend ist die relative Feuchte in diesem Bereich sehr zusetzen.

Spektrum der Wissenschaft  2.20 79


ü
Trocken- Feucht-
Taupunkt
temperatur temperatur

Umwickelt man ein (gut belüftetes) Thermometer mit einem


feuchten Stoff, wird ihm durch Verdunstung Wärme ent­
zogen. Es zeigt einen niedrigeren Wert als im trockenen
2 °C
Zustand. Aus der Differenz lässt sich die relative Luftfeuch- Sublimation
–1 °C
tigkeit errechnen sowie der Taupunkt, bei dem die Wasser­
dampfkonzen­tration in der Luft maximal wäre. Ist die »tro- –7 °C
ckene« Temperatur positiv und die »feuchte« negativ (oben), 50 %
wird Schnee direkt gasförmig (Sublimation). Zeigen beide relative
Feuchte
Thermometer Plusgrade bei negativem Taupunkt, schmilzt
er ein wenig (Mitte). Erst, wenn alle drei Werte positiv sind,
taut der Schnee. Dann zerfließt er rasch (unten).
6 °C

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT / MIKE BECKERS


3 °C Schmelzen
Bei dickeren Schneedecken, die länger an Ort und Stelle –1 °C
bleiben, beschleunigen Verunreinigungen durch Staub und
Schmutz das Tauen. Die dunklen Stellen sind gute Absorber
von Strahlung und folglich zwar winzige, aber in ihrer großen 60 %
relative
Zahl wirkungsvolle Lieferanten von Schmelzenergie (siehe
Feuchte
»Zwischen weißer Pracht und Schmutzskulptur«, »Spektrum«
Februar 2016, S. 48).
In der Nähe des tauenden Schnees steigt die Wasser­ 8 °C
dampfproduktion an, wodurch sie sich selbst bremst. Wenn 5 °C
allerdings Wind Luft heranführt, kann das den Schwund sehr 1 °C Tauen
effektiv antreiben. Darum bleibt Schnee nicht nur an den
sonnen-, sondern auch an den windgeschützten Stellen
merklich länger liegen. Wer abschätzen will, wie lange das
60 %
winterliche Weiß erhalten bleibt, sollte also mehr als nur das relative
Thermometer im Blick behalten. Feuchte

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80 Spektrum der Wissenschaft  2.20


ü
FREISTETTERS FORMELWELT
VOLLKOMMEN LOGISCH
CC BY-SA 4.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY-SA/4.0/LEGALCODE)

Das Internet steckt voller Informationen. Um aber


diejenigen zu finden, die einen wirklich interessieren,
FRANZI SCHÄDEL (FLORIAN-FREISTETTER.DE/PRESSE/) /

braucht man gute Suchmaschinen – und die richtige


Mathematik.

Florian Freistetter ist Astronom, Autor und


Wissenschaftskabarettist bei den »Science Busters«.

 spektrum.de/artikel/1693108

A
ls Wissenschaftsautor muss ich viel recher­ und der mit der nach unten gerichteten Spitze ent­
chieren. Das mache ich ganz klassisch in Bü­ spricht ODER.
chern, aber noch öfter im gewaltigen Fundus Die de-morganschen Gesetze bedeuten demnach,
des Internets. Doch nicht immer finde ich dort, dass NICHT (a UND b) identisch mit der Aussage
was ich suche. Möchte ich beispielsweise etwas über (NICHT a) ODER (NICHT b) ist; beziehungsweise dass
die Kreiszahl Pi erfahren, dann hat die Mehrheit der NICHT (a ODER b) das Gleiche ist wie (NICHT a) UND
Resultate, die mir die gängigen Suchmaschinen liefern, (NICHT b). Wenn ich zum Beispiel Webseiten nach dem
nichts mit Mathematik zu tun, sondern mit dem Mini­ Auftreten der Wörter Galaxy und Smartphone untersu­
computer Raspberry Pi. Und wenn ich nach »Galaxy« chen möchte, kann ich alle Seiten in vier Gruppen
suche, muss ich mich durch etliche Treffer zum gleich­ einteilen: In der ersten sind solche, die nur das Wort
namigen Smartphone wühlen. Smartphone enthalten; in der zweiten jene, in denen
Diese Probleme kann man durch den geschickten lediglich das Wort Galaxy vorkommt; dann diejenigen
Einsatz logischer Verknüpfungen umgehen. Sie be­ mit beiden Begriffen; und schließlich die Seiten, in
schreiben Rechenregeln, die nicht mit den üblichen denen weder der eine noch der andere erscheinen.
Symbolen für Addition, Subtraktion, Multiplikation oder

A
Division arbeiten, sondern mit Operatoren, die UND, ls Astronom interessiert mich die letzte Gruppe,
ODER sowie NICHT heißen. Will ich etwa aus allen die sich mit der Suche nach NICHT (Smartphone
Internetseiten, die das Wort Pi enthalten, nur diejenigen ODER Galaxy) identifizieren lässt, am wenigsten.
finden, in denen nicht auch das Wort Raspberry vor­ De Morgans zweite Regel besagt, dass (NICHT
kommt, muss ich die beiden Suchbegriffe durch pas­ Smartphone) UND (NICHT Galaxy) die gleiche Gruppe
sende Operatoren verknüpfen. liefert. Was auch der Fall ist: Die Webseiten ohne das
Für diese kann man ähnliche Gesetze aufstellen wie Wort Smartphone gehören zu den Gruppen 2 und 4;
für das »normale« Rechnen. Man findet auch ein diejenigen ohne Galaxy tauchen in den Gruppen 1 und 4
­Kommutativ- sowie ein Assoziativgesetz und so weiter. auf. Durch die Verknüpfung UND bleibt dann nur die
Zu den bekanntesten Regeln für logische Aussagen letzte Gruppe übrig.
gehören die so genannten de-morganschen Gesetze, Für dieses schlichte Beispiel würde man in der Praxis
benannt nach dem englischen Mathematiker Augustus einfachere logische Verknüpfungen verwenden als die
De Morgan (1806–1871): de-morganschen Regeln. Bei komplexen Suchanfragen
sind diese jedoch wichtig. Ebenso braucht man sie,
wenn man Algorithmen programmiert oder digitale
elektronische Elemente entwickelt, etwa bei der Kons­
truktion so genannter Logikgatter für Computer. Dabei
führen mehrere binäre Input-Kanäle zu einem gewissen
Output: Eine UND-Schaltung liefert nur dann den
Wert 1, wenn an allen Eingängen eine 1 anliegt; ein
ODER-Gatter gibt dagegen eine 1 aus, wenn mindes­
tens ein Eingang eine 1 enthält.
Das Symbol, das wie ein Inbusschlüssel von Ikea aus­ Die de-morganschen Regeln sehen zwar einfach aus,
sieht, steht für den logischen Operator NICHT, der mit doch Computer brauchen genau solche simplen Geset­
der Spitze nach oben zeigende Winkel bedeutet UND, ze, um zu funktionieren.

Spektrum der Wissenschaft  2.20 81


ü
WISSENSCHAFTSPHILOSOPHIE
WIE UNIVERSELL
SIND NATURGESETZE?
Die fundamentalen Regeln der Physik gelten nur unter ideali-
sierten Bedingungen exakt – die es praktisch nie gibt. Ist
trotzdem ein befriedigendes Verständnis der Vorgänge möglich?

Alexander Mäder ist promovierter Philosoph,


arbeitet als Wissenschaftsjournalist und lehrt an
der Hochschule der Medien in Stuttgart.

 spektrum.de/artikel/1693110

ARCHANGELWORKS / STOCK.ADOBE.COM; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

82 Spektrum der Wissenschaft  2.20


ü

Die Firma Thomson Reuters GFMS schätzt, dass alle
Menschen insgesamt rund 190 000 Tonnen Gold
SERIE
besitzen. Zusammengenommen ergäbe das eine Kugel
Grundbegriffe der Wissenschaft
von 26 Meter Durchmesser. Das sollten Sie wissen, bevor
Alexander Mäder
wir uns der Frage zuwenden, ob es im Universum eine
Goldkugel von einem Kilometer Durchmesser gibt. Diese
Frage zitieren Philosophen seit Jahrzehnten immer wieder Teil 1: Februar 2020
Wie universell sind Naturgesetze?
gerne, weil sie damit deutlich machen können, wonach die
Wissenschaft strebt. Es geht also um viel; bleiben Sie bitte Teil 2: März 2020
am Ball. Gute Theorien, schlechte Theorien
Genug Gold wäre im Kosmos jedenfalls vorhanden. Teil 3: April 2020
Allein bei der Kollision der beiden Neutronensterne, deren Experimente und Daten
Gravitationswellen am 17. August 2017 auf der Erde nachge-
wiesen wurden, ist so viel des Elements entstanden, dass
es für Dutzende oder sogar Hunderte von Planeten von der
Größe der Erde gereicht hätte. Aber das Metall wurde in Bleiben wir bei der Physik (für andere Disziplinen siehe
einer gewaltigen Explosion im All verteilt. Sofern sich keine »Naturgesetze in der Psychologie?«, S. 85). Dort regeln die
außerirdische Intelligenz daran macht, es einzusammeln Naturgesetze – so stellt man es sich gemeinhin vor – alle
und zu verschmelzen, dürfte es im Universum daher keine Abläufe im Universum, und sie gelten auf der Erde ebenso
Goldkugel mit einem Kilometer Durchmesser geben. wie auf dem Mars und in der Andromeda-Galaxie. Man
Und nun kommt die zweite, entscheidende Frage der kann nicht gegen sie verstoßen wie gegen ein von der
Philosophen: Gibt es eine ebenso große Kugel, die vollstän- Regierung erlassenes Gesetz. Und weil sie die Zusammen-
dig aus angereichertem Uran besteht? Uran ist im Univer- hänge von Ursache und Wirkung beschreiben, lässt sich mit
sum seltener als Gold, doch auch hiervon wäre genug ihrer Hilfe erklären, warum ein Ereignis ein anderes hervor-
vorhanden. Allerdings stößt man auf eine zusätzliche bringt, warum etwa bei der Kollision der beiden Neutronen-
Schwierigkeit, sollte man das Uran zusammenbringen, weil sterne Gravitationswellen entstanden sind. Man kann sogar
man die so genannte kritische Masse überschreiten wür- sagen, wie sich Dinge unter hypothetischen Bedingungen
de – die Kugel würde mit der Kernspaltung beginnen, eine entwickeln würden und wie etwas, das in Zukunft gesche-
Menge Energie freisetzen und explodieren. Es gibt deswe- hen wird, schon aus dem heutigen Zustand ableitbar ist.
gen nach allem, was man weiß, weder eine kilometergroße
Kugel aus Gold noch eine aus Uran. Doch beim Gold hat Was sind Regeln wert, wenn sie unter Bedingungen
man es prinzipiell selbst in der Hand, sie eines Tages zu gelten, die praktisch nie erfüllt sind?
erschaffen, während im Fall des Urans ein grundlegender Wir wollen uns nicht in die Frage vertiefen, ob die Unbe-
Mechanismus dies verhindert. stimmtheit der Quantenmechanik diesen Determinismus be-
Die Frage, wie groß eine Goldkugel sein kann, ist daher einträchtigt. Ebenso wenig ist unser Thema, ob sich die
wissenschaftlich weniger interessant als die entsprechende Physiker ihrer Naturgesetze sicher sein können (damit
Frage nach einer Urankugel. Die Forschung will schließlich beschäftigen wir uns noch in den nächsten Teilen der Serie).
nicht Aussagen formulieren, die einfach nur wahr sind – Stattdessen gehen wir davon aus, dass diese korrekt formu-
sondern solche, die notwendigerweise wahr sind, weil sie liert sind, und stellen eine Frage, die Philosophen seit Lan-
einen Teil des Regelwerks beschreiben, nach dem alle gem umtreibt: Handelt es sich wirklich um unbeugbare
physikalischen Prozesse ablaufen. Die Feststellung, dass es Gesetze der Natur?
keine kilometergroße Kugel aus Uran gibt, könnte also ein Selbst ohne umfangreichen physikalischen Sachverstand
Naturgesetz sein oder zumindest eine Ableitung von einem kann man skeptisch werden. Das erste newtonsche Gesetz
solchen; die Aussage, dass keine aus Gold existiert, stimmt besagt zum Beispiel, dass ein Körper, auf den keine Kräfte
hingegen höchstens zufällig. wirken, entweder ruht oder sich geradlinig mit gleich blei-
Die Physik kennt viele Naturgesetze, vom ohmschen bender Geschwindigkeit fortbewegt. Doch auf jedes Objekt
Gesetz über die Hauptsätze der Thermodynamik bis zur im All wirken eine Menge Kräfte ein, Newtons Gesetz trifft
Schrödingergleichung. Auch in anderen Fächern werden daher auf gar nichts zu. Was ist dann davon zu halten?
Gesetze formuliert: Darwins Selektionsmechanismus in der Das Problem ist schon Galileo Galilei aufgefallen, als er
Evolution zum Beispiel oder die Aussage aus der Volkswirt- vom »großen Buch der Natur« sprach, in das wir täglich
schaftslehre, laut der die Preise steigen, wenn man das schauen. Damit meinte er das Universum. Es sei zwar in der
Angebot reduziert. In diesem Beitrag wollen wir genauer exakten Sprache der Mathematik geschrieben, die könne
beschreiben, was solche Regeln auszeichnet – und an der man allerdings nicht einfach so auf die physikalische Welt
landläufigen Vorstellung von Naturgesetzen Zweifel säen. übertragen. Die Realität bilde nur ungefähr ab, was die
Mathematik sage. In seinem »Dialog« diskutiert Galilei das
am Beispiel einer Kugel, die in der Geometrie eine Ebene
Die Frage, ob eine kilometergroße Goldkugel existiert, nur in einem Punkt berührt. In Wirklichkeit gebe es aber
klingt zunächst befremdlich. Aber Philosophen ver- keine so perfekten Kugeln und Ebenen. In diesem Sinn
deutlichen damit Grundprinzipien der Wissenschaft. formulierte Galilei auch sein Fallgesetz: Nur, wenn man sich

Spektrum der Wissenschaft  2.20 83


ü
neigt zur wilden Übertreibung, die unser Denken nicht ganz
einfangen kann.« Trotzdem könne man ein Gesetz wie das
AUF EINEN BLICK der Brechung nutzen, um optische Phänomene zu erklären.
REGELWERK MIT Man dürfe nur nicht davon ausgehen, dass es unter allen
EINSCHRÄNKUNGEN Umständen gelte.
Warum wollen Wissenschaftler überhaupt so hoch hinaus

1 Wenn wir über Wissenschaft sprechen, nutzen wir und universelle Naturgesetze finden? Könnte man nicht auch
viele Begriffe wie selbstverständlich. Allerdings ist ein tiefes, befriedigendes Verständnis der physikalischen
bei genauerer Betrachtung oft gar nicht so klar, was Vorgänge finden, ohne zu glauben, in Gottes Regelwerk
damit eigentlich gemeint ist. geschaut zu haben? Doch gerade dieser ursprünglich religiö-
se Gedanke scheint in der Diskussion mitzuschwingen, sie

2 Beispielsweise gelten in vielen Bereichen, vor allem in


der Physik, »Naturgesetze«: Im Prinzip bestimmen
sie zu jeder Zeit die Abläufe im Kosmos, auf der Erde
sogar zu beflügeln: dass die Naturgesetze die »Vorschriften
Gottes für das Verhalten der Natur« darstellen, wie es der
Philosoph Ronald Giere ausdrückt.
ebenso wie überall sonst.
Giere führt den Begriff des Naturgesetzes mindestens auf
das 17. Jahrhundert zurück, auf René Descartes und Isaac
3 In der realen Welt treffen die Regeln nur unter verein-
fachten Annahmen zu. Wie ist das mit dem univer­sellen
Anspruch vereinbar? Zahlreiche Philosophen haben
Newton. Newton hatte zum Beispiel keinen Beleg dafür,
dass seine Gleichungen auch außerhalb des Sonnensystems
sich an Erklärungen versucht. richtig sind. Die Astronomie war noch nicht so weit; die
Fixsterne wirkten damals unbeweglich. Doch warum sollte
es der Schöpfer hier so und dort anders eingerichtet haben?
»Newton brauchte seinen Gott«, kommentiert Giere. Das
den Luftwiderstand wegdenkt, fallen alle Körper gleich religiöse Denken hielt sich seiner Ansicht nach bis ins 19.
schnell. Jahrhundert: »Erst nachdem sich Darwins Revolution durch
Doch wie passen das Buch der Natur und die beobacht- das intellektuelle Leben Großbritanniens gearbeitet hatte,
bare Natur zusammen? Die Historikerin Carla Rita Palmeri- wurden die Naturgesetze endgültig von Gottes Willen ge-
no rekonstruiert Galileis Sichtweise so: Auch die kleinen trennt.« Die Idee kehrte in säkularisierter Form zurück.
Unebenheiten der Realität lassen sich mathematisch exakt Gesucht werden heute Naturgesetze, die etwas beschreiben,
fassen – bloß wird es irgendwann zu kompliziert für den das notwendigerweise und nicht bloß zufällig geschieht.
begrenzten Verstand der Menschen. Die Forscher müssen
daher die Natur vereinfachen, um sie mathematisch zu Viele Philosophen suchen neue Konzepte –
beschreiben. Beim ersten newtonschen Gesetz müssen sie sie vermuten tiefere Wahrheiten
sich die vielen schwachen, für das aktuell zu lösende Prob- Aus Sicht von Giere und einigen seiner Kollegen kommt man
lem unwichtigen Einflüsse wegdenken. Unter diesen ideali- in der Wissenschaft aber auch ohne das aus. In der Analyse
sierten Bedingungen gibt es auch Gegenstände, auf die Gieres arbeiten Physiker stattdessen mit Modellen, die einen
keine Kraft einwirkt. kleinen Ausschnitt der Realität in einer idealisierten Form
Die Philosophin Nancy Cartwright hat den Einwand erfassen. Innerhalb dieser Modelle kann man die Gleichun-
gegen Naturgesetze in den 1980er Jahren ausgearbeitet: gen aus den vermeintlichen Naturgesetzen mit höchster
Physikalische Gesetze lassen sich ihrer Ansicht nach grund- Präzision anwenden.
sätzlich nicht uneingeschränkt anwenden, sondern immer Die Mehrheit der Philosophen findet solche Ansätze zu
nur unter bestimmten Voraussetzungen. Man sagt, sie dürftig. Wenn die Modelle zur physikalischen Welt passen,
gelten ceteris paribus – solange die Umstände gleich dann beschreiben und erklären sie doch wichtige Aspekte
bleiben. Das erste newtonsche Gesetz trägt die Bedingung dieser Realität, wenden Gieres Kritiker ein. Und das ist nur
schon in sich: Es gilt nur, wenn ein Körper keinen Kräften denkbar, wenn es die Zusammenhänge zwischen Ursache
unterliegt. und Wirkung aus den Modellen auch in der physikalischen
Cartwright argumentiert noch weiter und wählt dazu als Welt gibt. Man wird also das Gefühl nicht los, dass es tiefere
Beispiel das Brechungsgesetz. Es beschreibt, wie sich Wahrheiten zu entdecken gibt, als Giere es zulässt.
Wellen beim Übergang in ein dichteres oder weniger dich- Gieres Kritiker arbeiten daher an neuen Konzeptionen von
tes Medium ausbreiten. Es bezieht sich auf isotrope Me­ Naturgesetzen, die damit zurechtkommen, dass sie in der
dien, die in alle räumlichen Richtungen die gleichen Eigen- Realität nicht exakt gelten. Einen solchen Ansatz vertritt
schaften haben. Die meisten sind jedoch zumindest ein Andreas Hüttemann von der Universität zu Köln: Ihm zufolge
bisschen anisotrop und teilen das einfallende Licht in zwei beschreiben Naturgesetze die Neigung von Körpern, sich
Strahlen auf. Die Philosophin zieht daraus den Schluss: unter bestimmten Bedingungen in einer gewissen Art und
Naturgesetze sind nicht nur eingeschränkt, weil sie nur Weise zu verhalten. Damit wären sie universal gültig, aber
unter speziellen Bedingungen gelten. Sie sind es darüber die Neigungen kämen nicht immer zum Vorschein. Mit der
hinaus, weil diese nur selten erfüllt sind. Lösung sind viele Philosophen nicht wirklich zufrieden, denn
Das Universum sei nicht ordentlich konstruiert, schreibt sie lässt offen, warum die Körper ihre Neigungen ausleben
Cartwright, sondern eine unüberschaubare Fülle von Din- müssen. Diese Notwendigkeit ist ihnen bis heute ein Rätsel.
gen, die geschehen und aufeinander einwirken: »Die Natur »Eine restlos überzeugende Theorie der Naturgesetze gibt es

84 Spektrum der Wissenschaft  2.20


ü
Naturgesetze in der Psychologie?
Physiker haben es mit einem benei- men. Solche Gründe sind nicht alle sich vorzugsweise nur das, was ihre
denswert überschaubaren Satz an in Form von medizinischen Geset- Ansichten bestätigt oder sich in
Objekten zu tun: den Elementarteil- zen beschreibbar. diesem Sinn interpretieren lässt.
chen. Ihre Formeln sind oft ele- Selbst wenn man Menschen im Doch zuweilen lassen sie sich auch
gant – man denke nur an die vier Labor untersucht, bekommt man gern überraschen und für neue
maxwellschen Gleichungen zum die individuellen Differenzen metho- Argumente gewinnen. Es kommt
Elektromagnetismus. Sozialwissen- disch nicht immer in den Griff. Im darauf an, ob sie der Nachrichten-
schaftler wie Psychologen, Soziolo- Gegenteil, dort verhalten sich quelle vertrauen und in welcher
gen, Politologen, Ethnologen und Probanden anders. Sie neigen zum Stimmung sie sind. Noch schwieri-
Ökonomen hingegen sehen sich Beispiel dazu, den Anweisungen ger dürfte es sein, die psychologi-
einer bunten Vielfalt an Menschen des Versuchsleiters zu folgen, weil schen Gesetze so zu formulieren,
ausgesetzt. Ihre Untersuchungs­ sie ihm das Experiment nicht ver- dass man sie mit den zu Grunde
objekte unterscheiden sich hinsicht- derben wollen. Das ist zwar für sich liegenden Vorgängen im Gehirn
lich Temperament, Intelligenz, einer genommen ein interessanter Be- verknüpfen kann.
Menge politischer und religiöser fund, doch es verfälscht die Studi- Trotzdem verstehen wir Regel-
Überzeugungen sowie Lebenser- en, in denen man herausfinden will, mäßigkeiten, denn wir können uns
fahrungen. was die Versuchsteilnehmer wirk- in andere Menschen hineindenken
Man könnte noch die Medizin lich denken. und -fühlen. Die Sozialwissenschaf-
hinzunehmen und von Humanwis- Die Gesetzmäßigkeiten, auf die ten bauen auf diesem Alltagsver-
senschaften sprechen, weil der Humanwissenschaftler stoßen, sind ständnis auf – und erben damit
menschliche Körper ebenfalls nicht daher in besonderem Maß von den zugleich einen Nachteil: Ihre Begrif-
einheitlich arbeitet. Ein Medikament Umständen abhängig. So besagt in fe sind von vornherein mit vielen
kann bei Patient A wirken und bei der Psychologie der Bestätigungs- Nuancen aufgeladen und nicht
Patient B nicht, etwa weil dessen fehler (im Englischen: confirmation so scharf wie in der Physik. Das
genetische Ausstattung dazu führt, bias), dass Menschen Informatio- erschwert die Formulierung von Na-
dass der Wirkstoff zu schnell abge- nen tendenziell ignorieren, die nicht turgesetzen weiter, macht die
baut wird oder er regelmäßig zu ihren Überzeugungen passen. Fachgebiete jedoch besonders
vergisst, seine Tabletten einzuneh- Wenn sie Zeitung lesen, merken sie spannend.

nicht«, schreibt daher Hüttemann. Vielleicht fehlt die Anre- Antwort wollen sich viele nicht zufriedengeben. Sie vermu-
gung durch die Physik: Wenn klar wäre, wie es hier weiter- ten, dass es eine tiefere Wahrheit zu entdecken gibt. 
geht, wenn also neue Naturgesetze entdeckt würden,
könnten die Philosophen daraus weitere Ideen entwickeln. QUELLEN
Aber derzeit stockt der Fortschritt. Ob es noch Teilchen Cartwright, N.: How the laws of physics lie. Oxford University
gibt, die nicht im Standardmodell der Materie vorkommen, Press, 1983
ist zum Beispiel unklar. Und zwischen der Quantenmecha-
Giere, R.: The skeptical perspective: Science without laws of
nik und der Relativitätstheorie klafft eine bisher unüber- nature. In: Weinert, F. (Hg.): Laws of nature. Essays on the
windbare Lücke. philosophical, scientific and historical dimensions. de Gruy-
Rätselhaft sind nicht zuletzt die Konstanten in den Natur- ter, 1995
gesetzen. Sie sind derart stabil, dass seit Mai 2019 alle so Hüttemann, A.: Naturgesetze. In: Bartels, A., Stöckler, M. (Hg.):
genannten SI-Einheiten – Sekunde, Meter, Gramm, Kelvin Wissenschaftstheorie. Ein Studienbuch. Mentis, 2007
und so weiter – durch die Naturkonstanten definiert wer-
Palmerino, C. R.: Reading the book of nature: The ontological
den. Zudem scheinen sie aufeinander abgestimmt zu sein. and epistemological underpinnings of Galileo‘s mathematical
Sie wirken, als seien sie passend gewählt, um Leben im realism. In: Gorham, G. et al. (Hg.): The language of nature:
Kosmos zu ermöglichen. Wäre die Gravitationskonstante Reassessing the mathematization of natural philosophy in the
zum Beispiel kleiner, als sie tatsächlich ist, hätten sich keine seventeenth century. University of Minnesota Press, 2016
Sterne und Galaxien bilden können, oder die Sterne wären
zumindest nicht in Supernovae explodiert und hätten nicht WEBLINK
all die Elemente ins Universum geschleudert, aus denen https://plato.stanford.edu
später Planeten entstanden.
Das frei zugängliche Onlinelexikon »Stanford Encyclopedia of
Man kann mit den Schultern zucken und sagen, dass wir Philosophy« gibt zu den Themen »laws of nature«, »ceteris paribus
uns darüber nur Gedanken machen können, weil die Natur- laws« und »fine-tuning« einen ausführlichen Überblick (auf
konstanten zufällig so sind, wie sie sind. Doch mit der Englisch).

Spektrum der Wissenschaft  2.20 85


ü
REZENSIONEN
ÖKOLOGIE Korallenriffe. Der Fotograf hat diverse ren Hoffnung machenden Projekten.

ALEJANDRA POTTER GIMENO, AUS HOVEST, Y.: HELDEN DER MEERE; MIT FRDL. GEN. DES TENEUES VERLAGS
Aktivisten und Wissenschaftler be­ So versuchen Aktivisten, an der
MEERESSCHÜTZER sucht, die sich für den Schutz der Westküste Thailands Korallen anzusie­
IN SZENE Ozeane einsetzen. Sechs ihrer Projekte deln. Andere bekämpfen mit einem
stellt er vor, die Hoffnung machen. Für sparkassenähnlichen Geschäftsmodell
Dieser bildgewaltige Band stellt den Autor sind diese Menschen »Hel­ den Plastikmüll auf Haiti. Eine weitere
Projekte von Aktivisten und For- den der Meere«. Organisation will die marinen Öko­
schern vor, die sich für den Schutz Hovests erste Reise führte nach systeme vor Mexikos Küste schützen,
der Meere einsetzen.
Tansania. Hier, wo die Traumstrände indem sie den Tourismus und die

 Es war einmal – so fangen meist


Märchen an –, da fand der Aben­
teurer und Fotograf York Hovest einen
der nahe gelegenen Insel Sansibar
viele Touristen anlocken, sammeln Ein­
heimische Muscheln aus den küsten­
Fischerei mit einbezieht. Hovest stellt
zudem die Aktivisten der internationa­
len Meeresschutzorganisation »Sea
Klumpen Ambra am Strand. Der nahen Gewässern, um sie zu verkau­ Shepherd« vor, die er auf eine Kontroll­
wachsähnliche, graue Stoff stammt fen. Doch wie wirkt sich das auf die fahrt begleitete, welche – in Zusam­
aus dem Verdauungstrakt von Pott­ Natur aus? Zwei Biologinnen des menarbeit mit dem afrikanischen Staat
walen; die Tiere scheiden ihn mitunter Leibniz-Zentrums für Marine Tropen­
aus, nachdem er jahrelang in ihren forschung untersuchen das. Sie
Innereien verweilte. Dieser märchen­ vergleichen die Ökosysteme in
hafte Fund lieferte Hovest das Startka­ den Sammelgebieten mit denen
pital dafür, dieses Buch zu schreiben. eines nahe gelegenen Natur­
Denn Ambra ist ein Rohstoff für die schutzgebiets. Noch sind ihre
teuersten Parfüme der Welt – halb so Studien nicht abgeschlossen,
wertvoll wie Gold. Mit dem Geld aber sie wollen auf Grundla­
konnte der Fotograf um die ganze ge ihrer Ergebnisse gemein­
Welt reisen, um vor Ort zu recherchie­ sam mit den Einheimi­
ren, und hochwertige Unterwasserka­ schen nach Lösungen
meras sowie Drohnen für Luftaufnah­ suchen.
men anschaffen. Der Autor berich­
Herausgekommen ist ein großfor­ tet noch von
matiger, bildgewaltiger Band, der fünf weite­
allerdings nicht nur farbenprächtige
und traumhaft schöne Meereswelten
zeigt, sondern auch Inseln, die im
Müll ersticken, oder sterbende

York Hovest
HELDEN DER
MEERE
Unterwegs mit
den Hütern eines
einzigartigen
Lebensraums
teNeues, Kempen
2019
224 S., € 50,–

86 Spektrum der Wissenschaft  2.20


ü
Mehr Rezensionen auf spektrum.de/rezensionen

Gabun – der Überwachung der Hoch­ Verhalten, das bis heute nicht restlos samkeit der Konsumenten erregen.
ALEJANDRA POTTER GIMENO, AUS HOVEST, Y.: HELDEN DER MEERE; MIT FRDL. GEN. DES TENEUES VERLAGS

seefischerei diente. verstanden ist. Zugleich irritiert er aber, da vielen nicht


Unter Wasser, auf See oder auf Hovest bringt in seinem Band viele auf Anhieb klar sein dürfte, wie er
Inseln: Die atemberaubend schönen – Erklärungen und Fakten zu Korallen­ gemeint ist.
und manchmal auch trostlosen – groß­ sterben, Überfischung und Meeres­ Die Autorin Sanne Blauw hat Öko­
formatigen Naturaufnahmen dieses ökologie unter. Alles in allem ist ihm nometrie studiert, über den Zusam­
Buchs ziehen die Betrachter in den ein Werk gelungen, das einem nicht menhang von Ungleichheit, Vertrauen
Bann. Doch Hovest weiß nicht nur mit nur nahegeht, sondern auch auf­ und Glück promoviert und arbeitet
farbintensiven und abwechslungsrei­ schlussreiche Informationen vermit­ seither als Journalistin. Für die nieder­
chen Fotos zu faszinieren, sondern telt. Wer nach der Lektüre noch Lust ländische Nachrichten-Website »De
ebenso durch seine emotionalen auf weitere »Heldengeschichten« hat: Correspondent« verfasst sie regelmä­
Schilderungen. Als er einmal mit »Sea York erstellt gerade eine Datenbank ßig Beiträge über den Einfluss, den
Shepherd« unterwegs war und sie namens »Heroes of the Sea« (www. Zahlen auf unser Leben haben. In
einem Fischereischiff begegneten, heroesofthesea.org), in der sich solche ihrem Buch möchte sie die Leser vor
tauchte er ganz nah vor das riesige finden. einer allzu großen Datengläubigkeit
Fangnetz. Seine erschütternden Ein­ Die Rezensentin Katja Engel ist promovierte warnen und tut das in sechs Kapiteln
drücke von dort beschreibt er sehr Ingenieurin der Werkstoffwissenschaften und nebst Vor- und Nachwort, Quellen­
authentisch, wenn er wiedergibt, wie Wissenschaftsjournalistin. nachweisen und Lesetipps mit über­
die tausenden Tunfische im Netz wiegend englischsprachigen und
umherrasen, zappeln und gemeinsam niederländischen Publikationen.
mit ebenfalls gefangenen Hammer-
haien panisch ein Schlupfloch suchen,
MATHEMATIK Eingangs schildert Blauw, wie,
beginnend mit den Tontafeln der
um zu entkommen. Eben jene Ham­ TÜCKEN DER STATISTIK Babylonier, das Erheben statistischer
merhaie sah der Autor später wieder, Eine niederländische Journalistin Daten über die Jahrtausende hinweg
als sie als Beifang tot ins Meer zurück­ verdeutlicht anhand zahlreicher zunehmend an Bedeutung gewann
geworfen wurden. Beispiele, dass man statistische An- und heute unser ganzes Leben prägt.
Solche traurigen Momente wech­ gaben grundsätzlich kritisch bewer- Auch kommt sie auf die britische
seln sich im Buch ab mit freudigen, ten sollte. Krankenschwester und Statistikerin
wenn der Autor beispielsweise erzählt, Florence Nightingale (1820–1910) zu
wie er einen Pottwal nahekam und
dieser ihm fast ins Auge schaute oder
wie er sich freute, als Teufelsrochen
 Liest man den Titel dieses Buchs
zum ersten Mal, kann es leicht
passieren, dass man sein ergänzendes
sprechen, die während des Krimkriegs
(1853–1856) mit Hilfe selbst erstellter
Grafiken die britischen Militärbehörden
mehr als zwei Meter hoch aus dem Anhängsel »mit diesem Titel« über­ dazu bewegte, die hygienischen
Wasser sprangen. Ein rätselhaftes sieht. Er soll vermutlich die Aufmerk­ Verhältnisse in den Lazaretten zu

Die internationale Organisation »Sea


Shepherd« setzt sich für den Schutz
der Meere ein. Dafür nutzen die
Aktivisten das ehemalige Walfang-
schiff »Bob Barker« – beispielsweise,
um Gewässer zu überwachen und
illegale Fischerei zu bekämpfen.

Spektrum der Wissenschaft  2.20 87


ü
REZENSIONEN
verbessern und so die Sterberaten zu
senken. Nach diesen historischen
zu messen. Ähnliche Beispiele hätten
sich leicht ebenso in deutschsprachi­
LINGUISTIK
Vorbemerkungen stößt die Autorin gen Medien finden lassen, die Heraus­ WÄCHTER
zum Kern ihres Anliegens vor und geber beließen es jedoch im Wesentli­ DER WORTE
verdeutlicht anhand zahlreicher Bei- chen bei der Übersetzung des nieder­
spiele, dass man statistische Angaben ländischen Originals. Sprachpflege und Nationalismus
grundsätzlich kritisch bewerten sollte. Es sind bereits diverse Bücher sind ein traditionsreiches Ge-
spann, wie der Germanist Karl-
Welche Fragen dabei zu stellen sind, erschienen, die sich mit typischen
Heinz Göttert belegt.
gibt sie ihren Lesern mit auf den Weg: Interpretationsfehlern statistischer
Welche Genauigkeit haben die
Daten? Handelt es sich vielleicht nur
um einen Mittelwert? Wie groß ist die
Daten oder Manipulationsversuchen
in scheinbar objektiven Untersuchun­
gen befassen; aber auch Leser mit
 Karl-Heinz Göttert gehört offenbar
zu den Professoren, die im Ruhe­
stand noch einmal richtig loslegen.
Streuung, wie groß war der Stichpro­ entsprechenden Vorkenntnissen Seit er sich 2009 von seinen Dienst­
benumfang? werden die eine oder andere neue verpflichtungen als Professor für
Information aus dem Buch mitnehmen Ältere Deutsche Literatur an der
können. In seinen verschiedenen Universität Köln verabschiedete, hat
Sanne Blauw
DER GRÖSSTE Kapiteln behandelt es ausgewählte er im Schnitt jedes Jahr ein Buch
BESTSELLER Aspekte wie die Messung der veröffentlicht – darunter eine Kultur­
ALLER ZEITEN menschlichen Intelligenz, die Zufällig­ geschichte der Orgel. Sein Hauptan­
(MIT DIESEM
TITEL) keit von Stichproben, Manipulations­ liegen freilich ist und bleibt die deut­
Wie Zahlen uns in versuche durch angeblich nachge­ sche Sprache und ihre Geschichte.
die Irre führen wiesene Kausalität oder Big-Data-Be­ Im Jahr 2013 befasste sich Göttert
DVA, München wertungssysteme. Gleichwohl streut in »Abschied von Mutter Sprache«
2019
224 S., € 20,–
die Autorin immer wieder Beispiele unter anderem mit der Frage, ob das
ein, die nicht unbedingt zum jeweili­ Deutsche tatsächlich in Anglizismen
gen Kapitelthema passen, oder wie­ unterzugehen drohe, und konnte
derholt bereits Geschriebenes mit Entwarnung geben (»Spektrum«
anderen Worten. Das mindert aller­ Dezember 2013, S. 99). Sprachwandel
Welche Institution hat eine statisti­ dings nicht den Unterhaltungswert durch Einflüsse anderer Sprachen,
sche Untersuchung in Auftrag gege­ des Buchs. schrieb er, sei historisch eher die
ben und mit welcher Absicht? Im Nachwort meint die Autorin, Regel als die Ausnahme; Anglizismen
Lassen sich aus den Ergebnissen der man könne dank der gewachsenen und ihre Verwender öffentlich an den
jeweiligen Erhebung tatsächlich die Kritikfähigkeit der Bürger und der Pranger zu stellen, sei erstens zum
angegebenen Schlüsse ziehen? vielen statistikkritischen Veröffentli­ Scheitern verurteilt und zweitens
Wurde eventuell Kausalität mit (zufälli­ chungen in den Medien durchaus albern (was er selbst viel subtiler
ger) Korrelation verwechselt? optimistisch in die Zukunft schauen. ausdrückte). Das ging auch gegen
Erfassen die angegebenen Zahlen, Am Ende ihres Bands präsentiert sie den Verein Deutsche Sprache und
beispielsweise der IQ oder das BIP, eine Checkliste »Was man tun sollte, den Preis, den dieser alljährlich
tatsächlich das, was gemessen wer­ wenn man auf eine Zahl trifft« mit verleiht, nämlich den »Sprachpan­
den soll? sechs Prüfpunkten: Wer legt die Zahl scher des Jahres«, der sich vor allem
Wie zuverlässig sind Bewertungen vor? Was empfinde ich angesichts der gegen den Gebrauch von Anglizis­
und Rangskalen, etwa der Kreditwür­ Zahl? Wie wurde standardisiert? Wie men richtet.
digkeit eines Bankkunden oder der wurden die Daten erhoben? Wie Götterts neuestes Buch kann man
»glücklichsten Nationen«? wurden die Daten analysiert? Wie als Begleitstück zu »Abschied von
Das eingängig geschriebene Buch werden die Fragen präsentiert? Mutter Sprache« lesen. »Die Sprach­
lässt sich flüssig lesen. Mit großem Blauw schließt mit den Worten: reiniger« stellt die Geschichte eines
Fleiß hat die Autorin viele unterhaltsa­ »Wir Menschen haben die Zahlen Vereins dar, der sich ebenfalls die
me Beispiele zusammengetragen, die erfunden. Wir tragen also auch die Reinhaltung des Deutschen auf die
überwiegend aus englischsprachigen Verantwortung dafür, wie sie verwen­ Fahnen geschrieben hatte. Es handel­
Veröffentlichungen und niederländi­ det werden.« Ihr Buch trägt zur Auf­ te sich um den 1886 gegründeten
schen Pressebeiträgen stammen. klärung über Datenmanipulation bei Allgemeinen Deutschen Sprachver­
Unter anderem berichtet sie darüber, und lässt sich allen Interessierten ein, der sich – das ist aber nicht mehr
dass es bei der niederländischen empfehlen. Gegenstand des Buchs – nach dem
Polizei so genannte Strafzetteltage Zweiten Weltkrieg als Gesellschaft
gibt, die zum Ziel haben, über die Zahl Der Rezensent Heinz Klaus Strick ist Mathe-
für deutsche Sprache neu konstituier­
der verteilten Strafzettel die Einsatz­ matiker und ehemaliger Leiter des Landrat- te und in dieser Eigenschaft bis heute
bereitschaft der einzelnen Polizisten Lucas-Gymnasiums in Leverkusen-Opladen. etwa das »Wort des Jahres« kürt.

88 Spektrum der Wissenschaft  2.20


ü
Mehr Rezensionen auf spektrum.de/rezensionen

Von Anfang an, so die Grundthese vertreten war, dazu zu sagen hatte, krampfhaft zu bemänteln, sie dem
des Autors, seien im Fahrwasser der war für den Verein nicht von Belang. In Leser andererseits aber nicht aufzu­
Sprachpflege Nationalismus und akademischen Kreisen wiederum drängen. Es bleibt dem Publikum
Chauvinismus gesegelt. Zu Zeiten des befand man es oft nicht der Mühe überlassen, Parallelen zur heutigen
Allgemeinen Deutschen Sprachver­ wert, gegen den offenkundigen Dilet­ Zeit zu ziehen oder auch nicht.
eins allerdings empfand man vor allem tantismus der Sprachreiniger Stellung Göttert selbst belässt es bei Andeu­
die Sprache des soeben besiegten zu beziehen. Gegenwind kam eher von tungen im Epilog.
Kriegsgegners als feindlichen Einfluss, Seiten der Universitäten insgesamt Wenn der Ruhestand aller Profes­
nämlich das Französische. Regelmä­ sowie von Schriftstellern: Die »Erklä­ soren derart gründlich recherchierte
ßig den Kürzeren zogen gemäßigte rung der 41« warnte vor einer mögli­ und hervorragend formulierte Bü­
Vereinsangehörige wie dessen erstes chen Verarmung der Sprache im cher hervorbrächte, wäre es unbe­
Ehrenmitglied, der Generalpostmeister entfesselten Ausputzfuror. Zu den dingt angeraten, über eine Verkür­
Heinrich Stephan. Diesem war es vor Unterzeichnern zählten Theodor zung ihrer Lebensarbeitszeit nachzu­
allem darum gegangen, nach vollzo­ Fontane und der Althistoriker Theodor denken.
gener Reichsgründung eine einheitli­ Mommsen, dem für seine »Römische Die Rezensentin Vera Binder hat Sprachwis-
che und verständliche Terminologie Geschichte« 1902 der Literaturnobel­ senschaft und Philologie in Tübingen
für das nunmehr gesamtdeutsche preis verliehen wurde. studiert und ist Studienrätin im Hochschul-
Postwesen zu schaffen. Dazu gehör­ In der Zeit des Nationalsozialismus dienst am Institut für Altertumswissen-
schaften der Universität Gießen.
ten Begriffe wie »eingeschrieben« für wendete sich das Blatt. Einerseits tat
»rekommandiert« oder »Umschlag« sich der nunmehr gleichgeschaltete
für »Couvert«. Hermann Dunger Verein zunächst schwer damit, dass
wiederum, Gymnasialprofessor aus viele Nazi-Granden keineswegs ausge­ WISSENSCHAFTS-
Dresden, hatte 1882 ein Wörterbuch
zu »Verdeutschungen entbehrlicher
wiesene Fremdwortfeinde waren.
Joseph Goebbels beispielsweise,
GESCHICHTE
Fremdwörter« vorgelegt – und damit Germanist mit Doktortitel, mokierte DER ERSTE
mehr oder weniger deutlich einge­ sich 1937 in einer Rede vor der Reichs­ KOSMOLOGE
räumt, dass es auch unentbehrliche kulturkammer vielmehr über »künst­
gibt. »Dörrleiche« für »Mumie« bei­ lich erdachte Wortbildungen«, die Im 6. Jahrhundert v. Chr. speku-
lierten griechische Philosophen
spielsweise ging Dunger zu weit. »völlig am Wesen der Sprache« vorbei­
erstmals über stoffliche, nicht-
gingen. »Der Führer wünscht nicht
göttliche Ursachen des Weltge-
derartige gewaltsame Eindeutschun­
Karl-Heinz Göttert schehens. Einer von ihnen war
gen«, sah sich der Verein gezwungen
DIE SPRACH- Anaximander von Milet.
REINIGER zu drucken. Andererseits hatte man
Der Kampf gegen
Fremdwörter und
der deutsche
mit Rudolph Buttmann ein prominen­
tes NSDAP-Mitglied als Vorsitzenden,
und es kamen (wieder einmal) Überle­
 Schon die ältesten schriftlichen
Zeugnisse aus Babylon, Assyrien
und Ägypten besagten, verschiede­
Nationalismus
Propyläen, Berlin gungen auf, der Sprache eine weltbild­ ne Götter hätten die Welt erschaf­
2019 gestaltende Kraft zuzuschreiben. Das fen, verursachten alle Naturvorgän­
368 S., € 20,– bot eine willkommene Rechtfertigung ge und beherrschten die Schicksale
dafür, Wörter aus anderen Sprachen der Menschen. So wurde es dann
auszugrenzen, weil sie angeblich das über die Jahrtausende hinweg
genuin deutsche Denken und Fühlen weitergegeben. Doch im 6. Jahrhun­
zu kontaminieren drohten. dert v. Chr. versuchte sich eine
Dies und vieles mehr leuchtet kleine griechische Denkschule, die
Den Ton im Verein gaben aber Göttert bis in die dunkelsten Ecken wir heute die ionischen Naturphilo­
schon bald Eiferer wie Otto Sarrazin aus. Natürlich kommt dabei einiges an sophen nennen, an einer ganz
an, dessen langjähriger Vorsitzender. unfreiwilliger Komik zum Vorschein. anderen Erklärung. Ihre Ideen ken­
Sarrazin interessierte sich nicht dafür, »Seidling« für den Kokon oder »auteln« nen wir zwar nur fragmentarisch
ob ein Fremdwort gut eingeführt und für die Fortbewegung per Automobil und von griechischen und römi­
allgemein verständlich, im internatio­ beispielsweise. Man täte Göttert schen Berichten aus zweiter oder
nalen Sprachgebrauch anschlussfähig allerdings Unrecht, würde man sein dritter Hand. Falls sie aber richtig
oder unverzichtbares Element einer Buch auf eine Ansammlung solcher überliefert wurden, muten sie selbst
präzisen Fachterminologie war. Es Kuriositäten reduzieren. Es geht ihm aus heutiger Sicht absolut modern
ging ihm um Reinhaltung ohne Rück­ nicht um wohlfeile Denunziation und an: Was in der Welt vorgeht, so ihre
sicht auf Verluste. Was die akademi­ billige Schenkelklopfer – sein Anliegen Grundannahme, beruht nicht auf
sche Sprachwissenschaft, die in den ist Aufklärung. Dabei gelingt es ihm göttlicher Willkür, sondern auf
Reihen des Vereins nur schwach einerseits, die eigene Haltung nicht stofflichen Umwandlungen durch

Spektrum der Wissenschaft  2.20 89


ü
REZENSIONEN
Wärme und Kälte, Verdichten und
Verdünnen.
Rovelli ist zwar kein Altertumswis­
senschaftler und schießt in seiner
ZIELLOS IN DEN KONFLIKT
Als Vater dieser Naturphilosophie Begeisterung für die Modernität Ana- WORAN MODERNE
gilt Thales von Milet (Milet war eine ximanders angesichts unsicherer KRIEGE SCHEITERN
antike Handelsstadt an der Westküste Quellenlage wohl etwas übers Ziel
der heutigen Türkei). Von ihm ist der hinaus. Dafür überzeugt er aber als Ein Politikwissenschaftler analy-
Satz überliefert, das Wasser sei der prominenter Grundlagenphysiker und siert bewaffnete Auseinander­
setzungen diverser Epochen und
Ursprung von allem; durch Trocknen erfolgreicher Wissenschaftsautor.
beleuchtet ihre heutigen Mecha-
und Verfestigen sei daraus die Erde Zusammen mit Lee Smolin hat er die
nismen.
hervorgegangen. Sein Schüler Anaxi­ Theorie der Schleifenquantengravita­
mander postulierte hingegen, die
Ursubstanz sei das »apeiron«, grie­
chisch für »das Unbestimmte, das
tion entwickelt, die in Konkurrenz zur
Stringtheorie beansprucht, eine
Grundfrage der heutigen Physik zu
 »Es ist schließlich das Ergebnis
einer nüchternen Betrachtung, dass
die große Mehrheit der Kriege der
Unendliche«. Daraus entwickelte beantworten: Wie lassen sich Quan­ letzten Jahre ohne erkennbare Strate­
Anaximander eine ganze Kosmologie tenmechanik und Relativitätstheorie gie, orientierungslos und improvisie­
mit teils verblüffenden Details. So zu einer einheitlichen Theorie namens rend geführt wurde. Solche Kriege
nahm er für die Erde nicht mehr – wie Quantengravitation vereinen? abzulehnen erfordert nur Vernunft,
in den ältesten Mythen – die Form Im zweiten Teil seines Buchs keine pazifistische Überzeugung.« Bis
einer flachen Scheibe an, die von befasst sich Rovelli eigentlich mit der Jochen Hippler in seinem Buch zu
Göttern oder einer mythischen Schild­ Rolle der heutigen Naturforschung. diesem Schluss kommt, hat er auf
kröte getragen werde, sondern stellte Anaximander dient ihm dabei als his- knapp 300 Seiten eine luzide Analyse
sie sich als runden, vermutlich zylindri­ torische Parallele. So wie dieser sich zahlreicher Kriege vorgelegt und dabei
schen Körper vor, der frei im Raum von archaischen Mythen zur Erklä­ mit großer Kenntnis von Geschichte,
schwebe. Auch hielt er das Leben rung der Natur verabschiedet habe, Politik und Militär überzeugt. Der
nicht für göttlichen Ursprungs; viel­ setze sich die moderne Wissenschaft Autor ist habilitierter Politikwissen­
mehr verfocht er die These, es habe von autoritären Ideologien und popu­ schaftler und derzeitiger Länderdirek­
sich von selbst im Ozean entwickelt listischen Ideen ab. Der Autor betont: tor der Friedrich-Ebert-Stiftung in
und dann allmählich das Land erobert. Wissenschaftliches Denken unter­ Pakistan.
scheidet sich von Dogmen durch me- Dem eigentlichen Gegenstand des
thodische Skepsis. Nichts gilt als un- Buchs, nämlich dem Krieg im 21. Jahr­
Carlo Rovelli
umstößlich ausgemacht, was aller- hundert, gehen etwa 200 Seiten voran,
DIE GEBURT DER
WISSENSCHAFT dings nicht heißt, dass man empirisch auf denen Hippler die Geschichte des
Anaximander und begründete Resultate als bloße Mei­ Kriegs vom Anfang der Menschheit bis
sein Erbe nung abtun darf. Denn experimentelle heute im Schnellverfahren behandelt.
Rowohlt, Hamburg Messungen liefern objektiv gültige Kompetent befasst er sich dabei mit
2019
Daten. Sozialgeschichte, Psychologie, Organi­
232 S., € 22,–
Mit seinem Bezug auf die Anfänge sation, Militärorganisation und der
des antiken Denkens steht der Theo­ Theorie verschiedener Formen bewaff­
retiker Rovelli – möglicherweise neter Konflikte. Der Autor will »Lese­
unbewusst – in einer ehrwürdigen rinnen und Leser vor allem mit Materi­
Tradition mit den Begründern der al versorgen, selbst ihre politischen
Quantenmechanik. Schon Erwin wie ethischen Schlussfolgerungen zu
Darum sieht der Autor dieses Buchs Schrödinger erinnerte in seiner ziehen«.
Carlo Rovelli in Anaximander geradezu Schrift »Die Natur und die Griechen« Hipplers Ausgangsthese ist das
den Urvater der modernen Kosmolo­ 1956 an die ionischen Naturphiloso­ allgemein bekannte Diktum des preu­
gie. Nicht nur führte der antike Denker, phen, und Werner Karl Heisenberg ßischen Militärs Carl von Clausewitz
wie schon zuvor sein Lehrer Thales, zitierte deren Nachfolger Pythagoras (1780–1831), wonach Krieg die Fortset­
die unendliche Vielfalt der Phänomene als frühen Verfechter einer mathema­ zung der Politik mit anderen Mitteln
auf natürliche Veränderungen einer tischen Naturbeschreibung. In dieser sei. Clausewitz, heißt es in dem Buch,
Ursubstanz zurück. Erstmals setzte er Reihe macht Rovellis elegant ge­ habe als Erster nachdrücklich den
auch voraus, dass Himmel und Erde schriebenes und – bis auf ein ver­ Primat der Politik festgeschrieben, der
denselben Regeln gehorchen – ein bocktes Shakespeare-Zitat auf Seite vorher so nicht gesehen worden sei. Er
spekulativer Gedanke, den erst der 121 – schön übersetztes Buch eine war »einer der wenigen Theoretiker,
englische Naturforscher Isaac Newton ausgezeichnete Figur. der den Krieg nicht auf seine techni­
(1643–1727) gut zwei Jahrtausende Der Rezensent Michael Springer ist Physiker
schen Aspekte reduzierte, sondern
später zur wissenschaftlichen Blüte und Mitarbeiter von »Spektrum der Wissen- sich darum bemühte, ihn in seiner
bringen sollte. schaft. Komplexität zu analysieren«. Bereits er

90 Spektrum der Wissenschaft  2.20


ü
habe schon davon gesprochen, dass Nevada bis zum Einschlag (rund 12 000
Krieg ein »Chamäleon« sei, der immer Kilometer entfernt an der afghanisch-
wieder sein Gesicht ändere. pakistanischen Grenze, d. Red.) dauer­
Aus dieser Perspektive untersucht te es etwa 1,7 Sekunden.«
Hippler äußerst nüchtern etliche Kriege der Gegenwart finden nur
bisherige Kriege von der Antike bis zur noch selten direkt zwischen Staaten
Gegenwart. Er zeigt die sich ändern­ statt. Häufig sind es Maßnahmen
den Formen, die Entwicklung der gegen lokale Unruhen und Aufstände,
Waffen und ihren Einfluss auf die in die sich ausländische Mächte inter­
Kriegführung. Zugleich macht er essengeleitet einmischen, oft über
augenfällig, wie sich Kriege im Zuge Stellvertreter, vielfach als »humanitäre
der Staatenbildung von Kabinetts­ Interventionen« verschleiert oder, wie
kriegen absolutistischer Herrscher hin im Fall der deutschen Präsenz in
zu zwischenstaatlichen Konflikten Afghanistan, mit diffuser Öffentlich­
entwickelten. Noch heute bestimme keitsarbeit gerechtfertigt.
Hippler unterscheidet die unter­
schiedlichen Kriegstypen zwischen­
Jochen Hippler
KRIEG IM
staatlich-innerstaatlich; konventionell-
21. JAHRHUN- unkonventionell; bilateral-multilateral;
DERT einfach, homogen-multipel, komposit;
Militärische konstant staatlich-mutierend; subna­
Gewalt, Aufstands-
bekämpfung und tional-national-international. Diese
Spektrum
humanitäre
Intervention
Kategorien treffen aber nur selten PSYCHOLOGIE
Promedia, Wien
ausschließlich zu; gegenwärtige Das Magazin
2019 bewaffnete Konflikte sind immer
312 S., € 22,– hybride Mischformen. Es kommt laut für Kopf, Herz
Autor darauf an, jeden einzelnen und Bauch
Konflikt genauer zu analysieren, ein­
der Waffengang zwischen zwei Staa­ schließlich der Vermischung von
ten vornehmlich unser Bild vom Krieg, Kriegs- und Friedenszuständen.
obwohl diese Variante kaum je in Wie aus dem Buch hervorgeht, ist
Reinform existiert habe. Unter ande­ mittlerweile die paradoxe Situation Spektrum PSYCHOLOGIE bringt
rem nach der napoleonischen Staaten­ eingetreten, dass Kriege nicht an
bildung hätten sich Kriege deutlich mangelnder militärischer Schlagkraft Ihnen alle zwei Monate tiefere
gewandelt: Waren Zivilisten vorher scheitern, sondern an der Unfähigkeit Einsicht in das menschliche
weitgehend unbeteiligt und in der der Politiker, klare Kriegsziele zu
Opferrolle, habe die Staatenbildung definieren. Hippler zitiert den ehemali­ Miteinander, mehr Orientierung
die Gesellschaften militarisiert – die
Legitimation des Staats wurde nun zur
gen US-General Anthony Zinni: »das
Militär (ist) verdammt gut darin, Men­
in aktuellen gesellschaft lichen
Sache der ganzen Bevölkerung. schen zu töten und Dinge kaputt zu Fragen sowie positive Impulse
Über die Zeiten hinweg nahm die machen«, aber »extrem schlecht darin,
Reichweite der Waffen enorm zu, die strategischen Probleme zu lösen«.
für Ihr eigenes Leben:
besonders stark ab dem 19. Jahrhun­ Weil die Politik dies versäume, so der Kompakt und informativ.
dert mit der Industrialisierung. Krieg Autor, schleppten sich Konflikte wie
U N S P L A S H / E S T E B A N L O P E Z ( h t t p s : //u n s p l a s h . c o m /p h o t o s /n 5 7 R c H S s 4 W Q )

verlor den Charakter eines Kampfes die in Afghanistan, Irak oder Lybien
Mann gegen Mann, wurde zum Kampf
gegen einen fernen, oft anonymen
endlos dahin, ohne dass eine Staaten­
bildung oder ein anderes klar benenn­
service@spektrum.de
Feind. Zugleich erreichte im 20. Jahr­ bares Ergebnis erreicht werde. Tel.: 06221 9126-743
www.spektrum-psychologie.de
hundert die Feuerkraft eine Stärke, die Aus Hipplers Buch lernen die
ganze Städte und Regionen, potenziell Leser(innen) viel über Krieg und Politik.
sogar die Menschheit auslöschen Es ist klar, kompakt und sehr verständ­
kann. Heutige Hightech-Waffen funkti­ lich geschrieben. Der Autor analysiert
onieren zielgenau über unvorstellbare nicht nur die Vergangenheit und
Entfernungen und entkoppeln so den Gegenwart, sondern arbeitet auch die
Kombattanten vom Kampfgeschehen: Prognose heraus, dass die gegen­
»Vom Kommando des Abschusses wärtigen Nationalisierungstendenzen
einer Hellfire-Rakete dieser Drohnen in zwischenstaatliche Kriege künftig

Spektrum der Wissenschaft  2.20 91


ü
REZENSIONEN
wohl wieder wahrscheinlicher ma­ mit dem Titel »Das Auto im digitalen Prozent aller globalen menschenge­
chen. Wenn überhaupt ein Manko an Kapitalismus« geschrieben. Die Digita­ machten Emissionen. Daraus wäre die
dem Werk erkennbar ist, so dieses, lisierung, so die These des Autors, Frage abzuleiten, ob ein algorithmen­
dass eine etwas weitergehende Analy­ krempelt nicht nur Geschäftsmodelle gesteuertes Flottenmanagement
se der Kriege im Nahen Osten wün­ um, sondern verändert die Funktionali­ womöglich doch nicht so klimafreund­
schenswert wäre. Aber im Literatur­ tät des PKWs insgesamt. »Das Auto lich ist, wie die Entwickler immer
verzeichnis finden sich reichlich Ver­ wird zum IT-Produkt, seine Nutzung behaupten, und ob der elektrifizierte,
weise auf entsprechende Arbeiten. zum digitalen Service, und seine datensammelnde Verkehr nicht eher
Der Rezensent Josef König ist Germanist
Käuferinnen und Käufer werden zu Problem als Lösung ist. Dies jedoch
und Philosoph, ehemaliger Leiter der Presse- Nutzerinnen und Nutzern.« Sowohl erörtert Daum nur am Rand. Stattdes­
stelle der Ruhr-Universität Bochum und beim autonomen Fahren als auch beim sen verliert er sich in Details über
hat den Informationsdienst Wissenschaft elektrischen Antrieb und insbesondere verschiedene Aussagen von Managern
mitbegründet.
bei neuen Nutzungsmodellen seien und Politikern.
»durchgehend Kernkompetenzen der In die holprige Analyse mischen
IT gefragt«, konstatiert Daum. sich zuweilen inhaltliche Fehler. So
DIGITALISIERUNG Der Autor, der vor zwei Jahren sein schreibt Daum über »Eigentumsfor­
VORFAHRT FÜR DATEN? viel beachtetes und preisgekröntes
Werk »Das Kapital sind wir« vorgelegt
men« von Daten, obgleich Daten nach
herrschender Meinung von Juristen
Ein IT-Entwickler lotet die Zukunft hat, nimmt hinsichtlich des Datenkapi­ gar nicht eigentumsfähig sind. An
des Personenverkehrs aus. talismus nun also das »Subsystem manchen Stellen wirkt das Buch wie
Auto« unter die Lupe. Sein Buch ist ein ein Aufguss vorheriger Werke. Sätze

 Die Automobilindustrie erlebt


gerade die größte Transformation
ihrer Geschichte. Die Zeit des Verbren­
Parforceritt durch alle möglichen
Teilbereiche durchdigitalisierter Vehi­
kel – vom autonomen Fahren über
wie »Das Auto wird zum Teil eines
Mobilitätsnetzwerks« finden sich als
zentrale Aussage fast wortgleich in
nungsmotors ist zwar noch nicht Carsharing bis hin zu Robotertaxis. Auf »Das Kapital sind wir«.
vorbei, doch ihr Ende kündigt sich dieser Rundreise biegt der Autor Interessant wird es dort, wo Daum
immer lauter an. So will Norwegen ab jedoch in einige Ausfahrten ein, deren auf datenökonomische Details und
2025 keine neuen Benziner oder Diesel Sinn sich nicht recht erschließt. So Datenhoheit zu sprechen kommt. In
mehr zulassen, Kommunen verhängen schreibt er über den »Green New Barcelona etwa gibt es Kooperativen,
Fahrverbote oder verbannen Autos Deal« und autogerechte Städte, ohne in denen Daten als öffentliche Güter
ganz aus den Städten, und die Ingeni­ geteilt werden und Bürger über offene
eure in den Entwicklungsabteilungen Schnittstellen darauf zugreifen kön­
Timo Daum
der Autobauer rätseln ebenso wie die DAS AUTO IM
nen. Auch das Beispiel eines auf der
Referenten im Verkehrsministerium, DIGITALEN Berliner Stadtautobahn geblitzten
ob nun Brennstoffzellen oder Akkus KAPITALISMUS Teslas, der seine Position und Ge­
die künftigen E-Mobile mit Energie Wenn Algorithmen schwindigkeit (209 Kilometer pro
und Daten den
versorgen werden. Verkehr bestimmen Stunde) brav an die Zentrale funkte, ist
Als gäbe es nicht Baustellen genug, oekom, München erhellend – und zeigt das mögliche
treten auch noch neue Wettbewerber 2019 Kontrollpotenzial des digitalen Ver­
der Plattformökonomie wie Google 192 S., € 18,– kehrs auf.
oder Uber auf den Plan, die mit daten­ Daums Plädoyer für eine neue
getriebenen Mobilitätskonzepten – Verkehrsordnung, die den »Primat des
darunter autonomen Fahrzeugen – den Autos« in Frage stellt, und die darin
Markt und die Regulierungsbehörden enthaltene Forderung einer »kommu­
vor unerwartete Herausforderungen eine Verbindung zum Kernthema nalen Datenhoheit« sind diskussions­
stellen. Ganz zu schweigen von den herzustellen. Worin der Zusammen­ würdig, aber etwas arg verkürzt. Hier
Nachbeben des VW-Diesel­skandals: hang zwischen grünem und digitalen hätte man gern mehr gelesen. Es wäre
Jene illegale Abschaltvorrichtung, Kapitalismus besteht, erfahren die insgesamt von Vorteil gewesen, wenn
die dank entsprechender Programmie­ Leser nicht. der Autor den durchaus interessanten
rung gezielt die Abgaswerte manipu­ Dabei gibt es ja durchaus Bezüge: Zugang zum Thema – die Fokussie­
lierte, hat der Öffentlichkeit vor Augen So setzt die Datenproduktion bezie­ rung auf das Auto im Datenkapitalis­
geführt, dass Autos Computer auf hungsweise Datenverarbeitung jede mus – konsequenter verfolgt und sich
Rädern sind. In einem durchschnittli­ Menge Kohlenstoffdioxid frei. Laut nicht auf so vielen Nebenschauplätzen
chen Fahrzeug stecken 150 Millionen einer Studie der französischen Denkfa­ verloren hätte.
Zeilen Programmcode. brik »The Shift Project« verursachen Der Rezensent Adrian Lobe arbeitet als Jour-
Der IT-Entwickler und Hochschul­ allein Streamingdienste 300 Millionen nalist in Heidelberg und ist Autor der Kolumne
lehrer Timo Daum hat nun ein Buch Tonnen CO2 im Jahr. Das ist etwa ein »Lobes Digitalfabrik« auf »Spektrum.de«.

92 Spektrum der Wissenschaft  2.20


ü
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des Verlags Spektrum der Wissenschaft Spektrum LIVE-VERANSTALTUNG
Die Wissenschaft vom Whisky
Vortrag und Tasting
Östringen, 20. März 2020

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10. 2. 2020 Redaktionsbesuch Spektrum der Wissenschaft, Heidelberg
14. 2. 2020 Kuratorenführung durch die Sonderausstellung »Javagold« in den Reiss-
Engelhorn-Museen, Mannheim
9. 3. 2020 Leserexkursion zum Haus der Astronomie, Heidelberg
8. 5. 2020 Leserexkursion zum Radioteleskop Effelsberg

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21. 2. 2020 Leserexkursion zum ESO-Supernova-Besucherzentrum, Garching
21. 2. 2020 Spektrum LIVE-Vortrag über »Schwarze Löcher« in Kooperation mit dem ESO-
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13.–15. 3. 2020 Symposium »Wo sitzt der Geist? Von Leib und Seele zur erweiterten Kognition«,
Nürnberg
20. 3. 2020 Spektrum LIVE-Veranstaltung »Die Wissenschaft vom Whisky«, Östringen
3. 4. 2020 Spektrum LIVE-Veranstaltung »Schokolade: Kulinarische Phasen zwischen harter
und weicher Materie«, Frankfurt
14.4. 2020 Spektrum LIVE-Veranstaltung »Die Wissenschaft vom Whisky«, Östringen
24. 4. 2020 Spektrum Schreibwerkstatt, Heidelberg
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LESERBRIEFE
IRRITIERENDE sphäre während der winterlichen Polarnacht und der Auf-
heizung der Ozonschicht im Sommerhalbjahr.
VERALLGEMEINERUNG Wenn man dies und das im Artikel beschriebene tropi-
sche Phänomen klar auseinanderhält, dann folgt interessan-
Drei Wissenschaftler berichteten von Vorgängen in terweise: Wir haben es hier offensichtlich mit zwei physi­
der Stratosphäre, bei denen Winde regelmäßig ihre
kalisch gänzlich uneinheitlich angeregten, räumlich unter-
Richtung wechseln. (»Richtungswechsel in großer
schiedlich verteilten dynamischen Schwingungssystemen
Höhe«, »Spektrum« September 2019, S. 42)
mit zudem verschiedener Frequenz zu tun. Sie interferieren
Günter Warnecke, Berlin-Zehlendorf: Die redaktionellen bekanntlich sowohl miteinander als auch mit weiteren
Aufmachungstexte sind reichlich irritierend, weil dort nicht quasiperiodischen atmosphärischen Untersystemen, wie
von vornherein deutlich gesagt wird, dass es sich hier zu- zum Beispiel der El-Niño-/Walker-Zirkulation.
nächst nur um ein primär äquatoriales Phänomen handelt. Wenn nun gezeigt werden kann, dass und wie sogar
Auch in der Ankündigung des Artikels auf S. 3 müsste es hochintensive mesoskalige troposphärische Phänomene
bereits heißen, dass die Autoren nicht »die starken Winde wie tropische Wirbelstürme in höherskalige stratosphäri-
der Stratosphäre«, sondern deren quasibiennale Oszillation sche Vorgänge steuernd eingreifen, wäre das ein wichtiger
über dem Äquator erklären wollen. Im Übrigen erstreckt Erkenntnisschritt, der allerdings den bekannten hohen Kom-
sich die Stratosphäre nur in den Tropen von 16 bis 50 Kilo- plexitätsgrad unseres Wetter- und Klimasystems erneut
meter Höhe, in mittleren und hohen Breiten beginnt sie oft vergrößerte. Dass sich aus dieser Erkenntnis schon neue
schon in 8 bis 10 Kilometer Höhe. Prognosemöglichkeiten für das Phänomen an sich ergeben
Im obersten Bereich der Stratosphäre »sammeln sich« sollen, klingt deshalb sehr mutig.
auch nicht (S. 45 links) »die Treibhausgase wie Ozon«, die
das kurzwellige UV-Licht abfangen. Das Ozonmaximum
liegt bereits in der Mitte der Stratosphäre, bei etwa 25 Kilo-
meter Höhe. Dass es darüber bis zur Mesopause immer
DORNRÖSCHEN UND
wärmer wird, liegt allein daran, dass infolge der hohen DAS ANTHROPISCHE PRINZIP
UV-Absorptionsrate des Ozons schon die geringen Mengen Ein Gedankenexperiment sorgt für Streit unter
in 50 Kilometer Höhe für das dortige Temperaturmaximum Mathematikern: Dornröschen wird geweckt und je
sorgen. Die übrigen Treibhausgase sind eher gut durch- nach Ausgang eines vor ihr verborgenen Münz-
mischt und tragen zur hohen Mesopausentemperatur wurfs wieder in einen Schlaf versetzt, der ihre Er-
vergleichsweise wenig bei; ihre Bedeutung liegt vielmehr innerung an den Vorgang löscht. Wie wird sie nach
im infraroten Strahlungsbereich, wo wiederum das Ozon dem Aufwachen die Wahrscheinlichkeit der Ereig-
weniger beiträgt. nisse beurteilen? (»Dornröschen und die Wahrschein-
Im Kasten »Auf einen Blick« ist der erste Satz in seiner so lichkeitsrechnung«, Mathematische Unterhaltungen,
allgemeinen Aussage schlicht falsch. Dass auf dem über- »Spektrum« November 2019, S. 80)
wiegenden Teil des Globus in der Stratosphäre ein monsu-
naler, also halbjährlicher Windrichtungswechsel von über- Torsten Enßlin, Garching: Die Lösung des Dornröschen-
wiegend starkem Westwind in der jeweiligen Winterhemi- problems, welche auch Christoph Pöppe in seinem Artikel
sphäre und schwachem Ostwind im jeweiligen Sommer favorisiert, lässt sich als Variante des in der Kosmologie
stattfindet, ist nämlich schon seit 100 Jahren sowohl als verwendeten anthropischen Prinzips auffassen. Die Tatsa-
Tatbestand als auch hinsichtlich seiner Ursachen bekannt, che, dass wir auf einer bewohnbaren Erde leben, uns in
und zwar als Folge der Auskühlung der polaren Strato­ einem lebensfreundlichen Universum wiederfinden oder ALEKSANDARGEORGIEV / GETTY IMAGES / ISTOCK

Die Stratosphäre ist


verglichen mit der
darunter liegenden
Troposphäre ruhig.
Dennoch beherbergt
sie interessante Phä-
nomene.

94 Spektrum der Wissenschaft  2.20


ü
Leserbriefe sind willkommen! WO BLEIBT DIE
Schicken Sie uns Ihren Kommentar unter Angabe, auf welches
Heft und welchen Artikel Sie sich beziehen, einfach per E-Mail an BIOCHEMIE?
leserbriefe@spektrum.de. Oder kommentieren Sie im Internet
auf Spektrum.de direkt unter dem zugehörigen Artikel. Die
Wie Abnutzungsspuren auf fossilen Zähnen verra-
individuelle Webadresse finden Sie im Heft jeweils auf der ersten ten könnten, was Frühmenschen gegessen haben,
Artikelseite abgedruckt. Kürzungen innerhalb der Leserbriefe fasste Anthropologe Peter S. Ungar zusammen.
werden nicht kenntlich gemacht. Leserbriefe werden in unserer (»Die wahre Steinzeitdiät«, »Spektrum« Dezember 2019,
gedruckten und digitalen Heftausgabe veröffentlicht und können
S. 34)
so möglicherweise auch anderweitig im Internet auffindbar
werden.
Manfred Bühner, Freiburg i. Br.: Der Artikel ist sehr erhel-
lend, außerdem verdienstvoll, weil er die neumodische
»Steinzeitdiät« zurechtrückt. Allerdings bleiben beim Bio-
auch dass Dornröschen erwacht, enthält Information über chemiker gewisse Zweifel an manchen Interpretationen.
die jeweiligen Umstände. Es ist etwas weniger wahrschein- An einer Stelle wird erwähnt, dass der Enddarm der
lich, auf einem unwirtlichen Planeten, in einem lebensfeind- Berggorillas Bakterien enthält, die »beim Verdauen faserrei-
lichen Universum oder auch nur unter einschläfernden cher Nahrung mithelfen«. Das führt im Enddarm aber nicht
Umständen aufzuwachen, so dass sich allein aus der Tatsa- zum Erfolg, da hier keine Glukose ins Blut aufgenommen
che des Erwachens Rückschlüsse auf diese Umstände werden kann. Das ist schon fast alles (und wenig genug)
ziehen lassen. Dornröschen kann also wirklich bei ihrem über die Biochemie des Verdauens. Der Autor verlässt sich
Erwachen schließen, dass bei dem Münzwurf eher Zahl fast ausschließlich auf die Anatomie der Zähne.
geworfen wurde als Kopf, da sie bei Zahl doppelt so oft Es wird erwähnt, dass die »Foodprints« nach wenigen
aufgeweckt wird. Tagen wieder abgeschabt sind, also nur Aussagen über die
Hier die von Dornröschen vorgenommene Wahrschein- Nahrung der letzten Tage erlauben. Bei Fossilien sieht man
lichkeitsrechnung: Der Versuchsleiter gab die Information daher, wie auch der Autor bemerkt, nur die Ernährung in
I = »Eine faire Münze wird für Sie verborgen geworfen. Bei den letzten Tagen vor dem Tod.
Kopf werden Sie morgen, am Montag, geweckt und be- Man muss bei Betrachtung der Ernährung nicht nur die
fragt. Bei Zahl geschieht dies an den nächsten beiden Ta- Anatomie berücksichtigen, sondern auch die Biochemie der
gen, wobei Ihre Erinnerung an die erste Erweckung und Verdauung – und bei jedem Nahrungsmittel, inwiefern es
Befragung mittels Drogen noch am Montag gelöscht wird.« für Tiere und Menschen direkt verwertbare Nahrung enthält
Bevor Dornröschen diese Information bekommen hat, hätte (Zucker, Stärke, Eiweiß, Fett) und wie groß der Anteil an
sie den verschiedenen Kombinationen von Münzergebnis- unverdaulichen Substanzen ist (Zellulose, Pektine), die nur
sen (K/Z = Kopf/Zahl) und Erweckungstagen (M/D = Montag/ von gewissen Bakterien aufgeschlossen werden können.
Dienstag) aus Symmetriegründen dieselbe Wahrscheinlich- Beim Auftreten zellulosereicher Pflanzenkost muss vor
keit zugeordnet: P(K,M) = P(K,D) = P(Z,M) = P(Z,D) = 1/4. allem die Ausstattung der betreffenden Tiere mit hilfreichen
Die Information I schließt jedoch für das Erwachen symbiotischen Bakterien überprüft werden. Bei heute
die Kombination Kopf und Dienstag aus, ohne eine der lebenden Tieren sollten diese Fragen daher mit Zoologen
anderen hervorzuheben. Daher ist P(K,D|I) = 0 und P(K,M|I) =  geklärt werden, bei Fossilien ist man leider auf Vermutun-
P(Z,M|I) = P(Z,D|I) = 1/3, wie auch eine formale Rechnung gen und Modelle angewiesen.
zeigt: P(K,D,I) = 0, P(K,M,I) = P(Z,M,I) = P(Z,D,I) = 1/4. Daraus Da die Menschenaffen allgemein keine reinen Pflanzen-
folgt P(I) = 3/4, P(K,D|I) = P(K,D,I)/P(I) = 0, P(K,M|I) = P(K,M,I)/ fresser, sondern Gemischtfresser (Allesfresser) sind und
P(I) = (1/4)/(3/4) = 1/3 und so weiter. keine symbiotischen Zellulose verdauenden Bakterien
Beim Erwachen schließt daher Dornröschen, dass die aufweisen, besteht besonders bei Fossilien von Homininen,
Wahrscheinlichkeit für Kopf P(K|I) = P(K,M|I) + P(K,D|I) = 1/3 + bei denen Grasverzehr festgestellt wurde, der Verdacht,
0 = 1/3 und für Zahl P(Z|I) = P(Z,M|I) + P(Z,D|I) = 1/3 + 1/3 = 2/3 dass hier die Foodprints nicht die Gesamternährung be-
ist. Hätte der Versuchsleiter ihr für Zahl statt zwei gar schreiben, sondern lediglich das Grasfressen aus Verzweif-
1000 Erweckungen, Befragungen und Gedächtnislöschun- lung in den letzten Tagen vor dem Hungertod belegen. Sie
gen angekündigt (I’), wäre sie sich über Zahl als Ergebnis verhungerten und bissen ins Gras.
noch sicherer, P(K|I’) = 1/1001 und P(Z|I’) = 1000/1001.
Eine analoge Argumentation ist in der Kosmologie unter
dem Namen anthropisches Prinzip bekannt: Zwar ist a priori
die Wahrscheinlichkeit der Erschaffung eines Universums
ERRATUM
mit lebensfreundlichen Bedingungen bei willkürlichem »Wege zum Wasserstoff«, »Spektrum« Januar 2020, S. 56
Festlegen physikalischer Parameter verschwindend klein.
Aber da unser Universum Leben beinhaltet, deutet diese In der linken Spalte auf S. 59 fehlt bei der Angabe zu dem
Beobachtungstatsache sehr stark darauf hin, dass zumin- jährlichen Verbrauch von Wasserstoff in Deutschland ein
dest in unserem Teil des Universums die physikalischen »Milliarden«. Richtig sind 50 Milliarden Kubikmeter, wie an
Bedingungen lebensfreundlich ausgefallen sein sollten. anderer Stelle im Text zuvor bereits korrekt genannt.

Spektrum der Wissenschaft  2.20 95


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FUTUR III
Ich und ich und ich und die Zeit
Wettlauf mit einem chronisch boshaften Widersacher.
Eine Kurzgeschichte von Uwe Schimunek

N
och 20 Minuten bis zu meiner Realzeit. Ich program- »Ja.« Der Blechkamerad schwebt wieder vor meine Füße
miere die Zeitkapsel und steige aus. Beim Start und fährt die Greifer mit den Tasern aus. »Das ist eine
sieht die Kapsel beinahe aus wie ein normaler Aircar – Warnung vor den Folgen nichttödlicher Gewaltanwendung.
sie verschwindet nur schneller und saust zurück in mein Die Stromstöße sind schmerzhaft und können bei gesund-
Labor. heitlich beeinträchtigten Personen medizinische Behandlun-
Ich schlage den Kragen meiner Jacke hoch; durch die gen nötig machen.«
Fußgängerzone bläst der Wind, als wolle er die Stadt leer Ich bleibe stehen und krame in der Manteltasche nach
fegen. Aber das hält mich nicht auf. Womöglich bin ich der der ID. Was nun? Wenn ich die Karte zeige, nimmt der Kerl
Letzte, der Frotzki stoppen kann. mich fest. Vorher wird er mir einen Vortrag über die Geset-
Die App in meiner Smart-Brille meldet eine Time-Switch- ze zum zeitmanipulativen Reisen halten. Ich kenne die
Wahrscheinlichkeit von 50 Prozent. Die Chancen stehen Ausführungen, denn ich habe sie verfasst. Also nicht die
also halbe-halbe, dass ich eine Veränderung im Zeitverlauf rechtssicheren Formulierungen, sondern die Inhalte.
verhindern kann. Die Anzeige daneben bestätigt, dass ich Schließlich hat mein Team die Zeitkapsel entwickelt.
den Mindestabstand zu meinem T-Null-Ich habe. Deswegen Nachdem die Kollegen aus der Physik das Hawkingsium
machen mir die Überwachungskameras keine Sorgen. mit der negativen Masse entdeckt hatten, mussten wir
An der Straßenecke leuchtet die Sub-Tube-Station. Vor Ingenieure damit nur noch eine Maschine bauen. In ihrem
dem Eingang schwirren ein paar Drohnen herum. Ich greife Inneren wird das Raumzeitgefüge so stark gekrümmt, dass
in die Manteltasche, finde eine Münze und lasse sie fallen. man an einen Punkt in der Vergangenheit zurücktunneln
Beim Aufheben aktiviere ich die virtuelle Maske an meiner kann. Damit nutzt man die Unschärfe der körnigen Quan-
Smart-Brille. Irgendwann entdecken mich Frotzkis Algo­ tengravitationseinheiten aus, sagen die Experten. Allzu weit
rithmen trotzdem. Doch vorher sitze ich längst in der Tube zurück geht’s leider nicht. Aber die eine oder andere Stunde
zum Campus. ist schon drin.
Ich betrete die Rolltreppe und versuche, möglichst Diese Details kennt der Sicherheits-Bot natürlich nicht,
beiläufig an den Passanten vorbei nach unten zu eilen. er ist eine Basisausführung für den Streifendienst. Er steht
Niemand beachtet mich. Die Augen zucken hinter den vor mir mit seinen Tasern und ahnt nichts vom Ärger mit
Gläsern der Brillen, folgen vermutlich Nachrichten- oder der Zeit. Denn schon mit Reisen in die jüngste Vergangen-
Unterhaltungsprogrammen. Auf der Plattform schwingen heit lässt sich allerhand Unsinn anstellen.
die Tubes aus den Röhren. Ich steige ein. In der Tube sitzt

F
nur ein Mann. Ist das einer von Frotzkis Leuten? rotzki zum Beispiel hat mit der Zeitkapsel eine steile
»Bitte Platz nehmen, wir starten«, sagt eine Frauenstim- Karriere gemacht. Es ist ein offenes Geheimnis, dass er
me, bevor ich den Mann näher betrachten kann. Es zischt. mehrere Mitglieder der flugs eingesetzten parlamentari-
Die Beschleunigung wirft mich in den Sessel. Nur einen schen Zeitreise-Kommission mit dem Doppelten-Mann-
Wimpernschlag später dreht sich der Sitz. Nun drückt mich Trick übertölpelt hat.
das Abbremsen ins Polster. Erst hat er politische Gegner zu heiklen Absprachen in
»Universität«, sagt die Frauenstimme. Ich stehe auf. Der Hinterzimmern überredet. Dann ist er genau dorthin zurück-
Mann ebenso. Anscheinend zeigt ihm seine Brille erst jetzt gereist, um ebendiese Deals mit der Kamera zu dokumen-
an, dass ich existiere. Er lässt mir den Vortritt. Gut, denn tieren und seine Gegenüber zu erpressen. Am Ende hatte er
ich habe es eilig. Noch 15 Minuten bis zur Realzeit. Ich eile genug Kommissionsmitglieder in der Hand und wurde zum
die Rolltreppe hinauf. Der Campus liegt menschenleer im Institutsleiter und Chefberater der neuen Aufsichtsbehörde
Dämmerlicht. Im Laborgebäude sehe ich einen Schatten. ernannt. Seitdem kontrolliert er sich selbst.
Frotzki? Und mich. Ich musste die Regeln in seinem Auftrag
»Mobile Polizeieinheit. Routinekontrolle! Bitte weisen formulieren: Mindestabstand zum eigenen T-Null-Ich hal-
Sie Ihre T-Zeit aus!« Die Normstimme des Sicherheits-Bots ten, mit der Zeitkapsel stets wenige Sekunden nach der
kommt von hinten. Ich gehe weiter. So kann ich den Bot Startzeit zum Ausgangsort zurückkehren. Ausgerechnet
nicht abschütteln, aber Zeit und ein paar Meter gewinnen. Frotzki und seine Männer sollen das überwachen.
Die Einheit schwebt an mir vorbei, deaktiviert meine Maske Deswegen habe ich das Time-Switchometer konstruiert.
und versperrt mir den Weg. »Bitte weisen Sie Ihre T-Zeit Das Gerät zeigt mir die Wahrscheinlichkeit von Zeitmanipu-
aus!«, wiederholt der Bot. Ich weiche ihm aus und frage: lationen an – sowie den Ort und den Zeitpunkt, an dem sie
»Meinen Sie mich?« ausgelöst wurden. Darum stehe ich jetzt hier. Den Daten

96 Spektrum der Wissenschaft  2.20


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nach hat es jemand auf das Time-Switchometer abgese- Hinter mir öffnet sich die Tür. Ich trete ein. Also mein
hen. Ich wette, es handelt sich um Frotzki. Nur mein Gerät T-Null-Ich, das eigentlich zu spät kommt, um Frotzki davon
kann ihn noch in Schach halten. abzuhalten, das Switchometer zu sabotieren. Es schaut
Der Bot ruht vor mir, einzig seine optischen Sensoren ziemlich verdattert. Kein Wunder, schließlich wird es mich
zeigen, dass er nicht in den Standby-Modus geschaltet und T-Zwei erst in ein paar Minuten auf den Weg schicken –
hat. Der lässt mich wahrscheinlich bis morgen in meinen nachdem Frotzki das Switchometer sabotiert hätte.
Taschen kramen. So viel Zeit habe ich aber nicht. »Das Spiel ist noch nicht vorbei!«, ruft Frotzki trotzig.
»Ich muss meine ID im Büro vergessen haben«, sage ich. »Ich habe auch eine Zeitkapsel und kenne den Doppelten-
»In diesem Fall begleiten Sie mich bitte zwecks T-Zeit- Mann-Trick. Wenn ich in ein paar Minuten nicht zurück in
Überprüfung auf die Dienststelle.« meinem Büro bin, startet mein T-Null erneut und macht
»Das Büro ist gleich dort im Gebäude.« dieses Teufelsding eben noch früher kaputt. Ich weiß, dass
»Die Vorschriften ordnen eine Überprüfung auf der Sie mit der Zeitkapsel auch umgehen können, und bin
Dienststelle an.« darauf vorbereitet!«
Ich seufze. Der Bot vibriert. Zwischen seinen optischen Nicht provozieren lassen, denke ich.
Sensoren sprühen Funken. Es knistert und riecht nach

M
verbranntem Plastik. Die Blechkiste kippt zu Boden; es ein T-Null-Ich scheint mittlerweile die Lage verstan-
scheppert, als würde eine Mülltonne umfallen. den zu haben und sagt: »Also! Wir haben es gehört.
Hinter dem Schrott-Bot tauche ich auf und sage: »Wow!« Sein T-Null muss im Büro bleiben und darf die Zeit-
Ich sehe die Augen meines Ichs leuchten. Der Stromscho- maschine nicht benutzen.« Mein T-Null zeigt auf Frotzki.
cker in der Hand qualmt noch. »Dann verschwindet der da von allein.«
»Bist du mein T-Null?«, frage ich. »Jo!«, ruft T-Zwei, zückt den Schocker und macht sich
»Quatsch, T-Zwei.« bereit zum Gehen. Wieso ist der so aggressiv? Steckt das
Also ist die Zeitkapsel rechtzeitig im Labor angekommen in mir?
und mein T-Null-Ich ist kurz vor meiner kleinen Zeitreise »Nicht du.« Mein T-Null guckt zu mir. Ich? Offenbar
noch einmal gestartet, denke ich. Umso besser. Zu dritt sehen alle meine fragende Miene, denn mein T-Null erklärt:
kommen wir mit Frotzki sicher klar. In meinem Display sinkt »T-Zwei muss gleich in die Kapsel und die Zeitreise starten.
die Time-Switch-Wahrscheinlichkeit prompt auf 25 Prozent. Dann bin ich allein im Büro. Wie ursprünglich. Danach
»Schnell!«, ruft mein anderes Ich. Es steckt den Scho- steige ich in die Kaspel. So sollte diese Aktion den geringst-
cker ein und sprintet los. Ich bin nicht besonders gut in möglichen Einfluss auf den Zeitverlauf haben. Und ab
Form. Nach ein paar Schritten fehlt mir die Luft. Zum Glück meinem Start gibt es wieder nur einen von uns«, sagt mein
ist mein Büro im Erdgeschoss. Wir stürmen ins Labor. T-Null und zeigt auf mich. »Dann übernimmst du.«
Frotzki steht mit dem Rücken zu uns an der neuen »Aber ich bin doch als Zweites …«, sagt T-Zwei und
Konsole. Ich sehe den faltenfreien Anzug, den Politiker und guckt verzweifelt den Schocker an.
Manager als Uniform tragen. Frotzki scheint uns nicht zu »Aber vorher, denn für T-Eins bin ich später und weiter
bemerken. Seine Finger fliegen über die Befehlszeilen auf zurückgereist«, sagt mein T-Null.
dem Touchdisplay meines Zeit-Switchometers. Wir müssen »Dann hab ich nur die paar Minuten?«, fragt T-Zwei.
eingreifen. Er braucht allenfalls noch ein paar Sekunden, »Du bist ich!«, entgegnet T-Null.
um die Software auf dem Gerät zu löschen. Ich verstehe. Also wir. In der Anzeige sinkt die Wahr-
Mein T-Zwei-Ich zieht den Elektroschocker aus der scheinlichkeit für einen Time-Switch auf vier Prozent – un-
Tasche. Ich schaue ihn an und schüttle den Kopf. T-Zwei ser Plan scheint zu funktionieren.
verdreht die Augen. »Na gut«, sagt T-Zwei und klingt resigniert. »Ich passe
»Hey!«, rufe ich. auf diesen Frotzki auf, bis er weg ist.« Er drückt mir den
Frotzki dreht sich um und erstarrt. Sein Mund steht Elektroschocker in die Hand. »Denk dran, Frotzkis T-Null
offen, er sagt aber nichts. Nur seine Augen gucken ab- darf nicht aus seinem Büro raus …«
wechselnd zu T-Zwei und mir. Für einen Moment surren nur »… bis die Time-Switch-Wahrscheinlichkeit bei null
die Lüfter der Computer im Labor. Mein T-Zwei findet zuerst liegt«, ergänze ich.
Worte und ruft: »Finger weg!« Dazu winkt T-Zwei mit dem Auf dem Weg zur Tür stecke ich den Schocker in die
Schocker. Tasche. Ich kläre das mit Worten. Das kann ich viel bes-
Frotzki tritt langsam von dem Gerät weg. Sein Gesicht ser. Oder? 
sieht aus wie ein Fragezeichen. Er murmelt: »Wo kommt ihr
eigentlich her? Ich hätte das Gerät gleich zerstört! Wieso DER AUTOR
konnte es euch warnen?«
Uwe Schimunek lebt als Autor und Journalist in Leipzig.
»Ich habe eine Kopie als App laufen«, antworte ich und Er veröffentlicht Krimis, Kinderbücher sowie Kurz- und
tippe auf meine Brille. »In die Synchro ist ein Fallback Sachtexte. Seine SF-Storys erschienen unter anderem in
programmiert, das die Werte auch bei einer Manipulation »Exodus«, verschiedenen Jahresanthologien und Büchern
des Switchometers variieren lässt.« Die Anzeige vermeldet zu den Fantastikmessen Elstercon und ColoniaCon.

immer noch eine Wahrscheinlichkeit von zwölf Prozent. www.uwe-schimunek.de

Spektrum der Wissenschaft  2.20 97


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Das Märzheft ist ab 22. 2. 2020 im Handel.

VORSCHAU

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MATDESIGN24 / GETTY IMAGES / ISTOCK; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT
DER ERD-THERMOSTAT
In einem faszinierenden Regelkreislauf
halten sich die natürliche CO2-Produk­
tion und dessen Verbrauch durch
Gesteinsverwitterung die Balance. Mo­
dernste Isotopenmessungen verraten,
was geschah, als dieses System in der
Vergangenheit aus dem Gleichgewicht
geriet.

PETROVICH12 / STOCK.ADOBE.COM
DIE UNLÖSBARE AUFGABE
Obwohl Forscher seit Jahrhunderten wissen, dass es unmöglich
ist, die Flugbahnen dreier sich gegenseitig anziehender Objekte
zu berechnen, birgt das Drei-Körper-Problem einige Überraschun­ FLUCHT AUS DEM
gen. Indem sich Wissenschaftler auf einzelne Aspekte des SCHWARZEN LOCH
­Themas konzentrieren und Konzepte aus unterschiedlichen Diszi­ Was Schwarze Löcher einmal ver­
plinen vereinen, machen sie faszinierende mathematische Ent­ schluckt haben, sollten sie eigentlich
deckungen. nie mehr frei geben. Dem widerspre­
chen quantenmechanische Überlegun­
gen. Seit Jahrzehnten gibt es diverse
DAS VIROBIOM Szenarien, um das Dilemma zu lösen.
NOPPARIT / GETTY IMAGES / ISTOCK

Neue Beobachtungstechniken könnten


Unser Organismus enthält nicht offenbaren, was wirklich passiert.
nur mindestens ebenso viele
bakterielle wie menschliche
Zellen, sondern auch zahllose
Viren, mit denen wir dauerhaft NEWSLETTER
koexistieren. Die meisten von Möchten Sie über Themen und Autoren
ihnen sind Bakteriophagen, die des neuen Hefts informiert sein?
für eine Balance unseres Mikro­ Wir halten Sie gern auf dem Laufenden:
bioms sorgen. Zudem beein­ per E-Mail – und natürlich kostenlos.
flussen sie Stoffwechsel sowie Registrierung unter:
Wundheilung und lassen sich spektrum.de/newsletter
medizinisch nutzen, um bakteri­
elle Infektionen zu bekämpfen.

98 Spektrum der Wissenschaft  2.20


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