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20
2.20
Rätsel
Deutsche Ausgabe des SCIENTIFIC AMERICAN
Bewusstsein
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TOSTPHOTO / GETT Y IMAGES / ISTOCK
RÄTSELHAFTES
GEHIRN
Hartwig Hanser, Redaktionsleiter
hanser@spektrum.de
Als ich mich an das Schreiben dieses Editorials machte, fiel mir sofort meine
allererste Arbeitswoche im Verlag ein. Damals, im September 2001, musste
ich ein passendes Titelthema für die Startausgabe des gerade neu gegründeten DANIEL T. KSEPKA
Magazins »Gehirn&Geist« finden. Ich begann mental die großen Fragen der Am Bruce Museum in Greenwich,
Neurowissenschaft durchzugehen und hatte schnell die Antwort – ganz klar: USA, forscht der Paläontologe
»Auf der Suche nach dem Bewusstsein«! über Reptilien, die im Schatten
Bald zwei Jahrzehnte später zählt das Thema immer noch zu den großen der Dinosaurer lebten und heute
ungelösten Rätseln der Wissenschaft. Wie schaffen es knapp drei Pfund glibbe nahezu unbekannt sind (S. 36).
riges Nervengewebe, ein Gefühl für das eigene Selbst zu erzeugen? Seit Jahr
zehnten fahnden Neurowissenschaftler nach den »neuronalen Korrelaten des
Bewusstseins« im Gehirn, ohne eine definitive Antwort zu finden. Was ist so
besonders an diesem Organ aus knapp 100 Milliarden Nervenzellen im Unter
schied zu anderen Geweben? Einfach die schiere Anzahl an Zellen? Nicht unbe
dingt, denn rund drei Viertel aller Hirnneurone befinden sich im Kleinhirn, das für
das Bewusstsein keine Rolle spielt. Wichtiger scheint hier die spezielle neuronale
Verschaltung in der Großhirnrinde zu sein. Der Neurowissenschaftler Christof
Koch, Direktor des Allen Institute for Brain Science in Seattle, berichtet ab S. 12
über den aktuellen Stand der Forschung zum Thema und stellt die beiden heute ERNST A. WIMMER,
populärsten Theorien dazu vor, wie Bewusstsein im Gehirn entsteht. GEORG OBERHOFER
Daneben ist unser Denkorgan ständig damit beschäftigt, die einlaufenden Die beiden Biologen erkunden
Sinneseindrücke zu einem Abbild der Welt um uns herum zusammenzufügen. neue Ansätze zur Schädlings
Laut neueren Erkenntnissen läuft dieser Vorgang aber gewissermaßen rückwärts bekämpfung. Dabei setzen sie
ab, wie der Kognitionsforscher Anil Seth von der University of Sussex ab S. 18 auf »Gene Drives«: die beschleu
beschreibt. Demzufolge stellt das Gehirn zunächst Prognosen über die Umwelt nigte Ausbreitung von Genen
auf und gleicht diese erst danach mit den Sinnessignalen ab. Somit leben wir alle in Populationen, etwa um Krank
in einer Art kontrollierter Halluzination und in unserer jeweils eigenen, einzigarti heitsüberträger unschädlich
gen Welt. Das könnte nicht nur soziale Phänomene wie Filterblasen im Internet zu machen (S. 46).
erklären, sondern auch das Entstehen psychischer Störungen wie Schizophrenie.
Bei diesen Patienten dominiert die innere Hypothese derart, dass sie nicht mehr
gemäß den Umweltinformationen korrigiert wird und ein Eigenleben entfaltet.
Das nennen wir dann Wahnvorstellung.
Mit diesen beiden Artikeln beginnen wir unsere neue Serie über die Erforschung
des menschlichen Gehirns und seiner Aufgaben. Eine bewusstseinserweiternde
Lektüre wünscht Ihnen
TEVA VERNOUX,
CHRISTOPHE GODIN,
FABRICE BESNARD
Drei Wissenschaftler von der
Archäologie Geschichte Kultur
Ecole normale supérieure in Lyon
4.19
SPEZIAL bringen ab S. 52 Botanik und
Geschichte Kultur Helden 4.19
In Kooperation mit
SPEZIAL Archäologie Geschichte Kultur
28.11.19 15:10
001-001_Cover [P].indd 1
80 IMPRESSUM
69 CHEMISCHE UNTERHALTUNGEN ATEMNOT AUF ZELLULOID
81 FREISTETTERS FORMELWELT Wie realistisch ist die Chemie in den Filmen »Das Boot« und »Apollo 13«?
Von Matthias Ducci und Marco Oetken
Vollkommen logisch
Die Mathematik der Such-
maschinen. 72 ASTRONOMIE BLICK INS DUNKLE ZEITALTER
Eine neue Generation von Radioteleskopen liefert Signale aus der Frühzeit des
86 REZENSIONEN Kosmos.
Von Davide Castelvecchi
94 LESERBRIEFE
82 WISSENSCHAFTSPHILOSOPHIE
96 FUTUR III – KURZGESCHICHTE WIE UNIVERSELL SIND NATURGESETZE?
Neue Serie: Grundbegriffe der Wissenschaft Die fundamentalen Regeln der
98 VORSCHAU Physik gelten nur unter idealen Bedingungen. Doch die gibt es praktisch nie.
Von Alexander Mäder
TITELBILD:
HANK GREBE / STOCK.ADOBE.COM;
BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT
MONSITJ / STOCK.ADOBE.COM
TITELTHEMA
WAS IST BEWUSSTSEIN?
EMMA SKURNICK
52
BOTANIK
ZAHLENSPIELE
IM REICH DER
PFLANZEN
36
PALÄONTOLOGIE
GEHEIMNIS-
RAZZEL / STOCK.ADOBE.COM
VOLLE
REPTILIEN
TAMARA WORZEWSKI
82
WISSENSCHAFTSPHILOSOPHIE
WIE UNIVERSELL SIND
NATURGESETZE?
64 Alle Artikel auch digital
auf Spektrum.de
ATMOSPHÄRE Auf Spektrum.de berichten
DER WOLKEN- unsere Redakteure täglich
STAUBSAUGER VON aus der Wissenschaft: fundiert,
SPITZBERGEN aktuell, exklusiv.
STEINZEIT-SCHÖNHEIT
lagers, in dem Menschen vor 23 000 Paläolithikums am Ende der letzten handelte. Einige Archäologen vertreten
Jahren ihre Beute zerteilten und neben Eiszeit. Wen die üppige Nachbildung hingegen die Meinung, dass sie eine
Steingeräten auch Figurinen anfertig darstellen soll oder welche Bedeutung angesehene Frau der Gemeinschaft
ten. Der Fund, der hier von allen Seiten sie hatte, ist dagegen unklar. Denkbar wiedergibt.
zu sehen ist, stammt aus dem Gravet wäre, dass es sich um Bildnisse von Pressemitteilung des Inrap, Dezember
tien, einer der letzten Kulturstufen des Mutter- oder Fruchtbarkeitsgöttinnen 2019
EVOLUTION
SIND HEUTIGE MENSCHENAFFEN SCHLAUER ALS UNSERE VORFAHREN?
INFORMATIK
DER KOAUTOR VON SHAKESPEARE
SONNENSYSTEM
ENCELADUS’
TIGERSTREIFEN
MONSITJ / STOCK.ADOBE.COM
WAS IST
BEWUSSTSEIN?
Erst allmählich lüften
Naturwissenschaftler
ein Geheimnis, das
Philosophen seit der
Antike beschäftigt.
spektrum.de/artikel/1693092
NEUE SERIE
Das menschliche Gehirn
Stirnlappen
Hirnstamm
hirn funktional in hunderte oder mehr eigenständige ten. Naheliegend wäre, dass Sie eine eigenartige Überlage
Rechenmodule aufgeteilt. Jedes arbeitet parallel mit eige rung von Trump und Merkel wahrnähmen. Doch tatsächlich
nen, sich gegenseitig nicht überlappenden Ein- und Aus werden Sie für einige Sekunden Trump sehen, der dann
gangssignalen, um Bewegungen oder kognitive Prozesse zu verschwindet und von Merkel ersetzt wird, bevor wiederum
steuern. Die einzelnen Module interagieren nur sehr selten Trump erscheint. In einem endlosen Tanz wechseln sich die
miteinander, was für bewusstes Erleben unabdingbar wäre. beiden Bilder ab. Neurowissenschaftler nennen dieses
Das Bewusstsein erscheint folglich nicht wie der Geist Phänomen binokulare Rivalität. Auf Grund des mehrdeuti
aus der Flasche, sobald ein beliebiges Nervengewebe gen Inputs kann sich das Gehirn nicht entscheiden: Ist es
gereizt wird. Es braucht einen zusätzlichen Faktor. Den Trump oder Merkel?
finden wir in der grauen Substanz der Großhirnrinde: dem Wenn Sie während dieses Versuchs in einem Magnet
komplex vernetzten Nervenzellgewebe an der Außenseite resonanztomografen liegen, der Ihre Hirnaktivität aufzeich
des Gehirns. Alle verfügbaren Anhaltspunkte sprechen net, werden die Experimentatoren sehen, wie sich Neurone
dafür, dass der sensorische und motorische Teil der Groß in einem breiten Areal im Kortex regen. Diese so genannte
hirnrinde, der so genannte Neokortex, Gefühle erzeugt. »hintere heiße Zone« (posterior hot zone, PHZ) erstreckt
Der Sitz des Bewusstseins lässt sich weiter eingrenzen, sich über Teile des Scheitel-, des Schläfen- und des Hinter
beispielsweise durch Experimente, bei denen den beiden hauptlappens (siehe »Spuren des Bewusstseins«, oben).
Augen verschiedene Reize präsentiert werden. Stellen Sie Sinneseindrücke, wie die Bilder von Merkel und Trump,
sich vor, ein Foto von Donald Trump erscheint vor Ihrem nehmen wir erst wahr, wenn sie in diesem Areal verarbeitet
linken Auge und eines von Angela Merkel vor Ihrem rech werden. Eine Information, die über den Sehnerv im primä
Nur mit einem Modell weiter herausarbeiten. Immer bessere Werkzeuge helfen
uns dabei, denn sie erlauben uns, das vielschichtige Zusam
können wir erschließen, menwirken der Neurone unseres Gehirns genauer zu unter
suchen. In Anbetracht der immensen Komplexität unseres
welche Systeme dazu fähig zentralen Nervensystems wird d ieses Unterfangen aller
dings noch Jahrzehnte in Anspruch nehmen. Zum Zweiten
sind, bewusst zu erleben müssen wir die beiden konkurrierenden Theorien des
Bewusstseins mit Daten bestätigen oder widerlegen.
Vielleicht entsteht auch aus den Trümmern der beiden eine
bessere Theorie, die das große Rätsel unserer Existenz
Die Theorie der integrierten Information (integrated befriedigend erklärt: wie aus einem drei Pfund schweren
information theory, IIT), die Tononi und andere, ich einge Organ mit der Konsistenz von Tofu ein Gefühl für das Selbst
schlossen, entwickelten, wählt einen anderen Ausgangs entspringt.
punkt: das Erlebte selbst. Jede erlebte Erfahrung besitzt
bestimmte grundlegende Eigenschaften. Sie ist intrinsisch,
existiert also nur für ihren »Besitzer«; sie folgt einer zeit QUELLEN
lichen Chronologie (zum Beispiel registrieren wir, wie ein Casarotto, S. et al.: Stratification of unresponsive patients by
gelbes Taxi bremst, während ein brauner Hund über die an independently validated index of brain complexity. Annals of
Straße läuft), und sie ist spezifisch; sie unterscheidet sich Neurology 80, 2016
von anderen bewussten Wahrnehmungen wie Szenen in Crick, F., Koch, C.: A framework for consciousness. Nature
einem Kinofilm. Außerdem bilden alle Eindrücke eine Neuroscience 6, 2003
untrennbare Einheit. Wenn Sie etwa an einem warmen Tononi, G.: An information integration theory of consciousness.
Sommertag auf einer Parkbank sitzen und Kindern beim BMC Neuroscience 5, 2004
spektrum.de/artikel/1693094
Am 10. April 2019 saßen Papst Franziskus, der süd
sudanesische Präsident Salva Kiir Mayardit sowie der
frühere Rebellenführer Riek Machar im Vatikan zusam
men beim Abendessen. Sie speisten schweigend. Es war
der Beginn einer zweitägigen Klausur. Ihr Ziel: die Versöh
nung nach einem Bürgerkrieg, in dem seit 2013 rund
400 000 Menschen ums Leben gekommen waren.
Ungefähr zur gleichen Zeit bereitete mein Doktorand
Alberto Mariola ein neues Experiment vor. Sein Ziel: Ver
suchspersonen sollten erleben, wie sie in einem Zimmer
saßen, das es in Wirklichkeit so nicht gab.
Mancher Psychiatriepatient klagt, die Welt um ihn herum
oder sogar sein eigenes Ich sei nicht mehr »real«. Was echt
ist und was nicht, erscheint in unseren heutigen Gesell
schaften zunehmend beliebig zu werden. Kriegsparteien
nehmen unterschiedliche Realitäten wahr und glauben fest
daran. Dann kann es helfen, schweigend zusammen zu
essen, schafft man doch so ein kleines Stückchen gemein
same Realität, auf das sich alle einigen können – eine
stabile Plattform für die weitere Verständigung.
Grundlegend unterschiedliche innere Universen finden
wir aber nicht nur bei Kriegen oder Psychosen. 2015 kur
sierte im Internet das schlecht belichtete Foto eines Kleids
(siehe Weblink S. 24) und spaltete die Welt: Für die einen
(darunter ich) war es blau und schwarz, für die anderen
(darunter die Hälfte meiner Institutsbelegschaft) erschien es
weiß und golden. Beide Seiten waren von ihrer Sichtweise
vollkommen überzeugt und konnten sich schlicht nicht
vorstellen, dass andere das nicht so sahen.
Wie leicht sich unsere Wahrnehmungssysteme austrick
sen lassen, wissen wir alle. Von dem Phänomen zeugen
etwa die allseits beliebten optischen Täuschungen: Zwei
Linien scheinen unterschiedlich lang zu sein. Wenn man
allerdings nachmisst, erweisen sie sich als exakt gleich. Wir
1 Die Realität, die wir wahrnehmen, ist kein unmittel einige Jahrhunderte danach argumentierte Immanuel Kant
bares Abbild der objektiven Außenwelt. (1724–1804), das Chaos der uneingeschränkten sensori
schen Eindrücke bleibe immer sinnlos, wenn es nicht durch
Nach klassischer Vorstellung (links) fließende Signale dienen nur dazu, lage früherer Erfahrungen anstellt.
funktioniert die Wahrnehmung als das Wahrgenommene zu verfei Aus den einströmenden Sinnes
direktes Fenster zur äußeren Reali nern. Im Gegensatz dazu beruht signalen ermittelt das Gehirn Unter
tät. Augen, Ohren, Nase, Zunge und nach der Theorie der Vorhersage schiede zur Vorhersage, den Vor
Haut senden ihre Sinnessignale von maschine (rechts) die Wahrneh hersagefehler, die dann in neue
unten nach oben (»bottom up«) zum mung auf von oben nach unten Hypothesen eingehen. Demnach
Gehirn und präsentieren uns die (»top down«) gerichteten Progno entsteht Wahrnehmung aus einer
Außenwelt, wie sie ist. Umgekehrt sen, die das Gehirn auf der Grund kontrollierten Halluzination.
Kontext:
Essen
To
p-
owd
n-
Si
gn
al
e
Top-down-Signale
Bottom-up-Signale
Bottom-up-Signale
Sinneseindruck:
Vorhersagefehler
Apfel
sensorischer
Gesicht
oder
Apfel?
MATTEO FARINELLA / SCIENTIFIC AMERICAN SEPTEMBER 2019
Umgebung so zu erleben, dass das Erlebte nicht echt ist, denn trotz ausgeklügelter
Computergrafiken liefert derzeit kein VR-Umfeld ein so
als wäre sie real überzeugendes Erlebnis, dass es nicht von der Realität zu
unterscheiden wäre. Dieser Herausforderung stellen wir
uns inzwischen mittels einer neuen Einrichtung zur »Ersatz
realität«. Anfang 2019, just als Papst Franziskus mit Salva
Forscher um Christoph Teufel von der britischen Cardiff Kiir Mayardit und Riek Machar in Klausur ging, entwickelten
University testeten damit Patienten, die im Frühstadium wir ein System, in dem Versuchspersonen eine Umwelt als
einer Psychose zu Halluzinationen neigten. Wie sich zeigte, real erleben – und sie für real halten –, obwohl sie das in
erkennen diese Personen, nachdem sie mehrfach die Wirklichkeit nicht ist.
vollständigen Abbildungen gesehen hatten, besser als
gesunde Kontrollprobanden, was sich hinter solchen Zwei Das irreale Zimmer
tonbildern verbirgt. Mit anderen Worten: Die Neigung zu Dahinter steckt ein einfacher Trick: Wir machen wieder
Halluzinationen wirkt sich auf die Wahrnehmung aus. Panoramaaufnahmen, diesmal allerdings im Innern unseres
Genau das ist zu erwarten, wenn psychotische Halluzinatio Labors. Wir bitten unsere Versuchspersonen, auf einem
nen durch eine zu starke Gewichtung der Prognosen des Schemel in der Mitte des Raums Platz zu nehmen und ein
Gehirns ausgelöst werden, so dass sie dominieren und die VR-Headset aufzusetzen, in das vorne eine Kamera einge
Wahrnehmung von ihren äußeren Ursachen entkoppeln. baut ist. Die Probanden sollen sich damit im Zimmer um
Mit einem simplen Versuchsaufbau lösten Philip Corlett schauen. Aber ohne es ihnen zu sagen, schalten wir irgend
von der Yale University in New Haven (USA) und seine wann um, so dass das Headset jetzt statt der echten Szene
Kollegen Halluzinationen aus: Ihre Probanden sahen zu das zuvor aufgenommene Panoramavideo zeigt. Die meis
nächst einen Lichtreiz, wobei gleichzeitig ein Ton erklang. ten Menschen erleben das Gesehene weiterhin als real,
Nach einigen Durchgängen glaubten die Versuchspersonen obwohl es sich um eine vorproduzierte Aufnahme handelt.
den Ton zu hören, wenn nur das Licht aufleuchtete. Wie Offensichtlich kann man Menschen dazu bringen, eine
bildgebende Verfahren dabei offenbarten, sind an dieser unwirkliche Umgebung so zu erleben, als wäre sie vollstän
prädiktiven Wahrnehmung bestimmte Hirnareale wie der dig real. Allein diese Erkenntnis eröffnet Neuland für die
tief im Schläfenlappen liegende Sulcus temporalis superior VR-Forschung: Wir können ausprobieren, wo die Grenzen
beteiligt, der spezifisch die Top-down-Vorhersagen mit dessen liegen, was Menschen als real erleben und für echt
akustischen Signalen koppelt. halten. Außerdem können wir erkunden, wie sich das
Statt Hirnaktivitäten zu untersuchen, simulieren wir in Erlebnis, Dinge für real zu halten, auf andere Aspekte der
meinem Institut an der University of Sussex verschobene Wahrnehmung auswirkt.
Wahrnehmungsprioritäten mittels virtueller Realität (VR). Die Idee, die Welt unseres Erlebens sei nicht real, taucht
Keisuke Suzuki konstruierte dafür eine »Halluzinations immer wieder in Philosophie und Sciencefiction, aber
maschine«: Mit einer 360-Grad-Kamera filmten wir zu auch bei manch nächtlichem Stammtischgespräch auf. Im
nächst an einem Dienstagmittag einen belebten Platz auf
dem Unigelände. Die Aufnahmen verarbeiteten wir dann
mit einem Algorithmus auf der Grundlage des Programms Dieses Zweitonbild erscheint wie ein Durcheinander aus
»DeepDream«. Dabei wird der Lernprozess eines künst schwarzen und weißen Flecken. Jetzt blättern Sie bitte um!
lichen neuronalen Netzes – eines der Arbeitspferde der
künstlichen Intelligenz – quasi umgedreht. Unser Netzwerk
GETTY IMAGES / EYEEM / RICHARD ARMSTRONG; BEARBEITUNG: SCIENTIFIC AMERICAN SEPTEMBER 2019
ü
FORSCHUNG AKTUELL
INFORMATIK künstlicher Neurone, die in tieferen
Lagen immer abstraktere Merkmale
Eine der größten Stärken aktueller Conference on Learning Representa nachträglich versuchen, die kompli
künstlicher Intelligenzen (KIs) ist tions (ICLR) erklärten: Während Men zierten Vorgänge innerhalb der Syste
das Klassifizieren von Bildern – schen größtenteils auf die Form eines me nachzuvollziehen.
einige übertreffen dabei sogar Men Objekts achten, fokussieren sich Dazu untersuchen Forscher unter
schen. Allerdings können gelegentlich maschinell lernende Algorithmen auf anderem, wie Netzwerke auf bearbei
kleinste Veränderungen diese Algorith ihre Textur. Dieses überraschende tete Bilder reagieren. Zum Beispiel
men aus dem Konzept bringen. Be Ergebnis verdeutlicht, wie unterschied trainierten Matthias Bethge und Felix
arbeitet man etwa Bilder, so dass das lich Menschen und Maschinen Dinge Wichmann 2018 mit ihrer Arbeits
Fell einer Katze getigert, gepunktet »wahrnehmen«. gruppe von der Universität Tübingen
oder gefleckt erscheint, erkennen Damit ein Deep-Learning-Algorith ein neuronales Netzwerk so lange, bis
Menschen die Tiere in den meisten mus zuverlässig funktioniert, braucht es Bilder teilweise besser klassifizieren
Fällen immer noch problemlos, wäh er enorm viele Beispieldaten. Man konnte als ein Mensch. Als sie die
rend Maschinen völlig versagen. zeigt einem neuronalen Netz etwa Bilder jedoch verrauschten, versagte
Forscher von der Universität Tübin Tausende von Tierbildern mit der das Netzwerk plötzlich.
gen haben nun die mögliche Ursache dazugehörigen Bezeichnung »Bild
dafür entdeckt, wie sie auf der im Mai zeigt eine Katze« oder »Bild zeigt keine Bilder mit seltsamen Eigenschaften
2019 stattgefundenen International Katze«. Es sucht in den Daten darauf Den Forschern fiel auf, dass sich in
hin nach Mustern, anhand derer es sie diesen Fällen die Textur der Objekte
klassifizieren kann. Die Netzwerke sind am stärksten gewandelt hatten. »Die
Forscher veränderten Bilder dabei an das visuelle System des Form bleibt mehr oder weniger intakt,
von Hunden, indem sie deren Textur Menschen angelehnt: Sie bestehen wenn man Rauschen hinzufügt«,
beispielsweise mit Uhren füllten. aus mehreren verbundenen Schichten erklärt Robert Geirhos, ein Doktorand
von Wichmann und Bethge. »Die
lokale Struktur, zu der etwa die Textur
eines Objekts gehört, verzerrt sich
dagegen sehr schnell.« Es schien, als
hingen die Ergebnisse der KIs stark
von diesen lokalen Merkmalen ab.
Um ihren Verdacht zu testen, er
stellten Geirhos und sein Team Bilder
mit widersprüchlichen Eigenschaften,
indem sie die Form eines Objekts mit
der Textur eines anderen paarten:
etwa die Silhouette einer Katze mit
einer rissigen grauen Elefantenhaut,
ein Bär aus Glasflaschen oder die
Kontur eines Hundes, das mit Ziffer
blättern gefüllt ist. Als sie verschiede
nen Personen Hunderte dieser Bilder
MIT FRDL. GEN. VON ROBERT GEIRHOS, UNIVERSITÄT TÜBINGEN
Der Frequenzbereich der so (darum taucht sie gelegentlich im längenbereich interessant: In dem
genannten Terahertzstrahlung Kontext von »Nacktscannern« in den Energiebereich zeigen viele Moleküle
liegt zwischen der Infrarotstrah Medien auf). Außerdem ist sie nicht charakteristische Schwingungen und
lung und den Mikrowellen. Lange Zeit ionisierend, schädigt also kein Gewe Übergänge zwischen Rotationszu
gab es nur aufwändig herzustellende, be, und ist deshalb für Mediziner ständen.
teure Sender und Empfänger für interessant, die sie in der Diagnostik Bisher funktioniert die Detektion
diesen Teil des Spektrums. Forscher einsetzen wollen. In der Werkstoff von Terahertzwellen etwa mit so
haben nun den Prototyp eines kom prüfung spielt sie bereits trotz der genannten Bolometern, welche die
pakten Terahertzdetektors entwickelt. sperrigen und komplexen Sender und Strahlungsleistung in Wärme umwan
Dieser besteht aus einem herkömmli Empfänger eine wichtige Rolle. Auch deln. Das ändert dann den Widerstand
chen Feldeffekttransistor mit einer für die Radioastronomie ist der Wellen messbar. Die dafür verwendeten
leitenden Schicht aus Graphen. Bei
weiteren Versuchen stellte sich her
aus, dass sich dazu auch kommerziel Terahertzstrahlen werden unter anderem in
les Graphen eignet. Dessen Struktur Ganzkörperscannern an Flughäfen eingesetzt.
ist weniger perfekt, aber es lässt sich
Terahertzstrahlung
sited graphene. Physical Review Applied
Dazu fixierten sie auf dem Transistor 11, 2019
DIE GANZE ERDE AUF EINMAL mengetragen hat. Die von ihnen
erstellte PAGES-2k-Datenbank enthält
fast 700 Datenreihen, die auf der
Die aktuelle Aufheizung ist fast rund um den Globus Analyse von Baumringen, Eisbohrker
zu b
eobachten. Damit unterscheidet sie sich grundsätzlich nen, Sedimenten, Korallen und Höh
von anderen Temperaturschwankungen in den lenablagerungen basieren, außerdem
letzten 2000 Jahren, wie Klimarekonstruktionen zeigen. auf urkundlichen Belegen und weite
ren Archiven. Unter anderem dank der
In der Erdgeschichte gab es ven, deren Material, chemische Zu Vielzahl an Informationen konnten die
immer wieder Epochen, in denen sammensetzung oder Struktur Autoren die geografische Verbreitung
es für längere Zeit wärmer, kälter, Informationen über die Temperatur ungewöhnlich warmer und kalter
feuchter oder trockener wurde. liefern, zählen Sedimente von Seen, Temperaturen rund um den Globus
Während der letzten 2000 Jahre waren Gletschereis und Muscheln. Auch die aufs Jahr genau ermitteln.
dies vor allem die mittelalterliche daraus gewonnenen Datensätze Demnach war zwar die kleine
Klimaanomalie, eine warme, trockene verraten, welche Temperaturen vor Eiszeit die kälteste Epoche des letzten
Periode etwa von 950 bis 1250 n. Chr., Jahrhunderten bis Jahrtausenden Jahrtausends, die tiefsten Temperatu
sowie die kleine Eiszeit, eine kühle herrschten. Weil die so gewonnenen ren traten jedoch an verschiedenen
Phase vom 16. bis zum 19. Jahrhun Informationen stellvertretend für Orten zu unterschiedlichen Zeiten auf
dert. Viele Menschen nehmen an, Klimadaten stehen, bezeichnen (siehe Grafik S. 32). Zwei Fünftel der
diese Phasen seien weltweit synchron Wissenschaftler sie als Proxydaten Erde erlebten die eisigste Kälte um die
verlaufen. Doch ein Team um Raphael (englisch proxy: Stellvertreter). Mitte des 19. Jahrhunderts, andere
Neukom von der Universität Bern hat Die Gruppe um Neukom rekons Regionen bereits einige Jahrhunderte
2019 gezeigt, dass sich diese und truierte anhand dieser Hinweise die früher. Und selbst auf dem Höhepunkt
frühere Klimaepochen der vergan Oberflächentemperaturen der letzten der mittelalterlichen Klimaanomalie
Number
genen 2000 Jahre wesentlich klein 2000 Jahre für den gesamten Erdball wurden die Spitzentemperaturen nie
30° N
60° N
90° N
90° S
60° S
30° S
of records
räumiger bemerkbar machten als die im Detail. Grundlage ihrer Arbeit sind auf mehr als 40 Prozent der Erdober
0°
100
150
200
Muscheln
0
nachweisbar ist. Forscher haben das Erdklima der letzten 2000 Jahre im Detail rekonstruiert.
Da instrumentelle Temperaturmes Dazu haben sie fast 700 Datenreihen ausgewertet, die vergangene Tempera-
200
sungen für die gesamte Erde erst seit turen anzeigen, beispielsweise Korallen und Jahresringe von Bäumen.
etwa 1850 vorliegen, rekonstruieren
Korallen
60° O
400
Fachleute das Klima in der Zeit davor Muscheln Korallen Eisbohrkerne Seesedimente Jahresringe
mit Hilfe anderer Daten. So lässt sich
60° N
men ablesen, wie die Sommertempe
800
NATURE 571, 2019, FIG. 1A; NUTZUNG GENEHMIGT VON SPRINGER NATURE / CCC
raturen von Jahr zu Jahr schwankten.
xlim
30° N
Insbesondere die Klimabedingungen in
1000
Year ad
60° W
60° O
60° S
beim Wachsen Spurenelemente aus
Jahresringe
Mean CI width
150
(s.d.)
2.8
2.5
2.6
2.7
2.8
2.9
3.0
der Ozeantemperatur. Zu weiteren 100 0 1000 2000 3000 4000 5000 6000
2.7
geologischen und biologischen Archi Mean
50 CI width Abstand zum nächsten Datensatz (km) 2.6
2.5
0(s.d.)
30 Spektrum der Wissenschaft 2.20 0 200 400 600 800 1000 1200 1400 1600 1800 2000
ü Year ad
fläche gleichzeitig erreicht. Insofern ist
die aktuelle globale Erwärmung einzig
Grundlage der weisgeber – vor allem Daten aus
Meeres- und Seesedimenten – über
artig: Auf 98 Prozent der Erdoberflä
che stellte das ausgehende 20. Jahr
Arbeit sind fast 700 treiben wiederum Schwankungen, die
sich innerhalb mehrerer Jahrzehnte bis
hundert die wärmste Phase der letzten Datenreihen aus zu etwa einem Jahrhundert abspielen.
2000 Jahre dar. Den weiter fortschrei
tenden Temperaturanstieg zu Beginn Klimaarchiven rund Für wenige zehn Jahre umfassen-
de Zeitrahmen können Fachleute
des 21. Jahrhunderts haben die Auto
ren nicht berücksichtigt, da viele ihrer
um die Welt jedoch sicherer beurteilen, wie und
warum sich die Erde erwärmt oder
Proxydaten schon vor über zwei abkühlt. In einer weiteren Veröffentli
Jahrzehnten erhoben wurden. zeigt, dass ihre Schlussfolgerungen chung zeigten die Wissenschaftler,
Die Paläoklimatologen John Mat verlässlich sind. dass im vorindustriellen Zeitalter (1300–
thews und Keith Briffa warnten bereits Noch gibt es allerdings Grenzen bei 1800 n. Chr.) größere Vulkanausbrüche
2005 davor, die kleine Eiszeit als der Interpretation der Proxydaten, die die Hauptursache für Umschwünge
»ununterbrochene, weltweit synchro es erschweren, Warm- und Kaltphasen hin zu kalten Temperaturen waren, die
ne kalte Periode« zu begreifen. Neu über die gesamten letzten zwei Jahr dann einige Jahrzehnte lang anhielten.
kom und sein Team stützen diese tausende hinweg miteinander zu Veränderungen der Treibhausgas
Auffassung jetzt mit ihren neuen vergleichen. Jahresringkalender, das konzentrationen hatten eine geringere,
Erkenntnissen. Unabhängig von der am häufigsten genutzte Klimaproxy aber immer noch nachweisbare Wir
Wahl der statistischen Instrumente, Archiv in der von Neukoms Gruppe kung. Das Team fand keine Anzeichen
welche die Proxydaten den entspre genutzten Datensammlung, können dafür, dass die Schwankungen der
chenden Temperaturmessungen sehr langsame Klimaveränderungen Sonneneinstrahlung die globale Durch
zuordneten, kamen die Forscher dabei über Jahrhunderte hinweg nur sehr schnittstemperatur über vergleichbare
zu den gleichen Ergebnissen – was unzuverlässig abbilden. Andere Hin Zeiträume hinweg beeinflusst haben.
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Spektrum der Wissenschaft 2.20 31
ü
FORSCHUNG AKTUELL
römische Warmzeit römische Warmzeitmittelalterliche Klimaanomalie
mittelalterliche Klimaanomalieaktuelle Warmperiode aktuelle Warmperiode
60º O 180º 60º W 60º
60º O 60º O
O 180º 60º W 60º
60º O 60º W 60º
60ºOO 180º 60º W 60º
60º O
a a O 180º 60º W 60º b O 180º
b c O 180º 60º W 60º O
c
90º N 90º N 90º N 90
5e+06
5e+06
5e+06
60º N 60º N
5e+06
5e+06
5e+06
60º N 60
30º N 30º N
NEUKOM, R. ET AL.: NO EVIDENCE FOR GLOBALLY COHERENT WARM AND COLD PERIODS OVER THE PREINDUSTRIAL COMMON ERA.
30º N 30
−5e+06 0e+00
−5e+06 0e+00
ylim
0º ylim 0º
0º 0º
NATURE 571, 2019, FIG. 3; NUTZUNG GENEHMIGT VON SPRINGER NATURE / CCC
60º S 60º S 60 60º S
90º S 90º S 90º S 90
−1.5e+07 −5.0e+06
0.0e+00 5.0e+06
−1.5e+07 1.0e+07
1.5e+07
−5.0e+06
0.0e+00−1.5e+07
5.0e+06 −5.0e+06
1.0e+07 0.0e+00
1.5e+07 5.0e+06
1.0e+07
−1.5e+07 1.5e+07
−5.0e+06 −1.5e+07
0.0e+00 5.0e+06 −5.0e+06
1.0e+07 0.0e+00
1.5e+07 5.0e+06
−1.5e+071.0e+07
1.5e+07
−5.0e+06
0.0e+005.0e+06
1.0e+07
1.5e+07
0 200 400
xlim0 600200 800400 700 600 900 800xlim 1100
700 1300
900 0
1100 500
1300 1000
xlim0 1500
500 2000
1000 1500 2000
xlim xlim xlim
Jahr (n. Chr.) Jahr (n. Chr.) Jahr (n. Chr.) Jahr (n. Chr.) Jahr (n. Chr.) Jahr (n. Chr.)
frühmittelalterliches Pessimum
frühmittelalterliches Pessimum kleine Eiszeit kleine Eiszeit
60º O 180º 60º W 60º
60º O 180º e 60º W 60º
60º O 180º 60º W 60º
d d O O e 60º O
O 180º 60º W 60º O
Für verschiedene Zeiträume
90º N haben 90º N 90º N 90º N
−5e+06 0e+00 5e+06
5e+06
die Forscher ermittelt, wann
60º N wo auf 60º N
−5e+06 0e+00 5e+06
5e+06
60º N 60º N
der Erde die höchsten (oben)
30º N sowie 30º N
30º N 30º N
tiefsten (unten) Temperaturen
ylim
ylim
ylim
ylim
0º 0º
herrschten. Vergangene Kalt- und 0º 0º
lich. Doch selbst, wenn wir bis in die Für das Wachstum von Röhren rieren) und sich entlang der Knochen
frühesten Tage des Römischen Reichs knochen – etwa die langen längsachse in Säulen anordnen. Dieser
zurückblicken, finden wir kein Ereignis, Knochen in unseren Armen und Säulenknorpel entwickelt sich weiter
das in Stärke oder geografischer Aus- Beinen – sind spezielle Knorpel zu hypertrophen Chondrozyten, wel
dehnung auch nur annähernd dem Tem- schichten zuständig, die so genannten che ihre Teilungsaktivität einstellen,
peraturanstieg der letzten Jahrzehnte Wachstumsfugen. Diese trennen die durch Wasseraufnahme ihr Volumen
entspricht. Dieser ist in seiner weltwei Knochenenden vom Schaft und ent vergrößern und später durch Knochen
ten Synchronizität beispiellos. halten drei verschiedene Arten von ersetzt werden.
Scott St. George ist Professor für Knorpelzellen (Chondrozyten): Rundli Um das Längenwachstum eines
Geografie und forscht an der University che Zellen bringen flache Abkömmlin Röhrenknochens aufrechtzuerhalten,
of Minnesota in Minneapolis. ge hervor, die sich stark teilen (prolife müssen die Chondrozyten der Wachs
pen einander.
NATURE; WÜLLING, M., VORTKAMP, A.: THE FOUNTAIN OF BONE GROWTH. NATURE 567, 2019, FIG. 1
trisch, sondern vermehrt symmetrisch weitere Versuche nötig sein, um Mizuhashi, K. et al.: Resting zone of the
teilten. Infolgedessen stieg die Anzahl zwischen deren Einflüssen auf die growth plate houses a unique class of
skeletal stem cells. Nature 563, 2018
der Stammzellen in der Reservezone, Stammzellen beziehungsweise den
während der Anteil der proliferieren Säulenknorpel unterscheiden zu Newton, P. T. et al.: A radical switch in
den Zellen des Säulenknorpels ab können. clonality reveals a stem cell niche in the
epiphyseal growth plate. Nature 567,
nahm. Der mTORC1-Komplex spielt Die Vorstellung davon, wie Knorpel
2019
somit offenbar eine wichtige Rolle bei durch Knochen ersetzt wird, hat sich
der Selbsterneuerung dieser knorpel in den zurückliegenden Jahren stark Ohba, S.: Hedgehog Signaling in
Endochondral Ossification. Journal of
spezifischen Stammzellen. gewandelt. Früher nahm man an, in
Developmental Biology 4, 2016
Beide Gruppen analysierten zudem der so genannten Verknöcherungs
die Rolle des Proteins Indian Hedge zone der Wachstumsfuge würden die
hog (Ihh), das eine große Bedeutung hypertrophen Chondrozyten abgebaut © Springer Nature Limited
für die embryonale Knochenentwick und durch Knochen bildende Zellen, www.nature.com
lung hat. Ihh veranlasst Chondrozyten die Osteoblasten, ersetzt. Neuere Nature 567, S. 178–179, 2019
spektrum.de/artikel/1693112
V
or allem der Gebrauch von Werkzeugen galt eignen – fast so, als hätten sie ein genaues Bild davon
lange als eine singuläre Errungenschaft, die im Kopf. Außerdem sparen sie sich unnötige Arbeit:
vermeintlich ausschließlich den Menschen Den fertigen Haken bewahren sie an einem sicheren
auszeichne. Mit dieser Sonderstellung ist es Ort zur wiederholten Verwendung auf.
freilich vorbei, seit die Verhaltensforscherin Jane Goo Zudem setzen nicht alle Krähen Neukaledoniens für
dall 1964 nachwies, dass manche Menschenaffen die Fabrikation ihres Werkzeugs auf ein und dieselbe
durchaus fähig sind, mit Hölzchen und Stöckchen Technik. Die Forscherin fragte sich, ob diese Variabilität
Termiten aus deren Bauten zu fischen oder mit Steinen wie meist angenommen für ein rein »kulturelles«, das
Nüsse zu knacken. Mittlerweile hat man Vergleichbares heißt einmal hier oder da zufällig erfolgreiches und
auch an ganz anderen Ästen unseres Stammbaums dann durch soziales Lernen weitergegebenes Verhalten
gefunden, insbesondere bei Vögeln. Unter ihnen tun spricht – oder ob dabei Umweltfaktoren eine prägende
sich Raben und Krähen durch ausgesprochen schlaues Rolle spielen.
Benehmen hervor.
T
Auf eine Krähenart, die auf der entlegenen süd atsächlich konnte Klump zeigen, dass die Vari
pazifischen Inselgruppe Neukaledonien heimisch ist, anten der Herstellungsmethode von den mecha
hat sich Barbara C. Klump vom Max-Planck-Institut nischen Eigenschaften der verfügbaren Flora
für Verhaltensbiologie in Radolfzell spezialisiert. Ihr bei abhängen, also lang oder kurz, dick oder dünn,
der Zeitschrift »Science« eingereichter Essay zum elastisch oder brüchig. Zwei ökologische Randbedin
Thema Krähen und Werkzeuge wurde 2019 von den gungen sind für den Werkzeuggebrauch der neukale
Herausgebern des Magazins mit einem ersten Preis donischen Krähen entscheidend: Die Vegetation bietet
für junge Forschende in der Kategorie Ökologie und den geschickten Vögeln reichhaltiges Rohmaterial,
Umwelt ausgezeichnet (Science 366, S. 965, 2019). und die isolierte Lage der pazifischen Inseln hat sie
lange vor Konkurrenten verschont, etwa Spechten so-
spektrum.de/artikel/1679066
3 Viele Arten blieben klein, einige wurden jedoch bis Als immer mehr von dem Skelett aus dem Gestein zu
zu fünf Meter lang. Manche Choristodera könnten Brut- Tage trat, kristallisierte sich heraus, dass wir es mit einer
pflege betrieben haben. neuen Art zu tun hatten. Zu Ehren von James Klausens
Präparationskünsten nannten mein Betreuer Mark Norell
sowie Ke-Qin Gao von der Universität Peking und ich das
Fossil Tchoiria klauseni (siehe Foto unten). Als ich die ältere
Hätten sie bis heute durchgehalten, wären sie be- Literatur sowie die ersten Berichte über weitere Entdeckun-
stimmt die Stars in Zoos und Tierhandlungen. Statt gen aus China las, wurde mir klar, dass es sich bei den
dessen blieben sie eine versteckte Fußnote in den Choristodera um eine arg unterschätzte Reptiliengruppe
Annalen der Evolution. Die Rede ist von Choristodera – Rep- handelte. Es erschien mir schier unglaublich, wie lange sie
tilien, die im Schatten der Dinosaurier erfolgreich urzeitliche überlebt und sich dabei an so viele verschiedene Umgebun-
Flüsse und Seen besiedelten und erst vor etwa 20 Millionen gen angepasst hatten. Unsere neue Spezies gehörte zur
Jahren ausstarben. Die meisten Menschen haben den größten Gruppe namens Neochoristodera, deren Gattungen
Namen Choristodera vermutlich noch nie gehört, aber heutigen Krokodilen ähnelten, wie der eher kleine Ikecho
manch einer hat vielleicht schon in einem Museum oder saurus mit seiner schlanken Schnauze oder der riesige
Mineraliengeschäft ein Fossil von ihnen gesehen, ohne es Simoedosaurus mit seinem breiten Maul.
zu wissen.
Meine persönliche Vorliebe für diese fast vergessenen Die Funde des Knochenkriegers
Tiere reicht etwa 15 Jahre bis in die Studienzeit zurück. Für Krokodilähnliche Neochoristodera kennen Paläontologen
meine Masterarbeit beschrieb ich ein neues Choristodera- schon seit über einem Jahrhundert. Erstmals beschrieb
Fossil, das man kurz zuvor in der Mongolei aus kreidezeitli- solche Fossilien 1876 der US-amerikanische Dinosaurier
chem Gestein geborgen hatte. Das Fundstück war fest in forscher Edward Drinker Cope (1840–1897), der mit seinem
einem harten Gesteinsbrocken eingeschlossen. Es freizule- Kollegen Othniel Charles Marsh (1831–1899) in erbitterter
gen, erforderte monatelange gewissenhafte Arbeit. Konkurrenz stand. Im Rahmen ihrer »Knochenkriege«
Täglich ging ich ins Fossilienpräparationslabor des schreckten Cope und Marsh nicht vor Bestechung und
American Museum of Natural History in New York, wo der Diebstahl zurück, ja sie zerstörten sogar Fossilien, nur damit
ehrenamtliche Mitarbeiter James Klausen das Fossil von sie nicht dem jeweils anderen in die Hände fielen. Anderer-
seinem Sarg aus Schluffstein befreite. Überall lagen hier seits befeuerte der Wettbewerb die beiden Kontrahenten zu
neu entdeckte Fossilien herum, viele davon noch unberührt umfangreichen Forschungsarbeiten. Allein Cope benannte
in Holzkisten oder Gipsumhüllungen. Kratzen und Surren zu Lebzeiten mehr als 1000 neue Arten. Als seine Feldfor-
erfüllten den Raum, weil eine ganze Schar von Präparatoren scherteams das Ödland im Westen der Vereinigten Staaten
die Gesteinsschichten mit Feilkolben und Luftpinseln ent- durchkämmten, sammelte Cope Hunderte von Choristode-
Ikechosaurus pijiagouensis
1,7 Meter
Champsosaurus gigas
3,3 Meter
Simoedosaurus dakotensis
5,0 Meter
Hyphalosaurus baitaigouensis
Ikechosaurus pijiagouensis
Philydrosaurus proseilus
EMMA SKURNICK
Shokawa
ren Dichte führt als etwa bei menschlichen Knochen. Für
den unbedarften Besucher eines Fossiliensteinbruchs
ähneln die Rippen von Champsosaurus mit ihrer bauchigen
Philydrosaurus Form sowie der tiefbraunen Farbe überreifen Bananen.
Pachyosteosklerotische Knochen sind fest, schwer und
Monjurosuchus widerstandsfähig gegen Verwitterung und Erosion. Wohl
auch deshalb fand Copes Team so viele Champsosaurus-
Fossilien.
Tchoiria
Im Gegensatz zu den dichten Rippen von Champsosau
rus blieben andere Teile des Skeletts überhaupt nicht als
Ikechosaurus Fossilien erhalten. Viele Hand- und Fußgelenksknochen der
Choristodera waren wie häufig bei Wassertieren knorpelig.
Simoedosaurus Da sein Gewicht meist vom Auftrieb getragen wurde,
brauchte Champsosaurus keine Ressourcen für vollständig
verknöcherte Extremitäten aufzuwenden.
Champsosaurus
Mehr als ein Jahrhundert lang glaubten Paläontologen,
alle Choristodera ähnelten in Größe und krokodilartiger
Gestalt Champsosaurus. Diese Überzeugung änderte sich in
Gaumenrinne Zähne
verdichtete
knorpelige
Rippen
Extremität
Gastralia
EMMA SKURNICK
(Bauchrippen)
Die Gattung Champsosaurus (Krokodilechse), 1876 als proseilus lebte im heutigen China. Sie besaß an der Schnau-
erster Vertreter der Choristodera im Westen der USA ze zwei Leisten, die vermutlich als Schmuck zum Anlocken
entdeckt, lebte in der späten Kreidezeit bis zum Paläo von Weibchen dienten.
gen in der Erdneuzeit. Das über drei Meter lange Skelett Eine große Zahl weiterer Choristodera blieben wie Mon
verrät Anpassungen an eine aquatische Lebensweise, jurosuchus zunächst unterm Radar. Einer der kleinsten,
darunter eine Nase zum Schnorcheln, als Ballast dienen Cteniogenys, war so winzig, dass man ihn leicht in einer
de schwere Rippen sowie Zähne, mit denen die Krea- Hand gehalten hätte. Die Gattung wurde ursprünglich als
tur glitschige Beutetiere festhalten konnte. Eidechse eingestuft; erst bei näherer Betrachtung erwies
sich Cteniogenys mit einem Alter von etwa 170 Millionen
Jahren als ältester Vertreter der Choristodera.
den 1990er Jahren, als immer neue Fossilien in die Museen Am seltsamsten wirkt Hyphalosaurus. Man kann sich
gelangten, die man aus Seesedimenten in der chinesischen dieses Tier als Loch-Ness-Ungeheuer in einer Badewanne
Provinz Liaoning geborgen hatte. Wiederholte Vulkanaus- vorstellen. Ein winziger Kopf saß am Ende eines durch
brüche ließen die Gewässer in der Kreidezeit schrumpfen; zusätzliche Wirbel außerordentlich verlängerten Halses
die Tiere wurden schnell im Sediment begraben, so dass (siehe Fotos S. 42). Ein langer, peitschenförmiger Schwanz
spektakuläre Fossilien erhalten blieben, bei denen häufig am anderen Körperende trieb Hyphalosaurus mittels wellen-
sogar noch weiches Gewebe wie Haut und Federn intakt förmiger Bewegungen durchs Wasser. Und zu allem Über-
blieb. Unter den dort gefundenen prähistorischen Schätzen fluss schmückten auffällige Reihen großer, kielförmiger
stieß man auch auf neue Choristodera-Fossilien mit stump- Schuppen an den Flanken die Kreatur und verliehen ihr ein
fer Schnauze, darunter ein wunderschönes Exemplar von schlankes, gestreiftes Äußeres.
Monjurosuchus splendens. In Liaoning kamen wohl durch Vulkanausbrüche in der
Diese Spezies kannten Paläontologen schon lange, denn Kreidezeit viele tausend Exemplare von Hyphalosaurus ums
das erste Monjurosuchus-Exemplar tauchte im Zweiten Leben. Die noch vor 20 Jahren völlig unbekannte Gattung
Weltkrieg während der japanischen Besetzung der Mand- zählt heute weltweit zu den häufigsten fossilen Reptilien.
schurei auf. Die damaligen Wissenschaftler missdeuteten Bei den meisten Funden aus Liaoning handelt es sich um
allerdings das Fossil als einen Verwandten der Brücken Jungtiere mit einer Länge von unter 25 Zentimetern. Trotz
echse; dann ging es in den Kriegswirren verloren. Ein der chinesischen Exportbeschränkungen für Fossilien
halbes Jahrhundert später gefundene Exemplare mit ausge- finden Jahr für Jahr Hunderte von kleinen Hyphalosaurus-
zeichnet erhaltenen Schuppen präsentierten Monjurosuchus Fossilien ihren Weg aus dem Land in die Souvenirläden auf
nun als eine Art Minikaiman im Pyjama. Er teilte mit heuti- der ganzen Welt.
gen Kaimanen die breite, u-förmige Schnauze, aber die Diese sonderbaren Choristodera zeigen, welch breites
fossilen Schuppen deuteten auf eine weiche, geschmeidige Größen- und Formenspektrum die Gruppe im Lauf der
Haut hin, auf der eine Doppelreihe aus größeren, dekorati- Evolution entwickelte. Das brachte Paläontologen dazu,
ven Schuppen am Schwanz entlanglief. Auch eine weitere sich die Reptilien genauer anzuschauen, um mehr über ihre
kleine, kaimanähnliche Spezies namens Philydrosaurus Biologie herauszufinden. Jetzt wurden die Choristodera
LÜ, J. ET AL.: POST-NATAL PARENTAL CARE IN A CRETACEOUS DIAPSID FROM NORTHEASTERN CHINA.
GEOSCIENCES JOURNAL 19, 2015, FIG. 1B; NUTZUNG GENEHMIGT VON SPRINGER NATURE / CCC
jedoch schon seit Jahrmillionen nebeneinan-
der gelebt. Klimaschwankungen wurden
ebenfalls in Erwägung gezogen, aber Choris-
todera gediehen nicht nur in der warmen
Welt des Erdmittelalters, sondern schafften
es auch bis zum nördlichen Polarkreis, wo es
selbst in der Kreidezeit im Winter ziemlich
kühl werden konnte.
Nach Ansicht mancher Fachleute liegt die
Antwort in einer Kombination aus Klimawan-
del und Konkurrenz. Etwa zu der Zeit, als die
meisten noch verbliebenen Choristodera
ausstarben, hatten die Temperaturen einen
Höhepunkt erreicht. Offensichtlich kamen Kroko-
dile mit dem nun herrschenden Treibhausklima
besser zurecht und verdrängten so vielleicht die
5 cm
Choristodera aus ihrem Lebensraum. Was auch
immer die Ursache war: Einst sehr verbreitete Choristo-
Karriere im Erdmittelalter
Die Choristodera tauchten im Jura vor etwa 170 Millionen Jahren auf und entwickelten sich während des
Erdmittelalters parallel zu den Dinosauriern. Im Gegensatz zu Letzteren überlebten sie den Asteroideneinschlag
am Ende der Kreidezeit vor 66 Millionen Jahren und schafften es bis in die Erdneuzeit.
TRIAS JURA
LÜ, J. ET AL.: POST-NATAL PARENTAL CARE IN A CRETACEOUS DIAPSID FROM NORTHEASTERN CHINA.
GEOSCIENCES JOURNAL 19, 2015, FIG. 1A; NUTZUNG GENEHMIGT VON SPRINGER NATURE / CCC
Fossilienmaterial, so dass wir im Gegensatz zu vielen ande-
ren Organismen ihre Existenz und Evolution belegen kön-
nen. Auch wenn nie ein Kind ein Hyphalosaurus-Baby in
einem Glasgefäß als Haustier mitbringen oder bei der
Champsosaurus-Fütterung im Zoo zusehen wird, diese
Fossilien regen zumindest unsere Fantasie an.
Immer noch kommen Jahr für Jahr weitere Choristodera-
Fossilien ans Licht. Manchmal befinden sich neue Arten
darunter, und manchmal verschaffen sie uns eine Ahnung
davon, wie ihre Haut aussah, wie lang ihr Schwanz war
oder sogar welches Gehirn sie besaßen. Es gehört zu den
kleinen Nervenkitzeln meines Berufs, eine E-Mail zu öffnen,
um das grobkörnige Foto eines Choristodera-Fossils aus
China mit einer Zigarette als Größenvergleich zu bewun-
dern. Vielleicht wird uns schon der nächste Fund verraten,
warum genau diese rätselhaften Reptilien am Ende ver-
schwanden.
dera wie Champsosaurus räumten etwa zehn Millionen
Jahre nach dem Ende der Dinosaurier das Feld. QUELLEN
Eine kleine Gruppe hielt etwas länger durch. So über- Gao, K.-Q., Ksepka, D. T.: Osteology and taxonomic revision of
raschte ein Fossil aus Frankreich die Paläontologen, lag es Hyphalosaurus (Diapsida: Choristodera) from the Lower Creta
doch in einem Gestein, das auf 30 Millionen Jahre nach ceous of Liaoning, China. Journal of Anatomy 212, 2008
dem mutmaßlichen Ende der Choristodera datiert wurde. Hou, L.-H. et al.: Implications of flexible-shelled eggs in a
Die Entdeckung barg sogar eine doppelte Überraschung: Es Cretaceous choristoderan reptile. Proceedings of the Royal
handelte sich um ein kleines, primitives Mitglied einer Ab- Society B 277, 2010
stammungslinie, die sich offensichtlich mindestens 100 Mil- Ksepka, D. T. et al.: A new choristodere from the Cretaceous of
lionen Jahre lang verborgen hatte, ohne in den Fossilfunden Mongolia. American Museum Novitates 3468, 2005
irgendwelche Spuren zu hinterlassen. Die Paläontologen
Lü, J. et al.: Post-natal parental care in a Cretaceous diapsid
tauften das Fossil auf den Namen Lazarussuchus – schien from northeastern China. Geosciences Journal 19, 2015
doch hier eine für ausgestorben gehaltene Tierart quasi wie
der biblische Lazarus »von den Toten auferstanden« zu sein.
Die Auferstehung währte allerdings nur kurz: Lazarussuchus
verschwand wenige Millionen Jahre später, und damit © American Scientist
waren die Choristodera endgültig ausgestorben. www.americanscientist.org
KREIDE PALÄOGEN
100 50 0
BARBARA AULICINO MIT SILHOUETTEN VON EMMA SKURNICK /
AMERICAN SCIENTIST JULI-AUGUST 2018
Stechmücken der
attung Anopheles
G
übertragen Malaria
erreger und verursachen
jährlich dutzende Mil
lionen Erkrankungsfälle.
Mit Hilfe von »Gene
Drives« könnte es gelin
gen, sie massenweise
unschädlich zu machen.
CDC / JAMES GATHANY
Seit einigen Jahren berichten die Medien vermehrt genetisches Element namens Hybrid-Inkompatibilitätsfak-
über so genannte Gene Drives – und vermelden Er- tor, das aus Medea-Allelen Selbstmordgene macht. Indivi-
staunliches. Mittels Gene Drive könnte man ganze duen mit solchen Allelen können sich deshalb dort nicht
Populationen von Krankheitsüberträgern vollständig un- vermehren. Dies ist ein Beispiel dafür, dass die Natur immer
schädlich machen oder ausrotten, heißt es. Vielleicht ließen wieder Wege findet, »selbstsüchtige« Gene in Schach zu
sich damit sogar Arten vernichten. Die Methode kommt halten.
besonders im Hinblick auf Malaria-Mücken immer wieder Neben der Interferenz gibt es in der Natur noch weitere
ins Gespräch. Was soll man davon halten? Was ist Gene Strategien, mit deren Hilfe sich Gene überproportional stark
Drive, was lässt sich damit erreichen – und was nicht? verbreiten. Etwa die so genannte Überreplikation: Wenn
Gene Drive, im Deutschen auch als »Genturbo« bezeich- eine Zelle sich teilt und zwei Tochterzellen mit je eigenem
net, wird zwar oft als innovatives gentechnisches Verfahren Erbgut hervorbringt, wird normalerweise jedes ihrer Chro-
dargestellt, ist aber keine neue Erfindung von Molekular
biologen. Vielmehr handelt es sich um ein natürlich
vorkommendes Phänomen bei bestimmten Genen, die
gewissermaßen selbstsüchtig handeln, indem sie die
mendelschen Vererbungsregeln aushebeln und sich in AUF EINEN BLICK
überproportional viele Nachkommen einschreiben. ZWEISCHNEIDIGES SCHWERT
In einem Organismus mit dem üblichen zweifachen DER MOLEKULARBIOLOGIE
(»diploiden«) Chromosomensatz liegt ein bestimmtes Gen
1
meist in zwei Varianten vor, den »Allelen«. Diese unterschei- Von einem Gene Drive spricht man, wenn »selbstsüch-
den sich in der Regel leicht voneinander. Eines der Allele tige« Gene sich in überproportional viele Nachkommen
kommt von der Mutter, das andere vom Vater. Bei der einschreiben und dadurch übermäßig stark in der
sexuellen Fortpflanzung gibt ein Organismus nur eines Population verbreiten.
CDC / JAMES GATHANY
A B
1,0 0,0 hoch
Häufigkeit der gentechnisch
Häufigkeit der Wildform
veränderten Form
DISEASES. GENOME BIOLOGY 15, 2014, FIG. 1
Aussterben
0,0 1,0
Zeit Zeit
Gegengift B
Gegengift A
Gift A
Gift B
eines dieser Kopplungskonstrukte, können
sie nur ein Gegengift herstellen und
sterben an dem Toxin, das sie nicht neu
tralisieren können. Individuen, die diese
Konstrukte »heterozygot« tragen, also b
lediglich auf je einem von zwei homolo-
100
gen Chromosomen, haben deshalb weni-
sorgen. Gene Drives, die auf solchen Elementen basieren, vom California Institute of Technology 2007 erstmals, ein
vermitteln folglich eine Resistenz gegen sich selbst. solches System künstlich zu bauen und in Taufliegen anzu-
Mehrere Forschergruppen haben sich in letzter Zeit wenden. Die gleiche Forschergruppe, zu der mittlerweile
damit befasst, wie man das vermeiden kann. Dabei haben einer von uns (Oberhofer) gestoßen ist, hat kürzlich auch
sich zwei Strategien als erfolgreich herausgestellt. Zum eine Medea-Version entwickelt, die auf CRISPR-Cas basiert.
einen lassen sich an Stelle einer einzigen Leit-RNA einfach Sie funktioniert nicht wie ein Homing-Element, sondern
mehrere davon verwenden. Die Idee dahinter lautet, dass erzeugt gezielt Mutationen an einem anderen Genort, was
es mit zunehmender Anzahl an Leit-RNAs immer unwahr- das Problem der verstärkten Resistenzentwicklung umgeht.
scheinlicher wird, dass alle Zielsequenzen gleichzeitig
mutieren und das Zielgen trotzdem funktionstüchtig bleibt. Gift und Gegengift in einem
Zum anderen kann man eine Zielsequenz auswählen, die in Das Prinzip dieser neuen Variante ist denkbar einfach: Der
einem hochkonservierten Abschnitt des Erbguts liegt, der CRISPR-Cas-Komplex zerschneidet ein Gen, das für das
eine sehr geringe Toleranz gegenüber Mutationen aufweist. Überleben des Organismus unerlässlich ist – worauf dieses
Hochkonservierte DNA-Sequenzen haben eine überlebens- im Zuge der nichthomologen Endverknüpfung mutiert
wichtige Bedeutung für den Organismus; Veränderungen und seine Funktion verliert. Das »Gegengift« besteht aus
darin führen sehr häufig zu einem kritischen Funktions einer funktionierenden Version des Gens, deren Nukleotid-
verlust und zum Tod des betroffenen Individuums. In Stech sequenz aber so verändert wurde, dass der CRISPR-
mücken haben Andrea Crisanti vom Imperial College Cas-Komplex sie nicht mehr erkennt und folglich nicht
London und sein Team 2018 eine solche Sequenz ausfindig schneidet. Werden die Baupläne für die Genschere und
gemacht und einen Unterdrückungs-Drive entwickelt, der das G
egengift miteinander gekoppelt und ins Genom
auf einem Homing-Element basiert und diese Sequenz zum eingebaut, bilden sie zusammen ein Drive-Element. Ist
Ziel hat. Er konnte im Experiment mehrere Moskitopopula dieses im Erbgut der mütterlichen Zellen enthalten, dann
tionen, die in Käfigen gehalten wurden, zu 100 Prozent gibt die Mutter die aktive Genschere über ihre Eizellen
vernichten, ohne dass Resistenzen auftraten. Diese Strate- an den Nachwuchs weiter. Infolgedessen sammeln sich in
gie eignet sich allerdings nur für Unterdrückungs-Drives. sämtlichen Embryonen kontinuierlich Mutationen in
Wie aber kann ein Austausch-Drive funktionieren? Etwa dem überlebenswichtigen Gen an, und es wird inaktiviert.
mit Hilfe einer Sabotagestrategie, wie sie im bereits er- Nur jene Nachkommen, die das Drive-Element mit dem
wähnten Medea-System des Reismehlkäfers umgesetzt ist. Gegengift geerbt haben, überleben – alle anderen sterben,
Auch wenn dieses System bisher molekulargenetisch nicht da sie keine funktionierende Kopie des unverzichtbaren
verstanden ist, gelang es Wissenschaftlern um Bruce Hay Gens besitzen. Damit erhalten alle überlebenden Nach
Teva Vernoux (links) ist Forschungsleiter am CNRS im Labor für Fortpflanzung und
Entwicklung der Pflanzen an der École normale superieure von Lyon. Christophe
Godin (Mitte) ist Forschungsleiter und Fabrice Besnard Forschungsbeauftragter am
Institut national de la recherche agronomique (Inra) im selben Labor.
spektrum.de/artikel/1693098
RAZZEL / STOCK.ADOBE.COM
schern, einige spannende Zusammenhänge offenzulegen, mehrerer Pflanzen mit mikrochirurgischen Eingriffen. In
indem sie sich auf makroskopische Versuche stützten. einem ihrer Schlüsselexperimente teilten sie das Meristem
So lassen beispielsweise mehrere Beobachtungen an der Sprossachse eines Zottigen Weidenröschens (Epilo-
darauf schließen, dass der Divergenzwinkel zwischen zwei bium hirsutum), dessen Blätter normalerweise gegenstän
Organen nicht genetisch festgelegt ist. Denn innerhalb dig angeordnet sind. Die beiden Meristemhälften wuchsen
derselben Art können unterschiedliche Phyllotaxen auftau unabhängig voneinander weiter, doch plötzlich wies die
chen. Zum Beispiel gibt es unter Sonnenblumen einige mit Pflanze eine spiralige Blattstellung auf.
einem goldenen Divergenzwinkel und andere, bei denen er Aus diesem und ähnlichen Versuchen lässt sich schlie
99,5 Grad beträgt. Zählt man die darin vorkommenden ßen, dass der gleiche Mechanismus die verschiedenen
Spiralen, entspricht deren Anzahl den Folgengliedern der Phyllotaxen erzeugt. Demnach führen Anzahl und Position
Lucas-Folge, einer speziellen Variante der Fibonacci-Folge. der bereits vorhandenen Organe sowie ihre Wechselwir
Die genaue Anordnung der Organe scheint daher spontan kungen untereinander zu einem bestimmten Muster. Die
zu entstehen. Das verdeutlichen Pflanzen, die an unter dazugehörige Grundidee kann man einfach zusammenfas
schiedlichen Zweigen verschiedene Blattstellungen aufwei sen: An einer Stelle in der Nähe des Meristems entsteht
sen. Bei einigen kann das Meristem sogar plötzlich die immer dann ein neues Organ, wenn es ausreichend Platz
Phyllotaxis ändern. dafür gibt.
Durch gezielte Laborversuche bestätigten die beiden In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelten
britischen Botaniker Mary und George Snow in den 1930er Forscher zahlreiche Modelle, die dieses selbstorganisieren
Jahren die Hypothese, dass die Phyllotaxis nicht genetisch de Prinzip widerspiegeln. Dabei zeichnete sich immer
bestimmt ist. Dazu störten sie die Funktion des Meristems stärker ab, dass junge Organe die Entstehung neuer Ele
5
Wachstum neuer Elemente in der unmittelbaren Nähe Kollegen von der Universität Bern konnten im Jahr 2000
unterdrücken. zeigen, dass bei der Ackerschmalwand und der Tomate die
Auch wenn es viele Beobachtungen erklärt, lässt das Indol-3-Essigsäure, ein pflanzliches Hormon aus der Gruppe
Modell einige grundlegende Fragen unbeantwortet. Es der Auxine, neue Organe bildet. Das Auxin kann sich dank
bleibt beispielsweise unklar, woraus die Hemmfelder beste Transportproteinen, die das Molekül durch die Zellmembra
hen. In den letzten 15 Jahren machten Biologen diesbezüg nen schleusen, frei in der Pflanze bewegen. Als Kuhlemeier
lich große Fortschritte, unter anderem indem sie die Blüten und sein Team diesen Transport unterbanden, bildete die
bildung der Ackerschmalwand (Arabidopsis thaliana) unter Ackerschmalwand keine Blüten mehr. Trugen sie das Auxin
suchten, die sich im Labor leicht kultivieren lässt. danach jedoch lokal auf, entstanden Blüten.
Überraschenderweise fanden Biologen erste Hinweise Biologen gehen daher davon aus, dass sich das Auxin
auf einen hemmenden Mechanismus, als sie ein Aktivie lokal häufen muss, um ein neues Organ auszubilden. Dem
rungssignal identifizierten. Cris Kuhlemeier und seine nach könnten junge Blüten die Indol-3-Essigsäure so stark
CHMEE2 (COMMONS.WIKIMEDIA.ORG/WIKI/FILE:POLYTRICHUM_COMMUNE_IN_NATURAL_MONUMENT_
KNEZ_U_HRAZAN_(1).JPG) / CC BY-SA 3.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY-SA/3.0/LEGALCODE)
Der gemeinsame Vorfahre Allerdings könnten die molekularen superieure de Lyon.
beider Gruppen besaß vermutlich
noch keine Blätter. Forscher gehen
davon aus, dass diese bei Moosen
und Blütenpflanzen unabhängig
voneinander entstanden. In beiden
haben sich derartige Organe
offenbar evolutionär durchgesetzt,
weil sie Lichtenergie optimal
einfangen, die sie für die Fotosyn
these benötigen. Moose und
Blütenpflanzen ähneln sich aber
ebenso in anderen Merkmalen,
POUR LA SCIENCE AUGUST 2018
HERMANNSCHACHNER (COMMONS.WIKIMEDIA.ORG/WIKI/FILE:FISSIDENS_TAXIFOLIUS_(F,_144714-
481009)_2776.JPG) / CC0 (CREATIVECOMMONS.ORG/PUBLICDOMAIN/ZERO/1.0/LEGALCODE)
besteht das Meristem von Moosen
aus einer einzigen Zelle, gegenüber
einigen hundert in Blütenpflanzen.
Jedes Mal, wenn sich im Moos
die Meristemzelle teilt, bleibt eine
davon an der Spitze der Sprossach
se, während sich die andere zu
einem Blatt entwickelt. Die Anord
nung der Blätter ist daher vorwie
gend durch die Form der meriste
malen Zelle und die Lage ihrer
Teilungsebene festgelegt. Wie bei
Blütenpflanzen führt bei Moosen Bei Moosen besteht das Meristem aus einer einzigen Zelle. Je nachdem,
die rhythmische Produktion von welche Form sie annimmt und wo die Teilungsebene verläuft, bilden die
Blättern zu einer regelmäßigen Blätter eine spiralige Phyllotaxis, wie beim Goldenen Frauenhaarmoos
Phyllotaxis, die entweder spiralig (Polytrichum commune, oberes Bild), oder eine zweizeilig wechselständige,
oder wechselständig ist. etwa beim Eibenblättrigen Spaltzahnmoos (Fissidens taxifolius, unten).
FABRICE BESNARD
Wachstum der Pflanze und ihrer Organe beeinflussen, Organe in regelmäßigen
sondern auch mechanische Prozesse. Pflanzliche Zellen Abständen entstehen.
stehen wegen der sie umgebenden starren Wand und des
Wassers, das sie speichern, unter Druck. Zudem erzeugt
VERNOUX, T. ET AL.: THE AUXIN SIGNALLING NETWORK TRANSLATES DYNAMIC INPUT INTO ROBUST PATTERNING AT
THE SHOOT APEX. MOLECULAR SYSTEMS BIOLOGY 7, 2011, FIG. 5B; MIT FRDL. GEN. VON TEVA VERNOUX
FABRICE BESNARD
die Form des Gewebes Spannungen, welche die Moleküle
im Zytoskelett stören. Diese großen Polymere kontrollieren
wiederum die Form der Zellen.
Während das Gewebe also wächst und sich verformt,
reagieren die Zellen und ihr Zytoskelett auf diese neuen
Spannungen, indem sie die Eigenschaften der Zellwände
(etwa Festigkeit und Richtung des Wachstums) anpassen,
was im Gegenzug die mechanischen Kräfte verändert. So
entstehen komplexe mechanische Wechselwirkungen im
wachsenden Gewebe. Man konnte zwar noch nicht direkt
nachweisen, dass diese Prozesse die Anordnung der neuen
Organe beeinträchtigen, doch wie unter anderem unsere AHP6 (Arabidopsis histidine
Forschungsgruppe herausfand, deuten experimentelle phosphotransfer protein 6), das die Aktivität von Zytokinin
Ergebnisse zumindest bei der Ackerschmalwand darauf hin. unterdrückt, einem weiteren Pflanzenhormon (siehe »Die
Zusammen mit anderen Teams erforschten wir dazu Moleküle der Phyllotaxis«, oben). Erstaunlicherweise be
Mutationen, bauten gezielt genetische Veränderungen ein einflusst das von AHP6 erzeugte Feld nicht den Divergenz
und beobachteten das Zellwachstum auf mikroskopischer winkel, sondern zwingt der Pflanze vielmehr einen regelmä
Ebene. Es zeigte sich, dass das angesammelte Auxin die ßigen Rhythmus auf, in dem sie die Organe bildet. Dank
Zellwandsynthese fördert sowie das Wachstum der Zelle dieses Moleküls sind die Blätter entlang der Sprossachse
unterstützt. All diese Prozesse sind offenbar notwendig, extrem gleichmäßig verteilt.
damit sich Blätter oder Blüten entwickeln. Offenbar setzt sich das Hemmfeld also aus mehreren
Nun hatten wir chemische und mechanische Kräfte Komponenten zusammen. Neben dem Auxin sind auch
identifiziert, welche die Phyllotaxis einer Pflanze prägen. andere Faktoren an den regelmäßigen mathematischen
Eine weitere Entdeckung ließ uns allerdings vermuten, dass Mustern beteiligt. Diese Zusammenhänge sind Gegenstand
darüber hinaus noch andere Mechanismen beteiligt sind. aktueller Forschungsarbeiten.
Nach langer Suche hatten wir nämlich doch einen Hemm Während sich die meisten Biologen auf die Natur der
stoff gefunden, der sich um die wachsenden Organe einer Hemmfelder konzentrierten, rückten andere ungeklärte
Pflanze verteilt. Dabei handelt es sich um das Molekül Fragen in den Hintergrund. Unsere Modelle können bei
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AUFS POLAREIS
1920 KEINE SUCHTGEFAHR DURCH
MARIHUANA
1970
»Den Kampf um die Erd »Diese Feststellung trifft Lester Grinspoon in Scientific
pole [führte man] mit dem American, Dez. 1969. Wenn ein Konsument aufhört, die
Erfolg, daß der Nordpol wie Droge zu gebrauchen, so entstehen keine Entzugssympto
der Südpol endlich erreicht me; die Gewöhnung ist nicht so stark wie im Fall von
wurde. Noch ist aber die Tabak oder Alkohol. Somit erscheint es fraglich, ob man
Polarforschung nicht am bei Marihuana von Mißbrauch sprechen kann. Marihuana
Ende angelangt; ist doch steigert auch nicht die Kriminalität und fördert nicht
die Hauptaufgabe die sexuelle Ausschweifungen. In gewissem Sinne scheint
Erkundung der polaren chronischer Alkoholmißbrauch gefährlicher zu sein als
Natur. Der Amerikaner Marihuana.« Die Umschau 4, S. 120
Simon Lake hat nämlich
den Plan eines Polarunter
seebootes entworfen. Beim
KIFFEN MACHT DOCH ABHÄNGIG
Bau ist zu beachten, daß »P. Kielholz und D. Ladewig berichten jetzt, daß bei chro-
selbst im Winter eisfreie Skizze des U-Boot-Bohrers. nischem Mißbrauch [von Marihuana] ängstlich-depres
oder höchstens mit einer sive Verstimmungszustände auftreten und daß sich
dünnen Eiskruste überdeckte Stellen vorhanden sind. Lake schnell eine psychische Abhängigkeit entwickelt. Bei
gedenkt, das Boot mit einer Vorrichtung zu versehen, um hohen Dosen lassen sich leichte Abstinenzsymptome
beim Auftauchen dünnere Eisschichten zu durchstoßen. nachweisen. Auch in der Schweiz hat sich – ähnlich wie
Diese Vorrichtung stellt einen nach oben hervorschiebba in anderen europäischen Ländern – der Marihuanamiß
ren Zylinder dar, durch den man einen Eisbohrer gegen die brauch fast explosionsartig unter Mittelschülern, Stu
Eisdecke arbeiten läßt.« Kosmos 2, S. 51–52 denten, Kunstgewerbeschülern und Lehrlingen ausge
breitet.« Die Umschau 5, S. 152
SALZSÄURETEST ERKENNT GLASART
»Für die Aufbewahrung von Getränken aller Art muß das
MILLIONEN JAHRE ALTES HOLZ
Glas eine bestimmte Zusammensetzung besitzen, damit die NOCH FAST INTAKT
Getränke nicht in ihrer Güte leiden. Gutes Glas soll neben »Untersuchungen an Proben
der Kieselsäure mindestens 2 Metalloxyde, darunter ein Al- eines miozänen [zirka 5,3 bis
kali enthalten, und dabei keinen zu hohen Kalkgehalt zei 23 Millionen Jahre alten]
gen. Übersteigt letzterer 20%, so wird das Glas angreifbar Senckenberg-Ligniten erga
durch organische Säuren, sodaß die Getränke bei längerem ben, daß das Holzgewebe
Lagern benachteiligt werden müssen. Das Glas läßt sich strukturell intaktes Lignin
prüfen, wenn man es den Dämpfen von konzentrierter und Zellulose enthielt. Quer
Salzsäure aussetzt: zeigt es nach dem Trocknen einen wei- schnitte zeigen ein gut
ßen Beschlag, so ist es nicht geeignet.« Die Umschau 7, S. 134 erhaltenes axiales und hori
zontales Zellsystem im
Spätholz. Die relativ dünn
NESTBAU, SEX UND SAUGMUND wandigen Zellen des Früh
»Das Meerneunauge bewohnt die Meere Europas und Nord- holzes hingegen sind erheb
amerikas. Von ihrem Laichgeschäft weiß man nur so viel, lich zusammengedrückt.
daß die Meerbricke in Flüssen emporsteigt und Nester baut. Das Braunkohleholz stammt Querschnitt durch den Ligniten.
Die Art [des Nestbaus] ist höchst interessant. Zunächst wer- sehr wahrscheinlich von
den Steine gesucht und mit dem Saugmund zu einer kreis einer Taxodium-Art oder einer eng verwandten Gattung.
runden Fläche zusammengetragen. Daran nimmt sowohl Die Zellulose ist in dem Ligniten als Polysaccharid vorhan
das Männchen als auch das Weibchen teil. Manchmal ge- den. Die Mineralisierung des Holzes während eines frühen
sellt sich ein anderes Weibchen hinzu. Die Arbeit wird durch Stadiums der Ablagerung dürfte den Abbau der organi
die Paarung unterbrochen, wobei das Männchen keinen schen Zellwandsubstanzen verlangsamt oder verhindert
Unterschied zwischen den Weibchen macht.« Kosmos 2, S. 54 haben.« Naturwissenschaftliche Rundschau 2, S. 66
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Wenn Paul Ziegers Familie von ihm wissen will, warum Laut Weltklimarat tragen die komplexen Prozesse um
er in der Arktis Wolken nachjagt, antwortet er: um Wolken und Aerosole (siehe »Kurz erklärt«, S. 66) zu den
Klimavorhersagen zu verbessern. Für seine Fachkolle- größten Unsicherheiten im Strahlungshaushalt von Klima-
gen sind die Ergebnisse des Professors für Atmosphären- projektionen bei. Deswegen fährt Zieger seit fünf Jahren
physik von der Universität Stockholm eine kleine Sensation: regelmäßig auf fast 79 Grad nördlicher Breite zum Zeppelin-
»Wir haben gemessen, dass Nanopartikel doch zur Wolken- Berg bei der nördlichsten Siedlung der Welt, dem internati-
bildung in der Arktis beitragen, und suchen jetzt ihre Quel- onalen Forscherdorf Ny-Ålesund auf Spitzbergen.
len.« Das schien erst einmal nicht zu einer bedeutenden
Theorie der Wolkenbildung zu passen – und könnte bei der
Erklärung helfen, warum die Arktis plötzlich so warm wird. Täuschend nah scheinen die 14 Kilometer entfernten
Lange meinten Fachleute, um Nanopartikel könnten sich Gletscher auf der anderen Seite des Fjords. Dank der
keine Wassertröpfchen formen, da dazu nach der so ge- extrem sauberen Luft im hohen Norden kann man vom
nannten Köhler-Theorie eine extrem hohe und damit un- Zeppelin-Berg bei Ny-Ålesund auf Spitzbergen unge-
wahrscheinliche Übersättigung der Luft mit Wasserdampf wohnt weit blicken. Aber auch hier gibt es Feinstaub in
TAMARA WORZEWSKI
erforderlich ist. Deshalb staunte die internationale Exper- der Luft, der die Wolkenbildung beeinflusst.
TAMARA WORZEWSKI
Zeppelin-Station. So untersuchen Norweger meteorologi-
sche Parameter, Gase und Schadstoffe in der Luft, Schwei-
zer messen die Rußkonzentrationen, Japaner die Größen-
verteilung der Wolkentröpfchen, wieder andere Gruppen
interessieren sich für die Strahlung. Alle zusammen erfüllen Ein ausgeklügeltes Trennverfahren mit zwei ent
sie eine Art Wächterfunktion: Denn von hier aus schlugen gegengesetzten Luftströmungen trennt »aktivierte«
Wissenschaftler 2015 Alarm, als die globale CO2-Durch- Staubteilchen, an denen Wasser zu Wolkentröpf-
schnittskonzentration in der Atmosphäre die Grenze von chen kondensiert, von inaktiven Partikeln, die nicht
400 ppm (Millionstel Teile) überschritt. Ein Jahr zuvor zur Wolkenbildung beitragen.
stellten sie fest, dass schädliche Substanzen von Pflegepro-
dukten ihren Weg nach Spitzbergen gefunden hatten, und
Jahre vorher meldeten sie bereits gefährlich hohe Quecksil- strömungen sowie die gesamte Luftsäule bis in acht Kilo-
berkonzentrationen in der arktischen Atmosphäre, die auch meter Höhe wärmer. Doch gänzlich geklärt ist die rasante
auf die europäische Kohleindustrie zurückgingen. arktische Aufheizung, die mit dem Klima des gesamten
Warum sich die nördlichen Polargebiete doppelt so Planeten auf komplexe Weise verbunden ist, noch nicht.
schnell erwärmen wie die Erde insgesamt, ist immer noch Das erschwert es Klimamodellierern, die Zusammenhän-
rätselhaft. Das gilt vor allem für den arktischen Winter, der ge in eine für Computer verdauliche Form zu bringen.
besonders rasch milder wird und sich dadurch gebietswei- Unsicherheiten in diesen mathematischen Vereinfachungen
se um Wochen verkürzt. Zu einem guten Teil lassen sich die pflanzen sich fort und führen letztlich zu den unterschiedli-
höheren Temperaturen auf veränderte Luftströmungen chen Klimaprojektionen. Der Weltklimarat IPCC zeigt in
zurückführen, die mehr Tiefdruckgebiete in den hohen seinem Report mit der generellen Erwärmung durchaus den
Norden bringen – und mit ihnen warme Luft. Konsens sämtlicher Modelle. Die projizierten Endtempera-
Ein weiterer Teil hängt mit Rückkopplungseffekten turen für 2100 klaffen aber für jedes berechnete CO2-Emis-
zusammen: Wo beispielsweise die isolierende Meereis sionsszenario um einige Grad auseinander.
decke schmilzt, kann der Ozean seine Wärme direkt an die Nanometergroße Partikel als Wolkenbildner würden
TAMARA WORZEWSKI
Luft abgeben. Im Winter sind auch eintreffende Meeres- derzeit gar nicht in Klimamodellen berücksichtigt, betont
Im Labor auf dem Zeppelin-Berg kalibriert ein Forscher geht er nur, wenn es unbedingt notwendig ist, und notiert
gerade ein Messgerät, das Rußteilchen in der Luft im Logbuch anschließend seine genaue Aufenthaltsdauer.
erfasst. Die vielen Instrumente heizen den Raum so Denn manche Schadstoffmessgeräte sind hochempfindlich
stark auf, dass er gekühlt werden muss – obwohl vor der und spüren menschliche Ausdünstungen. So darf man die
Tür fast das ganze Jahr über Schnee liegt. Terrasse auch nicht mit bestimmten Kleidungsstücken und
Parfüms betreten – das könnte Messpunkte verfälschen.
schmutzte Luft aus Asien und Europa gen Norden transpor- Mit lautem Getöse wird die Wolke eingesaugt
tiert. Dieser jährliche Zyklus beeinflusst die Wolkenbildung Jetzt jedoch steht der Stationsleiter draußen bei eisigem
zwar ebenfalls, allerdings liegt sein Höhepunkt nicht im Wind, da eine Wolke das Observatorium passiert: ein
Winter, sondern im Frühling. perfekter Zeitpunkt für Zieger, um die Funktionsweise des
Gerade montieren der Professor und sein Doktorand das Wolkenstaubsaugers zu demonstrieren, den Markussens
Fluoreszenzmessgerät an ihr liebevoll Wolkenstaubsauger Team in Zukunft auch betreuen soll. Ähnlich, wie ein Rauch-
genanntes Messinstrument. Die raketenförmige, offiziell als melder Alarm schlägt, startet der Sichtweitenmesser den
Wolkeneinlass bezeichnete Apparatur bildet das Herzstück Wolkenstaubsauger, sobald der Wert unter einen Kilometer
der neuen Einrichtung zur detaillierten Analyse der Wolken- fällt und damit eine Wolke ankündigt.
kerne. Sie ist eine von wenigen weltweit – und die einzige in Dann öffnet sich der Raketenkopf und saugt mit einer
der Arktis. Pumpe laut tosend das Gemisch aus Luft, Wolkentröpf-
Aber sie ist hier nur eine von einer Vielzahl unterschiedli- chen, Eiskristallen und Aerosolen ein. Zieger hält seine
cher Apparaturen, mit denen Forschungsgruppen aus aller Hand demonstrativ in den Sog, während er dem Stationslei-
Welt die Atmosphäre observieren. Es erscheint paradox ter das Funktionsprinzip erklärt: Die Wolke wird durch das
angesichts der bitteren Kälte draußen: Doch es stehen so Vakuum im Inneren des Geräts mit einer Geschwindigkeit
viele Wärme produzierende Instrumente in den Räumlich- von etwa 100 Metern pro Sekunde auf einen spitzen Pro-
keiten, dass eine Klimaanlage das arktische Observatorium beneinlass gelenkt. »In dieser Spitze herrscht ein kleiner
auf angenehme 20 Grad herunterkühlen muss. Zudem sind Gegenstrom. So selektieren wir nur die Wolkentröpfchen
zahlreiche Fenster mit Aluminiumfolie abgedunkelt, damit und Eiskristalle.« Die nämlich sind groß und schwer genug,
im Sommer die 24 Stunden lang scheinende Sonne die um einfach weiterzufliegen. Die nicht aktivierten Partikel,
Labore nicht noch zusätzlich erwärmt. also jene, die kein Wasser anlagern und deswegen auch
Der Stationsleiter Helge Markussen und sein Team aus nicht als Keime für Tropfen oder Kristalle dienten, lenkt der
Ingenieuren und Technikern warten täglich die Instrumente Gegenstrom um; sie werden separat gesammelt. So kön-
der internationalen Arbeitsgruppen, wechseln Filter, füllen nen die Wissenschaftler Tröpfchen und Kristalle getrennt
Lösungen nach, machen Wetterbeobachtungen und führen von den Partikeln untersuchen, die nicht zur Wolkenbildung
etwaige Reparaturen durch. Nach draußen auf die Terrasse beigetragen haben.
spektrum.de/artikel/1693102
In Spielfilmen finden sich häufig naturwissenschaftli-
che Fragestellungen, die kritisch hinterfragt und expe-
rimentell nachgestellt werden können. Anhand der
Streifen »Das Boot« und »Apollo 13« lässt sich zum Beispiel
nachvollziehen, wie Alkalimetallverbindungen der Luft Koh-
lenstoffdioxid (CO2) entziehen und dadurch Leben retten.
Die »U-96« ist eines der berühmtesten Unterseeboote
des Zweiten Weltkriegs. Lothar-Günther Buchheim
begleitete das Gefährt als Kriegsberichterstatter auf einer
Patrouille und veröffentlichte seine Erinnerungen an die
Ereignisse dieser Fahrt anschließend in dem Bestseller-
Roman »Das Boot«, der später unter dem gleichen Namen
verfilmt wurde.
Am 16. September 1939 wurde die »U-96« in Kiel zu
Wasser gelassen und ein Jahr später unter dem ersten
Kommandanten Heinrich Lehmann-Willenbrock in Einsatz
gestellt. Die Besatzung bestand aus 48 bis 52 Mann. Am
30. März 1945 wurde die »U-96« in Wilhelmshaven bei
einem Bombenangriff der Alliierten versenkt.
Im Film »Das Boot« ist eine Szene zu sehen, bei der ein
Fliegerangriff das U-Boot bei der Durchquerung der Straße
von Gibraltar schwer beschädigt. Nahezu manövrierunfä-
hig, sinkt das U-Boot daraufhin auf den in 280 Meter Tiefe
liegenden Meeresgrund.
PICTURE ALLIANCE / SAMMLUNG BERLINER VERLAG ARCHIV
1g
Kaliumhydroxid
MARCO OETKEN
Wie Kohlenstoffdioxid (CO2) mit Kaliumhydroxid (KOH) wobei Kaliumcarbonat (K2CO3) und Wasser entstehen.
reagiert, kann man anhand dieses Versuchsaufbaus Gleichzeitig wird Wärme frei.
nachvollziehen. Im Quarzrohr (Mitte) befindet sich KOH,
2 KOH + CO2 —› K2CO3 + H2O
durch den linken Kolbenprober wird CO2 darübergeleitet.
Kaliumhydroxid + Kohlenstoffdioxid —› Kaliumcarbonat + Wasser
Daraufhin bildet sich im Quarzrohr Wasser, der rechte
Kolbenprober bleibt leer. Es tritt also kein Gas aus, was
zeigt, dass das gesamte CO2 gebunden wurde. Da das Versuchsergebnis gezeigt hat, dass das Kalium
hydroxid das Kohlenstoffdioxid vollständig in Form von
Kaliumcarbonat gebunden hat, stellt sich jetzt die Frage,
KaLeu: »CO2-Gehalt?« wie sich der Einsatz der Tauchretter auf die Situation der
LI: »1,8 Prozent.« U-Boot-Fahrer ausgewirkt hat. Oder konkret: Wie lange
KaLeu: »Reicht der Sauerstoff?« konnte die 50 Mann starke Besatzung der »U-96« ohne
LI: »Nein.« weitere Frischluftzufuhr überleben?
KaLeu: »Kalipatronen! Für alle, die nicht arbeiten. Die Bei einem CO2-Gehalt in der Luft von fünf Prozent tritt
freien Leute in die Kojen.« bereits akute Atemnot und Ohnmacht ein, bei etwa acht
Hier wird die zentrale Problematik offenkundig, dass Prozent der Tod. Ein erwachsener Mensch atmet pro
der Sauerstoffgehalt im Boot nicht ausreichen wird, Atemzug zirka 500 Milliliter Luft ein und setzt beim Aus
während der Anteil an CO2 stetig zunimmt. Gleichzeitig atmen 20 Milliliter Kohlenstoffdioxid frei. Pro Minute
stellt sich die Frage, welche Funktion die Kalipatronen produziert ein Seemann bei durchschnittlich 20 Atem
haben und was sie in dieser Situation bewirken sollen. zügen demnach rund 400 Milliliter CO2.
Aus weiteren Filmszenen geht hervor, dass diese offen-
sichtlich das CO2 binden können, das Gas also aus der
Umgebungsluft entfernen. Wie aber funktioniert diese Das Bodenkontrollteam der NASA sucht nach einer Lösung,
CO2-Fixierung, und wie sind die Tauchretter-Kalipatronen um das CO2 aus der Apollo-13-Kapsel zu entfernen.
aufgebaut? Die Bauanweisung zur Luftfilteranlage, b
estehend unter
Ein solcher Tauchretter besteht aus zwei zentralen anderem aus Lithiumhydroxid-Patronen, gibt das Team
Bauteilen, einer Alkalipatrone und einer Sauerstoffflasche. an die Astronauten durch.
Über einen Atemschlauch wird die ausgeatmete Luft in die
Alkalipatrone (befüllt mit rund einem Kilogramm Kalium
NASA (SPACEFLIGHT.NASA.GOV/GALLERY/IMAGES/APOLLO/APOLLO13/HTML/S70-35013.HTML)
Wellenlänge
ersten
nen und Elektronen zu Wasser- Galaxien
Sterne.
stoffatomen. Deren Geschichte ionisieren den
umgebenden
lässt sich anhand der von ihnen Wasserstoff
ausgesandten oder absorbierten 40 und bilden
dunkle Blasen.
Strahlung verfolgen. Die charakte-
30
ristische Strahlung von Wasser- 40 es
stoff hat eine Wellenlänge von 21 reionisiert
20 Universum
Zentimetern. Sie nimmt jedoch an 30
der Expansion des Weltalls teil und mitb 10
vergrößert sich bis zur Beobach- Berechnet man die in M ewegte 20
illiar E
Expansion des den ntfernu 1,5 bis
tung auf der Erde entsprechend. Weltalls ein, ist die Lich n 20 Meter
tjah g
Deshalb können Astronomen mit Quelle der heute ren 0
10
empfangenen
dem Signal die Entwicklung des Hintergrundstrah- Als mitbewegte Erde
Universums vom dunklen Zeitalter lung – also die Entfernung bezeich- 0
Grenze des beo- nen Kosmologen die
vor der Entstehung der ersten bachtbaren Univer- Strecke, die Licht Astronomen können Objekte in
Sterne bis heute kartieren: Je sums – heute 45,5 im gleichzeitig expan- solchen Entfernungen beobach-
Milliarden Lichtjahre dierenden Universum
jünger das All zum Entstehungs- von uns entfernt.
ten, sehen sie allerdings nicht
zurücklegt. so, wie sie heute – im Zustand
zeitpunkt der Strahlung war, desto
der mitbewegten Entfernung –
niedriger ist ihre Frequenz. aussehen. Vielmehr erscheinen
sie uns entsprechend der Zeit,
die ihr Licht zu uns gebraucht
Anfangs hat Die Strahlung der Ultraviolettes Anwachsende hat so, wie sie im jungen
Wasserstoff ersten Sterne Licht der Sterne Galaxien ionisierten Kosmos ausgesehen haben.
Zeit nach
Die Kurve zeichnet dem Urknall 10 100 250 500 1000
die Gesamtinten (Millionen
Emission
Zu den modernsten Interferometern zählt LOFAR (Low besonders kalt ist, erläutert Léon Koopmans von der Uni-
Frequency Array). Seine Antennen sind über viele europäi- versität Groningen in den Niederlanden. Er leitet die LOFAR-
sche Länder verstreut, wobei das Zentrum nahe der nieder- Beobachtungen zur Epoche der Reionisierung. Im Septem-
ländischen Stadt Exloo liegt. Es ist das derzeit weltweit ber 2019 gelang es der Konkurrenz vom MWA (Murchison
größte Radioobservatorium für niedrige Frequenzen. Den- Widefield Array) in der Wüste von Westaustralien nach
noch konnte es bislang lediglich grobe Grenzwerte für die einer technischen Aufrüstung, diese Grenzen noch enger zu
Größenverteilung der Blasen liefern. Immerhin ließen sich ziehen.
damit bereits extreme Modelle ausschließen, in denen In Zukunft dürften die besten Aussichten für eine tat-
beispielsweise ein Teil des intergalaktischen Mediums sächliche Messung – im Gegensatz zur Bestimmung von
H. Joachim Schlichting war Direktor des Instituts für Didaktik der Physik an der Universität
Münster. Seit 2009 schreibt er für »Spektrum« über physikalische Alltagsphänomene.
spektrum.de/artikel/1693106
Oh welch ein Schreck: mung lässt sich objektiv untermauern: Umwickelt man
Der Schnee ist weg! beispielsweise den Sensor eines Thermometers mit
einem feuchten Wattebausch, liest man eine niedrigere
Wo ist er nur geblieben?
Temperatur ab als im trockenen Zustand. Es gibt spezielle
Anita Menger (*1959) Doppelthermometer, so genannte Psychrometer, die
basierend auf diesem Prinzip neben der normalen
Wenn uns der Winter Schnee beschert, wird die Trockentemperatur die Feuchttemperatur anzeigen (siehe
Schicht auch bei anhaltenden negativen Temperatu Illustration auf S. 80).
ren gelegentlich dünner und verschwindet an einigen Die Verdunstung des Wassers entzieht der Umgebung
Stellen sogar ganz. Etwa nach dem Schneeschieben, Energie in Form von Wärme. Die Temperatur sinkt umso
wenn die zurückgebliebenen Reste sich anschließend in mehr, je geringer die relative Feuchte ist – das Verhältnis
nichts aufzulösen scheinen. Schuld daran sind mechani aus der tatsächlichen Konzentration von Wasserdampf
sche und thermodynamische Vorgänge, die weitgehend und der bei der Temperatur maximal möglichen. Bei einer
im Verborgenen stattfinden. Insbesondere spielen Wech relativen Feuchte von 100 Prozent kondensiert genauso
selwirkungen zwischen den drei Aggregatzuständen des viel Wasser wie verdunstet. Die Temperatur, bei der das
Wassers – fest, flüssig und gasförmig – eine entscheiden passiert, nennt man Taupunkt. Er liegt stets unterhalb der
de Rolle.
Das Volumen des Schnees nimmt bereits ab, kurz
nachdem er gefallen ist. Eine frische, trockene Flocken Warme Regentropfen durchschlagen die Schneedecke
decke hat zahlreiche Hohlräume und daher eine geringe und beschleunigen den Schmelzvorgang.
Dichte. Bald darauf sackt das Gefüge unter dem eigenen
Gewicht mehr und mehr in sich zusammen. Die Höhe
H. JOACHIM SCHLICHTING
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Zitaten werden generell nicht kenntlich gemacht.
Roth Die Mitglieder von ABSOLVENTUM MANNHEIM e. V., des
ISSN 0170-2971
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spektrum.de/artikel/1693108
A
ls Wissenschaftsautor muss ich viel recher und der mit der nach unten gerichteten Spitze ent
chieren. Das mache ich ganz klassisch in Bü spricht ODER.
chern, aber noch öfter im gewaltigen Fundus Die de-morganschen Gesetze bedeuten demnach,
des Internets. Doch nicht immer finde ich dort, dass NICHT (a UND b) identisch mit der Aussage
was ich suche. Möchte ich beispielsweise etwas über (NICHT a) ODER (NICHT b) ist; beziehungsweise dass
die Kreiszahl Pi erfahren, dann hat die Mehrheit der NICHT (a ODER b) das Gleiche ist wie (NICHT a) UND
Resultate, die mir die gängigen Suchmaschinen liefern, (NICHT b). Wenn ich zum Beispiel Webseiten nach dem
nichts mit Mathematik zu tun, sondern mit dem Mini Auftreten der Wörter Galaxy und Smartphone untersu
computer Raspberry Pi. Und wenn ich nach »Galaxy« chen möchte, kann ich alle Seiten in vier Gruppen
suche, muss ich mich durch etliche Treffer zum gleich einteilen: In der ersten sind solche, die nur das Wort
namigen Smartphone wühlen. Smartphone enthalten; in der zweiten jene, in denen
Diese Probleme kann man durch den geschickten lediglich das Wort Galaxy vorkommt; dann diejenigen
Einsatz logischer Verknüpfungen umgehen. Sie be mit beiden Begriffen; und schließlich die Seiten, in
schreiben Rechenregeln, die nicht mit den üblichen denen weder der eine noch der andere erscheinen.
Symbolen für Addition, Subtraktion, Multiplikation oder
A
Division arbeiten, sondern mit Operatoren, die UND, ls Astronom interessiert mich die letzte Gruppe,
ODER sowie NICHT heißen. Will ich etwa aus allen die sich mit der Suche nach NICHT (Smartphone
Internetseiten, die das Wort Pi enthalten, nur diejenigen ODER Galaxy) identifizieren lässt, am wenigsten.
finden, in denen nicht auch das Wort Raspberry vor De Morgans zweite Regel besagt, dass (NICHT
kommt, muss ich die beiden Suchbegriffe durch pas Smartphone) UND (NICHT Galaxy) die gleiche Gruppe
sende Operatoren verknüpfen. liefert. Was auch der Fall ist: Die Webseiten ohne das
Für diese kann man ähnliche Gesetze aufstellen wie Wort Smartphone gehören zu den Gruppen 2 und 4;
für das »normale« Rechnen. Man findet auch ein diejenigen ohne Galaxy tauchen in den Gruppen 1 und 4
Kommutativ- sowie ein Assoziativgesetz und so weiter. auf. Durch die Verknüpfung UND bleibt dann nur die
Zu den bekanntesten Regeln für logische Aussagen letzte Gruppe übrig.
gehören die so genannten de-morganschen Gesetze, Für dieses schlichte Beispiel würde man in der Praxis
benannt nach dem englischen Mathematiker Augustus einfachere logische Verknüpfungen verwenden als die
De Morgan (1806–1871): de-morganschen Regeln. Bei komplexen Suchanfragen
sind diese jedoch wichtig. Ebenso braucht man sie,
wenn man Algorithmen programmiert oder digitale
elektronische Elemente entwickelt, etwa bei der Kons
truktion so genannter Logikgatter für Computer. Dabei
führen mehrere binäre Input-Kanäle zu einem gewissen
Output: Eine UND-Schaltung liefert nur dann den
Wert 1, wenn an allen Eingängen eine 1 anliegt; ein
ODER-Gatter gibt dagegen eine 1 aus, wenn mindes
tens ein Eingang eine 1 enthält.
Das Symbol, das wie ein Inbusschlüssel von Ikea aus Die de-morganschen Regeln sehen zwar einfach aus,
sieht, steht für den logischen Operator NICHT, der mit doch Computer brauchen genau solche simplen Geset
der Spitze nach oben zeigende Winkel bedeutet UND, ze, um zu funktionieren.
spektrum.de/artikel/1693110
1 Wenn wir über Wissenschaft sprechen, nutzen wir und universelle Naturgesetze finden? Könnte man nicht auch
viele Begriffe wie selbstverständlich. Allerdings ist ein tiefes, befriedigendes Verständnis der physikalischen
bei genauerer Betrachtung oft gar nicht so klar, was Vorgänge finden, ohne zu glauben, in Gottes Regelwerk
damit eigentlich gemeint ist. geschaut zu haben? Doch gerade dieser ursprünglich religiö-
se Gedanke scheint in der Diskussion mitzuschwingen, sie
nicht«, schreibt daher Hüttemann. Vielleicht fehlt die Anre- Antwort wollen sich viele nicht zufriedengeben. Sie vermu-
gung durch die Physik: Wenn klar wäre, wie es hier weiter- ten, dass es eine tiefere Wahrheit zu entdecken gibt.
geht, wenn also neue Naturgesetze entdeckt würden,
könnten die Philosophen daraus weitere Ideen entwickeln. QUELLEN
Aber derzeit stockt der Fortschritt. Ob es noch Teilchen Cartwright, N.: How the laws of physics lie. Oxford University
gibt, die nicht im Standardmodell der Materie vorkommen, Press, 1983
ist zum Beispiel unklar. Und zwischen der Quantenmecha-
Giere, R.: The skeptical perspective: Science without laws of
nik und der Relativitätstheorie klafft eine bisher unüber- nature. In: Weinert, F. (Hg.): Laws of nature. Essays on the
windbare Lücke. philosophical, scientific and historical dimensions. de Gruy-
Rätselhaft sind nicht zuletzt die Konstanten in den Natur- ter, 1995
gesetzen. Sie sind derart stabil, dass seit Mai 2019 alle so Hüttemann, A.: Naturgesetze. In: Bartels, A., Stöckler, M. (Hg.):
genannten SI-Einheiten – Sekunde, Meter, Gramm, Kelvin Wissenschaftstheorie. Ein Studienbuch. Mentis, 2007
und so weiter – durch die Naturkonstanten definiert wer-
Palmerino, C. R.: Reading the book of nature: The ontological
den. Zudem scheinen sie aufeinander abgestimmt zu sein. and epistemological underpinnings of Galileo‘s mathematical
Sie wirken, als seien sie passend gewählt, um Leben im realism. In: Gorham, G. et al. (Hg.): The language of nature:
Kosmos zu ermöglichen. Wäre die Gravitationskonstante Reassessing the mathematization of natural philosophy in the
zum Beispiel kleiner, als sie tatsächlich ist, hätten sich keine seventeenth century. University of Minnesota Press, 2016
Sterne und Galaxien bilden können, oder die Sterne wären
zumindest nicht in Supernovae explodiert und hätten nicht WEBLINK
all die Elemente ins Universum geschleudert, aus denen https://plato.stanford.edu
später Planeten entstanden.
Das frei zugängliche Onlinelexikon »Stanford Encyclopedia of
Man kann mit den Schultern zucken und sagen, dass wir Philosophy« gibt zu den Themen »laws of nature«, »ceteris paribus
uns darüber nur Gedanken machen können, weil die Natur- laws« und »fine-tuning« einen ausführlichen Überblick (auf
konstanten zufällig so sind, wie sie sind. Doch mit der Englisch).
ALEJANDRA POTTER GIMENO, AUS HOVEST, Y.: HELDEN DER MEERE; MIT FRDL. GEN. DES TENEUES VERLAGS
Aktivisten und Wissenschaftler be So versuchen Aktivisten, an der
MEERESSCHÜTZER sucht, die sich für den Schutz der Westküste Thailands Korallen anzusie
IN SZENE Ozeane einsetzen. Sechs ihrer Projekte deln. Andere bekämpfen mit einem
stellt er vor, die Hoffnung machen. Für sparkassenähnlichen Geschäftsmodell
Dieser bildgewaltige Band stellt den Autor sind diese Menschen »Hel den Plastikmüll auf Haiti. Eine weitere
Projekte von Aktivisten und For- den der Meere«. Organisation will die marinen Öko
schern vor, die sich für den Schutz Hovests erste Reise führte nach systeme vor Mexikos Küste schützen,
der Meere einsetzen.
Tansania. Hier, wo die Traumstrände indem sie den Tourismus und die
York Hovest
HELDEN DER
MEERE
Unterwegs mit
den Hütern eines
einzigartigen
Lebensraums
teNeues, Kempen
2019
224 S., € 50,–
Gabun – der Überwachung der Hoch Verhalten, das bis heute nicht restlos samkeit der Konsumenten erregen.
ALEJANDRA POTTER GIMENO, AUS HOVEST, Y.: HELDEN DER MEERE; MIT FRDL. GEN. DES TENEUES VERLAGS
Von Anfang an, so die Grundthese vertreten war, dazu zu sagen hatte, krampfhaft zu bemänteln, sie dem
des Autors, seien im Fahrwasser der war für den Verein nicht von Belang. In Leser andererseits aber nicht aufzu
Sprachpflege Nationalismus und akademischen Kreisen wiederum drängen. Es bleibt dem Publikum
Chauvinismus gesegelt. Zu Zeiten des befand man es oft nicht der Mühe überlassen, Parallelen zur heutigen
Allgemeinen Deutschen Sprachver wert, gegen den offenkundigen Dilet Zeit zu ziehen oder auch nicht.
eins allerdings empfand man vor allem tantismus der Sprachreiniger Stellung Göttert selbst belässt es bei Andeu
die Sprache des soeben besiegten zu beziehen. Gegenwind kam eher von tungen im Epilog.
Kriegsgegners als feindlichen Einfluss, Seiten der Universitäten insgesamt Wenn der Ruhestand aller Profes
nämlich das Französische. Regelmä sowie von Schriftstellern: Die »Erklä soren derart gründlich recherchierte
ßig den Kürzeren zogen gemäßigte rung der 41« warnte vor einer mögli und hervorragend formulierte Bü
Vereinsangehörige wie dessen erstes chen Verarmung der Sprache im cher hervorbrächte, wäre es unbe
Ehrenmitglied, der Generalpostmeister entfesselten Ausputzfuror. Zu den dingt angeraten, über eine Verkür
Heinrich Stephan. Diesem war es vor Unterzeichnern zählten Theodor zung ihrer Lebensarbeitszeit nachzu
allem darum gegangen, nach vollzo Fontane und der Althistoriker Theodor denken.
gener Reichsgründung eine einheitli Mommsen, dem für seine »Römische Die Rezensentin Vera Binder hat Sprachwis-
che und verständliche Terminologie Geschichte« 1902 der Literaturnobel senschaft und Philologie in Tübingen
für das nunmehr gesamtdeutsche preis verliehen wurde. studiert und ist Studienrätin im Hochschul-
Postwesen zu schaffen. Dazu gehör In der Zeit des Nationalsozialismus dienst am Institut für Altertumswissen-
schaften der Universität Gießen.
ten Begriffe wie »eingeschrieben« für wendete sich das Blatt. Einerseits tat
»rekommandiert« oder »Umschlag« sich der nunmehr gleichgeschaltete
für »Couvert«. Hermann Dunger Verein zunächst schwer damit, dass
wiederum, Gymnasialprofessor aus viele Nazi-Granden keineswegs ausge WISSENSCHAFTS-
Dresden, hatte 1882 ein Wörterbuch
zu »Verdeutschungen entbehrlicher
wiesene Fremdwortfeinde waren.
Joseph Goebbels beispielsweise,
GESCHICHTE
Fremdwörter« vorgelegt – und damit Germanist mit Doktortitel, mokierte DER ERSTE
mehr oder weniger deutlich einge sich 1937 in einer Rede vor der Reichs KOSMOLOGE
räumt, dass es auch unentbehrliche kulturkammer vielmehr über »künst
gibt. »Dörrleiche« für »Mumie« bei lich erdachte Wortbildungen«, die Im 6. Jahrhundert v. Chr. speku-
lierten griechische Philosophen
spielsweise ging Dunger zu weit. »völlig am Wesen der Sprache« vorbei
erstmals über stoffliche, nicht-
gingen. »Der Führer wünscht nicht
göttliche Ursachen des Weltge-
derartige gewaltsame Eindeutschun
Karl-Heinz Göttert schehens. Einer von ihnen war
gen«, sah sich der Verein gezwungen
DIE SPRACH- Anaximander von Milet.
REINIGER zu drucken. Andererseits hatte man
Der Kampf gegen
Fremdwörter und
der deutsche
mit Rudolph Buttmann ein prominen
tes NSDAP-Mitglied als Vorsitzenden,
und es kamen (wieder einmal) Überle
Schon die ältesten schriftlichen
Zeugnisse aus Babylon, Assyrien
und Ägypten besagten, verschiede
Nationalismus
Propyläen, Berlin gungen auf, der Sprache eine weltbild ne Götter hätten die Welt erschaf
2019 gestaltende Kraft zuzuschreiben. Das fen, verursachten alle Naturvorgän
368 S., € 20,– bot eine willkommene Rechtfertigung ge und beherrschten die Schicksale
dafür, Wörter aus anderen Sprachen der Menschen. So wurde es dann
auszugrenzen, weil sie angeblich das über die Jahrtausende hinweg
genuin deutsche Denken und Fühlen weitergegeben. Doch im 6. Jahrhun
zu kontaminieren drohten. dert v. Chr. versuchte sich eine
Dies und vieles mehr leuchtet kleine griechische Denkschule, die
Den Ton im Verein gaben aber Göttert bis in die dunkelsten Ecken wir heute die ionischen Naturphilo
schon bald Eiferer wie Otto Sarrazin aus. Natürlich kommt dabei einiges an sophen nennen, an einer ganz
an, dessen langjähriger Vorsitzender. unfreiwilliger Komik zum Vorschein. anderen Erklärung. Ihre Ideen ken
Sarrazin interessierte sich nicht dafür, »Seidling« für den Kokon oder »auteln« nen wir zwar nur fragmentarisch
ob ein Fremdwort gut eingeführt und für die Fortbewegung per Automobil und von griechischen und römi
allgemein verständlich, im internatio beispielsweise. Man täte Göttert schen Berichten aus zweiter oder
nalen Sprachgebrauch anschlussfähig allerdings Unrecht, würde man sein dritter Hand. Falls sie aber richtig
oder unverzichtbares Element einer Buch auf eine Ansammlung solcher überliefert wurden, muten sie selbst
präzisen Fachterminologie war. Es Kuriositäten reduzieren. Es geht ihm aus heutiger Sicht absolut modern
ging ihm um Reinhaltung ohne Rück nicht um wohlfeile Denunziation und an: Was in der Welt vorgeht, so ihre
sicht auf Verluste. Was die akademi billige Schenkelklopfer – sein Anliegen Grundannahme, beruht nicht auf
sche Sprachwissenschaft, die in den ist Aufklärung. Dabei gelingt es ihm göttlicher Willkür, sondern auf
Reihen des Vereins nur schwach einerseits, die eigene Haltung nicht stofflichen Umwandlungen durch
verlor den Charakter eines Kampfes die in Afghanistan, Irak oder Lybien
Mann gegen Mann, wurde zum Kampf
gegen einen fernen, oft anonymen
endlos dahin, ohne dass eine Staaten
bildung oder ein anderes klar benenn
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Feind. Zugleich erreichte im 20. Jahr bares Ergebnis erreicht werde. Tel.: 06221 9126-743
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hundert die Feuerkraft eine Stärke, die Aus Hipplers Buch lernen die
ganze Städte und Regionen, potenziell Leser(innen) viel über Krieg und Politik.
sogar die Menschheit auslöschen Es ist klar, kompakt und sehr verständ
kann. Heutige Hightech-Waffen funkti lich geschrieben. Der Autor analysiert
onieren zielgenau über unvorstellbare nicht nur die Vergangenheit und
Entfernungen und entkoppeln so den Gegenwart, sondern arbeitet auch die
Kombattanten vom Kampfgeschehen: Prognose heraus, dass die gegen
»Vom Kommando des Abschusses wärtigen Nationalisierungstendenzen
einer Hellfire-Rakete dieser Drohnen in zwischenstaatliche Kriege künftig
Leserreisen
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LESERBRIEFE
IRRITIERENDE sphäre während der winterlichen Polarnacht und der Auf-
heizung der Ozonschicht im Sommerhalbjahr.
VERALLGEMEINERUNG Wenn man dies und das im Artikel beschriebene tropi-
sche Phänomen klar auseinanderhält, dann folgt interessan-
Drei Wissenschaftler berichteten von Vorgängen in terweise: Wir haben es hier offensichtlich mit zwei physi
der Stratosphäre, bei denen Winde regelmäßig ihre
kalisch gänzlich uneinheitlich angeregten, räumlich unter-
Richtung wechseln. (»Richtungswechsel in großer
schiedlich verteilten dynamischen Schwingungssystemen
Höhe«, »Spektrum« September 2019, S. 42)
mit zudem verschiedener Frequenz zu tun. Sie interferieren
Günter Warnecke, Berlin-Zehlendorf: Die redaktionellen bekanntlich sowohl miteinander als auch mit weiteren
Aufmachungstexte sind reichlich irritierend, weil dort nicht quasiperiodischen atmosphärischen Untersystemen, wie
von vornherein deutlich gesagt wird, dass es sich hier zu- zum Beispiel der El-Niño-/Walker-Zirkulation.
nächst nur um ein primär äquatoriales Phänomen handelt. Wenn nun gezeigt werden kann, dass und wie sogar
Auch in der Ankündigung des Artikels auf S. 3 müsste es hochintensive mesoskalige troposphärische Phänomene
bereits heißen, dass die Autoren nicht »die starken Winde wie tropische Wirbelstürme in höherskalige stratosphäri-
der Stratosphäre«, sondern deren quasibiennale Oszillation sche Vorgänge steuernd eingreifen, wäre das ein wichtiger
über dem Äquator erklären wollen. Im Übrigen erstreckt Erkenntnisschritt, der allerdings den bekannten hohen Kom-
sich die Stratosphäre nur in den Tropen von 16 bis 50 Kilo- plexitätsgrad unseres Wetter- und Klimasystems erneut
meter Höhe, in mittleren und hohen Breiten beginnt sie oft vergrößerte. Dass sich aus dieser Erkenntnis schon neue
schon in 8 bis 10 Kilometer Höhe. Prognosemöglichkeiten für das Phänomen an sich ergeben
Im obersten Bereich der Stratosphäre »sammeln sich« sollen, klingt deshalb sehr mutig.
auch nicht (S. 45 links) »die Treibhausgase wie Ozon«, die
das kurzwellige UV-Licht abfangen. Das Ozonmaximum
liegt bereits in der Mitte der Stratosphäre, bei etwa 25 Kilo-
meter Höhe. Dass es darüber bis zur Mesopause immer
DORNRÖSCHEN UND
wärmer wird, liegt allein daran, dass infolge der hohen DAS ANTHROPISCHE PRINZIP
UV-Absorptionsrate des Ozons schon die geringen Mengen Ein Gedankenexperiment sorgt für Streit unter
in 50 Kilometer Höhe für das dortige Temperaturmaximum Mathematikern: Dornröschen wird geweckt und je
sorgen. Die übrigen Treibhausgase sind eher gut durch- nach Ausgang eines vor ihr verborgenen Münz-
mischt und tragen zur hohen Mesopausentemperatur wurfs wieder in einen Schlaf versetzt, der ihre Er-
vergleichsweise wenig bei; ihre Bedeutung liegt vielmehr innerung an den Vorgang löscht. Wie wird sie nach
im infraroten Strahlungsbereich, wo wiederum das Ozon dem Aufwachen die Wahrscheinlichkeit der Ereig-
weniger beiträgt. nisse beurteilen? (»Dornröschen und die Wahrschein-
Im Kasten »Auf einen Blick« ist der erste Satz in seiner so lichkeitsrechnung«, Mathematische Unterhaltungen,
allgemeinen Aussage schlicht falsch. Dass auf dem über- »Spektrum« November 2019, S. 80)
wiegenden Teil des Globus in der Stratosphäre ein monsu-
naler, also halbjährlicher Windrichtungswechsel von über- Torsten Enßlin, Garching: Die Lösung des Dornröschen-
wiegend starkem Westwind in der jeweiligen Winterhemi- problems, welche auch Christoph Pöppe in seinem Artikel
sphäre und schwachem Ostwind im jeweiligen Sommer favorisiert, lässt sich als Variante des in der Kosmologie
stattfindet, ist nämlich schon seit 100 Jahren sowohl als verwendeten anthropischen Prinzips auffassen. Die Tatsa-
Tatbestand als auch hinsichtlich seiner Ursachen bekannt, che, dass wir auf einer bewohnbaren Erde leben, uns in
und zwar als Folge der Auskühlung der polaren Strato einem lebensfreundlichen Universum wiederfinden oder ALEKSANDARGEORGIEV / GETTY IMAGES / ISTOCK
N
och 20 Minuten bis zu meiner Realzeit. Ich program- »Ja.« Der Blechkamerad schwebt wieder vor meine Füße
miere die Zeitkapsel und steige aus. Beim Start und fährt die Greifer mit den Tasern aus. »Das ist eine
sieht die Kapsel beinahe aus wie ein normaler Aircar – Warnung vor den Folgen nichttödlicher Gewaltanwendung.
sie verschwindet nur schneller und saust zurück in mein Die Stromstöße sind schmerzhaft und können bei gesund-
Labor. heitlich beeinträchtigten Personen medizinische Behandlun-
Ich schlage den Kragen meiner Jacke hoch; durch die gen nötig machen.«
Fußgängerzone bläst der Wind, als wolle er die Stadt leer Ich bleibe stehen und krame in der Manteltasche nach
fegen. Aber das hält mich nicht auf. Womöglich bin ich der der ID. Was nun? Wenn ich die Karte zeige, nimmt der Kerl
Letzte, der Frotzki stoppen kann. mich fest. Vorher wird er mir einen Vortrag über die Geset-
Die App in meiner Smart-Brille meldet eine Time-Switch- ze zum zeitmanipulativen Reisen halten. Ich kenne die
Wahrscheinlichkeit von 50 Prozent. Die Chancen stehen Ausführungen, denn ich habe sie verfasst. Also nicht die
also halbe-halbe, dass ich eine Veränderung im Zeitverlauf rechtssicheren Formulierungen, sondern die Inhalte.
verhindern kann. Die Anzeige daneben bestätigt, dass ich Schließlich hat mein Team die Zeitkapsel entwickelt.
den Mindestabstand zu meinem T-Null-Ich habe. Deswegen Nachdem die Kollegen aus der Physik das Hawkingsium
machen mir die Überwachungskameras keine Sorgen. mit der negativen Masse entdeckt hatten, mussten wir
An der Straßenecke leuchtet die Sub-Tube-Station. Vor Ingenieure damit nur noch eine Maschine bauen. In ihrem
dem Eingang schwirren ein paar Drohnen herum. Ich greife Inneren wird das Raumzeitgefüge so stark gekrümmt, dass
in die Manteltasche, finde eine Münze und lasse sie fallen. man an einen Punkt in der Vergangenheit zurücktunneln
Beim Aufheben aktiviere ich die virtuelle Maske an meiner kann. Damit nutzt man die Unschärfe der körnigen Quan-
Smart-Brille. Irgendwann entdecken mich Frotzkis Algo tengravitationseinheiten aus, sagen die Experten. Allzu weit
rithmen trotzdem. Doch vorher sitze ich längst in der Tube zurück geht’s leider nicht. Aber die eine oder andere Stunde
zum Campus. ist schon drin.
Ich betrete die Rolltreppe und versuche, möglichst Diese Details kennt der Sicherheits-Bot natürlich nicht,
beiläufig an den Passanten vorbei nach unten zu eilen. er ist eine Basisausführung für den Streifendienst. Er steht
Niemand beachtet mich. Die Augen zucken hinter den vor mir mit seinen Tasern und ahnt nichts vom Ärger mit
Gläsern der Brillen, folgen vermutlich Nachrichten- oder der Zeit. Denn schon mit Reisen in die jüngste Vergangen-
Unterhaltungsprogrammen. Auf der Plattform schwingen heit lässt sich allerhand Unsinn anstellen.
die Tubes aus den Röhren. Ich steige ein. In der Tube sitzt
F
nur ein Mann. Ist das einer von Frotzkis Leuten? rotzki zum Beispiel hat mit der Zeitkapsel eine steile
»Bitte Platz nehmen, wir starten«, sagt eine Frauenstim- Karriere gemacht. Es ist ein offenes Geheimnis, dass er
me, bevor ich den Mann näher betrachten kann. Es zischt. mehrere Mitglieder der flugs eingesetzten parlamentari-
Die Beschleunigung wirft mich in den Sessel. Nur einen schen Zeitreise-Kommission mit dem Doppelten-Mann-
Wimpernschlag später dreht sich der Sitz. Nun drückt mich Trick übertölpelt hat.
das Abbremsen ins Polster. Erst hat er politische Gegner zu heiklen Absprachen in
»Universität«, sagt die Frauenstimme. Ich stehe auf. Der Hinterzimmern überredet. Dann ist er genau dorthin zurück-
Mann ebenso. Anscheinend zeigt ihm seine Brille erst jetzt gereist, um ebendiese Deals mit der Kamera zu dokumen-
an, dass ich existiere. Er lässt mir den Vortritt. Gut, denn tieren und seine Gegenüber zu erpressen. Am Ende hatte er
ich habe es eilig. Noch 15 Minuten bis zur Realzeit. Ich eile genug Kommissionsmitglieder in der Hand und wurde zum
die Rolltreppe hinauf. Der Campus liegt menschenleer im Institutsleiter und Chefberater der neuen Aufsichtsbehörde
Dämmerlicht. Im Laborgebäude sehe ich einen Schatten. ernannt. Seitdem kontrolliert er sich selbst.
Frotzki? Und mich. Ich musste die Regeln in seinem Auftrag
»Mobile Polizeieinheit. Routinekontrolle! Bitte weisen formulieren: Mindestabstand zum eigenen T-Null-Ich hal-
Sie Ihre T-Zeit aus!« Die Normstimme des Sicherheits-Bots ten, mit der Zeitkapsel stets wenige Sekunden nach der
kommt von hinten. Ich gehe weiter. So kann ich den Bot Startzeit zum Ausgangsort zurückkehren. Ausgerechnet
nicht abschütteln, aber Zeit und ein paar Meter gewinnen. Frotzki und seine Männer sollen das überwachen.
Die Einheit schwebt an mir vorbei, deaktiviert meine Maske Deswegen habe ich das Time-Switchometer konstruiert.
und versperrt mir den Weg. »Bitte weisen Sie Ihre T-Zeit Das Gerät zeigt mir die Wahrscheinlichkeit von Zeitmanipu-
aus!«, wiederholt der Bot. Ich weiche ihm aus und frage: lationen an – sowie den Ort und den Zeitpunkt, an dem sie
»Meinen Sie mich?« ausgelöst wurden. Darum stehe ich jetzt hier. Den Daten
M
verbranntem Plastik. Die Blechkiste kippt zu Boden; es ein T-Null-Ich scheint mittlerweile die Lage verstan-
scheppert, als würde eine Mülltonne umfallen. den zu haben und sagt: »Also! Wir haben es gehört.
Hinter dem Schrott-Bot tauche ich auf und sage: »Wow!« Sein T-Null muss im Büro bleiben und darf die Zeit-
Ich sehe die Augen meines Ichs leuchten. Der Stromscho- maschine nicht benutzen.« Mein T-Null zeigt auf Frotzki.
cker in der Hand qualmt noch. »Dann verschwindet der da von allein.«
»Bist du mein T-Null?«, frage ich. »Jo!«, ruft T-Zwei, zückt den Schocker und macht sich
»Quatsch, T-Zwei.« bereit zum Gehen. Wieso ist der so aggressiv? Steckt das
Also ist die Zeitkapsel rechtzeitig im Labor angekommen in mir?
und mein T-Null-Ich ist kurz vor meiner kleinen Zeitreise »Nicht du.« Mein T-Null guckt zu mir. Ich? Offenbar
noch einmal gestartet, denke ich. Umso besser. Zu dritt sehen alle meine fragende Miene, denn mein T-Null erklärt:
kommen wir mit Frotzki sicher klar. In meinem Display sinkt »T-Zwei muss gleich in die Kapsel und die Zeitreise starten.
die Time-Switch-Wahrscheinlichkeit prompt auf 25 Prozent. Dann bin ich allein im Büro. Wie ursprünglich. Danach
»Schnell!«, ruft mein anderes Ich. Es steckt den Scho- steige ich in die Kaspel. So sollte diese Aktion den geringst-
cker ein und sprintet los. Ich bin nicht besonders gut in möglichen Einfluss auf den Zeitverlauf haben. Und ab
Form. Nach ein paar Schritten fehlt mir die Luft. Zum Glück meinem Start gibt es wieder nur einen von uns«, sagt mein
ist mein Büro im Erdgeschoss. Wir stürmen ins Labor. T-Null und zeigt auf mich. »Dann übernimmst du.«
Frotzki steht mit dem Rücken zu uns an der neuen »Aber ich bin doch als Zweites …«, sagt T-Zwei und
Konsole. Ich sehe den faltenfreien Anzug, den Politiker und guckt verzweifelt den Schocker an.
Manager als Uniform tragen. Frotzki scheint uns nicht zu »Aber vorher, denn für T-Eins bin ich später und weiter
bemerken. Seine Finger fliegen über die Befehlszeilen auf zurückgereist«, sagt mein T-Null.
dem Touchdisplay meines Zeit-Switchometers. Wir müssen »Dann hab ich nur die paar Minuten?«, fragt T-Zwei.
eingreifen. Er braucht allenfalls noch ein paar Sekunden, »Du bist ich!«, entgegnet T-Null.
um die Software auf dem Gerät zu löschen. Ich verstehe. Also wir. In der Anzeige sinkt die Wahr-
Mein T-Zwei-Ich zieht den Elektroschocker aus der scheinlichkeit für einen Time-Switch auf vier Prozent – un-
Tasche. Ich schaue ihn an und schüttle den Kopf. T-Zwei ser Plan scheint zu funktionieren.
verdreht die Augen. »Na gut«, sagt T-Zwei und klingt resigniert. »Ich passe
»Hey!«, rufe ich. auf diesen Frotzki auf, bis er weg ist.« Er drückt mir den
Frotzki dreht sich um und erstarrt. Sein Mund steht Elektroschocker in die Hand. »Denk dran, Frotzkis T-Null
offen, er sagt aber nichts. Nur seine Augen gucken ab- darf nicht aus seinem Büro raus …«
wechselnd zu T-Zwei und mir. Für einen Moment surren nur »… bis die Time-Switch-Wahrscheinlichkeit bei null
die Lüfter der Computer im Labor. Mein T-Zwei findet zuerst liegt«, ergänze ich.
Worte und ruft: »Finger weg!« Dazu winkt T-Zwei mit dem Auf dem Weg zur Tür stecke ich den Schocker in die
Schocker. Tasche. Ich kläre das mit Worten. Das kann ich viel bes-
Frotzki tritt langsam von dem Gerät weg. Sein Gesicht ser. Oder?
sieht aus wie ein Fragezeichen. Er murmelt: »Wo kommt ihr
eigentlich her? Ich hätte das Gerät gleich zerstört! Wieso DER AUTOR
konnte es euch warnen?«
Uwe Schimunek lebt als Autor und Journalist in Leipzig.
»Ich habe eine Kopie als App laufen«, antworte ich und Er veröffentlicht Krimis, Kinderbücher sowie Kurz- und
tippe auf meine Brille. »In die Synchro ist ein Fallback Sachtexte. Seine SF-Storys erschienen unter anderem in
programmiert, das die Werte auch bei einer Manipulation »Exodus«, verschiedenen Jahresanthologien und Büchern
des Switchometers variieren lässt.« Die Anzeige vermeldet zu den Fantastikmessen Elstercon und ColoniaCon.
VORSCHAU
PETROVICH12 / STOCK.ADOBE.COM
DIE UNLÖSBARE AUFGABE
Obwohl Forscher seit Jahrhunderten wissen, dass es unmöglich
ist, die Flugbahnen dreier sich gegenseitig anziehender Objekte
zu berechnen, birgt das Drei-Körper-Problem einige Überraschun FLUCHT AUS DEM
gen. Indem sich Wissenschaftler auf einzelne Aspekte des SCHWARZEN LOCH
Themas konzentrieren und Konzepte aus unterschiedlichen Diszi Was Schwarze Löcher einmal ver
plinen vereinen, machen sie faszinierende mathematische Ent schluckt haben, sollten sie eigentlich
deckungen. nie mehr frei geben. Dem widerspre
chen quantenmechanische Überlegun
gen. Seit Jahrzehnten gibt es diverse
DAS VIROBIOM Szenarien, um das Dilemma zu lösen.
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