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SPEZIAL Biologie Medizin Hirnforschung
SPEZIAL Biologie Medizin Hirnforschung

Sprache
Eine einzigartige Fähigkeit
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ENTWICKLUNG Wie Kinder das Sprechen lernen


MEDIZIN Skurrile Ausfälle durch Hirnschäden
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Anthropologie: Die letzte ihrer Gattung • Die dunkle Seite der Persönlichkeit • Gewohnheit: Warum ich esse, was mir
Werkzeuggebrauch: Die ersten Steinwerk- Gesichtserkennung: Super-Talente suchen nicht guttut • Fasten: Mehr Köpfchen
zeuge • Kognition: Schlaue Köpfe • Täter • Psychologie im Gerichtssaal • Sind dank Verzicht • Adipositas: Wenn Über­-
Genetik: Per DNA-Verlust zum Menschen? Sexualtäter therapierbar? • Prävention: gewicht auf der Seele lastet • Besser
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an einer Beziehung zu arbeiten • Hypothesen: Gute Theorien, schlechte quotient nicht weiter steigt • Woran
Stadtleben: Verloren im Großstadt- Theorien • Quantenmechanik: Meta­- erkennt man intelligente Babys? •
dschungel • Körperbild: Das rich­- physik mit physikalischen Mitteln • »Mozart-Effekt«: Klüger durch Musi­-
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ü
EDITORIAL
EINE TYPISCH
MENSCHLICHE
FÄHIGKEIT
Von Andreas Jahn, Redakteur dieses Hefts
jahn@spektrum.de


»Ein Affe kann zwar sagen: ›Vorsicht, Schlange!‹ – er kann
aber nicht sagen: ›Hör mal, hier ist gar keine Schlange!‹«
So treffend beschrieb der Philosoph Kurt Bayertz in einer
Podiumsdiskussion die mitunter überschätzten Sprachfähig-
keiten von Tieren (siehe S. 32). In der Tat scheint das gespro- DAS KÖNNTE SIE AUCH INTERESSIEREN:
chene Wort etwas typisch Menschliches zu sein. Woher Homo
sapiens diese Fähigkeit hat, gehört aber immer noch zu den
großen Rätseln der Evolutionsbiologie.
Sicher ist, dass die menschliche Sprache nicht vom Himmel
fiel, sondern auf Vorläufern in der Tierwelt aufbaut. Wie das
geschah, darüber streiten sich die Gelehrten. Der US-amerika-
nische Linguist Noam Chomsky revolutionierte ab den 1960er
Jahren das Feld mit seiner Idee einer Universalgrammatik. Dem-
nach besitzt der Mensch eine angeborene Grammatikschablone,
die das Kleinkind nach und nach mit seinem Mutteridiom füllt.
Aber ist das wirklich so? Inzwischen mehren sich die Zweifel
an diesem so bestechend einfach wirkenden Modell. Zu den
Kritikern zählen der Entwicklungspsychologe Paul Ibbotson und PEOPLEIMAGES / GETTY IMAGES / ISTOCK

der Anthropologe Michael Tomasello. Ab S. 14 erfahren Sie,


wie diese beiden Forscher sich das Wunder der menschlichen
Kommunikation erklären. Spektrum KOMPAKT
Gegenstand intensiver Studien ist auch die Frage, was im »Kommunikation – Zwischen
Kopf vor sich geht, wenn wir sprechen. Fundamental hierzu Konversation und Konflikt«
waren die Entdeckungen des französischen Anatomen Paul Reden, streiten, sich versöhnen – Worte,
Broca (1824–1880) und des deutschen Neurologen Carl Wernicke die Menschen miteinander wechseln,
(1848–1905). Durch genaue Beobachtungen an ihren Patienten beeinflussen nicht nur die Beziehung der
spürten sie die entscheidenden Sprachzentren des Gehirns auf: Interagierenden, sondern auch deren
Während das motorische Broca-Areal dafür sorgt, dass wir Psyche und Taten.
artikulieren können, ermöglicht sein Pendant, das sensorische
Wernicke-Areal, das Verständnis. Auch heutzutage ziehen Medi- Spektrum KOMPAKT – Themen auf den Punkt gebracht
Unsere Spektrum-KOMPAKT-Digitalpublikationen
ziner aus neurologischen Ausfallerscheinungen wichtige Schlüs-
stellen Ihnen alle wichtigen Fakten zu ausgewählten
se darüber, wie das Gehirn Sprache verarbeitet. Welche zum Teil Themen als PDF-Download zur Verfügung – schnell,
skurrilen, letztlich aber doch tragischen Fallgeschichten hinter verständlich und informativ!
manchen Erkenntnissen stecken, lesen Sie ab S. 54.
Und nicht zuletzt taugt unser Sprechapparat im Kehlkopf nicht www.spektrum.de/kompakt
nur zum Plaudern, sondern vermag sogar als Musikinstrument
zu dienen. Staunen Sie ab S. 46 über das künstlerische Meister-
werk des professionellen Gesangs!

Eine sprachlich anregende Lektüre wünscht Ihnen


Ihr

Spektrum SPEZIAL  Biologie Medizin Hirnforschung  3.20 3


ü
INHALT

HOLZKOPF: ANDREY KUZMIN / STOCK.ADOBE.COM; HINTERGRUND UND BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT
EVOLUTION
6 NEUROBIOLOGIE
ENDE DER EXKLUSIVITÄT
Laut neurobiologischen Erkenntnissen scheint die
Sprache kein so einzigartiges Merkmal des
Menschen zu sein, wie Forscher lange dachten.
Von Ina Bornkessel-Schlesewsky und Matthias Schlesewsky

14 LINGUISTIK
EIN NEUES BILD DER SPRACHE
Die Hypothese von einer angeborenen Universal­
grammatik erweist sich als überholt.
Von Paul Ibbotson und Michael Tomasello

20 PSYCHOLOGIE
6
WIE DIE SPRACHE DAS DENKEN FORMT NEUROBIOLOGIE
ENDE DER EXKLUSIVITÄT
Linguistische Strukturen prägen Art und Weise, wie
wir die Welt wahrnehmen – in ungeahntem Ausmaß!
Von Lera Boroditsky

ANPERRYMAN / GETTY IMAGES / ISTOCK


24 NEOLITHISIERUNG
DAS RÄTSEL DER GROSSEN
SPRACHFAMILIEN
Mit dem Aufkommen der Landwirtschaft sollen die
heutigen fünf Supersprachfamilien entstanden sein.
Von Paul Heggarty

32 ETHIK
DER FEINE UNTERSCHIED
ZWISCHEN MENSCH UND TIER
Über das typisch Menschliche diskutieren die Prima­
tologin Julia Fischer, der Philosoph Kurt Bayertz sowie
die Entwicklungspsychologin Patricia Kanngießer.

PHYSIOLOGIE 24
38 NEUROPLASTIZITÄT NEOLITHISIERUNG
SPRACHE SUCHT NEUES ZUHAUSE! DAS RÄTSEL DER GROSSEN SPRACHFAMILIEN
Bei frühkindlichen Hirnverletzungen können die
Sprachzentren im Kopf von der linken in die rechte
Hemisphäre wandern. ALAMY / RUSSIAN LOOK LTD. / GLOBAL LOOK PRESS
Von Anna Lorenzen

44 INFOGRAFIK
NEUROBIOLOGIE DES GESPRÄCHS
Wenn wir uns unterhalten, arbeitet das Gehirn auf
Hochtouren.
Von Anna von Hopffgarten

46 STIMMPHYSIOLOGIE
LEISTUNGSSPORT GESANG
So präzise kontrollieren Berufssängerinnen
46
und -sänger ihre Stimmlippenschwingungen und STIMMPHYSIOLOGIE
Resonanzräume. LEISTUNGSSPORT GESANG
Von Bernhard Richter und Matthias Echternach

4 Spektrum SPEZIAL  Biologie Medizin Hirnforschung  33.20


ü
ZINKEVYCH / GETTY IMAGES / ISTOCK (SYMBOLBILD MIT FOTOMODELL)

MEDIZIN
54 APHASIE
DIE FRAU, DIE SCHLIESSLICH SCHWIEG
Eine besondere Störung machte es Frau W. von Jahr zu
Jahr schwerer, sich mit anderen Menschen zu unterhal­
ten. Was passierte in ihrem Gehirn?
Von Laurent Cohen

58 ALEXIE
DER MANN, DER NICHT MEHR LESEN KONNTE
Plötzlich verloren geschriebene Wörter für Oscar C. jeg-
lichen Sinn.
Von Laurent Cohen

62 SPRACHPRODUKTION
ÜBER NACHT WEISE
Nach einem Schlaganfall hält der Besitzer eines Pariser
Bistros philosophische Vorträge im Krankenzimmer. Hat
eine Hirnschädigung die Tore zur Weisheit geöffnet?
Von Patrick Verstichel

TECHNIK

58 66 INFORMATIK
SPRACHBEGABTE MASCHINEN
ALEXIE Eine künstliche Intelligenz namens BERT übertrifft bei
DER MANN, DER NICHT MEHR LESEN KONNTE Lesetests sogar Menschen. Was steckt hinter dieser
Erfolgsgeschichte aus dem KI-Labor?
Von John Pavlus

72 SPRACHSYNTHESE
DIE PERFEKTE KÜNSTLICHE STIMME
Eine Maschinenstimme kann die eines Menschen
täuschend echt imitieren.
Von Nicolas Obin und Axel Röbel

3 EDITORIAL

61 IMPRESSUM

81 SPRINGERS EINWÜRFE
AUTOMATISCHE VORURTEILE
KI reproduziert sprachlich verankerte Stereotypen.

82 VORSCHAU

Alle Artikel auch digital


auf Spektrum.de
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT / MIKE BECKERS

Auf Spektrum.de berichten unsere

72 Redakteure täglich aus der


Wissenschaft: fundiert, aktuell, exklusiv.
SPRACHSYNTHESE
DIE PERFEKTE KÜNSTLICHE STIMME Titelbild: evtushenko_ira / Getty Images / iStock;
Bearbeitung: Spektrum der Wissenschaft

Spektrum SPEZIAL  Biologie Medizin Hirnforschung  3.20 5


ü
HOLZKOPF: ANDREY KUZMIN / STOCK.ADOBE.COM; BEARBEITUNG: SPEKTRUM
DER WISSENSCHAFT; HINTERGRUND: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

Wie nimmt unser Gehirn


sprachliche Informationen auf,
verarbeitet und erzeugt sie?
Forscher erleben bei der Suche
nach Antworten immer
wieder Überraschungen.

6 Spektrum SPEZIAL  Biologie Medizin Hirnforschung  3.20


ü
NEUROBIOLOGIE
ENDE DER EXKLUSIVITÄT
Die Sprache scheint kein so einzigartiges Merkmal des Menschen zu sein,
wie Linguisten bislang dachten. Denn auch andere Primaten besitzen die dafür
notwendigen Hirnstrukturen. Offenbar entstand unsere Kommunikation
nicht durch einen evolutionären Sprung, sondern im Zuge einer allmählichen,
kontinuierlichen Weiterentwicklung.

HOLZKOPF: ANDREY KUZMIN / STOCK.ADOBE.COM; BEARBEITUNG: SPEKTRUM


DER WISSENSCHAFT; HINTERGRUND: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

Ina Bornkessel-Schlesewsky ist Professorin für Kognitive


Neurowissenschaft an der University of South Australia
in Adelaide. Matthias Schlesewsky, ihr Ehemann, forscht an
derselben Universität in Australien.

 spektrum.de/artikel/1257675

Spektrum SPEZIAL  Biologie Medizin Hirnforschung  3.20 7


ü

Im Jahr 1973 starteten Forscher der Columbia Univer­ weise keinen Kasus (etwa Nominativ, Akkusativ oder Dativ),
sity in New York ein faszinierendes Experiment: Sie keine Abhängigkeit zwischen Subjekt und Verb (»Der Mann
versuchten, einem jungen Schimpansen Grundlagen schläft« versus »Die Männer schlafen«) und vermutlich auch
der menschlichen Sprache beizubringen. In Anlehnung an keine komplexere, mehrstufige Verschachtelung (Rekur­
den berühmten amerikanischen Linguisten Noam Chomsky sion) von Sätzen (Das Haus, das der Mann, den ich liebe,
nannten sie den Affen Nim Chimpsky. Das Tier wurde von gekauft hat, ist baufällig; siehe »Rekursion – der Kampf um
einer New Yorker Familie aufgezogen, die sowohl mit ihm die Verschachtelung«, S. 11).
als auch untereinander in der Amerikanischen Gebärden­ Aber folgt aus diesen äußerlichen Abweichungen not­
sprache (American Sign Language, ASL) kommunizierten. wendigerweise, dass der menschlichen Sprache und der
Ab seinem 21. Lebensmonat wohnte Nim in einem Haus der tierischen Kommunikation verschiedene Baupläne zu
Columbia University und erhielt drei- bis fünfmal die Woche Grunde liegen? Oder mit anderen Worten: Gibt es tatsäch­
in einem speziell konstruierten Klassenzimmer Unterricht in lich eine biologische Begründung dafür, die menschliche
ASL. Nach Abschluss der fast vier Jahre dauernden Studie Sprache qualitativ von den uns bekannten Formen der
kamen die betreuenden Wissenschaftler 1979 im Fachma­ tierischen Kommunikation abzugrenzen?
gazin »Science« zu dem Schluss, dass Nim zwar die beacht­ Neue Forschungen deuten darauf hin, dass man diese
liche Anzahl von 125 Gebärden erlernt hatte und viele seiner Frage klar beantworten kann: Nein! Die für menschliche
Äußerungen auch satzähnlich wirkten. Sie argumentierten Sprache zuständigen Hirnstrukturen gleichen denen des
aber dagegen, diese als Ergebnis einer Grammatik anzuse­ Hörsystems von nichtmenschlichen Primaten. Damit haben
hen, die mit jener menschlicher Sprachen vergleichbar ist. Letztere bereits die nötige Grundausstattung etwa für die
Die Ergebnisse schienen zu bestätigen, was man seit korrekte Verarbeitung von komplizierteren Abfolgen akusti­
Langem vermutete: Die menschliche Sprache sei einzig- scher Ereignisse – und damit auch für Charakteristika der
artig und selbst unseren engsten Verwandten im Tierreich Sprache, die bislang als exklusiv menschlich galten.
nicht zugänglich. Diese Auffassung hält sich bis heute in Solche Fragen zu untersuchen, ist allerdings nicht ein-
der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit Sprache. fach. Zum einen muss man dafür versuchen zu verstehen,
Die moderne Hirnforschung macht hier ebenfalls keine wie das menschliche Gehirn Sprache hervorbringt. Zum
Aus­nahme. Die Frage nach den Grundlagen der Sprache im anderen hängen sie wesentlich davon ab, was wir unter
menschlichen Gehirn ist für viele Wissenschaftler ganz Sprache verstehen und wie wir ihre Eigenschaften be­
selbstverständlich mit der Annahme verbunden, dass es schreiben und mit Hirnaktivitäten zusammenbringen wol­
einen qualitativen – quasi mit einem evolutionären »Sprung« len. Unsere Vorstellungen über sprachliche Grundeigen­
einhergehenden – Unterschied gibt, der den Menschen in schaften und letztlich unsere Theorien dazu sind zudem oft
puncto Kommunikation vom Tierreich abhebt. Tatsächlich von einer recht beschränkten Zahl westeuropäischer Spra­
weisen die rund 7000 derzeit existierenden Sprachen eine chen geprägt. So schreibt die US-amerikanische kognitive
immense Vielfalt an eingesetzten Mitteln und Gestalten Neurowissenschaftlerin Laura-Ann Petitto, die in den
auf. Die tierische Kommunikation kennt dagegen beispiels­ 1970er Jahren als Dok­torandin an den Sprachlernstudien
mit Nim Chimpsky beteiligt war, dass Schimpansen nicht
wirklich Namen für Dinge hätten. Sie würden etwa mit
»Apfel« ebenso das Ver­zehren eines Apfels wie den Aufbe­
AUF EINEN BLICK wahrungsort von Äpfeln bezeichnen.
NEUROBIOLOGIE DER SPRACHE Diese Beobachtung scheint aus Sicht des Deutschen
oder Englischen nahezulegen, dass Schimpansen nicht zu

1 Lange gingen Linguisten davon aus, dass die menschli­ einer menschenähnlichen Sprachfähigkeit in der Lage sind.
che Sprache sogar unseren nächsten Verwandten im Schließlich können sie nicht zwischen Wortarten unter­
Tierreich vorenthalten bleibe, da ihr ein evolutionärer scheiden, die entweder Objekte oder Handlungen bezeich­
Sprung zu Grunde läge. nen. Aus der Perspektive eines klassischen Sinologen oder
eines Experten für austronesische Sprachen erscheint

2 Doch die neuronalen Grundlagen für Sprache unter­


scheiden sich nicht grundsätzlich von denen für audito­
rische Verarbeitung bei nichtmenschlichen Primaten.
dieser Schluss allerdings höchst zweifelhaft. Wie der Lingu­
ist Walter Bisang von der Johannes Gutenberg-Universität
Mainz betont, zeichnet sich das klassische Chinesisch
Die menschliche Sprache entwickel­te sich demnach
dadurch aus, dass ein Einzelwort sowohl ein Objekt als
aus dem Hören heraus.
auch die damit verbundene Handlung bezeichnen kann.
Diese Eigenschaft bezeichnen Sprachwissenschaftler als
3 Gegen einen prinzipiellen Unterschied spricht auch,
dass einige menschliche Sprachen Eigenschaften
vermissen lassen, die bisher als charakteristisch galten.
Trans- oder Präkategorialität.
Gleiches gilt für moderne austronesische Sprachen,
Dazu gehören etwa die Verschachtelung von Sätzen beispielsweise für das Riau Indonesisch, das der Linguist
oder eine klare Unterscheidung zwischen Form und David Gil am Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschich­
Bedeutung von Worten und Sätzen. te in Jena erforscht. An diesem lässt sich die Präkategoria­
lität besonders einleuchtend illustrieren. Der aus sprachwis­
senschaftlicher Perspektive wohl berühmteste Satz des
Riau Indonesischen, »Ayam makan«, setzt sich aus dem

8 Spektrum SPEZIAL  Biologie Medizin Hirnforschung  3.20


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Sprechen und ver­ prämotorischer Kortex
motorisches
primärer motorischer Kortex

stehen – klar getrennt? Sprachzentrum


(Broca-Areal)

Die klassische neurolinguistische Sichtweise


der Sprachverar­bei­tung im Gehirn geht von
einer klaren Aufgabentrennung aus: Sie weist

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT, NACH: BORNKESSEL-SCHLESEWSKY UND SCHLESEWSKY


dem Broca-Areal im Gyrus frontalis inferior
die Sprachproduktion zu, dem Wernicke-
Areal die Spracherkennung. Laut neueren
Studien scheint aber etwa der vordere Schlä­
fenlappen ebenfalls am Verstehen von Spra­
che beteiligt zu sein. Der primäre auditori­
sche Kortex ist die erste Verarbeitungsstation
für eintreffende Lautsignale, der primäre mo-
torische Kortex sendet vom prämotorischen
rezeptives (auditorisches)
Kortex vorbereitete Informationen an den Sprachzentrum
Bewegungs­apparat des Körpers, also auch (Wernicke-Areal)
vorderer
solche zur Sprachproduktion. Schläfenlappen primärer auditorischer Kortex

Wort für Huhn (ayam) und dem Wort für essen oder fressen normalerweise was mit wem tut, entscheidet in dieser
(makan) zusammen. Neben den für uns intuitiv plausiblen Sprache, ob es sich bei einem Handlungsteilnehmer um
Bedeutungen »Das Huhn frisst« oder »Jemand isst das einen Menschen, ein nichtmenschliches Lebewesen oder
Huhn« kann der Satz laut Gil aber auch »Jemand isst dort, ein unbelebtes Objekt handelt. Im Deutschen hingegen liegt
wo sich das Huhn befindet« meinen. Diese letzte Interpreta­ diese Funktion fest in der Hand von grammatischen Eigen­
tion zeigt eine frappierende Ähnlichkeit zu Petittos Charak­ schaften wie Kasus oder Wortstellung (»Der Lehrer tötet
terisierung von Nim Chimpskys Vokabular. das Wildschwein« versus »Das Wildschwein tötet den
Nun möchte man aus derartigen sprachübergreifenden Lehrer«). Dass also in einigen Sprachen der Welt ein seman­
Beobachtungen sicher nicht schließen, dass es sich beim tisches Merkmal wie Belebtheit als Teil der Grammatik
klassischen Chinesisch oder der auf der Insel Riau gespro­ wirkt – indem es etwa festlegt, welcher der Handlungsteil­
chenen Variante des Indonesischen nicht um menschliche nehmer die Handlung verursacht –, stellt die offenbar klare
Sprachen handelt. Vielmehr deuten sie darauf hin, dass Aufteilung zwischen Form und Sinn als Grundeigenschaft
die Grenze zwischen Sprache und tierischer Kommunika­ der menschlichen Sprache in Frage. Und damit auch eine
tion viel unschärfer sein könnte, als wir es uns mit unserer Basis für ihre Sichtweise als einzigartig im Tierreich.
westeuropäischen Sprachtradition meist vorstellen. Schauen wir einmal genauer an, wie das menschliche
Gehirn Sprache hervorbringt. Die klassische, im 19. Jahr­
Keine Chance für das arme Wildschwein hundert durch Wissenschaftler wie Pierre Paul Broca
Das Problem der Trans- oder Präkategorialität ist dabei (1824–1880) und Carl Wernicke (1848–1905) begründete
lediglich ein Beispiel unter vielen für die Schwierigkeiten, Neurolinguistik unterschied zwischen einem Zentrum für
die sich aus einer »eurozentrischen« Betrachtung der Sprachproduktion (dem Broca-Areal im hinteren, unteren
menschlichen Sprachfähigkeit ergeben. So erscheint es für Teil des linken Stirnlappens) und einem für Sprachwahrneh­
einen deutschen Muttersprachler durchaus schlüssig, einen mung (dem Wernicke-Areal im mittleren bis hinteren,
fundamentalen Unterschied zwischen Form (Syntax, Gram­ oberen Teil des Schläfenlappens). Diese Vorstellung (»Spre­
matik) und Bedeutung (Semantik) anzunehmen: Intuitiv kön­ chen und verstehen«, oben) erwies sich über viele Jahr­
nen wir inhaltlich unsinnige Sätze wie »Der Roman liebt den zehnte als sehr einflussreich und kommt auch noch in
Archivar« problemlos von formal fehlerhaften Äußerungen modernen Lehrbüchern vor. Dabei gilt sie heute als empi­
wie »Der Bibliothekar besucht der Archivar« trennen. risch widerlegt. Mittlerweile geht man davon aus, dass sich
Das lässt sich aber nicht ohne Weiteres von allen Spra­ die Informationsverarbeitung im Gehirn nicht in Zentren
chen sagen. So wird beispielsweise in der in Papua-Neugui­ lokalisieren lässt, sondern über Netzwerke von miteinander
nea gesprochenen Sprache Fore eine aus »Wildschwein«, interagierenden Hirnregionen läuft. Als überholt betrachten
»töten« und »Lehrer« bestehende Dreiwortsequenz stets Forscher ebenfalls die Vorstellung, einzelne Regionen
so interpretiert, dass der Lehrer das Wildschwein tötet. könnten mit sehr spezifischen, etwa ausschließlich sprach­
Diese Interpretation ist unabhängig von der Reihenfolge, in bezogenen Funktionen in Verbindung gebracht werden.
der die einzelnen Satzbestandteile auftreten (Lehrer-Wild­ Dennoch hat eine der grundlegenden Ideen, die Carl
schwein-töten, Wildschwein-Lehrer-töten, und so fort). Wer Wernicke bereits im 19. Jahrhundert vertrat, bis heute

Spektrum SPEZIAL  Biologie Medizin Hirnforschung  3.20 9


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primärer auditorischer Kortex

Linguistische Auto- primärer auditorischer Kortex

bahnen: Pfade durch


das Gehirn
Gemäß dem aktuellen Modell fließen
die Informationen bei der Verarbeitung
von Lauten (bei Rhesusaffen, oben)
be­ziehungsweise Sprache (bei Menschen,
unten) auf einer Reihe von Pfaden durchs
Gehirn, die deutliche Ähnlichkeiten
zwischen den beiden Spezies aufweisen.
Dabei lässt sich ein »dorsaler Pfad« (rot)
von einem »ventralen Pfad« (grün)
abgrenzen. Beide Pfade verbinden den
primären audito­rischen Kortex mit dem Lobus
prämotorischer parietalis
Stirnlappen (im Bild links). Der dorsale Lobus
inferior
Kortex
Pfad verläuft über den hinteren Schläfen­ prämotorischer parietalis
Kortex inferior
lappen und einen Teil des Scheitellappens
(Lobus parietalis inferior) zum prämoto-
rischen Kortex sowie zum hinteren Teil
des Gyrus frontalis inferior. Der ventrale
Pfad hingegen zieht über den vorderen

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT, NACH: BORNKESSEL-SCHLESEWSKY UND SCHLESEWSKY


Schläfenlappen zum Gyrus frontalis infe­
rior. Während der ventrale Pfad für die
Bedeutung von Lauten und Wörtern
zuständig ist, achtet der dorsale Pfad auf
die Abfolge akustischer Ereignisse. Bei
den Affen sorgt letzterer auf diese Weise
für die räumliche Ortung der Signale;
bei Menschen versucht er die nächsten
Worte vorherzusagen, um so die Bedeu­
tung einer größeren Informationseinheit,
Gyrus
etwa eines Satzes, möglichst rasch zu frontalis
Gyrus
erfassen. inferior
frontalis
primärer auditorischer Kortex
inferior primärer auditorischer Kortex

Bestand: Die Informationsverarbeitung im Gehirn basiert mittels Interaktion von Sensorik und Motorik entsteht und
auf einem neuronalen »Zyklus« zwischen der Sensorik (dem dass dabei die eingehende sensorische Information über
Input, den die Sinnesorgane an das Gehirn weitergeben) zwei Pfade geleitet wird?
und der Motorik, also der Verhaltenssteuerung. Die Bedeu­ Hier lohnt es sich eine Idee aufzugreifen, die zuerst der
tung dieses Zyklus hat der britische Neurowissenschaftler Neurowissenschaftler Josef Rauschecker von der George­
Daniel Wolpert von der University of Cambridge 2003 sehr town University in Washington D. C. vor etwas über 15 Jah­
einprägsam illustriert. Ihm zufolge können wir nur mit der ren vorschlug. Basierend auf seinen Arbeiten zur Verarbei­
Außenwelt interagieren, indem wir uns bewegen. Dies tung von Lautsignalen bei Rhesusaffen kam Rausch­ecker
gilt – evolutionär betrachtet – ebenso für die Jagd auf die zu zwei wichtigen Erkenntnissen.
nächste Mahlzeit wie für das Winken nach dem Kellner,
um im Restaurant eine Mahlzeit zu bestellen. Was und Wo auf getrennten Pfaden
Unter Neurobiologen ist es mittlerweile unstrittig, dass Zum einen sind die beiden neuronalen Pfade, die der audi­
die Informationsübertragung im Gehirn zwischen sensori­ torischen Verarbeitung im Gehirn zu Grunde liegen (siehe
schem Input und das Verhalten steuerndem Output in der »Linguistische Autobahnen«, oben), mit unterschiedlichen
Regel über mindestens zwei unterschiedliche Pfade läuft. Funktionen verbunden. Der so genannte ventrale Pfad
Diese kann man sich wie Autobahnen vorstellen, die be­ identifiziert lautliche Informationen. Er unterscheidet damit
stimmte Orte miteinander verbinden. Was bedeutet es aber beispielsweise zwischen verschiedenen Rufen der eigenen
nun genau, dass die menschliche Sprache neurobiologisch Spezies – etwa einen Signalruf, der eine bedrohliche Situa­

10 Spektrum SPEZIAL  Biologie Medizin Hirnforschung  3.20


ü
tion ankündigt, von einem, der während einer sozialen einem dorsalen Wo-Pfad für die Objektverortung im Raum.
Interaktion wie der gegenseitigen Fellpflege geäußert wird. In Analogie dazu schlug Rauschecker vor, lautliche Muster
Demgegenüber verortet der weiter oben in Gehirn liegende als »auditorische Objekte« zu betrachten.
dorsale Pfad diese Rufe im Raum – bestimmt also, wo sich Die zweite – und in diesem Zusammenhang wichti­-
ihre Quelle relativ zum Empfänger befindet beziehungswei­ gere – Erkenntnis Rauscheckers bestand darin, dass sich
se ob und in welche Richtung sie sich bewegt. die audi­torische Objektverarbeitung auf die menschliche
Mit dieser Klassifikation gelang es, die Brücke zwischen Sprache übertragen lässt. Auch dort gilt es, komplexe
auditiver und visueller Verarbeitung zu schlagen. Denn für akustische Information in Form eines spektralen Musters
visuell wahrgenommene Informationen unterscheiden bestimmten bedeutungsvollen Einheiten zuzuordnen. In
Neu­rowissenschaftler bereits seit Längerem zwischen diesem Sinn lassen sich Laute, Silben, Wörter und Sätze
einem ventralen Was-Pfad zur Objektidentifikation und ebenso wie Affenrufe als auditorische Objekte betrachten.

Rekursion – der Kampf um die Verschachtelung


Die moderne Sprachwissenschaft versteht sich als Teil Es glich daher einem Erdbeben, als der amerikanische
der Kognitionswissenschaften. Entsprechend versucht Sprachwissenschaftler und Feldforscher Dan Everett
sie, Theorien über sprachliche Phänomene mit Verhal­ vor rund einem Jahrzehnt behauptete, mit dem im
tensbeobachtungen oder neuronalen Datenmustern zu brasilianischen Amazonasgebiet gesprochenen Pirahã
bestätigen. Ein frühes Beispiel dafür ist der Versuch des eine Sprache ohne Rekursion gefunden zu haben. Zwar
Linguisten Noam Chomsky, zusammen mit den Psy­ war die Art und Weise, wie Everett diese Beobachtung
chologen George Miller und Jacques Mehler die von veröffentlichte, etwas populistisch. Aber das rechtfer­
ihm vorgeschlagene Transformationsgrammatik experi­ tigte keinesfalls die heftige Reaktion der Forscherkolle­
mentell zu verifizieren. Er scheiterte damit ebenso wie gen: Everett wurde nicht wissenschaftlich, sondern vor
alle späteren Anstrengungen, sprachwissenschaftlich- allem emotional angegriffen.
theoretische Ansätze mit dem Verhalten und insbeson­ So warf die brasilianische Sprachwissenschaftlerin
dere mit Gehirnstrukturen in Einklang zu bringen. Cilene Rodrigues ihm laut einem »GEO«-Artikel von
Am Ende blieb dann nur noch die so genannte Re- Malte Henk aus dem Jahr 2010 Rassismus vor, da er
kursion (Verschachtelung von Sätzen) als letzte Bas­ einer speziellen menschlichen Gemeinschaft unterstellen
tion, um menschliche Sprache eindeutig von der tieri­ würde, sie befände sich kommunikativ auf der Ebene
schen Kommunikation abzugrenzen. Diese Position von nichtmenschlichen Primaten. Henk spricht in diesem
vertraten Chomsky, der Wiener Biologe Tecumseh Kontext von einem regelrechten Glaubenskrieg innerhalb
Fitch und der – mittlerweile des wissenschaftlichen der Linguistik – und das zu Recht. Denn was man von
Fehlverhaltens überführte – amerikanische Primaten­ Beginn an und bis heute vermisst, ist eine sachliche
forscher Mark Hauser 2002 sehr vehement in einem Auseinandersetzung mit der Behauptung Everetts.
Artikel in der Fachzeitschrift »Science«. Was wäre, wenn sie tatsächlich zuträfe? Neurobiolo­
Dabei legen die drei Forscher weniger Wert auf gisch betrachtet gibt es unserer Ansicht nach keinen
Verschach­telung in der realen Kommunikation als auf Grund, das auszuschließen. Umgekehrt mehren sich
die theoretische Möglichkeit, die Rekursionsregel unbe­ die verhaltensbiologischen Belege dafür, dass sogar
grenzt anzuwenden. Ihre Argumentation lautet, dass viel entfernter verwandte Spe­zies rekursive Strukturen
allein der Mensch dazu in der Lage ist, im Alltag aller­ verarbeiten könnten. So wiesen Forscher der University
dings nur beschränkt damit umgehen kann. Mit ande­ of Chicago um den Biologen Daniel Mar­goliash und
ren Worten: »Der Hund, den die Katze, die die Maus, den Psychologen Howard Nusbaum 2006 nach, dass
die den Käse gefressen hat, gejagt hat, fürchtete, war Stare rekursive Sequenzen erkennen und dabei regel­
eigentlich selbst ein Angsthase« können wir zwar als konforme Rekursionen von abweichenden unterschei­
grammatisch korrekten deutschen Satz erkennen – auf den. Vertreter der Rekursionstheorie zweifeln diese
Grund unserer limitierten Gedächtniskapazität verste­ Beobachtung zwar ähnlich an wie Everetts Behaup­
hen wir ihn aber wohl nicht, wenn wir ihn hören. Damit tung. Dennoch liefert sie eine weiteren Hinweis, der
erklären Chomsky, Fitch und Hauser die Beobachtung, gegen einen klaren qualitativen Sprung zwischen
dass man in der Alltagssprache kaum Rekursion über tierischer und menschlicher Kommunikation spricht –
mehrere Ebenen begegnet, also Mehrfachverschachte­ und damit für ein Kontinuum der Informationsverarbei­
lungen wie im eben erwähnten Beispiel. Ihrer Ansicht tung zwischen Mensch und Tier. Diese Sichtweise
nach würde vor allem eine solche komplexe Rekursion, würde die Existenz einer Sprache mit nur einge­
wie wir sie in der Regel nur am Schreibtisch konstruie­ schränkten Möglichkeiten zur Rekursion – wie etwa
ren, uns Menschen von Tieren in puncto kommunikati­ das Pirahã – ebenso erlauben wie die Fähigkeit zur
ver Fähigkeit unterscheiden. Rekursionsverarbeitung im Tierreich.

Spektrum SPEZIAL  Biologie Medizin Hirnforschung  3.20 11


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Folgt man jedoch der Analogie weiter, kann man auch von Vorwärtsmodell mindestens jedes dritte oder vierte Wort
artübergreifenden Gemeinsamkeiten in der Funktion des einer Äußerung betrifft – die Kommunikation unterbrechen,
ventralen Was-Pfades ausgehen. Dabei geht es stets um wären wir entweder wahrscheinlich schon ausgestorben
einen Zusammenhang zwischen akustischen Mustern und oder hätten andere, zuverlässigere Wege des Informations­
konzeptueller Bedeutung. austausches entwickelt.
Eine Reihe neuerer experimenteller Befunde stützt diese Dass der dorsale Pfad Abfolgen vorhersagt, könnte der
eher theoretischen Überlegungen zum ventralen Pfad. So eingangs erwähnten Komplexität der menschlichen Spra­
sterben bei Patienten mit »semantischer Demenz« Nerven­ che zu Grunde liegen. Denn egal ob wir hören, lesen oder
zellen im Bereich des vorderen Schläfenlappens ab (siehe gebärden: Sprache entfaltet sich stets in der Zeit – wodurch
»Sprechen und verstehen«, S. 9). Die Betroffenen haben sich Laute zu Wörtern, Wörter zu Sätzen und Sätze zu
Schwierigkeiten beim Zugriff auf konzeptuelles Wissen. Dis­kursen zusammenfügen. Wie bei der Ortung von Geräu­
Zeigt man beispielsweise einer Patientin ein Bild von einem schen im Raum oder beim Sprechen geht es hier ebenfalls
Zebra, wird sie es nicht benennen können oder möglicher­ darum, aus einer bereits verarbeiteten Sequenz das nächste
weise falsch bezeichnen, etwa als Pferd. Sie wird ebenfalls Element vorherzusagen und diese Prognose mit dem
nicht in der Lage sein, korrekt auf die Frage »Wie nennt tatsächlichen Input abzugleichen. Trifft sie zu, werden
man das afrikanische Tier mit den schwarz-weißen Strei­ Wort, Satz oder Diskurs verstanden. Andernfalls gilt es, das
fen?« zu antworten – oder Objekte anhand ihres charakte­ Modell anzupassen und möglicherweise das bereits ver­
ristischen Geräuschs, etwa Telefonklingeln, zu benennen. standen Geglaubte neu zu interpretieren.
Sogar bei gesunden Probanden lässt sich dieser Effekt Ein sehr illustratives Beispiel für diesen Mechanismus
hervorrufen. Wenn man bei ihnen mit Hilfe der transkraniel­ entdeckten wir 2012 in einem Beitrag der »Süddeutschen
len Magnetstimulation (TMS) kurzzeitig die Weiterleitung Zeitung« über den englischen Prinzgemahl Philip und
der Information im ventralen Pfad blockiert, verhalten sie dessen besonderen Humor: »Helmut Kohl grüßte Philip […]
sich wie Patienten mit semantischer Demenz. Darüber einmal mit den Worten: ›Guten Tag, Herr Reichskanzler!‹«.
hinaus zeigten Forscher um die New Yorker Neurolinguistin Beginnt man diesen Satz zu lesen, entsteht ein Ereignis vor
Liina Pylkkänen, dass der ventrale Pfad bereits einfache dem geistigen Auge, bei dem Helmut Kohl der Begrüßende
auditorische Objekte zu komplexeren kombinieren kann. Sie ist. Beim Wort »Herr« erwartet man nun einen auf den
maßen mit Hilfe der Magnetenzephalografie (MEG) eine Prinzen zutreffenden Ausdruck, was durch »Reichskanzler«
erhöhte neuronale Aktivität im vorderen Schläfenlappen, jedoch nicht erfüllt wird. Damit muss plötzlich das ange­
wenn sich aus Zweiwortsequenzen eine sinnvolle größere nommene Rollenverhältnis uminterpretiert und Prinz Philip
Bedeutungseinheit bilden ließ (beispielsweise »red boat«, als Begrüßer von Helmut Kohl verstanden werden. Dass die
rotes Boot, im Vergleich zu »cup boat«, Tasse Boot). Bezeichnung Reichskanzler eigentlich auch auf Helmut Kohl
Zusammen mit Sophie Scott vom University College nicht zutrifft, reflektiert in diesem Fall eben den speziellen
London schlug Josef Rauschecker vor, die sprachliche Humor des Prinzgemahls.
Funk­tion des dorsalen Pfads ebenfalls als Erweiterung sei- Beobachtungen an Patienten mit neurodegenerativen
ner ursprünglichen Aufgabe als Wo-Pfad zu erklären. Er Sprachstörungen belegen die wichtige Rolle des dorsalen
verbindet die für das Hören zuständigen Regionen im Schlä­ Pfads. So lassen sich bei diesen grammatische Verarbei­
fenlappen mit den Bewegungen steuernden Arealen im tungsprobleme auf geschädigte Faserbündel des dorsalen
Stirnhirn und spielt eine zentrale Rolle bei der Sprachpro­ Pfades zurückführen, wie ein Team um den an der Univer­
duktion (siehe »Linguistische Autobahnen«, S. 10). Dabei sity of Arizona in Tucson arbeitenden Neurowissenschaftler
gibt es noch einen speziellen gemeinsamen Nenner zwi­ Stephen Wilson herausfand. Die Betroffenen hatten Mühe
schen dieser und der akustisch-räumlichen Verarbeitung: damit, ein zu einem Satz passendes Bild auszuwählen,
die Vorhersage einer Ereignisabfolge. Bei einem sich bewe­ sobald dieser mehrere Teilsätze beziehungsweise eine
genden Geräusch betrifft sie die künftige räumliche Positi­ untypische Reihenfolge der Handlungsteilnehmer enthielt.
on, aus der das Geräusch als Nächstes erwartet wird; beim Des Weiteren gehen bei gesunden Probanden Veränderun­
Sprechen geht es um den nächsten bedeutsamen Laut. gen in der Anordnung der Satzbestandteile zueinander
(»Dann wurde der Mantel dem Arzt gestohlen« im Vergleich
Prognosen auf dem Prüfstand zu »Dann wurde dem Arzt der Mantel gestohlen«) mit
Vorhersagen beider Art lassen sich neurobiologisch über ein unterschiedlicher neuronaler Aktivität im dorsalen Pfad
so genanntes Vorwärtsmodell ableiten. Dieses prognosti­ einher, was auch wir in unserer Forschung mehrfach ge­
ziert auf Grund der Abfolge der bisher verarbeiteten Ereig­ zeigt haben.
nisse eine wahrscheinliche Fortsetzung und gleicht sie mit Obwohl die Fähigkeit zur Sequenzverarbeitung in der
dem tatsächlich eintretenden sensorischen Input ab. Stim­ menschlichen Sprache sehr komplex erscheint, gibt es die
men die beiden nicht überein, wird das Modell korrigiert und Grundlagen dafür bereits bei nichtmenschlichen Primaten.
entsprechend ein neues sensorisches Ereignis vorhergesagt. Seit mehreren Jahrzehnten ist bekannt, dass Makaken und
Durch diese Fähigkeit zur dynamischen Anpassung, also andere Affenarten zur so genannten transitiven Inferenz
zur Verhaltensoptimierung in einer sich ständig verändern­ fähig sind. Das bedeutet, dass sie aus nacheinander darge­
den Umwelt, ist es überhaupt erst möglich, dass wir im botenen Paaren wie A-B und B-C ableiten können, dass A
Alltag so einfach kommunizieren können. Denn: Würde vor C kommt. Verblüffenderweise unterscheidet sich ihr
jedes unerwartete sprachliche Ereignis – was bei einem Verhalten bei solchen Aufgaben nicht von jenem vier- bis

12 Spektrum SPEZIAL  Biologie Medizin Hirnforschung  3.20


ü
Die Neurowissenschaftlerin Laura-Ann
Petitto versuchte in den 1970er Jahren,
dem Schimpansen Nim Chimpsky
die Grundzüge der amerikanischen
Gebärdensprache beizubringen.
SUSAN KULKIN

sechsjähriger Kinder. Nichtmenschliche Primaten besitzen tigte Beispiel des Pirahã (siehe »Rekursion – der Kampf um
damit bereits die nötige Ausstattung, um Sequenzen zu die Verschachtelung«, S. 11) ist mit einer solchen Sichtweise
verarbeiten, die Sätzen in einer zentralen Eigenschaft dann viel weniger überraschend, da eine quantitative
gleichen: der Abhängigkeit zwischen nicht benachbarten Erklärung ein Kontinuum an Sprachkomplexität statt einen
Informationseinheiten (zum Beispiel »Peter rief Maria aus evolutionären Sprung bedeutet.
dem Auto an«). In den nächsten Jahren müssen Linguisten neue Theo­
Wie bei der Verarbeitung von auditorischen Objekten im rien über dieses Kontinuum entwickeln und testen. Dabei
ventralen Pfad können wir also auch beim dorsalen Pfad müssen wir wohl lieb gewordene Vorstellungen über her­
von einer grundlegenden Gemeinsamkeit zwischen Men­ gebrachte sprachwissenschaftliche Klassifikationen aufge­
schen und nichtmenschlichen Primaten ausgehen. Anders ben. Durch weitere Vergleiche zwischen unterschiedlichen
gesagt: Die neuronalen Baupläne der menschlichen Spra­ Sprachen dürf­ten wir mehr über die Funktionsweise unse­
che gleichen denen des auditorischen Systems bei anderen res Gehirns lernen und damit vielleicht in der Lage sein, die
Primaten. Demnach gibt es keine Notwendigkeit, von Lücke im Kontinuum zu schließen, die momentan noch
einem biologisch basierten Alleinstellungsmerkmal der zwischen uns Menschen und unseren nächsten Verwand­
menschlichen Sprachfähigkeit auszugehen. ten klafft. Zumindest erscheint dieser Weg als wesentlich
Allerdings drängt sich dann sofort die Frage auf, weshalb fruchtbarer, als weiter zu versuchen, die Theorien der
Affen sogar nach intensivem mehrjährigen Training nicht in sprachwissenschaftlichen Revolution des 20. Jahrhunderts
der Lage sind, eine Gebärdensprache mit einer annähernd auf unser Gehirn zu übertragen.
ähnlichen Komplexität wie jene der menschlichen zu erler­
nen. Unsere Antwort darauf lautet: Menschen verarbeiten QUELLEN
nicht qualitativ anders, sondern quantitativ – sie machen Berwick, R. C. et al.: Evolution, brain, and the nature of lan­
einfach viel mehr des Gleichen. guage. Trends in Cognitive Sciences 17, 2013
Ein Beispiel mag das verdeutlichen. Beauftragt man
Bornkessel-Schlesewsky, I., Schlesewsky, M.: Reconciling
etwa mehrere Leute mit einem Einkauf, werden diese sich time, space and function: a new dorsal-ventral stream model of
unterschiedlich viele Posten auf der Einkaufsliste merken sentence comprehension. Brain and Language 125, 2013
können. Nun würde man nicht vermuten, dass jemand, der
Patterson, K. et al.: Where do you know what you know? The
zwölf Punkte behalten kann, sich qualitativ anders erinnert representation of semantic knowledge in the human brain.
als einer, dem nur vier in Erinnerung bleiben. Wahrschein­ Nature Reviews Neuroscience 8, 2007
lich verfügt der erste Einkäufer lediglich über eine größere
Petitto, L.-A.: How the brain begets language. In: McGilvray, J.
Gedächtniskapazität. In Analogie dazu sprechen die aktuel­ (Hg.): The Cambridge Companion to Chomsky, Cambridge
len wissenschaftlichen Ergebnisse dafür, dass der Unter­ University Press, 2005, S. 84 – 101
schied zwischen der menschlichen Sprache und tierischen
Rauschecker, J. P., Scott, S. K.: Maps and streams in the
Kommunikationsarten nur auf derartige Kapazitätsunter­ auditory cortex: nonhuman primates illuminate human speech
schiede zurückgeht. Das unter Linguisten berühmt-berüch­ processing. Nature Neuroscience 12, 2009

Spektrum SPEZIAL  Biologie Medizin Hirnforschung  3.20 13


ü
LINGUISTIK
EIN NEUES BILD
DER SPRACHE
In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts revolutionierte der amerikani­sche
Linguist Noam Chomsky unsere Vorstellung davon, wie Kleinkinder ihre
Muttersprache lernen. Doch jetzt erweisen sich seine Ideen als überholt.

Paul Ibbotson (links) hält an der Open University in


England Vorlesungen über Sprachentwicklung.
Michael Tomasello ist emeritierter Direktor des Max-Planck-
Instituts für evolutionäre Anthropologie in Leipzig.

 spektrum.de/artikel/1432738


Verbirgt sich im menschlichen Gehirn tatsächlich eine Die erste Version von Chomskys Theorie, die er Mitte
vorprogrammierte mentale Schablone zum Erlernen des 20. Jahrhunderts formulierte, passte gut zu zwei
von Grammatik? Mit dieser Idee prägte der amerika­ damals aufkommenden Trends des westlichen Denkens.
nische Linguist Noam Chomsky vom Massachusetts Zum einen behauptete Chomsky, die Alltagssprache
Institute of Technology in Cambridge fast ein halbes verhalte sich wie die mathematischen Algorithmen der
Jahrhundert lang die gesamte Sprachwissenschaft. Nun Informatik. Er suchte nach der grundlegenden Sprach­
aber verwerfen viele Kognitionswissenschaftler und Lin­ struktur, als wäre sie ein Computerprogramm, und formu­
guisten Chomskys Theorie der Universalgrammatik, denn lierte eine Reihe von Verarbeitungsschritten, aus denen
neue Untersuchungen der verschiedensten Sprachen »wohlgeformte« Sätzen hervorgehen. Sein damals revolu­
sowie der Art und Weise, wie Kleinkinder in Gemeinschaft tionärer Ansatz besagte: Ein computerähnliches Pro­
kommunizieren, schüren starke Zweifel an Chomskys gramm kann Sätze hervorbringen, die den Menschen als
Behauptungen. grammatisch korrekt erscheinen – und dieses Programm
Vielmehr setzt sich eine radikal neue Sichtweise durch, erklärt angeblich, wie Menschen tatsächlich Sätze bilden.
der zufolge das Erlernen der Muttersprache kein angebore­ So ein Sprachmodell gefiel jenen zahlreichen Forschern,
nes Grammatikmodul voraussetzt. Offenbar nutzen Klein­ die im Computer ein Paradigma für alles und jedes sahen.
kinder mehrere verschiedene Denkweisen, die gar nicht Außerdem behauptete Chomsky, seine vom Computer
sprachspezifisch sein müssen – etwa die Fähigkeit, die Welt inspirierte Theorie sei biologisch fundiert. In der zweiten
in Kategorien (wie Mensch oder Sache) einzuteilen oder Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde immer deutlicher, dass
Beziehungen zwischen Dingen zu begreifen. Hinzu kommt die menschliche Evolutionsgeschichte viele Aspekte unse-
IMAGE SOURCE / GETTY IMAGES / ISTOCK; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

die einzigartige Gabe, intuitiv zu erfassen, was uns andere rer einzigartigen Psychologie erklärt; Chomskys Theorie
mitteilen möchten; erst so kann Sprache entstehen. Somit stand damit in Einklang. Er präsentierte seine Universal­
reicht Chomskys Theorie längst nicht aus, um den grammatik als angeborene Komponente des menschlichen
menschlichen Spracherwerb zu erklären. Geistes – als die biologische Grundlage der mehr als 6000
Diese Schlussfolgerung wirkt sich nicht bloß auf die Sprachen auf der Welt. Da die mächtigsten und oft zu­
Linguistik aus, sondern auf ganz unterschiedliche Be­ gleich schönsten wissenschaftlichen Theorien eine unter
reiche, in denen Sprache eine zentrale Rolle spielt, von der oberflächlicher Vielfalt verborgene Einheit enthüllen, ver-
Poesie bis zur künstlichen Intelligenz. Da außerdem Men­ lieh dieses Versprechen Chomskys Ansatz großen Charme.
schen Sprache auf eine Weise gebrauchen, wie es kein Doch unter dem Eindruck neuer Erkenntnisse stirbt die
Tier vermag, dürften wir auch die menschliche Natur ein Universalgrammatik seit Jahren einen langsamen Tod.
wenig besser begreifen, wenn wir das Wesen der Sprache Sie verabschiedet sich allerdings nur schleppend, denn
verstehen. wie der Physiker Max Planck einst bemerkte: »Eine neue

14 Spektrum SPEZIAL  Biologie Medizin Hirnforschung  3.20


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IMAGE SOURCE / GETTY IMAGES / ISTOCK; BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

Wie kann ein Baby durch das Anhören endlich vieler


Beispielsätze die Fähigkeit erwerben, eine unendliche
Vielfalt grammatisch korrekter Sätze zu bilden?
Noam Chomskys Antwort lautet bis heute: Das Kind
besitzt eine angeborene Universalgrammatik.

Spektrum SPEZIAL  Biologie Medizin Hirnforschung  3.20 15


ü
wissenschaftliche Wahrheit pflegt sich nicht in der Weise Kultur, Geschichte und Geografie die weltweite Vielfalt der
durchzusetzen, dass ihre Gegner überzeugt werden und Kochkunst entsteht. Prinzipien und Parameter sind linguis­
sich als belehrt erklären, sondern vielmehr dadurch, dass tische Gegenstücke zu Geschmäcken. Sie interagieren mit
ihre Gegner allmählich aussterben.« der jeweiligen Kultur – das Kind lernt Englisch oder Japa­
nisch – und bringen dadurch die heutige Sprachenvielfalt
Die Anfänge von Chomskys Universalgrammatik hervor, definieren aber zugleich die Gesamtheit aller
In den 1960er Jahren beruhten die ersten Formulierungen möglichen Sprachen.
der Universalgrammatik auf der Struktur des »Standard- Spanier beispielsweise bilden vollständige Sätze, ohne
Durchschnittseuropäisch« (Standard Average European), ein separates Subjekt zu benötigen, etwa »Tengo zapatos«
das heißt auf den von den meisten Linguisten gespro­ (»Ich habe Schuhe«). Das Ich, das die Schuhe besitzt, wird
chenen Sprachen. Deshalb operierte das Programm der nicht durch ein eigenes Wort benannt, sondern durch das
Universalgrammatik mit Satzpartikeln wie Nominalphrase »o« am Ende des Verbs. Chomsky behauptete: Sobald
(»Der niedliche Hund«) oder Verbalphrase (»mag Katzen«). Kindern mehrere Sätze dieses Typs begegnen, legt ihr
Recht bald tauchten aber linguistische Befunde auf, die Gehirn quasi einen Schalter um, der anzeigt, dass das
nicht ins hübsche Schema passten. In einigen australischen Satzsubjekt nicht gebraucht wird. Danach wüssten sie, dass
Sprachen, zum Beispiel Warlpiri, sind die grammatischen sie das Subjekt in allen ihren Sätzen weglassen könnten.
Elemente über den gesamten Satz verstreut; Nominal- und Der Parameter »Subjekt weglassen« bestimmt angeb­
Verbalphrase liegen nicht sauber getrennt vor, und in man­ lich auch andere Strukturmerkmale der Sprache. Die Idee
chen Sätzen gibt es Letztere überhaupt nicht. universeller Prinzipien passt zwar recht gut zu vielen
Diese so genannten Sonderfälle ließen sich nur schwer europäischen Sprachen, doch für nichteuropäische erwies
mit der europäisch geprägten Universalgrammatik in sich die revidierte Version von Chomskys Theorie als
Einklang bringen. Andere Ausnahmen lieferte die Untersu­ ungeeignet. Schließlich musste die zweite Version der
chung von Ergativsprachen wie Baskisch oder Urdu, bei Universalgrammatik ebenfalls aufgegeben werden, weil
denen sich die Verwendung des Satzsubjekts stark von der sie der faktischen Überprüfung nicht standhielt.
in vielen europäischen Sprachen unterscheidet. Obwohl Verfechter der Universalgrammatik weiter
Diese Entdeckungen sowie theoretische Überlegungen glauben, es gebe viele universelle Prinzipien und Parame­
veranlassten Chomsky und seine Anhänger, im Lauf der ter, beschrieb Chomsky zusammen mit einigen Koautoren
1980er Jahre den Begriff der Universalgrammatik zu revi­ in einem berühmten, 2002 im Wissenschaftsmagazin
dieren. Die neue so genannte Prinzipien-und-Parameter- »Science« veröffentlichten Artikel schließlich eine Form
Theorie postulierte nicht mehr eine einzige Universalgram­ der Universalgrammatik, die nur noch ein einziges Merk­
matik für alle Sprachen der Welt, sondern eine Reihe mal aufweist: die so genannte rechnerische Rekursion
universeller Strukturprinzipien, die sich in jeder Sprache (computational recursion). Diese soll erklären, wie das
auf andere Weise manifestieren können. Als Vergleich Kombinieren einer begrenzten Anzahl von Wörtern und
ließe sich anführen, dass wir alle mit einem Grundbestand Regeln eine unbegrenzte Menge von Sätzen erzeugen
an Geschmäcken (süß, sauer, bitter, salzig und umami) kann. Die schier endlose Anzahl möglicher Sätze beruht
geboren werden, aus dem durch die Wechselwirkung mit demnach auf dem Einbetten einer Phrase in eine andere
Phrase desselben Typs – der Rekursion. Man kann dabei
Phrasen aneinanderhängen (»John hofft, dass Mary weiß,
dass Peter lügt«) oder verschachteln (»Der Hund, der die
AUF EINEN BLICK Katze, die der Junge sah, jagte, bellte«). Theoretisch lässt
PARADIGMENWECHSEL sich das unendlich oft fortsetzen, doch in der Praxis schei­
IN DER LINGUISTIK tert das Satzverständnis, wenn allzu viele Phrasen auf­
einandergestapelt werden. Nach Chomskys Meinung liegt
das aber nicht an der Sprache an sich, sondern am be­
1  er amerikanische Forscher Noam Chomsky hat viele
D
Jahrzehnte lang die gesamte Sprachwissenschaft
geprägt. Berühmt machte ihn seine Theorie der Uni­
grenzten menschlichen Gedächtnis. Insbesondere be­
hauptete er, die Gabe der Rekursion unterscheide die
versalgrammatik. Sprache von allen anderen Typen des Denkens wie dem
Bilden von Kategorien oder dem Wahrnehmen von Bezie­

2  homskys Idee, das Gehirn sei mit einer mentalen


C
Schablone für Grammatik ausgerüstet, wird jedoch
zunehmend durch linguistische Feldstudien in Frage
hungen zwischen Dingen. Er spekulierte sogar, die Rekur­
sionsfähigkeit sei durch eine einzige genetische Mutation
vor etwa 50 000 bis 100 000 Jahren entstanden.
gestellt. Wiederum fanden Feldforscher Gegenbeispiele. Einige
Sprachen, beispielsweise das Pirahã in Amazonien, kom­

3  o postuliert die »gebrauchsbasierte Linguistik«, dass


S
Kinder beim Spracherwerb allgemeine kognitive
Fähigkeiten nutzen – und keine Universalgrammatik.
men anscheinend ohne die Rekursion aus.
Wie jede linguistische Theorie versucht die Universal­
Insbesondere können sie erraten, was andere Men­ grammatik einen Balanceakt. Sie muss einerseits einfach
schen ihnen mitteilen möchten. genug sein, um etwas zu taugen. Das heißt, die Theorie
soll Voraussagen treffen, die sie nicht selbst von vornhe­
rein enthält; sonst wäre sie nur eine lange Liste von Fak­

16 Spektrum SPEZIAL  Biologie Medizin Hirnforschung  3.20


ü
ten. Sie darf aber andererseits nicht so simpel sein, dass
sie zu wenig erklärt. Nehmen wir etwa Chomskys Vor­
stellung, in jeder Sprache auf der Welt hätten Sätze ein
Subjekt. Das Problem ist, dass der Begriff Subjekt eher
Zwei Sprachtheorien
eine Familienähnlichkeit von Merkmalen beschreibt als Vor mehr als 50 Jahren eroberte Noam Chomsky
eine klare Kategorie. Rund 30 grammatische Kennzeichen die Linguistik im Sturm. Seine Idee war einfach:
charakterisieren, was ein Subjekt ist. Auf jede einzelne Jedes Kind verfügt von Geburt an über fundamen­
Sprache trifft nur eine gewisse Teilmenge zu, und die tale Regeln zur Erzeugung grammatisch wohlge­
Kennzeichenmenge in einer Sprache hat oft nichts mit der formter Sätze. Chomsky versuchte diese Regeln
in einer anderen gemeinsam. und ihre Funktionsweise zu definieren. Er meinte,
Chomsky versuchte zu definieren, wie sich der Baukas­ ohne die Universalgrammatik wären Kinder un­-
ten der Sprache zusammensetzt – welche mentalen Me­ fähig, Sprache zu erwerben. Seit einigen Jahren
chanismen Menschen befähigen, Sätze zu bilden. Sobald bekommt Chomskys Ansatz durch neue Theorien
Gegenbeispiele gefunden wurden, meinten Chomskys ernste Konkurrenz. Ihnen zufolge erkennen Kinder
Verteidiger: Auch wenn in einer Sprache eine Komponente beim Sprach­erwerb gewisse Muster in den Sät­
fehlt, etwa die Rekursion, bedeutet das noch lange nicht, zen, die sie hören.
dass die Komponente nicht in den Baukasten gehört. Das
wäre ja so, als ob salzig nicht zu den Grundgeschmäcken Die Universalgrammatik
gehörte, bloß weil eine bestimmte Kultur die Speisen nicht Gemäß Chomsky umfasst die Universalgrammatik Regeln für
salzt. Leider erschwert diese Argumentation den Praxistest Phrasen (»die braven Hunde«) sowie Regeln für die Transfor­
mation der Phrasen, zum Beispiel Passivierung (»Katzen
von Chomskys Annahmen so sehr, dass sie sich kaum
werden von braven Hunden gemocht«). In den vergangenen
mehr falsifizieren lassen. Jahren hat sich die Theorie weiterentwickelt, beharrt aber auf
der Grundidee, dass Kinder mit der Fähigkeit geboren werden,
Laut Worte nach einem grammatischen Schema anzuordnen.
Todesglocken für die Theorie Chomsky plat­
Ein entscheidender Schwachpunkt von ziert ein angebo­ Satz

LUCY READING-IKKANDA / SCIENTIFIC AMERICAN NOVEMBER 2016


Chomskys Theorien betrifft den Sprach­ renes Satzbildungs­
programm Wörter an die
erwerb: Angeblich kommen Kinder bereits grammatisch korrekten Nominalphrase Verbalphrase
mit der Fähigkeit auf die Welt, Sätze nach Stellen – »brav« (Ad­-
abstrakten grammatischen Regeln zu jektiv), »Hunde«
Determinator Adjektiv Nomen Verb Nominalphrase
(Nomen).
formen, wobei deren präzise Form übrigens
je nach Theorieversion schwankt. Viele neue
Die braven Hunde mögen Nomen
Untersuchungen zeigen aber, dass der Spracherwerb
nicht so funktioniert. Kinder erlernen vielmehr zunächst Katzen
einfachste grammatische Muster; später erraten sie Stück
für Stück die dahinterliegenden Regeln.
Gebrauchsbasierte Linguistik
Anfangs bilden Kleinkinder nur konkrete und simple
Ein neuer linguistischer Ansatz verwirft die Idee der Universal­
grammatische Konstruktionen, die auf bestimmten Wort­ grammatik und betont die kindliche Fähigkeit, intuitiv zu
mustern beruhen: »Wo ist das X?«; »Ich will X«; »Mehr X«; erkennen, was andere denken. Durch Zuhören erlernt das Kind
»Das ist ein X«; »Ich Xe das«; »Gib X her«; »Mama Xt das«; Gebrauchsmuster, die auf unterschiedliche Sätze zutreffen.
Zum Beispiel kann nach der Phrase »Der Hund möchte« das
»Xen wir«; »Wirf X«; »X ist weg«; »Mami X«; »Ich habe das
Wort »Ball« durch »Futter« ersetzt werden. Diese Theorie
geXt«; »Setz dich auf X«; »Mach X auf«; »X ist hier«; »Da beschreibt recht gut, wie zwei- bis dreijährige Kinder tatsäch­
ist ein X«; »X kaputt«. Später verbinden sie diese frühen lich sprechen lernen, indem sie Wissen über Wortbedeutung
Muster zu komplexeren Sätzen wie »Wo ist das X, das und Grammatik sammeln.
Mami geYt hat?«.
»Der Hund
Viele Verfechter der Universalgrammatik akzeptieren möchte den Ball.«
durchaus diese Charakterisierung der frühkindlichen
Grammatikentwicklung. Sie behaupten aber: Die komple­
xeren Konstruktionen setzen eine kognitive Fähigkeit
»möchte«
?
voraus, welche die abstrakten Kategorien und Prinzipien
LUCY READING-IKKANDA / SCIENTIFIC AMERICAN NOVEMBER 2016

der Universalgrammatik nutzt.


Der Universalgrammatik zufolge bildet das Kind jede
Frage nach festen Regeln, die auf grammatischen Kate­ »Der Hund
möchte Futter.«
gorien beruhen: »Was (Objekt) hast (Hilfsverb) du (Subjekt)
verloren (Verb)?« Antwort: »Ich (Subjekt) habe (Hilfsverb) möchte
etwas (Objekt) verloren (Verb).« Wenn das zuträfe,
müssten Kinder in einer bestimmten Entwicklungsphase
bei allen Fragesätzen ähnliche Fehler machen. Das ist
jedoch nicht der Fall. Kleinkinder sagen oft etwas wie
»Warum er kann nicht kommen?« – vertauschen also »er«

Spektrum SPEZIAL  Biologie Medizin Hirnforschung  3.20 17


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und »kann«. Gleichzeitig formulieren sie andere Fragen Natürlich geben Wissenschaftler ihre Lieblingstheorie
völlig korrekt, zum Beispiel: »Wann kann er kommen?« selbst angesichts schlagender Gegenargumente nicht gern
Experimentelle Studien bestätigen, dass Kinder korrekte auf, solange keine vernünftige Alternative auftaucht. Eine
Fragesätze meist mit bestimmten Fragewörtern und Hilfs­ solche Alternative gibt es jetzt aber: die gebrauchsbasierte
verben bilden, die sie schon gut kennen, etwa »Was hat (usage-based) Linguistik. Die verschiedenen Fassungen
er?«, während sie bei weniger vertrauten Kombinatio­nen dieser Theorie gehen davon aus, grammatische Strukturen
von Fragewort und Hilfsverb weiterhin Fehler machen. seien nicht angeboren. Grammatik ist vielmehr das Ergeb­
Darauf erwidern die Universalgrammatiker: Kinder nis von Geschichte und Psychologie: Einerseits werden
besitzen von Haus aus die erforderliche Sprachkompetenz, Sprachen von einer Generation zur nächsten tradiert,
doch andere Faktoren wie unvollkommene Reife von andererseits besitzt jede Generation soziale und kognitive
Gedächtnis, Aufmerksamkeit und sozialer Kompetenz Fähigkeiten, die ihr den Spracherwerb ermöglichen. Vor
beeinträchtigen die Sprachperformanz: die tatsächliche allem betont die neue Theorie, dass die Sprache Gehirn­
individuelle Leistungsfähigkeit. Dies verschleiert angeblich systeme nutzt, die im Lauf der Evolution nicht unbedingt
die wahre Natur der »reinen« Grammatik und erschwert speziell für diesen Zweck entstanden sind. Damit unter­
deren Nachweis. scheidet sie sich grundlegend von Chomskys Idee, es
Aber vielleicht spielen ja Fertigkeiten wie Gedächtnis, gebe ein für die Rekursion verantwortliches Gen.
Aufmerksamkeit, mentale Analogiebildung und Begreifen
sozialer Situationen umgekehrt sogar die entscheidende Eine Alternative zu Chomskys Bild der Sprache
Rolle bei der Entwicklung einer Sprache? Laut einer Stu­ Gemäß dem gebrauchsbasierten Ansatz werden Kinder
die, an der einer von uns (Ibbotson) beteiligt war, hängt nicht mit einem Spezialwerkzeug zum universellen Gram­
die Fähigkeit von Kindern, Vergangenheitsformen unregel­ matiklernen geboren, sondern mit einer Reihe von men­
mäßiger Verben zu bilden – etwa »Ich flog«, nicht »flieg­ talen Mehrzweckmodulen für Kategorienbildung, Deutung
te« – mit der Fähigkeit zusammen, einer spontanen Ver­ kommunikativer Absichten und Erfassen von Analogien.
suchung zu widerstehen: jener, die erste naheliegende Damit bilden die Kinder aus der Sprache, die sie um sich
Antwort zu wählen, in dem Fall also »fliegte«. herum hören, grammatische Kategorien und Regeln.
Ebenso wie das Baukastenargument der Universal­ Zum Beispiel verstehen deutsch sprechende Kinder den
grammatik ist auch ihre Unterscheidung zwischen Kompe­ Satz »Die Katze fraß den Hasen« und durch Analogie dann
tenz und Performanz kaum empirisch falsifizierbar. Diesen genauso »Die Ziege kitzelte die Elfe«. Durch Verallgemei­
grundlegenden Mangel teilt Chomskys Theorie mit ande­ nerung gelangen sie von einem gehörten Beispiel zum
ren wissenschaftlichen Paradigmen, deren empirische nächs­ten. Nach ausreichend vielen Beispielen können sie
Basis Ansichtssache ist; man denke an die Psychologie sogar erraten, wer wem was in dem Satz »Der Goser
Freuds oder die marxsche Geschichtsdeutung. mibbelte die Tamo« antat, obwohl in dem Fall die meisten
Abgesehen von den empirischen Problemen der Univer­ Wörter keinen Sinn haben. Die Grammatik muss etwas
salgrammatik können Psycholinguisten, die mit Kindern sein, was Kinder jenseits der Wörter erkennen, weil die
arbeiten, nur schwer eine Theorie akzeptieren, der zufolge Sätze auf der Wortebene wenig gemeinsam haben.
Die sprachliche Bedeutung entsteht durch eine Wech­
selwirkung zwischen der möglichen Bedeutung der Wörter
Der gebrauchsbasierte Ansatz selbst und der Bedeutung der grammatischen Konstruk­
tion, in der sie stehen. Zum Beispiel ist »niesen« laut
­unterscheidet sich grundsätzlich von Wörterbuch ein intransitives Verb, das nur einen einzigen

der Idee der Universalgrammatik Akteur hat: den, der niest. Wird es jedoch in eine ditransi­
tive Konstruktion gezwungen, die sowohl ein direktes als
auch ein indirektes Objekt haben kann, könnte ein Satz
Kinder von Anfang an dieselben algebraischen Grammatik­ lauten: »Sie niest ihm die Serviette.« Dabei wird »niesen«
regeln für alle Sprachen besitzen und erst herausfinden als ein Akt des Übertragens konstruiert. Sie veranlasst
müssen, wie eine spezielle Sprache, ob Englisch oder Sua- die Serviette, zu ihm zu gelangen. Wie das Beispiel zeigt,
heli, mit diesem Schema zusammenhängt. Linguisten prägt die grammatische Struktur die Bedeutung des
sprechen vom Verbindungsproblem (linking problem). Satzes ebenso stark wie die Wörter. Das steht in deut­
Einen der seltenen Versuche, dieses im Rahmen der Uni­ lichem Widerspruch zu Chomskys Idee, es gebe völlig
versalgrammatik systematisch zu lösen, unternahm der bedeutungsfreie Ebenen der Grammatik.
Psychologe Steven Pinker von der Harvard University an- Die Idee gebrauchsbasierter Mehrzweckmodule erklärt
hand von Satzsubjekten. Pinkers Darstellung stimmte je- den Spracherwerb, ohne dazu zwei Hilfskonstruktionen
doch nicht mit Studien kindlicher Entwicklung überein und der Universalgrammatik zu benötigen: erstens algebrai­
ließ sich auch nicht auf andere grammatische Kategorien sche Regeln für die Kombination von Symbolen – eine so
übertragen. Das für jede Anwendung der Universalgram­ genannte Kerngrammatik, die im Gehirn fest verdrahtet
matik auf den Spracherwerb zentrale Verbindungsproblem ist – und zweitens ein Lexikon von Ausnahmen, das alle
wurde nie gelöst, ja nicht einmal ernsthaft angegangen. übrigen Eigenheiten natürlicher Sprachen umfasst.
All das führt unweigerlich zu der Schlussfolgerung, Das Problem bei diesem Ansatz ist, dass einige gram­
dass die Idee einer Universalgrammatik schlicht falsch ist. matische Konstruktionen zum Teil auf Regeln beruhen und

18 Spektrum SPEZIAL  Biologie Medizin Hirnforschung  3.20


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die Kommunikationsabsichten des Gesprächspartners zu
verstehen versucht. Wir alle verwenden diese Fähigkeit,
Mehr Wissen auf Absichten zu erraten, wenn wir »Können Sie mir die Tür
Spektrum.de öffnen?« als Bitte verstehen und nicht als Frage nach
unserer Fähigkeit, Türen zu öffnen.
Unser Online-Dossier zum Thema
Gebrauchsbasierte Theorien sind weit davon entfernt,
finden Sie unter spektrum.de/
ein komplettes Modell für das Funktionieren von Sprache
t/sprache-und-linguistik
ISTOCK / 4FR
anzubieten. Dass Kinder aus dem Hören gesprochener
Phrasen sinnvolle Verallgemeinerungen herleiten, erklärt
noch nicht vollständig, wie sie Sätze konstruieren. Es gibt
unzählige mögliche Übertragungen, die zugleich verständ­
zum Teil nicht. Im englischen umgangssprachlichen Bei­ lich und nicht grammatisch korrekt sind – zum Beispiel »Er
spiel »Him a presidential candidate?!« (sinngemäß »Das verschwand den Hasen« –, doch Kinder bilden nur er­
soll ein Präsidentschaftskandidat sein?!«) behält das staunlich wenige davon. Anscheinend sind Heranwach­
Subjekt »him« die Form eines direkten Objekts, aber die sende für die Tatsache empfänglich, dass die Sprachge­
Satzelemente stehen nicht in der richtigen Reihenfolge. meinschaft, zu der sie gehören, eine Norm befolgt und
Ein englischer Muttersprachler kann nach diesem Schema eine Idee nur so und nicht anders mitteilt. Dabei hält die
eine unendliche Vielfalt von Sätzen bilden: »Her go to Kindersprache ein delikates Gleichgewicht zwischen
ballet?!« oder »That guy a doctor?!«. Gehören diese Äuße­ eigenwilliger Kreativität (»Ich gehte einkaufen«) und gram­
rungen nun zur Kerngrammatik oder in die Liste der Aus­ matischer Norm (»Ich ging einkaufen«). Für die Vertreter
nahmen? Falls sie nicht Teil der Kerngrammatik sind, der gebrauchsbasierten Linguistik bleibt noch viel zu tun,
müssen sie separat gelernt werden. Doch wenn Kinder bis sie erklären können, wie diese Kräfte im Verlauf der
solche teils regelhaften, teils irregulären Äußerungen kindlichen Sprachentwicklung genau zusammenwirken.
lernen können, warum soll das nicht für die übrige Spra­
che ebenfalls gelten? Wozu brauchen wir dann überhaupt Frischer Wind für Sprachforscher
eine Kerngrammatik? Chomskys Paradigma brach radikal mit den seinerzeit
Die Idee der Universalgrammatik widerspricht der herrschenden informellen Methoden der Sprachwissen­
Erfahrung, dass Kinder Sprache durch soziale Interaktion schaft; es verdeutlichte den komplizierten kognitiven
erwerben und dabei Satzkonstruktionen üben, die von Aufwand, den der Spracherwerb erfordert. Aber dieselbe
Sprachgemeinschaften im Lauf der Zeit geschaffen wur­ Theorie, die den Linguisten die Augen öffnete, blendete sie
den. In manchen Fällen lässt sich zeigen, wie dieses Ler- auch. Heute geben sich viele Forscher nicht mehr mit rein
nen genau funktioniert. Zum Beispiel sind in den meis­ten formalen Modellen wie der Universalgrammatik zufrieden,
Sprachen Relativklauseln üblich; oft entstehen sie durch ganz abgesehen von deren empirischen Schwächen.
Verkettung separater Sätze. Wir könnten sagen: »Mein Außerdem sind viele moderne Linguisten unglücklich über
Bruder … Er lebt in Arkansas … Er spielt gern Klavier.« Auf abstrakte Modelle, die am Schreibtisch ausgedacht wer­
Grund verschiedener kognitiver Prozesse – Schematisie­ den, während unzählige linguistische Daten – oft online
rung, Habituation, Dekontextualisierung und Automatisie­ zugänglich – darauf warten, analysiert zu werden.
rung – entwickeln sich diese Phrasen über lange Zeiträu­ Der aktuelle Paradigmenwechsel ist gewiss nicht abge­
me hinweg zu einer komplexeren Konstruktion: »Mein schlossen, aber es weht ein frischer Wind durch die Lin­
Bruder, der in Arkansas lebt, spielt gern Klavier.« Ähnlich guistik. Die Universalgrammatik scheint endgültig in der
kann sich ein Satz wie »Ich zog an der Tür, und sie ging Sackgasse zu stecken. An ihrer Stelle verspricht die ge­
zu« allmählich in »Ich zog die Tür zu« verwandeln. brauchsbasierte Linguistik einen aussichtsreichen Zugang
Anscheinend verfügen Menschen über die spezielle zu den 6000 Sprachen, die auf der Welt genutzt werden.
Fähigkeit, Kommunikationsabsichten anderer zu ent­
schlüsseln, das heißt, zu erkennen, was ein Sprecher
sagen will. Ich kann zum Beispiel wahlweise sagen: »Sie
gab/vererbte/sandte/lieh/verkaufte der Bibliothek einige QUELLEN

Bücher«, aber nicht: »Sie verschenkte der Bibliothek einige Bybee, J.: Language, usage and cognition. Cambridge University
Bücher.« Wie neue Forschungen zeigen, gibt es verschie­ Press, 2010
dene Mechanismen, mit denen Kinder solche unpas­ Goldberg, A.: Constructions at work: the nature of generalization in
senden Analogien eingrenzen. Zum Beispiel meiden sie language. Oxford University Press, 2006
solche, die überhaupt keinen Sinn ergeben. So würden Tomasello, M.: Constructing a language: a usage-based theory of
Kinder niemals versucht sein zu sagen: »Sie aß der Biblio­ language acquisition. Harvard University Press, 2003
thek einige Bücher.« Hören sie außerdem sehr oft »Sie
verschenkte einige Bücher an die Bibliothek«, dann hemmt LITERATURTIPP
dies den Impuls zu sagen: »Sie verschenkte der Bibliothek Stix, G.: Gute Zusammenarbeit. Spektrum der Wissenschaft 5/2015,
einige Bücher.« S. 52–59
Solche Eingrenzungsmechanismen reduzieren die mög- Michael Tomasellos Erforschung des Denkvermögens von Klein-
lichen Analogien, die ein Kind bilden könnte, während es kindern und Schimpansen

Spektrum SPEZIAL  Biologie Medizin Hirnforschung  3.20 19


ü
PSYCHOLOGIE
WIE DIE SPRACHE
DAS DENKEN FORMT
Menschen leben in unterschiedlichen Kulturen und
sprechen die verschiedensten Sprachen. Deren Strukturen
prägen in ungeahntem Ausmaß die Art und Weise, wie
wir die Welt wahrnehmen.

Lera Boroditsky ist außerordentliche Professorin für ­Kognitionswissenschaften


an der University of California in San Diego (USA). Ihr Labor erforscht weltweit den
Einfluss der Sprache auf die Kognition.

 spektrum.de/artikel/1142708

JAN NEUFFER; HINTERGRUND: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

Sprache und Zeit: Für Europäer,


die von links nach rechts zu
schreiben gewohnt sind, liegt
»früher« links von »später«; Araber
ordnen die Zeit von rechts nach links;
für australische Aborigines liegt »früher« im Osten.

20 Spektrum SPEZIAL  Biologie Medizin Hirnforschung  3.20


ü

Pormpuraaw ist eine kleine Siedlung der Aborigines
am Westrand der Halbinsel Cape York in Nordaustra­
lien. Ich bitte ein fünf Jahre altes Mädchen, nach AUF EINEN BLICK
Norden zu zeigen. Ohne zu zögern, deutet sie in eine be­ SPRECHEN, WAHRNEHMEN, DENKEN
stimmte Richtung. Mein Kompass bestätigt: Sie hat Recht.
Nach meiner Rückkehr in die USA stelle ich dieselbe Frage
in einem Hörsaal der Stanford University. Vor mir sitzen 1 Gelehrte diskutieren seit Langem, ob verschiedene
Muttersprachen unterschiedliche kognitive Fähigkeiten
nach sich ziehen.
an­gesehene, mehrfach ausgezeichnete Gelehrte; manche
besuchen seit 40 Jahren Vorträge in diesem Saal. Ich bitte
sie, die Augen zu schließen und nach Norden zu zeigen.
Viele weigern sich, weil sie keine Ahnung haben, wo Nor­
2 In den letzten Jahren mehren sich empirische Indizien
dafür, dass das Idiom der Muttersprache das Denken
über viele Aspekte der Welt prägt – zum Beispiel über
den liegt. Die Übrigen denken eine Weile nach und deuten
Raum und Zeit.
dann in alle möglichen Richtungen. Ich habe diesen Ver­
such nicht nur in Harvard und Princeton wiederholt, son­
dern auch in Moskau, London und Peking – stets mit dem­
selben Resultat.
3 Nach neuen Erkenntnissen werden auch unsere Wahr­
nehmungen, Erinnerungen und Vorurteile dadurch
beeinflusst, welche Sprache wir jeweils verwenden.
Eine Fünfjährige aus einer bestimmten Kultur bringt ohne
Weiteres etwas fertig, was angesehene Forscher einer
anderen Kultur überfordert. Was ist der Grund für die
höchst unterschiedliche kognitive Fähigkeit? Die überra­
schende Antwort lautet: die Sprache.
Die Idee, dass Sprachunterschiede die Kognition beein­ Übersetzung eindeutig, dass Wanja ein Bruder der Mutter
flussen, ist an sich jahrhundertealt; in Deutschland vertra­ ist. Und mit Pirahã, einer in Amazonien beheimateten
ten sie vor allem Johann Gottfried Herder (1744–1803) und Sprache, könnte ich »42. Straße« gar nicht ausdrücken, weil
Wilhelm von Humboldt (1767–1835). Seit den 1930er Jahren es darin keine exakten Zahlwörter gibt, sondern nur Be­
wird sie oft den amerikanischen Linguisten Edward Sapir zeichnungen für »wenige« und »viele«.
(1884–1939) und Benjamin Lee Whorf (1897–1941) zuge­ Sprachen unterscheiden sich auf unzählige Arten von­­ein­
schrieben. Die beiden untersuchten die Grammatik nord­ ander, aber das muss nicht automatisch heißen, dass die
amerikanischer Indianer und mutmaßten: Wenn Menschen Sprecher auch unterschiedlich denken. Lange war unklar,
grundverschieden sprechen, dann denken sie auch unter­ ob der Gebrauch von Mian, Russisch, Indonesisch, Manda­
schiedlich. Zwar fand die Idee zunächst großen Anklang, rin oder Pirahã wirklich zu jeweils eigenen Wahrnehmun­
doch empirische Belege fehlten fast völlig. gen, E ­ rinnerungen und Überlegungen führt. Doch zahlrei­
In den 1970er Jahren verblasste der Ruhm der Sapir- che F ­ orschungen – unter anderem in meinem Labor – ha­
Whorf-Hypothese. Sie wurde fast völlig zu Gunsten einer ben in­zwischen gezeigt, dass die Sprache sogar die grund-
neuen Theorie aufgegeben, der zufolge Sprache und Den­ ­legenden Dimensionen menschlicher Erfahrung prägt:
ken universelles menschliches Gemeingut sind. Doch nun, Raum, Zeit, Kausalität und die Beziehung zu anderen.
Jahrzehnte später, liegen endlich überzeugende Indizien Kehren wir nach Pormpuraaw zurück. Anders als Eng­
dafür vor, wie Sprache das Denken formt. Sie stürzen das lisch oder Deutsch enthält die dort gesprochene Sprache
lange herrschende Dogma von den Sprachuniversalien und Kuuk Thaayorre keine relativen Raumausdrücke wie links
liefern faszinierende Erkenntnisse über den Ursprung des und rechts. Wer Kuuk Thaayorre spricht, gebraucht absolu­
Wissens und die Konstruktion der Wirklichkeit. te Hauptrichtungen wie Norden, Süden, Osten, Westen und
so weiter. Zwar geschieht das auch im Deutschen, aber nur
Der Einfluss der Wörter bei großen Entfernungen. Wir würden beispielsweise nie
Rund um den Globus kommunizieren Menschen mitei­n­ sagen: »Diese Banausen platzieren die Suppenlöffel südöst­
ander auf vielfältige Weise, und jede der schätzungsweise lich von den Gabeln!« Doch auf Kuuk Thaayorre werden
7000 Sprachen verlangt von denen, die sie verwenden, immer Himmelsrichtungen verwendet. Darum sagt man
ganz unterschiedliche Leistungen. Angenommen, ich etwa »Die Tasse steht südöstlich vom Teller« oder »Der
möchte Ihnen mitteilen, dass ich Anton Tschechows Drama südlich von Maria stehende Knabe ist mein Bruder«. Um
»Onkel Wanja« auf einer Bühne in der 42. Straße New Yorks sich in Pormpuraaw verständlich auszudrücken, muss man
gesehen habe. Auf Mian, das in Papua-Neuguinea gespro­ daher immer die Windrose im Kopf haben.
chen wird, würde das Verb aussagen, ob das Stück soeben, In den vergangenen zwei Jahrzehnten haben Stephen
gestern oder vor langer Zeit gespielt wurde. Das Indonesi­ Levinson vom Max-Planck-Institut für Psycholinguistik in
sche dagegen gibt damit nicht einmal preis, ob die Auffüh­ Nimwegen (Niederlande) und John Haviland von der Uni­
HINTERGRUND: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

rung bereits stattfand oder noch bevorsteht. Auf Russisch versity of California in San Diego nachgewiesen, dass
enthüllt das Verb mein Geschlecht. Wenn ich Mandarin Menschen, die Sprachen mit absoluten Richtungen ver­
verwende, muss ich wissen, ob Onkel Wanja ein Bruder der wenden, auffallend gut in unbekannten Gegenden oder
Mutter oder des Vaters ist und ob er blutsverwandt oder Gebäuden zurechtkommen. Sie orientieren sich besser als
angeheiratet ist, denn für jeden dieser Fälle gibt es einen Personen, die dort zu Hause sind, aber nicht solche Spra­
speziellen Ausdruck. Tatsächlich besagt die chinesische chen sprechen – ja sogar besser, als die Forscher dies für

Spektrum SPEZIAL  Biologie Medizin Hirnforschung  3.20 21


ü
menschenmöglich gehalten hatten. Die Erfordernisse dieser te. Man könnte sagen »Cheney schoss auf Whittington«,
Sprachen erzwingen und trainieren demnach eine erstaunli­ wobei Cheney die unmittelbare Ursache ist, oder »Whitting­
che kognitive Fertigkeit. ton wurde von Cheney angeschossen«, wodurch Cheney
Wer anders über den Raum denkt, hat vielleicht auch etwas in den Hintergrund tritt, oder »Whittington bekam
eine andere Zeitvorstellung. Meine Kollegin Alice Gaby von eine Schrotladung ab«, wobei Cheney ganz aus dem Spiel
der Monah University in Australien und ich legten daher bleibt. Der Vizepräsident selbst sagte: »Letztlich bin ich
Kuuk Thaayorre sprechenden Aborigines Bildfolgen vor, die derjenige, der den Abzug be­tätigte, welcher die Ladung
Zeitabläufe zeigten: Ein Mann altert, ein Krokodil wächst, abfeuerte, die Harry traf.« Damit stellte er eine lange Ereig­
eine Banane wird verspeist. Dann baten wir sie, die durch­ niskette zwischen sich und das Resultat. Eine noch raffi­
mischten Fotos zeitlich zu ordnen. niertere Reinwaschung gelang Präsident George Bush mit
Wir führten den Test je zweimal durch, wobei die Person dem Ausspruch: »Er hörte eine Wachtel auffliegen, drehte
jedes Mal in eine andere Himmelsrichtung schaute. Je­ sich um, drückte ab und sah, dass sein Freund verwundet
mand, der englisch oder deutsch spricht, ordnet die Bilder war.« Der Satz verwandelt Cheney vom Täter zum bloßen
so, dass die Zeit von links nach rechts fortschreitet. Hebrä­ Zeugen.
isch oder arabisch Sprechende legen die Karten eher von Unsere Öffentlichkeit lässt sich von solchen sprachlichen
rechts nach links. Dies zeigt, dass die Schreibrichtung Tricks allerdings kaum beeindrucken, denn Passivkon­
beeinflusst, wie wir Zeit organisieren. Doch die Aborigines struktionen wirken ausweichend – typisch für Drückeberger
sortierten die Karten weder grundsätzlich von links nach und Politiker. Wir bevorzugen sogar für ein Missgeschick
rechts noch umgekehrt, sondern stets von Osten nach meist aktive Transitivkonstruktionen wie »Hans zerbrach die
Westen. Wenn die Testperson so saß, dass sie nach Süden Vase«. Hingegen erwähnt man im Japanischen oder Spani­
schaute, legte sie die Karten von links nach rechts. Schaute schen den Verursacher eher ungern. Auf Spanisch sagt
sie nach Norden, ordnete sie die Bilder von rechts nach man lieber »Se rompió el florero«, was übersetzt heißt: »Die
links. Hatte die Person Osten vor sich, lief die Kartenfolge Vase zerbrach sich.«
auf den Körper zu, und so weiter. Dabei sagten wir den Wie meine Studentin Caitlin Fausey und ich 2010 heraus­
Probanden nie, welche Himmelsrichtung sie vor sich hat­ gefunden haben, beeinflussen solche linguistischen Unter­
ten – die Aborigines wussten das ohnehin. schiede die Rekonstruktion von Ereignissen, was beispiels­
Zeit wird je nach Kultur ganz unterschiedlich dargestellt. weise Konsequenzen für Zeugenaussagen hat. Wir ließen
Wir zum Beispiel betrachten die Zukunft als »vorn« und englisch, spanisch und japanisch sprechende Personen
die Vergangenheit als »hinten«. Im Jahr 2010 entdeckte Videos betrachten, auf denen zwei Männer entweder
Lynden Miles von der University of Aberdeen in Schottland, absichtlich oder unabsichtlich Luftballons zerstachen, Eier
dass englisch Sprechende unwillkürlich ihren Körper vor­ zerbrachen und Getränke verschütteten. Später mussten
wärtsneigen, wenn sie an die Zukunft denken, und rück­ die Versuchspersonen einen Gedächtnistest bestehen. Für
wärts bei Gedanken an die Vergangenheit. Aymara, eine in jedes Ereignis, das sie beobachtet hatten, sollten sie den
den Anden verbreitete indigene Sprache, verlegt die Vergan­ Täter identifizieren – wie bei einer polizeilichen Gegenüber­
genheit dagegen nach vorne und die Zukunft nach hinten. stellung. Eine andere Gruppe von englisch, spanisch und
Dem entspricht auch die Körpersprache: Wie Raphael japanisch sprechenden Personen beschrieb dieselben Vor-
kommnisse.
Was kam dabei heraus? Vertreter aller drei Sprachen

Es dürfte beim Erwachsenen beschrieben absichtliche Ereignisse aktiv – etwa »Er zer­
stach den Ballon« –, und alle erinnerten sich im Mittel
kaum Denkvorgänge geben, gleich gut daran, wer diese Taten begangen hatte. Das
zeigte ebenfalls, dass keine der Gruppen ein grundsätzlich
bei denen die Sprache keine schlechteres Gedächtnis aufwies. Doch wenn es um unab­

Rolle spielt sichtliche Missgeschicke ging, ergaben sich deutliche


Unterschiede. Spanisch und japanisch Sprechende waren
weniger geneigt als englisch Sprechende, die Unfälle aktiv
zu beschreiben – und sie erinnerten sich auch schlechter an
Núñez von der University of California in San Diego und Eve die Verursacher.
Sweeter von der University of California in Berkeley 2006 Darüber hinaus beeinflusst die Struktur einer Sprache,
feststellten, deuten die Aymara vor sich, wenn sie über die wie leicht es ist, etwas Neues zu lernen. Zum Beispiel
Vergangenheit reden, und hinter sich, wenn sie die Zukunft geben die Zahlwörter in manchen Sprachen die Dezimal­
meinen. struktur eingängiger wieder als im Englischen, Deutschen
Die Sprache beeinflusst ebenfalls, wie Menschen Ereig­ oder Französischen; so gibt es im Mandarin keine Aus­
nisse beschreiben – und wie gut sie sich daran erinnern, nahmen wie 11 oder Zifferndreher wie 13 oder 21. Darum
wer was getan hat. Vorgänge darzustellen ist stets kompli­ lernen chinesische Kinder schneller, mit dem Dezimalsys­
ziert, selbst wenn sie nur Sekundenbruchteile dauern, denn tem umzugehen. Und: Je nachdem, wie viele Silben die
wir müssen sie rekonstruieren und deuten. Nehmen wir als Zahlwörter haben, fällt es leichter oder schwerer, eine
Beispiel den Jagdunfall, bei dem der frühere US-Vizepräsi­ Telefonnummer zu behalten oder Kopfrechnungen auszu­
dent Dick Cheney seinen Freund Harry Whittington verletz­ führen.

22 Spektrum SPEZIAL  Biologie Medizin Hirnforschung  3.20


ü
Von der Sprache hängt sogar ab, wie schnell Kinder ­ etestet wurden, zeigten sie gegenüber Juden eine positi­
g
he­rausfinden, ob sie Jungen oder Mädchen sind. Im Jahr vere Grundhaltung als bei den gleichen Tests auf Arabisch.
1983 verglich der 2015 verstorbene Linguist Alexander Anscheinend spielt die Sprache eine viel größere Rolle
Guiora von der University of Michigan in Ann Arbor drei für unser geistiges Leben, als die Wissenschaftler früher
Gruppen von Kindern, die Hebräisch, Englisch oder Finnisch annahmen. Selbst wenn Menschen einfache Aufgaben
als Muttersprache hatten. Das Hebräische bezeichnet das lösen – etwa Farbflecken unterscheiden, Punkte auf einem
Geschlecht ausgiebig – sogar das Wort »du« variiert dem­ Bildschirm zählen oder sich in e
­ inem kleinen Raum orientie­
entsprechend –, Finnisch macht keine solchen Unterschie­ ren –, brauchen sie die Sprache. Wie meine Kollegen und
de, und Englisch liegt dazwischen. Dementsprechend ich herausgefunden haben, sinkt die Fähigkeit, solche
finden hebräische Kinder ihr eigenes Geschlecht rund ein Aufgaben auszuführen, wenn man den Zugriff auf die
Jahr früher heraus als finnische; englische nehmen diesbe­
züglich einen Mittelplatz ein.

Was formt was?


Aber rufen nun Sprachunterschiede unterschiedliches Mehr Wissen auf
Denken hervor – oder ist es eher umgekehrt? Wie sich Spektrum.de
zeigt, trifft beides zu: Unsere Denkweise prägt die Art, wie
Unser Online-Dossier zum Thema
wir sprechen, aber der Einfluss wirkt ebenso in der Gegen­ finden Sie unter
richtung. Bringt man Menschen zum Beispiel neue Farb­ spektrum.de/t/orientierung
wörter bei, verändert dies ihre Fähigkeit, Farben zu unter­
FOTOLIA / KIKEARNAIZ
scheiden. Lehrt man sie, auf eine neue Weise über Zeit zu
sprechen, so beginnen sie, anders darüber zu denken.
Man kann sich der Frage auch anhand von Menschen
nähern, die zwei Sprachen fließend sprechen. Nachweislich Sprachfertigkeit einschränkt. Dies lässt sich bewerkstelli­
ändern bilinguale Personen ihre Weltsicht je nachdem, gen, indem man die Versuchs­person zugleich mit einer
welche Sprache sie gerade verwenden. Wie zwei Studien anspruchsvollen verbalen Aufgabe wie dem Wieder­holen
2010 zeigten, hängen sogar grundlegende Vorlieben und einer Nachrichtensendung konfrontiert.
Abneigungen von der Sprache ab, in der danach gefragt All diesen Forschungsergebnissen zufolge wirken die
wird. Teams um Oludamini Ogunnaike an der Harvard Kategorien und Unterscheidungen, die in speziellen Spra­
University sowie um Shai Danziger an der Ben-Gurion chen existieren, stark auf unser geistiges Leben ein. Was
University of the Negev (Israel) studierten arabisch-franzö­ die Forscher »Denken« nennen, ist offenbar in Wirklichkeit
sische Bilinguale in Marokko, spanisch-englische Zwei­ eine Ansammlung linguistischer und nichtlinguistischer
sprachler in den USA und arabisch-hebräische in Israel. Prozesse. Demnach dürfte es beim Erwachsenen kaum
Dabei testeten sie die unaus­gesprochenen Neigungen der Denkvorgänge geben, bei denen die Sprache keine Rolle
Teilnehmer. Beispielsweise forderten sie arabisch-hebräi­ spielt.
sche Zweisprachler auf, unter verschiedenen Bedingungen Ein Grundzug menschlicher Intelligenz ist ihre Anpas­
auf Wörter mit einem schnellen Knopfdruck zu reagieren. sungsfähigkeit – die Gabe, Konzepte über die Welt zu
Die Teilnehmer einer Gruppe sollten »M« drücken, sobald erfinden und so abzuändern, dass sie zu wechselnden
sie einen jüdischen Namen wie »Yair« oder eine positive Zielen und Umgebungen passen. Eine Folge dieser Flexibili­
Eigenschaft wie »gut« oder »stark« sahen; bei einem arabi­ tät ist die enorme Vielfalt der Sprachen. Jede enthält eine
schen Namen wie »Achmed« oder einem negativen Wort Art und W ­ eise, die Welt wahrzunehmen, sie zu begreifen
wie »schlecht« oder »schwach« sollten sie »X« drücken. Bei und mit B ­ e­deutung zu füllen – ein unschätzbarer Reise­
anderen Probanden wurde die Paarung vertauscht, so dass führer, den unsere Vorfahren entwickelt und verfeinert
nun jüdische Namen und negative Eigenschaften denselben haben. Indem Wissenschaftler erforschen, wie die Sprache
Knopfdruck verlangten, während arabische Namen und unsere Denkweise formt, enthüllen sie, wie wir Wissen
positive B­ ewertungen zusammengehörten. Die Forscher erzeugen und die Realität konstruieren. Diese Erkenntnis
maßen, wie schnell die Teilnehmer unter den beiden Bedin­ wiederum hilft uns zu verstehen, was uns zu Menschen
gungen reagieren konnten. macht.
Diese Aufgabe dient dazu, unwillkürliche oder automa­
tische Voreingenommenheiten zu messen: etwa, wie
selbstverständlich positive Eigenschaften und bestimmte QUELLEN
ethnische Gruppen im Kopf der Leute zusammengehören. Boroditsky, L., Gaby, A.: Remembrances of times east: absolu­
Je besser für die Menschen die beiden Vorstellungen te spatial representations of time in an Australian aboriginal
harmonierten, bei denen sie auf denselben Knopf drücken community. Psychological Science 21, 2010
sollten, desto schneller erfolgte die Reaktion. Danziger, S., Ward, R.: Language changes implicit associations
Überraschenderweise verschoben sich bei den Zwei­ between ethnic groups and evaluation in bilinguals. Psychologi­
sprachlern diese unwillkürlichen Vorurteile je nach der cal Science 21, 2010
­Sprache, in der die Tests durchgeführt wurden. Wenn die Fausey, C. M. et al.: Constructing agency: the role of language.
arabisch-hebräischen bilingualen Teilnehmer auf Hebräisch Frontiers in Psychology 1:162, 2010

Spektrum SPEZIAL  Biologie Medizin Hirnforschung  3.20 23


ü
NEOLITHISIERUNG
DAS RÄTSEL
DER GROSSEN
SPRACHFAMILIEN
Manche Forscher vertreten die Ansicht, dass sich die
Welt mit dem Aufkommen der Landwirtschaft auch in
sprachlicher Hinsicht veränderte: Letztlich sei damit
die Dominanz von fünf Supersprachfamilien zu erklären.

Paul Heggarty arbeitet als Prähistoriker in der Abteilung für Sprach- und
Kulturevolution des Max-Planck-Instituts für Menschheitsgeschichte in Jena.

 spektrum.de/artikel/1298019


»Die Sprache ist voller unangenehmer Geräusche vom in den 1950er Jahren, Klicklaute seien Elemente aller ur-
häufigen Knacken mit den Zähnen und dem ständigen sprünglichen Kommunikation gewesen, beispielsweise auf
Krächzen im Hals; und sie ist extrem arm, nicht weni- Grund einer Eignung zur Kommunikation in der Wildnis.
ger an Wörtern als an Lauten; sie verstehen sich eher durch Aber auch Klicklaute unterliegen der Veränderung, können
Gesten als durch Sprechen.« (Martin Hinrich Carl Lichten- im Lauf der Zeit verloren gehen oder als neue Elemente in
stein, Anfang 19. Jahrhundert) eine Sprache einfließen. Zudem zeigen linguistische Analy-
Mögen auch solche Eindrücke und Vorurteile längst sen, dass die heute noch gebräuchlichen Klicksprachen in
Geschichte sein, kaum eine Sprache erscheint uns so Struktur, Vokabular und Grammatik zu sehr differieren, um
seltsam wie ein Vertreter der nur in Afrika gebräuchlichen zu einer einheitlichen Sprachfamilie zu gehören. Zudem
Klicksprachen. Ihre Bezeichnung haben sie von den schnal- sind die verschiedenen Sprechergruppen keineswegs
zenden Lauten, die wie Konsonanten verwendet werden. genetisch identisch und folgen im Übrigen verschiedenen
Um Wörter dieser Sprachen in unser Schriftsystem umzu- Lebensweisen: Die San sind Jäger und Sammler, die Khoe
setzen, mussten Linguisten ungewöhnliche phonetische hingegen Viehhirten.
Zeichen verwenden und manche dazu erfinden (siehe »Die
Klicksprachen in Afrika«, S. 29). Expansion auf Kosten der Klicksprachen
Die meisten Sprecher leben in der Namib-Wüste, im Mit der allmählichen Verbreitung der Landwirtschaft im
Ka­lahari-Becken und in den Gebieten um das Kap der Guten äußersten Süden Afrikas während der letzten zwei Jahrtau-
Hoffnung. Den europäischen Kolonialisten galten sie als sende durch Bantu-Völker wurden die Khoe-San-Gruppen
primitive »Buschmänner« und »Hottentotten«. Heute nennt in unfruchtbarere Gebiete verdrängt. Im Zuge dieser neo-
man diese indigenen Gruppen San beziehungsweise Khoe. lithischen Revolution expandierte die Bantu-Sprachfamilie
Auch äußerlich unterscheiden sie sich von den meisten also auf Kosten der Klicksprachen, auch wenn ein paar
anderen indigenen Bewohnern Afrikas. Erbgutvergleiche wenige Mitglieder Klicklaute in ihr Repertoire aufgenom-
haben gezeigt, dass sie genetisch von anderen Menschen- men haben, etwa das Zulu und Xhosa.
gruppen abweichen. Experten schätzen, dass die Vorfahren Ein vergleichbarer Vorgang soll, laut einer umstrittenen
der heutigen Khoe-San spätestens vor 30 000 Jahren, These, weltweit stattgefunden haben: Neolithisierung
möglicherweise sogar schon vor 100 000 Jahren eine eige- förderte die Sprachausbreitung. Auf diese Weise ließe sich
ne Entwicklung einschlugen. erklären, warum zwei Drittel der Menschen weltweit ent-
Weil sie ihnen daher als letzte Vertreter einer steinzeit­ weder einen Vertreter der indoeuropäischen oder der sino-
lichen Lebensart galten, folgerten manche Anthropologen tibetischen Sprachfamilie sprechen, und die drei Familien

24 Spektrum SPEZIAL  Biologie Medizin Hirnforschung  3.20


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ANPERRYMAN / GETTY IMAGES / ISTOCK

Niger-Kongo (wozu die Bantu-Sprachen gehören), Afro-­ Einst waren die »San«-Jägervölker im südlichen Afrika weit
Asiatisch und Austronesisch den Löwenanteil des restlichen verbreitet. Heute ist ihre Lebensweise (sowie ihre Klickspra-
Drittels für sich verbuchen. Die gut 150 bis 200 restlichen chen) nur noch bei sehr wenigen Gruppen gebräuchlich.
Sprachlinien – entweder kleine Sprachfamilien oder »isolier-
te« Sprachen, die also keine klare Verwandtschaft zu irgend-
einer anderen zeigen – müssen sich mit dem restlichen
15 Prozent zufriedengeben und werden oft nur von hunder-
ten oder gar nur einigen Dutzend Menschen gesprochen.
Die größte Sprachfamilie weltweit ist das Indoeuro- AUF EINEN BLICK
päische, nahezu jeder Zweite spricht eines ihrer Mitglieder. EVOLUTION DANK REVOLUTION?
Diese gehen auf eine gemeinsame »Proto-Indoeuro-
päische« Ursprache zurück, die sich gen Osten bis zum
Golf von Bengalen und in westlicher Richtung bis zur euro- 1 Die meisten Menschen sprechen eine Sprache, die zu
einer von fünf großen Sprachfamilien gehört. Diese
stammen aus der Alten Welt.
päischen Atlantikküste ausbreitete. Auf ihrem Weg durch
Europa verdrängte die neue Familie fast alle bis dahin
gebräuchlichen Sprachlinien.
Doch wo das Proto-Indoeuropäisch seinen Ursprung 2 Der Archäologe Colin Renfrew sieht die neolithische
Revolu­tion als Hauptursache: Die Entwicklung der
Landwirtschaft ließ die Bevölkerungsdichte steigen,
hatte, wird schon lange diskutiert. Seit den 1970er Jahren
was eine Expansion in zuvor nur von Jägern und
verlegt die gängigste Hypothese ihn in die Steppen der
Sammlern bewohnte Gebiete auslöste. So verbreitete
heutigen Ukraine und den Beginn der Expansion vor etwa sich auch die von den Einwanderern gesprochene
6000 Jahre. Als Ursache gelte: die Domestikation des Sprache.
Pferdes, die Entwicklung des Rades und das Aufkommen

3
der pastoralen Lebensweise, das heißt der Tierhaltung auf Um der historischen Wirklichkeit gerecht zu werden,
Naturweiden. muss man aber auch die jeweiligen Rahmenbedingun-
Der britische Archäologe Colin Renfrew von der Univer- gen und Aus­prä­gungen der Landwirtschaft sowie
sity of Cambridge aber postulierte 1987, die enorme Verbrei- andere Technologien wie die Seefahrt oder Eisenverar-
tung des Indoeuropäischen müsse eine andere Ursache beitung einbeziehen.
gehabt haben: die neolithische Revolution. In diesem Fall
hätte sie vor mehr als 9000 Jahren begonnen, ausgehend

Spektrum SPEZIAL  Biologie Medizin Hirnforschung  3.20 25


ü
von den Bauernsiedlungen im nördlichen Bogen des Frucht- diese Weise entstand die heutige geografische Vielfalt
baren Halbmondes, in der heutigen Osttürkei. innerhalb der großen Sprachfamilien.
Renfrew verwies in diesem Zusammenhang auf die er- Renfrew und Bellwood sind keine Sprachwissenschaftler,
wähnte und durchaus vergleichbare Expansion der Bantu- sondern Archäologen. Anhand der materiellen Hinterlassen-
Sprachen sowie die Karriere des Austronesischen, das schaften vorschriftlicher Kulturen hatte ihre Zunft schon seit
zwischen 4000 und 1000 vor heute von Taiwan aus über die Langem die große Bedeutung der Domestikation von Pflan-
südostasiatische und pazifischen Inselwelten und gen zen und Tieren für die Menschheit erkannt. Als Jäger und
Westen bis nach Madagaskar gelangte. Schon bald griff Sammler hatte Homo sapiens nur in kleinen Gemeinschaf-
Peter Bellwood von der australischen National University in ten leben können. Schon die Landwirtschaft hob diese
Canberra Renfrews Idee auf und erforschte weltweit die Grenze auf. Felder bearbeitende Bauern gründeten zudem
mögliche gemeinsame Verbreitung von Landwirtschaft und dauerhafte Siedlungen. Wachsende Erträge ernährten mehr
Sprachen. Schließlich avancierte diese Idee zum allgemei- Menschen, ergaben Überschüsse, die als Vorrat dienten
nen Erklärungsmodell. Die von Linguisten als Proto-indoeu- oder gegen andere Güter getauscht werden konnten.
ropäisch, Proto-austronesisch und so weiter bezeichneten
Ursprachen seien demnach von jenen Gruppen gesprochen Bunte Sprachvielfalt in Melanesien
worden, die als Erste in ihrer Region die Landwirtschaft Eine Dynamik entstand, die in bis dahin egalitären Gesell-
entwickelt hatten. Das folgende Bevölkerungswachstum schaften unterschiedliche Arbeitsarten und damit soziale
führte zur Erschließung neuer Gebiete; dort lebende Wild- Strukturen ausbildete, bis Jahrtausende später Eliten
beuter seien verdrängt oder assimiliert worden. Deren über Bauern und Handwerker herrschten und schließlich
Sprachen verschwanden, während sich die Neuankömmlin- monumentale Bauwerke, Städte und Staaten errichten
ge jeweils unabhängig voneinander weiter veränderten. Auf ließen. Die Annahme lag nahe, dass dieser fundamentale

Die Teilung der


(Sprach-)Welt
Während die Darstellung der
größten Sprachlinien des
ame­rikanischen Doppelkonti- größere Sprachfamilien
nents einem bunten Flicken- NORDAMERIKAS
größere Sprachfamilien
teppich gleicht, dominieren NORDAMERIKAS ?
in der Alten Welt fünf große Eskimo-Aleutisch
Eskimo-Aleutisch
Sprachfami­lien (kleinere Na-Dené
? ?
Na-Dené
Familien und isolierte Spra- Algisch
chen sind auf dieser Karte Algisch
Uto-Aztekisch
nicht dargestellt). Archäo­ größere Sprachfamilien
Maya
logen, Genetiker und Linguis- Uto-Aztekisch
NORDAMERIKAS
Eskimo-Aleutisch
ten suchen nach Erklärungen ?
Maya größere
Na-Dené Sprachfamilien
für dieses Phänomen. In
SÜDAMERIKAS
Algisch
einigen Fällen förderte wohl
Carib
Uto-Aztekisch
eine agrarische Lebensweise
Arawak
die Expansion, doch in Maya
größere
Tupí
Sprachfamilien
anderen
Karte mitlässt
allensich ein sol-
größe-
cher Zusammenhang Gê SÜDAMERIKAS
ren Sprachfamilien dernicht größere Sprachfamilien
herstellen oder
Welt, die im Textwürde als Quechua Expansion einer Sprachfamilie
Carib SÜDAMERIKAS ? durch Landwirtschaftsverbreitu
Erklärung nicht ausreichen.
erwähnt werden. Die Carib
Pfeile zeigen die ArawakArawak
vermuteten Ursprünge
(der Landwirtschaft)
Tupí Tupí

und Verbreitungswege Gê Quechua Expansion einer S
an. ? durch Landwirtsch
Quechua
MARIKE SCHREIBER UND PAUL HEGGARTY; NORDAMERIKA NACH: ISH ISHWAR (COMMONS.WIKIMEDIA.ORG/WIKI/FILE:LANGS_N.AMER.PNG) /
CC BY 2.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY/2.0); SÜDAMERIKA NACH: BRDARO (COMMONS.WIKIMEDIA.ORG/WIKI/
?
FILE:SOUTHAMERICAN_FAMILIES_03.PNG) / CC BY-SA 3.0; ALTE WELT NACH: PIMASTER3 (COMMONS.WIKIMEDIA.ORG/WIKI/FILE:PRIMARY_HU-
MAN_LANGUAGE_FAMILIES_MAP.PNG) / CC BY-SA 3.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY-SA/3.0)

26 Spektrum SPEZIAL  Biologie Medizin Hirnforschung  3.20


ü
Wandel auch die Schicksale der Sprachen dramatisch ver- keine solche Dominanz. Im Amazonasgebiet etwa gibt es
änderte. zwar einige mittelgroße Sprachfamilien, doch sie bilden
So bestechend diese Schlussfolgerung auf den ersten einen regelrechten Flickenteppich, durchsetzt mit Dutzen-
Blick scheint, ist die Realität doch komplexer, als das einfa- den kleiner, unabhängiger Sprachlinien. Auch an der West-
che Modell zu erklären vermag. Beispielsweise wurde Aust- küste Nordamerikas gab es vor den Europäern eine enorme
ronesisch in einem großen Teil Melanesiens nicht übernom- sprachliche Vielfalt.
men. Auf diesen Inseln nördlich von Australien, zu denen als Im äußersten Norden des Doppelkontinents hingegen
größte Neuguinea zählt, herrscht vielmehr eine bunte Spra- dominierten bis zur »Invasion« des Englischen und Französi-
chenvielfalt. Das genetische Profil liefert eine Erklärung für schen tatsächlich drei Sprachfamilien: Eskimo-Aleutisch,
diese Beobachtung: Es unterscheidet sich von dem der Algisch und Na-Dene-Sprachen (siehe »Die Teilung der
Bewohner austronesischsprachiger Inseln in Südostasien (Sprach-)Welt«, unten). Sie hatten sich verbreitet, obwohl
und Polyne­sien. Offenbar wurde die große Sprachfamilie von sie von Jägern und Sammlern benutzt wurden. Gleiches gilt
einer Gruppe verbreitet, die sich in den betreffenden Gebie- für die Pama-Nyunga-Sprachen Australiens. Einige Sprach-
ten Melanesiens nicht durchsetzen und ihre genetischen wie wissenschaftler glauben, damit die mögliche Kopplung von
auch linguistischen Spuren hinterlassen konnte. Neolithisierung und Sprache zu widerlegen. Doch meist
Noch mehr irritieren die Befunde aus der Neuen Welt: handelt es sich um Wildbeutergemeinschaften in Gegen-
Auf dem amerikanischen Kontinent finden sich zahlreiche den, die Ackerbau sowieso kaum erlauben.
einheimische Sprachlinien, doch keine vermag derart zu Grönland ist hierfür ein gutes Beispiel. Siedler brachten
dominieren wie eine der genannten fünf in der Alten Welt. das Altnordische, eine indoeuropäische Sprache, um das
Selbst die Sprachfamilien der Landwirtschaft betreibenden Jahr 980 auf die Insel. Der Name »Grünes Land« mag auch
Hochkulturen Mesoamerikas und der Anden erreichen damals ein wenig übertrieben gewesen sein, doch Bauern

Die fünf größten


Sprachfamilien der
ALTEN WELT

Indoeuropäisch
Die fünf größten
Sprachfamilien der
um 1500,
ALTEN WELT

ien
? davor auch
Indoeuropäisch
um 1500,
? Sinotibetisch
davor auch

? ? ?
davon Sinitisch
Sinotibetisch
davon Sinitisch
Austronesisch
Austronesisch
Afroasiatisch
Die fünf größten
Sprachfamilien der
Afroasiatisch
Niger-Kongo
ALTEN WELT davon Bantu
Indoeuropäisch
Niger-Kongo
um 1500, davon Bantu
re Sprachfamilien
? davor auch
ÜDAMERIKAS Sinotibetisch
rib ? davon Sinitisch

awak Austronesisch

pí Afroasiatisch
Niger-Kongo
davon Bantu
echua Expansion einer Sprachfamilie
? durch Landwirtschaftsverbreitung

Expansion einer Sprachfamilie


Expansion einer Sprachfamilie
durch Landwirtschaftsverbreitung
MARIKE SCHREIBER UND PAUL HEGGARTY; NORDAMERIKA NACH: ISH ISHWAR (COMMONS.WIKIMEDIA.ORG/WIKI/FILE:LANGS_N.AMER.PNG) /
? durch Landwirtschaftsverbreitung CC BY 2.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY/2.0); SÜDAMERIKA NACH: BRDARO (COMMONS.WIKIMEDIA.ORG/WIKI/
FILE:SOUTHAMERICAN_FAMILIES_03.PNG) / CC BY-SA 3.0; ALTE WELT NACH: PIMASTER3 (COMMONS.WIKIMEDIA.ORG/WIKI/FILE:PRIMARY_HU-
MAN_LANGUAGE_FAMILIES_MAP.PNG) / CC BY-SA 3.0 (CREATIVECOMMONS.ORG/LICENSES/BY-SA/3.0)

Spektrum SPEZIAL  Biologie Medizin Hirnforschung  3.20 27


ü
fanden dort ihr Auskommen. Gut 500 Jahre später fielen Es ist also kein Zufall, dass jene Sprachen des südlichen
die Siedlungen jedoch wüst, denn die so genannte Kleine Afrika, die nicht zur Bantu-Gruppe gehören, längst größten-
Eiszeit machte Landwirtschaft unmöglich. Die mit Kajaks, teils auf die unwirtlichen Gebiete im Umfeld der Kalahari-
Harpunen und Huskys bestens gerüstete indigene Bevöl­ke- und Namib-Wüste beschränkt sind. Irritierenderweise sind
rung war wieder für sich allein – und sprach ihr Eskimo- heutzutage Klicksprachen hauptsächlich bei Gruppen in
Aleutisch. Gebrauch, die von der Weidewirtschaft leben – einer spezi-
Eine solche Bewertung der Nutzbarkeit für den Ackerbau ellen Form der Viehzucht und damit der Landwirtschaft.
erklärt auch, warum sich die Neue Welt in linguistischer Der Linguist Tom Güldemann von der Humboldt-Univer-
Hinsicht ganz anders entwickelt hat: Meere, Wüsten und sität Berlin formulierte die These, dass das Khoe-Kwadi,
dichter Regenwald hemmten die Verbreitung der Landwirt- eine der drei Klicksprachfamilien, nicht lange vor dem
schaft von ihren Zentren in Mittelamerika und den Zentral­ Bantu in die Region gelangte. Seines Erachtens sprachen es
anden aus. Auch wenn sich einige wenige Sprachfamilien aus Ostafrika kommende Hirten, die Weidewirtschaft und
wie das Maya mit dem Ackerbau erklären lassen, blieben ihre Sprache mitbrachten. Weil sie sich auch mit den indi-
sie auf Grund der geografischen Bedingungen auf ihre genen Gruppen vermischten, passt die geografische Ver-
Kerngebiete beschränkt. breitung der Klicksprachfamilien, die Genetik der Khoe-San-
Völker sowie ihre Zuordnung zu den beiden Wirtschaftswei-
Die Landwirtschaft erklärt nicht alles sen nicht immer zueinander (siehe Karte unten).
Archäologen und Linguisten haben Renfrews These inzwi- Andererseits ist das Aufkommen der Bantu-Sprachen in
schen präzisiert: Obwohl die Landwirtschaft eine logische diesen Gebieten kein reiner Neolithisierungseffekt – die
Erklärung für die Ausbreitung mehrerer großer Sprachfamili- Landwirtschaft existierte in Westafrika schon lange vorher.
en zu bestimmten Zeiten liefert, will dieses Modell nicht Die Expansion nach Süden beruhte vielmehr auch auf dem
gleichzeitig die Schicksale von vielen kleineren Sprachlinien Knowhow, Eisen zu verhütten und Werkzeuge zu schmie-
auf der Welt erklären. Und wo Landwirtschaft schwer mög- den. Denn nun konnten die Bantu-Völker den Ackerbau
lich ist, wird man ihr ohnehin keine treibende Kraft zubilligen intensivieren, und die Bevölkerung wuchs mit den genann-
können. ten Folgen.

ANGOLA
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MALAWI

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A
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SIMBABWE MOSAMBIK
Klicksprachenfamilien
n

(Stand vor 1900)


Khoe-Kwadi
BOTSWANA
t

Kx‘a
Kho
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Tuu
oe

Xhosa, Bantu-Sprachen mit


Zulu Klicklauten NAMIBIA
In
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT / EMDE-GRAFIK, NACH: TOM GÜLDEMANN UND PAUL HEGGARTY

d
SWASILAND is
SWASILAND O
Genetische Gruppe Zu ze ch
lu an er
Khoisan
SÜDAFRIKA
Nichtkhoisan
LESOTHO
sa
Lebensweise Xho Bantu-Sprecher sind Land-
Jäger und Sammler wirte, Klicksprachen kenn-
zeichnen Jäger und Sammler?
Hirten Die Wirklichkeit ist komplexer;
die Neolithisierung allein kann
heutige Landesgrenze die Sprachverteilung nicht erkären.

28 Spektrum SPEZIAL  Biologie Medizin Hirnforschung  3.20


ü
Die Klicksprachen in Afrika
Sprachlaute entstehen
SPRACHFAMILIE
meist, indem Luft aktiv
aus der Lunge ausge-
BEISPIELSPRACHE
blasen wird. Bei Klick-
lauten hingegen bewirkt »Mensch«
die Zunge einen ein- »Schlange«
wärts gerichteten Luft-
»Baum«
sog. Im südlichen Afrika
lassen sich drei Sprach- »Ei«

familien unterscheiden, »Fleisch«


die Klicklaute wie Kon- »Zahn«
sonanten verwenden.
Durch den Kontakt mit
ihren Sprechern haben Phonetische Symbole:
auch einige Bantu- =  Klicklaute, anzuhören unter http://de.wikipedia.org/wiki/Klick_%28Phonetik%29#Arten
  ̏ =   Tonhöhe (hell, sehr hell, dunkel, sehr dunkel)
Sprachen dergleichen =   nasale Vokale
übernommen. (gleiche Farbe bedeutet gleiche Herkunft; Transkriptionen gemäß dem Inter­nationalen Phonetischen Alphabet).

Auch das Austronesische passt nicht ganz ins Bild. Denn Lebensweise integrieren. So verhältnismäßig gering der
am Anfang stand nicht der große Exodus. Vielmehr verlie- Beitrag der indigenen Bevölkerung zum Genpool auch sein
ßen wohl nur wenige hundert bis wenige tausend Sprecher mochte, er wuchs zwangsläufig, je weiter sich die Wellen-
vor gut 4000 Jahren Taiwan. Sie erreichten die gut 250 Kilo- front von ihrem Ausgangsort entfernte. Genetische Studien
meter entfernten nörd­lichen Philippinen, von wo aus sich aus den 1990er Jahren entdeckten ein solches Muster von
die Inselwelt Südostasiens und des Pazifiks leicht von Anatolien aus quer durch Europa, was zu einer Verbreitung
Eiland zu Eiland erschließen ließ. Da die Auswanderer die indoeuropäischer Sprachen durch der Neolithisierung
Landwirtschaft mitbrachten, wuchs die Bevölkerung – und passen würde. Inzwischen verfügen Genetiker über weit
erneut suchten Mutige eine neue Heimat. bessere Techniken; sie können sogar aus von Archäologen
Aber warum war ausgerechnet diese austronesische entdeckten menschlichen Überresten »alte DNA« gewinnen
Sprachlinie so erfolgreich? Insbesondere im benachbarten und mit den Erbanlagen heutiger Menschen vergleichen.
China und in Indien lebten die Menschen ebenfalls von der Bisherige Studien liefern noch kein definitives Bild für oder
Landwirtschaft, und doch trugen nicht sie ihre Sprachen in gegen das Modell, doch sollte es in den nächsten Jahren
die Welt hinaus. Vielmehr ermöglichte wohl das Knowhow möglich sein, genauere Aussagen zu treffen.
in Sachen Seefahrt den Austronesiern, neue Inseln zu Vollends komplex wird die These, bedenkt man: Land-
besiedeln. Auf ihren Auslegerbooten wagten sie sich Hun- wirtschaft ist nicht gleich Landwirtschaft, sondern immer
derte von Kilometern aufs offene Meer hinaus, Samen und ein Gesamtpaket mit vielen Komponenten wie Feldfrüchten,
Nutztiere an Bord. Wohl waren die meisten der Inseln Tieren und Technologien. Diese müssen nicht alle von
schon von Wildbeutern bewohnt, doch die Gruppen ver- gleicher Herkunft sein. Im insularen Südostasien kam
mischten sich, wie nicht allein genetische, sondern auch manches aus Taiwan, anderes aus Indochina oder Neu-
linguistische Analysen zeigen: So wie manche Bantu-Grup- guinea. Zudem schnüren die Menschen nicht immer das
pen Klicklaute übernahmen, lassen sich auch in einigen gleiche Paket. Im Amazonasgebiet bringen nur die Über­
austronesischen Sprachen Relikte längst verschwundener flutungen der großen Ströme Nährstoffe in die kargen
Sprachen nachweisen. Böden ein, weshalb Bauern die Ufer besiedeln und den
Urwald den Wildbeutern überlassen. Manche Linguisten
Genetische Spuren der sehen darin einen Grund dafür, weshalb Sprachfamilien wie
ursprünglichen Bevölkerung Arawak, Tupí und Carib wie auf einem Flickenteppich in
Renfrews Modell postuliert dementsprechend keine Vertrei- Amazonien verstreut sind.
bung indigener Gruppen, was einen vollständigen geneti- Einem simplen Prozess nach dem Muster »Neolithisie-
schen Austausch implizieren würde. Es beruht vielmehr auf rung bewirkt Sprachübernahme« hat es also nur selten
der Vorstellung einer Bevölkerungswelle, bei der die Neuan- gegeben. Oft kam die Landwirtschaft in einer Region nicht
kömmlinge die Zahl der Einheimischen bei Weitem über- plötzlich auf, sondern im Zuge eines langen Übergangs von
treffen. An der Wellenfront – also zwischen den vergleichs- einer Lebensweise in eine andere. Im kalten Nordeuropa
weise dicht besiedelten bäuerlichen und den von Wild- etwa blieb das Meer eine wichtige Nahrungsquelle. Wohl
beutern bewohnten Gebieten – konnten Letztere die neue aus diesem Grund finden sich genetische Spuren einer
Kultur und Sprache übernehmen und sich in die neue präneolithischen Urbevölkerung im Genpool Nordwesteuro-

Spektrum SPEZIAL  Biologie Medizin Hirnforschung  3.20 29


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SPOTX / GETTY IMAGES / ISTOCK
pas beziehungsweise mögliche linguistische Relikte im Die auch heute noch gebräuchlichen Auslegerboote dürften
germanischen Zweig der indoeuropäischen Sprachfamilie. einen wesentlichen Anteil an der Verbreitung und Weiter-
Insgesamt halten Linguisten es für wahrscheinlich, dass entwicklung der Austronesischen Sprachfamilie gehabt haben.
die sinotibetischen, austronesischen und Niger-Kongo-
Sprachen (oder zumindest ihr Bantu-Hauptzweig) einst auf
die Ausbreitung der Landwirtschaft zurückgingen – selbst sen bereitstellen konnte. Solche gesellschaftlichen Entwick-
wenn Seefahrt und Eisenverarbeitung in den letzten beiden lungen brachten ihre eigene Dynamik mit, die Bevölkerungs-
Fällen eine bedeutende Rolle spielten. Was die afroasiati- und damit wieder auch Sprachexpansion zur Folge haben
schen und indoeuropäischen Sprachen angeht, so steht die konnte. Auch heutzutage unterliegt der sinitische Zweig
Neolithisierung zwar im Fokus der Forschung, wird aber derartigen Veränderungen: Das als Hochchinesisch geltende
weiterhin als Triebkraft kontrovers diskutiert. Mandarin, ursprünglich aus der Region um Peking, dominiert
mehr und mehr in ganz China.
Die Entwicklung blieb nicht stehen Ähnliche Kräfte sind auch heutzutage am Werk: Kleine
Man darf nicht vergessen, dass die Entwicklung mit der Sprachen verschwinden, große Familien breiten sich weiter
Neolithisierung nicht stehen blieb. Die Erträge wurden aus. Mit der Nahrungsbeschaffung hat das alles nur noch
gesteigert, beispielsweise durch neue Getreidesorten, sehr wenig zu tun. Wenn der Blick in die ferne Vergangenheit
Tier­rassen oder Technologien wie Bewässerungsanlagen aber eines lehrt, dann dieses: Die Dominanz von Sprachfami-
oder die bei den Bantu schon erwähnte Eisenverhüttung. lien ist eine Wirkung, für die wir die Ursachen finden können.
Das Ergebnis war weiteres Bevölkerungswachstum und Die Stichworte der jüngeren Geschichte lauten beispiels­
eine neuerliche Expansion. Ein solcher Effekt zeigt sich weise Kolonialismus, industrielle Revolution, Globalisierung,
auch innerhalb des Stammbaums der sinotibetischen Massenkommunikation. Wo Schulpflicht gilt, trägt sie meist
Sprachen. Sie haben ihren Ursprung in der Hirse anbauen- ihren Teil dazu bei, große Sprachen zu verbreiten. Mit der
den Yangshao-Kultur (5000 bis 3000 v. Chr.), die sich von Einführung neuer Technologien und Lebensweisen verändern
der nordchinesischen Ebene aus verbreitete. Im ersten wir nicht nur unsere physische Umwelt, sondern auch das
Jahrtausend v. Chr. erfuhr ein Zweig dieser Familie eine linguistische Panorama der gesamten Welt. 
gewaltige Ausdehnung, was zur Entstehung der sinitischen
beziehungsweise chinesischen Sprachen führte. Wahr-
scheinlich beruhte dies auf einer zweiten Phase von Bevöl- QUELLEN
kerungswachstum, die zumindest zum Teil einem massiven Güldemann, T., Stoneking, M.: A historical appraisal of clicks: a
Ausbau der landwirtschaftlichen Infrastruktur zu verdanken linguistic and genetic population perspective. Annual Review of
war. Aber dabei handelte es sich um nur eine unter vielen Anthropology 37, 2008
kulturellen, sozialen und politischen Kräften, die hier am Heggarty, P., Beresford-Jones, D. G.: Farming-language disper-
Werk waren. So erforderten die im Rahmen dieses Ausbaus sals. (1) Principles. (2) A worldwide survey. In: Smith, C. (Hg.):
anfallenden Anlagen von Systemen zur Bewässerung und Encyclopedia of Global Archaeology. Springer, 2014, S. 2731–2749
Hochwasserkontrolle ein Heer von Arbeitern, das nur eine Renfrew, C.: Archaeology and language: the puzzle of Indo-Euro-
etablierte Führungsschicht mit weit reichenden Befugnis- pean origins. Jonathan Cape, 1987

30 Spektrum SPEZIAL  Biologie Medizin Hirnforschung  3.20


ü
Von der
Menschwerdung
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ü
ETHIK
DER FEINE UNTERSCHIED
ZWISCHEN
MENSCH UND TIER
Was macht den Menschen aus? Darüber diskutieren die Primatologin
Julia Fischer, der Philosoph Kurt Bayertz und die Entwicklungspsycho-
login Patricia Kanngießer.

 spektrum.de/artikel/1457415

Frau Professor Fischer, Sie haben jahrelang Berberaffen zwischen Mensch und Tier und nehmen die Unterschiede
und Paviane in freier Wildbahn beobach­tet. Wie viel wieder stärker in den Blick. Und das finde ich ebenfalls sehr
Affe steckt in uns Menschen? spannend.
Julia Fischer: Das kann man prozentual nicht beantworten,
denn es kommt darauf an, was man sich anschaut. Bei Herr Professor Bayertz, laut Beobachtungen von Verhal-
bestimmten Zelltypen gibt es große Ähnlichkeiten zwischen tensforschern benutzen Hühner unterschied­liche Laute
Menschen und Affen. Wenn Sie aber geistige Fähigkeiten etwa für die Anwesenheit von Futter oder Raubfeinden.
wie etwa Sprache betrachten, finden Sie große Unterschie­ Kann man eine solch differenzier­te Kommunikation
de. In den letzten Jahrzehnten haben wir Wissenschaftler schon als Sprache bezeichnen?
verstärkt nach den Ähnlichkeiten gesucht. Und wenn wir Kurt Bayertz: Nein. Man muss sich klarmachen, was eine
dann etwas Passendes entdeckten, wurde das weiterver­ menschliche Sprache ausmacht. Es geht nicht nur darum,
folgt – gefundene Unterschiede jedoch nicht. Hier liegt ein dass man auf einen äußeren Reiz mit einem Laut oder einer
generelles Problem in der Wissenschaft vor: Was passt, Geste reagiert. Sprache ist etwas völlig anderes; sie ermög­
wird publiziert, der Rest kommt in die Schublade. Wenn licht uns, eine vergleichsweise distanzierte Haltung gegen­
herauskommt, der Affe oder die Krähe kann etwas, was über unserer Umwelt einzunehmen. Ein Affe kann zwar
zuvor dem Menschen vorbehalten schien, kommt das mit sagen: »Vorsicht, Jaguar!« Oder: »Vorsicht, Schlange!« Er
großem Bohei in die Medien, und alle finden das toll.
Schwieriger wird es, wenn die Affen oder Krähen etwas
nicht können. Das will eigentlich niemand so genau wissen
und wird erst gar nicht veröffentlicht.
»Wenn herauskommt, der Affe oder
Sehen Sie diese Schieflage auch bei der Erforschung die Krähe kann etwas, was zuvor
von Sprachfähigkeit?
Fischer: Ja. Hier gab es einen großen Hype in den 1980er dem Menschen vorbehalten schien,
Jahren. Da wurden Gegrunze und Schreie als Wörter
bezeichnet. Das hat aber mit Sprache nichts zu tun, denn
kommt das mit großem Bohei in die
es erfüllt nicht die elementarsten Kriterien, die wir an
Sprachfähigkeit anlegen, wie etwa Lernen. Inzwischen
Medien, und alle finden das toll«
schauen wir etwas skeptischer auf die Gemeinsamkeiten Julia Fischer

32 Spektrum SPEZIAL  Biologie Medizin Hirnforschung  3.20


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GLOBALP / GETTY IMAGES / ISTOCK

Spektrum SPEZIAL  Biologie Medizin Hirnforschung  3.20 33


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Julia Fischer
(Jahrgang 1966) studierte Biologie an der Freien Universität
Berlin und an der University of Glasgow.
In ihrer Diplom- und Doktorarbeit beschäftigte sie sich mit
Alarmrufen von Berberaffen. Nach ihrer Promotion 1996
ging sie an die University of Pennsylvania in Philadelphia
MIT FRDL. GEN. VON JULIA FISCHER

(USA) und beobachtete in Botswana frei lebende Paviane.


2000 kehrte sie zurück nach Deutschland ans Leipziger
Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie. Nach
ihrer Habilitation erhielt sie 2004 einen Ruf an die Universi­
tät Göttingen und leitet dort die Abteilung Kognitive Etholo­
gie am Deutschen Primatenzentrum.

kann jedoch nicht sagen: »Hör mal, hier ist keine Schlange!« Hühner verwenden immer für Luftfeinde den einen Ruf und
Verneinungen lassen sich mit tierischen Alarmrufen nicht für Bodenfeinde einen anderen. Das sehen wir bei Affen
ausdrücken, weil ein auslösender Reiz fehlt. Hier liegt der ebenfalls. Bei Grünen Meerkatzen in unterschiedlichen
fundamentale Unterschied: Im einen Fall wird man durch Regionen Afrikas haben wir beobachtet, dass sie alle diesel­
einen externen Reiz angeregt, eine bestimmte Äußerung zu ben Alarmrufe benutzen. Dagegen werden in den Gebieten,
machen; im anderen kann man einen bestimmten Umwelt­ in denen wir forschen, im Umkreis von nur 50 Kilometern
zustand kommentieren. Und man kann über abwesende zig verschiedene Sprachen gesprochen. Das sind wirklich
Dinge sprechen, etwa über die Vergangenheit oder die ganz andere Dimensionen.
Zukunft.
Fischer: Hühner haben vielleicht unterschiedliche Alarm­ Frau Doktor Kanngießer, Schimpansen konnten Gebär-
rufe für verschiedene Raubfeinde. Aber das ist ein angebo­ densprache erlernen: Inwieweit unterscheidet sich das
renes Verhalten, das sich evolutionär entwickelt hat. Alle von menschlicher Sprache?

Kurt Bayertz
(Jahrgang 1948) studierte Philosophie, Germanistik
und Sozialwissenschaften an den Universitäten
Frankfurt am Main und Düsseldorf.
Nach seiner Promotion 1977 war er wissenschaftlicher
Mitarbeiter an den Universitäten Bremen und Bielefeld
und habilitierte 1988. Anschließend leitete er die Ab-
teilung ­Technikfolgenabschätzung am Institut für System-
und Technologieanalysen in Bad Oeynhausen und wurde
1992 an die Universität Ulm berufen. Seit 1993 ist er
Professor für praktische Philosophie an der Universität
Münster. Ethik und philosophische Anthropologie zählen
zu seinen Arbeitsschwerpunkten.
MIT FRDL. GEN. VON KURT BAYERTZ

34 Spektrum SPEZIAL  Biologie Medizin Hirnforschung  3.20


ü
Patricia Kanngießer: Tatsächlich hat man in der Anfangs­ ziehen. Menschen kommunizieren, weil es ihnen wichtig ist,
zeit der Primatenforschung Schimpansen von Menschen­ sich mitzuteilen. Und dieses Nichtinstrumentelle in der
familien aufziehen lassen und ihnen dabei menschliche Sprachverwendung scheint mir ein wichtiger Unterschied
Zeichensprache beigebracht. Nur: Die Tiere kamen nie über zwischen Mensch und Tier zu sein. Menschen betrachten
einen Wortschatz von ungefähr 100 Symbolen hinaus, und ihre Umwelt nicht nur unter dem Gesichtspunkt ihres biolo­
sie brauchten zum Teil zehn Jahre dafür. Kinder lernen das gischen Überlebens.
in wenigen Monaten.
Warum können Tiere nicht sprechen?
Aber die Affen konnten mittels Gebärdensprache Bayertz: Der Philosoph Ludwig Wittgenstein soll einmal
kommunizieren. gesagt haben: Die Frage, warum sich Löwen nicht miteinander
Kanngießer: Für die Forscher, die mit den Tieren seit unterhalten, ist ganz einfach zu beantworten – sie haben sich
Jahrzehnten arbeiten, stellt das tatsächlich hoch komplexe nichts zu sagen. Das ist natürlich eher ein Bonmot als eine
Unterhaltungen dar. Wenn Sie aber als Unbeteiligter ge­ Erklärung. Aber immerhin kommen Löwen gut ohne Sprache
nauer hinschauen, werden Sie feststellen: 90 Prozent der aus. Wir sollten nicht davon ausgehen, dass alles in der Evolu­
Gesten lauten: »Gib mir die Banane! Die Banane, gib mir! tion ausschließlich aus biologischer Notwendigkeit geschieht

MIRKO KRENZEL FÜR DIE VOLKSWAGEN STIFTUNG; MIT FRDL. GEN. VON PATRICIA KANNGIESSER
Patricia Kanngießer
(Jahrgang 1981) studierte Biochemie, Philosophie und
Neurowissenschaften in Frankfurt am Main, Magdeburg
sowie Toronto und arbeitete anschließend am Wolfgang-
Köhler-Primatenforschungszentrum in Leipzig.
Nach Gastforschungsaufenthalten in den USA und Japan
promovierte sie 2012 in experimenteller Psychologie an
der University of Bristol. Anschließend wechselte sie zum
Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie und
verglich menschliche Kulturen in Afrika und Südamerika.
Seit 2016 leitet sie eine Nachwuchsgruppe zur kultur-
vergleichenden Entwicklungspsychologie an der Freien
Universität Berlin.

Gib mir Banane! Kratz mich!« Das ist das ganze Komplexi­ und auf Selektionsdruck zurückgeführt werden kann. Irgendwann
tätslevel. Es handelt sich also eindeutig um eine funktionale sind vielleicht unsere Vorfahren ein ganz kleines bisschen schlau­
Kommunikation, die Sie bei Schimpansen auch darüber er geworden als ihre Kumpels von nebenan. Und das hat eine
erreichen, indem Sie einfach auf eine Banane zeigen. Da Dynamik in Gang gesetzt, die auch die Sprache hervorgebracht
gibt es keine komplexe Struktur, kein Sichunterhalten um hat. Eine vollständige biologische Erklärung gibt es dann viel­
des Informationsaustausches willen. leicht gar nicht, da viel Zufall im Spiel war.
Bayertz: Man muss fragen: Wozu wird Sprache eigentlich Fischer: Ich glaube schon, dass es hier durchaus biologische
eingesetzt? Ein wesentlicher Antrieb für Tiere, mit Men­ Unterschiede zwischen Mensch und Tier gibt. Michael Tomasello
schen zu kommunizieren, scheint zu sein, eine Belohnung vom Max-Planck-Institut für evolutionäre Anthropologie in Leipzig
zu bekommen. Es wird also immer strategisch kommuni­ hat sehr gut herausgearbeitet, wie früh in Kindern angelegt ist,
ziert. Kinder machen das natürlich genauso, wenn sie auf etwas zu zeigen, sich über die Welt zu verständigen, zu
Schokolade wollen; da spielt die strategische Rede eben­ beobachten, ob der andere auch da hinguckt, wo man selbst
falls eine Rolle. Aber sie sprechen auch, um sich zu unter­ hingeguckt hat. Menschen haben angeborenerweise eine andere
halten, ohne dass sie einen unmittelba­ren Vorteil daraus Disposition als Affen, sich in die Gesellschaft einzufügen.

Spektrum SPEZIAL  Biologie Medizin Hirnforschung  3.20 35


ü
Kanngießer: Noch vor der Sprache liegt meines Erachtens wicklung, die weiterhin anhält. Der entscheidende Punkt
der zentrale Unterschied in der Kulturfähigkeit des Men­ dabei ist, dass sich unsere Gene im selben Zeitraum nur
schen, die wir so bei Tieren nicht finden. Dass wir kulturell geringfügig geändert haben. Die technischen und kulturel­
geteilte Werte und Normen haben und uns hier etwa mit len Veränderungen – ganz gleich, ob man sie für Fortschrit­
Handschlag begrüßen, in Asien dagegen mit einem Vernei­ te hält oder nicht – sind daher nicht oder nicht vollständig
gen – das macht den Menschen aus. Dazu gehört nicht nur biologisch erklärbar.
die Akkumulation von Kultur, sondern auch die Diversität
von Kulturen, die wir weltweit finden. Der Mensch hat es Besitzen Tiere demnach keine Kultur?
geschafft, alle Landstriche dieser Erde zu besiedeln. Und Fischer: Das kommt darauf an, wen Sie fragen. Wenn es
Kultur ist das Werkzeug, das ihm das ermöglichte. etwa regionale Unterschiede darin gibt, wie Schimpansen
Bayertz: Dabei dürfen wir nicht vergessen, dass es große Nüsse knacken oder nach Termiten angeln, nennen manche
Unterschiede zwischen menschlichen Kulturen gibt. Alle Forscher das »Kultur«. Implizit wird aber eingeräumt, dass
Menschen besitzen zwar eine gemeinsame Natur, doch sich diese Kulturen von der menschlichen unterscheiden,
nicht alle Kulturen haben diesen Weg einer kumulativen die dann als »Super-« oder »Ultrakultur« bezeichnet wird.
Entwicklung innerhalb kürzester Zeit beschritten. In den Hier laufen also begriffliche Debatten ab, bei denen man
letzten 20 000 Jahren – evolu­tionär gesehen ist das so gut entweder die Unterschiede oder die Gemeinsamkeiten
wie nichts – hat sich u
­ nglaublich viel verändert. Nur als betont. Experimentelle Daten aus Verhaltensexperimenten
Beispiel: Einfache Holzhütten entwickelten sich zu komple­ müssen wir interpretieren – die eine Wahrheit gibt es nicht.
xen Hochhäusern. Einige Kulturen aber verharren auf einer Und natürlich gibt es verschiedene Denkschulen. Ich bin bei
bestimmten Stufe. Diese Leute sind natürlich nicht dümmer dieser Frage eher skeptisch und würde bei Tieren nicht von
als wir, sondern es fehlten in ihrer Umgebung offenbar Kultur sprechen; andere Forscher sind hier groß­zügiger.
die Faktoren, die eine solche kumulative Entwicklung Bayertz: Wie überall im Leben gibt es in der Wissenschaft
fördern. ebenfalls Moden. Früher redeten alle von der Aggression:
Kanngießer: Da möchte ich Ihnen widersprechen. Ich finde Konrad Lorenz sprach vom »Bösen« im Tier und natürlich
es problematisch, ein Hochhaus als Paradebeispiel einer auch im Menschen. Inzwischen reden Affenforscher gern
kumulativen Kultur zu präsentieren und die Holzhütte von der Moral oder zumindest der Protomoral der Tiere. Da
daneben davon auszuschließen. Die Jäger und Sammler in hat sich die Bewertung völlig umgekehrt. Ich bin sicher,
der Kalahariwüste von Namibia zum Beispiel besitzen solch das wird sich auch wieder ändern, und das Pendel wird
ein tradiertes Wissen in Bezug auf Umwelt und Nahrungs­ nach der anderen Seite ausschlagen: Wenn man über die
mittelquellen – ich würde dort keine drei Tage überleben. Ähnlichkeiten zwischen Mensch und Tier erst einmal genug
Da muss man etwas differenzieren: Es gibt auch Gruppen, herausgefunden hat, werden die Unterschiede wieder
deren kumulative Kultur sich nicht auf materielle Art und interessanter. Die Wissenschaft schreitet nicht gleichmäßig
Weise ausprägt, weil sie zum Beispiel in Breiten leben, wo voran, sondern macht Schlingerbewegungen. Daher sollten
sich eine Akkumulation von materiellen Gütern einfach wir einen langen Atem haben und erst einmal abwarten, wie
nicht lohnt. Aber das heißt nicht, dass dort nicht ebenso ein über diese Dinge in 30 oder 40 Jahren gesprochen wird.
riesiger Schatz an kulturellem und tradiertem Wissen Fischer: Tatsächlich hat man in verschiedenen Zeiten
vorhanden ist. Da darf man nicht immer unsere westliche unserer Gesellschaft bestimmte Handlungen durchaus
Umgebung als Messlatte der ultimativen kulturellen Ent­ unterschiedlich bewertet. So wurden im Mittelalter Tiere für
wicklung nehmen. ihre Handlungen verantwortlich gemacht: Es gab Gerichts­
verfahren, bei denen Schweine angeklagt worden sind, weil
sie den Schweinehirten angeblich in böswilliger Absicht
umgerannt hatten. Heute kommen dagegen Diskussionen
»Der Mensch hat es geschafft, alle auf wie: Welchen Status räumen wir Tieren, insbesondere
den großen Menschenaffen ein? Auf diesem Feld tut sich
Landstriche dieser Erde zu besie- wahnsinnig viel. Ein interessanter Aspekt ist hierbei auch,

deln. Und Kultur ist das Werkzeug, die Leidensfähigkeit als ein mögliches Kriterium, wie ich ein
Tier zu be­handeln habe, zu berücksichtigen und nicht nur
das ihm das ermöglichte« die Intelligenz.

Patricia Kanngießer Mensch und Schimpanse teilen sich 99 Prozent


der Gene. Gehören sie damit biologisch zur selben
Gattung?
Bayertz: Ultimativ sowieso nicht, denn die Entwicklung Fischer: Nach dem biologischen Artkonzept, wie gemein­
läuft ja nach uns noch weiter. Ich habe nicht behauptet, same fruchtbare Nachkommen zeugen zu können, ist klar,
dass die Holzhütte keine Kultur wäre. Aber bis die Men­ dass es unterschiedliche Arten sind. Aber gehören sie mit
schen gelernt haben, Holzhütten zu bauen, hat es vielleicht 99 Prozent genetischer Ähnlichkeit zur selben Gattung?
eine Million Jahre gedauert. Von der Holzhütte bis zum Was bedeutet das eigentlich? Wie kommt man zu dieser
Hochhaus dauerte es nur 10 000 Jahre. Das ist eine gewal­ Zahl? Welche Vorannahmen brauche ich, um eine geneti­
tige Beschleunigung der technischen und kulturellen Ent­ sche Sequenz als ähnlich oder unähnlich zu betrachten?

36 Spektrum SPEZIAL  Biologie Medizin Hirnforschung  3.20


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Da stecken so viele Voraussetzungen drin – ich finde das müssten wir sie wie andere Menschen behandeln. Oder
nicht besonders informativ. Man kann auch sagen: Wir was passiert, wenn wir Robotern Menschenrechte zu­
haben 30 Prozent genetische Ähnlichkeit mit der Kartoffel. schreiben? Müssen wir sie dann wie Menschen behandeln?
Bayertz: Keine Diskriminierung der Kartoffel, bitte! Die Konsequenzen werden zum Teil in den Debatten ein-
Fischer: Sie können stattdessen genauso Gänseblümchen fach ausgeklammert. Das verschiebt sich je nach Zeitgeist
nehmen, wenn Sie wollen. Viele unserer Gene halten grund­ und wissenschaftlicher Strömung.
legende physiologische Funktionen aufrecht. Natürlich
gibt es da große Ähnlichkeiten. Wir besitzen nur knapp Haben denn Tiere Rechte?
25 000 Gene – man hatte ursprünglich mit viel mehr gerech­ Bayertz: Nein, Tiere haben keine Rechte. Wir haben Pflich­
net. Wenige Gene erfüllen also viele Funktionen. Demnach ten gegenüber Tieren. Das ist etwas anderes. Wir sind
können es nicht die Gensequenzen allein sein, sondern natürlich moralisch verpflichtet, Tiere anständig zu behan­
entscheidend ist das Konzert der Gene. Dieselben Gene deln. Was das im Einzelnen heißt, ist schwierig zu entschei­
können völlig unterschiedliche Produkte hervorbringen, je den und umstritten. Es gibt eine Tendenz in den letzten
nachdem, was wann wie schnell abgelesen und dann Jahrhunderten, die Differenz zwischen Tier und Mensch als
zusammengebaut wird und wie sich die Gene gegenseitig kleiner zu veranschlagen, als man es früher tat. Diese
regulieren. Und da sehen wir große Unterschiede. Wenn Tendenz hat eine ethische Seite: Wir messen den Interessen
Sie sich zum Beispiel beim Gehirn anschauen, wann welche der Tiere heute mehr Gewicht bei als früher. Das ist auch
Genprodukte auftauchen, sprechen wir nicht mehr von richtig so, aber die Forderung von Menschenrechten für
mehr als 99 Prozent Ähnlichkeit. Also lassen Sie sich nicht Menschenaffen ist übertrieben. Ihr liegt allerdings die mora­
verschaukeln, wenn Ihnen jemand eine einzige Zahl nennt, lisch berechtigte Intuition zu Grunde, die heute die meisten
um angebliche Ähnlichkeiten oder Unterschiede aufzu­ Leute in unserer Kultur teilen, dass Tiere keine Gegenstän­
zeigen! de, sondern leidensfähige Wesen sind.

Haben Tiere eine Würde?


Bayertz: Meiner Meinung nach nein. Aber in der Schweiz

»Wenn man über die Ähnlichkeiten haben Tiere eine Würde. Das ist durch einen Volksent­
scheid in die Schweizer Verfassung gekommen. Dort darf
zwischen Mensch und Tier genug man beispielsweise einen Kanarienvogel nicht allein halten.
Die Schweiz muss ein sehr glückliches Land sein, wenn
herausgefunden hat, werden sie solche Probleme in ihrer Verfassung regelt. Man kann

auch die Unterschiede wieder natürlich der Überzeugung sein, dass Tiere eine Würde
besitzen; wenn man sich aber vergegenwärtigt, was der Be­
interessanter« griff Menschenwürde im deutschen Recht bedeutet, dann
können Tiere keine Würde in diesem Sinn haben. Das heißt
Kurt Bayertz nicht, dass Tiere irgendwelche beliebigen Gegenstände
sind. Man kann ja auch Wesen, die keine Würde haben,
ordentlich be­handeln.

Bayertz: Man kann sich hierbei auch die Frage stellen: Ge- Bitte in einem Satz zusammengefasst: Was macht uns
hören wir heute noch derselben Art an wie die Menschen Menschen aus?
von vor 1000 Jahren? Biologisch sicherlich. Der französi­ Fischer: Dass wir uns diese Frage stellen. 
sche Paläo­anthropologe André Leroi-Gourhan hat einmal
gesagt: Wenn ein Biologe, der von einem anderen Stern Die Podiumsdiskussion »Der feine Unterschied: Was macht uns
kommt, einen mittelalterlichen Handwerker mit einem Menschen aus?« fand im Rahmen des Her­renhäuser Forums
modernen Arbeiter an einer vollautomatischen Maschine Mensch–Natur–Technik der Volks­wagenStiftung in Kooperation
mit »Spektrum der Wissenschaft« am 11. Februar 2016 im
vergleicht, würde er sie verschiedenen Arten zuordnen, Schloss Herrenhausen in Hannover statt. Moderiert wurde das
weil das Verhalten so unterschiedlich ist. Die Einteilungen, Gespräch von »Spektrum«-Redakteur Andreas Jahn.
mit denen wir uns die Welt zurechtlegen, sind nur mehr
oder weniger willkürliche Ordnungskriterien. Es kommt
jeweils auf den Standpunkt an: Was ist mir wichtig, wenn
ich eine Unterscheidung einführe? Betrachten wir nur das LITER ATURTIPPS
Verhalten, sind wir sicherlich ganz anders als unsere Vor­
Bayertz, K.: Der aufrechte Gang. Eine Geschichte des anthropo­
fahren vor einigen tausend Jahren; betrachten wir unsere logischen Denkens. C.H.Beck, 2014
genetische Ausstattung, hat sich nicht viel ge­ändert.
Kanngießer: Man kann Gründe dafür oder dagegen finden, Kurt Bayertz’ Opus magnum analysiert die alte Frage nach der
Sonderstellung des Menschen.
nichtmenschliche Primaten in die Gattung Homo einzu­
gliedern. Vielleicht sollten wir ihnen sogar noch Menschen­ Fischer, J.: Affengesellschaft. Suhrkamp, 2012
rechte zusprechen, aber dann müssen wir überlegen, Julia Fischer zeigt Gemeinsamkeiten und Unterschiede
welche normativen Implikationen das hat. Denn dann zwischen Mensch und Affe.

Spektrum SPEZIAL  Biologie Medizin Hirnforschung  3.20 37


ü
3DSCULPTOR / GETTY IMAGES / ISTOCK

Anna Lorenzen ist promovierte Neuro-


biologin und Wissenschaftsjournalistin
in Oldenburg. An der Universitäts-
klinik Tübingen forschte sie selbst über
die Anwendung von fMRT-­Verfahren
bei sprachlicher Reorganisation.

 spektrum.de/artikel/1671450

38 Spektrum SPEZIAL  Biologie Medizin Hirnforschung  3.20


ü
NEUROPLASTIZITÄT
3DSCULPTOR / GETTY IMAGES / ISTOCK

SPRACHE SUCHT
NEUES ZUHAUSE!
Bei Hirnschädigungen im frühen Kindesalter können
die Sprachzentren von der linken in die rechte
Hemisphäre hinüberwandern. Ein erstaunliches
Beispiel für die Flexibilität des Gehirns.

Spektrum SPEZIAL  Biologie Medizin Hirnforschung  3.20 39


ü

Katharina* war gerade acht Jahre alt, als sie ihren Ein anderes Mal lauschte Katharina einem Hörspiel, was die
ersten epileptischen Anfall erlitt. Danach war ihre sensorischen Zentren des Sprachverstehens aktivierte.
rechte Körperseite zunächst gelähmt, und sie konnte Nach Auswertung der Daten stellten die Mediziner Er-
nicht mehr flüssig sprechen. Zwar verstand das Mädchen staunliches fest: Das produktive Sprachzentrum befand
offenbar noch jedes Wort, doch sie war unfähig, einen sich nicht wie üblich in der linken, sondern in der rechten,
vollständigen Satz zu formulieren. Katharina litt unter einer gesunden Hemisphäre. Da die Schädigung im linken Stirn-
so genannten Broca-Aphasie (siehe »Broca-Aphasie«, lappen eine Aphasie ausgelöst hatte, musste sich das ent-
rechts). sprechende Areal anderthalb Jahre zuvor noch dort befun-
Wie die neuropathologische Untersuchung ergab, hatte den haben. Wie war dieser Seitenwechsel zu erklären?
eine angeborene Fehlbildung der Hirngefäße ihren linken Die Antwort liegt in der erstaunlichen Fähigkeit unseres
Stirnlappen geschädigt. Diese Läsion war sowohl für die Gehirns, sich von Verletzungen zu erholen. Der Mechanis-
Epilepsie als auch für den Sprachverlust des Mädchens mus, der den rettenden Umbau ermöglicht, heißt Neuro-
verantwortlich, denn an der betroffenen Stelle ist üblicher- plastizität. Im Gegensatz zu den Schaltkreisen eines Com-
weise das Zentrum der Sprachproduktion lokalisiert. In den puters können sich unsere grauen Zellen und ihre Fortsätze
darauf folgenden Monaten starb dort immer mehr Gewebe flexibel den Erfordernissen anpassen. So stärkt etwa täg­
ab. Umso verblüffender war, wie gut sich die kleine Patien- liches Klavierspiel die Verbindungen zwischen Nervenzellen
tin dennoch erholte: Trotz großflächiger Zerstörung links­ im motorischen Kortex, ungenutzte Synapsen werden
seitiger Hirnareale verschwand die Aphasie allmählich! dagegen abgebaut. Doch nicht nur einzelne Neurone, sogar
Sechs Monate nach ihrem ersten Anfall konnte Katharina ganze Netzwerke können sich reorganisieren. Durch diese
wieder Zweiwortsätze äußern, nach einem Jahr sprach sie kortikale Plastizität können Hirnfunktionen selbst dann
bereits viel flüssiger, wenn auch mit ungewöhnlichem erhalten bleiben, wenn die ursprünglich zuständigen Areale
Satzbau. Allerdings erlitt das Mädchen immer wieder neue etwa wegen einer Hirnblutung ausfallen.
Anfälle, weshalb die Ärzte eine Hirnoperation erwogen.
Die große Frage war, ob Katharina durch das Entfernen Mein rechter, rechter Platz ist frei
einiger Teile des linken Stirnlappens ihre Sprache endgül- Diese Fähigkeit bleibt das ganze Leben erhalten, bei Kin-
tig verlieren würde. Die Verbesserung ihrer Sprachfähigkei- dern ist sie jedoch viel stärker ausgeprägt als bei Erwachse-
ten ließ vermuten, dass in ihrem Gehirn bereits ein be­ nen. Bereits 1967 stellte der US-amerikanische Neurologe
deutender Umbau stattgefunden hatte. Um Klarheit zu Eric Lenneberg fest, dass sich die Sprachfunktion nach
schaffen, untersuchten die Neurologen Katharinas Gehirn Verletzung der linken Hemisphäre innerhalb eines kritischen
per funk­tioneller Magnet­re­so­nanz­tomografie (fMRT). Mit Zeitfensters der Hirnentwicklung komplett erholen bezie-
diesem bildgebenden Verfahren lassen sich jene Areale hungsweise normal ausbilden kann. Kinder, die vor dem
identifi­zieren, die an bestimmten kognitiven Funktionen Alter von etwa zwei Jahren eine solche Läsion erleiden,
beteiligt sind. können meist normal sprechen lernen. Dagegen verursa-
Während das Mädchen in der Röhre des Hirnscanners chen Schädigungen der Sprachzentren oder deren Faser-
lag, musste es spezielle Sprachaufgaben lösen. So hörte es verbindungen bei Kindern zwischen zwei und zehn Jahren
beispielsweise verschiedene Hauptwörter und musste in zunächst eine Aphasie. Allerdings erholen sich die kleinen
Gedanken möglichst viele dazu passende Verben aufzählen. Patienten davon normalerweise recht gut. Erst ab einem
Dies sollte die produktiven Sprachregionen ansprechen. Alter von zehn Jahren führen linksseitige Hirnschäden in
der Regel zu bleibenden Sprachstörungen.
Doch was genau bewahrt das junge Gehirn vor krank-
heitsbedingter Sprachlosigkeit? Dass die rechte Hemi­
sphäre im Notfall einspringen kann, ließen bereits invasive
AUF EINEN BLICK Verfahren wie der WADA-Test vermuten: Um die sprach­
RETTENDER SEITENWECHSEL dominante Hirnhälfte bei einem Kind mit Epilepsie zu
identifizieren, narkotisierten Mediziner die linke Hemisphäre

1 Bei den meisten Menschen liegen die Sprachfunk­


tionen in der linken Hirnhälfte. Blutungen oder
Schlag­anfälle in der entsprechenden Region führen
vorübergehend. Konnte das Kind trotz des »Abschaltens«
sprechen, galt dies als deutliches Indiz für eine rechtsseitige
Sprachdominanz. Heute wird diese Methode zwar in Einzel-
bei Erwachsenen meist zu Sprachausfällen. fällen noch angewendet, aber die moderne Bildgebung
verdrängt sie zunehmend.

2 In jungen Jahren hingegen sind die Sprachzentren


noch so flexibel angelegt, dass sie bei Verletzungen in
die rechte, intakte Hemisphäre »umziehen« können.
Der Neuromediziner Martin Staudt und seine Kol­legen
gingen der Reorganisation der sprachrelevanten Hirnregio-
nen am Universitätsklinikum Tübingen 2002 mittels fMRT
auf den Grund. Die Forscher ließen fünf junge Erwachsene
3 Dieses erstaunliche Phänomen bewahrt Kinder vor
Sprach­verlust. Die Fähigkeit zur Re­organisation bleibt
zwar bis zu einem gewissen Grad erhalten, sinkt
mit angeborener Läsion im linken Stirnlappen sowie mit
rechtsseitiger Sprachdominanz im Stillen Wortketten
jedoch mit zunehmendem Alter. aufsagen. Siehe da: Das Broca-Areal der Patienten befand
sich exakt an der spiegelverkehrten Position zum links
lokalisierten Sprachzen­trum gesunder Kontrollprobanden.

40 Spektrum SPEZIAL  Biologie Medizin Hirnforschung  3.20 * Name und Fallgeschichte anonymisiert


ü
Diese »homotope« Reorganisation sprachlicher Funktionen
ist typisch bei Hirnschäden, die in der frühen Kindheit auf-
treten.
Der Umbau betrifft nicht nur die Kerngebiete des Sprach-
Broca-Aphasie
netzwerks, sondern auch solche Regionen, die eher Hilfs- Bei Menschen mit einer Broca-Aphasie ist die
funktionen übernehmen. Hierzu gehören etwa Teile des Sprachproduktion gestört. Viele von ihnen reden
Scheitellappens, die am verbalen Arbeitsgedächtnis betei- in einem langsamen, holprigen Telegrammstil.
ligt sind, oder das für die motorische Kontrolle beim Spre- Das V­ erständnis bleibt oberflächlich intakt, jedoch
chen wichtige Kleinhirn. Karen Lidzba, Leiterin der pädiatri- haben Betroffene oft Schwierigkeiten, Sätze mit
schen Neuropsychologie vom Universitätsspital Bern, komplexen Strukturen zu erfassen.
erläutert: »Ob und wie sich Sprache bei Kindern mit früher
Hirnschädigung reorganisiert, lässt sich nicht exakt vorher-
sagen. Oft wird jedoch das komplette Sprachnetzwerk neu
strukturiert. Sowohl die Areale der Sprachproduktion als
auch die für das Verstehen zuständigen Bereiche verlagern aus den Fortsätzen der Neurone besteht. Ursache kann
sich nach rechts.« zum Beispiel eine periventrikuläre Leukomalazie sein, eine
Welche Rolle dabei die genaue Lage der Läsion spielt, häufige Erkrankung bei Frühgeborenen. Dass sich aus-
untersuchte Lidzba 2017 mit einem Team an der Uni­klinik schließlich die an der Sprachwahrnehmung beteiligten Re-
Tübingen. An der Studie nahmen 19 Kinder und Erwachse- gionen reorganisieren, kommt laut Karen Lidzba am ehes-
ne mit angeborener Hirnschädigung teil. Wie sich heraus- ten bei Kindern mit einer Schläfenlappenepilepsie vor.
stellte, hatte bei jenen Patienten, bei denen der neuronale
Pfad der Sprachproduktion inklusive Inselrinde und Schei- Wer übernimmt die Führung?
tellappen betroffen war, eine umfassende Reorganisation Doch warum ist das unreife Gehirn so viel besser in der
sowohl des Sprechens als auch des Sprachverstehens statt- Lage, sich von Verletzungen zu erholen und die Sprach-
gefunden. Bei einer Läsion in den motorischen Faserbah- funktion zu bewahren? Der bereits zitierte Eric Lenneberg
nen des Sprachapparats war nur das produktive Zentrum in postulierte, beide Hirnhälften besäßen zunächst das gleiche
die rechte Hemisphäre gewandert. Potenzial, Sprache zu verarbeiten. Für diese »Äquipotenz­
Dieses Ergebnis zeigte, dass die Hirnrinde selbst gar hypothese« sprach, dass Kinder, denen sehr früh die linke
nicht unbedingt betroffen sein muss. In der frühkindlichen Hirnhälfte entfernt wurde, eine vergleichsweise normale
Entwicklung wird eine Reorganisation bereits durch kleine Sprachentwicklung durch­­liefen. Wie allerdings mehrere
Schäden innerhalb der weißen Substanz angestoßen, die Studien entgegen Lennebergs Theorie belegten, verursa-
UNIVERSITÄTSKLINIK TÜBINGEN, BEARBEITUNG: GEHIRN&GEIST; MIT FRDL. GEN. VON MARKO WILKE UND ULRIKE ERNEMANN

Die fMRT-Aufnahme zeigt das Gehirn der mittlerweile


neunjährigen Katharina, ­während diese Sprachauf-
gaben löst. Die roten »Kleckse« stellen entsprechende
aktivierte Regionen dar. Das produktive Sprachzent-
rum (Kreis) befindet sich im rechten Stirnlappen.
Anderthalb Jahre zuvor war es noch links. Hier findet
sich lediglich eine kleine Restaktivierung am Rand
der Läsion (Pfeil). Die anderen rot markierten Regionen
sind Sprachverständnis (Mitte) und visueller Verarbei-
tung (unten) zuzuordnen.

Spektrum SPEZIAL  Biologie Medizin Hirnforschung  3.20 41


ü
prämotorischer Kortex dorsaler Pfad

Broca-Zentrum

YOUSUN KOH
Wernicke-Zentrum

ventraler Pfad Kleinhirn

Rechts oder links –


wo sitzt die Sprache?
Obwohl unser Gehirn von außen betrachtet aus zwei (PET) zeigte sich, dass unser Denken und Handeln
fast identischen Hemisphären besteht, finden einige durch die Interaktion komplexer neuronaler Netzwerke
Hirn­leistungen bevorzugt auf einer Seite statt. Das ermöglicht wird.
deutlichste Beispiel für diese Lateralisierung ist die Gregory Hickok und David Poeppel schlugen 2004
Sprache. Bei rund 95 Prozent der Rechts- und 80 Pro- ein bis heute gültiges Konzept der menschlichen
zent der Linkshänder ist die linke Hirn­hälfte sprach­ Sprachverarbeitung vor. Laut diesem Zwei-Wege-Mo-
dominant. dell gehen zwei getrennte Verarbeitungspfade von der
Die Anfänge dieser Erkenntnis reichen bis in das Hörrinde im Schläfenlappen aus: Der ventrale (untere)
19. Jahrhundert zurück. Der französische Chirurg Pierre Pfad verbindet mehrere Regionen im Schläfenlappen
Paul Broca (1824–1880) behandelte 1861 einen Mann mit dem Broca-Areal und dem präfrontalen Kortex (im
namens Leborgne, der an einer schweren Sprachstö- Bild rot). Der Informationsfluss auf dieser Route bildet
rung litt. Dieser konnte zwar fast alles verstehen, die Grundlage für das Verstehen von Sprache und
brachte selbst aber nur die Silbe »Tan« hervor (daher ermöglicht es, Laute mit Bedeutung zu verknüpfen.
sein Spitzname »Monsieur Tan«). Nach Leborgnes Tod Der dorsale (obere) Verarbeitungspfad verbindet unter
öffnete Broca dessen Schädel und entdeckte einen anderem das klassische Wernicke- mit dem Broca-Zen-
syphilitischen Hirnschaden im linken unteren Stirn­ trum und dem prämotorischen Kortex (im Bild grün).
lappen. Hier vermutete Broca das später nach ihm Seine Hauptaufgabe ist es, akustische Information in
benannte Zen­trum der Sprachproduktion. einen artikulatorischen Code zu übersetzen und somit
Heute weiß man jedoch, dass das Broca-Areal nicht die Sprachproduktion zu ermöglichen.
direkt das Sprechen steuert. Vielmehr plant es die Ar- Die alte »Broca = Produktion, Wernicke = Wahrneh-
tikulation und sendet ein entsprechendes Programm mung«-Sichtweise ist zu simpel. So können Verlet­
an die motorische Hirnrinde. Kurz nach Brocas Entde- zungen des Wernicke-Areals sowohl zu einer gestörten
ckung lokalisierte der deutsche Neurologe Carl Werni- Sprachwahrnehmung als auch zu Ausfällen der
cke das sensorische Zentrum des Sprachverstehens im Sprachproduktion führen.
hinteren oberen Schläfenlappen der linken Hemisphä- Große Bedeutung haben außerdem Faserstränge,
re. Mit dem Aufkommen der modernen Bildgebung im welche die Kommunikation zwischen dem ventralen
20. Jahrhundert zeigte sich, dass die Broca-Wernicke- und dem dorsalen Sprachpfad herstellen. Bei deren
Doktrin zu kurz griff. Die heutige Hirnforschung hat Schä­digung kommt es, je nach Ort der Zerstörung,
sich größtenteils von der Vorstellung gelöst, dass kog- ebenfalls zu verschiedenen Formen der Aphasie.
nitive Leistungen einzelnen Hirnbereichen zuzurechnen Mediziner treiben viel Aufwand, um im Vorfeld einer
sind. Mittels der funktionellen Magnetresonanztomo- Hirnoperation die sprachrelevanten Regionen zu lokali-
grafie (fMRT) oder der Positronenemissionstomografie sieren und möglichst nicht zu beeinträchtigen.

42 Spektrum SPEZIAL  Biologie Medizin Hirnforschung  3.20


ü
chen angeborene Hirnschäden durchaus dauerhafte Defi­ per fMRT die Hirnaktivierungen von 16 Schlaganfallpati-
zite etwa bei komplexer Grammatik. Dies spricht eher dafür, enten zu drei verschiedenen Zeitpunkten. In der ersten,
dass der linken Hemisphäre eine führende Rolle bei der akuten Phase brach die Hirnaktivierung, die mit Sprache
Sprachverarbeitung zukommt. Neuroanatomische Unter- einherging, gänzlich zusammen. Bereits nach zwei Wo-
schiede zwischen den Hemisphären sprechen ebenfalls für chen waren eine stärkere Beteiligung rechtshemisphäri-
eine früh angelegte Seitenpräferenz: So sind das Planum
temporale sowie das Pars opercularis, wo das Broca-Areal
in der linken Hemisphäre angesiedelt ist, noch vor dem
ersten Spracherwerb links etwas größer als rechts.
Heute gehen die meisten Forscher davon aus, dass beide Mehr Wissen auf
Hirnhälften über eine annähernd ebenbürtige Sprachkom-
petenz verfügen, die linke aber im Lauf der Entwicklung die
Spektrum.de
Unser Online-Dossier zum Thema
rechte zunehmend dominiert. Solange dieser Prozess nicht
finden Sie unter
abgeschlossen ist, lassen sich Schäden auf der linken Seite spektrum.de/t/hirnforschung
relativ gut durch die rechte kompensieren. Dieser fällt es
FOTOLIA / GIORDANO AITA
jedoch schwerer, das gleiche Sprachniveau zu erreichen.

Im Alter besser links


Dass es hierbei zu Kollateralschäden kommen kann, zeigt scher Sprachzentren sowie ein Rückgang der Aphasie
ein altbekanntes Phänomen: Im Vergleich zu Kindern mit messbar. Anders als bei frühkindlicher Schädigung blieb
linksseitiger Sprachdominanz schneiden solche mit rechts die Reorganisation jedoch nur von kurzer Dauer: Ein Jahr
lokalisierter Sprache bei visuell-räumlichen Aufgaben im nach dem Schlaganfall hatten sich die Sprachzentren der
Schnitt schlechter ab. Dies könnte daran liegen, dass linken Hemisphäre erholt. »Ein dauerhafter Wechsel der
nichtsprachliche Funktionen der rechten Hemisphäre durch Sprachverarbeitung in die rechte Hirnhälfte kommt meist
den Umzug der Sprachverarbeitung beeinträchtigt werden, nur bei schwerstbetroffenen Patienten vor. In der Regel
weil sie sich die neuronale Hardware nun mit den Sprach- geht dieser Umbau dann mit einer schlechteren Sprach­
funktionen teilen müssen. erholung einher«, so Karen Lidzba. Hingegen ist die
Ist der Spracherwerb einmal abgeschlossen, führen Sprache in jungen Jahren gut gegen solche Ausfälle ge-
Läsionen der linken Hemisphäre in der Regel zu bleibenden wappnet, da sie quasi in beiden Hemisphären willkom-
aphasischen Störungen. Erwachsene können sich zwar bis men ist.
zu einem gewissen Grad von den Folgen eines Schlagan- Zum Glück für Katharina! So gewann sie trotz Zerstö-
falls erholen, eine vollständige Genesung ist allerdings rung ihres linken Sprachzentrums Stück für Stück ihr Aus-
selten. drucksvermögen zurück. Das ist insofern bemerkenswert,
Der Neurologe Jerzy Szaflarski vom Cincinnati Children’s als Katharina für einen derart großen Umbau schon fast
Hospital verglich 2013 die Hirnaktivierung von erwachsenen zu alt war. Nicht nur das Broca-Areal, sondern auch die
Schlaganfallpatienten, während diese verschiedene Sprach- Sprachfunktionen ihres Kleinhirns hatten einen komplet-
aufgaben lösten. Neun Teilnehmer hatten ihre Sprachfunk­ ten Seitenwechsel vollzogen. Die Erklärung hierfür könnte
tionen binnen eines Jahres g ­ rößtenteils zurückgewonnen, die Epilepsie sein, da sie das kritische Zeitfenster für eine
18 andere hingegen nicht. Wie sich zeigte, ging eine besse- Reorganisation verlängern kann. Heute ist Katharina dank
der operativen Entfernung weiter Teile des linken Stirn-
lappens wieder anfallsfrei – und gar nicht auf den Mund
gefallen.
In jungen Jahren ist Sprache
in beiden Hemisphären will­ QUELLEN

kommen und somit gut gegen Hickok, G., Poeppel, D.: Dorsal and ventral streams:
A framework for understanding aspects of the functional

Ausfälle gewappnet
anatomy of language. Cognition 92, 2004

Lidzba, K. et al.: Lesion characteristics driving right-hemi-


spheric language reorganization in congenital left-hemisphe-
ric brain damage. Brain and Language 173, 2017
re Spracherholung mit vermehrter linksseitiger Aktivierung
Saur, D. et al.: Dynamics of language reorganization after
einher. Offenbar findet bei Erwachsenen mit wiedererlang- stroke. Brain 129, 2006
ter Spra­che häufig eine »intrahemisphärische« Reorgani­
Staudt, M. et al.: Right-hemispheric organization of language
sation statt – etwa durch Regionen, die direkt an die Läsion following early left-sided brain lesions: Functional MRI topo-
angrenzen, oder durch Reaktivierung der betroffenen graphy. NeuroImage 16, 2002
Areale selbst.
Szaflarski, J. et al.: Recovered vs. not-recovered from
Den zeitlichen Verlauf des Umbauprozesses hatte die post-stroke aphasia: The contributions from the dominant
Medizinerin Dorothee Saur, die damals an der Universitäts- and non-dominant hemispheres. Restorative Neurology
klinik Freiburg forschte, zuvor 2006 untersucht. Sie erfasste and Neuroscience 31, 2013

Spektrum SPEZIAL  Biologie Medizin Hirnforschung  3.20 43


ü
INFOGRAFIK
NEUROBIOLOGIE DES GESPRÄCHS
Wenn wir uns unterhalten, arbeitet das Gehirn auf Hochtouren. Es sorgt
dafür, dass wir unserem Gegenüber zuhören und ihm blitzschnell antwor-
ten. Dabei stehen diverse Hirnregionen in engem Austausch, darunter
Sprachareale, das Hörzentrum sowie Emotionszentren wie die Amygdala.  
Text: Anna von Hopffgarten | Grafik: Jan Neuffer

3 Das Broca-Areal in der linken


1 Der auditive Kortex Gehirnhälfte verarbeitet Satzbau
erhält Schallinfor- und Grammatik.
mationen vom
Innenohr. 4 Das Wernicke-Areal (rot) in
der linken Gehirnhälfte sorgt
gemeinsam mit dem vorderen
Temporallappen (türkis) dafür,
dass wir das Gesprochene
verstehen.

5 Der Frontal­lap-
pen hilft dabei, die
Bedeutung der
Wörter zu entschlüs-
seln, indem
er sie mit
Erinnerungen
verknüpft.

2 Die
Amyg-
dala
(unter-
halb der
Hirn­rinde
gelegen)
registriert den
emotionalen
Unterton und
leitet eine entspre-
chende Gefühls-
reaktion ein.

ZUHÖREN
Beim Zuhören werden verschiedene Hirnbereiche aktiv, die die Bedeutung der Wörter und
ihren emotionalen Kontext entschlüsseln. Wie neueste Studien zeigen, verarbeiten diese
Regionen die Informationen nahezu zeitgleich, und zwar schon etwa 100 bis 200 Millisekun-
den nachdem ein Wort ausgesprochen wurde. Spezialisierte Sprachzentren liegen bei den
meisten Rechtshändern in der linken Hirnhälfte, sind hier aber zur einfacheren grafischen
Darstellung rechtsseitig eingezeichnet.

44 Spektrum SPEZIAL  Biologie Medizin Hirnforschung  3.20


ü
3 Über einen dicken Nervenstrang gelangt
JAN NEUFFER

der »Wort-Code« ins Broca-Areal. Es gilt


unter anderem als motorisches Sprach-
zentrum und koordiniert die Bewegun-
gen, die zum Sprechen notwendig sind.

4 Teile des motorischen Kortex


senden Bewegungsbefehle an
Mund, Zunge und Kehlkopf.

2 Das Wernicke-Areal ordnet den


Wörtern die entsprechenden Laute zu.

1 Der Temporallappen wählt


die Wörter aus einem
Vorrat an Vokabeln aus.
Sie sind im Gedächtnis
gespeichert und mit
spezifischen Erinne-
rungen verknüpft.

5 Das Kleinhirn ist


für das richtige Timing
zuständig: Es koordi-
niert die Artikulation.

QUELLEN
SPRECHEN Carter, R.: The brain book. Dorling
Schon rund eine Viertelsekunde, bevor ein Wort die Kindersley Limited, 2009
Lippen des Sprechers verlässt, bereitet sich das Gehirn Pulvermüller, F. et al.: Understanding
vor. Nacheinander werden verschiedene Areale aktiv, in an instant: Neurophysiological
die es dem Sprecher ermöglichen, die betreffenden evidence for mechanistic language
Wörter zu artikulieren. Bei den meisten Rechtshändern circuits in the brain. Brain
liegen auch diese Sprachzentren in der linken Hirnhälfte. Lang. 110, 2009

Spektrum SPEZIAL  Biologie Medizin Hirnforschung  3.20 45


ü
STIMMPHYSIOLOGIE
LEISTUNGSSPORT GESANG
Die Anforderungen an professionelle Sängerinnen und Sänger
sind enorm. Wie diese hohe Töne ausdrucksvoll und technisch
sauber singen und dabei ein Orchester scheinbar mühelos
übertönen, interessiert auch Wissenschaftler.

Matthias Echternach (links) leitet die Abteilung Phoniatrie und Pädaudiologie an


der Klinik und Poliklinik für Hals-Nasen-Ohren-Heilkunde der Universität München.
Bernhard Richter leitet das Freiburger Institut für Musikmedizin, einer gemein­
samen Einrichtung der Hochschule für Musik und der Universitätsklinik Freiburg.

 spektrum.de/artikel/1224869

Ob ausdrucksstarke Arie oder grooviger A-cappella-Rap – was Berufssänger wie die Mezzosopranistin
Elina Garanca (links) oder die Mitglieder der Band Wise Guys scheinbar mühelos darbieten, erfordert die
Schulung aller Komponenten des stimmbildenden Systems.

ALAMY / RUSSIAN LOOK LTD. / GLOBAL LOOK PRESS

46 Spektrum SPEZIAL  Biologie Medizin Hirnforschung  3.20


ü

Konzentriert nimmt der Athlet Maß, geht in Gedanken
den Bewegungsablauf durch – dann sorgt eine Kaska-
de von Steuerimpulsen dafür, dass jede einzelne Mus- AUF EINEN BLICK
kelfaser zur rechten Zeit kontrahiert. Wenn ein Hochsprin- RÄTSELHAFTE REGISTER
ger über die Latte fliegt, ein Biathlet ins Schwarze trifft oder
ein Rennfahrer seine Konkurrenz weit hinter sich lässt,
vollbringt der menschliche Körper Höchstleistungen. Auch 1 Die Stimmlippen im Kehlkopf erzeugen einen Klang,
dessen Spektrum professionelle Sänger in vielfältiger
Weise formen. Erst dank moderner bildgebender
der professionelle Gesang gehört in diese Kategorie. Denn
ob Oper, Musical oder Rock – Musikalität ist nur die eine Verfahren verstehen Physio­logen diesen Prozess.
Seite der Medaille.
So bildet für eine Sopranistin der in der abendländischen
Notation f3 bezeichnete Ton von 1397 Hertz eine schwer
2 Sänger und Gesangslehrer unterscheiden Stimmregis-
ter wie Brust- und Kopfstimme, in denen verschieden
hohe Töne ähnlich klingen. Allerdings halten diese
zu meisternde Messlatte. Wolfgang Amadeus Mozart Einteilungen wissenschaftlicher Prüfung nur bedingt
(1756–1791) setzte diese Marke 1791 in seiner Oper »Die stand.
Zauberflöte« mit einer Arie der als »Königin der Nacht«
bezeichneten Figur. Eine Version der deutschen Sängerin
Edda Moser strebt zusammen mit anderen Audio- und
Bilddaten an Bord der Raumsonde Voyager 2 dem inter-
3 So dürften manche Erklärungen zum Falsett, der
hohen Männerstimme, falsch sein. Ihr dünner Klang
beruht wohl unter anderem auf einer Versteifung der
stel­laren Raum zu – als Zeugnis der kulturellen Leistungen Stimmlippen.
der Menschheit für andere intelligente Wesen im Kosmos.
Aus medizinischer Sicht entspricht dieses f3 einem perfek-
ten Zusammenspiel aller beteiligten Komponenten des
Stimm­apparats. 1769) wies Mitte des 18. Jahrhunderts anhand von Tier­
Wie dieser im Einzelnen funktioniert, ist jedoch trotz präparaten nach, dass die »Stimmbänder« den Ton erzeu-
vielfältiger Forschungen noch immer nicht in allen Details gen. Der spanische Gesangspädagoge Manuel Garcia
verstanden. Zwar kannte schon der römische Arzt Claudius (1805–1906) vermochte diese etwa ein Jahrhundert später
Galenus im 2. Jahrhundert die Knorpel des Kehlkopfs, und mittels Zahnarztspiegeln »bei der Arbeit« zu beobachten.
spätestens der französische Arzt Antoine Ferrein (1693– Dennoch erweist sich das Gesamtsystem als so komplex,
WISEGUYS PRESSEBILD / GUIDO KOLLMEYER

Spektrum SPEZIAL  Biologie Medizin Hirnforschung  3.20 47


ü
Nasenhöhle

weicher Gaumen

Vokaltrakt

Kehldeckel
Die Hauptaufgabe der Grundkomponenten des
(Epiglottis)
Vokaltrakts ist nicht die Kommunikation,
Lippen
Rachen sondern der Schutz unseres Lebens: Drohen
Partikel oder Tröpfchen in die Luftröhre zu
Zunge
gelangen, verschließen der Kehldeckel und die
Kehlkopf Stimmlippen ihnen den Weg. Im Lauf der
(Larynx)
Evolution hat sich dieses System weiterent­
PATRICIA C. WYNNE / SCIENTIFIC AMERICAN SEPTEMBER 1999

wickelt und erlaubt dem Menschen, ein reiches


Stellknorpel Spektrum an Tönen hervor­zubringen, von der
Epiglottisstiel
Sprechstimme bis hin zum Kunstgesang. Die
wichtigste Komponente dabei ist der Kehlkopf
Speiseröhre Taschenfalte
(Ösophagus)
(rechts: Längsschnitt und Ansicht von vorne),
Stimmlippen in dem die Stimmlippen einen Klang erzeugen,
der dann durch Reso­nan­zen geformt wird.
Luftröhre (Trachea)

dass wir manche Aspekte erst heute untersuchen können,


Glossar indem wir modernste Techniken einsetzen: Endoskope,
Kernspintomografen, Drucksensoren und Computer­simu-
Dezibel: In der Akustik ist Dezibel die Maßeinheit lationen.
des Schalldruckpegels. Weil ihr eine Schon das Grundprinzip der Tonerzeugung sorgte für
logarithmische Skala zu Grunde liegt, Irritationen. Für Galenus entsprach der Kehlkopf noch einer
bedeutet eine Erhöhung um drei Dezibel Pfeife, und Ferrein verglich die »Stimmbänder« – er bezeich-
einer Verdopplung der Schallintensität. nete sie als »cordes vocales« – mit schwingenden Saiten.
Formanten: Resonanzen im Vokaltrakt, Formanten Tatsächlich hatte Galenus in einem Punkt Recht: Unser
genannt, verstärken Teiltöne des an den Stimmapparat ist einem Blasinstrument sehr ähnlich, doch
Stimmlippen gebildeten Klangs beispiels- er funk­tioniert nicht wie eine Pfeife über Luftverwirbelun-
weise bei der Vokalformung. Mathema- gen an einem zungenförmigen Mundstück, sondern gleicht
tisch entspricht dies einer Filterung des eher einer­Trompete. Dort erzeugen die vibrierenden Lippen
ursprünglichen Frequenzspektrums. des Mu­sikers eine stehende Welle in der Luftsäule des
Instruments, also einen periodischen Wechsel von Druck-
Glottis: Fläche zwischen den beiden Stimmlippen, bäuchen und -knoten. Beim Menschen sind es die Stimm-
die je nach Öffnungs- oder Schließungs- bänder – beziehungsweise anatomisch korrekter: die
grad unterschiedlich groß ist. Stimmlippen in unserem Kehlkopf (siehe Grafik S. 51), die
Grundton / Jeder Klang besteht aus einer Reihe von eine solche Welle generieren.
Oberton: Teiltönen: dem Grundton und den ganz- Tatsächlich handelt es sich dabei um zwei Falten, die
zahligen Vielfachen seiner Frequenz, den durch Muskeln in ihrer Spannung, Form und Steifigkeit
Ober­tönen. gezielt eingestellt werden. Legen sie sich aneinander,
Passaggio: Übergangszone im Frequenzspektrum von verschließen sie den Strömungskanal im Kehlkopf. Nun
einem Register ins nächste. baut die ausgeatmete Luft einen Druck unter ihnen auf.
Durch einen Kniff lässt sich der unterhalb der Stimmlippen
Register: Der Begriff fasst Töne gleicher Klangfarbe herrschende Wert näherungsweise messen, ohne den
zusammen. Sänger und Gesangslehrer Künstler durch Punktionen oder tief liegende Sonden zu
un­ter­scheiden traditionell diverse Register, belasten: Beim Konsonanten /p/ ist der Mund verschlossen,
deren Entstehung derzeit erforscht wird. die Stimmlippen hingegen sind geöffnet. Der fragliche
Stimmlippen: Bewegliche Falten im Kehlkopfinneren aus Druck entspricht daher dem im Mundraum und lässt sich
Muskeln und Bindegewebe, bedeckt von über einen Sensor bestimmen. In der Praxis singt der
einer Hautschicht. Proband eine Abfolge der Silbe /pa/ in eine Maske hinein,
die zudem den Volumenstrom misst. Der Vokal /a/ liefert

48 Spektrum SPEZIAL  Biologie Medizin Hirnforschung  3.20


ü
Kehlkopfeingang
Epiglottis
Zungenbein
Epiglottis

Zungenbein

Membrana
Taschenfalte thyrohyoidea

Schildknorpel

Stimmlippe
Schildknorpel

Glottis

Musculus vocalis oder


Stimmlippenmuskel
Ringknorpel
Ringknorpel

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT / EMDE-GRAFIK


subglottischer Raum

Luftröhre Luftröhre

den notwendigen Referenzwert, bei dem der Mund geöff- Näherung lässt sich der Vokaltrakt mit einer auf der Glottis-
net, der Stimmspalt hingegen weitgehend verschlossen ist, seite verschlossenen Röhre von durchschnittlich 17,5 Zenti-
was für den gleichen Druck in Mund und Maske sorgt. meter Länge vergleichen (siehe Grafik S. 52). Die sich darin
Je größer der Luftdruck ist, desto lauter wird der Ton. durch Reflexionen ausbildende stehende Welle hat dann
Für eine gewöhnliche Unterhaltung reichen Drücke von eine viermal so große Wellenlänge mit einer ersten Forman-
etwa fünf bis sieben Millibar aus. Bei lautem Gesang wie tenfrequenz (siehe Glossar links) von 500 Hertz. Durch
auf der Bühne misst man Werte bis zu 30 Millibar. Im solche Resonanzen entstehen beispielsweise Vokale wie /a/
Opernfach Heldentenor hat unsere Freiburger Arbeitsgrup- und /e/ oder der so genannte Schwa-Laut /   /, im Deutschen
pe schon 45 Millibar ermittelt, bei Musicalsängern sogar ein unbetonter Vokal wie das »ü« in »Mücke«. Fünf Reso-
knapp 65 Millibar. Zum Vergleich: Trompeter erreichen über nanzbereiche sind besonders wichtig: Die ersten beiden
150 Millibar Luftdruck. dieser Formanten bilden die Vokale, die anderen drei prä-
Dank ihrer Elastizität geben die Stimmlippen schließlich gen durch die Obertöne den Klangcharakter und verleihen
nach und öffnen kurzzeitig einen Glottis genannten Spalt. der Stimme Durchsetzungskraft. Man kann den Vokaltrakt
Diese Eigenschaft lässt sie auch wieder zurückfedern und also als Filter beschreiben. Im Bereich der Formanten
den Spalt schließen; zudem entsteht ein Unterdruck durch werden Teiltöne des an den Stimmlippen produzierten
die schnelle Strömung in der Engstelle (Bernoulli-Effekt). Klangs verstärkt, während Teiltöne zwischen den Forman-
Dieses Auf und Zu wiederholt sich periodisch und in ra- ten durch fehlende Resonanz abgeschwächt werden (siehe
scher Folge. Die schwingenden Stimmlippen erzeugen Grafik S. 52).
Töne beziehungsweise Klänge also nicht wie eine Gitarren- Übrigens lässt sich diese Funktion leicht im Experiment
saite, sondern indem sie den Luftstrom in Pulse von weni- nachvollziehen. Dazu benötigt man nur einen Entenlocker
gen Millisekunden Dauer unterteilen. aus einem Jagdfachgeschäft und einen passenden Kunst-
stoffschlauch. Die Tröte erzeugt einen Klang, der dem unse-
Grund- und Obertöne rer Stimmlippen physikalisch sehr ähnlich ist. Wird der
Dadurch werden Schallwellen in das Instrument »Stimm­ Schlauch aufgesteckt und auf die Länge von knapp 18 Zen-
apparat« geschickt, das den Kehlkopfeingang, Rachen timetern eingekürzt, verändert sich das Quäken zu vollerem
und Mundraum umfasst. Es bildet sich ein Klang, der aus Klang, der durch Eindrücken des »Stimmrohrs« verändert
einer Grundfrequenz und ganzzahligen Vielfachen davon werden kann.
besteht, den Obertönen. Jeder Teilton dieses akustischen Ein großer Teil der Stimmlippen ist übrigens sowohl an
Spektrums hat seine eigene Lautstärke, und die des lau­ ihren Seiten als auch in ihrem hinteren Bereich an der Ton-
testen bestimmt die des Gesamttons. ­erzeugung kaum beteiligt. Tatsächlich schwingt bei Frauen
Verschiedene Muskeln und insbesondere die Zunge ver- nur etwa ein Zentimeter, bei Männern sind es gut 1,8 Zen­
än­dern die Gestalt des Schallwegs und schwächen be­ timeter. Auf Grund dieser größeren Länge und höheren
ziehungsweise verstärken dadurch die Obertöne. In erster Masse klingt die männliche Sprechstimme tiefer; sie liegt

Spektrum SPEZIAL  Biologie Medizin Hirnforschung  3.20 49


ü
knapp oberhalb von 100 Hertz, Frauen sprechen eine Okta- und mentalen Gesundheit von Lehrern an öffentlichen
ve höher in einer Tonlage von etwa 200 Hertz. Das bedeutet Schulen durch. Erste Ergebnisse belegen die Wirksamkeit
allerdings, dass sich diese winzigen biologischen Ventile präventiver stimmtherapeutischer Maßnahmen wie Übun-
schon beim Sprechen um die 100- beziehungsweise 200- gen zur Vertiefung des Atems oder zur Entspannung der
mal pro Sekunde öffnen und schließen müssen. Der Ver- Stimme.
gleich mit dem Leistungssport ist wahrlich berechtigt. Stellt schon das Sprechen überraschend hohe Anforde-
Die Amplitude dieser Bewegungen beträgt zwar nur rungen, verblüffen die Grenzwerte aus dem musikalischen
etwa einen Millimeter. Wenn man jedoch stimmintensive Fach umso mehr: Das »hohe C« (c2) der Tenöre liegt bei
Berufe wie den des Lehrers betrachtet, summiert sich diese 523 Hertz, also etwa beim Fünffachen der mittleren Spre-
winzige Strecke pro Arbeitstag sogar auf einige Kilometer. cherstimmlage, und das erwähnte f3 der »Königin der
Es gibt kaum ein anderes Gewebe in unserem Körper, das Nacht« sogar bei 1397 Hertz, also dem knapp Siebenfachen
ein Leben lang höherem mechanischem Stress widerstehen der weib­lichen Sprechstimme. Lange galt es in der Stimm­
muss. Dass sie das können, verdanken die Stimmlippen physiolo­gie als schwer vorstellbar, dass die Stimmlippen zu
einem einzigartigen Aufbau: Ein nicht verhornendes Platten­ derart schnellen Schwingungen fähig sind. Vielmehr führte
epithel umhüllt Schichten unterschiedlich elastischen der pfeifenähnliche Klang zu der Vorstellung, Luftwirbel
Bindegewebes und Muskelfasern. brächten seinen Grundton hervor.
Unserer Arbeitsgruppe ist es Ende 2012 jedoch gelun-
Marathon für die Stimmlippen gen, mit einer Hochgeschwindigkeitskamera und einer
Der Schulalltag fordert dem Sprechapparat aber nicht nur endoskopisch über die Nase eingeführten Optik hierzu den
Durchhaltevermögen ab. Lehrer müssen auch eine hohe Gegenbeweis anzutreten. Mit einer Aufnahmerate von
Grundlautstärke erzeugen, um den Geräuschpegel einer 20 000 Bildern pro Sekunde zeigte sich, dass die Stimm­
Schulklasse zu übertönen. Tatsächlich sind Stimmprobleme lippen nicht nur vibrieren, sondern den Glottisspalt sogar
in diesem Berufsfeld ein Hauptgrund für häufige Fehlzeiten. vollständig schließen. Das vermochten sie sogar bis zur
Leider gehört ein entsprechendes Training nur in Ansätzen höchsten Frequenz, die unsere Probandin, eine professio-
zur pädagogischen Ausbildung. Wie wichtig es jedoch nelle Opernsängerin, trotz des sicher irritierenden Endos-
wäre, zeigten Studien der letzten Jahre, wonach Schüler kops im Experiment intonierte: Ihre Stimmlippen öffneten
dem Unterricht schlechter folgen können, wenn ein Lehrer und schlossen die Glottis 1568-mal pro Sekunde. Somit
bereits unter Stimmstörungen leidet, also zum Beispiel scheint die Bezeichnung »Pfeifregister« für diese Sopran-
heiser spricht. Unser Institut führte im Auftrag des Landes stimmlage aus physiologischer Sicht nicht glücklich ge-
Baden-Württemberg eine große Studie zur stimmlichen wählt.

WILLIAM HOGARTH: FARINELLI, CUZZONI UND SENESINO IN HÄNDELS FLAVIO, UM 1728 / PUBLIC DOMAIN
Bewunderte Kastraten
Häufig werden Countertenöre für die Aufführung alter
Musik eingesetzt, um den ursprünglichen Charakter
eines Stücks im Sinn einer historisch informierten Auf-
führungspraxis wiederzugeben. Sie nehmen dann den
Platz von Sängern ein, die bis heute ein Nimbus von
Tragik und Kunstfertigkeit umgibt: den Kastraten. Im
18. Jahrhundert wurden in Italien pro Jahr vermutlich
etwa 4000 Jungen vor Erreichen der Pubertät kastriert,
um den Stimmbruch zu verhindern. Zuverlässige Anga-
ben darüber, wie viele Kinder an der Operation oder
deren Folgen verstarben, gibt es nicht, da die Kastration
verboten war. Häufig waren es Kinder aus ärmlichen
Verhältnissen, denen – sofern sie ansprechende Stimmen Ihr ungewöhnlicher Körperbau machte Kastraten zum Ziel
hatten und den Eingriff bei guter Gesundheit überlebten– von Karikaturisten (links: Farinelli, rechts: Senesino).
eine lukrative Anstellung winkte.
Warum der Kastrat so hoch im Kurs stand, kann ein
Physio­loge erklären: Mangels Testosteron wuchsen die kann. Somit konnten Kastraten vermutlich sehr laut
Stimmlippen nicht zur vollen männlichen Länge, blieben singen und obendrein einen Ton lange halten. Zudem
bei etwa einem Zentimeter Länge und erzeugten weiter- war ihr Vokaltrakt länger als bei Knaben oder Frauen, wie
hin Frequenzen im Bereich von Alt oder Sopran. Gleich- man aus anatomischen Stu­dien des 19. Jahrhunderts
zeitig erreichten die Extremitäten, der Brustkorb und die weiß. Ihre Formantenfrequenzen sorgten also trotz hoher
Lungen hormonell bedingt erhebliche Länge und Größe, Tonlage vermutlich für eine dunkle, maskuline Gesangs-
was man auf zeitgenössischen Karikaturen erkennen stimme.

50 Spektrum SPEZIAL  Biologie Medizin Hirnforschung  3.20


ü
100

(Prozent der maximalen Öffnung)


glottale Welle
Mit dem Laryngoskop
lässt sich das Öffnen
und Schließen der

ENDOSKOP-AUFNAHMEN UND GRAFIK: MATTHIAS ECHTERNACH UND BERNHARD RICHTER


Glottis, also des Spalts
zwischen den Stimm-
lippen, sehr genau
untersuchen. Ein solcher
Schwingungszyklus, 0

auch als »glottaler Zeit Öffnung Schließung


Zyklus« bezeichnet,
erzeugt Luftpulse, Schlussphase Offenphase
die Schallwellen im
Vokaltrakt anregen. ein glottaler Zyklus

Der allgemeine Begriff Register stammt aus dem Orgel- Passaggio bezeichneten Übergang zwischen Modalstimme
bau und fasst Töne gleicher Klangfarbe zusammen. So gibt und Falsett stufenlos zu bewältigen, lässt sich ebenfalls mit
es bei der Kirchenorgel Pfeifen, deren Bauweise flötenarti- diesem Modell erklären: Training könnte sie in die Lage
ge Klänge ermöglicht, während andere eher an Streich­ versetzen, die entsprechende Muskelspannung sehr fein
instrumente erinnern. Auf den Gesang übertragen unter- abzustimmen, was unsere eigenen Untersuchungen an
scheiden Sänger und Gesangslehrer traditionell diverse professionellen Tenören bestätigen. Wissenschaftler wie
Register, denn bei Singstimmen verändert sich insbeson­ Ingo Titze vom National Center of Voice and Speech in Salt
dere mit ansteigender Frequenz der Klangcharakter. Lake City kommen aber auf Grund von Modellversuchen
In einer mittleren Lage beschreibt das Register »Brust- und physikalischen Simulationen zu dem Schluss, dass die
stimme«, häufig auch Modalregister genannt, einen vollen Unterschiede zwischen Registern weit komplexer sind: Die
Klang. Hinter der Bezeichnung steht subjektives Empfinden: vom Sänger eingestellten Resonanzen würden demnach
Vibrationen werden vor allem im Brustraum wahrgenom- auch zurückkoppeln und die Schwingungen der Stimmlip-
men. Demgegenüber galt früher das Falsett mit Frequenzen pen oder den von ihnen produzierten Luftimpuls verändern.
von 250 bis etwa 800 Hertz als eine Stimme, an deren
Klang­formung vor allem Nase und Nasennebenhöhlen Präzise Gesangstechnik: Jodeln
beteiligt seien – dort spüren die Sänger den Ton. Häufig Das Passaggio untrainierter Sänger erfolgt unkoordiniert,
wird die »­ falsche« Stimme – der Name leitet sich vom und die Stimme kippt regelrecht in das neue Register, bis
italienischen »falso« her – daher auch als Kopfstimme sie sich dort stabilisiert. Zur Kunstform erhebt diesen sonst
bezeichnet; die N ­ omenklatur ist hier aber nicht einheitlich. unerwünschten Effekt eine nicht nur im Alpenraum prak­
Die kleinen Resonanzräume der Nase schienen den im tizierte Gesangstechnik: das Jodeln. Wer kein Freund der
Vergleich zur Bruststimme dünnen Klang zu erklären. Heute Volksmusik ist, mag es kurios finden, dürfte aber über-
wissen wir jedoch, dass selbst im Falsett der gesamte rascht sein zu erfahren, dass ein durch Jodler verziertes
Vokaltrakt bei der Klangformung beteiligt ist und der Haupt- Lied hohe Ansprüche an den Sänger stellt. Denn die deut-
unterschied zwischen Modalregister und Falsett von den lich hörbaren Übergänge zwischen den beiden Registern
Stimmlippenschwingungen herrührt. erfolgen extrem schnell. Unsere eigenen Spektralanalysen
Viele Forscher halten eine erhöhte Längsspannung bei professionellen Jodlern aus der Schweiz zeigen, dass
des am äußeren Kehlkopf angreifenden Musculus cricothy- die Tonhöhen dabei hinsichtlich Intonation und Stabilität
roideus für den Hauptmechanismus, der dem Falsett zu sogar präziser als bei klassisch trainierten Stimmen ange-
Grunde liegt. Dieser Zug versteift die Stimmlippen, verrin- steuert werden. Zudem spielt offenbar die genaue Formung
gert somit den schwingenden Anteil und reduziert damit des Vokaltrakts eine wichtige Rolle. In besonderem Maß
auch die schwingende Masse. Das Ergebnis wären tatsäch- betrifft dies die Zunge, deren Gestalt wesentlich darüber
lich eine höhere Frequenz und ein an Obertönen ärmeres entscheidet, wie groß die Resonanzräume im Mund und
Spektrum. Dass es professionellen Sängern gelingt, den als Rachen sind. Laut Untersuchungen mit Kernspintomogra-

Spektrum SPEZIAL  Biologie Medizin Hirnforschung  3.20 51


ü
fen können Jodler diese Einstellungen deutlich genauer als Effekt eingesetzt wie etwa in der 1970 veröffentlichten
reproduzieren als Opernsänger. Ballade »Child in time« der Rockband Deep Purple. Sänger
Im Kunstgesang ist das Falsett heutzutage das Metier Ian Gillian begann sein Solo im Modalregister und schraub-
der so genannten Countertenöre, der männlichen Altstim- te die Stimme allmählich ins Falsett hoch. Am Ende kehrte
me. Indem diese beispielsweise die Stimmlippen stärker er ins Modalregister zurück, das er dann aber ebenfalls in
zusammenführen, können sie mehr Druck aufbauen, auch hohe Frequenzbereiche trieb.
wenn sie selten die Lautstärke von Tenören erreichen. In Er setzte dazu eine Technik ein, die häufig als »Belting«
Rock und Pop, wo mangelnde Lautstärke durch die Ver- bezeichnet wird: Erhöhen des Atemdrucks steigert nämlich
wendung von Mikrofon und Verstärker ausgeglichen wer- nicht nur die Laustärke, sondern auch die Grundfrequenz
den kann, ist das Falsett ebenfalls zu Hause. Meist wird es des gesungenen Tons. Pro Millibar lassen sich auf diese

MRT-AUFNAHMEN UND GRAFIK: MATTHIAS ECHTERNACH UND BERNHARD RICHTER


Vokal Vokal Vokal
/ /
    e
/a/ /i/

Vokaltrakt- Spektrum des


Vokale verändern die räumliche
übertragungsfunktion abgestrahlten Schalls
Konfiguration des Vokaltrakts –
etwa durch die Stellung der Zunge Formanten
oder des Kehlkopfes (siehe MRT-
F1 F5
Bilder), was die Formanten unter-
schiedlich gewichtet. Es ist sogar uniforme Röhre mit
17,5 Zentimeter Länge,
möglich, sie zu einem Cluster zu hinten geschlossen
überlagern (rote Pfeile).

Stimmquellspektrum,
welches an den Stimm-
Vokal
lippen gebildet wird
/ /
Amplitude

Vokal
/a/
0 Hertz Frequenz 5 Kilohertz

Vokal
/i/
Die Schwingungen der Stimm­
lippen erzeugen periodisch
abwechselnde Bereiche hohen
und niedrigen Luftdrucks im
40
Vokaltrakt. Schon in einer Clusterung
von F3 – F5 auf
Dezibel

einfachen Röhre werden durch Vokal /   /


For­manten Frequenzen des
ursprünglichen Spektrums – 30
verstärkt. 0 Hertz 5 Kilohertz 0 Hertz 5 Kilohertz

52 Spektrum SPEZIAL  Biologie Medizin Hirnforschung  3.20


ü
Weise etwa drei bis vier Hertz gewinnen. Umgekehrt muss wahr­neh­men – die Tenorstimme kann sich vom Orchester-
ein Sänger etwa bei der als Messa di Voce bezeichneten klang deutlich abheben.
Verzierungstechnik im Barockgesang, bei der ein lang Sängerinnen kennen ebenfalls einen Registerübergang
anhaltender Ton an- und abschwillt, einer ungewollten bei etwa 350 Hertz, was dem Ton f1 entspricht. Dieser Über-
Frequenzschwankung über die Stimmlippenmechanik gang gilt für Alt, Mezzosopran und Sopran gleichermaßen.
entgegensteuern. Er hat vermutlich ähnliche Gründe wie der Übergang zum
Die Technik des Beltings erfordert Untersuchungen Falsett bei Männern, nämlich eine Spannungsänderung
unserer Arbeitsgruppe an einer Musicalsängerin zufolge durch höhere Aktivität des die äußeren Stimmlippen span-
aber auch eine Umformung des Resonanzsystems: Die nenden Musculus cricothyroideus.
Lippen werden weit geöffnet, der Rachen verengt und der Viele Sängerinnen erfahren zudem einen zweiten, unge-
Kehlkopf um mehr als einen Zentimeter angehoben. Der fähr eine Oktave höher liegenden Registerübergang bei
Grund dürfte sein, dass auf diese Weise der erste Formant etwa 650 bis 800 Hertz. Die physiologischen Gründe dafür
zu höheren Frequenzen verschoben wird. Entsprechende sind noch nicht geklärt, doch ist hier wieder die Lautstärke-
Obertöne in dem von den Stimmlippen erzeugten Klang maximierung interessant. Neben einer Drucksteigerung
werden dann also verstärkt, und das Ergebnis wirkt insge- erreichen Trainierte in diesem Frequenzbereich nämlich
samt heller. Manche Ärzte halten das Belting für ungesund; Lautstärke auch durch »Formantentuning«: Die Sopranistin
in der heutigen Musicalpraxis wird es jedoch weltweit ver- singt ein /a/, dessen erster Formant normalerweise bei etwa
wendet und kann nach unserer Erfahrung bei guter Stimm- 750 Hertz die größte Energie liefert, und verschiebt diese
technik nicht als stimmschädigend angesehen werden. Formantenfrequenz durch Modifikationen im Vokaltrakt –
zum Beispiel durch Öffnen der Lippen oder durch Anheben
Hoch und laut des Kehlkopfs – dergestalt, dass sie stets knapp oberhalb
Zu Mozarts Zeiten war das Falsett sehr wahrscheinlich die des Grundtons platziert bleibt. Dieser wird nun durch die
wichtigste Technik für den Tenor, um in den hohen Lagen Resonanz verstärkt – um mehrere Dezibel.
zu singen. Damals waren die Bühnen allerdings deutlich Wie man allerdings das f3 der »Königin der Nacht« sogar
kleiner, die Orchester schwächer besetzt als heute. Die noch weit übertreffen kann, ist das Geheimnis einiger
Nachteile dieses Registers machten sich noch nicht be- weniger Ausnahmetalente. Die brasilianische Soul- und
merkbar: Der Druck unterhalb der Stimmlippen ist um Jazzsängerin Georgia Brown etwa erreicht – dokumentiert
mehrere Millibar geringer als im Modalregister, ein Falsett- durch Inter­netvideos – mindestens das zwei Oktaven höher
ton klingt also fast immer leiser. Als 1837 dem französi- liegende f5 mit 5588 Hertz. In diesen extrem hohen Lagen
schen Sänger und Gesangslehrer G ­ ilbert-Louis Duprez ähnelt der Klang der Stimme bereits dem elektronischer
(1806–1896) das hohe C von 523 Hertz in der »Bruststim- Instrumente wie dem Theremin.
me« gelang, setzte er damit neue Maßstäbe: Von da an Gleich welches Leistungskriterium man an die Stimme
sollten Tenöre auch in der Höhe laut singen. Niemand ver- anlegt, ob Tonhöhe, Lautstärke, Durchsetzungs- oder
mag genau zu sagen, wie Duprez einen sehr hohen Ton mit Durchhaltevermögen: All dies verlangt ein langfristiges und
enormer Lautstärke zu Wege brachte. Heutige Tenöre gezieltes Training. Tägliches Üben unter der Anleitung eines
schlagen dafür einen Weg ein, den unsere Arbeitsgruppe Lehrers und nach den individuellen körperlichen Möglich-
untersuchte. Offenbar konfigurieren sie im Passaggio den keiten ist entscheidend. Doch das Beste zum Schluss: Die
Vokaltrakt sehr stark um. So lassen sie beispielsweise auf richtige Anwendung der Stimme macht nicht nur Spaß,
dem Vokal /a/ den Kehlkopf ansteigen, weiten den Rachen sondern ist auch gesund. Gunter Kreutz, heute an der Carl
und öffnen den Mund sehr stark. Ersteres verkürzt die von Ossietzky Universität Oldenburg, hat Sängern und
Röhre »Vokaltrakt« und verschiebt damit die Formanten zu Zuhörern einer Chorprobe Blut entnommen und analysiert.
höheren Frequenzen, was den brillanten Klang guter Opern- Demnach verbessert Singen das Immunsystem und erhöht
tenöre mitunter erklärt. Andere verengen aber auch den sogar die Konzentra­tion bestimmter Endorphine: also von
Kehlkopf oberhalb der Stimmlippen, was nach Computersi- Glückshormonen, wie sie beim Ausdauersport ausgeschüt-
mulationen von Titze deren Kontaktfläche vergrößert und tet werden. 
dadurch höhere Frequenzen ohne Wechsel zum Falsett
ermöglicht.
QUELLEN
Diese Engstellung verbessert zudem die Durchsetzungs-
fähigkeit gegenüber einem Orchester: Die Formanten Richter, B.: Die Stimme. Henschel, 2013
verschieben sich so, dass sie sich in ihren Randbereichen Spahn, C. et al.: Das Blasinstrumentenspiel: Physiologische
überlagern und gegenseitig verstärken. Andere Sänger Vorgänge und Einblicke ins Körperinnere. DVD, Helbling, 2013
erreichen eine solche Clusterung durch Absenken des Sundberg, J.: Die Wissenschaft von der Singstimme. Wißner,
Kehlkopfs und Weitung des Rachens. Johan Sundberg von 2015
der Königlich Technischen Hochschule Stockholm bezeich-
Titze, I. R.: Faszination Stimme – Eine leichtverständliche
net das Ergebnis als Sängerformantencluster. Die größte Ein­­führung in die Grundlagen der Stimmbildung und die neues-
Ver­stärkung erfolgt bei etwa 3000 Hertz. Obertöne in ten Erkenntnisse. National Center for Voice and Speech, 2012
diesem Cluster werden um mehrere Dezibel verstärkt. In Titze, I. R., Abbott, K. V.: Vocology – the science and practice of
diesem Frequenz­bereich ist das menschliche Gehör beson- voice habilitation. National Center for Voice and Speech,
ders empfindlich und kann Lautstärke­unterschiede gut 2012

Spektrum SPEZIAL  Biologie Medizin Hirnforschung  3.20 53


ü
APHASIE
DIE FRAU,
DIE SCHLIESSLICH
SCHWIEG
Innerhalb weniger Jahre verlernte Frau W. zu sprechen,
obwohl sie die Bedeutung der Wörter durchaus noch kannte.
Was passierte in ihrem Gehirn?

Laurent Cohen ist Professor für Neuro­logie


am Hôpital de la Pitié-Salpêtrière in Paris.

 spektrum.de/artikel/1628792


Die 51 Jahre alte Apothekerin konsultierte mich wegen me sprach. Außerdem artikulierte sie die Laute, die so
Problemen mit ihrer Aussprache, die sich in den ver- genannten Phoneme, so undeutlich, dass sie für mich
gangenen zwei Jahren verschlechtert hätte. Sie arbei- manchmal schwer zu unterscheiden waren: Das sch ähnel-
tete noch in der Apotheke, zog es inzwischen allerdings vor, te eher einem s, und das t bewegte sich irgendwo zwischen
im Hinterzimmer zu bleiben, statt die Kunden zu beraten. t und d. Auch gerieten die Reihenfolge und Auswahl der
Davon abgesehen war Frau W.* bei bester Gesundheit. Phoneme bisweilen durcheinander. Auf meine Bitte hin, das
Während unserer Unterhaltung fiel mir tatsächlich auf, Wort »chasseur« (französisch für Jäger, Aussprache in etwa
dass die Französin langsam und mit sehr monotoner Stim- »Schassör«) auszusprechen, sagte sie Saschör, vertauschte
demnach s- und sch-Laut. Statt »mardi« (Dienstag) sagte
sie »mawerdi«, integrierte also die Silbe we, die darin gar
nichts zu suchen hatte. Dagegen konnte sie die Wörter
AUF EINEN BLICK ganz richtig schreiben. Als ich ihr ein Bild zeigte und sie
darum bat, dieses schriftlich zu beschreiben, fielen mir zwei
WENN DIE WORTE FEHLEN Sätze auf: »Waschbecken ist voll« und »Mann steht auf
Stuhl« – hier ließ sie die Artikel (der, die, das) weg. Anderer-
1 Probleme beim Sprechen treten nicht nur als Folge
eines Schlaganfalls auf, sondern können auch
auf schleichenden Abbauprozessen in der Hirnrinde
seits hatte Frau W. keine erkennbaren Probleme zu verste-
hen, was ich ihr erklärte.
beruhen. In den folgenden Jahren verstärkten sich ihre S ­ chwie-
rigkeiten. Schließlich musste sie vorzeitig in Rente gehen,

2 Je nachdem, welche Hirnregion davon betroffen ist, und drei Jahre nach unserem ersten Treffen sprach sie fast
äußern sich die primären progressiven Aphasien in völlig unverständlich. Woran aber litt sie? Grob gesagt unter
unterschiedlichen Problemen mit der Artikulation, dem einem Sprachproblem, einer Aphasie. Dieser Ausdruck ist
Satzbau sowie der Wortfindung und -bedeutung. an die altgriechische V ­ okabel »aphasía« angelehnt, was so
viel wie »Sprach­losigkeit« bedeutet. Der medizinische

3 Neben Sprachtherapie und Kommunikationshilfen


könnte eine elektrische Sti­mulationstechnik namens
tDCS zur Linderung beitragen.
Begriff Aphasie umfasst alle Störungen der Sprachproduk­
tion und des Sprachverständnisses mit hirnorganischer
Ursache. Bereits im 19. Jahrhundert lokalisierten Neurolo-
gen in der Hirnrinde Bereiche, in denen sich bei den Betrof-

54 Spektrum SPEZIAL  Biologie Medizin Hirnforschung  3.20 * Fallgeschichte anonymisiert


ü
MICHAELHEIM / STOCK.ADOBE.COM

Spektrum SPEZIAL  Biologie Medizin Hirnforschung  3.20 55


ü
Die Varianten der Sprachlosigkeit
Sprachstörungen können die auffälligste Folge bestimmter Abbauvorgänge in der Hirnrinde
sein, die fortschreiten. Je nach Ort der Schädigung und Symptombild unterscheiden Mediziner
drei Formen von primären progredienten Aphasien.

nicht flüssige Aphasie


Betroffene artikulieren schlecht
und sprechen abgehackt in
einfachen Sätzen oder sogar
im Telegrammstil.
Scheitellappen logopenische Aphasie
Patienten haben Probleme,
Worte zu finden. Sie
Stirnlappen vertauschen sprachliche
Laute und neigen
dazu, gehörte Sätze zu
wiederholen.

Schläfenlappen

semantische Aphasie
Neben Wortfindungsstörungen bestehen

YOUSUN KOH, NACH CERVEAU&PSYCHO SEPTEMBER 2017


auch Schwierigkeiten, den Wortsinn zu
verstehen. Satzbau und Artikulation sind
jedoch nicht betroffen.

fenen typischerweise eine Schädigung findet. So entdeck- Patienten in drei Kategorien einzuteilen. Bei jeder von ihnen
ten sie wichtige Sprachregionen wie das Broca- und das ist eine bestimmte Kortexregion vom Abbau betroffen
Wernicke-Areal. (siehe »Die Varianten der Sprachlosigkeit«, oben).
Die häufigste Ursache für eine Aphasie ist ein Schlagan- Frau W. litt an einer nicht flüssigen PPA. Zu sprechen ist
fall. Dann tritt das Problem allerdings urplötzlich auf – ganz für Patienten wie sie offensichtlich anstrengend. Sie bilden
anders als bei Frau W., deren Schwierigkeiten sich eher kurze Sätze, haben Schwierigkeiten, Wörter zu finden oder
schleichend verstärkten. Hier handelte es sich um eine Phoneme richtig zu artikulieren. Mit der Zeit entwickeln sie
neurodegenerative Erkrankung, genauer gesagt um eine Probleme mit der Grammatik und äußern sich irgendwann
primäre progrediente Aphasie, kurz: PPA. Das bedeutet, nur noch in einfachen S ­ ätzen oder gar im Telegrammstil.
dass die Störung auf Grund eines Gewebeabbaus fort- Zudem fällt es ihnen zunehmend schwer, komplexe Satz-
schreitend (progredient) ist, aber über etliche Jahre das strukturen zu ver­stehen. Bei diesen Menschen ist der
vorherrschende (primäre) und oft auch einzige Symptom untere linke Stirnlappen einschließlich des berühmten
bleibt. Insofern unterscheiden sich PPAs von Aphasien im Broca-Areals in Mitleidenschaft gezogen. Letzteres ist nach
Rahmen der Alzheimer­demenz, die sich in der ersten Krank- Paul Broca (1824–1880) benannt, einem französischen Arzt,
heitsphase üblicherweise vor allem in Gedächtnisausfällen der die Bedeutung dieser Hirnregion für die Sprache bereits
manifestiert. in den 1860er Jahren erkannte. Tatsächlich ist es 150 Jahre
später immer noch sehr schwierig, die genaue Rolle des
Ein junges Forschungsgebiet Areals anzugeben. Brocas minuziöse mikroskopische
Insgesamt handelt es sich bei den primären pro­gredienten Analyse zeigte, dass es mehr als ein Dutzend voneinander
Aphasien um ein noch relativ junges Forschungsgebiet. Die abgrenzbare Bereiche umfasst, die alle mit diversen ent-
frühesten Fälle wurden zwar schon Ende des 19. Jahrhun- fernten Hirnregionen verbunden sind. Dies erklärt die
derts beschrieben, aber erst in den 1980er Jahren unter- Vielfalt seiner Funktionen bei Artikulation, Wortwahl und
suchten Mediziner diese spezielle Erkrankung genauer. Vor Satzbau. Im Lauf der Jahre breitet sich bei der nicht flüssi-
einigen Jahren begann man sich darauf zu einigen, die gen PPA der Verfall über die Broca-Region hinaus aus.

56 Spektrum SPEZIAL  Biologie Medizin Hirnforschung  3.20


ü
Weiter vorne im Frontallappen beeinträchtigt er dann die logopenische Aphasie bezeichnet. Die Patienten haben
exekutiven Funktionen, die das Entscheiden und Planen von Schwierigkeiten, Wörter zu finden und zu bilden. Zudem
Handlungen betreffen. er­setzen sie Phoneme durch andere. Wortverständnis,
Ein Stückchen weiter unten im Gehirn kommt man vom Grammatik und Sprechmotorik sind dagegen nicht
Frontallappen zum linken Schläfenlappen und damit zu ­beeinträchtigt. Da sich die Symptome mit denen der beiden
einer zweiten Art primärer progredienter Aphasie: Die vorherigen Formen überschneiden, ist die Diagnose biswei-
semantische PPA offenbart sich vor allem in Schwierigkei- len nicht sicher zu stellen. Zudem gehen auch hier die
ten mit der Wortfindung und -bedeutung. Die Patienten Probleme über das Sprachliche hinaus, was sich aber von
sprechen zwar fließend, artikulieren klar und grammatika- Patient zu Patient sehr unterschiedlich äußern kann. Tat-
lisch korrekt. Damit täuschen sie in e
­ inem oberflächlichen sächlich lässt sich mindestens ein Fünftel aller PPA-Patien-
Gespräch oft über die Störung hinweg. Aber sie scheitern, ten nicht klar einer der drei K
­ ategorien zuordnen.
sobald sie einen präzisen Begriff finden müssen, um etwas
exakt zu benennen. Dann verwenden sie Ausdrücke wie Alzheimertypische Anomalien
»Dings« oder »Sache« und versuchen zu umschreiben, was Um etwas über die pathologischen Vorgänge zu erfahren,
sie meinen. untersuchten Forscher das Gehirn verstorbener Patienten
Patienten mit semantischer PPA fällt es ebenfalls schwer, mikroskopisch. In fast der Hälfte der Fälle fan­den sich
die Bedeutung eines Wortes zu verstehen, das sie hören, Anomalien, die für die Alzheimererkrankung typisch sind.
wie folgende Antwort eines Patienten illustriert: »Mögen Dennoch ist bei den PPAs über längere Zeit das Gedächtnis
Sie Trauben?« »Trauben, Trauben, was ist denn das? Trau- kaum betroffen, und außerdem treten die Schädigungen vor
ben, das sagt mir gar nichts.« Die Symptome resultieren allem in der linken Hemisphäre auf, wohingegen sich bei der
zweifellos aus zwei unterschiedlichen Mechanismen. Alzheimerdemenz die Veränderungen normalerweise mehr
Zunächst treten nämlich nur gehäuft Schwierigkeiten dabei oder weniger symmetrisch auf beiden Seiten finden. Nicht
auf, eine Vokabel mit ihrer Bedeutung in Verbindung zu zuletzt beginnt Letztere meist erst nach dem 65. Lebensjahr,
bringen, so wie wenn einem das Wort auf der Zunge liegt. während sich PPAs häufig schon früher zeigen. Am ehesten
Nehmen Sie an, Ihnen fällt der Begriff »Sextant« nicht ein. lässt sich die logopenische PPA als eine spezielle Form von
Sie kennen das Messinstrument zwar, können dieses Wis- Alzheimer betrachten, die anderen Varianten scheinen
sen nur im Moment nicht mit einer Reihenfolge der Klänge dagegen auf abweichenden genetischen, molekularen und
oder Buchstaben verbinden, die das Wort Sextant bilden. zellulären Mechanismen zu beruhen.
Wie bei den meisten neurodegenerativen Krankheiten
sind die Möglichkeiten der Behandlung beschränkt. Im
»Können Sie mir Allgemeinen verschreiben Ärzte Sprachtherapie, Kommuni-
kationshilfen (spezielle Bilderbücher) und eventuell Medika-
sagen, wie alt Sie sind?« mente gegen die Alzheimerdemenz. Und die in einigen

»Wie alt …? Sie meinen … Fällen auftretenden Depressionen werden ebenfalls behan-
delt. Manchmal können Patienten an therapeutischen
Was bedeutet ›alt‹?« Studien teilnehmen. In diesem Rahmen haben bereits
verschiedene Forschergruppen, darunter 2016 ein Team um
Marc Teichmann vom Hôpital de la Pitié-Salpêtrière, die
Mit der Zeit aber kann sich die Schädigung ins Zentrum Wirkung einer transkraniellen Stimulationstechnik namens
des linken Schläfenlappens und schließlich nach rechts aus- tDCS getestet. Dabei wird ein geringer elektrischer Strom
breiten. Dann löst sich die Bedeutung der Wörter selbst auf, am Schädel über den betroffenen Hirnregionen angelegt.
wie dieser Dialog zeigt: »Können Sie mir sagen, wie alt Sie Die Methode ist durchaus viel versprechend. Einfach und
sind?« »Wie alt …? Sie meinen … Was bedeutet ›alt‹?« »Was schmerzlos anzuwenden, führte sie in etlichen Untersu-
können Sie auf diesem Bild sehen?« (Es war ein Hund zu chungen zu messbaren Verbesserungen, etwa was Aus-
erkennen.) »Ein Tier.« »Wissen Sie, welche Art von Tier das sprache, Wortfindung und -verständnis betraf. In einer 2018
ist?« »Es ist ein Tier, das … nein.« »Und auf diesem Bild?« veröffentlichten Studie von Medizinern des Johns Hopkins
(eine Taube) »Ein Tier.« »Können Sie mir sagen, wie sich Hospital in Baltimore ließen sich sogar noch zwei Monate
dieses Tier fortbewegt?« »Nein … läuft es?« »Und das hier?« nach der Behandlung Erfolge nachweisen.
(ein Frosch) »Ein Dings … ich weiß nicht.«
Die Patienten bilden immer allgemeinere Kategorien. QUELLEN
Zuerst werden alle Vierbeiner etwa zu Hunden und alle
Montembeault, M. et al.: Clinical, anatomical, and pathological
Vogelarten zu Vögeln, dann verschwinden die Grenzen features in the three variants of primary progressive aphasia: a
noch mehr, und alle Tiere fallen in eine einzige Gruppe (»Es review. Frontiers in Neurology 9, 2018
ist ein Tier«). Und auch diese vermischt sich schließlich mit Teichmann, M. et al.: Direct current stimulation over the
den unbelebten Objekten zu einem chaotischen Mix aus anterior temporal areas boosts semantic processing in primary
Dingen und Sachen. progressive aphasia. Annals of Neurology 80, 2016
Bei der dritten Aphasie-Variante überwiegt der Substanz- Tsapkini, K. et al.: Electrical brain stimulation in different
abbau in der linken Hirnhälfte in einem Bereich, der teils variants of primary progressive aphasia: a randomized clinical
im Schläfen- und teils im Scheitellappen liegt. Sie wird als trial. Alzheimer’s & Dementia (New York, N. Y.) 4, 2018

Spektrum SPEZIAL  Biologie Medizin Hirnforschung  3.20 57


ü
ALEXIE
DER MANN, DER NICHT
MEHR LESEN KONNTE
Von einem Tag auf den anderen war Oscar C. unfähig, auch nur
ein Wort zu lesen. Seine Sehkraft schien aber nicht b
­ eeinträchtigt.

Laurent Cohen ist Professor für Neuro­logie


am Hôpital de la Pitié-Salpêtrière in Paris.

 spektrum.de/artikel/1576146

Ein Patient mit einer »reinen Alexie«


kann Texte höchstens dann noch lesen,
wenn er mühsam jeden Buchstaben
einzeln entziffert.

ZINKEVYCH / GETTY IMAGES / ISTOCK (SYMBOLBILD MIT FOTOMODELL)

58 Spektrum SPEZIAL  Biologie Medizin Hirnforschung  3.20


ü

Im Oktober 1887 verspürte der pensionierte Tuchhänd- schilderte auch das in seinem Bericht: »Patient C. verbringt
ler Oscar C. plötzlich eine Taubheit in seiner rechten seine Tage mit langen Spazier­gängen mit seiner Frau. Er
Körperhälfte. Er war immer gesund gewesen und läuft ohne Probleme und geht täglich die Strecke vom
machte sich daher anfangs keine großen Sorgen. Einige Boulevard Montmartre bis zum Arc de Triomphe und wie-
Tage später trat aber ein weiteres Problem auf. Jules Jo- der zurück. Er interessiert sich für das, was sich in seinem
seph Déjerine (1849–1917), der Neurologe, der Oscars Umfeld abspielt. Er bleibt oft vor Läden stehen und sieht
Geschichte dokumentierte, beschrieb es so: »Dem Kranken sich die ausgestellten Bilder der Maler an. Aber die Anzei-
fiel schlagartig auf, dass er kein einziges Wort mehr lesen gen- und Werbetafeln bleiben für ihn stumm.«
konnte. Und das, obwohl es ihm nicht schwerfiel zu schrei­ Vier Jahre später hatte Oscar noch immer keine nen-
ben, zu sprechen sowie Objekte und Personen in seinem nenswerten Fortschritte beim Lesen gemacht. Er bekam
Umfeld wahrzunehmen.« Abgesehen von der plötzlichen dazu auch keine weitere Chance mehr: Am Abend des
Leseschwäche waren seine mentalen und physischen 5. Januar 1892 klagte er beim Kartenspielen über Kribbeln
Funktionen vollkommen intakt. Zwei Wochen nach Einset- und Taubheit im rechten Bein und Arm. Das Sprechen fiel
zen der Symptome untersuchte E ­ dmund Landolt (1846– ihm plötzlich schwer. Halbseitig gelähmt starb Oscar zehn
1926), ein damals bekannter Augenarzt, den Patienten. Als Tage später an den Folgen eines zweiten Schlaganfalls.
er Oscar Buchstaben zeigte, war dieser nicht fähig, sie zu
benennen. Ein A verglich er mit einer Staffelei, ein Z mit Eine verdächtige Narbe
einer Schlange und ein P mit einer Schlaufe. Die Augen Déjerine entnahm das Gehirn des toten Patienten und unter-
konnten hier nicht das Problem sein, bestätigte Landolt. Er suchte es zur Klärung des mysteriösen Leidens mit den prä-
diagnostizierte eine »verbale Blindheit«, deren plötzliches zisesten damals verfügbaren anatomischen Methoden. Auf
Auftreten auf einen Schlaganfall als Ursache hinwies. den von ihm angefertigten Zeichnungen erkennt man eine
Heute würden wir Oscars Erkrankung als »reine Alexie« schwarz eingefärbte Region am hinteren Ende der linken
bezeichnen. Die Störung, die oft durch einen Schlaganfall Hemisphäre, die im Bild (siehe S. 61 oben) rechts erscheint,
ausgelöst wird, beeinträchtigt einzig die Lesefähigkeit, weil das Gehirn hier von unten betrachtet wird. Dort befand
während andere sprachliche Fertigkeiten erhalten bleiben. sich eine »Narbe« in Oscars Gehirn, genau im Überlap-
Auch Oscar sprach weiterhin flüssig und sinnvoll, er ver- pungsbereich von linkem Schläfen- und Hinterhauptslap-
stand Dialoge und konnte sogar noch schreiben – schaffte pen. Déje­rine, der möglicherweise beste Neuro­anatom
es aber nicht mehr, das gerade Geschriebene auch zu lesen. seiner Zeit, schnitt das entnommene Gehirn in dünne
Mühelos erkannte er alle Formen und Objekte, solange es Scheiben und beschrieb die Läsionen, die er entdeckte,
sich nicht um Buchstaben und Wörter handelte. Zudem sehr detailliert. Am Ende erklärte er sich Oscars Erkrankung
zeigte sich seine Alexie nur über den Sehsinn. Sein Gehör durch eine Störung der Kommunikation zweier Hirnregio-
und sein Tastsinn wiesen keine Einschränkungen auf. Das nen: der Sehrinde, die sich ganz hinten am Gehirn befindet,
ermöglichte ihm eine kuriose Ausweichlösung, bemerkte und einer Region an der Seite der linken Hemisphäre, die
Déjerine: »Indem er sich mit einem Trick behilft, kann er damals »geknickte Windung« genannt wurde. Déjerine
Buchstaben und selbst Wörter lesen. Dabei zeichnet er mit glaubte, sie enthielte unser Wissen von der Form der Buch-
der Hand ihre Umrisse nach – und schafft es so, die Zei- staben. Als Folge der Läsion von 1887 sei die Verbindung
chen wiederzuerkennen.« zwischen diesen beiden Regionen unterbrochen worden.
Die Ärzte konnten Oscar nicht helfen, also nahm er sein Folglich habe Oscar die Buchstaben also noch sehen kön-
altes Leben wieder auf – nur seinem liebsten Zeitvertreib, nen, denn seine Sehrinde war mehr oder weniger intakt
dem Lesen, konnte er nicht mehr nach­gehen. Déjerine geblieben. Allerdings erkenne er sie nicht wieder, weil die

AUF EINEN BLICK


BEDEUTUNGSLOSER BUCHSTABENSALAT

1 Vor mehr als 140 Jahren erleidet ein Mann einen Schlaganfall, in dessen Folge er nicht mehr lesen
kann – obwohl er noch hervorragend sieht.

2 Sein Arzt Jules Joseph Dé­jerine erkennt in der Störung eine »reine Alexie«. Er publiziert eine detaillierte
Beschreibung der Krankheitssymptome und postuliert mögliche Ursachen.

3 Der Fallbericht stößt Hunderte von weiteren Studien an. Sie decken nach und nach auf, wie das
menschliche Gehirn visuelle Informationen verarbeitet.

Spektrum SPEZIAL  Biologie Medizin Hirnforschung  3.20 59


ü
Das Lesen: Analyse der
Wortbedeutung

Eine Teamarbeit Aussprache


Betrachten wir einen Text, werden die
einzelnen Buchstaben zuerst auf der Retina
abgebildet und dann in der Sehrinde (blau)
im hinteren Teil des Gehirns verarbeitet.
Von dort gelangen die Informationen in eine Sehen

Region, die auf das Erkennen von Buch-


staben spezialisiert ist (rot). Ist ihre Bedeutung
erfasst, werden die Informationen in Regio-
nen des Sprachzentrums gesandt. Alles
was wir über die Wörter wissen, ist hier
gespeichert. Das beinhaltet ihren Sinn (grün),
aber auch die Aussprache einer beliebigen
Buchstabenkombination (gelb) – egal ob es Erkennen von
sich um ein bekanntes Wort handelt oder um Buchstaben
eines, das zum ersten Mal gelesen wird. Bei
Alexiepatienten wie Oscar C. verhindern
Schäden im Erkennungszentrum dessen
Arbeit oder die Weiterleitung von Signalen

HEIN NOUWENS / STOCK.ADOBE.COM;


ins restliche Netzwerk. Die von Déjerine

BEARBEITUNG: CERVEAU&PSYCHO
verdächtigte »geknickte Windung« (Stern)
ist also nicht die zentrale Ursache für das
Leiden. Ihre Bedeutung für das Lesen liegt
weiterhin im Dunkeln.

Information nicht in die geknickte Windung gelangte, in der sucht. Heute wissen wir einiges mehr über den visuellen
nach Déjerines Vorstellung die Erinnerung an die Form der Kortex und die Gehirnprozesse des Sehens, als es Déjerine
Buchstaben gespeichert war. Da aber das Wissen erhalten am Ende des 19. Jahrhunderts tat. Zusammengefasst pas-
geblieben war, könne Oscar weiterhin schreiben oder mit- siert Folgendes: Die Netzhaut registriert visuelle Reize und
tels Ertasten lesen. Sein letztlich tödlicher zweiter Schlag- leitet sie an die Sehrinde weiter. Dabei wird die Information
anfall von 1892 zerstörte zusätzlich die geknickte Windung. sortiert und an dutzende Regionen im hinteren Teil des
Das, so schrieb Déjerine, vernichtete nun auch Oscars Gehirns geschickt. Jeder dieser Bereiche vermittelt einen
Erinnerung an die Form und Bedeutung der Buchstaben. speziellen Aspekt des Sehens. Farbe, Umrisse, Positionie-
In den 125 Jahren, die vergangen sind, seit Déjerine rung und Bewegung von O ­ bjekten analysiert das Gehirn
seine Beobachtungen veröffentlicht hat, haben hunderte getrennt voneinander und fügt dann alle Informationen zu
wissenschaftliche Studien die Alexie noch genauer unter- einem Gesamtbild zusammen. Einige Regionen sind darauf

Fürs Lesen gemacht?


Es erscheint ein wenig seltsam, dass in unserem Gehirn lung, wenn die Kinder immer wieder Buchstaben sehen.
eine Region existiert, die auf das Erkennen von Buch­ Me­di­zi­nische Bildgebungsverfahren an Schülern zeig-
staben spezialisiert ist. Denn es handelt sich beim Lesen ten, dass die visuelle Region vor dem Lesenlernen
und Schreiben um recht neue Erfindungen, die sich tatsächlich noch keinerlei Präferenz für Buchstaben
durch evolutionäre Vorgänge allein nicht erklären las- gegenüber anderen Formen aufweist. Diese entwickelt
sen. Babys kommen deshalb auch nicht mit einer ferti- sich erst über mehrere Jahre und mit viel Leseübung.
gen Buchstabenerkennungsmaschinerie zur Welt. Die Der Prozess erlaubt es uns Menschen später, Wörter
Spezialisierung entsteht vielmehr im Lauf der Entwick- ohne Mühe in Sekundenbruchteilen wiederzuerkennen.

60 Spektrum SPEZIAL  Biologie Medizin Hirnforschung  3.20


ü
Spektrum der Wissenschaft
Chefredakteur: Dr. Daniel Lingenhöhl (v.i.S.d.P.)
Redaktionsleiter: Dr. Hartwig Hanser

DÉJÉRINE, J.J.: CONTRIBUTION A L‘ÉTUDE ANATOMO-PATHOLOGIQUE ET CLINIQUE DES DIFFÉRENTES VARIÉTÉS DE


Redaktion: Mike Beckers (stellvertr. Redaktionsleiter), Manon Bischoff, Robert Gast,
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Das Gehirn des Patienten Oscar C. wies eine
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Narbe auf (schwarz gefärbter Bereich) – die gesellschaft mbH, c/o ZENIT Pressevertrieb GmbH, Postfach 81 06 80, 70523
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pens verhindert. Aus diesem Grund sei Oscar kosten berechnet. Alle Preise verstehen sich inkl. Umsatzsteuer. Zahlung sofort
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Farben- und Gesichtsblindheit bis zur reinen Alexie. Letztere Artikelnachweise:


Ende der Exklusivität SdW 5/2014 · Ein neues Bild der Sprache SdW 3/2017 ·
entsteht wie die von Oscar dann, wenn das Buchstabener-
Wie die Sprache das Denken formt SdW 4/2012 · Das Rätsel der großen Sprach­
kennungsareal zerstört oder seine Kommunikation mit dem familien SdW 8/2014 · Der feine Unterschied zwischen Mensch und Tier
restlichen Gehirn unterbrochen wird. Déjerines Interpreta­ Gehirn&Geist 7/2017 · Sprache sucht neues Zuhause! Gehirn&Geist 11/2019 ·
Neurobiologie des Gesprächs Gehirn&Geist 5/2014 · Leistungssport Gesang SdW
tion können wir also heute korrigieren: Das Wissen um die 4/2014 · Die Frau, die schließlich schwieg Gehirn&Geist 5/2019 · Der Mann, der
Form der Buchstaben sitzt nicht, wie er annahm, in der nicht mehr lesen konnte Gehirn&Geist 9/2018 · Über Nacht weise Gehirn&Geist
geknickten Windung, sondern in einem spe­zialisierten Teil 10/2019 · Sprachbegabte Maschinen Gehirn&Geist 3/2020 · Die perfekte künstliche
Stimme SdW 9/2017· Automatische Vorurteile SdW 7/2017
der Sehrinde. 
Für unaufgefordert eingesandte Manuskripte und Bücher übernimmt die Redaktion
keine Haftung; sie behält sich vor, Leserbriefe zu kürzen.
Auslassungen in Zitaten werden generell nicht kenntlich gemacht.

ISSN 2193-4452 / ISBN 978-3-95892-429-1


LITER ATURTIPP

Dehaene, S., Cohen, L.: The unique role of the visual word form SCIENTIFIC AMERICAN
area in reading. Trends in Cognitive Sciences 15, 2011 1 New York Plaza, Suite 4500, New York, NY 10004-1562,
Editor in Chief: Laura Helmuth, President: Dean Sanderson,
Resümiert moderne Erkenntnisse zum »visuellen Wortformareal« Executive Vice President: Michael Florek

Spektrum SPEZIAL  Biologie Medizin Hirnforschung  3.20 61


ü
SPRACHPRODUKTION
ÜBER NACHT WEISE
Nach einem Schlaganfall hält der Besitzer eines kleinen
Bistros plötzlich philosophische Vorträge im Krankenzim-
mer. Hat eine Veränderung in seinem Gehirn die Tore zu
tieferen Erkenntnissen geöffnet?

Patrick Verstichel ist Neurologe am


Centre Hospitalier Intercommunal de Créteil bei Paris.

 spektrum.de/artikel/1667082


Er stand da, inmitten seiner Gäste, als er plötzlich –
bums – zusammenbrach und zu Boden fiel.« Gesten-
reich schildert die Inhaberin eines kleinen Bistros im
Randbezirk von Paris den Feuerwehrleuten das Unglück,
das ihrem Ehemann Maxime zugestoßen ist. Die Einsatz-
kräfte bringen den Patienten in die Notaufnahme des
nächsten Krankenhauses. Bei seiner Ankunft dort ist er wie
weggetreten. Fragen, die man ihm stellt, kann er nicht
beantworten, und auf Stimulation reagiert er mit heftigen,
hastigen und drohenden Bewegungen.
In den kommenden Tagen wird seine Unruhe immer
stärker, während er nach und nach das Bewusstsein
wieder­erlangt: Verwirrt redet er unzusammenhängendes
Zeug, versucht, aus dem Krankenhaus zu fliehen, zerstört
mutwillig Gegenstände und richtet Drohgebärden gegen
das Personal. Medizinische Tests sind nur schwer mit
ihm durchzuführen, da er sich nicht besonders kooperativ
verhält. Bei Menschen mit einer sub-
Nach drei Tagen ist Maxime schließlich wieder gänzlich kortikalen Aphasie sind jene
wach – und zur Verwunderung aller plötzlich ein völlig Systeme im Gehirn geschädigt,
anderer Mensch. Als die Krankenschwestern nach ihm die Wörter und Sätze vor dem
sehen, finden sie ihn sitzend auf seinem Bett auf der Inten- Aussprechen auf ihre Richtigkeit
sivstation vor, während er vor seinen Zimmergenossen prüfen. Das lässt die Betroffenen
kurze, esoterisch und philosophisch anmutende Reden hält. bisweilen poetisch klingen.
SQUAREDPIXELS / GETTY IMAGES / ISTOCK (SYMBOLBILD MIT FOTOMODELL)

62 Spektrum SPEZIAL  Biologie Medizin Hirnforschung  3.20


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SQUAREDPIXELS / GETTY IMAGES / ISTOCK (SYMBOLBILD MIT FOTOMODELL)

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Spektrum SPEZIAL  Biologie Medizin Hirnforschung  3.20
63
Die heitere Sicherheit, mit der er seine Thesen vorträgt, und
sein weises Auftreten verleihen ihm im Krankenzimmer eine
starke Präsenz. So legt sich etwa bei der Frage »Was ist Aphasie
Gott?« ein kleines Lächeln auf seine Lippen, das durch die
leichte Lähmung seines Gesichts noch ein wenig prägnan- Unter einer Aphasie verstehen Mediziner eine erwor-
ter wirkt. »Gott ist in freien Menschen!«, antwortet er und bene Sprachstörung, die infolge einer Hirnschädigung
bringt damit seine Zuhörer zum Nachdenken. Dabei war auftritt. Die Ursache dafür kann zum Beispiel ein
Maxime seiner Frau zufolge früher oft aufbrausend und Schlaganfall sein, aber auch ein Schädel-Hirn-Trauma
mochte weder Literatur noch Philosophie, Religion oder oder ein Tumor.
Mystizismus!
Da sich ihr Patient nun nicht mehr gegen eine ausführli-
che Untersuchung sträubt, nutzen die Ärzte die Gelegen-
heit, um die Ursache für sein seltsames Verhalten zu er- Hund in den Sinn, gefolgt von einer Kuh, bald wird die
gründen. Sie nehmen Maximes Gehirn mittels Magnetreso- Aufzählung jedoch immer zusammenhangsloser: »das
nanztomografie unter die Lupe und stoßen auf einen Infarkt Schwein, die Wurst, der Innenhof eines Bauernhofs, der
im vorderen linken Thalamus: Die Arterie, die diesen Be- Wald, der Weg …« An dieser Stelle weiß er schließlich nicht
reich des Gehirns versorgt, ist verstopft, wodurch zahlrei- mehr weiter und kann sich nicht mehr erinnern, was die
che Nervenzellen zu Grunde gegangen sind. ursprüngliche Aufgabe war.
In Maximes Fall ist eine kleine Schädigung im Gehirn für
Ausgeschmücktes Märchen die Sprachstörung verantwortlich, die seinen Aussagen
Um Maximes intellektuellen Fähigkeiten auf den Zahn zu einen albernen, gleichzeitig jedoch auch hochgestochenen
fühlen, führen die Ärzte eine Reihe von Tests mit ihm und beinahe poetischen Ton verleiht. Forscher beschrieben
durch – mit ernüchternden Ergebnissen. So stellen sie etwa dieses ungewöhnliche Krankheits­bild in den 1970er Jahren
fest, dass der Patient, vor die Aufgabe gestellt, Bilder zu zunächst als »dissidente Aphasie«, um es von den klassi-
benennen, einfach neue Wörter erfindet: Den Mond be- schen Aphasien abzugrenzen, die durch Schädigungen im
zeichnet er als »Neptunus«, ein Känguru als »Hüpffresser«, Broca- oder Wernicke-Areal entstehen (siehe »Aphasie«,
eine Leiter als »Hochaufsteller«. Auch seine Sätze schmückt oben). Diese beiden Hirnregionen hatten Wissenschaftler
Maxime mit solch merkwürdigen Begriffen aus. bereits früh als Sprachzentren im Gehirn identifiziert. Später
Die Ärzte bemerken, dass er beim Sprechen schnell den nutzten Mediziner auch den Begriff der »thalamischen
Faden verliert. Als sie ihn bitten, das Märchen von Rotkäpp- Aphasie«. Da ähnliche Probleme jedoch ebenfalls nach
chen zu erzählen, beginnt er ohne zu zögern, doch als die Läsionen in anderen tiefer liegenden Gebieten wie etwa
Protagonistin zum ersten Mal auf den Wolf trifft, treten dem Striatum entstehen können, das sich aus Nucleus
plötzlich die drei kleinen Schweinchen auf. Bald darauf hat caudatus und dem Putamen zusammensetzt, spricht man
Maxime vergessen, welche Geschichte er eigentlich erzäh- heute eher von einer »subkortikalen Aphasie«.
len sollte. Im Rahmen eines anderen Tests muss er so viele Die Störung verdeutlicht, wie viele verschiedene Hirnre-
Wörter wie möglich nennen, die zur gleichen Kategorie, gionen tatsächlich an der Sprachproduktion beteiligt sind.
etwa »Tiere«, gehören. Dabei kommt ihm als Erstes ein Thalamus, Nucleus caudatus und Putamen sind im hinteren
Teil des Gehirns mit dem Wernicke-Zentrum verbunden und
im vorderen Bereich mit dem Broca-Areal sowie jenen
motorischen Regionen, die das Aussprechen von Wörtern
koordinieren. Darüber hinaus leiten sie zahlreiche Informati-
AUF EINEN BLICK onen an Areale im Stirnlappen weiter.
VOM CAFÉBESITZER ZUM PHILOSOPHEN Normalerweise prüfen die subkortikalen Hirnbereiche
schon vor dem Aussprechen mehrere Aspekte einer Aus­

1 Kurz nach einem Schlaganfall ist der Betreiber eines


Pariser Bistros nicht mehr wiederzuerkennen: Während er
vorher in erster Linie für sein aufbrausendes Tempera-
sage. Ist ein Wort falsch, ist es ihre Aufgabe, zu verhindern,
dass es überhaupt in Laute umgesetzt wird. Die meisten
Fehler lassen sich so noch rechtzeitig korrigieren, etwa
ment bekannt war, predigt er nun im Krankenhaus plötz-
wenn bei einem Wort zwei Silben vertauscht sind (»Rad-
lich philosophische Weisheiten.
fahr« statt »Fahrrad«). Das Gleiche gilt für Wörter mit ähnli-
cher Bedeutung, die wir vielleicht hin und wieder durchein-
2 Eine Untersuchung des Gehirns deutet darauf hin, dass
eine Schädigung des vorderen linken Thalamus für das
seltsame Verhalten des Patienten verantwortlich ist.
anderbringen (wie »Sitz« und »Stuhl«), oder für Begriffe, die
ungeeignet oder vielleicht sogar mit einem Tabu belegt
sind. Natürlich klappt das nicht immer – sonst würde uns

3 Das Areal ist an der Kontrolle der Sprachproduktion


beteiligt. Da diese bei dem Bistrobesitzer eingeschränkt
ist, erfindet er beim Sprechen laufend neue Wörter und
im Alltag schließlich nicht doch ab und zu das ein oder
andere unpassende Wort herausrutschen.
Ein weiteres Kontrollsystem überwacht parallel dazu den
verliert immer wieder den roten Faden, was auf Zuhörer Sinn unserer Aussagen als Ganzes, indem es einen Start-
bisweilen poetisch und hochtrabend wirkt. punkt und ein Ziel festlegt und dann prüft, ob wir uns
unterwegs an diese Vorgaben halten. Daran ist u ­ nter ande-

64 Spektrum SPEZIAL  Biologie Medizin Hirnforschung  3.20


ü
YOUSUN KOH, NACH RAPHAEL QUERUEL / CERVEAU&PSYCHO MÄRZ 2010
Der mentale Filter

Nucleus caudatus

Putamen

Thalamus
Wernicke-Zentrum
präfrontaler Kortex

Broca-Zentrum

Thalamus, Nucleus caudatus und Putamen sind sowohl definieren und diese vor der Lautproduktion noch einmal
mit dem Broca- und dem Wernicke-Zentrum im Gehirn zu überprüfen. Der Thalamus leitet Informationen an das
verbunden als auch mit dem präfrontalen Kortex. Wis- Wernicke-Areal weiter, welches den Sinn von Wörtern
senschaftler schreiben diesem Netzwerk gleich mehrere und Aussagen kontrolliert und dann grünes Licht gibt.
Funktionen zu: Es ist daran beteiligt, beim Sprechen die Daraufhin »autorisiert« der Thalamus die Lautprodukti-
richtigen Wörter auszuwählen, den Ablauf einer Rede zu on, für die unter anderem das Broca-Areal zuständig ist.

rem unser prospektives Gedächtnis beteiligt, das uns dabei dann wird dieser auch in künftigen Sätzen immer wieder
hilft, das gesetzte Ziel im Auge zu behalten, aber auch das dieselbe Struktur verwenden: »Man findet Brot beim Bä-
Kurzzeitgedächtnis, welches das eben Gesagte für eine cker«, »Man findet Wolken im Himmel«, »Man findet Werk-
bestimmte Zeit speichert. stätten bei Mechanikern«, »Man findet Fußgänger in Autos«.
Das zeigt, wie komplex der Sprechakt für unser Gehirn Dieses Phänomen bezeichnet man als Perseveration.
eigentlich ist, nicht zuletzt, weil all diese Kontrollinstanzen
zusätzlich noch äußere Faktoren in ihre Arbeit mit einbezie- Poesie dank Kontrollverlust
hen müssen. So können sich Themen und Ziele zum Bei- Eine eingeschränkte sprachliche Kontrolle hat aber auch
spiel ändern und eine strategische Neuausrichtung unserer Vorteile. Von den Kontrollmechanismen der linken Hemi-
Aussagen nötig machen, etwa wenn unser Gesprächspart- sphäre befreit, gewinnt die Sprachverarbeitung in der
ner eine spezielle Anmerkung macht oder die Unterhaltung rechten Hirnhälfte zunehmend an Bedeutung, die unter
plötzlich in eine andere Richtung lenkt. anderem einen großen Beitrag zur ­Entstehung von Meta-
Sind Thalamus, Nucleus caudatus, Putamen oder die phern, Humor und bildhaften Ausdrücken leistet. Maxime
Nervenfasern, welche die Bereiche miteinander verbinden, hat dadurch eine einfallsreiche und metaphorische Art zu
geschädigt, funktioniert der Prozess nicht mehr richtig, sprechen entwickelt, die ihm zugleich eine esoterische,
obwohl jene Areale, die man im engeren Sinn als Sprach- bisweilen sogar poetische Aura verleiht. Am Ende ist seine
zentren bezeichnet, nach wie vor intakt sind. Der Verlust Philosophie jedoch – auch wenn sie sich Aphorismen
der Kontrollsysteme erklärt auch, warum sich in Maximes bedient, die vielleicht an Nietzsche erinnern mögen – nicht
Aussagen immer wieder falsche Wörter einschleichen, mit der großer Denker vergleichbar. 
er das Ziel seiner Reden aus den Augen verliert und seine
Argumentation am Ende weder einem roten Faden folgt
QUELLEN
noch den Erwartungen seiner Gesprächspartner entspricht.
Gleichzeitig ist oft die Flexibilität beim Sprechen einge- Crosson, B.: Subcortical mechanisms in language: Lexical-
semantic mechanisms and thalamus. Brain and Cognition 40, 1999
schränkt: Bittet man einen Patienten, einen Satz mit zwei
vorgegebenen Wörtern zu bilden, etwa »Brot« und »Bäcker«, Verstichel, P.: Aphasie thalamique. Revue Neurologique 159, 2003

Spektrum SPEZIAL  Biologie Medizin Hirnforschung  3.20 65


ü
INFORMATIK
SPRACHBEGABTE
MASCHINEN
Eine künstliche Intelligenz namens BERT übertrifft
bei Lesetests sogar Menschen. Was steckt hinter
dieser Erfolgsgeschichte aus dem KI-Labor?

John Pavlus ist Publizist und Filmemacher in Portland (USA).


Er thematisiert vor allem Wissenschaft, Technologie und Design.
Seine Arbeiten erscheinen in zahlreichen Zeitschriften.

 spektrum.de/artikel/1698588


Als Sam Bowman, Computerlinguist an der New York oder falsch ist, wobei der vorhergehende Satz das nötige
University, im Herbst 2017 die mageren Ergebnisse Hintergrundwissen liefert. Wenn Sie aus dem Satz »Prä­
seiner eigenen Disziplin analysierte, trieb ihn vor allem sident Trump landete im Irak für einen sechstägigen Staats-
eine Erkenntnis um: Nicht nur waren die Rechner weit besuch« folgern können, dass der Satz »Präsident Trump
davon entfernt, einen geschriebenen Text annähernd so zu ist auf Auslandsbesuch« wahr ist, haben Sie soeben be­
verstehen wie ein Mensch; was fehlte, war außerdem ein standen!
brauchbarer Test für ihre Fähigkeiten. Eine Methode, mit
der man unterschiedliche Ansätze vergleichen könnte – Abgeschlagener Durchschnittsmensch
eine Benchmark, wie der Fachmann sagt. Kurz darauf hatte Die Maschinen versagten reihenweise. Sogar nach allen
Bowman einen solchen Test entwickelt. Regeln der Kunst gebaute künstliche neuronale Netze
Im April 2018 veröffentlichte er gemeinsam mit Kolle- kamen mit 69 von 100 Punkten nicht über eine Vier plus in
gen von der University of Washington und DeepMind, Schulnoten hinaus. Das überraschte weder Bowman noch
Googles eigener KI-Forschungsfirma, einen Fachartikel, in seine Koautoren. Zwar hatten neuronale Netzwerke – lern-
dem sie neun Aufgaben vorstellten. Anhand dieser sollte fähige Programme, deren Funktionsweise sich vage an der
sich zeigen, ob ein Computer in der Lage ist, den Inhalt des Gehirns orientiert – schon bewiesen, dass sie für einige
eines Textes zu verstehen. GLUE (General Language Under- Aspekte der maschinellen Sprachverarbeitung durchaus
standing Evaluation, zu Deutsch etwa: B ­ eurteilung des taugen. Doch das Maximum galt als erreicht. Die Netze, so
allge­meinen Sprachverständnisses) war so gestaltet, dass glaubten Experten damals, könnten einfach nichts Wesent-
er »ziemlich genau all das abfragte, was nach Meinung der liches über Sprache und Bedeutung lernen. Eine Annahme,
Forschergemeinde den Computer vor spannende Heraus­­ die die schlechten GLUE-Ergebnisse noch einmal deutlich
forderungen stellt«, erklärt Bowman. Für Menschen seien unterstrichen.
die Auf­gaben allesamt »gut machbar«. Beispielsweise Doch die Einschätzung sollte nicht lange Bestand haben.
verlangt eine Unteraufgabe anzugeben, ob ein Satz wahr Schon im Oktober 2018 stellte Google eine Methode vor,

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ü
JON FOX (SOULOFAGIANT.COM) FÜR QUANTA MAGAZINE

die unter dem Namen BERT bekannt wurde, kurz für Bidi- Eine künstliche Intelligenz namens BERT revolutionierte die
rectional Encoder Representations from Transformers. Sein maschinelle Sprachverarbeitung. Um den Inhalt von Texten zu
GLUE-Score: 80,5. Gerade einmal sechs Monate existierte analysieren, muss sie gewaltige Datenmengen durcharbeiten.
der Test, da hatten sich die Maschinen auf eine Zwei minus
verbessert.
Die Fachwelt war baff, erzählt Bowman. »BERT kam
bei vielen Tasks auf Punktzahlen, bei denen wir dachten:
Besser geht das eigentlich gar nicht.« Mit einem Mal wurde AUF EINEN BLICK
es relevant zu wissen, wie gut eigentlich Menschen bei ECHTES VERSTÄNDNIS?
diesem Test abschneiden. Im Februar 2019 ergänzten
Bowman und ein Doktorand den GLUE-Test um die ent-
sprechenden Vergleichswerte. Und wieder dauerte es nur 1 Künstliche-Intelligenz-Forscher haben ein Programm
entwickelt, das Sätze lesen und Fragen dazu beant-
worten kann – und das anscheinend deutlich besser
wenige Monate, bis ein System, diesmal von Microsoft,
die Grenze überwand. Inzwischen ist der Durchschnitts- als der Mensch.
mensch abgeschlagen: Bei Redaktionsschluss rangierte er
mit Platz elf nicht einmal mehr unter den Top Ten der von
zahlreichen BERT-Systemen und ihren Varianten bevöl-
2 Dieses System mit dem Namen BERT setzt auf die
Technik neuronaler Netze und bündelt mehrere Durch-
brüche zu einem mächtigen Werkzeug.
kerten Bestenliste.
Aber lernen diese Systeme wirklich, unsere Sprache zu
verstehen? Oder werden sie einfach besser darin, unsere
Tests zu meistern – und sei es durch Tricks? Alternative
3 Doch Wissenschaftler sind skeptisch: Ist BERT wirklich
so gut, wie es scheint? Oder steckt hinter seinem
Erfolg vielleicht nur ein f­ auler Zauber?
Evaluationsverfahren zeichnen ein ganz anderes Bild von
den sprachverarbeitenden Computern, das viel eher an den

Spektrum SPEZIAL  Biologie Medizin Hirnforschung  3.20 67


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»Klugen Hans« erinnert: So hieß das Pferd, das Anfang des te stehen. Dadurch kann der Computer die Wörter, die man
20. Jahrhunderts mit seinen vermeintlichen Rechenkünsten ihm eingibt, auf ihrer Bedeutungsebene verarbeiten. Aber
Aufsehen erregte, tatsächlich aber nur unbewussten An- ein Netz, das ausschließlich mit Einzelwort-Embeddings
weisungen seines Halters folgte. trainiert wird, wäre blind für Beziehungen auf Satzebene.
Es gebe da einen Graubereich, sagt Bowman. Man »Es würde annehmen, dass ›Mann beißt Hund‹ dasselbe
könne sich dem Problem Sprache mit Methoden nähern, bedeutet wie ›Hund beißt Mann‹«, sagt Tal Linzen, Compu-
die im Grunde recht trivial und uninteressant seien. Oder terlinguist von der Johns Hopkins University in Baltimore.
auf echte künstliche Intelligenz (KI) setzen. »Und irgendwo
in der Mitte stehen wir.« Welches Wort kommt als nächstes?
Der Vergleich mit dem berühmten Gedankenexperiment Besser wäre es, das Netz mit gehaltvolleren Regelbüchern
zum »chinesischen Zimmer« des US-amerikanischen Philo- auszustatten, die beispielsweise neben dem Vokabular
sophen John Searle drängt sich auf: Hier sitzt eine Person, auch noch Satzbau und Kontext berücksichtigen. Anfang
die des Chinesischen nicht mächtig ist, in einem abge- 2018 fanden Wissenschaftler von OpenAI, der University of
schlossenen Raum voller Bücher mit Anweisungen. Die San Francisco, dem Allen Institute for Artificial Intelligence
darin verzeichneten Regeln sollen laut Searle so gestaltet und der University of Washington praktisch zeitgleich eine
sein, dass sich jede beliebige auf Chinesisch verfasste raffinierte Lösung dafür. Anstatt bloß die unterste Schicht
Mitteilung in eine passende Antwort überführen lässt. Nun der neuronalen Netze mit »word embeddings« vorzutrainie-
schiebt eine weitere Person chinesisch geschriebene Fra- ren, gaben sie dem Netz als Ganzem eine neue Aufgabe:
gen unter der Tür durch, woraufhin der Mensch im Zimmer Sie ließen es ein eigenes Sprachmodell entwickeln.
seine Regelbücher konsultiert und eine in perfektem Chine- »Das einfachste Sprachmodell funktioniert so: Man liest
sisch formulierte Antwort an den Fragesteller zurückgibt. ein paar Wörter und versucht dann vorherzusagen, welches
Das Gedankenexperiment wirft vor allem eine Frage auf: als nächstes kommt«, sagt Myle Ott, der als Wissenschaft-
Kann man als Außenstehender überhaupt erkennen, ob ler bei Facebook arbeitet. »Wenn ich sage: ›George Bushs
eine Person (oder ein Computersystem) ein echtes Ver- Geburtsort ist‹, dann muss das Modell das nächste Wort in
ständnis von Sprache hat? diesem Satz finden.«
Nun wären viele KI-Forscher bereits mit einer gelungenen Die Idee erwies sich als vergleichsweise leicht umsetz-
Simulation echten Sprachverständnisses mehr als zufrieden. bar. Die Entwickler fütterten ihren Netzen gewaltige Text-
Ein Problem dabei ist, dass es in der realen Welt keine mengen, die sie frei verfügbar im Netz fanden. Die gesamte
perfekten Regelbücher gibt. Natürliche Sprache ist viel zu englische Wikipedia beispielsweise, ein Datenbestand von
komplex und unvorhersehbar, als dass sie sich auf ein fixes Milliarden Wörtern in grammatisch wohlgeformten Sätzen.
Set von Anweisungen reduzieren ließe. Man denke an den An ihnen lernten die Netze die Vorhersage des jeweils
oft wiederholten Beispielsatz des Linguisten Noam Choms- nächsten Worts. Das ist, als würde man den Menschen im
ky »Farblose grüne Ideen schlafen wütend«. Aus Sicht der chinesischen Zimmer sein eigenes Regelwerk verfassen las-
Syntax, also gemäß den Regeln und Mustern, nach denen sen, und zwar ausschließlich auf Grundlage der Textschnip-
Sprecher ihre Sätze aus Wörtern bauen, ist nichts dagegen sel, die man ihm unter der Tür durchschiebt. »Das Tolle
einzuwenden. Doch jedem Muttersprachler ist klar: Der Satz dabei ist«, sagt Ott, »die Netze lernen ganz von selbst jede
ist kompletter Nonsens. Wie wollte man solche »unge- Menge Syntax.«
schriebenen« Fakten in ein Regelwerk aufnehmen? Und mehr noch: Wenn man ein Netz dergestalt vortrai-
niert hat, kann man es umso einfacher auf ein gewünschtes
Anwendungsgebiet spezialisieren. Beim so genannten

Das System braucht gehaltvolle Feintuning nutzt das System einfach sein bereits erworbe-
nes Sprachwissen, um die neue Aufgabe zu erledigen.
Regelbücher, die neben dem Wie das geht, machten seinerzeit die Forscher von
OpenAI vor. Im Juni 2018 ließen sie ihr Netz namens GPT
Vokabular auch Satzbau und einen ganzen Monat lang an fast einer Milliarde Wörtern
aus 11 038 digitalisierten Büchern lernen und dabei ein
Kontext berücksichtigen Sprachmodell entwickeln. Beim GLUE-Test ergatterte es mit
damals noch beachtlichen 72,8 Punkten direkt den Spitzen-
platz im Ranking.
Die Antwort der Computerlinguisten kam in Form eines Das war die Zeit, als Experten wie Sam Bowman noch
Vorgangs, den man als Pretraining bezeichnet. Damit dachten, dass jeder weitere Fortschritt lange auf sich
brachten sie ihre neuronalen Netze dazu, ihre eigenen warten lassen würde.
Regelbücher zu improvisieren. Und dann kam BERT.
Lange Zeit orientierten sich die Wissenschaftler dabei Aber was ist BERT eigentlich? Zunächst einmal ist es kein
am Aufbau eines Wörterbuchs. Bei einem einflussreichen fertiges neuronales Netz, das aus dem Stand heraus besser
Pretraining-Verfahren, dem so genannten »word embed- Sätze analysiert als ein Mensch. Stattdessen handelt es sich
ding«, lässt man ein neuronales Netz die Wörter einer um ein sehr detailliertes Rezept für das Vortraining eines
großen Textmenge so in Zahlenwerte umwandeln, dass neuronalen Netzes. Genau wie ein Bäcker einer präzisen An-
ähnliche Zahlenwerte auch für ähnliche inhaltliche Konzep- leitung folgt, um einen Tortenboden vorzubacken, den ein

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anderer dann zu Bienenstich oder einer Hochzeitstorte Alle drei entscheidenden Zutaten waren schon vor BERT
verwandelt, kann man mit BERT Netze für Spezialaufgaben verfügbar, doch erst Googles Ende 2018 veröffentlichtes
vorbereiten. Beim Design haben es die Google-Forscher Rezept bündelte sie zu einem mächtigen Werkzeug. Schnell
darauf angelegt, eine ideale Grundlage für späteres Fein­ wurde es von anderen Teams aufgegriffen und nach eige-
tuning in Richtung ganz unterschiedlicher Einsatzzwecke zu nen Wünschen adaptiert. Im Frühjahr 2019 gab es eine
legen. Zudem stellten sie die Bauanleitung für BERT frei Phase, in der sich Teams von Microsoft und Alibaba, dem
verfügbar ins Netz. Wer das System nutzen will, muss also chinesischen Gegenstück zu Amazon, einen andauernden
kaum selbst Hand anlegen: BERT ist so gesehen wie ein Wettbewerb um den Spitzenrang in der GLUE-Bestenliste
fertiger Tortenboden aus dem Supermarkt. lieferten. Wöchentlich hätten sie die Plätze getauscht,
Vor allem das Zusammenspiel dreier Zutaten sei für den erinnert sich Bowman. Als im August 2019 eine neue
Erfolg verantwortlich, erläutert Omer Levy, der sich in BERT-Weiterentwicklung mit dem Namen RoBERTa auf-
Facebooks Forschungsabteilung mit BERT ausein­ander­ tauchte, kommentierte der DeepMind-Forscher Sebastian
gesetzt hat. Die erste Komponente tauchte bereits in den Ruder, Verfasser eines viel gelesenen Szene-Newsletters,
Vorgängermodellen auf, sie ist eines von jenen Sprach­ nur noch trocken: »Wieder ein neuer Monat, wieder ein
modellen, die dem Netz ein gewisses Basiswissen über neuer Standard beim Pretraining der Sprachmodelle.«
Sprache vermitteln.
Zutat zwei hilft herauszufinden, welche Bestandteile
eines Satzes die wichtigsten sind. Sie geht zurück auf
Forschungen aus dem Jahr 2017. Damals bemerkte Jakob BERT liest Sätze von hinten
Uszkoreit, Computerlinguist bei Google AI Brain, dass
herkömmliche neuronale Netze an einer eingebauten
und von vorne – und errät, was
Schwäche zu leiden schienen: Sie analysierten Sätze immer in der Mitte steht
nur Wort für Wort. Mit seinen Kollegen entwickelte er ein
Verfahren, das es dem Netz erlaubt, seine »Aufmerksam-
keit« auf wichtige Bestandteile zu lenken. Dazu zerlegen so Beim Design von BERT wurden zahlreiche Festlegun­gen
genannte Transformer einen gegebenen Satz mehrfach auf getroffen, die sich auf das Endergebnis auswirken. Etwa
unterschiedliche Weise. wie groß das zu Grunde liegende neuronale Netz ist, wie
Im Satz »Ein Hund beißt den Mann« könnte der Transfor- viele Daten beim Pretraining durchgearbeitet werden
mer beispielsweise »beißen« und »Mann« als Kombination müssen, wie man in die Texte die erforderlichen Lücken ein-
aus Verb und Objekt betrachten, parallel dazu aber auch baut und wie lange das Netz seine Fähigkeiten verfei-
»beißen« und »Hund« als Verb-Subjekt-Kombination, wobei nern darf.
Artikel wie »ein« oder »den« übersprungen werden können. Nachfolgemodelle wie RoBERTa optimieren diese Para-
So entdeckt das Netz Beziehungen zwischen Wörtern, die meter immer weiter. Im Fall von RoBERTa entschieden
im Satz gar nicht nebeneinanderstehen. Das ist unter ande- Wissenschaftler von Facebook und der University of Wa-
rem wichtig, um aus dem Kontext, in dem Wörter auftau- shington, dem System mehr Zeit für das Pretraining zu
chen, Informationen über ihre Bedeutung zu gewinnen. geben und dafür eine größere Datenmenge und längere
Sätze zu verwenden. Gleichzeitig verzichteten sie darauf,
Jede Woche ein neuer Rekord das Netz auch noch Folgesätze vorhersagen zu lassen, was
Diese nichtlineare Art, Sätze zu analysieren, wird durch Bestandteil von BERT war, sich jedoch als nachteilig her-
Zutat drei noch weiter ausgebaut. Anders als andere vor- ausgestellt hatte. Und zu guter Letzt machten sie die
trainierte Modelle, die Texte nur von links nach rechts Lücken­textaufgabe schwerer. Die Folge? Platz eins bei
durcharbeiten, liest das Modell hinter BERT dieselben Texte GLUE – jedenfalls für kurze Zeit.
zusätzlich auch noch von rechts nach links. Dann lernt es, Sechs Wochen später trieben Forscher von Microsoft
Wörter in der Mitte zu erraten. Beispielsweise können die und der University of Maryland das Spiel weiter und
Forscher ihrem Netz den Satz »George Bush ___ im Jahr ­ergatterten mit einer wiederum verbesserten RoBERTa-­
1946 in Connecticut auf die Welt« eingeben, woraufhin es Version ­ihrerseits den ersten Platz. Aber auch das war nicht
als Antwort »kam« ausspuckt. Sätze von vorn und hinten von Dauer. Inzwischen haben zwei andere Verfahren, die
anzugehen, zwinge das System, so viele Informationen wie angetreten sind, einige Schwächen von BERT auszumerzen,
möglich aus jedem Satzabschnitt herauszuziehen, sagt die Spitzenplätze übernommen: XLNet, eine Zusammen­
Uszkoreit. arbeit der Carnegie Mellon University mit dem Google-AI-
Jeder, der schon einmal eine Fremdsprache gelernt hat, Brain-Team, sowie ERNIE 2.0, der in den Forschungslaboren
weiß, dass man mit Lückentexten leicht prüfen kann, wie des chinesischen Suchmaschinenriesen Baidu entstand.
gut jemand die Sprache beherrscht. Es war darum bloß Genauso wenig jedoch, wie jemand, der mit seinen
eine Frage der Zeit, bis diese Technik zum Pretraining der Backrezepten experimentiert, automatisch die chemischen
Netze eingesetzt wurde. Alle Eingabesätze nur von links Hintergründe des Backens versteht, ruft das kontinuierliche
nach rechts abzuarbeiten, wie es in den Zeiten vor BERT Optimieren des Pretrainings zwangsläufig tiefere Einsichten
Standard war, sei eigentlich eine überflüssige Selbstbe- zur Sprachverarbeitung hervor. »Ich bin ganz ehrlich mit
schränkung gewesen, meint Kenton Lee, der ebenfalls bei Ihnen: Ich schaue mir diese neuen Veröffentlichungen gar
Google forscht. nicht mehr an«, sagt Johns-Hopkins-Forscher Linzen, »ich

Spektrum SPEZIAL  Biologie Medizin Hirnforschung  3.20 69


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finde sie extrem langweilig.« Das wissenschaftliche Rätsel Denn es ist nicht ausgeschlossen, dass ein ähnliches
bestehe für ihn vielmehr darin herauszufinden, in welchem Phänomen hinter BERTs übermenschlich gutem Abschnei-
Sinn BERT und seine Nachfolger wirklich Sprache verste- den bei GLUE steckt. Für eine aktuelle Studie sammelte
hen – oder ob sie »nur ein paar seltsame Tricks aufschnap- Tal Linzen mit einigen Kollegen Belege für genau diese
pen, mit denen man bei unseren gängigen Testverfahren Annahme. Sie entwickelten sogar einen ­alternativen Daten-
gut abschneidet«. Anders gesagt: BERT macht viel richtig. satz für das Training der Netze, der solche Schummeleien
Aber vielleicht aus den falschen Gründen? gezielt aufdecken soll – die Heuristic Analysis for Natural-­
Language-Inference Systems oder kurz: HANS.
Bowman räumt ebenfalls ein, dass die Trainingsdaten
des GLUE-Tests ihre Schwächen haben. Menschengemach-
te Datensätze seien immer auf die eine oder andere Weise
unausgewogen. »Es gibt zwar nicht den einen faulen Trick,
Mehr Wissen auf mit der man alles in GLUE schafft«, sagt Bowman, trotzdem
Spektrum.de böten sie genügend Schwachstellen, die leistungsstarke
Unser Online-Dossier zum Thema Lernsysteme ausnutzen – ohne dass der Anwender davon
finden Sie unter spektrum.de/t/ etwas mitbekommt. Verbaut man BERT mit besser konzi-
digitalermensch pierten Ausgangsdaten diese Abkürzungen, sinkt sein
ISTOCK / ERSINKISACIK
Score beim GLUE-Test merklich, wie die Informatikerin Yejin
Choi von der University of Washington und dem Allen
Institute beobachtete.
BERT habe eben kein umfassendes Verständnis der
Im Juli 2019 erzielten zwei Forscher der Cheng-Kung-­ englischen Sprache, meint Bowman. Dass die Entwickler
Nationaluniversität in Taiwan, Timothy Niven und Hung-Yu des Verfahrens auf Sand gebaut haben, glaubt er dennoch
Kao, ein Aufsehen erregendes Ergebnis. Sie nutzten BERT nicht: »Wir haben ein Modell, das wirklich etwas Wesent­
für ein Testverfahren, bei dem es um l­ogische Schlussfol­ liches über Sprache gelernt hat.«
gerungen geht. Konkret gilt es, eine unausgesprochene Bessere Evaluationsverfahren könnten helfen, Bowmans
Voraussetzung für die Gültigkeit eines Arguments zu identi- Annahme mit messbaren Resultaten zu untermauern. So
fizieren. Lautet die Behauptung sinngemäß »Es stimmt, stellte er Mitte 2019 mit Kollegen SuperGLUE vor, der für
dass Rauchen Krebs verursacht, denn wissenschaftliche BERT-basierte Systeme besonders schwierig ist. Und
Studien haben dies ergeben«, dann ist sie nur dann zutref- tatsächlich liegt in dieser Disziplin aktuell noch der Mensch
fend, wenn die Voraussetzung »Wissenschaftliche Studien in Führung, wenn allerdings nur äußerst knapp.
sind vertrauenswürdig« gilt. Die Alternative »Wissenschaft- Doch viele Forscher halten es für fraglich, dass es jemals
liche Studien sind teuer« ist zwar meist wahr, macht in einen Test geben wird, der uns zweifelsfrei davon über-
diesem Zusammenhang jedoch keinen Sinn. Ohne Übung zeugt, dass eine Maschine echte künstliche Intelligenz
erreichen Menschen dabei im Schnitt gerade einmal 80 von anwendet. Man denke nur an Schach, betont Bowman:
100 Punkten. BERT schaffte vom Start weg 77! »Schach sah immer wie ein wirklich guter Intelligenztest
aus. Bis wir herausfanden, wie man einen Schachcomputer
Ist der clevere BERT nur ein Kluger Hans? programmiert.« 
Tatsächlich wäre es eine Sensation, wenn BERT den neuro-
nalen Netzwerken neben Sprachverständnis auch noch die
QUELLEN
Fähigkeit zum logischen Schlussfolgern einimpfen könnte.
Doch schon die Autoren der Studie selbst vermuteten, die Devlin, J. et al.: BERT: Pre-training of deep bidirectional trans-
Erklärung sei banaler: BERT könnte sich an oberflächlichen formers for language understanding. arXiv, 1810.04805, 2018
Mustern in der Formulierung der Voraussetzungen orien- Heinzerling, B.: NLP’s Clever Hans moment has arrived. The
tiert haben. Als sie ihre Trainingsdaten auf Hinweise darauf Gradient, 26.8.2019
durchgingen, entdeckten sie zahlreiche solcher uner- Niven, T., Kao, H.-Y.: Probing neural network comprehension of
wünschten Anhaltspunkte. Nur ein Beispiel: Hätte BERT natural language arguments. arXiv, 1907.07355, 2019
lediglich gelernt, immer diejenige Voraussetzung auszu- Wang, A. et al.: GLUE: A multi-task benchmark and analysis
wählen, die das Wort »nicht« enthielt, wäre er bereits auf platform for natural language understanding. arXiv, 1804.07461,
eine Trefferquote von 61 Prozent gekommen. Entfernten die 2018
Forscher diese Schleichwege, sank BERTs Score von 77 auf
53. Er war dann nicht besser als jemand, der jede Antwort
per Münzwurf ermittelt. Ein Artikel im Forschungsmagazin Von »Spektrum der Wissenschaft« übersetzte und bearbeitete
des Stanford Artificial Intelligence L
­ aboratory »The Gradi- Fassung des Artikels »Machines Beat Humans on a Reading Test.
But Do They Understand?« aus »Quanta Magazine«, einem inhalt-
ent« lobte das Misstrauen von Niven und Kao gegenüber lich unabhängigen Magazin der Simons Foundation, die sich die
ihren vermeintlich sensationellen Ergebnissen beim Logik- Verbreitung von Forschungsergebnissen aus Mathematik und den
test und zog eine Paral­lele zum Klugen Hans und seinen Naturwissenschaften zum Ziel gesetzt hat.
angeblichen Mathematikkenntnissen. Mehr Skepsis würde
dem ganzen Feld guttun.

70 Spektrum SPEZIAL  Biologie Medizin Hirnforschung  3.20


ü
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ü
SPRACHSYNTHESE
DIE PERFEKTE
KÜNSTLICHE STIMME
Inzwischen kann eine Maschinenstimme die eines Menschen
täuschend echt imitieren.

Nicolas Obin (links) ist


Dozent an der Université
Pierre et Marie Curie, wo er
2011 auch promovierte, und
Forscher in der Arbeitsgrup-
pe »Analyse et synthèse des
sons« am Institut de Recher-
che et Coordination Acous-
tique / Musique (Ircam) im Centre Pompidou in Paris. Axel Röbel
leitet diese Arbeitsgruppe; er promovierte 1993 an der Technischen
Universität Berlin.

 spektrum.de/artikel/1485133

Alle Sprachverarbeitung beginnt mit dem


Schall­signal, das vom Mikrofon aufgenommen
wird. Man erkennt kurze Pausen zwischen
einzelnen Wörtern und eine längere zwischen
zwei Sätzen. Unten im Bild das Ergebnis einer
(lokalen) Fourier-Analyse: Ähnlich dem, was
in der Hörschnecke im menschlichen Innenohr
geschieht, wird das Signal in seine Anteile zu
verschiedenen Frequenzen zerlegt. Die Frequenzen
sind entlang der vertikalen Achse aufgetragen;
die weißen und gelblichen Farbtöne kenn-
zeichnen die Amplitude zur jeweiligen Frequenz.
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT / MIKE BECKERS

72 Spektrum SPEZIAL  Biologie Medizin Hirnforschung  3.20


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Aristoteles hatte die Stimme »den Spiegel der Seele« Stimmen zu unterscheiden. Die Industrie investiert massiv
genannt. Wir erkennen einander an der Sprechstim- in diesen Bereich, allen voran die Großunternehmen
me, und sie ist Ausdruck unserer Persönlichkeit und Google, Apple, Microsoft und Amazon.
unserer Gefühle. Bis vor Kurzem schien die gesprochene Unsere Smartphones sind jetzt schon in der Lage, auf
Sprache allein dem Menschen eigen zu sein, doch in den gesprochene Kommandos zu reagieren und mit syntheti-
letzten 20 Jahren haben synthetische Stimmen einen schen Stimmen zu antworten. Die Zukunft gehört der
großen Aufschwung genommen. Heute bilden sie einen künstlichen Intelligenz, die Technik und Geräte in unseren
wesentlichen Teil der Digitaltechnik. Häusern steuert — allzeit bereit und in der Lage, sich
An der Schnittstelle zwischen Mensch und Maschine lernend unseren sprachlichen Eigenheiten und Wünschen
verleiht die Stimme der Maschine so etwas wie Persön- anzupassen. In Ansätzen leisten das bereits heute die
lichkeit oder gar Seele. In naher Zukunft werden wir über- Programme Google Assistant, Siri von Apple, Cortana von
all auf synthetische Stimmen stoßen, nicht nur aus dem Microsoft und Alexa von Amazon.
Smartphone in der Hosentasche. Und es wird zweifellos An den zugehörigen Fragen arbeiten zahlreiche For-
immer schwieriger werden, sie von echten menschlichen schungslabors, darunter unseres am Ircam (Institut de

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT / MIKE BECKERS

Spektrum SPEZIAL  Biologie Medizin Hirnforschung  3.20 73


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Recherche et Coordination Acoustique / Musique) in Paris. können wir die Gestalt einer sprachlichen Äußerung ge-
Spezialität unseres Hauses ist die enge Anbindung an die treuer wiedergeben, weil wir unsere Algorithmen zur
Welt der Kultur, die in der Produktion von Musik, Kinofil- Sprachanalyse und -synthese verbessert haben. So gelingt
men und Videospielen ihren Ausdruck findet. es uns, die Sprachmelodie an die grammatische Struktur
Während sich die IT-Giganten und viele Forschungsins- des Textes anzupassen, was die neueren synthetischen
titutionen lange Zeit damit begnügten, ihre künstlichen Stimmen erheblich natürlicher klingen lässt. Verfahren des
Stimmen verständlich zu machen und für spezielle Anwen- maschinellen Lernens und allgemein die Leistungssteige-
dungen zu standardisieren, haben die Forscher des Ircam rung der Computer erleichterten uns die Aufgabe, unser
sich seit den 1980er Jahren auf die Frage konzentriert, was umfangreiches Datenmaterial (jeweils mehrere Stunden
eine menschliche Stimme genau ausmacht: ihre Klangfar- Tonaufnahmen für Tausende von Stimmen) als Lernstoff
be, ihre Individualität und ihre Ausdrucksstärke. für unsere Systeme zu nutzen.
Im Lauf des letzten Jahrzehnts gelang es unserer Ar-
beitsgruppe insbesondere, die anfangs zwar verständli- Aus alt mach jung, aus männlich weiblich, aus
chen, aber ziemlich mechanisch tönenden Sprachgenera- einheimisch auswärtig und umgekehrt – in der Sprache
toren zu natürlich und ausdrucksvoll klingenden Stimmen Unsere Software findet heute unter anderem bei Kinopro-
weiterzuentwickeln. Dieser Innovationsschritt erwuchs aus duktionen Anwendung. Mit ihrer Hilfe kann man eine
neuesten Erkenntnissen auf den Gebieten Signalübertra- Stimme durch Beimischung von feinen Details, Klangfar-
gung, maschinelles Lernen und Linguistik. Inzwischen be, individuellen Besonderheiten und Ausdruck regelrecht

Wie die Stimme geformt wird


An der Stimmbildung sind zahlreiche Organe und Strukturen beteiligt.
Sie lassen sich einteilen in erzeugende und modulierende Teile.

➤ Lungen und Luftröhre produzieren den Luftstrom, ➤ Der Resonanzkörper aus Kehlkopf, Rachenhöhle,
der die Stimmlippen in Schwingung versetzt. Nasenhöhle und Mundhöhle moduliert
Diese bestimmen die Frequenz der erzeugten Töne. die Amplituden der verschiedenen Obertöne.

Kehlkopf (von oben)


Schildknorpel
(Cartilago thyroidea)
Stimmlippen

Kehldeckel
(Epiglottis)
Stellknorpel
(Cartilagines arytenoideae) Nasenhöhle

VORNE HINTEN
Gaumenplatte

Musculus cricoarytenoideus
posterior Mundhöhle
(öffnet die Stimmritze)
Ringknorpel
(Cartilago cricoidea)
Rachen
Musculus cricoarytenoideus
lateralis
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT / EMDE-GRAFIK

(schließt die Stimmritze)


Kehlkopf

Stimmlippen

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modellieren. Wir verwandeln problemlos eine Männer- in
eine Frauenstimme, eine junge in eine alte und umgekehrt.
Wir sind in der Lage, unsere eigene Stimme so zu verän- AUF EINEN BLICK
dern, dass sie wie die einer anderen Person klingt. Unsere SPRACHSYNTHESE IM RECHNER
Computer und unsere Smartphones sind mit natürlich

1
klingenden künstlichen Stimmen ausgestattet, ausdrucks-  it dem Computer lassen sich Tonaufnahmen
M
stark und personalisierbar, fähig, jeden beliebigen Text zu sprachlicher Äußerungen in kleine Einheiten zerlegen
sprechen. und zu neuen Äußerungen zusammensetzen.
Künftig wird es möglich sein, Menschen, die ihre eige-
ne Stimme verloren haben, einen Ersatz zu verschaffen
(siehe »Auf der Suche nach der verlorenen Sprache«, 2  abei können die Autoren die Klangfarbe der Stimme
D
so verändern, dass zum Beispiel aus einer Männer-
eine Frauenstimme wird.
S. 80), Simultanübersetzungen mit der eigenen Stimme
sprechen zu lassen (siehe »Der Dolmetscher in der Wes-
tentasche«, S. 79), die Stimme zu wechseln wie die Frisur
und im Alltag mit Robotern zu reden, deren Stimmen von
3  ie neuesten Verfahren arbeiten mit abstrakten Mo-
D
dellen der Sprache. Mit ihrer Hilfe kann man künst­
liche Stimmen erschaffen, die von natürlichen kaum
menschlichen nicht zu unterscheiden sind. noch zu unterscheiden sind.
Wie entsteht die menschliche Stimme? Die Quelle des
Schalls sind die Stimmlippen im Kehlkopf, umgangs-

sprachlich als Stimmbänder bezeichnet, obwohl sie mit


Bändern eigentlich keine Ähnlichkeit aufweisen. Der
Luftstrom, der aus der Lunge über die Luftröhre zum
Kehlkopf gelangt, versetzt die Stimmlippen in Schwin-
gung. Diese Vibrationen erzeugen Luftdruckschwankun-
gen, die sich als Schallwellen ausbreiten und so einen Ton
erzeugen. Der besteht aus einer Grundfrequenz, welche
Die Diagramme zeigen in der Fourier- die wahrgenommene Tonhöhe bestimmt, und Vielfachen
Darstellung (Amplitude in Abhängigkeit davon, den Obertönen (siehe »Wie die Stimme geformt
von der Frequenz) links unten den von wird«, links). Unregelmäßigkeiten der Vibration, die Span-
den Stimmlippen erzeugten Schall, darüber nung der Muskeln im Bereich der Stimmlippen, die Menge
die Wirkung des Resonanzkörpers, der an durchströmender Luft sowie die entstehenden Turbu-
manche Frequenzen verstärkt und andere lenzen beeinflussen die Qualität der Lautäußerung: weich
abschwächt, sowie rechts das Produkt oder angespannt, gepresst, geflüstert, rau, heiser, brüchig
beider Funktionen: den Schall, der dem und so weiter.
Mund entströmt. Der im Kehlkopf entstandene Ton breitet sich über
Luftröhre, Rachenraum, Mund- und Nasenhöhle aus. Die
drei Hohlräume, zusammen als Vokaltrakt bezeichnet,
wirken als Resonanzraum, Techniker würden sagen: wie
ein Filter, der manche Obertöne verstärkt, andere dämpft
und damit der Stimme ihre Klangfarbe verleiht – so indivi-
duell wie die Anatomie jedes Menschen.
Obendrein kann der Mensch die Form seines Vokal-
Amplitude

trakts und damit den Klang seiner Stimme durch Bewe-


Modulation

gung seiner Artikulationsorgane, vorrangig Lippen, Zunge


SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT / EMDE-GRAFIK; DIAGRAMME NACH: POUR LA SCIENCE DEZEMBER 2016

und Gaumensegel, verändern. Damit wird aus diesen


Amplitude

Filterfunktion Organen ein Instrument zur Kommunikation. Jede Sprache


des Resonanzkörpers verfügt über ihr eigenes Sortiment an elementaren Lauten,
Frequenz den so genannten Phonemen. Im Deutschen sind das
etwa 40: die Vokale und die Konsonanten, zu denen unter
Schwingungen der
Stimmlippen anderem die Verschlusslaute (Okklusive) wie b, d oder p
Amplitude

Frequenz und die Reibelaute (Frikative) wie f, sch oder s gehören.


Erzeugung

Während ein Mensch Phoneme zu Silben, Wörtern und


ganzen Sätzen zusammensetzt, ist sein Sprechapparat
ständig in Bewegung. Zugleich variiert er mit Kehlkopf und
Stimmlippen Tonhöhe und Lautstärke. Diese »Sprachmelo-
Frequenz die« zusammen mit dem Rhythmus und gelegentlich der
Stimmqualität (zum Beispiel flüsternd oder rau) hilft dem
Sprecher, einzelne Wörter oder Phrasen hervorzuheben,

Spektrum SPEZIAL  Biologie Medizin Hirnforschung  3.20 75


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und gibt, ob er es will oder nicht, auch Auskunft über Männer und Frauen haben unterschiedliche Körperpro-
seine Absichten und Gefühle sowie über seine geografi- portionen, was sich auf ihre Stimme auswirkt. Die Stimm-
sche wie soziale Herkunft. lippen des Mannes sind relativ lang (17 bis 25 Millimeter),
Die individuelle Identität einer Stimme setzt sich also ebenso sein Vokaltrakt (im Mittel 17 Zentimeter). Daraus
aus zwei Komponenten zusammen: der Klangfarbe und folgt, dass Männer eine vergleichsweise tiefe Stimmlage
der Sprachmelodie. Um diese manipulieren zu können, haben (70 bis 160 Hertz) und eine dunklere Klangfarbe. Die
braucht man für jede Komponente ein mathematisches Stimmlippen der Frau sind kürzer (12,5 bis 17,5 Millimeter)
Modell. Zu diesem Zweck haben Forscher an unserem und ihr Stimmtrakt ebenfalls. Frauenstimmen sind daher
Institut 2010 eine Software namens IrcamTools TRAX höher (130 bis 300 Hertz) und klingen heller. Zudem verän-
entwickelt. Das Computerprogramm verändert die Tonhö- dert sich mit dem Körper auch die menschliche Stimme im
he eines akustischen Signals und wendet Filter darauf an, Lauf des Lebens. Junge Menschen haben eine hellere
welche die Klangfarbe modifizieren. Mit diesem Hilfsmittel Stimme, die im Erwachsenen­alter dunkler wird und im
ist es sehr einfach, die Stimme eines Mannes in die einer Alter wieder etwas höher.
Frau zu verwandeln – und umgekehrt – oder aus der Wenn das Computerprogramm also Stimmhöhe und
Stimme eines Erwachsenen die eines Jugendlichen zu Klangfarbe modifiziert, scheint der Sprecher sein Ge-
machen. schlecht oder sein Alter zu verändern. Um die zittrige und

Stimmenverwandlung
Mit den hier beschriebenen Techniken lässt sich die Stimme eines Menschen in die einer berühmten Per-
sönlichkeit, eines jüngeren oder älteren Menschen verwandeln – oder auch in die eines Monsters. Im
folgenden Beispiel wird die Stimme von Alice in die von Bernard umgesetzt. In den Sprechblasen stehen die
senkrechten Balken für die Sprachmelodie, die Hintergrundfarbe für die Klangfarbe der Stimme.

Bernards Stimme wird über Eine Software analysiert den von Bernard Alle Phoneme werden mit
mehrere Stunden beim Sprechen von gesprochenen Text, identifiziert die Pho­ dem zugehörigen Klangfilter ab-
Texten aufgenommen. neme und ermittelt für jedes einzelne den gespeichert.
Klangfilter, der die Klangfarbe bestimmt.
SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT / EMDE-GRAFIK, NACH: POUR LA SCIENCE DEZEMBER 2016

Alice spricht den Text, der später mit der In Alices Aufnahme werden sämtliche Der neu erzeugte Text erklingt
Stimme von Bernard ertönen soll. Da- Phoneme identifiziert und analysiert. mit der von Alice intonierten Sprach-
bei muss Alice Bernards Sprachmelodie Bei der folgenden Rekonstruktion wird melodie, aber mit der Klangfarbe
nachahmen. Eine perfekte Imitation der die Sprachmelodie beibehalten, jedoch von Bernard.
Klangfarbe ist grundsätzlich nicht möglich. der Klangfilter jedes Phonems durch
den von Bernard ersetzt.

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brüchige Stimme alter Menschen realistisch zu imitieren, des Menschen, es wird aber nach wie vor der Filter
bedarf es einer noch raffinierteren Bearbeitung. Im Alter darauf angewandt, der dem menschlichen Vokaltrakt
leidet nämlich die mechanische Funktion des Sprachappa- entspricht. Das Ergebnis ist verblüffend: Man hört eine
rats: Die Stimmlippen schließen nicht mehr vollständig, klar verständliche menschliche Stimme mit dem Atem-
dadurch nimmt der nicht schwingende Anteil des Luft- und Brüllgeräusch des Löwen!
stroms beim Sprechen zu und die Stabilität der Schwin- In der Welt des Kinos dienen diese digitalen Möglich-
gungen ab, was sich als Brüchigkeit der Stimme äußert. keiten dazu, die Stimmen von Schauspielern zu verändern
oder imaginäre Wesen sprechen zu lassen. Der nächste
Brüllen wie ein Löwe – in perfektem Französisch Schritt besteht darin, Stimmen von verstorbenen Schau-
Überraschenderweise ist es inzwischen sogar möglich, spielern oder historischen Persönlichkeiten zu reproduzie-
reine Fantasiestimmen zu erzeugen. Zum Beispiel ren. Am Ircam werden wir heute bereits häufiger gebeten,
spricht dann ein Mensch mit der Stimme eines Löwen. Stimmen auf der Basis von archivierten Aufzeichnungen
Diese Verwandlung beginnt mit der Aufzeichnung der wieder zum Leben zu erwecken.
menschlichen Stimme und des Löwengebrülls. Im Die Sprachmelodie und die Klangfarbe machen die
nächsten Schritt ersetzt dann das (rechnerisch rekon­ Identität einer Stimme aus. Aber welchen Beitrag liefern
struierte) Klangsignal der Stimmlippen des Löwen das die beiden Merkmale zu einer Imitation? Wenn eine

Sprachsynthese
Systeme, die geschriebenen Text in gesprochenen verwandeln,
gibt es schon länger; aber bisher wirkten die synthetischen
Stimmen mechanisch und unnatürlich. Dank aktueller Fortschritte
klingen sie heute natürlich und ausdrucksstark.

Alices Stimme wird über mehrere Stunden Ein Algorithmus unterteilt den gespro­ Je umfangreicher die Datenbank,
aufgenommen, während sie chenen Text in Phoneme, Silben und desto natürlicher und ausdrucksvoller
vorgegebene Texte spricht. Wörter und analysiert die Sprachmelodie kann die neu geschaffene
und die Klangfarbe. Stimme klingen.

SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT / EMDE-GRAFIK, NACH: POUR LA SCIENCE DEZEMBER 2016

Der schriftliche Text (hier der Beginn einer Unter mehreren Versionen einer Sprach­ Ein Algorithmus glättet die Übergänge
Fabel von Jean de la Fontaine) wird einheit in Alices Stimmdatenbank wird zwischen den Einheiten und verwischt
analysiert und in eine Abfolge von Sprach­ diejenige ausgewählt, deren Klangfarbe und damit die Unzulänglichkeiten der
einheiten wie Phoneme, Silben und Sprachmelodie am besten zum Kontext synthetischen Stimme.
Wörter unterteilt. des entsprechenden Satzes passen.

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Person A (nennen wir sie »Alice«) versucht, die Stimme einem bereits gesprochenen Text die Eigenschaften eines
einer Person B (»Bernard«) nachzuahmen, verändert sie anderen Sprechers aufprägen, sondern einen beliebigen,
dabei hauptsächlich ihre Sprachmelodie. Die Klangfarbe nur schriftlich vorliegenden Text von einer synthetischen
einer fremden Stimme ist ungleich schwieriger nachzuma- Stimme sprechen lassen (siehe »Sprachsynthese«, S. 77).
chen: Alice kann sich ja nicht einfach Bernards Vokaltrakt Die ersten Versuche, eine Stimme künstlich zu erzeu-
zulegen. Selbst die begabtesten Imitatoren sind nicht in gen, gab es im 18. Jahrhundert, dem Zeitalter der mecha-
der Lage, die fremde Klangfarbe genau zu reproduzieren, nischen Automaten und sprechenden Maschinen. Als die
und beschränken sich in der Regel auf die Imitation der Elektrizität im 20. Jahrhundert Einzug hielt, wurden die
Sprachmelodie. Maschinen moderner und besser; ein Beispiel ist der
VODER (Voice Operation Demonstrator) von 1939 aus den
Bell Laboratories. Ein weiterer, 1962 ebendort mit dem
IBM-Großrechner 704 entwickelter Stimmenerzeuger
inspirierte die Stimme der künstlichen Intelligenz HAL im
Mehr Wissen auf Film »2001: Odyssee im Weltraum« von Stanley Kubrick
(1968).
Spektrum.de Heute gibt es synthetische Stimmen als fertige Soft-
Unsere Online-Dossier zum Thema warepakete, und sie sind sogar personalisierbar. Man
finden Sie unter spektrum.de/ muss dazu nur aus mehreren Stunden Sprachaufzeich-
t/kuenstliche-intelligenz nung eine Stimmdatenbank erstellen. Denn im Gegen-
METAMORWORKS / GETTY IMAGES
/ ISTOCK
satz zur oben beschriebenen Stimmenverwandlung sind
hier nicht nur einige Eigenschaften einer bereits existieren-
den Stimme zu verändern. Vielmehr muss man ein kom-
Es kommt also entscheidend darauf an, die Klangfarbe plettes Sortiment von elementaren Bausteinen bereitstel-
zu transformieren. Dazu sammeln wir zunächst Sprachauf- len, aus dem man jeden beliebigen Text zusammensetzen
nahmen der zu imitierenden Person und legen sie in einer kann. Nach diesem Prinzip funktionieren die meisten der
Datenbank ab. Die gesprochenen Sätze zerschneiden wir heute verfügbaren Text-to-Speech-Programme (»Spek­
dann in Phoneme. Aus deren Analyse errechnen wir die trum« Dezember 1996, S. 100).
akustische Signatur der Zielstimme. Genauer gesagt Es gilt also, eine Art Puzzle zusammenzufügen. Jeder
bestimmen wir für jedes einzelne Phonem eine Stimm- Stein ist ein Sprachpartikel – ein Phonem, eine Silbe oder
maske, das heißt einen akustischen Filter (vergleiche »Wie ein ganzes Wort – zusammen mit einer Sprachmelodie
die Stimme geformt wird«, S. 74/75). Die Verwandlung von und einer Klangfarbe. Die Stimmdatenbank muss einen
Alices Stimme in diejenige Bernards ist dann im Wesentli- Vorrat an Puzzleteilen enthalten, der die klangliche Band-
chen die Aktion, die in Textverarbeitungsprogrammen wie breite und Variabilität der zu erschaffenden Stimme mög-
Word »Suchen / Ersetzen« heißt: Für jedes Phonem, das lichst vollständig abdeckt. Und die Teile müssen aneinan-
Alice mit ihrer Stimme erzeugt, sucht die Software in derpassen. Deswegen gibt es zu jeden Sprachpartikel viele
Bernards Stimmdatenbank eine passende Stimmmaske Puzzlesteine zur Auswahl. Daraus eine geeignete Kombi-
und setzt sie an die Stelle des Originals. Die so erzeugte nation zu finden, erfordert einen gewaltigen Aufwand.
Stimme hat dann auch die Klangfarbe der Zielperson Nicht zuletzt muss die Sprachmelodie als übergeord­
(siehe »Stimmenverwandlung«, S. 76). nete Struktur zum Text passen. Die Qualität der Stimmkon-
Diese Technologie hatte ihre Weltpremiere in mehreren struktion hängt von der Größe der Datenbasis ab: Nur
Kinofilmen. Wir imitierten die Stimme von Marilyn Monroe wenn für jedes Sprachpartikel möglichst viele individuelle
in dem Film »Marilyn« von Philippe Parreno (2012), von Varianten verfügbar sind, gelingt eine natürlich wirkende
Marschall Pétain in dem Dokumentarfilm »Juger Pétain« Verbindung der Phoneme und eine reichhaltige Sprach­
von Philippe Saada (2014) und von Louis de Funès in melodie. Punktuelle Retuschen, die Nahtstellen verschwin-
»Pourquoi j’ai pas mangé mon père« von Jamel Debbouze den lassen und Phrasierungen glätten, optimieren dann
(2015). das Endergebnis.
Bei letzterem Film sprach ein Schauspieler in mehreren
Sitzungen den Text der Filmfigur und imitierte dabei die Mathematische Abstraktion:
Sprachmelodie des populären Komikers Louis de Funès Ein Phonem ist eine Wahrscheinlichkeitsverteilung
(1914–1983). Parallel dazu wurde anhand historischer Auf- Seit Anfang der 2000er Jahre ist aus einer lediglich ver-
nahmen eine Datenbank seiner Stimme erstellt, die etwa ständlichen eine natürlich und ausdrucksstark klingende
zehn Minuten Text umfasste. Die Forscher konnten dann Kunststimme geworden – inzwischen so perfekt, dass
die Klangfarbe des Schauspielers durch die stimmliche die Grenzen zu menschlichen Lautäußerungen verschwim-
Signatur von Louis de Funès ersetzen. Das Ergebnis ist men. Im Rahmen der Ausstellung »La Voix« (»Die Stim-
verblüffend: Es klingt, als hätte man den längst verstorbe- me«) an der Cité des Sciences et de l’Industrie in Paris re-
nen Mimen erst gestern aufgenommen, aber mit seiner konstruierten wir 2014 die Stimme des Schauspielers
Stimme aus den 1970er Jahren. André Dussolier. Am Ende konnte Dussolier seine eigene
Die Forscher des Ircam sind bei dieser Errungenschaft echte Stimme nicht von der nachgemachten unter­
nicht stehen geblieben. Inzwischen können wir nicht nur scheiden.

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Mittlerweile verfügen wir über Datenbanken mit tausen-
den unterschiedlicher Stimmen. Aus diesem Material
können wir mit Hilfe des maschinellen Lernens Mischun-
gen aus mehreren Stimmen erzeugen, sehr viele Stimmen
Der Dolmetscher in der
zu einer »Durchschnittsstimme« zusammenrühren und Westentasche
dabei Sprachstil, Akzent oder Emotion modifizieren. Prinzi-
piell ähnelt das Verfahren der beschriebenen Stimmsyn- Bei einer Japanreise möchten Sie sich mit einem
these mit Puzzlesteinen, jedoch mit erheblichen Unter- Einheimischen verständigen. Sie nehmen Ihr
schieden. Zur Stimmsynthese dienen nämlich nicht mehr Smartphone heraus, sprechen auf Deutsch in das
natürliche Stimmelemente, sondern statistische Modelle Mikrofon, und praktisch gleichzeitig ertönt Ihre
der Stimme. Auf Basis dieser mathematischen Abstraktion Stimme auf Japanisch aus dem Lautsprecher. Ihr
lässt sich eine synthetische Stimme vollständig neu erzeu- Gesprächspartner antwortet in seiner Sprache, die
gen. Ein Phonem ist jetzt nicht mehr eine Sammlung von Ihr Telefon sofort ins Deutsche übersetzt.
Beispielen, sondern eine Wahrscheinlichkeitsverteilung Dieses Szenario funktioniert heute schon mit
(mit Mittelwert und Standardabweichung) in einem abs- Hilfe von Dolmetscherprogrammen, die erstmals
trakten vierdimensionalen Raum mit den Koordinaten 2009 im Rahmen des europäischen Projekte
Tonhöhe, Dauer, Intensität und Klangfarbe. EMIME (Effective Multilingual Interaction in
Den zeitlichen Verlauf des Sprechakts beschreiben wir Mobile Environments, www.emime.org) entstan-
durch so genannte Markow-Ketten. Wir unterstellen, dass den. Beteiligt waren IBM, Google und die Firma
das System – der gedachte Sprechapparat – zur Produk­ Mobile Technologies, die unter der Führung des
tion eines Phonems nacheinander verschiedene Zustände Karlsruher Informatiker Alexander Waibel die
annehmen muss. Wann ein Zustand in den Folgezustand Übersetzungssoftware Jibbigo entwickelte und
übergeht, ist nicht präzise festgelegt, sondern wird wieder 2013 von Facebook aufgekauft wurde.
durch eine Wahrscheinlichkeitsverteilung beschrieben. Es Automatisches Dolmetschen ist ein dreistufiger
sind auch nicht die Zustände direkt beobachtbar, sondern Prozess. Zunächst verwandelt ein Transkriptions-
nur – mit gewissen Wahrscheinlichkeiten – deren akusti- modul die in das Mikrofon gesprochene Botschaft
sche Auswirkungen: »hidden Markov models« in der in schriftlichen Text. Den überträgt ein Überset-
Sprache der Statistiker. Eine echte menschliche Stimme zungsmodul in die Zielsprache, und schließlich
wird nun nicht mehr vorrangig durch ein Sortiment von liest das Sprachsynthesemodul den übersetzten
Puzzleteilen repräsentiert, sondern durch die (aus Tonauf- Text über den Lautsprecher des Smartphones vor.
nahmen ermittelten) Parameter der Markow-Modelle. Um Übersetzungsmodule arbeiten nicht mit Wör-
zwei oder mehr echte Stimmen zusammenzumischen, terbüchern und expliziten Grammatikregeln;
vielmehr haben sie die Regeln aus einer Vielzahl
von Textbeispielen erschlossen, die in beiden
Wem gehört das Imitat einer Sprachen vorliegen (siehe »Spektrum« Juni 2013,
S. 72). Für derartige Textpaare bieten amtliche Do-
menschlichen Stimme? Dem Nach- kumente von mehrsprachigen Organisationen wie

gemachten oder dem Nachmacher? der Europäischen Union sowie ganz allgemein
das Internet eine reichhaltige Quelle. Entspre-
chend sind die Regeln weniger starr als im Lehr-
bildet man nicht Mittelwerte aus Phonemen, sondern aus buch, sondern folgen dem tatsächlichen Sprach-
den genannten Parametern. Und für die Parameter einer gebrauch.
echten Stimme braucht man nicht mehr mehrere Stunden Auch das Transkriptions- und das Sprachsyn-
an Tonaufnahmen; es genügen ein paar Minuten. thesemodul haben ihre Fähigkeiten an Beispielen,
Auf diesem Weg ist es bereits heute möglich, die Stim- insbesondere Audiobüchern, erlernt. Darüber
me einer Person, die ihre Sprechfähigkeit verloren hat, auf hinaus lernt das Transkriptionsmodul während der
Basis von wenigen Minuten Tonmaterial zu rekonstruieren Arbeit: Binnen weniger Sekunden passt es sich
(siehe »Auf der Suche nach der verlorenen Sprache«, dem eigenwilligen Akzent des Gesprächspartners
S. 80) oder einen Text, den ein Mensch in seiner Mutter- und dem Umgebungslärm an. Und das Sprach-
sprache spricht, quasi simultan mit derselben Stimme, synthesemodul hört seinem Benutzer zu und
aber in einer anderen Sprache wiederzugeben (siehe »Der spricht mit dessen Stimme in der fremden Spra-
Dolmetscher in der Westentasche«, rechts). che. Wir werden also künftig Japanisch – oder
So eindrucksvoll diese Fortschritte auch sein mögen, jede andere Sprache – sprechen, ohne sie je
noch sind die synthetischen Stimmen nicht perfekt, und gelernt zu haben.
für eine gute Qualität muss in jedem Einzelfall ein Mensch Pierre Lanchantin
in den Prozess eingreifen. Doch die Revolution im Bereich Machine Intelligence Laboratory,
der künstlichen Intelligenz, die enorme Lernfähigkeit University of Cambridge
»tiefer« neuronaler Netze (»Spektrum« September 2014,
S. 62) und die massiven Datenmengen, die zur Verfügung

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Auf der Suche nach der verlorenen Sprache
Manche neurodegenerativen Er- nach ist der Klang der Sprache das verständliche Kunststimme zu
krankungen, seien sie altersbedingt Produkt der akustischen Anregung erschaffen. Forschern des CSTR
oder genetischer Ursache, können (Atemluft aus der Lunge versetzt (Centre for Speech Technology
das Sprechvermögen bis zur Un- die Stimmlippen in Vibration) und Research) an der University of
verständlichkeit reduzieren, obwohl der Filterung im Vokaltrakt. Ein Edinburgh (Schottland) ist es
die Patienten weder intellektuell Algorithmus bestimmt die Parame- gelungen, die Stimme eines Patien-
noch kognitiv eingeschränkt sind. ter des Modells, etwa die Frequen- ten zu rekonstruieren, indem sie
Der Physiker Stephen Hawking zen der Stimmbandvibration oder bestimmte Eigenschaften der
(1942–2018) beispielsweise litt an die Resonanzcharakteristika des Stimme eines gesunden »Stimm-
der amyotrophen Lateralsklerose Vokaltrakts, für jedes einzelne spenders« in die Ersatzstimme
(ALS, auch Charcot-Krankheit), bei Phonem in seinem jeweiligen integrierten. Dazu ersetzten sie
der motorische Neurone in der linguistischen Zusammenhang. defekte Komponenten im statisti-
Großhirnrinde zu Grunde gehen. Grundlage dafür sind statistische schen Modell der Patientenstimme
Er verlor völlig die Fähigkeit zu Modelle, deren Parameter der durch die des Spenders.
sprechen und kommunizierte Algorithmus anhand von Aufzeich- Diese Methode ist in Zusam-
mittels eines der ersten Sprach- nungen der natürlichen Stimme menarbeit mit der Anne Rowling
computer, der bereits in den 1970er erlernt. Regenerative Neurology Clinic in
Jahren entwickelt wurde. Der Dank außerordentlich leistungs- Edinburgh inzwischen bei mehr als
roboterhafte Klang von Hawkings fähiger lernender Algorithmen 50 Patienten zum Einsatz gekom-
Kunststimme wurde über die Jahre lassen sich personalisierte Sprach- men. Als Stimmspender dienten in
geradezu zum Markenzeichen des modelle aus Aufzeichnungen von erster Linie nahe Verwandten der
Physikers. nur wenigen Minuten Dauer ge- Betroffenen (Geschwister oder
Mittlerweile ist es möglich, winnen. Dennoch denken viele Kinder). All diesen Patienten er-
personalisierte Kunststimmen zu Patienten nicht rechtzeitig daran, möglichte die personalisierte
erzeugen, die wichtige Merkmale ihre eigene Stimme aufzunehmen, Kunststimme, ihre stimmliche
der stimmlichen Identität eines wenn sie sich im Rahmen ihrer Identität zu bewahren und mit
Patienten wie Klangfarbe, Beto- Erkrankung zu verschlechtern ihren Mitmenschen besser zu
nung oder Akzent übernehmen. beginnt. Es kommt dann darauf an, kommunizieren.
Diesen Stimmen liegt ein verein- auf der Basis einer schon stark Christophe Veaux
fachtes Modell des natürlichen beeinträchtigten oder wenig ver- Centre for Speech Technology Research,
Sprechvorgangs zu Grunde. Dem- ständlichen Stimme eine klare und University of Edinburgh

stehen, dürften eine weitere Welle von Fortschritten mit da sonst die geringen verbleibenden Unterschiede Irrita­
sich bringen. Wir hoffen, dass es in den nächsten Jahr- tionen oder sogar Abscheu erregen würden. Dasselbe
zehnten gelingt, synthetische Stimmen zu erzeugen, die Problem könnte uns nicht nur mit dem Anblick, sondern
von natürlichen nicht mehr zu unterscheiden sind, jede auch mit den sprachlichen Äußerungen der Roboter
beliebige Sprache sprechen und auf die jeweilige Person bevorstehen.
angepasst werden können.
Diese Fortschritte sind nicht unproblematisch. Sie wer-
fen grundlegende Fragen zur Rolle künstlicher Stimmen
und humanisierter Maschinen in unserer Ge­sellschaft auf. QUELLEN
Wem gehört eigentlich die synthetisch hergestellte Mullennix, J. W., Stern, S. E. (Hg.): Computer synthesized speech
Stimme, die nach dem Bilde einer echten erschaffen ist? technologies: Tools for aiding impairment. IGI Publishing, 2010
Dem Nachgeahmten? Dem Nutznießer? Den Forschern
Obin, N.: MeLos: Analysis and modeling of speech prosody
und Ingenieuren, die das technisch realisiert haben? Wie and speaking style. Dissertation, Ircam-UPMC, 2011
lässt sich die nachgemachte Stimme von der echten https://halshs.archives-ouvertes.fr/tel-00694687v2/document
unterscheiden? Wie kann ich sicher sein, dass es mein
Van den Oord, A. et al.: WaveNet: A generative model for raw
Freund ist, der mit mir telefoniert, wenn seine Stimme audio. Proceedings of Interspeech, 2016
gefälscht sein kann? https://deepmind.com/blog/wavenet-generative-model-raw-audio
Der japanische Robotikforscher Masahiro Mori hat Tokuda, K. et al.: Speech synthesis based on hidden Markov
schon 1970 in seinem Werk »The Uncanny Valley« davor models. IEEE Transactions on Audio, Speech, and Language
gewarnt, einen Roboter allzu menschenähnlich zu machen, Processing 101, 2013

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SPRINGERS EINWÜRFE
AUTOMATISCHE VORURTEILE
Seit künstliche Intelligenz lernt, besser mit menschlicher
Sprache umzugehen, kann sie darin enthaltene
Stereotype aufspüren und reproduzieren. Das ist aber
nicht immer wünschenswert!

Michael Springer ist Schriftsteller und Wissenschaftsredakteur. Seit seiner Promotion


in ­theoretischer Physik pendelt er zwischen den »zwei Kulturen«.

 spektrum.de/artikel/1461021

A
pple hat Siri, Microsoft kommt mit Cortana, wird besonders bereitwillig dem Begriffsfeld »Helfer«,
und bei Amazon versteht Alexa fast jeden »Pfleger«, »Assistent« zugewiesen, während »männlich«
Wunsch, den ein sprechender Plastikzylinder zu schnell mit »Leiter«, »Chef«, »Anführer« assoziiert wird.
erfüllen vermag: Die Auffassungsgabe dieser Hingegen zögern die meisten Probanden auffällig, bei
»intelligenten persönlichen Assistenten« ist wirklich ausländisch klingenden Eigennamen oder exotischen
verblüffend. Hinter der Suggestion, dass ich mich mit Ethnien an »angenehm« und »freundlich« zu denken.
einem Ding unterhalte wie mit einem grenzenlos Caliskan und Bryson entwickelten nun einen Algo­
diensteifrigen Menschen, stecken Jahrzehnte millio­ rithmus namens WEAT (Word-Embedding Association
nenschwerer Entwicklungsarbeit für künstliche Intelli­ Test). Er spürt in einem aus dem Internet entnomme­
genz (KI) und maschinelles Lernen. nen Fundus von 2,2 Millionen englischen Worten mit
Die automatisierte Sprachkompetenz der fort­ KI-Methoden statistische Begriffszusammenhänge
schrittlichsten KI-Programme lässt sich aber nicht bloß auf. Dabei treten dieselben Stereotype zu Tage wie im
nutzen, um Kunden zu befriedigen, sondern auch, um IAT; beispielsweise korreliert der rassisch gemeinte
Forschern sozialpsychologische Erkenntnisse über Begriff »weiß« deutlich stärker mit »angenehm« als der
Mensch und Maschine zu verschaffen. Die Computer­ Begriff »schwarz«.
wissenschaftlerinnen Aylin Caliskan von der Princeton

D
University in New Jersey (USA) und Joanna J. Bryson er IAT-Schöpfer Greenwald begrüßt den WEAT
von der University of Bath in England sind der Frage als willkommene Erweiterung seines Assozia­
nachgegangen, inwieweit eine lernfähige Sprachsoft­ tionstests. Man könnte damit ohne große Perso­
ware automatisch die unter Menschen verbreiteten nentests historische Veränderungen verfolgen
vorgefassten Meinungen reproduziert (Science 356, und etwa den mutmaßlichen Trend belegen, dass die
S. 183–186, 2017). Vorurteile gegen Schwule und Lesben vielerorts mit
der Zeit abnehmen (Science 356, S. 133 –134, 2017).
Aus alldem folgt aber auch: Die künstliche Kommu­
Künstliche Kommunikation läuft nikation – ob mit dem Internet oder zwischen Mensch
und Maschine – läuft nicht »politisch korrekter« ab als
nicht »politisch korrekter« der sonstige Sprachverkehr. Die Unterhaltung mit

ab als sonstiger Sprachverkehr einem intelligenten persönlichen Assistenten wird von


den üblichen Vorurteilen geprägt. Nicht ohne Rücksicht
darauf spricht zum Beispiel ein dienstfertiger Automat,
Die Forscherinnen nahmen sich den Impliziten Asso­ sei es Navi oder Siri, in der Regel mit weiblicher Stimme.
ziationstest (IAT) des US-Psychologen Anthony G. Green­ Also werden die Debatten über Political Correctness
wald zum Vorbild, ein klassisches Werkzeug zum Mes­ demnächst die Mensch-Maschine-Kommunika­tion
sen menschlicher Vorurteile: Testpersonen sollen auf erfassen: Dürfen Automaten gängige Vorurteile bestär­
einem Computerschirm erscheinende Namen und Be­ ken? Sollen Zensurprogramme die einschlägigen
griffe per Tastenklick bestimmten Kategorien zuordnen, Algorithmen von allen Stereotypen reinigen? Aber wie
wobei die Reaktionszeit gemessen wird. Dabei zeigt aussagekräftig sind ihre Antworten dann? Taugt eine
sich – und zwar viel deutlicher als bei persönlichen Be- derart gesäuberte Kunstsprache noch zur Wiedergabe
fragungen – die Macht sozialer Stereotype. »Weiblich« der sozialen Wirklichkeit?

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Die nächste Ausgabe dieser Reihe ist ab 23. 10.  2020 im Handel.

VORSCHAU
DIE GROSSEN ETHISCHEN FRAGEN THEMEN SIND UNTER ANDEREM:
Forschung und Wissenschaft dienen allein dem Wohl der Mensch-
heit – so lautet das Kredo der modernen Naturwissenschaft und MARIONETTEN
Medizin. Doch stimmt das überhaupt? Auch Wissenschaftler sind
DER INDUSTRIE
fehlbare Menschen. Manchmal erliegen sie den Verlockungen
aus Industrie und Wirtschaft – und manchmal wird der Vorwurf Forscher, die von Pharmaunterneh-
laut, ihr Forscherdrang schade mehr, als er nutze. men bezahlt werden, kommen in ihren
Studien oft zu anderen Ergebnissen
als unabhängige Wissenschaftler. Wie
lässt sich die Einflussnahme in der
Biomedizin eindämmen? Zunächst gilt
es, Interessenkonflikte rückhaltlos
offenzulegen.

GRÜNE
GENTECHNIK
Seit Jahrzehnten verändern Genetiker
das Erbgut von Pflanzen mit mole-
kularbiologischen Verfahren, um etwa
herbizidresistente, trockentolerante
oder ertragreichere Kulturgewächse
zu schaffen. Die Nachfrage danach
steigt – doch in Deutschland bleibt die
Grüne Gentechnik umstritten.

MENSCHENRECHTE
FÜR TIERE?
Haben Tiere ein Recht auf Freiheit und
Unversehrtheit? Nein – die aktuellen
Tierschutzgesetze genügen und
müssen nur konsequent angewandt
werden, sagen die einen. Andere
halten dagegen: Tierrechte sollten
D-KEINE / GETTY IMAGES / ISTOCK (SYMBOLBILD MIT FOTOMODELL); BEARBEITUNG: SPEKTRUM DER WISSENSCHAFT

zumindest teilweise den Menschen-


rechten angeglichen werden.

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