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GTE_Konzepte des Todes Handout WS 2022/23

Medizin und Tod im soziokulturellen Kontext


Der menschliche Tod kann medizinisch als Ergebnis eines nicht kompensierbaren organischen
Schadens oder biologischen Alterungs- und Krankheitsprozesses beschrieben werden, dessen
Bedingungen durch naturwissenschaftliche Erkenntnis verstanden werden können und der
ggf. durch Intervention für eine bestimmte Zeit umgangen bzw. verzögert werden kann. Die
Begegnung mit personalem Sterben und Tod stellt für alle professionell Begleitenden eine
ethische Herausforderung dar, deren Vielschichtigkeit sich je nach Kontext im
Gesundheitswesen entscheidet (ist die Abtreibung ungeborenen Lebens ethisch zu
rechtfertigen? Welche Formen der Sterbehilfe gibt es – wie lassen sie sich, wenn überhaupt,
ethisch rechtfertigen? Inwiefern verhindert die moderne Intensivmedizin ein
menschenwürdiges Sterben? Gibt es so etwas wie ein ‚gutes Sterben‘? etc.). Diese Fragen
lassen sich nicht durch Erkenntnisse der medizinischen Wissenschaft klären. Sie werden stark
durch politische und gesellschaftliche Faktoren geprägt. Systematisch und wissenschaftlich
vertieft werden sie in geisteswissenschaftlichen Fächern, von denen auch die Medizinethik
abhängt. Die Auseinandersetzung mit der eigene(n) Sterblichkeit im Durchgang durch
theoretische Todeskonzeptionen trägt dazu bei, eine Reflexionsraum auf die eigene Rolle bei
der Versorgung und Begleitung Sterbender zu eröffnen.
Wie wir unseren und den Tod anderer erleben hängt ab von sozio-kulturellen Kontexten, die
sich im Wandel befinden. Expertendiskurse über den Tod (Medizin / Philosophie / Theologie
/ Psychologie etc.) prägen unsere Auffassung vom Tod wesentlich mit. Im 20. Jh. hat sich die
Wahrnehmung des Todes stark verändert (in säkularisierten Gesellschaften schwindet der
Glauben an das Fortleben nach dem Tod; das Sterben und der Tod wurden vom Bereich des
Privaten in dafür vorgesehene Institutionen verlegt, sie wurden durch die Medizin
professionalisiert und technisiert; die andauernde mediale Präsenz banalisiert den Tod; etc.).
Einerseits spricht man von einer Verdrängung des Todes in modernen Gesellschaften, deren
diesseits orientierte Werte keinen Platz lassen für eine menschliche Sterbekultur.
Andererseits wird festgestellt, dass sich durch die Entwicklung der individuellen
Todesverwaltung („Sterbehilfe“, „Patientenverfügung“) und der Palliativmedizin ein neues
Bewusstsein vom individuellen Tod etabliert.
Der Tod aus biogerontologischer Perspektive (Aubrey de Grey)
Der Bioinformatiker und Biogerontologe Aubrey de Grey arbeitet im Silicon Valley neben
anderen Forschern an einem alten Menschheitstraum: der Abschaffung des Alterns und am
Erhalt „ewiger Jugend“. Wenn man verstünde, welche biologischen Prozesse zum Altern (und
durch es vermittelt zum Tod) führen, könnte man die ‚Natur des Menschen‘, zu der
Sterben/Tod vermeintlich gehört, verändern. Diese Form lebensanschaulich geprägter
Forschung evoziert ethisch-philosophischen Diskussionsbedarf: Gehört das Altern/Sterben
nicht notwendig zum Leben? Ist das mechanistisch-funktionalistische Menschenbild des
menschlichen Körpers als Maschine adäquat? Inwieweit stigmatisiert diese Forschung einen
beträchtlichen Teil der Bevölkerung? Ist ein gutes Leben nicht abhängig von der Tatsache
unserer Endlichkeit/Sterblichkeit? Wird ein Leben, nur weil es länger dauert, auch ‚besser‘?
Ist die Idee unendlichen Lebens überhaupt adäquat vorstellbar?
Dörendahl/Rauh/Ries
Der Tod im Denken Rainer Marten (Das Teilen von Leben und Tod)
Rainer Marten unterscheidet drei idealtypisierte Perspektiven auf den Tod, für die alle
gleichermaßen gilt: dass der Tod eintritt, ist gewiss, doch wann er eintritt, ist ungewiss. Der
„Priester“ als Priester weiß glaubend um den Tod aufgrund des religiösen Dogmas, seiner
Unterschiedenheit von Gott. Der „Arzt“ als Arzt orientiert sein Können am Leben, der Tod ist
dem Arzt Zeichen seiner Hilfs- und Kunstlosigkeit und ein „Urschaden“, der irgendwann den
letzten Erfolg seiner Arbeit untergräbt. Für den „Philosophen“ als Philosophen ist der Tod
tendenziell ein Skandalon, weil er das Ende der Vernunftarbeit wäre. Für Marten gilt dagegen:
Wir brauchen die Gewissheit des Todes für das Leben. Marten unterscheidet bloße
„Kopfgewissheiten“ von 3 lebenspraktischen Gewissheiten. 1) Lieben und Geliebtsein, 2)
Brauchen und Gebrauchtsein und 3) Zeithaben. Sie erhalten ihre Bedeutung durch die eine
Grundgewissheit, dass wir sterben und einst tot sein werden. Ohne den Tod fehlte den drei
lebenspraktischen Gewissheiten der letzte tragende Halt und der letzte, alles beendende
Einhalt. Zentral ist bei Marten die analoge Funktion, welche der soziale Andere und der Tod
je für ein Individuum haben. Wir brauchen den Anderen, wie wir den Tod („den anderen
Anderen“) brauchen, zur lebensbefähigenden Endlichkeit (sozial, zeitlich, räumlich). Marten
veranschaulicht am Beispiel der Liebe (Ehe/Mutter-Kind-Beziehung), inwiefern der Tod für
deren spezifische Qualität unabdingbar ist. Wir brauchen den (gewissen) Tod des Anderen für
das, was wir als Leben erfahren, und wir können den (potentiellen oder tatsächlich
eingetretenen) Tod des Anderen fruchtbar machen für unser Leben. Der Mensch stirbt nie
nur für sich, sondern immer auch für andere. Dagegen ist man nie für sich selbst tot, sondern
immer nur für andere. Der Tod ist dem Lebenden ein Nächster, ein „unübertrefflicher
Intimus“. Das gelingende Leben ist nach Marten abhängig von einem Ureinverständnis mit
dem Tod. In der Gegenwart des Todes ist das Leben sich selbst gegenwärtig. Gelingendes
Leben und der gelingende Tod hängen vom Umstand ab, dass man, wenn man seinen Tod
stirbt, zugleich anderen stirbt. Sterben und Totseinlassen sind ethisch anspruchsvolle
Prozesse, die u.a. durch Abschiednehmen vom Brauchen und Gebrauchtsein und durch
Trauerarbeit bedingt werden. Erst im Vergessenwerden ist der Abschied vom Leben
vollständig gelungen.

Weiterführende Literatur:

Gehring, Petra (2013): Theorien des Todes zur Einführung. Hamburg: Junius.
Hilt, Annette/Jordan, Isabella/Frewer, Andreas (2010) (Hrsg.): Endlichkeit, Medizin und
Unsterblichkeit. Geschichte – Theorie – Ethik. Stuttgart: Franz Steiner Verlag.
Nager, Franz (1998): Der Arzt angesichts von Sterben und Tod. In: Ethik Med (10), 14-25.
Wittwer, Héctor et al. (2010) (Hrsg.): Sterben und Tod. Ein interdisziplinäres Handbuch. Stuttgart: J. B.
Metzler.

Dörendahl/Rauh/Ries

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