Beruflich Dokumente
Kultur Dokumente
I. Kontext – Voraussetzungen
13
Dietrich von Engelhardt
14
Lebenskunst in Naturphilosophie und Medizin
15
Dietrich von Engelhardt
16
Lebenskunst in Naturphilosophie und Medizin
17
Dietrich von Engelhardt
18
Lebenskunst in Naturphilosophie und Medizin
19
Dietrich von Engelhardt
20
Lebenskunst in Naturphilosophie und Medizin
21
Dietrich von Engelhardt
22
Lebenskunst in Naturphilosophie und Medizin
23
Dietrich von Engelhardt
Gerade eine von Grund aus gesunde Natur äußert sich ebenso darin, daß
sie auch, wenn man so sagen darf, gesunder Krankheiten fähig ist, d. h.
daß Krankheiten – physische oder psychische – von welchen nun einmal
kein Sterblicher ganz unangetastet bleibt, in einem gewissen regelmäßi-
gen Gange und mit kräftigen und vollkommenen Entscheidungen sich
entwickeln und vorübergehen.38
24
Lebenskunst in Naturphilosophie und Medizin
25
Dietrich von Engelhardt
Der psychologische Arzt muß als Virtuose seiner Kunst alle Seiten des
Individuums richtig zu greiffen verstehen, und entweder durch ein geni-
alisches oder instinktmäßiges Eingreifen in die Kette des Ganzen, jede
Disharmonie in Harmonie aufzulösen, und so das ganze Individuum
wieder mit sich ins Gleichgewicht zu bringen wissen.45
Indem nämlich das Stärkere das Schwächere auf der Einen Seite sich
gewissermassen assimilirt, leitet es demselben im nämlichen Augenblick,
wo es in dasselbe eingreift, von seiner Kraft zu, denn auf diese Weise
kann es ja allein Besitz von ihm ergreifen, dass es sich ihm mittheilt. Das
Schwächere aber, statt sich ohne Weiteres assimiliren zu lassen, assimi-
lirt sich vielmehr die ihm mitgetheilte Kraft, und zwar um so leichter, da
sie in freundschaftlichem Rapport zu ihm steht, und erhält also dadurch
Zuwachs an Kraft.48
26
Lebenskunst in Naturphilosophie und Medizin
27
Dietrich von Engelhardt
Ich besuchte Hölderlin im Clinikum und Bedauerte ihn sehr, daß ein so
schönner Herlicher Geist zu Grund gehen soll. Da im Clinikum nichts
weiter mit Hölderlin zu machen war, so machte der Canzler Autenrith
mir den Vorschlag Hölderlin in mein Hauß aufzunehmen, er wüßte kein
pasenderes Lokal.54
28
Lebenskunst in Naturphilosophie und Medizin
29
Dietrich von Engelhardt
Die wahre Kunst lange zu leben besteht also darin, daß wir alle Orga-
ne verhältnismäßig und abwechselnd anstrengen, und keins allein; daß
wir sie nicht zu stark anstrengen, in gehörigen Zwischenräumen ihnen
wieder Ruhe verstatten, keine stärkeren Reize anwenden, als zur Erhal-
tung der Tätigkeit notwendig ist; in betreff der Leidenschaften, Luft,
Nahrung usw. jedes Organ durch seine spezifische, ihm angemessene,
und nicht durch widernatürliche Reize in Bewegung setzen. Allein nicht
immer können wir dieses, und nicht immer wollen wir es.67
Im Greisesalter ist das venöse System auf eine entschiedene Weise vor-
waltend. Die Thätigkeit der Sinne nimmt ab, mit dieser der Genuß; die
Arterien verknochen, die rüstige Thätigkeit des arteriellen Bluts und der
Muskeln hört auf, mit dieser erstirbt die That; selbst die Energie, mit
welcher der Mann die Zukunft umfaßt, erlahmt; die Sehnsucht verliert
sich in ruhige Gleichgültigkeit, und das erlöschende Leben ruhet aus in
dem Urgrunde des Lebens und des Todes.68
30
Lebenskunst in Naturphilosophie und Medizin
sen wir stets vor Augen behalten, wenn wir irgend Etwas, das
eine individuelle Lebensfortschreitung zeigt, richtig begreifen
wollen«69; diese Auffassung trifft auch für das Alter zu, das mit
den formalen Prinzipien der Sphäre, Spirale und Individuali-
sierung interpretiert wird. Auf diese Weise lassen sich ebenfalls
die rascheren Veränderungen am Anfang wie am Ende des Le-
bens – Pole der Sphäre – und die langsameren Evolutionen und
Involutionen auf der Höhe des Lebens – Äquator der Sphäre
– einsichtig machen.
In ihren Autobiographien berichten Naturforscher und Me-
diziner der Romantik über den Umgang mit Altern und Alter
in der Perspektive von Physik und Metaphysik. Karl Friedrich
Burdach (1776–1847) beschreibt konkret und differenziert in
seinem Rückblick auf mein Leben (1846) die biologischen wie
seelisch-geistigen und sozialen Veränderungen:
im Winter von 1844/45 begann ich Greis zu werden, wie ich denn auch
seitdem in dem Greisenthume ganz ansehnliche Fortschritte gemacht
habe. Neben allgemeiner Entkräftung, insonderheit neben Abnahme
der Muskelkraft so wie der Sinnesschärfe, haben sich die psychischen
Eigenthümlichkeiten der Alterschwäche eingestellt: Vergeßlichkeit, Zer-
streutheit, Zaghaftigkeit, Unentschlossenheit usw.70
Entscheidend sei der Verlust der Lebenskraft, die bei ihm oh-
nehin recht schwach ausgebildet gewesen sei. Wissenschaftli-
che Beschäftigungen hätten an Attraktivität verloren, strengten
ihn auch zu sehr an, verstärkt habe sich dagegen die Freude
an körperlichen Genüssen. Entsprechende Darstellungen und
Deutungen im Geist der romantisch-idealistischen Epoche fin-
den sich auch in den Lebenserinnerungen von Gotthilf Hein-
rich von Schubert, Henrik Steffens, Carl Gustav Carus sowie
anderen Naturforschern und Medizinern.
Lebenskunst meint schließlich und zentral Sterbekunst (ars
moriendi). Erst in der Bewältigung von Sterben und Tod und
nicht in ihrer Verdrängung erweist sich, wie Hegel überzeugt
ist, die Kraft des Geistes: »Aber nicht das Leben, das sich vor
dem Tode scheut und von der Verwüstung rein bewahrt, son-
dern das ihn erträgt und in ihm sich erhält, ist das Leben des
Geistes. Er gewinnt seine Wahrheit nur, indem er in der abso-
luten Zerrissenheit sich selbst findet.«71 Das Leben endet »mit
der Einbildung der Gattung in die Einzelnheit, oder dieser in
jene, – mit dem Siege der Gattung über die Einzelnheit, mit
der abstracten Negation der letzteren, – mit dem Tode«.72 Nicht
jede Krankheit wird vom Organismus selbst oder mit thera-
31
Dietrich von Engelhardt
dann wird der Mensch erst wahrhaft unabhängig von der Natur, viel-
leicht im Stande sogar seyn verlorne Glieder zu restauriren, sich blos
durch seinen Willen zu tödten, und dadurch erst wahre Aufschlüsse über
Körper – Seele – Welt, Leben – Tod und Geisterwelt zu erlangen.
(HKA II, 583)
32
Lebenskunst in Naturphilosophie und Medizin
Zeit aufzuhören, ja zur rechten Zeit zu sterben, ist auch ein Teil
der rechten Lebenskunst.77 Steffens beendet seine zehnbändige
Autobiographie kurz vor seinem Tod in gläubiger Zuversicht:
»So bin ich bereit das Leben zu verlassen, wie ich früher mein
Vaterland verließ. Die um mich herrschende Verwirrung stört
mich nicht, und meine jugendliche Hoffnung liegt vor mir; sie
ist nicht eine abstracte von mir getrennte: sie ist im vollsten Sin-
ne Meine.«78
IV. Perspektiven
33
Dietrich von Engelhardt
34
Lebenskunst in Naturphilosophie und Medizin
35
Dietrich von Engelhardt
19 Ebd., S. 213.
20 Georg Friedrich Wilhelm Hegel: System der Philosophie. Zweiter Teil, Die Na-
turphilosophie, 1830. In: Sämtliche Werke. Bd. 9. Stuttgart-Bad Cannstatt 3. Aufl.
1958, § 371, Zusatz, S. 697.
21 Ebd., § 373, S. 708 f.
22 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling: System des transzendentalen Idealismus,
1800. In: Ausgewählte Schriften von 1799–1801, Darmstadt 1982, S. 340.
23 Ebd., S. 409 f.
24 Hegel: System der Philosophie (s. Anm. 20), § 247, S. 49.
25 Ebd., Zusatz, S. 50.
26 Johann Wilhelm Ritter: Die Physik als Kunst. Ein Versuch, die Tendenz der Phy-
sik aus der Geschichte zu deuten. München 1806, S. 14.
27 David Ferdinand Koreff: Ueber die in einigen Gegenden Italiens herrschende
böse Luft. In: Magazin für die gesamte Heilkunde 9 (1821), S. 152 f.
28 Carl Gustav Carus: Von den Naturreichen, ihrem Leben und ihrer Verwandt-
schaft. In: Zeitschrift für Natur- und Heilkunde 1 (1820), S. 72.
29 Christoph Wilhelm Hufeland: Die Kunst das menschliche Leben zu verlängern.
Jena 2. Aufl. 1797, S. XII.
30 Immanuel Kant: Der Streit der Fakultäten, 1798. In: Werke. Bd. 9. Darmstadt
1983, S. 391.
31 Immanuel Kant: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, 1796/97. In: Werke.
Bd. 10. Darmstadt 1983, S. 551.
32 Ebd., S. 372.
33 Georg Friedrich Wilhelm Hegel an Karl Joseph Hieronymus Windischmann,
27.05.1810. In: Briefe von und an Hegel, Bd. 1: 1785–1812, Hamburg 1952, S. 314.
34 Hegel: System der Philosophie (s. Anm. 20), § 376, Zusatz, S. 719.
35 Georg Friedrich Wilhelm Hegel: System der Philosophie. Dritter Teil, Die Philo-
sophie des Geistes, 1830. In: Sämtliche Werke. Bd. 10. Stuttgart-Bad Cannstatt 4.
Aufl. 1965, § 408, S. 207.
36 Carl Gustav Carus: Einige Worte über das Verhältnis der Kunst, krank zu sein zur
Kunst, gesund zu sein. Leipzig 1843, S. 15.
37 Ebd., S. 36 f.
38 Carl Gustav Carus: Goethe. Zu dessen näherem Verständnis, 1843. Dresden 1927,
S. 80.
39 Carl Gustav Carus: Lebenserinnerungen und Denkwürdigkeiten. Th. 1. Leipzig
1865, S. 36 ff.
40 Carus, Carl Gustav: Erfahrungsresultate aus ärztlichen Studien und ärztlichem
Wirken während eines halben Jahrhunderts. Leipzig 1859, S. V.
41 Johann Christian August Heinroth: Anweisung für angehende Irrenärzte. Leipzig
1825, S. 4.
42 Carl Gustav Carus: Psyche. Zur Entwicklungsgeschichte der Seele. Stuttgart 1846,
2. Aufl. 1851, S. 505.
43 Johann Christian Reil: Rhapsodieen über die Anwendung der psychischen Cur-
methode auf Geisteszerrüttungen. Halle 1803, S. 137.
44 Johann Christian Reil: Über den Begriff der Medizin und ihre Verzweigungen,
besonders in Beziehung auf die Berichtigung der Topik in der Psychiaterie. In:
Reil / Johann Christoph Hoffbauer (Hrsg.): Beyträge zur Beförderung einer Kur-
methode auf psychischem Wege. Bd. 1. Halle 1808, S. 170.
45 Alexander Haindorf: Versuch einer Pathologie und Therapie der Geistes- und Ge-
müthskrankheiten. Heidelberg 1811, S. 341.
46 Carl Wilhelm Ideler: Grundriß der Seelenheilkunde. T. 2. Berlin 1835, S. 899.
47 Johann Christian August Heinroth an Heinrich August Damerow, 18. März 1842.
In: Allgemeine Zeitschrift für Psychiatrie 1 (1844), S. 159.
48 Carl Eberhard Schelling: Ideen und Erfahrungen über den thierischen Magnetis-
mus. In: Jahrbücher der Medicin als Wissenschaft Band 2 (1807), S. 17 f.
49 Reil: Über den Begriff der Medizin (s. Anm. 44), S. 278.
36
Lebenskunst in Naturphilosophie und Medizin
50 Ebd., S. 278.
51 Henrik Steffens an Johann Diederich Gries, 29.4.1799. In: Wolfgang Feigs: De-
skriptive Edition auf Allographie-, Wort- und Satzniveau, demonstriert an hand-
schriftlich überlieferten, deutschsprachigen Briefen von H. Steffens. T. 2,1. Bern
1979, S. 1.
52 Haindorf: Versuch einer Pathologie (s. Anm. 45), S. 221.
53 Verf.: Friedrich Hölderlins Geisteskrankheit in der Perspektive der Medizin und
Philosophie um 1800. In: Hölderlin-Jahrbuch 38 (2012–2013) (2013), S. 199–224.
54 Ernst Zimmer an unbekannten Empfänger, 22.12.1835. In: Friedrich Hölderlin:
Sämtliche Werke. Bd. 7, 3. T. Stuttgart 1974, S. 134.
55 Johanna Christiane Gock: Mein Letzter Wille, 20.09.1812. In: Friedrich Hölder-
lin: Werke. Bd. 7, 2, Dokumente, 1794–1822, Stuttgart 1972, S. 392.
56 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling an Georg Friedrich Wilhelm Hegel, 11. Juli
1803. In: Briefe von und an Hegel (s Anm. 33), S. 71.
57 Georg Friedrich Wilhelm Hegel an Friedrich Wilhelm Joseph Schelling, 16. Au-
gust 1803. In: Ebd., S. 73.
58 Johann Wolfgang von Goethe an Charlotte von Stein, 08.06.1787. In: Briefe. Bd. 2.
Hamburg 1964, S. 60.
59 Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit,
1784–91. Hildesheim 1967, S. 373.
60 Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit,
1784–91. In: Werke. Bd. 3,1. München 2002, S. 228.
61 Georg Friedrich Wilhelm Hegel: Vorlesungen über die Geschichte der Philoso-
phie, 1833. Bd. 3. In: Sämtliche Werke. Bd. 19. Stuttgart-Bad Cannstatt 4. Aufl.
1965, S. 118.
62 Kant: Der Streit der Fakultäten (s. Anm. 30), S. 374.
63 Ebd., S. 375.
64 Ebd., S. 391.
65 Hegel: System der Philosophie (s. Anm. 35), § 396, S. 94.
66 Ebd., S. 108.
67 Johann Christian Reil: Von der Lebenskraft, 1796. Leipzig 1910, S. 90.
68 Henrik Steffens: Anthropologie. Bd. 2. Breslau 1822, S. 451.
69 Carl Gustav Carus: System der Physiologie. T. 1. Dresden 1838, S. 285 f.
70 Karl Friedrich Burdach: Rückblick auf mein Leben. Selbstbiographie. Leipzig
1848, S. 570 f.
71 Georg Friedrich Wilhelm Hegel: Phänomenologie des Geistes, 1807. In: Sämtli-
che Werke. Bd. 2. Stuttgart-Bad Cannstatt 4. Aufl. 1965, S. 34.
72 Hegel: Philosophie des Geistes (s. Anm. 35), § 396, S. 95.
73 Hegel: Naturphilosophie (s. Anm. 20), § 375, S. 717.
74 Ebd., Zusatz, S. 717.
75 Steffens: Anthropologie (s. Anm. 68), S. 451.
76 Burdach: Rückblick (s. Anm. 70), S. 573 f.
77 Carl Gustav Carus: Mnemosyne. Blätter aus Gedenk- und Tagebüchern. Pforz-
heim 1848. S. 162.
78 Henrik Steffens: Was ich erlebte. Bd. 10. Breslau 1844. Nachdruck, Stuttgart-Bad
Cannstatt 1996, S. 493.
79 Karl Jaspers: Krankheitsgeschichte, 1938. In: Ders.: Schicksal und Wille. Autobio-
graphische Schriften. München 1967, S. 109–142.
80 Karl Jaspers: Der Arzt im technischen Zeitalter, 1958. München 1986, S. 53.
37