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Krankheit und Lebenskunst – Goethe als Patient im Urteil


des Arztes, Naturphilosophen und Malers Carl Gustav
Carus1

Dietrich v. Engelhardt

I. Kontext

Gesundheit und Krankheit bilden in heutiger Sicht oder für viele


Menschen der Gegenwart einen Gegensatz, scheinen sich
auszuschließen und unterliegen überwiegend einer einseitig normativen
Bewertung; Gesundheit wird meist für positiv gehalten, Krankheit
dagegen für negativ.

In der Antike wurde in Abweichung von diesem dichotomischen


Verständnis noch von einem dritten Zustand zwischen Gesundheit und
Krankheit gesprochen, der sogenannten Neutralität, in der weder
vollkommene Gesundheit noch vollkommene Krankheit gegeben sein
sollte (ne utrum = keins von beiden) und der zugleich für den normalen
Zustand des Menschen gehalten wurde. Entscheidende Bedeutung für
den glückenden Umgang mit Gesundheit, Neutralität und Krankheit
wurde der Lebenskunst (ars vivendi) zugeschrieben, die vor allem in die
Selbstverantwortung jedes einzelnen Menschen gelegt wurde - als
ganzheitliche Diätetik im Umgang mit den sechs Bereichen: Licht und
Luft, Bewegung und Ruhe, Schlafen und Wachen, Essen und Trinken,
Ausscheidungen und vor allem Gefühle.

Im Mittelalter wurden Gesundheit und Krankheit in die religiöse


Perspektive der Transzendenz gestellt. Im Übergang von Gesundheit zu
Krankheit und von Krankheit wieder zu Gesundheit sollte der Mensch
individuell den heilsgeschichtlichen Prozess vom Paradies über das
irdische Leben und zurück zum Paradies vollziehen oder antizipieren
können. Krankheit gehört zum Diesseits hinzu, erst im Jenseits kommt
es zur wahren Gesundheit. Krankheit konnte in dieser Sicht sogar als
heilsam (infirmitas salubris) und Gesundheit als verderblich (sanitas
perniciosa) bewertet werden. Tugenden und Werke der Barmherzigkeit
galten als Orientierungen und Hilfe in Gesundheit, Krankheit und im
Sterben. Lebenskunst oder Diätetik im umfassenden Sinn der Antike
1
Helmut Koopmann in Dankbarkeit für stimulierende Begegnungen und vielfältige Anregungen im Dialog von
Literatur und Medizin zum 75. Geburtstag herzlich zugeeignet.
2

spielte weiterhin eine zentrale Rolle; Neben den etablierten Formen der
Therapie bot vor allem der Glaube Unterstützung und Trost, Lebenskunst
(ars vivendi) hieß immer auch Sterbekunst (ars moriendi).

Die Neuzeit führte mit der Naturalisierung und Individualisierung zu einer


Verherrlichung von Jugend, Schönheit und Gesundheit. Säkularisierung
bedeutet Verweltlichung des Paradieses, Renaissance nicht nur
Rückkehr zur Antike, sondern auch Wiedergeburt im Diesseits; die
Verheißungen der Auferstehung sollten vor allem über die Medizin und
die Naturwissenschaften bereits in diesem Leben und nicht erst im
Jenseits erreicht werden können. Gesundheit und Krankheit wurden
zunehmend als Gegensätze begriffen und mit der eindeutigen
Bewertung von positiv und negativ verbunden; Diätetik wurde auf Diät
als Umgang mit Essen und Trinken reduziert, der Schwerpunkt der
Therapie verlagerte sich auf Medikament und Operation. Weltweite
Anerkennung fand die Definition der Gesundheit durch die
Weltgesundheitsorganisation aus dem Jahre 1946: „Gesundheit ist der
Zustand vollständigen physischen, geistigen und sozialen Wohlbefindens
(physical, mental and social well-being) und nicht allein die Abwesenheit
von Krankheit und Schwäche.“2 Die Einbeziehung sozialer und geistiger
Dimensionen über die Biologie hinaus spricht für diese Definition, ihr Ziel
kann allerdings anthropologisch nicht überzeugen, ist unrealistisch,
weckt illusionäre Hoffnungen. Mit Recht kritisiert der Psychiater und
Philosoph Karl Jaspers: „Solche Gesundheit gibt es nicht. Nach diesem
Begriff sind in der Tat alle Menschen und jederzeit irgendwie krank.“ 3
Menschliche Gesundheit kann angemessener als Fähigkeit verstanden
werden, mit Krankheit, Behinderung und Schmerz sowie letztlich dem
eigenen und dem Tod anderer Menschen leben zu können.

Im Spektrum dieser Positionen und vor diesem historischen Hintergrund


gewinnen Literatur und Künste, Philosophie und Theologie mit ihren
Darstellungen und Deutungen eine besondere Bedeutung. Anregungen
bieten immer wieder auch Menschen der Vergangenheit, Kranke wie
Ärzte, die andere und konträre Standpunkte und Wertorientierungen
gegenüber den dominierend säkularisierten und positivistischen
Tendenzen der Neuzeit vertreten und auch gelebt haben. Zu ihnen
gehören mit ihren Einstellungen und ihrem Verhalten in der Epoche der
Klassik und Romantik um 1800 als Kranke Schiller und Goethe, Novalis,
Hölderlin und Kleist sowie als Ärzte Johann Christian Reil, Justinus
Kerner, Johann Christian August Heinroth, Carl Wilhelm Ideler und vor
allem Carl Gustav Carus, der in Goethe das große Beispiel einer wahren

2
World Health Organization: Basic documents, Genf 1976, S.1.
3
Karl Jaspers: Der Arzt im technischen Zeitalter,1958, München 1986, S.53.
3

Lebenskunst sah, die eine Kunst des Krankseins einschließt; Goethe


war, so das Urteil von Carus: „gesunder Krankheiten fähig.“ 4

II. Carus – Leben, Werk, Kontakte

Der am 3. Januar 1789 in Leipzig geborene Carl Gustav Carus


verkörpert eindrucksvoll die Einheit von Wissenschaft und Spekulation,
Physik und Metaphysik, ärztlichem Engagement und künstlerischer
Produktivität.5 Der Vater ist Färbereibesitzer, aus der Familie der Mutter
stammen Naturforscher und Ärzte. Nach dem Besuch der Thomasschule
in Leipzig studiert Carus ab 1704 an der dortigen Universität Medizin,
wird 1811 mit der Arbeit De uteri rheumatismo promoviert und habilitiert
sich im gleichen Jahr mit dem Specimen biologiae generalis (dt. 1987) –
als erster in der Geschichte der Medizin – für das Fach „Vergleichende
Anatomie“. Zu seinen Lehrern zählen Karl Friedrich Burdach, Johann
Christian Gottfried Joerg und Johann Christian August Heinroth. Großen
Einfluss üben Schelling, Lorenz Oken, Goethe, Alexander von Humboldt
und Christian Friedrich Krause aus. 1815 wird Carus zum Professor für
Frauenheilkunde an der Chirurgisch-Medizinischen Akademie und
Direktor der Entbindungsanstalt in Dresden berufen und 1827 zum
königlichen Leibarzt sowie Hof- und Medizinalrat ernannt. 1862 erfolgt
die Wahl zum Präsidenten der Deutschen Akademie der Naturforscher
Leopoldina. Am 28. Juli 1869 stirbt Carus in Dresden. Von Zustimmung
und Dankbarkeit ist sein Urteil über das zurückliegende eigene Leben
erfüllt: „Ein langes und reiches Leben war mir gegönnt, und ich scheide
davon als von keinem verfehlten Kunstwerk, vielmehr mit innigem Dank
gegen Gott und mit aufrichtiger Liebe zu den Menschen!“ 6 Rezeption und
Resonanz seines Werkes sind bis in die Gegenwart nicht abgebrochen.

In seinen Forschungen beschäftigt sich Carus mit philosophischen,


naturwissenschaftlichen, medizinischen, psychologischen und ebenso
kunsttheoretischen Themen. Phänomenen der anorganischen und
organischen Natur wie körperlichen Krankheiten und seelischen Leiden
gilt gleichermaßen sein Interesse. Zu Physiologie, Pathologie und
Therapie werden empirische und philosophische Beiträge veröffentlicht.
4
Carl Gustav Carus: Goethe. Zu dessen näherem Verständnis, 1843, Dresden 1927, S.80.
5
Wolfgang Genschorek: Carl Gustav Carus. Arzt, Künstler, Naturforscher, Leipig 1978, 41986; Stefan Grosche:
Lebenskunst und Heilkunde bei Carl Gustav Caus (1789-1869). Anthropologische Medizin in Goethescher
Weltanschauung, med. Diss. Göttingen 1993; Anja Häse: Carl Gustav Carus. Zur Konstruktion bürgerlicher
Lebenskunst, Dresden 2001; Berna Kirchner: Carl Gustav Carus, seine „poetische“ Wissenschaft und seine
Kunsttheorie, sein Verhältnis zu Goethe und seine Bedeutung für die Literaturwissenschaft, Bonn 1962; Kirsten
Kümmel-Jebens: Die Medizin in der Autobiographie von Carl Gustav Carus (1789-1869), med. Diss. Lübeck
1994; Jutta Müller-Tamm: Kunst als Gipfel der Wissenschaft. Ästhetische und wissenschaftliche Weltaneignung
bei Carl Gustav Carus, Berlin 1995; Marianne Prause: Carl Gustav Carus. Leben und Werk, Berlin 1968.
6
Carl Gustav Carus: Testament, 1869, n. Otto Carus: C.G. Carus in seinem Antlitz, Gotha 1930, S.41.
4

Alle normalen und abnormen Zustände des bewußten und unbewußten


Seelenlebens werden studiert. Zukunftsweisend für die Geschichte der
Psychologie und Psychoanalyse ist die Einsicht: „Der Schlüssel zur
Erkenntnis vom Wesen des bewußten Seelenlebens liegt in der Region
des Unbewußtseins.“7 Seine Theorie der Landschaftsmalerei findet
allgemeine Beachtung. Mit der Naturwissenschaft wie mit der Medizin
sind soziale und ethische Konsequenzen verbunden. Aus der Einheit von
Leib und Seele, von Natur und Kultur ergibt sich nach Carus eine
besondere Verantwortung des Menschen für die Natur: „Nicht nur der
Mensch der Erde bedarf zu seinem Leben und Thätigsein, sondern auch
die Erde des Menschen.“8 Liebe soll die ethische Maxime des ärztlichen
Handelns sein, nur im „Gleichachten der Natur und des Geistes“ liegt der
„Schlüssel zu aller wahren Lebenskunst.“9

Zu den wiederholt aufgelegten und auch in andere Sprachen übersetzten


Hauptwerken von Carus gehören: Lehrbuch der vergleichenden
Zootomie (1818, 21834), Lehrbuch der Gynäkologie (1820, 31838),
Grundzüge der vergleichenden Anatomie und Physiologie (1825), Neun
Briefe über Landschaftsmalerei (1831, 21835), Psyche. Zur
Entwickelungsgeschichte der Seele (1846, 21851), Physis. Zur
Geschichte des leiblichen Lebens (1851), Symbolik der menschlichen
Gestalt (1853, 21858), Natur und Idee oder das Werdende und sein
Gesetz (1861). Mehrfach erscheinen von ihm Berichte über seine Reisen
nach Italien, England und Frankreich. Wiederholt setzt sich Carus mit
Goethe in separaten Veröffentlichungen, Monographie, Aufsätzen wie
auch kürzeren Passagen in seinen Publikationen auseinander. Seine
Lebenserinnerungen und Denkwürdigkeiten (1865/66, Ergänzungsband,
posth. 1931) sind ein reiches und kulturhistorisch bedeutendes Zeugnis
der Personen, Positionen, der Themen und sozialkulturellen Verhältnisse
der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts.

Neben seinen Kontakten mit Naturforschern und Ärzten ist Carus mit
Philosophen, Literaten und Künstlern der Zeit persönlich bekannt, zu
denen Schelling, Ludwig Tieck und Caspar David Friedrich gehören;
einen herausragenden Platz nimmt Goethe ein.

Zu einer Begegnung mit Goethe kommt es am 21. Juli 1821, als Carus
auf seiner ersten Reise nach Italien in Weimar Station macht und in
einem intensiven Gespräch von zwei Stunden neben kunsthistorischen
Themen vor allem verschiedene Fragen der Naturforschung erörtert:
Knochengerüst, Kopfwirbel, vergleichende Anatomie, Geologie der
7
Carl Gustav Carus: Psyche. Zur Entwickelungsgeschichte der Seele, Pforzheim 1846, S.1.
8
ders.: Von den Naturreichen, ihrem Leben und ihrer Verwandtschaft,in: Zeitschrift für Natur- und Heilkunde
1(1820)S.72.
9
ders.: Lebenserinnerungen und Denkwürdigkeiten, 1. Th., Leipzig 1865, S.314.
5

Gebirge, Bildung der Erdoberfläche, Farbenlehre. Zugleich bildet sich


Carus auch als Arzt ein Urteil über Goethes Erscheinung und Auftreten:
rüstiger Schritt, gerade, kräftige Haltung, kaum Veränderungen durch
das Alter fallen ihm besonders auf. „Die Jahre haben auf Goethe wenig
Eindruck gemacht, der Arcus senilis in der Hornhaut beider Augen
beginnt zwar sich zu bilden, aber ohne dem Feuer des Auges zu
schaden.“ Wie vielen Zeitgenosse findet auch Carus Goethes Augen
bemerkenswert, deren Feuer von ihm in eine Beziehung zur „Weichheit
des Dichtergemüts“10 gebracht wird. Eine weitere Begegnung findet nicht
mehr statt, was von Carus später wiederholt bedauert wird. Goethe
notiert sich in seinem Tagebuch für den 21. Juli 1821: „Dr. Carus von
Dresden besuchte mich; wir sprachen über den Schädel und dessen
Bildung aus sechs Wirbeln.“11

Neben diesem einmaligen Kontakt besteht die Verbindung über einen


Briefwechsel, der 1818 beginnt und bis 1831 anhält. 12 Immer wieder geht
es Carus, der Goethe auch mehrfach seine Publikationen zusendet, in
dieser Korrespondenz um Naturforschung und Kunst, stets zeigt er sich
zugleich besorgt um Gesundheit und Krankheit Goethes, erkundigt sich
nach seinen Stimmungen und seinem Wohlbefinden, nach „gewohnter
Kraft und Heiterkeit“13 und den Auswirkungen der Jahreszeiten, geht
aber nicht auf spezifische Krankheiten ein, von denen er über
verschiedene Personen erfahren hat, erteilt auch keine therapeutischen
Ratschläge. Goethe bezieht sich seinerseits in seinen Briefen nicht auf
Carus als Arzt, macht von seinen ärztlichen Beziehungen und
therapeutischen Bemühungen keine und von seinem körperlichen
Befinden nur indirekt Mitteilungen. „Möge nach der strengen Kälte die
milde Witterung auch Ihnen zu Gute kommen“, heißt es beispielsweise in
einem Brief an Carus vom 31. Januar 1823.14

Übereinstimmungen zwischen Goethe und Carus bestehen auf


verschiedenen Ebenen, in der Naturwissenschaft, in der Malerei, auch in
der Begeisterung für Italien. Wie Goethe ist auch Carus überzeugt, „daß
es unmöglich sei, daß der Mensch ganz unglücklich werde, dem die
Erinnerung von Neapel bleibend geworden ist.“ 15 Zugleich sind sich
beide und insbesondere Goethe, der über die romantische
10
ders.: Anm.4, S.24.
11
Johann Wolfgang von Goethe: Tagebücher, 21.7.1821,in: Werke, 3. Abth., Bd.8, Weimar 1896, Nachdruck
München 1987, S.80.
12
Frank Kroschinsky u. Matthias Schreiber: Der Briefwechsel zwischen Carl Gustav Carus und Johann
Wolfgang von Goethe in den Jahren von 1818 bis 1831. Eine erstmalige Darstellung der Gesamtkorrespondenz,
med. Diss. Dresden 1991.
13
Carl Gustav Carus an Goethe, 14.3.1823, n. Frank Kroschinsky u. Matthias Schreiber: Anm. 12, S. 136.
14
Johann Wolfgang von Goethe an Carl Gustav Carus, 31.1.1823, n. Frank Kroschinsky u. Matthias Schreiber:
Anm.12, S. 127.
15
Carl Gustav Carus: Analekten zur Naturwissenschaft und Heilkunde. Gesammelt auf einer Reise durch Italien
im Jahre 1828, Dresden 1829, S.40.
6

Naturforschung und Medizin sowie die metaphysische Naturphilosophie


ambivalent, zustimmend und zugleich ablehnend urteilt, 16 auch der
Differenzen bewußt. Auf das romantische Interesse an Metaphysik, an
der „Nachtseite der Naturwissenschaft“, an Mythologie, Mesmerismus,
Schlaf, Traum und Unbewußtem reagiert Goethe mit Unbehagen,
Unverständnis und auch Abneigung. Am 3. Januar 1832 notiert er sich in
seinem Tagebuch nach der Lektüre der Vorlesungen über Psychologie
(1831) von Carus: „Im stillen großes Bedenken über Carus’ Psychologie
von der Nachtseite. Gegenwirkung einer dergleichen von der Tagseite zu
schreiben; gleich festgestellt und Nachts bey einigen schlaflosen
Stunden durchgeführt. Streiten soll man nicht, aber das
Entgegengesetzte faßlich zu machen ist Schuldigkeit“ 17

III. Krankheitsgeschichte, Krankengeschichte, Pathographie

Goethe beeindruckt den Mediziner Carus nicht nur als Schriftsteller und
Naturforscher, sondern besonders als Mensch in seinem Umgang mit
Gesundheit und Krankheit. Die entsprechenden Beobachtungen und
Reflexionen von Carus stellen keine Krankheitsgeschichte oder
Krankengeschichte im engeren medizinischen Sinne dar, sind aber ein
spezifischer Beitrag zur Geschichte der Pathographie, die als Begriff um
1900 geprägt wird, in der Sache als Beschreibung des kranken
Menschen im Zusammenhang seines Lebens und seiner Aktivitäten aber
bis in die Antike zurückreicht.18

Pathographie schildert im Blick auf Krankheit die Geschichte eines


Individuums und ist selbst der Geschichte unterworfen, hat im Verlauf
der Zeit unterschiedliche Formen angenommen. Pathographie setzt
einen Gesundheits- und Krankheitsbegriff, ein Ursachenkonzept und
Therapieverständnis voraus, hängt von der Auswahl der mit der
Krankheit in Verbindung zu bringenden Lebens- und Aktivitätsbereiche
ab und wird schließlich von jeweils spezifischen Seins- und Werturteilen
geprägt.

16
Dietrich v. Engelhardt: Natur und Geist, Evolution und Geschichte. Goethe in seiner Beziehung zur
romantischen Naturforschung und metaphysischen Naturphilosophie,in: Peter Matussek, Hg.: Goethe und die
Verzeitlichung der Natur, München 1998, S.58-74, 482-486.
17
Johann Wolfgang von Goethe: Tagebücher, 3.1.1832,in: Werke, 3. Abth., Bd.13, Weimar 1903, Nachdruck
München 1987, S.200.
18
Matthias Bormuth, Hg.: Kunst und Krankheit. Studien zur Pathographie, Göttingen 2007; Dietrich v.
Engelhardt: Pathographie – historische Entwicklung, zentrale Dimensionen,in: Thomas Fuchs u.a., Hg.: Wahn
Welt Bild, Heidelberg 2002, S.199-212; Susanne Hilken: Wege und Probleme der psychiatrischen Pathographie,
med. Diss. Aachen 1993; Dieter Janz, Hg.: Krankengeschichte. Biographie – Geschichte – Dokumentation,
Würzburg 1999; Wilhelm Preuss: Zur Biographie in Psychologie und Medizin, med. Diss. Würzburg 1985.
7

Pathographien finden sich in wissenschaftlichen Veröffentlichungen wie


ebenfalls in literarischen Werken, in biographischen und
autobiographischen Texten. Klassische Krankengeschichten des 17. und
18. Jahrhunderts der Rachitis, des Diabetes, der Gicht und des
Veitstanzes geben den allgemeinen Typus der Krankheit, ihre
Erscheinung und ihren Verlauf, nicht aber die Krankheit einzelner
Kranker und auch nicht im Kontext ihrer Lebensumstände, ihrer
Leistungen und Zeitverhältnisse wieder, während diese individuelle,
geistige und soziale Dimension des Krankseins für Autobiographien,
Romane und Erzählungen typisch ist; Les confessions (1782/88) von
Jean-Jacques Rousseau, Anton Reiser. Ein autobiographischer Roman
(1785-90) von Karl Philipp Moritz (1756-1793) oder Biographien der
Wahnsinnigen (1795/96) von Christian Heinrich Spieß (1755-1799) sind
bekannte Beispiele aus dem ausgehenden 18. Jahrhundert.

Krankengeschichten können nach den Medizinern der Romantik nie nur


auf Biologie, Soziologie oder auch Psychologie begrenzt werden;
Lebensgeschichte, zu der Krankheit, Schmerz und Leiden essentiell
gehören, ist immer auch Ideengeschichte. Dichter und Schriftsteller der
Zeit vertreten ebenfalls diese Auffassung. Der „Mißklang“, unter dem
Friedrich Schlegel, wie er selbst bemerkt, beständig zu leiden hat, besitzt
nach ihm jenseits aller physiologisch-psychologischen Ursachen einen
metaphysisch-religiösen Grund: „denn in allen Dingen sind wir enge
endliche Wesen, nur in einem macht uns Gott unendlich – in der
Zerrüttung.“19 Chronische Krankheiten sind für Novalis (1772-1801) nicht
nur mit Einschränkungen und Leiden verbunden, sondern bieten auch
Chancen, können „Lehrjahre der Lebenskunst und der Gemütsbildung“ 20
sein. In Jean Pauls Titan (1800-03) heißt es: 21„Große Krankheiten, so
wie die sieche Ermattung nach einem verschwelgten Gestern, dringen
uns solche Aschermittwoche auf, die zuweilen das ganze Leben sichten
und lenken.“ Diese Möglichkeit sollte allerdings nicht zu spät im Leben
ergriffen werden. „Die meisten verschieben diesen Mittwoch auf die Zeit,
wo sie ein ruhiges Landhaus oder graues Haar erlaufen haben; aber
wozu eine Ruhebank erst dicht neben dem großen tiefen Orte der Ruhe?
Lieber unterwegs eine!“ 22

Für die weitere und auch zukünftige Entwicklung der Pathographie von
Schriftstellern und Künstlern durch Literaturwissenschaftler und
Kunsthistoriker kommt als Richtschnur den konzeptionellen
Ausführungen, Forderungen und Warnungen von Karl Jaspers in seiner
Allgemeinen Psychopathologie (1919, 91973) bleibender Wert zu: „Die
19
Friedrich Schlegel: Briefe an seinen Bruder August, Berlin 1890, S.27.
20
Novalis: Fragmente und Studien, 1799/1800,in: Schriften, Bd.3, Darmstadt 31983, S.686.
21
Carl Gustav Carus: Anm. 4, S.24.
22
Jean Paul: Titan,in: Werke, 1. Abt., Bd.3, München 1961, S.895.
8

Zeitlichkeit der biographischen Befunde ist kein nur quantitatives


gleichmäßiges Nacheinander, vielmehr sind die Glieder des Bios als
Zeitgestalt qualitativ geformt. Die Zeitgestalt ist zu erkennen erstens im
biologischen Ablauf, zweitens in der inneren Lebensgeschichte, drittens
in Leistung und Werk des Menschen.“ Stets müsse beachtet werden,
daß das individuelle Leben in allgemeine Gegebenheiten verankert sei,
nämlich „biologisch in die Vererbung, seelisch in Familie,
Gemeinschaften und Gesellschaft, geistig in eine objektive Tradition des
Gültigen.“ Schließlich habe jede medizinische oder psychologische
Pathographie wie überhaupt jede Biographie eine grundsätzliche
Begrenztheit anzuerkennen, die sich aus der Freiheit der menschlichen
Existenz ergebe: „Was aber in einem Leben liegt, vermag die
Biographie keineswegs im Ganzen zur Erkenntnis zu bringen.“ 23

Carus behandelt in seinen verschiedenen Studien auch mehrfach


Goethes Umgang mit Gesundheit und Krankheit – in ihrem
grundsätzlichen und beispielhaften Sinn als Kunst des Krankseins oder
des gesunden Krankseins, weniger aber konkret im Blick auf die
verschiedenen Krankheiten Goethes, auf seine medizinischen
Kenntnisse, auf seine Kontakte zu Ärzten, auf Diagnostik und Therapie,
auf die Reaktionen seiner Verwandten und Freunde, zu denen
durchgängig Zeugnisse vorliegen, die auch das Interesse der Forschung
gefunden haben.24

IV. Lebenskunst als Kunst des Krankseins

23
Karl Jaspers: Allgemeine Psychopathologie, Heidelberg 1913, Berlin 91973, S.563f.
24
Thomas Anz: Krankheit, Gesundheit, Moral. Goethe und die Ärzte seiner Zeit,in: Der Deutschunterricht
55(2003)S.23-33; Klaus Bergdolt, Hg.: Die letzte Krankheit Goethe’s beschrieben und nebst einigen andern
Bemerkungen über denselben mitgetheilt von Carl Vogel nebst einer Nachschrift von C. W. Hufeland,
Heidelberg 1999; Frank Nager: Der heilkundige Dichter Goethe und die Medizin, Zürich 1990, 31990; Heinrich
Schipperges: Goethe – seine Kunst zu leben. Betrachtungen aus der Sicht eines Arztes, Frankfurt a.M. 1996.
9

Goethe manifestiert für Carus seine Vorstellung von einer gesunden


Krankheit oder Kunst des Krankseins, die von ihm an verschiedenen
Orten allgemein dargestellt und an Goethe illustriert wird, vor allem in
den Abhandlungen: Goethe. Zu dessen näherem Verständnis (1843),
Einige Worte über das Verhältnis der Kunst krank zu sein zur Kunst
gesund zu sein (1843), Erfahrungsresultate aus ärztlichen Studien und
ärztlichem Wirken während eines halben Jahrhunderts (1859), Die
Lebenskunst nach den Inschriften des Tempels zu Delphi (1863),
Lebenserinnerungen und Denkwürdigkeiten (1865/66, Ergänzungsband,
posth. 1931).

Die Kunst des Krankseins gehört nach Carus zur „Lebenskunst, d.h. der
Kunst, ein schönes, menschliches Leben auf reine, edle Weise und zum
wahren inneren Glück und höherer, innerer Entwickelung der
Persönlichkeit zu leiten und zu vollenden.“ 25 Diese Kunst könne aber
weder die Kunst bedeuten, „die Krankheit selbst gleichsam zu cultiviren,
sie zu verlängern“, noch die Kunst, „krank zu werden“, sondern allein die
Kunst, „wann ein unvermeidliches Geschick über uns eine Krankheit
verhängt, uns auf solche Weise zu verhalten, so uns zu nehmen, solche
Maßregeln zu ergreifen, welche dazu führen, die Krankheit selbst leichter
zu ertragen und möglichst bald und vollständig in den Zustand der
Gesundheit zurückzubilden.“26

Die Krankheitskunst, zu der auch die Wahl des richtigen Arztes und die
Beachtung der Therapie zählen, sei unter den Menschen allerdings
unterschiedlich gegeben; einige verfügten über ein natürliches Talent,
ohne von dieser Kunst zu wissen, das vielen anderen Menschen
dagegen vollkommen abgehe. Bereits Plutarch habe in seinen
Gesundheitsvorschriften von dieser Krankheitskunst gesprochen und mit
Recht empfohlen, sich schon in gesunden Tagen auf sie vorzubereiten.
In der Gegenwart werde dieses Thema aber vernachlässigt, er kenne nur
ein entsprechendes, allerdings „in vieler Beziehung ungenügendes
Schriftchen“ 27 aus dem Jahre 1811; der Verfasser dieser Studie Sabattia
Joseph Wolff und ihr Titel Die Kunst krank zu sein werden von Carus
allerdings nicht mitgeteilt.

Notwendig für die Kunst des Krankseins hält Carus eine Kenntnis der
„Grundbegriffe von der Natur der Krankheit, was sie sei, wie sie
entstehe, wie sie vergehe“; nicht könne dabei aber von einem
medizinischen Halbwissen die Rede sein, das sich der Laie durch die
Lektüre medizinischer Texte erwerben könne, zu denken, sondern nur
25
Carl Gustav Carus: Einige Worte über das Verhältniß der Kunst krank zu sein zur Kunst gesund zu sein,
Leipzig 1843, S. 15.
26
ders.: Anm. 25, S.16.
27
ders.: Anm. 25, S. 15.
10

von einer „griechisch-einfachen, aber wahrhaften und praktisch


brauchbaren Erkenntniß des kranken Lebens.“ 28 Diese Erkenntnis trage
wesentlich zu einem angemessenen Verhalten im Kranksein bei, führe
zur Wahl des richtigen Arztes, der seinerseits den Kranken in seinem
Verhalten und seiner Haltung zu unterstützen und zu begleiten habe.
Das „rechte Talent des Kranken zum Kranksein“ könne man daran
erkennen, „daß er einen rechten Arzt zum helfenden Manne sich
erwähle.“29 Entscheidend sei aber neben dem ärztlichen Handeln stets
das eigene Engagement des freien und vernünftigen Kranken. Wissen
und Kunst, Theorie und Ethik der Medizin hängen nach Carus
zusammen.

Krankheiten gehören, wovon Carus überzeugt ist, zum Leben des


Menschen und werden sich nie vollkommen überwinden lassen; sie
stellen nicht nur ein „fremdartiges und zufälliges“ 30 Unglück dar. Unter
allen Lebewesen besitze der Mensch sogar „das traurige Vorrecht, die
meisten und mannigfaltigsten Krankheiten haben zu können.“ 31
Krankheiten bedeuten nicht nur Privation, Seinsmangel, sondern eine
besondere Seinsweise, stellen nicht nur das Fehlen von Gesundheit,
sondern eine eigenständige Wirklichkeit dar, repräsentieren – ebenso
wie Gesundheit - einen „ideellen Organismus.“ 32

Krankheiten haben ein ihnen eigentümliches Leben, zeigen wie


Gesundheit einen Entwicklungscharakter, durchlaufen bestimmte
Stadien und Krisen und lassen, „wenn sie in diesem naturgemäßen
Gange rein erhalten“ werden, „in der Regel den Organismus in einem
vollkommneren und gesünderen Zustande zurück.“ Krankheiten können
„somit, gleich so manchem scheinbaren Unglück des Lebens, sogar
zuweilen für ein Glück gerechnet werden.“33

Die Kenntnis von der Natur der Krankheit läßt den Menschen nicht nur
wie das Tier die Krankheit erleiden oder seinem bloßen Instinkt folgen,
sondern mit Geduld und ohne Verzweiflung das Richtige tun, was die
Krankheit abkürzt, sie erträglicher macht oder zur Genesung führt. Mit
Recht werde der Kranke auch Patient genannt, womit ausgedrückt
werde, „daß er patiens, geduldig, sein, ruhig ausharren soll, um somit die
rechte Wendung der Krankheit zur Gesundheit zu befördern und zu
erleichtern.“34
28
ders.: Anm. 25, S.23.
29
ders.: Anm. 25, S. 29.
30
ders.: Anm. 25, S. 23.
31
ders.: Anm. 25, S. 17.
32
ders.: Erfahrungsresultate aus ärztlichen Studien und ärztlichem Wirken während eines halben Jahrhunderts,
Leipzig 1859, S.68.
33
ders.: Anm. 25, S. 25.
34
ders.: Anm. 25, S. 30f.
11

Diese Einstellung und dieses Verhalten können nach Carus als negative
Seite der Kunst des Krankseins bezeichnet werden, was sie in eine
Nähe zur bildenden Kunst bringe, insofern auch in ihr „das Vermeiden
von Fehlern und Verzeichnung als die negative Seite derselben“ gelten
könne. Die positive oder aktive Seite der Krankheitskunst sei dagegen
„das eigentliche Mithandeln des Kranken oder für den Kranken.“35 Diese
Mitwirkung des Kranken hänge von seiner Freiheit ab, die in
unterschiedlichem Grade, wenn die Krankheit ihn noch nicht zu stark
überwältigt habe, immer vorhanden sei und die der Arzt respektieren
und unterstützen müsse.

Menschen mit angeborener oder erworbener Kränklichkeit, mit


chronischem Leiden oder mit schwacher Gesundheit – „les hommes
d’une petite santé“, wie Carus eine Wendung der Zeit zitiert – haben sich
nicht selten diese Kunst des Krankseins in erstaunlichem Maße
erworben. Auf Diätetik im umfassenden Sinne der Antike, die besonders
von der Eigenaktivität des Kranken abhänge, komme es vor allem an:
„Die dem besonderen kranken Zustande angemessene und passende
Wahl der Nahrung, der Luft, der Wärme, der Wohnung; die rechte Wahl
der Beschäftigung und der Ruhe, die hinreichende Selbstbeobachtung
ohne hypochondrische Selbstquälerei, die rechte Mäßigung der
Gemüthszustände, die sorgfältige Beobachtung und Ausdauer in
längeren, dem Zustande angeordneten Curen, das Fortführen eines
richtigen und schönen Verhältnisses zu einem kenntnißvollen Arzte.“ 36

Die Kunst des Krankseins unterscheidet Carus von einer „Künstelei“ des
Krankseins, die vorliege, „wenn die Beachtung und Ueberwachung des
Krankseins in feige und qualvolle Aengstlichkeit ausartet, wenn die
innere Freiheit des Lebens darüber völlig verloren geht.“ 37 Wie die
bildende Kunst ist auch jede Lebenskunst, zu der die Krankheitskunst
gehört, auf Freiheit angewiesen, wie in der Kunst entsteht diese Freiheit
erst wahrhaft, „wenn die bewußte Kunst wieder fast ins Unbewußtsein
sich verliert.“38 Nicht auf kleinliche Sorge und ständige Prüfung, sondern
auf eine Art höheren Instinkt oder sokratischen Dämon käme es bei
dieser Kunst des Krankseins an, die bei aller angeborenen Begabung
auch erlernt und verbessert werden könne.

Krankheiten sind Lebenserscheinungen und nicht Phänomene des


Mechanismus, sind Störungen der Systeme und Organe des
Organismus. Krankheiten lassen sich in einer allgemeinen Perspektive,
35
ders.: Anm. 25, S.31.
36
ders.: Anm. 25, S. 34.
37
ders.: Anm. 25, S. 36..
38
ders.: Anm. 25, S. 36f.
12

für die das mikrologische Zeitalter allerdings nach Carus kein Interesse
aufbringt, in eine Stufenfolge von drei Typen bringen: primitive oder
Urkrankheiten (Fieber), sekundäre Krankheiten (Entzündung) und
tertiäre Krankheiten (Verbildung). Das System einer spezifischen
Gliederung der Krankheiten wird von Carus in anderen Schriften
vorgelegt, sein entsprechendes „Glaubensbekenntnis“ habe er zum
Beispiel im System der Physiologie (1838-40) veröffentlicht.

Fieberkrankheiten sind eine „veränderte Stimmung des Gemeingefühls“


eine „ursprüngliche Form des Erkrankens“, Entzündungskrankheiten ein
„lokalisirtes Kranksein“ und Verbildungskrankheiten folgenreiche Eingriffe
in den „örtlichen Bildungsproceß.“ 39 Diese genetische Einteilung der
Krankheiten, die für Körper- wie Geisteskrankheiten zutrifft, führt vom
Allgemeinen zum Besonderen, von einem Betroffensein des gesamten
Organismus ohne morphologische Veränderung zur Verformung
einzelner Teile, die so weit voranschreiten, so viele Bereiche und
Funktionen des Körpers erfassen kann, daß es zur „Verbildung des
Allgemeinen“, zur Lähmung oder Zerstörung der Bildungskraft und damit
zur lebensgefährlichen Erkrankung des gesamten Organismus kommen
kann.40

Der Krankheitsorganismus zeigt darüber hinaus einen unterschiedlichen


Verlauf von ebenfalls drei Typen, die Carus auch in seiner Goethestudie
von 1843 knapp skizziert. Einmal kann der Krankheitsorganismus –
analog zum gesunden Organismus – eine Entwicklung von einem
Beginn zur Reife und zum Vergehen durchlaufen, „worauf das Leben,
innerhalb dessen er entstand und verging, gesund, ja oft gesunder als
früher zurückbleibt“; zum andern kann er sich so intensiv und umfassend
entwickeln, daß er sich vom gesunden Organismus nicht mehr abtrennen
kann, diesen „bis zu seinem eigen Ende gefesselt hält“ und nicht selten
zum Tode führt; schließlich können Krankheiten zwar absterben, der
Organismus wieder gesunden, zugleich aber Zerstörungen, Narben,
Schwächungen des Körpers zurückbleiben, die von Carus als „Leichen
der Krankheiten“ bezeichnet werden.41

In der Therapie lassen sich im allgemeinen vier Methoden mit ebenfalls


zahlreichen Untertypen unterscheiden: die diätetische oder negative, die
erregende oder exzitierende, die herabsetzende oder deprimierende und
schließlich die alterierende oder spezifische Methode. 42 Der Erfolg der
Therapie hängt von der Beziehung zwischen Arzt und Patient ab. An die
Lebenskunst des Arztes stellen sich besondere Anforderungen. „Schwer
39
ders.: Anm.32, S.83f.
40
ders.: Anm. 32, .82f.
41
ders. : Anm.4, S.81f.
42
ders.: Anm.32, S.22-25.
13

an sich ist die Kunst des Lebens, weit schwerer aber ist noch die
Lebenskunst des Arztes, welcher, außer dem eigenen, auch noch das
Leben so vieler andern zu wahren und zu führen berufen ist.“ 43 Alle
Lebens- oder Krankheitskunst wie alle medizinische Heilkunst wird das
Ende des organischen Lebens aber nicht verhindern können. Der Tod ist
nicht zu vermeiden, die organische Bildungskraft bricht notwendig einmal
zusammen.

Goethe sei keineswegs immer gesund oder frei von Krankheiten


gewesen; „im Gegenteil – gerade eine von Grund aus gesunde Natur
äußert sich ebenso darin, daß sie auch, wenn man so sagen darf,
gesunder Krankheiten fähig ist, das heißt, daß Krankheiten – physische
und psychische – von welchen nun einmal kein Sterblicher ganz
unangefochten bleibt, in einem gewissen regelmäßigen Gange, und mit
kräftigen und vollkommnen Entscheidungen sich entwickeln und
vorübergehen.“44

Goethe, der von verschiedensten und auch heftigen Fieber- und


Entzündungskrankheiten immer wieder betroffen gewesen ist,
repräsentiert nach Carus den ersten Verlaufstyp der Erkrankung, der zur
Gesundheit wieder zurückführt und keine gravierenden Verletzungen
oder bleibenden Schädigungen zur Folge hat. Der „ideelle
Krankheitsorganismus“ hat sich bei Goethe nicht unlösbar mit dem
gesunden Organismus verbunden und seine Bildungskraft dauerhaft
gelähmt oder zum Erliegen gebracht.

Krankheit kann nicht so sehr als ein Konflikt zwischen äußeren Reizen
und dem Organismus, sondern unter Mitwirkung externer Einwirkungen
angemessener als ein Konflikt zwischen dem ideellen
Gesundheitsorganismus und dem ideellen Krankheitsorganismus
verstanden werden; dieser ideell-reale Konflikt habe bei Goethe nicht
dazu geführt, daß im gesunden Organismus „eine neue fremdartige
Lebensidee sich einlebt, daß diese fremdartige Lebensidee die
sämmtlichen Vorgänge des Lebens bald mehr bald weniger ihrem
Wesen unterordnet und in ihrem Sinne bestimmt, und daß so eine neue
eigentümliche Lebensgeschichte innerhalb des diesem Organismus
ursprünglich eigenen Lebens auf ihre Weise verläuft und vollendet
wird.“45 In seiner Lebensentwicklung wie im Gang seines literarischen
Schaffens und nicht zuletzt in der Klarheit und „harmonischen Gestaltung
seines hohen, ja höchsten Alters“ 46 habe sich diese Disposition Goethes
zu gesundem Kranksein eindrucksvoll manifestiert.
43
ders.: Anm. 32, S.V.
44
ders.: Anm.4, S. 80.
45
ders.: Anm.4, S .81.
46
ders.: Anm.4, S 80f.
14

Gesundheit und gesundes Kranksein haben nach Carus kulturelle,


soziale und biologische Voraussetzungen, was sich auch an Goethe
erkennen ließe. Goethe sei, auch wenn sein Geist seine Zeit
überschritten habe, ein Mann des 18. Jahrhunderts und nicht der
„neuern konstitutionell-industriösen Zeit.“ 47 Das kleine und ruhige
Weimar habe seine innere und äußere Entwicklung getragen, was
„weder ein mächtiger Geschäftskreis, noch ein großer luxuriöser Hof mit
politischen Intrigen und Wirren“48 ermöglicht haben würden.

Hinzukommen aber auch günstige erbliche Voraussetzungen;


Lebenskunst in Gesundheit und Krankheit hängen auch von Biologie ab.
„Wer kann gesund sein, wenn kranke zerrüttete Naturen sein Dasein
begründen!“49 Viel habe Goethe in dieser Beziehung seinen Eltern zu
verdanken: „die tüchtige etwas pedantische, aber durchaus bedeutende
und ehrenwerte Natur des Vaters, die feine humoristische, echt
weibliche, bis ins hohe Alter fast übermütig lebendige Natur der Mutter
haben hier einen Grund gelegt.“50

Lebenskunst steht nach Carus auch mit dem Körperbau in


Zusammenhang, der bei Goethe harmonisch ausgefallen sei. Goethe sei
nicht nur in einem spezifischen Sinne ein „’gesunder’“ Mensch gewesen,
sondern auch ein „eigentümlich ‚schön und mächtig Organisierter.’“ 51
Gestik, Mimik, Gestalt, Gang und selbst die Kopfform, der das besondere
Interesse von Carus galt52, dokumentierten diese physiologisch-
anatomische Basis als eine der Voraussetzungen seiner Persönlichkeit,
seiner Kunst und seiner Lebenskunst.

V. Krankheit – Kunst - Leben

Krankheiten begleiten Goethe während seines ganzen Lebens,


entscheidend ist nach Carus aber ihre Bewältigung, die Goethe
offensichtlich beispielhaft gelungen sei. „Dieses also nicht zwar
Ausschließen des Erkrankens, aber dieses immer wieder Gesunden,
dieses sich immer wieder vollkommen Herstellen, dieses frisch und
durchaus sich Erneuern betrachten wir als das besonders
Auszeichnende und eigentümlich Glückliche in Goethes Existenz, und
47
ders.: Anm.4, S 73.
48
ders.: Anm.4, S 74.
49
ders.: Anm.4, S. 76f.
50
ders.: Anm.4, S. 77.
51
ders.: Anm.4, S. 99.
52
ders.: Symbolik der menschlichen Gestalt. Ein Handbuch zur Menschenkenntnis, Leipzig 1852, 21858,
Nachdruck Hildesheim 1977; Grundzüge einer neuen und wissenschaftlich begründeten Cranioskopie, Stuttgart
1841; Atlas der Cranioskopie, Bd.1-2, Leipzig 1843-45; Neuer Atlas der Cranioskopie, Leipzig 1864.
15

wie sehr hierin zugleich ein Schlüssel zum Verständnis so vieler seiner
Werke gegeben ist, hat er vielfältig selbst auf das bestimmteste
angedeutet.“53

Zwischen Krankheit und Kunst bestehen Wechselbeziehungen. Leben


und Aktivitäten des Menschen wirken sich auf Gesundheit und Krankheit
aus, werden von diesen Zuständen umgekehrt selbst wieder beeinflusst.
Diesen Zusammenhängen wendet sich Carus auch bei Goethe zu, der
gleichfalls von ihnen überzeugt gewesen sei; mehrfach habe er „seine
poetischen Produktionen mit dem Namen von Konfessionen belegt... sie
im höhern Sinne Gelegenheitsgedichte genannt und dadurch
angedeutet, wie genau ihre Entstehung in seinem eignen Lebensgange
begründet war.“54

Die Beziehung von Krankheit und Kunst darf bei Goethe nach Carus
aber nicht monokausal oder zwingend in dem Sinne gedacht werden,
daß seine Werke grundsätzlich aus Leidenszuständen oder Krisen
entstanden seien. Im Sinne der gesunden Krankheit trügen auch
Goethes poetische wie naturwissenschaftliche Schriften einen
zweifachen Charakter: „Werke wie die Iphigenia, wie der Egmont, wie die
Metamorphose der Pflanze, sie sind aus reiner, durch
Lebensverhältnisse herbeigeführter Begeisterung für Verhältnisse des
Menschheits- oder des Naturlebens entstanden und sind von
krankhaften Stimmungen durchaus nicht influenziert.“ Anders stehe es
dagegen mit Werther, Stella, Tasso, Faust und verschiedenen
Gedichten. Bei diesen Texten könne nicht übersehen werden, “daß
leidenschaftlich befangene Stimmungen zum Grunde gelegen haben,
und daß Goethe durch ihre Bearbeitung sich von gewissen krankhaften
Stimmungen vollends befreien mußte.“55

Krankheiten können nicht nur zu den Bedingungen künstlerischer Werke


gehören und in ihnen thematisiert werden, Kunstwerke können ihrerseits
heilsam auf den Autor wirken. Ursachen der Kreativität, Thema des
Kunstwerks, Auswirkung auf den Künstler unterscheiden sich. Kunst hat
„therapeutische“ Kraft und kann vom Künstler in dieser Hinsicht für sich
und auch andere Menschen genutzt werden. Die Beziehung von
Krankheit und Kunst zeigt sich nicht nur in der Produktion, sondern auch
in der Rezeption.

53
ders.: Anm.4, S 1843, S.89.
54
ders.: Anm.4, S. 89f.
55
ders.: Anm.4, S. 90.
16

Für Carus kann Goethes Werther diese komplexe Verbindung von


Ursache und Auswirkung zutreffend illustrieren. 56 Eine „unklare
Befangenheit in Lebensüberdruß und Melancholie“ habe bei Goethe die
Niederschrift „auf ganz organische Weise und als Krisis einer
durchgelebten Krankheit“ zu vertreiben vermocht. Fatale Folgen seien
dann von diesem Roman bei Lesern eingetreten, „indem er eine Menge
junger Leute in ähnliche Stimmungen dahinriß“ und auch zum
Selbstmord geführt haben soll. Medizin und Philosophie seien zum
Verständnis dieses unglücklichen Schicksals gleichermaßen gefragt, wie
Goethe in Dichtung und Wahrheit ausgeführt habe: „Jener Ekel vor dem
Leben hat seine physischen und seine sittlichen Ursachen, jene wollen
wir dem Arzt, diese dem Moralisten zu erforschen überlassen.“ 57
Goethes weitere Bemerkungen zur Psychologie von Werther und der
inneren Notwendigkeit seines Selbstmordes leuchten Carus sehr ein, der
selbst von melancholischen und depressiven Stimmungen bis hin zu
Selbstmordgedanken mehrfach befallen war, sie enthielten „einen
tieferen Blick in menschliches Seelenleben, als in so mancher
voluminösen Psychologie gefunden wird!“58

Aus ärztlicher Sicht und speziell der Beobachtung von


Heilungsprozessen kann Carus sowohl die poetische Genese wie auch
die Gefahren dieses „leidenschaftlich befangenen“ Romans mit der
kathartischen Befreiung von den lähmenden Gefühlen durch die
literarische Fixierung ohne weiteres in Verbindung bringen, die von
vielen Menschen und nicht zuletzt zahlreichen Kritikern allerdings nicht
begriffen worden sei. „Gewiß, wer so wenig die innere organische
Notwendigkeit einer wahren Dichterseele versteht, um an dergleichen zu
denken, der kann auch einem Fieberkranken es verargen, wenn er
genesend Krankheitsstoffe aushaucht, welche in andern Disponierten
dieselbe Krankheit erzeugen können.“59

Carus hat selbst die heilsame Funktion der Literatur, der Musik, der
Malerei erfahren, vor allem beim eigenen Malen. Auf diesem
schöpferischen Wege einer Entäußerung im Kunstwerk gelang es ihm,
wie er in seinen Lebenserinnerungen mitteilt, „das innerste Geheimniß
der Seele von schwerer Trübung zu reinigen, indem ich dunkle
Nebelbilder, in Schnee versunkene Kirchhöfe und Ähnliches in bildlichen
Compositionen entwarf, welche, wenn sie auch manchen andern

56
Helmut Koopmann: Goethes „Werther“ – der Roman einer Krise und ihrer Bewältigung,in: Aurora
58(1998)S.1-17.
57
Carl Gustav Carus : Anm.4, S. 91.
58
ders.: Anm.4, S. 96.
59
ders.: Anm.4, S. 97.
17

gleichfalls umflorten Seelen zusagten, doch endlich immer am meisten


mir selbst Erleichterung, ja Befreiung zu schaffen pflegten.“ 60

VII. Perspektiven

Medizin wurde seit der Antike immer wieder nicht nur als Wissenschaft
(scientia), sondern stets auch als Kunst (ars) verstanden. Leben sollte
seinerseits eine Kunst sein und Kunst einen Beitrag zur Medizin wie zum
Leben leisten können. Lebenskunst (ars vivendi) sollte Krankheitskunst
(ars aegrotandi) und Sterbekunst (ars moriendi) umgreifen; in der
Beistandskunst (ars assistendi) finden diese Künste ihre Ergänzung. 61
Zugleich wurden Künste und Literatur vom Leben wie der Medizin auch
unterschieden; Kunst geht in Therapie nicht auf, Leben weicht von Kunst
und Medizin ab.

Die Kunst des Krankseins ist nach Carus für ein geglücktes Leben
wesentlich und sollte von allen Menschen beachtet werden – „jeder
einigermaßen Gebildete sollte das“ 62 tun, denn „das Leben des
Menschen soll zu einem Kunstwerk sich gestalten.“ 63 Neben Goethe
habe auch Tieck diese Gabe besessen, der zu ihm während eines
Gespräches über dieses Thema gesagt habe: „Wenn Sie darüber einst
schreiben, kann ich Ihnen vielfache Beiträge geben, denn ich habe diese
Kunst seit dreißig Jahren geübt!“64

Carus hat seine Gedanken über Goethe als Künstler des gesunden
Krankseins oder einer gelungenen Lebenskunst ohne direkte Kontakte
als Arzt formuliert; seine Darstellung lädt deshalb in der Perspektive der
Pathographie zu entsprechenden Ergänzungen ein: Beachtung der
konkreten Krankheiten Goethes, seiner verschiedenen Arztkontakte,
seiner medizinischen Kenntnisse, seines eigenen Verhaltens; darüber
hinaus Analyse der Auswirkungen der Krankheiten auf sein literarisches
Schaffen, auf Produktivität und Thematik seiner Werke; Folgen
schließlich seiner Werke auf Physiologie und Psychologie der Leser.
Anregend wäre auch eine Betrachtung der Krankheiten und Heilungen in

60
ders.: Lebenserinnerungen und Denkwürdigkeiten, Th.1, Leipzig 1865, S.128.
61
Andrea Braunberger-Myers u. Kurt W. Schmidt, Hg.: Ars moriendi – die Kunst des (gesegneten) Sterbens,
Frankfurt a.M. 2004; Dietrich v. Engelhardt: Lebenskunst (ars vivendi): Kunst des Krankseins (ars aegrotandi)
und Kunst des Sterbens (ars moriendi),in: Zeitschrift für medizinische Ethik 52(2006)S.239-248; Arthur E.
Imhof: Ars moriendi. Die Kunst des Sterbens einst und heute, Wien 1991; Hermes Andreas Kick, Hg.: Ethische
Orientierungen in Grenzsituationen des Lebens. Lebenskunst und Sterbekunst, Sterbebegleitung und
Trauerarbeit, Münster 2004: Jacques Laager, Hg.: Ars moriendi. Die Kunst, gut zu leben und zu sterben. Texte
von Cicero bis Luther, Zürich 1996.
62
Carl Gustav Carus: Anm.25, S.22f.
63
Carus: Mnemosyne, Pforzheim 1848, S.3.
64
ders.: Anm.25, S.33.
18

Goethes Romanen, Erzählungen und Dramen in der Perspektive des


Krankheitsverständnisses und Therapiekonzeptes von Carus.

In diesem Zusammenhang öffnen sich weitere Möglichkeiten:


komparative Studien zum Umgang anderer Schriftsteller und Künstler mit
Gesundheit und Krankheit - aus der Lebenszeit Goethes wie auch aus
anderen Epochen: Montaigne, Rousseau, Schiller, Novalis, Hölderlin,
Beethoven, Friedrich, Dostojewskij, Nietzsche, Proust, Virginia Woolf.

Struktur und Begrifflichkeit der modernen Copingforschung (to cope with


= umgehen mit, bewältigen) bieten sich für Untersuchungen dieser Art
an.65 Unterschieden werden die Reaktionen des Kranken als
Wahrnehmung, Bewertung und Verhalten auf die Krankheit, die Medizin
und das durch die Krankheit veränderte Leben; typisiert werden die
Reaktionen auf diese drei Bereiche als aggravierend, minimisierend,
negierend und akzeptierend (Krankheit), als kooperativ und unkooperativ
(Medizin), als konstruktiv und destruktiv (Leben) mit jeweiligen Unter-
oder Zwischentypen; beeinflußt werden diese Reaktionen von
kulturhistorischen, medizingeschichtlichen, ethnischen und
sozioökonomischen Voraussetzungen, von Alter, Geschlecht und
Persönlichkeit.

Die Coping-Diagnostik von Schiller läßt sich, um ein konkretes Beispiel


zu bringen, auf die folgende Weise charakterisieren: Umgang mit der
Krankheit: untertreibender Akzeptierer; Umgang mit der Medizin:
aufgeklärt-kooperativ bei zugleich ungesunder Lebensweise; Umgang
mit dem durch die Krankheit veränderten Leben: kreativ-konstruktiv.66
Krisen und Leiden können nach Schiller auch positiv sein: “Auch die
Kränklichkeit ist zu was gut, ich habe ihr viel zu danken.“ 67 Entscheidend
sei im übrigen die Persönlichkeit, liege doch „in uns selbst die Quelle der
Schwermut und Fröhlichkeit.“68 Krankheiten und Schmerzen können die
Kreativität nicht zum Erliegen bringen, das Leben mit der Krankheit wird
angenommen. „Ich waffne mich mit Geduld und Ergebung, und werde
mich in jedes Schicksal finden.“69 Goethe, der Schiller diätetische
Ratschläge gegeben und ihn verständnisvoll als Kranker bei sich

65
George L. Engel: Psychisches Verhalten in Gesundheit und Krankheit, a.d.Engl: (162), Bern 1978; Dietrich v.
Engelhardt: Mit der Krankheit leben.. Grundlagen und Perspektiven der Copingstruktur des Patienten,
Heidelberg 1986; Edgar Heim: Krankheit als Krise und Chance, Stuttgart 1980; Franz Petermann u.a., Hg.:
Montivierung, Compliance und Krankheitsbewältigung, Regensburg 2004.
66
Dietrich v. Engelhardt: Schillers Leben mit der Krankheit im Kontext der Pathologie und Therapie um 1800,in:
Georg Braungart u. Bernhard Greiner, Hg.: Schillers Natur. Leben, Denken und literarisches Schaffen, Hamburg
2005, S.57-73.
67
Friedrich Schiller an Christian Garve, 6.11.1797,in: Briefe, Bd.2, Frankfurt a.M. 2002, S.340.
68
ders. an Theodor Körner, 14.10.1787,in: Briefe, Bd.2, Frankfurt a.M. 2002, S..258.
69
ders. an Christoph Martin Wieland, 3.10.1791,in: Werke, Bd.26, Weimar 1992, S.98.
19

aufgenommen hat, urteilt im Epilog zu Schillers Glocke: „dem Leiden


war er, war dem Tod vertraut.“70

Der Umgang des Kranken mit der Krankheit, der Medizin und dem durch
die Krankheit veränderten Leben oder allgemein sein Copingstil kann
durch den Arzt oder den Kranken oder andere Personen beurteilt
werden. Die Coping-Diagnostik von Goethe in seiner eigenen
Wahrnehmung im Rahmen seiner Autobiographie Aus meinem Leben.
Dichtung und Wahrheit (1811-33) könnte vorläufig so bestimmt werden:
Umgang mit der Krankheit: akzeptierend, mit aggravierenden Neigungen
in der Jugend und als Vermeidung von Belastungen und Gefahren im
späteren Leben; Umgang mit der Medizin: kenntnisreich, aufgeklärt,
kooperativ, bei ungesunder Lebensweise in früheren Jahren; Umgang
mit dem durch die Krankheit veränderten Leben: kreativ-konstruktiv,
neben der künstlerischen Produktivität durch Orientierung an der Idee,
am Notwendigen und Gesetzlichen in der Welt vergänglicher
Erscheinungen.

Der Einfluß des sozialkulturellen Kontextes auf Gesundheit und


Lebenskunst wird von Goethe ambivalent eingeschätzt. Gefahren seien
von der englischen Literatur ausgegangen: „ernste und die menschliche
Natur untergrabende Gedichte waren die Lieblinge, die wir uns vor allen
andern aussuchten.“71 Heilsam habe hingegen Klopstock gewirkt, der mit
seiner Begeisterung für körperliche Bewegung den Wert der Gesundheit
nahelegte. Besondere Anerkennung verdiene die Schrift Von der
Erfahrung in der Heilkunst (1763/64) des Arztes Johann Georg
Zimmermann mit ihren Hinweisen auf die Schädlichkeit der
Verweichlichung, auf die Gefahren exzessiver Genüsse und mangelnder
Beschäftigung. Schon früh zeigt sich Goethes Haltung, Krankheiten
anzunehmen, zugleich, wenn möglich, ihnen auszuweichen oder
entgegenzuwirken. Fundamental für das Leben des Menschen sei der
innere unantastbare und unverwüstliche Grund; „keine Zeit, keine äußere
Einwirkung noch Bedingung könne diesem innern Urwesen etwas
anhaben, wenigstens nicht mehr als die Krankheit des Körpers einer
wohlgebildeten Seele.“72

Natürlich stellt sich die Frage der Übereinstimmung von Selbst- und
Fremdurteil, nach dem Verhältnis von zutreffender Beschreibung,
Projektion und Konstruktion. Aufschlußreich wäre ein Vergleich der
Beobachtungen Goethes über seinen Umgang mit Gesundheit und
Krankheit in Dichtung und Wahrheit mit entsprechenden Ausführungen in
70
Johann Wolfgang von Goethe, Epilog zu Schillers Glocke, 1815,in: Werke, 1.Abt., Bd.16, Weimar 1894,
Nachdruck München 1987, S.168.
71
ders.: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit,in: Werke, Bd.9, München 1981, S.582.
72
ders.: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit,in: Werke, Bd.9, München 1981, S.509.
20

seiner Korrespondenz oder in den Gesprächen mit Johann Peter


Eckermann sowie mit Berichten von Ärzten aus seiner Zeit.
Stimulierende Studien aus der Gegenwart stammen von dem Internisten
Frank Nager (1990) und Psychiater und Medizinhistoriker Heinrich
Schipperges (1996).73 Carus führt in seiner Goethestudie von 1843 das
Urteil von Christoph Wilhelm Friedrich Hufeland über Goethe als Patient
an, den er von 1783-1793 als Arzt in Weimar behandelt hat. Goethe „gab
dem Arzte wenig zu tun, seine Gesundheit war in der Regel, wenige vom
Einfluß der Atmosphäre herrührende rheumatische und katarrhalische
Beschwerden und besonders die schon damals vorhandene Disposition
zu katarrhalischer Angina abgerechnet, vortrefflich.“ 74 Bewundernswert
sei das „herrliche Gleichgewicht, was sich sowohl über die physische als
geistigen Funktionen ausbreitete, und die schönste Eintracht, in welcher
beides vereinigt war, so daß keines, wie so oft geschieht, auf Kosten des
anderen lebte, oder es störte.“ 75 Man könne sagen, daß bei ihm „alle
Geisteskräfte in gleich hohem Grade und in der schönsten Harmonie
vorhanden waren, und daß selbst die bei ihm so lebendige, so
schöpferische Phantasie durch die Herrschaft des Verstandes gemäßigt
und gezügelt wurde. Und eben dies galt von dem Physischen; kein
System, keine Funktion hatte das Übergewicht; alle wirkten gleichsam
zusammen zur Erhaltung eines schönen Gleichgewichts. – Aber
Produktivität war der Grundcharakter sowohl im Geistigen als
Physischen, und im letztern zeigte sie sich durch eine reiche Nutrition,
äußerst schnelle und reichliche Sanguifikation und Reproduktion,
kritische Selbsthilfe bei Krankheiten und eine Fülle von Blutleben. Daher
auch noch im hohen Alter die Blutkrisen und das Bedürfnis des
Aderlasses. Solche Erscheinungen gehören zu den seltensten
Geschenken des Himmels.“76

Carus gibt selbst ein gelungenes Beispiel für die Lebenskunst oder
gesunde Krankheitskunst ab - in seinem Verhalten als Arzt wie aber
auch im Umgang mit den eigenen Krankheiten. Wie sehr objektive und
subjektive, deskriptive und normative, physische, psychische, soziale
und geistige Dimensionen sich im Kranksein verbinden, zeigt sein
Bericht über die Genesung von der Typhuserkrankung eindrucksvoll aus,
die ihn während seines ärztlichen Engagements in der Völkerschlacht
von Leipzig 1813 befallen hat und die auch beim ihm zum Erlebnis der
gesunden Krankheit wurde: „Nach und nach kehrte mir dann ein klareres
Bewusstsein wieder; aber ich war abgezehrt und so kraftlos, daß ich wie
ein Kind wieder allmählich anfangen musste, gehen zu lernen. Wie
sonderbar war mir jetzt, als ich anfing, von den Dingen um mich her
73
Carl Gustav Carus: Anm. 24.
74
ders.: Anm.4, S. 66.
75
ders.: Anm.4, S.66f.
76
ders.: Anm.4, S. 67.
21

wieder Kunde zu nehmen! Die Weltgeschichte hatte eine andere Gestalt


angenommen... eine der heftigsten Typhusepidemien hatte pestartig
auch unter Leipzigs Einwohnern gehaust... und so hatten sich nach allen
Seiten, im großen und kleinen, die Verhältnisse durchaus geändert...
Unter diesen Umständen mußte das Wiedererstehen von einem solchen
Krankenlager in jedem Sinne eine wahrhafte Wiedergeburt genannt
werden. Ich fühlte es, sowie ich mich vollkommen erholte: mein Leben
war ein anderes geworden, meine körperliche Constitution kräftigte sich
in einer Weise, wie ich sie früher nicht gekannt hatte, manches zu
Weiche, fast Kindliche meines Gemüths nahm eine mehr männliche
Gestalt an, und wenn vorher meine Gedankenfolgen vielleicht zu oft und
gern eine gewisse überschwängliche Richtung genommen hatten, so
erreichte ich von nun an leichter das, was dem wahrhaft philosophischen
Geiste vorzugsweise eignet: die reine edlere Form des Denkens und die
größere Tiefe der Idee.“77

Gesundheit und Krankheit sind biologische, psychische, soziale und


geistige Phänomene, stellen Seins- und immer auch Werturteile dar. Die
Bewertung muß aber keineswegs grundsätzlich Gesundheit für positiv
und Krankheit für negativ erklären. In die humane Tradition der antiken
Neutralität, der verderblichen Gesundheit und heilsamen Krankheit des
Mittelalters, die in Montaignes „maladies salutaires“, in Novalis’
Überzeugung von der Entwicklung der Lebenskunst und Gemütsbildung
durch chronische Krankheiten und Nietzsches Idee der großen
Gesundheit als Verbindung von Gesundheit und Krankheit ihre
Fortführung erfährt, gehört auch das Konzept der gesunden Krankheit,
das Carus bei Goethe erkannt, beschrieben und bewundert hat.

Menschliche Gesundheit schließt Krankheit und Tod ein. Der Tod gehört
zum Leben, der organische Bildungstrieb wird erliegen, der ideelle
Krankheitsorganismus siegt letztlich über den ideellen
Gesundheitsorganismus und lenkt zugleich den Blick auf die
Transzendenz. Carus glaubte an ein Leben nach dem Tode. Goethes
gesunde Krankheit oder seine Lebens- und Krankheitskunst sei von
einer Psyche getragen worden, „deren volle Lebensaufgabe in diesem
Dasein gelöst ist und deren gesunde Weiterbildung in einem
fortgesetzten Dasein unmöglich fehlen kann.“ 78 Im Gespräch am 4.
Februar 1829 mit Eckermann äußert sich auch Goethe, der dem eigenen
Tod und dem seiner Mitmenschen meist ausgewichen ist, überzeugt,
daß die Natur sein Leben mit dem physischen Tode nicht untergehen
lassen werde: „Die Überzeugung unserer Fortdauer entspringt mir aus
dem Begriff der Tätigkeit; denn wenn ich bis an mein Ende rastlos wirke,
77
ders.: Anm. 60, S.36ff.
78
ders.: Anm.4, S.85.
22

so ist die Natur verpflichtet, mir eine andere Form des Daseins
anzuweisen, wenn die jetzige meinen Geist nicht ferner auszuhalten
vermag.“79

In: Andrea Bartl u. Antonie Magen (Hg.): Auf den Schultern des Anderen.
Festschrift für Helmut Koopmann zum 75. Geburtstag, Paderborn 2008,
S.43-62.

79
Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe, München 1999, S.308.

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