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Dietrich v. Engelhardt
I. Kontext
spielte weiterhin eine zentrale Rolle; Neben den etablierten Formen der
Therapie bot vor allem der Glaube Unterstützung und Trost, Lebenskunst
(ars vivendi) hieß immer auch Sterbekunst (ars moriendi).
2
World Health Organization: Basic documents, Genf 1976, S.1.
3
Karl Jaspers: Der Arzt im technischen Zeitalter,1958, München 1986, S.53.
3
Neben seinen Kontakten mit Naturforschern und Ärzten ist Carus mit
Philosophen, Literaten und Künstlern der Zeit persönlich bekannt, zu
denen Schelling, Ludwig Tieck und Caspar David Friedrich gehören;
einen herausragenden Platz nimmt Goethe ein.
Zu einer Begegnung mit Goethe kommt es am 21. Juli 1821, als Carus
auf seiner ersten Reise nach Italien in Weimar Station macht und in
einem intensiven Gespräch von zwei Stunden neben kunsthistorischen
Themen vor allem verschiedene Fragen der Naturforschung erörtert:
Knochengerüst, Kopfwirbel, vergleichende Anatomie, Geologie der
7
Carl Gustav Carus: Psyche. Zur Entwickelungsgeschichte der Seele, Pforzheim 1846, S.1.
8
ders.: Von den Naturreichen, ihrem Leben und ihrer Verwandtschaft,in: Zeitschrift für Natur- und Heilkunde
1(1820)S.72.
9
ders.: Lebenserinnerungen und Denkwürdigkeiten, 1. Th., Leipzig 1865, S.314.
5
Goethe beeindruckt den Mediziner Carus nicht nur als Schriftsteller und
Naturforscher, sondern besonders als Mensch in seinem Umgang mit
Gesundheit und Krankheit. Die entsprechenden Beobachtungen und
Reflexionen von Carus stellen keine Krankheitsgeschichte oder
Krankengeschichte im engeren medizinischen Sinne dar, sind aber ein
spezifischer Beitrag zur Geschichte der Pathographie, die als Begriff um
1900 geprägt wird, in der Sache als Beschreibung des kranken
Menschen im Zusammenhang seines Lebens und seiner Aktivitäten aber
bis in die Antike zurückreicht.18
16
Dietrich v. Engelhardt: Natur und Geist, Evolution und Geschichte. Goethe in seiner Beziehung zur
romantischen Naturforschung und metaphysischen Naturphilosophie,in: Peter Matussek, Hg.: Goethe und die
Verzeitlichung der Natur, München 1998, S.58-74, 482-486.
17
Johann Wolfgang von Goethe: Tagebücher, 3.1.1832,in: Werke, 3. Abth., Bd.13, Weimar 1903, Nachdruck
München 1987, S.200.
18
Matthias Bormuth, Hg.: Kunst und Krankheit. Studien zur Pathographie, Göttingen 2007; Dietrich v.
Engelhardt: Pathographie – historische Entwicklung, zentrale Dimensionen,in: Thomas Fuchs u.a., Hg.: Wahn
Welt Bild, Heidelberg 2002, S.199-212; Susanne Hilken: Wege und Probleme der psychiatrischen Pathographie,
med. Diss. Aachen 1993; Dieter Janz, Hg.: Krankengeschichte. Biographie – Geschichte – Dokumentation,
Würzburg 1999; Wilhelm Preuss: Zur Biographie in Psychologie und Medizin, med. Diss. Würzburg 1985.
7
Für die weitere und auch zukünftige Entwicklung der Pathographie von
Schriftstellern und Künstlern durch Literaturwissenschaftler und
Kunsthistoriker kommt als Richtschnur den konzeptionellen
Ausführungen, Forderungen und Warnungen von Karl Jaspers in seiner
Allgemeinen Psychopathologie (1919, 91973) bleibender Wert zu: „Die
19
Friedrich Schlegel: Briefe an seinen Bruder August, Berlin 1890, S.27.
20
Novalis: Fragmente und Studien, 1799/1800,in: Schriften, Bd.3, Darmstadt 31983, S.686.
21
Carl Gustav Carus: Anm. 4, S.24.
22
Jean Paul: Titan,in: Werke, 1. Abt., Bd.3, München 1961, S.895.
8
23
Karl Jaspers: Allgemeine Psychopathologie, Heidelberg 1913, Berlin 91973, S.563f.
24
Thomas Anz: Krankheit, Gesundheit, Moral. Goethe und die Ärzte seiner Zeit,in: Der Deutschunterricht
55(2003)S.23-33; Klaus Bergdolt, Hg.: Die letzte Krankheit Goethe’s beschrieben und nebst einigen andern
Bemerkungen über denselben mitgetheilt von Carl Vogel nebst einer Nachschrift von C. W. Hufeland,
Heidelberg 1999; Frank Nager: Der heilkundige Dichter Goethe und die Medizin, Zürich 1990, 31990; Heinrich
Schipperges: Goethe – seine Kunst zu leben. Betrachtungen aus der Sicht eines Arztes, Frankfurt a.M. 1996.
9
Die Kunst des Krankseins gehört nach Carus zur „Lebenskunst, d.h. der
Kunst, ein schönes, menschliches Leben auf reine, edle Weise und zum
wahren inneren Glück und höherer, innerer Entwickelung der
Persönlichkeit zu leiten und zu vollenden.“ 25 Diese Kunst könne aber
weder die Kunst bedeuten, „die Krankheit selbst gleichsam zu cultiviren,
sie zu verlängern“, noch die Kunst, „krank zu werden“, sondern allein die
Kunst, „wann ein unvermeidliches Geschick über uns eine Krankheit
verhängt, uns auf solche Weise zu verhalten, so uns zu nehmen, solche
Maßregeln zu ergreifen, welche dazu führen, die Krankheit selbst leichter
zu ertragen und möglichst bald und vollständig in den Zustand der
Gesundheit zurückzubilden.“26
Die Krankheitskunst, zu der auch die Wahl des richtigen Arztes und die
Beachtung der Therapie zählen, sei unter den Menschen allerdings
unterschiedlich gegeben; einige verfügten über ein natürliches Talent,
ohne von dieser Kunst zu wissen, das vielen anderen Menschen
dagegen vollkommen abgehe. Bereits Plutarch habe in seinen
Gesundheitsvorschriften von dieser Krankheitskunst gesprochen und mit
Recht empfohlen, sich schon in gesunden Tagen auf sie vorzubereiten.
In der Gegenwart werde dieses Thema aber vernachlässigt, er kenne nur
ein entsprechendes, allerdings „in vieler Beziehung ungenügendes
Schriftchen“ 27 aus dem Jahre 1811; der Verfasser dieser Studie Sabattia
Joseph Wolff und ihr Titel Die Kunst krank zu sein werden von Carus
allerdings nicht mitgeteilt.
Notwendig für die Kunst des Krankseins hält Carus eine Kenntnis der
„Grundbegriffe von der Natur der Krankheit, was sie sei, wie sie
entstehe, wie sie vergehe“; nicht könne dabei aber von einem
medizinischen Halbwissen die Rede sein, das sich der Laie durch die
Lektüre medizinischer Texte erwerben könne, zu denken, sondern nur
25
Carl Gustav Carus: Einige Worte über das Verhältniß der Kunst krank zu sein zur Kunst gesund zu sein,
Leipzig 1843, S. 15.
26
ders.: Anm. 25, S.16.
27
ders.: Anm. 25, S. 15.
10
Die Kenntnis von der Natur der Krankheit läßt den Menschen nicht nur
wie das Tier die Krankheit erleiden oder seinem bloßen Instinkt folgen,
sondern mit Geduld und ohne Verzweiflung das Richtige tun, was die
Krankheit abkürzt, sie erträglicher macht oder zur Genesung führt. Mit
Recht werde der Kranke auch Patient genannt, womit ausgedrückt
werde, „daß er patiens, geduldig, sein, ruhig ausharren soll, um somit die
rechte Wendung der Krankheit zur Gesundheit zu befördern und zu
erleichtern.“34
28
ders.: Anm. 25, S.23.
29
ders.: Anm. 25, S. 29.
30
ders.: Anm. 25, S. 23.
31
ders.: Anm. 25, S. 17.
32
ders.: Erfahrungsresultate aus ärztlichen Studien und ärztlichem Wirken während eines halben Jahrhunderts,
Leipzig 1859, S.68.
33
ders.: Anm. 25, S. 25.
34
ders.: Anm. 25, S. 30f.
11
Diese Einstellung und dieses Verhalten können nach Carus als negative
Seite der Kunst des Krankseins bezeichnet werden, was sie in eine
Nähe zur bildenden Kunst bringe, insofern auch in ihr „das Vermeiden
von Fehlern und Verzeichnung als die negative Seite derselben“ gelten
könne. Die positive oder aktive Seite der Krankheitskunst sei dagegen
„das eigentliche Mithandeln des Kranken oder für den Kranken.“35 Diese
Mitwirkung des Kranken hänge von seiner Freiheit ab, die in
unterschiedlichem Grade, wenn die Krankheit ihn noch nicht zu stark
überwältigt habe, immer vorhanden sei und die der Arzt respektieren
und unterstützen müsse.
Die Kunst des Krankseins unterscheidet Carus von einer „Künstelei“ des
Krankseins, die vorliege, „wenn die Beachtung und Ueberwachung des
Krankseins in feige und qualvolle Aengstlichkeit ausartet, wenn die
innere Freiheit des Lebens darüber völlig verloren geht.“ 37 Wie die
bildende Kunst ist auch jede Lebenskunst, zu der die Krankheitskunst
gehört, auf Freiheit angewiesen, wie in der Kunst entsteht diese Freiheit
erst wahrhaft, „wenn die bewußte Kunst wieder fast ins Unbewußtsein
sich verliert.“38 Nicht auf kleinliche Sorge und ständige Prüfung, sondern
auf eine Art höheren Instinkt oder sokratischen Dämon käme es bei
dieser Kunst des Krankseins an, die bei aller angeborenen Begabung
auch erlernt und verbessert werden könne.
für die das mikrologische Zeitalter allerdings nach Carus kein Interesse
aufbringt, in eine Stufenfolge von drei Typen bringen: primitive oder
Urkrankheiten (Fieber), sekundäre Krankheiten (Entzündung) und
tertiäre Krankheiten (Verbildung). Das System einer spezifischen
Gliederung der Krankheiten wird von Carus in anderen Schriften
vorgelegt, sein entsprechendes „Glaubensbekenntnis“ habe er zum
Beispiel im System der Physiologie (1838-40) veröffentlicht.
an sich ist die Kunst des Lebens, weit schwerer aber ist noch die
Lebenskunst des Arztes, welcher, außer dem eigenen, auch noch das
Leben so vieler andern zu wahren und zu führen berufen ist.“ 43 Alle
Lebens- oder Krankheitskunst wie alle medizinische Heilkunst wird das
Ende des organischen Lebens aber nicht verhindern können. Der Tod ist
nicht zu vermeiden, die organische Bildungskraft bricht notwendig einmal
zusammen.
Krankheit kann nicht so sehr als ein Konflikt zwischen äußeren Reizen
und dem Organismus, sondern unter Mitwirkung externer Einwirkungen
angemessener als ein Konflikt zwischen dem ideellen
Gesundheitsorganismus und dem ideellen Krankheitsorganismus
verstanden werden; dieser ideell-reale Konflikt habe bei Goethe nicht
dazu geführt, daß im gesunden Organismus „eine neue fremdartige
Lebensidee sich einlebt, daß diese fremdartige Lebensidee die
sämmtlichen Vorgänge des Lebens bald mehr bald weniger ihrem
Wesen unterordnet und in ihrem Sinne bestimmt, und daß so eine neue
eigentümliche Lebensgeschichte innerhalb des diesem Organismus
ursprünglich eigenen Lebens auf ihre Weise verläuft und vollendet
wird.“45 In seiner Lebensentwicklung wie im Gang seines literarischen
Schaffens und nicht zuletzt in der Klarheit und „harmonischen Gestaltung
seines hohen, ja höchsten Alters“ 46 habe sich diese Disposition Goethes
zu gesundem Kranksein eindrucksvoll manifestiert.
43
ders.: Anm. 32, S.V.
44
ders.: Anm.4, S. 80.
45
ders.: Anm.4, S .81.
46
ders.: Anm.4, S 80f.
14
wie sehr hierin zugleich ein Schlüssel zum Verständnis so vieler seiner
Werke gegeben ist, hat er vielfältig selbst auf das bestimmteste
angedeutet.“53
Die Beziehung von Krankheit und Kunst darf bei Goethe nach Carus
aber nicht monokausal oder zwingend in dem Sinne gedacht werden,
daß seine Werke grundsätzlich aus Leidenszuständen oder Krisen
entstanden seien. Im Sinne der gesunden Krankheit trügen auch
Goethes poetische wie naturwissenschaftliche Schriften einen
zweifachen Charakter: „Werke wie die Iphigenia, wie der Egmont, wie die
Metamorphose der Pflanze, sie sind aus reiner, durch
Lebensverhältnisse herbeigeführter Begeisterung für Verhältnisse des
Menschheits- oder des Naturlebens entstanden und sind von
krankhaften Stimmungen durchaus nicht influenziert.“ Anders stehe es
dagegen mit Werther, Stella, Tasso, Faust und verschiedenen
Gedichten. Bei diesen Texten könne nicht übersehen werden, “daß
leidenschaftlich befangene Stimmungen zum Grunde gelegen haben,
und daß Goethe durch ihre Bearbeitung sich von gewissen krankhaften
Stimmungen vollends befreien mußte.“55
53
ders.: Anm.4, S 1843, S.89.
54
ders.: Anm.4, S. 89f.
55
ders.: Anm.4, S. 90.
16
Carus hat selbst die heilsame Funktion der Literatur, der Musik, der
Malerei erfahren, vor allem beim eigenen Malen. Auf diesem
schöpferischen Wege einer Entäußerung im Kunstwerk gelang es ihm,
wie er in seinen Lebenserinnerungen mitteilt, „das innerste Geheimniß
der Seele von schwerer Trübung zu reinigen, indem ich dunkle
Nebelbilder, in Schnee versunkene Kirchhöfe und Ähnliches in bildlichen
Compositionen entwarf, welche, wenn sie auch manchen andern
56
Helmut Koopmann: Goethes „Werther“ – der Roman einer Krise und ihrer Bewältigung,in: Aurora
58(1998)S.1-17.
57
Carl Gustav Carus : Anm.4, S. 91.
58
ders.: Anm.4, S. 96.
59
ders.: Anm.4, S. 97.
17
VII. Perspektiven
Medizin wurde seit der Antike immer wieder nicht nur als Wissenschaft
(scientia), sondern stets auch als Kunst (ars) verstanden. Leben sollte
seinerseits eine Kunst sein und Kunst einen Beitrag zur Medizin wie zum
Leben leisten können. Lebenskunst (ars vivendi) sollte Krankheitskunst
(ars aegrotandi) und Sterbekunst (ars moriendi) umgreifen; in der
Beistandskunst (ars assistendi) finden diese Künste ihre Ergänzung. 61
Zugleich wurden Künste und Literatur vom Leben wie der Medizin auch
unterschieden; Kunst geht in Therapie nicht auf, Leben weicht von Kunst
und Medizin ab.
Die Kunst des Krankseins ist nach Carus für ein geglücktes Leben
wesentlich und sollte von allen Menschen beachtet werden – „jeder
einigermaßen Gebildete sollte das“ 62 tun, denn „das Leben des
Menschen soll zu einem Kunstwerk sich gestalten.“ 63 Neben Goethe
habe auch Tieck diese Gabe besessen, der zu ihm während eines
Gespräches über dieses Thema gesagt habe: „Wenn Sie darüber einst
schreiben, kann ich Ihnen vielfache Beiträge geben, denn ich habe diese
Kunst seit dreißig Jahren geübt!“64
Carus hat seine Gedanken über Goethe als Künstler des gesunden
Krankseins oder einer gelungenen Lebenskunst ohne direkte Kontakte
als Arzt formuliert; seine Darstellung lädt deshalb in der Perspektive der
Pathographie zu entsprechenden Ergänzungen ein: Beachtung der
konkreten Krankheiten Goethes, seiner verschiedenen Arztkontakte,
seiner medizinischen Kenntnisse, seines eigenen Verhaltens; darüber
hinaus Analyse der Auswirkungen der Krankheiten auf sein literarisches
Schaffen, auf Produktivität und Thematik seiner Werke; Folgen
schließlich seiner Werke auf Physiologie und Psychologie der Leser.
Anregend wäre auch eine Betrachtung der Krankheiten und Heilungen in
60
ders.: Lebenserinnerungen und Denkwürdigkeiten, Th.1, Leipzig 1865, S.128.
61
Andrea Braunberger-Myers u. Kurt W. Schmidt, Hg.: Ars moriendi – die Kunst des (gesegneten) Sterbens,
Frankfurt a.M. 2004; Dietrich v. Engelhardt: Lebenskunst (ars vivendi): Kunst des Krankseins (ars aegrotandi)
und Kunst des Sterbens (ars moriendi),in: Zeitschrift für medizinische Ethik 52(2006)S.239-248; Arthur E.
Imhof: Ars moriendi. Die Kunst des Sterbens einst und heute, Wien 1991; Hermes Andreas Kick, Hg.: Ethische
Orientierungen in Grenzsituationen des Lebens. Lebenskunst und Sterbekunst, Sterbebegleitung und
Trauerarbeit, Münster 2004: Jacques Laager, Hg.: Ars moriendi. Die Kunst, gut zu leben und zu sterben. Texte
von Cicero bis Luther, Zürich 1996.
62
Carl Gustav Carus: Anm.25, S.22f.
63
Carus: Mnemosyne, Pforzheim 1848, S.3.
64
ders.: Anm.25, S.33.
18
65
George L. Engel: Psychisches Verhalten in Gesundheit und Krankheit, a.d.Engl: (162), Bern 1978; Dietrich v.
Engelhardt: Mit der Krankheit leben.. Grundlagen und Perspektiven der Copingstruktur des Patienten,
Heidelberg 1986; Edgar Heim: Krankheit als Krise und Chance, Stuttgart 1980; Franz Petermann u.a., Hg.:
Montivierung, Compliance und Krankheitsbewältigung, Regensburg 2004.
66
Dietrich v. Engelhardt: Schillers Leben mit der Krankheit im Kontext der Pathologie und Therapie um 1800,in:
Georg Braungart u. Bernhard Greiner, Hg.: Schillers Natur. Leben, Denken und literarisches Schaffen, Hamburg
2005, S.57-73.
67
Friedrich Schiller an Christian Garve, 6.11.1797,in: Briefe, Bd.2, Frankfurt a.M. 2002, S.340.
68
ders. an Theodor Körner, 14.10.1787,in: Briefe, Bd.2, Frankfurt a.M. 2002, S..258.
69
ders. an Christoph Martin Wieland, 3.10.1791,in: Werke, Bd.26, Weimar 1992, S.98.
19
Der Umgang des Kranken mit der Krankheit, der Medizin und dem durch
die Krankheit veränderten Leben oder allgemein sein Copingstil kann
durch den Arzt oder den Kranken oder andere Personen beurteilt
werden. Die Coping-Diagnostik von Goethe in seiner eigenen
Wahrnehmung im Rahmen seiner Autobiographie Aus meinem Leben.
Dichtung und Wahrheit (1811-33) könnte vorläufig so bestimmt werden:
Umgang mit der Krankheit: akzeptierend, mit aggravierenden Neigungen
in der Jugend und als Vermeidung von Belastungen und Gefahren im
späteren Leben; Umgang mit der Medizin: kenntnisreich, aufgeklärt,
kooperativ, bei ungesunder Lebensweise in früheren Jahren; Umgang
mit dem durch die Krankheit veränderten Leben: kreativ-konstruktiv,
neben der künstlerischen Produktivität durch Orientierung an der Idee,
am Notwendigen und Gesetzlichen in der Welt vergänglicher
Erscheinungen.
Natürlich stellt sich die Frage der Übereinstimmung von Selbst- und
Fremdurteil, nach dem Verhältnis von zutreffender Beschreibung,
Projektion und Konstruktion. Aufschlußreich wäre ein Vergleich der
Beobachtungen Goethes über seinen Umgang mit Gesundheit und
Krankheit in Dichtung und Wahrheit mit entsprechenden Ausführungen in
70
Johann Wolfgang von Goethe, Epilog zu Schillers Glocke, 1815,in: Werke, 1.Abt., Bd.16, Weimar 1894,
Nachdruck München 1987, S.168.
71
ders.: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit,in: Werke, Bd.9, München 1981, S.582.
72
ders.: Aus meinem Leben. Dichtung und Wahrheit,in: Werke, Bd.9, München 1981, S.509.
20
Carus gibt selbst ein gelungenes Beispiel für die Lebenskunst oder
gesunde Krankheitskunst ab - in seinem Verhalten als Arzt wie aber
auch im Umgang mit den eigenen Krankheiten. Wie sehr objektive und
subjektive, deskriptive und normative, physische, psychische, soziale
und geistige Dimensionen sich im Kranksein verbinden, zeigt sein
Bericht über die Genesung von der Typhuserkrankung eindrucksvoll aus,
die ihn während seines ärztlichen Engagements in der Völkerschlacht
von Leipzig 1813 befallen hat und die auch beim ihm zum Erlebnis der
gesunden Krankheit wurde: „Nach und nach kehrte mir dann ein klareres
Bewusstsein wieder; aber ich war abgezehrt und so kraftlos, daß ich wie
ein Kind wieder allmählich anfangen musste, gehen zu lernen. Wie
sonderbar war mir jetzt, als ich anfing, von den Dingen um mich her
73
Carl Gustav Carus: Anm. 24.
74
ders.: Anm.4, S. 66.
75
ders.: Anm.4, S.66f.
76
ders.: Anm.4, S. 67.
21
Menschliche Gesundheit schließt Krankheit und Tod ein. Der Tod gehört
zum Leben, der organische Bildungstrieb wird erliegen, der ideelle
Krankheitsorganismus siegt letztlich über den ideellen
Gesundheitsorganismus und lenkt zugleich den Blick auf die
Transzendenz. Carus glaubte an ein Leben nach dem Tode. Goethes
gesunde Krankheit oder seine Lebens- und Krankheitskunst sei von
einer Psyche getragen worden, „deren volle Lebensaufgabe in diesem
Dasein gelöst ist und deren gesunde Weiterbildung in einem
fortgesetzten Dasein unmöglich fehlen kann.“ 78 Im Gespräch am 4.
Februar 1829 mit Eckermann äußert sich auch Goethe, der dem eigenen
Tod und dem seiner Mitmenschen meist ausgewichen ist, überzeugt,
daß die Natur sein Leben mit dem physischen Tode nicht untergehen
lassen werde: „Die Überzeugung unserer Fortdauer entspringt mir aus
dem Begriff der Tätigkeit; denn wenn ich bis an mein Ende rastlos wirke,
77
ders.: Anm. 60, S.36ff.
78
ders.: Anm.4, S.85.
22
so ist die Natur verpflichtet, mir eine andere Form des Daseins
anzuweisen, wenn die jetzige meinen Geist nicht ferner auszuhalten
vermag.“79
In: Andrea Bartl u. Antonie Magen (Hg.): Auf den Schultern des Anderen.
Festschrift für Helmut Koopmann zum 75. Geburtstag, Paderborn 2008,
S.43-62.
79
Johann Peter Eckermann: Gespräche mit Goethe, München 1999, S.308.