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- Definition

Springer Fachmedien Wiesbaden 2016 C. Helfferich et al. (Hrsg.), Forschungsmanual Gewalt

Seite 15 ff

Die in sich vielfältige und vielschichtige Gewaltforschung hat eine lange Tradition in unterschiedlichen
disziplinären Kontexten wie der Soziologie, der Psychologie, der Kriminologie oder der
Geschichtswissenschaft, die jeweils Gewalt auf ihre eigene Weise definiert haben. Speziell bezogen
auf Gewalt in Paarbeziehungen und sexualisierte Gewalt ist die Forschungstradition allerdings
deutlich kürzer: Diese Formen von Gewalt mussten historisch überhaupt erst einmal als Gewalt
wahrgenommen und öffentlich anerkannt werden.

Die als „privat“ geltende Gewalt in Paarbeziehungen und sexualisierte Gewalt wurden – mit
Unterschieden für die einzelnen Formen dieser Gewalt – erst spät unter die Kategorie „Gewalt“
subsumiert. Wenn eine strafrechtliche Definition von Delikten zu Grunde gelegt wird, so kann die
Forschung zu sexuellem Missbrauch erst ab den Strafrechtsreformen von 1969 bzw. 1973, die
Strafrecht und Moral trennten, beginnen.

Springer Fachmedien Wiesbaden 2016 C. Helfferich et al. (Hrsg.), Forschungsmanual Gewalt

Angesichts der Unmöglichkeit einer wertneutralen Haltung zu Gewalt kann andererseits versucht
werden, eine unangreifbare emotionale und moralische Position zu finden. Es war ja auch die
Empörung in der Frauenbewegung und im „Neuen Kinderschutz“, die allererst durchgesetzt hat, dass
körperliche, psychische und sexuelle Verletzungen im privaten Lebensraum als Gewalt benannt
wurden.

Verallgemeinerungen über Täter und Opfer waren in diesem Prozess der öffentlichen Benennung als
Skandal meist unvermeidbar. Auf dieser Grundlage konnte zwar bislang verborgene Gewalt hell
beleuchtet werden, Forschung jedoch, als unvoreingenommene Suche nach neuen Erkenntnissen
verstanden, ist auf dieser Grundlage nur eingeschränkt möglich.

Seit 2008 belegt die Forschungsgruppe um David Finkelhor mit repräsentativen Befragungen in den
USA, dass Kinder und Jugendliche nicht nur einer Vielzahl von Gewaltformen ausgesetzt sind,
sondern häufig auch mehrfach auf verschiedene Weise Opfer werden. Fast zwei Fünftel aller Kinder
und Jugendliche in der nationalen repräsentativen Befragung hatten mehr als eine Form direkter
Gewalt erlitten und ein Zehntel haben fünf oder mehr unterschiedlicher Formen von Gewalt im
vorangegangenen Jahr erlebt. Kinder, die mehrere verschiedene Formen von Gewalt erlebt haben,
waren psychisch deutlich stärker belastet und waren unter anderem deutlich häufiger von sexuellem
Missbrauch betroffen (Turner et al. 2010).

Insbesondere die Begriffe ‚sexuelle Gewalt‘ und ‚sexueller Missbrauch‘ haben mit dem wachsenden
Erkenntnisstand aus Praxis und Forschung eine Erweiterung erfahren. So galt bis Juni 1997 als
Vergewaltiger nur „Wer eine Frau mit Gewalt oder durch Drohung mit gegenwärtiger Gefahr für Leib
und Leben zum außerehelichen Beischlaf nötigt“ (§ 177 StGB alt). Seit der Reform sind sexuelle
Nötigung und Vergewaltigung geschlechtsneutral definiert, innerhalb genauso wie außerhalb der Ehe
strafbar, und zur Gewalt kommt auch die „Ausnutzung einer Lage, in der das Opfer schutzlos der
Einwirkung des Täters ausgeliefert ist“ hinzu. Und bei sexueller Nötigung geht es darum, sexuelle
Handlungen dulden oder vornehmen zu müssen; als besonders schwerer Fall ist das Eindringen in
den Körper als Vergewaltigung bezeichnet. Währenddessen hat die öffentliche Benennung und
Bewusstwerdung von sexueller Belästigung mit deren Folgen das Feld dessen, was verletzende und
schädigende sexuelle Übergriffe umfassen kann, über die juristische Definition der Nötigung, die
immer auf eine zusätzliche Gewaltanwendung abhebt, hinaus erweitert. Im Zuge dieser Diskussionen
wurde der Begriff „sexualisierte Gewalt“ eingeführt und mit der These begründet, dass
Vergewaltigung und andere aufgenötigte sexuelle Handlungen nicht wirklich sexuell sind, sondern
sich nur der sexuellen Handlungen bedienen, um Gewalt auszuüben. Diese These blendet aber aus,
wie sehr die Sexualität sowohl des Täters als auch (infolge der Tat) des Opfers im Gewaltgeschehen
involviert ist. Vergewaltigung und sexuelle Nötigung als primär Gewalt und nur sekundär, adjektival
als „sexualisiert“ einzustufen suggeriert zudem, dass normale (Hetero-)Sexualität durchweg im vollen
Einverständnis und gewaltfrei erlebt wird. Das macht aber hilflos in der Auseinandersetzung mit den
vielfältigen Formen des einseitigen Verlangens, Drängens und Eindringens ohne erwiderndes
Begehren, die als normal gelten, innerhalb wie außerhalb von Paarbeziehungen. Und überhaupt: wie
kommen wir dazu, zu meinen, eine hässliche Sexualität sei in Wahrheit gar keine? (Hagemann-White
1995) Eine ähnliche Entwicklung fand bei der Prägung des Begriffs „sexuelle Kindesmisshandlung“
anstelle von „sexuellem Missbrauch“ statt; auch hier vermittelt der neuere Begriff den Eindruck, als
sei die Hauptintention, das Kind zu misshandeln, und die Befriedigung sexueller Bedürfnisse lediglich
austauschbares Mittel zu Zwecken, die nicht selber sexueller Natur sind. Mir scheinen die Begriffe
„sexuelle Gewalt“ und „sexueller Missbrauch“ ehrlicher und dem Erleben der Betroffenen eher
gerecht zu werden. „Sexuelle Ausbeutung“ von Frauen oder von Kindern ist ein wichtiger Begriff zur
Erfassung der kommerziellen, auf ökonomischen Gewinn ausgerichteten Handlungsmuster.

Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2020 J. Ecarius, A.
Schierbaum (Hrsg.), Handbuch Familie

Sich der Tragweite von Gewalt in Kindheiten zu nähern heißt, das Allgemeine des Kindes als Mensch
und zugleich das Besondere des Kindes als Kind zu verstehen. Diese kindheitstheoretische Denkfigur
ist auch für die Klärung von sexueller Gewalt in der Familie aufschlussreich (Andresen 2020;
Kavemann 2013). In Berichten an die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen
Kindesmissbrauchs (2019a, b) beschreiben viele Betroffene ein wissendes Schweigen über sexuellen
Kindesmissbrauch im sozialen Umfeld von Familie, Verwandtschaft, Freunden der Eltern, Schule,
Verein oder Nachbarschaft. Zwar ist die Familie ein Ort, der sich dem Blick von außen vergleichsweise
gut entziehen kann. Gleichwohl berichten Betroffene, die inzwischen erwachsen sind, vielfach davon,
dass einzelne Familienmitglieder sexuelle Übergriffe beobachtet haben, das Jugendamt in einem
regelmäßigen Kontakt mit der Familie stand oder sie selbst sich jemandem etwa in der Schule
anvertrauten, ohne dass der sexuelle Missbrauch beendet wurde. Die Stellung der Institution Familie
innerhalb gesellschaftlicher Strukturen ist für die Klärung sexueller Gewalt gegen Kinder eine
relevante Größe. Familie als Privatraum und normative Vorstellungen des Verhältnisses von Intimität
und Öffentlichkeit (Sennett 1985) spielen auch im Umgang mit sexuellem Kindesmissbrauch sowie
den Formen der Beendigung von Gewalt und der Unterstützung betroffener Kinder eine
entscheidende Rolle. Insofern liegt in dem Verhältnis von Öffentlichkeit und Privatheit, das in
demokratischen Gesellschaften auch über die jeweiligen Verfassungen abgesichert ist, ein
systematischer Schlüssel zum Verstehen der Gewaltdynamiken. In der Bundesrepublik ist
insbesondere Artikel 6 des Grundgesetzes (GG) ein zentraler Bezugspunkt, der nicht zuletzt als Lehre
aus der Familienpolitik im Nationalsozialismus eingebracht wurde. In Artikel 6 ist das Recht der Eltern
auf Erziehung ihrer Kinder verfassungsrechtlich verankert. Das staatliche Wächteramt setzt nur dann
ein, wenn das Kindeswohl – ein unbestimmter Rechtsbegriff – gefährdet ist. Hier entstehen
zahlreiche Unsicherheiten, die auch eine professionstheoretische Durchdringung nötig machen
(Pomey 2014). So haben Albert und Bühler-Niederberger (2015) aufgezeigt, dass auch für den
Kinderschutz ausgebildete Fachkräfte vielfach an einem normativen Bild festhalten und Familien
auch unter höchst widrigen Umständen für den besten Ort für Kinder halten. Nach den vorliegenden
Daten und den Berichten Betroffener ist davon auszugehen, dass jede Familienform zu einem Ort
sexueller Gewalt gegen Kinder werden kann (Unabhängige Kommission 2019a).
Beziehungsdynamiken in Familien als Tatorte sexueller Gewalt sind häufig von ‚Täterstrategien‘
(Heiliger 2000) geprägt. Im Kontext der Familie verfügen Täter und Täterinnen über zum Teil fast
uneingeschränkte Macht. Sie können viel Zeit alleine mit einem Kind verbringen, ohne dass es
auffällt, und da sie das Kind und die Familie gut kennen, haben sie zahlreiche Möglichkeiten, Einfluss
auf deren Wahrnehmung und Verhalten zu nehmen. Entscheidend aus Tätersicht sind die
Möglichkeiten der jeweiligen Familie, ein betroffenes Kind sozial zu isolieren, sich als Familie
abzuschotten sowie die Zurückhaltung der Umgebung, etwa Nachbarn, gegenüber einer Familie und
damit einem anderen Privatraum aktiv zu werden. Im Wechselspiel von privater Verantwortung für
das Aufwachsen und öffentlicher, also staatlicher und zivilgesellschaftlicher Verantwortung, zeigt sich
darüber hinaus, dass vielfach zur Hilfe bereite Angehörige im außerfamiliären Umfeld keine Zugänge
zu passgenauer Unterstützung haben, etwa weil spezialisierte Fachberatungsstellen in der Umgebung
fehlen oder kein Wissen darüber vorhanden ist. Auch das erweiterte familiäre Umfeld ist in die
systematische Betrachtung von Privatheit und Öffentlichkeit einzubeziehen. Zum für betroffene
Kinder unter Umständen relevanten erweiterten familiären Umfeld gehören Großeltern, Onkel und
Tanten oder Cousins und Cousinen, Paten, enge Freunde der Familie sowie Erwachsene, die
regelmäßig oder über lange Zeiträume in der Familie zu Besuch sind oder arbeiten (beispielsweise
Au-Pairs oder BabysitterInnen). Die Beachtung der erweiterten Familie ist relevant, da Täter auch die
Freunde des Vaters oder Großvaters sein können. In der erweiterten Familie bzw. im familiären
Umfeld ist sexualisierte Gewalt gegen Kinder wie in der ‚Kernfamilie‘ von nahen Beziehungen und
Loyalitäten geprägt. Dies erschwert es betroffenen Kindern Hilfe zu bekommen. Bussmann (2007, S.
674) zufolge tragen die „Einstellungen zur Privatheit der Familie“ dazu bei, dass bei familialer Gewalt
weggesehen wird, Betroffene sich aus Scham keine Hilfe holen und Täter sich ‚sicher‘ fühlen.

Kinder sind innerhalb von Familien (und gesamtgesellschaftlich) die Gruppe, die am häufigsten
‚viktimisiert‘ (Finkelhor 2008) wird. Sie sind zudem bei häuslicher Gewalt mitbetroffen, wenn sie
diese zwischen Erwachsenen sehen und miterleben (Kavemann 2013, S. 17).

- Folgen

Springer Fachmedien Wiesbaden 2016 C. Helfferich et al. (Hrsg.), Forschungsmanual Gewalt

Beispiel: Frauen und Männer, die in Kindheit und Jugend sexuell missbraucht wurden Die
Interviewpersonen konnten über unterschiedliche Kontakte und Wege gefunden werden. Alle
meldeten sich aus eigenem Interesse. Die Information über das Forschungsprojekt wurde verbreitet
über Betroffeneninitiativen und -organisationen sowie Fachberatungsstellen, Verbände und
Selbsthilfeeinrichtungen. Die größte Anzahl der Interviewten meldete sich, nachdem sie über
Internetkontakte zu Betroffenenorganisationen von diesem Forschungsvorhaben gehört hatten.
Dieses Schneeballprinzip funktionierte gut und schnell. Dieser Zugang hatte den Vorteil, nicht nur
Betroffene zu erreichen, die im Unterstützungssystem angekommen waren, sondern auch solche, die
nie eine Beratungsstelle oder Selbsthilfegruppe aufgesucht hatten. Gleichzeitig war unter ihnen eine
bestimmte Anzahl von Frauen und Männern, die in der Lobbyarbeit für Betroffene aktiv waren. Sie
hatten viel Erfahrung darin, ihre Geschichte zu erzählen. Und: Sie waren alle älter als 40 Jahre, die
sexualisierte Gewalt lag für sie weit zurück. Somit handelte es sich zunächst um eine spezifische, weil
homogene Stichprobe. Um diese Verzerrung etwas auszugleichen, wandten wir uns erneut an
Fachberatungsstellen um jüngere Personen zu erreichen. Zudem suchten wir intensiv nach Frauen
und Männern mit Migrationshintergrund, da diese bisher noch nicht kontaktiert werden konnten.
Dafür sprachen wir Beratungsstellen für Migrantinnen an, kontaktierten Ärztinnen und
Psychologinnen mit Migrationshintergrund und nutzten alle uns bekannten weiteren Kontakte.
Trotzdem waren wir in diesem Punkt nicht erfolgreich. Die Schwelle, in dieser Form mit ihren
Erlebnissen an die Öffentlichkeit zu gehen, war für diese Zielgruppe zu hoch.
Morgen suchen:

- Sexueller Missbrauch an Kindern. Ausmass, Hintergründe, Folgen

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