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Die Pandemie hat das Leben auf den Kopf gestellt: Existenzängste,

Vereinsamung, Langeweile, Stress oder Trauer sind so präsent wie selten zuvor.
Da wird die Frage immer zwingender nach dem, was Menschen durch eine
solche Situation hindurch tragen kann. Was wäre das, wenn nicht Musik?
Gerade die von Bach.
Von Hannah Schmidt
Johann Sebastian Bach gilt zwar nicht gerade als emotionaler Künstler, im
Gegenteil: Seine Musik wird häufig als verkopft wahrgenommen und mit wenig
Bezug zu einer modernen Welt. Doch die Pianistin, Organistin und
Bachvermittlerin Ann-Helena Schlüter sieht das anderes: Genau diese Musik
habe das Potenzial, in Zeiten wie dieser zu einer vielfachen Quelle von
Zuversicht zu werden.
„Die Erfahrung mit Tod, die Spiritualität in Bachs Musik hat damit zu tun, dass
er weiß, dass das Leben endlich ist. Er deutet in seiner Musik immer auf etwas
hin, auf etwas weiter Entferntes, auf Ewigkeit finde ich, und das merkt man
auch an der Auswahl der Texte, wenn er welche ausgewählt hat, irgendwie
muss er gewusst haben, ich sterbe, aber wir gehen alle am Ende wohin.“
Und so folgen: Fünf Werke aus Bachs großem OEuvre – und ihr Bezug zur
Pandemie.
1. Trauer
Musik: Chaconne, d-Moll-Partita für Violine solo, BWV 1004
Die d-Moll-Partita gilt als eines der tiefgründigsten Werke, die Johann Sebastian
Bach je komponiert hat. Die mitschwingende Trauer ist hier nur ein Affekt, der
sich immer wieder harmonisch aufhellt. Hochkomplex als Variationensuite
komponiert klingt die Musik jedoch verblüffend simpel.
„Ungefähr so als würde man in einer Kathedrale stehen oder ein Gedicht lesen
und sich denken: So ist es, das hat jemand unfassbar gut in Worte gefasst, und
es ist vor allem eines, wunderschön. Da trifft was zusammen: die Schönheit, die
Wahrheit, damit kann ich mich identifizieren, und dass jemand das in eine
schöne Form gefasst hat.“
2. Einsamkeit
Musik: Italienisches Konzert – III. Presto, BWV 971
In seinem Italienischen Konzert imitiert Bach das Zusammenspiel eines
Soloinstruments mit einem Orchester, indem er die unterschiedlichen
Klangfarben der beiden Cembalomanuale einander gegenüberstellt. Die
Interpretin sitzt also alleine auf der Bühne, spielt aber eine Musik, in der
mehrere Partner miteinander kommunizieren – allein, aber nicht einsam.
Musik: Italienisches Konzert – III. Presto, BWV 971
3. Überforderung
Musik: Fuge C-Dur, BWV 545
„Bach hat diese Art, dass er in seinen Fugen aber auch in den freien Werken,
dass da immer eine Kernbotschaft durchläuft,“ sagt Ann-Helena Schlüter über
die manchmal überfordernde Komplexität in Bachs Werk.
„Da läuft immer etwas ganz gleichmäßig und klar strukturiert durch, und
drüber und drunter sind lebendige Stimmen, die da herumschwirren, […] dann
verdichtet sich das zu einer Art Höhepunkt, da wird es dann wie so ein Cluster,
und mit einer wunderschönen Coda lässt er das ganze ausgehen. Die Art, wie er
das macht, sagt viel darüber aus, wie man das Leben sehen kann.“
4. Langeweile
Musik: Kunst der Fuge,  BWV 1080
Welches Werk könnte langweiligen Momenten effektiver entgegenwirken als
die „Kunst der Fuge“? Bach schrieb es auf dem Totenbett, fast blind und schon
sehr schwach – und erschuf in diesem Zustand eines der bewunderten
Meisterwerke der Kontrapunktik. Hörend erscheint die Musik kaum komplexer
als andere Bach-Werke zu sein – doch fordert sie den Geist noch einmal auf
eine ganz andere Art und Weise.
Musik: Kunst der Fuge, BWV 1080
5. Hoffnung
Musik: Goldberg-Variationen, Aria, BWV 988
Auch die Goldberg-Variationen gelten als eines der unübertroffenen
Meisterwerke. So planvoll und streng, wie die Variationen gebaut sind, so
unterschiedlich sind die Charaktere der einzelnen Sätze. Aus einem einzigen
schlichten Thema in der „Aria“ entwickelt Bach ein Universum an
Möglichkeiten – und möglichen guten Ausgängen: „Dieses Fokussierte in der
Musik tut einem schon gut,“ sagt Ann-Helena Schlüter. „Man merkt auch, dass
er gefunden hat, was er finden wollte. Er hat gefunden, hat den Sinn des
Lebens gefunden.“
Musik: Goldberg-Variationen, Aria, BWV 988
Vielleicht kann Bachs Musik wirklich für den einen oder die andere eine Stütze
sein. Für Ann-Helena Schlüter ist sie es allemal: „Seine Musik ist zeitlos, das
heißt auch ich bin 2021 total begeistert von seiner Musik, sie ist in gewisser
Weise intellektuell aber nicht auf einer überheblichen Art und Weise. Er
verbindet das Kluge und genial Begabte mit etwas so Warmherzigem und
Demütigem, was ich von anderen Komponisten, von keinem anderen
Komponisten kenne.“

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