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442 Feb. 2021

Kultur-
förderung
Cuba Bolivien Honduras Brasilien
Corona-Impfstoff Der Mallku (Felipe Privatstadt auf Impfkrieg und
weckt Hoffnungen Quispe) ist tot Roatán Isolation

D a s L a t e i n a m e r i k a - M a g a z i n 6,00 EUR
n editorial

D
er Kultur geht es schlecht, viele Künstler*innen lateinamerikanische Länder können mehr Geld für
sind in ihrer wirtschaftlichen Existenz be- Kultur ausgeben als ärmere Nationen. Aber es kommt
droht. Das hört man dieser Tage, wo große Teile auch darauf an, welchen Stellenwert und welche
des Kulturlebens pandemiebedingt brachliegen, al- Wichtigkeit die Gesellschaften der Kunst und Kultur
lenthalben. Das gilt natürlich nicht nur für unsere einräumen. Der ist beispielsweise in Argentinien hö-
Breiten, sondern für fast alle Weltregionen – auch für her als in Brasilien oder in Cuba höher als in der
Lateinamerika. Dominikanischen Republik. Zudem hängt der bewil-
Während es aber in Mitteleuropa wenigstens teilweise ligte Etat häufig auch vom Engagement überzeugen-
Hilfsangebote für Künstler*innen gibt (obwohl vie- der Persönlichkeiten ab, die gleichzeitig mit einer
le durch das Raster der Förderungsrichtlinien fallen) künstlerischen Vision und politischem Geschick aus-
und sie notfalls auch staatliche Sozialleistungen be- gestattet sein müssen, wenn sie bestimmte kultu-
antragen können, ist die Lage für ihre Kolleg*innen relle Initiativen voranbringen wollen. Dadurch wur-
in Lateinamerika ungleich dramatischer. Das hat de es zum Beispiel möglich, dass Venezuela seit vie-
uns zu der Frage geführt, wie kulturelle Aktivitäten len Jahren das weltweit vielleicht beste System der
dort generell gefördert werden und wie sich Förderung klassischer musikalischer Ausbildung für
Kulturschaffende finanzieren. Jugendliche hat.
Natürlich gibt es in Lateinamerika genau wie in Der Fokus dieses Schwerpunktes liegt auf der
Europa erhebliche Unterschiede zwischen den ein- Förderung kultureller Projekte in Lateinamerika. Aber
zelnen Ländern und den kulturellen Genres. So exis- wie wir es gerne tun, blicken wir auch nach Europa
tieren etwa vielerorts Programme zur Filmförderung, und haben etwa gefragt, wie die Übersetzungen la-
während Theater kaum Unterstützung erfahren. teinamerikanischer Bücher ins Deutsche geför-
Viele Länder und auch einige sehr große Städte dert werden. Ebenso hat es uns interessiert, wie die
unterhalten Symphonieorchester mit eleganten Übersetzungen fremdsprachiger Titel ins Spanische für
Räumlichkeiten, andere Gruppen, etwa aus dem Jazz den mexikanischen Buchmarkt unterstützt werden.
oder Punk, finden nicht einmal Probenräume oder Wer lateinamerikanische Künstler*innen unter-
geeignete Orte für ihre Auftritte. stützen und sich selbst etwas Gutes tun will, soll-
So haben wir eine kleine Reise durch die latein- te sich vor allem mit deren Werken beschäftigen.
amerikanische Kulturszene unternommen und Bücher, Tonträger und Filme kann (und soll) man
Künstler*innen beziehungsweise Leute aus kulturel- auch in Zeiten der Pandemie erwerben und sich zu
len Projekten gefragt, wie sie ihre Arbeit finanzieren. Gemüte führen. Irgendwann wird es wieder Konzerte
Naturgemäß sind das einzelne Stimmen, verallgemei- und Theatervorstellungen geben, die Kinos (zumin-
nern lassen sich die Aussagen nicht unbedingt. Was dest die, die dann noch existieren) werden Filme zei-
vielleicht in Mexiko möglich ist, ist in Peru undenk- gen, und es wird auch wieder alte und neue Festivals
bar, was in Cuba geht, ist wahrscheinlich in Chile in den unterschiedlichsten Genres geben. Zumindest
weitaus schwerer zu realisieren. hoffen wir das!
Förderung klingt erst mal gut, ist aber in der Regel
mit Auflagen verbunden. Die können durchaus sinn- P.S. Nach jahrelangen Kämpfen hat es die argentini-
voll sein, wenn etwa bestimmte Qualitätskriterien sche Frauenbewegung Ende Dezember geschafft, dass
verlangt werden (wobei immer die Frage ist, wer das beide Kammern des Kongresses einem Gesetz
auf welcher Grundlage definiert). Sie können aber zugestimmt haben, das Abbrüche in den
auch sehr problematisch sein, wenn sie ästhetische ersten 14 Wochen der Schwangerschaft
Projekte ausgrenzen, die sich kritisch mit politischen entkriminalisiert. Wir gratulieren den
und wirtschaftlichen Machtverhältnissen auseinan- Argentinier*innen zu diesem Erfolg
dersetzen. und wünschen den chilenischen
Sicherlich stehen schon aufgrund der wirtschaftli- und peruanischen Aktivist*innen,
chen Ressourcen in Lateinamerika weniger Mittel für dass auch sie in den anstehenden
Kulturförderung zur Verfügung als in Deutschland, Verfassungsprozessen die rigiden
Österreich, der Schweiz oder Luxemburg. Reichere Abtreibungsverbote kippen können.

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Feb. 2021 ila-web.de
inhalt n

n Kulturförderung
4 Ende des Staatsmonopols 34 Falsch gezielt oder schlecht getroffen
Das neue Filmdekret in Cuba – ein Paradigmenwechsel
Neue Konstellationen vor den Regionalwahlen in Bolivien
von Andreas Hesse
von Peter Strack
7 Produzieren mit dem, was da ist 37 Der „Mallku“ ist tot
Von den Schwierigkeiten, ein Filmprojekt mit
Abschied von Achachila Felipe Quispe Huanca (1942 -2021)
Psychiatrieinsassen zu finanzieren
von Juan Carlos Nina Bautista
von Laura Lago, Malena Battista, Laura Lugano, Ana Santilli
Lago & Ayelén Martínez 39 Roatán – ein neuer Blue Space?
Wie eine Privatstadt in Honduras entsteht
10 Jede Theaterinszenierung ist ein leidvolles von Kirstin Büttner und Rita Trautmann
Unternehmen
Interview mit dem chilenischen Autor und Dramatiker 42 „Brasilien ist kaputt. Ich kann nichts machen“
Omar Saavedra Santis Präsident Bolsonaros Aussage vom 5. Januar 2021 ist die
von Gert Eisenbürger bittere Wahrheit
von Luiz Ramalho
12 Es gibt eine ständige Konkurrenz um knappe
Fördermittel 44 Ein leerer Stuhl für Präsident Duque war stets dabei
Interview mit Matías Rojas Quintana – Produzent von Kolumbien: Interview mit Eduin Mauricio Capaz Lectamo
Niebla Gestión Cultural in Chile von der ACIN
von Annika Erpenbeck von Gerold Schmidt
15 Theater macht stark 48 Die Ruhe nach dem Sturm hält nicht ewig
Interview mit Thomas Guthmann von der Fundación Compa In „Mi vida y el Palacio“ von Helena Uran Bidegain ergreift
in El Alto/Bolivien die Tochter eines 1985 im kolumbianischen Justizpalast
von Gert Eisenbürger Ermordeten das Wort
von Gaby Küppers
18 Wie ein Torwart, der jeden Ball fangen muss
Die Sängerin Marisol Díaz zur Kunstförderung in Bolivien 50 Wahlkampf auf Kosten der Opfer
von Peter Strack El Salvadors Präsident Nayib Bukele in El Mozote
von Nelson Rauda
21 Kumbia Queers: Livin´ la birra loca
Improvisation und Mut zum Risiko – die ersten Touren in 53 Chile – ein Beispiel für die Welt
Europa Zum Buch „Revolte in Chile“ von Sophia Boddenberg
von Alix Arnold und Birgit Krug von Rolf Satzer
24 Das System von El Sistema n Kulturszene
Venezuelas musikalisches Kronjuwel hat schon viel
überstanden 54 Wortgewaltiger Zorn
von Mirra Banchón Erste deutschsprachige Ausgabe der Gedichte von Pablo und
Winétt de Rokha
26 Mehr als 800 Buchtitel in 40 Jahren
von Gert Eisenbürger
Interview mit Petra Kassler von Litprom über die Förderung
von Übersetzungen aus den Ländern des Südens 55 Exil ohne Rückkehr
von Gert Eisenbürger Zwei neue Bücher beleuchten das Exil der 1943 in Mexiko
gestorbenen Alice Rühle-Gerstel
28 Von Brasilien bis Japan
von Gert Eisenbürger
Literaturübersetzung und ihre Förderung in Mexiko
von Claudia Cabrera 57 Ich bin wie ein weites Land
Ein neuer Essayband von Gioconda Belli zeigt die Bedeutung
n Berichte & Hintergründe der nicaraguanischen Autorin
von Klaus Jetz
30 Das war überfällig
Die Währungsreform in Cuba n Solidaritätsbewegung
von Knut Henkel
58 Notizen aus der Bewegung, Impressum
32 Mojito, Strand und Injektion
Neues aus dem Forschungslabor: Der cubanische Impfstoff
Soberana02 weckt Hoffnungen Das Titelbild zeigt das Teatro Trono aus El Alto, Bolivien
von Knut Henkel Foto: Anahi Machicado

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Ende des Staatsmonopols
Das neue Filmdekret in Cuba – ein Paradigmenwechsel

Die Umsetzung des am 27. August 2019 in Kraft


getretenen Decreto 373 (Filmdekret) bringt zumin-
dest für das Kino frischen Wind in die Beziehung
zwischen Staat und Kulturschaffenden. Das traditio-
nell nicht ganz einfache Verhältnis zwischen beiden
ist schließlich ein beliebtes Reizthema. Zuletzt wurde
dies dokumentiert durch die Demonstration von
Teilen der Kulturszene vor dem Kulturministerium,
wo sich auch Menschen aus der Filmszene unter die
Teilnehmenden gemischt hatten.

D
von Andreas Hesse wie die Rapperin La Diosa, die Filmemacher Fernando Pérez
und Ernesto Daranas sowie der bekannte Schauspieler Jorge
ieser Demonstration war eine Auseinandersetzung Perugorría. Die Tageszeitung „junge Welt“ ersetzte ihre zu-
zwischen dem „San Isidro“-Künstlerkollektiv und den nächst arg schlichte Wahrnehmung der Demonstrant*innen
Behörden in den letzten Wochen des abgelaufenen als „Systemgegner“ (Fernando Pérez ein Systemgegner?!?)
Jahres vorausgegangen. Die offen systemfeindlich auf- später durch eine etwas sachgerechtere Darstellung. Der
tretende Gruppe war in einen Hungerstreik getreten (je- Sozialwissenschaftler Julio César Guanche von der Universität
denfalls offiziell; inzwischen gibt es Havanna, einer der international bekann-
Hin­weise aus dem Unterstützerkreis, testen Intellektuellen des Landes, weist
dass sie heimlich gegessen haben ausdrücklich auf die Heterogenität in der
sollen, was auch immer man da- Zusammensetzung der Protestierenden
von halten mag...). Das vielbeachtete hin. Es gebe darunter Schwulenbewegte,
„Event“ wurde wegen Missachtungen Initiativen für kreative Freiheit und un-
der Pandemiebestimmungen von der abhängiges Kino und andererseits auch
Polizei aufgelöst, die Verstöße wurden solche, die dem kubanischen Staat seine
dabei in der internationalen Presse als Legitimation absprächen. Eine schablo-
bloßer Vorwand für den staatlichen nenhafte Gegenüberstellung von (staat-
Zugriff gewertet. Erläutert wurde da- lichen) „Revolutionären“ und protes-
bei jedoch nicht, warum entgegen der tierenden „Konterrevolutionären“ sei
sonstigen Gepflogenheiten bei der nicht legitim, es gebe auch keinen
Durchsetzung der Coronabestimmungen Widerspruch zwischen dem Einsatz für
der Dissident*innenszene Sonderrechte mehr Meinungsfreiheit und dem Kampf
in Bezug auf die Einhaltung oder Nicht­ für die Revolution.1
einhaltung gewährt werden sollten. Die Der Filmemacher Fernando Pérez Ursprünglich war infolge der Kund­
Verstöße als solche wurden schließlich gebung die Etablierung einer Dialog­
nie in Abrede gestellt. plattform zwischen repräsentativen Delegierten aus der an-
Als Folge der Aktivitäten von „San Isidro“ wurde aber etwas wesenden Kultur­ szene und dem Kulturministerium ver-
losgetreten, was schon länger gärte und weit über die Vorgänge einbart worden, welches sich aber schließlich weigerte, die
um die besagte Gruppe hinausreichte. Es kam nämlich zu Minderheit von Demonstrant*innen, die offen durch die
einer von unterschiedlichsten Personen und Haltungen ge- Trump-Administration unterstützt werde, zu einem sol-
tragenen Demonstration von über 300 Personen vor dem chen Dialog zuzulassen. Ohne Schuldzuweisungen vorzu-
Kulturministerium gegen die Gängelung der Kultur durch nehmen, ist zu bedauern, dass die Chance zum Dialog auf-
den Staat, darunter befanden sich unter anderem Prominente grund der komplexen Situation nicht genutzt werden konnte.

4 1) Correspondencia de Prensa, 27 de diciembre 2020: Entrevista a Julio César


Guanche, intelectual cubano: „Este país no es un país de mercenarios“
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Doch nicht immer ist die scheinbar dauergereizte Situation und Distribution, als nicht mehr zeitgemäß an, da dies eine
zwischen Staat und Kulturszene so verfahren, wie es dieses demokratische Entwicklung aufgrund der limitierten Zugänge
aktuelle Beispiel nahelegen mag. Das zeigt trotz aller offe- zu den Ressourcen begrenze.2
nen Fragen die begonnene Umsetzung des neuen Filmdekrets Ein rechtlicher Rahmen zur Unterstützung all dessen, was es
„Decreto-Ley no. 373: Del creador audiovisual y cinemato- jenseits der offiziellen Produzenten ICAIC und RTV Comercial
gráfico independiente“. (Produktionsgesellschaft des kubanischen Fernsehens)
Bereits 2013 hatten vor dem Filminstitut ICAIC (Instituto schon gab, war also gefragt. Insbesondere durch die digitale
Cubano del Arte e Industria Cinematográficos) Film­ Revolution existierten ja längst unabhängige Produktionen,
schaffende für ein kubanisches Filmgesetz demonstriert, das auch im Langfilmbereich. Es gab auch schon unabhängi-
für die zunehmenden unabhängigen Produktionen wie auch ge Produzent*innen, deren bekannteste und erfolgreichs-
für Joint Ventures mit dem Ausland und andere ungelöste te die erwähnte Claudia Calviño ist („La 5ta Avenida“), wel-
Probleme einen transparenten rechtlichen Rahmen schaf- che ihren ersten großen Erfolg mit Alejandro Brugués‘ ge-
fen sollte. Am 6. Mai desselben Jahres war ein Dokument sellschaftskritischer Zombiekomödie „Juan de los Muertos“
einer Gruppe von Filmemacher*innen (Grupo Cineastas („Juan of the Dead“, 2011) landete. Dieses Werk, Gewinner
por el Cine Cubano) erschienen, die auf Initiative von des Goya-Filmpreises in Spanien, war tatsächlich jedoch als
Enrique „Kiki“ Alvarez zusammengekommen war und de- Koproduktion mit einem spanischen Produzenten nur halb
ren Sprecher Fernando Pérez wurde. Man verlangte mehr unabhängig. Ebenso ergaben sich auch Koproduktionen
Entfaltungsmöglichkeiten für das jenseits der klassischen zwischen unabhängigen Produzenten und dem ICAIC. All
Strukturen entstehende Kino. Dadurch entstand zwar ein das war rechtlich gesehen Wildwuchs, weder verboten noch
Dialog mit den Institutionen, der auch auf der Seite des wirklich legalisiert.
Künstlerverbands UNEAC nachzulesen war. Andererseits än-
derte sich faktisch erst einmal jahrelang gar nichts, weil sich
in Cuba schließlich niemals etwas über Nacht bewegt. Die
S tatt eines Filmgesetzes kam schließlich das Dekret.
Während zunächst bei manchen Skepsis vorherrschte, hieß
Forderung nach einem Filmgesetz hatte als Referenzpunkt es bei anderen „Na, immerhin!“. Das Dekret erkennt in Art.
das damals noch neue dominikanische Filmgesetz, mit 3 (Kap. II) die Existenz des „audiovisuell Kreativen, der/die
dem sich das Land in der Nachbarschaft über Nacht vom autonom Werke verwirklicht oder daran partizipiert“, aus-
Status des filmischen Nobody verabschiedet und auslän- drücklich an. Und Art. 13 (Kap. 5) spricht von „unabhängi-
disches Produktionskapital angezogen gen“ Filmschaffenden, die sich zusam-
hatte; Kapital, das an Cuba vorbei eine mentun, „um audiovisuelle Arbeiten in
Insel weiter floss. Dass einige der dor- allen ihren Erscheinungsformen hervor-
tigen Produktionen von zweifelhafter zubringen“. Ein Begriff wie „unabhän-
Qualität sind, mit der lateinamerikani- gig“ wäre früher in einem Gesetz oder
schen Kinotradition wenig zu tun ha- Dekret undenkbar gewesen. Nun war
ben und eher die Existenz eines Mini- auch ein legaler Rahmen geschaffen für
Hollywood suggerieren möchten (löbli- die Einstellung von Darsteller*innen
che Ausnahmen wie „Voces de la Calle“ und sonstigem Personal und deren ar-
von Hans García bestätigen die Regel), beitsrechtlicher Absicherung. Alfredo
kann dabei außer Betracht bleiben. In Calviño, Onkel von Claudia Calviño
Cuba mit seinem eigenständigen filmi- und Chef des in Rio de Janeiro sitzen-
schen Erfahrungshintergrund muss es den Filmverleihs „Habanero“, der ku-
schließlich nicht ähnlich laufen. banische Filme mit mehr Erfolg auf
Die Innovationsfähigkeit und Unter­ dem internationalen Markt platziert als
stützungs­leistung des in die Jahre ge- das ICAIC, äußert sich gegenüber dem
kommenen Filminstituts ICAIC für Verfasser positiv. Das Dekret sei eine
Schauspieler und Regisseur Yasmany Guerrero
die Produktion und Vermarktung des Errungenschaft und gebe dem Film in
Kinos von der Insel war nicht mehr das, was sie mal war. mehrerlei Hinsicht neue Impulse. Die Filmproduktion wer-
Die Platzierung kubanischer Filme auf internationalen de perspektivisch in dezentralisierter Form stattfinden, das
Festivals ging zurück, die Arbeit des staatlichen Filminstituts Filminstitut sich stärker auf eine regulierende und unterstüt-
litt unter Wechseln an der Spitze wie auch unter dem zende Funktion zurückziehen. Der neue rechtliche Rahmen ge-
Generationenwechsel im Allgemeinen und dem damit ein- be den kleinen Produzenten andere Möglichkeiten, u.a. auch
hergegangenen Verlust von Know How und Engagement. Die bei der Suche nach Sponsoren. Und die Neuordnung gewäh-
unabhängige Produzentin Claudia Calviño sah die ehemalige re manchem unabhängigen Projekt eine offizielle Förderung.
Stärke des ICAIC, die einheitliche Steuerung von Produktion Ein wesentlicher Baustein ist nämlich die neue staatliche

2) Las paradojas del cine independiente en Cuba: entrevistas a Fernando Pérez,


Dean Luis Reyes y Claudia Calviño, por Julio Ramos; in: Imagofagia, No.8, 2013 5
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Filmförderung FFCC (Fondo de Fomento para el Cine einerseits angenehm überrascht, zu den Auserwählten zu
Cubano), organisatorisch angesiedelt beim ICAIC. Hier gehören, spielt die Handlung seines kommenden Films „El
kam es nun im Dezember im Rahmen des Festivals des soldado perfecto“ doch nur zu einem geringen Teil in Cuba
Neuen Lateinamerikanischen Films in Havanna erstmalig und überwiegend in Kolumbien, die Protagonist*innen sind
zur Bekanntgabe der unterstützten Projekte in den Sparten ein baskischer Arzt und eine kolumbianische Exguerillera.
Lang- und Kurzfilm, die jeweils durch eine fachkundige Jury Andererseits zeigt er sich skeptisch, was die Neuerungen an-
von Regisseuren und Regisseurinnen ausgewählt worden belangt. Die zu fördernden Projekte würden von einer kom-
waren. Trotz der finanziell klammen Situation des Landes petenten Jury von Regisseur*innen ausgewählt, wie aber die
werden insgesamt 23 Projekte bezuschusst, darunter solche Umsetzung durch die staatliche Institution ICAIC erfolge, wis-
von Newcomern wie von alten Hasen und Häsinnen. Die se er nicht wirklich vorherzusagen, das müsse die Zeit zeigen.
Förderung kann unterschiedlich hoch ausfallen, wobei die Das Dekret sei ein richtiger, aber eben nur erster und unzu-
Eigenmittel bei mindestens 20 Prozent der veranschlagten reichender Schritt auf dem Weg zu dem Filmgesetz, das sich
Projektkosten liegen müssen. Verstößt der/die Empfänger*in alle gewünscht hätten.
gegen die vertraglichen Bestimmungen, kann er/sie gemäß der Das ICAIC ist heute das wohl einzige Filminstitut der Welt,
Statuten des Fonds für bis zu fünf Jahre von Zuschüssen des das selber Filme produziert und auch sämtliche Kinos des
FFCC ausgeschlossen, aber auch strafrechtlich belangt werden. Landes besitzt, vom Arthousekino „Chaplin“ bis zum „Yara“,
Der unabhängige Charakter bleibt jedoch gewahrt, die Rechte dem Kino für die breite Bevölkerung mit seinen mehr als
am Film bleiben von der staatlichen 1500 Plätzen. Unklar bleibt, wie die tra-
Unterstützung unberührt. Gefördert wer- ditionsreiche Institution ihre Rolle in
den auch Projekte von Regisseur*innen, der Distribution neu definieren wird.
die wie Carlos Lechuga für ihre kritische Bisher war die Bereitschaft, unabhängi-
Haltung bekannt sind. gen Produktionen auch jenseits der di-

W as erwarten sich die so Unterstütz­


ten, und wie sehen sie die künftige cineas-
versen Festivals Zugang zu den Sälen zu
verschaffen, nie besonders ausgeprägt ge-
wesen, von Ausnahmen wie „Juan de los
tische Landschaft? Einer der Geförderten Muertos“ einmal abgesehen. Zu erwar-
ist Yasmany Guerrero, eines der bekann- ten steht, dass man nunmehr der schon
testen Gesichter unter der jüngeren immer bestehenden Verpflichtung, der
Generation von Schauspieler*innen, der Verbreitung des kubanischen Films (nicht
sich nun mit einem Kurzfilm erstmalig nur der eigenen Produktionen) zu dienen,
als Regisseur versucht. „La Vista Gorda“ eher gerecht wird, wenn die Filme zuvor
ist die Geschichte eines Taxifahrers, der eine Förderung aus dem eigenen Hause
aufgrund unvorhergesehener Umstände Der Filmemacher Alejandro Gil erfahren haben.
langsam den Kopf verliert. Guerrero ist Der Paradigmenwechsel, der sich andeutet,
glücklich über die Möglichkeit, die die Unterstützung ihm ist in seiner Bedeutung nicht zu unterschätzen. Der Schriftsteller
bietet, und sieht das Dekret und den Fonds als Gelegenheit und Politologe Raul Zelik beschreibt in seinem aktuellen Buch
zur Diversifizierung der Filmproduktion und zur Realisierung „Wir Untoten des Kapitals“ (2019), dass analog zur hemmungs-
von Projekten, die früher so nicht umgesetzt worden wä- losen Kapitalakkumulation in kapitalistisch verfassten Staaten
ren. Eduardo del Llano, einer der produktivsten unabhän- die Neigung zur Akkumulation politischer Macht als das un-
gigen Filmemacher*innen (Producciones „Sex Machine“) gelöste Problem und Defizit linksorientierter Staaten gese-
und ebenfalls mit einem Preis in der Sparte Kurzfilm be- hen werden müsse. Dies erläutert er unter anderem anhand
dacht, sieht die künftige Rolle des ICAIC nur noch als eine des ihm sehr vertrauten Beispiels des Verlusts basisdemokra-
von möglichen Alternativoptionen für die Produktion von tischer Ansätze und Strukturen aus den Anfangsjahren der bo-
Filmen. Alejandro Gil, der sich mit dem immens erfolgrei- livarischen Revolution in Venezuela unter Chávez, von denen
chen historischen Film „Inocencia“ einen Namen gemacht nicht mehr viel übrig geblieben sei. Grundsätzlich bedürfe es
hatte, erhält die Förderung im Bereich Langfilm für sein neu- gewissermaßen einer sozialistischen Version eines selbstregu-
es Projekt „AM-PM“ über die Suche einsamer Menschen nach lierenden Systems von Checks and Balances.
dem Glück. Er betont, dass das ICAIC sich zwar der Dynamik Lässt man sich in Sachen Cuba auf diese Argumentation ein,
des neuen Modells anpassen müsse, aber genau dadurch als so ist mit der filmpolitischen Innovation durch das Dekret
Produzent wieder an Kraft gewinnen könne. Konkurrenz be- ein kleiner, aber dennoch beispielhafter und wichtiger Schritt
lebt halt das Geschäft. zur staatlichen Selbstbeschränkung getan. Weniger Monopol
Schwankender äußert sich der stärker am internationalen als und Machtfülle muss nicht negativ sein, denn weniger ist
am nationalen Kino orientierte Pavel Giroud. Er zeigt sich manchmal mehr. n

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Fotos: Ana Santilli Lago
Produzieren mit dem, was da ist
Von den Schwierigkeiten, ein Filmprojekt mit Psychiatrieinsassen zu finanzieren

Zu den Höhepunkten des Bonner Mira-Filmfestivals ren, was da ist“, dieses Motto hat uns auch in einem Moment
2020, das wie so vieles im vergangenen Jahr nur der Einschränkungen Türen geöffnet.
online stattfinden konnte, zählte der argentini- Wir sind dankbar für die Einladung der ila, über die
sche Film „Los fuegos internos“, der von einem Ressourcen nachzudenken, die unser Projekt möglich gemacht
Team aus Beschäftigten im Gesundheitswesen und haben: Wie haben wir uns finanziert, auf welche Hindernisse
Künstlerinnen zusammen mit Patient*innen eines sind wir gestoßen, was hat uns zum Durchhalten bewogen?
psychiatrischen Krankenhaus realisiert wurde. Auch Lassen Sie uns das Wörterbuch zu Rate ziehen, um unsere
wenn in dem Projekt vieles ehrenamtlich gemacht Gedanken zu ordnen.
wurde, entstanden für einen 70-minütigen, profes- „Finanzieren bedeutet, einer Person oder einem Unternehmen
sionell produzierten Film erhebliche Kosten. Das Geld oder Ressourcen zur Verfügung zu stellen, um Ausgaben
Geld dafür aufzutreiben, war der Hauptgrund dafür, zu decken, um Waren oder Dienstleistungen zu erwerben
dass es von den ersten Drehs bis zur Premiere des oder eine Aktivität zu entwickeln, ihr Wachstum zu för-
Films acht Jahre brauchte. Im folgenden Beitrag dern oder sie in Betrieb zu nehmen. Man kann von interner
erzählen die Macherinnen des Films über die Finanzierung sprechen, wenn durch die eigenen Aktivitäten
Herausforderungen, die ein solch ambitioniertes des Unternehmens erwirtschafteten Gewinne genutzt werden,
Projekt bedeutet. oder von externer Finanzierung, wenn sie von Investoren au-
ßerhalb des betreffenden Unternehmens stammt.“

W
von Laura Lago, Malena Battista, Laura Wir wissen, dass Projekte nicht im luftleeren Raum finan-
Lugano, Ana Santilli Lago & Ayelén Martínez ziert werden. Die Eigenschaften jedes Unternehmens bestim-
as alles zum argentinischen Kino gehört, ist sehr men die Bandbreite der Möglichkeiten. Aber sind wir ein
umfangreich und komplex. Im Folgenden stellen wir einige Unternehmen? Gehen wir zurück zum Wörterbuch: „Das Wort
der Höhen und Tiefen der Finanzierung unseres Films wäh- ‚Unternehmen‘ impliziert, etwas anzupacken, um es durch-
rend seiner achtjährigen Produktionszeit vor. Ja, acht Jahre! zuführen und eine Aktion zu erledigen, die man als wichtig
„Mit dem produzieren, was da ist“ überschrieben wir unse- ansieht und die eine gewisse Schwierigkeit mit sich bringt.“
ren Beitrag – darin schwingt mit und wird präsent, was uns
als Filmemacherinnen ausmacht. Gemeinsam einen Film
zu produzieren, ihn auf der großen Leinwand zu sehen, an
D as Wort „Unternehmen“ wird oft mit übermäßigem
Profit und Individualismus in Verbindung gebracht. Aber es
Festivals teilzunehmen und... die Pandemie. Wir hatten im gibt auch Unternehmen, die einen sozialen Zweck verfolgen,
Dezember 2019 Premiere, und im März 2020 schlossen die demokratisch funktionieren und solidarisch handeln. Nach
Kinos. Das soziokulturelle Panorama wurde unsicher, und diesem Verständnis handeln auch wir. Und wir haben eine
es wurde eine obligatorische präventive soziale Isolation ver- weitere Besonderheit: Wir sind gleichzeitig ein Kunstkollektiv
ordnet. Im April sind wir wieder aktiv geworden und haben und eine Einrichtung für psychische Gesundheit. Wir gehö-
den Film online angeboten. Der Film wurde tausende Male ren zu einem der vier psychiatrischen Krankenhäuser in der
abgerufen, und wir sind zu vielen Gesprächen, Debatten, Provinz Buenos Aires, aber wir arbeiten in kulturellen Räumen
Treffen, Interviews eingeladen worden... „Mit dem produzie- außerhalb des Krankenhauses. Aufgrund dieser doppelten

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Foto: Die drei Protagonisten des Films Los fuegos internos

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Einbindung sehen wir uns im Bereich der kommunalen psy- jenigen, die seit Jahrhunderten als Abfall behandelt werden.
chischen Gesundheit. Als wir unser Projekt in Angriff nahmen, Er dokumentiert nicht das Andere, sondern diese Anderen
sahen wir uns mit zwei Schwierigkeiten konfrontiert: Filme erarbeiteten ihre eigenen Zeugnisse und fügen das Ganze zu
ohne viel Wissen und zudem mit sehr sensiblem Material zu einem kollektiven Kunstobjekt zusammen.
machen – den Erfahrungen von Menschen, die in der Anstalt Dagron beschreibt die Schwierigkeiten, mit denen diese Art
gelitten haben. Wir reagierten mit den Werkzeugen, die wir von audiovisuellen Produktionen konfrontiert ist: „Als Kunst
hatten, und mit den Werkzeugen, die wir noch nicht hatten. und Industrie leidet das lateinamerikanische Kino zuneh-
„Produzieren mit dem, was wir haben“ bedeutet auch zu er- mend unter einer Situation der Wehrlosigkeit gegenüber dem
finden, was wir nicht haben. kommerziellen Kino, das von den großen Produktions- und
Deshalb sehen wir unsere Praxis als hybrid an. Wir sind nicht Vertriebszentren der Welt gefördert wird. (... Es) hat natür-
ausschließlich unabhängig, staatlich, gemeinschaftlich oder lich mit einer Struktur zu tun, die – vom Nichtvorhandensein
kollektiv, noch sind wir alle nur Nutzerinnen, Künstlerinnen rechtlicher Rahmenbedingungen bis zur Ausstellung, ein-
oder Arbeiterinnen. schließlich der Rolle des Staates und des Vertriebs – eine (...)

U nsere Art, uns mit psychischer Gesundheit auseinander-


zusetzen, und unsere Art, Filme zu machen, sind miteinander
kommerziell orientierte Richtung (...) privilegiert.“ 1
Unser Film stieß auf diese Schwierigkeiten und wir mussten
sie überwinden, sie in eine Chance verwandeln.
verknüpft und fordern uns jedes Mal heraus. Lassen Sie uns
heranzoomen und sehen, was für eine Art von Film wir ge-
macht haben. Dagron sagt in dem Buch „El Cine Comunitario
A m Anfang des Artikels sagten wir, dass wir acht Jahre
für die Produktion gebraucht haben. Im Jahr 2012 hatten
en América Latina y el Caribe“: wir die Idee, ein audiovisuelles Werk zu erstellen. Im Jahr
“Gemeinschaftskino und audiovisuelle Medien sind ein 2013 erhielten wir die Zusage für einen Zuschuss, mit dem
Ausdruck der Kommunikation, des künstlerischen Ausdrucks wir einen Trailer und einen mittellangen Film produzier-
und des politischen Ausdrucks. Sie entstehen (...) aus dem ten, der zur Hälfte fertig wurde. 2014 zeigten wir den Trailer
Bedürfnis, ohne Vermittler zu kommunizieren, (...) in einer bei Festivals und anderen Treffen. Im Jahr 2015 beschlossen
eigenen Sprache, die nicht durch andere existierende Sprachen wir, einen Langfilm zu machen, für den wir mehr Mittel be-
vorgegeben ist, und zielen darauf ab, in der Gesellschaft die nötigten. Im Jahr 2016 erhielten wir einen Zuschuss für die
Funktion zu erfüllen, marginalisierte, unterrepräsentierte Filmproduktion und ein Schulungsstipendium. Im Jahr 2017
oder ignorierte Kollektive politisch zu vertreten.“ führten wir Dreharbeiten und die Vorbearbeitung durch. Im
Diese Charakterisierung finden wir sehr richtig. Wir orien- Jahr 2018 die Postproduktion. Im Jahr 2019 haben wir uns
tieren uns an dem, was jede Person mitbringt, und wir wol- für Festivals angemeldet und einen Premierentermin bekom-
len keineswegs, dass sie leidet oder Einschränkungen er- men. Um die Kosten für diese letzte Etappe zu decken, orga-
duldet. So lassen wir zu und erlauben uns, mit dem zu ar- nisierten wir ein virtuelles Crowdfunding, wir baten einen
beiten, was da ist. Wir versuchen, Vorurteile und den defi- Berufsverband und eine Menschenrechtsorganisation aus
zitären oder ängstlichen Blick auf Menschen, die durch ei- der Provinz um Hilfe.
ne Diagnose oder einen von der vermeintlichen Normalität Interne oder externe Finanzierung? Es ist bezeichnend für
abweichenden Lebensstil stigmatisiert sind, aufzulösen. Der uns, dass wir nicht in der Lage waren, eine Finanzierung
Film zeugt von den Fähigkeiten und der Menschlichkeit der- aus dem staatlichen Bereich der psychischen Gesundheit
zu erhalten, einem Bereich, zu dem das
Projekt explizit gehört, selbst als es uns
gelang, audiovisuelles Material vorzule-
gen, das zeigte, dass das Projekt lebensfä-
hig war. Diese Situation war zwischen den
Jahren 2014 und 2016 problematisch, da
sie eine Sackgasse in der Realisierung er-
zeugte, die nicht auf die subjektive Zeit
der vorkommenden Personen reagierte.
Das erschwerte ihre Teilnahme und be-
deutete, dass bei der Wiederaufnahme
der Dreharbeiten die Disposition einiger
Fotos: Ana Santilli Lago

nicht mehr die gleiche war wie zuvor und


das Filmen anstehender Szenen verhinder-
te. In jedem Fall müssen wir berücksichti-
gen, dass das Gehalt für die Koordination

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1) beide Zitate aus: Dagron, A. G. (2014) El Cine Comunitario Übersetzung: Annika Erpenbeck
en América Latina y el Caribe. Bogotá. Centro de
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Competencia en Comunicación para América Latina
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des Aufbaus und die Produktion des Dokumentarfilms, die terzuentwickeln, was uns allerdings zu dem Problem führ-
Nutzung der Buchhandlung, des Besprechungsraums und te, das Projekt neu zu starten. Obwohl wir einer staatlichen
des Festnetztelefons vom Krankenhaus bereitgestellt wur- Behörde angehörten, war es durch unsere Selbstverwaltung
den. Wenn man mit einem kleinen Produktionsbudget wie eine große Herausforderung, mehr Mittel für den Film zu
dem unseren arbeitet, sind diese Punkte nicht unwichtig. bekommen. Die vom Staat über die INCAA und die FNA
Wir müssen auch sagen, dass staatliche Stellen mit fi- erhaltene Finanzierung hätte nicht ausgereicht, um alle
nanziellen Beiträgen von zwei Kulturförderungsorganen Kosten für Produktion, Premiere und Vertrieb zu decken. Die
des Nationalstaates präsent waren, den Zuschüssen des Zusammenarbeit in Form von Geld, Arbeit und Material, der
„Nationalen Fonds für die Künste“ (FNA) und dem so- drei Patienten, die die Protagonisten des Films waren, der
genannten „Fünften Weg der Förderung des digitalen ehrenamtlichen Regisseurinnen des Films und des umfang-
Dokumentarfilms“ vom „Nationalen Institut für Kino und reichen Netzwerks von Menschen und Organisationen, wel-
audiovisuelle Künste“ (INCAA). ches das Kollektiv während seines Werdegangs geschmiedet
Der Zuschuss des INCAA war ausschlaggebend für die hat, war entscheidend.
Postproduktion und den Zugang zur Premiere in einem wich- Acht Jahre lang beschäftigte sich ein Kollektiv aus dem
tigen Theater in Buenos Aires. Es sollte jedoch erwähnt wer- Krankenhausumfeld, dem es um Kunst wie auch um mentale
den, dass dessen wirtschaftlicher Beitrag für die durchschnitt- Gesundheit ging, daran, einen Film zu drehen, in dem am-
lichen Ausgaben unabhängiger Filmproduktionen recht ma- bulante Patienten des Krankenhauses ihre eigene Geschichte
ger ist. Die Höchstgrenze, die erreicht werden kann, liegt bei so gut wie möglich erzählen. Bei den Finanzierungen, die wir
weniger als zehn Prozent der durchschnittlichen Kosten ei- bekamen wie auch bei denen, die wir am Ende nicht beka-
nes nationalen Films, wie das Institut selbst sie errechnet. men, setzten wir uns immer als gemeinsame Richtschnur al-
Diese vorgegebenen Durchschnittskosten liegen unter den ler, dass technisch und künstlerisch die Würde der Beteiligten
realen Zahlen, die kommerzielle Produktionsfirmen ange- gewahrt blieb.
ben – die aus diesem Grund regelmäßig Hilfe vom INCAA Mitten in der Pandemie unternahm der argentinische Staat
durch Kredite bekommen, die denjenigen gewährt werden, die Umsetzung des Nationalen Gesetzes für psychische
die Anforderungen erfüllen, die für die meisten unabhängi- Gesundheit, das einen integralen und gemeindenahen Ansatz
gen Filmemacher*innen unmöglich zu erreichen sind. Das und vor allem grundsätzliche Veränderungen bei den psychia­
heißt also, dass diese Lücke zwischen unabhängig und kom- trischen monovalenten Kliniken vorsieht. Internationale
merziell in demselben staatlichen Organismus angelegt ist, Organisationen heben weltweit die Bedeutung der psychi-
dessen Zweck die Entwicklung der nationalen audiovisuel- schen Gesundheit und die Notwendigkeit hervor, die öffentli-
len Industrie ist. chen und privaten Investitionen in diesen Bereich zu erhöhen.
Kehren wir zu unserem Film zurück. Externe Finanzierung, Wir fragen uns, ob wir und andere Akteur*innen im kom-
oder interne? Mieten und Ausleihen, Beratung, Transfers, munalen Bereich diese Art von kulturellen Versuchen noch
Performances, Grafiken... waren einige der Inputs, die von einmal machen können, und zwar mit besserer finanziel-
sozialen Organisationen, Künstler*innen und verwandten ler Ausstattung. Dann könnten wir „produzieren, mit dem
Personen gestellt wurden. Jede*r von ihnen hat an diesem was da ist“ und damit dazu beitragen, dass es größere sozia­
Film mitgewirkt. Aus der Sicht der kommunalen psychischen le Gerechtigkeit gibt. n
Gesundheit sind diese Akteur*innen Teil
des Unternehmens. Unsere Wertschätzung
gilt jeder und jedem von ihnen.

D ie erste Förderung im Jahr 2013


hat uns geholfen, einen Teil der audio­
visuellen Produktion zu erstellen und
das Potenzial zu erkennen, das darin
steckt. Ohne geschultes Personal, ohne
eigene Ausrüstung, ohne angeschlosse-
ne Produktionsfirmen haben wir es ge-
schafft, einen Trailer zu erstellen, der beim
Publikum eine Wirkung erreicht hat, mit
der wir nicht gerechnet hatten. Über un-
sere persönliche Befriedigung hinaus hat
uns dies dazu gebracht, das Drehbuch zu
verbessern und es zu einem Langfilm wei-

9
Los Fuegos Internos, Argentinien 2019, 70:42 Minuten. Der Trailer (2:17
Min.) ist unter https://mira-filmfestival.de/en/project/los-fuegos-internos-2/
zu sehen. Mehr Infos zum Film gibt es bei facebook: https://es-la.facebook. ila 442
com/losfuegosinternosdocumental/ Feb. 2021
Jede Theaterinszenierung ist ein
leidvolles Unternehmen
Interview mit dem chilenischen Autor und Dramatiker Omar Saavedra Santis

W ie finanzieren sich Theater und Theatergruppen in


Chile?
Es existiert in Chile ein Ministerio de las Culturas, las Artes
y el Patrimonio, was in etwa Ministerium der Kulturen, der
Künste und des Kulturerbes bedeutet. Ein etwas zu pompöser
Name für eine blutarme Einrichtung, deren Etat tatsächlich
nicht einmal 0,4 Prozent des Gesamthaushalts Chiles umfasst.
Aus dieser mickrigen Börse bestreitet man den Unterhalt des
Ministeriums selbst, von Museen, Kunstgalerien, Bibliotheken,
Nationalarchiven, die Pflege nationaler Denkmäler u.a. Aus
den Resten werden Gelder unter Kunst- und Kulturprojekten
Foto: Gaby Küppers

der verschiedensten Art verteilt, die sich zuvor einer immer


komplizierter werdenden Auswahlprozedur unterzogen ha-
ben müssen. Es erübrigt sich zu sagen, dass nur einer abso-
luten Minderheit der Projekte die Gnade dieses Obulus zu-
Der chilenische Schriftsteller Omar Saavedra Santis teil wird. Die Zuschüsse decken niemals die Gesamtkosten.
(Jg. 1944) ist sowohl in der Prosa als auch im Es versteht sich von selbst, dass auf diese Weise nur ganz we-
Theater zu Hause. Vor 1973 arbeitete er in seinem nige Theaterprojekte teilweise finanziert werden.
Heimatland mit universitären Theatergruppen zu-
sammen, unter anderem mit dem unmittelbar nach Gibt es öffentliche Theater in Chile? Welche Rolle spie-
dem Militärputsch von der Soldateska ermordeten len Institutionen, wie zum Beispiel Universitäten, für
Víctor Jara, der nicht nur einer der wichtigsten das Theater?
Vertreter*innen des Neuen Chilenischen Liedes war, Theaterhäuser mit festen Ensembles und staatlichen bzw.
sondern auch ein herausragender Theatermacher.
städtischen Finanzierungen wie in Europa existierten in
In seinem über 30-jährigen Exil in Europa hat
Chile bis 1973. Zudem waren die Universitätstheater (das
Omar Saavedra Santis fünf Romane und zahlrei-
ITUCH von der Universidad de Chile, das TEUC von der
che Erzählungen veröffentlicht, darunter „Blonder
Universidad Católica, das Theaterensemble der Universidad
Tango“, eine einzigartige Milieuschilderung des
de Concepción, das Theater der Universidad de Chile/
chilenischen Exils in der DDR, und „Die große Stadt“,
Antofagasta) feste Bestandteile des Hochschulwesens. Als
den vielleicht besten Roman über den politisch-kul-
turellen Aufbruch im Chile der Unidad Popular. Seine Pinochet und die Seinigen kamen, war damit Schluss. Dies
Theaterstücke wurden an verschiedenen deutsch- gehört zum Kulturerbe der Diktatur. Nach der schüchternen
sprachigen Bühnen gespielt, vor allem in Rostock, Rückkehr einer noch schüchterneren Demokratie hat sich
wo er mehrere Jahre am dortigen Volkstheater tätig daran nichts geändert. Es gibt zwar Kulturhäuser bzw. -ins-
war. Seit gut zehn Jahren lebt Omar Saavedra Santis titutionen, die sich an Theaterprojekten beteiligen, sie bie-
wieder in Chile, wo er neue Romane veröffentlicht ten sich jedoch nur als Spielort an. Diese Kooperation ist
hat, der jüngste wird 2021 erscheinen. Auch für das immer von sehr kurzer Dauer, niemals konstant. Das be-
Theater hat er weiter geschrieben, sein Stück „Faust trifft freilich nicht allein das Theaterschaffen. Das ganze
Sudaca“ war eine der erfolgreichsten Inszenierungen Tun von Künstlern und Künstlerinnen aller Gattungen und
der Spielzeit 2015/2016 (vgl. ila 394). Subgattungen interessiert die Regierenden aller politischen

10
Foto: Omar Saavedra Santis (rechts)
im Gespräch mit Gert Eisenbürger
ila 442
2018 in Santiago de Chile
Feb. 2021
Farben herzlich wenig. Im heutigen Chile gehört das gesam- chert haben, seit langem ruhmlos verschwunden. Bis heu-
te Kunst-, Kultur- und Literaturschaffen längst nicht zu den te sehnen sich viele hier nach dem Zyklus europäischer
Prioritäten von Politik und Politiker*innen. Nun ja, das gilt Gegenwartsdramatik, den chilenische Regisseur*innen und
nicht nur für Chile. Schauspieler*innen früher mit Unterstützung des Goethe-
Instituts einmal im Jahr auf verschiedenen Bühnen zur
Haben Theaterhäuser in Chile feste Ensembles, Aufführung gebracht haben.
engagieren sie für neue Stücke jeweils neue Vor ein paar Jahren hat das Goethe-Institut eine zweimalige
Schauspieler*innen, oder engagieren sie jeweils feste szenische Lesung meines Stücks „Borges tötet Jünger schein-
Theatergruppen für ein Stück? bar ohne Motiv“ ermöglicht. Dies war aber eine Ausnahme. In
Wie gesagt, es gibt Theaterhäuser – ein paar sehr beachtliche der Gegenwart beschränkt sich die aktuelle, eher ökonomische
darunter – in Santiago und in den Provinzen. Sie gehören als kulturelle, Tätigkeit dieser Institute hauptsächlich auf das
meistens Universitäten, Stadtverwaltungen oder öffentlich-pri- Angebot von Sprachkursen oder Werkstätten ganz sachlicher
vaten Körperschaften. Sie sind jedoch lediglich Spielstätten Natur, wie etwa eine Wein- und Käsedegustation im Institut
ohne feste Ensembles, die stark auf die Selbstfinanzierung Français. Auf der Website des chilenischen Goethe-Instituts
angewiesen sind. Demgemäß bestehen ist aktuell ein Fortbildungsprojekt für jun-
ihre Spielpläne aus Gastspielen jeder Art. ge Theaterregisseur*innen aus Chile, Peru
Sporadisch entstehen in Chile immer wie- und Uruguay angekündigt, allerdings oh-
der eher kleine Theaterkompanien, die ne nähere Angaben.
sich um eine bestimmte Theaterfigur for-
mieren. So zum Beispiel das Gran Circo Wovon leben Theaterschauspie­
Teatro des legendären Regisseurs Andrés ler*innen, die alleine durch
Pérez, das Teatro de la Memoria von ihre Rollen im Theater ihren
Alfredo Castro, das Teatro del Silencio Lebensunterhalt nicht bestreiten
von Mauricio Celedón und Claire Joinet, können?
die Compañía La Patogallina und an- Nahezu alle Schauspieler*innen können
dere mehr. Solche Gruppe funktionieren vom Theater oder Kino allein nicht le-
aber unregelmäßig, ohne feste Ensembles. ben. Das ist in Chile nicht möglich. Um
Jede Theaterinszenierung ist heute in Chile Theater machen zu können ohne da-
ein mühevolles, ja leidiges Unternehmen. bei hungern zu müssen, sind sie nolens
Zu den üblichen geistigen und kreativen volens zur ewigen Tingelei gezwungen.
Schwierigkeiten, die jede*r Künstler*in Wenn sie Glück haben, werden einige
auf dem Weg zur Vollendung eines Werkes wenige gelegentlich von Fernsehkanälen
überwinden muss, addiert sich hier in unserem Ländchen die für Telenovelas oder TV-Serien engagiert. Die Mehrheit ver-
Indifferenz vom Staat und den politischen Marketendern. dingt sich aber als Werbepaukerin, Uber-Fahrer, Delivery-
Das kostet unheimlich viel Kraft. Daher gleicht beinahe je- Botin, Empanadas-Verkäufer, Hausiererin u.ä. Die Corona-
de Theaterproduktion einer Gründertat. Krise hat ihre Lage nur noch prekärer gemacht, denn jetzt ha-
Es ist also zu hoffen, dass man beim Redigieren der künftigen ben sie massenhaft Konkurrenz bekommen. Die Pandemie
neuen Verfassung, die im vorigen Jahr auf den Straßen hart hat die Anzahl von Arbeitslosen um Hunderttausende er-
erkämpft wurde und im kommenden Jahr geschrieben wird, höht, die auch ihren Lebensunterhalt irgendwie bestrei-
endlich erkennt und anerkennt, dass ohne Kunst und Kultur ten müssen. In diesen allzu stürmischen Zeiten sitzen die
jedes Zukunftprojekt des Landes zum Scheitern verurteilt ist. Theaterleute nicht alleine im heftig schaukelnden Boot. Sie
teilen dieses trostloses Dasein mit Tausenden von Kollegen
Spielen ausländische Kulturinstitute wie das Institut und Kolleginnen aus allen Bereichen des chilenischen Kunst-
Français, das Cervantes-Institut oder das Goethe- und Kulturbetriebs. Seitens der Piñera-Regierung ist, außer
Institut eine Rolle bei der Finanzierung von Theater­ den üblichen Trostparolen, keine nennenswerte Hilfe zu er-
produktionen? warten. Der Etat des Kulturministeriums für 2021 wurde sogar
Das war einmal… Bekanntlich haben die meisten dieser noch gekürzt. Consuelo Valdés, die amtierende Ministerin,
Institute in den jeweiligen Mutter­ländern, von denen sie meinte als Rechtfertigung, die durch diese Kürzung einge-
abhängen, drastische Etatkürzungen erlitten. So sind leider sparten Mittel würden für andere Dinge gebraucht.
großartige gemeinsame Erfahrungen von Zusammenarbeit Und dennoch, all diesen Umständen zum Trotz, rastet die
zwischen diesen Kulturinstituten (allen voran dem Goethe- Kreativität der chilenischen Theater-und Kulturmachenden
Institut) und chilenischen Theaterleuten, die einst die loka- nicht. Unter den von der Pandemie verursachten neuen
le Szene und dadurch den Kulturaustausch um vieles berei- Bedingungen machen sie einfach weiter. n

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Omar Saavedra Santis hat die Fragen von
Gert Eisenbürger schriftlich beantwortet.
ila 442
Feb. 2021
Es gibt eine ständige Konkurrenz um
knappe Fördermittel
Interview mit Matías Rojas Quintana – Produzent von Niebla Gestión Cultural in Chile

In Chile öffentliche Unterstützung für künstle-


rische Projekte zu bekommen ist schwierig. Die
Fördermittel sind bescheiden, der bürokratische
Aufwand ist beträchtlich (vgl. Interview mit
Omar Saavedra Santis in dieser ila). Bei größeren
Kulturzentren und -gruppen gibt es Menschen,
die sich speziell um Finanzbeschaffung und
Abrechnung kümmern. Ein solcher ist Matías Rojas
Quintana. Der Rechtsanwalt ist unter anderem
als Kulturmanager und -produzent bei Niebla
Gestión Cultural in der südlich von Santiago de
Chile gelegenen Region Maule tätig. Über diese

Foto: Annika Erpenbeck


Organisation realisiert er kulturelle Projekte in ver-
schiedenen Bereichen, arbeitet aber auch weiter-
hin als Anwalt. Annika Erpenbeck sprach mit ihm
Matías Rojas Quintana
über die Kulturförderung im heutigen Chile.

M atías, wie bist du zu der Arbeit als


Kulturproduzent gekommen?
Ich habe mit der Kulturarbeit in meiner Rolle als Anwalt be-
Förderungsoptionen für Dramatiker in ihrem Kreationsprozess
bedeutet, allerdings jetzt losgelöst vom Schaffungsprozess ei-
nes ganzen Stückes. Diese neue Form des staatlichen Fonds
gonnen. Ich wurde zu bestimmten Projekten beratend hin- für darstellende Künste wird im kommenden März vergeben.
zugezogen, vor allem wenn es um Vertragsfragen für die
Kulturschaffenden ging. Das heißt, ich habe die Verträge ge- Theater in Chile zu machen hängt also vor allem von
macht, mich um die Bezahlung und Auszahlungen innerhalb diesem speziellen staatlichen Fonds ab?
der Projekte gekümmert und um den finanziellen Abschluss Ja. Hier beginnen wir die Diskussion über die Finanzierungs­
der Projekte. Nach und nach habe ich dann eigene kulturel- quellen. Auf der einen Seite gibt es die direkte Finanzierung,
le Produktionen ins Leben gerufen, und 2020 war ich das welche vor allem vom Staat ausgeht. Wie viel jährlich für die
erste Mal nicht nur Produktionsassistent, sondern ausfüh- darstellenden Künste bzw. auch für weitere Kunstformen aus-
render Produzent des vom FONDART Nacional geförderten gegeben wird, hängt immer ein bisschen von der jeweiligen
Theaterstücks „RAM“. Regierung ab. In besonderen Fällen verfügt ein Ensemble über
eigene Fonds, mit denen es sich finanzieren kann.
Was ist FONDART? Es gibt auch die indirekte Form der Finanzierung, die ist aber
FONDART ist der “Fondo Nacional de Desarrollo Cultural y weniger bekannt. Sie funktioniert über das „Gesetz kultu-
las Artes” (Nationaler Fonds für kulturelle Entwicklung und reller Spenden“ (in Spanien und Argentinien bekannt unter
Kunst). Dieser wird von der Abteilung für Kultur und Kunst dem Namen „Ley de mecenazgo“), nach welchem Firmen
der chilenischen Regierung vergeben, welche wiederum dem oder Privatpersonen kulturelle Projekte unterstützen können,
Ministerium für Kulturen, Künste und des Kulturerbes un- wie beispielsweise eine Theaterproduktion, um sich selbst
tersteht. Der FONDART hat verschiedene Budgetlinien wie einen Steuervorteil zu verschaffen. Man bewirbt sich in die-
zum Beispiel Musik und bis zum vorigen Jahr auch Theater. sem Fall mit einem Projekt bei einem speziellen Komitee,
Im letzten Jahr wurde ein neuer Fonds ins Leben gerufen, und wenn dieses für gut befunden wird, kommt es in eine
der „Nationale Fonds zur Förderung und Entwicklung der Art Bank oder digitalen Markt, aus welchem die Firmen oder
darstellenden Künste“, welcher ebenfalls bestimmte Linien Privatpersonen sich dann Projekte heraussuchen können, die
unterstützt wie zum Beispiel im Bereich der Recherche, was sie finanzieren wollen.

12
ila 442
Feb. 2021
Diese Formen der Finanzierung existieren in Chile. Die Frage Wie sieht deine Arbeit als Kulturmanager im Umgang
an dieser Stelle ist immer, welche Form nun besser oder mit diesen Fonds in der Praxis aus? Lebst du davon?
schlechter ist (lacht). Was auf jeden Fall kritisiert wird ist, Bei meiner Art von Arbeit ist es sehr wichtig, dass man ein
dass die vom Staat ausgehende Förderung immer mit der klares Schema für die Produktion hat. Man muss jedes Detail,
Wettbewerbsfähigkeit der Projekte einhergeht. Ein FONDART jede mögliche Ausgabe bereits vor Beginn der Umsetzung kal-
muss jährlich erneut beantragt werden. Das bedeutet, dass die kulieren und beantragen. Meine Arbeit ist also sehr Excel-
Mehrheit der Kulturschaffenden ihre Projekte nicht umset- lastig, wenn man so will. Ich muss dauernd Tabellen aus-
zen kann. Das „Observatorio Cultural“ veröffentlicht jährlich füllen. Aber es ist sehr wichtig dies alles sehr genau zu ma-
Zahlen in Bezug auf das kulturelle Angebot in Chile. Auf die- chen, da man mit den Geldern viel jonglieren muss. Die
se Weise können wir sehen, dass von allen Projekten, die sich Fonds, die man bekommen kann, sind nicht unendlich
für einen FONDART bewerben, 17 Prozent eine Förderung hoch. Im Durchschnitt bekommt man umgerechnet knapp
bekommen. Die große Mehrheit bleibt also ohne finanzielle unter 15000 Euro für ein Projekt. Darin sind die Gehälter al-
Möglichkeiten für ihre Projekte. Jetzt während der Pandemie ler Beteiligten (Künstler*innen, Produzierende, Bühnenbild,
war diese Art und Weise des Vorgehens besonders stark in der Musik, Design, etc.) für einen Zeitraum von etwa drei bis vier
Kritik, weil die Kulturschaffenden schon bereits unter „nor- Monaten enthalten. Die Materialkosten noch nicht einge-
malen“ Umständen in einer finanziellen Notlage sind und rechnet. Die werden zwar mit beantragt, aber du musst jede
beim Auftreiben von Geldern stetig in Konkurrenz zueinan- Ausgabe vor Beginn der Förderungsbewerbung genau ken-
der stehen. Und dass sie nun auch in der Bewerbung für die nen. Wenn später Kosten hinzukommen, müssen von den
Überbrückungshilfen quasi gegeneinander antreten muss- Gehältern nach Absprache mit allen bestimmte Beträge ab-
ten, ist extrem fragwürdig. gezogen und für fehlende Materialen oder ähnliches einge-
Eine weitere Form der Finanzierung geht über die Kommunen. setzt werden. In unserem letzten Projekt waren diese zusätz-
Diese erhalten ebenfalls vom Staat eine bestimmte Summe lichen Kosten überhaupt nicht inbegriffen, sondern ledig-
von Geldern für kulturelle und künstlerische Aktivitäten. Es lich die Gehälter. Ich weiß nicht, ob das Ministerium dies
ist allerdings so, dass die Projekte, die in den Genuss solcher mit Absicht gemacht hat. Auf jeden Fall macht es die ganze
Gelder kommen, von den Verantwortlichen in der Lokalpolitik Arbeit wesentlich schwieriger.
selbst bestimmt werden. Das führt dazu, dass beispielswei- Ich hatte das Glück, dass ich einen Beruf habe, welcher es mir
se irgendein bekannter Künstler, der selbst nicht aus der erlaubt, unabhängig zu arbeiten. Aber viele Künstler*innen
Region kommt, für ein Event auf einem zentralen Platz ein- sehen sich immer mit einer stetigen Ungewissheit konfron-
geladen wird und dafür tiert, da sie von den genann-
zusätzlich enorm viel aus ten Fonds abhängig sind. Sie
dem Topf geschöpft wird. wissen nie, ob sie im nächs-
Es gibt auch hier keine ten Jahr in ihrem Beruf tä-
klare Linie, kein Gesetz, tig sein können. Sie haben
in welchem festgehalten studiert und die gleichen
wird, wie viel Prozent die- Voraussetzungen wie jemand,
ser Gelder für Kunst, für der oder die einen eher „tra-
Musik, für Theater etc. aus- ditionellen“ Studiengang ab-
gegeben werden sollen. solviert hat, wie beispiels-
Eine zusätzliche Form, weise ein Anwalt oder ein
sich regional finanzieren Ingenieur. Allerdings le-
zu lassen, ist der „Fondo ben sie mit dieser stetigen
Nacional de Desarollo Unsicherheit, auch wenn sie
Regional“ (Nationaler schon zahlreiche Projekte
Fonds zur regionalen gemacht und abgeschlos-
Entwicklung), für den sen haben und bereits viel
sich zum Beispiel eine so- Anerkennung und (regionale)
ziale Organisation oder Bekanntheit erworben haben.
ein Nachbarschaftstreff in Diese Voraussetzungen si-
Zusammenarbeit mit ei- chern trotzdem keine Zusagen
ner Theatergruppe bewerben kann, die dann ein Projekt in für ein Projekt im nächsten Jahr. In der Auswertung der
der Organisation umsetzt. Diese Finanzierung ist wiederum Bewerbungen für Kulturfonds wird das nicht berücksich-
abhängig von der lokalen Regierungssituation. 2020 wurde tigt. Eigentlich mag auch ich persönlich die Arbeit als
dieser Fonds aufgrund der Pandemie komplett gestrichen. Kulturproduzent lieber, und ich würde gerne zu 100 Prozent

13
Foto: Szene aus dem Theaterstück RAM

ila 442
Feb. 2021
nur in diesem Bereich arbeiten. Aber die Unsicherheit ist zu bekommen. Aber wie gesagt, ob das so eintreten wird, wis-
groß, und ich arbeite weiter als Anwalt. sen wir noch nicht. Es existiert leider keine klare Linie in der
Kulturpolitik. Zumindest kann ich persönlich diese bei der ak-
Haben Theaterhäuser ähnliche Voraussetzungen, wenn tuellen Regierung nicht erkennen. Das ist ein großes Problem.
es um das Thema Finanzierung geht, oder gibt es auch
da Unterschiede? Welche Rolle spielt die Politik grundsätzlich in Bezug
Hier in der Region Maule haben wir das „Regionaltheater auf die Kulturförderung?
Maule“. Ein großes Theater, welches Gelder und Finanzierung Vor allem eine administrative. Wenn ich eine Förderung
vom Staat bekommt. Daneben gibt es hier in Talca zum bekomme, muss ich zur Kulturabteilung des zuständigen
Beispiel nur wenige Orte, die sich ausschließlich dem Theater Ministeriums, wo ich den Scheck für das Projekt bekomme
widmen. Es gibt unabhängige Kulturzentren mit einem ande- und später dann auch den Sachbericht einreiche. Es ist wie
rem Fokus (z.B. Zirkus), aber im Bereich Theater gibt es nur eine Art Kasse. Dort arbeiten gelernte Ingenieure. Es exis-
den „Galpón al Margen“. Als Kulturzentrum kann der Galpón tiert keine Verbindung mit den Kulturschaffenden und ih-
sich auch für Unterstützungen aus dem FONDART bewer- ren Arbeiten. Es gibt keine Initiativen wie zum Beispiel,
ben, zum Beispiel für die Umsetzung eines Theaterfestivals dass das Kulturministerium sagt: „Uns fehlt eine künstleri-
oder ähnliches. Jetzt während der Pandemie wurden ein paar sche Entwicklung in dieser oder jener Region. Wir werden
geringe Unterstützungsgelder auch für diese unabhängigen Programme einrichten, die das ändern. Es muss mehr Musik
Kulturzentren zur Verfügung gestellt. Das hat es zumindest geben, mehr Möglichkeit für die Kreation von Kunst, Malerei
bisher noch nicht gegeben. etc.“ Das gibt es nicht. Wie ich dir bereits sagte, sehen wir
Normalerweise müssen sie auch die gleichen Fonds benut- es mehr als eine Auszahlungskasse: Ich gebe dir den Scheck,
zen, wenn sie beispielsweise etwas an ihrer Infrastruktur und du kümmerst dich darum, das Projekt richtig und voll-
verändern wollen. Es gibt keine anderen staatlichen Mittel ständig auf und über die Bühne zu bringen. Nicht mehr und
für diese Zentren. Die Ausnahme sind große Institutionen nicht weniger. Sehr vom ökonomischen Standpunkt aus ge-
wie das genannte Regionaltheater und die Bühnen, wel- dacht. Es gibt keine Vision. Deswegen glaube ich auch, dass
che den Universitäten angehören. In diesem Fall die der es keine Anerkennung oder Kenntnis von dem gibt, was in
Universidad Católica und die der Universidad de Talca. den Regionen geschaffen wird. Selbst wenn du eine Förderung
Diese haben ihre eigenen Töpfe für die Ausrichtung kultu- bekommst, ist das Ministerium in den Monaten danach, bei
reller Aktivitäten. Sie entscheiden selbst, wen und was sie auf der Erarbeitung und Umsetzung des Projektes, nicht anwe-
die Bühne bringen. Wenn wir die Möglichkeit bekommen, send oder interessiert. Sie erhalten nur den einfachen Bericht.
dort unsere Arbeiten zu zeigen, dann spielt in diesem Fall Diese Herangehensweise an die kulturelle Förderung ist nicht
der Faktor, ob das Projekt vom FONDART finanziert wur- mehr als Papierkram und Bürokratie.
de oder nicht, eine große Rolle. Aber diese zwei Häuser be-
auftragen uns beispielsweise nicht, um für ihre Bühne ein Wie siehst du die Zukunft der Kultur in Chile vor dem
Stück zu produzieren. Hintergrund der aktuellen politischen Prozesse in Chile,
und welche Hoffnungen hast du?
In Chile ist die Kultur sehr zentralisiert in Santiago. Nach dem sozialen Ausbruch 2019 haben wir alle gedacht,
Existiert in Bezug auf die örtliche Verteilung der dass es ein weitreichendes Erblühen kultureller Aktivitäten
Gelder im Land eine Regelung? geben würde. Doch dann kam die Pandemie. Und jetzt ar-
Das ist etwas komplex. Wie ich bereits sagte, gab es bis letz- beiten wir fast ausschließlich im digitalen Raum. Wir konn-
tes Jahr zwei Linien des FONDART: national und regional. ten unser Stück filmen und das Projekt trotz allem beenden,
In den Regionen gab es eine spezielle Jury für jede Region. aber nicht vor Publikum. Und wir haben ein bisschen die
Für den Bereich Theater wurden meist jährlich pro Region Hoffnung, dass, wenn all das vorbei ist, die Menschen mehr
drei Projekte unterstützt. Aus der „Region“, also nicht Lust haben werden, wieder ins Theater zu gehen. Auf der
Santiago, zu kommen und Unterstützung aus dem natio- anderen Seite erhoffen wir uns auch Veränderung durch die
nalen FONDART zu erhalten war bisher wesentlich schwie- Erneuerung der Verfassung. Wir wünschen uns, dass dort die
riger für uns. Jetzt mit der neuen Form des Fonds wurde die Kultur als Recht für alle aufgeführt werden kann. Zudem ist es
Regionaloption aufgelöst, und wir stehen in Konkurrenz mit wichtig, dass irgendwas passiert, was den Kunstschaffenden
ganz Chile. Die Ergebnisse kommen jetzt im März 2021. erlaubt, von diesem Beruf zu leben, und es nicht mehr als
Das heißt, wir wissen überhaupt nicht, wie sich das auswir- Hobby oder ähnliches angesehen wird, sondern als allge-
ken wird. Ob der neue Fonds etwas Gutes oder Schlechtes meines Gut der Gesellschaft. Und vielleicht erkennen die
für uns bedeutet. Angeblich ist in den Regelungen für die Menschen das, sobald die Pandemie vorbei ist und wir wie-
Antragsauswertung enthalten, dass Projekte aus regionalen der ins Theater gehen können, zu einem Konzert in den Park
Gebieten eine Art Vorteil bzw. mehr Punkte in der Bewertung oder zu einer Lesung. n

14
Das Interview führte Annika
Erpenbeck im Januar 2021.
ila 442
Feb. 2021
Foto: Anahi Machicado Teatro Trono)
Theater macht stark
Interview mit Thomas Guthmann von der Fundación Compa in El Alto/Bolivien

K
Durch mehrere Tourneen im Rahmen annst du zunächst kurz erzählen, was das
der Kinderkulturkarawane ist das Teatro Teatro Trono macht und seit wann es
Trono aus der oberhalb der bolivianischen existiert?
Metropole La Paz auf 4100m Höhe gele- Das Teatro Trono gibt es seit 1989. Es wurde zu-
genen Millionenstadt El Alto relativ vielen nächst als Straßentheatergruppe gegründet. Später
Menschen im deutschsprachigen Raum be-
kam dann Arbeit in den Schulen dazu, der Aufbau
kannt. Die Aufführungen der aus 15-18-jäh-
von zwei Kulturhäusern und eines Vereins, also of-
rigen Jugendlichen bestehenden Truppe
fiziell der Fundación (Stiftung), die aber wie ein
überzeugen durch ihre Professionalität,
Verein funktioniert. Die Idee dahinter ist, Kunst als
ihren sozialen Gehalt und ihren Humor.
Mittel zum gesellschaftlichen Wandel einzusetzen.
Getragen wird das Teatro Trono von der
Die erste Generation der Schauspieler*innen wa-
Fundación Compa, was für Comunidad
de Productores en Artes (Gemeinschaft ren Straßenkinder oder Jugendliche, die ganz oder
der Kunstschaffenden) steht. Thomas teilweise auf der Straße lebten, später waren es
Guthmann ist als Fachkraft von „Brot für die dann Kinder und Jugendliche aus Satélite, dem
Welt“ seit einigen Jahren bei der Fundación ältesten Viertel von El Alto, das an La Paz grenzt.
Compa in Bolivien tätig. Gert Eisenbürger Heute macht Compa/Teatro Trono vor allem zwei
sprach mit ihm über das künstlerisch-soziale Sachen: Zum einen pädagogische Arbeit: Es hat die
Projekt und die Schwierigkeiten, eine solche Methode der Dekolonisierung des Körpers entwi-
Arbeit zu finanzieren. ckelt, das ist eine Arbeit mit Kindern, die auf die

15
Sofern es die Pandemie zulässt wird das Teatro Trono von Ende August bis Anfang
November mit der KinderKulturKarawane und CULPEER4change in Deutschland, Slowenien
und Dänemark unterwegs sein. Weitere Infos: https://kinderkulturkarawane.de ila 442
Feb. 2021
Stärkung von deren Selbstbefähigung und Autonomie zielt. nationale Kontakte zu pflegen und Veränderungen in der
Damit arbeiten sie in 22 Grundschulen in El Alto, die Teil Schwerpunktsetzung der Förderpolitik zu beobachten. Compa
eines von Compa gegründeten Schulnetzwerkes sind. Zum versucht das zwar auch, aber da sind größere NRO natürlich
anderen gibt es die Arbeit in den Kulturzentren. Da werden im Vorteil. Momentan gibt es eher kleinere Förderungen, wir
Theaterworkshops angeboten und es gibt zwei Ensembles, bekommen etwa relativ regelmäßig Unterstützung von der
eines für Jüngere zwischen 15 und maximal 20 Jahren, und Peter Ustinov Stiftung.
ein zweites, in dem Leute um die 30 mitmachen. Die ma-
chen eigene Theaterstücke, teilweise auch in internationaler Müssen die Gelder für jedes einzelne Projekt, wie ein
Zusammenarbeit mit anderen kritischen Theatern. 2019 gab neues Stück, einen Workshop oder die Arbeit mit den
es zum Beispiel bei dem Stück „La Plaga“ eine Koproduktion Schulen, neu beantragt werden, oder bekommt Compa
mit dem Theater X in Berlin.1 Das jüngere Ensemble macht auch regelmäßige feste Förderung?
normalerweise – wenn nicht gerade Pandemie ist – in Direkte institutionelle Förderung gibt es nicht, aber die Peter
Zusammenarbeit mit der Kinderkulturkarawane alle zwei Ustinov Stiftung hat uns in den letzten Jahren kontinuier-
Jahre eine Tour durch Deutschland. lich unterstützt. Alles andere sind Förderungen für einzelne
Projekte oder für einen begrenzten Zeitraum von einem bis
Das heißt, Teatro Trono hat sowohl einen künstleri- maximal drei Jahren.
schen wie einen politisch-sozialen Anspruch. Welcher
steht dabei im Vordergrund? Gibt es auch lokale Finanzierungsquellen, etwa durch
Das kommt etwas darauf an, wen man fragt. Für einen Teil der die Rathäuser von El Alto und La Paz oder durch die
im Projekt Aktiven steht das Pädagogische im Vordergrund und nationale Regierung? Und ergänzend, hat sich während
das Künstlerische ist vor allem Methode, um Empowerment zu der Regierungszeit der MAS in Bolivien bezüglich der
bewirken, also das Selbstbewusstsein und die Selbstbefähigung Förderung kultureller Initiativen irgendetwas gegen-
der Kinder und Jugendlichen zu stärken. Aber es gibt auch über den Vorgängerregierungen verändert?
den anderen Teil, der kunstaffiner ist, dazu gehören unter an- Es gibt die Cultura Viva Comunitaria, das ist ein Netzwerk in
derem Kunststudent*innen. Ich denke jedoch, dass auch die ganz Lateinamerika. Dabei hat man sich an Brasilien orientiert,
Leute, die die Arbeit primär aus künstlerischen Motiven ma- wo unter der Regierung Lula sogenannte Puntos de Cultura
chen, auf jeden Fall den sozialen Kontext sehen. gefördert wurden. Künstlerische Projekte konnten sich selbst
als solche Puntos definieren, und wenn sie akzeptiert wurden,
Was sind die wichtigsten Finanzierungsquellen eines konnten sie relativ einfach vom Kulturministerium eine Art
Projektes wie Compa/Teatro Trono? Grundfinanzierung zum Beispiel für Equipment oder laufen-
Die wichtigste Quelle sind traditionell Gelder aus der inter- de Kosten bekommen. Das sollte auch in Bolivien, zumin-
nationalen Entwicklungszusammenarbeit. Das wird aber im- dest in La Paz und El Alto, laufen, wurde aber nur ansatzwei-
mer schwieriger. Compa ist eine relativ kleine Organisation, se umgesetzt. Es gibt einen kleinen Topf in La Paz, in El Alto
die grassrootmäßig im Stadtteil entstanden ist und allmählich gar nicht, wo man Unterstützung für kleinere Kulturprojekte
eigenständig die Strukturen einer Nichtregierungsorganisation beantragen kann, in der Größenordnung von fünf- bis zehn-
aufgebaut hat, was ja die Voraussetzung ist, um solche Gelder tausend Bolivianos, also zwischen 750 und 1500 Euro.
überhaupt beantragen zu können. Aber in den letzten zehn Die nationale Regierung hat unter Evo Morales das Ministerio
Jahren zeichnet sich ab, dass die internationalen Geldgeber de Culturas eingerichtet. Das war schon eine Errungenschaft,
lieber größere, sehr professionell agierende NRO unterstüt- weil es damit erstmals – zumindest theoretisch – die
zen. Die haben die Möglichkeit, sehr viel intensiver inter- Möglichkeit gab, so etwas wie Popularkultur zu fördern. Das
ist dann allerdings nur sehr begrenzt erfolgt, es
wurde nie eine richtige Strategie entwickelt, was
und nach welchen Kriterien gefördert werden
sollte. In Brasilien lief das mit den Puntos de
Cultura relativ gut, weil es da klare Vorgaben
und auch entsprechende finanzielle Mittel gab.
Für Compa hatte die Einrichtung des Ministerio
de Culturas vor allem den Vorteil, dass wir von
ihm gelegentlich Aufträge bekamen. Die woll-
Foto: Fundación Compa

ten dann zum Beispiel, dass das Teatro Trono


bei einer Veranstaltung des Ministeriums ein
Theaterstück aufführte, und dafür gab es ein
kleines Budget. Solche Möglichkeiten gab es

16
1) vgl. https://blogs.taz.de/latinorama/la-plaga-emanzipa-
torische-erinnerung/
ila 442
Feb. 2021
Aufgaben für die Schulen ma-
chen sollten. Insgesamt ist die
Beteiligung an den Reisen sehr
begehrt, und die Jugendlichen
waren im Nachhinein sehr mo-
tiviert. Ob und wieweit es zwi-
schendurch Heimwehattacken
gab, weiß ich nicht, weil ich
selbst bei keiner der Reisen da-
bei war. Ich weiß aber, dass
die Kinderkulturkarawane das
immer gut organisiert hatte
und es immer feste Begleit-
und Ansprechpersonen für die
Kids gab, an die sie sich bei
Problemen wenden konnten.
Sicher gibt es mitunter Probleme,
Foto: Fundación Compa

wenn die Jugendlichen über


drei Monate so eng zusammen
sind, aber wirklich gravierende
Konflikte gab es meines Wissens
auch bei anderen staatlichen Institutionen, etwa Museen, die nicht.
das Teatro Trono einluden, bei ihnen ein Stück zu inszenie-
ren. Die Zuwendungen dafür bewegten sich in der Höhe von In einem Interview, das auch in dieser ila erscheint,
maximal einigen tausend Euro, waren also keineswegs aus- sagt die Sängerin Marisol Díaz, dass Compa und Teatro
reichend, die Produktion eines neuen Stückes zu realisieren. Trono auch andere Kulturgruppen unterstützen. Nicht
mit Geld, aber mit dem Überlassen von Räumen für
Du hast eben schon die Reisen und Tourneen des Teatro Proben und Auftritte. Gehört das zum Anspruch des
Trono nach Deutschland erwähnt. Ich habe zweimal Projektes?
Aufführungen in Deutschland gesehen und war sehr be- Compa ist auf jeden Fall ein offenes Kulturzentrum, das sei-
eindruckt von der künstlerischen Qualität. Ich vermute, ne Infrastruktur auch anderen Gruppen zur Verfügung stellt,
dass die Tourneen auch ein Element zur Finanzierung die sich ausprobieren wollen, einen Workshop machen wol-
eurer Arbeit sind. Ist das so? len oder Räume für eine Veranstaltung brauchen. Es gibt auch
Das stimmt. Die Kinderkulturkarawane, die diese Rundreisen einmal im Jahr das sogenannte „Hosentaschentheaterfestival“,
organisiert, und die Veranstalter bezahlen dem Teatro Trono wo sich andere und neue Gruppen vor- und darstellen kön-
für die Vorstellungen Honorare, so dass immer auch et- nen. Man kann sich das in etwa so vorstellen wie selbstver-
was für das Projekt übrig bleibt. So wurde z.B. der Bau der waltete Jugendzentren in Deutschland. Die stellen Initiativen
Kulturhäuser, in denen die Workshops und Veranstaltungen ja auch oft ihre Infrastruktur zur Verfügung. Bisher konnte
stattfinden, teilweise mit den Erlösen aus den Tourneen fi- Compa das kostenlos machen, aber inzwischen gibt es auch
nanziert. bei uns wegen der knapper werdenden Mittel eine Debatte,
ob das weiterhin möglich sein kann, weil ja auch Kosten für
Die Auslandsreisen bringen den beteiligten Strom, Wasser usw. anfallen. Jugendliche aus den barrios
Jugendlichen sicher viele spannende Erfahrungen. Aber (Stadtvierteln) brauchen Räume für eigene Aktivitäten, gera-
möglicherweise auch Probleme, angefangen bei der de in El Alto, und es wäre eigentlich Aufgabe der Stadt, diese
Frage des Schulbesuchs oder der Abwesenheit von ihrer zur Verfügung zu stellen. Aber das tut sie nicht, und auf un-
Arbeit, denn die Mitglieder des jüngeren Ensembles sind sere Anträge, uns wenigstens die entstehenden Kosten zu er-
ja keine professionellen Schauspieler*innen. Ich vermu- statten, gab es bislang keine positive Resonanz.
te, dass die Tourneen mindestens einen Monat dauern? Leider ist es – nicht nur in Bolivien – so, dass Politiker*innen,
Das waren sogar immer zwei bis drei Monate. Bei den Tourneen gleich welcher Richtung, für kulturelle Initiativen bevorzugt
mit der Kinderkulturkarawane waren die Jugendlichen nicht dann Gelder zu Verfügung stellen, wenn sie sich damit schmü-
über 18, gingen in der Regel also noch zur Schule. Sie muss- cken können. Und dazu gehört die Übernahme der Kosten
ten natürlich die Erlaubnis der Eltern, aber auch der Schule für die sanitären Anlagen oder den Strom in einem selbst-
haben, und es ist auch so, dass sie während der Tourneen bestimmten Kulturzentrum definitiv nicht. n

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Foto: Kulturhaus der Fundación Compa Das Gespräch führte Gert Eisenbürger
in El Alto am 15. Januar 2021 per Skype.
ila 442
Feb. 2021
Wie ein Torwart, der jeden Ball fangen muss
Die Sängerin Marisol Díaz zur Kunstförderung in Bolivien

Marisol Diaz Vedia stammt aus einer Berg­ Zentrum gibt es die ein oder andere gezielte und geplante
arbeiter­­­­familie im bolivianischen Kami. Sie Maßnahme. Etwa der „Premio Avaroa“, ein Kunstwettbewerb
hat Kommunikationswissenschaften studiert, des bolivianischen Staates, oder FOCUART (Fonds zur
als Druckerin, Erzieherin, Radio- und Fernseh­ Förderung der Kultur und Kunst) der Stadtregierung von La
moderatorin gearbeitet. Sie teilt die Freuden, Sorgen Paz, auf den sich Künstler*innen unterschiedlicher Sparten
und Aufgaben einer vielköpfigen Familie, engagiert bewerben können. Allerdings sind die Förderpreise niedrig
sich in Frauen- und Kulturinitiativen, produziert im Vergleich mit den damit verbundenen Verwaltungskosten.
Kunsthandwerk und Videos. Bekannt ist sie als Die Bürokratisierung führt auch zu geschlossenen Zirkeln pri-
Autorin und Sängerin der Musikgruppe Aymuray, die vilegierter Empfänger*innen. Um an Fördergelder zu kom-
traditionelle Musik mit Jazz verbindet. men, musst du lernen, Projektanträge auszuarbeiten, und
verbringst viel Zeit mit der anschließenden Berichterstattung.

A nders als die Bodenschätze nach Jahrhunderten


ihrer Ausbeutung scheint die kulturelle Vielfalt
Boliviens eine unerschöpfliche Ressource. Was wird im
Mit der Fotografin Ana Diaz zusammen habe ich im ver-
gangenen Jahr einen Preis der Stiftung der Bolivianischen
Zentralbank für eine Dokumentarserie über das Leben mit
plurinationalen Staat Bolivien getan, um künstlerischen meiner über 90-jährigen Mutter in der Quarantäne gewon-
Reichtum zu fördern? nen. Doch um die 400 Euro ausgezahlt zu bekommen, muss
Kunst hat ihren eigenen Antrieb: Das Bedürfnis, sich mit ande- man zig Formulare ausfüllen, ein Konto bei der staatseigenen
ren auszutauschen. In Kami haben wir uns als Kinder spontan Banco Unión eröffnen... schließlich wollte die Stiftung, dass
in Musik- oder Theatergruppen organisiert. Die Bedingungen wir auf unsere Rechte als Autorinnen verzichten. Bis dato weiß
waren prekär. Viel hing von der Kirchengemeinde oder der ich nicht, ob wir das Preisgeld irgendwann noch bekommen.
Schule ab. Dort wurden eigentlich nur Hymnen gesungen.
Aber ich habe mir dann meine eigenen Texte dazu gemacht. Und wie sieht es mit internationalen Stiftungen aus,
Wer mit einem Herz für die Kunst geboren wird, der lernt wie der Fundación Patiño (eine Schweizer Stiftung aus
das von den Mitmenschen, der Umgebung und im Alltag. Mitteln des ehemaligen bolivianischen Zinnmagnaten)
Auf staatlicher Seite ist es komplizierter, da vieles partei- oder dem spanischen Instituto Cervantes?
politisch instrumentalisiert wird. Es fehlen auch Fachleute Die Patiño-Stiftung ist ein guter Platz für Ausstellungen von
für Kunst- und Kulturförderung. In La Paz als politischem bildenden Künstler*innen. Sie organisieren auch interessan-

Foto: Marisol Díaz in Concert


18
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te Musikfestivals. Aber wenn du Räume für einen Auftritt be- Unterstützung an. Aber das, was wir für einen Produzenten
antragst, dann ist die Miete zu hoch. Im Cervantes-Institut oder eine Produzentin zahlen können, ist nicht attraktiv.
bekommt man die Räumlichkeiten kostenlos. Aber ansons-
ten setzen sie ihr eigenes Programm um. Gezielte Förderung Einer der wenigen jüngsten Gelegenheiten für
vor allem für neue Gruppen oder Initiativen kann man dort Aymuray, etwas zu verdienen, war der Auftritt bei der
nicht erwarten. Das eher in Kultur- oder Gemeindezentren, die Amtsübernahme der neuen Regierung. Und prompt kam
von Nichtregierungsorganisationen betrieben werden. So wie Kritik insbesondere an deiner Person wegen politischer
Wayna Tambo, die Casa de la Solidaridad-Projecto de Vida, Inkohärenz.
oder Compa – Teatro Trono (vgl. Interview in dieser ila) in El Selbstverständlich habe ich eine politische Position. Und
Alto. Die haben selbst keine große Finanzierung aber bieten die Leute verstehen die Kritik, wenn sie meine Lieder hören.
uns und vielen jungen Leuten umsonst ihre Räumlichkeiten Bedauerlicherweise verhindert die Polarisierung eine wirkli-
oder auch das Aufnahmestudio an. che Debatte. Wir haben den Bau der Überlandstraße im in-
digenen und Naturschutzgebiet TIPNIS oder zerstörerische
Können die Musiker deiner Gruppe Aymuray von ihrer Großstaudämme kritisiert. Für die Regierungspartei bist du
Kunst leben? dann eine Agentin des Imperiums, eine Rechte, eine „Pitita“,
Die meisten arbeiten als Musiklehrer. Aber ich bezweif-
le, dass selbst das Gehalt am Conservatorio Nacional
(der Nationalen Musikschule) ausreicht, um sich künst-
lerisch entfalten und auch die Familie ernähren zu
können. Die Musiker müssen deshalb in unterschied-
lichen Gruppen spielen und jedwedes Auftrittsangebot
annehmen. So wie ein Torwart, der jeden Ball fangen
muss, egal aus welcher Richtung er kommt. Aymuray
gehört zwar in den letzten fünf Jahren zu den renom-
mierten Gruppen Boliviens in seinem Genre, generiert
aber mit seiner alternativen Musik keine Gewinne.
Deshalb spielen die Musiker gleichzeitig in vier oder
fünf Gruppierungen. Am liebsten in einer Gruppe wie
Kalamarka, die mit Folklore gutes Geld verdient. So
können sie von der Musik leben, allerdings von der Hand in die ihr Klassenbewusstsein verloren hat. Die Angriffe in den
den Mund. Aymuray ist dagegen für ihre musikalische und sozialen Medien zielen aber vor allem darauf, dich zum
kreative Entwicklung interessant. Deshalb sind sie dabei ge- Schweigen zu bringen. Innerhalb des Regierungsapparats gibt
blieben. Es erfordert natürlich Organisationstalent, um die es aber auch andere Einschätzungen: Leute, die verstehen,
unterschiedlichen Termine für Proben, Aufführungen, oder dass die Anliegen der Basis musikalisch von Aymuray zum
gar Tourneen unter einen Hut zu bringen. Ausdruck gebracht werden, dass Aymuray die Erinnerung an
die Vorfahren wach hält, dass Aymuray für den Respekt gegen-
Sind Auslandsauftritte eine Einnahmemöglichkeit? über der Natur und für Gerechtigkeit einsteht, und dass der
Ja, Festivals zum Beispiel. Aber nur wenige bekommen eine Auftritt bei der Regierungsübernahme deshalb passend war.
solche Chance. Das hat auch mit der Verbreitung in Bolivien
selbst zu tun. Unsere Musik wird meist nur von kleineren Manchmal tretet ihr im Stadttheater von La Paz auf.
Alternativsendern gespielt. Ab und an hat strahlen auch das Lohnt sich das finanziell?
Staatsfernsehen, Abya Yala oder RTP Konzerte aus. Aber eher Angeblich gab es Zeiten, wo die 600 Plätze besetzt waren.
als Lückenfüller und ohne Bezahlung. Ich habe das mit Aymuray nie erlebt. So viele Leute kommen
Zugegeben: Als Künstler*innen fühlen wir uns wohl in unse- vielleicht bei öffentlichen Auftritten auf dem Prado von La
rer kreativen Blase. Wir müssen aber auch lernen, uns zu ver- Paz oder bei Musikfestivals. Aber wenn du selbst den Auftritt
markten. Zum Beispiel die Brüder Arguedas, die nach vielen organisierst, dann musst du etwas höhere Preise nehmen, um
Jahren zurück nach Bolivien gekommen sind. Sie sind eine die Kosten zu decken. Und viele Menschen können sich das
musikalische Legende. Aber niemand verbreitet ihre Musik. vielleicht einmal im Jahr leisten, aber nicht häufiger.
Das liegt auch an den geringen Einnahmen. Bei einer Gruppe
wie Aymuray sind allein schon fünf Musiker. Dazu kommen Und dann kommt die bolivianische Verwertungs­
die Beleuchtung, Fotografie und Videoaufnahme, der Ton, gesellschaft für musikalische Rechte SOBODAYCOM...
das Design für die Werbung... alles wird aus Liebe zur Musik Sie nennen sich Bolivianische Vereinigung der Künstler und
und ehrenamtlich gemacht. Ab und an fragen wir um externe Komponisten. Tatsächlich ist es eine kleine Gruppe, der ir-

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Foto: Marisol mit ihrer
Musikgruppe Aymuray
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gendwann einmal vom Kulturministerium das Recht über- Zunächst haben wir mit den Jugendlichen in Palos Blancos
tragen wurde, Gelder für Rechte musikalischer Autor*innen (eine Tagesreise von La Paz entfernt) über ihre Probleme
einzunehmen. Dies tun sie nicht nur für die Werke ih- geredet. Die Frauenmorde bewegen diese Jugendlichen, der
rer wenigen Mitglieder sondern bei allen Musikauftritten. Alkoholismus oder die Verschmutzung des Trinkwassers. Die
Wenn wir als Aymuray ein Konzert im Stadttheater or- Jugendlichen wählen die Themen aus und sind inzwischen
ganisieren, müssen wir neben den Kosten für Werbung, wirklich zu Expert*innen dazu geworden. Meine Aufgabe war
Eintrittskarten und eine – gleichwohl symbolische – Miete es, mit ihnen all dieses Wissen künstlerisch in Lieder um-
auch noch Geld an SOBODAYCOM für die von uns selbst zusetzen. Die Jugendlichen haben gemerkt, dass man nicht
komponierten Stücke bezahlen. Als Nicht-Mitglieder be- vom Blitz getroffen werden muss oder erleuchtet sein muss,
kommen wir von SOBODAYACOM keinen Centavo davon um Kunst zu machen. Was zählt ist der Wille. Ich vermittele
zurück. Und die CORONA-Krise hat mit dem Wegfall vieler ihnen einzelne Schritte und Techniken, die ich mir in mei-
Auftrittsmöglichkeiten dazu geführt, dass uns finanziell die ner eigenen Praxis angeeignet habe. Wir hatten viel Spaß zu-
Luft ausgeht. Da bleiben uns nur die eigenen Familien, das sammen und haben die Lieder anschließend aufgenommen
Engagement. Denn der Wille, uns mitzuteilen, geht nicht und öffentlich aufgeführt. Eines beschrieb die Situation der
verloren. Jugendlichen in der Zuckerrohrernte, ein anderes die Gewalt
in Paarbeziehungen und das dritte, warum es in einer so was-
Unabhängig von Aymuray engagierst du dich bei klei- serreichen Region an sauberem Trinkwasser mangelt.
neren kulturellen Initiativen, wie LanzArte.
LanzArte ist ein langjähriges Förderprogramm für Jugend­ Welche Folgen hatte die Schließung des Kultur- und
kulturinitiativen der Schweizer NRO Solidar Suisse. Ich wurde Tourismusministeriums unter der Übergangsregierung
im letzten Jahr eingeladen, mit Jugendlichen aus den Yungas im vergangenen Jahr für die Künstler*innen?
Es ist lächerlich, mit dem Sparargument ein Kultur­ministerium
zu schließen, wenn der Sektor sogar Einnahmen für das
von Land generieren könnte. Aber wenn man schaut, wie das
La Paz Ministerium zuvor gearbeitet hatte, hat die Schließung auch
Lieder keinen so großen Schaden verursacht. Nun, der Premio
zu kre- Avaroa wurde nicht vergeben zum Nachteil von ein paar
ieren. Es Dutzend möglichen Gewinner*innen. Aber in Bezug auf ei-
gibt eine ne systematische Kunstförderung hat eigentlich keine der
Finanzierung letzten Regierungen viel bewegt. Und auch jetzt nach der
von umgerech- Wiedereröffnung ist das meiste mehr Schein als Sein. Die
net etwa neue Ministerin verdankt ihr Amt einer Quote der sogenann-
325 ten sozialen Bewegungen. Das ist schön. Sicher wird sie auch
Euro das ein oder andere für ihre Basis zustande bringen. Aber wir
für brauchen jemanden mit einem Blick für die gesamte Szene
und mit Engagement für die Kunst. Denn Fachleute hat es
Workshops, früher auch schon im Amt gegeben, ohne dass das einen gro-
in denen die ßen Unterschied gemacht hat.
Jugendlichen unter Viel wichtiger sind für uns einzelne Initiativen oder gar
Anleitung von ausgewähl- Persönlichkeiten wie Walter Gómez. Der hat seit mehr
ten Künstler*innen ih- als drei Jahrzehnten das Internationale Jazzfestival von
re Themen verarbeiten. Bei La Paz organisiert. Er hat persönlich die Kontakte zu den
etwa zwei Wochen Arbeit ist Finanzierungsquellen aufgebaut. Etwa mit Botschaften, um
Foto: Daniel Quiroga

das ist ein gutes Verhältnis von die Auftritte internationaler Gäste zu finanzieren. Und da-
Aufwand und Ertrag. Und vor bei fielen dann auch allgemeine Organisationskosten ab.
allem ist die Antragstellung und Bis zur COVID-Krise war das FestiJazz für uns eine sichere
Finanzierung unbürokratisch. Einnahmequelle und Motivation: Denn auftreten konnte man
nur, wenn man etwas Neues vorzustellen hatte. Gómez hat
Aber wenn man die Material-, Reise- und Aufenthalts­ gezeigt, wie man solche Veranstaltungen auf die Beine stellt.
kosten abzieht, bleibt auch kaum noch etwas übrig. Dass wir vom Staat nicht viel erwarten, hindert uns nicht,
Es wäre schon möglich gewesen, mehr auf Distanz zu ar- kreativ zu sein. Vielleicht hat das damit zu tun, wie wir auf-
beiten und etwas für mich zurückzubehalten. Aber man gewachsen sind. Der kulturelle Reichtum muss einfach sei-
will ja seine Sache auch gut machen, eine Saat hinterlassen. nen künstlerischen Ausdruck finden. n

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Das Gespräch führte Peter Strack
in La Paz im Januar 2021.
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Kumbia Queers: Livin´ la birra loca
Improvisation und Mut zum Risiko – die ersten Touren in Europa

Fotos: Privatarchiv
Für so manche Band aus Lateinamerika sind die Als das Konzert beginnt, befinden sich etwa 250 Menschen
Einnahmen aus ihren Europatouren ein fester und auf dem Gelände. Es passen nicht alle in die Halle, also hö-
nicht unerheblicher Teil des Einkommens. Aber so weit ren viele von draußen zu. Nach den ersten Takten kocht die
müssen sie erst mal kommen. Bands aus der Subkultur Stimmung. Alle tanzen und springen, viele Besucherinnen
können in der Regel nicht mit Fördergeldern als ziehen sich fast komplett aus. Der Schweiß läuft in Strömen.
Starthilfe rechnen. Die erste Europatour der Kumbia Hinterher beschwert sich Sängerin Ali Gua Gua, dass sie we-
Queers war finanziell ein Desaster, begleitet von gen der Hitze fast in Ohnmacht gefallen wäre, aber dabei
entsprechendem Druck – aber gleichzeitig eine wun- liegt ein Grinsen auf ihrem Gesicht.
derbare Erfahrung von DIY (s.u.), ein großer Spaß, und DIY, Do It Yourself, einfach selber machen: Ohne diesen alten
der Beginn einer Erfolgsgeschichte.
Spirit des Punk mit seiner Frechheit und Unbekümmertheit
hätte es diese Geschichte wohl nicht gegeben. Mutig war

S
von Alix Arnold und Birgit Krug schon die Gründung der Band 2007. Fünf Punkerinnen be-
schließen, Cumbia zu spielen, ein in Lateinamerika popu-
ommer 2010 in Berlin: Es sind gefühlte 35 läres, aber in der Punkszene eher verächtlich betrachtetes
Grad. Die Kumbia Queers machen Soundcheck in der Genre, und sie brechen mit ihrer queeren Frauenband in ei-
Raumerweiterungshalle, einem kleinen, selbstorganisierten ne Männerdomäne ein. Nach ersten Erfolgen in Argentinien
Veranstaltungsort mit trans*feministischem Fokus. Drinnen und anderen Ländern in Lateinamerika wollen sie Europa
ist es nochmal 10 Grad wärmer. In der Luft liegt erobern. Mit der Zusage, auf einem Festival in
eine Mischung von Aufregung, großer Russland spielen zu können und von
Freude und ängstlicher Erwartung dort auch die Flüge finanziert zu be-
– es ist das allererste Konzert der kommen, fragten sie Anfang 2010
mexikanisch-argentinischen Band bei mir (Birgit) an, ob wir ein
Las Kumbia Queers in Europa. paar Konzerte in Deutschland
Wir rechnen optimistisch mit organisieren könnten und ich
etwa 60-100 Besucher*innen. sie als Roadmanagerin beglei-
Nach und nach trudeln die Leute ten würde. Die Lust ist groß, uns
ein. Wir trauen unseren Augen kaum. verbinden Freundschaften mit den

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Bandmitgliedern. Wir haben die Kumbia Queers bereits in
Argentinien gesehen und wissen, wie mitreißend sie sein
können, obwohl zumindest ich vorher eher nicht so viel mit
Cumbia anfangen konnte. Außerdem bewegen wir uns in Köln
und Berlin in der alternativen und queeren Musikszene, haben
einige Kontakte und auch schon öfters Konzerte organisiert.

M itten in die Planungen platzt die Neuigkeit herein, dass


das Festival in Russland ausfällt und wir somit auch noch
sechs Transatlantikflüge stemmen müssen. Dafür reichen na-
türlich zwei bis drei Konzerte in DIY-Zusammenhängen und
auf Bauwagenplätzen nicht aus. Eine ganze Tour muss her.
Wir halten inne und haben plötzlich Angst vor unserer ei-
genen Courage. Wir haben noch nie die Verantwortung für
eine ganze Tour übernommen. Alex von Malavida Music ist
zwar als Beraterin dabei, kann aber aufgrund zu vieler an-
derer Touren nicht übernehmen. Außerdem: Kann eine hier
noch völlig unbekannte Band überhaupt die Kosten von ei-
ner Tour und sechs Transatlantikflügen einspielen, oder ist
das der komplette Irrsinn? Gerade Frauen*bands haben es
immer noch schwerer als Männer*bands. Es gibt oft von eher finster aus. Abgesehen von warmem Essen bei Auftritten
vornherein mehr Zweifel an ihrer Professionalität. Sie wer- bestand die Ernährung der ersten Touren hauptsächlich aus
den häufig nicht ernst genommen und/oder als Exotinnen Einkäufen beim Discounter. Die Unterbringung fand pri-
wahrgenommen. Hinzu kommt, dass Cumbia in Europa vat statt. Das war zwar low-budget, aber dafür meistens um-
zu diesem Zeitpunkt noch eher ein Nischendasein fristet. so herzlicher. Oft schliefen wir in liebevoll hergerichteten
Alles in allem sind das keine guten Voraussetzungen. Aber (Privat-)Zimmern und wurden nicht nur einmal von einem
egal. Die Lust am Irrsinn ist mal wieder größer. Die Kumbia ausladenden Frühstückstisch im Garten überrascht. Aber
Queers überzeugen uns schließlich, weiter zu machen, und es gab auch Orte, wo wir nach einem anstrengenden Tag in
so nimmt das Projekt seinen Lauf. Räumen mit verdrecktem Bad oder gebrauchtem Kondom
Wir fragen überall herum wegen Auftrittsmöglichkeiten, und auf der Matratze übernachten mussten.
da wir uns eher in der queeren bzw. Politszene als im Profi- Neben den Gagen ist auch das Merchandising eine wichti-
Musikbusiness bewegen, organisieren nun auch Freund*innen ge Einkommensquelle. Natürlich konnte die Band nur eine
und Genoss*innen Konzerte für uns, die teilweise noch we- begrenzte Menge an CDs und T-Shirts mitbringen. Ziemlich
niger Ahnung davon haben als wir. Die Netzwerke gegen- schnell stellten wir fest, dass die Leute mehr kaufen wollten, als
seitiger Unterstützung von politischen und subkulturellen da war. Also startete die Band kurzerhand in Backstageräumen
Bewegungen funktionieren. Auf beiden Seiten des Atlantiks und einmal auch auf einem Festivalgelände eine T-Shirt-
arbeiten wir mit Hochdruck. Die Kumbia Queers aktivieren Produktion. Nachdem wir bei einem Spontanabstecher in
aus der Ferne ebenfalls alle ihre Kontakte in Europa, was den diverse Second-Hand-Läden alle vorhandenen einfarbigen
Tourplan immer mal wieder spontan durcheinanderbringt. Shirts aufgekauft hatten und die Gitarristin Pilar Schablonen
Aber letzten Endes ergibt sich eine runde Tour, in der von hergestellt hatte, wurden alle verfügbaren Leute für den T-
heruntergekommenen Punkrockschuppen über autonome Shirt-Druck herangezogen.
Zentren und Bauwagenplätze bis hin zu kleinen queeren Finanziell war die Tour ein Reinfall. Wir mussten so viele
Clubs und Festivals alles dabei ist. Im autonomen Zentrum Kosten einspielen, dass es nur knapp gelang, die Ausgaben zu
KTS in Freiburg oder bei der Brüsseler queeren Party Gelatina decken. Trotzdem gab es einige Leute und Veranstaltungsorte,
sind die Leute anfangs eher noch skeptisch, aber spätestens die selbst bei einer Band aus Südamerika, aus einem struk-
beim zweiten Song ist das vorbei. Alle vergessen, dass sie ei- turell ärmeren Land und mit immensen Reisekosten, der
gentlich nur zu Punk pogen oder bei elektronischer Musik Meinung waren, dass sie Soli spielen bzw. keinen Eintritt
cool in der Ecke stehen wollten, und fangen an, wild zu tan- verlangen sollte. Der letzte Schock am Ende der Tour war
zen und herumzuhüpfen. Das erste Konzert in der Berliner dann ein Schaden an dem geliehenen Tourbus, den vorher
Raumerweiterungshalle war damit symptomatisch: Egal wel- niemand bemerkt hatte, der aber teuer war.
cher Laden – die Kumbia Queers rocken sie alle. Es gab jedoch sehr viel Unterstützung – auch finanzielle. So
Am musikalischen Erfolg des Unternehmens konnte es also war es Rolf, einem anderen aus unserem Grüppchen, der
keinen Zweifel geben. Bei der Buchhaltung sah es dagegen in Köln ebenfalls an der Tour-Organisation beteiligt war,

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Foto: Weil die mitgebrachten T-Shirts schnell ausverkauft waren,
wurden während der Tournee in Handarbeit neue produziert
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zum Beispiel noch gelungen, etwas Kulturförderung durch beides dauerhaft miteinander zu verbinden: das Sichern ih-
den WDR zu bekommen. Francis Gay, Musikredakteur bei res Lebensunterhaltes sowie die Freude am Spielen und am
Funkhaus Europa, war sofort begeistert von den Kumbia jährlichen Wiedersehen mit den vielen Freund*innen, die
Queers, als er die CD gehört hatte: „So was muss man ja un- sie jetzt auf dieser Seite des Atlantiks haben.
terstützen.“ Er organisierte einen Mitschnitt des Konzertes in Inzwischen wird die Band auch für große Festivals und
Düsseldorf, was nicht nur gute Werbung war, sondern auch ho- Hallen gebucht. Vieles ist professioneller geworden, über-
noriert wurde (und bei späteren Touren noch öfter wiederholt nachtet wird immer häufiger in Hotels. Trotz allen Erfolges
wurde). Nicht vergessen werden sollte auch die Unterstützung dürfen jedoch auch heute die Lieblingsbauwagenplätze der
in den ersten Jahren durch engagierte Clubbetreiber*innen, ersten Jahre auf dem Tourplan nicht fehlen. Und trotz der
so etwa das Gebäude 9 und der Club Bahnhof Ehrenfeld in höheren Einnahmen funktionieren die Kumbia Queers
Köln, der Hafenklang in Hamburg oder das SO 36 in Berlin. weiterhin als Kollektiv. Gleichzeitig gibt es immer wieder
Der Schaden am Bus konnte dank einer Spendenkampagne Diskussionen rund um die Frage, wie Gelder verteilt wer-
bezahlt werden. Unschätzbar ist auch die nicht-materielle den. Es geht dabei um Arbeitsanteile, aber auch darum, wer
Unterstützung und Solidarität: Es fanden sich immer Leute, welche Privilegien und Zugriffsmöglichkeiten auf ökonomi-
die den Bus fuhren, sich um Merch-Verkauf kümmerten, sche Ressourcen und auf Fördermöglichkeiten hat. Natürlich
die uns in ihr Zuhause einluden oder uns die Stadt zeigten, befinden wir deutschen Unterstützer*innen, die wir hier le-
die Werbung machten, ihre Kontakte aktivierten oder ein- ben und weitgehend finanziell abgesichert sind, uns in einer
fach trotz kaum vorhandener finanzieller Ressourcen ein komplett anderen Situation als eine Band, die aus einem von
großartiges kleines Event mit viel leckerem Essen und guter einer Wirtschaftskrise gebeutelten Land des globalen Südens
Stimmung organisierten. Erinnert sei hier neben den bereits kommt. Das ist eine wichtige Diskussion, die nicht zu Ende
erwähnten Orten an die Leute vom Wagenplatz aus Leipzig, ist und unserer Ansicht nach immer geführt werden muss,
die jedes Konzert super liebevoll organisierten, oder auch wenn es zu einer solchen Zusammenarbeit zwischen „Nord“
an Hedda aus Malmö, die uns spontan am Off-Tag zu sich und „Süd“ kommt.
aufs Land einlud, wo wir einen Tag zwischen Wiesen und Die Pandemie hat ökonomische Ungleichheiten, sowohl
Traktoren verbrachten. Die vielen Kontakte, die auf diesen zwischen Ländern des globalen Südens und des Nordens
ersten Touren geknüpft wurden, der politische Austausch als auch innerhalb einzelner Länder, verschärft. Viele klei-
und neue Freundschaften legten den Grundstein für viele ne Clubs und viele alternative Räume für Subkulturen und
weitere Begegnungen und Touren. Trotz all dem finanziel- politische Kämpfe sind weltweit von der Schließung be-
len Druck und Stress hatten diese Wochen allen Beteiligten droht oder mussten gar schon aufgeben. Kleine Bands und
größten Spaß gemacht. Dass diese Geschichte weiter gehen Musiker*innen, die von ihrer Musik leben, wie die Kumbia
müsste, daran gab es keinen Zweifel. Queers, sehen ihre Existenz in Gefahr. Wo es allerdings hier

V on anderen Bands aus Lateinamerika haben wir ge-


hört, dass sie ihre Europatouren fast nur noch als Arbeit be-
in Deutschland zumindest theoretisch die Möglichkeit gibt,
als freischaffender Künstler oder als Clubbetreiberin staatli-
che Unterstützung zu erhalten, gibt es diese Möglichkeit in
trachten. Jedes Jahr ein paar Monate im Nightliner zu tou- den meisten Ländern des globalen Südens nicht. Auch hier
ren ist für sie kein Vergnügen mehr, aber es schafft die finan­ ist globale Solidarität gefragt sowie das Kämpfen um den
zielle Grundlage, um den Rest des Jahres zu Hause über die Erhalt von subkulturellen und anderen Freiräumen und um
Runden zu kommen. Die Kumbia Queers haben es geschafft, die Existenzsicherung von Menschen, die diese schaffen. n

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Foto: Mirra Banchón
Das System von El Sistema
Venezuelas musikalisches Kronjuwel hat schon viel überstanden

Das Nationale System der Jugend-und Kinder­ Bewegungen verwandelt“, sagt Gregory Antonetti, Lehrer am
orchester und -chöre von Venezuela ist seit vielen Konservatorium von Unearte.
Jahren das kulturelle Aushängeschild des Landes. Die Institution Unearte wurde vom ehemaligen Präsidenten
Stellen wir es uns als Krone vor. Einer der brillantes- Hugo Chávez geschaffen. Er brachte damit kurz nach seiner
ten Edelsteine darin ist Gustavo Dudamel, derzeit Machtübernahme 2003 alle künstlerischen Institutionen,
Direktor der Philharmonie von Los Angeles. Ihr Gold die es damals im Land gab, unter ein Dach: die Kunst-
besteht ebenso aus den pädagogischen und musika- und Handwerksschule, das Universitätsinstitut für musi-
lischen Ideen des Gründers José Abreu wie aus den kalische Studien, die Theaterschule und das Netzwerk von
Hunderttausenden von Kindern und Jugendlichen, Symphonieorchestern, das José Antonio Abreu, ein Genie
die das System in eine internationale Marke verwan- in Sachen Verwaltung wie auch Musik, seit 1975 auf- und
delt haben. Wer bezahlt das Schmuckstück und wie ausgebaut hatte.
steht es um seine Zukunft angesichts der gegenwär-
Aber das venezolanische System kam nicht aus dem Nichts.
tigen Krise?
Um das Jahr 1973, als José Antonio Abreu das Jugend­

S
von Mirra Banchón symphonieorchester Venezuelas gründete, herrschten die pä-
dagogischen Ideen von Angel Sauce vor, dem Direktor des
ie sind einfach glänzende Botschafter des Sozialismus Nationalen Konservatoriums. Seit den 1940er-Jahren hatte
des 21. Jahrhunderts, diese Jungen und Mädchen, die einen Sauce eine Reihe von Chören ins Leben gerufen, darunter
Satz aus der Fünften Symphonie von Mahler in schwarzer auch Arbeiterchöre. Sauce übertrug Abreu die Bildung von
Kleidung vortragen, um sofort danach in Trainingsjacken Jugend­symphonieorchestern. Wichtig war aber auch ein wei-
mit aufgedruckter Fahne Venezuelas zu schlüpfen und den terer Denker der Epoche, Luis Alberto Machado. Er vertrat
Mambo Number Five von Pérez Prado zu spielen. Wird es die Ansicht, dass alle Menschen mit Intelligenz ausgestat-
aber in der gegenwärtigen sozialen und wirtschaftlichen tet sind, und beeinflusste damit die Sichtweise seiner Zeit.
Notsituation in Venezuela weiterhin Gelder für eine kultu- „Zum ersten Mal in der Geschichte wird die Entwicklung der
relle Schirmherrschaft wie in der Ära Chávez geben? Wird Intelligenz bei allen Menschen zu einer Staatsangelegenheit
„El Sistema“ überleben? Und was ist mit dem pädagogischen erhoben, zu einer politischen Entscheidung mit einer klaren
Konzept, das sich auf frühes Lernen in Gruppen, Mitmachen und präzisen demokratischen Orientierung, denn es geht da-
und Abschauen stützt? rum, das Volk zu entwickeln, und insbesondere die Armen,
„Das Jugendsymphonieorchester Venezuelas entstand, was zu einer radikalen und definitiven Veränderung aller
weil es ein Bedürfnis des Publikums erfüllte. Und es hat Strukturen führen wird“, sagte eben dieser Machado 1981
uns in die Speerspitze der internationalen symphonischen als Minister für die Entwicklung der Intelligenz (1979-1984).

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Im kollektiven Gedächtnis Venezuelas ist ein Experiment nannt worden; karibische Rhythmen waren seine Sache nicht.
des Ministers Machado geblieben, das von Abreu ausgeführt Aber damit Hugo Chávez El Sistema nicht kaputt mach-
wurde: Kinder und Jugendliche der zu den Yanomani gehö- te, paktierte er mit dessen popularer Seele. So entstanden
renden Ethnie der Pemones, die zuvor wenig Kontakt mit die Symphonieorchester mit Instrumenten der Musik aus
der westlichen Kultur gehabt hatten, spielten auf sympho- dem Tiefland. Von da an krönte sich der Sozialismus des 21.
nischen Instrumenten. Nach kaum zweieinhalb Monaten Jahrhunderts mit El Sistema als seinem Markenzeichen. Der
Unterricht konnte die Gruppe im September 1979 vor lau- Staat investierte reichlich in dessen Infrastruktur.
fenden Fernsehkameras eine Symphonie von Haydn und ei- Gregoy Antonetti erinnert sich: „Am 27. Mai 2007 schloss
nen Teil der Neunten Symphonie von Beethoven aufführen. die Regierung den Sender Radio Caracas Televisión. Einen
Die Methode war „Learning by Doing“, so wie ein Kind spre- Tag später wurde Tves (Televisora Venezolana Social) auf
chen lernt. „Wenn du Leichtathletikstunden gibst, sagst du der gleichen Frequenz lanciert, nunmehr dem Ministerium
dem Schüler oder der Schülerin nicht, wieviel Anlauf er oder der Volksmacht für Kommunikation und Information
sie nehmen muss. Du sagst einfach: ‚Spring‘“, erklärt Gregory (Ministerio del Poder Popular para la Comunicación y la
Antonetti, der am Moskauer Tschaikowski-Konservatorium Información) unterstellt. Was hat Tves als erstes gesendet?
ein Diplom in Dirigieren und Komposition erwarb. Die Nationalhymne, gespielt vom Jugendsymphonieorchester
„Mit Abreu als musikalischem Leiter hielt in Venezuela ein unter der Leitung von Gustavo Dudamel.”
System Einzug, das in Russland schon vor der Revolution Damals war Dudamel, der als Vierjähriger in El Sistema mit
existierte: Schulen nämlich, die nicht nur den üblichen dem Geigespielen begonnen hatte, bereits mit Grammys für
Fächerkanon vermitteln, sondern dazu auch Spezialunterricht, klassische Musik ausgezeichnet worden; er war Gastdirigent in
in diesem Fall in Musik. Wie es ihn auch in Kunst, Zirkus, den Symphonieorchestern von Mailand, Chicago, Göteborg,
Leichtathletik oder Schach gibt: Fächer, für die man jung sein Birmingham, Liverpool und anderen mehr gewesen. Mit seiner
muss, um ein Superstar zu werden“, unterstreicht Antonetti, Ernennung zum Chefdirigenten des Philharmonieorchesters
der als Kind mehr als einmal sein Land bei internationalen von Los Angeles setzte El Sistema einen gewaltigen Diamanten
Orgelwettbewerben vertreten hat. in seine Krone ein.

D er Erfolg der venezolanischen Jugendorchester war ein-


fach nie zu stoppen, aber ihr unbestreitbarer Ruhm war nie
D er Tod von Hugo Chávez im Jahre 2013 hat weder
die Beziehung von Abreu noch die von Dudamel zu El
frei von Kritik. „El Sistema legt Wert auf die Ausführung, nicht Sistema verändert. Die Regierung von Nicolás Maduro un-
auf die musikalische Kenntnis. Es hat exzellente Ausführende, terstützte sie weiterhin. Dann aber starb 2017 bei Anti­
aber sie wissen nicht, ob es eine Fuge ist, was sie gerade spie- regierungsdemonstrationen ein junger Flötist. Abreu schwieg,
len“, erklärt Antonetti, der auch Mitglied im Blasorchester mit der ihm eigenen Fähigkeit, jedwedes Hindernis zu um-
der Bolivarianischen Nationalen Streitkräfte ist. „Stars wie schiffen, nur damit die Musik weiter in Venezuela erklänge.
Dudamel haben aus eigener Kraft ergänzt, was sie in El Aber Dudamel widersetzte sich, zum ersten Mal. Die Regierung
Sistema nicht vermittelt bekamen“, sagt Antonetti. Anders von Nicolás Maduro fackelte nicht und entzog ihm seine be-
als immer wieder behauptet wird, fügt der venezolanische dingungslose Unterstützung, und Gustavo Dudamel konn-
Musiker an, sei es keineswegs so, dass El Sistema sich nur um te bei der Beisetzung von Abreu im April 2018 nicht dabei
die Ärmsten kümmert: „Die Voraussetzung ist, dass man ge- sein. „Es ist ebenso traurig, einfach wegzusehen, wie zu er-
nügend Naturtalent für die Musik mitbringt.“ leben, dass die Regierung in Caracas unversöhnlich gegen-
Ob er selbst Schüler von El Sistema gewesen sein? „Nein. Ich über jedem ist, der opponiert. Ich gehe mal davon aus, dass
habe meine Ausbildung in der Musiyama-Stiftung durchlau- solche dunklen Flecken im Laufe der Geschichte verschwin-
fen, das war vor der Ära Chávez“, antwortet Antonetti auf den“, denkt Antonetti.
die Frage und erinnert daran, dass damals, als er mit zehn Wie dem auch sei, die politische, wirtschaftliche und soziale
Jahren ein Instrument haben wollte, Yamaha beim Kauf ei- Krise in Venezuela hat die Dimensionen einer Katastrophe er-
ner Hammondorgel einen dreimonatigen Kurs spendierte, reicht. Ist das Überleben von El Sistema deswegen in Gefahr?
um populare Musik spielen zu lernen. Antonetti zieht das in Zweifel: „El Sistema bekommt tatsäch-
„Bis dahin orientierte sich El Sistema immer an sogenann- lich Unterstützung von der Regierung. Aber auch von der
ter guter Musik”, sagt Antonetti, der auch Filmmusik kom- UNESCO und von Privatunternehmen. Allein Yamaha hat
poniert. „Abreus Absicht war es ursprünglich, akademische 10 000 Instrumente gespendet, auch die Instrumentenbauer
Musik zu machen, Elitenmusik. Und wer zur Elite gehörte, Conde, Schagerl und Pleyel machen Schenkungen, nur da-
war gegen Chávez“, fügt er hinzu. Und Chávez war gegen die mit ihr Name erwähnt wird. Man darf nicht vergessen, dass
Eliten. Da kam der große Pakt. wir uns in eine Marke verwandelt haben. Und die venezola-
Abreu war 1995 von der UNESCO zum Botschafter für ein nische Diaspora übernimmt es derzeit, die Methode von El
globales Netzwerk von Kinderorchestern und -chören er- Sistema in der ganzen Welt nachzumachen.“ n

25
Übersetzung: Gaby Küppers

ila 442
Feb. 2021
Mehr als 800 Buchtitel in 40 Jahren
Interview mit Petra Kassler von Litprom über die Förderung von Übersetzungen
aus den Ländern des Südens

Seit 1980 gibt es in Frankfurt am Main die „Gesell­ lem Übersetzer*innen bei ihrer
schaft zur Förderung der Literatur aus Afrika, Asien Arbeit unterstützen – bei uns geht
und Lateinamerika“ (Litprom). Sie hat sich zum Ziel die Förderung ja an die Verlage für
gesetzt, die Präsenz von Autor*innen aus den drei ihre Übersetzungen. Allerdings hat
Kontinenten auf dem deutschsprachigen Buchmarkt der Deutsche Übersetzerfonds ak-
zu erhöhen. Ein Mittel dazu ist die Förderung von tuell ein neues Förderprogramm
Übersetzungen. Wie das genau funktioniert, wo- aufgelegt – „extensiv initiativ“
her die Mittel dafür kommen und wer entscheidet, Lauf­zeit bis Ende 2021 –, das so-
welche Titel gefördert werden, erklärt Petra Kassler gar beide Seiten berücksichtigt:
im nachfolgenden Interview. die Übersetzerin / den Übersetzer
Petra Kassler
durch ein Stipendium und den

W ie werden Anfragen nach Übersetzungsförderung


an Litprom herangetragen? Kommen sie von
deutschen Verlagen, von Übersetzer*innen, von litera-
Verlag durch die Bezuschussung der Übersetzungskosten – das
ist natürlich toll. Das Literarische Colloquium Berlin vergibt
zudem Arbeitsstipendien und bietet Fortbildungsprogramme,
rischen Agenturen, von Verlagen aus Afrika, Asien und und ein anderes Beispiel wäre das Institut Français, das mit-
Lateinamerika, von Autor*innen im Süden? hilfe verschiedener Stiftungen dazu beiträgt, dass jährlich vie-
Das Übersetzungsförderungsprogramm funktioniert so, dass le Übersetzungen aus dem Französischen ins Deutsche ver-
deutsche Verlage und Verlage aus der Schweiz einen Antrag öffentlicht werden, – darunter können ja auch frankophone
stellen können. Für den betreffenden Titel, der übersetzt wer- Autor*innen aus Afrika, dem Pazifik und der Karibik sein.
den soll, muss zu dem Zeitpunkt bereits ein Vertrag mit der/
dem Übersetzer*in vorliegen sowie weitere Unterlagen wie Litprom wurde gerade 40 Jahre alt. Wie vie-
Verlagsgutachten, Übersetzungsprobe usw.; Autor*innen, le Übersetzungen von Titeln aus Afrika, Asien und
Agent*innen oder Übersetzer*innen können sich nicht be- Lateinamerika wurden bisher über Litprom gefördert?
werben. Wichtig ist auch, dass Litprom ausschließlich bel- Die Übersetzungs­förderung betreibt Litprom seit 1984, seit-
letristische Titel in der Übersetzungsförderung berücksich- dem wurde die deutsche Übersetzung von mehr als 800 Titeln
tigt, keine Sachbücher. Auf unserer Website gibt es alle Infos finanziell unterstützt, darauf sind wir sehr stolz und arbeiten
zu den erforderlichen Dokumenten und Fristen: www.lit- nun auf die Zahl 1000 hin! Übrigens beträgt die Anzahl der
prom.de/foerderung/uebersetzungsfoerderung/litprom-su- geförderten Übersetzungen bei lateinamerikanischen Titeln
edkulturfonds/ 216 und liegt damit knapp hinter der arabischen Welt mit
224, die den größten Anteil hat. Seit einiger Zeit kann man auf
In vielen übersetzten Titeln ist der Hinweis zu lesen, unserer Webseite im QUELLEN-Katalog auch nach geförder-
dass die Übersetzung über Litprom mit Mitteln des ten Büchern suchen – allen Interessierten empfehle ich diese
Auswärtigen Amtes (AA) gefördert wurde. Ist das AA Datenbank, die wir ebenfalls seit bald 40 Jahren betreiben.
die einzige deutsche Institution, die Übersetzungen von
Literatur aus Afrika, Asien und Lateinamerika för- Gelegentlich ist in Büchern auch zu lesen, dass die
dert, oder gibt es weitere Stellen, die dies tun, etwa Übersetzung von einer Institution im Herkunftsland der
Bundesländer, die beiden Buchmessen oder Stiftungen? Autorin/des Autors oder von der hiesigen Botschaft des
Unsere Spezialisierung auf diese Regionen und die Förderung Herkunftslandes gefördert wurde. Kooperiert Litprom
entsprechender Übersetzungen aus Mitteln des Auswärtigen bei der Übersetzungsförderung auch mit Institutionen
Amtes und des Schweizer Südkulturfonds ist einzigartig in in Afrika, Asien und Lateinamerika?
Deutschland bzw. im deutschsprachigen Raum, soweit ich Wenn es passt, informieren wir Verlage über solche Angebote
weiß. Es gibt jedoch noch andere Institutionen, die vor al- seitens der Botschaften oder ausländischer Kultur- und

26 www.litprom.de Petra Kassler hat die Fragen von Gert


Eisenbürger schriftlich beantwortet.
ila 442
Feb. 2021
Literaturinstitutionen auf unserer Webseite. Durchaus wer- oder die Autorin die Übersetzung explizit vorzieht oder selbst
den diese Hilfeleistungen von uns gesucht, und wir sehen uns in einer Zweitsprache geschrieben hat. Entscheidend ist das
auch als Vermittler zwischen den fördernden Institutionen Herkunftsland bzw. der Hintergrund der Autorin oder des
und den Verlagen. So zum Beispiel im Fall des Programms Autors, nicht unbedingt die Sprache. Es kommt durchaus
SUR des argentinischen Außenministeriums, das uns regel- ab und zu vor, dass ein Titel über einen „Umweg“ über ei-
mäßig bittet, unsererseits auf die Förderung aufmerksam zu ne andere Sprache, wie etwa Englisch, zu uns kommt. Die
machen. Oder bei den Sheikh Zayed Book Awards, die in Abu Literaturen der Migration werden immer zahlreicher, daher
Dhabi für arabische Literatur vergeben werden und unter an- werden diese Fälle zunehmen. Grundsätzlich fördern wir
derem ein großzügiges Förderprogramm für Übersetzungen Übersetzungen des Originals. Anträge für Übersetzungen aus
der Werke der Preisträger*innen in europäische Sprachen ha- indigenen Sprachen hat es meines Wissens bisher nicht gege-
ben. Hier sind wir ein sehr wichtiger Kooperationspartner. ben – da wird es sicher auch schwierig, eine*n Gutachter*in
Je nachdem, welche Länder oder Regionen Ehrengast der für die Qualität von Text und Übersetzung zu finden, mal
Frankfurter Buchmesse in einem betreffenden Jahr sind, kommt ganz zu schweigen vom/von der Übersetzer*in selbst …
es auch vor, dass wir im Sinne der Übersetzungsförderung agie-
ren, indem wir im Auftrag des Ehrengastes auf Verlagssuche
für ausgewählte literarische Werke aus der Gastregion ge-
hen. Als Beispiele seien Indonesien und zuvor Brasilien ge-
nannt. In Brasilien gibt es unabhängig davon übrigens ein
Förderprogramm, für das sich alle nicht-brasilianischen
Verlage melden können, die einen Titel der brasilianischen
Literatur in Übersetzung herausgeben möchten.

Erscheinen die mit Mitteln des AA geförderten In den letzten Jahren sind eine Reihe spannender
Übersetzungen ausschließlich in deutschen Verlagen Bücher deutschsprachiger Autor*innen mit arabischen,
oder auch in Verlagen anderer deutschsprachiger kurdischen oder lateinamerikanischen Hintergründen
Länder? erschienen. Gibt es Überlegungen, die Übersetzung
Die Mittel werden vom Auswärtigen Amt an deutsche Verlage solcher Texte ins Arabische, Kurdische oder Spanische
vergeben, die bei uns einen Antrag gestellt haben. Eine un- zu fördern, um sie auch Leser*innen in diesen
abhängige und von Litprom koordinierte Fachjury entschei- Sprachregionen zugänglich zu machen?
det am Ende über eine Bewilligung oder Ablehnung. Für Das ist eine interessante Idee und auf jeden Fall wünschens-
das Übersetzungsförderungsprogramm arbeiten wir mit der wert, damit die Förderung keine Einbahnstraße bleibt, son-
Schweizer Organisation „artlink“ zusammen, sodass sich dern wirklich ein kultureller Dialog daraus wird. Bei Litprom
auch Verlage aus der Schweiz bewerben können. Dort stam- ist ein solches Großprojekt zurzeit nicht konkret geplant,
men die Mittel vom SüdKulturFonds, der von der Schweizer letztlich würde das aber natürlich von bereitgestellten fi-
Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit finanziert nanziellen Mitteln abhängen. Selbstverständlich würden wir
wird. Die Anträge werden für beide Länder zweimal im Jahr in gern mit den Kulturinstitutionen in den jeweiligen Ländern
einer Sitzung der besagten Jury geprüft. Hierfür holt Litprom und Regionen kooperieren. Das Goethe-Institut hat z.B. ein
Gutachten externer Expert*innen ein, deren Beurteilungen Förderprogramm, das Übersetzungen deutscher Bücher in eine
in die Entscheidungen einfließen. Für Österreich haben wir Fremdsprache und ausländische Verlage bei der Publikation
bisher noch keinen Partner dieser Art gefunden. deutscher Literatur unterstützt. Und ich habe gesehen,
dass der Deutsche Übersetzerfonds in Deutschland leben-
Fördert Litprom nur Übersetzungen aus den de Übersetzer*innen deutschsprachiger Literatur in andere
Ursprungssprachen oder auch von Büchern, die bereits Zielsprachen fördert in Form sogenannter Radial-Stipendien
einmal übersetzt wurden, etwa ein Buch einer indi- aus dem 2020 aufgelegten Programm „Neustart Kultur“. Das
schen Autorin, das zunächst aus ihrer Muttersprache sind dann Arbeits-, Reise- oder Weiterbildungsstipendien.
ins Englische übersetzt wurde, oder die spanische Im Augenblick widmen wir uns bei Litprom weiterhin der
Übersetzung eines lateinamerikanischen Autors, der in Verbreitung von Weltliteraturen im deutschsprachigen Raum.
einer indigenen Sprache schreibt und publiziert? Das bleibt vorerst unser „Kerngeschäft“, da kennen wir uns
Wir gehen eigentlich immer von der Ursprungssprache aus, am besten aus, um hier bei uns möglichst viel Diversität in
nur in Ausnahmefällen kommen auch bereits in andere die literarische Landschaft und auf den Buchmarkt zu brin-
Sprachen, wie zum Beispiel ins Englische, übersetzte Bücher gen. Das allein ist schon eine Riesenaufgabe, die wir mit ganz
in die Übersetzungsförderung. Zum Beispiel wenn der Autor unterschiedlichen Aktivitäten verfolgen. n

27
Vom 19. April bis 11. Juni 2021 wird Litprom in der Philipp-Schaeffer-Bibliothek in Berlin-Mitte in
einer Ausstellung etwa 80 Bücher aus dem Übersetzungsförderungsprogramm und der Litprom-
Bestenliste „Weltempfänger“ zeigen. Dazu wird es eine begleitende Veranstaltung geben. ila 442
Feb. 2021
Von Brasilien bis Japan
Literaturübersetzung und ihre Förderung in Mexiko

„Die Autor*innen schaffen nicht gut honoriert. Das


mit ihrer Sprache nationale gilt auch für Mexiko. Kleine
Literatur, die Weltliteratur Verlage, die nur begrenzte
wird von Übersetzer*innen Auflagen auf den Markt brin-
gemacht.“ Der portugiesische gen können, haben zudem
Literaturnobelpreisträger oft Probleme, Übersetzungen
José Saramago brachte es auf zu finanzieren. Neue, un-
den Punkt. Es sollte immer bekannte ausländische
wiederholt werden: Ohne Autor*innen, seien sie und
Literaturübersetzung ist es ein ihre Übersetzer*innen auch
ganzes Stück schwerer, über noch so gut, versprechen
den nationalen Tellerrand hin- dem Verlag eher Verlust als
auszublicken. Nichtsdestotrotz Gewinn. Umso wichtiger sind
wird die Bedeutung der verschiedene Förderungen für
Literaturübersetzer*innen Literaturübersetzungen – damit
selten anerkannt. Infolgedessen letztere überhaupt zustande
ist deren Arbeit in der Regel kommen.

I
von Claudia Cabrera damit diese sich ausschließlich der Werkproduktion widmen
können. Seit 2008 werden auch die Literaturübersetzer*innen
n Mexiko existieren vor allem zwei Förderwege. Zum einen und deren Projekte gefördert.
die öffentlichen Programme, die von der Bundesregierung in Die recht umfangreichen Unterstützungen wurden 1993
Zusammenarbeit mit anderen Institutionen finanziert wer- durchaus mit dem Ziel ins Leben gerufen, kritisches
den. Zum anderen die Kulturinstitute und Programme aus- Künstler*innenpotenzial durch staatliche Förderung zu koop-
ländischer Staaten in Mexiko, die Literaturübersetzungen aus tieren. Die amtierende Regierung von Andrés Manuel López
ihren Landessprachen fördern. Obrador scheint dagegen im Kontext ihrer Austeritätspolitik
Das Programm PROTRAD hat zum Ziel, zur internationa- für Kunst- und Kulturförderung eher wenig Sympathie zu ha-
len Förderung und Verbreitung der mexikanischen Kultur ben. Insofern ist die Zukunft von Programmen wie PROTAD
beizutragen und den kulturellen Austausch anzuregen. und SNCA äußerst unsicher.
Federführend ist dabei das Außenministerium gemeinsam mit
dem Nationalen Fonds für Kultur und Künste (FONCA), der
zum Kulturministerium gehört. Auch die Nationale Autonome
W enn andere Länder die Übersetzung ihrer Autor*innen
in das mexikanische Spanisch fördern wollen, so geschieht das
Universität Mexikos (UNAM), der Verband der mexikanischen in der Regel über ihre jeweiligen Kulturinstitute. Manchmal
Verlagsindustrie (CANIEM) und die internationale Buchmesse sind auch die Botschaften und deren Kulturreferate invol-
von Guadalajara (FIL) sind einbezogen. PROTRAD bewilligt viert. Es handelt sich normalerweise nicht um mexikospezi-
einerseits finanzielle Unterstützung für Projekte ausländi- fische Programme, sondern Fördermöglichkeiten, die eben-
scher Verlage, die die Übersetzung und Veröffentlichung der so in anderen Ländern wahrgenommen werden können.
Werke mexikanischer Autor*innen in andere Sprachen vorse- Die brasilianische Botschaft hat die Möglichkeit, die
hen. Umgekehrt können mexikanische Verlage Mittel für die Übersetzung ausgewählter Werke finanziell zu unterstützen.
Übersetzung und Veröffentlichung ausländischer Autor*innen Dies hängt jedoch vollständig vom Interesse und dem Willen
ins (mexikanische) Spanisch beantragen. Gefördert wird ne- der jeweiligen Botschaftsleitung und des Kulturreferates so-
ben der Literaturübersetzung auch die Übersetzung im Bereich wie des Jahresbudgets ab. In Brasilien selbst gibt es zudem
der Kunst und der Geisteswissenschaften. ein Programm, das dem mexikanischen PROTRAD ähnelt.
Das seit 1993 bestehende „Nationale System für Allerdings unterstützt das brasilianische Programa de Apoio à
Kunstschaffende“ (SNCA) ist dem erwähnten FONCA angeglie- Tradução e à Publicação de Autores Brasileiros no Exterior
dert. Es vergibt Preise und in der Regel dreijährige Stipendien nur die Übersetzung brasilianischer Autor*innen in ande-
(monatlich bis zu etwa 1500 US-Dollar) an Künstler*innen, re Sprachen. Dies allerdings in erheblichem Umfang. Auch

28
Claudia Cabrera ist literarische Übersetzerin und zweite Vorsitzende des Mexikanischen
Literaturübersetzer*innenverbandes (Ametli). Neben eigenen Recherchen basiert der Artikel auf
ila 442
Informationen ihrer Kolleg*innen Paula Abramo (portugiesisch), Radina Dimitrova (chinesisch),
Feb. 2021 Mar Gámiz (russisch), Cristina Rascón (japanisch) und Arturo Vázquez Barrón (französisch).
für Veröffentlichungen
in Mexiko hat es sol-
che Unterstützungen ge-
geben, zum Beispiel für
Bücher von Lina Bovardi
und Veronica Stigger, in
der Übersetzung von Paula
Abramo.
Was die deutsche Über­
setzungs­f örderung in
Mexiko anbelangt, ist vor
allem das Förderprogramm
des Goethe-Instituts „Über­
setzungen deutscher Bücher
in eine Fremd­sprache“ zu
nennen. Es unterstützt
Verlage bei der Publikation
deutscher Literatur. Die

Foto: Sama Hoz


Hilfen können für Gegen­
wartsliteratur, Bücher für
Kinder und Jugendliche,
wichtige wissenschaftliche
Titel und Sachbücher beantragt werden. portugiesischer Sprache schreiben. In Mexiko ist das Institut
Die Kulturstiftung ProHelvetia bezuschusst auf Antrag an die Nationaluniversität UNAM angebunden.
von Verlagen Honorare für Übersetzungen von Werken Auch aus Russland gibt es Förderung für literarische Über­
Schweizer Gegenwartsautor*innen. Außerdem gibt es das setzungen in andere Sprachen. Von staatlicher Seite über das
jährliche Programm „12 Swiss Books“. Dabei geht es um Perevoda-Institut (Übersetzungsinstitut) und zudem über das
Neuerscheinungen in den vier Schweizer Landessprachen, private „Transkript“-Programm der Stiftung Mikhail Prokhorov.
die speziell für die Übersetzungsförderung ausgesucht Beide Einrichtungen haben Literaturübersetzungen ins mexi-
wurden. In den vergangenen Jahren lud beispielswei- kanische Spanisch gefördert, u.a. von Osip Mandelstam und
se die Schweizer Botschaft mexikanische Verlage zu einer Lew Tolstoi in der Übersetzung von Mar Gámiz.
Informationsveranstaltung ein, bei der die Bücher vorge-
stellt wurden.
Das Französische Institut für Lateinamerika (IFAL) ist for-
A uch wenn sie bisher keine Unterstützung für Literatur­
übersetzungen anbieten, soll der spezielle Fall der chinesi-
mal von der Botschaft abhängig, arbeitet jedoch autonom. schen Konfuzius-Institute erwähnt werden. Ihre Zahl hat in
Über das weltweit operierende französische Programm den vergangenen Jahren in den lateinamerikanischen Ländern
zur Unterstützung von Publikationen (PAP) hat das IFAL- enorm zugenommen. Allein in Mexiko gibt es inzwischen
Institut in Mexiko eine Reihe von Übersetzungen französi- fünf davon. Vier sind direkt an mexikanische Universitäten
scher und französischsprachiger Autor*innen unterstützt. Es angebunden. Der Schwerpunkt liegt auf dem Sprachunterricht
gibt zwei Varianten: finanzielle Hilfe für die Bezahlung von und dem kulturellen Austausch. Beides soll aber ebenso den
Veröffentlichungsrechten in einer fremden Sprache und die kommerziellen Austausch fördern.
Kofinanzierung der Publikation. Beide Hilfen können ein- Dieser kleine Überblick kann keinen Anspruch auf Voll­
zeln oder zusammen beantragt werden. ständigkeit erheben. Ebenso wenig wird auf die unter-
Die japanische Kulturförderung im Ausland wird zentral schiedlich ausgestatteten Stipendien in verschiedenen
von der Japan-Stiftung koordiniert. Mexiko gehört zu den Übersetzer*innenhäusern weltweit eingegangen. Diese
Ländern, in denen die Stiftung ein eigenes Institut hat. Über Option hat manche schöne Literaturübersetzung aus anderen
dieses Institut oder auch direkt über die Zentrale in Tokio Sprachen ins mexikanische Spanisch ermöglicht, die sonst
kann die Unterstützung für literarische Übersetzungen aus nie zustande gekommen wäre. Obwohl es in der Regel die
dem Japanischen von den Verlagen angefragt werden. Verlage sind, die eine Unterstützung bei den unterschied-
Das portugiesische Instituto Camões ähnelt vom Konzept her lichen Einrichtungen beantragen müssen, sind es oft die
dem Goethe-Institut. Zu seinen Aufgaben gehört unter ande- Literaturübersetzer*innen, die Projekte vorschlagen und auf
rem die Unterstützung der Übersetzung von Werken portu- den Weg bringen. Vielfach sind sie es, die die Verlage über
giesischer Autor*innen und afrikanischer Autor*innen, die in existierende Förderoptionen informieren. n

29
Foto: Lese- und Literaturförderung
in Mexiko D.F. 2014
ila 442
Feb. 2021
Das war überfällig
Die Währungsreform in Cuba

Finanziell steht Cuba das Wasser bis zum Hals. Der


Einbruch beim Tourismus, die Pandemie, aber auch
die US-Sanktionen wirken sich verheerend auf die
Inselökonomie aus. Nach jahrelangem Zögern soll
nun die Währungsreform für frischen Wind in der
Inselökonomie sorgen. Doch eine Reform allein

Foto: Knut Henkel


wird kaum reichen, mahnen Experten.

S
von Knut Henkel Gegensatz hat die Inselökonomie vor immense Widersprüche
gestellt, die sich nicht nur im stetigen Sinken der Exporte in
eit dem 1. Januar 2021 herrscht in Cuba eine neue den letzten Jahren niederschlugen, sondern auch in doppel-
Währungsrealität. Nicht mehr zwei, sondern nur noch einen ter Buchführung, ständigem Hin- und Herrechnen, kurz: in
cubanischen Peso gibt es auf der Insel, den Peso Nacional einer permanenten Schieflage.
(CUP). Der seit 1994 zirkulierende Peso Convertible (CUC), Nun folgt der „Wechselkursschock unter administrativer
der konvertierbare Peso, der jedoch nie konvertierbar war, Kontrolle“, wie Vidal es nennt. „Die Architekten der Reform
gehört alsbald der Geschichte an. Noch ein halbes Jahr soll versuchen, mit Höchstpreisen einen Deckel auf die Inflation zu
er getauscht werden, dann endgültig in die Annalen einge- setzen und wollen parallel dazu die staatlichen Unternehmen
hen. Doch die Abkehr von der Kunstwährung, die bei der für ein Jahr aus einem staatlichen Fonds stützen.“ Dann sol-
Bevölkerung auch abschätzig Chavito genannt wurde, ver- len sich die Betriebe an die neuen Verhältnisse angepasst ha-
läuft holprig. So nehmen zahlreiche Geschäfte die bunten ben, so der Ansatz von Marino Murillo, der als Architekt der
Scheine kaum mehr an, weil sie der Regierung nicht vertrau- Währungsreform gilt. Murillo scheut sich nicht, öffentlich auf
en, dass sie den nominellen Gegenwert auch auszahlen wird. die immensen staatlichen Subventionen aufmerksam zu ma-
Das hängt damit zusammen, dass jede* Cubaner*in weiß, chen, zuletzt auf jene im Energiesektor. Die realen Preise für
dass die Regierung chronisch klamm ist. Und das hat sich Energie liegen deutlich über dem, was den Endkunden be-
mit Corona noch deutlich verschärft. rechnet wird. Und das muss sich in Cuba ändern, so Murillo.
Auch deshalb begrüßt Pavel Vidal die „historische“ Ent­ Das sei eine Voraussetzung, um die Währungsreform erfolg-
scheidung: „Die Währungsreform bietet das Beste, was unter reich zu gestalten. Doch wo ist die soziale Absicherung, wo
den derzeitigen Bedingungen Cubas möglich war. Sie setzt auf der revolutionäre Anspruch, der einfachen Bevölkerung ein
Regulierung mit einer hohen Abwertungsquote. Kaum jemand Leben in Würde zu garantieren, fragen Kritiker*innen, die
hätte es für möglich gehalten, dass im Verhältnis 1:24 abge- befürchten, dass Cuba einen neoliberalen Anstrich erhal-
wertet werden würde.“ Für Vidal ist das ein „regulierter Big ten könnte, darunter auch Cubas bekannte Bloggerin Yoani
Bang“, für die staatlichen Betriebe hat das Schockcharakter. Sánchez in einem Beitrag für 14yMedio, die von ihr mit he-
Die wirtschafteten nämlich über mehr als zwei Dekaden lang rausgegebene Zeitung.
mit einem Wechselkurs von 1:1 zum US-Dollar, während die Vor drohender Verarmung soll unter anderem die Fixierung
Bevölkerung in einer Währungsrealität von 1:24 agierte. Dieser von Höchstpreisen für viele Produkte schützen. Doch ist

30
Foto: Wenig Waren in den staatlichen Betrieben. Die Währungsreform mit ihrer Rekordabwertung hat für
sie Schockcharakter. Die Regierung subventionierte die Betriebe. Die Anpassung ist bitter nötig, aber wer
ila 442
wird die Zeche zahlen?
Feb. 2021
die Maßnahme in erster Linie ein Versuch, die Inflation zu ständige Tätigkeit ist bisher genauso wenig angekündigt wor-
dämpfen. Das hat schon in der Vergangenheit nur partiell den wie neue Regelungen für kleine und mittlere Unternehmen
funktioniert, wie die Erfahrungen aus dem Jahr 2020 zei- sowie Genossenschaften. Derartiges könnte für eine neue
gen, da sorgten Höchstpreise für Pizza, Hot Dog und Co. ökonomische Dynamik sorgen, sind sich Vidal, Torres und
nicht nur in Havanna dafür, dass die Produkte aus dem Everleny Pérez einig, aber die Widerstände in der politischen
Angebot verschwanden. Vor einem sinkenden Angebot auf Führung sind beachtlich.
dem regulären Markt und dem Verkauf gefragter Produkte Mit den Maßnahmen werden Kontrollverluste assoziiert. Doch
auf dem Schwarzmarkt, Bolsa Negra, warnte der cubani- ein Blick auf die Finanzen zeigt, dass es keine Alternativen
sche Sozialwissenschaftler Omar Everleny Pérez schon im gibt. Anders als andere Länder kann Cuba eben nicht auf
November. Da war die Währungsreform schon in aller Munde, Kredite vom Internationalen Währungsfonds (IWF) oder
aber deren Eckdaten noch nicht konkret. Überbrückungshilfen von anderen internationalen Banken
Nun zeigen die Wechselkurse, die auf dem Schwarzmarkt oder Staaten hoffen. „Cuba ist auf sich gestellt, muss eige-
pro US-Dollar geboten werden, dass die Warnung berech- ne Potenziale wecken. Das geht vor allem über Reformen,
tigt war. Zwischen 31 und 60 Peso Nacional wurden für die neue Freiräume für ökonomische Akteure bringen“, rät
einen US-Dollar Mitte Januar verlangt und auch bezahlt. Pavel Vidal, der die rigide Sanktionspolitik der USA als wei-
Der Durchschnitt lag Mitte Januar bei 40 Peso Cubano pro teren negativen Faktor anführt.
Greenback. Doch zehn Tage später werden auch schon 70 Die Sanktionen wiegen doppelt schwer angesichts der
Peso Nacional für den US-Dollar verlangt und bezahlt. Für Einbrüche bei den klassischen Devisenbringern, dem
viele Cubaner*innen ist das dramatisch, für etliche taucht Tourismus, dem Export von Agrarprodukten und medizi-
das Gespenst der Período Especial auf, so Michel Matos. nischen Dienstleistungen. Hinzu kommt die Offensive aus
„Damals, 1993/94, standen dem Geld noch weniger Produkte Washington gegen cubanische Banken, die im Geschäft mit
gegenüber als heute. Für einen US-Dollar mussten bis zu den US-Dollar-Transfers nach Cuba aktiv sind. Erst traf es
145 Peso Nacional hingeblättert werden. Die Angst vor der- Fincimex und Western Union, seit Jahresbeginn steht auch
artigen Zuständen ist in Cuba quasi greifbar“, schildert der noch die Banco Financiero Internacional auf der Cuba
40-jährige Dokumentarfilmer die Verhältnisse in seiner Restricted List des Außenministeriums. Für Omar Everleny
Nachbarschaft. Er kann sich noch gut an diese Jahre erinnern. Pérez bricht mit der Schließung des Western-Union-Netzes
Doch es gibt Unterschiede: „Heute gibt es in Cuba Proteste ein wichtiger Kanal weg, um US-Dollar nach Cuba zu trans-
von Werftarbeitern, von Köhlern, die sich vom staatlichen ferieren. „Täglich wurden 2,4 Millionen US-Dollar über das
Arbeitgeber mies behandelt fühlen. Das ist etwas vollkommen Western-Union-Netzwerk nach Cuba transferiert. Das Geld
Neues in Cuba.“ Matos wittert mehr als nur einen wirtschaft- sucht sich nun neue Kanäle“, so der 60-jährige Ökonom
lichen Umbruch, der für cubanische Sozialwissenschaftler aus Havanna.
wie Pavel Vidal, Omar Everleny Pérez oder Ricardo Torres Doch das ist gar nicht so einfach, mitten in der Pandemie
alternativlos ist. mit reduziertem Flugverkehr. Die Sanktionen, so Pavel Vidal,
Alle drei plädieren dafür, der Währungsreform begleitende treffen vor allem die cubanische Bevölkerung, die auf die
Wirtschaftsreformen zur Seite zu stellen. Die sind zwar Mitte Finanzspritzen von Angehörigen aus dem Ausland ange-
Juli 2020 von Wirtschaftsminister Alejandro Gil angekündigt wiesen sind, um in einem durch Versorgungsengpässe ge-
worden, doch bis auf einige partielle Maßnahmen, wie die beutelten Cuba über die Runden zu kommen. Vidal, der
Legalisierung direkter Ex- und Importe durch Kleinbauern im kolumbianischen Cali lehrt, unterstützt seine Eltern in
und Genossenschaften über staatliche Exportgesellschaften Havanna mit regelmäßigen Überweisungen. Die sind der
wie etwa Fruta Selecta, ist wenig passiert. US-Administration ein Dorn im Auge, weil das Geld „durch

D as könnte sich rächen, denn das Grundproblem be-


steht darin, dass dem Peso Nacional nicht genügend Waren
die Hände des cubanischen Militärs fließt, das diese Mittel
verwendet, um das cubanische Volk zu unterdrücken und
Cubas Einmischung in Venezuela zu finanzieren“. So begrün-
gegenüberstehen. Cubas Binnenwirtschaft bringt zu weni- dete Ex-Außenminister Mike Pompeo die Maßnahme. Doch
ge Produkte hervor, weil die produktive Infrastruktur im mit der Wahl Joe Bidens, der den Bundesstaat Florida nicht
Laufe der Jahre zurückgegangen ist. Der cubanische Staat hat gewinnen konnte, stehen die Chancen relativ gut, dass die
zu wenige Investitionen getätigt, parallel dazu wurden die Zeit der rigiden Sanktionspolitik alsbald enden könnte. Das
Hürden für den kleinen Privat- und Genossenschaftssektor hofft nicht nur die cubanische Regierung, die Biden schon
nur halbherzig abgebaut. So werden Potenziale nicht ge- ein Gesprächsangebot unterbreitet hat. Auch internationale
nutzt, kritisiert Pavel Vidal: „Cuba hat im digitalen Sektor, bei Unternehmen, die sich in Cuba engagieren oder dort investie-
der Programmierung von Webseiten, von Programmen zur ren wollen, setzen darauf. Ihnen dürfte die Währungsreform
Einrichtung von Onlinemarktplätzen durchaus Potenzial.“ entgegenkommen, noch mehr allerdings ein Ende der US-
Doch die erhoffte Legalisierung weiterer Berufe für die selbst- Sanktionspolitik. n

31
ila 442
Feb. 2021
Mojito, Strand und Injektion
Neues aus dem Forschungslabor: Der cubanische Impfstoff Soberana02 weckt Hoffnungen

Etwas pathetisch klingt der Name des weit fortge- Die klinischen Tests der Phase II sind in Havanna mit ins-
schrittenen cubanischen Coronaimpfstoffs Soberana02. gesamt rund 900 Freiwilligen am 22. Dezember angelau-
Auf Deutsch: Souverän02. Vielleicht haben sich Cubas fen. Die WHO ist informiert und hat den cubanischen
Forscher*innen am russischen Beispiel von Sputnik Impfstoff bereits im November auf ihre Seite über laufen-
05 orientiert. Sicher ist jedoch, dass dieser Impfstoff de Impfstoffprojekte aufgenommen. Das Finlay-Institut hat
und weitere Präparate gegen Covid-19 in den letz- die vorklinischen Studien (Phase I) als positiv bewertet, ist
ten Monaten in Havanna entwickelt worden sind. auch mit den bisherigen klinischen Tests der Phase II zu-
Cubanische Forscher*innen sind somit auf dem besten frieden, sodass die Vorbereitungen für die Phase III bereits
Weg, Cubas Ruf als Forschungsstandort des globalen laufen. Die sollen im Februar im Iran stattfinden. Die nöti-
Südens aufzupolieren. gen Verträge für die Kooperation wurden Anfang Januar zwi-
schen den Verantwortlichen des Finlay-Instituts und ihren

W
von Knut Henkel Kollegen des Pasteur-Instituts im Iran unterzeichnet. Dort
sollen 150 000 Menschen testweise geimpft werden, was in
ir Cubaner werden Impfstoffe haben“, lautet die Cuba angesichts von landesweit bisher rund 23 000 Infizierten
Ankündigung von Dagmar García Rivera auf Twitter. Die (Stand 27. Januar) keinen Sinn ergibt. Das Infektionsrisiko
Forschungsdirektorin des Finlay-Instituts weiß, wovon sie ist schlicht nicht hoch genug, weshalb auf den Iran, wo zum
spricht, denn das Wissenschaftszentrum im Westen der cubani- selben Zeitpunkt knapp 1,4 Millionen Infizierte nachgewie-
schen Hauptstadt konzentriert sich auf die Impfstoffforschung sen wurden, ausgewichen wird.
und sorgt im Anschluss auch für dessen Herstellung. Vier Wie schnell Phase III abgeschlossen werden kann, steht zwar
Präparate gegen Covid-19 haben cubanische Forscher*innen noch nicht fest, aber in den cubanischen Forschungsinstituten
in der Pipeline. „Soberana02“ heißt der Impfstoff, der der- im Westen Havannas, die mit Produktionsanlagen ausgestat-
zeit erste positive Schlagzeilen macht. tet sind, ist die Produktion von 100 Millionen Dosen bereits

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angelaufen. „Wir organisieren unsere Produktionskapazitäten Finlay-Direktor Vicente Vérez für Mojito, Strand und Injektion
neu, weil wir wirklich eine große Nachfrage nach dem wirbt. Das mutet etwas verzweifelt an, nimmt aber auch
Impfstoff haben und uns darauf vorbereiten müssen“, so den biotechnologisch-pharmazeutischen Forschungssektor
Vicente Vérez, Direktor des Finlay-Institutes, gegenüber in der Insel in den Fokus, der zu Beginn der 1980er-Jahre ge-
Havanna akkreditierten Journalist*innen am 22. Januar 2021. puscht wurde, um Interferone zu produzieren. Das damals
Ziel sei es nicht nur, die eigene Bevölkerung im Jahr 2021 zu als Heilsbringer in der Krebstherapie geltende Präparat ha-
impfen, sondern auch interessierte Nationen wie Vietnam, ben die Cubaner*innen auch heute noch im Angebot.
Iran, Venezuela, Pakistan und Indien mit Soberana02 belie- Eines, das Interferon alpha 2b, wurde in China auch in
fern zu können, so Vérez Ende Januar. der Therapie von Covid-19-Patient*innen eingesetzt. Die
Dabei habe der cubanische Impfstoff Vorteile. Größere Neben­ Forschungsinstitute haben in den letzten drei Dekaden eine
wirkungen seien nicht aufgetreten, weil der Impfstoff nicht Reihe von Präparaten hervorgebracht, die durchaus Potenzial
das lebende Virus enthalte, sondern nur Teile davon. Zudem haben, darunter ein Hepatitis-B- und ein Meningitisimpfstoff,
müsse Soberana02 nicht extra gekühlt werden wie mehre- diverse Krebsmedikamente und Diagnosepräparate so-
re der bisher auf dem Markt verfügbaren Impfstoffe großer wie Medikamente und Therapeutika zur Versorgung von
Pharmakonzerne, ein Vorteil gerade für Länder des Südens, Brandwunden, Schuppenflechte und einiges mehr. Auch an
wo sich Kühlketten oft nur schwer aufrechterhalten lassen einem HIV-Impfstoff wurde lange gearbeitet. Allerdings ha-
und wo die cubanische pharmazeutische Forschung und perte es in der Vergangenheit oft bei der Kommerzialisierung
Industrie einen guten Ruf genießt. Cuba versteht sich tradi­ der Produkte. Kooperationen mit der Insel gelten als schwie-
tionell als medizinisch-pharmazeutischer Forschungsstandort rig, nicht zuletzt wegen des US-Embargos, das in den letzten
im Dienste des globalen Südens. So formulierte es einst auch Jahren mehrfach verschärft wurde. Die cubanische Bürokratie
die 2016 verstorbene Revolutionsikone Fidel Castro. gilt aber auch als erschwerender Faktor. Unstrittig ist jedoch,
Daran hat sich nichts Wesentliches geändert, wenn
man den Worten des Direktors des Finlay-Institutes
Glauben schenken darf. Cubas Strategie bei der
Kommerzialisierung sei eine Kombination aus
Menschlichkeit und den Auswirkungen auf die Welt­
gesundheit. „Wir sind kein multinationaler Konzern,
wo die Rendite über allem steht. Unser Ziel ist es, mehr
Gesundheit zu fördern“, so Vérez gegenüber der argen-
tinischen Tageszeitung Página 12. Klare Worte.
Auch der Repräsentant der Weltgesundheitsorganisation
in Cuba, José Moya, zeigt sich erfreut über die Fortschritte
und die Tatsache, dass Cuba den ersten Impfstoff in
Lateinamerika vorweisen könne, für die Region, die
sehr hohe Infektions- und auch Todeszahlen vermeldet,
ein Hoffnungsschimmer. Länder wie Guatemala und
Honduras haben, anders als Panama oder Brasilien,
wo Tests der Phase III stattfanden, kaum Impfstoffe der dass die Markteinführung eines Präparats kostspielig ist. Und
Pharmakonzerne zu erwarten, weil die Regierungen ent- genau das kann sich die chronisch klamme Insel schon lan-
weder nur über knappe Ressourcen verfügen oder weil die ge nicht mehr leisten.
Verantwortung gegenüber der eigenen Bevölkerung eher ru- Gleichwohl generiert das Land rund 500 Millionen US-Dollar
dimentär ausgebildet ist. an Einnahmen aus dem biotechnologisch-pharmazeutischen

M it dem Impfstoff Soberana02 sind in Cuba allerdings


auch bestimmte Hoffnungen verbunden, denn mit dem
Sektor, so der cubanische Finanzexperte Pavel Vidal. „Das
Potenzial ist da, aber die Hürden beachtlich.“ Dennoch
sieht er im Ausbildungsniveau und in der flächendecken-
Einbruch des Tourismus, den US-Sanktionen und der lau- den Präsenz von Gesundheitseinrichtungen die wichtigsten
fenden Währungsreform (siehe Artikel auf S. 30) stellt sich Gründe dafür, weshalb Covid-19 in Cuba bisher mehr oder
die ökonomische Situation des Landes als verheerend dar. minder unter Kontrolle scheint, auch wenn die Zahlen seit
Daran könnte sich mit Soberana02 sowie den drei weiteren Mitte Januar 2021 nach oben gehen.
Impfstoffen, Soberana01, Mambisa und Abdala, die sich al- Das soll sich alsbald mit den ersten Impfungen ändern, die
lesamt in Tests befinden, etwas ändern. in Cuba spätestens ab Juni 2021 durchgeführt werden sollen.
Reisen nach Cuba, um sich impfen zu lassen, sind eine neue Ziel ist es, die erste Nation mit einer komplett durchgeimpf-
Option, wie ein Telesur-Video von Ende Januar zeigt, wo ten Bevölkerung zu sein. n

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Foto: Finlay-Direktor Vicente Vérez wirbt für Impfreisen nach Cuba, um sich dort mit dem
cubanischen Impfstoff Soberana02 gegen Corona impfen zu lassen. Cuba hat mehrere
Impfstoffe entwickelt, aber kein Geld für die kostpielige Markteinführung. ila 442
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Foto: Ricardo Carvallo Teran
Falsch gezielt oder schlecht getroffen
Neue Konstellationen vor den Regionalwahlen in Bolivien

N
Nach dem klaren Wahlsieg im Oktober schien die von Peter Strack
Welt der „Bewegung zum Sozialismus“ (MAS) wieder
in Ordnung. Die Covid-19-Infektionen waren auf achdem die meisten Ministerposten mit Vertrauten
einem Tiefpunkt angekommen. Der neue Präsident des Präsidenten Arce besetzt worden waren, klagten die
Luis Arce schickte sich an, mit den Rezepten aus Organisationen aus El Alto, wieder einmal seien sie als Steig­
seiner Zeit als Evos Superminister die Wirtschaft bügelhalter der Macht missbraucht worden. Ein knappes
anzukurbeln. Die Partei hatte die Kontrolle über die Drittel der Ministerien hatten sie gefordert. Zwar hatte Arce
großen Staatsunternehmen und die Staatsorgane wie zugesagt auf die Rückkehr von Minister*innen frühe-
zurückgewonnen. Nur im Parlament hatte die MAS rer Kabinette verzichtet. Doch was mit einer „technischen“
die Zweidrittelmehrheit verloren, mit der sie die Regierung begründet wurde, erwies sich als Recycling vieler de-
Übergangsregierung vor sich hergetrieben hatte. rer, die schon unter Morales in zweiter oder dritter Reihe in den
Doch die Veränderung einiger Verfahrensregeln
Ministerien oder im Parlament Verantwortung getragen hat-
schien auszureichen, um die Opposition mit dem
ten, Vetternwirtschaft inbegriffen: Der Landwirtschaftsminister
Entzug von Kompetenzen in Schach zu halten. Die
musste schon nach wenigen Tagen seinen Hut nehmen.
Verfahren wegen sexuellen Missbrauchs an einer
Die Unzufriedenheit in der MAS entlud sich bei der Aufstellung
Minderjährigen, Straßenblockaden und Korruption
der Listen für die Kommunal- und Regionalwahlen. Die ge-
gegen Evo Morales waren von der Justiz eingestellt
plante Nominierung der Spitzenkandidaten für Santa Cruz
worden. So kehrte er aus dem Exil zurück, um sich
der zunehmend fraktionierten Partei zu widmen, fand ein jähes Ende mit dem Wurf eines blauen Plastikstuhls
außerdem den bevorstehenden Kommunalwahlen. auf Evo Morales. Der hatte sich schon einige Tage zu-
Aber hatte das Präsidialgespann, bestehend aus dem vor in Potosí stundenlang in einem Hinterzimmer vor der
Wirtschaftsexperten Arce und dem Vertreter des Wut der Basis verstecken müssen. Wegen seiner vertika-
Buen Vivir, David Choquehuanca, den Wahlkampf len Entscheidungen, wie es hieß. Der Werfer sei von der
nicht mit dem Versprechen geführt, die Politik zu Rechten eingeschleust worden, ließ Morales sofort verbrei-
erneuern und aus den Fehlern der Vergangenheit ten. Tatsächlich war es ein ehemaliger MAS-Bürgermeister.
zu lernen? So war es die eigene Basis, die der MAS Der rechtfertigte sich später damit, er habe den daneben sit-
zunächst Schwierigkeiten bereitete. zenden Carlos Romero treffen wollen. Seinen ehemaligen

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Foto: César Dockweiler bei der Vorstellung
der MAS-Kandidat*innen für La Paz
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Innenminister hatte Morales nämlich gerade als Kandidaten raschend gestorbene „Mallku“ (siehe Kasten S. 37) noch mas-
für den Gouverneursposten in Santa Cruz nominieren wol- siv für die Wahl von Arce und Choquehuanca mobilisiert,
len. Tage später wurde dann doch der Wunschkandidat der um die Rückkehr der Rechten zu verhindern, wie er sagte,
Parteibasis, der ehemalige Bürgermeister von Warnes, Mario obwohl die MAS die Bauernorganisationen bei dem Versuch
Cronenbold, gekürt. Der war bei der Parteispitze in Ungnade verraten hätte, die Übergangspräsidentin Añez zu stürzen.
gefallen. Er hatte Zweifel an einem Gerichtsverfahren ge- Wochenlang hatten Straßenblockaden und Proteste (wäh-
genüber Fernando Camacho, dem Rechtsaußen von Santa rend des Höhepunkts der Covid-Pandemie) das Land lahm-
Cruz geäußert. Er selbst habe politische Verfolgung unter gelegt. Da Vizepräsident David Choquehuanca, der wie der
der Übergangspräsidentin Añez erlebt. Dies dürfe sich nicht Mallku Quispe aus der Region am Titicacasee stammt, in
wiederholen. Bei den ersten Umfragen liegt Cronenbold nur der neuen Regierung marginalisiert ist, bot sich Quispe als
wenig hinter Camacho. Alternative an. Mehr als einmal forderte der Mallku, dass
Nicht verziehen wurde dafür Eva Copa ihre vermittelnde Rolle die ausgebeuteten und diskriminierten Aymara die weißen
als Senatspräsidentin nach dem Rücktritt von Evo Morales Unterdrücker*innen aus dem Land werfen und sich selbst
Ende 2019. Damals war die junge Sozialarbeiterin maßgeb- regieren müssen. Allerdings vertrat auch der Exguerillero,
lich daran beteiligt, ein größeres Blutvergießen zu verhindern. der schon im „Gaskrieg“ 2003 seinem Konkurrenten Evo
Unter Anleitung der MAS-Strategen war ein Teil der Basis un- Morales den Weg zur Macht geebnet hatte, eher traditionelle
ter dem Motto „Jetzt aber Bürgerkrieg“ für eine Rückkehr von Entwicklungskonzepte als die Idee vom Buen Vivir.
Morales auf die Straßen gegangen. Schon bei den nationa-
len Wahlen hatte Copa keinen Listenplatz der MAS bekom-
men. Und obwohl die meisten Basisorganisationen sie nun
S o ist die politische Landschaft zwar polarisiert, aber kei-
neswegs so, wie es die Regierung und die MAS gerne darstel-
als Kandidatin für das Bürgermeisteramt vorzogen, wurde ihr len, dass nämlich sie es seien, die die sozialen Organisationen
ein vergleichsweise unbekannter Stadtrat vorgezogen. Der hat- repräsentieren und die Macht nun wieder aus den Händen
te das Amt schon einmal fünf Monate übergangsweise beklei- einer autoritären Rechten zurückgewonnen hätten.
det, als Edgar Patana für eine erneute Kandidatur zurückge- Je länger Arce an der Regierung ist, desto schwieriger wird es, al-
treten war. Evo Morales hatte damals auf der Kandidatur des le aktuellen Probleme der Übergangsregierung von Añez in die
korrupten Patana bestanden und damit den Weg für Soledad Schuhe zu schieben. Den Löwenanteil der Staatsverschuldung
Chapetón von der rechtssozialdemokratischen Unidad etwa hatte Arce selbst noch als Wirtschaftsminister aufgenom-
Nacional als Bürgermeisterin geebnet. men. Eine der ersten Entscheidungen des neuen Parlaments
Nun kandidiert Eva Copa mit 66 Prozent der Wählergunst war, die noch von der Übergangsregierung für 2021 geplan-
bei der ersten Umfrage auf der Liste „Jallalla“ des indigenen te („unverantwortlich hohe“, so Arce beim Amtsantritt)
Felipe Quispe. Bei den Nationalwahlen hatte der nun über- Neuverschuldung von anderthalb Milliarden US-Dollar gleich
noch einmal
um eine wei-
tere Milliarde
zu erhöhen, um
die Wirtschaft
anzukurbeln,
und um die
laut Arce von
der Übergangs­
regierung
„herunter­
gewirt­schaf­
teten“ Staats­
betriebe zu
subventionie-
ren. Dass das
Verbot von Flü­
gen im stren-
gen Lockdown
die Wirtschaft­
lichkeit einer
Fluggesellschaft

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Foto: Proteste von Transportsektor und Kleinbetrieben
für die Stundung der Kredite
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einschränkt, das Argument ließ Arce im Wahlkampf noch te die frühere Gesundheitsministerin mit Dokumenten wi-
nicht gelten. derlegen. Und selbst Evo Morales, der noch vor Kurzem de-
Wie schwierig die wirtschaftliche Belebung unter Pandemie­ monstrativ einen Sitznachbarn auf dem Podium aufgefor-
bedingungen ist, zeigen auch die jüngsten Proteste der dert hatte, den Mundschutz abzulegen, spricht sich jetzt für
Taxifahrer*innen und Transportunternehmen. Gegenüber Mundschutz und gegen Massenveranstaltungen aus. Für ihn
der Übergangs­regierung hatte das Parlament ein Moratorium selbst zu spät: Zwei Wochen lag er mit Covid-19 in einer
für die Rückzahlung von Schulden durchgesetzt. Wegen wei- Privatklinik. Mit Massenveranstaltungen und -protesten hatte
terhin geringer Einnahmen erreichte der Transportsektor die MAS im vergangenen Jahr immer wieder die Bemühungen
nun eine Verlängerung. Die Banken sind verpflichtet, die der Übergangsregierung konterkariert, die Pandemie in den
Schulden- und Zinszahlungen um weitere sechs Monate Griff zu bekommen und die wirtschaftlichen Schäden einzu-
hinauszuschieben. Aber so steht auch weniger Geld für grenzen. Dieses Problem jedenfalls hat Präsident Arce nicht
neue Kredite zur Verfügung. Unbürokratische günsti- mehr. Er solle zu jammern aufhören und zu regieren begin-
ge Kleinkredite gehören nun zu den Versprechen im nen, ätzte Ex-Übergangspräsidentin Jeanine Añez auf Twitter.
Kommunalwahlkampf. Die Schwächung des formellen Sie liegt bei den Umfragen für den Gouverneursposten in ih-
Sektors und des Sozialversicherungssystems dienen wohl rer Heimatregion Beni zwar deutlich an zweiter Stelle, aber
auch nicht der von Arce geforderten „Entneoliberalisierung“ noch vor dem MAS-Kandidaten.
der Wirtschaft, gut 250 000 Personen sollen die Möglichkeit
bekommen, bis zu 15 Prozent ihrer Einlagen aus dem
Rentenfonds abzuziehen, um den Konsum anzukurbeln.
A ndere alte Bekannte auf den Listen sind kein Signal für
Erneuerung. Etwa der ehemalige Präfekt und Bürgermeister
Die wirtschaftliche Wiederbelebung steht auch im Vorder­ von Cochabamba, Manfred Reyes Villa, der die Wahlumfragen
grund der nationalen Corona-Politik. Die Zahl der der- für das Bürgermeisteramt mit 39 Prozent anführt. Seinen
zeit täglich um die 2000 Neuinfektionen ist doppelt so Wohnsitz hatte er aus dem Exil, in das er sich wegen Kor­
schnell gestiegen wie im vergangenen Jahr. Damals gab ruptionsprozessen zurückgezogen hatte, erst jüngst wieder
es strenge Ausgangsbeschränkungen. Der Präsident er- nach Cochabamba verlegt. Deshalb dürfte er eigentlich gar
klärt das damit, dass heute mehr getestet werde. Das nicht kandidieren. Das gilt wohl auch für den MAS-Kandidaten
Gesundheitspersonal in den überforderten Krankenhäusern César Dockweiler in La Paz. Bei den Unruhen 2019 waren
sähe lieber mehr Beschränkungen, auch angesichts der hohen unter seiner Verantwortung Freifahrtscheine der staatlichen
Sterblichkeit unter den behandelnden Ärzt*innen. Manche Seilbahn an Demonstranten verteilt worden. Einige von ihnen
Kommunalregierungen kommen dem teilweise nach. Aller­ hatten nicht nur 60 Fahrzeuge der städtischen Busgesellschaft
dings verkündete der Innenminister, die Polizei werde für die abgefackelt, sondern auch das Haus des Menschenrechtlers
Kontrolle der unbeliebten Schutzmaßnahmen nicht mehr zur Waldo Albarracín. Der ehemalige Universitätspräsident
Verfügung stehen. Die Zahl der Corona-Toten ist nach zwei und Ombudsmann liegt in den Umfragen derzeit an dritter
Monaten unter Arce bereits wieder halb so hoch wie nach Stelle um das Bürgermeisteramt von La Paz, hinter dem mit
vier Monaten in der ersten Welle. Nachdem die Regierung 27 Prozent führenden César Dockweiler von der MAS und
die bestehende Beratungs- und Monitoringhomepage zu- dem Übergangsminister für öffentliche Bauten, Iván Arias.
nächst hatte ruhen lassen, wird sie nun wieder neu aufgelegt. Schließlich hat der oberste Gerichtshof dem Wahlgerichtshof
Beim Schulbetrieb soll wenigstens differenziert werden. In den untersagt, die in der Verfassung verankerte Beschränkung
ländlichen, wenig von Covid-19 betroffenen Regionen soll der Kandidatur auf Kandidaten wie Dockweiler oder Reyes
Präsenzunterricht stattfinden, in den Städten dagegen vorerst Villa anzuwenden, bevor das Verfassungsgericht über ei-
nur Online-Unterricht. Immerhin hatten die Lehrpersonen das ne diesbezügliche Beschwerde entschieden habe. Vor den
letzte Jahr Zeit und bekamen Fortbildungsangebote, um auf Nationalwahlen im Oktober hatte der Verfassungsgerichtshof
digitalen Unterricht umzustellen. Die neue Regierung hat auch bereits auf Zeit gespielt, als es um vermeintliche Wahlvergehen
das Mantra der Weltgesundheitsorganisation (WHO) erwei- und einen möglichen Ausschluss der MAS ging. Bis heute gibt
tert, nach der nur Händewaschen, Abstand und Mundschutz es keine Entscheidung darüber.
gegen die Verbreitung des Virus hilft: Nun wird auch die Ob aufgrund von Gerichtsentscheidungen, von innerparteili-
Ernährung thematisiert oder die Nutzung von Heilpflanzen chem Zwist oder von Covid-19, das einigen Kandidat*innen
und traditioneller Medizin propagiert, um die Abwehrkräfte schon das Leben genommen hat, bis zu den Regionalwahlen
und auch die psychische Gesundheit zu verbessern sowie Anfang März wird es bestimmt noch einige Überraschungen
auftretende Symptome zu mildern. Der Einsatz antiviraler geben. Und obwohl die Oppositionsparteien wenig gelernt zu
Medikamente wird ebenfalls gefördert. Eine weitere Hoffnung haben scheinen, ist nicht gesagt, dass die MAS genauso viele
liegt, nun wieder in Übereinstimmung mit der WHO, auf oder genau jene Landkreise und Städte wieder gewinnen wird
baldigen Massenimpfungen. Dass die Übergangsregierung wie noch bei den Nationalwahlen im Oktober. Sie wird auch
nichts dafür getan habe, wie Arce gern behauptet, konn- an der Einhaltung ihrer Versprechen gemessen werden. n

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Der „Mallku“ ist tot
Abschied von Achachila Felipe Quispe Huanca (1942 -2021)

Fotos: Ricardo Carvalho Terán (gross), Abya Yala Digital


„Der Mallku ist nicht tot, er lebt am Firmament der Vorfahren. Er wird millio-
nenfach zurückkehren, wie all die, die nie gestorben sind.” (R. Bautista)

I
ch heiße Juan Carlos Nina Bautista (Archi) und bin ner Kultur zu leben. Es ist Zeit, sagtest du, dass die indige-
ein Kolla-Aymara der Andenregion. Ich lebe in einem ne Bevölkerungsmehrheit dieses Land wieder selbst regiert.
Viertel der Stadt El Alto in Bolivien und bin interkultu- Der Volksmund sagt, dass seit Beginn der Kolonialzeit alle
reller Erzieher in der Jugendorganisation Inti Watana. Von 100 Jahre ein indigener Anführer den Kampf der Indigenen
hier aus, mein Jach‘ajila (großer Bruder) Felipe Quispe, er- um ihr Land erneut aufnimmt. Wir erinnern uns an die
weisen wir dir Ehre. In den Jahren 2000 und 2001 haben wir Kämpfe von Tupak Katari 1781 gegen die Ausbeutung der
das erste Mal von dir gehört. Du hast damals die Proteste Indigenen. Im Jahr 1899 führte Pablo Zárate Willka die in-
der indigenen Organisationen in den größten Städten des digene Bewegung an. Und rund um das Jahr 2000 wurden
Landes angeführt. Die Blockade der Stadt La Paz erinner- die Forderungen der Indigenen von dir artikuliert. In den
te uns an die Blockade unter Tupac Katari im Jahr 1781, als harten neoliberalen Zeiten hast du dich an die Spitze der
es um die Rückgewinnung der indigenen Territorien ging. Generation Indigener gesetzt, die unter dem freien Markt lit-
Im Jahr 2000 nannten sie dich Mallku (Kondor) wegen dei- ten. In unserem Land sind seit 1535 die Armen fast immer
nem mutigen und kämpferischen Auftreten als Anführer auch die Indigenen, die den politisch, wirtschaftlich und so-
der CSUTCB, des Dachverbandes der Kleinbäuerinnen und zial Mächtigen dienen. Du hast das Problem wieder an das
Kleinbauern Boliviens. Licht der Öffentlichkeit gebracht. Als eine Journalistin dich
Selten haben wir eine Jaqi (Person) erlebt, die sich so radi- fragte, warum, hast du geantwortet: „Damit meine Tochter
kal und so klar für die Indios eingesetzt hat, wie die Spanier nicht deine Hausangestellte wird.“ Schließlich schien es nor-
uns nannten. Wegen deiner klaren Gedanken bekamst du mal, dass Menschen mit indigenen Zügen dafür geboren wa-
viel Zuspruch und ebenfalls Ablehnung. Sie halfen uns, die ren, um den Mestizen und Kreolen zu dienen. Du hast uns
Ungerechtigkeit zu erkennen, in der wir uns unbewusst ein- daran erinnert, dass der Kampf gegen Diskriminierung und
gerichtet hatten. „Wir leben wie zur Miete in unserem eige- Rassismus nicht beendet war und wir uns befreien mussten.
nen Land”, hast du gesagt. Denn die Eliten, die sich hier ein- Ich vergaß zu erwähnen, dass ich Familienvater bin und
genistet hatten, glaubten, allein das Recht zu haben, unser wie so viele andere städtische Indios nicht will, dass unsere
Land zu regieren und von seinen Früchten und selbst sei- Töchter zu Hausangestellten, zu technischen oder gar pro-

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fessionellen Dienerinnen der herrschenden Klassen
dieses Landes werden. Wenn sie etwas dienen sollen,
dann dem Leben, der Pachamama (Mutter Erde), und
Blue Space – so werden in rechts-libertären Kreisen
zwar kollektiv im Rahmen ihres Ayllu (Familie und
politisch unbeanspruchte Räume bezeichnet. In
Gemeinschaft).
der Theorie sind es Räume auf dem Meer, prak-
20 Jahre sind seit der Blockade von La Paz vergangen. tisch aber Gebiete ohne jegliche politische und
Viel hat sich in unserem Land verändert. Du, Jach‘ajila, kulturelle Bindung an einen Staat, also Territorien,
hast einen wichtigen Beitrag zum Plurinationalen Staat auf denen Privatstädte errichtet werden können.
geleistet, in dem wir heute leben. Wir wissen, dass du Eine solche Stadt, die in Honduras „Sonderzone
für die Befreiung der Indios fünf Jahre im Gefängnis für Beschäftigung und ökonomische Entwicklung“
gesessen und mit dem Studium der Geschichte begon- (ZEDE – Zona de empleo y desarrollo económico)
nen hast. Du wurdest zu einem wichtigen Sprecher der genannt wird, entsteht aktuell auf der zu Honduras
Indios. Auch deine Beiträge als Parlamentsabgeordneter gehörenden Karibikinsel Roatán. Darüber, wie diese
sind nicht vergessen. Viele mochten dich nicht, wegen Stadt funktionieren soll, wer die zentralen Akteure
deiner Respektlosigkeit, deiner Wortgewalt, mit der du sind und welche Theorien dahinterstecken, haben
die Rechte der Ureinwohner*innen über ihr Land ein- Kirstin Büttner und Rita Trautmann mit der US-
gefordert, deren Armut angeklagt und das fortbeste- amerikanischen Anthropologin Beth Geglia und der
hende kolonialisierte Bewusstsein offengelegt hast. „In honduranischen Juristin Andrea Nuila gesprochen.
Bolivien gibt es zwei Bolivien, das der K’aras und das
der T’aras”, sagtest du. Und dass das erste Bolivien mit
seinen rassistischen Regierenden das andere Bolivien,
das der „geheimen” Nationen der Aymaras, Quechuas
etc. betrog. Für uns alle wurde klar, wer die Unterdrücker
und wer die Unterdrückten waren.
Danke Mallku, für dein Engagement, deine Beständigkeit,
deinen Mut, deine Worte, deinen rebellischen Charakter
und dein Verantwortungsbewusstsein. Danke, dass du
uns aufgeweckt hast aus unserem Schlaf. Und dafür,
dass unsere Völker wieder respektiert werden. Danke
für 78 Jahre Leben an der Seite der Mutter Erde und für
deinen Beitrag zu den historischen Kämpfen der indi-
genen Völker. Danke, Großvater Mallku, bis bald, und
habe einen guten Weg in die Berge. Von jetzt an wirst
B eth, kannst du uns die Idee hinter den ZEDES
erläutern?
BG: Charter Cities oder ZEDEs sind Teil einer territoria-
du in unseren Herzen leben und wirst die Ajayu (Seele) len Ideologie, die von verschiedenen Gruppen vertreten
der Menschen bei all ihren Kämpfen für eine gerechte- wird, die sich zunehmend in einer Bewegung zur Bildung
re Welt sein. Eine menschlichere Welt in Harmonie mit von Privatstädten auf der ganzen Welt organisieren. Diese
der Mutter Erde und den Vorfahren. Die mögliche an- Bewegung wurzelt sowohl in der marktradikalen Ideologie
dere Welt, in der viele Welten Platz haben, nur keine als auch im Techfuturismus. Die Bewegung für private Städte
Diskriminierung, kein Rassismus und keine Herrschaft wird von deren Promotor*innen als Ideologie der „radikalen
der einen über die anderen. Dezentralisierung“ bezeichnet. Meines Erachtens verschlei-
Wie die Kondore gehst du in die Berge, wirst ein ert der Begriff das Konzept. Ich bevorzuge den Begriff der
„Achachila” (großväterliche Gottheit der Berge), einer territorialen Flexibilisierung. Zusammen mit den Prozessen
mehr unserer Vorfahren, wie es der Vizepräsident des der Flexibilisierung von Arbeit nützt beides dem Kapital, die
Plurinationalen Staates Bolivien, David Choquehuanca, Zwänge der neoliberalen Ära zu überwinden.
gesagt hat: „Unser Bruder Mallku stirbt nicht, er geht
in die Ewigkeit, zurück zur Mutter Erde, um weiter Saat Was ist mit territorialer Flexibilisierung gemeint?
zu sein, um den Kampf unserer Völker zu nähren und BG: Das Monopol, das Nationalstaaten im Hinblick auf die
ihm zu leuchten.“ Souveränität haben, steht einem Governancemarkt mit kon-
Jallalla (Es lebe das Leben) Felipe Quispe. kurrierenden privaten Rechtsprechungen im Weg. Durch ter-
Jallalla!!! Großvater Achachila Mallku. ritoriale Flexibilisierung werden sowohl Territorium als auch
Regierungsführung den Marktkräften unterworfen, indem die
Juan Carlos Nina Bautista, Souveränität und das Territorium vom Nationalstaat entkop-
El Alto, Bolivien, 22. Januar 2021 pelt werden. Praktisch geht es um eine Wettbewerbsfähigkeit

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Roatán –
ein neuer
Blue Space?
Wie eine Privatstadt in
Honduras entsteht

Foto: Harald Ebeling, Jean-Paul Kneib


von Regierungen; Demokratien sind hierbei störend und wer- Der Grundgedanke dahinter ist, dass es Land ohne kulturel-
den letztendlich abgeschafft. le und politische Bindungen gibt. Geprägt hat diesen Begriff
Governance (Regierungsführung) wird zu einer Dienstleistung, das Seasteading Institute. Außerdem gibt es ein zunehmend
die von einem privaten Unternehmen erbracht wird, die organisiertes Netzwerk von Gruppen und Institutionen, die
Staats­­bürgerschaft ist direkt mit dem Besitz von Eigentum an dieser Idee arbeiten. Zu nennen wären Peter Thiel, pro-
verbunden. Weitere Bestandteile dieser Privatstadtideologie minenter Techkapitalist aus dem Silicon Valley, und Patri
sind Technikutopismus und Futurismus. Die radikalste Friedman, Enkel von Milton Friedman, der so etwas wie der
Erweiterung dieser Logik zielt auf die Verwirklichung von Großvater der Ideologie der freien Marktwirtschaft ist. Beide
„Governance ohne Geographie“ ab. Diese Idee geht davon aus, haben 2008 das Seasteading Institute gegründet.
dass Technologie Regierungen ersetzen kann. Eine Zukunft, Paul Romer stellte 2009 seinen Charter-City-Vorschlag öffent-
in der das Territorium obsolet wird lich vor. Zwei Jahre später, 2011, fand die „Zukunft der freien
und die Gerichts­barkeiten nur noch Städte“-Versammlung auf Roatán statt. Im Jahr 2015 wurde
virtuell existieren. All dies wird mit dann die „Startup Society Foundation“ mit Patri Friedman
der ZEDE Próspera in Honduras im Vorstand gegründet, die die Akteure der Bewegung vereint.
mit einem e-residency-Programm Das erste „Startup Society Summit“ 2017 in San Francisco gilt
Foto: privat

realisiert, das von der Technischen als die erste „Private-Stadt-Messe“ überhaupt.
Universität München (TUM) ent- Der Ort, an dem sie alle zusammenkommen, ist das CAMP
Beth Geglia wickelt wird. in Honduras, das „Komitee zur Anwendung guter Praktiken“
(Comité para la Adopción de Mejores Prácticas). Die hon-
Was verbirgt sich hinter Blue Space? duranischen Eliten hängen allerdings meines Erachtens nicht
BG: In der Theorie der Privatstädte steht die Bezeichnung Blue unbedingt der Blue-Space-Ideologie an. Ihr Interesse an den
Space für einen Raum auf dem Ozean. Es kann aber auch ein ZEDEs basiert eher auf einer Art klassischem Race-to-the-
City-Venture-Projekt sein, wie das in Honduras der Fall ist. Bottom-Neoliberalismus und der Suche nach Investitionen.

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Dazu kommen narco-territoriale Interessen, die möglicher- Die ZEDE-Regierungen haben sogar die Möglichkeit, völlig
weise die honduranische Führung dahingehend beeinflus- unabhängig von der honduranischen Regierung Verträge mit
sen, dieses territoriale Modell zu verfolgen. privaten Unternehmen abzuschließen.

Was genau ist das CAMP? Andrea, kannst du am Beispiel „Próspera“ erklären,
BG: Das CAMP ist so etwas wie der Vorstand aller ZEDEs im wie es rein rechtlich möglich ist, eine solche ZEDE auf
Land, aber es ist auch ein Gremium, das die ZEDEs interna- honduranischem Staatsgebiet aufzubauen?
tional bewirbt und Investor*innen sucht. Es wurde 2014 ge- AN: Die Form dieser Para-State-Entity wird in Honduras
gründet und hat 21 Mitglieder, die unter anderem weltweit über das ZEDE-Gesetz etabliert. Vorweg möchte ich erwäh-
führende neoliberale Institutionen wie das Cato Institute und nen, dass die Charter-Cities in Honduras zwar legal in dem
das Hayek Institute repräsentieren. Die Hauptaufgaben des Sinne sind, dass sie ihren eigenen rechtlichen Rahmen ha-
CAMP sind die Genehmigung von ZEDE-Vorschlägen von ben, ihre Legitimität jedoch höchst fragwürdig ist. Durch
Investorengruppen sowie die Genehmigung des technischen den Staatsstreich von 2009 gab es einen Übergang zu einer
Sekretärs, des obersten Verwalters einer ZEDE. Wichtig ist, national-konservativ dominierten Regierung, die sowohl
dass das CAMP die ZEDEs auch ohne die Zustimmung des über den Kongress als auch die Exekutive die Macht hat.
Kongresses in „Gebieten mit geringer Bevölkerungsdichte“ in Im Jahr 2011wurde das Gesetz über die sogenannten spe-
den honduranischen Departements genehmigen kann, die an ziellen Entwicklungsregionen (RED) verabschiedet. Als der
den Pazifischen Ozean und den Golf von Fonseca im Süden Oberste Gerichtshof einer Verfassungsklage dagegen statt-
grenzen. Im Inland ist die Zustimmung des Kongresses er- gab, folgte ein institutioneller Putsch. Vier der fünf Richter
forderlich, bei hoher Bevölkerungsdichte ist auch eine Art der Verfassungskammer des Obersten Gerichtshofs, die den
Volksabstimmung vorgesehen. Klagen stattgegeben hatten, wurden entlassen. Damit hatte
die Nationale Partei auch die Judikative unter Kontrolle. Im
Wie sieht diese Struktur konkret bei der ZEDE Próspera Jahr 2013 wurde das Gesetz dann verabschiedet und ZEDEs
auf Roatán aus? genannt, Sonderzonen für Beschäftigung und Entwicklung
AN: Die Struktur der Leitung (siehe auch Artikel in der ila 402, S. 36). Schließlich wur-
von Próspera spiegelt ganz de 2020 bekannt, dass in Roatán die ZEDE Próspera ge-
gut wider, wie speziell die gründet wird. Erst vor zwei Monaten bekamen wir den ers-
Beziehung zwischen dem ten Entwurf der Charta für diese ZEDE zu sehen, der schon
CAMP und dem Kuratorium, 2017 in der honduranischen Botschaft in Washington unter-
Foto: Martín Cálix

dem Leitungsgremium der zeichnet worden war.


ZEDE, in Próspera funkti-
Andrea Nuila
oniert. Es spiegelt auch die Wie konnte alles so lange geheim gehalten werden?
reale Macht wider, die der AN: Zum einen herrschte aufgrund der Wiederwahl des ak-
technische Sekretär hat, der in diesem Fall so etwas wie der tuellen Präsidenten viel Unruhe in Honduras. Zum an-
Präsident der ZEDE ist. deren müssen wir bedenken, dass 2013, zeitgleich mit
BG: Der technische Sekretär der ZEDE Próspera ist Tristan der Verabschiedung des ZEDE-Gesetzes, mehrere ande-
Monterroso, gebürtig aus Roatán. Der Sekretär des Kuratoriums re Gesetze durch den Kongress gingen, die den rechtlichen
ist der Venezolaner Erick Brimen. Er ist US-Staatsbürger und Rahmen ergänzten. Eines davon war ein spezielles Gesetz
CEO von NeWay Capital, der primären Investmentfirma von zur Geheimhaltung von Dokumenten, die sich auf „nati-
Próspera. Innerhalb von NeWay findet man Leute wie Tom onale Verteidigung und Sicherheit“ beziehen. Das war ei-
Murcott, ein bedeutender Immobilienentwickler rund um ne Art Schutzschild, der sehr gut funktionierte, um die
die Welt, etwa in Songdo in Südkorea. Im Beirat sitzt Gabriel Verhandlungen und alles zu vertuschen, was um die ZEDEs
Delgado, ein Tech- und Finanzunternehmer im Bereich di- herum passierte. Es gab also eine Menge Spekulationen um
gitale Währungen. Der deutsche Titus Gebel, der in frühe- die Verhandlungen und die zukünftigen Projekte, aber kei-
ren Dokumenten als Mitglied des Kuratoriums erscheint, ist nerlei Informationen wurden veröffentlicht, nicht einmal
derzeit CEO der Beraterfirma Tipolis, die an der Entwicklung in den Medien.
neuer privater Gerichtsbarkeiten arbeitet.
Die Próspera ZEDE hat eine ähnliche Logik wie eine öffent- Ist die Próspera-Charta so etwas wie eine Verfassung?
lich-private Partnerschaft (PPP), geht aber über den rechtlichen AN: Ja, sie legt die Regierungsstruktur fest, die Treuhandfonds,
Rahmen hinaus. Sowohl öffentlich-private Partnerschaften die Besteuerung, die Streitbeilegung, die zwischen dem
als auch ZEDEs bieten eine Möglichkeit, staatliche Aufgaben Schiedsgericht und dem ZEDE-Gericht aufgeteilt ist. Die
an private Akteure auszulagern, mit dem Unterschied, dass ZEDE hat eigene Sicherheitsregelungen, Aufenthaltsrechte
die ZEDE nicht den honduranischen Gesetzen folgen muss. und ein eigenes Strafrechtssystem, aber aktuell keinerlei sozi-

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Dokumentation eines Seminars zum Thema:
https://www.oeku-buero.de/charter-cities-zede/articles/
ila 442
buko-seminar-charter-cities-zede-honduras.html
Feb. 2021
Foto: OFRANEH
ale Rechte. Die sogenannten Bill of Rights bilden den ZEDE- Enteignung wird eine Entschädigung garantiert, die in einen
eigenen Rechtsrahmen. Das Recht auf Einführung einer eige- Treuhandfonds fließt. Dann wird per Gericht entschieden,
nen Währung und eine eigene Geldpolitik öffnet die Tür zu wem die Entschädigung zusteht. Welches Gericht zuständig
den Blockchain- und Kryptowährungen. Die Geltungsbereiche ist, ist nicht festgelegt, ebenso wie viele undefinierte Dinge
des normativen Rahmens jenseits der Charta beinhalten rund um das Enteignungsthema.
Arbeitsrecht und Zivilgesetzbücher. Außerdem sind eine Reihe
von Regelungen für Bürger*innen etabliert, die physische oder Können auch indigene Gemeinden wie die der Garífuna
elektronische Bürger*innen sein können. Sie müssen eine enteignet werden? Ist das überhaupt mit internationa-
Vereinbarung über die Koexistenz unterschreiben, was stark lem Recht vereinbar?
an die Idee von Titus Gebel anknüpft, einen sozialen Vertrag AN: Ist das möglich? Ja! Ist es legal? Nein! Es gibt internatio­
zwischen Staat und „Kunden“ abzuschließen. nales Recht, das die indigenen Völker, deren Landtitel und
Über das ZEDE-Gesetz wird die Entwicklung und Erweiterung Landbesitz an diesen Orten schützt, vor allem an der Küste.
einer ZEDE zum „öffentlichen Interesse“ deklariert. Die Aber es geht nicht nach internationalem Recht, deshalb den-
ZEDE-Entwicklung wird also bereits als etwas definiert, ke ich, ist es im nationalen Rechtsrahmen um die Próspera
das eine Enteignung auslösen kann. Obwohl die hondura- absichtlich sehr vage beschrieben. Erst vor ein paar Monaten
nische Regierung erklärt, dass sie in diesem Prozess kei- hat das CAMP ein neues Memo zum Thema Zwangsräumung
ne Enteignungen durchführen wird, gibt es keine rechtli- herausgegeben. Es besagt, dass Próspera oder mit ihr verbun-
che Garantie dafür, dass sie es nicht tun wird. Schließlich dene Konzerne kein Recht hätten, Menschen zu vertreiben.
besagt das ZEDE-Gesetz, dass der Staat eine Enteignung Sie können also niemanden zwangsräumen. Zur Räumung
im Auftrag der ZEDEs durchführen kann. Somit bleibt un- ist nur der Staat berechtigt. Das bedeutet meines Erachtens
klar, wie und durch wen die Enteignung tatsächlich durch- nicht, dass diese Räumung nicht möglich ist, sondern nur,
geführt wird. Damit wird ganz klar ein Landnahmesystem dass die Behörden von Próspera die Unterstützung des hon-
unterstützt. Wenn es zu einem Landkonflikt kommt, und duranischen Staates anfordern können, um die lokalen
es gibt eine Menge umstrittenes oder mit mehreren Titeln Gemeinden zu vertreiben. Die Angst der lokalen Gemeinden
belegtes Land in Honduras, wird enteignet. Im Falle einer ist also berechtigt. n

41
ila 442
Feb. 2021
„Brasilien ist kaputt. Ich kann
nichts machen“
Präsident Bolsonaros Aussage vom 5. Januar 2021 ist die bittere Wahrheit

Foto: Prawny, Pixabay


Quebrado (kaputt) – das bringt es auf den Punkt. die Schwere der Pandemie ständig negieren (Bolsonaro: es
Aber nicht nur das Land ist kaputt, sondern auch sei- sei nur eine „gripezinha“, eine kleine Grippe), ein zusätzli-
ne unfähige und in mehrerlei Hinsicht gefährliche und ches Risiko darstellen und noch mehr Schaden anrichten.
menschenfeindliche Regierung. Vier Aspekte nimmt Dazu gehört auch der „Impfkrieg“. Seit Monaten macht sich
unser Autor genauer unter die Lupe: den Impfkrieg, der brasilianische Präsident, häufig in Begleitung seines
die Außenpolitik, das Nothilfeprogramm und die Gesundheitsministers Pazzuelo (ein General aus dem akti-
Ergebnisse der Kommunalwahlen im November. ven Dienst), über die Bemühungen um die Impfungen lus-
tig: „Ich werde sie nicht nehmen, Schluss und aus!“ Oder:

E
von Luiz Ramalho „Vielleicht verwandle ich mich in ein Krokodil, wenn ich
den Impfstoff nehme.“ Das alles in einem offen geführten
rstickungstod und Impfkrieg: Die Pandemie ist end- „Krieg“ gegen den Gouverneur Doria von São Paulo, der da-
gültig außer Kontrolle geraten. Die Bilder sind schrecklich rin kulminierte, dass Doria (sowie anderen Gouverneuren)
und apokalyptisch. In der Amazonas-Metropole Manaus verboten wurde, selber Impfstoffe zu besorgen. Doria setzte
grassiert eine zweite heftige Welle der Coronapandemie sich jedoch darüber hinweg und triumphierte: Am 19. Januar
mit neuen Mutationen. Im März 2020 gingen die Bilder 2021 wurde eine Krankenschwester in São Paulo als erster
von den Massengräbern aus Manaus um die Welt. Die jet- Mensch in Brasilien geimpft.
zige Situation ist allerdings noch schrecklicher: Wegen Zum Hintergrund: Im Mai 2020 lehnte es die brasilianische
Fehlplanung der brasilianischen Zentralregierung und der Regierung ab, Teil der Covax-Initiative zu werden, der interna-
Regierung des Bundesstaates Amazonas gingen plötzlich die tionalen Impfallianz. Nach den Regelwerken der Covax hätte
Sauerstoffvorräte aus. Die Folge: Binnen weniger Stunden sind Brasilien heute Zugang zu 200 Millionen Impfdosen. Auch
in den Intensivstationen des Bundesstaates bisher 50 Covid- auf das Angebot von Pfizer/Biontech vom August 2020 für 70
Patient*innen erstickt, Frühgeborene wurden rasch in andere Millionen Impfdosen wurde nicht eingegangen. Ebenso stopp-
Bundesstaaten evakuiert. Erstickende Menschen, verzweifelte te Bolsonaro eine Initiative des Gesundheitsministeriums,
Angehörige an den verschlossenen Türen der Krankenhäuser. 46 Millionen Impfdosen des chinesischen Unternehmens
Die Live-Bilder im Fernsehen schockieren die brasilianische Coronavac zu beschaffen. Kurzum: Brasilien gelang bisher
Öffentlichkeit. Anhand der Pandemiebekämpfung zeigt sich, lediglich der Kauf von 6 Millionen Vakzinen (das reicht für
dass rechtsextreme und rechtspopulistische Regierungen, die 1,4 Prozent der Bevölkerung) und ist nun unter anderem

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ila 442
Feb. 2021
von der Gnade der chinesischen Regierung abhängig, um an Euro) monatlich. Vom Umfang und der Teilnehmer*innenzahl
größere Lieferungen zu gelangen. Und diese Regierung wird her war dies somit weit größer als das klassische Einkommens­
seit Monaten vom brasilianischen Außenminister und von transferprogramm Bolsa Família aus der Zeit des Präsidenten
Bolsonaro selbst beschimpft. Lula. Dieses neue Transferprogramm wurde im Parlament
Zu den Irrationalitäten gehört auch die Entdeckung des gegen den Willen des ultraliberalen Wirtschaftsministers
„Covi­dismus“. Den hat der brasilianische Außenminister Paulo Guedes beschlossen. Sein Vorschlag sah einen gerin-
Ernesto Araújo als eine neue Erfindung des Kommunismus geren Betrag und eine kürzere Laufzeit vor. Das letztend-
entlarvt, um die westlichen Gesellschaften zu destabilisieren. lich bewilligte Programm hat die Lebensverhältnisse der ar-
Das Ministerium des Generals, der den Gesundheitsminister men Bevölkerung in der Pandemie wirkungsvoll stabilisiert.
spielt (ein Logistikspezialist der Armee!), hat es versäumt, Ab dem 1. Januar 2021 wurde dieses Programm nun ersatz-
genug Spritzen für Massenimpfungen zu bestellen. Und das los gestrichen, ohne dass sich grundsätzlich etwas an der
in einem Land, das über international anerkannte Strukturen Notsituation der Armen geändert hätte. Im Gegenteil: Die
und Erfahrungen für landesweite Massenimpfungen verfügt! Pandemie wütet weiter, Arbeitslosigkeit, Obdachlosigkeit
Inzwischen sind über 200 000 Brasilianer*innen an Covid-19 und Prekarisierung steigen.
gestorben, die Infektionszahlen steigen. Des Weiteren typisch Während die Deindustrialisierung des Landes fortschrei-
für Brasilien: Privatkliniken machen sich bereit, Impfdosen tet (gerade hat Ford nach über 100 Jahren den Rückzug aus
zu besorgen, sodass sich in diesem Chaos zumindest die Brasilien angekündigt), wächst das Agrarbusiness auch in
Reichen gegen Bezahlung impfen lassen können. der Krise weiter und profitiert vom Wachstum in China.

E rst 40 Tage nach den US-Wahlen gratulierte Präsident


Bolsonaro dem neuen Präsidenten Joe Biden in einem lau-
Brasilien hängt also immer mehr vom Agrarbusiness und
Rohstoffabbau ab – sie bleiben die Krisengewinner. Und
es bleibt die klassische internationale Arbeitsteilung der
en Schreiben. Nach der Invasion des Mobs am 6. Januar im Abhängigkeit.
Washingtoner Kapitol gab er von sich: Man wisse ja, dass er
eng mit Donald Trump verbunden sei, und die Wahlprozedur
in USA „war eben nicht in Ordnung“. Und er fügte düster hin-
D as erwähnte Nothilfeprogramm hatte einen überraschen-
den politischen Nebeneffekt. Die Popularität der Regierung
zu: Auch bei den Präsidentschaftswahlen 2022 in Brasilien Bolsonaro stieg trotz katastrophalen Krisenmanagements
hätte er Zweifel, ob alles mit rechten Dingen vonstatten ge- ab August 2020 beständig und erreichte bis zu 40 Prozent.
hen würde. Offen­sichtlich rechneten die Begünstigten des Programms
Die Abwahl Donald Trumps ist ein herber Rückschlag für die finanziellen Zuwendungen und die damit verbundene
Bolsonaro. Schließlich wich Brasilien erstmals nach Jahr­ Stabilisierung direkt der Exekutive, also dem Präsidenten, zu.
zehnten von seiner traditionell unabhängigen Außenpolitik Dies half Bolsonaro aber nicht bei den Kommunalwahlen im
ab und unterwarf sich nicht nur vollständig den USA, son- November 2020. Fast alle der von ihm direkt im Wahlkampf
dern auch direkt Trump selbst. Bolsonaro folgte Trump in unterstützten Kandidaten verloren. Doch auch die progres-
dessen Rhetorik und internationalen Initiativen, einschließ- siven Kräfte konnten keine nennenswerten Wahlerfolge ver-
lich der ständigen Attacken gegen China, dem wichtigsten zeichnen. Immerhin erreichte Guilherme Boulos von der
Handelspartner Brasiliens. Joe Biden wiederum hat bereits linkssozialistischen PSOL mit etwa 41 Prozent der Stimmen
während des Wahlkampfs die Regierung Bolsonaro wegen einen Achtungserfolg bei den Bürgermeisterwahlen in São
dessen Amazonaspolitik kritisiert. Paulo. Gewonnen haben landesweit die nicht bolsonaris-
Vorher hoch angesehen als zuverlässiger und solidarischer tischen Mitte-Rechtsparteien, die sich beispielsweise mit
Partner bei multilateralen Initiativen sowie als Moderator Gouverneur Doria aus São Paulo bereits in die Startlöcher
und Vermittler bei Konflikten, wurde Brasilien in den letz- für die Wahl 2022 begeben. Mit 31 Prozent im Januar 2021
ten zwei Jahren zum internationalen Paria, der sich entwe- ist die Zustimmung für Bolsonaro wieder geschrumpft, so-
der multilateralen Initiativen (wie etwa der bereits erwähn- gar bei den Evangelikalen (von 53 auf 40 Prozent), und
ten Covax) verweigerte oder, noch schlimmer, immer häufi- dies noch vor dem Ausfall des Nothilfeprogramms. Damit
ger aus internationalen Programmen und Konferenzen aus- ist seine Anhängerschaft wieder auf den harten Kern redu-
geladen wurde. Die internationalen Handlungsspielräume ziert. Mit einer rapiden politischen Erosion ist in den nächs-
für das Brasilien Bolsonaros schwinden. Das Land war noch ten Monaten durchaus zu rechnen. Der Ruf nach einem
nie so isoliert wie aktuell. Impeachment-Verfahren wächst.

D ie sozialen und wirtschaftlichen Folgen der Pandemie


wurden durch ein gigantisches Nothilfeprogramm (Auxílio
Ohne Perspektive in der Pandemiebekämpfung, international
isoliert, ineffektiv gegenüber der wachsenden Verelendung
der Bevölkerung, ohne wirtschaftspolitisches Konzept scheint
Emergencial) abgefedert. Fast 60 Millionen Brasilianer*innen das Land am Abgrund zu stehen. Bolsonaro aber bleibt rat-
erhielten von März bis Dezember 2020 600 Reais (zirka 90 los: „Ich kann nichts machen.“ n

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Feb. 2021
Ein leerer Stuhl
für Präsident
Duque war stets
dabei
Kolumbien: Interview mit Eduin

Fotos: ACIN
Mauricio Capaz Lectamo von der ACIN

Eduin Mauricio Capaz Lectamo koordiniert den auf dem die Minga stark, überzeugend und entschlossen auf-
Menschenrechtsbereich von ACIN, der „Vereinigung trat. Ein weiterer Pluspunkt: Die Minga hat viele Anliegen
Indigener Räte“ im Norden der Provinz Cauca. aus den ländlichen Regionen thematisiert, die von Covid-19
Seine Aufgabe sieht er als Mandat der indigenen betroffen sind. Jetzt besteht die Herausforderung darin, die
Gemeinden: Mit seiner Arbeit trägt er dazu bei, das Dynamik der Mobilisierung beizubehalten, auf die notwen-
Leben und die Menschenrechte zu schützen, und zwar digen Veränderungen im Land hinzuarbeiten, die Stimmen
für 22 indigene Territorien, die Teil der ACIN sind. vom Land, die in den Städten kaum gehört werden, auf na-
tionaler Ebene zusammenzuführen.

V om 10. bis 21. Oktober 2020 fand der Marsch


der indigenen Gemeinden, die sogenannte Minga
Indígena, aus dem Cauca nach Bogotá statt. Was waren
Warum lehnte der Präsident ein Treffen mit den
Vertreter*innen der Minga ab? War das Angst oder
die Ziele des Marschs? Arroganz der Macht?
Wir wollten möglichst sichtbar sein, um die Bevölkerung zum Als Duque Präsidentschaftskandidat war, geschah dasselbe,
Mitmachen bei Protesten und Fordern vonVeränderungen zu wenn ihn seine politischen Rivalen zur Debatte über das Land
bewegen. In Kolumbien zeigen sich viele Rückschritte, was aufforderten. Offenbar ist es eine Frage der Persönlichkeit, er
die Menschenrechte, das Recht auf Leben, die Umwelt, die schafft es nicht, den Menschen und ihrer Kritik gegenüberzu-
Demokratie, die Justiz und den Frieden anbelangt. Die Minga treten. Glücklicherweise war für die Minga klar, dass an erster
wurde im Südwesten des Landes geboren und verbindet ver- Stelle stand, das Land wachzurütteln, was die Mobilisierung
schiedene soziale Prozesse: der Indígenas, der Studierenden, erleichterte und für eine gewisse gesellschaftliche Dynamik
der Bauern und Bäurinnen, der Afrokolumbianer*innen. sorgte. Die Arroganz der Regierung scheint aber institutionell
Zunächst haben wir eine gemeinsame Agenda mit ande- verankert zu sein, weil sie sich weigert, viele soziale Sektoren
ren sozialen Gruppen entwickelt. Dann ging es darum, überhaupt anzuhören, etwa marginalisierte Gruppen vom
Präsident Iván Duque zu einem Treffen aufzufordern, um Land und aus den Städten, die ihre Rechte einfordern.
mit ihm zu debattieren. Das scheiterte. Daraufhin marschier-
ten wir nach Bogotá. Auf dem Weg trafen wir viele weite- Ist die Gewalt heute schlimmer als in den Zeiten
re Bewegungen und einzelne Menschen. Der Marsch nach Präsident Uribes oder als 2016, beim Abschluss des
Bogotá verlief absolut geordnet, wir waren sehr gut organi- Friedensabkommens? Wie ist die Situation in der Cauca-
siert. In allen Städten auf unserer Route fand ein symboli- Region?
sches Gerichtsverfahren statt. Ein leerer Stuhl für Präsident Das Friedensabkommen wurde als Ausweg aus dem Gewalt­
Iván Duque war stets dabei. Der Marsch richtete sich aber zyklus gesehen. Etwa ein Jahr lang sorgte es für etwas Ruhe in
an das ganze Land: Wir wollten die Themen auf den Tisch den ländlichen Gebieten. Doch schon bald wurden die mäch-
bringen, die für die sozialen Bewegungen der Minga wich- tigen Kräfte, die sich gegen das Friedensabkommen gewandt
tig sind. Unser Aufruf brachte viele Menschen auf die Beine. hatten, aktiv. Der Staat unternahm nichts zur Umsetzung
Schlusspunkt war der Nationalstreik am 21. Oktober 2020, des Abkommens. Auf dem Land bedeutete dies erneute

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Das Interview kam auf Vermittlung von Brot für die
Welt zustande. ACIN ist deren Partnerorganisation.
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Feb. 2021
Gewalt. Etwa 237 Morde an Führungspersönlichkeiten und verantwortlich. Es gibt bestimmte Muster, Verhaltensweisen,
Menschenrechtsverteidiger*innen waren die Folge. Allein Hinrichtungsformen, Gebiete mit höheren Mordzahlen. Diese
dieses Jahr (2020) verzeichnen wir, den Erhebungen der Dynamik richtet sich gegen Menschenrechtsverteidiger*innen
Organisation INDEPAZ zufolge, 69 Massaker, die Zahl der und Vertreter*innen der sozialen Organisationen auf dem
Attentate steigt. Das sind enorme Rückschritte. Die Angriffe Land, aber auch in den Großstädten.
auf den Friedensprozess kamen von einem klar identifizier-
baren politischen Sektor, der außerdem mit disqualifizie- Welche Strategien gibt es von Seiten der indigenen
renden, unsinnigen Argumenten die Präsidentschaftswahlen Organisationen? Kannst du uns die Rolle der indigenen
gewonnen hat. Viele Prozesse wurden abgebrochen bezie- Wachen, der Guardia Indígena, erklären?
hungsweise absichtlich vor die Wand gefahren. Das führ- In der Guardia Indígena kommt eine uralte Schutzfunktion
te vielerorts zu einem Vakuum, das sich zahlreiche gewalt- der indigenen Gemeinden zum Ausdruck, kulturelle und ge-
tätige Gruppierungen auf dem Land zunutze machten. Dort meindebasierte Schutzdynamiken als Reaktion auf die Gewalt
gab es zuvor einen starken bewaffneten Akteur, die FARC- in den indigenen Territorien seit Anfang dieses Jahrhunderts.
Guerilla, die nach dem Friedensabkommen nicht mehr prä- Die Guardia entstand 2001. Damals mordeten und massa-
sent war. Heute haben wir sechs oder sieben bewaffnete krierten im Nord-Cauca die Paramilitärs, die sogenannten
Akteure, ohne Struktur oder mit unklaren oder nicht vorhan- Selbstverteidigungsgruppen. Von 2008 bis 2013 musste die
denen Hierarchien. Ohne Befehlshaber, ohne Bildung, ohne Bevölkerung eine weitere Gewaltwelle ertragen aufgrund der
Ausbildung. Sehr junge, absolut kriminell geprägte Leute. So Konfrontation zwischen der FARC-Guerilla und den staatli-
ist die Situation im Norden des Cauca, was sich aber auch chen Sicherheitskräften. Nach dem Friedensabkommen ka-
im Rest des Landes widerspiegelt. men neue bewaffnete Akteure auf.
Das Friedensabkommen sah die zivile Minenräumung Die Guardia Indígena ist ein absolut friedlicher und zi-
vor. Im November vergangenen Jahres wurde sie suspen- viler Schutzmechanismus ohne Waffen, der die indige-
diert, im ersten Halbjahr 2020 endgültig aufgegeben. Das ne Regierungsausübung unterstützt. Die symbolische Kraft
ist ein enormer Rückschritt. Die Gespräche zum Schutz der des Kommandostabs steht dafür, er drückt das indigene
Menschenrechtsverteidiger*innen bekamen einen anderen Gemeinschaftsgefühl aus. Leider ist der Preis sehr hoch ge-
Charakter: Soziale Organisationen, die einen realistischen wesen: Dutzende Wachen sind in den letzten Jahren von
Blick auf die Situation vor Ort hatten, werden faktisch nicht bewaffneten Akteuren ermordet worden, die sich revolutio-
mehr einbezogen. Über die Substitution des Drogenanbaus när nannten, aber verbrecherisch handelten. Insofern macht
wird kaum mehr gesprochen. All das hat der Kriminalität in sich die Guardia sehr angreifbar, aber ihre Stärke liegt in der
die Hände gespielt. Viele Leute fühlen sich vom Staat verlas- enormen Legitimität, die sie bei zahlreichen Gemeinden ge-
sen, aber auch von den alten Guerillagruppen. Sie hätten die nießt. Die Guardia vermeidet, Partei für eine der bewaffneten
Bevölkerung verraten, einen Deal mit dem Staat gemacht. Die Gruppen zu ergreifen. Aber sie bittet sie eindringlich darum,
Folge: Die Leute bauen weiterhin Coca an, säen noch mehr die indigenen Territorien in Frieden zu lassen, was keine ein-
Coca aus, halten Nähe zu den bewaffneten Gruppen. Oder
sie sehen in den bewaffneten Gruppen die Rettung. Das hat
die bewaffneten Gruppen vor Ort bestärkt, die sich gegensei-
tig nicht anerkennen, sondern umbringen. Die Gewalt hat in
den vergangenen Jahren die indigenen Gemeinden, beson-
ders ihre Bewegungen, heftig getroffen.

Sind die derzeitigen Morde gegen bestimmte Personen


gerichtet?
Die Menschenrechtsverteidiger*innen und die sozialen
Gruppen, die sie repräsentieren, versuchen sich in diesem
Pano­rama der Gewalt zu behaupten. Die Alternative wä-
re, die Territorien zu verlassen. Doch daran denken die
Gemeinden zuallerletzt. Die Methode, Gewalt anzufachen,
um Menschen zu vertreiben, ist bekannt und bereits häufiger
untersucht worden in Kolumbien. Gewalt ist eine Strategie,
um Territorien zu plündern und sich ihrer zu bemächtigen.
Viele dieser Territorien versuchen friedlich Widerstand zu
leisten, was einige Menschen ihr Leben gekostet hat. Für
diese systematischen Morde sind unterschiedliche Gruppen

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Fotos: Die Minga Indígena auf dem
langen Weg vom Cauca nach Bogotá
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fache Aufgabe ist. Es wurde versucht, die Guardia zu stigmati- lichen Gemeinden kein Vertrauen in die bewaffneten staat-
sieren und zu infiltrieren, was mehr oder weniger abgewandt lichen Institutionen haben.
werden konnte. Aber es gibt weiterhin die Versuche, und die
Angriffe auf die Guardia Indígena gehen ebenfalls weiter. Es gab 2018 die Resolution 1190 des Innenministeriums
Im Nord-Cauca hat die Guardia etwa 2300 Mitglieder. Trotz und im September 2020 ein Urteil des Obersten
der schwierigen Lage können wir eine starke Schutzfunktion Gerichtshofes. Beide geben Militärs und Polizei
aufrecht erhalten, was auch international anerkannt worden Richtlinien vor, um Menschenrechtsverletzungen einzu-
ist. Das gibt uns mehr Sichtbarkeit und etwas Rückendeckung. schränken. Sind diese Entscheidungen hilfreich?
So wie in Kolumbien Gesetze verabschiedet werden, werden
Sind nur Männer Teil der Guardia Indígena? gleichzeitig Möglichkeiten geschaffen, sie zu ignorieren. Viele
Von den Mitgliedern sind 1300 Frauen und etwa zehn Prozent der staatlichen Institutionen oder Funktionäre sind wahre
Kinder. Junge Frauen und Männer machen 60 Prozent aus. Es Rechtsverdreher*innen. Das erzeugt eine enorme Kluft zwi-
gibt mehrere Ausbildungsverfahren, auch Schulen, die sich an schen dem kolumbianischen Staat und den Bürger*innen,
Kinder und Jugendliche im Alter von fünf bis 16 Jahren rich- zumindest denen, die besonders vulnerabel sind, etwa in
ten. Die Erwachsenenschule beginnt je nach Territorium mit den ländlichen Gebieten. Die bewaffneten Akteure wissen
14, 15 oder 16 Jahren. Die Schulen sind ein Referenzpunkt. die institutionelle Interpretationsgewalt hinter sich. Viele
Aber eine indigene Wache entscheidet selbst, wenn sie kei- Fälle werden im Rahmen der Militärgerichtsbarkeit verhan-
ne Weiterbildung mehr will. Wir haben sogar einen 83-jäh- delt. Ein Mord kann dann wie ein administrativer Akt un-
rigen Schüler. ter dem Punkt „Gefahren am Arbeitsplatz“ behandelt wer-
den. Das ist absolut bestürzend, aber leider bittere Realität.
Welche Rolle spielen die offiziellen Sicherheitskräfte?
Lassen sie bewusst andere Gruppen die Lücken füllen? Lebt die Stadtbevölkerung Kolumbiens eigentlich in ei-
Unterstützen sie bestimmte Gruppen, wenn dies dem ner anderen Welt, die nichts von der Situation auf dem
Staat nützt? Land mitbekommt?
Mehrere Untersuchungen haben gezeigt, dass das Militär Es gibt viele isolierte Städte, ebenso ein Menge Gemeinschaften,
bei der Gewalt gegen indigene Gemeinden nicht einge- die in den Städten zu überleben versuchen. Das erlaubt ih-
schritten ist oder sich sogar daran beteiligt hat. Das schließt nen nicht, sich politisch als Land zu denken. Ihr einziges
Allianzen mit verbrecherischen, bewaffneten Akteuren in den Ziel ist das alltägliche Überleben. In anderen Städte wieder-
Territorien ein. Das dürfte sich bis heute nicht geändert ha- um sind politische Verfasstheit und Bildungsstand hoch; sie
ben. Jahrzehnte lange Militarisierung als politische Strategie sind ein Referenzpunkt für mögliche Transformationen. In
zur Kontrolle des Territoriums hat dazu geführt, dass die länd- den Städten hat es generell Jahrzehnte lang Bewegung gege-
ben, verursacht von Migration und massiver Vertreibung vom
Land in die Stadt. In den Städten gibt es verschiedene Kämpfe
sozial benachteiligter Gruppen. Soziale urbane und ländli-
che Bewegungen versuchen, die enorme Kluft zu überwin-
den, sich anzunähern. Die Minga hat gezeigt, dass es mög-
lich ist, Kämpfe zusammenzubringen.

Die offiziellen Programme, den illegalen Drogenanbau


zu ersetzen, wurden aufgegeben. Enthielten sie über-
haupt erfolgversprechende Ansätze?
Gut daran war, dass nach einem gemeinsamen Weg gesucht
wurde, um friedlich und geregelt vom Coca- und Marihuana-
Anbau wegzukommen. Es gab eine vereinbarte Marschroute,
bei der ein Teil der ländlichen Bevölkerung angehört wurde,
der im Coca- und Marihuana-Anbau eine Überlebensform
sah. Aber nun wird erneut auf die technische Lösung, die
Vernichtung und Besprühung des Coca- und Marihuana-
Anbaus gesetzt. Dabei hat sich gezeigt, dass diese über Jahre
verfolgte Politik offensichtlich gescheitert ist. Sie sorgt da-
für, dass der Anbau nicht aufgegeben, sondern in andere
Gebiete verlagert wird. Wird im Cauca gesprüht, verlagert
sich das Phänomen in andere Provinzen. Wird in der Provinz

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Nariño gesprüht, ebenso. Oder in der Provinz Putumayo. angewandt, um die Verbreitung von Covid-19 zu verhindern.
Diese Politik hat zur Folge, dass sich die Anbaugebiete so- Rituelle Handlungen kombiniert mit den Anwendungen
gar noch weiter ausgedehnt haben. Wenn eine über 25 Jahre der westlichen Medizin und der territorialen Kontrolle. Das
durchgeführte Politik keine Erfolge zeitigt, muss sie geän- Corona-Argument wurde von der Regierung benutzt, um die
dert, müssen Alternativen überlegt werden. Die Regierung Minga zu stoppen. Die Minga hat jedoch die im Territorium
scheint das nicht in Betracht zu ziehen. Gebremst wird sie etablierten Kontrollvorkehrungen für Gesundheit und Schutz
nur durch einige Entscheidungen des Verfassungsgerichtes mitgenommen und von Stadt zu Stadt gebracht.
gegen die Besprühung aus der Luft. Das Gericht geht auf die
offensichtliche Kontamination, die Kollateralschäden für die Die Guardia Indígena hat eine eigene Hymne. Welche
Landbevölkerung, ein. Bedeutung hat sie für die indigenen Gemeinden?
Die Hymne gibt das tiefe Empfinden der Guardia Indígena
Die ACIN betreibt auch landwirtschaftliche Projekte. wieder. Sie bringt das Kampf- und Widerstandsgefühl der in-
Welche ökonomischen Alternativen sehen die indigenen digenen Gemeinden durch die Stimme einer indigenen Wache
Gemeinden in der Cauca-Region? zum Ausdruck. Die Wache ist der höchste Ausdruck des fried-
Es ist äußerst schwierig, mit der Ökonomie des Drogenhandels lichen Widerstandes, der Entschlossenheit, Überzeugung und
und den legalen und selektiven Ökonomien in Kolumbien zu Arbeit, des Zusammenhalts in der indigenen Bewegung. Ihre
konkurrieren. ACIN organisiert und stärkt die eigenen internen Hymne nimmt alle diese Empfindungen auf. Sie entstand in
Produktionssysteme. Wir stellen eigene Produkte im Nord- einer Gemeinde der Region Totoró, eine Musikgruppe kompo-
Cauca her und verarbeiten sie. Es gibt Mikro-Unternehmen nierte sie. Sie wurde zu einer Hymne, weil sie die Lebenswelt
für die Verarbeitung von Obst und anderen Nahrungsmitteln, der Guardia Indígena und ihre Konzepte vermittelt. Nun ist
für die Kleintier- und Fischzucht, die Schuhproduktion, die sie neu aufgelegt worden. Für das offizielle Video der Hymne1
Wasserabfüllung, die Vermarktung von Textilien der Frauen, gab es ein Remastering. Der Ton wurde nachgebessert und
die Verarbeitung von Rohstoffen, die Arzneiherstellung, den Stimmen von Nicht-Indígenas kamen dazu. Das ist ein in-
Anbau von Maniok, von Passionsfrüchten. Es gibt mehrere teressantes Element. Die Hymne der Guardia vermittelt also
Übergangskulturen, in einigen Zonen Reisanbau, die Nutzung nicht nur das Gemeinschaftsempfinden eines Indígenas, es
des Coca-Blattes für Arzneien und Lebensmittel. Es gibt also gibt auch viele kolumbianische Bürger*innen, die sich den
verschiedene Initiativen, die sich gegen das alles blockierende Kampfeswillen und die Zielstrebigkeit, die die Hymne auszu-
Monstrum Drogenhandel behaupten wollen. In Konkurrenz drücken versucht, aneignen. Und zwar profund aneignen, mit
zu den vor Ort existierenden Ökonomien zu treten, ist sehr dem Respekt und der Bedeutung, die die Hymne ausstrahlt.
schwierig. Wenn dir jemand einen Tageslohn von 80 000 Das finde ich, wie gesagt, höchst interessant. Ich glaube, die
Pesos (etwa 18,50 Euro) anbietet, ein anderer aber nur etwa Hymne wird noch lange Bestand haben. Nach wie vor löst
20 000 Pesos zahlen kann, ist das keine einfache Situation. sie starke Gefühle und Emotionen aus, wenn sie ertönt. Das
Dennoch eröffnen sich Wege, werden Erfahrungen gesam- ist etwas Besonderes und sehr Schönes.
melt. Unter den richtigen Bedingungen kann sich das hof-
fentlich potenzieren. Organisationen wie das Internationale Menschen­
rechtsbüro/Aktion Kolumbien (OIDHACO), in dem
Wie wird mit der Corona-Pandemie in der Cauca- verschiedene europäische Organisationen zu-
Region umgegangen, wie stark ist die Region betrof- sammenarbeiten, haben sich zur Minga und zur
fen? Wie beeinträchtigt das Virus die Mobilisierung der Menschenrechtssituation in Kolumbien geäußert. Hat
Gemeinden und Organisationen? Die Regierung hat die das irgendeinen Einfluss in Kolumbien?
Minga wegen der möglichen Infektionen als unverant- Der kolumbianische Staat und seine Institutionen haben viel
wortlich bezeichnet. mit der aktuell traurigen Situation zu tun. Die Bündnisse zwi-
Das Thema Covid-19 ist ziemlich komplex. Im Vergleich zu schen verschiedenen Bevölkerungsgruppen, aber auch inter-
anderen Provinzen hat der Nord-Cauca eine recht niedrige nationale Allianzen sind eine Option, um zu überleben. Die
Infektionsrate, weniger Ansteckungen. Das hängt möglicher- sozialen Organisationen haben versucht, mit Hilfe der inter-
weise mit der Schutzstrategie vieler indigener Gemeinden nationalen Menschenrechtsverteidiger einen gewissen Schutz
zusammen. In den ersten vier oder fünf Monaten isolierten herzustellen. Es gibt viele internationale, europäische, latein-
sich die Gemeinden völlig, schlossen ihre Zugänge. Sie legten amerikanische, US-amerikanische Organisationen, die einflus-
Protokolle für den Besuch, die Desinfektion beim Besuch und sreich sind und einen gewissen Druck auf den Staat ausüben
Verlassen der Gemeinden an. Das hat die Infektionskurve im können. Es gibt eine enorme Solidarität vieler Bürger*innen,
Vergleich zu den Nachbarprovinzen wie Valle und Nariño ab- sozialer Organisationen und Institutionen. Aber nach wie
geflacht. Zumindest in den indigenen Gemeinden wurde eine vor ist der Staat beim Schutz der Menschenrechte und der
Kombination aus uraltem Wissen und westlichen Kenntnissen Garantie für das Leben häufig abwesend. n

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1) https://www.youtube.com/watch?v=lVjJ5igDBNk Das Interview führte Gerold
Schmidt im Oktober 2020.
ila 442
Feb. 2021
Die Ruhe nach dem Sturm hält nicht ewig

In „Mi vida y el Palacio“


von Helena Uran Bidegain
ergreift die Tochter eines
1985 im kolumbianischen
Justizpalast Ermordeten
eindringlich das Wort

A
von Gaby Küppers rende Befreiungstheologin. Helena Uran Bidegain ist zehn
Jahre alt, als sie am 6. November 1985 mit ihrer Mutter und
m Vormittag des 6. November 1985 drangen 35 ihren drei Schwestern vergeblich auf die Rückkehr des Vaters
Mitglieder der Guerillagruppe M-19 in den Justizpalast in aus dem Justizpalast wartet. Dort ereignet sich Dramatisches.
Bogotá ein. Wenig später begann eine dramatische Rück­ 25 Männer und zehn Frauen der M-19 waren kurz vor Mittag
eroberungsschlacht durch das Militär. Am 7. November in den Justizpalast zu einer „bewaffneten Anklage“ ein-
verkündete der Oberbefehlshaber der Streitkräfte das gedrungen. Sie wollten ein politisches Gerichtsverfahren
Ende des Gefechts. Über 100 Menschen waren tot, etli- gegen Präsident Belisario Betancur erzwingen, dem sie
che blieben verschwunden, mindestens 38 endeten in Wortbruch bei den Friedensverträgen des Vorjahres vorwar-
Massengräbern. Der Justizpalast, durch Bomben schwer fen. Das Husarenstück kam nicht wirklich überraschend.
beschädigt, war in weiten Teilen Ruine. Staat und Militär Blauäugig hatten Angehörige der damals wegen ihrer wag-
übernahmen die Deutungshoheit über die Ereignisse und halsigen Operationen durchaus populären M-19 die Pläne
die Verantwortlichkeiten: „Das Vaterland wurde vor der den Medien gegenüber erwähnt. Auch das Militär, aufgrund
Subversion gerettet.“ Erst 20 Jahre später begannen ernsthaf- kurz zuvor gelungener M-19-Aktionen auf Rache aus, war
te Ermittlungen, doch die offizielle Wahrheit gilt bis heute. im Bilde. Nun bot sich die Gelegenheit zum Gegenschlag.
Eigentlich ist alles gesagt über den Sturm auf den Justizpalast An besagtem Vormittag fehlten am Gebäudeeingang der üb-
in Bogotá. Sollten man und frau meinen. Doch auf Deutsch liche Polizeischutz und die Metalldetektoren. Kaum waren
spuckt Google beim Stichwort „Sturm auf den Justizpalast“ die Guerilleros drinnen, waren Militär und Scharfschützen
zuerst denjenigen von 1927 in Wien aus. Enttäuschend auch zur Stelle, 5300 Bewaffnete wurden zusammengezogen - ge-
der deutsche Wikipedia-Eintrag. Die magere Chronik geht gen 35 Guerilleros!
zwar auf die Ereignisse in Bogotá ein, trägt jedoch eindeutig Eine Stunde später tauchen Panzer auf, um 14 Uhr zerstö-
die Handschrift eines Vertreters der offiziellen Lesart. Zum 20. ren zwei davon das Eingangsportal und fahren (!) in das
Geburtstag der freien Enzyklopädie wäre es an der Zeit, so et- Justizgebäude. Der Gerichtspräsident fleht die Militärs drau-
was richtigzustellen. Rund 30 Bücher über die Ereignisse sind ßen über Lautsprecher an, nicht weiter zu schießen, son-
dagegen auf Spanisch erschienen. Das mindestens 31. Buch dern zu verhandeln, Präsident Belisario Betancur solle ihn
kam zum 35. Jahrestag des Justizpalasts in Flammen heraus, anrufen. Der reagiert nicht. Es ergeht eine Anweisung an
ein bemerkenswertes Buch über ein verordnetes Schweigen die Radiostationen, nicht über den Justizpalast zu berich-
und dessen Unhaltbarkeit. ten. Am Abend verfügt Kommunikationsministerin Noemi
Die Lektüre lohnt sich. Schließlich geht es um den Ausgang Sanín, heute noch prominent im politischen Geschäft, ein
aus einem ganz persönlichen Trauma. Autorin ist die inländisches Fußballspiel im Fernsehen zu übertragen. Das
Tochter von Carlos Horacio Uran Rojas, 1985 stellvertreten- passiert sonst nie.
der Staatsanwalt im Justizpalast und Autor militärkritischer Zuvor streuen die Fernsehnachrichten das Gerücht, die M-19
Schriften, und von Ana María Bidegain, heute in Florida leh- handle im Auftrag des Drogenhändlers Pablo Escobar und

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zerstöre Akten der Auszuliefernden. Völlig falsch, aber die- erkannte Parallelen. Im Jahr 2005, 20 Jahre nach dem
se Version ist bis heute in der „Narcos“-Serie von Netflix als Massaker, unternahm erstmals (!) eine Sonderstaatsanwältin,
die gültige zu besichtigen. Von den im Justizpalast befindli- Angela María Buitrago, ernsthafte Nachforschungen und
chen Akten über 1800 Prozesse gegen Militärs wegen Folter fand als Beweis für die Ermordung Urans Brieftasche in ei-
und Menschenrechtsverletzungen kein Wort. Auch nicht von nem Militärarchiv. Fünf Jahre später erklärte sie den Fall
den Drohungen der Militärs an die Adresse der Richter we- zum Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Damit verjährt er
gen eben dieser Anklagen. nicht mehr. Als Buitrago drei verdächtige Generäle einbestell-

N och an demselben Abend wussten die Guerilleros, dass


ihre bewaffnete Schnapsidee gescheitert war. Doch das Militär
te, wurde sie entlassen. Seither ruht der Fall in Kolumbien.
Angela Buitrago kennen heute viele als Mitglied der interna-
tionalen GIEI-Kommission zur Aufklärung der Ayotzinapa-
wollte keine Verhandlungen, sondern den totalen Sieg. Morde an 43 Studenten in Mexiko.
Mit der Bombardierung und schließlich Erstürmung des Im gleichen Jahr gelang Richterin María Estela Jaque die
Gebäudes am Nachmittag des 7. November war der Horror erste Verurteilung, trotz Prozessbehinderungen. Coronel
indes nicht zu Ende. Zwar gelten die Militärs seither als die Plazas Vega musste wegen der Cafeteria-Toten für 35 Jahre
Retter des Vaterlandes, und die Toten und Verschwundenen in Haft; die Richterin dafür ins Exil nach Deutschland. Im
gehen offiziell auf das Konto der besiegten Guerilla. Doch be- Jahr 2015 wurde das Urteil revidiert und Plazas Vega freige-
legen Videoaufzeichnungen, dass viele vom Militär „Befreite“ sprochen. Zwei Jahre zuvor hatte sich der Interamerikanische
in deren Kommandozentrale Casa de los Floreros gebracht Gerichtshof (CorteIDH) des Falls angenommen. Die
wurden, von wo sie nie wieder auftauchten. So auch Horacio Familie Uran Bidegain war bei der Sitzung des CorteIDH
Uran Rojas. Eine Freundin der Familie fand ihn Tage später in Brasília anwesend. Die Verlogenheit der kolumbiani-
als N.N. in der Militärpathologie, offensichtlich gefoltert und schen Regierungsvertreter dort war nicht zu überbieten;
erschossen. Wer die Verschwundenen fortan suchte und das erst 2015 kam die Regierung der Verurteilung zur öffentli-
Militär als Täter verdächtigte, galt als Nestbeschmutzer*in chen Entschuldigung nach. Ein Trauerspiel. Andere Teile des
und, schlimmer noch, Guerillasympathisant*in. Urteils, etwa eine schnelle Aufklärung der Ereignisse, überhört
Im Jahr 1987 gibt die Familie Uran Bidegain dem immer hef- sie bis heute. Als einziger General wurde Arias Cabrales 2019
tigeren Druck, nicht weiter an den Fall zu rühren, nach und wegen fünf Verschwundener aus der Justizpalast-Cafeteria
verlässt das Land. Eine Odyssee beginnt: nach Uruguay, zu- verurteilt. Im Jahr 2020 ordnete das Sonderstrafgericht JEP
rück nach Bogotá, dann USA, Baskenland, Madrid und wieder dessen Freilassung an.
Bogotá. Helena Uran, immer noch stumm über das Erlittene, Vom „harten Vaterland der Straflosigkeit“ spricht Pepe
beginnt dort ein Politologiestudium, wird Avianca-Stewardess, Mujica, der ehemalige Staatspräsident von Uruguay, in sei-
landet in Hamburg und schließlich in Berlin. Erst dort, wo nem lesenswerten Vorwort zum Buch. Er weiß, worum es
sie die deutsche Aufarbeitung der NS-Vergangenheit und geht, verbrachte er doch selbst zwölf Jahre in Isolationshaft
Menschen aus Konfliktgebieten von Chile über den Balkan in einer Diktatur.
bis Afrika kennenlernt, beginnt sie die offizielle Geschichte Schicksal, Zweifel und Selbstzweifel angesichts ermordeter
für sich selbst zu entflechten. Die Fragen ihres Sohnes, nun- Familienangehöriger teile Helena Uran Bidegain mit (Aber-)
mehr exakt so alt wie sie beim Sturm auf den Justizpalast, Tausenden Familien des Kontinents. Francisco De Roux, pro-
helfen, ihren Vater als Opfer politischer Gewalt zu begrei- minentes Mitglied des Jesuitenforschungszentrums CINEP, der
fen. Und zu erkennen, dass dies kein Einzelschicksal ist. Das selbst am 6. November 1985 die verängstigte Familie besuch-
Ergebnis ist das vorliegende Buch. te, beschließt das Buch mit einer würdigenden Rekapitulation
Die Stationen bis hierher entlarven einen Staat, der sich der 35 Jahre langen Suche der Autorin nach der Wahrheit.
schlichtweg militärischer Selbstherrlichkeit unterwirft.
Im Jahr 1996, gut zehn Jahre nach dem Blutbad, gelang
es dem unermüdlichen
I m Jahr 1986 erschien ein Artikel von Uran Rojas post­
hum in Le Monde Diplomatique. Er machte darin den
Rechtsanwalt Eduardo Großgrundbesitz als Grund dafür aus, dass in Kolumbien
Umaña Mendoza als kein Frieden möglich sei und die Friedensverträge von 1984
Vertreter der ermordeten scheiterten. Klarer konnte man den Kern der Politik Präsident
Cafeteria-Angestellten, Álvaro Uribes (2002-2010) und seine bis heute andauernde
ein Massengrab öffnen zu fatale Obstruktion der Friedensverträge zwischen Regierung
lassen. Er ermittelte. Zwei und FARC-Guerilla nicht voraussagen. Die Geschichte wie-
Jahre später wurde er er- derholt sich, solange sie nicht aufgearbeitet ist – und solan-
schossen. Helena Uran ge die Militärs das Sagen haben. Das wusste Horacio Uran.
traf seinen Sohn Camilo Und das wurde sein Vermächtnis. Wie es das überaus wich-
viel später in Berlin und tige Buch seiner Tochter zeigt. n

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Helena Uran Bidegain, Mi vida y el Palacio: 6 y 7 de Noviembre de 1985,
Editorial Planeta 2020, 224 Seiten, Zu beziehen (auch als E-Book) über
http://abebooks.com oder direkt beim Verlag selbst: https://www.planetadelibros.com ila 442
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Foto: Memorial El Mozote
Foto: US State Departement
Nayib Bukele

Wahlkampf auf Kosten der Opfer


El Salvadors Präsident Nayib Bukele in El Mozote

B
Unterzeichner*innen der Friedensverträge von 1992, von Nelson Rauda
salvadorianische Historiker*innen und 65 salvadoria-
nische und internationale Persönlichkeiten (darunter ei seinem ersten Besuch in El Mozote beschuldigte
auch einige Abgeordnete des Europaparlaments) Präsident Nayib Bukele seine politischen Gegner*innen von
haben vor kurzem einen offenen Brief unterschrie- der linken FMLN und der rechtsextremen ARENA-Partei, dass
ben; Anlass war die Rede, die Präsident Nayib Bukele sie sich an dem Massaker „bereichern“ würden. 40 Minuten
in El Mozote hielt, dem Ort, an dem im Dezember lang wetterte er gegen die Friedensverträge von 1992 und ge-
1981 das schlimmste Massaker des salvadoriani- gen zwei namentlich genannte Menschenrechtsverteidiger. Die
schen Krieges geschah. In dem Brief heißt es: „Wir legale Vertretung der Opfer, die „Vereinigung zur Förderung
weisen nachdrücklich die Aussagen in Ihrer Rede der Menschenrechte in El Mozote“ (APDHEM), hatte er zu-
vom 17. Dezember 2020 im Weiler El Mozote zurück. vor ausdrücklich von der Organisation seines Auftrittes ausge-
Insbesondere beziehen wir uns darauf, dass Sie schlossen. Schließlich forderte er die Anwesenden auf, seine
den bewaffneten Konflikt und die Friedensverträge Partei Nuevas Ideas (Neue Ideen) zu unterstützen. Neben ihm
als ‚Farce‘ bezeichnet haben. Sorge bereitet uns, auf der Bühne standen drei Personen: zwei Vertreter des loka-
mit welcher Leichtfertigkeit Sie diese so wichtigen len Gemeindeverbandes, die ebenfalls zu Wort kamen, sowie
Themen abgehandelt haben.“ Was war geschehen? Sofía Romero, Opfer und Zeugin im laufenden Verfahren ge-

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Der Beitrag erschien am 18. Dezember 2020 in der Internet-Zeitung El Faro. Foto: Denkmal für die Ermordeten
Gekürzt, übersetzt und bearbeitet von Ulf Baumgärtner. von El Mozote in El Salvador
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gen die Verantwortlichen des Massakers vor 39 Jahren, der nie- der diese Fälle noch die zunehmend autoritären Auftritte des
mand das Wort erteilte. Bukele machte El Mozote zur Kulisse Präsidenten den unaufhaltsamen Aufstieg seiner Partei Nuevas
für seinen Wahlkampf und die Opfer des Massakers zu de- Ideas auf dem Weg zur Mehrheit im Parlament und in den
ren Staffage. In seiner Rede stilisierte er sich, seine Regierung Gemeinderäten, deren Abgeordnete am 28. Februar dieses
und seine Kandidat*innen zu Rettern, während alle, die ihn Jahres gewählt werden. Nach Bukeles Auftritt in El Mozote
herausfordern, intrigante Bösewichte seien – einschließlich schrieb der US-Senator James McGovern, ein regelmäßiger
David Morales, der Anwalt, der die Opfer im Strafprozess ge- Beobachter der salvadorianischen Politik: „Wie schlecht, dass
gen das Oberkommando des Heeres von 1981 vertritt. „Vor Präsident Nayib Bukele eine per TV ins ganze Land übertragene
kurzem“, sagte Bukele, „gab es eine Veranstaltung mit dem Rede nutzte, um Menschenrechtsverteidiger und die Anwälte
Menschenrechts-Ombudsmann Apolonio Tobar und David der Opfer des Massakers von El Mozote anzugreifen. Wenn
Morales. Sie bereichern sich an den Leuten und leben von der Präsident zeigen will, dass er auf der Seite der Opfer und
diesem Fall. Wird der Fall abgeschlossen, gibt es kein Geld der Justiz steht, dann sollte er dem Richter Guzmán Zugang
mehr. Oder warum sind 40 Jahre verstrichen, ohne dass die zu den Archiven des Verteidigungsministeriums gewähren.“
Dinge in Ordnung gebracht worden sind?“ Bei Wahlen wird die Schule, in der Bukele am 17. Dezember
Dabei verschwieg der Präsident, dass bis 2016 eine General­ 2020 sprach, zu einem Wahllokal. Bei den letzten Wahlen
amnestie aus dem Jahr 1993 jegliche Strafverfolgung vereitel- am 3. Februar 2019 war die Schule im Weiler El Mozote ei-
te und dass er selbst dem zuständigen Richter den Zugang zu ner der wenigen Orte, an denen die FMLN Bukele besieg-
den Militärarchiven verweigerte. Per Twitter antwortete David te – mit 203 zu 105 Stimmen. Vielleicht rief er deshalb sein
Morales: „In El Mozote hörten wir eine verlogene und hass­ Publikum zur Umkehr auf: „Lasst euch nicht weiter ausnut-
erfüllte Rede. Erneut leugnete Nayib Bukele die Existenz der zen“. In den letzten 40 Jahren habe es neun Regierungen ge-
Militärarchive. Das Blut und das Leiden haben keinen Preis, geben, führte er aus und wurde biblisch: „An ihren Früchten
im Gegenteil: sie enthüllen lediglich den Zynismus und die werdet ihr sie erkennen. Ein guter Baum kann keine schlech-
Komplizenschaft.“ ten Früchte geben. Schaut euch unsere Früchte an, und ihr
Danach würdigte der Präsident die Handlung eines sei- werdet wissen, ob wir ein guter Baum sind. Und schaut euch
ner Vorgänger herab: Der erste linke Präsident des die Früchte meiner Vorgänger an. Die Zeit ist gekommen,
Landes, Mauricio Funes, hatte 2012, am 20. Jahrestag der dass ihr euch von diesem schlechten Baum trennt, der nur
Friedensverträge, die Opfer des Massakers im Namen des schlechte Früchte getragen hat.“
salvadorianischen Staates um Verzeihung gebeten. Gleich­
zeitig vermied Bukele es, das Heer und insbesondere das
Elitebataillon Atlacatl als Verantwortliche für das Massaker
D er Auftritt Bukeles in El Mozote war von der dortigen
„Vereinigung für Gemeindeentwicklung“ (ADESCO) organi-
zu benennen, schließlich sind die Streitkräfte eine Säule sei- siert worden und nicht von der Vereinigung APDHEM, die die
ner Regierung und seiner Kommunikationsstrategie. Aber er Opfer vertritt. Dazu gibt es zwei verschiedene Interpretationen.
betonte seine erste Amtshandlung im Juni 2019, als er be- Eine stammt von Florentín Ramos, dem jungen Mann im grau-
fahl, den Namen von Domingo Monterrosa, dem dama- en Anzug, der neben dem Präsidenten stand, als der über die
ligen Kommandanten des Atlacatl, von den Mauern einer Politiker sprach, die das Massaker ausnutzten. Er ist Mitglied
Kaserne zu entfernen. Die Ex-Guerillera María Chichilco, der ADESCO von El Mozote. Ich lernte Ramos kennen, nach-
heute Ministerin für lokale Entwicklung, riss darob die dem er auf einem Acker Knochensplitter und Kleiderfetzen
Arme hoch, um eine Runde Applaus einzuleiten. Bukele eines Mädchens gefunden hatte. Zu einer Inspektion am 15.
legte nach: „Ich bin auch nicht gekommen, um zu weinen, Februar 2019 kam die Ärztin Silvana Turner, Mitglied des
und schon gar nicht, um Krokodilstränen zu vergießen. argentinischen Teams für forensische Anthropologie, das
Während er (Mauricio Funes, d. Red.) hier weinte, bezahlte Anfang der 1990er-Jahre mit der Exhumierung von hunder-
er mit eurem Geld die Operation seiner Geliebten, mit der ten von Skeletten in El Mozote und benachbarten Weilern
er anschließend floh“.1 begonnen hatte. Im letzten Juli nahm Ramos an den in-

B ukeles Erfolg basiert weitgehend darauf, dass die


Bevölkerung mit den traditionellen Parteien unzufrieden ist.
ternen Wahlen von Nuevas Ideas für eine Kandidatur im
PARLACEN, dem Mittelamerikanischen Parlament, teil. Als
ich ihn nach seiner Mitgliedschaft in Nuevas Ideas frag-
Das ist und bleibt seine Strategie, die offenbar immer noch te, log er: „Nein, das war ein anderer Compañero. Wäre ich
zieht, auch wenn sich bereits eineinhalb Jahre nach Amtsantritt da Mitglied, hätte ich wohl ein T-Shirt von denen an. Wir
die Hinweise auf zahlreiche Korruptionsfälle mehren. Die wollen nicht, dass der Schmerz meines Vaters und meiner
Staatsanwaltschaft schätzte im vergangenen November, dass Onkel zum Instrument im Kampf um Kandidaturen gemacht
67 Prozent der millionenschweren Einkäufe von medizini- wird.“ Am 4. Juli 2020 veröffentlichte Ramos ein Video, das
schem Material zur Pandemiebekämpfung regelwidrig wa- seine Kandidatur ankündigte. Für den Hintergrund benutz-
ren. Den jüngsten Wahlumfragen zufolge schmälern aber we- te er eines der Denkmäler für die Opfer des Massakers von

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1) Funes floh nach Nicaragua, wo er Asyl erhielt, während er in 2) Menschenrechtsorganisation, für die
El Salvador wegen zahlreicher Fälle von Korruption gesucht wird. Rechtsanwalt David Morales arbeitet
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El Mozote. Ramos kennt die Geschichte des Massakers per-
fekt, aber jetzt vollführt er Seiltänze, um zu erklären, wes-
halb Bukele die Militärarchive nicht öffnet. „Ich glaube, dass
uns der Präsident eine Kopie der Archive geben wird. Wir
machen Druck. Wir haben 30 Jahre lang gewartet, weshalb
sollten wir nicht noch drei Monate mehr warten?“ Ramos
nahm vor zwei Jahren als Zeuge an dem Strafprozess gegen
die Verantwortlichen des Massakers teil. Jetzt sagt er, dass
mehrere Prozessteilnehmer*innen der politischen Linie fol-
gen, die es auf den Star seiner Partei, Bukele, abgesehen hat:
„CRISTOSAL2 hat das Ziel aus den Augen verloren und ist
ein politisches Instrument der FMLN geworden.“
Die APDHEM hat eine andere Interpretation zum Auftritt von
Bukele in El Mozote: Ihre Vereinigung sei von der Bukele-
Veranstaltung in El Mozote ausgeschlossen worden, weil
sie gegen dessen Weigerung protestierte, die Militärarchive
zu öffnen (obwohl er dies im November 2019 versprochen
hatte). Nach der gescheiterten Suche nach Archiven in der
Artilleriekaserne von San Juan Opico im letzten Oktober
sagte Tobar unserer Zeitung, dass ihn Regierungsangehörige,
die zwei Monate später den Bukele-Auftritt in El Mozote
organisierten, davor gewarnt hätten, die Regierung wei-
ter zu kritisieren. Zwei Monate vor den Wahlen erheben
sich allenthalben warnende Zeigefinger. Aber das lauteste
Megaphon hat der Präsident. Die Stimme der Opfer ist da-

W
gegen kaum zu vernehmen. von Rolf Satzer

A n diesem 17. Dezember wartete das Publikum stun-


denlang auf den Präsidenten. Die Veranstaltung war auf
er sich hierzulande intensiver mit der politischen
Situation in Chile und vor allem mit der revolutionären
14:00 Uhr angesetzt. Um 14:27 Uhr rollten zwei Arbeiter Explosion seit dem Oktober 2019 beschäftigt, wird ziem-
den blauen Teppich3 aus, auf dem Bukele auf das Podium lich schnell auf Beiträge von Sophia Boddenberg stoßen. Ein
schreiten würde. Um 16:01 desinfizierte ein Angestellter das Glücksfall. Denn während sich diverse Korrespondent*innen
Podium, 20 Minuten später vermaß ein anderer Angestellter in den hiesigen Medien damals umgehend die Frage stell-
den Abstand zwischen den vier Stühlen auf dem Podium. ten, wann denn die Unruhen wieder beendet sein würden,
Um 16:42 Uhr tauchten zwei Hubschrauber auf, und um schreibt sie im Dezember 2019 in ihrem Blog: „Bitte fragt
16:51 Uhr brachte eine Polizeipatrouille aus vier schwarzen mich also nicht, wann die ,Unruhen’ in Chile endlich vorbei
SUVs ohne Kennzeichen und einem Pickup Präsident Bukele sind. Fragt euch selbst, wann ihr anfangt, unruhig zu werden,
vom Hubschrauber zum Veranstaltungsort in El Mozote. während das Wirtschaftssystem, von dem vor allem die rei-
Danach mussten die Opfer und die Bevölkerung warten, bis chen Industriestaaten profitieren, weltweit die Umwelt und
die präsidiale Karawane wieder abgereist war. Drei Stunden die Lebensgrundlage vieler Menschen zerstört. Chile ist ein
zu warten ist nicht wenig, aber die Leute vor Ort sind es ge- Beispiel für die Welt.“
wohnt zu warten. Seit dem Massaker sind 39 Jahre vergan- Warum Chile ein Beispiel für die Welt ist, lässt sich nun
gen. Die juristische Aufarbeitung begann 1990, noch wäh- ausführlich in ihrem aktuellen Buch nachlesen. Die freie
rend des Krieges, wurde aber 1993 abgebrochen, als die Journalistin lebt und arbeitet seit 2014 in Chile; den
Generalamnestie erlassen wurde. Im September 2016, kurz Aufstand und seine Vorgeschichte in diesen Jahren hat sie
nachdem die Amnestie vom Obersten Gerichtshof als ver- von Anfang an begleitet – auch als Teilnehmerin. Eine gu-
fassungswidrig erklärt worden war, wurde der Fall neu auf- te Voraussetzung, um die Leser*innen mitzunehmen auf
gerollt. Seither läuft er – gegen den Willen des Heeres, aber ihrem Weg durch Santiago am Tag der Explosion, dem 18.
dank der unermüdlichen Arbeit der Opferorganisationen, Oktober. So beginnt das Buch, mit einer sehr anschaulichen
des Richters und mittlerweile auch der Staatsanwaltschaft. Schilderung vom „Beginn von etwas viel Größerem“. Dieser
Im September sagte uns Richter Jorge Guzmán, dass 2021 Tag hat eine Vorgeschichte von Kämpfen und Bewegungen,
höchst wahrscheinlich ein Urteil gefällt würde. 40 Jahre auf die im Buch ausführlich eingegangen wird. Aber das erste
nach dem Verbrechen. n Kapitel heißt „Evade!“ – der Schlachtruf der Schüler*innen

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3) Blau ist die Farbe von 1) ZSK – Die Kids sind okay: www.youtube.
Nuevas Ideas com/watch?v=Nb0NMq5UojQ
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Chile – ein Beispiel für die Welt
Zum Buch „Revolte in Chile“ von Sophia Boddenberg

bei ihrem Sturm auf die Metrostationen in Santiago. Wer Primera Línea antworten darauf mit der Parole: „Lieber
immer die Idee dazu hatte: Die Bilder und Videos der sterben wir hier auf der Straße als auf der Warteliste.“ Ein
Schüler*innen in Aktion (bei genauem Hinsehen übrigens ebenso ernstgemeintes wie verständliches Angriffssignal, mit
sehr viele Mädchen in der ersten Reihe – kein Zufall, sie- dem sie auch eine neue Form der Militanz erfinden, zu der
he unten) elektrisieren – hunderttausendfach geteilt – ein nicht nur die erste Reihe, sondern tausende, genauso wich-
ganzes Land. Es geht nicht um die Fahrpreiserhöhung von tige Menschen dahinter gehören. Die Bewegung und ihre
30 Pesos, „es geht um 30 Jahre“. Und Chile wacht auf. Erst Stärke, mit der sie gegen eine extreme Welle von Repression,
sind es Zigtausende und schließlich gehen bei den großen vom militärischen Ausnahmezustand bis zu den täglichen
Demonstrationen Millionen auf die Straße: „Es sind weder Menschenrechtsverletzungen der Carabineros mit Folter,
Parteien noch Gewerkschaften, die diese Bewegung antrei- Mord und Vergewaltigung, bis heute ankämpft, wäre ohne
ben, sondern die Nachbarschaftsversammlungen, die indi- die Basisbewegung der Nachbarschaftsversammlungen, der
genen Völker, die Landbevölkerung und die feministische Asambleas und Cabildos gar nicht zu verstehen. Auch hier-
Bewegung. Die zahlreichen Lieder, Bilder und Personen, die zu findet sich verdienstvollerweise ein Kapitel, ebenso wie
zu Symbolen des Aufstands geworden sind, zeigen, dass sie weitere zu dem unverzichtbaren Anteil der starken feminis-
aus den Erfahrungen der Vergangenheit ihre Kraft zieht. Die tischen Bewegung („Die Frauen sind immer in der ersten
brutale Gewalt und Repression, die die Bevölkerung in dem Reihe!“) sowie der indigenen Mapuche, die seit Jahrhunderten
Land, das heute Chile heißt, in den letzten Jahrzehnten und im Widerstand sind („Es sind nicht 30 Jahre, es sind mehr
Jahrhunderten erlebt hat, hat es nicht geschafft, den Wunsch als 500“). Viele solcher Zitate, die Gespräche und Interviews
nach einer gerechten Gesellschaft zu zerstören. Der Funke war und nicht zuletzt die farbigen Fotos machen das Buch le-
immer da, er musste nur entzündet werden, und das haben bendig und geben auch einen Eindruck von der kulturellen
die Schüler*innen geschafft, die im Oktober 2019 über die Explosion an Kreativität, die ein wichtiges Bindeglied zwi-
Drehkreuze der Metro gesprungen sind“, so die Autorin in schen den tragenden Teilen der Bewegung bildet.
ihrem Ausblick zum Schluss des Buches. Warum ist Chile jetzt ein Beispiel für uns? Weil es, wie

U m die Revolte zu verstehen, ist es notwendig, sich die


Bedeutung des Neoliberalismus und die extrem gewaltsame
1973, wieder um alles geht. Es geht um mehr als eine neue
Regierung oder eine neue Verfassung. Es geht ums Überleben,
um Gesundheit, Bildung und ein Leben in Würde. Und weil
Durchsetzung dieser Kapitalstrategie durch die Militärdiktatur wir dort sehen können, wie verschiedene Bewegungen in ei-
und den Putsch von 1973 zu vergegenwärtigen. „Das neolibe- ner aussichtslos erscheinenden Lage zusammenkommen,
rale Experiment“ heißt das dazugehörige Kapitel, in dem kom- verschmelzen und bei aller Diversität und unterschiedlichen
pakt die theoretischen Hintergründe und ihre dramatischen Positionen mit Respekt vor den anderen mit ihnen agieren
praktischen Folgen geschildert werden. Auch die 30 Jahre und nach vorne gehen. Das hört sich allgemein und einfach
nach der Diktatur, in denen politische Parteien aller Couleur an, ist aber die überaus praktische und schwierige Alternative
diese Strategie weiterverfolgen und damit jede Legitimation (im Buch mit vielen konkreten Beispielen belegt) zum mo-
bei der Masse der Menschen dernen, neoliberalen und flexiblen Kapitalismus, der uns
verlieren. Die Privatisierung gerade (Corona, Klima etc.) exemplarisch vorführt, dass die
faktisch aller Lebensbereiche Gesundheit und das Leben der Menschen eben „nicht alles
(Bildung, Gesundheit, Renten, sind“ und wirtschaftlichen Interessen unterzuordnen sind.
Boden, Wasser etc.) führt zu ei- Also besser selbst unruhig werden, über die Drehkreuze sprin-
ner ausweglosen Verarmung und gen (wie es bei uns übrigens schon viele, gerade Jüngere ma-
den höchsten Selbstmordraten chen1) und sich dabei inspirieren lassen von diesem sehr
in Südamerika. Allein im Jahr guten Buch über ein Land auf dem Weg von der Revolte zur
2018 sterben 26 000 Menschen, Revolution; und von den wunderbaren Menschen, die zu-
während sie auf einer Warteliste sammen mit Mon Laferte singen: „Somos caleta, más que
für Operationen stehen. Die los pacos, somos más choros, peleamos sin guanaco – Oye,
Frontlineaktivist*innen der no tenemos miedo.“ 2 n

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2) Sinngemäß: „Wir sind mehr, mehr als die Bullen, wir Sophia Boddenberg, Revolte in Chile. Ein
sind cooler, wir kämpfen ohne Wasserwerfer. Hey, wir Wendepunkt im Musterland des Neoliberalismus,
haben keine Angst“ aus „Plata Ta Tá“ Unrast Verlag 2020, 144 Seiten, 14, - Euro ila 442
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Wortgewaltiger Zorn
Erste deutschsprachige Ausgabe der Gedichte von Pablo und Winétt de Rokha

V
von Gert Eisenbürger Pablo de Rokha verstand sich zeitlebens als Kommunist,
obwohl er der Kommunistischen Partei Chiles nur rela-
or einiger Zeit traf in der ila eine ziemlich dicke und tiv kurz angehörte. Er war nicht jemand, der sich einer
sehr schön gestaltete zweisprachige Ausgabe (Spanisch/ Parteidisziplin unterwarf. Kommunist zu sein bedeute-
Deutsch) mit Gedichten des chilenischen Lyrikers Pablo de te für ihn, auf Seiten des „Volkes“ zu stehen, worunter er
Rokha (1895-1968), ergänzt durch eine kleine Auswahl von vor allem Arbeiter (Arbeiterinnen kommen bei ihm nicht
Arbeiten seiner Ehefrau Winétt de Rokha (1892-1951), ein. vor) und die von den Großgrundbesitzern abhängige
Beide Namen hatte ich zuvor noch nicht gehört. Weil ich meh- Landbevölkerung verstand.
reren anderen, vom Übersetzer Reiner Kornberger herausge-
gebenen und ins Deutsche übertragenen Texten hierzulande
kaum bekannter lateinamerikanischer Autor*innen manches
S ein Lebenselixier oder zumindest der Antrieb seines
Schreibens scheinen vor allem Zorn und Wut gewesen
Lesevergnügen verdanke, war ich bereit, mich auf den Band zu sein. Wut auf die Kapitalisten, die Faschisten, den US-
einzulassen, obwohl ich mich sonst mit Lyrik eher schwer tue. Imperialismus, die Eigentümer der großen Haciendas, die
Aus der sehr informativen Einleitung Kornbergers erfuhr Salonpoeten – und auf Pablo Neruda. Letzterer war zwar
ich, dass ich mich meiner bisherigen Unkenntnis von Pablo auch (parteitreuer) Kommunist, aber Pablo de Rokha sah
und Winétt de Rokha nicht zu schämen brauche. Denn das ihn als bürgerlichen Dichter. Hier spielte neben ästhetischen
Dichterpaar, mit bürgerlichem Namen Carlos Díaz Loyola Differenzen wohl auch Eifersucht auf den populären und
und Luisa Anabalón Sanderson, war bis zur Jahrtausendwende ökonomisch erfolgreichen Neruda eine Rolle.
auch in seinem Heimatland Chile nur einem vergleichsweise Ein Highlight des vorliegenden Bandes ist das im Original
kleinen Publikum bekannt, was maßgeblich daran lag, dass wie in der Übersetzung sechs Buchseiten lange Poem
ihre Bücher nicht in größeren Verlagen erschienen, sondern „Imprecación de la bestia fascista/Fluch der faschistischen
von den beiden selbst verlegt und vertrieben wurden. Erst Bestie“, das de Rokha 1937 unter dem Eindruck der Berichte
in den letzten 20 Jahren wurden vor allem die Werke Pablo über die Gräuel der Faschisten im Spanischen Bürgerkrieg
de Rokhas neu veröffentlicht und seit Kurzem auch in ver- und im nationalsozialistischen Deutschland verfasste. Mein
schiedene Sprachen übersetzt. Seitdem wird der Dichter als persönliches Lieblingsgedicht ist aber „Oleaje de Eternidades/
einer der wichtigsten Autoren der Moderne in Chile angese- Ewigkeitswoge“, das er 1961 in Erinnerung an seine zehn
hen und mit (seinem Lieblingsfeind) Pablo Neruda auf ei- Jahre zuvor gestorbene Frau schrieb.
ne Stufe gestellt. Sind dessen Zeilen von einer außerordentlichen Zärtlichkeit
Beim Lesen der Gedichte fiel mir als E rstes die energische, mit und Traurigkeit geprägt, nervt in manch anderen Gedichten
vielen umgangssprachlichen Begriffen und Kraftausdrücken der machistische Gestus des Autors, der seine Gegner oder
angereicherte Sprache auf. Mit den bis dahin vor allem für die Objekte seiner lyrischen Attacken bevorzugt als Schwule
die Poesie vorgegebenen Konventionen zu brechen, hat- und Onanisten beschimpft. Wenn man diesen Quatsch
te für Pablo de Rokha eine mehrfache Funktion. Zum ei- liest, vergisst man fast, dass die Lyrik de Rokhas von küh-
nen ging es ihm darum, ner Erneuerung und Radikalität geprägt ist.
sich von der damals an- Letzteres gilt auch für die dichterische Arbeit Winétt de
gesagten schöngeistigen Rokhas. Ihre Gedichte haben eine ganz andere Tonlage,
„Salonlyrik“ abzugren- weniger zornig, weniger von Pathos durchdrungen, wenn-
zen. Zudem war es ihm gleich genauso entschieden wie die Texte Pablo de Rohkas.
wichtig, die „Sprache des Das gilt insbesondere für ihre antifaschistischen Gedichte
Volkes“ zu verwenden wie „Canción de los leales Muertos/Lied für die loya-
und in die Literatur ein- len Toten“ oder „Madres contra el Facismo/Mütter gegen
zuführen, und schließ- den Faschismus“. Ihre Liebesgedichte deuten ebenso wie
lich entsprach das mitun- die entsprechenden Poeme Pablo de Rokhas auf eine tiefe
ter derbe Vokabular wohl menschliche, ästhetische und politische Verbundenheit des
auch seinem Naturell. Dichterpaares hin. n

54
Pablo de Rokha: Mein Herz brüllt wie ein rotes Tier, Gedichte 1916-1966. Mit einer Auswahl
von Gedichten von Winétt de Rokha, Ausgabe in Deutsch und Spanisch, herausgegeben und
ila 442
übersetzt von Reiner Kornberger, Edition Schwarzdruck. Berlin 2020, 276 Seiten, 25 Euro
Feb. 2021
Exil ohne Rückkehr
Zwei neue Bücher beleuchten das Exil der 1943 in Mexiko gestorbenen Alice Rühle-Gerstel

D
von Gert Eisenbürger

ie 1894 in Prag geborene Psychologin und Feministin


Alice Rühle-Gerstel war in den zwanziger und frühen drei-
ßiger Jahren eine der spannendsten linken Intellektuellen
im deutschsprachigen Raum. Zudem zeigen die ab Ende
der siebziger Jahre erstmals veröffentlichten Texte aus ih-
rer Zeit in Mexiko, wo sie ab 1936 als Flüchtling lebte, dass
sie auch eine großartige Schriftstellerin war. Insbesondere
ihr Roman „Der Umbruch oder Hanna und die Freiheit“ ge-
hört für mich zu den wichtigsten Büchern des antifaschisti-
schen Exils. Literarisch weniger ambitioniert, aber durchaus
interessant ist das Bändchen „Kein Gedicht für Trotzki“, in
dem sie in Tagebuchaufzeichnungen ihre Begegnungen mit
dem ebenfalls nach Mexiko geflohenen Lew Dawidowitsch
Bronstein, genannt Trotzki, beschreibt.
Obwohl inzwischen eine Biographie1 und mehrere wissen-
schaftliche Arbeiten über Alice Rühle-Gerstel erschienen und
der Roman sowie die Trotzki-Aufzeichnungen (beide waren
lange vergriffen) neu aufgelegt worden sind, ist diese Autorin
leider immer noch wenig bekannt.
Nun sind 2020 gleich zwei Neuerscheinungen zu beziehungs-
weise von ihr erschienen. Zunächst im Frühsommer das Buch Alice Rühle-Gerstel
„Widerstand zum Exil im Exil: Alice Rühle-Gerstel und Leo
Trotzki in Mexiko“ von Mechthild Podzeit. Die Autorin (Jg. sollte man genau sein: Weder Trotzki noch Rühle-Gerstel wur-
1955), selbst Schriftstellerin, hat den Text als Masterarbeit den wegen ihrer jüdischen Herkunft zu Verfolgten. Trotzki
an der Universität Wien vorgelegt. Sie hatte die spannen- unterlag im Machtkampf in der bolschewistischen Führung
de Idee, die Arbeit nicht klassisch aufzubauen, sondern das nach Lenins Tod, Rühle-Gerstel emigrierte bereits 1932 aus
von ihr angestrebte Gesamtbild als Mosaik aus Aussagen Dresden nach Prag, weil ihr und ihrem Ehemann Otto Rühle
von Zeitgenoss*innen und entsprechenden Exkursen über (Jg. 1874) klar war, dass die Nazis an die Macht kommen
sie anzulegen. würden und sie wegen ihrer links-libertären publizistischen
Dabei bin ich auf Aspekte in der Vita von Alice Rühle- Tätigkeit unmittelbar bedroht wären.
Gerstel gestoßen, die ich bisher kaum beachtet hatte, etwa Die Person Trotzki scheint die Autorin wenig interessiert zu
ihre Tätigkeit als Krankenschwester in einem Militärlazarett haben. Das überrascht, schließlich suggeriert der Buchtitel,
1914/15, worin Podzeit, selbst jahrelang als Krankenpflegerin es gehe um Alice Rühle-Gerstel und Leo Trotzki. Da soll-
in der Intensivpflege tätig, einen Schlüssel für die Hinwendung te schon etwas mehr über sein Leben und seine politischen
Rühle-Gerstels zur Psychologie und zum Engagement gegen Vorstellungen kommen als ein paar Zitate aus Wikipedia-
Autoritarismus und Militarismus sieht. Einträgen. Trotzki dient Podzeit vor allem als Spiegel für ih-
Bei fortschreitender Lektüre fragte ich mich allerdings, was re Interpretation der Situation Rühle-Gerstels im Exil.
viele der Exkurse eigentlich mit Trotzki und Rühle-Gerstel Auch wenn im Untertitel ausdrücklich das Buch „Kein Gedicht
zu tun haben. Manches hilft sicherlich bei der historischen für Trotzki“ genannt ist, bezieht sich Podzeit stärker auf
Einordnung. Doch oft fehlt jeglicher Bezug zum eigentlichen den Roman „Der Umbruch oder Hanna und die Freiheit“.
Sujet, etwa bei den Passagen über den Holocaust oder den Problematischerweise tendiert sie dazu, die Protagonistin
Antisemitismus in der Sowjetunion. Ja, beide kamen aus jü- Hanna mit Alice Rühle-Gerstel gleichzusetzen. Im Roman
dischen Familien. Aber gerade beim Thema Antisemitismus entwickelt eine kommunistische Aktivistin, die 1935 als

55
1) Marta Marková: Auf ins Wunderland. Das Leben
der Alice Rühle-Gerstel, Studienverlag Innsbruck/
Wien, 2. Auflage 2008, 548 Seiten, 49,90 Euro
ila 442
Feb. 2021
Flüchtling aus Deutschland in ihre Geburtsstadt Prag kommt, fernt waren, was schließlich zu einer Abkühlung des zunächst
immer größere Widersprüche zur KPD und löst sich schließ- herzlichen Verhältnisses führte. Otto Rühle, der aus seinen
lich von der Partei. Das hat nichts mit Alice Rühle-Gerstels Konflikten mit politischen Weggefährt*innen immer auch ein
politischem Werdegang zu tun. Die hatte zwar, wie sie im Stück Lebensenergie bezog, wurde für seine Gefährtin immer
Trotzki-Tagebuch erzählt, 1919/20 große Sympathien für die mehr zum einzigen Rettungsanker. Als er am 24. Juni 1943 in
Russische Revolution und sogar ein Bild des jungen Trotzki Mexiko-Stadt überraschend an einem Herzinfarkt starb, verlor
über ihrem Bett hängen, aber der KPD stand sie schon Anfang Alice Rühle-Gerstel jeglichen Lebensmut und beging Suizid.
der zwanziger Jahre sehr distanziert gegenüber. Ihr Roman
ist eine – absolut überzeugende – Kritik an der Politik der
Kommunistischen Parteien vor und nach 1933, aber keine
E nde 2020 erschien das zweisprachi-
ge Kinderbuch „Tommy’s Trip to Mexiko
autobiographische Reflexion. – Tommys Reise nach Mexiko“, zu dem

E in Grundproblem der Arbeit ist, dass Podzeit die Rolle


und die Position Otto Rühles und Alice Rühle-Gerstels
Alice Rühle-Gerstel den Text schrieb und
Otto Rühle die Illustrationen beisteu-
erte. In Mexiko war die finan­zielle Lage
in der Weimarer Republik weitgehend ausklammert und der Rühles prekär. Otto Rühle hatte von
ihre Probleme in Mexiko, vor allem ihre zunehmende 1935 bis Anfang 1938 als Berater im
Vereinsamung, primär auf die Exilsituation zurückführt. Erziehungsministerium gearbeitet. Als
Natürlich sind viele Flüchtlinge aus Nazideutschland am Exil er diese Stelle verlor, war der 63-Jährige
zerbrochen, die Liste der Suizide ist erschreckend lang. Doch ohne Einkünfte. Während Alice durch Übersetzungen ein un-
die Isolation Alice Rühle-Gerstels und Otto Rühles begann regelmäßiges Einkommen erzielen konnte, besann sich Otto
bereits Mitte der zwanziger Jahre in Deutschland. Otto Rühle auf sein Zeichentalent und malte Postkarten mit mexikani-
hatte bis 1925 schon mehrere politische Stationen durchlaufen schen Motiven, die Alice vervielfältigen ließ und verkaufte. Dem
(SPD, Spartakusbund, KPD, die linksradikale KAPD, die räte- Versuch, etwas Geld zu verdienen, entsprang auch die Idee, ein
kommunistische AAUE). Alice Rühle-Gerstel war Vertreterin englischsprachiges Kinderbuch zu machen und es Verlagen in
der Individualpsychologie Alfred Adlers, die sich scharf von den USA anzubieten. Der Text und die Illustrationen entstan-
der Psychoanalyse Freuds abgrenzte. Unter der im Vergleich den, einen Verlag dafür fanden sie aber nicht. Marta Marková,
zu den Freudianer*innen relativ kleinen Gruppe der Adler- Biographin und Nachlassverwalterin Alice Rühle-Gerstels,
Anhänger*innen war Rühle-Gerstel wiederum als Marxistin die das Manuskript 1997 entdeckte, wollte es unbedingt ver-
absolut minoritär. öffentlichen, was ihr nach langer Suche nach einem Verlag
Bei Otto Rühle war es wohl so, dass er in allen politischen schließlich auch gelang.
Zusammenhängen stets die Unterschiede und nicht die Das englische Original ist mit den Aquarellen Otto
Gemeinsamkeiten in den Vordergrund stellte, weshalb es Rühles gestaltet, im Anhang finden sich das Faksimile des
immer wieder zu Brüchen kam. Ab 1925 betrieben Otto Typoskripts von Alice Rühle-Gerstel mit ihren handschrift-
und Alice Rühle weitgehend alleine den Verlag „Am ande- lichen Korrekturen sowie eine deutsche Übersetzung von
ren Ufer“, in dem sie vor allem antiautoritäre pädagogi- Anton Pelinka. Die Geschichte ist wenig spektakulär: Tommy
sche Texte veröffentlichten. Zudem schrieben sie unaufhör- aus Baltimore verbringt seine Ferien bei Bekannten seines
lich und waren dabei intellektuell enorm innovativ: Alice Vaters in Mexiko. Gemeinsam mit Guadelupe, der Tochter
Rühle-Gerstels Bücher „Der Weg zum Wir“ und besonders seiner Gastgeberfamilie, erkundet er die Gegend und be-
„Das Frauenproblem der Gegenwart“ (1973 unter dem Titel schreibt, was er in Mexiko sieht und was ihn fasziniert. Auch
„Die Frau im Kapitalismus“ neu aufgelegt) sind Klassiker wenn das Buch überhaupt nicht politisch ist, wird deutlich,
des Feminismus, Otto Rühles Arbeiten zu Karl Marx, zu den dass die Autorin einen kritischen Blick hat und nicht irgend-
Revolutionen in der europäischen Geschichte und die zwei- welche Sehenswürdigkeiten, sondern den Alltag der ärme-
bändige „Illustrierte Sittengeschichte des Proletariats“ sind bis ren Mexikaner*innen in den Fokus stellt und dabei auch die
heute aktuell. Es ist kein Zufall, dass die Schriften von bei- Geschlechterverhältnisse thematisiert: etwa wenn Tommy
den nach 1968 vom antiautoritären Flügel der Studierenden­ staunend feststellt, dass die Frau schwer beladen zu Fuß ge-
bewegung wiederentdeckt wurden. hen muss, während ihr Mann auf dem Maultier reitet. Die
Solange beide intellektuell produktiv sein und publizieren Illustrationen Otto Rühles fangen die Farben Mexikos, etwa
konnten, war ihre weitgehende Isolation verkraftbar. Als sie der Blumen und indigenen Trachten, sehr gut ein, ohne da-
jedoch im mexikanischen Exil dieser Möglichkeiten beraubt bei klischeehaft oder kitschig zu wirken.
waren, wurde sie für Alice Rühle-Gerstel immer schwerer er- Abgerundet wird die sehr schöne Ausgabe durch ein biographi-
träglich. Trotzki war als Verfolgter und ebenfalls Minoritärer sches Vorwort Marta Markovás, ein von Otto illus­triertes langes
in der internationalen Arbeiterbewegung für beide ein gefühl- Gedicht Alices über die Reise der beiden an den Chapalasee
ter Verwandter, obwohl sie politisch weit voneinander ent- sowie durch zahlreiche Fotos der Rühles in Mexiko. n

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Mechthild Podzeit: Widerstand zum Exil im Exil: Alice Rühle-Gerstel und Otto Rühle: Tommy‘s
Alice Rühle-Gerstel & Leo Trotzki in Mexiko. Anhand Trip to Mexiko – Tommys Reise nach Mexiko,
ila 442
des Tagebuchs der Autorin: Kein Gedicht für Trotzki. Hrsg. und Vorwort: Marta Marková, LIT-Verlag,
Feb. 2021 LIT-Verlag, Münster 2020, 125 Seiten, 39,90 Euro Wien 2020, 122 Seiten, geb., 14,80 Euro
Ich bin wie ein weites Land
Ein neuer Essayband von Gioconda Belli zeigt die Bedeutung der nicaraguanischen Autorin

S
von Klaus Jetz testen sind die Passagen, die Selbsterlebtes wiedergeben:
Erinnerungen an Mutter und Großvater, Erlebnisse aus der
eit fast 50 Jahren ist das Schreiben ihre Berufung, Zeit des Kampfes gegen Somoza und aus dem Exil, Episoden
so Gioconda Belli (Managua, 1948). Hier kennen wir sie aus der Revolutionszeit in den 1980er-Jahren und ihre Zeit
seit rund 30 Jahren als Autorin spannender Werke wie des in den USA nach der sandinistischen Wahlniederlage 1990.
Romans „Bewohnte Frau“ (1988) oder der Autobiografie Im Vorwort geht Belli auch auf die aktuellen Ereignisse in
„Die Verteidigung des Glücks“ (2001). In Nicaragua wurde Nicaragua ein. Die Regierung Ortega-Murillo ist „seit April
sie durch ihre frühen unbefangenen, erotischen Gedichte be- 2018 nach einer Reihe friedlicher Demonstrationen von ei-
kannt. Deren Verdienst liegt darin, in die Literatur Nicaraguas nem autoritären Regime in eine blutige Diktatur umgeschla-
eine freimütige Sicht der Sexualität eingeführt zu haben. Und gen“, die hunderte Menschen getötet oder ins Gefängnis
dies in einer sexistischen, machistischen Gesellschaft, die die gesteckt und über 70 000 ins Exil getrieben habe. Kein gu-
Frau zum Objekt degradiert, ihre „ureigenste Menschlichkeit“ tes Haar lässt Belli an Vizepräsidentin Rosario Murillo. Der
negiert. Machismo könne auch Frauen anstecken, „die männliche
Ihre ersten in „La Prensa“ gedruckten Gedichte sorgten für Rollen übernehmen und Macht ausüben, dabei zu ‚Machos‘
einen handfesten Skandal und machten sie zum „Casus werden und manchmal noch grausamer damit umgehen als
Belli“ zwischen Parteigänger*innen und Gegner*innen. Männer“. Murillo sei eines dieser Beispiele. Sie sei „über den
Letztere diffamierten ihr Werk als „Vaginalpoesie“ und reg- missbrauchten Körper ihrer Tochter Zoilamérica hinweg an
ten sich darüber auf, dass eine Frau den männlichen Körper der Seite ihres Mannes an die Macht gekommen“.
als Gegenstand ihres Verlangens darstellte. Nachzulesen ist In Nicaragua hätten, wie in einigen anderen Ländern Latein­
dies im Vorwort zu dem neuen Essayband der Autorin, des- amerikas auch, linke Regierungen, die vorhatten, „eine
sen Auswahl und Übersetzung Lutz Kliche für den Peter- Alternative zum globalisierten Kapitalismus und zum Neo­
Hammer-Verlag besorgt hat. Die vielen Essays und Artikel, liberalismus zu schaffen, mehr und mehr autoritäre Züge
die sie als Journalistin verfasste, gründeten, so Belli, auf ihrer angenommen.“ Es sei unübersehbar, dass es die Linke trotz
Erfahrung als Aktivistin für die Rechte der Frau, als Guerillera ihrer Erfolge, etwa bei der Armutsbekämpfung oder der grö-
und Mitglied der FSLN, als Regierungssprecherin, später als ßeren Beteiligung indigener Gruppen, immer noch nicht
Kritikerin der Sandinistischen Befreiungsfront unter Führung geschafft habe, sich so zu erneuern, wie es angesichts der
von Daniel Ortega. Erfordernisse im 21. Jahrhundert notwendig wäre.
Die Texte stammen aus verschiedenen Zeiten und Kontexten. Die Stärken des schmalen Bändchens liegen eher in den
Leider hat der Verlag es versäumt anzugeben, wann und wo poe­tischen und literaturhistorischen Schriften. Dazu passt
die Artikel erstmals erschienen sind. Aus welchen Kontexten auch das kurze, aber interessante Nachwort ihres Freundes
sie hervorgegangen sind, bleibt den Leser*innen meist ein Sergio Ramírez. Es handelt sich dabei um dessen Rede aus
Rätsel. Die Texte könnten aber, so Belli, einen Beitrag zur Anlass der Aufnahme Bellis als Ordentliches Mitglied in die
Diskussion heutiger Probleme leisten. nicaraguanische Akademie für Sprache und Dichtung am 20.

D as Grundproblem für viele Missstände sieht sie in der


Ungleichbehandlung von Frauen und Männern. Aus der
August 2019. Ramírez liefert darin eine Einordnung ihres
Werkes und ihrer Rolle in der nicaraguanischen Literatur,
die bis weit in die Mitte des 20. Jahrhunderts eine rein
Ausbeutung der Frauen durch die Männer seien Zustände er- männliche Literatur war. Für eine Frau seien Schreiben
wachsen, die ein gewaltloses Zusammenleben zwischen ver- und vor allem Veröffentlichen eine Unverfrorenheit ge-
schiedenen Ethnien, Kulturen wesen. Erst die 1960er-Jahre brachten die Wende, immer
und Lebensentwürfen verhin- mehr Frauen meldeten sich zu Wort. Bellis Gesamtwerk
derten. Die Themen der Artikel verorte sich jenseits aller Genres, sei „Teil unseres literari-
kreisen um die Beziehungen schen Kanons und des Kanons der Weltliteratur“ und habe
der Geschlechter, die Liebe der „die nicaraguanische Literatur unvergänglicher gemacht“.
Autorin zu ihrer Heimat, de- Ein schönes Lob (auch wenn Ramírez wissen müsste, dass
ren Geschichte und Literatur, man „unvergänglich“ nicht steigern kann, d. Säz), das uns
den Drang zum Schreiben, ih- am Ende des Buches die Bedeutung der Dichterin noch-
re Identität. Am interessan- mals klar aufzeigt. n

57
Gioconda Belli, Ich bin wie ein weites Land (aus
dem Spanischen von Lutz Kliche), Wuppertal 2020,
144 Seiten, 20 Euro ila 442
Feb. 2021
n notizen aus der Bewegung kontrollierte Verbreitung des Coronavirus. Ökologisch führen
bewusste Lockerungen von Umweltauflagen und eine geziel-
te Schwächung der Umweltschutzinstitutionen zu einer bei-
Diskussion und Vortrag: Care-Revolution – Wege spiellosen ökologischen Krise. Diese multiplen Krisen bedin-
zu einer solidarischen Gesellschaft gen und vertiefen sich wechselseitig, während das Land im-
All die Tätigkeiten rund um Haushalt, Betreuung, Pflege und mer tiefer in eine beinahe dystopische Sackgasse geführt wird.
Erziehung sind für eine funktionierende Gesellschaft un- Mehr denn je ist eine wissenschaftliche Analyse und Auf­
verzichtbar und verlangen das volle Engagement der Care- klärung der internationalen Öffentlichkeit zu den vielfälti-
Arbeiter*innen. Trotzdem wird diese Arbeit wenig anerkannt, gen Krisen Brasiliens eine Notwendigkeit in der Forschung,
wird meist schlecht oder gar nicht bezahlt. Ob in der Familie, der wissenschaftlichen und bildungspolitischen Arbeit so-
im Kindergarten, im Krankenhaus oder im Pflegeheim: Care- wie der deutschen Außen- und Entwicklungspolitik zu
Arbeiter*innen fühlen sich überlastet – gleichzeitig erhal- Lateinamerika. Der Bedarf an Analyse, Aufklärung und öf-
ten oft Menschen, die auf die Fürsorge anderer angewiesen fentlicher Aufmerksamkeit begründet das Projekt einer
sind, zu wenig Unterstützung. Die Finanzierung von Care- Veranstaltungsreihe in Deutschland zu Brasilien, in der sich
Arbeit orientiert sich nicht an Bedürfnissen, sondern am Wissenschaftler*innen, Publizist*innen, Politiker*innen,
Profit. Vorausgesetzt wird, dass die
Anzeige
Beschäftigten immer bereit sind,
die Folgen von Mittelkürzungen
durch Mehrarbeit aufzufangen.
Dies ist nicht neu, wird jedoch
in der Corona-Krise besonders
sichtbar.
Gabriele Winker entwickelt mit
dem Konzept der Care-Revolution
die Idee einer grundlegenden ge-
sellschaftlichen Umgestaltung.
Selbstorganisation von Care-
Arbei­ ter*innen, eine radikale
Arbeits­zeitverkürzung und Orien­
tierung an den Bedürfnissen aller
statt an der Profit­maximierung
kön­nen uns zu einer Gesellschaft
führen, in der alle Menschen ge-
nügend Zeit für Sorgearbeit ha-
ben, alle die Unterstützung und
Betreuung erhalten, die sie be-
nötigen. Künstler*innen, Student*innen und Aktivist*innen aus
Der Zoom-Link zu der Veranstaltung wird am 21. Februar Brasilien und Deutschland frei austauschen und voneinan-
auf facebook und dem Blog des FLINT* Komitee veröffent- der lernen können.
licht. Um ihn zugeschickt zu bekommen, meldet euch bitte Weitere Infos: http://mecila.net/BRASILIENDIALOGE-DE/
unter fq-streik-nbg an.
Revolte in Chile –Lesung mit Sophia Boddenberg
Kontakt: Niklas Haupt, Regionalmitarbeiter Bayern (Fürth),
Seit Oktober 2019 haben Millionen Chilen*innen im-
Rosa-Luxemburg-Stiftung Bayern/Kurt-Eisner-Verein, E-Mail:
mer wieder für eine gerechtere Gesellschaft protestiert. Die
niklas.haupt@rosalux.org, Telefon: +49 911 76689900
Protestbewegung des „Chile despertó“ („Chile ist aufgewacht“)
Immer Dienstags: Berliner Brasiliendialoge hat enorme Kraft entwickelt und die Forderung nach einer
Online neuen Verfassung auf die Tagesordnung der chilenischen
Brasilien durchläuft aktuell mehrere simultane Krisen: Politik gesetzt. Sophia Boddenberg ist eine Chronistin die-
Politisch setzt der Zuwachs des Rechtsextremismus die demo- ser Ereignisse. Sie lebt in Chile und berichtet seit Jahren als
kratischen Institutionen sowie das demokratische Miteinander freie Journalistin regelmäßig in deutschsprachigen Medien.
immer mehr unter Druck. Wirtschaftlich verfestigt sich Im Oktober 2020 erschienen ihr Buch „Revolte in Chile –
die seit 2015 anhaltende Stagnation durch die politische Aufbruch im Musterland des Neoliberalismus“ im Unrast
Verharmlosung der Pandemie und die daraus folgende un- Verlag und der Film „Sentido en común“ („Gemeinsinn“).

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ila 442
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Die Veröffentlichungen sollen eine Brücke bauen zwischen Im Schatten des Schadens – Umweltzerstörung
den Menschen, die in Chile für Veränderungen auf die Straße durch internationale Konzerne in Mexiko
gehen, und den Leser*innen in Deutschland. Vom 2. bis 11. Dezember 2019 begleitete „México vía
In der Online-Veranstaltung wird Sophia Boddenberg kurze Berlín“ als Teil einer deutschen Delegation die inter-
Passagen ihres Buches vorlesen. Gemeinsam mit ihr wollen wir nationale #ToxiTour durch Mexiko. Von El Salto im
bei dieser Gelegenheit über die Aufbruchstimmung, Hoffnung Mittleren Westen bis nach Coatzacoalcos an der Golfküste.
und die Diversität der Protestbewegung sprechen, in der sich Die Nationale Versammlung der Umweltgeschädigten
Alte und Junge, Feministinnen und Indigene zusammenfinden. (Asamblea Nacional de Afectados Ambientales, ANAA)
Welche Bedeutung hat die Erinnerung an die Zeit der Unidad hatte eingeladen. Zusammen mit dem in Amsterdam an-
Popular mit Präsident Salvador Allende? Warum braucht Chile sässigen Transnational Institute (TNI) organisierten sie
eine neue Verfassung? Wie steht es um die Perspektiven da- die Tour über sechs Stationen: El Salto (Jalisco), Dolores
für, die neoliberale Wirtschaftsordnung zu verändern? Welche Hidalgo (Guanajuato), Apaxco (Estado de México), Tlaxcala
Rolle spielt Deutschland mit den Verhandlungen über die (Tlaxcala), Puebla (Puebla) und Coatzacoalcos (Veracruz).
Neuauflage des Freihandelsabkommens mit Chile? Aktivist*innen, Wissenschaftler*innen und Politiker*innen
Anmeldung per Mail an: ute.loehning@npla.de aus der EU, den USA, Mexiko, Ecuador und Argentinien nah-
men die Umwelt- und Gesundheitsprobleme vor Ort auf. Die
Bewohner*innen der besuchten Orte leiden beispielsweise
Covid-19 als Krise und Chance einer multilatera-
unter Krebserkrankungen, chronischem Nierenversagen und
len Gesundheitspolitik
anderen gravierenden Krankheiten. Die Auslöser sind an den
Mit der Covid-19-Pandemie stand und steht das eta­
einzelnen Brennpunkten verschieden und reichen von extre-
blierte System der Globalen Gesundheitspolitik auf dem
mer Chemikalienbelastung von Luft und Gewässern, Feinstaub
Prüfstand. Trotz zahlreicher Appelle zu einer solidarischen
durch Zementfabriken bis zur Kontamination des Grund- und
Bewältigung der Krise und der Ausrufung von Impfstoffen
Trinkwassers mit Schwermetallen. Auf deutsche Automobil-
und Medikamenten gegen die Viruserkrankung als „globale
und Chemiebetriebe stießen wir vor allem in El Salto, Tlaxcala
öffentliche Güter“ setzen sich immer wieder nationalistische
und Puebla. Mit der Ausstellung möchte „Mexico vía Berlín“
Politiken durch, bei den wirtschaftlichen Rettungsschirmen
die Folgen der Langzeitfolgen des Neoliberalismus in diesen
wie bei der Sicherung von Vorkaufsrechten für zu entwickeln-
Regionen aufzeigen. Und die Wider­ständigen, die ihm trotzen.
de Impfstoffe. Die globalen multilateralen Institutionen rü-
Link zur Ausstellung: https://mexicoviaberlin.org/toxitour-de/
cken bei der Bewältigung der Pandemie ins Kreuzfeuer der
Kritik und deren globale Lösungsstrategien werden oftmals Corona in Lateinamerika - Analysen und
torpediert (wie bei der Weltgesundheitsorganisation) oder Visionen für eine globale Transformation
spielen nur eine Nebenrolle (wie die UN). Die Hofgeismarer Lateinamerika-Gespräche, die normaler-
Covid-19 stellt die Funktionsweise der etablierten globalen weise im Januar stattfinden, sind dieses Jahr auf das erste Juli-
Politikprozesse auf den Prüfstand und verlangt zugleich ei- Wochenende verlegt worden. Dennoch fand am 22. Januar
nen umfassenden globalen „Health in all Policies“-Ansatz, ein Gesprächsabend zum Thema statt – online.
um die medizinischen, sozialen und ökonomischen Folgen Dr. Kristina Dietz, Kassel, und Prof. Dr. Stefan Peters, Bogota/
der Pandemie zu bewältigen. Gießen, im Gespräch mit Christina Schnepel, Evangelische
Dies wird in drei Beiträgen auf dem Kongress „Armut und Akademie Hofgeismar über Einsichten aus Lateinamerika auf
Gesundheit“ konkretisiert und diskutiert. die globalen Herausforderungen der Pandemie.
Programm, Ablauf und Anmeldung unter: Hier nachzuschauen: www.youtube.com/watch?v=qItE33KeX-
www.armut-und-gesundheit.de dQ&feature=youtu.be

n impressum
Herausgabe und Vertrieb: Informationsstelle Lateinamerika (ila) e.V., Oscar-Romero-Haus, Heerstr. 205, 53111 Bonn • Telefon 02 28 - 65  86  13 •
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Auslandsmehrporto. Abokündigung bis Ende November zum Ablauf des Kalenderjahres.
Redaktion: Wiebke Adams, Hans Georg Aldenhoven, Alix Arnold, Sigrid Becker-Wirth, Uwe Bennholdt-Thomsen, Frederik Caselitz, Konrad Egenolf, Barbara Eisenbürger,
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Feb. 2021
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