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Documenta fifteen – ein Skandal mit Ansage.

Seite 3
4,00 €
Juli  /August
20. Jahrgang
7/82022

Zeitung des Deutschen Kulturrates www.politikundkultur.net


In dieser Ausgabe:
Khalid Bounouar
Aladin El-Mafaalani Documenta fifteen Ukraine Architektur Medien
Nancy Faeser Es hätte doch so schön sein Zwischen Literaturfestivals und Radikal normal: Der Pritzker- Novellierung des Medienstaats-
können: eine documenta Kulturzerstörung: Wie ist es Preisträger Diébédo Francis vertrages: Kulturberichterstat-
Claudia Roth
ohne jeden Antisemitismus, derzeit um die ukrainische Kul- Kéré führt die architektonische tung ist kein hervorgehobener
Mithu Sanyal aber es kam ganz anders. tur bestellt? Berichte von Kul- Weltelite zurück zu den Ur- Auftrag des öffentlich-rechtli-
und viele andere Seite 3 turschaffenden. Seiten 6 bis 10 sprüngen des Bauens. Seite 11 chen Rundfunks mehr. Seite 12

Sirenen
Krieg, Naturkatastrophen, keiner
beschäftigt sich damit gerne. Ge-
rade jetzt, wo uns diese Geißeln
der Menschheit so nahe kommen.
Aber wir müssen diesen Widerwil-
len überwinden und uns endlich mit
dem Schutz unserer Kulturbauten
und Kunstwerke vor Bomben und
Hochwasser, vor Feuer und Plünde-
rung auseinandersetzen.
Noch vor wenigen Monaten hät-
te ich mir in meinen kühnsten Alb-
träumen nicht vorstellen können,
dass Krieg in der Mitte von Europa
ausbricht. Neben dem unbegreifli-
chen menschlichen Leid zeigt der
russische Angriff gegen die U ­ kraine
auch, dass die Kultur ein strategi-

FOTO: PICTURE ALLIANCE/DPA | BORIS ROESSLER


sches Ziel des Aggressors ist. Kul-
turbauten werden offensichtlich
­bewusst zerstört, Museen werden

Gegen Rassismus …
zielgerichtet geplündert.
Zeitgleich nehmen die Naturka-
tastrophen in einem beängstigenden
Ausmaß zu. Die Überflutung im Ahr-
tal jährt sich am 15. Juli. Die T
­ rauer
um die 134 Opfer der Flutkatas­trophe
ist groß, die immensen materiellen …  und für Vielfalt. Seiten 15 bis 27
Schäden an der Infrastruktur und
den Gebäuden sind auch ein Jahr
nach dem Hochwasser immer noch
nicht ansatzweise beseitigt. Biblio-
theken, Archive und Museen wur-

Ethik der Appropriation


den beschädigt oder zerstört.
Wir müssen leider damit rechnen,
dass materielles und immaterielles
Kulturgut bei bewaffneten Konflik-
ten, Natur- und Umweltkatastrophen Kulturelle Aneignung ist ein umkämpfter Begriff
in der Zukunft immer mehr in Mit-
leidenschaft gezogen wird. JENS BALZER Profit zu schlagen.« Darum werden weiße Menschen Globalisierung der Kommunikation und der kultu-

M 
Wir brauchen Notfallpläne, um beschämt, wenn sie Dreadlocks tragen, also Frisuren, rellen Produktion. Seit die elektronischen Massen-
Kulturgut im Katastrophenfall si- ärz 2022: Eine deutsche Musikerin wird die mit einer karibisch-jamaikanischen Kulturtradi- medien und schließlich das Internet jedes irgend-
chern zu können. Wir brauchen Aus- von einem Konzert der Bewegung »Fri- tion assoziiert werden. Schwarze Menschen werden wo auf der Welt existierende Bild, jeden Sound, jede
bildungs- und Trainingsmaßnahmen, days for Future« (FfF) ausgeladen, weil beschämt, wenn sie – wie der afroamerikanische Rap- Art der Selbstinszenierung jederzeit verfügbar ge-
um die Mitarbeiterinnen und Mit- sie als weiße Person Dreadlocks trägt. per Kendrick Lamar, der sich anlässlich seines 2017 macht haben, kann man sich jederzeit von jedem be-
arbeiter in Kultureinrichtungen für Das, so die Begründung der FfF-Ortsgruppe Hanno- erschienenen Albums »DAMN.« als »Kung Fu Kenny« liebigen »kulturellen Artefakt« (Susan Scafidi) aus
den Fall der Fälle schulen zu können. ver, sei rassistisch und kolonialistisch. März 2021: präsentierte – in die Maske von chinesischen Kampf- welcher Tradition auch immer inspirieren, anregen,
Wir brauchen Einsatzpläne zur Ber- Eine Politikerin der Grünen gerät in einen Sturm der sportlern schlüpfen. Asiatische Künstlerinnen wie-
gung, Sicherung und Erstversorgung Empörung, weil sie auf einem Parteitag auf die Frage, derum werden beschämt, wenn sie – wie die K-Pop- Kultur ist Aneignung, was umso
von beweglichem Kulturgut und zum was sie als Kind werden wollte, antwortet: »Indianer- Gruppe Blackpink – ihre Haare zu Braids stylen, also mehr gilt in einer Welt, die ge-
Schutz des unbeweglichen Kultur- häuptling«. Die Sequenz wird aus dem Parteitagsvideo zu Flechtfrisuren aus einer afrikanischen und afro-
gutes vor Ort. Wir müssen jetzt Si- herausgeschnitten, und sie muss sich für ihre unsen- amerikanischen Tradition. prägt ist von der Globalisierung
cherungsräume bauen, in denen das sible, kolonialistische Ausdrucksweise entschuldigen. In jedem einzelnen dieser Fälle lassen sich Grün- der Kommunikation und der
Kulturgut aus Archiven, Bibliothe- Beide Frauen – so die Vorwürfe – haben sich der kul- de dafür finden, warum eine bestimmte Art der kul- kulturellen Produktion
ken und Museen für eine Zeit in Si- turellen Aneignung schuldig gemacht: Als Angehö- turellen Aneignung als unangemessen erscheint; in
cherheit gebracht werden kann. Wir
brauchen eine Notfallallianz Kultur!
Die Kulturstiftung der Länder,
Blue Shield Deutschland, der Deut-
rige einer herrschenden Kultur haben sie sich Arte-
fakte unterdrückter, ehemals versklavter oder sonst
wie marginalisierter Kulturen angeeignet, ohne dazu
das Recht zu besitzen.
manchen lässt sich der – in den sozialen Netzwerken
leicht hochgeschaukelten – Empörung mit Gründen
widersprechen; in vielen Fällen hatte man auch den
Eindruck, dass die Erregung künstlich erzeugt wurde
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herausfordern lassen. Und dass das so ist, bedeutet
zunächst einen Zuwachs an Möglichkeiten, an indi-
vidueller, künstlerischer und existenzieller Freiheit.
Appropriation ist eine schöpferische, kulturstiften-
sche Bibliotheksverband, ICOMOS,
ICOM, die UNESCO-Kommission, der
staatliche Katastrophenschutz und
andere arbeiten daran. Aber es bedarf
Kulturelle Aneignung ist ein umkämpfter Begriff,
geradezu: ein begrifflicher Knotenpunkt der kultu-
rellen Kämpfe in unserer Gegenwart. Wer kulturel-
le Aneignung, Cultural Appropriation, betreibt, der
von Kreisen, die gerne den Eindruck vermitteln wol-
len, dass »die Linken« heute die wahren Gegnerinnen
und Gegner der Meinungsfreiheit sind, weil sie unab-
lässig jemandem etwas verbieten wollen, was doch ei-
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de Kraft. Das ändert aber nichts daran – und insofern
hat die Kritik an kulturellen Aneignungen einen wah-
ren Kern –, dass sie in Gewalt- und Ausbeutungsver-
hältnisse verstrickt ist. Man könnte sagen, dass dies

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einer konzentrierten Anstrengung, macht sich einem vielerorts verbreiteten Verständ- gentlich ein Menschenrecht ist: etwa sich die Haare für jede Art der Kultur gilt. Doch treten diese Ver-
um diese Herkulesaufgabe zu bewäl- nis zufolge dabei einer Enteignung schuldig, eines so zu frisieren, wie es einer oder einem gerade passt. hältnisse in bestimmten Formen der Appropria­tion
tigen. In einem Land, in dem man so- In der stetig sich verlängernden Reihung solcher besonders deutlich zutage: Es sind jene, die der Ge-
gar fast flächendeckend die Sirenen Kulturelle Aneignung ist ein Fälle entsteht gleichwohl vor allem ein Eindruck: Die waltgeschichte des Kolonialismus entspringen. Der

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zur Warnung der Bevölkerung aus umkämpfter Begriff, geradezu: Debatte um Cultural Appropriation kreist gegenwär- postkoloniale Theoretiker Paul Gilroy hat in seinem
Kostengründen demontiert hat, wird tig nur um Kritik und Untersagungen und wird vor al- Buch »The Black Atlantic« beschrieben, wie die Kul-
es nicht einfach werden, die erforder- ein begrifflicher Knotenpunkt lem, wenn nicht ausschließlich, im Modus der Ver- turen ehemaliger Sklavinnen und Sklaven sowie ko-
lichen Vorbereitungen für den Katas- der kulturellen Kämpfe in botsrede geführt. So unmittelbar einsichtig in jedem lonialisierter Völker von den Kolonialherrinnen und
trophenfall zu ergreifen und die da- unserer Gegenwart einzelnen Fall die Einsprüche gegen die Aneignung Kolonialherren angeeignet und ausgebeutet worden
für notwendigen beträchtlichen Fi-
nanzmittel einzuwerben. Aber wir
müssen auch im Kulturbereich end-
lich anfangen, an das
Diebstahls. Die für dieses Verständnis einschlägige
Begriffsdefinition hat die Juristin Susan Scafidi for-
muliert, in ihrem Buch »Who Owns Culture? Appro-
der kulturellen Traditionen von »jemand anderem«
auch sein mögen, so sehr widersprechen diese Ver-
botswünsche in ihrer Summe doch dem ebenso un-
mittelbar einsichtigen Eindruck, dass es so etwas wie
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sind und es bis heute werden – dies ist gewisserma-
ßen die Blaupause für eine sich als prinzipiell verste-
hende Kritik des Appropriierens an sich. Andererseits
taugt die Kultur des »schwarzen Atlantik«, wie man
Undenkbare zu den-
ken, um vorbereitet
zu sein.
priation und Authenticity in American Law« aus dem
Jahr 2005: »Cultural Appropriation, das ist: wenn man
sich bei dem intellektuellen Eigentum, dem traditio-
nellen Wissen, den kulturellen Ausdrücken oder Ar-
in sich geschlossene, mit sich selber identische kul-
turelle Traditionen gar nicht gibt, weil jede Art der
Kultur schon immer aus der Aneignung anderer Kul-
turen entstanden ist; weil sich kulturelle Schöpfung,
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aus Gilroys Ausführungen lernen kann, kaum für eine
juridisch begründete Kritik des ­Appropriierens, wie
Fortsetzung auf Seite 2

4<BUFJTM=gaeaaf>:l;t
Olaf Zimmermann tefakten von jemand anderem bedient, um damit den Beweglichkeit und Entwicklung ohne Appropria­tion Nr. 7-8/2022
ist Herausgeber von eigenen Geschmack zu bedienen, die eigene Indivi- gar nicht denken lässt. Kultur ist Aneignung, was ISSN 1619-4217
Politik & Kultur dualität auszudrücken oder schlichtweg: um daraus umso mehr gilt in einer Welt, die geprägt ist von der B 58 662

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02 SEITE 2 www.politikundkultur.net

EDITORIAL RASSISMUS Fortsetzung von Seite 1

Sirenen Rassismus darf nicht sie sich bei Susan Scafidi findet. Denn und der europäischen Identitären Be- das Ziehen von Grenzen, die einerseits
Olaf Zimmermann 01 geduldet werden wenn man Kultur als Eigentum ansehen wegung. Sie wollen als legitime wei- immer wieder neue, scheinhafte Entfes-
Olaf Zimmermann 15 möchte, muss man sie ja als in sich ge- ße Kultur nur noch gelten lassen, was selungen ermöglichen, mit denen sich
schlossenen Ausdruck eines homoge- keinerlei schwarze Einflüsse mehr auf- der Profit an kulturellen Provokatio-
LEITARTIKEL In welchem Land wollen nen Kollektivsubjekts begreifen. Für die weist, also etwa eine Musik, die ohne nen aufrechterhalten und steigern lässt
wir leben? Kulturen des »schwarzen Atlantik« gilt alle Bezüge auf Blues, Rock ’n’ Roll und
Ethik der Appropriation Claudia Roth 16 das gerade nicht: Sie sind gekennzeich- Hip-Hop auskommt. Dieses Experiment
Jens Balzer 01 net durch Hybridität; die erzwungene war natürlich zum Scheitern verurteilt,
Die Verteidigung der Demo- kulturelle Entwurzelung schlägt hier in weil Popmusik ohne diese Inspiratio-
kratie: »Rassismus ist kein den Reichtum einer im unaufhörlichen nen nur noch marginal und öde ist. Man
SEITE 2 Randphänomen« Werden begriffenen diasporischen Kul- versteht am Beispiel dieser negativen
Nancy Faeser 17 tur um. Sie bildet also gerade das Ge- Spiegelung aber auch intuitiv, dass die
Kulturmensch Barrie Kosky 02 genteil jenes Verständnisses von Kul- Forderung, dass schwarze Kultur nur
Wie setzt sich Deutschland tur, das Gilroy als »völkisch« bezeichnet. noch schwarzen Menschen gehören soll,
mit Rassismus auseinander? Das ist ein provozierender Begriff – bei nirgendwo hinführt: Denn die Diversi-
AKTUELLES Daniel Bax 17 Gilroy im Original deutsch –, doch wäre tät, die wir heute als Kennzeichen einer
zu fragen, ob nicht jede Betrachtung entwickelten, emanzipierten Kultur an-

FOTO: ROLAND OWSNITZKI


Skandal mit Ansage: Antisemitis- Wozu Rassismus? des Appropriierens, die in dieser nur sehen, ergibt sich erst aus der Entfes-
mus bei der documenta fifteen Aladin El-Mafaalani 18 selung von Appropriationen.
Olaf Zimmermann und Gabriele Schulz 03 Es gibt kein Jenseits der Appropria­
Was ist Alltagsrassismus? Es gibt kein Jenseits tion; es ist sogar so, dass jede eman-
Beate Küpper 19 der Appropria­tion; zipatorische Form der Kultur notwen-
INLAND es ist sogar so, dass dig eine appropriierende ist. Was an-
Zu den Bildern 19 dererseits nicht heißt, dass an Formen
Zu wenig investiert jede emanzipatorische der kulturellen Aneignung keine Kri-  – und an denen entlang andererseits
Kerstin Radomski 04 Integration und Rassismus im Ar- Form der Kultur not- tik mehr geübt werden darf. Eine Ethik unaufhörlich um Anerkennung ge-
beitsmarkt: Zusammen arbeiten wendig eine appropri- der Appropriation sollte aber nicht in kämpft werden soll. Divide et impera:
Kulturelle Substanz sichern Caroline Strobel 20 der Form des Verbots, sondern in jener In ihrer unreflektierten (Verbots-)Va-
Gesine Lötzsch 04
ierende ist des Gebots formuliert werden: Appro- riante ist die Kritik der Appropriation
»Ihre Namen sollen priiere, aber tue es richtig – indem du dem hegemonialen Diskurs der neo­
Möller meint: Abschied von lebendig bleiben« etwas Negatives, zu Kritisierendes, zu die Machtverhältnisse reflektierst, die liberalen Fragmentierung und Entsoli-
alten Denkgewohnheiten Serpil Temiz Unvar im Gespräch Verbietendes sieht, nicht zwangsläufig sich in der Appropriation spiegeln; und darisierung näher, als sie es weiß. Dage-
Johann Michael Möller 04 mit Maike Karnebogen 21 auf den Holzweg jener Identitätslogik indem du aus unterschiedlichen Ein- gen wäre eine Ethik des Appropriierens
führt, der letztlich ins Völkische führt? flüssen etwas Neues entstehen lässt, in zu setzen, die um die Ursprungslosig-
Lernziel: Gleichwertigkeit. Um die innere Widersprüchlichkeit dem die Elemente sichtbar und reflek- keit aller kulturellen und Selbst-Ver-
EUROPA Für die Etablierung einer dieser Position zu verstehen, kann tiert bleiben, aus denen das Kunstwerk, hältnisse weiß; die das Fremde im Eige-
diskriminierungssensbilen man sich auch die Frage stellen: Was die Selbstinszenierung, das »kulturel- nen freudig umarmt – und der die Soli-
»Die Osteuropaforschung Schulkultur wäre das Gegenmodell? Wie könn- le Artefakt« zusammengesetzt ist. Die darität im Diversen wichtiger ist als der
hat sich zu lange nur auf Sanem Kleff 21 te etwa eine »weiße« Kunst aussehen, wahre Bedrohung der kulturellen Frei- Kampf aller gegen alle.
Russland fokussiert« die keine Elemente anderer, nichtwei- heit und Diversität liegt heute nicht in
Anna Artwińska im Gespräch 05 In der Gesellschaftsmitte ßer Kulturen mehr appropriiert? Die- der Ausbeutung von Kulturen durch an- Jens Balzer ist Journalist und Buch­
verankert ses Experiment ist gemacht worden: bei dere Kulturen – sondern vielmehr darin, autor. Im August 2022 erscheint
Unterschiedslose Zerstörung Fatih Abay 22 den kulturellen Akteurinnen und Ak- dass jede Art des entfesselten Spiels der sein Buch »Ethik der Appropriation«
Kultur global mit Klaus-Dieter Lehmann 06 teuren der amerikanischen Alt-Right Diversität eingehegt werden soll durch (Matthes & Seitz Berlin)
»In der Mehrheitsgesellschaft
Das Meridian-Festival geht ist wenig Wissen über Asiatische
trotz Krieg weiter Deutsche vorhanden«
Evgenia Lopata im Gespräch Lizza May David und Sun-Ju Choi 22

Kulturmensch Barrie Kosky


mit Tanja Dückers 07
»Wir dürfen nicht einfach ein
Verständigung, eine ungerechtes System ein bisschen
verpflichtende Aufgabe diverser machen«
Regine Möbius 08 Mithu Sanyal im Gespräch Zehn Jahre hat Barrie Kosky die Zu seinen jüngeren Arbeiten an der
mit Theresa Brüheim 23 Komische Oper Berlin als Intendant Komischen Oper Berlin zählt unter
Objektive Berichterstattung geprägt. Nun hat er sich mit der jiddi- anderem »Die Zauberflöte«, die in-
gewährleisten Das perfide Apriori schen Revue »Barrie Koskys All-Sin- zwischen weltweit zu sehen ist und
Katrin Budde 08 des Rassismus ging, All-Dancing Yiddish Revue« 2019 in mehreren Kategorien mit den
Julius Heinicke 24 vom Publikum, seinen Sängerinnen renommierten australischen Help-
»Das Fehlen von Kultur ist und Tänzern verabschiedet. Damit mann Awards ausgezeichnet w ­ urde.
für die russischen Kriegs- Aus der Mitte der Vielfalt präsentiert Kosky eine rauschende In der Spielzeit 2020/21 inszeniert
gräuel verantwortlich« Der Comedian Khalid Bounouar Revue, die ein vollkommen neues, Barrie Kosky an der Komischen Oper
Svetlana Müller im Gespräch 09 im Gespräch mit Theresa Brüheim 25 dem Publikum noch weitgehend Berlin beispielsweise »Die Großher-
­unbekanntes Kapitel jiddischer Kul- zogin von Gerolstein« und »Pier­
Die Freiheit des Wortes Toleranz fördern tur aufschlägt. Unter der Leitung von rot Lu­naire«, 2021/22 folgen »Auf-
Astrid Vehstedt 09 Fabrice Banon, Castello Sèmèvo ZODO und Adam Benzwi und in den Choreogra- stieg und Fall der Stadt Mahagonny«
Ngo Maï Kibassahak Cécile Latrinité 25 fien Otto Pichlers feiern langjährige und »Barrie ­Kosky’s All-Singing, All-
Wegbegleiterinnen und Wegbeglei- Dancing Yiddish Revue«. Am Berli-
DOKUMENTATION »Rassismus im Internet ist für ter gemeinsam mit Mitgliedern des ner E
­ nsemble inszenierte er 2021 »Die
FOTO: JAN WINDSZUS PHOTOGRAPHY

die Opfer viel größerer Stress« Ensembles und einer kleinen Tanz- Dreigroschenoper«, die ihre Premiere
Stellungnahme des Der Kriminalpsychologe Jan-Gerrit Keil truppe die Liebe, die Musik – und den im August 2021 feierte.
Deutschen Kulturrates 10 im Gespräch mit Ludwig Greven 26 Künstler Barrie Kosky. Ein krönender Doch nicht nur die Komische Oper
Abschluss einer großen Ära an konnte von Kosky profitieren: Enga-
Die Diskriminierungsmuster setz- der Komischen Oper Berlin. gements als Opernregisseur führten
INTERNATIONALES en sich im digitalen Raum fort Das Ende seiner Intendanz sei kein Barrie Kosky unter anderem an die
Anna-Lena von Hodenberg 27 Grund für Nostalgie, sagte Kosky be- Bayerische Staatsoper München, wo
Zurück zu den Ursprüngen reits vor Beginn seiner letzten Spiel- er zuletzt 2021 Strauss’ »Der Rosen­
des Bauens zeit an der Komischen Oper: »Wie kavalier« erfolgreich in Szene setzte.
Philipp Meuser 11 DAS LETZTE eine Aufführung, so kommt auch mei- Weiterhin inszenierte er beispiels­
ne Intendanz langsam zu einem Ende. weise am Royal Opera House in Lon-
Kurz-Schluss Das ist kein Grund für Melancholie, Wir freuen uns auf viele weitere don, an der Opéra national de Paris,
MEDIEN Theo Geißler 28 für Nostalgie oder Beweihräucherung, Aufführungen! an der Dutch National Opera Amster-
sondern ein ganz natürlicher und Barrie Kosky ist seit 2012 Inten- dam, an der Oper Frankfurt und am
Flexibler und teurer News aus der P&K-Prawda 28 notwendiger Vorgang. Aufführun- dant und Chefregisseur der Komi- Opernhaus Zürich. 2017 debütierte er
Helmut Hartung 12 gen müssen enden, damit neue, span- schen Oper Berlin. Am Ende seiner mit »Die Meistersinger von Nürnberg«
Karikatur 28 nende Theateraugenblicke entstehen ersten Spielzeit wurde die Komische erfolgreich bei den Bayreuther Fest-
können. Intendanzen müssen enden, Oper Berlin in der Kritikerumfrage der spielen, 2019 erfolgte mit »Orphée
KULTURELLES LEBEN Impressum 28 damit neue künstlerische Wege ein- Zeitschrift »Opernwelt« zum »Opern- aux enfers« sein gefeiertes Debüt bei
geschlagen werden können.« haus des Jahres« gewählt, 2016 wurde den Salzburger Festspielen.
Ost-West-Fusion: Hanji-Papier Seinen Intendantenposten über- Kosky in derselben Umfrage »Regis- Der in Melbourne geborene K ­ osky
und Acrylfarbe nehmen die bisherige geschäftsfüh- seur des Jahres«. 2014 erhielt er den war 1996 Künstlerischer Leiter des
Die Künstlerin SEO im Porträt rende Direktorin Susanne M ­ oser und International Opera Award als »Re- Adelaide Festivals in Australien und
von Andreas Kolb 13
DER AUSBLICK 9 22 Operndirektor Philip Bröking. Ganz
verloren geht Kosky der Komischen
gisseur des Jahres«, im darauffolgen-
den Jahr wurde die Komische Oper
inszenierte an der Opera Australia,
Sydney Theatre Company, Melbourne
Claussens Kulturkanzel: Oper aber nicht. Zukünftig wird er Berlin mit dem International Opera Theatre Company und bei den inter-
Kampf der Wörter Die nächste Politik & Kultur weiter als Hausregisseur in Berlin Award in der Kategorie »Ensemble des nationalen Festivals in Sydney und
Johann Hinrich Claussen 13 erscheint am 1. September 2022. inszenieren und in den kommenden Jahres« ausgezeichnet. Weitere Aus- Melbourne. Von 2001 bis 2005 war
Im Fokus steht das Thema fünf Spielzeiten jeweils zwei Insze- zeichnungen für Kosky und die Komi- er Ko-Intendant des Schauspiel­
Personen & Rezensionen 14 »Archäologie«. nierungen pro Jahr realisieren. sche Oper Berlin folgten. hauses Wien.
Politik & Kultur | Nr. 7-8 / 22 | Juli /August 2022
AKTUELLES 03

Skandal mit Ansage


Antisemitismus bei der documenta fifteen
OLAF ZIMMERMANN & heit der Meinung und die Freiheit der heit überschritten, wie der Anwalt Pe- Der Fünf-Punkte-Plan von Kultur- Statement. Dies alles war lange vor der
GABRIELE SCHULZ Kunst sind Wesenskern unserer Ver- ter Raue in der Süddeutschen Zeitung staatsministerin Roth ist eine klare An- Eröffnung der documenta fifteen be-

E 
fassung. Kritik an israelischer Politik schreibt. Aus seiner Sicht wird »in Gän- sage an die Gesellschafter und die Ge- kannt. Wie dann, ohne die Werke vor-
s hätte doch so schön sein kön- ist erlaubt. Doch wo Kritik an Israel ze und ohne Zweifel der (…) Tatbestand schäftsführung der documenta, so wird her zu sichten, vollmundig vonseiten
nen: eine documenta fifteen umschlägt in die Infragestellung sei- der Volksverhetzung nach § 130 StGB es nicht weitergehen. An einer docu- der documenta-Geschäftsführung zu-
ohne jeden Antisemitismus. ner Existenz, ist die Grenze überschrit- erfüllt« und deswegen kann sich nicht gesichert werden konnte, dass keine
Eine documenta fifteen, die ten.« Und weiter: »Daher wende ich auf die »verfassungsrechtliche Garan- Das documenta-­ antisemitischen Werke zu sehen sein
unter Beweis stellt, dass alle Warnun- mich heute auch an die Geschäftsfüh- tie der Kunstfreiheit« berufen werden. Desaster sollte Anlass werden, bleibt schleierhaft. Zumindest
gen, die im Vorfeld lautstark geäußert rung und an die Gesellschafter der do- Das Banner ist zum Zeitpunkt des Ver- zeugt es von erheblicher Naivität.
wurden, wahrgenommen wurden, sich cumenta. Es gehört zum Prinzip dieser fassens dieses Beitrags nicht mehr in zu einer selbstkriti- Das documenta-Desaster sollte An-
mit ihnen auseinandergesetzt wurde Weltkunstschau, dass jede Ausstellung Kassel zu sehen. Es wurde zunächst ver- schen Diskussion im lass zu einer selbstkritischen Diskussi-
und dass Antisemitismus bei der do- unabhängig kuratiert wird. Das weiß hängt und dann abgehängt. Kulturbetrieb sein on im Kulturbetrieb sein, inwiefern la-
cumenta fifteen tatsächlich keine Rol- ich. Und die enorme Bedeutung der do- Kulturstaatsministerin Claudia Roth tenter Antisemitismus oder zumindest
le spielt. Eine documenta fifteen mit cumenta als das Forum der globalen reagierte auf den Antisemitismus bei menta mit den bisherigen Strukturen Antizionismus zum Selbstverständnis
spannender Kunst, die so in Deutsch- Kunstgemeinde hat ganz sicher auch der documenta am 23. Juni 2022 mit ei- wird sich der Bund nicht mehr finan- von Teilen des Kulturbetriebs gehört.
land bislang nicht zu sehen war. Eine mit der großen künstlerischen Freiheit nem Fünf-Punkte-Plan, der unter an- ziell beteiligen. Die Strukturreform ist Immer öfter ist zu hören, dass doch
documenta fifteen, die zu Debatten zu tun, die jede Kuratorin, jeder Kurator derem vorsieht: in die Zukunft gerichtet. Aktuell, auch genug an die Opfer der Shoah gedacht

FOTO: PICTURE ALLIANCE/DPA | UWE ZUCCHI


Mit schwarzem Tuch verhüllt: das Großgemälde »People’s Justice« mit den umstrittenen Figuren des Kollektivs Taring Padi

über Kunst, künstlerische Ausdrucks-  – oder wie in diesem Jahr das kuratie- ҄ die lückenlose Aufklärung durch daran lässt der Fünf-Punkte-Plan von worden sein, jetzt seien endlich andere
formen und Positionen einlädt. rende Kollektiv – genießen. Aber: Die die documenta-Geschäftsfüh- Roth keinen Zweifel, geht es darum, die Opfergruppen dran. Vielen Unterstüt-
Doch so schön war und ist es nicht! Verantwortung bleibt ja. Verantwortung rung und das Kuratoren-Kollektiv, Ausstellung zu sichten und zu durch- zern dieser These, scheint nicht klar zu
Eigentlich ist es kaum zu fassen, mona- lässt sich nicht outsourcen.« wie es überhaupt zur Ausstellung forsten, ob noch andere antisemitische sein, dass diese Haltung der Schluss-
telang wurde davor gewarnt, dass an- Dann zwei Tage nach der Eröffnung des antisemitischen Banners kom- Arbeiten zu sehen sind. strichdebatte aus dem rechtsextremen
tisemitische Kunstwerke in Kassel ge- der documenta fifteen der »Knaller«. men konnte sowie die Sicherstel- Lager ähnelt.
zeigt werden könnten. Monatelang wur- An einem prominenten Platz wurde das lung, dass keine weiteren antisemi- Wir sind fest davon überzeugt, dass
Es braucht mehr
de die Warnung ausgesprochen, dass großformatige Banner des indonesi- tischen Werke zu sehen sind; dabei die europäischen Staaten und vor allem
die Auseinandersetzung mit Kolonia- schen Künstlerkollektivs Taring Padi soll auch die Expertise des Zentral- Vermutlich wird in einigen Wochen die die Kulturinstitutionen in Europa sich
lismus und Postkolonialismus die Erin- der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. rats der Juden in Deutschland ge- Aufregung um die documenta fifteen ab- viel stärker als bislang üblich mit der
nerung an die Shoah und vor allem den Dieses Banner, das den Freiheitskampf nutzt werden, ebben. Neue Katastrophen werden die kolonialen Vergangenheit auseinan-
gegenwärtigen Antisemitismus nicht gegen den indonesischen Diktatur Su- ҄ die Klärung der Verantwortlich­ Zeitungsspalten, Nachrichten und So- dersetzen müssen. Essenziell ist weiter,
überdecken, verdrängen oder ablösen harto zeigen soll, lebt unter anderem keiten von documenta-Geschäfts- cial-Media-Kanäle fluten. Das darf aber sich mit dem zeitgenössischen künst-
darf. Monatelang wurde der Dialog an- von antisemitischen Klischees. Gierige führung, Kuratorinnen und Kurato- nicht dazu führen, sich nicht mit dem lerischen Schaffen in anderen Weltre-
geboten. Vergeblich. Juden, karikierend mit Schläfenlocken, ren sowie Aufsichtsratsvorsitzenden Kernproblem der documenta fifteen aus- gionen zu befassen, es – wie in der Ver-
Vergeblich auch die klaren Worte, die blutunterlaufenen Augen und Haken- und weiteren Gremienmitgliedern; einanderzusetzen. Die Findungskom- gangenheit bereits geschehen – auch
im Zusammenhang mit der Veranstal- nase dargestellt, gehören zu den Blut- dazu gehört auch die Darlegung, ob mission hatte sich bewusst für das in- bei Weltausstellungen wie der docu-
tungsreihe »We need to talk« gefun- saugern dieser Welt. Dieses Banner ar- die Verantwortlichkeiten in Codes donesische Künstlerkollektiv ruangrupa menta zu präsentieren. Zur Kunst ge-
den wurden. Gerade diese Veranstal- beitet mit einer Bildsprache, die an den of Conduct vereinbart und klar ab- entschieden. Künstlerinnen und Künst- hören der Streit und die Auseinander-
tungsreihe sollte die Gelegenheit bie- »Stürmer« erinnert. Als wäre dies alles gegrenzt waren, ler, aber vor allem auch Aktivistinnen setzung um gelungene oder misslunge-
ten, sich mit dem Komplex Erinnerung nicht schon schlimm genug, wird sich, ҄ die zwingende Verbindung einer und Aktivisten aus dem Globalen Sü- ne Werke, um das, was gefällt, und je-
an die Shoah, Antisemitismus heute als der Protest immer lauter wurde, lau künftigen finanziellen Förderung den sollten zu Wort kommen. Ruang- nes, was missfällt. Weltausstellungen
und Bearbeitung von Kolonialismus entschuldigt, dass nicht die Gefühle an- der documenta durch den Bund an rupa hat die documenta-Geschäftsfüh- wie die documenta leben von diesem
und Postkolonialismus auseinander- derer Menschen verletzt werden soll- eine unmittelbare Einbindung in rung und auch Öffentlichkeit über sei- Diskurs – Beispiele hierzu gibt es in der
zusetzen. Nachdem der Zentralrat der ten. Geht es noch, möchte man dem die Strukturen der documenta, ne Arbeitsweise nicht im Dunkeln ge- Vergangenheit genug. Antisemitismus
Juden moniert hatte, dass er in die Ge- Künstlerkollektiv Taring Padi zurufen. ҄ die Durchführung einer grund­ lassen. Es wurde offen ausgesprochen, hat allerdings in der Kunst keinen Platz.
spräche nicht eingebunden werden soll- Es geht nicht um Verletzung von Ge- legenden Strukturreform der dass ihre Freunde dort ihre Arbeit zei- Antisemitismus ist keine Meinung, son-
te, wurde dieser Fehler nicht korrigiert, fühlen. Es geht auch nicht darum, dass documenta, gen sollten. Indem Künstlerinnen und dern diskreditiert Juden, weil sie Juden
sondern die Diskussionsreihe kurzer- das Banner bereits in anderen Ausstel- ҄ die Einbindung internationaler Künstler aus der Westbank eingeladen sind. Das ist nirgendwo hinnehmbar
hand einfach abgesagt. lungen unbeanstandet gezeigt wurde. ­Expertise sowie der Pluralität der wurden, wurde ein klares Statement und im Kulturbereich schon gar nicht.
Dann zur Eröffnung die klaren Wor- Antisemitismus ist nicht hinnehmbar, deutschen Gesellschaft in die Auf- gemacht. Und dabei geht es nicht da-
te von Bundespräsident Frank-Walter egal ob er von einem indonesischen sicht der documenta; der Zentral- rum, ob ggf. auch jüdische Künstlerin- Olaf Zimmermann ist Geschäftsführer
Steinmeier. Er sagte unter anderem: Künstlerkollektiv oder von Extremisten rat der Juden wird hier als einzu- nen und Künstler ausstellen, die nicht des Deutschen Kulturrates. Gabriele
»Kunst darf anstößig sein, sie soll De- in Deutschland verbreitet wird. Beim bindender Partner ausdrücklich in Israel leben. Es geht vielmehr um ein Schulz ist Stellvertretende Geschäfts-
batten auslösen. Mehr noch: Die Frei- Banner wird die Grenze der Kunstfrei- ­erwähnt. anti­zionistisches und anti­israelisches führerin des Deutschen Kulturrates
04 INLAND www.politikundkultur.net

Abschied von alten


Denkgewohnheiten
Die SPD quält sich mit alter Ostpolitik

JOHANN MICHAEL MÖLLER cherheitsdenken des Ostblocks. An


den virulenten Freiheitsbewegungen
D ie jüngste Empörungskurve ver- in der sowjetisch beherrschten Welt
lief besonders steil. Zwischen der Er- hatte man in der SPD sehr viel weni-
öffnung der documenta in Kassel und ger Interesse; man hat sie mithin als
den ersten Rücktrittsforderungen an störend empfunden. Als der Archi-
die Verantwortlichen lagen keine paar tekt dieser Ostpolitik, Egon Bahr, im

FOTO: PIXABAY
Tage. Und der Kontrast zwischen den Herbst 1981 gefragt wurde, so erin-
fahrlässig naiven Erwartungshym- nert sich Winkler, ob die Sowjetuni-
nen zu Beginn und der inzwischen on denn ein Recht habe, »in Polen mi-
Wurde in die Chor-­und Orchestermusik zu wenig investiert? nahezu einhelligen Verurteilung des- litärisch zu intervenieren, wenn die-
sen, was man dort sieht, könnte kras- ses seine Zugehörigkeit zum War-
ser nicht sein. Kulturstaatsministerin schauer Pakt infrage stellen sollte«,

Zu wenig investiert
Es ist daher falsch, dass die Ampelko- Claudia Roth, die, anders als ihre grü-
alition den Etat des Humboldt Forums ne Parteifreundin in Hessen, ein fei-
gekürzt und die Haushaltsmittel für die nes Gespür für wechselnde Winde
Stiftung Preußischer Kulturbesitz ge- und Machtverhältnisse besitzt, weiß,
Die CDU/CSU will zurück mit Fundament unseres kulturellen sperrt hat. In der Haushaltsdebatte des was jetzt auf dem Spiel steht. Die In-
zur pragmatischen Lebens. Ein Dorffest ohne Blaskapel- Deutschen Bundestages wurde sogar tegrität der jüdischen Welt genau-
le ist wohl kaum denkbar und auch in der Eindruck vermittelt, man habe pau- so wie die ehernen Grundsätze unse-
Haushaltspolitik Großstädten gibt es zahlreiche Laien- schal Mittel gesperrt und gekürzt, weil rer eigenen, wie überhaupt der zivilen
chöre, in denen sich viele Menschen etwa einige Beschriftungen an den Vi- Gedenkkultur. Aber Roth weiß natür- war die Antwort von Bahr lapidar:
KERSTIN RADOMSKI in ihrer Freizeit engagieren. Hier wür- trinen im Humboldt Forum einzelnen lich auch besser als andere, dass jenes »Aber selbstverständlich.« Es war Kal-
de ich mir wünschen, dass mehr finan- Abgeordneten der Regierungsmehrheit grünalternative Milieu, das sie reprä- ter Krieg und die Politik wurde be-

S 
o wie in Kunst und Kultur häufig zielle Hilfe direkt in den Vereinen vor missfielen. Das ist der falsche Weg! Hier sentiert, empfänglich war für jenen stimmt vom Ost-West-Konflikt. Trotz-
nicht alles Gold ist, was glänzt, Ort ankommt und die Menschen in ih- wird außer Acht gelassen, dass zwi- dem herrschte ein politisches Grund-
entpuppt sich der erste Bundes- rer Leidenschaft für die Musik unter- schen dem Humboldt Forum und den muster in vielen Köpfen, dass die Welt
haushalt nach der Bundestagswahl stützt werden. Herkunftsländern der Objekte viele Ko- vor allem den großen Mächten ge-
als nicht ausreichend – leider auch Über den Kulturetat werden auch operationen bestehen und die Rück- Die eigene Vergangen- hört. Für den Freiheitswillen der Po-
im Einzelplan des Bundeskanzleram- zahlreiche Museen und andere Kul- gabe einiger Skulpturen aktiv voran- heit bleibt mächtig; len, der Balten oder gar der Ukrai-
tes, dem der Etat der Beauftragten der tureinrichtungen gefördert. Eine gute getrieben wird. Die Ampelkoalitionäre das kollektive Gedächt- ner gab es in diesem Denken kaum ei-
Bundesregierung für Kultur und Medi- Mischform aus Museum und Kultur- sollten zur Kenntnis nehmen, dass es nen Raum. Angesichts der polnischen
en zugeordnet ist. Wenn die Ampelko- einrichtung stellt das neue Humboldt auch Fälle gibt, in denen die Herkunfts-
nis wirkt nach Gewerkschaftsbewegung Solidarność
alition in der Tradition ihrer Vorgän- Forum in Berlin dar. Auf dem ge- länder die Ausstellung ihrer Kunst im sprach der SPD-Fraktionsvorsitzende
ger die Mittel erhöht, ist dies zunächst schichtsträchtigen Grundstück an der Humboldt Forum in Deutschland gera- Herbert Wehner im August 1981 so-
eine begrüßenswerte Fortsetzung des Spree wurde nach dem Abriss der Rui- de wünschen. Ich hoffe, dass dieser Feh- sich postkolonial nennenden Mei- gar von einem gefährlichen »Ermun-
bisherigen Kurses. Bei genauerer Be- ne des Palastes der Republik von 2012 ler im Haushalt für 2023 korrigiert wird nungsstrom, von dem man weiß, wel- terungssog«. Und Günter Gaus verlieh
trachtung zeigt sich jedoch, dass der bis 2020 das barocke Berliner Schloss und die Ampel zu der bewährten prag- ches ideologische Treibgut er mit sich noch wenige Wochen vor dem Mau-
Aufwuchs mit sieben Prozent unter in Teilen wieder aufgebaut. Ausgestellt matischen Haushaltspolitik der vergan- führt. Viele haben es befürchtet, man- erfall seiner großen Sorge Ausdruck,
den durchschnittlichen Steigerungsra- sind heute im Humboldt Forum meh- genen Jahre zurückkehrt. che haben gewarnt, nur gehandelt hat dass jetzt ein großer Teil von Europa
ten der Amtszeit von Kulturstaatsmi- rere Sammlungen mit Exponaten aus Vor allem bin ich grundsätzlich der bis zuletzt keiner. Wieder einmal gibt womöglich ins Rutschen kommt. Sich
nisterin Monika Grütters (CDU) liegt. aller Welt. Ich möchte alle dazu auf- Ansicht: Bevor Mittel gekürzt oder ge- sich die verantwortliche Führungs- trotzdem für den Freiheitswillen der
Bei wichtigen Themen wurde lei- rufen, sich noch stärker mit diesem sperrt werden, muss man in den Dia- ebene komplett überrascht. Da droht Mittel- und Osteuropäer einzusetzen,
der zu wenig investiert, etwa bei der jungen Ort auseinanderzusetzen, und log mit den betreffenden Institutio- ein Konflikt und keiner geht hin. roch in bestimmten Kreisen immer
Chor- und Orchestermusik: Rund wünsche mir, dass sich das Humboldt nen treten! Man wird den Grünen in diesen noch reaktionär; und über die blutigs-
14 Millionen Menschen engagieren Forum zu einem Ort entwickelt, wo – Umbruchszeiten attestieren müssen, ten Kapitel in der deutsch-ukraini-
sich in Deutschland in Laienchören ganz im Sinne der Aufklärung und der Kerstin Radomski MdB ist Mitglied dass sie den weitesten Weg von ihrer schen Geschichte breitete man lieber
und  -orchestern. Besonders im länd- Weltoffenheit – den Kulturen Afrikas, im Haushaltsausschuss und Bericht- weltanschaulichen Gartenkolonie zu das Leichentuch aus. Winkler erinnert
lichen Raum ist die Amateurmusik fest Asiens, Amerikas und Ozeaniens eine erstatterin der CDU/CSU-Fraktion für den heutigen politischen Realitäten sich an ein Streitgespräch mit dem
in der Gesellschaft verankert und so- Bühne geboten wird. den Etat des Bundeskanzleramtes zurückgelegt haben. Aber man kann damaligen SPD-Bundesgeschäftsfüh-
an Claudia Roth und dem Wunschbild rer Peter Glotz, der auf den berühm-
vom Postkolonialismus sehen, wie ten österreichischen Staatskanzler

Kulturelle Substanz sichern


schwer der Abschied von alten Denk- der Restaurationszeit angesprochen
gewohnheiten fällt. Das traurigste »wie aus der Pistole geschossen« ge-
Beispiel dafür erlebt man zurzeit bei antwortet haben soll: was man denn
der SPD. Sie quält sich mit ihrer alten gegen Metternich haben könne?
Die Linke fordert mehr Kultur vor Ort Ostpolitik und würgt das B ­ randt’sche Angesichts einer solchen Vorge-
Erbe doch nicht herunter. Für die schichte ist die heutige Haltung des
GESINE LÖTZSCH regierung hatte nichts Besseres zu tun, lich wurde das beim Humboldt Forum. deutsche Sozialdemokratie geht ein Bundeskanzlers gegenüber der Ukra-
als ein gigantisches Museum der Mo- Auf der Kuppel ist ein riesiges Kreuz zu großes Kapitel ihrer eigenen Ge- ine nicht mehr so rätselhaft, wie sie

D 
ie geistig-moralische Wen- derne zu bauen. sehen und ein reaktionärer Bibelvers schichte zu Ende und nicht einmal die erscheint. Selbst wenn man ihm keine
de von Helmut Kohl hat tiefe Wenn die grüne Staatsministerin von König Friedrich Wilhelm IV. zu le- ehrliche Trauer darüber hat in die- »hidden agenda« unterstellen möch-
Spuren in unserer Kulturland- Nachhaltigkeit in der Kulturpolitik sen. Dubiose AfD-nahe Spender konn- ser Partei noch Format. Es riecht, wie te – so ist der Nachhall der alten so-
schaft hinterlassen. Die Kulturpolitik ernst nehmen will, dann sollte sie kei- ten unter den Augen der Kulturstaats- aus einem modrigen Kellergeschoss; zialdemokratischen Beziehungen zur
der CDU/CSU-SPD-Bundesregierun- ne teuren Museumsneubauten mehr fi- ministerin dem Berliner Schloss ih- ­dagegen hilft nicht einmal Lüften. Sowjetunion offenbar stärker, als man
gen der vergangenen Jahrzehnte war nanzieren. Wir müssen die kulturelle ren reaktionären Stempel aufdrücken. Der Historiker Heinrich August glaubt. Der Krieg gegen die Ukraine
von Beton- und Ideologielastigkeit ge- Substanz sichern. Statt pompöse Schlösser zu bauen, Winkler, selbst SPD-Mitglied, hat die mag die SPD überrascht haben; über-
prägt. Ich erwarte von der neuen Kul- Besonders ärgerlich ist, dass Staats- sollte jede Stadt ein funktionierendes SPD jüngst aufgefordert, diese Ostpo- raschend sind ihre Reaktionen dem-
turstaatsministerin eine kulturpoliti- ministerin Roth die umstrittene Gar- Kulturhaus bekommen. Auf Nachfra- litik endlich aufzuarbeiten, wenn sie nach nicht. Die eigene Vergangen-
sche Kehrtwende. nisonkirche in Potsdam weiter fördern ge meiner Bundestagsfraktion wurde nicht ihre Regierungsfähigkeit »aufs heit bleibt mächtig; das kollektive Ge-
Wir müssen viel mehr Geld in die will. Die unseriöse Finanzierung wäre von der Bundesregierung festgestellt, Spiel« setzen wolle. Winkler hat die dächtnis wirkt nach. Was im Übrigen
Künstlerinnen und Künstler und in schon allein ein Grund, die Mittel für dass seit 1998 bis heute rund 90 Pro- Blockaden aufgezeigt, die eine kla- auch für den grünen Koalitionspart-
den Erhalt unserer Museen, Thea- das Projekt einzufrieren. Da die ange- zent aller öffentlichen Bibliotheken re Antwort des Kanzlers und sei- ner gilt. Dessen Parteinahme für die
ter und Bibliotheken investieren. Wir kündigten Spenden aus der Stadtge- und nahezu zwei Drittel aller Theater ner Mehrheitsfraktion auf den Krieg Ukraine und die entschlossene Hal-
brauchen keine neuen, teuren Schlös- sellschaft nur spärlich fließen, werden in Ostdeutschland geschlossen wur- Putins bis heute behindern. Man ist tung zum Krieg ist keineswegs nur als
ser und Kulturpaläste. die Steuerzahlerinnen und Steuerzah- den. Ebenso verhält es sich mit Kinos nach der Lektüre seines Artikels im pragmatische Kehre zu sehen, als bit-
Zu viele Politikerinnen und Politi- ler in die Pflicht genommen. Doch es und selbst jedes zweite Orchester ist »Spiegel« nicht nur um einiges klüger, tere Einsicht in das Unvermeidliche.
ker wollten sich in den vergangenen geht nicht nur um die Verschwendung mittlerweile in Ostdeutschland spur- sondern begreift auch die Gründe für Das hat auch mit dem eigenen eman-
Jahren ein Denkmal setzen. Ich erin- von Steuergeldern: CDU/CSU ­haben los verschwunden. das Zögern im Kanzleramt und so ei- zipatorischen Erbe zu tun und dem
nere an den ideologischen und über- mit der Garnisonkirche ihre reaktio- Wer die Demokratie in unserem nige abfällige Bemerkungen wie die Protest gegen die alte h
­ egemoniale,
haupt nicht nachhaltigen Abriss des näre Geschichtspolitik mit brachialer Land stärken will, der darf in der Kul- des Realpolitikers Helmut Schmidt, heute würde man sagen: postkoloni-
Palastes der Republik und den kost- Gewalt gegen die Potsdamerinnen und turpolitik nicht auf Leuchttürme set- der die Ukraine weder für eine Nati- ale Welt. Kassel hätte mitten in die-
spieligen Bau des Berliner Schlosses. Potsdamer durchgesetzt. Das Prinzip zen. Wir brauchen wieder mehr Kul- on hielt noch ihr eine eigene Identi- sem Krieg ein spannender Ort werden
Der Bundesrechnungshof hat zu »Demokratie als Bauherr« ist in den tur zum Anfassen vor Ort, dort, wo die tät zusprach. Er stand mit dieser Mei- können, über solche Fragen zu strei-
Recht die Bundesregierung für ihre vergangenen Jahrzehnten von der Menschen leben. nung keineswegs allein. ten. Man hat stattdessen die eigene
kulturpolitischen Investitionen kriti- herrschenden Politik begraben wor- Vielleicht haben wir vergessen, wie Erinnerungskultur einer fatalen Fol-
siert. In den Museen der Stiftung Preu- den. Immer häufiger versuchen ver- Gesine Lötzsch MdB ist Mitglied im sehr der Ostpolitik Willy Brandts die klore geopfert – und sich damit ent-
ßischer Kulturbesitz regnete es durch mögende Mäzene mithilfe des Staa- Haushaltsausschuss und Bericht- Anerkennung des machtpolitischen behrlich gemacht.
die Dächer. Kulturgüter drohten zer- tes, ihre politischen Überzeugungen erstatterin der Fraktion Die Linke für Status quo der Sowjetunion zugrun-
stört zu werden. Doch die alte Bundes- in Beton zu gießen. Besonders deut- den Etat des Bundeskanzleramtes de lag und dem daraus folgenden Si- Johann Michael Möller ist Publizist
Politik & Kultur | Nr. 7-8 / 22 | Juli /August 2022
EUROPA 05

»Die Osteuropaforschung hat sich


zu lange nur auf Russland fokussiert«
Die Literaturwissen- es zu würdigen und respektieren. Aus Wie ist die Situation in Ihrem Es fehlt am Solche Konzepte wie Nation, Nationa-
schaftlerin Anna Artwińska der Perspektive der Universität ist somit Heimatland Polen? Bewusstsein, lismus, Patriotismus oder die kollek-
im Gespräch wichtig, dass man die Hilfe für geflüch- Aus meiner polnischen Perspektive stel-
dass die Sowjet-
tive Identität werden aus westlicher
tete Wissenschaftlerinnen und Wissen- len sich die Dinge anders dar: Ukraini- ­Perspektive in der Ukraine unkritisch
Anna Artwińska studierte Polonistik, Jour- schaftler aus der Ukraine, aber auch aus sche Literatur ist in Polen wirklich gut union nicht verwendet. Dabei geht es hier um un-
nalismus und Slavistik in Deutschland und Russland und aus Belarus organisiert. bekannt, sie würde niemals mit russi- mit Russland terschiedliche historische Erfahrungen
Polen. Heute ist sie Juniorprofessorin an Und dennoch: Die menschlichen Ener- scher verwechselt. Da ist Russland als und verschiedene Zeitdimensionen. Das
gleichgesetzt
der Universität Leipzig. Tanja Dückers gien sind nicht grenzenlos, unsere Auf- Feindbild im polnischen historischen läuft nicht parallel. Und ich glaube, das
spricht mit ihr über den Stand der Ost­ merksamkeit sollte deswegen derzeit Gedächtnis zu stark verankert. Dafür ist werden kann; schreckt vielleicht ein bisschen ab.
europaforschung und die Wahrnehmung auf die Ukraine und nicht auf Russland der Blick der polnischen Kultur auf die man differen-
ukrainischer Kultur in Deutschland. gerichtet werden. Ukraine leider immer noch durch die im- ziert zu wenig Kann man sagen, dass es trotz all
periale Vergangenheit gefärbt. In polni- der Fremdherrschaften eine kohären-
Tanja Dückers: In Deutschland und Oft habe ich den Eindruck, dass in scher Selbstwahrnehmung gehört Po-
zwischen den te ukrainische Literatur und Kultur
Europa wird viel darüber gesprochen, Westeuropa nicht so ein differenzier- len zweifelsohne zu Europa, ist gar nicht postsowjeti- gegeben hat?
dass man angesichts des Krieges in tes Bewusstsein dafür besteht, was mit Russland verwandt, und die Ukrai- schen Nachfolge- Ich würde sagen, dass es auf jeden Fall
der Ukraine russische Künstler nicht die unterschiedlichen Kulturen von ne fungiert als ein ehemals polnisches staaten. Das ein roter Faden ist, dieses sehr subtile
mehr einladen soll. Was halten Russland und der Ukraine und ihre Grenzland, als eine ehemals polnische Reagieren auf die Fremdherrschaft und
Sie davon? Literaturen angeht. Peripherie. Das Verhältnis ist nicht sym- Wissen über die eine besondere Sensibilität darauf, dass
Anna Artwińska: Das ist eine komplizier- Das ist nachvollziehbar. Auch die Ost- metrisch. Das ist jedoch eine andere Entwicklung der man sich als Nation immer aufs Neue
te Frage. Ich habe mich damit auf uni- europaforschung hat sich leider lange ­Geschichte. ukrainischen behaupten muss, in Bezug auf verschie-
versitärer Ebene b
­ efasst: Sollen wir die als Forschung der russischen Geschich- dene Kulturräume, Sprachen, politi-
Geschichte und
Programme mit Russland auf Eis legen? Warum ist ein so großes Land wie die
te, Kultur und Literatur verstanden. Die sche Systeme. Das bleibt nicht ohne Ein-
Sollen wir Kontakte mit den russischen Ukraine »übersehen« worden? Liegt
Russistik ist das innerhalb der Slawistik Kultur ist nicht fluss, denn Literatur entsteht nicht in
Kolleginnen und Kollegen abbrechen? es daran, dass die Sowjetunion und
am meisten frequentierte Fach. An vie- vorhanden einem leeren Raum. Schon bei den uk-
Fast alle Fachverbände mit einem Ost­ dann später Russland als das zentrale
len deutschen Universitäten ist die Ost- rainischen Romantikern findet man
europabezug haben sich nach dem 24.  Fe- Opfer des Zweiten Weltkriegs angese-
slawistik de facto eine Russistik. Die eine Auseinandersetzung mit der eige-
bruar 2022 erst mal dazu entschieden, als hen wurde? Wenn man sich näher da-
Westslawistik ist etwas emanzipier- nen subalternen Kondition. Die ukraini-
Zeichen der Solidarität mit der Ukraine. mit befasst, weiß man, dass die Ukrai-
ter; man kann immerhin in Deutsch- schen Autoren wissen, dass sie sich ei-
Es gab aber auch Diskussionen und Mei- ne, Polen und Belarus bezogen auf die
land Polonistik oder Bohemistik studie- nen Raum zum Sprechen schaffen müs-
nungsunterschiede zwischen den Vertre- Bevölkerungsgröße einen höheren
ren. Bei Ukrainistik ist das eben bis auf sen. Das ist ein festes Motiv und zieht
terinnen und Vertretern des Faches. Blutzoll geleistet haben als Russland.
kleine Ausnahmen nicht der Fall. Doch sich in verschiedenen Epochen und Äs-
Das ist korrekt. Wenn man z. B. über die
jetzt kommen Studierende zu uns und thetiken durch. Das machen Romantiker
Um was ging der Streit? Orte der Shoah nachdenkt, dann kommt
wollen den Schwerpunkt des Studiums anders als beispielweise Autorinnen und
Es gab Kolleginnen und Kollegen, die äußerst selten Babyn Jar vor. Wer außer
auf ukrainische oder belarussische Spra- Autoren der Avantgarde, klar. Aber der
meinten, dass man im Einzelfall prü- Fachmenschen weiß etwas darüber, was
che und Literatur legen. Dann zeigt sich, Grundgedanke, der Grundtenor bleibt.
fen solle, ob Wissenschaftler aus Russ- mit den Juden in Babyn Jar passiert ist?
dass solche Konstellationen c­ urricular Dennoch würde ich die ukrainische Li-
land noch hierherkommen können Dieser Ort ist im europäischen kollekti-
nicht verankert sind und dass man kei- teratur nicht darauf beschränken wollen,
und dass man sich als Osteuropafor- ven Gedächtnis zu schwach verankert. Es
ne Fachkräfte für die Ukrainistik hat. es gibt natürlich auch andere Themen
scher eine pauschale Ablehnung einfach ist generell kaum bekannt, dass das Ge-
Seit Wochen denke ich darüber nach, und andere Perspektiven.
nicht erlauben darf. Ich würde so sagen: biet der heutigen Ukraine bis zur S
wie man die Ukraine-Studien in Leip- ­ hoah
Man hat als Hochschullehrer immer zu den wichtigsten Siedlungsgebieten
zig ausbauen könnte. Aber eigentlich ist Drückt sich darin eine Art literarische
die Pflicht, über die Folgen und Kon- der osteuropäischen Juden gehörte.
es traurig, dass all dies erst jetzt zu Be- Identität der Ukraine aus?
sequenzen einer Kooperation nachzu- wusstsein kommt. Die Ukraine ist dasDas Problem des »Übersehens« liegt Auf jeden Fall. In der Literatur des
denken. Es ist also gut, dass man so viel zweitgrößte Land Europas. möglicherweise darin, dass es hierzulan- 19. Jahrhunderts, nehmen wir Iwan Fran-
über den zukünftigen Umgang mit der de nur ein geringes Interesse am östli- ko, gibt es sehr viele Lieder über die
russischen Forschungslandschaft nach- Zumindest wenn ich jetzt aus dem chen Europa da ist und dass die Ukraine Schönheit der ukrainischen Landschaft.
denkt. Gleichzeitig würde ich behaupten, etwas engeren Bereich des Literatur- als Teil des russischen bzw. sowjetischen Und diese Beschreibung der Schönheit ist
dass man die russische Kultur als solche betriebs spreche, ist mir doch auf- Imperiums gesehen wird. Es fehlt am Be- immer mit einem Gefühl des Verlusts ver-
nicht bestrafen soll. Es wäre kontrapro- gefallen, dass in den letzten zehn wusstsein, dass die Sowjetunion nicht bunden. Die zeitgenössische ukrainische
duktiv, wenn man jetzt z. B. die russi- bis 15  Jahren Autorinnen und Auto- mit Russland gleichgesetzt werden kann; Autorin Oksana Sabuschko spielt wieder-
sche Literatur in Deutschland plötzlich ren aus der Ukraine verstärkt wahr­ man differenziert zu wenig zwischen den rum gerne mit Minderwertigkeitskomple-
nicht mehr auflegen oder wenn man das genommen werden – wie z. B. Juri postsowjetischen Nachfolgestaaten. Das xen und verwendet in ihren Texten eine
Lehramt Russisch einstellen würde. Bei Andruchowytsch, Oksana Sabuschko Wissen über die Entwicklung der ukrai- selbst-orientalisierende Perspektive. Das
der mehr als berechtigten Kritik der rus- oder Serhij Zhadan. nischen Geschichte und Kultur ist nicht ist auch eine Art Reaktion darauf, dass
sischen Politik muss auch stets bedacht Das ist richtig. Aber ich glaube, die ukra- vorhanden. Nehmen wir als Beispiel die man nicht wahrgenommen wird.
werden, dass einige russische Künstle- inischen Autorinnen und Autoren mer- westliche Bewertung des ukrainischen
rinnen und Wissenschaftler den offenen ken, dass sie weder zum Kanon an den Nationalismus. Es ist korrekt, ihn zu kri- Vielen Dank.
Brief gegen den Krieg unterschrieben deutschen Universitäten noch zum Ka- tisieren, diese Kritik kann jedoch nicht
haben. Und das bedeutet viel mehr als non des deutschen Bürgertums gehören. kontextlos geführt werden. Der Prozess Anna Artwińska ist Juniorprofessorin für
jegliches Wort, was ich hier in Deutsch- Sie werden zwar übersetzt und publiziert, der Nation Building fand nämlich in der Slawistische Literaturwissenschaft und
land gegen den russischen Angriff auf aber das ist trotzdem nicht gerade Main- Ukraine im Vergleich mit anderen euro- Direktorin des Zentrums für Gender Stu-
die Ukraine sage. Die proukrainische stream. Von der russischen Literatur päischen Kulturen später statt und ist dies der Universität Leipzig. Tanja Dückers
Haltung der Menschen aus Russland gilt kann man das Gegenteil behaupten. bis heute nicht a­ bgeschlossen. ist Schriftstellerin
06 EUROPA www.politikundkultur.net

Unterschiedslose Zerstörung
Russlands Vernichtungskrieg gegen die Ukraine trifft auch Kulturwerte
KLAUS-DIETER LEHMANN Das ukrainische Ministerium für Kul- lich so: »Die Besatzer haben Kultur, gutschutz Ukraine ins Leben gerufen. Gezielte Zerstörung von Kulturgut
tur und Informationspolitik und die Bildung und Menschlichkeit als ihre Sie hat sich bei ihrem Besuch am 6. und Beutekunst ist leider trotz des
R ussland führt einen brutalen Ver- UNESCO sammeln die Meldungen Feinde identifiziert.« und 7. Juni 2022 in Odessa dafür aus- gewachsenen Bewusstseins für das
nichtungskrieg gegen die Ukraine. von Schäden an Kulturgütern, inzwi- Der Angriffskrieg, den Deutsch- gesprochen, die Nominierung der Alt- Unrecht weiterhin ein hochaktuel-
Städte mit einer Millionenbevölke- schen sind knapp 400 zerstörte Kul- land 1941 gegen die Sowjetunion be- stadt Odessas als Welterbe-Stadt zu les Thema als ständig neue Gefähr-
rung werden flächendeckend bom- tureinrichtungen registriert, davon gann, hatte einen gewissen zeitlichen unterstützen, um dadurch einen zu- dung, nicht nur bei der Ukraine. Bei
bardiert. Betroffen sind nicht nur allein 137 religiöse Stätten, 12 Muse- Vorlauf. Dadurch konnten die Sow- sätzlichen Schutzschild vor russi- den Kriegen in Afghanistan, im Irak,
Menschen und Sachwerte, betrof- en, 26 historische Gebäude, 16 Gebäu- jets einen Teil ihrer Sammlungen in schen Angriffen zu haben. Sie sieht in Syrien, in Kambodscha und anders-
fen sind durch die Bombardierungen de mit aktuellen kulturellen Aktivi- den östlichen Teil der Sowjetunion durch den Krieg die kulturelle Iden- wo ist immer wieder die kulturelle
auch Kulturwerte und Kunstwerke. täten, 15 Denkmäler und 7 Bibliothe- evakuieren. Aber es blieben die west- tität der Ukraine bedroht. Mit dem Substanz in Gefahr, zerstört oder ver-
Es handelt sich nicht um eine perfi- ken. Im Osten der Ukraine seien schon lichen Teile, insbesondere die Regi- blau-weißen Blue-Shield Siegel der schleppt zu werden.
de Strategie, wie wir sie etwa aus der mehr als tausend Objekte zerstört. In on um Leningrad und Nowgorod. Der UNESCO, mit dem nach der Haager Man wusste, dass damit die Nie-
Kriegspraxis des Zweiten Weltkrie- einem kürzlich veröffentlichten Be- Schutz der Kulturgüter ist der Uk- Konvention zu schützende Gebäude derlage des Feindes als tiefer emotio-
ges durch den unglaublichen Zivili- richt des Conflict Culture Research raine bei dem jetzigen Angriffskrieg in kriegerischen Auseinandersetzun- naler Verlust gesteigert werden konn-
sationsbruch der Nationalsozialisten Network, begründet von dem amerika- verwehrt. Nur sehr wenige Museen gen gekennzeichnet werden, werden te. Die völkerrechtliche Ächtung von
und die sich anschließende einseitige nischen Anthropologen Brian Daniels, international zu schützende Gebäude Zerstörung oder Raub von Kulturgut
Inanspruchnahme der Sow­jetunion werden die Kulturzerstörungen per Sa- klassifiziert. Ihre Zerstörung kann als ist ein hoher Wert für die Völkerge-
von Kulturgut als Reparationsleis- tellit dokumentiert. Er kommt zu noch Kriegsverbrechen geahndet werden. meinschaft. Völkerrecht ist aber im-
tung kennen, es ist einfach das ge- höheren Zahlen. Versuche, die Kultur- Ein solches Urteil ist erstmals 2016 mer nur so wirksam, wie es die Staa-
wollte Ergebnis von c­ haotischen Mi- güter mit Sandsäcken oder durch eine durch den Internationalen Strafge- ten als gewollte Anwendung anerken-
litärschlägen, die unterschiedslos Holzverschalung zu schützen, haben richtshof in Den Haag gegen ein Mit- nen und durchsetzen. Es geht nicht
zerstören. Zusätzlich finden wahllos nur einen symbolischen Wert. Die Kul- glied der islamistischen Terrororgani- um das Prinzip recht zu haben, es
Plünderungen statt, bei denen Solda- tur in Gebäuden, Denkmälern und Ob- sation »Ansar Dine« ergangen. geht um ein über die Jahrhunderte er-
ten sich aus den Museen mit Kunst- jekten ist der Vernichtung preisgege- ­ urden ­evakuiert. Niemand hätte sich
w Das Bundeskabinett hat einen Er- strittenes Grundrecht, das zwar im-
werken bedienen. Diese Kriegspra- ben. Es ist nicht auszuschließen, dass eine solche barbarische Entwicklung gänzungshaushalt beschlossen. Darin mer wieder gefährdet wird, für dessen
xis der massiven Zerstörung, die bei der zunehmenden Totalität des vorstellen können. Derzeit versucht sind rund 20 Millionen Euro zur Un- Erhalt aber immer wieder Position be-
auch die Auslöschung des kollekti- Krieges gezielt weitere symbolträchti- man, die Kunstobjekte so gut wie terstützung ukrainischer Kultur vor- zogen werden muss.
ven Gedächtnisses zum Ziel hat, ist ge Architektur ins Visier gerät. Sie ste- möglich in den Kellern zu lagern, ge- gesehen. Damit sollen bereits ergrif- Es ist deshalb wichtig, dass die ma-
eine krasse Missachtung des gelten- hen für die Identität der Ukraine mit sichert zu verpacken. Mitarbeiterin- fene Maßnahmen zum Schutz weiter terielle Hilfe und die Unterstützung
den Völkerrechts, formuliert in der ihrer heutigen Gesellschaftsform. Das nen und Mitarbeiter leben und schla- ausgebaut werden. Eine weitere Initi- mit Waffen für die Ukraine auch die
Haager Landkriegsordnung von 1907. ist erschreckend, besonders wenn man fen in den Kellern. Aber es fehlt hier ative betrifft die Rettung der Digital- Anklage des Aggressors im Sinn des
Es ist in diesem Zusammenhang in- diese mutwillige Zerstörung vor dem am Nötigsten. Verpackungsmaterial, daten von Kulturgütern. Das betrifft geltenden Völkerrechts konsequent
teressant, dass in den Nürnberger Hintergrund der gemeinsamen russi- Brandschutzmittel, Feuerlöscher. Es besonders Informationen zu Kultur- verfolgt.
Kriegsverbrecherprozessen Kunst- schen und ukrainischen Wurzeln sieht gibt spontan gebildete Netzwerke von gütern und Archivmaterialien. Hier
raub und gezielte Vernichtung Ankla- und Russland vom Brudervolk spricht. Museen in Deutschland, die sich en- liegen bereits große Datenmengen Klaus-Dieter Lehmann ist Kultur­
gepunkte waren. Die nationalsozia- Dieser Zynismus ist kaum zu überbie- gagieren. Claudia Roth, Beauftragte vor, die möglichst rasch als ausgela- mittler. Er war Präsident des Goethe-
listischen Angeklagten sind in Nürn- ten. Es ist eine Taktik der verbrannten der Bundesregierung für Kultur und gerte Dateien überspielt werden soll- Instituts und der Stiftung Preußischer
berg verurteilt worden, übrigens mit Erde. Der ukrainische Präsident Wolo- Medien, hat zusammen mit dem Aus- ten. Es werden aber zusätzlich weite- Kulturbesitz sowie Generaldirektor
Beteiligung russischer Richter. dymyr Selenskyj formulierte es kürz- wärtigen Amt das Netzwerk Kultur- re Archivbestände digitalisiert. der Deutschen Bibliothek

Aus der Zeitung ins Netz: Politik & Kultur, die Zeitung
des Deutschen Kulturrates, geht online!

politikkultur.de Tagesaktuelle Informationen, Interviews, Rezensionen


und vieles mehr zur Kulturpolitik ——— im Juli.
Politik & Kultur | Nr. 7-8 / 22 | Juli /August 2022
EUROPA 07

Das Meridian-Festival
etwas zur Literatur zu machen. Auch tem Tschech. Das sind militärische
für die Kinder, die hierherkommen. Gruppen, die die Grenzen der einzel-
nen Gebiete schützen. Und auch die
Also Ukrainisch-Sprachkurse Literatinnen aus unserem Verlag sind

geht trotz Krieg weiter


für die, die aus der Ostukraine mehrheitlich im Land geblieben.
kommen dann?
Ja. Ich überlege, auch Deutschkurse Serhij Zhadan, der erstklassig ins
anzubieten. Wir wollen diese bei uns Deutsche übersetzt und im März
Die ukrainische Kulturmanagerin Evgenia Lopata im Gespräch im Zentrum kostenfrei für die Men- für den Nobelpreis nominiert wur-
schen durchführen, denn es ist wich- de, ist auch Autor Ihres Hauses.
Trotz Krieg in der Ukraine findet das Sprache gehört haben: »Geht nach sche Kulturstiftung. Städte konnten tig, dass die Geflüchteten sich mal Genau. Und er bleibt in Charkiw. Eine
internationale Lyrikfestival Meridian Hause, ihr seid hier nicht willkom- sich bewerben, Buchhauptstadt der auf etwas anderes konzentrieren kön- andere Autorin von uns, Kateryna Ka-
in Czernowitz nahe der rumänischen men!« Wenn sie es auf Ukrainisch ge- Ukraine zu werden. Ich habe dann mit nen. Unser Nachbar macht Kinderpro- lytko, kommt aus einer Stadt im Os-
Grenze statt. Tanja Dückers spricht mit hört hätten, wäre es das Eine, aber viel Mühe diese Bewerbung gemacht, gramme, jeden Tag verschiedene Se- ten, die gerade bombardiert wird. Sie
Evgenia Lopata, die bisher in der west- wenn sie plötzlich auf Russisch zu hö- und wir, das heißt die Stadt Czerno- minare, Theaterstücke, Musiksachen. ist nun in einer Territorial-Schutz-
ukrainischen Stadt geblieben ist und ren bekommen »Geht weg!«, ist das witz haben diesen Wettbewerb Und ich gehe manchmal vorbei und truppe. Sie trägt Waffen und pos-
das Literaturfestival seit 2013 leitet. etwas ganz anderes. gewonnen. Wir sollten eigentlich das freue mich. tet gleichzeitig auf Facebook Gedich-
te, die sie im Angesicht des Krieges
Tanja Dückers: Vielen Dank, dass schreibt. Viele Bekannte und Freun-
Sie sich Zeit genommen haben in de von mir aus Deutschland und aus
diesen furchtbaren Wochen. Österreich schicken schöne Angebo-
Evgenia Lopata: Haben Sie keine te für Stipendien und schreiben: Eure
Angst, wenn plötzlich auf meinem Schriftsteller können zu uns kommen.
Handy die Sirene zu hören ist. Falls es Ich schreibe zurück: Das Pro­blem
Luftalarm gibt, wird es sehr laut. Ich ist, die Männer dürfen nicht. Und die
habe das schon gestern Abend erlebt, Frauen wollen nicht das Land
aber dann hat meine Gesprächspart- verlassen.
nerin einen ukrainischen Bunker ge-
sehen, das war für sie interessant. Das mit den Männern weiß man
ja jetzt eigentlich.
Es gab schon einen Angriff bei Ja, Juri Andruchowytsch ist schon äl-
Ihnen in der Nähe? ter als 60, aber er will nicht ausreisen.
Genau. Czernowitz, wo ich lebe, liegt Die Menschen bleiben. Das ist auch
in der Nähe der rumänischen G ­ renze. der Grund, warum ich hier bin. Auch
Wir waren uns immer sicher, hier weil viele Freunde aus unseren litera-
wird nicht geschossen, hier bleibt al- rischen Kreisen aus Charkiw und Kiew
les ruhig, weil wir gleich an der Gren- bei diesen humanitären Lieferungen,
ze der EU sind. Hier sind die Rumä- die zur Hälfte aus Rumänien kommen,
nen, die werden reagieren. Und plötz- helfen wollen.

FOTO: GEZETT/MERIDIAN CZERNOWITZ


lich verstehst du, dass wir hier 40 Ki-
lometer vor der Grenze auch nicht in Es kommt so viel Hilfe aus dem
Sicherheit sind. Das macht uns na- Nachbarland Rumänien?
türlich viel Stress und auch den Leu- Oh ja, ich bewundere die Unterstüt-
ten, die hierher fliehen in der Hoff- zung von Polen und Rumänien. Ukra-
nung, hier in Sicherheit zu sein. Aber inisch und Polnisch sind verwandte
die Stimmung der Menschen vor Ort Sprachen. Aber wir und die Rumänen:
ist eher positiv. Wir versuchen jetzt, Wir haben in unserer zwölfjährigen
die Industrie weiterzuentwickeln. Festivalgeschichte sehr wenige Pro-
Unsere Gouverneure haben die Un- Das internationale Lyrikfestival Meridian Czernowitz findet jährlich Anfang September statt – rechts: Evgenia Lopata jekte mit Rumänien gemacht, einfach,
ternehmen aus der Zentral- und Ost- weil wir uns sehr stark von der Spra-
ukraine nach Westen eingeladen, Un- Das leuchtet ein. Stimmt Sie ganze Jahr 2022 die Buchhauptstadt Das ist toll. Es freut mich, dass Sie che und der Mentalität unterschei-
ternehmen werden hierher evakuiert. die Haltung der Ostukrainer des Landes sein. Das ist ein wenig heute so voller Hoffnung von so den. Doch jetzt war ich mehrmals an
Und viele Geflüchtete aus dem Osten optimistisch? analog zur Kulturhauptstadt Europas. vielen solidarischen Projekten er- der rumänischen Grenze. Die Rumä-
suchen Arbeit. Das heißt, die Indus­ Ich glaube wirklich nicht, dass Pu- zählen können. nen dort verstehen kein einziges Wort
trie könnte in der Westukraine wie- tin so weit in die Westukraine kommt.  … ein Titel, der von der Europä­ Ich erlaube mir nicht, irgendwo zu Ukrainisch, aber sie verteilen einfach
der aufgebaut werden. Ich habe heu- Aber selbst wenn, bin ich hundertpro- ischen Union an zwei Städte verge- schreiben oder zu posten: Es war blöd, Wasser, Essen, Medikamente. Sie ge-
te Morgen einen Artikel in Forbes zentig sicher, dass jeder von uns eine ben wird. dass die Regierung das Geld gestri- ben und geben und geben alles, was
gelesen: Wenn der Krieg so weiter- Pistole oder ein Messer nimmt und Der Plan war, dass wir in der Ukrai- chen hat. Denn, wenn ich sage, ihr sie haben. Ich denke, das ist echte
läuft, dann werden im nächsten Jahr einfach auf die Soldaten losgeht. Die ne anfangen, konkurrenzfähig wer- könntet es doch der Buchhauptstadt Nachbarschaft, dass dich deine Nach-
90 Prozent der Ukrainer pleite gehen. Menschen in Cherson und Mariupol den und künftig wahrscheinlich auch lassen, dann sagen alle anderen: Ja, barn, selbst wenn sie dich nicht ver-
Dieser Krieg führt uns auf den Stand haben das so gemacht, wir werden es an diesem EU-Wettbewerb teilneh- uns könnte man auch etwas geben. stehen, so unterstützen.
des Jahres 2004 zurück. Die Wirt- selbstverständlich auch tun. Wir wür- men könnten. Voraussetzung dafür ist, Wenn alles wegen des Krieges abge-
schaft, die soziale und wirtschaftliche den lieber hier sterben, als irgend- dass die Ukraine Beitrittskandidat der sagt wir, dann wird alles abgesagt. Da Und nun versuchen die Leute aus
Entwicklung – alles. jemandem unser Territorium, unse- EU wird, was nun vielleicht geschieht. gibt es keine Ausnahmen. Damit bin der Ostukraine, dort mitzuhelfen?
re Städte und unsere Architektur und Ich war als Leiterin dieses Projek- ich einverstanden. Ich bin es schon Genau, aber es müssen genug Leu-
Das ist bitter. Kunst zu überlassen. Das ist völlig tes angestellt. Es ist ein sehr kompli- gewohnt. Dass wir unser Festival te, Ortskundige, in Czernowitz sein,
18 Jahre gehen einfach verloren. Das ausgeschlossen. Und wenn Putin ziertes aufwendiges Vorhaben, Buch- selbst wegen Corona nicht abgesagt diesem Drehkreuz, die die ganze Hil-
ist unglaublich deprimierend. Wir ha- kein Idiot ist ...  Also, er ist schon ein hauptstadt des Landes zu sein: mit haben, gibt mir jetzt den Mut, dass fe koordinieren und sich kümmern.
ben auch berechnet, wie viel uns der Idiot ...! Aber die Westukraine ist, so vielen Radio- und TV-Shows, mit dem wir auch dieses Jahr etwas auf die Bei- Ganz viele Menschen flüchten aus
Krieg bereits gekostet hat, das sind hoffe ich, für ihn ein bisschen tabu. Festival, das ich mache, also mit ganz ne stellen. Aber kleiner wird es nicht. dem Osten durch die Bukowina nach
erschreckende Zahlen. Wobei, ich muss sagen, das alles sind vielen Auftritten, einem Lese-Pro- 2021 hatten wir doppelt so viele Besu- Rumänien und dann weiter. Und wir
nur meine Vermutungen. gramm für Kinder, alles rund um cher wie vor der Pandemie. sind eigentlich in der Bukowina die
Haben Sie das Ganze kommen se- Bücher. Einzigen, die Kontakt zu den Rumä-
hen, weil Russland schon seit 2014 Haben Sie zu Russen Kontakt? Und das sollte eigentlich ganz viel Ein toller Erfolg! Wie viele Gäste nen haben. Viele meiner Nachbarn
in der Ukraine Krieg führt? Haben Die, die ich kenne, wohnen im Aus- kosten. Unsere Stadt, Czernowitz, war sind gekommen? sind geflohen. Ich kann das verstehen,
Sie irgendwie erwartet, dass so et- land. Alle. Seit 2014 haben sie Russ- zum ersten Mal in der Geschichte be- 9.000. Die Nachfrage ist sehr gestie- sie hatten Angst. Ich habe sie auch.
was jetzt passiert? land verlassen, weil sie mit diesem reit, Geld, und zwar 120.000 Euro, zu gen. Ein anderer Punkt: Wir haben Wenn ich nicht so in der humanitären,
Wir haben definitiv erwartet, dass Regime nicht einverstanden wa- investieren. Und seitens der Regie- kostenlosen Eintritt. Das heißt, es sprachlichen und kulturellen Hilfe tä-
­Putin die Aggression verstärken wird. ren. Ich habe eine Freundin, eine rung sollten es 250.000 Euro sein, un- spielt für uns finanziell im Prinzip tig wäre, würde ich auch überlegen
Ich habe das zwei Wochen vor dem russische Dichterin, die lebt seit ei- glaublich viel Geld für uns. Gestern keine Rolle, wie viele Leute im Saal auszureisen, ehrlich. All diese Alar-
Krieg in verschiedenen Medien ge- nem Jahr in Kiew. Und ich habe vie- habe ich die E-Mail bekommen, dass sitzen, da wir mit dem Festival nichts me mitten in der Nacht. Um drei Uhr
sagt: Es wird bald eskalieren. Wir le Freunde aus Minsk, die in den letz- das ganze Budget dieser Stiftung jetzt verdienen. Wir freuen uns sehr, wenn in der Nacht stehst du auf und dann
wussten, er macht etwas. Aber dass ten zwei Jahren nach Kiew umgezo- für die Armee benutzt werden soll. viele Czernowitzer und Neuangekom- sitzt du vier Stunden im Bunker. Und
von allen Seiten angegriffen wird, war gen sind. Also diejenigen, mit denen Ich finde diese Entscheidung schwie- mene von unseren Events profitieren. das Schlimmste ist: Du weißt nicht,
wirklich ein Schock. Was mich je- wir gearbeitet haben, sind in die Uk- rig. Man muss doch auch sehen, wel- Die Veranstaltungen sind ja sehr ver- was passiert ist, ob und wo eine Bom-
doch überrascht hat, war die Reakti- raine gezogen oder nach Europa. Wir che Rolle die Kultur jetzt spielt: Es schieden. Einige stellen ausländische be gefallen ist, wer gestorben ist und
on der Ukrainer in den östlichen Ge- wollten seit den Erlebnissen von 2014 sind unglaubliche Menschen jetzt Autoren, andere ukrainische in den so. Ich hätte gerne das Land verlassen,
bieten, die sich ganz nah zur russi- weniger Kooperationen mit Russland in die Westukraine gekommen und Mittelpunkt. aber ich sehe, man muss hier vor Ort
schen Grenze befinden. Oder auch in haben. Wir haben seitdem drei oder selbst in Czernowitz sind momentan ganz viel helfen.
Odessa ... Odessa ist eine überwie- vier Poeten aus Russland bei uns auf mehr als 50.000 Geflüchtete ... Wie geht es mit dem Meridian-­
gend russischsprachige Stadt. Ich hat- dem Festival gehabt. Alle proukrai- Verlag weiter? Die Literatur Vielen Dank, dass Sie sich so viel
te Angst, dass die Leute im Osten sa- nisch.  … bei 250.000 Einwohnerinnen braucht ja immer Zeit, um auf Zeit genommen haben. Hoffentlich
gen könnten: »Okay, vielleicht bes- und Einwohnern. eine Situation zu reagieren, aber: haben Sie eine ruhige Nacht heute.
ser Frieden und unsere Städte werden Wie stellen Sie sich das Meridian- Danke, genau. Die meisten sprechen Schreiben Ihre Schriftsteller über Ohne Sirenen.
nicht zerstört. Wir wollen das alles Festival dieses Jahr vor? Hatten Sie kein Ukrainisch, sie haben wenig Ah- den Krieg? Manifestiert sich der
hier nicht verlieren.« Aber plötzlich schon Pläne für den Herbst? nung von der Stadt, ihrer Geschichte. Krieg jetzt schon in der Literatur? Evgenia Lopata ist eine ukrainische
sagten die Menschen dort: »Nein, das Ja, wir hatten spannende Pläne, denn Und nun haben wir die ganze Finan- Viele Literaten, die von unserem Ver- Kulturmanagerin und Übersetzerin.
geht nicht.« Ich denke, es war sehr er- wir haben in den letzten Jahren einen zierung für das Kulturfestival auf ein- lag vertreten werden, sind in einer Sie leitet das international bekannte
staunlich für die russischen Soldaten, sehr großen Wettbewerb gewonnen. mal verloren. Wir überlegen, im Lite- Art Territorial-Schutztruppe des Lan- Literaturfestival Meridian Czernowitz.
dass sie, als sie dort in ihrer e
­ igenen Es gibt eine landesgeförderte ukraini- raturzentrum Sprachkurse zu machen, des oder auch in der Armee, z. B. Ar- Tanja Dückers ist Schriftstellerin
08 EUROPA www.politikundkultur.net

Objektive Bericht-
erstattung gewähr-
leisten
Medienschaffende in Russland und Belarus
brauchen unsere Unterstützung

KATRIN BUDDE Medien. Das zeigt, dass die Propaganda,

A 
die die russischen und auch belarussi-
m 24. Februar 2022 über- schen Staatsmedien verbreiten, wirkt.
fiel Russland die demokra- Gleichzeitig wurde aber sehr deut-
tische Ukraine. Dieser bru- lich, wie wichtig die Arbeit gerade die-
tale Angriffskrieg hat viel in
ser Medienschaffenden ist, auch aus
Deutschland, in Europa, ja in der gan- dem Exil. Und wie wichtig es ist, Jour-
zen Welt verändert. Und es betrifft je- nalistinnen und Journalisten die Be-
den Bereich unseres Lebens. Menschen, richterstattung aus sicheren Anlieger-
Soldaten und Zivilisten werden getö- staaten in Länder wie Belarus und Russ-
tet, Städte zerstört, Millionen sind auf land hinein zu ermöglichen.
der Flucht, verlieren alles, was sie be- Es gibt in Deutschland schon vie-
sitzen. Doch sehr viele Menschen in le Maßnahmen, um Exiljournalistin-
Russland und auch im mit Russland nen und Exiljournalisten zu unterstüt-
befreundeten Belarus unterstützen zen. So z. B. nimmt die Deutsche Wel-
das Regime bei diesem schrecklichen le Medienschaffende in ihrem Büro in

FOTO: PICTURE ALLIANCE / ZB | PATRICK PLEUL


Krieg. Wie kann das sein, fragen sich Riga auf, das ausgebaut wurde, weil die
viele im Westen. Deutsche Welle nicht mehr aus Russ-
Ein Teil der Antwort ist, dass sie jah-
land senden darf. Es wurden auch be-
relanger Staatspropaganda ausgesetzt reits mehrere Hilfsprogramme, unter
waren und sind. Das Verbot jeglicher anderem von Reporter ohne Grenzen
Medien außer der Staatsmedien, das ins Leben gerufen. Es wird Technik be-
Abschalten von Social-Media-Plattfor- reitgestellt, die es ermöglicht, die Zen-
men, die Internetzensur. Die Verfolgung sur zu umgehen, damit vor allem jun-
von Menschen, die sich anders äußern, ge Menschen sich über die sozialen Me-
als es die Staatsmedien vorgeben, und dien objektiv informieren können. Das
dies sogar unterstützt von einer Ge- russischsprachige Informationsangebot,
Die Stadtbrücke verbindet Frankfurt (Oder) mit der polnischen Stadt Słubice setzgebung, die die Verfolgung Anders- das nahezu aus allen europäischen Län-
denkender rechtlich absichert. Mit die- dern von den Auslandssendern gesen-
sen Maßnahmen versucht das russische det wird, wurde ausgebaut.

Verständigung, eine
Regime, die Meinungshoheit im eige- Doch leider gibt es auch einige Pro-
nen Land und in den Nachbarländern bleme, die es noch zu lösen gibt. Das ist
zu s­ ichern und zu stärken. die Frage der Visa, der Aufenthaltstitel

verpflichtende Aufgabe
Unsere Aufgabe als Demokratinnen der geflohenen Medienschaffenden in
und Demokraten ist es, dem entschie- Deutschland und die Arbeitserlaubnis.
den entgegenzutreten. Wir müssen al- Die Verfahren dauern einfach zu lan-
les möglich machen, damit eine ob- ge. Deshalb ist der Ausschuss hier in
jektive Berichterstattung, auf welchen Kontakt mit dem Auswärtigen Amt und
Die Deutsch-Polnische Bildungsbrücke Wegen auch immer, die Menschen in dem Bundesinnenministerium, um zu
REGINE MÖBIUS rigster Nachbar.« Allein in Sachsen brücke, der Geschäftsführer Gott- Russland und auch Belarus erreicht. unterstützen. Zwar hat sich in diesem
fanden in einem Jahr 40 Veranstal- hard Dittrich, motivierte engagierte Und es gibt auch viele Menschen in Bereich schon einiges getan, aber es
»Heute ist Polen unser wichtigs- tungen statt mit polnischen Gästen. Lehrer und Schulleiter, die Standorte Russland, die dies so sehen und für reicht noch nicht. Exiljournalistinnen
ter, weil schwierigster Nachbar«. Den Das Bildungswerk Sachsen der Deut- eng miteinander zu verknüpfen und Meinungsfreiheit und Demokratisie- und Exiljournalisten müssen sofort mit
Satz hörte ich erstmals im April 1994 schen Gesellschaft unterstützte mit Projekte ins Leben zu rufen, die dem rung kämpfen. ihrer Arbeit loslegen können, sie müs-
in Aachen. Der Verband deutscher seinen Reisen den literarischen Aus- Credo folgten: Wer ist mein Nachbar, Der Ausschuss für Kultur und Me- sen aufklären, denn leider ist die Un-
Schriftstellerinnen und Schriftsteller tausch bis weit nach Ostpolen hin- meine Nachbarin – wie lernen und dien des Deutschen Bundestages hat terstützung für den Krieg in Russland
VS hatte sich zu seinem 12. Kongress ein. Finanziell half Brüssel, half In- leben sie  –, wodurch verstehe ich sich bereits in mehreren Sitzungen mit immer noch sehr hoch. Und diese Zu-
dort getroffen. Der Autor und Kul- ter Nationes. ihre Sprache und sie die meinige? der Unterstützung für Journalistinnen stimmung zum Krieg kann nur durch
turpolitiker Erich Loest warf diesen Der Stein, der mit diesem Plan in Immer wieder ist diese Bildungs- und Journalisten aus diesen Ländern, objektive Berichterstattung aufgebro-
Satz in die Kongressdiskussion und Weichsel und Elbe geworfen wurde, brücke neu begehbar. In Zielona die im Sinne der Meinungsfreiheit- und chen und reduziert werden.
knüpfte an ihn konkrete Vorschlä- zieht noch immer seine Kreise, zeig- Góra setzten sich Schülerinnen und Pressefreiheit agieren, befasst. Als Ge- Da die Bevölkerung in Russland vom
ge. Hauptaufgabe des Verbandes te sich 17 Jahre später, als ich 2011 Schüler mit dem Thema Medien aus- sprächspartner hatten wir den Inten- Staat überwacht wird, brauchen wir
sollte es in den kommenden Jahren von einer Briefpartnerschaft erfuhr einander, dabei stand die Nutzung danten der Deutschen Welle, den Ge- auch internationale Hilfe für die Jour-
sein, polnische Literatur in Deutsch- zwischen deutschen und polnischen des Radios im Vordergrund. Podcasts schäftsführer von Reporter ohne Gren- nalistinnen und Journalisten, die in ih-
land zu fördern und deutsche Litera- Grundschülerinnen und -schü- zum Thema »Digitalunterricht« und zen, den Programmdirektor des WDR ren Ländern geblieben sind und wei-
tur in Polen. »An der Spitze der Initi- »Maskenpflicht« entstanden. sowie freie oppositionelle Journalis- ter von dort aus berichten. Es ist wich-
ative stehen vier Schriftstellerinnen Am 27. September letzten Jah- tinnen und Journalisten aus Russland tig, dass alle staatlichen Ebenen, nicht
und Schriftsteller«, verkündete Loest, res, am Fremdsprachentag, trafen und Belarus zu Gast. nur in Deutschland und Europa, son-
»die aus dem Gebiet des heutigen sich Schülerinnen und Schüler aus Sie alle beschrieben ein düste- dern weltweit helfen und die Journalis-
Polen stammen, Christa Wolf, Gün- Viet­nam, Polen, Deutschland, Ägyp- res Bild der Lebens- und Arbeitsbe- tinnen und Journalisten unterstützen
ter Grass, Siegfried Lenz und Marcel ten, Russland und China in Zielona dingungen vor Ort und der Repressi- und schützen, damit sie ihren wichtigen
Reich-Ranicki.« Góra zur interkulturellen und mul- onen, denen sich der objektiven und Beitrag leisten können, damit der Krieg
Nach drei Jahren Arbeit an die- tilingualen Vernetzung. Organisiert freien Berichterstattung verschriebe- möglichst bald ein Ende hat.
sem »Polenplan« – so die media- lern. Sie wurde Ausgangssituation wurde der Austausch von der Leite- ne Medienschaffende ausgesetzt sind. Dieses Thema wird den Ausschuss
le Kurzform des Vorhabens – blick- ­einer langfristigen Schulkooperati- rin der Sprachschule am Campus im Redakti­onen wurden geschlossen oder für Kultur und Medien, so bleibt zu be-
te der Verband auf eine Anthologie on in der Grenzregion Brandenburg- Stift Neuzelle und der Vizedirektorin verboten, verschärfte Mediengesetze in fürchten, noch einige Zeit begleiten.
zurück, die je zur Hälfte aus polni- Lubus­kie. Die Deutsch-Polnische in Zielona Góra. Russland machen eine objektive Be-
scher und deutscher Prosa bestand, Bildungsbrücke zwischen Schulen Im Juni 2022 rückt die jüdische richterstattung unmöglich. Nimmt man Katrin Budde ist Vorsitzende des
veröffentlicht in einer deutschen der Rahn Education war damit gebo- Kultur und das jüdische Leben Po- das Wort »Krieg« in Russland in den Ausschusses für Kultur und Medien
und ­einer polnischen Ausgabe. Ko- ren – eine Kooperation des Gymnasi- lens in den Vordergrund des Bil- Mund, drohen Haft oder Straf­l ager, wer des Deutschen Bundestages
operationen waren entstanden mit ums und der Grundschule in Zielona dungsaustausches. Bereits in der weiß was sonst noch. Kritische Jour-
den Goethe-Instituten in Warschau Góra, dem Campus im Stift Neuzelle Vorbereitung wurde deutlich: Die nalistinnen und Journalisten werden
und Krakow. Ein Poetendampfer fuhr sowie dem Campus am Spreebogen polnische Geschichte ist ohne die zu »ausländischen Agenten« erklärt, STIMME AUS
entlang der Oder und Neiße. In den in Fürstenwalde, mit dem Ziel, ei- Geschichte der polnischen Juden die Zensur im Internet ist massiv ver-
deutschen und polnischen Anlieger- nen Raum für interkulturelle Begeg- nicht nachvollziehbar. Das Grund- schärft worden, viele soziale Medien
DEM PARLAMENT
städten lasen Autorinnen und Au- nung zu schaffen und die grenzüber- anliegen der Deutsch-­Polnischen und Webseiten sind einfach nicht mehr
toren beider Länder. Fast alle deut- greifende Zusammenarbeit zwischen Bildungsbrücke bleibt weiterhin: erreichbar. In der Beitragsreihe »Stimme aus
schen Bundesländer schlossen sich den Schulen auszubauen. Verstehen zu fördern und Verständ- Das Leben von Journalistinnen und dem Parlament« berichten die Vor-
diesen Aktivitäten an, Hunderte Ver- Klar war: Von einer gemeinnützi- nis aufzubauen, für unseren viel- Journalisten sowie Ortskräften ist ex- sitzende des Kulturausschusses des
anstaltungen kamen zustande. Die gen, privaten Schulgesellschaft, wie leicht wichtigsten, östlichen trem gefährdet, deshalb fliehen viele Europäischen Parlaments, Sabine
polnische Botschaft, die Friedrich- der Rahn Education, die internati- Nachbarn. aus Russland und Belarus. Ein weiteres Verheyen, und die Vorsitzende des
Ebert-Stiftung, das Deutsche Polen-­ onal agiert, ihren Stammsitz aber Problem ist aber auch, dass die Quellen Kulturausschusses des Deutschen
Institut in Darmstadt hatten gehol- auf dem Campus Graphisches Vier- Regine Möbius ist Schriftstellerin dort versiegen, denn Bürgerinnen und Bundestages, Katrin Budde, von der
fen. Und immer wieder stand dieser tel in Leipzig hat, wird viel erwar- und Vorsitzende des Arbeitskreises Bürger haben zunehmend mehr Angst Ausschussarbeit. Die bisher erschie-
eine Satz im Mittelpunkt: »Heute ist tet. Der Spiritus Rector und Motor gesellschaftlicher Gruppen der vor staatlichen Repressionen und spre- nenen Beiträge der Reihe können Sie
Polen unser wichtigster, weil schwie- der Deutsch-Polnischen Bildungs- Stiftung Haus der Geschichte chen deshalb nicht mehr mit den freien hier nachlesen: bit.ly/3lGYeTS
Politik & Kultur | Nr. 7-8 / 22 | Juli /August 2022
EUROPA 09

»Das Fehlen von Kultur ist für die


russischen Kriegsgräuel verantwortlich«
Die Kulturmanagerin Svetlana Müller im Gespräch
Svetlana Müller leitet das Berliner Post- hat sich so ergeben, dass PANDA Wie sind Sie darauf gekommen, uns ist seit dem 24. Februar pausenlos Verstehen Sie trotzdem, dass viele
Ost-Kulturzentrum PANDA platforma. eine Multiart-Plattform für interna- PANDA als Zentrum dafür zu im Einsatz dagegen. Wir machen alles, jetzt russische Künstler boykottie-
Im Gespräch mit Ludwig Greven berich- tionale Kunst geworden ist. Anfangs gründen? um den Schaden durch diesen Krieg ren wollen?
tet die Kulturmanagerin, die in Lenin- war es sehr post-ost-lastig, mittler- Das war nicht das Ziel, aber es hat zu begrenzen. Ich habe großes Verständnis, dass
grad geboren wurde und seit über 30 weile ist etwa die Hälfte unseres Pro- sich so entwickelt, weil wir es selbst Ukrainer mit russischer Kultur jetzt
Jahren in Deutschland lebt, wie Kunst gramms global, die andere Hälfte leben. PANDA platforma wurde Zerstört der Krieg die kulturellen nichts mehr zu tun haben wollen und
Grenzen überwinden kann und wel- konzentriert sich auf die Post-Ost- 2009 als Bühne für alternative Kunst Bande zwischen den Völkern der russische Autoren z. B. aus ukraini-
chen Schaden Putins Krieg auch kul- Länder der ehemaligen Sowjetunion und Anlaufort für K­ ulturschaffende ehemaligen Sowjetunion? schen Schulbüchern herausgenom-
turell anrichtet. und Osteuropas. Wir spiegeln Berlin und demokratisch Denkende aus Ja, das ist schrecklich. Schon nach men werden. Das finde ich richtig und
wider. Ich weiß nicht, ob Putin Ber- Osteuro­pa gegründet. Bei uns finden ­einer Woche war klar: Es gibt keinen wichtig.
Ludwig Greven: Sie bieten diverse lin hasst, aber er hasst diese Art zu Menschen zusammen, die das Offene Weg zurück, auch nicht im kulturel-
Kunst über alle Grenzen hinweg – leben und Grenzen nur noch als ima- und Demokratische wollen. Auch das len Sinne. Es ist eine unverzeihliche, Aber hier im Westen?
nationale, ethnische, die der ginär wahrzunehmen. Dass man mit- ist ein wichtiger Beitrag zur Integra- unerklärbare Aggression. Selbst Ich würde da nicht nach Nationalität
Geschlechter, Kulturen, Genres. einander und nicht gegeneinander tion – durch Kultur. Dadurch fangen wenn Putin nicht mehr da wäre, wäre und Herkunft entscheiden, sondern bei
Also genau das, was Putin hasst? ­arbeitet und offen ist für Diversität Menschen, die bei uns zu Gast sind, es nicht wie früher. Das liegt auch ­ jedem Künstler nach der persönlichen
Svetlana Müller: Wir machen das na- jeder Art, auch was Gedanken an, anders zu denken. Sie kommen daran, dass Putins Propaganda­ Position. Wenn sich jemand schon
türlich nicht, um ihn zu ärgern. Es und Ideen betrifft. zu uns, weil wir zum Beispiel einen maschine funktioniert und ein Groß- lange vom Putin-Regime distanziert
Workshop, Konzert oder ein Theater- teil des russischen Volkes hinter hat, habe ich mit einem Boykott oder
stück für Kinder anbieten. Sie ver- dem Krieg steht. einer Ausladung schon ein Problem.
trauen uns nach und nach und den-
ken, was die machen, kann nicht so Manche im Westen sagen, die Führen Sie weiter russische
schlecht sein. Und landen dann viel- russische Kultur sei schon immer Stücke auf und laden russische
leicht bei einer unserer politischen aggressiv gewesen. Anders gefragt: Künstler ein?
Diskussionen. Wie kann es sein, dass eine so Das war für jeden von uns, nicht nur
große Kulturnation einen solch für die Ukrainerinnen und Ukrai-
Was hat sich durch den Ukraine- furchtbaren Krieg führt? ner, ein Dilemma. Wir haben uns ent-
Krieg bei Ihnen geändert? Imperiales Denken ist seit je ein Teil schieden, dass wir allen, die unser
Alles und nichts. Unsere Position zur russischer Kultur. Dennoch ist der Statement gegen den Krieg unterstüt-
Ukraine ist seit Jahren klar: Russ- Einfluss der Kultur auf das Verhal- zen, eine Bühne bieten, auch Künst-
land hat da nichts zu suchen. Nun ten in einem Krieg nicht so direkt, lerinnen und Künstlern aus Russland
steht der Krieg in der Ukraine im Vor- wie viele glauben. Wenn man an die und Belarus.
dergrund und das wird noch lange deutsche Kultur, Literatur und Phi-
so bleiben. Zu Beginn des russischen losophie denkt und an die Verbre- Kann Kultur zur Versöhnung
Angriffs haben wir ein Statement ver- chen Deutschlands im Zweiten Welt- nach dem Krieg beitragen?
fasst, dass wir gegen diesen Krieg sind krieg, da wurde die gleiche Frage ge- Das ist jetzt kein Thema. Über alle
und alle, die bei uns auftreten, diese stellt: Wie war das möglich? Es gibt Fragen zur russischen Kultur und
Auffassung teilen. ­darauf auch jetzt keine e
­ indeutige zur Versöhnung kann man erst reden,
FOTO: ROMAN EKIMOV

Antwort. Ich glaube nach wie vor, wenn keine russischen Bomben mehr
Hat es darüber Diskussionen und dass es hilft, Kultur voranzubringen auf ukrainische Städte fallen.
Streit gegeben? Wollten das einige und dass sie nicht pauschal Aggressi-
nicht unterschreiben? on in sich trägt. Nicht die Kultur, son- Vielen Dank.
Bei unseren Mitarbeitern jedenfalls dern ihr Fehlen ist dafür verantwort-
PANDA ist zu einem wichtigen Anlaufort für Kulturschaffende und demo- nicht. Ein Teil von ihnen stammt aus lich, dass Frauen vergewaltigt werden Svetlana Müller ist Kulturmanagerin
kratisch Denkende aus Osteuropa in Berlin ­geworden, hier die Veranstaltung der Ukraine. Wir alle verurteilen den und Mariupol und andere Städte zer- und leitet PANDA platforma.
»PANDA for Ukraine« russischen Angriffskrieg. Jeder von stört wurden. Ludwig Greven ist freier Publizist

Die Freiheit des Wortes


Schriftstellern aktiv zu helfen. Unter dern kann jedoch auch im Internet aus-
den etwa 140 Zentren der internationa- geübt werden.
len PEN-Gemeinschaft ist dieses Pro-
gramm einzigartig. Und hier darf man
Förderung künstlerischer Arbeit
Writers-in-Exile: Hilfe für verfolgte Schriftsteller dann auch den bisherigen Kulturstaats-
und Bereicherung unserer Kultur
ministerinnen und -ministern und be-
ASTRID VEHSTEDT deln, Aufenthaltstitel zu erlangen, Be- setzt waren. So kommt es vor, dass ein sonders auch der amtierenden, Claudia Nun geht es aber nicht allein um Auf-

S 
treuerinnen und Betreuer zu organisie- Trauma, das durch den Überlebensmo- Roth, einen großen Dank aussprechen. nahme und Versorgung, sondern ganz
eit nunmehr 23 Jahren besteht ren, die mit den Stipendiatinnen und dus verdrängt wurde, an die Oberflä- Gleichermaßen ist das Projekt auch besonders auch um die Integration un-
das mit öffentlichen Geldern Stipendiaten die unterschiedlichsten che kommt, wenn die betroffene Per- eine Messlatte für die Stabilität unse- serer Kolleginnen und Kollegen in den
finanzierte Writers-in-Exile- Behördengänge machen, Sprachkur- son hier Aufnahme und Schutz gefun- rer eigenen Demokratie. Denn während hiesigen Kulturbetrieb. Wir organisie-
Projekt (WiE) des PEN Zen­ se zu vermitteln, Aufenthaltstitel zu den hat. viele PEN-Zentren weltweit sich für die ren daher Übersetzungen, Publikati-
trums Deutschland. Seine Einrich- verlängern, sich möglicherweise um Erfahrung, Stabilität sowie Bestän- Freiheit des Wortes in ihrem eigenen onsmöglichkeiten und Lesungen und
tung gehörte zu einer der ersten Amts- Familiennachzug zu kümmern. Hin- digkeit sind eine Grundvoraussetzung Land einsetzen müssen, gehen wir da- unterstützen die Stipendiatinnen und
handlungen des neuen Kulturstaats- zu kommt aber auch, wenn notwendig, für die hauptamtlichen Mitarbeiterin- von aus, dass die Freiheit des Wortes Stipendiaten darin, hier auf eigenen
ministers Michael Naumann im Jahr psychologische und medizinische Be- nen, um diese Tätigkeit überhaupt be- garantiert ist und wir uns Aufgaben wie Füßen zu stehen. Auch die Kontakte
1999. Die nationalsozialistische Dikta- treuung. Da wird auch die ehrenamt- wältigen zu können. Die WiE-Mitar- diesen widmen können. untereinander werden gefördert.
tur zwang einst Tausende von Schrift- liche Arbeit schnell zum Fulltime-Job. beiterinnen und ich als ehrenamtliche Für mich persönlich ist der Um-
stellerinnen und Schriftstellern ins Selten kommt es vor, dass sich eine Sti- WiE-Beauftragte sind nicht daran in- gang mit den Kolleginnen und Kollegen
Umgang mit der neuen Heimat
Exil. Ein demokratisches, weltoffenes pendiatin in einer bestimmten Stadt teressiert, in der Presse mit spektaku- eine große Bereicherung. Auch wenn
Deutschland lädt nun Schriftstellerin- nicht wohlfühlt, sodass eine neue Woh- lären Geschichten aufwarten zu wol- Unsere Stipendiatinnen kommen aus ich selbst sehr viel Auslandserfahrun-
nen und Schriftsteller, die in ihren Her- nung gefunden werden muss; gegen- len. Der PEN gilt als verlässlicher Part- dem Sudan, dem Iran, Syrien, der Tür- gen habe, davon fünf Jahre regelmäßi-
kunftsländern unterdrückt und verfolgt wärtig ist dies angesichts des ange- ner. Husarenstücke sind kontraproduk- kei, Belarus, Afghanistan, Uganda oder ger Arbeit im Irak, eröffnet der Dialog
werden, nach Deutschland ein. Es wur- spannten Wohnungsmarktes besonders tiv, zumal die betroffenen Kolleginnen dem Irak. Inzwischen auch aus der Uk- mit den Stipendiatinnen und Stipen-
de mit fünf Stipendiaten im Jahr 1999 kompliziert. Und da Geheimdienste ih- und Kollegen meist noch ihre Familien raine. Den meisten ist es nach Ablauf diaten immer wieder neue Horizonte.
begonnen, es sind nun 15 Stipendien- rer Herkunftsländer auch in Deutsch- in den Herkunftsländern haben, die in ihres Stipendiums verwehrt, in ihre Oft denke ich über ihre Gedichte nach,
plätze. Hinzu kommen durch eine Son- land aktiv sein können, halten wir un- Schwierigkeiten geraten könnten. Heimat zurückzukehren. Wir tun da- über ihren Stil, ihre Wortwahl, ihre Me-
derregelung »Ukraine« in diesem Jahr ter Verschluss, in welchen Städten un- her alles, ihnen bei der Integration in taphern oder auch nur über den Klang
zwei zeitlich begrenzte Plätze hinzu. sere Stipendiatinnen und Stipendiaten unsere Gesellschaft beizustehen. Um- ihrer Sprache. In den jüngsten Lesun-
Der PEN als NGO und WiE
wohnen. Einige werden zu ihrem eige- gekehrt stellt sich für die Schriftstelle- gen, die wir nach der Pandemie wieder
mit staatlicher Förderung
nen Schutz nicht einmal auf der Home- rinnen und Schriftsteller die Frage, wie organisieren können, stelle ich ein ge-
Manchmal ein 25-Stunden-Job
page des PEN genannt. Als Verein finanziert sich der PEN aus- sie in ihrer neuen Umgebung, die mög- wachsenes Interesse des Publikums für
Zur Betreuung der Stipendiatinnen Unsere Kolleginnen und Kollegen schließlich aus Mitgliedsbeiträgen. WiE licherweise ihre Heimat werden soll, ar- die Originalsprache der Lesenden fest,
und Stipendiaten ist ein logistischer sind vielfach mit traumatischen Si- hingegen wird als Projekt von der Be- beiten können. Wenn sie vorher Akti- bevor ihre Gedichte und Texte dann in
Apparat notwendig. In unserer PEN- tuationen konfrontiert gewesen. Das auftragten der Bundesregierung für visten waren: Wo knüpfen sie hier an? der Übersetzung gehört werden können.
Geschäftsstelle in Darmstadt sind drei kann 16 Jahre Haft in einem Gefäng- Kultur und Medien vollfinanziert. Ein Und was ist mit ihrer Sprache? Social
hauptamtliche Mitarbeitende und die nis des Baschar-al-Assad-Regimes be- Widerspruch? Es ist schon eine Beson- Media, Twitter oder Videokanäle er- Astrid Vehstedt ist international arbei-
ehrenamtlich arbeitende WiE-Beauf- deuten oder physische Folter in Ugan- derheit, dass eine Regierung eine aus- möglichen ihnen heute eine ungleich tende Regisseurin und Schriftstellerin.
tragte damit beschäftigt, Visa zu be- da. Weniger sichtbar ist die psychische drückliche Willenserklärung abgibt, bessere Kommunikationsmöglichkeit Sie ist die Writers-in-Exile-Beauftragte
schaffen, mit Botschaften zu verhan- Gewalt, denen diese Menschen ausge- verfolgten Schriftstellerinnen und als 1999. Zensur in den Herkunftslän- des PEN-Zentrums Deutschland
10 DOKUMENTATION www.politikundkultur.net

Krieg gegen die Ukraine: Schnell helfen und Perspektiven entwickeln


Stellungnahme des Deutschen Kulturrates

Berlin, den 21.06.2022. Der Deutsche ҄ dass Städte und Gemeinden wie Kolleginnen und Kollegen arbeiten, in ҄ dass nach Russland verbrachtes ҄ dass gute Praxisbeispiele von hu-
Kulturrat, der Spitzenverband der Bun- auch Länder in öffentlichen Kultur- den Austausch treten und gerade nicht Kulturgut unmittelbar nach dem manitären Hilfsorganisationen und
deskulturverbände, verurteilt den rus- einrichtungen Flexibilität bei den in ihrer eigenen Community verblei- Krieg wieder an die Ukraine resti­ Kulturakteuren gesammelt und zur
sischen Angriff auf die Ukraine. Die Uk- Stellenplänen ermöglichen, damit ben. Sie bereichern das vielstimmige tuiert wird, Entwicklung gemeinsamer Strate-
raine ist ein unabhängiger europäischer der Zugang zum Arbeitsmarkt für kulturelle Leben im Einwanderungs- ҄ dass sichergestellt wird, dass im gien und Reaktionspläne bei künfti-
Staat, der bereits seit mehreren Jah- geflüchtete Mitarbeitende aus dem land Deutschland. Krieg erbeutetes Kulturgut nicht gen Krisen- und Katastrophenfällen
ren von seinem Nachbarn Russland be- Kultursektor geöffnet wird. in den Handel gebracht wird. zur Verfügung gestellt werden.
droht wird und seit 2014 im Krieg lebt. Um die Exilkultur zu unterstützen, for-
Dieser Krieg muss unverzüglich been- dert der Deutsche Kulturrat,
Dezentrale Hilfen aus dem Unterstützung des kulturellen Brücken bauen und aufrecht­
det werden. Es ist ein verbrecherischer
Kulturbereich für Kunst- und Lebens und des Kulturschaffens erhalten
Krieg gegen die Menschen in der Uk- ҄ dass die bestehenden Unterstüt-
Kulturschaffende in der Ukraine
raine, gegen die Kultur und kulturelle zungsprogramme für exilierte Kunst und Kultur können Brückenbau-
Identität der Ukraine, die ausgelöscht Viele Hilfen für aus der Ukraine geflohe- Künstlerinnen und Künstler ausge- Nach wie vor gibt es in der Ukraine ein er sein. Kunst und Kultur bieten spe-
werden sollen. ne Kunst- und Kulturschaffende sowie weitet und auf weitere künstlerische öffentliches kulturelles Leben und ei- zifische Formen der Begegnung und
Der Deutsche Kulturrat positioniert Mitarbeitende aus Kultureinrichtungen Sparten ausgedehnt werden, nen Kulturmarkt. Viele Kultureinrich- des Austauschs. Diese können abseits
sich mit dieser Stellungnahme zu aktu- erfolgen aus bürgerschaftlichem En- ҄ dass Exilkultur in öffentlichen Kul- tungen und Unternehmen der Kultur- des politischen Tagesgeschäfts erfol-
ellen Hilfsmaßnahmen für den Kultur- gagement dezentral vor Ort. Die Hilfs- tureinrichtungen einen höheren und Kreativwirtschaft wollen so schnell gen, finden aber niemals jenseits der
sektor in der Ukraine und zu Hilfen für angebote kommen aus allen künstleri- Stellenwert erhält und Kunst und wie möglich ihre Türen wieder öffnen Politik statt.
ukrainische Geflüchtete in Deutsch- schen Sparten, allen Regionen und kul- Kultur aus Exilländern vermehrt bzw. halten auch jetzt noch ihren Be- Auch wenn es derzeit schwierig ist
land sowie zu den Perspektiven der Zu- turellen Bereichen und richten sich vor ausgestellt oder aufgeführt wird, trieb unter schwierigen Bedingungen und die Solidarität zuerst den Menschen
sammenarbeit mit dem ukrainischen Ort an Berufskollegen und -kolleginnen. denn hier besteht ein großer Nach- aufrecht. in der Ukraine gilt, dürfen die Brücken
Kultursektor. Dabei gilt es, an die von Es handelt sich um die Bereitstellung holbedarf, zu Russland nicht eingerissen werden.
verschiedenen Organisationen, Künst- von Räumen, Instrumenten und an- ҄ dass Exilensembles nachhaltig auf- Um die Kultur- und Kreativwirtschaft Aktuell sind die allermeisten Kontakte
lerinnen und Künstlern sowie Mitar- derem mehr, damit ukrainische Kunst- gebaut und gefördert werden sowie in der Ukraine zu unterstützen, fordert zu staatlichen Kultureinrichtungen in
beitenden in Kultureinrichtungen seit und Kulturschaffende üben und arbei- Literatur von Exilkünstlerinnen und der Deutsche Kulturrat, Russland vorerst auf Eis gelegt. Kon-
Jahren bestehenden und gepflegten ten können. Sehr viele kleine und große -künstlern übersetzt wird, damit so takte zu Kunstschaffenden bestehen –
Kontakte und Arbeitsbeziehungen Kulturorganisationen leisten schnelle ein Zugang zum Kulturmarkt er- ҄ dass ukrainische Kunst und Kultur wenn auch unter schwierigen Bedin-
mit dem ukrainischen Kulturbetrieb und unbürokratische Hilfe. Damit bie- möglicht wird, verstärkt in Deutschland präsentiert gungen – teilweise noch. Mittelfristig
anzuknüpfen und diese auszubauen. ten sie zugleich einen Einblick in das ҄ dass die Zusammenarbeit von werden, müssen Perspektiven entwickelt werden,
Im Kulturbereich besteht eine große kulturelle Leben und den Kulturmarkt Kunstschaffenden im Exil und ҄ dass zuwendungsrechtliche Rah- um wieder in eine Phase des kulturel-
Hilfsbereitschaft, um in Deutschland in Deutschland. Kunstschaffenden, die dauerhaft in menbedingungen zur direkten len Tauwetters einzutreten und die be-
ankommende Geflüchtete aus der Uk- Deutschland leben, gefördert wird ­finanziellen Unterstützung von stehenden Kontakte vor allem zu zivil-
raine zu unterstützen und um Kultur- Um dieses Engagement aus der Kultur- und als Chance zur Erweiterung und ­ukrainischen Kulturinstitutionen gesellschaftlichen Akteuren wiederzu-
institutionen in der Ukraine zu helfen. branche zu unterstützen, fordert der Bereicherung der Kulturszene in geschaffen werden. beleben und zu pflegen. Dies gilt insbe-
Ein erheblicher Teil dieser Hilfen er- Deutsche Kulturrat, Deutschland gesehen wird. sondere mit Blick auf die Stärkung des
folgt ehrenamtlich. Im Folgenden wird demokratischen Potenzials von Kunst-
Kulturelle Bildung
auf einzelne Aspekte der Hilfe einge- ҄ dass die Städte, Gemeinden und Kir- und Kulturschaffenden sowie Organi-
Schutz von Kulturgut
gangen, Chancen, aber auch Probleme chen solche unbürokratischen Hil- Einrichtungen der kulturellen Bildung, sationen der Zivilgesellschaft.
in der Ukraine
werden benannt und konkrete Forde- fen durch die Bereitstellung von Kultur- und Bildungseinrichtungen so- Mit Blick auf die Ukraine muss im
rungen zur Verbesserung der Situati- Räumen oder auch die Übernahme Viele Beschäftigte in Kultureinrichtun- wie Kulturvereine haben in den Jahren Rückblick allerdings selbstkritisch fest-
on erhoben. von Mietkosten unterstützen, gen in Deutschland haben in den letz- 2015 bis 2017 Erfahrungen in der Bil- gestellt werden, dass trotz aller Be-
҄ dass Bund und Länder Stipendien, ten Monaten – teils auf ehrenamtlicher dungsarbeit mit Geflüchteten gesam- gegnungen und des bestehenden Aus-
Residenzprogramme und Projekt- Basis –, koordiniert durch verschiede- melt. Sie haben in beträchtlichem Um- tauschs in Deutschland das Interesse
Arbeiten in Deutschland
mittel für ukrainische Kunst- und ne Fachverbände aus dem Kultursektor, fang Know-how in der Arbeit mit Ge- und Verständnis für die spezifische Si-
Ukrainische Geflüchtete können einen Kulturschaffende auflegen, damit Hilfe bei der Bewahrung von Kulturgü- flüchteten aufgebaut und sind für die tuation in den Ländern Osteuropas un-
Aufenthaltstitel nach § 24 Aufenthalts- sie nicht nur auf die ehrenamtliche tern in der Ukraine geleistet. Sie haben vielschichtigen Anforderungen quali- zureichend war. Der Blick wurde stär-
gesetz bei der zuständigen Migrations- Hilfe von Kollegen und Kolleginnen die nötigen Materialien zur Rettung uk- fiziert. An diese Kompetenzen und Er- ker nach Russland als auf die osteu-
behörde des Wohnorts beantragen. Mit angewiesen sind, rainischer Kulturgüter gesammelt und fahrungen wird nun bei Angeboten der ropäischen Nachbarstaaten gerichtet.
diesem Aufenthaltstitel haben sie ab ҄ dass die Künstlersozialkasse kulant in die Ukraine verbracht. Die Digita- kulturellen Bildung angeknüpft. Vie- Osteuropäische Länder, wie die Ukra-
dem Zeitpunkt der Ausstellung einer mit Blick auf die für den Zugang er- lisierung von ukrainischem Kulturgut le richten sich insbesondere an Kin- ine, wurden vor allem als postsowjeti-
Fiktionsbescheinigung den Zugang zum forderlichen Dokumente umgeht, wurde unterstützt und Digitalisate wur- der und Jugendliche, um positive Er- sche und weniger als europäische Staa-
Arbeitsmarkt, d.h. sie können sowohl damit freiberufliche Künstlerinnen den in Deutschland gespeichert. Dabei lebnisse zu ermöglichen und dabei zu ten mit auch anderen historischen Be-
als abhängig Beschäftigte als auch als und Künstler sowie Publizistinnen kann auf die gewachsenen Arbeitsbe- unterstützen, traumatische Kriegs- und zügen und einer eigenständigen Kunst
Selbständige in Deutschland arbeiten. und Publizisten sich in der Künstler- ziehungen zu ukrainischen Kulturin- Fluchterlebnisse durch künstlerische und Kultur gesehen.
Der Deutsche Kulturrat begrüßt dies, da sozialkasse sozialversichern können. stitutionen gebaut werden. Je länger Ausdrucksformen und Gemeinschaft
der Einstieg in den Arbeitsmarkt wich- der Krieg andauert, desto mehr wird zu verarbeiten. Um das Verständnis für die osteuro-
tig für das Ankommen in der Gesell- Gleichzeitig findet ein Kulturaustausch bekannt, dass gezielt ukrainische Kul- Vieles wird unmittelbar in Erst- päischen Staaten zu fördern und da-
schaft ist. mit ukrainischen Kunstschaffenden turgüter zerstört oder auch wertvolles aufnahmeeinrichtungen angeboten. mit die Basis für partnerschaftliche Zu-
Verschiedene Verbände aus dem Kul- statt, die in der Ukraine produzieren Kulturgut nach Russland verbracht wird. Einrichtungen der kulturellen Bildung, sammenarbeit zu verbessern, fordert
turbereich informieren seit Beginn des und die auf Zeit nach Deutschland kom- Der Deutsche Kulturrat begrüßt, Kulturvereine sowie Kultur- und Bil- der Deutsche Kulturrat,
Kriegs und der Ankunft der ersten Ge- men, um hier zu arbeiten. dass im Haushalt 2022 von Kultur- dungseinrichtungen bieten aber auch
flüchteten aus der Ukraine über Ar- staatsministerin Roth 20 Mio. Euro an die Möglichkeit als Dritte Orte, kosten-҄ dass die Erkenntnisse und Kompe-
beitsmöglichkeiten in den verschiede- Um diese Gastspiele zu ermöglichen zusätzlichen Haushaltsmitteln für die freie Angebote bereitzuhalten und da- tenzen der Osteuropawissenschaf-
nen Branchen, Kulturinstitutionen oder und zu unterstützen, fordert der Deut- Ukrainehilfe vorgesehen sind. Ein Teil mit denjenigen, die oftmals in beeng- ten breiter wahrgenommen und
Kulturunternehmen. Sie halten auch sche Kulturrat, dieser Mittel ist für die Rettung des ma- ten Verhältnissen in Erstaufnahme- ­rezipiert werden,
Informationen zum Aufenthaltsrecht teriellen Kulturguts gedacht. Der Deut- einrichtungen leben, Räume zu bieten, ҄ dass die Osteuropawissenschaften
sowie zum Sozialrecht bereit und ge- ҄ dass Bund und Länder Mittel für sche Kulturrat fordert, dass diese Mit- in denen sie die Schrecken des Krieges an den Universitäten gestärkt wer-
hen dabei auf die Spezifika der Berufe den Kulturaustausch mit der Ukra- tel in enger Abstimmung mit den jewei- für eine Zeitspanne hinter sich lassen den, dies gilt auch mit Blick auf For-
im Kultur- und Medienbereich ein. In ine bereitstellen sowie schnell und ligen Fachverbänden, die sich bereits können und anstelle von Ohnmachts- schung und Lehre der osteuropä­
einigen Branchen mit geschützten Be- unbürokratisch Gastspiele unter- vor Ort engagieren, vergeben werden, gefühlen wieder Selbstwirksamkeit er- ischen Sprachen,
rufen, wie z.B. in der Architektur, müs- stützen. um weitere zielgenaue Hilfen zu er- fahren. ҄ dass osteuropäische Kunst und
sen die in der Ukraine erworbenen Be- möglichen. ­Kultur in ihrer Vielschichtigkeit
rufsabschlüsse erst anerkannt werden. Um die Potenziale der kulturellen Bil- und ihrem Beitrag zur europäischen
Exilkultur
Ähnliches gilt für die künstlerische Leh- Um das Kulturgut in der Ukraine zu dung für Geflüchtete aus der Ukraine ­Moderne vermehrt präsentiert und
re. Im Kulturbereich gibt es aber auch In Deutschland bestehen verschiede- schützen, fordert der Deutsche Kul- besser entfalten zu können, fordert der Literatur aus diesen Ländern über-
eine Vielzahl von ungeschützten Beru- ne Diasporakulturen von Künstlerin- turrat, Deutsche Kulturrat, setzt werden,
fen, in denen die Fortsetzung der be- nen und Künstlern, die hier im Exil le- ҄ dass der Jugendkulturaustausch
ruflichen Tätigkeit weniger reglemen- ben. Dementsprechend gibt es auch ҄ dass der Bund weitere Mittel zur ҄ dass in den Erstaufnahmeeinrich- systematisch partnerschaftlich auf
tiert ist. schon länger eine ukrainische Exil- ­Sicherung und Rettung von Kultur- tungen Angebote der kulturellen der Basis zivilgesellschaftlicher
kultur. Die Exilkultur erlaubt die Pflege gut zur Verfügung stellt, Bildung offensiv bekannt gemacht Strukturen auf- und ausgebaut wird.
Um den Einstieg in den Arbeitsmarkt und die Weiterentwicklung der künst- ҄ dass eng mit den jeweiligen Fach­ und für deren Bewerbung Mittel
zu erleichtern, fordert der Deutsche lerischen Ausdrucksformen und Spra- organisationen zusammengearbei- ­bereitgestellt werden, Die Solidarität und das Engagement des
Kulturrat, chen des Heimatlandes. Sie kann ein tet wird, um Kulturgut systematisch ҄ dass auf die bestehenden Netze der Deutschen Kulturrates gilt in diesen
Zuhause in der Fremde bedeuten. Der zu erfassen und zu retten, kulturellen Bildung vor Ort, die sich Tagen und Monaten zuerst und beson-
҄ dass bezüglich der vorzulegenden Exilkultur muss Wertschätzung ent- ҄ dass der Vorschlag, Odessa zum durch eine Trägervielfalt auszeich- ders den Menschen in der Ukraine und
Abschlüsse und Zeugnisse die Ar- gegengebracht werden, die sich auch Weltkulturerbe zu erklären, mit nen, vonseiten der Kommunalver- den Geflüchteten, deren Perspektiven
beitgeber aus Kultur und Medien in konkreter Förderung ausdrücken Nachdruck und im Schulterschluss waltungen zugegangen wird und und Geschichten gehört und wahrge-
kulant agieren, da viele Geflüchte- muss. Zugleich muss vermieden wer- mit anderen UNESCO-Mitglieds- Fördermittel zur Verfügung gestellt nommen werden müssen. Der Deutsche
te jene Dokumente aufgrund ihrer den, dass Stigmatisierungen entstehen. staaten verfolgt wird, werden, Kulturrat ruft dazu auf, diese Solidari-
Flucht nicht vorweisen können, Viele Künstlerinnen und Künstler oder ҄ dass sich Deutschland im EU-Kul- ҄ dass neben den kurzfristigen Pro- tät mit der Ukraine auf dem kulturel-
҄ dass spezifische Sprachkurse für auch Publizistinnen und Publizisten turministerrat sowie im G7-Kon- jekten eine dauerhafte Sicherung len Sektor mit langem Atem aufzubau-
den Kulturbereich angeboten wer- suchen aber auch bewusst Anschluss text für den gemeinsamen Schutz der Strukturen kultureller Bildung en und weiterzuentwickeln sowie Kräf-
den, um die fachspezifische Kom- an die hiesige Kunstszene. Sie wollen von Kunst und Kultur in der Ukraine gerade mit Blick auf die Arbeit mit te für den kulturellen Wiederaufbau in
munikation zu erleichtern, in Deutschland mit den hier lebenden einsetzt, Geflüchteten erfolgt, der Ukraine zu sammeln.
Politik & Kultur | Nr. 7-8 / 22 | Juli /August 2022
INTERNATIONALES 11

Zurück zu den Ursprüngen des Bauens


Die Architektur des Pritzker-Preisträgers Diébédo Francis Kéré
PHILIPP MEUSER Energiegerechtigkeit, Ressourcenscho- Heimat, wo das Planen und Konstruie- noch zu Studienzeiten den ebenfalls re- Bewunderung und Respekt sein, mit wie

S 
nung und Partizipation spricht, mag das ren immer eine Gemeinschaftsaufga- nommierten Aga-Khan-Award, der Auf- viel Diplomatie, Empathie und Begeis-
eine Persönlichkeit ist so au- auf dem Papier in das heutige Bild der be der Familie oder des ganzen Dorfes takt für eine steile Karriere. Die für ihre terung Kéré seinen Geschäftsalltag be-
ßergewöhnlich unaufgeregt politischen Korrektheit passen. Aber ist. Eine solche Planungskultur auch in Spürnase bekannten Berliner Architek- wältigt. Es vergeht keine Stunde, in der
und natürlich wie seine Archi- wer den Sohn eines Dorfvorstehers mit Deutschland wie etwa bei dem aktuel- turgaleristen Kristin Feireiss und Hans- er nicht eine Anekdote erzählen kann,
tektur. Gemeinschaft, Einfach- seinen Schmucknarben im Gesicht per- len Projekt für die Freie Waldorfschule Jürgen Commerell boten Kére eine frü- in der die großen Namen der Architek-
heit und der Bezug zur Natur sind Para- sönlich erlebt, versteht sofort, dass sich Weilheim zu pflegen, gelingt nur einem he Plattform, bevor er 2009 mit Chris- tenwelt ebenso Platz finden wie seine
meter der Entwürfe, die in der globali- Kéré diese Begriffe nicht angelesen hat. Architekten, der keine ästhetischen Ei- toph Schlingensief das Projekt eines Familie in Burkina Faso. Seine Herkunft
sierten Welt der Stararchitektur bislang Er lebt sie. Noch mehr: Er könnte diese telkeiten kennt und seinen Auftragge- Operndorfes in Burkina Faso initiierte. aus dem entlegenen Dorf, das er als Sie-
nur wenig Beachtung gefunden haben. Begriffe erfunden haben – so authen- bern gerne zuhört. Beim Schulbau in Das eine Autostunde östlich der Haupt- benjähriger verließ, um zu Verwandten
Diébédo Francis Kéré, in diesem Jahr tisch vermag er es mit ruhiger Stim- Oberbayern begeistert der Afrikaner mit stadt Ouagadougou gelegene Dorf La- in die Stadt und in die Schule zu gehen,
ausgezeichnet mit dem Pritzker-Preis, me und wohlklingendem Akzent aus- seinem partizipativen Ansatz Lehrer, ongo wurde bereits als unvollendetes charakterisiert ihn bis heute. Das von
dem Nobel-Preis der Architektur, ver- zudrücken. Die Erzählkunst, eine Tra- Eltern und Schüler gleichermaßen. Projekt weltberühmt. Als der Theater- Landwirtschaft und Viehzucht gepräg-
körpert eine neue Generation von Ar- dition der meisten Völker in Afrika, liegt regisseur Schlingensief 2010 verstarb, te Burkina Faso ist Teil der Biografie von
chitekten. Sie denken menschlich, nicht ihm im Blut. Kérés Familie gehört zu drohte das Operndorf als Bauruine in Francis Kéré. In seiner beruflichen Kar-
Licht und Schatten
abstrakt. Sie sind offen und nachdenk- den Mossi, die in Burkina Faso, Mali Vergessenheit zu geraten. Aber Kérés riere paart sie sich mit einer Architek-
lich. Die Gemeinschaft von Häusern ist und im Norden von Ghana beheima- Zu den großen Stärken von Kéré ge- unermüdlicher Optimismus hält den tur, die sich schwer in den Stilkanon der
nicht nur eine baukünstlerische Kom- tet sind. Willkürliche Grenzziehungen hört auch, dass er Niederlagen einste- Gedanken am Leben, in der westafri- zeitgenössischen Architektur einord-
position, und die Verwendung von loka- während der Kolonialzeit teilen die Fa- cken kann. Er zeigt sich immer leiden- kanischen Savanne ein einzigartiges nen lässt: ein- bis zweigeschossige Zie-
len Materialien ist nicht eine politisch milien bis heute. schaftlich, seine Haltung ist stets nach Kulturprojekt zu realisieren. Dass dem gelbauten aus Lehm und Laterit, Photo­
korrekte Geste, sondern der Garant für
eine Identifikation der Nutzenden mit
ihrem Gebäude. Der 1965 in Burkina
Faso geborene Kéré führt die architek-
tonische Weltelite wieder zu den Ur-
sprüngen des Bauens zurück. Der West-
afrikaner redet nichts schön, malt das
große Bild, präsentiert sich als ein Bau-
künstler, der für die drängenden Fragen
und Sorgen unserer Gesellschaft Ant-
worten formuliert – und nicht nur ste-
rile Projekte liefert. Der in Berlin leben-
de Architekt gehört seit Jahren zu den
Geheimtipps der internationalen Bau-
kunst. Dass ihm am 27. Mai 2022 in Lon-
don die renommierteste Auszeichnung
der Architekturwelt verliehen wurde,
bestätigt ein längst bestimmendes We-
sen zeitgenössischer Architektur: Tra-
ditionen respektieren, auf die Nutzer
eingehen, Bauten behutsam in ihren
Kontext – im Fall von Kéré meist Land-
schaften – integrieren.
Mitte der 1980er Jahre mit einem
Stipendium der Carl-Duisberg-Gesell­
schaft und des Deutschen Entwick-
lungsdienstes für eine Tischlerlehre
nach Deutschland gekommen, erinnert
Kéré mit seiner Sensibilität und seiner

FOTO: KÉRÉ ARCHITECTURE GMBH


architektonischen Haltung ein wenig an
Hassan Fathy. Der Ägypter vermochte
es Mitte des 20. Jahrhunderts, die ver-
nakuläre Architektur eines arabischen
Dorfes in die Moderne zu übertragen.
1945 hatte die ägyptische Antikenver-
waltung Fathy mit der Planung von New
Gourna in der Nähe von Luxor beauf-
tragt. Westlich des Nils sollte ein neues Der kürzlich vorgestellte Entwurf für die Deutsche Botschaft Ouagadougou vom Pritzker-Preisträger Diébédo Francis Kéré
Dorf in sicherer Entfernung zu den an-
tiken Königsgräbern errichtet werden. Erzählkultur im Schatten vorne gerichtet und lösungsorientiert. jungen Tischlergesellen aus Afrika mal voltaik-Panele auf einem Dach, das als
Anstatt eine für die Moderne typische der Baumkrone Dass beim Neubau des Goethe-Instituts eine akademische Karriere als Hoch- Leichtkonstruktion wie ein Regenschirm
Siedlung im Internationalen Stil zu pla- Dakar der Auftrag für die Ausführungs- schullehrer für Entwerfen und Partizi- die einfachen Kuben gegen Regen und
nen, orientierte sich Fathy an den loka- Francis Kéré entstammt einer Kultur, in planung und die Bauleitung an einen pation gelingen sollte – daran hat der Sonne schützt, und oft auch ein Gemü-
len Bautraditionen in Oberägypten. Mit der das geschriebene Wort für die meis- anderen Architekten übergeben wur- Direktor des Architekturmuseums Mün- segarten, der die Eigenversorgung er-
seiner Haltung, die traditionelle islami- ten Menschen erst seit wenigen Gene- de, nagt freilich auch an einem Pritz- chen und dortige Professor für Bauge- möglicht. Und immer gibt es das Mo-
sche Architektur wieder zu neuem Le- rationen ein Teil des Wissenstransfers ker-Preisträger. Aber der vornehme und schichte und kuratorische Praxis An­ tiv des Baums, unter dem die Menschen
ben zu erwecken, blieb Fathy in seiner ist. In der Religion spielt das gedruck- stets höfliche Burkiner äußert keinen dres Lepik großen Anteil. Lepik wür- zum Gespräch zusammenkommen: Ar-
Heimat jedoch unpopulär. So warfen te Wort in Form des Korans dafür eine Groll. Ein Monopol für deutsche Pro- digte seinen späteren Professorenkol- bre à Palabres. Die Architektursprache à
ihm Kritiker vor, er lehne einen mög- umso bedeutendere Rolle. In Westafrika jekte in Westafrika hat Kéré ohnehin legen in vielbeachteten Ausstellungen la Kéré erscheint selbstverständlich und
lichen Technologietransfer zwischen wird die Buchreligion allerdings nicht nicht. Dass der Auftrag für den Neubau und Katalogen. Der Titel »Radikal ein- erfordert keine weiteren Erläuterungen.
der westlichen Welt und einem – wie so radikal ausgelegt wie in ihrem Ur- der Deutschen Botschaft Ouagadougou fach« beschrieb treffend, was die Archi- Wer dem afrikanischen Baukünstler
es damals hieß – Entwicklungsland ab. sprungsland, im heutigen Saudi-Arabi- statt an Francis Kéré, der in seiner Hei- tektur des Afrikaners charakterisiert. allerdings ein schriftliches Statement
Als von internationalen Bewunderern en. Die bunte Lebenslust überdeckt die mat vom Staatspräsidenten als baukul- Der Minimalismus drückt sich nicht in abverlangt, um ihn auch architektur-
gefeierter Wiederentdecker der arabi- strengen Rituale. Denn auch im Glau- tureller Botschafter hofiert wird und re- der Form, sondern im Prozess des Bau- theoretisch einordnen zu können, muss
schen Lehmbauweise und ihrer arche- ben vermischen sich Pragmatismus, lo- gelmäßig vor Ort ist, von der Bundesre- schaffens aus. Um diese Schlichtheit ins Geduld aufbringen. Nur selten meldet
typischen Formen leistete Fathy jedoch kale Traditionen und Lebensweishei- publik Deutschland kürzlich an einen richtige Licht zu rücken, braucht es je- sich Francis Kéré schriftlich zu Wort –
einen bedeutenden Beitrag zur Archi- ten, die bis heute in Form von Fabeln Konkurrenten ohne Afrika-Bezug ver- doch nicht nur schöne Worte, sondern und wenn, dann ist aus seinen Zeilen
tekturgeschichte des 20. Jahrhunderts. von den Alten an die Jungen überlie- geben wurde, ärgert allenfalls die spä- auch Bilder. Es sind Freundschaften wie eine leise Kritik an der permanenten Su-
Tradition sei für die ländliche Bevölke- fert werden. Die Architektur, die sich teren Nutzer. Im Berliner Büro klingelt etwa mit dem niederländischen Star- che nach zitierfähigen Schlagzeilen he-
rung, so Fathy in einer 1969 veröffent- im Voltabecken mit dezent bemalten das Telefon seit dem Bekanntwerden fotografen Iwan Baan, der Kérés Bau- rauszulesen: »Ich befürchte, dass es kei-
lichten Dokumentation zu New Gourna, Lehmfassaden und Strohdächern prä- des Pritzker-Preises ununterbrochen. ten in Szene setzt wie kaum ein ande- ne einzige Theorie gibt, die in der Lage
der einzige Schutz ihrer Kultur. Denn sentiert, ist ein Teil dieser Erzählkultur. Über fehlende Aufträge muss sich die rer. Baans Aufnahmen haben die Pro- ist, die Wahrheit über den afrikanischen
sie könnten nicht unterscheiden zwi- Der deutsche Afrikaforscher Leo Frobe- Kére Architecture GmbH derzeit keine jekte an entlegenen Orten in Afrika so Kontinent oder seine Architektur zu sa-
schen ihnen unbekannten Stilen, und nius trug vor 100 Jahren dazu bei, dass Gedanken machen. ästhetisiert, dass sie inzwischen in Ga- gen. Aber wenn wir eine solche Theo-
wenn sie die Gleise der Tradition ver- diese Oral History erstmals schriftlich Mit viel Dankbarkeit und Respekt lerien und Museen der westlichen Welt rie formulieren, beziehen wir hoffent-
ließen, führe dies unweigerlich in eine festgehalten wurde. spricht der Endfünfziger über seine ausgestellt werden. Sie tragen auch zur lich die Besonderheiten, die Details und
Katastrophe. Das Sprechen über das Bauen liegt Wegbereiter und Wegbegleiter. Der Ber- zunehmenden Popularität der subsa- die Geduld der Menschen in Afrika mit
Was bei Hassan Fathy einer archi- dem Hochschullehrer Kéré, der über liner Architekturprofessor Peter Herr- harischen Architektur insgesamt bei. ein.« Seine Worte hören sich dann ganz
tektonischen Revolution gleichkam, München hinaus auch an renommier- le motivierte den damals schon älteren normal an. Radikal normal könnte man
ist längst fester Bestandteil der Ent- ten US-Universitäten wie Harvard und Studenten, sein Studium an der Tech- es nennen.
Anekdoten aus der Welt
wurfsseminare in den Architekturschu- Yale sowie in Weimar unterrichtet hat, nischen Universität Berlin trotz sei-
der Architektur
len weltweit. Wenn der an der Techni- folglich mehr als das Schreiben über Ar- nes ersten erfolgreichen Schulbaus im Philipp Meuser ist Architekt mit
schen Universität München lehrende chitektur. In Interviews spricht er elo- Heimatdorf Gando abzuschließen. Für Wer den viel beschäftigten Architekten Baustellen in Westafrika und Verleger
Francis Kéré von aktuellen Themen wie quent über den Bauprozess in seiner seinen Erstlingsbau erhielt Kéré 2004 eine längere Zeit begleitet, wird voller in Berlin
12 MEDIEN www.politikundkultur.net

Flexibler und teurer


Kein »besonderer« Kultur- fairs Officer bei RTL Deutschland, be-
auftrag mehr für den öffent- grüßte die hier gefundene Anpassung
an den ursprünglichen Entwurf, der kei-
lich-rechtlichen Rundfunk ne Beschränkungen vorsah: Die Tatsa-
che, dass der Auftrag künftig in seiner
HELMUT HARTUNG gesamten Breite im Tagesverlauf der

I 
Vollprogramme und in den Mediathe-
nsgesamt 8,26 Milliarden Euro ken wahrnehmbar sein soll, sei ebenso
flossen mit dem Rundfunk- wie die Schärfung bei der Unterhaltung
beitrag 2021 an ARD, ZDF und und die begrenzte Öffnung der Online-
Deutschlandradio. Das ist ein Auswertungsmöglichkeiten wichtig, weil
Plus von 3,8 Prozent im Ver- alle Veränderungen bei ARD und ZDF
gleich zum Vorjahr. Hauptgrund für sich unmittelbar auch auf die privaten
den Anstieg der Erträge ist die vom Medien als »zweite Säule« des dualen
Bundesverfassungsgericht beschlos- Systems auswirken würden, so Grewenig.
sene Anpassung des Rundfunkbeitrags
auf 18,36 Euro pro Monat, obwohl sie
Fernseh- und Rundfunkräte
erst Anfang August 2021 wirksam wur-
sollen mehr Gewicht erhalten
de. An dieser für die Anstalten positi-
ven Entwicklung wird auch der neue Nach dem Willen der Länder werden
Auftrag für ARD und ZDF, dessen Ent- die Rundfunk- und Fernsehräte künftig
wurf die Regierungschefinnen und eine größere Rolle spielen und über die
-chefs der Länder am 2. Juni gebilligt »Erfüllung des Auftrags sowie über eine
hatten, nichts ändern. Im Gegenteil: In wirtschaftliche und sparsame Haus-
einem Interview mit der FAZ hat der halts- und Wirtschaftsführung« wa-
neue KEF-Vorsitzende Martin Detzel chen. Auch müssen sie Maßstäbe fest-
darauf verwiesen, dass die Höhe des setzen, um die »Kontrolle der Ressour-
Rundfunkbeitrages in erster Linie vom ceneffizienz zu ermöglichen«. Um die
Auftrag bestimmt werde. Wenn der Einhaltung des Auftrags besser über-

FOTO: SWR/DENNIS WEISSMANTEL


Auftrag im Wesentlichen gleich bleibe prüfen zu können, sollen nach dem Wil-
  – wie jetzt geplant – sei das reine len der Länder die Landesrundfunkan-
Rechenarithmetik. So sei es ange- stalten, das ZDF und das Deutschland-
sichts der gegenwärtigen Inflations- radio Zielvorgaben festlegen, die von
rate, wenn die Kostenentwicklung den zuständigen Gremien festgesetzt
hochgerechnet werde, keine Überra- werden. »Die Richtlinien umfassen (…)
schung, dass die Beiträge nominal stei- inhaltliche und formale Qualitätsstan-
gen könnten. Zudem verursache die dards sowie standardisierte Prozesse
Digitalisierung zunächst teilweise hö- Im Entwurf des novellierten Medienstaatsvertrages bekommen Mediatheken mehr Spielraum zu deren Überprüfung; die Richtlinien
here Kosten, als sich durch Einsparun- sind zu veröffentlichen und regelmä-
gen ergäben. Und auch die Mitarbeiter enstaatsvertragsentwurf auch zustim- bung jedoch nicht aus, um öffentlich- Künftig sollen nur das Erste, das Zweite, ßig zu überprüfen«, heißt es dazu im
hätten einen Anspruch auf eine ange- men müssen. Anfang 2023 sollen die rechtliche Unterhaltung zu definieren die Dritten Programme sowie ARTE und Entwurfstext.
messene Vergütung. Änderungen in Kraft treten. und von privaten Anbietern abzugren- 3sat linear beauftragt werden. Wenn der An einigen Stellen wurden in den
Sechs Jahre nach der Bildung der zen. Zudem wird in der Öffentlichkeit Medienstaatsvertrag so bestätigt wird, Entwurf zudem Formulierungen ein-
Arbeitsgruppe »Auftrag und Struktur- zu Recht der hohe Anteil an Unterhal- könnte der Bayerische Rundfunk rela- gefügt, die eine bessere Transparenz
Unterhaltung muss einem öffent-
optimierung der Rundfunkanstalten« tungsformaten bei ARD und ZDF kriti- tiv schnell ARD-alpha in eine Wissens- der Kosten und »Nachprüfung des Fi-
lich-rechtlichen Profil dienen
liegt jetzt der Entwurf des novellier- siert, der damit nicht eingedämmt wird. plattform verwandeln und die ARD ihre nanzbedarfs« durch die KEF ermögli-
ten Medienstaatsvertrages vor, über Zwar ist die »Strukturoptimierung« auf Pläne für eine News-Plattform umset- chen sollen. Erstmals können die An-
den sich alle 16 Bundesländer einigen dem weiten und steinigen Weg verlo- zen. Auch dem ARD-Kulturportal, das stalten »für ein neues oder wesentlich
Kulturberichterstattung ist kein
konnten. »Wir mussten ziemlich dicke ren gegangen, aber wenigstens die Auf- endlich im Herbst dieses Jahres starten geändertes Telemedienangebot einen
hervorgehobener Auftrag mehr
Bretter bohren, aber das Reformpaket tragsoptimierung soll nun realisiert soll, steht formal nichts mehr im Wege. ›Probebetrieb‹ für sechs Monate star-
kann sich wirklich sehen lassen«, stellt werden. Die geplanten Änderungen be- In der Debatte um die Auftragsnovellie- Laut Entwurf sind die Fernsehpro- ten, um neue Erkenntnisse zu gewin-
dazu Dirk Schrö­dter, Chef der Staats- ziehen sich nur auf sechs der insgesamt rung ist bisher eine wesentliche Ände- gramme, die nicht mehr linear weiter- nen, die sie für den Vorschlag für ein
kanzlei in Schleswig-Holstein fest. »Der 23 Paragrafen im Medienstaatsvertrag rung kaum beachtet worden. So heißt geführt werden müssen, jedoch weiter- neues Telemedienangebot benötigen,
Programmauftrag wird deutlich flexib- zum öffentlich-rechtlichen Rundfunk. es im aktuellen Staatsvertrag, dass die hin beauftragt; »die Beauftragung geht Aufschlüsse über den voraussichtlichen
ler gestaltet. Das ist für mich Dreh- und Der beschlossene Entwurf unterschei- Sender Beiträge insbesondere zur Kul- auf die überführten, ausgetauschten, Bedarf nach dem neuen Telemedienan-
Angelpunkt der Reform. Wir eröffnen det sich nicht signifikant vom Papier, tur anzubieten hätten. Dieser »beson- wiederhergestellten oder veränderten gebot zu erhalten oder neuartige tech-
den Anstalten die Möglichkeit, die das in einer Online-Anhörung öffent- dere« Kulturauftrag des öffentlich- Angebote über«, heißt es in dem Text. nische und/oder journalistische Kon-
Menschen da abzuholen, wo sie sind. lich zur Diskussion gestellt worden ist. rechtlichen Rundfunks wird nun nicht Die Gesamtzahl der Fernsehprogram- zepte zu erproben«.
Sie können weniger linear und mehr Von den annähernd 2.700 Änderungs- mehr hervorgehoben. Kein gutes Vor- me, die von den in der ARD zusammen- Die Länder gehen damit konsequent
online machen. Die Mediatheken be- vorschlägen, die die Staatskanzlei in zeichen für die geschrumpfte Zahl von geschlossenen Landesrundfunkanstal- den Weg weiter, ihre Verpflichtung für
kommen mehr Spielraum. Das ist fol- Rheinland-Pfalz erreichten, hat kaum Kultursendungen und -formaten. ten bzw. dem ZDF veranstaltet werden, den öffentlich-rechtlichen Rundfunk,
gerichtig im Zeitalter des sich stetig einer Eingang in die Überlegungen der Der Auftrag soll »in seiner gesamten darf die bisherige Anzahl der verbrei- zu der sie laut Verfassung und auch dem
wandelnden Mediennutzungsverhal- Länder gefunden. Breite auf der ersten Auswahlebene der teten Fernsehprogramme nicht über- Beihilferecht der EU verpflichtet sind,
tens. Die Verantwortung der Gremi- Wer nun denkt, mit dem novellier- eigenen Portale und über alle Tages­ steigen. Das bedeutet, dass die bishe- auf die Sender zu übertragen. Künftig
en wird gestärkt. Nachhaltigkeit wird ten Auftrag sei eindeutig geregelt, wo- zeiten hinweg in den Vollprogrammen rigen Angebote wie Phoenix oder der sollen die Anstalten und die Gremien
ein zentrales Kriterium. Und das öf- für ARD, ZDF und Deutschlandradio wahrnehmbar sein«. Mit anderen Wor- KiKA nicht sofort abgeschaltet werden, überwiegend allein verantworten, über
fentlich-rechtliche Profil der Angebo- die mehr als neun Milliarden Euro ten: Nicht nur Krimis und Unterhal- sondern über die Umstellung auf ein welche Wege die Inhalte verbreitet wer-
te wird deutlich geschärft.« jährlich ausgeben dürfen, irrt sich al- tung, sondern auch Dokumentarfilme Online-Angebot die Gremien entschei- den, ob sie den Anforderungen an ein
Trotz der technischen und gesell- lerdings. Das beginnt mit dem soge- müssen im Hauptabendprogramm ab den müssen. Damit ist der öffentlich- »öffentlich-rechtliches Profil« genügen
schaftlichen Entwicklungen müss- nannten »Profil« des öffentlich-rechtli- 20.00 Uhr präsent sein. rechtliche Rundfunk verpflichtet, auch und den »Grundsätzen der Wirtschaft-
ten die Anstalten ihren Grundversor- chen Rundfunks. So lautet die neue For- weiterhin ein Angebot für Kinder und lichkeit und Sparsamkeit« entsprechen.
gungsauftrag gegenüber der Gesell- mulierung zum Unterhaltungsangebot: neben den Hauptprogrammen weitere Nach dem Inkrafttreten des neuen
Kern des Auftrags ist die
schaft insgesamt auch weiterhin er- »Die öffentlich-rechtlichen Angebote Informationsangebote zu produzieren Medienstaatsvertrages wollen die Län-
Programmflexibilisierung
füllen, so Severin Fischer, Chef der haben der Kultur, Bildung, Information und zu verbreiten. der in einem zweiten Schritt auch über
Berliner Senatskanzlei. Durch die zu- und Beratung zu dienen. Unterhaltung, »Die öffentlich-rechtlichen Rundfunk- die Art der Beitragsfestsetzung und die
nehmende Digitalisierung, Technisie- die einem öffentlich-rechtlichen Profil anstalten haben die Aufgabe, ein Ge- Ausgestaltung des Finanzrahmens Fest-
Nichteuropäische Serien künftig in
rung und Medienkonvergenz hätten entspricht, ist Teil des Auftrags.« Das samtangebot für alle zu unterbreiten«, legungen treffen. Zur Diskussion steht
der Mediathek, wenn sie öffentlich-
sich die Formate, die Verbreitungswe- bedeutet, dass nur die Unterhaltungs- so steht es jetzt im Text. Bei der An- weiterhin die Kopplung des Rundfunk-
rechtlichem Profil entsprechen
ge und das Mediennutzungsverhalten sendungen, die einem solchen Profil gebotsgestaltung sollen sie dabei die beitrags an einen Index, an dem sich re-
der Menschen zuletzt grundlegend ver- entsprechen, künftig im Programm Möglichkeiten nutzen, die ihnen aus Verändert wurde die Bereitstellung von gelmäßige Anpassungen des Beitrags
ändert. »Was sich dagegen nicht ver- angeboten werden dürfen. Das ist si- der Beitragsfinanzierung erwachsen, Spielfilmen und Fernsehserien in den orientieren könnten. Auch soll über
ändert hat, das ist die große Bedeu- cher eine Eingrenzung zur bisherigen und tragen dabei durch eigene Impul- Mediatheken. So sollen diese Werke, Möglichkeiten der Budgetierung und
tung des beitragsfinanzierten öffent- Formulierung im Medienstaatsvertrag, se und Perspektiven zur medialen An- die europäischen und nichteuropäi- der periodenübergreifenden Rückla-
lich-rechtlichen Rundfunks. Er genießt nach der die Unterhaltung »auch« ei- gebotsvielfalt bei. Allen Bevölkerungs- schen Ursprung sind, künftig nur dann genbildung bei den Anstalten entschie-
nach wie vor hohe Akzeptanz, die wir nem öffentlich-rechtlichen Profil ent- gruppen soll die Teilhabe an der Infor- für 30 Tage in die Mediatheken einge- den werden. Zudem hat das Bundesver-
nicht durch das Festhalten an starren sprechen müsse. Im Begründungstext mationsgesellschaft ermöglicht werden. stellt werden, »wenn es sich um Beiträ- fassungsgericht klargestellt, dass es den
Strukturen gefährden dürfen. Gleich- zum Zwölften Rundfunkänderungs- Um das zu erreichen, ist der Kern des ge zur Bildung oder zur Kultur handelt Landesgesetzgebern verfassungsrecht-
zeitig soll auch der Auftrag geschärft staatsvertrag 2009 hatten die Länder neuen Auftrags die sogenannte Flexi- und sie in besonderem Maße zum öf- lich freistehe, die Beitragsentscheidung
werden, um das öffentlich-rechtliche festgehalten, dass ein öffentlich-recht- bilisierung, also eine verringerte line- fentlich-rechtlichen Profil beitragen«. durch Rechtsverordnung treffen zu las-
Gesamtangebot klarer zu beschreiben«, liches Angebotsprofil dadurch gekenn- are Beauftragung von TV-Programmen, Bisher durften nichteuropäische Pro- sen oder eine Mehrheitsentscheidung
sagt der für Medienpolitik zuständige zeichnet sei, dass insbesondere Trivi- und damit die Möglichkeit für die An- duktionen gar nicht in den Mediathe- zu ermöglichen, um damit ein Debakel
Chef der Berliner Senatskanzlei. alisierung und Boulevardisierung als stalten, in Abstimmung mit den Gre- ken präsent sein. Da findet er sich er- wie im Dezember 2020 im Landtag von
Nachdem alle Länder den Entwurf programmliche Instrumente vermie- mien zu entscheiden, ob und ab wann neut, der unklare Begriff eines öffent- Sachsen-Anhalt zu vermeiden.
unterschrieben haben, das soll bis Ende den werden. Angesichts neuer gestal- bisherige lineare Angebote weiterge- lich-rechtlichen Profils.
Juni der Fall sein, werden die Landtage terischer und technischer Möglichkei- führt, in ein Online-Format umgewan- Claus Grewenig, Vorstandsvorsitzen- Helmut Hartung ist Chefredakteur
informiert, die dem novellierten Medi- ten reicht eine solch negative Beschrei- delt oder sogar ganz eingestellt werden. der des Vaunet und Chief Corporate Af- von medienpolitik.net
Politik & Kultur | Nr. 7-8 / 22 | Juli /August 2022
KULTURELLES LEBEN 13

Ost-West-Fusion: Hanji-Papier und Acrylfarbe


Die Künstlerin SEO im Porträt
ANDREAS KOLB Anteil. Die Auswahl von Motiven, In- balisierung, der medialen Entwicklung Was die Entstehung und Konzeption ih- ein Symbol des gesellschaftlichen Zu-

G 
halten und Aussagen der Arbeiten sind – und der Veränderung von Informations- rer Werkgruppen angeht, gibt es Pha- sammenseins darstellen. Die Schwä-
roße wandfüllende Formate, neben emotionalen Aspekten – ein kon- technologien einher.« sen der Planung und Phasen der Spon- ne sind zwar in Gemeinschaft verbun-
starke flächige Farben, eine zeptioneller Vorgang.« Ihre Arbeiten sind in zahlreichen taneität: »Ich reise und lese sehr viel – den, gleichzeitig erscheinen sie aber
einzigartige und wirkungs- Dass sie nach Deutschland ging und privaten und öffentlichen Sammlungen, daher können es spontane Impulse und auch für sich allein isoliert. Kriegeri-
volle Technik aus farbigen nicht zuerst die lebendigen Szenen in wie dem Bundeskanzleramt Berlin, der Beobachtungen sein, die meine Werk- sche Auseinandersetzungen und ihre
Schnipseln handgeschöpften Hanji-­ den USA oder in Frankreich aufsuchte, Kunsthalle Mannheim oder dem Muse- gruppen beeinflussen. Manchmal sind Konsequenzen haben mich künstlerisch
Reispapiers sowie groß angelegte Werk- verdankte sie dem Einfluss ihres kore- um of Modern Art in New York, vertre- sie aber auch Ergebnis längerer Konzep- schon lange beschäftigt. In 2010 hatte
serien mit Themen zwischen Poesie und anischen Lehrers, bei dem sie vier Jah- ten. Im Mai hatte sie eine große Einzel- tionsphasen.« SEO versteht sich als ein ich Ausstellungen zum Thema Krieg
Politik – seit über 20 Jahren gehören die re lang Tuschmalerei studierte, und der im Gwangju Staatsmuseum in Korea
Werke von SEO, bürgerlich Seo, Soo- selbst auch einige Jahre in Deutschland namens ›War Paintings‹ und im Today
Kyoung, zum festen Bestandteil inter- gelebt hatte. Durch ihn lernte sie die Art Museum in Beijing, China, namens
nationaler Kunstausstellungen, Gale- Künstler des neuen deutschen Expres- ›Without Words‹. Ich zeige immer das
rien und Diskurse. Von 1992 bis 1996 sionismus kennen und lieben. Beson-
besuchte die 1977 in Korea geborene ders fasziniert war sie von den Arbeiten
Künstlerin das Kunstgymnasium in von Georg Baselitz. Gezielt kam sie da- Ihre Malerei ist Kon-
Gwangju, von 1996 an bis 2000 studier- her nach Berlin, um beim Meister selbst zentrat ihrer Auseinan-
te sie an der dortigen Chosun-Universi- zu studieren. dersetzung mit den
tät und wurde am Ende ihres Studiums SEOs Kunst bezieht ihre Kraft aus
»Beste Studentin des Jahres«. Im glei- zwei Welten, der asiatischen und der Problemen dieser Welt
chen Jahr noch verließ sie Südkorea in europäischen. Ihre Motive sind gegen-
Richtung Deutschland und nahm ein ständlich und von der asiatischen Bil- Wesen der Dinge. Bei den Kriegsbildern
Jahr später das Studium in der Klasse derwelt geprägt. Sie arbeitet sowohl habe ich daher den Schmerz des Krieges
des Malers Georg Baselitz an der Uni- an Mensch- und Natur-Gemälden als anhand von unschuldigen Kindern ge-
versität der Künste in Berlin auf. auch an surrealen neonfarbigen Fan- zeigt, um den Betrachter über die Kon-
Von der Leidenschaft zur Malerei tasiewelten. SEO hat für ihre Gemälde sequenzen aufzurütteln.«
war SEO besessen, seit sie sich erin- eine eigene Mischtechnik entwickelt, in SEO arbeitet mit verschiedenen ver-
nern kann: »Als ich zwölf Jahre alt war, der sie eingefärbte Streifen aus Hanji-­ trauten Galerien wie z. B. Wetterling
ging meine Schwester bereits jeden Tag Reispapier mit Acrylmalerei kombiniert. und Noah zusammen und führt Gesprä-
zur privaten Kunstschule. Ich war da- Sie zerreißt Papier in unzählige bunte che mit neuen Galerien, so z. B. Johann
mals noch zu jung und durfte entspre- Schnipsel und Streifen, die sie mithilfe König. »Die Zusammenarbeit zwischen
chend nicht mit ihr mit, bin ihr dann ihrer Assistenten nach genauer Überle- Künstler und Galerie ist mehr als nur
aber immer heimlich hinterhergegan- gung auf die Leinwand klebt. ›Produzieren‹ und ›Verkaufen‹«, sagt sie.
gen. Meine Mutter hat dann stets mit In den vergangenen zwei Jahrzehn- »Es ist eine enge und vertrauensvolle
mir geschimpft, weil ich der Schwester ten entstanden zahlreiche Werkgrup- Zusammenarbeit, wodurch eine große
immer alles weggenommen habe, die pen, die sich jeweils um eine Leitidee gemeinsame Kraft entsteht, die weder
Kreide, das Papier und wenn ich nichts bilden. So etwa in »Meine deutschen Galerist noch Künstler allein erzeugen
bekommen habe, habe ich an der Wand Träume«, »Reisfelder« oder den Bil- könnten.«
dern der Gruppen »Krieg« und »See­ SEO – ihr Künstlername ist der in
rosen«. Auch das Thema Globalisie- Versalien als Markenzeichen geschrie-
SEOs Kunst bezieht
FOTO: SUNGWON
rung ist ein wichtiger Teil ihres Sujets bene Familienname. Im Rahmen seiner
ihre Kraft aus zwei und fasziniert sie aus den verschie- Recherchen kam der Autor nicht umhin,
Welten, der asiati- densten Gründen sehr. SEOs Arbeiten »SEO« in die Suchmaschine einzutip-
gelten als geglücktes Beispiel für Glo- pen. Dies bewog ihn zu der folgenden
schen und der euro-
balisierung: »Wie wollen wir gemein- SEO vor einem Bild der Serie »Fremd im eigenen Heim« mit Schwan-Motiven, Frage an die Malerin: »Was haben SEO
päischen sam leben? Welche gesellschaftlichen die für sie ein Symbol des gesellschaftlichen Zusammenseins darstellen und ›SEO‹, Search Engine Optimiza-
Chancen entstehen? Welche Risiken tion, gemeinsam?« Die Angesproche-
weiter gemalt. Schließlich hat sie dann entstehen? Wie wird unsere Wahrneh- ausstellung mit zahlreichen Werkgrup- politischer Mensch und sieht ihre Ma- ne nahm es mit Humor: »Das ist eine
verstanden, dass in mir diese Leiden- mung geprägt? Und wie fühlen wir uns pen in der Galerie Noah in Augsburg. lerei als Konzentrat ihrer Auseinander- lustige Frage. In Search Engine Opti-
schaft steckt und ich durfte parallel zur dabei? Das sind alles Fragen und Fa- Danach war sie für einige Projekte meh- setzung mit den Problemen dieser Welt. mization tauchen ja ›Suche‹ und ›Op-
normalen Schule nachmittags auf die cetten der Globalisierung, die mich rere Wochen in Korea. Bei der Kunst- Auch die Tagespolitik bleibt in ihrem timierung‹ auf, das sind durchaus we-
private Kunstakademie gehen.« faszinieren.« messe Frieze/KIAF in Seo­ul im Septem- Atelier nicht außen vor: »Man müss- sentliche Punkte, die auch auf mich zu-
Die Weichen waren also bereits im Für die aktuelle Diskussion über Re­ ber dieses Jahres wird SEO eine große te ein eiskalter Mensch sein, wenn die treffen, da ich ständig auf der künst-
Kindesalter gestellt, seit damals ist die stitution und Cultural Appropriation Arbeit für eine Acht-Meter-Wand zei- aktuellen Geschehnisse keinen Einfluss lerischen Suche bin und meine Arbeit
Malerei zentraler Teil von SEOs Exis- wünscht SEO sich, dass diese mit Em- gen. Dazu folgen noch dieses Jahr zwei auf die Kreativität haben. Mich haben in immer weiter verbessern möchte. Das
tenz. Ihre Erfahrungen, Emotionen, Er- pathie begleitet wird und konstruktiv Gruppenausstellungen in Seoul, Jeju den letzten zwei Jahren daher vor allem Wort ›Engine‹ würde ich durch ›Emoti-
lebnisse und Sichtweisen verarbeitet bleibt: »Hier entsteht zunehmend eine und Berlin. Für 2023 plant sie mehrere die gesellschaftlichen Fragen beschäf- on‹ ersetzen.«
SEO in Malerei: »Ich verstehe mich klar Sensibilität für Kulturphänomene, die Solo- und Gruppenausstellungen, z. B. tigt. Ein Ausdruck dessen sind die Bilder
als Malerin, aber natürlich hat auch die früher gefehlt hat. Sicherlich geht die- im Frühjahr eine Einzelausstellung mit meiner Serie ›Fremd im eigenen Heim‹ Andreas Kolb ist Redakteur
Malerei immer einen konzeptionellen se Sensibilisierung auch mit der Glo- der Galerie Wetterling in Stockholm. mit den Schwan-Motiven, die für mich von Politik & Kultur

Kampf der Wörter


glieder der Nagelkreuzgemeinschaft, lich sollte eine neue Fassung eine
dass sie dies nicht länger mitsprechen ­liturgische Schlichtheit und poeti-
könnten. Ihre Argumente sind diesel- sche Eindrücklichkeit besitzen, wes-
ben, die sich gegen besagte Passage halb sich gut gemeinte Umständlich-
Sprachliche Neubesinnung – auch für das Grundgesetz im Grundgesetz richten. keiten verbieten.
Doch wie ändert man ein traditi- Andererseits, was nützt ein Gebet,
JOHANN HINRICH CLAUSSEN ein Problem darstelle. Zwar will das verfeindeten Nationen miteinander onsreiches Gebet so, dass einerseits bei dessen erster Zeile die Jüngeren
Grundgesetz die Diskriminierung zu verbinden. Diese Friedensinitiati- einem veränderten Problembewusst- aussteigen oder langatmige Erklärun-
Die Auseinandersetzung mit Ras- von Menschen aufgrund »ihrer Ras- ve ging von der Kathedrale in Coven- sein, aber auch den rituellen Anfor- gen bräuchten. Ein Gebet soll seiner
sismus ist immer auch ein Kampf try aus und fand im dort gestalteten derungen Rechnung getragen wird. Gemeinde dienen und nicht umge-
der Worte, nicht selten ein Ringen Nagelkreuz ihr völkerverbindendes Das ist gar nicht so leicht, denn es kehrt. Übrigens ist nicht nur das Wort
um Wörter. Ich finde es wichtig, dies Symbol. Inzwischen gehören ihr in genügt nicht, einfach etwas zu strei- »Rasse« problematisch. Es ließe sich
nicht allein als einen Kulturkonflikt Deutschland 63 Kirchen an, z. B. die chen. So ist es noch kein Anzeichen auch fragen, ob die sozialen Konflikte
zu verstehen, was sich zwar nicht Kaiser-Wilhelm-­Gedächtnis-Kirche halsstarriger Konservativität, wenn von heute mit dem Begriff der »Klas-
ganz vermeiden lässt, aber zu oft in in Berlin, die Hauptkirche St. Niko- man sich vor einer flinken Neufor- se« angemessen angesprochen sind.
sterile Unversöhnlichkeiten führt. lai in Hamburg oder die Frauenkirche mulierung scheut. Denn dieses Gebet Und warum fehlen die Gender-Kon-
­Interessanter erscheint es mir, die in Dresden. ist der Identitätskern einer Gemein- flikte, die die Gegenwart bestimmen?
Suche nach einer nichtrassistischen se« ­verhindern. Aber indem es die- Verbunden sind die europäischen schaft, die Vergangenheit, Gegenwart Über diese Fragen ist eine inten-
Sprache auch als eine kreative Auf- ses Wort benutze, so die Kritik, set- Nagelkreuzkirchen durch ein Gebet, und Zukunft verbindet. Und Traditi- sive Debatte entstanden. Wohin sie
gabe anzunehmen. Ihr wird man am ze es voraus, dass es so etwas wie Ras- das 1959 in Coventry formuliert und on ist, nach einem Wort G. K. Ches- führen wird, kann ich noch nicht ab-
ehesten mit Neugierde, Spielfreude, sen als quasi-biologische Tatsachen anschließend in viele Sprachen über- tertons, die einzige Demokratie, in sehen. Aber schon jetzt zeigt sich,
Sensibilität, Gesprächsbereitschaft gebe – was eben das gedankliche Fun- setzt wurde. Dieses Gebet, das regel- der auch die Toten ein Stimmrecht dass sie zu einer vertieften Neube-
und Toleranz gerecht. dament von Rassismus sei. Muss also mäßig an Gedenktagen gesprochen haben. Zudem ist die deutsche Vari- sinnung über den Sinn und die Ge-
Das lässt sich an einer überra- das Grundgesetz an dieser Stelle um- wird, beginnt mit der Bitte an Gott, ante Teil einer mehrsprachigen Ge- stalt eines Gebets geführt hat. Ent-
schenden kirchlichen Parallele zu ak- formuliert werden? »den Hass, der Rasse von Rasse trennt, meinschaft, weshalb man von un- sprechendes wünschte ich mir von der
tuellen Diskussionen über das Grund- Dazu passt eine Diskussion um Volk von Volk, Klasse von Klasse«, zu abgestimmten Sonderwegen abse- Diskussion über das Grund­gesetz.
gesetz zeigen. Es wird bekanntlich das Versöhnungsgebet der Nagel- vergeben. Fast ein halbes Jahrhun- hen sollte. Interessanterweise wird
darüber debattiert, ob die Verwen- kreuzgemeinschaft. Diese wurde dert wurde dies gebetet, ohne dass je- in anderen Sprachen »race« nicht im- Johann Hinrich Claussen ist Kultur­
dung des Wortes »Rasse« im Zu- nach dem Zweiten Weltkrieg gegrün- mand daran Anstoß genommen hät- mer als so problematisch wahrge- beauftragter der Evangelischen Kirche
sammenhang der Grundrechte nicht det, um zerstörte Kirchen in ehemals te. Doch jetzt erklären jüngere Mit- nommen wie im Deutschen. Schließ- in Deutschland
14 KULTURELLES LEBEN www.politikundkultur.net

ZUR PERSON …
Wie etwas bewegen? Außergewöhnliches
Neue Beigeordnete beim
Deutschen Städtetag Die Kraft des konstruk- kann ein kon­struktiver Aktivismus Woher kommen unsere Wörter?
Daniela Schneckenburger hat ihre Ar- aussehen und auf welche Art und Wei-

D 
beit als Dezernentin für Bildung, Inte-
tiven Aktivismus se können Sie etwas bewegen? Geht ie deutsche Sprache ist weit ge- ter und wie sie ihren Weg in die deut-
gration, Kultur, Sport und Gleichstel- das überhaupt außerhalb des Parla- reist, ausgesprochen gut ver- sche Sprache gefunden haben. Dafür
lung beim Deutschen Städtetag auf- ments? Oder vielleicht nur dort? Wie netzt und immer gern auf der gliedert sich das Buch in verschiedene
genommen. Bereits im Januar wur- radikal muss Aktivismus sein, damit Höhe der Zeit – so zumindest der An- zeitliche Epochen, beginnend von 9000
de sie vom Deutschen Städtetag zur er eine Chance gegen all die Machtha- spruch. Ihre Weltgewandtheit spiegelt v. Chr. und endend in der Gegenwart.
Beigeordneten gewählt. 2015 wur- benden in Politik und Wirtschaft hat? sich vor allem in der außergewöhnli- An unterhaltsamen Beispielen man-
de Schneckenburger zur Dezernen- Wie wird aus Prostest politisches Han- chen Geschichte ihrer Wörter wider. gelt es dabei nicht: So stammt bei-
tin des Kinder- und Jugendbereiches deln? Müssen Menschen persönlich Das neue Buch des Duden-Verlages spielsweise die Bezeichnung »Seifen-
der Stadt Dortmund gewählt. Sie lei- von etwas betroffen sein, um als Akti- »Die aussergewöhnliche Geschichte un- oper«, die oftmals für rührselige Hör-
tet das Dezernat 4 mit den Fachberei- vistin und Aktivist tätig zu sein? Darü- serer Wörter« nimmt die Leserinnen spiel- oder Fernsehspielserien verwen-
chen Schulverwaltungsamt, Jugend- ber hinaus berichten die Aktivistinnen und Leser mit auf eine kulturhistori- det wird und eine Lehnübersetzung
amt und dem Eigenbetrieb FABIDO. und Aktivisten über ihre Arbeit, ihre sche, faszinierende und abenteuerli- von englisch »soap opera« ist, aus den
Von 2006 bis 2010 war sie Landesvor- Erfahrungen, auch von ihren Ängsten che Reise durch die deutsche Sprache. Zeiten, als diese Sendungen noch Teil
sitzende von Bündnis 90/Die Grünen und Niederlagen, vor allem aber darü- Die Entdeckungsreise beginnt bei ihrer des Werbefernsehens waren und von
Nordrhein-Westfalen. Der v ­ orherige ber, warum Aktivismus eine Bereiche- bewegten Geschichte von den Anfän- Waschmittelfirmen finanziert wurden.
Beigeordneter und Leiter des De- rung für die Gesellschaft und für das gen bis in die Gegenwart und erzählt Interessant ist auch folgender Fall:
zernats Bildung, Kultur, Sport und eigene Leben ist. Daraus sind wichti- Wortbiografien und Wörtergeschich- Durch das Vorbild des Schlosses und der
Gleichstellung des Deutschen ge Erkenntnisse, schlaue Gedanken, ten. Die Leserinnen und Leser erfah- Gärten von Versailles – und der zahl-
Städtetages, Klaus Hebborn, ist spannende Geschichten und inspi- ren mehr über den Ursprung der Wör- reichen Versuche deutscher Bauher-

W 
Ende Januar 2022 in den Ruhestand ie schaffen es Menschen, rierende Fragen entstanden. Die Au- ren, diese nachzubilden, gelangten vor
gegangen. sich für gesellschaftliche, toren inspirieren und ermutigen die allem in den Bereichen des Bauwesens
soziale oder ökologische Leserinnen und Leser, einfach anzu- und der Bildenden Künste einige fran-
Schmidt-Friderichs bleibt Ziele einzusetzen? Raúl Krauthau- fangen und nicht aufzugeben. Akti- zösische Fachwörter ins Deutsche. Wir
Vorsteherin des Börsenvereins sen, Inklusions-Aktivist und Grün- vismus bedeutet ernsthafte politische kennen sie heute noch. Es sind z. B. Al-
Die Verbandsmitglieder des Börsen- der der »Sozialhelden«, und Benjamin Arbeit und hat wenig mit krawalligem lee, Balkon oder Bassin.
vereins des Deutschen Buchhan- Schwarz, Journalist, Autor und Poli- Protest und schwarzen Blöcken zu tun. Die in dem Buch enthaltenen Illust-
dels haben auf der Hauptversamm- tikwissenschaftler, haben sich für ihr Vielmehr ist konstruktiver Aktivismus rationen bestehen darüber hinaus aus-
lung am 21. Juni Karin Schmidt-­ Buch mit den 15 bekanntesten Aktivis- nach Raúl Krauthausen und Benjamin schließlich aus Buchstaben und Son-
Friderichs, Verlegerin des Hermann tinnen und Aktivisten Deutschlands Schwarz ein leidenschaftliches poli- derzeichen des deutschen Schriftsys-
Schmidt Verlags in Mainz, in ihre getroffen. Mit ihnen haben sie über tisches Instrument, das radikal und tems. Mal wieder eine gelungene Zu-
zweite Amtszeit als Vorsteherin ge- das Thema Aktivismus gesprochen. konsequent für die konkrete Verän- sammenstellung aus dem Haus Duden,
wählt. Auch der Schatzmeister im Folgende Fragen haben die Auto- derung aktueller Umstände kämpft. die auf gewohnt anregende Art und
Vorstand, Klaus Gravemann vom Bü- ren unter anderem der Klimaaktivis- Lea Stahl Weise neue Erkenntnisse zur deutschen
cherhaus am Münster, wurde wieder- tin Luisa Neubauer, der Seenotretterin Sprache liefert.
gewählt. Für das Sortiment hat die und Naturschützerin Carola Racke- Raúl Krauthausen & Benjamin Schwarz. Theresa Brüheim & Lea Stahl
Hauptversammlung erneut Anne­rose te sowie dem Aktionskünstler und Wie kann ich was bewegen? Die Kraft
Beurich von der Buchhandlung sto- Gründer des Zentrums für politische des konstruktiven Aktivismus. Ham- Duden. Die aussergewöhnliche Geschich-
ries! in Hamburg in den Vorstand ge- Schönheit Philipp Ruch gestellt: Wie burg 2021 te unserer Wörter. Berlin 2022
wählt. Die Verlage vertritt zukünftig
Birte Hackenjos von der Haufe Group
und den Zwischenbuchhandel Stefan
Könemann von der Könemann Ver-

Erinnern für die Die Würde des Men-


triebs GmbH. Die Amtszeit des Vor-
stands beträgt drei Jahre, sie beginnt
am Samstag nach der Frankfurter

Zukunft schen ist unantastbar


Buchmesse, am 29. Oktober 2022.

Lena Gorelik erhält den Literatur-


preis »Text & Sprache 2022«
Der jährlich vom Kulturkreis der Rassismus geht uns alle an!
Die Aufarbeitung

D 
deutschen Wirtschaft im BDI verge- schen Stimmen Gehör zu verschaffen.
bene Literaturpreis »Text und Spra- der kolonialen Vergan- Melber und Platt machen dabei auch ie Autorin Susan Arndt, als
che« geht 2022 an Lena Gorelik. genheit deutlich, dass die Aufarbeitung ein Kulturwissenschaftlerin,

U 
»Die Erzählerin und Essayistin Lena Prozess ist, der nur dann wirklich be- Anglistin und Hochschul-
Gorelik besticht mit ihrer klaren, dif- m die Erfahrung der kolo- ginnen kann, wenn man sich der Viel- lehrerin in Bayreuth eine
ferenzierten Haltung zu brisanten nialen Vergangenheit ange- schichtigkeit von Erfahrungen, Erin- bereits mit zahlreichen Publikatio-
gesellschaftspolitischen Themen. messen zu erinnern, muss nerungen und Einschätzungen stellt nen ausgewiesene Kennerin der Mate-
Sie gehört zur Generation der in den sie zuallererst erzählt wer- sowie den Konflikt der Begegnung rie, diskutiert im Buch »Rassismus be-
Neunzigerjahren mit ihrer Familie den. Ausgehend von dieser Prämis- zulässt. Dies schließe, so Melber und greifen« nun Entstehung und zahlrei-
als russisch-jüdischer Kontingent- se will der von Henning Melber, For- Platt in der Einleitung, auch Missver- che Strömungen des Rassismus – etwa
flüchtling eingewanderten Autor*in- schungsdirektor des Nordic Africa In- ständnisse und das Missverstehen ein. Ziganistischer Rassismus, Antisemitis-
nen, die einen Kultur- und Sprach- stitute, und Kristin Platt, Leiterin des Ziel ist auch, eigene Erzählungen neu mus, Rassismus gegenüber Indigenen
wechsel verkraften mussten und Instituts für Diaspora- und Genozidfor- zu hinterfragen. Menschen – und dies nicht nur vor dem
sich schreibend mit ihrer doppelten schung der Ruhr-Universität Bochum, Dafür teilt sich der Sammelband in Hintergrund der aktuell geführten Dis-
Identität auseinandersetzen«, so die herausgegebene Sammelband »Kolo- drei Teile. Der erste einführende Teil kurse. Vielmehr wird Rassismus in der
Jury. Die mit 20.000 Euro dotierte niale Vergangenheit – postkoloniale führt unter anderem in thematische Literatur, Philosophie, Gesellschaft, Po-
Auszeichnung wird der in München Zukunft?« die Beziehungen zwischen Aspekte zum Umgang mit Völkermor- litik, Alltag und Geschichte analysiert.
lebenden Autorin im Rahmen der Deutschland und Namibia neu denken. den als Herausforderung einer Gedenk- Die europäische Kolonialgeschich-
71. Jahrestagung des Kulturkreises Dafür verbinden die Herausgeben- und Erinnerungskultur ein. Der zweite te, der Nationalsozialismus und die Er-
im Oktober 2022 in Frankfurt am den die Auseinandersetzung mit kolo- Teil mit der Überschrift »Die Last kolo- findung des unhaltbaren Begriffs der
Main verliehen. nialer Geschichte und die zugehörigen nialer Hypotheken: Perspektiven nicht Rasse  – wie er etwa noch im Grundge-
Herausforderungen mit dem Bemü- nur zu Namibia« zeigt Ideen zur eu- setz vorhanden ist – bildet dabei einen schen Akteuren empfohlen. Wer Ras-
Gewinner des Preises für hen, weitgehend ignorierten namibi- ropäischen sowie deutschen Bearbei- Schwerpunkt der differenzierten Be- sismus besser begreifen möchte, ja der
digitales Miteinander tung des kolonialen Verhältnisses auf. trachtungen. Die Publikation bietet so- möge zu diesem flüssig zu lesenden
Der Preis für digitales Miteinander ist Im dritten und letzten Teil »Deutsch- wohl einen historischen Rückblick bis Buch greifen.
eine Auszeichnung der Initiative land und Namibia in Geschichte und in die Antike als auch eine aktuelle Be- Thomas Schulte im Walde
»Digital für alle«, die seit 2020 je- Gegenwart: Namibische Wirklichkei- standsaufnahme.
des Jahr anlässlich des bundesweiten ten« bietet Raum für die Sichtweisen Zudem geht die Autorin auf die Kon- Susan Arndt. Rassismus begreifen. Mün-
Digitaltags vergeben wird. Mit dem von Menschen aus Namibia. sequenzen ein, die unsere Gesellschaft chen 2021
Preis werden in zwei Kategorien In- Den 26 Autorinnen und Autoren für People of Color daraus zu ziehen
itiativen und Projekte ausgezeich- gelingt auf rund 250 Seiten ein soge- hat. Geboten werden zahlreiche prak-
net, die erfolgreich digitale Techno- nannter »Deep Dive« in Vergangenheit, tische Ansätze für den Alltag zur Be- PERSONEN &
logien für das Gemeinwohl einset- Gegenwart und Zukunft des deutsch- kämpfung des Rassismus und der zu-
zen. Die diesjährigen Gewinnerinnen namibischen Verhältnisses. Ein drin- gehörigen Machtstrukturen, die sich
REZENSIONEN
und Gewinner des Preises für digita- gend notwendiger Beitrag zur überfäl- meist dahinter verbergen.
les Miteinander sind in der Katego- ligen Aufarbeitung von Deutschlands Erwähnt sei etwa der institutionel- Politik & Kultur informiert an
rie »Digitale Teilhabe« der Berliner kolonialer Vergangenheit! le Rassismus bei den Polizeibehörden – dieser Stelle über aktuelle Perso-
Verein »Neue Chance e.V.«, der woh- Theresa Brüheim siehe Racial Profiling. Eingefordert wird nal- und Stellenwechsel in Kultur,
nungslosen Menschen Wege zur digi- mehr sprachliche Sensibilität oder ent- Kunst, Medien und Politik. Zudem
talen Teilhabe eröffnet, sowie die di- Henning Melber/Kristin Platt (Hg.). Ko- sprechende Gesetzesänderungen, wie stellen wir in den Rezensionen alte
gitale Plattform für Bürgerbeteiligung loniale Vergangenheit – postkolonia- etwa die Streichung des Rassebegriffs und neue Klassiker der kulturpoli-
»Senf.app« in der Kategorie »Digitales le Zukunft?: Die deutsch-namibischen im Grundgesetz. tischen Literatur vor. Bleiben Sie
Engagement«. Der Preis ist insgesamt Beziehungen neu denken. Frankfurt am Auch deshalb sei dieses wissen- gespannt – und liefern Sie gern
mit 20.000 Euro dotiert. Main 2022 schaftliche Werk vor allem politi- Vorschläge an puk@kulturrat.de.
Politik & Kultur | Nr. 7-8 / 22 | Juli /August 2022
RASSISMUS 15

FOTO: PICTURE ALLIANCE / NURPHOTO | ROMY ARROYO FERNANDEZ


Black Lives Matter organisiert Proteste gegen die Tötung Schwarzer durch Polizeibeamte und zu Problemen wie Racial Profiling, Polizeigewalt und Rassismus

Rassismus darf nicht geduldet werden


Zusammenhalt gegen alle Formen gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit
OLAF ZIMMERMANN Eindruck des Verbrechens der Shoah systematische Vernichtung der Juden ches geprüft werden, inwiefern rassisti- musste mich aber meist mit der Rolle

I 
und der Gräuel des Zweiten Weltkriegs in Deutschland und in Europa, einfach, sche Vorstellungen und Klischees einen des eher ungeliebten Cowboys zufrie-
n Art. 3 Abs. 3 des Grundgesetzes erarbeitet. Die Väter und Mütter des weil sie Juden waren, ist historisch bei- Nährboden haben. Hier gilt es Texte, dengeben. Kulturelle Aneignung ist ein
steht: »Niemand darf wegen sei- Grundgesetzes haben sich in Art. 3 Abs. spiellos. Die Verfolgung der Sinti und Wesensmerkmal des Spiels und letzt-
nes Geschlechtes, seiner Abstam- 3 des Grundgesetzes die Grundlagen der Roma, die Ausbeutung von sogenann- lich der Kultur.
mung, seiner Rasse, seiner Spra- Allgemeinen Erklärung der Menschen- ten Fremdarbeitern, die als »Unter-
Im Kultur- und Medien- Die Initiative kulturelle Integration,
che, seiner Heimat und Herkunft, seines rechte zu eigen gemacht. menschen« tituliert wurden, die Ver- ­bereich muss geprüft deren Sprecher ich bin, ein Zusammen-
Glaubens, seiner religiösen oder politi- Sowohl die Allgemeine Erklärung der nichtung durch Arbeit, dies alles war werden, inwiefern ras- schluss von 28 Institutionen und Orga-
schen Anschauungen benachteiligt oder Menschenrechte als auch das Grund- bis 1949 gegenwärtig. Es ist nicht weit sistische Vorstellungen nisationen, hat 2020 formuliert, dass sie
bevorzugt werden. Niemand darf we- gesetz entstanden in einer Zeit, in der entfernte Geschichte, es ist jüngste Ver- sich entschieden gegen jede Form von
gen seiner Behinderung benachteiligt Rassismus allgegenwärtig und weitge- gangenheit. Die Spuren der Indoktrina-
und Klischees einen Rassismus, Antisemitismus und gegen
werden.« Dieser am 23. Mai 1949 vom hend akzeptiert war. Noch gab es den tion und Hetze während des Faschis- Nährboden haben jede Form von Ausgrenzung wendet und
Parlamentarischen Rat verabschiedete Widerstand von Rosa Parks gegen die mus in Deutschland wirken noch im- allen rassistischen und menschenfeind-
Artikel fußt auf Art. 2 der Allgemeinen Diskriminierung von Schwarzen in US- mer nach. Ausstellungen und anderes mehr neu lichen Äußerungen und Positionen eine
Erklärung der Menschenrechte. Dort amerikanischen Bussen nicht, auch der Meines Erachtens muss der Grund- zu befragen, zu hinterfragen und gege- eindeutige Absage erteilt. Sie formulier-
steht: »Jeder hat Anspruch auf alle in Marsch nach Washington und die be- gesetzartikel, dass niemand wegen sei- benenfalls zu ändern. Es muss darum te weiter »Rassismus ist ein gesamtge-
eindruckende Rede von Martin Luther ner Rasse benachteiligt werden darf, in gehen, dass Künstlerinnen und Künstler sellschaftliches, strukturelles Phäno-
King lagen in weiter Ferne, um nur zwei diesem Kontext gelesen werden. Den- ganz unabhängig von ihrer Hautfarbe men. Die Mitglieder der Initiative kul-
Die Diskussion über US-amerikanische Beispiele zu nen- noch ist es wichtig und richtig, wenn oder auch Herkunft gerade im Theater turelle Integration machen sich in ih-
Rassismus in der nen. Viele heutige Staaten Afrikas wa- heute die Formulierung »Rasse« hin- oder im Film eine Rolle spielen – und rer eigenen Arbeit für die Einhaltung der
Gesellschaft, im Kultur- ren noch britische, französische oder terfragt wird, denn selbstverständlich zwar im zweifachen Sinne, dass sie prä- Menschenrechte und gegen Rassismus
portugiesische Kolonie. Die Freiheits- gibt es keine Menschenrassen. sent sind und dass sie eine Figur, welche stark. Sie treten für eine demokratische,
und Medien­bereich ist
bewegungen in den afrikanischen Län- Die Diskussion über Rassismus in auch immer sie wollen, spielen können. vielfältige und offene Gesellschaft ein.
richtig, wichtig und dern begannen sich erst zu formieren. der Gesellschaft und auch im Kultur- Die Erinnerung daran, als Kind gerne Durch ihre Arbeit und die von ihr ver-
notwendig Die Hochphase der Apartheid in Süd- und Medienbereich ist richtig, wichtig Indianerhäuptling gewesen zu sein, hat fassten 15 Thesen »Zusammenhalt in
afrika begann gerade erst und dauerte und notwendig. Es ist nicht hinnehm- in meinen Augen nichts Rassistisches. Vielfalt« positioniert sich die Initiati-
dieser Erklärung verkündeten Rechte bis in die 1980er Jahre. bar, dass Menschen mit einer dunkle- Im Gegenteil, Bettina Jarasch, die Spit- ve kulturelle Integration entschlossen
und Freiheiten, ohne irgendeinen Un- Und in Deutschland? Rassismus, ren Hautfarbe, krausen schwarzen Haa- zenkandidatin von Bündnis 90/Die Grü- gegen alle Formen gruppenbezogener
terschied, etwa nach Rasse, Hautfarbe, Fremdenfeindlichkeit und Antisemi- ren oder anders geschnittenen Augen nen bei der Landtagswahl in Berlin, prä- Menschenfeindlichkeit und gegen das
Geschlecht, Sprache, Religion, politi- tismus war über zwölf Jahre während benachteiligt, zurückgesetzt oder gar sentierte sich dabei als selbstbewusste Auseinanderdriften der Gesellschaft.«
scher oder sonstiger Anschauung, na- des Nationalsozialismus Staatsräson. Es angegriffen werden. Hier muss klar Frau – Häuptling wollte sie als Kind sein Dem ist nichts hinzuzufügen.
tionaler oder sozialer Herkunft, Vermö- wurde gehetzt und getötet. Menschen und unmissverständlich eingeschrit- und nicht Prinzessin. Der Shitstorm ge-
gen, Geburt oder sonstigem Stand.« Die wurden ihrer Würde beraubt. Die Ver- ten werden. Rassismus darf nicht ge- gen sie war unbegründet, ihre Bitte um Olaf Zimmermann ist Geschäftsführer
Allgemeine Erklärung der Menschen- nichtungspolitik der Nationalsozialis- duldet werden. Entschuldigung unlogisch. Ich gestehe, des Deutschen Kulturrates und
rechte wurde am 10. Dezember 1948 ten richtete sich gegen alle, die nicht Und selbstverständlich muss in- auch ich wollte als Kind gerne den be- Sprecher der Initiative kulturelle
verabschiedet. Sie wurde unter dem ihrem Menschenbild entsprachen. Die nerhalb des Kultur- und Medienberei- wunderten Indianerhäuptling spielen, Integration
16 RASSISMUS www.politikundkultur.net

In welchem Land wollen wir leben?


Deutschland braucht mehr Teilhabegerechtigkeit, eine konsequente Antidiskriminierungspolitik und eine moderne Staatsbürgerschaftsregelung
CLAUDIA ROTH wenn ich angespuckt werde, weil ich ein wir nicht alles dafür tun, dass nie- ser Satz darf nicht immer in Sonntags- nem Internetcafé getötet worden war.

R 
Kopftuch trage? Wenn mir ein Kopftuch mand Angst haben muss? Dass die Hei- reden genannt werden, sondern er muss Man hat die Bilder gesehen von den
assismus ist nicht ein Rand- runtergerissen wird. Wenn man mir er- mat Deutschland endlich so begriffen sich bei uns im Herzen und im Verstand Angehörigen und von den Menschen,
problem. Rassismus ist Re- klärt: Ach, du arme Frau, du bist ja so wird, dass die Menschen, die hier le- eingegraben haben. die demonstriert und protestiert haben,
alität, ist traurige, bittere, unterdrückt.« Da habe ich angefangen, ben, egal, woher sie kommen, welche Dass die Situation sich verschärft die getrauert haben. Es gab ein Plakat,
brutale Realität in unserem mich sehr systematisch mit antimus- Religion, welche Hautfarbe, welche hat in unserem Land, dass der Rassis- da stand drauf: »Kein Schlussstrich.«
Land. Es gibt Ausgrenzung. Es gibt Mob- limischem Rassismus auseinanderzu- sexuelle Identität sie haben, dass sie mus ein größeres Problem geworden ist, Da ist bei mir was passiert, weil »Kein
bing. Es gibt Abwertung. Es gibt Bedro- setzen, und mich selbst gefragt: Habe sagen können: Deutschland ist unse- das habe ich bei vielen Auftritten erlebt. Schlussstrich« habe ich bisher immer
hungen. Es gibt Gewalt. Und es gibt Op- ich das eigentlich ernst genommen bis re Heimat, hier gehöre ich dazu, auch Diese Würde, sie wird also sehr wohl an- nur mit nationalsozialistischem Ter-
fer von rassistischer Gewalt in unserer ror zusammengebracht. Plötzlich ist
Gesellschaft. Vor drei Jahren, am 2. Juni mir so klar geworden, was es heißt, dass
2019, ist Walter Lübcke ermordet wor- dieser Schmerz so präsent ist. Dieser
den. Ein konservativer Christdemokrat Schmerz, der in Mölln, in Solingen, in
aus Hessen. Ein Mann mit einem ganz Rostock, an anderen Orten entstanden
großen Herzen und mit einer großen ist. Dieser Schmerz, der durch die Blut-
christlichen Verantwortung gegenüber spur entstanden ist, die der NSU-­Terror
Menschen, die Hilfe brauchen und die in unser Land gelegt hat, der in Halle
Zuflucht suchen. Und ich werde nie ver- und zuletzt in Hanau entstanden ist.
gessen, wie Walter Lübcke mich nach Aber dieser Schmerz und diese offenen
Kassel eingeladen hat, als er sein Re- Wunden sind in der Mehrheitsgesell-
gierungspräsidiumshaus geöffnet hat, schaft überhaupt nicht angekommen.
um zu zeigen, was leistet die Stadt Kas- Es muss doch auch mein Schmerz sein.
sel, was leisten die Universitäten, was Diese Morde sind doch auch Anschlä-
leisten die Kirchen, was leisten die ge auf unsere Gesellschaft.
Ich habe mir deshalb vorgenommen,
Die Würde des Men- Erinnerungskultur deutlich weiter zu
schen ist unantastbar. definieren. Erinnerungskultur muss in
einer Einwanderungsgesellschaft eine
Das muss der morali- entscheidende Rolle spielen. Das, was
sche Imperativ unserer passiert ist an rassistischem, mörderi-
Gesellschaft sein schem Terror, das muss uns alle angehen.
Es gibt eine Auftaktstudie zum Nati-
­ ewerkschaften, was leistet zivilgesell-
G onalen Diskriminierungs- und Rassis-
schaftliches Engagement bei der Auf- musmonitor. Fast ein Viertel der Ge-
nahme und Integration von Menschen, samtbevölkerung gibt an, selbst schon
die 2015 zu uns gekommen sind. Und er einmal Rassismus erfahren zu haben..
war so überzeugt, dass wir noch sehr Die rassistischen Vorstellungen sind
viel mehr tun können. Er war so klar, tief verankert. Fast die Hälfte der Bevöl-
dass es vor allem nicht nur immer die- kerung glaubt an die Existenz mensch-
sen Satz braucht: »Ihr, die ihr zu uns licher Rassen, die eine ungleiche Be-
kommt, müsst euch integrieren«, son- handlung legitimiert. Insofern ist es
dern dass unsere Gesellschaft integrati- höchste Zeit, dass wir am Grundge-
onsbereit sein muss. Wir müssen offen setz feilen und den Rassebegriff raus-
sein für Menschen, die zu uns kommen. nehmen. Es gibt rassistische Diskrimi-
Für diesen Geist, für diese Auffassung nierung, es gibt rassistische Ausgren-
und für diese Haltung hat er mit sei- zung, es gibt rassistische Privilegie-
nem Leben bezahlt. Heute ist der drit- rung  – aber der Rassebegriff, der muss
te Todestag von Walter Lübcke. raus. Leider ist das in der letzten Le-
Wir sind in den Landtagen, im Deut- gislaturperiode nicht möglich gewe-
schen Bundestag, auf außerparlamen- sen, dafür braucht man eine Zweidrit-
tarischer Ebene konfrontiert mit De- telmehrheit. Ich hoffe, dass wir diese
mokratiefeinden und Rechtsstaatsver- Mehrheit jetzt endlich bekommen.
ächtern. Seit vielen Jahren warne ich Umso wichtiger ist die Initiative kul-
auch davor, das als Einzelfälle abzu- turelle Integration, umso wichtiger sind
handeln. Unsere Demokratie ist nicht die 15 Thesen zu kultureller Integrati-
immun. Deswegen müssen wir uns viel on und Zusammenhalt.
intensiver auseinandersetzen mit einer
entgrenzten Sprache, die versucht, Aus- Erinnerungskultur
grenzung und Rassismus systematisch muss in einer Einwan-
zu befördern. Ich habe mich mit Victor
Klemperer beschäftigt. Klemperer wur- derungsgesellschaft
FOTO: PICTURE ALLIANCE / AP PHOTO | UNCREDITED

de von den Nazis verfolgt, hat den Ho- eine entscheidende


locaust überlebt und hat dann ein Buch Rolle spielen
über die Sprache des Dritten Reiches
geschrieben. Er hat genau beschrie- Von der neuen Regierung erwarte ich
ben, wie Sprache Ausgrenzung vorbe- einen echten Aufbruch in die Wirklich-
reitet und der Vorlauf zur Vernichtung keit. Ich erwarte endlich die Anerken-
ist. Sie wollen bestimmen, wer dazuge- nung unserer Realität einer Einwande-
hört und wer nicht. Das tun auch Abge- rungsgesellschaft, einer bunten, diver-
ordnete der AfD im Deutschen Bundes- sen, vielfältigen Gesellschaft – und die-
tag, wenn sie zu anderen Abgeordneten se Realität muss demokratisch gestaltet
sagen, sie sollen doch zurückgehen, wo werden. Wir wollen in einer Demokra-
sie herkommen. Wenn man das zu Cem tie gleiche Rechte, und zwar auf allen
Özdemir sagt, ist er so selbstbewusst Martin Luther Kings Rede »I have a Dream« 1963 in Washington, D.C. ist das Aushängeschild der amerikanischen Ebenen. Wir wollen Teilhabegerechtig-
und sagt: »Ja, ich gehe wieder nach Bürgerrechtsbewegung keit. Denn wir haben keine Teilhabege-
Bad Urach am Wochenende.« Aber es rechtigkeit in unserem Land. Und da-
gibt andere Kolleginnen und Kollegen, dahin? Wenn Menschen Angst haben, weil ich hier in diesem Deutschland getastet in unserem Land. Und wie stark, durch auch viel zu wenig Sichtbarkeit.
mit denen das etwas macht, wenn man dann muss uns das alle etwas ange- gebraucht werde. Der Wert eines Men- jenseits aller Zahlen, habe ich erlebt am Also braucht es in der Frage von Par-
ihnen sagt, sie sollen zurückgebracht hen. Ich als Nichtmuslima, als Nicht- schen darf sich doch nicht an der Reli- ersten Tag, an dem ich Staatsministe- tizipation deutliche Verbesserung. Es
werden nach Anatolien, obwohl sie aus jüdin, als weiße Frau, als Bio-Süddeut- gion oder an der Hautfarbe bemessen. rin für Kultur und Medien geworden braucht eine konsequente Antidiskri-
Hamburg oder aus München sind. Diese sche, ich muss das zu meinem Problem Einer der schönsten Sätze, den es für bin. Ich bin morgens zum Mahnmal für minierungspolitik mit einem Antidis-
offensive Ausbürgerung ist eine Form machen. Ich kann nicht sagen, es ist mich in deutscher Sprache gibt, ist der die ermordeten Sinti und Roma gegan- kriminierungsgesetz. Wir wollen die
von rassistischer Ausgrenzung, die im Problem und Aufgabe von den Musli- Artikel 1 des Grundgesetzes: Die Würde gen, das Dani Karavan geschaffen hat, Einbürgerung erleichtern. Wir wollen
Deutschen Bundestag stattfindet, mit men, in unserem Land mit antimusli- des Menschen ist unantastbar. Da steht weil ich deutlich machen wollte, dass die Staatsbürgerschaft endlich moder-
der unsere Geschichte und unsere his- mischem Rassismus umzugehen. Oder nicht drin: Die Würde des deutschen, die Frage der Erinnerungskultur ganz ner machen.
torische Verantwortung relativiert wird. mit Antisemitismus, damit haben sich des christlichen, des männlichen, des entscheidend sein wird. Abends war ich
Menschen haben Angst. Menschen die Jüdinnen und Juden auseinander- heterosexuellen, des nichtbehinderten im Maxim-Gorki-Theater. Und die In- Claudia Roth ist Staatsministerin
fragen: »Bin ich in diesem Land noch zusetzen. Oder mit Antiziganismus, da- oder des weißen Menschen. tendantin Shermin Langhoff hat mich für Kultur und Medien beim Bundes-
sicher und willkommen?« Meine enge mit haben sich Sinti und Roma ausein- Die Würde des Menschen ist unan- anschließend in eine Ausstellung über kanzler
Freundin Kübra, eine muslimische Fe- anderzusetzen. Das ist doch mein Pro- tastbar. Das muss endlich sehr viel mehr den NSU-Terror mitgenommen – kura-
ministin, hat zu mir mal gesagt: »Clau- blem, es muss doch mein Problem sein. der moralische Imperativ in unserer Ge- tiert von Migrantinnen und Migranten. Der Beitrag ist das gekürzte Grußwort der
dia, wo ist eigentlich deine Solidarität, Wir müssen uns fragen, in welchem sellschaft sein. Der moralische Impera- Dort gab es auch einen Raum, der sich Staatsministerin zur Jahrestagung »Zu-
wo ist eigentlich eure Solidarität mit Land und in welcher Demokratie wol- tiv, der auch verstanden wird und für dem Mord an dem jungen Mann Ha- sammenhalt gegen Rassismus« der Initi-
uns? Wo ist eure Solidarität mit uns, len wir leben und leben wir? Müssen den ich eine Empathie empfinde. Die- lit Yozga in Kassel widmete, der in ei- ative kulturelle Integration
Politik & Kultur | Nr. 7-8 / 22 | Juli /August 2022
RASSISMUS 17

»Rassismus ist kein Randphänomen«


Die Verteidigung der Demokratie
NANCY FAESER wenig wie das Attentat auf die Syna- uns allen! Und deshalb ist das Mot- schaftlichen Ebenen gegen Rassismus Der Beitrag ist das gekürzte Grußwort der
goge in Halle. to Ihrer Jahrestagung so passend ge- arbeiten. Hinter der Initiative kulturel- Bundesministerin zur Jahrestagung »Zu-

H 
eute vor drei Jahren, in der Rechtsextreme Gewalt hat einen wählt: »Mit Zusammenhalt gegen Ras- le Integration steht ein breites gesell- sammenhalt gegen Rassismus« der Initi-
Nacht vom 1. auf den 2. Juni Nährboden: einen Nährboden aus Ras- sismus«. schaftliches Bündnis. Sie finden deutli- ative kulturelle Integration
2019, wurde der damalige Re- sismus, Antisemitismus, Muslimfeind- Sie weisen zu Recht darauf hin: Ras- che Worte und Sie geben Orientierung.
gierungspräsident von Kassel, Walter lichkeit und Antiziganismus. Es gibt sismus ist kein Randphänomen. Und Dafür möchte ich mich heute herzlich Nancy Faeser ist Bundesministerin
Lübcke, auf seiner Terrasse von einem viele Menschen, die tagtäglich immer deshalb müssen wir auf allen gesell- bei Ihnen bedanken! des Innern und für Heimat
Rechtsextremisten ermordet. und immer wieder von Rassismus be-
Ich kannte Walter Lübcke gut und troffen sind. Dieser Tatsache müssen
habe ihn sehr gemocht. Er hat in der wir uns als gesamte Gesellschaft stel-
Flüchtlingssituation 2015 seinen Kurs len und alles dafür tun, das zu ändern!
der Menschlichkeit gegen große Wider- Als Bundesministerin des Innern
stände durchgehalten und auf öffentli- und für Heimat ist es meine Aufgabe,
chen Bühnen vertreten. Walter Lübcke die freiheitliche Demokratie zu schüt-
ist für seine klare Haltung erschossen zen und ihre Wehrhaftigkeit zu stär-
worden – von einem Neonazi. ken. Die derzeit größte extremistische
Nur kurze Zeit später hat der rassis- Bedrohung für unsere Demokratie ist
tische Anschlag von Hanau unser gan- der Rechtsextremismus. Die Anzahl der
zes Land zutiefst erschüttert. Neun jun- rechtsextremistischen Gewalttaten ist
weiter auf hohem Niveau. Seit vielen
Jahren wächst die rechtsextreme Szene.
Rechtsextreme Gewalt Deshalb habe ich im März einen Akti-
hat einen Nährboden: onsplan gegen Rechtsextremismus vor-

FOTO: PICTURE ALLIANCE / KLAUS ROSE | KLAUS ROSE


gelegt. Lange lag auf dieser Bedrohung
einen Nährboden zu wenig Fokus – deshalb gehen wir das
aus Rassismus, Anti- nun hart und entschlossen an.
semitismus, Muslim- Verteidigt wird die Demokratie aber
feindlichkeit und auch jeden Tag von den Bürgerinnen
und Bürgern. Von Menschen, denen
Antiziganismus Offenheit und Vielfalt etwas wert sind
und die bereit sind, sich dafür einzu-
ge Menschen wurden furchtbar brutal setzen. Deutschland kann auf eine un-
aus unserer Mitte gerissen – auch sie glaubliche Anzahl von Engagierten
wurden aus rassistischen Motiven er- und Ehrenamtlichen zählen. Dieses
mordet. Diese Anschläge waren keine Engagement zu fördern, ist für mich
Einzeltaten. Ebenso wenig wie die sys- eine Herzensangelegenheit. Denn Zu-
tematischen Morde des NSU. Ebenso sammenhalt braucht Haltung – von Demonstration gegen die Apartheid, für die Freiheit von Namibia, Südafrika und Nelson Mandela im Jahr 1988

Wie setzt sich Deutschland mit


Rassismus auseinander?
Ergebnisse der Studie »Rassistische Realitäten«
DANIEL BAX und August 2021 über 5.000 Menschen hält Rassismus in Deutschland dage- dass Betroffenen eine Hypersensitivität Grundsätzlich zeigt sich aber eine

D 
in Deutschland zum Thema Rassismus gen für eine Tatsache. Rund 45 Pro- unterstellt wird. So ist ein gutes Drittel Mehrheit bereit, sich gegen Rassismus
as Deutsche Zentrum für befragt. Dabei wurden Angehörige von zent der Bevölkerung haben überdies der Bevölkerung tendenziell der Auf- zu engagieren. Jeder Zweite (47%) der
Integrations- und Migrati- sechs Minderheiten gezielt in den Blick schon einmal einen rassistischen Vor- fassung, dass Menschen, die sich über Befragten gab an, in den vergangenen
onsforschung (DeZIM) ist genommen: Schwarze Menschen, Musli- fall beobachtet. Darüber, wo Rassismus Rassismus beschweren, »häufig zu emp- fünf Jahren schon einmal einer rassis-
der Frage »Wie setzt sich me, Asiaten, Sinti und Roma, Juden und beginnt, gehen die Meinungen aller- findlich« seien. Und fast die Hälfte aller tischen Aussage im Alltag widerspro-
Deutschland mit Rassismus auseinan- osteuropäische Menschen. Die Befrag- dings auseinander. Rassismus wird in Befragten (44,8%) stimmte tendenziell chen zu haben. Fast 18 Prozent der Be-
der?« nachgegangen. Die Studie »Ras- ten konnten sich dabei sowohl selbst ei- der Studie definiert als eine Ideologie der Aussage zu, dass »Rassismusvorwür-
sistische Realitäten« zeigt, dass Rassis­ ner dieser Gruppen zuordnen als auch sowie als eine diskursive und soziale fe und politische Korrektheit« die Mei-
mus in Deutschland kein Randphäno- angeben, ob sie von Außenstehenden ei- Praxis, in der Menschen aufgrund von nungsfreiheit einschränkten. Eine überwältigende
men ist: Viele Menschen sind davon ner dieser Gruppen zugeordnet werden. äußerlichen Merkmalen in verschie- Um genauer zu beleuchten, was Mehrheit von 90 Pro-
betroffen, und noch mehr sind sich des Mehr als ein Fünftel der Bevölke- dene Gruppen eingeteilt werden, de- Menschen unter Rassismus verstehen, zent hält Rassismus in
Problems bewusst. rung, etwa 22 Prozent, gab in der re- nen per »Abstammung« verallgemei- legten die Wissenschaftlerinnen und
Deutschland dagegen
Die NSU-Morde und die Anschläge präsentativen Umfrage an, selbst be- nerte, unveränderliche Eigenschaften Wissenschaftler den Befragten konkrete
von Halle und Hanau haben in den ver- reits von Rassismus betroffen gewe- zugeschrieben werden. Solche Vorstel- Situationen vor. Dabei zeigten sich Un- für eine Tatsache
gangenen Jahren den Ruf nach einer sen zu sein. Von den Angehörigen der lungen sind verbreitet. Zwar glauben terschiede in der Bewertung, je nach-
vertieften und wissenschaftlich fun- sechs genannten Minderheiten gaben der Studie zufolge lediglich neun Pro- dem, um welche Gruppe oder was für fragten haben in diesem Zeitraum eine
dierten Auseinandersetzung mit Ras- das insgesamt 58 Prozent an. In der Al- zent der Bevölkerung, dass bestimm- eine Situation es sich handelte. So hält Unterschriftensammlung gegen Ras-
sismus in Deutschland lauter werden tersgruppe zwischen 14 und 24 Jahren te ethnische Gruppen bzw. Völker in- es beispielsweise eine deutliche Mehr- sismus unterstützt, neun Prozent an
lassen. Vor diesem Hintergrund hat die telligenter als andere sind. Allerdings heit (88%) für rassistisch, wenn eine einer Demonstration oder Protestak-
vergangene Bundesregierung noch un- stimmten rund ein Drittel der Befrag- Apotheke keine Angehörigen einer be- tion teilgenommen und fünf Prozent
ter Angela Merkel einen Kabinettsaus- Mehr als ein Fünftel ten der Aussage zu, dass gewisse eth- stimmten Gruppe einstellen möchte, einer antirassistischen Organisation
schuss zur Bekämpfung von Rechtsex- der Bevölkerung gab nische Gruppen oder Völker »von Natur weil Kundinnen und Kunden sich »un- Geld gespendet.
tremismus und Rassismus eingesetzt, an, selbst bereits von aus fleißiger sind als andere« seien. Und wohl fühlen« könnten. Knapp zwei Drit- Der Rassismusmonitor stellt die bis-
der sich auf ein umfangreiches Maß- fast die Hälfte (49%) der Bevölkerung tel der Bevölkerung finden es voll und her umfangreichste Auseinanderset-
nahmenpaket verständigte. In diesem Rassismus betroffen glaubt noch immer, dass es menschli- ganz (rund 35%) oder eher (gut 30%) zung mit dem Thema in Deutschland
Rahmen wurde das DeZIM damit beauf- gewesen zu sein che »Rassen« gibt. Diese Überzeugung rassistisch, wenn als Angehörige einer dar: Er soll dauerhaft Einstellungen in
tragt, die Ursachen, das Ausmaß und ist vor allem unter Älteren verbreitet bestimmten Minderheit wahrgenom- der Gesamtbevölkerung und Perspek-
die Folgen von Rassismus in Deutsch- waren es in diesen Gruppen mit rund und nimmt mit steigender Bildung ab. mene Menschen bei der Einreise nach tiven Betroffener erheben und Ausmaß,
land wissenschaftlich zu untersuchen 73 Prozent aber deutlich mehr als bei Einer großen Mehrheit der Bevölke- Deutschland wesentlich häufiger kon- Ursachen und gesellschaftliche Folgen
und herauszufinden, wie umfassend den über 65-Jährigen mit 24,2 Prozent. rung ist bewusst, dass sich Rassismus trolliert werden als andere. Und mehr von Rassismus analysieren. Um konti-
und strukturell das Problem mit Ras- Dass junge Menschen häufiger von di- auch subtil und unbewusst äußern kann. als die Hälfte der Befragten bewerte- nuierlich Entwicklungen und Trends
sismus hierzulande ist. Das DeZIM hat rekten Rassismus-Erfahrungen als Äl- So stimmen 81 Prozent der Aussage zu, ten es als rassistisch, wenn ein Come- aufzuzeigen, soll ab 2023 regelmäßig
dazu im Jahr 2020 den Nationalen Dis- tere berichten, mag mit einem geschärf- dass Menschen »sich auch ohne Absicht dian klischeehafte Witze über eine be- ein Bericht erscheinen. Die Auftaktstu-
kriminierungs- und Rassismusmonitor ten Problembewusstsein bei den Jün- rassistisch verhalten« können. Etwa je- stimmte ethnische oder religiöse Grup- die »Rassistische Realitäten« ist ein ers-
(NaDiRa) gestartet. Die neue Bundes- geren zusammenhängen. Womöglich dem vierten Menschen in Deutschland pe macht. Wann Rassismus erkannt und ter Meilenstein auf dem Weg zu einem
regierung hat in ihrem Koalitionsver- aber auch damit, dass junge Betroffe- ist voll und ganz bewusst, dass auch nett wie er bewertet wird, hängt aber auch regelmäßigen Rassismusmonitor. Die
trag angekündigt, ihn zu verstetigen ne mehr Kontakt zu Angehörigen der gemeinte Komplimente als rassistisch von der betroffenen Gruppe ab. Geht es Studie wurde am 5. Mai 2022 Bundes-
und damit unterstrichen, dass sie das Mehrheitsgesellschaft haben. empfunden werden können. Ein klassi- um Schwarze oder jüdische Menschen, familienministerin Lisa Paus im Rah-
Thema auf ihrer politischen Agenda hat. Nur eine kleine Minderheit der sches Beispiel hierfür ist das vermeint- werden die beschriebenen Situationen men einer Pressekonferenz überreicht.
Die Ergebnisse zeigen, wie virulent Bevölkerung bezweifelt, dass es in liche Kompliment: »Sie sprechen aber tendenziell häufiger als rassistisch ein-
das Problem ist. Für die Auftaktstudie Deutschland Rassismus gibt: Eine über- sehr gut Deutsch.« Zugleich wird Kri- gestuft, als wenn es um Musliminnen Daniel Bax ist Pressesprecher
zum NaDiRa wurden zwischen April wältigende Mehrheit von 90 Prozent tik an Rassismus oft dadurch abgewehrt, oder Osteuropäer geht. des DeZIM-Instituts
18 RASSISMUS www.politikundkultur.net

Wozu Rassismus?
Wie offen ist unsere Gesellschaft?
ALADIN EL-MAFAALANI rung, Wissenschaft, Globalisierung, Kapi- zen führen können, zum anderen, weil der Ist die offene angebote im Hinblick auf die jüngsten Ent-

R 
talismus, Nationalstaaten und ihre Staats- rassismuskritische Widerstand nicht nur Gesellschaft also wicklungen bieten. Rassismus ist ein The-
assismus benachteiligt, entwür- bürgerschaften. jung im Diskurs, sondern auch von jun- ma des Mainstreams geworden. Mainstrea-
digt, macht krank. Rassismus Solche kulturellen Selbstverständlich- gen Akteurinnen und Akteuren vorange- doch nicht of- ming bedeutet immer, dass es nun sehr
tötet. Auch heute noch. Darf keiten – Pierre Bourdieu nannte sie Doxa  – trieben wird. Der Diskurs ist Beleg für ge- fen? Sie ist nicht viele interessiert und viele Menschen
man dennoch konstatieren, dass entziehen sich weitgehend öffentlichen sellschaftliche Veränderungen. Die dis- so offen wie ge- und Medien im Diskurs teilnehmen (was
er den größten Teil seiner Wirkmächtigkeit Diskursen und sind kaum kritisch zu hin- kurstreibenden Kräfte wollen noch mehr wünschenswert ist), deshalb aber das Dis-
verloren hat? Zum Verständnis der Gegen- terfragen. Aber seit kurzer Zeit hat sich das und noch schnellere Veränderungen. Ver-
dacht, aber das kursniveau (zwischenzeitlich) sinkt, weil
wart muss man dies tun. Weder die Glo- ganz deutlich geändert. Es wird so viel über änderungen führen zu Reibung und zu Ge- kann sie nur nicht mehr nur Menschen mit Expertise
balisierung noch die politische Weltkar- Rassismus in allen Bereichen und Kon- genbewegungen. Die offene Gesellschaft deshalb fest- und Erfahrung miteinander reden. Sobald
te, weder die Verhältnisse in Deutschland texten gesprochen wie nie – von Betroffe- ermöglicht mehr Chancen, erzeugt aber stellen, weil sie ein Thema trendy und kommerzialisierbar
noch der Zustand der Weltgesellschaft las- nen, Aktivistinnen und Aktivisten, Initia- auch mehr Konflikte. Man kann also durch- ist, wird es als wichtig wahrgenommen, ist
sen sich ohne eine intensive Auseinander- tiven usw. Es entwickeln sich hitzige Dis- aus die These aufstellen, dass all das Sym­
schon ziemlich aber auch anfällig. Die Komplexität des
setzung mit dieser Herrschaftsideologie, kurse, die bei den meisten Menschen den ptome einer Zeitenwende sind: Die o ­ ffene offen ist, viel Themenfeldes ist dabei enorm und auch
offener als je zu- die Widersprüchlichkeiten und Paradoxien.
vor. Denn die Es gibt viele Fragen, die überhaupt nicht
trivial sind, etwa: Ist es gut oder schlecht,
Tatsache, dass »Hautfarben« zu benennen? Wäre es nicht
heute artikuliert besser, »hautfarbenblind« zu sein? Außer-
wird, was früher dem von großer Relevanz: die verschie-
denen Umgangs- und Bewältigungsstra-
nicht artikulier- tegien Betroffener zu verstehen und die
bar war, ist ein eigene Involviertheit, egal, wer man ist,
Beleg für Öff- zu erkennen.
nungsprozesse Die Übertragung von Theorien, Er-
kenntnissen und Diskursen auf die Situ-
ation in Deutschland steht dabei im Mit-
telpunkt. Dadurch dass US-amerikani-
sche Ansätze und Diskurse 1:1 übersetzt
wurden und deshalb nicht so recht pas-
sen, kommt es nicht nur zu vermeidbaren
Missverständnissen, sondern auch zu un-
nötigen Kontroversen und Überhitzungen
im Diskurs. In den USA sind Menschen aus
Italien, Griechenland, Kroatien oder Polen
schlichtweg Weiße und können nicht vom
Rassismus betroffen sein. Bezogen auf die
US-amerikanischen Verhältnisse stimmt
der Satz: »Es gibt keinen Rassismus gegen
weiße Menschen.« In Deutschland sieht
das ganz anders aus. Hier (und in anderen
Teilen Europas) müsste man sagen: »Men-
schen mit Wurzeln in Ost- oder Südeuropa
erleben Rassismus, aber nicht weil, son-
dern obwohl sie weiß sind.« Gleichzeitig
ist von großer Relevanz, welche Zeit man
betrachtet. Es gibt letztlich weniges, was
in jeder Gesellschaft zu jeder Zeit im Hin-
blick auf Rassismus identisch war (und ist).
Daher werden allgemeine Entwicklun-
FOTO: PICTURE-ALLIANCE / DPA | MATTHIAS HIEKEL

gen beschrieben, aber auch spezifisch deut-


sche, die mit einer besonderen kolonialen
Vergangenheit und vielfältigen rassisti-
schen Exzessen zusammenhängen, die sich
nicht nur entlang der Konstruktion von
»Hautfarbe«, sondern auch entlang »feine-
rer« Unterscheidungen (etwa nichtdeutsch,
migrantisch oder jüdisch) entspinnen.
Dabei ist der gesamte Text um differen-
zierte und klare Analysen und zugleich um
die gebotene Sensibilität bemüht. Durch
Differenziertheit und Klarheit lässt sich
Jorge Gomondai ist das erste Todesopfer rassistischer Gewalt in Sachsen nach der Wiedervereinigung. Angehörige und Freunde die altbekannte tautologische Falle ver-
­tragen sein Bild am 11. April 1991 in Dresden meiden, nämlich dass alles mit allem zu-
sammenhängt – und am Ende doch der Ka-
die eine der wirkmächtigsten der Mensch- Eindruck hinterlassen, man würde Rück- Gesellschaft ist nicht mehr ein fernes Ziel, pitalismus an allem schuld ist. Die gebo-
heitsgeschichte war, verstehen. Rassis- schritte machen – vielerorts hört man die sondern steht vor der Realisierung. tene Sensibilität findet sich im Bemühen
mus ist heute nicht mehr das dominan- Aussage »Wir waren mal weiter«. Und damit wäre ich bei der angekün- um diskriminierungskritische Sprache –
te Ordnungsprinzip der Gesellschaft und Ist die offene Gesellschaft also doch digten Frage: Weshalb »Wozu Rassismus?«. im Wissen, dass eine diskriminierungsfreie
der Welt. Umso bemerkenswerter, wie stark nicht offen? Sie ist nicht so offen wie ge- Es gibt inhaltliche Antworten (etwa zur Sprache kaum möglich ist. Daher werden
die heute existenten »Überbleibsel« noch dacht, aber das kann sie nur deshalb fest- Hartnäckigkeit der Ideologie) und metho- im Haupttext hochproblematische Wörter
immer wirken. stellen, weil sie schon ziemlich offen ist, dische Antworten (etwa zu Funktion und maskiert (etwa Z*schnitzel oder N*kuss),
Die Erfindung von Menschenrassen viel offener als je zuvor. Denn die Tatsa- Wirkung). Es gibt aber auch gute Gründe ausschließlich in den Endnoten werden
diente der Sicherung und Legitimation von che, dass heute artikuliert wird, was frü- für Gelassenheit, denn wir waren nie wei- sie in Zitaten ausgeschrieben, auch um die
Herrschaft. Die Enteignung und das Ent- her nicht artikulierbar war, ist ein Beleg ter. Die Perspektive »Wozu Rassismus?« Härte der Formulierungen etwa in weltbe-
menschlichen bestimmter Gruppen wur- für Öffnungsprozesse. Dem heute geführ- ist in meinem Buch »Wozu Rassismus?« kannten Liedern oder Texten von kanoni-
den zu etwas Natürlichem oder Gottgege- ten Diskurs sind viele Entwicklungen vor- handlungsleitend. Es ist genau genommen schen Denkern spürbar zu machen. Wer
benen, in jedem Falle zu etwas Gerechtem ausgegangen: Teilhabe- und Aufstiegspro- also keine Frage, deshalb gibt es auch nicht das nicht lesen möchte, kann die Endno-
gemacht. Das ist heute keineswegs mehr zesse von nichtweißen Menschen und Mi- die eine Antwort, sondern mehrere im ge- ten ignorieren. Wer nicht versteht, warum
der Fall. Weniges wird derart stark geäch- grantinnen und Migranten, eine stärkere nannten Buch. Der seltenere intendierte man bestimmte Wörter nur noch in bele-
tet wie Rassismus. Nicht einmal lupenrei- Sensibilisierung für verschiedene Formen und gewaltvolle Rassismus, also Rechts- genden Zitaten und im Kleingedruckten
ne Rassistinnen und Rassisten bezeichnen von Diskriminierung und viele weitere Li- extremismus, wird nur am Rande thema- ausschreibt, versteht es vielleicht nach
sich noch als solche. Doch der Rassismus beralisierungsprozesse. Rassistisch moti- tisiert. Viel stärker stehen die historischen der Lektüre des Buchs »Wozu Rassismus?«
hat sich in die Gesellschaft und ihren In- vierte Anschläge und Morde waren viel- und strukturellen Dimensionen und ihre inklusive der Endnoten besser – oder ver-
stitutionen eingeschrieben, erkennbar an fach die Auslöser für Demonstration und Folgen im Mittelpunkt, also der Rassis- steht, warum man es nicht verstehen will.
den Einkommens-, Vermögens- und Klas- Proteste, die Ursachen liegen viel tiefer, mus der gesellschaftlichen Mitte und die
senverhältnissen, erlebbar in Kultur und nämlich in den bereits stattgefundenen Involviertheit des Staates. Aus: Aladin El-Mafaalani: Wozu Rassismus?
Alltag, hörbar in der Sprache und so wei- nachhaltigen Entwicklungen hin zur of- Und damit bin ich bei einer nicht min- Von der Erfindung der Menschenrassen bis
ter. Rassismus hält die (ungerechte) Ge- fenen Gesellschaft. der wichtigen Frage: Wozu das Buch? Nach zum rassismuskritischen Widerstand. Kie-
sellschaft zusammen. Die Selbstverständ- Deshalb wird Widerstand gegen Ras- einigen Büchern aus einer Betroffenenper- penheuer & Witsch, Köln, 2021
lichkeiten der Gesellschaft sind rassistisch sismus nun artikuliert, mit starken Span- spektive, die maßgeblich dazu beigetragen
geprägt, denn fast alles, was die moder- nungen und Übertreibungen, was zum ei- haben, dieses Thema im öffentlichen Dis- Aladin El-Mafaalani ist Autor, Soziologe
ne Weltgesellschaft ausmacht, entstand nen an den gesellschaftlichen Beharrungs- kurs zu etablieren, soll das erwähnte Buch und Erziehungswissenschaftler der Uni-
in der Hochphase des Rassismus: Aufklä- kräften liegt, die zu Schließungstenden- Überblick und Systematik sowie Deutungs- versität Osnabrück
Politik & Kultur | Nr. 7-8 / 22 | Juli /August 2022
RASSISMUS 19

Was ist Alltagsrassismus?


Rassismus in Deutschland die Rede ist.« Sensibilität, ebenso wie die Bereitschaft
Dem stimmten 18 Prozent der Befragten und Motivation, sich zuallererst an die
eher oder voll und ganz, weitere 28,5 eigene Nase zu fassen. Die kulturellen
Prozent teils-teils zu. Und fünf Prozent Erbschaften der kolonialen Vergangen-
Von Mikroaggressionen bis hin zu Gewalt stimmten auch ideologischem Rassis- heit, vielleicht auch der noch älteren,
mus, weitere rund elf Prozent teils-teils die Sozialisation in einer von Rassismus
BEATE KÜPPER gen, Wissensbeständen und Bedarfen, als rassistisch kategorisiert; erst seit zu: »Die Weißen sind zu Recht führend durchzogenen Welt macht es unwahr-

L 
über Begrifflichkeiten und Sprachwen- wenigen Jahren gibt es überhaupt eine in der Welt.« scheinlich, als weiße Menschen nicht
ange wurde nicht über ihn ge- dungen, kleinen Bemerkungen am Ran- solche Kategorie für Hasstaten. Die Studie bestätigt noch einmal die auch selbst Rassismus erlernt und über-
sprochen, jetzt scheint er in de, über ein kleines unkontrollierba- von dem Pädagogen Wilhelm Heitmeyer nommen zu haben. Erst recht gilt das
den gesellschaftlichen Debat- res, fast unmerkliches und dann doch 2002 entwickelte Idee eines Syndroms für die rassistischen Spuren in Instituti-
Wen trifft der Alltagsrassismus?
ten allgegenwärtig – der Ras- merkliches ängstliches oder verächtli- gruppenbezogener Menschenfeind- onen und Strukturen. Zuvorderst heißt
Vom wem geht er aus?
sismus. Dazu gehört auch der Rassis- ches Zucken im Gesicht, dem körperli- lichkeit: Wer rassistisch eingestellt es, People of Color zuzuhören, auch der
mus, der uns allen im Alltag begegnet: chen Abrücken oder distanzlosem Ver- Alltagsrassismus ausgesetzt sind Men- ist, neigt mit einiger Wahrscheinlich- Frustration und der Wut. Anerkennung
Denen, die unmittelbar von ihm adres- halten, wie etwa anderen ungebeten in schen, die als People of Color als anders, keit auch zum Sexismus und Antisemi- des Leids und Stärkung im Sinne eines
siert werden, ebenso wie jenen, die ihn die Haare zu fassen. Tatsächlich bewer- ungleich und ungleichwertig markiert tismus. In der Mitte-Studie bestätigt (Selbst-)Empowerments gehören dazu.
ausdrücken, und denen, die einfach da- ten Menschen überraschend Ähnliches werden. Dabei macht sich der Termi- sich der enge Zusammenhang auch für
nebenstehen und ihn zumindest vor- als harmlos oder aggressiv und tatsäch- nus nicht allein an der Hautfärbung fest, rechtsextreme und rechtspopulistische
Konfliktfeld (Alltags-)Rassismus
dergründig gar nicht bemerken, nicht lich hängt die Äußerung solcher Mikro- sondern spielt auf Machtungleichhei- Einstellungen der Bevölkerung.
bemerken müssen. Und gleich schon aggressionen mit Aggressivität zusam- ten an. Er umfasst Differenzziehungen Wer kann, darf, sollte sich zum Rassis-
wird heftig und mit viel Empörung da- mus äußern? Sollten gar nur Personen,
Folgen von Alltagsrassismus
rum gestritten: den einen ist es zu viel, die von Rassismus unmittelbar betrof-
den anderen zu wenig an Aufmerk- Der Rassismus im Alltag wirkt als klei- fen sind, über ihn forschen? Der Rassis-
samkeit für das Thema, an Forderun- ne Stiche, die sich zu einer tiefen Wun- mus im Alltag wird in verschiedenen
gen nach kritischer Selbstreflexion, zu de addieren können. Und das hat für die Fachdisziplinen untersucht, insbeson-
breit oder zu eng das Begriffsverständ- vom ihm adressierten Menschen Fol- dere der Sozialpsychologie, den Erzie-
nis, überhaupt um die angemessenen gen, seelisch und körperlich, aber auch hungs-, Bildungs-, und Literaturwis-
Begriffe. Aufgestaute Verletzungen und sozial, kulturell, politisch und ökono- senschaften. Manchmal geschieht dies
nun endlich artikulierte Wut, Empö- misch. Traurigkeit, Frustration und Wut, multiperspektivisch, manchmal auch in
rung, Genervtheit, Vorwürfe, Abwehr- Stress und Dünnhäutigkeit, damit ver- heftigen Angriffen über den »richtigen«
reaktionen, Übergriffigkeiten, Vertei- bunden auch physische Belastungen Zugang. Alte Animositäten zwischen
digung, Schuldzuweisungen ... Was ist und Erkrankungen wie etwa Schlaf- und primär qualitativ oder quantitativ ar-
Alltagsrassismus? Wie drückt er sich Konzentrationsstörungen, Erschöpfung beitenden Disziplinen spielen hinein,
aus, wo fängt er an und was kann man und Kopfschmerzen und entsprechende ebenso wie Unwissenheit voneinander
gegen ihn tun? Stressfolge-Erkrankungen. Sozial kann und Verteilungskämpfe um Fördertöpfe.
Auf der Straße der ängstliche oder der erlebte Rassismus im Alltag dazu Dass Rassismus, auch der im Alltag,
FOTO: PICTURE-ALLIANCE/ DPA | BAUER

abschätzige Blick, in der U-Bahn der führen, dass sich Menschen zurückzie- überhaupt von der Gesellschaft lang-
leer bleibende Platz, obwohl die Bahn hen, keinen Mut und keine Kraft finden, sam benannt wird, ist dem Aktivismus
voll ist, bei einem Angebot einfach ig- sich kulturell oder politisch zu enga- zu verdanken, der ihn immer wieder zur
noriert zu werden, Beschwerden über gieren. Und er hat auch ganz handfes- Sprache gebracht hat und darauf dringt,
zu viele Schwarze Menschen auf Wer- te ökonomische Folgen für die unmit- ihn zur Kenntnis zu nehmen. Entspre-
beplakaten, das etwas peinlich berühr- telbar Betroffenen, wenn sie beständi- chend stößt er auch auf Abwehr. Wo
te, zugleich überhebliche Schmunzeln ge Abqualifizierung erleben und bei- braucht es ihn, wo nicht? Wo und wem
bei der Forderung, doch bitte auf das spielsweise weniger berufliche Chancen verhilft er zu Gehör, wem gibt er Teil-
N-Wort zu verzichten, die Empörung erhalten bzw. diese ergreifen können. habe, Kraft und Macht, wen übergeht
über das Anliegen, Straßennamen zu Demonstration am 25. August 1992 gegen die Krawalle Rechtsradikaler vor All dies kann dann wieder als Bestä- er dabei vielleicht auch, bügelt sie oder
ändern, die den Namen von Generälen dem Zentralen Asylbewerberheim Mecklenburg-Vorpommern in Rostock- tigung und zur Rechtfertigung rassis- ihn weg, vielleicht sogar jene, die selbst
mit Blut an den Händen tragen, in der Lichtenhagen tischer Stereotype dienen. Folgen hat von Rassismus betroffen sind, dies aber
Schule und auf der Arbeit, bei der zwei- der Alltagsrassismus auch für die Ad- nicht artikulieren möchten. Umstrit-
felnden Frage, ob er oder sie denn das men, wie die sozialpsychologische For- entlang Race, Ethnie, Kultur, Religion ressierenden. Sie fühlen sich einerseits ten ist auch, wie sich Aktivismus und
Pensum auch schafft, den vielen Absa- schung unter anderem von Lisa Spa- und Migrationsbiografie. Umstritten aufgewertet und können sich über All- Wissenschaft miteinander vertragen –
gen bei der Suche nach einer Wohnung, nierman zeigt. ist, inwieweit dieser Sammelbegriff den tagsrassismus im Kleineren und Größe- führt er zu neuen Fragestellungen, an-
die Maßregelung auf dem Amt, wenn Verhindert die soziale Norm, nicht höchst unterschiedlichen Menschen ren Bevorzugungen und Privilegien si- deren Zugängen, schärft er den Blick,
eine medizinische Behandlung unter- rassistisch zu sein, kommt dieser Ras- und ihren jeweils anderen Betroffen- chern, andererseits sind Gehässigkei- oder steht Aktivismus in Widerspruch
bleibt, der Besuch einer Theaterveran- sismus im Alltag subtil, kalt und indi- heiten gerecht wird. Auch der weiter- ten im Alltag auch für sie anstrengend, zum wissenschaftlichen Grundsatz der
staltung Überraschung erntet, die Er- rekt daher, etwa in der vielleicht sogar getragene Rassismus zwischen unter- verstellen den Blick und trüben die Ur- Objektivität, was ist, was kann Objek-
fahrungen rassistisch Adressierter aus- wohlmeinenden Frage: Woher kommst schiedlichen People of Color wird da- teilskraft. Die Ausgrenzung führt zu ei- tivität im auch rassistisch geprägten
blendet, der Besuch eines Abendclubs du? Je nach Kontext drückt sich hier ein durch verdeckt. Hinzu kommen inter- nem Verlust an Ideen, was sich gerade Kontext Wissenschaft überhaupt sein?
an der geschlossenen Tür scheitert, ob- Interesse aus, manchmal aber auch Ras- sektionale Verschränkungen: Schwarze auch bei komplexeren Problemstellun- Ähnlich stellt sich die Frage für den
wohl sie für andere öffnet, bei der Fahr- sismus. In jedem Fall macht sie der Per- Frauen erleben andere – mitleidige, ig- gen negativ auf Innovation auswirken Kulturbereich, prominent diskutiert
kartenkontrolle und den sich neugierig son, an die sie sich richtet, deutlich: Du norierende und sexualisierte – For- kann. Gesamtgesellschaftlich sind die etwa bei der Frage, wer wessen Werke
drehenden Köpfe der anderen Fahrgäs- bist anders, du gehörst nicht dazu. Die men von Alltagsrassismus als Schwar- Folgen ein Zurückbleiben hinter den angemessen übersetzen kann oder soll.
te, beim Abwimmeln einer Beschwer- pauschale Zuschreibung vordergründig ze Männer, die eher Misstrauen und of- selbst gesteckten Ansprüchen von Wür- Dies berührt auch die Herausforderung
de als hyperempfindlich und nervig ... positiver Eigenschaften, die sich ein- fene Aggression erleben. de und Gleichwertigkeit aller Menschen, von Normativität generell und bezogen
Der Rassismus im Alltag – diese merk- zig an der Physiognomie einer Person Wie verbreitet Alltagsrassismus ist, Verlogenheit, soziale Ungleichheit, Un- auf solche Normen, die sich aus Demo-
würdige Häufung von scheinbaren Zu- festmacht, ist schon deutlicher rassis- berichtet der kürzlich veröffentlichte frieden bis hin zu Gewalt. kratie, Menschenrechten, Ethik, viel-
fällen von Ignoranz, Ausgrenzung und tisch. Hinter vorgehaltener Hand wird Nationale Rassismus Monitor aus Per- leicht auch Moral ableiten, die erklär-
Abwertung – zeigt sich in allen Berei- der Alltagsrassismus dann noch deut- spektive der Adressierten. Seit vielen termaßen die Grundlage bilden (sollen).
Was tun gegen Alltagsrassismus?
chen des Lebens, auf verschiedenen licher, etwa in der Unterstellung einer Jahrzehnten bemüht sich die vor allem
Ebenen, jeden Tag, durch den die ei- »ja ganz anderen Kultur«, die als Be- US-amerikanisch geprägte Rassismus- Hinschauen, als Problem erkennen, Ver- Beate Küpper ist Sozialpsychologin
nen mit selbstverständlicher Leichtig- gründung herangezogen wird, warum forschung Alltagsrassismus in seinen antwortung übernehmen, Handlungs- und Professorin für Soziale Arbeit in
keit, dem Gefühl und den Erfahrungen eine Person anders und negativ bewer- verschiedenen Ausformungen zu er- strategien kennen und dann auch Han- Gruppen und Konfliktsituationen an
des Berechtigt-Seins spazieren, die an- tet wird. Der Sozialpsychologe Andre- fassen und zu messen, sei es über Be- deln – das sind die Empfehlungen für der Hochschule Niederrhein
deren ein anstrengendes, demütigen- as Zick verweist auf die Bigotterie als obachtungen und Befragungen, als Ein- Zivilcourage, die sich auch für den
des, verletzendes, mal schlummerndes, Kennzeichen eines modernen Rassis- stellung, als Verhalten, über textliche Kampf gegen Alltagsrassismus anbie- Der Beitrag ist aus Perspektive einer wei-
mal bedrohliches Infrage-gestellt-Wer- mus: Die Artikulation rassistischer Ab- Analysen oder die von Regelungen und ten. Dazu gehört Aufmerksamkeit und ßen Person geschrieben
den erleben, das im schlimmsten Fall wertung, während gleichzeitig behaup- Strukturen. In der sozialpsychologisch
tödlich enden kann. tet werde, man sei ja kein Rassist, was geprägten Einstellungsforschung wur-
Auch wenn dieser Rassismus im All- wiederum die Abwertung erleichtere. den diverse Messverfahren entwickelt,
tag allgegenwärtig ist, ist die Perspek- Alltagsrassismus kommt aber auch ganz um Rassismus zu erfassen, wie er durch
tive derjenigen, die von ihm adressiert offen daher, durch gehässige Bemer- die Adressierenden ausgedrückt wird. ZU DEN BILDERN
werden und jener, die ihn adressieren, kungen, klar abwertende Stereotype, im Jüngst hat Andreas Zick im Rahmen der
unbedarft weitertragen und zulassen, schlimmsten Fall Bedrohung und Ge- bevölkerungsrepräsentativen Umfrage Das erste Todesopfer rassistischer Ge- er am 28. August 1963 beim Marsch
höchst unterschiedlich. Während die walt. Die rechtsterroristischen Attenta- der Mitte-Studie 2020/21, durchgeführt walt in Sachsen nach der Wiederver- auf Washington für Arbeit und Frei-
einen die Macht haben, zu entschei- te des NSU, von Hanau und Halle sind im Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung, einigung Jorge Gomondai, Krawal- heit vor mehr als 250.000 Menschen
den, ob und wann sie sich dem Thema die prominentesten Fälle, hinzu kom- eine neue Kurz-Skala vorgeschlagen, le Rechtsradikaler vor dem Zentra- vor dem Lincoln Memorial hielt, die
Rassismus zuwenden möchten, auch, men jedoch viele weitere zum Teil un- entwickelt auf Basis von Alltagsberich- len Asylbewerberheim Mecklenburg-­ transnationale Bewegung Black Lives
inwieweit sie ihn ausspielen, sind die gezählte und ungesühnte Tötungsdelik- ten rassistisch Adressierter. Jeder zehn- Vorpommern in Ros­tock-Lichtenhagen, Matter, die in den Vereinigten Staa-
anderen ihm ausgesetzt, müssen sich te aus rassistischen Gründen. Der Ver- te Befragte war zumindest teils-teils die Brand­anschläge in Mölln und So- ten entstanden ist und sich gegen Ge-
notgedrungen damit beschäftigen, ob fassungsschutz weist in seinem Bericht oder sogar eher oder voll und ganz der lingen, die Opfer des NSU, der An- walt gegen People of Color einsetzt,
sie wollen oder nicht. auf Basis der Polizeistatistik 686 frem- Ansicht »Für anspruchsvollere Tätigkei- schlag in Hanau  – die Liste rassistisch Angehörige und Freunde der Opfer,
denfeindliche Gewalttaten für das Jahr ten sind weiße Menschen eher geschaf- motivierter Gewalttaten und Todesop- die für die Verstorbenen weiterkämp-
2021 aus. Zwar sind die Zahlen seit dem fen als Schwarze Menschen«. Fast zehn fer rechtsextremer Gewalt in der Bun- fen, Fußballspieler, die sich mit ei-
Von Mikroaggression zu Gewalt
Höchststand der Angriffe auf Geflüch- Prozent meinten zudem »Wenn sich desrepublik Deutschland ist tragisch nem Kniefall gegen Rassismus stel-
In der Forschung werden die eingangs tete rückläufig, doch muss nach wie vor Schwarze Menschen mehr anstrengen und lang. Aber nicht nur hierzulande. len, zahlreiche Demonstrantinnen
skizzierten Alltagsereignisse als Mikro­ von einer hohen Dunkelziffer ausgegan- würden, würden sie es auch zu etwas Doch eins macht Hoffnung: die und Demonstranten.
aggressionen beschrieben, angefangen gen werden, bleiben etliche Übergrif- bringen«, weitere 14 Prozent stimm- Menschen, die international gegen Einige von ihnen zeigen wir im
vom Nichtvorkommen, Nichtdrange- fe knapp unter der Strafbarkeitsgren- ten dem teils-teils zu. Gleichzeitig war Rassismus aufstehen, auf die Straße Schwerpunkt dieser Ausgabe »Gegen
dacht, dem Ignoriertwerden von Per- ze, kommen nicht zur Anzeige, werden der Vorwurf verbreitet: »Schwarze Men- gehen wie schon Martin Luther King Rassismus …  und für Vielfalt« auf den
sonen, ihren Sichtweisen, Erfahrun- nicht als rassistisch erkannt bzw. nicht schen sind zu empfindlich, wenn von mit seiner Rede »I Have a Dream«, die Seiten 15 bis 27.
20 RASSISMUS www.politikundkultur.net

Zusammen arbeiten
Integration und Rassismus im Arbeitsmarkt
CAROLINE STROBEL belegschaft, um neue Kolleginnen und Die geringen Deutschkenntnisse der Ankommen im Betrieb: Vorbehal- Geschäftsführung und die Belegschaft
Kollegen gut aufzunehmen? Und wie neuen Mitarbeiterinnen und Mitar- ten intern & extern entgegnen den Prozess begleiten und aktiv einbe-

D 
as Netzwerk Unternehmen in- können Auszubildende mit Fluchthin- beiter machen kreativ, aber gleichzei- zogen werden.
tegrieren Flüchtlinge ist bun- tergrund bei der Prüfungsvorbereitung tig sind sie auch eine der größten Hür- Um das Ankommen in Deutschland Leider erhält das Netzwerk immer
desweit die größte Initiati- unterstützt werden? den bei der Arbeitsmarktintegration. und auch im Betrieb zu erleichtern, wieder auch Erfahrungsberichte, dass
ve, die sich für Arbeitsmarktintegra- Aktuell spielt das Ankommen von Deutsche Kolleginnen und Kollegen kann es hilfreich sein, den neuen Mit- sich Kundinnen und Kunden rassistisch
tion von Geflüchteten engagiert. 2015 geflüchteten Menschen aus der Ukrai- können dabei unterstützen, sprachli- arbeitenden bei Behördengängen, der äußern, wenn Geflüchtete im Unter-
kamen Tausende von Menschen nach ne eine große Rolle bei den Mitglieds- che Hürden zu überwinden, indem sie Wohnungssuche und dem Erlernen nehmen arbeiten. In einem Workshop
Deutschland. Ein großer Teil von ih- unternehmen. Während zu Beginn zu- beispielsweise auf komplizierte Höf- der deutschen Sprache zu unterstüt- wurde z. B. erzählt, dass eine Kundin
nen will sich dauerhaft integrieren. nächst die humanitäre Versorgung eine lichkeitsformeln verzichten, eine ein- zen. Viele Betriebe arbeiten mit geziel- nicht wollte, dass eine Mitarbeiterin
Ausbildung und Arbeit sind dabei ein zentrale Rolle spielte, gewinnt das The- fache Wortwahl sowie eine klare und ten Mentoren- oder Patenprogrammen, mit Kopftuch ihre Einkäufe im Super-

FOTO: PICTURE ALLIANCE / ZB | BERND SETTNIK

Nach den Brandanschlägen gegen türkische Bewohner in der Nacht zum 23. November 1992 in Mölln demonstrieren am Abend des gleichen Tages mehrere Tausend Menschen in Berlin gegen Fremdenhass
und rechten Terror

wesentlicher Schlüssel. Mit diesem Ge- ma Integration in den Arbeitsmarkt zu- dialektfreie Sprache verwenden. Um die den Einstieg ins Unternehmen und markt einpackt. Der Betrieb positionier-
danken initiierten der Deutsche Indus- nehmend an Bedeutung. die Sprachfertigkeiten besser einschät- in die neue Heimat erleichtern sollen. te sich sogleich, indem die Vorgesetz-
trie- und Handelskammertag (DIHK) zen zu können und Missverständnisse Die Stammbelegschaft frühzeitig über te klar verdeutlichte, dass der Super-
und das Bundeswirtschaftsministeri- im Arbeitsalltag zu vermeiden, kann die neue Kollegin oder den Kollegen markt nicht der richtige Ort für den Ein-
Die Integration in den Betrieb:
um 2016 das Netzwerk mit zunächst es hilfreich sein, den Mitarbeitenden zu informieren und aktiv in die Einar- kauf der Kundin sei. Die umstehenden
Herausforderungen gemeinsam
300 Mitgliedsunternehmen. Sechs Jah- mit Fluchthintergrund die Arbeitsan- beitung einzubeziehen, schafft dabei Kunden reagierten mit Applaus. Damit
meistern
re später hat sich die Anzahl mit rund weisung noch einmal selbst erklären eine Möglichkeit, Vorurteile abzubauen. hat die Vorgesetzte gleich zwei Dinge
3.200 Mitgliedern mehr als verzehn- Für viele Betriebe ist der Fachkräfte- zu lassen. Das Netzwerk leistet mit der Aus- auf einmal erreicht: Die Mitarbeiterin
facht. Die Mitgliedsunternehmen sind mangel eine reale Bedrohung. Laut Während mangelnde Sprachkennt- bildung von sogenannten Integrati- fühlt sich gestärkt durch die Vorgesetz-
über die gesamte Bundesrepublik ver- DIHK-Fachkräftereport (2021) konn- nisse im Betrieb oftmals kreativ über- onsscouts einen Beitrag, um (Ausbil- te und die Bindung ans Unternehmen
teilt. Vom DAX-Konzern bis zum Hand- ten 51 Prozent der befragten Unterneh- brückt werden, stoßen Unternehmen dungs-)Betriebe vielfältiger zu ma- wird gefestigt. Zum anderen hat sie zur
werksbetrieb sind alle Branchen ver- men offene Stellen nicht besetzen, weil bei den Abschlussprüfungen ihrer chen und Begegnungen zu schaffen. Im Reputation des Betriebes beigetragen,
treten. Mehr als zwei Drittel sind klei- sie keine passenden Arbeitskräfte fin- Azubis häufig an ihre Grenzen. Leider Rahmen eines sechsmonatigen Pro- in dem sie die Werte der Organisation
ne und mittelständische Unternehmen den. Gerade Geflüchtete, die bereits in scheitern Auszubildende mit Flucht- gramms entwickeln die Auszubilden- nach außen vertreten und sich für die
mit bis zu 500 Mitarbeiterinnen und Deutschland leben, bieten großes Po- erfahrung häufig an den komplizierten den mit und ohne Fluchtgeschichte in Mitarbeiterin eingesetzt hat.
Mitarbeitern. Dabei steht jedes Unter- tenzial, dieser Fach- und Arbeitskräf- Prüfungsaufgaben. Für den Betrieb be- Tandems oder in einer kleinen Gruppe Nicht immer hat man eine schlag-
nehmen vor individuellen Herausfor- telücke entgegenzuwirken. Viele Mit- deutet das manchmal, eine angehende eine Idee, um Integration und Vielfalt kräftige Antwort bei rassistischen Aus-
derungen und versucht für sich geeig- gliedsunternehmen haben diese Chance Fachkraft zu verlieren, wenn die Auszu- in ihrem Betrieb zu fördern und sicht- sagen parat. Zusammen mit der Inte-
nete Lösungen zu finden, wie die In- für sich erkannt. Die Motivation vieler bildenden die Abschlussprüfung nicht bar zu machen. Das Netzwerk unter- ressengruppe Flüchtlinge, einem Zu-
tegration am Arbeitsplatz gelingen Geflüchteter ist hoch, sich in Deutsch- bestehen. Für den Prüfling ist es oft stützt die Scouts bei der Ideenfindung sammenschluss Berliner Unternehmen,
kann. Diese vielfältigen Erfahrungen land ein neues Leben aufzubauen. Zu- ein zusätzlicher Druck, denn zum Teil und der Vorbereitung zur Umsetzung. der sich für die Arbeitsmarktintegrati-
sammelt das Netzwerk und teilt es mit dem werden manche Strukturen im ist die Bleibeperspektive auch an die Die Auszubildenden gehen gestärkt aus on von Geflüchteten einsetzt, hat das
seinen Mitgliedern. Dabei beschäfti- Betriebsalltag durch die neue Kollegin Ausbildung geknüpft. Darüber hinaus dem Programm hervor: Auszubildende Netzwerk einen Leitfaden entwickelt –
gen Betriebe vor allem folgende Fra- oder den neuen Kollegen hinterfragt kämpfen viele Geflüchtete damit, trau- ohne Fluchtgeschichte werden für das abzurufen unter bit.ly/3zJG2C4. Darin
gen: Wie und wo kann man Geflüchte- und auf den Prüfstand gestellt: Werden matische Erfahrungen, die sie im Hei- Thema Vielfalt sensibilisiert und erle- werden Antwortoptionen für typische
te kennenlernen? Worauf sollte man die – vielleicht kompliziert verfassten – matland oder auf der Flucht erlebt ha- ben einen Perspektivwechsel. Auszu- Vorurteile im Arbeitskontext und Hin-
achten, um einen erfolgreichen Ausbil- Arbeitsanweisungen von allen wirklich ben, zu verarbeiten oder sorgen sich bildende mit Fluchtgeschichte erar- weise für den Umgang mit rassistischen
dungsstart zu erreichen? Welche juris- verstanden? Um Missverständnisse zu um die Familie, die sie zurücklassen beiten eigenständig Ideen, wie das An- Aussagen im Betrieb gegeben
tischen Fragen gilt es zu beachten? Wie vermeiden, nutzen Unternehmen z. B. mussten. Das alles mindert die Kon- kommen neuer Kolleginnen oder Kol-
können Spracherwerb gefördert und in- digitale Medien als Hilfsmittel und ach- zentrationsfähigkeit und damit auch legen im Team noch besser gelingen Caroline Strobel ist Projektreferentin
terkulturelle Unterschiede überwun- ten vermehrt auf klar formulierte An- die Chance, die Ausbildung erfolgreich kann. Die Sichtbarkeit des Projektes im Netzwerk Unternehmen integrieren
den werden? Was braucht die Stamm- weisungen. abzuschließen. im Betrieb wird gewährleistet, da die Flüchtlinge
Politik & Kultur | Nr. 7-8 / 22 | Juli /August 2022
RASSISMUS 21

»Ihre Namen sollen lebendig bleiben«


Serpil Temiz Unvar im Gespräch
Ferhat Unvar wurde am 19. Februar ­Ferhats Kampf weiterbringen und als erlebt. Manchmal wissen sie selbst erlebt, aber ihr seid nicht allein. Die- falt in diesem Land. Das macht uns
2020 bei dem rassistisch motivierten Mutter eine Brücke bauen zwischen nicht, was sie da tun, manchmal wis- ses Land ist euer Land. Das ist eure reich. Es ist mein Wunsch, dass Lehrer
Anschlag von Hanau ermordet. Mit der der Schule, den Lehrern und den sen sie es. Sie brauchen mehr Ver- Zukunft. Ihr könnt viel, so viel schaf- dies in ihrer Ausbildung lernen.
Gründung der Bildungsinitiative Ferhat Schülern. Deshalb habe ich die Bil- ständnis und sie müssen die Hinter- fen hier. Und wir sind zusammen.«
Unvar möchte seine Mutter Serpil Te- dungsinitiative gegründet. Jugendli- gründe der Kinder kennen, die sie un- Das gibt Kraft. Also einfach em­powern. Was sind die Ziele und zukünftigen
miz Unvar allen Kindern, Jugendlichen, che sind unsere Zukunft und Rassis- terrichten. Sie müssen jedes einzel- Sie wollen ja für ihre Rechte kämpfen. Pläne der Bildungsinitiative?
jungen Erwachsenen und deren Eltern, mus ist nicht angeboren. Man lernt ne Kind persönlich ernst nehmen und Damals habe ich falsch gekämpft. Ich Unser Ziel ist es, dass wir alle zusam-
die rassistische Erfahrungen im Alltag Rassismus in der Gesellschaft, in der Respekt haben. Und sie sollten keine habe immer die Schuld meinem Kind menhalten, nicht nur die migranti-
oder der Schule machen, eine Anlauf- Familie, in der Schule. Und deswegen Unterschiede machen zwischen Deut- gegeben, weil für mich Lehrer immer sche Gesellschaft, sondern die gan-
stelle bieten. Im Gespräch mit Maike ist die Schule der wichtigste Schlüssel schen und anderen. Die Lehrer sol- recht hatten. Aber es ist nicht so. Man ze Gesellschaft. Als Bildungsinitiative
Karnebogen berichtet sie von der Ar- für mich für die Zukunft und gegen len einen anderen Blick auf diese Kin- kann auch sagen: »Hey, das stimmt arbeiten wir auch mit deutschen Kin-
beit der Initiative. Rassismus und Diskriminierung. der entwickeln, sie nicht als Fremde nicht. Was machen Sie mit meinem dern zusammen. Rassismus stört auch
sehen, sondern als einen Teil unse- Kind?« Aber leider ist es nicht so ein- deutsche Kinder. In Ferhats Freundes-
Maike Karnebogen: Frau Unvar, Was ist die Aufgabe der Bil- rer Gesellschaft. Gerade Lehrer müs- fach für eine Migrantin, da was zu sa- kreis gab es ganz viele deutsche Kin-
am Geburtstag Ihres Sohnes Ferhat, dungsinitiative? Wie sieht ihre sen sich mit Alltagsrassismus aus- gen. Wir wollen zusammen zeigen, sie der, die sind sehr traurig und kämp-
dem 14. November 2020, haben Sie Arbeit aus? können für ihre Kinder kämpfen. fen mit uns zusammen. Unser Ziel ist
die Bildungsinitiative Ferhat Un- Wir organisieren für Schulen Work- es, dass wir alle die gleichen Chancen
var ins Leben gerufen, mit der Sie shops zu verschiedenen Themen. Unser Ziel ist es, dass Was muss passieren, damit haben in dieser Gesellschaft. Auch in
sich aktiv gegen Alltags- und in­ Z. B. haben wir einen Workshop zum wir alle die gleichen unsere Gesellschaft sich dies­ der Schule. Ziel ist auch, dass wir die
stitutionellen Rassismus einsetzen. Thema 19. Februar: Was ist an diesem Chancen haben in bezüglich verändert? Frauen stärken. Ich war alleinerzie-
Wie kamen Sie dazu? Was waren Tag passiert? Was ist alles schiefge- Es muss viel passieren. Die Politik hende Mutter und es war nicht ein-
die ersten Schritte? laufen? Wie können junge Menschen, dieser Gesellschaft muss strukturellen Rassismus, also in fach für mich, als Migrantin und Frau.
Serpil Temiz Unvar: Ferhat und ich die migrantisch gelesen werden, da- der Polizei, in der Schule, in der Ge- Frauen brauchen mehr Unterstützung
haben sehr viel zusammen erlebt und mit umgehen? Und wie können wir sie einandersetzen und sich fragen, ob sellschaft, ernst nehmen. Wir als in diesem Land. Allgemein in der Welt
durchgemacht durch Rassismus und empowern? Von Jugendlichen zu Ju- sie Schüler verletzen, ohne es selbst ­Hanauer kämpfen seit zweieinhalb haben wir nicht die gleichen Chancen,
Diskriminierung. Wegen Rassismus gendlichen ist unser Konzept. Wir ar- vielleicht zu wollen. Und die Kinder Jahren unseren Kampf nicht nur für aber als Mi­grantin ist es noch schwe-
ist er getötet worden. Ich habe ver- beiten mit einem professionellen Re- müssen auch verstehen: Hier ist un- Hanau, sondern für die Gesellschaft, rer. Das Ziel ist groß, der Weg lang.
sucht, mit Politikern und anderen zu ferenten und Hanauer Jugendlichen ser Land, wir sind nicht fremde Men- für die Zukunft und auch für die Ver- Aber es muss einfach weitergehen.
reden, denn diese Kinder sollen nicht zusammen. Wir schicken sie immer schen. Wir leben hier, wir sterben hier, gangenheit. Es gibt Rassismus und Und bis jetzt läuft einiges gut. Das ist
umsonst gestorben sein. Ihre Namen zu zweit in die Schule. Bis jetzt haben wir arbeiten hier, wir heiraten hier, Diskriminierung, das müssen wir ak- auch der Zivilgesellschaft zu verdan-
sollen lebendig bleiben. Es konnte wir gutes Feedback, denn junge Men- wir kriegen Kinder hier. Das heißt, zeptieren. Aber wir müssen dranblei- ken. Wir haben uns mit Spendengel-
nicht sein, dass Ferhat so viel durch- schen wollen mit jungen Menschen hier ist auch unser Land. Und dieses ben und keinen Unterschied machen dern gegründet. Das allein zeigt uns,
gemacht hat, viele schmerzhafte Jah- reden. Dann haben sie mehr Vertrau- Recht kann dir keiner nehmen. Auch zwischen uns und anderen. Wir sind es gibt große Pro­bleme und viele wol-
re, und danach einfach weg ist. Seit en und erzählen über ihre eigenen Er- deswegen kämpfen wir. keine andere Gesellschaft. Wir gehö- len diese Probleme lösen. Unsere Kraft
vielen, vielen Jahren sterben Men- fahrungen. ren zu Deutschland. Ich bin Kurdin, ist die G
­ esellschaft.
schen durch Rassismus und fast kei- Welchen Rat geben Sie Kindern aber meine Heimat ist Deutschland. In
ner kennt ihre N­ amen. Das war für Was möchten Sie den Kindern und Jugendlichen, die von Rassis- der Schule müssen Lehrer lernen, mit Vielen Dank.
mich unakzeptabel. Ich habe mich und Jugendlichen vermitteln? mus betroffen sind? den Kindern umzugehen, weil ein Kur-
­gefragt, was habe ich erlebt? Unter Junge Menschen haben so viel Po- Ich selbst halte keine Workshops, aber de ist nicht wie ein Afghane, ein Af- Serpil Temiz Unvar ist die Gründerin
anderem hatten wir keine guten Er- tenzial. Eine Lehrerin oder ein Leh- manchmal, wenn ich an Veranstal- ghane ist nicht wie ein Araber. Es gibt der Bildungsinitiative Ferhat Unvar.
fahrungen in den Schulen und mit rer kann einem Kind aber Motivati- tungen teilnehme, sage ich: »Damals ganz verschiedene Kulturen und das Maike Karnebogen ist Redakteurin
Lehrerinnen und Lehrern. Ich w ­ ollte on wegnehmen, das haben wir selbst habe ich das auch erlebt, Ferhat hat es ist positiv, nicht negativ. Wir sind Viel- von Politik & Kultur

Lernziel: Gleichwertigkeit
Für die Etablierung einer diskriminierungssensiblen Schulkultur
SANEM KLEFF zubeuten: ein ideologisches Konstrukt, len Ideologien der Ungleichwertigkeit für die individuelle Kommunikation eines gewaltfreien Schulklimas. Aber
das allein der Wahrung der Machtposi- wie Antisemitismus, Homophobie, Is- unter den Schulmitgliedern und zur eines können sie nicht ersetzen: eine

E 
in friedliches Miteinander ohne tion der Mächtigen dient. lamismus, Frauenfeindlichkeit, Mus- Vermittlung und Wertschätzung sozi- respektvolle Atmosphäre in der Schule,
Diskriminierung wäre leicht limfeindlichkeit oder eben Rassismus aler Kompetenzen wie Verlässlichkeit, die Selbstwertgefühle stärkt.
möglich, wenn die Überzeugung besser erkennen, sich offen mit ihnen Ausdauer und Geduld sowie Empathie­ Pädagoginnen und Pädagogen kön-
Lernort Schule
der Gleichwertigkeit der Menschen auseinandersetzen und ihnen aktiv ent- fähigkeit. nen nicht Expertinnen und Experten
in einer Gesellschaft von allen geteilt In der Schule kann die Auseinanderset- gegenwirken. Ziel ist es, dauerhaft eine für alle Ungleichheitsideologien sein.
würde und die Basis ihrer verbindlichen zung mit Diskriminierung und Präven- diskriminierungssensible Schulkultur Sie brauchen Qualifizierung, um ihre
Multidimensionaler
Werte und Normen bildete. Ungleich- tion in jungen Jahren effektiv stattfin- zu etablieren. Handlungsoptionen in Krisensituatio-
Präventionsansatz
heitsideologien jeglicher Art würden den, Demokratie kann gelebt und prak- nen zu erweitern. Damit sie diskrimi-
dann geächtet, zeitnah abgebaut oder tisch erfahren werden. Um den Sozialraum Schule in diesem nierende Vorfälle nicht aus Unsicher-
Das Courage-Netzwerk
sogar verhindert. Unsere Lebensrealität »Schule ohne Rassismus – Schule mit Sinne zur Beförderung der Resilienz heit herunterspielen oder mit Sätzen
ist noch weit von dieser Vision entfernt, Courage«, so heißt das von Aktion Cou- Bei der festlichen Veranstaltung zum gegen Menschenfeindlichkeit effek- wie »Bei denen ist diese frauenfeind-
obwohl die allgemeinen Menschenrech- rage verantwortete Netzwerk von schu- Eintritt ins Netzwerk stehen den Schu- tiv zu nutzen, müssen wir an vielen liche Meinung ja üblich« kulturalisie-
te und unser Grundgesetz dies einfor- lischen und außerschulischen Akteuren, len die von ihnen ausgewählten Patin- Stellschrauben drehen, zum Teil sogar ren. Eine inklusive Schulkultur kann
dern: »Die Würde des Menschen ist un- dessen Ziel es ist, Schulen dabei zu un- nen und Paten zur Seite. Oft sind dies gleichzeitig. Zwei, fünf oder sieben Ein- allerdings keineswegs allein durch die
antastbar«. terstützen, Schülerinnen und Schülern Personen des öffentlichen Lebens aus zelmaßnahmen werden nicht ausrei- Qualifizierung von Pädagoginnen und
Tatsächlich aber findet in Deutsch- die Gleichwertigkeit aller Menschen er- Kunst, Sport, Politik und Medien. Sie chen, ein nachhaltiger multidimensi- Pädagogen entstehen. Sie ist Ergebnis
land Diskriminierung als ein weitver- lebbar zu machen. Schulen aller Arten unterstützen ihre Schulen auf vielfäl- onaler Präventionsansatz ist notwen- einer strukturell und personell inklusi-
breitetes Alltagsphänomen in Fami- können freiwillig dem Netzwerk beitre- tige Weise. dig. Dafür muss das »didaktische Rad« ven Orientierung einer Schule, die auf
lien, Vorstandsbüros, Supermärkten, ten, wenn sie sich gegen jede Form von Courage-Schulen stehen im Kontakt nicht neu erfunden werden. Bewähr- Chancengerechtigkeit abzielt. Dazu ge-
­U-Bahnen und täglich an Hunderten Diskriminierung einsetzen wollen. Min- mit der für sie zuständigen Koordinie- te Methoden gibt es z. B. in der Gewalt- hört auch ein divers aufgestelltes Kol-
von Schulen statt. destens 70 Prozent der Schulgemein- rungsstelle, die sie dauerhaft begleitet, oder Extremismusprävention, die Fa- legium.
Jede Diskriminierung basiert auf schaft – der Schülerschaft, Pädagogin- motiviert und untereinander vernetzt. cetten eines schulischen Präventions- Schule ist keine bloße Wissensver-
der Annahme, Menschen seien wegen nen und Pädagogen, des technischen Die 16 Courage-Landeskoordinationen konzeptes bilden können. mittlungsinstitution, sondern kann und
ihrer angenommenen oder tatsächli- Personals und der Schulleitung  – müs- und 106 Regionalkoordinationen sind Es geht dabei nicht nur um Wissens- soll Schülerinnen und Schülern ent-
chen Eigen­schaften mehr oder weniger sen in einem geheimen Abstimmungs- die ersten Anlaufstellen der Courage- aneignung. Kunstpädagogische Metho- scheidende Soft Skills vermitteln, da-
wert. Bei Diskriminierung zwischen Ein- verfahren dem Selbstverständnis des Schulen bei allen Anliegen. Die Koor- den beziehen die Emotionen mit ein: mit sie gesellschaftlichen Anforderun-
zelpersonen, Gruppen oder durch be- Netzwerks zustimmen. dinatorinnen und Koordinatoren bera- Rollenspiele, die Verhaltensmuster in gen standhalten können und nicht Un-
hördliches Handeln geht es immer um Sie zeigen: Wir schauen nicht weg, ten bei der Umsetzung von Projektta- Konfliktsituationen einüben und hel- gleichwertigkeitsideologien aufsitzen.
Strukturen und Regeln, die bestimmte wenn Diskriminierung an der Schule gen und Schulaktionen, vermitteln Re- fen, Ärger, Wut und Unterlegenheits- Klar ist: Um Kinder und Jugendliche
Gruppen benachteiligen und dies ideo- vorkommt. Das Schild am Schulgebäu- ferentinnen und Referenten, vernetzen gefühle auszusprechen und besser mit angemessen unterstützen zu können,
logisch legitimieren. de macht ihre Mitgliedschaft im Cou- Schulen untereinander, führen Fachta- ihnen umzugehen. So werden Kommu- brauchen wir an den Schulen mehr Er-
Beispielsweise legitimiert sich per- rage-Netz öffentlich sichtbar, ist aber ge und Regionaltreffen durch. Expertin- nikationsfähigkeit und Frustrationsto- wachsenenminuten pro Kind und Tag
sonelle wie auch institutionelle rassis- kein Zauberstab, durch das Diskrimi- nen und Experten der bundesweit rund leranz gestärkt. Die Rolle der sozialen von einem interdisziplinären, diversen
tische Diskriminierung durch die Be- nierung schlagartig verschwindet. Es 360 außerschulischen Kooperations- Medien bei der Prävention von men- Team von Erwachsenen mit sozialpäd-
hauptung, es gäbe unterschiedliche erinnert täglich daran, dass hier Dis- partner, die eine große Spannbreite von schenfeindlichen Haltungen ist mehr agogischer Kompetenz.
menschliche »Rassen«, diese seien un- kriminierung, Herabwürdigung und Ge- Themen abdecken, erteilen Workshops, in die pädagogischen Konzepte ein-
terschiedlich wertvoll und die machtha- walt nicht schulterzuckend hingenom- Fortbildungen und Seminare. zubeziehen. Auch die Ausbildung und Sanem Kleff ist Direktorin von der
bende Gruppe sei die überlegene. Daher men werden. Die Förderung des sozialen Lernens der Einsatz von Konfliktlotsinnen und­ Bundeskoordination Schule ohne
habe sie das Recht, die unterlegenen Bundesweit 3.700 Schulen tra- gelingt am besten, wenn im Schulalltag  -lotsen oder Mediatorinnen und Medi- Rassismus – Schule mit Courage und
Gruppen zu diskriminieren und aus- ten bislang ins Netzwerk ein. Sie wol- ausreichend Zeit zur Verfügung steht atoren sind hilfreich für die Etablierung Vorsitzende von Aktion Courage
22 RASSISMUS www.politikundkultur.net

In der Gesellschafts-
mitte verankert
Antimuslimischen Rassismus erkennen
FATIH ABAY Grund ich Kopftuch trage, spielt bei an-

R 
timuslimischem Rassismus keine Rolle.
assismuserfahrungen ge- Er betrifft alle Menschen, die als musli-

FOTO: PICTURE ALLIANCE / SWEN PFÖRTNER/DPA | SWEN PFÖRTNER


hören für viele Menschen misch gelesen werden. Für die Islamwis-
in Deutschland zum Alltag. senschaftlerin Riem Spielhaus ist die-
Gemäß einer aktuellen re- ser Prozess seit den Terroranschlägen
präsentativen Studie des Nationalen vom 11. September 2001 verstärkt zu se-
Diskriminierungs- und Rassismusmo- hen, da die migrantische Gesellschaft in
nitors des Deutschen Zentrums für In- Deutschland und Europa »muslimisiert«
tegrations- und Migrationsforschung und Religion als Marker hervorgehoben
(DeZIM) geben 65 Prozent der Befrag- worden ist. In diesem Zusammenhang
ten an, dass sie bereits Berührung mit werden Menschen aufgrund eines Merk-
Rassismus hatten, 22 Prozent davon wa- mals zu einer einheitlichen Gruppe ge-
ren direkt betroffen. Obwohl beinahe macht, also »rassifiziert«.
die gesamte Bevölkerung (90%) Rassis- CLAIM, eine Allianz aus 50 musli-
mus als Realität in unserer Gesellschaft mischen und nichtmuslimischen zivil-
versteht, werden rassistische Situati- gesellschaftlichen Akteuren setzt sich
onen mit Blick auf muslimische oder bundesweit auf unterschiedlichen Ebe-
muslimisch gelesene Menschen deut- nen gegen antimuslimischen Rassismus
lich weniger als »rassistisch« bewertet und Islam- bzw. Muslimfeindlichkeit ein. Teilnehmer des Demonstrationszuges »Kein nächstes Opfer!« gehen am 6. April 2017 durch die Innenstadt von Kassel
als beispielsweise Rassismus gegenüber Kern der Arbeit ist unter anderem die und tragen die Fotos von Opfern des NSU
Schwarzen Menschen. Sensibilisierungsarbeit unterschiedli-
Mit insgesamt 732 erfassten islam- cher Zielgruppen, Stärkung der Zivilge-
feindlichen Straftaten und 54 Angrif-
fen auf muslimische Einrichtungen und
sellschaft im Themenfeld, wissenschaft-
liche Impulse an der Schnittstelle Zivil-
gesellschaft und Praxis sowie der Auf-
»In der Mehrheitsgesellschaft
Seit Jahren verweisen
bau einer einheitlichen Erfassung und
Dokumentation von antimuslimischen ist wenig Wissen über Asiatische
Studien auf die weite
Deutsche vorhanden«
Übergriffen und Diskriminierungen.
Vor allem die zivilgesellschaftliche
Verbreitung antimusli- Erfassung von Alltagsrassismus sowie
mischer Positionen in von gewaltvolleren Erscheinungsfor-
allen sozialen Schich- men wie Beleidigung, Diskriminierung Vier Fragen an korientation, das Netzwerk für Asiatisch-Deutsche Perspektiven
ten und Altersgruppen oder physischen Übergriffen ist essen-
ziell, um Betroffene besser zu unter- Insbesondere während der Corona- kunftsübergreifend einen gemein- Deutschland wird als etwas Selbst-
stützen, gesellschaftliche Entwicklun- pandemie kam und kommt es welt- samen Ort schafft, von dem aus wir verständliches gesetzt.
Repräsentanten sind die offiziell vom gen zu erkennen und Gefahrensituati- weit zu Beschimpfungen, zu Ausgren- sprechen können, um unseren The-
Bundesministerium des Innern erfass- onen abschätzen zu können. Mit dem zung und körperlichen Angriffen auf men und Forderungen Nachdruck zu Wie hilft korientation den von
ten Übergriffe seit drei Jahren zwar erst- Meldeportal I-Report und dem Aufbau Menschen, die als asiatisch wahrge- verleihen. Heute wächst der Verein Rassismus betroffenen asiatisch
malig rückläufig (2020: 1026, 2019: 950), einer Kooperationsstruktur zur bundes- nommen werden. Das Netzwerk für in ein diversifiziertes bundesweites gelesenen Menschen?
Anlass zur Entwarnung geben die offi- weiten einheitlichen Erfassung von an- Asiatisch-Deutsche Perspektiven ko- Netzwerk weiter, getragen von Men- korientation setzt sich für den po-
ziellen Zahlen aber nicht. Diese Zah- timuslimischem Rassismus will CLAIM rientation macht vielfältige Lebens- schen, die in mehreren asiatisch-dia- litisch notwendigen Begriff »anti-
len sind nur die Spitze des Eisbergs, das die Dunkelziffer von antimuslimischen wirklichkeiten in Deutschland sicht- sporischen Zusammenhängen agie- asiatischer Rassismus« ein, um in
Dunkelfeld wird von Expertinnen und Vorfällen beleuchten und ein gesell- bar und wirkt so anti-asiatischem Ras- ren. Die Selbstbezeichnung Asiati- Deutschland auf rassistische Über-
Experten auf ein Vielfaches geschätzt. schaftliches Problembewusstsein schaf- sismus entgegen. sche Deutsche ist ein solidarisches griffe gegen asiatisch gelesene Men-
Insbesondere antimuslimischer All- fen. Auch Betroffene werden damit be- Instrument, um Community-über- schen hinzuweisen. Zwar existier-
tagsrassismus wird bisher kaum er- stärkt, ihre Erfahrungen als rassistisch Was ist korientation? greifend gemeinsam Position zu be- te auch vor der Pandemie Rassis-
fasst und bleibt statistisch weitestge- zu benennen, zu melden und ihre Rech- korientation ist eine (post-)migran­ ziehen und gegen anti-asiatischen mus gegen asiatisch gelesene Men-
hend unsichtbar. te einzufordern. tische Selbstorganisation und ein Rassismus vorzugehen. korientation schen, aber in der Berichterstattung
Seit Jahren verweisen Studien auf Mit der bundesweiten Aktionswo- kultur- und bildungspolitisches sieht sich somit als Teil einer wach- über Covid-19 erlebten und erle-
die weite Verbreitung antimuslimischer che gegen antimuslimischen Rassis- Netzwerk von Asiatischen Deut- senden Bewegung aus unterschied- ben Asiatische Deutsche und asia-
Positionen in allen sozialen Schichten mus vom 24. Juni bis 1. Juli 2022 macht schen, Asiatinnen und Asiaten mit lichen asiatischen und Asiatisch- tisch gelesene Personen in Deutsch-
und Altersgruppen und warnen vor den CLAIM das Problem des antimusli- dem Lebensschwerpunkt Deutsch- Deutschen Communities, die gezielt land und weltweit einen starken An-
Auswirkungen für die Gesellschaft. Vor- mischen Rassismus für eine breitere land. korientation wurde 2008 von dahingehend arbeitet, notwendige stieg rassistischer Gewalt. Wir haben
stellungen der Überfremdung zeigen einer Gruppe koreanischer Deut- Selbstartikulation, Selbstrepräsen- gleich zu Beginn der Coronapan-
sich beispielsweise in der Leipziger scher der zweiten Generation ge- tation und Interessenvertretung vor- demie begonnen, Medienberich-
Autoritarismus-Studie von 2020: Fast
Die Sensibilisierung gründet, um die vielschichtige Mi- anzubringen. te – vor allem in den Mainstream-
jeder zweite Befragte in Deutschland von und Anerkennung grationsgeschichte zwischen Ko- medien – zu dokumentieren und zu
fühlt sich »durch die vielen Muslime des antimuslimi- rea und Deutschland ins allgemeine Wie setzen Sie diese Ziele um? sammeln, die durch diskriminieren-
hier manchmal wie ein Fremder im ei- schen Rassismus ist Bewusstsein zu rücken. Dieses Pro- Hervorzuheben ist das Modellprojekt des und kultu­ralisierendes Framing
genen Land«. Antimuslimischer Ras- jekt trug den Titel »Shared.Divided. »MEGA« im Rahmen des Demokratie und/oder stereotypisierende und un-
sismus ist kein Phänomen der extrem
ein erster Schritt United. Deutschland-Korea: Migra- leben!-Programms im Bundesminis- sachliche Text-Bild-Verknüpfun-
Rechten, sondern in der Mitte der Ge- zur Bekämpfung tionsbewegungen im Kalten Krieg« teriums für Familie, Senioren, Frau- gen anti-­asiatischem Rassismus Vor-
sellschaft verankert. Die Grenzen zwi- und wurde in Form von Ausstellung, en und Jugend, das korientation der- schub leisten. Diese Berichterstat-
schen hasserfüllten Äußerungen und ­ ffentlichkeit sichtbar. Die diesjährige
Ö Konferenz und Publikation umge- zeit durchführt. Das Akronym MEGA tungen machten deutlich, wie wenig
gewalttätigen Handlungen, wie z. B. in Kampagne soll dazu anregen, sich mit setzt. Das war neben der Aufarbei- steht für »Media and Empowerment Wissen in der Mehrheitsgesellschaft
Halle oder Hanau, einerseits und dem den eigenen verinnerlichten Rassismen tung unserer eigenen Geschichten for German Asians« und ist ein Emp- zu anti-­asiatischem Rassismus und
gesellschaftlich weitverbreiteten anti- auseinanderzusetzen und diese kritisch auch ein Mittel, um uns in der da- owerment-Projekt für junge Asiati- über Asia­tische Deutsche vorhanden
muslimischen Alltagsrassismus ande- zu hinterfragen. Die Kampagne zeigt mals schwelenden Integrationsde- sche Deutsche. Im Projekt werden ist. Rassismuserfahrungen von Be-
rerseits sind dabei fließend. Gleichzei- Assoziationen, die im Kopf von Men- batte inhaltlich wie politisch zu po- Workshops, Seminare und Veranstal- troffenen wurden/werden häufig an-
tig wird die Existenz von antimuslimi- schen entstehen, die diskriminierend sitionieren. Wir wollten den rassis- tungen durchgeführt, die die Resili- gezweifelt oder gar abgesprochen.
schem Rassismus im öffentlichen Leben denken und handeln – meist, ohne sich tischen Narrativen und Stereotypen enz der Betroffenen durch die Ver- Daher bieten wir betroffenen Men-
immer wieder geleugnet oder relativiert. dessen bewusst zu sein. Gerade anti- zu »asiatischen« Migrantinnen und mittlung und den Austausch von schen Räume zum Austausch und
Die Logik des antimuslimischen Ras- muslimischer Rassismus zeigt sich häu- Migranten und dem fehlenden Wis- Wissen und Kompetenzen stärken. zur Vernetzung an. Das ist enorm
sismus beschreibt der Soziologe Luis fig im Latenten und Unbewussten. sen zu asiatischen Menschen und Gleichzeitig werden Räume geschaf- wichtig, um sich gegenseitig zu un-
Hernandez Aguilar als eine Machtpra- Die Sensibilisierung von und Aner- ihren Lebensrealitäten in Deutsch- fen, in denen die Teilnehmenden da- terstützen, das Erlebte gesellschafts-
xis der sogenannten deutschen Main- kennung des antimuslimischen Rassis- land etwas entgegensetzen, indem rin ermutigt werden, ihre eigenen politisch einzubetten, um daraus ge-
streamgesellschaft, nach der musli- mus ist ein erster Schritt zur Bekämp- wir unsere eigene Geschichte(n) Geschichten zu entdecken, Erfah- stärkt hervorzugehen.
misch gelesene Menschen ihrer ver- fung. Weitere weitreichende Maßnah- erzählen. rungen zu teilen und einzuordnen.
meintlichen Religion und Kultur nach men als Bestandteil einer umfänglichen Sie werden befähigt, Selbsterlebtes Lizza May David ist Bildende Künst-
als sexistisch, gewalttätig, antisemi- Strategie gegen die Rassismen sind not- Welche Ziele verfolgt korien­ mit unterschiedlichen medialen Mit- lerin und Vorstandsmitglied von
tisch, homophob und demokratiefeind- wendig, um die menschen- und demo- tation? teln zu erzählen und sichtbar zu ma- korienta­tion. Netzwerk für Asiatische
lich eingestuft werden. Hierbei wird kratiefeindlichen Ideologien, die bis in korientation agiert an der Schnitt- chen. Wichtig ist dabei, den gängi- Deutsche. Sun-Ju Choi ist Kultur­
muslimisch sein als das Gegenteil von die Mitte unserer Gesellschaft reichen, stelle von Kultur/Medien, Wis- gen stereotypen Narrativen vielfälti- schaffende, Drehbuchautorin und
Deutschsein hervorgehoben, auch wenn zurückzudrängen und die Gleichstel- senschaft und politischer Bildung ge Bilder, Beiträge und Erzählungen Expertin für Diversity
es um Personen mit deutscher Staats- lung von muslimischen Menschen und mit dem Ziel, die Repräsentati- aus der eigenen Perspektive entge-
bürgerschaft, deutschen Sprachkennt- als solche Markierte in all ihren Bedar- on von Asiatisch-Deutschen Pers- genzusetzen. Alle Teilnehmenden Asiatisch-Deutsch bzw. Asiatische Deut-
nissen oder solche, die sich selbst als fen zu gewährleisten. pektiven zu stärken. Wir verwenden werden bestärkt, selbst zu Wissens- sche wird großgeschrieben, um auf die
deutsch identifizieren, geht. Kurzum, die Selbstbezeichnung »Asiatisch- und Medienproduzentinnen und kulturellen Identitätskonstruktionen und
wo ich »wirklich herkomme«, welchen Fatih Abay ist wissenschaftlicher Deutsch« als strategische politi-  -produzenten zu werden. Asiatisch- die gesellschaftspolitische Positionie-
Glauben ich habe oder aus welchem Mitarbeiter bei CLAIM sche Selbstpositionierung, die her- Deutsche Geschichte und Präsenz in rung zu verweisen.
Politik & Kultur | Nr. 7-8 / 22 | Juli /August 2022
RASSISMUS 23

»Wir dürfen nicht einfach ein ungerechtes


System ein bisschen diverser machen«
Die Kulturwissenschaftlerin und Schriftstellerin Mithu Sanyal im Gespräch
Mithu Sanyals Roman »Identitti«, der Die Hauptfigur von »Identitti« ist er hart ausgekämpft wurde. Alle Fra- den Medien häufig so runtergebro- es sei denn, bei den Nazis. Und wenn
sich auf einmalig unterhaltende Art Nivedita. Nivedita ist polnisch-­ gen, die Dolezal gestellt wurden, wa- chen: »Jetzt dürfen nur noch Schwar- du darüber sprechen möchtest, dann
und Weise mit Identitätspolitik(en) be- indischer Herkunft. Sie sind auch ren Fragen, die mir mein Leben lang ze Schwarze spielen und nur noch bist du rassistisch, weil du dich auf
fasst, hat es im vergangenen Jahr di- polnisch-indischer Herkunft. In- gestellt wurden: Wer bist du? Wer Linkshänder Linkshänder.« Darum ein altes Nazikonzept beziehst.« Oder
rekt auf die Spiegel-Bestsellerliste ge- wieweit verarbeiten Sie darüber bist du wirklich? Kannst du beweisen, geht es natürlich nicht. Es geht darum, es hieß bei Podiumsdiskussionen in
schafft – obwohl er zuvor von Verlagen hinaus in dem Roman beziehungs- dass du bist, wer du bist? Und plötz- dass wir aufbrechen, dass wir wirklich den 1990er Jahren: »Nein, Mi­thu, du
oft als »Spartenlektüre«, für die es auf weise in der Romanfigur Nivedita lich drehte sich etwas. Saraswati und alle alle spielen können. bist ja betroffen, also kannst du nicht
dem deutschen Buchmarkt keine Le- eigene Erfahrungen? Nivedita kommen im Roman von un- Mein Roman »Identitti« ist als objektiv drüber reden. Lass mal die
serschaft gäbe, abgewiesen wurde. Im Wenn man Romane schreibt, ist im- terschiedlichen Seiten an dasselbe Theaterstück adaptiert worden. Und Experten drüber reden.« Die Exper-
Gespräch mit Theresa Brüheim spricht mer ganz viel von einem selbst mit Thema. Saraswati nimmt sich etwas viele Theater haben ein riesiges Pro- ten waren immer weiße Männer. Ich
San­yal über den Weg und die Bedeutung drin. Aber das ist in jeder Figur des mit einer großen Selbstverständlich- blem, weil sie kein Ensemble haben, will nicht sagen, dass man als wei-
ihres Romans, das Genre der postmi- Romans so. Ich bin auch Saraswati, keit. Das ist ja nicht nur falsch, aber das diesen Roman in Repräsentation ßer Mann nicht über Rassismus reden
grantischen Literatur in Deutschland ich bin auch Lotte. Ich bin alle Figu- es ist auch nicht richtig. Während auf die Bühne bringen kann. Das kann und soll. Aber es geht darum,
und Rassismus im Kulturbetrieb. ren in diesem Roman. Aber es war Nivedita denkt, sie habe gar kein An- muss ja nicht sein. Aber dann muss dass du genauso Expertin sein kannst,
eine bewusste Entscheidung, eine recht auf irgendetwas. Sie ist nicht man erklären, warum diese Figuren wenn du dich mit einem Thema aus-
Theresa Brüheim: Frau Sanyal, Mixed-Race-­Figur im Roman zu ha- deutsch genug, nicht indisch ge- von Weißen gespielt werden. Und da- einandersetzt und auch betroffen bist.
Sie sind Kulturwissenschaftlerin ben, deren ­Vater indisch und de- nug, nicht polnisch genug. Entspre- für muss es einen besseren Grund ge- Wir alle sind in irgendeiner Form
und befassen sich unter anderem
mit dem Thema Identität.
»Identitti« ist Ihr erster Roman.
Was hat Sie dazu motiviert, nach
einschlägigen Fachbüchern einen
Roman zu veröffentlichen?
Mithu Sanyal: Ich wollte immer Ro-
mane schreiben. Aber der deutsche

FOTO: PICTURE ALLIANCE / GEISLER-FOTOPRESS | MATTHIAS WEHNERT/GEISLER-FOTOPRE


Literaturmarkt hat mir gesagt: »Sehr
hübsch. Wird sich niemals verkaufen,
leider, leider. Wir würden es ja ger-
ne machen.« Und es war auch mit die-
sem Roman noch so. Ich hatte die ers-
ten 60 bis 90 Seiten geschrieben und
da haben Verlage noch gesagt: »Super,
gefällt uns total gut. Aber das werden
wir nicht verkauft kriegen.« Meine
Agentin Karin Graf hat es dann doch
unterbekommen, aber auch weil mein
Lektor bei Hanser, Florian Kessler, ex-
plizit dieses Buch haben wollte. Er hat
sich dafür sehr eingesetzt. Und dann
ist es direkt auf der Spiegel-Bestsel-
lerliste gelandet. Das zeigt, dass der
Literaturmarkt eben nicht alle Be-
dürfnisse der Lesenden abdeckt. Auch
bei dem Sammelband »Eure Heimat
ist unser Albtraum«, zu dem ich einen
Text beigetragen habe, war es schwie-
rig, einen Verlag zu finden. Das war
das erste Buch, an dem ich mich be- Black-Lives-Matter-Mahnwache auf dem Marienplatz in Görlitz am 12. Juni 2020
teiligt habe, was direkt auf der Spie-
gel-Bestsellerliste war. Und trotzdem ren Mutter polnisch ist. Da gibt es chend konnte ich für den Roman den ben als: »Wir kennen keine anderen.« betroffen. Auch wenn wir weiß sind,
hieß es noch: »Das sind ja so Leu- ganz, ganz viele Gründe für – auch stark veränderten und für Deutsch- Und warum ist es so, dass die Ensem- leben wir in derselben Gesellschaft
te, die kommen nicht zu Lesungen.« weil Deutschland die eigene Ge- land ­adaptierten Fall Dolezal als bles so weiß sind? Es ist einmal Ein- und sind davon betroffen.
Und genau das Gegenteil war der Fall. schichte mit Polen so gar nicht reflek- ­Katalysator benutzen, um Niveditas stellungspolitik, aber es hat auch
Ich hatte noch nie so diverse Lesun- tiert. Aber »Identitti« wird häufig als ­Geschichte zu erzählen. Denn die ganz viel damit zu, wer an die Schau- Was würden Sie sich mehr wün-
gen wie mit diesem Buch. Wenn man der autofiktionale Roman von Mithu gestellten Fragen sind zwar falsch, spielschulen, Unis etc. geht. Wer kann schen? Oder was fordern Sie auch
Leute direkt anspricht, dann kommen San­yal dargestellt. Das ist Etiketten- aber die Auseinandersetzungen sind es sich leisten, das zu studieren? Wer diesbezüglich?
sie auch. schwindel. Das ist kein autofiktionaler trotzdem wichtig. hat auch das Gefühl: »Es wird mal Ich fordere, dass wir institutionellen
Roman, es ist ein ganz klassischer Er- Rollen für mich geben?« Das heißt, Rassismus bekämpfen. Z. B. soll es
Mit welchem Argument wurde zählroman, der einen klaren Plot und Heute sind wir bei der Tagung der wir müssen schon viel früher anfan- eine externe Beschwerdestelle bei der
denn unterlegt, dass es keine Le- eindeutig erkennbare Figuren hat, die Initiative kulturelle Integration gen. Obwohl die Debatten häufig dys- Polizei geben. Das ist ein ganz wichti-
serschaft für »Identitti« gäbe und Dialoge in Anführungszeichen führen. »Zusammenhalt gegen Rassismus«. funktional geführt werden, haben sie ger erster Schritt.
es sich nicht verkaufen würde? Aber es ist eben noch so wie in den Sie sind seit vielen Jahren als Kul- dennoch den Effekt, dass wir uns mit Insgesamt ist es wichtig, dass wir
Es sei ein Spartenthema – das kam 1980er Jahren: Eine Frau schreibt ei- turwissenschaftlerin, als Journa- den Themen auseinandersetzen müs- nicht ein ungerechtes System jetzt
auch von Leuten, die ich sehr schätze, nen Roman, in dem eine vorkommt  – listin, als Schriftstellerin Teil der sen. Das Ergebnis wird sein, dass Din- ein bisschen diverser machen. Das ist
die es aber falsch eingeschätzt haben. und schon hieß es: »Das bist du.« Es Kulturbranche. Wie ist es Ihres Er- ge fairer und repräsentativer sind. häufig die Gefahr darin. Wir sollten
Ich habe noch nie so wertschätzende gibt aber mehr als nur eine von uns. achtens aktuell um den Rassismus Wir alle haben unterschiedliche alle das Privileg haben, als Mensch
Ablehnungen bekommen: »Das ist toll Es war mir entsprechend wichtig, über im Kulturbetrieb bestellt? Blickwinkel. Je unterschiedlicher der behandelt zu werden. Mir ist auch
geschrieben. Es ist lustig. Wir wür- eine Community und bestimmte Aus- Der Kulturbetrieb muss sich im Mo- Blick ist, desto größer ist die Wahr- wichtig, dass wir nicht über Rassis-
den es auch gerne nehmen, aber leider, einandersetzungen zu schreiben, die ment ganz vielen Dingen stellen, scheinlichkeit, dass wir eine diversere mus reden als sei das eine Charakter-
leider, müssen wir auch überleben und mir in der Literatur, mit der ich groß denen wir uns ganz lang nicht stel- Auswahl treffen. Erschütterungen schwäche, sondern es ist eine Struk-
wirtschaften.« Das sagt ganz viel da­ geworden bin, gefehlt haben. Es ist len mussten. Wir merken es z. B. an sind auch wichtig. Wir machen auto- tur, in der wir leben. Und wir können
rüber aus, wer mit der deutschsprachi- irre, wie viele Menschen mir geschrie- den Fragen im Theater. Dürfen nur matisch Dinge. Das Gehirn geht im- diese Strukturen verändern. Aber nur
gen Literatur angesprochen wird. Aber ben haben: »Endlich fühle ich mich Schwarze Schwarze spielen? Und die mer automatisch dieselben Wege. ganz wenige Menschen machen es. Es
da verändert sich gerade viel. Und ich in einem deutschsprachigen Roman Frage ist natürlich Quatsch. Aber sie Und wir müssen diese Wege erweitern. gibt Menschen, die explizit gern ras-
bin so dankbar dafür, dass mein Ro- repräsentiert.« Das ist auf der einen basiert darauf, dass z. B. mir beim sistisch sein wollen. Aber in der Regel
man nicht der einzige aus diesem wei- Seite das, was ich wollte, und gleich- Krippenspiel ganz lang gesagt wur- Ganz richtig, wir müssen die Wege ist das Gegenteil der Fall. Die größte
ten Spektrum der postmigrantischen zeitig bricht es mir das Herz. Was sagt de: »Liebe Mithu, natürlich kannst erweitern. Inwieweit haben sich Beleidigung für viele Menschen ist:
Literatur ist – was auch immer das be- das über die deutschsprachige Litera- du nicht Maria spielen, Maria in Bet- diese Wege in den letzten zehn, »Das war rassistisch.« Ich wünsche
deutet –, sondern dass es mittlerweile tur aus? lehem war blond und blauäugig, wir zwanzig Jahren bereits erweitert mir auch eine größere Fehlerkultur –
so viele Bücher gibt, die gleichzeitig müssen schon historisch korrekt blei- oder nur verändert? Welche Ent- dass wir daran lernen dürfen, dass wir
mediale Aufmerksamkeit bekommen. Sie haben im Roman auch den Fall ben.« Das heißt, ich musste dann den wicklung haben Sie bezüglich Ras- als Gesellschaft lernen dürfen.
Früher war es pro Buchmesse viel- der US-amerikanischen Bürger- Balthasar spielen. Ich musste als Kind sismus im Kulturbereich in diesem
leicht eins. Das war dann immer der rechtsaktivistin Rachel Dolezal Blackfacing machen – nicht freiwil- Zeitraum beobachtet? Vielen Dank.
Beweis: »Wir sind total offen, aber …« verarbeitet. Eine weiße Frau, die lig wohlgemerkt. Wenn es mal eine Früher war Rassismus kein Thema.
Oder uns wurde gesagt: »Ja, aber guck sich als Schwarze ausgegeben hat. Rolle für eine Schwarze Figur oder ei- Sexismus war auch kein Thema. Aber Mithu Sanyal ist Kulturwissenschaft-
mal, wir haben doch Toni Morrison Welche Idee oder auch Motivation nen Übersetzungsauftrag für einen beides war wirklich. Und wenn ich lerin, Journalistin und Schriftstellerin.
übersetzt, wir sind total vielfältig.« steht dahinter, diesen Fall in der Schwarzen Autor gab, dann wurden über Rassismus reden wollte, h
­ aben Ihr Debütroman »Identitti« ist 2021 bei
Das ist wirklich wichtig und toll, aber Figur Saraswati aufzugreifen? diese bisher oftmals an weiße Men- mir Menschen z. B. gesagt: »Mithu, Hanser erschienen. Theresa Brüheim
wir brauchen diese Literatur eben Ich habe den Fall damals sehr intensiv schen vergeben. Es entzündet sich an es gibt keine Menschenrassen. Also ist Chefin vom Dienst von Politik &
auch hier in Deutschland. in den sozialen Medien verfolgt, wo konkreten Fällen und wird dann von kann es auch keinen Rassismus g ­ eben, Kultur
24 RASSISMUS www.politikundkultur.net

Das perfide Apriori des Rassismus


Kulturpolitische Visionen jenseits polarer Differenzen
JULIUS HEINICKE Differenz in nahezu allen Bereichen des der ausspielen, vielmehr in einer weit- sistischen und kolonialen Geschichte la auf die Etablierung einer Vorstellung

R 
Ausdrucks, der Sichtbarmachung und blickenden Vision zusammengedacht stellen. Hochschulen und Universitäten von Vielfalt, die Degradierung und Aus-
assismus hat seinen Ur- Diskursbildung menschlicher Diskus- werden sollten. Der eine Weg stellt die sind hier in der Pflicht neben der Aus- schluss grundsätzlich nicht duldet und
sprung in der Etablierung sion und Reflexion, wie den Künsten Dekonstruktion des Rassismus mittels einandersetzung mit dem eigenen Ka- Verschiedenheit als gemeinschaftsstif-
einer Differenz, die »a prio- und den Wissenschaften. Mit Blick auf rassistischer Kategorien dar: Da die A-­ non und den tradierten Praktiken, Rah- tend versteht, was ich an anderer Stelle
ri« und somit »im Vorhinein« die Kolonialgeschichte wird eine ähn- priori-Setzung der rassistischen Dif- menbedingungen zu schaffen und Me- mithilfe von Achille Mbembes Begrif-
des Menschseins losgelöst von Erfah- liche Strategie sichtbar. Es gibt unzäh- ferenz oftmals keine vernünftige De- thoden zu erarbeiten. Dies ist ohne die fen der »Entähnlichung« und der »Sor-
rung und Wissen gesetzt wird. Auf die- lige Beispiele innerhalb der Geschichte batte zulässt  – ihre Aufhebung zähl- Einbindung des Wissens und der Exper- ge um das Offene« erörtert habe. Kunst-
se Weise sichert sich die Gruppe, welche von Rassismus, die derlei Ausschluss- te ja selbst innerhalb der Aufklärung tise von Gruppen und Ländern mit ko- schaffen und Wissenschaft werden in
diese Differenz definiert, Macht ohne strategien aufzeigen. nicht nachdrücklich zum Handlungsfeld lonialen und rassistischen Erfahrungen dieser kulturpolitischen Konzeption als
jegliche Begründung. Rassistische Dif- Sowohl in den Wissenschaften als menschlichen Denkens und Reflektie- nicht möglich. Aus kulturpolitischer Orte verstanden, in welchen vielfälti-
ferenzen stehen in der Tradition von auch den Kulturszenen sind heutzuta- rens – kann eine Dekonstruktion inner- Sicht sind internationale Kooperatio- ge Stimmen und Denkweisen mitein-
A-priori-Setzungen, die z. B. – jedoch ge nicht nur die Folgen dieser rassisti- halb dieser Logik nur über die Negation nen und Kollaborationen heutzutage ander in Austausch treten und mitein-
nicht immer – den physischen Körper schen Strategie spürbar, vielmehr hat der A-priori-­Degradierung geschehen. gefragter denn je. ander – durchaus vehement – verhan-
als vermeintliche Unterscheidungskate- delt werden. Dabei liegt der Fokus auf
gorie nutzen und alles das, was Mensch- dem Wissen, dass jedes Leben an sich
sein jenseits der mit der Geburt vorge- ein Kaleidoskop aus diversen Erfahrun-
gebenen Merkmale ausmacht – Erfah- gen, Erlebnissen und Wurzeln darstellt
rung, Wissen, Expertise, Spiritualität, und jegliche Reduktion und Katego-
sexuelle Orientierung und Geist  –, ig- risierung dieser individuellen Vielfalt
noriert. Obwohl ein vernünftiges und nicht gerecht werden kann.
kritisches Denkvermögen konträr dieser Dieser mehrgliedrige Pfad steht in
Logik gegenüberstehen müsste, wur- gewisser Weise dem oben beschriebe-
de Rassismus im Zuge der Aufklärung nen Weg der Dekonstruktion von Ras-
kaum dekonstruiert, sondern häufig ig- sismus mittels rassistischer Katego-
noriert, oftmals gar bestärkt. Kolonisie- rien konträr gegenüber, da dichotome
rung und Sklaverei ließen sich ­weniger und polare Setzungen sich aufgrund der
Vielfalt an Zugängen und Multiperspek-
tiven aufheben. Für die Umsetzung ei-

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ner Vision jenseits A-priori-Differenzen
So gehört es zu den und deren Degradierungen bedingen
dringlichsten Hand- sie jedoch einander, wobei Augenmaß
lungsfeldern, Rassis- und zugleich Weitblick der jeweiligen
verantwortlichen Kulturpolitik bei der
mus zu erkennen und Bestimmung der Route gefragt sind. Es
zu dekonstruieren wird Bereiche geben, in denen mittels
Quoten und spezifischen Förderange-
boten Stimmen, die z. B. aufgrund von
mit Vernunft, eher mit einer A-priori- Rassismus marginalisiert wurden und
Differenz begründen, auf welche die werden, laut werden sollten. An ande-
Menschheit – so das feige Argument – rer Stelle mag es sinnvoll sein, eine kul-
keinen Einfluss hat. Wer Freiheit genie- turpolitische Strategie kultureller Viel-
ßen darf, das wird innerhalb dieser ras- falt zu etablieren und Räume zu schaf-
sistischen Logik im Vorfeld der Geburt fen, in denen die Weltbürgerschaft und
bestimmt und liegt, so die bittere Fol- das Menschsein an sich und jenseits
gerung, jenseits der Entscheidungsho- von Exklusion und polarer Differenz-
heit der sonst recht klugen Gedanken- setzung, durchaus vor dem Hintergrund
welt, die in der Aufklärung vermittelt der Debatten um Nachhaltigkeit, im
wurde. Im Abendland jener Zeit breite- Mittelpunkt steht. Denn die grundle-
te sich daraufhin eine Vorstellung von gende Frage, die sich die Aufklärung
Freiheit und Gleichberechtigung aus, aufgrund ihrer Abhängigkeiten von Po-
die nur einem kleinen Teil der Mensch- litik, bürgerlichen Financiers, Kirchen
heit zugestanden wurde. Neben dieser und Adel kaum öffentlich zu stellen ge-
fatalen Ignoranz der federführenden Kniefall gegen Rassismus einiger Spieler der Mannschaft Bayer 04 Leverkusen wagt hat, wie alle Menschen mit ihren
Diskurse in Europa sind die treibenden vielfältigen Erfahrungen und Verortun-
Kräfte des Rassismus die zunehmen- sie ihre Wirkungsmacht längst nicht Das hat jedoch zur Folge, dass rassisti- Die gegenwärtig angespannte und teil- gen in Zukunft friedlich und respekt-
de Weltwirtschaft, welche mithilfe der eingebüßt: Der wissenschaftliche Ka- sche Kategorien, Zuschreibungen und weise recht aufgeladene Stimmung ver- voll miteinander leben können, muss
A-priori-­Differenz seit Jahrhunderten non bevorzugt westliche Sprachen und Reduktionen abermals zum Zuge kom- deutlicht nicht nur die Dringlichkeit, in den Räumen von Kultur und Wissen-
schonungslos auf billige Arbeitskräf- Wissenschaftsformen und deren Argu- men, jedoch mit dem Unterschied, Stra- sondern die Spannungsfelder dieser De- schaft debattiert werden. Nur sie kann
te zurückgreift und koloniale Plünde- mentationen und verschließt sich an- tegien des Em­powerments von Grup- konstruktionsprozesse, da sie auf al- zum Ziel einer friedlichen Weltgemein-
rungsstrategien durchsetzt; doch eben- deren Denkweisen. Mit Blick auf die pen zu fördern, die rassistisch degradiert len Seiten Wandlungs- und Aushand- schaft führen, indem sie diese als Vision
so die christlichen Kirchen, welche in Kulturszenen wird sichtbar, dass viele werden und wurden. Auf diese Weise er- lungsprozesse einfordern. Es ist offen- benennt. In gegenwärtigen Zeiten mag
der Mission weniger Nächstenliebe Gruppen und ihre Themen immer noch halten diese bewusst einen exklusiven sichtlich, dass der Versuch, das Apriori ein Weltfrieden kaum vorstellbar, sogar
und Toleranz denn die Vormachtstel- nicht Bestandteil künstlerischen Aus- Zugang zu den Gestaltungsräumen der des Rassismus als menschenverach- anmaßend sein. Doch bieten Räume der
lung eigener Interessen und Weltbil- drucks an hiesigen Institutionen sind. Diskurshoheit, der aufgrund rassisti- tend zu markieren und somit auszu- Künste die Möglichkeit, Visionen ei-
der stärkten. Betrachten wir den Umgang mit Objek- scher Erfahrungen begründet wird. Kul- nen Raum zu geben, Prozedere durch-
Perfide erscheint im Rückblick auch ten, die in kolonialem Gebaren Einzug turpolitische Strategien setzen hier z. B. zuspielen und Ver- und Aushandlun-
der Gestus, mit welchem die Hierar- in Museen hierzulande gehalten ha- im Bereich der Einführung von Quoten Kultur­, Bildungsinsti- gen jenseits politischer Begrenzungen
chisierung von A-priori-Differenzen ben, wird deutlich, dass der jeweilige bei Besetzungen von Jurys, Stellen und tutionen und Kirchen zu führen. Der Artikel 5, Absatz 3 des
auf vermeintlich »natürlichen« Ebe- kulturelle präkoloniale Kontext eben- der Vergabe von Förderungen und der waren und sind Orte Grundgesetzes ist hierfür grundlegend,
nen vollzogen wurde, ihre Motivation falls negiert und ausgeschlossen wird, bewussten Schaffung von Kunsträumen denn er ermöglicht und schützt die für
sich jedoch allein (kultur-)politisch be- gleichsam die eigentliche Bestimmung an, in denen in erster Linie Menschen der Praxis kolonia- die Debatte so wichtigen Frei- und Ge-
gründet. Um der »Natürlichkeit« einer des Werks. Beides wird als Differenz ge- mit Rassismuserfahrungen arbeiten ler und rassistischer staltungsräume. Er sollte nicht nur von
Degradierung Wirkungsmacht zu ver- mäß kolonialen und rassistischen Kate- können. Allerdings verdeutlichen die Einschreibung den Künsten, den Wissenschaften und
leihen, wurde die A-priori-Differenz er- gorien degradiert und so im doppelten postkolonialen Geschichten der letz- dem Feuilleton bewusst akzeptiert und
funden, welche nicht nur – wie gezeigt  – Hegelschen Sinne aufgehoben: Die ko- ten Jahrzehnte in vielen Ländern Afri- nachdrücklich beherzigt, sondern von
Menschen im Vorfeld klassifiziert und loniale Narration samt ihrer Exotismen kas, dass dieser Weg schmerzvolle Er- schließen, ein großes Maß an Beson- der Kulturpolitik weitblickend ernst ge-
hierarchisiert, sondern auch deren Aus- und Rassismen wird in der Deutung der innerungen und Traumata hervorrufen nenheit einfordert, um die Vision ei- nommen werden. Visionäre Denk- und
schluss aus den Räumen von Wissen- Museen zementiert und aufbewahrt; und rassistische Kategorien reproduzie- ner Gemeinschaft zu ermöglichen, die Handlungsräume zu ermöglichen, zu
schaft und Kultur kulturell und wissen- geschützt und gesichert vor weiteren ren und auf diese Weise Menschen wei- alle Menschen in ihrer jeweiligen Si- welchen die Vielfalt der Gesellschaft
schaftlich legitimiert. Interpretationen, Umgangsweisen und terhin stigmatisieren kann. tuation, Perspektive und Geschichte nachdrücklich Zugang erhält und in
Dieses kulturpolitische Vorgehen hat Narrativen jenseits der über Jahrhun- Der Weg der Dekonstruktion von begegnen kann, ohne mithilfe polarer dem so etablierten Gestus von Mul-
im Verlauf der Geschichte eine Vielzahl derte in kolonialer Manier etablierten Rassismus durch die Sichtbarmachung Taktiken, die »einen« gegen die »an- tiperspektivität und Verschiedenheit
an Gruppen heimgesucht. So ist all- Stimmen des akademischen Diskurses und Reflexion rassistischer Wirkungs- deren« auszuspielen. Nelson Mandela A-priori-Differenzen keine Wirkungs-
seits bekannt, dass in der europäischen und des Feuilletons. weisen geht zwangsläufig mit Aufar- hat in Südafrika mit dem Bild der Re- macht entfalten können, sind wichti-
bzw. westlich-kolonialen Geschichte So gehört es zu den gegenwär- beitung der Geschichte der Instituti- genbogennation eine Vision von Viel- ger denn je.
z. B. Frauen und People of Color die Fä- tig dringlichsten kulturpolitischen onen von Kultur, Politik, Bildung und falt geschaffen, die zu vielen Erfolgen
higkeit wissenschaftlichen Arbeitens und kulturpolitikwissenschaftlichen Kirche einher. Kultur-, Bildungsinsti- geführt hat, sich jedoch nicht in Gänze Julius Heinicke ist Professor für
aberkannt und ihnen schlichtweg der Handlungsfeldern, Rassismus in sei- tutionen und Kirchen waren und sind durchsetzen konnten, da einflussreiche Kulturpolitik, Inhaber des UNESCO-
Zugang zu akademischen Räumen ver- ner Komplexität zu erkennen und zu immer noch Orte der Praxis kolonialer wirtschaftliche und politische Eliten Lehrstuhls »Kulturpolitik für die
wehrt wurde. Der Ausschluss von den dekons­truieren. Aufgrund der perfiden und rassistischer Einschreibung und diesen Wandlungsprozess nicht mitge- Künste in Entwicklungsprozessen«
entscheidenden Sphären der Reflexion Grundstruktur werden unterschiedli- Selbstvergewisserung. Letztlich muss gangen sind. Neben der Reflexion und und geschäftsführender Direktor des
und des Diskurses, den Akademien und che Wege eingeschlagen, die sich we- sich jede Institution samt ihren Prak- Thematisierung von Rassismus, Apart- Instituts für Kulturpolitik an der
Kulturinstitutionen, untermauert so die der ausschließen noch gegeneinan- tiken der Reflexion der eigenen ras- heid und Kolonialismus setzte Mande- Universität Hildesheim
Politik & Kultur | Nr. 7-8 / 22 | Juli /August 2022
RASSISMUS 25

Aus der Mitte


der Vielfalt

  F OTO: PICTURE ALLIANCE / GEISLER-FOTOPRESS | CHRISTOPH HARDT/


Der Comedian Khalid Bounouar im Gespräch
In der deutschen Comedy ist das En- nicht mehr der Stand-up-Comedian.
semble RebellComedy eine feste Größe. Wenn du Musik machst als Stand-up-
Khalid Bounouar ist seit vielen Jahren Comedian, dann wird das als Musik
festes Mitglied und prägt mit seinem wahrgenommen. Wenn du ein Buch
pointierten Stand-up nicht nur Re- schreibst als Stand-up-Comedian,
bellComedy, sondern auch die gesam- dann bist du der Autor dieses Buches.
te Comedy-Landschaft in Deutschland. Das ist eine Sache, die wir in den USA

GEISLER-FOTOPRES
Theresa Brüheim spricht am ­Rande der schon seit zig Jahren so sehen. Jim
Jahrestagung der Initiative kulturelle Carrey, Jamie Foxx, Chris Rock, Ke-
Integration zum Thema »Zusammen- vin James … Das sind alles Stand-up-
halt gegen Rassismus« mit ihm über Comedians, die auch als Schauspieler
seinen Weg zur Comedy, die Entwick- wahrgenommen werden. Ein Graffiti an der Außenseite des Autonomen Zentrums Köln erinnert an den Anschlag von Hanau
lung von Ethno-Comedy zu Stand-up
und Rassismus in der deutschen Co- Woran liegt es, dass das so anders Wir sind heute auf der Jahresta- Sie sind seit über zehn Jahren im sam mit den anderen Comedians, die
medy-Branche. wahrgenommen wird? gung der Initiative kulturelle Inte- Kulturbereich tätig. Welche Ent- in den zugehörigen Videos vorkom-
Der Comedian darf einfach mehr. Man gration zum Thema »Zusammen- wicklungen haben Sie in der Zeit men –, der das nicht versteht. Wir
Theresa Brüheim: Seit der Kindheit erlaubt ihm mehr als jemand anderem. halt gegen Rassismus«. Seit vielen beobachtet? verstehen diesen Aktivistenjargon
stehen Sie auf der Bühne. Zuerst Jahren sind Sie Teil des Kultur­ Es hat sich von starker Ethno-Come- nicht. Und deshalb brauchen wir Leu-
waren es Tanz, Theater, Musik, Po- Sie sind Teil von RebellComedy. bereichs in Deutschland. Wie ist es dy zu echter Stand-up-Comedy ent- te in der Sendung, die uns das näher-
esie. Später kam Comedy dazu. Wie Was macht RebellComedy aus, was Ihres Erachtens um Rassismus in wickelt. Diese Ethno-Comedy war bringen können. Daher habe ich sehr
haben Sie den Weg in die Stand- ist das Besondere? diesem Bereich bestellt? aber nötig, damit überhaupt eine Tür viel daraus gelernt und ich habe viele
up-Comedy gefunden? RebellComedy macht vor allem aus, Leider wird auch der Kulturbereich aufgemacht werden konnte. Bevor es Leute aus dieser Szene kennengelernt.
Khalid Bounouar: Stand-up-Come- dass wir Kinder der gleichen Kultur immer noch sehr stark von Rassis- RebellComedy gab, war es eben nur Als Comedian habe ich sonst kei-
dy kam sehr spontan. R ­ ebellComedy sind. Und damit ist nicht geografi- mus beherrscht. In der Veranstal- Ethno-Comedy, wenn der Comedi- ne Berührung mit bzw. keinen Kon-
kannte ich, da mein Bruder mit ih- sche Kultur gemeint, sondern es geht tungsbranche und in der Kabarett- an einen Migrationshintergrund hat- takt zu Aktivisten. Und wie gesagt, als
nen gearbeitet hat, und auch weitere eher um demografische Kultur. Also szene werden die großen Agenturen te. Zu Beginn konnten kaum Leute Comedian auf der Bühne erlaubst du
Freunde hatten damit zu tun. Einmal um die MTV-Kultur, Hip-Hop-Kultur, von weißen Strukturen geleitet. Das mit Migrationshintergrund darüber dir ein bisschen mehr. Und auf ein-
wurde das Mikrofon durchgegeben Pop-Kultur. Wir teilen das. Wir haben führt natürlich dazu, dass, wenn mal lachen. Denn es diente eher zur Be- mal merkst du, wie Leute extrem auf
und ich habe spontan aus dem Pub- z. B. einen ähnlichen Geschmack, was einer eingeladen wird, der einen »Mi- lustigung anderer. Als dann Rebell­ etwas, z. B. auf Sprache, achten. Und
likum heraus eine wahre Geschich- Filme oder Musik angeht. Das verbin- grationshintergrund« hat, er dann Comedy begann, lachten die Come- das ist auch sehr interessant zu sehen.
te erzählt. Das fanden die gut. So gut, det uns. Und wir haben ein gleiches der Token ist. Das erleben wir immer dians vor allem über sich selbst und Da kann man noch viel voneinander
dass, als kurz darauf einer ausgefal- Verständnis von Respekt, Toleranz wieder. Es ist auch schon vorgekom- ihre Erfahrungen. Diese Selbstiro- lernen. Man kann den Wandel unserer
len ist, ich gefragt wurde, ob ich Lust und Vielfalt. men, dass wir zu einer Show eingela- nie führte dazu, dass viele sich da- Sprache natürlich auch auf die Büh-
habe, auf die Bühne zu gehen. Das den werden und plötzlich ein ande- mit identifizieren konnten und somit ne bringen und so zeigen, was da ge-
habe ich gemacht. Seitdem bin ich Wofür steht das Comedy-Ensemble? rer Comedian ausfällt. Dann schla- drüber lachen konnten. Jahre später rade passiert.
Stand-up-Comedian – und ich RebellComedy steht für Vielfalt. gen wir einen Comedian als Ersatz gelangte diese Art von Comedy mehr
mache nur noch das. Wenn man bei uns in der Show sitzt, vor, aber dann lautete auch schon in den Mainstream und wurde somit Zum Schluss: Was muss jetzt in un-
dann lacht man erst mal über sich, mal die Antwort: »Nein, nein, einer populärer und generell als Stand-up- serer Gesellschaft passieren gegen
Was ist für Sie das Besondere dann noch über jeden anderen und von euch reicht.« Dann wird immer Comedy wahrgenommen. Es ist egal, Diskriminierung und Rassismus?
an dieser künstlerischen Aus- schlussendlich lacht man auch ge- versucht zu begründen, dass gemeint ob das jetzt was mit Kultur oder mit Ich erhoffe mir, dass die Entschei-
drucksform? meinsam. sei, einer von RebellComedy würde Ethno zu tun hat. Es ist einfach nur dungsträger in diesen Strukturen
Bei Stand-up-Comedy ist das Schö- reichen. Aber wir wissen genau, was Stand-up. endlich mal den Stuhl abgeben und
ne, dass du ein breitgefächertes Spek- Welche Rolle spielt dieses Selbst- sie wirklich meinen. Das ist in diesen mal Leute da sitzen lassen, die entwe-
trum hast. Du kannst viel machen. verständnis für Ihre Comedy? Agenturstrukturen leider immer noch Im letzten Jahr haben Sie die WDR- der vielfältiger denken oder sogar aus
Du bist der Stand-up-Comedian, der Es ist so selbstverständlich, dass wir gang und gäbe. Und es ist leider auch Talkshow »Wie redest du?« mode- der Mitte der Vielfalt kommen. Diese
das alles darf. Wenn du hingegen z. B. nicht mehr so sehr darauf achten. Es immer noch so, dass sie dann versu- riert. Thema war der Umgang mit Leute müssen dahin, und sie müssen
Schauspieler im deutschen Fernse- passiert natürlich. Und dann, in dem chen, den Comedian oder die Come- Diskriminierung und Rassismus im die Entscheidungsträger sein.
hen bist und dann anfängst, Musik Prozess des natürlichen Passierens, dienne mit Migrationshintergrund Alltag. Insbesondere die Sprache,
zu machen, dann bist du auf einmal fangen wir an, drauf zu achten. Also zu nehmen, die das auch ausspie- die deutlich macht, wie verwurzelt Vielen Dank.
der Schauspieler, der Musik macht. dann ist es eher so: Mir ist etwas pas- len, also die voll auf Ethno gehen und Rassismus in der Gesellschaft ist,
Wenn du aber Stand-up-Comedian siert, ich erzähle es, es ist eine natür- sich darüber lustig machen. Oft ist es stand im Fokus. Was haben Sie aus Khalid Bounouar ist Stand-up-Come-
bist, dann ist es erstaunlicherweise liche Story und dann merke ich: Das heute auch so, dass der eigene Kul- der Sendung mitgenommen? dian und Ensemblemitglied von Rebell-
so, dass, wenn du in einem Film mit- ist voll das Thema. Das müssen wir turkreis dann nichts mehr damit zu Ich habe sehr viel gelernt. In der Sen- Comedy. Theresa Brüheim ist Chefin
spielst, du Schauspieler bist – und ansprechen. tun haben will. dung bin ich ja derjenige – gemein- vom Dienst von Politik & Kultur

Toleranz fördern
Welche Ziele verfolgt die Schwarze den Diskurs auf internationaler Ebe- lungen und Äußerungen sollten im Ar-
Akademie mit ihrer Arbeit? ne zu diversifizieren, um eine integra- beitsumfeld benannt und als solches
Die Schwarze Akademie hat sich für tive und gerechtere Welt zu schaffen. behandelt werden können.
das Jahr 2022 folgende vier Schwer- Die Schwarze Akademie soll auch eine
Fünf Fragen an: Die Schwarze Akademie punkte definiert: Empowerment von Vernetzungsplattform für Schwarze Was fordert die Schwarze Akade-
Schwarzen Menschen in verschiede- Menschen weltweit sein und sie durch mie diesbezüglich?
Seit Februar dieses Jahres bietet die ziert. Besondere Partnerinstitution nen Bereichen; Dekolonialisierung eine Art »affirmative Action« mitein- Der Beitrag der Schwarzen Akademie
Schwarze Akademie eine Plattform für im Rahmen dieses Projektes ist das des Internets; Sichtbarkeit des Wis- ander zu verbinden. ist hier ein wenig anders. Wir fordern
internationale kulturelle Bildung aus af- Zen­trum für Internationale Kulturelle sens, der innovativen Initiativen und nichts. Wir wollen Wissen und Ideen
rikanischer Perspektive. Menschen af- Bildung des Goethe-Instituts Mann- der Expertise Schwarzer Menschen Wie kann Rassismus, von dem Schwarzen Menschen, insbesondere
rikanischer Abstammung sind beson- heim durch die Finanzierung und die durch Workshops und Konferenzen besonders häufig Schwarze Men- Menschen aus dem Afrikanischen Kon-
ders häufig Rassismus, Vorurteilen und Begleitung der Etablierung in Benin, zu schaffen und Schwarze Menschen schen betroffen sind, weiter tinent, sichtbar machen. Wir analysie-
Diskriminierung ausgesetzt. Das inter- Togo und Kamerun. als Experten zu bestimmten Themen bekämpft werden? ren gegenwärtige globale Krisen aus
nationale Team stärkt die Sichtbarkeit In Anlehnung an die reduktionis- einzuladen, um diese mit der brei- Auf der individuellen Ebene ist zu- der Perspektive Schwarzer Menschen.
der Fähigkeiten und Perspektiven von tische Betrachtung, der Menschen ten Öffentlichkeit zu teilen; Einsatz nächst eine Selbstreflexion zur Positi- Dies sollte dazu beitragen, die Komple-
Menschen mit afrikanischem Hinter- schwarzer Identität auf allen Kon- bei den politischen Behörden für kon- onierung bezüglich der kolonialen und xität der Welt auch mit anderen Welt-
grund. Politik & Kultur fragt weiter nach. tinenten zum Opfer fallen, ist die krete Maßnahmen zur vollen Wahr- rassistischen Ideologien nötig. Man sichten erklären zu lassen und somit
Schwarze Akademie ein Raum, der nehmung der bürgerlichen, politi- kann in der Tat die eigenen ­Vorurteile Verständnis und Toleranz zu fördern.
Was ist die Schwarze Akademie darauf abzielt, das Bild Schwarzer schen, wirtschaftlichen und kulturel- dekonstruieren, indem man sich in-
und wie kam es zur Gründung? Menschen in den Medien, in den Köp- len Rechte Schwarzer Menschen. formiert und die rassistische Prä- Fabrice Banon ist Dozent an der
Die Schwarze Akademie ist eine Initi- fen, in den Räumen der Debatte und gung der eigenen Sozialisation reflek- EAMAU – École Africaine des Métiers
ative, als Zentrum für internationale der Diskussion, in denen sie nur sehr Was tut die Schwarze Akademie, tiert. Gesamtgesellschaftlich müssen de l’Architecture et de l’Urbanisme,
Kulturelle Bildung in Mannheim, von wenig oder gar nicht vertreten sind, um diese Ziele bzw. Schwerpunkte wir ­dafür sorgen, dass niemand sich Entwicklungsberater und Mitbegrün-
MeineWelt und Place for Africa. Die neu zu positionieren. Ziel ist es nicht, umzusetzen? aufgrund der Herkunft oder dem kul- der der Vereine MeineWelt und Place.
beiden Organisationen setzen sich für diese Ereignisse zu leugnen, sondern Workshops, Seminare, Konferen- turellen oder religiösen Hintergrund Castello Sèmèvo ZODO ist Aktivist
kritische macht- und entwicklungs- die Entstehung der reduzierten Bil- zen, Empowerment-Räume und Aus- ausgeschlossen fühlt. Unsere Gesell- und verantwortlich für die Öffentlich-
politische Bildungsarbeit ein. Das der aufzuzeigen und zu dekonstru- tauschprogramme werden zwischen schaften können auch dem strukturel- keitsarbeit von Place for Africa und
Projekt wird von der Stadt Mannheim ieren, indem die Fähigkeiten, Inno- Benin, Kamerun, Togo, Deutsch- len Rassismus entgegenwirken. Hierzu der Schwarzen Akademie. Ngo Maï
im Rahmen des Aktionsfonds »Zivil- vationen und das Wissen Schwarzer land und vielen anderen Ländern auf müssen Möglichkeiten für juristische Kibassahak Cécile Latrinité ist Berate-
gesellschaftliches Engagement ge- Menschen und ihr Beitrag zur Ent- der ganzen Welt im digitalen und Vorgehen, auch gegen Verantwortli- rin im Bereich Gender und nachhaltige
gen Rechtsradikalismus, Antisemi- wicklung von Gesellschaften hervor- im Face-to-Face-Format organisiert. che in Behörden sowie Unternehmen, Entwicklung sowie Prozessbegleiterin
tismus und Antiziganismus« finan- gehoben werden. Dies wird langfristig dazu beitragen, ­geschaffen werden. Rassistische Hand- für Dekolonisierung
26 RASSISMUS www.politikundkultur.net

»Rassismus im Internet ist für


den. Das Internet ist kein rechtsfrei-
er Raum, es darf aber auch kein recht-
durchsetzungsfreier Raum sein. Da

die Opfer viel größerer Stress«


gibt es noch Verbesserungspotenzia-
le. Deswegen bemüht sich die Polizei
vermehrt, auch in der digitalen Welt
präsent zu sein, um selbst Fälle auf-
zudecken. Dafür müssen Digitalstra-
Der Kriminalpsychologe Jan-Gerrit Keil im Gespräch tegien entwickelt werden und es muss
sich die Polizeiausbildung anpassen,
Was tun gegen Hassrede im Netz? Lud- Welche Ansätze verfolgt die mittelt. Mit dem Zivile-Helden-Portal Teil verrohte Umgangsformen eta- um die Kompetenz im Bereich der
wig Greven spricht mit dem Kriminal- Polizei bei der Bekämpfung von konnten wir unter zivile-­helden.de bliert, die sich Menschen in analo- ­Cyberkriminalität insgesamt zu stei-
psychologen Jan-Gerrit Keil über den Hasskriminalität im Netz? eine Reichweite von bis zu 2,3 Millio- gen Situationen niemals gefallen las- gern. »Digitale Streifen« können je-
Einsatz der Polizei gegen Diskriminie- Wie sonst auch gliedert sich das in die nen Kontakten erreichen. Die Univer- sen würden, die sie im Internet aber doch wie im echten Leben die Lücke
rungen in den sozialen Medien, über zwei großen Bereiche Prävention und sität Hannover hat das Projekt evalu- als vermeintlich unvermeidlich und zwischen Hell- und Dunkelfeld nie-
das Präventionsprojekt »Zivile Helden« Repression. Anders als die Strafverfol- iert, begleitet und konnte eine nach- normal in Kauf nehmen. Ein zusätz- mals vollkommen schließen. Eine ef-
und die Aufgabe der Kultur- und Bil- gung, die allein Sache der Polizei und haltige präventive Wirksamkeit der liches Problem bei der Verfolgung ist fektive Bekämpfung von Rassismus
dungseinrichtungen im Kampf gegen Staatsanwaltschaft ist, muss die Prä- Videos in der relevanten jugendli- die schon angesprochene Anonymi- im Netz erfordert daher immer auch
Rassismus. vention als gesamtgesellschaftliche chen Zielgruppe nachweisen. Bei den tät vieler Täter. Die gesetzlichen Re- die medienpädagogische Arbeit der
Aufgabe auch von anderen Akteuren 30. Internationalen Wirtschaftsfilm- gelungen im Zusammenhang mit der Kultur- und Bildungseinrichtungen
Ludwig Greven: Was kennzeichnet wie den Schulen, Sport, Kirchen, Kul- tagen wurde der Aufklärungsfilm Änderung des Netzwerkdurchset- sowie einen professionellen, länder-
Rassismus in den sozialen Medien? tur und Politik wahrgenommen wer- »Chris & Lea« über antisemitische zungsgesetzes sollten die Situation übergreifenden Umgang mit krimino-
Jan-Gerrit Keil: In erster Linie han- den. Trotzdem genießt die Polizei als Verschwörungsmythen ausgezeich- seit Februar verbessern, stellen aber genen Inhalten seitens der Internet-
delt es sich um Hasskriminalität bzw. normverdeutlichende Institution ins- net. Bei aller gerechtfertigter Kri- immer noch ein Problem dar, weil na- wirtschaft und der Anbieter von sozi-
die im englischsprachigen Raum als besondere bei Kindern und Jugendli- tik, dass die Polizei immer noch mehr tionales Recht auf weltweit agierende alen Diensten und der Plattformen.
»Hate Crime« klassifizierten Delikte: chen nach wie vor ein hohes Ansehen. machen könnte und sollte, kann man Firmen mit Servern im Ausland anzu-
Kommentare oder Posts – das können Gerade in den Zeiten von Fake-News- also feststellen, dass es ihr gelungen wenden ist. So hat Facebook in Euro- Die Plattformbetreiber sträuben
auch Filme, Bilder, Memes oder Lieder Debatten und Medienskepsis werden ist, hier ein jugendgerechtes digitales pa z. B. seinen Sitz in Irland und muss sich jedoch gegen eine Regulie-
sein –, die rassistische Äußerungen die Accounts der polizeilichen Pres- Präventionsangebot auf die Beine zu nach den dort geltenden Regeln rung und wollen selbst entscheiden,
oder Darstellungen enthalten. Viel- welche Inhalte sie löschen. Welche
fach ergeben sich dabei inhaltliche konkreten Ansätze sehen Sie da?
Überschneidungen mit der rechtsex- Hier ist als Strategie das sogenann-
tremistischen Szene oder dem poli- te »Deplatforming« zu nennen, bei
tischen Rechtspopulismus. Es finden dem die Internetanbieter bestimmte
sich aber auch rassistische oder an- rechtsextremistische Angebote oder
tisemitische Kommentare, die nicht rassistische Kanäle dauerhaft sperren
eindeutig einer politisch extremisti- und von ihren Plattformen verban-
schen Richtung oder e ­ iner fundamen- nen. Dies kann auf Hinweis der Poli-
talistischen Religionsauslegung zu- zei, häufiger aber auch von Nutzern
zuordnen sind. Die Aussagen spie- über die Beschwerdetools der Firmen
geln dann entweder alltagsrassisti- sowie durch die eigenen Algorithmen,
sche Ressentiments wider oder haben manuelle Qualitätskontrolle und KI-
ihren Ursprung vordergründig mehr Systeme der Firmen selbst geschehen.
in frauenfeindlichen, verschwörungs- Dabei können die eigenen Löschungs-
theoretischen oder esoterischen Mi- regeln der Internetanbieter zum Teil
lieus. Diese Milieus sind wiederum auch strenger oder anderslautend als
häufig mit Versatzstücken rechtsext- die Strafrechtsnorm sein.
remistischer Ideologie verwoben.
Welche Strafen drohen bei rassis-
Schwieriger wird es aus polizeili- tisch motivierten Äußerungen in
cher Sicht sicherlich, wenn Beiträ- den sozialen Medien?
ge nicht so eindeutig sind. Bei Volksverhetzung drohen Freiheits-
Natürlich gibt es im Netz auch su- strafen zwischen drei Monaten und
blimere Formen von strukturellem fünf Jahren, bei Beleidigung und Be-
Rassismus. So werden in der Wer- drohung bis zu zwei bzw. drei Jahre –
bung und durch Influencerinnen be- vorausgesetzt, die Täter können ermit-
stimmte Schönheitsideale protegiert. telt werden. Während Volksverhetzung
Schwarzen Menschen werden Bleich- die Störung des öffentlichen Friedens
cremes zur vermeintlichen Verbesse- voraussetzt, kommen Beleidigungen
rung der Jobchancen angeboten. Al- und Bedrohungen auch im privaten
gorithmen reproduzieren bestehen- Rahmen vor. Bei beiden Delikten wirkt
de Machtverhältnisse und bieten sich die Ausführung in der Öffentlich-
Schwarzen Menschen systematisch keit strafverschärfend aus. In den so-
Anzeigen für Jobs im Dienstleistungs- zialen Medien kann davon im Regel-
gewerbe statt Stellen im höheren Ma- fall ausgegangen werden, sodass hier
nagement an. Das muss jedoch mit die höheren Strafmaße in Betracht ge-
den Mitteln der Kultur- und Bildungs- zogen werden müssen. Vermutlich ist
FOTO: PICTURE ALLIANCE / ZUMAPRESS.COM | DOMINIC GWINN

politik angegangen werden. nicht jedem bei der Strafbegehung aus


dem Wohnzimmer, am Handy oder
Was unterscheidet Rassismus im Laptop bewusst, dass er oder sie in ei-
öffentlichen Raum von Rassismus nem öffentlichen Raum agiert. Es fin-
im Netz? den sich aber auch gezielt verbreitete
Die wesentlichen Unterschiede be- Propagandastraftaten, bei denen deut-
stehen in der Anonymität der Tä- lich erkennbar ist, dass sie von Anfang
ter, der theoretisch unendlichen Öf- an auf die Erreichung eines möglichst
fentlichkeit und der Dauerhaftigkeit. großen Pub­likums angelegt sind. Die
Eine verbale Diskriminierung an ei- vorhandenen gesetzlichen Möglich-
ner Supermarktkasse wird nur von keiten müssen ausgeschöpft werden,
der umstehenden Handvoll Leuten damit sich die Täter ihrer Sache nie-
wahrgenommen und gerät schnell in mals sicher sein können. Deshalb ist
Vergessenheit. Zudem kann die verur- es auch wichtig, dass darüber berichtet
sachende Person unmittelbar festge- wird, wenn sie z. B. Politikerinnen und
stellt werden, was dem Opfer besse- Im März 2021 demonstrieren Menschen gegen Rassismus und Gewalt gegen asiatische Amerikaner in Chicagos Politiker mit strafrelevanten Hass-
re Handlungsoptionen für Gegenmaß- Logan Square-Viertel kommentaren belegen, und dass sie
nahmen ermöglicht. Eine rassistische dafür zur Verantwortung gezogen wer-
Diffamierung in den sozialen Medien seportale als hochgradig glaubwür- stellen, welches auf der Höhe der Zeit reguliert werden. Dem möchte die den. Wegen der abschreckenden Wir-
wird dagegen häufig aus dem Schutz dig angenommen, wodurch die An- ist und die Probleme von Hasskrimi- EU mit dem Digital Services Act kung, aber auch damit die Opfer erfah-
der Anonymität heraus begangen, sie sprüche und Erwartungen an digita- nalität im Netz ernst nimmt. ­begegnen, der vom EU-Parlament ren, dass sie nicht hilflos ausgeliefert
ist potenziell einem weltweit riesigen, le polizeiliche Pressearbeit deutlich ­bereits beschlossen wurde und kurz sind und sie sich mit den Mitteln des
ebenfalls größtenteils anonymen Pub- gestiegen sind. Speziell für die jun- Wie stark werden Hassvergehen vor der endgültigen Verabschiedung Gesetzes zur Wehr setzen können.
likum zugänglich und bleibt durch Tei- ge Zielgruppe wurden im Rahmen des und Rassismus im Netz inzwischen steht. Dann sollten sich die Strafver-
len, Liken und Weiterversenden mit Zivile-­Helden-Projektes der polizei- gemeldet und verfolgt? folgungsmöglichkeiten zumindest Vielen Dank.
ihrer hässlichen Botschaft über einen lichen Kriminalprävention des Bun- Es ist davon auszugehen, dass die po- EU-weit verbessern.
sehr langen Zeitraum bestehen. Die- des und der Länder interaktive Videos lizeilich gemeldeten Fälle nur die Jan-Gerrit Keil arbeitet als Kriminal-
se drei Faktoren führen dazu, dass der entwickelt, durch die sich die Nutzer Spitze des Eisbergs darstellen. Nicht Welche Möglichkeiten gibt es psychologe beim Staatsschutz des
psychische und soziale Stress von In- durchklicken und dadurch den Verlauf jede Straftat kommt zur Anzeige. Dies sonst noch, den Verfolgungsdruck Landeskriminalamts Brandenburg und
ternetrassismus um ein Vielfaches po- der Geschichten selbst mitbestimmen gilt aber in ähnlicher Form auch für zu erhöhen? ist Mitglied des Projekts »Zivile
tenziert ist, weil sich Handlungskon- können. Dabei werden spielerisch rassistische Beleidigungen und Be- Bislang kann die Polizei überwiegend Helden« der polizeilichen Kriminal-
trolle und Schutz für die Opfer viel Lerninhalte über Extremismus, Radi- drohungen im analogen Alltag. Da­ nur diejenigen rassistischen Straf- prävention des Bundes und der Länder.
schwieriger herstellen lässt. kalisierung und »Hate Speech« ver- rüber hinaus haben sich im Netz zum taten verfolgen, die angezeigt wer- Ludwig Greven ist freier Journalist
Politik & Kultur | Nr. 7-8 / 22 | Juli /August 2022
RASSISMUS 27

Die Diskriminierungsmuster setzen


sich im digitalen Raum fort
Drei Fragen an HateAid Fällen die ­Kosten für eine anwaltli-
che Beratung und Vertretung. Hier-
Was tun bei Rassismus im Netz? Eine zu kooperieren wir mit spezialisierten
Möglichkeit ist es, sich direkt an Hate- Kanzleien.
Aid zu wenden. Dort wird Betroffenen
digitaler Gewalt ein kostenloses Bera- Was ist zu tun, um Rassismus
tungsangebot und Prozesskostenfinan- auch in digitalen Räumen zu be-
zierung angeboten. Dabei hilft HateAid kämpfen und vorzubeugen? Was
allen, die selbst keinen Hass verbreiten. fordert HateAid diesbezüglich
von der Politik?
HateAid hilft bei digitaler Gewalt. Das Internet ist längst zu einem der
Was kennzeichnet insbesondere wichtigsten Debattenräume unserer
Rassismus in den sozialen Medien? Zeit geworden. Wir dürfen nicht zu-
Digitale Gewalt kann jeden Menschen lassen, dass Menschen dort systema-
treffen, aber sie trifft nicht alle gleich. tisch ausgegrenzt und diskriminiert
Wir beobachten in unserer Bera- werden. Es braucht unter anderem
tung, dass sich Diskriminierungsmus- konsequente Strafverfolgung im Netz,
ter auch im digitalen Raum fortset- damit potenzielle Täterinnen und Tä-
zen. Das bedeutet: Menschen, die be- ter abgeschreckt werden. Noch immer
reits im analogen Leben rassistischer berichten uns Betroffene in der Bera-
Gewalt und Ausgrenzung ausgesetzt tung davon, dass sie bei Polizeidienst-
sind, erleben dasselbe oft auch on- stellen nicht ernst genommen wur-
line. In einer repräsentativen bundes- den. Verfahren werden bei den Staats-
weiten Untersuchung des Instituts für anwaltschaften gerade im Bereich der
Demokratie und Zivilgesellschaft in Beleidigungsdelikte viel zu oft einge-
Jena von 2019 gaben mehr als 90 Pro- stellt. Deshalb sind Schulungen, eine
zent der Befragten, die schon ein- generelle Sensibilisierung von Justiz
mal Hass im Netz beobachtet haben, und Strafverfolgungsbehörden für di-
an, dass sich dieser gegen Menschen gitale Gewalt, aber auch Aufstockung
mit Migrationshintergrund, Musli- des Personals wichtig. Außerdem
minnen und Muslime oder geflüch- braucht es gesetzliche Rahmenbedin-
tete Menschen gerichtet habe. Man gungen, um Täterinnen und Täter zu-
muss also leider sagen: Entwürdigen- verlässig identifizieren zu können,
de rassistische Äußerungen und An- damit klar ist, dass Straftaten im Netz
griffe haben Hochkonjunktur im Netz. auch Konsequenzen haben. Die Po-
Manche fantasieren da gar von einem litik muss sich dafür einsetzen, dass
Tag  X, an dem endlich einmal Schluss Social-Media-Plattformen endlich si-
sei und man zu den Waffen greifen cherere Orte werden. Das heißt, dass
würde. Da werden dann auch Geflüch- die Plattformen Maßnahmen ergrei-
tete mit Parasiten verglichen und hier fen müssen, um Menschen zu schüt-
aufgewachsene Menschen unter Dro- zen. Da geht es z. B. um die s­ chnelle
hungen dazu aufgefordert, doch »da- und zuverlässige Entfernung von il-
hin zurückzugehen, wo sie hergekom- legalen Inhalten und Fake ­Accounts.
men sind«. Und manchmal wird die In den nächsten Jahren wird es da-
FOTO: PICTURE ALLIANCE / HANS LUCAS | XOSE BOUZAS

Gewalt auch sehr konkret – z. B. dann, bei außerdem auf die Umsetzung und
wenn private Daten wie die Adresse Einhaltung der Vorgaben des euro-
oder der Name der Schule der Kinder päischen Digital Services Act durch
im Netz veröffentlicht werden. Men- die Plattformen ankommen. Und es
schen sollen so gezielt eingeschüch- braucht uns alle, die gesamte Gesell-
tert und aus dem öffentlichen Raum schaft: Wenn wir rassistische Kom-
herausgedrängt werden. mentare auf Facebook sehen, können
wir das melden. Wenn wir volksver-
Wie hilft HateAid Menschen, hetzende Inhalte oder verfassungs-
die online Rassismus erfahren? feindliche Symbole sehen, können wir
Wer Hass im Netz erlebt, macht eine das anzeigen – auch dann, wenn wir
Gewalterfahrung – und die hat mas- nicht persönlich attackiert werden.
sive Auswirkungen. Das reicht von Wenn wir sehen, wie eine Person ge-
Ängsten, Scham und Wut bis hin zu Eine Demonstrantin hält im November 2021 in Paris ein Schild mit der Aufschrift »End systemic racism« zielt angegriffen und niedergemacht
Depressionen, Schlaflosigkeit oder wird, können wir ihr zur Seite stehen  –
sogar Suizidgedanken. Damit sollte ­ aneben unterstützen wir mit einer
D finden lassen. Außerdem unterstüt- kumentieren. So e ­ twas übernehmen etwa durch aktive Gegenrede, unter-
niemand allein bleiben müssen. Kommunikations- und Sicherheits­ zen wir Betroffene dabei, rechtlich wir bei Bedarf, d
­ amit sich Betroffene stützende Kommentare oder solidari-
Wir bieten daher zunächst eine beratung. In einem Privatsphäre-­ gegen die Täterinnen und Täter vor- nicht selbst durch den ganzen Hass sche Direktnachrichten.
emotional-stabilisierende Erstbera- Check schauen wir b­ eispielsweise, zugehen. Ein erster Schritt ist bei- arbeiten müssen. Darüber hinaus un-
tung an und geben Betroffenen den ob und welche privaten Informati- spielsweise, die Kommentare mithil- terstützen wir bei der Anzeigeerstat- Anna-Lena von Hodenberg ist
Raum, über das Erlebte zu sprechen. onen sich über eine Person im Netz fe rechtssicherer Screenshots zu do- tung und übernehmen in g ­ eeigneten Geschäftsführerin von HateAid

... das Auge hört mit.

Musik im Film – unsere Dokus und


Mitschnitte für Sie kostenlos auf nmz.de
aktuell: Orgelmusik in Zeiten von Corona
28 DAS LETZTE www.politikundkultur.net

Kurz-Schluss
Wie ich einmal lernte, dem Sprichwort »Fürs Lernen ist es nie zu spät« gründlich zu misstrauen
THEO GEIßLER serer Kulturstaatsministerin Claudia freundlicher gewesen – ich nagte heu- Schloss und der wilden Wesenitzklamm. Wettbewerb, Wesenitzklamm-Beschal-
Roth, der Veranstaltung künftig die te nicht am Hungertuch, hätte wenigs- Musikalische Vielfalt kommt in roman- len, Silbermann-Orgeln … und so weiter.
Warnung: Im folgenden Text wird auf- zehn Prozent Bundeszuschuss zu ent- tens ein, zwei Bundesverdienstkreuze tischer Umgebung zusammen.« Jau, Jau Jau, röhrte Herr Timmermann –
grund von Papierreduktion zwecks Ret- ziehen. Vielleicht kann sie sich für das und ein paar alte Freunde. Prima! Warum eigentlich nur musi- und meinte dann leider schlau: Wenn
tung unserer Wälder und umweltscho- Ersparte dann ja klügere Redenschrei- Um mich etwas aufzuheitern, ließ kalische Vielfalt? Sofort googelte ich Sie die nötige Knete mitbringen und für
nender Einsparung von Druckerschwär- ber leisten. ich anhand zahlreicher, für eine umfas- Dürrröhrsdorf-Dittersbach, fand her- die Finanzierung sorgen: gern. Melden
ze das generische Maskulinum verwendet. Wie dem auch sei: Mich ermahnte sende Komödie oder Operette zeitwei- aus, dass Bürgermeister Timmermann Sie sich 2028, für 2023 bis 2028 sind wir
dieser Vorgang zunächst – in Sachen se gesammelter Aufzeichnungen über parteilos war, die AfD keinen Sitz im schon mit einer internationalen Ero-
Traurig, traurig: Ein ansonsten inter- Politik und Kultur äußerst vorsichtig zu den Deutschen Musikrat alte Pläne Re- Gemeinderat hatte und griff zum Han- tik-Messe ausgebucht. Mist, dachte ich.
national als wirklich bedeutend aner- sein. Ein hohes Maß vielseitiger Emp- vue passieren. Konnte tatsächlich oft dy. Bei des Bürgermeisters breit säch- Und setzte ein Bewerbungsschreiben
kannter Kulturevent, die documenta findlichkeiten galt es zu berücksichtigen. herzlich lachen – davon gern nächs- selnder Sekretärin stellte ich mich als als Redendichter für Claudia Roth auf.
in Kassel, erschüttert durch Haltungs- Und ich versuchte zunächst panisch, all tes Jahr mehr … gesamtdeutscher Veranstaltungsver-
schäden nicht nur die ungefähr null- meine gemeinen und frechen Glossen Da fiel mir ein Satz meines alten Kor- werter vor und landete erst mal bei der
kommazwei Prozent ernsthaft quali- und Pöbeleien aus den sozialen Netz- nettlehrers ein: »Fürs Lernen ist es nie Müllverbrennung, dann aber bei Herrn
tätsbewusst Kunstaffiner in unserem werken zu löschen. Womit ich meist lei- zu spät.« Und ich entsann mich einer Timmermann. Ich entwickelte für ihn
Land der Dichter, Denker, Komponis- der scheiterte, weil ich immer bei allge- Füllmeldung aus der »Burghausener spontan einen weitgefächerten Katalog
ten und Werbetreibenden. Dabei ha- meinen Geschäftsbedingungen lande- Metzgerblume«: Ein garantiert neu- von internationalen Sport- und Kultur-
ben die Kuratoren schon bei der For- te, die ich zeitlebens noch nie verstand. traler Akt des Deutschen Musikrates, aktionen, die noch nicht von den ein-
mulierung der Headline »documenta Reumütig entsann ich mich des fil- wie ich fand – die Startrampe für mei- schlägig gefräßigen Berater-Haien ge-
fifteen« ein sehr feines Gefühl für po- bingeresken Offiziers und Musikpäd- ne neue Karriere als Veranstaltungsma- schluckt waren: Bumerang-Suchlauf,
lyglotte Weltläufigkeit bewiesen. Un- agogen Egon Kraus, geboren 1912, der, nager internationalen Formates: »Die Brunnentauchen, Stacheldrahtskulptur-
terstrichen durch die Wahl des leicht dank bester Kenntnisse des Kulturle- Gemeinde Dürrröhrsdorf-Dittersbach WM, Jodel-Stafette, Bratschen-Nonette,
modifizierten Youngster-Magnet-­Songs bens in der Zeit von 1933 bis 1945 in ist vom Deutschen Musikrat als Land- Gender-Kanon, Diversitäts-Triangeln,
»Sweet little Fifteen« in der aufgefrisch- Innsbruck promoviert, von 1950 an pro- musikort 2021/2022 ausgezeichnet wor- Betttuch-Beschichten, Barockschlag-
ten Version von Xavier Naidoo als akus- fessoral diverse westdeutsche Musik- den. Die Übergabe der Plakette bei ei- zeug-Rennen, Blockflöten-Schnitzen,
tisches Lead-Motiv. hochschulen zierte und ab Ende der nem Konzert im Lieb­lingstal, vor der Holzmichel-Achtstimmig, Posaunen- Theo Geißler ist Herausgeber
Ausgerechnet ein doppelt-flugzeug- 1950er Jahre als Generalsekretär der Hubertuskapelle. Der Vorsitzende des Weitwurf, Ingeborg-Bachmann-Dialekt- von Politik & Kultur
hangar-formatiges Wimmelbild na- Internationalen Gesellschaft für Mu- Sächsischen Musikrates, Prof. Kersten,
mens »People’s Justice« des indonesi- sikerziehung (ISME) und beim Interna- wird dort die Plakette an den Bürger-
schen Künstlerkollektivs Taring Padi, tionalen Musikrat fungierte. Seine Auf- meister der Gemeinde Dürrröhrsdorf-
verdächtig spät installiert, sorgte mit tritte hatten Wucht. Er bevorzugte auch Dittersbach, Herrn Timmermann, über- NEWS AUS DER P&K-PRAWDA
in der Tat widerlichen, indiskutablen noch 1980 bei sommerlichen Auftritten geben. Die Gemeinde Dürrröhrsdorf-
antisemitischen Verunglimpfungsdar- schwere Heeresstiefel. Und leichtfertig Dittersbach in der sächsischen Schweiz Frankfurt: Schon lange wird eine emo- dabei mit der Stimme der verstorbe-
stellungen für weltweite Aufmerksam- wie ich seinerzeit war, spottete ich oft vereint ein aktives Musikleben in histo- tionale Debatte um nicht diskriminie- nen Großmutter des Jungen. Der frag-
keit und wütenden Protest. Mittlerwei- über seinen Lieblingssatz: »Musik, die rischer Stätte. Ein großer Posaunenchor, rende Sprache und Vielfalt in Kinder- te, ob man stattdessen auch die Stim-
le ist das Corpus Delicti entfernt. Die mit Politik sich verbindet, verliert ih- ein über 160 Jahre alter Gesangverein, büchern und Märchen geführt. Klas- me seines kranken Hundes nehmen
üblich-hektische Verantwortungsver- ren Wert, ihre Anmut und Würde, wird aktive Kirchenmusik und eine histori- siker wie »Die kleine Hexe«, »Pippi könne. Der sei ihm lieber. Und seine
teilung hat begonnen – unter ande- gewissermaßen defloriert.« Hätte ich sche Silbermannorgel vereinen sich mit Langstrumpf« oder Grimms Märchen Augen begannen zu leuchten – Alexa
rem mit der grausamen Drohung un- damals auf ihn gehört, wäre ich etwas dem Lieb­lingstal, dem Ditters­bacher stehen in der Kritik. In Ungarn woll- knurrte: »Wauwau Vogelscheuche …
te Ministerpräsident Viktor Orbán das wauwau …Blechmann …«.
Märchenbuch »Märchenland für alle«
mit homosexuellen Prinzen und einem Nizza: Es ist die früheste Hitzewelle
Trans-Reh verbieten. Eine ungarische seit Beginn der Wetteraufzeichnung,
Politikerin ging sogar so weit, das Buch die Frankreich und weitere Länder
öffentlich zu schreddern. Ähnliches im Süden Europas heimgesucht hat.
droht jetzt auch dem meistgedruck- Weil eine Wasserquelle auszutrocknen
ten Buch der Welt – der Bibel. Sozusa- droht, hat das Dorf Villars-sur-Var bei
gen aus dem Ruhestandsasyl versucht Nizza zu drastischen Maßnahmen ge-
Papst Benedikt wohl seine Verfehlun- griffen: Zähneputzen und Trinken aus
gen in diversen Missbrauchsfällen zu dem Wasserhahn sind derzeit verbo-
überspielen und fordert ab sofort kom- ten. Während in ganz Südeuropa der
plett gegenderte Versionen zumindest Weinabsatz sich ebenso wie die Zahl
des Neuen Testaments. der Führerscheinentzüge verzehn-
facht hat, hofft der deutsche Bierbrau-
Pasadena: Amazon entwickelt gerade erbund ebenfalls auf Heißluft: »Zwei
eine Lösung für Alexa, die ein tolles Maß Bier – das rat ich Dir« heißt der
neues Geschäftsmodell werden soll: Werbespruch von Ex-Gesundheitsmi-
Alexa könnte bald mit der Stimme von nister Lauterbach, der mittlerweile ins
verstorbenen Personen sprechen. Auf Schauspielerfach gewechselt ist.
der re:Mars-Konferenz in Las Vegas
zeigt Amazon ein Beispiel dafür, wie Berlin: Die Chemiefirma Beiersdorf
Alexa mit der Stimme einer verstor- verleiht den Labello-Preis »Geile
benen älteren Dame spricht. In dem feuchte Unterlippe« – dotiert mit 500
KARIKATUR: HEIKO SAKURAI

Szenario fragt ein Junge die Sprach- Fettstiften – an CDU-Chef Friedrich


assistentin Alexa, ob seine Oma ihm Merz. Nach strenger Prüfung zahlrei-
den Zauberer von Oz zu Ende vorle- cher Fernsehbilder kam die Jury zum
sen können. Alexa bestätigt das in ih- Beschluss, dass die Unterlippe das
rer gewohnten Stimme – und ändert Glänzendste an Merz sei. Wegen Lip-
dann ihre Stimme. Sie liest nun aus penlosigkeit überstand Kanzler Scholz
dem Zauberer von Oz vor und spricht die Vorentscheidung nicht. (thg)

IMPRESSUM
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