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Regulationsstörungen im Kontext
der Eltern-Kind-Beziehung
egulationsstörungen sind ein häufiger Vor- und es kann zu überschreitenden Reaktionen oder
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SCHWERPUNKT
brauchen, um sich gesund zu entwickeln. So beob- ckelt sich aus den Vorläuferemotionen ein funktions-
achteten Harlow und Zimmermann (6), dass junge tüchtiges Emotionssystem.
Makaken, welche von ihrer leiblichen Mutter getrennt
wurden, eine geborgenheitspendende Surrogatmut- Regulationsstörungen
ter aus Frottee bevorzugten, auch wenn eine andere als Risikofaktor für sichere
Ersatzmutter aus Draht eine Milchflasche mit Nah- Bindungsbeziehungen
rung bereithielt. Das Bedürfnis nach Wärme und Chronische Unruhe, unstillbares Schreien, Probleme
Geborgenheit war also dem Streben nach Nahrung mit dem Schlafen oder Nahrungsverweigerung kön-
überlegen. Im weiteren Verlauf seiner Forschungs- nen aufseiten der Eltern zu Schlafdeprivation, Er-
arbeiten beobachtete Harlow, dass sich Affenbabys, schöpfung, Ohnmachtsgefühlen und Versagensängs-
welche mit einer Stoffmutter zusammenlebten, un- ten führen. Auch Wut, Ablehnung, Selbstvorwürfe
auffällig entwickelten, während die von der Draht- oder ängstliche Überfürsorglichkeit können die Folge
Postpartale mutter ernährten Jungtiere später soziale und emotio- sein. Zudem wirken sich Regulationsstörungen nega-
Depression ist nale Auffälligkeiten aufwiesen. tiv auf die Beziehungsgestaltung zum Kind aus und
ein unterschätz- gehen zunehmend auf Kosten entspannter Interaktio-
ter Risikofaktor. Entwicklung der Emotions- nen zwischen Eltern und Säugling (8). Belastungsfak-
regulation im Kontext sicherer toren für die Eltern-Kind-Beziehung sind besonders
Bindungsbeziehungen dann kritisch, wenn infolge überwiegend negativer
Von den emotionalen Ausdrucksmöglichkeiten, über Interaktionen mit dem Säugling und der erlebten Hilf-
die Säuglinge verfügen, ist das Schreien die effektivs- losigkeit durch die Eltern die intuitive elterliche Kom-
te und wichtigste Kommunikationsform, um der Um- petenz beeinträchtigt wird und damit das Handeln der
welt Bedürfnisse wie Hunger, Durst, Frieren, Missbe- Eltern nicht mehr auf die kindlichen Bedürfnisse ab-
hagen oder Schmerzen sowie das Bedürfnis nach gestimmt ist. Dies wiederum hat zur Folge, dass der
Nähe mitzuteilen. Das Schreien führt normalerweise Säugling zunehmend weniger koregulatorische Un-
bei Bezugspersonen zu einer hohen emotionalen Er- terstützung durch seine Eltern erfährt. Je länger eine
regung, weckt Fürsorglichkeit und motiviert zur Su- solche dysfunktionale Wechselseitigkeit aufrechter-
che nach dem beziehungsweise zum Beheben des halten wird, umso mehr können sich bestimmte Inter-
Auslösers für das Schreien. Durch das Bestreben der aktionsmuster verselbstständigen, rigide werden und
Eltern, positive Emotionen ihres Kindes zu fördern dadurch die Entwicklung langfristig gefährden.
und negative zu vermeiden, richten sie sich intuitiv an
Mit der Verbes- den Bedürfnissen ihres Kindes aus und fördern damit Mütterliche Depressivität
serung der seine Entwicklung. Auf diese Weise sind die emotio- als Risikofaktor
Depression nalen Reaktionen des Kindes und die intuitiven elterli- Depressionen sind die häufigsten psychischen Er-
verbessert sich chen Kompetenzen reziproke, wechselseitig aufeinan- krankungen im Postpartalzeitraum. Postpartale De-
nicht zwangs- der bezogene Verhaltensrepertoires. pressionen wurden wiederholt mit einer beeinträch-
läufig die Inter- Dabei kommt der elterlichen Feinfühligkeit eine tigten mütterlichen Feinfühligkeit beziehungsweise
aktion zwischen besondere Bedeutung zu. Eine feinfühlige Bezugs- Sensitivität und Störungen der Mutter-Kind-Inter-
Mutter und person ist in der Lage, zum Teil sehr unspezifische aktion in Verbindung gebracht (9). Weiterhin stellt
Kind. emotionale Ausdrucksformen des Säuglings wahrzu- eine Depression der Mutter einen Risikofaktor für
nehmen und auf die Bedürfnislage des Kindes ange- kindliche emotionale und kognitive Entwicklungsdefi-
messen zu reagieren (7). Dadurch ermöglicht sie dem zite dar (10). Dabei ist die beeinträchtigte Mutter-
Säugling, zeitliche, sensorische und räumliche Kon- Kind-Interaktion der vermittelnde Wirkfaktor. Mehrere
tingenzen zwischen Emotionsanlass, Emotionsaus- Studien konnten zeigen, dass nicht die Depression
druck und Bewältigungshandlung zu erfahren. Erst per se einen ungünstigen Einfluss auf die kindliche
durch die interpersonale Regulation der kindlichen Entwicklung hatte, sondern der mütterliche Interak-
Emotionen mit feinfühligen Bezugspersonen entwi- tionsstil beziehungsweise die mütterliche Sensitivität.
Entsprechend wurden bei den Kindern von depressi-
ven Müttern mit nicht beeinträchtigtem Interaktions-
Tabelle 1: verhalten keine Defizite in der kognitiven und emotio-
Merkmale der intuitiven elterlichen Kommunikationsfähigkeit nalen Entwicklung nachgewiesen (11, 12).
Die Interaktionsprozesse zwischen depressiven Müt-
• gute Verständlichkeit durch einfache, auffällige Verhaltensmuster mit häufigen tern und ihren Kindern sind jedoch häufig beeinträch-
Wiederholungen in langsamem Tempo mit regelmässigen Pausen tigt (13). Depressive Mütter zeigen weniger sensitives
Verhalten, das heisst eine verringerte Fähigkeit, kind-
• hohe Feinfühligkeit, das heisst Wahrnehmen, Verstehen sowie promptes und ange-
liche Signale wahrzunehmen, richtig zu interpretieren
messenes Reagieren auf die Signale des Kindes
und angemessen und prompt zu beantworten. Des
• Vorhandensein basaler Regulationshilfen in Bezug auf Verhaltenszustand, affektive
Weiteren weisen die Mütter ein höheres Ausmass an
Erregung und Aufmerksamkeit des Säuglings Intrusivität, Aggressionen dem Kind gegenüber,
• gute Abstimmung der Kommunikation auf die momentane Aufnahmebereitschaft, Rückzugsverhalten und weniger positives Engage-
das Erregungsniveau beziehungsweise die Überlastung/Überreizung des Babys ment in der Interaktion mit ihren Säuglingen auf. De-
• «Spiegeln» des kindlichen Ausdrucksverhaltens pressive Mütter werden in geringerem Ausmass
• empathisches Einfühlen in die kindliche Gefühls- und Erfahrungswelt durch die Stressanzeichen bei ihrem Kind zu einer
Handlung aktiviert und reagieren entsprechend weni-
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ger stark auf einen negativen Ausdruck ihres Kindes werden, zu ihrem Kind wieder eine sicherheitspen-
(14). dende Beziehung aufzubauen. Dabei spielen auch
Depressive Mütter schätzen sich hinsichtlich ihrer die Bearbeitung und die Integration eigener trau-
Selbstwirksamkeit in der elterlichen Rolle deutlich ne- matischer Erfahrungen eine wesentliche Rolle.
gativer ein als nicht depressive Mütter. Auch nehmen In Tabelle 3 werden im Überblick die wichtigsten the-
sie das Verhalten ihrer Kinder deutlich negativer wahr, rapeutischen Techniken zur Verbesserung der Bin-
was wiederum einen ungünstigen Einfluss auf die dungs- und Beziehungsfähigkeit von Säuglingen und
Mutter-Kind-Interaktionen und die mütterliche Selbst- Kleinkindern beschrieben. Weiterführende und ins
wirksamkeit haben kann. Dadurch wirken sich die de- Detail gehende Informationen finden sich bei Ziegen-
pressiven Symptome der Mutter negativ auf die inter- hain et al. (16).
personelle Emotionsregulation aus, was wiederum
aufseiten des Kindes zu einer höheren Irritabilität und Fazit für die Praxis
geringeren selbstregulatorischen Fähigkeiten führen Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass früh-
kann. kindliche Regulationsstörungen durch eine fehlende
Die Säuglinge depressiver Mütter zeigen in der Inter- beziehungsweise mangelhafte Erregungshemmung/-
aktion vermehrtes Rückzugsverhalten, weniger positi- regulation gekennzeichnet sind und im Kontext der in-
ven Affekt und vermeiden häufiger den Blickkontakt terpersonalen Emotionsregulation beurteilt werden
zur Mutter (15). Das Wegdrehen des Kopfes bezie-
hungsweise die Blickvermeidung kann als Versuch
des Kindes verstanden werden, sich vor der fehlenden
Responsivität der Mutter zu schützen. Tabelle 2:
Leitsymptome einer gestörten Eltern-Kind-Interaktion
Wie erkennt man eine beeinträch-
tigte Eltern-Kind-Beziehung? Kindliches Interaktionsverhalten:
Wie bereits oben beschrieben bildet die Beziehung • hervorstechender Ernst und Freudlosigkeit
zwischen dem Säugling und seinen primären Bezugs- • ausgeprägte Passivität, Apathie, Interesselosigkeit
personen die Grundlage für eine gesunde emotionale
• Fehlen von spontanem Blickaustausch mit der Bezugsperson und visueller Rückver-
und kognitive Entwicklung. Deshalb kommt dem früh-
sicherung
zeitigen Erkennen von Störungen in der Eltern-Kind-
• auffallende motorische Unruhe, Dysphorie und Ruhelosigkeit
Beziehung eine so grosse Bedeutung zu. Der Leit-
linie zur Störung der frühen Eltern-Kind-Interaktion
• permanentes Fordern von Aufmerksamkeit
der Deutschen Gesellschaft für Sozialpädiatrie • gehemmte Explorations- und Spielbereitschaft im Beisein der Bezugsperson
(www.dgspj.de) folgend, lassen sich klar umschrie- • ängstlich-überangepasst-übervorsichtiges Verhalten in Anwesenheit der Bezugs-
bene Leitsymptome einer beeinträchtigten Eltern- person
Kind-Beziehung beobachten (Tabelle 2). Eine früh- • exzessives Trotzverhalten und oppositionelles Verhalten bis hin zu aggressiven
kindliche Bindungsstörung im Kontext einer gestörten Impulsdurchbrüchen
Eltern-Kind-Beziehung sollte jedoch nicht vor Ende
des ersten Lebensjahres diagnostiziert werden. Im Dysfunktionale Interaktionsmuster:
Gegensatz zur den Beziehungsstörungen handelt es • häufige negative Gegenseitigkeiten in den Bereichen des Beruhigens, Schlafen-
sich bei einer Bindungsstörung um eine im Kind an-
legens, Fütterns, Zwiegesprächs, Spiels, Abgrenzens und Grenzensetzens
gesiedelte Psychopathologie, die neben einem beein-
• Mangel an Bezogenheit mit Einschränkungen in der intuitiven elterlichen Kommuni-
trächtigten Bindungsverhalten auch Auffälligkeiten im
kation:
Explorationsverhalten und der Emotionalität betrifft.
– wenig oder keine Kommunikation im Umgang mit dem Baby
Bindungs- und Beziehungs- – fehlende Grussreaktion auf Blickzuwendung des Babys
förderung im Säuglings- und – Vermeiden von Blick- und Körperkontakt
Kleinkindalter • Ängstlich-angespannte Bezogenheit mit zu raschem, überfürsorglichem oder intru-
Ziele bindungstheoretisch begründeter Interventio- sivem Eingreifen:
nen im Säuglings- und Kleinkindalter sollten die För- – sofortiges Eingreifen bei jeder Form negativen Affekts des Kindes, ohne dass dem
derung der elterlichen Feinfühligkeit, positiver Eltern- Kind die Möglichkeit zur Selbstregulation gegeben wird
Kind-Interaktionen und damit die Förderung sicherer – Einschränkung spontaner kindlicher Explorationsbedürfnisse
Bindungsbeziehungen sein. Dabei gibt es zwei mögli- – auffallend unbeholfenes, überängstliches Handling
che therapeutische Ansatzpunkte:
– Abschirmen des Kindes gegenüber dem Kontakt mit anderen Personen
• Der Therapeut setzt auf der Verhaltensebene an und
• pausenlose Stimulation mit raschem Wechsel der Angebote ohne Rücksicht auf die
versucht, unter anderem durch den Einsatz von
kindliche Aufnahmebereitschaft
Videofeedback, das elterliche Verhalten im Umgang
mit ihrem Kind zu modifizieren.
• verdeckte oder offene Ablehnung mit auffallend grobem Handling ohne Bezug zum
• Der Therapeut bearbeitet mit den Eltern deren Kind und ohne Rücksicht auf kindliche Signale
eigene Bindungsrepräsentationen und versucht, die • fehlende Zärtlichkeit oder unvermittelt heftige Zärtlichkeitsbekundungen
Eltern zur Reflexion der eigenen Kindheitserfahrun- • Misshandlung mit manifester Vernachlässigung, inadäquater Ernährung mit man-
gen und den daraus resultierenden «inneren Ar- gelndem körperlichem Gedeihen, schlechtem Pflegezustand, Übergehen von Signa-
beitsmodellen» von sich und anderen anzuleiten. len der kindlichen Interaktionsbereitschaft und Übersehen von Gefahrensituationen
Dadurch soll es den Eltern schliesslich möglich
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müssen. Eine erhöhte Irritabilität, exzessives In diesem Zusammenhang wurde auch auf die Risiko-
Schreien, Schlaf- und Fütterungsprobleme gehen oft konstellation postpartal psychisch erkrankter Mütter
mit einer erheblichen Belastung der Eltern einher und und ihrer Säuglinge hingewiesen. Die Bedeutung psy-
sind ein nicht zu vernachlässigender Risikofaktor für chischer Erkrankungen im Wochenbett und in der
eine Beeinträchtigung des Eltern-Kind-Systems, was Postpartalzeit wird im deutschsprachigen Raum oft
wiederum einen Risikofaktor für die kindliche Ent- unterschätzt, obwohl Studien Prävalenzraten von 10
wicklung darstellt. Je länger solche dysfunktionalen bis 20 Prozent für Depressionen und Angststörungen
Interaktionen aufrechterhalten werden, umso mehr aufzeigen. Die Interaktionen zwischen depressiven
können sich bestimmte Beziehungsmuster verselbst- Müttern und ihren Kindern sind durch ein geringeres
ständigen, rigide werden und die Emotionsentwick- Ausmass an dyadischer Koordination und positivem
lung langfristig gefährden. Deshalb ist eine frühzeitige Affektausdruck gekennzeichnet. Man nimmt an, dass
Behandlung von Regulationsstörungen unbedingt zu die Qualität der Mutter-Kind-Interaktion und nicht die
empfehlen. Depression per se entwicklungsrelevant ist.
Tabelle 3:
Überblick über Techniken zur Behandlung von Regulationsstörungen
und zur Verbesserung der Eltern-Kind-Beziehung
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