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Gottesdienst 05.

März 23,09:30 Uhr


„Jesus & Nikodemus“ (Umiken)
Wolfgang v. Ungern-Sternberg

https://www.youtube.com/watch?v=72JLR_SjzIA

Wundere dich nicht, dass ich dir gesagt habe:


Ihr müsst von Neuem geboren werden.
Joh 3,7

Schriftlesung (Einleitung)
Schön, dass wir heute gemeinsam über einen biblischen Text nachdenken können.
Die biblischen Texte sind sehr, sehr kurz und knapp gehalten, weil, wie es so schön am
Ende des Johannesevangeliums heisst, die Welt sonst die Bücher nicht fassen würde,
die zu schreiben gewesen wären. Deswegen, bevor man so einen Text hört, hilft es,
wenn man sich ein bisschen reindenkt in die Situation der Zeit.

Wir hören von Nikodemus, einem Mann, der bei Nacht zu Jesus kommt.
Man nimmt das so zur Kenntnis. Man hat das so gehört. Man muss sich mal vorstellen,
was vorher passiert ist.
Nikodemus ist einer der höchsten Regierungsvertreter der Juden. Vom Sanhedrin war
er, vom Hohen Rat. Er wird als der Lehrer Israels bezeichnet. Er ist eine Koryphäe. Er
ist eine angesehene Persönlichkeit. Und zu wem kommt er?
Er kommt zu dem Unruhestifter, zu dem Mann, der kurz zuvor im Tempel für einen
Aufruhr gesorgt hat, weil er die Tische der Geldwechsler umgestossen hat. Er, der
gravitätische Regierungsrepräsentant, trifft sich mit dem Volksaufhetzer, der im
geheiligten Tempel Unruhe gemacht hat. Okay, dort herrschte vorher schon andere
Unruhe. Aber jedenfalls, der dort wirklich störend aufgefallen ist. Er hat allen Grund,
sich bei diesem Treffen zu verstecken, denn das wäre seinem guten Ruf äusserst
abträglich. Wenn wir das auf unsere Verhältnisse übertragen wollten: Wir haben gar
keine soziale Institution, die dem entspricht. Wir haben das gar nicht so, dass einzelne
Menschen derartig als würdevolle Volksrepräsentanten angesehen werden, die absolut
geachtet werden müssen, weil sie ganz persönliche Autorität und dazu noch geistliche
Autorität zusätzlich zur politischen haben.

Die Schweiz kennt das gar nicht in der Form. Und die westlichen Demokratien generell
nicht. Man kann es vielleicht noch so ein bisschen mit dem obersten Richter in den USA
vergleichen. Extrem würdevoll, ein schwarzer Talar mit goldenen Streifen an der Seite.
Vielleicht die Hoffnung, dass dieser Mann wirklich das, was in Gottes Sinne Recht ist,
als Recht sprechen wird. Und der schleicht sich jetzt bei Nacht zu Jesus. Und er wird
ein bisschen abgekanzelt wie ein Schulbub. Nein, so darf man das nicht sagen, nicht
abgekanzelt wie ein Schulbub. Es wird ihm ja freundlich präsentiert, aber es werden ihm
lauter Sachen gesagt, die er, die oberste Instanz seines Volkes für religiöse Weisheit,
noch nie gehört und noch nie kapiert hat.

Ich lese aus dem Johannesevangelium, aus dem dritten Kapitel.

Unter den Pharisäern gab es einen Mann namens Nikodemus. Er war ein
Mitglied des Hohen Rates. Eines Nachts kam er zu Jesus. Rabbi, sagte er, wir
wissen, dass Gott dich als Lehrer zu uns gesandt hat. Denn niemand kann die
Wunder tun, die du voll bringst, wenn Gott sich nicht zu ihm stellt. (Das Wunder
der Hochzeit von Kana hatte er zu dem Zeitpunkt schon getan.) Darauf erwiderte
Jesus: „Ich versichere dir, Nikodemus, wer nicht neu geboren wird, kann Gottes
Reich nicht sehen und erleben.“ Verständnislos fragte der Pharisäer: „Wie kann
jemand neu geboren werden, wenn er schon alt ist? Er kann doch nicht wieder in
den Mutterleib zurück und noch einmal auf die Welt kommen.“

„Ich versichere dir“, entgegnete Jesus, „nur wer durch Wasser und durch Gottes
Geist neugeboren wird, kann in Gottes Reich kommen. Ein Mensch kann immer
nur menschliches Leben hervorbringen. Wer aber durch Gottes Geist geboren
wird, bekommt neues Leben. Wundere dich deshalb nicht, dass ich dir gesagt
habe, ihr müsst neu geboren werden. Es ist damit wie beim Wind: Er weht, wo er
will. Du hörst ihn. Aber du kannst nicht erklären, woher er kommt und wohin er
geht. So ist es auch mit der Geburt aus Gottes Geist.“
Nikodemus liess nicht locker. „Aber wie soll das nur vor sich gehen?“
Jesus erwiderte: „Du bist der Lehrer Israels und weiss das nicht? Ja, ich
versichere dir, wir reden nur von dem, was wir genau kennen und was wir
bezeugen. Das haben wir auch gesehen. Trotzdem nehmt ihr unser Wort nicht
an. Ihr glaubt mir ja nicht einmal, wenn ich von irdischen Dingen rede. Wie also
werdet ihr mir dann glauben, wenn ich von himmlischen Dingen spreche? Es ist
noch nie jemand zum Himmel aufgestiegen, ausser dem Menschensohn, der
vom Himmel herab auf die Erde gekommen ist. Du weisst doch, wie Mose in der
Wüste eine Schlange aus Bronze an einer Stange aufrichtete, damit jeder, der
sie ansah, am Leben blieb. Genau so muss auch der Menschensohn erhöht
werden, damit jeder, der glaubt, durch ihn das ewige Leben hat.
Denn Gott hat die Menschen so sehr geliebt, dass er seinen einzigen Sohn
für sie hergab. Jeder, der an ihn glaubt, wird nicht zugrunde gehen,
sondern das ewige Leben haben. Gott hat nämlich seinen Sohn nicht zu den
Menschen gesandt, um über sie Gericht zu halten, sondern um sie zu retten.

Christus spricht: „Selig sind, die das Wort Gottes hören und bewahren“.

Wenn ihr wollt, könnt ihr eure kleinen Vögelchen mal in die Hand nehmen. Es heisst ja
hier, der Geist Gottes weht, wo er will. Können wir uns mal vorstellen, dass Gottes Geist
uns, wie es in einem Lied, das wir ansonsten gerne singen, Rückenwind gibt?
Für Nikodemus im Gespräch ist es so gewesen, dass er wie hochgehoben worden ist
auf eine neue Perspektive zur Vogelperspektive und plötzlich Dinge wie von oben
betrachten konnte, die ihm vorher verschlossen waren.
Ich wünsche mir, dass wir uns Gottes Geist heute Morgen ein Wind ist, der uns zu einer
neuen Höhe emporträgt. Was sympathisch ist an Nikodemus, ist, dass er neugierig
geblieben ist. Der Mann hatte den Gipfel der Macht erklommen. Er war eine religiöse
Autorität. Er war der Lehrer Israels. Aber trotzdem ist er neugierig geblieben. Er hat an
seinem Traum festgehalten. Offensichtlich hat ihm Trotz. Seiner Bildung, seiner
weltlichen Macht, seines Respekts. Und aus seiner guten Familie muss er offensichtlich
auch gekommen sein. Denn ohne dem kommt man in Israel nicht in den Hohen Rat.

Irgendwo in seinem Leben war die brennende Sehnsucht, dass es noch mehr geben
musste als das, was er kannte. Und dieser Traum hat ihn angetrieben. Dass er sich
sogar in Nacht im Schutz der Nacht zu dem unruhestiftenden, wundertuenden Galiläer
begeben hat. Man könnte sagen eine Botschaft aus dem Leben des Nikodemus lautet:
„Halte deine Träume fest.“ (An den Chor:) Vielen Dank.

Lied vom Chor: Halte Deine Träume fest

Predigt
Fragen aus unserem eigenen Leben

In den Menschen der Bibel begegnen uns Fragen aus unserem eigenen Leben.
Auf der einen Seite sind das natürlich alles Menschen, die absolut so existiert haben
und absolut genau so Jesus getroffen haben und mit ihm die Dialoge geführt haben, die
uns berichtet werden in der Bibel. Auf der anderen Seite sind diese Menschen wie
Seiten aus einem Bilderbuch. Ihr kennt doch diese Bilderbücher, die man so aufklappt
und dann falten sich die einzelnen Bilder so heraus aus den Seiten und kommen einem
entgegen. Sie sind gleichzeitig wie Gesichter aus einem Bilderbuch. In dem Moment,
wo wir die Bibel aufschlagen und sie öffnen, stülpen sie sich uns wie entgegen. Und sie
fordern uns dazu auf, dass wir die Parallelen suchen. Dinge in meinem Leben, die
parallel sind zu dem, was sie erlebt haben.

Der mutige Spitzengelehrte sucht mehr


Nikodemus als allererstes ist mal ganz sicher ein älterer Mensch, ein älterer Mann.
Weil, wie schon gesagt, er war an die Spitze der jüdischen Gesellschaft aufgestiegen.
Die Frage „Bist du nicht der Lehrer Israels“ heisst nicht notwendigerweise, dass er der
einzige Spitzenlehrer war, sondern kann sehr wohl bedeuten, dass er einfach der Leiter
einer rabbinischen Schule war, das heisst Teil eines ausgesuchten Gremiums von
Elitegelehrten, die dem Volk Gottes Weisheit und Ratschluss verkündigen.

Man muss sich dazu vorstellen, dass diese Menschen eines schier unglaublichen
Respekts im jüdischen Volk wertgeschätzt wurden. Wenn so jemand in die Stadt kam,
dann war das der gefeierte Lehrer, der Oberrabbiner, der kommt und den Ort seines
Besuches würdigt. Weil für die Menschen in ihrem Verständnis logisch war, dass sich
Gottes Gegenwart mit der Gegenwart des leitenden Rabbiners verbindet. Weil das ist
derjenige, der Gottes Wort richtig erklärt, in dem bekanntlich nicht alles ganz so leicht
zu verstehen ist. Vieles schon, aber manches halt eben auch nicht. Und der traut sich.
Er traut sich zum Unruhestifter aus Galiläa. Was hat ihn wohl am meisten fasziniert?
Hat es ihn vielleicht schon lange geärgert, was die Geldwechsler für ein Theater im
Tempel veranstalten, das auch alles andere als andächtig war? Hat er sich insgeheim
vielleicht gefreut, dass endlich mal einer was tut dagegen? Denkbar. War er beeindruckt
von dem Wunder in Kana, das eben eine besondere Eigenschaft hatte, dass das
Wasser, das zu Wein wurde, nämlich anschliessend von einer ganzen
Hochzeitsgesellschaft gekostet wurde? Und die können alle bestätigen, dass das
fantastischer Wein war. Es mangelte nicht an Augenzeugen, und bei der verzweifelten
Belegschaft, dem Personal des Festes mangelte es auch nicht an Augenzeugen, die
dort Hunderte von Litern von Wasser in die Krüge gefüllt haben, das anschliessend zu
Wein verwandelt wurde.

So was spricht sich rum. Bis nach Jerusalem. Da kommt er mitten in der Nacht. Und er
hat eine Menge brennende Fragen. Erstens ein älterer Mensch, und er traut sich, etwas
Neues zu entdecken. Vor Jahren Jahren, als ich noch im CVJM war, jung und mit
prächtigem Haar, begegnete mir dort eine Dame, die sagte: „Ach ja, jetzt bin ich schon
10, 15 Jahre Christ und ach ja, es ist irgendwie alles so ein bisschen dasselbe.“

Es war für sie nicht schlimm, aber es fehlte irgendwie offenbar die Herausforderung.
Kinder sind so etwas Wunderschönes. Wenn man einem Kind sagt, wir machen was,
dann macht es „Yeah, wir machen was!“ Jedenfalls, wenn's gute Laune hat. Bei einem
Erwachsenen kommt vielleicht: „Schon wieder dasselbe. Alles schon tausendmal
gesehen. Alles schon tausendmal gehört. Berührt mich nicht mehr. Ich weiss, wie der
Hase läuft.“
Ein älterer Herr, den ich in jüngeren Jahren mal am Bahnhof traf – irgendwie kamen wir
ins Gespräch, ging um christlichen Glauben. Und er schaute mich so leicht von oben
herab an und sagte: „Ja, ja, die jungen Leute, die sollen das ruhig glauben.“ Mit
anderen Worten: „Ich habe es ja schon alles gesehen. Ich habe vielleicht auch mal
meine Hoffnungen gehabt, dass es im Leben mehr geben könnte als das graue Einerlei
des Alltags, das mir bekannt ist. Ich habe ja vielleicht auch mal die Hoffnung gehabt,
dass Gott sich in meinem Leben wirklich bemerkbar machen könnte und nicht nur
eingeklemmt zwischen Buchseiten existieren würde.
Weisst du was? Es ist nicht passiert. Und ich bin alt geworden.“

Ich sprach vor längerer Zeit mal mit einer Yogalehrerin. Und die meinte zu mir:
„Ja Christentum, das ist doch so eine Art Paragraphenglaube, so was in der Richtung.
Es geht um Regeln und Richtigkeiten.“

Offenbar war ihr das nicht genug, was verständlich ist. Sie wollte etwas Erfahrbares,
etwas Erlebbares. Regeln und Richtigkeiten. Da drin war Nikodemus absolut spitze. Die
Leute hatten nicht nur eine enorme Reverenz, eine enorme Hochachtung vor den
menschlichen Lehrern von Gottes Wort, sondern eine noch höhere für Gottes Wort
selbst. Ich bin selbst mit einem messianischen Juden, also einem Mann, der als Jude
geboren ist, dann aber Christ geworden ist, durch die Schweiz getourt und habe ihn bei
Vorträgen übersetzt. Er hiess Arnold Fruchtenbaum. Und du meine Güte, der hat mir
dann noch erklärt, wie man in den frommen jüdischen Gemeinschaften Bibelkunde
betreibt. Man sticht eine Nadel durch einen Buchstaben auf der Bibelseite und der
hoffnungsvolle Prüfungsaspirant muss sagen, durch welches Wort die Nadel auf der
nächsten Seite geht. Das ist Bibelkunde hardcore. Für diejenigen im inneren Kreis der
konservativen jüdischen Gemeinschaften. Warum? Weil alles genormt ist. Exakt, wo
jeder Buchstabe ist, dass es auswendig lernbar ist.

Und es gab Menschen, die die Schriftgelehrten, die Kopierer, deren Lebensinhalt darin
bestand, dass sie rituell ein Bad nehmen, dass sie frische Kleider anlegen und
dass sie dann mit der grösstmöglichen Präzision Buchstabe um Buchstabe abmalen.
Und wenn es irgendwo ein Wort gab, das nur einmal in der ganzen Bibel vorkam, dann
haben Sie ein besonderes Warnzeichen an den Rand gemacht. Und das instruierte den
nächsten Kopisten: „Und bei dem Wort musst du ganz besonders genau aufpassen.
Weil es Gott wohlgefällig ist, wenn du mit ganzer Kraft schaust, dass jeder Buchstabe
stimmt. Weil wenn du den hier falsch abschreibst, dann gibt es in der ganzen Bibel
keine Korrekturstelle mehr dafür.“

Die Leute hatten eine so enorme Hochachtung vor Gottes Wort. Sie haben die Gebote
der fünf Bücher Mose ausgezählt. 613 – keins mehr und keins weniger. Und die haben
sie gehalten oder es zumindest versucht auf Biegen und Brechen. Jesus mokiert sich
an anderer Stelle darüber, dass sie zwar den Zehnten sogar von den Gartenkräutern
geben. Aber, dass sie das Wichtigste, das Recht und die Barmherzigkeit und die Treue,
die Beziehung zu Gott vernachlässigen. Mit anderen Worten: Die äussere Form ist
picobello. Aber innendrin, innendrin fehlt etwas. Innendrin grassiert eine gähnende
Leere. Und Nikodemus ist ein Mann, der das zugibt, der diese Leere füllen will.

Jesus sieht unsere Fragen

Wie fängt er an?


„Rabbi, wir wissen, dass Gott dich als Lehrer zu uns gesandt hat. Denn niemand kann
die Wunder tun, die du vollbringt, wenn Gott sich nicht zu ihm stellt.“
Das ist eine sehr höfliche Anrede, und es ist ein kleines bisschen Smalltalk. Was würde
man darauf natürlicherweise antworten? Man würde sagen: „Ach ja, so schlimm ist es
gar nicht. Tue nur, was Gott mir aufgetragen hat. Und andere waren grösser als ich.“

Suche: Dem lebendigen Gott begegnen

Nein, Jesus lässt sich auf so was nicht ein. Das Tolle ist: Jesus sieht die Frage im
Herzen vom Nikodemus direkt, auch ohne dass er sie stellt. Nikodemus traut sich nach
mehr zu suchen, weil er eine innere Leere und ein inneres Unerfüllt sein spürt. Und
Jesus spürt, was Nikodemus spürt und braucht. Es ist, als ob er direkt den Ruf von
Gottes Sohn, von dem Herz von Nikodemus gehört hatte. Und er sagt: „Ich versichere
dir, Nicodemus, wer nicht neu geboren wird, kann Gottes Reich nicht sehen und
erleben.“ Mit anderen Worten: Die innere Sehnsucht von Nikodemus hat offenbar darin
bestanden. Was heisst das jetzt eigentlich? Gottes Reich sehen und erleben?

Gebote
Als Rabbiner kannte er den Synagogengottesdienst, er kannte den prächtigen
Tempelgottesdienst, er kannte endlose Debatten über die ganz genaue Befolgung der
biblischen Gebote.
Wir machen uns heutzutage keinerlei Vorstellung mehr davon, in welche Höhen sich
der brennende Wunsch danach damals geschraubt hat. Auch Paulus schreibt, dass
seine Volksgenossen Eifer haben, aber ohne Erkenntnis. Heutzutage können wir uns
das nicht mehr so leicht vorstellen. Nur ein Beispiel: Wenn Sie heutzutage nach Israel
gehen und ein koscheres Restaurant benutzen, werden Sie evtl. feststellen, dass ein
Wächter steht zwischen dem Erdgeschoss und dem ersten Stock, sofern im
Erdgeschoss Fleischgerichte serviert werden und im ersten Geschoss Milchgerichte.
Sie werden niemals irgendetwas, was auch nur entfernt ein Spürchen Milch in sich
hätte, auf demselben Teller wie etwas, was auch nur ein Zipfelchen Fleisch hätte
erblicken.
Warum? Nun ja, weil es im Alten Testament in den fünf Büchern Mose ein Gebot gibt,
dass du das Böcklein nicht kochen sollst in der Milch seiner Mutter. Kann man sich
fragen: Was hat das denn damit zu tun? Ja, es könnte ja sein, dass das Fleisch vom
Böcklein ist und die Milch vom Muttertier. Und wenn das im Magen zusammenkommt,
ist das quasi wie so eine Art Kochen. Hast du ein Gebot gebrochen? Und das könnte
das Kommen des Messias verzögern. Solche Erörterungen gab es endlos und zuhauf
im Judentum. Wie sich leicht vorstellen lässt. Das macht die Seele müde. Die Seele
sucht etwas Lebendigeres als das.

Oder die Debatte darüber, ob ein frommer konservativer Jude am Sabbat das Licht
einschalten darf am Sabbat. Ja, wenn man den Lichtschalter betätigt, und das ist wie
ein Funke, der entsteht. Und das wäre Feuer machen und Feuer machen ist Arbeit. Und
das geht am Sabbat nicht, oder? Oder doch? Mit sowas wurden die Leute damals
ermüdet. Mit dem Lichtschalter natürlich nicht, aber mit anderen Dingen.

Und Nikodemus wollte unbedingt mehr als das. Er wollte den lebendigen Gott. Er wollte
wirklich etwas von Gottes Reich und seiner Gegenwart spüren.

Was heisst „von neuem geboren“?

Und er fragt genau das, was wir auch gefragt hätten. Verständnislos fragt der Pharisäer
„Wie kann jemand neu geboren werden, wenn er schon alt ist?“
Das überliest man furchtbar leicht. Er fragt nicht „Wie soll das überhaupt gehen, dass
jemand neu geboren wird?“ Sondern er fragt nur „Wie kann es sein, dass er neu
geboren wird, wenn er alt ist?“ Könnte es vielleicht sein, dass für Nikodemus der
Gedanke, dass ein Mensch neu geboren wird, wenn er jung ist, gar nicht so unmöglich
ist? Richtig, in der jüdischen Tradition im Hintergrund gab es verschiedene Stationen im
Leben eines Menschen, an denen man von ihm sagte: Er ist von neuem geboren
worden.
Es gab sechs davon.

1. Wenn ein jüdischer Junge 13 geworden ist und offiziell in die Mitgliedschaft der
religiös mündigen Männer seines Ortes aufgenommen worden ist: Bar-Mizwa.
Sohn des Gesetzes, sagt man, er ist wiedergeboren.
2. Wenn er heiratet, sagt man so im traditionellen bildlichen Sinne auch er ist
wiedergeboren. Dasselbe, wenn er als Rabbiner ordiniert worden ist. Also das ist
Nikodemus mit Sicherheit passiert. Bar Mizwa ist er sowieso geworden.
Verheiratet muss er praktisch gewesen sein, weil ohnedem kommt man nicht in
den Hohen Rat.
3. Wenn er Leiter einer Rabbinerschule ist, ist er offensichtlich Rabbi. Also ist er
schon dreimal wiedergeboren worden.
4. Und das vierte war, wenn er Leiter einer rabbinischen Schule wird, ist er auch
schon.

Schon viermal wiedergeboren

Er ist schon viermal wiedergeboren worden in jüdischer Auffassung, und das ist das
Maximum, was für ihn geht, weil die anderen beiden Varianten funktionieren für ihn
nicht.
• Weil die fünfte wäre: Wenn ein Heide zum Judentum konvertiert, zählt es auch
als Wiedergeburt. Okay, ist er offensichtlich nicht gewesen.
• Und die sechste: Oder wenn er zum König gekrönt worden wäre, zählt es als
sechste und letzte Möglichkeit der Wiedergeburt. Aber es heisst nicht, dass er
vom Haus Davids war. Also er wird ganz sicher nicht König.

Wie kommt man Gott näher?


Mit anderen Worten, Nikodemus hat alles durchlaufen, was seine Gesellschaft ihm
damals an geistlichem Wachstum und an zusätzlicher Lebensweisheit anbieten konnte.
Er ist wirklich jemand, der sagen kann als einer der ganz wenigen Einzelpersonen in
Israel: „Ich habe alles gemacht, um Gott näher zu kommen.“

Ich weiss nicht, was Sie tun, was ihr tut, um Gott näher zu kommen. Ich weiss nicht, ob
das bei euch ein spezieller Wunsch ist. Die Menschen haben ganz unterschiedliche
Ideen, was sie dafür tun könnten.
• Die einen sagen Ich bin Gott in der Natur näher, ich sehe den Dunst am Morgen
und ich sehe den Sonnenschein. Ich höre das Rauschen der Blätter im Wald, Ich
spüre etwas vom Schöpfer. Das ist richtig, steht am Anfang vom Römerbrief. In
den Werken der Natur wird die Grösse des Schöpfers gesehen.
• Andere sagen Wenn ich schöne geistliche Musik höre, dann erhebt sich
irgendwie meine Seele und dann spüre ich was von Gottes Gegenwart. Und das
ist richtig, das ist wahr. Die ganze Bibel ist voll von Musik und Gesang.
• Viele haben im Laufe der Geschichte bezeugt, sie lesen in Gottes Wort und
bitten Gott spricht zu mir. Und dann, wenn sie einen biblischen Text lesen, dann.
Dann leuchten Ihnen wie einzelne Verse besonders auf, und Sie sehen das als
Reden Gottes an sich an. Und das ist über Jahrhunderte und Jahrtausende
bezeugt. Das gibt es immer wieder. Das ist eigentlich recht normal, dass einen
bestimmte Dinge ansprechen, wenn man den biblischen Text liest,
interessanterweise immer mal wieder andere.
• Und dann gibt es natürlich diejenigen, die besonderer Gnade gewürdigt werden
und die in der Bibel einen Propheten geschickt bekommen haben, der direkt zu
ihnen kommt und sagt: „Und Gott sagt zu dir …“ Was er dann gesagt hat, ist
nicht immer angenehm gewesen, aber jedenfalls toll, wenn es passiert.

Nikodemus hat alles versucht, was man als Mensch zu seiner Zeit machen konnte, um
Gott näher zu kommen. Es hat nicht gereicht. Er hat immer noch etwas weiteres
gebraucht. Und er hat die Chance bekommen.

Jesus in die Augen geschaut

Er hat Jesus in die Augen geschaut. Die Tradition sagt, dass er anschliessend ein
Gläubiger geworden ist. Es steht nicht so ganz ausdrücklich in der Bibel drin, aber es
steht, dass er später bei Jesu Begräbnis Dinge beigesteuert hat, die dazu notwendig
waren, was sehr stark nahelegt, dass er eng mit ihm verbunden gewesen ist.
Nikodemus schliesst sich einer langen Parade von Zeugen an, die Jesus begegnet
sind. Und deren Leben sicherlich verändert worden ist. Jemand hat das mal verglichen
mit einem Foto aus dem Zweiten Weltkrieg.

Ein Foto des britischen Königs Georg VI., der eine bombardierte Gegend von London
inspiziert, und man sieht auf dem Foto, wie er sich so auf einem Knie so etwas hinkniet
und direkt einem Kind ins Gesicht schaut, dass die Kappe so ein bisschen schief auf hat
und das offensichtlich unter der ganzen Bombardiererei gelitten hat. Und obwohl das
Foto von der Seite aufgenommen ist, sieht man den mitfühlenden, den mitleidenden
Ausdruck im Gesicht vom König.

Man kann fragen: Hat sich das Leben dieses Kindes in dem Moment verändert, wo es
dem König in die Augen geblickt hat?

Die Leben von Menschen zurzeit Jesu haben sich verändert, wenn sie Jesus in die
Augen geblickt haben.
• Fragen wir Maria Magdalena. „Ja, es ist wahr“, würde sie sagen.
Ich habe ihm ins Angesicht geschaut und ich bin eine reine Frau geworden.
• Fragen wir Matthäus und er würde sagen: „Ich habe ihm in die Augen geschaut
und ich bin ein ehrlicher Mann geworden.“
• Fragen wir Paulus. „Als ich Jesus getroffen habe, ist in mir eine Veränderung vor
sich gegangen vom Hass und der Verfolgung zur Liebe und zum Glauben.“
• Fragen wir Petrus. „Veränderungen fragst du? Oh ja. Ich habe mich verändert.
Meine Vorurteile gegenüber den Heiden habe ich abgelegt. Und erkannt, dass
wir alle gebrochene Männer und Frauen sind, die Heilung, Aufrichtung und
Wegweisung brauchen.“

Die Frage heute Morgen ist von daher nicht einfach: Was hat Nikodemus gesucht?
Sondern die Frage ist: Was suchen wir?
Jesus hat unterschiedlichen Menschen ganz verschiedene Dinge gegeben.

Und er erklärt es mit einem Bild, das für den Rabbiner, der spitzenmässig bibelfest ist,
in puncto Bibelkunde natürlich vertraut ist. Damals in der Wüste, als Gott, um den
Ungehorsam des Volkes zu bestrafen, feurige Schlangen geschickt hat, die die Leute
gebissen und getötet haben, hat er Mose die Anweisung gegeben, eine Schlange aus
Bronze an einer Stange aufzurichten, damit jeder, der sie ansieht, am Leben bleibt.
Tatsächlich: Wer dieses Mahnmal anschaute, bei dem wirkte Gott das Wunder, dass
das Schlangengift ihn nicht getötet hat.

Was Jesus hier vorhersagt, das ist seine Kreuzigung. Weil, dass er uns etwas geben
kann, liegt nicht einfach darin, dass es so schön ist, ihm zu begegnen und in die Augen
zu schauen.

Sondern es liegt darin, dass er am Kreuz erhöht worden ist, damit jeder, der glaubt und
ihn anschaut, wie die Schlange damals in der Wüste, durch ihn das ewige Leben hat.
Dass das Gift, das in seinem Leben ist, gelöscht wird. Und dann kommt der Satz, der
von vielen als der schönste und zentralste Satz der Bibel angesehen hat:
Johannes 3, 16. Und Nikodemus, der neugierige Lehrer, der sich traut, seinen Status zu
riskieren, um bei Nacht den Unruhestifter zu treffen, wird gewürdigt, dass er ihn
persönlich zugesprochen bekommt. Denn Gott hat die Menschen so sehr geliebt, dass
er seinen einzigen Sohn für sie hergab. Jeder, der an ihn glaubt, wird nicht zugrunde
gehen, sondern das ewige Leben haben. Amen.

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