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Manuskript

Bayern2Radio - radioWissen

Nicht zur Bestie geboren -


Wie aus ganz normalen Menschen Massenmörder werden

Autor: Matthias Fink


Redaktion: Hildegard Hartmann

Erzählerin:
Im Juni 1942 wurde das Reserve-Polizeibataillon 101 nach Ostpolen verlegt und
bezog Quartier im Bezirk Lublin. Das Besatzungsregime im Osten und was dort
geschah war den rund 500 Männern bis dahin aus eigener Anschauung nicht
bekannt, doch vorher, noch in Hamburg war das Bataillon an der Deportation der
Juden aus Norddeutschland beteiligt gewesen. Die Reservisten des
Polizeibataillons 101 hatten Wachdienst bei der Registrierung der Juden und
deren Verladung in die Züge. Ein Teil von ihnen war als Begleitmannschaft mit
diesen Deportationszügen in den Osten gefahren, nach Lodz, Riga und Minsk.

Soldat:
Dieses Fahrtziel erfuhren wir erst während der Reise, als wir bereits Warschau
passiert hatten. In Minsk wurde unser Transport nun von einem SS-Kommando
erwartet. Gleichfalls ohne Bewachung wurden die Juden hier nun auf
bereitstehende LKWs verladen und abgefahren. Lediglich ihr Gepäck, das sie von
Hamburg aus mitnehmen durften, mussten sie im Zug zurücklassen. Es hieß, es
würde ihnen nachgefahren. Auch unser Kommando ist dann anschließend zu
einer russischen Kaserne gefahren, in der ein aktives Polizeibataillon
untergebracht war. In unmittelbarer Nähe befand sich das Judenlager. Hier
sollten wir die Nacht verbringen, um am nächsten Tage zurückzufahren. Aus
Gesprächen mit Angehörigen des vorgenannten Polizeibataillons erfuhren wir,
dass diese Einheit schon seit Wochen in Minsk Juden erschossen hatte. Wir
schlossen daraus, dass auch unsere Hamburger Juden dort erschossen werden
sollten.

Erzählerin:
Die Männer des Reserve-Polizeibataillons 101 wussten also, was mit den Juden
im Osten gemacht wurde – kein Arbeitseinsatz, wie es immer hieß. Auf die Juden
wartete der Tod durch die Hand deutscher Soldaten.
Von den Angehörigen des Reserve-Polizeibataillons 101 liegen schriftliche
Protokolle ihrer Aussagen vor, die sie bei Vernehmungen durch die
Staatsanwaltschaft Hamburg gemacht hatten. Der US-amerikanische Historiker
Christopher Browning hat diese Akten ausgewertet. Sein Buch "Ganz normale
Männer" ist die Grundlage für diese Sendung. Es geht um elf Offiziere und

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weitere 486 Männer, Unteroffiziere und Mannschaften zusammengerechnet; dazu


noch fünf Verwaltungsangestellte. Bis auf die Offiziere waren fast alle erst nach
dem Überfall auf die Sowjetunion eingezogen und in Hamburg ausgebildet
worden. Das Durchschnittsalter lag bei 39 Jahren. In der Mehrzahl arbeiteten die
Männer vorher als ungelernte Arbeiter im Hamburger Hafen, oder als LKW-
Fahrer; einige waren selbständige Handwerker.
Mit der Morgendämmerung des 13. Juli 1942 trafen Mannschaftslastwagen mit
den Männern des Reserve-Polizeibataillons 101 bei Jozefow ein, einer kleinen
Ortschaft im Süden des Bezirks Lublin, in der zu diesem Zeitpunkt etwa 1 800
Juden lebten. Am Ortsrand von Jozefow ließ der Bataillonskommandeur, Major
Wilhelm Trapp, die Männer von den Lastwagen absitzen und im Halbkreis
antreten.

Soldat:
Er gab bekannt, dass wir in dem vor uns liegenden Ort eine Erschießungsaktion
durchzuführen hätten und brachte dabei auch ganz klar zum Ausdruck, dass es
Juden seien, die wir erschießen sollten. Während seiner Ansprache erinnerte er
uns daran, an unsere Frauen und Kinder in der Heimat zu denken, die dort
Bombenangriffe zu erdulden hätten. Insbesondere sollten wir daran denken, dass
viele Frauen und Kinder bei diesen Bombenangriffen ihr Leben lassen müssen.
Mit dem Gedanken an diese Tatsachen würde es uns leichter fallen, die Befehle
während der bevorstehenden Aktion auszuführen. Major Trapp erwähnte, dass
diese Aktion ganz und gar nicht in seinem Sinne sei, sondern dass er diesen
Befehl von höherer Stelle bekommen hätte.

Erzählerin:
Nach den Aussagen der Bataillonsangehörigen muss ihrem Kommandanten
dieser Befehl ziemlich unangenehm gewesen sein. Major Wilhelm Trapp, 53 Jahre
alt, Träger des Eisernen Kreuzes Erster Klasse aus dem Ersten Weltkrieg, galt bei
seinen Männern als umsichtiger und fürsorglicher Offizier, den sie deshalb auch
"Papa Trapp" nannten. Diesem guten Verhältnis zwischen Kommandant und
Truppe entsprach offenkundig das überraschende Angebot, das der Major dann
seinen Männern machte.

Soldat:
Als Abschluss seiner Ansprache richtete der Major an die Älteren des Bataillons
die Frage, ob welche darunter seien, die sich dieser Aufgabe nicht gewachsen
fühlten. Zunächst hatte niemand den Mut, sich zu melden. Ich bin dann als
Einziger vorgetreten und habe damit bekundet, dass ich einer von denjenigen
sei, der dieser Aufgabe nicht gewachsen sei. Erst dann meldeten sich weitere
Kameraden. Wir waren dann etwa 10 – 12 Mann, die sich zur Verfügung des
Majors halten mussten.

Erzählerin:
Aus weiteren Zeugenaussagen geht hervor, dass der Kommandant nicht nur den
Älteren die Möglichkeit eröffnet hatte, an der Erschießung nicht teilnehmen zu
müssen. Tatsächlich waren unter den zehn bis zwölf Männern, die sich gemeldet
hatten, auch Jüngere. Jedenfalls müssen alle gut 500 Mann des Bataillons das
Angebot des Majors gehört haben, das ihnen den Ausweg eröffnete, sich an der
Mordaktion nicht beteiligen zu müssen. Und offensichtlich spielte es keine Rolle,
ob man zu den Älteren oder Jüngeren zählte.

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Soldat:
In diesem Zusammenhang erinnere ich, dass sich über meine Meldung mein
Kompaniechef Hoffmann sehr erregte. Ich erinnere, dass er dem Sinne nach
sagte: "Am besten gleich mit umlegen, den Kerl!" Major Trapp schnitt ihm aber
das Wort ab.

Erzählerin:
Der Bataillonskommandant schützte also jene, die nicht schießen wollten.
Trotzdem trat zunächst nur einer der Reservepolizisten vor, und erst danach
meldeten sich noch weitere Männer. Insgesamt zehn bis zwölf – von 500. Sie
gaben ihre Waffen ab und mussten sich für neue Befehle ihres Kommandanten
bereithalten.
Der Historiker Christopher Browning schildert, was danach geschah:

Historiker:
Der Bataillonskommandeur rief sodann die Kompanieführer zu sich und
informierte sie über ihre jeweiligen Aufgaben. Zwei Züge der dritten Kompanie
sollten das Dorf umstellen. Sie erhielten den ausdrücklichen Befehl, jeden zu
erschießen, der einen Fluchtversuch wagen sollte. Die übrigen Männer sollten die
Juden zusammentreiben und zum Marktplatz bringen. Alle Juden, die zu krank
oder zu schwach seien, um zum Marktplatz zu laufen, und alle, die Widerstand
leisteten oder versuchten, sich zu verstecken, sowie alle Kinder müssten auf der
Stelle erschossen werden. Anschließend sollten einige Männer aus der 1.
Kompanie die auf dem Marktplatz selektierten "Arbeitsjuden" in ein Lager
eskortieren, während der Rest der 1. Kompanie den Befehl hatte, zum Wald
vorzurücken und Erschießungskommandos zu bilden.

Soldat:
Ich weiß auch, dass nach diesem Befehl gehandelt wurde, denn als ich während
der Räumung durch das Judenviertel ging, habe ich überall erschossene Greise
und Säuglinge gesehen. Ich weiß auch, dass während der Räumung sämtliche
Insassen eines jüdischen Krankenhauses von den Durchsuchungstrupps
erschossen wurden.

Erzählerin:
Keine der Aussagen der Beteiligten lässt den Schluss zu, dass auch nur einer von
den Angehörigen der Suchtrupps versucht hat, Juden, die sich versteckt hatten,
bewusst zu übersehen, beziehungsweise sie gar laufen zu lassen. Wer nicht
gehen wollte oder konnte, wurde gemäß dem Befehl des Kommandanten
erschossen, die anderen zum Marktplatz getrieben. Dort sortierte man etwa 300
arbeitsfähige Männer aus und führte diese zum Bahnhof ab, von wo sie in ein
Lager nahe Lublin deportiert wurden. Währenddessen führte der Bataillonsarzt
den Männern von der 1. Kompanie vor, wie sie die Juden zu erschießen hätten.

Soldat:
Ich entsinne mich genau, dass er zu dieser Demonstration noch den Umriss eines
menschlichen Körpers, zumindest von der Schulterpartie aufwärts, aufzeichnete
oder andeutete und dann genau den Punkt bezeichnete, auf den das
aufgepflanzte Seitengewehr als Hilfsmittel angesetzt werden sollte.

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Erzählerin:
Nach der Instruktion durch den Arzt brachte ein Lastwagen das
Erschießungskommando zu einem nahe gelegenen Wald, wo man auf die Opfer
wartete. Christopher Browning:

Historiker:
Als der erste Lastwagen mit 35 bis 40 Juden eintraf, nahm ihnen gegenüber eine
gleiche Anzahl von Polizisten Aufstellung. Jeder übernahm einen gefangenen und
marschierte mit seinem Opfer den Waldweg entlang. An einer Stelle, die von
Hauptmann Wohlauf bezeichnet wurde, der den ganzen Tag über eifrig
Exekutionsplätze aussuchte, bog die Gruppe dann vom Weg ab. Kammer befahl
den Juden sodann, sich in einer Reihe hinzulegen. Die Polizisten traten hinter sie,
setzten das Bajonett weisungsgemäß an einem Wirbel oberhalb der
Schulterblätter an und schossen gemeinsam auf Kammers Kommando.
Inzwischen waren zur Bildung eines zweiten Exekutionskommandos noch mehr
Polizisten aus der 1. Kompanie am Waldrand eingetroffen. Während nun das
erste Erschießungskommando aus dem Wald zum Entladeplatz marschierte,
brachte die zweite Gruppe ihre Opfer auf demselben Weg in den Wald. Diesmal
bestimmte Wohlauf eine Stelle, die ein paar Meter von der ersten entfernt lag,
damit die nächsten Opfer nicht die Leichen von der vorherigen Exekution sahen.
Diese Gruppe von Juden wurde ebenfalls gezwungen, sich mit dem Gesicht nach
unten in einer Reihe hinzulegen, und auch die Erschießungsmethode war die
gleiche. Den ganzen Tag über ging der "Pendelverkehr" der beiden
Erschießungskommandos zwischen Entladeplatz und Wald weiter.

Erzählerin:
Erst bei Einbruch der Dunkelheit, gegen 21 Uhr, war das Morden beendet. Die
Männer des Reserve-Polizeibataillons 101 hatten an diesem Tag nahe der kleinen
Stadt Jozefow etwa 1 500 Menschen umgebracht. Die Beschreibungen, wie dies
vor sich ging, weisen barbarische Details auf.

Soldat:
Es war aber keinesfalls so, dass derjenige, der die Erschießung der Menschen
durch eigene Hand nicht durchführen wollte oder konnte, sich von dieser Aufgabe
nicht auch fernhalten konnte. Es wurde hier keine scharfe Kontrolle durchgeführt.
Ich blieb also bei den ankommenden LKWs und betätigte mich auch an der
Ankunftsstelle, jedenfalls gab ich meinem Verhalten einen solchen Anschein. Es
ließ sich nicht vermeiden, dass der eine oder andere meiner Kameraden
bemerkte, dass ich nicht mit zur Exekution ging, um Schüsse auf die Opfer
abzufeuern. Sie bedachten mich daher mit Bemerkungen wie "Scheißkerl",
"Blutarmer" und anderem, womit sie ihr Missfallen zum Ausdruck brachten.
Irgendwelche Folgen sind für mich daraus nicht entstanden. Ich muss erwähnen,
dass ich nicht der einzige war, der sich von der Beteiligung an den
Exekutionskommandos fernhielt.

Erzählerin:
Von den rund 500 Polizisten hatten sich zu Anfang etwa zwölf freistellen lassen.
Einige hatten sich gedrückt. Eine größere Zahl ließ sich ablösen, nachdem sie
einige ihrer Opfer per aufgesetztem Genickschuss umgebracht hatten.

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Soldat:
Durch den Schuss wurde meinem Juden das gesamte hintere Schädeldach
abgerissen und das Gehirn bloßgelegt. Teile des Schädels sind dabei meinem
Zugführer ins Gesicht geflogen. Dies war für mich der Anlass, nach Rückkehr
zum Wagen zu unserem Spieß zu gehen und um meine Ablösung zu bitten. Mir
war durch den Vorfall derartig übel geworden, dass ich einfach nicht mehr
konnte. Vom Spieß bin ich dann auch abgelöst worden.

Erzählerin:
Das Motiv, sich von dieser grausamen Aktion befreien zu lassen, war also nicht,
dass man das Töten unschuldiger Menschen an sich für falsch oder abartig hielt,
sondern man konnte die Umstände nicht ertragen.

Soldat:
Nachdem ich eine Erschießung durchgeführt hatte und zur nächsten Erschießung
am Abladeplatz mir als Opfer eine Mutter mit Tochter zugeteilt wurde und ich mit
diesen ins Gespräch kam und erfuhr, dass sie Deutsche aus Kassel waren, fasste
ich den Entschluss, mich nicht mehr an Exekutionen zu beteiligen. Mir war die
ganze Sache jetzt so zuwider, dass ich erneut zu meinem Zugführer ging und
ihm erklärte, dass mir immer noch übel sei und ich nicht mehr könne und um
meine Ablösung bitte.

Erzählerin:
Hätte er weitergemacht, wenn Mutter und Tochter polnische Jüdinnen gewesen
wären. Was immer die Motive gewesen sein mögen, der Historiker Christopher
Browning stellt nach dem Studium der Ermittlungsakten fest: Zwischen zehn und
zwanzig Angehörigen der Bataillonsangehörigen hatten sich freistellen lassen
oder sich gedrückt oder um ihre Ablösung gebeten. Im Umkehrschluss bedeutet
das: Zwischen achtzig und neunzig Prozent hatten weitergemacht, bis die 1 500
Juden von Jozefow am Ende alle umgebracht waren. Als die Männer in der Nacht
in ihre Unterkunft zurückkehrten, waren sie bedrückt, empört, verbittert, und es
soll viel Alkohol geflossen sein in jener Nacht – so die Aussagen der Beteiligten.

Soldat:
Ich werde verrückt, wenn ich so was wieder machen muss.

Erzählerin:
... hat einer gerufen. Aber sie wurden nicht verrückt. Und keiner verweigerte den
Befehl. Aus den Reservisten wurden mit der Zeit höchst effiziente und gefühllose
Henker. Das Massaker an den Juden von Jozefow war nämlich erst der Anfang.

Erzählerin:
Das Reserve-Polizeibataillon 101 war beteiligt an der Ermordung von mindestens
38 000 Menschen und an der Deportation von mindestens 45 000 Menschen in
das Vernichtungslager Treblinka. Das bedeutet: die Zahl der Opfer dieser Männer
liegt bei 83 000 Menschen, und das in einem Zeitraum zwischen Juli 1942 und
November 1943. Mit einer Brutalisierung durch den Krieg lässt sich das nicht
erklären. Das Bataillon war nie im direkten Kriegseinsatz und agierte fern ab von
Kampfhandlungen. Aktionen wie die gegen die Juden von Jozefow hatten auch
nichts mit Partisanenbekämpfung zu tun – die Frauen und Kinder, die Alten und

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die Gebrechlichen, die sich nicht mehr aus ihren Betten erheben konnten, waren
keine Widerstandskämpfer.

Soldat:
Wenn mir die Frage gestellt wird, weshalb ich überhaupt zuerst mit geschossen
habe, so muss ich dazu sagen, dass man nicht gern als Feigling gelten wollte.

Erzählerin:
Danach ist der kein Feigling, der unschuldige Zivilisten aus ihren Betten holt und
erschießt, sondern der, der nicht mitmacht. Wenn man überhaupt von Zwang
sprechen kann, dann kam der vom Druck der Gruppe. Denn die Männer vom
Bataillon 101 handelten keineswegs unter direktem Zwang.

Soldat:
Ich muss vor allen Dingen mit aller Entschiedenheit sagen, dass sich für die
Exekutionskommandos auf eine entsprechende Anfrage der Vorgesetzten
grundsätzlich genug Freiwillige gemeldet haben. Ich muss noch hinzufügen, dass
sich sogar zu viele Freiwillige gemeldet haben, so dass einige zurückgestellt
werden mussten.

Erzählerin:
Wie ist das möglich?

Historiker:
Die Deutschen fühlten sich zur Zeit des Nationalsozialismus einem normativen
Modell verpflichtet, das die Erniedrigung und Verfolgung anderer Menschen nicht
verurteilte, sondern forderte, und das im letzten Drittel des "Dritten Reiches"
auch vorsah, dass es notwendig und gut sei, zu töten.

Erzählerin:
... schreibt der Sozialpsychologe Harald Welzer in seiner Studie "Täter – Wie aus
ganz normalen Menschen Massenmörder werden". Die Nationalsozialisten hatten
einen so genannten "Referenzrahmen" aufgebaut, erklärt Welzer. Und innerhalb
dieses Referenzrahmens, der die Juden zu absoluten Parias der Gesellschaft
machte, war Schritt für Schritt alles erlaubt. Zuerst wurden die Juden aus ihren
Berufen entfernt, aus Schulen, aus Universitäten, aus Vereinen und und und ...
bis es keinen Kontakt mehr gab. Dann definierte ein Gesetz die Gruppe und wer
sich trotzdem mit ihnen einließ, beging Rassenschande und kam ins Zuchthaus.
Dann verloren sie ihren Besitz. Immer heftiger wurde die Schraube der
Unterdrückung angezogen, bis sie – gekennzeichnet durch einen gelben Stern an
der Kleidung – vollständig aus der Gesellschaft ausgeschlossen waren und
schließlich ganz entfernt, sprich deportiert wurden.

Soldat:
Der Jude wurde von uns nicht als Mensch anerkannt.

Erzählerin:
... erklärte zwei Jahrzehnte später einer aus dem Reserve-Polizeibataillon 101
den Ermittlungsbeamten. Wenn dem so ist, dann ist alles möglich, dann dürfen
auch Kinder, Frauen, Männer, Alte, Gebrechliche erschossen werden, weil es der
geltenden Moral entspricht – schreibt der Sozialpsychologe Harald Welzer.

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Historiker:
Der gesellschaftlichen Aufforderung zur Unmenschlichkeit, wie sie von der
nationalsozialistischen Moral ausgeht, wird individuell gefolgt, indem
unterschiedliche Formen unmenschlichen Handelns gewählt werden. Die
nationalsozialistische Moral definiert, was getan werden soll, die Rollendistanz
reguliert zwischen diesem Sollen und dem individuellen Wollen.

Soldat:
Ich habe mich, und das war mir möglich, bemüht, nur Kinder zu erschießen. Es
ging so vor sich, dass die Mütter die Kinder bei sich an der Hand führten. Mein
Nachbar erschoss dann die Mutter und ich das dazugehörige Kind, weil ich mir
aus bestimmten Gründen sagte, dass das Kind ohne seine Mutter doch nicht
mehr leben konnte. Es sollte gewissermaßen eine Gewissensberuhigung für mich
selbst sein, die nicht ohne ihre Mutter mehr lebensfähigen Kinder zu erlösen.

Erzählerin:
Erklärungen wie diese mögen heutzutage blankes Entsetzen auslösen – für den
Täter wirken sie entlastend. Er hatte bei etwas mitgewirkt, was innerhalb des
geltenden Denkschemas "normal" und deshalb erlaubt war. Also brauchte man
auch keine Zweifel an der Richtigkeit und an der Notwendigkeit des eigenen Tuns
aufkommen lassen. Man hatte den Opfern ihre Menschlichkeit genommen. Und
so konnten aus ganz normalen Männern schreckliche Massenmörder werden.
Es gab Ausnahmen – wenige – wie die Dutzend Reservepolizisten, die sich vor
der Massenerschießung in Jozefow meldeten, weil sie daran nicht teilnehmen
wollten. Der Militärhistoriker Wolfram Wette schätzt: Unter den rund 19 Millionen
Angehörigen der Wehrmacht waren etwa hundert, die sich bei bestimmten
Gelegenheiten dafür entschieden, Menschen zu helfen, anstatt sie zu töten oder
sie ihrer Ermordung auszuliefern. Diese hundert waren im Sinne der NS-Moral
"nicht normale Männer". Primo Levi, Überlebender des Vernichtungslagers
Auschwitz-Birkenau, schrieb später:

Historiker:
Wer gefährlich ist, das sind die normalen Menschen.

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