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Thema 2, Modul 5, Auftrag 6

Interview
Der Moment, an dem junge Schweizer nicht mehr mit
ihren Schulden klarkamen.
von Timothy Frey, 13. Februar 2018

Schulden sind ein wenig wie Herpes. Es braucht nicht viel, um sie zu bekommen,
sie loszuwerden aber kann zu einer Mammutaufgabe werden. Mit der Kreditkarte
mal schnell einen Flug buchen oder einen schlechten Tag im Büro mit exzessivem
Online-Shopping kompensieren, ist heute kein Problem mehr. Kreditgeber locken
mit träumerischen Werbungen und die 600-Franken-Jacke kannst du dir ohne
Probleme auf Rechnung bestellen. Wir haben mit jungen Menschen über den Tag
gesprochen, an dem ihnen bewusst wurde, dass ihnen ihre Schulden über den Kopf
gewachsen sind.

Jonas*, 24
Wann hast du realisiert, dass du ein Schulden­problem
hast?
Als ich bei der Arbeit von der Polizei besucht wurde. Weil
ich Rechnungen, Mahnungen und Pfändungsandrohun-
gen immer ignoriert und zuhause nie die Türe geöffnet
hatte, wenn jemand vom Amt klingelte, ist die Polizei
vorbeigekommen. Es war mir extrem peinlich. Im Geschäft
habe ich erzählt, dass ich am Wochenende zuvor Zeuge eines Verbrechens gewor-
den bin und eine dringende Zeugenaussage machen sollte. Die Lohnpfändung
konnte ich nur abwenden, weil mein Vater für mich gebürgt hat und ich 1000 Fran-
ken sofort bezahlt habe. Es war nicht wirklich cool, mit zwei Polizisten an einen
Geldautomaten zu gehen und gleich­zeitig meinen Vater am Telefon zu bitten, sei-
nen Kopf für mich hinzuhalten.

Wie viel Schulden hattest du?


Ich habe Verlustscheine über knapp 11 000 Franken. Anfangs habe ich es gar nicht
bemerkt. Ich bin relativ unbelastet von zuhause ausgezogen und habe mir über
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meine finanzielle Situation nicht viele Gedanken gemacht. Irgendwann habe ich
mir eine Kreditkarte angeschafft, um einfacher Flüge zu buchen und auch um mich
online mal wieder neu einzukleiden. Eines führte zum anderen.

Du konntest 11 000 Franken von deiner Kreditkarte buchen?


Nein. Die Limite war bei 3000 Franken. Als ich diese erreicht hatte, fing ich an,
Sachen auf Rechnung zu bestellen. Immer mehr und mehr, das zog sich so um die
vier Monate hin.

Was hast du gekauft für so viel Geld?


Ich wollte das neuste iPhone, einen grossen Flatscreen und ein paar neue Fussball-
schuhe. Immer das t­ euerste und neueste. Am Schluss hatte ich vier Accounts bei
einem bekannten Onlineversand für Kleidung, weil ich mir teure Markenklamotten
auf Rechnung bestellen wollte.

Linus*, 23
Wann hast du gemerkt, dass du richtig tief in den
Schulden drin bist?
Als ich aus meiner ersten Wohnung geflogen bin. Damals
konnte ich nach meiner Lehre im gleichen Betrieb weiter-
arbeiten und verdiente 4700 Franken im Monat. Nachdem
ich bei meinen Eltern ausgezogen bin, fing ich an, viel zu
kiffen und verlor nach nicht mal einem Jahr meinen Job.
Aus Stolz habe ich meinen Eltern nichts gesagt und bin nach drei Monaten aus der
Wohnung geflogen. Der Vermieter stand vor der Tür und drohte mir mit der Polizei.
So kam alles ans Licht und ich musste fürs Erste zu meinen Eltern zurück. Jetzt
wohne ich bei Freunden und bin bei meinen Eltern angemeldet.

Wie hoch sind dein Schulden?


Ich habe rund 8000 Franken Schulden. Im Moment.

Du sagst das so, als ob das kein grosses Problem sei, wieso?
Seit fast drei Jahren schon schlage ich mich mit Schulden durchs Leben. Irgend-
wann habe ich mich daran gewöhnt. Momentan schaffe ich es immer noch, meine
finanziellen Pflichten zu erfüllen, da ich wieder arbeite.
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Hattest du kein Erspartes?


Ich habe sehr viel Geld für Gras ausgegeben. Im Ausgang gönnte ich mir oft sehr
viel und lud regelmässig meine Freunde ein. Es ging mir damals nicht so gut und
ich versuchte, mir eine schöne Zeit zu erkaufen.

Sam*, 32
Wie war das bei dir, als du gemerkt hast, wie tief du
verschuldet bist?
Das war überhaupt nicht schön. Zuerst hat jemand vom
Betreibungsamt bei mir geklingelt und wollte wissen,
wieso ich meine Rechnungen nicht bezahle. Ich hatte
keinen Überblick mehr über meine Schulden und
war total überfordert. Als er mir erzählte, wie schlecht es
um mich steht, brach ich fast zusammen und fühlte mich den ganzen Tag richtig
mies! Ich war damals 26 Jahre alt und musste meine Eltern um Hilfe bitten. Leider
konnten sie mir nicht aushelfen und so wurden einige meiner Wertgegenstände
gepfändet. Ein richtig komisches Gefühl, wenn dir fremde Menschen deine Sachen
wegnehmen und aus der Wohnung tragen.

Wie hoch stapeln sich bei dir die offenen Rechnungen?


Nicht mehr so hoch, zum Glück. Zu den schlimmsten Zeiten hatte ich knapp
23 000 Franken Schulden. Ich versuche gerade, alles loszuwerden.

Wie machst du das?


Ich habe eine gut bezahlte Arbeit und kann jeden Monat einiges zurückzahlen.
Vor einem Jahr habe ich einen Kredit aufgenommen, um alle meine offenen Rech-
nungen auf einmal zurückzuzahlen. Jetzt schulde ich nur noch der Kreditgesell-
schaft Geld. Im Moment bezahle ich fast 600 Franken pro Monat zurück. Wenn ich
das durchziehen kann, bin ich nächstes Jahr schuldenfrei.

Wie hast du überhaupt so viele Schulden angehäuft?


Ich habe eine ziemlich schmerzhafte Trennung durchgemacht. Danach war ich
einfach nicht mehr ich selbst und habe angefangen, unseriös mit meinem Geld
umzugehen. Das Unnötigste, was ich mir geleistet habe, war wohl ein Fernseher für
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3200 Franken. So ging das weiter, bis ich völlig die Kontrolle verloren habe. Mehrere
Kreditkarten und ganz viele Dinge auf Rechnung brachten das Fass zum Überlaufen.

 *Name der Redaktion bekannt

Quelle: https://www.vice.com/de/article/pamgek/schulden-schweiz-jugendliche-junge-geld-dech

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