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2022

Thomas Platz (Hg.)

Update
Neurorehabilitation

Summer School Neurorehabilitation


Alfried Krupp Wissenschaftskolleg Greifswald
Update Neurorehabilitation 2022
Th. Platz (Hg.)

Update
Neurorehabilitation
2022
Tagungsband zur
Summer School Neurorehabilitation
HERAUSGEBER

Prof. Dr. med. Thomas Platz


Ärztlicher Direktor Forschung
Leiter Institut für Neurorehabilitation und Evidenzbasierung,
An-Institut der Universität Greifswald

BDH-Klinik Greifswald GmbH


Zentrum für NeuroRehabilitation, Beatmungs-
und Intensivmedizin · Querschnittgelähmtenzentrum
Karl-Liebknecht-Ring 26a
17491 Greifswald
T.Platz@bdh-klinik-greifswald.de

Update Neurorehabilitation 2022 – Tagungsband zur Summer School Neurorehabilitation


Thomas Platz (Hg.)
Hippocampus Verlag, Bad Honnef 2022
ISBN 978-3-944551-77-7

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Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie, detaillierte bib-
liografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

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Aus Gründen der Übersichtlichkeit und besseren Lesbarkeit wird in diesem Buch das generische Maskulinum
als geschlechtsneutrale Form verwendet. Damit sind auch ohne besondere Kennzeichnung immer alle Ge-
schlechter gemeint.

Die Medizin ist eine Wissenschaft mit ständigem Wissenszuwachs. Forschung und Weiter­ent­wicklung klinischer
Verfahren erschließen auch gerade in der Pharmako­therapie veränderte An­wendungen. Die Verfasser dieses
Werkes haben sich intensiv bemüht, für die verschiedenen Medikamente in den jeweiligen Anwen­dungen
exakte Dosierungs­hinweise entsprechend dem aktuellen Wis­sens­stand zu geben. Diese Dosierungs­hin­weise
entsprechen den Standardvorschriften der Her­steller. Verfasser und Verlag können eine Gewährleistung für die
Richtigkeit von Dosierungsangaben dennoch nicht übernehmen. Dem Praktiker wird dringend empfohlen, in
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lagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten.

Satz & Layout: Hippocampus Verlag


Titelbild: © Sebastian Kaulitzki /Fotolia
Druck: TZ Verlag & Print, Roßdorf
© 2022 by Hippocampus Verlag, PF 1368, 53583 Bad Honnef
www.hippocampus.de
V

Vorwort

I m Juni 2022 fand die fünfte Summer School „Neurorehabilitation“ im Alfried Krupp
Wissenschaftskolleg Greifswald mit finanzieller Unterstützung der Alfried Krupp von
Bohlen und Halbach-Stiftung, Essen, statt.
Die für jedes zweite Jahr in Greifswald geplante Summer School richtet sich an Mit-
arbeiterinnen und Mitarbeiter der ärztlichen, pflegerischen und der therapeutischen
Dienste gleichermaßen und ist damit für die persönliche Fortbildung wie auch für die
Teamentwicklung geeignet. Die Summer School „Neurorehabilitation“ möchte mit ei-
nem kompakten Weiterbildungsformat den aktuellen Stand der klinischen Wissenschaft
darstellen. Neurorehabilitative Schwerpunkte wie Beatmungsentwöhnung (Weaning),
Behandlung schwerer Bewusstseinsstörungen, Dysphagie-Management, Armmotorik,
Stehen und Gehen, Behandlung von Spastik, Förderung von Sprache, visueller Wahrneh-
mung, Kognition und Emotion wurden thematisiert, aber auch allgemeinere Aspekte wie
Assessment, Behandlungsziele und Teamarbeit oder neurobiologische Grundlagen der
Neurorehabilitation.
Die Themen bilden einerseits ein Europäisches Curriculum „Neurorehabilitation“ ab.
Andererseits ist die Summer School „Neurorehabilitation“ eine Fortbildungsinitiative der
Weltföderation Neurorehabilitation WFNR und könnte modellhaft für ähnliche Aktivitä-
ten weltweit werden.
Dieser Begleitband „Update Neurorehabilitation 2020“ möchte wichtige Fortbildungs-
inhalte einer breiten Leserschaft zur Verfügung stellen und damit auch all diejenigen er-
reichen, die sich über diese Themen informieren möchten, ohne dass sie selbst an der
Summer School „Neurorehabilitation“ teilnehmen konnten. Der Begleitband stellt eine
Ergänzung zum E-Learning-Programm der Summer School dar. Mit dem E-Learning-Pro-
gramm haben Interessierte der Gesundheitsfachberufe nach einer Registrierung beim Al-
fried Krupp Wissenschaftskolleg Greifswald die Möglickeit, sich die Vorträge der Summer
School auch im Nachgang anzusehen.

Prof. Dr. Thomas Platz


Head, Educational Committee
World Federation for NeuroRehabilitation (WFNR)
VII

Inhalt

Vorwort. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V

1
Plastizität als Grundlage für die Erholung nach Schlaganfall . . . . . 1
K. M. Stephan, M. Lotze
1.1 Lernen und Plastizität bei gesunden Erwachsenen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1
1.2 Hirnentwicklung und Plastizität beim Kind und jungen Erwachsenen. . . . . . . . . . . 3
1.3 Postläsionelle Plastizität und postläsionelles Training als Grundlage
für therapeutische Interventionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5
1.4 Biomarker zur Verbesserung der Prognose und Stratifizierung
einer Rehabilitationsbehandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10
1.5 Können die Ergebnisse der Forschung das sensomotorische
Training optimieren? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15
1.6 Modulation von Therapieeffekten eines aktiven sensomotorischen Trainings
durch zentrale und periphere Stimulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18
1.7 Zusammenfassung und Ausblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21

2
Best-Practice-Neurorehabilitation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  27
C. Pott, K. Fheodoroff
2.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27
2.2 Personzentrierter Ansatz in der Neurorehabilitation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30
2.3 Ziele in der Neurorehabilitation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40
2.4 Maßnahmen und Interventionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51
2.5 Teamarbeit in der Neurorehabilitation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54
2.6 Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57

3 Beatmungsentwöhung (Weaning) in der neurologisch-


neurochirurgischen Frührehabilitation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  61
T. Schmidt-Wilcke, J. D. Rollnik
3.1 Einleitung und historischer Rückblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63
3.2 Grundbegriffe der Beatmungstherapie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64
3.3 Studien zum Weaning in der neurologisch-neurochirurgischen
Frührehabilitation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67
3.4. Beatmungsentwöhnung und die OPS 8-552. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68
VIII Inhalt

3.5 Rehabilitative Interventionen beim Weaning neurologisch-


neurochirurgischer Frührehabilitanden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70
3.6 Weaning-Strategien und Weaning-Protokolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71
3.7 S2k-Leitlinie „Prolongiertes Weaning in der neurologisch-neuro­-
chirurgischen Frührehabilitation“ der DGNR . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76
3.8 Jüngere Entwicklungen und künftige Herausforderungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77
3.9 Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78

4 Neurorehabilitation bei schwerer Bewusstseinsstörung. . . . . . . . 81


J. Herzog
4.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81
4.2 Klinische Syndrome schwerer Bewusstseinsstörungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82
4.3 Assessments bei schweren Bewusstseinsstörungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86
4.4 Prognosebeurteilung und apparative Zusatzdiagnostik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 87
4.5 Rehabilitative Behandlung von schweren Bewusstseinsstörungen. . . . . . . . . . . . . . 90
4.6 Verläufe schwerer Bewusstseinsstörungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93
4.7 Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95

5 Neurorehabilitation der Armfunktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  99


T. Platz, L. Schmuck
5.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99
5.2 Allgemeine Therapieüberlegungen zur Behandlung der Armparese. . . . . . . . . . 100
5.3 Zeitpunkt, Intensität und Dauer der Behandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102
5.4 Physiotherapeutische Schulen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103
5.5 Spezifische neuere übende Therapieansätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103
5.6 Technisch unterstützte Rehabilitationsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109
5.7 Vermeidung von Komplikationen: Lagerung, Taping und
passives Bewegen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113
5.8 Medikation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113
5.9 Klinisches Vorgehen bei der Auswahl der Verfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115
5.10 Assessments . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117
5.11 Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 118

6 Neurorehabilitation von Stand und Gang . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123


J. Mehrholz
6.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123
6.2 Balance, Posturale Kontrolle. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123
6.3 Gehfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127
Inhalt IX

7 Die Behandlung der Spastik im rehabilitativen Kontext. . . . . . . 139


T. Platz, J. Wissel
7.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139
7.2 Diagnostik und Assessment. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140
7.3 Therapieziele. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142
7.4 Behandlungsoptionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143
7.5 Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149

8 Neurorehabilitation des Schluckens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153


S. Hamzic
8.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153
8.2 Epidemiologie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153
8.3 Neuronale Steuerung des Schluckens. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154
8.4 Physiologischer Schluckvorgang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155
8.5 Screeningverfahren und klinische Schluckdiagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157
8.6 Bildgebende Schluckdiagnostik. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157
8.7 Rehabilitation neurogener Dysphagie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160
8.8 Fazit. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 167

9 Rehabilitation der Sprache. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173


T. Platz, I. Rubi-Fessen, C. Breitenstein
9.1  Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173
9.2 Übergeordnete Überlegungen zur Aphasie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174
9.3 Klinik und Diagnostik der Aphasie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177
9.4 Therapie der Aphasie. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184
9.5 Ergänzende Behandlungsmöglichkeiten. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191
9.6 Besonderheiten bei anderen Erkrankungsbildern mit Aphasie. . . . . . . . . . . . . . . 193

10 Neurovisuelle Neurorehabilitation – ein Update. . . . . . . . . . . . . . 199


G. Kerkhoff A.-K. Bur, M. Schreiner
10.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199
10.2 Störungen der Sehschärfe und des Kontrastsehens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199
10.3 Störungen der fovealen Hell- oder Dunkeladaptation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200
10.4 Visual Discomfort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201
10.5 Homonyme Gesichtsfeldausfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202
10.6 Störungen der konvergenten binokularen Fusion und
der Stereopsis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205
10.7 Visuelle Bewegungswahrnehmungsdefizite. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207
10.8 Visuell-räumliche Störungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 208
10.9 Störungen der Farbwahrnehmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211
X Inhalt

10.10 Visuelle Agnosien. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212


10.11 Visuelle Reizerscheinungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214
10.12 Bálint-Holmes-Syndrom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 214
10.13 Neglect . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216
10.14 Extinktion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 218
10.15 Traumatische Seh- und Okulomotorikstörungen – ein unterschätztes
Problem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219
10.15 Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .220

11 Neuropsychologische Therapie bei Störungen von


Kognition und Emotion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .  227
T. A. Klein, T. Guthke
11.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227
11.2 Aufmerksamkeits-, Gedächtnis-, exekutive, Verhaltens- und emotional-
affektive Störungen nach erworbener Hirnschädigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227
11.3 Neuropsychologische Diagnostik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 230
11.4 Neuropsychologische Therapie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 232
11.5 Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .241

Sachverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237
XI

Autoren

PD Dr. Caterina Breitenstein Prof. Dr. Georg Kerkhoff


Universitätsklinikum Münster Universität des Saarlandes
Klinik für Neurologie mit Institut für Lehrstuhl für Klinische Neuropsychologie und
Translationale Neurologie Neuropsychologische Universitäts­ambulanz
Albert-Schweitzer-Campus 1, Gebäude A1 Campus Gebäude A1.3
(ehem.: Albert-Schweitzer-Straße 33) 66123 Saarbrücken
Westturm, Ebene 05
48149 Münster

PD Dr. rer. nat. habil.


Ann-Kathrin Bur, M.Sc. Tilman A. Klein
Universität des Saarlandes Otto-von-Guericke-Universität Magdeburg,
Lehrstuhl für Klinische Neuropsychologie und Lehrstuhl für Neuropsychologie; Center for Be-
Neuropsychologische Universitäts­ambulanz havioral Brain Sciences Magdeburg
Campus Gebäude A1.3 Universitätsplatz 2
66123 Saarbrücken 39106 Magdeburg

Dr. Klemens Fheodoroff


Gailtal-Klinik Prof. Dr. med. Martin Lotze
Abteilung für neurologische Rehabilitation Universität Greifswald
Radniger Str. 12 Institut für Radiologische Diagnostik und
A-9620 Hermagor Neuroradiologie
W.-Rathenau-Str. 46
17475 Greifswald

Dr. DP Thomas Guthke


Praxis für Neuropsychologie und
Verhaltenstherapie Prof. Dr. rer. medic. habil. Jan
Clara-Zetkin-Str. 27 Mehrholz
04779 Wermsdorf SRH Hochschule für Gesundheit GmbH
University of Applied Health Sciences
Campus Gera
Dr. biol. hom. Samra Hamzic, M.A. Neue Straße 28-30
Universitätsklinikum Gießen und Marburg 07548 Gera
GmbH
Neurologische Klinik
Klinikstraße 33
35385 Gießen Prof. Dr. med. Thomas Platz
Institut für Neurorehabilitation und Evidenz­
basierung, An-Institut der Universität Greifswald
Dr. med. Jürgen Herzog BDH-Klinik Greifswald gGmbH
Schön Klinik München-Schwabing und AG Neurorehabilitation der
Parzivalplatz 4 Universitätsmedizin Greifswald
80804 München Karl-Liebknecht-Ring 26a
17491 Greifswald
XII Autoren

Claudia Pott, M.Sc. Dr. med. Linda Schmuck


NeuroPhysioReha Hausärztliche Gemeinschaftspraxis
Wettersteinstraße 8 Dr. med. Wenck & von Dalwigk
82061 Neuried Osterstraße 4
49661 Cloppenburg

Prof. Dr. med. Jens D. Rollnik


Institut für neurorehabilitative Forschung Michelle Schreiner
(InFo) der BDH-Klinik Hessisch Oldendorf Universität des Saarlandes
gGmbH Lehrstuhl für Klinische Neuropsychologie und
Assoziiertes Institut der Medizinischen Hoch- Neuropsychologische Universitäts­ambulanz
schule Hannover Campus Gebäude A1.3
Greitstr. 18–28 66123 Saarbrücken
31840 Hessisch Oldendorf

Dr. rer. medic. Ilona Rubi-Fessen PD Dr. med. Klaus Martin Stephan
Universität zu Köln Dr. Klaus Martin Stephan
Humanwissenschaftliche Fakultät SRH Gesundheitszentren Nordschwarzwald
Pädagogik und Therapie bei Sprach- und Gisela-und-Hans-Ruland-Strasse 1
Sprechstörungen 76337 Waldbronn
Klosterstr. 79b
50931 Köln
Prof. Dr. med. Jörg Wissel
Abteilung für neurologische Rehabili­t ation
Prof. Dr. med. Tobias Schmidt-Wilcke und physikalische Therapie
Neurologisches Zentrum Klinik für Neurologie
Bezirksklinikum Mainkofen Vivantes Klinikum Spandau
Mainkofen A 3 Neue Bergstraße 6
94469 Deggendorf 13585 Berlin
XIII

Abkürzungsverzeichnis

AAT Aachener Aphasie Test


ABS Arm-Basis-Training
AFS Arm-Fähigkeits-Training
ANELT Amsterdam Nijmegen Everyday Language Test
AOT aufgabenorientiertes Training
ARAT Action Research Arm Test
ASB assisted spontaneous breathing
AST Aphasie-Schnell-Test
BAR Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabilitation
BBT Box-and-Block Test
BIPAP Biphasic Positive Airway Pressure
BoNT-A Botulinumneurotoxin A
CETI Communicative Effectiveness Index
CGIS Clinical Global Impression Scale
CIMT Constraint-Induced Movement Therapy
CIP Critical Illness Polyneuropathie
COPM Canadian Occupational Performance Measure
CPAP Continuous Positive Airway Pressure
CRS Coma Recovery Scale Revised
DIMDI Deutsches Institut für Medizinische Dokumedntation und Information
dPMC dorsaler prämotorischer Cortex
DOCS Disorders of Consciousness Scale
DTI Diffusion Tensor Imaging
ES Elektrostimulation
EMG-ES EMG-getriggerte Elektrostimulation
EzPAP easy to apply Positive Airway Pressure
FDT Funktionelle Dysphagietherapie
FES funktionelle Elektrostimulation
FEES Flexible Endoscopic Evaluation of Swallowing (videoendoskopische
Schluckuntersuchung)
FIM Functional Independence Measure
FKV Freiburger Fragebogen zur Krankheitsverarbeitung
FOUR full outline of unresponsiveness score
fMRT funktionelle Magnetresonanztomographie
FOTT Therapie des faziooralen Traktes
FRB Frührehabilitations-Barthel-Index
GAS Goal Attainment Scaling
GCS Glasgow Coma Scale
GOSE Glasgow Outcome Scale extended
XIV Abkürzungsverzeichnis

HAPA Health Action Process Approach


HIE hypoxisch-ischämische Enzephalopathie
HME Heat Moisture Exchanger
ICF International Classification of Functioning, Disability and Health
ICHI International Classification of Health Interventions
ICIDH International Classification of Impairment, Disability and Health
IRT Item-Response-Theorie
ITB intrathekales Baclofen
KRS Koma-Remissions-Skala
KTT Klassische Test-Theorie
LIN Lagerung in Neutralstellung
LIS Locked-in-Syndrom
LTD long term depression
LTP long term potentiation
M1 Pyramidenbahn
MBT-R motor behaviour tool-revised
MCS minimally conscious state
MEP motorisch evozierte Potentiale
MRT Magnetresonanztomographie
NCS Nociception Coma Scale
NMES neuromuskuläre Elektrostimulation
NNFR neurologisch-neurochirurgische Frührehabilitation
PEEP positive endexpiratory pressure
PMC prämotorischer Cortex
PREM patient reported experience measure
PREP predicting recovery potential
PRO patient reported outcome
REPAS Resistance to passive movement scale
RUMBA relevant understandable measurable behaviorable achievable
rTMS repetitive transkranielle Magnetstimulation
SAFE-Score shoulder abduction, finger extension score
SBS schwere Bewusstseinsstörung
SDM Shared Decision Making
SMART specific measurable achievable relevant timed
SMB Syndrom minimalen Bewusstseins
SMD spastic movement disorder
SRW Syndrom reaktionsloser Wachheit
SSEP somatosensibel evozierte Potentiale
tDCS Transcranial Direct Current Stimulation (transkranielle Gleichstrom-
stimulation)
TMS transkranielle Magnetstimulation
UMNS upper motor neuron syndrome
UWS unresponsive wakefulness syndrome
VAMS Visual Analog Mood Scale
VFSS videofluoroscopic swallowing study
vPMC ventraler prämotorischer Cortex
1

1
Plastizität als Grundlage für die Erholung nach
Schlaganfall
Klaus Martin Stephan, Martin Lotze

Was ist Plastizität? Plastizität beschreibt rische Therapieansätze in ihrer Wirksam-


die Eigenschaft des Gehirns veränder- keit an bestimmte Zeitfenster gebunden?
bar zu sein. Die Plastizität des Gehirns Gibt es neurobiologische Kriterien, die bei
hält über das gesamte Leben an und er- der Entscheidung, ob ein Patient stationär
laubt uns, auf Veränderungen in der Um- oder ambulant behandelt wird, berück-
gebung zu reagieren und sich an neue sichtigt werden sollten? Auf alle diese Fra-
Lebensbedingungen anzupassen (Zilles gen wollen wir in unseren Ausführungen
1992). Anpassung an interne oder externe eingehen.
Anforderungen kann mit anatomischen
Veränderungen im Gehirn einhergehen.
Dementsprechend ist sowohl beim gesun- 1.1
den Menschen als auch bei Patienten nach
Lernen und Plastizität bei gesunden
Schlaganfall der Erwerb von Fähigkeiten
Erwachsenen
durch gezieltes Üben und durch Erfahrung
mit Veränderungen im Gehirn verbunden. Der Erwerb von Fähigkeiten durch geziel-
Im folgenden Kapitel werden wir uns tes Üben und durch Erfahrung ist mit Ver-
zunächst mit der Plastizität bei Gesun- änderungen im Gehirn verbunden. Das
den beschäftigen (beim Erwachsenen und kann schon nach wenigen Minuten repeti-
beim Kind), dann mit den Grundlagen der tiven Übens durch eine Vergrößerung des
Plastizität bei der Erholung nach Schlagan- die Bewegung repräsentierenden motori-
fall. Diese eher theoretischen Ausführun- schen Kortex nachgewiesen werden: Ein
gen über die Plastizität helfen jedoch bei vorher z. B. die Daumenabduktion reprä-
der Beantwortung ganz praktischer Fra- sentierendes Gebiet im primären Motor-
gen: Vermittelt uns dieses Wissen neuro- kortex (M1) repräsentiert nach 20-minü-
biologisch begründete Informationen über tigem Training der Daumenadduktion die
den natürlichen Verlauf und den prognos- trainierte Funktion (Classen et al. 1998).
tischen Wert von Biomarkern? Werden neuronale Netze wiederholt
Und welche Relevanz haben die ge- genutzt, so setzen sie sich gegenüber den
wonnenen Erkenntnisse für Alltagsfragen weniger genutzten durch – ein Modell, das
und die praktische Tätigkeit im Rehabili- Hebb bereits 1949 beschrieben hatte (Hebb
tationsverlauf? Kann eine neurologische 1949). Diese gefestigten neuronalen Netze
Rehabilitationsbehandlung z.  B. wegen bilden vermehrt Synapsen und Axone aus,
der Gefahr einer Corona-Infektion beden- was dann zu einer Vergrößerung der grau-
kenlos zeitlich nach hinten verschoben en Substanz führen kann. Diese Verände-
werden? Sind verschiedene sensomoto- rungen sind wiederum durch bildgeben-
2 K. M. Stephan, M. Lotze

de Verfahren auch nicht invasiv messbar. Die einmal erworbenen anatomischen


Besonders ausgeprägt finden sich solche Veränderungen bleiben nicht statisch be-
Veränderungen, wenn Training über Jahre stehen. Werden die erworbenen Fähig-
regelmäßig durchgeführt wird wie bei Mu- keiten weiter genutzt, so wird das senso-
sikern oder Profisportlern (Jäncke 2009). motorische Verhalten im Laufe der Zeit
Die trainierte multisensorisch-motorische effektiver, dies geht mit der Bildung wei-
Interaktion führt zu spezifischen und um- terer direkter Verbindungen im zentralen
schriebenen Vergrößerungen der grauen Nervensystem und vermutlich auch Ver-
Substanz (Schlaug 2001), aber auch die änderungen in der weißen Substanz ein-
Verbindungen zwischen besonders betei- her (Scholz et al. 2009; Zatorre et al. 2012).
ligten Hirnarealen zeigen charakteristi- Die Größe der durch vermehrte Nutzung
sche Veränderungen (Schlaug et al. 1995). veränderten Areale kann sich vermutlich
Besonders deutlich wurde dies bei einer im Verlauf wieder verkleinern, ohne dass
kernspintomographischen Untersuchung die Funktion dabei beeinträchtigt wird.
von Musikern und von Kontrollpersonen, Die bisherigen Studienergebnisse deu-
bei denen „verblindete Rater“ anhand der ten darauf hin, dass auch beim Menschen
Morphometrie der Gehirne (insbesondere die erweiterte Repräsentation von Funkti­
des präzentralen Gyrus) vorhersagen soll- onen im Gehirn und die engere Verknüp­
ten, ob die untersuchten Personen intensiv fung von Hirnarealen zwei wesentliche
mit ihren Händen trainierten und wenn ja, Charakteristika neuronaler Plastizität und
ob sie besonders häufig die rechte oder die somit auch sensomotorischen Lernens
linke Hand einsetzten (Bangert u. Schlaug sind. In einigen funktionsrelevanten ana-
2006). Die hohe Anzahl korrekter Vorher- tomischen Arealen korreliert das Ausmaß
sagen bestätigte, dass ein enger Zusam- der Veränderung in der grauen Substanz
menhang zwischen dem Training und der mit dem Ausmaß der Funktionsverbesse-
auch makroskopisch sichtbaren Zunahme rung (Sampaio-Baptista et al. 2014). Dabei
des Hirngewebes in funktionell relevanten scheinen auch interindividuelle Unter-
Hirnarealen besteht. schiede, z. B. das funktionelle Ausgangs-
Entgegen früheren Annahmen wur- niveau, eine Rolle zu spielen, wohingegen
de in den letzten beiden Jahrzehnten die die Trainingsintensität keine so enge Kor-
Neubildung von Nervenzellen nicht nur relation mit dem Ausmaß der anatomi-
bei adulten Vögeln, sondern auch bei Säu- schen Veränderung aufwies.
gern nachgewiesen (Goldman u. Notte- Das folgende Schema (Tab. 1.1) gibt
bohm 1983; Reynolds u. Weiss 1992). Die eine Übersicht über mögliche strukturelle
Idee war bereits Anfang der Sechzigerjah- Veränderungen im Verlauf des Lernens ei-
re von Altman (1962) geäußert worden. ner „neuen“ Fähigkeit beim Erwachsenen.
Auch beim Menschen werden nicht nur Dabei sind sowohl die Abfolge der ver-
beim Kind, sondern auch beim Erwach- schiedenen Stadien des sensomotorischen
senen neue Nervenzellen gebildet (z . B. Lernens als auch die Zuordnung der struk-
Kirschenbaum et al. 1994), insbesondere turellen Veränderungen stark vereinfacht.
im Bereich des Hippocampus und in einer Methodisch ist nach wie vor umstritten,
subventrikulären Zone, lateral der Seiten- welche mikrostrukturellen Veränderungen
ventrikel (z. B. Nogueira et al. 2014). Es ist den makroanatomischen Veränderungen
naheliegend, dass die Neubildungen von zugrunde liegen, die mit der Bildgebung
Nervenzellen insbesondere im Bereich der grauen und weißen Substanz erfasst
des Hippocampus eine Rolle beim Lernen werden (Sampaio-Baptista et al. 2013; sie-
spielen könnten, auch wenn diese zurzeit he auch Thomas u. Baker 2013 für einen
beim Menschen noch nicht bewiesen ist. kritischen Überblick).
1 · Plastizität als Grundlage für die Erholung nach Schlaganfall 3

Tab. 1.1: Lernen von Fähigkeiten – Verlauf von strukturell-funktionellen Änderungen beim Erwachsenen
Makroskopisch sichtbare Ände­ Unterliegende funktionell bedeutsame
rungen (MRT) Änderungen mikroskopisch sichtbarer
Strukturen
Initiales Lernen des Zunahme der grauen Substanz in Stärkung von Synapsen und Bildung zusätz-
Ablaufs relevanten Funktionsbereichen licher Synapsen und evtl. auch Axone, diese
Veränderung der Neurone wird durch die
Gliazellen mit gesteuert
Ablauf effizienter ge- Änderungen funktionell relevanter Bildung zusätzlicher und effektiverer Ver-
stalten Verbindungen in der weißen bindungen durch veränderte oder vermehr-
Substanz te Synapsen v. a. an den Dendriten,
eventuell auch Veränderungen der Axon­
struktur
Automatisieren der Abnahme der initial vermehrten Eine effektivere Durchführung ist durch
Tätigkeit grauen Substanz eine „Verbesserung“ der direkten Verbin-
dungen gesichert
Kein weiteres Durchfüh- Veränderungen in der grauen Rückbau der zusätzlichen synaptischen
ren der „neuen“ senso- und weißen Substanz, häufig mit (und ggf. axonalen) Verbindungen sowohl
motorischen Fähigkeiten Volumenminderung verbunden in der grauen als auch der weißen Sub-
stanz, einige synaptische Verbindungen
über Dendriten bleiben vermutlich struktu-
rell erhalten

Werden die neu erworbenen Fähigkei- eine wesentliche Rolle. Dabei bestehen al-
ten nicht genutzt, so können sowohl die- lerdings deutliche Unterschiede zwischen
se Fähigkeiten als auch die anatomischen der Plastizität bei der Hirnentwicklung
Veränderungen wieder verloren gehen beim Kind und der Plastizität beim Lernen
bzw. rückgebildet werden, ohne dass ef- beim Erwachsenen. In den folgenden Ab-
fektivere Verbindungen im zentralen Ner- schnitten sollen wesentliche Aspekte der
vensystem geschaffen werden (Draganski Plastizität bei der Hirnentwicklung darge-
et al. 2004; Driemeyer et al. 2008). Das eng- stellt werden, um so die Möglichkeiten und
lische Motto heißt sowohl für die Fähigkei- Grenzen der Plastizität nach Schlaganfall
ten als auch für die makroanatomischen besser zu verstehen.
Veränderungen: „Use it or loose it!“ Während der Embryogenese werden
Neuere Untersuchungen zeigen, dass die Zelldifferenzierung und -reifung in
zumindest bei Nagern einige synaptische Neurone und Gliazellen über genetisch de­
Verbindungen weitgehend strukturell er- terminierte Programme gesteuert. Ebenso
halten bleiben, auch wenn sie ihre Funk- danach die Wanderungen der Zellen in-
tion nicht weiter nutzen. Dies könnte das nerhalb dieses Gewebes, Ausbildung und
schnelle Wiedererlernen einmal Gelernten Aussprossung von Dendriten und Axonen
erklären. sowie die Formation von synaptischen
Verbindungen, die zur Entwicklung eines
Informationsnetzwerkes führen. Dieses
1.2 Programm „steuert“ die Entwicklung über
eine zeitlich und örtlich festgelegte Ex-
Hirnentwicklung und Plastizität beim
pression von speziellen Genen, über pas-
Kind und jungen Erwachsenen
sagere Anpassungen der Struktur von Den­
Plastizität spielt nicht nur beim Lernen, driten und Axonen zur „Erkundung“ des
sondern auch bei der Hirnentwicklung intrazellulären Raumes (Wachstumske-
4 K. M. Stephan, M. Lotze

gel) sowie über die Funktion ausgeschüt- Entwicklung. Diese kritischen oder auch
teter bzw. membrangebundener Moleküle. sensiblen Perioden existieren sowohl für
Um von den Millionen von Möglichkei- die auditive und visuelle Wahrnehmung
ten zur gewünschten Struktur (und später als auch für die Sprache. Die kritische Pe-
Funktion) des zentralen Nervensystems riode für das binokuläre Sehen liegt im Be-
zu kommen, müssen zeitliche und örtli- reich der ersten Lebensjahre, die für die
che Prozesse eng aufeinander abgestimmt Sprache im Bereich des zweiten bis vier-
sein. Da die Grundprinzipien der Planung ten Lebensjahres. Wenn ein Kind schielt
und Regulation nach den bisherigen Er- und dies nicht innerhalb der ersten Le-
kenntnissen zwischen den meisten Spe- bensjahre korrigiert wird, so kann es das
zies übereinstimmen, finden die meisten binokuläre Sehen später nicht mehr erler-
Untersuchungen dazu bei einfachen Spe- nen. Und ein Kind, das seine Mutterspra-
zies statt z. B. bei der Drosophila – also der che nicht innerhalb der ersten Jahre lernt,
Fruchtfliege. kann dies später nur mit sehr viel mehr
Im Laufe der Schwangerschaft und vor Aufwand nachholen. Neuroanatomisch
allem nach der Geburt tritt die Erfahrung und -physiologisch ist die kritische Peri-
des Kindes an die Seite der genetischen De- ode gekennzeichnet durch eine feine Ba-
termination. Bereits während der Schwan- lance zwischen Exzitation und Inhibition.
gerschaft werden Töne von außerhalb des Sie beginnt z. B. im visuellen System, wenn
Bauchraums der Mutter wahrgenommen vermehrt inhibitive Interneurone ausge-
und das Kind schluckt und bewegt seine bildet werden. Sie endet meist, wenn die
Arme und Beine. Nach der Geburt prägen Strukturen durch Ausbildung von peri-
olfaktorische, somatosensorische, audito- neuralem Gewebe und eine zunehmen-
rische und visuelle Wahrnehmungen die de Myelinisierung anatomisch stabilisiert
Erfahrungen des Kindes. Besonders gut werden. Von Myelin umwickelte Axone
ist der Einfluss der visuellen Erfahrungen erlauben eine sehr viel schnellere Weiter-
auf die Reifung der Sehbahnen und visuel- gabe von Informationen (Aktionspotentia-
len Areale untersucht, ohne visuelle Infor- len) und eine Millisekunden genaue Infor-
mation kann das binokulare Sehen nicht mationsverarbeitung z. B. im Hörsystem.
ausgebildet werden. Andererseits genügt Das Erlernen von Fähigkeiten, für die eine
natürlich auch nicht die visuelle Informa- kritische Periode während der Entwick-
tion alleine, erst das Zusammenspiel zwi- lung besteht, ist danach entweder gar nicht
schen genetischem Programm und visuel- mehr möglich oder zumindest mit sehr viel
ler Erfahrung ermöglicht die „Ausreifung“ mehr Aufwand und Anstrengung.
der strukturellen Basis für das binokula- Ein Ziel der postnatalen Entwicklung
re Sehen. Ähnliches gilt für eine präzise- ist somit nicht nur eine Adaptation der
re bzw. spezifischere akustische und so- anatomischen Verhältnisse gemäß der in-
matosensorische Wahrnehmung und für dividuellen Erfahrung und Lebensumstän-
eine Vertiefung der Kopplung zwischen de (z. B. Struktur und Klangfarbe der Spra-
Sensorik und Motorik. Im Gegensatz zu che), sondern auch eine Festigung und
den vorwiegend genetisch determinierten Optimierung der Struktur, sodass tägliche
Entwicklungsschritten ist bei diesen Ent- Handlungen möglichst effizient durch-
wicklungsschritten der Wirkmechanismus geführt werden können und neue Erfah-
durch einen Vergleich mit anderen Spe- rungen im weiteren Leben zwar die syn-
zies nicht mehr so zuverlässig zu klären aptische Verarbeitung beeinflussen, aber
(Sanes 2021). nicht zu immer wiederkehrenden Verän-
Besonders groß ist der Einfluss der Er- derungen der anatomischen Grundstruk-
fahrung während „kritischer Perioden“ der tur des Gehirns führen. Es ist nicht sicher
1 · Plastizität als Grundlage für die Erholung nach Schlaganfall 5

bekannt, welche Merkmale diese Grund- 1.3


struktur kennzeichnen. Vermutlich sind Postläsionelle Plastizität als
zytoarchitektonisch definierte Regionen Grundlage für therapeutische
(Areale) mit einer einheitlichen Struktur Interventionen
der Hirnrinde und einige „feste“ und funk-
tionell bedeutsame Verbindungen Teil ei- Nach einem Schlaganfall verbessern sich
ner solchen Grundstruktur. Das „Zusam- nach klinischen Beobachtungen sensomo-
menspiel“ zwischen diesen Arealen kann torische Funktionen und Aktivitäten vor al-
sich allerdings im Zeitverlauf ändern (Plas- lem während der ersten acht bis zwölf Wo-
tizität) und erlaubt so eine flexible Adapta- chen (Wade u. Hewer 1987; Jørgensen et
tion an neue Erfahrungen. al. 1995). Danach ist zwar auch noch eine
Mit diesem Konzept vereinbar sind Verbesserung möglich, diese verläuft dann
die Ergebnisse bildgebender Studien, die aber deutlich langsamer.
während der weiteren kindlichen und ju-
gendlichen Entwicklung eine „Wande- 1.3.1
rung“ von funktionellen Knotenpunkten Postläsionelle Plastizität bei Tieren
(hubs) von primär sensorischen und mo-
torischen Arealen zu parietalen und fron- Diese Beobachtung trifft nicht nur für Men-
talen Arealen beobachteten, ohne dass schen, sondern auch für Tiere zu, dort dau-
sich die Grundstruktur des Gehirns änder- ert die Phase der schnellen Verbesserung
te. Plastizität ist somit im späteren Verlauf meist vier bis sechs Wochen. Bei Nagern
vornehmlich durch die Verstärkung oder konnte nachgewiesen werden, dass nach
Schwächung der Funktion bestehender Sy- einem Schlaganfall parallel zu dieser klini-
napsen bzw. deren Bildung und Eliminati- schen Phase die Plastizität deutlich gestei-
on gekennzeichnet. Axonale Veränderun- gert ist, was mit dem Begriff „postläsionelle
gen können im Kindes- und Jugendalter Plastizität“ umschrieben wird (Biernaskie
vor allem dort geschehen, wo die betref- et al. 2004). Das Spektrum der Genexpres-
fenden Faserverbindungen noch nicht sion, die elektrophysiologischen Merkma-
mye­linisiert oder perineural fest eingebet- le und die strukturellen Veränderungen
tet sind. Dies entspricht den weiteren auch unterscheiden sich während dieser Phase
beobachtbaren Entwicklungsstufen, bei nach tierexperimentellen Befunden quan-
denen zunächst die Integration von Infor- titativ und qualitativ von den Befunden
mation (parietal und temporal) und später bei der allgemeinen Plastizität beim Ler-
die exekutiven Funktionen und Bewertung nen (siehe 1.1 sowie Übersicht bei Zeiler
von Handlungen (frontal) im Vordergrund u. Krakauer 2013). Das axonale Wachs-
stehen. Dabei sind diese Entwicklungsstu- tum und die Veränderungen der kortikalen
fen zeitlich überlappend. Mit dem Alter Karten gehen in ihrem Ausmaß deutlich
nimmt die Plastizität dabei kontinuierlich über das hinaus, was sonst nach intensi-
ab. So ist sie bereits bei einem 40-Jährigen vem Training beobachtet wird (Brown et
deutlich geringer als bei einem 20-Jähri- al. 2007; Domann et al. 1993); die Verände-
gen. Dies spielt auch bei der Rehabilitation rungen zeigen dabei eine enge Korrelation
eine Rolle (siehe unten). mit dem Wiedererwerb sensomotorischer
Funktionen (Clarkson et al. 2013). So kann
bei Nagern z. B. der Funktionsverlust auf-
grund des Verlustes direkter Verbindungen
zum primär motorischen Kortex nach ex-
perimenteller Ischämie durch die Etablie-
rung einer neuen, langen Verbindung zwi-
6 K. M. Stephan, M. Lotze

schen ventral prämotorischen und primär ten „skills“ führt (Hübner u. Bonhoeffer
sensorischen Hirnarealen zumindest teil- 2014).
weise kompensiert werden (Nudo 2007). Auch ohne gezielte Interventionen un-
Bei den meisten Tieren kommt es vor terstützen nicht alle Folgen der Plastizität
allem während der ersten Wochen zu einer die funktionelle Erholung. Dies zeigen bei-
spontanen Erholung einiger Funktionen spielhaft die folgenden Untersuchungen:
(Nudo et al. 2006). Diese Periode gesteiger- Durch direkte Ableitung am Kortex im
ter postläsioneller Plastizität dauert beim Tierversuch zeigte sich nach Läsionen im
Nager circa vier Wochen, danach sind die- M1-Fingerareal, dass sich die proximalen
se spezifischen Charakteristika nur noch in Handrepräsentationen (z. B. die Handge-
deutlich geringem Umfang nachweisbar. lenksextension) in die ehemalige Finger-
Es liegt nahe, hier wie bei der Entwicklung repräsentation hinaus ausbreiten (Nudo
von einer „sensiblen Periode“ oder „kriti­ u. Milliken 1996). Dies ist nach den Regeln
schen Periode“ zu sprechen. Die verstärkte der Plastizität zu erwarten und sinnvoll. Es
Plastizität und die Existenz einer kritischen ist aber für die Erholung der Fingerfunkti-
Periode legen einen Vergleich mit der Re- on kontra­produktiv. Nur beim Training der
gulation während der Entwicklung nahe. Fingerfunktion in einem recht engen Zeit-
Allerdings bestehen trotzdem deut- fenster innerhalb einer Woche nach der
liche Unterschiede zwischen der „Plasti- Schädigung fand sich ein Ausbleiben die-
zität während der Entwicklung“ und der ser „maladaptiven“ Mechanismen (Nudo
„Plastizität nach einer Hirnläsion“: Zum et al. 1996). Das frühe Training der Finger-
einen ist das Umfeld nicht optimal auf eine funktion konnte sogar nach Beobachtung
Förderung axonalen Wachstums sowie Sy- der Autoren in einigen Fällen zu einer Aus-
napsenbildung eingestellt. Im Gegenteil, breitung der Fingerrepräsentation in vor-
während der Regeneration werden be- her proximal repräsentierende Areale füh-
stehende axonale Strukturen trotz lokaler ren.
Freisetzung von plastizitäts-fördernden Die Bedeutung eines frühen Trainings-
Molekülen eher erhalten. Hier überwiegt beginns wird durch die folgende Untersu-
der Einfluss von „Struktur-sichernden“ chung nochmals unterstrichen: An fünf
Substanzen (siehe Kane u. Ward 2021). Affen wurde ein großer Anteil des M1-
Peri­neurales Gewebe und Myelinreste Handareals lädiert. Die Therapie begann
hindern zudem häufig auch mechanisch erst nach einem Monat mit einer Art „con-
eine Restitution. Hier sind therapeutische strained induced movement“-Therapie,
Interventionen denkbar, die entweder die bei der die betroffene obere Extremität
Struktur ändern (Hemmung von „Axo- durch Immobilisation der nicht betrof-
nen-Wachstumshemmern“, direkte För- fenen im Alltagseinsatz besonders geför-
derung von Axonen-Wachstum, ggf. auch dert wird. Wenn ein Totenkopfäffchen für
Förderung von Glia- oder Neurogene- einen Monat nach dem Schlaganfall kei-
se) oder die Funktion beeinflussen (z. B. ne Therapie bekommt, so ist die Restituti-
Stärkung oder Schwächung von Synapsen on der Handfunktion nicht mehr möglich,
durch die Gabe von Botenstoffen: GABA und die Handrepräsentation weitet sich
oder auch Glutamat). Dabei müssen alle auch nach extensiver Übung nicht mehr
Intervention aber auch im Kontext beste- relevant aus (Barbay et al. 2006). Auch hier
hender Strukturen gesehen werden. Nach zeigte sich wieder bei der Untersuchung
T. Bonhoeffer ist davon auszugehen, dass der Repräsentationsareale: Je stärker das
ein „Lösen der Bremsen“ der Plastizität vorher bestehende Handareal von proxi-
beim Erwachsenen auch zu einer Interfe- malen Funktionen als Repräsentationsa-
renz mit Gedächtnisinhalten und gelern- real „übernommen“ wird, desto schlechter
1 · Plastizität als Grundlage für die Erholung nach Schlaganfall 7

ist der mittelfristige Trainingseffekt. Diese ren erfolgen. Die postläsionelle Plastizität
und andere Publikationen sind der Grund ist vermutlich auch an diese Grundstruk-
für die Aussage, dass ein früher Beginn des turen gebunden.
Trainings nach Schlaganfall wesentlich für Zusätzlich unterstrich die Arbeit von
die Restitution der Funktion ist. Ueno und Mitarbeitern eine weitere Er-
Die Art der Reorganisation kann sich kenntnis: Zu einer deutlichen Verbesse-
allerdings je nach Ort und Größe der Lä- rung der sensomotorischen Fähigkeiten
sion unterscheiden. Ueno und Mitarbeiter kommt es bei Mäusen nach einer ZNS-
(Sato et al. 2021) konnten bei Nagern un- Läsion bereits in den ersten zwei Wo-
terschiedliche Mechanismen je nach Grö- chen, das Aussprossen der kompensato-
ße der Läsionen zeigen. Bei Nagern kommt rischen kortikospinalen Fasern beginnt
es nach einer Läsion des ZNS nicht nur aber erst am 7. bis 14. Tag und erreicht
zu synaptischen Veränderungen, sondern seinen Höhe­punkt am 28. Tag. Auch die
auch zu axonalen Aussprossungen. motorische Repräsentation der kompen-
Läsionen, die größere Areale sowohl sierenden kortikalen motorischen Area
im motorischen und im somatosensori- hat sich erst nach einem Monat signifi-
schen Kortex umfassten, führten zu ei- kant geändert. Das heißt strukturelle Än-
nem kompensatorischen Aussprossen von derungen im Bereich kompensatorischer
kortikospinalen Axonen auf der nichtge- Fasern (Axonaussprossungen) sind kei-
schädigten Seite in das denervierte spi- ne Voraussetzung für eine initiale funkti-
nale Zervikalmark. Aus vorherigen Un- onelle Erholung, und es bestehen daher
tersuchungen ist bekannt, dass solche vermutlich keine speziellen genetisch de-
Verbindungen bei Nagern auch zu einer terminierten Programme für die Restitu-
funktionellen Verbesserung führen kön- tion bestimmter Funktionen nach einer
nen. Hirnschädigung, z. B. der Balance oder
Bei kleineren sensomotorischen Kortex­ des Gehens oder Greifens. Vielmehr ge-
schädigungen kam es zu ipsiläsionellen hen diese strukturellen Veränderungen
Aussprossungen aus einem nicht geschä- mit den Funktionsverbesserungen Hand
digten motorischen Areal. Auch hier ist in Hand bzw. folgen diesen. Ohne Funk­
aus Arbeiten derselben Arbeitsgruppe be- tionsverbesserung auch keine angepasste
kannt, dass die Verbindungen von den bei- Strukturverbesserung!
den motorischen Arealen zu den spinalen Welche Elemente sollte ein erfolgver-
Motoneuronen sich einander zumindest sprechendes frühes Training umfassen?
teilweise funktionell ersetzen können. Die Untersuchungen bei Nagern geben
Motorische und sensible kortikospina- uns hier Hinweise: Die spontane Erho-
le bzw. spinokortikale Verbindungen kön- lung kann durch eine stimulierende Umge­
nen jedoch einander nicht ersetzen: Bei bung („enriched environment“) gefördert
einer isolierten Schädigung von motori- werden, in der die Tiere nicht nur zur ver-
schen Arealen kam es zu keiner kompen- stärkten Interaktion untereinander, son-
satorischen Aussprossung aus einem ipsi- dern auch zu unterschiedlichen Tätigkei-
läsionellen sensiblen Areal, und bei einer ten im Tagesverlauf animiert werden (z. B.
Schädigung des sensiblen Areals zu keiner Ohlsson u. Johansson 1995; Nithianantha-
kompensatorischen Aussprossung aus ei- rajah u. Hannan 2006). Dies führt zu einer
nem motorischen Areal (Sato et al. 2021). vielfältigen Stimulation sensomotorischer
Das bedeutet: Eine funktionelle Erho- aber auch kommunikativer Netzwer-
lung kann – zumindest bei Nagern – im ke. Die Erholung spezifischer Fähigkeiten
Wesentlichen im Rahmen bereits beste- kann bei den untersuchten Tieren noch
hender neuroanatomischer Grundstruktu- weiter gesteigert werden, wenn vor al-
8 K. M. Stephan, M. Lotze

lem während der ersten Wochen nach der Läsion während einfacher motorischer
Ischämie ein hochfrequentes aufgaben­ oder sprachlicher Aufgaben auf eine gute
spezifisches Training durchgeführt wird Prognose hin (Bütefisch et al. 2003). Bei
(Biernaskie et al. 2004). Intensität und größeren Läsionen ist die Hochregulation
Dauer dieses Trainings sind bei den ex- der Aktivität in der kontraläsionellen He-
perimentellen Tieruntersuchungen bis zu misphäre zumindest im sprachlichen Be-
einem Faktor 10 höher als beim konventi- reich mit einer guten Prognose vereinbar.
onellen ergo- oder physiotherapeutischen Im chronischen Stadium weist eine weitge-
Üben beim Menschen – z. B. 300 gezielte hende Normalisierung der Muster auf eine
und erfolgreiche Armbewegungen beim erfolgreiche Rehabilitation der Handfunk-
Nager statt 30 Armbewegungen beim tion (Ward u. Cohen 2004), aber auch der
Menschen (Krakauer et al. 2012). In einem Sprachfunktion (Saur et al. 2006) hin.
späteren Abschnitt (1.5) wird noch einmal Für das sensomotorische System sind
diskutiert, inwieweit eine direkte Übertra- die Veränderungen der funktionellen Ana-
gung therapeutischer Prinzipien von Na- tomie im Hinblick auf die Handfunktion
getieren auf Menschen wirklich sinnvoll noch genauer bekannt.
möglich ist. Eine möglichst weitgehende Restituti-
on der Handfunktion erfolgt primär über
1.3.2 benachbarte motorische Areale mit Zu-
Postläsionelle Plastizität bei Menschen gang zur Pyramidenbahn. Das sind der
primär- motorische Kortex (M1) und der
Auch beim Menschen besteht vermutlich dorsale prämotorische Kortex (dPMC).
eine postläsionelle Phase erhöhter Plasti- Insbesondere diese Bahnen sind bereits
zität im subakuten Stadium nach Schlag- im subakuten Stadium prädiktiv für das
anfall, der eine Phase normaler Plastizität motorische Outcome (z. B. erhoben mit-
im chronischen Stadium nach Schlaganfall tels Fugl-Meyer-Score) der oberen Extre-
folgt (Krakauer et al. 2012). Im Gegensatz mität (Riley et al. 2011). Restfunktionen
zu den Nagern dauert die Phase erhöhter in M1 und PMC sind bei Schädigung des
Plastizität länger als vier Wochen. Eini- Erwachsenen in der Regel essentiell zur
ge Autoren vermuten eine Zeit von bis zu Restitution von Handfunktion. Zudem hat
drei oder vier Monaten (z. B. Krakauer et die somatosensorische Integrität einen
al. 2012), auch wenn dies derzeit noch um- großen Einfluss auf das Wiedererlernen:
stritten ist. Dromerick et al. (2021) konn- Ohne somatosensorisches Feedback muss
ten für ein intensives, aufgabenorientier- mit visuellen oder auditorischen (Sonifi-
tes Training zeigen, dass es während des kation) sensorischen Stimuli kompensiert
subakuten Stadiums ca. 60 bis 90 Tage werden. Areale wie der ventrale PMC sind
nach einem Schlaganfall erfolgreicher ist bei Patienten nach Training vermehrt aktiv
als während der (späten) Akutphase (ca. – insbesondere bei der visuellen Kontrolle
15 Tage nach einem Schlaganfall) oder im von Greifbewegungen (Horn et al. 2016b).
chronischen Stadium (6 bis 7 Monate nach Ähnlich wie bei den beschriebenen
Schlaganfall) (Abb. 1.1). Verbesserungen bei der Maus (siehe oben)
Bildgebende Untersuchungen charak- können somit auch beim Menschen ipsi­
terisieren diese unterschiedlichen Stadien läsionelle dorsale und ventrale prämoto­
näher. Im akuten Stadium zeigt sich eine rische Areale mit ihren Verbindungen zu
Netzwerkstörung, die weit über die loka- anderen kortikalen Arealen und zum spi-
le Schädigung hinausgeht. Im frühen sub- nalen System einen Teil der Funktionen
akuten Stadium (< 3 Monate) weist die Ak- des kortikospinalen Systems übernehmen
tivierung ungeschädigter Randbezirke der (Lotze et al. 2006). Aufgrund der weiterge-
1 · Plastizität als Grundlage für die Erholung nach Schlaganfall 9

Akut Subakut Chronisch

Zelltod
Entzündung

Minuten Stunden Tage Wochen Monate Jahre

Neuroprotektion Neurorehabilitation ambulantes Training

Abb. 1.1: Überblick über die einzelnen Stadien nach Schlaganfall, über die assoziierten pathophysiologischen
Veränderungen und über therapeutische Interventionsmöglichkeiten. Hilfreich wäre es, die unterschiedlichen kli-
nischen Verläufe (angedeutet mit den verschiedenen Kurven) möglichst früh vorhersagen zu können

henden funktionellen Differenzierung in- ramidenbahnen) als Bahnen mit großer


nerhalb des Kortex und des Bahnsystems funktioneller Bedeutung durch eine feste
sind die funktionellen Erfolge dabei aber perineurale Einbettung und die Myelini-
vermutlich beim Menschen eingeschränk- sierung stärker gefestigt und damit auch
ter als bei den Nagern. geschützter sind als beim Nager. Eine stär-
Komplizierter ist die Situation hin- kere Differenzierung und Optimierung der
sichtlich des Einflusses der kontraläsio­ neuronalen Netzwerke zur schnellen und
nellen Hemisphäre. Hier besteht ein ver- präzisen Steuerung der (Hand-)Motorik
änderter interhemisphärischer Einfluss kann somit als Preis eine schlechtere Ad-
der kontralateralen Hemisphäre, insbe- aptation an Läsionen des Gehirns zur Fol-
sondere des kontralateralen primär moto- ge haben.
rischen Kortex, der in den ersten Wochen Im chronischen Stadium nach Schlag­
die sensomotorischen Funktionen der be- anfall entsteht schließlich ein neuronales
troffenen Seite eher fördert, später (zwi- Netzwerk, das sich hinsichtlich der Loka-
schen dem dritten und sechsten Monat) lisation vom Zustand vor dem Schlagan-
jedoch eher hemmt (für eine Übersicht fall fast immer unterscheidet. Größere Ab-
siehe Rehme u. Grefkes 2013). Allerdings weichungen vom vorbekannten Netzwerk
werden – im Gegensatz zu den Befunden deuten dabei auf ein eher ungünstiges
bei den Nagern (siehe 1.3.1) – keine axona- Outcome hin (siehe Ward et al. 2003; Saur
len Aussprossungen aus den homologen et al. 2006). Bei komplexeren unilateralen
kontraläsionellen kortikalen Arealen be- Bewegungen sind auch bei Gesunden häu-
obachtet. Zudem sind im späteren subaku- fig beide Hemisphären an der Steuerung
ten Stadium Aktivierungen in den zu einer beteiligt. So konnte auch gezeigt werden,
Läsion homologen kontraläsionellen Are- dass bei komplexen Fingersequenzbewe-
alen beim Menschen eher Zeichen einer gungen kontraläsionelle Areale vermutlich
ungünstigen Prognose für eine sensomo- einen kompensatorischen Beitrag leisten
torische Erholung – im Gegensatz zu den können (Lotze et al. 2012). Im sensomo-
Befunden beim Nager. Dies könnte damit torischen System ändert sich mit dem ver-
zusammenhängen, dass die kortikospina- änderten Netzwerk häufig auch die Kine-
len Strukturen beim Menschen (die Py- matik des Greifens oder der genaue Ablauf
10 K. M. Stephan, M. Lotze

einer Gehbewegung. Entsprechend Vor- Ein Beispiel für eine Vorhersage mit ei-
schädigung, Lokalisation und Größe der nem Parameter ist die Arbeit von van der
neuen Läsion(en) wird das Ziel der Reha- Vliet et al (2020) aus der Arbeitsgruppe von
bilitation im chronischen Stadium daher Kwakkel, die den Fugl–Meyer Score für die
auch nicht die vollkommene Wiederher- obere Extremität (FM-UE) nutzen. Hier
stellung der vorherigen sensomotorischen wurde ein longitudinales Vorhersagemo-
Funktionen sein, sondern das Erlernen ei- dell erarbeitet, dessen Aussagekraft mit zu-
ner adaptierten Form der funktionellen nehmender Zeit immer präziser wird (sie-
Bewegungen. he Abb. 1.2).
Diesem Verständnis der Plastizität ent- Entsprechend den Erkenntnissen über
sprechend ergeben sich nur geringe Mög- die postläsionelle Plastizität als Grundlage
lichkeiten, eine rehabilitative Therapie für die klinische Verbesserung sind als Bio-
nach Schlaganfall zeitlich „nach hinten“ zu marker vor allem zusätzliche Daten über
verschieben. Eine klinische Entscheidung die Intaktheit des anatomischen Grund-
zugunsten einer wesentlichen Verschie- gerüstes (siehe 1.3) sowie über das Aus-
bung einer Rehabilitationsbehandlung maß der Plastizität sinnvoll. Idealerweise
im subakuten Stadium nach Schlagan- würden diese durch Daten über die funk-
fall nimmt somit nicht nur eine geringere tionellen Erholungskapazitäten ergänzt,
Wirksamkeit der therapeutischen Inter- die über die Aussagekraft klinischer Daten
ventionen, sondern auch die erhöhte Ge- hin­ausgehen.
fahr einer plastischen Maladaptation in Als Biomarker für das anatomische
Kauf. Die Neurobiologie der klinischen Er- Grundgerüst kommen vor allem elektro-
holung nimmt auf medizinische Notwen- physiologische Parameter, die die (relati-
digkeiten und persönliche Vorlieben (lei- ve) funktionelle Intaktheit direkter korti-
der) keine Rücksicht! kospinaler Fasern (MEP), spinokortikaler
Fasern (SSEP) und visuokortikaler Fasern
(vom Auge zum okzipitalen Kortex) erfas-
1.4 sen, in Betracht sowie bildgebende Metho-
den, die Aussagen über die anatomische
Biomarker zur Verbesserung der
Intaktheit wesentlicher Faserbahnen oder
Prognose und Stratifizierung einer
Strukturen im Gehirn erlauben (für eine
Rehabilitationsbehandlung frühe systematische Übersicht siehe Ste-
1.4.1 phan und Breer 2009).
Klinische Assessments und Biomarker für Biomarker über das Ausmaß der Plasti­
die funktionelle Prognose zität sind schwerer zu erhalten. Eine Mög-
lichkeit besteht hier in der Einbeziehung
Die Planung einer neurologischen Rehabi- des Alters, da das Ausmaß der Plastizität
litationsbehandlung beinhaltet meist auch mit steigendem Alter abnimmt.
eine Einschätzung der weiteren Prognose. Hinsichtlich der praktischen Anwendbar­
Klinische Daten sind die häufigste Grund- keit von Biomarkern interessiert vor allem:
lage für eine prognostische Beurteilung. Al- (1) Geben die Biomarker zusätzliche In-
gorithmen, die von mehreren Parametern formationen für die Prognose hinsicht-
ausgehen, sind dabei meist besser in der lich der erreichbaren Funktionen?
Vorhersagekraft des Outcomes. In den letz- (2) Welche Funktionen sollen bzw. kön-
ten Jahren werden zunehmend Daten über nen vorhergesagt werden?
die Spontanerholung und Erfahrungswerte (3) Können durch Biomarker auch The-
bereits behandelter Patienten in die pro­ rapieentscheidungen unterstützt wer-
gnostische Abschätzung einbezogen. den?
1 · Plastizität als Grundlage für die Erholung nach Schlaganfall 11

Abb. 1.2: Darstellung des FM-UE im Verlauf: Links auf


der x-Achse der Ausgangswert nach dem Schlaganfall
gemessen und ganz rechts der Wert als Outcome nach
30 Wochen. Es sind fünf Verlaufsgruppen dargestellt:
Die obere schwarze Kurve umfasst die „near to nor-
mal recovery“ (0.93), die obere hellrote Kuve die
„fast good recovery“ (0.89) und die grüne darunter
die „late good recovery“ (0.86). Die dunkelrote untere
stellt die moderate recovery“ (0.46) und die unterste
schwarze die „poor recovery“ (0.09) dar. Man erkennt
deutlich, wie unterschiedlich die Verläufe in dem Score
sind – nicht nur hinsichtlich des 30-Wochen-Outcome-
Wertes, sondern auch hinsichtlich der Verbesserung
über die Zeit (van der Vliet et al. 2020, ©John Wiley &
Sons, mit freundlicher Genehmigung)

Der PREP-Algorithmus (PREP = „predict- Initial war der PREP anders struktu-


ing recovery potential“, Stinear et al. 2012, riert. Es waren alle drei Elemente der Res-
2017a + b) stellte dabei das erste Mal eine titutionskapazität enthalten: die initiale
aus mehreren Modalitäten zusammenge- Funktionalität (SAFE), der Läsionsumfang
setzt Möglichkeit zur Prognoseabschät- (DTI der Pyramidenbahn) und das neuro-
zung für die Handfunktionsverbesserung physiologische Potential (MEP-Antwort;
nach Schlaganfall dar. Beim jetzt ge- Horn et al. 2016a). Beim PREP-1 handelt
bräuchlichen PREP-2 werden (1) das Al- es sich um ein stufenweises Verfahren,
ter, (2) die Hand- und Schulterhebekraft das folgende Elemente beinhaltet: Ist eine
nach Schädigung und (3) die muskuläre Armhebung im SAFE-Score ≥ 8 (SAFE =
Anregbarkeit der betroffenen Hand durch „shoulder abduction, finger extension“;
Magnetstimulation der betroffenen Hemi- 8 bedeutet voller Bewegungsumfang in der
sphäre erhoben. Als Zielparameter wird Schulterabduktion und in der Fingerexten-
die Handfunktion dabei mittels des ARAT, sion, aber Kraftminderung im Vergleich
eines Scores, der alltagsrelevante Handak- zur nicht betroffenen Seite; Nijland et al.
tivität erfasst, nach drei und sechs Mona- 2010) innerhalb 72 Stunden möglich, so ist
ten erhoben. Diese individuelle Prognose eine weitgehend komplette Remission zu
kann schon wenige Tage nach dem Schlag- erwarten. Ist der volle Bewegungsumfang
anfall mit einer Vorhersagegenauigkeit von nicht erhalten, so sollte innerhalb der ers-
83 % in einer vierstufigen Einteilung zwi- ten fünf Tage eine „alles oder nichts“-TMS-
schen einer „sehr guten“ Prognose bis hin Untersuchung ermitteln, ob motorisch
zu „keine motorische Funktion der Hand evozierte Potentiale (MEPs) am Zielmus-
möglich“ erfolgen. kel (z. B. Handextensoren) ausgelöst wer-
den können. Ist dies der Fall, so kann von
12 K. M. Stephan, M. Lotze

einem erheblichen Restitutionspotenzial frühen subakuten Stadium keine „negati-


ausgegangen werden. Hierbei ist intensi- ve“ Prognose zulassen (Liepert 2009).
ve Neurorehabilitation angezeigt. Ist kein Interessant ist zudem, dass der PREP
MEP nachweisbar, so sollte ebenfalls ein nur hinsichtlich der Einschätzung des mo-
intensives Training durchgeführt werden torischen Outcomes der oberen Extremi-
und zusätzlich innerhalb von zehn Tagen tät, nicht jedoch für die der unteren Ex­
eine MRT mit Diffusionstraktographie. Ist tremität einsetzbar ist (Smith et al. 2017a).
hier die Pyramidenbahn weitgehend sym- Hier ist die initiale Beeinträchtigung, ge-
metrisch (Lateralitätsindex der fraktionel- messen in der Rumpfkontrolle und in der
len Anisotropie im Bereich des hinteren Hüftextension (TWIST-Algorithmus), zu
Schenkels der inneren Kapsel), kann eine 95 % prädiktiv für drei Outcome-Gruppen
limitierte Funktionsherstellung erreicht (unabhängiges Gehen nach sechs Wochen,
werden. Wird hierbei jedoch ein Asym- unabhängiges Gehen nach zwölf Wochen,
metrie-Index der Gerichtetheit innerhalb nach zwölf Wochen Gehen nur mit Hilfe;
der Pyramidenbahnfasern von 0,15 über- Smith et al. 2017b). Dieser Algorithmus
schritten, so ist die Möglichkeit einer funk- ist angelehnt an ältere Befunde von Collin
tionell bedeutsamen motorischen Erho- und Wade (1990).
lung der Hand unwahrscheinlich. Ein möglicher funktioneller Biomarker
Es zeigte sich, dass vor allem die initi- wird durch die funktionelle Bildgebung
ale motorische Testung (Kraft), die initiale (derzeit fast immer die funktionelle Mag-
elektrophysiologische TMS-MEP-Antwort netresonanztomographie; fMRT) bereitge-
und die Diffusionstraktographie der Py- stellt.
ramidenbahn (Lateralisationsindex) ent- Hierbei zeigen sich jedoch häufig me-
scheidende Hinweise für die Prognose thodische und praktische Probleme:
liefern, wobei die Läsionsgröße weniger n Die Konnektivität zwischen moto-
spezifisch ist als der Läsionsort. Im neu- rischen Zentren, gemessen in Ruhe
seeländischen Rehabilitationssystem ver- („resting state connectivity“), ist in den
mochte die Anwendung des PREP1 die sta- ersten Wochen nach Schlaganfall zu
tionäre Behandlungszeit um eine Woche variabel (Lindow et al. 2016); neuere
zu verkürzen, ohne im Langzeitverlauf mit Studien scheinen hier jedoch reliable-
Defiziten des Outcomes einherzugehen re Ergebnisse zu erzielen (Koch et al.
(Stinear et al. 2017a). 2021);
Die Autoren haben in ihrer Nachfolge- n die Aktivitäts-fMRT zeigt für leichter
version (Stinear et al. 2017b) vermutlich betroffene Patienten eine gute Vorher-
auch aus ökonomischen Gründen (MRT sagekraft (Rehme et al. 2015), sie ist bei
ist kostenintensiv) auf die Darstellung der stärker betroffenen Patienten jedoch
Läsion verzichtet und stattdessen das Alter nicht im subakuten Stadium möglich
der Patienten in den PREP-2-Algorithmus oder bei passiver Bewegung wenig aus-
aufgenommen. Hierbei ist eine statistisch drucksstark (Horn et al. 2016b);
gleichwertige Vorhersage der vier Out- n die Konnektivität, gemessen mit der
come-Stufen möglich, aber es ist die Frage, fMRT während der Ausführung einer
inwieweit die Aussagefähigkeit der Prädik- Aufgabe (berechnet mit „dynamic cau-
tion auf den Alltagseinsatz der Handfunkti- sal modelling“), ist bei stärker betroffe-
on ausreicht, um Therapieentscheidungen nen Patienten meist nicht nutzbar, weil
innerhalb der ersten zwei bis drei Wochen Artefakte durch verminderte Compli-
wirklich sinnvoll zu gestalten; zumal feh- ance eine sinnvolle Auswertung der
lende MEP-Antworten bei individuellen Daten dieser sehr sensitiven Methode
Patienten nach Schlaganfall im akuten und nicht erlauben.
1 · Plastizität als Grundlage für die Erholung nach Schlaganfall 13

Verbindung Verbindung
M1 zu Pons M1 zu M1

Motricity Index Box and Block Test

Abb. 1.3 zeigt links den Biomarker Lateralisationsindex zur Integrität der kortikospinalen Fasern (CSI; Pyrami-
denbahn) für das Outcome Motricity Index (Handkraft) auf der betroffenen Seite nach 3 und 6 Monaten. Je
weniger die CSI, gemessen in dem FA-Index, beeinträchtigt ist, desto besser das Outcome im Motricity Index.
Anders verhält es sich hinsichtlich komplexer Bewegungen wie dem Transfer von Holzwürfeln mit der betroffenen
oberen Extremität, gemessen im Box-and-Block-Test. Hier ist die FA-Integrität der motorischen Fasern des Balkens
zwischen den beiden Hemisphären besonders gut in der Vorhersage des 3- oder 6-monatigen Outcomes (rechts).
Traktographie der betroffenen (gelb-rot) und der nicht betroffenen (hellblau-blau) Hemisphäre als Mittel bei 15
Patienten im subakuten Stadium. Die betroffene Hemisphäre (il = ipsilesional) hat eine geringere Gerichtetheit im
Bereich der Pyramidenbahn als die nicht betroffene (cl = contralesional); nach Lindow et al. 2016

Um solche Biomarker nicht nur in spezi- sinnvoll sein, besonders an den komple-
ellen Zentren nutzen zu können, sollten xen Bewegungssteuerungen zu arbeiten
überdies Methoden gefunden werden, die und weniger die Kraftkomponente zu the-
in möglichst vielen neurologisch-radiolo- rapieren. Biomarker können also auch the-
gischen Kliniken und Instituten praktika- rapeutische Entscheidungen sinnvoll un-
bel sind. terstützen.
Die bisherigen Überlegungen beschäf-
1.4.2 tigten sich hauptsächlich mit dem subaku-
Biomarker zur Stratifizierung der ten Stadium nach Schlaganfall, da vor allem
Therapie während dieser Zeit funktionell bedeut-
same Verbesserungen erzielt werden. Wir
Noch hilfreicher wäre es, gezielte Biomar­ wissen durch Trainingsstudien an Men-
ker für die Entscheidung, welche Thera­ schen, dass aber auch im chronischen Sta­
pie am geeignetsten wäre, zu finden. Zum dium, also mehr als drei bis sechs Monate
Beispiel scheint die Symmetrie in der Ge- nach Schlaganfall – wenn auch in einem ge-
richtetheit der Pyramidenbahnfasern Vor- ringeren Maße –, weiterhin Erholung mög-
hersagen für die Kraftkomponente zu er- lich ist. Klinisch kann in dieser Phase nach
möglichen, wohingegen die Intaktheit der Schlaganfall die Qualität von Bewegungen
interhemisphärischen Fasern Vorhersagen weiter verbessert werden, z. B. die feinmo-
für die Durchführung komplexerer Hand- torischen Fähigkeiten der Hand, die Geh-
leistungen – wie im Box-and-Block-Test geschwindigkeit oder die Ausdauer beim
geprüft – ermöglicht (Lindow et al. 2016) Gehen. Nur in Ausnahmefällen scheint es
(Abb. 1.3). möglich zu sein, Basisfunktionen, z. B. den
Diese Beobachtung hat auch mögliche funktionell relevanten Gebrauch der Hand
therapeutische Relevanz: Gerade bei einer oder die Gehfähigkeit, in dieser Phase nach
Störung dieser Faserverbindung könnte es Schlaganfall wieder neu zu erlernen (siehe
14 K. M. Stephan, M. Lotze

z. B. Kwakkel 1999 2003; Kollen et al. 2006; nelle oder strukturelle Intaktheit der (am
Dohle et al. 2015 für eine Übersicht zum schnellsten leitenden) kortikospinalen Fa-
Wiedererlernen des Gehens). sern zu Arm und Hand. Somit werden vor
Da im chronischen Stadium nach allem prognostische Aussagen zur Ent-
Schlaganfall keine wesentliche spontane wicklung der Handfunktion möglich. Die-
Verbesserung zu erwarten ist, wäre in die- se wird durch den ARAT gut erfasst. Da-
sem Stadium die Existenz eines prognosti- bei kann das MEP im subakuten Stadium
schen Biomarkers besonders wertvoll. Da- nach Schlaganfall allerdings nur eine po-
bei hat sich die elektrophysiologische und sitive Aussage über die mögliche Fähigkeit
bildgebend nachgewiesene Integrität der machen.
direkten kortikospinalen Verbindungen Indirekt können auch Aussagen über
als ein Biomarker für die Möglichkeit ei- Aktivitäten (des Armes und der Hand) so-
ner weiteren klinischen Verbesserung der wie Formen der Partizipation, die eine gute
Funktion der oberen Extremität erwiesen Arm- und Handmotorik voraussetzen,
(z. B. Hömberg et al. 1991; Stinear 2007). getroffen werden. Sind feinmotorische
Für die schnelle Durchführung feinmoto- Handbewegung der betroffenen Hand er-
rischer Aufgaben der Hand ist hierbei die reichbar oder können nur Basisfunktionen
Integrität der sensorischen und motori- der Extremität realistisch trainiert werden?
schen evozierten Potentiale (SSEP und
MEP) erforderlich (Hömberg et al. 1991). (1) Geben die Biomarker zusätzliche Infor-
Somit haben die motorisch evozierten Po- mationen für die Prognose hinsichtlich
tentiale im chronischen Stadium nicht nur der erreichbaren Funktionen?
eine positive, sondern auch eine negative Die Biomarker bei PREP 1 und 2 helfen,
Vorhersagekraft. die prognostischen Informationen früher
Unabhängig von der Integrität der kor- zu geben. Eine Zuordnung zu einer der
tikospinalen Fasern korreliert auch die vier Gruppen ist bereits nach ein bis zwei
strukturelle Integrität kortikozerebellärer Wochen möglich. Für die Patienten mit
Verbindungen mit den motorischen Fä- eindeutig klinisch gutem oder schlech-
higkeiten. Insbesondere intakte dentato- tem Funktionsergebnis ist eine Zuordnung
thalamo-kortikale Verbindungen scheinen zwar auch innerhalb der ersten zwei bis
ebenfalls eine Voraussetzung für eine gute drei Wochen möglich, eine Unterschei-
Feinmotorik zu sein (Schulz 2017). dung in der mittleren Gruppe klinisch je-
Nach dieser Darstellung und Diskus- doch erst in der 10. Woche (siehe Abb. 1.2).
sion können wir uns nun den Fragen vom Aber trotz der Biomarker, die Vorhersa-
Anfang des Abschnittes 1.4 zuwenden. Wir ge wird – zumindest nach jetzigem Stand
beginnen mit der dritten: – immer „nur“ eine „wahrscheinliche Vor-
hersage“ sein. Das heißt, eine gewisse Irr-
(3) Können durch Biomarker auch Thera- tumswahrscheinlichkeit liegt immer vor.
pieentscheidungen unterstützt werden? Die Entscheidung für oder gegen eine The-
Wie gerade ausgeführt ja. Allerdings kön- rapie oder Therapieform wird diese be-
nen (bisher) viele Therapieentscheidun- rücksichtigen müssen. Zudem wird sich
gen auch ohne Biomarker durchgeführt jede Therapieentscheidung auch nach an-
werden. deren Faktoren richten, z. B. Verfügbarkeit
vor Ort, Begleit- und Vorerkrankungen des
(2) Welche Funktionen sollen bzw. können Patienten oder auch seine Motivation und
vorhergesagt werden? das soziale Umfeld.
Die im PREP-Algorithmus genutzten Bio-  
marker geben Auskunft über die funktio-
1 · Plastizität als Grundlage für die Erholung nach Schlaganfall 15

1.5 an den individuellen Defiziten, um diese


Können die Ergebnisse der zu verbessern (Arm-Basis-Training, Platz
Forschung das sensomotorische et al. 2009); (2) durch das gezielte Üben all-
Training optimieren? tagsrelevanter Tätigkeiten (aufgabenorien-
tiertes Training, z. B. Winstein et al. 2016)
Im Zentrum des sensomotorischen Trai- oder (3) indem beim Training statt dieser
nings steht meist ein spezifisches, intensi- beiden „spezifischen“ Ansätze die Intensi-
ves und repetitives Training mit möglichst tät des Übens ganz im Vordergrund steht.
großer Alltagsrelevanz. Dies soll nach den Ein Vergleich mit dem Sporttraining
bisherigen Erkenntnissen möglichst früh kann hier einige Hinweise geben. Ent-
angewandt werden und so zu einer opti- scheidend ist für den Trainingsaufbau: was
malen Verbesserung der Funktionen füh- ist wann am besten trainierbar? Entspre-
ren. Aber stützen die Ergebnisse der Plas- chend der kindlichen Entwicklung steht
tizitätsforschung und von kontrollierten bei Kindern und Jugendlichen zunächst
randomisierten Studien wirklich dieses das Training der koordinativen Fähigkei-
Vorgehen? Welche für die Therapie prak- ten im Vordergrund (erst allgemeine, dann
tischen Erkenntnisse und insbesondere spezielle), in späteren Trainingsstadien
welche konkreten Empfehlungen lassen folgt dann zunehmend das Training der
sich aus den Ergebnissen der bisherigen konditionellen Fähigkeiten.
Plastizitätsforschung für die Rehabilitation Der klinischen Erfahrung nach macht
insbesondere der Arm- und Handfunktion diese Reihenfolge auch bei Patienten nach
nach Schlaganfall ableiten? Schlaganfall Sinn, zumal das Training der
Die Plastizitätsforschung hat bei Tie- koordinativen Fähigkeiten das umfang-
ren und Menschen gezeigt, dass eine Ver- reichste und gleichzeitig zielgerichtetste
größerung einzelner kortikaler Areale von Repertoire an Stimuli geben dürfte, das die
ihrer Funktionalität innerhalb der trainier- Synapsen- und Dendritenbildung gezielt
ten Aufgabe abhängt. Je nach dem Ziel des fördert. Das gezielte Training von Kraft,
Trainings (z.  B. Verbesserung der Arm- Ausdauer, Schnelligkeit setzt hingegen ein
und Handfunktion oder der Beinfunktion) weitgehend funktionsfähiges „Nervenge-
kommt es zur (passageren) Vergrößerung flecht“ für die zu trainierenden Bewegun-
spezifischer Areale und zur Vermehrung gen voraus, das dann weiter optimiert wird.
ihrer Verbindungen zu anderen funktionell Allerdings sind bei gesunden Kindern eine
relevanten Hirnarealen bzw. zu spinalen intakte sensomotorische Integration, eine
Neuronen. Dieser spezifische Zusammen- effektive Kraft- und Tonuskontrolle sowie
hang zwischen Funktion und Struktur be- eine altersgemäß differenzierte Ansteue-
tont den Vorteil eines gezielten Trainings, rung der aufgabenrelevanten Muskulatur
um ausgefallene Funktionen auch bei Pa- vorhanden, das kann bei Patienten nicht
tienten nach Schlaganfall wiederzugewin- vorausgesetzt werden. Klinische Unter-
nen. suchungen zur Erlangung der Evidenz
für eine Funktionsverbesserung bestäti-
1.5.1 gen trotzdem, dass das Arm-Basis-Training
Intensität und Spezifität des Trainings – und das (modifizierte) CIMT-Training zu
schädigungsorientiertes Training vs. einer signifikanten Verbesserung der Be-
aufgabenbezogenes Training wegungsqualität gegenüber anderen Trai-
ningsformen führt (Platz et al. 2009; Wolf
Wie wird der spezifische Zusammenhang et al. 2006). Beide Methoden beginnen mit
zwischen Funktion und Struktur am bes- dem Training von Basisbewegungen, die
ten gefördert? (1) durch das gezielte Üben den jeweiligen Fähigkeiten der Patienten
16 K. M. Stephan, M. Lotze

entsprechen, um so die Patienten nicht 1.5.2


zu überfordern (siehe Shaping, nächster Anpassung der Trainingsanforderungen:
Abschnitt), und die als Grundlage für das Shaping
weitere Training komplexerer Bewegungs-
abläufe notwendig sind. Für beide Trai- Die Plastizitätsforschung legt nahe, dass
ningsformen ist auch eine Änderung der nicht die absolute Zahl der Wiederholun-
kortikalen Repräsentationsareale im Laufe gen, sondern die Zahl der Wiederholungen
des Trainings nachgewiesen worden. an der Leistungsgrenze der wesentliche
Für das aufgabenorientierte Training Faktor für eine Funktionsverbesserung ist
konnte jedoch gegenüber anderen Trai- (z. B. Brogårdh 2010). Das zumindest inter-
ningsformen keine zusätzliche Verbesse- mittierende Training an der funktionellen
rung der Bewegungsqualität nachgewie- und physischen Leistungsgrenze sollte da-
sen werden (Platz et al. 2009; Winstein et her Teil eines jeden Trainingsprogramms
al. 2016), obwohl die Dauer des aufga- sein. Beim Training des Gehens gelan-
benorientierten Trainings nicht prinzipi- gen die Patienten beim Training mit dem
ell kürzer war. Offensichtlich sind für eine Gangtrainer oder mit dem Lokomaten
qualitative Verbesserung der Hand- und bzw. später auf dem Laufband oder im Ge-
Armfunktion also nicht primär die Dau- lände hinsichtlich beider Aspekte an ihre
er oder Intensität des Trainings, sondern Leistungsgrenzen. Dies ist für das ergothe-
vielmehr die Art des Trainings entschei- rapeutische Training zwar manchmal, aber
dend. Das aufgabenorientierte Training nicht immer der Fall. Hier liegt ein weiterer
hat jedoch andere Stärken. Es führte zu ei- Unterschied zwischen dem schädigungs-
nem deutlich schnelleren Übertrag der er- orientierten Training mit hohen Repetiti-
worbenen Funktionen zu alltagsrelevan- onsraten an der jeweiligen Leistungsgren-
ten Fähigkeiten und es hilft, die relevanten ze und dem aufgabenorientierten Training
Bewegungsabläufe zu automatisieren. Die mit einer obligaten Einbindung in einen
Patienten konnten auch deutlich schneller funktionellen Zusammenhang und da-
wieder am Leben, inklusive dem Arbeitsle- durch bedingten niedrigen Repetitionsra-
ben, partizipieren (Lewthwaite et al. 2018). ten. Der Inhalt eines hauptsächlich schä-
Insgesamt macht die Abfolge »erst digungsorientierten Trainings orientiert
schädigungsorientiert, dann aufgabenori- sich somit nicht primär am angestrebten
entiert« aus neurobiologischer Sicht Sinn. Rehabilitationsergebnis (Einbindung der
Je nach genauem Schädigungsmuster und Bewegung in einen funktionellen Zusam-
individuellem Patienten müssen hierbei menhang), sondern primär am jeweiligen
manchmal sicherlich Adaptationen vor- Leistungsvermögen des Patienten. Aller-
genommen werden. Gleichzeitig ist aber dings ist von gesunden Sportlern und Mu-
bekannt, dass die Trainingsinhalte hoch- sikern auch bekannt, dass ein zu intensives
frequent dargeboten werden müssen, um Üben den Lernerfolg wieder zunichtema-
mittelfristig zu gewünschten strukturel- chen kann (Hollmann u. Hettinger 2000).
len Änderungen führen zu können. Wie Aber nur in Ausnahmefällen dürften Pati-
die hohe Trainingsintensität sichergestellt enten in diesen Bereich kommen.
werden kann, wird im nächsten Abschnitt Wie kann ein intensives Training wäh-
„Shaping“ dargestellt. rend eines stationären Rehabilitationsauf-
enthaltes sichergestellt werden? Während
eines stationären Rehabilitationsaufent-
haltes werden zusätzlich zu den regulären
Therapien immer häufiger Gruppen mit
supervidiertem Selbsttraining eingeführt.
1 · Plastizität als Grundlage für die Erholung nach Schlaganfall 17

Diese haben im Gegensatz zum nicht su- ten, die mit einer Empfehlung zur sprach-
pervidierten Eigentraining den Vorteil ei- therapeutischen Weiterbehandlung aus
ner größeren Verbindlichkeit sowie von einer deutschen Rehaklinik entlassen wur-
Korrekturmaßnahmen und ggf. auch einer den, 64 % keine Therapie und 14 % nur eine
Motivationsunterstützung. Insbesondere Wochenstunde Logopädie (Schupp et al.
das gemeinsame Training mit anderen Pa- 2006). In anderen Therapiebereichen war
tienten zusammen scheint viele Patienten dies zwar nicht ganz so ausgeprägt, aber
in ihrer Leistungsbereitschaft anzuspor- auch hier erhielten häufig über 50 % kei-
nen. So dienen solche Gruppen mehreren ne adäquate ambulante Therapie. Seitdem
Zielen: die Trainingsintensität zu erhöhen, hat sich die Situation hinsichtlich der am-
die Motivation auch außerhalb des engen bulanten Versorgung nach Patientenbe-
Patienten-Therapeuten-Settings zu stär- richten nicht wesentlich gebessert. Dabei
ken und schließlich auch ein Training in spielt vermutlich nicht nur das mangelnde
Selbstverantwortung einzuüben. Angebot, sondern auch die fehlende Mo-
tivation seitens der Patienten eine Rolle.
1.5.3 Insbesondere Gruppenangebote, bei de-
Trainings mit hoher Rate von nen auch der soziale Austausch zwischen
Wiederholungen an der Leistungsgrenze den Patienten gefördert wird, werden erst
vor und nach einem stationären langsam populärer.
Rehabilitationsaufenthalt Prinzipiell sind ambulante Trainings-
methoden im Rahmen einer Gruppen-
Wie intensiv sollte das Training in den ers- therapie (Breitenstein et al. 2017) oder
ten Tagen nach einem Schlaganfall sein? App-basiert unter telemedizinischer Be-
Tierexperimentelle Untersuchungen und treuung eine Möglichkeit, um dieses Defi-
Studien bei Patienten haben gezeigt, dass zit zu lindern. Eine solche APP kann natür-
ein sehr frühes intensives Training nach lich auch gewinnbringend bei Patienten,
einem Schlaganfall im akuten und frühen die z. B. wegen COVID-19 oder einer an-
subakuten Stadium zwar kurzfristig nützt, deren Infektionserkrankung isoliert sind,
hinsichtlich der mittel- und langfristigen eingesetzt werden. Ebenso ist dies inter-
Verbesserung der Funktionen einem initi- mittierend für Patienten möglich für die
al weniger intensiven Training jedoch un- die Anreise infolge ihres Gesundheitszu-
terlegen ist (Dromerick et al. 2009, AVERT standes oder der Entfernung nicht möglich
trial collaboration group 2015). Offen- oder praktikabel ist.
sichtlich müssen beim Training nicht nur Insbesondere im sensomotorischen
die individuell wahrgenommenen Belas- Bereich können vermehrt Erkenntnisse
tungsgrenzen, sondern auch (patho-)phy- aus der Sportwissenschaft über die not-
siologische Grenzen berücksichtigt wer- wendige Dauer und den Aufbau eines ef-
den. Gerade am Anfang des Trainings z. B. fektiven Trainings sowie über die Gestal-
auf der Schlaganfalleinheit dürfen noch tung von Freizeittraining gewinnbringend
keine (stark) überschwelligen Reize gege- eingebracht werden.
ben werden. Wie in dem frisch geschädig-
ten Hirngewebe die mittelfristig verstärk- 1.5.4
te Schädigung zustande kommt, ist bisher Faktoren, die Trainingsergebnisse
noch nicht hinreichend geklärt. negativ beeinflussen
Nach einer stationären Rehabilitati-
onsbehandlung bricht die Therapiekette Leider beeinflussen auch viele Faktoren
leider häufig ab. Im ambulanten Bereich das Rehabilitationsergebnis negativ: z. B.
erhielten vor ca. 20 Jahren von den Patien- neurologische Vorschädigungen oder auch
18 K. M. Stephan, M. Lotze

zusätzliche orthopädische, kardiovaskulä- 1.6


re oder pulmonale Erkrankungen, die ein Modulation von Therapieeffekten
Üben an einer neurologisch definierten eines aktiven sensomotorischen
Leistungsgrenze nicht erlauben. Trainings durch zentrale und
Ein Drittel der Patienten drei Monate periphere Stimulation
nach Schlaganfall zeigen depressive Sym-
ptome (PSD = „post-stroke depression“). Wie kann der Trainingserfolg durch eine
Im Langzeitverlauf ist die PSD mit höhe- zusätzliche Förderung der Plastizität noch
ren Einschränkungen im täglichen Leben, weiter verbessert werden? Im Alltag wird
einer verminderten Mobilität und Teilha- vor allem einer längeren sportlichen Be-
be am Alltag und einer deutlich erhöhten tätigung eine allgemeine Förderung der
Mortalität assoziiert (Robinson u. Jorge Plastizität zugeschrieben. Im Gegensatz
2016). Es gibt insgesamt Hinweise darauf, zum gezielten Lernen wird hier nicht nur
dass präfrontale Läsionen eher mit einer eine Fähigkeit trainiert, sondern Körper
depressiven Symptomatik assoziiert sind, und Gehirn werden „fit“ gehalten. Dies gilt
jedoch gibt es zur Läsionslokalisation und gerade auch für die Förderung der kogniti-
dem Auftreten einer Post-Stroke-Depressi- ven Fähigkeiten.
on erstaunlich wenig überzeugende Lite- In der Reha-Klinik werden neben der
ratur (neuere Übersicht in Nickel u. Tho- allgemeinen Förderung der Fitness von
malla 2017). Körper und Gehirn vor allem auch spezi-
Man kann davon ausgehen, dass elle Fähigkeiten trainiert. Wie der Erfolg
eher eine Beeinträchtigung des zerebra- eines sensomotorischen Trainings durch
len Netzwerks oder der Neurotransmit- zentrale oder periphere Stimulation un-
ter (z. B. Serotonin) eine Rolle spielen. So terstützt werden kann, wird im Folgenden
zeigt sich sowohl bei Läsionen des Kortex dargestellt.
als auch des Striatums häufig eine Minde- Ein Trainingserfolg in einem kurzzei-
rung der Serotoninkonzentration im Urin tigen (20 Minuten) aktiven sensomotori­
(Hama et al. 2016). Insgesamt wirken sich schen Training geht bei Gesunden mit einer
die verminderte Motivation und ein da- Erhöhung von kortikaler Erregbarkeit über
mit verbundener sozialer Rückzug natür- dem kontralateralen somatotopen M1-
lich negativ auf den Trainingsumfang aus. Areal sowie einer BOLD-Aktivität-Erhö-
Gerade die Motivation ist vermutlich eine hung einher (z. B. Lotze et al. 2003). Nach
wesentliche Determinante für den Rehabi- Schlaganfall ist sowohl die Erregbarkeit
litationserfolg, insbesondere wenn sich die über dem ipsiläsionalen M1 als auch die
erhofften Erfolge nicht so schnell oder zu- fokussierte BOLD-Antwort herabgesetzt.
mindest initial gar nicht einstellen. Stattdessen besteht oftmals eine Imba-
lance zwischen ipsi- und kontraläsionaler
Hemisphäre mit Dominanz zur kontralä-
sionalen Seite (Ward u. Cohen 2004, sie-
he auch Diskussion in 1.3.1 + 1.3.2). Pa-
tienten mit verminderten „long term
potentiation“-[LTP-]assoziierten Messpa-
rametern ipsiläsional bzw. erhöhten „long
term depression“-[LTD-]assoziierten Para-
metern kontraläsional zeigen eine schlech-
tere Prognose ihres Outcomes der motori-
schen Leistung der oberen Extremität (Di
Lazzaro et al. 2010). Es liegt also nahe zu
1 · Plastizität als Grundlage für die Erholung nach Schlaganfall 19

versuchen, diese Dysbalance durch nicht fektstärken zwischen den fazilitierenden


invasive Stimulation zu regulieren. Hierfür Protokollen auf der ipsiläsionalen (nur
kommen sowohl eine zentrale Stimulation acht Studien) oder den inhibierenden auf
als auch eine periphere Stimulation in Fra- der kontraläsionalen Hemisphäre (23 Stu-
ge. Auf beide methodischen Ansätze wird dien) sind vergleichbar. Vor allem die Pro-
im Folgenden als Beispiele eines trainings- tokolle mit fünf Stimulationsereignissen
unterstützenden Therapieansatzes einge- waren effektiv, und insbesondere die sub-
gangen. kortikalen Infarkte profitierten von der In-
Die repetitive transkranielle Magnetsti­ tervention.
mulation (rTMS) hat eine sehr fokale Wir- Zudem vermag anodale transkraniel­
kung auf die kortikale Erregbarkeit, wo- le Gleichstromstimulation (TDCS) von M1
bei jedoch repetitive Protokolle sicher ein die kortikale Erregbarkeit zu erhöhen (Nit-
„spreading“ über weitere Areale induzie- sche et al. 2000), die kortikale Inhibition zu
ren. Hierbei zeigen hochfrequente konti- senken (Stagg et al. 2009) und motorisches
nuierliche Stimulationen (> 5 Hz) oder in- Lernen zu verstärken (Nitsche et al. 2003).
termittierende Theta-Burst-Stimulationen Besonders wegen der unproblematischen
einen Effekt der Erregbarkeitserhöhung Handhabung, der guten Tolerierung und
über dem Motorkortex. Die teilweise nach der unfokussierten Wirkung wurde dieses
Schlaganfall erhöhte Gefahr eines epilep- Verfahren als ideal für die Verbesserung
tischen Anfalls lässt diese fokal fazilitie- motorischen Trainings nach Schlaganfall
renden Interventionen über der betroffe- eingeschätzt (Hummel u. Cohen 2006).
nen Hemisphäre weniger attraktiv für den Leider hat sich die Anfangseuphorie
Routineeinsatz erscheinen. Durch eine zu dem Verfahren nicht bestätigt: In einer
inhibierende TMS auf der kontraläsiona- Metaanalyse (12 Studien) von Elsner et al.
len Hemisphäre kann ein Ungleichgewicht (2017) zeigen die kathodalen inhibieren-
zugunsten dieser Seite moduliert wer- den Verfahren eine schwache Wirksamkeit
den. Dies ist mit niedrig frequenter rTMS auf ADL-Funktionen nach Kombination
(≤ 1 Hz) oder kontinuierlicher Theta-Burst- von TDCS und Training, nicht jedoch auf
TMS erreichbar. motorische Funktion, gemessen mit dem
Hinsichtlich der Evidenz der Wirkung Fugl-Meyer-Score für die obere Extremität.
von rTMS-Stimulationen zusätzlich zu Insgesamt ist dieses Verfahren wegen der
motorischem Training in unterschiedli- schwachen Gleichstromstärke, der gerin-
chen Stadien nach Schlaganfall lassen die gen Eindringtiefe und einer diffusen Aus-
derzeitigen Studien nach einer neuen Met- breitung der Spannung auf eine zuneh-
analyse (34 Studien eingeschlossen; Zhang mende Skepsis gestoßen (Polanía et al.
et al. 2017) folgende Schlüsse zu: Insbeson- 2018), obwohl bereits früh Wirkungen auf
dere früh nach Schlaganfall hat rTMS ei- die kortikale Erregbarkeit z. B. am Motor-
nen positiven Einfluss auf die Erholung der kortex nachgewiesen wurden (Nitsche et
Handfunktion. Die kurzfristigen (bis zu 24 al. 2000).
h nach der letzten rTMS-Intervention) und Auch rein taktile Stimulation, sogar
die langfristigen Effekte auf die motori- ohne Aufmerksamkeitszuwendung, kann
schen Outcome-Parameter sind vergleich- Veränderungen der kortikalen Repräsen-
bar. Die Effektstärken der Intervention tation und eine Verbesserung des Verhal-
nehmen mit der Zeit nach dem Schlagan- tens (somatosensorische Diskrimination)
fall ab. Hierbei wurden ganz unterschied- bewirken und wird über Mechanismen
liche Outcome-Parameter (Handkraft, am NMDA-Rezeptor vermittelt (Dinse et
Genauigkeit, „tapping“, „pinch-grip“, kom- al. 2003). Die repetitive elektrische Stimu-
plexere Handbewegungen) erfasst. Die Ef- lation (rES) der Finger ist eines dieser Ver-
20 K. M. Stephan, M. Lotze

fahren, und es wurde nachgewiesen, dass Vor allem das Verfahren der sensori­
diese zur Verbesserung der sensorischen schen Stimulation der Fingerspitzen nach
Wahrnehmung führt und neuronale Plas- Dinse (Dinse et al. 2003)
tizität antreibt (Pleger et al. 2003). Dieses ist sehr einfach anzuwenden, es wird
Verfahren ist auch bei älteren Menschen in nicht aufmerksamkeitsgebundener
wirksam und kann hier einem altersgemä- Gabe vor einem repetitiv aktiven Training
ßen Abbau von Funktion entgegenwirken als Priming angewendet. Üblich sind 20 bis
(Dinse et al. 2006). Aufgrund seiner Wirk- 45 Minuten sensorische Stimulation vor
samkeit wird rES auch bei Schlaganfall- einem 30- bis 60-minütigem Training pro
patienten eingesetzt (s. u.). Über mehrere Tag. Dies kann etwa mit einem Armfähig-
Wochen angewandt, wurden in Einzelfäl- keitstraining kombiniert werden, das drei
len erste Erfolge berichtet (Kattenstroth et Wochen bei Patienten angewandt wird. Bei
al. 2012). Gesunden wurden additive Trainingseffek-
Gegenüber der TDCS ist die sensori- te von 3 % gegenüber einer Verbesserung
sche Stimulation attraktiver, weil sie bei von etwa 30 % bei repetitivem sensomo-
einer sehr einfachen Applikation (ohne torischem Training wie dem Armfähig-
Aufmerksamkeit, ohne Anbringung von keitstraining bei Gesunden beobachtet.
Elektroden am Kopf ) fokale Effekte zeigt. Größere Effekte (8 %) konnten hinsichtlich
Hinsichtlich der Relevanz der sensomo- der Steigerung der Kraft beobachtet wer-
torischen Interaktion für die Funktion der den (Lotze et al. 2017). Derzeit wird eine
oberen Extremität, aber auch für andere große Studie durchgeführt, die die Effekte
Funktionen wie das Schlucken (Hamdy et des Primings durch elektrische Fingersti-
al. 1998) ist diese Methode hoch attraktiv. mulation vor einem aktiven Training über
Auch hier kann eine Erhöhung der ipsilä- drei Wochen im subakuten Stadium nach
sionalen Erregbarkeit in primär sensori- Schlaganfall testet (Ghaziani et al. 2017).
schen oder motorisch evozierten Poten- Eine solche periphere Stimulation aus dem
tialen nachgewiesen werden. Es gibt hier stationären Setting in die häusliche Umge-
eine Vielzahl von Protokollen, die unter- bung zu bringen, ist eine besondere Her-
schiedliche Wirkmechanismen haben: vor ausforderung (siehe auch 1.5.3 und 1.5.4).
allem die direkte elektrische Stimulation In dieser Übersicht nicht behandelt
der Handnerven (z. B. Conforto et al. 2002) werden die Versuche, die postläsionel-
sowie die repetitive elektrische Stimulation le Plastizität durch Pharmaka zu verstär-
(rES) der Fingerspitzen (Dinse et al. 2006). ken oder den Zeitraum der postläsionel-
Ersteres Verfahren wurde bereits erfolg- len Plastizität zeitlich zu verlängern. Bisher
reich im chronischen Stadium des Schlag- konnten in klinischen Studien für diese
anfalls zur kurzfristigen Verbesserung des Interventionen im Langzeitverlauf aller-
motorischen Endergebnisses eingesetzt dings – wenn überhaupt – nur geringfügige
(Conforto et al. 2002). In einer neuen mul- Funktionsverbesserungen nachgewiesen
tizentrischen Studie konnte repetitive peri- werden; anders als in tierexperimentellen
phere sensorische (elektrisch über Nerven Untersuchungen. Zudem können beson-
am betroffenen Unterarm) Stimulation ge- ders effektive Behandlungsschemata, die
folgt von aktivem Training gegenüber Pla- sich die postläsionelle Plastizität zunutze
cebo (elektrisch über Nerven am betrof- machen, nicht nur die Funktionserholung
fenen Bein) gefolgt von aktivem Training fördern, sondern leider auch zu maladap-
eine Verbesserung der Handkraft nach tiven Entwicklungen führen (dystone Be-
Schlaganfall erzielen, nicht jedoch eine wegungen, Schmerzen; siehe auch 1.3.1
Verbesserung im Wolf Motor Test (Confor- und 1.3.2).
to et al. 2021).
1 · Plastizität als Grundlage für die Erholung nach Schlaganfall 21

1.7 marker auch einen möglichen Rahmen für


Zusammenfassung und Ausblick die weiteren therapeutischen Interventio-
nen und die Versuche, die Plastizität zu be-
Die Übersicht zeigt, wie Ergebnisse der einflussen.
Plastizitätsforschung Anregungen für die Therapeutische Interventionen kön-
klinische Arbeit geben können. Nach der nen während dieser Phase besonders gro-
Entwicklung im Kinder- und Jugendalter ße funktionelle und in geringerem Maße
ist die Grundstruktur des Gehirns durch auch strukturelle Änderungen erzielen, al-
Myelinisierung, Einbettung in das Peri- lerdings ist auch die Gefahr einer Malad-
neurium und besondere Moleküle aktiv aptation z. B. durch Unterlassen einer The-
vor Veränderungen geschützt. Nach einer rapie oder eine „falsche“ Therapie größer
Hirnschädigung wird ein Teil dieses Schut- als während anderer Phasen im erwach-
zes gelockert und so vorübergehend eine senen Leben. Es wird immer deutlicher,
stärkere Änderung der Struktur und der auf dass bestimmte therapeutische Interventi-
sie aufbauenden Funktion auf Umweltreize onen besonders wirksame Fenster haben,
hin ermöglicht. Man kann von einer „sen- sowohl hinsichtlich der „Zeit“ seit dem
siblen Periode“ nach einer Hirnverletzung Akutereignis als auch hinsichtlich der
sprechen. Auch während dieser Phase sind Schwere oder Art der Schädigung. Diese
beim Erwachsenen die Möglichkeiten zu therapeutischen Fenster können zwischen
strukturellen Veränderungen vor allem verschiedenen Interventionen differieren.
auf Änderungen der synaptischen Verbin- Ihr gekonnter therapeutisch abgestimm-
dungen beschränkt. Die Plastizität ist also ter Einsatz wird in Zukunft immer wichti-
deutlich weniger ausgeprägt als während ger werden.
der Kindheit, aber deutlich ausgeprägter Unterstützt werden können die thera-
als während des „normalen Lernens“. peutischen Bemühungen durch zusätz-
Biomarker können diese Grundstruk- liche Interventionen, die die Plastizität
tur des Gehirns zumindest teilweise er- fördern: allgemein, z. B. durch sensomo-
fassen. Evozierte Potentiale können die torisches Fitness-Training oder spezieller,
funktionelle Intaktheit einiger weniger durch eine gezielte periphere Stimulation
Grundstrukturen testen: MEP, SSEP, VEP. oder zentrale Stimulation. Letztere unter-
Die strukturelle Kernspintomographie liegt noch der wissenschaftlichen Entwick-
kann den Zustand großer Faserverbin- lung und sollte daher nur im Rahmen kli-
dungen anatomisch inzwischen recht zu- nischer Studien eingesetzt werden.
verlässig darstellen. Die Darstellung der Die therapeutischen Interventionen
funktionellen Kapazitäten ist sehr viel und die Stimulationen sollten in ein the-
schwieriger. Zwar kann mit einigem Auf- rapeutisches Gesamtkonzept eingebracht
wand der funktionelle Zustand zum Un- werden. Das zunehmend genauere Ver-
tersuchungszeitpunkt mit dem fMRT er- ständnis der Pathophysiologie führt zu im-
fasst werden, zuverlässige individuelle mer spezifischeren Modellen für die Re-
prognostische Aussagen für die Zukunft organisation von zerebralen Netzwerken.
sind jedoch kaum möglich. Grundsätzlich Dabei können nach jetzigem Wissensstand
liefern diese Untersuchungsverfahren im – abhängig von der Lokalisation der Schä-
akuten und subakuten Bereich eher Aus- digung – auch unterschiedliche Reorga-
sagen über Möglichkeiten, erst im chro- nisationsprinzipien für unterschiedliche
nischen Stadium können auch Aussagen klinische Funktionen nebeneinander ste-
über „Nicht-Möglichkeiten“ getroffen wer- hen bleiben; z. B. für das Sprachverständ-
den. Aufgrund ihrer anatomischen und nis und für das Nachsprechen. Die Kennt-
funktionellen Relevanz liefern diese Bio- nis dieser prinzipiell sehr zu begrüßenden
22 K. M. Stephan, M. Lotze

Fortentwicklung warnt allerdings auch da- Literatur


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27

2
Best-Practice-Neurorehabilitation
Claudia Pott, Klemens Fheodoroff

2.1 dividuellen Bedürfnisse und den aktuellen


Einleitung Unterstützungsbedarf abgestimmt wer-
den, wobei die Ergebnisse nicht immer
In diesem Kapitel werden die wesentli- zuverlässig vorhersehbar sind (siehe Tab.
chen gemeinsamen Elemente aus syste- 2.1).
matischen Untersuchungen zur Effektivi- Um den komplexen Anforderungen in
tät/Effizienz der Neurorehabilitation bei der Neurorehabilitation gerecht zu wer-
unterschiedlichen Erkrankungen und Stö- den, ist es notwendig, sein eigenes Denken
rungen zusammengefasst. Dabei konn- kontinuierlich und kritisch zur überprü-
te gezeigt werden, dass jeder Mensch mit fen. Der dafür verwendete englische Be-
länger anhaltender Behinderung – unab- griff „Clinical Reasoning“ (Abb. 2.1) kann
hängig der zugrunde liegenden Ursache – am besten mit „Klinische Begründung /
in jedem Stadium der Erkrankung, in je- Schlussfolgerung“ übersetzt werden und
dem Alter und in jedem Setting profitieren umfasst sämtliche Denkvorgänge und Ent-
kann, wenn gewisse Rahmenbedingun- scheidungen während der Untersuchung
gen vorhanden sind. Effektive Neuroreha- und Behandlung eines Patienten (Feiler
bilitation bedarf eines multidisziplinären 2003). Die Basis bildet das Fachwissen,
Experten-Teams, welches auf individuel- also die Kenntnis der Störungsbilder und
le und mit den Betroffenen abgestimmte der evidenzbasierten Behandlungsmetho-
Ziele innerhalb eines biopsychosozialen den, die Therapeuten in ihrer täglichen
Krankheitsmodells hinarbeitet. Es handelt Praxis anwenden. Entscheidend ist dabei
sich also um einen komplexen personzen- nicht allein die Menge des angesammel-
trierten, multifaktoriellen, zielorientier- ten Wissens, sondern die Fähigkeit, dieses
ten Prozess, der auf individuelle Problem- Wissen in konkreten Situationen effizient
lösung ausgerichtet ist (Wade 2020a). Als anzuwenden. Schließlich bedarf es der kri-
generelle Prinzipien haben sich in meh- tischen (Selbst-)Reflexion zum Vorgehen,
reren Analysen repetitives Üben, aufga- um entsprechende Kurskorrekturen vor-
benorientiertes Training, Anleitung zu nehmen zu können.
Selbst-Management und psychosoziale Da Leitlinien auf randomisiert-kon­
Unterstützung als die wirksamen Basis-In- trollierten Studien mit definierten Ein-
terventionen herausgestellt. Darüber hin- und Ausschlusskriterien beruhen und
aus ist eine Reihe von weiteren störungs- Interventionen häufig komplexe Wirkme-
spezifischen Interventionen erforderlich, chanismen enthalten, können Empfehlun-
die in den folgenden Kapiteln aufgeführt gen nur bedingt auf aktuelle reale Versor-
werden. Maßnahmen müssen auf die in- gungsstrukturen übertragen werden. Eine
28 C. Pott, K. Fheodoroff

Tab. 2.1: Merkmale effektiver Neurorehabilitation, mod. nach Wade (2020b)


Patienten/ Rehabilitation kann jedem zugute kommen, der an einer längerfristigen behindernden
Settings Krankheit leidet (in jedem Stadium)
Ist in jeder Umgebung möglich
Ergebnis Selbst eingeschätzte Lebensqualität und Grad der sozialen Integration optimieren durch:
(Outcome) – Optimierung der Selbstständigkeit bei Tätigkeiten
– Minimierung von Schmerzen/ Leiden
– Optimierung der Fähigkeit, sich an veränderte Umstände anzupassen und darauf zu
reagieren
Strukturen Fachkundiges, multidisziplinäres Team
Prozess Problemlösungsprozess
Im Kontext des ganzheitlichen biopsychosozialen Krankheitsmodells
Konzentriert auf funktionelle Aktivitäten
Personzentriert
Einigung auf einheitliche Dokumentation / Problembeschreibung, die alle Bereiche des
biopsychosozialen Modells abdeckt
Gemeinsame teambasierte Ziele
Enge, kooperative Zusammenarbeit über alle Grenzen hinweg: fachlich, organisatorisch
und geographisch
Laufende Evaluation von Veränderungen / Auswirkungen von Interventionen
    

Interven­tionen Wiederholtes Üben funktionaler Aktivitäten


Übungen zur Steigerung der kardiorespiratorischen Fitness
Wissensvermittlung zu Symptomen und deren Management
Beratung und Anleitung mit Schwerpunkt auf Selbstmanagement, Handlungskompetenz
und Problemlöse-Verhalten
Psychosoziale Unterstützung (noch nicht genau definiert)
Spezifische Maßnahmen, die auf die Prioritäten und Bedürfnisse des Patienten zuge-
schnitten sind

Meta-
kognition =
Reflexion der
Überlegungen
+ Handlungen

Kognitive Fähigkeiten des


schlussfolgernden Denkens

Fachwissen =
Kenntnis evidenzbasierter Therapie 
+ anderer Interventionen;
Fähigkeit, Auswahl zu treffen
+ gespeicherte klinische Muster abzurufen

Abb. 2.1: Clinical Reasoning basiert auf Fachwissen, kognitiven Fähigkeiten des schlussfolgernden Denkens und
der Metakognition
2 · Best-Practice-Neurorehabilitation 29

Werte
Ethische Prinzipien
und Grundlagen in der
Neurorehabilitation

BEST
Wissen
Externe Evidenz PRACTICE
Kontext
wissenschaftliches Wissen
(empirisch/theoretisch) Allgemeine Faktoren
(soziale, gesetzliche, politische
Themenspezifisches Wissen usw.)
(Neurowissenschaft)
Ressourcen in der Akutneuro-
Themenspezifisches logie und Neurorehabilitation:
Struktur-/Prozesswissen
international, national, regio-
Interne Evidenz nal, lokal, institutionell
(Experten/
Erfahrungswissen)

Abb. 2.2: Dimensionen einer Best-Practice-Neurorehabilitation (mod. nach Broesskamp-Stone u. Ackermann


2010)

Best-Practice-Neurorehabilitation orien- bei sollten Konzepte wie Sozialraum- und


tiert sich dann an den Dimensionen „Wer- Lebensweltorientierung beachtet werden.
te – Wissen – Kontext“ ([Broesskamp-Stone Wade zufolge kann Rehabilitation in je-
u. Ackermann 2010], siehe Abb. 2.2). dem Setting (jeder Umgebung) erbracht
Unter „Werte“ sind ethische Aspekte werden und nützlich sein – unter der Vor-
gemeint, wie z. B. Respekt vor der Autono- aussetzung, dass die in Tabelle 2.1 genann-
mie des Einzelnen, gesundheitliche Chan- ten Struktur- und Prozessmerkmale erfüllt
cengleichheit, Nachhaltigkeit, Befähigung werden (Wade 2020).
zur Selbstwirksamkeit („empowerment“). Best-Practice-Neurorehabilitation be-
Unter „Wissen“ wird das Ergebnis von rücksichtigt die Komplexität vor dem Hin-
„systematische Recherchen“ verstanden. tergrund von Bedingungen der realen Welt
Dazu gehört auch die Berücksichtigung und der interindividuellen Unterschiede
von „Wissenslücken“ und Bereichen, die im Erleben und Verhalten von Menschen.
noch nicht ausreichend untersucht sind. Dabei können klinische Behandlungspfa-
Ebenso die Bereitschaft, einen Beitrag zum de helfen. Ronellenfitsch und Schwarz-
Schließen dieser Lücken unter Beachtung bach schreiben über interdisziplinäre evi-
der methodologischen Anforderungen zu denzbasierte Behandlungspläne: „Für ihre
leisten. Erstellung, die Implementierung in den
„Kontext“ bezieht sich auf die Frage, klinischen Alltag und ihren fortwährenden
ob der Nutzen der Rehabilitation auf be- Einsatz ist ein interdisziplinärer und parti-
stimmte Patientengruppen oder auf die zipativer Ansatz unabdingbar. Ihr Inhalt ist
Erbringung an bestimmten Orten/unter kontextabhängig anzupassen. Daten zum
definierten Umständen beschränkt ist. Da- Nutzen Klinischer Pfade weisen ein einge-
30 C. Pott, K. Fheodoroff

schränktes Evidenzlevel auf, da randomi- Entsprechend der Gesundheitsdefini­


sierte Studien methodisch nur schwierig tion der WHO wird Gesundheit mit bio­
durchführbar sind. Es wäre wünschens- psychosozialem Wohlbefinden gleich-
wert, wenn Elemente der Intersektoralität gesetzt (WHO 2006). Dieses subjektive
in Klinischen Pfaden bislang noch stärker Wohlbefinden muss wohl als zentrales Ele-
berücksichtigt würden (Ronellenfitsch u. ment der Neurorehabilitation angesehen
Schwarzbach 2021). werden. Erfasst werden kann diese Di-
mension letztlich nur durch Selbstauskunft
durch die Betroffenen („patient-reported
2.2 outcome“ – PRO). Damit sind jedoch er-
hebliche methodologische Schwierigkei-
Personzentrierter Ansatz in der
ten verbunden – sei es durch die eine ein-
Neurorehabilitation
geschränkte Kommunikationsfähigkeit der
Menschen sind vielfältig und haben un- Betroffenen, den damit verbundenen Zeit-
terschiedliche Bedürfnisse. Menschen aufwand, mangelnde Validierung oder die
mit Behinderungen haben aber in der Re- begrenzte Vergleichbarkeit von Gruppen.
gel keine wesentlich anderen Bedürfnisse Dennoch haben „patient-reported out-
als gesunde Menschen (Sivaraman Nair u. come measures“ (PROMs) in den letzten
Wade 2003). Sie zeigen jedoch einen un- Jahren erheblich an Bedeutung gewonnen.
terschiedlichen und variablen Unterstüt- So wird die Verwendung von PROMs seit
zungsbedarf, der von der Behinderung 2009 von der US-Zulassungsbehörde als Vo-
und dem jeweiligen situativen Kontext ab- raussetzung zur Konzession neuer medi-
hängt. Es gilt, sowohl Über- als auch Unter- zinischer Behandlungsverfahren und Pro-
versorgung zu vermeiden und einen genau dukte gefordert (U.S. Department of Health
abgestimmten, „personzentrierten“ Unter- and Human Services et al. 2009). Die PRO-
stützungsbedarf vorzuhalten. Der Begriff MIS Health Organization (PHO)-Initiati-
„Personzentrierung“ stammt ursprünglich ve entwickelt standardisierte international
aus der Pflegewissenschaft und geht auf anwendbare Messinstrumente für PROs
den Psychologen Carl Rogers (Scholl et al. (PROMIS Health Organization [Berlin]).
2014) zurück. Eine personzentrierte Hal- „Patient-reported experience measures“
tung ist von der Bereitschaft zur Reflexion (PREMs) erfassen Ansichten der Betroffenen
geprägt, wie die persönlichen Fähigkeiten über ihre Erfahrungen während sie behan-
der betroffenen Person sowohl in der ge- delt werden. Im Gegensatz zu „Patient-Re-
genwärtigen Situation als auch für ihre Zu- ported Outcome Measures“ (PROMs) be-
kunft wahrgenommen und gefördert wer- trachten PREMs nicht die Ergebnisse der
den können (Entwistle u. Watt 2013). Nicht Versorgung, sondern das Erleben von Pro-
der Grad der Behinderung, sondern der zessen während einer Maßnahme, zum
Grad der Selbstbestimmung sollte den Un- Beispiel im Hinblick auf die Kommunikati-
terstützungsbedarf bestimmen. Die damit on, Aktualität der Hilfe, das Vorhandensein
verbundene Autonomie bildet auch einen und den Zugang zu Diensten des Gesund-
zentralen Bestandteil der UN-Konvention heitssystems. PREMs werden als funktio-
der Rechte der Menschen mit Behinde- nal oder relational klassifiziert. Funktionale
rung (Schulze 2010). Es gilt sicherzustel- PREMs untersuchen praktische Fragen wie
len, dass die Gesundheitsversorgung (Be- z. B. die Verfügbarkeit von Einrichtungen.
handlung) dazu beiträgt, die Entwicklung Relationale PREMs identifizieren die Erfah-
von persönlichen Fähigkeiten, die den be- rung der Betroffenen während der Behand-
troffenen Personen wichtig sind, zu för- lung, z. B. ob sie sich gehört fühlten oder ei-
dern (Entwistle u. Watt 2013). gene Ideen eingebracht werden konnten.
2 · Best-Practice-Neurorehabilitation 31

Handlungstheorie (action theory)

Leistungsfähigkeit Gelegenheiten
– Funktionen Umwelt
– Strukturen Handlung – materiell
– Ausbildung – sozial
– Trainingsstand etc. – verhaltensbezogen

Wille
personbezogener Faktor

Abb. 2.3: Handlungstheorie nach Nordenfelt (Nordenfelt 2000)

Bisherige Untersuchungen zeigen Mängel Im § 4 des SGB IX sind die Ziele der
hinsichtlich der Validität und Reliabilität Rehabilitation aufgeführt: Verlangt wird
standardisierter PREMs (Bull et al. 2019). „... die Teilhabe am Leben in der Gesell-
Daher sollte einerseits deren Einsatz in der schaft sowie eine möglichst selbstständi-
Neurologischen Rehabilitation kritisch ge- ge und selbstbestimmte Lebensführung ...“.
prüft werden, andererseits besteht der Be- In der UN-CRPD wird die „Inklusion“, d. h.
darf einer Weiterentwicklung von PREMs die „volle und wirksame Teilhabe an der
für die Perspektive von Erkrankten bzw. Be- Gesellschaft und Einbeziehung in die Ge-
zugspersonen. sellschaft“ gefordert (UN 2007, Allgemei-
Zu unterscheiden ist also die Sicht der ne Grundsätze, Art. 3). Im Teilhabebericht
Betroffenen (Innenperspektive) von der der Bundesregierung über die Lebensla-
Sicht der Leistungserbringer (Außenper­ gen von Menschen mit Beeinträchtigungen
spektive). Dabei spielt der Begriff der Par- (Bundesministerium für Arbeit und Sozia-
tizipation eine zentrale Rolle. Im deutschen les 2013; Bundesministerium für Arbeit und
Sprachraum wird der Begriff: „Partizipa- Soziales 2016) wird Autonomie definiert
tion“ (vom lateinischen Begriff „partici- als das Kondensat resultierend aus dem
patio“) sowohl als „Teilnahme“ als auch Dürfen, d. h. dem kontextbezogenen Zu-
als „Teilhabe“ verstanden. Folgt man Nor- gang, dem räumlich-technische und sozia-
denfelts handlungstheoretischer Argu- le Schranken entgegenstehen können, und
mentation einer grundlegenden Trennung dem Wollen, d. h. den individuellen Wün-
zwischen „inneren“ und „äußeren“ Zu- schen und Absichten, die durch Faktoren
gangsmöglichkeiten zur Partizipation, muss der Lebenserfahrung, Selbst- und Fremd-
man zwischen der „capacity/inner possibi- sicht beeinflusst sein können.
lity of action“ (Leistungsfähigkeit/innere Aus der Sicht der Leistungserbringer
Möglichkeit zur Handlung) und der „oppor- (Außenperspektive) muss der subjektiven
tunity/external possibility of action“ (Gele- Erfahrung und der Selbstbestimmung im
genheit/äußere Möglichkeit zur Handlung) Rahmen der Einsichts- und Urteilsfähigkeit
unterscheiden. Das Bindeglied zwischen in jedem Fall – insbesondere aber mit Blick
den beiden Polen stellt der freie Wille – also auf die Ziele und Perspektivenentwicklung
der Grad der Selbstbestimmung dar. (Nor- – besondere Aufmerksamkeit gewidmet
denfelt 2003; Nordenfelt 2006) (Abb. 2.3). werden.
32 C. Pott, K. Fheodoroff

Eine schon seit den 1970er-Jahren be- – „Welche Beeinträchtigungen behindern


währte Vorgehensweise wird unter dem Sie im Moment an der Teilnahme?“
Begriff: „Shared Decision Making“ (SDM, – „Was hat Ihnen bislang auf dem Weg zu
geteilte bzw. partizipative Entscheidungs- Ihrer Gesundheit geholfen?“
findung) subsummiert. Untersuchungen – „Was hat sich als Hindernis erwiesen?“
zum SDM haben gezeigt, dass die Patien-
tenzufriedenheit zunimmt und die Inan- Davon ausgehend werden konkrete, im
spruchnahme von Gesundheitsleistungen Team und mit den Betroffenen abge-
abnimmt. (Scheibler et al. 2003). So wurde stimmte Ziele unter Berücksichtigung der
im Rahmen eines RCT nachgewiesen, dass hemmenden und fördernden Faktoren
die Schubrate bei Patienten mit MS, die in festgelegt. Demgegenüber steht in Bottom-
ein SDM einbezogen wurden, abgenom- up-Ansätzen das Training von gestörten
men hat (Heesen et al. 2006; Heesen et al. Körperfunktionen im Vordergrund mit der
2012). Inwieweit die Betroffenen in Infor- inhärenten Annahme, dass sich die Behin-
mations- und Entscheidungsprozesse ein- derung linear aus diesen Störungen („in-
bezogen werden können, hängt allerdings terne Barrieren“) ergibt (siehe Abb. 2.4).
vom Krankheitsereignis und Stadium ab. Janssen und Barucchieri sprechen sich für
Darüber hinaus haben Untersuchungen eine Integration beider Modelle aus, da
gezeigt, dass der Patientenwunsch, an Ent- das geradlinige Vorgehen nach dem einen
scheidungen teilzuhaben, häufig an orga- oder anderen Ansatz nicht immer zielfüh-
nisatorischen, Behandler-, aber auch an rend sei. Sie favorisieren eine Vorgehens-
Betroffenen-spezifischen Barrieren schei- weise, die Kontextfaktoren, Partizipation/
tert (Papadimitriou u. Cott 2014, Papadi- Aktivitäten und Störungen der Körper-
mitriou u. Cott 2015). funktionen gleichberechtigt – unter Be-
rücksichtigung der jeweiligen Wechselwir-
2.2.1 kungen – nebeneinander stellt (Janssen u.
Das Top-down- und Bottom-up-Modell Barucchieri 2013).

Das Top-down-Modell bezieht sich auf das 2.2.2


partizipationsorientierte Vorgehen bei der Methoden der Befunderhebung
Anamnese- und Befunderhebung und der
Therapieplanung. Das übergeordnete Ziel Die Qualität der Dokumentation ist unmit-
liegt im Erreichen einer maximalen Selbst- telbar abhängig von der Art der Befund­
bestimmung und Partizipation und impli- erhebung. Im Wesentlichen können drei
ziert eine sehr präzise Betrachtung aller Arten der Befunderhebung unterschieden
relevanten Kontextfaktoren (Förderfakto- werden: Bericht, Beobachtung und Test.
ren, Barrieren). Ausgehend von der Frage,
an welchen Lebensbereichen die Betroffe- 2.2.2.1
nen langfristig teilnehmen wollen, werden Narrative Medizin: Der Stellenwert von
die aktuellen Beeinträchtigungen auf der Berichten
Handlungsebene und auf der Ebene der Direkte Angaben der Betroffenen bzw. der
Körperfunktionen erfasst. Zusätzlich wer- Bezugspersonen haben einen besonderen
den Erfahrungen mit den bisherigen In- Stellenwert: Sie entsprechen dem Konzept
terventionen im Sinne von Förderfaktoren der subjektiven Erfahrung (dem „Zugehö-
und Barrieren erfragt, z. B.: rigkeitsgefühl“), das dem Konzept der Par-
– „An welchen Lebensbereichen möch- tizipation am nächsten kommt. Darüber
ten Sie langfristig wieder teilnehmen hinaus sind biografische Daten („person-
können?“ bezogener Kontext“, z. B. Bildung, Beruf,
2 · Best-Practice-Neurorehabilitation 33

Bottom-up vs. Top-down

Interventionen fokussieren auf


maximale Partizipation
Interventionen beziehen sich nur
bedingt auf die Partizipation Interaktionen / Beziehungen (soziale

Kontextfaktoren (Barrieren / Förderfaktoren)


Rollen); Freizeit / soziales und häusliches
Leben / Selbstbestimmung

Erst bei ausreichender Stabilität der Interventionen fokussieren auf


Körperfunktionen werden Interventi- Aktivitäten, die Partizipation er-
onen auf der Aktivitätsebene gesetzt möglichen
Kommunikation, Mobilität, Selbstversor- Aufgabenorientiertes Training; tägliche
gung; Hilfsmittelgebrauch Routine durchführen; mit Stress umge-
hen; Entscheidungen treffen

Interventionen beziehen sich auf


Störungen der Körperfunktionen/
Störungen der Körperfunktionen /
-strukturen werden als interne Bar-
-strukturen
rieren für Partizipation betrachtet
Restitution / Substitution
Kompensation durch Hilfsmittel /
Medikamente / chirurgische Verfahren /
umweltbezogene Förderfaktoren
Neuromodulation

Abb. 2.4: Das Bottom-up- und Top-down-Modell der Neurologischen Rehabilitation (Fheodoroff u. Pott 2020,
mod. nach Fries 2007)

Hobbys, Vorlieben etc.) nur anamnestisch Der narrative Zugang zur Befunderhe-
erhebbar. In Erzählungen findet man eine bung erfordert eine klare Rollenverteilung
Reihe von Strukturmerkmalen wie Tem- im Team und eine strukturierte Weiterga-
poralität, Singularität, Kontextualisie- be des wesentlichen Informationsgehal-
rung sowie Intersubjektivität (Frommelt tes; subjektive Angaben sollten entspre-
u. Grötzbach 2008). In ihren Erzählungen chend gekennzeichnet sein (z. B. durch
versuchen Patienten, einen Sinn in das von Zwischenüberschrift „Bericht“). Subjektive
ihnen Erlebte zu bringen. Häufig beinhal- Berichte – insbesondere eigene Beschrei-
ten diese Erzählungen auch Hinweise auf bungen der Leistungsfähigkeit – bedürfen
Rehabilitationsziele und helfen bei der jedoch der objektiven Überprüfung. Hier
Entwicklung eines neuen Selbstverständ- sind die beiden anderen Methoden der
nisses. Persönliche Berichte haben auch Befunderhebung, Beobachtung und Test
einen großen Einfluss auf die Adhärenz (strukturierte Assessment-Verfahren) an-
(Therapietreue) (Martin et al. 2005). Mitt- gesiedelt.
lerweile liegt eine Reihe von Publikationen
zur narrativen Medizin und deren Auswir- 2.2.2.2
kung auf Resilienz, Adhärenz und Lebens- Beobachtung und Test
qualität vor (Kirk u. Henning 2014; Kirke- Während Berichte die subjektive Seite der
vold et al. 2014; Sarre et al. 2014; Pluta et al. Leistungsfähigkeit und Leistung erfassen,
2015; Jesus et al. 2016). wird über (Verhaltens-)Beobachtung und
34 C. Pott, K. Fheodoroff

Testverfahren eine objektive Feststellung verfahrens und allfälliger Wiederholungen


der Leistungsfähigkeit und Leistung an- klar kommuniziert werden.
gestrebt. Hier können durchaus erheb- Standardisierte und in ihren psycho-
liche Diskrepanzen zwischen Berichten metrischen Kriterien (Gütekriterien) über-
und Befunden auftauchen, die eine be- prüfte Messverfahren erlauben die präzise
sondere Herausforderung an die Interak- Einschätzung der Leistungsfähigkeit bzw.
tion mit den Betroffenen darstellen. Wäh- des Ausmaßes an Defiziten sowie deren
rend es für einzelne Bereiche wie Mobilität Veränderung im Behandlungsverlauf. Die
(d4), Selbstversorgung (d5), Sprache und Gütekriterien geben an, wie gut sich ein
Kommunikation (d3) anerkannte Testver- Test oder eine Skala für eine bestimmte
fahren gibt, wird die Leistungsfähigkeit in Fragestellung eignet. Für Messinstrumen-
anderen Bereichen wie Interaktion (d7), te zur Zustandsmessung sind die Gütekri-
Häusliches Leben (d6) und elementare terien Reliabilität (Zuverlässigkeit) und Va-
wirtschaftliche Transaktionen wie Bezah- lidität (Gültigkeit) von großer Bedeutung.
len (d860) bisher überwiegend durch Ver- Bei Verlaufsmessungen kommt die Res-
haltensbeobachtung erfasst. Die Auswir- ponsivität hinzu. Neben diesen Hauptkri-
kung der Einführung von standardisierten terien spielen weitere Nebengütekriterien
Mess­instrumenten in der Schlaganfall­ wie Testnormierung, Ökonomie, Nützlich-
rehabilitation auf den Rehabilitationspro- keit und Fairness eine wichtige Rolle in der
zess (konkret: Zunahme des Barthel-In- Praxis. Bei der Beurteilung spielt das Ska-
dex) wurde mittlerweile nachgewiesen; lenniveau (Nominal-, Ordinal-, Intervall-,
Teammitglieder sehen als Vorteile präzise- Verhältnisskala) eine wichtige Rolle, da
re Problem­identifikation, effektiveres Pro- davon die Möglichkeiten der statistischen
zessmonitoring und besseren Austausch Auswertung beeinflusst werden.
im Team (Tyson et al. 2015; Tyson et al. Gauggel et al. erörtern einige Nachtei-
2015). le neurologischer Assessments, wie Bo-
den- bzw. Deckeneffekte, aber auch eine
2.2.2.3 fehlende Itemhomogenität, die mit der
Einsatz und Entwicklung von Assessments in Klassischen Testtheorie (KTT) nicht em-
der Neurorehabilitation pirisch überprüft werden kann (Gauggel
Die Betroffenen wünschen sich regelmä- et al. 2004). Zunehmend werden daher
ßige, nachvollziehbare Rückmeldung zu Alternativen oder Ergänzungen zur KTT
Ergebnissen und Verlauf in Laiensprache – diskutiert, wie die Generalisierbarkeits-
verbal und schriftlich; das zeigt eine Unter- theorie (Sterkele et al. 2021). Modelle der
suchung zur Erfassung der individuellen Item-Response-Theorie (IRT) ermögli-
Patientenerfahrungen mit Assessments chen es, methodische Schwächen der KTT
während der Schlaganfallrehabilitation oder exploratorischen Faktorenanalysen
(Tyson et al. 2014). Die in der Studie be- auszugleichen. Die IRT stellt ein Verfah-
fragten Klienten irritierte eine fehlende ren zum Berechnen der Item-Homogeni-
Rückmeldung; sie wollten die Gründe für tät dar. Moosbrugger und Kelava verste-
das Ausbleiben des Feedbacks verstehen. hen die Item-Response-Theorie nicht als
Dieser Erkenntnis sollte im Alltag ent- Alternative zur KTT, sondern als Ergän-
sprechende Priorität eingeräumt werden. zung (Moosbrugger u. Kelava 2012). Un-
Ein zielorientiertes Feedback kann durch ter Verwendung der IRT können Skalen bei
verständliche Rückmeldung in Form von bestimmten Voraussetzungen metrisch-
Messergebnissen an Wirksamkeit gewin- homogen gemacht und vergleichend in-
nen. Beim Einsatz von Messverfahren soll- terpretiert werden, auch wenn sie nur eine
ten Sinn, Inhalt und Ergebnis des Mess- gemeinsame Teilmenge von Aufgaben be-
2 · Best-Practice-Neurorehabilitation 35

sitzen (Hartig u. Frey 2013). Ein Anwen- Krankheits- zu einer umfassenden (auch
dungsbereich von IRT-Modellen ist das „ganzheitlich“ oder „holistisch“ genann-
sogenannte computerbasierte adaptive ten) Gesundheitsbetrachtung. Krank-
Testen (CAT), bei dem Items vorgegeben heit wurde bis dahin als Auswirkung ei-
werden können, die für das Fähigkeitsni- nes krankmachenden Faktors verstanden.
veau der zu testenden Person eine hohe Dieses Verständnis basierte auf dem bak-
Messgenauigkeit aufweisen (Moosbrugger teriologischen „Koch’schen Modell“ vom
u. Kelava 2012). Die amerikanische Initi- Ende des 19. Jahrhunderts (Franzkowiak
ative „Patient-Reported Outcomes Mea- 2018). Aus biomedizinischer Sicht kann
surement Information System“ (PROMIS) für jede Krankheiten ein biochemischer,
strebt eine bessere patientenzentrierte physiologischer, neurobiologischer oder
Ergebnismessung an und unterstützt die anatomischer Faktor sein. Ein bio-psycho-
Integration von Item-Response-Theorie sozialer Ansatz geht über dieses „Ursache-
und CAT (Fries et al. 2005). Hsueh et al. Wirkung-Denken“ hinaus. Er basiert auf
evaluierten bereits erfolgreiche CATS für einem systemischen Ansatz und betont
das Messen von Aktivitäten des täglichen Wechselwirkungen zwischen Faktoren auf
Lebens („activities of daily living“, ADL) den verschiedenen Ebenen.
(Hsueh et al. 2013) und der Balance (Hsu- Mit der Internationalen Klassifikati-
eh et al. 2010). Velozo et al. entwickelten on der Funktionsfähigkeit, Behinderung
eine Roadmap mit „mixed methods“ für und Gesundheit (ICF) (WHO 2001; DIMDI
die Entwicklung von IRT-basierten Assess- 2004) hat die Weltgesundheitsorganisation
ments (Velozo et al. 2012). Balasubramani- (WHO) eine Klassifikation geschaffen, mit
an et al. schlagen das Verwenden von IRT der das Zusammenspiel aller dieser Kom-
und CAT zur Entwicklung von Assessments ponenten erfasst und das „biopsychoso-
zur Gang-Aadaptivität vor (Balasubrama- ziale Wohlbefinden“ beschrieben werden
nian et al. 2014). Die Autorengruppe illus- kann. Die ICF stellt eine Ergänzung der
triert ein computerbasiertes Assessment- „International Classification of Diseases“
Tool auf Basis der Item-Response-Theorie. (ICD) dar. Sie ist eine Klassifikation, die der
Sie berücksichtigen dabei das Identifizie- einheitlichen Sprache zur Beschreibung
ren eines relevanten Items-Pools, das Sha- des Gesundheitszustandes, der Behinde-
ping-Paradigma und Differenzieren zwi- rung, der sozialen Beeinträchtigung und
schen restitutiven und kompensatorischen der relevanten Umgebungsfaktoren einer
Merkmalen der Bewegungsstrategie. Person dient (DIMDI 2004). Ziel der WHO
war es, ein standardisiertes Klassifikations-
2.2.3 system zu kreieren, um die Erfassung und
Die Internationale Klassifikation der Analyse von Daten der nationalen Gesund-
Funktionsfähigkeit, Behinderung und heitsberichte international vergleichbar zu
Gesundheit (ICF) machen und die Kommunikation profes-
sions- und länderübergreifend zu erleich-
Beeinflusst durch die Systemtheorie des tern und zu fördern. Obwohl die Klassifi-
Soziologen Nikolaus Luhmann stellte der kation bereits 2001 verabschiedet wurde
amerikanische Internist und Psychiater (die deutsche Fassung liegt seit 2004 vor),
George L. Engel Anfang der 1970er-Jahre bestehen immer noch Unklarheiten so-
erstmals die Zusammenhänge zwischen wohl in den Basis-Konstrukten als auch
der biologischen, der psychischen und der hinsichtlich der Kodierungskonventionen
gesellschaftlichen Ebene dar (Engel 1977). zur Erfassung des Schweregrades der Ein-
Damit beeinflusste er den Paradig- schränkungen in den einzelnen Konstruk-
menwechsel von einer biomedizinischen ten (Heerkens et al. 2017).
36 C. Pott, K. Fheodoroff

2.2.3.1 her die Beeinträchtigung, desto globaler


Aufbau der ICF kann das zu beschreibende Konstrukt aus-
gewählt werden. So wird bei einem Pati-
Die ICF besteht aus zwei Teilen mit jeweils enten mit hochgradigen Paresen das Kon­
zwei Komponenten: strukt: „d540 sich kleiden“ die Problematik
– Teil 1: Funktionsfähigkeit und Behin- des Hilfebedarfs ausreichend beschreiben,
derung mit den Komponenten der Kör- während bei einem Parkinson-Patienten
perfunktionen/Körperstrukturen und mit Tremor die Konstrukte: „d5401/d5402
der Aktivitäten/Partizipation. sich an- bzw. auskleiden“ noch zu wenig
– Teil 2: Kontextfaktoren mit den Kompo- spezifisch sind, um die Schwierigkeiten
nenten der personbezogenen Kontext- beim Öffnen/Schließen von Bekleidungs-
faktoren und der Umweltfaktoren. verschlüssen wie Knöpfen und Reißver-
schlüssen zu beschreiben.
Den einzelnen Konstrukten sind alphanu-
merische Codes zugeordnet, welche die 2.2.3.2
Konstrukte international vergleichbar ma- Charakterisierung der einzelnen
chen sollen. Dabei ist den Körperfunktio- Komponenten
nen ein „b“ vorangestellt (für „body func- Unter Körperfunktionen werden in der
tions“), den Körperstrukturen ein „s“ (für ICF „die physiologischen Funktionen von
„body structures“); den umweltbezoge- Körpersystemen (einschließlich der psy-
nen Kontextfaktoren ist ein „e“ (für „envi- chologischen Funktionen)“ verstanden.
ronmental factors“), der Komponente der Insgesamt werden 458 Körperfunktionen
Aktivitäten/Partizipation ein „d“ (für „do- in acht Kapiteln beschrieben. Unter Kör-
mains“ = [Lebens-]Bereiche) vorangestellt. perstrukturen sind „anatomische Teile des
Wird ein Konstrukt als Aktivität klassifi- Körpers, wie Organe, Gliedmaßen und ihre
ziert, so wird das „d“ durch ein „a“ („ac- Bestandteile“ aufgeführt. Insgesamt wer-
tivity“) ersetzt; wird es als Partizipation den 302 Strukturen in acht Kapiteln erfasst.
klassifiziert, wird ein „p“ („participation“) Unter Schädigungen von Körperfunkti-
vorangestellt. onen und -strukturen werden „Beeinträch-
Insgesamt werden in der Klassifika- tigungen einer Körperfunktion oder -struk-
tion 1.424 Konstrukte beschrieben, die tur, wie z. B. eine wesentliche Abweichung
auf bis zu vier Item-Ebenen in hierarchi- oder ein Verlust“ verstanden. Der zugrunde
scher Ordnung aufgebaut sind. Je höher liegende pathologische Prozess spielt in der
die Ebene, desto spezifischer ist das Kon- Klassifikation keine Rolle.
strukt beschrieben. Zum Beispiel enthält Unter Aktivität wird „die Durchführung
die Klassifikation der Körperfunktionen einer Aufgabe oder einer Handlung (Akti-
„b4 Sinnesfunktionen und Schmerz“ als on) durch einen Menschen“ verstanden.
Item der ersten Ebene, „b410 Funktionen Partizipation steht für „das Einbezogensein
des Sehens (Sehsinn)“ als Item der zwei- in eine Lebenssituation“. Insgesamt werden
ten Ebene, „b4104 Qualität des Sehver- 384 Aufgaben/Handlungen in neun Kapi-
mögens“ als Item der dritten Ebene und teln beschrieben. Als negativer Aspekt wird
„b41044 Kontrastempfindung“ als Item der eine „Beeinträchtigung/Einschränkung der
vierten Ebene. Aktivität/der Partizipation“ bezeichnet.
Je nach klinischer Situation wird ein Gab es in der vorletzten Version der
unterschiedlicher Detaillierungsgrad zu ICIDH2-β2 noch eine getrennte Klassifi-
wählen sein. Als Faustregel mag gelten: je kation der Aktivitäten und der Partizipati-
geringer die Beeinträchtigung, desto spezi- on, wurden diese Trennung im letzten Re-
fischer das zu wählende Konstrukt; je hö- visionsschritt aufgegeben und die beiden
2 · Best-Practice-Neurorehabilitation 37

Komponenten zusammengeführt. Welche ner gegenwärtigen tatsächlichen Umwelt


der beiden Perspektiven zur Anwendung tut“ eingeführt. Weil die „übliche Umwelt“
kommt, bleibt dem Anwender überlassen. auch den sozialen Kontext und alle Varia-
Zur Beurteilung der Einschränkung der tionen in unterschiedlichen Situationen
Aktivitäten und der Partizipation werden – von fördernd bis hemmend – umfasst,
die Leistungsfähigkeit („capacity“) und die wird darunter auch das „Einbezogensein
Leistung („performance“) herangezogen. in eine Lebenssituation“ oder die „geleb-
Unter Leistungsfähigkeit wird „die Fä- te Erfahrung“ der Individuen verstanden.
higkeit eines Menschen, eine Aufgabe oder Diese Betrachtungsweise der Leistung ent-
eine Handlung durchzuführen“ verstan- spricht der (möglichst unbeeinflussten)
den. Diese Betrachtungsweise zielt darauf Verhaltensbeobachtung in unterschiedli-
ab, das (höchste) Ausmaß an Handlungs- chen Lebenssituationen – mit allen damit
fähigkeit in einer standardisierten Umwelt verbundenen methodologischen Heraus-
(z. B. Testumgebung) zu erfassen. Durch forderungen. Unterschieden werden soll
Variation der Testumgebung kann die Leis- davon jedoch weiterhin die subjektive Er-
tungsfähigkeit ohne bzw. mit Unterstüt- fahrung (das „Zugehörigkeitsgefühl“) – das
zung (zweites bzw. drittes Beurteilungs- weiterhin nur durch direkte Befragung der
merkmal, Abb. 2.5) erfasst werden. Diese Betroffenen erfasst werden kann. Informa-
Betrachtungsweise entspricht jeder Unter- tionen, die das Gefühl des Einbezogen-
suchungs- und Testsituation im klinischen seins einer Person oder ihre Zufriedenheit
Alltag und eignet sich besonders gut zur Er- über das Niveau ihrer Funktionsfähigkeit
fassung der Auswirkung von Interventionen widerspiegeln, sind gegenwärtig nicht in
jeglicher Art (ohne/mit Assistenz/Hilfsmit- der ICF kodiert (DIMDI 2004, S. 154).
tel/Adaption). Da die Trennung der Komponenten
Da der Grad des „Einbezogenseins in Aktivität und Partizipation im klinischen
eine Lebenssituation“ nicht unmittelbar Alltag Schwierigkeiten bereitet, schlagen
zu beschreiben ist (außer durch direk- verschiedene Autoren vor, „Leistungsfähig-
te Befragung der Betroffenen – mit allen keit“ auf „Aktivitäten“ und „Leistung“ auf
damit verbundenen methodologischen „Partizipation“ zu beziehen.
Schwierigkeiten), wurde das Konstrukt der In Teil 2 der Klassifikation werden Kon-
Leistung als das „was ein Mensch in sei- textfaktoren beschrieben. Diese werden

Beurteilung der Leistung


(1. Beurteilungsmerkmal)
Beurteilung der Leistungsfähigkeit ohne Assistenz
(2. Beurteilungsmerkmal)
Beurteilung der Leistungsfähigkeit
mit Assistenz (3. Beurteilungsmerkmal)
Beurteilung der Leistung
ohne Assistenz (4. Beurteilungsmerkmal)
zusätzliche Beurteilung
(5. Beurteilungsmerkmal)
d4500.
Informationsmatrix
optional zusätzlich
(Vorgabe)

Abb. 2.5: Kodierung der Komponente der Aktivitäten und Partizipation


38 C. Pott, K. Fheodoroff

in Umweltfaktoren und in personbezoge- oder -zustands sind“ (DIMDI 2004, S. 22).


ne Kontextfaktoren unterteilt. „Umwelt- Hier ist anzumerken, dass einige person-
faktoren bilden die materielle, soziale bezogene Faktoren wie Alter, Geschlecht
und einstellungsbezogene Umwelt, in der und Berufs-(Versicherungs-)Status ohne-
Menschen leben und ihr Leben gestalten“ hin mit den Stammdaten erfasst werden.
(DIMDI 2004, S. 21). Darüber hinaus sind die personbezoge-
In der ICF sind insgesamt 253 Umwelt- nen Faktoren in der ICF aufgrund der welt-
faktoren angeführt, gegliedert in fünf Ka- weit großen soziokulturellen Unterschie-
pitel. Darunter finden sich Faktoren der de nicht weiter ausgeführt. Faktoren wie
physischen Umwelt (e1 – Produkte und „Temperament und Persönlichkeit (b126)“,
Technologien, e2 – Natürliche und vom „Psychische Energie und Antrieb“ (b130)
Menschen veränderte Umwelt), der sozi- und andere mentale Funktionen, welche
alen Umwelt (e3 – Unterstützungen und als Einflussfaktoren auf die individuel-
Beziehungen, e4 – Einstellungen) und der le Leistungsfähigkeit und Leistung wirk-
institutionellen Umwelt (e5 – Dienste, Sys- sam werden können, sollten ohnehin als
teme und Handlungsgrundsätze). Teil des Gesundheitsproblems beschrie-
Im Kapitel: e1 – Produkte und Tech- ben werden, während prämorbide Aspek-
nologien ist bereits eine Skalierung ange- te wie erhöhter Leistungsanspruch oder
deutet, indem zwischen allgemeinen und eingeschränkte Lernbereitschaft in der
speziellen (Hilfs-)Produkten unterschie- biografischen Anamnese zu erfassen und
den wird. Hier kann festgehalten werden, gegebenenfalls durch eine Außensicht zu
dass eine Person, die mit allgemeinen Pro- verifizieren sind.
dukten und Technologien zurechtkommt, Obwohl in vielen Studien Einstellun-
wahrscheinlich weniger beeinträchtigt ist gen, Verhalten und krankheitsbezogenes
als jemand, der auf spezielle Produkte und Wissen als wichtig für die soziale und be-
Technologien (z. B. e1101 – Medikamen- rufliche Wiedereingliederung bei einer
te oder e1201 – Hilfsmittel und unterstüt- neurologischen Erkrankung angesehen
zende Technologien zur persönlichen Mo- werden (Jellema et al. 2017), wurden die-
bilität drinnen und draußen) angewiesen se Faktoren bisher wenig untersucht. 2020
ist. Ähnliches lässt sich auch für die sozi- legte die Deutsche Gesellschaft für Sozial-
ale Umwelt (e3) konstatieren: Wenn eine medizin und Prävention (DGSMP) eine ak-
Person in ihrer Handlungsfähigkeit auf die tualisierte Fassung der personbezogenen
Hilfe von Fachleuten der Gesundheitsbe- Faktoren für die (sozialmedizinische) Be-
rufe (e355) angewiesen ist, wird sie stär- gutachtung im deutschen Sprachraum vor
ker beeinträchtigt sein, als wenn sie mit (Grotkamp et al. 2020). Zu berücksichti-
persönlichen Hilfs- und Pflegepersonen gen ist beim Erfassen von Kontextfaktoren,
(e340) oder mit (geschulten) Bezugsper- dass es sich dabei immer um einen „Sta-
sonen, Nachbarn oder Freunden zurecht- tus quo“, also eine querschnittliche Erhe-
kommt. Allerdings kann die „Einstellung“ bung handelt. Einflussnehmende Kontext-
(e4) der jeweiligen Hilfspersonen bis hin faktoren sind veränderbar, die Art und die
zu den gesellschaftlichen Einstellungen je- Größe des Einflusses von Faktoren müs-
weils als Förderfaktor oder als Barriere wir- sen also wiederkehrend ermittelt werden
ken. (Bundesarbeitsgemeinschaft für Rehabili-
„Personbezogene Faktoren sind der tation e. V. [BAR] 2021). Die Einschätzung
spezielle Hintergrund des Lebens und der ist von der Reflexionsfähigkeit der untersu-
Lebensführung eines Menschen und um- chenden bzw. befragenden Person abhän-
fassen Gegebenheiten des Menschen, die gig, da die Bewertung von Kontextfaktoren
nicht Teil seines Gesundheitsproblems durch Außenstehende immer durch Inter-
2 · Best-Practice-Neurorehabilitation 39

Konvention 1
Umweltfaktoren werden für sich kodiert, ohne dass diese Kodes Bezug nehmen auf Kör-
perfunktionen, Körperstrukturen oder Aktivitäten und Partizipation.

Körperfunktionen
Körperstrukturen
Aktivitäten und Partizipation
Umweltfaktoren

Konvention 2
Umweltfaktoren werden für jede Komponente kodiert.
Körperfunktionen E-Kode
Körperstrukturen E-Kode
Aktivitäten und Partizipation E-Kode

Konvention 3
Umweltfaktoren werden für die Beurteilungsmerkmale der Leistungsfähigkeit und
Leistung für jedes Item der Komponente der Aktivitäten und Partizipation kodiert.

Beurteilungsmerkmal der Leistung E-Kode


Beurteilungsmerkmal der Leistungsfähigkeit E-Kode

Abb. 2.6: Drei Konventionen zur Kodierung der Umweltfaktoren (DIMDI 2004, S. 156)

pretation und Deutung – vor dem Hinter- eine Schwierigkeit weniger als 25 % der
grund der eigenen Erfahrungen und des Zeit mit einer Intensität vorliegt, die die
Wertehorizonts – beeinflusst wird. Person tolerieren kann und die in den
letzten 30 Tagen selten auftrat; „mäßiges
2.2.3.3 Problem“ heißt, dass eine Schwierigkeit
Kodierungs-Konventionen zur Erfassung von weniger als 50 % der Zeit mit einer Inten-
Schweregraden sität vorliegt, die die Person in ihrer tägli-
Neben der Beschreibung der Konstrukte chen Lebensführung stört und die in den
(Items) muss natürlich auch der Schwere- letzten 30 Tagen gelegentlich auftrat; „er-
grad der Beeinträchtigung erfasst und be- hebliches Problem“ heißt „...“ etc. Ein Pro­
schrieben werden. Hier ist die ICF in ihren blem kann aber dauerhaft auftreten und
Angaben eher vage und unpräzise. Prinzi- die tägliche Lebensführung nur wenig be-
piell wird ein erstes (allgemeines) Beurtei- einträchtigen. Eine weitere Schwierigkeit
lungsmerkmal verlangt, mit welchem das liegt darin, dass die fünfstufige Skala im
Ausmaß eines Problems von „nicht vor- klinischen Alltag als Intervallskala inter-
handen“ bis „erheblich ausgeprägt“, ge- pretiert wird. Ein Blick auf die prozentuale
messen mittels fünfstufiger Skala (von 0 bis Verteilung zeigt jedoch, dass die Abstände
4), beschrieben werden soll. nicht gleich groß sind (5 – 24 %, 25 – 49 %
Beim Verwenden des Skalierungsvor- und 50 – 95% und 96 – 100%).
schlages im klinischen Alltag tauchen je- Zur Kodierung der Umweltfaktoren
doch rasch Unsicherheiten auf, denn hier werden im Anhang 2 der ICF drei unter-
werden zeitliche Aspekte mit dem Aspekt schiedliche Kodierungskonventionen vor-
der Beeinträchtigung der täglichen Le- geschlagen (Abb. 2.6).
bensführung vermischt: „kein Problem“ Alle drei Kodierungskonventionen be-
heißt, dass die Person keine Schwierig- ziehen sich auf unterschiedliche Fragestel-
keiten hat, „leichtes Problem“ heißt, dass lungen. Bei der Anwendung der ICF muss
40 C. Pott, K. Fheodoroff

jeder Anwender/jedes Team entscheiden, geschlagen, die für einen optimalen/mi-


welche Kodierungskonvention zum Ein- nimalen Datensatz herangezogen werden
satz kommt. Dies lässt sich am leichtesten sollen. Alle sind eher auf der wenig detail-
klären, wenn man sich den Zweck und die lierten Ebene angesiedelt (z. B. d5 Selbst-
Fragestellungen im jeweiligen Kontext vor versorgung ohne weitere Spezifizierung),
Augen führt. erlauben aber bereits ein durchaus stim-
– Konvention 1, in der jede Komponente miges Bild der individuellen Funktionsfä-
für sich bewertet wird, eignet sich be- higkeit zu zeichnen.
sonders zur Erfassung von epidemiolo- Mittlerweile liegt eine Reihe von Pu-
gischen Daten für Gesundheitsberich- blikationen zur theoretischen und klini-
te (das primäre Ziel der WHO). schen Anwendung der ICF vor (Maribo
– Konvention 2, in der die Körperfunkti- et al. 2016; Cerniauskaite et al. 2011). Ein
onen, die Körperstrukturen und Hand- Schwerpunkt liegt dabei auf der Identifika-
lungen (ohne Unterscheidung von Ak- tion von krankheitsspezifisch-relevanten
tivitäten und Partizipation) in Bezug zu Kategorien, die in Studien und im klini-
den Umweltfaktoren gesetzt werden, schen Alltag zur Anwendung kommen sol-
eignet sich besonders zur Darstellung, len; diese ICF-Core-Sets für unterschiedli-
ob und wie ausgeprägt Umweltfaktoren che Krankheiten und Bedürfnisse fördern
(Hilfsmittel/Assistenz) als Förderfakto- die ICF-basierte einrichtungseigene Doku-
ren oder als Barrieren wirksam werden mentation (ICF Research Branch 2012).
(„health technology assessment“). Für den Anwender wird die Auswahl
– Konvention 3, in der die Umweltfakto- relevanter Kategorien dadurch einfacher;
ren direkt mit der individuellen Leis- es entbindet ihn jedoch nicht von der Ent-
tungsfähigkeit und Leistung in Bezug scheidung, welche der Items, z. B. nach Re-
gesetzt werden, erscheint am geeig- habilitationsphase oder Setting (stationär
netsten für die Darstellung der Hand- oder ambulant) im Einzelfall tatsächlich
lungsfähigkeit im Kontext, also was zur Anwendung kommen.
eine Person im jeweiligen Kontext tun Eine systematische Untersuchung von
kann bzw. tatsächlich tut. Damit ist Yen und Kollegen (Yen et al. 2014) belegt
Konvention 3 auch am ehesten für die die Vorteile der Integration der ICF-Core-
Rehabilitation geeignet. So kann die Sets für den Zielsetzungsprozess. Die Au-
individuelle Funktionsfähigkeit im je- toren betonen jedoch die Notwendigkeit
weiligen Kontext und Ziele als „erwar- des Austausches und des Konsenses über
tetes Ergebnis von spezifischen Inter- zugrunde liegende Annahmen und Kon-
ventionen“ beschrieben werden (Wade zepte sowie das Erarbeiten von spezifi-
2009). schen Abläufen in der (einrichtungsinter-
nen) Dokumentation und Zielerfassung.
2.2.3.4
ICF-Core-Sets
Eine weitere Entscheidung steht an, wenn 2.3
es darum geht, welche und wie viele Kon-
Ziele in der Neurorehabilitation
strukte zur Beschreibung einer klinischen
Situation herangezogen werden sollen. 2.3.1
Eine erste Empfehlung dazu findet sich in Evidenz zu Zielen in der
der ICF in Anhang 9 (DIMDI 2004). Hier Neurorehabilitation
werden 16 (in der Minimalvariante: vier)
Körperfunktionen und sechs (in der Mi- Ziele stärken die Arbeitsbeziehung zwi-
nimalvariante: drei) Handlungsfelder vor- schen Therapeuten untereinander und mit
2 · Best-Practice-Neurorehabilitation 41

den Betroffenen. Ziele sorgen für mess- und „Fitness“ erprobt wurden, könnte die
bare Fortschritte. Ziele unterstützen den Verwendung von Zielkatalogen („guided
Patienten auch in anderen Belangen: Sie goal setting“) darstellen (Shilts et al. 2004;
können Angst reduzieren (McGrath u. Shilts et al. 2013). Letztlich kann auch die
Adams 1999) und die Einsicht in Grenzen „Internationale Klassifikation der Funk-
der Funktionswiederherstellung sowie die tionsfähigkeit“ (ICF) – insbesondere die
Bewältigung derselben fördern (Playford Komponente der Aktivitäten/Partizipation
et al. 2009). (Lebensbereiche) als Zielkatalog verwen-
Ein Cochrane-Review aus dem Jahr det werden (Lohmann et al. 2011). Die Be-
2015 beschreibt einen moderaten Vorteil troffenen wählen aus einer Liste von Ziel-
eines strukturierten Zielsetzungsprozes- (= Lebens-)bereichen die für sie bedeut-
ses auf die gesundheitsbezogene Lebens- samen Ziele aus, die in individuelle Teil-
qualität und den emotionalen Zustand schritte zerlegt werden. Bei den Teilschrit-
gegenüber dem Fehlen eines Zielsetzungs- ten wird dann genau spezifiziert, was
verfahrens (Levack et al. 2015). Ein weite- wann wie oft gemacht wird. Damit kann
rer Review belegt die positiven Effekte von die Wahrscheinlichkeit einer ungeeigne-
Zielvereinbarungen im Hinblick auf Leis- ten Zielauswahl reduziert werden. In ei-
tungsverbesserungen und einen positiven nem aktuellen Review wurde der Einsatz
Einfluss auf die Selbstwirksamkeit (s. u.) von Technologie (Mobiltelefon, Internet,
und das Gefühl des Eingebundenseins in Pedometer) zur Zielsetzung und Zielerrei-
den Rehabilitationsprozess bei Schlagan- chung in der Rehabilitation von Erwach-
fallpatienten (Sugavanam et al. 2013). senen untersucht. Auch hier hat sich der
Grad des Einbezogenseins („Shared Deci-
2.3.2 sion Making“) und die Art der Zielevaluie-
Zielquellen und Personzentrierung rung als bedeutsam erwiesen (Strubbia et
al. 2020).
Ziele können von den Betroffenen selbst,
von den Bezugspersonen oder von den 2.3.3
Behandlern vorgegeben oder gemeinsam Ziele und Therapietreue („goal
(partizipativ) vereinbart werden. Alle drei adherence“)
Methoden sind wirksam (Gauggel et al.
2002). Entgegen der Selbstbestimmungs- Die Zielverbindlichkeit („goal commit-
theorie hat sich mittlerweile herauskris- ment“) stellt eine unabhängige Variable
tallisiert, dass selbstgewählte Ziele nicht im Hinblick auf das Zielverhalten dar. Zie-
wirksamer und leistungsfördernder sind le, die Betroffene nicht als wirklich wich-
als vorgegebene oder partizipativ verein- tig erachten, werden sie nicht verfolgen
barte Ziele (Locke u. Latham 2013). Die (Locke u. Latham 1990). Faktoren, wel-
Fehlannahme liegt in der Überschätzung che Zielverbindlichkeit erhöhen, können
der persönlichen Freiheit der Betroffe- in zwei Kategorien unterteilt werden: Be-
nen zur Wahl und der Unterschätzung der deutsamkeit (= Faktoren, die Ziele wichtig
Vorteile einer Experteneinschätzung und und erstrebenswert machen) und Erreich-
einer wohlwollenden Patientenführung. barkeit (= Faktoren, das Ziel mit den ver-
Wichtig ist es, den Betroffenen die Lo- fügbaren Ressourcen auch erreichen zu
gik und die Begründung für die Ziele ver- können). Letztere ist eng mit dem Konzept
ständlich zu vermitteln (Locke u. Latham der Selbstwirksamkeit („self-efficacy“, die
2013). Überzeugung, eine Handlung ausführen
Eine neue Variante der Zielauswahl, bzw. ein Ziel erreichen zu können) und mit
die bereits in den Bereichen „Diätetik“ der Komplexität der Ziele (der Aufwand zur
42 C. Pott, K. Fheodoroff

Entwicklung von Lösungsstrategien) asso- formulierte, verständliche und geradlinige


ziiert (Locke u. Latham 2013). Ziele werden eher befolgt als vage, kom-
Obwohl mehrere Empfehlungen plex formulierte und verschachtelte Ziele.
zu Zielformulierungen verfügbar sind Bewältigungsorientierte Ziele stimulieren
(Bovend’Eerdt et al. 2009; Turner-Stokes Selbstwirksamkeit und die Suche nach/
2009; Hersh et al. 2012; Power et al. 2015), Verarbeitung von Informationen, die zur
wurde bisher kaum untersucht, ob und Lösung beitragen; sie sind somit stärker
inwiefern die Verständlichkeit von Zielen wirksam als vermeidungsorientierte Zie-
die Zielverfolgung beeinflusst. Tatsäch- le (Wood et al. 2013), dies gilt sowohl für
lich können rasch Missverständnisse ent- Lernziele (Strategie entwickeln) als auch
stehen, wenn Behandler davon ausgehen, für Leistungsziele (besser werden).
dass Betroffene bereits konkrete Zielvor-
stellungen im Kopf haben und ein ausrei- 2.3.4
chendes Verständnis von „therapierele- Selbsteinschätzung, Selbstwirksamkeit
vanten“ Zielen mitbringen (Schoeb et al. und Selbstmanagement
2014).
Nicht selten weichen Patienten- und Voraussetzung für eine realistische Per­
Therapeutenziele voneinander ab. Klassi- spektivenentwicklung ist eine zuverlässige
sche Beispiele sind der global geäußerte Selbsteinschätzung. Darunter versteht man
Wunsch „so wie früher werden“ oder „wie- eine Kombination aus vier stabilen Per-
der normal gehen können“. Aus Sicht der sönlichkeitsmerkmalen (Judge et al. 1997):
„goal setting theory“ handelt es sich da- 1. Selbstwertgefühl („self-esteem“): die
bei um sog. Streckziele („stretch goals“). individuelle Gesamteinschätzung des
Darunter versteht man Ziele, die (absicht- eigenen Wertes;
lich oder unabsichtlich) so hoch ange- 2. Kontrollüberzeugung („locus of con-
setzt sind, dass sie mit den gegenwärtigen trol“): die individuelle Tendenz, Le-
Ressourcen nicht erreichbar erscheinen. bensereignisse als Ergebnis eigener
Streckziele werden in der Industrie parallel Handlungen anzusehen oder (im Ge-
zu den kleinsten akzeptierbaren Zielen for- gensatz dazu) äußeren Kräften jenseits
muliert, um kreatives und unkonventionel- der eigenen Kontrolle zuzuschreiben;
les Denken zu stimulieren (Kerr u. LePelley 3. Generalisierte Selbstwirksamkeit („ge-
2013). Im Kontext der Neurorehabilitation neralized self-efficacy“): die individu-
können solche – von Patienten und ihren elle Einschätzung der eigenen Fähig-
Bezugspersonen vorgegebene – Streckzie- keit, gute Leistung zu erbringen und
le durchaus zur Entwicklung von unkon- diverse Situationen zu meistern;
ventionellen Problemlösungen beitragen. 4. Neurotizismus („neuroticism“): die in-
Meist ist es hilfreich, für die Betroffenen in dividuelle Tendenz zu emotionaler Sta-
der Regel „besonders bedeutsame“ Ziele bilität/Labilität und Ängstlichkeit.
als „besonders schwierig/herausfordernd“
zu bewerten und gleichzeitig entspre- Die Einschätzung der Selbstwirksamkeit
chend einfachere Etappenziele auf dem hat einen besonderen Einfluss darauf, ob
Weg dorthin zu entwickeln; als Etappen- Menschen an einer Handlungskette fest-
zielen kann auch „Hindernisse zur Zieler- halten – besonders wenn Schwierigkeiten
reichung erkennen (können)“ von Bedeu- und Rückschläge auftreten. Üblicherweise
tung sein (Diehl et al. 2017). Ein positiver vermeiden Menschen Aufgaben, denen sie
Zusammenhang wurde auch zwischen der sich nicht gewachsen fühlen (aufgrund ei-
Spezifität der Ziele und der Zielverbind- ner als gering ausgeprägt wahrgenomme-
lichkeit festgestellt (Seijts et al. 2004). Klar nen Selbstwirksamkeit) und umgekehrt.
2 · Best-Practice-Neurorehabilitation 43

Eine Person mit hoher Einschätzung der samkeit, die Selbstbewertung, die Selbst-
Selbstwirksamkeit wird ein Scheitern eher belohnung und – falls erforderlich – die
auf externe Faktoren schieben, während Zielrevision und -anpassung (Frayne u.
eine Person mit geringer Selbstwirksam- Geringer 1994) (siehe auch Abschnitt 2.4).
keitsüberzeugung ein Scheitern eher der
geringen eigenen Leistungsfähigkeit zu- 2.3.5
schreiben wird. Forschungsergebnisse zei- Ziele und Feedback (Empowerment)
gen, dass das optimale Niveau der Selbst-
wirksamkeit etwas über der tatsächlichen Jede Art von Reaktion, aus der ein Ler-
Leistungsfähigkeit liegt; in dieser Konstel- nender oder Rehabilitand auf die erbrach-
lation sind Menschen besonders bereit, te Leistung Rückschlüsse im Hinblick auf
schwierige Aufgaben zu bewältigen und das Zielverhalten ziehen kann (also auch
Erfahrungen zu sammeln (d. h. zu lernen) Gesten, emotionale Lautäußerungen),
(Bandura 2013). Selbstwirksamkeit beein- stellt ein Feedback dar und beeinflusst
flusst auch wesentlich die Fähigkeit zur die Selbstwahrnehmung und -einschät-
Selbstregulierung und zum Selbstmanage- zung, den Lernprozess und den Grad der
ment. Darunter versteht man die Fähig- Zielerreichung. Feedback hat auch affek-
keit, die eigenen Gefühle und Stimmungen tive Konsequenzen: Menschen verspüren
durch einen inneren Dialog zu beeinflus- Freude bzw. Enttäuschung bei entspre-
sen und zu steuern (Erez u. Judge 2001; chendem Feedback im Hinblick auf die
Cicerone u. Azulay 2007). Zielerreichung – besonders wenn es von
Selbstmanagement basiert auf vier anerkannten Bezugspersonen oder Ex-
Kernprozessen (Austin u. Vancouver 1996): perten stammt. Allein die Tatsache, dass
1. Zielerrichtung – Ziele entwickeln, an- jemand den individuellen Fortschritt be-
nehmen, reihen, priorisieren, anpas- obachtet, scheint schon als Verstärker zu
sen und verwerfen, wirken (Ashford u. De Stobbeleir 2013).
2. Planen – interne Abläufe zur Erstellung Personen, die negatives Feedback erhal-
von Schritten zur Zielverfolgung pla- ten, revidieren ihre Ziele nach unten, nach
nen, positivem Feedback erweitern sie diese
3. Streben – Zielerreichung und -auf- eher nach oben; dies gilt insbesondere für
rechterhaltung verfolgen, Leistungsziele (besser werden), während
4. Revision – Ziele verändern und/oder für Lernziele (Strategie entwickeln) ein
aufgeben. leicht negatives Feedback kombiniert mit
Verbesserungsvorschlägen einen schwach
Selbstregulierung und Selbstmanagement positiven Effekt ausüben kann (Ilies u.
sind entscheidend für die Ablösung von Judge 2005).
externem (therapeutischem) Feedback hin
zu einer internalen Kontrollüberzeugung. 2.3.6
Ziele, die in Konflikt mit persönlichen Zielevaluierung
oder mit teamimmanenten Selbstkonzep-
ten stehen, werden die Fähigkeit zur Zieli- Prinzipiell gilt für das Evaluieren von Zie-
dentifikation, -verfolgung und -erreichung len das Gleiche wie für die Befunderhe-
negativ beeinflussen (Day 2013). Selbst- bung (s. a. Abschnitt 2.5.2 „Shared docu-
management-Training beinhaltet typische mentation“, S. 55); die Zielüberprüfung
Inhalte, in denen der Zielsetzungsprozess wird umso leichter fallen, je spezifischer
die zentrale Variable darstellt. Weitere Ele- die Ausgangsbasis erfasst wurde und die
mente umfassen die Handlungsplanung, Ziele formuliert sind. Im Wesentlichen
die Selbstbeobachtung, die Selbstwirk- können drei Arten der Zielevaluierung un-
44 C. Pott, K. Fheodoroff

terschieden werden: die subjektiven An- Zielen in der Neurorehabilitation möglich.


gaben der Betroffenen (Bericht), die Ver- Der in Abbildung 2.7 dargestellte „Zielset-
haltensbeobachtung und standardisierte zungs- und Handlungsplanungsrahmen“
Testverfahren (Assessments). („goal setting and action planing [G-AP]
Häufig äußern Therapeuten Bedenken framework“) wurde von der englischen Er-
bezüglich des emotionalen Wohlbefindens gotherapeutin Leslie Scobbie in der ambu-
der Patienten, wenn gemeinsam festgeleg- lanten wohnortnahen Schlaganfallreha-
te Ziele nicht oder nur teilweise erreicht bilitation entwickelt (Scobbie et al. 2011)
werden können. Aber weder der Patient und in unterschiedlichen Settings erprobt
noch der Therapeut können die Gesamt- (Scobbie et al. 2013; Scobbie et al. 2014;
heit aller Faktoren voraussehen, die Ziele Scobbie et al. 2020).
unerreichbar machen, oder abschätzen, Das Modell beruht im Wesentlichen
welche Ziele möglicherweise erst zu einem auf drei Säulen: der „goal setting theory“
späteren Zeitpunkt erreicht werden kön- (Locke u. Latham 2002); der „social cogni-
nen. Somit kann ein „teilweise erreicht“ tive theory“ (Bandura 1997) und schließ-
auch zur Argumentation für weiteren Be- lich dem „health action process approach“
handlungsbedarf herangezogen werden, (Sniehotta et al. 2005).
insbesondere wenn es sich nicht um stra-
tegische „nicht erreicht“-Ziele handelt – 1. Säule: „Goal setting theory“ (Locke und
d. h. Ziele, die aus der Sicht der Betroffenen Latham)
eine hohe Attraktivität/Bedeutung haben, Spezifität und Schwierigkeitsgrad sind die
aus der Expertensicht aber innerhalb des beiden primären, die zielorientierte Leis-
gegebenen Zeitraumes mit den vorhande- tungsfähigkeit beeinflussenden Faktoren
nen Ressourcen besonders schwierig bzw. (s. a. Abschnitt 2.3.3: „Ziele und Thera-
nicht erreichbar sind. Unter diesem As- pietreue“). Klare und präzise Ziele erhö-
pekt führt das Nichterreichen von Zielen hen die Leistungsfähigkeit im Vergleich zu
nicht zwangsläufig zu Enttäuschung und allgemeinen oder unspezifischen Zielen
Frustration, sondern kann dazu beitragen, (z. B. die Instruktion „Gib dein Bestes!“).
Grenzen zu akzeptieren und sich von un- Schwierige und herausfordernde Ziele (in-
erreichbaren Zielen zu lösen (Brands et nerhalb der individuellen Leistungsgren-
al. 2012; Scobbie et al. 2013; Brands et al. zen) führen zu besseren Leistungen im
2014). Vergleich zu mittleren oder leicht erreich-
baren Zielen. Elemente der Zielsetzungs-
2.3.7 theorie (insbesondere die Spezifität von
Theoriebasierte Methoden für die Praxis Zielen und Feedback) wurden in Studien
zur Therapietreue von Patienten mit Dia-
betes (Estabrooks et al. 2005), rheumato-
2.3.7.1
ider Arthritis (Stenstrom 1994) und Hirn-
„Goal setting and action planning
verletzungen (Gauggel u. Fischer 2010)
framework“
untersucht.
Mittlerweile existieren sorgfältig erarbei-
tete theoretisch fundierte Vorgehenswei- 2. Säule: „Social cognitive theory“ (Bandu-
sen, die es den Anwendern erlaubt, Ziel- ra)
setzungsprozesse zu strukturieren und Banduras sozial-kognitive Lerntheorie
den beteiligten Personen ein gemeinsa- (synonym: Imitationslernen, Soziales Ler-
mes Verständnis der Vorgehensweise zu nen, Lernen am Modell) stellt das Indivi-
vermitteln. Damit wird auch ein methodo- duum als aktiven Lerner, der sich bewusst
logischer Vergleich der Wirksamkeit von mit seiner Umgebung auseinandersetzt, in
2 · Best-Practice-Neurorehabilitation 45

STUFE 2
Handlungsplan
Legt fest, was wann wie
und wo zu tun ist STUFE 3
STUFE 1
Bewältigungsplan Handeln / Verhalten
Strategien zur Überwindung
Ziele verhandeln Den Plan ausführen:
antizipierter Hindernisse
Hauptprobleme und
Unabhängig
potentielle Ziele
erörtern Selbstvertrauen Unter Aufsicht
1 10
Mit Unterstützung
Zuversicht, den Plan
durchzuführen, messen
Ziele setzen
Spezifische,
schwierige Ziele
STUFE 4
vereinbaren

Ziel-Überprüfung Feedback Einschätzung

Akzeptabler Fortschritt Ergebnis der


Akzeptabler Fortschritt Handlungsplanung und
Erfolg loben
Neue Handlungs- und Bewäl- Zielfortschritt evaluieren
tigungspläne festlegen
Neue Abschlussziele festlegen
kein Fortschritt
kein Fortschritt
Mut zusprechen
Handlungs- und Bewältigungs-
pläne neu festlegen Das Versagen als Möglich-
keit für zukünftigen Erfolg
Ziele überarbeiten darstellen
Ziele streichen
Zyklus beenden
Ende des Zyklus
Alle Ziele erreicht
Keine weiteren erreichbaren Ziele

Abb. 2.7: Zielsetzungs- und Handlungsplanungsrahmen (Fheodoroff u. Pott 2018, mod. n. Scobbie 2013)

den Mittelpunkt. Zwei Komponenten des wohl Barrieren als auch Förderfaktoren)
Lernens stehen besonders im Fokus: der zu erreichen. Daneben spielen die Ergeb-
Lernprozess als Ausdruck der Wechselwir- niserwartung bzw. die Konsequenzen der
kung zwischen Person und Umwelt (soziale Zielerreichung („outcome expectancies“)
Komponente) und die Erwartungshaltung eine zentrale Rolle. Bandura führt aus,
im Sinne der Vorwegnahme des Ergebnis- dass jemand keinen Anreiz habe zu han-
ses (kognitive Komponente). Der Lernpro- deln, solange er nicht überzeugt ist, den
zess selbst wird in eine Aneignungsphase erwünschten Effekt/das erwünschte Er-
und in eine Ausführungsphase unterteilt. gebnis durch eigenes Verhalten zu errei-
Bei ersterer stellen Aufmerksamkeits- und chen (Bandura 1997). Im Zusammenhang
Gedächtnisprozesse wichtige Einflussgrö- mit gesundheitsbezogener Ergebnisfor-
ßen dar, bei letzterer sind es die motori- schung wird angenommen, dass Selbst-
sche Ausführung und Verstärkungspro- wirksamkeit die Motivation zur Zielset-
zesse, die das Lernergebnis (Verhalten) zung und -verfolgung verstärkt und die
beeinflussen. Bandura entwickelte den Resilienz (Widerstandskraft) im Falle von
Begriff Selbstwirksamkeit („self-efficacy“) Rückschlägen erhöht. Der Einfluss von
zum zentralen Anker seiner Lerntheorie. Selbstwirksamkeit wurde bei verschiede-
Darunter versteht man die Überzeugung nen Krankheitsbildern (u.  a. chronische
eines Individuums in seine Fähigkeit, ein Arthritis, Übergewicht, Multiple Sklero-
Ziel unter den gegebenen Umständen (so- se, Schlaganfall) untersucht und bestätigt
46 C. Pott, K. Fheodoroff

(Marks et al. 2005; Marks et al. 2005; Kor- Überlegungen geleitet: die Handlungspla-
pershoek et al. 2011). nung (wann, wo, wie und wie oft wird das
Zielverhalten/das Vorhaben umgesetzt?)
3. Säule: „Health action process approach“ und die Bewältigungsplanung („coping-
(Schwarzer und Sniehotta) planning“: Welche Hindernisse könnten
Ausgehend von dem Befund, dass zwi- mich von meinem Vorhaben abhalten?
schen der Absicht, ein bestimmtes gesund- Wie könnte ich diese Hindernisse vermei-
heitsbezogenes Verhalten zu starten, und den?). Darüber hinaus sind noch Überle-
der tatsächlichen Ausführung eine Lücke gungen sinnvoll, wie die betroffene Person
besteht, die dazu führt, dass dieses Ver- im Falle eines Rückschlages selbst wieder
halten – trotz besseren Wissens – oft nicht zum Zielverhalten zurückfinden kann:
initiiert und aufrechterhalten wird, haben Wiederherstellen der Selbstwirksamkeit
Schwarzer und Sniehotta Untersuchun- („recovery of self efficacy“). Der „health ac-
gen zu den beteiligten Selbstregulierungs- tion process approach“ wurde ausführlich
Prozessen durchgeführt (Sniehotta et al. im Rahmen der kardiologischen Rehabi-
2005). Selbstregulierung („self-regulati- litation untersucht. In einer Längsschnitt-
on“) bezieht sich dabei auf die Bemühun- Studie waren Absichtsentwicklung, Hand-
gen einer Person, gewohnte bzw. inhären- lungs- und Absicherungsplanung und die
te Verhaltensmuster auf situative Reize zu Aufrechterhaltung eines aktiven Trainings
vermeiden und stattdessen entsprechend über den Rehabilitationszeitraum sowie
der vorgefassten Absicht zu handeln. Da- in der Nachuntersuchung nach zwei bzw.
bei werden drei Arten von Schwierigkeiten vier Monaten positiv korreliert. Die Ab-
in der Absichtsausführung unterschieden: sichtsentwicklung nahm im Laufe der Zeit
eine Handlung zu starten; Hindernisse auf ab, die Absicherungsplanung nahm zu
dem Weg zur Umsetzung der Handlung zu (Sniehotta et al. 2006).
überwinden und die Handlung über län- Neben den hier genannten Lern- und
gere Zeit aufrecht zu erhalten. Verhaltenstheorien kommen weitere
Im „health action process approach“ Theo­rien im präventiven und rehabilita-
(HAPA) wird davon ausgegangen, dass Ver- tiven Kontext zur Anwendung (Finne u.
haltensänderungen über zwei deutlich un- Gohres 2020). Zunehmend werden diese
terscheidbare Phasen stattfinden. In der auch in der Forschung berücksichtigt. Ein
ersten Phase, der motivationalen Phase Scoping-Review von 2015 zeigt, dass das
bzw. Phase der Beschlussfassung, werden transtheoretische Modell der Verhaltens-
Zielvorhaben entwickelt. Diese werden änderung am häufigsten untersucht wur-
entscheidend beeinflusst von der Risiko- de (33 % der 276 untersuchten Artikel), ne-
wahrnehmung („ich werde meine Fähig- ben der Theorie des geplanten Verhaltens
keiten zum Treppensteigen verlieren“), (13 %) und der sozial-kognitiven Theorie
der Ergebniserwartung („wenn ich Trep- (11 %) (Davis et al. 2015). Im klinischen
pen steigen übe, werden meine Beine kräf- Setting der Rehabilitation sind Interventio-
tiger“) und dem Selbstvertrauen („ich bin nen bisher häufig nicht theoriebasiert bzw.
zuversichtlich, dass ich die Treppen stei- nicht explizit in ihrer Theoriefundierung
gen kann, wenn ich einen Handlauf ver- beschrieben (Finne et al. 2021). Die Ar-
wende“). In der zweiten, der willentlichen beitsgruppe um Michie stellt mit der Taxo-
Phase bzw. Umsetzungsphase, werden spe- nomie für „Behaviour Change Techniques“
zifische Vorbereitungen getroffen, die die (BCT) eine Vielzahl an Interventionsme-
Lücke zwischen der Absicht und der Hand- thoden zur Verhaltensänderung in 16 Be-
lung schließen sollen. Im Wesentlichen reichen, wie Ziele und Planung, Feedback
werden diese Vorbereitungen von zwei und Belohnungen dar (Michie et al. 2013).
2 · Best-Practice-Neurorehabilitation 47

2.3.7.2 2.3.7.3
„Goal attainment scaling“ (GAS) „Canadian occupational performance
measure“ (COPM)
Mit dem „goal attainment scaling“ (GAS)
wurde bereits 1968 eine Methode der stan- Das „Canadian occupational performance
dardisierten Zielevaluierung im psychiatri- measure“ (COPM) (Law et al. 1990; Cars-
schen Kontext eingeführt (Kiresuk u. Sher- well et al. 2004) wurde als betätigungsori-
man 1968). Dabei handelt es sich um eine entiertes und patientenzentriertes Assess-
Rechenmethode zur statistischen Auswer- ment-Instrument für die Befunderhebung,
tung heterogener Ausgangs- und Zielkate- Therapieplanung und Ergebnisevaluation
gorien innerhalb ein und desselben Ver- in der Ergotherapie entwickelt. „Betäti-
fahrens mit dem Ziel der Normverteilung. gung“ wird als sinnvolle und zweckgebun-
Die fünfstufige Skalierung der GAS reicht dene Aktivität definiert. Das COPM dient
von –2 bis +2. Das realistisch angestrebte, dem Erfassen von Aktivitäten der Selbst-
möglichst schriftlich fixierte Ziel kodiert versorgung, des häuslichen Lebens und
der Interviewer mit 0, ein davon abwei- der Erholung und Freizeit, die eine Per-
chendes etwas schlechteres Ergebnis mit son in ihrem täglichen Leben durchführt
–1 und ein noch entfernteres Ziel mit –2; bzw. vor der Erkrankung durchgeführt hat.
einem Ziel, das besser als das angestrebte Der Einfluss der Umweltfaktoren auf die
angenommene ausfallen könnte, wird +1 Durchführung der Handlungen und das
zugewiesen, einem sehr viel besseren Out- individuelle Rollenverständnis sind von
come +2. besonderer Bedeutung. Mit therapeuti-
Methodologisch sollten dabei die Ziele scher Unterstützung bewerten die Betrof-
von einem unabhängigen Untersucher in fenen das Ausführen einer Handlung in
ihren möglichen Erreichungsgraden fest- den drei Bereichen Selbstversorgung, Pro-
gelegt und später evaluiert werden – das duktivität und Freizeit unter Berücksichti-
heißt: alle Zwischenstufen von nicht er- gung der affektiven, kognitiven und physi-
reicht/teilweise erreicht/erreicht/übertrof- schen Fähigkeiten. Im Vordergrund steht
fen sollten von Beginn an verbal ausformu- die Evaluation der individuellen Patien-
liert vorliegen. Als statistisches Verfahren tenziele; daraus resultiert die Therapiepla-
ist die Rechenmethode für wissenschaftli- nung. Zum Einsatz des COPM liegen viele
che Fragestellungen geeignet; in der indi- Publikationen vor, die einen Einsatz des
viduellen Betrachtung ergibt sich aus der COPMs im klinischen Alltag stützen, der
Berechnung des Veränderungswertes kein relativ hohe Zeitaufwand muss jedoch ggf.
Vorteil gegenüber einem verbalen Feed- bei einer Implementierung in der eigenen
back. Institution berücksichtigt werde. Zudem
Das Verfahren wurde in mehreren kli- scheint weitere Forschung hinsichtlich der
nischen Studien eingesetzt und mehrfach psychometrischen Eigenschaften notwen-
kritisch bewertet (Bouwens et al. 2009; dig (Ohno et al. 2021).
Turner-Stokes 2009; Turner-Stokes et al.
2009; Ashford u. Turner-Stoke 2014; Kras- 2.3.8
ny-Pacini et al. 2016). Dabei wurde immer Informelle Strategien und
wieder festgehalten, dass GAS keine Ergeb- standardisierte Verfahren
nismessung per se darstellt, sondern einer
Prozess­ evaluierung gleichkommt; daher SMART – RUMBA
sollten immer standardisierte Messverfah- Als Beispiel für ein einfaches Instrument
ren begleitend eingesetzt werden, die den zur Zielformulierung sei an dieser Stelle
Grad der Zielerreichung untermauern. „SMART“ erwähnt.
48 C. Pott, K. Fheodoroff

Tab. 2.2: Das RUMBA-Akronym als Instrument für die Zielfestlegung


Buchstabe Hauptbegriff Unterbegriffe
R Relevant Kausaler Zusammenhang zwischen formuliertem Ziel
und Person
U Understandable / verständlich Das Ziel ist verständlich formuliert.
M Measurable / messbar Das Erreichen eines Ziels ist einfach, zuverlässig und
wiederholbar messbar.
B Behaviorable / verhaltensorientiert Das Ziel ist auf der Handlungsebene angesiedelt.
A Achievable / erreichbar Das Ziel ist erreichbar.

Ursprünglich stammt der Begriff dar; außerdem sind die nach diesen Re-
„SMART“ aus dem Bereich des Projektma- geln formulierten Ziele oft nicht in der „Pa-
nagements (Doran 1981), er hat aber in- tientensprache“ formuliert, auf das T = „ti-
zwischen Einzug in viele Bereiche gehal- med“ wird gelegentlich verzichtet und der
ten, z. B. in die Mitarbeiterführung und in Zeitpunkt der Zielevaluierung mit der vor-
die Rehabilitation (Cott u. Finch 1991). Die gesehenen/genehmigten Behandlungs-
Buchstaben des Akronyms stehen für: dauer verknüpft.
S: „specific“/spezifisch Etwas mehr Spielraum bei gleichzeitig
M: „measurable“/messbar größerem Augenmerk auf die (Laien-)Ver-
A: „achievable“/erreichbar ständlichkeit von Zielen erlaubt die RUM-
R: „relevant“/relevant BA-Regel zur Zielformulierung. Die Regel
T: „timed“/zeitlich terminiert wurde 1973 von der kalifornischen Medizi-
nischen Gesellschaft entwickelt (Braun et
Beispiele für SMART-Ziele könnten lauten: al. 2010; Braun et al. 2013; Schmidt 2016).
„Den Weg zur Toilette in fünf Minuten mit Das Akronym „RUMBA“ steht dabei für die
einem Gehstock zurücklegen (können) – in Tabelle 2.2 aufgeführten Parameter.
bis Ende nächster Woche“ oder „Ein (hal-
bes) Glas Wasser ohne Verschlucken trin- COAST
ken (können) – in 14 Tagen“. Ein weiteres Modell der Zielformulierung
Das Formulieren von SMART-Zielen ist die „COAST Methode“, die von ame-
eignet sich aus mehreren Gründen für die rikanischen Ergotherapeutinnen entwi-
neurogische Rehabilitation: Es ist simpel, ckelt wurde (Gateley u. Borcherding 2017).
wenig zeitintensiv und für alle Beteiligten Grundlegende Prinzipien sind Klienten-,
leicht verständlich. Allerdings stellt die (Person-) und Betätigungszentrierung.
Vielfalt der Begriffe, die hinter dem Akro- Das Akronym steht für die in Tabelle 2.3
nym stehen, eine Quelle der Beliebigkeit dargestellten Inhalte.

Tab. 2.3: Das COAST-Akronym erfasst den Unterstützungsbedarf zum Erreichen eines spezifischen Ziels
Buchstabe Bedeutung englisch Bedeutung deutsch Fragen/Formulierung
C Client Klient Der Klient wird ... (etwas ausführen/
tun)
O Occupation Betätigung Welche Betätigung (Handlung)?
A Assisstance Hilfe/Unterstützung Mit folgendem Level an (personeller)
Unterstützung/Hilfestellung
S Specific Condition Spezifische Bedingungen Unter welchen Bedingungen?
T Timeline Zeitlinie In welchem Zeitraum? Wann?
2 · Best-Practice-Neurorehabilitation 49

ICF-basierte Ziele – Wie/Kontext: Bezeichnung der relevan-


Die ICF – insbesondere die Komponente ten Förderfaktoren oder der Körper-
der Aktivitäten/Partizipation (Lebensbe- funktionsstörung als „interne Barrie-
reiche) – eignet sich hervorragend als Ziel- ren“ (z. B. „trotz Hemiparese“)
katalog (Lohmann et al. 2011; Constand u. – Bis Wann: Zeitrahmen bis zur Überprü-
MacDermid 2014). Folgt man der Kodie- fung des Grades der Zielerreichung,
rungskonvention drei der Umweltfaktoren üblicherweise bis zum Ende des aktu-
(Abb. 2.6, S. 39) ergibt sich folgende Gram- ellen Behandlungszyklus.
matik/Syntax zur Zielformulierung:
– Was: Bezeichnung der Handlung/Auf- Einige Beispiele der Tabelle 2.4 sollen die-
gabe (evtl. mit Angabe des entspre- ses Prinzip verdeutlichen.
chenden alphanumerischen Codes)

Tab. 2.4: Prinzip der Zielformulierung nach ICF (Modell Gailtal-Klinik)


d Aufgaben / Handlungen (was) Kontext (wie)
d120 Hindernisse links / rechts wahrneh- Spontan / Rückmeldung / Hinweisreiz – in ruhiger / belebter
men Umgebung – trotz Hemianopsie / Neglect
d160 Aufmerksamkeit fokussieren Bis zu … min in ruhiger / belebter Umgebung
d177 Entscheidungen (bzgl.… Inhalt) Mit Hilfe / Anleitung / spontan
treffen
d179 Sich um weitere Betreuung / Bera- Selbstständig / auf Aufforderung / mit Anleitung…
tung / Behandlung … kümmern
d210 Entspannungsübungen durchführen Selbstständig / auf Aufforderung / mit Anleitung…
Orientierungshilfen / Gedächtnishil- Selbstständig / auf Aufforderung / mit Anleitung…
fen/ Tagebuch nutzen
Umschreibungsstrategien bei Wort- Spontan / auf Aufforderung …
findungsstörungen verwenden

d220 Schluckregeln anwenden Spontan / schriftliche Anleitung / auf Aufforderung / mit Über-


wachung 
Am PC arbeiten Spontan / auf Aufforderung / Anleitung …, geschulte – ver-
traute – unbekannte Personen…, bis zu … (Zeitangabe), mit
adaptierter Tastatur / Bildschirm / … in reizarmer (ruhiger,
belebter) Umgebung
d230 Pausen planen / einhalten Spontan / auf Aufforderung / Anleitung …rechtzeitig vor
Erschöpfung / Schmerzen…
Sich mit einzelnen / mehreren Per- Bis zu… min; mit… Hilfe; Inhalt (sem. / synt.); mit (Un-)
sonen unterhalten Bekannten (Vertrautheit des Gesprächspartners) verständlich,
d350
ohne / mit Nachfragen des Gesprächspartners; in adäquater
Lautstärke; in Spontansprache, ohne Wiederholungen ………
Die Toilette benutzen Selbstständig / Aufsicht / Anleitung / Führung / Hilfe…
d530
Einmalkatheterismus durchführen Selbstständig / Aufsicht / Anleitung / Führung / Hilfe…
Auf den gelähmten Arm achten Spontan / Aufforderung / Kontrolle / Anleitung / Führung / Hilfs-
d570 mittel
Medikamente einnehmen Selbstständig; Vorbereitung / Schlusskontrolle; Überwachung
50 C. Pott, K. Fheodoroff

Fortsetzung Tab. 2.4: Prinzip der Zielformulierung nach ICF (Modell Gailtal-Klinik)
Blickkontakt aufnehmen / halten Bis zu (Dauer) / unter reizarmen – belebten Bedingungen / 
nach Vorbereitung / Initialberührung etc.
Unbehagen bei (welcher Situation) Spontan / auf Nachfragen / geschulte – vertraute – unbekannte
signalisieren Personen
d710
Respekt zeigen / wahren Spontan / auf Aufforderung – Hinweisreiz geschulte –vertraute
– unbekannte Personen – in der Gruppe
Auf Hinweise reagieren Spontan / auf Aufforderung – geschulte – vertraute – unbe-
kannte Personen – in der Gruppe
d720 Regeln / Vereinbarungen bei (welcher Spontan / auf Aufforderung / geschulte – vertraute – unbe-
Handlung) einhalten kannte Personen
d730 Hilfe bei (welcher Handlung) holen Rufglocke, Signalgeber, Mobiltelefon…
An …. Gruppenaktivitäten teilnehmen Spontan / auf Aufforderung / geschulte – vertraute – unbe-
kannte Personen…
d750
Gruppen leiten Spontan / auf Aufforderung / geschulte – vertraute – unbe-
kannte Personen… unter welchen Bedingungen…
d850 Bezahlte (Teilzeit-)Tätigkeit ausüben Spontan / auf Aufforderung / Anleitung, geschulte – vertraute
– unbekannte Personen, bis zu … (Zeitangabe), in reizarmer
(ruhiger, belebter) Umgebung, unter Berücksichtigung eigener
Leistungsgrenzen…
d855 Ehrenamtliche Tätigkeiten ausüben Bis zu … (Zeitangabe), mit Unterstützung durch …, unter
Berücksichtigung der eigenen Leistungsgrenzen…
Das Recht auf Selbstbestimmung Selbstständig / Anleitung / Hilfe
d940 einfordern
Chancengleichheit einfordern Selbstständig / Anleitung / Hilfe

2.3.9 lich: Wie viele Ziele sind in welcher klini-


Offene Fragen im Zusammenhang mit schen Situation tatsächlich erforderlich
Zielen in der Neurorehabilitation und überschaubar?
Um diese Fragen untersuchen zu kön-
Trotz einer Reihe von Studien zu unter- nen ist es sinnvoll, den Zielsetzungspro-
schiedlichen Aspekten von Zielen in der zess als komplexe Intervention zu sehen
Neurorehabilitation bleiben viele Fragen und Forschungsstandards für komplexe
noch immer unbeantwortet (Levack et al. Interventionen anzuwenden (Craig et al.
2015): Führt ein stärkeres Einbinden der 2008). Dazu gehört zum einen eine ausfor-
Betroffenen und/oder der Bezugsperso- mulierte und gut begründete Theorie, wie
nen in den Zielsetzungsprozess tatsächlich der Zielsetzungsprozess die hypothetisier-
zu einem besseren Ergebnis? Führen Ziele, ten Effekte erzielen kann und zum anderen
die auf der Handlungsebene (Aktivitäten/ eine Korrespondenz zwischen dieser The-
Partizipation) angesiedelt sind, zu einem orie und den verwendeten Implementie-
besseren Ergebnis als Ziele auf der Ebene rungs- und Untersuchungsmethoden. Be-
der Körperfunktionen? Führen schwieri- troffene und Bezugspersonen sollten auf
ge, herausfordernde Ziele wirklich zu ei- den Zielsetzungsprozess vorbereitet sein,
nem besseren Ergebnis als einfache? Wel- der Prozess der Zielauswahl muss klar und
chen Einfluss hat ein verbales/schriftliches nachvollziehbar sein und schlussendlich
Feedback auf das Ergebnis? Und schließ- muss erfasst werden, wie die Ziele den Be-
2 · Best-Practice-Neurorehabilitation 51

handlungsplan, das Zielverhalten und die durchgeführten Studien mangelt. In der


klinische Praxis beeinflussen. Regel ist eine wissenschaftliche Untersu-
chung aufgrund der verschiedenen inter-
agierenden Wirkmechanismen schwierig.
2.4 Einige Ergebnisse sprechen aber für die
Wirksamkeit. Eine Metaanalyse berich-
Maßnahmen und Interventionen
tet von signifikanten Effekten von Tai-Chi
Um die subjektive Lebensqualität der auf die Mobilität, das Gleichgewicht und
Betroffenen zu verbessern, die sozia- die Sturz-Rate bei Menschen mit Parkin-
le Integration zu fördern, eine optima- son (Aras et al. 2021). Ein Review berich-
le Handlungsfähigkeit zu erreichen und tet signifikante Effekte der Tanztherapie
Schmerzen und Belastungsempfinden zu auf Gang- und Balance-Parameter bei an-
verringern, ist eine Reihe von Maßnahmen deren neurologischen Erkrankungen, wie
erforderlich, die auf individuellen Prob- Multiple Sklerose oder Schlaganfall (Pat-
lemstellungen, Bedürfnissen, Prioritäten terson et al. 2018).
und Zielen beruhen. Sie werden regelmä- Eine wichtige Rolle in der Best-Practi-
ßig auf ihren Nutzen und Schaden hin be- ce-Neurorehabilitation spielen Interven-
wertet, um festzulegen, ob die Maßnah- tionen zur Erhöhung von Selbstmanage-
men fortgesetzt, abgeändert oder beendet ment-Fertigkeiten (siehe auch 2.3.4).
werden sollen. Allgemeine und spezifische Auch diese Interventionen müssen in-
Maßnahmen bzw. Interventionen orien- terprofessionell abgestimmt werden und
tieren sich an den Best-Practice-Dimensi- sollten individuell und phasenspezifisch
onen (Abb. 2.2), sind evidenzbasiert und auf persönliche Interessen und den Stand
personzentriert. Sie sollten sich an gut un- der Krankheitsbewältigung zugeschnitten
tersuchten und in Leitlinien empfohlenen sein. Dazu gehört die Berücksichtigung
Therapieansätzen – wie in den folgenden von prämorbiden Hobbys und Vorlieben,
Buchkapiteln dargestellt – orientieren. aber auch die Unterstützung bei der Ent-
Zunehmend werden aber auch kom- wicklung von neuen Interessen und Rol-
plementäre Verfahren, die zu einer Verbes- len. Frühzeitige Selbstmanagement-Inter-
serung des allgemeinen Wohlbefindens ventionen führen zu Verbesserungen der
führen, bzgl. ihrer Effektivität überprüft Aktivitäten des täglichen Lebens und zu
und in die Behandlung integriert. Dazu einer Verringerung von Pflegeabhängigkeit
gehören beispielsweise Meditation, Acht- und Tod (Parke et al. 2015). Die Vermitt-
samkeit oder Tai-Chi. Boon et al. verwen- lung von Kontakten zu Selbsthilfegruppen
den den Begriff „Integrative“ Therapie kann das Rehabilitationsergebnis nachhal-
bzw. Medizin und verstehen darunter den tig verbessern. Untersuchungen bei Teil-
interdisziplinären Mix von komplementä- nehmenden von Selbsthilfegruppen (z. B.
rer, alternativer und konventioneller Medi- nach Schädel-Hirn-Trauma) zeigen, dass
zin mit dem Ziel einer Konsensusbildung. regelmäßiger Peer-Support den Umgang
Dies geschieht im gegenseitigen Respekt mit Depressionen und die Lebensquali-
und auf Basis eines gemeinsamen Ge- tät von Betroffenen und Angehörigen ver-
sundheitskonzepts mit den Betroffenen besserte (Hibbard et al. 2002). Die Wei-
im Team; Behandlungsmethoden werden tergabe von Kontakten zu Freizeit- oder
dabei synergistisch kombiniert und Ein- Behindertensportgruppen, Informationen
zeleffekte potenziert (Boon et al. 2004). Für zu gesunder Lebensweise, zum Verstehen
diese ergänzenden Verfahren fehlt in der von Symptomen und von Bewältigungs-
Regel noch ein überzeugender Wirkungs- prinzipien sind weitere wichtige Interven-
nachweis, da es an methodologisch gut tionen zur Erhöhung von Selbstmanage-
52 C. Pott, K. Fheodoroff

ment-Fertigkeiten (Richardson et al. 2014; nes Leistungserbringers an/mit einer


Veenhuizen et al. 2015; Nott et al. 2019). Zielperson/-gruppe) und
Die Begleitung des Selbstmanagement 3. die erforderlichen Mittel (engl. „me-
in der chronischen Phase erfordert eine ans“); als Prozesse und Methoden,
gute Kenntnis der regionalen Gegeben- durch welche die Handlung durchge-
heiten und Versorgungsstrukturen (soziale führt wird.
Dienste und Netzwerke) unter Berücksich-
tigung des räumliches Wohnumfeldes im Die ICHI-Interventionscodes sind in die fol-
Sinne der Quartiersarbeit. genden vier Abschnitte unterteilt:
n Interventionen zu Körperstrukturen

2.4.1 und -funktionen


Die Internationale Klassifikation der n Interventionen zu Aktivitäten und Par-

Gesundheitsinterventionen (ICHI) tizipation


n Interventionen zu Umweltfaktoren
Um die Vergleichbarkeit von Interventi- n Interventionen zu gesundheitsbezoge-
onen in unterschiedlichen Versorgungs- nem Verhalten
strukturen zu ermöglichen, hat die WHO
die Internationale Klassifikation der Ge- Darüber hinaus werden Erweiterungs-
sundheitsinterventionen („International möglichkeiten („Extension Codes“) ange-
Classification of Health Interventions“ – boten, um weitere interventionsspezifi-
ICHI) entwickelt. Unter einer Gesundheits- sche Details (Material, Ressourcen …) zu
intervention wird dabei eine Handlung erfassen. Generell werden Interventionen
verstanden, welche für, mit oder im Na- in diagnostische Verfahren (Assessment,
men einer Person oder Bevölkerungsgrup- Test, Beobachtung), therapeutische Ver-
pe durchgeführt wird mit dem Zweck der fahren (Training, Ausbildung, Beratung)
Erfassung/der Modifikation/des Erhalts sowie in Betreuungsleistungen (Konsul-
von Gesundheit und Funktionsfähigkeit. tation, praktische und emotionale Unter-
ICHI umfasst über 7.000 Interventionen stützung, Prävention) unterteilt. Damit
von einer breiten Palette an Dienstleistern sind unterschiedliche Interventionstiefen
im Rahmen des Gesundheitssystems, wie definiert, die mit dem jeweiligen Schwere-
die Akut- und Erstversorgung, Rehabili- grad der Einschränkungen korreliert wer-
tation, persönliche Assistenz, Prävention den können. In Bereichen wie Rehabili-
und Gesundheitsvorsorge. Die Anzahl der tation und mentale Gesundheit können
Interventionen in ICHI und der Detaillie- Behandlungspakete erstellt werden, die
rungsgrad (Granularität) wurde in Bezug eine Reihe spezifischer ICHI-Interventio-
auf die Testfälle im Rahmen der Feldstu- nen zusammenfassen. Die Beta-3-Versi-
dien und der Notwendigkeit der Stabili- on wurde im Oktober 2020 veröffentlicht
tät der Klassifikation im Laufe der Zeit be- und berücksichtigte die Anregungen der
stimmt (WHO 2021). Die Beschreibung WHO-Kooperationspartner. Nach endgül-
von Interventionen werden aus drei Berei- tiger Fertigstellung wird die ICHI für die
chen zusammengesetzt: Anwendung durch Mitgliedstaaten frei
1. die Zielperson/-gruppe (engl. „target“), verfügbar sein. Ein englisches Handbuch
auf die die Intervention ausgerichtet steht auf der ICHI-Homepage zur Verfü-
ist, gung (WHO 2021) (siehe beispielhafte Dar-
2. die Handlungen (engl. „action“) als stellung im Kasten).
dia­gnostische, therapeutische, mana-
gende oder präventive Maßnahme ei-
2 · Best-Practice-Neurorehabilitation 53

ICHI-Interventionen zu: d175 Probleme lösen


d175 Probleme lösen
Lösungen für eine Frage oder Situation zu finden, indem das Problem identifiziert und ana-
lysiert wird, Lösungsmöglichkeiten entwickelt und die möglichen Auswirkungen der Lösun-
gen abgeschätzt werden und die gewählte Lösung umgesetzt wird, wie die Auseinanderset-
zung zweier Personen schlichten

Interventionen

Bewertung
Beurteilung der Fähigkeit, Lösungen für Fragen oder Situationen zu finden

Test
Verwendung eines Fragebogens, einer Bewertungsskala oder eines anderen Instruments,
um die Fähigkeit zu testen, Lösungen für Fragen oder Situationen zu finden

Beobachtung
Visuelle Erfassung von Informationen (nicht kontinuierlich), um die Fähigkeit zu bewerten,
Lösungen für Fragen oder Situationen zu finden

----------

Training
Vermitteln, Verbessern oder Entwickeln von Fähigkeiten, Lösungen für Fragen oder Situati-
onen durch Üben / Praktizieren zu finden

Ausbildung / Erziehung
Bereitstellung von Informationen zur Verbesserung des Wissens über die Suche nach Lö-
sungen für Fragen oder Situationen

Beratung
Beratung zur Förderung einer Veränderung oder zur Aufrechterhaltung der Fähigkeit, Lö-
sungen für Fragen oder Situationen zu finden – in Bezug auf Gesundheit (oder Gesundheits-
risiken)

---------

Konsultation
Bereitstellung therapeutischer oder unterstützender Kommunikation bei der Suche nach
Lösungen für Fragen oder Situationen.

Praktische Unterstützung
Bereitstellung praktischer Hilfe oder Anleitung auf der Suche nach Lösungen für Fragen
oder Situationen

Emotionale Unterstützung
Bereitstellung von Beruhigung, Empathie oder motivationaler Unterstützung für die Person
bei der Suche nach Lösungen für Fragen oder Situationen
54 C. Pott, K. Fheodoroff

2.5 den gewohnten berufsspezifischen Aufga-


Teamarbeit in der benbereich zu verlassen. Charakteristisch
Neurorehabilitation ist die Rolle der Primär- oder Bezugsthera-
peuten, gewählt in Abhängigkeit von den
Effektive Neurorehabilitation bedarf ei- vorrangigen Problemen der Betroffenen,
nes multidisziplinären Experten-Teams, z . B. in der Sprachtherapie bei einem Men-
welches auf individuelle und mit den Be- schen mit Aphasie. Sie fungieren als Ko-
troffenen abgestimmte Ziele innerhalb ei- ordinatoren und Ansprechpartner für die
nes biopsychosozialen Krankheitsmodells Bezugspersonen. Umgesetzt wird dies u. a.
hinarbeitet. In der Regel sind folgende in einem Modellprojekt für die ambulante
Berufsgruppen in einem Neurorehabili- Versorgung von chronischen Schlaganfall-
tationsteam vertreten: Physio-, Ergo- und patienten (Pott 2020). Kennzeichnend sind
Sprachtherapie, Neuropsychologie, Ärzte, auch interdisziplinäre Gruppenangebo-
Sozialarbeit und – zumindest im statio­ te, wie z. B. die von Neuropsychologie und
nären und tagesklinischen Setting – die Physiotherapie durchgeführte Sturzpräven-
Kranken- und Gesundheitspflege. Musik-, tionsgruppe bei Sturzangst (Scholler et al.
Kunst-, Tanz- oder Gestaltungstherapie 2010). Mittlerweile liegen Untersuchungen
zählen bisher nicht zwingend zum Rehabi- und Erkenntnisse zur Struktur von effekti-
litationsteam, ergänzen dieses aber insbe- ven Team-Meetings statt (Tyson et al. 2014;
sondere, wenn es um die Erarbeitung einer Tyson et al. 2015; Kushner u. Strasser 2020)
ressourcenorientierten Freizeitstruktur (Abb. 2.8).
geht (siehe auch 2.4). Diätassistenten, Or-
thopädietechniker oder Orthoptisten, häu- 2.5.1
fig als externe Ressourcen hinzugezogen, Eigenschaften, Fähigkeiten und Werte
vervollständigen das „große“ Team.
In mehreren Untersuchungen konn- Folgende Fähigkeiten sollten bei Mitglie-
te eine Beziehung zwischen dem Ergeb- dern eines gut funktionierenden Reha-
nis der Rehabilitation und drei Merkmalen Teams vorhanden sein (Wade 2020):
von erfolgreichen Teams herausgearbeitet 1. Die Fähigkeit, eine vollständige
werden: Die Orientierung an Zielen und Problem­analyse zu formulieren,
deren Erreichung, das Ausmaß der Struk- 2. einen Rehabilitationsplan für jeden
tur und Organisation im Team und die Ver- neuen Patienten mit jeder Form von
wendung von qualitativ hochwertigen In- Behinderung aufzustellen,
formationen (Assessments) (Wade 2020). 3. als vollwertiges und gleichberechtigtes
Die Reflexion eigener bzw. anderer Kom- Mitglied eines multidisziplinären Reha-
petenzen, von Teamfunktionen und -pro- bilitationsteams zu arbeiten,
zessen, die gegenseitige Wertschätzung 4. Prioritäten innerhalb eines Rehabilitati-
sowie intensive Absprachen bezüglich der onsplans zu ermitteln und festzulegen,
Zielpriorisierung sind weitere Kennzei- 5. Vorhandene und neu auftretende medi-
chen gut funktionierender Teams. zinische Probleme im Rehabilitations-
Beziehungen in Teams mit Aufgaben kontext zu erkennen und zu behandeln,
höherer wechselseitiger Abhängigkeit sind 6. den Bedarf an spezifischer medizinischer
im Allgemeinen stärker ausgeprägt als bei Rehabilitationsbehandlung zu erkennen
Aufgabenstellungen, bei denen jedes Grup- und erfolgreich durchzuführen,
penmitglied einen Beitrag leistet, ohne mit 7. in jedem Umfeld, über Organisations-
anderen Mitgliedern interagieren zu müs- grenzen hinweg und in enger Zusam-
sen (Gully et al. 2002). Die Tätigkeit in die- menarbeit mit anderen Spezialisten-
sen Teams ist von der Bereitschaft geprägt, teams zu arbeiten,
2 · Best-Practice-Neurorehabilitation 55

KONTEXT
Ort / Räumlichkeiten; Dienstleistungsmodell; Ressourcen (materiell, personell);
Beziehung zu anderen Meetings / anderen Teamprozessen; andere verfügbare Dienstleistungen


MEETING INPUT MEETING OUTPUT
• Informationen ausgetauscht
MEDIATIONS-PROZESSE: • Fortschritte überprüft
PERSÖNLICHER BEITRAG
FÜHRUNG • Entscheidungen getroffen
• Anwesenheit, Pünktlichkeit
• Führungsstil • Vorgehen gemeinsam
• Aktive Beiträge
• Vorsitz: Zeitmanagement; beschlossen
• Rollenerfüllung, Kooperation
Gesprächsfluss; Genauigkeit • Maßnahmen zugewiesen
• Vorbereitung: Patienten-
• Zwischenmenschliche • Fortschritt u. Abschluss überprüft
Kenntnis, Assessments und
Beziehungen / Interaktion
Maßnahmen vollständig
MERKMALE VON
TEAM / SOZIALES KLIMA ERFOLGREICHEN MEETINGS
MEETING-STRUKTUR &
• Atmosphäre • Umfassend / holistisch
-ORGANISATION
• Experten- vs. Team-Rolle • Objektiv, relevant, prägnant
• Tagesordnung
• Machtverhältnisse • Angemessen / respektvoll
• Spezifische Dokumentation
• Experten- vs. Patientenfokus • Fristgerecht, sorgfältig,
• Verwendung standardisierter
• Teaminteraktion / ergebnis­orientiert
Messinstrumente
Zusammenhalt • Fokus auf Patienten
• Ziele setzen
• Maßnahmen planen • Übereinstimmend, konsistent

Abb. 2.8: Struktur von effektiven Team-Meetings (mod. n. Tyson et al. 2014)

8. Entscheidungen zu treffen und – ange- Maßnahmen getroffen/unterlassen hat.


sichts der vielen Unsicherheiten und Aus klinischer Sicht bedeutsam sind die
Einflüsse, die in komplexen Fällen auf- Verlaufs- und Ergebniskontrolle mit (min-
treten – zu begründen. destens) Eingangs-/Aufnahme- und Aus-
gangs-/Entlassungsbefund sowie alle we-
2.5.2 sentlichen Änderungen („Meilensteine“)
„Shared documentation”, Assessment unter Berücksichtigung relevanter Verbes-
und Feedback serungen bzw. Verschlechterungen. Daher
erscheint es sinnvoll, die Dokumentation
Die wesentliche Funktion von Dokumen- des aktuellen Befundes (patientenbezo-
tation ist die Unterstützung der Kommuni- gen) von der Dokumentation der Interven-
kation mit Betroffenen, Bezugspersonen, tionen (Leistungserbringer) zu trennen.
allen Teammitgliedern und Kostenträgern Befundbezogen steht das Erfassen der in-
zu Fragen der Anspruchsberechtigung. dividuellen Funktionsfähigkeit im Kontext
Hier ist das Kriterium der Verständlichkeit zu unterschiedlichen Zeitpunkten (Auf-
von besonderer Bedeutung. Wünschens- nahme – Entlassung – Meilensteine) im
wert ist die Nutzbarkeit der erhobenen Vordergrund. Interventionsbezogene Do-
Daten für wissenschaftliche Fragestellun- kumentation bezieht sich auf Art und An-
gen (Epidemiologie, Register, Kohorte). zahl der erbrachten Leistungen. Bei Vor-
Außer in den Pflegegesetzen sind die ge- liegen eines Interventionskataloges reicht
setzlichen Rahmenbedingungen für Do- die Bezeichnung der Maßnahme (z.  B.
kumentation nur wenig spezifiziert. Das „Schlucktraining“), die Erfassung des Leis-
wichtigste Kriterium aus rechtlicher Sicht tungserbringenden, die Anzahl der Inter-
ist die forensische Nachvollziehbarkeit, ventionen und die Angabe von Gründen
d. h. die Dokumentation des Zustandes zu für Strategieänderungen (z. B. „Schluck-
bestimmten Zeitpunkten und wer welche training wegen Müdigkeit abgebrochen“).
56 C. Pott, K. Fheodoroff

Aufgrund der besonderen Bedeutung zu erfassen sind (entspricht einem abtei-


in der Rehabilitation erscheint es sinn- lungsspezifischen ICF-Mini-Core-Set).
voll, ein eigenes Dokument zur Erfassung/ Besonderes Augenmerk ist dabei auf die-
Verfolgung der Ziele der Rehabilitation jenigen Konstrukte zu legen, die nicht im
(„Zielblatt“) vorzuhalten. Viele Einrich- primären Kompetenzfeld einzelner Team-
tungen führen eine bereichsbezogene, Mitglieder liegen (z. B. d160 Aufmerksam-
multidisziplinäre Dokumentation; jede keit fokussieren, d710/d720 – elementare
Berufsgruppe erstellt eigene Befunde. Da- und komplexe interpersonelle Interaktio-
durch werden Redundanzen begünstigt nen, wie z. B. d7203 – sozialen Regeln ge-
und die Übersicht über das Zusammen- mäß interagieren). Die Veränderungs-
spiel unterschiedlicher (berufsgruppen- dokumentation braucht dann nur in den
spezifischer) Interventionen erschwert Bereichen (= Konstrukten) erfolgen, in de-
– manchmal mit geringen, aber u. U. be- nen sie tatsächlich stattfindet. Dazu sollte
deutsamen Unterschieden: „Sich mit Hil- der ganze ICF-Katalog (nicht nur die Core-
fe verlagern“ beschreibt die eine Berufs- Sets) im Hintergrund verfügbar sein, um
gruppe z. B. als „leicht“, die andere aber alle möglicherweise auftretenden Verän-
als „mittelgradig eingeschränkt“, weil z. B. derungen in allen Bereichen erfassen zu
unterschiedliche Assessments oder Ma- können. Der Entlassungsbefund entspricht
nuale verwendet werden oder die Beurtei- dann der zuletzt erreichten Veränderung
lung auf subjektiver Einschätzung beruht. gegenüber der Aufnahme. Hier ist anzu-
Solche Unschärfen können in gutachterli- merken, dass bei chronischen bzw. progre-
chen Fragestellungen durchaus problema- dienten Erkrankungen sowohl der Erhalt
tisch werden. Durch eine gemeinschaft- des Status quo als auch der (Neu-)Erwerb
liche, interdisziplinäre Dokumentation von Strategien im Umgang mit krankheits-
(„shared documentation“) können mögli- bedingten Störungen der Körperfunktio-
che Mehrdeutigkeiten vermieden werden. nen bereits als Erfolg gewertet werden dür-
Die Vorgehensweise verringert den Do- fen (z. B. „Strategien zur Schmerzkontrolle
kumentationsaufwand für den Einzelnen. anwenden [können]“).
Entsprechende EDV-gestützte Dokumen- Es ist ein anhaltender Trend zur Ent-
tationssysteme erleichtern die Dokumen- wicklung von ICF-basierten Messverfahren
tation und verbessern die Qualität der zu zu bemerken. Um standardisierte Mess-
erhebenden Daten. Vorangehen muss al- instrumente und Interventionen mit ICF-
lerdings ein Einigungsprozess über die Art, Komponenten zu verbinden, entwickelt die
Anzahl und Messbarkeit der zu erfassen- Arbeitsgruppe um Cieza seit 2005 „linking
den und zu dokumentierenden Informati- rules“ („Verknüpfungsregeln“), die zuletzt
onen und eine entsprechende Zuordnung 2019 aktualisiert wurden (Cieza et al. 2002;
zu den einzelnen Berufsgruppen. Fayed et al. 2011; Cieza et al. 2019).
Zur interdisziplinären Befunderhe- Das Verwenden von standardisier-
bung, Dokumentation und Zielfindung ten Messverfahren zur Zielevaluierung er-
bietet sich die ICF mit dem Prinzip der möglicht ein differenziertes und fein abge-
Erfassung der individuellen Funktionsfä- stimmtes Feedback zu Leistungsfähigkeit
higkeit im Kontext zu unterschiedlichen („knowledge of performance“) und zum Er-
Zeitpunkten an. Mit diesem Raster soll- gebnis („knowledge of result“). Beide Fakto-
ten alle gesundheitsbezogenen Zustände ren ermöglichen den Betroffenen und Be-
beschreibbar sein. Um diesem Anspruch zugspersonen eine klare Einschätzung des
gerecht zu werden, muss definiert sein, gegenwärtigen Leistungsniveaus und der
welche (Pflicht-)Items bei Aufnahme von Möglichkeit der Zielerreichung (insbeson-
welcher Berufsgruppe in welcher Form dere bei Streckzielen, siehe Abschnitt 2.3.3).
2 · Best-Practice-Neurorehabilitation 57

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63

3
Beatmungsentwöhnung (Weaning)
in der neurologisch-neurochirurgischen
Frührehabilitation (NNFR)
Tobias Schmidt-Wilcke, Jens D. Rollnik

3.1  entwöhnung wird in Deutschland von


Einleitung und historischer Rückblick verschiedenen Fachdisziplinen durchge-
führt, insbesondere auf pneumologisch
Der vorliegende Beitrag gibt einen Über- und neurologisch geführten Weaning-
blick über die Beatmungsentwöhnung Stationen. Darüber hinaus wird in Schlaf-
(Weaning) in der neurologisch-neurochir- laboren, neuromuskulären Zentren,
urgischen Frührehabilitation (NNFR). Des anästhesiologisch geführten Beatmungs-
Weiteren sollen einige Aspekte des Trache- entwöhnungsstationen und Zentren für
alkanülenmanagements hervorgehoben die Behandlung von Querschnittsgelähm-
werden, da die Dekanülierung sich pro- ten entwöhnt. Eine Erhebung der Deut-
zesshaft an ein erfolgreiches Weaning an- schen Gesellschaft für Neurorehabilitati-
schließt und bereits während des Weanings on (DGNR) kam zu dem Schluss, dass in
erste Schritte erfolgen. Bereits an dieser Deutschland auf ca. 1.100 Betten im Rah-
Stelle sei erwähnt, dass beide Prozesse in men der NNFR Beatmungsentwöhnungen
einem nicht unerheblichen Maße von ei- durchgeführt werden (Platz et al. 2020).
nem effizienten Speichelmana­gement ab- Eine weitere repräsentative Studie bezüg-
hängen. lich der aktuellen „Versorgungslandschaft“
Noch vor 20 Jahren wurde die Rehabi- der neurologisch-neurochirurgischen
litationsfähigkeit von beatmeten Patienten Beatmungsentwöhnung („WennFrüh“),
skeptisch betrachtet. In den Empfehlun- welche 496 Weaning-Betten und 2.516
gen der Bundesarbeitsgemeinschaft für Patienten, bei denen eine Beatmungsent-
Rehabilitation (BAR) aus dem Jahr 1995 wöhnung begonnen wurde, berücksichtig-
wurde als ein Eingangskriterium in die te, zeigte, dass 83,3 % erfolgreich geweant
neurologisch-neurochirurgische Früh­ werden konnten, 11  % verstarben und
rehabilitation (Phase B) definiert, dass der 4,8 % beatmet entlassen wurden (Rollnik
Patient „nicht mehr (kontrolliert) beat- et al. 2020). Die Zahlen bezüglich erfolgrei-
mungspflichtig“ sein dürfe, allenfalls „bei cher Beatmungsentwöhnung in der NNFR
Patienten, die mental nicht eingeschränkt schwanken zwischen 60 % und über 90 %,
sind, deren Atemantrieb aber gestört ist“, die Mortalität kann zwischen 4 % und 23 %
seien Ausnahmen zulässig (BAR 1995). angesetzt werden, sodass eine beträcht-
Allerdings wurde schon bei der Konzep- liche Spannbreite vorliegt (s. u). Die Not-
tion des Früh-Reha-Barthel-Index (FRB) wendigkeit eines vereinheitlichten Daten-
zumindest die „intermittierende Beat- satzes mit Darstellung von detaillierten
mung“ als Option berücksichtigt (Schön- Struktur-, Prozess- und Ergebnisdaten zur
le 1995; Pohl et al. 2010). Die Beatmungs- genaueren Erfassung der Datenlage, aber
64 T. Schmidt-Wilcke, J. D. Rollnik

auch mit dem Ziel, Prädiktoren für ein er- zwischen Akutkrankenhaus und Frühreha-
folgreiches Weaning zu identifizieren, wur- bilitation kommt (Rollnik, Frank u. Pohl
de bereits in einschlägigen Werken disku- 2017).
tiert (Pohl u. Summ 2020). Die Umsetzung
allerdings, dies ist bereits jetzt absehbar,
wird insbesondere aufgrund der Daten- 3.2
schutzbestimmungen eine beträchtliche
Grundbegriffe der
Herausforderung darstellen.
Beatmungstherapie
Rehabilitationswissenschaftlich gibt es
gute Belege dafür, dass es vorteilhaft ist, Pa- Auch für die Grundlagen der Beatmungs-
tienten nach einer akuten neurologischen therapie sei auf Standardwerke verwiesen
Erkrankung rasch in die Rehabilitation zu (Bickenbach u. Dembinski 2015; Gross et
verlegen, z. B. nach einem Schlaganfall al. 2020). An dieser Stelle sollen einige der
(Musicco et al. 2003). Dass auch bereits auf wichtigsten Begriffe kurz erläutert wer-
einer akutmedizinischen Intensivstation den. Angemerkt werden muss, dass u. a.
„zum frühestmöglichen Zeitpunkt einset- aufgrund der unterschiedlichen Nomen-
zende Leistungen zur Frührehabilitation“ klaturen der Hersteller (der Beatmungs-
erfolgen müssen, hat der Gesetzgeber im maschinen) eine gewisse begriffliche
§ 39 SGB V niedergelegt. Allerdings versteht Heterogenität bezüglich der Beatmungs-
es sich von selbst, dass eine Frührehabili- parameter besteht, die durchaus zu Ver-
tation i. S. des OPS 8-552 („neurologisch- wirrung führen kann (für eine Kurzüber-
neurochirurgische Früh­rehabilitation“) sicht siehe Tabelle 3.1). Grundsätzlich
mit ihren besonderen strukturellen und kann zwischen kontrollierten und assis-
inhaltlichen Voraussetzungen nur in spe- tierten Beatmungsformen unterschieden
zialisierten Frührehabilitationszentren er- werden. Bezüglich der Beatmungsent-
bracht werden kann (Rollnik et al. 2011). wöhnungsstrategien kann wiederum ori-
Frührehabilitanden weisen heute eine er- entierend zwischen kontinuierlichen und
hebliche Morbidität auf, was sich nicht zu- diskontinuierlichen Weaningverfahren
letzt an der hohen Aufnahmeprävalenz mit differenziert werden. Beim kontinuier-
multiresistenten Erregern zeigt (Rollnik, lichen Weaning wird zum Training der
Samady u. Grüter 2014). Diese hohe Mor- Atemmuskulatur die Respiratorunterstüt-
biditätslast führt zu einem erheblichen, zung (i. d. R. CPAP/ASB) sukzessive redu-
insbesondere infektiologischen Kompli- ziert. Beim diskontinuierlichen Vorgehen
kationsrisiko und macht das Vorhalten der wechseln sich Phasen der kontrollierten
besonderen Mittel des Krankenhauses un- (z. B. BIPAP; bezüglich Abkürzungen s. u.)
erlässlich (Rollnik et al. 2011), zu denen bzw. assistierten Beatmung (z. B. CPAP/
auch intensivmedizinische Behandlungs- ASB) mit Phasen der Spontanatmung am
kapazitäten gehören (Rollnik 2009; Rollnik HME („heat moisture exchanger“, „feuchte
u. Janosch 2010). In der NNFR verbinden Nase“ – FN) ab. Während der Spontanat-
sich daher heute Intensivmedizin und Re- mungsphase können bereits erste Schritte
habilitation zum Vorteil der Patienten, die der Dekanülierung (und sogar des Kost­
zeitnah nach einer schweren Akuterkran- aufbaus) initiiert werden, z. B. längeres
kung der spezialisierten Weiterbehand- Entblocken, passagere Verwendung ei-
lung zugeführt werden können. Diese ist nes Sprechaufsatzes oder sogar einer Ver-
mit über eintausend Weaning-Betten in schlusskappe anstatt der FN.
Deutschland flächendeckend gewährleis- Unter PEEP („positive endexpiratory
tet, sodass es gerade nicht zu einer „Lücke“ pressure“) versteht man das Druckniveau,
bzw. einem Bruch in der Versorgungskette das am Ende der Exspiration in der Lun-
3 · Beatmungsentwöhnung in der neurologisch-neurochirurgischen Frührehabilitation 65

Tab. 3.1: Gegenüberstellung der Beatmungsparameter bei verschiedenen Herstellern (exemplarisch)


Beatmungs- Evita V 500/C 300 Hamilton Centiva Servo
maschine Carina G5/S1 Servo I/U
C2/C3/C6
Unteres PEEP PEEP PEEP PEEP
Druck­niveau

Sauerstoffanteil FiO2 Sauerstoff/O2 FiO2 FiO2-/O2-Konzen-


tration
Anstiegszeit bei Rampe Druckrampe Rampe Anstiegszeit
Inspiration
Druckkontrollierte PC – CMV PCV PCV DK
Beatmung
(kontrollierte
Beatmungsform)
Biphasische Beat- BIPAP DuoPAP BiLevel BiVent
mung (kontrollierte
Beatmungsform)
Druckunterstützte ∆PASB oder ∆Psupp Psupport (über PEEP) PASB über PEEP DU über PEEP
Beatmung
(assistierte
Beatmungsform)
BIPAP biphasic positive airway pressure, DU Druckunterstützung, PCV pressure controlled ventilation, PEEP po-
sitive endexpiratory pressure

ge verbleibt. Hierauf baut die CPAP-The- niert. BIPAP wird auch als zeitgesteuerter
rapie („continuous positive airway pres- Wechsel zwischen zwei unterschiedlich
sure“) auf. Dabei handelt es sich nicht um hohen CPAP-Niveaus beschrieben. BI-
eine Beatmung i. e. S., denn bei der Exspi- PAP ermöglicht es zusätzlich, dass der Pa-
ration wird lediglich die Ausatmung auf tient – und dies ist v. a. im Weaning hilf-
dem Wert des eingestellten PEEP gestoppt reich – selbstständig (mit verminderter
(„pneumatische Schienung“). Variationen Atemarbeit) dazu atmen kann (auf beiden
der CPAP-Behandlung werden z. B. zur Druckniveaus). Darüber hinaus kann eine
Erleichterung der Atemarbeit und Atelek- assistierte Beatmungsform hinzugeschal-
tasenprophylaxe eingesetzt, wie etwa die tet werden, indem z. B. auf dem unteren
EzPAP-Behandlung (wobei „Ez“ für „easy to Druckniveau (= PEEP-Niveau) durch einen
apply“ steht). EzPAP wird vor allem durch begonnenen oder versuchten Atemhub
Atmungstherapeuten auf der Normalstati- (ausgehend vom Patienten selbst) eine zu-
on angewendet. sätzliche Luftmenge (abhängig vom spe-
Unter BIPAP („biphasic positive airway ziell für diese Situation eingestellten, un-
pressure“) ist eine weitverbreitete druck- terstützenden Druck – ASB-Hilfsdruck)
kontrollierte Beatmungsform zu verste- insuffliert wird. Die verschiedenen Her-
hen (Abb. 3.1). Bei der Exspiration (un- steller nutzen unterschiedliche Begriffe für
teres Druckniveau) bleibt ein durch den diesen Beatmungsmodus: Neben BIPAP
PEEP („positive endexpiratory pressure“) (bei der Evita), findet man Begriffe wie Bi-
eingestellter Druck in den Atemwegen er- Vent (Servo), DUOPAP (Hamilton), Bilevel
halten, für die Inspiration wird ein Inspi- (Centiva, Bennett, u. a.).
rationsdruck (oberes Druckniveau) defi-
66 T. Schmidt-Wilcke, J. D. Rollnik

Abb. 3.1: BIPAP-Prinzip (Bickenbach u. Dembinski 2015, © Springer-Verlag GmbH, mit freundlicher Genehmigung)

Beim CPAP/ASB („assisted spontaneous Ein Meilenstein in der Beatmungsent-


breathing“) handelt es sich um eine assis- wöhnung von Patienten ist es, wenn Pa-
tierte Beatmung, bei der der Patient weit- tienten an die „feuchte Nase“ (FN oder
gehend selbstständig atmen bzw. das Ge- HME) genommen werden. Dazu werden
rät triggern kann. ASB unterstützt dabei die Patienten von der Beatmungsmaschi-
die Einatmung durch einen voreingestell- ne diskonnektiert. Die FN wird auf die Tra-
ten Druck. Es reicht also, dass der Patient chealkanüle (TK) aufgesetzt, es kann zwar
leicht einatmet (als Trigger), und das Ge- zusätzlich Sauerstoff appliziert werden, je-
rät „ergänzt“ den begonnenen Atemzug. doch wird kein extrinsisches PEEP ange-
CPAP soll dabei sicherstellen, dass die Ate- legt. Dadurch steigt die Atemarbeit und es
marbeit erleichtert wird. Atmet der Pati- besteht die Gefahr, dass Alveolen am Ende
ent selbstständig, kommt nur noch CPAP der Exspiration kollabieren, sodass Atelek-
zum Einsatz. Der CPAP/ASB Modus setzt tasen entstehen. Die FN stellt damit ein
voraus, dass ein Atemantrieb vorhanden neues Behandlungsstadium dar. Patien-
ist und dass ein Mindestmaß an Unter- ten, die vom Respirator entwöhnt werden,
druck durch Inspiration (als Trigger) er- sollten anfänglich nur zeitweise an die FN
zeugt werden kann, was wiederum voraus- genommen werden, um einer Erschöp-
setzt, dass Innervation und Kontraktion fung der Atemmuskulatur und Bildung von
der Atemmuskulatur (v. a. des Zwerchfells) Atelektasen vorzubeugen. Diesbezüg-
gelingt. Wichtig ist, sich zu vergegenwär- lich gibt es empfohlene Protokolle, mit-
tigen, dass Patienten sich trotz der Atem­ tels derer die Spontanatmung (FN-Zeiten)
assistenz erschöpfen können und dann die schrittweise ausgedehnt werden kann und
Wiederaufnahme eines kontrollierten Be- die Atemmuskulatur während der kontrol-
atmungsmodus zur Erholung notwendig lierten oder assistierten Beatmungszeit die
wird. Möglichkeit zur Erholung hat.
3 · Beatmungsentwöhnung in der neurologisch-neurochirurgischen Frührehabilitation 67

3.3 der Patientengruppe mit relativ kurzer Ent-


Studien zum Weaning in der wöhnungszeit gezählt werden können (van
neurologisch-neurochirurgischen der Lely et al. 2006).
Frührehabilitation Die monozentrischen Studienergeb-
nisse wurden nachfolgend in einer großen,
Die ersten publizierten Daten zum Weaning multizentrischen Untersuchung reprodu-
in der neurologisch-neurochirurgischen ziert (Oehmichen et al. 2012). Bei 1.037 von
Frührehabilitation liegen aus der BDH- 1.486 Patienten, dies entspricht einem An-
Klinik Hessisch Oldendorf vor (Rollnik et teil von 69,8 %, konnte das Weaning gemäß
al. 2010). Bei 82 Beatmungsfällen des Jah- definiertem Weaning-Kriterium (min-
res 2009, überwiegend handelte es sich um destens sieben Tage ohne invasive bzw.
Patienten nach Schädel-Hirn-Trauma oder nichtinvasive maschinelle Atemunterstüt-
intrazerebraler Blutung, war das Weaning zung) erfolgreich abgeschlossen werden
bei ca. 70 % primär erfolgreich (Rollnik et (Oehmichen et al. 2012). Die Dauer der
al. 2010). Bei Aufnahme in der Frühreha- Beatmungsentwöhnung betrug im Mittel
bilitation waren die Atemwege überwie- 21,8 ± 20,5 Tage (Oehmichen et al. 2012).
gend mit einer geblockten Tracheal­kanüle Nur etwa jeder fünfte Patient (18,4  %)
(80,5 %) gesichert, nur etwa jeder fünfte Pa- musste in dieser Studie beatmet entlas-
tient wurde über einen Endotrachealtubus sen bzw. verlegt werden (Oehmichen et al.
beatmet (Rollnik et al. 2010). Bei 2/3 der 2012). Die Gesamtmortalität betrug 16,6 %
mit Endotrachealtubus aufgenommenen (Oehmichen et al. 2012). Überraschender-
Patienten erfolgte im Verlauf eine dilatative weise dominierten in der Studie Patienten
Tracheotomie (Rollnik et al. 2010). Nicht- mit einer Critical-Illness-Polyneuropathie
invasive Beatmung (NIV) wurde nur bei ei- (CIP), ihr Anteil lag mit 36 % deutlich über
nem Patienten eingesetzt, die Mortalität lag dem von Frührehabilitanden mit ischämi-
lediglich bei 6,1 % (Rollnik et al. 2010). Zur schem Schlaganfall (17,2 %) und intrakra-
Dauer des Weanings lassen sich folgende nieller Blutung (14,2 %) (Oehmichen et al.
Aussagen treffen: In der zuweisenden Kli- 2012). Diese Daten sprechen dafür, dass
nik waren die Patienten im Mittel bereits auch viele beatmete, primär nicht der neu-
14,2 ± 13,4 Tage beatmet, die Weaningdauer rologischen Indikation zuzuordnende Pa-
in der Frührehabilitation betrug 15,1 ± 16,3 tienten zur Frührehabilitation mit beglei-
Tage (Rollnik et al. 2010). Als Faustregel tendem Weaning verlegt werden. In diesem
lässt sich also festhalten, dass die Patienten Zusammenhang ist immer wieder kon­
insgesamt etwa vier Wochen beatmet wa- trovers diskutiert worden, ob die CIP nicht
ren, davon zwei in der zuweisenden Klinik auch in einem hohen Prozentsatz eine
und zwei in der NNFR. Alter, Geschlecht „Feigenblatt-Diagnose“ darstelle, die eine
und Hauptdiagnose hatten keinen signifi- primäre Fehlbelegung verhindern und kri-
kanten Einfluss auf die Beatmungsdauer tisch kranken Patienten anderer Fachrich-
(Rollnik et al. 2010). Ein wesentliches Fa- tungen (z. B. aus der Kardiologie) den Weg
zit der Studie war, dass neurologisch-neu- in die Frührehabilitation ebnen solle. Es
rochirurgische Frührehabilitanden keinen zeigte sich allerdings, dass die CIP-Diag-
grundsätzlich schlechteren Weaningerfolg nose nur etwa bei jedem fünften Patienten
und keine längere Entwöhnungszeit als an- klinisch oder klinisch-neurophysiologisch
dere, nicht neurologische Patienten auf- nicht bestätigt werden konnte (Schmidt
wiesen (Rollnik et al. 2010). Dieses Ergeb- u. Rollnik 2016). Dies bedeutet, dass diese
nis ist konform mit der Beobachtung, dass Diagnose zumindest nicht regelhaft falsch
auch bereits im Akutkrankenhaus neurolo- gestellt wird. Ganz unstrittig ist auch eine
gische und neurochirurgische Patienten zu längere Respirator-Behandlung einer der
68 T. Schmidt-Wilcke, J. D. Rollnik

wichtigsten Risikofaktoren für die Entste- eine geringere Dialyseprävalenz aufwiesen


hung einer CIP (Schmidt u. Rollnik 2016). (Schmidt et al. 2018).
Da viele Patienten bei Beginn der Früh­ Zusammengefasst lässt sich festhalten,
rehabilitation bereits eine längere Beat- dass Beatmungsentwöhnung und Früh­
mungszeit von im Mittel zwei bis fünf Wo- rehabilitation heute eine erfolgreiche Mar-
chen (Oehmichen et al. 2012; Rollnik et al. riage eingegangen sind (Wallesch 2015).
2010) hinter sich haben, ist die hohe CIP- Die Beatmungsentwöhnung ist bei 70 bis
Aufnahmeprävalenz nicht verwunderlich. 90 % der in die NNFR verlegten Patienten
In einer weiteren multizentrischen Un- erfolgreich, und das nach einer mittleren
tersuchung deutscher Frührehabilitations- Weaningdauer von zwei bis drei Wochen
zentren wurde jeder vierte Patient (25,5 %) (Oehmichen et al. 2012; Pohl et al. 2016;
beatmet aufgenommen, aber weniger als Rollnik et al. 2010, 2017a).
5 % mit Beatmung entlassen (Pohl et al.
2016). Dies entspricht einer Erfolgsrate
von über 80 % (Pohl et al. 2016). Eine aktu- 3.4
elle monozentrische Untersuchung zeigte,
Beatmungsentwöhnung und die OPS
dass sogar 92,3 % (60/65) der Frührehabili-
8-552
tanden erfolgreich von der Beatmung ent-
wöhnt werden konnten, nur 4,3 % mussten Um die Mindestmerkmale der neurolo-
auf eine Heimbeatmung eingestellt werden gisch-neurochirurgischen Frührehabili-
(Rollnik et al. 2017a). In dieser Untersu- tation im deutschen DRG-System (OPS
chung ergab sich der Befund, dass sich v. a. 8-552) zu erfüllen, gibt es strukturelle Vor-
die Morbiditätslast auf die Dauer der Ent- gaben, die Tabelle 3.2 zu entnehmen sind
wöhnung auswirkt, denn die Zahl der Ne- (DIMDI 2022). Gerade der multidiszipli-
bendiagnosen korrelierte mit der Zahl der näre Behandlungsansatz, bei dem Ärzte,
Beatmungsstunden (Rollnik et al. 2017a). Pflegekräfte und Therapeuten (v. a. Phy-
Zudem zeigte sich der Trend, dass mit Pro- siotherapeuten, Logopäden und Ergothe-
blemkeimen besiedelte beatmete Früh­ rapeuten) in einem Behandlungsteam zu-
rehabilitanden eine längere Beatmungs- sammenkommen und Therapieziele sowie
dauer aufwiesen (Rollnik et al. 2017a). Behandlungspläne festlegen, hat sich em-
Dieser Befund steht generell mit anderen pirisch sehr bewährt (Rollnik 2015). Pro­
Studien in Einklang, die Frührehabilitan- blematisch war allerdings im DRG-System,
den, die mit multiresistenten Erregern dass bei einem Beatmungsfall (≥  96 Stun-
besiedelt sind, ein schlechteres Outcome den) die zusätzliche Kodierung des OPS
attestieren (Rollnik et al. 2017b). In der 8-552 keine Erhöhung des Relativgewich-
bereits zu Anfang erwähnten „WennFrüh- tes mit sich bringt. Dies liegt primär daran,
Studie“ aus dem Jahr 2020 konnten 83,3 % dass sich zu wenige Frührehabilitations-
der Patienten erfolgreich geweant werden, zentren am Kalkulationsverfahren betei-
4,8 % wurden beatmet entlassen und 11 % ligen (Wallesch 2015). Bislang sorgte die-
verstarben (Rollnik et al. 2020). se Unschärfe im deutschen DRG-System
Bezüglich der Prädiktoren einer er- für einen Fehlanreiz, nämlich bei einem
folgreichen Beatmungsentwöhnung er- beatmeten Frührehabilitanden die Vorga-
gab eine multizentrische Untersuchung, ben des OPS 8-552 nicht zu erfüllen (z. B.
dass erfolgreich geweante Patienten (in 300 min Therapie täglich im Mittel der Be-
der Studie waren es ca. 75 %) eine kürzere handlung). Diesbezüglich hat sich aber die
Verweildauer im zuweisenden Kranken- Deutsche Gesellschaft für Neurorehabili-
haus aufwiesen, weniger häufig mit mul- tation (DGNR) klar positioniert und auch
tiresistenten Erregern besiedelt waren und die Entwicklung einer S2k-Leitlinie zur Be-
3 · Beatmungsentwöhnung in der neurologisch-neurochirurgischen Frührehabilitation 69

Tab. 3.2: Mindestmerkmale des OPS 8-552 „Neurologisch-neurochirurgische Frührehabilitation“ (DIMDI 2022)

n Frührehateam mit Behandlungsleitung durch einen Facharzt für Neurologie, Neurochi-


rurgie, Physikalische und rehabilitative Medizin oder Kinder- und Jugendmedizin mit der
Zusatzbezeichnung Neuropädiatrie, der über eine mindestens 3-jährige Erfahrung in der
Strukturmerkmale

neurologisch-neurochirurgischen Frührehabilitation verfügt.


n Im Frührehateam muss der neurologische oder neurochirurgische Sachverstand kontinuier-
lich eingebunden sein.
n Vorhandensein von auf dem Gebiet der neurologisch-neurochirurgischen Frührehabilitation
besonders geschultem Pflegepersonal für aktivierend-therapeutische Pflege.
n Vorhandensein von folgenden Therapiebereichen: Physiotherapie/Krankengymnastik, Physi-
kalische Therapie, Ergotherapie, Neuropsychologie, Logopädie/fazioorale Therapie
n Standardisiertes Frührehabilitations-Assessment in mindestens 5 Bereichen (Bewusst-
seinslage, Kommunikation, Kognition, Mobilität, Selbsthilfefähigkeit, Verhalten, Emotion)
zu Beginn der Behandlung.
n Der Patient hat einen Frührehabilitations-Barthel-Index nach Schönle bis maximal 30
Punkte zu Beginn der Behandlung. (Die Berechnung des Frührehabilitations-Barthel-Index
nach Schönle ist im Anhang zur ICD-10-GM zu finden)
Mindestmerkmale

n Wöchentliche Teambesprechung mit wochenbezogener Dokumentation bisheriger Be-


handlungsergebnisse und weiterer Behandlungsziele.
n Der vom Patienten benötigte Einsatz der Leistungen der therapeutischen Pflege (Wasch-
training, Anziehtraining, Esstraining, Kontinenztraining, Orientierungstraining, Schluck-
training, Tracheostomamanagement, isolierungspflichtige Maßnahmen u.a.) und der The-
rapiebereiche erfolgt in unterschiedlichen Kombinationen von mindestens 300 Minuten
täglich (bei simultanem Einsatz von zwei oder mehr Mitarbeitern dürfen die Mitarbeiter-
minuten aufsummiert werden) im Durchschnitt der Behandlungsdauer der neurologisch-
neurochirurgischen Frührehabilitation. Leistungen der durch Musiktherapeuten durchge-
führten Musiktherapie können auf die tägliche Therapiezeit angerechnet werden, wenn
das therapeutische Konzept der Frührehabilitationseinrichtung Musiktherapie vorsieht.

atmungsentwöhnung in der neurologisch- bezeichnung Intensivmedizin oder einen


neurochirurgischen Frührehabilitation Facharzt mit mindestens dreijähriger Er-
angeschoben, die 2017 publiziert wurde fahrung in der prolongierten Beatmungs-
(Rollnik et al. 2017c). Auf diese Leitlinie entwöhnung. Weiterhin wird als Struktur-
soll in einem eigenen Abschnitt kurz ein- merkmal gefordert (für die OPS 8-718.8
gegangen werden (s. u.). 2020 trat ein neu- und 8-718.9), dass die Möglichkeit zur
er Weaning-OPS in Kraft, der OPS 8-718 Durchführung eines Ethik-Fallgesprächs
(„Beatmungsentwöhnung bei maschinel- besteht. Zudem müssen als Prozessmerk-
ler Beatmung“), mit den Unterkategorien male erfüllt sein, dass wöchentliche Team-
8-718.7 („Beatmungsentwöhnung nicht besprechungen (mit Anwesenheit der
auf Beatmungsentwöhnungs-Einheit“), fachärztlichen Behandlungsleitung) und
8-718.8 („prolongierte Beatmungsentwöh- Therapien (aus den Bereichen Atmungs-
nung auf spezialisierter intensivmedizini- therapie, Physiotherapie, physikalische
scher Beatmungsentwöhnungs-Einheit“) Therapie, Ergotherapie, Neuropsycholo-
und 8-718.9 („prolongierte Beatmungs- gie/Psychologie, Psychotherapie, Logopä-
entwöhnung auf spezialisierter nicht-in- die/fazioorale Therapie/Sprachtherapie,
tensivmedizinischer Beatmungsentwöh- Dysphagietherapie) stattfinden. Dies be-
nungs-Einheit“). Ein Strukturmerkmal für deutet, dass die Atmungstherapie in den
den OPS 8-718.9 ist die Behandlungslei- Strukturmerkmalen des Weaning-OPS be-
tung durch einen Facharzt mit der Zusatz- reits konzeptionell fest verankert ist.
70 T. Schmidt-Wilcke, J. D. Rollnik

3.5 von Physiotherapie und inspiratorischem


Rehabilitative Interventionen Training (IMT) keinen Vorteil in puncto
beim Weaning neurologisch- Weaningerfolg zeigte (Cader et al. 2012),
neurochirurgischer erbrachten aktive oder passive Bewe-
gungsübungen bei Langzeitbeatmeten (im
Frührehabilitanden
Mittel 24 Tage) in einer anderen Studie mit
Innerhalb der NNFR spielt die Rehabilita- n = 77 Patienten eine geringere Mortalität
tion der „anderen“ (begleitenden) Defizite, und einen höheren Weaningerfolg (Clini
z. B. Schluckstörungen, Paresen, Neglect, et al. 2011). Eine innerhalb von 48 Stun-
quantitative und qualitative Bewusstseins- den einsetzende Physiotherapie belegte
störungen, auch schon während der Pha- eine signifikante Verweildauerreduktion
se der Beatmungsentwöhnung eine wich- auf der Intensivstation (5,5 vs. 6,9 Tage,
tige Rolle. Bereits in der pneumologischen p ≤ 0,05) bei n = 330 Beatmeten (Morris et
Leitlinie wurde auf die Bedeutung des Se- al. 2008). Regelmäßiges Absaugen, Vibra-
kretmanagements hingewiesen (Schön- tion und manuelle Hyperinflation führten
hofer et al. 2019). Gerade dieser Aspekt ist in einer Untersuchung mit n = 173 Beatme-
bei der Rehabilitation neurologischer Pati- ten zu einer geringeren Komplikationsra-
enten von besonderem Interesse, da eine te und einem besseren Weaningergebnis
neurogene Schluckstörung bei fast allen (Pattanshetty u. Gaude 2011).
Patienten der NNFR vorliegt und eine Re- Früh einsetzende Physio- und Ergothe-
habilitation der Dysphagie auch für eine rapie trugen zu einem besseren funktionel-
erfolgreiche Dekanülierung essenziell ist. len Status und einer kürzeren Beatmungs-
Unstrittig sind auch der günstige Ein- und Delirdauer bei (n = 104), allerdings
fluss einer frühzeitig einsetzenden Mo- nur bei kurz beatmeten Erwachsenen (< 7
bilisation, passiv wie aktiv, und die Emp- Tage) (Schweickert et al. 2009). Eine weite-
fehlung, die Patienten bevorzugt in eine re Studie bei n = 126 länger beatmeten Pa-
die Spontanatmung erleichternde sitzen- tienten (> 14 Tage) belegte einen besseren
de Position zu bringen (Schönhofer et al. Weaningerfolg durch 30 min Physiothera-
2019). In die gleiche Richtung gehen die pie täglich (Yang et al. 2010).
Empfehlungen der European Respirato- Bereits beim Weaning-OPS wurde auf
ry Society, eine früh einsetzende Mobili- die neue Therapiedisziplin der Atmungs-
sation und aktive wie passive Bewegungs- therapie eingegangen. Hierbei handelt es
übungen bei kritisch kranken Patienten sich um ein von der Deutschen Gesell-
durchzuführen (Gosselink et al. 2008). schaft für Pneumologie und Beatmungs-
Ungeachtet der zitierten Leitlinien medizin (DGP) eingeführtes Berufsbild.
bzw. Empfehlungen ist die Evidenzlage Eine Beschreibung des Kompetenzprofils
bezüglich der Wirksamkeit definierter re- eines Atmungstherapeuten findet sich in
habilitativer Interventionen im Weaning- Tabelle 3.3. Auch wenn die wissenschaftli-
Prozess schwach. Bei n = 90 Patienten einer che Evidenz noch fehlt, besteht empirisch
internistischen und chirurgischen Inten- kaum ein Zweifel an der „Wirksamkeit“ der
sivstation führten 20 min Ergometrie pro Atmungstherapie. In einer aktuellen Un-
Tag in Verbindung mit aktiven und passi- tersuchung konnte immerhin gezeigt wer-
ven Bewegungsübungen zu einer längeren den, dass die Atmungstherapie bei Patien-
Gehstrecke, einer besseren Beinkraft und ten mit höherer Morbidität dazu beiträgt,
höheren Lebensqualität nach Entlassung dass die Inzidenz nosokomialer Pneumo-
(Burtin et al. 2009). nien (im Vergleich zu einer weniger schwer
Während eine Studie mit 28 beatmeten betroffenen historischen Vergleichsgrup-
geriatrischen Patienten durch den Einsatz pe) nicht ansteigt (Schmidt et al. 2019).
3 · Beatmungsentwöhnung in der neurologisch-neurochirurgischen Frührehabilitation 71

Tab. 3.3: Kompetenzprofil eines Atmungstherapeuten

Aufgabengebiet Kompetenzen

Diagnostik Selbstständige Durchführung diagnostischer Maßnahmen wie z. B. Blutgas­


analyse, Spirometrie am Krankenbett, Polygraphie etc. und Interpretation
einfacher Befunde, Erkennen einfacher Röntgenbefunde

Thoraxdrainagen Adäquater Umgang mit Thoraxdrainagen

Edukation Durchführung von Patientenberatungen und -schulungen, insbesondere


im Hinblick auf Medikamentenanwendung, Aerosoltherapie, Langzeit­
sauerstofftherapie, Heimbeatmung und Raucherentwöhnung

Wissenstransfer Schulung von Pflegepersonal

Atemwegsmanagement Selbstständige Durchführung von Maßnahmen des Atemwegsmanagements


(endotracheale Absaugung blind und bronchoskopisch, Tracheosto­ma- und
Kanülenpflege, Kanülenauswahl und Kanülenwechsel)

NIV Durchführung und Überwachung von nicht-invasiver Beatmung einschließ-


lich Maskenauswahl bei akuter und chronischer respiratorischer Insuffizienz

Invasive Beatmung Einstellung und Überwachung der invasiven Beatmung je nach Erkrankung
und Steuerung der Analgosedierung nach Protokollvorgabe (in Abstimmung
mit dem ärztlichen Dienst)

Beatmungsentwöhnung Durchführung und Überwachung nach Protokollvorgabe (in Abstimmung mit


(Weaning) dem ärztlichen Dienst)

Rehabilitative Interventionen Einsatz atemphysiologisch-rehabilitativer Maßnahmen

Fall- und Überleitmanagement Durchführung eines Casemanagements von Patienten mit chronisch-respira-
torischer Insuffizienz in die ambulante Betreuung

Außerklinische Beatmung Fortführung einer Beatmungstherapie nach ärztlicher Vorgabe und in


Kooperation mit einem Beatmungszentrum im außerklinischen Bereich

In der Summe ist zu konstatieren, dass 3.6


es Hinweise für die Wirksamkeit rehabili- Weaning-Strategien und Weaning-
tativer Interventionen, insbesondere der Protokolle
Physiotherapie mit aktiven und passiven
Bewegungsübungen, zumindest bei akut- Auch im Weaning neurologischer Früh­
medizinisch betreuten, überwiegend kurz- rehabilitanden kommen Entwöhnungs-
zeitig beatmeten Intensivpatienten gibt. strategien mit einer Kombination aus kon-
Was die Übertragung auf den Weaning­ trollierter und/oder druckunterstützter
erfolg bei langzeitbeatmeten Frühreha- Beatmung und schrittweise ausgedehnten
bilitanden anbelangt, ist die Evidenzla- Spontanatmungsphasen zur Anwendung
ge allerdings bescheiden. Die noch junge (Bertram u. Brandt 2013; Schönhofer et
Disziplin der Atmungstherapie muss noch al. 2019). In der Neurologie werden meis-
weitere Beiträge zur Evidenzbasierung tens diskontinuierliche Weaning-Strategi-
leisten. en (s. 3.2) eingesetzt, bei denen sich inter-
mittierende Spontanatmung (an der FN,
s. 3.2) und assistierte (CPAP/ASB) bzw.
kontrollierte Beatmung (BIPAP s. 3.2) zur
72 T. Schmidt-Wilcke, J. D. Rollnik

Erholung abwechseln (Bertram u. Brandt mung entwöhnt (Oehmichen et al. 2013).


2013; Schönhofer et al. 2019). Grundlage Bei immerhin 85,9 % der erfolgreich ent-
dieser Weaning-Strategie ist, dass in ei- wöhnten Patienten konnte das Standard-
nem Stufenschema sukzessive Frequenz protokoll, bestehend aus 22 Weaning-
und Dauer der Spontanatmung erhöht schritten, eingehalten werden, das in
werden (Bertram u. Brandt 2013). Im Er- Tabelle 3.4 wiedergegeben ist (Oehmichen
folgsfall konditioniert man den Patienten, et al. 2013). An jedem Tag wurde versucht,
indem zur nächst höheren Stufe mit län- lediglich einen Schritt im Protokoll weiter-
gerem Spontanatmungsintervall überge- zukommen, mit dem Ziel eines kontinuier-
gangen wird. Funktioniert dies nicht, geht lichen Ausbaus der Spontanatmungspha-
man auf die vorherige, niedrigere Stufe zu- sen (Oehmichen et al. 2013). Dazu wurde
rück, oder die gleiche Stufe kommt noch der Patient für jede Beatmungspause vom
einmal zum Einsatz (Bertram u. Brandt Beatmungsgerät getrennt (Oehmichen et
2013). In der späten Entwöhnungsphase al. 2013).
wird oft CPAP (s. 3.2) eingesetzt, um eine Das „Oehmichen-Protokoll“ ist in
Atelektasenprophylaxe sowie eine Vermin- sich sehr kleinschrittig, wobei es durch-
derung der Atemarbeit zu erreichen (Bert- aus statthaft ist, mehrere Stufen zu über-
ram u. Brandt 2013). Kann der Patient mit springen, vorausgesetzt, dass der Patient
diesem strukturierten Vorgehen nicht ent- mit der FN gut zurechtkommt und eine
wöhnt werden, so obliegt es der ärztlichen schnelle Entwöhnung möglich erscheint.
Erfahrung, die Weaningschritte individuell Auch sollte angemerkt werden, dass das
zu definieren und die Anforderungen an- „Oehmichen-Protokoll“ sicherlich nicht
zupassen (Bertram u. Brandt 2013). Nach das einzige Protokoll ist und es eine Rei-
Erfahrung der Autoren dieses Buchkapitels he von jeweils hausgemachten oder ad-
hat sich dabei allerdings auch die Zusam- aptierten Alternativen gibt. Wichtig er-
menarbeit mit ausgebildeten Atmungsthe- scheint, dass es überhaupt Protokolle gibt,
rapeuten sehr bewährt. mit klaren Progress- und Abbruchkrite-
Bei der Entwöhnung langzeitbeatmeter rien, an denen sich das multidisziplinäre
Patienten ist der Einsatz von standardisier- Team, bestehend aus Ärzten, Pflegenden,
ten Weaning-Protokollen zu empfehlen. Atmungstherapeuten und Logopäden, ori-
In der bereits zitierten multizentrischen entieren kann. Die Beatmungssituation
Weaning-Studie neurologischer Frühreha- kann mitunter schnell sehr komplex wer-
bilitanden setzten alle teilnehmenden Kli- den. Beispielhaft kann man sich einen Pa-
niken Weaning-Protokolle im Sinne haus- tienten vorstellen, der nachts noch kon­
interner Standards ein (Oehmichen et al. trolliert beatmet wird, tagsüber die meiste
2012). In allen befragten Kliniken wurde Zeit assistiert beatmet wird, zusätzlich
eine druckkontrollierte Beatmung im Rah- nun die ersten Intervalle an der FN ver-
men des Weanings favorisiert (Oehmichen bringt (z. B. 6 x 30 min, entspricht Stufe 5;
et al. 2012). vgl. Tabelle 3.4) und darüber hinaus im
Oehmichen und Mitarbeiter haben ein Rahmen der logopädischen Therapie bei
standardisiertes Spontanatmungsproto- akzeptablem Speichelmanagement zeit-
koll, in dem die Spontanatmungsphasen weise „entblockt“ wird (Ablassen der Luft
standardisiert ausgebaut werden, publi- aus dem Cuff ). Bei diesem Patienten fin-
ziert und auf seine Wirksamkeit hin sys- den sich entsprechend also vier Zustände:
tematisch untersucht (Oehmichen et al. kontrolliert beatmet, assistiert beatmet, FN
2013). Unter Anwendung dieses Protokolls ohne Entblocken und FN mit Entblocken.
wurden 77,3 % der n = 644 Patienten nach Noch komplizierter wird es, wenn wäh-
im Mittel 22,0 ± 33,9 Tagen von der Beat- rend der Entblockungszeiten nun auch
3 · Beatmungsentwöhnung in der neurologisch-neurochirurgischen Frührehabilitation 73

Tab. 3.4: Beispiel für ein Spontanatmungsprotokoll des gesamten Pharynx und der Mundhöh-
im Weaning neurologischer Frührehabilitanden (Oeh- le. Hier hat sich ein Paradigmenwechsel
michen et al. 2013) ergeben: Während die Beatmungsentwöh-
Schritt Beatmungs­ Spontan­atmung nung und die Dekanülierung früher als
(Tag) pausen (Summe in min) inhaltlich und zeitlich getrennte Schritte
pro Tag betrachtet wurden („Nach dem Weaning
1 6-mal 5 min 30 ist vor der Dekanülierung“), wird der De-
2 6-mal 10 min 60 kanülierungsprozess mittlerweile schon
während der maschinellen Beatmung
3 6-mal 15 min 90
(sobald der Patient nicht mehr komplett
4 6-mal 20 min 120
kontrolliert beatmet wird) angedacht und
5 6-mal 30 min 180 angebahnt. Auf Struktur- und Prozessebe-
6 6-mal 45 min 270 ne setzt dies wiederum die enge Zusam-
7 6-mal 60 min 360 menarbeit von Atmungstherapeuten und
Logopäden sowie Pflegenden voraus, die
8 4-mal 90 min 360
eine gemeinsame Strategie verfolgen und
9 4-mal 100 min 400 sich an einem Weaning-Protokoll orien-
10 4-mal 110 min 440 tieren. In der Klinik des Erstautors wird die
11 4-mal 120 min 480 sogenannte „Mainkofener Weaningschie-
12 4-mal 150 min 600
ne“ verwendet (Abb. 3.2), mit welcher pro-
zesshaft dokumentiert wird (mit Datum),
13 4-mal 180 min 720
wo im Weaning- bzw. Dekanülierungspro-
14 3-mal 240 min 720 zess sich der Patient genau befindet. Zu-
15 3-mal 260 min 780 sätzlich können wichtige Ergebnisse der
16 2-mal 400 min 800 flexiblen endoskopischen Evaluation des
Schluckakts (FEES), einschließlich Tra-
17 2-mal 450 min 900
cheoskopie, vermerkt werden. Dies er-
18 2-mal 500 min 1.000 möglicht einen schnellen Überblick und
19 2-mal 600 min 1.200 lässt Stagnationen leichter erkennen.
20 1-mal 1.200 min 1.200 Es gibt mittlerweile eine Vielzahl von
21 1-mal 1.320 min 1.320 Parametern, die eine Weaningbereitschaft
anzeigen bzw. einen Weaningerfolg vor-
22 1-mal 1.440 min 1.440
hersagen. Bei der Beatmung über die TK
befindet man sich in der komfortablen
Situation, dass der Atemweg gesichert ist
noch ein Sprechaufsatz verwendet wird, und eine sich einstellende respiratorische
um in einem ersten Schritt die Exspirati- Insuffizienz, z. B. bei einer Erschöpfung
on „per vias naturales“ zu trainieren. Das der Atemmuskulatur, unmittelbar behan-
Entblocken während der FN-Zeiten sollte delt werden kann, indem man den Pati-
regelhaft (täglich) durchgeführt bzw. ver- enten wieder an die Maschine nimmt und
sucht werden, allein um eine passagere kontrolliert beatmet. Es sollte allerdings
Druckentlastung der Trachealschleimhaut versucht werden, diese muskulären Er-
zu bewirken. Gleichzeitig stellt das Entblo- schöpfungszustände möglichst zu vermei-
cken einen ersten Schritt in Richtung De- den; d. h. durch sorgfältige klinische Beob-
kanülierung dar. Die Exspiration an der TK achtung, v. a. der Herz- und Atemfrequenz,
vorbei (per vias naturales) führt zu einer die drohende Erschöpfung zu erkennen
sensorischen Stimulation des Larynx, in- und entsprechende Maßnahmen zu er-
klusive Subglottis und Stimmlippen, sowie greifen. Da solche Erschöpfungszustände
74 T. Schmidt-Wilcke, J. D. Rollnik

Zeitschiene Weaning – Dekanülierung

Schluckprotokoll MSA:
positiv negativ

Beatmung: Kanülierung: Kostform:


– Kontrolliert beatmet (KO); kontrolliert und assistiert – Entblockt und feuchte Nase – Getränke: angedickt pro 200 ml:
beatmet (KO & AS) (E/FN < 6/24; E/FN < 12/24; E/FN > 12/24) 3TL, 2TL, 1 TL, normal
– Kontrolliert, assistiert und feuchte Nase (KO & AS & FN) – Entblockt und Sprechaufsatz – Speisen: KS 1, KS2, Vollkost
– Kontrolliert, assistiert, feuchte Nase und (teilweise) (E/SA < 6/24; E/SA < 12/24; E/SA > 12/24)
entblockt (KO & AS & FN & E): – Entblockt und Verschlusskappe
– Assistiert und feuchte Nase (AS & FN); Feuchte Nase (VK < 6/24; VK < 12/24; VK > 12/24)
(FN), feuchte Nase und entblockt (FN & E)

Abb. 3.2: Mainkofener Weaningschiene


Beispiel eines Patienten, der am 30.04.2021 kontrolliert und assistiert beatmet aufgenommen wurde, bereits
einige Tage später wurde der Patient an die FN genommen, ab dem 10.05.2021 war der Patient ausschließlich
an der FN, womit das Weaning (im engeren Sinne) bereits abgeschlossen war. Bereits am 11.05.2021 wurden
regelmäßige Entblockungszeiten eingeführt und ein Tag später die TK gewechselt (wahrscheinlich mit dem Ziel
des „Downsizing“). Insgesamt ein regulärer/erfreulicher Verlauf. Eine am 01.05.2021 durchgeführte FEES zeigte
noch ein unzureichendes Speichelmanagement

meistens auch eine Stresssituation für den eine Critical-Illness-Polyneuropathie und/


Patienten bedeuten, können sich Ängste oder -Myopathie einstellen. Eine Atrophie
einstellen, die den weiteren Weaningerfolg des Zwerchfells ist die Folge, mit dem Re-
gefährden. Daher sollte man bei drohender sultat einer geschwächten Atempump-
Erschöpfung im Weaning-Protokoll nicht leistung. Wird der Patient dann noch für
einfach weiter voranschreiten, sondern den Krankentransport in die NNFR se-
evtl. sogar einige Schritte zurückgehen. diert, kann zusätzlich eine Atemantriebs-
Berücksichtigt man grob orientierend störung auftreten. Dies kann die respira-
die drei „großen“ physiologischen Teilas- torische Situation in den ersten Tagen in
pekte der suffizienten Respiration „Atem- der NNFR unübersichtlich machen. Oxy-
antrieb“, „Atempumpfunktion“ und „Dif- genierungsstörungen werden durch die
fusion“, so gehört es zum systematischen Messung des arteriellen pO2 (unter Be-
klinischen Vorgehen, sich zu vergegen- rücksichtigung des FiO2) erfasst und ge-
wärtigen, durch welche Faktoren eine re- monitort. Erste Hinweise bezüglich des
spiratorische Insuffizienz entsteht. Zur Atemantriebs gibt die Umstellung von ei-
Illustration folgendes Beispiel: Ein Pati- nem kontrollierten auf einen assistierten
ent mit COVID-19 (mit pulmonaler Betei- Beatmungsmodus: Funktioniert die assis-
ligung) hat zunächst eine Diffusionsstö- tierte Beatmung (Atemhübe können er-
rung (Oxygenierungsstörung). Verbringt folgreich getriggert werden), so ist erstens
er längere Zeit auf einer Intensivstation ein Atemantrieb vorhanden (Mindestmaß
und wird beatmet, kann sich zusätzlich an Atemregulation im Pons und Medul-
3 · Beatmungsentwöhnung in der neurologisch-neurochirurgischen Frührehabilitation 75

Tab. 3.5: Voraussetzungen für die Durchführung ei- kanten Anstieg) halten, so kann mit dem
nes Spontanatemversuchs („spontaneous breathing (diskontinuierlichen) Weaning begonnen
trial“) werden (z.B. 6 x 5 min oder 6 x 10 min).
Checkliste – Voraussetzungen: Ein weiterer wichtiger Parameter ist
• Patient stabil bei assistierter Beatmung der Atemwegsokklusionsdruck (P 0.1),
• RASS ≥ -2 der gemessen wird, wenn der Patient ei-
• Temp < 38,5° C nen Atemhub triggert (im CPAP / ASB
• Atemminutenvolumen < 15 l/min
Modus): Bei einem Unterdruck von -0,5
• PEEP < 8 mbar
• Atemfrequenz < 35/min mbar (unter PEEP) wird das Inspirati-
• Atemfrequenz / Atemzugvolumen < 105 onsventil verschlossen und der Unter-
• FiO2 < 0,4 druck, der nach 100 ms generiert worden
• PaO2 > 60 mmHg (8 kPa) ist, gemessen (physiologisch 1 – 4 mbar).
• PaO2  / FiO2 > 200 mm Hg (Horovitz index)
Ein Wert > 6  mbar weist auf eine erhöh-
Wenn Voraussetzungen erfüllt: te Atemanstrengung hin, die nicht dauer-
haft aufrechterhalten werden kann und als
• CPAP oder FN
• Klinische Beobachtung über 5 – 10 Minuten erstes Erschöpfungszeichen zu werten ist.
(Monitoring von Herz- und Atemfrequenz, RR) Ggf. ist dann sogar eine Umstellung von ei-
• Bestimmung des „rapid shallow nem assistierten Beatmungsmodus auf ei-
breathing”-Index (Atemfrequenz/Atemzug- nen kontrollierten in Erwägung zu ziehen.
volumen); Sollwert < 105
Wichtig ist, sich immer wieder zu verge-
• Beurteilung, ob der Spontanatemversuch
als bestanden gilt. genwärtigen, dass Prädiktoren und Kenn-
zahlen zwar sehr hilfreich sind, dass aber
Wenn ja, Fortführung der Beatmungsentwöh- immer die sorgfältige klinische Beobach-
nung tung als wichtigste Informationsquelle im
CPAP continuous positive airway pressure, FN Feuchte Nase, Vordergrund steht.
PEEP Positive end expiratory pressure, RSBI rapid shallow Nach erfolgreicher Beatmungsentwöh-
breathing index, RASS Richmond Agitation-Sedation Scale,
RR Blutdruck
nung wird der Dekanülierungsprozess, der,
wie oben dargestellt, schon während des
la oblongata) und zweitens ist die ponto- Weanings initiiert worden ist, weiter fort-
muskuläre Achse (Pons > Rückenmark > gesetzt. Ziele sind ein ausreichendes Spei-
Zwerchfell) zumindest in Teilen funkti- chelmanagement und die Wiedererlan-
onsfähig. Die sogenannten „spontaneous gung der Atmung „per vias naturales“. Der
breathing trials (SBT)“, wobei der Begriff Dekanülierungsprozess ist nach Einschät-
„SBT“ ursprünglich im Zusammenhang zung der Autoren mindestens so komplex
mit geplanten Extubationen verwendet wie der der Beatmungsentwöhnung. Aller-
wurde, erlauben ein weiteres Assessment, dings ist anzumerken, dass die Standards,
insbesondere der Atempumpfunktion. im Sinne von Protokollen und Prädiktoren,
Nachdem eruiert worden ist, ob ein SBT längst nicht so ausgearbeitet sind wie die
statthaft ist (Voraussetzungen siehe Tabel- der Beatmungsentwöhnung. Eine ausführ-
le 3.5, angelehnt an Lang 2019), wird der liche Darstellung der Dekanülierungsstra-
PEEP gesenkt (auf 5 mbar mit keiner ohne tegien kann an dieser Stelle nicht erfolgen.
nur sehr wenig Druckunterstützung), oder Es sei nur auf wenige Aspekte hingewie-
der Patient wird direkt an die FN genom- sen: Häufig wird versucht, die Kanülen-
men (PEEP = 0 mbar; ASB = 0 mbar). Kann größe zu verringern. War es bei der Beat-
der Patient dann im Laufe der nächsten mung noch sinnvoll, eine möglichst große
fünf Minuten den Rapid Shallow Breathing Kanüle zu benutzen, um den Atemwegswi-
Index (RSBI: Atemfrequenz/Atemzugvolu- derstand so gering wie möglich zu halten,
men) stabil unter 105/min/l (ohne signifi- so wird durch das „Downsizing“ nun Platz
76 T. Schmidt-Wilcke, J. D. Rollnik

um die Kanüle herum freigegeben, um das 2019). Die wesentlichen Empfehlungen


Abströmen der Luft (während der Exspi- sind in der DGNR-Leitlinie wie folgt wie-
ration) „per vias naturales“ zu erleichtern. dergegeben (Rollnik et al. 2017c):
In diesem Zusammenhang kann sogar „Ziele der neurologisch-neurochirur-
der transtracheale Druck gemessen wer- gischen Frührehabilitation sollen teilha-
den (Sollwert: < 5 mbar), der Hinweise auf beorientiert sein und folgende Bereiche
eine zu große Kanüle geben kann (wobei in umfassen: Erreichen vegetativer Stabilität,
diesem Zusammenhang die Außendurch- Verbesserung von Atemfunktion, Vigilanz
messer und nicht die Innendurchmes- und Bewusstsein, Schluckfunktion, Kom-
ser ausschlaggebend sind). Nach Einsatz munikations-/Interaktionsfähigkeit, Moto-
des Sprechaufsatzes kommt dann die Ver- rik und Sensorik, Kognition und Emotion
schlusskappe zur Anwendung. Mit der sowie Selbsthilfefähigkeit.
Verschlusskappe kann nur noch auf phy- Beatmete Patienten mit Erkrankun-
siologischem Weg ein- und ausgeatmet gen des zentralen und/oder peripheren
werden. Zu diesem Zeitpunkt muss das Nervensystems und/oder (neuro-)mus-
Speichelmanagement des Patienten be- kulären Erkrankungen sollten so früh wie
reits so gut sein, dass er mit der Erzeugung möglich in eine neurologisch-neurochir-
des Unterdrucks währen der Inspiration urgische Frührehabilitationseinrichtung
(= -1 –  -2  bar) nicht noch Speichel in die mit intensivmedizinischer und Weaning-
Trachea saugt. Kommt der Patient über Kompetenz verlegt werden. Diese Einrich-
24 – 48 Stunden gut mit einer Verschluss- tung soll über ein multiprofessionelles Be-
kappe zurecht (Atmung und Speichelma- handlungsteam (aktivierend therapeutisch
nagement ausreichend), so gilt der soge- Pflegende, Ärzte, Atmungstherapeuten,
nannte „Cork Trial“ als bestanden und Ergotherapeuten, Logopäden, Musikthe-
eine Dekanülierung kann in Erwägung ge- rapeuten, Neuropsychologen und Physio-
zogen werden. therapeuten) mit neurorehabilitativer Er-
fahrung verfügen.
Nicht invasive Beatmungsformen soll-
3.7 ten bei Patienten mit neurogener Dyspha-
gie oder prolongierter Vigilanzminderung
S2k-Leitlinie „Prolongiertes
und einer hohen Aspirationsgefahr nicht
Weaning in der neurologisch-
eingesetzt werden. Bei diesen Patienten
neurochirurgischen sollte die geblockte Trachealkanüle als Be-
Frührehabilitation“ der DGNR atmungszugang so lange verbleiben, bis kei-
ne Makroaspirationsgefahr mehr besteht.
Im Jahr 2017 wurde von der DGNR eine Für Therapieentscheidungen/Maßnahmen
Leitlinie zum prolongierten Weaning von hinsichtlich Beatmungsformen bei der Ver-
neurologisch-neurochirurgischen Früh­ sorgung von Patienten mit einer Dysphagie
rehabilitanden publiziert (Rollnik et al. sollte der Schluckstatus mittels einer kont-
2017c), die derzeit überarbeitet wird. Die- rollierten klinischen, bedarfsweise appara-
se stellt keine „Konkurrenz“ zur DGP-Leit- tiven, Untersuchung erhoben werden.
linie (Schönhofer et al. 2019) dar, sondern Im prolongierten Weaning von neu-
soll die Besonderheiten der Frührehabili- rologischen Frührehabilitanden können
tation herausstellen. Dem wurde im Üb- Entwöhnungsstrategien mit schrittweise
rigen auch mit einem eigenen Kapitel zur ausgeweiteten Spontanatmungsphasen
neurologisch-neurochirurgischen Früh­ eingesetzt werden, unter Berücksichti-
rehabilitation in der zitierten DGP-Leitli- gung der zugrunde liegenden Schädigung
nie Rechnung getragen (Schönhofer et al. und unter ständiger Auswertung der Re-
3 · Beatmungsentwöhnung in der neurologisch-neurochirurgischen Frührehabilitation 77

aktionen des Patienten. Bei Störungen der 3.8


neuromuskulären Übertragung kann zu- Jüngere Entwicklungen und künftige
sätzlich eine Druckunterstützung in den Herausforderungen
Spontanatmungsphasen sinnvoll sein.
Das Weaning bei Patienten mit zentralen Aufgrund der Vielzahl an neurologischen
Atemregulationsstörungen sollte individu- Beatmungsentwöhnungsbetten in der
ell unter Berücksichtigung der zugrunde NNFR (und der damit verbundenen ver-
liegenden Schädigung und ebenfalls un- sorgungsmedizinischen Relevanz) sowie
ter ständiger Anpassung an die Reaktionen der stetig steigenden Herausforderungen
des Patienten erfolgen. in der Versorgung der schwer erkrankten
Bei neurologisch-neurochirurgischen neurologischen Patienten hat die Deut-
Frührehabilitanden müssen aufgrund sche Gesellschaft für Neurorehabilitation
von Tracheotomie, neurogener Dyspha- (DGNR) eigens eine Weaning-Kommission
gie, Problemen der Atempumpe sowie Be- gegründet, die sich u. a. mit der Qualitäts-
wusstseinsstörungen an ein Weaning-Pro- sicherung der neurologischen Beatmungs-
tokoll grundlegend andere Anforderungen entwöhnung auseinandersetzt. In diesem
gestellt werden als an ein herkömmliches Zusammenhang ist in enger Zusammen-
Protokoll. Frührehabilitanden gelten als arbeit mit dem TÜV-Nordrhein ein Zertifi-
erfolgreich von der Beatmung entwöhnt, zierungsverfahren ins Leben gerufen wor-
wenn sie vollständig ohne Atemunterstüt- den, durch welches sich Zentren, welche
zung (inkl. NIV) auskommen. mindesten 40 Weaningpatienten pro Jahr
Konzepte zum Dysphagie- und behandeln, nach Durchführung eines ent-
Tracheal­kanülenmanagement sowie eine sprechenden Audits (vergleichbar mit der
begleitende Sprachtherapie sollten im Zertifizierung von Stroke Units) und bei er-
Weaning neurologisch-neurochirurgi- folgreicher Darstellung bestimmter Struk-
scher Früh­ rehabilitanden standardmä- tur- und Prozesskriterien zertifizieren las-
ßig implementiert sein und kontinuierlich sen können. Es wird davon ausgegangen,
evaluiert werden. Die Atmungstherapie dass dieses Zertifikat im Verlauf der nächs-
kann auch in der neurologisch-neurochir- ten zehn Jahre zu einer Verbesserung der
urgischen Früh­rehabilitation im Weaning- Versorgungsqualität beitragen wird.
Prozess hilfreich sein. Psychologische Be- Die zunehmende Bedeutung der At-
gleitung ist im Weaning-Prozess vor allem mungstherapie ist bereits mehrfach er-
bei Angststörungen indiziert. In einer neu- wähnt worden. Neben der DGP bietet auch
rologisch-neurochirurgischen Frühreha- die DGpW (Deutsche Gesellschaft für pfle-
bilitationseinrichtung sollte die palliativ- gerische Weiterbildung) ein entsprechen-
medizinische Versorgung beatmeter und des, gleichwertiges Curriculum an, wobei
nicht beatmeter Patienten sichergestellt in einem etwas größeren Ausmaß neurolo-
sein.“ gische Besonderheiten berücksichtigt wer-
Damit stellt die Weaning-Leitlinie der den. Es ist bereits jetzt absehbar, dass eine
DGNR die Entwöhnung von der Beatmung enge Zusammenarbeit zwischen Atmungs-
als ein wichtiges Teilhabeziel dar, zudem therapeuten und Logopäden den kombi-
wird die Bedeutung rehabilitativer Inter- nierten Weaning-Dekanülierungs-Prozess
ventionen im multidisziplinären Team verbessert.
betont. Zudem betont die DGNR die Be- Die außerklinische Intensivpflege
deutung der Atmungstherapie im multi- (AKI) ist ein Versorgungsbereich, mit dem
professionellen Team. Die Leitlinie befin- sich auch die NNFR zunehmend ausein-
det sich momentan in Überarbeitung, mit andersetzen muss. In Deutschland wer-
einer Veröffentlichung ist 2023 zu rechnen. den zwischen 25.000 und 30.000 Patien-
78 T. Schmidt-Wilcke, J. D. Rollnik

ten im Rahmen der AKI versorgt, z. B. in 3.9


stationären Intensivpflegeeinrichtungen, Zusammenfassung
Intensivpflege-WGs, aber auch in der eige-
nen Häuslichkeit (GKV IPReG Think Tank Die Entwöhnung neurologisch-neurochir-
2021). Neurologische Patienten bilden mit urgischer Frührehabilitanden von der ma-
mehr als 50 % die größte Patientenklientel schinellen Beatmung stellt ein wichtiges
innerhalb der außerklinischen Intensiv- Teilhabeziel dar, das durch eine Kombina-
pflege. Die Kosten der AKI werden auf bis tion von Intensivmedizin und rehabilitati-
zu 4 Milliarden Euro pro Jahr geschätzt. ven Interventionen in bis zu 90 % der Fälle
Trotzdem reichen in Deutschland die Bet- nach durchschnittlich zwei bis drei Wo-
tenkapazitäten für die Beatmungsentwöh- chen Weaningdauer erreicht werden kann.
nung nicht aus: 85% der Patienten werden Dem Entwöhnungsprozess sollte ein
in die AKI ohne vorherige Behandlung in standardisiertes Weaning-Protokoll zu-
einem spezialisierten Zentrum verlegt. grunde liegen, mit dem stufenweise ein
Dies hat mit nicht ausreichenden Behand- Ausbau der Spontanatmungsphasen er-
lungskapazitäten in der NNFR zu tun. Nach reicht werden kann. Den Besonderheiten
einer Untersuchung im Land Niedersach- des prolongierten Weanings in der NNFR
sen-Bremen erhielten nur 45 % aller für die hat die DGNR in einer eigenen Leitlinie
NNFR angemeldeten und lediglich 37 % Rechnung getragen. Die weitere konzep-
der beatmeten Patienten einen Behand- tionelle Verzahnung von Beatmungsent-
lungsplatz in ihrem eigenen Bundesland wöhnung und Dekanülierung hat das Po-
(Roesner et al. 2019). Dies sind beunruhi- tential, die Prozesse zu beschleunigen und
gende Zahlen, die auf nicht ausreichende die Komplikationsrate zu senken. Der Aus-
NNFR-Kapazitäten hinweisen. Mit dem und Fortbildung von auf Weaning speziali-
neuen Pflegestärkungsgesetz soll nun sierten Atmungstherapeuten und Logopä-
eine regelmäßige Reevaluation von AKI- den (und deren Interaktion) kommt eine
versorgten Patienten bezüglich Weaning- große Bedeutung für die qualitative Wei-
und Dekanülierungspotential auf den Weg terentwicklung von Weaning und Dekanü-
gebracht werden. Erfreulicherweise sind lierung zu.
auch bereits erste Studien, z.B. die „Opti-
NIV“- Studie (Optimierung der nachkli-
nischen Intensivversorgung bei neurolo-
gischen Patienten; www.optiniv.de), die
neue Diagnostik- und Behandlungspfa-
de an der Schnittstelle von stationärer,
neurorehabilitativer und AKI-Versorgung
untersucht, initiiert worden. Es ist davon
auszugehen, dass die Beatmungsentwöh-
nung im Rahmen der NNFR für diese Pro-
zesse in Zukunft eine wichtige, wenn nicht
sogar zentrale Rolle spielen wird. Quali-
tätssicherung und -verbesserung werden
dabei stetige Herausforderungen an die
NNFR sein, um einer möglichst großen
Zahl an beatmeten und kanülierten Pati-
enten ein Höchstmaß an Lebensqualität
und Teilhabe zu ermöglichen.
3 · Beatmungsentwöhnung in der neurologisch-neurochirurgischen Frührehabilitation 79

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81

4
Neurorehabilitation bei schwerer
Bewusstseinsstörung
Jürgen Herzog

4.1  nen pro Jahr angegeben wird (Gräsner et


Einleitung al. 2016). Auch bei den Reanimierten steigt
die Zahl der Patienten, die das Kranken-
Bewusstseinsstörungen sind häufi- haus mit eigener Herz-Kreislauf-Funktion
ge Begleitsymptome neurologischer Er- erreichen (25 %) bzw. die für mindestens
krankungen. Prolongierte, schwere Be- 30 Tage oder bis zur Krankenhausentlas-
wusstseinsstörungen (SBS) resultieren sung überlebt haben (33 – 50 %; Nielsen et
pathophysiologisch im Wesentlichen aus al. 2013; Gräsner et al. 2016). Mit der pan-
einer subtotalen Deafferenzierung korti­ demischen Ausbreitung von SARS-CoV2 ist
ko­thalamischer Netzwerke (Giacino et al. auch COVID-19 als mögliche Ursache von
2014). Da diese vorwiegend bei schwe- SBS in den Fokus gerückt. In der bislang
ren Hirnschädigungen auftritt, finden einzigen Untersuchung dazu zeigte sich in
sich SBS bei Patienten der neurologischen einer großen Kohorte eine Prävalenz von
(Früh-)Rehabilitation überzufällig häufig. 1 % für SBS und ein Wiedererlangen des
Die Bundesarbeitsgemeinschaft für Re- Bewusstseins bei allen Patienten nach ma-
habilitation (BAR 1999) definiert die SBS ximal 25 Tagen (Fischer et al. 2022).
(„Bewusstlosigkeit“) sogar als ein charak- Erfreulicherweise nimmt die Evidenz
teristisches Eingangskriterium der neuro- für Diagnostik, Therapie und Neurorehabi-
logischen Frührehabilitation (Phase B). litation von SBS stetig zu: Die Literaturda-
Aus ätiologischen Überlegungen her- tenbank PubMed verzeichnete zwischen
aus kann davon ausgegangen werden, dass 1990 und 2021 eine Versechsfachung der
die Prävalenz von SBS zukünftig weiter jährlichen Publikationen unter dem Such-
steigt. Immer mehr ältere Menschen zie- begriff „Chronische Bewusstseinsstörun-
hen sich schwere Schädel-Hirn-Traumen gen“. Auch die wissenschaftliche Güte der
(SHT, Iaccarino et al. 2018) durch Stürze Forschung wächst, z. B. durch randomi-
zu. Die Inzidenz ischämischer Schlagan- siert-kontrollierte oder prospektive Ko-
fälle und Hirnblutungen nimmt durch die hortenstudien. Diesem Trend wird eine
demographische Entwicklung zu, ebenso wachsende Zahl an nationalen und inter-
steigt die Neuerkrankungsrate schwerer nationalen Leitlinien gerecht. Die Euro­
Verläufe von Sepsis/septischem Schock pean Academy of Neurology (EAN) hat
bei gleichbleibend hoher Rate (ca. 35 %) an 2020 eine Leitlinie zum schwierigen Feld
resultierenden Pflegefällen (Stoller et al. der Diagnostik von SBS veröffentlicht
2016). Die bedeutsamste Ursache von SBS (Kondziella et al. 2020), gefolgt von evi-
stellt allerdings der Herzstillstand dar, des- denzbasierten Praxisempfehlungen der
sen Inzidenz mit 55 bis 113/100.000 Perso- Weltföderation Neurorehabilitation zur
82 J. Herzog

Dia­gnostik und Behandlung von SBS (Pis- Statuserhebung und Verlaufsbeurteilung


tarini u. Maggioni 2021). In Deutschland geeignet sind. Auf die Rolle paraklinischer
existiert seit 2018 eine S1-Leitlinie der DGN bzw. apparativer Zusatzdiagnostik zur Be-
für die hypoxisch-ischämische Enzepha- urteilung der Hirnschädigung und zur
lopathie (HIE) nach Herz-Kreislauf-Re- Prognoseabschätzung wird ebenso einge-
animationen im Erwachsenenalter, die in gangen. Therapieverfahren zur Neurore-
Überarbeitung ist. Gegenwärtig erarbeitet habilitation werden vorgestellt. Abschlie-
ein Konsortium von Experten zahlreicher ßend werden die bislang vorliegenden
Fachverbände eine S3-Leitlinie zur „Neu- Erkenntnisse zum mittel- und langfristigen
rologischen Rehabilitation bei Koma und Erkrankungsverlauf dieser Patienten zu-
schweren Bewusstseinsstörungen“, die im sammengefasst.
Laufe des Jahres 2022 publiziert werden
soll (AWMF 2019). Damit wird erstmalig
eine deutschsprachige, breit konsentierte 4.2
Bewertung von Interventionen, die zu ei-
Klinische Syndrome schwerer
ner Verbesserung des Bewusstseins füh-
Bewusstseinsstörungen
ren, zur Verfügung stehen.
SBS stellen alle in der Neurorehabilita- Bewusstsein wird von zwei Domänen be-
tion Tätigen vor besondere Herausforde- stimmt: einerseits der Wachheit („wake-
rungen: Viele gängige Rehabilitationskon- fulness“) oder zumindest Erweckbarkeit
zepte, die auf den Prinzipien des „Lernens“ („arousal“), äußerlich durch das Öffnen
fußen, greifen bei diesen Patienten aus der Augen markiert. In der funktionellen
nachvollziehbaren Gründen nicht. Der Kernspintomographie (fMRT) wird dieser
hohe Abhängigkeitsgrad bewusstseinsge- Zustand als „default mode“ charakterisiert,
störter Patienten von pflegerischer und einem Ruhezustand ohne erkennbare
therapeutischer Unterstützung ist ressour- geistige oder körperliche Aktivität entspre-
cenintensiv. Die emotionale Belastung chend (Soddu et al. 2012), der auch bei
durch Unkenntnis und Unsicherheiten geschlossenen Augen erreicht sein kann.
über den Bewusstseins- bzw. Bewusst- Wachheit setzt physiologisch ein intaktes
heitsgrad ist für Behandler und Angehöri- aufsteigendes Aktivierungssystem (ARAS)
ge gleichermaßen hoch. Und: nicht selten in der Formatio reticularis des Hirnstamms
überdauert die SBS das Ende der (statio- voraus (Posner et al. 2007). Die zweite Do-
nären) Rehabilitationsbehandlung. Die mäne umfasst die Bewusstheit („aware-
Frage, bei welchen Patienten überhaupt ness“), die ein komplexes und variables
im weiteren Verlauf mit einem Wiederer- Feld aus Gedanken und Gefühlen darstellt,
langen des Bewusstseins zu rechnen ist, mit denen der Mensch sich selbst oder die
berührt medizinethisch und sozioökono- Umwelt wahrnimmt bzw. willkürlich mit
misch relevante Grenzbereiche, für die es der Außenwelt in Interaktion treten kann.
bislang nur wenig rationalen Diskurs und Mit Bewusstsein wird die Annahme des ko-
nur insuffizient flächendeckende Struktu- gnitiven Zustands verbunden, dass die be-
ren gibt. treffende Person erfährt und bemerkt, dass
Der folgende Beitrag soll deshalb – un- sie von ihrer Umwelt und anderen Perso-
ter Berücksichtigung der aktuellen Evidenz nen distinkt (unterschieden) ist (Cleere-
– die wichtigsten Aspekte im klinischen mans et al. 2020). Bewusstheit liegt nach
Umgang mit SBS zusammenfassen. Ausge- heutigem klinischem Verständnis dann
hend von den klinischen Syndromen und vor, wenn das Individuum reproduzierbar,
der interdisziplinären Befunderhebung zielgerichtet und länger andauernd auf
werden Assessments dargestellt, die zur Reize reagieren kann. Es wird mehrheit-
4 · Neurorehabilitation bei schwerer Bewusstseinsstörung 83

lich davon ausgegangen, dass Bewusst- können. Schmerzreize sollten deshalb im-
heit nicht streng kategorial, sondern als mer auch „zentral“, im Versorgungsgebiet
Kontinuum in unterschiedlichen Nuancen des N. trigeminus, appliziert werden, bei-
vorliegen kann. Neurophysiologisch wird spielsweise durch Kompression der Na-
Bewusstheit vor allem in thalamo-striato- senwurzel oder -scheidewand. Erst bei
kortikalen Netzwerken („mesocircuit mo- dann völlig ausbleibender Reaktionslo-
del“; Schiff 2010) generiert. Im Sinne der sigkeit kann von einem Koma gesprochen
Kognition könnte Bewusstsein Meta-Re- werden.
präsentationen beinhalten, also Repräsen-
tationen zweiter Ordnung über andere pri- 4.2.2
märe Repräsentationen, welche deren Art, Syndrom reaktionsloser Wachheit
ihre Glaubwürdigkeit, ihre emotionale Be- („unresponsive wakefulness syndrome“)
deutung und die Zugehörigkeit zu „Agen-
ten“ (inklusive der eigenen Person) cha- Nach schweren Hirnschädigungen (z. B.
rakterisieren (Cleeremans et al. 2020). Schlaganfällen, Hirnblutungen, SHT, HIE)
kann ein Koma in einen Zustand mit in-
4.2.1 termittierend geöffneten Augen (Wach-
Koma heit) übergehen, ohne dass Bewusstsein
(„awareness“) oder Kontaktfähigkeit ent-
Die schwerste Form einer Bewusstseins- stehen. Ein Schlaf-wach-Rhythmus ist er-
störung ist das Koma. Solche (überwiegend halten. Lautäußerungen, kurze, nicht re-
auf Intensivstationen behandelten) Pati- gelhaft gerichtete Augenbewegungen,
enten öffnen die Augen trotz beendeter Grimassieren auf Schmerzreize sowie kur-
Analgosedierung nicht, sind nicht kontakt- ze Kopf- oder Augenbewegungen in Rich-
fähig und zeigen keine Reaktion auf exter- tung akustischer oder visueller Stimuli bei
ne Stimuli. Wachheit und Bewusstheit sind ansonsten nicht responsiven Patienten
also nicht vorhanden. In der klinischen sind mit diesem Syndrom vereinbar (Ber-
Untersuchung zeigen diese Patienten in- nat et al. 2006). Dieser Zustand wurde im
folge der begleitenden Hirnstammschädi- Englischen als „vegetative state“ (VS), aktu-
gungen häufig ein- oder beidseitige Aus- eller als „unresponsive wakefulness syndro-
fälle der Hirnstammreflexe, die sorgfältig me“ (UWS; Laureys et al. 2010) bezeichnet.
untersucht werden sollten (u. a. Pupillen- Im deutschsprachigen Raum sollte analog
reflex mit fehlender Lichtreagibilität oder „Syndrom reaktionsloser Wachheit“ (SRW)
Anisokorie, vestibulookulärer Reflex mit statt der älteren Bezeichnungen „Wachko-
„Puppenkopfphänomen“, Korneal-, Hus- ma“ oder „Apallisches Syndrom“ verwen-
ten- und Würgreflex). Stattdessen finden det werden. Die in der klinischen Praxis
sich oft Primitivreflexe. Bei ausgedehnter noch geläufige Einteilung, ausbleibendes
Hirnstammschädigung ist das Atemzen­ Bewusstsein einen Monat nach einer Hirn-
trum betroffen und eine suffiziente Eigen- schädigung als persistierenden und drei
atmung nicht möglich. Bei Komapatienten (bei nicht traumatischer) bzw. zwölf Mo-
sollte – wie im Übrigen bei allen Patienten nate (bei traumatischer Genese) als per-
mit SBS – die Prüfung der Schmerzreagibi- manenten vegetativen Status zu klassifizie-
lität nicht auf die Extremitäten beschränkt ren (The Multi-Society Task Force on PVS
werden, da bei diesen Läsionsmustern oft 1994), ist mittlerweile überholt.
ausgedehnte Schädigungen schmerzlei-
tender Bahnsysteme von den Extremitä-
ten (Tractus spinothalamicus) vorliegen
und falsch negative Befunde vorspiegeln
84 J. Herzog

4.2.3 A. basilaris oder einer Ponsblutung) durch


Minimal responsives Syndrom eine fast vollständige De-Efferenzierung
(„minimally conscious state“) des Gehirns. Ein entsprechendes Läsions­
muster in der Bildgebung sollte daher
Wenn Patienten im Verlauf Verhalten zei- frühzeitig an ein LIS denken lassen. Von
gen, das auf eine bewusste Umweltwahr- der Willkürmotorik ist einzig die im Mittel-
nehmung hindeutet, erreichen sie den hirn lokalisierte Fähigkeit zu horizontalen
„minimally conscious state“ (MCS). Im oder vertikalen Blickbewegungen erhal-
Deutschen haben sich die Begrifflich- ten. Da das Bewusstsein und höhere Hirn-
keiten „Minimal responsives Syndrom“ leistungen vollständig erhalten sind, kann
oder „Syndrom minimalen Bewusstseins“ mithilfe dieser Blickbewegungen ein effi-
(SMB) eingebürgert. Im SMB sind die Pa- zienter Kommunikationscode aufgebaut
tienten wiederholt, aber unregelmäßig in werden. Explizite Kommunikationsversu-
der Lage, einfache Verhaltensmuster (z. B. che über vertikale Augenbewegungen bei
Blickfixation und Blickfolgebewegungen) der (zeitaufwendigen!) klinischen Unter-
abzurufen (überwiegend reflektorisch) suchung, eine MRT des Hirnstamms und
bzw. einfache verbale oder gestische Auf- die gute Reagibilität des EEG auf externe
forderungen zu befolgen. Sogar einfache Reize sollten dazu beitragen, Fehldiagno-
sprachliche Äußerungen oder ein Ja-/ sen zu vermeiden.
Nein-Code für einfache Fragen sind mit Fortschritte in der bildgebenden und
der Diagnose noch vereinbar. Klinische elektrophysiologischen Diagnostik haben
Studien haben unterschiedliche Hirnakti- dazu geführt, auch das LIS als Endpunkt ei-
vitätsmuster, aber auch unterschiedliche nes „Kontinuums“ zu interpretieren (siehe
Prognosen für diese beiden Syndrome er- Abb. 4.1): Eine relevante Zahl von Patienten
geben, sodass eine Differenzierung zwi- hat nach einer schweren (z. B. auch korti-
schen SMB plus (mit basaler Sprache und kalen oder subkortikalen) Hirnschädigung
Sprachverständnis) und SMB minus (ohne keine SBS im engeren Sinne mehr, ist je-
Sprache) empfohlen wird (Thibaut et al. doch aufgrund motorischer oder sprach-
2020). licher Defizite durch Verhaltensbeobach-
Sobald Patienten funktionell kommuni- tungen allein von einem UWS oder MCS
zieren oder funktionell Objekte gebrauchen nicht unterscheidbar. Für dieses Syndrom
können, gilt das SMB als überwunden. hat sich mittlerweile der Begriff der kogni-
tiv-motorischen Dissoziation („cognitive-
4.2.4 motor dissociation“, Schiff 2015) etabliert.
Locked-in-Syndrom
4.2.5
Beim Locked-in-Syndrom (LIS; Posner et Akinetischer Mutismus
al. 2007) liegt per definitionem keine Be-
wusstseinsstörung vor. Die Erwähnung Beim akinetischen Mutismus handelt es
dieses Syndroms im Kontext von SBS ist sich ebenfalls nicht um eine Bewusstseins-
durch die frappierende Ähnlichkeit der äu- störung im engeren Sinne, sondern um
ßerlich sichtbaren klinischen Symptome eine schwere Störung des Antriebs. Die Pa-
bedingt: Patienten im LIS liegen mit geöff- tienten sind wach, bewegen sich trotz feh-
neten Augen und (scheinbar) ohne jegli- lender Paresen kaum oder gar nicht, spre-
che Willkürmotorik im Bett. Ätiopatholo- chen nicht (Mutismus) und sind affektiv
gisch resultiert das LIS aus ausgedehnten nicht schwingungsfähig. Es ist umstritten,
Hirnstammschädigungen (z.  B. infolge wie stark bei diesen Patienten Wahrneh-
Thrombose des mittleren Abschnitts der mung und Gedächtnis beeinträchtigt sind,
4 · Neurorehabilitation bei schwerer Bewusstseinsstörung 85

Inkompl.
Kompl. Locked-in- Volle
Locked-in- Syndrom Erholung
Syndrom (LIS)
(LIS)
e
rat g
de run
Exekutiv- Mo inde
Kognitive Funktion

funktionen h
Be
motorische
Dissoziation
re
we ung
Kognitiv

Autobiograph. Sch nder


Gedächtnis h i
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Sprache Syndrom* Mi uss m+
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Wahrnehmung be yndr S-)
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los (UW
Koma

Reflexe Nicht- Befolgen Kommunikation


reflektorisch verbaler
Aufforderungen

Motorische Funktion

Abb. 4.1: Motorische und kognitive Entwicklung nach schweren Hirnverletzungen


Rote Kacheln stellen Patienten ohne Bewusstsein dar, die lediglich Reflexbewegungen aufweisen (Koma und
UWS). Blaue Kacheln repräsentieren Patienten im MCS (MCS minus und MCS plus, abhängig von sprachlichen
Fähigkeiten). Sobald funktionelle Kommunikation möglich ist (gelbe Kacheln), verlassen Patienten das MCS und
gehen in einen Verwirrtheitszustand, eine schwere oder moderate Behinderung über, bevor die volle Erholung
stattgefunden hat (dunkelgrüne Kachel). Eine Dissoziation zwischen motorischen und kognitiven Funktionen
kennzeichnet das Locked-in-Syndrom (hellgrüne Kachel), die kognitiv motorische Dissoziation (violette Kachel)
und das MCS* (dunkelblaue Kachel). In seltenen Fällen ergibt sich die Diagnose eines kompletten Locked-in-
Syndroms (lila Kachel) aus bildgebenden Untersuchungen. Der Farbumschlag von dunkel nach hell entlang der
beiden Achsen stellt die kontinuierliche Verbesserung des (motorischen und kognitiven) Verhaltens dar (modifi-
ziert nach Thibaut 2019).

allerdings sind alle kognitiven Leistungen Kohortenstudien zeigen, dass im kli-


stark verlangsamt. Ursächlich liegt eine nischen Alltag bei SBS die sichere Diag-
(beidseitige) Schädigung des Frontalhirns, nosestellung alles andere als einfach ist.
des Gyrus cinguli oder des Diencephalons Die Rate an Fehldiagnosen liegt beim SRW
vor, z. B. bei SHT, Schlaganfällen oder Li- zwischen 37 – 43 % (Schnakers et al. 2009),
quorzirkulationsstörungen (Hydrocepha- fast die Hälfte dieser Patienten wird also
lus). Das Syndrom findet sich nicht selten zu Unrecht als „apallisch“ eingestuft! Die
auch im Spätstadium neurodegenerativer Konsequenzen dieser Fehleinschätzung
Erkrankungen wie der Demenz vom Alz- sind fatal, da Patienten im SMB mögli-
heimer-Typ, der Creutzfeld-Jakob-Erkran- cherweise unter der Verkennung ihres Zu-
kung oder beim Morbus Parkinson. stands leiden oder im Extremfall sogar ver-
Eine Zusammenfassung der wichtigs- früht einer Palliativbehandlung zugeführt
ten klinischen Stadien von SBS und deren werden.
Entwicklung im Verlauf zeigt Abbildung 4.1.
86 J. Herzog

Technische Zusatzuntersuchungen bei Arztvisiten, pflegerischen Tätigkeiten


(s. u.) zur Erfassung des Bewusstseinszu- oder Funktionstherapien hinausgehen.
stands erlangen deshalb wachsende Be- Bei den standardisierten Assessments
deutung. Die Europäische Leitlinie (Kond- erlauben aus methodischen Gründen we-
ziella et al. 2020) empfiehlt wiederholte der die „Glasgow coma scale“ (GCS) noch
und multimodale Diagnostik, in die ver- die Koma-Remissions-Skala (KRS) eine ope-
stärkt auch bildgebende und elektrophy- rationalisierte Unterscheidung zwischen
siologische Parameter integriert werden. SRW und SMB. Nach der EAN-Leitlinie
Ein systematischer Ausschluss von kom- stellt die revidierte Version der „Coma Reco-
promittierenden Störungen der sensori- very Scale“ (CRS-R; Giacino et al. 2004) den
schen Afferenzen (z. B. Polyneuropathie, Goldstandard unter den Testmethoden zur
Myelopathien, sensorische Aphasien, Objektivierung der Bewusstseinslage dar.
kortikale Blindheit, Hörstörungen), mo- Sie liegt auch in einer autorisierten deut-
torischer Efferenzen (z. B. Myelopathien, schen Version vor (Maurer-Karrattup et al.
Myopathien, motorische Aphasien, Hirn- 2010). Die CRS-R besteht aus einem Unter-
nervenausfällen) oder eines nicht-konvul- suchungsbogen (6 verschiedene Modalitä-
siven Status epilepticus ist somit bei allen ten) und einem Manual für die Erhebung
Patienten mit Verhaltensmustern einer und Auswertung der Daten. Die CRS-R ist
SBS erforderlich (Pincherle et al. 2021). für geübte Anwender valide, reliabel und
Die gegenwärtig stärkste Evidenz für mit einem Zeitaufwand von ca. 30 Minuten
die Quantifizierung von Bewusstsein und pro Untersuchung auch ökonomisch. Ab-
zur Verlaufsbeobachtung in der Neurore- hängig von Ressourcen und Behandlungs-
habilitation bieten standardisierte Unter- zeitpunkt wird die CRS-R in Abständen
suchungsbedingungen (Assessments). von ein bis 14 Tagen wiederholt. Sie eignet
Entsprechend empfiehlt die Weltfödera- sich am ehesten für neurologische Früh­
tion Neurorehabilitation (WFNR) primär rehabilitationseinrichtungen. Ein CRS-R-
die Nutzung validierter klinischer Assess- Wert ≥ 6 bei Eintritt in die Frührehabilita-
ment-Skalen zur Erfassung von SBS, die tion gilt als unabhängiger Prädiktor für ein
durch apparative Diagnostik ergänzt wer- gutes Outcome.
den können (Pistarini u. Maggioni 2021). Das Problem des verhältnismäßig ho-
hen Zeitaufwands der CRS-R adressiert mit
dem SECONDs („Simplified evaluation of
4.3 CONsciousness Disorders“) ein von der welt-
weit führenden Forschungsgruppe zu SBS
Assessments bei schweren
neu entwickelter Test mit acht Items. In ei-
Bewusstseinsstörungen
ner Pilotstudie an 57 Patienten mit SBS zeig-
Bewusstsein kann nicht direkt beobach- ten sich im Vergleich zur CRS-R hohe Kon-
tet werden, sondern muss aus einer Ver- kordanzraten in der korrekten Erfassung
haltensbeobachtung interpretiert werden. des Bewusstseinsgrads bei Testdauern von
Bewusstes Verhalten wird im klinischen nur zwölf Minuten (Aubinet et al. 2021). Ob
Alltag oft nicht wahrgenommen. Während sich SECONDs gegenüber der CRS-R be-
Angehörige oft reflektorische Verhaltens- haupten kann, muss an größeren Patienten-
weisen als „bewusst“ interpretieren, nei- kollektiven verifiziert werden.
gen Ärzte und Therapeuten eher zu nega- Auch wenn nicht von allen deutsch-
tivistischen Bewertungen (Schnakers et al. sprachige Versionen vorliegen, können
2009). Eine Verhaltensbeobachtung muss folgende Assessments mit kleineren Ein-
deshalb systematisch und strukturiert sein schränkungen ebenso empfohlen werden
und über „stichprobenartige Eindrücke“ (Porcaro et al. 2022):
4 · Neurorehabilitation bei schwerer Bewusstseinsstörung 87

Q „Sensory modality assessment and re- se Skala ist gegenwärtig nur auf Englisch
habilitation technique“ (SMART) publiziert.
Q „Sensory stimulation assessment mea- Die „Nociception Coma Scale“ (NCS,
sure“ (SSAM) Schnakers et al. 2010) schließlich nutzt
Q „Western neuro sensory stimulation die Wahrnehmung von Schmerzreizen zur
profile“ (WNSSP) Quantifizierung der Bewusstseinsstörung.
Q „Wessex head injury matrix“ (WHIM) Eine aktuelle Untersuchung an 43 Patien-
Q „Sensory tool to assess responsiveness“ ten im UWS demonstrierte eine der CRS-
(STAR) R vergleichbare Sensitivität und Spezifität,
detektierte den Übergang zum SRW jedoch
Bei all diesen Testverfahren sollte die Be- bei 13 Patienten früher als die CRS-R (Cor-
wertung sprachrelevanter Fähigkeiten ex- tese et al. 2021).
plizit berücksichtigt werden. Ein systema-
tischer Review von 58 Studien an 2.278
Patienten zeigte den Zusammenhang ei- 4.4
ner besseren Erholung bei sprachkompe-
Prognosebeurteilung und apparative
tenten Patienten mit SBS ebenso auf wie
Zusatzdiagnostik
eine systematische „Untererfassung“ von
Sprachfähigkeiten, die umso ausgeprägter Vor dem Hintergrund prolongierter oder
ist, je schwerer die Bewusstseinsstörung ist dauerhafter motorischer und kognitiver
(Aubinet et al. 2022). Defizite fällt bei SBS der Prognosestellung
Insbesondere für Intensivstationen schon in der frühen Krankheitsphase eine
empfiehlt sich der „full outline of unres- wichtige, aber umstrittene Rolle zu. Die
ponsiveness score“ (FOUR; Wijdicks et al. Langzeitprognose ist ethisch insbesondere
2005), da mit ihm auch endotracheal intu- dann kritisch, wenn die Erwartung irrever-
bierte Patienten untersucht werden kön- sibler Bewusstseinsstörungen bereits in-
nen (verbale Reaktionen werden nicht nerhalb der ersten Tage und Wochen nach
erhoben). Vier Domänen (Augenöffnen, der Hirnschädigung potenziell therapie-
motorische Antworten, Hirnstammrefle- limitierende/palliative Maßnahmen nach
xe, Atmung) werden bewertet, die zu ei- sich zieht.
nem Summenscore von max. 16 Punkten
führen. Der Score ist auch ohne aufwen- 4.4.1
dige Schulungsmaßnahmen leicht an- Prädiktoren ungünstiger Verläufe
wendbar. Er eignet sich insbesondere für
die Post­akutphase schwerer Hirnschädi- Grundsätzlich sollen prognostische Aus-
gungen, da er durch seine schnelle Durch- sagen in der Frühphase immer in der Zu-
führbarkeit innerhalb von wenigen Mi- sammenschau des klinisch-neurologi-
nuten ggf. mehrfach täglich angewendet schen Befundes, elektrophysiologischer
werden kann. (somatosensibel evozierte Potenziale des
Das „Motor behaviour tool-revised“ N. medianus [SSEP] und Elektroenzepha-
(MBT-r, Pincherle et al. 2019) stellt eine Er- lographie [EEG], vgl. auch Abb. 4.2), bio-
gänzung zur CRS-R dar, mit der aus mo- chemischer (Serumkonzentration der
torischen Verhaltensmustern auf das Vor- Neuronenspezifischen Enolase [NSE]) und
handensein kognitiver Residuen bei SBS bildgebender Parameter (Computertomo-
geschlossen werden kann. Damit soll grafie [cCT] oder Kernspintomographie
dem Dilemma eines LIS oder einer CMD [MRT]) getroffen werden. Die deutsche
als „vermeintlicher“ Bewusstseinsstörung Leitlinie schlägt hierzu einen prognosti-
standardisiert begegnet werden. Auch die- schen Algorithmus für alle Patienten mit
88 J. Herzog

Abb. 4.2: Prädiktoren für einen ungünstigen Verlauf


Als elektrophysiologisch mögliche Marker für ein schlechtes neurologisches Outcome gelten bei der hypoxisch-
ischämischen Enzephalopathie u. a. das Fehlen der kortikalen N20-Amplituden der somatosensorisch evozierten
Potenziale (SSEP: Abb. links, s. Pfeile) oder der Nachweis eines sog. „burst-suppression“-Musters im EEG (Abb.
rechts) nach (modifiziert nach Mader et al. 2014)  

einer HIE vor, die innerhalb der ersten 72 rung des (aufgehobenen) Kontrasts (GWR)
Stunden nicht wach und kontaktfähig ge- zwischen grauer und weißer Substanz bei
worden sind (Abb. 4.3 ). Mindestens drei ausgeprägtem Hirnödem im cCT korreliert
der o. g. fünf diagnostischen Methoden stark mit einem schlechten Outcome, weist
sollten unter Beachtung spezifischer Stör- aber eine niedrige Sensitivität auf (Lee et
faktoren angewendet und ggf. nach sieben al. 2016). Im MRT korrelieren ausgedehnte
Tagen wiederholt werden. Diffusionsstörungen (DWI) im Cortex und
Bei HIE gelten bislang als Prädiktoren in den Basalganglien mit einer schlechten
für ungünstige Verläufe: Prognose (Hirsch et al. 2016), dasselbe gilt
Q Fehlende Hirnstammreflexe (Pupillen- bei der HIE für okzipital betonte Schädi-
reaktion, Kornealreflex) nach Tag 3 gungsmuster (Snider et al. 2022). MRT-
Q Beidseits fehlende kortikale Reizant- Ergebnisse beeinflussen jetzt schon in
worten (N20-Amplituden) der SSEP erheblichem Umfang unterschiedliche Be-
Q „Maligne“ EEG-Veränderungen im Sin- handlungsschritte, vor allem in der Akut-
ne einer fehlenden Reagibilität auf Au- phase (z. B. auf Intensivstationen). Bei 76 %
ßenreize, eines „Burst Suppression“- der Patienten (insbesondere bei SBS nach
Musters oder eines niedergespannten Schlaganfällen) ändert sich das klinische
EEGs mit Amplituden < 20 µV Management durch MRT-Befunde, darun-
Q Erhöhung der NSE auf Werte > 50 µg/l ter die Diagnose (20 %), die diagnostische
Sicherheit (43 %) oder die Prognose (33 %;
Für die HIE besteht heute im Hinblick auf Albrechtsen et al. 2022).
o. g. Marker ausreichende Evidenz, um die Da nicht wenige Patienten mit SBS
methodischen Kritikpunkte älterer Studien nach der (intensivmedizinischen) Akut-
(siehe Abschnitt 4.6) zu entkräften. behandlung erstmalig in der Frührehabili-
Die geringste Evidenz zur Prognose- tation Kontakt mit einem Neurologen ha-
abschätzung existiert derzeit (noch) für ben, sollte die Einordnung des klinischen
bildgebende Verfahren: Die Quantifizie- Syndroms und die apparative Zusatzdia­
4 · Neurorehabilitation bei schwerer Bewusstseinsstörung 89

Neurologische Untersuchung
Tag 3 (möglichst ohne Sedierung oder Muskelrelaxation)
J cCT, evtl.
Fokale Zeichen? Klinische Zeichen des Hirntods? Hirntoddiagnostik

Multimodale Diagnostik (mind. 3 von 5)


Pupillen ohne LR?; NSE >90  µg/I?; SEP: N20 bds. fehlend?; EEG: „hoch mali-
gne”?; CCT / MRT:Zeichen der schweren HIE?
(spezifische Störfaktoren beachten!)

0 positiv 1–2 positiv ≥ 3 positiv

EEG: kontinuierlich reaktiv oder


NSE > 17 µg/I oder
SSEP > 2,5 µV
J N
sehr schwere HIE Prognose sehr Prognose
Prognose offen wahrscheinlich
unwahrscheinlich schlecht infaust

Tag 7 Neurologische Untersuchung: Besserung?

N
Wh. SEP / EEG / cCT / cMRT:
J Hinweise für schweren hypoxischen Hirnschaden?
N J
Therapie Therapie
Therapie fortsetzen begrenzung begrenzung
diskutieren empfehlen

Abb. 4.3: Prognose-Algorithmus bei hypoxisch-ischämischer Enzephalopathie (nach DGN-Leitlinie „HIE im Er-
wachsenenalter“, 2018); J Ja, N nein  

gnostik (empfohlen: EEG und SSEP, Bild- Q Normwertige Spiegel der NSE (< 17 g/
gebung) ebendort erfolgen, auch wenn die ml) nach 72 h
prognostische Wertigkeit der Befunde in Q Fehlen jeglicher DWI-Läsionen in der
der Postakutphase mehrere Wochen nach cMRT
der Hirnschädigung wissenschaftlich nur
unzureichend untersucht ist. Beidseits erhaltene SSEP-Amplituden gel-
ten mittlerweile auch sechs bis acht Wo-
4.4.2 chen nach der Hirnschädigung als ver-
Prädiktoren günstiger Verläufe lässlicher Marker für ein Wiedererlangen
des Bewusstseins nach UWS, die Ampli-
Folgende Befunde gelten bei der HIE als tudenhöhe korreliert dabei mit den CRS-R
Prädiktoren für günstige Verläufe (oder Werten nach sechs bzw. zwölf Monaten im
sprechen zumindest gegen das Vorliegen Langzeitverlauf (Bagnato et al. 2021). Bei
einer schweren HIE): Patienten, die sich in neurorehabilitativer
Q Kontinuierliche Hintergrundaktivität Behandlung befinden, gelten ein jüngeres
und erhaltene Reaktivität im EEG Alter (<40 Jahre) und höhere Werte auf der
Q Hohe N20-Amplituden (> 2,5 µV) der „coma recovery scale“ (CRS-R) als verläss-
SSEP liche Marker für das Wiedererlangen des
90 J. Herzog

Bewusstseins innerhalb von 24 Monaten. jetzt minimales Bewusstsein (SMB) mit ei-
Dies wurde zwischenzeitlich unabhängig ner Sensitivität von 90 % bei einer Spezifität
von der Ätiologie in mehreren Kollektiven von 80 % detektieren und ist verhältnismä-
bestätigt (Estraneo et al. 2019; Boltzmann ßig wenig aufwendig, die fMRT birgt durch
et al. 2021). Umgekehrt haben Patienten die Kombination aus strukturellen und
im SMB eine etwa 3,4-fach höhere Wahr- funktionellen Daten vermutlich das größ-
scheinlichkeit, nach fünf Jahren das Be- te Zukunftspotenzial. Die Kombination
wusstsein wiedererlangt zu haben, als Pa- verschiedener Methoden ist naheliegend,
tienten im SRW (Luaute et al. 2010) – dies liefert für den einzelnen Patienten jedoch
unterstreicht, wie wichtig eine exakte Zu- häufig noch disparate Ergebnisse.
ordnung des klinischen Syndroms für die
Beratung von Angehörigen und für den
verantwortlichen therapeutischen Res- 4.5
sourceneinsatz ist.
Rehabilitative Behandlung von
Auch die Ätiologie der Hirnschädigung
schweren Bewusstseinsstörungen
hat eine prognostische Bedeutung für den
Langzeitverlauf der SBS: Von 50 Patienten 4.5.1
mit einem SRW/SMB, die spät (12 Mona- Rehabilitative Funktionstherapien
te oder später) das Bewusstsein wieder-
erlangten, litten 33,3 % an einem SHT, Die Rehabilitation von Patienten mit SBS
21,4 % an einer HIE und nur 5,4 % an ei- erfolgt unabhängig von der zugrunde lie-
ner intrakraniellen Blutung (Estraneo et al. genden Ätiologie und fand bislang auf ei-
2010). ner geringen oder fehlenden Evidenz-
basis statt. Die entstehende S3-Leitlinie
4.4.3 „Neurologische Rehabilitation bei Koma
„Potenzielle“ Prognosemarker und schwerer Bewusstseinsstörung im Er-
wachsenenalter“ bewertet aktuell den For-
Porcaro et al. (2022) identifizierten in einer schungsstand zu Interventionen aus sechs
systematischen Literatursuche insgesamt Bereichen (u. a. Medikamente, Therapien,
55 klinische Studien mit 2.740 SRW-, bzw. sensorische Stimulation etc.). Trotz niedri-
SMB-Patienten die mit folgenden Techni- gen Evidenzgrades besteht in dieser Leitli-
ken untersucht wurden: nie (wie auch in den Praxisempfehlungen
Q Positronenemissionstomographie (PET) der WFNR) eine starke Expertenempfeh-
Q Funktionelle Kernspintomographie lung, dass eine multiprofessionelle neu-
(fMRT) rologische Rehabilitation bei Patienten
Q Quantitative EEG-Verfahren (automa- mit SBS durchgeführt werden sollte. An-
tisierte Analysen von EEG-Charakte- gesichts der diagnostischen und prognos-
ristika) tischen Unsicherheiten ist davon auszu-
Q Ereigniskorrelierte kognitive Potenzia- gehen, dass einem relevanten Anteil von
le („event-related potentials“, ERP) Patienten durch „vorschnelle“ Entschei-
Q Simultane EEG-Ableitung unter trans- dungen zu einer Therapielimitierung im
kranieller Magnetstimulation (rTMS – Akutkrankenhaus eine möglicherweise
EEG) sinnvolle Frührehabilitation vorenthal-
ten wird. Dieses Dilemma der selbst er-
Keine dieser Methoden ist gegenwär- füllenden Vorhersage (fälschliche Annah-
tig den anderen eindeutig überlegen, alle me einer ungünstigen Prognose → Entzug
sind noch nicht in der klinischen Routine indizierter Behandlungsmaßnahmen →
verfügbar. Quantitatives EEG kann bereits Outcome „fälschlich“ ungünstig) bestimmt
4 · Neurorehabilitation bei schwerer Bewusstseinsstörung 91

auch immer noch einen Teil der vorliegen- verbesserten Werten auf Komaskalen füh-
den Literatur zum Thema. ren (Megha et al. 2013; Pape et al. 2015),
Die Mobilisation in eine vertikale Po- sodass eine starke Empfehlung zur Anwen-
sition von Rumpf (Sitz) oder gesamtem dung gegeben wird.
Körper (Stand) sollte so früh und so oft wie Musiktherapie bewirkt bei Bewusst-
möglich angestrebt werden. Neben den seinsstörungen unterschiedliche Effekte
erhofften physiologischen Auswirkungen, auf klinische Zielsymptome oder auf die
wie die Reduktion orthostatischer Effekte Konnektivität des Gehirns (Boltzmann et
und die Prophylaxe von Atelektasen und al. 2021). Die Evidenz für die Wirksamkeit
von Osteoporose, ist insbesondere die ist moderat, die Anwendung wird deshalb
Verbesserung der Wachheit durch diese im Kontext einer interdisziplinären Reha-
Behandlung evidenzbasiert (Frazzitta et bilitation von der neuen Leitlinie empfoh-
al. 2016). Meist werden, in serieller Ab- len. Keine spezifische Musiktherapieform
folge, Sitzbett mit Lagerungshilfsmitteln, hat sich bislang als überlegen bewiesen
Mobilisierung an die Bettkante mit zwei (Übersicht bei Schnakers et al. 2016).
Therapeuten und Mobilisierung in den In der Pflegetherapie werden die basa-
Multifunktionsrollstuhl durchgeführt. le Stimulation nach Bienstein und Fröhlich
Ebenso ist die Mobilisierung in ein Steh- als pädagogisches Förderkonzept, Kinäs-
pult üblich. Zunehmend werden bewusst- thetik als Lern- und Bewegungskonzept,
seinsgestörte Patienten auch mit Gangro- die Lagerung in Neutralstellung (LiN) und
botern oder elektrischen Kippbrettern Elemente der Affolter- und Bobath-Thera-
mit zyklischen Beinbewegungen verti- pie eingesetzt. Lagerungsmaßnahmen ha-
kalisiert, wenngleich die Überlegenheit ben bei den meist hochgradig bewegungs-
dieser Geräte gegenüber konventioneller eingeschränkten Patienten zur Prophylaxe
Mobilisation noch nicht gezeigt werden von Dekubiti und Dystelektasen Bedeu-
konnte (Krewer et al. 2015). Erschwert tung, werden aber auch zur sensorischen
werden Vertikalisierungsbemühungen Stimulation genutzt. Bei der LiN werden
nicht selten durch gelenknahe Verkal- durch individualisiert geformte Hilfsmit-
kungen des Muskel-Weichteilgewebes tel die meisten Gelenke in Neutralstellung
(neurogene heterotope Ossifikationen), gelagert, wodurch das passive Bewegungs-
für die prospektiv eine Häufung auch bei ausmaß großer Gelenke signifikant verbes-
SBS gezeigt werden konnte (Estra­neo et sert werden kann (Pickenbrock 2015).
al. 2021). Sie treten insbesondere bei trau- Zur Förderung der Mundmotorik und
matischen Hirnschädigungen auf und des Schluckaktes ist die Therapie des fazi-
sind statistisch mit Spastik, Extremitäten- ooralen Traktes (F.O.T.T.®) nach Kay Coom-
frakturen und funktioneller Beeinträchti- bes weitverbreitet. Für deren Wirksamkeit
gung assoziiert. bei Patienten mit Bewusstseinsstörungen
Ebenfalls unter der Vorstellung einer liegen bislang keine Ergebnisse kontrol-
verstärkten Wahrnehmung und „Aktivie- lierter Studien vor (Seidl et al. 2007). Die
rung“ durch multisensorische (insbeson- Schluckstörung (Dysphagie) rückt jedoch
dere taktile, propriozeptive und auditive) verstärkt in den Fokus wissenschaftlicher
Stimulation werden Patienten multidiszi- Untersuchungen: In einer retrospektiven
plinär von Therapeuten mit intuitiv bzw. Analyse von 236 tracheotomierten Patien-
induktiv entwickelten Therapieverfahren ten mit SRW und SMB konnte der Zusam-
bestimmter Schulen (z. B. Therapie nach menhang zwischen der Dekanülierung mit
Affolter) behandelt. Insbesondere Stimuli, dem Grad der Bewusstsein eindeutig ge-
die einen hohen emotionalen bzw. auto- zeigt werden (Hakiki et al. 2020). Ein As-
biographischen Bezug haben, können zu sessment zur Dysphagie bei SBS wurde mit
92 J. Herzog

dem „SWallowing Assessment in Disorders Behandlungsoption gewertet (Pistarini u.


Of Consciousness“ (SWADOC, Mélotte et Maggioni 2021).
al. 2021) entwickelt. Eine multizentrische, Eine doppelblinde, randomisiert-pla-
prospektive Studie an 104 Patienten mit cebokontrollierte Untersuchung des GA-
SBS ist geplant, die Ergebnisse hierzu sind BA-Antagonisten Zolpidem an 85 Pati-
jedoch noch nicht veröffentlicht. enten im SRW/SMB jeweils mehr als vier
Monate nach der Hirnschädigung zeigte
4.5.2 bei vier Patienten (< 5 %) einen Zugewinn
Stimulationsverfahren von mindestens fünf Punkten auf der CRS-
R (Whyte 2014). Eine zweiphasige Studie
Die multimodalen Stimulationsverfahren (Beginn Open-Label, bei Verbesserung der
zur Förderung der Bewusstseinslage bei CRS-R nach Zolpidem-Einnahme Fortfüh-
SBS können medikamentös, nicht invasiv rung placebokontrolliert) mit 60 Patienten
oder invasiv erfolgen. im SRW/SMB zeigte bei zwölf Patienten
(20 %) Verhaltensverbesserungen (z. B. Ob-
4.5.2.1
jektlokalisation), aber bei keinem eine Än-
Medikamentöse Stimulation
derung der Syndromkategorie (Thonnard
Bei bewusstseinsgestörten Patienten wer- et al. 2013).
den häufig Medikamente „off-label“ un- Mehrere unkontrollierte Einzelfallbe-
ter der Annahme eingesetzt, dass die do- richte und kleine Fallserien von Patien-
paminerge, noradrenerge oder cholinerge ten mit SBS (z. B. Margetis 2014) berich-
Stimulation zur Besserung von Wach- ten nach Implantation einer Pumpe zur
heit und Reagibilität führen soll. Die bis- Spastiktherapie mit intrathekalem Baclo­
lang vorliegenden Studien sind jedoch bis fen eine Besserung der Wachheit und der
auf wenige Ausnahmen Einzelfallberich- Reaktivität in der CRS-R. Ein individueller
te oder nicht auf den primären Endpunkt Heilversuch kann aber ohne die Primärin-
Vigilanzsteigerung ausgerichtet gewesen dikation Spastik nicht empfohlen werden.
(Thibaut et al. 2019). Für andere Substanzen (z. B. Modafinil,
In einer multizentrischen randomi- Methylphenidat, L-Dopa, Midazolam, Zi-
sierten doppelblinden Studie wurde der conotid) liegen bislang keine ausreichen-
Einfluss von Amantadin-Hydrochlorid in ei- den Daten bei SBS vor. Eine methodisch
ner Dosis von 200 – 400 mg pro Tag auf die umstrittene, retrospektive Fall-Kohor-
funktionelle Erholung von 184 Patienten tenstudie wies nach Schädel-Hirn-Trau-
in der Postakutphase eines SHT mit SBS ma keine gegenüber dem Spontanverlauf
(SRW, SMB) über vier Wochen untersucht bessere Wirksamkeit von Modafinil oder
(Giacino et al. 2012). In der Verumgruppe Amantadin auf die Bewusstseinslage nach
kam es zu einer signifikant schnelleren Er- (Hintze et al. 2022).
holung funktioneller Defizite gemessen
4.5.2.2
mit der „disability rating scale“. Bewusst-
Nicht medikamentöse Stimulation
seinseffekte wurden in der Studie nicht
statistisch untersucht. Nebenwirkungen, Zur transkraniellen Gleichstromstimula-
insbesondere epileptische Anfälle, waren tion (tDCS) liegen bislang 15 methodisch
unter Verum nicht häufiger als unter Pla- höherwertige (Klasse II bis III) doppelblin-
cebo. Amantadin-Hydrochlorid ist das ein- de Studien an insgesamt 332 Patienten mit
zige für die Indikation „Vigilanzstörung“ SBS (113 SRW, 219 SMB) vor (Übersicht
zugelassene Medikament. Sein Einsatz zu bei Aloi et al. 2021). Die Effekte sind nicht
Beginn der Rehabilitation von SBS wird in zuletzt durch die gewählten Zielvariablen
den Praxisempfehlungen der WFNR als sehr heterogen, auf klinischer Ebene (z. B.
4 · Neurorehabilitation bei schwerer Bewusstseinsstörung 93

Verbesserung der CRS-R) profitierten vor 4.5.2.3


allem Patienten im SMB. Auch wenn die Invasive Stimulation
optimalen Stimulationsorte (präfrontal,
Motorcortex, Praecuneus) und -frequen- Für die elektrische Stimulation des zentra-
zen noch nicht bekannt sind, hat diese Me- len Thalamus durch tiefe Hirnstimulation
thode aufgrund der Effektstärken, der ein- (DBS) bzw. der Hinterstränge des Rücken-
fachen Anwendbarkeit bzw. des geringen marks (SCS) oder des N. vagus direkt lie-
Ressourcenverbrauchs therapeutisches gen bislang uneinheitliche Ergebnisse vor.
Zukunftspotenzial. Eine aktuelle Metaanalyse von 19 Publika-
Deutlich geringere Patientenzahlen tionen (78 Patienten) betont die methodi-
wurden bislang mit der methodisch auf- sche und ethische Problematik der DBS
wendigeren repetitiven transkraniellen und reserviert dieses Verfahren für Einzel-
Magnetstimulation des Cortex (rTMS) fälle (Vanhoecke et al. 2017). Die Wirksam-
untersucht. Drei doppelblinde Studien keit von SCS (und DBS) bei einer japani-
im Crossover-Design bei 27 Patienten (19 schen Kohorte von 107 Patienten mit SRW
SRW, 8 SMB) fanden nach Stimulation des und 21 Patienten mit SMB ist durch die re-
primären motorischen Cortex (M1) parak- trospektive Erhebung, die fehlende Rando-
linische Effekte (z. B. Beschleunigung der misierung und die kurze Beobachtungs-
Flussgeschwindigkeiten in der ipsilatera- dauer nicht belegt (Yamamoto et al. 2013).
len A. cerebri media), nicht jedoch solche
auf Verhalten oder die CRS-R (Übersicht
bei Thibaut et al. 2019). Ein optimaler Sti- 4.6
mulationsort für die rTMS ist noch nicht
Verläufe schwerer
definiert. Kombinationsverfahren (z.  B.
Bewusstseinsstörungen
rTMS plus Amantadin, rTMS plus Neurore-
habilitation) sind bislang nur in unkontrol- Nachgewiesenen Einfluss auf das Out-
lierten, kleinen Pilotstudien untersucht. come nach Reanimation hat das gewollte
An weiteren nicht invasiven Stimulati- Absenken der Körperkerntemperatur in
onsverfahren wurden bei SBS erprobt: der Akutphase. Die therapeutische Hypo-
Q Niedrig intenser, fokussierter Pulsfeld- thermie (TH) erhöht die Überlebenswahr-
ultraschall scheinlichkeit um 14 % (The Hypothermia
Q Transkutane, aurikuläre Stimulation after Cardiac Arrest Study Group 2002),
des N. vagus und rund 44 % der Überlebenden haben
Q Kalorische (vestibuläre) Stimulation ein sehr gutes bis gutes neurologisches
Q Sensorische Stimulation („familiar au- Outcome (mRS 0 – 2; Nielsen et al. 2013).
ditory sensory training“, FAST) Die optimale Temperatur (33° C vs. 36° C)
Q Elektrische Stimulation des N. media- und Dauer (24 h vs. 48 h) der TH sind noch
nus unklar (Kierkegaard et al. 2017).
Bei manifestem SRW und SMB ist die
Methodische Probleme im Studiendesign Prognose deutlich schlechter. Die Daten-
oder eine fehlende Wirksamkeit in (klei- lage zu (Langzeit-)Verläufen ist hier relativ
nen) randomisiert kontrollierten Studien heterogen, da nur ein Teil der Betroffenen
lassen derzeit keine eindeutige Empfeh- aufgrund einer ungünstigen Prognoseein-
lung einer solchen Methode zu. schätzung in der Postakutphase überhaupt
Rehabilitationsmaßnahmen erhält. Viele
ältere Studien zum Krankheitsverlauf wei-
sen gravierende methodische Mängel auf
(z. B. historische Kollektive ohne TH) und
94 J. Herzog

nur wenige Beobachtungen erstrecken al. 2021). Aufgrund der Studienhistorie


sich über Zeiträume von mehr als drei bis wurde der Grad der Bewusstseinsstörung
sechs Monaten. nicht mit der CRS-R erfasst. Bei Schädel-
In einer retrospektiven Analyse von 36 Hirn-Traumata sind Harnwegsinfektionen
Patienten, die bei Aufnahme zur stationä- die häufigsten, respiratorische Infektionen
ren Rehabilitationsbehandlung mindes- bzw. Erkrankungen der Leber und des obe-
tens vier Wochen im SRW oder SMB ge- ren Gastrointestinaltraktes die prognos-
wesen waren, überwanden 57 % innerhalb tisch bedeutsamsten Komplikationen für
von einem Jahr (durchschnittlich nach den kurzfristigen Verlauf der SBS (Lucca et
neun Wochen) das SMB (Katz et al. 2009). al. 2020).
Die Wahrscheinlichkeit, das SMB zu über- In einem süddeutschen Konsorti-
winden, war höher, wenn die Patienten um (Koma-Outcome von Patienten in
bereits bei Aufnahme im SMB (und nicht der Frührehabilitation-[KOPF-]Regis-
im SRW) waren (80 % vs. 45 %). Im Lang- ter), das diagnoseunabhängig Patienten
zeitverlauf nach bis zu vier Jahren konn- mit SRW oder SMB bei Aufnahme in die
ten 43 % der Überlebenden aus dieser Ko- Frührehabilitation einschloss (Grill et al.
horte für acht Stunden pro Tag alleine zu 2013), wurden von insgesamt 246 Patien-
Hause zurechtkommen bzw. 22 % in den ten zwei Drittel nach SHT, die Hälfte nach
Arbeitsmarkt oder die Schule reintegriert Schlaganfällen und ein Drittel nach HIE
werden. In einer retrospektiven Untersu- im Beobachtungszeitraum von drei Jah-
chung mit 113 HIE-Patienten im SRW oder ren wieder kontaktfähig (bislang unver-
SMB überwanden nur 20 % das SMB nach öffentlichte Daten). Die Mehrzahl dieser
mehrmonatiger Rehabilitation im ersten Patienten weisen persistierend schwere
Jahr (Howell et al. 2013). Noch längere, motorische, sprachliche oder kognitive
retrospektive Verlaufsstudien berichteten Funktionseinschränkungen auf. Aus einer
bei 24 % der Patienten mit SRW ein Wie- prospektiv begleiteten Multicenter-Kohor-
dererlangen des Bewusstseins, davon 20 % te von 95 SHT-Patienten im SRW und SMB
zwischen zwölf und 28 Monate nach der waren nach sechs Wochen stationärer Re-
Hirnschädigung (Estraneo et al. 2010). In habilitation 20 % in der Lage, alle vordefi-
anderen Studien wurden im chronischen nierten Variablen der CRS-R für „höheres
SMB 33 % der Patienten innerhalb von fünf Verhalten“ zu erfüllen (Giacino et al. 2020).
Jahren (Luaute et al. 2010) bzw. bei SRW Eine monozentrische Studie verfolgte 264
und SMB 32 % innerhalb von zwei bis 16 Patienten mit Hirnschädigungen unter-
Jahren kontaktfähig (Yelden et al. 2017). schiedlicher Ätiologie über ein Jahr nach
In der größten, multizentrischen pro- Entlassung aus der neurologischen Früh­
spektiven Untersuchung wiesen zwischen rehabilitation (Boltzmann et al. 2022). 199
1989 und 2019 12 % (2.058) von 17.470 Pa- Patienten wiesen bei Aufnahme eine SBS
tienten mit mäßig- bis schwergradigem auf (99 SRW, 100 SMB), die bei 100 Patien-
Schädel-Hirn-Trauma bis zum Beginn der ten zur Entlassung persistierte (44 SRW, 56
Rehabilitation eine länger anhaltende Be- SMB). Aus methodischen Gründen konn-
wusstseinsstörung auf. 82 % davon (1.674) te das Outcome nach einem Jahr nur mit
erlangten während der Rehabilitation wie- der „Glasgow Outcome Scale extended“
der das Bewusstsein, 40 % (803) wurden (GOSE) gemessen werden, der zufolge
funktionell bis zur Entlassung teilweise 27 % (n = 71) der Patienten verstorben, 11 %
oder völlig selbstständig. Der funktionel- (n = 28) im vegetativen Status und 47 %
le Zuwachs im „Functional Independence (n = 124) schwer beeinträchtigt waren. Die
Measure“ (FIM) war signifikant höher für hohe Sterblichkeit bestätigte sich auch in
Patienten mit als ohne SBS (Kowalski et einer multizentrischen Studie an 143 Pati-
4 · Neurorehabilitation bei schwerer Bewusstseinsstörung 95

enten (68 SRW, 75 SMB; davon 55 mit trau- ation die Überlebenswahrscheinlichkeit,
matischer bzw. 88 mit nicht-traumatischer in der Frührehabilitation die Länge der
Hirnschädigung), von denen nach zwei stationären Erstverweildauer und im wei-
Jahren Verlaufsbeobachtung 29 % gestor- teren Verlauf die Realisierung einer Spät-
ben waren (UWS 43 %, SMB 16 %; Estraneo oder Intervallrehabilitation ab. Die psychi-
et al. 2022). sche und physische Belastung pflegender
Weitere prospektive Studien zu Lang- Angehörige wird durch die permanente
zeitverläufen von SBS, die auch die Akut- Unsicherheit bezüglich des zu erwarten-
behandlung mit einschließen, sind er- den Outcomes im Langzeitverlauf verstärkt
forderlich, um den Bias aus unsicherer (Jox et al. 2015). Es ist gemeinsame Aufga-
Prognoseerwartung und daraus resultie- be für alle Therapeuten und Ärzte, diesen
renden Behandlungskonsequenzen („self Aspekt der Erkrankung nicht aus den Au-
fulfilling prophecy“) zu minimieren. So gen zu verlieren.
gibt es Fallberichte von Patienten mit her- Gleichzeitig ist es notwendig, Fragen
vorragendem Langzeitergebnis, bei denen zur Prognostik und Neurorehabilitation
nach den üblichen Prognosekriterien ein von SBS wissenschaftlich stärker zu adres-
„infauster“ Verlauf zu erwarten gewesen sieren, um therapeutische Standards zu
wäre (Bender et al. 2012). Die prospekti- definieren. Die teilweise deutlich unter-
ve, multizentrische HOPE-Studie („Hypo- schiedlichen Behandlungsempfehlungen
xia and Outcome Prediction in early-stage zwischen der deutschen und der amerika-
Coma“) untersucht das funktionelle Lang- nischen Leitlinie zu SBS bzw. zur HIE sind
zeitergebnis von Patienten mit HIE nach auch ein Ausdruck des insgesamt niedri-
Reanimation sowie die Wertigkeit stan- gen Evidenzniveaus zu diesen klinischen
dardisierter Prognosemarker und Behand- Syndromen.
lungsmaßnahmen auf den Intensivstati-
onen (Lopez-Rolon et al. 2015). In einem
Modellprojekt in den Niederlanden wer-
den seit 2019 landesweit alle Patienten mit
SBS bis zu zwei Jahre lang in einer speziali-
sierten Einrichtung neurologisch rehabili-
tiert. Die „True Outcomes of PDOC“-Studie
(TOPDOC) soll die sich anschließenden
Langzeitverläufe multizentrisch begleiten
(Sharma-Virk et al. 2021). Für beide Studi-
en sind bislang allerdings keine Daten pu-
bliziert.

4.7
Zusammenfassung
Die Neurorehabilitation von Patienten mit
SBS stellt in jeder Phase der Erkrankung
Therapeuten wie Angehörige vor beson-
dere Herausforderungen. Neben den me-
dizinischen Problemen spielen ethische
Aspekte eine große Rolle: Von der Güte der
Langzeitprognose hängen in der Akutsitu-
96 J. Herzog

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99

5
Neurorehabilitation der Armfunktion
Thomas Platz, Linda Schmuck

5.1  Die Armlähmung kann unterschiedlich


Einleitung stark ausgeprägt sein, häufig beobachtet
man entweder leichtere Lähmungen oder
Die Hemiparese ist einer der bedeutends- sehr schwere Lähmungen (Nakayama et al.
ten Prädiktoren für Langzeitbeeinträch- 1994; Wade et al. 1983). Dadurch bedingt
tigungen nach Schlaganfall (Hankey et gibt es für die Therapieplanung mindes-
al. 2002; Meijer et al. 2003). Die motori- tens zwei sehr unterschiedliche Patienten-
sche Beeinträchtigung des betroffenen gruppen zu beachten.
Armes kann bis zu 50 % der Unterschiede Patienten mit einer schweren Armläh-
in der funktionellen Selbstständigkeit von mung können den betroffenen Arm im All-
Schlaganfallpatienten erklären (Mercier tag oftmals gar nicht oder nur sehr einge-
et al. 2001). Sowohl eine Armschädigung schränkt einsetzen. Diesen Patienten fällt
(„impairment“), das heißt die geminder- es schwer, einzelne Abschnitte im Arm se-
te Fähigkeit, den Arm selektiv zu bewegen, lektiv anzusteuern, zum Beispiel den Arm
als auch eine Aktivitätslimitierung des Ar- gezielt nur in der Schulter, im Ellenbogen,
mes, das heißt seine eingeschränkte Fä- im Handgelenk oder in den Fingern zu be-
higkeit, im Alltag funktionell eingesetzt zu wegen. Dabei kommt es zu verschiedenen
werden, sind mit dem längerfristigen Hil- Problemen der Innervation: Sie kann für
febedarf bei den Verrichtungen des tägli- manche Bewegungsmöglichkeiten (für be-
chen Lebens und bei der Wahrnehmung stimmte Gelenksbewegungen) komplett
sozialer Rollen nach Schlaganfall verbun- fehlen beziehungsweise eingeschränkt
den (Desrosiers et al. 2003). Die erfolgrei- sein, oder es kann sein, dass Bewegungen
che Behandlung der Armlähmung und in einem Gelenk nur mit Tonussteigerung
ihrer Folgen haben demnach große All- und Kokontraktion gelingen, oder dass
tagsrelevanz. Das unterstreicht auch eine keine selektive Bewegungen, sondern nur
Studie mit Schlaganfallbetroffenen, pfle- Bewegungen in „Mustern“ über Gelen-
genden Angehörigen und Behandlern, ke hinweg gelingen. Zu dem Problem der
die die Frage der Therapie der Armparese stark beeinträchtigten willentlichen Bewe-
unter die „Top 10“-Fragen für ein Leben gungsfähigkeit kommt oft noch das Pro-
nach Schlaganfall einordnete (Pollock et blem einer der Armlähmung folgenden
al. 2014a). Spastik bzw. einer „spastischen Dystonie“,
Wichtig für das Verständnis der Arm- die eine Fehlstellung des Armes in Ruhe
lähmung nach Schlaganfall und damit für und die Schwierigkeit, den Arm passiv zu
die Behandlungsplanung ist es, den Schwe- bewegen, zum Beispiel beim Waschen
regrad der Armparese im Blick zu haben: oder beim Anziehen, bedingen.
100 T. Platz, L. Schmuck

Patienten mit einer leichten Armläh- len Konsensusprozess durchlaufen haben;


mung können ihren Arm bewegen und dennoch sind sie textlich nicht unbedingt
im Alltag auch einsetzen. Die Bewegun- mit den „Leitlinienempfehlungen“ iden-
gen sind aber oftmals noch verlangsamt tisch. Auch werden in der deutschsprachi-
und „ungeschickt“. Vieles, was eine gesun- gen Leitlinie mehr Themen und spezifi-
de Person mit ihrem Arm im Alltag macht, sche Therapieformen adressiert als dies im
fällt noch schwer oder gelingt nicht mehr Rahmen dieser Übersicht möglich ist. Zu-
so gut, obwohl der Arm bewegt werden dem ist zu beachten, dass hier zwar Emp-
kann. fehlungen für die einzelnen Therapiefor-
Es gibt ein vielfältiges Therapiean- men und -aspekte gegeben werden, was
gebot für den zentral-paretischen Arm. aber nicht heißt, dass sie beim einzelnen
Dieses soll hier basierend auf einer sys- Patienten alle anzuwenden sind. Oftmals
tematischen Evidenzbasierung im Rah- ergeben sich daraus alternative Therapie-
men der Leitlinienarbeit der Deutschen optionen, über die im individuellen Kon-
Gesellschaft für Neurorehabilitation (S3- text zu entscheiden ist. Dazu erfolgen im
Leitlinie, Stand 23.04.2020; Hrsg. DGNR; Abschnitt 9 „Klinisches Vorgehen bei der
erreichbar unter https://www.awmf.org/ Auswahl der Verfahren“ Erläuterungen
leitlinien/detail/ll/080-001.html) und der und Hilfestellungen. Abschließend erfolgt
Weltföderation Neurorehabilitation (Evi- eine kurze Darstellung häufiger eingesetz-
dence-based practice recommendations, ter Assessment-Verfahren.
Stand 2021; WFNR; Open Access erreich-
bar unter https://rd.springer.com/chap-
ter/10.1007/978-3-030-58505-1_7) zur 5.2
Armrehabilitation (Platz 2009; Platz und
Allgemeine Therapieüberlegungen
Schmuck 2016; Platz et al. 2010, 2021) dar-
zur Behandlung der Armparese
gestellt werden; Literatursuchen nach ran-
domisierten kontrollierten Studien und Sensomotorisches Lernen findet zum Groß-
systematischen Reviews erfolgten dafür teil unbewusst statt. Die Bewegungsinten-
2006, 2013, 2016 und zuletzt am 23.07.2017 tion ist uns bewusst, aber nicht die vielen
(PubMed and Cochrane Library). Systema- beteiligten (Informationsverarbeitungs-)
tisch bewertet und genutzt wurden 411 Be- Prozesse (senso)motorischer Kontrolle.
richte von randomisierten kontrollierten Sensomotorisches Lernen und Kontrol-
Studien und 114 Systematische Reviews le involvieren viele Zentren entlang der
(SR)/Metaanalysen. „Neuroachse“ (u. a. Netzwerke in Großhirn
Um für das Update auch neuere rele- kortikal und subkortikal sowie im Klein-
vante Evidenz zu berücksichtigen, erfolgte hirn). Die Etablierung von Bewegungsre-
am 26.03.2022 eine PubMed-Suche nach präsentationen bzw. von Bewegungskon-
neueren systematischen Reviews und ran- trollkompetenzen (motorisches Lernen)
domisierten kontrollierten Studien mit erfordert viele Wiederholungen von mo-
identischem Suchalgorithmus wie für die torischen Aufgaben, die die zu verbessern-
Leitlinienarbeit. den Leistungen beinhalten. Oftmals ist hier
Ergänzt wird die Evidenzbasierung um ein intensives wiederholendes Üben an der
grundsätzliche therapeutische Überlegun- Leistungsgrenze erforderlich.
gen, die vorangestellt werden. Die jeweils Da die sensomotorischen Armfunkti-
abgeleiteten Empfehlungen sind evidenz- onen sehr viele unterschiedliche Aspek-
basiert und damit wissenschaftlich fun- te umfassen, wird eine Behandlung im-
diert, entsprechen inhaltlich auch denen, mer auf die Aspekte spezifisch fokussieren
die einen nationalen bzw. internationa- (müssen), die aktuell erreichbar sind und
5 · Neurorehabilitation der Armfunktion 101

eine verbesserte Armfunktionalität erwar- Falle wirksamer sind als alternative Be-
ten lassen. Es geht einerseits darum, dass handlungsmethoden. Hierzu gibt es nur
die relevanten Kontrollaspekte sehr spezi- begrenzt Nachweise, oftmals zeigten sich
fisch beübt/gefördert werden. Andererseits unterschiedliche therapeutische Vorge-
ist es ebenso wichtig, dass möglichst alle hensweisen in Studien als ähnlich wirk-
relevanten Aspekte, ggf. auch in der richti- sam; z. B. bei einem Vergleich zwischen
gen, d. h. erfolgversprechenden Reihenfolge, modifizierter CIMT, bilateralem Training
trainiert werden. oder konventioneller Therapie (van Del-
Es kann Situationen geben, in denen den et al. 2013); analoge Beispiele gibt es
die Komplexität der Übungssituation redu- auch für Robot-basierte Therapien (Masie-
ziert gestaltet werden muss, etwa bei sehr ro et al. 2014).
schweren Paresen und dem Ziel, basale Das Gehirn kann immer das an ver-
selektive Innervations- und Bewegungsfä- besserter Funktionalität im Alltag einset-
higkeit zu fördern (z. B. beim Arm-Basis- zen, was es gelernt und zur Verfügung hat.
Training). Andererseits müssen Übungs- Der Alltag kann also in dem Maße funktio­
situationen für Patienten mit leichteren nell durch Therapie unterstützt werden,
Paresen auch komplex anspruchsvoll sein, wie das Erlernte eine alltagsrelevante ver-
um beispielsweise Sensomotorik auf ho- besserte Funktionalität darstellt. Daher
hem Leistungsniveau zu trainieren (z. B. ist für die Therapie darauf zu achten, dass
beim Arm-Fähigkeits-Training) (Platz et die geförderten Aspekte der motorischen
al. 2009). Das gilt bis hin zu komplexen Kontrolle Schlüsselaspekte der Alltags-
alltagsnahen Situationen, wenn es darum funktionalität darstellen. Damit ist nicht
geht, einen gelernten Nichtgebrauch einer gemeint, dass Therapie immer aufgaben-
teilgelähmten Extremität durch massives bzw. konkret alltagsbezogen sein muss. Es
Beüben zu revidieren (z. B. bei der Bewe- geht vielmehr darum, die relevanten Kon­
gungsinduktionstherapie „constraint-in- trollfunktionen der (Senso-)Motorik ge-
duced movement therapy“, CIMT) (Wolf et zielt zu fördern (Schädigungs-orientierte
al. 2009). Therapie), da deren Verbesserung zumin-
In all diesen Situationen ist es erfor- dest mittelfristig einen Alltagsnutzen ge-
derlich, die Selbstorganisation des Gehirns nerieren wird. Das kann und muss nicht
zu stärken und durch die Übungssituati- unmittelbar erreicht werden, sollte aber
on Voraussetzungen zu schaffen, in denen zumindest mittelbares Ziel sein.
das Gehirn trainingsinduziert seine Kon­ Ein Übertrag in den Alltag geschieht
trollfunktionen durch eine Reorganisation nicht unbedingt „automatisch“; es lohnt
steigern kann und damit seine Arm- und sich, den Transfer einer verbesserten mo-
Handfunktionen und -aktivitäten verbes- torischen Kontrolle in den Alltag aktiv
sert. therapeutisch zu fördern, um ein für den
Das „Trainingspaket“ sollte daher in- Alltag möglichst gutes Therapieergebnis
dividuell so selektiert und im Therapie- zu erzielen (Taub et al. 2013). Ein Trans-
verlauf modifiziert werden, dass die mo- fer des (Wieder-)Erlernten in den Alltag
torischen Kontrollaspekte spezifisch und kann durch protokollierte Eigenübungs-
umfassend gefördert werden, die beim jet- programme mit Logbuch-Einträgen und
zigen Leistungsstand der zerebralen Kon- durch gemeinsame Analysen, was den
trolle am ehesten einen therapeutisch- Armeinsatz im Alltag ggf. erschwert, un-
funktionellen Fortschritt erlauben. terstützt werden, um hierfür individuelle
Dabei gilt es Therapien auszuwählen, Transferlösungen transparent zu machen.
die für die jeweiligen Therapieziele nach- Grundsätzlich ist für die Therapieent-
weislich wirksam sind bzw. im besten scheidungen auch das individuell wahr-
102 T. Platz, L. Schmuck

scheinliche Erholungspotenzial zu be- 0,06 – 0,58; P = 0,01; I2 = 10 %; 9 Studien, 287


rücksichtigen (Plantin et al. 2021; Stinear Teilnehmer; Evidenz niedriger Sicherheit),
et al. 2017). Weder sollen Betroffenen Be- nicht jedoch für Aktivitätsmaße ein positi-
handlungen vorenthalten werden, die das ver Effekt von mehr versus weniger Zeit für
Erreichen ihrer Ziele wahrscheinlich un- die Armrehabilitation nachgewiesen wer-
terstützen können, noch sollen Aufwand den (Clark et al. 2021).
und Belastungen erzeugt oder auch „fal- Insbesondere für die frühe Phase nach
sche Hoffnungen“ verstärkt werden, wenn einem Schlaganfall in den ersten Wochen
keine Aussicht auf Behandlungserfolg be- und Monaten wurde gezeigt, dass eine spe-
steht. Dabei ist klinisch zu beachten, dass zifische Armrehabilitation die Erholung
eine „im Mittel“ ungünstige (spontane) der Armaktivitäten beschleunigt (Kwakkel
Erholungsprognose nicht gleichbedeu- et al. 1999). Die Rehabilitation der Arm-
tend damit ist, dass eine spezifische Be- motorik sollte wenige Tage nach einem
handlung individuell nicht erfolgreich sein Schlaganfall beginnen. 30 Minuten werk-
kann. tägliche zusätzliche spezifische Armreha-
Zusätzlich zum bisher Gesagten ist bilitation sollte erfolgen, wenn eine Be-
wichtig: Auch wenn hier eine neurobiolo- schleunigung der Wiederherstellung der
gische Sicht einer Therapierationale vorge- Armmotorik das Behandlungsziel ist. Die
stellt wurde, so sind Therapieentscheidun- Effekte einer Intensivierung der Armre-
gen immer im Kontext der individuellen habilitation wurden in Studien mit einem
Ziele eines Betroffenen zu treffen. Erst in Behandlungszeitraum von vier bis 20 Wo-
diesem Zusammenhang erhalten die hier chen und täglicher Armtherapie bis zu drei
gemachten Empfehlungen individuelle Stunden dokumentiert. Eine Therapiedau-
„Gültigkeit“: Wenn ein Betroffener durch er von zwei bis drei Stunden pro Tag kann
eine Armparese bedingte Einschränkun- im Vergleich zu einer Stunde pro Tag noch
gen der Teilhabe oder seiner Alltagsaktivi- einen Zusatznutzen generieren (Han et al.
täten hat, er diese durch eine Behandlung 2013). Auch ein intensiviertes individuali-
zu verbessern sucht und seine Ziele durch siertes Armtraining mit „shaping“ und ei-
eine Wiederherstellung der Funktion bei ner Gesamttrainingszeit von 20 Stunden
Armparese erreicht werden können, dann zeigte im Vergleich zur Standardbehand-
sind die hier gemachten Aussagen für die lung, wenn entweder innerhalb des ers-
Therapieentscheidung direkt relevant. ten Monats begonnen (Action Research
Arm Test, ARAT Differenz = 5,25 ± 2,59
Punkte, P = 0,043) und wenn nach zwei bis
5.3 drei Monaten begonnen (ARAT Differenz
= 6,87 ± 2,63, P = 0,00), nicht aber wenn
Zeitpunkt, Intensität und Dauer der
nach sechs oder mehr Monaten begonnen,
Behandlung
einen Zusatznutzen bezüglich der Armak-
Im klinischen Alltag ist oftmals zu ent- tivitäten (Dromerick et al. 2021).
scheiden, wann und wie lange bzw. wie Wenn der Arm nicht komplett ple-
intensiv rehabilitative Therapien verord- gisch ist, ist auch ein an die Armlähmungs-
net und durchgeführt werden sollen. Eine schwere adaptiertes tägliches Eigentrai-
einfache Dosis-Wirkungs-Beziehung gibt ning (60 Minuten/Tag; auch als Training
es in der Armrehabilitation nach Schlag- zu Hause) mit intermittierender Supervi-
anfall nicht (Platz et al. 2017). In einem sion (ein Therapeuten-Patienten-Kontakt
Cochrane Review konnte für Schädigungs- pro Woche) sinnvoll, wenn bei subaku-
maße (Standardisierte Mittelwertdifferenz ten Schlaganfallpatienten alltagsrelevan-
[SMD] 0,32, 95 % Konfidenzintervall [KI] te funktionelle Verbesserungen Behand-
5 · Neurorehabilitation der Armfunktion 103

lungsziel sind; die Compliance sollte dabei schen Therapieformen, wie sie unten aus-
z. B. mit einem Logbuch überprüft werden geführt werden, waren sie entweder ver-
(Harris et al. 2009). gleichbar wirksam oder unterlegen (van
Die Wirksamkeit von nicht supervi- Vliet et al. 2005; Langhorne et al. 2009).
diertem strukturiertem häuslichem Eigen- Eine Empfehlung für eine der Schulen (Bo-
training ist jedoch in ihrer Anwendbarkeit bath, PNF, „traditionelle Techniken“) kann
und Wirksamkeit sehr begrenzt (Wong et nicht gegeben werden.
al. 2020).
Auch in späteren Krankheitsphasen
wurden verschiedentlich Therapieeffek- 5.5
te abgesichert. In der chronischen Phase
Spezifische neuere übende
(mehr als ein Jahr nach Schlaganfall) wa-
Therapieansätze
ren sowohl kürzere intensivere als auch
längere weniger intensive Behandlungs- In der Armrehabilitation können sehr un-
formen wirksam. Wöchentlich 90 bis 270 terschiedliche therapeutische Ansätze ge-
Minuten strukturiertes repetitives Training wählt werden. Es gibt verschiedene neuere
von Schulter-, Ellenbogen-, sowie Hand- Optionen, wie in der Ergo- oder Physio-
gelenks- und Fingerbewegungen bei mit- therapie der betroffene Arm aktiv beübt
telschwerer bis schwerer Armlähmung, werden kann. Ob und welche dieser the-
ggf. unterstützt durch EMG-getriggerte rapeutischen Vorgehensweisen sich in
Elektrostimulation oder funktionelles auf- klinischen Studien als wirksam erwiesen
gabenbezogenes Training mit wiederkeh- haben und welche Empfehlungen des-
renden Behandlungsphasen (und Pausen) halb gegeben werden, wird in den nach-
wird zur Verbesserung der Armaktivitäten folgenden Abschnitten näher beschrieben
im Alltag empfohlen (Cauraugh et al. 2011; werden. Es ist so, dass sich verschiedene
Corti et al. 2012). wirksame Therapieverfahren nicht gegen-
Die Wirksamkeit einer kontinuierli- seitig ausschließen, sondern in Abhängig-
chen Behandlung ist nicht untersucht. Eine keit von der Schwere der Beeinträchtigung
fortgeführte Behandlung sollte erfolgen, in verschiedenen Phasen der Therapie ein-
wenn folgende Bedingungen erfüllt sind: gesetzt werden können. Auch ist es denk-
Zum einen sollten funktionelle Defizite be- bar, dass je nach Möglichkeiten der The-
stehen, zum anderen sollten während der rapie diese alternativ oder auch parallel
Therapie funktionelle Verbesserungen do- eingesetzt werden. Am Ende des Kapitels
kumentierbar sein (bzw. funktionelle Ver- werden Empfehlungen zur Therapieaus-
schlechterungen nach deren Absetzen). wahl separat für schwere, mittelschwe-
re und leichte Paresen tabellarisch vorge-
stellt.
5.4
Physiotherapeutische Schulen 5.5.1
„Constraint-induced movement therapy“
Eine überlegene Wirksamkeit einer der (CIMT) (Bewegungsinduktionstherapie)
länger bekannten therapeutischen Schu-
len wie zum Beispiel der Bobath-Behand- Die Bewegungsinduktionstherapie geht
lung oder der propriozeptiven neuromus- von der Vorstellung aus, dass es einen „ge-
kulären Fazilitation (PNF) gegenüber einer lernten Nichtgebrauch“ des gelähmten Ar-
anderen Schule lässt sich für die Armre- mes gibt. Was heißt das? Wenn Patienten
habilitation aus der beurteilten Literatur nach einem Schlaganfall anfänglich eine
nicht ableiten. Gegenüber anderen spezifi- schwerere Lähmung haben, können sie
104 T. Platz, L. Schmuck

Abb. 5.1:„Constraint-induced movement therapy“ (CIMT) (Bewegungsinduktionstherapie)


Durch eine Lagerungsschiene wird der gesunde Arm während einiger Stunden oder fast den ganzen Tag immobili-
siert. Dadurch ist es für den Patienten erforderlich, alles, was im Alltag mit den Händen bzw. mit dem Arm gemacht
wird, mit dem betroffenen Arm auszuführen. Für den betroffenen Arm wird dadurch ein deutliches Mehr an Bewe-
gungen „induziert“ (hervorgerufen). Patienten sollten für die Therapie Mindestkriterien an Armfunktionalität und
Sicherheit in Stand und Gang erfüllen

den Arm im Alltag nicht einsetzen. Der betroffenen Arm wird dadurch ein deut-
Patient „lernt“ dann, die Alltagsaufgaben liches Mehr an Bewegungen „induziert“
mit dem nicht betroffenen Arm auszufüh- (hervorgerufen). So entsteht eine Alltags-
ren, da dies für ihn leichter geht. Nach der situation, in der der betroffene Arm massiv
weiteren Erholung des vormals stärker ge- beübt und eingesetzt wird. In vielen Studi-
lähmten Armes könnte dieser zwar theore- en konnte nachgewiesen werden, dass so
tisch im Alltag wieder eingesetzt werden, das erlernte Verhalten des Nichtgebrau-
da der Patient aber verlernt hat, diesen ches wieder rückgängig gemacht werden
Arm einzusetzen, macht er dies auch we- kann (Abb. 5.1).
niger, als eigentlich bereits wieder möglich Für die Bewegungsinduktionsthera-
wäre. Dieses Verhalten nennt man einen pie ist die Wirksamkeit sehr gut belegt,
„gelernten Nichtgebrauch“. Dieses „Ver- sofern Patienten eine teilweise erhaltene
lernen“ kann wieder rückgängig gemacht Handfunktion haben und gleichzeitig den
werden. Indem der gesunde Arm zum Arm im Alltag wenig einsetzen (vgl. den
Beispiel mit einem speziellen Handschuh Cochrane-Review von Corbetta et al. 2015
während einiger Stunden oder fast den mit 42 randomisierten kontrollierten Stu-
ganzen Tag immobilisiert wird, ist es für dien und insgesamt 1.453 Teilnehmern).
den Patienten erforderlich, alles, was im Das trifft für die Früh- und die Spätphase
Alltag mit den Händen gemacht wird, mit nach einem Schlaganfall (mehr als ein Jahr
dem betroffenen Arm zu machen. Für den nach dem Schlaganfall) zu. Sowohl die
5 · Neurorehabilitation der Armfunktion 105

ursprüngliche Form der Therapie (sechs Die Empfehlung lautet: Wenn eine er-
Stunden aktive Therapie pro Tag mit einem lernter Nichtgebrauch vorliegt, der betrof-
Therapeuten und zusätzlich Immobilisie- fene Arm trotz funktioneller Möglichkeit
rung des nicht betroffenen Armes für 90 % eines Einsatzes im Alltag nicht eingesetzt
der Stunden tagsüber) als auch eine modi- wird, diese erlernte Verfahren revidiert
fizierte weniger intensive Form (zum Bei- werden soll, um den spontanen Gebrauch
spiel mit zwei Stunden Therapie pro Tag im Alltag zu stärken und die Therapie an-
und fünf- bis sechsstündiger Immobili- geboten werden kann, dann soll sie durch-
sation des nicht betroffenen Armes) kön- geführt werden (in den ersten sechs Wo-
nen die Armfunktionen und den Gebrauch chen nach Schlaganfall modifiziert mit
des Armes im Alltag fördern. Die intensi- nicht mehr als zwei Stunden Training pro
ve Form wird typischerweise für zwei Wo- Tag und bis zu sechs Stunden Restrikti-
chen durchgeführt, die weniger intensive on kombiniert). Eine Restriktion („forced
Form für bis zu zehn Wochen. Diese modi- use“) außerhalb der Therapiesitzun-
fizierte, weniger intensive Form ist leichter gen wird empfohlen, wenn sie mit einem
praktisch umsetzbar und kann parallel zu „Transferpaket“ während der Sitzung ver-
anderen Therapieangeboten durchgeführt bunden wird.
werden. Auch gibt es Hinweise aus einem
systematischen Review, dass die weniger
intensive Form in der frühen Phase nach 5.5.2
dem Schlaganfall eher nützlich ist (Nijland Bilaterales Training
et al. 2011). Der Therapieansatz, dass be-
gleitend eine Schlinge am nicht betroffe- Unter bilateralem Training versteht man,
nen Arm an den Behandlungstagen getra- dass mit beiden Armen (bilateral) insbe-
gen wird („erzwungener Nichtgebrauch“ sondere gleichzeitig symmetrische Bewe-
bzw. Englisch „forced use“), scheint we- gungen bei der Therapie ausgeführt wer-
niger relevant für den Behandlungserfolg den.
zu sein als die tatsächliche intensive The- Es fand sich keine Überlegenheit des
rapie des betroffenen Armes, zumindest bilateralen Trainings gegenüber anderen
wenn die Patienten angehalten werden, Therapieformen in einer gemeinsamen
den nicht betroffenen Arm möglichst nicht Bewertung von 18 randomisierten kontrol-
einzusetzen („freiwilliger Nichtgebrauch“) lierten Studien (Coupar et al. 2010). Zum
(Krawczyk et al. 2012). Bedeutsam ist auch, gleichen Ergebnis kam auch ein Vergleich
die Verstetigung der Therapieeffekte im zwischen bilateralem Training, modifizier-
Alltag durch ein „Transferpaket“ zu unter- ter CIMT und konventioneller Therapie
stützen: Der Armeinsatzes im Alltag wird (van Delden et al. 2013). Bei chronischen
durch eine Reflexion möglicher Hindernis- Patienten mit leichten Paresen war es ei-
se im Alltag und von Problemlösungsstra- nem unilateralen Training unterlegen
tegien während der Trainingssitzungen (Pollock et al. 2014b).
sowie durch einen wöchentlichen Telefon- Eine auf Funktions- oder Aktivitätsver-
kontakt nach Beendigung der CIMT gezielt besserung zielende Armrehabilitationsbe-
gefördert (Taub et al. 2013). Dabei können handlung kann mit bilateralen Übungen
ein Aufgabentagebuch und auch eine Re- gestaltet werden. Für leichter betroffene
striktion der weniger betroffenen Hand Patienten im chronischen Stadium sollte
eingesetzt werden. Berücksichtigt werden bilaterales Training nicht bevorzugt ange-
sollten ferner Sicherheitsaspekte (ein ge- boten werden, wenn Armaktivitäten und
nügendes Gleichgewicht muss vorhanden Einsatz des betroffenen Armes im Alltag
sein). verbessert werden sollen.
106 T. Platz, L. Schmuck

Abb. 5.2: Arm-Basis-Training (ABT)


Beim ABT wird die selektive Bewegungsfähigkeit in den einzelnen Arm- und Handabschnitten durch ein syste-
matisches repetitives Training werktäglich, oft über einen längeren Behandlungszeitraum, beübt. Das ABT ist ein
Stufen­therapieprogramm in drei Stufen. Bei der ersten Stufe wird unter Aufhebung der Eigenschwere die Fähig-
keit, selektiv isolierte Bewegungen willkürlich zu generieren, repetitiv und systematisch für alle Freiheitsgrade im
Arm geschult. Im Beispiel sind die Fingerabduktion (links) und -adduktion (rechts) gezeigt, die neben vielen ande-
ren Bewegungen täglich repetitiv geübt werden. In Stufe 2 wird diese aktive (dynamische) Bewegungsfähigkeit in
den einzelnen Gelenken dann mit und gegen die Schwerkraft und damit gekoppelt an die posturale Kontrolle des
Armes geübt. In Stufe 3 werden Multigelenksbewegungen trainiert

5.5.3 5.5.3.1
Schädigungsorientiertes Training Arm-Basis-Training
(„Impairment oriented Training”, IOT)
Beim Arm-Basis-Training (ABT) für Pati-
Ziel der Armrehabilitation nach Schlagan- enten mit mittelschweren bis schweren
fall ist es, die Armaktivität im Alltag wieder Lähmungen werden alle Bewegungsmög-
zu fördern. Armaktivitäten beinhalten, was lichkeiten des Armes (Bewegungen in der
der Arm tatsächlich im Alltag macht, wie Schulter, im Ellenbogen, im Handgelenk
zum Beispiel Objekte greifen, sich etwas und in den Fingern) einzeln und systema-
eingießen, ein Brötchen schmieren oder tisch wiederholend an der Leistungsgrenze
schreiben. Eine Schädigung beschreibt, beübt. Damit soll die Bewegungsfähigkeit
warum der Arm im Alltag nicht mehr so in den einzelnen Abschnitten des Armes
gut einsetzbar ist, also zum Beispiel eine wiederhergestellt werden (Abb. 5.2).
Lähmung oder eine Gefühlsstörung. Das
schädigungsorientierte Training möchte 5.5.3.2
die Ursachen für die Alltagsbehinderun- Arm-Fähigkeits-Training
gen des Armes gezielt beheben und die Das Arm-Fähigkeits-Training (AFT) für
ursprüngliche Funktion des Armes wie- Patienten mit leichter Armparese möch-
derherstellen. Das schädigungsorientierte te die verschiedenen Armfähigkeiten, wie
Training umfasst zwei modulare Therapie- die gezielte Bewegung des Armes, die Fä-
verfahren für die Armrehabilitation, das higkeit, die Hand ruhig halten zu können,
Arm-Fähigkeits-Training (AFT) für Patien- die Geschicklichkeit mit den Fingern und
ten mit leichter Lähmung (Parese) und das andere Fähigkeiten, durch Training an der
Arm-Basis-Training (ABT) für Patienten Leistungsgrenze verbessern und damit
mit schwerer Parese. Ein Therapiemanu- insgesamt die Geschicklichkeit im Alltag
al für die beiden Therapieverfahren wurde fördern. Verschiedene Formen von „Ge-
publiziert (Platz 2006). schicklichkeit“, die voneinander unabhän-
gige sensomotorische Fähigkeiten darstel-
len, werden gezielt verbessert (Abb. 5.3).
5 · Neurorehabilitation der Armfunktion 107

Abb. 5.3: Arm-Fähigkeits-Training (AFT)


Das AFT trainiert die Effizienz verschiedener sensomotorischer Leistungen. Unterschiedliche Aspekte der
Fein- und Zielmotorik sind bei leichteren Paresen defizitär, die beim AFT alle – in diesem Sinne umfassend –
und immer „an der Leistungsgrenze“ beübt werden. Im Beispiel ist das Training von Zielbewegungen gezeigt

Beide Therapieverfahren haben sich tag auch vorkommen könnten, beübt, mit
als wirksam bzw. auch bei gleicher The- dem Ziel, die funktionellen Fähigkeiten
rapiezeit wirksamer im Vergleich zu sons- zu verbessern. Eine Idee beim aufgaben-
tiger Ergo- bzw. Physiotherapie erwiesen orientierten Training ist es, dass durch
(Platz et al. 2009). die Übungssituation mit Objekten, die mit
Daher werden folgende Empfehlungen dem Alltag Ähnlichkeiten haben, das Ge-
ausgesprochen: Ein Arm-BASIS-Training hirn besonders stimuliert wird. Das Be-
(ABT) sollte bei subakuten Schlaganfallpa- sondere ist, dass in der Therapie immer ein
tienten mit schwerer Parese durchgeführt Bezug zu Alltagssituationen und -objekten
werden, wenn das Behandlungsziel eine genutzt wird.
Verbesserung der selektiven Armbeweg- Die nicht wenigen durchgeführten Stu-
lichkeit ist. Ein Arm-Fähigkeits-Training dien zeigten variable Ergebnisse, teilweise
(AFT) sollte bei subakuten Schlaganfall- ohne nachweisbare Effekte, teilweise mit
patienten mit leichter Parese durchgeführt zur Kontrollintervention vergleichbaren
werden, wenn das Behandlungsziel die Effekten.
Verbesserung der Leistungsfähigkeit der In einer systematischen Übersichtsar-
Sensomotorik (Fein- und Zielmotorik) ist. beit („Cochrane Review“) und Metaanaly-
se über elf randomisierte oder quasiran-
5.5.4 domisierte kontrollierte Studien (RKS) mit
Aufgabenorientiertes Training 855 Teilnehmern wurde dargestellt, dass
ein aufgabenspezifisches Training vergli-
Beim aufgabenspezifischen Training wer- chen mit üblicher Behandlung (inklusive
den Bewegungsaufgaben, wie sie im All- keiner Behandlung) oder Aufmerksam-
108 T. Platz, L. Schmuck

keitszuwendung ohne motorisches Trai- (kleiner Effekt) fördern. Es können auch


ning (z. B. kognitives oder Entspannungs- Schmerzen im Rahmen eines komplexen
training) einen nachweislichen Effekt mit regionalen Schmerzsyndromes (CRPS) mit
eher kleiner Effektgröße auf die Wieder- der Spiegeltherapie therapeutisch beein-
herstellung der Arm- oder Handaktivi- flusst werden, wie in einer systematischen
täten hat, der bis sechs Monaten danach Übersichtsarbeit („Cochrane Review“) mit
nachweisbar war (French et al. 2016). Ein Metaanalyse, die 62 RKS mit 1982 Teilneh-
Dosiseffekt oder ein Effekt des Zeitpunk- mern einschloss (10 Studien mit Behand-
tes nach Schlaganfall konnte nicht festge- lung der Beine, Suche bis August 2017), ge-
stellt werden. In Bezug auf mögliche Ver- zeigt wurde (Thieme et al. 2018).
zerrungen („Bias“) wurden die Effekte auf Die Empfehlung lautet: Eine zur Stan-
die Verbesserung der Arm- oder Handak- dardtherapie zusätzliche mehrwöchige
tivitäten als unsicher bewertet. Auch zeig- Spiegeltherapie sollte bei subakuten und
te nur eine RKS in der Metaanalyse einen chronischen Schlaganfallpatienten bei
klaren Vorteil des repetitiven aufgabenspe- mittelschweren bis schweren Armpare-
zifischen Trainings; in dieser Studie (Ayra sen ggf. als supervidiertes Eigentraining
et al. 2012) hatte der Therapeut explizit auf durchgeführt werden, wenn eine Verbes-
das adäquate motorische Zielverhalten auf serung der motorischen Funktion (auf
der Schädigungsebene während der The- Schädigungs- oder Aktivitätsebene) ange-
rapie geachtet. strebt wird und erreichbar scheint. Eine
Die Empfehlung lautet: Das aufgaben- Spiegeltherapie kann zur Mitbehandlung
orientierte Training ist daher eine Thera- neuropathischer Schmerzen bei CRPS zur
pieoption, Aufgaben-spezifisches Training Anwendung kommen.
kann zur Verbesserung der Armaktivitäten
eingesetzt werden. 5.5.6
Mentales Training (Vorstellung von
5.5.5 Bewegungen)
Spiegeltherapie
Ähnlich wie bei der Spiegeltherapie gibt
Eine andere Form, Hirnareale, die für die es die Möglichkeit, dass man sich die Be-
Bewegung des gelähmten Armes zustän- wegung des gelähmten Armes vor seinem
dig sind, anzuregen, ist die sogenannte geistigen Auge vorstellt. Beispielsweise
Spiegeltherapie. Der Patient sitzt an ei- könnte man sich vorstellen, wie der ge-
nem Tisch, vor ihm steht ein Spiegel auf lähmte Arm bei Alltagsverrichtungen be-
dem Tisch, in den er von der Seite schaut. nutzt wird. Dies kann die motorische Erho-
Die gesunde Hand ist auf der Seite, die im lung auf Schädigungs- und Aktivitätsebene
Spiegel gesehen werden kann. Wenn der fördern, wie in systematischen Reviews mit
Patient dann Bewegungen mit der gesun- Metaanalysen klinischer Studien gezeigt
den Hand ausübt und dabei in den Spie- wurde (Pollock et al. 2014b; Barclay et al.
gel schaut, dann sieht es für ihn so aus, als 2020). Ein alleiniges mentales motorisches
würde sich die gelähmte Hand bewegen. Training ohne parallel stattfindendes phy-
Wenn Spiegeltherapie täglich für sisches motorisches Training scheint je-
eine halbe Stunde über mehrere Wochen doch nicht wirksam zu sein (Ietswaart et al.
durchgeführt wird, kann dies die moto- 2011); deswegen wird es in Kombination
rische Erholung des betroffenen Armes mit physisch durchgeführter Armtherapie
(mittlerer Effekt; kombiniert erfasst auf empfohlen.
Schädigungs- oder Aktivitätsebene) und Die Empfehlung lautet: Zusätzlich zur
damit einhergehend Alltagskompetenz sonstigen motorischen Therapie kann ein
5 · Neurorehabilitation der Armfunktion 109

über mehrere (3 – 10) Wochen durchge- die in einem funktionellen Bewegungskon-


führtes zweimal wöchentlich bis tägliches text verwendet wird (z. B. beim Greifen).
mentales Training (10 – 60 Minuten) mit Von der FES unterschieden wird die EMG-
vorgestelltem Gebrauch des betroffenen getriggerte Elektrostimulation (EMG-ES),
Armes im Alltag bei subakuten und chro- die auf einer Elektrostimulation basiert,
nischen Schlaganfallpatienten mit vor- die an eine intendierte Willkürbewegung
handener Restfunktion der Hand erwogen an einem Gelenk ohne direkten Aktivitäts-
werden, wenn eine Verbesserung der Ar- bezug gekoppelt ist. Für andere neuromus-
maktivitäten Behandlungsziel ist bzw. bei kuläre Stimulationen wird der allgemei-
subakuten Schlaganfallpatienten auch eine nere (Ober-)Begriff der neuromuskulären
Verbesserung der selektiven Bewegungs- Elektrostimulation (NMES) verwendet.
fähigkeit im paretischen Arm. Alleiniges Die neuromuskuläre Elektrostimula-
mentales motorisches ohne paralleles phy- tion (NMES) wurde z. T. bei ihrer Anwen-
sisches motorisches Training sollte nicht dung für die Schultergürtel-Muskulatur
durchgeführt werden mit dem Ziel, die klinisch geprüft, am häufigsten jedoch für
Armmotorik nach Schlaganfall zu fördern. die Stimulation der Finger- und Handge-
lenksextensoren. Der klinische Hauptein-
satz der Verfahren wird in einer ergänzen-
5.6 den Therapie bei schweren Lähmungen
gesehen, wobei die EMG-getriggerte Elek-
Technisch unterstützte
trostimulation bzw. die FES wegen ihrer
Rehabilitationsverfahren
Kopplung an den Versuch der Willkürin-
5.6.1 nervation als vorteilhafter erachtet wer-
Sensible elektrische Stimulation, den, soweit sie umsetzbar sind. Bei Pati-
Vibrations- und thermische enten mit schwerer Fingerextensions- oder
Stimulation, sensible Stimulation Handlähmung und zumindest teilweise er-
durch intermittierende pneumatische haltener proximaler Motorik kann so eine
Kompression sowie Akupunktur funktionale ein- oder mehrkanalige Stimu-
lation zur Induktion von Greifen und Los-
Elektrische, Vibrations-, pneumatisch- lassen mit Beüben alltäglicher Aktivitäten
kompressive bzw. auch thermische sen- eingesetzt werden (u. a. Shindo et al. 2011).
sible Stimulationen könnten ein Potenzial Bei Patienten mit schwerer proximaler
für die (somatosensible und) motorische Lähmung kann analog eine mehrkanali-
Armrehabilitation zu haben, was am ehes- ge Stimulation zur Beübung kombinier-
ten für die (2-stündige) periphere Nerven- ter Schulter- und Ellenbogenbewegungen
stimulation in Kombination mit intensi- (z. B. nach vorne oder zur Nase reichen)
vem Training, die thermische Stimulation genutzt werden (u. a. Trasher et al. 2008).
(Pollock et al. 2014b) und Akupunktur (Cai Die Therapie kann in Kleingruppen
et al. 2017) belegt ist. Sie können ergän- durchgeführt werden, bei selektierten Pa-
zend erwogen werden. tienten auch als Heimtraining, was organi-
satorisch relevant ist.
5.6.2 In ihrer Metaanalyse zur Elektrosti-
Neuromuskuläre, EMG-getriggerte und mulation mit 49 Studien und 1.521 Teil-
funktionelle Elektrostimulation (NMES, nehmern weisen Verbeek et al. (2014)
EMG-ES und FES) eine Wirksamkeit für folgende Anwendun-
gen nach: NMES der Handgelenks- und
Unter funktioneller Elektrostimulation Fingerflexoren und -extensoren (selekti-
(FES) wird eine Stimulation verstanden, ve Bewegungsfähigkeit, Handfunktion),
110 T. Platz, L. Schmuck

EMG-ES der Handgelenks- und Fingerex- handlung profitierten (verglichen mit Pa-
tensoren (selektive Bewegungsfähigkeit tienten mit entweder leichten einerseits
und Arm-/Hand-Aktivitäten, ohne Unter- oder schweren Paresen andererseits) (40
schied für die Phasen nach Schlaganfall; Studien, 2.018 Teilnehmer) (Jin et al. 2022).
NMES der Schultermuskulatur bei Schul- Die Empfehlung lautet: Bei subakuten
tersubluxation. und chronischen Schlaganfallpatienten
Die Empfehlung lautet: Die NMES, mit leichter bis mittelschwerer Armpare-
EMG-ES, oder FES können in den nach- se bzw. bei Geräten mit Armgewichtsent-
weislich wirksamen Indikationen zur Be- lastung auch bei schwerer inkompletter
handlung bei Armparese eingesetzt wer- Parese kann ein VR-unterstütztes Hand-
den. training oder Armtraining in einer Ein-
Bei der Elektrostimulation sind die richtung oder als häusliches Eigentraining
spezifischen Anwendungsbeschränkun- zusätzlich erwogen werden, wenn das Be-
gen und Sicherheitshinweise, wie sie den handlungsziel die Verbesserung der selek-
jeweiligen Gerätedokumenten zu entneh- tiven Bewegungsfähigkeit oder des aktiven
men, bzw. vom Hersteller zu erfragen sind, Bewegungsausmaßes ist.
zu beachten.
5.6.4
5.6.3 Arm-Robot-Therapie
Therapie mit virtueller Realität (VR)
Bei schweren Armlähmungen (z. B. kei-
Die Wirksamkeit von auf VR-basierten ne Bewegung gegen Eigenschwere mög-
Therapien hängt von ihren spezifischen lich) kann eine Arm-Robot-Therapie eine
Charakteristika ab und ob sie relevante sinnvolle Ergänzung sein. Therapeutisch
therapeutische Prinzipien für bestimmte supervidiert können spezifische Bewe-
Patientengruppen implementieren. Einge- gungen, die noch nicht selbstständig aus-
setzt wurden kommerzielle Spielkonsolen geführt werden können, technisch unter-
(z. B. Xbox Kinect, Nintendo Wii, IREX und stützt mit hohen Repetitionsraten geübt
PlayStation) bzw. spezifische Reha-Syste- werden. Es können – je nach Gerät – ent-
me (z. B. Reinforced Feedback in Virtual weder Schulter- und Ellenbogenbewegun-
Environment, RehabMaster und YouGrab- gen (z. B. mit dem MIT-Manus, dem MIME
ber). oder NeReBot), Unterarm- und Handge-
In einem Cochrane Review, der 72 lenksbewegungen (z. B. NeReBot [Unter-
häufiger kleinere RKS und quasi-rando- arm], Bi-Manu-Track, Hand Mentor) oder
misierte Studien mit 2.470 Teilnehmern Fingerbewegungen (z. B. mit dem Reha-
einschloss, ergab der Vergleich VR versus Digit, dem Amadeo, Hand Mentor bzw.
konventionelle Therapie in Bezug auf Arm- ReHapticKnob) aktiv beübt und deren Res-
funktion und -aktivitäten keinen Vorteil für titution im Sinne der Willküraktivität geför-
die VR-behandelten Patienten; anders sah dert werden.
es beim Vergleich zusätzliche VR versus Die (überlegene) Wirksamkeit von
„übliche Behandlung“ (alleine) Therapie Arm-Robot-Therapien im Vergleich zu
aus, hier zeigte sich ein moderater Vorteil Kontrollgruppen (andere Geräte, Therapie
für die zusätzliche VR-Therapie in Bezug ohne Geräte, keine Therapie [selten; meist
auf Armfunktion und -aktivitäten (Laver war die Therapiedauer in den Studien
et al. 2017). Die Ergebnisse eines anderen gleich]) auf Armkraft, Armfunktion (Schä-
systematischen Reviews sprechen dafür, digung und Aktivität) und Alltagsaktivitä-
dass Patienten mit moderaten bis schwe- ten wurde in einem Cochrane Review, der
ren Armparesen am stärksten von VR-Be- 45 RKS mit 1.619 Teilnehmern einschloss,
5 · Neurorehabilitation der Armfunktion 111

mit kleinen bis mittleren Effektstärken be- angeboten werden kann, sollte sie bei sub-
legt (Mehrholz et al. 2018). akuten Schlaganfallpatienten durchgeführt
Die Überlegenheit einer spezifischen werden, wenn das Behandlungsziel die
Arm-Robot-Therapien (einer spezifischen Verbesserung der selektiven Beweglichkeit
Robot-Technologie, eines spezifischen An- bei schwerer Armlähmung (und mittelbar
satzes) gegenüber einer anderen konnte in der Armaktivitäten) ist. Auch im chroni-
einem systematischen Review mit Netz- schen Stadium kann eine Arm-Robot-The-
werk-Metaanalyse nicht nachgewiesen rapie für diese Indikation erwogen werden.
werden (55 RKS, 2.654 Teilnehmer, 28 Ge-
räte) (Mehrholz et al. 2020). 5.6.5
Im Vergleich zur zyklischen neuro- Repetitive transkranielle
muskulären (NMES) oder EMG-getrig- Magnetstimulation (rTMS) und
gerten Elektrostimulation (EMG-NMES) transkranielle Gleichstromtherapie
der Hand- und Fingerextensoren kann die („transcranial direct current stimulation,
Arm-Robot-Therapie effektiver sein, ist tDCS“)
aber auch in der Anschaffung kostspieliger,
und die untersuchten Geräte sind nicht Für die direkte Stimulation des motori-
alle kommerziell erhältlich. schen Kortex mittels repetitiver Magnetsti-
Sowohl für die neuromuskuläre Elek­ mulation (rTMS) liegt eine Reihe Studien
trostimulation als auch für die Arm-Robot- mit insgesamt ermutigenden Ergebnissen
Therapie ist zu bedenken, dass pro Gerät vor (Platz 2016): Es erfolgte entweder eine
bislang nur wenige spezifische Bewegun- erregbarkeitsmindernde (in der Regel nie-
gen beübt werden (können). Es verbessern derfrequente) Stimulation des kontralä-
sich die trainierten, z. B. proximalen Funk- sionalen motorischen Kortex oder eine
tionen (dann nicht die distalen Hand-/Fin- erregbarkeitssteigernde (in der Regel
gerfunktionen) vergleichbar zu in Intensität hochfrequente) Stimulation des ipsiläsio-
und Dauer analoger motorischer Therapie nalen motorischen Kortex. Behandlungs-
ohne Robot (Volpe et al. 2008). Robot-The- serien von wenigen Tagen bis zu vier Wo-
rapie für Hand- und Fingerfunktionen ver- chen wurden untersucht, teilweise finden
bessert diese (Zhao et al. 2022). Auch ist sich auch kombinierte rTMS-Protokolle
Arm-Robot-Therapie nicht wirksamer als sowohl des kontraläsionalen als auch des
intensivierte Armrehabilitation ohne Ro- ipsiläsionalen motorischen Kortex.
bot, die ggf. auch eher einen Alltagsüber- Eine Metaanalyse über 34 Studien mit
trag erreichen kann (Rodgers et al. 2020). 904 Teilnehmern wies einen anhaltenden
Folglich würde es zur umfassenderen positiven Effekt mittlerer Stärke auf die mo-
funktionellen Restitution des Einsatzes torische Erholung nach Schlaganfall nach;
verschiedener Arm-Hand-Robot-Geräte sowohl die kontraläsionale inhibitorische
bedürfen bzw. es bedarf oftmals zusätzli- niederfrequente rTMS als auch die ipsilä-
cher spezifischer nicht apparativ gestützter sionale exzitatorische rTMS (inklusive in-
Therapiemaßnahmen. Anders ausgedrückt termittierender Theta-Burst-Stimulation
stellen die apparativ unterstützten Verfah- (iTBS) waren effektiv mit einem Effektma-
ren im Behandlungskonzept für die Arm- ximum in Studien mit fünf Sitzungen (im
lähmung nach Schlaganfall einen wichti- Vergleich zu mehr als fünf Sitzungen); die
gen ergänzenden (aber in der Regel nicht Effekte waren etwas stärker bei Patienten
alleine hinreichenden) Baustein der The- mit subkortikalen Insulten und Patienten,
rapie dar. die früh nach dem Schlaganfall therapiert
Die Empfehlung lautet: Wenn eine wurden; nur wenige und keine schwerwie-
Arm-Robot-Therapie indikationsgerecht genden unerwünschten Wirkungen wur-
112 T. Platz, L. Schmuck

den dokumentiert (Zhang et al. 2017). Die Durchführung einer tDCS mit der
Auch der systematische Review von Xiang Indikation Verbesserung der Armmotorik
et al. 2019 (42 RKS mit 1.168 Schlagan- nach Schlaganfall wird daher nicht emp-
fallpatienten) zeigte über Studien hinweg fohlen.
stabil mittelgroße unmittelbare Effekte
auf die Erholung der Armfunktion und 5.6.6
-aktivitäten mit Effekt für die ADLs. Die Neuere Therapieansätze, die in der
Effekte waren wiederum früh nach dem Leitlinie noch nicht empfohlen wurden
Schlaganfall am stärksten ausgeprägt
und bei rein subkortikal Geschädigten, Im Nachgang soll mit Bezug auf jüngere
aber auch später nach Schlaganfall und Evidenz auf Behandlungsmethoden hin-
bei gemischt kortikal/subkortikaler Schä- gewiesen werden, für die ein positiver
digung nachweisbar und am größten in Behandlungseffekt nachgewiesen wurde,
Studien mit ein bis sieben rTMS-Sitzun- der jedoch bei der Leitlinienerstellung so
gen. Nebenwirkungen waren mild und noch nicht vorlag und entsprechend bei
bis auf Kopfschmerzen nicht häufig. Bei den Empfehlungen nicht berücksichtigt
Berücksichtigung der international abge- wurden.
stimmten Sicherheitsstandards (Rossi et Brain-Computer-Interface-[BCI-]basier-
al. 2009) kann die Methode als sicher er- tes Training registriert bewegungsbezo-
achtet werden. gene Hirnaktivität (EEG oder fMRI) und
Die Empfehlungen für eine rTMS lau- spiegelt diese wider oder nutzt sie für eine
ten: Zur Verbesserung der Armfunktion technisch unterstützte Bewegungsumset-
nach Schlaganfall sollte bei Patienten mit zung (z. B. mittels Elektrostimulation). In
(leichter bis) mäßiger Armparese im aku- einem systematischen Review mit 13 Stu-
ten/subakuten Stadium eine tägliche in- dien (233 Teilnehmer) konnte unmittelbar
hibitorische niederfrequente 1 Hz Stimu- nach Trainingsserien mit BCI-basiertem
lation des kontraläsionalen motorischen Training ein mittelgroßer Therapieeffekt
Kortex oder eine hochfrequente 3-, 5-, 10- auf die selektive Bewegungsfähigkeit nach-
oder 20-Hz Stimulation des ipsiläsionalen gewiesen werden (SMD 0,56, 95  % KI
motorischen Kortex (alternativ iTBS), z. B. 0,29 – 0,83; P < 0,0001) (Yang et al. 2022).
für fünf Tage durchgeführt werden, wenn Ähnliches zeigte auch ein weiterer syste-
dies angeboten werden und in erfahrener matischer Review mit Metaanalyse zum
Hand durchgeführt werden kann. Die The- BCI-basierten Training in der Armreha-
rapie kann auch im chronischen Stadium bilitation nach Schlaganfall (Nojima et al.
erwogen werden. Beim Einsatz der rTMS 2022). Dessen Ergebnisse sprachen auch
sollen die internationalen Sicherheitsstan- dafür, dass die Nutzung des sensomotori-
dards, Kontraindikationen und gerätespe- schen Rhythmus (SMR) als Signal (EEG)
zifischen medikolegalen Aspekte berück- und die Verbindung des Neurofeedback-
sichtigt werden Signals mit einer Elektrostimulation be-
Für die im Vergleich zur fokalen rTMS sonders vorteilhaft sein könnten.
am Gehirn weniger fokal einwirken- Eine andere Technologie, die sich für
de transkranielle Gleichstromtherapie die Armrehabilitation nach Schlaganfall
(„transcranial direct current stimulation, als klinisch nützlich erweisen könnte, ist
tDCS“) ließ sich in einem Cochrane Review die Nervus-vagus-Stimulation (VNS), kom-
(24 Studien, 985 Teilnehmer) am Ende der biniert mit aktivem motorischem Trai-
Behandlung weder für Absolutwerte noch ning. Die Ergebnisse von vier kleineren
für Veränderungswerte eine Wirksamkeit Studien und einer größeren Multicenter-
belegen (Elsner et al. 2020). studie wurden in einem systematischen
5 · Neurorehabilitation der Armfunktion 113

Review zusammengefasst (Zhao et al. schwerer Armlähmung haben und mit die-
2021). In vier Studien erfolgte eine inva- sem Behandlungsziel eingesetzt werden.
sive VNS (Stimulation des Nerven in der Analog gilt dies auch für andere Maß-
linken Halsseite über eine implantierte nahmen zur Lagerung, die das Herab-
Elektrode und Aggregat), in einer Studie hängen eines schwer gelähmten Armes
eine transkutane (nicht invasive) Stimu- verhindern wie die Nutzung eines Lage-
lation des Nerven im linken äußeren Ge- rungskissens oder eines Rollstuhltisches;
hörgang. Kombiniert mit rehabilitativem diese sollten grundsätzlich durchgeführt
Training wurde in den Experimentalgrup- werden („Expertenmeinung“).
pen mit VNS (sowie ähnlich in den Sub-
gruppenvergleichen bei invasiver bzw.
transkutaner VNS) eine stärkere Verbes- 5.8
serung der selektiven Beweglichkeit er-
Medikation
zielt (Fugl-Meyer Arm Motor Score MD
3,59, 95 %-KI 2,55 – 4,63; P < 0,00001). Bei 5.8.1
der invasiven VNS sind u. a. die poten- L-Dopa
ziellen Nebenwirkungen der Implanta-
tion (Rekurrensparese und Dysphagie) Die Studie von Scheidtmann et al. (2001)
zu bedenken. Im systematischen Review legt nahe, dass L-Dopa die motorische Er-
wurden keine vermehrten unerwünsch- holung nach einem Schlaganfall in der sub-
ten Wirkungen der invasiven VNS doku- akuten Phase unterstützen könnte. Darauf
mentiert (Relatives Risiko = 1,10; 95 %-KI basiert die Aussage, dass täglich 100 mg L-
0,92 – 1,32; P = 0,29) und keine explizit Me- Dopa über wenige Wochen bei subakuten
dizinprodukt-bezogenen Nebenwirkun- Schlaganfallpatienten mit schwerer Arm-
gen; in einer Studie mit transkutaner VNS parese eingesetzt werden können, um die
wurde eine Hautrötung am Stimulations- Armrehabilitation zu unterstützen (Be-
ort bei einem Teilnehmer berichtet. handlungsoption im Einzelfall). Dabei ist zu
beachten, dass der Einsatz für diese Indika-
tion einen „off-label“-Gebrauch darstellt.
5.7 Allerdings zeigte die DARS-Studie
(Ford et al. 2019) mit dem Patienten-be-
Vermeidung von Komplikationen:
richteten Ergebnis-Instrument ABILHAND
Lagerung, Taping und passives
als sekundärem Outcome nach acht Wo-
Bewegen chen, sechs und zwölf Monaten keinen
Effekt einer sechswöchigen L-Dopa Be-
Lagerungsorthesen und Taping von Gelen- handlung. ABILHAND erfasst interview-
ken des schwer betroffenen zentral-pareti- basiert die von Patienten wahrgenomme-
schen Armes sind nicht als Therapiemittel nen Schwierigkeiten bei der Durchführung
für die aktive Funktionserholung konzipiert bimanueller Alltagsaktivitäten als (leicht,
und fördern diese auch nicht (Verbeek et al. schwer, unmöglich).
2014); sie sollten für ein solches Behand-
lungsziel nicht angewendet werden. 5.8.2
Mehrstündiges Anlegen von Handge- d-Amphetamin
lenkslagerungsschienen (Bürge et al. 2008)
und glenohumerales Schulter-Taping (Ap- Für das Medikament Amphetamin wird
pel et al. 2014) können einen positiven, ggf. keine Empfehlung für die Anwendung au-
auch prophylaktischen Effekt auf Schmer- ßerhalb eines Studienprotokolls ausge-
zen in den behandelten Gelenken bei sprochen, da ein Nutzen auf die motori-
114 T. Platz, L. Schmuck

sche Erholung nicht sicher belegt ist (u. a. von Patienten wahrgenommene Schwie-
Martinsson et al. 2007). rigkeiten bei der Durchführung von fünf
uni- bzw. bimanuellen Alltagsaktivitäten,
5.8.3 die den Einsatz der Hände erfordern, und
Fluoxetin zwar mit einer fünfstufigen Likert-Skala
(„überhaupt nicht schwierig“ – „konnte
In einer placebokontrollierten RKS wurde ich gar nicht machen“). Auch war die Ge-
akuten Schlaganfallpatienten (n = 118), die samtbehinderung (gemessen mit der mo-
eine Hemiparese mit Armparese hatten, difizierten Rankin-Skala) durch Fluoxetin
nicht depressiv waren und keine schwere jeweils nicht beeinflusst. In den Fluoxetin-
neurologische Behinderung hatten, Gruppen (beide Studien) wurden jedoch
Fluoxetin (90 Tage 20 mg täglich) oder nach sechs Monaten weniger neue De-
Placebo verordnet (Chollet et al. 2011). pressionen festgestellt; andererseits gab es
Die für Alter, Schlaganfallanamnese und in den Verumgruppen häufiger Frakturen.
Fugl-Meyer Arm-Baselinewerte adjustierte Diese Daten sind entsprechend bei der
Gruppendifferenz der Veränderungsraten Nutzen-Risiko-Abwägung zu berücksichti-
(0 bis 90 Tage) beim FM Arm zwischen gen und entsprechend gegen einen Routi-
Verum- und Placebogruppe betrug 9,7 [3,6 neeinsatz von Fluoxetin zur Förderung der
bis 15,9] Punkte (MW [95%-KI]), wurde als Erholung nach Schlaganfall.
klinisch relevant erachtet. Die Behandlung
wurde gut akzeptiert (Drop-out-Rate in der 5.8.4
Verumgruppe zwei, in der Placebogruppe Cerebrolysin
drei Personen). Nebenwirkungen wurden
in der Verumgruppe numerisch häufiger In einer RKS mit akuten Schlaganfallpatien-
beobachtet für Übelkeit (9 % Verum vs. 0 % ten wurde untersucht, ob Cerebrolysin die
Placebo), Durchfall (12 % Verum vs. 7 % motorische Erholung, insbesondere der Ar-
Placebo) und in Bezug auf einen bei einer maktivitäten fördert (Muresanu et al. 2016).
Person der Verumgruppe auftretenden 208 Patienten wurden ab 24 bis 72 Std. nach
fokalen epileptischen Anfall. Darauf Schlaganfall für 21 Tage mit i. v. Cerebro-
basiert die Aussage, dass Fluoxetin zur lysin (30 ml/Tag) oder Placebo (Kochsalz-
Förderung der Erholung der Armmotorik lösung) und begleitend rehabilitativ be-
(Körperfunktionen) in der frühen Phase handelt. Nicht nur nach der Behandlung,
nach Schlaganfall erwogen werden kann sondern auch bei der Nachbeobachtung
(Behandlungsoption im Einzelfall). Der 90 Tage nach Insult gab es deutlich stärke-
Einsatz für diese Indikation stellt einen re Verbesserungen in der Verum-Gruppe.
„off-label“-Gebrauch dar. Die mittleren Veränderungen von Base-
Allerdings zeigen sowohl der EFFECTS line bis 90 Tage nach Insult betrugen für
Trial (2020, bei 1.382 Teilnehmenden) als den ARAT (primäre Variable) 30,7 ± 19,9
auch der FOCUS Trial (2019, bei 2.847 Teil- (MW ± SD) [Median 32,0, IQR 36,5] für Ce-
nehmenden) nach sechs Monaten keinen rebrolysin und 15,9 ± 16,8 [Median 11,0,
Effekt von 20 mg Fluoxetin auf den sekun- IQR 22,0] nach Placebogabe. Auch der
dären Outcome Stroke Impact Scale, Do- „globale Status“, der mit zwölf verschiede-
mäne Hand Ability (FOCUS trial: MW und nen Skalen erhoben wurde, zeigte eine re-
Bereich nach sechs Monaten; Fluoxetin levante Überlegenheit der Erholung in der
45,00 (0,00 – 90,00), Placebo 50,00 (0,00– Cerebrolysin-Gruppe (Mann–Whitney esti-
90,00), P=0,4824; EFFECTS: Fluoxetin 81,3 mator 0,62; 95 %-KI 0,58 – 0,65; P < 0,0001).
(50,0 –100,0), Placebo 87,5 (50,0 – 100,0); Das Sicherheitsprofil von Cerebrolysin war
P = 0,99). Die Domäne Hand Ability erfasst dem der Placebobehandlung vergleichbar.
5 · Neurorehabilitation der Armfunktion 115

Entsprechend kann Cerebrolysin bei (sub-) einzelner Verfahren für bestimmte (Sub-)
akuten Schlaganfallpatienten mit relevan- Gruppen von Patienten (je nach Schwere-
ter Armparese erwogen werden, wenn Be- grad der Parese und Zeitpunkt nach Schlag-
handlungsziele die motorische Erholung anfall) und Behandlungsziele (motorische
der Hand-/Armfunktion und insgesamt die Kontrolle/Schädigung, Aktivitäten).
funktionelle Erholung sind. Das Medika- Die Therapiewahl hängt zunächst von
ment ist in Österreich für die Schlaganfall- den übergeordneten individuellen Thera-
behandlung zugelassen. piezielen ab. Eine Sekretärin, die wieder
in ihren Beruf zurückkehren möchte, hat
5.8.5 andere Bedürfnisse und Ziele für die The-
Botulinumtoxin-Behandlung rapie als eine berentete Person, die ihren
Alltag zu Hause wieder bestreiten können
Hierauf wird im Kapitel „die Behandlung möchte.
der Spastik im rehabilitativen Kontext“ ein- Die therapeutischen Entscheidungen
gegangen. bei der Auswahl des Therapieverfahrens
richten sich des Weiteren inhaltlich nach
5.8.6 dem Schweregrad der Armlähmung und
Lokale Injektionsbehandlung bei danach, wie lange der Schlaganfall be-
Schulterschmerz reits zurückliegt. In der Akut- und Sub-
akutphase nach einem Schlaganfall wird
Bei subakuten und chronischen Schlagan- das Thema „Wiederherstellung der moto-
fallpatienten mit Schulterschmerzen, die rischen Funktionen“ oftmals eine größere
klinisch das Bild einer „frozen shoulder“ Rolle spielen, später häufiger der primä-
oder eines „Impingement-Syndroms“ bie- re Aktivitätsbezug. Dabei ist auch das in-
ten, kann parallel zur physikalischen und dividuell wahrscheinliche Erholungspo-
Übungstherapie eine (je nach klinischer tenzial zu berücksichtigen (Plantin et al.
Präsentation differenzierte) intraartikuläre 2021; Stinear et al. 2017). Einerseits sol-
Injektion mit Lokalanästhetikum und Glu- len Betroffenen keine Therapie vorent-
kokortikoid (9 ml 2 % Prilocain und 1 ml halten werden, die ihre Behandlungsziele
Triamcinolonacetat) durchgeführt wer- zu erreichen wahrscheinlich unterstüt-
den, um Schmerzen und passive Beweg- zen; andererseits sind die Aufwendungen
lichkeit therapeutisch zu verbessern (Lak- und Belastungen, die mit nicht aussichts-
se et al. 2009). Eine Alternative ist 40 mg reichen Maßnahmen verbunden sind, zu
Triamcinolonacetat i. a. oder Botulinum- vermeiden.
toxin A niedrig dosiert in die betroffene Unabhängig von diesen individuellen
Schultermuskulatur (Lim et al. 2008) zu Faktoren gibt es auch allgemeine Grund-
injizieren. sätze, die bei der Armrehabilitation nach
Schlaganfall berücksichtigt werden soll-
ten, wenn eine funktionelle Restitution an-
5.9 gestrebt wird:
Q Motorisches Lernen setzt – auch bei ei-
Klinisches Vorgehen bei der Auswahl
ner Armlähmung nach Schlaganfall –
der Verfahren
häufiges Wiederholen einzelner Übun-
Die Gestaltung der Armrehabilitation nach gen voraus,
Schlaganfall berücksichtigt viele individu- Q das Training soll die individuell rele-
elle Belange, ferner allgemeine Grundsät- vanten Funktionsstörungen (Schädi-
ze einer wirksamen Behandlung sowie die gung, „impairment“) spezifisch und
Kenntnis (Evidenz) über die Wirksamkeit umfassend adressieren,
116 T. Platz, L. Schmuck

Q oftmals wird ein ausreichend intensi- können die für die Bewegung zuständi-
ves, möglichst (werk-)tägliches Trai- gen Netzwerke aktiviert werden, ohne dass
nieren erforderlich sein, die Bewegungen mit dem betroffenen Arm
Q insbesondere bei leichter betroffenen schon in gleichem Maße aktiv ausgeführt
Patienten oder Geräteunterstützung werden können. Eine Aktivierung dieser
kann dies in Teilen auch als supervi- Netzwerke kann auch durch eine sensible
diertes, strukturiertes Eigentraining (z. B. thermische) Stimulation des Armes
durchgeführt werden, erreicht werden. Ziel in dieser Therapie-
Q das Training sollte sich in der beüb- phase ist es, die basale Bewegungsfähigkeit
ten Domäne jeweils an der Leistungs- im Arm wiederherzustellen.
grenze orientieren, die zu erzielenden
Funktionsverbesserungen sollen – zu- 5.9.2
mindest mittelbar – die Alltagskompe- Mittelschwere Armlähmungen
tenz fördern und
Q der Transfer in den Alltag sollte spezi- Der mittelschwer gelähmte Arm wird sich
fisch und aktiv bedacht sein. schneller erholen können als der schwer
gelähmte Arm, aber auch bei der mittel-
Im Weiteren sollen Hilfestellungen für die schweren Lähmung ist oft über einen län-
therapeutische Entscheidung gegeben geren Zeitraum Therapie notwendig. Die
werden, die den Schweregrad der Armläh- möglichen Therapieansätze sind hier ähn-
mung berücksichtigen. lich wie bei der schweren Armlähmung:
Neben dem Arm-Basis-Training kommen
5.9.1 ein aufgabenorientiertes Training, die Be-
Schwere und schwerste Armlähmungen wegungsinduktionstherapie (CIMT), The-
rapie mit virtueller Realität, die Spiegelthe-
Bei den schweren und schwersten Armläh- rapie und das mentale Training, zusätzlich
mungen ist es nicht leicht, therapeutische geräteunterstützte Therapien wie die neu-
Fortschritte zu erreichen. Oftmals ist über romuskuläre Elektrostimulation und die
viele Wochen bzw. über Monate hinweg Robottherapie in Frage, unterstützend ggf.
Therapie erforderlich. Da Patienten ihren die sensible Stimulation oder die repetitive
Arm nicht oder nur sehr begrenzt selbst Magnetstimulation des Gehirns. Ziel in die-
bewegen können, ist Unterstützung not- ser Therapiephase ist es, den Gebrauch des
wendig. Beim Arm-Basis-Training nimmt Armes im Alltag wieder zu ermöglichen.
der Therapeut das Gewicht des Armes des
Patienten ab und hilft Bewegungen, die ak- 5.9.3
tiv noch nicht oder nicht komplett selbst- Leichte Armlähmungen
ständig ausgeführt werden können, zu
ergänzen. Eine ähnliche Hilfestellung – al- Gerade bei der leichten Lähmung des Ar-
lerdings nur für wenige Bewegungen – bie- mes kann neben der Therapie mit dem
ten die neuromuskuläre Elektrostimulati- Therapeuten auch ein tägliches Eigentrai-
on, einschließlich der EMG-getriggerten ning sehr effektiv sein. In Klinik und Pra-
und funktionellen Elektrostimulation, und xis kann (auch schon bei mittelschwerer
Arm-Robot-Therapieverfahren, die beson- Lähmung) ein „Zirkeltraining“ mit meh-
ders viele Bewegungsrepetitionen ermög- reren Stationen zur Förderung verschie-
lichen. Auch die Spiegeltherapie und die dener Aspekte der Armmotorik, oftmals
Imagination (mentales Training) können aufgabenorientiert, nützlich sein. Ein Arm-
helfen, dem Gehirn Bewegungssehen bzw. funktionstraining in der Kleingruppe kann
Bewegungsgedanken zu ermöglichen. So sinnvoll sein. Wenn eine weitestgehende
5 · Neurorehabilitation der Armfunktion 117

Wiederherstellung bzw. ein hohes Maß an keit in den einzelnen Abschnitten des Ar-
Feinmotorik erreicht werden sollen, ist ein mes. Er besteht aus drei Untertests für den
– in der Regel dreiwöchiges – Arm-Fähig- Arm:
keits-Training indiziert. Ziel dieser Thera- 1. „Motorik der oberen Extremität“ (ma-
piephase ist es, die Geschicklichkeit, Präzi- ximal 66 erreichbare Punkte): Untersu-
sion und Geschwindigkeit der Armmotorik chung der aktiven Bewegungsfähigkeit
wiederherzustellen. des Armes,
2. „Sensibilität“ (maximal 24 erreichbare
Punkte): Untersuchung des Gefühls für
5.10 Berührung und für Bewegungen im Arm,
3. „passives Bewegungsausmaß/Schmerz“
Assessments
bei passivem Bewegen des Armes (ma-
Ob eine Armlähmung nach Schlaganfall ximal 44 erreichbare Punkte): Untersu-
vorliegt und wie stark sie ausgeprägt ist, chung eventueller Einschränkungen der
wird in der klinisch-neurologischen Unter- Beweglichkeit in den Gelenken und da-
suchung vom behandelnden Arzt und The- bei auftretender Schmerzen.
rapeuten festgestellt.
Wenn es darum geht, Therapiezie- Jeder einzelne geprüfte Aspekt wird mit
le festzulegen, geeignete therapeutische entweder 0 Punkten (nicht möglich), ei-
Vorgehensweisen auszuwählen und im nem Punkt (teilweise möglich) oder zwei
Verlauf die Therapieerfolge möglichst ob- Punkten (vollständig möglich) bewertet.
jektiv zu dokumentieren, können standar- Mit dem Untertest „Motorik obere Extre-
disierte klinische Beurteilungsmethoden mität“ kann vom schwer bis zum leicht
nützlich sein. Diese als „Beurteilungsska- betroffenen Arm die aktive Bewegungsfä-
len“ oder auch als „Assessment“-Verfah- higkeit sehr genau dokumentiert werden.
ren bezeichneten Tests basieren darauf, So können von der schweren Lähmung bis
dass bestimmte Aspekte der Armmotorik zur mittelgradigen und selbst bis zur leich-
mit den jeweils gleichen Aufgaben unter ten Lähmung Therapieerfolge aufgezeigt
standardisierten Bedingungen untersucht werden. Ein deutschsprachiges Manual ist
und beurteilt werden. publiziert (Platz 2006).
Für die Erfassung der Armmotorik sind
insbesondere drei Aspekte relevant: Q Action Research Arm Test
1. die Beurteilung der Kraft und aktiven Der Action Research Arm Test (ARAT) (Lyle
Bewegungsfähigkeit im betroffenen 1981) bedeutet übersetzt: Armtest für die
Arm, Erforschung von Armaktivitäten. Er ent-
2. die alltagsbezogene Beurteilung, ob hält 19 Aufgaben in vier Untertests (Grei-
und wie gut Aktivitäten mit dem ge- fen, Festhalten, Präzisionsgriff, grobe Be-
lähmten Arm gelingen und wegung). Fast alle Aufgaben erfordern das
3. die Beurteilung von Spastik. Greifen, Transportieren und Loslassen von
Objekten. Es können maximal 57 Punk-
Im Folgenden werden einige häufiger ein- te erreicht werden. Alle Aufgaben werden
gesetzte und empfohlene Tests zur Orien- einhändig durchgeführt. Die schwieri-
tierung vorgestellt (Prange-Losander 2021). geren Aufgaben werden nur dann unter-
sucht, wenn die einfacheren gelingen. Die
n Fugl-Meyer-Test Durchführung dauert etwa acht bis 15 Mi-
Der Fugl-Meyer-Test (FM), der 1975 von nuten, womit der Test sehr praktikabel für
Fugl-Meyer und Kollegen veröffentlicht Klinik und Praxis ist.
wurde, misst die gezielte Bewegungsfähig-
118 T. Platz, L. Schmuck

Q Box-and-Block Test Q „REsistance to PAssive movement Scale“


Der Box-and-Block Test (BBT) (Mathio- (REPAS)
wetz et al. 1985a), (übersetzt: Würfel- und „REsistance to PAssive movement Sca-
Kisten-Test) untersucht die manuelle Ge- le“ (REPAS) bedeutet übersetzt: Skala für
schicklichkeit des betroffenen Armes. Der den Widerstand gegenüber passiver Be-
Box-and-Block Test besteht aus einem wegung. Basierend auf der Ashworth-Ska-
rechteckigen Kasten aus Holz, in dessen la wurde u. a. auch für den Arm eine soge-
Mitte eine Trennwand eingebracht ist. nannte „Summen-Skala“ entwickelt, die
Auf einer Seite der Trennwand liegen 150 über verschiedene Armbewegungen hin-
Holzwürfel mit einer Kantenlänge von weg den Widerstand gegenüber passiver
2,5 cm. Die zu testende Person erhält die Bewegung misst und damit die Spastik in
Aufgabe, innerhalb einer Minute so viele den Armen (und Beinen) insgesamt doku-
Würfel wie möglich von der einen Hälfte mentieren kann. Dieser Test wird REPAS
des Kastens in die andere Hälfte zu trans- genannt (Platz et al. 2008). Die Durchfüh-
portieren. Der Test wird einhändig mit der rung dauert nur wenige Minuten und kann
betroffenen Hand durchgeführt. Je mehr das Ausmaß der Spastik in den Armen (und
Würfel in der gleichen Zeit transportiert Beinen) und deren Veränderung nach The-
werden können, desto größer ist die ma- rapie dokumentieren (Borg et al. 2011).
nuelle Geschicklichkeit. Wenn Patienten
bereits mit ihrem betroffenen Arm greifen,
hantieren und loslassen können, ist der 5.11
Box-and-Block Test ein für Klinik und Pra-
Zusammenfassung
xis sehr geeigneter Test, um die Verände-
rungen in der Geschicklichkeit auch nach In der nachfolgenden Tabelle (Tab. 5.1 )
Therapie zu dokumentieren. sind je nach Schwere der Lähmung alter-
native Therapiemöglichkeiten aufgeführt.
Q Nine-Hole-Peg Test Es soll, je nach Schwere der Armlähmung,
Der Nine-Hole-Peg Test (NHPT) (Mathio- eine Orientierung über Therapiealterna-
wetz et al. 1985b) bedeutet übersetzt: Stif- tiven und Zusatzoptionen gegeben wer-
te-Test mit neun Löchern. Der NHPT misst den. Bei der Behandlungsentscheidung
die Fingergeschicklichkeit. Der Test be- sind immer auch die individuellen Präfe-
steht aus einer Platte, in der auf der einen renzen des Patienten und Erfahrungen des
Seite eine Schale eingearbeitet ist, in der Behandlers, sowie die Gesamtrehabilitati-
neun kurze Stifte liegen und auf der ande- onsplanung und die lokalen Gegebenhei-
ren Seite gibt es eine Lochplatte mit neun ten als integrale Bestandteile der Therapie-
Löchern , in die die kurzen Stifte gesteckt entscheidung zu berücksichtigen.
werden können. Die Testaufgabe besteht
darin, in möglichst kurzer Zeit alle neun
Stifte in die Löcher zu stecken und an-
schließend wieder in die Schale zu legen.
Je schneller dies gelingt, desto größer ist
die Fingergeschicklichkeit. Wenn Patien-
ten bereits solche feinen Greifbewegungen
durchführen können, ist der Test für Klinik
und Praxis geeignet, Fingergeschicklich-
keit zu messen und auch, um die Verbes-
serung im Rahmen einer Therapie zu do-
kumentieren.
5 · Neurorehabilitation der Armfunktion 119

Tab. 5.1: Therapeutische Entscheidungshilfe bei der Therapie von Armlähmungen nach Schlaganfall

(1) Schwere Armlähmung


Empfohlene Therapie-Alternativen – Arm-Basis-Training
– Arm-Robot-Training
– Spiegeltherapie
– Bilaterales Training
– Neuromuskuläre Elektrostimulation
Zusätzliche Therapie-Optionen – Mentales Training
– VR-Applikation mit Geräteunterstützung
– Sensible Stimulation
– Akupunktur
– Lagerungsschienen und Taping
– Fluoxetin, L-Dopa-Medikation (beides „off-label“-Gebrauch);
Cerebrolysin (Zulassung in AT)
(2) Mittelschwere Armlähmung
Empfohlene Therapie-Alternativen – Zirkeltraining, supervidiertes Eigentraining
– Arm-Basis-Training
– Aufgabenorientiertes Training
– Bewegungsinduktionstherapie (bei „learnt-non-use“)
– Therapie mit virtueller Realität
– Spiegeltherapie
– Bilaterales Training
– Arm-Robot-Therapie
– Neuromuskuläre Elektrostimulation
Zusätzliche Therapie-Optionen – Rumpfrestriktion
– Repetitive transkranielle Magnetstimulation
– Mentales Training
– Sensible Stimulation
– Akupunktur
– Fluoxetin („off-label“-Gebrauch); Cerebrolysin (Zulassung in AT)
(3) Leichte Armlähmung
Empfohlene Therapie-Alternativen – Supervidiertes Eigentraining
– Zirkeltraining
– Arm-Fähigkeits-Training
– Aufgabenorientiertes Training
– Bewegungsinduktionstherapie (bei „learnt-non-use“)
Zusätzliche Therapie-Optionen – Rumpfrestriktion
– Sensible Stimulation
– Repetitive transkranielle Magnetstimulation
„off-label“-Gebrauch: Medikament ist für diesen Einsatz nicht (amtlich) zugelassen
120 T. Platz, L. Schmuck

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123

6
Neurorehabilitation von Stand und Gang
Jan Mehrholz

6.1 können, ist im Weiteren ein Risikofaktor


Einleitung für Depression und sekundäre Dekonditi-
onierung des ohnehin schon geschwäch-
Gesundheitswissenschaftliche Erhebun- ten Herz-Kreislauf-Systems. Somit ist nicht
gen beschreiben deutliche Einschränkun- verwunderlich, dass 30 – 40 % der Patienten
gen und Behinderungen bei Alltagaktivitä- unter depressiven Störungen leiden und
ten bei 50 bis 75 % aller Patienten, welche 10 – 15 % unter schweren Depressionen
einen Infarkt überlebten (Bonita et al. 1997; (Kauhanen et al. 1999). Die Hälfte aller Pa-
O’Mahony et al. 1999). Über 75 bis 80 % al- tienten nach Schlaganfall braucht bei jegli-
ler Patienten nach Schlaganfall sind nur in- cher Alltagstätigkeit Hilfe und verrichtet im
nerhalb des Wohnbereichs gehfähig, ledig- Tagesverlauf nach eigener Einschätzung
lich 55 % leben weitgehend selbstständig. keinerlei bedeutende soziale, kreative oder
Beinahe die Hälfte aller Patienten kann in irgendeiner Art und Weise sinnvoll be-
das Haus nicht verlassen, 70 % der Gehfä- schäftigende Tätigkeit (Thorngren et al.
higen erreichen keine „normale“ Gehge- 1990). Der neurologischen Rehabilitation
schwindigkeit, um Ampelanlagen sicher von Stand und Gang kommt somit eine er-
zu überqueren, 35 % sind bei der Körper- hebliche Bedeutung zu.
pflege stark eingeschränkt oder benötigen
dabei Hilfe (Bonita et al. 1997; O’Mahony
et al. 1999). 6.2
Das Wiedererlangen der Gehfähigkeit
Balance, posturale Kontrolle
ist eines der wichtigsten Ziele von Patien-
ten nach Schlaganfall und deren Angehö- Balance kann schlicht definiert werden als
rigen. Drei Monate nach akutem Schlagan- die Fähigkeit, das Körpergewicht und damit
fall sind noch etwa 25 % der Patienten auf den eigenen (Körpermassen-)Schwerpunkt
einen Rollstuhl angewiesen. In der statio- im Verhältnis zu einer Unterstützungs-
nären Rehabilitation nach Schlaganfall ist fläche zu kontrollieren (Carr u. Shepherd
vor allem die Physiotherapie auf die Wie- 2010; Ghez 1991). Balance beinhaltet da-
derherstellung der Balance- und Gehfähig- bei die Regulation der Körpersegmentbe-
keit spezialisiert. Durch Einschränkungen wegungen der entsprechenden und un-
der Gehfähigkeit sind zahlreiche Alltags- terstützenden Gelenke über der Basis der
leistungen wie selbstständige Toiletten- Unterstützungsfläche (MacKinnon u. Win-
gänge, Essenszubereitung, Aufstehen und ter 1993). Viele verschiedene Begriffe exis-
Hinsetzen nur mit viel Unterstützung von tieren in der Literatur, um Balance näher
Hilfspersonen möglich. Nicht gehen zu zu beschreiben bzw. zu erläutern. So be-
124 J. Mehrholz

schreibt der Begriff posturale Stabilität sueller, sensorischer und motorischer Sys-
(engl. „postural stability“) die Fähigkeit, teme. Wichtig zum therapeutischen Ver-
eine Position im Raum beständig beizube- ständnis der Behandlung der Balance ist,
halten (Carr u. Shepherd 2010). Das Beibe- dass diese antizipatorisch und keinesfalls
halten dieser posturalen Stabilität ist ein primär reaktiv erfolgt (Carr u. Shepherd
dynamischer und antizipatorischer (zeit- 2010; Mückel et al. 2014). Das bedeutet,
lich vorweggenommener) Prozess, der ein dass Ausgleichsbewegungen zur Siche-
Gleichgewicht zwischen allen stabilisie- rung der Balance bereits vor dem Ausfüh-
renden und destabilisierenden Kräften er- ren einer Bewegung geplant bzw. vorweg-
fordert, sodass der Körper in der intendier- genommen (antizipiert: Ausweichen bei
ten Position verbleibt oder dazu in der Lage entgegenkommenden Personen) werden.
ist, die intendierte Bewegung fortzuführen Das Üben der Balance sollte daher die Be-
ohne die Balance zu verlieren (Carr u. She- wegungsvorwegnahme von Patienten in
pherd 2010; Melvill-Jones 2000). der Rehabilitation nach Schlaganfall un-
Der Begriff posturale Kontrolle (engl. bedingt berücksichtigen. Die Schwie-
„postural control“) beschreibt typischer- rigkeit besteht vor allem darin, dass die
weise die Mechanismen, mit denen wir Bewegungsvorwegnahme(-planung) des
unsere Balance kontrollieren (Carr u. She- Patienten nicht unmittelbar sichtbar für
pherd 2010). Posturale Kontrolle wiederum die Therapeuten ist. Wichtig ist, dass eine
wird aufrechterhalten durch posturale Ad- reaktive „Kontrolle“ der Balance nur in
aptierungen (engl. „postural adjustments“) „Notfällen“ erfolgt (Beispiel für reaktive
d. h. durch das wiederum antizipatorische Sicherung der Balance: plötzliches unvor-
Anpassen von Muskelaktivitäten und kör- hergesehenes Angeschubstwerden in Fuß-
persegmentalen Bewegungen (Carr u. She- gängerzonen). Das Üben der reaktiven Si-
pherd 2010). Es sind insbesondere Mus- cherung der Balance sollte ebenso geübt
kelaktivitäten und Gelenksbewegungen, werden, ist aber deutlich einfacher für The-
die auf direkte Art und Weise die Balan- rapeuten mit Patienten zu üben (Beispiel
ce sichern oder wiederherstellen (Carr u. „Schubstraining“).
Shepherd 2010). Der Begriff Haltung (engl. Auch ist zu beachten, dass es die Balan-
„posture“) wiederum beschreibt das Ver- ce als solche nicht gibt (Carr u. Shepherd
hältnis von Körpersegmenten zueinan- 2010). Vielmehr sind es eine Vielzahl an
der und zur Umgebung (Carr u. Shepherd Alltagssituationen die unterschiedliche
2010). Obgleich der Begriff der posturalen Anforderungen an die posturale Kontrol-
Orientierung auch eine gewisse posturale le, also eine spezifische Balance erfordern:
Kontrolle impliziert, ist hierbei jedoch oft- zum Beispiel beim Greifen im Sitzen inner-
mals die (Körper-)Orientierung im Raum oder außerhalb der Armreichweite oder
gemeint (Perennou 2006), die freilich beim Aufstehen und Hinsetzen. Auch die-
durch eine Vielzahl an Symptomen gestört ser weitere Punkt sollte in der Rehabilita-
sein kann (Beispiel Neglect). tion nach Schlaganfall und anderen neu-
Ferner wird zwischen statischer und rologischen Krankheitsbildern unbedingt
dynamischer Balance unterschieden (Mü- berücksichtigt werden.
ckel et al. 2014): statische Balance als die  
posturale Kontrolle im Sitzen und Stehen 6.2.1
und dynamische Balance als die postura- Balance Assessments
le Kontrolle in der Fortbewegung wie zum
Beispiel beim Gehen. Zum Assessment der Balance liegen mitt-
Die Aufrechterhaltung der Balance ist lerweile eine Reihe validierter Skalen
eine komplexe Interaktion vestibulärer, vi- vor (Tyson et al. 2009; Tyson u. Connell
6 · Neurorehabilitation von Stand und Gang 125

2009). Eine systematische Übersichtsarbeit die zeigte, dass Gehübungen unabhängig


schloss 2009 insgesamt 19 verschiedene von einer ausreichenden Sitz- und Steh-
Skalen zur Messung von Balance ein und balance der Patienten durchgeführt wer-
bewertete deren psychometrische Eigen- den können und sollten (Horn et al. 2005).
schaften und Praktikabilität (Tyson u. Con- Das heißt, dass Sitzen nicht unbedingt vor
nell 2009). Nach Evaluation der einzelnen dem Stehen und Stehen nicht ultimativ vor
Testverfahren wurden vor allem das „Bru- dem Gehen geübt werden sollte. Auch die
nel Balance Assessment“, die „Berg Balan- Arbeit von Kirker et al. zeigte Ergebnisse,
ce Scale“, die „Trunk Impairment Scale“, die für eine solche Hypothese („stepping
Arm-vorwärts-Reichen im Sitzen und Ste- before standing“) sprechen (Kirker et al.
hen („reach-test“), Gewichtsverlagerun- 2000). Insgesamt sollte Balance demnach
gen und Schritt-Tests für den klinischen nicht nach einem hierarchischen Behand-
Einsatz zur Messung der Balance empfoh- lungsparadigma geübt werden. Gehen
len (Tyson u. Connell 2009). sollte somit unabhängig von den Balan-
cefähigkeiten der Patienten geübt werden.
6.2.2 Die Verbesserung der posturalen Kontrolle
Balance Training sollte ein wichtiger Bestandteil der neuro-
logischen Rehabilitation sein.
Die Balance ist insgesamt eine wichtige Ein weiterer wesentlicher Bestandteil
Voraussetzung für eine Vielzahl an Alltags- in der Physiotherapie und beim Balance-
aufgaben (Tyson et al. 2006) und ein Prä- training ist die Anzahl, die Dauer und die
diktor für Alltagsaktivitäten (Geurts et al. Gestaltung von Pausen. Allerdings ist die
2005; Verheyden et al. 2006). internationale Studienlage zur Pausenge-
Daher wird therapeutisch oftmals ab- staltung beim Balancetraining allenfalls
geleitet, dass eine bestimmte Reihenfolge übersichtlich. Allgemein angenommen
verschiedener Ausgangspositionen in der wird, dass die Pause zwischen den Übungs-
Therapie nach Schlaganfall einzuhalten blöcken umso länger sein sollte, je an-
sei. Zum Beispiel könnte man annehmen, spruchsvoller bzw. herausfordernder die
dass erst, wenn Patienten nach Schlagan- Übung ist. So könnte man vermuten, dass
fall frei sitzen und/oder stehen können, die Pause zwischen motorischen Übungs-
anschließend das Gehen geübt werden blöcken doppelt so lang sein sollte wie die
sollte. In der Literatur wird jedoch darauf Übungsdauer, um ein optimales motori-
hingewiesen, dass eine fehlerfreie postura- sches Lernen zu erreichen. Im Gegensatz
le Kontrolle z. B. im Sitzen oder im Stehen dazu existiert im Sport die Idee der soge-
nicht unbedingt nötig ist, um effektiv oder nannten „lohnenden Pause“, was bedeutet,
überhaupt gehen zu lernen (Horn et al. dass man sich keinesfalls komplett erholen
2005; Kirker et al. 2000). An der Studie von sollte, sondern bereits vor vollständiger Er-
Horn et al. beeindruckend ist die große An- holung weiter übt (gekoppelt an die Herz-
zahl untersuchter Patienten (n = 830). Der frequenz). In der Praxis würde das bedeu-
Anteil der Physiotherapie, welche mit Geh- ten, dass man nach einem intensiven Üben
übungen verwendet wurde, sagte als einzi- die Pause nur so lang wählt, dass die Herz-
ge (physiotherapeutische) Aktivität in allen frequenz sich zwar absenkt, jedoch nicht
Analysen das Ergebnis der Rehabilitation auf das Niveau der Ruheherzfrequenz. Im
vorher, und selbst die Wahrscheinlichkeit therapeutischen Alltag wird jedoch häufig
für schwer betroffene Patienten, nach Hau- argumentiert, dass wir gerade beim moto-
se entlassen zu werden, war deutlich hö- rischen Üben und Lernen andere Marker
her, wenn vor allem „Gehen“ umfangreich zur Pausengestaltung nutzen, zum Beispiel
geübt wurde (Horn et al. 2005). Die Stu- die korrekte Übungsausführung bzw. de-
126 J. Mehrholz

blöcken. Verbesserungen in den Gruppen


wurde mit der Dauer des Einbeinstands
bzw. des Tandemstandes (als einfache
Marker hinsichtlich der Standstabilität
bzw. Standbalance) im Anschluss an das
Üben gemessen.
Im Ergebnis zeigte sich, dass die Grup-
pe mit deutlich verkürzter Pausendauer
mindestens die gleichen Ergebnisse im
Einbandstand und im Tandemstand er-
reichte. Die Ergebnisse können so inter-
pretiert werden, dass zumindest bei ein-
fachen Balanceübungen zur Verbesserung
der Standsicherheit nach Schlaganfall kür-
zere Pausen, z. B. 50 % der Übergangszeit,
ausreichend sind, um Verbesserungen der
Balance bzw. Sicherheit im Stand zu errei-
chen.
In der Frühphase nach Schlaganfall
sieht man häufig eine geringe Sitzbalance
bzw. eine reduzierte Sitzstabilität, welche
sich u. a. durch eine verringerte Belastung
Abb. 6.1: Externer Aufmerksamkeitsfokus der paretischen Seite und eine verringer-
te Verlagerung bei Greifbewegungen im
Sitzen äußert. Physiotherapeutische In-
ren Präzision. Das bedeutet, dass bei einer terventionen können dort sehr spezifisch
deutlichen Verschlechterung der Übungs- ansetzen. Dabei sollte auf aktuelle Er-
ausführung eine Pause angebracht ist. kenntnisse des Motorischen Lernens ge-
Dennoch ist bislang völlig unklar, wie lang achtet werden (Mückel u. Mehrholz 2014).
eine solche Pause zwischen einzelnen mo- Wichtig bei der Behandlung der posturalen
torischen Übungssequenzen sein sollte. Kontrolle ist neben einem motivierenden,
Um die Dauer von Pausen beim Ba- repetitiven, antizipatorischen und aufga-
lancetraining nach Schlaganfall wissen- benorientierten Ansatz auch die Art und
schaftlich genauer zu untersuchen, wur- Weise, wie Instruktionen in der Therapie
den zwanzig Patienten nach subakutem von Patienten nach einem Schlaganfall ge-
Schlaganfall, welche ein Balancetraining geben werden. Dabei sollte vor allem auf
im Stehen erhielten, per Losverfahren in Nutzung eines externen Aufmerksamkeits-
eine von zwei Gruppen eingeteilt (Els- fokus Wert gelegt werden (Johnson et al.
ner et al. 2020). Eine Gruppe erhielt zwi- 2013) (Abb. 6.1). In einer randomisierten
schen den einzelnen Übungsblöcken die kontrollierten Studie wurden 20 Patienten
im Vergleich zum Üben doppelte Pausen- nach Schlaganfall in Interventionsgruppe
dauer, die andere Gruppe erhielt eine im oder Kontrollgruppe randomisiert (Mückel
Vergleich zur Übungszeit lediglich 50%ige u. Mehrholz 2014). Beide Gruppen soll-
Pausendauer. Beide Gruppen erhielten so- ten im Sitz das Körpergewicht so weit wie
mit die gleiche Art und Anzahl an Balan- möglich zur nicht betroffenen Körperseite
ceübungen und die gleiche Übungsdauer, verlagern. Die Interventionsgruppe fokus-
jedoch unterschieden sich beide Gruppen sierte dabei einen Punkt in 20 cm Entfer-
in der Pausendauer zwischen den Übungs- nung (externer Aufmerksamkeitsfokus).
6 · Neurorehabilitation von Stand und Gang 127

Die Kontrollgruppe konzentrierte sich auf der Gangrehabilitation zu messen, sind im


die ipsiläsionale Körperhälfte (interner Sinne einer evidenzbasierten Rehabilitati-
Aufmerksamkeitsfokus) (Mückel u. Mehr- on zuverlässige und valide Testverfahren
holz 2014). Das Ausmaß und die Präzision der Gehfähigkeit gefordert. Derzeitige As-
der Gewichtsverlagerung wurden gemes- sessmentinstrumente zur Erfassung der
sen. Die extern fokussierenden Patienten Gehfähigkeit von Patienten nach Schlag-
konnten allein durch einen veränderten anfall reichen von hochkomplexen und
Aufmerksamkeitsfokus ihr Körpergewicht kostenintensiven Ganganalysesystemen
doppelt so weit zur gesunden Körperhälf- zur Erfassung kinematischer und kineti-
te verlagern wie die intern fokussierenden scher Variablen (Bowden et al. 2006) bis
Patienten (p = 0,006). Die Bewegungsprä- hin zu simplen klinischen Variablen wie
zision unterschied sich nicht signifikant beispielsweise der Gehgeschwindigkeit
(p = 0,085) (Mückel u. Mehrholz 2014) . (Eng et al. 2002). Allerdings machen die
hohen Kosten, die teilweise schwierige In-
6.2.3 terpretation und Kommunikation der Er-
Balance und Stürze gebnisse und auch Probleme in der Ver-
fügbarkeit die Ganganalyse manchmal
Stürze sind nach Schlaganfall häufig. Etwa nicht oder wenig praktikabel für die klini-
7 % aller Patienten stürzen in der ersten sche Routine (Mehrholz 2007). Klinische
Woche, innerhalb eines Jahres stürzen Gehtests wie der Timed Up & Go-Test, der
55 – 73 % aller Patienten nach Schlaganfall Zehn-Meter-Test, der Sechs-Minuten Geh-
(Verheyden et al. 2013). Oftmals wird ein test, der Dynamic Gait Index, der 4-Item-
enger Zusammenhang von Stürzen und Dynamic Gait Index oder das Functional
Stand und Gehfähigkeit vermutet, jedoch Gait Assessment bieten für die tägliche
sind viele Stürze multifaktoriell zu erklä- Routine klare Vorteile (Lin et al. 2010; Sal-
ren. Eine aktuelle Cochrane Übersichtsar- bach et al. 2001; Wade 1992). Die „Func-
beit zur Übungstherapie zur Sturzpräventi- tional Ambulation Categories“ (FAC) be-
on nach Schlaganfall schloss zehn Studien schreiben einen klinische Kategorisierung
mit insgesamt 1.004 Teilnehmern ein (Ver- des Gehens und wurden erstmal von Hol-
heyden et al. 2013). Im Ergebnis zeigte sich den beschrieben (Holden et al. 1984; Hol-
allerdings nicht, dass bestimmte Übungs- den et al. 1986). Die FAC unterteilen sechs
ansätze die Sturzrate nach Schlaganfall verschiedene Kategorien der Gehfähigkeit
signifikant beeinflussen könnten (Ver- auf der Grundlage personeller Unterstüt-
heyden et al. 2013). Ebenso scheint der Zu- zung. Die FAC sind in der klinische Routi-
sammenhang von Balance und Sturzhäu- ne einfach und schnell anzuwenden, leicht
figkeit noch nicht gänzlich geklärt. zu interpretieren und kostengünstig, da le-
diglich eine 15 Meter Gehstrecke, Innen-
bereich und Außenbereich, sowie Trep-
6.3 penstufen benötigt werden, um den Test
auszuführen. Untersuchungen zeigten für
Gehfähigkeit
die FAC-Kategorien exzellente Test-Retest-
6.3.1 und Inter-Rater-Reliabilität, gute Konkur-
Assessments Gehen renzvalidität und prädiktive Validität und
ausreichend Empfindlichkeit, um Verän-
Die Verbesserung der Gehfähigkeit ist ei- derungen der Gehfähigkeit in der Rehabi-
nes der wichtigsten Rehabilitationsziele litation von Patienten nach Schlaganfall zu
von Patienten nach Schlaganfall und An- erfassen (Mehrholz et al. 2007).
gehörigen (Bohannon 1987). Um Effekte
128 J. Mehrholz

6.3.2 In einem aktuellem Cochrane Review


Gehtraining beurteilte man die Effektivität dieses elek-
tromechanisch-assistierten Trainings zur
Aktuell lassen sich zwei grundlegende Wiederherstellung der Gehfähigkeit nach
Prinzipien zur neurologischen Rehabili- Schlaganfall, 62 randomisierte Studien
tation des Gehens aus wissenschaftlichen mit 2.440 Patienten wurden dabei einge-
Studien ableiten: schlossen (Mehrholz et al. 2020; Mehrholz
1. Zur Wiederherstellung und zur Verbes- et al. 2021). Im Ergebnis zeigte sich, dass
serung der Gehfunktion sollte in der elektromechanisch assistiertes Training
Physiotherapie ein aufgabenspezifisch in Kombination mit Physiotherapie die
repetitiver Ansatz favorisiert werden Wahrscheinlichkeit erhöht, selbstständig
(Dohle et al. 2015; French et al. 2007; gehen zu können (Odds Ratio [OR] = 2,01
Mehrholz et al. 2020; Veerbeek et al. (95 %-KI: 1,5– 2,7); P < 0,001, hohe Qualität
2014). der Evidenz). Dies entspricht einer Num-
2. Wichtige Unterscheidungen des Geh- ber Needed to Treat (NNT) von 8 (95 %-KI:
trainings nach Schlaganfall betreffen 7 – 11). Das bedeutet, dass jede achte Geh-
den Schweregrad bzw. die Gehfähig- behinderung vermeidbar wäre, wenn die
keit der Patienten. elektromechanische Gangrehabilitation
in der stationären Rehabilitation genutzt
6.3.2.1 wird. Insbesondere zu Beginn der Rehabi-
Der schwerbetroffene, nicht-gehfähige litation bzw. der Physiotherapie noch nicht
Patient gehfähige Patienten profitierten hinsicht-
Für den schwerbetroffenen nicht gehfähi- lich Verbesserungen der Gehgeschwindig-
gen Patienten nach Schlaganfall (definiert keit (Mehrholz et al. 2017b; Mehrholz et al.
als FAC 0 bis 3) kommen für die Verbesse- 2020; Mehrholz et al. 2021).
rung des Gehens bereits in der frühen Pha-
se der Gangrehabilitation Roboter- bzw.- 6.3.2.2
elektromechanisch assistierte Geräte und Der bereits gehfähige Patient
verwandte Technologien zum Einsatz. Bei- Für den bereits gehfähigen Patienten (de-
spiele sind elektromechanische Endeffek- finiert als FAC 3 – 5) kommt für die Ver-
tormodelle (Gangtrainer GT1(Hesse et al. besserung von Gangparametern und
2008)) und Exoskelett-Modelle (Lokomat Ausdauerleistung zum Beispiel das Lauf-
und LOPES) (Colombo et al. 2000; Mehr- bandtraining in Frage.
holz u. Pohl 2012; Mehrholz et al. 2018a; In einem Cochrane Review beurteil-
Mehrholz et al. 2020). te man die Effektivität von Laufbandtrai-
Der Unterschied der elektromecha- ning zur Verbesserung der Gehfähigkeit
nisch unterstützten Gangtherapie zum nach Schlaganfall. Es zeigte sich, nach Ein-
Laufbandtraining liegt darin, dass ein Teil schluss von 56 randomisierten Studien mit
des Gangzyklus teilautomatisiert ist und insgesamt 3.105 Patienten (Mehrholz et al.
dadurch die Arbeit der Therapeuten am 2017a), dass ein in die Physiotherapie im-
Patienten erleichtert bzw. ergonomisch be- plementiertes Laufbandtraining vor allem
günstigt wird (Mehrholz u. Pohl 2012). Auf- spezifische Gangparameter wie Gehge-
grund dessen sind höhere Schrittzahlen schwindigkeit und Gangausdauer verbes-
in der Therapie möglich, und bei schwe- sert.
rer betroffenen Patienten kann das Gehen Strukturiertes geschwindigkeitsab-
noch frühzeitiger und auch intensiver ge- hängiges Laufbandtraining in Kombinati-
übt werden als bisher (Werner et al. 2002). on mit anderen Rehabilitationsstrategien
6 · Neurorehabilitation von Stand und Gang 129

kann eine sinnvolle Erweiterung konventi- gleich zu einer konventionellen Gangre-


onellen Gehtrainings sein. habilitation bestimmte Ansätze wie das
Mögliche weitere Modifikationen des Endeffektor-assistierte Gehtraining signi-
Trainings könnten Vorwärts-, Rückwärts- fikant und klinisch bedeutsam die Gehge-
und Seitwärtsgehen, Erhöhung des In- schwindigkeit und die Gangausdauer nach
klinationswinkels (schräge Ebene), die Schlaganfall verbessern (Mehrholz et al.
Verlängerung der Phase maximaler Ge- 2018b). So erreichte auch die Laufband-
schwindigkeit und die Entwöhnung von therapie mit Teilkörpergewichtsentlastung
Unterstützungsmöglichkeiten wie dem im Vergleich zur konventionellen Gangre-
Handlauf und Doppelaufgaben zur Stabi- habilitation signifikante und klinisch be-
lisierung des Gehens unter Störreizen be- deutsame Verbesserungen der Gangaus-
inhalten (Mehrholz et al. 2017a). dauer.

6.3.3 6.3.4
Evidenz aus Netzwerkmetaanalysen Beachtung der Intensität des
Gehtrainings
Im klinischen Alltag wird häufig die Frage
gestellt: Welche Patienten profitieren von In den letzten Jahren zeigt sich vermehrt,
welcher Methode zur Verbesserung der dass es nicht allein auf die Auswahl des
Gehfähigkeit nach Schlaganfall? Ziel einer Therapiemittels bzw. der Geräte ankommt.
Studie mit Netzwerkmetaanalyse war es Mehrere Studien zeigen, dass die Intensi-
daher, nicht nur die aktuelle Evidenz der tät des Gehtrainings entscheidend für den
Gangrehabilitation nach einem Schlag- Erfolg der Therapie ist.
anfall zusammenzufassen, sondern auch Eine aktuelle Studie aus dem Jahre
sämtliche Ansätze zur Gangrehabilitation 2019 von Hornby et al. beschreibt in die-
direkt miteinander statistisch zu verglei- sem Zusammenhang den deutlichen Zu-
chen (Mehrholz et al. 2018b). sammenhang zwischen der Ganginten-
In die Auswertung wurden 95 rando- sität und der Gehgeschwindigkeit und
misierte kontrollierte Studien mit insge- Gangausdauer (Hornby et al. 2019). In
samt 4.458 Patienten nach Schlaganfall dieser Studie wurden 97 Patienten nach
eingeschlossen. Für den primären End- Schlaganfall im chronischen Stadium in
punkt Gehgeschwindigkeit erreichte das eine von drei Gruppen randomisiert. Die
Gangtraining mit Endeffektor-assistier- erste Gruppe erhielt ein hochintensives
ten Geräten signifikante Verbesserun- Gehtraining bei 70 – 80 % der Herzratenre-
gen (Mittelwertdifferenz, MD = 0,16 m/s; serve mit sehr variablen und damit unter-
95 %-Konfidenzintervall (0,04 – 0,28). An- schiedlichen Übungen, die zweite Gruppe
dere Interventionen verbesserten die Geh- erhielt das gleiche intensive Gehtraining
geschwindigkeit nicht signifikant. Für den wie in der ersten Gruppe, allerdings we-
sekundären Endpunkt Gangausdauer er- niger abwechslungsreich, da nur weniger
reichte das Endeffektor-assistierte Gang- unterschiedliche Übungen genutzt wer-
training und das Laufbandtraining mit den durften. Die dritte Gruppe erhielt ein
Körpergewichtsentlastung eine signifi- relativ gering intensives, aber abwechs-
kante Verbesserung (MD = 47 m, (4 – 90) lungsreiches Gehtraining bei lediglich
beziehungsweise MD = 38 m, (4 – 72). Die 30 – 40 % der Herzratenreserve.
Sicherheit der einzelnen Interventionen Im Ergebnis der Studie zeigte sich, dass
unterschied sich nicht voneinander. vor allen Dingen das hoch intensive Geh-
Auf der Basis dieser neuartigen Ana- training – unabhängig von der Variation
lyse kann diskutiert werden, dass im Ver- der Übungen – zu deutlichen Verbesse-
130 J. Mehrholz

rungen der Gehleistung, gemessen mit der Zeitraum von vier Wochen beschrieben.
Gehgeschwindigkeit und der Gangausdau- Das bedeutet, dass die Patienten vier Wo-
er, führte (Hornby et al. 2019). Die Ergeb- chen lang mit der relativ geringen Inten-
nisse bedeuten, dass vor allen Dingen der sität übten und insgesamt kaum ihre Trai-
hohe Belastungsanspruch hinsichtlich des ningsparameter steigerten.
Herz-Kreislauf-Systems bedeutende Ver- Im Ergebnis der PHYS-STROKE Stu-
besserungen erzielen lässt und weniger die die zeigte sich dann auch (wie in der Kon­
Variation der Übungsgestaltung. Das be- trollgruppe von Hornby et al.), dass eine
merkenswerte an der Arbeit von Hornby ist zu gering intensive, d. h. zu wenig anstren-
jedoch, dass es eine gewisse Mindestinten- gende Therapie eben keine eindeutigen Er-
sität (Mindestanzahl an Gehschritte pro gebnissen hinsichtlich einer Verbesserung
Minute) zu geben scheint. Es zeigte sich, der Gehleistung erwarten lässt. Die Ergeb-
dass ein Mindestmaß an 70 Schritten pro nisse sind somit wenig überraschend, be-
Minute erreicht werden muss, um über- deuten jedoch für die Praxis, dass wir über
durchschnittliche Ergebnisse hinsichtlich grundsätzlich höhere Intensitäten, Steige-
der Gangausdauer und der Gehgeschwin- rung und eine Mindestschrittzahl in der
digkeit zu erreichen. Für die Praxis könnte neurologischen Gangtherapie nachden-
somit neben der Herz-Kreislauf-Belastung ken sollten.
die Anzahl an Schritten pro Minute ein gu-
ter Marker zu Intensitätssteuerung sein 6.3.5
(Hornby et al. 2019). Neue Entwicklungen: mobile Exoskelette
Eine weitere Studie zu einem ähnli- (Synonyme: „powered exoskeletons“
chen Thema hat in den letzten Monaten oder „robotic exoskeletons“)
für Aufsehen gesorgt. Es handelt sich da-
bei um die multizentrische PHYS-STRO- Medienbilder und Marketingmaterialien
KE Studie (Nave et al. 2019). In diese Stu- suggerieren eine Zukunft, in der Menschen
die wurden insgesamt 200 Patienten im zum Beispiel nach Hirnschädigung oder
Zeitraum 5 – 24 Tage nach Schlaganfall in mit Rückenmarksverletzungen robotische
eine von zwei Gruppen eingeteilt. Die Pa- Exoskelette nutzen können, um nun mobil
tienten bekam entweder ein Laufbandtrai- mit dem Gerät alltägliche Aktivitäten wie-
ning mit Körpergewichtsentlastung für 25 der aufzunehmen, doch solche Darstel-
Minuten fünfmal die Woche über vier Wo- lungen stimmen möglicherweise nicht mit
chen als Zusatzbehandlung zur regulären der aktuellen technologischen oder gar kli-
Rehabilitation oder in der gleichen Dosie- nischen Realität überein (Fritz et al. 2019).
rung Entspannungsübungen (Nave et al. Die derzeitige Verwendung von roboti-
2019). Im Vergleich zur Arbeit von Hornby schen Exoskeletten in der Rehabilitation
et al. wurde hier jedoch eine relativ gering und im häuslichen Umfeld soll an dieser
intensives Gehtraining durchgeführt. Die Stelle etwas genauer vorgestellt und offen-
Patienten sollten beim Gehtraining ledig- sichtliche Vorteile und Grenzen der Geräte
lich eine Zielherzfrequenz von 50 bis 60 % anhand der aktuellen Evidenz beschrieben
der maximalen Herzfrequenz (Formel: 180 werden.
minus Lebensalter) erreichen. Die Trai- Im Jahr 2021 gab es insgesamt 17 publi­
ningsintensität war somit im Vergleich zur zierte (mehr oder weniger wirklich syste-
ersten Studie viel geringer (Hornby et al. matische) Übersichtsarbeiten zu Exoske-
2019). Auch wurden im Studienverlauf kei- letten mit insgesamt leider überwiegend
ne weiteren Steigerungen (bis auf die Nut- schlechter methodischer Qualität (Dijkers
zung unterschiedlicher Geräte bei gehfähi- et al. 2021). Die Qualität der Beschreibung
gen versus nicht gehfähigen Patienten) im der Patienten und der Interventionen in
6 · Neurorehabilitation von Stand und Gang 131

den vielen Übersichtsarbeiten entsprach der Gehfähigkeit nach Schlaganfall (Mehr-


nicht den allgemeinen wissenschaftlichen holz et al. 2020). Lediglich insgesamt drei
Erwartungen, und vielen Übersichtsarbei- Studien zu diesen Geräten beschrieben
ten fehlten wichtige klinische Variablen, zusammengefasst keine klinisch relevan-
wie zum Beispiel der Status der Gehfähig- ten Verbesserungen der Gehgeschwindig-
keit zu Beginn des Trainings, und Inter- keit. Insgesamt ist festzustellen, dass die
ventionen, wie zum Beispiel die Anzahl Entwicklung der nächsten Generation von
der Übungsstunden (Dijkers et al. 2021). Exoskeletten, die im Alltag nützlicher als
Der überwiegende Teil der Studie zu die gegenwärtigen sind, eine weitere und
mobilen Exoskeletten untersuchte bereits leicht enger abgestimmte Zusammenar-
gehfähige Patienten mit Querschnittläh- beit zwischen Ingenieuren, Klinikern und
mung. Die mobilen Exoskelette wurden in Patienten erfordert. Für die Rehabilitation
den bereits publizierten Studien vor allen bieten Exoskelette das Versprechen, Men-
Dingen schen mit neurologischen Verletzungen
1. als Hilfsmittel im Alltag beim Gehen die Möglichkeit zu geben, alltägliche Akti-
zum Beispiel zu Hause (Dijkers et al. vitäten aus dem Stand heraus quasi wieder
2021) und/oder aufzunehmen. Das Gewicht der Exoske-
2. als Gangtraining im Rahmen einer in- lett-Geräte, die Notwendigkeit von Stützen
dividuellen (womöglich stationären) für die oberen Extremitäten, der Überwa-
Rehabilitation (Dijkers et al. 2021) ge- chungsbedarf zu Hause und der begrenzte
nutzt. Bewegungsumfang sind Probleme, die die
Möglichkeiten für den Einsatz solcher Ge-
Da die meisten Studien zu mobilen Exoske- räte in der Praxis einschränken. Einerseits
letten bei bereits gehfähigen Patienten mit scheint eine weitere Entwicklung von Exo-
größtenteils guter Balance oder sehr guter skelett-Technologien gerechtfertigt, um die
Oberkörper- bzw. Armfunktion durchge- Geräte für den Einsatz in der Praxis zu ver-
führt wurden, scheint der Vorteil der Gerä- bessern. Andererseits ist eine sorgfältige
te vor allen Dingen für viele Patienten als Kosten-Nutzen-Abwägung im Sinne einer
Mobilitätshilfe zu Hause zu liegen. Nach evidenzbasierten Praxis ebenfalls bedeut-
Ansicht von Fritz et al. (2019) dagegen sam.
scheinen die in den USA derzeit zugelas- Im Folgenden werden einzelne Bei-
senen und verfügbaren Geräte für Rehabi- spiele für mobile Exoskelette-Geräte vor-
litationseinrichtungen besser geeignet zu gestellt, anschließend wird auf die Ver-
sein als für die Verwendung zu Hause. Das wendung der Geräte bei bestimmten
Gewicht der Geräte, die Notwendigkeit Krankheitsbildern eingegangen.
von Stützvorrichtungen für die oberen Ex-
tremitäten, der Überwachungsbedarf und 6.3.5.1
der eingeschränkte Bewegungsspielraum Indego® (www.indego.com)
sind nach Aussagen der Autoren allesamt Laut Herstellerangaben bietet das
Probleme, die die Funktionalität und die Indego®-Therapy-Exoskelett Klinikern die
Möglichkeiten für den Einsatz solcher Ge- Möglichkeit, mit einem einzigen, größen-
räte in realen Alltag einschränken (Fritz verstellbaren Gerät eine hochindividu-
et al. 2019). Allerdings ist die Studienlage elle, auf Rückenmarksverletzungen und
dieser Geräte für die stationäre Rehabilita- Schlaganfälle zugeschnittene Gangthera-
tion zum Beispiel zum Erlernen oder zum pie durchzuführen. Es hat laut Katalog ein
Verbessern der Gehfähigkeit sehr dürftig. modulares Design mit fünf miteinander
In einem aktuellen Cochrane Review von verbundenen Komponenten und ein Ge-
2020 gab es keine Studie zur Verbesserung wicht von nur 14,5 kg.
132 J. Mehrholz

In einer multizentrischen Kohorten- Mittlerweile existieren mehrere ran-


studie in Ambulanzen von fünf Rehabili- domisierte Studien zum Einsatz, zum Bei-
tationskliniken wurden 32 nach Autoren- spiel bei schwer betroffenen Patienten so-
angaben nicht gehfähige Personen mit wohl in der subakuten (Wall et al. 2020)
Querschnittlähmung für eine achtwöchi- als auch in der chronischen Phase nach
ge Therapie mit dreimaligem Gehtraining Schlaganfall (Palmcrantz et al. 2021).
pro Woche eingeschlossen (Tefertiller et In der ersten Studie wurden 32 subaku-
al. 2018). Die meisten Teilnehmer konn- te Patienten nach Schlaganfall in ein inte-
ten den Indego® selbstständig an- und ab- griertes HAL-Training (4 Tage/Woche für
legen. Am Ende der Therapie reichte die 4 Wochen) oder konventionelles Gehtrai-
mittlere Geschwindigkeit lag die durch- ning randomisiert.
schnittliche Endgeschwindigkeit im In- Zwar waren nach sechs Monaten zwei
nen- und Außenbereich 0,37 m/s. (Tefertil- Drittel der Patienten gehfähig, insgesamt
ler et al. 2018). ergaben sich jedoch weder für die primä-
ren noch für die sekundären Parameter
6.3.5.2 signifikanten Unterschiede zwischen den
ReWalk (ReStore Soft Exo-Suit) Gruppen (Wall et al. 2020). Es zeigte sich
(https://rewalk.com/de/restore-exo-suit/) somit keinen Vorteil der technologisch
Nach Herstellerangaben ist ReStore ein ak- aufwendigeren Therapie.
kubetriebener, leichter Soft Exo-Suit zur In der anderen Studie, welche 48 chro-
Rehabilitation von Schlaganfallpatienten nische Patienten nach Schlaganfall (Palm-
mit eingeschränkter Gehfunktion. crantz et al. 2021) im Alter von 18 bis 70
Eine multizentrische Studie aus 2020 Jahren zwischen ein bis zehn Jahre nach
(NCT03499210) schloss 44 Patienten mit dem Schlaganfall einschloss, wurde diese
Hemiparese nach Schlaganfall ein, welche in drei Gruppen eingeteilt:
ein ein- bis fünftägiges Training mit dem (A) HAL-Training auf einem Laufband,
Exoskelett auf dem Laufband und auf dem kombiniert mit konventioneller Reha-
Boden zusammen mit Physiotherapeuten bilitation (HAL-Gruppe) oder
durchführten (Awad et al. 2020). Nach An- (B) konventionellen Rehabilitationsmaß-
gaben der Studienautoren gab es keine ge- nahmen (Konventionelle Gruppe),
rätebedingten Stürze oder schwerwiegen- drei Tage/Woche für sechs Wochen,
den unerwünschten Ereignisse. Nach fünf oder
Tagen Gehtraining mit dem Gerät verbes- (C) keine Intervention (Kontrollgruppe).
serte sich die maximale Gehgeschwindig-
keit der Patienten ohne das Gerät um mitt- Innerhalb der zwölfmonatigen Untersu-
lere 0,07 ± 0,03 m/s (0,25 km/h) (Awad et al. chungsdauer ergaben sich keine Gruppen-
2020). unterschiede zwischen den drei Gruppen
hinsichtlich des wichtigsten Parameters
6.3.5.3 der Gangausdauer. Auch hier zeigte sich
Hybrid Assistive Limb (HAL) (https://walk- kein Vorteil der technologisch aufwendi-
again.de/hal-therapie/ und https://www. geren Therapie.
cyberdyne.jp/english/products/HAL/)
Das Hybrid Assistive Limb ist ein Servo- 6.3.5.4
Exoskelett-Anzug, der von der Tsukuba- Ekso (https://eksobionics.com/eksonr/)
Universität in Japan und dem Robotik- Eine in Deutschland sehr aktiv für ihr mo-
Unternehmen Cyberdyne Inc. entwickelt biles Exoskelett Ekso werbende Firma ist
wurde. Das sogenannte HAL-3-System Ekso Bionics, welche sich mit nicht weni-
bietet ausschließlich Beinfunktionen an. ger als „führend in der Exoskelett-Techno-
6 · Neurorehabilitation von Stand und Gang 133

logie“ bezeichnet (eksobionics.com/de). den und auf Treppen, mit Leichtgewicht


Auch bei diesem Exoskelett muss während Exoskelett (n = 14) oder Schwungbeinpha-
der Therapie von nicht gehfähigen Pati- se unterstützendem Gerät (n = 16), im Ver-
enten zur Sicherung des Gleichgewich- gleich zu einer Kontrollgruppe, die nur
tes immer ein Physiotherapeut anwesend konventionelles Training (CT, n = 17) er-
sein und das Gerät bedienen. Ebenfalls – hielt, eingeteilt.
wie bei allen anderen Exoskeletten – ist es Nach 20 Therapieeinheiten verbesser-
auch wichtig zu beachten, dass sogenann- ten sich die Patienten aller drei Gruppen
te Rüstzeiten, zum Teil mit therapeutischer klinisch bedeutsam (Yeung et al. 2021).
Hilfe, bei Exoskeletten anfallen. Mittler- Mehr als 56 % der Teilnehmer mit Robot-
weile existieren auch für dieses mobile Unterstützung konnten nach dem Trai-
Exoskelett mehrere Studien, zum Beispiel ning selbstständig gehen, im Vergleich zu
folgende beschriebene randomisierte und nur 29 % in der Kontrollgruppe. Allerdings
kontrollierte Studie (Calabro et al. 2018). waren die Ergebnisse in sich nicht schlüs-
Insgesamt wurden 40 gehfähige und sig; so korreliert beispielsweise die Gehge-
nicht gehfähige Patienten nach Schlagan- schwindigkeit nicht mit der Verbesserung
fall auf zwei Gruppen aufgeteilt. 20 Patien- der Gehfähigkeit.
ten erhielten ein Ekso-Gangtraining (EGT)
mit 45 Minuten pro Sitzung fünfmal die 6.3.5.6
Woche zusätzlich zur Gangtherapie, wäh- Atalante X
rend 20 Patienten Gehtraining auf dem Bo- (https://www.wandercraft.eu/atalante-x)
den von gleicher Dauer erhielten (Calabro Ein weiteres relativ neu entwickeltes robo-
et al. 2018). In der Versuchsgruppe wurde tisches Exoskelett ist das Atalante, Wander-
eine etwas höhere Gehgeschwindigkeit im craft, Paris, Frankreich. Nach Herstelleran-
Vergleich zur Kontrollgruppe erreicht. gaben soll das Gerät zwölf Freiheitsgrade
Obgleich die bisherige Auflistung von haben und selbstständig die Balance hal-
Geräten nicht vollständig ist, soll an dieser ten können. Das 2022 eingeführte Modell
Stelle nun auf zwei neuere Geräte aus den Atalante X soll nach Angaben der Websei-
letzten Monaten eingegangen werden. te www.wandercraft.eu/fr/ besonders für
die frühe Phase der Rehabilitation geeig-
6.3.5.5 net sein.
Leichtgewicht-Exoskelett („lightweight Es existiert eine aktuelle einfache
portable exoskeleton“ – 0,5 kg) Beob­ achtungsstudie aus dem Jahr 2021,
Ein wichtiger Punkt in der Kritik von mo- welche aus zwei Rehabilitationseinrich-
bilen Exoskelette war bislang die geringe tungen für Patienten mit Querschnittläh-
Praktikabilität (zum Beispiel Rüstzeiten) mung in Frankreich insgesamt zwölf Pa-
und das zum Teil relativ große Gewicht der tienten (Durchschnittsalter 34 Jahre) mit
Geräte. Lähmungshöhe zwischen Th5 – Th12 re­
Zumindest beim Gewicht zeigt nun krutierte (Kerdraon et al. 2021). Insgesamt
eine Neuentwicklung aus Hongkong ein wurden zwölf einstündige Trainingsein-
Gerät, welches gerade mal ein halbes Kilo- heiten über drei Wochen mit dem Gerät
gramm wiegt (Yeung et al. 2021). durchgeführt. Die Patienten gingen mit
In einer randomisierten Studien wur- Hilfe des Exoskeletts über den Boden und
den Patienten innerhalb von zwei Mo- trugen einen Gurt, der mit einem mobi-
naten nach Schlaganfall in entweder 20 len Aufhängungssystem (ohne Gewichts-
Therapieeinheiten roboterunterstütztes entlastung) verbunden war, um Stürze zu
Training (mindestens zweimal wöchent- vermeiden. Elf von den zwölf Patienten
lich, 30 Minuten pro Sitzung) auf dem Bo- schlossen das Übungsprotokolle ab. Sie-
134 J. Mehrholz

ben der zwölf Patienten absolvierten den Rahmen des Versuchsprotokolls wurden
10-Meter-Gehtest in der 12. Sitzung ohne 75 % der Standard-Physiotherapie-Sitzun-
Hilfe (bei einer mittleren Gehgeschwindig- gen durch individuelle, auf das Exoskelett
keit von 0,13 m/s), während vier der zwölf abgestimmte Sitzungen ersetzt. Ziel war
Patienten Hilfe benötigten (Kerdraon et al. es in der Therapie die Steh- und Schritt-
2021). In dieser kleinen Studie zur Erstbe- wiederholungen zu erhöhen, es bestand
schreibung des Atalante-Systems wurde jederzeit die Möglichkeit, das Gerät ab-
gezeigt, dass zumindest die Therapie rela- zusetzen. Insgesamt 36 Patienten nach
tiv sicher ist und die Ausführung von Geh- Schlaganfall (im Mittel 39 Tage Krankheits-
training bei Patienten mit vollständiger dauer) wurden eingeschlossen, 19 Patien-
Querschnittlähmung ermöglicht. ten in die Exoskelett Gruppe und 17 Pati-
enten in die Kontrollgruppe. Im Ergebnis
6.3.6 zeigten sich keine signifikanten Gruppen-
Mobile Exoskelette bei verschiedenen unterschiede für den primären Parameter
Krankheitsbildern Gehfähigkeit (FAC) und keinen der sekun-
dären Parameter wie die Gehgeschwindig-
Im Folgenden wird nun auf die aktuelle keit, die 6-Minuten-Gehstrecke, die Tage
Studienlage für mobile Exoskelette bei ein- bis zum Erreichen des selbstständigen Ge-
zelnen Krankheitsbildern hingewiesen. hens, die motorische Funktion der unteren
Extremitäten (Fugl-Meyer-Bewertung), die
6.3.6.1 Berg-Balance-Skala, den Patientengesund-
Patienten nach Schlaganfall heitsfragebogen, die kognitive Bewertung
In einer Übersichtsarbeit zeigten kürzlich nach Montreal und die 36-Elemente-Kurz-
Louie und Eng aus Vancouver, dass die umfrage nach der Intervention und nach
vorhandenen klinische Studien zu roboti- sechs Monaten. Zusammengefasst zeigt
schen Exoskeletten einerseits relativ sicher diese aktuelle Studie, dass eine Exoskelett-
als Gangtrainingsgerät für Patienten nach gestützte Physiotherapie im Vergleich zur
subakutem und chronischem Schlaganfall alleinigen Physiotherapie nicht zu einer
eingesetzt werden können (Louie u. Eng größeren Verbesserung der Selbstständig-
2016). Andererseits forderten die Autoren, keit beim Gehen führte, aber sicher und
dass vor einem systematischen Einsatz in ohne Beeinträchtigung der Patientener-
der Gangrehabilitation nach Schlaganfall gebnisse durchgeführt werden kann.
methodisch strenge, kontrollierte Studien
mit angemessener Fallzahl durchgeführt 6.3.6.2
werden müssen (Louie u. Eng 2016) Kinder mit Zerebralparese
Für Patienten nach Schlaganfall exis- Aus dem aktuellen Jahr liegt eine systema-
tiert mittlerweile eine randomisierte Stu- tische Übersichtsarbeit für die Verwen-
die aus diesem Jahr (Protokoll der Studie dung von mobilen Exoskeletten für Kinder
NCT02995265) (Louie et al. 2021). mit Zerebralparese vor (Studienregistrie-
In drei stationären Rehabilitations- rung PROSPERO CRD42020177160) (Bun-
kliniken wurden Patienten nach subaku- ge et al. 2021). Im Ergebnis zeigte sich, dass
tem Schlaganfall (< 3 Monate), die nicht von den 2.089 überprüften Studien gera-
in der Lage waren, ohne wesentliche Hilfe de einmal zehn Fallserien und drei Fall-
zu gehen (FAC 0 bzw. 1), nach dem Zufall- studien die Einschlusskriterien erfüllten.
sprinzip einer Exoskelett-basierten oder Die Ergebnisse zeigen, dass die derzeiti-
einer Standard-Physiotherapie während ge Evidenzbasis erst im Entstehen begrif-
der Rehabilitation bis zur Entlassung oder fen ist und nur ein geringes wissenschaft-
für maximal acht Wochen zugewiesen. Im liches Niveau aufweist. Gerade für Kinder
6 · Neurorehabilitation von Stand und Gang 135

mit Zerebralparese ist daher weitere wis- Ereignisse auf. Jedoch waren die Risiken
senschaftlich hochwertige Forschung er- für Nebenwirkungen sehr hoch: Die Häu-
forderlich, um überhaupt Aussagen zur figkeit von Stürzen während des Trainings
Wirksamkeit der Anwendung dieser Gerä- lag bei 4,4 % (wobei Stürze zu keiner Ver-
te machen zu können. letzung führten). Die Häufigkeit von Kno-
chenbrüchen während des Trainings lag
6.3.6.3 bei 3,4 %. Die Autoren schlussfolgern, dass
Patienten mit Querschnittlähmung mobile Exoskelette es Patienten mit Quer-
Der Großteil der wissenschaftlichen Lite- schnittlähmung ermöglichen, sich in All-
ratur für mobile Exoskelette hat sich bis- tagsumgebungen sicher zu bewegen, und
lang mit dem Gehtraining für Patienten zwar mit einer Intensität der körperlichen
mit Querschnittlähmung beschäftigt. Eine Betätigung, die für eine längere Nutzung
systematische Übersichtsarbeit bei Pati- geeignet ist (Miller et al. 2016).
enten mit Querschnittlähmung (Miller et Eine weitere, etwas aktuellere systema-
al. 2016) ergab im Ergebnis insgesamt 14 tische Übersichtsarbeit über mobile Exo-
Studien mit mobilen Exoskeletten (acht skelette bei Patienten mit Querschnittläh-
ReWalk-, drei Ekso­-, zwei Indego®- und mung schloss insgesamt 28 Artikel mit 228
eine nicht spezifizierte Exoskelett-Studie) Patienten ein (9 mit Ekso, 3 mit Indego®,
mit insgesamt gerade einmal 111 Patien- 10 mit ReWalk, 1 mit REX, 5 mit Wearable
ten. Die Trainingsprogramme wurden in Power-Assist Locomotor) (Tan et al. 2021).
der Regel dreimal pro Woche über einen Die am häufigsten berichtete Verletzungs-
Zeitraum von einer bis 24 Wochen mit ei- höhe des Rückenmarks der Patienten war
ner Dauer von 60 bis 120 Minuten pro Sit- Th6. Der Umfang des Trainings war in den
zung durchgeführt (Miller et al. 2016). In Studien extrem heterogen, die Anzahl der
zehn Studien wurde das Training auf ebe- Übungseinheiten lag zwischen zwei und
nen Flächen in Innenräumen durchge- 230 Sitzungen mit 30 – 120 Minuten Thera-
führt, und vier Studien beinhalteten ein pie pro Einheit. Die gesamte Therapiedau-
komplexes Training, welches das Gehen er war ebenfalls sehr heterogen und lag
im Freien, das Überwinden von Hinder- zwischen einer und 24 Wochen bei einer
nissen, das Auf- und Absteigen von Trep- Häufigkeit von 1 – 5-mal pro Woche (Tan et
pen und die Durchführung von Aktivitä- al. 2021). Die mittlere Ganggeschwindig-
ten des täglichen Lebens umfasste. Nach keit betrug 0,31 m/s (Standardabweichung
dem Trainingsprogramm mit dem Exoske- 0,14), und die mittlere Gehstrecke 109 m
lett waren 76 % der Patienten in der Lage, (± 47). Bei alleiniger Betrachtung von Pa-
ohne externe körperliche Unterstützung tienten mit Verletzungen der Halswirbel-
zu gehen. Die Verbesserung der Gehstre- säule ergab sich, dass 59 % der Patienten in
cke im 6-Minuten-Gehtest betrug im Mit- der Lage waren, ohne körperliche Hilfe zu
tel 98 m. Der physiologische Bedarf beim gehen, und mehrere Patienten einen Rol-
Gehen mit dem Exoskelett betrug 3,3 me- lator als Gehhilfe benutzten. Diese aktuelle
tabolische Äquivalente und die wahrge- Übersichtsarbeit beschreibt zwar die der-
nommene Anstrengung lag bei 10 auf der zeit extrem verschieden verwendeten The-
Borg-Skala (6 – 20), vergleichbar mit der rapieparameter bei mobilen Exoskeletten,
Anstrengung einer gesunden Person, die geht jedoch nicht weiter auf die systema-
mit ca. 5 km pro Stunde geht. Verbesse- tisch sehr geringe methodische Qualität
rungen bei der Spastik und der Regelmä- und damit sehr geringe Evidenz der der-
ßigkeit des Stuhlgangs wurden von 38 % zeitigen Studienlage ein.
bzw. 61 % der Patienten berichtet. Es traten
keine schwerwiegenden unerwünschten
136 J. Mehrholz

6.3.6.4 Literatur
Patienten mit neuromuskulären Awad LN, Esquenazi A, Francisco GE, …, Jayaraman
Erkrankungen A (2020) The ReWalk ReStore soft robotic exo-
suit: a multi-site clinical trial of the safety, re-
liability, and feasibility of exosuit-augmented
Aus dem aktuellen Jahr liegt ebenfalls eine
post-stroke gait rehabilitation. J Neuroeng Re-
aktuelle systematische Übersichtsarbeit habil 17: 80.
für Patienten mit neuromuskulären Er- Bohannon RW (1987) Gait performance of hemipa-
krankungen vor (Rodriguez-Fernandez et retic stroke patients: selected variables. Arch
Phys Med Rehabil 68: 777–81.
al. 2021). Die Autoren fanden insgesamt Bonita R, Solomon N, Broad JB (1997) Prevalence of
87 klinische Artikel, die sich sowohl auf die stroke and stroke-related disability. Estimates
Gerätetechnologie (z. B. Art der Geräte und from the Auckland stroke studies. Stroke 28:
1898–902.
Ausstattung) als auch auf die klinischen
Bowden MG, Balasubramanian CK, Neptune R,
Aspekte (z. B. Trainingsprotokoll, Ergeb- Kautz SA (2006) Anterior-posterior ground re-
nismessungen) bezogen (Rodriguez-Fern- action forces as a measure of paretic leg con-
andez et al. 2021). tribution in hemiparetic walking. Stroke 37:
872–6.
Die Autoren schlussfolgern, dass mo- Bunge LR, Davidson AJ, Helmore BR, …, Kumar S
bile Exoskelette zumindest das Potenzi- (2021) Effectiveness of powered exoskeleton
al für eine Reihe von Anwendungen ha- use on gait in individuals with cerebral palsy:
ben, darunter in der Frührehabilitation, A systematic review. PLoS One 16: e0252193.
Calabro RS, Naro A, Russo M, …, Bramanti A (2018)
für die Förderung der körperlichen Betä- Shaping neuroplasticity by using powered exo-
tigung und Durchführung von Aktivitäten skeletons in patients with stroke: a randomized
des täglichen Lebens sowohl zu Hause als clinical trial. J Neuroeng Rehabil 15: 35.
Carr J, Shepherd R (2010) Balance. In: Neurologi-
auch in der Gemeinde. Sie weisen darauf
cal Rehabilitation. Optimizing Motor Perfor-
hin, dass tragbare Exoskelette die Mobili- mance. Churchill Livingstone, Edinburgh,
tät und Unabhängigkeit von nicht gehfähi- London, New York, Oxford, Philadelphi, St
gen Menschen verbessern und sekundäre Louis, Sydney, Toronto.
Colombo G, Joerg M, Schreier R, Dietz V (2000)
Gesundheitszustände im Zusammenhang Treadmill training of paraplegic patients us-
mit Bewegungsmangel reduzieren, mit al- ing a robotic orthosis. J Rehabil Res Dev 37:
len Vorteilen, die dies mit sich bringt. Ins- 693–700.
Dijkers MP, Akers KG, Dieffenbach S, Galen SS
gesamt beschreiben die Autoren aber kri-
(2021) Systematic Reviews of Clinical Benefits
tisch, dass die Nutzung jedoch noch durch of Exoskeleton Use for Gait and Mobility in
die derzeit schweren und sperrigen Geräte Neurologic Disorders: A Tertiary Study. Arch
eingeschränkt ist, die eine stete Überwa- Phys Med Rehabil 102: 300–13.
Dohle C, Quintern J, Saal S, …, Wittenberg H (2015)
chung und die Verwendung von Gehhil- S2e-Leitlinie: Rehabilitation der Mobilität nach
fen erfordert (Rodriguez-Fernandez et al. Schlaganfall (ReMoS). Neurol Rehabil 21: 355–
2021). Die derzeitigen Studien beschreiben 494.
lediglich kurzfristige Vorteile anhand von Elsner B. Schöler A, Kon T, Mehrholz J (2020) Walk-
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139

7
Die Behandlung der spastischen
Bewegungsstörung im rehabilitativen
Kontext
Thomas Platz, Jörg Wissel

7.1  anfall) traten diese Tonusstörungen bei


Einleitung 19 – 26,7 % und in der chronischen Phase
(mehr als drei Monate einem Schlaganfall)
Eine geschwindigkeitsabhängige oder bei 17 – 42,6 % der Betroffenen auf (Wis-
spontan auftretende muskuläre Hyperto- sel et al. 2013). Die SMD in ihren Erschei-
nie im Sinne eines positiven Phänomens nungsformen und Ursachen zu erkennen,
(Klonus, Spasmus, spastische Dystonie, ist eine wichtige Voraussetzung für ein ad-
spastische Synergie/„Pattern“) nach ei- äquates klinisches und neurorehabilita-
ner Schädigung des oberen motorischen tives Management (Bakheit 2012). Auch
Neurons („upper motor neuron“ [UMN]), erscheint es immer wichtiger, diese Sym-
kombiniert mit einer Störung der rezipro- ptome sehr früh zu erkennen, da es neu-
ken Innervation, ist ein häufiges Problem ere Studien gibt, die zeigen, dass eine frü-
bei Patienten mit neurologischen Erkran- he Behandlung der SMD ein Auftreten von
kungen, die das zentrale Nervensystem Komplikationen verhindern kann.
(ZNS) betreffen wie z. B. Schlaganfall, Mul- Bei der muskulären Hypertonie die-
tiple Sklerose (MS), Schädel-Hirn-Trauma ser Bewegungsstörung ist zwischen einer
(SHT), Hirntumore oder Rückenmarkser- neurogenen und einer nicht neurogenen
krankungen. Das entstehende Syndrom Komponente zu unterscheiden. Die neu-
im Sinne einer Störung der physiologi- rogenen Anteile resultieren unter ande-
schen Bewegung wird heute als Syndrom rem aus einer erhöhten Erregbarkeit von
der spastische Bewegungsstörung („spas- Alpha-Motorneuronen auf­grund fehlregu-
tic movement disorder“ [SMD]) einge- lierter spinaler Reflexkreise, die innerhalb
ordnet. Die geschwindigkeitsabhängige der ersten Monate nach einer ZNS-Schä-
Tonuserhöhung ist also ein Aspekt dieses digung oftmals noch zunehmen können.
Syndroms und wird heute als eine Metho- Nach einer Schädigung des zentralen Ner-
de der Quantifizierung und Ausbreitung vensystems ändern sich im Laufe von Ta-
der Störung in Form der Testung der Ash- gen bis Wochen sekundär aber auch die
worth-Skala an definierten Gelenken, z. B. mechanischen Eigenschaften und Struktu-
in der REPAS-Skala, verwendet. ren schwerer gelähmter Muskeln (z. B. ent-
Für Schlaganfallpatienten wird früh stehen Weichteilkontrakturen, und die Vis-
nach einem Schlaganfall (schon in der kosität des Muskels nimmt zu), sodass die
1. – 4. Woche „post stroke“) bei 4 – 27 % eine nicht-neurogene Komponente der mus-
geschwindigkeitsabhängige Tonus­störung kulären Hypertonie ebenfalls funktionell
beschrieben. In der postakuten Phase relevant werden kann. In der Kombinati-
(ein bis drei Monate nach dem Schlag- on der benannten Spastik-Komponenten
140 T. Platz, J. Wissel

im Rahmen des sogenannten Pyramiden- Rehabilitationsteam sein, immer auch den


bahnsyndroms („upper motor neuron syn- Patienten selbst und wenn möglich die
drome“ [UMNS]) zeigt sich als Auswirkun- Angehörigen oder „Caregiver“/Pflegenden
gen auf die aktive Bewegungsausführung mit einbeziehen. Spastizität-auslösende
(z. B. Gehen, Hantieren) häufig eine Ver- Faktoren wie Schmerz, Hautläsionen, aber
langsamung von Bewegungsausführung auch z. B. Infektionen der Harnwege, sind
mit einer Zunahme von pathologischen dabei vor spezifischer antispastischer The-
Synergien im Sinne der SMD (Dietz u. rapie zu behandeln. Im Sinne einer spezifi-
Sinkjaer 2007) und das Auftreten von typi- schen Behandlung sollten Dehnungs- und
schen Haltungsmustern der Extremitäten Lagerungstechniken, übungstherapeuti-
(Hefter et al. 2012). sche Ansätze, orale Medikation, lokale me-
Eine starke spastische Bewegungs- dikamentöse antispastische Behandlung
störung geht daher meist mit relevanten (Botulinumneurotoxin Typ A, BoNT A), in-
funktionellen Behinderungen einher und trathekale Baclofen-Therapie (ITB) sowie
ist ein wesentlicher Faktor, der zur Be- gegebenenfalls auch weichteil- und ner-
einträchtigung der Lebensqualität nach venchirurgische Verfahren im Sinne von
Schlaganfall beiträgt (Hotter et al. 2018; funktionellen orthopädisch-neurochirur-
Fheodoroff et al. 2020). Wir unterscheiden gischen Operationen (Muskel-/Sehnen-/
Behinderungen der aktiven Funktionen Nervenoperationen) bedacht werden.
durch die spastische Bewegungsstörung, In diesem Kapitel sollen die genannten
die zu Einschränkung der Kapazität der Aspekte im Überblick dargestellt werden.
Willkürmotorik führen, von Störungen der Als Referenz dienen die weiterhin gültige
passiven Funktionen, bei denen die spas- S2k-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft
tische Bewegungsstörung die Integrier- für Neurologie (DGN) zur Therapie des
barkeit der gelähmten Gliedmaße in den spastischen Syndroms (Platz et al. 2019)
Alltag erschwert. Es gibt aber auch Situa- und die S2e-Leitlinie der Deutschen Ge-
tionen, in denen eine tonische Tonusstei- sellschaft für Neurorehabilitation (DGNR)
gerung oder vermehrte Steifheit durch ein über die Behandlung der Spastik nach
UMNS mit SMD die Betroffenen bei be- Schlaganfall (Winter u. Wissel 2013). Fer-
stimmten Aktivitäten im Alltag unterstützt. ner wurde in der jüngeren Vergangenheit
So kann eine gewisse muskuläre Hyperto- publizierte relevante Evidenz aus systema-
nie des Rumpfes und der Hüft- und Knie- tischen Reviews und randomisierten kon-
strecker zu einer Stabilisierung im Stand trollierten Studien berücksichtigt (Stand
mit beitragen. 01.04.2022).
Verschiedene beeinflussbare Faktoren
können, auch kurzfristig, die SMD verstär-
ken, wie zum Beispiel lokale Schmerzen 7.2
durch Nagelbettentzündungen, Hautirri-
Diagnostik und Assessment
tationen, enge, unbequeme Kleidung, Ge-
lenkbeschwerden, Harnwegsinfekte, Kon- Bei der Vielzahl möglicher Schädigungen
stipation oder Dekubitalulzera. Vor einer des zentralen Nervensystems ist es pri-
symptomatischen medizinischen Behand- mär erforderlich, die Ursache der spasti-
lung der SMD sollten immer erst diese schen Bewegungsstörung (SMD), also die
eine SMD provozierenden Ursachen aus- Läsionen des ZNS, festzustellen. Hierzu
geschlossen oder umgehend behandelt, dienen neben der Anamnese und der kli-
beseitigt werden. nisch-neurologischen Untersuchung die
Die Behandlung der SMD sollte immer entsprechenden neurophysiologischen,
eine Aufgabe für das multiprofessionelle bildgebenden (CT, MRT) und Laborunter-
7 · Die Behandlung der spastischen Bewegungsstörung im rehabilitativen Kontext 141

suchungen. Im Mittelpunkt dieses Kapitels derstand gegenüber passiver Bewegung


stehen die Möglichkeiten der Behandlung eines betroffenen Bewegungssegmentes.
der SMD, entsprechend sei bezüglich der Diesen Widerstand gegenüber passiver
ursächlichen Diagnostik auf die Litera- Bewegung kann man klinisch einschät-
tur der neurologischen Differenzialdiag- zen bzw. beurteilen oder messen (Platz
nostik verwiesen. Für die Entstehung von et al. 2005). Eine häufig eingesetzte Beur-
Spastizität neben einer Parese scheinen teilungsmethode ist die Ashworth-Ska-
vor allem Läsionen der subkortikalen mo- la (Ashworth 1964). Ein Gliedmaßenab-
torischen Kern- und Leitungsgebiete, des schnitt wird dabei passiv bewegt und der
Hirnstammes sowie die Pyramiden- und gefühlte Widerstand wird bewertet. Die
para-pyramidalen efferenten Bahnsyste- niedrigste Bewertung ist 0 (kein erhöhter
me verantwortlich zu sein. Muskeltonus), die maximale Bewertung
Für die klinische Betrachtung ist die 4, wenn die Gliedmaße in diesem Gelenk
Verteilung einer SMD über den Körper re- entweder in Beugung oder Streckung spas-
levant. Wir unterscheiden zwischen einer tisch fixiert ist und nicht oder kaum mehr
fokalen, multifokalen, segmentalen, ge- bewegt werden kann.
neralisierten SMD oder einer Hemi-SMD Basierend auf der Ashworth-Skala wur-
(Wissel et al. 2009). Die fokale Spastizität de eine sogenannte „Summen-Skala“ ent-
betrifft ein oder zwei benachbarte Bewe- wickelt, die über verschiedene Arm- und
gungssegmente (zum Beispiel spastische Bein-Bewegungen hinweg den Wider-
Faust und spastische Handgelenksbeu- stand gegenüber passiver Bewegung misst
gung), eine segmentale Spastizität betrifft und damit die Spastizität im Arm, im Bein,
eine Extremität über mehrere Segmente eine Para-, Hemi- oder Tetraspastizität do-
(zum Beispiel spastische Faust, spastische kumentieren kann. Dieser Test wird REPAS
Handgelenksbeugung und spastische El- („REsistance to PASsive movement Scale“,
lenbogenbeugung), die Paraspastik be- übersetzt: Widerstand gegenüber passi-
zeichnet die Spastizität beider Beine, die ver Bewegungsskala [Platz et al. 2008]) ge-
Hemispastizität die SMD auf einer Körper- nannt.
seite, während die Tetraspastizität unter Die „Disability Assessment Scale”
Einschluss des Rumpfes eine generalisier- (DAS, Brashear et al. 2002) ist ein Maß für
te Form der SMD darstellt. die Behinderung passiver Funktionen bei
Von der SMD als muskuläre Hyper- Patienten mit Spastizität im Arm, z. B. nach
tonie abzugrenzen sind andere klinische einem Schlaganfall. In den vier Bereichen
Erscheinungen bei der Schädigung des Hygiene, Anziehen, Schmerz und Glied-
oberen motorischen Neurons. Für die ak- maßenposition wird auf einer vierstufigen
tive Funktion limitierend sind primär Läh- Skala beurteilt, wie stark die Integration
mungen, also das Unvermögen der selekti- des gelähmten Armes im Alltag bei passi-
ven Bewegung und des Kraftaufbaus sowie ver Funktion durch die Spastizität behin-
lähmungsbedingte Minderungen der Fein- dert ist.
und Zielmotorik, aber nicht (primär) die Eine ähnliche Skala ist die „Carer Bur-
neurogene Komponente der Spastizität im den Scale“ (CBS) (Bahkta et al. 2000), bei
Sinne der muskulären Hypertonie oder die der die pflegende Person die Beeinträch-
Steigerung der Muskeleigenreflexe bzw. tigung der Pflegbarkeit durch die gestörte
das Vorliegen von Pyramidenbahnzeichen passive Armfunktion bei Spastizität nach
wie des Babinski-Zeichen. Schlaganfall einschätzt.
Bei der spastischen Bewegungsstörung Zur Beurteilung von Therapieeffekten
im Sinne der geschwindigkeitsabhängigen im Sinne von erreichten Zielen („goals“)
Tonuserhöhung entsteht ein fühlbarer Wi- durch eine Behandlung von Spastizität
142 T. Platz, J. Wissel

und/oder SMD eignet sich unter anderem ermöglichen oder durch eine lokale Be-
die Goal Attainment Scale (GAS) (Turner- handlung von spastischen Agonisten den
Stokes 2009). Sie ist nicht ein Maß, das die schwachen Antagonisten eine aktive Ge-
Beurteilung der Spastizität erlaubt, son- lenkbewegung zu ermöglichen.
dern bewertet, wie gut ein Behandlungs- In den ersten Monaten nach einer
ziel, das sich ein Patient in Abstimmung ZNS-Schädigung entwickelt sich die SMD
mit seinem Behandler vorgenommen hat, meist mit einer Verzögerung. Durch eine
erreicht wurde. Verglichen mit dem aktu- Ungleichverteilung der Komponenten der
ellen Zustand wird dabei beurteilt, ob das SMD (z. B. am Armbeuger betont) kann die
gesteckte Ziel erreicht wurde (Wert 0), ob gelähmte Gliedmaße in ihrer Ruheposition
gegebenenfalls etwas mehr (+1) oder viel verändert und das normale Bewegungs-
mehr (+2) erreicht wurde bzw. ob das Ziel ausmaß von Gelenken eingeschränkt
nur teilweise erreicht wurde (-0.5) oder werden, woraus sich bei gleichzeitig be-
aber keine Veränderung erreicht wurde stehender schwerer Lähmung sekundär
(-1), oder sogar in dem gewünschten Be- Kontrakturen entwickeln können (Hefter
reich eine Verschlechterung eingetreten et al. 2013). Hier ist es erforderlich, unter
ist (-2). Durch den Einsatz der GAS können anderem durch entsprechende regelmäßi-
sehr individuell Behandlungsziele festge- ge Dehnung und Lagerung der betroffenen
legt und im Verlauf der Behandlung bezüg- Extremität mit SMD dieser entgegenzu-
lich ihres Erreichens beurteilt und quanti- wirken und so sekundäre Komplikationen
fizierend dokumentiert werden. Gerade mit geminderter passiver Beweglichkeit
für eine individualisierte Behandlungssi- zu verhindern. Auch können ein neuropa-
tuation wie bei der Behandlung von Spas- thisches Schmerzsyndrom und eine pas-
tizität ist dies von besonderem Wert. sive Motilitätseinschränkungen, die sich
im Rahmen von Lähmung und SMD ent-
wickeln, im Alltag verstärkt sein. Entspre-
7.3 chend kann es bedeutsam sein, die SMD
zu behandeln, um auch Schmerzen in
Therapieziele
den gelähmten Gliedmaßen zu reduzieren
Es ist wichtig zu bedenken, dass die SMD (Wissel et al. 2000, 2016).
zwar in der Regel bei stärkeren Lähmun- Eine große Bedeutung in der Behand-
gen in stärkerem Maße vorliegt, dass aber lung der SMD hat die positive Beeinflus-
allein die effektive Behandlung der SMD sung sogenannter passiver Funktionen. So
nicht die lähmungsbedingten Beeinträch- kann der schwer gelähmte spastische Arm
tigungen selbst beseitigen kann. oftmals im Alltag nicht mehr gut integriert
Daher wird sich die Behandlung bei werden. Das Waschen etwa unter den Ach-
Lähmungen in erster Linie auf die Wieder- seln, das Einführen des Armes in einen Är-
herstellung der aktiven motorischen Funk- mel, das Schneiden von Fingernägeln oder
tionen konzentrieren und nicht primär die Hygiene der Hohlhand werden schwie-
auf die Behandlung der SMD. Diese Be- rig. Um diese passiven Funktionen zu för-
handlungsstrategien sind in den Kapiteln dern und zu ermöglichen, ist oftmals eine
„Neurorehabilitation von Stand und Gang“ gezielte Behandlung der fokalen Spastizi-
und „Neurorehabilitation der Armfunkti- tät erforderlich, um die Behinderung der
on“ ausführlich dargestellt. passiven Funktionen zu verbessern (Bras-
Dennoch gibt es viele Situationen, in hear et al. 2002; Kaňovský et al. 2011; Gra-
denen die SMD spezifisch behandelt wer- cies et al. 2015).
den sollte, um zum Beispiel aktives Trai- Aber auch in der Aktivität kann die
nieren von Arm- und Beinfunktionen zu spastische muskuläre Hypertonie die akti-
7 · Die Behandlung der spastischen Bewegungsstörung im rehabilitativen Kontext 143

ve Funktion beeinträchtigen und eine SMD 7.4


hervorrufen. So kann es sein, dass eine Fin- Behandlungsoptionen
gerflexorenspastizität die Fingerextenso-
ren-Aktivität der durch einen Schlaganfall
geschwächten Muskeln zusätzlich beein- Die Behandlung der SMD richtet sich
trächtigt. Eine gezielte lokale Behandlung in den meisten Fällen unabhängig von
der Fingerflexorenspastizität mit Botuli- der Ätiologie des Syndroms im Wesent-
numtoxinA (BoNT A) kann dann die aktive lichen nach der Schwere und Verteilung
Handöffnung und damit auch das Greifen des spastischen Syndroms über den Kör-
unterstützen. Auch beim Gehen kann eine per (Topik). Die Behandlungsoptionen
spastisch-dystone Bewegungsstörung die und diesbezüglichen Empfehlungen sind
aktive Funktion Gehen beeinträchtigen. im Wesentlichen den eingangs genannten
Ein typisches Beispiel hierfür ist die dy- Leitlinien entnommen (Platz et al. 2019;
namische Equinovarus-Deformität. Beim Winter u. Wissel 2013).
Equinovarus wird der Fuß beim Gehen
übermäßig durch die SMD in Plantarflexi- 7.4.1
on und Supination gezogen, was das Ge- Physiotherapie
hen deutlich behindern kann. Durch eine
gezielte lokale Behandlung der Plantar- Unter motorischen Übungsbehandlungen
flexoren und Supinatoren/Invertoren mit kann sich die motorische Funktion ver-
BoNT A ist dadurch eine positive Beein- bessern. Der Einfluss von Physiotherapie
flussung der aktiven Funktion des Gehens auf Spastizität nach Schlaganfall ist in Stu-
und Abrollens des Fußes möglich und kann dien methodisch nicht ausreichend un-
mit einem geminderten Einsatz von Hilfs- tersucht. Wenn während der aktiven mo-
mitteln (AFO, Sprunggelenksschienen) er- torischen Übungsbehandlung spastisch
reicht werden (Gracies et al. 2017; Wein et erhöhter Muskeltonus beobachtet wird,
al. 2017; Wissel et al. 2017). tritt keine Zunahme der Spastizität ein,
Eine schwere Hemi-, Para- oder Tetra­ wenn die Muskulatur passiv gestreckt und
spastizität, die sowohl mit Spastizität und damit gedehnt wird. Übungsbehandlung
einschießenden Spasmen und Schmer- wird daher insbesondere zur Verbesserung
zen als auch Positions- und Mobilitätsge- der motorischen Funktionen empfohlen.
fährdungen einhergeht, stellt oftmals eine Gleichzeitig ist darauf zu achten, dass eine
relevante Behinderung dar. Hier ist die spastische Muskeltonuserhöhung vermie-
Behandlung der SMD mit intrathekalem den wird. Dazu kann die langdauernde
Baclofen (ITB) eine Option um die Selbst- passive Muskelstreckung von zur Spastizi-
hilfefähigkeit und Mobilität zu erhalten, tät tendierenden Muskeln (z. B. Ellbogen-
bzw. zu erreichen. ITB kann in solchen Fäl- und Handgelenkflexoren der oberen und
len mit schwerer SMD eine ausreichende Plantarflektoren und Invertoren der unte-
Reduktion von einschließenden Spasmen, ren Extremität) empfohlen werden.
Schmerzen und Bewegungsautomatismen Auch das Training von Kraft und Aus-
bei Querschnittsyndromen und Patienten dauer führt zu einer Minderung von Pa-
mit Multipler Sklerose und nach Schlagan- resen und zur Verbesserung von moto-
fall und Schädel-Hirn-Trauma erreichen rischen Funktionen. Eine Zunahme des
(Azouvi et al. 1996; Cramer et al. 2017). spastischen Muskeltonus ist dabei in der
Regel nicht zu befürchten (Pak u. Patten
2008).
144 T. Platz, J. Wissel

7.4.2 Verfahren wie z. B. Physiotherapie eine


Gerätegestützte Therapie Spastizität-reduzierende Wirkung.
Zu den externen Hirnstimulationsver-
Die gerätegestützte Lokomotionstherapie fahren gehören die transkranielle Gleich-
auf dem Laufband mit partieller Gewichts­ stromstimulation (tDCS; „transcranial
entlastung oder mit einem elektromecha- direct current stimulation“) und die repe-
nischen Lokomotionstrainer führt zu ei- titive transkranielle Magnetstimulation
ner Verbesserung der Gangfunktion, ohne (rTMS). In Studien konnte gezeigt werden,
dass dadurch Spastizität zunimmt (Dohle dass tDCS-Anwendungen (Huang et al.
et al. 2015). In einem Vergleich zwischen 2022) und rTMS-Anwendungen (Amatya
Bobath-Therapie und Lokomotionsthe- et al. 2013; Gottlieb et al. 2021) bei Spas-
rapie auf dem Laufband ergab sich kein tizität nach Schlaganfall bzw. im Rahmen
signifikanter Unterschied bezüglich der einer Multiplen Sklerose reduzierend wirk-
Spastizität, jedoch ein signifikant besseres sam sein können, wobei die Datenlage ins-
Ergebnis in der Laufbandphase bezüglich gesamt noch Inkonsistenzen aufweist (Liu
des Erreichens der Gehfähigkeit und der et al. 2021; Xu et al. 2021). Auch die Unter-
Ganggeschwindigkeit. suchungen der rTMS nach Rückenmarks-
Die gerätegestützte aktive oder passi- verletzungen zeigten heterogene Ergebnis-
ve repetitive Armbeugung und -streckung se.
mindert spastisch erhöhten Muskeltonus Ferner gibt es sehr begrenzte Hinwei-
bei gleichzeitiger Verbesserung motori- se darauf, dass eine periphere Magnet-
scher Funktionen. Zusätzliche Elektrosti- stimulation den spastischen Muskelto-
mulation verstärkt den Effekt. Auch die nus am Arm nach Schlaganfall reduzieren
Roboter-unterstützte Therapie von durch kann (Sakai et al. 2019). Die extrakorpora-
den Patienten selbst initiierten Fingerbe- le Schockwellen-Therapie ist ein weiteres
wegungen mindert Spastizität und verbes- Verfahren, welches das Potenzial hat, Arm-
sert motorische Funktionen in Finger- und spastik nach Schlaganfall zu verbessern
Handmuskeln. Die positiven Therapie­ (Cabanas-Valdés et al. 2020).
effekte sind mit höherer Trainingsintensi-
tät ausgeprägter. 7.4.3
Die transkutane elektrische Nervensti- Orthesen
mulation (TENS) wurde in mehreren ran-
domisierten und kontrollierten Studien Eine prophylaktische Wirkung von früher
zur Reduktion der Spastizität nach Schlag- Schienen-Behandlung auf das Auftreten
anfall und spinaler Verletzung erfolgreich von spastisch erhöhtem Muskeltonus ist
eingesetzt. Übersichtsarbeiten kommen nicht belegt. Einige Studien geben jedoch
zu dem Schluss, dass TENS als wirksam Hinweise darauf, dass eine Schienenbe-
zur Reduktion des Spastizität, insbeson- handlung alleine oder in Kombination mit
dere für die untere Extremität bei PSS, ein- anderen Verfahren (zum Beispiel der lo-
gestuft werden kann und ein nebenwir- kalen Injektion von BotulinumtoxinA) be-
kungsarmes Verfahren ist (u. a. Marcolino reits spastisch erhöhten Muskeltonus und
et al. 2020). Da die Wirksamkeit abhängig Fehlhaltungen / Kontrakturen verbessern
von der Dauer zu sein scheint, sollte die kann. Für eine Handgelenkslagerung gibt
Anwendung über 60 min pro Sitzung erfol- es hierzu begrenzt unterstützende Evidenz
gen. (Salazar et al. 2019). Eine weitere Über-
Auch die Anwendung von neuromus- sichtsarbeit stellte fest, dass Lagerungs-
kulärer elektrischer Stimulation (NMES) schienen die Wirksamkeit einer BoTN-A-
zeigt in Kombination mit einem aktiven Behandlung unterstützen und dass eine
7 · Die Behandlung der spastischen Bewegungsstörung im rehabilitativen Kontext 145

individuelle serielle Verwendung von fes- Speichelbildung (Mundtrockenheit), die


teren Materialien zur Stellungskorrektur Atem- und Kreislauffunktion. Diese und
von betroffenen Gelenken (Serielles Cas- andere Präparat-spezifische Nebenwir-
ting) besser ist als die Nutzung einer vor- kungen sind den Fachformationen zu neh-
gefertigten Schienung mittels Luft- oder men.
Splintschienen (Splinting) (Mills et al. Generell empfiehlt sich eine einschlei-
2016). chende Dosierung der antispastischen
Medikation unter klinischer Beurteilung
7.4.4 von Wirkung und ggf. Nebenwirkungen.
Orale Medikation Bei der medikamentösen Behandlung ei-
ner schweren Para- und Tetraspastizität
Die am häufigsten eingesetzten oral ver- sind nicht selten auch Kombinationen der
fügbaren und in Deutschland zur Be- benannten Medikamenten erforderlich.
handlung der Spastizität zugelassenen Wenn eine Monotherapie zur Erreichung
Medikamente sind Baclofen (Gamma- des Behandlungszieles nicht ausreicht,
Amino-Buttersäure-[GABA-]B-Agonist) kann dies erforderlich werden. Bei einer
und Tizanidin (zentraler Alpha2-Agonist), fokalen, multifokalen und segmentalen
des Weiteren Benzodiazepine (GABA-A- Spastik ist die orale Medikation keine op-
Agonisten), Dantamacrin (Muskelrelaxa- timale Behandlungsoption, hier ist die fo-
tion durch Hemmung der Ca-Ionen-Frei- kale und damit gezielte Behandlung der
setzung im Muskel), Tolperison (zentral spastischen Muskeln mit BotulinumtoxinA
wirksam durch Blockade des Natrium-Ein- (BoNT A) die überlegene Therapieoption
stroms an Neuronen; nur für Schlaganfall (vgl. u. a. Simpson et al. 2009).
zugelassen) (Taricco et al. 2006; Olvey et
al. 2010) und ein aus zwei Cannabis-Deri- 7.4.5
vaten (Tetrahydrocannabinol und Canna- BotulinumneurotoxinA (BoNT A)
bidiol) bestehendes oromukosales Spray
(Sativex®; nur für MS-assoziierte Spastik Für von Spastizität betroffene Erwachsene
zugelassen) (Wade et al. 2010). sind in Deutschland drei BoNT-A-Produkte
Die benannten zentral wirksamen Sub- zur Behandlung der Spastizität des Armes
stanzen sollen eine Abnahme der Erregbar- zugelassen: AbobotulinumtoxinA/Dys-
keit von spinalen Interneuronen und damit port®, OnabotulinumtoxinA/Botox® und
konsekutiv von Motoneuronen bewirken. IncobotulinumtoxinA/Xeomin®. In den
Dadurch reduzieren sie einerseits Spasti- Zulassungstexten der einzelnen Produkte
zität, können andererseits aber auch die finden in Deutschland auch weiterhin die
Muskelkraft im Sinne der Willküraktivität mit dem Produkt zugelassene Ausdehnung
reduzieren. Auch für das peripher wirken- der BoNT-A-Behandlung der Spastizität
de Dantamacrin trifft die parallele Beein- über die Hand, den Arm, die Schulter und
flussung von Spastizität und Muskelkraft die Ätiologie der Spastizität ihre Berück-
zu. sichtigung. So sind AbobotulinumtoxinA
Ferner haben orale Antispastika neben und Incobotulinumtoxin für die Behand-
der kraftmindernden Eigenschaft auch lung der Armspastizität einschließlich
weitere mögliche dosisabhängige Neben- der Schultermuskeln unabhängig von der
wirkungen im Sinne einer Sedation, ei- Ätiologie zugelassen, was erlaubt, bei Pati-
ner negativen Beeinflussung von Kogniti- enten mit Schlaganfall und traumatischer
on und Bewusstsein, aber auch mögliche Hirnschädigung sowie auch bei Multip-
negative Auswirkungen auf autonome ler Sklerose und Querschnittlähmung mit
Funktionen wie die Akkommodation, die BoNT A in dieser Körperregion auf Kosten
146 T. Platz, J. Wissel

der gesetzlichen Krankenkassen ambulant („Carer Burden“) stabil ab, nicht jedoch ei-
zu behandeln. Abobotulinumtoxin und nen positiven Effekt auf aktive Armfunktio-
OnabotulinumtoxinA haben des Weiteren nen („Arm-Hand-Kapazität“) (Andringa et
die Zulassung zur Behandlung der fokalen al. 2019). Dennoch konnte bei einem Teil
Spastizität des Fußgelenkes bei erwach- der Patienten in klinischen Studien durch
senen Patienten nach Schlaganfall, und BoNT-A-Applikation auch eine Verbes-
AbobotulinumtoxinA hat zusätzlich auch serung aktiver Funktionen erreicht wer-
die Zulassung für Patienten nach Schädel- den (Baker u. Pereira 2015). Um eine ak-
Hirn-Trauma in dieser Indikation. Die o. g. tive Funktionsverbesserung zu erreichen,
Leitlinien der DGN und DGNR empfehlen ist allerdings in den meisten Fällen eine
in diesem Sinne einen breiteren klinischen Kombination der BoNT-A-Behandlungen
Einsatz dieses Behandlungskonzeptes bei mit einem aktiven Funktionstraining sinn-
gegebener Indikation einer behindern- voll. Andererseits ist die Schädigung häufig
den fokalen, multifokalen oder segmenta- so stark, dass auch eine Kombination von
len Spastizität. Neuere Studien zeigen nun BoNT A und rehabilitativer Therapie nicht
zusätzlich, dass ein früherer Einsatz von zu einer Verbesserung aktiver Funktionen-
BoNT A im post-akuten Stadium bis drei führen kann (Lannin et al. 2020). Auch re-
Monate nach Schlaganfall bei beginnen- dressierende Behandlungen sowie funkti-
der Spastizität ohne Kontrakturbildung onelle Elektrostimulationen können den
mit geringeren Dosierungen länger anhal- Effekt von BoNT A in dieser Hinsicht ver-
tende positive Wirkungen erzielen kann, stärken. Zur Behandlung fokaler Spastizi-
möglicherweise Kontrakturausbildungen tät ist BoNT A einer oralen antispastischen
vermeiden hilft und somit einen günstigen Medikation sowohl hinsichtlich Wirksam-
Rehabilitationsverlauf ermöglichen könn- keit als auch Nebenwirkungen überlegen
te (Hesse et al. 2012; Rosales et al. 2016; (Simpson et al. 2009).
Wissel et al. 2020). Für die Behandlung der Unterarmmus-
keln (Handgelenks- und Fingerbeuger)
7.4.5.1 wird entweder eine Lokalisierungsunter-
Behandlung von Spastik an der oberen stützung mittels Elektrostimulation oder
Extremität mittels BoNT A Ultraschall empfohlen, da apparativ-injek-
Zur fokalen BoNT-A-Behandlung der spas- tionskontrollierte Behandlungen der allei-
tischen Tonus- und Funktionsstörung der nigen Palpation bezüglich der erreichten
oberen Extremität liegen zahlreiche kon- Wirkung der BoNT-A-Behandlung überle-
trollierte Studien vor, die eine Reduktion gen sind (Picelli et al. 2014; Grigoriu et al.
eines spastischen Muskeltonus und eine 2015)
Verbesserung der passiven Beweglichkeit
von betroffenen Gelenken der oberen Ex- 7.4.5.2
tremität durch einmalige und wiederhol- Behandlung des spastischen Spitzfußes
te intramuskuläre Injektionen von BoNT mittels BoNT A
A im chronischen Stadium der Spastizität Für AbobotulinumtoxinA und Onabotuli-
nach Schlaganfall (Kaňovský et al. 2011; numtoxinA konnte jeweils mit einer kon-
Kaňovský et al. 2021; Foley et al. 2013) trollierten Studie eine effektive Reduktion
und bei anderen Ätiologien (Gracies et al. eines spastischen Muskeltonus im oberen
2015; Wissel et al. 2017) zeigen. Die vor- Sprunggelenk durch intramuskuläre Injek-
liegende Evidenz sichert die Wirksamkeit tionen von BoNT A in die Wadenmuskula-
auf Spastik, passive Beweglichkeit, Integ- tur im chronischen Stadium mit spastisch
rierbarkeit des spastisch gelähmten Arms erhöhtem Muskeltonus nach Schlaganfall
im Alltag und die Belastung für Pflegende gezeigt werden (Kaji et al. 2010; Pittock et
7 · Die Behandlung der spastischen Bewegungsstörung im rehabilitativen Kontext 147

al. 2003), für OnabotulinumtoxinA auch Spastik-assoziierten Schmerzen im Be-


innerhalb der ersten drei Monaten nach reich der Schulter diese und die passive
einer Hirnschädigung (Fietzek et al. 2014). Beweglichkeit verbessern (Xie et al. 2021).
Dabei konnten keine signifikanten Ver- Eine sich gegen Schmerzen oder schmerz-
besserungen von Gangparametern, wohl hafte Spasmen bei Spastizität bei MS rich-
aber ein verminderter Einsatz von Hilfs- tende Behandlung ist oftmals angezeigt.
mitteln und eine Verbesserung der klini- Je nach „Topik“ können orale Medikation,
schen Gesamtbewertung („Clinical Global u. a. auch mit dem oromukosalen Spray
Impression Scale“) gezeigt werden. Auch (Sativex®; nur für MS-assoziierte Spastik
ein systematischer Review mit Metaanaly- zugelassen), bzw. bei fokaler und segmen-
se wies die spastische Tonusminderung für taler Spastizität und Spasmen auch eine
AbobotulinumtoxinA und Onabotulinum- Therapie mit Botulinumtoxin A angezeigt
toxinA nach, ohne einen Einfluss auf die sein. Wenn zusätzliche neuropathische
Gehgeschwindigkeit absichern zu können Schmerzen vorliegen sollte auch eine zu-
(Doan et al. 2021). sätzliche antineuropathisch-analgetische
Medikation (u.  a. mit den strukturver-
7.4.5.3 wandten GABA-Analoga Gabapentin oder
Behandlung der Hüft- und Kniespastik Pregabalin) erwogen werden.
mittels BoNT A
Alle BotulinumtoxinA-Produkte konn- 7.4.6
ten eine Reduzierung des Muskeltonus in Intrathekale Baclofen-Therapie (ITB)
den Hüft- und Oberschenkelmuskeln bei
spastischer Bewegungsstörung im Hüft- Bei schwerer segmentaler, multisegmen-
und Kniegelenk im chronischen Stadium taler oder generalisierter Spastizität spina-
der Spastizität unterschiedlicher Ätiolo- ler oder zerebraler Ursache wie Schlagan-
gie (Schlaganfall, Schädel-Hirn-Trauma, fall und Multiple Sklerose sowie Para- oder
Multiple Sklerose und andere) erreichen Tetraspastik nach Rückenmarkschädi-
und werden daher zur lokalen Behandlung gung, insbesondere mit einschließenden
empfohlen (Hyman et al. 2000; Schramm schmerzhaften Spasmen, ist mit einer ora-
et al. 2015; Safarpour et al. 2017). len antispastischen Medikation oftmals
kein zufriedenstellender Behandlungser-
folg bei vertretbaren Nebenwirkungen zu
7.4.5.4 erreichen. In solchen Fällen stellt die in-
Behandlung von spastikbegleitenden trathekale ITB mittels einer implantierten
Schmerzen mittels BoNT A Pumpe eine erfolgversprechende Alterna-
Eine Minderung von durch passive oder tive dar (Craemer et al. 2017, 2018; Parke et
aktive Bewegungen induzierten, soge- al. 1989).
nannten Dehnungs- oder Spastik-assozi- Bei Patienten mit einer möglichen In-
ierten Schmerzen in betroffenen Bewe- dikation für eine intrathekale Behandlung
gungssegmenten nach Injektionen von erfolgt vor Implantation der Pumpe zu-
OnabotulinumtoxinA an oberer und unte- nächst eine Testung der Wirksamkeit. Die-
rer Extremität im akuten und chronischen se kann über eine Lumbalpunktion erfol-
Stadium mit Spastizität wurde an einer gen und die intrathekale Gabe eines Bolus
Kohorte und in einer großen placebokon- über die liegende Nadel (beginnend mit
trollierten Studie dargestellt und kann als 50 µg Baclofen, bei Wiederholungen – nicht
effektive Behandlungsoption empfohlen am gleichen Tag – bis maximal 100 µg) oder
werden (Wissel et al. 2000; 2016). Eine fo- kontinuierlich über eine externe Pumpe
kale Behandlung mit BoNT A kann bei über einen Katheter erfolgen. Nach der
148 T. Platz, J. Wissel

intrathekalen Applikation, die eine eng- ber und Veränderungen des Bewusstseins
maschige Kontrolle der Vitalparameter in einhergehen. Empfohlen wird die klini-
den folgenden Stunden erfordert, werden sche Austestung und Einstellung auf eine
standardisierte Messungen des Muskelto- ITB nur an Zentren mit besonderer Erfah-
nus in den Beinen (Kniegelenk) und Ar- rung mit dieser Therapie.
men (Ellbogengelenk) im stündlichen Ab-
stand jeweils in gleicher Ausgangsposition 7.4.7
(Rückenlage, leicht erhöhtes Kopfteil) z. B. Chirurgische Optionen
mittels der Ashworth-Skala durchgeführt,
um den therapeutischen Nutzen und z. B. Verschiedene orthopädisch und plastisch-
die Dauer der Wirkung eines Bolus festzu- oder handchirurgisch etablierte Verfah-
stellen. Ist durch die Bolusgabe ein aus- ren können bei einer schweren Spastizität
reichender therapeutischer Effekt erreicht der unteren und oberen Extremität ein-
worden (z. B. Abnahme der Ashworth-Ska- gesetzt werden. Diese umschließen Fas-
la um mindestens einen Skalenwert), kann zio- und Tenotomien, den Sehnen- und
die Indikation für eine ITB-Therapie ge- Muskeltransfer und die Sehnen- und Mus-
stellt werden. kelverlängerung (Fox et al. 2018; Genet et
Die Baclofen-Pumpe wird subkutan in al. 2018). Bei der Faszio-, Myo- und Teno-
die Bauchwand implantiert und ein Kathe- tomie werden die Faszien-, Muskeln und
ter etwa auf der Höhe LWK 3 / LWK 4 nach Sehnen spastischer Muskeln durchtrennt.
intrathekal geführt sowie die Katheterspit- Die Muskel- und Sehnendurchtrennung
ze etwa auf dem Niveau Th 5 – 10 platziert. wird heute nur noch sehr selten emp-
Die initiale tägliche intrathekale Baclofen- fohlen, wohingegen Fasziotomien gera-
Dosis ist üblicherweise das Doppelte der de wieder zunehmend indiziert werden.
Testbolus-Dosis, die einen positiven klini- Muskel- und Sehnenverlängerung und
schen Effekt erbrachte (zum Beispiel bei -verlagerungen (z. B. an der oberen Extre-
positivem Testbolus mit 50 µg wäre die in- mität Verlagerung des M. flexor carpi ulna-
itiale Tagesdosis 100 µg pro Tag). Die Dosis ris auf den M. extensor carpi radialis und
kann bei Bedarf dann um täglich 5 – 15 % damit Verbesserung der Handgelenksex-
geändert werden, bis ein klinisch zufrie- tension und Abnahme der Ulnarabduk-
denstellendes Behandlungsergebnis er- tion) kann durchgeführt werden, um bei
reicht ist. Sowohl kontinuierliche Abga- spastischen Muskeln die Gelenkspositi-
ben des Medikamentes als auch erhöhte onen in eine mehr physiologische und
Abgaben zu spezifischen Zeiten während funktionellere Position zu bringen. Beim
des Tages sind programmierbar. Die Be- Sehnentransfer können durch die Übertra-
handlung erfordert eine regelmäßige Fül- gung von Sehnen innervierter Muskeln an
lung der Pumpe etwa alle acht bis zwölf Positionen hochgradig bzw. komplett ge-
Wochen und einen Pumpen-/Batterieaus- lähmter Muskeln aktive Funktionen (wie
tausch nach fünf bis sieben Jahren. die Handgelenk- oder Ellbogenstreckung
Mögliche Nebenwirkungen der intra­ oder die Fußhebung) unterstützt werden.
thekalen Baclofen-Therapie sind u. a. eine Nicht destruierende operative Verfahren
Hypotension, das Auftreten von Obstipa- stellen heute in ausgewählten Fällen eine
tionen sowie Sedierung, Atemdepression relevante Behandlungsoption dar. Von be-
und epileptische Anfälle bei Überdosie- sonderer Wichtigkeit ist dabei die funktio-
rung. Das abrupte Absetzen der intrathe- nelle Betrachtungen und die funktionelle
kalen ITB-Therapie kann mit einer deutli- Zielsetzung der chirurgischen Interventi-
chen Verstärkung der Spastizität und der on (Fox et al. 2018; Genet et al. 2018).
Spasmen und in schweren Fällen mit Fie-
7 · Die Behandlung der spastischen Bewegungsstörung im rehabilitativen Kontext 149

7.5 sich unabhängig von der Ätiologie im We-


Zusammenfassung sentlichen nach der Verteilung der Spas-
tizität über den Körper (Topik) und der
Die Untersuchung und Behandlung der Schwere der Ausprägung und ggf. beglei-
Spastik ist immer im Gesamtzusammen- tender Schmerzen. In bestimmten Situa-
hang der neurologischen bzw. rehabili- tionen limitiert die Spastizität eine weite-
tativen Therapien zu sehen und sollte im re Verbesserung der aktiven motorischen
Kontext eines multiprofessionellen re- Funktionen. In diesen Situationen ist die
habilitationserfahrenen Teams erfolgen spezifische, meist lokale antispastische Be-
(Turner-Stokes et al. 2017). Durch ein stan- handlung mittels dosisabhängiger passa-
dardisiertes quantitatives Assessment der gerer Denervierung durch den lokaler Ein-
Spastizität und deren Verteilung über den satz von BotulinumtoxinA zur Förderung
Körper (Topik) wie zum Beispiel mit der aktiver Funktionen indiziert.
Ashworth-Skala und der REPAS lassen sich In anderen Situationen kommt es bei
das Ausmaß der Spastizität (Verteilung schweren Lähmungen mit schwerer Spas-
und Stärke der Spastik) klinisch messen tizität und Spasmen zu einer Behinderung
und Veränderungen im Verlauf oder nach passiver Funktionen, die eine spezifische
einer Therapien dokumentieren. lokal, segmental oder breiter wirkende an-
Therapieziele orientierten sich an tispastische Behandlung mit einem intra­
der Behinderung von aktiven und passi- thekalen oder systemischen Ansatz erfor-
ven Funktionen und werden idealerweise dern kann.
im Kontext des Behandlungsteams unter Die Basis der therapeutischen Inter-
Einschluss des Patienten und ggf. der An- ventionsmöglichkeiten sind anhaltende
gehörigen besprochen, abgestimmt und Dehnungen der spastischen Muskeln, La-
am besten mittels einer Zielerreichungs- gerungstechniken, Lagerung mit Orthesen,
(„Goal Attainment“) Skala im Behand- Übungstherapien sowie die gerätegestütz-
lungsverlauf dokumentiert (Wissel et al. te Therapie. Pharmakologisch kommen –
2009; Turner-Stokes et al. 2009). bei schwerer generalisierter Spastizität als
Im Vordergrund der rehabilitativen Be- Begleittherapie oder bei Querschnittsyn-
trachtung der Spastizität stehen die All- dromen – orale antispastische Medika-
tagsfunktionen, sowohl die aktiven moto- mente zum Einsatz, insbesondere bei der
rischen Funktionen als auch bei schwerer multisegmentalen und der generalisierten
Lähmung die passiven Funktionen und ein Spastizität. Die BotulinumtoxinA-Therapie
begleitender Schmerz oder schmerzhaf- ist bei der fokalen, multifokalen und seg-
te Spasmen, d. h. die Integrierbarkeit der mentalen Spastizität die Behandlung der
spastisch gelähmten Gliedmaßen in den ersten Wahl (Wissel et al. 2009; Simpson
Alltag. et al. 2016). Die intrathekale Baclofen-The-
Rehabilitative Behandlung, sei es mit rapie sollte bei schwerer multisegmenta-
Übungstherapie oder als gerätegestützte ler und generalisierter Spastizität erwogen
Therapie, sollte immer vereinbarten funk- werden, die nicht genügend oder nur bei
tionellen Zielen folgen. Diese Behandlun- unvertretbaren Nebenwirkungen auf orale
gen haben in der Regel das Ziel, die aktiven Medikation und die Basistherapie mit phy-
Funktionen zu fördern oder Störungen der sikalischen und physiotherapeutischen
passiven Funktionen zu mildern. Eine po- Maßnahmen anspricht (Liepert et al. 2012;
sitive Beeinflussung von Spastizität ist da- Craemer et al. 2017; Platz et al. 2019).
bei ein zusätzlicher Aspekt, der neben den
aktiven Funktionen begleitend zu berück-
sichtigen ist. Die Behandlungsart richtet
150 T. Platz, J. Wissel

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153

8
Neurorehabilitation des Schluckens
Samra Hamzic

8.1  Bereich wächst stetig. Die Neurorehabili-


Einleitung tation des Schluckens hängt einerseits in
einem besonderen Maße von der Kennt-
Als neurogene Dysphagie wird die er- nis der neuroanatomischen Grundlagen,
schwerte oder gestörte orale Nahrungs- der Physiologie und Pathophysiologie des
und Flüssigkeitsaufnahme infolge neuro- Schluckens, einer adäquaten und standar-
logischer Erkrankungen bezeichnet. Sie disierten, evidenzbasierten klinischen und
beeinträchtigt die Betroffenen nicht nur in instrumentellen Diagnostik ab. Diese sind
der Fähigkeit, Speichel, Nahrung und Flüs- andererseits maßgeblich für die richtige
sigkeit oral sicher aufzunehmen, sondern Auswahl von evidenzbasierten Therapie-
kann Malnutrition, Dehydratation und maßnahmen. Die neuesten Empfehlungen
Aspirationspneumonien verursachen, zur hierzu wurden von der Deutschen Gesell-
Abhängigkeit von künstlicher Ernährung schaft für Neurologie und der European
und ggf. Trachealkanülen führen, die Le- Stroke Organisation herausgegeben (Dzie-
bensqualität der Betroffenen und ihrer An- was et al. 2021a; Dziewas et al. 2021b) so-
gehörigen stark einschränken und nicht wie für die Rehabilitation des Schluckens
zuletzt zum Tode führen. Angesichts des nach Schlaganfall von der Weltföderation
demografischen Wandels der Gesellschaft Neurorehabilitation (Paik u. Kim 2021).
sehen wir ein stetig wachsendes Lebens-
alter der Menschen, damit einhergehend
Häufung von neurologischen Erkran- 8.2
kungen und in diesem Zusammenhang
Epidemiologie
neurogener Dysphagien. Daraus entste-
hende Kosten für das Gesundheitssystem Die häufigste Ursache einer neurogenen
sind enorm. Laut einer amerikanischen Dysphagie stellt der Schlaganfall dar. In
Studie belaufen sich die Behandlungsko- der Akutphase eines Schlaganfalls leiden
sten einer Aspirationspneumonie auf über ein bis zwei Drittel der Patienten an einer
20.000 US-Dollar (Wilson 2012). Dysphagie (Smithard et al. 2007; Nilsson et
In den letzten Jahren hat sich die Dia­ al. 1998; Baroni et al. 2012). Diese Zahl er-
gnostik und Therapie von neurogenen höht sich bis auf 80 % unter Einsatz bildge-
Dysphagien rasant weiterentwickelt. Die bender Diagnostik wie der Flexiblen Endo-
Bemühungen um Etablierung evidenz- skopischen Schluckdiagnostik (FEES) und
basierter Diagnostik- und Therapiemög- der Videofluoroskopie (VFSS) (Martino et
lichkeiten sind zahlreich, die Anzahl wis- al. 2005). In der chronischen Schlaganfall-
senschaftlicher Publikationen in diesem phase leidet etwa ein Viertel der Betrof-
154 S. Hamzic

fenen an Dysphagie (Smithard et al. 1996; 8.3


Mann et al. 1999). Neuronale Steuerung des Schluckens
Weitere neurologische Erkrankungen
können eine neurogene Dysphagie indu- Das Schlucken als semireflektorischer sen-
zieren (Prosiegel u. Weber 2018; Prosiegel somotorischer Vorgang wird zentral durch
u. Buchholz 2010): das Hirn gesteuert. Neuronale Netzwerke,
Q idiopathisches Parkinson-Syndrom welche auf kortikale und subkortikale Are-
mit 40 – 50 % ale und den Hirnstamm verteilt sind, sowie
Q atypisches Parkinson-Syndrom (Mul- sensible und motorische Hirnnerven mo-
tisystematrophie und die Lewy-Body- dulieren den Vorgang des Schluckens. Eine
Demenz) Störung im zentralen Steuerungssystem
Q Chorea-Huntington des Schluckens bedingt massive Beein-
Q Morbus Wilson trächtigungen im physiologischen Ablauf
Q Dystonien des Schluckvorganges und führt somit zu
Q Friedreich-Ataxie und spinozerebellä- einer unmittelbaren Lebensgefahr.
re Ataxien
Q Multiple Sklerose mit 30 – 40 % 8.3.1
Q Tumoren des Zentralnervensystems Kortikale Mechanismen
mit 14,5 – 63 % (Newton et al. 1994; Mu-
kand et al. 2001; Wesling et al. 2003) Zum supratentoriellen Schlucknetzwerk
Q Amyotrophe Lateralsklerose gehören der primär-motorische Kortex,
Q Myasthenia gravis die primär-sensible Rinde (frontoparieta-
Q Guillan-Barré-Syndrom les Operkulum), der prämotorische Kor-
Q Critical-Illness-Polyneuropathie/Myo- tex, das supplementär motorische Areal
pathie (Z. n. Langzeitbeatmung) (SMA), die vordere Inselregion, der Tha-
Q Muskeldystrophien lamus, die Basalganglien und der Gyrus
Q Myositiden cinguli pars anterior (Hamdy et al. 1999a,
1999b; Huckabee et al. 2003; Toogood et al.
Die Prävalenz der Dysphagie bei der äl- 2005).
teren Population liegt bei 8 – 51 % (Bloem Das frontoparietale Operkulum wird
et al. 1990; Kawashima et al. 2004; Chen et als der menschliche Schluckkortex be-
al. 2009; Holland et al. 2011; Okamoto et al. zeichnet und ist über die kortikobulbären
2012; Wirth et al. 2016; Banda et al. 2021). Fasern mit dem Hirnstamm verbunden.
Die Korrelation zwischen Dysphagie Eine weitere relevante Großhirnregion ist
und Tod bei älteren Menschen wurde noch die vordere Inselregion. In verschiedenen
nicht erforscht: Es ist bekannt, dass Dys- fMRT-Studien konnte die Aktivierung des
phagie nicht selten zu Mangelernährung frontoparietalen Operkulums und der In-
und einem erhöhten Pneumonie­ risiko sel beim Schlucken nachgewiesen werden
führt. Dies sind häufige Mortalitätsursa- (Humbert u. Robbins 2007). Bei Gesun-
chen bei Demenzerkrankten oder Pati- den besteht eine Verbindung der vorderen
enten mit anderen kognitiven Einschrän- Insel mit den restlichen Schluckarealen
kungen (Sellars et al. 2007; Brunnström et (Humbert u. McLaren 2014). Beim will-
al. 2009). kürlichen Schlucken scheint nur die Insel
aktiv zu sein, während das frontoparietale
Operkulum sowohl beim willentlichen als
auch beim reflektorischen Schlucken akti-
viert wird.
8 · Neurorehabilitation des Schluckens 155

Die Lateralisierung des Schluckens 8.3.2


wird kontrovers diskutiert. Einige Bildge- Hirnstammmechanismen
bungsstudien zeigen, dass Dysfunktionen
in der oralen Phase des Schluckvorgangs Der Hirnstamm spielt eine kritische Rolle
mit Läsionen in der linken Hemisphäre, in der Regulierung der pharyngealen und
Störungen in der pharyngealen Phase mit ösophagealen Phase. Die Relevanz dieses
nachfolgender Aspiration hingegen auf Schaltkreises in der Koordination zwischen
Läsionen in der rechten Hemisphäre deu- Schlucken und Atmung wird in mehre-
ten (Teismann et al. 2009). Alberts, Dani- ren Arbeiten betont (Dick et al. 1993; Jean
els und Foundas finden in ihren Arbeiten 2001; Saito et al. 2003; Bianchi et al. 2009).
hingegen keinen Unterschied in Dysfunkti- Für unser derzeitiges Verständnis der Hirn-
onen zwischen den Hemisphären (Alberts stammmechanismen ist das Konstrukt der
et al. 1992; Daniels u. Foundas 1999). „central pattern generators“ (CPGs) von
Eine neuere Studie zeigte in einer zentraler Bedeutung. Das Konstrukt der
fMRT­-Untersuchung eine zeitlich organi- CPGs als Schluckzentren des Hirnstammes
sierte Aktivierung verschiedener kortikaler wurde initial durch Doty (1968) postuliert,
und subkortikaler Areale: Die Aktivie- nachfolgend zu der Studie von Doty und
rung beginnt im prämotorischen Kortex, Bosma (1956).
supplementär motorischen Areal (SMA) Die CPGs werden in eine dorsomediale
und bilateralen Thalamus, gefolgt von pri- und eine ventrolaterale Gruppe eingeteilt.
märem somatosensorischen Kortex, der In der hinteren Medulla oblongata befin-
hinteren Insel und dem Kleinhirn, und den sich die dorsomedialen CPGs neben
endet mit der Aktivierung im Pons. Die dem Nucleus tractus solitarius (NTS). Im
Analyse zeigte, dass die Aktivierung in der oberen Bereich des NTS werden die Infor-
linken Hemisphäre initiiert wird und gra- mationen über den Geschmack (Hirnner-
duell über die Zeit in die rechte Hemisphä- venkerne VII [N. facialis], IX [N. glossopha-
re wandert (Mihai et al. 2014). ryngeus] und X [N. vagus]) gesammelt und
Mihai et al. konnte bei dysphagischen an den primären Geschmackskortex in der
Patienten neben dem Rückgang der Akti- Insel sowie an die ventrolaterale Grup-
vierung im Schlucknetzwerk einen Akti- pe weitergeleitet. Die sensiblen Reize aus
vierungsanstieg im kontraläsionalen pri- den Hirnnervenkernen IX und X treffen im
mären somatosensorischen Kortex (S1) unteren Bereich des NTS ein und werden
nachweisen. Diese Aktivierung korrelierte von dort aus an den primär-sensiblen Kor-
mit dem initialen Dysphagie-Score der un- tex weitergesendet. Zusätzlich erhalten die
tersuchten Patienten. Bei ausgeprägten Lä- dorsomedialen CPGs auch Informationen
sionen der Pyramidenbahn korrelierte das von supratentoriellen Arealen. Die ventro-
verbesserte Schlucken mit der asymmetri- lateralen CPGs, die sich neben dem Nucle-
schen Aktivierung des ipsiläsionalen vor- us ambiguus befinden, verarbeiten Infor-
deren Kleinhirns. Die Daten zeigen, dass mationen der dorsomedialen Gruppe und
es im Falle einer Besserung des Schluckens leiten sie an die Hirnnervenkerne in der
bei schlaganfallbedingter Dysphagie zu ei- Medulla oblongata weiter.
ner erhöhten Aktivierung von kontraläsio-
nalen somatosensorischen Reserven und
zu einer ipsiläsionalen Aktivierung des 8.4
vorderen Kleinhirns kommt (Mihai et al.
Physiologischer Schluckvorgang
2016).
Der Schluckvorgang wird in der Litera-
tur aus didaktischen Gründen in mehre-
156 S. Hamzic

re Phasen unterteilt. Schlucken ist jedoch Tab. 8.1: Funktion und Abläufe der oralen Vorberei-
ein dynamischer Prozess, der eine strikte tungsphase (nach Prosiegel u. Weber 2018)
Trennung der einzelnen Schluckphasen Die orale Vorbereitungsphase dient:
voneinander nicht erlaubt. Die Kenntnis
• der Aufnahme des Materials in den Mund
aller Schluckphasen und ihrer gegensei- • der Zerkleinerung von festem und halbfestem
tigen Zusammenhänge ist unabdingbar Material
für das Verständnis der Ursachen einer • der Vermischung mit Speichel
Dysphagie und für die Auswahl geeigneter • der Bolusformung
• der Platzierung des Bolus in der Zungenschüssel
Therapiemethoden.
Streng genommen gehören fünf Pha- Motorische Abläufe der oralen Vorbereitungs-
sen zum physiologischen Schluckvor- phase:
gang: die präorale Phase, die orale Vorbe- • Kauen
reitungsphase, die orale Transportphase, – Lippen: Schluss / Vorschieben / Zurückziehen
die pharyngeale Phase und die ösophage- – Kiefer: Schluss / Öffnung / Drehbewegung
ale Phase. In der Literatur existiert derzeit nach vorwärts / rückwärts, oben / unten, zur
Mitte / zur Seite
noch kein Konsens über die genaue Ein-
– Zunge: Bewegung nach vorwärts / rückwärts,
teilung dieses flexiblen Vorganges (Ertekin seitlich und um die eigene Längsachse
2003; Langmore 2006; Warnecke u. Dzie- – Wange: Muskelanspannung auf der Kauseite
was 2018). – Zungenschüsselbildung
Externe Faktoren wie das Riechen – Hebung (Elevation) der Zungenspitze und der
Zungenränder
und Sehen der Nahrung und der Flüssig-
keit (olfaktorische und visuelle Reize), die • Velolingualer /glossopalataler Abschluss
(für Material, das nicht gekaut wird)
Aufmerksamkeit, das Essverhalten und
die Art der Nahrungs- und Flüssigkeits-
aufnahme sowie das Hungergefühl gehö- Die orale Transportphase (Tab. 8.2) ist
ren zur präoralen Phase. Sie wirken sich ebenso willentlich steuerbar, dauert ca.
auf den Schluckvorgang in seiner Effizienz eine Sekunde und gilt als ein kritischer
und Sicherheit aus. In der präoralen Pha- Zeitpunkt für die Initiierung und den adä-
se wird die Speichelbildung angeregt. Sie quaten Verlauf der pharyngealen Schluck-
ermöglicht eine adäquate Vorbereitung phase.
des Speisebreis in der oralen Vorberei-
Tab. 8.2: Motorische Abläufe der oralen Transport-
tungsphase (Leopold u. Kagel 1997). Die phase (nach Prosiegel u. Weber 2018)
Relevanz der präoralen Phase für den ge-
samten Schluckvorgang wird in der Studie Lippen-/Kieferschluss, beidseitige Wangento-
nisierung
von Ushioda et al. beschrieben: Während
Probanden visuelle und auditive Schluck- • Abschluss der Zunge mit dem Gaumen durch
Elevation der Zungenspitze und der Vorderzun-
stimuli präsentiert wurden, kam es in der
genränder
Magnetoenzephalographie nachweislich • Bildung der Zungenfurche durch Senkung der
zu einer Aktivierung der Spiegelneuronen Zungenmitte
des Schluckens (Ushioda et al. 2012). • Oraler Transport durch sequenzielle
Die orale Phase, an der 25 Muskelpaare Zungenhebung/-retraktion
• Rampenbildung und Senkung der Hinterzunge
beteiligt sind, ist willentlich steuerbar und
für Transport in den Oropharynx
dauert individuell unterschiedlich. Sie • Beginn der Velumhebung zum Abschluss des
wird in die orale Vorbereitungsphase (Tab. Nasopharynx
8.1) und die orale Transportphase unterteilt
(Prosiegel u. Weber 2018).
Die pharyngeale Phase (Tab. 8.3) ist wil-
lentlich nicht beeinflussbar und umfasst
8 · Neurorehabilitation des Schluckens 157

die Beteiligung von 31 Muskelpaaren. Zur zuletzt für die Auswahl adäquater Thera-
detaillierten Beschreibung der pharynge- piemethoden.
alen Phase siehe Tabelle 8.3. Verschiedene validierte Screeningver-
fahren und klinische Schluckassessments
Tab. 8.3: Abläufe während der pharyngealen Phase
(nach Prosiegel u. Weber 2018) für die Diagnostik von Dysphagien sind
verfügbar. Die Auswahl der Testinstru-
• Schluckreflexauslösung
mente sollte einzig und allein auf ihrer
• Schutz vor nasaler Penetration durch Velum­
hebung Reliabilität und Validität basieren. Weder
• Abschluss der Zungenbasis mit der Rachenhin- für Screeningverfahren noch für Schluck­
terwand und dadurch bedingter Bolustransport assessments existiert bis dato ein Gold-
nach unten standard. Screeningverfahren haben zum
• Raumerweiterung des Pharynx/Erleichterung der
Ziel die Ersteinschätzung des Aspirati-
Boluspassage durch Bewegung von Zungenbein
und Kehlkopf nach vorn oben onsrisikos bei Patienten. Die frühzeitige
• Schutz vor Aspiration durch dreifachen Kehl- Durchführung eines Screenings in der aku-
kopfverschluss ten Schlaganfallphase trägt nachweislich
• Reinigung (Clearing) verbliebener Bolusreste zu einer signifikanten Reduzierung des
und (geringer auch) Bolustransport durch pha-
Pneumonierisikos bei (Bray et al. 2017).
ryngeale Peristaltik
• Öffnung des oberen Ösophagussphinkters In der Leitlinie „Neurogene Dysphagien“
(oÖS), Bolusdurchtritt und Verschluss des oÖS der Deutschen Gesellschaft für Neurologie
(DGN) wird der Einsatz standardisierter
und validierter Screeningverfahren (Dzie-
Die ösophageale Phase beginnt mit dem was et al. 2020, 2021b) empfohlen. Die
Eintritt des Bolus in die Speiseröhre. Wäh- Welt­föderation Neurorehabilitation emp-
rend der ösophagealen Phase wird der Bo- fiehlt den frühen Einsatz der klinischen
lus mittels Kontraktionswellen der Speise- Screeningverfahren mit hoher Sensitivität
röhrenmuskulatur in den Magen befördert. und hohem negativen prädiktiven Wert so-
Diese Phase dauert je nach Bolusart und wie guter Reliabilität durch geschultes kli-
-beschaffenheit bis zu ca. 20 Sekunden mit nisches Personal, um die Pneumonieraten
einer Bolusgeschwindigkeit von 2 – 4 cm/s sowie die Risiken der Sekundärkomplikati-
(Prosiegel u. Weber 2018). onen zu reduzieren (Paik u. Kim 2021).

8.5 8.6
Screeningverfahren und klinische Bildgebende Schluckdiagnostik
Schluckdiagnostik
Ein professionelles Dysphagiemanage-
Der Schluckvorgang kann in allen fünf ment und eine erfolgreiche Dysphagie­
Phasen einzeln oder alle Phasen gleichzei- rehabilitation erfordern eine zielge­
tig betreffend beeinträchtigt sein. Um eine naue und standardisierte bildgebende
adäquate Beurteilung der Pathophysiolo- Dysphagie­diagnostik, die die Beurteilung
gie des Schluckens vornehmen zu können, der Dysphagiesymptome und -pathome-
ist ein evidenzbasiertes klinisches und/ chanismen ermöglicht. Zwei Verfahren
oder apparatives Verfahren indiziert. haben sich als Goldstandard etabliert:
Des Weiteren ist die Kenntnis wich- Die flexible endoskopische Evaluation des
tigster pathologischer Leitsymptome einer Schluckens (FEES) und die Videofluorosko-
Dysphagie von großer Bedeutung für die pie („video­fluoroscopic swallowing study“,
genaue diagnostische Einschätzung des VFSS) (Tab. 8.4).
Schweregrades der Dysphagie und nicht
158 S. Hamzic

Tab. 8.4: Gegenüberstellung der Vor- und Nachteile der FEES vs. VFSS

FEES VFSS
• mobil • an Radiologie gebunden
• kostengünstig • kostenintensiv
• invasiv • non-invasiv
• keine Strahlenbelastung • Strahlenbelastung und Kontrastmittel
• Beurteilung Sekretmanagement möglich • Beurteilung Sekretmanagement nicht möglich
• Beurteilung linguopharyngealer Sensibilität • Beurteilung linguopharyngealer Sensibilität nicht
möglich möglich
• Sicht nur vor und nach dem Schluck • Schluckvorgang komplett sichtbar
• oÖS nicht beurteilbar • oÖS beurteilbar
• Aspirationsmenge nicht messbar • Aspirationsmenge besser beurteilbar
• als Verlaufskontrolle geeignet • Verlaufskontrolle nur bedingt möglich

8.6.1
In der Ruhebeobachtung bewertet der
Flexible Endoskopische Evaluation des
Untersucher die Beschaffenheit der Struk-
Schluckens (FEES)
turen im Naso-, Oro-, Hypopharynx und
Die FEES hat sich in Deutschland als das im Larynxbereich sowie Asymmetrien
gängigste bildgebende Diagnostikum für und unwillkürliche Bewegungen der rele-
Dysphagien etabliert. Nicht zuletzt seit der vanten Strukturen (Abb. 8.1). Das allgemei-
Einführung des FEES-Curriculums durch ne Sekretmanagement sowie das Vorliegen
die DGN/DSG in 2014 (Dziewas et al. 2014) von Sekret- und Speiseresten werden nach
ist diese Untersuchungsmethode auf 70 % validierten Scores beurteilt. Bereits in der
der Stroke Units in Deutschland verfügbar Ruhebeobachtung kann der Untersucher
(Flader et al. 2017). Symptome und Pathomechanismen einer
Die Untersuchung erfolgt durch Ein- Dysphagie erkennen und daraus eine adä-
führen eines flexiblen Nasopharyngo­ quate Therapiemethode ableiten.
laryngoskops mit ca. 3 mm Durchmesser Die Funktionsprüfung dient der Ein-
über den unteren Nasengang in den Hypo­ schätzung der Effektivität motorischer
pharynx. Die Aufzeichnung der FEES er- Funktionen im Hypopharynx und Larynx.
folgt per Video mit der Möglichkeit der Einschränkungen in diesem Abschnitt der
Wiedergabe von 25  – 
50 Bildern/Sekun- FEES liefern dem Untersucher potenzielle
de. Hierdurch können relevante Leitsym- Hinweise auf zugrunde liegende Pathome-
ptome und Pathomechanismen bildgenau chanismen. Die Sensibilitätstestung erfolgt
erkannt werden. Die FEES ist eine risiko- durch Berühren hypopharyngealer und
arme Untersuchung: Eine Studie an 300 laryngealer Strukturen. Anschließend er-
akuten Schlaganfallpatienten zeigte keine folgen die Schluckversuche mit verschie-
relevante Änderung der Vitalparameter bei denen Boluskonsistenzen und -mengen,
der Durchführung der FEES (Warnecke et die sich am aktuellen Zustand und den
al. 2009). vorhandenen Ressourcen des Patienten
Die FEES besteht aus folgenden Ab- orientieren Der behandelnde Therapeut
schnitten: Ruhebeobachtung, Funktions- kann auf der Grundlage der Ergebnisse
prüfung und Sensibilitätstestung sowie verschiedenen Untersuchungsabschnitte
Schluckversuchen verschiedener Konsis­ eine geeignete Therapiemethode aussu-
tenzen, ggf. unter Anwendung kompensa- chen.
torischer Schlucktechniken. Für die Einschätzung des Schwere-
grades der Dysphagie und der vorlie-
8 · Neurorehabilitation des Schluckens 159

A Zungengrund
B Epiglottis
C Sinus piriformes
D Postcricoidregion (Bereich des oÖS)
E Aryknorpel
F Aryepiglottische Falte
G Taschenfalte
H Stimmlippe
I Glottis (darunter Trachea)
J Hintere Kommissur/Interarytenoid-
Region
K Rachenhinterwand

Abb. 8.1: Endoskopische Sicht auf relevante Strukturen im unteren Rachen sowie im Kehlkopf (Bild aus der eige-
nen Datenbank der Neurologischen Klinik des Universitätsklinikums Gießen)

Tab. 8.5: Leitsymptome einer Dysphagie aus endoskopischer oder videofluoroskopischer Sicht

Leaking Anteriores Leaking = Austreten des Bolus aus der Mundhöhle


Posteriores Leaking = Vorzeitiges Abgleiten des Bolus aus der Mundhöhle in den Hypo-
pharynx (in die Valleculae oder in die Sinus piriformes) vor der Schluckreflexauslösung

Verzögerte Zeitgerechte Schluckreflextriggerung erfolgt beim Kontakt des Bolus mit den Gaumen-
Schluckreflex­ bögen zu Beginn der pharyngealen Phase. Wenn der Bolus aus der Mundhöhle in den
triggerung Hypopharynx entgleitet, die Valleculae oder die Sinus piriformes erreicht, ohne dass der
Schluckreflex mit einer bestimmten Zeitlatenz ausgelöst wird, spricht man von einem
verzögerten Schluckreflex.
Normwerte für die Zeit bis zur Auslösung des Schluckreflexes in Abhängigkeit von Konsis­tenz
und Lokalisation (Warnecke u. Dziewas 2013)

Valleculae Sinus piriformes

Flüssigkeit 3,2 ± 0,5 s 1,4 ± 0,6 s

Feste Konsistenz 2,1 ± 0,3 s 1,5 ± 0,7 s

Penetration Penetration = Eindringen des Bolus in den Kehlkopfeingang (Aditus laryngis) bis auf
Stimmlippenebene
Dies geschieht über folgende Strukturen: Epiglottiskante, aryepiglottische Falte, Aryknorpel
oder über die hintere Kommissur. Eine Penetration kann in allen Phasen des Schluckvor-
ganges stattfinden: prädeglutitiv (vor der Schluckreflexauslösung), intradeglutitiv (wäh-
rend der pharyngealen Phase – in der FEES während des White-outs) und postdeglutitiv
(nach dem Ende der pharyngealen Phase). In der Auswertung der FEES oder VFSS ist die
genaue Angabe des Zeitpunktes einer Penetration für die anschließende Auswahl geeig-
neter Therapiemaßnahmen von Bedeutung.

Aspiration Eindringen von Bolusanteilen unterhalb der Glottisebene in die Trachea

Stille Penetra- Eindringen von Bolusanteilen in den Kehlkopfeingang (Penetration) oder in die Trachea
tion/Aspiration (Aspiration) ohne eine sensible Reaktion (Husten, Räuspern)

Residuen Verbleiben von Bolusanteilen in hypopharyngealen Strukturen (Valleculae, laterale und


posteriore Pharynxwand, Sinus piriformes, Postcricoidregion)
160 S. Hamzic

genden Symptome werden validierte Gegensatz zur FEES können das Sekret-
Scores herangezogen (für die genaue Be- management sowie der Schweregrad der
schreibung der Symptome siehe Tab. 8.5). Residuen in der Videofluoroskopie jedoch
Die Beurteilung des Schweregrades der nicht zuverlässig dargestellt werden.
Sekretresiduen erfolgt anhand der Murray-
Skala (Murray et al. 1996; Pluschinski et al.
2014), der Schweregrad der Penetration/ 8.7
Aspiration anhand der Penetrations-Aspi-
Rehabilitation neurogener
rations-Skala (PAS-Skala) nach Rosenbek
Dysphagie
(Rosenbek et al. 1996; Hey et al. 2014). Für
die Beurteilung der Residuen wird die Ver- 8.7.1
wendung der fünfstufigen „Yale Pharynge- Funktionelle Dysphagietherapie (FDT)
al Residue Severity Rating Scale“ empfoh-
len (Neubauer et al. 2015; Gerschke et al. Der Begriff der funktionellen Dysphagie-
2019). therapie (FDT), geprägt von Gudrun Barto-
Schließlich lassen sich die Umset- lome, hat sich im deutschsprachigen
zung und die Effektivität restituierender Raum etabliert. Man versteht darunter
und kompensatorischer Techniken in der den Einsatz von Übungsmethoden, die ei-
FEES prüfen (z. B. Schlucken gegen Wi- nen restituierenden, kompensatorischen
derstand, das supraglottische Schlucken, und/oder adaptierenden Charakter haben
Kopfdrehung/-neigung zur betroffenen (Bartolome 2014; Logemann 1998). Die-
Seite etc., siehe Tab. 8.7 und 8.8). Dies er- ser Begriff wird im angloamerikanischen
möglicht den behandelnden Therapeuten, Raum nicht verwendet, wobei die Begriffe
die für den Patienten optimale Thera- Restitution, Kompensation und Adaptati-
piemethode bzw. die optimale Kostform on bekannt sind. In einer neueren Arbeit
auszuwählen. Regelmäßige Verlaufsun- von Langmore und Pisegna (Langmore u.
tersuchungen können die Effektivität der Pisegna 2015) wird zwischen „swallowing
ausgewählten diätetischen und therapeu- exercises“ (SE) und „non-swallowing exer-
tischen Maßnahmen bestätigen oder wi- cises“ (NSE) unterschieden. Im Vergleich
derlegen. zu SE können NSE vom Patienten leichter
erlernt und repetitiv geübt werden.
8.6.2 Videofluoroskopie (VFSS) Die FDT orientiert sich bei der Aus-
wahl der Übungen an Pathomechanis-
Videofluoroskopie („videofluoroscopic men der Dysphagie, wobei evidenzbasier-
swallowing study“ [VFSS]) ist eine radiolo- te Methoden Verwendung finden sollten.
gische Untersuchung der kompletten Dy- Das Ziel aller therapeutischen Maßnah-
namik des Schluckvorganges. Die Untersu- men ist die Sicherstellung eines aspirati-
chung wird unter Gabe von Kontrastmitteln onsfreien bzw. sicheren Schluckvorganges
in der konventionellen Durchleuchtung im für Sekret, Nahrung und Flüssigkeiten. Die
Sitzen oder Stehen im seitlichen Strahlen- Leitlinien der DGN empfehlen einen früh-
gang mit 25 bis 30 Bildern pro Sekunde di- zeitigen Beginn der Therapie, v. a. in der
gital aufgezeichnet. Sie stellt alle Phasen akuten Schlaganfallphase. Carnaby zeigte,
des Schluckens sowie die Tiefe und Men- dass Patienten, die eine hochfrequente
ge des Aspirats dar (Langmore 2003). Der Dysphagietherapie (fünfmal pro Woche)
Schweregrad der Aspiration wird auch in gegenüber der Standardtherapie (dreimal
der VFSS mittels der Penetrations-Aspi- pro Woche) erhielten, sicher oralisiert wer-
rations-Skala nach Rosenbek (Rosenbek den konnten (Carnaby et al. 2006).
et al. 1996; Hey et al. 2014) bestimmt. Im
8 · Neurorehabilitation des Schluckens 161

Tab. 8.6: Restituierende, stimulierende Verfahren

Schluckphase Methode Ereignis Evidenz


Präorale Phase Black Pepper Oil (BPO); nasale Verkürzung der Latenzzeit bis Ebihara et al. 2006
Inhalation von 100 µL BPO für zur Schluckreflextriggerung,
eine Minute unmittelbar vor der Erhöhung unwillkürlicher
Mahlzeit Schluckbewegungen
Pharyngeale Thermotaktile Stimulation (TTS) der Kurzzeiteffekt hinsichtlich der Lazzara et al. 1986,
Phase Gaumenbögen mit eisgekühltem Verbesserung der Schluckre- Regan et al. 2010
Stab flextriggerung
Pharyngeale Thermosondenstimulation Kurzzeiteffekt hinsichtlich der Sciortino et al. 2003,
Phase (saurer oder Mentholgeschmack) Verbesserung der Schluckre- Ebihara et al. 2006
flextriggerung
Pharyngeale – Thermotaktile Stimulation des Erhöhung der Schluckfre- Ebihara et al. 2005,
Phase Oropharynx und 150 µM/L Capsai- quenz, Verbesserung der Yamasaki et al.
cin in 1 ml nektarartig angedick- Schluckreflextriggerung, 2010,
tem Wasser 3 x täglich vor jeder Outcomeverbesserung in Kondo et al. 2017,
Mahlzeit Dysphagiescores, Hossain et al. 2018,
– 10 ml nektarartige Capsaicionid- Signifikante Verbesserung Wang et al. 2019,
Lösung (185,5µg/g) 3x täglich vor des PAS Scores, des Glottis- Noemí et al. 2019,
jeder Mahlzeit über 2 Wochen (5 x / schlusses sowie der Öffnung Jinnouchi et al. 2019
Woche) des oÖS,
– Stimulation des N. vagus über Reduktion der Pneumonierate
topische Applikation im äußeren
Gehörgang

Unter restituierenden Verfahren ver- cken und das Mendelsohn-Manöver (Tab.


steht man sensomotorische Maßnahmen, 8.8).
die Funktionsstörungen verbessern oder Hauptziele adaptiver Verfahren sind
beheben oder einen gewissen Grad an Reduzierung des Aspirationsrisikos sowie
Funktionserhalt gewährleisten sollen. Die eine erleichterte Nahrungs- und Flüssig-
Zielsetzung dieser Methoden ist es, unter keitsaufnahme bei bestehenden Funkti-
Verbesserung neuromuskulärer Funkti- onseinschränkungen. Durch Anpassung
onen das physiologische Schlucken anzu- der Kostform und der Flüssigkeitskonsis­
bahnen und Voraussetzungen für das Er- tenz, die Auswahl adäquater Ess- und
lernen kompensatorischer Strategien zu Trinkhilfen sowie (therapeutischer) Essbe-
schaffen (Tab. 8.6). gleitung werden äußere Voraussetzungen
Motorisches Üben in der Restitution für ein sicheres Schlucken sowie eine er-
dient vor allem der Verbesserung der Mus- leichterte Aufnahme von Nahrung und
kelfunktion in der oralen und in der pha- Flüssigkeit geschaffen (Tab. 8.9).
ryngealen Phase abhängig vom diagnosti- Ob eine bestimmte Kostform, Flüs-
zierten Pathomechanismus (Tab. 8.7). sigkeitskonsistenz sowie Bolusgröße und
Zu den kompensatorischen Verfahren -form für den Patienten adäquat ist, sollte
zählen Schlucktechniken, die ein sicheres immer durch eine bildgebende Diagnostik
und aspirationsfreies Schlucken trotz Ein- überprüft werden.
bußen von Funktionen, die nicht mehr In der bildgebenden Diagnostik wird
oder nur eingeschränkt wieder hergestellt bei neurogenen Dysphagien häufig eine
werden können, ermöglichen. Hierzu ge- verzögerte Schluckreflextriggerung mit
hören: Haltungsänderungen des Kopfes, Leaking sowie prädeglutitiver Penetrati-
supra- und supersupraglottisches Schlu- on und/oder Aspiration beobachtet. Da-
162 S. Hamzic

Tab. 8.7: Restituierende, übende Verfahren

Schluckphase Methode Ergebnis Evidenz

Orale Phase Oralmotorische Übungen Verkürzte orale Transitzeit, verbes- Gisel et al. 1996,
(isometrische Zungenwider- serte Triggerung der pharyngealen Robbins et al. 2005,
standsübungen bei Dysphagie Phase, verminderte pharyngeale 2007,
nach Schlaganfall) Residuen bei allen Konsistenzen, Smaoui et al. 2019
Abnahme des Aspirationsgrades auf
der Penetrations-Aspirations-Skala
nach Rosenbek

Orale Phase Masako-Übung Verbesserte Vorwärtsbewegung der Fujiu, Logemann


(Zungenhalteübung) Rachenhinterwand 1996,
Lazarus et al. 2002,
Hammer et al. 2014

Pharyngeale Shaker-Übung Kräftigung der suprahyoidalen Shaker et al. 1997,


Phase (Kopfhebeübung): Muskulatur; Zunahme der Kehlkopf- 2002,
Frequenz: 3 x/Tag; hebung und der Öffnungsweite des Mepani et al. 2009,
6 Wochen lang oÖS bei 6-wöchiger Durchführung Logemann et al. 2009,
Yoon et al. 2013

Pharyngeale Kopfanteflexion gegen Wi- Kräftigung der suprahyoidalen Yoon et al. 2014,
Phase derstand Muskulatur Kraaijenga et al. 2015
(Chin-Tuck-Against-
Resistance=CTAR)

Pharyngeale Kieferöffnungsübung Zunahme der Zungenbeinhebung, Wada et al. 2012


Phase (Jaw Opening Exercise =JOE): Zunahme der Öffnungsweite des
Maximal mögliche Kiefer- oberen Ösophagussphinkters,
öffnung reduzierte Pharynx-Transitzeit,
Frequenz: 10 Sek., 5 Wieder- reduzierte pharyngeale Residuen
holungen, 2 x/Tag, 4 Wochen
lang

Pharyngeale Kieferöffnung gegen Wider- Verbesserte Zungenbeinhebung, Yoon et al. 2014,


Phase stand (Jaw Opening Against Zunahme der Öffnungsweite des Kraaijenga et al. 2015
Resistance= JOAR) oÖS, reduzierte Pharynx-Transitzeit,
Kinn gegen Widerstand zur reduzierte pharyngeale Residuen
Brust neigen
Frequenz: Widerstand 30–60
Sek. halten; 6 Wochen lang

Pharyngeale Expiratory Muscle Strength Verbesserte hyolaryngeale Ex- Troche et al. 2010,
Phase Training (EMST): Ausatmung kursion, niedrigere Werte auf der Eom et al. 2017
in ein atemtherapeutisches PAS-Skala
Gerät gegen den Widerstand
eines Ventils
Frequenz: 5 Wiederholungen/
Tag, 5 Wochen lang

Pharyngeale Mendelsohn-Übung* Zunahme der Dauer der Kehl- Kahrilas et al. 1991
Phase kopfhebung, Verlängerung der
Öffnungsdauer des oberen Ösopha-
gussphinkters

*Nach Prosiegel u. Weber 2018 wird der Begriff „Mendelsohn-Manöver“ als kompensatorisches Verfahren verwendet. Da
aber unter Anwendung dieses Manövers die Schluckfunktion verbessert wird, kann dieses Verfahren als „Mendelsohn-
Übung“ auch zu den restituierenden Maßnahmen gezählt werden.
8 · Neurorehabilitation des Schluckens 163

Tab. 8.8: Kompensatorische Verfahren

Schluckphase Methode Ergebnis Evidenz

Orale / Pharyngeale Kopfdrehung zur pa- Verbesserter Bolustransport; bei Tsukamoto 2000,


Phase retischen Pharynxseite Gesunden stärkere Öffnung des Logemann et al.
(betroffene Rachen- oberen Ösophagussphinkters und 1989
hälfte wird komprimiert Druckabnahme im Bereich des
und die gesunde Seite oberen Ösophagussphinkters)
aufgedehnt)

Orale Transportphase Kopfneigung zur gesun- Bolus wird per Schwerekraft über Logemann et al.
den Seite die gekippte Seite geleitet 1998

Orale / Pharyngeale Kopfneigung nach vorne Verbesserung des Kehlkopfverschlus- Logemann 1998,


Phase (Chin-Tuck) ses, Annäherung der Epiglottis an Welch et al. 1993,
die Rachenhinterwand, Erweiterung Karaho 1999
bzw. Verengung der Valleculae,
Anhebung bzw. keine Anhebung der
Epiglottis

Pharyngeale Phase Supraglottisches / Verlängerte Kehlkopfhebung, ver- Bülow 1999


supersupraglottisches besserter Verschluss des Kehlkopf-
Schlucken eingangs

Pharyngeale Phase Mendelsohn-Manöver Passive Aufdehnung des oberen Kahrilas et al.


Ösophagussphinkters, verlängerte 1991
Dauer der Kehlkopfhebung

Tab. 8.9: Kriterien zur Adaptation von Nahrung und Flüssigkeiten

Eigenschaften Methode Ergebnis Evidenz

Bolusgröße Kleine Bolusgröße Sicherere Nahrungs- und Flüssigkeitsauf-


nahme v. a. bei verzögerter Schluckreflex-
triggerung und einer gestörten oralen
Boluskontrolle

Fließfähigkeiten Anpassung der Flüssig Konsistenzen: Bisch et al.


der Nahrung Konsis­tenz: flüssig, • Pharyngeale Passage erleichtert 1994
breiig, fest • Passieren den oÖS bei Öffnungsstörungen
• Können gut abgehustet werden
Breiige/feste Konsistenzen:
• Positiver Effekt auf die Schluckreflexaus-
lösung

Sensorische Geschmack, Tempera- • Saure sowie sehr heiße/kalte Konsisten- Bülow et al.
Eigenschaften tur, Kohlensäuregehalt zen verbessern die Schluckreflextrigge- 2003
rung
• Kohlensäurehaltige Flüssigkeiten reduzie-
ren Penetrationen / Aspirationen, Residu-
en sowie die pharyngeale Transitzeit

Pulmotoxische Säure- und fetthaltige Schädigung der Alveolarepithelien


Eigenschaften von Nahrung und Flüssig-
Speisen/Flüssig- keiten
keiten
164 S. Hamzic

Tab. 8.10: Adaptation von Schluckkostformen

Schluckkostform Indikation Eigenschaft

Normale Kost Keine Penetration/Aspiration, Alle Kostformarten ohne Einschrän-


sicheres Schlucken möglich kungen

Weiche Kost Leichtes Risiko, sich zu verschlu- • Weich gekocht/gedünstet


cken • Mit der Zunge zerdrückbar

Grob passierte Kost Mittelschweres Risiko, sich zu • Weiche bis breiige Kost
verschlucken • Sehr leicht mit der Zunge zerdrück-
bar

Fein passierte Kost Schweres Risiko, sich zu ver- • Homogen


schlucken • Glatt
• Weicher Brei
• Förmchenkost

Orale Nahrungskarenz / nil per Massives Risiko, sich zu ver- Vollständig über eine nasogastrale
os (NPO) schlucken oder PEG-Sonde ernährt.

her stellen flüssige Konsistenzen eine be- bedarf und den Ernährungsstatus (Foley et
sondere Gefahr in Form einer Penetration al. 2006). Eine Reduktion der Raten der As-
und/oder Aspiration für diese Patienten pirationspneumonie durch die Texturmo-
dar (Power et al. 2007). Das adaptive Ver- difikation konnte in wissensschaftlichen
fahren der Andickung von flüssigen Kon- Arbeiten nicht eindeutig belegt werden
sistenzen spielt eine wesentliche Rolle (Hines et al. 2010; Flynn et al. 2018; Foley
im Dysphagiemanagement. In der Regel et al. 2008; Abdelhamid et al. 2016).
werden flüssige Konsistenzen nektarartig, Im klinischen Alltag ist ein einheit-
honigartig oder puddingartig angedickt. licher Viskositätsgrad für die unterschied-
Der positive Effekt der Texturanpassung lichen Konsistenzen jedoch schwer her-
für flüssige Konsistenzen konnte wissen- zustellen, da Viskosimeter und Geräte, die
schaftlich bestätigt werden (Steele et al. zur Erfassung von Texturen dienen, kost-
2015). Gleichzeitig ist mit der Steigerung spielig sind. Des Weiteren besteht eine un-
der Viskosität der Flüssigkeiten der negati- einheitliche Nomenklatur bezüglich der
ve Effekt der hypopharyngealen Residuen, verschiedenen Konsistenzen und Viskosi-
einer reduzierten Compliance gegenüber tätsbezeichnungen in unterschiedlichen
der Texturmodifikation, der damit ver- Ländern bzw. Institutionen. Die „Interna-
bundenen reduzierten oralen Aufnahme tional Dysphagia Diet Standardisation Ini-
von Flüssigkeiten und nicht zuletzt einer tiative“ (IDDSI) hat eine international ein-
Reduktion der Lebensqualität verbunden heitliche Terminologie und Definitionen
(Andersen et al. 2013; Steele et al. 2015; von Kostformen und Viskositätsgraden
New­ man et al. 2016; Kuhlemeier et al. festgelegt. Außerdem wurde ein einfaches
2001; Clave et al. 2006; Clave et al. 2008; Vi- Verfahren zur Erfassung von Eigenschaf-
lardell et al. 2016; Abdelhamid et al. 2016). ten von Kostformkonsistenzen und Flüs-
Obwohl die Viskositätsanpassung bei Flüs- sigkeiten entwickelt. Für nähere Informati-
sigkeiten mit mangelnder Akzeptanz ver- onen wird auf die Arbeit von Cichero et al.
bunden ist, verbessert die Texturmodifi- (2016) sowie die IDDSI Homepage verwie-
kation der oralen Kost bei dysphagischen sen (http://www.iddsi.org).
Patienten dennoch den Gesamtenergie-
8 · Neurorehabilitation des Schluckens 165

Tab. 8.11: Adaptation von Flüssigkeiten

Fließfähigkeit Eigenschaft

Dünnflüssig Alle Flüssigkeiten ohne Einschränkungen

Nektarartig Fruchtnektar, Cremesuppen, nektarartig angedickte Flüssigkeiten und Saucen

Honigartig Angedickte Cremesuppen, honigartig mit Andickungspulver angedickte Flüssigkeiten,


Trinkjoghurt

Die Kostform sollte immer dann an- Mundpflegeprotokolls hatte zur Folge je
gepasst werden, wenn der Kauvorgang nach Fragestellung entweder die Verbes-
gestört oder erschwert ist, wenn eine ein- serung der oralen Hygiene oder die Reduk-
geschränkte Zungenmotilität und -kraft tion von pulmonalen Infektionen. Sowohl
vorliegen, bei oralen Residuen bzw. wenn in den Leitlinien der Deutschen Gesell-
durch eine bildgebende Diagnostik ein si- schaft für Neurologie als auch in den Emp-
cheres Schlucken durch eine bestimmte fehlungen der Weltföderation Neuroreha-
Kostform bestätigt werden konnte (Tab. bilitation wird ein strukturiertes Protokoll
8.10, Tab. 8.11). der oralen Hygiene als fester Bestandteil
Wenn Andickung von Flüssigkeiten er- des Dysphagiemanagements empfohlen
forderlich ist, sollte auf die Verwendung (Dziewas et al. 2020, 2021b; Paik u. Kim
von amylaseresistenten Andickungspro- 2021).
dukten geachtet werden. Andickungs-
mittel auf reiner Stärkebasis sind für Dys- 8.7.1.2
phagiepatienten nicht geeignet, da die im Parenterale Ernährung
Speichel vorhandene Amylase die Stärke Dysphagische Patienten sind in einem ho-
bereits im Mund zersetzt und verflüssigt.. hen Maße den Risiken einer Malnutrition
Zu Ess- und Trinkhilfen gehören spe- und Dehydratation ausgesetzt. So stellt
zielle Trinkbecher (Nasenausschnittsbe- für eine erfolgreiche Rehabilitation von
cher, Strohhalme, Schnabelbecher, Schie- schlaganfallbedingten physischen und
belöffel). Die Zusammenarbeit mit der kognitiven Einschränkungen die Vermei-
Ergotherapie kann die Auswahl eines ad­ dung von Malnutrition durch eine aus-
äquaten Hilfsmittels erleichtern. reichende perorale Versorgung mit Nähr-
stoffen, Kalorien und Flüssigkeiten einen
8.7.1.1 wesentlichen Faktor dar (Chen et al. 2019;
Mundhygiene Lieber et al. 2018). Die Weltföderation der
Das Auftreten eine Aspirationspneumo- Neurorehabilitation empfiehlt die frühe
nie wird nicht nur durch die Dysphagie Etablierung der parenteralen Ernährung
begünstigt. Mehrere wissenschaftliche bei Dysphagiepatienten mit einem Risiko
Arbeiten belegen, dass das Vorhanden- für Mangelernährung in der Akutphase des
sein relevanter pathogener Keime bei ischämischen Schlaganfalles, während die
mangelhafter Mundhygiene bei dyspha- Anlage einer perkutanen endoskopischen
gischen Patienten zur Entwicklung einer Gastrostomie bei Vorhandensein einer
Aspirationspneumonie und pulmonalen Dysphagie ohne Möglichkeiten einer dau-
Infektionen führt (Dai et al. 2015; Huang erhaft sicheren oralen Aufnahme von län-
et al. 2017; Nishizawa et al. 2019; Perry et ger als vier Wochen empfohlen wird (Paik
al. 2020; Dziewas et al. 2004; Kalra et al. u. Kim 2021).
2016). Die Etablierung eines strukturierten
166 S. Hamzic

8.7.2 phagie entwickelte (Beirer et al. 2020;


Experimentelle Therapieansätze Traugott et al. 2021).
Transkranielle elektrische Gleichstrom-
Neuere, teilweise noch experimentelle stimulation (tDCS)/repetitive transkranielle
Therapieansätze versuchen über die elek- Magnetstimulation (rTMS) sind Stimulati-
trische und magnetische noninvasive Sti- onsmethoden, die sich im experimentel-
mulation des Hirns und des Pharynx eine len Stadium befinden. Sie zeigen ein gutes
Verbesserung der Schluckfunktion zu er- Potenzial, Einzug in den klinischen Alltag
zielen. PES, tDCS und rTMS (s. u.) werden zu erhalten (Michou et al. 2016; Pisegna
in den neuen Leitlinien der European Stro- et al. 2016). Unter Anwendung der exzita-
ke Organisation und der European Society torischen Reizung der nicht betroffenen
for Swallowing Disorders als Ergänzung zu Hemisphäre durch tDCS wird eine Ver-
traditionellen Dysphagietherapiemetho- besserung des Dysphagieschweregrades
den empfohlen (Dziewas et al. 2021a). erzielt (Kumar et al. 2011; Consentino et
Bei der pharyngealen Elektrostimulati- al. 2020). Neuere Studien zeigen bei ano-
on (PES) werden mittels eines mit bipolaren daler tDCS-Stimulation eine Verbesserung
Elektroden versehenen Katheters, der der Schluckfunktion bei Patienten mit Dys-
transnasal in den Pharynx platziert wird, phagie nach Hirnstamminfarkt (Wang et
Stromstöße in der Pharynxschleimhaut al. 2020) sowie bei Patienten mit MS-indu-
abgegeben. Bei dysphagischen Schlagan- zierter Dysphagie (Restivo et al. 2019).
fallpatienten verkürzt sich hierdurch die Gute Studienergebnisse liegen zur An-
pharyngeale Transitzeit; die Schluckre- wendung der erregenden rTMS-Stimulati-
flextriggerung verbessert sich, auf der PAS- on vor: Eine 3-Hz-rTMS Stimulation zehn
Skala werden niedrigere Werte erzielt, und Minuten täglich über fünf Tage konnte
es kommt zu einer deutlich verstärkten Ak- einen signifikanten Rückgang kortikaler
tivierung des Kortex der ungeschädigten Dysphagie über einen Zeitraum von zwei
Hirnhemisphäre (Fraser et al. 2002). Der Monaten erzielen (Khedr et al. 2009). Ähn-
Einsatz der PES bei tracheotomierten Pati- liche Effekte wurden bei Patienten mit
enten führte bei Schlaganfallpatienten mit Hirnstammläsionen gefunden (Khedr u.
Dysphagie dazu, dass häufiger eine Deka- Abo-Elfetoh 2010). Optimal ist eine Sti-
nülierung erfolgen konnte als bei der Kon- mulation der intakten Großhirnhemisphä-
trollgruppe, die nur eine Scheinstimulati- re mit etwa 5 Hz (exzitatorische Wirkung).
on erhielt (Suntrup et al. 2015). Die Erprobung von rTMS erfolgt auch an
Neuere Arbeiten zeigen einen deutlich anderen Reizorten, bspw. am Kleinhirn.
positiven Effekt der PES auf die Schluck- Die ersten Ergebnisse zeigen eine Wirk-
fähigkeit von Patienten mit neurogener samkeit bei der Stimulation mit höheren
Dysphagie. So konnte in der PHADER Reizfrequenzen (10 Hz) über dem Klein-
Multicenterstudie bei 254 Patienten mit hirn (Vasant et al. 2015).
neurogener Dysphagie und zum Teil bei Sowohl im Falle der PES als auch der
tracheotomierten Patienten eine Verbesse- rTMS hat sich eine Stimulationsfrequenz
rung des Schluckens verzeichnet werden von 5 Hz als effektiv erwiesen. Alle drei
(Bath et al. 2020). Zwei Fallstudien zeigen Therapieverfahren werden in der Zukunft
den positiven Effekt der PES als ultimative eine wichtige Ergänzung zur klassischen
Therapiemethode bei Patienten mit Guil- Schlucktherapie darstellen.
lain-Barré-Syndrom und einer COVID-
19-erkrankten Patientin, die aufgrund der
Langzeitintubation eine neurogene Dys-
8 · Neurorehabilitation des Schluckens 167

8.8 Literatur
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173

9
Rehabilitation der Sprache
Thomas Platz, Ilona Rubi-Fessen, Caterina Breitenstein

9.1  einem Jahr leiden noch bis zu 20 % an ei-


Einleitung ner Aphasie (Dijkerman et al. 1996). Durch
die Aphasie sind Betroffene häufig bis an
Störungen der Sprache (Aphasie), der Fä- ihr Lebensende in ihren Aktivitäten und
higkeit, Gedanken mit Wörtern und Sät- an der Teilhabe am Familienleben, der so-
zen auszudrücken, mitzuteilen und die zialen Gemeinschaft und dem Beruf ein-
anderer zu verstehen, werden häufig nach geschränkt. Neben sprachlich kommu-
Hirnschädigungen beobachtet, wie zum nikativen Beeinträchtigungen kommt es
Beispiel nach Schlaganfall, nach Schädel- nach einem Schlaganfall bei einem Drit-
Hirn-Trauma, bei intrazerebralen Tumo- tel der Betroffenen zu einer klinisch aus-
ren, aber auch bei neurodegenerativen geprägten Depression (Hackett u. Pickles
Erkrankungen wie etwa der Demenz vom 2014); bei Vorliegen einer Aphasie zeigt
Alzheimer-Typ. sich bei fast allen Betroffenen ein hohes
Die Ausführungen in diesem Kapitel Ausmaß an emotionaler Verstimmung (Hi-
beziehen sich insbesondere auf Aphasien lari et al. 2010). Diese emotionale Verstim-
bei Schlaganfallpatienten, da diese mit mung wirkt sich zusätzlich negativ auf die
einem Anteil von ca. 80 % am häufigsten gesundheitsbezogene Lebensqualität der
vorkommen (Ackermann et al. 2012) und Betroffenen aus (Hilari et al. 2012) und be-
somit am besten untersucht sind. Andere hindert möglicherweise die Funktionser-
Störungsbilder, die das Sprechen und die holung nach einem Schlaganfall (Donnel-
sprachliche Kommunikation beeinträch- lan et al. 2010).
tigen und auch in Kombination mit Apha- Sprachtherapie (Aphasietherapie)
sien auftreten können – wie die Sprech- hilft, spezifische linguistische Leistungen
apraxie (eine Störung der Planung von zu verbessern, aber auch die Kommunika-
Sprechbewegungen), kognitive Kommu- tion in alltagsnahen Situationen (Brady et
nikationsstörungen oder die Dysarthrie – al. 2016) und somit die Teilhabe am sozia-
werden hier nicht behandelt. len Leben. Bei Aphasie sind fast immer alle
Bei einer jährlichen Inzidenz (Neuauf- sprachlichen Modalitäten in individuell
treten) von Schlaganfällen bei ca. 200 pro unterschiedlichem Ausmaß betroffen, d. h.
100.000 Einwohner stellt der Schlaganfall das Verstehen und Produzieren sowohl
die Krankheit dar, die am häufigsten zu von gesprochener als auch von geschrie-
Behinderungen führt. Bei bis zu 30 % der bener Sprache. Sprache findet zudem auf
Schlaganfälle ist initial mit einer Aphasie verschiedenen linguistischen Ebenen
zu rechnen (Engelter et al. 2006; Peder- (Phonologie, Lexikon, Syntax) statt, die bei
sen et al. 1995; Inatomi et al. 2008), nach Aphasie ebenfalls unterschiedlich schwer
174 T. Platz, I. Rubi-Fessen, C. Breitenstein

beeinträchtig sein können. Kommunika- verteilten zerebralen Netzwerkaktivitäten


tion bedeutet das Mitteilen von Gedan- bei sprachbezogenen Prozessen aus, die je
ken und anderen Kommunikationsinhal- nach erforderlicher sprachlicher Informati-
ten und ist nicht auf Sprache bzw. intakte onsverarbeitung in unterschiedlicher Kon-
Sprache alleine angewiesen. Kommunika- stellation aktiviert werden (Lorca-Puls et
tion kann nonverbal über Mimik, Gestik al. 2021; Egorova et al. 2016; Thiel u. Zum­
oder Zeichnen erfolgen und auch bei ein- bansen 2016; Hartwigsen u. Saur 2019)
geschränkten verbalen Kompetenzen er- und die – insbesondere bei Schädigung
folgreich sein. der ‚traditionellen Sprachregionen‘ auch
nicht sprachspezifische kognitive neuro-
nale Netzwerke umfassen (Geranmayeh et
9.2 al. 2014; Kiran et al. 2019). Bei über 90 % der
rechtshändigen Erwachsenen ist die lin-
Übergeordnete Überlegungen zur
ke Hemisphäre sprachdominant; ca. 10 %
Aphasie
weisen eine rechtshemisphärische Sprach-
9.2.1 dominanz oder keine ausgeprägte Late-
Die funktionell neuroanatomische ralität auf (Knecht et al. 2000). Personen
Perspektive mit bilateraler Sprachausprägung sind
möglicherweise weniger vulnerabel für
Die menschlichen Sprachfunktionen mit Sprachstörungen infolge eines unilateralen
Aspekten des Verstehens und Ausdrü- Schlaganfalls (Knecht et al. 2002).
ckens sowohl der gesprochenen als auch Für Sprachverarbeitung relevant zu
der geschriebenen Sprache sind komplex. sein scheinen u. a. im frontalen Kortex der
Entsprechend wurde in der Vergangenheit prämotorische Kortex (PMC), der inferiore
einerseits eine „holistische“, das ganze Ge- frontale Gyrus (IFG) (inkl. Broca-Areal),
hirn einbeziehende Aktivität des Gehirns der Inselkortex, im temporalen Kortex der
bei Sprache angenommen und von ande- vordere (anteriore) (aSTG) und der hinte-
ren eine „lokalisierende“ Betrachtung mit re (posteriore) superiore temporale Gyrus
regionalen Schwerpunkten der zerebralen (pSTG) (Wernicke-Areal) sowie der mittle-
Sprachverarbeitung postuliert. re temporale Kortex (MTG), der untere Pa-
Es wurden also zwei konkurrierende rietallappen mit den Gyri supramarginalis
Modelle der neuronalen Grundlage von (SMG) und angularis (ANG) („Lesezen-
Sprache diskutiert, was Konsequenzen für trum“) sowie Faserverbindungen zwischen
die daraus abgeleitete Therapie hat (Cappa den kortikalen Arealen (vgl. Abb. 9.1) (Pri-
et al. 2014): Der holistische Ansatz führte zu ce 2010; Saur u. Hartwigsen 2012).
der therapeutischen Überlegung, das Ge- Es wird zwischen einem stärker late-
hirn insgesamt anzuregen, zu stimulieren ralisierten dorsalen Netzwerkanteil für
und zu fazilitieren („multimodale Stimu- Sprachverarbeitung unterschieden, der
lation“), um die Sprachleistungen zu ver- vorderen und hinteren superioren tem-
bessern und um bei gestörtem Zugriff auf poralen Kortex, inferioren Parietallappen,
Sprachleistungen diese zu „deblockieren“. den prämotorischen Kortex und den oper-
Bei den lokalisatorischen Überlegungen kularen Anteil des inferioren frontalen Gy-
wurde hingegen eher davon ausgegangen, rus (oper-IFG) umfasst und stark in Über-
dass bei Ausfall bestimmter Zentren genau setzungsvorgänge zwischen akustischen
deren Leistungen durch gezieltes Üben Sprachsignalen und artikulatorischen Mu-
von funktionell intakten alternativen Are- stern und damit auch Sprachplanung und
alen des Gehirns übernommen werden -produktion einbezogen ist. Andererseits
(Substitution). Inzwischen geht man von gibt es einen mehr bilateral organisierten
9 · Rehabilitation der Sprache 175

Abb. 9.1: Illustration von kortikalen Gebieten, die in sprachverarbeitende zerebrale Netzwerke eingebunden sind
Für Sprachverarbeitung relevant zu sein scheinen u. a. im frontalen Kortex der prämotorische Kortex (PMC), der
inferiore frontale Gyrus (IFG) (inkl. Broca-Areal), der Inselkortex, im temporalen Kortex der vordere (anteriore)
(aSTG) und der hintere (posteriore) superiore temporale Gyrus (pSTG) (Wernicke-Areal) sowie der mittlere tempo-
rale Kortex (MTG), der untere Parietallappen mit den Gyri supramarginalis (SMG) und angularis (ANG) („Lesezen-
trum“) sowie Faserverbindungen zwischen den kortikalen Arealen (Saur u. Hartwigsen 2012). In der Abbildung
dargestellt ist die anatomische Lokalisation der meisten benannten Areale für die linke Hemisphäre

ventralen Netzwerkanteil, der den mittle- inferioren frontalen Gyrus; die sprachlich-
ren Temporallappen (MTG), den ventrola- semantische Leistung (Bedeutungsgehalt)
teralen präfrontalen Kortex (PFC) und den mit der Intaktheit des anterioren mittle-
orbitalen Anteil des inferioren frontalen ren Gyrus temporalis und der darunter lie-
Gyrus (orb-IFG) einschließt. Der ventrale genden weißen Substanz (Verbindungen)
Netzwerkanteil ist eher in semantische so- (Halai et al. 2017).
wie kombinatorische Prozesse der Sprache Neben den oben genannten Spracha-
involviert (Friederici 2015). realen wird der Einfluss des Cerebellums
Bei chronischen Schlaganfallpatienten auf die verschiedenen linguistischen Ebe-
mit Aphasie konnte durch kombinierte nen (Phonologie, Semantik, Syntax etc.)
Verfahren der Symptomanalyse (Haupt- kontrovers diskutiert (Mariën et al. 2014).
komponentenanalyse) und Hirnstruktur
(„Voxel-basierte Morphometrie“) gezeigt 9.2.2
werden, dass Sprachflüssigkeit mit der In- Die kognitionspsychologische
taktheit des linken motorischen Kortex Perspektive
und der darunter liegenden Verbindungen
des superioren insulären Kortex und Puta- Die psycholinguistische Forschung hat ba-
mens in Zusammenhang steht; die phono- sierend auf der Analyse des sprachlichen
logische Verarbeitung (Lautverarbeitung) Verhaltens sprachverarbeitende Prozesse in
mit Regionen im superioren Gyrus tem- kognitionspsychologischen Modellen abge-
poralis und darunter liegenden Faserver- bildet: Aspekte der Phonem-(= Laut-)ver-
bindungen sowie dem orbitalen Anteil des arbeitung, der Graphem-(=  Buchstaben-)
176 T. Platz, I. Rubi-Fessen, C. Breitenstein

verarbeitung, lexikalischer (Wortschatz) sie nach Schlaganfall im zeitlichen Ver-


und syntaktischer (Satzbau) Verarbeitung, lauf untersucht, so ist in der akuten Pha-
ihre Zusammenhänge und Abfolge wur- se (bei dieser Untersuchung Tag 0 bis 4)
den für den natürlichen Sprachprozess be- eine „globale“ Minderaktivierung in den
schrieben (z. B. Morton 1980). Die Sprach- sprachbezogenen zerebralen Netzwerken
leistungen aphasischer Patienten können festzustellen (Parallele zu dem vormaligen
damit verglichen werden. Wie im Abschnitt „holistischen“ Gedanken; Phänomen der
„Die psycholinguistische Untersuchung“ „Diaschisis“ als Minderaktivität in Arealen,
näher erläutert, können auf Grundlage die mit dem geschädigten Areal verbun-
dieser „funktionellen Diagnostik“ gestörte den sind). In der frühen subakuten Phase
Komponenten und Routen identifiziert (bis Tag 14) sind häufiger bilaterale Akti-
und entweder gezielt durch Üben gestär- vierungen erkennbar und in der späten
kt werden (Restitution) oder auch intakte subakuten und chronischen Phase (> 4
Komponenten und Routen kompensato- Monate) kommt es wieder zu einer stär-
risch genutzt werden (Kompensation, z. B. keren Lateralisierung nach links, dem so-
schreiben statt sprechen). genannten „Re-Shift“ (Saur et al. 2006). In
einer Nachfolgestudie konnten Stockert et
9.2.3 al. (2020) mit einem vergleichbaren Para-
Erholung von Sprache, Förderung von digma, aber nach Läsionsorten getrennten
Kommunikation und Lebensqualität Patientengruppen zeigen, dass es je nach
Läsionsort (frontal oder temporal) zu un-
Kommt man von hier zur funktionell neu- terschiedlichen Aktivierungen im Rück-
roanatomischen Betrachtung zurück, so bildungsverlauf kommt. Vieles spricht da-
scheinen homologe (lokalisatorisch ana- für, dass die funktionelle Spracherholung,
loge) Areale der nicht sprachdominanten auch die, die durch die Therapie angeregt
Hemisphäre sprachliche Teilleistungen wird, durch die verbliebenen Netzwerk-
nach einem Schlaganfall in der Erholungs- anteile des prämorbiden zerebralen Netz-
phase vorübergehend oder dauerhaft werks für Sprachverarbeitung ermöglicht
übernehmen zu können. An einer funkti- wird (Keser et al. 2020; Wilson u. Schneck
onell guten Restitution scheinen aber am 2021). Dabei spielen sowohl der Status der
ehesten periläsionale, ungeschädigte Are- verblieben Sprachsystem-Netzwerkanteile
ale in der sprachdominanten Hemisphäre als auch ihre Konnektivität und Interakti-
beteiligt zu sein (Crosson et al. 2019; Wil- on mit anderen Hirnnetzwerken eine Rolle
son u. Schneck 2021). In der frühen Pha- (Wilmskoetter et al. 2022).
se nach einem Schlaganfall könnte ins- Zusammenfassend liegt der Spracher-
besondere die Aufhebung der Diaschisis holung nach einem Schlaganfall insbe-
(Minderaktivität in Arealen, die mit dem sondere eine Beteiligung periläsioneller
geschädigten Areal verbunden sind) zu ei- (linkshemisphärischer) Areale zugrunde.
ner funktionellen sprachlichen Verbesse- Bei ausgedehnten Läsionen sind mögli-
rung beitragen (Wawrzyniak et al. 2022); cherweise auch sprachrelevante Areale
langfris­tig war die Aktivierungsstärke bzw. kontralateral homotoper (rechtshemi-
„Kontrollierbarkeit“ des inferioren fronta- sphärischer) Gehirnareale beteiligt; de-
len Gyrus der sprachdominanten Hemi- ren Rolle wird in der Literatur jedoch kon-
sphäre mit der besten funktionellen Erho- trovers diskutiert (Hodgson et al. 2014;
lung assoziiert (Wilmskoetter et al. 2022; Anglade et al. 2014). Einerseits wurde die
Wilson u. Schneck 2021). Etablierung einer der infolge des Schlag-
Wenn man die Änderungen der anfalls gestörten transkallosalen Inhibiti-
sprachbezogenen Hirnaktivität bei Apha- on (resultierend in einer relativen Über-
9 · Rehabilitation der Sprache 177

aktivität der intakten Hemisphäre) als (nonverbale Kommunikation, soziale In-


Maladaption und Fehlkompensation ge- teraktion) mitbedingt und beeinflussbar.
wertet (für widersprechende Befunde Sprach- und Sprechstörungen zählen je-
vgl. Lorca-Puls et al. 2021), andererseits doch aus Sicht der Betroffenen zu den sub-
wird auch eine erfolgreiche (Re-) Aktivie- jektiv schwerwiegendsten Folgen eines
rung übergeordneter kognitiver Kontroll- Schlaganfalls (Stroke Association 2021),
netzwerke beobachtet (Geranmayeh et al. mit einer deutlichen Einschränkung der
2014; Stockert et al. 2020). Der Anteil pe- gesundheitsbezogenen Lebensqualität so-
riläsioneller versus kontralateraler Areale wie einer höheren Rate emotionaler Ver-
bei der Spracherholung ist vermutlich von stimmung im Vergleich zu Schlaganfallpa-
der Verlaufsphase nach dem Schlaganfall tienten ohne Sprachstörung (Hilari et al.
(Resolution von funktionsrelevanter Dia- 2011).
schisis in funktionell verbundenen, nicht
geschädigten Arealen) (Wawrzyniak et al.
2022), dem Läsionsort (links frontal vs. 9.3
temporal, Stockert u. Saur 2017; Stockert
Klinik und Diagnostik der Aphasie
et al. 2020) sowie der Läsionsgröße (Watila
u. Balarabe 2015) abhängig (periläsionelle 9.3.1
Funktionsübernahme eher bei umschrie- Klinische Betrachtung
benen Läsionen und in der postakuten
Phase nach dem Schlaganfall, kompen- Klinisch relevant ist es, zwischen einer
satorische kontralaterale Funktionsüber- akuten Phase der Aphasie (bis eine Woche
nahme bei ausgedehnten Läsionen in der nach dem Schlaganfall), einer frühen sub-
chronischen Phase). akuten Phase (bis ca. 3 Monate nach dem
Die Beantwortung der Frage, ob neben Schlaganfall), einer späten subakuten Pha-
einer spontanen Erholung des Gehirns und se (3 bis 6 Monate nach Schlaganfall) und
seiner Netzwerkaktivitäten eine Interventi- einer chronischen Phase (längerfristiger
on diese Prozesse und dadurch Spracher- Verlauf ab etwa 6 Monate) zu unterschei-
holung bewirken kann, bedarf eines „expe- den (Bernhardt et al. 2017).
rimentellen“ Ansatzes mit randomisierten In der akuten Phase gibt es sehr schnel-
kontrollierten Studien. Die Induktion von le Änderungen des klinischen Bildes, auf-
Re-Lateralisierung einer sprachbezogenen grund derer in Diagnostikverfahren für die
Netzwerkaktivierung, die mit einer Sprach- Akutphase der Aphasie (s. u.) zugunsten
funktionserholung einherging, konnte z. B. einer Symptombeschreibung auf eine Syn-
für die repetitive transkranielle Magnetsti- dromklassifikation verzichtet wird. Wich-
mulation gezeigt werden (Thiel et al. 2013). tig ist es jedoch, die Aphasie festzustellen
Da Sprache der Kommunikation dient und ihre Ausprägung zu charakterisieren.
und Kommunikation wiederum dem sozi- Grundsätzlich können in der Akutpha-
alen Austausch, darf sich die Behandlung se alle klinischen Symptome einer chro-
von Personen mit Aphasie nicht alleine nischen Aphasie auftreten (Nobis-Bosch et
auf Sprache konzentrieren, sondern sollte al. 2012). Häufig lassen sich insbesondere
alle Möglichkeiten der Kommunikation Mutismus, eine nicht flüssige Sprachpro-
fördern und die sozialen Konsequenzen duktion oder eine flüssige Sprachproduk-
einer Aphasie im Blick haben. Die Teilha- tion unterscheiden. Beim Mutismus findet
be am gesellschaftlichen Leben und da- keine Sprachäußerung statt, emotionale
mit auch das emotionale Befinden und die Äußerungen und Lautäußerungen wer-
Lebensqualität von Personen mit Aphasie den teilweise produziert, das Sprachver-
sind auch durch nicht-sprachliche Aspekte ständnis kann sehr unterschiedlich be-
178 T. Platz, I. Rubi-Fessen, C. Breitenstein

troffen sein. Bei der nicht flüssigen Aphasie len lassen. Diese unterliegen im Rahmen
können Satzfragmente und Wörter geäu- der Spontanerholung und Therapie auch
ßert werden, dabei imponieren Sprech- einem Wandel, der sich aber oftmals eher
anstrengung und Wortfindungsstörungen, in Zeiträumen von Monaten darstellt. Ab
teilweise werden phonematisch (lautlich) ca. sechs Wochen nach dem Schlaganfall
oder semantisch (inhaltlich) falsche Wör- ist die Einteilung in Aphasiesyndrome auf
ter (Paraphasien) produziert, es kommt zu Grundlage des Aachener Aphasie Tests
Automatismen (wiederkehrende formstar- (Huber et al. 1984) möglich. An dieser Stel-
re Wörter oder Phrasen, die ohne inhalt- le ist nur eine kurze tabellarische Darstel-
lichen Bezug zur Intention des Sprechers lung möglich, es sei auf vertiefende Litera-
geäußert werden), Neologismen (Anein- tur aufmerksam gemacht (u. a. Huber et al.
anderreihung von Silben zu nicht existen- 2006) (Tab. 9.1).
ten „Pseudowörtern“) bzw. Stereotypien Zur Beschreibung von Aphasien hat
(inhaltsarme Floskeln wie z. B. stereotyp sich klinisch im Hinblick auf die Thera-
verwendete Redewendungen), die ohne pieplanung neben dem Syndromansatz in
inhaltlichen Zusammenhang zum Kom- den letzten Jahren verstärkt der kognitiv
munikationsinhalt wiederholt produziert orientierte Ansatz etabliert. Er basiert auf
werden; oder man beobachtet bei Pati- den eingangs bereits erwähnten psycho-
enten ein Wiederholen dessen, was das linguistischen Sprachproduktionsmodel-
Gegenüber sagt (Echolalie). Das Sprach- len und hat zum Ziel, individuell beein-
verständnis ist unterschiedlich schwer be- trächtigte, aber auch intakte sprachliche
troffen; die sprachlichen Defizite sind dem Verarbeitungsstrategien eines Betroffenen
Patienten (zumindest teilweise) bewusst. zu identifizieren und in die Therapiepla-
Bei der flüssigen Aphasie wird oftmals mit nung einfließen zu lassen (Morton u. Pat-
gut erhaltenem oder überschießendem terson 1980).
Sprachfluss (Logorrhoe) inhaltlich Unver-
ständliches geäußert, z. B. ein „Salat“ von 9.3.2
Lauten, Silben und Wörtern (Jargon), ohne Diagnostik
dass die Betroffenen dies selbst wahrneh-
men; das Sprachverständnis ist bei flüs- Diagnostisch werden die klinische Un-
sigen Aphasien oftmals stark beeinträch- tersuchung, die standardisierte Aphasie-
tigt. Dia­gnostik inklusive modalitätsbezogener
Für die akute wie die späteren Apha- und Syndromdiagnostik, die psycholin-
siephasen ist charakterisierend, dass die guistische Diagnostik, die Diagnostik des
sprachlichen Symptome – wenn auch in Kommunikationsverhaltens sowie die
unterschiedlichem Ausmaß – in der Re- Auswirkungen der Aphasie auf Emotiona-
gel alle linguistischen Ebenen (Phonolo- lität, Lebensqualität und Partizipation un-
gie, Lexikon, Syntax) betreffen. Ebenfalls terschieden. Zudem erfolgt die Diagnos-
sind in unterschiedlichem Ausmaß alle tik phasenspezifisch mit für die jeweilige
Sprachmodalitäten betroffen, nämlich das Phase der Aphasie validierten Diagnostik­
Verständnis (Rezeption) und der Ausdruck instrumenten. Neben den Therapiezie-
(Expression), das Lesen und das Schrei- len des Betroffenen hängt die Auswahl
ben; Aphasien sind also fast immer multi- der Messinstrumente auch vom Unter-
modale Störungen. suchungszweck ab. Für eine Verlaufsdia-
In den späteren Phasen (ab ca. vier gnostik zur Beurteilung des Therapieer-
Wochen nach dem Schlaganfall) bilden folgs sollten beispielsweise nur Verfahren
sich zunehmend stabilere Störungsmu- mit einer nachgewiesenen Änderungssen-
ster aus, die sich in „Syndrome“ eintei- sitivität zum Einsatz kommen.
9 · Rehabilitation der Sprache 179

Tab. 9.1: Aphasiesyndrome, Charakteristika und Therapieschwerpunkte

Globale Aphasie
– 32 % der Patienten mit Aphasie in der Akutphase, ca. 7 % der initial aphasischen Patienten nach einem Jahr
– Alle Modalitäten stark betroffen
– Leitsymptome: Stark eingeschränkter Redefluss mit vorwiegend Automatismen, Neologismen und Stereo-
typien
– Therapieschwerpunkte: Hemmung der Automatismen, Stimulierung und Anbahnung einfacher kommunika-
tiver Floskeln (Ja, Nein, Hallo), ausgehend vom Sprachverstehen Förderung aller Modalitäten
Broca-Aphasie
– 12 % der Patienten in der Akutphase, 13 % der initial aphasischen Patienten ein Jahr nach dem Schlaganfall
– Leitsymptome: Agrammatismus (Telegrammstil), Wortabruf herausragend betroffen, häufig zusätzlich durch
eine Sprechapraxie* erschwert
– In der Regel phonematische Paraphasien
– Sprachverständnis (SV) im Verhältnis zur mündlichen und schriftlichen Sprachproduktion eher leichter be-
troffen
– Therapieschwerpunkt: Aktivierung und Aufbau des Wortschatzes, insbesondere Verben; schrittweise Erwei-
terung des Telegrammstils, bei Bedarf Sprechapraxie-Therapie, Förderung aller Modalitäten (langfristig gute
Chancen)
Wernicke-Aphasie
– 16 % der Patienten in der Akutphase, 5 % der initial aphasischen Patienten ein Jahr nach Schlaganfall
– Leitsymptome: Jargon mit Paraphasien und Paragrammatismus (komplexer Satzbau mit Satzverschrän-
kungen)
– selten Sprechapraxie
– SV schwer betroffen (Identifikation und/oder Diskrimination), auditiv sprachliche Merkspanne reduziert
– Therapieschwerpunkt: Verbesserung des Sprachverständnisses und des Störungsbewusstseins (Erkennen,
Selbstkontrolle und -korrektur)
Amnestische Aphasie
– 25 % der Patienten in der Akutphase. 29 % der initial aphasischen Patienten nach einem Jahr
– Leitsymptome: Wortfindungsstörungen (bewusste Störung – Suchverhalten und Umschreibung)
– Sprachverständnis nur wenig gestört
– Therapieschwerpunkt: (Re-)Aktivierung und Aufbau des Wortschatzes (beste Rückbildungschancen unter
den Aphasien)
Leitungsaphasie (5– 6 % der Patienten in der akuten bzw. chronischen Phase nach Schlaganfall)

– Leitsymptome: Nachsprechen gegenüber anderen sprachlichen Leistungen herausragend betroffen


Transkortikale Aphasie (9 % in der akuten Phase, 1 % der initial aphasischen Patienten ein Jahr
nach Schlaganfall)
– Leitsymptome: Nachsprechen gegenüber anderen sprachlichen Leistungen herausragend gut erhalten
* Sprechapraxie: Die Sprechapraxie ist eine Störung der Planung von Sprechbewegungen. Sie zeigt sich im Bereich von Artikula-
tion, Sprechmelodie und -rhythmus (Prosodie) und Sprechverhalten.

9.3.3 und komplexere bzw. abstrakte Sachver-


Die klinische Untersuchung halte; schriftsprachlich werden analog
Lesen und Schreiben untersucht. Dabei
Die klinische Untersuchung erfasst und dif- werden sprachliche Auffälligkeiten (z. B.
ferenziert nach Schweregrad der Aphasie gemäß den o. g. Symptomen), aber auch
lautsprachlich die Spontansprache, das Kompetenzen und Ressourcen befundet.
Reihensprechen (z. B. Wochentage, Zah- Einen ersten Eindruck vom Schweregrad
len), das Nachsprechen von Lauten, Wör- der Aphasie in der Akutphase dokumen-
tern und Sätzen, das Benennen sowie das tiert die vierstufige Sprachskala der „NIH
Sprachverständnis für Wörter, einfache Stroke Scale“.
180 T. Platz, I. Rubi-Fessen, C. Breitenstein

9.3.4 Test (AST) (Kroker 2000) möglich. Er über-


Die standardisierte Aphasiediagnostik prüft wie das BIAS alle sprachlichen Mo-
dalitäten, verzichtet aber auf die Erfassung
Für die standardisierte Diagnostik in der therapierelevanter Parameter, wie etwa die
Akutphase stehen mittlerweile diverse Ver- Stimulierbarkeit sprachlicher Leistungen.
fahren zur Verfügung; eine aktuelle Über- Bei akuten Schlaganfallpatienten mit guter
sicht findet sich bei Nobis-Bosch et al. (2012) Spontansprache kann die Bad Schwalba-
sowie in der Online-Datenbank der „Col- cher Schriftprobe (Eckold u. Helmenstein
laboration of Aphasia Trialists“ (https:// 2007) durch das freie Schreiben von drei
www.aphasiatrials.org/measurement-in- Sätzen helfen, eine die schriftliche Moda-
struments-by-language/; letzter Zugriff lität betreffende akute Sprachstörung zu
am 02.03.2022). Für eher schwer betrof- identifizieren.
fene Personen mit Aphasie eignet sich der Für die standardisierte Aphasie-Dia­
Aachener Aphasie-Bedside-Test (AABT) (Bi- gnostik ab der frühen subakuten Phase
niek 1993). Er hat sechs Teile: Spontan- steht für den deutschsprachigen Raum
sprache; Aufforderungen zu Blick- und der Aachener Aphasie-Test (AAT) zur Verfü-
Kopfbewegungen; Aufforderungen zu gung (Huber et al. 1983). Der AAT ist nor-
Mundbewegungen; Singen, Reihen- und miert für den Zeitraum ab der siebten Wo-
Floskelsprechen; Identifizierung von Ob- che nach einem Schlaganfall und umfasst
jekten; und Benennen. Seine Durchfüh- die folgenden Testteile: Spontansprache
rung dauert 15 bis 40 Minuten, bei schritt- (Bewertung von Kommunikationsverhal-
weiser Stimulation erfolgt neben der ten, Artikulation und Prosodie, automa-
Antwortgenauigkeit auch eine Beurteilung tisierter Sprache, semantischer Struktur,
der zur Sprachaktivierung notwendigen phonematischer Struktur, syntaktischer
sprachtherapeutischen Hilfen. Der AATB Struktur); Token-Test; Nachsprechen (Lau-
eignet sich zur Verlaufsdiagnostik; es ste- te, einsilbige Wörter, Lehn- und Fremd-
hen Normen für sieben Messzeitpunkte zur wörter, zusammengesetzte Wörter; Sätze);
Verfügung. Da im AABT eher basale sprach- Schriftsprache (lautes Lesen; Zusammen-
liche Fähigkeiten erfasst werden und auf setzen von Wörtern und Sätzen; Schreiben
Untersuchung der Schriftsprache verzich- nach Diktat); Benennen (einfache Objekt-
tet wird, können im AABT leichte oder auf namen, Farbadjektive, Nomina, Kompo-
die Modalität Schriftsprache beschränk- sita, Beschreiben von Situationsbildern
te Aphasien übersehen werden. Leichtere in Sätzen); und Sprachverständnis (audi-
akute und subakute Aphasien werden z. B. tiv – Wörter, Sätze; Lesesinnverständnis
mit dem Bielefelder Aphasie Screening Akut – Wörter, Sätze). Die Durchführung dau-
& Reha (BIAS A & R) (Richter u. Hielscher- ert 60 bis 90 Minuten. Die diagnostischen
Fastabend 2018) differenzierter erfasst. Es Ziele des AAT sind die psychometrisch
überprüft alle sprachlichen Modalitäten fundierte Feststellung der Aphasie, die
und beinhaltet auch Wortflüssigkeitsauf- Syndromklassifikation nach Standardsyn-
gaben, bei denen in einem definierten dromen und Sonderformen, die Ermitt-
Zeitraum (meist 1 Minute) möglichst viele lung des Schweregrades, die Erstellung
Wörter z. B. zu einer Kategorie wie „Lebens- eines Störungsprofils über die verschie-
mittel“ produziert werden müssen. Die Sti- denen Sprachmodalitäten hinweg sowie
mulierbarkeit verbal-expressiver Sprache ggf. die Verlaufsdiagnostik der einzelnen
wird wie im AABT durch semantische und Untertests und des Gesamtprofils. Eine
phonematische Hinweisreize erfasst. Eine Beschreibung der Standardsyndrome und
zeitlich ökonomische Diagnostik akuter Sonderformen mit den wichtigsten Leit-
Aphasien ist auch mit dem Aphasie-Schnell- symptomen findet sich in Tabelle 9.1.
9 · Rehabilitation der Sprache 181

auditive visuelle
Phonemanalyse Graphemanalyse

phonologisches graphematisches
Input-Lexikon Input-Lexikon

auditiv- Graphem-
phonologische Wortbedeutung Phonem-
Konvertierung Konvertierung

phonologisches graphematisches
Output-Lexikon Output-Lexikon

Phonologischer Graphematischer
Output-Buffer Phonem- Output-Buffer
Graphem-
Konvertierung

Abb. 9.2: Illustration des Logogen-Modells für die sprachbezogene Verarbeitung von Wörtern
Für die psycholinguistische Diagnostik wird oft das Logogen-Modell genutzt (Patterson u. Shewell 1987). Im
Logogen-Modell unterscheiden wir für die Verarbeitung von sprachbezogener Information einen tiefen = seman-
tischen Verarbeitungsweg, über den die Bedeutung (Semantik / Wortbedeutung) erfasst wird; einen direkten =
lexikalischen Verarbeitungsweg (Input- und Output-Lexika) und einen oberflächlichen = nicht-lexikalischen Weg
(Graphem-, Phonemanalyse, Konvertierung und phonologischer bzw. graphematischer Output-Buffer). Zur Erklä-
rung siehe Text S. 172

9.3.5 Sprach­gesunden und wurde zunächst zur


Die psycholinguistische Untersuchung Beschreibung der visuellen Worterken-
nung entwickelt und dann sukzessive zur
Für die psycholinguistische Diagnostik Abbildung der Wortproduktion sowie un-
wird in der Regel das Logogen-Modell ge- terschiedlicher Verarbeitungsprozesse und
nutzt (z. B. Patterson u. Shewell 1987), -routen beim Nachsprechen, Lesen und
welches u. a. von dem britischen Kogni- Schreiben auf Einzelwortebene erweitert.
tionspsychologen John Morton (Morton Somit bildet das Logogen-Modell die Verar-
1980) entwickelt wurde. beitung in allen sprachlichen Modalitäten
Das Logogen-Modell basiert auf ab. Das Logogen-Modell unterscheidet zwi-
psycho­linguistischen Experimenten mit schen lexikalischem Wissen (Wortformen)
182 T. Platz, I. Rubi-Fessen, C. Breitenstein

Die lexikalische bzw. lexikalisch-semantische Verarbeitungsroute und die


sublexikalische Verarbeitungsroute
Nur bei der lexikalisch-semantischen Ver- mantischen wird auch noch eine direkt-le-
arbeitung wird die Wortbedeutung im se- xikalische Route postuliert, die das graphe-
mantischen System aktiviert und somit matische Input-Lexikon unter Umgehung
sinnentnehmend gelesen, gehört und sinn- des semantischen Systems direkt mit dem
haft gesprochen oder geschrieben. Die phonologischen Output-Lexikon verbindet.
sublexikalischen/segmentalen (äußeren) Neue, unbekannte Wörter (z. B. Medi-
Routen umgehen die Lexika. Zur Veran- kamentennamen) oder sogenannte Pseu-
schaulichung wird das Dual-Route-Prinzip dowörter (z.  B. „Schwun“), die (noch)
am Beispiel des lauten Lesens verdeutlicht: keinen Eintrag im graphematischen Input-
Sprachgesunde Leser lesen automa- Lexikon/Sichtwortschatz haben, müssen
tisch vorwiegend über die lexikalisch-se- über die sublexikalische/segmentale Rou-
mantische Route. Ein vertrautes geschrie- te gelesen werden. Dabei werden den in
benes Wort (z.  B. „Haus“) wird in der der visuellen Analyse segmentierten Gra-
visuellen Analyse als „Schrift“ identifiziert phemen nach sprachspezifischen Regeln
und die Information zum graphematischen zugehörige Phoneme zugeordnet. Diese
Input-Lexikon (Sichtwortschatz) weiterge- konvertierten Phoneme werden im phono-
leitet. In diesem wird das Wort als existie- logischen Output-Buffer gespeichert und
rendes Wort des Deutschen erkannt. Die dann als ganzes Wort artikuliert. Diese Teil-
Bedeutung (Sinn) des Wortes wird jedoch prozesse laufen bei gesunden Lesern auto-
erst nach der Weiterleitung im seman- matisch ab und werden nicht als segmen-
tischen System aktiviert. tierbare Prozesse wahrgenommen.
Nach der Semantik wird dann im pho- Vergleichbare Verarbeitungswege wer-
nologischen Output-Lexikon die gespro- den für das Nachsprechen und das Schrei-
chene Wortform ganzheitlich aktiviert. Die ben angenommen. Vertreter des kognitiven
entsprechenden Phoneme des Zielworts Ansatzes gehen davon aus, dass alle Kom-
werden dann kurzfristig im phonologischen ponenten und Routen des Logogen-Mo-
Output-Buffer gespeichert, bevor das Wort dells selektiv gestört sein können.
artikuliert wird. Neben der lexikalisch-se-

und semantischem Wissen (Wortbedeutung). sprachlichen Zeichen/Symbolen) verortet


Das lexikalische Wissen ist in vier moda- werden. Weitere Komponenten des Logo-
litätsspezifischen Lexika (jeweils zwei In- gen-Modells sind Arbeitsspeichersysteme
put- und Output-Lexika zur Verarbeitung („Buffer“), in denen kurzfristig Informatio-
gesprochener und geschriebener Wörter) nen zwischengespeichert werden.
gespeichert, die mit einem amodalen (mo- Die Informationsweitergabe im Logo-
dalitätsunspezifischen) semantischen Sys- gen-Modell erfolgt über Verarbeitungs-
tem, dem Wissensspeicher für Wortbedeu- routen, die die Komponenten des Modells
tungen, verbunden sind (Abb. 9.2). verbinden. Hierbei unterscheidet man
Den Input-Lexika vorgeschaltet sind zwei grundsätzlich verschiedene Verar-
prälexikalische Analysesysteme, in de- beitungsroutinen, über die Nachsprechen,
nen erste sprachspezifische Verarbei- Lesen und Schreiben erfolgen können,
tungsprozesse (z. B. Identifikation von ge- weswegen das Logogen-Modell auch als
sprochener und geschriebener Sprache typischer Vertreter der sogenannten Dual-
im Gegensatz zu Geräuschen und nicht Route-Modelle gilt (s. a. Kasten).
9 · Rehabilitation der Sprache 183

Eine orientierende Überprüfung die- durch Ausmaß und Schwere der Aphasie
ser Komponenten des Logogen-Modells determiniert.
kann durch die Testbatterie „Lexikon mo- Um Personen mit Aphasie gerecht zu
dellorientiert – LeMo 2.0" erfolgen (Stadie werden und ihre Beratung und Behand-
et al. 2013). Sie erfasst in 33 Untertests (14 lung sachgerecht zu planen, ist es erfor-
zentrale und 19 vertiefende Tests) die fol- derlich, sich als Behandler über Aspekte
genden sprachlichen Leistungen: auditives der emotionalen Befindlichkeit, des Kom-
und visuelles Diskriminieren, auditives munikationsverhaltens, der Krankheits-
und visuelles lexikalisches Entscheiden, verarbeitung sowie der familiären und so-
Nachsprechen, Lesen, Schreiben, audi- zialen Einbindung klar zu werden. Diese
tives und visuelles Sprachverständnis so- Aspekte können einerseits klinisch – u. a.
wie mündliches und schriftliches Benen- durch narrative Interviews – eingeschätzt
nen. Durch die Diagnostik können so für werden; teilweise stehen auch standardi-
jeden Patienten individuell gestörte und sierte, spezifisch für Personen mit Aphasie
erhaltene Komponenten identifiziert wer- validierte Diagnostikinstrumente zur Ver-
den, woraus sich personalisierte thera- fügung. Beispiele sind:
peutische Strategien ableiten lassen. Die 1. „Amsterdam Nijmegen everyday langu-
LeMo-Testbatterie ist ein rein klinisch- age test“ (ANELT) (Blomert et al. 1994):
exploratives und kein psychometrisch Hierbei wird die verbale Kommunikati-
fundiertes Verfahren; es stehen keine onsfähigkeit des Patienten in vorgege-
Normwerte für Patienten mit Aphasie zur benen alltagsnahen Situationen (z. B.
Verfügung. Erwähnt sei, dass es eine Rei- telefonisch einen Arzttermin verlegen)
he anderer psycholinguistischer Untersu- im Quasi-Rollenspiel überprüft. Eine
chungsaspekte und zugehörige Tests bzw. Standardisierung der Auswertung ei-
Aufgabensammlungen gibt, die hier nicht ner deutschen Version des ANELT er-
im Detail vorgestellt werden können. Eine folgt derzeit (Rubi-Fessen et al. 2021).
Übersicht findet sich z. B. in Stadie et al. Bei verbal schwerst betroffenen Per-
(2019). sonen erlaubt der ANELT keine Dif-
ferenzierung der kommunikativen
9.3.6 Fähigkeiten (Bodeneffekt), da non-ver-
Diagnostik von Kommunikation, Emotion bale Kommunikationsleistungen nicht
und Lebensqualität bei Aphasie erfasst werden.
2. Szenario-Test (Nobis-Bosch et al. 2018):
Neben einer Erfassung linguistischer Auch im Szenario-Test wird die Kom-
Funktionen rücken die Diagnostik des munikationsfähigkeit von Menschen
Kommunikationsverhaltens sowie die mit Aphasie anhand alltagsnaher Situ-
Auswirkungen der Aphasie auf Emotio- ationen/ Szenarien überprüft. Im Ge-
nalität, Lebensqualität und Partizipation gensatz zum ANELT werden jedoch
(Teilhabe am gesellschaftlichen Leben) neben der verbalen Kommunikation
aufgrund der Befragung von Betroffenen auch nicht verbale Kommunikations-
und deren Angehörigen zunehmend in kanäle (Gestik, Zeichnen, Schreiben)
den Vordergrund (Wallace et al. 2019). Die erfasst und gezielt stimuliert. Zudem
Stimmung (u. a. Depressivität), die psycho- wird das Verständnis der Situationen
soziale Funktionstüchtigkeit und Integrati- durch Bilder visuell unterstützt und
on in soziale Bezüge (Familie, Beruf und es sind hierarchische Hilfestellungen
Freizeit) sind durch sprachliche Beein- für den Untersucher definiert. Somit
trächtigungen gefährdet, aber nicht allein ist der Szenario-Test auch für schwerst
betroffene Patienten mit Aphasie ge-
184 T. Platz, I. Rubi-Fessen, C. Breitenstein

eignet; die Differenzierung im oberen 9.4


(verbalen) Leistungsbereich ist hinge- Therapie der Aphasie
gen eingeschränkt (Deckeneffekt).
3. Indirekte Verfahren – „communicative In der medizinischen Rehabilitation ist es
effectiveness index“ (CETI) (Lomas et das übergeordnete Ziel der Aphasiethera-
al. 1989): Angehörige bewerten die pie, Menschen mit Aphasie zu selbstbe-
kommunikativen Fähigkeiten des Be- stimmter und aktiver Teilhabe am sozia-
troffenen in 16 Situationen des Alltags len Leben in Familie, Beruf, Freizeit und
(z. B. „seine Gefühle ausdrücken“) auf am sonstigen sozialen Leben zu verhel-
einer 10 cm langen Linie mit den End- fen. Dies kann je nach Phase und Schwe-
punkten „kann er absolut nicht“ und regrad der Aphasie und den Bedürfnis-
„kann er so gut wie vor der Erkran- sen des Betroffenen sowohl durch eine
kung“. Verbesserung der sprachsystematischen
4. „Visual analog mood scales“ (VAMS) und verbal-kommunikativen Leistun-
(Stern 1999): Unterstützt durch bild- gen als auch durch den Erwerb nonver-
hafte Darstellungen („emoticons“) baler Kompensationsstrategien (z. B. mit-
können Personen mit Aphasie auf ei- tels Gestik, Zeichnen oder elektronischer
ner 10 cm langen Linie ihre aktuelle Hilfsmittel) versucht werden. Individu-
emotionale Befindlichkeit selbst ein- elle Zielsetzungen sollten deshalb auf
schätzen. Die Durchführung im kli- der Ebene der Sprachfunktionen und auf
nischen Alltag erweist sich wegen der Aktivitätsebene gemeinsam mit dem Be-
häufig vorliegenden zusätzlichen mo- troffenen formuliert und im Verlauf kon-
torischen Störungen als schwierig. tinuierlich angepasst werden. Menschen
5. Freiburger Fragebogen zur Krankheits- mit Aphasie und ggf. Angehörige werden
verarbeitung (FKV) (Muthny 1989): möglichst von Beginn an in die Zielset-
Die Bildversion des Tests erlaubt eine zung einbezogen (Elston et al. 2021; Rubi-
Selbsteinschätzung zur Krankheitsver- Fessen 2017).
arbeitung auch bei schwerer Aphasie. Ein Cochrane-Review über 27 rando-
6. „Stroke and aphasia quality of life scale misierte Vergleiche mit 1.620 Patienten be-
39 generic version“ (SAQOL-39g) (Hi- stätigte, dass Sprachtherapie (ver­ glichen
lari et al. 2009): In 39 Items bewerten mit „keine Sprachtherapie“) sowohl die
die Patienten im Rahmen eines stan- Kommunikationsfähigkeit als auch das
dardisierten Interviews auf einer fünf- Sprachverständnis und die expressiven
stufigen Skala durch Nennen der oder Sprachleistungen verbessert (Brady et
Zeigen auf die zutreffende Stufe ihre al. 2016). In Bezug auf die Kommunika-
Zufriedenheit in den Bereichen kör- tion konnte z. B. ein statistisch schwa-
perliche, psychosoziale sowie auf die cher bis mittelstarker Effekt der Spracht-
Kommunikation bezogene Lebens- herapie mittels Metaanalyse abgesichert
qualität. Die SAQOL-39g ist psycho- werden („standardised mean difference“
metrisch gut fundiert und europaweit [SMD] 0,28, 95 %-Konfidenzintervall (KI)
das am häufigsten eingesetzte Messin- 0,06 – 0,49, P = 0,01).
strument zur Lebensqualität bei Apha- Weiterhin stellt sich die Frage, ob und
sie (Ahmadi et al. 2017); eine deutsche wie intensiv Sprachtherapie gestaltet sein
Übersetzung erscheint in Kürze (Brei- sollte. Die Wirksamkeit und Nachhaltigkeit
tenstein et al. in Vorbereitung). intensiver Sprachtherapie (über 3 Wochen
mindestens 10 Stunden Sprachtherapie
pro Woche) auf die Alltagskommunikation
konnte einerseits bei chronischer Aphasie
9 · Rehabilitation der Sprache 185

konnte durch eine multizentrische, ran- 9.4.1


domisierte, kontrollierte klinische Studie Therapie in der (frühen Sub-)Akutphase
(RCT) mit adäquater Stichprobengröße
im Vergleich zu einer unbehandelten Kon- Bei einer akuten Aphasie ist es das primä-
trollgruppe demonstriert werden (Breiten- re Therapieziel, basale sprachliche Leis-
stein et al. 2017). Bezüglich des klinischen tungen und eine kommunikativ nützliche
Zusatznutzens einer mehrwöchigen in- Alltagskommunikation zu fördern und für
tensivierten Sprachtherapie (z. B. über 4 die Kommunikation hinderliche Phäno-
Wochen 1 Stunde Sprachtherapie pro Tag; mene (Automatismen, Stereotypien, Jar-
Nouwens et al. 2017) in der akuten und frü- gon) zu hemmen. Entsprechend erfolgt
hen subakuten Phase nach einem Schlag- eine Reaktivierung von sprachlichem
anfall auf die Kommunikation bestehen Wissen über eine multimodale Stimulie-
jedoch Zweifel (vgl. z. B. Nouwens et al. rung, um laut- und schriftsprachliche Ak-
2017; Godecke et al. 2021). Nähere Ausfüh- tivitäten wieder anzubahnen, Sprachauto-
rungen hierzu finden sich in den nachfol- matismen zu hemmen bzw. zu reduzieren
genden Abschnitten. und aktives Kommunikationsverhalten,
Aus einem weiteren systematischen ggf. unter Nutzung kompensatorischer
Review über 25 randomisierte kontrol- Hilfen (Kommunikationstafeln mit bild-
lierte Studien mit einer auf Einzelfalldaten hafter Darstellung von Äußerungen zum
(n = 959) basierenden Netzwerkanalyse Befinden und Bedürfnissen) zu fördern.
können wichtige Informationen für die Berücksichtigt werden müssen die oftmals
Organisation von Sprachtherapie, auch in noch sehr limitierte Konzentrationsfähig-
Bezug auf ihre Intensität abgeleitet werden keit und andere die Betroffenen zusätzlich
(„REhabilitation and recovery of peopLE einschränkende begleitende Beeinträch-
with Aphasia after StrokE“ (RELEASE) Col- tigungen (Allgemeinzustand, Wachheit,
laborators 2022): Den größten Nutzen auf Konzentrationsfähigkeit, Lähmungssitua-
Sprachleistungen generierte Sprachthe- tion, Sprechstörung etc.). Dabei sollte eine
rapie, wenn sie sich an einem funktionell Überforderung vermieden werden. In der
relevanten Behandlungsziel orientierte, Therapie sollte dem Patienten ein fehler-
einen Behandlungsansatz mit Fokus auf freies Lernen mit vielen wiederholenden
rezeptiven und expressiven Sprachleis­ Übungen und schrittweise geringer wer-
tungen hatte, fünfmal pro Woche mit einer denden Hilfen angeboten werden (Nobis-
Gesamttherapiezeit von mehr als 20 bis zu Bosch et al. 2012).
50 Stunden durchgeführt und durch häus- Das optimale Zeitfenster für die Initi-
liches Eigentraining ergänzt wurde. Ande- ierung einer ggf. auch intensiven Sprach-
rerseits waren z. B. keine Sprachverständ- therapie nach einem Schlaganfall konnte
nisverbesserungen absicherbar, wenn an empirisch bislang nicht identifiziert wer-
nur bis zu drei Tagen in der Woche und den (Brady et al. 2016; Godecke et al. 2021;
weniger als drei Stunden pro Woche und Nouwens et al. 2017). Im Cochrane-Review
insgesamt nur bis zu 20 Stunden Sprach- von Brady et al. (2016) war die Datenlage
therapie durchgeführt wurde. Hier wird in der Frage einer frühen versus späteren
deutlich, dass die Anforderungen an eine Sprachtherapie schwach und ergab kei-
wirksame Sprachtherapie ggf. relativ hoch ne signifikanten Differenzen. In der Leitli-
sind und dass diese Anforderungen im kli- nie „Rehabilitation aphasischer Störungen
nischen Alltag, aber auch in zahlreichen nach Schlaganfall“ der Deutschen Gesell-
Studien ggf. nicht erreicht wurden. schaft für Neurologie (DGN 2012) wird ein
Beginn der Sprachtherapie in der frühen
Phase der Spontanerholung empfohlen.
186 T. Platz, I. Rubi-Fessen, C. Breitenstein

Diese Empfehlung basiert auf allgemeinen In dieser Studie mit insgesamt 152 Pati-
Grundsätzen der Funktionserholung nach enten wurden ferner ausschließlich lingu-
Schlaganfall, auch wenn sich bei einem istische (semantische und phonologische)
Aufschieben des Behandlungsbeginns auf Fähigkeiten trainiert. Diese Ziele entspre-
drei Monate nach dem Schlaganfall (Wertz chenden den typischen Symptomen und
et al. 1986) bzw. einer späteren gegenüber Begleitstörungen einer akuten Aphasie
einer früheren Sprachtherapie (Brady et al. eher nicht. Es bleibt die Frage, ob eine indi-
2016) keine Nachteile bezüglich der lang- viduelle, auf die jeweiligen Bedürfnisse des
fristigen Sprach­erholung gezeigt haben. Betroffenen und den Schweregrad sowie
Die Intensität richtet sich in der (Sub-) die Belastbarkeit abgestimmte und dabei
Akutphase nach der mentalen Belastbar- möglichst intensive Therapie nachhaltige
keit des Patienten sowie auch den Reha- Verbesserungen auch in der frühen Phase
bilitationszielen und den daraus resul- nach Schlaganfall bewirken kann.
tierenden rehabilitativen Behandlungen Eine kürzlich abgeschlossene rando-
insgesamt. Nicht intensiv (d. h. mit weni- misierte, kontrollierte Studie (Godecke et
ger als fünf Stunden pro Woche) durch- al. 2021) untersuchte die Wirksamkeit ei-
geführte Sprachtherapie in der frühen ner spätestens zwei Wochen nach Ereig-
Phase nach dem Schlaganfall erbrachte nis beginnenden drei- bis vierwöchigen
in ersten RCTs keinen Vorteil der Sprach- Sprachtherapie in Bezug auf sprachliche
therapie gegenüber einer Wartebedingung Leistungen, subjektive Lebensqualität und
bzw. „usual care“ (Laska et al. 2011, Gode- das Auftreten von Depression drei Monate
cke et al. 2021) oder unstrukturierten sozi- nach Ereignis. Die Ergebnisse dieser Stu-
alen Kontakten (Bowen et al. 2012). Aber die waren negativ (kein Vorteil „intensiver“
auch eine intensiv durchgeführte vierwö- Sprachtherapie gegenüber nicht intensiver
chige Sprachtherapie (intendiert waren 28 und inhaltlich nicht spezifizierter Sprach-
Stunden Sprachtherapie), die innerhalb therapie („usual care, UC“). In der UC-
von zwei Wochen nach Schlaganfall ini- Gruppe wurden während des stationären
tiiert wurde, führte verglichen mit einer Aufenthaltes wöchentlich im Durchschnitt
Wartelisten-Kontrollgruppe – auch lang- knapp zwei Stunden Sprachtherapie ver-
fristig (sechs Monate) – nicht zu einer Ver- abreicht, in der intensiv behandelten
besserung der Kommunikationsfähigkeit Gruppe etwas mehr als vier Stunden pro
oder sprachlicher Leistungen (Nouwens Woche. Nach den Kriterien von (Bhogal et
et al. 2017). Zu beachten ist hierbei, dass al. 2003) wurde die Therapie in keinem der
weniger als 30 % der eingeschlossenen Pa- Interventionsarme „intensiv = mind. fünf
tienten das Behandlungsziel von 28 Stun- Zeitstunden pro Woche“ durchgeführt. Die
den Aphasietherapie innerhalb der vier grundsätzliche Wirksamkeit der Sprach-
Wochen (d. h. eine Intensität von 7 Std./ therapie in der frühen Phase nach einem
Woche) erreichten und die Therapie somit Schlaganfall konnte wegen des Fehlens
möglicherweise nicht hinreichend intensiv einer unbehandelten Kontrollgruppe in
war. In der Subgruppe von Teilnehmern, dieser Studie nicht nachgewiesen werden.
die tatsächlich nach den Vorgaben des Allerdings zeigte sich in beiden Gruppen
Studienprotokolls behandelt worden wa- eine stärkere Verbesserung sprachlicher
ren, zeigte sich eine signifikante Verbesse- Leistungen als in einer historischen Kon-
rung der Kommunikationsfähigkeit sowie trollgruppe unbehandelter Patienten (Go-
auch der Sprachverständnisleistungen im decke et al. 2021; supplementary material).
Vergleich zur Kontrollgruppe. Dieser in- Für die frühe subakute Phase konn-
itiale Vorteil war aber sechs Monate nach te von Wertz et al. (1986) ein signifikanter
dem Schlaganfall nicht mehr nachweisbar. Vorteil einer intensiv behandelten (8 Stun-
9 · Rehabilitation der Sprache 187

den pro Woche über 3 Monate) gegenüber Konzentrationsfähigkeit sowie stabilisier-


einer unbehandelten Kontrollgruppe ge- ter aphasischer Symptomatik erfolgt eine
zeigt werden. Nach dem Cross-over er- detaillierte Aphasiediagnostik und darauf
hielt die Kontrollgruppe eine identische aufbauend eine störungsspezifische, an
intensive Intervention für drei Monate und die individuellen Bedürfnisse angepasste
konnte das Defizit gegenüber der Interven- Therapie sprachlicher Leistungen. Begon-
tionsgruppe ausgleichen. In der subakuten nen wird i. d. R. mit den am schwersten be-
Phase scheint es somit kein kritisches Zeit- troffenen Modalitäten und linguistischen
fenster für die Durchführung einer inten- (Semantik, Syntax und/oder Phonologie)
siven Sprachtherapie zu geben. bzw. kommunikativ-pragmatischen Ebe-
Insgesamt zeigen die Beispiele der Evi- nen. Für die Therapiedurchführung güns­
denz, dass bezüglich der Sprachtherapie tig ist ein ausreichendes Sprachverstehen,
früh nach einem Schlaganfall viele Fragen sodass dieses bei entsprechender Indikati-
nicht sicher zu beantworten sind. Bei ei- on immer der erste Therapieschwerpunkt
ner differenzierten Bewertung der Evidenz sein sollte. Im Folgenden wird ein Über-
sind dabei jeweils Charakteristika der Be- blick über generelle Vorgehensweisen
handelten, die Art der Sprachtherapie, ihre und therapeutische Standards gegeben,
Intensität, die beobachteten Outcomes zusätzlich werden einige weit verbreitete
(z. B. sprachsystematische Leistungen ver- Therapieverfahren exemplarisch beschrie-
sus Alltagskommunikation), der Zeitpunkt ben.
der Erhebung (nach einer Interventions- Bei vielen Menschen mit Aphasie ste-
phase oder Follow-up), die Implementie- hen Störungen des Wortabrufs im Vor-
rung möglicher Verstetigungsansätze für dergrund. Im Rahmen der modello-
Therapieeffekte ebenso zu berücksichtigen rientierten Diagnostik können diesen
wie die Stärke und Präzision von Effektma- ggf. unterschiedliche funktionelle Stö-
ßen. Die Daten (Nouwens et al. 2017; RE- rungsorte im Logogen-Modell zugeord-
LEASE Collaborators 2022) würden jedoch net werden und diese modellorientiert
die Annahme unterstützen, dass auch in spezifisch therapiert werden. So können
der frühen Phase nach einem Schlaganfall hierbei Störungen der Wortbedeutung
am ehesten relativ hohe Intensitäten an (Semantik) ebenso vorliegen wie Zugangs-
sprachtherapeutischem Training geeignet (Störungen) auf die Wortformen in den
sind, einen Zusatznutzen zu erzielen. Da- Lexika. Erstere werden durch Übungen
bei sind individuelle Faktoren wie Motiva- „im semantischen Feld“ behandelt, wo-
tion und Compliance zu berücksichtigen bei u. a. Entscheidungen basierend auf Be-
sowie Verstetigungsansätze für Therapie- deutungen von Wörtern getroffen werden
effekte proaktiv zu integrieren (Menahe- sollen; z. B. Was macht man mit Besteck:
mi-Falkov et al. 2021). trinken, kochen, bügeln, essen? Der Zu-
griff auf Wortformen des phonologischen
9.4.2 Output-Lexikon kann z. B. durch die Er-
Sprachtherapie im weiteren Verlauf arbeitung von Umschreibungsstrategien
fazilitiert werden, gestörte Wortformen
Bereits in der subakuten, aber insbeson- können durch Benenn­ übungen mit Mi-
dere in der chronischen Phase nach einem nimalpaaren (Hand/Hund) beübt und
Schlaganfall erfolgt eine störungsspezi- durch rezeptive Übungen zur Wortform er-
fische Beübung sprachlich-linguistischer gänzt werden (Welches Wort gibt es: Mirk,
und kommunikativ-pragmatischer Kom- Milch?). Zusätzlich kann die Therapie im
petenzen. Bei gebessertem Allgemeinbe- verbal-expressiven Bereich durch schrift-
finden, stabiler Wachheit und gebesserter sprachliche Fähigkeiten (soweit noch er-
188 T. Platz, I. Rubi-Fessen, C. Breitenstein

halten) ergänzt und unterstützt werden. denen Inhalts und Schwierigkeitsgraden


Einschränkend gilt, dass die Wirksamkeit durchgeführt werden (Claros-Salinas
modellorientierter Therapie vor allem in 1993).
Einzelfallstudien überprüft wurde, hier Systematische Übersichtsarbeiten zei-
besonders in den Bereichen Wortabruf gen, dass durch störungsspezifische Be-
und Schriftsprache (vgl. z. B. Wambaugh handlungsansätze die trainierten sprach-
2003; Stadie u. Rilling 2006). Eine breitere systematischen Leistungen verbessert
Evidenzbasierung dieses Vorgehens steht werden können (z. B. RELEASE collabo-
somit noch aus. In einer systematischen rators 2022), aber ein Transfer auf unge-
Metaanalyse mit individuellen Datensät- übte sprachliche Leistungen selten er-
zen (n = 959) aus 25 randomisierten kon- folgt (Wisenburn et al. 2009). Allerdings
trollierten Studien zeigten sich im Hinblick können durch kognitiv-linguistisches
auf den Schweregrad der Aphasie sowie Training durchaus Kommunikationsver-
auf funktionelle Kommunikationsleistung besserungen im Alltag erzielt werden.
die stärksten therapieinduzierten Verbes- So wurden in einer randomisierten kon-
serungen, wenn die Therapie als „mixed trollierten Studie (Doesborgh et al. 2004)
receptive-expressive“ durchgeführt wurde drei bis fünf Monate nach einem Schlag-
(RELEASE collaborators 2022). anfall Patienten mit Aphasie entweder ei-
Beim störungsspezifischen Beüben ner Gruppe zugeteilt, die phonologische
werden folgende Therapiebausteine ge- Therapie erhielt, oder aber einer Grup-
genwärtig als „Best Practice“ angesehen. pe, die semantische Therapie erhielt (1,5
Störungen der Lautstruktur (Phoneme) bis drei Stunden/Woche, 40 bis 60 Stun-
können durch Übungen mit Entschei- den insgesamt). Beide Gruppen erzielten
dungen zur Lautstruktur beübt werden. signifikante Verbesserungen im jeweils
Dazu gehören das Zusammensetzen von geübten sprachsystematischen Bereich
Phonemen und die Entscheidung, ob sich (Phonologie bzw. Semantik), beide Grup-
ein Wort ergibt (Beispiel: Na-gel, Na-bel, pen erreichten jedoch vergleichbare Ver-
Na-kel). Analoges gilt für die Schriftspra- besserung in der Alltagskommunikation
che (Grapheme). Bei Störungen des Satz- (ANELT, Aktivitätsebene); die Verbesse-
baus und der Grammatik ist es wichtig zu rungen im Alltag waren mit den sprach-
untersuchen, ob lediglich die Satzproduk- systematischen Verbesserungen jeweils
tion oder auch das Verstehen von Sätzen korreliert. Die Aussagekraft dieser Studie
betroffen sind. Satzbauübungen umfassen ist durch das Fehlen einer unbehandel-
das Bilden von Sätzen mit vorgegebenen ten Kontrollgruppe eingeschränkt; mögli-
Wörtern, das Umformen, das Vervollstän- cherweise handelte es sich ausschließlich
digen sowie rezeptiv das Verstehen und um sprachliche Verbesserungen im Rah-
Beurteilen von Sätzen bzw. auch das (kor- men der Spontanerholung im ersten hal-
rekte) Verknüpfen von Sätzen. Rezeptive ben Jahr nach dem Schlaganfall. Gleiches
Grammatikübungen können zum Beispiel gilt für die Nachfolgestudie RATS-2, in der
die Korrektheit von Flexionsformen abfra- kognitiv-linguistische Therapie mit kom-
gen (Beispiel: Was ist richtig: Der Postbo- munikativem Training (Kompensations-
te bringen die Post; Die Postbote bringen strategien) bei Schlaganfallpatienten mit
die Post; Der Postbote bringt den Post; Der Aphasie in der Subakutphase verglichen
Postbote bringt die Post?). wurde (Jong-Hagelstein et al. 2011).
Zur Behandlung komplexerer Stö- Aus diesem Grund verglich eine dritte
rungen, wie etwa Störungen der Textverar- randomisierte kontrollierte Studie dieser
beitung können Übungen zum Verstehen niederländischen Autorengruppe (RATS-
und Wiedergeben von Texten verschie- 3) den Therapieerfolg einer intensiv be-
9 · Rehabilitation der Sprache 189

handelten Gruppe in der akuten Phase die jeweils nur ihre eigenen Karten sehen,
nach einem Schlaganfall gegenüber einer aber ergänzende Karten bei den anderen
Wartelistenkontrollgruppe; hier zeigte sich Spielern erfragen sollen, nur verbal mit-
ein Vorteil der intensiven Sprachtherapie einander kommunizieren. Auf diese Wei-
in der frühen Phase nach einem Schlag- se erfolgt bei steigenden Anforderungen
anfall nur, wenn die hohe intendierte Be- eine intensive Beübung verbal-expressiver
handlungsintensität toleriert und umge- Leistungen. Erste Hinweise für die Wirk-
setzt werden konnte, was für den Großteil samkeit von CIAT/ILAT als Aphasiethera-
der Studienteilnehmer nicht zutraf (Nou- pie bei kleinen Stichprobengrößen liegen
wens et al. 2017). vor (Meinzer et al. 2012; Stahl et al. 2017),
Die intensive Sprachtherapie in der eine Überlegenheit der CIAT/ILAT gegen-
chronischen Phase nach einem Schlagan- über anderen intensiv durchgeführten
fall hingegen gilt als evidenzbasiert. Eine sprachtherapeutischen Vorgehensweisen
in Deutschland durgeführte randomisierte konnte jedoch bislang nicht nachgewie-
kontrollierte Studie, die eine unbehandel- sen werden (Sickert et al. 2014; Brady et al.
te Wartelisten-Kontrollgruppe einschloss, 2016; Rose et al. 2022).
wies bei 156 Teilnehmern überzeugend Die bereits oben erwähnte „Melo-
nach, dass intensive störungsspezifische dische Intonationstherapie“ (Albert et al.
und kommunikativ-pragmatische Apha- 1973) ist ein Therapieverfahren zur Be-
sietherapie (über 3 Wochen mindestens 10 handlung schwerer unflüssiger Aphasien.
Stunden Sprachtherapie pro Woche), un- Ursprüngliche Intention dieser kompensa-
abhängig von der Dauer und vom Schwe- torisch ausgerichteten Therapiemethode
regrad der Aphasie, wirksam und nach- war die systematische Nutzung von Melo-
haltig die Kommunikation verbessert die (Singen) und Rhythmus (Handklopfen)
(Breitenstein et al. 2017). zur Aktivierung der rechten gesunden He-
Kritisch für die Wirksamkeit der Thera- misphäre. Erarbeitet werden kommuni-
pie scheint eine ausreichende Therapiein- kative Phrasen etwa „Wie geht’s dir?“. Im
tensität bzw. -frequenz zu sein (RELEASE strukturierten Vorgehen werden die Hil-
collaborators 2022). Diese auf Individu- festellungen des Therapeuten sowie die
aldaten basierenden Metaanalysen spre- Intonation mit dem Ziel einer norma-
chen dafür, dass Sprachtherapie, fünfmal len Sprechweise systematisch reduziert.
pro Woche und mit insgesamt mehr als Durch die stimulierende Vorgehensweise,
20 Stunden sowie ergänzt durch Eigen- das motivationssteigernde Verzichten auf
training organisiert, sprachsystematische direkte Fehlerrückmeldung und abstei-
Kompetenz und Kommunikation nach- gende Hilfen ist die MIT auch in den Fokus
weislich fördern kann. der Therapie bei (post-)akuter Aphasie ge-
Ein besonders gut intensiv durchführ- rückt (van der Meulen et al. 2014). Zwei sy-
barer Therapieansatz ist die „constraint in- stematische Übersichtsarbeiten mit Meta­
duced aphasia therapy“ (CIAT) (Meinzer et analysen, beide jedoch mit sehr geringer
al. 2012) sowie eine modifizierte Version Anzahl qualifizierter RCTs sowie sehr ge-
mit stärkerer sozialer Interaktionskompo- ringer Stichprobengrößen, legen nahe,
nente („intensive language-action thera- dass MIT bei einigen sprachlichen Sym-
py“ (ILAT) (Difrancesco et al. 2012). Dabei ptomen möglicherweise Verbesserungen
werden z. B. über zehn Werktage je drei erzielen kann (Haro-Martinez et al. 2021;
Stunden Aphasietherapie pro Tag in einer Liu et al. 2022; Popescu et al. 2022). Kon-
Kleingruppe durchgeführt. Im Rahmen trovers diskutiert wird die spezifische Wir-
einer „spielerischen“ Aufgabenstellung kung auf die rechte Hemisphäre sowie der
(„Spiel“-Karten) dürfen die Teilnehmer, Beitrag unterschiedlicher Komponenten
190 T. Platz, I. Rubi-Fessen, C. Breitenstein

der MIT (Melodie oder Rhythmus) auf den dungstraining auch ein PC-gestütztes Trai-
Therapieerfolg (Merrett et al. 2014). ning (Palmer u. Pauranik 2021).
Nationale und internationale Leitlinien
empfehlen intensive Sprach- und Sprech­ 9.4.3
therapie als „Goldstandard“ bei der Ver- Förderung von Kommunikation und
sorgung von Schlaganfallpatienten mit Teilhabe im Alltag
Aphasie (Ackermann et al. 2012; Brady et
al. 2016; Palmer u. Pauranik 2021; Best- Neben der störungsspezifischen Therapie
Practice-Empfehlungen der internatio- mit dem Ziel der Wiederherstellung der
nalen Non-Profit-Organisation Aphasia sprachsystematischen Leistungen ist es
United: http://aphasiaunited.org/wp-con- bereits früh in der Aphasie-Therapie be-
tent/uploads/2016/05/German-Aphasia- deutsam, die Alltagskommunikation und
United-Best-Practice-Recommendations. die Teilhabe in sozialen Bezügen thera-
pdf [letzter Zugriff am 5.3.2022]). Höhere peutisch zu fördern, was auch ein Kom-
Intensitäten (4 bis 15 Stunden pro Wo- munikations-Training bevorzugter Kom-
che) bewirken stärkere Therapieeffekte als munikationspartner einschließt (Palmer
niedrigere Intensitäten (Brady et al. 2016); u. Pauranik 2021). Wissenschaftliche Evi-
eine Therapieintensität von zwei oder we- denz für die Wirksamkeit des Kommuni-
niger Wochenstunden sind nicht sicher kations-partner-Trainings steht allerdings
wirksam für eine sprachliche Funktions- noch aus.
verbesserung und werden eher zur langfri- Besonders in der chronischen Phase
stigen Aufrechterhaltung von Intensivthe- der Aphasie, die auch als Konsolidierungs-
rapieeffekten angeraten (Ackermann al. phase bezeichnet wird, und insbesondere,
2012). Bei hinreichender Intensität waren wenn durch gezielte sprachsystematische
die positiven Effekte für mindestens sechs Therapie keine weiteren Verbesserungen
Monate nach Therapieende erhalten, zu- zu beobachten sind, ist der Fokus auf die
mindest wenn die Behandlung in der chro- Verbesserung der Alltagskommunikation
nischen Phase nach einem Schlaganfalll geboten. Erste randomisierte kontrollierte
stattfand (Meinzer et al. 2005; Breitenstein Studien konnten Verbesserungen der funk-
et al. 2017). Bedeutsam für Therapieef- tionellen Kommunikation durch intensive
fekte ist neben der hohe Therapieintensi- störungsspezifische und kommunikativ-
tät (Stundenzahl pro Woche) auch die The- pragmatische Aphasietherapie aufzeigen
rapiefrequenz (z. B. 5 Behandlungen pro (z. B. Breitenstein et al. 2017). Allerdings
Woche) (RELEASE collaborators 2022). In liegen die sogenannten „Responder“-Ra-
der aktuellen S3-Leitlinie „Schlaganfall“ ten mit nur einem Drittel der Stichpro-
der DEGAM 2020 (https://www.degam. be deutlich niedriger als für die störungs-
de/files/Inhalte/Leitlinien-Inhalte/Doku- spezifische Therapie, von der zumindest
mente/DEGAM-S3-Leitlinien/053-011_ knapp 50 % aller Betroffenen in der chro-
Schlaganfall/053-011l_LL_Schlaganfall. nischen Phase nach einem Schlaganfall
pdf ) wird eine hochfrequente (tägliche) profitieren (Menahemi-Falkov et al. 2021).
Aphasietherapie unabhängig von der Pha- Es gibt verschiedene therapeutische
se nach dem Schlaganfall – ggf. auch als In- Ansätze, mit denen eine möglichst opti-
tervalltherapie – empfohlen. male Nutzung von verbalen und nonver-
Für die Therapie können sowohl Ein- balen Kommunikationsmöglichkeiten für
zel- als auch Gruppentherapie und der den Alltag gefördert werden kann.
Einbezug eines ergänzenden Trainings Eine Therapieform ist die PACE-Thera-
mit Laien in der Sprachtherapie individu- pie („promoting aphasics’ communication
ell berücksichtigt werden, für ein Wordfin- effectiveness“) (Davis u. Wilcox 1985). Bei
9 · Rehabilitation der Sprache 191

dieser Therapie sind Therapeut und Person Allerdings fällt die sprachliche Stimulation
mit Aphasie in der Kommunikationssitua- bei einer gezielten Einzeltherapie inten-
tion (Therapie) gleichberechtigte Kommu- siver aus; andererseits hat die Gruppen-
nikationspartner, die neue Informationen therapie wegen der sozialen Aspekte eine
austauschen sollen (vorgegebene Aufga- besondere Relevanz für die Kommunikati-
be). Jeweils einer der Partner kennt die on im Alltag.
Inhalte nicht. Sprecher- und Hörerrollen
werden abwechselnd eingenommen. Die 9.4.4
Kommunikationsmittel (verbal und non- Hilfestellungen im Alltag
verbal) sind frei wählbar. Der Therapeut
gibt strukturierte Rückmeldung, aber erst Weitere wichtige Hilfestellungen im lang-
im Wiederholungsfall ein spezifisches fristigen Verlauf stellen möglicherwei-
Feedback. se Therapeuten-supervidiertes Heimtrai-
Holland (2020) beschreibt verschie- ning (Nobis-Bosch et al. 2011; Palmer et
dene kommunikativ orientierte Ansät- al. 2019), digitale Lösungen (Asghar et al.
ze. Diese haben teilweise die Vermittlung 2021; Zheng et al. 2016) sowie die Apha-
allgemeiner multimodaler Kommunika- sie-Selbsthilfegruppen (Deutscher Dach-
tionsstrategien als Ziel, wie z. B. das „Fa- verband der ca. 250 Aphasie-Selbsthilfe-
mous People Protocol“ (FFP) (Hollands et gruppen: Bundesverband für Aphasie e. V.;
al. 2019) oder holistisch die Bewältigung www.aphasiker.de) dar. Durch die hierbei
spezifischer Alltagssituationen durch das entstehenden Kontakte und durch gemein-
Erlernen von Sequenzen von Äußerungen, same Aktivitäten erfolgt eine sprachliche
wie etwa das „Skript Training“ (Kaye u. Stimulation in alltagsrelevanten Situati-
Cherney 2016). onen, kann eine soziale Isolation vermie-
Auch wenn ein Wirksamkeitsnachweis den oder gemindert sowie die Krankheits-
bislang aussteht, sollte zwecks Steigerung verarbeitung unterstützt werden. Auch
des Therapieerfolgs auch für (Lebens-) erhalten Betroffene und ihre Angehörigen
Partner bzw. Familienangehörige ein Informationen über Möglichkeiten und
Kommunikationstraining angeboten wer- Weiterentwicklungen im therapeutischen
den (Simmons-Mackie et al. 2016; Kong Bereich.
et al. 2021). Im Paartraining lernen apha-
sische Personen und ihre Lebenspartner
günstige kommunikative Verhaltenswei- 9.5
sen kennen und trainieren diese. Auch für
Ergänzende
medizinische Personal wird ein Kommu-
Behandlungsmöglichkeiten
nikationspartner Training empfohlen, um
den Therapieerfolg der Betroffenen zu stei- Ergänzende Behandlungsmöglichkeiten
gern (van Rijssen et al. 2021). gibt es u. a. im Sinne der Therapie kogni-
Auch Gruppentherapien (Kommuni- tiver Funktionen (wie Exekutivfunktionen
kationsgruppe) stellen ein wertvolles und und Aufmerksamkeit), medikamentöser
kosteneffizientes Therapiemittel dar, um Behandlung sowie einer nicht invasiven
kommunikative Strategien bei Personen Hirnstimulation.
mit Aphasie zu fördern. Bislang liegt keine Aufmerksamkeitsfunktionen sind
Evidenz für eine differentielle Wirksamkeit grundlegende Voraussetzungen für ko-
von Einzel- und Gruppentherapie vor, die gnitive Leistungen. Oftmals bestehen bei
Bewertung basiert jedoch auf Studien mit Schlaganfallpatienten Aufmerksamkeits-
weitestgehend kleinen Fallzahlen (Brady störungen. Deren gezielte diagnostische
et al. 2016; RELEASE collaborators 2022). Abklärung und Therapie führt zu verbes-
192 T. Platz, I. Rubi-Fessen, C. Breitenstein

serten Aufmerksamkeitsfunktionen, die tive Effekte auf verschiedene linguistische


auch sprachliche Leistungen wieder güns­ Funktionen sowie die verbale Kommuni-
tig beeinflussen können. Ähnliches trifft kationsleistung durch rTMS gegenüber
für die Exekutivfunktionen zu. Diese ge- einer Kontrollbedingung beobachtet wer-
währleisten zielgerichtetes (Sprach-)Pla- den (Rubi-Fessen et al. 2015). Ähnlich
nen und -Handeln im Alltag und ermögli- zeigte auch ein systematischer Review zur
chen z. B. das flexible Reagieren auf neue Wirksamkeit der rTMS in der Aphasie­
(Kommunikations-)Situationen. behandlung (fünf Studien, 96 Teilnehmer)
Gesicherte Erkenntnisse aus groß an- deutliche Effekte einer niederfrequenten
gelegten RCT zu positiven Effekten eines 1 Hz-rTMS des kontraläsionalen inferio­
Trainings kognitiver Funktionen auf die ren frontalen Gyrus (Pars triangularis) auf
Spracherholung stehen derzeit aus. In ei- den Schweregrad der Aphasie insgesamt,
ner ersten kleinen Studie mit zehn Teilneh- aber auch auf das Benennen, Nachspre-
mern zeigen sich jedoch positive Effekte chen und die Schriftsprache, nicht jedoch
spezifischer kognitiv-sprachlicher Thera- das Sprachverständnis, und zwar ohne
pieansätze auf die Flexibilität in kommu- dass Nebenwirkungen berichtet worden
nikativen Situationen (Spitzer et al. 2020). wären (Ren et al. 2014). In einen weiteren
Zentralnervös wirksame Medikamente systematischen Review (acht Studien, 217
könnten die Effekte der Sprachtherapie Teilnehmer) konnten die rTMS-Effekte
unterstützen. Diese Medikamente wur- (hauptsächlich mit der Zielgröße Benen-
den jedoch nur in überwiegend kleineren nen erfasst) auch bei einer Nachbeobach-
Studien untersucht und sind für die Indi- tung sechs Monate später abgesichert
kation der Sprachtherapie-Unterstützung werden (Bucur u. Papagno 2019). Arheix-
nach Schlaganfall nicht zugelassen; wenn Parras et al. (2021) subsumierten in ihrem
sie eingesetzt werden, handelt es sich systematischen Review sieben Metaanaly-
demnach um einen Off-Label-Gebrauch. sen und 59 Studien (davon 23 RCTs mit ins-
Ein systematischer Review randomi- gesamt 526 Patienten) und konnten einen
sierter kontrollierter Studien konnte me- positiven Effekt der rTMS stützen. Nach
ta-analytisch positive Therapieeffekte von den effektivsten Parametern der Stimulati-
Donepezil (5 Studien, 277 Teilnehmer) auf on für unterschiedliche Patientengruppen
auditives Sprachverständnis, Benennen, in unterschiedlichen Stadien der Aphasie
Nachsprechen und Lautsprache sowie von muss weiterhin geforscht werden, zumal
Memantine (4 Studien, 124 Teilnehmer) die Evidenzqualität der vorliegenden RCTs
auf Benennen, Spontansprache und Nach- als gering bis sehr gering bewertet wurde.
sprechen bei Schlaganfallpatienten mit Für die Applikation von tDCS in Kom-
Aphasie nachweisen (Zhang et al. 2018). bination mit Sprachtherapie zeigte sich in
Die Klinikreife einer medikamentösen Zu- einer aktuellen systematischen Übersicht
satztherapie ist derzeit noch nicht erreicht. ein positiver Effekt für das Benennen von
Für die repetitive transkranielle Ma- Nomen, aber nicht für das Benennen von
gnetstimulation (rTMS) und für die trans­ Verben oder kommunikative Leistungen
kranielle Gleichstromstimulation (tDCS) (Elsner et al. 2019). Insgesamt lieferten
als zwei nicht invasive Verfahren der Hirn- Studien mit Patienten in der chronischen
stimulation konnten positive Effekte auf Phase für diverse Stimulationsparadig-
aphasische Symptome bei insgesamt mo- men erste positive Effekte (Biou et al. 2019;
derater Datenlage gezeigt werden. Meinzer et al. 2016). Ein aktueller RCT mit
Unter anderem konnten in einer klei- Teilnehmern in der Akutphase der Aphasie
neren randomisierten Studie in der frü- konnte hingegen keinen zusätzlichen Nut-
hen Phase nach einem Schlaganfall posi- zen einer additiven tDCS bei einer zwei-
9 · Rehabilitation der Sprache 193

wöchigen Aphasietherapie nachweisen 9.6


(Spielmann et al. 2018). Zettin et al. (2021) Besonderheiten bei anderen
betonen in ihrem aktuellen (nicht-syste- Erkrankungsbildern mit Aphasie
matischen) Review besonders das Poten-
zial der tDCS in Kombination mit spezi- Die Darstellungen in diesem Kapitel orien-
fischen sprachtherapeutischen Ansätzen. tieren sich primär an der Aphasiologie für
Eine aktuell laufende randomisierte kon- Schlaganfall-Betroffene. Dabei ist im Blick
trollierte multizentrische Studie (Stahl et zu halten, dass auch andere Erkrankungen
al. 2019) hat zum Ziel, an 130 Menschen zu aphasischen Störungen führen und hier
mit chronischer Aphasie den Effekt einer jeweils erkrankungsspezifische Besonder-
additiven anodalen (erregenden) tDCS heiten zu berücksichtigen sind. Als ein Be-
über dem Motorkortex der betroffenen spiel seien die primär progredienten Apha-
Seite auf den Outcome einer intensiven sien (PPA) erwähnt.
Aphasietherapie zu überprüfen. Wie bei Sie sind unter anderem aufgrund des
der rTMS kann auch bei der tDCS zu den demographischen Wandels in den letzten
optimalen Parametern der Stimulation so- Jahren in den Fokus der Forschung gerückt.
wie geeigneten Patientengruppen noch Der Begriff umfasst eine Gruppe demen-
keine eindeutige Empfehlung gegeben zieller Syndrome, die durch eine allmäh-
werden. liche Verschlechterung sprachlicher Funk-
Auch wenn die Ergebnisse der nicht tionen bei vergleichsweise gut erhaltenen
invasiven Hirnstimulation in der Aphasie- anderen kognitiven Funktionen charak-
Therapie noch begrenzt sind und ein brei- terisiert werden können. Aktuell werden
ter Routine-Einsatz in der klinischen Ver- drei Unterformen klassifiziert. Die nicht-
sorgung noch nicht gerechtfertigt scheint, flüssige agrammatische Variante (nfvPPA),
so sind die Ergebnisse zum Teil sehr er- die semantische Variante (svPPA) sowie die
mutigend und bestärken die weitere Un- logopenische Variante (lvPPA). Die Klassi-
tersuchung der Methodik bzgl. ihrer Wirk- fikation erfolgt nach klinischen Kriterien
samkeit (Norise u. Hamilton 2017). Für die (Giorno-Tempini 2011; Mesulam 2016),
niederfrequente 1 Hz-rTMS des kontra­ die durch bildgebende Verfahren und hi-
läsionalen inferioren frontalen Gyrus (Pars stopathologisch unterstützt werden.
triangularis) gehen die internationalen Bei der sprachtherapeutischen Dia-
rTMS-Leitlinien bereits von einem wahr- gnostik und Therapie der primär progre-
scheinlichen Effekt auf die Aphasie-Erho- dienten Aphasien steht vor allem die Res-
lung im chronischen Stadium aus (Lefau- sourcenorientierung (statt Defizitsicht)
cheur et al. 2020, Empfehlungsstärke B), im Vordergrund (Grün 2016). Während im
eine internationale Leitlinie zur Schlag- frühen Stadium der Therapie z. B. noch der
anfall-Rehabilitation sieht eine Behand- Erwerb von Strategien zur Verbesserung
lungsoption zur Förderung der expres- des Wortabrufs Ziel der Behandlung sein
siven Sprachleistung durch rTMS (Palmer kann, rückt beim fortschreitenden Pro-
u. Pauranik 2021). Wünschenswert in die- zess die Aufrechterhaltung der Kommuni-
sem Sinne wäre eine weitere Anwendung kation ins Zentrum der Behandlung, u. a.
in spezialisierten Zentren und das syste- durch ein Training der Kommunikations-
matische Erfassen und Bewerten von Er- partner (Volkmer et al. 2020). Eine aktuelle
gebnissen. Übersicht zur Forschungslage zur Behand-
lung primär progressiver Aphasien findet
sich bei Taylor-Rubin et al. (2021).
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199

10
Neurovisuelle Neurorehabilitation –
ein Update
Georg Kerkhoff, Ann-Kathrin Bur, Michelle Schreiner

10.1 standardisiertes Screening neurovisueller


Einleitung Defizite im rehabilitativen Setting zu er-
möglichen.
Mehr als die Hälfte der Patienten mit er-
worbenen Hirnschädigungen vaskulärer
(40 – 60 %; Suchoff et al. 2008; Rowe et al. 10.2
2009), traumatischer (50 %; Kerkhoff 2000)
Störungen der Sehschärfe und des
oder degenerativer (40 % der Patienten mit
Kontrastsehens
Alzheimer-Demenz; Mendez et al. 1990a,
1990b) Genese weisen Störungen elemen- Sehschärfe (Visus) bezeichnet die räumli-
tarer und/oder komplexer zentraler visuel- che Auflösungskapazität des visuellen Sys-
ler Funktionen auf (s. Übersicht in Schaadt tems (Zihl 2011). In der Frühphase nach
u. Kerkhoff 2016). Aber auch bei anderen einem Schlaganfall kann die Sehschärfe
neurologischen Erkrankungen spielen vi- eines Patienten um 20 – 30 % unter dem
suelle Verarbeitungsstörungen eine wich- maximal erreichbaren Wert liegen. Zu den
tige Rolle, wie etwa bei der Multiplen Skle- primären Ursachen zählen bilaterale post-
rose (Frohmanet al. 2005) oder auch beim chiasmatische Läsionen (häufig komor-
Morbus Parkinson (Archibald et al. 2011). bid zu homonymen Gesichtsfelddefekten;
Bei der Posterioren Kortikalen Atrophie Kerkhoff 1999), welche zu einem partiel-
(„posterior cortical atrophy“ [PCA]) sind len bis vollständigen Verlust der Sehschär-
sie gar das dominierende Störungsmerk- fe führen können und nicht durch Linsen
mal (da Silva et al. 2017). Da intakte visuel- korrigierbar sind. Nach unilateralen Hirn-
le Funktionen eine wichtige Voraussetzung läsionen ist die Sehschärfe hingegen nicht
für viele Aktivitäten in Beruf und Alltag dar- deutlich beeinträchtigt. Weitere (sekun-
stellen, sind neurovisuelle Störungen häu- däre) Gründe für die Visusreduktion kön-
fig mit weitreichenden Einschränkungen nen Fixations- und Explorationsprobleme
für die Betroffenen assoziiert. Im vorlie- sowie Störungen der Helladaptation, des
genden Kapitel werden das klinische Bild, Konstrastsehens (s. unten) oder Nystag-
Diagnostik und Therapie der wichtigsten mus sowie das Bálint-Holmes-Syndrom
zentralen Sehstörungen sowie komplexer sein (Frisén 1980). Crowding-Phänomene
neurovisueller Syndrome wie Neglect und können eine weitere Ursache sein (engl.
Bálint-Holmes-Syndrom beschrieben. Am „crowd“: „Menge“ visueller Reize). Hier
Ende des Kapitels findet sich eine Zusam- sind die visuellen Erkennungsprobleme
menfassung der Leitsymptome auf Grund- durch die Anzahl konkurrierender anderer
lage eines Anamnese­fragebogens, um ein visueller Reize und deren räumliche Nähe
200 G. Kerkhoff, A.-K. Bur, M. Schreiner

Abb. 10.1: Reihenoptotypen zur Messung von Sehschärfe (A) und Kontrastsensitivität (B)

zu dem Sehzeichen bedingt (etwa bei PCA, 10.2.2


vgl. da Silva et al. 2017). Spontane Symp- Rehabilitation
tomverbesserungen sind bei Patienten mit
sekundären Ursachen häufig, selten je- Sofern die Sehschärfereduktion sekun-
doch bei primären Ursachen. därer Genese ist, weist die Mehrheit der
Kontrastsehen ist definiert als die visu- Patienten nach erfolgreicher Therapie der
elle Fähigkeit, zwischen Streifenmustern zugrunde liegenden Defizite deutliche
unterschiedlicher Helligkeit (Kontrast) Visussteigerungen auf. Im Falle bilatera-
und Streifenbreite (räumliche Frequenz) ler postchiasmatischer Läsionen können
zu unterscheiden. Störungen des Kontrast- Vergrößerungssoftwares oder Bildschirm-
sehens finden sich bei 80 % der Patienten lesegeräte hilfreich sein (Kerkhoff 2000).
mit vaskulär bedingten posterioren Hirn- Defizite im Kontrastsehen können durch
läsionen in der Akutphase der Erkrankung zusätzliche indirekte Beleuchtung oder
(Bulens et al. 1989). Obgleich diese häufig lichtfilternde Linsen kompensiert werden
in den ersten Wochen bis Monaten nach (Jackowski et al. 1996).
Läsion spontan remittieren, bleiben per-
manente Defizite bei ca. 20 % der Betroffe-
nen bestehen (Kerkhoff 2000). 10.3
Beide Beeinträchtigungen stellen Stö-
Störungen der fovealen Hell- oder
rungen elementarer visueller Funktionen
Dunkeladaptation
dar und können dadurch die Durchfüh-
rung und Interpretation komplexerer vi- Foveale photopische Adaptation be-
suell basierter neuropsychologischer Tests schreibt die kontinuierliche Anpassung an
signifikant erschweren (Skeel et al. 2006). eine hellere Beleuchtung (Helladaptation),
foveale skotopische Anpassung die Anpas-
10.2.1 sung an eine dunklere Beleuchtung als die
Assessment Referenzquelle (Dunkeladaptation). Beide
Prozesse sind dissoziierbar, können jedoch
Sehschärfe und Kontrastsehen können kombiniert auftreten (Zihl u. Kerkhoff
routinemäßig mittels Reihenoptotypen 1990). Es ist zu beachten, dass insbesonde-
und verschiedenen Arten von Kontrasttests re Störungen der Dunkeladaptation sowie
untersucht werden (s. Abb. 10.1). der Hell- und Dunkeladaptation bei defi-
10 · Neurovisuelle Neurorehabilitation – ein Update 201

zitärer Raumausleuchtung (< 200 Lux) zu Verstärkung indirekter Beleuchtung sowie


schlechteren visuellen Alltagsleistungen die Benutzung von Dimmern empfohlen.
(z. B. Sehschärfe, Lesen, Farbunterschei-
dung) führen können (Schaadt et al. 2016).
So zeigen Betroffene bei einer Raumbe- 10.4
leuchtung von 200 Lux oder weniger deut-
Visual Discomfort
lich mehr Fehler im Lesen, Farben erken-
nen und eine um ca. 20 – 30 % geringere Visual Discomfort tritt bei ca. 10 % der Pa-
Sehschärfe als andere Patientengruppen tienten mit zerebralen Sehstörungen auf.
(Schaadt et al. 2016). Dies hat wichtige Im- Phänomenologisch zeigen sich Flimme-
plikationen für Assessment und Rehabili- rerscheinungen, Verschwommensehen,
tation dieser Patientengruppen, um einer Kopfschmerzen und/oder asthenopische
Unterschätzung der Performanz in visuell Beschwerden (z.  B. Augendruck) beim
basierten Testsituationen vorzubeugen. Blick auf homogene Muster wie Linien,
Offensichtlich bilden sich entsprechen- geschriebenen Text oder Streifenmuster
de Defizite nicht spontan zurück (Zihl u. (Abb. 10.2 a, b) einer bestimmten Ortsfre-
Kerkhoff 1990). quenz (3 – 4 Kanten pro Sehwinkelgrad;
Wilkins 1986). Einzelne Symptome des Vi-
10.3.1 sual Discomfort können auch bei neurolo-
Assessment gisch gesunden Personen auftreten, diese
sind jedoch bei hirngeschädigten Patien-
Die Adaptationsstörung kann mit soge- ten weitaus schwerer und führen zu erheb-
nannten Mesoptometern oder Blendungs- lichen Schwierigkeiten bei längerfristigen
tests untersucht werden. Zusätzlich kann visuellen Aufgaben wie z. B. Lesen oder
die subjektive Beleuchtungspräferenz mit PC-Arbeit. Oft ist dies den Patienten gar
einem Dimmer und Luxmeter erfasst wer- nicht bewusst und sie realisieren das De-
den (s. Zihl u. Kerkhoff 1990; Schaadt et al. fizit erst bei der Konfrontation mit einem
2016). entsprechenden Streifenmuster wie in Ab-
bildung 10.2 b.
10.3.2
Rehabilitation 10.4.1
Assessment
Bei defizitärer Helladaptation sollten di-
rekte und flackernde Beleuchtung sowie Visual Discomfort sollte aufgrund der Re-
nächtliches Autofahren vermieden wer- levanz für die längerfristige visuelle Be-
den. Der Einsatz von Dimmern (im Inter- lastbarkeit anamnestisch erfragt werden,
net unter „Drehzahlsteller“ für weniger sofern nicht spontan berichtet. Unterstüt-
als 15 Euro zu beziehen) zur individuellen zend können Texte (schwarzer Druck auf
Regulation der Beleuchtungsbedingun- weißem Papier) oder Streifenmuster mit
gen erscheint sinnvoll, ebenso das Tragen der entsprechend kritischen Ortsfrequenz
von Sonnenbrillen außerhalb von Gebäu- vorgelegt werden.
den. Von sich kontinuierlich anpassenden
(= verdunkelnden) Brillengläsern (Varilux) 10.4.2
wird indes abgeraten, da diese nur lang- Rehabilitation
sam an eine dunklere Illumination rück-
adaptieren (Jackowski et al. 1996). Bei Stö- Symptome des Visual Discomfort beim
rungen der Dunkeladaptation werden eine Textlesen können mit einer einfachen Scha-
blone reduziert werden, welche alle Zeilen
202 G. Kerkhoff, A.-K. Bur, M. Schreiner

Abb. 10.2: Entstehungsbedingungen für Visual Discomfort (A, B) sowie kompensatorische Techniken zur Erleich-
terung des Lesens (C)

außer der gegenwärtig zu lesenden bedeckt tion, Lesestörungen und visuell-räumliche


(Abb. 10.2c). Dies eliminiert die Ortsfre- Defizite auf:
quenz und somit den Visual Discomfort.
Q Visuelle Exploration
Defizite in der visuellen Exploration sind
10.5 gekennzeichnet durch eine zeitaufwendi-
ge, ineffiziente visuelle Suche, Verlust des
Homonyme Gesichtsfeldausfälle
visuellen Überblicks sowie unsystemati-
Homonyme Gesichtsfelddefekte treten bei sche Suchstrategien (zahlreiche kleinamp-
20 – 50 % aller Schlaganfallpatienten auf litudige Sakkaden im blinden Halbfeld;
(Rowe et al. 2009). Bei 70 % der Betroffenen Auslassungen von Targets im blinden Ge-
umfasst dabei der residuale Bereich im sichtsfeld; Zihl 1995; Pambakian et al. 2000,
blinden Halbfeld in der Regel maximal fünf 2004; Machner et al. 2009).
Sehwinkelgrade (Zihl 2011; Kerkhoff 1999).
Abbildung 10.3 zeigt die häufigsten Arten Q Hemianope Lesestörung
von Gesichtsfeldausfällen. Neben der Ge- Insbesondere bei Patienten mit einem
sichtsfeldeinschränkung weisen die Pati- Restgesichtsfeld < 5° im betroffenen Halb-
enten oft Defizite in der visuellen Explora- feld zeigt sich charakteristischerweise ein

Abb. 10.3: Arten unterschiedlicher Gesichtsfeldausfälle: Hemianopsie links, Quadrantenanopsie rechts unten,
Röhrengesichtsfeld, Parazentralskotom, Hemiamblyopie (v.l.n.r.)
10 · Neurovisuelle Neurorehabilitation – ein Update 203

Abb. 10.4: Leseschwierigkeiten bei unterschiedlichen homonymen Gesichtsfeldausfällen

stark verlangsamtes, fehler­ haftes Lesen dieser Fehler die direkte Folge der okzipi-
ohne Vorliegen einer A­lexie oder Apha- talen Läsion in V1/V2 (Baier et al. 2010b).
sie (Leff et al. 2000). Das Lesen von kur-
zen Einzelwörtern gelingt hingegen in 10.5.1
der Regel. Hintergrund der hemian­open Assessment
Lesestörung ist die Notwendigkeit eines
intakten zentralen Gesichtsfeldbereichs Die im klinischen Alltag aufgrund der zeit-
(± 5° parafoveal), da nur dort eine suf- lichen Ökonomie häufig eingesetzte Scree-
fiziente Sehschärfe und Formverarbei- ningmethode der Fingerperimetrie deckt
tung für die Buchstabenerkennung gege- nur ca. 52 % aller Gesichtsfelddefekte auf
ben sind („Wahrnehmungslesefenster“; (Kerr et al. 2010). Eine apparative Kampi-
s. Abb. 10.4). metrie (z. B. mit dem Eyemove-Programm,
Kerkhoff u. Marquardt 2009b) oder noch
Q Visuell-räumliche Defizite besser Perimetrie ist daher zumindest bei
Die subjektive visuelle Geradeausrich- allen Patienten mit „posterioren“ vaskulä-
tung („Subjektive Mitte“) der Patienten ren Läsionen sowie diffusen Hirnläsionen
im Raum sowie die Halbierung von Lini- (Schädel-Hirn-Trauma, Hypoxie) uner-
en und Objekten ist bei 90 % der Betroffe- lässlich. Eine diagnostische Untersuchung
nen in Richtung des Skotoms verschoben assoziierter Defizite ist für die visuelle Ex-
(Kerkhoff 1993; Barton u. Black 1998; Kuhn ploration mit Durchstreichtests (unter Zeit-
et al. 2010; Kerkhoff u. Schenk 2011; s. Abb. nahme), für die hemianope Lesestörung
10.5). Dieser Halbierungsfehler ist dabei mit dem Vorlesen kurzer Texte (unter Zeit-
keine Folge exzentrischer Fixation (Kuhn nahme; siehe Download-Link am Ende des
et al. 2012a) und lässt sich nicht durch auf- Kapitels) sowie für visuell-räumliche Defi-
merksamkeitslenkendes Cueing modifi- zite mit Linienhalbierungsaufgaben mög-
zieren (Kuhn et al. 2012b). Vermutlich ist lich. Ferner existieren evaluierte und stan-
204 G. Kerkhoff, A.-K. Bur, M. Schreiner

Abb. 10.5: Visuell-räumlicher Teilungsfehler in Abhängigkeit der Art des Gesichtsfeldausfalles

dardisierte computergestützte Programme Daher empfiehlt sich für die Mehrheit


für Assessment und Behandlung (Kerkhoff der Patienten (95 %) ein kompensatori-
u. Marquardt 2004, 2009a, 2009b). sches Scanningtraining zur okulomotori-
schen Kompensation des Gesichtsfeldaus-
10.5.2 falles, welches zu signifikanten und
Rehabilitation langfristigen Verbesserungen in visuellen
Alltagsaktivitäten führt und so die funkti-
Spontane partielle Remissionen zeigen onelle Unabhängigkeit des Patienten er-
sich in den ersten zwei bis drei Monaten höht (Kerkhoff 1999, 2000; Bouwmeester et
nach Läsion bei bis zu 40 % der Patienten al. 2007; Spitzyna et al. 2007; Zihl 2011; de
(Zhang et al. 2006). Eine Spontanerho- Haan et al. 2015):
lung nach mehr als sechs Monaten ist äu-
ßerst unwahrscheinlich (Zihl u. von Cra- Q Sakkadentraining
mon 1985; Zhang et al. 2006). Restaurativ Repetitives hochfrequentes Einüben von
orientiertes Training bewirkt nur sehr ge- Sakkaden in den blinden Gesichtsfeldbe-
ringe bis keine Gesichtsfeldvergrößerun- reich zwecks Kompensation des Skotoms
gen (~ 1°), verbessert die visuelle Explora- mit automatisierten Blickbewegungen (Abb.
tion und das Lesen nur minimal (Mödden 10.6a). Diese Art der sakkadischen Kom-
et al. 2012) und ist ferner nur für eine sehr pensation führt zu Verbesserungen in der
kleine Gruppe von Patienten geeignet (un- Mobilität bei hemianopen Patienten (de
vollständige Läsionen, hohe residuale Seh- Haan et al. 2015). Cave: Kompensatorische
fähigkeiten wie Licht-, Bewegungs-, Form- Kopfbewegungen in Richtung des Skotoms
oder Farbwahrnehmung in bestimmten (entweder spontan durch den Patienten
Bereichen des Skotoms; Kerkhoff 2000; oder aktiv trainiert) reduzieren den Trai-
Bouwmeester et al. 2007; Überblick in ningsfortschritt und haben keinen rehabi-
Kerkhoff 2010). litativen Nutzen, da sie zu Explorationsde-
10 · Neurovisuelle Neurorehabilitation – ein Update 205

Abb. 10.6: Sakkadentraining (A), visuelles Explorationstraining (B), hemianopes Lesetraining (C)

fiziten im ipsiläsionalen Gesichtsfeld sowie reoskopischen Perzept (Rizzo 1989, Abb.


einer asymmetrischen Beanspruchung der 10.7a). Dieser Prozess umfasst eine moto-
Nackenmuskulatur führen (Kerkhoff et al. rische und eine sensorische Komponen-
1992) (Abb. 10.6a). te. Motorische Fusion beschreibt die Kon-
vergenzbewegung der Augen beim Blick
Q Visuelles Explorationstraining auf visuelle Stimuli in unterschiedlichen
Einüben systematischer visueller Suchstra- Distanzen zum Beobachter. Die sensori-
tegien anhand großflächiger alltagsnaher sche Fusion beinhaltet die eigentliche Ver-
Explorationsvorlagen (Abb. 10.6b). schmelzung der monokularen Eindrücke
zu einem binokularen Perzept, welches
Q Hemianopes Lesetraining räumliche Tiefe enthält (3D-Perzept). Stö-
Training systematischer Lesesakkaden rungen der konvergenten Fusion treten in-
und funktionaler Leseleistungen (Zahlen folge vaskulärer Läsionen bei ca. 20 % und
/Telefonnummern und Einzelworte lesen) nach Schädel-Hirn-Trauma bei ca. 30 %
mit dem READ-Programm (Kerkhoff u. der Patienten auf. Ferner kann eine zere-
Marquardt 2009a; Reinhart et al. 2013a, b) brale Hypoxie die Fusion massiv beein-
(Abb. 10.6c). trächtigen (Schaadt et al. 2013).
Typische Symptome von Fusionsstö-
rungen sind (Kerkhoff 2000; Schaadt et al.
10.6 2013, 2014, 2015, 2016b):
– Verschwommensehen oder Diplopie
Störungen der konvergenten
nach kurzer Zeit andauernder binoku-
binokularen Fusion und der
larer Aktivität im Nahbereich (z. B. Le-
Stereopsis sen, PC-Arbeit; s. Abb. 10.7 b)
– Reduktion bis Verlust des Stereo­sehens
Konvergente Fusion beschreibt die Verei- (Stereopsis) und Defizite bei motori-
nigung der beiden leicht disparaten mon- schen Aktivitäten im Nahbereich (z. B.
okularen Eindrücke zu einem einzigen ste- Greifen, Treppengehen)
206 G. Kerkhoff, A.-K. Bur, M. Schreiner

Abb. 10.7: Illustration der konvergenten Fusion (A) und Veranschaulichung der reduzierten binokularen
Belastbarkeit aufgrund von Verschwommensehen/Diplopie bei Fusionsstörungen (B)

– Asthenopische Beschwerden (z. B. Au- 10.6.1


gendruck, Kopfschmerzen). Assessment

Die resultierenden Beschwerden führen Die konvergente Fusionsbreite lässt sich


zu einer teilweise erheblichen Reduktion mit Prismen (Basis außen; appliziert
der binokularen Belastbarkeit (< 25 min, vor einem Bagoliniglas, s. Abb. 10.8)
Schaadt et al. 2013, 2014, 2015, 2016b), was bestimmen. Zur Untersuchung des Stere-
weitreichende Konsequenzen für visuel- osehens empfehlen sich konventionelle
le Aktivitäten in Beruf und Alltag mit sich Tests, welche sowohl die lokale (konturba-
bringt. sierte) als auch die globale Stereopsis er-
fassen (Titmus, TNO, Lang Test).
10 · Neurovisuelle Neurorehabilitation – ein Update 207

Abb. 10.8: Diagnostik und Training der konvergenten Fusion anhand einer Prismenleiste

10.6.2 eher selten (Rizzo u. Barton 2008). Hinge-


Rehabilitation gen können graduelle Beeinträchtigungen
der visuellen Bewegungswahrnehmung
Fusionsdefizite nach Hirnschädigung nach fokalen Läsionen bewegungssensi-
mit assoziierter Reduktion der visuel- tiver Kortexregionen (u. a. Area V5/MT)
len Belastbarkeit und des Stereosehens durchaus häufiger auftreten (Schenk u.
können mit einfachen orthoptischen Zihl 1997). Des Weiteren berichten vie-
(Abb. 10.8) und dichoptischen Trainings- le Patienten mit zerebralen Sehstörungen
materialien (Abb. 10.7a) mit sukzessive von subjektiven Problemen bei der Ein-
steigender Disparität innerhalb weniger schätzung von Geschwindigkeiten und Po-
Sitzungen (ca. 15 à 50  min) signifikant und sitionsänderungen von sich bewegenden
langfristig verbessert werden (Schaadt et al. Fahrzeugen im Straßenverkehr (sowohl als
2013, 2014, 2015). Fußgänger als auch als Autofahrer). Dies
Bei permanent vorhandenen Doppel- kann entweder in einer eingeschränk-
bildern oder Verschwommensehen sollten ten Bewegungswahrnehmung resultieren,
andere Ätiologien (z. B. Augenmuskelpa- möglicherweise aber auch in einer Beein-
resen, zentrale Sehschärfereduktion) und trächtigung des optischen Flusses („optic
deren etwaige Rehabilitationsmöglichkei- flow“; Radialmuster, die bei der Bewegung
ten (z. B. Prismenausgleich) zunächst in eines Subjektes entstehen; Gibson 1950),
Betracht gezogen werden. in Defiziten in der visuell-räumlichen
Wahrnehmung, in gestörten Augenfolge-
bewegungen oder in einer Kombination
10.7 dieser Faktoren. Derartige „optic flow“-De-
fizite zeigen sich schon bei älteren gesun-
Visuelle
den Personen in milder Form sowie aus-
Bewegungswahrnehmungsdefizite
geprägt beim Morbus Alzheimer (O’Brien
Ein vollständiger Verlust der Bewegungs- et al. 2001). Sie sind direkt mit der visuell-
wahrnehmung (Akinetopsie; Zeki 1991) räumlichen Orientierungsstörung der Be-
infolge bilateraler zerebraler Läsionen ist troffenen korreliert
208 G. Kerkhoff, A.-K. Bur, M. Schreiner

10.7.1 hinaus werden defizitäre visuell-räumli-


Assessment che Fähigkeiten oft bei neurodegenera-
tiven Erkrankungen wie Alzheimer De-
Bewegungswahrnehmungsdefizite soll­ten menz oder PCA beobachtet (Mosimann
gezielt erfragt werden, sofern nicht spon- et al. 2004; Tang-Wai et al. 2003; Graham
tan durch den Patienten berichtet. Für das et al. 2003). Intakte visuell-räumliche Fä-
klinische Assessment gibt es die Testbat- higkeiten sind jedoch für eine Vielzahl
terie CAV (Computerbased Assessment of von Alltagsaktivitäten (z.  B. Ankleiden,
Visual Function, Niedeggen u. Hoffmann Transferaufgaben, Lesen der Uhr, manu-
2016). elles Zusammenfügen von Einzelteilen)
relevant und stellen, insbesondere nach
10.7.2 rechtshemisphärischen Läsionen, einen
Rehabilitation wichtigen Prädiktor für ein erfolgreiches
Rehabilitationsergebnis dar (Kaplan u.
Spontane Remissionen bei Patienten mit Hier 1982).
bilateralen Läsionen wurden bislang nur Es werden vier Kategorien visuell-
selten berichtet (Zihl et al. 1991), während räumlicher Störungen unterschieden:
eine Erholung infolge unilateraler Schä-
digungen durchaus möglich ist. Aufgrund Q Räumlich-perzeptive Störungen:
der Seltenheit von schweren Beeinträch- Diese Gruppe von Beeinträchtigungen
tigungen in der visuellen Bewegungsver- beschreibt Einbußen grundlegender per-
arbeitung wurden keine Behandlungsan- zeptiver Leistungen, welche nach unter-
sätze entwickelt. Allerdings erscheint die schiedlichen Läsionen parieto­ okzipitaler
Behandlung assoziierter Beeinträchtigun- (vor allem rechtsseitiger) Hirnareale auf-
gen (wie beispielsweise von Augenfolgebe- treten können. Eher posterior gelegene
wegungen beim optischen Verfolgen von Läsionen dieser Hirnregionen führen zu
sich bewegenden Targets) sinnvoll, um Defiziten bei der Einschätzung oder Dis-
die visuelle Exploration und Orientierung krimination von Längen, Abständen und
in dynamischen Aktivitäten des täglichen Formen. Weiter anterior lokalisierte pari-
Lebens zu erleichtern (Smooth Pursuit Eye etotemporale Läsionen hingegen werden
Movement Training; Gur u. Ron 1992). Zu- mit Schwierigkeiten bei der Einschätzung
sätzlich kann ein gezieltes Einüben von von Positionen oder Orientierungen as-
Alltagssituationen, in denen Bewegung re- soziiert sowie mit Schwierigkeiten bei der
levant ist (beim Überqueren einer Straße), Wahrnehmung der subjektiven visuellen
die Orientierung verbessern und die Wahr- Vertikalen/Horizontalen in der Frontal-
scheinlichkeit von Unfällen reduzieren. und Sagittalebene (Utz et al. 2011; Kerkhoff
2012, s. Abb. 10.9a).

Q Räumlich-kognitive Störungen:
10.8
Diese bezeichnen Defizite in visuell-räum-
Visuell-räumliche Störungen
lichen Aufgaben, welche zusätzlich zur
Visuell-räumliche Störungen stellen häu- primären Perzeption mentale Operationen
fige Beeinträchtigungen nach Schlagan- wie Rotation, Spiegelung oder Maßstab-
fällen dar, welche extrastriäre kortika- transformation erfordern. Defizite bei Auf-
le und subkortikale Hirnareale betreffen gaben zum Perspektivenwechsel oder zur
(30 – 50 % nach linkshemi-sphärischen, mentalen Rotation werden mit parietalen
50 – 70 % nach rechtshemisphärischen und parietookzipitialen Läsionen in bei-
Läsionen; Jesshope et al. 1991). Darüber
10 · Neurovisuelle Neurorehabilitation – ein Update 209

Abb. 10.9: Illustration der Defizite räumlich-perzeptiver (A), räumlich-kognitiver (B) und räumlich-konstruktiver
(C) Störungen

den Hemisphären in Verbindung gebracht ginativen dreidimensionalen Raum und


(Kerkhoff 2012; s. Abb. 10.9b). werden mit parahippokampalen Läsio-
nen oder sekundären Defiziten bei Ne-
Q Räumlich-konstruktive Störungen: glect oder dem Bálint-Holmes-Syndrom
Räumlich-konstruktive Störungen beziehen in Zusammenhang gebracht (Aguirre u.
sich auf eine heterogene Gruppe von Funk- D’Esposito 1999; Kerkhoff 2012).
tionsdefiziten, deren Gemeinsamkeit eine
Beeinträchtigung der Fähigkeit darstellt, 10.8.1
manuell Figuren oder Objekte aus einfachen Assessment
zusammengesetzten Elementen zu erstellen
oder zu kopieren (z. B. Zeichnen oder Kopie- Für räumlich-perzeptive Störungen sind
ren einer geometrischen Figur mit zwei oder evaluierte und z.  T. computergestütz-
drei Dimensionen; s. Abb. 10.9c). Diese De- te Diagnostikprogramme verfügbar (z. B.
fizite werden oft als ‚Konstruktive Apraxie‘ VS-Win; Kerkhoff u. Maquardt 2004). Für
bezeichnet (nicht zu verwechseln mit glied- räumlich-kognitive und konstruktive De-
kinetischer Apraxie). Trotz der klinischen fizite eignen sich einfache Zeichenaufga-
und alltäglichen Relevanz sowie häufigem ben, welche störungsrelevante Aspekte
gemeinsamen Auftreten mit visuell-räum- beinhalten. Ferner sollten räumlich-kon-
lichen, dysexekutiven und Arbeitsgedächt- struktive sowie räumlich-topographische
nisdefiziten und der Koinzidenz mit Neglect Defizite detailliert erfragt werden.
(Marshall et al. 1994) sind die Kernmecha-
nismen von konstruktiven visuell-räumli- 10.8.2
chen Symptomen noch immer unbekannt Rehabilitation
(Kerkhoff 2012). Einige Studien vermuten
als mögliche Ursache für visuokonstruktiven Erfolgreiche Therapieansätze sind Feed-
Dysfunktion Defizite in der Transformation back-basiertes Training räumlich-perzep-
retinaler in reale Raumkoordinaten (Russell tiver und -kognitiver Fähigkeiten (Abb.
et al. 2010). 10.10), optokinetische Stimulation, räum-
lich-konstruktives Training und Reaktions-
Q Topographische visuell-räumliche Stö- verkettungsverfahren für topographische
rungen: visuell-räumliche Störungen sowie ADL-
Topographische visuell-räumliche Stö­ Therapie (Aktivitäten des täglichen Lebens;
rungen beziehen sich auf Orientierungs- Kerkhoff et al. 2007). Insbesondere Feed-
defizite sowohl im realen als auch im ima- back-basiertes Training räumlich-perzep-
210 G. Kerkhoff, A.-K. Bur, M. Schreiner

Abb. 10.10: Feedback-gestütztes Training räumlicher Fähigkeiten mit dem VS-Win-System

tiver Fähigkeiten führt zu signifikanten halbierungsfehler bei Neglect gezeigt wer-


langfristigen Verbesserungen, mit Trans- den (Oppenländer et al. 2015a, 2015b.).
fer auf andere visuell-räumliche und kon- Demnach übt die Aktivierung des Vesti-
struktive sowie Alltagsleistungen (Funk et bularsystems einen therapeutischen Effekt
al. 2013). In neueren Studien konnte auch auf viele räumliche Wahrnehmungs- und
der positive Effekt von galvanisch-vestibu- Kognitionsleistungen aus. Die verschie-
lärer Stimulation (GVS) auf verschiedene denen Behandlungsansätze einschließlich
räumlich-perzeptive Störungen wie etwa ihrer therapeutischen Prinzipien sind in
die Störung der subjektiven visuellen und Tabelle 10.1 zusammengefasst.
haptischen Vertikalen sowie den Linien-

Tab. 10.1: Therapieansätze bei visuell-räumlichen Störungen

Behandlungsansatz Therapeutisches Prinzip

Feedback-basiertes Training Verbesserung der räumlich-perzeptiven und kognitiven Wahrnehmungsleis­


tungen mit visuellem oder verbalem Feedback

Optokinetische Stimulation Verbesserung der Aufmerksamkeit für die Ausdehnung und Orientierung des
Raumes

Galvanisch-vestibuläre Verbesserung der Aufmerksamkeit für die Ausdehnung und Orientierung des
Stimulation Raumes

Räumlich-konstruktives Gestuftes Üben mit visuokonstruktivem Material (z. B. Tangram, Mosaikwürfel)


Training

Reaktionsverkettung Aufteilung von langen Wegstrecken in kurze Teilstrecken und anschließende


„Verkettung“ unter Einsatz mnestischer Strategien hilft beim Wegelernen

ADL-Therapie Identifikation und gezieltes Üben problematischer visuell-räumlicher Alltags-


handlungen, z. B. Ankleiden, Abstandsschätzung, Transfers

ADL: Aktivitäten des täglichen Lebens


10 · Neurovisuelle Neurorehabilitation – ein Update 211

Abb. 10.11: Beeinträchtigte Farbtonunterscheidung eines Patienten mit zerebraler Achromatopsie

10.9 10.9.2
Störungen der Farbwahrnehmung Rehabilitation

Zerebrale Farbwahrnehmungsstörungen Remissionen von Farbwahrnehmungsstö-


können innerhalb eines Skotoms im Kontext rungen innerhalb eines Skotoms sind häu-
eines homonymen Gesichtsfelddefekts oder fig bei Patienten mit partieller Gesichts-
im Bereich des zentralen Sehens auftreten feldwiederherstellung zu beobachten (Zihl
(Meadows 1974; Zeki 1990; Bouvier u. En- u. von Cramon 1985). In der Regel verläuft
gel 2006). Ein vollständiger Ausfall der zere- die progressive visuelle Wiederherstellung
bralen Farbwahrnehmung (Achromatopsie; im Skotom (falls sie wieder eintritt) fol-
s. Abb. 10.11) ist eher selten und ist bedingt gendermaßen: Lichterkennung  Licht-
durch bilaterale, okzipitotemporale Läsi- lokalisation  Helligkeitsdiskrimination
onen (Rizzo u. Barton 2008). Häufiger sind  Formdiskrimination  Farbwahrneh-
hingegen Störungen der Farbtonunterschei- mung. Bei Patienten mit Farbwahrneh-
dung nach unilateralen okzipitotemporalen mungsdefiziten im Bereich des zen­tralen
Läsionen sowie nach leichten zerebralen Sehens liegen keine Berichte zur Spontan­
Hypoxien oder bei Alzheimer Demenz (Vin- remission vor (Pearlman et al. 1979).
grys u. Garner, 1987; Cronin-Golomb et al. Bei Patienten mit residualer Farbwahr-
1993). nehmung im Skotom und unvollständi-
gen Läsionen gibt es einige Hinweise, dass
10.9.1 die Verbesserung der Farbunterscheidung
Assessment durch Diskriminationstraining anhand
farbiger Targets im Übergangsbereich zwi-
Zur Diagnostik von Farbwahrneh- schen Skotom und intaktem Gesichtsfeld
mungsstörungen eignen sich Farbton­ verbessert werden kann. Bei Farbunter-
unterscheidungstests, beispielsweise auf scheidungsdefiziten im Bereich des zent-
Grundlage von Zuordnungsaufgaben ralen Sehens nach einer zerebralen Anoxie
(Abb. 10.11), oder detaillierte Farb-Sortier- hat sich ein „Forced-Choice“-Unterschei-
Tests wie der LM-70 von Luneau oder FM- dungstraining farbiger Formen als partiell
100 von Farnsworth. wirksam erwiesen, allerdings mit begrenz-
212 G. Kerkhoff, A.-K. Bur, M. Schreiner

tem Transfer auf nicht trainierte Farben tischen Demenz, eines Subtyps der fronto-
(Merrill u. Kewman 1986). temporalen Demenz, dar. Der wesentliche
Aufgrund der begrenzten restitutiven Unterschied zwischen einer assoziativen
Möglichkeiten ist der Erwerb kompensato- visuellen Agno­sie und einem generellen
rischer Strategien sinnvoll, sodass Farbur- semantischen Defizit (etwa bei verschie-
teile auf Basis anderer Stimulusmerkmale denen Demenzformen) ist die Modalitäts-
wie Helligkeit oder Sättigung erfolgen kön- spezifität der assoziativen visuellen Agno-
nen. sie. Anders ausgedrückt: Der Betroffene
hat kein generelles semantisches Defizit,
er verfügt noch über das Wissen über Ob-
10.10 jekte, kann es aber unter visuellen Bedin-
gungen nicht abrufen. Bei Ertasten und an-
Visuelle Agnosien
schließendem Erkennen der visuell zuvor
Die Unfähigkeit, visuelle Stimuli trotz nicht erkannten Objekte sollte jedoch kein
ausreichender elementarer visueller Problem vorliegen. Anders beim generel-
(z. B. Sehschärfe, räumliche Kontrast­ len semantischen Defizit: hier gelingt der
empfindlichkeit, Exploration) und sprach- Abruf des Wissens über Objekte nicht nur
licher Funktionen sowie einer intakten Re- in der visuellen Modalität nicht (mehr),
kognitionsleistung in anderen Modalitäten sondern auch beim Ertasten oder auditi-
(z. B. auditiv, haptisch) zu erkennen, wird ven Erfassen (ist also unabhängig von der
als visuelle Agnosie bezeichnet (Zihl 2011). Modalität gestört). Die Visuelle Formag-
Je nach Schweregrad und Spezifität des vi- nosie bezeichnet die schwerste Form der
suellen Erkennungsdefizits können ver- apperzeptiven Agnosie, gekennzeichnet
schiedene Arten von Agnosie unterschie- durch die Unfähigkeit, selbst einfache geo-
den werden: metrische Formen zu unterscheiden.
Visuelle Objektagnosien bezeich- Unter der Prosopagnosie versteht man
nen Beeinträchtigungen beim Erken- ein selektives Defizit beim Erkennen von
nen komplexer Objekte oder Bilder. Tra- Gesichtern (Zihl 2011). Anders als früher
ditionell wird zwischen apperzeptiver angenommen, handelt es sich hierbei je-
und assoziativer Agnosie unterschie- doch nicht um eine singuläre Störung,
den. Die apperzeptive Agnosie be- sondern eher um eine „Familie“ von un-
schreibt Defizite in der kohärenten Wahr- terschiedlichen Einzelstörungen (Corrow
nehmung des Stimulus, die assoziative et al. 2016). Ähnlich wie bei den visuellen
Agnosie einen defizitären Abruf semanti- Objekt­agnosien gibt es auch hier eine eher
scher Gedächtnisinhalte oder einen Ver- apperzeptive Variante und eine assozia­
lust semantischen Wissens per se. Pati- tive Variante (Corrow et al. 2016). Bei der
enten mit einer apperzeptiven Agnosie ersteren ist die perzeptuelle Unterschei-
haben folglich Schwierigkeiten beim Ko- dung von Gesichtsmerkmalen (wie z. B.
pieren von Objekten oder Zuordnungsauf- Alter, Geschlecht) wesentlich gestört, und
gaben von Objekten aus unterschiedlichen sie resultiert meist aus bilateralen okzipi-
Perspektiven (s. Abb. 10.12a). Hingegen to-temporalen (seltener: rechtsseitig okzi-
schneiden Patienten mit einer rein asso- pito-temporalen) Läsionen. Häufig zeigen
ziativen Agno­sie bei diesen Aufgaben gut diese Patienten auch zentrale Störungen
ab, sind jedoch nicht in der Lage, seman- der Farbwahrnehmung (Dyschromatop-
tische Aspekte des Objekts (Funktion, sie, Achromatopsie) und eine topografi-
Name) abzurufen (Farah 1990; Riddoch u. sche Orientierungsstörung. Bei der asso-
Humphreys 2001; Abb. 10.12b). Letzteres ziativen Prosopagnosie ist vor allem die
stellt zudem ein Kernmerkmal der seman- Assoziation eines Gesichts mit bestimm-
10 · Neurovisuelle Neurorehabilitation – ein Update 213

Abb. 10.12: Visuelle Zuordnungsaufgaben auf Basis perzeptueller (A) und semantischer (B) Objektmerkmale zur
Untersuchung einer visuellen Agnosie

ten gespeicherten Eigenschaften der ent- 10.10.1


sprechenden Person gestört (Corrow et al. Assessment
2016). Diese Variante resultiert meist aus
anterioren temporalen Läsionen und ist Zur diagnostischen Abgrenzung der Art
oft mit Gedächtnisstörungen assoziiert. der Agnosie eignen sich Zuordnungs-
Im Endeffekt führen beide Teilstörungen sowie Benennaufgaben (Abb. 10.12).
dazu, dass die Betroffenen menschliche Weiterführende standardisierte Dia­
Gesichter nicht mehr erkennen bzw. zu- gnosemethoden sind in Form der Birming-
ordnen können. ham Object Recognition Battery (BORB;
Visuelle Agnosien werden allgemein Riddoch u. Humphreys 1993) oder der Vi-
als seltene Erkrankungen (weniger als sual Object and Space Perception Battery
3 % aller neurologischen Patienten; Zihl (VOSP; Warrington u. James 1991) verfüg-
u. Kennard 1996; Zihl 2011) beschrieben. bar.
Sie treten am häufigsten nach bilateralen
okzipito­temporalen Läsionen vaskulärer, 10.10.2
traumatischer oder anoxischer Genese Rehabilitation
auf (Farah 1990, 2004). Allerdings deuten
neuere Befunde darauf hin, dass einzelne Detaillierte Fallberichte bezüglich einer
Symptome aus dem Formenkreis der visu- vollständigen spontanen Remission der
ellen Agnosie im Sinne gradueller Defizite Symptomatik sind selten, wohingegen par-
deutlich häufiger vorkommen als bisher tielle Verbesserungen in der Erkennungs-
angenommen (z. B. Martinaud et al. 2012 leistung insbesondere mit Hinblick auf die
berichten eine Prävalenz von 65 % nach Prosopagnosie nach unilateraler Läsion
Infarkten der Arteria cerebri posterior). gelegentlich in der Literatur beschrieben
Anders ausgedrückt: Zwei Drittel der Pa- wurden (Farah 1990; Mesad, Laff u. De-
tienten mit einem ACP-Infarkt zeigen ein vinsky 2003). Die visuelle Form­erkennung
signifikantes Defizit in der Muster- und kann in einigen Fällen durch repetitives
Objekterkennung, ohne dass eine völlige Feedback-gestütztes Diskriminationstrai-
Agnosie vorliegt. ning auf Grundlage einfacher geometri-
214 G. Kerkhoff, A.-K. Bur, M. Schreiner

scher Formen verbessert werden. Verbale Halluzinationen und Illusionen sind mit
oder computergestützte Rückmeldung ist eher temporalen Läsionen assoziiert, ob-
mit zunehmender Ähnlichkeit der Reize, gleich deren Prävalenz infolge strukturel-
die diskriminiert werden müssen, wichtig. ler Läsionen weitaus niedriger ist (Kölmel
Kontrollierte Therapiestudien für komple- 1984, 1985; Baier et al. 2010a; Abb. 10.13).
xe Objekt- und Gesichtserkennungsdefi- Eine spontane Symptomremission erfolgt
zite sind selten. Gewisse Verbesserungen schnell und vollständig bei 95 % der Pati-
konnten unter Verwendung von Paradig- enten (Kölmel 1984, 1985).
men des „errorless learning”, welche auf
bestimmte Suchstrategien für Schlüssel- 10.11.1
merkmale von Objekten oder Flächen fo- Assessment
kussieren, berichtet werden (Zihl u. Ken-
nard 1996; Zihl 2011). In der Regel kann die Visuelle Reizerscheinungen werden sel-
Verwendung von Kontextinformationen ten spontan in der Anamnese vom Patien-
(Wissen über Objekte/Gesichter und die ten berichtet und sollten deswegen gezielt
jeweils relevante [soziale] Situation) und durch den Untersucher erfragt werden.
nicht-visuellen Hinweisen sinnvoll und für
einige Patienten hilfreich sein (Zihl u. Ken- 10.11.2
nard 1996, Zihl 2011). Häufig versuchen Rehabilitation
Patienten mit einer Pro­sop­agnosie mar-
kante externe visuelle Reize (wie die Frisur, Trotz der für den Patienten zumeist hoch-
Brille, Schnurrbart, Ohrring etc.) zur Un- gradig irritierenden Phänomenologie sind
terscheidung von Gesichtern zu verwen- visuelle Reizerscheinungen in der Regel
den. Dies sind aber in der Regel nur sel- Übergangsphänomene. Daher ist eine In-
ten hilfreiche Erkennungsstrategien, da sie formation und initiale Beruhigung des Pa-
häufig nicht nur für eine spezifische Per- tienten als prioritär einzustufen. Bei per-
son zutreffen. Wirksamer ist daher die Ori- sistierenden Reizerscheinungen sollten
entierung an der Stimme einer Person, die epileptiforme oder psychiatrische Ursa-
meist problemlos erkannt wird, sofern die chen sowie die Möglichkeit eines Reinsul-
gegenüberliegende Person spricht. tes diagnostisch abgeklärt werden.

10.11 10.12
Visuelle Reizerscheinungen Bálint-Holmes-Syndrom
Während sich die zuvor beschriebe- Als Bálint-Holmes-Syndrom wird eine
nen Störungen alle auf Funktionsaus- Gruppe von Symptomen (Rafal 1997) be-
fälle im Sinne negativer visueller Phä- zeichnet, welche folgende Symptome ein-
nomene beziehen, bezeichnen visuelle schließt:
Reiz­erscheinungen positive Symptome 1. Simultanagnosie: Beeinträchtigte
in Abwesenheit eines externen Stimulus gleichzeitige Wahrnehmung von mehr
(Schaadt u. Kerkhoff 2016). Einfache vi- als einem Objekt (Moreaud 2003)
suelle Reiz­erscheinungen (helle Punk- 2. Optische Ataxie: Beeinträchtigungen
te, Balken, Linien, Sterne, Nebel, farbige im visuell geführten Greifen, welche
Empfindungen etc.; Lance 1976) werden nicht Folge einer anderen primären
häufig von Patienten wenige Tage vor oder motorischen oder visuellen Störung ist
nach einer okzipitalen vaskulär bedingten (Perenin u. Vighetto 1988). Der Patient
Läsionen berichtet. Komplexere visuelle soll einen visuellen Stimulus (z. B. Na-
10 · Neurovisuelle Neurorehabilitation – ein Update 215

Abb. 10.13: Beispiele für einfache (A) und komplexe (B) visuelle Reizerscheinungen

senspitze des Untersuchers) fixieren, generativen Erkrankungen Erscheinungs-


während der Finger des Untersuchers formen des Bálint-Holmes-Komplexes
als Target im linken oder rechten visu- zeigen (Mendez et al. 1990b; Rizzo 1993),
ellen Halbfeld präsentiert wird. Neu- wenn auch nicht zwingend das komplette
rologisch gesunde Probanden können Syndrom. Die Inzidenz bei nicht degene-
trotz fehlender Fixation akkurat nach rativen neurologischen Erkrankungen liegt
dem Target greifen, Patienten mit opti- wahrscheinlich bei < 0,5 % (Kerkhoff, un-
scher Ataxie gelingt dies nicht. veröffentlichte Ergebnisse).
3. Visueller Neglect und visuell-räumli-
che Störungen: z. B. Beeinträchtigung 10.12.1
der Beibehaltung von Abständen, Aus- Assessment
richtungen und Positionen (Moreaud
2003). Bei Verdacht auf Bálint-Holmes-Syndrom
4. Okulomotorische Störungen: erschwer- ist ein detailliertes Assessment der kon-
te Fixationen, beim starren Anblicken stituierenden Symptome erforderlich. Es
von Gegenständen („klebender Blick“) ist anzunehmen, dass die Erkrankung oft
sowie Probleme bei der Erzeugung von übersehen oder fehldiagnostiziert wird
Sakkaden (freiwillig und auf Anforde- (z. B. als Röhrengesichtsfeld oder zereb-
rung; okulomotorische Apraxie; Zee u. rale Blindheit). Manchmal berichten Pati-
Newman-Toker 2005; Zihl 2011). enten, dass sie das gleiche Objekt an meh-
reren Stellen im Raum zu sehen glauben.
Darüber hinaus weisen die Patienten Dies kann manchmal durch Blinzeln kurz-
schwerwiegende Probleme im Lesen auf. fristig eliminiert werden (Kerkhoff 2000).
Dabei gelingt das Lesen von kurzen Wör-
tern (4 – 6 Buchstaben) besser als Lesen 10.12.2
von Nicht-Wörtern (Baylis et al. 1994). Ur- Rehabilitation
sachen des Bálint-Holmes-Syndroms sind
bilaterale oder diffuse okzipito-parieta- Die gegenwärtige Evidenzbasis im Hin-
le Läsionen. Es wird davon ausgegangen, blick auf wirksame Rehabilitationstechni-
dass etwa 30 % der Patienten mit neurode- ken ist eher gering, nicht zuletzt aufgrund
216 G. Kerkhoff, A.-K. Bur, M. Schreiner

der angenommenen niedrigen Inzidenz (Body-Neglect, Kerkhoff u. Schmidt 2018).


infolge akut hirnschädigender Ereignis- Interessant ist in diesem Kontext auch die
se (für eine Übersicht s Perez et al. 1996; Beobachtung, dass Patienten mit linkssei-
Kerkhoff u. Heldmann 1999). Jedoch gibt tigem Neglect häufiger unter einer Störung
es Hinweise, dass gewisse Verbesserungen des Lagesinnes (Propriozeption, Schmidt et
in der visuellen Exploration und Fixation al. 2013a) und der Kinästhetik (Bewegungs-
nach systematischem Training erreicht vorstellung) an den kontraläsionalen Glied-
werden können, eine Verbesserung der maßen leiden (Semrau et al. 2014) als Pati-
räumlichen Störung jedoch eher unwahr- enten ohne Neglect. Beide Störungen treten
scheinlich ist (Kerkhoff 2000; Zihl, u. Ken- jedoch auch ohne einen Neglect auf (detail-
nard 1996; Zihl 2011). lierter in Kerkhoff u. Schmidt 2017). Ob es
sich beim Defizit der Neglectpatienten um
ein primäres Defizit handelt oder Lagesinn
10.13 und Kinästhetik sekundär infolge des Ne-
glects beeinträchtigt sind, kann diskutiert
Neglect
werden. Klinisch-phänomenologisch aus-
Neglect bezeichnet das Nichtbeachten gedrückt kann jedoch festgestellt werden:
von Reizen (visuell, auditiv, taktil, olfakto- Der Neglect beeinträchtigt auch die Ein-
risch oder repräsentational) in der kontra­ schätzung der Lage und die Bewegungsvor-
läsionalen Raum- oder Körperhälfte so- stellung der kontraläsionalen Körperteile,
wie den reduzierten Extremitäteneinsatz und diese Teilstörungen sollten behandelt
dieser Körperhälfte (Kerkhoff u. Schmidt werden, da sie hoch mit funktionalen All-
2017). Neglect tritt häufig nach ausgedehn- tagsleistungen korrelieren.
ten rechtsseitigen Läsionen auf und zählt Es werden zwei Bezugssysteme bei Ne-
aufgrund des Läsionsausmaßes, der resul- glect unterschieden: Raumbezogene Ne-
tierenden vielfältigen Begleitstörungen so- glectsymptome (1) beziehen sich auf be-
wie der zumeist unzureichenden Aware- stimmte Raum- oder Körperabschnitte
ness (Katz et al. 1999) zu den eher schwer (z. B. übersieht der Patient Objekte auf der
behandelbaren Störungen. Patienten mit kontra­läsionalen Seite eines Tisches oder
visuellem Neglect zeigen eine in die ipsilä- Wörter auf der linken Seite des Textes). Ob-
sionale Raumhälfte (meist rechtsseitig) ver- jektzentrierte Neglectphänomene (2) hin-
schobene Exploration (Augen- und Kopf- gegen betreffen die kontraläsionale Sei-
bewegungen), teilen Objekte häufig zu weit te von Objekten oder Wörtern als Ganzes,
nach ipsiläsional und weisen eine nach ip- unabhängig von der Position des Stimulus
siläsional verlagerte subjektive Geradeaus- im Raum. Der raumbezogene Neglect tritt
richtung auf (Kerkhoff u. Schmidt 2017). häufiger auf als der objektzentrierte, jedoch
Der visuelle Überblick ist deutlich redu- können beide Phänomene gemeinsam auf-
ziert, die spontane Exploration beschränkt treten, was insbesondere beim Lesen oft
sich auf ipsiläsionale Raumbereiche, wel- geschieht; hier finden sich raumbezogene
che wiederholt perseveratorisch abgesucht Auslassungsfehler sowie wort- oder objekt-
werden. Dadurch kommt es zur häufigen bezogene Substitutionsfehler (Reinhart et
Kollision mit Objekten oder Gegenständen al. 2013c, 2013d).
insbesondere in der linken Raumhälfte. Der
visuelle Neglect kann alle visuellen Auf- 10.13.1
gaben beeinträchtigen, häufig findet sich Assessment
auch eine defizitäre Lesefähigkeit (Neglect-
dyslexie). Viele Patienten weisen auch eine Prioritär für die Diagnose des Neglects ist,
Vernachlässigung des eigenen Körpers auf dass eine primäre sensorische (z. B. Hemi-
10 · Neurovisuelle Neurorehabilitation – ein Update 217

Tab. 10.2: Übersicht über evidenzbasierte Therapieverfahren zum multimodalen Neglect, zur Extinktion und zur
Unawareness

Behandlungsansatz Inhalte Therapeutisches


Prinzip

Optokinetische Stimula- Signifikante und dauerhafte Reduktion des Neglects Bottom-up-Stimulation


tion mit Blickfolge- (multimodal) nach 5 – 20 Sitzungen durch Aktivierung
bewegungen (OKS) parietaler Hirnregionen. Aktive Blickfolgebewegungen
durch den Patienten sind essentiell für die Wirksamkeit
des Verfahrens; OKS-Therapie reduziert die Anosogno-
sie.

Galvanisch-vestibuläre GVS aktiviert das thalamokortikale vestibuläre System Bottom-up-Stimulation


Stimulation (GVS) und verbessert das „Körper-im-Raum-Empfinden” bei
Neglect u. Extinktion. GVS verbessert den Lagesinn und
reduziert taktile Extinktion dauerhaft. GVS verbessert
auch die visuelle und haptische Subjektive Vertikalen-
einschätzung

Nackenmuskelvibration Vibration der kontraläsionalen Nackenmuskeln aktiviert Bottom-up-Stimulation


das propriozeptive System, die Inselregion und den
superioren temporalen Kortex. Sie verbessert Explo-
rationsleistungen (visuell + taktil) und das subjektive
Geradeausempfinden des Patienten im Raum.

Visuomotorische Ausnutzen des sensomotorischen Rekalibrierungsef- Bottom-up-Stimulation


Prismenadaptation (PA) fekts nach Tragen (15 min) eines Prismas (Blickverlage-
rung um 10 – 15° zur ipsiläsionalen Seite). Rekalibrie-
rung der gestörten Raumorientierung durch Aktivierung
eines zerebellär-kortikalen Netzwerkes.

Aufmerksamkeits- Verwendung von Alertnessreizen führt zur besseren Bottom-up-Stimulation


training Ausrichtung der Aufmerksamkeit in den vernachlässi-
gten Halbraum. Steigerung der Daueraufmerksamkeit
reduziert die nicht-lateralisierten Aufmerksamkeitsdefi-
zite bei Neglectpatienten. Es kommt durch das Training
zu fronto-parietalen Mehr-Aktivierungen.

Periphere Magnet- Magnetische Stimulation der Hand ist absolut schmerz- Bottom-up-Stimulation
stimulation frei und aktiviert den kontralateralen, somatosen-
sorischen Kortex. Dies führt zu einer Aktivierung der
geschädigten Hemisphäre und reduziert die taktile
Extinktion und den körperbezogenen Neglect.

Neuromodulation Repetitive „Brain Stimulation“ des parietalen Kortex Bottom-up-Stimulation


(TMS, tDCS) (durch TMS, tDCS) reduziert visuellen Neglect und
Alltagsdefizite (ADL) dauerhaft.

Medikamente Dopaminagonisten bzw. Antidepressiva (SSRIs) fördern Bottom-up-Stimulation


die visuelle Aufmerksamkeit und tragen so indirekt zur
Neglectreduktion bei.

Visuelles Explorations- Entwicklung systematischerer Suchstrategien und Top-down-Strategie-


training dadurch Reduktion der Auslassungen in der visuellen Verfahren
Suche. Dadurch werden Verbesserungen der visuellen
Exploration, des Lesens und ein partieller Transfer auf
Alltagsleistungen erreicht.
218 G. Kerkhoff, A.-K. Bur, M. Schreiner

anopsie) oder motorische (z. B. Hemipare- Kerkhoff u. Schmidt 2018), da er genauso


se) Beeinträchtigung als alleinige Ursache häufig wie der sensorische Neglect ist.
ausgeschlossen werden kann. Diagnos-
tisch bieten sich konventionelle Verfah- 10.13.2
ren wie Durchstreichtests, Linienhalbie- Rehabilitation
ren, Lesen (siehe Download-Link am Ende
des Kapitels) und/ oder Zeichnen an. Dif- Grundsätzlich werden in der Therapie des
ferentialdiagnostisch ist der hemianope multimodalen Neglects Top-down-The-
gegenüber dem Neglect-assoziierten Lini- rapieverfahren von Bottom-up-Stimula-
enhalbierungsfehler durch die kontra- vs. tionsansätzen unterschieden. Top-down-
ipsiläsionale Verschiebung zu unterschei- Verfahren implizieren das Erlernen einer
den. kognitiv gesteuerten und systematischen
Für die Unterscheidung Hemianopsie Suchstrategie. Diese eignen sich in einer
versus Neglect (oder genauer gesagt zur späteren Phase der Rehabilitation, sind in
Entscheidung der Frage, ob ein gemesse- der Akutphase hingegen weniger sinnvoll.
ner Gesichtsfelddefekt real oder ein neg- Bottom-up-Verfahren haben die geziel-
lectbedingter Artefakt ist) hat sich ein ein- te Stimulation relevanter afferenter Ka-
faches und klinisch praktikables Verfahren näle zum Ziel und bieten sich aufgrund
bewährt (vgl. Nyffeler et al. 2017). Hier- der Nichtnotwendigkeit eines Strategieer-
bei wird die Perimetrie unter zwei Bedin- werbs insbesondere in der Akutphase an.
gungen durchgeführt: einmal in der Stan- Jedoch sollten im Hinblick auf eine opti-
dardversion mit Kopf/Rumpf und Blick mierte und ressourcenorientierte Rehabi-
geradeaus gerichtet, und einmal mit einer litation eine Kombination beider Techni-
Rumpfrotation nach links, während Kopf ken angestrebt werden. Tabelle 10.2 zeigt
und Blick geradeaus gerichtet ist. Bei einer eine Übersicht evaluierter und wirksamer
„realen“, also nicht neglectbedingten He- Behandlungsansätze. Eine ausführliche-
mianopsie oder Quadrantenanopsie bleibt re Darstellung der gegenwärtig verfügba-
der Gesichtsfeldausfall unter beiden Be- ren Rehabilitationsstrategien findet sich in
dingungen annähernd gleich. Bei einem, Kerkhoff u. Schenk (2012) oder Kerkhoff u.
neglectbedingten, artifiziell gemessenen Schmidt (2018).
Gesichtsfeldausfall links zeigt sich zwar
in der Standardbedingung der linksseiti-
ge Ausfall, bei Rumpfdrehung nach links 10.14
verschwindet dieser aber oder ist deutlich
Extinktion
kleiner (Nyffeler et al, 2017).
Die visuelle Extinktion lässt sich gut Ein mit Neglect häufig assoziiertes Symp-
anhand standardisierter PC-gestützter tom ist die Extinktion (visuell, akustisch,
Verfahren quantifizieren (Kerkhoff u. Mar- taktil). Diese bezeichnet eine Nichtbeach-
quardt 2009b). Aufgrund der häufigen tung des kontraläsionalen Reizes bei si-
Unawareness der Patienten empfiehlt sich multaner Präsentation eines ipsiläsionalen
zudem eine systematische Befragung der Reizes (Schmidt et al. 2013b). Häufig bleibt
Angehörigen und/oder Pflegekräfte zu All- nach einem akuten Neglect die Extinkti-
tagsbeeinträchtigungen, etwa durch den on als Restsymptom übrig – oft bis zu Jah-
Beobachtungsbogen für Räumliche Stö- ren nach dem Schlaganfall (Schmidt et al.
rungen (BRS, Neumann et al. 2008) oder 2013). Die Extinktion ist durchaus alltags-
die Catherine-Bergego-Skala (CBS, vgl. relevant in vielen Bereichen: taktile Extink-
Kerkhoff u. Schmidt 2018). Auch der Bo- tion korreliert mit niedrigeren ADL-Wer-
dy-Neglect sollte erfasst werden (s. hierzu ten, die visuelle Extinktion ist ein Handicap
10 · Neurovisuelle Neurorehabilitation – ein Update 219

für alle visuellen Aktivitäten im Alltag, wo sionale Reiz. Im Lauf der Therapie werden
immer mehr als ein einziger visueller Reiz die Darbietungszeiten beider Reize immer
verarbeitet werden muss. Auch für die Fra- weiter verkürzt, bis sie schließlich gleich-
ge der beruflichen Wiedereingliederung zeitig auftreten. In drei Einzelfallstudien
(Kerkhoff, eingereicht) sowie für die Fra- konnte gezeigt werden, dass nach durch-
ge der Fahrtauglichkeit ist die visuelle Ex- schnittlich 10 – 17 Therapiesitzungen kei-
tinktion relevant, da im Straßenverkehr ne visuelle Extinktion bei Doppel-Simul-
auch meist mehr als ein Reiz zu beachten tan-Stimulation mehr auftrat; auch die
ist. Die akustische Extinktion ist ebenfalls Erkennungsleistungen auf der rechten Sei-
häufig, ihre Bedeutung im Alltag ist bisher te waren fehlerlos. Diese Verbesserungen
aber wenig erforscht. Man kann sich aber blieben auch zwei Monate nach Behand-
gut vorstellen, dass sie für die Kommuni- lungsende stabil. Hiermit steht erstmals
kation mit mehreren Menschen und das ein wirksames, neues Therapieverfahren
Orten und Verarbeiten von Schallquellen zur Behandlung der visuellen Extinkti-
im Raum sehr relevant ist. on bei Patienten mit Schlaganfall für die
Neurorehabilitation zur Verfügung, wel-
10.14.1 ches nun in größeren Stichproben erprobt
Assessment werden kann.

Die visuelle Extinktion kann mit dem Eye-


Move-Programm gut untersucht werden 10.15
(Kerkhoff u. Marquardt, 2009b), die takti-
Traumatische Seh- und
le Extinktion mit einfachen Fingerberüh-
Okulomotorikstörungen –
rungen oder Tests zur Unterscheidung von
haptischen Oberflächen (Schmidt et al ein unterschätztes Problem
2013), die akustische Extinktion kann ori-
entierend mit einfachen Geräuschquellen Traumatische Hirnschädigungen, insbe-
(Rascheln mit Papier oder Klimpern mit sondere leichtere traumatische Hirnschä-
Schlüsseln am linken/rechten Ohr des Pati- digungen, sind eine zunehmend häu-
enten) untersucht werden (s. ausführlichere figere Ätiologie, mit einer geschätzten
Beschreibung in Kerkhoff u. Schmidt 2018). Inzidenz von 106 – 790 neuen Betroffenen
pro 100.000 Einwohner pro Jahr weltweit
10.14.2 (Ventura et al. 2014). Da mehr als die Hälfte
Rehabilitation aller neuronalen Schaltkreise des mensch-
lichen Gehirns in die visuelle Wahrneh-
Die taktile Extinktion kann mit Hilfe der mung und Augenbewegungen involviert
Galvanisch-Vestibulären Stimulation sind, werden auch viele dieser Funktionen
(GVS) deutlich und dauerhaft reduziert durch traumatische Hirnschäden beein-
worden (Schmidt et al. 2013). Für die akus- trächtigt, auch wenn das Trauma leicht-
tische Extinktion gibt es bislang keine Be- gradig war (s. Ventura et al. 2014). Lei-
handlungskonzepte, für die visuelle Ex- der werden viele dieser Funktionen in der
tinktion ebenfalls bislang nicht. Neurorehabilitation gar nicht oder oft erst
In einem neuartigen, von mir entwi- viel zu spät untersucht, weil sie nicht gleich
ckelten Therapieansatz (Kerkhoff 2020) offensichtlich sind oder den Betroffenen
lernen Patienten mit visueller Extinktion nicht immer bewusst sind und weil sie kei-
eine neue Blickstrategie. Hierbei soll zu- ner Berufsgruppe im Reha-Team fest zuge-
nächst der kontraläsionale Reiz rasch anvi- ordnet sind oder schlichtweg keine Geräte/
siert werden, und danach sofort der ipsilä- Tests/Software für Assessment und Thera-
220 G. Kerkhoff, A.-K. Bur, M. Schreiner

Tab. 10. 3: Übersicht über die häufigsten neurovisuellen und okulomotorischen Störungen nach leichtem Schä-
del-Hirn-Trauma (mild Traumatic Brain Injury; nach Ventura et al. 2014). X: Häufigkeiten nach Neumann (2013)
Funktion/Störung Häufigkeit (%) Therapieoptionen

Akkommodationsstörung 65 % Monokuläre Übungen im Nah-Fern-Bereich


Vergenzstörungen (Kon-/Divergenz) 47 – 64 % Fusionstraining und Training der Vergenz- Augen-
bewegungen
Gestörte Augenfolgebewegungen 60 % Training der Augenfolgebewegungen mit NVT*
(verlangsamt, sakkadiert)
SakkadenstörungenX 30 – 50 % Sakkadentraining mit EyeMove1, NVT2
LesestörungenX 34,5 % Lesetherapie mit NVT2, READ3
Störung der HelladaptationX 27,3 % Getönte Gläser, Dimmer, Kantenfilter
Störung der DunkeladaptationX 25,5 % Zusätzliche, blendfreie Lichtquellen, Dimmer
Störung des KontrastsehensX 15,5 % Zusätzliche Beleuchtung, Dimmer, Vergrößerungs-
software
Homonyme Gesichtsfeldausfälle 9 – 14 % Auswirkungen behandeln: Visuelle Exploration und
Lesen
Trochlearis-Lähmung 3 – 13 % evtl. Abdeckung mit Augenklappe
Oculomotorius-Lähmung 3 – 11 % evtl. Abdeckung mit Augenklappe
Abduzens-Lähmung 4 – 6 % evtl. Abdeckung mit Augenklappe
Internukleäre Opthalmoplegie (INO) 5 % evtl. Abdeckung mit Augenklappe
Horner-Syndrom 0 – 9 % keine
Traumatische Chiasma-Schädigung 1 % keine
Traumatische Optikus-Neuropathie 0,5 – 0,8 % Keine
1
EyeMove Software für Assessment und Therapie neurovisueller Störungen. www.medicalcomputing.de
2 
NVT: Neuro-Vision-Training,www.neuro-vision-training.com
3
READ: Software für die Diagnostik und Therapie visueller Lesestörungen. www.medicalcomputing.de

pie angeschafft werden. Allerdings wirken gungsstörungen finden sich beispielswei-


sie sich im Rehabilitationsverlauf fast im- se in dem sehr anschaulich beschriebenen
mer negativ auf die Wiedereingliederung und bebilderten Buch von Biousse und
der Betroffenen in Alltag und Beruf aus. Newman (2009).

10.15.1
Assessment und Therapie 10.16
Zusammenfassung
Tabelle 10.3 gibt einen Überblick über die
häufigsten Beeinträchtigungen und be- Neurovisuelle Wahrnehmungsstörungen
nennt Therapieoptionen, sofern diese be- treten nach unterschiedlichen Ätiologien
kannt sind. Viele der sinnvollen Assess- auf und umfassen ein breites Spektrum
ments für die einzelnen Störungen sind von zerebralen Einbußen der visuellen
weiter oben bereits beschrieben worden. Verarbeitung, das von elementaren Funk-
Praktikable Hinweise (mit Fotos) zum kli- tionsausfällen wie Sehschärfe- und Kon-
nischen Assessments der Augenbewe- trastwahrnehmungsstörungen bis hin zu
10 · Neurovisuelle Neurorehabilitation – ein Update 221

komplexen Defiziten wie beispielsweise Neumann et al. 2016b), um so eine geziel-


visuellen Agnosien oder dem Bálint-Hol- te und ressourcenorientierte Diagnostik,
mes-Syndrom reicht. Aufgrund der All- Behandlungsplanung und nachfolgende
tags- und Berufsrelevanz sowie der Häu- Therapie zu ermöglichen.
figkeit entsprechender Defizite kommt
der visuellen Neurorehabilitation eine Download-Link
wichtige Aufgabe zu – die leider aber in
der klinischen Praxis zu oft vernachläs- Unter folgendem Link: http://www.uni-
sigt wird. Mithilfe der schematischen Ori- saarland.de/lehrstuhl/kerkhoff/down-
entierungshilfe in Tabelle 10.4 können loads-diagnostiktherapie.html können
Patienten mit ausreichender Awareness Interessierte nützliche Verfahren der neu-
anamnestisch auf zentrale Sehstörungen rovisuellen Anamnese und Diagnostik
hin befragt werden (Kerkhoff et al. 1990; kostenfrei herunterladen.

Tab. 10.4: Schematische Orientierungshilfe zur Anamnese der häufigsten neurovisuellen Störungen nach
Hirnschädigung (basierend auf Kerkhoff et al. 1990; Neumann et al. 2016)

Nr. Frage Neurovisuelles Defizit

1 Sind Ihnen seit der Erkrankung irgendwelche Veränderungen Prüfung der Awareness über etwaige
im Sehen aufgefallen? Defizite

2 Haben Sie den Eindruck, dass Ihr Sehen nicht mehr so klar Störungen der Sehschärfe und des
ist wie früher? Erleben Sie dieses permanent oder nur nach Kontrastsehens, Fusionsstörung
Anstrengung?

3 Haben Sie seit der Erkrankung Doppelbilder? Sind diese per- Fusionsstörung, Augenmuskelpa-
manent oder treten sie nur nach visueller Anstrengung auf? resen

4 Haben Sie Probleme beim Ausweichen vor Gegenständen Visuelle Explorationsschwierigkeiten


oder stoßen Sie öfters an Personen / Türrahmen an? Wenn ja, bei homonymen Gesichtsfeldausfäl-
auf welcher Seite? len, Neglect, Bálint-Holmes-Syndrom

5 Haben Sie Schwierigkeiten beim Lesen? Wenn ja, welche? Hemianope Lesestörung, Neglectdys-
Fehlen von Worten / Zeilen; Schwierigkeiten beim Auffinden lexie, reduzierte visuelle Belastbar-
von Zeilenanfängen / Zeilenenden, reduzierte Lesespanne? keit, z.B. infolge einer Fusionsstörung

6 Haben Sie Schwierigkeiten beim Abschätzen der Tiefe der Stereopsis


Stufen beim Treppengehen / auf unebenen Untergründen
oder beim gezielten Greifen nach Gegenständen?

7 Sehen Farben anders aus als früher? Farbwahrnehmungsstörungen

8 Haben Sie Probleme beim Erkennen von Objekten? Sehen Störungen der Objekt- und Gesichts-
Gesichter verändert aus? erkennung

9 Blendet Sie helles Licht leichter als früher oder benötigen Sie Foveale Adaptationsstörungen
mehr Licht, weil Sie den Eindruck haben, dass Ihnen alles zu
dunkel erscheint?

10 Haben Sie Schwierigkeiten, den Weg in bekannten / unbe- Topografische Orientierungsdefizite


kannten Umgebungen zu finden?

11 Haben Sie vor, während oder seit der Erkrankung Licht- Visuelle Reizerscheinungen
punkte /-blitze oder farbige Muster oder komplexe Szenen
gesehen?
222 G. Kerkhoff, A.-K. Bur, M. Schreiner

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227

11
Neuropsychologische Therapie bei Störungen
von Kognition und Emotion
Tilman A. Klein, Thomas Guthke

11.1  11.2
Einleitung Aufmerksamkeits-, Gedächtnis-,
exekutive, Verhaltens- und
Neuropsychologische Diagnostik und emotional-affektive Störungen nach
Therapie dient der Feststellung und Be- erworbener Hirnschädigung
handlung von hirnorganisch verursach-
ten Störungen der kognitiven Funktionen, Neuropsychologische Störungen sind häu-
des emotionalen Erlebens und des Ver- fige Folge einer erworbenen Hirnschädi-
haltens. Häufig ist die Erfassung kogniti- gung. Je nach Ätiologie und Stichprobe
ver Defizite nicht von Fragen der Krank- werden gestörte Aufmerksamkeitsfunk-
heitsverarbeitung, der Anpassung an die tionen in 64 – 83 % der Fälle, Defizite im
Folgen der Hirnschädigung und der Aus- Gedächtnisbereich bei 33 – 75 % und Stö-
wirkungen auf psychosoziale Beziehun- rungen der exekutiven Funktionen bei
gen zu trennen. Im Gegenteil erweist sich 22 – 70 % der Patienten berichtet (Prosiegel
ein holistischer Ansatz hier als zielführend 1988; Prosiegel u. Erhardt 1990; Scheid et
(vgl. Wilson u. Betteridge 2019). Neuropsy- al. 2006; Scheid 2009). Die unterschiedli-
chologische Störungsbilder können sehr chen Prävalenzangaben liegen vor allem
komplex sein, und unterschiedliche Ko- an Patientenselektionseffekten, an der
morbiditäten aus z. B. dem affektiven oder unterschiedlichen Sensitivität der einge-
Angstspektrum sind vorstellbar. setzten Untersuchungsverfahren, an un-
In diesem Beitrag soll das praktische terschiedlichen Messzeitpunkten bezogen
Vorgehen bei wesentlichen neuropsycholo- auf das Erkrankungsstadium und an un-
gischen Störungsbildern (in den Bereichen terschiedlichen theoretischen Zugängen
Aufmerksamkeit, Gedächtnis, exekutive zu den jeweiligen Funktionen bzw. Störun-
Funktionen, Persönlichkeits- und Verhal- gen. Fast 50 % der Schlaganfallpatienten
tensstörungen) illustriert werden. Wenn und 40 % der pflegenden Angehörigen lit-
möglich, sollen Handlungsempfehlungen ten nach der Entlassung aus der Klinik un-
aus der Praxis bzw. auf der Basis aktueller ter depressiven Verstimmungen, die häufig
Behandlungsleitlinien reflektiert werden. mit Angststörungen und aggressivem Ver-
Störungen der visuellen Wahrnehmung, halten assoziiert waren. (Kotila et al. 1998).
räumlicher sowie sprachlicher Leistungen Das Vorliegen kognitiver Defizite wirkt
werden in diesem Beitrag keine Rolle spie- sich u. U. auf den gesamten Behandlungs-
len, auch wenn sie zur Beurteilung der Ge- bzw. Rehabilitationsverlauf aus. Insbeson-
samtsituation eines neurologischen Patien- dere das Vorliegen exekutiver Defizite hat
ten herangezogen werden müssen. einen hohen prognostisch negativen Wert
228 T. A. Klein, T. Guthke

in der Vorhersage des funktionellen Reha- Abrufs von Informationen gefasst. Es gilt,
bilitationserfolgs (Lesniak et al. 2008). Tat- im Rahmen des diagnostischen Prozesses
sächlich weisen Patienten mit exekutiven die inhaltliche Breite des Begriffs genau-
Defiziten (im Vergleich zu Patienten ohne er zu konkretisieren sowie den Bezug zu
solche spezifischen Defizite) ein sieben- möglichen Pathomechanismen bzw. be-
fach höheres Risiko für das Fortbestehen nachbarten kognitiven Leistungen herzu-
kognitiver Einschränkungen auf (Nys et al. stellen.
2005). Es gibt eine Vielzahl unterschiedlicher
Taxonomien, welche unterschiedliche An-
11.2.1 teile bzw. Funktionen innerhalb des Ge-
Aufmerksamkeitsstörungen dächtnisses benennen, diese zueinander
in Beziehung setzen und deren Interakti-
Aufmerksamkeit bildet eine notwendi- on, auch im Schädigungsfall, beschreiben
ge Voraussetzung sonstiger kognitiver, in- (vgl. Thöne-Otto 2009, 2020). Eine gängi-
tellektueller und praktischer Leistungen ge Einteilung ist die Unterscheidung nach
(Sturm 2012). Dabei werden grob zwei a) zeitlichen Aspekten, b) inhaltlichen As-
Steuerungsmechanismen unterschieden, pekten und c) prozessualen Aspekten.
welche die Ausrichtung der Aufmerksam-
keit lenken: Einerseits kann Aufmerksam- a) Untergliederung des Gedächtnisses
keit automatisch („bottom-up“) auf Reize nach Zeitaspekten
zugewiesen werden, andererseits ist auch – Kurzzeitgedächtnis: Kapazität: limi-
eine bewusste Aufmerksamkeitslenkung tiert; Dauer: Sekunden bis Minuten;
möglich („top-down“). Voraussetzung: Aufmerksamkeit
Basierend auf theoretischen Überle- – Arbeitsgedächtnis: Manipulation
gungen lassen sich mindestens fünf Teil- von Informationen und Abschir-
bereiche der Aufmerksamkeit differenzie- mung gegenüber störenden Einflüs-
ren (Sturm 2009): sen
Q Aufmerksamkeitsaktivierung (Reakti- – Langzeitgedächtnis: Kapazität: the-
onsbereitschaft, z. B. tonisch oder pha- oretisch unbegrenzt; Dauer: Ver-
sisch) fügbarkeit nach einem bestimmten
Q längerfristige Aufmerksamkeitszu- Zeitintervall
wendung (hohe Reizdichte: Dauerauf- – Neugedächtnis: Gedächtnisinhalte,
merksamkeit; niedrige Reizdichte: Vi- die ab einem bestimmten Zeitpunkt/
gilanz) Ereignis enkodiert und gespeichert
Q räumliche Ausrichtung des Aufmerk- werden
samkeitsfokus – Altgedächtnis: Gedächtnisinhalte,
Q selektive oder fokussierte Aufmerk- die vor einem Zeitpunkt/Ereignis en-
samkeit kodiert und gespeichert wurden
Q geteilte Aufmerksamkeit, Aufmerk- – prospektives Gedächtnis: zeit- bzw.
samkeitsflexibilität, Wechsel des Auf- ereigniskritisches Erinnern von Vor-
merksamkeitsfokus haben, die in der Zukunft auszufüh-
ren sind
11.2.2
Gedächtnisstörungen b) Inhaltliche Untergliederung des Lang-
zeitgedächtnisses:
Unter den Oberbegriff der Gedächtnisstö- – deklaratives Gedächtnis: Art: Bewuss-
rung werden laut Thöne-Otto (2012) alle te bzw. bewusstseinsfähige Inhalte;
Einbußen des Lernens, Behaltens und des Zugriff: Explizit; Inhalte: Fakten
11 · Neuropsychologische Therapie bei Störungen von Kognition und Emotion 229

(semantische Inhalte), persönliche Exekutive Dysfunktionen können auch


Erlebnisse mit zeitlicher und situa- mit Persönlichkeitsveränderungen und
tiv-räumlicher Zuordnung (episodi- Verhaltensauffälligkeiten (im Sinne einer
sche Inhalte) Plus- und/oder Minussymptomatik) asso-
– nondeklaratives Gedächtnis: Art: im- ziiert sein. Burgess und Kollegen betonen
plizite Inhalte; Abruf: nicht-explizit; darüber hinaus die zentrale Rolle des Mul-
Wirkmechanismen: „Priming“, pro- titaskings als exekutive Kernkompetenz
zedurales Gedächtnis, Konditionie- mit hoher Relevanz für die Alltagsfähig-
rung und nicht-assoziatives Lernen. keiten der Patienten (Burgess et al. 2000).
Auch Aspekte eines veränderten Antriebs
c) Prozessuale Untergliederung verschie- können als exekutive Dysfunktionen mit
dener Gedächtnisprozesse: hoher Alltags- und Therapierelevanz dis-
– In zeitlicher Abfolge lassen sich En- kutiert werden (Stanton u. Carson 2016).
kodierung (Aufnahme), Konsolidie-
rung (Speicherung) und Abruf von 11.2.4
Material unterscheiden. Insbeson- Affektive, Angst- und
dere der Abruf weist dabei eine hohe Belastungsstörungen
Überschneidung mit exekutiven
Leistungen auf. Nach einem hirnschädigenden Ereignis
können komorbide psychische Störungen
11.2.3 auftreten. Besonders häufig sind depres-
Exekutive und Verhaltensstörungen sive Störungen, Angststörungen, Belas-
tungs- und Anpassungsstörungen sowie
Als exekutive Funktionen werden metako- Suchterkrankungen (Ashman et al. 2004;
gnitive Prozesse bezeichnet, häufig im Sin- De Wit et al. 2008; Whelan-Goodinson et
ne von Steuerungs- und Leitungsfunktio- al. 2009). So erfüllten in einer Stichpro-
nen, die zum Erreichen eines definierten be von Patienten mit erlittenem Schädel-
Zieles die flexible Koordination mehrerer Hirn-Trauma 45 % die klinischen Kriterien
Subprozesse steuern bzw. ohne Vorliegen für eine Depression, 38 % für eine Angst-
eines definierten Zieles bei der Zielerar- störung und 21 % für eine Abhängigkeitser-
beitung beteiligt sind (vgl. Müller u. Klein krankung (Whelan-Goodinson et al. 2009).
2019). Im Angesicht von Handlungsbarri- Hierbei gilt es allerdings die bereits vor
eren bzw. Handlungsfehlern stellen exe­ der Hirnschädigung bestehende erhöh-
kutive Funktionen Korrektur- und An- te Prävalenz gegenüber der Normalbevöl-
passungsmechanismen bereit. Für den kerung kritisch zu diskutieren. Koponen
klinischen Alltag hat es sich als praktikabel et al. (2002) berichteten, dass das Risiko,
erwiesen, diese heterogene Gruppe von eine psychische Störung zu entwickeln, im
kognitiven Prozessen in klinisch relevan- ersten Jahr nach der Hirnschädigung am
te Kategorien zu sortieren (Müller et al. höchsten sei, aber lebenslang insgesamt
2004): erhöht bleibe.
Q Störungen des Arbeitsgedächtnisses Bei ungefähr einem Drittel der Pa-
und Monitorings tienten nach einem Schlaganfall entwi-
Q Störungen der kognitiven Flexibilität ckelt sich innerhalb von fünf Jahren eine
und Flüssigkeit Depression mit hoher Stabilität über den
Q Störungen des planerischen und pro­ Zeitverlauf (sog. „post-stroke depression“,
blemlösenden Denkens Hackett u. Pickles 2014, vgl. auch Ayerbe
et al. 2011). Gängige Modellvorstellungen
zur Ätiopathogenese basieren dabei auf
230 T. A. Klein, T. Guthke

der Annahme einer Schädigung besonders 11.3


kritischer Hirnstrukturen oder Netzwerke Neuropsychologische Diagnostik
(linksfrontale und basalganglienbezogene
Läsionen, Ilut et al. 2017). Metaanalysen Die neuropsychologische Diagnostik dient
können diesen anatomisch formulierten der Erfassung und Objektivierung von ko-
Zusammenhang allerdings so eindeutig gnitiven und psychischen Funktionsstö-
nicht bestätigen (vgl. Carson et al. 2000; rungen nach einer Hirnfunktionsstörung
vgl. auch Nickel u. Thomalla 2017; Robin- oder Hirnschädigung (Sturm 2009). Die
son u. Jorge 2016). Neuere Arbeiten unter- Diagnostik basiert dabei auf den Grund-
suchen auch die Rolle von Entzündungs- lagen der allgemeinen psychometrischen
prozessen nach einer Hirnschädigung im Diagnostik, ergänzt um medizinische In-
Zusammenhang mit affektiven oder Er- formationen. Letztere können wertvolle
schöpfungssyndromen (Wen et al. 2018). Informationen zur Hypothesenbildung lie-
Eine wesentliche Rolle für die Entstehung fern und somit die Auswahl der Untersu-
einer psychischen Begleitreaktion mag chungsverfahren mitbestimmen.
auch die Frage spielen, inwiefern das hirn- Angelehnt an Sturm (2009) lässt sich
schädigende Ereignis oder dessen Akutbe- grob der folgende diagnostische Ablauf
handlung als psychisches Trauma erlebt skizieren:
wurden. a) Vorbefunde sichten und diagnosti-
Hirnschädigungen stellen kritische Le- sche/therapeutisches Anliegen klären
bensereignisse dar, welche mit erhöhtem b) Anamnese und Exploration; Erhebung
Anpassungsbedarf und subjektiv erleb- von Einflussfaktoren auf Testdurchfüh-
tem Stress verbunden sind. Folgerichtig rung und -ergebnisse
kann es hierunter zur Ausprägung von An- c) Untersuchungsplanung
passungsreaktionen kommen. Besonde- d) Testdurchführung inklusive Verhal-
re Berücksichtigung muss auch die Frage tensbeobachtung und Aspekten der
eventuell bestehender prämorbider Vul- Beschwerdevalidierung
nerabilitäten finden – einerseits als Risi- e) Analyse und Interpretation der gewon-
kofaktor für psychische Komorbiditäten, nenen Ergebnisse inklusive Dokumen-
aber auch als unabhängiger Risikofaktor tation nach fachlichen Standards
für eine vaskuläre Hirnschädigung (Villa f ) Ableitung von Therapiezielen gemein-
et al. 2018). Abschließend sollte im Rah- sam mit dem Patienten
men von Erklärungsansätzen für die Ent-
stehung psychischer Störungen auch das Zur approximativen Einordnung der sub-
Ausmaß der familiären Unterstützung jektiv erlebten kognitiven, affektiven und
nach einer Hirnschädigung betrachtet verhaltensbezogenen Störungen und Be-
werden (De Ryck et al. 2014). einträchtigungen der Lebensqualität las-
Der oft mit der erworbenen Hirnschä- sen sich auch entsprechende visuelle
digung verbundene Leistungsverlust (kör- Analogskalen einsetzen. Wichtig ist, auch
perlich oder geistig; transient oder stabil) Bezugspersonen nach ihrer Einschätzung
kann zu Ärger- und Trauerreaktionen um zu befragen. Diesbezüglich hat sich der
einen Teil der eigenen Persönlichkeit/ Einsatz geeigneter Ratings zur Fremdbeur-
Identität führen. Hinzu können ferner teilung bewährt. Eine mögliche Differenz
mal­adaptive psychische Reaktionen kom- zwischen Selbst- und Fremdbeurteilung
men, z. B. dysfunktionale Kognitionen be- kann dabei auch zur näherungsweisen
züglich eigener Leistungen, prämorbider Einschätzung des Störungsbewusstseins
Bewertungsmaßstäbe oder bezüglich sub- der Patienten herangezogen werden. Der
jektiv erlebter Bewältigungsstrategien. diagnostische bzw. therapeutische Rah-
11 · Neuropsychologische Therapie bei Störungen von Kognition und Emotion 231

men bestimmt dabei nicht zuletzt den Erfassung des Störungsbewusstseins soll-
Umfang der neuropsychologischen Diag- te gerade auch im Hinblick auf die Thera-
nostik. pieplanung bzw. den Therapieerfolg nicht
Bei der Auswahl und Interpretation der vernachlässigt werden.
neuropsychologischen Untersuchungsver- Beim Verdacht auf Aggravations- oder
fahren müssen zwingend testbehindern- Simulationstendenzen sollten spezifische
de und ergebnisbeeinflussende Faktoren Testverfahren (Merten 2006) zum Einsatz
berücksichtigt werden (Wahrnehmung, kommen. Wichtig ist aber die Betrach-
Sprachperzeption und -produktion, Mo- tung des Gesamtbildes, vor allem unter
torik, affektiver Status, kognitiv wirksame Berücksichtigung des neuropsychologi-
Medikation sowie Antrieb). Auch muss schen Profils, der Verhaltensbeobachtung,
beachtet werden, dass sich kognitive Leis- der Anamnese und der medizinischen Be-
tungsbereiche teilweise gegenseitig beein- fund- und Motivlage (vgl. Leitlinie „Neuro-
flussen können (z. B. sekundäre Gedächt- psychologische Begutachtung“, Neumann-
nisstörung in Folge exe­ kutiver Defizite). Zielke et al. 2015).
Sehr informativ ist die Verhaltensbeob- Für die Ableitung der Therapieziele
achtung in und außerhalb der Testsituati- und des -planes sind aber neben der Er-
on. Insbesondere bei exekutiven Testver- fassung des Umfangs und der Art der Stö-
fahren kann die Verhaltensbeobachtung rungen auch die verbliebenen Ressourcen,
wertvolle Hinweise auch zur Gestaltung die Behandlungsmotivation, die Einsicht
der nachgeordneten Therapie liefern. Un- in die vorhandenen Probleme und das so-
bedingt beachtet werden muss in diesem ziale und berufliche Umfeld der Patienten
Zusammenhang jedoch, dass strukturier- zu eruieren (von Cramon et al. 1993; Guth-
te Testsituationen insbesondere dysexe- ke et al. 2012). So können auch die Folgen
kutiven Patienten sehr entgegenkommen – der Hirnschädigung für die Aktivitäten des
etwaige Defizite zeigen sich im weniger täglichen Lebens und die soziale, beruf-
vorstrukturierten Alltag u. U. stärker. Zu- liche und schulische Integration des Be-
sammenfassend lässt sich sagen, dass sich troffenen eingeschätzt werden. Hier kann
die Durchführung neuropsychologischer sich die neuropsychologische Diagnos-
Untersuchungsverfahren nur schlecht de- tik an der Internationalen Klassifikation
legieren lässt. Zu hoch erscheint die Ge- der Funktionsfähigkeit, Behinderung und
fahr, wertvolle Informationen zu verlie- Gesundheit (ICF) der Weltgesundheits-
ren, wenn es zu einer reduktionistischen organisation (WHO) orientieren. Diese
Betrachtung von numerischen Testwerten Klassifikation dient als länder- und fach-
kommt. übergreifende einheitliche Sprache zur
In den bereits erwähnten aktuellen Beschreibung des funktionalen Gesund-
Leitlinien zu den einzelnen kognitiven heitszustandes, der Behinderung, der sozi-
Funktionsbereichen (Aufmerksamkeit, alen Beeinträchtigung und der relevanten
Gedächtnis und exekutive Funktionen) Umgebungsfaktoren einer Person (Stucki
sind Mindestanforderungen bezüglich et al. 2002). Für eine aktuelle Übersicht
des Umfangs und der Auswahl an Unter- über die Notwendigkeit einer kooperati-
suchungsverfahren einer fachlich ange- ven Therapiezielfindung im Kontext eines
messenen neuropsychologischen Unter- holistischen Behandlungsansatzes vgl. die
suchung aufgeführt. Ergänzt werden sollte Ausführungen von Wilson und Betteridge
diese Verfahrensübersicht durch Instru- (2019).
mente zur Bestimmung psychischer Ko-
morbiditäten bzw. Verhaltens- und Per-
sönlichkeitsveränderungen. Auch die
232 T. A. Klein, T. Guthke

11.4 theoretisches Erklärungsmodell und so-


Neuropsychologische Therapie lide neurowissenschaftliche Kenntnisse
über die Funktionsweise des Gehirns, sei-
Die neuropsychologische Behandlung ne Plastizität und die der Stimulation zu-
zielt darauf ab, die kognitiven, psychischen grunde liegenden Mechanismen voraus.
und behavioralen Störungen sowie die da- Plastizität beschreibt die grundlegende
mit einhergehenden psychosozialen Be- Fähigkeit des Gehirns, sich durch struktu-
einträchtigungen und Aktivitätseinschrän- relle Veränderungen an veränderte Verar-
kungen von Patienten mit erworbener beitungsbedingungen bzw. Verarbeitungs-
Hirnschädigung oder -funktionsbeein- ziele anzupassen (Bartsch u. Wulff 2015).
trächtigung zu beseitigen oder, falls dies Der restitutive Behandlungsansatz ist ge-
nicht möglich sein sollte, diese so weit wie rade in der Postakutphase der Erkran-
möglich zu verringern. Die betroffenen Pa- kung von großer Bedeutung, da zu diesem
tienten sollen durch die neuropsychologi- Zeitpunkt ein besonderes therapeutisches
sche Therapie ein möglichst hohes Funk- Fenster zu bestehen scheint (z. B. Kolb et
tionsniveau im Alltag wiedererlangen und al. 2001). Dabei erscheint es wichtig, den
soziale, berufliche und/oder schulische Schwierigkeitsgrad der Therapie dem je-
Anforderungen möglichst wieder erfolg- weiligen Funktionsniveau des Patienten
reich bewältigen können bzw. im Ange- anzupassen, um optimal an der individu-
sicht chronischer Defizite in der Erarbei- ellen Fähigkeitsschwelle zu trainieren. Da-
tung alternativer Lebensentwürfe begleitet bei spielen sowohl die Dauer als auch die
und bei der Verarbeitung negativer psychi- Intensität der Intervention eine Rolle, je
scher Begleitreaktionen unterstützt wer- nach Art und Schwere der zugrundliegen-
den. den Funktionsstörung
Es lassen sich in Anlehnung an Gaug- Studien zeigen vor allem positive Ent-
gel (2003) folgende Interventionsformen wicklungen mit der restitutiven Therapie
bzw. damit verbundene Behandlungsziele von Wahrnehmungs- und Aufmerksam-
unterscheiden: keitsleistungen sowie der Restitution ko-
Q Funktionstherapien bzw. restitutive In- gnitiver exekutiver Anteile im Sinne z. B.
terventionen, einer Arbeitsgedächtnisstörung (vgl. Wei-
Q Kompensationstherapie und Anpas- cker et al. 2016). So können Cicerone et al.
sung, (2005, 2011) die Wirksamkeit von Aufmerk-
Q integrierte bzw. adaptierte Interven- samkeitstherapien in der postakuten (ca. 3.
tionsverfahren (z. B. Akzeptanz bzw. Woche bis 6 Monate) und chronischen (> 6
Krankheitsbewältigung). Monate) Phase bei Schädel-Hirn-Trauma
und Schlaganfall zeigen. Dabei scheint die
11.4.1 Wirksamkeit über unterschiedliche Schä-
Funktionstherapeutische bzw. restitutive digungen hinweg gegeben zu sein: Sowohl
neuropsychologische Therapien für vaskuläre als auch für traumatische
Hirnschädigungen in der postakuten Pha-
Die Restitution kognitiver Funktionen wird se (Sohlberg et al. 2000; Sturm et al. 2003;
in der neuropsychologischen Therapie vor Barker-Collo et al. 2009), bei MS-Patienten
allem durch die gezielte Stimulation der ebenso wie bei Epilepsie-Patienten (Ploh-
entsprechend geschädigten neuronalen mann 1998; Engelberts et al. 2002). Eine
Netzwerke angestrebt. Die Durchführung entsprechende Metaanalyse (Rohling et
einer spezifischen Stimulation (d. h. zuge- al. 2009) ergab für Aufmerksamkeitsthe-
schnitten auf das individuelle Defizitpro- rapieansätze mittlere Effektstärken. Die
fil) setzt eine klare Indikationsstellung, ein besten Ergebnisse zeigten domänenspe-
11 · Neuropsychologische Therapie bei Störungen von Kognition und Emotion 233

zifische Therapieansätze, d. h. auf die spe- Funktionsniveau zu erreichen. Grundsätz-


zifischen Defizite zugeschnittene Thera- lich wichtig ist, dass eine alleinige Konzen-
pien (Rohling et al. 2009; Zoccolotti et al. tration auf die Funktionsrestitution nicht
2011). Bewährt haben sich (computerge- den multiplen und häufig chronischen Stö-
stützte) Therapieverfahren, die spezifische rungen hirngeschädigter Patienten Rech-
Aufmerksamkeitsleistungen in alltagsähn- nung trägt. Das Funktionstraining muss in
lichen Situationen adaptiv trainieren. Zu ein umfassendes Therapieprogramm ein-
beachten ist aber auch, dass es bei Anwen- gebettet sein (holistisches Vorgehen, vgl.
dung zu komplexer Therapieprogramme Wilson u. Betteridge 2019).
zu Leistungsverschlechterungen kommen
kann (z. B. Sturm et al. 2003). 11.4.2
Bei Gedächtnis- und exekutiven Funk- Neuropsychologische Therapien zur
tionsstörungen (insbesondere aus dem Kompensation und Anpassung
Bereich Planung, Kontrolle, Verhalten)
dagegen sollten parallel geeignete Strate- Kompensatorische Vorgehensweisen kom-
gien z.  B. zur Aufmerksamkeitslenkung, men vor allem bei chronischen bzw. aus-
vertieften Verarbeitung oder zum Monito- geprägten Störungen zum Einsatz. Es steht
ring vermittelt werden (Kombination von der Ausgleich von Funktionsdefiziten
Funktionstherapie und der Vermittlung durch den Einsatz verbliebener Fähigkei-
von Strategien). Für eine aktuelle Über- ten und durch das Lernen neuer Fertigkei-
sicht zur Wirksamkeit kognitiven Trainings ten und Strategien im Fokus. Dies beinhal-
im Bereich exekutiver Funktionen sei auf tet häufig auch den emotionalen Umgang
die aktuelle diesbezügliche Leitlinie ver- mit den Folgen der Erkrankung, die Ent-
wiesen (Müller u. Klein 2019). wicklung einer neuen Lebensperspektive
Wichtig ist auch, dass bei der Durch- sowie die familiäre und berufliche Reinte-
führung der Behandlung Faktoren wie gration.
Antrieb, Motivation, Feedback, Kontext- Laut Dixon und Bäckman (1995) wer-
lernen, Transfer sowie Relevanz für den den verschiedene Kompensationsmecha-
häuslichen und beruflichen Alltag und der nismen und -formen unterschieden, derer
Einbezug von Angehörigen beachtet wer- Menschen sich häufig bedienen, wenn es
den müssen. Die Therapieeffekte genera- gilt, ein Ungleichgewicht zwischen eige-
lisieren oft nicht automatisch und werden nen Fähigkeiten und Umweltanforderun-
von den hirngeschädigten Patienten kaum gen auszugleichen:
von sich aus auf andere Situationen und Q die Investition von mehr Zeit und Ener-
Aufgabenstellungen übertragen (insbe- gie (Anstrengung),
sondere bei Patienten mit exekutiven De- Q die Substitution durch eine latente Fä-
fiziten). Daher ist es für den Therapieerfolg higkeit,
entscheidend, dass bereits während der Q die Entwicklung einer neuen Fähigkeit
Therapie explizit auf eine Generalisierung (Einsatz von Strategien und Hilfsmit-
hingearbeitet wird und motivationale Ein- teln),
flüsse berücksichtigt werden (Sohlberg u. Q die Veränderung der Erwartungen so-
Raskin 1996). wie
Es empfiehlt sich ferner, die Leistungen Q die Wahl einer alternativen Nische
des Patienten nicht nur defizitorientiert, oder eines alternativen Ziels.
sondern auch im Hinblick auf verbliebene
Stärken und Fähigkeit zu betrachten – die- Relativ unproblematisch ist der Einsatz
se können u. U. gezielt ausgebaut und ge- kompensatorischer Mechanismen, wenn
stärkt werden, um ein insgesamt höheres sich die Patienten ihrer eigenen Stärken
234 T. A. Klein, T. Guthke

und Schwächen bewusst sind, sich realis- Nachteile und die individuelle Anpassung
tische Ziele setzen und angemessene Er- – auch die Förderung einer realistischen
wartungen entwickeln sowie Alltagsan- Selbsteinschätzung kann im Gruppenset-
forderungen mit noch vorhandenen und ting besser gelingen. Studien bestätigen
intakten Fähigkeiten zu bewältigen ver- die Effektivität solcher Therapieprogram-
suchen. Dies ist bei Patienten mit ausge- me (Ezrachi et al. 1991). Im Rahmen der
prägter Hirnschädigung sehr häufig je- Therapie werden die Vermittlung der Stra-
doch nicht der Fall: Es fehlen u. U. aktuelle tegien systematisch vorbereitet, deren Ein-
Alltagserfahrungen (z. B. bei komplexen satz geübt (mit entsprechenden Aufgaben
beruflichen Anforderungen), möglicher- oder Rollenspielen) und durch therapeuti-
weise bestehen Einschränkungen beim sche Hausaufgaben deren Transfer in den
Störungsbewusstsein sowie der Reflexion Alltag gefördert. Hier bewährt sich beson-
über neue Erfahrungen (im Zusammen- ders ein teilstationäres Arbeiten, da die Pa-
hang vor allem mit Gedächtnis- und exe- tienten außerhalb der Therapie zu Hause
kutiven Störungen). Bedeutsam sind aber mit entsprechenden Anforderungen kon-
auch psychoreaktive Phänomene wie Ver- frontiert sind und neu erarbeitete Strate-
leugnungs- bzw. Abwehrtendenzen sowie gien hinsichtlich ihrer Funktionalität eva-
generell komorbide psychische Störungen. luieren können. Aufgrund der kognitiven
Der Schweregrad der Störung und die Defizite der Patienten kann es nötig sein,
Einsichtsfähigkeit sind somit ausschlag- Rückmeldung während der Behandlung
gebend für Art und Ausmaß der notwen- nicht nur kontinuierlich und multimodal
digen Strukturierung von außen und der (verbal, visuell mit und ohne Video), son-
therapeutischen Hilfen. Häufig ist die Be- dern auch durch unterschiedliche Perso-
gleitung eines längeren therapeutischen nen (Mitpatienten, Angehörige, Therapeu-
Prozesses notwendig, in dessen Verlauf ten) zu geben.
der Patient dabei unterstützt wird, seine Generell gilt, dass Kompensations-
vorhandenen Defizite angemessen wahr- hilfen und -strategien vor allem dann ak-
nehmen zu können, damit er bereit ist, zeptiert werden, wenn sie einfach, öko-
Strategien oder Hilfen einzusetzen oder nomisch, generationsadäquat sind und
Erwartungen und Ziele an die neue Le- bequem angewendet werden können und
benssituation anzupassen. der Nutzen der Strategie oder der Hilfe un-
Im klinischen Alltag ist häufig zu beob- mittelbar erkennbar oder nachweisbar ist.
achten, dass Patienten in der Vergangen- Bei sehr schweren Defiziten (v. a. im Ge-
heit erfolgreich eingesetzte Strategien (wie dächtnisbereich) sind externe Kompensa-
z. B. Investition von mehr Zeit und Ener- tionshilfen und -strategien deutlich bes-
gie) versuchen erneut anzuwenden. Auf- ser als interne, da zum Erlernen interner
grund veränderter Ausgangsbedingungen Strategien intakte kognitive Fähigkeiten
(z. B. Reduktion der Dauerbelastbarkeit (z. B. metakognitive Leistungen) benötigt
infolge der Hirnschädigung) können sich werden. Bei komplexeren Strategien ist
diese ehemals funktionalen Bewältigungs- oft eine schrittweise, repetitive und über
mechanismen nunmehr als dysfunktional einen längeren Zeitraum erfolgende Ein-
herausstellen. übung nötig. In Studien zum Nutzen ex-
Bewährt hat sich im teilstationären Set- terner Gedächtnishilfen konnte empirisch
ting eine Kombination von Gruppen- und nachgewiesen werden, dass z. B. die Zu-
Einzeltherapie zur Vermittlung von Kom- verlässigkeit in der Erledigung prospekti-
pensationsstrategien. Wichtig ist dabei der ver Gedächtnisanforderungen durch den
Austausch der Patienten untereinander Einsatz von Gedächtnishilfen verbessert
über mögliche Strategien, deren Vor- und werden kann (Sohlberg et al. 2007; Wil-
11 · Neuropsychologische Therapie bei Störungen von Kognition und Emotion 235

son et al. 2000). Es zeigte sich, dass leich- aufzubauen und zu perfektionieren (Wil-
ter betroffene Patienten den selbstständi- son 2000). Angehörigen kommt im Alltag
gen Umgang mit Gedächtnishilfen lernen, häufig die Rolle einer Kompensationshilfe
während schwerer betroffene Patienten zu. Die Patienten haben u. U. gelernt, sich
lernen können, auf Gedächtnishilfen ad- auf diese Hilfen zu verlassen, weil diese
äquat zu reagieren (Unterstützung durch für sie zur Bewältigung der Umweltanfor-
Angehörigen z. B. beim Eintragen von Ter- derungen in der Regel einfacher, schneller
minen in einen Onlinekalender). Bei sehr und bequemer ist als der Einsatz eigener
schwer betroffenen Patienten kann Kom- Strategien bzw. verbliebener Fähigkeiten.
pensation auch den modifizierenden und Im Verlauf der Behandlung ist somit der
unterstützenden Eingriff in die Umwelt Aufbau eigener Strategien sowie der Ab-
des Patienten bedeuten (Umweltmanage- bau der kontinuierlichen Unterstützung
ment). durch die Angehörigen nötig. Hierfür ist es
Besonders in der Therapie von exe- notwendig, dass die Angehörigen wie auch
kutiven- und Gedächtnisstörungen spielt die Patienten die notwendige Sicherheit
die Vermittlung von internalen Strategien für den Übertrag bzw. die Rückübernah-
(Problemlöseverhalten, Verhaltensregula- me von Verantwortung gewinnen müssen.
tion, Zeitplanung, internale Enkodierungs- Um dies zu fördern kann man sich in der
und Abrufstrategien, Lernverhalten) eine Arbeit mit Angehörigen an Überlegungen
große Rolle – wiederum auch in Kombi- von Muir und Kollegen (1990) orientie-
nation mit Funktionstherapie. Bei der Ge- ren. Diese schlugen ein vierstufiges Modell
dächtnistherapie wurden ausgehend von (PLISSIT-Modell) zur Unterstützung und
allgemeinpsychologischen Erkenntnissen Behandlung von Angehörigen vor. „PLIS-
geeignete Lernstrategien entwickelt (z. B. SIT“ steht für:
basierend auf Elaboration oder Imagina- „Permission“: Angehörige können sich mit
tion), deren Nutzen auch in entsprechen- Sorgen, Ängsten und Fragen an Thera-
den Studien nachgewiesen werden konnte peuten wenden
(Chiaravolloti et al. 2005; Hildebrandt et al. „limited information“: Bereitstellung rele-
2007). Im klinischen Alltag zeigt sich, dass vanter Informationen durch Therapeu-
Patienten mit leichten bis mittelschwe- ten
ren Gedächtnisstörungen gut von solchen „specific suggestions“: Ratschläge für den
Strategien profitieren können, während Umgang mit den Patienten
bei Patienten mit schweren Gedächtnis- „intensive therapy“: Im Bedarfsfall Durch-
störungen die Vermittlung solcher Lern- führung von Interventionen, z. B. einer
strategien in der Regel nicht erfolgreich ist. systematischen Patient-Familien-Edu-
Im Bereich exekutiver Funktionsstörun- kation, einer Familienberatung, die
gen konnte die Wirksamkeit kompensato- Vermittlung an eine Selbsthilfegruppe
rischer Ansätze zum Beispiel für das Pro- oder die Organisation einer Betreu-
blemlösetraining (Rath et al. 2003; Fong ungsentlastung (Jacobs 1989).
et al. 2009) nachgewiesen werden. Ferner
finden Strategien zur Verhaltenskontrolle Patienten mit sehr schweren Defiziten
(Selbstinstruktionstechniken) im Zielma- können diese häufig nicht selber ausglei-
nagement Anwendung. chen. Hier müssen der Patient und seine
Häufig müssen mehrere Kompensa- Angehörigen durch ein Netzwerk profes-
tionsstrategien und -hilfen zum Ausglei- sioneller Helfer und Institutionen unter-
chen eines Defizits angewendet werden. stützt werden. Hierzu können zusätzliche
Dieses System an Kompensationsstrategi- Unterstützungsleistungen sowie persönli-
en gilt es, sukzessive im Laufe der Therapie che Assistenzen oder hauswirtschaftliche
236 T. A. Klein, T. Guthke

Hilfen erforderlich sein. Gegebenenfalls tens durch gezielte Verstärkung einzelner


kann eine berufliche Teilhabe durch eine zielführender Elemente), „chaining“ (Vor-
Tätigkeit in einer Werkstatt für Menschen wärtsversion des „backward chaining“)
mit Behinderungen (WfbM) angestrebt oder des „prompting“ (Unterstützung von
werden. Weitere Angebote wie geeignete außen) bzw. „fading out“ (schrittweise
Tagesförderstätten oder eine Einrichtung Rücknahme der Unterstützung von außen)
mit Angeboten zur Tagesstrukturierung gewinnbringend einsetzen. Die so erlern-
können unterstützend sein. Zur direkten ten Verhaltensweisen sind zum Teil sehr
Unterstützung der Angehörigen kann u. U. spezifisch und kontextgebunden – eine
die Empfehlung einer begleitenden psy- pauschale Generalisierung in den Alltag
chotherapeutischen Begleitung für diese kann nicht erwartet werden.
indiziert sein. Da Patienten mit erworbener Hirn-
schädigung nicht in dem Ausmaß auf
11.4.3 Verstärkungskontingenzen reagieren wie
Integrierte bzw. adaptierte hirngesunde Personen, können operante
Interventionsformen Verfahren zum Verhaltensauf- oder abbau
nicht ohne Modifikationen angewendet
Auch in der neuropsychologischen The- werden (Alderman 1996; Ducharme 2000;
rapie kommt der therapeutischen Bezie- Knight et al. 2002; Schlund 2002). So hat-
hung eine besonders große Rolle zu. Hier ten Münzverstärkungssysteme und eine
bewähren sich nach unserer Auffassung differenzielle Verstärkung von Verhaltens-
insbesondere therapeutische Haltungen weisen in verschiedenen Studien nur ei-
und Methoden, wie sie ursprünglich vor nen geringen Effekt. Die „response-cost“-
allem durch die Gesprächspsychotherapie Methode, das heißt, der Entzug positiver
nach Rogers (1993; vgl. auch Eckert 2007) Verstärker bei Fehl- oder Mangelverhal-
vermittelt wurden. Es gilt jedoch zu be- ten oder die differenzielle Verstärkung von
rücksichtigen, dass Schädigungen des Ge- Phasen mit einer geringen Rate an Ver-
hirns zu Beeinträchtigungen des Störungs- haltensauffälligkeiten, scheinen dagegen
bewusstseins führen können, sodass die wesentlich effektiver zu sein (Knight et al.
in der Gesprächspsychotherapie wichtige 2002).
Fähigkeit zur Selbstexploration stark ein- Wichtige Elemente können auch psy-
geschränkt sein kann. Es ist daher häufig choedukative Module sein (Cave: bei
nötig, therapeutische Methoden an die Er- schweren Gedächtnisstörungen ggf. kom-
fordernisse und Besonderheiten von Pati- pensatorische Methoden mitverwenden,
enten mit erworbenen Hirnschädigungen um Vergessen zu mindern), wie sie vor
anzupassen. So hat sich z. B. beim Aktivi- allem Bestandteil der Gruppentherapien
tätsaufbau im Angesicht schwerer Störun- sind. Bedeutsam ist auch der Einsatz sta-
gen die operante Methode des „backward bilisierender, supportiver und ressourcen-
chaining“ bewährt. So kann man z.  B. fördernder Techniken (vgl. Reddemann u.
beim Tischdecken zuerst mit dem letz- Sachsse 1997) und von Entspannungsver-
ten Schritt beginnen und dann schrittwei- fahren (z. B. PMR).
se weitere vorhergehende Schritte hin- Sehr positive Erfahrungen werden
zukommen lassen, bis der Tisch wieder auch vom Einsatz eines sozialen Kompe-
vollständig selbstständig gedeckt werden tenztrainings für Patienten mit erworbener
kann. Ähnlich lassen sich auch Ansätze Hirnschädigung berichtet. So gibt es ein ei-
des Kontingenzlernens (Etablierung von gens für Menschen mit erworbener Hirn-
Reiz-Reaktions-Verbindungen), „shaping“ schädigung entwickeltes Training sozialer
(schrittweises Ausformen eines Zielverhal- Kompetenzen (Schellhorn et al. 2008). Ge-
11 · Neuropsychologische Therapie bei Störungen von Kognition und Emotion 237

genstand sind hirnorganisch bedingte Stö- therapeutisch engmaschig supervidierte


rungen im Sozialverhalten (inadäquates berufliche Belastungserprobung und The-
Sozialverhalten, Impulskontrollstörung, rapie, im besten Falle am angestammten
Kommunikationsstörung, Antriebsminde- Arbeitsplatz des Patienten. In einer ersten
rung, mangelnde Störungseinsicht) und Pilotstudie (Guthke et al. 2012) zur Evalua-
soziale Anpassungsproblemen. Das Pro- tion dieses Therapieprogramms zeigte ein
gramm ist hinsichtlich seiner Komplexi- Prä-Post-Vergleich vor allem der Selbst-
tät, der Informationsaufbereitung und der und Fremdeinschätzung anhand des PAL
Durchführungshinweise sowie hinsicht- sowie die Einschätzung der Therapie durch
lich der ausgewählten Therapiethemen an die Patienten, dass berufsrelevante Leis-
die Erfordernisse einer neuropsychologi- tungsbeeinträchtigungen verringert bzw.
schen Klientel angepasst. kompensiert werden konnten. Die katam-
Die berufliche Wiedereingliederung nestischen Daten ein Jahr nach der Entlas-
stellt für viele Patienten mit erworbenen sung aus der Klinik zeigten auch, dass die
Hirnschädigungen neben der sozialen berufliche Reintegration bei einem Groß-
Reintegration ein zentrales Therapieziel teil der Patienten erfolgreich war.
dar. Das Ziel der beruflichen Reintegrati-
on lässt sich mit einer neuropsychologisch 11.4.4
berufsorientierten Therapie adressieren, in Fallbeispiel zur Neuropsychologischen
der restitutionstherapeutische, kompen- Therapie
satorische und integrative Therapieme-
thoden ggf. ergänzt um die Anpassung der Im Folgenden soll anhand eines Patien-
Erwartungen und Arbeitsbedingungen zu tenbeispiels (Jentzsch u. Guthke 2017) das
einem Therapieprogramm zusammenge- therapeutische Vorgehen in der Kombi-
stellt werden (Guthke et al. 2012). Es kann nation von restitutionstherapeutischen,
ein in Kooperation mit den Schmieder kompensatorischen und adaptierten ver-
Kliniken entwickeltes Profilvergleichsver- haltenstherapeutischen Methoden veran-
fahren (Profilvergleich Arbeitsplatzanfor- schaulicht werden (s. Kasten S. 238).
derungen vs. aktuelles Leistungsvermö-
gen: PAL) zum Einsatz kommen, welches
berufliche Anforderungen und aktuelles
Leistungsvermögen im Hinblick auf die
wesentlichen kognitiven und motorischen
Kenngrößen gegenübergestellt und zur
Festlegung von Therapieinhalten und der
Therapieevaluation dient. Neben der Res-
titution stehen auch die Vermittlung von
Kompensationstechniken sowie die mög-
liche Anpassung von beruflichen Anforde-
rungsprofilen im Vordergrund. Bedeutend
ist auch ein neuropsychologisch-psycho-
therapeutischer Ansatz, um entstandene
Verhaltensänderungen positiv beeinflus-
sen zu können und den Umgang mit der
Erkrankung oder mit Verhaltensänderun-
gen zu unterstützen.
Wichtiger Bestandteil des beruflichen
Therapieprogramms ist zusätzlich eine
238 T. A. Klein, T. Guthke

Fallbeispiel
Die 58-jährige Frau A. erlitt an ihrem Ar- Leute mich draußen sehen, werden sie bei
beitsplatz einen Myokardinfarkt und musste der Krankenkasse nachfragen“) und sich an-
aufgrund eines Herz-Kreislauf-Stillstandes dererseits gegenwärtig eine Berufstätigkeit
reanimiert werden. Aufgrund der transienten jedoch nicht zutraute („Ich sollte doch schon
globalen Ischämie sprach sechs Monate längst wieder arbeiten, aber traue mir noch
nach dem Ereignis nach Akut- und statio- nicht einmal das morgendliche Aufstehen
närer rehabilitativer Behandlung die umfas- zu“; „Ich war noch nie die Hellste, habe aber
sende neuropsychologische Diagnostik für die Arbeit hinbekommen. Jetzt kann ich mir
eine mittelgradige Aufmerksamkeitsstörung kaum etwas merken und planen“).
(Reduktion der Aufmerksamkeitsintensität, Sie hatte sich vor vier Jahren nach 21
Verlangsamung und eingeschränkte Dau- Ehejahren, unterstützt durch Behörden, vom
eraufmerksamkeit, Beeinträchtigung der gewalttätigen Ehemann mit Alkoholproblem
Aufmerksamkeitsselektivität), eine mittelgra- getrennt. Zu ihren beiden erwachsenen Söh-
dige Neugedächtnisstörung (reduzierte Ar- nen bestand eine gute Beziehung. Da ihr frü-
beitsgedächtnisleistungen, Schwierigkeiten herer Mann in der Nähe wohnte, fürchtete
bei der Enkodierung neuer Informationen, sie sich, bei Konfrontationen auf der Straße
mit dem Behalten nach mittelfristigen Zeit­ nicht angemessen (z. B. schlagfertig) reagie-
intervallen und erhöhter Interferenzneigung, ren zu können („Ich bin ihm nicht mehr ge-
profitierte von Abrufhilfen) sowie deutlichen wachsen“; „Ich bin schwach“).
exekutiven Defiziten (Schwierigkeiten beim
flexiblen Umgang mit Regeln sowie der vo- Die nebenstehende Tabelle gibt einen Über-
rausschauenden Planung, eine ungenügende blick über die Therapiebestandteile während
Fehlerkontrolle und deutlich reduzierte zweier längerer Therapieaufenthalte (jeweils
Ideen­flüssigkeit, insbesondere beim Finden 30 Behandlungstage) (Tab. 11.1).
alternativer Lösungsansätze, Defizite der all-
täglichen Terminplanung). Bei der Therapie standen zunächst supportiv-
Auch erfüllte sie die Kriterien für eine beratende, psychoedukative Elemente sowie
Anpassungsstörung mit mittelgradiger de- die Therapie der kognitiven Defizite im Vor-
pressiver Symptomatik. Für die Therapiepla- dergrund. Restitutionstherapeutische Me-
nung war es wichtig, die kognitiven und die thoden dienten vor allem der Therapie der
affektiven Störungen zu berücksichtigen. Bei Aufmerksamkeitsfunktionen, wobei kom-
der Erhebung der biografischen Anamnese pensatorische Strategien vor allem in den
ging es um biografischer Belastungen, ihren Gruppen vermittelt und geübt wurden. Zu-
bisherigen Bewältigungsstil und die Identifi- nehmend wurden unter Berücksichtigung der
kation möglicher dysfunktionaler Grundüber- eingeschränkten kognitiven Leistungsfähig-
zeugungen. keit adaptierte und auf die konkrete Problem-
Frau A. hatte nach einem Abschluss der stellung zugeschnittene psychotherapeu-
10. Klasse („mittlere Reife“) erfolgreich eine tische Methoden einbezogen. In dem Intervall
Ausbildung absolviert und in ihrem Ausbil- nach dem ersten Therapieblock absolvierte
dungsberuf gearbeitet. Nach der „Wende“ Frau A. ein vorher vereinbartes „Hauspro-
musste sie sich beruflich umorientieren und gramm“, welches kognitive, körperliche und
arbeitete bis zu dem Ereignis seit mehr als soziale Aktivitäten enthielt. Damit konnte die
zehn Jahren als Pflegehelferin im Schicht- Umsetzbarkeit der therapeutischen Strate-
dienst. Einerseits wollte sie ihre Arbeit un- gien im häuslichen Alltag gefördert werden,
bedingt wieder aufnehmen, wobei sie sich wobei zu Beginn des zweiten Aufenthaltes
auch innerlich unter Druck setzte („Ich sehe dies ausgewertet wurde und einzelne Stra-
aus wie das blühende Leben“; „Wenn die tegien, die sich nicht so bewährt hatten,
11 · Neuropsychologische Therapie bei Störungen von Kognition und Emotion 239

Tab. 11.1: Neuropsychologisches Therapieprogramm (Fallbeispiel)

Therapieform Schwerpunkt (Beispiele)


Einzeltherapie – Abstimmung über Therapieplan
– Supportive Elemente
– Modifikation dysfunktionaler Gedanken
– Ressourcenaktvierung
– Aktivitätsaufbau
Kognitive, computergestützte – Training von Reaktionsverhalten
Therapie – Training Daueraufmerksamkeit
Aufmerksamkeitsgruppe – Pausenverhalten
– Entspannungstechniken
– Training Daueraufmerksamkeit
Gedächtnisgruppe – Vermittlung externer Gedächtnishilfen (alltagstauglicher Kalender
als Gedächtnis-, Planungs- und Stimmungsstütze)
Problemlösegruppe – Training Problemlöseverhalten
– Ideengenerierung
Soziales Kompetenztraining – Kommunikation über Krankheit und die Folgen
– Einüben schlagfertiger Verhaltensweisen
Berufsgruppe – Austausch über Chancen und Risiken beim beruflichen Wiederein-
stieg
– Unterstützungsmöglichkeiten bei beruflicher Reintegration
Alltagspraktische Diagnostik – Therapeutische Vorbereitung und Supervision von beruflichen Teil­
und Therapie (APDT) aufgaben am alten Arbeitsplatz
– Empfehlungen für berufliche Wiedereingliederung

modifiziert wurden. Nachdem die kognitive Essensausgabe, Reinigung, einfache Beschäf-


Leis­tungsfähigkeit inzwischen verbessert bzw. tigungsangebote) betraut. Im Verlauf mussten
Defizite einigermaßen kompensiert werden noch Anpassungen des Aufgabenprofils und
konnten, hatte sich auch durch Aktivitäts- der eingesetzten Kompensationsstrategien
aufbau und die Modifikation dysfunktionaler (z. B. Einsatz externer Hilfsmittel wie Check-
Überzeugungen eine deutliche Verbesserung liste, Fehlermonitoring, Pausenmanagement)
der Stimmungslage ergeben. Außerdem war vorgenommen werden. Es kam zu einer Stei-
sich Frau A. auch anhand der gemeinsamen gerung des Arbeitstempos, einer Reduktion
Erstellung des Profilvergleichs Arbeitsplatz- von Fehlern und der Daueraufmerksamkeit,
anforderungen vs. aktuelles Leistungsvermö- sodass Empfehlungen für eine stufenweise
gen ihrer tätigkeitsbezogenen Stärken und Wiedereingliederung gegeben werden konn-
Schwächen besser bewusst, sodass mit dem ten. Allerdings ist damit zu rechnen, dass Frau
Arbeitgeber eine Belastungserprobung ver- A. nicht wieder voll erwerbstätig sein wird,
einbart werden konnte. Beginnend mit drei insofern wurde ihr die Beantragung einer teil-
Stunden für drei Tage die Woche wurde sie weisen Erwerbsminderungsrente empfohlen.
mit einfachen Routinetätigkeiten (z. B. bei der
240 T. A. Klein, T. Guthke

11.4.5 Weiterbildungsbedingungen und Versor-


Ambulante neuropsychologische gungslage mit neuropsychologischen Leis-
Therapie tungen in Deutschland führt.
Gemäß den aktuellen Regelungen ver-
Die neuropsychologische Behandlung ist läuft die Feststellung der Indikation für
seit Jahrzehnten ein fester Bestandteil im eine neuropsychologische Therapie zwei-
stationären Setting (Akutbehandlung und stufig.
Rehabilitation). Ihre Fortführung in ei- 1) Indikationsfeststellung durch einen
ner ambulanten Praxis war lange Zeit nur Facharzt: Vorliegen einer erworbenen
in Einzelfällen im Rahmen von Kosten- Hirnschädigung bzw. Hirnerkrankung.
erstattung möglich. Nachdem die neuro- 2) Indikationsfeststellung durch einen
psychologische Therapie als eine wissen- Neuropsychologen: Weisen die Ergeb-
schaftliche Psychotherapiemethode vom nisse der neuropsychologischen Diag-
wissenschaftlichen Beirat Psychotherapie nostik einen Therapiebedarf aus? Falls
anerkannt worden war, erfolgte durch eine ja, wie könnte ein neuropsychologi-
Arbeitsgruppe im Gemeinsamen Bundes- scher Behandlungsplan aussehen?
ausschuss (G-BA) eine umfängliche Prü-
fung des therapeutischen Nutzens, der Die neuropsychologische Therapie (durch-
medizinischen Notwendigkeit und der führbar durch Psychotherapeuten bzw.
Wirtschaftlichkeit aufgrund umfangrei- Fachärzte jeweils mit neuropsychologi-
cher wissenschaftlicher Erkenntnisse. Das scher Zusatzqualifikation) kann in Form
positive Ergebnis dieser Überprüfung führ- von Einzel- oder Gruppenbehandlung
te mit dem am 24. Februar 2012 in Kraft ge- durchgeführt werden, wobei diese bis zu
tretenen Beschluss des G-BA zur Aufnah- 60 Sitzungen à 50 Minuten (mit besonde-
me der Neuropsychologie in die Richtlinie rer Begründung weitere 20 Sitzungen mög-
zu Untersuchungs- und Behandlungsme- lich) umfassen kann.
thoden der vertragsärztlichen Versorgung. Die konkreten Anforderungen an diese
Somit wurde die ambulante neuropsycho- Zusatzqualifikation sind in den Weiterbil-
logische Therapie als neue Leistung der ge- dungsordnungen der Landespsychothe-
setzlichen Krankenversicherung etabliert. rapeutenkammern beziehungsweise der
Mit Stand Oktober 2021 sind bundesweit Muster-Weiterbildungsordnung der Bun-
ca. 229 Leistungserbringer zugelassen. Ein despsychotherapeutenkammer definiert.
Grund für die unzureichende Zahl neuro- Von Exner et al. (2010) wurde ein ambu-
psychologischer Leistungserbringer sind lantes Therapieprogramm für kognitive
auch die gegenwärtigen Aus- und Weiter- und emotional-motivationale Störungen
bildungsbedingungen. Für eine Niederlas- nach erworbenen Hirnschädigungen vor-
sung zur neuropsychologischen Therapie gestellt, in dem einerseits auf die Kompen-
benötigt man ein abgeschlossenes Psycho- sation kognitiver Defizite im Alltag und
logiestudium, eine Ausbildung in einem anderseits auf den Umgang mit negativen
Psychotherapieverfahren und eine Wei- Emotionen und eine Neuorientierung des
terbildung in Klinischer Neuropsycholo- Selbstkonzeptes und der Lebensziele fo-
gie. Zukünftig kann man nach einem Mas- kussiert wird. Einzelne Module dienen z. B.
terstudium in Klinischer Psychologie und der Behandlung der depressiven Verstim-
Psychotherapie mit Approbation direkt mung orientiert am kognitiv-behavioralen
mit einer Weiterbildung in Neuropsycho- Vorgehen (Hautzinger 2003).
logischer Psychotherapie beginnen. Es ist
zu hoffen, dass die eigenständige Gebiets-
weiterbildung zu einer Verbesserung der
11 · Neuropsychologische Therapie bei Störungen von Kognition und Emotion 241

11.5 Hierbei kommen angepasste Methoden


Zusammenfassung und Techniken aus anderen Psychothera-
pieverfahren zum Einsatz. Ziel dieser In-
Neuropsychologische Störungen treten terventionsformen können Aspekte wie
häufig nach einer Erkrankung oder Verlet- Verhaltensänderungen und Schwierigkei-
zung des Gehirns auf. Hierbei kann es sich ten mit der Krankheitsverarbeitung sein.
vor allem um Störungen von Aufmerksam- Dazu gehört auch die Unterstützung des
keits-, Gedächtnis- und exekutiven Funkti- Patienten und seiner Angehörigen bei der
onen sowie Verhaltens- und emotional-af- Verarbeitung eingetretener Verluste, die
fektive Störungen handeln. Anpassung von Erwartungen und Zielen
Die neuropsychologische Behand- an die neue Situation sowie die Reinte­
lungsstrategie wird auf der Basis der dia­ gration in den häuslichen und beruflichen
gnostischen Ergebnisse – aus Krank- Alltag. Grundsätzlich ist ein engmaschiger
heitsanamnese und störungsspezifischer Einbezug der Angehörigen wesentlicher
Exploration, neurologischen inkl. bildge- Bestandteil einer neuropsychologischen
benden Befunden, standardisierten psy- Behandlung.
chometrischen Verfahren und ggf. Fremd- Während die neuropsychologische
anamnese – und auf der Grundlage des Diagnostik und Therapie sich in den letz-
aktuellen wissenschaftlichen Kenntnis- ten Jahrzehnten als fester und bedeutsa-
standes in kritischer Reflexion des Einzel- mer Bestandteil vor allem in der stationä-
falles im Sinne eines holistischen Vorge- ren und teilstationären neurologischen
hens individuell bestimmt und festgelegt. Akut- und Rehabilitationsbehandlung
Zu Beginn der Behandlung stehen häufig etabliert hat, fehlen nach wie vor ausrei-
restitutive Methoden im Mittelpunkt, wel- chende Strukturen in der ambulanten Be-
che auf der Reaktivierung gestörter neuro- handlung. Durch einen Beschluss des GBA
naler Systeme beruhen. Im Rahmen von 2012 wurde die ambulante neuropsycho-
adaptivem, sehr häufig computergestütz- logische Therapie als neue Leistung der
tem kognitiven Training werden durch in- gesetzlichen Krankenversicherung eta-
tensives, adaptives und repetitives Üben bliert. Seitdem begann der Aufbau einer
die beeinträchtigten Funktionen teilweise ambulanten Versorgungsstruktur, indem
oder vollständig wieder reaktiviert. Sehr entsprechend qualifizierten Psychothera-
häufig sind aber, insbesondere bei fort- peuten eine Abrechnungsgenehmigung
schreitender Chronifizierung bzw. bei oder eine Sonderbedarfszulassung/Er-
größeren Beeinträchtigungen, auch stär- mächtigung erteilt wurde. Mit Stand Ok-
ker kompensationstherapeutische The- tober 2021 sind bundesweit ca. 229 Leis-
rapieformen notwendig. Hierzu gehören tungserbringer zugelassen. Aufgrund der
Maßnahmen, in deren Rahmen Bewälti- notwendigen, umfangreichen Qualifikati-
gungsfähigkeiten aufgebaut werden sol- onserfordernisse bedarf es insbesondere
len. Funktionsdefizite sollen durch bereits einer Förderung und Weiterentwicklung
vorhandene Fähigkeiten, durch die Ent- entsprechend notwendiger Aus- und Wei-
wicklung neuer Fähigkeiten oder den Ein- terbildungsmöglichkeiten sowie einer an-
satz von speziellen Strategien (z. B. inter- gemessenen Vergütung. Die Reform der
nale Enkodierungs- und Abrufstrategien) Psychotherapeutenausbildung sowie die
und externen Hilfen (Gedächtnistagebuch, neu zu erstellenden Weiterbildungsord-
elektronische Hilfsmittel) ausgeglichen nungen werden auch zukünftig für Anpas-
werden. sungen im Bereich der neuropsychologi-
Des Weiteren kommen sogenannte schen Aus- und Weiterbildung sorgen.
integrative Therapieansätze zum Einsatz.
242 T. A. Klein, T. Guthke

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245

Sachverzeichnis

A C
Aachener Aphasie Test  178, 180 Canadian Occupational Performance Measure
Aachener Aphasie-Bedside-Test  180 (COPM) 47
Action Research Arm Test (ARAT)  102, 118 Carer Burden Scale 141
affektive Störungen  227, 229, 238, 241 Cerebrolysin  114 f., 119
Agnosie, visuelle  212 Clinical Reasoning  27 f.
akinetischer Mutismus  84 Coma Recovery Scale Revised (CRS-R)  86, 90
Akinetopsie 207 Constraint-induced movement therapy
Akupunktur  109, 119 (CIMT)  101, 103 f.
ambulante neuropsychologische Thera- Continuous Positive Airway Pressure
pie  240 f. (CPAP)  65, 75
Amsterdam Nijmegen Everyday Language Test Corona/COVID-19  1, 17, 74, 81, 166
(ANELT) 183 Critical Illness Polyneuropathie (CIP)  67, 74
Angststörung  77, 227, 229
Aphasie  163 ff., 189
D
ARAT  8, 103, 106
Arm-Basis-Training (ABT)  15, 101f, 107, 116, d-Amphetamin 114
119 Disability Assessment Scale (DAS)  141
Arm-Fähigkeits-Training   96 Donepezil 192
Arm-Robot-Therapie  110 f., 116, 119 Dunkeladaptation  200 f., 220
Assisted Spontaneous Breathing  62 Dysphagie  69 f., 76 f., 91 f., 113, 153 ff.
aufgabenorientiertes Training (AOT)  8, 15 f.,
27, 101 f., 116, 119, 126 E
Aufmerksamkeitsstörungen  191, 228 Elektrostimulation  103, 109 ff., 119, 144, 166
– EMG-getriggerte (EMG-ES)  103, 109 f., 116
B – funktionelle (FES)  109 ff., 146
– neuromuskuläre (NMES)  109 ff., 116, 119
Baclofen-Therapie, intrathekal  92, 140, 143,
– pharyngeale  166
145, 147 ff.
Emotional-affektive Störungen  227, 241
Balance  4, 7, 35, 51, 123ff, 131, 133
Empowerment  29, 43
– Assessments  124
Exekutive Störungen  234
– Training  125
Exoskelett  128, 130 ff.
Bálint-Holmes-Syndrom  199, 209, 214f, 221
Extinktion   217 ff.
Beatmungstherapie  64, 71
Belastungstörungen 229
Bewegungsinduktionstherapie  101, 103f, 116, F
119 Farbwahrnehmung  204, 211 f., 221
Bewegungswahrnehmung  207 f. Feedback  5 f., 13, 34 ff., 51, 55, 118, 178, 196 f.,
Bewusstseinsstörungen  82 ff. 200 ff.
Bilaterales Training  101, 105 f., 119 FEES (Flexible Endoscopic Evaluation of Swal-
Biomarker  1, 10 ff., 21 f. lowing)  73 f., 153, 157 ff.
Biphasic Positive Airway Pressure Fluoxetin 103
(BIPAP) 65 forced use  105
Bottom-up-Modell  32 f., 217 ff. Freiburger Fragebogen zur Krankheitsverarbei-
Botulinumneurotoxin Typ A (BoNT A)  114, tung 184
145 f. Fugl-Meyer-Score  8, 10, 19
Box-and-Block Test (BBT)  13, 118 Funktionelle Dysphagietherapie (FTD)  160
Brain-Computer-Interface (BCI)  112 f. funktionelle Elektrostimulation (FES)  109,
246 Sachverzeichnis

116. 146 M
funktionelle Magnetresonanztomographie Magnetstimulation 11
(fMRT)  12, 21, 82, 90, 154, 155 – periphere  144, 217
Funktionstherapeutische neuropsychologische – repetitive transkranielle (rTMS)  19, 90, 93,
Therapien 232 111f, 119, 144, 166, 177, 192
Mentales Training  108 f., 116, 119
G minimally conscious state  84
Gangtrainer  16, 128 minimal responsives Syndrom  84
Gedächtnisstörungen  213, 228, 235f. motorisch evozierte Potentiale (MEP)  11, 14,
Gehfähigkeit  13, 123, 127 ff., 144 20
Gehtraining  128 ff. Mutismus  84, 177
gerätegestützte Therapie  144, 149 – akinetischer  84
Gesichtsfeldausfall  202 ff., 218, 220 f.
Gleichstromstimulation, transkranielle N
(tDCS)  144, 166, 192 Narrative Medizin  32
Goal Attainment Scale (GAS)  142 Neglect 49, 70, 199, 209f, 215 ff.
Goal-Setting Theory  42, 44 Nervus-vagus-Stimulation (VNS)  113
Gütekriterien 34 Neugedächtnis   228, 238
Neuromuskuläre Elektrostimulation
H (NMES)  109, 111, 116, 119
Handlungsplanung  43 ff. Neuropsychologische Therapien  232 f.
Handlungstheorie   31 Nine-Hole-Peg Test  118
Health Action Process Approach  44, 46
Heat Moisture Exchanger (HME)  64
Helladaptation  199 ff., 220 O
Hemianopsie  49, 202, 218 Okulomotorikstörungen 219
Hirnstammläsion 166 Orale Transportphase  156, 163
Hirnstammmechanismen 155 Orale Vorbereitungsphase  156
Hirnstammschädigung  83 f. Orthese  113, 144 f., 149
Homonyme Gesichtsfeldausfälle  199, 202,
211, 220 f. P
Hypoxisch-ischämische Enzephalopathie (HIE)
Paraphasien  178, 179
82, 88 f.
Parenterale Ernährung  165
Pharyngeale Phase  155 ff., 167
I Pharynx  73, 157, 159, 162, 166
Injektionsbehandlung  115, 144, 146 f. Physiotherapie  54, 69 ff., 107, 123, 125, 128,
Interdisziplinäre Teams  29 134, 143 ff.
intermittierende pneumatische Kompressi- Positive endexpiratory pressure (PEEP)  64 f.
on 109 Posturale Kontrolle  106, 124 f.
Interventionsformen  232, 236, 241 Postläsionelle Plastizität  5 ff., 10, 20
intrathekale Baclofen-Therapie  92, 140, 143 Präorale Phase  156, 161, 167
PREP-Algorithmus  11, 14
K Psycholinguistische Untersuchung  176, 181 f.
Koma  82 ff., 90, 95 Pyramidenbahn  8 ff., 140 f., 155
Kompensation  24 ff., 152, 166, 190 f., 223 ff.,
232 R
Kontextfaktoren  32 f., 36, 38 f.
Reizerscheinungen, visuelle  214
Kontrastsehen  199 f., 220 f.
Reliabilität  50, 78, 119, 127, 148
Körperfunktionen  32 f., 36
Repetitionsrate  12 f.
repetitive transkranielle Magnetstimulation  19,
L
90, 93, 111f, 119, 144, 166, 177, 192
Lagerung  91, 113,
Resistance to Passive Movement Scale (RE-
Laufband  16, 128 ff., 144
PAS)  118, 139, 141, 149
L-Dopa  92, 113 f., 119
Restitution  6 ff., 11, 33, 111, 116, 160 f., 176,
Locked-in-Syndrom (LIS)  84 f.
232, 237
Logogen-Modell  181 ff.
Sachverzeichnis 247

restitutive neuropsychologische Interventi- V


onen 232 Validität  31, 34, 127, 157
RUMBA-Regel 48 Verhaltensstörungen  227, 229
Verlaufsmessung 34
S Videofluoroskopie (VFSS)  153, 157 ff.
Schädigungsorientiertes Training  15 f., 106 Vigilanz  76, 292, 28
Schluckdiagnostik  153, 157 Virtuelle Realität (VR)  110, 116, 119
Schluckreflexauslösung  157, 159, 163 Visual Analog Mood Scale (VAMS)  184
Schluckreflextriggerung  161, 163 f., 166 Visual Discomfort  202, 201 ff.
Sehschärfe  199 ff., 207, 212, 220 f. Visuelle Agnosien  212f
Selbsteinschätzung  42, 184, 234 Visuelle Bewegungswahrnehmungsdefizi-
Selbstmanagement  28, 42f, 51 f. te  207 f.
Selbstregulierung  43, 46 Visuelle Reizerscheinungen  214f, 221
Selbstwirksamkeit  29, 41 ff., 45 f. Visuell-räumliche Störungen  202, 204, 208 f.,
Sensible (elektrische) Stimulation  109, 116, 215
119
Shaping  16, 35, 102, 236 W
Shared Decision Making (SDM)  32, 41, 57 Wachheit  82 ff., 91 f., 185, 187
SMART  48, 87
Somatisch evozierte Potenziale  87 Z
Somatosensorisch evozierte Potenziale Zerebralparese 134
(SSEP)  14, 20, 88 Zielevaluierung  41, 44, 47 f., 56
Spastizität  140 ff. Zielvereinbarungen 41
Spiegeltherapie  108, 116, 119
Spontanerholung  10, 178, 185, 188, 204
Sprachfunktion  8, 174, 177, 184
Sprachtherapie  54, 69, 77, 173, 184 ff., 190, 192
Stereopsis  205 f., 221
Stimulationsverfahren 92
Sturz/Stürze  51, 54, 81, 127, 132 ff.
Syndrom minimalen Bewusstseins (SMB)  84
Syndrom reaktionsloser Wachheit (SRW)  83
Szenario-Test 183

T
Taping  113, 119
Therapie des faziooralen Traktes (F.O.T.T.)  69,
91
Therapieintensität  189 f.
Thermosondenstimulation 161
Top-down-Modell  32f, 57, 217 f., 228
Trachealkanüle  66 f., 76, 153
Trachealkanülenmanagement  63, 77
Transkranielle Gleichstromstimulation (Trans­
cranial Direct Current Stimulation,
tDCS)  19, 111 f., 144, 166, 192 f., 217
Transkranielle Magnetstimulation (TMS)  12,
19, 217
TWIST-Algorithmus 12

U
Umweltfaktoren  36, 38 ff., 47, 49, 52
unresponsive wakefulness syndrome
(UWS) 83
Upper Motor Neuron Syndrom (UMNS)  140
Update Neurorehabilitation 2022
Tagungsband zur Summer School Neurorehabilitation
des Alfried Krupp Wissenschaftskollegs Greifswald

Ein Neurorehabilitations-Update auf 260 Seiten. Dicht gepackt und


durch zahlreiche Abbildungen aufgelockert – eine gute Gelegenheit, kli-
nische Praxis in der Neurorehabilitation im Überblick und „brandaktu-
ell“ kennenzulernen. Ein guter Start für Personen, die noch nicht lange in
der Neurorehabilitation tätig sind, und ideal für alle, die ihre Erfahrungen
mit dem aktuellen Stand der klinischen Wissenschaft abgleichen wollen:
Beatmungsentwöhnung (Weaning), Behandlung schwerer Bewusstseinsstö-
rungen, Dysphagie-Management, Armmotorik, Stehen und Gehen, Behandlung
von spastischen Bewegungsstörungen, Förderung von Sprache, visueller Wahr-
nehmung, Kognition und Emotion werden thematisiert, aber auch allgemeinere
Aspekte wie Assessment, Behandlungsziele und Teamarbeit oder neurobiolo-
gische Grundlagen der Neurorehabilitation.
So multiprofessionell, wie die Neurorehabilitation ist, ist das Format der
Summer School für alle Berufsgruppen des Neuroreha-Teams geeignet.
Die Summer School Neurorehabilitation ist Teil einer Fortbildungsinitiative der
Weltföderation Neurorehabilitation WFNR.

Herausgeber: Th. Platz


Mit Beiträgen von
C. Breitenstein, A.-K. Bur, K. Fheodoroff, Th. Guthke, S. Hamzic, J. Herzog,
G. Kerkhoff, T. Klein, M. Lotze, J. Mehrholz, Th. Platz, C. Pott, J. D. Rollnik,
I. Rubi-Fessen, T. Schmidt-Wilcke, L. Schmuck, M. Schreiner, K. M. Stephan,
J. Wissel

ISBN 978-3-944551-77-7

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