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Update
Neurorehabilitation
Update
Neurorehabilitation
2022
Tagungsband zur
Summer School Neurorehabilitation
HERAUSGEBER
Genderhinweis
Aus Gründen der Übersichtlichkeit und besseren Lesbarkeit wird in diesem Buch das generische Maskulinum
als geschlechtsneutrale Form verwendet. Damit sind auch ohne besondere Kennzeichnung immer alle Ge-
schlechter gemeint.
Die Medizin ist eine Wissenschaft mit ständigem Wissenszuwachs. Forschung und Weiterentwicklung klinischer
Verfahren erschließen auch gerade in der Pharmakotherapie veränderte Anwendungen. Die Verfasser dieses
Werkes haben sich intensiv bemüht, für die verschiedenen Medikamente in den jeweiligen Anwendungen
exakte Dosierungshinweise entsprechend dem aktuellen Wissensstand zu geben. Diese Dosierungshinweise
entsprechen den Standardvorschriften der Hersteller. Verfasser und Verlag können eine Gewährleistung für die
Richtigkeit von Dosierungsangaben dennoch nicht übernehmen. Dem Praktiker wird dringend empfohlen, in
jedem Anwendungsfall die Produktinformation der Hersteller hinsichtlich Dosierungen und Kontraindikatio
nen entsprechend dem jeweiligen Zeitpunkt der Produktanwendung zu beachten.
Die Wiedergabe von Gebrauchsnamen, Handelsnamen, Warenbezeichnungen usw. in diesem Buch berechtigt
auch ohne besondere Kennzeichnung nicht zu der Annahme, dass solche Namen im Sinne der Warenzeichen-
u. Markenschu z-Gesetzgebung als frei zu betrachten wären und daher von jedermann benutzt werden dürften.
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Überset-
zung, des Nachdrucks, des Vortrages, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der
Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsan-
lagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten.
Vorwort
I m Juni 2022 fand die fünfte Summer School „Neurorehabilitation“ im Alfried Krupp
Wissenschaftskolleg Greifswald mit finanzieller Unterstützung der Alfried Krupp von
Bohlen und Halbach-Stiftung, Essen, statt.
Die für jedes zweite Jahr in Greifswald geplante Summer School richtet sich an Mit-
arbeiterinnen und Mitarbeiter der ärztlichen, pflegerischen und der therapeutischen
Dienste gleichermaßen und ist damit für die persönliche Fortbildung wie auch für die
Teamentwicklung geeignet. Die Summer School „Neurorehabilitation“ möchte mit ei-
nem kompakten Weiterbildungsformat den aktuellen Stand der klinischen Wissenschaft
darstellen. Neurorehabilitative Schwerpunkte wie Beatmungsentwöhnung (Weaning),
Behandlung schwerer Bewusstseinsstörungen, Dysphagie-Management, Armmotorik,
Stehen und Gehen, Behandlung von Spastik, Förderung von Sprache, visueller Wahrneh-
mung, Kognition und Emotion wurden thematisiert, aber auch allgemeinere Aspekte wie
Assessment, Behandlungsziele und Teamarbeit oder neurobiologische Grundlagen der
Neurorehabilitation.
Die Themen bilden einerseits ein Europäisches Curriculum „Neurorehabilitation“ ab.
Andererseits ist die Summer School „Neurorehabilitation“ eine Fortbildungsinitiative der
Weltföderation Neurorehabilitation WFNR und könnte modellhaft für ähnliche Aktivitä-
ten weltweit werden.
Dieser Begleitband „Update Neurorehabilitation 2020“ möchte wichtige Fortbildungs-
inhalte einer breiten Leserschaft zur Verfügung stellen und damit auch all diejenigen er-
reichen, die sich über diese Themen informieren möchten, ohne dass sie selbst an der
Summer School „Neurorehabilitation“ teilnehmen konnten. Der Begleitband stellt eine
Ergänzung zum E-Learning-Programm der Summer School dar. Mit dem E-Learning-Pro-
gramm haben Interessierte der Gesundheitsfachberufe nach einer Registrierung beim Al-
fried Krupp Wissenschaftskolleg Greifswald die Möglickeit, sich die Vorträge der Summer
School auch im Nachgang anzusehen.
Inhalt
Vorwort. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V
1
Plastizität als Grundlage für die Erholung nach Schlaganfall . . . . . 1
K. M. Stephan, M. Lotze
1.1 Lernen und Plastizität bei gesunden Erwachsenen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1
1.2 Hirnentwicklung und Plastizität beim Kind und jungen Erwachsenen. . . . . . . . . . . 3
1.3 Postläsionelle Plastizität und postläsionelles Training als Grundlage
für therapeutische Interventionen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5
1.4 Biomarker zur Verbesserung der Prognose und Stratifizierung
einer Rehabilitationsbehandlung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10
1.5 Können die Ergebnisse der Forschung das sensomotorische
Training optimieren? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15
1.6 Modulation von Therapieeffekten eines aktiven sensomotorischen Trainings
durch zentrale und periphere Stimulation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 18
1.7 Zusammenfassung und Ausblick. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21
2
Best-Practice-Neurorehabilitation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27
C. Pott, K. Fheodoroff
2.1 Einleitung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27
2.2 Personzentrierter Ansatz in der Neurorehabilitation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30
2.3 Ziele in der Neurorehabilitation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 40
2.4 Maßnahmen und Interventionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51
2.5 Teamarbeit in der Neurorehabilitation. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54
2.6 Zusammenfassung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57
Sachverzeichnis. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 237
XI
Autoren
Dr. rer. medic. Ilona Rubi-Fessen PD Dr. med. Klaus Martin Stephan
Universität zu Köln Dr. Klaus Martin Stephan
Humanwissenschaftliche Fakultät SRH Gesundheitszentren Nordschwarzwald
Pädagogik und Therapie bei Sprach- und Gisela-und-Hans-Ruland-Strasse 1
Sprechstörungen 76337 Waldbronn
Klosterstr. 79b
50931 Köln
Prof. Dr. med. Jörg Wissel
Abteilung für neurologische Rehabilit ation
Prof. Dr. med. Tobias Schmidt-Wilcke und physikalische Therapie
Neurologisches Zentrum Klinik für Neurologie
Bezirksklinikum Mainkofen Vivantes Klinikum Spandau
Mainkofen A 3 Neue Bergstraße 6
94469 Deggendorf 13585 Berlin
XIII
Abkürzungsverzeichnis
1
Plastizität als Grundlage für die Erholung nach
Schlaganfall
Klaus Martin Stephan, Martin Lotze
Tab. 1.1: Lernen von Fähigkeiten – Verlauf von strukturell-funktionellen Änderungen beim Erwachsenen
Makroskopisch sichtbare Ände Unterliegende funktionell bedeutsame
rungen (MRT) Änderungen mikroskopisch sichtbarer
Strukturen
Initiales Lernen des Zunahme der grauen Substanz in Stärkung von Synapsen und Bildung zusätz-
Ablaufs relevanten Funktionsbereichen licher Synapsen und evtl. auch Axone, diese
Veränderung der Neurone wird durch die
Gliazellen mit gesteuert
Ablauf effizienter ge- Änderungen funktionell relevanter Bildung zusätzlicher und effektiverer Ver-
stalten Verbindungen in der weißen bindungen durch veränderte oder vermehr-
Substanz te Synapsen v. a. an den Dendriten,
eventuell auch Veränderungen der Axon
struktur
Automatisieren der Abnahme der initial vermehrten Eine effektivere Durchführung ist durch
Tätigkeit grauen Substanz eine „Verbesserung“ der direkten Verbin-
dungen gesichert
Kein weiteres Durchfüh- Veränderungen in der grauen Rückbau der zusätzlichen synaptischen
ren der „neuen“ senso- und weißen Substanz, häufig mit (und ggf. axonalen) Verbindungen sowohl
motorischen Fähigkeiten Volumenminderung verbunden in der grauen als auch der weißen Sub-
stanz, einige synaptische Verbindungen
über Dendriten bleiben vermutlich struktu-
rell erhalten
Werden die neu erworbenen Fähigkei- eine wesentliche Rolle. Dabei bestehen al-
ten nicht genutzt, so können sowohl die- lerdings deutliche Unterschiede zwischen
se Fähigkeiten als auch die anatomischen der Plastizität bei der Hirnentwicklung
Veränderungen wieder verloren gehen beim Kind und der Plastizität beim Lernen
bzw. rückgebildet werden, ohne dass ef- beim Erwachsenen. In den folgenden Ab-
fektivere Verbindungen im zentralen Ner- schnitten sollen wesentliche Aspekte der
vensystem geschaffen werden (Draganski Plastizität bei der Hirnentwicklung darge-
et al. 2004; Driemeyer et al. 2008). Das eng- stellt werden, um so die Möglichkeiten und
lische Motto heißt sowohl für die Fähigkei- Grenzen der Plastizität nach Schlaganfall
ten als auch für die makroanatomischen besser zu verstehen.
Veränderungen: „Use it or loose it!“ Während der Embryogenese werden
Neuere Untersuchungen zeigen, dass die Zelldifferenzierung und -reifung in
zumindest bei Nagern einige synaptische Neurone und Gliazellen über genetisch de
Verbindungen weitgehend strukturell er- terminierte Programme gesteuert. Ebenso
halten bleiben, auch wenn sie ihre Funk- danach die Wanderungen der Zellen in-
tion nicht weiter nutzen. Dies könnte das nerhalb dieses Gewebes, Ausbildung und
schnelle Wiedererlernen einmal Gelernten Aussprossung von Dendriten und Axonen
erklären. sowie die Formation von synaptischen
Verbindungen, die zur Entwicklung eines
Informationsnetzwerkes führen. Dieses
1.2 Programm „steuert“ die Entwicklung über
eine zeitlich und örtlich festgelegte Ex-
Hirnentwicklung und Plastizität beim
pression von speziellen Genen, über pas-
Kind und jungen Erwachsenen
sagere Anpassungen der Struktur von Den
Plastizität spielt nicht nur beim Lernen, driten und Axonen zur „Erkundung“ des
sondern auch bei der Hirnentwicklung intrazellulären Raumes (Wachstumske-
4 K. M. Stephan, M. Lotze
gel) sowie über die Funktion ausgeschüt- Entwicklung. Diese kritischen oder auch
teter bzw. membrangebundener Moleküle. sensiblen Perioden existieren sowohl für
Um von den Millionen von Möglichkei- die auditive und visuelle Wahrnehmung
ten zur gewünschten Struktur (und später als auch für die Sprache. Die kritische Pe-
Funktion) des zentralen Nervensystems riode für das binokuläre Sehen liegt im Be-
zu kommen, müssen zeitliche und örtli- reich der ersten Lebensjahre, die für die
che Prozesse eng aufeinander abgestimmt Sprache im Bereich des zweiten bis vier-
sein. Da die Grundprinzipien der Planung ten Lebensjahres. Wenn ein Kind schielt
und Regulation nach den bisherigen Er- und dies nicht innerhalb der ersten Le-
kenntnissen zwischen den meisten Spe- bensjahre korrigiert wird, so kann es das
zies übereinstimmen, finden die meisten binokuläre Sehen später nicht mehr erler-
Untersuchungen dazu bei einfachen Spe- nen. Und ein Kind, das seine Mutterspra-
zies statt z. B. bei der Drosophila – also der che nicht innerhalb der ersten Jahre lernt,
Fruchtfliege. kann dies später nur mit sehr viel mehr
Im Laufe der Schwangerschaft und vor Aufwand nachholen. Neuroanatomisch
allem nach der Geburt tritt die Erfahrung und -physiologisch ist die kritische Peri-
des Kindes an die Seite der genetischen De- ode gekennzeichnet durch eine feine Ba-
termination. Bereits während der Schwan- lance zwischen Exzitation und Inhibition.
gerschaft werden Töne von außerhalb des Sie beginnt z. B. im visuellen System, wenn
Bauchraums der Mutter wahrgenommen vermehrt inhibitive Interneurone ausge-
und das Kind schluckt und bewegt seine bildet werden. Sie endet meist, wenn die
Arme und Beine. Nach der Geburt prägen Strukturen durch Ausbildung von peri-
olfaktorische, somatosensorische, audito- neuralem Gewebe und eine zunehmen-
rische und visuelle Wahrnehmungen die de Myelinisierung anatomisch stabilisiert
Erfahrungen des Kindes. Besonders gut werden. Von Myelin umwickelte Axone
ist der Einfluss der visuellen Erfahrungen erlauben eine sehr viel schnellere Weiter-
auf die Reifung der Sehbahnen und visuel- gabe von Informationen (Aktionspotentia-
len Areale untersucht, ohne visuelle Infor- len) und eine Millisekunden genaue Infor-
mation kann das binokulare Sehen nicht mationsverarbeitung z. B. im Hörsystem.
ausgebildet werden. Andererseits genügt Das Erlernen von Fähigkeiten, für die eine
natürlich auch nicht die visuelle Informa- kritische Periode während der Entwick-
tion alleine, erst das Zusammenspiel zwi- lung besteht, ist danach entweder gar nicht
schen genetischem Programm und visuel- mehr möglich oder zumindest mit sehr viel
ler Erfahrung ermöglicht die „Ausreifung“ mehr Aufwand und Anstrengung.
der strukturellen Basis für das binokula- Ein Ziel der postnatalen Entwicklung
re Sehen. Ähnliches gilt für eine präzise- ist somit nicht nur eine Adaptation der
re bzw. spezifischere akustische und so- anatomischen Verhältnisse gemäß der in-
matosensorische Wahrnehmung und für dividuellen Erfahrung und Lebensumstän-
eine Vertiefung der Kopplung zwischen de (z. B. Struktur und Klangfarbe der Spra-
Sensorik und Motorik. Im Gegensatz zu che), sondern auch eine Festigung und
den vorwiegend genetisch determinierten Optimierung der Struktur, sodass tägliche
Entwicklungsschritten ist bei diesen Ent- Handlungen möglichst effizient durch-
wicklungsschritten der Wirkmechanismus geführt werden können und neue Erfah-
durch einen Vergleich mit anderen Spe- rungen im weiteren Leben zwar die syn-
zies nicht mehr so zuverlässig zu klären aptische Verarbeitung beeinflussen, aber
(Sanes 2021). nicht zu immer wiederkehrenden Verän-
Besonders groß ist der Einfluss der Er- derungen der anatomischen Grundstruk-
fahrung während „kritischer Perioden“ der tur des Gehirns führen. Es ist nicht sicher
1 · Plastizität als Grundlage für die Erholung nach Schlaganfall 5
schen ventral prämotorischen und primär ten „skills“ führt (Hübner u. Bonhoeffer
sensorischen Hirnarealen zumindest teil- 2014).
weise kompensiert werden (Nudo 2007). Auch ohne gezielte Interventionen un-
Bei den meisten Tieren kommt es vor terstützen nicht alle Folgen der Plastizität
allem während der ersten Wochen zu einer die funktionelle Erholung. Dies zeigen bei-
spontanen Erholung einiger Funktionen spielhaft die folgenden Untersuchungen:
(Nudo et al. 2006). Diese Periode gesteiger- Durch direkte Ableitung am Kortex im
ter postläsioneller Plastizität dauert beim Tierversuch zeigte sich nach Läsionen im
Nager circa vier Wochen, danach sind die- M1-Fingerareal, dass sich die proximalen
se spezifischen Charakteristika nur noch in Handrepräsentationen (z. B. die Handge-
deutlich geringem Umfang nachweisbar. lenksextension) in die ehemalige Finger-
Es liegt nahe, hier wie bei der Entwicklung repräsentation hinaus ausbreiten (Nudo
von einer „sensiblen Periode“ oder „kriti u. Milliken 1996). Dies ist nach den Regeln
schen Periode“ zu sprechen. Die verstärkte der Plastizität zu erwarten und sinnvoll. Es
Plastizität und die Existenz einer kritischen ist aber für die Erholung der Fingerfunkti-
Periode legen einen Vergleich mit der Re- on kontraproduktiv. Nur beim Training der
gulation während der Entwicklung nahe. Fingerfunktion in einem recht engen Zeit-
Allerdings bestehen trotzdem deut- fenster innerhalb einer Woche nach der
liche Unterschiede zwischen der „Plasti- Schädigung fand sich ein Ausbleiben die-
zität während der Entwicklung“ und der ser „maladaptiven“ Mechanismen (Nudo
„Plastizität nach einer Hirnläsion“: Zum et al. 1996). Das frühe Training der Finger-
einen ist das Umfeld nicht optimal auf eine funktion konnte sogar nach Beobachtung
Förderung axonalen Wachstums sowie Sy- der Autoren in einigen Fällen zu einer Aus-
napsenbildung eingestellt. Im Gegenteil, breitung der Fingerrepräsentation in vor-
während der Regeneration werden be- her proximal repräsentierende Areale füh-
stehende axonale Strukturen trotz lokaler ren.
Freisetzung von plastizitäts-fördernden Die Bedeutung eines frühen Trainings-
Molekülen eher erhalten. Hier überwiegt beginns wird durch die folgende Untersu-
der Einfluss von „Struktur-sichernden“ chung nochmals unterstrichen: An fünf
Substanzen (siehe Kane u. Ward 2021). Affen wurde ein großer Anteil des M1-
Perineurales Gewebe und Myelinreste Handareals lädiert. Die Therapie begann
hindern zudem häufig auch mechanisch erst nach einem Monat mit einer Art „con-
eine Restitution. Hier sind therapeutische strained induced movement“-Therapie,
Interventionen denkbar, die entweder die bei der die betroffene obere Extremität
Struktur ändern (Hemmung von „Axo- durch Immobilisation der nicht betrof-
nen-Wachstumshemmern“, direkte För- fenen im Alltagseinsatz besonders geför-
derung von Axonen-Wachstum, ggf. auch dert wird. Wenn ein Totenkopfäffchen für
Förderung von Glia- oder Neurogene- einen Monat nach dem Schlaganfall kei-
se) oder die Funktion beeinflussen (z. B. ne Therapie bekommt, so ist die Restituti-
Stärkung oder Schwächung von Synapsen on der Handfunktion nicht mehr möglich,
durch die Gabe von Botenstoffen: GABA und die Handrepräsentation weitet sich
oder auch Glutamat). Dabei müssen alle auch nach extensiver Übung nicht mehr
Intervention aber auch im Kontext beste- relevant aus (Barbay et al. 2006). Auch hier
hender Strukturen gesehen werden. Nach zeigte sich wieder bei der Untersuchung
T. Bonhoeffer ist davon auszugehen, dass der Repräsentationsareale: Je stärker das
ein „Lösen der Bremsen“ der Plastizität vorher bestehende Handareal von proxi-
beim Erwachsenen auch zu einer Interfe- malen Funktionen als Repräsentationsa-
renz mit Gedächtnisinhalten und gelern- real „übernommen“ wird, desto schlechter
1 · Plastizität als Grundlage für die Erholung nach Schlaganfall 7
ist der mittelfristige Trainingseffekt. Diese ren erfolgen. Die postläsionelle Plastizität
und andere Publikationen sind der Grund ist vermutlich auch an diese Grundstruk-
für die Aussage, dass ein früher Beginn des turen gebunden.
Trainings nach Schlaganfall wesentlich für Zusätzlich unterstrich die Arbeit von
die Restitution der Funktion ist. Ueno und Mitarbeitern eine weitere Er-
Die Art der Reorganisation kann sich kenntnis: Zu einer deutlichen Verbesse-
allerdings je nach Ort und Größe der Lä- rung der sensomotorischen Fähigkeiten
sion unterscheiden. Ueno und Mitarbeiter kommt es bei Mäusen nach einer ZNS-
(Sato et al. 2021) konnten bei Nagern un- Läsion bereits in den ersten zwei Wo-
terschiedliche Mechanismen je nach Grö- chen, das Aussprossen der kompensato-
ße der Läsionen zeigen. Bei Nagern kommt rischen kortikospinalen Fasern beginnt
es nach einer Läsion des ZNS nicht nur aber erst am 7. bis 14. Tag und erreicht
zu synaptischen Veränderungen, sondern seinen Höhepunkt am 28. Tag. Auch die
auch zu axonalen Aussprossungen. motorische Repräsentation der kompen-
Läsionen, die größere Areale sowohl sierenden kortikalen motorischen Area
im motorischen und im somatosensori- hat sich erst nach einem Monat signifi-
schen Kortex umfassten, führten zu ei- kant geändert. Das heißt strukturelle Än-
nem kompensatorischen Aussprossen von derungen im Bereich kompensatorischer
kortikospinalen Axonen auf der nichtge- Fasern (Axonaussprossungen) sind kei-
schädigten Seite in das denervierte spi- ne Voraussetzung für eine initiale funkti-
nale Zervikalmark. Aus vorherigen Un- onelle Erholung, und es bestehen daher
tersuchungen ist bekannt, dass solche vermutlich keine speziellen genetisch de-
Verbindungen bei Nagern auch zu einer terminierten Programme für die Restitu-
funktionellen Verbesserung führen kön- tion bestimmter Funktionen nach einer
nen. Hirnschädigung, z. B. der Balance oder
Bei kleineren sensomotorischen Kortex des Gehens oder Greifens. Vielmehr ge-
schädigungen kam es zu ipsiläsionellen hen diese strukturellen Veränderungen
Aussprossungen aus einem nicht geschä- mit den Funktionsverbesserungen Hand
digten motorischen Areal. Auch hier ist in Hand bzw. folgen diesen. Ohne Funk
aus Arbeiten derselben Arbeitsgruppe be- tionsverbesserung auch keine angepasste
kannt, dass die Verbindungen von den bei- Strukturverbesserung!
den motorischen Arealen zu den spinalen Welche Elemente sollte ein erfolgver-
Motoneuronen sich einander zumindest sprechendes frühes Training umfassen?
teilweise funktionell ersetzen können. Die Untersuchungen bei Nagern geben
Motorische und sensible kortikospina- uns hier Hinweise: Die spontane Erho-
le bzw. spinokortikale Verbindungen kön- lung kann durch eine stimulierende Umge
nen jedoch einander nicht ersetzen: Bei bung („enriched environment“) gefördert
einer isolierten Schädigung von motori- werden, in der die Tiere nicht nur zur ver-
schen Arealen kam es zu keiner kompen- stärkten Interaktion untereinander, son-
satorischen Aussprossung aus einem ipsi- dern auch zu unterschiedlichen Tätigkei-
läsionellen sensiblen Areal, und bei einer ten im Tagesverlauf animiert werden (z. B.
Schädigung des sensiblen Areals zu keiner Ohlsson u. Johansson 1995; Nithianantha-
kompensatorischen Aussprossung aus ei- rajah u. Hannan 2006). Dies führt zu einer
nem motorischen Areal (Sato et al. 2021). vielfältigen Stimulation sensomotorischer
Das bedeutet: Eine funktionelle Erho- aber auch kommunikativer Netzwer-
lung kann – zumindest bei Nagern – im ke. Die Erholung spezifischer Fähigkeiten
Wesentlichen im Rahmen bereits beste- kann bei den untersuchten Tieren noch
hender neuroanatomischer Grundstruktu- weiter gesteigert werden, wenn vor al-
8 K. M. Stephan, M. Lotze
lem während der ersten Wochen nach der Läsion während einfacher motorischer
Ischämie ein hochfrequentes aufgaben oder sprachlicher Aufgaben auf eine gute
spezifisches Training durchgeführt wird Prognose hin (Bütefisch et al. 2003). Bei
(Biernaskie et al. 2004). Intensität und größeren Läsionen ist die Hochregulation
Dauer dieses Trainings sind bei den ex- der Aktivität in der kontraläsionellen He-
perimentellen Tieruntersuchungen bis zu misphäre zumindest im sprachlichen Be-
einem Faktor 10 höher als beim konventi- reich mit einer guten Prognose vereinbar.
onellen ergo- oder physiotherapeutischen Im chronischen Stadium weist eine weitge-
Üben beim Menschen – z. B. 300 gezielte hende Normalisierung der Muster auf eine
und erfolgreiche Armbewegungen beim erfolgreiche Rehabilitation der Handfunk-
Nager statt 30 Armbewegungen beim tion (Ward u. Cohen 2004), aber auch der
Menschen (Krakauer et al. 2012). In einem Sprachfunktion (Saur et al. 2006) hin.
späteren Abschnitt (1.5) wird noch einmal Für das sensomotorische System sind
diskutiert, inwieweit eine direkte Übertra- die Veränderungen der funktionellen Ana-
gung therapeutischer Prinzipien von Na- tomie im Hinblick auf die Handfunktion
getieren auf Menschen wirklich sinnvoll noch genauer bekannt.
möglich ist. Eine möglichst weitgehende Restituti-
on der Handfunktion erfolgt primär über
1.3.2 benachbarte motorische Areale mit Zu-
Postläsionelle Plastizität bei Menschen gang zur Pyramidenbahn. Das sind der
primär- motorische Kortex (M1) und der
Auch beim Menschen besteht vermutlich dorsale prämotorische Kortex (dPMC).
eine postläsionelle Phase erhöhter Plasti- Insbesondere diese Bahnen sind bereits
zität im subakuten Stadium nach Schlag- im subakuten Stadium prädiktiv für das
anfall, der eine Phase normaler Plastizität motorische Outcome (z. B. erhoben mit-
im chronischen Stadium nach Schlaganfall tels Fugl-Meyer-Score) der oberen Extre-
folgt (Krakauer et al. 2012). Im Gegensatz mität (Riley et al. 2011). Restfunktionen
zu den Nagern dauert die Phase erhöhter in M1 und PMC sind bei Schädigung des
Plastizität länger als vier Wochen. Eini- Erwachsenen in der Regel essentiell zur
ge Autoren vermuten eine Zeit von bis zu Restitution von Handfunktion. Zudem hat
drei oder vier Monaten (z. B. Krakauer et die somatosensorische Integrität einen
al. 2012), auch wenn dies derzeit noch um- großen Einfluss auf das Wiedererlernen:
stritten ist. Dromerick et al. (2021) konn- Ohne somatosensorisches Feedback muss
ten für ein intensives, aufgabenorientier- mit visuellen oder auditorischen (Sonifi-
tes Training zeigen, dass es während des kation) sensorischen Stimuli kompensiert
subakuten Stadiums ca. 60 bis 90 Tage werden. Areale wie der ventrale PMC sind
nach einem Schlaganfall erfolgreicher ist bei Patienten nach Training vermehrt aktiv
als während der (späten) Akutphase (ca. – insbesondere bei der visuellen Kontrolle
15 Tage nach einem Schlaganfall) oder im von Greifbewegungen (Horn et al. 2016b).
chronischen Stadium (6 bis 7 Monate nach Ähnlich wie bei den beschriebenen
Schlaganfall) (Abb. 1.1). Verbesserungen bei der Maus (siehe oben)
Bildgebende Untersuchungen charak- können somit auch beim Menschen ipsi
terisieren diese unterschiedlichen Stadien läsionelle dorsale und ventrale prämoto
näher. Im akuten Stadium zeigt sich eine rische Areale mit ihren Verbindungen zu
Netzwerkstörung, die weit über die loka- anderen kortikalen Arealen und zum spi-
le Schädigung hinausgeht. Im frühen sub- nalen System einen Teil der Funktionen
akuten Stadium (< 3 Monate) weist die Ak- des kortikospinalen Systems übernehmen
tivierung ungeschädigter Randbezirke der (Lotze et al. 2006). Aufgrund der weiterge-
1 · Plastizität als Grundlage für die Erholung nach Schlaganfall 9
Zelltod
Entzündung
Abb. 1.1: Überblick über die einzelnen Stadien nach Schlaganfall, über die assoziierten pathophysiologischen
Veränderungen und über therapeutische Interventionsmöglichkeiten. Hilfreich wäre es, die unterschiedlichen kli-
nischen Verläufe (angedeutet mit den verschiedenen Kurven) möglichst früh vorhersagen zu können
einer Gehbewegung. Entsprechend Vor- Ein Beispiel für eine Vorhersage mit ei-
schädigung, Lokalisation und Größe der nem Parameter ist die Arbeit von van der
neuen Läsion(en) wird das Ziel der Reha- Vliet et al (2020) aus der Arbeitsgruppe von
bilitation im chronischen Stadium daher Kwakkel, die den Fugl–Meyer Score für die
auch nicht die vollkommene Wiederher- obere Extremität (FM-UE) nutzen. Hier
stellung der vorherigen sensomotorischen wurde ein longitudinales Vorhersagemo-
Funktionen sein, sondern das Erlernen ei- dell erarbeitet, dessen Aussagekraft mit zu-
ner adaptierten Form der funktionellen nehmender Zeit immer präziser wird (sie-
Bewegungen. he Abb. 1.2).
Diesem Verständnis der Plastizität ent- Entsprechend den Erkenntnissen über
sprechend ergeben sich nur geringe Mög- die postläsionelle Plastizität als Grundlage
lichkeiten, eine rehabilitative Therapie für die klinische Verbesserung sind als Bio-
nach Schlaganfall zeitlich „nach hinten“ zu marker vor allem zusätzliche Daten über
verschieben. Eine klinische Entscheidung die Intaktheit des anatomischen Grund-
zugunsten einer wesentlichen Verschie- gerüstes (siehe 1.3) sowie über das Aus-
bung einer Rehabilitationsbehandlung maß der Plastizität sinnvoll. Idealerweise
im subakuten Stadium nach Schlagan- würden diese durch Daten über die funk-
fall nimmt somit nicht nur eine geringere tionellen Erholungskapazitäten ergänzt,
Wirksamkeit der therapeutischen Inter- die über die Aussagekraft klinischer Daten
ventionen, sondern auch die erhöhte Ge- hinausgehen.
fahr einer plastischen Maladaptation in Als Biomarker für das anatomische
Kauf. Die Neurobiologie der klinischen Er- Grundgerüst kommen vor allem elektro-
holung nimmt auf medizinische Notwen- physiologische Parameter, die die (relati-
digkeiten und persönliche Vorlieben (lei- ve) funktionelle Intaktheit direkter korti-
der) keine Rücksicht! kospinaler Fasern (MEP), spinokortikaler
Fasern (SSEP) und visuokortikaler Fasern
(vom Auge zum okzipitalen Kortex) erfas-
1.4 sen, in Betracht sowie bildgebende Metho-
den, die Aussagen über die anatomische
Biomarker zur Verbesserung der
Intaktheit wesentlicher Faserbahnen oder
Prognose und Stratifizierung einer
Strukturen im Gehirn erlauben (für eine
Rehabilitationsbehandlung frühe systematische Übersicht siehe Ste-
1.4.1 phan und Breer 2009).
Klinische Assessments und Biomarker für Biomarker über das Ausmaß der Plasti
die funktionelle Prognose zität sind schwerer zu erhalten. Eine Mög-
lichkeit besteht hier in der Einbeziehung
Die Planung einer neurologischen Rehabi- des Alters, da das Ausmaß der Plastizität
litationsbehandlung beinhaltet meist auch mit steigendem Alter abnimmt.
eine Einschätzung der weiteren Prognose. Hinsichtlich der praktischen Anwendbar
Klinische Daten sind die häufigste Grund- keit von Biomarkern interessiert vor allem:
lage für eine prognostische Beurteilung. Al- (1) Geben die Biomarker zusätzliche In-
gorithmen, die von mehreren Parametern formationen für die Prognose hinsicht-
ausgehen, sind dabei meist besser in der lich der erreichbaren Funktionen?
Vorhersagekraft des Outcomes. In den letz- (2) Welche Funktionen sollen bzw. kön-
ten Jahren werden zunehmend Daten über nen vorhergesagt werden?
die Spontanerholung und Erfahrungswerte (3) Können durch Biomarker auch The-
bereits behandelter Patienten in die pro rapieentscheidungen unterstützt wer-
gnostische Abschätzung einbezogen. den?
1 · Plastizität als Grundlage für die Erholung nach Schlaganfall 11
Verbindung Verbindung
M1 zu Pons M1 zu M1
Abb. 1.3 zeigt links den Biomarker Lateralisationsindex zur Integrität der kortikospinalen Fasern (CSI; Pyrami-
denbahn) für das Outcome Motricity Index (Handkraft) auf der betroffenen Seite nach 3 und 6 Monaten. Je
weniger die CSI, gemessen in dem FA-Index, beeinträchtigt ist, desto besser das Outcome im Motricity Index.
Anders verhält es sich hinsichtlich komplexer Bewegungen wie dem Transfer von Holzwürfeln mit der betroffenen
oberen Extremität, gemessen im Box-and-Block-Test. Hier ist die FA-Integrität der motorischen Fasern des Balkens
zwischen den beiden Hemisphären besonders gut in der Vorhersage des 3- oder 6-monatigen Outcomes (rechts).
Traktographie der betroffenen (gelb-rot) und der nicht betroffenen (hellblau-blau) Hemisphäre als Mittel bei 15
Patienten im subakuten Stadium. Die betroffene Hemisphäre (il = ipsilesional) hat eine geringere Gerichtetheit im
Bereich der Pyramidenbahn als die nicht betroffene (cl = contralesional); nach Lindow et al. 2016
Um solche Biomarker nicht nur in spezi- sinnvoll sein, besonders an den komple-
ellen Zentren nutzen zu können, sollten xen Bewegungssteuerungen zu arbeiten
überdies Methoden gefunden werden, die und weniger die Kraftkomponente zu the-
in möglichst vielen neurologisch-radiolo- rapieren. Biomarker können also auch the-
gischen Kliniken und Instituten praktika- rapeutische Entscheidungen sinnvoll un-
bel sind. terstützen.
Die bisherigen Überlegungen beschäf-
1.4.2 tigten sich hauptsächlich mit dem subaku-
Biomarker zur Stratifizierung der ten Stadium nach Schlaganfall, da vor allem
Therapie während dieser Zeit funktionell bedeut-
same Verbesserungen erzielt werden. Wir
Noch hilfreicher wäre es, gezielte Biomar wissen durch Trainingsstudien an Men-
ker für die Entscheidung, welche Thera schen, dass aber auch im chronischen Sta
pie am geeignetsten wäre, zu finden. Zum dium, also mehr als drei bis sechs Monate
Beispiel scheint die Symmetrie in der Ge- nach Schlaganfall – wenn auch in einem ge-
richtetheit der Pyramidenbahnfasern Vor- ringeren Maße –, weiterhin Erholung mög-
hersagen für die Kraftkomponente zu er- lich ist. Klinisch kann in dieser Phase nach
möglichen, wohingegen die Intaktheit der Schlaganfall die Qualität von Bewegungen
interhemisphärischen Fasern Vorhersagen weiter verbessert werden, z. B. die feinmo-
für die Durchführung komplexerer Hand- torischen Fähigkeiten der Hand, die Geh-
leistungen – wie im Box-and-Block-Test geschwindigkeit oder die Ausdauer beim
geprüft – ermöglicht (Lindow et al. 2016) Gehen. Nur in Ausnahmefällen scheint es
(Abb. 1.3). möglich zu sein, Basisfunktionen, z. B. den
Diese Beobachtung hat auch mögliche funktionell relevanten Gebrauch der Hand
therapeutische Relevanz: Gerade bei einer oder die Gehfähigkeit, in dieser Phase nach
Störung dieser Faserverbindung könnte es Schlaganfall wieder neu zu erlernen (siehe
14 K. M. Stephan, M. Lotze
z. B. Kwakkel 1999 2003; Kollen et al. 2006; nelle oder strukturelle Intaktheit der (am
Dohle et al. 2015 für eine Übersicht zum schnellsten leitenden) kortikospinalen Fa-
Wiedererlernen des Gehens). sern zu Arm und Hand. Somit werden vor
Da im chronischen Stadium nach allem prognostische Aussagen zur Ent-
Schlaganfall keine wesentliche spontane wicklung der Handfunktion möglich. Die-
Verbesserung zu erwarten ist, wäre in die- se wird durch den ARAT gut erfasst. Da-
sem Stadium die Existenz eines prognosti- bei kann das MEP im subakuten Stadium
schen Biomarkers besonders wertvoll. Da- nach Schlaganfall allerdings nur eine po-
bei hat sich die elektrophysiologische und sitive Aussage über die mögliche Fähigkeit
bildgebend nachgewiesene Integrität der machen.
direkten kortikospinalen Verbindungen Indirekt können auch Aussagen über
als ein Biomarker für die Möglichkeit ei- Aktivitäten (des Armes und der Hand) so-
ner weiteren klinischen Verbesserung der wie Formen der Partizipation, die eine gute
Funktion der oberen Extremität erwiesen Arm- und Handmotorik voraussetzen,
(z. B. Hömberg et al. 1991; Stinear 2007). getroffen werden. Sind feinmotorische
Für die schnelle Durchführung feinmoto- Handbewegung der betroffenen Hand er-
rischer Aufgaben der Hand ist hierbei die reichbar oder können nur Basisfunktionen
Integrität der sensorischen und motori- der Extremität realistisch trainiert werden?
schen evozierten Potentiale (SSEP und
MEP) erforderlich (Hömberg et al. 1991). (1) Geben die Biomarker zusätzliche Infor-
Somit haben die motorisch evozierten Po- mationen für die Prognose hinsichtlich
tentiale im chronischen Stadium nicht nur der erreichbaren Funktionen?
eine positive, sondern auch eine negative Die Biomarker bei PREP 1 und 2 helfen,
Vorhersagekraft. die prognostischen Informationen früher
Unabhängig von der Integrität der kor- zu geben. Eine Zuordnung zu einer der
tikospinalen Fasern korreliert auch die vier Gruppen ist bereits nach ein bis zwei
strukturelle Integrität kortikozerebellärer Wochen möglich. Für die Patienten mit
Verbindungen mit den motorischen Fä- eindeutig klinisch gutem oder schlech-
higkeiten. Insbesondere intakte dentato- tem Funktionsergebnis ist eine Zuordnung
thalamo-kortikale Verbindungen scheinen zwar auch innerhalb der ersten zwei bis
ebenfalls eine Voraussetzung für eine gute drei Wochen möglich, eine Unterschei-
Feinmotorik zu sein (Schulz 2017). dung in der mittleren Gruppe klinisch je-
Nach dieser Darstellung und Diskus- doch erst in der 10. Woche (siehe Abb. 1.2).
sion können wir uns nun den Fragen vom Aber trotz der Biomarker, die Vorhersa-
Anfang des Abschnittes 1.4 zuwenden. Wir ge wird – zumindest nach jetzigem Stand
beginnen mit der dritten: – immer „nur“ eine „wahrscheinliche Vor-
hersage“ sein. Das heißt, eine gewisse Irr-
(3) Können durch Biomarker auch Thera- tumswahrscheinlichkeit liegt immer vor.
pieentscheidungen unterstützt werden? Die Entscheidung für oder gegen eine The-
Wie gerade ausgeführt ja. Allerdings kön- rapie oder Therapieform wird diese be-
nen (bisher) viele Therapieentscheidun- rücksichtigen müssen. Zudem wird sich
gen auch ohne Biomarker durchgeführt jede Therapieentscheidung auch nach an-
werden. deren Faktoren richten, z. B. Verfügbarkeit
vor Ort, Begleit- und Vorerkrankungen des
(2) Welche Funktionen sollen bzw. können Patienten oder auch seine Motivation und
vorhergesagt werden? das soziale Umfeld.
Die im PREP-Algorithmus genutzten Bio-
marker geben Auskunft über die funktio-
1 · Plastizität als Grundlage für die Erholung nach Schlaganfall 15
Diese haben im Gegensatz zum nicht su- ten, die mit einer Empfehlung zur sprach-
pervidierten Eigentraining den Vorteil ei- therapeutischen Weiterbehandlung aus
ner größeren Verbindlichkeit sowie von einer deutschen Rehaklinik entlassen wur-
Korrekturmaßnahmen und ggf. auch einer den, 64 % keine Therapie und 14 % nur eine
Motivationsunterstützung. Insbesondere Wochenstunde Logopädie (Schupp et al.
das gemeinsame Training mit anderen Pa- 2006). In anderen Therapiebereichen war
tienten zusammen scheint viele Patienten dies zwar nicht ganz so ausgeprägt, aber
in ihrer Leistungsbereitschaft anzuspor- auch hier erhielten häufig über 50 % kei-
nen. So dienen solche Gruppen mehreren ne adäquate ambulante Therapie. Seitdem
Zielen: die Trainingsintensität zu erhöhen, hat sich die Situation hinsichtlich der am-
die Motivation auch außerhalb des engen bulanten Versorgung nach Patientenbe-
Patienten-Therapeuten-Settings zu stär- richten nicht wesentlich gebessert. Dabei
ken und schließlich auch ein Training in spielt vermutlich nicht nur das mangelnde
Selbstverantwortung einzuüben. Angebot, sondern auch die fehlende Mo-
tivation seitens der Patienten eine Rolle.
1.5.3 Insbesondere Gruppenangebote, bei de-
Trainings mit hoher Rate von nen auch der soziale Austausch zwischen
Wiederholungen an der Leistungsgrenze den Patienten gefördert wird, werden erst
vor und nach einem stationären langsam populärer.
Rehabilitationsaufenthalt Prinzipiell sind ambulante Trainings-
methoden im Rahmen einer Gruppen-
Wie intensiv sollte das Training in den ers- therapie (Breitenstein et al. 2017) oder
ten Tagen nach einem Schlaganfall sein? App-basiert unter telemedizinischer Be-
Tierexperimentelle Untersuchungen und treuung eine Möglichkeit, um dieses Defi-
Studien bei Patienten haben gezeigt, dass zit zu lindern. Eine solche APP kann natür-
ein sehr frühes intensives Training nach lich auch gewinnbringend bei Patienten,
einem Schlaganfall im akuten und frühen die z. B. wegen COVID-19 oder einer an-
subakuten Stadium zwar kurzfristig nützt, deren Infektionserkrankung isoliert sind,
hinsichtlich der mittel- und langfristigen eingesetzt werden. Ebenso ist dies inter-
Verbesserung der Funktionen einem initi- mittierend für Patienten möglich für die
al weniger intensiven Training jedoch un- die Anreise infolge ihres Gesundheitszu-
terlegen ist (Dromerick et al. 2009, AVERT standes oder der Entfernung nicht möglich
trial collaboration group 2015). Offen- oder praktikabel ist.
sichtlich müssen beim Training nicht nur Insbesondere im sensomotorischen
die individuell wahrgenommenen Belas- Bereich können vermehrt Erkenntnisse
tungsgrenzen, sondern auch (patho-)phy- aus der Sportwissenschaft über die not-
siologische Grenzen berücksichtigt wer- wendige Dauer und den Aufbau eines ef-
den. Gerade am Anfang des Trainings z. B. fektiven Trainings sowie über die Gestal-
auf der Schlaganfalleinheit dürfen noch tung von Freizeittraining gewinnbringend
keine (stark) überschwelligen Reize gege- eingebracht werden.
ben werden. Wie in dem frisch geschädig-
ten Hirngewebe die mittelfristig verstärk- 1.5.4
te Schädigung zustande kommt, ist bisher Faktoren, die Trainingsergebnisse
noch nicht hinreichend geklärt. negativ beeinflussen
Nach einer stationären Rehabilitati-
onsbehandlung bricht die Therapiekette Leider beeinflussen auch viele Faktoren
leider häufig ab. Im ambulanten Bereich das Rehabilitationsergebnis negativ: z. B.
erhielten vor ca. 20 Jahren von den Patien- neurologische Vorschädigungen oder auch
18 K. M. Stephan, M. Lotze
fahren, und es wurde nachgewiesen, dass Vor allem das Verfahren der sensori
diese zur Verbesserung der sensorischen schen Stimulation der Fingerspitzen nach
Wahrnehmung führt und neuronale Plas- Dinse (Dinse et al. 2003)
tizität antreibt (Pleger et al. 2003). Dieses ist sehr einfach anzuwenden, es wird
Verfahren ist auch bei älteren Menschen in nicht aufmerksamkeitsgebundener
wirksam und kann hier einem altersgemä- Gabe vor einem repetitiv aktiven Training
ßen Abbau von Funktion entgegenwirken als Priming angewendet. Üblich sind 20 bis
(Dinse et al. 2006). Aufgrund seiner Wirk- 45 Minuten sensorische Stimulation vor
samkeit wird rES auch bei Schlaganfall- einem 30- bis 60-minütigem Training pro
patienten eingesetzt (s. u.). Über mehrere Tag. Dies kann etwa mit einem Armfähig-
Wochen angewandt, wurden in Einzelfäl- keitstraining kombiniert werden, das drei
len erste Erfolge berichtet (Kattenstroth et Wochen bei Patienten angewandt wird. Bei
al. 2012). Gesunden wurden additive Trainingseffek-
Gegenüber der TDCS ist die sensori- te von 3 % gegenüber einer Verbesserung
sche Stimulation attraktiver, weil sie bei von etwa 30 % bei repetitivem sensomo-
einer sehr einfachen Applikation (ohne torischem Training wie dem Armfähig-
Aufmerksamkeit, ohne Anbringung von keitstraining bei Gesunden beobachtet.
Elektroden am Kopf ) fokale Effekte zeigt. Größere Effekte (8 %) konnten hinsichtlich
Hinsichtlich der Relevanz der sensomo- der Steigerung der Kraft beobachtet wer-
torischen Interaktion für die Funktion der den (Lotze et al. 2017). Derzeit wird eine
oberen Extremität, aber auch für andere große Studie durchgeführt, die die Effekte
Funktionen wie das Schlucken (Hamdy et des Primings durch elektrische Fingersti-
al. 1998) ist diese Methode hoch attraktiv. mulation vor einem aktiven Training über
Auch hier kann eine Erhöhung der ipsilä- drei Wochen im subakuten Stadium nach
sionalen Erregbarkeit in primär sensori- Schlaganfall testet (Ghaziani et al. 2017).
schen oder motorisch evozierten Poten- Eine solche periphere Stimulation aus dem
tialen nachgewiesen werden. Es gibt hier stationären Setting in die häusliche Umge-
eine Vielzahl von Protokollen, die unter- bung zu bringen, ist eine besondere Her-
schiedliche Wirkmechanismen haben: vor ausforderung (siehe auch 1.5.3 und 1.5.4).
allem die direkte elektrische Stimulation In dieser Übersicht nicht behandelt
der Handnerven (z. B. Conforto et al. 2002) werden die Versuche, die postläsionel-
sowie die repetitive elektrische Stimulation le Plastizität durch Pharmaka zu verstär-
(rES) der Fingerspitzen (Dinse et al. 2006). ken oder den Zeitraum der postläsionel-
Ersteres Verfahren wurde bereits erfolg- len Plastizität zeitlich zu verlängern. Bisher
reich im chronischen Stadium des Schlag- konnten in klinischen Studien für diese
anfalls zur kurzfristigen Verbesserung des Interventionen im Langzeitverlauf aller-
motorischen Endergebnisses eingesetzt dings – wenn überhaupt – nur geringfügige
(Conforto et al. 2002). In einer neuen mul- Funktionsverbesserungen nachgewiesen
tizentrischen Studie konnte repetitive peri- werden; anders als in tierexperimentellen
phere sensorische (elektrisch über Nerven Untersuchungen. Zudem können beson-
am betroffenen Unterarm) Stimulation ge- ders effektive Behandlungsschemata, die
folgt von aktivem Training gegenüber Pla- sich die postläsionelle Plastizität zunutze
cebo (elektrisch über Nerven am betrof- machen, nicht nur die Funktionserholung
fenen Bein) gefolgt von aktivem Training fördern, sondern leider auch zu maladap-
eine Verbesserung der Handkraft nach tiven Entwicklungen führen (dystone Be-
Schlaganfall erzielen, nicht jedoch eine wegungen, Schmerzen; siehe auch 1.3.1
Verbesserung im Wolf Motor Test (Confor- und 1.3.2).
to et al. 2021).
1 · Plastizität als Grundlage für die Erholung nach Schlaganfall 21
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27
2
Best-Practice-Neurorehabilitation
Claudia Pott, Klemens Fheodoroff
Meta-
kognition =
Reflexion der
Überlegungen
+ Handlungen
Fachwissen =
Kenntnis evidenzbasierter Therapie
+ anderer Interventionen;
Fähigkeit, Auswahl zu treffen
+ gespeicherte klinische Muster abzurufen
Abb. 2.1: Clinical Reasoning basiert auf Fachwissen, kognitiven Fähigkeiten des schlussfolgernden Denkens und
der Metakognition
2 · Best-Practice-Neurorehabilitation 29
Werte
Ethische Prinzipien
und Grundlagen in der
Neurorehabilitation
BEST
Wissen
Externe Evidenz PRACTICE
Kontext
wissenschaftliches Wissen
(empirisch/theoretisch) Allgemeine Faktoren
(soziale, gesetzliche, politische
Themenspezifisches Wissen usw.)
(Neurowissenschaft)
Ressourcen in der Akutneuro-
Themenspezifisches logie und Neurorehabilitation:
Struktur-/Prozesswissen
international, national, regio-
Interne Evidenz nal, lokal, institutionell
(Experten/
Erfahrungswissen)
Leistungsfähigkeit Gelegenheiten
– Funktionen Umwelt
– Strukturen Handlung – materiell
– Ausbildung – sozial
– Trainingsstand etc. – verhaltensbezogen
Wille
personbezogener Faktor
Bisherige Untersuchungen zeigen Mängel Im § 4 des SGB IX sind die Ziele der
hinsichtlich der Validität und Reliabilität Rehabilitation aufgeführt: Verlangt wird
standardisierter PREMs (Bull et al. 2019). „... die Teilhabe am Leben in der Gesell-
Daher sollte einerseits deren Einsatz in der schaft sowie eine möglichst selbstständi-
Neurologischen Rehabilitation kritisch ge- ge und selbstbestimmte Lebensführung ...“.
prüft werden, andererseits besteht der Be- In der UN-CRPD wird die „Inklusion“, d. h.
darf einer Weiterentwicklung von PREMs die „volle und wirksame Teilhabe an der
für die Perspektive von Erkrankten bzw. Be- Gesellschaft und Einbeziehung in die Ge-
zugspersonen. sellschaft“ gefordert (UN 2007, Allgemei-
Zu unterscheiden ist also die Sicht der ne Grundsätze, Art. 3). Im Teilhabebericht
Betroffenen (Innenperspektive) von der der Bundesregierung über die Lebensla-
Sicht der Leistungserbringer (Außenper gen von Menschen mit Beeinträchtigungen
spektive). Dabei spielt der Begriff der Par- (Bundesministerium für Arbeit und Sozia-
tizipation eine zentrale Rolle. Im deutschen les 2013; Bundesministerium für Arbeit und
Sprachraum wird der Begriff: „Partizipa- Soziales 2016) wird Autonomie definiert
tion“ (vom lateinischen Begriff „partici- als das Kondensat resultierend aus dem
patio“) sowohl als „Teilnahme“ als auch Dürfen, d. h. dem kontextbezogenen Zu-
als „Teilhabe“ verstanden. Folgt man Nor- gang, dem räumlich-technische und sozia-
denfelts handlungstheoretischer Argu- le Schranken entgegenstehen können, und
mentation einer grundlegenden Trennung dem Wollen, d. h. den individuellen Wün-
zwischen „inneren“ und „äußeren“ Zu- schen und Absichten, die durch Faktoren
gangsmöglichkeiten zur Partizipation, muss der Lebenserfahrung, Selbst- und Fremd-
man zwischen der „capacity/inner possibi- sicht beeinflusst sein können.
lity of action“ (Leistungsfähigkeit/innere Aus der Sicht der Leistungserbringer
Möglichkeit zur Handlung) und der „oppor- (Außenperspektive) muss der subjektiven
tunity/external possibility of action“ (Gele- Erfahrung und der Selbstbestimmung im
genheit/äußere Möglichkeit zur Handlung) Rahmen der Einsichts- und Urteilsfähigkeit
unterscheiden. Das Bindeglied zwischen in jedem Fall – insbesondere aber mit Blick
den beiden Polen stellt der freie Wille – also auf die Ziele und Perspektivenentwicklung
der Grad der Selbstbestimmung dar. (Nor- – besondere Aufmerksamkeit gewidmet
denfelt 2003; Nordenfelt 2006) (Abb. 2.3). werden.
32 C. Pott, K. Fheodoroff
Abb. 2.4: Das Bottom-up- und Top-down-Modell der Neurologischen Rehabilitation (Fheodoroff u. Pott 2020,
mod. nach Fries 2007)
Hobbys, Vorlieben etc.) nur anamnestisch Der narrative Zugang zur Befunderhe-
erhebbar. In Erzählungen findet man eine bung erfordert eine klare Rollenverteilung
Reihe von Strukturmerkmalen wie Tem- im Team und eine strukturierte Weiterga-
poralität, Singularität, Kontextualisie- be des wesentlichen Informationsgehal-
rung sowie Intersubjektivität (Frommelt tes; subjektive Angaben sollten entspre-
u. Grötzbach 2008). In ihren Erzählungen chend gekennzeichnet sein (z. B. durch
versuchen Patienten, einen Sinn in das von Zwischenüberschrift „Bericht“). Subjektive
ihnen Erlebte zu bringen. Häufig beinhal- Berichte – insbesondere eigene Beschrei-
ten diese Erzählungen auch Hinweise auf bungen der Leistungsfähigkeit – bedürfen
Rehabilitationsziele und helfen bei der jedoch der objektiven Überprüfung. Hier
Entwicklung eines neuen Selbstverständ- sind die beiden anderen Methoden der
nisses. Persönliche Berichte haben auch Befunderhebung, Beobachtung und Test
einen großen Einfluss auf die Adhärenz (strukturierte Assessment-Verfahren) an-
(Therapietreue) (Martin et al. 2005). Mitt- gesiedelt.
lerweile liegt eine Reihe von Publikationen
zur narrativen Medizin und deren Auswir- 2.2.2.2
kung auf Resilienz, Adhärenz und Lebens- Beobachtung und Test
qualität vor (Kirk u. Henning 2014; Kirke- Während Berichte die subjektive Seite der
vold et al. 2014; Sarre et al. 2014; Pluta et al. Leistungsfähigkeit und Leistung erfassen,
2015; Jesus et al. 2016). wird über (Verhaltens-)Beobachtung und
34 C. Pott, K. Fheodoroff
sitzen (Hartig u. Frey 2013). Ein Anwen- Krankheits- zu einer umfassenden (auch
dungsbereich von IRT-Modellen ist das „ganzheitlich“ oder „holistisch“ genann-
sogenannte computerbasierte adaptive ten) Gesundheitsbetrachtung. Krank-
Testen (CAT), bei dem Items vorgegeben heit wurde bis dahin als Auswirkung ei-
werden können, die für das Fähigkeitsni- nes krankmachenden Faktors verstanden.
veau der zu testenden Person eine hohe Dieses Verständnis basierte auf dem bak-
Messgenauigkeit aufweisen (Moosbrugger teriologischen „Koch’schen Modell“ vom
u. Kelava 2012). Die amerikanische Initi- Ende des 19. Jahrhunderts (Franzkowiak
ative „Patient-Reported Outcomes Mea- 2018). Aus biomedizinischer Sicht kann
surement Information System“ (PROMIS) für jede Krankheiten ein biochemischer,
strebt eine bessere patientenzentrierte physiologischer, neurobiologischer oder
Ergebnismessung an und unterstützt die anatomischer Faktor sein. Ein bio-psycho-
Integration von Item-Response-Theorie sozialer Ansatz geht über dieses „Ursache-
und CAT (Fries et al. 2005). Hsueh et al. Wirkung-Denken“ hinaus. Er basiert auf
evaluierten bereits erfolgreiche CATS für einem systemischen Ansatz und betont
das Messen von Aktivitäten des täglichen Wechselwirkungen zwischen Faktoren auf
Lebens („activities of daily living“, ADL) den verschiedenen Ebenen.
(Hsueh et al. 2013) und der Balance (Hsu- Mit der Internationalen Klassifikati-
eh et al. 2010). Velozo et al. entwickelten on der Funktionsfähigkeit, Behinderung
eine Roadmap mit „mixed methods“ für und Gesundheit (ICF) (WHO 2001; DIMDI
die Entwicklung von IRT-basierten Assess- 2004) hat die Weltgesundheitsorganisation
ments (Velozo et al. 2012). Balasubramani- (WHO) eine Klassifikation geschaffen, mit
an et al. schlagen das Verwenden von IRT der das Zusammenspiel aller dieser Kom-
und CAT zur Entwicklung von Assessments ponenten erfasst und das „biopsychoso-
zur Gang-Aadaptivität vor (Balasubrama- ziale Wohlbefinden“ beschrieben werden
nian et al. 2014). Die Autorengruppe illus- kann. Die ICF stellt eine Ergänzung der
triert ein computerbasiertes Assessment- „International Classification of Diseases“
Tool auf Basis der Item-Response-Theorie. (ICD) dar. Sie ist eine Klassifikation, die der
Sie berücksichtigen dabei das Identifizie- einheitlichen Sprache zur Beschreibung
ren eines relevanten Items-Pools, das Sha- des Gesundheitszustandes, der Behinde-
ping-Paradigma und Differenzieren zwi- rung, der sozialen Beeinträchtigung und
schen restitutiven und kompensatorischen der relevanten Umgebungsfaktoren einer
Merkmalen der Bewegungsstrategie. Person dient (DIMDI 2004). Ziel der WHO
war es, ein standardisiertes Klassifikations-
2.2.3 system zu kreieren, um die Erfassung und
Die Internationale Klassifikation der Analyse von Daten der nationalen Gesund-
Funktionsfähigkeit, Behinderung und heitsberichte international vergleichbar zu
Gesundheit (ICF) machen und die Kommunikation profes-
sions- und länderübergreifend zu erleich-
Beeinflusst durch die Systemtheorie des tern und zu fördern. Obwohl die Klassifi-
Soziologen Nikolaus Luhmann stellte der kation bereits 2001 verabschiedet wurde
amerikanische Internist und Psychiater (die deutsche Fassung liegt seit 2004 vor),
George L. Engel Anfang der 1970er-Jahre bestehen immer noch Unklarheiten so-
erstmals die Zusammenhänge zwischen wohl in den Basis-Konstrukten als auch
der biologischen, der psychischen und der hinsichtlich der Kodierungskonventionen
gesellschaftlichen Ebene dar (Engel 1977). zur Erfassung des Schweregrades der Ein-
Damit beeinflusste er den Paradig- schränkungen in den einzelnen Konstruk-
menwechsel von einer biomedizinischen ten (Heerkens et al. 2017).
36 C. Pott, K. Fheodoroff
Konvention 1
Umweltfaktoren werden für sich kodiert, ohne dass diese Kodes Bezug nehmen auf Kör-
perfunktionen, Körperstrukturen oder Aktivitäten und Partizipation.
Körperfunktionen
Körperstrukturen
Aktivitäten und Partizipation
Umweltfaktoren
Konvention 2
Umweltfaktoren werden für jede Komponente kodiert.
Körperfunktionen E-Kode
Körperstrukturen E-Kode
Aktivitäten und Partizipation E-Kode
Konvention 3
Umweltfaktoren werden für die Beurteilungsmerkmale der Leistungsfähigkeit und
Leistung für jedes Item der Komponente der Aktivitäten und Partizipation kodiert.
Abb. 2.6: Drei Konventionen zur Kodierung der Umweltfaktoren (DIMDI 2004, S. 156)
pretation und Deutung – vor dem Hinter- eine Schwierigkeit weniger als 25 % der
grund der eigenen Erfahrungen und des Zeit mit einer Intensität vorliegt, die die
Wertehorizonts – beeinflusst wird. Person tolerieren kann und die in den
letzten 30 Tagen selten auftrat; „mäßiges
2.2.3.3 Problem“ heißt, dass eine Schwierigkeit
Kodierungs-Konventionen zur Erfassung von weniger als 50 % der Zeit mit einer Inten-
Schweregraden sität vorliegt, die die Person in ihrer tägli-
Neben der Beschreibung der Konstrukte chen Lebensführung stört und die in den
(Items) muss natürlich auch der Schwere- letzten 30 Tagen gelegentlich auftrat; „er-
grad der Beeinträchtigung erfasst und be- hebliches Problem“ heißt „...“ etc. Ein Pro
schrieben werden. Hier ist die ICF in ihren blem kann aber dauerhaft auftreten und
Angaben eher vage und unpräzise. Prinzi- die tägliche Lebensführung nur wenig be-
piell wird ein erstes (allgemeines) Beurtei- einträchtigen. Eine weitere Schwierigkeit
lungsmerkmal verlangt, mit welchem das liegt darin, dass die fünfstufige Skala im
Ausmaß eines Problems von „nicht vor- klinischen Alltag als Intervallskala inter-
handen“ bis „erheblich ausgeprägt“, ge- pretiert wird. Ein Blick auf die prozentuale
messen mittels fünfstufiger Skala (von 0 bis Verteilung zeigt jedoch, dass die Abstände
4), beschrieben werden soll. nicht gleich groß sind (5 – 24 %, 25 – 49 %
Beim Verwenden des Skalierungsvor- und 50 – 95% und 96 – 100%).
schlages im klinischen Alltag tauchen je- Zur Kodierung der Umweltfaktoren
doch rasch Unsicherheiten auf, denn hier werden im Anhang 2 der ICF drei unter-
werden zeitliche Aspekte mit dem Aspekt schiedliche Kodierungskonventionen vor-
der Beeinträchtigung der täglichen Le- geschlagen (Abb. 2.6).
bensführung vermischt: „kein Problem“ Alle drei Kodierungskonventionen be-
heißt, dass die Person keine Schwierig- ziehen sich auf unterschiedliche Fragestel-
keiten hat, „leichtes Problem“ heißt, dass lungen. Bei der Anwendung der ICF muss
40 C. Pott, K. Fheodoroff
den Betroffenen. Ziele sorgen für mess- und „Fitness“ erprobt wurden, könnte die
bare Fortschritte. Ziele unterstützen den Verwendung von Zielkatalogen („guided
Patienten auch in anderen Belangen: Sie goal setting“) darstellen (Shilts et al. 2004;
können Angst reduzieren (McGrath u. Shilts et al. 2013). Letztlich kann auch die
Adams 1999) und die Einsicht in Grenzen „Internationale Klassifikation der Funk-
der Funktionswiederherstellung sowie die tionsfähigkeit“ (ICF) – insbesondere die
Bewältigung derselben fördern (Playford Komponente der Aktivitäten/Partizipation
et al. 2009). (Lebensbereiche) als Zielkatalog verwen-
Ein Cochrane-Review aus dem Jahr det werden (Lohmann et al. 2011). Die Be-
2015 beschreibt einen moderaten Vorteil troffenen wählen aus einer Liste von Ziel-
eines strukturierten Zielsetzungsprozes- (= Lebens-)bereichen die für sie bedeut-
ses auf die gesundheitsbezogene Lebens- samen Ziele aus, die in individuelle Teil-
qualität und den emotionalen Zustand schritte zerlegt werden. Bei den Teilschrit-
gegenüber dem Fehlen eines Zielsetzungs- ten wird dann genau spezifiziert, was
verfahrens (Levack et al. 2015). Ein weite- wann wie oft gemacht wird. Damit kann
rer Review belegt die positiven Effekte von die Wahrscheinlichkeit einer ungeeigne-
Zielvereinbarungen im Hinblick auf Leis- ten Zielauswahl reduziert werden. In ei-
tungsverbesserungen und einen positiven nem aktuellen Review wurde der Einsatz
Einfluss auf die Selbstwirksamkeit (s. u.) von Technologie (Mobiltelefon, Internet,
und das Gefühl des Eingebundenseins in Pedometer) zur Zielsetzung und Zielerrei-
den Rehabilitationsprozess bei Schlagan- chung in der Rehabilitation von Erwach-
fallpatienten (Sugavanam et al. 2013). senen untersucht. Auch hier hat sich der
Grad des Einbezogenseins („Shared Deci-
2.3.2 sion Making“) und die Art der Zielevaluie-
Zielquellen und Personzentrierung rung als bedeutsam erwiesen (Strubbia et
al. 2020).
Ziele können von den Betroffenen selbst,
von den Bezugspersonen oder von den 2.3.3
Behandlern vorgegeben oder gemeinsam Ziele und Therapietreue („goal
(partizipativ) vereinbart werden. Alle drei adherence“)
Methoden sind wirksam (Gauggel et al.
2002). Entgegen der Selbstbestimmungs- Die Zielverbindlichkeit („goal commit-
theorie hat sich mittlerweile herauskris- ment“) stellt eine unabhängige Variable
tallisiert, dass selbstgewählte Ziele nicht im Hinblick auf das Zielverhalten dar. Zie-
wirksamer und leistungsfördernder sind le, die Betroffene nicht als wirklich wich-
als vorgegebene oder partizipativ verein- tig erachten, werden sie nicht verfolgen
barte Ziele (Locke u. Latham 2013). Die (Locke u. Latham 1990). Faktoren, wel-
Fehlannahme liegt in der Überschätzung che Zielverbindlichkeit erhöhen, können
der persönlichen Freiheit der Betroffe- in zwei Kategorien unterteilt werden: Be-
nen zur Wahl und der Unterschätzung der deutsamkeit (= Faktoren, die Ziele wichtig
Vorteile einer Experteneinschätzung und und erstrebenswert machen) und Erreich-
einer wohlwollenden Patientenführung. barkeit (= Faktoren, das Ziel mit den ver-
Wichtig ist es, den Betroffenen die Lo- fügbaren Ressourcen auch erreichen zu
gik und die Begründung für die Ziele ver- können). Letztere ist eng mit dem Konzept
ständlich zu vermitteln (Locke u. Latham der Selbstwirksamkeit („self-efficacy“, die
2013). Überzeugung, eine Handlung ausführen
Eine neue Variante der Zielauswahl, bzw. ein Ziel erreichen zu können) und mit
die bereits in den Bereichen „Diätetik“ der Komplexität der Ziele (der Aufwand zur
42 C. Pott, K. Fheodoroff
Eine Person mit hoher Einschätzung der samkeit, die Selbstbewertung, die Selbst-
Selbstwirksamkeit wird ein Scheitern eher belohnung und – falls erforderlich – die
auf externe Faktoren schieben, während Zielrevision und -anpassung (Frayne u.
eine Person mit geringer Selbstwirksam- Geringer 1994) (siehe auch Abschnitt 2.4).
keitsüberzeugung ein Scheitern eher der
geringen eigenen Leistungsfähigkeit zu- 2.3.5
schreiben wird. Forschungsergebnisse zei- Ziele und Feedback (Empowerment)
gen, dass das optimale Niveau der Selbst-
wirksamkeit etwas über der tatsächlichen Jede Art von Reaktion, aus der ein Ler-
Leistungsfähigkeit liegt; in dieser Konstel- nender oder Rehabilitand auf die erbrach-
lation sind Menschen besonders bereit, te Leistung Rückschlüsse im Hinblick auf
schwierige Aufgaben zu bewältigen und das Zielverhalten ziehen kann (also auch
Erfahrungen zu sammeln (d. h. zu lernen) Gesten, emotionale Lautäußerungen),
(Bandura 2013). Selbstwirksamkeit beein- stellt ein Feedback dar und beeinflusst
flusst auch wesentlich die Fähigkeit zur die Selbstwahrnehmung und -einschät-
Selbstregulierung und zum Selbstmanage- zung, den Lernprozess und den Grad der
ment. Darunter versteht man die Fähig- Zielerreichung. Feedback hat auch affek-
keit, die eigenen Gefühle und Stimmungen tive Konsequenzen: Menschen verspüren
durch einen inneren Dialog zu beeinflus- Freude bzw. Enttäuschung bei entspre-
sen und zu steuern (Erez u. Judge 2001; chendem Feedback im Hinblick auf die
Cicerone u. Azulay 2007). Zielerreichung – besonders wenn es von
Selbstmanagement basiert auf vier anerkannten Bezugspersonen oder Ex-
Kernprozessen (Austin u. Vancouver 1996): perten stammt. Allein die Tatsache, dass
1. Zielerrichtung – Ziele entwickeln, an- jemand den individuellen Fortschritt be-
nehmen, reihen, priorisieren, anpas- obachtet, scheint schon als Verstärker zu
sen und verwerfen, wirken (Ashford u. De Stobbeleir 2013).
2. Planen – interne Abläufe zur Erstellung Personen, die negatives Feedback erhal-
von Schritten zur Zielverfolgung pla- ten, revidieren ihre Ziele nach unten, nach
nen, positivem Feedback erweitern sie diese
3. Streben – Zielerreichung und -auf- eher nach oben; dies gilt insbesondere für
rechterhaltung verfolgen, Leistungsziele (besser werden), während
4. Revision – Ziele verändern und/oder für Lernziele (Strategie entwickeln) ein
aufgeben. leicht negatives Feedback kombiniert mit
Verbesserungsvorschlägen einen schwach
Selbstregulierung und Selbstmanagement positiven Effekt ausüben kann (Ilies u.
sind entscheidend für die Ablösung von Judge 2005).
externem (therapeutischem) Feedback hin
zu einer internalen Kontrollüberzeugung. 2.3.6
Ziele, die in Konflikt mit persönlichen Zielevaluierung
oder mit teamimmanenten Selbstkonzep-
ten stehen, werden die Fähigkeit zur Zieli- Prinzipiell gilt für das Evaluieren von Zie-
dentifikation, -verfolgung und -erreichung len das Gleiche wie für die Befunderhe-
negativ beeinflussen (Day 2013). Selbst- bung (s. a. Abschnitt 2.5.2 „Shared docu-
management-Training beinhaltet typische mentation“, S. 55); die Zielüberprüfung
Inhalte, in denen der Zielsetzungsprozess wird umso leichter fallen, je spezifischer
die zentrale Variable darstellt. Weitere Ele- die Ausgangsbasis erfasst wurde und die
mente umfassen die Handlungsplanung, Ziele formuliert sind. Im Wesentlichen
die Selbstbeobachtung, die Selbstwirk- können drei Arten der Zielevaluierung un-
44 C. Pott, K. Fheodoroff
STUFE 2
Handlungsplan
Legt fest, was wann wie
und wo zu tun ist STUFE 3
STUFE 1
Bewältigungsplan Handeln / Verhalten
Strategien zur Überwindung
Ziele verhandeln Den Plan ausführen:
antizipierter Hindernisse
Hauptprobleme und
Unabhängig
potentielle Ziele
erörtern Selbstvertrauen Unter Aufsicht
1 10
Mit Unterstützung
Zuversicht, den Plan
durchzuführen, messen
Ziele setzen
Spezifische,
schwierige Ziele
STUFE 4
vereinbaren
Abb. 2.7: Zielsetzungs- und Handlungsplanungsrahmen (Fheodoroff u. Pott 2018, mod. n. Scobbie 2013)
den Mittelpunkt. Zwei Komponenten des wohl Barrieren als auch Förderfaktoren)
Lernens stehen besonders im Fokus: der zu erreichen. Daneben spielen die Ergeb-
Lernprozess als Ausdruck der Wechselwir- niserwartung bzw. die Konsequenzen der
kung zwischen Person und Umwelt (soziale Zielerreichung („outcome expectancies“)
Komponente) und die Erwartungshaltung eine zentrale Rolle. Bandura führt aus,
im Sinne der Vorwegnahme des Ergebnis- dass jemand keinen Anreiz habe zu han-
ses (kognitive Komponente). Der Lernpro- deln, solange er nicht überzeugt ist, den
zess selbst wird in eine Aneignungsphase erwünschten Effekt/das erwünschte Er-
und in eine Ausführungsphase unterteilt. gebnis durch eigenes Verhalten zu errei-
Bei ersterer stellen Aufmerksamkeits- und chen (Bandura 1997). Im Zusammenhang
Gedächtnisprozesse wichtige Einflussgrö- mit gesundheitsbezogener Ergebnisfor-
ßen dar, bei letzterer sind es die motori- schung wird angenommen, dass Selbst-
sche Ausführung und Verstärkungspro- wirksamkeit die Motivation zur Zielset-
zesse, die das Lernergebnis (Verhalten) zung und -verfolgung verstärkt und die
beeinflussen. Bandura entwickelte den Resilienz (Widerstandskraft) im Falle von
Begriff Selbstwirksamkeit („self-efficacy“) Rückschlägen erhöht. Der Einfluss von
zum zentralen Anker seiner Lerntheorie. Selbstwirksamkeit wurde bei verschiede-
Darunter versteht man die Überzeugung nen Krankheitsbildern (u. a. chronische
eines Individuums in seine Fähigkeit, ein Arthritis, Übergewicht, Multiple Sklero-
Ziel unter den gegebenen Umständen (so- se, Schlaganfall) untersucht und bestätigt
46 C. Pott, K. Fheodoroff
(Marks et al. 2005; Marks et al. 2005; Kor- Überlegungen geleitet: die Handlungspla-
pershoek et al. 2011). nung (wann, wo, wie und wie oft wird das
Zielverhalten/das Vorhaben umgesetzt?)
3. Säule: „Health action process approach“ und die Bewältigungsplanung („coping-
(Schwarzer und Sniehotta) planning“: Welche Hindernisse könnten
Ausgehend von dem Befund, dass zwi- mich von meinem Vorhaben abhalten?
schen der Absicht, ein bestimmtes gesund- Wie könnte ich diese Hindernisse vermei-
heitsbezogenes Verhalten zu starten, und den?). Darüber hinaus sind noch Überle-
der tatsächlichen Ausführung eine Lücke gungen sinnvoll, wie die betroffene Person
besteht, die dazu führt, dass dieses Ver- im Falle eines Rückschlages selbst wieder
halten – trotz besseren Wissens – oft nicht zum Zielverhalten zurückfinden kann:
initiiert und aufrechterhalten wird, haben Wiederherstellen der Selbstwirksamkeit
Schwarzer und Sniehotta Untersuchun- („recovery of self efficacy“). Der „health ac-
gen zu den beteiligten Selbstregulierungs- tion process approach“ wurde ausführlich
Prozessen durchgeführt (Sniehotta et al. im Rahmen der kardiologischen Rehabi-
2005). Selbstregulierung („self-regulati- litation untersucht. In einer Längsschnitt-
on“) bezieht sich dabei auf die Bemühun- Studie waren Absichtsentwicklung, Hand-
gen einer Person, gewohnte bzw. inhären- lungs- und Absicherungsplanung und die
te Verhaltensmuster auf situative Reize zu Aufrechterhaltung eines aktiven Trainings
vermeiden und stattdessen entsprechend über den Rehabilitationszeitraum sowie
der vorgefassten Absicht zu handeln. Da- in der Nachuntersuchung nach zwei bzw.
bei werden drei Arten von Schwierigkeiten vier Monaten positiv korreliert. Die Ab-
in der Absichtsausführung unterschieden: sichtsentwicklung nahm im Laufe der Zeit
eine Handlung zu starten; Hindernisse auf ab, die Absicherungsplanung nahm zu
dem Weg zur Umsetzung der Handlung zu (Sniehotta et al. 2006).
überwinden und die Handlung über län- Neben den hier genannten Lern- und
gere Zeit aufrecht zu erhalten. Verhaltenstheorien kommen weitere
Im „health action process approach“ Theorien im präventiven und rehabilita-
(HAPA) wird davon ausgegangen, dass Ver- tiven Kontext zur Anwendung (Finne u.
haltensänderungen über zwei deutlich un- Gohres 2020). Zunehmend werden diese
terscheidbare Phasen stattfinden. In der auch in der Forschung berücksichtigt. Ein
ersten Phase, der motivationalen Phase Scoping-Review von 2015 zeigt, dass das
bzw. Phase der Beschlussfassung, werden transtheoretische Modell der Verhaltens-
Zielvorhaben entwickelt. Diese werden änderung am häufigsten untersucht wur-
entscheidend beeinflusst von der Risiko- de (33 % der 276 untersuchten Artikel), ne-
wahrnehmung („ich werde meine Fähig- ben der Theorie des geplanten Verhaltens
keiten zum Treppensteigen verlieren“), (13 %) und der sozial-kognitiven Theorie
der Ergebniserwartung („wenn ich Trep- (11 %) (Davis et al. 2015). Im klinischen
pen steigen übe, werden meine Beine kräf- Setting der Rehabilitation sind Interventio-
tiger“) und dem Selbstvertrauen („ich bin nen bisher häufig nicht theoriebasiert bzw.
zuversichtlich, dass ich die Treppen stei- nicht explizit in ihrer Theoriefundierung
gen kann, wenn ich einen Handlauf ver- beschrieben (Finne et al. 2021). Die Ar-
wende“). In der zweiten, der willentlichen beitsgruppe um Michie stellt mit der Taxo-
Phase bzw. Umsetzungsphase, werden spe- nomie für „Behaviour Change Techniques“
zifische Vorbereitungen getroffen, die die (BCT) eine Vielzahl an Interventionsme-
Lücke zwischen der Absicht und der Hand- thoden zur Verhaltensänderung in 16 Be-
lung schließen sollen. Im Wesentlichen reichen, wie Ziele und Planung, Feedback
werden diese Vorbereitungen von zwei und Belohnungen dar (Michie et al. 2013).
2 · Best-Practice-Neurorehabilitation 47
2.3.7.2 2.3.7.3
„Goal attainment scaling“ (GAS) „Canadian occupational performance
measure“ (COPM)
Mit dem „goal attainment scaling“ (GAS)
wurde bereits 1968 eine Methode der stan- Das „Canadian occupational performance
dardisierten Zielevaluierung im psychiatri- measure“ (COPM) (Law et al. 1990; Cars-
schen Kontext eingeführt (Kiresuk u. Sher- well et al. 2004) wurde als betätigungsori-
man 1968). Dabei handelt es sich um eine entiertes und patientenzentriertes Assess-
Rechenmethode zur statistischen Auswer- ment-Instrument für die Befunderhebung,
tung heterogener Ausgangs- und Zielkate- Therapieplanung und Ergebnisevaluation
gorien innerhalb ein und desselben Ver- in der Ergotherapie entwickelt. „Betäti-
fahrens mit dem Ziel der Normverteilung. gung“ wird als sinnvolle und zweckgebun-
Die fünfstufige Skalierung der GAS reicht dene Aktivität definiert. Das COPM dient
von –2 bis +2. Das realistisch angestrebte, dem Erfassen von Aktivitäten der Selbst-
möglichst schriftlich fixierte Ziel kodiert versorgung, des häuslichen Lebens und
der Interviewer mit 0, ein davon abwei- der Erholung und Freizeit, die eine Per-
chendes etwas schlechteres Ergebnis mit son in ihrem täglichen Leben durchführt
–1 und ein noch entfernteres Ziel mit –2; bzw. vor der Erkrankung durchgeführt hat.
einem Ziel, das besser als das angestrebte Der Einfluss der Umweltfaktoren auf die
angenommene ausfallen könnte, wird +1 Durchführung der Handlungen und das
zugewiesen, einem sehr viel besseren Out- individuelle Rollenverständnis sind von
come +2. besonderer Bedeutung. Mit therapeuti-
Methodologisch sollten dabei die Ziele scher Unterstützung bewerten die Betrof-
von einem unabhängigen Untersucher in fenen das Ausführen einer Handlung in
ihren möglichen Erreichungsgraden fest- den drei Bereichen Selbstversorgung, Pro-
gelegt und später evaluiert werden – das duktivität und Freizeit unter Berücksichti-
heißt: alle Zwischenstufen von nicht er- gung der affektiven, kognitiven und physi-
reicht/teilweise erreicht/erreicht/übertrof- schen Fähigkeiten. Im Vordergrund steht
fen sollten von Beginn an verbal ausformu- die Evaluation der individuellen Patien-
liert vorliegen. Als statistisches Verfahren tenziele; daraus resultiert die Therapiepla-
ist die Rechenmethode für wissenschaftli- nung. Zum Einsatz des COPM liegen viele
che Fragestellungen geeignet; in der indi- Publikationen vor, die einen Einsatz des
viduellen Betrachtung ergibt sich aus der COPMs im klinischen Alltag stützen, der
Berechnung des Veränderungswertes kein relativ hohe Zeitaufwand muss jedoch ggf.
Vorteil gegenüber einem verbalen Feed- bei einer Implementierung in der eigenen
back. Institution berücksichtigt werde. Zudem
Das Verfahren wurde in mehreren kli- scheint weitere Forschung hinsichtlich der
nischen Studien eingesetzt und mehrfach psychometrischen Eigenschaften notwen-
kritisch bewertet (Bouwens et al. 2009; dig (Ohno et al. 2021).
Turner-Stokes 2009; Turner-Stokes et al.
2009; Ashford u. Turner-Stoke 2014; Kras- 2.3.8
ny-Pacini et al. 2016). Dabei wurde immer Informelle Strategien und
wieder festgehalten, dass GAS keine Ergeb- standardisierte Verfahren
nismessung per se darstellt, sondern einer
Prozess evaluierung gleichkommt; daher SMART – RUMBA
sollten immer standardisierte Messverfah- Als Beispiel für ein einfaches Instrument
ren begleitend eingesetzt werden, die den zur Zielformulierung sei an dieser Stelle
Grad der Zielerreichung untermauern. „SMART“ erwähnt.
48 C. Pott, K. Fheodoroff
Ursprünglich stammt der Begriff dar; außerdem sind die nach diesen Re-
„SMART“ aus dem Bereich des Projektma- geln formulierten Ziele oft nicht in der „Pa-
nagements (Doran 1981), er hat aber in- tientensprache“ formuliert, auf das T = „ti-
zwischen Einzug in viele Bereiche gehal- med“ wird gelegentlich verzichtet und der
ten, z. B. in die Mitarbeiterführung und in Zeitpunkt der Zielevaluierung mit der vor-
die Rehabilitation (Cott u. Finch 1991). Die gesehenen/genehmigten Behandlungs-
Buchstaben des Akronyms stehen für: dauer verknüpft.
S: „specific“/spezifisch Etwas mehr Spielraum bei gleichzeitig
M: „measurable“/messbar größerem Augenmerk auf die (Laien-)Ver-
A: „achievable“/erreichbar ständlichkeit von Zielen erlaubt die RUM-
R: „relevant“/relevant BA-Regel zur Zielformulierung. Die Regel
T: „timed“/zeitlich terminiert wurde 1973 von der kalifornischen Medizi-
nischen Gesellschaft entwickelt (Braun et
Beispiele für SMART-Ziele könnten lauten: al. 2010; Braun et al. 2013; Schmidt 2016).
„Den Weg zur Toilette in fünf Minuten mit Das Akronym „RUMBA“ steht dabei für die
einem Gehstock zurücklegen (können) – in Tabelle 2.2 aufgeführten Parameter.
bis Ende nächster Woche“ oder „Ein (hal-
bes) Glas Wasser ohne Verschlucken trin- COAST
ken (können) – in 14 Tagen“. Ein weiteres Modell der Zielformulierung
Das Formulieren von SMART-Zielen ist die „COAST Methode“, die von ame-
eignet sich aus mehreren Gründen für die rikanischen Ergotherapeutinnen entwi-
neurogische Rehabilitation: Es ist simpel, ckelt wurde (Gateley u. Borcherding 2017).
wenig zeitintensiv und für alle Beteiligten Grundlegende Prinzipien sind Klienten-,
leicht verständlich. Allerdings stellt die (Person-) und Betätigungszentrierung.
Vielfalt der Begriffe, die hinter dem Akro- Das Akronym steht für die in Tabelle 2.3
nym stehen, eine Quelle der Beliebigkeit dargestellten Inhalte.
Tab. 2.3: Das COAST-Akronym erfasst den Unterstützungsbedarf zum Erreichen eines spezifischen Ziels
Buchstabe Bedeutung englisch Bedeutung deutsch Fragen/Formulierung
C Client Klient Der Klient wird ... (etwas ausführen/
tun)
O Occupation Betätigung Welche Betätigung (Handlung)?
A Assisstance Hilfe/Unterstützung Mit folgendem Level an (personeller)
Unterstützung/Hilfestellung
S Specific Condition Spezifische Bedingungen Unter welchen Bedingungen?
T Timeline Zeitlinie In welchem Zeitraum? Wann?
2 · Best-Practice-Neurorehabilitation 49
Fortsetzung Tab. 2.4: Prinzip der Zielformulierung nach ICF (Modell Gailtal-Klinik)
Blickkontakt aufnehmen / halten Bis zu (Dauer) / unter reizarmen – belebten Bedingungen /
nach Vorbereitung / Initialberührung etc.
Unbehagen bei (welcher Situation) Spontan / auf Nachfragen / geschulte – vertraute – unbekannte
signalisieren Personen
d710
Respekt zeigen / wahren Spontan / auf Aufforderung – Hinweisreiz geschulte –vertraute
– unbekannte Personen – in der Gruppe
Auf Hinweise reagieren Spontan / auf Aufforderung – geschulte – vertraute – unbe-
kannte Personen – in der Gruppe
d720 Regeln / Vereinbarungen bei (welcher Spontan / auf Aufforderung / geschulte – vertraute – unbe-
Handlung) einhalten kannte Personen
d730 Hilfe bei (welcher Handlung) holen Rufglocke, Signalgeber, Mobiltelefon…
An …. Gruppenaktivitäten teilnehmen Spontan / auf Aufforderung / geschulte – vertraute – unbe-
kannte Personen…
d750
Gruppen leiten Spontan / auf Aufforderung / geschulte – vertraute – unbe-
kannte Personen… unter welchen Bedingungen…
d850 Bezahlte (Teilzeit-)Tätigkeit ausüben Spontan / auf Aufforderung / Anleitung, geschulte – vertraute
– unbekannte Personen, bis zu … (Zeitangabe), in reizarmer
(ruhiger, belebter) Umgebung, unter Berücksichtigung eigener
Leistungsgrenzen…
d855 Ehrenamtliche Tätigkeiten ausüben Bis zu … (Zeitangabe), mit Unterstützung durch …, unter
Berücksichtigung der eigenen Leistungsgrenzen…
Das Recht auf Selbstbestimmung Selbstständig / Anleitung / Hilfe
d940 einfordern
Chancengleichheit einfordern Selbstständig / Anleitung / Hilfe
Interventionen
Bewertung
Beurteilung der Fähigkeit, Lösungen für Fragen oder Situationen zu finden
Test
Verwendung eines Fragebogens, einer Bewertungsskala oder eines anderen Instruments,
um die Fähigkeit zu testen, Lösungen für Fragen oder Situationen zu finden
Beobachtung
Visuelle Erfassung von Informationen (nicht kontinuierlich), um die Fähigkeit zu bewerten,
Lösungen für Fragen oder Situationen zu finden
----------
Training
Vermitteln, Verbessern oder Entwickeln von Fähigkeiten, Lösungen für Fragen oder Situati-
onen durch Üben / Praktizieren zu finden
Ausbildung / Erziehung
Bereitstellung von Informationen zur Verbesserung des Wissens über die Suche nach Lö-
sungen für Fragen oder Situationen
Beratung
Beratung zur Förderung einer Veränderung oder zur Aufrechterhaltung der Fähigkeit, Lö-
sungen für Fragen oder Situationen zu finden – in Bezug auf Gesundheit (oder Gesundheits-
risiken)
---------
Konsultation
Bereitstellung therapeutischer oder unterstützender Kommunikation bei der Suche nach
Lösungen für Fragen oder Situationen.
Praktische Unterstützung
Bereitstellung praktischer Hilfe oder Anleitung auf der Suche nach Lösungen für Fragen
oder Situationen
Emotionale Unterstützung
Bereitstellung von Beruhigung, Empathie oder motivationaler Unterstützung für die Person
bei der Suche nach Lösungen für Fragen oder Situationen
54 C. Pott, K. Fheodoroff
KONTEXT
Ort / Räumlichkeiten; Dienstleistungsmodell; Ressourcen (materiell, personell);
Beziehung zu anderen Meetings / anderen Teamprozessen; andere verfügbare Dienstleistungen
MEETING INPUT MEETING OUTPUT
• Informationen ausgetauscht
MEDIATIONS-PROZESSE: • Fortschritte überprüft
PERSÖNLICHER BEITRAG
FÜHRUNG • Entscheidungen getroffen
• Anwesenheit, Pünktlichkeit
• Führungsstil • Vorgehen gemeinsam
• Aktive Beiträge
• Vorsitz: Zeitmanagement; beschlossen
• Rollenerfüllung, Kooperation
Gesprächsfluss; Genauigkeit • Maßnahmen zugewiesen
• Vorbereitung: Patienten-
• Zwischenmenschliche • Fortschritt u. Abschluss überprüft
Kenntnis, Assessments und
Beziehungen / Interaktion
Maßnahmen vollständig
MERKMALE VON
TEAM / SOZIALES KLIMA ERFOLGREICHEN MEETINGS
MEETING-STRUKTUR &
• Atmosphäre • Umfassend / holistisch
-ORGANISATION
• Experten- vs. Team-Rolle • Objektiv, relevant, prägnant
• Tagesordnung
• Machtverhältnisse • Angemessen / respektvoll
• Spezifische Dokumentation
• Experten- vs. Patientenfokus • Fristgerecht, sorgfältig,
• Verwendung standardisierter
• Teaminteraktion / ergebnisorientiert
Messinstrumente
Zusammenhalt • Fokus auf Patienten
• Ziele setzen
• Maßnahmen planen • Übereinstimmend, konsistent
Abb. 2.8: Struktur von effektiven Team-Meetings (mod. n. Tyson et al. 2014)
2.6 Literatur
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3
Beatmungsentwöhnung (Weaning)
in der neurologisch-neurochirurgischen
Frührehabilitation (NNFR)
Tobias Schmidt-Wilcke, Jens D. Rollnik
auch mit dem Ziel, Prädiktoren für ein er- zwischen Akutkrankenhaus und Frühreha-
folgreiches Weaning zu identifizieren, wur- bilitation kommt (Rollnik, Frank u. Pohl
de bereits in einschlägigen Werken disku- 2017).
tiert (Pohl u. Summ 2020). Die Umsetzung
allerdings, dies ist bereits jetzt absehbar,
wird insbesondere aufgrund der Daten- 3.2
schutzbestimmungen eine beträchtliche
Grundbegriffe der
Herausforderung darstellen.
Beatmungstherapie
Rehabilitationswissenschaftlich gibt es
gute Belege dafür, dass es vorteilhaft ist, Pa- Auch für die Grundlagen der Beatmungs-
tienten nach einer akuten neurologischen therapie sei auf Standardwerke verwiesen
Erkrankung rasch in die Rehabilitation zu (Bickenbach u. Dembinski 2015; Gross et
verlegen, z. B. nach einem Schlaganfall al. 2020). An dieser Stelle sollen einige der
(Musicco et al. 2003). Dass auch bereits auf wichtigsten Begriffe kurz erläutert wer-
einer akutmedizinischen Intensivstation den. Angemerkt werden muss, dass u. a.
„zum frühestmöglichen Zeitpunkt einset- aufgrund der unterschiedlichen Nomen-
zende Leistungen zur Frührehabilitation“ klaturen der Hersteller (der Beatmungs-
erfolgen müssen, hat der Gesetzgeber im maschinen) eine gewisse begriffliche
§ 39 SGB V niedergelegt. Allerdings versteht Heterogenität bezüglich der Beatmungs-
es sich von selbst, dass eine Frührehabili- parameter besteht, die durchaus zu Ver-
tation i. S. des OPS 8-552 („neurologisch- wirrung führen kann (für eine Kurzüber-
neurochirurgische Frührehabilitation“) sicht siehe Tabelle 3.1). Grundsätzlich
mit ihren besonderen strukturellen und kann zwischen kontrollierten und assis-
inhaltlichen Voraussetzungen nur in spe- tierten Beatmungsformen unterschieden
zialisierten Frührehabilitationszentren er- werden. Bezüglich der Beatmungsent-
bracht werden kann (Rollnik et al. 2011). wöhnungsstrategien kann wiederum ori-
Frührehabilitanden weisen heute eine er- entierend zwischen kontinuierlichen und
hebliche Morbidität auf, was sich nicht zu- diskontinuierlichen Weaningverfahren
letzt an der hohen Aufnahmeprävalenz mit differenziert werden. Beim kontinuier-
multiresistenten Erregern zeigt (Rollnik, lichen Weaning wird zum Training der
Samady u. Grüter 2014). Diese hohe Mor- Atemmuskulatur die Respiratorunterstüt-
biditätslast führt zu einem erheblichen, zung (i. d. R. CPAP/ASB) sukzessive redu-
insbesondere infektiologischen Kompli- ziert. Beim diskontinuierlichen Vorgehen
kationsrisiko und macht das Vorhalten der wechseln sich Phasen der kontrollierten
besonderen Mittel des Krankenhauses un- (z. B. BIPAP; bezüglich Abkürzungen s. u.)
erlässlich (Rollnik et al. 2011), zu denen bzw. assistierten Beatmung (z. B. CPAP/
auch intensivmedizinische Behandlungs- ASB) mit Phasen der Spontanatmung am
kapazitäten gehören (Rollnik 2009; Rollnik HME („heat moisture exchanger“, „feuchte
u. Janosch 2010). In der NNFR verbinden Nase“ – FN) ab. Während der Spontanat-
sich daher heute Intensivmedizin und Re- mungsphase können bereits erste Schritte
habilitation zum Vorteil der Patienten, die der Dekanülierung (und sogar des Kost
zeitnah nach einer schweren Akuterkran- aufbaus) initiiert werden, z. B. längeres
kung der spezialisierten Weiterbehand- Entblocken, passagere Verwendung ei-
lung zugeführt werden können. Diese ist nes Sprechaufsatzes oder sogar einer Ver-
mit über eintausend Weaning-Betten in schlusskappe anstatt der FN.
Deutschland flächendeckend gewährleis- Unter PEEP („positive endexpiratory
tet, sodass es gerade nicht zu einer „Lücke“ pressure“) versteht man das Druckniveau,
bzw. einem Bruch in der Versorgungskette das am Ende der Exspiration in der Lun-
3 · Beatmungsentwöhnung in der neurologisch-neurochirurgischen Frührehabilitation 65
ge verbleibt. Hierauf baut die CPAP-The- niert. BIPAP wird auch als zeitgesteuerter
rapie („continuous positive airway pres- Wechsel zwischen zwei unterschiedlich
sure“) auf. Dabei handelt es sich nicht um hohen CPAP-Niveaus beschrieben. BI-
eine Beatmung i. e. S., denn bei der Exspi- PAP ermöglicht es zusätzlich, dass der Pa-
ration wird lediglich die Ausatmung auf tient – und dies ist v. a. im Weaning hilf-
dem Wert des eingestellten PEEP gestoppt reich – selbstständig (mit verminderter
(„pneumatische Schienung“). Variationen Atemarbeit) dazu atmen kann (auf beiden
der CPAP-Behandlung werden z. B. zur Druckniveaus). Darüber hinaus kann eine
Erleichterung der Atemarbeit und Atelek- assistierte Beatmungsform hinzugeschal-
tasenprophylaxe eingesetzt, wie etwa die tet werden, indem z. B. auf dem unteren
EzPAP-Behandlung (wobei „Ez“ für „easy to Druckniveau (= PEEP-Niveau) durch einen
apply“ steht). EzPAP wird vor allem durch begonnenen oder versuchten Atemhub
Atmungstherapeuten auf der Normalstati- (ausgehend vom Patienten selbst) eine zu-
on angewendet. sätzliche Luftmenge (abhängig vom spe-
Unter BIPAP („biphasic positive airway ziell für diese Situation eingestellten, un-
pressure“) ist eine weitverbreitete druck- terstützenden Druck – ASB-Hilfsdruck)
kontrollierte Beatmungsform zu verste- insuffliert wird. Die verschiedenen Her-
hen (Abb. 3.1). Bei der Exspiration (un- steller nutzen unterschiedliche Begriffe für
teres Druckniveau) bleibt ein durch den diesen Beatmungsmodus: Neben BIPAP
PEEP („positive endexpiratory pressure“) (bei der Evita), findet man Begriffe wie Bi-
eingestellter Druck in den Atemwegen er- Vent (Servo), DUOPAP (Hamilton), Bilevel
halten, für die Inspiration wird ein Inspi- (Centiva, Bennett, u. a.).
rationsdruck (oberes Druckniveau) defi-
66 T. Schmidt-Wilcke, J. D. Rollnik
Abb. 3.1: BIPAP-Prinzip (Bickenbach u. Dembinski 2015, © Springer-Verlag GmbH, mit freundlicher Genehmigung)
Tab. 3.2: Mindestmerkmale des OPS 8-552 „Neurologisch-neurochirurgische Frührehabilitation“ (DIMDI 2022)
Aufgabengebiet Kompetenzen
Invasive Beatmung Einstellung und Überwachung der invasiven Beatmung je nach Erkrankung
und Steuerung der Analgosedierung nach Protokollvorgabe (in Abstimmung
mit dem ärztlichen Dienst)
Fall- und Überleitmanagement Durchführung eines Casemanagements von Patienten mit chronisch-respira-
torischer Insuffizienz in die ambulante Betreuung
Tab. 3.4: Beispiel für ein Spontanatmungsprotokoll des gesamten Pharynx und der Mundhöh-
im Weaning neurologischer Frührehabilitanden (Oeh- le. Hier hat sich ein Paradigmenwechsel
michen et al. 2013) ergeben: Während die Beatmungsentwöh-
Schritt Beatmungs Spontanatmung nung und die Dekanülierung früher als
(Tag) pausen (Summe in min) inhaltlich und zeitlich getrennte Schritte
pro Tag betrachtet wurden („Nach dem Weaning
1 6-mal 5 min 30 ist vor der Dekanülierung“), wird der De-
2 6-mal 10 min 60 kanülierungsprozess mittlerweile schon
während der maschinellen Beatmung
3 6-mal 15 min 90
(sobald der Patient nicht mehr komplett
4 6-mal 20 min 120
kontrolliert beatmet wird) angedacht und
5 6-mal 30 min 180 angebahnt. Auf Struktur- und Prozessebe-
6 6-mal 45 min 270 ne setzt dies wiederum die enge Zusam-
7 6-mal 60 min 360 menarbeit von Atmungstherapeuten und
Logopäden sowie Pflegenden voraus, die
8 4-mal 90 min 360
eine gemeinsame Strategie verfolgen und
9 4-mal 100 min 400 sich an einem Weaning-Protokoll orien-
10 4-mal 110 min 440 tieren. In der Klinik des Erstautors wird die
11 4-mal 120 min 480 sogenannte „Mainkofener Weaningschie-
12 4-mal 150 min 600
ne“ verwendet (Abb. 3.2), mit welcher pro-
zesshaft dokumentiert wird (mit Datum),
13 4-mal 180 min 720
wo im Weaning- bzw. Dekanülierungspro-
14 3-mal 240 min 720 zess sich der Patient genau befindet. Zu-
15 3-mal 260 min 780 sätzlich können wichtige Ergebnisse der
16 2-mal 400 min 800 flexiblen endoskopischen Evaluation des
Schluckakts (FEES), einschließlich Tra-
17 2-mal 450 min 900
cheoskopie, vermerkt werden. Dies er-
18 2-mal 500 min 1.000 möglicht einen schnellen Überblick und
19 2-mal 600 min 1.200 lässt Stagnationen leichter erkennen.
20 1-mal 1.200 min 1.200 Es gibt mittlerweile eine Vielzahl von
21 1-mal 1.320 min 1.320 Parametern, die eine Weaningbereitschaft
anzeigen bzw. einen Weaningerfolg vor-
22 1-mal 1.440 min 1.440
hersagen. Bei der Beatmung über die TK
befindet man sich in der komfortablen
Situation, dass der Atemweg gesichert ist
noch ein Sprechaufsatz verwendet wird, und eine sich einstellende respiratorische
um in einem ersten Schritt die Exspirati- Insuffizienz, z. B. bei einer Erschöpfung
on „per vias naturales“ zu trainieren. Das der Atemmuskulatur, unmittelbar behan-
Entblocken während der FN-Zeiten sollte delt werden kann, indem man den Pati-
regelhaft (täglich) durchgeführt bzw. ver- enten wieder an die Maschine nimmt und
sucht werden, allein um eine passagere kontrolliert beatmet. Es sollte allerdings
Druckentlastung der Trachealschleimhaut versucht werden, diese muskulären Er-
zu bewirken. Gleichzeitig stellt das Entblo- schöpfungszustände möglichst zu vermei-
cken einen ersten Schritt in Richtung De- den; d. h. durch sorgfältige klinische Beob-
kanülierung dar. Die Exspiration an der TK achtung, v. a. der Herz- und Atemfrequenz,
vorbei (per vias naturales) führt zu einer die drohende Erschöpfung zu erkennen
sensorischen Stimulation des Larynx, in- und entsprechende Maßnahmen zu er-
klusive Subglottis und Stimmlippen, sowie greifen. Da solche Erschöpfungszustände
74 T. Schmidt-Wilcke, J. D. Rollnik
Schluckprotokoll MSA:
positiv negativ
Tab. 3.5: Voraussetzungen für die Durchführung ei- kanten Anstieg) halten, so kann mit dem
nes Spontanatemversuchs („spontaneous breathing (diskontinuierlichen) Weaning begonnen
trial“) werden (z.B. 6 x 5 min oder 6 x 10 min).
Checkliste – Voraussetzungen: Ein weiterer wichtiger Parameter ist
• Patient stabil bei assistierter Beatmung der Atemwegsokklusionsdruck (P 0.1),
• RASS ≥ -2 der gemessen wird, wenn der Patient ei-
• Temp < 38,5° C nen Atemhub triggert (im CPAP / ASB
• Atemminutenvolumen < 15 l/min
Modus): Bei einem Unterdruck von -0,5
• PEEP < 8 mbar
• Atemfrequenz < 35/min mbar (unter PEEP) wird das Inspirati-
• Atemfrequenz / Atemzugvolumen < 105 onsventil verschlossen und der Unter-
• FiO2 < 0,4 druck, der nach 100 ms generiert worden
• PaO2 > 60 mmHg (8 kPa) ist, gemessen (physiologisch 1 – 4 mbar).
• PaO2 / FiO2 > 200 mm Hg (Horovitz index)
Ein Wert > 6 mbar weist auf eine erhöh-
Wenn Voraussetzungen erfüllt: te Atemanstrengung hin, die nicht dauer-
haft aufrechterhalten werden kann und als
• CPAP oder FN
• Klinische Beobachtung über 5 – 10 Minuten erstes Erschöpfungszeichen zu werten ist.
(Monitoring von Herz- und Atemfrequenz, RR) Ggf. ist dann sogar eine Umstellung von ei-
• Bestimmung des „rapid shallow nem assistierten Beatmungsmodus auf ei-
breathing”-Index (Atemfrequenz/Atemzug- nen kontrollierten in Erwägung zu ziehen.
volumen); Sollwert < 105
Wichtig ist, sich immer wieder zu verge-
• Beurteilung, ob der Spontanatemversuch
als bestanden gilt. genwärtigen, dass Prädiktoren und Kenn-
zahlen zwar sehr hilfreich sind, dass aber
Wenn ja, Fortführung der Beatmungsentwöh- immer die sorgfältige klinische Beobach-
nung tung als wichtigste Informationsquelle im
CPAP continuous positive airway pressure, FN Feuchte Nase, Vordergrund steht.
PEEP Positive end expiratory pressure, RSBI rapid shallow Nach erfolgreicher Beatmungsentwöh-
breathing index, RASS Richmond Agitation-Sedation Scale,
RR Blutdruck
nung wird der Dekanülierungsprozess, der,
wie oben dargestellt, schon während des
la oblongata) und zweitens ist die ponto- Weanings initiiert worden ist, weiter fort-
muskuläre Achse (Pons > Rückenmark > gesetzt. Ziele sind ein ausreichendes Spei-
Zwerchfell) zumindest in Teilen funkti- chelmanagement und die Wiedererlan-
onsfähig. Die sogenannten „spontaneous gung der Atmung „per vias naturales“. Der
breathing trials (SBT)“, wobei der Begriff Dekanülierungsprozess ist nach Einschät-
„SBT“ ursprünglich im Zusammenhang zung der Autoren mindestens so komplex
mit geplanten Extubationen verwendet wie der der Beatmungsentwöhnung. Aller-
wurde, erlauben ein weiteres Assessment, dings ist anzumerken, dass die Standards,
insbesondere der Atempumpfunktion. im Sinne von Protokollen und Prädiktoren,
Nachdem eruiert worden ist, ob ein SBT längst nicht so ausgearbeitet sind wie die
statthaft ist (Voraussetzungen siehe Tabel- der Beatmungsentwöhnung. Eine ausführ-
le 3.5, angelehnt an Lang 2019), wird der liche Darstellung der Dekanülierungsstra-
PEEP gesenkt (auf 5 mbar mit keiner ohne tegien kann an dieser Stelle nicht erfolgen.
nur sehr wenig Druckunterstützung), oder Es sei nur auf wenige Aspekte hingewie-
der Patient wird direkt an die FN genom- sen: Häufig wird versucht, die Kanülen-
men (PEEP = 0 mbar; ASB = 0 mbar). Kann größe zu verringern. War es bei der Beat-
der Patient dann im Laufe der nächsten mung noch sinnvoll, eine möglichst große
fünf Minuten den Rapid Shallow Breathing Kanüle zu benutzen, um den Atemwegswi-
Index (RSBI: Atemfrequenz/Atemzugvolu- derstand so gering wie möglich zu halten,
men) stabil unter 105/min/l (ohne signifi- so wird durch das „Downsizing“ nun Platz
76 T. Schmidt-Wilcke, J. D. Rollnik
4
Neurorehabilitation bei schwerer
Bewusstseinsstörung
Jürgen Herzog
lich davon ausgegangen, dass Bewusst- können. Schmerzreize sollten deshalb im-
heit nicht streng kategorial, sondern als mer auch „zentral“, im Versorgungsgebiet
Kontinuum in unterschiedlichen Nuancen des N. trigeminus, appliziert werden, bei-
vorliegen kann. Neurophysiologisch wird spielsweise durch Kompression der Na-
Bewusstheit vor allem in thalamo-striato- senwurzel oder -scheidewand. Erst bei
kortikalen Netzwerken („mesocircuit mo- dann völlig ausbleibender Reaktionslo-
del“; Schiff 2010) generiert. Im Sinne der sigkeit kann von einem Koma gesprochen
Kognition könnte Bewusstsein Meta-Re- werden.
präsentationen beinhalten, also Repräsen-
tationen zweiter Ordnung über andere pri- 4.2.2
märe Repräsentationen, welche deren Art, Syndrom reaktionsloser Wachheit
ihre Glaubwürdigkeit, ihre emotionale Be- („unresponsive wakefulness syndrome“)
deutung und die Zugehörigkeit zu „Agen-
ten“ (inklusive der eigenen Person) cha- Nach schweren Hirnschädigungen (z. B.
rakterisieren (Cleeremans et al. 2020). Schlaganfällen, Hirnblutungen, SHT, HIE)
kann ein Koma in einen Zustand mit in-
4.2.1 termittierend geöffneten Augen (Wach-
Koma heit) übergehen, ohne dass Bewusstsein
(„awareness“) oder Kontaktfähigkeit ent-
Die schwerste Form einer Bewusstseins- stehen. Ein Schlaf-wach-Rhythmus ist er-
störung ist das Koma. Solche (überwiegend halten. Lautäußerungen, kurze, nicht re-
auf Intensivstationen behandelten) Pati- gelhaft gerichtete Augenbewegungen,
enten öffnen die Augen trotz beendeter Grimassieren auf Schmerzreize sowie kur-
Analgosedierung nicht, sind nicht kontakt- ze Kopf- oder Augenbewegungen in Rich-
fähig und zeigen keine Reaktion auf exter- tung akustischer oder visueller Stimuli bei
ne Stimuli. Wachheit und Bewusstheit sind ansonsten nicht responsiven Patienten
also nicht vorhanden. In der klinischen sind mit diesem Syndrom vereinbar (Ber-
Untersuchung zeigen diese Patienten in- nat et al. 2006). Dieser Zustand wurde im
folge der begleitenden Hirnstammschädi- Englischen als „vegetative state“ (VS), aktu-
gungen häufig ein- oder beidseitige Aus- eller als „unresponsive wakefulness syndro-
fälle der Hirnstammreflexe, die sorgfältig me“ (UWS; Laureys et al. 2010) bezeichnet.
untersucht werden sollten (u. a. Pupillen- Im deutschsprachigen Raum sollte analog
reflex mit fehlender Lichtreagibilität oder „Syndrom reaktionsloser Wachheit“ (SRW)
Anisokorie, vestibulookulärer Reflex mit statt der älteren Bezeichnungen „Wachko-
„Puppenkopfphänomen“, Korneal-, Hus- ma“ oder „Apallisches Syndrom“ verwen-
ten- und Würgreflex). Stattdessen finden det werden. Die in der klinischen Praxis
sich oft Primitivreflexe. Bei ausgedehnter noch geläufige Einteilung, ausbleibendes
Hirnstammschädigung ist das Atemzen Bewusstsein einen Monat nach einer Hirn-
trum betroffen und eine suffiziente Eigen- schädigung als persistierenden und drei
atmung nicht möglich. Bei Komapatienten (bei nicht traumatischer) bzw. zwölf Mo-
sollte – wie im Übrigen bei allen Patienten nate (bei traumatischer Genese) als per-
mit SBS – die Prüfung der Schmerzreagibi- manenten vegetativen Status zu klassifizie-
lität nicht auf die Extremitäten beschränkt ren (The Multi-Society Task Force on PVS
werden, da bei diesen Läsionsmustern oft 1994), ist mittlerweile überholt.
ausgedehnte Schädigungen schmerzlei-
tender Bahnsysteme von den Extremitä-
ten (Tractus spinothalamicus) vorliegen
und falsch negative Befunde vorspiegeln
84 J. Herzog
Inkompl.
Kompl. Locked-in- Volle
Locked-in- Syndrom Erholung
Syndrom (LIS)
(LIS)
e
rat g
de run
Exekutiv- Mo inde
Kognitive Funktion
funktionen h
Be
motorische
Dissoziation
re
we ung
Kognitiv
Motorische Funktion
Q „Sensory modality assessment and re- se Skala ist gegenwärtig nur auf Englisch
habilitation technique“ (SMART) publiziert.
Q „Sensory stimulation assessment mea- Die „Nociception Coma Scale“ (NCS,
sure“ (SSAM) Schnakers et al. 2010) schließlich nutzt
Q „Western neuro sensory stimulation die Wahrnehmung von Schmerzreizen zur
profile“ (WNSSP) Quantifizierung der Bewusstseinsstörung.
Q „Wessex head injury matrix“ (WHIM) Eine aktuelle Untersuchung an 43 Patien-
Q „Sensory tool to assess responsiveness“ ten im UWS demonstrierte eine der CRS-
(STAR) R vergleichbare Sensitivität und Spezifität,
detektierte den Übergang zum SRW jedoch
Bei all diesen Testverfahren sollte die Be- bei 13 Patienten früher als die CRS-R (Cor-
wertung sprachrelevanter Fähigkeiten ex- tese et al. 2021).
plizit berücksichtigt werden. Ein systema-
tischer Review von 58 Studien an 2.278
Patienten zeigte den Zusammenhang ei- 4.4
ner besseren Erholung bei sprachkompe-
Prognosebeurteilung und apparative
tenten Patienten mit SBS ebenso auf wie
Zusatzdiagnostik
eine systematische „Untererfassung“ von
Sprachfähigkeiten, die umso ausgeprägter Vor dem Hintergrund prolongierter oder
ist, je schwerer die Bewusstseinsstörung ist dauerhafter motorischer und kognitiver
(Aubinet et al. 2022). Defizite fällt bei SBS der Prognosestellung
Insbesondere für Intensivstationen schon in der frühen Krankheitsphase eine
empfiehlt sich der „full outline of unres- wichtige, aber umstrittene Rolle zu. Die
ponsiveness score“ (FOUR; Wijdicks et al. Langzeitprognose ist ethisch insbesondere
2005), da mit ihm auch endotracheal intu- dann kritisch, wenn die Erwartung irrever-
bierte Patienten untersucht werden kön- sibler Bewusstseinsstörungen bereits in-
nen (verbale Reaktionen werden nicht nerhalb der ersten Tage und Wochen nach
erhoben). Vier Domänen (Augenöffnen, der Hirnschädigung potenziell therapie-
motorische Antworten, Hirnstammrefle- limitierende/palliative Maßnahmen nach
xe, Atmung) werden bewertet, die zu ei- sich zieht.
nem Summenscore von max. 16 Punkten
führen. Der Score ist auch ohne aufwen- 4.4.1
dige Schulungsmaßnahmen leicht an- Prädiktoren ungünstiger Verläufe
wendbar. Er eignet sich insbesondere für
die Postakutphase schwerer Hirnschädi- Grundsätzlich sollen prognostische Aus-
gungen, da er durch seine schnelle Durch- sagen in der Frühphase immer in der Zu-
führbarkeit innerhalb von wenigen Mi- sammenschau des klinisch-neurologi-
nuten ggf. mehrfach täglich angewendet schen Befundes, elektrophysiologischer
werden kann. (somatosensibel evozierte Potenziale des
Das „Motor behaviour tool-revised“ N. medianus [SSEP] und Elektroenzepha-
(MBT-r, Pincherle et al. 2019) stellt eine Er- lographie [EEG], vgl. auch Abb. 4.2), bio-
gänzung zur CRS-R dar, mit der aus mo- chemischer (Serumkonzentration der
torischen Verhaltensmustern auf das Vor- Neuronenspezifischen Enolase [NSE]) und
handensein kognitiver Residuen bei SBS bildgebender Parameter (Computertomo-
geschlossen werden kann. Damit soll grafie [cCT] oder Kernspintomographie
dem Dilemma eines LIS oder einer CMD [MRT]) getroffen werden. Die deutsche
als „vermeintlicher“ Bewusstseinsstörung Leitlinie schlägt hierzu einen prognosti-
standardisiert begegnet werden. Auch die- schen Algorithmus für alle Patienten mit
88 J. Herzog
einer HIE vor, die innerhalb der ersten 72 rung des (aufgehobenen) Kontrasts (GWR)
Stunden nicht wach und kontaktfähig ge- zwischen grauer und weißer Substanz bei
worden sind (Abb. 4.3 ). Mindestens drei ausgeprägtem Hirnödem im cCT korreliert
der o. g. fünf diagnostischen Methoden stark mit einem schlechten Outcome, weist
sollten unter Beachtung spezifischer Stör- aber eine niedrige Sensitivität auf (Lee et
faktoren angewendet und ggf. nach sieben al. 2016). Im MRT korrelieren ausgedehnte
Tagen wiederholt werden. Diffusionsstörungen (DWI) im Cortex und
Bei HIE gelten bislang als Prädiktoren in den Basalganglien mit einer schlechten
für ungünstige Verläufe: Prognose (Hirsch et al. 2016), dasselbe gilt
Q Fehlende Hirnstammreflexe (Pupillen- bei der HIE für okzipital betonte Schädi-
reaktion, Kornealreflex) nach Tag 3 gungsmuster (Snider et al. 2022). MRT-
Q Beidseits fehlende kortikale Reizant- Ergebnisse beeinflussen jetzt schon in
worten (N20-Amplituden) der SSEP erheblichem Umfang unterschiedliche Be-
Q „Maligne“ EEG-Veränderungen im Sin- handlungsschritte, vor allem in der Akut-
ne einer fehlenden Reagibilität auf Au- phase (z. B. auf Intensivstationen). Bei 76 %
ßenreize, eines „Burst Suppression“- der Patienten (insbesondere bei SBS nach
Musters oder eines niedergespannten Schlaganfällen) ändert sich das klinische
EEGs mit Amplituden < 20 µV Management durch MRT-Befunde, darun-
Q Erhöhung der NSE auf Werte > 50 µg/l ter die Diagnose (20 %), die diagnostische
Sicherheit (43 %) oder die Prognose (33 %;
Für die HIE besteht heute im Hinblick auf Albrechtsen et al. 2022).
o. g. Marker ausreichende Evidenz, um die Da nicht wenige Patienten mit SBS
methodischen Kritikpunkte älterer Studien nach der (intensivmedizinischen) Akut-
(siehe Abschnitt 4.6) zu entkräften. behandlung erstmalig in der Frührehabili-
Die geringste Evidenz zur Prognose- tation Kontakt mit einem Neurologen ha-
abschätzung existiert derzeit (noch) für ben, sollte die Einordnung des klinischen
bildgebende Verfahren: Die Quantifizie- Syndroms und die apparative Zusatzdia
4 · Neurorehabilitation bei schwerer Bewusstseinsstörung 89
Neurologische Untersuchung
Tag 3 (möglichst ohne Sedierung oder Muskelrelaxation)
J cCT, evtl.
Fokale Zeichen? Klinische Zeichen des Hirntods? Hirntoddiagnostik
N
Wh. SEP / EEG / cCT / cMRT:
J Hinweise für schweren hypoxischen Hirnschaden?
N J
Therapie Therapie
Therapie fortsetzen begrenzung begrenzung
diskutieren empfehlen
Abb. 4.3: Prognose-Algorithmus bei hypoxisch-ischämischer Enzephalopathie (nach DGN-Leitlinie „HIE im Er-
wachsenenalter“, 2018); J Ja, N nein
gnostik (empfohlen: EEG und SSEP, Bild- Q Normwertige Spiegel der NSE (< 17 g/
gebung) ebendort erfolgen, auch wenn die ml) nach 72 h
prognostische Wertigkeit der Befunde in Q Fehlen jeglicher DWI-Läsionen in der
der Postakutphase mehrere Wochen nach cMRT
der Hirnschädigung wissenschaftlich nur
unzureichend untersucht ist. Beidseits erhaltene SSEP-Amplituden gel-
ten mittlerweile auch sechs bis acht Wo-
4.4.2 chen nach der Hirnschädigung als ver-
Prädiktoren günstiger Verläufe lässlicher Marker für ein Wiedererlangen
des Bewusstseins nach UWS, die Ampli-
Folgende Befunde gelten bei der HIE als tudenhöhe korreliert dabei mit den CRS-R
Prädiktoren für günstige Verläufe (oder Werten nach sechs bzw. zwölf Monaten im
sprechen zumindest gegen das Vorliegen Langzeitverlauf (Bagnato et al. 2021). Bei
einer schweren HIE): Patienten, die sich in neurorehabilitativer
Q Kontinuierliche Hintergrundaktivität Behandlung befinden, gelten ein jüngeres
und erhaltene Reaktivität im EEG Alter (<40 Jahre) und höhere Werte auf der
Q Hohe N20-Amplituden (> 2,5 µV) der „coma recovery scale“ (CRS-R) als verläss-
SSEP liche Marker für das Wiedererlangen des
90 J. Herzog
Bewusstseins innerhalb von 24 Monaten. jetzt minimales Bewusstsein (SMB) mit ei-
Dies wurde zwischenzeitlich unabhängig ner Sensitivität von 90 % bei einer Spezifität
von der Ätiologie in mehreren Kollektiven von 80 % detektieren und ist verhältnismä-
bestätigt (Estraneo et al. 2019; Boltzmann ßig wenig aufwendig, die fMRT birgt durch
et al. 2021). Umgekehrt haben Patienten die Kombination aus strukturellen und
im SMB eine etwa 3,4-fach höhere Wahr- funktionellen Daten vermutlich das größ-
scheinlichkeit, nach fünf Jahren das Be- te Zukunftspotenzial. Die Kombination
wusstsein wiedererlangt zu haben, als Pa- verschiedener Methoden ist naheliegend,
tienten im SRW (Luaute et al. 2010) – dies liefert für den einzelnen Patienten jedoch
unterstreicht, wie wichtig eine exakte Zu- häufig noch disparate Ergebnisse.
ordnung des klinischen Syndroms für die
Beratung von Angehörigen und für den
verantwortlichen therapeutischen Res- 4.5
sourceneinsatz ist.
Rehabilitative Behandlung von
Auch die Ätiologie der Hirnschädigung
schweren Bewusstseinsstörungen
hat eine prognostische Bedeutung für den
Langzeitverlauf der SBS: Von 50 Patienten 4.5.1
mit einem SRW/SMB, die spät (12 Mona- Rehabilitative Funktionstherapien
te oder später) das Bewusstsein wieder-
erlangten, litten 33,3 % an einem SHT, Die Rehabilitation von Patienten mit SBS
21,4 % an einer HIE und nur 5,4 % an ei- erfolgt unabhängig von der zugrunde lie-
ner intrakraniellen Blutung (Estraneo et al. genden Ätiologie und fand bislang auf ei-
2010). ner geringen oder fehlenden Evidenz-
basis statt. Die entstehende S3-Leitlinie
4.4.3 „Neurologische Rehabilitation bei Koma
„Potenzielle“ Prognosemarker und schwerer Bewusstseinsstörung im Er-
wachsenenalter“ bewertet aktuell den For-
Porcaro et al. (2022) identifizierten in einer schungsstand zu Interventionen aus sechs
systematischen Literatursuche insgesamt Bereichen (u. a. Medikamente, Therapien,
55 klinische Studien mit 2.740 SRW-, bzw. sensorische Stimulation etc.). Trotz niedri-
SMB-Patienten die mit folgenden Techni- gen Evidenzgrades besteht in dieser Leitli-
ken untersucht wurden: nie (wie auch in den Praxisempfehlungen
Q Positronenemissionstomographie (PET) der WFNR) eine starke Expertenempfeh-
Q Funktionelle Kernspintomographie lung, dass eine multiprofessionelle neu-
(fMRT) rologische Rehabilitation bei Patienten
Q Quantitative EEG-Verfahren (automa- mit SBS durchgeführt werden sollte. An-
tisierte Analysen von EEG-Charakte- gesichts der diagnostischen und prognos-
ristika) tischen Unsicherheiten ist davon auszu-
Q Ereigniskorrelierte kognitive Potenzia- gehen, dass einem relevanten Anteil von
le („event-related potentials“, ERP) Patienten durch „vorschnelle“ Entschei-
Q Simultane EEG-Ableitung unter trans- dungen zu einer Therapielimitierung im
kranieller Magnetstimulation (rTMS – Akutkrankenhaus eine möglicherweise
EEG) sinnvolle Frührehabilitation vorenthal-
ten wird. Dieses Dilemma der selbst er-
Keine dieser Methoden ist gegenwär- füllenden Vorhersage (fälschliche Annah-
tig den anderen eindeutig überlegen, alle me einer ungünstigen Prognose → Entzug
sind noch nicht in der klinischen Routine indizierter Behandlungsmaßnahmen →
verfügbar. Quantitatives EEG kann bereits Outcome „fälschlich“ ungünstig) bestimmt
4 · Neurorehabilitation bei schwerer Bewusstseinsstörung 91
auch immer noch einen Teil der vorliegen- verbesserten Werten auf Komaskalen füh-
den Literatur zum Thema. ren (Megha et al. 2013; Pape et al. 2015),
Die Mobilisation in eine vertikale Po- sodass eine starke Empfehlung zur Anwen-
sition von Rumpf (Sitz) oder gesamtem dung gegeben wird.
Körper (Stand) sollte so früh und so oft wie Musiktherapie bewirkt bei Bewusst-
möglich angestrebt werden. Neben den seinsstörungen unterschiedliche Effekte
erhofften physiologischen Auswirkungen, auf klinische Zielsymptome oder auf die
wie die Reduktion orthostatischer Effekte Konnektivität des Gehirns (Boltzmann et
und die Prophylaxe von Atelektasen und al. 2021). Die Evidenz für die Wirksamkeit
von Osteoporose, ist insbesondere die ist moderat, die Anwendung wird deshalb
Verbesserung der Wachheit durch diese im Kontext einer interdisziplinären Reha-
Behandlung evidenzbasiert (Frazzitta et bilitation von der neuen Leitlinie empfoh-
al. 2016). Meist werden, in serieller Ab- len. Keine spezifische Musiktherapieform
folge, Sitzbett mit Lagerungshilfsmitteln, hat sich bislang als überlegen bewiesen
Mobilisierung an die Bettkante mit zwei (Übersicht bei Schnakers et al. 2016).
Therapeuten und Mobilisierung in den In der Pflegetherapie werden die basa-
Multifunktionsrollstuhl durchgeführt. le Stimulation nach Bienstein und Fröhlich
Ebenso ist die Mobilisierung in ein Steh- als pädagogisches Förderkonzept, Kinäs-
pult üblich. Zunehmend werden bewusst- thetik als Lern- und Bewegungskonzept,
seinsgestörte Patienten auch mit Gangro- die Lagerung in Neutralstellung (LiN) und
botern oder elektrischen Kippbrettern Elemente der Affolter- und Bobath-Thera-
mit zyklischen Beinbewegungen verti- pie eingesetzt. Lagerungsmaßnahmen ha-
kalisiert, wenngleich die Überlegenheit ben bei den meist hochgradig bewegungs-
dieser Geräte gegenüber konventioneller eingeschränkten Patienten zur Prophylaxe
Mobilisation noch nicht gezeigt werden von Dekubiti und Dystelektasen Bedeu-
konnte (Krewer et al. 2015). Erschwert tung, werden aber auch zur sensorischen
werden Vertikalisierungsbemühungen Stimulation genutzt. Bei der LiN werden
nicht selten durch gelenknahe Verkal- durch individualisiert geformte Hilfsmit-
kungen des Muskel-Weichteilgewebes tel die meisten Gelenke in Neutralstellung
(neurogene heterotope Ossifikationen), gelagert, wodurch das passive Bewegungs-
für die prospektiv eine Häufung auch bei ausmaß großer Gelenke signifikant verbes-
SBS gezeigt werden konnte (Estraneo et sert werden kann (Pickenbrock 2015).
al. 2021). Sie treten insbesondere bei trau- Zur Förderung der Mundmotorik und
matischen Hirnschädigungen auf und des Schluckaktes ist die Therapie des fazi-
sind statistisch mit Spastik, Extremitäten- ooralen Traktes (F.O.T.T.®) nach Kay Coom-
frakturen und funktioneller Beeinträchti- bes weitverbreitet. Für deren Wirksamkeit
gung assoziiert. bei Patienten mit Bewusstseinsstörungen
Ebenfalls unter der Vorstellung einer liegen bislang keine Ergebnisse kontrol-
verstärkten Wahrnehmung und „Aktivie- lierter Studien vor (Seidl et al. 2007). Die
rung“ durch multisensorische (insbeson- Schluckstörung (Dysphagie) rückt jedoch
dere taktile, propriozeptive und auditive) verstärkt in den Fokus wissenschaftlicher
Stimulation werden Patienten multidiszi- Untersuchungen: In einer retrospektiven
plinär von Therapeuten mit intuitiv bzw. Analyse von 236 tracheotomierten Patien-
induktiv entwickelten Therapieverfahren ten mit SRW und SMB konnte der Zusam-
bestimmter Schulen (z. B. Therapie nach menhang zwischen der Dekanülierung mit
Affolter) behandelt. Insbesondere Stimuli, dem Grad der Bewusstsein eindeutig ge-
die einen hohen emotionalen bzw. auto- zeigt werden (Hakiki et al. 2020). Ein As-
biographischen Bezug haben, können zu sessment zur Dysphagie bei SBS wurde mit
92 J. Herzog
enten (68 SRW, 75 SMB; davon 55 mit trau- ation die Überlebenswahrscheinlichkeit,
matischer bzw. 88 mit nicht-traumatischer in der Frührehabilitation die Länge der
Hirnschädigung), von denen nach zwei stationären Erstverweildauer und im wei-
Jahren Verlaufsbeobachtung 29 % gestor- teren Verlauf die Realisierung einer Spät-
ben waren (UWS 43 %, SMB 16 %; Estraneo oder Intervallrehabilitation ab. Die psychi-
et al. 2022). sche und physische Belastung pflegender
Weitere prospektive Studien zu Lang- Angehörige wird durch die permanente
zeitverläufen von SBS, die auch die Akut- Unsicherheit bezüglich des zu erwarten-
behandlung mit einschließen, sind er- den Outcomes im Langzeitverlauf verstärkt
forderlich, um den Bias aus unsicherer (Jox et al. 2015). Es ist gemeinsame Aufga-
Prognoseerwartung und daraus resultie- be für alle Therapeuten und Ärzte, diesen
renden Behandlungskonsequenzen („self Aspekt der Erkrankung nicht aus den Au-
fulfilling prophecy“) zu minimieren. So gen zu verlieren.
gibt es Fallberichte von Patienten mit her- Gleichzeitig ist es notwendig, Fragen
vorragendem Langzeitergebnis, bei denen zur Prognostik und Neurorehabilitation
nach den üblichen Prognosekriterien ein von SBS wissenschaftlich stärker zu adres-
„infauster“ Verlauf zu erwarten gewesen sieren, um therapeutische Standards zu
wäre (Bender et al. 2012). Die prospekti- definieren. Die teilweise deutlich unter-
ve, multizentrische HOPE-Studie („Hypo- schiedlichen Behandlungsempfehlungen
xia and Outcome Prediction in early-stage zwischen der deutschen und der amerika-
Coma“) untersucht das funktionelle Lang- nischen Leitlinie zu SBS bzw. zur HIE sind
zeitergebnis von Patienten mit HIE nach auch ein Ausdruck des insgesamt niedri-
Reanimation sowie die Wertigkeit stan- gen Evidenzniveaus zu diesen klinischen
dardisierter Prognosemarker und Behand- Syndromen.
lungsmaßnahmen auf den Intensivstati-
onen (Lopez-Rolon et al. 2015). In einem
Modellprojekt in den Niederlanden wer-
den seit 2019 landesweit alle Patienten mit
SBS bis zu zwei Jahre lang in einer speziali-
sierten Einrichtung neurologisch rehabili-
tiert. Die „True Outcomes of PDOC“-Studie
(TOPDOC) soll die sich anschließenden
Langzeitverläufe multizentrisch begleiten
(Sharma-Virk et al. 2021). Für beide Studi-
en sind bislang allerdings keine Daten pu-
bliziert.
4.7
Zusammenfassung
Die Neurorehabilitation von Patienten mit
SBS stellt in jeder Phase der Erkrankung
Therapeuten wie Angehörige vor beson-
dere Herausforderungen. Neben den me-
dizinischen Problemen spielen ethische
Aspekte eine große Rolle: Von der Güte der
Langzeitprognose hängen in der Akutsitu-
96 J. Herzog
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99
5
Neurorehabilitation der Armfunktion
Thomas Platz, Linda Schmuck
eine verbesserte Armfunktionalität erwar- Falle wirksamer sind als alternative Be-
ten lassen. Es geht einerseits darum, dass handlungsmethoden. Hierzu gibt es nur
die relevanten Kontrollaspekte sehr spezi- begrenzt Nachweise, oftmals zeigten sich
fisch beübt/gefördert werden. Andererseits unterschiedliche therapeutische Vorge-
ist es ebenso wichtig, dass möglichst alle hensweisen in Studien als ähnlich wirk-
relevanten Aspekte, ggf. auch in der richti- sam; z. B. bei einem Vergleich zwischen
gen, d. h. erfolgversprechenden Reihenfolge, modifizierter CIMT, bilateralem Training
trainiert werden. oder konventioneller Therapie (van Del-
Es kann Situationen geben, in denen den et al. 2013); analoge Beispiele gibt es
die Komplexität der Übungssituation redu- auch für Robot-basierte Therapien (Masie-
ziert gestaltet werden muss, etwa bei sehr ro et al. 2014).
schweren Paresen und dem Ziel, basale Das Gehirn kann immer das an ver-
selektive Innervations- und Bewegungsfä- besserter Funktionalität im Alltag einset-
higkeit zu fördern (z. B. beim Arm-Basis- zen, was es gelernt und zur Verfügung hat.
Training). Andererseits müssen Übungs- Der Alltag kann also in dem Maße funktio
situationen für Patienten mit leichteren nell durch Therapie unterstützt werden,
Paresen auch komplex anspruchsvoll sein, wie das Erlernte eine alltagsrelevante ver-
um beispielsweise Sensomotorik auf ho- besserte Funktionalität darstellt. Daher
hem Leistungsniveau zu trainieren (z. B. ist für die Therapie darauf zu achten, dass
beim Arm-Fähigkeits-Training) (Platz et die geförderten Aspekte der motorischen
al. 2009). Das gilt bis hin zu komplexen Kontrolle Schlüsselaspekte der Alltags-
alltagsnahen Situationen, wenn es darum funktionalität darstellen. Damit ist nicht
geht, einen gelernten Nichtgebrauch einer gemeint, dass Therapie immer aufgaben-
teilgelähmten Extremität durch massives bzw. konkret alltagsbezogen sein muss. Es
Beüben zu revidieren (z. B. bei der Bewe- geht vielmehr darum, die relevanten Kon
gungsinduktionstherapie „constraint-in- trollfunktionen der (Senso-)Motorik ge-
duced movement therapy“, CIMT) (Wolf et zielt zu fördern (Schädigungs-orientierte
al. 2009). Therapie), da deren Verbesserung zumin-
In all diesen Situationen ist es erfor- dest mittelfristig einen Alltagsnutzen ge-
derlich, die Selbstorganisation des Gehirns nerieren wird. Das kann und muss nicht
zu stärken und durch die Übungssituati- unmittelbar erreicht werden, sollte aber
on Voraussetzungen zu schaffen, in denen zumindest mittelbares Ziel sein.
das Gehirn trainingsinduziert seine Kon Ein Übertrag in den Alltag geschieht
trollfunktionen durch eine Reorganisation nicht unbedingt „automatisch“; es lohnt
steigern kann und damit seine Arm- und sich, den Transfer einer verbesserten mo-
Handfunktionen und -aktivitäten verbes- torischen Kontrolle in den Alltag aktiv
sert. therapeutisch zu fördern, um ein für den
Das „Trainingspaket“ sollte daher in- Alltag möglichst gutes Therapieergebnis
dividuell so selektiert und im Therapie- zu erzielen (Taub et al. 2013). Ein Trans-
verlauf modifiziert werden, dass die mo- fer des (Wieder-)Erlernten in den Alltag
torischen Kontrollaspekte spezifisch und kann durch protokollierte Eigenübungs-
umfassend gefördert werden, die beim jet- programme mit Logbuch-Einträgen und
zigen Leistungsstand der zerebralen Kon- durch gemeinsame Analysen, was den
trolle am ehesten einen therapeutisch- Armeinsatz im Alltag ggf. erschwert, un-
funktionellen Fortschritt erlauben. terstützt werden, um hierfür individuelle
Dabei gilt es Therapien auszuwählen, Transferlösungen transparent zu machen.
die für die jeweiligen Therapieziele nach- Grundsätzlich ist für die Therapieent-
weislich wirksam sind bzw. im besten scheidungen auch das individuell wahr-
102 T. Platz, L. Schmuck
lungsziel sind; die Compliance sollte dabei schen Therapieformen, wie sie unten aus-
z. B. mit einem Logbuch überprüft werden geführt werden, waren sie entweder ver-
(Harris et al. 2009). gleichbar wirksam oder unterlegen (van
Die Wirksamkeit von nicht supervi- Vliet et al. 2005; Langhorne et al. 2009).
diertem strukturiertem häuslichem Eigen- Eine Empfehlung für eine der Schulen (Bo-
training ist jedoch in ihrer Anwendbarkeit bath, PNF, „traditionelle Techniken“) kann
und Wirksamkeit sehr begrenzt (Wong et nicht gegeben werden.
al. 2020).
Auch in späteren Krankheitsphasen
wurden verschiedentlich Therapieeffek- 5.5
te abgesichert. In der chronischen Phase
Spezifische neuere übende
(mehr als ein Jahr nach Schlaganfall) wa-
Therapieansätze
ren sowohl kürzere intensivere als auch
längere weniger intensive Behandlungs- In der Armrehabilitation können sehr un-
formen wirksam. Wöchentlich 90 bis 270 terschiedliche therapeutische Ansätze ge-
Minuten strukturiertes repetitives Training wählt werden. Es gibt verschiedene neuere
von Schulter-, Ellenbogen-, sowie Hand- Optionen, wie in der Ergo- oder Physio-
gelenks- und Fingerbewegungen bei mit- therapie der betroffene Arm aktiv beübt
telschwerer bis schwerer Armlähmung, werden kann. Ob und welche dieser the-
ggf. unterstützt durch EMG-getriggerte rapeutischen Vorgehensweisen sich in
Elektrostimulation oder funktionelles auf- klinischen Studien als wirksam erwiesen
gabenbezogenes Training mit wiederkeh- haben und welche Empfehlungen des-
renden Behandlungsphasen (und Pausen) halb gegeben werden, wird in den nach-
wird zur Verbesserung der Armaktivitäten folgenden Abschnitten näher beschrieben
im Alltag empfohlen (Cauraugh et al. 2011; werden. Es ist so, dass sich verschiedene
Corti et al. 2012). wirksame Therapieverfahren nicht gegen-
Die Wirksamkeit einer kontinuierli- seitig ausschließen, sondern in Abhängig-
chen Behandlung ist nicht untersucht. Eine keit von der Schwere der Beeinträchtigung
fortgeführte Behandlung sollte erfolgen, in verschiedenen Phasen der Therapie ein-
wenn folgende Bedingungen erfüllt sind: gesetzt werden können. Auch ist es denk-
Zum einen sollten funktionelle Defizite be- bar, dass je nach Möglichkeiten der The-
stehen, zum anderen sollten während der rapie diese alternativ oder auch parallel
Therapie funktionelle Verbesserungen do- eingesetzt werden. Am Ende des Kapitels
kumentierbar sein (bzw. funktionelle Ver- werden Empfehlungen zur Therapieaus-
schlechterungen nach deren Absetzen). wahl separat für schwere, mittelschwe-
re und leichte Paresen tabellarisch vorge-
stellt.
5.4
Physiotherapeutische Schulen 5.5.1
„Constraint-induced movement therapy“
Eine überlegene Wirksamkeit einer der (CIMT) (Bewegungsinduktionstherapie)
länger bekannten therapeutischen Schu-
len wie zum Beispiel der Bobath-Behand- Die Bewegungsinduktionstherapie geht
lung oder der propriozeptiven neuromus- von der Vorstellung aus, dass es einen „ge-
kulären Fazilitation (PNF) gegenüber einer lernten Nichtgebrauch“ des gelähmten Ar-
anderen Schule lässt sich für die Armre- mes gibt. Was heißt das? Wenn Patienten
habilitation aus der beurteilten Literatur nach einem Schlaganfall anfänglich eine
nicht ableiten. Gegenüber anderen spezifi- schwerere Lähmung haben, können sie
104 T. Platz, L. Schmuck
den Arm im Alltag nicht einsetzen. Der betroffenen Arm wird dadurch ein deut-
Patient „lernt“ dann, die Alltagsaufgaben liches Mehr an Bewegungen „induziert“
mit dem nicht betroffenen Arm auszufüh- (hervorgerufen). So entsteht eine Alltags-
ren, da dies für ihn leichter geht. Nach der situation, in der der betroffene Arm massiv
weiteren Erholung des vormals stärker ge- beübt und eingesetzt wird. In vielen Studi-
lähmten Armes könnte dieser zwar theore- en konnte nachgewiesen werden, dass so
tisch im Alltag wieder eingesetzt werden, das erlernte Verhalten des Nichtgebrau-
da der Patient aber verlernt hat, diesen ches wieder rückgängig gemacht werden
Arm einzusetzen, macht er dies auch we- kann (Abb. 5.1).
niger, als eigentlich bereits wieder möglich Für die Bewegungsinduktionsthera-
wäre. Dieses Verhalten nennt man einen pie ist die Wirksamkeit sehr gut belegt,
„gelernten Nichtgebrauch“. Dieses „Ver- sofern Patienten eine teilweise erhaltene
lernen“ kann wieder rückgängig gemacht Handfunktion haben und gleichzeitig den
werden. Indem der gesunde Arm zum Arm im Alltag wenig einsetzen (vgl. den
Beispiel mit einem speziellen Handschuh Cochrane-Review von Corbetta et al. 2015
während einiger Stunden oder fast den mit 42 randomisierten kontrollierten Stu-
ganzen Tag immobilisiert wird, ist es für dien und insgesamt 1.453 Teilnehmern).
den Patienten erforderlich, alles, was im Das trifft für die Früh- und die Spätphase
Alltag mit den Händen gemacht wird, mit nach einem Schlaganfall (mehr als ein Jahr
dem betroffenen Arm zu machen. Für den nach dem Schlaganfall) zu. Sowohl die
5 · Neurorehabilitation der Armfunktion 105
ursprüngliche Form der Therapie (sechs Die Empfehlung lautet: Wenn eine er-
Stunden aktive Therapie pro Tag mit einem lernter Nichtgebrauch vorliegt, der betrof-
Therapeuten und zusätzlich Immobilisie- fene Arm trotz funktioneller Möglichkeit
rung des nicht betroffenen Armes für 90 % eines Einsatzes im Alltag nicht eingesetzt
der Stunden tagsüber) als auch eine modi- wird, diese erlernte Verfahren revidiert
fizierte weniger intensive Form (zum Bei- werden soll, um den spontanen Gebrauch
spiel mit zwei Stunden Therapie pro Tag im Alltag zu stärken und die Therapie an-
und fünf- bis sechsstündiger Immobili- geboten werden kann, dann soll sie durch-
sation des nicht betroffenen Armes) kön- geführt werden (in den ersten sechs Wo-
nen die Armfunktionen und den Gebrauch chen nach Schlaganfall modifiziert mit
des Armes im Alltag fördern. Die intensi- nicht mehr als zwei Stunden Training pro
ve Form wird typischerweise für zwei Wo- Tag und bis zu sechs Stunden Restrikti-
chen durchgeführt, die weniger intensive on kombiniert). Eine Restriktion („forced
Form für bis zu zehn Wochen. Diese modi- use“) außerhalb der Therapiesitzun-
fizierte, weniger intensive Form ist leichter gen wird empfohlen, wenn sie mit einem
praktisch umsetzbar und kann parallel zu „Transferpaket“ während der Sitzung ver-
anderen Therapieangeboten durchgeführt bunden wird.
werden. Auch gibt es Hinweise aus einem
systematischen Review, dass die weniger
intensive Form in der frühen Phase nach 5.5.2
dem Schlaganfall eher nützlich ist (Nijland Bilaterales Training
et al. 2011). Der Therapieansatz, dass be-
gleitend eine Schlinge am nicht betroffe- Unter bilateralem Training versteht man,
nen Arm an den Behandlungstagen getra- dass mit beiden Armen (bilateral) insbe-
gen wird („erzwungener Nichtgebrauch“ sondere gleichzeitig symmetrische Bewe-
bzw. Englisch „forced use“), scheint we- gungen bei der Therapie ausgeführt wer-
niger relevant für den Behandlungserfolg den.
zu sein als die tatsächliche intensive The- Es fand sich keine Überlegenheit des
rapie des betroffenen Armes, zumindest bilateralen Trainings gegenüber anderen
wenn die Patienten angehalten werden, Therapieformen in einer gemeinsamen
den nicht betroffenen Arm möglichst nicht Bewertung von 18 randomisierten kontrol-
einzusetzen („freiwilliger Nichtgebrauch“) lierten Studien (Coupar et al. 2010). Zum
(Krawczyk et al. 2012). Bedeutsam ist auch, gleichen Ergebnis kam auch ein Vergleich
die Verstetigung der Therapieeffekte im zwischen bilateralem Training, modifizier-
Alltag durch ein „Transferpaket“ zu unter- ter CIMT und konventioneller Therapie
stützen: Der Armeinsatzes im Alltag wird (van Delden et al. 2013). Bei chronischen
durch eine Reflexion möglicher Hindernis- Patienten mit leichten Paresen war es ei-
se im Alltag und von Problemlösungsstra- nem unilateralen Training unterlegen
tegien während der Trainingssitzungen (Pollock et al. 2014b).
sowie durch einen wöchentlichen Telefon- Eine auf Funktions- oder Aktivitätsver-
kontakt nach Beendigung der CIMT gezielt besserung zielende Armrehabilitationsbe-
gefördert (Taub et al. 2013). Dabei können handlung kann mit bilateralen Übungen
ein Aufgabentagebuch und auch eine Re- gestaltet werden. Für leichter betroffene
striktion der weniger betroffenen Hand Patienten im chronischen Stadium sollte
eingesetzt werden. Berücksichtigt werden bilaterales Training nicht bevorzugt ange-
sollten ferner Sicherheitsaspekte (ein ge- boten werden, wenn Armaktivitäten und
nügendes Gleichgewicht muss vorhanden Einsatz des betroffenen Armes im Alltag
sein). verbessert werden sollen.
106 T. Platz, L. Schmuck
5.5.3 5.5.3.1
Schädigungsorientiertes Training Arm-Basis-Training
(„Impairment oriented Training”, IOT)
Beim Arm-Basis-Training (ABT) für Pati-
Ziel der Armrehabilitation nach Schlagan- enten mit mittelschweren bis schweren
fall ist es, die Armaktivität im Alltag wieder Lähmungen werden alle Bewegungsmög-
zu fördern. Armaktivitäten beinhalten, was lichkeiten des Armes (Bewegungen in der
der Arm tatsächlich im Alltag macht, wie Schulter, im Ellenbogen, im Handgelenk
zum Beispiel Objekte greifen, sich etwas und in den Fingern) einzeln und systema-
eingießen, ein Brötchen schmieren oder tisch wiederholend an der Leistungsgrenze
schreiben. Eine Schädigung beschreibt, beübt. Damit soll die Bewegungsfähigkeit
warum der Arm im Alltag nicht mehr so in den einzelnen Abschnitten des Armes
gut einsetzbar ist, also zum Beispiel eine wiederhergestellt werden (Abb. 5.2).
Lähmung oder eine Gefühlsstörung. Das
schädigungsorientierte Training möchte 5.5.3.2
die Ursachen für die Alltagsbehinderun- Arm-Fähigkeits-Training
gen des Armes gezielt beheben und die Das Arm-Fähigkeits-Training (AFT) für
ursprüngliche Funktion des Armes wie- Patienten mit leichter Armparese möch-
derherstellen. Das schädigungsorientierte te die verschiedenen Armfähigkeiten, wie
Training umfasst zwei modulare Therapie- die gezielte Bewegung des Armes, die Fä-
verfahren für die Armrehabilitation, das higkeit, die Hand ruhig halten zu können,
Arm-Fähigkeits-Training (AFT) für Patien- die Geschicklichkeit mit den Fingern und
ten mit leichter Lähmung (Parese) und das andere Fähigkeiten, durch Training an der
Arm-Basis-Training (ABT) für Patienten Leistungsgrenze verbessern und damit
mit schwerer Parese. Ein Therapiemanu- insgesamt die Geschicklichkeit im Alltag
al für die beiden Therapieverfahren wurde fördern. Verschiedene Formen von „Ge-
publiziert (Platz 2006). schicklichkeit“, die voneinander unabhän-
gige sensomotorische Fähigkeiten darstel-
len, werden gezielt verbessert (Abb. 5.3).
5 · Neurorehabilitation der Armfunktion 107
Beide Therapieverfahren haben sich tag auch vorkommen könnten, beübt, mit
als wirksam bzw. auch bei gleicher The- dem Ziel, die funktionellen Fähigkeiten
rapiezeit wirksamer im Vergleich zu sons- zu verbessern. Eine Idee beim aufgaben-
tiger Ergo- bzw. Physiotherapie erwiesen orientierten Training ist es, dass durch
(Platz et al. 2009). die Übungssituation mit Objekten, die mit
Daher werden folgende Empfehlungen dem Alltag Ähnlichkeiten haben, das Ge-
ausgesprochen: Ein Arm-BASIS-Training hirn besonders stimuliert wird. Das Be-
(ABT) sollte bei subakuten Schlaganfallpa- sondere ist, dass in der Therapie immer ein
tienten mit schwerer Parese durchgeführt Bezug zu Alltagssituationen und -objekten
werden, wenn das Behandlungsziel eine genutzt wird.
Verbesserung der selektiven Armbeweg- Die nicht wenigen durchgeführten Stu-
lichkeit ist. Ein Arm-Fähigkeits-Training dien zeigten variable Ergebnisse, teilweise
(AFT) sollte bei subakuten Schlaganfall- ohne nachweisbare Effekte, teilweise mit
patienten mit leichter Parese durchgeführt zur Kontrollintervention vergleichbaren
werden, wenn das Behandlungsziel die Effekten.
Verbesserung der Leistungsfähigkeit der In einer systematischen Übersichtsar-
Sensomotorik (Fein- und Zielmotorik) ist. beit („Cochrane Review“) und Metaanaly-
se über elf randomisierte oder quasiran-
5.5.4 domisierte kontrollierte Studien (RKS) mit
Aufgabenorientiertes Training 855 Teilnehmern wurde dargestellt, dass
ein aufgabenspezifisches Training vergli-
Beim aufgabenspezifischen Training wer- chen mit üblicher Behandlung (inklusive
den Bewegungsaufgaben, wie sie im All- keiner Behandlung) oder Aufmerksam-
108 T. Platz, L. Schmuck
EMG-ES der Handgelenks- und Fingerex- handlung profitierten (verglichen mit Pa-
tensoren (selektive Bewegungsfähigkeit tienten mit entweder leichten einerseits
und Arm-/Hand-Aktivitäten, ohne Unter- oder schweren Paresen andererseits) (40
schied für die Phasen nach Schlaganfall; Studien, 2.018 Teilnehmer) (Jin et al. 2022).
NMES der Schultermuskulatur bei Schul- Die Empfehlung lautet: Bei subakuten
tersubluxation. und chronischen Schlaganfallpatienten
Die Empfehlung lautet: Die NMES, mit leichter bis mittelschwerer Armpare-
EMG-ES, oder FES können in den nach- se bzw. bei Geräten mit Armgewichtsent-
weislich wirksamen Indikationen zur Be- lastung auch bei schwerer inkompletter
handlung bei Armparese eingesetzt wer- Parese kann ein VR-unterstütztes Hand-
den. training oder Armtraining in einer Ein-
Bei der Elektrostimulation sind die richtung oder als häusliches Eigentraining
spezifischen Anwendungsbeschränkun- zusätzlich erwogen werden, wenn das Be-
gen und Sicherheitshinweise, wie sie den handlungsziel die Verbesserung der selek-
jeweiligen Gerätedokumenten zu entneh- tiven Bewegungsfähigkeit oder des aktiven
men, bzw. vom Hersteller zu erfragen sind, Bewegungsausmaßes ist.
zu beachten.
5.6.4
5.6.3 Arm-Robot-Therapie
Therapie mit virtueller Realität (VR)
Bei schweren Armlähmungen (z. B. kei-
Die Wirksamkeit von auf VR-basierten ne Bewegung gegen Eigenschwere mög-
Therapien hängt von ihren spezifischen lich) kann eine Arm-Robot-Therapie eine
Charakteristika ab und ob sie relevante sinnvolle Ergänzung sein. Therapeutisch
therapeutische Prinzipien für bestimmte supervidiert können spezifische Bewe-
Patientengruppen implementieren. Einge- gungen, die noch nicht selbstständig aus-
setzt wurden kommerzielle Spielkonsolen geführt werden können, technisch unter-
(z. B. Xbox Kinect, Nintendo Wii, IREX und stützt mit hohen Repetitionsraten geübt
PlayStation) bzw. spezifische Reha-Syste- werden. Es können – je nach Gerät – ent-
me (z. B. Reinforced Feedback in Virtual weder Schulter- und Ellenbogenbewegun-
Environment, RehabMaster und YouGrab- gen (z. B. mit dem MIT-Manus, dem MIME
ber). oder NeReBot), Unterarm- und Handge-
In einem Cochrane Review, der 72 lenksbewegungen (z. B. NeReBot [Unter-
häufiger kleinere RKS und quasi-rando- arm], Bi-Manu-Track, Hand Mentor) oder
misierte Studien mit 2.470 Teilnehmern Fingerbewegungen (z. B. mit dem Reha-
einschloss, ergab der Vergleich VR versus Digit, dem Amadeo, Hand Mentor bzw.
konventionelle Therapie in Bezug auf Arm- ReHapticKnob) aktiv beübt und deren Res-
funktion und -aktivitäten keinen Vorteil für titution im Sinne der Willküraktivität geför-
die VR-behandelten Patienten; anders sah dert werden.
es beim Vergleich zusätzliche VR versus Die (überlegene) Wirksamkeit von
„übliche Behandlung“ (alleine) Therapie Arm-Robot-Therapien im Vergleich zu
aus, hier zeigte sich ein moderater Vorteil Kontrollgruppen (andere Geräte, Therapie
für die zusätzliche VR-Therapie in Bezug ohne Geräte, keine Therapie [selten; meist
auf Armfunktion und -aktivitäten (Laver war die Therapiedauer in den Studien
et al. 2017). Die Ergebnisse eines anderen gleich]) auf Armkraft, Armfunktion (Schä-
systematischen Reviews sprechen dafür, digung und Aktivität) und Alltagsaktivitä-
dass Patienten mit moderaten bis schwe- ten wurde in einem Cochrane Review, der
ren Armparesen am stärksten von VR-Be- 45 RKS mit 1.619 Teilnehmern einschloss,
5 · Neurorehabilitation der Armfunktion 111
mit kleinen bis mittleren Effektstärken be- angeboten werden kann, sollte sie bei sub-
legt (Mehrholz et al. 2018). akuten Schlaganfallpatienten durchgeführt
Die Überlegenheit einer spezifischen werden, wenn das Behandlungsziel die
Arm-Robot-Therapien (einer spezifischen Verbesserung der selektiven Beweglichkeit
Robot-Technologie, eines spezifischen An- bei schwerer Armlähmung (und mittelbar
satzes) gegenüber einer anderen konnte in der Armaktivitäten) ist. Auch im chroni-
einem systematischen Review mit Netz- schen Stadium kann eine Arm-Robot-The-
werk-Metaanalyse nicht nachgewiesen rapie für diese Indikation erwogen werden.
werden (55 RKS, 2.654 Teilnehmer, 28 Ge-
räte) (Mehrholz et al. 2020). 5.6.5
Im Vergleich zur zyklischen neuro- Repetitive transkranielle
muskulären (NMES) oder EMG-getrig- Magnetstimulation (rTMS) und
gerten Elektrostimulation (EMG-NMES) transkranielle Gleichstromtherapie
der Hand- und Fingerextensoren kann die („transcranial direct current stimulation,
Arm-Robot-Therapie effektiver sein, ist tDCS“)
aber auch in der Anschaffung kostspieliger,
und die untersuchten Geräte sind nicht Für die direkte Stimulation des motori-
alle kommerziell erhältlich. schen Kortex mittels repetitiver Magnetsti-
Sowohl für die neuromuskuläre Elek mulation (rTMS) liegt eine Reihe Studien
trostimulation als auch für die Arm-Robot- mit insgesamt ermutigenden Ergebnissen
Therapie ist zu bedenken, dass pro Gerät vor (Platz 2016): Es erfolgte entweder eine
bislang nur wenige spezifische Bewegun- erregbarkeitsmindernde (in der Regel nie-
gen beübt werden (können). Es verbessern derfrequente) Stimulation des kontralä-
sich die trainierten, z. B. proximalen Funk- sionalen motorischen Kortex oder eine
tionen (dann nicht die distalen Hand-/Fin- erregbarkeitssteigernde (in der Regel
gerfunktionen) vergleichbar zu in Intensität hochfrequente) Stimulation des ipsiläsio-
und Dauer analoger motorischer Therapie nalen motorischen Kortex. Behandlungs-
ohne Robot (Volpe et al. 2008). Robot-The- serien von wenigen Tagen bis zu vier Wo-
rapie für Hand- und Fingerfunktionen ver- chen wurden untersucht, teilweise finden
bessert diese (Zhao et al. 2022). Auch ist sich auch kombinierte rTMS-Protokolle
Arm-Robot-Therapie nicht wirksamer als sowohl des kontraläsionalen als auch des
intensivierte Armrehabilitation ohne Ro- ipsiläsionalen motorischen Kortex.
bot, die ggf. auch eher einen Alltagsüber- Eine Metaanalyse über 34 Studien mit
trag erreichen kann (Rodgers et al. 2020). 904 Teilnehmern wies einen anhaltenden
Folglich würde es zur umfassenderen positiven Effekt mittlerer Stärke auf die mo-
funktionellen Restitution des Einsatzes torische Erholung nach Schlaganfall nach;
verschiedener Arm-Hand-Robot-Geräte sowohl die kontraläsionale inhibitorische
bedürfen bzw. es bedarf oftmals zusätzli- niederfrequente rTMS als auch die ipsilä-
cher spezifischer nicht apparativ gestützter sionale exzitatorische rTMS (inklusive in-
Therapiemaßnahmen. Anders ausgedrückt termittierender Theta-Burst-Stimulation
stellen die apparativ unterstützten Verfah- (iTBS) waren effektiv mit einem Effektma-
ren im Behandlungskonzept für die Arm- ximum in Studien mit fünf Sitzungen (im
lähmung nach Schlaganfall einen wichti- Vergleich zu mehr als fünf Sitzungen); die
gen ergänzenden (aber in der Regel nicht Effekte waren etwas stärker bei Patienten
alleine hinreichenden) Baustein der The- mit subkortikalen Insulten und Patienten,
rapie dar. die früh nach dem Schlaganfall therapiert
Die Empfehlung lautet: Wenn eine wurden; nur wenige und keine schwerwie-
Arm-Robot-Therapie indikationsgerecht genden unerwünschten Wirkungen wur-
112 T. Platz, L. Schmuck
den dokumentiert (Zhang et al. 2017). Die Durchführung einer tDCS mit der
Auch der systematische Review von Xiang Indikation Verbesserung der Armmotorik
et al. 2019 (42 RKS mit 1.168 Schlagan- nach Schlaganfall wird daher nicht emp-
fallpatienten) zeigte über Studien hinweg fohlen.
stabil mittelgroße unmittelbare Effekte
auf die Erholung der Armfunktion und 5.6.6
-aktivitäten mit Effekt für die ADLs. Die Neuere Therapieansätze, die in der
Effekte waren wiederum früh nach dem Leitlinie noch nicht empfohlen wurden
Schlaganfall am stärksten ausgeprägt
und bei rein subkortikal Geschädigten, Im Nachgang soll mit Bezug auf jüngere
aber auch später nach Schlaganfall und Evidenz auf Behandlungsmethoden hin-
bei gemischt kortikal/subkortikaler Schä- gewiesen werden, für die ein positiver
digung nachweisbar und am größten in Behandlungseffekt nachgewiesen wurde,
Studien mit ein bis sieben rTMS-Sitzun- der jedoch bei der Leitlinienerstellung so
gen. Nebenwirkungen waren mild und noch nicht vorlag und entsprechend bei
bis auf Kopfschmerzen nicht häufig. Bei den Empfehlungen nicht berücksichtigt
Berücksichtigung der international abge- wurden.
stimmten Sicherheitsstandards (Rossi et Brain-Computer-Interface-[BCI-]basier-
al. 2009) kann die Methode als sicher er- tes Training registriert bewegungsbezo-
achtet werden. gene Hirnaktivität (EEG oder fMRI) und
Die Empfehlungen für eine rTMS lau- spiegelt diese wider oder nutzt sie für eine
ten: Zur Verbesserung der Armfunktion technisch unterstützte Bewegungsumset-
nach Schlaganfall sollte bei Patienten mit zung (z. B. mittels Elektrostimulation). In
(leichter bis) mäßiger Armparese im aku- einem systematischen Review mit 13 Stu-
ten/subakuten Stadium eine tägliche in- dien (233 Teilnehmer) konnte unmittelbar
hibitorische niederfrequente 1 Hz Stimu- nach Trainingsserien mit BCI-basiertem
lation des kontraläsionalen motorischen Training ein mittelgroßer Therapieeffekt
Kortex oder eine hochfrequente 3-, 5-, 10- auf die selektive Bewegungsfähigkeit nach-
oder 20-Hz Stimulation des ipsiläsionalen gewiesen werden (SMD 0,56, 95 % KI
motorischen Kortex (alternativ iTBS), z. B. 0,29 – 0,83; P < 0,0001) (Yang et al. 2022).
für fünf Tage durchgeführt werden, wenn Ähnliches zeigte auch ein weiterer syste-
dies angeboten werden und in erfahrener matischer Review mit Metaanalyse zum
Hand durchgeführt werden kann. Die The- BCI-basierten Training in der Armreha-
rapie kann auch im chronischen Stadium bilitation nach Schlaganfall (Nojima et al.
erwogen werden. Beim Einsatz der rTMS 2022). Dessen Ergebnisse sprachen auch
sollen die internationalen Sicherheitsstan- dafür, dass die Nutzung des sensomotori-
dards, Kontraindikationen und gerätespe- schen Rhythmus (SMR) als Signal (EEG)
zifischen medikolegalen Aspekte berück- und die Verbindung des Neurofeedback-
sichtigt werden Signals mit einer Elektrostimulation be-
Für die im Vergleich zur fokalen rTMS sonders vorteilhaft sein könnten.
am Gehirn weniger fokal einwirken- Eine andere Technologie, die sich für
de transkranielle Gleichstromtherapie die Armrehabilitation nach Schlaganfall
(„transcranial direct current stimulation, als klinisch nützlich erweisen könnte, ist
tDCS“) ließ sich in einem Cochrane Review die Nervus-vagus-Stimulation (VNS), kom-
(24 Studien, 985 Teilnehmer) am Ende der biniert mit aktivem motorischem Trai-
Behandlung weder für Absolutwerte noch ning. Die Ergebnisse von vier kleineren
für Veränderungswerte eine Wirksamkeit Studien und einer größeren Multicenter-
belegen (Elsner et al. 2020). studie wurden in einem systematischen
5 · Neurorehabilitation der Armfunktion 113
Review zusammengefasst (Zhao et al. schwerer Armlähmung haben und mit die-
2021). In vier Studien erfolgte eine inva- sem Behandlungsziel eingesetzt werden.
sive VNS (Stimulation des Nerven in der Analog gilt dies auch für andere Maß-
linken Halsseite über eine implantierte nahmen zur Lagerung, die das Herab-
Elektrode und Aggregat), in einer Studie hängen eines schwer gelähmten Armes
eine transkutane (nicht invasive) Stimu- verhindern wie die Nutzung eines Lage-
lation des Nerven im linken äußeren Ge- rungskissens oder eines Rollstuhltisches;
hörgang. Kombiniert mit rehabilitativem diese sollten grundsätzlich durchgeführt
Training wurde in den Experimentalgrup- werden („Expertenmeinung“).
pen mit VNS (sowie ähnlich in den Sub-
gruppenvergleichen bei invasiver bzw.
transkutaner VNS) eine stärkere Verbes- 5.8
serung der selektiven Beweglichkeit er-
Medikation
zielt (Fugl-Meyer Arm Motor Score MD
3,59, 95 %-KI 2,55 – 4,63; P < 0,00001). Bei 5.8.1
der invasiven VNS sind u. a. die poten- L-Dopa
ziellen Nebenwirkungen der Implanta-
tion (Rekurrensparese und Dysphagie) Die Studie von Scheidtmann et al. (2001)
zu bedenken. Im systematischen Review legt nahe, dass L-Dopa die motorische Er-
wurden keine vermehrten unerwünsch- holung nach einem Schlaganfall in der sub-
ten Wirkungen der invasiven VNS doku- akuten Phase unterstützen könnte. Darauf
mentiert (Relatives Risiko = 1,10; 95 %-KI basiert die Aussage, dass täglich 100 mg L-
0,92 – 1,32; P = 0,29) und keine explizit Me- Dopa über wenige Wochen bei subakuten
dizinprodukt-bezogenen Nebenwirkun- Schlaganfallpatienten mit schwerer Arm-
gen; in einer Studie mit transkutaner VNS parese eingesetzt werden können, um die
wurde eine Hautrötung am Stimulations- Armrehabilitation zu unterstützen (Be-
ort bei einem Teilnehmer berichtet. handlungsoption im Einzelfall). Dabei ist zu
beachten, dass der Einsatz für diese Indika-
tion einen „off-label“-Gebrauch darstellt.
5.7 Allerdings zeigte die DARS-Studie
(Ford et al. 2019) mit dem Patienten-be-
Vermeidung von Komplikationen:
richteten Ergebnis-Instrument ABILHAND
Lagerung, Taping und passives
als sekundärem Outcome nach acht Wo-
Bewegen chen, sechs und zwölf Monaten keinen
Effekt einer sechswöchigen L-Dopa Be-
Lagerungsorthesen und Taping von Gelen- handlung. ABILHAND erfasst interview-
ken des schwer betroffenen zentral-pareti- basiert die von Patienten wahrgenomme-
schen Armes sind nicht als Therapiemittel nen Schwierigkeiten bei der Durchführung
für die aktive Funktionserholung konzipiert bimanueller Alltagsaktivitäten als (leicht,
und fördern diese auch nicht (Verbeek et al. schwer, unmöglich).
2014); sie sollten für ein solches Behand-
lungsziel nicht angewendet werden. 5.8.2
Mehrstündiges Anlegen von Handge- d-Amphetamin
lenkslagerungsschienen (Bürge et al. 2008)
und glenohumerales Schulter-Taping (Ap- Für das Medikament Amphetamin wird
pel et al. 2014) können einen positiven, ggf. keine Empfehlung für die Anwendung au-
auch prophylaktischen Effekt auf Schmer- ßerhalb eines Studienprotokolls ausge-
zen in den behandelten Gelenken bei sprochen, da ein Nutzen auf die motori-
114 T. Platz, L. Schmuck
sche Erholung nicht sicher belegt ist (u. a. von Patienten wahrgenommene Schwie-
Martinsson et al. 2007). rigkeiten bei der Durchführung von fünf
uni- bzw. bimanuellen Alltagsaktivitäten,
5.8.3 die den Einsatz der Hände erfordern, und
Fluoxetin zwar mit einer fünfstufigen Likert-Skala
(„überhaupt nicht schwierig“ – „konnte
In einer placebokontrollierten RKS wurde ich gar nicht machen“). Auch war die Ge-
akuten Schlaganfallpatienten (n = 118), die samtbehinderung (gemessen mit der mo-
eine Hemiparese mit Armparese hatten, difizierten Rankin-Skala) durch Fluoxetin
nicht depressiv waren und keine schwere jeweils nicht beeinflusst. In den Fluoxetin-
neurologische Behinderung hatten, Gruppen (beide Studien) wurden jedoch
Fluoxetin (90 Tage 20 mg täglich) oder nach sechs Monaten weniger neue De-
Placebo verordnet (Chollet et al. 2011). pressionen festgestellt; andererseits gab es
Die für Alter, Schlaganfallanamnese und in den Verumgruppen häufiger Frakturen.
Fugl-Meyer Arm-Baselinewerte adjustierte Diese Daten sind entsprechend bei der
Gruppendifferenz der Veränderungsraten Nutzen-Risiko-Abwägung zu berücksichti-
(0 bis 90 Tage) beim FM Arm zwischen gen und entsprechend gegen einen Routi-
Verum- und Placebogruppe betrug 9,7 [3,6 neeinsatz von Fluoxetin zur Förderung der
bis 15,9] Punkte (MW [95%-KI]), wurde als Erholung nach Schlaganfall.
klinisch relevant erachtet. Die Behandlung
wurde gut akzeptiert (Drop-out-Rate in der 5.8.4
Verumgruppe zwei, in der Placebogruppe Cerebrolysin
drei Personen). Nebenwirkungen wurden
in der Verumgruppe numerisch häufiger In einer RKS mit akuten Schlaganfallpatien-
beobachtet für Übelkeit (9 % Verum vs. 0 % ten wurde untersucht, ob Cerebrolysin die
Placebo), Durchfall (12 % Verum vs. 7 % motorische Erholung, insbesondere der Ar-
Placebo) und in Bezug auf einen bei einer maktivitäten fördert (Muresanu et al. 2016).
Person der Verumgruppe auftretenden 208 Patienten wurden ab 24 bis 72 Std. nach
fokalen epileptischen Anfall. Darauf Schlaganfall für 21 Tage mit i. v. Cerebro-
basiert die Aussage, dass Fluoxetin zur lysin (30 ml/Tag) oder Placebo (Kochsalz-
Förderung der Erholung der Armmotorik lösung) und begleitend rehabilitativ be-
(Körperfunktionen) in der frühen Phase handelt. Nicht nur nach der Behandlung,
nach Schlaganfall erwogen werden kann sondern auch bei der Nachbeobachtung
(Behandlungsoption im Einzelfall). Der 90 Tage nach Insult gab es deutlich stärke-
Einsatz für diese Indikation stellt einen re Verbesserungen in der Verum-Gruppe.
„off-label“-Gebrauch dar. Die mittleren Veränderungen von Base-
Allerdings zeigen sowohl der EFFECTS line bis 90 Tage nach Insult betrugen für
Trial (2020, bei 1.382 Teilnehmenden) als den ARAT (primäre Variable) 30,7 ± 19,9
auch der FOCUS Trial (2019, bei 2.847 Teil- (MW ± SD) [Median 32,0, IQR 36,5] für Ce-
nehmenden) nach sechs Monaten keinen rebrolysin und 15,9 ± 16,8 [Median 11,0,
Effekt von 20 mg Fluoxetin auf den sekun- IQR 22,0] nach Placebogabe. Auch der
dären Outcome Stroke Impact Scale, Do- „globale Status“, der mit zwölf verschiede-
mäne Hand Ability (FOCUS trial: MW und nen Skalen erhoben wurde, zeigte eine re-
Bereich nach sechs Monaten; Fluoxetin levante Überlegenheit der Erholung in der
45,00 (0,00 – 90,00), Placebo 50,00 (0,00– Cerebrolysin-Gruppe (Mann–Whitney esti-
90,00), P=0,4824; EFFECTS: Fluoxetin 81,3 mator 0,62; 95 %-KI 0,58 – 0,65; P < 0,0001).
(50,0 –100,0), Placebo 87,5 (50,0 – 100,0); Das Sicherheitsprofil von Cerebrolysin war
P = 0,99). Die Domäne Hand Ability erfasst dem der Placebobehandlung vergleichbar.
5 · Neurorehabilitation der Armfunktion 115
Entsprechend kann Cerebrolysin bei (sub-) einzelner Verfahren für bestimmte (Sub-)
akuten Schlaganfallpatienten mit relevan- Gruppen von Patienten (je nach Schwere-
ter Armparese erwogen werden, wenn Be- grad der Parese und Zeitpunkt nach Schlag-
handlungsziele die motorische Erholung anfall) und Behandlungsziele (motorische
der Hand-/Armfunktion und insgesamt die Kontrolle/Schädigung, Aktivitäten).
funktionelle Erholung sind. Das Medika- Die Therapiewahl hängt zunächst von
ment ist in Österreich für die Schlaganfall- den übergeordneten individuellen Thera-
behandlung zugelassen. piezielen ab. Eine Sekretärin, die wieder
in ihren Beruf zurückkehren möchte, hat
5.8.5 andere Bedürfnisse und Ziele für die The-
Botulinumtoxin-Behandlung rapie als eine berentete Person, die ihren
Alltag zu Hause wieder bestreiten können
Hierauf wird im Kapitel „die Behandlung möchte.
der Spastik im rehabilitativen Kontext“ ein- Die therapeutischen Entscheidungen
gegangen. bei der Auswahl des Therapieverfahrens
richten sich des Weiteren inhaltlich nach
5.8.6 dem Schweregrad der Armlähmung und
Lokale Injektionsbehandlung bei danach, wie lange der Schlaganfall be-
Schulterschmerz reits zurückliegt. In der Akut- und Sub-
akutphase nach einem Schlaganfall wird
Bei subakuten und chronischen Schlagan- das Thema „Wiederherstellung der moto-
fallpatienten mit Schulterschmerzen, die rischen Funktionen“ oftmals eine größere
klinisch das Bild einer „frozen shoulder“ Rolle spielen, später häufiger der primä-
oder eines „Impingement-Syndroms“ bie- re Aktivitätsbezug. Dabei ist auch das in-
ten, kann parallel zur physikalischen und dividuell wahrscheinliche Erholungspo-
Übungstherapie eine (je nach klinischer tenzial zu berücksichtigen (Plantin et al.
Präsentation differenzierte) intraartikuläre 2021; Stinear et al. 2017). Einerseits sol-
Injektion mit Lokalanästhetikum und Glu- len Betroffenen keine Therapie vorent-
kokortikoid (9 ml 2 % Prilocain und 1 ml halten werden, die ihre Behandlungsziele
Triamcinolonacetat) durchgeführt wer- zu erreichen wahrscheinlich unterstüt-
den, um Schmerzen und passive Beweg- zen; andererseits sind die Aufwendungen
lichkeit therapeutisch zu verbessern (Lak- und Belastungen, die mit nicht aussichts-
se et al. 2009). Eine Alternative ist 40 mg reichen Maßnahmen verbunden sind, zu
Triamcinolonacetat i. a. oder Botulinum- vermeiden.
toxin A niedrig dosiert in die betroffene Unabhängig von diesen individuellen
Schultermuskulatur (Lim et al. 2008) zu Faktoren gibt es auch allgemeine Grund-
injizieren. sätze, die bei der Armrehabilitation nach
Schlaganfall berücksichtigt werden soll-
ten, wenn eine funktionelle Restitution an-
5.9 gestrebt wird:
Q Motorisches Lernen setzt – auch bei ei-
Klinisches Vorgehen bei der Auswahl
ner Armlähmung nach Schlaganfall –
der Verfahren
häufiges Wiederholen einzelner Übun-
Die Gestaltung der Armrehabilitation nach gen voraus,
Schlaganfall berücksichtigt viele individu- Q das Training soll die individuell rele-
elle Belange, ferner allgemeine Grundsät- vanten Funktionsstörungen (Schädi-
ze einer wirksamen Behandlung sowie die gung, „impairment“) spezifisch und
Kenntnis (Evidenz) über die Wirksamkeit umfassend adressieren,
116 T. Platz, L. Schmuck
Q oftmals wird ein ausreichend intensi- können die für die Bewegung zuständi-
ves, möglichst (werk-)tägliches Trai- gen Netzwerke aktiviert werden, ohne dass
nieren erforderlich sein, die Bewegungen mit dem betroffenen Arm
Q insbesondere bei leichter betroffenen schon in gleichem Maße aktiv ausgeführt
Patienten oder Geräteunterstützung werden können. Eine Aktivierung dieser
kann dies in Teilen auch als supervi- Netzwerke kann auch durch eine sensible
diertes, strukturiertes Eigentraining (z. B. thermische) Stimulation des Armes
durchgeführt werden, erreicht werden. Ziel in dieser Therapie-
Q das Training sollte sich in der beüb- phase ist es, die basale Bewegungsfähigkeit
ten Domäne jeweils an der Leistungs- im Arm wiederherzustellen.
grenze orientieren, die zu erzielenden
Funktionsverbesserungen sollen – zu- 5.9.2
mindest mittelbar – die Alltagskompe- Mittelschwere Armlähmungen
tenz fördern und
Q der Transfer in den Alltag sollte spezi- Der mittelschwer gelähmte Arm wird sich
fisch und aktiv bedacht sein. schneller erholen können als der schwer
gelähmte Arm, aber auch bei der mittel-
Im Weiteren sollen Hilfestellungen für die schweren Lähmung ist oft über einen län-
therapeutische Entscheidung gegeben geren Zeitraum Therapie notwendig. Die
werden, die den Schweregrad der Armläh- möglichen Therapieansätze sind hier ähn-
mung berücksichtigen. lich wie bei der schweren Armlähmung:
Neben dem Arm-Basis-Training kommen
5.9.1 ein aufgabenorientiertes Training, die Be-
Schwere und schwerste Armlähmungen wegungsinduktionstherapie (CIMT), The-
rapie mit virtueller Realität, die Spiegelthe-
Bei den schweren und schwersten Armläh- rapie und das mentale Training, zusätzlich
mungen ist es nicht leicht, therapeutische geräteunterstützte Therapien wie die neu-
Fortschritte zu erreichen. Oftmals ist über romuskuläre Elektrostimulation und die
viele Wochen bzw. über Monate hinweg Robottherapie in Frage, unterstützend ggf.
Therapie erforderlich. Da Patienten ihren die sensible Stimulation oder die repetitive
Arm nicht oder nur sehr begrenzt selbst Magnetstimulation des Gehirns. Ziel in die-
bewegen können, ist Unterstützung not- ser Therapiephase ist es, den Gebrauch des
wendig. Beim Arm-Basis-Training nimmt Armes im Alltag wieder zu ermöglichen.
der Therapeut das Gewicht des Armes des
Patienten ab und hilft Bewegungen, die ak- 5.9.3
tiv noch nicht oder nicht komplett selbst- Leichte Armlähmungen
ständig ausgeführt werden können, zu
ergänzen. Eine ähnliche Hilfestellung – al- Gerade bei der leichten Lähmung des Ar-
lerdings nur für wenige Bewegungen – bie- mes kann neben der Therapie mit dem
ten die neuromuskuläre Elektrostimulati- Therapeuten auch ein tägliches Eigentrai-
on, einschließlich der EMG-getriggerten ning sehr effektiv sein. In Klinik und Pra-
und funktionellen Elektrostimulation, und xis kann (auch schon bei mittelschwerer
Arm-Robot-Therapieverfahren, die beson- Lähmung) ein „Zirkeltraining“ mit meh-
ders viele Bewegungsrepetitionen ermög- reren Stationen zur Förderung verschie-
lichen. Auch die Spiegeltherapie und die dener Aspekte der Armmotorik, oftmals
Imagination (mentales Training) können aufgabenorientiert, nützlich sein. Ein Arm-
helfen, dem Gehirn Bewegungssehen bzw. funktionstraining in der Kleingruppe kann
Bewegungsgedanken zu ermöglichen. So sinnvoll sein. Wenn eine weitestgehende
5 · Neurorehabilitation der Armfunktion 117
Wiederherstellung bzw. ein hohes Maß an keit in den einzelnen Abschnitten des Ar-
Feinmotorik erreicht werden sollen, ist ein mes. Er besteht aus drei Untertests für den
– in der Regel dreiwöchiges – Arm-Fähig- Arm:
keits-Training indiziert. Ziel dieser Thera- 1. „Motorik der oberen Extremität“ (ma-
piephase ist es, die Geschicklichkeit, Präzi- ximal 66 erreichbare Punkte): Untersu-
sion und Geschwindigkeit der Armmotorik chung der aktiven Bewegungsfähigkeit
wiederherzustellen. des Armes,
2. „Sensibilität“ (maximal 24 erreichbare
Punkte): Untersuchung des Gefühls für
5.10 Berührung und für Bewegungen im Arm,
3. „passives Bewegungsausmaß/Schmerz“
Assessments
bei passivem Bewegen des Armes (ma-
Ob eine Armlähmung nach Schlaganfall ximal 44 erreichbare Punkte): Untersu-
vorliegt und wie stark sie ausgeprägt ist, chung eventueller Einschränkungen der
wird in der klinisch-neurologischen Unter- Beweglichkeit in den Gelenken und da-
suchung vom behandelnden Arzt und The- bei auftretender Schmerzen.
rapeuten festgestellt.
Wenn es darum geht, Therapiezie- Jeder einzelne geprüfte Aspekt wird mit
le festzulegen, geeignete therapeutische entweder 0 Punkten (nicht möglich), ei-
Vorgehensweisen auszuwählen und im nem Punkt (teilweise möglich) oder zwei
Verlauf die Therapieerfolge möglichst ob- Punkten (vollständig möglich) bewertet.
jektiv zu dokumentieren, können standar- Mit dem Untertest „Motorik obere Extre-
disierte klinische Beurteilungsmethoden mität“ kann vom schwer bis zum leicht
nützlich sein. Diese als „Beurteilungsska- betroffenen Arm die aktive Bewegungsfä-
len“ oder auch als „Assessment“-Verfah- higkeit sehr genau dokumentiert werden.
ren bezeichneten Tests basieren darauf, So können von der schweren Lähmung bis
dass bestimmte Aspekte der Armmotorik zur mittelgradigen und selbst bis zur leich-
mit den jeweils gleichen Aufgaben unter ten Lähmung Therapieerfolge aufgezeigt
standardisierten Bedingungen untersucht werden. Ein deutschsprachiges Manual ist
und beurteilt werden. publiziert (Platz 2006).
Für die Erfassung der Armmotorik sind
insbesondere drei Aspekte relevant: Q Action Research Arm Test
1. die Beurteilung der Kraft und aktiven Der Action Research Arm Test (ARAT) (Lyle
Bewegungsfähigkeit im betroffenen 1981) bedeutet übersetzt: Armtest für die
Arm, Erforschung von Armaktivitäten. Er ent-
2. die alltagsbezogene Beurteilung, ob hält 19 Aufgaben in vier Untertests (Grei-
und wie gut Aktivitäten mit dem ge- fen, Festhalten, Präzisionsgriff, grobe Be-
lähmten Arm gelingen und wegung). Fast alle Aufgaben erfordern das
3. die Beurteilung von Spastik. Greifen, Transportieren und Loslassen von
Objekten. Es können maximal 57 Punk-
Im Folgenden werden einige häufiger ein- te erreicht werden. Alle Aufgaben werden
gesetzte und empfohlene Tests zur Orien- einhändig durchgeführt. Die schwieri-
tierung vorgestellt (Prange-Losander 2021). geren Aufgaben werden nur dann unter-
sucht, wenn die einfacheren gelingen. Die
n Fugl-Meyer-Test Durchführung dauert etwa acht bis 15 Mi-
Der Fugl-Meyer-Test (FM), der 1975 von nuten, womit der Test sehr praktikabel für
Fugl-Meyer und Kollegen veröffentlicht Klinik und Praxis ist.
wurde, misst die gezielte Bewegungsfähig-
118 T. Platz, L. Schmuck
Tab. 5.1: Therapeutische Entscheidungshilfe bei der Therapie von Armlähmungen nach Schlaganfall
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123
6
Neurorehabilitation von Stand und Gang
Jan Mehrholz
schreibt der Begriff posturale Stabilität sueller, sensorischer und motorischer Sys-
(engl. „postural stability“) die Fähigkeit, teme. Wichtig zum therapeutischen Ver-
eine Position im Raum beständig beizube- ständnis der Behandlung der Balance ist,
halten (Carr u. Shepherd 2010). Das Beibe- dass diese antizipatorisch und keinesfalls
halten dieser posturalen Stabilität ist ein primär reaktiv erfolgt (Carr u. Shepherd
dynamischer und antizipatorischer (zeit- 2010; Mückel et al. 2014). Das bedeutet,
lich vorweggenommener) Prozess, der ein dass Ausgleichsbewegungen zur Siche-
Gleichgewicht zwischen allen stabilisie- rung der Balance bereits vor dem Ausfüh-
renden und destabilisierenden Kräften er- ren einer Bewegung geplant bzw. vorweg-
fordert, sodass der Körper in der intendier- genommen (antizipiert: Ausweichen bei
ten Position verbleibt oder dazu in der Lage entgegenkommenden Personen) werden.
ist, die intendierte Bewegung fortzuführen Das Üben der Balance sollte daher die Be-
ohne die Balance zu verlieren (Carr u. She- wegungsvorwegnahme von Patienten in
pherd 2010; Melvill-Jones 2000). der Rehabilitation nach Schlaganfall un-
Der Begriff posturale Kontrolle (engl. bedingt berücksichtigen. Die Schwie-
„postural control“) beschreibt typischer- rigkeit besteht vor allem darin, dass die
weise die Mechanismen, mit denen wir Bewegungsvorwegnahme(-planung) des
unsere Balance kontrollieren (Carr u. She- Patienten nicht unmittelbar sichtbar für
pherd 2010). Posturale Kontrolle wiederum die Therapeuten ist. Wichtig ist, dass eine
wird aufrechterhalten durch posturale Ad- reaktive „Kontrolle“ der Balance nur in
aptierungen (engl. „postural adjustments“) „Notfällen“ erfolgt (Beispiel für reaktive
d. h. durch das wiederum antizipatorische Sicherung der Balance: plötzliches unvor-
Anpassen von Muskelaktivitäten und kör- hergesehenes Angeschubstwerden in Fuß-
persegmentalen Bewegungen (Carr u. She- gängerzonen). Das Üben der reaktiven Si-
pherd 2010). Es sind insbesondere Mus- cherung der Balance sollte ebenso geübt
kelaktivitäten und Gelenksbewegungen, werden, ist aber deutlich einfacher für The-
die auf direkte Art und Weise die Balan- rapeuten mit Patienten zu üben (Beispiel
ce sichern oder wiederherstellen (Carr u. „Schubstraining“).
Shepherd 2010). Der Begriff Haltung (engl. Auch ist zu beachten, dass es die Balan-
„posture“) wiederum beschreibt das Ver- ce als solche nicht gibt (Carr u. Shepherd
hältnis von Körpersegmenten zueinan- 2010). Vielmehr sind es eine Vielzahl an
der und zur Umgebung (Carr u. Shepherd Alltagssituationen die unterschiedliche
2010). Obgleich der Begriff der posturalen Anforderungen an die posturale Kontrol-
Orientierung auch eine gewisse posturale le, also eine spezifische Balance erfordern:
Kontrolle impliziert, ist hierbei jedoch oft- zum Beispiel beim Greifen im Sitzen inner-
mals die (Körper-)Orientierung im Raum oder außerhalb der Armreichweite oder
gemeint (Perennou 2006), die freilich beim Aufstehen und Hinsetzen. Auch die-
durch eine Vielzahl an Symptomen gestört ser weitere Punkt sollte in der Rehabilita-
sein kann (Beispiel Neglect). tion nach Schlaganfall und anderen neu-
Ferner wird zwischen statischer und rologischen Krankheitsbildern unbedingt
dynamischer Balance unterschieden (Mü- berücksichtigt werden.
ckel et al. 2014): statische Balance als die
posturale Kontrolle im Sitzen und Stehen 6.2.1
und dynamische Balance als die postura- Balance Assessments
le Kontrolle in der Fortbewegung wie zum
Beispiel beim Gehen. Zum Assessment der Balance liegen mitt-
Die Aufrechterhaltung der Balance ist lerweile eine Reihe validierter Skalen
eine komplexe Interaktion vestibulärer, vi- vor (Tyson et al. 2009; Tyson u. Connell
6 · Neurorehabilitation von Stand und Gang 125
6.3.3 6.3.4
Evidenz aus Netzwerkmetaanalysen Beachtung der Intensität des
Gehtrainings
Im klinischen Alltag wird häufig die Frage
gestellt: Welche Patienten profitieren von In den letzten Jahren zeigt sich vermehrt,
welcher Methode zur Verbesserung der dass es nicht allein auf die Auswahl des
Gehfähigkeit nach Schlaganfall? Ziel einer Therapiemittels bzw. der Geräte ankommt.
Studie mit Netzwerkmetaanalyse war es Mehrere Studien zeigen, dass die Intensi-
daher, nicht nur die aktuelle Evidenz der tät des Gehtrainings entscheidend für den
Gangrehabilitation nach einem Schlag- Erfolg der Therapie ist.
anfall zusammenzufassen, sondern auch Eine aktuelle Studie aus dem Jahre
sämtliche Ansätze zur Gangrehabilitation 2019 von Hornby et al. beschreibt in die-
direkt miteinander statistisch zu verglei- sem Zusammenhang den deutlichen Zu-
chen (Mehrholz et al. 2018b). sammenhang zwischen der Ganginten-
In die Auswertung wurden 95 rando- sität und der Gehgeschwindigkeit und
misierte kontrollierte Studien mit insge- Gangausdauer (Hornby et al. 2019). In
samt 4.458 Patienten nach Schlaganfall dieser Studie wurden 97 Patienten nach
eingeschlossen. Für den primären End- Schlaganfall im chronischen Stadium in
punkt Gehgeschwindigkeit erreichte das eine von drei Gruppen randomisiert. Die
Gangtraining mit Endeffektor-assistier- erste Gruppe erhielt ein hochintensives
ten Geräten signifikante Verbesserun- Gehtraining bei 70 – 80 % der Herzratenre-
gen (Mittelwertdifferenz, MD = 0,16 m/s; serve mit sehr variablen und damit unter-
95 %-Konfidenzintervall (0,04 – 0,28). An- schiedlichen Übungen, die zweite Gruppe
dere Interventionen verbesserten die Geh- erhielt das gleiche intensive Gehtraining
geschwindigkeit nicht signifikant. Für den wie in der ersten Gruppe, allerdings we-
sekundären Endpunkt Gangausdauer er- niger abwechslungsreich, da nur weniger
reichte das Endeffektor-assistierte Gang- unterschiedliche Übungen genutzt wer-
training und das Laufbandtraining mit den durften. Die dritte Gruppe erhielt ein
Körpergewichtsentlastung eine signifi- relativ gering intensives, aber abwechs-
kante Verbesserung (MD = 47 m, (4 – 90) lungsreiches Gehtraining bei lediglich
beziehungsweise MD = 38 m, (4 – 72). Die 30 – 40 % der Herzratenreserve.
Sicherheit der einzelnen Interventionen Im Ergebnis der Studie zeigte sich, dass
unterschied sich nicht voneinander. vor allen Dingen das hoch intensive Geh-
Auf der Basis dieser neuartigen Ana- training – unabhängig von der Variation
lyse kann diskutiert werden, dass im Ver- der Übungen – zu deutlichen Verbesse-
130 J. Mehrholz
rungen der Gehleistung, gemessen mit der Zeitraum von vier Wochen beschrieben.
Gehgeschwindigkeit und der Gangausdau- Das bedeutet, dass die Patienten vier Wo-
er, führte (Hornby et al. 2019). Die Ergeb- chen lang mit der relativ geringen Inten-
nisse bedeuten, dass vor allen Dingen der sität übten und insgesamt kaum ihre Trai-
hohe Belastungsanspruch hinsichtlich des ningsparameter steigerten.
Herz-Kreislauf-Systems bedeutende Ver- Im Ergebnis der PHYS-STROKE Stu-
besserungen erzielen lässt und weniger die die zeigte sich dann auch (wie in der Kon
Variation der Übungsgestaltung. Das be- trollgruppe von Hornby et al.), dass eine
merkenswerte an der Arbeit von Hornby ist zu gering intensive, d. h. zu wenig anstren-
jedoch, dass es eine gewisse Mindestinten- gende Therapie eben keine eindeutigen Er-
sität (Mindestanzahl an Gehschritte pro gebnissen hinsichtlich einer Verbesserung
Minute) zu geben scheint. Es zeigte sich, der Gehleistung erwarten lässt. Die Ergeb-
dass ein Mindestmaß an 70 Schritten pro nisse sind somit wenig überraschend, be-
Minute erreicht werden muss, um über- deuten jedoch für die Praxis, dass wir über
durchschnittliche Ergebnisse hinsichtlich grundsätzlich höhere Intensitäten, Steige-
der Gangausdauer und der Gehgeschwin- rung und eine Mindestschrittzahl in der
digkeit zu erreichen. Für die Praxis könnte neurologischen Gangtherapie nachden-
somit neben der Herz-Kreislauf-Belastung ken sollten.
die Anzahl an Schritten pro Minute ein gu-
ter Marker zu Intensitätssteuerung sein 6.3.5
(Hornby et al. 2019). Neue Entwicklungen: mobile Exoskelette
Eine weitere Studie zu einem ähnli- (Synonyme: „powered exoskeletons“
chen Thema hat in den letzten Monaten oder „robotic exoskeletons“)
für Aufsehen gesorgt. Es handelt sich da-
bei um die multizentrische PHYS-STRO- Medienbilder und Marketingmaterialien
KE Studie (Nave et al. 2019). In diese Stu- suggerieren eine Zukunft, in der Menschen
die wurden insgesamt 200 Patienten im zum Beispiel nach Hirnschädigung oder
Zeitraum 5 – 24 Tage nach Schlaganfall in mit Rückenmarksverletzungen robotische
eine von zwei Gruppen eingeteilt. Die Pa- Exoskelette nutzen können, um nun mobil
tienten bekam entweder ein Laufbandtrai- mit dem Gerät alltägliche Aktivitäten wie-
ning mit Körpergewichtsentlastung für 25 der aufzunehmen, doch solche Darstel-
Minuten fünfmal die Woche über vier Wo- lungen stimmen möglicherweise nicht mit
chen als Zusatzbehandlung zur regulären der aktuellen technologischen oder gar kli-
Rehabilitation oder in der gleichen Dosie- nischen Realität überein (Fritz et al. 2019).
rung Entspannungsübungen (Nave et al. Die derzeitige Verwendung von roboti-
2019). Im Vergleich zur Arbeit von Hornby schen Exoskeletten in der Rehabilitation
et al. wurde hier jedoch eine relativ gering und im häuslichen Umfeld soll an dieser
intensives Gehtraining durchgeführt. Die Stelle etwas genauer vorgestellt und offen-
Patienten sollten beim Gehtraining ledig- sichtliche Vorteile und Grenzen der Geräte
lich eine Zielherzfrequenz von 50 bis 60 % anhand der aktuellen Evidenz beschrieben
der maximalen Herzfrequenz (Formel: 180 werden.
minus Lebensalter) erreichen. Die Trai- Im Jahr 2021 gab es insgesamt 17 publi
ningsintensität war somit im Vergleich zur zierte (mehr oder weniger wirklich syste-
ersten Studie viel geringer (Hornby et al. matische) Übersichtsarbeiten zu Exoske-
2019). Auch wurden im Studienverlauf kei- letten mit insgesamt leider überwiegend
ne weiteren Steigerungen (bis auf die Nut- schlechter methodischer Qualität (Dijkers
zung unterschiedlicher Geräte bei gehfähi- et al. 2021). Die Qualität der Beschreibung
gen versus nicht gehfähigen Patienten) im der Patienten und der Interventionen in
6 · Neurorehabilitation von Stand und Gang 131
ben der zwölf Patienten absolvierten den Rahmen des Versuchsprotokolls wurden
10-Meter-Gehtest in der 12. Sitzung ohne 75 % der Standard-Physiotherapie-Sitzun-
Hilfe (bei einer mittleren Gehgeschwindig- gen durch individuelle, auf das Exoskelett
keit von 0,13 m/s), während vier der zwölf abgestimmte Sitzungen ersetzt. Ziel war
Patienten Hilfe benötigten (Kerdraon et al. es in der Therapie die Steh- und Schritt-
2021). In dieser kleinen Studie zur Erstbe- wiederholungen zu erhöhen, es bestand
schreibung des Atalante-Systems wurde jederzeit die Möglichkeit, das Gerät ab-
gezeigt, dass zumindest die Therapie rela- zusetzen. Insgesamt 36 Patienten nach
tiv sicher ist und die Ausführung von Geh- Schlaganfall (im Mittel 39 Tage Krankheits-
training bei Patienten mit vollständiger dauer) wurden eingeschlossen, 19 Patien-
Querschnittlähmung ermöglicht. ten in die Exoskelett Gruppe und 17 Pati-
enten in die Kontrollgruppe. Im Ergebnis
6.3.6 zeigten sich keine signifikanten Gruppen-
Mobile Exoskelette bei verschiedenen unterschiede für den primären Parameter
Krankheitsbildern Gehfähigkeit (FAC) und keinen der sekun-
dären Parameter wie die Gehgeschwindig-
Im Folgenden wird nun auf die aktuelle keit, die 6-Minuten-Gehstrecke, die Tage
Studienlage für mobile Exoskelette bei ein- bis zum Erreichen des selbstständigen Ge-
zelnen Krankheitsbildern hingewiesen. hens, die motorische Funktion der unteren
Extremitäten (Fugl-Meyer-Bewertung), die
6.3.6.1 Berg-Balance-Skala, den Patientengesund-
Patienten nach Schlaganfall heitsfragebogen, die kognitive Bewertung
In einer Übersichtsarbeit zeigten kürzlich nach Montreal und die 36-Elemente-Kurz-
Louie und Eng aus Vancouver, dass die umfrage nach der Intervention und nach
vorhandenen klinische Studien zu roboti- sechs Monaten. Zusammengefasst zeigt
schen Exoskeletten einerseits relativ sicher diese aktuelle Studie, dass eine Exoskelett-
als Gangtrainingsgerät für Patienten nach gestützte Physiotherapie im Vergleich zur
subakutem und chronischem Schlaganfall alleinigen Physiotherapie nicht zu einer
eingesetzt werden können (Louie u. Eng größeren Verbesserung der Selbstständig-
2016). Andererseits forderten die Autoren, keit beim Gehen führte, aber sicher und
dass vor einem systematischen Einsatz in ohne Beeinträchtigung der Patientener-
der Gangrehabilitation nach Schlaganfall gebnisse durchgeführt werden kann.
methodisch strenge, kontrollierte Studien
mit angemessener Fallzahl durchgeführt 6.3.6.2
werden müssen (Louie u. Eng 2016) Kinder mit Zerebralparese
Für Patienten nach Schlaganfall exis- Aus dem aktuellen Jahr liegt eine systema-
tiert mittlerweile eine randomisierte Stu- tische Übersichtsarbeit für die Verwen-
die aus diesem Jahr (Protokoll der Studie dung von mobilen Exoskeletten für Kinder
NCT02995265) (Louie et al. 2021). mit Zerebralparese vor (Studienregistrie-
In drei stationären Rehabilitations- rung PROSPERO CRD42020177160) (Bun-
kliniken wurden Patienten nach subaku- ge et al. 2021). Im Ergebnis zeigte sich, dass
tem Schlaganfall (< 3 Monate), die nicht von den 2.089 überprüften Studien gera-
in der Lage waren, ohne wesentliche Hilfe de einmal zehn Fallserien und drei Fall-
zu gehen (FAC 0 bzw. 1), nach dem Zufall- studien die Einschlusskriterien erfüllten.
sprinzip einer Exoskelett-basierten oder Die Ergebnisse zeigen, dass die derzeiti-
einer Standard-Physiotherapie während ge Evidenzbasis erst im Entstehen begrif-
der Rehabilitation bis zur Entlassung oder fen ist und nur ein geringes wissenschaft-
für maximal acht Wochen zugewiesen. Im liches Niveau aufweist. Gerade für Kinder
6 · Neurorehabilitation von Stand und Gang 135
mit Zerebralparese ist daher weitere wis- Ereignisse auf. Jedoch waren die Risiken
senschaftlich hochwertige Forschung er- für Nebenwirkungen sehr hoch: Die Häu-
forderlich, um überhaupt Aussagen zur figkeit von Stürzen während des Trainings
Wirksamkeit der Anwendung dieser Gerä- lag bei 4,4 % (wobei Stürze zu keiner Ver-
te machen zu können. letzung führten). Die Häufigkeit von Kno-
chenbrüchen während des Trainings lag
6.3.6.3 bei 3,4 %. Die Autoren schlussfolgern, dass
Patienten mit Querschnittlähmung mobile Exoskelette es Patienten mit Quer-
Der Großteil der wissenschaftlichen Lite- schnittlähmung ermöglichen, sich in All-
ratur für mobile Exoskelette hat sich bis- tagsumgebungen sicher zu bewegen, und
lang mit dem Gehtraining für Patienten zwar mit einer Intensität der körperlichen
mit Querschnittlähmung beschäftigt. Eine Betätigung, die für eine längere Nutzung
systematische Übersichtsarbeit bei Pati- geeignet ist (Miller et al. 2016).
enten mit Querschnittlähmung (Miller et Eine weitere, etwas aktuellere systema-
al. 2016) ergab im Ergebnis insgesamt 14 tische Übersichtsarbeit über mobile Exo-
Studien mit mobilen Exoskeletten (acht skelette bei Patienten mit Querschnittläh-
ReWalk-, drei Ekso-, zwei Indego®- und mung schloss insgesamt 28 Artikel mit 228
eine nicht spezifizierte Exoskelett-Studie) Patienten ein (9 mit Ekso, 3 mit Indego®,
mit insgesamt gerade einmal 111 Patien- 10 mit ReWalk, 1 mit REX, 5 mit Wearable
ten. Die Trainingsprogramme wurden in Power-Assist Locomotor) (Tan et al. 2021).
der Regel dreimal pro Woche über einen Die am häufigsten berichtete Verletzungs-
Zeitraum von einer bis 24 Wochen mit ei- höhe des Rückenmarks der Patienten war
ner Dauer von 60 bis 120 Minuten pro Sit- Th6. Der Umfang des Trainings war in den
zung durchgeführt (Miller et al. 2016). In Studien extrem heterogen, die Anzahl der
zehn Studien wurde das Training auf ebe- Übungseinheiten lag zwischen zwei und
nen Flächen in Innenräumen durchge- 230 Sitzungen mit 30 – 120 Minuten Thera-
führt, und vier Studien beinhalteten ein pie pro Einheit. Die gesamte Therapiedau-
komplexes Training, welches das Gehen er war ebenfalls sehr heterogen und lag
im Freien, das Überwinden von Hinder- zwischen einer und 24 Wochen bei einer
nissen, das Auf- und Absteigen von Trep- Häufigkeit von 1 – 5-mal pro Woche (Tan et
pen und die Durchführung von Aktivitä- al. 2021). Die mittlere Ganggeschwindig-
ten des täglichen Lebens umfasste. Nach keit betrug 0,31 m/s (Standardabweichung
dem Trainingsprogramm mit dem Exoske- 0,14), und die mittlere Gehstrecke 109 m
lett waren 76 % der Patienten in der Lage, (± 47). Bei alleiniger Betrachtung von Pa-
ohne externe körperliche Unterstützung tienten mit Verletzungen der Halswirbel-
zu gehen. Die Verbesserung der Gehstre- säule ergab sich, dass 59 % der Patienten in
cke im 6-Minuten-Gehtest betrug im Mit- der Lage waren, ohne körperliche Hilfe zu
tel 98 m. Der physiologische Bedarf beim gehen, und mehrere Patienten einen Rol-
Gehen mit dem Exoskelett betrug 3,3 me- lator als Gehhilfe benutzten. Diese aktuelle
tabolische Äquivalente und die wahrge- Übersichtsarbeit beschreibt zwar die der-
nommene Anstrengung lag bei 10 auf der zeit extrem verschieden verwendeten The-
Borg-Skala (6 – 20), vergleichbar mit der rapieparameter bei mobilen Exoskeletten,
Anstrengung einer gesunden Person, die geht jedoch nicht weiter auf die systema-
mit ca. 5 km pro Stunde geht. Verbesse- tisch sehr geringe methodische Qualität
rungen bei der Spastik und der Regelmä- und damit sehr geringe Evidenz der der-
ßigkeit des Stuhlgangs wurden von 38 % zeitigen Studienlage ein.
bzw. 61 % der Patienten berichtet. Es traten
keine schwerwiegenden unerwünschten
136 J. Mehrholz
6.3.6.4 Literatur
Patienten mit neuromuskulären Awad LN, Esquenazi A, Francisco GE, …, Jayaraman
Erkrankungen A (2020) The ReWalk ReStore soft robotic exo-
suit: a multi-site clinical trial of the safety, re-
liability, and feasibility of exosuit-augmented
Aus dem aktuellen Jahr liegt ebenfalls eine
post-stroke gait rehabilitation. J Neuroeng Re-
aktuelle systematische Übersichtsarbeit habil 17: 80.
für Patienten mit neuromuskulären Er- Bohannon RW (1987) Gait performance of hemipa-
krankungen vor (Rodriguez-Fernandez et retic stroke patients: selected variables. Arch
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al. 2021). Die Autoren fanden insgesamt Bonita R, Solomon N, Broad JB (1997) Prevalence of
87 klinische Artikel, die sich sowohl auf die stroke and stroke-related disability. Estimates
Gerätetechnologie (z. B. Art der Geräte und from the Auckland stroke studies. Stroke 28:
1898–902.
Ausstattung) als auch auf die klinischen
Bowden MG, Balasubramanian CK, Neptune R,
Aspekte (z. B. Trainingsprotokoll, Ergeb- Kautz SA (2006) Anterior-posterior ground re-
nismessungen) bezogen (Rodriguez-Fern- action forces as a measure of paretic leg con-
andez et al. 2021). tribution in hemiparetic walking. Stroke 37:
872–6.
Die Autoren schlussfolgern, dass mo- Bunge LR, Davidson AJ, Helmore BR, …, Kumar S
bile Exoskelette zumindest das Potenzi- (2021) Effectiveness of powered exoskeleton
al für eine Reihe von Anwendungen ha- use on gait in individuals with cerebral palsy:
ben, darunter in der Frührehabilitation, A systematic review. PLoS One 16: e0252193.
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für die Förderung der körperlichen Betä- Shaping neuroplasticity by using powered exo-
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auch in der Gemeinde. Sie weisen darauf
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tät und Unabhängigkeit von nicht gehfähi- London, New York, Oxford, Philadelphi, St
gen Menschen verbessern und sekundäre Louis, Sydney, Toronto.
Colombo G, Joerg M, Schreier R, Dietz V (2000)
Gesundheitszustände im Zusammenhang Treadmill training of paraplegic patients us-
mit Bewegungsmangel reduzieren, mit al- ing a robotic orthosis. J Rehabil Res Dev 37:
len Vorteilen, die dies mit sich bringt. Ins- 693–700.
Dijkers MP, Akers KG, Dieffenbach S, Galen SS
gesamt beschreiben die Autoren aber kri-
(2021) Systematic Reviews of Clinical Benefits
tisch, dass die Nutzung jedoch noch durch of Exoskeleton Use for Gait and Mobility in
die derzeit schweren und sperrigen Geräte Neurologic Disorders: A Tertiary Study. Arch
eingeschränkt ist, die eine stete Überwa- Phys Med Rehabil 102: 300–13.
Dohle C, Quintern J, Saal S, …, Wittenberg H (2015)
chung und die Verwendung von Gehhil- S2e-Leitlinie: Rehabilitation der Mobilität nach
fen erfordert (Rodriguez-Fernandez et al. Schlaganfall (ReMoS). Neurol Rehabil 21: 355–
2021). Die derzeitigen Studien beschreiben 494.
lediglich kurzfristige Vorteile anhand von Elsner B. Schöler A, Kon T, Mehrholz J (2020) Walk-
ing with rhythmic auditory stimulation in
sehr wenigen Patienten und extrem unter- chronic patients after stroke: A pilot random-
schiedlichen klinischen Anwendungspro- ized controlled trial. Physiother Res Int 25:
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What do acute stroke physiotherapists do to bil 18: 19.
139
7
Die Behandlung der spastischen
Bewegungsstörung im rehabilitativen
Kontext
Thomas Platz, Jörg Wissel
und/oder SMD eignet sich unter anderem ermöglichen oder durch eine lokale Be-
die Goal Attainment Scale (GAS) (Turner- handlung von spastischen Agonisten den
Stokes 2009). Sie ist nicht ein Maß, das die schwachen Antagonisten eine aktive Ge-
Beurteilung der Spastizität erlaubt, son- lenkbewegung zu ermöglichen.
dern bewertet, wie gut ein Behandlungs- In den ersten Monaten nach einer
ziel, das sich ein Patient in Abstimmung ZNS-Schädigung entwickelt sich die SMD
mit seinem Behandler vorgenommen hat, meist mit einer Verzögerung. Durch eine
erreicht wurde. Verglichen mit dem aktu- Ungleichverteilung der Komponenten der
ellen Zustand wird dabei beurteilt, ob das SMD (z. B. am Armbeuger betont) kann die
gesteckte Ziel erreicht wurde (Wert 0), ob gelähmte Gliedmaße in ihrer Ruheposition
gegebenenfalls etwas mehr (+1) oder viel verändert und das normale Bewegungs-
mehr (+2) erreicht wurde bzw. ob das Ziel ausmaß von Gelenken eingeschränkt
nur teilweise erreicht wurde (-0.5) oder werden, woraus sich bei gleichzeitig be-
aber keine Veränderung erreicht wurde stehender schwerer Lähmung sekundär
(-1), oder sogar in dem gewünschten Be- Kontrakturen entwickeln können (Hefter
reich eine Verschlechterung eingetreten et al. 2013). Hier ist es erforderlich, unter
ist (-2). Durch den Einsatz der GAS können anderem durch entsprechende regelmäßi-
sehr individuell Behandlungsziele festge- ge Dehnung und Lagerung der betroffenen
legt und im Verlauf der Behandlung bezüg- Extremität mit SMD dieser entgegenzu-
lich ihres Erreichens beurteilt und quanti- wirken und so sekundäre Komplikationen
fizierend dokumentiert werden. Gerade mit geminderter passiver Beweglichkeit
für eine individualisierte Behandlungssi- zu verhindern. Auch können ein neuropa-
tuation wie bei der Behandlung von Spas- thisches Schmerzsyndrom und eine pas-
tizität ist dies von besonderem Wert. sive Motilitätseinschränkungen, die sich
im Rahmen von Lähmung und SMD ent-
wickeln, im Alltag verstärkt sein. Entspre-
7.3 chend kann es bedeutsam sein, die SMD
zu behandeln, um auch Schmerzen in
Therapieziele
den gelähmten Gliedmaßen zu reduzieren
Es ist wichtig zu bedenken, dass die SMD (Wissel et al. 2000, 2016).
zwar in der Regel bei stärkeren Lähmun- Eine große Bedeutung in der Behand-
gen in stärkerem Maße vorliegt, dass aber lung der SMD hat die positive Beeinflus-
allein die effektive Behandlung der SMD sung sogenannter passiver Funktionen. So
nicht die lähmungsbedingten Beeinträch- kann der schwer gelähmte spastische Arm
tigungen selbst beseitigen kann. oftmals im Alltag nicht mehr gut integriert
Daher wird sich die Behandlung bei werden. Das Waschen etwa unter den Ach-
Lähmungen in erster Linie auf die Wieder- seln, das Einführen des Armes in einen Är-
herstellung der aktiven motorischen Funk- mel, das Schneiden von Fingernägeln oder
tionen konzentrieren und nicht primär die Hygiene der Hohlhand werden schwie-
auf die Behandlung der SMD. Diese Be- rig. Um diese passiven Funktionen zu för-
handlungsstrategien sind in den Kapiteln dern und zu ermöglichen, ist oftmals eine
„Neurorehabilitation von Stand und Gang“ gezielte Behandlung der fokalen Spastizi-
und „Neurorehabilitation der Armfunkti- tät erforderlich, um die Behinderung der
on“ ausführlich dargestellt. passiven Funktionen zu verbessern (Bras-
Dennoch gibt es viele Situationen, in hear et al. 2002; Kaňovský et al. 2011; Gra-
denen die SMD spezifisch behandelt wer- cies et al. 2015).
den sollte, um zum Beispiel aktives Trai- Aber auch in der Aktivität kann die
nieren von Arm- und Beinfunktionen zu spastische muskuläre Hypertonie die akti-
7 · Die Behandlung der spastischen Bewegungsstörung im rehabilitativen Kontext 143
der gesetzlichen Krankenkassen ambulant („Carer Burden“) stabil ab, nicht jedoch ei-
zu behandeln. Abobotulinumtoxin und nen positiven Effekt auf aktive Armfunktio-
OnabotulinumtoxinA haben des Weiteren nen („Arm-Hand-Kapazität“) (Andringa et
die Zulassung zur Behandlung der fokalen al. 2019). Dennoch konnte bei einem Teil
Spastizität des Fußgelenkes bei erwach- der Patienten in klinischen Studien durch
senen Patienten nach Schlaganfall, und BoNT-A-Applikation auch eine Verbes-
AbobotulinumtoxinA hat zusätzlich auch serung aktiver Funktionen erreicht wer-
die Zulassung für Patienten nach Schädel- den (Baker u. Pereira 2015). Um eine ak-
Hirn-Trauma in dieser Indikation. Die o. g. tive Funktionsverbesserung zu erreichen,
Leitlinien der DGN und DGNR empfehlen ist allerdings in den meisten Fällen eine
in diesem Sinne einen breiteren klinischen Kombination der BoNT-A-Behandlungen
Einsatz dieses Behandlungskonzeptes bei mit einem aktiven Funktionstraining sinn-
gegebener Indikation einer behindern- voll. Andererseits ist die Schädigung häufig
den fokalen, multifokalen oder segmenta- so stark, dass auch eine Kombination von
len Spastizität. Neuere Studien zeigen nun BoNT A und rehabilitativer Therapie nicht
zusätzlich, dass ein früherer Einsatz von zu einer Verbesserung aktiver Funktionen-
BoNT A im post-akuten Stadium bis drei führen kann (Lannin et al. 2020). Auch re-
Monate nach Schlaganfall bei beginnen- dressierende Behandlungen sowie funkti-
der Spastizität ohne Kontrakturbildung onelle Elektrostimulationen können den
mit geringeren Dosierungen länger anhal- Effekt von BoNT A in dieser Hinsicht ver-
tende positive Wirkungen erzielen kann, stärken. Zur Behandlung fokaler Spastizi-
möglicherweise Kontrakturausbildungen tät ist BoNT A einer oralen antispastischen
vermeiden hilft und somit einen günstigen Medikation sowohl hinsichtlich Wirksam-
Rehabilitationsverlauf ermöglichen könn- keit als auch Nebenwirkungen überlegen
te (Hesse et al. 2012; Rosales et al. 2016; (Simpson et al. 2009).
Wissel et al. 2020). Für die Behandlung der Unterarmmus-
keln (Handgelenks- und Fingerbeuger)
7.4.5.1 wird entweder eine Lokalisierungsunter-
Behandlung von Spastik an der oberen stützung mittels Elektrostimulation oder
Extremität mittels BoNT A Ultraschall empfohlen, da apparativ-injek-
Zur fokalen BoNT-A-Behandlung der spas- tionskontrollierte Behandlungen der allei-
tischen Tonus- und Funktionsstörung der nigen Palpation bezüglich der erreichten
oberen Extremität liegen zahlreiche kon- Wirkung der BoNT-A-Behandlung überle-
trollierte Studien vor, die eine Reduktion gen sind (Picelli et al. 2014; Grigoriu et al.
eines spastischen Muskeltonus und eine 2015)
Verbesserung der passiven Beweglichkeit
von betroffenen Gelenken der oberen Ex- 7.4.5.2
tremität durch einmalige und wiederhol- Behandlung des spastischen Spitzfußes
te intramuskuläre Injektionen von BoNT mittels BoNT A
A im chronischen Stadium der Spastizität Für AbobotulinumtoxinA und Onabotuli-
nach Schlaganfall (Kaňovský et al. 2011; numtoxinA konnte jeweils mit einer kon-
Kaňovský et al. 2021; Foley et al. 2013) trollierten Studie eine effektive Reduktion
und bei anderen Ätiologien (Gracies et al. eines spastischen Muskeltonus im oberen
2015; Wissel et al. 2017) zeigen. Die vor- Sprunggelenk durch intramuskuläre Injek-
liegende Evidenz sichert die Wirksamkeit tionen von BoNT A in die Wadenmuskula-
auf Spastik, passive Beweglichkeit, Integ- tur im chronischen Stadium mit spastisch
rierbarkeit des spastisch gelähmten Arms erhöhtem Muskeltonus nach Schlaganfall
im Alltag und die Belastung für Pflegende gezeigt werden (Kaji et al. 2010; Pittock et
7 · Die Behandlung der spastischen Bewegungsstörung im rehabilitativen Kontext 147
intrathekalen Applikation, die eine eng- ber und Veränderungen des Bewusstseins
maschige Kontrolle der Vitalparameter in einhergehen. Empfohlen wird die klini-
den folgenden Stunden erfordert, werden sche Austestung und Einstellung auf eine
standardisierte Messungen des Muskelto- ITB nur an Zentren mit besonderer Erfah-
nus in den Beinen (Kniegelenk) und Ar- rung mit dieser Therapie.
men (Ellbogengelenk) im stündlichen Ab-
stand jeweils in gleicher Ausgangsposition 7.4.7
(Rückenlage, leicht erhöhtes Kopfteil) z. B. Chirurgische Optionen
mittels der Ashworth-Skala durchgeführt,
um den therapeutischen Nutzen und z. B. Verschiedene orthopädisch und plastisch-
die Dauer der Wirkung eines Bolus festzu- oder handchirurgisch etablierte Verfah-
stellen. Ist durch die Bolusgabe ein aus- ren können bei einer schweren Spastizität
reichender therapeutischer Effekt erreicht der unteren und oberen Extremität ein-
worden (z. B. Abnahme der Ashworth-Ska- gesetzt werden. Diese umschließen Fas-
la um mindestens einen Skalenwert), kann zio- und Tenotomien, den Sehnen- und
die Indikation für eine ITB-Therapie ge- Muskeltransfer und die Sehnen- und Mus-
stellt werden. kelverlängerung (Fox et al. 2018; Genet et
Die Baclofen-Pumpe wird subkutan in al. 2018). Bei der Faszio-, Myo- und Teno-
die Bauchwand implantiert und ein Kathe- tomie werden die Faszien-, Muskeln und
ter etwa auf der Höhe LWK 3 / LWK 4 nach Sehnen spastischer Muskeln durchtrennt.
intrathekal geführt sowie die Katheterspit- Die Muskel- und Sehnendurchtrennung
ze etwa auf dem Niveau Th 5 – 10 platziert. wird heute nur noch sehr selten emp-
Die initiale tägliche intrathekale Baclofen- fohlen, wohingegen Fasziotomien gera-
Dosis ist üblicherweise das Doppelte der de wieder zunehmend indiziert werden.
Testbolus-Dosis, die einen positiven klini- Muskel- und Sehnenverlängerung und
schen Effekt erbrachte (zum Beispiel bei -verlagerungen (z. B. an der oberen Extre-
positivem Testbolus mit 50 µg wäre die in- mität Verlagerung des M. flexor carpi ulna-
itiale Tagesdosis 100 µg pro Tag). Die Dosis ris auf den M. extensor carpi radialis und
kann bei Bedarf dann um täglich 5 – 15 % damit Verbesserung der Handgelenksex-
geändert werden, bis ein klinisch zufrie- tension und Abnahme der Ulnarabduk-
denstellendes Behandlungsergebnis er- tion) kann durchgeführt werden, um bei
reicht ist. Sowohl kontinuierliche Abga- spastischen Muskeln die Gelenkspositi-
ben des Medikamentes als auch erhöhte onen in eine mehr physiologische und
Abgaben zu spezifischen Zeiten während funktionellere Position zu bringen. Beim
des Tages sind programmierbar. Die Be- Sehnentransfer können durch die Übertra-
handlung erfordert eine regelmäßige Fül- gung von Sehnen innervierter Muskeln an
lung der Pumpe etwa alle acht bis zwölf Positionen hochgradig bzw. komplett ge-
Wochen und einen Pumpen-/Batterieaus- lähmter Muskeln aktive Funktionen (wie
tausch nach fünf bis sieben Jahren. die Handgelenk- oder Ellbogenstreckung
Mögliche Nebenwirkungen der intra oder die Fußhebung) unterstützt werden.
thekalen Baclofen-Therapie sind u. a. eine Nicht destruierende operative Verfahren
Hypotension, das Auftreten von Obstipa- stellen heute in ausgewählten Fällen eine
tionen sowie Sedierung, Atemdepression relevante Behandlungsoption dar. Von be-
und epileptische Anfälle bei Überdosie- sonderer Wichtigkeit ist dabei die funktio-
rung. Das abrupte Absetzen der intrathe- nelle Betrachtungen und die funktionelle
kalen ITB-Therapie kann mit einer deutli- Zielsetzung der chirurgischen Interventi-
chen Verstärkung der Spastizität und der on (Fox et al. 2018; Genet et al. 2018).
Spasmen und in schweren Fällen mit Fie-
7 · Die Behandlung der spastischen Bewegungsstörung im rehabilitativen Kontext 149
tulinum toxin A treatment? Int J Rehabil Res 35: of the upper limb after stroke: a systematic re-
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153
8
Neurorehabilitation des Schluckens
Samra Hamzic
re Phasen unterteilt. Schlucken ist jedoch Tab. 8.1: Funktion und Abläufe der oralen Vorberei-
ein dynamischer Prozess, der eine strikte tungsphase (nach Prosiegel u. Weber 2018)
Trennung der einzelnen Schluckphasen Die orale Vorbereitungsphase dient:
voneinander nicht erlaubt. Die Kenntnis
• der Aufnahme des Materials in den Mund
aller Schluckphasen und ihrer gegensei- • der Zerkleinerung von festem und halbfestem
tigen Zusammenhänge ist unabdingbar Material
für das Verständnis der Ursachen einer • der Vermischung mit Speichel
Dysphagie und für die Auswahl geeigneter • der Bolusformung
• der Platzierung des Bolus in der Zungenschüssel
Therapiemethoden.
Streng genommen gehören fünf Pha- Motorische Abläufe der oralen Vorbereitungs-
sen zum physiologischen Schluckvor- phase:
gang: die präorale Phase, die orale Vorbe- • Kauen
reitungsphase, die orale Transportphase, – Lippen: Schluss / Vorschieben / Zurückziehen
die pharyngeale Phase und die ösophage- – Kiefer: Schluss / Öffnung / Drehbewegung
ale Phase. In der Literatur existiert derzeit nach vorwärts / rückwärts, oben / unten, zur
Mitte / zur Seite
noch kein Konsens über die genaue Ein-
– Zunge: Bewegung nach vorwärts / rückwärts,
teilung dieses flexiblen Vorganges (Ertekin seitlich und um die eigene Längsachse
2003; Langmore 2006; Warnecke u. Dzie- – Wange: Muskelanspannung auf der Kauseite
was 2018). – Zungenschüsselbildung
Externe Faktoren wie das Riechen – Hebung (Elevation) der Zungenspitze und der
Zungenränder
und Sehen der Nahrung und der Flüssig-
keit (olfaktorische und visuelle Reize), die • Velolingualer /glossopalataler Abschluss
(für Material, das nicht gekaut wird)
Aufmerksamkeit, das Essverhalten und
die Art der Nahrungs- und Flüssigkeits-
aufnahme sowie das Hungergefühl gehö- Die orale Transportphase (Tab. 8.2) ist
ren zur präoralen Phase. Sie wirken sich ebenso willentlich steuerbar, dauert ca.
auf den Schluckvorgang in seiner Effizienz eine Sekunde und gilt als ein kritischer
und Sicherheit aus. In der präoralen Pha- Zeitpunkt für die Initiierung und den adä-
se wird die Speichelbildung angeregt. Sie quaten Verlauf der pharyngealen Schluck-
ermöglicht eine adäquate Vorbereitung phase.
des Speisebreis in der oralen Vorberei-
Tab. 8.2: Motorische Abläufe der oralen Transport-
tungsphase (Leopold u. Kagel 1997). Die phase (nach Prosiegel u. Weber 2018)
Relevanz der präoralen Phase für den ge-
samten Schluckvorgang wird in der Studie Lippen-/Kieferschluss, beidseitige Wangento-
nisierung
von Ushioda et al. beschrieben: Während
Probanden visuelle und auditive Schluck- • Abschluss der Zunge mit dem Gaumen durch
Elevation der Zungenspitze und der Vorderzun-
stimuli präsentiert wurden, kam es in der
genränder
Magnetoenzephalographie nachweislich • Bildung der Zungenfurche durch Senkung der
zu einer Aktivierung der Spiegelneuronen Zungenmitte
des Schluckens (Ushioda et al. 2012). • Oraler Transport durch sequenzielle
Die orale Phase, an der 25 Muskelpaare Zungenhebung/-retraktion
• Rampenbildung und Senkung der Hinterzunge
beteiligt sind, ist willentlich steuerbar und
für Transport in den Oropharynx
dauert individuell unterschiedlich. Sie • Beginn der Velumhebung zum Abschluss des
wird in die orale Vorbereitungsphase (Tab. Nasopharynx
8.1) und die orale Transportphase unterteilt
(Prosiegel u. Weber 2018).
Die pharyngeale Phase (Tab. 8.3) ist wil-
lentlich nicht beeinflussbar und umfasst
8 · Neurorehabilitation des Schluckens 157
die Beteiligung von 31 Muskelpaaren. Zur zuletzt für die Auswahl adäquater Thera-
detaillierten Beschreibung der pharynge- piemethoden.
alen Phase siehe Tabelle 8.3. Verschiedene validierte Screeningver-
fahren und klinische Schluckassessments
Tab. 8.3: Abläufe während der pharyngealen Phase
(nach Prosiegel u. Weber 2018) für die Diagnostik von Dysphagien sind
verfügbar. Die Auswahl der Testinstru-
• Schluckreflexauslösung
mente sollte einzig und allein auf ihrer
• Schutz vor nasaler Penetration durch Velum
hebung Reliabilität und Validität basieren. Weder
• Abschluss der Zungenbasis mit der Rachenhin- für Screeningverfahren noch für Schluck
terwand und dadurch bedingter Bolustransport assessments existiert bis dato ein Gold-
nach unten standard. Screeningverfahren haben zum
• Raumerweiterung des Pharynx/Erleichterung der
Ziel die Ersteinschätzung des Aspirati-
Boluspassage durch Bewegung von Zungenbein
und Kehlkopf nach vorn oben onsrisikos bei Patienten. Die frühzeitige
• Schutz vor Aspiration durch dreifachen Kehl- Durchführung eines Screenings in der aku-
kopfverschluss ten Schlaganfallphase trägt nachweislich
• Reinigung (Clearing) verbliebener Bolusreste zu einer signifikanten Reduzierung des
und (geringer auch) Bolustransport durch pha-
Pneumonierisikos bei (Bray et al. 2017).
ryngeale Peristaltik
• Öffnung des oberen Ösophagussphinkters In der Leitlinie „Neurogene Dysphagien“
(oÖS), Bolusdurchtritt und Verschluss des oÖS der Deutschen Gesellschaft für Neurologie
(DGN) wird der Einsatz standardisierter
und validierter Screeningverfahren (Dzie-
Die ösophageale Phase beginnt mit dem was et al. 2020, 2021b) empfohlen. Die
Eintritt des Bolus in die Speiseröhre. Wäh- Weltföderation Neurorehabilitation emp-
rend der ösophagealen Phase wird der Bo- fiehlt den frühen Einsatz der klinischen
lus mittels Kontraktionswellen der Speise- Screeningverfahren mit hoher Sensitivität
röhrenmuskulatur in den Magen befördert. und hohem negativen prädiktiven Wert so-
Diese Phase dauert je nach Bolusart und wie guter Reliabilität durch geschultes kli-
-beschaffenheit bis zu ca. 20 Sekunden mit nisches Personal, um die Pneumonieraten
einer Bolusgeschwindigkeit von 2 – 4 cm/s sowie die Risiken der Sekundärkomplikati-
(Prosiegel u. Weber 2018). onen zu reduzieren (Paik u. Kim 2021).
8.5 8.6
Screeningverfahren und klinische Bildgebende Schluckdiagnostik
Schluckdiagnostik
Ein professionelles Dysphagiemanage-
Der Schluckvorgang kann in allen fünf ment und eine erfolgreiche Dysphagie
Phasen einzeln oder alle Phasen gleichzei- rehabilitation erfordern eine zielge
tig betreffend beeinträchtigt sein. Um eine naue und standardisierte bildgebende
adäquate Beurteilung der Pathophysiolo- Dysphagiediagnostik, die die Beurteilung
gie des Schluckens vornehmen zu können, der Dysphagiesymptome und -pathome-
ist ein evidenzbasiertes klinisches und/ chanismen ermöglicht. Zwei Verfahren
oder apparatives Verfahren indiziert. haben sich als Goldstandard etabliert:
Des Weiteren ist die Kenntnis wich- Die flexible endoskopische Evaluation des
tigster pathologischer Leitsymptome einer Schluckens (FEES) und die Videofluorosko-
Dysphagie von großer Bedeutung für die pie („videofluoroscopic swallowing study“,
genaue diagnostische Einschätzung des VFSS) (Tab. 8.4).
Schweregrades der Dysphagie und nicht
158 S. Hamzic
Tab. 8.4: Gegenüberstellung der Vor- und Nachteile der FEES vs. VFSS
FEES VFSS
• mobil • an Radiologie gebunden
• kostengünstig • kostenintensiv
• invasiv • non-invasiv
• keine Strahlenbelastung • Strahlenbelastung und Kontrastmittel
• Beurteilung Sekretmanagement möglich • Beurteilung Sekretmanagement nicht möglich
• Beurteilung linguopharyngealer Sensibilität • Beurteilung linguopharyngealer Sensibilität nicht
möglich möglich
• Sicht nur vor und nach dem Schluck • Schluckvorgang komplett sichtbar
• oÖS nicht beurteilbar • oÖS beurteilbar
• Aspirationsmenge nicht messbar • Aspirationsmenge besser beurteilbar
• als Verlaufskontrolle geeignet • Verlaufskontrolle nur bedingt möglich
8.6.1
In der Ruhebeobachtung bewertet der
Flexible Endoskopische Evaluation des
Untersucher die Beschaffenheit der Struk-
Schluckens (FEES)
turen im Naso-, Oro-, Hypopharynx und
Die FEES hat sich in Deutschland als das im Larynxbereich sowie Asymmetrien
gängigste bildgebende Diagnostikum für und unwillkürliche Bewegungen der rele-
Dysphagien etabliert. Nicht zuletzt seit der vanten Strukturen (Abb. 8.1). Das allgemei-
Einführung des FEES-Curriculums durch ne Sekretmanagement sowie das Vorliegen
die DGN/DSG in 2014 (Dziewas et al. 2014) von Sekret- und Speiseresten werden nach
ist diese Untersuchungsmethode auf 70 % validierten Scores beurteilt. Bereits in der
der Stroke Units in Deutschland verfügbar Ruhebeobachtung kann der Untersucher
(Flader et al. 2017). Symptome und Pathomechanismen einer
Die Untersuchung erfolgt durch Ein- Dysphagie erkennen und daraus eine adä-
führen eines flexiblen Nasopharyngo quate Therapiemethode ableiten.
laryngoskops mit ca. 3 mm Durchmesser Die Funktionsprüfung dient der Ein-
über den unteren Nasengang in den Hypo schätzung der Effektivität motorischer
pharynx. Die Aufzeichnung der FEES er- Funktionen im Hypopharynx und Larynx.
folgt per Video mit der Möglichkeit der Einschränkungen in diesem Abschnitt der
Wiedergabe von 25 –
50 Bildern/Sekun- FEES liefern dem Untersucher potenzielle
de. Hierdurch können relevante Leitsym- Hinweise auf zugrunde liegende Pathome-
ptome und Pathomechanismen bildgenau chanismen. Die Sensibilitätstestung erfolgt
erkannt werden. Die FEES ist eine risiko- durch Berühren hypopharyngealer und
arme Untersuchung: Eine Studie an 300 laryngealer Strukturen. Anschließend er-
akuten Schlaganfallpatienten zeigte keine folgen die Schluckversuche mit verschie-
relevante Änderung der Vitalparameter bei denen Boluskonsistenzen und -mengen,
der Durchführung der FEES (Warnecke et die sich am aktuellen Zustand und den
al. 2009). vorhandenen Ressourcen des Patienten
Die FEES besteht aus folgenden Ab- orientieren Der behandelnde Therapeut
schnitten: Ruhebeobachtung, Funktions- kann auf der Grundlage der Ergebnisse
prüfung und Sensibilitätstestung sowie verschiedenen Untersuchungsabschnitte
Schluckversuchen verschiedener Konsis eine geeignete Therapiemethode aussu-
tenzen, ggf. unter Anwendung kompensa- chen.
torischer Schlucktechniken. Für die Einschätzung des Schwere-
grades der Dysphagie und der vorlie-
8 · Neurorehabilitation des Schluckens 159
A Zungengrund
B Epiglottis
C Sinus piriformes
D Postcricoidregion (Bereich des oÖS)
E Aryknorpel
F Aryepiglottische Falte
G Taschenfalte
H Stimmlippe
I Glottis (darunter Trachea)
J Hintere Kommissur/Interarytenoid-
Region
K Rachenhinterwand
Abb. 8.1: Endoskopische Sicht auf relevante Strukturen im unteren Rachen sowie im Kehlkopf (Bild aus der eige-
nen Datenbank der Neurologischen Klinik des Universitätsklinikums Gießen)
Tab. 8.5: Leitsymptome einer Dysphagie aus endoskopischer oder videofluoroskopischer Sicht
Verzögerte Zeitgerechte Schluckreflextriggerung erfolgt beim Kontakt des Bolus mit den Gaumen-
Schluckreflex bögen zu Beginn der pharyngealen Phase. Wenn der Bolus aus der Mundhöhle in den
triggerung Hypopharynx entgleitet, die Valleculae oder die Sinus piriformes erreicht, ohne dass der
Schluckreflex mit einer bestimmten Zeitlatenz ausgelöst wird, spricht man von einem
verzögerten Schluckreflex.
Normwerte für die Zeit bis zur Auslösung des Schluckreflexes in Abhängigkeit von Konsistenz
und Lokalisation (Warnecke u. Dziewas 2013)
Penetration Penetration = Eindringen des Bolus in den Kehlkopfeingang (Aditus laryngis) bis auf
Stimmlippenebene
Dies geschieht über folgende Strukturen: Epiglottiskante, aryepiglottische Falte, Aryknorpel
oder über die hintere Kommissur. Eine Penetration kann in allen Phasen des Schluckvor-
ganges stattfinden: prädeglutitiv (vor der Schluckreflexauslösung), intradeglutitiv (wäh-
rend der pharyngealen Phase – in der FEES während des White-outs) und postdeglutitiv
(nach dem Ende der pharyngealen Phase). In der Auswertung der FEES oder VFSS ist die
genaue Angabe des Zeitpunktes einer Penetration für die anschließende Auswahl geeig-
neter Therapiemaßnahmen von Bedeutung.
Stille Penetra- Eindringen von Bolusanteilen in den Kehlkopfeingang (Penetration) oder in die Trachea
tion/Aspiration (Aspiration) ohne eine sensible Reaktion (Husten, Räuspern)
genden Symptome werden validierte Gegensatz zur FEES können das Sekret-
Scores herangezogen (für die genaue Be- management sowie der Schweregrad der
schreibung der Symptome siehe Tab. 8.5). Residuen in der Videofluoroskopie jedoch
Die Beurteilung des Schweregrades der nicht zuverlässig dargestellt werden.
Sekretresiduen erfolgt anhand der Murray-
Skala (Murray et al. 1996; Pluschinski et al.
2014), der Schweregrad der Penetration/ 8.7
Aspiration anhand der Penetrations-Aspi-
Rehabilitation neurogener
rations-Skala (PAS-Skala) nach Rosenbek
Dysphagie
(Rosenbek et al. 1996; Hey et al. 2014). Für
die Beurteilung der Residuen wird die Ver- 8.7.1
wendung der fünfstufigen „Yale Pharynge- Funktionelle Dysphagietherapie (FDT)
al Residue Severity Rating Scale“ empfoh-
len (Neubauer et al. 2015; Gerschke et al. Der Begriff der funktionellen Dysphagie-
2019). therapie (FDT), geprägt von Gudrun Barto-
Schließlich lassen sich die Umset- lome, hat sich im deutschsprachigen
zung und die Effektivität restituierender Raum etabliert. Man versteht darunter
und kompensatorischer Techniken in der den Einsatz von Übungsmethoden, die ei-
FEES prüfen (z. B. Schlucken gegen Wi- nen restituierenden, kompensatorischen
derstand, das supraglottische Schlucken, und/oder adaptierenden Charakter haben
Kopfdrehung/-neigung zur betroffenen (Bartolome 2014; Logemann 1998). Die-
Seite etc., siehe Tab. 8.7 und 8.8). Dies er- ser Begriff wird im angloamerikanischen
möglicht den behandelnden Therapeuten, Raum nicht verwendet, wobei die Begriffe
die für den Patienten optimale Thera- Restitution, Kompensation und Adaptati-
piemethode bzw. die optimale Kostform on bekannt sind. In einer neueren Arbeit
auszuwählen. Regelmäßige Verlaufsun- von Langmore und Pisegna (Langmore u.
tersuchungen können die Effektivität der Pisegna 2015) wird zwischen „swallowing
ausgewählten diätetischen und therapeu- exercises“ (SE) und „non-swallowing exer-
tischen Maßnahmen bestätigen oder wi- cises“ (NSE) unterschieden. Im Vergleich
derlegen. zu SE können NSE vom Patienten leichter
erlernt und repetitiv geübt werden.
8.6.2 Videofluoroskopie (VFSS) Die FDT orientiert sich bei der Aus-
wahl der Übungen an Pathomechanis-
Videofluoroskopie („videofluoroscopic men der Dysphagie, wobei evidenzbasier-
swallowing study“ [VFSS]) ist eine radiolo- te Methoden Verwendung finden sollten.
gische Untersuchung der kompletten Dy- Das Ziel aller therapeutischen Maßnah-
namik des Schluckvorganges. Die Untersu- men ist die Sicherstellung eines aspirati-
chung wird unter Gabe von Kontrastmitteln onsfreien bzw. sicheren Schluckvorganges
in der konventionellen Durchleuchtung im für Sekret, Nahrung und Flüssigkeiten. Die
Sitzen oder Stehen im seitlichen Strahlen- Leitlinien der DGN empfehlen einen früh-
gang mit 25 bis 30 Bildern pro Sekunde di- zeitigen Beginn der Therapie, v. a. in der
gital aufgezeichnet. Sie stellt alle Phasen akuten Schlaganfallphase. Carnaby zeigte,
des Schluckens sowie die Tiefe und Men- dass Patienten, die eine hochfrequente
ge des Aspirats dar (Langmore 2003). Der Dysphagietherapie (fünfmal pro Woche)
Schweregrad der Aspiration wird auch in gegenüber der Standardtherapie (dreimal
der VFSS mittels der Penetrations-Aspi- pro Woche) erhielten, sicher oralisiert wer-
rations-Skala nach Rosenbek (Rosenbek den konnten (Carnaby et al. 2006).
et al. 1996; Hey et al. 2014) bestimmt. Im
8 · Neurorehabilitation des Schluckens 161
Orale Phase Oralmotorische Übungen Verkürzte orale Transitzeit, verbes- Gisel et al. 1996,
(isometrische Zungenwider- serte Triggerung der pharyngealen Robbins et al. 2005,
standsübungen bei Dysphagie Phase, verminderte pharyngeale 2007,
nach Schlaganfall) Residuen bei allen Konsistenzen, Smaoui et al. 2019
Abnahme des Aspirationsgrades auf
der Penetrations-Aspirations-Skala
nach Rosenbek
Pharyngeale Kopfanteflexion gegen Wi- Kräftigung der suprahyoidalen Yoon et al. 2014,
Phase derstand Muskulatur Kraaijenga et al. 2015
(Chin-Tuck-Against-
Resistance=CTAR)
Pharyngeale Expiratory Muscle Strength Verbesserte hyolaryngeale Ex- Troche et al. 2010,
Phase Training (EMST): Ausatmung kursion, niedrigere Werte auf der Eom et al. 2017
in ein atemtherapeutisches PAS-Skala
Gerät gegen den Widerstand
eines Ventils
Frequenz: 5 Wiederholungen/
Tag, 5 Wochen lang
Pharyngeale Mendelsohn-Übung* Zunahme der Dauer der Kehl- Kahrilas et al. 1991
Phase kopfhebung, Verlängerung der
Öffnungsdauer des oberen Ösopha-
gussphinkters
*Nach Prosiegel u. Weber 2018 wird der Begriff „Mendelsohn-Manöver“ als kompensatorisches Verfahren verwendet. Da
aber unter Anwendung dieses Manövers die Schluckfunktion verbessert wird, kann dieses Verfahren als „Mendelsohn-
Übung“ auch zu den restituierenden Maßnahmen gezählt werden.
8 · Neurorehabilitation des Schluckens 163
Orale Transportphase Kopfneigung zur gesun- Bolus wird per Schwerekraft über Logemann et al.
den Seite die gekippte Seite geleitet 1998
Sensorische Geschmack, Tempera- • Saure sowie sehr heiße/kalte Konsisten- Bülow et al.
Eigenschaften tur, Kohlensäuregehalt zen verbessern die Schluckreflextrigge- 2003
rung
• Kohlensäurehaltige Flüssigkeiten reduzie-
ren Penetrationen / Aspirationen, Residu-
en sowie die pharyngeale Transitzeit
Grob passierte Kost Mittelschweres Risiko, sich zu • Weiche bis breiige Kost
verschlucken • Sehr leicht mit der Zunge zerdrück-
bar
Orale Nahrungskarenz / nil per Massives Risiko, sich zu ver- Vollständig über eine nasogastrale
os (NPO) schlucken oder PEG-Sonde ernährt.
her stellen flüssige Konsistenzen eine be- bedarf und den Ernährungsstatus (Foley et
sondere Gefahr in Form einer Penetration al. 2006). Eine Reduktion der Raten der As-
und/oder Aspiration für diese Patienten pirationspneumonie durch die Texturmo-
dar (Power et al. 2007). Das adaptive Ver- difikation konnte in wissensschaftlichen
fahren der Andickung von flüssigen Kon- Arbeiten nicht eindeutig belegt werden
sistenzen spielt eine wesentliche Rolle (Hines et al. 2010; Flynn et al. 2018; Foley
im Dysphagiemanagement. In der Regel et al. 2008; Abdelhamid et al. 2016).
werden flüssige Konsistenzen nektarartig, Im klinischen Alltag ist ein einheit-
honigartig oder puddingartig angedickt. licher Viskositätsgrad für die unterschied-
Der positive Effekt der Texturanpassung lichen Konsistenzen jedoch schwer her-
für flüssige Konsistenzen konnte wissen- zustellen, da Viskosimeter und Geräte, die
schaftlich bestätigt werden (Steele et al. zur Erfassung von Texturen dienen, kost-
2015). Gleichzeitig ist mit der Steigerung spielig sind. Des Weiteren besteht eine un-
der Viskosität der Flüssigkeiten der negati- einheitliche Nomenklatur bezüglich der
ve Effekt der hypopharyngealen Residuen, verschiedenen Konsistenzen und Viskosi-
einer reduzierten Compliance gegenüber tätsbezeichnungen in unterschiedlichen
der Texturmodifikation, der damit ver- Ländern bzw. Institutionen. Die „Interna-
bundenen reduzierten oralen Aufnahme tional Dysphagia Diet Standardisation Ini-
von Flüssigkeiten und nicht zuletzt einer tiative“ (IDDSI) hat eine international ein-
Reduktion der Lebensqualität verbunden heitliche Terminologie und Definitionen
(Andersen et al. 2013; Steele et al. 2015; von Kostformen und Viskositätsgraden
New man et al. 2016; Kuhlemeier et al. festgelegt. Außerdem wurde ein einfaches
2001; Clave et al. 2006; Clave et al. 2008; Vi- Verfahren zur Erfassung von Eigenschaf-
lardell et al. 2016; Abdelhamid et al. 2016). ten von Kostformkonsistenzen und Flüs-
Obwohl die Viskositätsanpassung bei Flüs- sigkeiten entwickelt. Für nähere Informati-
sigkeiten mit mangelnder Akzeptanz ver- onen wird auf die Arbeit von Cichero et al.
bunden ist, verbessert die Texturmodifi- (2016) sowie die IDDSI Homepage verwie-
kation der oralen Kost bei dysphagischen sen (http://www.iddsi.org).
Patienten dennoch den Gesamtenergie-
8 · Neurorehabilitation des Schluckens 165
Fließfähigkeit Eigenschaft
Die Kostform sollte immer dann an- Mundpflegeprotokolls hatte zur Folge je
gepasst werden, wenn der Kauvorgang nach Fragestellung entweder die Verbes-
gestört oder erschwert ist, wenn eine ein- serung der oralen Hygiene oder die Reduk-
geschränkte Zungenmotilität und -kraft tion von pulmonalen Infektionen. Sowohl
vorliegen, bei oralen Residuen bzw. wenn in den Leitlinien der Deutschen Gesell-
durch eine bildgebende Diagnostik ein si- schaft für Neurologie als auch in den Emp-
cheres Schlucken durch eine bestimmte fehlungen der Weltföderation Neuroreha-
Kostform bestätigt werden konnte (Tab. bilitation wird ein strukturiertes Protokoll
8.10, Tab. 8.11). der oralen Hygiene als fester Bestandteil
Wenn Andickung von Flüssigkeiten er- des Dysphagiemanagements empfohlen
forderlich ist, sollte auf die Verwendung (Dziewas et al. 2020, 2021b; Paik u. Kim
von amylaseresistenten Andickungspro- 2021).
dukten geachtet werden. Andickungs-
mittel auf reiner Stärkebasis sind für Dys- 8.7.1.2
phagiepatienten nicht geeignet, da die im Parenterale Ernährung
Speichel vorhandene Amylase die Stärke Dysphagische Patienten sind in einem ho-
bereits im Mund zersetzt und verflüssigt.. hen Maße den Risiken einer Malnutrition
Zu Ess- und Trinkhilfen gehören spe- und Dehydratation ausgesetzt. So stellt
zielle Trinkbecher (Nasenausschnittsbe- für eine erfolgreiche Rehabilitation von
cher, Strohhalme, Schnabelbecher, Schie- schlaganfallbedingten physischen und
belöffel). Die Zusammenarbeit mit der kognitiven Einschränkungen die Vermei-
Ergotherapie kann die Auswahl eines ad dung von Malnutrition durch eine aus-
äquaten Hilfsmittels erleichtern. reichende perorale Versorgung mit Nähr-
stoffen, Kalorien und Flüssigkeiten einen
8.7.1.1 wesentlichen Faktor dar (Chen et al. 2019;
Mundhygiene Lieber et al. 2018). Die Weltföderation der
Das Auftreten eine Aspirationspneumo- Neurorehabilitation empfiehlt die frühe
nie wird nicht nur durch die Dysphagie Etablierung der parenteralen Ernährung
begünstigt. Mehrere wissenschaftliche bei Dysphagiepatienten mit einem Risiko
Arbeiten belegen, dass das Vorhanden- für Mangelernährung in der Akutphase des
sein relevanter pathogener Keime bei ischämischen Schlaganfalles, während die
mangelhafter Mundhygiene bei dyspha- Anlage einer perkutanen endoskopischen
gischen Patienten zur Entwicklung einer Gastrostomie bei Vorhandensein einer
Aspirationspneumonie und pulmonalen Dysphagie ohne Möglichkeiten einer dau-
Infektionen führt (Dai et al. 2015; Huang erhaft sicheren oralen Aufnahme von län-
et al. 2017; Nishizawa et al. 2019; Perry et ger als vier Wochen empfohlen wird (Paik
al. 2020; Dziewas et al. 2004; Kalra et al. u. Kim 2021).
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166 S. Hamzic
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9
Rehabilitation der Sprache
Thomas Platz, Ilona Rubi-Fessen, Caterina Breitenstein
Abb. 9.1: Illustration von kortikalen Gebieten, die in sprachverarbeitende zerebrale Netzwerke eingebunden sind
Für Sprachverarbeitung relevant zu sein scheinen u. a. im frontalen Kortex der prämotorische Kortex (PMC), der
inferiore frontale Gyrus (IFG) (inkl. Broca-Areal), der Inselkortex, im temporalen Kortex der vordere (anteriore)
(aSTG) und der hintere (posteriore) superiore temporale Gyrus (pSTG) (Wernicke-Areal) sowie der mittlere tempo-
rale Kortex (MTG), der untere Parietallappen mit den Gyri supramarginalis (SMG) und angularis (ANG) („Lesezen-
trum“) sowie Faserverbindungen zwischen den kortikalen Arealen (Saur u. Hartwigsen 2012). In der Abbildung
dargestellt ist die anatomische Lokalisation der meisten benannten Areale für die linke Hemisphäre
ventralen Netzwerkanteil, der den mittle- inferioren frontalen Gyrus; die sprachlich-
ren Temporallappen (MTG), den ventrola- semantische Leistung (Bedeutungsgehalt)
teralen präfrontalen Kortex (PFC) und den mit der Intaktheit des anterioren mittle-
orbitalen Anteil des inferioren frontalen ren Gyrus temporalis und der darunter lie-
Gyrus (orb-IFG) einschließt. Der ventrale genden weißen Substanz (Verbindungen)
Netzwerkanteil ist eher in semantische so- (Halai et al. 2017).
wie kombinatorische Prozesse der Sprache Neben den oben genannten Spracha-
involviert (Friederici 2015). realen wird der Einfluss des Cerebellums
Bei chronischen Schlaganfallpatienten auf die verschiedenen linguistischen Ebe-
mit Aphasie konnte durch kombinierte nen (Phonologie, Semantik, Syntax etc.)
Verfahren der Symptomanalyse (Haupt- kontrovers diskutiert (Mariën et al. 2014).
komponentenanalyse) und Hirnstruktur
(„Voxel-basierte Morphometrie“) gezeigt 9.2.2
werden, dass Sprachflüssigkeit mit der In- Die kognitionspsychologische
taktheit des linken motorischen Kortex Perspektive
und der darunter liegenden Verbindungen
des superioren insulären Kortex und Puta- Die psycholinguistische Forschung hat ba-
mens in Zusammenhang steht; die phono- sierend auf der Analyse des sprachlichen
logische Verarbeitung (Lautverarbeitung) Verhaltens sprachverarbeitende Prozesse in
mit Regionen im superioren Gyrus tem- kognitionspsychologischen Modellen abge-
poralis und darunter liegenden Faserver- bildet: Aspekte der Phonem-(= Laut-)ver-
bindungen sowie dem orbitalen Anteil des arbeitung, der Graphem-(= Buchstaben-)
176 T. Platz, I. Rubi-Fessen, C. Breitenstein
troffen sein. Bei der nicht flüssigen Aphasie len lassen. Diese unterliegen im Rahmen
können Satzfragmente und Wörter geäu- der Spontanerholung und Therapie auch
ßert werden, dabei imponieren Sprech- einem Wandel, der sich aber oftmals eher
anstrengung und Wortfindungsstörungen, in Zeiträumen von Monaten darstellt. Ab
teilweise werden phonematisch (lautlich) ca. sechs Wochen nach dem Schlaganfall
oder semantisch (inhaltlich) falsche Wör- ist die Einteilung in Aphasiesyndrome auf
ter (Paraphasien) produziert, es kommt zu Grundlage des Aachener Aphasie Tests
Automatismen (wiederkehrende formstar- (Huber et al. 1984) möglich. An dieser Stel-
re Wörter oder Phrasen, die ohne inhalt- le ist nur eine kurze tabellarische Darstel-
lichen Bezug zur Intention des Sprechers lung möglich, es sei auf vertiefende Litera-
geäußert werden), Neologismen (Anein- tur aufmerksam gemacht (u. a. Huber et al.
anderreihung von Silben zu nicht existen- 2006) (Tab. 9.1).
ten „Pseudowörtern“) bzw. Stereotypien Zur Beschreibung von Aphasien hat
(inhaltsarme Floskeln wie z. B. stereotyp sich klinisch im Hinblick auf die Thera-
verwendete Redewendungen), die ohne pieplanung neben dem Syndromansatz in
inhaltlichen Zusammenhang zum Kom- den letzten Jahren verstärkt der kognitiv
munikationsinhalt wiederholt produziert orientierte Ansatz etabliert. Er basiert auf
werden; oder man beobachtet bei Pati- den eingangs bereits erwähnten psycho-
enten ein Wiederholen dessen, was das linguistischen Sprachproduktionsmodel-
Gegenüber sagt (Echolalie). Das Sprach- len und hat zum Ziel, individuell beein-
verständnis ist unterschiedlich schwer be- trächtigte, aber auch intakte sprachliche
troffen; die sprachlichen Defizite sind dem Verarbeitungsstrategien eines Betroffenen
Patienten (zumindest teilweise) bewusst. zu identifizieren und in die Therapiepla-
Bei der flüssigen Aphasie wird oftmals mit nung einfließen zu lassen (Morton u. Pat-
gut erhaltenem oder überschießendem terson 1980).
Sprachfluss (Logorrhoe) inhaltlich Unver-
ständliches geäußert, z. B. ein „Salat“ von 9.3.2
Lauten, Silben und Wörtern (Jargon), ohne Diagnostik
dass die Betroffenen dies selbst wahrneh-
men; das Sprachverständnis ist bei flüs- Diagnostisch werden die klinische Un-
sigen Aphasien oftmals stark beeinträch- tersuchung, die standardisierte Aphasie-
tigt. Diagnostik inklusive modalitätsbezogener
Für die akute wie die späteren Apha- und Syndromdiagnostik, die psycholin-
siephasen ist charakterisierend, dass die guistische Diagnostik, die Diagnostik des
sprachlichen Symptome – wenn auch in Kommunikationsverhaltens sowie die
unterschiedlichem Ausmaß – in der Re- Auswirkungen der Aphasie auf Emotiona-
gel alle linguistischen Ebenen (Phonolo- lität, Lebensqualität und Partizipation un-
gie, Lexikon, Syntax) betreffen. Ebenfalls terschieden. Zudem erfolgt die Diagnos-
sind in unterschiedlichem Ausmaß alle tik phasenspezifisch mit für die jeweilige
Sprachmodalitäten betroffen, nämlich das Phase der Aphasie validierten Diagnostik
Verständnis (Rezeption) und der Ausdruck instrumenten. Neben den Therapiezie-
(Expression), das Lesen und das Schrei- len des Betroffenen hängt die Auswahl
ben; Aphasien sind also fast immer multi- der Messinstrumente auch vom Unter-
modale Störungen. suchungszweck ab. Für eine Verlaufsdia-
In den späteren Phasen (ab ca. vier gnostik zur Beurteilung des Therapieer-
Wochen nach dem Schlaganfall) bilden folgs sollten beispielsweise nur Verfahren
sich zunehmend stabilere Störungsmu- mit einer nachgewiesenen Änderungssen-
ster aus, die sich in „Syndrome“ eintei- sitivität zum Einsatz kommen.
9 · Rehabilitation der Sprache 179
Globale Aphasie
– 32 % der Patienten mit Aphasie in der Akutphase, ca. 7 % der initial aphasischen Patienten nach einem Jahr
– Alle Modalitäten stark betroffen
– Leitsymptome: Stark eingeschränkter Redefluss mit vorwiegend Automatismen, Neologismen und Stereo-
typien
– Therapieschwerpunkte: Hemmung der Automatismen, Stimulierung und Anbahnung einfacher kommunika-
tiver Floskeln (Ja, Nein, Hallo), ausgehend vom Sprachverstehen Förderung aller Modalitäten
Broca-Aphasie
– 12 % der Patienten in der Akutphase, 13 % der initial aphasischen Patienten ein Jahr nach dem Schlaganfall
– Leitsymptome: Agrammatismus (Telegrammstil), Wortabruf herausragend betroffen, häufig zusätzlich durch
eine Sprechapraxie* erschwert
– In der Regel phonematische Paraphasien
– Sprachverständnis (SV) im Verhältnis zur mündlichen und schriftlichen Sprachproduktion eher leichter be-
troffen
– Therapieschwerpunkt: Aktivierung und Aufbau des Wortschatzes, insbesondere Verben; schrittweise Erwei-
terung des Telegrammstils, bei Bedarf Sprechapraxie-Therapie, Förderung aller Modalitäten (langfristig gute
Chancen)
Wernicke-Aphasie
– 16 % der Patienten in der Akutphase, 5 % der initial aphasischen Patienten ein Jahr nach Schlaganfall
– Leitsymptome: Jargon mit Paraphasien und Paragrammatismus (komplexer Satzbau mit Satzverschrän-
kungen)
– selten Sprechapraxie
– SV schwer betroffen (Identifikation und/oder Diskrimination), auditiv sprachliche Merkspanne reduziert
– Therapieschwerpunkt: Verbesserung des Sprachverständnisses und des Störungsbewusstseins (Erkennen,
Selbstkontrolle und -korrektur)
Amnestische Aphasie
– 25 % der Patienten in der Akutphase. 29 % der initial aphasischen Patienten nach einem Jahr
– Leitsymptome: Wortfindungsstörungen (bewusste Störung – Suchverhalten und Umschreibung)
– Sprachverständnis nur wenig gestört
– Therapieschwerpunkt: (Re-)Aktivierung und Aufbau des Wortschatzes (beste Rückbildungschancen unter
den Aphasien)
Leitungsaphasie (5– 6 % der Patienten in der akuten bzw. chronischen Phase nach Schlaganfall)
auditive visuelle
Phonemanalyse Graphemanalyse
phonologisches graphematisches
Input-Lexikon Input-Lexikon
auditiv- Graphem-
phonologische Wortbedeutung Phonem-
Konvertierung Konvertierung
phonologisches graphematisches
Output-Lexikon Output-Lexikon
Phonologischer Graphematischer
Output-Buffer Phonem- Output-Buffer
Graphem-
Konvertierung
Abb. 9.2: Illustration des Logogen-Modells für die sprachbezogene Verarbeitung von Wörtern
Für die psycholinguistische Diagnostik wird oft das Logogen-Modell genutzt (Patterson u. Shewell 1987). Im
Logogen-Modell unterscheiden wir für die Verarbeitung von sprachbezogener Information einen tiefen = seman-
tischen Verarbeitungsweg, über den die Bedeutung (Semantik / Wortbedeutung) erfasst wird; einen direkten =
lexikalischen Verarbeitungsweg (Input- und Output-Lexika) und einen oberflächlichen = nicht-lexikalischen Weg
(Graphem-, Phonemanalyse, Konvertierung und phonologischer bzw. graphematischer Output-Buffer). Zur Erklä-
rung siehe Text S. 172
Eine orientierende Überprüfung die- durch Ausmaß und Schwere der Aphasie
ser Komponenten des Logogen-Modells determiniert.
kann durch die Testbatterie „Lexikon mo- Um Personen mit Aphasie gerecht zu
dellorientiert – LeMo 2.0" erfolgen (Stadie werden und ihre Beratung und Behand-
et al. 2013). Sie erfasst in 33 Untertests (14 lung sachgerecht zu planen, ist es erfor-
zentrale und 19 vertiefende Tests) die fol- derlich, sich als Behandler über Aspekte
genden sprachlichen Leistungen: auditives der emotionalen Befindlichkeit, des Kom-
und visuelles Diskriminieren, auditives munikationsverhaltens, der Krankheits-
und visuelles lexikalisches Entscheiden, verarbeitung sowie der familiären und so-
Nachsprechen, Lesen, Schreiben, audi- zialen Einbindung klar zu werden. Diese
tives und visuelles Sprachverständnis so- Aspekte können einerseits klinisch – u. a.
wie mündliches und schriftliches Benen- durch narrative Interviews – eingeschätzt
nen. Durch die Diagnostik können so für werden; teilweise stehen auch standardi-
jeden Patienten individuell gestörte und sierte, spezifisch für Personen mit Aphasie
erhaltene Komponenten identifiziert wer- validierte Diagnostikinstrumente zur Ver-
den, woraus sich personalisierte thera- fügung. Beispiele sind:
peutische Strategien ableiten lassen. Die 1. „Amsterdam Nijmegen everyday langu-
LeMo-Testbatterie ist ein rein klinisch- age test“ (ANELT) (Blomert et al. 1994):
exploratives und kein psychometrisch Hierbei wird die verbale Kommunikati-
fundiertes Verfahren; es stehen keine onsfähigkeit des Patienten in vorgege-
Normwerte für Patienten mit Aphasie zur benen alltagsnahen Situationen (z. B.
Verfügung. Erwähnt sei, dass es eine Rei- telefonisch einen Arzttermin verlegen)
he anderer psycholinguistischer Untersu- im Quasi-Rollenspiel überprüft. Eine
chungsaspekte und zugehörige Tests bzw. Standardisierung der Auswertung ei-
Aufgabensammlungen gibt, die hier nicht ner deutschen Version des ANELT er-
im Detail vorgestellt werden können. Eine folgt derzeit (Rubi-Fessen et al. 2021).
Übersicht findet sich z. B. in Stadie et al. Bei verbal schwerst betroffenen Per-
(2019). sonen erlaubt der ANELT keine Dif-
ferenzierung der kommunikativen
9.3.6 Fähigkeiten (Bodeneffekt), da non-ver-
Diagnostik von Kommunikation, Emotion bale Kommunikationsleistungen nicht
und Lebensqualität bei Aphasie erfasst werden.
2. Szenario-Test (Nobis-Bosch et al. 2018):
Neben einer Erfassung linguistischer Auch im Szenario-Test wird die Kom-
Funktionen rücken die Diagnostik des munikationsfähigkeit von Menschen
Kommunikationsverhaltens sowie die mit Aphasie anhand alltagsnaher Situ-
Auswirkungen der Aphasie auf Emotio- ationen/ Szenarien überprüft. Im Ge-
nalität, Lebensqualität und Partizipation gensatz zum ANELT werden jedoch
(Teilhabe am gesellschaftlichen Leben) neben der verbalen Kommunikation
aufgrund der Befragung von Betroffenen auch nicht verbale Kommunikations-
und deren Angehörigen zunehmend in kanäle (Gestik, Zeichnen, Schreiben)
den Vordergrund (Wallace et al. 2019). Die erfasst und gezielt stimuliert. Zudem
Stimmung (u. a. Depressivität), die psycho- wird das Verständnis der Situationen
soziale Funktionstüchtigkeit und Integrati- durch Bilder visuell unterstützt und
on in soziale Bezüge (Familie, Beruf und es sind hierarchische Hilfestellungen
Freizeit) sind durch sprachliche Beein- für den Untersucher definiert. Somit
trächtigungen gefährdet, aber nicht allein ist der Szenario-Test auch für schwerst
betroffene Patienten mit Aphasie ge-
184 T. Platz, I. Rubi-Fessen, C. Breitenstein
Diese Empfehlung basiert auf allgemeinen In dieser Studie mit insgesamt 152 Pati-
Grundsätzen der Funktionserholung nach enten wurden ferner ausschließlich lingu-
Schlaganfall, auch wenn sich bei einem istische (semantische und phonologische)
Aufschieben des Behandlungsbeginns auf Fähigkeiten trainiert. Diese Ziele entspre-
drei Monate nach dem Schlaganfall (Wertz chenden den typischen Symptomen und
et al. 1986) bzw. einer späteren gegenüber Begleitstörungen einer akuten Aphasie
einer früheren Sprachtherapie (Brady et al. eher nicht. Es bleibt die Frage, ob eine indi-
2016) keine Nachteile bezüglich der lang- viduelle, auf die jeweiligen Bedürfnisse des
fristigen Spracherholung gezeigt haben. Betroffenen und den Schweregrad sowie
Die Intensität richtet sich in der (Sub-) die Belastbarkeit abgestimmte und dabei
Akutphase nach der mentalen Belastbar- möglichst intensive Therapie nachhaltige
keit des Patienten sowie auch den Reha- Verbesserungen auch in der frühen Phase
bilitationszielen und den daraus resul- nach Schlaganfall bewirken kann.
tierenden rehabilitativen Behandlungen Eine kürzlich abgeschlossene rando-
insgesamt. Nicht intensiv (d. h. mit weni- misierte, kontrollierte Studie (Godecke et
ger als fünf Stunden pro Woche) durch- al. 2021) untersuchte die Wirksamkeit ei-
geführte Sprachtherapie in der frühen ner spätestens zwei Wochen nach Ereig-
Phase nach dem Schlaganfall erbrachte nis beginnenden drei- bis vierwöchigen
in ersten RCTs keinen Vorteil der Sprach- Sprachtherapie in Bezug auf sprachliche
therapie gegenüber einer Wartebedingung Leistungen, subjektive Lebensqualität und
bzw. „usual care“ (Laska et al. 2011, Gode- das Auftreten von Depression drei Monate
cke et al. 2021) oder unstrukturierten sozi- nach Ereignis. Die Ergebnisse dieser Stu-
alen Kontakten (Bowen et al. 2012). Aber die waren negativ (kein Vorteil „intensiver“
auch eine intensiv durchgeführte vierwö- Sprachtherapie gegenüber nicht intensiver
chige Sprachtherapie (intendiert waren 28 und inhaltlich nicht spezifizierter Sprach-
Stunden Sprachtherapie), die innerhalb therapie („usual care, UC“). In der UC-
von zwei Wochen nach Schlaganfall ini- Gruppe wurden während des stationären
tiiert wurde, führte verglichen mit einer Aufenthaltes wöchentlich im Durchschnitt
Wartelisten-Kontrollgruppe – auch lang- knapp zwei Stunden Sprachtherapie ver-
fristig (sechs Monate) – nicht zu einer Ver- abreicht, in der intensiv behandelten
besserung der Kommunikationsfähigkeit Gruppe etwas mehr als vier Stunden pro
oder sprachlicher Leistungen (Nouwens Woche. Nach den Kriterien von (Bhogal et
et al. 2017). Zu beachten ist hierbei, dass al. 2003) wurde die Therapie in keinem der
weniger als 30 % der eingeschlossenen Pa- Interventionsarme „intensiv = mind. fünf
tienten das Behandlungsziel von 28 Stun- Zeitstunden pro Woche“ durchgeführt. Die
den Aphasietherapie innerhalb der vier grundsätzliche Wirksamkeit der Sprach-
Wochen (d. h. eine Intensität von 7 Std./ therapie in der frühen Phase nach einem
Woche) erreichten und die Therapie somit Schlaganfall konnte wegen des Fehlens
möglicherweise nicht hinreichend intensiv einer unbehandelten Kontrollgruppe in
war. In der Subgruppe von Teilnehmern, dieser Studie nicht nachgewiesen werden.
die tatsächlich nach den Vorgaben des Allerdings zeigte sich in beiden Gruppen
Studienprotokolls behandelt worden wa- eine stärkere Verbesserung sprachlicher
ren, zeigte sich eine signifikante Verbesse- Leistungen als in einer historischen Kon-
rung der Kommunikationsfähigkeit sowie trollgruppe unbehandelter Patienten (Go-
auch der Sprachverständnisleistungen im decke et al. 2021; supplementary material).
Vergleich zur Kontrollgruppe. Dieser in- Für die frühe subakute Phase konn-
itiale Vorteil war aber sechs Monate nach te von Wertz et al. (1986) ein signifikanter
dem Schlaganfall nicht mehr nachweisbar. Vorteil einer intensiv behandelten (8 Stun-
9 · Rehabilitation der Sprache 187
handelten Gruppe in der akuten Phase die jeweils nur ihre eigenen Karten sehen,
nach einem Schlaganfall gegenüber einer aber ergänzende Karten bei den anderen
Wartelistenkontrollgruppe; hier zeigte sich Spielern erfragen sollen, nur verbal mit-
ein Vorteil der intensiven Sprachtherapie einander kommunizieren. Auf diese Wei-
in der frühen Phase nach einem Schlag- se erfolgt bei steigenden Anforderungen
anfall nur, wenn die hohe intendierte Be- eine intensive Beübung verbal-expressiver
handlungsintensität toleriert und umge- Leistungen. Erste Hinweise für die Wirk-
setzt werden konnte, was für den Großteil samkeit von CIAT/ILAT als Aphasiethera-
der Studienteilnehmer nicht zutraf (Nou- pie bei kleinen Stichprobengrößen liegen
wens et al. 2017). vor (Meinzer et al. 2012; Stahl et al. 2017),
Die intensive Sprachtherapie in der eine Überlegenheit der CIAT/ILAT gegen-
chronischen Phase nach einem Schlagan- über anderen intensiv durchgeführten
fall hingegen gilt als evidenzbasiert. Eine sprachtherapeutischen Vorgehensweisen
in Deutschland durgeführte randomisierte konnte jedoch bislang nicht nachgewie-
kontrollierte Studie, die eine unbehandel- sen werden (Sickert et al. 2014; Brady et al.
te Wartelisten-Kontrollgruppe einschloss, 2016; Rose et al. 2022).
wies bei 156 Teilnehmern überzeugend Die bereits oben erwähnte „Melo-
nach, dass intensive störungsspezifische dische Intonationstherapie“ (Albert et al.
und kommunikativ-pragmatische Apha- 1973) ist ein Therapieverfahren zur Be-
sietherapie (über 3 Wochen mindestens 10 handlung schwerer unflüssiger Aphasien.
Stunden Sprachtherapie pro Woche), un- Ursprüngliche Intention dieser kompensa-
abhängig von der Dauer und vom Schwe- torisch ausgerichteten Therapiemethode
regrad der Aphasie, wirksam und nach- war die systematische Nutzung von Melo-
haltig die Kommunikation verbessert die (Singen) und Rhythmus (Handklopfen)
(Breitenstein et al. 2017). zur Aktivierung der rechten gesunden He-
Kritisch für die Wirksamkeit der Thera- misphäre. Erarbeitet werden kommuni-
pie scheint eine ausreichende Therapiein- kative Phrasen etwa „Wie geht’s dir?“. Im
tensität bzw. -frequenz zu sein (RELEASE strukturierten Vorgehen werden die Hil-
collaborators 2022). Diese auf Individu- festellungen des Therapeuten sowie die
aldaten basierenden Metaanalysen spre- Intonation mit dem Ziel einer norma-
chen dafür, dass Sprachtherapie, fünfmal len Sprechweise systematisch reduziert.
pro Woche und mit insgesamt mehr als Durch die stimulierende Vorgehensweise,
20 Stunden sowie ergänzt durch Eigen- das motivationssteigernde Verzichten auf
training organisiert, sprachsystematische direkte Fehlerrückmeldung und abstei-
Kompetenz und Kommunikation nach- gende Hilfen ist die MIT auch in den Fokus
weislich fördern kann. der Therapie bei (post-)akuter Aphasie ge-
Ein besonders gut intensiv durchführ- rückt (van der Meulen et al. 2014). Zwei sy-
barer Therapieansatz ist die „constraint in- stematische Übersichtsarbeiten mit Meta
duced aphasia therapy“ (CIAT) (Meinzer et analysen, beide jedoch mit sehr geringer
al. 2012) sowie eine modifizierte Version Anzahl qualifizierter RCTs sowie sehr ge-
mit stärkerer sozialer Interaktionskompo- ringer Stichprobengrößen, legen nahe,
nente („intensive language-action thera- dass MIT bei einigen sprachlichen Sym-
py“ (ILAT) (Difrancesco et al. 2012). Dabei ptomen möglicherweise Verbesserungen
werden z. B. über zehn Werktage je drei erzielen kann (Haro-Martinez et al. 2021;
Stunden Aphasietherapie pro Tag in einer Liu et al. 2022; Popescu et al. 2022). Kon-
Kleingruppe durchgeführt. Im Rahmen trovers diskutiert wird die spezifische Wir-
einer „spielerischen“ Aufgabenstellung kung auf die rechte Hemisphäre sowie der
(„Spiel“-Karten) dürfen die Teilnehmer, Beitrag unterschiedlicher Komponenten
190 T. Platz, I. Rubi-Fessen, C. Breitenstein
der MIT (Melodie oder Rhythmus) auf den dungstraining auch ein PC-gestütztes Trai-
Therapieerfolg (Merrett et al. 2014). ning (Palmer u. Pauranik 2021).
Nationale und internationale Leitlinien
empfehlen intensive Sprach- und Sprech 9.4.3
therapie als „Goldstandard“ bei der Ver- Förderung von Kommunikation und
sorgung von Schlaganfallpatienten mit Teilhabe im Alltag
Aphasie (Ackermann et al. 2012; Brady et
al. 2016; Palmer u. Pauranik 2021; Best- Neben der störungsspezifischen Therapie
Practice-Empfehlungen der internatio- mit dem Ziel der Wiederherstellung der
nalen Non-Profit-Organisation Aphasia sprachsystematischen Leistungen ist es
United: http://aphasiaunited.org/wp-con- bereits früh in der Aphasie-Therapie be-
tent/uploads/2016/05/German-Aphasia- deutsam, die Alltagskommunikation und
United-Best-Practice-Recommendations. die Teilhabe in sozialen Bezügen thera-
pdf [letzter Zugriff am 5.3.2022]). Höhere peutisch zu fördern, was auch ein Kom-
Intensitäten (4 bis 15 Stunden pro Wo- munikations-Training bevorzugter Kom-
che) bewirken stärkere Therapieeffekte als munikationspartner einschließt (Palmer
niedrigere Intensitäten (Brady et al. 2016); u. Pauranik 2021). Wissenschaftliche Evi-
eine Therapieintensität von zwei oder we- denz für die Wirksamkeit des Kommuni-
niger Wochenstunden sind nicht sicher kations-partner-Trainings steht allerdings
wirksam für eine sprachliche Funktions- noch aus.
verbesserung und werden eher zur langfri- Besonders in der chronischen Phase
stigen Aufrechterhaltung von Intensivthe- der Aphasie, die auch als Konsolidierungs-
rapieeffekten angeraten (Ackermann al. phase bezeichnet wird, und insbesondere,
2012). Bei hinreichender Intensität waren wenn durch gezielte sprachsystematische
die positiven Effekte für mindestens sechs Therapie keine weiteren Verbesserungen
Monate nach Therapieende erhalten, zu- zu beobachten sind, ist der Fokus auf die
mindest wenn die Behandlung in der chro- Verbesserung der Alltagskommunikation
nischen Phase nach einem Schlaganfalll geboten. Erste randomisierte kontrollierte
stattfand (Meinzer et al. 2005; Breitenstein Studien konnten Verbesserungen der funk-
et al. 2017). Bedeutsam für Therapieef- tionellen Kommunikation durch intensive
fekte ist neben der hohe Therapieintensi- störungsspezifische und kommunikativ-
tät (Stundenzahl pro Woche) auch die The- pragmatische Aphasietherapie aufzeigen
rapiefrequenz (z. B. 5 Behandlungen pro (z. B. Breitenstein et al. 2017). Allerdings
Woche) (RELEASE collaborators 2022). In liegen die sogenannten „Responder“-Ra-
der aktuellen S3-Leitlinie „Schlaganfall“ ten mit nur einem Drittel der Stichpro-
der DEGAM 2020 (https://www.degam. be deutlich niedriger als für die störungs-
de/files/Inhalte/Leitlinien-Inhalte/Doku- spezifische Therapie, von der zumindest
mente/DEGAM-S3-Leitlinien/053-011_ knapp 50 % aller Betroffenen in der chro-
Schlaganfall/053-011l_LL_Schlaganfall. nischen Phase nach einem Schlaganfall
pdf ) wird eine hochfrequente (tägliche) profitieren (Menahemi-Falkov et al. 2021).
Aphasietherapie unabhängig von der Pha- Es gibt verschiedene therapeutische
se nach dem Schlaganfall – ggf. auch als In- Ansätze, mit denen eine möglichst opti-
tervalltherapie – empfohlen. male Nutzung von verbalen und nonver-
Für die Therapie können sowohl Ein- balen Kommunikationsmöglichkeiten für
zel- als auch Gruppentherapie und der den Alltag gefördert werden kann.
Einbezug eines ergänzenden Trainings Eine Therapieform ist die PACE-Thera-
mit Laien in der Sprachtherapie individu- pie („promoting aphasics’ communication
ell berücksichtigt werden, für ein Wordfin- effectiveness“) (Davis u. Wilcox 1985). Bei
9 · Rehabilitation der Sprache 191
dieser Therapie sind Therapeut und Person Allerdings fällt die sprachliche Stimulation
mit Aphasie in der Kommunikationssitua- bei einer gezielten Einzeltherapie inten-
tion (Therapie) gleichberechtigte Kommu- siver aus; andererseits hat die Gruppen-
nikationspartner, die neue Informationen therapie wegen der sozialen Aspekte eine
austauschen sollen (vorgegebene Aufga- besondere Relevanz für die Kommunikati-
be). Jeweils einer der Partner kennt die on im Alltag.
Inhalte nicht. Sprecher- und Hörerrollen
werden abwechselnd eingenommen. Die 9.4.4
Kommunikationsmittel (verbal und non- Hilfestellungen im Alltag
verbal) sind frei wählbar. Der Therapeut
gibt strukturierte Rückmeldung, aber erst Weitere wichtige Hilfestellungen im lang-
im Wiederholungsfall ein spezifisches fristigen Verlauf stellen möglicherwei-
Feedback. se Therapeuten-supervidiertes Heimtrai-
Holland (2020) beschreibt verschie- ning (Nobis-Bosch et al. 2011; Palmer et
dene kommunikativ orientierte Ansät- al. 2019), digitale Lösungen (Asghar et al.
ze. Diese haben teilweise die Vermittlung 2021; Zheng et al. 2016) sowie die Apha-
allgemeiner multimodaler Kommunika- sie-Selbsthilfegruppen (Deutscher Dach-
tionsstrategien als Ziel, wie z. B. das „Fa- verband der ca. 250 Aphasie-Selbsthilfe-
mous People Protocol“ (FFP) (Hollands et gruppen: Bundesverband für Aphasie e. V.;
al. 2019) oder holistisch die Bewältigung www.aphasiker.de) dar. Durch die hierbei
spezifischer Alltagssituationen durch das entstehenden Kontakte und durch gemein-
Erlernen von Sequenzen von Äußerungen, same Aktivitäten erfolgt eine sprachliche
wie etwa das „Skript Training“ (Kaye u. Stimulation in alltagsrelevanten Situati-
Cherney 2016). onen, kann eine soziale Isolation vermie-
Auch wenn ein Wirksamkeitsnachweis den oder gemindert sowie die Krankheits-
bislang aussteht, sollte zwecks Steigerung verarbeitung unterstützt werden. Auch
des Therapieerfolgs auch für (Lebens-) erhalten Betroffene und ihre Angehörigen
Partner bzw. Familienangehörige ein Informationen über Möglichkeiten und
Kommunikationstraining angeboten wer- Weiterentwicklungen im therapeutischen
den (Simmons-Mackie et al. 2016; Kong Bereich.
et al. 2021). Im Paartraining lernen apha-
sische Personen und ihre Lebenspartner
günstige kommunikative Verhaltenswei- 9.5
sen kennen und trainieren diese. Auch für
Ergänzende
medizinische Personal wird ein Kommu-
Behandlungsmöglichkeiten
nikationspartner Training empfohlen, um
den Therapieerfolg der Betroffenen zu stei- Ergänzende Behandlungsmöglichkeiten
gern (van Rijssen et al. 2021). gibt es u. a. im Sinne der Therapie kogni-
Auch Gruppentherapien (Kommuni- tiver Funktionen (wie Exekutivfunktionen
kationsgruppe) stellen ein wertvolles und und Aufmerksamkeit), medikamentöser
kosteneffizientes Therapiemittel dar, um Behandlung sowie einer nicht invasiven
kommunikative Strategien bei Personen Hirnstimulation.
mit Aphasie zu fördern. Bislang liegt keine Aufmerksamkeitsfunktionen sind
Evidenz für eine differentielle Wirksamkeit grundlegende Voraussetzungen für ko-
von Einzel- und Gruppentherapie vor, die gnitive Leistungen. Oftmals bestehen bei
Bewertung basiert jedoch auf Studien mit Schlaganfallpatienten Aufmerksamkeits-
weitestgehend kleinen Fallzahlen (Brady störungen. Deren gezielte diagnostische
et al. 2016; RELEASE collaborators 2022). Abklärung und Therapie führt zu verbes-
192 T. Platz, I. Rubi-Fessen, C. Breitenstein
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199
10
Neurovisuelle Neurorehabilitation –
ein Update
Georg Kerkhoff, Ann-Kathrin Bur, Michelle Schreiner
Abb. 10.1: Reihenoptotypen zur Messung von Sehschärfe (A) und Kontrastsensitivität (B)
Abb. 10.2: Entstehungsbedingungen für Visual Discomfort (A, B) sowie kompensatorische Techniken zur Erleich-
terung des Lesens (C)
Abb. 10.3: Arten unterschiedlicher Gesichtsfeldausfälle: Hemianopsie links, Quadrantenanopsie rechts unten,
Röhrengesichtsfeld, Parazentralskotom, Hemiamblyopie (v.l.n.r.)
10 · Neurovisuelle Neurorehabilitation – ein Update 203
stark verlangsamtes, fehler haftes Lesen dieser Fehler die direkte Folge der okzipi-
ohne Vorliegen einer Alexie oder Apha- talen Läsion in V1/V2 (Baier et al. 2010b).
sie (Leff et al. 2000). Das Lesen von kur-
zen Einzelwörtern gelingt hingegen in 10.5.1
der Regel. Hintergrund der hemianopen Assessment
Lesestörung ist die Notwendigkeit eines
intakten zentralen Gesichtsfeldbereichs Die im klinischen Alltag aufgrund der zeit-
(± 5° parafoveal), da nur dort eine suf- lichen Ökonomie häufig eingesetzte Scree-
fiziente Sehschärfe und Formverarbei- ningmethode der Fingerperimetrie deckt
tung für die Buchstabenerkennung gege- nur ca. 52 % aller Gesichtsfelddefekte auf
ben sind („Wahrnehmungslesefenster“; (Kerr et al. 2010). Eine apparative Kampi-
s. Abb. 10.4). metrie (z. B. mit dem Eyemove-Programm,
Kerkhoff u. Marquardt 2009b) oder noch
Q Visuell-räumliche Defizite besser Perimetrie ist daher zumindest bei
Die subjektive visuelle Geradeausrich- allen Patienten mit „posterioren“ vaskulä-
tung („Subjektive Mitte“) der Patienten ren Läsionen sowie diffusen Hirnläsionen
im Raum sowie die Halbierung von Lini- (Schädel-Hirn-Trauma, Hypoxie) uner-
en und Objekten ist bei 90 % der Betroffe- lässlich. Eine diagnostische Untersuchung
nen in Richtung des Skotoms verschoben assoziierter Defizite ist für die visuelle Ex-
(Kerkhoff 1993; Barton u. Black 1998; Kuhn ploration mit Durchstreichtests (unter Zeit-
et al. 2010; Kerkhoff u. Schenk 2011; s. Abb. nahme), für die hemianope Lesestörung
10.5). Dieser Halbierungsfehler ist dabei mit dem Vorlesen kurzer Texte (unter Zeit-
keine Folge exzentrischer Fixation (Kuhn nahme; siehe Download-Link am Ende des
et al. 2012a) und lässt sich nicht durch auf- Kapitels) sowie für visuell-räumliche Defi-
merksamkeitslenkendes Cueing modifi- zite mit Linienhalbierungsaufgaben mög-
zieren (Kuhn et al. 2012b). Vermutlich ist lich. Ferner existieren evaluierte und stan-
204 G. Kerkhoff, A.-K. Bur, M. Schreiner
Abb. 10.6: Sakkadentraining (A), visuelles Explorationstraining (B), hemianopes Lesetraining (C)
Abb. 10.7: Illustration der konvergenten Fusion (A) und Veranschaulichung der reduzierten binokularen
Belastbarkeit aufgrund von Verschwommensehen/Diplopie bei Fusionsstörungen (B)
Abb. 10.8: Diagnostik und Training der konvergenten Fusion anhand einer Prismenleiste
Q Räumlich-kognitive Störungen:
10.8
Diese bezeichnen Defizite in visuell-räum-
Visuell-räumliche Störungen
lichen Aufgaben, welche zusätzlich zur
Visuell-räumliche Störungen stellen häu- primären Perzeption mentale Operationen
fige Beeinträchtigungen nach Schlagan- wie Rotation, Spiegelung oder Maßstab-
fällen dar, welche extrastriäre kortika- transformation erfordern. Defizite bei Auf-
le und subkortikale Hirnareale betreffen gaben zum Perspektivenwechsel oder zur
(30 – 50 % nach linkshemi-sphärischen, mentalen Rotation werden mit parietalen
50 – 70 % nach rechtshemisphärischen und parietookzipitialen Läsionen in bei-
Läsionen; Jesshope et al. 1991). Darüber
10 · Neurovisuelle Neurorehabilitation – ein Update 209
Abb. 10.9: Illustration der Defizite räumlich-perzeptiver (A), räumlich-kognitiver (B) und räumlich-konstruktiver
(C) Störungen
Optokinetische Stimulation Verbesserung der Aufmerksamkeit für die Ausdehnung und Orientierung des
Raumes
Galvanisch-vestibuläre Verbesserung der Aufmerksamkeit für die Ausdehnung und Orientierung des
Stimulation Raumes
10.9 10.9.2
Störungen der Farbwahrnehmung Rehabilitation
tem Transfer auf nicht trainierte Farben tischen Demenz, eines Subtyps der fronto-
(Merrill u. Kewman 1986). temporalen Demenz, dar. Der wesentliche
Aufgrund der begrenzten restitutiven Unterschied zwischen einer assoziativen
Möglichkeiten ist der Erwerb kompensato- visuellen Agnosie und einem generellen
rischer Strategien sinnvoll, sodass Farbur- semantischen Defizit (etwa bei verschie-
teile auf Basis anderer Stimulusmerkmale denen Demenzformen) ist die Modalitäts-
wie Helligkeit oder Sättigung erfolgen kön- spezifität der assoziativen visuellen Agno-
nen. sie. Anders ausgedrückt: Der Betroffene
hat kein generelles semantisches Defizit,
er verfügt noch über das Wissen über Ob-
10.10 jekte, kann es aber unter visuellen Bedin-
gungen nicht abrufen. Bei Ertasten und an-
Visuelle Agnosien
schließendem Erkennen der visuell zuvor
Die Unfähigkeit, visuelle Stimuli trotz nicht erkannten Objekte sollte jedoch kein
ausreichender elementarer visueller Problem vorliegen. Anders beim generel-
(z. B. Sehschärfe, räumliche Kontrast len semantischen Defizit: hier gelingt der
empfindlichkeit, Exploration) und sprach- Abruf des Wissens über Objekte nicht nur
licher Funktionen sowie einer intakten Re- in der visuellen Modalität nicht (mehr),
kognitionsleistung in anderen Modalitäten sondern auch beim Ertasten oder auditi-
(z. B. auditiv, haptisch) zu erkennen, wird ven Erfassen (ist also unabhängig von der
als visuelle Agnosie bezeichnet (Zihl 2011). Modalität gestört). Die Visuelle Formag-
Je nach Schweregrad und Spezifität des vi- nosie bezeichnet die schwerste Form der
suellen Erkennungsdefizits können ver- apperzeptiven Agnosie, gekennzeichnet
schiedene Arten von Agnosie unterschie- durch die Unfähigkeit, selbst einfache geo-
den werden: metrische Formen zu unterscheiden.
Visuelle Objektagnosien bezeich- Unter der Prosopagnosie versteht man
nen Beeinträchtigungen beim Erken- ein selektives Defizit beim Erkennen von
nen komplexer Objekte oder Bilder. Tra- Gesichtern (Zihl 2011). Anders als früher
ditionell wird zwischen apperzeptiver angenommen, handelt es sich hierbei je-
und assoziativer Agnosie unterschie- doch nicht um eine singuläre Störung,
den. Die apperzeptive Agnosie be- sondern eher um eine „Familie“ von un-
schreibt Defizite in der kohärenten Wahr- terschiedlichen Einzelstörungen (Corrow
nehmung des Stimulus, die assoziative et al. 2016). Ähnlich wie bei den visuellen
Agnosie einen defizitären Abruf semanti- Objektagnosien gibt es auch hier eine eher
scher Gedächtnisinhalte oder einen Ver- apperzeptive Variante und eine assozia
lust semantischen Wissens per se. Pati- tive Variante (Corrow et al. 2016). Bei der
enten mit einer apperzeptiven Agnosie ersteren ist die perzeptuelle Unterschei-
haben folglich Schwierigkeiten beim Ko- dung von Gesichtsmerkmalen (wie z. B.
pieren von Objekten oder Zuordnungsauf- Alter, Geschlecht) wesentlich gestört, und
gaben von Objekten aus unterschiedlichen sie resultiert meist aus bilateralen okzipi-
Perspektiven (s. Abb. 10.12a). Hingegen to-temporalen (seltener: rechtsseitig okzi-
schneiden Patienten mit einer rein asso- pito-temporalen) Läsionen. Häufig zeigen
ziativen Agnosie bei diesen Aufgaben gut diese Patienten auch zentrale Störungen
ab, sind jedoch nicht in der Lage, seman- der Farbwahrnehmung (Dyschromatop-
tische Aspekte des Objekts (Funktion, sie, Achromatopsie) und eine topografi-
Name) abzurufen (Farah 1990; Riddoch u. sche Orientierungsstörung. Bei der asso-
Humphreys 2001; Abb. 10.12b). Letzteres ziativen Prosopagnosie ist vor allem die
stellt zudem ein Kernmerkmal der seman- Assoziation eines Gesichts mit bestimm-
10 · Neurovisuelle Neurorehabilitation – ein Update 213
Abb. 10.12: Visuelle Zuordnungsaufgaben auf Basis perzeptueller (A) und semantischer (B) Objektmerkmale zur
Untersuchung einer visuellen Agnosie
scher Formen verbessert werden. Verbale Halluzinationen und Illusionen sind mit
oder computergestützte Rückmeldung ist eher temporalen Läsionen assoziiert, ob-
mit zunehmender Ähnlichkeit der Reize, gleich deren Prävalenz infolge strukturel-
die diskriminiert werden müssen, wichtig. ler Läsionen weitaus niedriger ist (Kölmel
Kontrollierte Therapiestudien für komple- 1984, 1985; Baier et al. 2010a; Abb. 10.13).
xe Objekt- und Gesichtserkennungsdefi- Eine spontane Symptomremission erfolgt
zite sind selten. Gewisse Verbesserungen schnell und vollständig bei 95 % der Pati-
konnten unter Verwendung von Paradig- enten (Kölmel 1984, 1985).
men des „errorless learning”, welche auf
bestimmte Suchstrategien für Schlüssel- 10.11.1
merkmale von Objekten oder Flächen fo- Assessment
kussieren, berichtet werden (Zihl u. Ken-
nard 1996; Zihl 2011). In der Regel kann die Visuelle Reizerscheinungen werden sel-
Verwendung von Kontextinformationen ten spontan in der Anamnese vom Patien-
(Wissen über Objekte/Gesichter und die ten berichtet und sollten deswegen gezielt
jeweils relevante [soziale] Situation) und durch den Untersucher erfragt werden.
nicht-visuellen Hinweisen sinnvoll und für
einige Patienten hilfreich sein (Zihl u. Ken- 10.11.2
nard 1996, Zihl 2011). Häufig versuchen Rehabilitation
Patienten mit einer Prosopagnosie mar-
kante externe visuelle Reize (wie die Frisur, Trotz der für den Patienten zumeist hoch-
Brille, Schnurrbart, Ohrring etc.) zur Un- gradig irritierenden Phänomenologie sind
terscheidung von Gesichtern zu verwen- visuelle Reizerscheinungen in der Regel
den. Dies sind aber in der Regel nur sel- Übergangsphänomene. Daher ist eine In-
ten hilfreiche Erkennungsstrategien, da sie formation und initiale Beruhigung des Pa-
häufig nicht nur für eine spezifische Per- tienten als prioritär einzustufen. Bei per-
son zutreffen. Wirksamer ist daher die Ori- sistierenden Reizerscheinungen sollten
entierung an der Stimme einer Person, die epileptiforme oder psychiatrische Ursa-
meist problemlos erkannt wird, sofern die chen sowie die Möglichkeit eines Reinsul-
gegenüberliegende Person spricht. tes diagnostisch abgeklärt werden.
10.11 10.12
Visuelle Reizerscheinungen Bálint-Holmes-Syndrom
Während sich die zuvor beschriebe- Als Bálint-Holmes-Syndrom wird eine
nen Störungen alle auf Funktionsaus- Gruppe von Symptomen (Rafal 1997) be-
fälle im Sinne negativer visueller Phä- zeichnet, welche folgende Symptome ein-
nomene beziehen, bezeichnen visuelle schließt:
Reizerscheinungen positive Symptome 1. Simultanagnosie: Beeinträchtigte
in Abwesenheit eines externen Stimulus gleichzeitige Wahrnehmung von mehr
(Schaadt u. Kerkhoff 2016). Einfache vi- als einem Objekt (Moreaud 2003)
suelle Reizerscheinungen (helle Punk- 2. Optische Ataxie: Beeinträchtigungen
te, Balken, Linien, Sterne, Nebel, farbige im visuell geführten Greifen, welche
Empfindungen etc.; Lance 1976) werden nicht Folge einer anderen primären
häufig von Patienten wenige Tage vor oder motorischen oder visuellen Störung ist
nach einer okzipitalen vaskulär bedingten (Perenin u. Vighetto 1988). Der Patient
Läsionen berichtet. Komplexere visuelle soll einen visuellen Stimulus (z. B. Na-
10 · Neurovisuelle Neurorehabilitation – ein Update 215
Abb. 10.13: Beispiele für einfache (A) und komplexe (B) visuelle Reizerscheinungen
Tab. 10.2: Übersicht über evidenzbasierte Therapieverfahren zum multimodalen Neglect, zur Extinktion und zur
Unawareness
Periphere Magnet- Magnetische Stimulation der Hand ist absolut schmerz- Bottom-up-Stimulation
stimulation frei und aktiviert den kontralateralen, somatosen-
sorischen Kortex. Dies führt zu einer Aktivierung der
geschädigten Hemisphäre und reduziert die taktile
Extinktion und den körperbezogenen Neglect.
für alle visuellen Aktivitäten im Alltag, wo sionale Reiz. Im Lauf der Therapie werden
immer mehr als ein einziger visueller Reiz die Darbietungszeiten beider Reize immer
verarbeitet werden muss. Auch für die Fra- weiter verkürzt, bis sie schließlich gleich-
ge der beruflichen Wiedereingliederung zeitig auftreten. In drei Einzelfallstudien
(Kerkhoff, eingereicht) sowie für die Fra- konnte gezeigt werden, dass nach durch-
ge der Fahrtauglichkeit ist die visuelle Ex- schnittlich 10 – 17 Therapiesitzungen kei-
tinktion relevant, da im Straßenverkehr ne visuelle Extinktion bei Doppel-Simul-
auch meist mehr als ein Reiz zu beachten tan-Stimulation mehr auftrat; auch die
ist. Die akustische Extinktion ist ebenfalls Erkennungsleistungen auf der rechten Sei-
häufig, ihre Bedeutung im Alltag ist bisher te waren fehlerlos. Diese Verbesserungen
aber wenig erforscht. Man kann sich aber blieben auch zwei Monate nach Behand-
gut vorstellen, dass sie für die Kommuni- lungsende stabil. Hiermit steht erstmals
kation mit mehreren Menschen und das ein wirksames, neues Therapieverfahren
Orten und Verarbeiten von Schallquellen zur Behandlung der visuellen Extinkti-
im Raum sehr relevant ist. on bei Patienten mit Schlaganfall für die
Neurorehabilitation zur Verfügung, wel-
10.14.1 ches nun in größeren Stichproben erprobt
Assessment werden kann.
Tab. 10. 3: Übersicht über die häufigsten neurovisuellen und okulomotorischen Störungen nach leichtem Schä-
del-Hirn-Trauma (mild Traumatic Brain Injury; nach Ventura et al. 2014). X: Häufigkeiten nach Neumann (2013)
Funktion/Störung Häufigkeit (%) Therapieoptionen
10.15.1
Assessment und Therapie 10.16
Zusammenfassung
Tabelle 10.3 gibt einen Überblick über die
häufigsten Beeinträchtigungen und be- Neurovisuelle Wahrnehmungsstörungen
nennt Therapieoptionen, sofern diese be- treten nach unterschiedlichen Ätiologien
kannt sind. Viele der sinnvollen Assess- auf und umfassen ein breites Spektrum
ments für die einzelnen Störungen sind von zerebralen Einbußen der visuellen
weiter oben bereits beschrieben worden. Verarbeitung, das von elementaren Funk-
Praktikable Hinweise (mit Fotos) zum kli- tionsausfällen wie Sehschärfe- und Kon-
nischen Assessments der Augenbewe- trastwahrnehmungsstörungen bis hin zu
10 · Neurovisuelle Neurorehabilitation – ein Update 221
Tab. 10.4: Schematische Orientierungshilfe zur Anamnese der häufigsten neurovisuellen Störungen nach
Hirnschädigung (basierend auf Kerkhoff et al. 1990; Neumann et al. 2016)
1 Sind Ihnen seit der Erkrankung irgendwelche Veränderungen Prüfung der Awareness über etwaige
im Sehen aufgefallen? Defizite
2 Haben Sie den Eindruck, dass Ihr Sehen nicht mehr so klar Störungen der Sehschärfe und des
ist wie früher? Erleben Sie dieses permanent oder nur nach Kontrastsehens, Fusionsstörung
Anstrengung?
3 Haben Sie seit der Erkrankung Doppelbilder? Sind diese per- Fusionsstörung, Augenmuskelpa-
manent oder treten sie nur nach visueller Anstrengung auf? resen
5 Haben Sie Schwierigkeiten beim Lesen? Wenn ja, welche? Hemianope Lesestörung, Neglectdys-
Fehlen von Worten / Zeilen; Schwierigkeiten beim Auffinden lexie, reduzierte visuelle Belastbar-
von Zeilenanfängen / Zeilenenden, reduzierte Lesespanne? keit, z.B. infolge einer Fusionsstörung
8 Haben Sie Probleme beim Erkennen von Objekten? Sehen Störungen der Objekt- und Gesichts-
Gesichter verändert aus? erkennung
9 Blendet Sie helles Licht leichter als früher oder benötigen Sie Foveale Adaptationsstörungen
mehr Licht, weil Sie den Eindruck haben, dass Ihnen alles zu
dunkel erscheint?
11 Haben Sie vor, während oder seit der Erkrankung Licht- Visuelle Reizerscheinungen
punkte /-blitze oder farbige Muster oder komplexe Szenen
gesehen?
222 G. Kerkhoff, A.-K. Bur, M. Schreiner
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227
11
Neuropsychologische Therapie bei Störungen
von Kognition und Emotion
Tilman A. Klein, Thomas Guthke
11.1 11.2
Einleitung Aufmerksamkeits-, Gedächtnis-,
exekutive, Verhaltens- und
Neuropsychologische Diagnostik und emotional-affektive Störungen nach
Therapie dient der Feststellung und Be- erworbener Hirnschädigung
handlung von hirnorganisch verursach-
ten Störungen der kognitiven Funktionen, Neuropsychologische Störungen sind häu-
des emotionalen Erlebens und des Ver- fige Folge einer erworbenen Hirnschädi-
haltens. Häufig ist die Erfassung kogniti- gung. Je nach Ätiologie und Stichprobe
ver Defizite nicht von Fragen der Krank- werden gestörte Aufmerksamkeitsfunk-
heitsverarbeitung, der Anpassung an die tionen in 64 – 83 % der Fälle, Defizite im
Folgen der Hirnschädigung und der Aus- Gedächtnisbereich bei 33 – 75 % und Stö-
wirkungen auf psychosoziale Beziehun- rungen der exekutiven Funktionen bei
gen zu trennen. Im Gegenteil erweist sich 22 – 70 % der Patienten berichtet (Prosiegel
ein holistischer Ansatz hier als zielführend 1988; Prosiegel u. Erhardt 1990; Scheid et
(vgl. Wilson u. Betteridge 2019). Neuropsy- al. 2006; Scheid 2009). Die unterschiedli-
chologische Störungsbilder können sehr chen Prävalenzangaben liegen vor allem
komplex sein, und unterschiedliche Ko- an Patientenselektionseffekten, an der
morbiditäten aus z. B. dem affektiven oder unterschiedlichen Sensitivität der einge-
Angstspektrum sind vorstellbar. setzten Untersuchungsverfahren, an un-
In diesem Beitrag soll das praktische terschiedlichen Messzeitpunkten bezogen
Vorgehen bei wesentlichen neuropsycholo- auf das Erkrankungsstadium und an un-
gischen Störungsbildern (in den Bereichen terschiedlichen theoretischen Zugängen
Aufmerksamkeit, Gedächtnis, exekutive zu den jeweiligen Funktionen bzw. Störun-
Funktionen, Persönlichkeits- und Verhal- gen. Fast 50 % der Schlaganfallpatienten
tensstörungen) illustriert werden. Wenn und 40 % der pflegenden Angehörigen lit-
möglich, sollen Handlungsempfehlungen ten nach der Entlassung aus der Klinik un-
aus der Praxis bzw. auf der Basis aktueller ter depressiven Verstimmungen, die häufig
Behandlungsleitlinien reflektiert werden. mit Angststörungen und aggressivem Ver-
Störungen der visuellen Wahrnehmung, halten assoziiert waren. (Kotila et al. 1998).
räumlicher sowie sprachlicher Leistungen Das Vorliegen kognitiver Defizite wirkt
werden in diesem Beitrag keine Rolle spie- sich u. U. auf den gesamten Behandlungs-
len, auch wenn sie zur Beurteilung der Ge- bzw. Rehabilitationsverlauf aus. Insbeson-
samtsituation eines neurologischen Patien- dere das Vorliegen exekutiver Defizite hat
ten herangezogen werden müssen. einen hohen prognostisch negativen Wert
228 T. A. Klein, T. Guthke
in der Vorhersage des funktionellen Reha- Abrufs von Informationen gefasst. Es gilt,
bilitationserfolgs (Lesniak et al. 2008). Tat- im Rahmen des diagnostischen Prozesses
sächlich weisen Patienten mit exekutiven die inhaltliche Breite des Begriffs genau-
Defiziten (im Vergleich zu Patienten ohne er zu konkretisieren sowie den Bezug zu
solche spezifischen Defizite) ein sieben- möglichen Pathomechanismen bzw. be-
fach höheres Risiko für das Fortbestehen nachbarten kognitiven Leistungen herzu-
kognitiver Einschränkungen auf (Nys et al. stellen.
2005). Es gibt eine Vielzahl unterschiedlicher
Taxonomien, welche unterschiedliche An-
11.2.1 teile bzw. Funktionen innerhalb des Ge-
Aufmerksamkeitsstörungen dächtnisses benennen, diese zueinander
in Beziehung setzen und deren Interakti-
Aufmerksamkeit bildet eine notwendi- on, auch im Schädigungsfall, beschreiben
ge Voraussetzung sonstiger kognitiver, in- (vgl. Thöne-Otto 2009, 2020). Eine gängi-
tellektueller und praktischer Leistungen ge Einteilung ist die Unterscheidung nach
(Sturm 2012). Dabei werden grob zwei a) zeitlichen Aspekten, b) inhaltlichen As-
Steuerungsmechanismen unterschieden, pekten und c) prozessualen Aspekten.
welche die Ausrichtung der Aufmerksam-
keit lenken: Einerseits kann Aufmerksam- a) Untergliederung des Gedächtnisses
keit automatisch („bottom-up“) auf Reize nach Zeitaspekten
zugewiesen werden, andererseits ist auch – Kurzzeitgedächtnis: Kapazität: limi-
eine bewusste Aufmerksamkeitslenkung tiert; Dauer: Sekunden bis Minuten;
möglich („top-down“). Voraussetzung: Aufmerksamkeit
Basierend auf theoretischen Überle- – Arbeitsgedächtnis: Manipulation
gungen lassen sich mindestens fünf Teil- von Informationen und Abschir-
bereiche der Aufmerksamkeit differenzie- mung gegenüber störenden Einflüs-
ren (Sturm 2009): sen
Q Aufmerksamkeitsaktivierung (Reakti- – Langzeitgedächtnis: Kapazität: the-
onsbereitschaft, z. B. tonisch oder pha- oretisch unbegrenzt; Dauer: Ver-
sisch) fügbarkeit nach einem bestimmten
Q längerfristige Aufmerksamkeitszu- Zeitintervall
wendung (hohe Reizdichte: Dauerauf- – Neugedächtnis: Gedächtnisinhalte,
merksamkeit; niedrige Reizdichte: Vi- die ab einem bestimmten Zeitpunkt/
gilanz) Ereignis enkodiert und gespeichert
Q räumliche Ausrichtung des Aufmerk- werden
samkeitsfokus – Altgedächtnis: Gedächtnisinhalte,
Q selektive oder fokussierte Aufmerk- die vor einem Zeitpunkt/Ereignis en-
samkeit kodiert und gespeichert wurden
Q geteilte Aufmerksamkeit, Aufmerk- – prospektives Gedächtnis: zeit- bzw.
samkeitsflexibilität, Wechsel des Auf- ereigniskritisches Erinnern von Vor-
merksamkeitsfokus haben, die in der Zukunft auszufüh-
ren sind
11.2.2
Gedächtnisstörungen b) Inhaltliche Untergliederung des Lang-
zeitgedächtnisses:
Unter den Oberbegriff der Gedächtnisstö- – deklaratives Gedächtnis: Art: Bewuss-
rung werden laut Thöne-Otto (2012) alle te bzw. bewusstseinsfähige Inhalte;
Einbußen des Lernens, Behaltens und des Zugriff: Explizit; Inhalte: Fakten
11 · Neuropsychologische Therapie bei Störungen von Kognition und Emotion 229
men bestimmt dabei nicht zuletzt den Erfassung des Störungsbewusstseins soll-
Umfang der neuropsychologischen Diag- te gerade auch im Hinblick auf die Thera-
nostik. pieplanung bzw. den Therapieerfolg nicht
Bei der Auswahl und Interpretation der vernachlässigt werden.
neuropsychologischen Untersuchungsver- Beim Verdacht auf Aggravations- oder
fahren müssen zwingend testbehindern- Simulationstendenzen sollten spezifische
de und ergebnisbeeinflussende Faktoren Testverfahren (Merten 2006) zum Einsatz
berücksichtigt werden (Wahrnehmung, kommen. Wichtig ist aber die Betrach-
Sprachperzeption und -produktion, Mo- tung des Gesamtbildes, vor allem unter
torik, affektiver Status, kognitiv wirksame Berücksichtigung des neuropsychologi-
Medikation sowie Antrieb). Auch muss schen Profils, der Verhaltensbeobachtung,
beachtet werden, dass sich kognitive Leis- der Anamnese und der medizinischen Be-
tungsbereiche teilweise gegenseitig beein- fund- und Motivlage (vgl. Leitlinie „Neuro-
flussen können (z. B. sekundäre Gedächt- psychologische Begutachtung“, Neumann-
nisstörung in Folge exe kutiver Defizite). Zielke et al. 2015).
Sehr informativ ist die Verhaltensbeob- Für die Ableitung der Therapieziele
achtung in und außerhalb der Testsituati- und des -planes sind aber neben der Er-
on. Insbesondere bei exekutiven Testver- fassung des Umfangs und der Art der Stö-
fahren kann die Verhaltensbeobachtung rungen auch die verbliebenen Ressourcen,
wertvolle Hinweise auch zur Gestaltung die Behandlungsmotivation, die Einsicht
der nachgeordneten Therapie liefern. Un- in die vorhandenen Probleme und das so-
bedingt beachtet werden muss in diesem ziale und berufliche Umfeld der Patienten
Zusammenhang jedoch, dass strukturier- zu eruieren (von Cramon et al. 1993; Guth-
te Testsituationen insbesondere dysexe- ke et al. 2012). So können auch die Folgen
kutiven Patienten sehr entgegenkommen – der Hirnschädigung für die Aktivitäten des
etwaige Defizite zeigen sich im weniger täglichen Lebens und die soziale, beruf-
vorstrukturierten Alltag u. U. stärker. Zu- liche und schulische Integration des Be-
sammenfassend lässt sich sagen, dass sich troffenen eingeschätzt werden. Hier kann
die Durchführung neuropsychologischer sich die neuropsychologische Diagnos-
Untersuchungsverfahren nur schlecht de- tik an der Internationalen Klassifikation
legieren lässt. Zu hoch erscheint die Ge- der Funktionsfähigkeit, Behinderung und
fahr, wertvolle Informationen zu verlie- Gesundheit (ICF) der Weltgesundheits-
ren, wenn es zu einer reduktionistischen organisation (WHO) orientieren. Diese
Betrachtung von numerischen Testwerten Klassifikation dient als länder- und fach-
kommt. übergreifende einheitliche Sprache zur
In den bereits erwähnten aktuellen Beschreibung des funktionalen Gesund-
Leitlinien zu den einzelnen kognitiven heitszustandes, der Behinderung, der sozi-
Funktionsbereichen (Aufmerksamkeit, alen Beeinträchtigung und der relevanten
Gedächtnis und exekutive Funktionen) Umgebungsfaktoren einer Person (Stucki
sind Mindestanforderungen bezüglich et al. 2002). Für eine aktuelle Übersicht
des Umfangs und der Auswahl an Unter- über die Notwendigkeit einer kooperati-
suchungsverfahren einer fachlich ange- ven Therapiezielfindung im Kontext eines
messenen neuropsychologischen Unter- holistischen Behandlungsansatzes vgl. die
suchung aufgeführt. Ergänzt werden sollte Ausführungen von Wilson und Betteridge
diese Verfahrensübersicht durch Instru- (2019).
mente zur Bestimmung psychischer Ko-
morbiditäten bzw. Verhaltens- und Per-
sönlichkeitsveränderungen. Auch die
232 T. A. Klein, T. Guthke
und Schwächen bewusst sind, sich realis- Nachteile und die individuelle Anpassung
tische Ziele setzen und angemessene Er- – auch die Förderung einer realistischen
wartungen entwickeln sowie Alltagsan- Selbsteinschätzung kann im Gruppenset-
forderungen mit noch vorhandenen und ting besser gelingen. Studien bestätigen
intakten Fähigkeiten zu bewältigen ver- die Effektivität solcher Therapieprogram-
suchen. Dies ist bei Patienten mit ausge- me (Ezrachi et al. 1991). Im Rahmen der
prägter Hirnschädigung sehr häufig je- Therapie werden die Vermittlung der Stra-
doch nicht der Fall: Es fehlen u. U. aktuelle tegien systematisch vorbereitet, deren Ein-
Alltagserfahrungen (z. B. bei komplexen satz geübt (mit entsprechenden Aufgaben
beruflichen Anforderungen), möglicher- oder Rollenspielen) und durch therapeuti-
weise bestehen Einschränkungen beim sche Hausaufgaben deren Transfer in den
Störungsbewusstsein sowie der Reflexion Alltag gefördert. Hier bewährt sich beson-
über neue Erfahrungen (im Zusammen- ders ein teilstationäres Arbeiten, da die Pa-
hang vor allem mit Gedächtnis- und exe- tienten außerhalb der Therapie zu Hause
kutiven Störungen). Bedeutsam sind aber mit entsprechenden Anforderungen kon-
auch psychoreaktive Phänomene wie Ver- frontiert sind und neu erarbeitete Strate-
leugnungs- bzw. Abwehrtendenzen sowie gien hinsichtlich ihrer Funktionalität eva-
generell komorbide psychische Störungen. luieren können. Aufgrund der kognitiven
Der Schweregrad der Störung und die Defizite der Patienten kann es nötig sein,
Einsichtsfähigkeit sind somit ausschlag- Rückmeldung während der Behandlung
gebend für Art und Ausmaß der notwen- nicht nur kontinuierlich und multimodal
digen Strukturierung von außen und der (verbal, visuell mit und ohne Video), son-
therapeutischen Hilfen. Häufig ist die Be- dern auch durch unterschiedliche Perso-
gleitung eines längeren therapeutischen nen (Mitpatienten, Angehörige, Therapeu-
Prozesses notwendig, in dessen Verlauf ten) zu geben.
der Patient dabei unterstützt wird, seine Generell gilt, dass Kompensations-
vorhandenen Defizite angemessen wahr- hilfen und -strategien vor allem dann ak-
nehmen zu können, damit er bereit ist, zeptiert werden, wenn sie einfach, öko-
Strategien oder Hilfen einzusetzen oder nomisch, generationsadäquat sind und
Erwartungen und Ziele an die neue Le- bequem angewendet werden können und
benssituation anzupassen. der Nutzen der Strategie oder der Hilfe un-
Im klinischen Alltag ist häufig zu beob- mittelbar erkennbar oder nachweisbar ist.
achten, dass Patienten in der Vergangen- Bei sehr schweren Defiziten (v. a. im Ge-
heit erfolgreich eingesetzte Strategien (wie dächtnisbereich) sind externe Kompensa-
z. B. Investition von mehr Zeit und Ener- tionshilfen und -strategien deutlich bes-
gie) versuchen erneut anzuwenden. Auf- ser als interne, da zum Erlernen interner
grund veränderter Ausgangsbedingungen Strategien intakte kognitive Fähigkeiten
(z. B. Reduktion der Dauerbelastbarkeit (z. B. metakognitive Leistungen) benötigt
infolge der Hirnschädigung) können sich werden. Bei komplexeren Strategien ist
diese ehemals funktionalen Bewältigungs- oft eine schrittweise, repetitive und über
mechanismen nunmehr als dysfunktional einen längeren Zeitraum erfolgende Ein-
herausstellen. übung nötig. In Studien zum Nutzen ex-
Bewährt hat sich im teilstationären Set- terner Gedächtnishilfen konnte empirisch
ting eine Kombination von Gruppen- und nachgewiesen werden, dass z. B. die Zu-
Einzeltherapie zur Vermittlung von Kom- verlässigkeit in der Erledigung prospekti-
pensationsstrategien. Wichtig ist dabei der ver Gedächtnisanforderungen durch den
Austausch der Patienten untereinander Einsatz von Gedächtnishilfen verbessert
über mögliche Strategien, deren Vor- und werden kann (Sohlberg et al. 2007; Wil-
11 · Neuropsychologische Therapie bei Störungen von Kognition und Emotion 235
son et al. 2000). Es zeigte sich, dass leich- aufzubauen und zu perfektionieren (Wil-
ter betroffene Patienten den selbstständi- son 2000). Angehörigen kommt im Alltag
gen Umgang mit Gedächtnishilfen lernen, häufig die Rolle einer Kompensationshilfe
während schwerer betroffene Patienten zu. Die Patienten haben u. U. gelernt, sich
lernen können, auf Gedächtnishilfen ad- auf diese Hilfen zu verlassen, weil diese
äquat zu reagieren (Unterstützung durch für sie zur Bewältigung der Umweltanfor-
Angehörigen z. B. beim Eintragen von Ter- derungen in der Regel einfacher, schneller
minen in einen Onlinekalender). Bei sehr und bequemer ist als der Einsatz eigener
schwer betroffenen Patienten kann Kom- Strategien bzw. verbliebener Fähigkeiten.
pensation auch den modifizierenden und Im Verlauf der Behandlung ist somit der
unterstützenden Eingriff in die Umwelt Aufbau eigener Strategien sowie der Ab-
des Patienten bedeuten (Umweltmanage- bau der kontinuierlichen Unterstützung
ment). durch die Angehörigen nötig. Hierfür ist es
Besonders in der Therapie von exe- notwendig, dass die Angehörigen wie auch
kutiven- und Gedächtnisstörungen spielt die Patienten die notwendige Sicherheit
die Vermittlung von internalen Strategien für den Übertrag bzw. die Rückübernah-
(Problemlöseverhalten, Verhaltensregula- me von Verantwortung gewinnen müssen.
tion, Zeitplanung, internale Enkodierungs- Um dies zu fördern kann man sich in der
und Abrufstrategien, Lernverhalten) eine Arbeit mit Angehörigen an Überlegungen
große Rolle – wiederum auch in Kombi- von Muir und Kollegen (1990) orientie-
nation mit Funktionstherapie. Bei der Ge- ren. Diese schlugen ein vierstufiges Modell
dächtnistherapie wurden ausgehend von (PLISSIT-Modell) zur Unterstützung und
allgemeinpsychologischen Erkenntnissen Behandlung von Angehörigen vor. „PLIS-
geeignete Lernstrategien entwickelt (z. B. SIT“ steht für:
basierend auf Elaboration oder Imagina- „Permission“: Angehörige können sich mit
tion), deren Nutzen auch in entsprechen- Sorgen, Ängsten und Fragen an Thera-
den Studien nachgewiesen werden konnte peuten wenden
(Chiaravolloti et al. 2005; Hildebrandt et al. „limited information“: Bereitstellung rele-
2007). Im klinischen Alltag zeigt sich, dass vanter Informationen durch Therapeu-
Patienten mit leichten bis mittelschwe- ten
ren Gedächtnisstörungen gut von solchen „specific suggestions“: Ratschläge für den
Strategien profitieren können, während Umgang mit den Patienten
bei Patienten mit schweren Gedächtnis- „intensive therapy“: Im Bedarfsfall Durch-
störungen die Vermittlung solcher Lern- führung von Interventionen, z. B. einer
strategien in der Regel nicht erfolgreich ist. systematischen Patient-Familien-Edu-
Im Bereich exekutiver Funktionsstörun- kation, einer Familienberatung, die
gen konnte die Wirksamkeit kompensato- Vermittlung an eine Selbsthilfegruppe
rischer Ansätze zum Beispiel für das Pro- oder die Organisation einer Betreu-
blemlösetraining (Rath et al. 2003; Fong ungsentlastung (Jacobs 1989).
et al. 2009) nachgewiesen werden. Ferner
finden Strategien zur Verhaltenskontrolle Patienten mit sehr schweren Defiziten
(Selbstinstruktionstechniken) im Zielma- können diese häufig nicht selber ausglei-
nagement Anwendung. chen. Hier müssen der Patient und seine
Häufig müssen mehrere Kompensa- Angehörigen durch ein Netzwerk profes-
tionsstrategien und -hilfen zum Ausglei- sioneller Helfer und Institutionen unter-
chen eines Defizits angewendet werden. stützt werden. Hierzu können zusätzliche
Dieses System an Kompensationsstrategi- Unterstützungsleistungen sowie persönli-
en gilt es, sukzessive im Laufe der Therapie che Assistenzen oder hauswirtschaftliche
236 T. A. Klein, T. Guthke
Fallbeispiel
Die 58-jährige Frau A. erlitt an ihrem Ar- Leute mich draußen sehen, werden sie bei
beitsplatz einen Myokardinfarkt und musste der Krankenkasse nachfragen“) und sich an-
aufgrund eines Herz-Kreislauf-Stillstandes dererseits gegenwärtig eine Berufstätigkeit
reanimiert werden. Aufgrund der transienten jedoch nicht zutraute („Ich sollte doch schon
globalen Ischämie sprach sechs Monate längst wieder arbeiten, aber traue mir noch
nach dem Ereignis nach Akut- und statio- nicht einmal das morgendliche Aufstehen
närer rehabilitativer Behandlung die umfas- zu“; „Ich war noch nie die Hellste, habe aber
sende neuropsychologische Diagnostik für die Arbeit hinbekommen. Jetzt kann ich mir
eine mittelgradige Aufmerksamkeitsstörung kaum etwas merken und planen“).
(Reduktion der Aufmerksamkeitsintensität, Sie hatte sich vor vier Jahren nach 21
Verlangsamung und eingeschränkte Dau- Ehejahren, unterstützt durch Behörden, vom
eraufmerksamkeit, Beeinträchtigung der gewalttätigen Ehemann mit Alkoholproblem
Aufmerksamkeitsselektivität), eine mittelgra- getrennt. Zu ihren beiden erwachsenen Söh-
dige Neugedächtnisstörung (reduzierte Ar- nen bestand eine gute Beziehung. Da ihr frü-
beitsgedächtnisleistungen, Schwierigkeiten herer Mann in der Nähe wohnte, fürchtete
bei der Enkodierung neuer Informationen, sie sich, bei Konfrontationen auf der Straße
mit dem Behalten nach mittelfristigen Zeit nicht angemessen (z. B. schlagfertig) reagie-
intervallen und erhöhter Interferenzneigung, ren zu können („Ich bin ihm nicht mehr ge-
profitierte von Abrufhilfen) sowie deutlichen wachsen“; „Ich bin schwach“).
exekutiven Defiziten (Schwierigkeiten beim
flexiblen Umgang mit Regeln sowie der vo- Die nebenstehende Tabelle gibt einen Über-
rausschauenden Planung, eine ungenügende blick über die Therapiebestandteile während
Fehlerkontrolle und deutlich reduzierte zweier längerer Therapieaufenthalte (jeweils
Ideenflüssigkeit, insbesondere beim Finden 30 Behandlungstage) (Tab. 11.1).
alternativer Lösungsansätze, Defizite der all-
täglichen Terminplanung). Bei der Therapie standen zunächst supportiv-
Auch erfüllte sie die Kriterien für eine beratende, psychoedukative Elemente sowie
Anpassungsstörung mit mittelgradiger de- die Therapie der kognitiven Defizite im Vor-
pressiver Symptomatik. Für die Therapiepla- dergrund. Restitutionstherapeutische Me-
nung war es wichtig, die kognitiven und die thoden dienten vor allem der Therapie der
affektiven Störungen zu berücksichtigen. Bei Aufmerksamkeitsfunktionen, wobei kom-
der Erhebung der biografischen Anamnese pensatorische Strategien vor allem in den
ging es um biografischer Belastungen, ihren Gruppen vermittelt und geübt wurden. Zu-
bisherigen Bewältigungsstil und die Identifi- nehmend wurden unter Berücksichtigung der
kation möglicher dysfunktionaler Grundüber- eingeschränkten kognitiven Leistungsfähig-
zeugungen. keit adaptierte und auf die konkrete Problem-
Frau A. hatte nach einem Abschluss der stellung zugeschnittene psychotherapeu-
10. Klasse („mittlere Reife“) erfolgreich eine tische Methoden einbezogen. In dem Intervall
Ausbildung absolviert und in ihrem Ausbil- nach dem ersten Therapieblock absolvierte
dungsberuf gearbeitet. Nach der „Wende“ Frau A. ein vorher vereinbartes „Hauspro-
musste sie sich beruflich umorientieren und gramm“, welches kognitive, körperliche und
arbeitete bis zu dem Ereignis seit mehr als soziale Aktivitäten enthielt. Damit konnte die
zehn Jahren als Pflegehelferin im Schicht- Umsetzbarkeit der therapeutischen Strate-
dienst. Einerseits wollte sie ihre Arbeit un- gien im häuslichen Alltag gefördert werden,
bedingt wieder aufnehmen, wobei sie sich wobei zu Beginn des zweiten Aufenthaltes
auch innerlich unter Druck setzte („Ich sehe dies ausgewertet wurde und einzelne Stra-
aus wie das blühende Leben“; „Wenn die tegien, die sich nicht so bewährt hatten,
11 · Neuropsychologische Therapie bei Störungen von Kognition und Emotion 239
Sachverzeichnis
A C
Aachener Aphasie Test 178, 180 Canadian Occupational Performance Measure
Aachener Aphasie-Bedside-Test 180 (COPM) 47
Action Research Arm Test (ARAT) 102, 118 Carer Burden Scale 141
affektive Störungen 227, 229, 238, 241 Cerebrolysin 114 f., 119
Agnosie, visuelle 212 Clinical Reasoning 27 f.
akinetischer Mutismus 84 Coma Recovery Scale Revised (CRS-R) 86, 90
Akinetopsie 207 Constraint-induced movement therapy
Akupunktur 109, 119 (CIMT) 101, 103 f.
ambulante neuropsychologische Thera- Continuous Positive Airway Pressure
pie 240 f. (CPAP) 65, 75
Amsterdam Nijmegen Everyday Language Test Corona/COVID-19 1, 17, 74, 81, 166
(ANELT) 183 Critical Illness Polyneuropathie (CIP) 67, 74
Angststörung 77, 227, 229
Aphasie 163 ff., 189
D
ARAT 8, 103, 106
Arm-Basis-Training (ABT) 15, 101f, 107, 116, d-Amphetamin 114
119 Disability Assessment Scale (DAS) 141
Arm-Fähigkeits-Training 96 Donepezil 192
Arm-Robot-Therapie 110 f., 116, 119 Dunkeladaptation 200 f., 220
Assisted Spontaneous Breathing 62 Dysphagie 69 f., 76 f., 91 f., 113, 153 ff.
aufgabenorientiertes Training (AOT) 8, 15 f.,
27, 101 f., 116, 119, 126 E
Aufmerksamkeitsstörungen 191, 228 Elektrostimulation 103, 109 ff., 119, 144, 166
– EMG-getriggerte (EMG-ES) 103, 109 f., 116
B – funktionelle (FES) 109 ff., 146
– neuromuskuläre (NMES) 109 ff., 116, 119
Baclofen-Therapie, intrathekal 92, 140, 143,
– pharyngeale 166
145, 147 ff.
Emotional-affektive Störungen 227, 241
Balance 4, 7, 35, 51, 123ff, 131, 133
Empowerment 29, 43
– Assessments 124
Exekutive Störungen 234
– Training 125
Exoskelett 128, 130 ff.
Bálint-Holmes-Syndrom 199, 209, 214f, 221
Extinktion 217 ff.
Beatmungstherapie 64, 71
Belastungstörungen 229
Bewegungsinduktionstherapie 101, 103f, 116, F
119 Farbwahrnehmung 204, 211 f., 221
Bewegungswahrnehmung 207 f. Feedback 5 f., 13, 34 ff., 51, 55, 118, 178, 196 f.,
Bewusstseinsstörungen 82 ff. 200 ff.
Bilaterales Training 101, 105 f., 119 FEES (Flexible Endoscopic Evaluation of Swal-
Biomarker 1, 10 ff., 21 f. lowing) 73 f., 153, 157 ff.
Biphasic Positive Airway Pressure Fluoxetin 103
(BIPAP) 65 forced use 105
Bottom-up-Modell 32 f., 217 ff. Freiburger Fragebogen zur Krankheitsverarbei-
Botulinumneurotoxin Typ A (BoNT A) 114, tung 184
145 f. Fugl-Meyer-Score 8, 10, 19
Box-and-Block Test (BBT) 13, 118 Funktionelle Dysphagietherapie (FTD) 160
Brain-Computer-Interface (BCI) 112 f. funktionelle Elektrostimulation (FES) 109,
246 Sachverzeichnis
116. 146 M
funktionelle Magnetresonanztomographie Magnetstimulation 11
(fMRT) 12, 21, 82, 90, 154, 155 – periphere 144, 217
Funktionstherapeutische neuropsychologische – repetitive transkranielle (rTMS) 19, 90, 93,
Therapien 232 111f, 119, 144, 166, 177, 192
Mentales Training 108 f., 116, 119
G minimally conscious state 84
Gangtrainer 16, 128 minimal responsives Syndrom 84
Gedächtnisstörungen 213, 228, 235f. motorisch evozierte Potentiale (MEP) 11, 14,
Gehfähigkeit 13, 123, 127 ff., 144 20
Gehtraining 128 ff. Mutismus 84, 177
gerätegestützte Therapie 144, 149 – akinetischer 84
Gesichtsfeldausfall 202 ff., 218, 220 f.
Gleichstromstimulation, transkranielle N
(tDCS) 144, 166, 192 Narrative Medizin 32
Goal Attainment Scale (GAS) 142 Neglect 49, 70, 199, 209f, 215 ff.
Goal-Setting Theory 42, 44 Nervus-vagus-Stimulation (VNS) 113
Gütekriterien 34 Neugedächtnis 228, 238
Neuromuskuläre Elektrostimulation
H (NMES) 109, 111, 116, 119
Handlungsplanung 43 ff. Neuropsychologische Therapien 232 f.
Handlungstheorie 31 Nine-Hole-Peg Test 118
Health Action Process Approach 44, 46
Heat Moisture Exchanger (HME) 64
Helladaptation 199 ff., 220 O
Hemianopsie 49, 202, 218 Okulomotorikstörungen 219
Hirnstammläsion 166 Orale Transportphase 156, 163
Hirnstammmechanismen 155 Orale Vorbereitungsphase 156
Hirnstammschädigung 83 f. Orthese 113, 144 f., 149
Homonyme Gesichtsfeldausfälle 199, 202,
211, 220 f. P
Hypoxisch-ischämische Enzephalopathie (HIE)
Paraphasien 178, 179
82, 88 f.
Parenterale Ernährung 165
Pharyngeale Phase 155 ff., 167
I Pharynx 73, 157, 159, 162, 166
Injektionsbehandlung 115, 144, 146 f. Physiotherapie 54, 69 ff., 107, 123, 125, 128,
Interdisziplinäre Teams 29 134, 143 ff.
intermittierende pneumatische Kompressi- Positive endexpiratory pressure (PEEP) 64 f.
on 109 Posturale Kontrolle 106, 124 f.
Interventionsformen 232, 236, 241 Postläsionelle Plastizität 5 ff., 10, 20
intrathekale Baclofen-Therapie 92, 140, 143 Präorale Phase 156, 161, 167
PREP-Algorithmus 11, 14
K Psycholinguistische Untersuchung 176, 181 f.
Koma 82 ff., 90, 95 Pyramidenbahn 8 ff., 140 f., 155
Kompensation 24 ff., 152, 166, 190 f., 223 ff.,
232 R
Kontextfaktoren 32 f., 36, 38 f.
Reizerscheinungen, visuelle 214
Kontrastsehen 199 f., 220 f.
Reliabilität 50, 78, 119, 127, 148
Körperfunktionen 32 f., 36
Repetitionsrate 12 f.
repetitive transkranielle Magnetstimulation 19,
L
90, 93, 111f, 119, 144, 166, 177, 192
Lagerung 91, 113,
Resistance to Passive Movement Scale (RE-
Laufband 16, 128 ff., 144
PAS) 118, 139, 141, 149
L-Dopa 92, 113 f., 119
Restitution 6 ff., 11, 33, 111, 116, 160 f., 176,
Locked-in-Syndrom (LIS) 84 f.
232, 237
Logogen-Modell 181 ff.
Sachverzeichnis 247
T
Taping 113, 119
Therapie des faziooralen Traktes (F.O.T.T.) 69,
91
Therapieintensität 189 f.
Thermosondenstimulation 161
Top-down-Modell 32f, 57, 217 f., 228
Trachealkanüle 66 f., 76, 153
Trachealkanülenmanagement 63, 77
Transkranielle Gleichstromstimulation (Trans
cranial Direct Current Stimulation,
tDCS) 19, 111 f., 144, 166, 192 f., 217
Transkranielle Magnetstimulation (TMS) 12,
19, 217
TWIST-Algorithmus 12
U
Umweltfaktoren 36, 38 ff., 47, 49, 52
unresponsive wakefulness syndrome
(UWS) 83
Upper Motor Neuron Syndrom (UMNS) 140
Update Neurorehabilitation 2022
Tagungsband zur Summer School Neurorehabilitation
des Alfried Krupp Wissenschaftskollegs Greifswald
ISBN 978-3-944551-77-7