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Paul Konrad Kurz


Gotteserfahrungen

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Paul Konrad Kurz

Gotteserfahrungen
Biblische Gestalten sprechen

Kösel

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Verlagsgruppe Random House FSC-DEU-0100


Das für dieses Buch verwendete FSC-zertifizierte Papier
Munken Premium liefert Arctic Paper Munkedals AB, Schweden.

Copyright © 2006 Kösel-Verlag, München,


in der Verlagsgruppe Random House GmbH
Umschlag: 2005 Werbung, München
Umschlagmotiv: Michelangelo, Die Erschaffung des Adam. Ausschnitt
aus dem Deckengemälde der Sixtinischen Kapelle, 1502–1512. Foto:
The Bridgeman Art Library
Druck und Bindung: Kösel, Krugzell
Printed in Germany
ISBN-10: 3-466-36711-5
ISBN-13: 978-3-466-36711-5

www.koesel.de

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Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7

Gestalten der jüdischen Bibel . . . . . . . . . . . 13


Adam sprach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 14
Eva sprach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23
Kain sprach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29
Abraham sprach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36
Isaak sprach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42
Jakob sprach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50
Josef sprach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58
Moses sprach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67
Ruth sprach. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73
David sprach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79
Hiob sprach. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88
Kohelet sprach. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98

Gestalten des christlichen Testaments . . . . . 107


Josef aus Nazareth sprach . . . . . . . . . . . . . 108
Mirjam sprach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117
Nikodemus sprach . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124
Sara von Sichar sprach . . . . . . . . . . . . . . . 133

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Johannes sprach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141


Jeschua sprach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154
Pilatus sprach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164
Judas sprach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169
Mirjam von Magdala sprach . . . . . . . . . . . . 177
Paulus sprach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184
Petrus sprach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191

Die letzte Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201


Deine Geschichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202

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V orwort

Bibelleser kennen biblische Geschichten. Gottesdienstbe-


sucher hören biblische Perikopen. Ausschnitte der Schrift
sind uns geläufig. Die Geschichte biblischer Personen, die
Ganzheit ihrer Gestalten, ist schwerer fassbar. Die bibli-
schen Geschichten wurden in pastoraler Absicht geschrie-
ben. Die gesamte Lebenslinie wird nur bei wenigen Ge-
stalten sichtbar. Der Leser muss sie selbst entwickeln und
ergänzen, wenn er daran interessiert ist. Er ist auf Vermu-
tungen, Ergänzungen, auf seine Fantasie angewiesen.
In der jüdischen Tradition ist jeder Leser sein eigener
Interpret. Die Schrift kommt nie an ihr Ende. Erst im Le-
sen erreicht sie ihren kreativen, nie endgültigen End-
punkt. Überwindet ein Text die Barriere des kulturellen
und zeitlichen Abstands, kann er in die Gegenwart ein-
dringen. Er kann seine Potenz entfalten, im Leser leben-
dig, persönlich bedeutsam werden. Der in einer anderen
Zeit lebende Leser erkennt seinen kulturellen Abstand. Er
ergänzt Geschichten, überbrückt Lücken, fragt, wo er fra-
gen muss. Manchmal bleibt ihm das Verhalten des gezeig-
ten Menschen fremd. Nicht nur das Tun der Personen,
auch ihre Leiden beeindrucken ihn. Er staunt über ihre
Erwählung. Er verfolgt die göttlichen Fügungen.
Die Bibel berichtet überwiegend aus der Außenper-
spektive. Jede Person, von der erzählt wird, ist auch eine

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Beziehungsperson, verbunden mit anderen Menschen.


Die biblischen Schreiber schöpfen aus Überlieferungen
meist kollektiver Erinnerung. Sie zeigen ihre Gestalten in
lehrhafter Glaubensabsicht. Manche Personen treten epi-
sodisch auf, andere werden in ihrer ganzen Lebensge-
schichte gezeigt. Manche Erzählungen sind szenisch auf-
gebaut, sogar dramatisch. Kann unserer Annäherung er-
lebte Rede helfen, meditative Betrachtung, emotionale
Einfühlung, kreative Fantasie?
Die ersten Menschen, die in der Bibel vorgestellt werden,
heißen Adam und Eva. Sie haben vermutlich mehr gespro-
chen, als die Bibel berichtet. Als bewusst gewordene Perso-
nen bedachten und besprachen sie das ihnen Geschehene.
Die Vertreibung aus dem Paradies, die ihre Lebensbedin-
gungen radikal verändert, hat sie auch innerlich beschäf-
tigt. Wie verbrachten die beiden nach dem Sündenfall ihre
Tage? Wie bewältigten sie ihre Bestrafung? Was antworten
Bestrafte einem überlegenen Ankläger? Ihr erster Sohn
Kain war kein einfacher Mensch. Aber über ihn, nicht über
Abel, ging das Leben weiter. Er hatte Nachkommen und
wurde Städtebauer. Können, dürfen, müssen sich kleine
Menschen gegen den groß geschriebenen Gott verteidigen?
Was denkt der junge Isaak, wenn er von seinem Vater zum
Opferaltar geführt wird? Welche Bewältigungsarbeit muss
er leisten? Hilft ihm sein Vater? Interessiert ihn dessen Op-
fergehorsam? Kann ihm Abrahams Verhalten überhaupt
verstehbar werden? Was muss er von dessen Gott denken?
Wie lebt er weiter mit seinem Opfervater zusammen?
Abraham, Isaak und Jakob werden Patriarchen ge-
nannt. Jeder von ihnen hatte seine Erfahrungsgeschichte,
seine Rufgeschichte, seine Antwortgeschichte. Herausra-

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gend Abraham, unterbelichtet Isaak, gesegnet mit Söhnen


Jakob. Der Träumer Josef wird in Ägypten der große Auf-
steiger. Der mächtig gewordene Mann rettet seine darben-
den Brüder. Schwer zu fassen in seiner vielfältigen Struktur
ist der in Ägypten geborene Moses. Auf ihn führen Schrei-
ber die Gründungsgeschichte des Volkes Israel zurück.
Aber Moses darf den Jordan nicht überschreiten. Auf dem
Berg Nebo schaut er zurück auf sein Leben und seine Sen-
dung. Der Seher vom Sinai, der seinem Volk das gelobte
Land verheißt, darf selbst nicht einziehen. Hellenistische
Schreiber hätten daraus eine Tragödie geschrieben.
Nicht pathetisch, eher anekdotisch berichtet die Bibel
von der Ährenleserin Ruth. Die Moabiterin gerät in den
Stammbaum Davids und Jeschuas*. Der Hirtenjunge Da-
vid wurde vom Propheten Samuel gesalbt, ein Geringer
zum König erwählt. So vorbildlich, wie wir ihn denken,
lebte er nicht. Aber die Begabung, Kraft und Größe seiner
Gestalt beeindrucken. Kein Heiliger, ein Held sehr wohl.
David war ein Sieger, in Hiob wird ein Verlierer darge-
stellt. Der Fromme hält sich weit mehr an das Gesetz als
David. Aber an ihm wird ein Exempel statuiert. Nicht nur
Hiob, auch Gott wird verhandelt. Der geschlagene
Mensch rechtet mit dem Jahwegott. Verdunkelt Jahwe in
den späteren Jahrhunderten? Schweigt er in der hellenisti-
schen Zeit? Diesseits von Toragewissheit und Tempel-
frömmigkeit muss sich Kohelet behaupten. In Meinungen
und Sentenzen gibt er Lebenserfahrungen weiter.

* Jesus, Maria von Nazareth und Maria aus Magdala behalten in den
Texten ihre aramäischen Namen, also Jeschua und Mirjam. Weil das u
in Jeschua lang ist, wird der Name auf der zweitletzten Silbe betont.

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Alttestamentlíche Gestalten werden meist in einer Viel-


falt von Erfahrungen geschildert. Sie erscheinen weltlicher,
offener, mehr in das Leben eingebunden als die neutesta-
mentlichen Personen, die (nur) in ihrer Beziehung zu Je-
schua gezeigt werden. Sie sind ihrer Psyche und dem sozia-
len Umfeld ausgesetzt. Herausforderungen des Überlebens
verlangen ihre Entscheidung. Sie führen nicht nur Gesprä-
che mit nahen und fernen Personen, sondern auch Selbst-
gespräche, innere Monologe und Dialoge. Sie müssen Er-
fahrenes in ihrem Bewusstsein verarbeiten, sich über Ge-
schehenes klar werden. Die meisten von ihnen werden
exemplarisch vorgestellt. Aber sie hatten auch ihre indivi-
duelle Geschichte. Verschlossene und offene Möglichkei-
ten standen vor ihnen. Oft überwog ein dunkler Gott helle
Momente. Nicht nur dessen Offenbarung, auch dessen Ver-
borgensein müssen sie aushalten. Von Mirjam, der Mutter
Jeschuas, wird ausdrücklich gesagt, sie habe, was sie hörte
und sah, in ihrem Herzen erwogen, das heißt: bewahrt, er-
innert, bedacht. Erleben ist mit Gefühlen verbunden. Auch

erstellt von ciando


Denken ist nicht frei von Gefühlen. Die Betroffenen erfuh-
ren, erkannten, fühlten, hofften und klagten. Ihrem Gott
geöffnet, stellten sie dennoch Fragen.
Die neutestamentlichen Schriften teilen nicht mehr
die jahrhundertelange Gründungs- und Bewährungsge-
schichte des jüdischen Volkes mit. Sie zeigen die Person
Jeschuas in Galiläa und Jerusalem. Die Gestalt des Nazare-
ners wird öffentlich, seine Botschaft interessiert und pro-
voziert. Jeschua bezeichnet Gott als seinen Vater. Er ver-
sammelt Jünger um sich. Sie sollen ihn später bezeugen.
Die Schreibabsicht der jesuanischen Schreiber hat sich
verändert. Eine einzige Gestalt wird mitgeteilt und ver-

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kündet, »Gottes Sohn im Fleisch«. Sein Leben spricht von


der Geburt bis zum Tod. Er überschreitet den Tod zur
Auferstehung, zur Gegenwart in der Gemeinde.
Von Josef, dem Mann Mirjams, dem »Pflegevater« Je-
schuas, wissen wir wenig. Offenbar musste der Nachfahre
Abrahams auf Nachkommen verzichten. Wie hat er den
Verzicht auf sich genommen? Er wurde vom Engel nicht
gefragt, ob seine Verlobte von einem anderen schwanger
werden dürfe. Mirjam versucht ein Leben lang, ihre Ge-
schichte und die ihres Sohnes Jeschua zu verstehen. Ihre
Geschichte mit Josef bleibt unterbelichtet. Gewöhnt an
eine sakralisierte Mariengestalt, öffnen wir uns wenig ih-
rer Bewusstwerdungsgeschichte. Ihre Beziehung zu Josef
taucht nur anfangs auf. Wie erlangte Jeschua sein Be-
wusstsein? Wie kommt der Handwerker aus Nazareth zu
seinem Selbst- und Weltbewusstsein, wie zu seinem Va-
terbewusstsein? Geschieht der Durchbruch seines Verste-
hens am Jordan oder in der Wüste? In Galiläa umlagern
ihn die Scharen. In Jerusalem traut sich des Nachts ein
Ratsherr zu ihm. In Samaria spricht der Mann aus Naza-
reth mit einer Frau. Während man in Galiläa Jeschua
überwiegend wohlgesinnt ist, baut sich in Jerusalem eine
Gegnerschaft auf. Der von seinen Jüngern, vielleicht auch
von ihm selbst ersehnte Einzug in die Stadt endet nicht im
Triumph. Gegen die Einziehenden sind Wachen aufge-
stellt. Gefangennahme und Prozess beenden die verhei-
ßungsvollen Auftritte. Der römische Gouverneur Pilatus
spricht das Todesurteil über Jeschua.
Das unglückliche Glied in der Jüngergruppe ist Judas.
Der sprichwörtlich Degradierte bringt Gründe vor für sein
Verhalten. Zu den Treuesten im Gefolge gehört Mirjam von

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Magdala. Wer war die Frau mit ihrer österlichen Erfah-


rung? Erst spät erfährt der Jude Paulus Jeschua als Kyrios.
Er hat seine Anhänger verfolgt. Nicht ohne Misstrauen be-
gegnet ihm der schon amtierende Petrus. Der von Anfang
erwählte Jünger und der späte Visionär tun sich schwer
miteinander. Der Fischersohn aus Galiläa und der intellek-
tuell ausgebildete Tarser gehen verschiedene Wege.
Durch die gesamte jüdische Bibel spricht der Jahwe-
gott den Erwählten Leben zu. Auch Jeschua verkündet ein
Leben in Fülle. Ihr dürft leben, ihr sollt leben, heißt die
Botschaft. Jahwe spricht den Israeliten das Gesetz zu. Es
enthält eine theologische und soziale Lebensordnung. Je-
schua spricht den Seinen ein Reich des Himmels, Gott als
Vater zu. In der Liebe soll das Leben Gestalt gewinnen.
Nicht mehr Blutopfer, nicht mehr »Auge um Auge, Zahn
um Zahn«. Der Geist ist wichtiger als der Buchstabe, Liebe
mehr als Erfüllung des Gesetzes. Mit beidem, dem Gesetz
und der Liebe, tun wir uns schwer. Wir sind Macher ge-
worden, Käufer, Konsumenten, Selbstläufer. Jeder kon-
struiert, so weit das möglich ist, seine eigene Geschichte.
Auf welcher Beziehung gründet sie? In welchen
Beziehungen kann sie sich entwickeln?
In den biblischen Reden wird gefragt: Wie erfuhren
die sprechenden Personen ihr Bewusstsein, wie ihre Le-
bensgeschichte? Wo trat Entscheidendes auf sie zu? Un-
ser Weg zu ihnen ist weit. Sie stimulieren unsere Wahr-
nehmung. Aus zeitlichem und kulturellem Abstand
möchten wir Spätgeborene in ihre Nähe kommen, in die
Nähe ihres Gottes, damit er auch der unsrige werde. Men-
schen im Licht, Sprecher im Licht. Im Licht der Schreiber.
Im Licht ihres Gottes.

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Gestalten
der jüdischen
Bibel

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A dam sprach

Frei von Groll bin ich noch immer nicht, obwohl es lange
her ist, seit wir aus dem Garten vertrieben wurden. Diese
Donnerstimme, ich höre sie noch heute. Dieses Flam-
menschwert, ich sehe es noch vor mir. Dieses Schuldge-
fühl, es hat mich immer noch nicht freigegeben. Erschre-
cken vor Schuld, Erschrecken vor Scham. Die Augen auf-
reißen und sehen, dass wir nackt sind. Erkennen das
Verlorene, erkennen die Trennung. Niemand schützt
uns im Elend. Von einem Augenblick zum andern aus
dem Garten vertrieben. Das Erschrecken kreist noch im-
mer in mir.
Unser Leben war verändert. Wir mussten in der Frem-
de überleben, uns gegen den Hunger und die Nacht be-
haupten. Wir flochten Röcke. Wir sammelten Kräuter,
Holz für Feuer. Seither leben wir leidlich. An Hitze und
Schweiß haben wir uns gewöhnt, an die Kälte der Nacht
auch. Verflogen ist die Leichtigkeit des Gartens. Wir
mussten unsere Tage begründen. Sehr langsam haben wir
uns zurechtgefunden. Es kommen Stunden, in denen wir
Vergangenem nachtrauern. Aber es gibt auch Stunden, in
denen wir uns mit den Verhältnissen abgefunden haben.
Manchmal können wir sogar lachen. Wenn wir abends
vor der Hütte sitzen, in der Ferne den Fluss riechen, fließt
unser früheres Befinden in die Sinne. Dann schauen wir

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einander an, fragend, aber auch verwundert, dass wir da


sind. Wir sprechen eher mehr als früher.
Seit der Vertreibung leben wir anders. Es ist nicht
mehr das schwebende Gefühl des Gartens. Nicht mehr die
leichten Bewegungen der Füße und Arme, nicht mehr die-
ses flugleichte Dahingleiten der Gedanken und Gefühle.
Nicht mehr ungeteiltes Einvernehmen. Wir empfinden
getrennter, deutlicher. Adamhaft, evahaft, im Einzelnen
unterschieden, nicht immer gleich stark. Der Schlaf hilft
uns nach des Tages Mühe. Träume tauchen auf. Eva muss
noch öfter weinen. Zwar machte sie auch Erfahrungen,
die sie befriedigten. Aber sie hat die Vertreibung noch
nicht überwunden. Enttäuschung steckt noch in ihrer
Haut. Schamröte legt sich auf sie, wenn sie erschrickt. Sie
hüpft nicht mehr wie damals in der Gartenzeit. »Weißt du
noch«, sagt sie, »wie eine Gazelle.« – »Weißt du noch«,
erwiderte ich, »ich sprang wie ein Hirsch.«
Das Leben war so beschwingt, so sorglos, frei gewesen.
Es floss dahin, als hätte es keinen Anfang und kein Ende.
Keine Vorsorge, keine Nachsorge. Das Leben war ein Spiel
von Licht und Schatten, Wachen und Schlaf. Auch das
Sammeln der Früchte war keine Arbeit. Wir kannten
nichts als Dasein, heiteres, unbeschwertes Dasein. Im
Garten wandeln, das Jetzt genießen, furchtlos vertrauen
dem kommenden Tag. Morgens aus einer Quelle trinken,
ins hellklare Wasser blicken, uns in den Schatten legen,
wenn die Sonne höher stieg. Umarmen, wenn uns danach
war, den Bäumen und Vögeln Namen zuwerfen, sagen,
dass wir auch sie liebten. Wandeln in Lust, sagen wir heu-
te, sehen mit Lust, Hören mit Lust, Fühlen mit Lust. Alles
jung und schön. Vielleicht waren die Gefühle nicht so

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deutlich wie jetzt, weniger unterschieden. Sie flossen in-


einander. Die Sinneseindrücke waren eher wie eine
Woge, die uns auf sich nahm, weiterschob und trug.
Luftgefühl, Wogengefühl, wie Schwimmen, aber nicht
im Wasser. Widerstand begegnete uns nicht. Mir schien,
als wären die Dinge nicht vereinzelt, nicht getrennt. Wir
waren nicht von ihnen getrennt. Nie richteten sie sich
gegen uns auf. Da war Einssein. Ein wohliges Gefühl,
ohne Mühe. Wir mussten nichts dazu tun. Er hatte uns
Einvernehmen als Morgengabe geschenkt, damals, als Er
uns in den Garten setzte.
Ein Vorher und Nachher kannten wir damals nicht.
Wir konnten uns nicht vorstellen, wie das Leben weiter-
gehen sollte. Wir mussten es auch nicht und, ich glaube,
wir konnten es nicht. Er hatte sehr wohl seine Vorstel-
lung. Er teilte uns ein Gebot mit, sehr energisch. Von allen
Bäumen des Gartens durften wir essen, nur von dem
Baum in der Mitte des Gartens nicht, sonst würden wir
sterben.
Was war das: Sterben? Warum gerade von dem Baum
in der Mitte nicht essen? War die Mitte nicht der inter-
essanteste Teil des Gartens? Das dachte ich allerdings erst
später, als ich anfing, über Mitte und Rand nachzudenken.
Strebt ein Gartenbewohner nicht notwendig zur Mitte? Die
Mitte ist die Mitte. Mehr als die Ränder zeigt die Mitte, wer
oder was ein Garten ist. Den Baum in der Mitte verbieten,
das ist wie wenn jemand die Mitte der Schüssel verbietet,
den Kern einer Sache, das innerste Wort. Der Baum bot of-
fenbar eine Möglichkeit. Sie war vorhanden, wurde aber
nicht gestattet. Wir sollten sie nicht nutzen. Er muss seine
Vorstellung gehabt haben. Ihm gehörte alles. Ihm dienten

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auch die Tiere: Lufttiere, Wassertiere, Landtiere, sogar die


Schlange. Er muss die Schlange in den Busch geschickt ha-
ben, damit sie uns überraschend anspringen konnte. Wäre
sie nicht erschienen, ich glaube, wir hätten der Neugier
entsagt. Hätte sie sich nicht eingemischt, wir hätten uns an
das Verbot gehalten, dem Begehren widerstanden. Wir hät-
ten auf die Erfahrung verzichtet.
Ob der Verzicht uns aber auf Dauer geholfen hätte,
wage ich zu bezweifeln. Wir konnten keine Paradieskin-
der bleiben, glaube ich heute. Die Spannung, die in uns
angelegt war, musste eines Tages zum Zug kommen. Da
waren unbefriedigte Bedürfnisse. Unterscheidungsbe-
dürfnisse. Wären wir sonst nicht spannungslos geblie-
ben? Fraglos, ohne richtiges Gegenüber, ohne Entwick-
lung. Hätte uns das einfache Gleichbleiben auf Dauer
geholfen? Ich wage es zu bezweifeln.
Wer Er war, wussten wir im Garten noch nicht. Wir
waren durch Ihn. Das begriffen wir, noch nicht sehr genau.
Aber wir begriffen es. Er schwebte mächtig über uns, Er
war gegenwärtig. Gestört hat Er uns nicht, wenn Er herab-
schaute. Manchmal meinten wir, Ihn durch den Garten
wandeln zu hören. Da spitzten wir die Ohren und schauten
uns an. Sicher waren wir nicht, ob wir uns das nur einbilde-
ten, weil wir es gern gehabt hätten. Ob uns etwas gewiss
oder ungewiss vorkam, bekümmerte uns nicht. Ich glaube,
es betraf unser Dasein nicht wirklich. Bewusstes Unter-
scheiden trat erst nach der Vertreibung auf.
Die Gartenzeit währte nicht lange. Wenigstens glaube
ich das. Die Erinnerung allerdings scheint uns für immer
eingeschrieben zu bleiben. Dieser andere Blick auf ein an-
deres Leben. Ein Leben, noch nicht befestigt, aber angebo-

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ten. Es war, wie gesagt, in manchem nicht sehr deutlich.


Eindringlich war es schon. Undeutlich, aber eindringlich.
Immer wieder steigen Bilder des Gartens in uns auf. Unse-
re Sinne kehren zurück zum Garten. Wir können das Zu-
rückblicken nicht hindern. Als ob uns sein Bild zöge. Als
ob wir den Zaun überwinden wollten. Er bleibt Urbild.
Auch Gegenbild? Eva meint ja, ich glaube nein. Obwohl
wir aus ihm entfernt wurden, hat er in uns Überlegungen
und Tätigkeiten freigesetzt.
Wer war Er, der Herr des Gartens? Welche Absicht
hatte Er mit uns? Wollte Er uns den Garten vermachen,
mit uns teilen? Dachte Er noch an anderes? Wenn ich sol-
che Überlegungen anstelle, sagt Eva: »Denk nicht so viel.
Auch ohne Wie und Weshalb ist in uns Unruhe genug.« –
»Ja«, sage ich, »aber der Unterschied ist auch interes-
sant.« – »Als ob das Interessante das Wichtigste wäre,«
sagt sie. »Lass uns einfach leben, so gut wir können.« Ich
dachte an dieses sperrige Gebot. Ein Gebot in einer ge-
botsfreien Zone war keine einfache Sache. Warum musste
Er die Übertretung des Gebotes mit Höchststrafe belegen?
Mit Gehorsam hatten wir noch keine Erfahrung. Das erste
Mal fehl – fehl für immer. Unwiderruflich. Ich wollte wi-
derrufen, als ich mein Tun erkannte. Ich wollte Ihn um
Verzeihung bitten. Aber Er hat mich nicht zu Wort kom-
men lassen. Ganz klein machte ich mich wie eine Maus im
Gebüsch. Er donnerte mich an. Er stellte mich zur Rede.
Jetzt zeigte sich meine Schwäche. Ich konnte nicht gerade
heraus bekennen. Ausweichen wollte ich, fliehen, einen
Sprung unter die Büsche machen, wenn das möglich ge-
wesen wäre. In meinem Unvermögen zu bekennen, schob
ich die Schuld auf Eva. Das hätte ich nicht tun sollen. Es

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tut mir noch heute Leid. Aber nach dem Erschrecken war
ich einfach zu schwach, mich der Übertretung des Gebo-
tes zu stellen. Meine Menschenstimme hatte nicht die
Kraft, seinem Donnerwort gegenüberzutreten. Ich schlug
die Hände vor mein Gesicht und stammelte. Dann vernahm
ich seinen Strafkatalog. Kein wirkliches Gespräch, nur An-
drohung, Fluch, Strafe. Gegen Ende allerdings glaube ich,
die Andeutung einer möglichen Versöhnung herauszuhö-
ren. »Hast du das auch gehört?«, fragte ich Eva. – »Was ge-
hört?«, fragte sie zurück. »Die Versöhnung.« – »Nun ja«,
erwiderte sie. »Der Schlange soll etwas passieren.«
Hatten wir Ihn getäuscht – oder Er uns? Eigentlich war
es nicht direkt Täuschung, auch nicht Absicht. Er wollte
uns einer Prüfung unterziehen. Umsonst sollten wir nicht
Bewohner des Gartens bleiben dürfen. Er gab uns – und wir
sollten IHM geben, Gehorsam, eine Grenze einhalten, ver-
zichten. Niemand hatte uns Gehorsam gelehrt, niemand
Verzicht. Folgen konnten wir uns nicht vorstellen. Kein
»trial and error«. Auf Anhieb unwiderruflich.
Unwiderruflich, das ist’s, was mich an der bedingten
Schenkung heute noch stört. Da lag der Anfang eines
Zwiespalts. Unser einfaches Dasein barg von Anfang an ei-
nen Zwiespalt. Im Garten selbst lag Zwiespalt. Von einer
Schlange als Versucherin hat Er nicht gesprochen. Wir
dachten, wir hätten keinen Gegner. Die Schlange wartete
nur, uns ihre List zu zeigen. Wir waren die Tölpel, die den
Zwiespalt in seiner Schöpfung an den Tag brachten. Wa-
rum hat Er uns vor dem Wurm im Garten nicht ver-
schont? Vor der Schlange nicht gewarnt? Er hätte den En-
gel, der uns später verwies, schicken können, dass er uns
warne. Ohne Warnung direkt am Baum hatten wir,

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scheint mir, keine Chance. Von einem Augenblick zum


andern sprach Er so zornig, enttäuscht über unser Verhal-
ten. Hatte Er uns nicht alles schön gerichtet? Schon, aber
Er setzte eine gefährliche Einschränkung. In seiner Pflan-
zung steckte eine böse Lockung. Musste sie sein? Wusste
Er nicht, dass wir ihr nicht widerstehen konnten? Im
Nachhinein erlaube ich mir zu sagen, Er hätte bei seiner
Voraussicht, die Prüfung korrigieren können. Er hätte,
nachdem wir das Verbot übertraten, auch mehr Verständ-
nis zeigen können, mehr Gelassenheit. Er hätte seine Erst-
linge anders behandeln können. Meinetwegen die Schlan-
ge, aber den Ackerboden hätte er nicht verfluchen müs-
sen. Auch hätte Er die Frau nicht so bestrafen müssen. Ich
wäre bereit gewesen, einiges auf mich zu nehmen, hätte
Ihm ein Sühnopfer dargebracht. Ich hätte vorgeschlagen,
um den verbotenen Baum einen Zaun anzulegen für uns
und unsere Kinder. Der Baum hatte keinen Zaun, das
war’s. Hinterdrein gab Er dem ganzen Garten einen Zaun.
Dass ich keine zweite Chance erhielt, das zeugte in mir
Groll. Wenn ich gut aufgelegt bin, sage ich, nimm ihn
hinweg, den Groll. Ich, Adam, fühle mich auch gekränkt.
Ja, Eva und Adam haben Ihn gekränkt. Weiß Er, dass auch
wir uns gekränkt fühlen?
Wir hatten Mühe, außerhalb des Gartens einen Ort
zum Wohnen zu finden. Wir mussten uns sehr plagen.
Die Wasser fließen nicht so üppig. Die Bäume tragen nur
spärliche Früchte. Wir bauten eine Hütte aus Ästen und
Schilf. Mit der Hacke mussten wir dem Steppenland Bo-
den abgewinnen. Wir kämpften gegen Trockenheit, Dor-
nen und Disteln. Wie Er uns angedroht hatte. Tägliche
Mühe, nicht mehr Spiel. Mühsal, nicht mehr Müßiggang.

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Vorbei die unbeschwerten Tage. Anfangs konnten wir nur


Früchte sammeln, ehe wir säen und schließlich dünne
Ähren ernten konnten. Wir versuchten, Tiere einzufan-
gen, erstellten ein dürftiges Gehege. Ich fing Fische, um
uns zu ernähren. Wenn die Sonne untergegangen war,
hüllten wir uns in Decken. Eva hat Kinder geboren, Kain
und Abel, dazu Töchter. Sie hat unter Schmerzen geboren.
Beim ersten Sohn hat sie geschrien und gewürgt. Der
Winzling war an sie angebunden. Blut, jedes Mal Blut. Mit
der Zeit gewöhnten wir uns an neues Leben aus ihrem
Fleisch und Blut. Eva gebar. Ich konnte das nicht. Mit
mitleidenden Augen stand ich meiner Frau bei.
Abends sitze ich manchmal am Fluss. Ich schaue, wie
das Wasser fließt. Wenn es nicht geregnet hat, fließt es
sehr ruhig. Wenn es regnet, schwillt das Wasser an. Ich
schaue hinüber zum anderen Ufer, sehe Bäume und Sträu-
cher. Keine Paradiesbäume, sondern knorrige Weiden.
Manchmal springen Fische aus dem Wasser. Im Abend-
licht glitzern sie. Ihr Glitzern erinnert mich an den Gar-
ten. Ich kann ihn nicht vergessen. Aber ich will nicht im-
merzu an ein schönes Vergangenes denken, das uns weder
gehört noch weiterführt. Eva meint freilich, es habe uns
weitergeführt. Wie, darüber haben wir noch nicht gespro-
chen. Sie sagt das aus dem Bauch heraus, während ich
nachdenke.
Aus Abstand betrachtet, gehörte uns der Garten nicht
wirklich. Wir waren eher Besucher, nicht einmal Pächter.
Gestundete Gäste, sage ich heute, obwohl es Stunden
nicht gab. Jetzt leben wir in der Vertriebenenzeit. Wir ha-
ben uns niedergelassen zwischen Garten und Wüste. Un-
sere Söhne Kain und Abel wachsen heran. Was soll aus ih-

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nen werden? Muss ich ihnen vom Garten erzählen? Oder


sollten wir diese Vergangenheit lassen? Sollen wir sie mit
der Geschichte ihrer Eltern verschonen oder durch sie auf
Widriges, Schwieriges, auch Unvorhersehbares aufmerk-
sam machen? Wird den Unerfahrenen die Erinnerung der
Eltern helfen oder wird sie sie bedrücken? Müssen Söhne
und Töchter ihre eigenen Erfahrungen machen? Das Zu-
einander von Kain und Abel ist nicht das beste. Kain ist
schweigsam, zu sehr in sich gekehrt. Abel? Eva liebt seine
Unschuld. Wir werden sehen. Noch kann ich die beiden
schützen. Eines Tages, fürchte ich, wird Prüfung auch
über sie kommen. Mögen sie das Unvorhergesehene
besser bestehen als ihre Eltern.

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E va sprach

Eva ist an allem schuld. Eva hat den Garten verloren. Eva
hat uns ins Elend gestürzt. Sie ist die Versuchung des
Mannes, die Urmutter des Bösen. Sogar am Tod soll ich
schuld sein. Bin ich das? Oder muss ich es sein? Brauchen
die Männer Entlastung für ihr Tun? Benötigen sie eine
Sündenziege? Hätten Frauen die Gartengeschichte ge-
schrieben, sie hätten den Vorgang anders berichtet. Ja, da
war etwas, an dem ich beteiligt bin. Unbedachtsamkeit,
vorschnelles Handeln, eine Verwirrung mit Folgen. Keine
glückliche Geschichte. Aber es fragt sich, ob unser Leben
überhaupt eine glückliche Geschichte werden konnte
oder ob man Menschwerdung nicht anders sehen muss.
Wie? Als eine Verkettung von Umständen, über die der
Mensch nicht einfach verfügt, die er nicht immer ausrei-
chend erkennt. Ich, Eva, bin durch die schmerzliche Ver-
änderung zum Denken gekommen. Ich begriff, dass unbe-
schwertes Wandeln im Garten die bleibende Lebensform
nicht sein kann.
Adam und ich waren miteinander, zueinander. Einer
vor dem anderen im Sinn einer Reihenfolge, gar Rangfol-
ge? Ich weiß nicht. Die Geschichte, die aufgeschrieben ist,
sagt allerdings, ich sei aus Adams Seite hervorgegangen.
Seine Tochter bin ich nicht, gewiss nicht. Denkbar wäre
auch, dass er aus mir hervorgegangen ist. Gebären kön-
nen nur Frauen. Wie wir beide auf die Welt kamen, wis-

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sen wir nicht, auch heute noch nicht. Auf einmal waren
wir. Wir schlugen die Augen auf. Wir sahen Licht. Wir er-
blickten einander. Was davor war, wissen wir nicht. Ob
andere Wesen uns angeschaut, auf uns gewartet haben,
wissen wir nicht. Ob wir aus Tierheit kamen, aus Staub
und Lehm, aus Licht und Luft, wir wissen es nicht, wir
waren nicht dabei, als wir entstanden. Adam und Eva fan-
den sich vor. Wir kommen aus dem Dunkel eines An-
fangs. Falls Tiere vor uns waren: Sie haben nicht von uns
gesprochen. Falls Lehm an unserem Entstehen beteiligt
war: Der spricht nicht. Der Herr, der uns schuf, erklärte
uns nicht den Vorgang unserer Entstehung. Er sagte auch
nicht, warum wir entstanden sind. Er setzte uns in einen
Garten. Er überließ uns den Garten, allerdings unter einer
Bedingung. Er nannte die Bedingung Gebot. Ich glaube,
dass wir dieses Gebot von Anfang an nicht richtig verstan-
den haben. Es setzte einen Unterschied von Ja und Nein,
einen tödlichen Unterschied. Dabei wussten wir noch gar
nicht, was Tod ist. Ich erlaube mir zu fragen: Wie kann
man jemandem etwas androhen, was der gar nicht kennt?
Wir sahen keinen Baum sterben. Kein Tier starb vor unse-
ren Augen. Wir lebten, nicht sehr bedacht, nicht sehr be-
wusst, aber glücklich. Einfach glücklich. Dass es nur bis
auf weiteres glücklich war, wussten wir nicht. Wir kann-
ten keine Zeit. Davor und danach spielten keine Rolle.
Wir waren bei uns. Wir lebten unter Bäumen. Wir lebten
am Wasser. Was wir brauchten, war erreichbar. Feigen an
den Bäumen, Körner an Halmen, Lämmer im Gras, Fische
im Wasser. Es war eine schöne Gegenwart. Wir fragten
nicht nach gestern. Wir dachten nicht an morgen. War es
Spiel? Ja und nein, wir kannten ja nicht das Gegenteil. Wir

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kannten nicht mühevolle Arbeit. Waren wir uns genug?


Auch dazu würde ich sagen: Ja und nein. Wir hatten keine
Bedürfnisse, die uns bedrängten. Aber unser Dasein hatte
kein Ziel, es sei denn, die Einhaltung des Gebotes ist das
Ziel gewesen. Doch wir wollten trotz des glücklichen
Zustands mehr sein, als wir waren, mehr werden, als wir
bisher ohne unser Zutun geworden waren. Irgendwie
wollten wir uns nicht einfach risikolos betätigen.
Der Baum, dessen Früchte wir nicht kennen lernen
sollten, zog mich mächtig an. Auch Adam zeigte Interesse.
Wir wollten den Baum in der Mitte des Gartens kennen
lernen. Warum sollen wir immer um ihn herumschlei-
chen und wegschauen? Hinschauen wollten wir, den Blät-
tern und Früchten Guten Tag sagen. Seine Schönheit und
Größe beeindruckte uns. Wir gingen auf ihn zu. Da
schlängelte aus dem Gebüsch eine Schlange her. Sie rich-
tete sich auf, Kopf und Hals glitzerten im Licht. Sie zün-
gelte. Auf einmal redet sie uns an. Obschon wir mit Tieren
bisher nicht gesprochen hatten, konnten wir ihre Worte
verstehen. Sie sagte: »Wenn in dem Baum eine Kraft
steckt, die euch sein lässt wie Gott, warum wollt ihr nicht
essen? Ihr könnt in seiner Frucht dem Göttlichen begeg-
nen. Durch Essen kann das Göttliche in euch Eingang fin-
den.« Eingang, dachte ich. Manchmal ging Adam in mich
ein. Es war süß. Es löste in mir wonnevolle Schauer aus.
Auch Adam erschauerte dabei. Aber jetzt war eine Sperre.
»Er hat den Baum verboten«, sagte ich. »Er hat die Frucht
des Baumes nicht gestattet«, setzte Adam hinzu.
Die Schlange schien über ein besseres Wissen zu ver-
fügen. Sie gab Erfahrung vor. Mir schien, sie meinte es
freundlich mit uns. Nachdrücklich kam sie auf das Göttli-

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che zurück, das in uns eingehe und uns erfülle. Erfüllt


sein, das wollte ich. O Baum, wer bist du? Herrlich gelb
und rot leuchteten die Früchte. Die ausladenden Äste wa-
ren eine Augenweide. Meine Lust war erregt. Auch Adam
schien fasziniert. Ich konnte nicht widerstehen und brach
einen Apfel ab. Ich biss hinein, langte nochmals hinauf
und reichte einen zweiten Adam. Der nahm ihn freudig
entgegen, glücklich, dass ich entschieden hatte.
Entschieden – geschieden. Das war’s. Plötzlich
schmeckte der Apfel bitter. Keine Süße mehr. Ich hörte Ge-
zische und Gekrache. Bis in mein Innerstes erbebte ich. Ich
stürzte zu Boden, stand auf und rannte, rannte, so weit die
Füße trugen. Aus Angst oder weil ich mich verfangen hatte,
stürzte ich erneut nieder. Ich weinte und würgte. »Adam!«,
rief ich, »Adam, wo bist du?« Er war weit fort, viel weiter
ins Gebüsch geflohen. Adam konnte nicht helfen. Der Herr
des Gartens hatte ihn bereits zur Rede gestellt, als ob wir
nicht selbst gewusst hätten, was geschehen ist. Leider
wussten wir es nicht ganz. Mehr als unsere Bitterkeit und
Flucht. Eine Fluch- und Drohrede folgte, die unser Leben
veränderte. Adam war der Donnerrede nicht gewachsen.
Anfangs versuchte er noch, sich auf mich hinauszureden.
Warum nicht. Schließlich hatte ich nach dem Apfel ge-
langt, zuerst hineingebissen und einen zweiten ihm ge-
reicht. Adam wurde nicht nur getadelt, sondern verurteilt
und bestraft. Nicht mehr der gartenfrohe junge Mann durf-
te er sein, Mühsalwerker soll er werden. Nicht mehr Hei-
mat, sondern Fremde. Hunger und Durst, Mühe und
Schweiß. Disteln und Dornen, den verkrusteten Boden ha-
cken. Säen, ehe die Saat aufgeht. Das Nötigste besorgen,
ums Überleben kämpfen.

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Nach Adam wurde ich zur Rede gestellt. Ich war schon
hellhörig geworden. Nach dem Warum gefragt, warum
ich es getan hätte, verwies ich auf die Schlange. Ich habe
die Schlange (die du erschaffen hast, dachte ich) nicht ge-
rufen. Sie war plötzlich da und mischte sich ein. Klingen-
de Rede hat mich zum Genuss aufgefordert. Er muss es
selbst gehört haben. Er hat sie jetzt verflucht, wie er
Adams Acker verflucht hat. Jetzt griff er in meine Weib-
lichkeit ein. Unter Schmerzen soll mein Schoß gebären.
Nicht lustvoll, unter Schmerzen werde jeder Mensch fort-
an zur Welt kommen. Dann wandte er sich ab. Ich lag am
Boden zerstört.
Wir brauchten lange, um zu uns kommen und einan-
der wieder anschauen zu können. Wir setzten uns. Er
trocknete meine Tränen. »Adam«, fragte ich, »bist du mir
böse?« – »Nein«, sagte er, »ich war auch gierig, gierig
nach dem Neuen, gierig nach Göttlichem. Dass unser Zu-
griff so ausgeht, konnte ich mir nicht vorstellen. Ich habe
dich nicht gehindert, sondern dir zugestimmt.« Wir sa-
ßen lange. Wir mussten nachdenken, mehr noch voraus-
denken. Was ist zu tun? »Du bist nackt, Eva.« – »Du bist
nackt, Adam.« Nackt hat Er uns erschaffen. Aus Blättern
flochten wir Röcke. Die ersten Tage war schwierig, sehr
schwierig. Äpfel hingen nicht mehr an den Bäumen. Die
Hitze des Tages und die Kälte der Nacht setzten uns zu.
Wir gruben nach Wurzeln. Aus Ästen und Blättern bauten
wir eine Hütte. Ein zweites Dasein war uns aufgegeben.
Das erste entschwand in immer weiterer Ferne. Ganz ver-
schwunden ist es nicht in unserer Erinnerung. Ich glaube,
sagte ich zu Adam, wir waren ein göttlicher Entwurf. Ein
Entwurf seines Könnens. Haben wir nicht eine schöne Ge-

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stalt? Aufgerichtet gehen wir, im Unterschied zu den Tie-


ren. Anders als Vierbeiner, die Vögel und die Bäume kön-
nen wir sprechen. Aber die Vögel können auch sprechen,
meinte Adam. Schon, doch nicht so deutlich wie wir. So
viele Laute und so viele Namen können sie nicht bilden.
Wir spürten, dass sich unser Denken und Sprechen, seit
wir das Dasein im Garten verloren haben, stark entwickel-
te. Anschauendes Bewusstsein breitete sich aus. Eine Fä-
higkeit unserer Natur entwickelte sich. Wir machten
Werkzeuge. Wir lernten, uns auf uns selbst zu verlassen.
Wenn uns etwas gelang, freuten sich Eva und Adam. Mit
der Zeit wurde die belastende Erinnerung weniger. Wir
hatten Ziele vor Augen. Die Arbeit erfüllte uns auch.
Eines Tages kam unser erster Sohn zur Welt, nicht
lang danach unser zweiter. Ich legte sie an die Brust, gab
ihnen Milch. Sie schauten mich herzergreifend an. »Sieh,
Adam, dein Sohn«, sagte ich. Nach einer Anzahl Monde
richteten sie sich auf. Wir sprachen zu ihnen und lehrten
sie sprechen. Jetzt erweiterte sich die Sorge. Können El-
tern ihren Kindern den Weg bereiten? Eine weitere Ver-
treibung hindern? Müssen Söhne und Töchter selbst das
Mögliche und das Verbotene erkunden, sich mit dem Ge-
botenen auseinander setzen? Manchmal kamen mir helle,
manchmal trübe Gedanken. Es war mir nicht deutlich,
wie weit wir den Herrn, der uns aus dem Garten vertrieb,
auch fürderhin brauchten. Brauchte er uns? Mir schien, er
deutete an, dass wir nicht verlassen seien. Aber jetzt muss-
ten wir uns unter den veränderten Umständen bewähren.
Jeden Tag ging die Sonne auf. An jedem Tag wollte bis
zum Abend etwas geschafft sein. Jeder Tag verlangte nach
Gespräch.

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K ain sprach

Kain soll reden. Kain will nicht reden. Kain ist nicht zum
Reden aufgelegt. Er will in Ruhe gelassen werden. Er will
allein gelassen werden. Er wird sein Mal auf der Stirn wei-
ter tragen. Kain ist schuldig geworden, aber zum Weiter-
leben zugelassen. Er lebt auf Bewährung. Kain muss sein
Leben weiter bringen. Kain muss denken.
Seine Geschichte besteht, wie die Schreiber wissen, aus
zwei Geschichten. In der einen ist er Adams und Evas
Sohn, in der anderen wird er Stammvater der Kainiter. In
der ersten direkter Nachkomme der aus dem Paradies Ver-
triebenen, in der zweiten ein umsichtiger Schmied, Vieh-
züchter, Städtebauer, sogar Flötenspieler. Sein erster
Wohnsitz war an der Grenze zu Eden, der zweite östlich,
im Lande Nod. Nod ist ein Land der Flüchtlinge, der Vertrie-
benen. In Nod hat ihn Arbeit vor übermäßigem, man könnte
auch sagen vor rückwärts gewandtem Denken bewahrt. Was
einer nicht ändern kann, mit dem muss er leben.
Kain, wo ist dein Bruder? Das hallt mir bis in die Einge-
weide nach. Ich musste den Hall fortschicken. Ich musste
ihm sagen, es ist geschehen, lass mich in Ruhe. Natürlich
habe ich mich mit meiner Tat auseinander gesetzt. Ich billi-
ge sie nicht. Über sie reden wollte ich nicht. Wie hätte ich
das können, wo ich sie selbst nicht verstand, damals nicht
und auch später nicht wirklich. Ich glaube, ich hatte schon
früh schwierige Gefühle. Etwas von der Düsternis meines

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Vaters rumorte in mir. Von den Geboten Gottes wusste ich.


Vater Adam war von ihnen erfüllt. »Du sollst den Herrn,
deinen Gott, ehren. Du sollst deinen Bruder nicht töten.«
Böse Gedanken kamen in diesem Verbot nicht vor. An-
scheinend musste man mit ihnen selbst zurechtkommen.
In mir stiegen böse Gedanken auf, sie machten mir zu
schaffen. Ich war Erstgeborener. Ich durfte eine Bevorzu-
gung erwarten. Aber mir schien, meine Mutter war nicht
recht froh mit mir. Ich lief wie nebenher. Froh wurde sie
mit ihrem Zweitgeborenen. Sie liebte Abel. Sie herzte ihn.
Sie schenkte ihm ihre Aufmerksamkeit. Sie zog den Jünge-
ren vor. Vielleicht hatte sie bei ihm als Mutter mehr Erfah-
rung als bei ihrem Erstgeborenen. Vielleicht hatte sie sich
mit dem Gebären abgefunden. Es verlief unter Schmer-
zen. War Abels Geburt leichter? Wie immer sie war, der
lächelnde Knabe gefiel ihr so viel besser als mein Stirnrun-
zeln. Soweit ich mich erinnern kann, hat sie mich nie in
die Arme genommen wie ihren Sohn Abel. Sie schaute
mich nicht mit dem Entzücken an, mit dem sie den jünge-
ren anblickte. Der räkelte sich an ihrem Busen. Jedes Mal
schien es mir, als hätte sie darauf gewartet. Aber wartete
sie auch auf mich? Warum gab sie mir kein einladendes
Zeichen? Das weiß ich bis heute nicht. Ich suche Gründe,
ich suche eine Erklärung. Vater Adam konnte nicht hel-
fen. Mir schien, sein Zusammenleben mit Eva war nicht
das glücklichste. Sie hatten manchmal Meinungsverschie-
denheiten. Meist war er beschäftigt, ich hatte den Ein-
druck, oft auch mit sich selbst. Unfrieden hatte er bei
seiner Vertreibung erfahren. Mit seiner Frau wollte er in
Frieden leben. Bitte keine störenden Fragen. Keine langen
Gespräche über Zuneigung und Abneigung, Wünsche und

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Pflicht. Vater wusste, dass ich hart arbeiten konnte. Ich


ging ihm zur Seite auf dem Feld. Mit Tieren konnte ich gut
umgehen. Ich hatte Gefühle für sie, für ihr Stummsein, ihre
Bewegungen, ihre Rufe, ihren Futterdrang.
Als die Eltern nicht mehr jung waren, schauten sie
nicht sehr fröhlich drein. Adam blieb mir gegenüber wort-
karg. Auf Liebesbezeugungen meiner Mutter Eva wartete
ich vergebens. Manchmal schien mir, ich müsse glauben,
dass sie meine Mutter ist. Aus ihrem Schoß geboren, an
ihrer Brust gesäugt. Aber vielleicht ist das die Sicht eines
unzufriedenen Sohnes.
Eines Tages nach dem Abendbrot sagte Vater Adam mit
gewichtiger Stimme: »Der Herr hat uns nach seinem Bild
erschaffen.« – »Wir sind erschaffen, nicht nur geboren? Ich
auch?«, fragte ich. »Du auch«, erwiderte Adam. In mir stie-
gen Zweifel auf. Ich konnte kein Bild in mir erkennen, we-
der das eines Gottes noch mein eigenes. Hatte Vater Adam
den Herrn im Garten einst gesehen? Oder nur gehört? Er
sprach wiederholt davon, wie er Ihn gehört habe, zuerst
freundlich, dann feindlich. Ich habe keine Vorstellung von
diesem Gott des Gartens, der meine Eltern vertrieb, weil sie
einen schönen Apfel pflückten. Was sollte mich an diesen
Gott erinnern, dem ich nicht begegnet bin? Ich war nicht
dabei, als er Adam den Odem einblies und meine Mutter
aus seiner Rippe holte. Mir blieb diese Vorstellung fremd.
Adam schien immer wieder an die Gartengeschichte zu
denken. Ich glaube, sie hat ihn nicht losgelassen. In stern-
hellen Nächten träumte ich manchmal von dem Garten,
der so wunderbar duftete und so fruchtbar war. Aber be-
wohnt habe ich ihn nie. Ich fühlte mich als Vertriebener.
Warum musste Er mit den Eltern auch noch die Kinder

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vertreiben? Über solche Fragen konnte ich mit Adam nicht


sprechen. Sie blieben Selbstgespräche. Ich fühlte mich al-
lein in dieser Familie. Ich fühlte mich auch allein gegen-
über Adams Gott. Ich glaubte nicht so einfältig wie Abel. In
mir gärten Fragen. Ich hegte Vorbehalt. Da waren Unter-
schiede in unserer Einstellung zu dem Gott des Gartens
und der Vertreibung. Mir schien, Er mag mich nicht. Mir
schien, Er zieht – wie meine Mutter – Abel vor. Ich habe nie
der lichten Welt Abels angehört. So weit ich mich erinnern
kann, habe ich nie vor mich hin geträllert. Ich habe mein
Befinden nicht gewählt. Es hat sich eingestellt.
An das Gebotene hielt ich mich. Wir brachten Jahr für
Jahr unsere Erstlingsopfer dar. Abel ein Lamm, ich Garben
von den Früchten des Feldes. Der Herr schaute auf Abels
Opfer mit Wohlgefallen. Meines schien er nicht zu beach-
ten. Als wäre meine Gabe des Ansehens nicht wert. Als ver-
diente sie keine göttliche Flamme. Statt nach oben zu
schauen, senkte ich meinen Blick, zunächst auf die Erde,
dann in mich hinein. Abel war mehr als zufrieden. Er
strahlte, ich blickte finster. Er triumphierte, ich lamentierte.
Die Not seines Bruders sah er nicht. Er war so erfüllt von
Wohlgefallen. Sein Lamm war angenommen, meine Garbe
verworfen. Ich wandte mich ab. Dann ergriff ich einen Stein.
Meinen Eltern hatte sich in ihrer Geschichte die
Schlange genähert. Mir hatte sich ein Dämon genähert.
Wie der in mich eindrang, weiß ich nicht. Auch heute
nicht. Ich beschwerte mich über das ungleiche Verhalten
des Herrn. Ich zeigte Unmut. Lebe einer weiter, wenn sein
Opfer zurückgewiesen wird. Vielleicht war ich nicht so
ehrfürchtig wie Abel, weniger dankbar. Wie hätte ich so
ehrfürchtig wie dieser Schwächling sein können? Was ich

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erarbeitet hatte, die Früchte des Feldes, brachte ich als Op-
fer dar. Ich nahm eine zweite Garbe. Als Zeichen meiner
Unterwerfung brachte ich sie dar. Ich wollte anerkennen,
dass alles Fruchtbare von Ihm ausgeht. War das zu wenig?
Er wollte meine Gaben nicht. Das Lamm Abels wollte Er.
Das verstehe einer. Da sei einer nicht beleidigt. Wäre ein
Einvernehmen mit meiner Mutter gewesen, hätte ich ihr
das Geschehen erzählt, die ungleiche Behandlung, meinen
Opferwillen und meine Enttäuschung. Wenn sie meine
Niedergeschlagenheit verstanden hätte, hätte ich auch die
Niederlage überwunden. Niederlage des Älteren bei glei-
cher Ausgangslage. Niederlage des Stärkeren bei gleichem
Tun. Oder zieht der Herr des Himmels und der Erde blutige
Opfer vor? Das kann ich mir nicht vorstellen, dass ihm ein
getötetes Tier mehr bedeutet als eine Garbe Ähren. Zurüc-
kgewiesen, lief ich auf dem Acker auf und ab und sagte:
»Stell dir vor, Acker, Er mag mich nicht, Er mag auch dich
nicht, obwohl wir uns beide redlich um Wachstum bemüht
haben, du mit deiner Fruchtbarkeit, ich mit meiner Ar-
beit.« – »Ja«, sagte der Acker, »wir zwei, wir sind nicht be-
vorzugt. Mich stechen Disteln, dich trifft Ablehnung.« Mit
dem Acker konnte ich reden, er verstand mich.
Nach Tagen der Ratlosigkeit sagte ich zu Abel: »Gehen
wir aufs Feld.« – »Auf dein Feld oder auf meine Wei-
den?«, fragte er. »Wie du willst«, sagte ich. »Besser auf
mein Feld. Du könntest es dir mal ansehen.« Abel war ein-
verstanden. Draußen stellte ich mich ihm gegenüber auf.
»Du«, rief ich, »du Muttersohn, du Leisetreter, du ein-
fallsloser Pinsel, du Gottesschleimer.« Dann packte ich
ihn, warf ihn nieder und schlug einen Stein gegen seine
Stirn. »Hör auf!«, rief er. Da schlug ich noch heftiger auf

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ihn ein. Blut rann von seiner Schläfe, Blut troff ihm aus
dem Mund. Soll er bluten wie sein Schlachtschaf. Er rang
nach Luft. Ich schlug nochmals zu. Er röchelte. Dann ver-
stummte er. Ich ließ ihn liegen und ging von dannen.
Weit war ich noch nicht gekommen, da wurde ich ge-
stellt. »Wo ist dein Bruder?«, rief Er. »Dein Bruder Abel?«
– »Wo soll er sein?«, knurrte es in mir. »Er wird bei sei-
nen Schafen liegen irgendwo auf den Weiden. Bin ich der
Hüter meines Bruders?« Das war ich nie gewesen. Meine
Mutter war die Hüterin ihres Sohnes. Ich nie der Hüter
Abels. Wir waren früh verschiedene Wege gegangen. Ich,
der Stärkere, musste mich gegen den Schwächeren weh-
ren. Der Stein war Notwehr. »Es war Notwehr!«, rief ich.
Ihm schien das nicht zu genügen. Er fing an, mich zu ver-
fluchen wie schon meinen Vater Adam. Nicht nur Mühe
und Schweiß verhieß er mir, ertraglos sollte mein Acker
bleiben, unfruchtbar. Ich soll rastlos umherziehen, fried-
los, ohne Ruhe. Was hätte ich antworten können? Was
hätte ich sagen sollen gegen die Donnerstimme? Ich habe
mich gegen Abel gewehrt. Ich musste Abel töten. Viel-
leicht habe ich mich auch gegen seinen Gott gewehrt.
Eine Stimme flüsterte mir zu: Töte Abel. Dann bist du ihn
los. Töte deinen Konkurrenten. Wir konnten miteinander
nicht leben. Er war mein Gegner seit Geburt. Ich musste
mich von ihm befreien. »Ja«, rief ich, »ich bin schuldig.«
Ich verbarg mein Antlitz vor Ihm.
Nach einiger Zeit war Er offenbar gnädiger gestimmt.
Ich sollte nicht der Blutrache verfallen, sagte Er. Weder
hier noch, wenn ich weiter nach Osten zöge, sollte ich er-
schlagen werden. Er gab mir ein Zeichen auf die Stirn.
»Wer Kain erschlägt«, sprach Er, soll siebenfacher Rache

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verfallen.« Dann verschwand der mächtige Redner. Ich


zog von dannen, in Richtung des Landes Nod. In Nod
werden die Männer vor Blutrache geschützt. Sobald ich zu
ihnen gehörte, schützte mich mein Zeichen. Das ist die
zweite Geschichte. In der ersten habe ich getötet. In der
zweiten durfte ich weiter leben. In der zweiten erhielt ich
Helfer. Kain erhielt eine zweite Lebenschance. Kain ver-
stand und nutzte sie. Er war nicht frei von Selbstvorwür-
fen. Aber er ließ grübelnde Gedanken fahren. Er war ge-
willt, das Angebot zu einer zweiten Lebensbahn zu nut-
zen. Schau nach vorne, Kain. Stell dich auf deine Füße.
Lass dich nicht von hinten überwältigen.
Mit diesem Vorsatz entdeckte ich neue Fähigkeiten
in mir. Ich gesellte mich zu den Männern und Frauen.
Ich heiratete, baute ein Haus und zeugte Kinder. Werk-
zeuge fertigte ich. An Festen unterhielt ich die Nachbarn
mit Flötenspiel. Ich war von ihnen angenommen. Dass
ich rundum gesegnet war, würde ich nicht sagen. Aber
ich ertrug die Mühsal des Lebens. Ich fand die Tage le-
benswert. Meine Kinder erfuhren nichts von meinem
Brudermord, auch meine Frau nicht. Das hätte sie völlig
verwirrt. Meine Arbeiten gelangen. Die Nachbarn bejah-
ten mich als Person und in meiner Arbeit. Einige holten
sogar Rat bei mir. Kain hatte zum Leben gefunden. Er
gab Leben weiter. Meine Söhne gründeten wieder Fami-
lien. Sie gewannen ergebene Frauen und wurden Stamm-
väter. »Danke«, sagte ich zu dem Herrn, der meine Ga-
ben nicht angenommen hat. »Danke, dass du mir eine
zweite Chance gegeben hast. Ich habe sie genutzt. Ich
habe das Leben angenommen. Im Lande Nod bin ich zum
Frieden gekommen.«

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A braham sprach

Ich prüfte die Luft. Die Herden brauchten dringend Re-


gen. Die Gräser verdorrten. Der Brunnen war abgesun-
ken. Ich hoffte auf Segen von oben. Hinter den Bergen zo-
gen Wolken auf. Über den Bäumen gleißte die Luft. Sie
flimmerte wie fast immer um die Mittagszeit. Knechte, die
nicht bei den Tieren waren, lagen im Nebenzelt. Sara
machte sich mit der Sauermilch zu schaffen. Ich war
schläfrig. Ich wollte sie zum Mittagsschlaf rufen. Unter
den Eichen war die Sonne erträglich. Auch ein paar Mut-
terschafe lagerten hier, die Jungtiere lagen in der Senke.
Hin und wieder blökte ein schläfriges Tier.
Ich trat nochmals vor das Zelt und schaute über die
Ebene. In der Ferne kamen Gestalten aus dem Dunst. Sie
gingen zu Fuß. Ich ging ein paar Schritte auf und ab. Dann
sah ich sie näher kommen. Drei Männer, ohne Frauen,
ohne Tiere. Ich schirmte die Hände über die Augen. Es
waren drei. Vielleicht brachten sie Neuigkeiten vom Jor-
dan oder von Sodom herauf. Ich hoffte, dass sie auf dem
Weg keine allzu großen Herden gesehen hatten. Das Gras-
land ist karg. Schon die eigenen Herden finden zu wenig
Futter.
Wohin sind die drei unterwegs? Kommen sie zufällig
des Weges? In welcher Richtung werden sie weiterziehn?
Wollen sie etwas von mir? Oder gehen sie einfach auf die

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Zelte zu? Meine Kundschafter suchen Grasland. Aus


Streitigkeiten mit anderen Herdenbesitzern halten wir uns
heraus. Solange wir an einem Ort unsere Zelte aufgeschla-
gen haben, wollen wir keine Schwierigkeiten in der
Gegend.
Die Männer kamen näher. Etwas in mir wartete. Aber
erwartet hatte ich die drei nicht. Aufrecht gingen sie mit
ihren Stöcken. Als sie näher kamen, dachte ich, das sind
Herren. Diese Ruhe des Schreitens, diese Würde der Ge-
stalt. Ich ging ihnen entgegen, grüßte sie und beugte mich
zur Erde. »Schalom«, sagten sie. Auch ich wünschte ih-
nen Friede. Dann, als wären sie einer, sprach ich: »Ado-
nai, mein Herr, kehre bei deinem Knecht ein. Es wird
gleich Wasser geschöpft aus dem Brunnen, dann badet
euere Füße unter dem Baum. Ich werde Brot holen und ei-
nen Krug Milch.«
Die drei setzten sich unter die große Eiche. Ich lief ins
Zelt. »Schnell!«, sagte ich zu Sara. »Drei Maß Mehl, knete
Teig. Backe Brot für die Herren.« – »Brot für wen?«, fragte
sie. »Für drei Herren«, wiederholte ich. »Sie sind eben vor
unseren Zelten angekommen.« Dem Knecht befahl ich, er
solle ein junges Rind holen und zubereiten. Den Ange-
kommenen bot ich kühle Milch und warmen Tee. Sara
machte Feuer. Wenig Überraschung gewährt in ihrem Al-
ter ein Besuch. Wir hatten uns in unserer Kinderlosigkeit
mit Hagar geholfen. Hagar, die Magd, hat Ismael geboren.
Ob Sara mit der Geburt einverstanden war, weiß ich nicht.
Ismael hieß für sie Verzicht. Wir haben nie darüber ge-
sprochen. Froh ist Sara nicht geworden, Abrahams
Erstfrau ohne Sohn. Auch ich musste das ertragen. Wir
waren beide nicht mehr jung.

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Als die Herren aßen, stand ich. Sie benutzten die Hand
wie wir. Als sie gesättigt waren, fragten sie: »Wo ist Sara,
dein Weib?« – »Im Zelt«, sagte ich. Das gehört sich doch
für eine Frau, dachte ich. Aber meine Antwort genügte ih-
nen nicht. Sie schauten mich an. Dann sprachen sie, als
würden sie unsere Geschichte kennen. Sie ist ja im Um-
kreis bekannt. Ich atmete tief, blickte auf den Boden und
verschaffte mir eine Pause. Wozu mischen die sich ein,
dachte ich.
Da sprach der Herr, der aufgestanden war: Ȇbers Jahr
komm ich wieder. Dann wird Sara, dein Weib, von dir ei-
nen Sohn haben.« Eine ungeheure Behauptung. Ich hielt
meinen Zweifel zurück. Aber Sara, die im Eingang des
Zeltes stand, die immer noch neugierige Sara lachte laut.
Wo doch jeder weiß, dass ich über die Jahre bin, dachte
sie, und auch Abraham ist nicht mehr jung. Der Herr muss
das Lachen gehört haben. Mit einem Beiklang des Tadels
fragte er: »Warum lacht Sara?« Wahrscheinlich wusste er
sehr wohl, warum sie lachte. Aber Er wollte es von mir
wissen. Dann fuhr Er fort: »Sollte dem Herrn etwas un-
möglich sein?« Unmöglich, das Wort kannte ich nicht.
Ich dachte an die Natur bei Tier und Mensch. Ich weiß,
wenn es anfängt und wenn es aufhört. Ich weiß, was in
der Natur möglich ist. Unmögliches habe ich nicht beo-
bachtet. Doch ich erlaubte mir keinen Einwand.
»Sollte dem Herrn etwas unmöglich sein?«, klang es
nach. Was für eine Frage. Wie sollte ich die Antwort wis-
sen? Den Herren, die ich bisher kennen gelernt hatte, war
nicht alles möglich. Einige vermochten sehr viel, aber al-
les? Ich glaube, keiner. Was soll die Rede? Was ging da
vor sich? Ich war, wie stets, verlegen, wenn auf den ausge-

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bliebenen Kindersegen angespielt wurde. Im Augenblick


dachte ich nicht an Zukunft. Die Weiden boten genug
Futter und die Knechte waren zufrieden. Was in Zukunft
geschehen würde, wussten wir nicht. Meinte der Herr
wirklich einen Sohn? Einen Sohn von Sara, nicht von Ha-
gar? Wer war der Sprecher? Was konnte er wirken? Woll-
te er eingreifen? In einem Jahr werde er wiederkommen,
sagte er. Das hieß, dass ich ein Jahr hier bei den Eichen
bleiben sollte. Einige Male hatte ich schon überlegt, in
welcher Richtung wir weiter ziehen sollten, wenn das
Weideland nichts mehr hergeben würde.
Während sich meine Gedanken bewegten, trat Sara
aus dem Zelt. Sie hatte erkannt, dass ihr Lachen bei den
Herren Missfallen erregt hatte. »Ich habe nicht gelacht«,
rief sie herüber. Was hätte sie sonst rufen sollen? Meine
Sara zeigte Mut. Die bleibt nicht einfach stumm, wenn
über sie geredet wird. Ich glaube, sie wollte sich herausre-
den, den ungünstigen Eindruck bei den Herren verbes-
sern. Da mir die Herren großen Respekt eingeflößt hatten
und ich die Widerrede nicht gutheißen konnte, bestätigte
ich: »Ja, sie hat gelacht. Nehmt es ihr nicht übel. Sie rea-
giert manchmal sehr spontan und sie wehrt sich mit La-
chen.« Ich weiß nicht, was die Herren jetzt dachten. Of-
fenbar wollten sie den Misston nicht weiter bereden. Sie
erhoben sich, dankten für das Mahl und nahmen ohne
Umschweife Abschied.
Ich weiß nicht warum, aber mir kamen Tränen,
Schaudertränen, Furchttränen, Freudentränen. Ich woll-
te sie nicht zeigen, nicht den sich verabschiedenden Gäs-
ten, nicht Sara. Deshalb blickte ich in eine andere Rich-
tung. Da wandte der Herr sich mir zu: »Ich wollte es dir

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kundtun«, sprach Er. »Du und Sara und euer Sohn, ihr
sollt eine große Familie werden, ein Stamm sollt ihr wer-
den, ein Volk sollt ihr werden.« Dann hörte ich noch
»Völker« und »glaubt mir«.
Völker habe ich durchwandert. Dabei habe ich immer
an den Herrn geglaubt. Wie hätte ich sonst diese Wege
von Haran in den fernen Norden, danach in das fremde
Kanaan ziehen können. El Schaddaj, dachte ich, wie viele
Gestalten hast du? Die Männer gingen fort. Sie schlugen
den Karawanenweg Richtung Sodom ein. Ihre Gegenwart
schwand im Dunstschleier des Nachmittags. Ich dachte
über ihr Kommen nach und über ihre Rede. Ich war ergrif-
fen, von ihrer Erscheinung und von ihrem Wort. Mit ih-
nen kam ein Zauber unter die Bäume, ein Zauber über das
Zelt. Ich hatte außer dem, was die Gastfreundschaft gebie-
tet, nichts sagen können. Nachträglich wurde es mir
bewusst: Wir waren keine gleich gestellten Redner.
Auch Sara trieb es um. Die Rede des Gastes hatte sie
aufgewühlt. Der Fremde hatte etwas angesprochen, was
ihr Innerstes berührte. Etwas, was sie schamvoll verber-
gen wollte – obwohl man es nicht verbergen kann. »Er
kann Anfang schaffen, wo es Anfang nicht mehr gibt«,
sagte ich. Das Ferne kann ganz nah kommen. Ich nenne
ihn Fernnaher. »Der Fernnahe ist gekommen«, sagte ich
zu Sara. – »Wer kam?«, fragte sie zurück. »Mach keine so
schwierigen Worte. Wir werden sehen, ob er wieder
kommt in einem Jahr.« Sara dachte an das Nächste.
»Komm du erst zu mir«, sagte sie. Dann gingen wir
zusammen ins Zelt.
Am folgenden Tag errichtete ich mit Steinen ein Mal.
Das war ich den Herren schuldig. Die Knechte mussten

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aus dem Umkreis Steine herbeitragen. Das Mal sollte grö-


ßer werden als die bisherigen Mäler. Ein Erinne-
rungs-Mal, ein Ehrungs-Mal, ein Denk-Mal, ein Mal für
die drei Herren. Wer waren sie? Drei, aber ein Sprecher.
Ein Sprecher für drei. Ich hatte unseren El auf den Wan-
derungen El Schaddaj genannt. Schützer, mein Schützer,
unser Schützer, höchster Geleiter. Ich liebe den Namen.
Ja, Er gab uns sein Geleit. Er war nicht der Shin-Gott, kein
Baal, nicht Marduk. Ich sagte: »Unser Wisser, unser Besu-
cher, unser Erwähler, unser Er-rührt-das-Innerste-an.«
Ich suchte nach Namen. »Und das Äußerste«, rief Sara,
die mein Selbstgespräch gehört hatte. Innen und außen,
fern und nah. Wie wird die Nähe weitergehen, wie die
Ferne?

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I saak sprach

»Isaak, mein Sohn, wir machen uns morgen auf den


Weg«, sagte Vater Abraham. »Wir brechen früh auf, um
einen heiligen Berg zu besteigen. Oben werden wir dem
Allerhöchsten ein Opfer darbringen. Ich will, dass du mit-
kommst.« Er sagte es sehr entschlossen, nicht eben
freundlich. »Ist der Berg weit?«, fragte ich. »Ist er hoch?
Dauert die Reise lang?« Mein Vater gab keine klare Ant-
wort. Vielleicht wusste er es selber nicht genau. Dann
fragte ich noch: »Treffen wir Verwandte unterwegs? Wird
die Reise lustig?« Ich war gerade neun Jahre alt und hatte
noch nie mit dem Vater eine weite Reise gemacht, noch
nie einen hohen Berg bestiegen. »Aber dass du den Jungen
nicht überforderst«, mischte sich Sara ein. »Du weißt, er
ist zum ersten Mal mehrere Tage unterwegs.« Sie hatte
wieder zugehört.
Ich schlief unruhig. Ich träumte schlecht. Jemand
trachtete mir nach dem Leben. Doch ich war neugierig auf
die Reise mit dem Vater. Von einigen Tagen hatte er ge-
sprochen. Ich machte mir Gedanken, woher Vater den
plötzlichen Einfall hatte. Wir brachen ja nicht die Zelte
ab. Wir kehrten wieder zurück. Zu meiner Mutter hatte er
nichts Genaueres gesagt. Sara buk in aller Frühe frisches
Brot. Sie packte die Fladen zusammen mit großen Käse-
stücken in einen Sack. Abraham sattelte seinen Esel und

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hängte Wasserbeutel zu beiden Seiten des Tieres. Oben


drauf packte er Decken. Zwei junge Knechte sollten uns
begleiten. Meine Mutter war nicht glücklich über den
Aufbruch des Vaters mit ihrem Sohn, der noch kein Mann
war. Sie umarmte und küsste mich, als wäre es ein Ab-
schied fürs Leben. Bring mir den Jungen gut zurück,
sprach sie zu Abraham. Der schaute sie wie aus großem
Abstand an, murmelte etwas in seinen Bart und zog von
dannen.
Zuerst durchzogen wir karges Grasland. Wir begegne-
ten einigen fremden Herden. Die Hirten begrüßten uns
und wünschten Schalom. Mein Vater gab den Gruß zu-
rück. Meist ging ich hinter ihm, die beiden Knechte hinter
mir. Wir sprachen wenig. Wenn ich müde war, sollte ich
es sagen. Einmal kreuzte eine Karawane unseren Weg. Die
führten Kamele mit sich und kamen von weit her. In ei-
nem Felsloch füllten wir die Wasserbeutel nach. Als wir
zu zwei Steineichen kamen, hielt mein Vater an. Er ließ
Äste abschlagen und auf den Rücken seines Esels packen.
»Für das Opferfeuer«, sagte er. Aha, dachte ich, die
Knechte nickten. Abends zogen die Sterne auf. Ich hatte
noch nie unter offenem Himmel geschlafen. Ein blaues
Zelt dunkelte, an dem die Lichter aufgingen. Sternbilder
erschienen mit merkwürdigen Zeichen. Ich glaube, mein
Vater konnte sie lesen. Müde vom langen Fußmarsch
schlief ich, kaum, dass wir etwas gegessen hatten, ein.
Auch unter der Decke war die Nacht kalt. Am dritten Tag
zogen wir ein Trockental hinauf, große Steinfelder, Ge-
röllhänge, nur noch hier und da Disteln und ein paar
Sträucher. Vaters Schweigen missfiel mir. Als wir weiter
hinaufgestiegen waren, sagte er zu den Knechten: »Bleibt

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hier und wartet.« Er nahm die Äste vom Rücken der Tiere,
lud ein größeres Bündel sich, das kleinere mir auf die
Schulter. Für das Opferfeuer, dachte ich. Ich hatte Brand-
opfer schon gesehen. Ich fragte: »Aber wo ist das Opfer-
tier?« Mein Vater schwieg. Nach einer Weile sagte er:
»Gott wird für das Opfertier sorgen.« Aha, dachte ich,
Gott sorgt für das Tier, das er ihm darbringen will. Ein gu-
ter Gott. Ein besorgter Gott. Aber dann kamen mir Zwei-
fel. Ich fragte den Vater: »Tut er das wirklich?« Er schien
die Frage zu überhören. Sie gefiel ihm nicht. Ich hatte den
Eindruck, er war sehr mit sich beschäftigt. Warum will
sein Gott überhaupt, dass man ein Tier tötet? Ist Töten
nicht grausam?
Oben auf dem Berg lagen große Steine aufgeschichtet
zu einem Opferaltar. Etwas weiter unten wuchs dorniges
Gesträuch. Eine feuchte Stelle in der Bergflanke, dachte
ich, genug, um Wurzeln zu treiben. Der Vater schichtete
die Äste über die Steine, unten kleine, oben größere. Seine
Bewegungen waren langsam. Manchmal hielt er inne. Er
schaute mich nicht an. Als ich immer noch kein Opfertier
sah, fragte ich abermals: »Vater, wo ist das Tier? Ich sehe
keines.« – »Wo ist das Tier?«, keuchte er. »Das Tier. Du
bist das Tier.« Er packte mich, warf mich auf die Steine,
band meine Hände und Füße fest. Ich wehrte mich, schrie
auf. Ich schrie zum Himmel um Hilfe gegen meinen Vater.
Der Himmel sollte mich hören, wenn mein Vater mich
nicht hört. Ich rief meine Mutter an. Sie war weit fort. Die
Wüste schluckte meine Schreie. Abraham riss sein Messer
aus dem Gürtel und holte mit dem Arm aus. »Vater«,
schrie ich, »mein Vater! Das darfst du nicht tun. Du wirst
mich nicht töten.« Er schien verstört. Er hielt inne. Eine

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Stimme rief vom Himmel: »Abraham, lass ab. Tu dem


Knaben nichts an. Ich weiß, dass du Gott fürchtest.« Gott
fürchten, aber nicht den Tod seines Sohnes, was ist das für
eine Furcht, dachte ich. Ich erzitterte, schweißnass vor
Todesangst. Abraham schaute auf, er sah mich mit glasi-
gen Augen und sah sich um. Im Gesträuch scharrte ein
Widder. Der hatte sich mit den Hörnern verfangen. Mein
Vater rannte hin, stieß ihm das Messer in den Hals und
zerrte ihn her. Dann band er mich los. Er war außer sich,
warf den Widder auf die Steine und zündete den Holzstoß
an. Ich krümmte mich am Boden, schluchzte und starrte
in die Flammen. Feuer ergriff die Äste, Feuer das Opfer-
tier. Haare brannten, Fett zischte, Bauch und Beine wur-
den von den Flammen erfasst. Das Tier musste ganz ver-
brennen. Keine Schulter für den Opfernden, kein Stück
Fleisch für die Knechte. Abraham starrte gebannt ins Feu-
er. War er mit sich, mit seinem Gott zufrieden? War er au-
ßer sich? Stritt etwas in ihm mit seinen Gefühlen? Sprach
er zu seinem Gott? Als von dem Körper fast nichts mehr
übrig war außer ein paar Knochen, schien er sich zu beru-
higen. Mir liefen immer noch Tränen über die Backen. Ein
Krampf schüttelte mich. Abraham sah mich liegen, ein
Bündel Mensch. Er blickte mich an, hob mich aber nicht
auf. Mit wem war er beschäftigt? Mein Vater blieb stumm.
Beim Abstieg sagt er, er werde den Ort Jahwe-Jire nen-
nen. »Was heißt das?«, fragte ich. – »Jahwe lässt sich auf
dem Berg sehen«, sagte er. Was er da wohl gesehen hat?
Ich habe seinen Gott nicht gesehen. Ich sah nur einen
Mann und das Feuer. Der Mann war mir fremd. Er hatte
kein Gesicht oder nur ein verzerrtes. Er zeigte keine Ge-
fühle für mich. Der Mann war nicht mein Vater. Ich weiß

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nicht, wem er folgte. War es eine Stimme, die nur er hör-


te? Ich wagte nicht, ihn als Vater anzusprechen.
Nachdem wir eine Zeitlang hinabgestiegen waren,
stießen wir zu den Knechten. Sie schauten uns fragend an.
Abraham gab keine Auskunft. Dann banden die Knechte
die Esel los. Wir zogen den Weg zurück nach Beerscheba,
wo unsere Zelte standen. Es war ein langer Weg, ein stum-
mer Weg. Es gelang mir nicht, meine Gedanken zu
ordnen.
Wie Abraham die Geschichte seiner Frau, meiner Mut-
ter, erzählt hat, ob die ganze Geschichte oder nur einen
Teil, weiß ich nicht. Sara war unzufrieden mit seinem Be-
richt. »Ist das alles?«, fragte sie. »Oder verschweigst du mir
etwas?« Mein Verhältnis zu Abraham war gestört. Was er
später Männern beim Tee erzählt hat, weiß weder Mutter
noch ich. Er konnte ein großer Erzähler sein, wenn er da
saß, in der Mitte, und Reisende oder Nachbarn um ihn sa-
ßen, Hirten ihm zuhörten. Da war er der Überlegene, ganz
Patriarch. Seine Geschichten und das, was geschehen war,
waren manchmal sehr verschieden. Doch die Männer be-
wunderten ihn. Weit im Umkreis war er der Herr. Es waren
nicht nur seine Herden, auch der Nimbus des Weitgereis-
ten, der ihn umgab, sein Wissen, das er erkennen ließ, die
Umsicht, Gebärden, seine Gabe der Rede, die Beziehung zu
seinem Gott. Die war ihm sehr wichtig. Aber er sprach von
ihr nur in Andeutungen. Nicht nur gerufen fühlte er sich,
sondern berufen. Die Knechte schauten zu ihm auf. Die
Seinen hätten gern mehr erfahren.
Mir hat er sich über seinen Berg nie erklärt. Er wich
auch später aus. Ich habe die wenigen Worte nicht wirk-
lich verstanden. Seinen Sohn opfern wollen für den Gott.

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Was ist das für ein Tun? Ich kann es nicht denken. Einmal
murmelte er etwas von Gehorsam. »Gehorsam gegen
wen?«, fragte ich. – »Nicht gegen«, sagte er, »für.« Also
für den Gott? Er fand meine Frage frech. Er wollte nicht
einsehen, dass ich mir das nicht vorstellen konnte. Einen
Menschen, den eigenen Sohn, zum Opfertier machen.
Auch ich glaubte an Gott. Aber eine solche Aufforderung
konnte ich nicht denken. Die Tötung des Sohnes Opfer
nennen, ging über meinen Verstand. Meine Vernunft war
dagegen. Meine Gefühle widerstrebten.
Vater Abraham muss selber darüber nachgedacht ha-
ben. Später sagte er einmal, der Engel habe wieder zu ihm
gesprochen. »Der vom Berg?«, fragte ich. – »Nicht di-
rekt«, antwortete er ausweichend. »Und was hat er dir ge-
sagt?«, wagte ich zu fragen. Ich dachte, vielleicht hat der
Engel auch etwas über mich gesagt. Ich war ja beteiligt,
und er war mir noch eine Antwort schuldig. Der Vater
sprach von seinem Schutzgott El Schaddaj und seiner Be-
ziehung zu ihm. Die trage ihn. Die schütze ihn. Gesegnet
sei er, sagte er. Nachkommen werde er haben, so viele wie
Sterne am Himmel. Ui, dachte ich, so viele? Er schien mei-
nen Vorbehalt zu bemerken und fügte hinzu, nicht genau
so viele an Zahl. Die Sterne könne niemand zählen. Das
sei ein Bild, ein großes, starkes, herrliches Bild. Aber ich
bin kein Stern, dachte ich. Ich leuchte nicht. Ich stehe
nicht am Himmel, ich lebe auf Erden. Geschrien habe ich
auf dem Berg. Geschrien hat in mir der Mensch, der leben
wollte. Abraham wiederholte die Zusage seines Gottes. Sie
sei ein Segen, sagte er, ein großer Segen für ihn und seine
Familie. Das machte mich nachdenklich. Ob ich auch ein
Bild für ihn gewesen war? Ein Bild darf man auslöschen,

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einen Menschen nicht. Nach einer Pause fuhr er fort: »Du


gehörst dazu. Du bist eingeschlossen. Die Zusage gilt auch
dir. Der Segen geht auf dich über. Nach Abraham kommt
Isaak. Auch du wirst gesegnet sein, Herden haben, Söhne
zeugen. Und deine Söhne werden wiederum gesegnet
sein.« Noch dachte ich nicht so weit voraus. Noch nicht
an Nachkommen. Ich sann immer noch zurück. Abraham
sprach von Kommendem, vom einem großen Segen. Von
einem Über-Segen, weit über ihn selbst hinaus. Musste
dem das Opfer auf dem Berg vorausgehen? Gehört zu ei-
nem sehr großen Segen ein sehr großes Opfer? Mir
schien, als wäre alles Bedrückte von meinem Vater abge-
fallen. Er strahlte Gewissheit aus. Als Sieger sprach er. Um
einen Augenblick – und ich wäre ich ein Verlierer gewor-
den. Ich hätte mein Leben verloren. Jetzt soll auch ich zu
den Siegern gehören.
Mutter Sara hatte gespürt, dass ich mich seit dem Gang
zum Berg verändert hatte. Ich wurde stiller, verhaltener.
Kindsein fiel von mir ab. Sie zeigte mir ihre Zuneigung.
Aber einfach hinwegnehmen konnte sie das Dunkel des
Geschehenen nicht. Natürlich dachte ich nicht immerzu
an meinen Schrei auf dem Berg. Aber die Gedanken wi-
chen oft dorthin. In mir dachte etwas zurück. Ich war ge-
zeichnet, von dem, was geschah und nicht geschah. Die
Jahre, die ich noch zu Hause war, vergingen mit Arbeit.
Ich musste draußen auf den Weiden Schafe hüten, Mut-
terschafe aussondern und nach Hause bringen, beim Mel-
ken helfen. Im Unterschied zu meinem Vater, der sich ger-
ne unterhielt, wenn die Gelegenheit sich ergab, der Beob-
achtungen und Erfahrungen austauschte, hielt ich mich
zurück. Ich kehrte mich mehr in mich. Meine Mutter

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meinte, zu viel. »Geh, tanze doch einmal mit den Mäg-


den«, sagte sie. Mir war nicht nach Tanz. Wonach war
mir? Mit Vaters Gott tat ich mich schwer. Den sollte ich
erben, wenn er nicht mehr war. Erben zusammen mit dem
Segen. Aber so vertraulich wie mein Vater konnte ich
nicht mit ihm sprechen. Auch Gott gegenüber war ich
nicht so umgänglich. Etwas in mir war gestört. Eines Ta-
ges verstand ich, dass man nicht alles begreifen muss in
seinem Leben. Wichtig war der Segen. Der Segen war das
Wichtigste. Von ihm hing das Leben ab. Isaak war geseg-
net. Isaak würde gesegnet sein. Vom Vater und von dessen
Gott. Ganz konnte ich den Zwiespalt nicht überwinden.
Vorbehaltlos konnte meine Beziehung zu ihm nicht wer-
den. Etwas blieb von dieser frühen Geschichte. Unbespro-
chenes blieb, Bitteres, eine Verschattung. Sollte auch ich
ein Geprüfter sein? So stark wie Abraham konnte ich
nicht werden. Aber ich lernte, mit meiner Erfahrung zu
leben.

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J akob sprach

Ich heiße Jakob, das heißt »Gott schütze«. Ich liebe meinen
Namen. Der Schützer hat mir geholfen. Ich brauchte seine
Hilfe. Schon in frühen Jahren war ich ein fröhlicher
Mensch Ich fühlte mich zu Späßen aufgelegt. Ich lachte
viel, aber ich hatte es nicht leicht. Die andern haben mich
nicht immer verstanden, am wenigsten mein Bruder Esau.
Esau war ernst, derber als ich. Ihm fehlte das Feinfühlige
und das Leichte. Mit den Knechten konnte er nicht gut. Es
fiel ihm schwer, auf sie einzugehen. Esau sprach wenig. Als
Erstgeborener dachte er an die Herden, die ihm beim Tod
unseres Vaters Isaak zufallen würden. Auch die Knechte
gehörten dazu. Eigentlich waren wir Zwillingsbrüder. Er
schlüpfte vor mir aus dem Bauch unserer Mutter. Mein
Bruder erschien rötlich, über und über mit Haaren bedeckt.
Man sagt, ich hätte ihn an der Ferse festgehalten, um
schneller aus dem Mutterschoß zu schlüpfen. Aber das ist
eine Legende. Doch die die Geschichte gefiel mir.
Schon als junger Mann ging Esau auf die Jagd. Er lieb-
te das Drauflosziehen. Er brauchte das freie Feld. Ich blieb
bei den Zelten und kümmerte mich um die Tiere. Was in
meinem Gesicht anders war, weiß ich nicht. Unser Ver-
halten unterschied sich. Offenbar war ich nicht so zuge-
knüpft wie er. Ich hüpfte herum, einfach aus Lust. Ich re-
dete gern mit den Leuten. Besonders gefiel es meiner Mut-
ter Rebekka, wenn ich sang. Gesungen wurde wenig in

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unserer Familie. Vater Isaak war in sich gekehrt. Seine


Lebensfreude floss nicht über, auch nicht zu seiner Frau.
Wenigstens konnte ich es nicht wahrnehmen. Mir
schien, er konnte eine gewisse Unentschiedenheit nicht
ablegen. Ob die Verstörung in seiner Kindheit schuld
war? Vielleicht hat er nie überwunden, dass ihn sein gro-
ßer Vater Abraham auf den Berg schleppte, um ihn auf
dem Opferstein zu schlachten. Isaak war damals ein Jun-
ge. Seine verängstigten Fragen hat Abraham abgewiegelt.
Zwar ging die Geschichte am Ende gut aus. Aber dass
sein Vater ihn darbringen wollte, opfern wie ein Tier, hat
Isaak verstört. Die überlieferte Heldengeschichte rühmt
Abraham. Keine erwähnt, dass sie auf Kosten des un-
schuldigen Jungen ging.
Als unser Vater Isaak alt wurde, musste er daran den-
ken, das Erstgeburtsrecht abzusegnen. Mein in der Wild-
nis vagabundierender Bruder war unserer Mutter nicht
nahe. Unser Vater bevorzugte Esau. Ich konnte das verste-
hen. Beide waren wortkarg, wurden bei Widrigkeit mür-
risch. Esau brachte Wild von der Jagd. Wildbret erfreute
den Vater in seinen alten Tagen. Er selbst konnte nicht
mehr auf die Jagd gehen. Sein Augenlicht war schwach ge-
worden. Die Füße trugen ihn nicht mehr weit. Eines Ta-
ges schickte unser Vater Esau mit dem Jagdgerät hinaus.
»Wenn du heimkommst und mir ein Mahl bereitest«, sag-
te er, »will ich dich segnen. Du sollst mein Erbe sein.« Das
hörte meine Mutter. Sie dachte anders. Sie bevorzugte
mich. Ihr fiel eine List ein. »Geh zur Herde«, sagte sie zu
mir, »hole ein Ziegenböcklein. Ich will deinem Vater ein
leckeres Mahl bereiten. Dann bringst du es ihm, damit er
dich vor seinem Abscheiden segne.« – »Mutter«, sagte

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ich, »wenn unser Vater mich berührt, wird er den Trug


bemerken. Esau ist behaart.« Auch das hatte sie bedacht.
Sie kleidete mich in Esaus Festgewand. Um Hände und
Hals legte sie mir Fellstücke des Ziegenböckleins.
Bevor Esau zurückkam, gelang es, unseren schon ein
wenig unsicheren Vater zu täuschen. Ich nahte mich ihm.
Ich grüßte ihn. Ich wünschte ihm Schalom. Er hörte mich.
»Die Stimme«, sagte er, »ist Jakobs Stimme, aber Hände
und Hals sind die Esaus. Bist du Esau?«, fragte er. – »Ich
bin Esau«, antwortete ich. Esau wollte ich zwar nicht sein,
aber sein Erstgeburtsrecht wollte ich haben. Ich brachte
Vater das Fleisch des Ziegenböckleins, dazu reichlich
Wein. Er langte zu, beides schmeckte ihm. Nach dem
Mahl sagte Isaak freundlich – seine Stimme schmolz bei-
nah: »Komm näher, mein Sohn Esau.« Ich kam näher und
küsste ihn. Er roch Esaus Gewand. »Mein Sohn duftet wie
das weite Feld«, sagte Jakob. Aha, dachte ich, der Geruch
stimmt. Vater Isaak segnete den vor ihm Duftenden mit
großem Segen. Er wünschte mir den Tau des Himmels,
das Fett der Erde, fruchtbare Herden, dazu Korn und
Wein. Herr sollst du sein über deine Brüder, sprach er.
Gesegnet sei, wer dich segnet, verflucht, wer dich ver-
flucht. Mir stockte der Atem. Einen so großen Segen hatte
ich nicht erwartet.
Jakob war glücklich, Jakob strahlte.
Ich lief zu meiner Mutter. Sie hatte den Segen mitge-
hört und umarmte mich. Ihr Wunsch war erfüllt worden,
meine Zukunft schien gesichert. Sie war die Klügere.
Als Esau nach Hause kam, hörte er von dem Segen. Er
konnte es nicht fassen, dass ich ihn erhalten hatte. Esau
wurde zornig. Er schrie aus Leibeskräften. Streit brach

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aus. Mein Bruder stürzte auf mich. Er umklammerte


mich und schlug mit seinen Fäusten auf mich ein. Esau
war der Stärkere. Ich schrie ob seiner Hiebe. Er versuch-
te, mich zu würgen. Rebekka eilte herzu und weinte.
Auch unser Vater weinte. »Hast du nicht noch einen Se-
gen?«, rief die Mutter. Esau hielt inne. Wir beide keuch-
ten, er vor Wut, ich vor Schmerz. »Komm her, mein
Sohn Esau«, sagte der Vater. Dann gab er ihm seinen
kleinen Segen, den Segen für Zweitgeborene. Esau war
außer sich. Er blieb bitter. Ich konnte es ihm nachfühlen.
»Betrüger!«, rief er in einem fort. »Du bist ein Betrüger,
elender Betrüger.« War ich das? Oder war meine Mutter
einfach klüger? Hatte sie nicht Grund, die Geburtsfolge
zu korrigieren? Muttersinn statt Vaterrecht? Ich habe
später öfter darüber nachgedacht.
Wir konnten nicht mehr zusammenbleiben. Der Frie-
de war gestört. Esaus Vertrauen war gestört. Er konnte
meine Nähe nicht mehr ertragen. Ich musste fort. Wieder
wusste meine Mutter Rat. Sie schickte mich zu ihrem Bru-
der Laban ins Zweistromland. Das missfiel meinem Vater.
Er fürchtete, ich würde dort eine Hetiterin zur Frau neh-
men. Wäre das schlimm? Nach einigem Hin und Her seg-
nete er mich abermals. Ich richtete meine Tasche, sattelte
den kräftigsten Esel aus dem Stall und nahm Abschied von
Mutter und Vater. In langen Ritten und Märschen, durch
Steppe und Wüste, vorbei an Zelten fand ich zu Laban. Er
nahm den Schwestersohn auf.
Ich lernte andere Menschen kennen, andere Sitten,
auch andere Götter. Aber es wurden gute Jahre im Strom-
land. Mit Schafen kannte ich mich aus. Laban vertraute
mir. Ich vermehrte die Herden. Als sich zeigte, dass ich Er-

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folg hatte, gewann ich die schöne Rahel. Sie lächelte mir
zu. Sie erwiderte mein Werben. Auch ihre ältere Schwes-
ter Lea wollte zu mir gehören. Ich fand mich gesegnet bei
Mensch und Tier. Aber da waren noch Labans Söhne. Sie
beobachteten mich misstrauisch. Eines Tages warfen sie
mir Betrug vor. Ich hätte mir zu viele Tiere angeeignet. Ich
hätte Schafe aus ihren Herden unter die meinen genom-
men. Habe ich das? Einen Lohn für all die Jahre bei Laban
habe ich ja wohl verdient. Aber das Vertrauen ließ sich
nicht mehr herstellen. Ich musste fliehen. Ich wurde ver-
folgt. Laban verfolgte mich mit seinen Söhnen. Ich nahm
eine Anzahl Tiere mit, Rahel Hausgötter ihres Vaters. Das
hätten wir nicht tun sollen. Mit Tieren kommt man nur
langsam vorwärts. Sie mussten zwischendurch weiden.
Ich musste ihnen eine Wasserstelle suchen. Laban und
seine Söhne holten mich ein. Wir standen uns gegenüber
im Gebirge Gilead. Wir sahen einander an, warfen uns Bli-
cke zu. Worte gingen hin und her. Statt uns zu bekämp-
fen, einigten wir uns auf dem Zeugenhügel. Fürs Erste
war Friede. Jetzt musste ich mit den Meinen über den Jab-
bok kommen. Aber jenseits des Flusses war Esau-Land.
Obschon inzwischen zwanzig Jahre vergangen waren,
konnte ich nicht annehmen, dass er mir verziehen hatte.
Durch Kundschafter hatte er von meinem Nahen erfah-
ren. Ich würde um sein Wohlwollen bitten. Eine Herde
Ziegen und Schafe schickte ich ihm als Geschenk voraus.
Er hatte sich mit Knechten auf den Weg gemacht, mich zu
vernichten. Längst war er ein großer Herdenbesitzer
geworden. Aber die Verletzung, die ich ihm zugefügt
hatte, war auch nach zwanzig Jahren noch nicht verheilt.
So lange hatte ich Laban gedient.

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Am Jabbok hieß ich meine Knechte vorausziehen, ich


selbst blieb zurück. Ich wollte die Nacht abwarten. Die
Nacht schützt. Als die Sonne untergegangen war, durch-
schritt ich mit Rahel und Lea, unseren Söhnen und Mäg-
den, die Furt des Flusses. Wir schafften die Zelte hinüber.
Dann ging ich nochmals zurück. Wollte ich nachschauen?
Eine Zeit einlegen, um vorauszudenken oder einfach allein
zu sein vor dem entscheidenden Übertritt? War ich unsi-
cher? Brachen alte Schuldgefühle auf? Plötzlich überfiel
mich ein Mann. Ein Mann trat aus dem Dunkel. Er drohte,
zeigte mir Fäuste. Ich riss die meinen hoch. Er warf mich
zu Boden. Wir rangen. Dann konnte ich mich aus seiner
Umklammerung befreien. Auf die Füße gekommen, stieß
ich ihn zu Boden. Wir packten uns an den Hüften. Wir
keuchten. »Du!«, rief ich. »Wer bist du?« Der Mann
schwieg. Als er sah, dass er mich nicht überwinden konnte,
schlug er mit der Faust auf meine Hüfte. Ich schrie auf und
warf mich auf ihn. Er lag am Boden. »Lass mich los!«, rief
er. »Die Morgenröte steigt auf.« Die Morgenröte. Ich weiß
nicht, was in mich fuhr. Statt den Angreifer loszulassen
und seines Weges zu schicken, sprach es aus mir: »Ich lasse
dich nicht, du segnest mich denn.« Ich, der oben lag, bat
den Unteren um seinen Segen. Mein Bruder Esau war er
nicht. Er schien mir nicht in jeder Hinsicht feind zu sein.
Ich hatte meine Herden vermehrt, aber ich war auch schul-
dig geworden. Ich hatte bereits Frauen und Kinder. Auf
einmal fragte der Fremde: »Wie heißt du?« – »Jakob«, ant-
wortete ich. »Jakob, aus Haran auf dem Weg zum Jordan.«
Ich hoffte, dass ihm die Auskunft genügte. Jetzt nannte er
mich ohne Umschweife Israel. Wie kommt der Mann auf
diesen Namen? Israel, das ist »Gottesstreiter«. War ich zu-

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erst streitbar gewesen oder sollte ich streitbar werden? Ich


hätte gesiegt, sagte er. Seine Rede verwunderte mich. Ich
bat ihn, seinen Namen zu nennen. Das tat er nicht. Er sag-
te weder, woher er kam, noch wohin er ging. Stattdessen
richtete er sich vor mir auf und segnete mich. Der Mann
ohne Namen segnete Jakob. Schätzte er mich nach dem
Ringen anders ein? War er gekommen, mich nach der
Prüfung zu segnen? War er in Wirklichkeit ein anderer?
Weiterziehend dachte ich an einen El.
Als ich zu den meinen kam, schauten sie mich entsetzt
an: »Wo kommst du her?« – »Wie siehst du aus?« – »Was
hast du?« – »Wo bist du so lang gewesen?«
Was ich hatte, konnte ich zeigen. Eine verrenkte Hüf-
te. Wie ich aussah, wusste ich nicht. Wahrscheinlich
bleich. Ob ich mich mit jemand geschlagen hätte? Ja, nein,
schon. Wer war es? Ich weiß nicht. Hast du ihn nicht ge-
fragt? Wo war es? Ich sagte: »Penuel.« – »Penuel?«, fragte
Rahel zurück. »Das heißt ›Gottesgesicht‹ .« – »Ja«, sagte
ich. Mehr konnte ich nicht sagen. Mir war nicht alles
deutlich geworden. Die Geschichte erfüllte mich, aber
Einzelheiten wollte ich nicht erzählen. Ich war am Fluss
angelangt. Ein anderer trat hinzu. Aus der Nacht. Er über-
fiel mich. Erst war ich der Unterlegene. Dann schlug ich
mit meinen Fäusten auf ihn ein. Aber er erwies sich als der
Stärkere. Warum ich mich plötzlich von ihm segnen las-
sen wollte, weiß ich nicht. In wessen Auftrag war der
Mann unterwegs? Wusste er, dass er mich am Jabbok tref-
fen konnte? Kannte er meines Vaters Segen? War er selbst
ein Segner? Die Fragen kamen mir später. Eine Begegnung
in der Nacht, ein Streit, der mit Segen endet. War der
Mann gar nicht mein Gegner?

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Ich erstarrte, als ich sah, dass Esau mir mit vierzig
Knechten entgegen gezogen kam. Ich warf mich auf die
Erde. Siebenmal warf ich mich nieder vor dem Bruder, ehe
ich wagte aufzustehen und ihm entgegenzugehen. Aber
jetzt geschah es. Esau löste sich von den Seinen. Er lief mir
entgegen und fiel mir um den Hals. Er umarmte, küsste
mich, sagte: »Bruder!« und weinte. Jetzt warfen sich auch
die Mägde und die Kinder, meine Frauen Rahel und Lea
vor ihm nieder. Wir brauchten Zeit, uns von der Begrü-
ßung zu erholen. Dann fragte Esau: »Was soll der Auftrieb
der Herden?« – »Ich wollte sie dir schenken, Bruder«, sag-
te ich, »um dein Wohlwollen zu finden.« – »Nicht doch«,
erwiderte Esau, »ich habe selber genug.« – »Nimm sie«,
sagte ich. Wir sahen uns in die Augen. Da loderte noch
einmal Vergangenes auf. »Das Leben, Esau«, sagte ich. –
»Das Leben, Jakob«, sagte er. Wir hatten Mühe und Frem-
de, Schmerz und Gelingen erfahren. Die Aschenfunken
des einstigen Streits erloschen. Wir achteten einander. Je-
der gönnte dem anderen die Herden.
Esau und Jakob umarmten sich.
Wir sagten: »Lebe wohl, Bruder, Gott sei mit dir.«
Dann kehrte Esau nach Seïr zurück, ich zog weiter nach
Sichem.

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J osef sprach

Ich bin der Träumer, euer Träumer. Was wäre Kindheit


ohne Traum? Dürftig, arm, langweilig. Immerzu mit den
Herden ziehen und auf etwas warten. Im Frühjahr mit den
älteren Brüdern auf den Acker. Zusehen, wie sie den Bo-
den hacken, säen, hoffen, dass der Weizen wächst, wenn
er reif ist, ernten. Eintönig ist das, wenig lustvoll. Nichts
geschieht, außer dass die Sonne morgens auf- und abends
untergeht und am Mittag brennt. Meine Vorstellung war
begrenzt. Viele Bilder standen mir nicht zur Verfügung.
Manchmal sah ich den Vögeln zu. Wahrscheinlich wollte
ich etwas, was über die Hirtenwelt hinausging.
Eines Tages träumte ich, dass ein Adler herab stieß und
mich an den Hüften ergriff. Er trug mich unter heftigem
Flügelschlagen empor. Angst befiel mich nicht, Emporge-
tragenwerden war eine Lust. Fast glaube ich, dass ich da-
rauf gewartet hatte. Köstlich war die Brise. Unten die Zelte,
über sie hinaus unsere Weiden, Bäche zwischen den Fel-
dern, dahinter die Berge von Sichem. Es war ein herrliches
Gefühl, so flugleicht über die Erde zu schweben. Der Adler
sprach: »Du musst dich nicht fürchten, ich bin dein En-
gel.« Mein Engel?, dachte ich. Ein Flugengel? Er zeigt dir
Äcker und Weiden, das weite Land. Dann fiel ich wieder in
tiefen Schlaf. Als ich erwachte, rieb ich mir die Augen.
Schön war es gewesen. Freundlich war er gewesen, der En-
gel. Was ich erlebt hatte, behielt ich für mich.

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Dann befiel mich erneut ein Traum. Es war Sommer.


Ich arbeitete mit den Brüdern auf dem Feld. Sie schnitten
Weizen. Ich half beim Bündeln der Garben. Auf einmal
richtete sich meine Garbe hoch auf. Sie überschaute die
anderen. Die Garben der Brüder umstellten meine Garbe
und verneigten sich vor ihr. Ich weiß nicht, ob mich freu-
dige Genugtuung erfüllte oder Stolz. Genugtuung, weil
mich die Brüder als Vaters Liebling hänselten. Stolz, dass
in mir sich etwas Besonderes anzeigte. Diesmal konnte ich
den Traum nicht für mich behalten. Am nächsten Morgen
erzählte ich ihn den Leasöhnen. Das hätte ich nicht tun
sollen. Die Brüder hoben die Köpfe und stießen sich fra-
gend an. Sie fühlten sich erniedrigt. Was bildet der Rahel-
sohn sich ein? Sie stießen mich zur Seite und sprachen
unter sich. Ich war ausgeschlossen.
Einige Tage später schickte mich Vater Jakob zu den
Brüdern auf die Weiden. Als ich kam, blickten sie mich
feindlich an. »Was willst du hier?«, fragten sie. – »Euch
frisches Brot und Käse bringen«, sagte ich. Ich hatte
mich noch nicht umgesehen, da packten sie mich an
Händen und Füßen und warfen mich in ein Brunnen-
loch. »Nicht über uns, Söhnchen, dort unten ist dein
Platz. Träume schön, bis wir wiederkommen!«, riefen
sie und machten sich davon. Vater Jakob war weit fort.
Auch wenn ich geschrien hätte, hätte er mich nicht hö-
ren können. Vielleicht wollten mich die Brüder loswer-
den, weil unser Vater mich zu sehr liebte. Angst hatte
mich ergriffen. Ich wollte nicht verdursten noch verhun-
gern. Leben wollte ich. Engel, mein Engel, du hast mich
in die Lüfte getragen, kannst du mich aus dem Erdloch
holen? Stunden vergingen. Dann hörte ich Stimmen und

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Hufe. Eine Karawane muss gekommen sein. Oben ent-


spannen sich Gespräche. Brüderlaute und Fremdlaute
mischten sich. Ich rief aus Leibeskräften, so helft mir
doch. Da näherten sich Schritte. Ein Kopf beugte sich
über das Loch. Hände streckten sich herab und zogen
mich nach oben. Die Brüder feilschten mit den Händlern.
Dann wurde ich der Karawane übergeben. Die Händler
nahmen mich mit nach Ägypten. Drunten am Nil ver-
kauften sie mich als Sklaven an Potifar, den Obersten der
Leibwache am Hof des Pharao.
Ich war allein, mein Vater weit fort. Niemand kannte
ich, nicht einmal ihre Sprache. Komm zu dir, sagte eine
Stimme. Sieh, was ist. Höre, was du hören kannst. Beach-
te, was geschieht. Du musst dich behaupten. Lass deine
Träume fahren. Als ob das so leicht wäre. Die Träume hat-
ten mich herausgehoben aus dem Alltag. Die Träume
stärkten mein Bewusstsein. Ich dachte, ich sei etwas Be-
sonderes. Jetzt war ich der Letzte. Mein Schmerz war grö-
ßer als die Neugier. Vater Jakob konnte mich nicht mehr
schützen. Die Brüder konnten mich auch nicht mehr
verfolgen. Aber was konnte ich?
Potifar ließ mich kommen. Er schaute mich nicht un-
freundlich an. Ich schien sein Gefallen zu erregen. Er
übertrug mir Aufgaben. Als er sah, dass ich geschickt war,
machte er mich zum Verwalter seines Hauses. Mein Herr
hatte viel außer Haus zu besorgen. Mit meiner Aufsicht
war er zufrieden. Die Angelegenheiten des Hauses fand er
wohl bestellt. Die anderen Bediensteten duldeten mich.
Einige fanden sogar Gefallen an mir.
Als junger Mann gefiel ich auch der Frau des Hauses.
Sie war viel allein und begann mit mir zu sprechen. Eines

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Tages ließ sie mich zu sich kommen. Nach wenigen Sät-


zen luden mich gierige Blicke ein, mit ihr zu schlafen. Sie
duftete von Wohlgerüchen. Kostbar gekleidet, Haut nicht
verbergend, war sie eine begehrenswerte Frau. Meine Sin-
ne waren nicht gefühllos. Aber ich sah das Missverhältnis:
hier der israelitische Sklave, dort die ägyptische Herrin.
Sie lächelte und lispelte. Bald umkreiste sie mich wie eine
Hündin. Mir gelang es, klaren Verstand zu bewahren. Ich
glaube, ich sagte ziemlich direkt: Dein Geschlecht und
mein Geschlecht gehören nicht zusammen. Eigentlich
hatte ich sagen wollen: Dein Gott und mein Gott, siehst
du nicht, wie verschieden sie sind? Aber das hätte sie in
diesem Augenblick kaum erreicht. Eh ich aus meiner Ver-
wirrung erwachte, drang sie auf mich ein und riss mir das
Gewand vom Leib. Im Lendentuch konnte ich davon-
laufen. Bedienstete sahen den Flüchtigen.
Als Potifar abends nach Hause kam, erzählte ihm die
Herrin vom Tag. Sie zeigte mein Gewand und sagte: »So
wollte mich dein Sklave überwältigen.« Potifar glaubte
seiner aufgebrachten Frau. Er ließ mich ergreifen und ins
Gefängnis werfen. Eigentlich hätte er mich töten lassen
können. Aber der Herr war mit mir. Vielleicht war es auch
mein Engel. Er war mit mir wie damals im Brunnenloch.
»O Adonai!«, rief ich, »mein Vater kann mir nicht helfen.
Hilf du mir.« Mit der Zeit fasste der Gefängniswächter zu
mir Vertrauen. Ich erhielt Aufsichtsrechte, die ich zu sei-
ner Zufriedenheit ausübte. Eines Tages wurden neue Ge-
fangene gebracht, Mundschenk der eine, der andere Ober-
bäcker des Pharao. Ich erfuhr nie genau, was sie verbro-
chen hatten. Eines Nachts träumte der Mundschenk von
einem Weinstock, der üppig Früchte trieb, der Oberbä-

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cker von Backwerk, das die Vögel fraßen. Der eine sah Zu-
kunft, der andere fürchtete den Tod.
Nach einer Zeit träumte auch der Pharao. Er sah aus
dem Nil sieben fette Kühe steigen, dann sieben magere. In
einem zweiten Traum träumte er von sieben prallen und
sieben kümmerlichen Ähren. Er ließ die Wahrsager kom-
men. Sie fanden keine befriedigende Deutung. Jetzt erin-
nerte sich der freigelassene Mundschenk an seinen Mitge-
fangenen. Man ließ mich holen. Ob ich Träume deuten
könne? Ich bejahte. »Die sieben fetten Kühe«, sagte ich,
»bedeuten sieben fruchtbare Jahre. Die sieben fetten Äh-
ren ebenfalls. Die sieben mageren Kühe hingegen und die
sieben dürren Ähren bedeuten sieben Hungerjahre. Gott,
der Herr, lässt den Pharao wissen, was dem Land bevor-
steht. Er soll in den fruchtbaren Jahren die Getreidespei-
cher füllen lassen, damit die Menschen in den Dürrejah-
ren leben können.« Meine Rede gefiel dem Pharao. Ihm
deuchte, aus mir spreche der Geist der Weisheit. Darauf-
hin machte er mich zum obersten Verwalter Ägyptens:
»Was Josef gebietet, soll geboten sein.« Zum Zeichen der
Vollmacht steckte er mir seinen Siegelring an den Finger.
Er bekleidete mich mit dem Byssusgewand und legte mir
eine goldene Kette um den Hals. Pharao bewunderte mei-
ne Klugheit. Er meinte, dass in mir der Geist Gottes woh-
ne. Der Erlauchte nahm mich in seine Dienste. Ich sollte
in einem der Palastgebäude wohnen. Er übergab mir die
Verwaltung des Reiches mit der Sorge um die Ernten.
Welche Wandlung. Meine Situation hatte sich gänzlich
verändert. Ich war geradezu ein anderer geworden.
Pharao bestätigte diesen anderen. Er gab mir den Namen
Zafenat-Paneach. Das heißt »Gott spricht, Er lebt.«

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»O Adonai«, rief ich. »Was ist mir geschehen? Du hast


mich erhört.«
Man gab mir die Tochter des Oberpriesters zur Frau.
Sie schenkte mir zwei Söhne. Ich nannte den Erstgebore-
nen Manasse, das heißt Vergessling, den zweiten Efraim,
das heißt Fruchtbringer. Vergessen durfte ich Erniedri-
gung und Todesangst. Erfahren durfte ich fruchtbringen-
de Gegenwart. Ich ließ mich durchs Land fahren und gab
Anweisungen zum Bau von Getreidespeichern. Alles zum
Backen nicht verbrauchte Getreide sollte in Vorratshäuser
geschaffen werden. Das wiederholte ich Jahr für Jahr. Als
die Dürre hereinbrach, waren die Kornkammern gefüllt.
Die Dürre wurde schlimmer als wir befürchteten. Aber die
Menschen überlebten. Fast alle. Sogar von jenseits des
Nils kamen sie, um Getreide zu kaufen.
Aus Israel kamen Jakobs Söhne mit ihren Eseln und
Säcken. Auch bei ihnen trocknete das Land aus. Jetzt wur-
de die alte Brudergeschichte neu gegenwärtig. Die Jakob-
söhne hatten sie vergessen. Sie erkannten ihren in Ägyp-
ten mächtig gewordenen Bruder nicht, ich aber erkannte
alle. Ruben und Simeon, Levi und Juda, Issakar und Zabu-
lon, Gad und Aser, Dan und Naphtali. Nur Benjamin,
mein geliebter jüngerer Bruder, Sohn meiner Mutter Ra-
hel, war nicht bei ihnen. Ich sprach sie auf meine Erinne-
rung an. Sie erschraken. Sie hatten ein Menschenleben
ausgeschieden. Vor ihnen stand der Ausgeschiedene.
Ich musste sie einer Prüfung aussetzen. Unsere Begeg-
nung wurde eine lange Geschichte. Sie wurde umso län-
ger, als sie gut ausging. Vater Jakob liebte Benjamin, sei-
nen Jüngsten, mehr als alle anderen Söhne. Der Rahel-
sohn war der Trost seines Alters. Den sollten sie herbrin-

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gen, sagte ich. Sie erschraken erneut. Damit sie zurückkä-


men, musste einer von ihnen als Geisel zurück bleiben. Es
gab Bitten, Beteuerungen, Tränen, Wehklagen. Als ich
spürte, wie sie sich um ihren Bruder Benjamin und das Le-
ben ihres alten Vaters sorgten, gab ich mich zu erkennen.
»Ich bin euer Bruder«, sagte ich, »euer Bruder Josef.« Sie
stürzten zu Boden. Nach einer Zeit der Sprachlosigkeit
baten sie schluchzend um Verzeihung. Ich war tief
gerührt.
Auf der nächsten Kornreise sollten sie auch Vater Ja-
kob mitbringen, sagte ich. Der alte Mann weigerte sich
lange. Aber schließlich war auch er mitgekommen. Ich
fiel ihm um den Hals. Ich stammelte Dank und Glück, wir
weinten. Wir konnten die Stunde des Wiedersehens nicht
fassen. Als die Hungersnot vorüber war, kehrten die Ja-
kobsöhne nach Israel zurück. Ich blieb in Ägypten und
sann meiner Geschichte nach. Verwundert blickte ich auf
die Jahre zurück, die Gott, der Herr, mir geschenkt hat.
»O Adonai!«, rief ich aus. »Du bist ein Segensgott.«
Die einen werden meine Geschichte als Erfolgsge-
schichte erzählen, die anderen als Brudergeschichte. Ich
erfuhr Schmerz und Glück. Adonai begleitete mein Leben.
Der Träumer durfte erwachen, der Sklave wurde tätig, der
Fremdling erhöht. Als Ausgestoßener, durfte ich meine
Brüder retten. Sie hatten mir nach dem Leben getrachtet,
aber ich hasste sie nicht. Meine Kraft floss in Verantwor-
tung. Das Böse hat nicht gesiegt. Dürre ließ die Menschen
nicht verenden. Zweimal war ich dem Tod nahe, in der
Grube der Brüder und im Gefängnis des Pharao. Zweimal
wurde mir das Leben geschenkt. Hatte ich Neider? Ich
habe Macht nicht für mich selbst eingesetzt. Josef, Sohn

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des Israel-Jakob, sorgte mit aller Energie für sein Gast-


land. Zuletzt konnte er auch für seine Brüder sorgen. Be-
stechung erreichte mich nicht. Bereicherung hatte ich
nicht nötig. Von Rache war ich frei. Höflinge wies ich in
Schranken. Die Brüder brauchten Zeit, um mich, viel-
leicht auch sich selbst zu erkennen. Mir schien, sie woll-
ten ihre Untat vergessen sein lassen. Als ob man das
könnte, eine beabsichtigte Tötung vergessen.
Die Geschichte von Kain und Abel sollte sich zwi-
schen uns nicht wiederholen. Von Josef und seinen Brü-
dern soll man erzählen. Und von ihrem Gott. Was er
Abraham versprach, dass er und seine Nachkommen ge-
segnet sein werden, durften wir erfahren. Adonai hat uns
gesegnet. Josef durfte mitwirken zum großen Segen.
Wird sich der Segen fortsetzen? Wird es Jakobs Nach-
kommen im Süden und Norden des Landes gelingen, in
Frieden zu leben? Werden sie einander gelten lassen?
Die Städte und Dörfer, die Hügel und die Täler, das Wei-
deland und die fruchtbaren Äcker einander gönnen?
Wird Adonai weiter ihr Lebensgott sein dürfen? Zwist
unter Brüdern hilft keinem. Das waren meine späten Ge-
danken. Ich denke, Leben hat eine wunderbare Kraft. Es
fließt in einem Volk wie der Nil, wenn man es nicht hin-
dert. Josef, der Israelit, durfte in Ägypten leben. Ich will
in meinem Gastland sterben. Nicht Sklave blieb ich, Ret-
ter durfte ich werden. Die Brüder mögen meine Gebeine
zurück bringen ins Land der Väter. Vater Jakob hat uns
gesegnet, bevor er zu den Vätern versammelt wurde. Ich
sei ein junger Fruchtbaum am Quell, hat er gesagt, ein
junger Zweig an der Mauer. Er segnete alle seine Söhne.
Adonai, unser Gott, sagte Jakob, werde mich segnen, wo

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immer ich sei, im Tal, auf der Höhe, am Fluss, in der


Stadt, im Haus und auch vor der Mauer. Ist der Tod ein
Haus oder eine Mauer? Ein Ort, an dem man wohnen darf,
oder eine Mauer, die wegsperrt. Josef hat den Segen Ja-
kobs erfahren. Nicht der Fluch über Adam herrsche, nicht
der über Kain, sondern Jakobs Segen.

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M oses sprach

Ich stehe auf dem Berg Nebo. Ich bin alt geworden. Meine
Tage sind gezählt. Die Lebenskraft hat mich verlassen.
Hier auf dem Vorsprung schaue ich über die Berge, hinun-
ter ins Tal des Jordan, hinüber nach Kanaan. Die Israeliten
werden hinüberziehen. Ich muss zurückbleiben, Mein Le-
ben endet im fremden Land. Ich habe am Sinai Gott von
den Göttern geschieden. Nach dem Auszug aus Ägypten
führte ich die Israeliten bis zur Grenze des versprochenen
Landes. Ich habe ihnen ihr Gesetz gegeben. Mich selbst
scheidet Jahwe von den Heimkehrenden. Sie sind jung, sie
schauen voraus. Ich bin alt, ich blicke zurück. Siebzig Jah-
re oder länger währte mein Leben. Gefährdet, voller Kon-
flikte, reich an Entbehrung, dem Streit ausgesetzt. Siege
und Niederlagen erfuhr ich – über die Maßen das Erbar-
men Jahwes.
Eine hebräische Mutter hat mich in Ägypten geboren.
Die Ägypter fürchteten die Vermehrung der Hebräer. Pha-
rao befahl, ihre neugeborenen Knaben in den Nil zu wer-
fen. In einem Schilfkörbchen wurde ich auf dem Fluss
ausgesetzt. Eine Tochter Pharaos fand mich. Sie gab mich
einer Amme und ließ mich bei Hof erziehen. Ich überlebte
trotz Fremdenhass. Als ich heranwuchs, durfte ich die
Schreibschule am Hof besuchen. Ich genoss Privilegien.
Später sollte ich in der Verwaltung arbeiten.

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Eines Tages ging ich zu meinen hebräischen Brüdern


hinaus vor die Stadt. Sie mussten harte Fronarbeit leisten.
Als ich sah, wie der ägyptische Aufseher einen Israeliten
schlug, packte mich die Wut. Ich erschlug den Ägypter
und verscharrte ihn im Sand. Ich musste fliehen. Jenseits
des Schilfmeeres würde man mich nicht mehr finden.
Hunger und Durst plagten mich. Nach langem Wandern
geriet ich in das Bergland der Midianiter. An einem Brun-
nen kam ich Mädchen zu Hilfe, die Wasser schöpften. Sie
wurden von Rinderhirten bedrängt. Ihr Vater Jitro, ein
Priester, hatte sieben Töchter. Er lud mich zum Essen ein
und ließ mich in seinem Zelt wohnen. Seine Tochter Zip-
pora gab er mir zur Frau. Sie gebar unseren Sohn
Gershom, das heißt »Gast bin ich im Fremdland.«
Unter Israeliten hatte ich einst vom Gott unseres Va-
ters Abraham gehört. Jetzt war ich erstaunt, dass auch
Jitro einen einzigen Gott verehrte.
Eines Tages trieb ich die Schafe und Ziegen meines
Schwiegervaters über die Steppe unterhalb des Berges Si-
nai. Ich dachte zurück zu meinen Stammesbrüdern in
Ägypten, dachte nach über ihren Gott, der auch der meine
war. Die Tage auf der Weide konnten sehr lang werden,
auch gefährlich, wenn Viehdiebe die Gegend durchstreif-
ten. Wie lange sollte ich bei Jitro bleiben? Wollte ich ein-
fach mit einer Frau leben und Kinder zeugen, tagsüber
Vieh über die Steppe treiben, abends bei den Männern ho-
cken und Tee trinken? Der Fortgang aus Ägypten war mir
schwer gefallen. Die Steppe braucht keinen Verwalter, das
Bergland keinen Schreiber.
Während ich sinnierte und dahinzog, sah ich plötzlich
vor mir einen Dornbusch, der brannte. Ich dachte, tro-

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ckenes Gras habe sich entzündet. Das geschah leicht in der


Hitze. Aber der brennende Busch verbrannte nicht. Als ich
näher trat, hörte ich eine Stimme. Ein Schauder lief mir
über den Rücken, wie ich ihn nie gespürt hatte. Die Stimme
nannte mich beim Namen. Sie hieß mich die Sandalen aus-
ziehen. Der Ort, an dem ich stünde, sei heiliger Boden. Ich
war zutiefst erregt. Dann hörte ich: »Ich bin der Gott deines
Vaters, der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der Gott Ja-
kobs.« Mein Gesicht verhüllend, warf ich mich zu Boden.
Die Stimme sagte, sie habe das Elend der geknechteten Is-
raeliten in Ägypten gesehen, ihre Klagen gehört. Ich solle
zum Pharao gehen und verlangen, dass er sie freigebe. Ich
war erschrocken. Moses soll zum Pharao gehen, der Vieh-
hirt zu dem Göttlichen. Ich solle mein Volk ins Land der
Kanaaniter führen. Dort würden Milch und Honig fließen,
genug zu essen für Männer, Frauen und Kinder. Nicht
mehr Knechtschaft, sondern Freiheit, nicht mehr Hunger,
sondern Nahrung für alle. An dem Berg hier sollten wir,
wenn wir vorbeizögen, Ihn, den Gott der Väter, verehren.
Aber wie sollte ich mich vor meinen Stammesbrüdern be-
glaubigen? Sie kannten mich nicht. Der im brennenden
Feuer hörte meine Frage. Er sprach: »Ich bin, der ich bin«.
»Ich bin da«, sagte Er. »Ich bin bei euch. Ich werde bei
euch sein. Sage deinen Brüdern: › Jahwe hat mich ge-
sandt.‹ « Jahwe? Den Namen hatte ich noch nie gehört. Ge-
genwart und Schutz, Macht und helfende Nähe?
Nach der Errettung aus dem Wasser und meiner
Flucht aus Ägypten brachte die Erscheinung im Dorn-
busch die dritte Wende in mein Leben. Jetzt war ich der
Gesandte. Pharao wollte mich nicht anhören. Da erschüt-
terte Jahwe die Ägypter durch Plagen. Stechmücken und

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Heuschrecken fielen ein, Hagelschlag und Finsternis


bedrohten das Land. Dennoch wollte Pharao seine Arbeits-
sklaven nicht loslassen. Erst als Jahwe die Erstgeborenen
der Ägypter erschlug, ließ er uns ziehen. Nach einem Mahl
brachen wir auf mit Schafen, Ziegen und Rindern. An der
schmalsten Stelle zogen wir durch die Bitterseen. Furcht,
Schreie, Entsetzen Einzelner, ehe ein mächtiger Wind die
Wasser teilte und wir hindurchzogen. Es wurden schwieri-
ge Jahre durch Steppe und Wüste. Wiederholt waren wir
unschlüssig, auch uneinig über den einzuschlagenden
Weg. Wir lagerten in Zelten und fanden spärliche Weiden.
Wir brauchten Wasser für Mensch und Vieh. Geburten wa-
ren abzuwarten. In Elim fanden wir Palmen und Wasser-
quellen. Wir ruhten aus, ehe wir weiterzogen Richtung Si-
nai. Als Jahwe rief, stieg ich auf den hohen Berg. Das Volk
solle seine Kleider waschen und sich heilig halten. Feuer
und Rauch lagen über dem Berg. Ich war erregt. Droben
sprach Seine Stimme: »Ich bin Jahwe, der euch aus dem
Sklavenhaus Ägypten geführt hat. Ich schließe einen Bund
mit euch. Haltet die Gebote des Bundes.« Er sei der einzige
Gott, andere Götter dürften wir nicht haben. Kein Stand-
bild, keine Fruchtbarkeitsriten, keine götzenhafte Anru-
fung seines Namens. Dann gab er Weisungen für unser Zu-
sammenleben untereinander. Aufgewühlt und benommen
stieg ich bergab. Dem Volk berichtete ich Jahwes Bund und
seinen Geboten. »Die Zeit der Götter ist vorbei«, sprach
ich. »Haltet jeden siebten Tag heilig. Am Schabbat bezeugt
euren Gott.« Alle stimmten zu. Wir schlachteten Tiere und
hielten ein Festmahl.
Einige Älteste brachten Einwände vor, jüngere Män-
ner widersprachen. Als ich erneut auf den Berg stieg, gos-

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sen sie einen goldenen Stier. Der sollte ihr Fruchtbarkeits-


gott sein. Der Abfall enttäuschte mich tief. Zwischen dem
Volk und Jahwe stehend, bat ich Ihn, seinen Zorn zurück-
zuhalten. Wütend zerschlug ich den Stier. Es brauchte
lange, bis sich die Aufgeregten beruhigten. Dann brachen
wir auf Richtung Norden. Von Süden her dachten wir,
nach Kanaan einzuziehen. Aber die Bewohner hinderten
uns. Sie fürchteten, wir würden ihnen das Grasland weg-
nehmen. Einige Familien trennten sich von uns. Mit den
Verbliebenen zog ich durch das Gebiet der Edomiter über
die Senke des Salzmeers hinüber ins Land der Midianiter
und Moabiter. Wir schlugen das Jahwezelt auf. Die Lade
mit der Urkunde des Bundes stellten wir in die Mitte. Über
Jahre hielten wir uns in einer Art Vorheimat auf. Die Göt-
ter Moabs blieben eine ständige Gefahr. Ich erneuerte den
Bund mit dem Volk und versicherte den Israeliten, der
Schutzbund des Herrn gilt euch und euren Kindern auf
ewig. Sie klatschten Beifall und riefen Amen: »Ja, so sei es,
soll es sein auf ewig.«
Allein im Zelt machte ich mir Gedanken über die Zu-
kunft des Volkes. Werden sie ohne schwere Auseinan-
dersetzungen siedeln können? Wie werden sie, wenn sie
eingedrungen sind, das Land verteilen? Können sie in
Frieden leben? Werden sich Älteste durchsetzen, Richter
die Stämme zusammen halten? Meine Zeit geht zu Ende.
Ich rief Josua ins Offenbarungszelt und übergab ihm mei-
ne Macht. Er solle mit dem Volk hinüberziehen ins ver-
heißene Land. Den Ältesten befahl ich die Lesung des Ge-
setzes in jedem siebten Jahr. Mit aller verbliebenen Kraft
sang ich mein Lied. Erde und Himmel rief ich an. »Ich ver-
künde den Namen des Herrn. Preist die Größe unseres

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Gottes. Preist Seine Nähe. Er hat euch aus Ägypten ge-


führt. Euer Schöpfer, euer Vater ist ER, euer Führer ins
gesegnete Land.« Dann breitete ich die Arme aus und
sprach den Segen. »Der Herr, der erschien am Sinai,
leuchte euch. Der Herr, der euch durch die Wüste führte,
strahle vor euch. Der Herr, der euere Landlosigkeit sah,
gebe euch Land. Der Herr, der mit euch litt, als die Ägyp-
ter euere Kinder töteten, schenke euch Söhne und Töch-
ter. Der Herr-mit-euch segne die Gesunden und die Kran-
ken, die Geborenen und die Kommenden. Haltet euch an
Sein Gesetz. Gedenkt, dass ihr den Schabbat heiligt. Lebt
in Frieden. Amen.«
Sie klatschten in die Hände. Männer küssten meine
Wangen, Frauen riefen mir zu. Ich war gerührt. Als sie da-
vonzogen, die Jungen und die Alten, die Männer und die
Frauen mit allen Kindern und Tieren, stellte ich mich auf
den Vorsprung über dem Tal und winkte ihnen nach. Trä-
nen rannen mir über die Wangen. Ich verstand: Du wirst
zu deinen Vätern versammelt, Moses. Ich habe dein Volk
durch die Wüste geführt, sagte ich dem Herrn. Ich habe
ihnen dich, Jahwe, mitgeteilt. Ihre Gebete habe ich auf
dich gerichtet, ihr Denken und Trachten von den Göttern
geschieden. Geschieden habe ich die Geschichte der Men-
schen, dass fortan allein Jahwe der wahre Gott sei. Bewah-
re mich, Gnädiger, in der Geschichte deines Volkes. Lass,
Allheiliger, mich eingehen in deine Herrlichkeit.

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R uth sprach

Unser Vater Elimelech stammte aus Bethlehem. Als dort


das Grasland verdorrte, die Tiere starben und die Men-
schen hungern mussten, war er mit Noomi übers Gebirge
ins grüne Moab gezogen. Meine Schwiegereltern brachten
zwei Söhne mit. Die heirateten moabitische Frauen. Eine
hieß Orpa, die andere war ich, Ruth. Mehrere Jahre lebten
wir in Frieden zusammen. Dann starb Orpas Mann, bald
darauf auch mein Mann. Meine israelische Mutter blieb
unter den Moabitern die Fremde. Obschon sie eine
freundliche Frau war, begegneten die Leute ihr mit Miss-
trauen. Sie verehrte weder Baal noch ging sie zu den
Aschera-Festen. Zuhause sprach sie von ihrem Jah-
we-Gott. Nach dem Tod unserer Männer wurde unsere
Restfamilie in Moab noch misstrauischer angesehen. Wie
sollten wir Frauen leben, wenn uns kein Mann schützte?
Mehr als einmal mussten wir Nachbarn um Milch und
Mehl bitten. Ein Ernährer war nicht in Sicht. Da ent-
schloss sich meine Mutter, Moab mit Orpa und mir zu ver-
lassen. Sie hatte gehört, in Bethlehem sei das Grasland
wieder grün geworden. Das ist der Segen Jahwes, sagte sie.
Wir stiegen hinunter zum Jordan, durchschritten das
Tal, stiegen dann hinauf zur Bergwüste Juda. Als wir Rast
machten, ermüdet dasaßen und einander mit besorgten
Blicken anschauten, äußerte meine Mutter Bedenken we-

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gen unserer Zukunft. »Kehrt nach Moab zurück«, sagte


sie. »Ich kann nicht auf einen Mann hoffen. In meinem
Leib ist kein Platz mehr für Söhne, aber in eurem Leib. In
meiner Heimat werdet ihr Fremde sein. Es wird schwer
für euch, einen Mann zu finden. Der Herr lasse euch in
Moab das Zuhause finden bei einem Gatten.« Unsere
Mutter sorgte sich um uns. Aber warum war ihr dieses An-
sinnen nicht früher gekommen? Orpa und mir kamen die
Tränen. Die Mutter umarmte und küsste uns. Auch wir
umarmten und küssten sie. Meine Schwägerin Orpa kehr-
te zurück. Ich dachte nicht an Rückkehr. »Dränge mich
nicht, dich zu verlassen«, sagte ich zu Noomi. »Wohin du
gehst, gehe auch ich. Wo du bleibst, bleibe auch ich. Dein
Volk ist mein Volk, dein Gott mein Gott.« Wer hatte mir
diese Sätze eingegeben? Noomi schaute mich mit großen
Augen an. Wir saßen im Schatten unter einem Felsen und
tranken aus dem Wasserbeutel. Dann standen wir auf und
zogen weiter, sie mit dem Ungewissen, das auf uns warte-
te, ich mit meinem Bekenntnis. Durfte ich mich so einfach
anvertrauen und zuversichtlich hoffen? Was musste, was
konnte ich selbst dazu tun?
Es war Frühjahr, schon fast Sommer. Wir kamen zur
Zeit der Gerstenernte nach Bethlehem und fanden fürs
Erste Obdach. Noomi erinnerte sich an einen Verwandten
vonseiten ihres Mannes. Boas hieß er und der besaß große
Äcker. Wir wollten niemandem zur Last fallen, möglichst
nicht betteln gehen. Am nächsten Morgen sagte ich zu
Noomi, ich gehe aufs Feld, Ähren lesen, wenn es mir er-
laubt wird. Sie stimmte zu. Zufällig oder nicht war ich auf
ein Feld des Boas geraten. Der besah gerade die Arbeit sei-
ner Schnitter und Garbenbinderinnen. Er schien zufrie-

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den. Allen wünschte er einen guten Erntetag. Die Schnit-


ter grüßten zurück, zufrieden auch sie. Eine gute Welt,
dachte ich, freundliche Menschen, ein freundlicher Ton.
Dann sah Boas mich auf dem Feld. Er fragte: »Wem
gehört dieses Mädchen?« »Mädchen«, sagte er, das war
ich nicht mehr. Jemandem gehören, dachte ich, schön
wär’s. Er ging auf mich zu und sprach mich an. »Höre,
meine Tochter«, sagte er, »halte dich an die Mägde, geh
hinter ihnen her und lies, was auf dem Boden liegen
bleibt. Wenn du Durst hast, geh zu den Krügen. Keiner
meiner Knechte soll dir’s verwehren.« Ich beugte mich
vor ihm nieder und sprach: »Wie habe ich es verdient,
dass du mich so achtest, wo ich eine Fremde bin?« Er
habe durch Noomi erfahren, sagte Boas, was geschehen
sei, wie ich meine Schwiegermutter begleitet und mit ihr
nach Bethlehem gezogen sei. Nach einer Pause, in der er
in sich versunken schien, sprach er einen Segen über
mich. Ich war überrascht. »Der Herr, der Gott Israels, zu
dem du gekommen bist, berge dich unter seinen Flügeln,
er vergelte dein Tun und belohne dich reich.« Ein schöner
Segen, dachte ich. Der Gott Israels muss ein guter Gott
sein. Hat er Flügel, wie ein Adler, nur größer? Und
belohnt er? Meine Moabgötter belohnen keinen Fremden.
Die Schnitter schnitten, die Mägde banden Garben,
ich las hinterdrein. Zur Essenszeit lud mich Boas, vom
Brot zu nehmen und es in die Würztunke zu tauchen. Ich
war verlegen. Ich gehörte nicht zu den seinen. Aber der
Hunger war groß. Nach dem Mahl trug der Mann den
Mägden auf, Ähren liegen zu lassen. Am Abend war mein
Korb übervoll. Ich trug ihn zu meiner Schwiegermutter.
Die wunderte sich über den übervollen Korb. Dann fragte

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sie, wie es mir ergangen sei. Ich erzählte. Jetzt erkundigte


sie sich nach dem Eigentümer des Feldes. »Boas heißt der
Mann«, sagte ich. »Er sprach sehr freundlich zu mir und
lud mich sogar zum Mahl ein.«
Meine Schwiegermutter schien seinen Namen zu ken-
nen. Anscheinend dachte sie schon weiter. Sie wollte mir
ein Zuhause verschaffen. »Heute Abend«, sagte sie, »rei-
nigt Boas die Gerste auf der Tenne. Wasch dich, salbe
dich, geh zur Tenne. Aber zeig dich dem Mann erst, wenn
er fertig ist, sich niedergesetzt und getrunken hat.« Ich
wusch mich, salbte mich und ging hin, wie sie mich gehei-
ßen. Als Boas gegessen und getrunken hatte, legte er sich
neben dem Getreidehaufen schlafen. Ich trat leise heran,
deckte den Platz zu seinen Füßen auf und legte mich nie-
der. Um Mitternacht schrak der Mann auf, als er mich zu
seinen Füßen liegen sah. »Wer bist du?«, fragte er. »Ich
bin Ruth, deine Magd«, sagte ich. »Breite den Saum deines
Gewandes über deine Magd, denn du bist der Löser.« Da
richtete er sich auf und sagte: »Sei gesegnet, meine Toch-
ter, du bist nicht den jungen Männern nachgelaufen.
Schön bist du. Ich werde tun, um was du mich bittest.« Er
wollte mich aber nicht in der Nacht erkennen. Das hätte
Nachrede gegeben im Dorf. Am Morgen füllte er das
Tuch, das ich umgebunden hatte, mit sechs Maß Gerste.
Die trug ich zu Noomi.
War ich beglückt oder enttäuscht? Hatte ich zu viel er-
wartet? War ich zu schnell gewesen? Boas fragte im Dorf
nach einem Verwandten, der meiner Schwiegermutter nä-
her stand und mich als Witwe zu sich holen könnte. Ein
solcher fand sich. Aber er wich zurück vor dem Ansinnen.
Er dachte an seinen Besitz, den er teilen müsste. Auch

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scheute er sich vor der Fremden. Daraufhin ließ Boas Zeu-


gen zusammenrufen. Jetzt löste er mich aus meiner Wit-
wenschaft und Fremde. Er nahm mich zu sich in sein
Haus und erkannte mich. Ich war glücklich. Meine Wit-
wenschaft war beendet. Noomi freute sich, auch für sie
war gesorgt. Ich ging wie beflügelt durch Boas’ Haus, buk
in der Frühe Brot und stellte Milch auf den Tisch. Die
Tage vergingen rasch und in Frieden. Bald dufte ich auf
die Geburt unseres Sohnes warten.
Nicht allen Frauen im Dorf gefiel meine Schwanger-
schaft. Einige sagten hinter vorgehaltener Hand, ich sei
eine Hure. Üble Nachrede kannte ich aus Moab. Zugege-
ben, ich hatte um den Mann geworben, als ich die Gele-
genheit erkannte. Ich legte mich zu ihm, ich bot mich an.
Was hätte eine Frau in meiner Lage anderes tun sollen?
Die mir nachredeten, gewannen nicht die Oberhand.
Noomi pries ihren Herrn, den Gott Israels, dass er einen
Löser gesandt hatte. Vom ersten Augenblick an auf dem
Feld war Boas gut zu mir gewesen. Als er mich erkannt
hatte, blieb er mir auch fürderhin gut. Noomi erlebte die
Freuden einer Großmutter. Sie liebte das Kind. Obed hieß
unser Sohn, das ist »Knecht«, weil ich ihm, Boas, »Magd«
war. Aber vielleicht heißt Obed noch etwas anderes. Noo-
mi dachte manchmal an ihr Ableben, ich an langes Wei-
terleben. Ich hatte in Moab noch nicht richtig gelebt. Wa-
rum ich dort nicht froh geworden bin, weiß ich nicht. War
es mein Mann? Waren es die Verhältnisse? Die Leute? In
Israel wurde Segen über mich gesprochen. Der Segen ver-
hieß Leben. Leben hüpfte in mir. Leben sang in mir. Le-
ben erfüllte mich. Kraft trieb mich an vom Morgen bis
zum Abend. Ich spürte sie.

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Die Leute sagten: »Ist das die kleine Ährenleserin, die


aus Moab gekommen ist?« – Ja, das ist sie, dachte ich.
Klein oder schon fast groß, ich musste mich vor nieman-
dem mehr rechtfertigen. Sich nicht mehr rechtfertigen zu
müssen, tut wohl. Ich wollte unbeschwert leben, als junge
Frau, und ich durfte es. In einem Haus, mit einem Mann,
einem Sohn, mit Noomi und ihrem Gott. Ich, die Fremde,
fand einen Lebensgott. So nenne ich ihn. Der Gott Israels
hilft den Menschen leben. Von Evas Geschichte habe ich
gehört. Eine Vertriebene war auch ich, aber nicht wie Eva.
Sie wurde aus einem Garten vertrieben. Mir kommt es
vor, als hätte ich in einen Garten gefunden. Ich erkannte
meine Lebenschance. Bäume gehören uns, Früchte und
Felder. Jeden Tag geht die Sonne auf. Jeden Tag wartet der
Schatten des Hauses. Auch Boas wartet nach getaner Ar-
beit auf mich. Dass ich zu ihm fand, war eine gute Fügung.
Ich glaube, es war Gnade. Gleich, als wir uns das erste Mal
erblickten, muss etwas geschehen sein. Ich wünschte, auf
Dauer in seine Nähe zu kommen. Dann gab er unserer
Nähe die vorgeschriebene Form. Ich wurde ihm zur Freu-
de, er mir zum Trost. Dank sei Noomi. Dank sei Boas.
Gepriesen sei Israels Gott. Ich, die Ährenleserin, wurde
erhört.

Nachbemerkung: Dass die Moabiterin Ruth in Israels Ge-


schlechterfolge eingehen würde, wusste sie nicht. In der
Bibel wird Obed, ihr Sohn, der Vater Isais, Isai der Vater
Davids.

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D avid sprach

Ich bin Hirt, Sänger, König. Ich war der Junge mit der
Schleuder, bin Bathsebas Mann. Liebhaber, Ehebrecher,
erfolgreicher König, besorgter Vater. Was war ich nicht?
Page bei Saul, Harfenspieler, Philisterbezwinger, Partisa-
nenführer, Eroberer Jerusalems und des Jordanlandes.
Ein strahlender junger Mann, Kämpfer, der mit der Zeit
müde wurde. Aufstiege und Abstiege, Siege und Niederla-
gen, Lust und Resignation. Heute sage ich, zu viel für ein
Leben. Zu viele Aufgaben, zu viele Kämpfe, zu viele
Pflichten, zu viel Verlangen. Wahre und erfundene Ge-
schichten erzählt man von mir. Ich war ihr Mann, ihr
Held, ihr Befreier, ihre Hoffnung. Den Schreibern nicht
fassbar. Kaum mir selbst. Warum soll ich fassbar sein?
Mein öffentliches Leben begann mit der Salbung. Ein
Prophet kam nach Bethlehem. Samuel hieß er. Nachdem
er ein Opfer dargebracht hatte, bat er meinen Vater Isai,
ihm seine Söhne zu zeigen. Der Geist seines Adonai sagte
ihm, er solle sich nicht vom Äußeren leiten lassen. Leicht
gesagt, wenn sieben wohl gewachsene Söhne sich nach-
einander vorstellen. Vom Jüngsten konnte man absehen.
Der hütete draußen Schafe. Auch mich wollte Samuel se-
hen, gerade mich. Man holte mich von den Weiden. Als
ich zum Haus kam, ging der Prophet auf mich zu, nahm
sein Horn aus den Gürtel und salbte mich. Ich war der

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Jüngste unter den Brüdern. Mit der unerwarteten Salbung


hat alles begonnen. Eine schlüssige Erklärung für sein
Tun hat Samuel nicht gegeben, auch dem Vater nicht. An
Sauls Hof kam ich nicht wegen der Salbung, sondern weil
ich auf Saiten spielen konnte. Der König war ein grantiger
alter Mann geworden. Berater empfahlen ihm einen jun-
gen Saitenspieler. Der wurde ich. Es gelang mir, den bösen
Geist zu vertreiben, wenn er Saul befiel. Der König fasste
Vertrauen zu mir. Er fing an, mich zu bevorzugen. Ich
wurde sein Waffenträger.
Sauls Herrschaft war keineswegs umfassend. Noch im-
mer drangen die Philister ins Land. Sie zogen von der Küs-
te herauf und fielen plündernd in Juda ein. Sie verlangten
nicht nur Tribut, sondern auch Land. Die Philister waren
größer gewachsen als die Männer Israels. Sie fühlten sich
überlegen. Einer von ihnen maß sechs Ellen und eine
Spanne. Keiner der Unsrigen wagte, gegen ihn zum Zwei-
kampf anzutreten. Beingeschient, mit Speer und Schwert
bewaffnet, trat der Kerl vor. Er verspottete uns. »Wer den
erschlägt«, sprach Saul, »dem gebe ich meine Tochter zur
Frau.« Ich wagte zu rufen: »Wer ist denn dieser unbe-
schnittene Philister, der die Kampfreihen des lebendigen
Gottes verhöhnen darf?« Das fanden meine Brüder keck,
aber ich meinte es ernst. Der König warnte mich. Er wollte
nicht, dass der Riese seinen jungen Waffenträger mit dem
Speer durchbohre.
Die Geschichte meines Waffengangs ist oft erzählt
worden, jedes Mal ein wenig anders, wie es Geschichten
abends im Zelt ergeht. Wahr ist, Goliath schrie mich an, er
werde mein Fleisch den wilden Tieren zum Fraß geben.
»Ich werde dir den Kopf abschlagen«, schrie er, »sobald

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ich dich mit dem Schwert durchbohrt habe.« Seine Dro-


hung erregte Furcht. Meine Brüder zuckten zusammen.
Hoffentlich wagt sich unser Jüngster nicht vor. Auch mich
schüchterte die Drohung ein. Aber ich spürte die Kraft des
lebendigen Gottes in mir. Mutig schritt ich auf den Schrei-
er zu. Als Goliath, so hieß der Riese, näher kam, nahm ich
einen Stein aus meiner Hirtentasche, legte ihn auf die
Schleuder, zielte auf den Kerl und zog ab. Die Flugbahn
war gut. Der Stein traf seine Stirn. Der Mann fiel tot nie-
der. Entsetzen bei den Philistern, die Israeliten erhoben
ein Siegesgeschrei. Ich wurde ihr Held. Der Hirtenjunge
wurde auf einmal als der Größte gefeiert.
Die Tat veränderte mein Leben weiter. Ich genoss die
Ehrung. Ich genoss Vorzugsrechte. Aber das Leben wird
für einen Geehrten nicht einfacher. Im Gegenteil. Ich lieb-
te Sauls Sohn Jonatan. Bald wurde hinter der Hand, dann
offen über uns geredet. Sauls Tochter Michail nahm ich
zur Frau, der Hirtensohn gewann die Königstochter. Saul
missfiel es, dass ich immer beliebter wurde bei Hof. Er
wurde eifersüchtig auf den Saitenspieler, eifersüchtig auf
den Goliathbezwinger. Seine Stirn verfinsterte sich, wenn
er mich sah. Eines Tages versuchte er, mich mit dem Speer
gegen die Wand zu spießen. Da musste ich fliehen. Die
schöne Michail, die mich wahrhaft liebte, musste ich ver-
lassen. Jonatan half bei der Flucht. »Geh in Frieden«, sag-
te er. Wir umarmten uns, küssten uns und weinten. Meine
Jugend war vorüber. Ich wusste nicht, wohin ich mich
wenden sollte. Saul verfolgte den einst von ihm
Bevorzugten. David war ohne Wohnstatt.
Ich zog umher und wurde Bandenführer in der judäi-
schen Wüste. Sogar mit den Philistern paktierte ich. Was

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tut man nicht für sein Überleben. Saul verfolgte mich mit
seinen Knechten. Ich floh durch die Wüste Juda bis zu
den Bergen von En-Gedi. Der König hatte meine Spur ge-
funden. Er suchte mich bei den Steinbockfelsen. Als er in
der großen Höhle seine Notdurft verrichtete, saß ich mit
meinen Männern hinten im Dunkel. Die sagten: »Auf, Da-
vid, ergreife die Gelegenheit, töte den, der dich verfolgt.«
Wie hätte ich den Gesalbten Israels töten können. Das lag
mir fern. Doch als Saul die Höhle verließ, rief ich ihm
nach: »Wie lange sinnst du noch auf Davids Tod, wo ich
dich verschonte?« Saul war völlig überrascht und drehte
sich um. Er begriff, dass ich mich großmütig gegen ihn
verhalten hatte, er aber nicht gegen mich. Da rief er: »Jetzt
weiß ich, dass du König werden sollst. Verschone, wenn
du Herrscher bist, mein Haus und meine Söhne.« – »Das
werde ich«, rief ich ihm nach. Gottes Geist hatte bewirkt,
dass wir uns vor seinem Ableben versöhnten.
Als die Königswahl anstand, wählten die Israeliten
keinen von Sauls Söhnen. Mich, den Verfolgten, wählten
sie zum König. Nicht alle Ältesten stimmten für mich. Ich
wurde feierlich gesalbt. Das Land, das zu regieren ich
mich anschickte, war arm, von Feinden bedroht, die
Stämme untereinander zerstritten. Saul hatte in Gibea,
nicht weit von Jerusalem, regiert. Aus Gründen der Si-
cherheit begann ich mein Regieren drunten in Hebron.
Zuerst besuchte ich mehrere Oberhäupter. Die Felsfeste
Jerusalem war von den Jebusitern besetzt. Ich wollte sie
zur Hauptstadt machen. Die Eroberung der Bergfeste wur-
de meine erste große Tat als König. Dann zog ich mit dem
ganzen Heer nach Kirjath-Baal und holte die Bundeslade
in die Stadt. Ich machte Jerusalem zur Stadt des Herrn.

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Der Einzug wurde ein Fest wie die Stadt es noch nie erlebt
hat. Ich hatte das Leinen-Efod angelegt. Unter Jubelge-
schrei und Klängen der Widderhörner zogen wir hinauf
zum Heiligen Berg. Der Geist ergriff mich. Ich legte mein
Priesterkleid ab und tanzte vor dem Herrn. David tanzte
vor dem Herrn befreit, ausgelassen, begeistert. Meine Bei-
ne und Hüfte gerieten außer sich. David warf die Arme in
die Luft. Er sprang hoch und drehte sich im Kreis. David
sang. Der König sang und tanzte. Der Festzug klatschte
Beifall. Auch andere Männer fingen an zu tanzen. Als
Sauls Tochter Michail mein Aufgebrachtsein sah, wandte
sie sich ab. Sie verachtete mein Gehabe. »Ein König hüpft
nicht vor seinen Untertanen wie ein Narr«, sagte sie. –
»Ich tanze nicht vor meinen Untertanen, sondern vor
meinem Herrn«, erwiderte ich. Michail bekam keine Kin-
der. Droben auf dem Fels habe ich einen Stier und ein
Mastkalb geopfert, danach das versammelte Volk geseg-
net. Ich betete laut: »Herr, unser Gott, dein Knecht wirft
sich vor dir nieder. Groß bist du, Herr. Keiner ist dir
gleich. Du hast uns herausgeführt aus der Knechtschaft
Ägyptens. Du hast die Götter Kanaans vertrieben vor den
Augen deines Volkes. Auf ewig hast du Israel zu deinem
Volk erwählt. Du, Herr, bist unser Gott und es ist kein an-
derer Gott außer dir. Deine Worte sind wahr. Segne dein
Haus und alle, die vor dir versammelt sind.« Die Umste-
henden riefen »Amen! Amen!« Der Jubel wollte kein
Ende nehmen. Jahwe hatte nur ein Zelt. Aber Er wohnte
in Davids Stadt. Die Überführung der Bundeslade war der
Höhepunkt meiner Regierungszeit. Nie mehr fühlte ich
mich so erhaben, nie mehr dem Himmlischen so nah.
Manchmal denke ich zurück in Glück und Trauer. Ich

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hatte die Gegenwart Jahwes erfahren dürfen. Der Geist


Gottes durchdrang mich. Nicht ich habe den Tanz, der
Tanz hat mich ergriffen.
Die täglichen Pflichten eines Königs sind mühsam.
Immer wieder Rechtsstreit und feindliche Einfälle. Die
Regierungsgeschäfte sind öffentlich. Doch auch der König
hat ein Privatleben, dazu eine große Familie. Eines
Abends, als sich die Luft schon abkühlte, erblickte ich
Bathseba. Nicht alle verzeihen mir diese Geschichte. Die
Schöne badete auf der Dachterrasse ihres Hauses. Im
Abendlicht sah ich ihre Brüste, ihre Haare, ihre Hüfte, ihre
Scham. Begehren überfiel mich, wie es mich noch nie
überfallen hatte. Ein mächtiges Verlangen fuhr in mich
hinein. Ich schickte Boten zu der Frau und ließ sie holen.
Sie duftete am ganzen Leib, nur ein Handtuch um ihre
Hüfte. Mich, ihren König, sah sie mit großen Augen an.
Auch ich sah sie mit großen Augen an. Augenblicklich ge-
schah Einverständnis. Ich bat sie, bei mir zu bleiben. Wir
schliefen miteinander. Am Morgen ließ ich sie zurück-
bringen in ihr Haus. Nach einem Monat schickte sie einen
Boten. Er teilte mir mit: »Die Frau, die der König erkannt
hat, ist schwanger.« Jetzt wurde es schwierig. Bathseba
war verheiratet. Ihr Mann war der Hetiter Urija, einer mei-
ner Feldhauptleute. Ich ließ ihn zu mir kommen, aß und
trank mit ihm, ließ reichlich Wein nachgießen. Habe ich
es ihm gesagt oder hat er es schon gewusst? Angeblich be-
trat der Mann das Haus seiner Frau nicht mehr. Jetzt be-
fahl ich meinem Heerführer Joab, im Kampf gegen die
Ammoniterstadt Rabba den Urija an der gefährlichsten
Stelle einzusetzen. Als die Ammoniter angriffen, fanden
Joabs Tapfere den Tod, Urija unter ihnen. Man meldete

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mir seinen Tod. Ich verbarg meine Gefühle und sagte ganz
allgemein: »Das Schwert frisst auch die Tapfersten.« Bath-
seba sank in Totenklage. Als die Geschichte dem Prophet
Nathan zu Gehör gekommen war, drohte er mir schwere
Strafe an. Ich hatte gewollt, dass Urija umkam. Ich war
schuldig geworden an seinem Tod. Aus der Tiefe des Her-
zens rief ich zum Herrn. Ich bat Ihn, mir sein Ohr zu öff-
nen. In Sack und Asche bekannte ich meine Sünde. Ich bat
um Vergebung: »Dein Gesetz habe ich übertreten, aber
dich nicht vergessen. Kehre wieder, Gnädiger. Wende
dich mir zu.« So betete ich laut und bekannte mich tief
schuldig. Sobald Bathsebas Trauerzeit vorbei war, ließ ich
sie in mein Haus holen. Unser erster Sohn wurde geboren.
Aber er starb. Wir erkannten die Strafe. Unseren zweiten
Sohn nannten wir Salomo. Er wurde ein kräftiger und
kluger Junge. Nach David soll er in Israel König werden.
Ungeachtet meines Rechtsbruchs sorgte ich für Recht,
so weit ich es öffentlich durchsetzen konnte. Ich kümmer-
te mich um die Hauptleute und die Schreiber, erkundigte
mich nach den Vorräten in den Speichern, kontrollierte
den Dienst der Priester. Die Hofleute betrachteten meine
Umsicht mit Wohlwollen. Ich konnte ein bescheidenes
Heer halten. Als die Aramäer von Damaskus her im Nor-
den einfielen, trat ich ihnen entgegen. Die Goldgefäße, die
mir der König von Hamat schenkte, weihte ich dem
Herrn. Schwierig war es, in meinem eigenen Haus für
Ordnung zu sorgen. Einige Söhne zeigten großen Ehrgeiz.
Ihre schönen Halbschwestern waren ihnen ständige Ver-
suchung. Der Streit untereinander machte mich traurig.
Die Verschwörungen aus dem eigenen Hause verbitterten
mich. Jetzt bin ich alt geworden. Meine Kraft ist ge-

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schwunden. Der Held David lebt in den Sagen. Aber Bath-


seba liebt mich noch immer. Sie macht sich Sorgen um
mein Leben. An ihr eigenes scheint sie wenig zu denken.
Ich schaue zurück. Vieles ist gelungen. David hat Isra-
el groß gemacht. Er hat die Stämme geeint, das Reich be-
gründet, nach Ost und West gefestigt. Nicht alle, die von
mir erzählen, werden berichten, wie es wirklich war. Na-
türlich spielte Macht eine Rolle. Dazu wurde ich König.
Ohne Macht kann keiner herrschen. Juda selbst, unser
Stammland, musste erst gesichert werden. Die Nordstäm-
me hatten sich vom Süden getrennt. Sie mussten durch
Verhandlungen und Zusagen neu in den Verbund geholt
werden. Die Philister bedrängten das Land von der Küste
her. Im Osten musste Moab tributpflichtig gemacht wer-
den. Das Reich verlangte anhaltend meine Kraft, die Stadt
Jerusalem meine tägliche Sorge. Feinde drohten von au-
ßen, es gab Gegner im eigenen Land. Außerdem musste
ich mich sorgen um die Familie mit Frauen, Söhnen und
Töchtern. Für Gefühle und Muße hatte ich wenig Zeit. Zu
wenig Zeit auch für die Frauen. War ich glücklich? Wel-
che Frage. Oft war ich zufrieden. Ich erfüllte meine
Pflicht. Sorglos und entspannt war ich selten. Ein König
muss stark sein. Auch die Frauen wollten mich stark se-
hen. Nicht alle werden Gutes über mich sagen. Ich bitte
Michail und Abigail um Verzeihung, Maaka, Chaggith
und Abital um Vergebung, dass ich sie allein ließ. Unsere
Söhne werden streiten. Die Mütter werden Partei ergrei-
fen. Ich wünsche den Müttern Frieden und den Söhnen
und Töchtern Frieden. Friede für Juda, Friede in Israel.
Friede über Jerusalem. Friede der Stadt, Friede den Dör-
fern. Friede dem Schabbat, Friede den Festen. Friede auf

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Äckern und Friede auf den Weiden. Friede am Morgen,


Friede am Abend, am Mittag Friede und in der Nacht. Ge-
denkt Davids, des Hirten, der in jungen Jahren gesalbt
wurde. Ich war der Gesalbte des Herrn. Gedenkt Davids,
des Königs, der Israel einte. Gedenkt des Königs, der
gesiegt, und des Königs, der gesündigt hat. Betet für Israel.
Betet für den Frieden. Singt dem Herrn Psalmen und
Lieder. Preist den Herrn.

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H iob sprach

Nein, das darfst du nicht tun. Das kannst du nicht zulas-


sen. Was habe ich dir getan, dass du mich so schlägst?
Hörst du nicht meine Schreie? Ich habe dir gedient, und
du nimmst alles fort. Das Vieh und die Knechte. Dann
lässt du meine Kinder töten. War ich nicht gottesfürchtig?
Habe ich nicht Böses gemieden? Gilt dir nicht, dass ich
dich verehre? Soll ich glauben, ohne zu empfangen? Soll
ich geben, wenn du alles nimmst? Ich brachte dir Opfer
dar. Ich war gerecht gegen Mann und Frau. Ich achtete auf
die Herden, auf Wasser, jeden Baum. Eingang und Aus-
gang meines Hauses bewachte ich. Du hast mir alles ge-
nommen. Die Rinder, Kamele, Schafe, Knechte und Mäg-
de dazu. Meine Söhne hast du mir genommen, die Töch-
ter, sieben starke Söhne, drei schöne Töchter. Wer bin ich
ohne Herden? Wer ohne Söhne? Wo soll ich bleiben ohne
Haus? Mit Geschwüren überzogst du mich. Mein Leib
schwärt. Mein Geist ist zerschlagen, der Mut genichtet.
Ich bin allein, von allen verlassen. Wie soll ich weiter le-
ben? Meine Frau keift: »Warum glaubst du an Ihn? Wa-
rum hältst du es mit Gott?«, sagt sie. »Such dir einen an-
deren Verbündeten.« Als ob man mit jemandem verbün-
det sein könnte, wenn man nichts mehr hat. Als ob man
sich mit jemandem verbinden könnte, der alles nimmt.
Ausgelöscht sei der Tag, an dem ich geboren. Nicht leuch-

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te ihm des Tages Licht. Verschlingen sollen ihn Dunkel


und Finsternis. Ich kann nicht mehr atmen. Hörst du
mein Seufzen? Meine Klagen strömen wie Wasser. Ich
muss zu dir reden. Ich frage, warum. Warum richtest du
deine Pfeile gegen mich? Warum vernichtest du mein Le-
ben? Ich schreie zu dir, und du antwortest nicht. Ich liege
am Boden, doch du achtest mich nicht. Zu wem soll ich
reden, wenn nicht zu dir? Ich will mit dir rechten. So
sprach ich. So stammelte ich. Hinunter zur Erde hörte ich,
hinauf zum Himmel .
So fanden mich meine Freunde. Sie zerrissen ihre Ge-
wänder und streuten Asche auf ihr Haupt. Konnten sie
mein Leiden erfassen? Wollten sie? Keine Herde bringen
sie zurück. Keinen Sohn erwecken sie zum Leben. Ihre
Haut ist glatt, ihr Tag hell. Sie bezeugen Mitleid und ver-
weisen auf meine Schuld. Sobald sie heimgehen, salben
sie sich wieder. Meine Schreie sind nicht ihre Schreie,
meine Klage ist nicht die ihre. Hiob ist der Geschlagene.
Hiob hat seine Zustimmung verloren. Die Seele ist ihm ge-
schwunden. Wie soll Hiob noch leben? Ohne Herden,
ohne Söhne und Töchter, ohne Gesundheit, ohne Familie.
Hiob sieht keine Weiden. Er sieht kein Haus. Seine Frau
ist ihm zur Feindin geworden. »Stirb!«, sagt sie. »Was
willst du noch auf Erden?« – »Leben will ich«, rief ich.
Hiob will nicht sterben. Hiob will mit Söhnen leben,
Töchter und Enkel sehen. Hiob will seinem Gott glauben.
Aber wie soll er glauben, wenn er kaum mehr lebt?
Seine Freunde sind mit Theologie angereist. Sie tragen
ihre Gotteslehre vor sich her. »Unschuldig wird keiner
bestraft«, sagen sie. Sie argumentieren mit Vergeltung.
»Jahwe ist gerecht«, sagen sie. »Wer Gutes tut, dem ge-

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schieht Gutes. Wer Böses getan hat, den verfolgt Böses.


Der recht tut, wird gesegnet, Übeltäter werden bestraft.
Du musst Böses getan haben«, sagen sie, als wären Lohn
und Strafe stets eindeutig. Sie denken in ihrem System,
das sie selbst gebaut haben. Sie stellen mich in ihren
Rechtsstatus. Sie stellen sogar Gott in ihren Rechtsstatus.
Ich aber erkenne keine Gerechtigkeit. Lange dachte auch
ich wie sie. Rechtes Handeln, gute Folgen. Rechttun
bringt Segen, Vergehen wird bestraft. Sei du verlässlich
dem Gesetz, dann ist Er verlässlich zu dir. Die Freunde
hören nicht auf mich. Sie reden mir zu. »Geh in dich,
Hiob. Erkenne deine Sünden. Welcher Unschuldige ist je
zugrunde gegangen? Sind Redliche jemals vernichtet wor-
den?« Ich gerate außer mir vor Wut. »Habe ich gefehlt?
Ich hielt die Gebote, ich habe Jahwe geehrt, den Nächsten
geachtet, niemanden übervorteilt. Keinen Knecht ließ ich
hungern, kein Rind verdursten. Keinen Sohn hab ich
geschlagen.«
Nach einer Pause entgegnete Zofar: »Mag sein. Viel-
leicht hast du den Tod nicht verdient.« – »Gewiss nicht!«,
schrie ich. »Gott muss mein Tun doch gesehen haben.
Mein Herz war nicht getrennt von meinen Taten. Ich war
kein Heuchler, kein Gewalttäter, nicht unaufmerksam,
kein Vorteilsnehmer. Was verursachen Handlungen, was
Gedanken? Wie wirkt das Gesetz? Gilt Vergeltung immer
und überall zwischen Mensch und Gott? Auch dort, wo
wir es nicht sehen? Ich handle gut, Er wirkt Segen? Könn-
te es geschehen, dass Zuwendung nicht immer geschieht?
Verrechnung nicht immer exakt erfolgt? Ist es denkbar,
dass Handeln und Leiden sich nicht immer entsprechen?
Dass die Gerechtigkeit nicht in jeder Hinsicht stimmt?«

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Mit der Zeit empfanden auch meine Freunde Schwierig-


keiten bei dem Gedanken, ich müsse zu den ärgsten Übel-
tätern gehören. Wären sie denn Freunde geblieben, wenn
sie mich als Übeltäter erkannt hätten?
Ein vierter Freund, Elihu kam hinzu. Er hörte meine
Argumente, sah meine Verzweiflung, bemerkte, dass ich
Zweifel gegen Gott brütete. »Das sollst du nicht«, sagte
er. Er wollte meine Aggressivität dämpfen, mich ein
Stück weit trösten. Womit kann einer getröstet werden,
dem alles genommen wurde, der sogar die Gemeinschaft
mit seiner Frau verloren hat? Ich konnte keinen Trost
empfinden. Elihu meinte, Gott wolle einen, dem solches
widerfährt, erziehen, dessen Gesinnung läutern. Der Be-
strafte müsse sich prüfen, aus seinen Prüfungen lernen.
»Gott befreit die Schuldigen durch Heimsuchung. Er öff-
net ihnen Augen und Ohren durch Leiden«, sagte er. Eli-
hu äußerte sich behutsam, mehr im Allgemeinen. Er
wollte mich schonen und zugleich aufmuntern. Im Un-
terschied zu den drei Gerechtigkeitswissern sprach Eli-
hu ein Erziehungsprogramm aus. Jahwe erzieht, Jahwe
läutert. »Aber bitte nicht so«, rief ich. Er entgegnete:
»Wenn Jahwe einen auf sich zurückwirft, soll er erken-
nen, dass Er am Werk ist.« Was den Allmächtigen ange-
he, so dürften wir Ihn nicht ungerecht denken. Nicht un-
gerecht, aber vielleicht für Augenblicke unaufmerksam,
dachte ich. Vielleicht hält Er sich gerade an einer abgele-
genen Stelle auf, abgewandt dem bösen Geschehen. Eli-
hus Rede klang teilnehmender als die kalten Vergel-
tungsargumente der Freunde Elifas, Bildad und Zofar. Er
verwies auf eine gewisse Teilnahme Gottes, eine immer
noch denkbare Zukunft. »Aber nicht so«, entgegnete

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ich. »Nicht durch Verlust, der Vernichtung gleich


kommt.« Eine Pause entstand. Die Gefährten schienen
nachdenklich geworden zu sein. Ihre argumentative Si-
cherheit schien zu schwinden.
Früher hatte auch ich in ihrem theologischen Rahmen
gedacht: Gerechtigkeit zwischen Himmel und Erde, gött-
liche Vergeltung, wo notwendig, Erziehung. Aber verlie-
re einer, der sich keiner Schuld bewusst ist, alles, was er
hat – kann ein solcher Erschütterter noch Gerechtigkeit
denken? Das geht nicht. Gegen theologische Deutung
steht betroffene Erfahrung, gegen Ordnungswissen Er-
schrecken. Ich wäre ja bei jenem Ordnungswissen ge-
blieben. Aber was ich erfuhr, hindert mich. Meine Wut
ist nicht unbegründet. Ich musste meinen Zorn gegen
ihre Lehre herausschreien. »Euer Gott ist ein Monster!«,
schrie ich. »Im Unglück abwesend, gegen den Armen un-
bedacht, in seinem Gericht grausam.« Den Freunden
verschlug es die Sprache. Die Lüfte schienen widerzuhal-
len ob meiner Blasphemie. Hatte ich gerufen: Monster?
Hatte ich gesagt, Er sei böse? Geschrien hatte ich vor
Enttäuschung, Niedertracht, Schmerz. Ich war erregt.
Ich widerrief die frühere Zustimmung: Jahwe hat gege-
ben, Jahwe hat genommen, der Name Jahwes sei geprie-
sen. Alles darf Er nicht nehmen. Absoluter Dulder kann
ich nicht sein. Ich kann nicht jeden Verlust hinnehmen.
Ich verlange Recht auf Leben. Ich verlange Recht auf Ge-
genwart, Recht auf Freude, Mut zur Zukunft. Keine ge-
dankenlose Ergebenheit, keine fatalistische Hinnahme
des Unglücks. Sie wäre Verneinung des Lebens. Warum
soll ein Gerechter vernichtet werden? Wem gefällt das?
Wer stimmt dem zu? Soll einer so lange geschlagen wer-

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den, bis er nicht mehr aufsteht? Ist das der Zorn Gottes?
Ich will keinen solchen Zorngott. »Aber du bist ja aufge-
standen«, erwiderte Elihu. »Du redest mit uns. Du be-
denkst. Du widersprichst. Du machst dir Gedanken über
Leben und Tod. Du rechtest mit Ihm. Du suchst etwas.
Du suchst Antwort, Sinn. Aus dir spricht deine nicht ers-
torbene Liebe zu Gott.«
War es so? Ich suchte Mut, weiterzuleben. Ich sinnier-
te, ich fragte, ich erbat Lebensmöglichkeit, Lebensrecht.
Ich wollte glauben, dass Jahwe gut ist. Mit der Zeit wurde
unsere Rede allgemeiner. Wir sprachen über Chaos und
Aggression, Chaos in der Schöpfung, Aggression unter
Menschen. Birgt nicht die Schöpfung auch Chaos? Ich er-
innerte an die Sintflut, die plötzlich hereinbrach und auch
die Wehrlosen vernichtete. Waren alle so böse, wie die
Geschichte will? Sind die Menschen nicht auch von Ge-
burt her belastet, belastet durch zu viel Begehren und Ag-
gression? Sie werden nicht fertig mit sich selbst, ge-
schweige denn mit dem Nächsten. Kaum kommt einer in
ihre Nähe, der auch Lebensrecht fordert, greift der Mann
zur Keule. Wird einer getötet, rücken die Verwandten an:
Auge um Auge, Zahn um Zahn. Muss das unter Menschen
gelten? Hilft das weiter? Gilt das auch vor Gott? Ist Er
stets ein Helfer? Hat Er die Übersicht verloren, das Inter-
esse? Seine Gegenwart, allzeit verfügbare Macht? Die
Freunde hörten meine Fragen zuerst unwillig, dann ver-
wundert. Ob unser Denken sich näher kam, weiß ich
nicht. Sie gaben zu, dass es berechtigte Fragen gab. Sie er-
kannten, dass meine Erfahrung in Widerspruch zu ihrem
Denken stand. Meine Widerrede hielten sie aus. Wozu
soll Schmerz, der einem Menschen die Lebenskraft

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nimmt, gut sein? Stammt Schmerz, der einen Menschen


vernichtet, von Gott? Will Jahwe seinen Geschöpfen den
Lebensmut nehmen? Will Er, dass wir leiden? Lässt Er
Leiden nur zu? Will das Leben selbst, dass wir leiden?
Steckt Leiden unausrottbar im Leben der Menschen?
Trifft den einen oder andern ein Übermaß? Was ge-
schieht, wenn der Schmerz so groß wird, dass einer nicht
mehr leben will? Wer hilft ihm? Wo bleibt die Schöp-
fungszusage: ›Ihr sollt leben!‹ Du darfst dich des Lebens
erfreuen? Verliert die Schöpfung im Extremfall ihr Ge-
setz, ihre Güte, Moral? Darauf wollte keiner meiner
Freunde antworten. Konnten sie nicht? Hielten sie sich
bedeckt vor einer solchen Herausforderung des Denkens?
Nicht alles Geschehen ging auf ihren Gerechtigkeitsnen-
ner. Warum geschah Hiob, was ihm geschehen ist? Er,
Jahwe, schweigt. Hiob hat geredet, aber Er schweigt. Hiob
muss sein Schweigen ertragen. Hinnehmen, aushalten,
seufzen bis zum Fluch. Wieder entstand eine Pause.
Da ertönte eine Stimme. Es war die Stimme Jahwes. Er
hat meine Klage gehört, unsere Reden vernommen. Ihr
Ansinnen, meine Widerrede, ihre Fertigsätze, meine Fra-
gen, ihr Argument, meine Verteidigung. In den Disput hat
Er sich nicht eingemischt. Als wäre der an Ihm vorüberge-
gangen, als wären meine Fragen nicht zu klären. Als wäre
Gerechtigkeit eine Sache der Menschen, nicht verhand-
lungswürdig für Gott. Jahwe überging ihre Behauptungen
und meine Vorwürfe, ihre Besänftigungen, meine
Blasphemie. Er rechtfertigte sich nicht. Er ging auf Be-
schwerden nicht ein. Ist Er für Unglück nicht verantwort-
lich, für Ungerechtigkeit nicht zuständig? Müssen wir mit
Einzelheiten uns selbst auseinander setzen? Hat Jahwe

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eine andere Weltsicht? Setzt er nicht auf Leistung und Ge-


genleistung, der Schöpfer der Welt, der Beweger kosmi-
scher Mächte? Aus dem Wettersturm hörte ich: »Hiob,
deine Rede ist ohne Einsicht. Du sprichst aus Unvernunft.
Unvernunft, hörst du? Hast du die Erde gegründet?
Kannst du die Tore des Meeres verschließen, die Säume
der Erde fassen, die Lichtbahn öffnen, den Morgenstern
aufgehen lassen? Wer schüttet die Schläuche des Himmels
aus, dass Mensch und Tier zur Tränke gehen können?
Wer gibt den Wildtieren Nahrung? Hast du Behomot er-
schaffen? Kannst du den Leviatan zähmen?« »Nein«, rief
ich, »das kann ich nicht.« Ich ahnte seine ungeheuere
Größe. »Habe ich den Menschen nicht genug Vernunft
und Wille gegeben, um für ihr Leben zu sorgen?«, fuhr Er
fort. Ich musste zugeben, dass ich ohne Einsicht geredet
hatte, ohne Sicht des Ganzen. Seine Worte ergriffen mich.
Seine Nähe fuhr in mich. Trotz meiner Beschimpfung
durfte ich Ihn erfahren. Er durchdrang mein Innerstes. Es
fuhr mir in die Eingeweide. Er erfüllte mich mit Mut. Er
flößte mir Frieden ein, Friede trotz des Verlusts, Zuver-
sicht für die Zukunft. Mein Herz fühlte Seine Gegenwart.
Mein inneres Auge nahm Ihn wahr. Die Sinne waren mir
neu erwacht. Gottesfurcht und Gottesachtung sprangen
auf. Blut pulste durch meine Adern. Ich weiß nicht, was
die Gefährten gehört und gesehen haben, ob auch sie be-
rührt wurden. Zu ihnen sprach Er: »Ihr habt nicht recht
von mir geredet. Mein Knecht Hiob hat recht von mir ge-
redet. Bringt ein Brandopfer dar und bittet ihn um Fürbit-
te. Hiob soll leben. Er wird Herden erhalten, ein Haus,
Söhne und Töchter.« Die Freunde blickten sich an. Sie
waren sprachlos.

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Kann man das Geschehen dieser Geschichte in rechte


Worte fassen? Sie kam von weither. Sie wurde erzählt.
Kundige haben sich gestritten über Anlass und Folge.
Könnte ich den Erzähler meiner Geschichte kennen ler-
nen. Woher kennt er sie? Woher weiß er, dass ich nicht
unterging, vielmehr alles wiedererlangte und noch mehr?
Ja, ich bin erneut Viehzüchter geworden. Ich lud Brüder
und Schwestern in mein Haus, die Nachbarn dazu. Mit
Söhnen und Töchtern habe ich Mahl gehalten und Feste
gefeiert. Den Töchtern schöne Namen zu geben, erfreute
mich, »Täubchen«, »Zimtblüte«, »Schminkhörnchen«.
Oh, die Schönheit der Namen, die Schönheit der Worte.
Am Morgen die Schönheit des heraufziehenden Tages, am
Abend die Schönheit des Lebens in Frieden. Ich blicke zu-
rück. Ich habe Ihn ausgehalten, meinen Gott. Ich habe Le-
ben erlitten, ertragen, genossen. Oft machte ich mir Ge-
danken über Ihn, einfältige und schwierige, lichte und
schwermütige, augenblickliche und gedehnte. An ein
Ende kam ich nicht. »Ist das Gott, an kein Ende zu kom-
men?«, fragte ich.
»Gilt auf Erden göttliche Gerechtigkeit oder gilt sie
nicht?«, fragte ich immer wieder. Vielleicht ja, vielleicht
nein. Weder meine Freunde noch ich konnten das Gottes-
problem lösen. Er ist für alles zuständig, aber anscheinend
auch wieder nicht. Für vieles sind wir selbst zuständig.
Nicht immer gebietet Er dem Bösen Einhalt. Ist es wirk-
lich seine Strafe, wenn wir angegriffen werden, unsere
Habe verlieren, unsere Nächsten? Ist da noch anderes am
Werk? Die Natur in sich? Menschen unter sich? Neider,
Begehrliche, Feinde? Von Satan habe ich gehört. Er soll
viel Macht haben. Wie viel ihm zukommt, kann ich nicht

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ergründen. Welche Rolle er spielt, weiß ich nicht. Ich


musste Gewalt der Menschen erleiden und ich durfte die
Nähe Jahwes erfahren. Niemand weiß, wie Er von Fall zu
Fall sich zum Geschehen hier verhält. Trotz schmerzli-
cher Erfahrungen und langen Nachdenkens weiß auch
ich nicht, wer Jahwe wirklich ist. Wirklichkeit erfüllt uns,
wirkliches Leben bewegt, bedrängt uns, öffnet Weite und
Raum. Seine Wirklichkeit ist offenbar nicht die gleiche
wie die unsrige. Wie anders? Wenn das einer wüsste. Hi-
obs Geschichte ist meine Lebensgeschichte, meine
Schmerzgeschichte. Auch Fragegeschichte, Disput. Sie
bleibt Dunkelgeschichte. Als ich schon nicht mehr glau-
ben wollte, wurde sie hell, die Dunkelgeschichte wurde
eine Hellwerdigkeitsgeschichte, die Todesgeschichte Auf-
erstehungsgeschichte. Hell wurde der Tag. Auferstanden
ist Hiob. Der erste Hiob starb, dem zweiten half Jahwe
zum Leben. Aus dem auf Gerechtigkeit pochenden Hiob
wurde Hiob, der Gnade erfuhr. Ich wünsche keinem, dass
er in seinem Zorn verharrt. Ich wünsche keinem die
Schmerzgeschichte. Veränderung wünsche ich vielen, die
Hellwerdigkeitsgeschichte allen. Hiob rechtet nicht mehr
mit Gott. Er streitet nicht mehr mit Freunden. Er wütet
nicht mehr gegen Jahwe. Hiob lebt anders als früher, ge-
prüfter, erfahrener, geduldiger, staunend. Hiob staunt,
dass er lebt. Hiob dankt. Ihm wurde neues Leben ge-
schenkt.

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K ohelet sprach

Windhaschen. Windhaschen. Alles ist Windhaschen. Das


Leben fährt an dir vorbei. Hierhin und dorthin fährt es.
Du läufst ihm nach. Du willst es ergreifen, einen Zipfel
halten. Du selbst bist nicht das Leben. Aber ein Teil. Einen
Teil möchtest du halten, ehe du stirbst. Das Ganze ist
nicht zu ergreifen. Das Ganze kennst du nicht. Du denkst:
Morgen kehrt das Leben wieder, da will ich es fragen. Je-
den Morgen denkst du: Vielleicht erfüllt es dich heute. Du
wärst voller Leben. Aber du bist es nicht.
Jetzt bist du nicht mehr jung. Du fragst, wie lange
noch, und erinnerst dich an den Psalmisten. Der sagt,
siebzig Jahre währt es, wenn es hochkommt, achtzig Jah-
re. Wenn es köstlich ist, ist es Mühe und Arbeit gewesen.
Schnell fährt es dahin, als flögen wir davon. Fahren? Flie-
gen? Wir kriechen. Wir fallen. Wir stehen wieder auf, gra-
ben die Hacke in den Boden, schreiben Worte in die Luft.
Die Luft muss nicht denken. Der Wind muss nicht den-
ken. Auch die Sonne muss nicht denken. Die Sonne ist rie-
sengroß, die Sonne ist übermächtig. Ob Regen oder kein
Regen, das stört sie nicht. Sie wird nicht alt, sie wird nicht
krank, sie wird nicht müde. Sie muss sich nicht anstren-
gen. Die Sonne ist einfach die Sonne. Sie gedenkt nicht der
Väter, sie gedenkt nicht der Mütter. Wir aber, Väter,
Mütter, Söhne, Töchter: das gleiche Los.

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Das Leben kannst du nicht festhalten. Dem Leben


kannst du nicht nachlaufen. Ein Seil hilft nicht, ein Reit-
tier hilft nicht, nicht der schnellste Blick. Wie der Wind
geht der Mensch vorüber. Der Wind oben, die Menschen
unten. Oft treibt er Wolken vor sich her, manchmal treibt
ihn die Sonne. Er nässt die Menschen oder trocknet sie
aus. Ausgesetzt der Mensch. Abhängig der Mensch, unter-
legen. Lufthaschen, Windhaschen, Lebenhaschen, Begeh-
ren. Wer hat das gemacht? Wer hat das gewollt? Er, als er
dem Lehm Leben einhauchte? Ich wüsste gern, in wel-
chem Tal oder auf welchem Berg das geschah. Ich wüsste
gern, ob Er auch die Folgen bedacht hat.
Eine lange Geschichte hat Er mit der Sonne, mit dem
Lehm, mit der Luft, eine nicht so lange mit uns. Keiner
war dabei, als Er dem Lehm Leben einhauchte. Er hat alles
allein gemacht. Er hat gesprochen, Er hat geschaffen. Er
hat gewirkt. Die Schrift weiß es. Als sie da waren, die Men-
schen, hat Er nachdrücklich zu ihnen gesprochen, auf
sein Werk verwiesen, auf ihre Inbesitznahme und Verant-
wortung. Zuerst sprach Er zu Adam, Generationen später
zu Moses, noch später zu den Propheten. Dass Er in unse-
rer Zeit noch handelt, kann ich nicht erkennen. Ich kann
nicht hören, dass Er in unseren Tagen noch spricht. Ich
kann nicht sehen, dass Er noch wirkt. Vielleicht gibt es
anderswo Männer oder Frauen, die Ihn noch hören. Hat
Er sich zurück gezogen? Ist Er enttäuscht? Will Er bei sich
in Frieden leben? Mir scheint, Er hat den Abstand zu uns
vergrößert. Er spricht nicht mehr zu uns. Er schweigt.
Möglich, dass Er denkt, Er habe genug geredet. Seine Re-
den hätten wenig genützt. Die einen haben sie nicht ge-
hört, die anderen haben sich nicht daran gehalten. Ver-

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hallt sind sie, die weisenden, die gebietenden, die zorni-


gen, die versöhnlichen Worte. Man hat sie aufgeschrie-
ben. Aber das hat wenig genützt. Wir sind, wie wir sind.
Wir tun, was uns dünkt und was wir wollen. Wer will das
ändern? Schreiber werden erst gebraucht, wenn nicht
mehr erzählt wird, Schriftrollen, wenn Gesprochenes ver-
wahrt werden soll. Unser Volk – es war nie wirklich eins –
hat die Forderungen des Gesetzes nicht erfüllt. Die Hür-
den waren zu hoch. Unsere Natur ging ihre Wege. Ich
weiß nicht, ob ein anderes Volk das Gesetz erfüllt hätte.
Ich zweifle, ob je eine Generation das Gesetz erfüllen
wird. Die Versuche mit Königen sind nicht gelungen. Die
Opfer im Tempel haben gesellschaftlich wenig gebracht.
Die Rede der Propheten drang nicht bis in die Dörfer. Auf
dem Tempelberg führen Amtliche das Wort. Verheißun-
gen, Drohungen, alle Versuche, das Volk zu erneuern,
haben wenig bewirkt. Sie prallten auf Mauern. Sie blieben
liegen unter dem Tempelberg. Sie fanden nicht das
Gefallen der Nachfahren Moses
Das mögen die Leute nicht hören. Aber reden, disku-
tieren schon. Was können wir tun? Was dürfen wir hof-
fen? Wer hilft uns? Ist die Misere einfach Mangel oder
auch Schuld? Wer ist für die Misere verantwortlich? Was
geschieht ohne unseren Willen, was nur durch ihn? Eini-
ge richten die Ohren nach Alexandrien, andere hinüber
nach Hellas, Bewohner jenseits des Jordans zum Zwei-
stromland. Den Jahwe-Gott kennt man dort nicht, aber
die Menschen denken auch. Sie machen Erfahrungen. Sie
setzen sich mit Konflikten auseinander. Unsere Priester
sprechen wenig über Erfahrungen. Vielleicht stören Er-
fahrungen die Priester. Vielleicht stören Erfahrungen das

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Gesetz. Erlaubt Jahwe nicht, dass Erfahrungen zur Spra-


che kommen? Erlebtes, Bedachtes, Erlittenes? Was den-
ken die Menschen wirklich über ihren Gott? Ich glaube
nicht, dass sie gegen Jahwe sind. Aber sind sie überall und
immer für Ihn? Das ist die Frage. Was bedeutet Er ihnen?
Schön ist es am Schabbat, das »Schma Israel« zu hören.
Aber jeden Tag? Jeden Tag mit Gott auf dem Rücken zur
Arbeit gehen?
Passen alle unsere Tage und Nächte zu Ihm? Zu seinen
Reden, Weisungen, Versprechungen, seinem Gesetz? Das
darf man nicht laut aussprechen. Denken muss ich es. Die
Schriftrolle Deuteronomium will Werktag und Schabbat
verbinden, Acker und Altar, Stadt und Land, Volk und
Priester, Ritus und Gebet, Schuld und Vergebung. Schön,
dieses Und-Denken. Aber oft steht »und« gegen »und«.
Und da sind noch »aber« und »außerdem«. Ich bin kein
Vorsteher, weder Priester noch Schreiber. Ich bin ein alter
Mann, der sich die Freiheit nimmt, ein wenig außer der
Bahn zu denken. Nicht jeder will täglich Umgang mit dem
Heiligen. Nicht jeder will nur die Schriften lesen. Nicht je-
der will am Schabbat zum Tempel hinaufsteigen. Nicht je-
der ist willens, Tiere zu opfern. Ich gestehe, dass ich das
Blut der Tiere nie sehen konnte. Ich höre ihre Schreie,
wenn sie zur Schlachtbank geführt werden. Warum sollen
Tiere büßen für unsere Schuld? Ich will weder Tierhänd-
ler noch Tierpriester auf dem Heiligen Berg sehen. Ich
mag auch Schriftgelehrte nicht, die immerzu fragen: »Was
hast du gelesen? Wie steht geschrieben?« Ich will auch
anderes wissen: Was hast du erfahren? Haben Erfahrun-
gen deinem Glauben geholfen? Oder stören sie ihn? Hat
das Gesetz dich zu einem besseren Menschen gemacht?

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Oder bleibt alles beim Alten? Hat dich dein Glaube froh
gemacht – oder traurig? Einige meiner Freunde mögen
solche Fragen nicht. Ich gebe zu, sie beunruhigen. Aber
sie wecken auf, sage ich, sie halten wach. Man kann nicht
einfach dahindämmern. Man kann auch nicht auf zwei
Stockwerken leben, oben im Heiligen, unten in der Natur.
Fragen halten meine Vernunft in Gang. Sie verbieten mir,
mich einfach mit dem Gängigen abzufinden.
»Wacht auf!«, rief der Prophet. Dachte er, dass wir in
Wirklichkeit schlafen? Was bedeutet es, dass Jahwe die
Sonne aufgehen lässt über Gerechte und Ungerechte? Wa-
rum müssen Gerechte leiden? Warum geht es Ungerech-
ten gut? Was fühlt einer, wenn er sieht, dass die Reichen
nichts ändern wollen und die Armen nichts ändern kön-
nen? Bleibt er da gelassen – oder steigt in ihm die Wut?
Fromm, aber ohnmächtig? Frei, aber verhaftet? Die
Schmerzen erdulden? Schuld erklärt nicht den ganzen
Gang der Geschichte. Nicht immer sind wir schuldig.
Wahr ist, dass Sünden geschehen. Sünde ist. Aber kann
man mit diesem Gesetz sündlos leben? Oft ist es ein Fang-
netz. Priester und Schriftgelehrte reden von Sünde. Die
Menschen leiden. Spricht so viel Leiden gegen den Schöp-
fergott? Warum so viel Not, so viel Ungerechtigkeit? Ich
weiß die Antwort nicht. Ich kann das nicht erklären, nicht
meinen Freunden, nicht mir selbst. Wenn einer meint, er
wüsste es, überkommt ihn das Alter. Hinfällig wird er, ein
Greis auf dem Weg zum Sterben. Zuerst lehnst du dich
auf, dann siehst du, dass du nicht darankommst. Viel-
leicht denkst du an Menschen, die schon krank zur Welt
kamen. An Witwen, Waisen, Unterdrückte, Schwache.
Wer eine breite Brust hat, auf kräftigen Füßen steht,

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Knechte die Arbeit machen lässt, der hat leicht reden. Der
will seinen Stand bewahrt sehen. Der will den Vorteil be-
halten. Der findet die Welt in Ordnung. Ich frage manch-
mal, ob Jahwe alle Menschen sieht oder nur die guten, nur
die tapferen. Ist er in einem größeren Bogen mit dem
Gang der Welt beschäftigt? Im Einzelnen mehr auf Ab-
stand bedacht? Er muss an ganze Völker denken. Die ha-
ben alle ihre Geschichte, aber der Schwache hat auch sei-
ne Geschichte, und der Freudlose auch. Sind sie einfach
dem Tod verfallen? Keine Wahl? Mein Fragen schwärzt
den Blick. Mein Denken erschwert Einvernehmen.
Oft fragen mich Söhne und Töchter, wie ich das Leben
sehe. Da bin ich vorsichtig. Ich weiß nicht, ob sie es sehen
wollen wie ich. Vielleicht können sie das gar nicht, noch
nicht. Was seht ihr? Was hört ihr? Was erfreut euch? Wo-
rüber macht ihr euch Gedanken? Seid ihr überwiegend
froh? Oder überwiegend lustlos? So angesprochen, zö-
gern die meisten. Aber aus einigen schießen die Worte
nur so heraus gegen ihre Väter, andere gegen Priester, so-
gar gegen das Gesetz. Sie klagen an. Da halte ich mich zu-
rück. Auch meine Söhne sagen mir, dass sie anders den-
ken als ich. Das ist ihr Recht. In mir fing es früh an zu fra-
gen. Das schloss mich öfter aus. Aber es brachte mich zu
mir selbst. Auf grundsätzliche Fragen zu antworten, ist
fast so schwierig wie auf persönliche. Ich kenne nicht ihre
Lebensverhältnisse. Deshalb antworte ich meist mehr all-
gemein. Ich sage: »Esst und trinkt. Lasst euch die guten
Dinge schmecken. Der droben freut sich, wenn sie euch
schmecken. Im Übrigen: Arbeitet nicht nur, wo ihr arbei-
ten müsst, sondern auch dort, wo ihr arbeiten könnt.
Auch das Können ist wichtig. Das Dürfen ist wichtig. Legt

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Gärten an, pflanzt Bäume, züchtet Schafe und Rinder.


Buttert die Milch. Sammelt Honig von den Dattelbäumen.
Setzt euch abends zusammen. Erzählt einander. Tanzt auf
der Tenne. Lasst euch anstecken vom Lachen. Lasst die
Mädchen und die Frauen mitlachen. Seid gut zu ihnen im
Haus, auf dem Lager.«
Eines Tages begann ich, Gedanken in Denksprüche zu
fassen. Sinnsprüche entstanden, Erfahrungssprüche. Je-
der kann sie mit eigenen Erfahrungen vergleichen. Er
kann sich fragen, ob er das schon erlebt oder gedacht hat.
Manche Sprüche sind dem Erkennen, andere der Wei-
sung, wieder andere der Klugheit und Gelassenheit ge-
widmet. Zum Beispiel: Alles, was geschieht unter dem
Himmel, hat seine Zeit. Zeugen und Gebären, Säen und
Wachsen, Pflanzen und Ernten, Arbeit und Tanz, Spre-
chen und Schweigen, Bauen und Wohnen, Leben und
Sterben. Natürlich auch Essen und Trinken und die Liebe
zu einer Frau. Oder: Vorteil unter der Sonne gibt es. Wer
mehr Ansehen hat im Dorf, mehr Geld im Säckel, mehr
Wein im Keller, ist im Vorteil. Aber Vorteil kann Nachteil
werden. Wenn einer immer nur beachtet sein will. Wenn
einer immer mehr haben will. Wenn einer immerzu an
Geld denkt. Wenn einer glaubt, er müsse sich betrinken.
Zu viel an Gütern macht nicht glücklich. Vorsicht, sage
ich. Leben sollt ihr, nicht immerzu haben wollen. Klug
werden ist besser als reich werden. In Frieden leben bes-
ser als Besitz mehren. Bedenkt eure Lebenszeit. Sie nimmt
ab. Die Kräfte nehmen ab, sogar die Fähigkeit zu genie-
ßen. Deshalb sage ich: Genießt, was ihr genießen könnt.
Freut euch, wo ihr euch freuen könnt. Sucht das Glück –
aber nicht zwanghaft.

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Über Jahwe habe ich wenig zu sagen. Von ihm spre-


chen andere. Ich weiß nicht, ob ihr seine Nähe suchen
wollt. Er gehört zur Welt. Wie genau, weiß ich nicht. Aber
lumpen lässt Er sich nicht. Er ist gut, doch Er hält auch
Gericht. Ich bleibe dabei, esst, trinkt, redet miteinander.
Pflegt der Liebe, solang ihr bei Kräften seid. Sorgt dafür,
dass ihr Freunde habt. Der Mensch soll nicht allein blei-
ben, sagte Jahwe einst zu Adam.
Kohelet grüßt euch. Kohelet wünscht, dass euch das
im Leben Mögliche gelingt. Er ist kein Weiser, nur erfah-
ren. Er ist nicht begütert, aber zufrieden. Er spricht nicht
als Priester noch Prophet. Ich hoffe, dass auch er gesegnet
ist. Schalom.

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Gestalten
des
christlichen
Testaments

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J osef
aus Nazareth sprach

Wir waren einander versprochen. Mirjam und ich waren


verlobt. Sie war noch nicht zu mir ins Haus gezogen. Wir
mussten noch warten. Meine Aussicht auf tägliche Arbeit
war nicht gut. Handwerker für den Bau waren in Nazareth
wenig gefragt. Aber drüben in Zippori sah ich eine Chan-
ce. Dort wurde von den Hellenisten die Stadtmauer neu
befestigt. Mirjam und ich waren beide noch sehr jung.
Uns drängte nicht die Zeit.
Doch dann geschah das Fremde. Es überfiel uns. Zu-
erst Mirjam, dann mich. Mirjam erfuhr eine Erscheinung.
Ein Engel nahte ihr und erklärte, was geschehen sollte.
Meine Verlobte konnte nicht verstehen. Die Rede war zu
fremd. Die Ankündigung eines Sohnes, nicht von mir. Sie
sollte ihn gebären. Der Vater sei vom Himmel oben. Gab
es das? Weder sie noch ich hatten jemals von so etwas ge-
hört. Mirjam erschrak bis ins Mark. Ihr Herz schüttelte
sie. Das Gesprochene war nicht vorstellbar. Kein schauba-
res Bild, weder früher noch aus der Nähe. Kein Denkbild,
kein Vorbild. Eher Schattenbilder. Eine Pause entstand.
Mirjam versuchte nachzudenken. Sie fragte zurück, wie
das geschehen solle. Ich, Josef, hätte sie noch nicht be-
sucht. Der Engel wusste das. Er verstand die Frage. Aus-
holend antwortete er in einem großen Bogen. Kein irdi-

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scher Mann, Heiliger Geist. Sie kannte das Wort Geist und
das Wort heilig. Aber nicht Jemand, der als Heiliger Geist
eine Frau befruchtet.
Ich, Josef, war nicht dabei. Ich wusste von nichts. Ihr
Verlobter wurde nicht gefragt. Mir wurde nichts erklärt.
Wer will den Vorgang verstehen. Zwischen Mirjam und
mir bestand ein Vertrag. Jetzt mischte sich jemand ein im
Namen des Allerhöchsten. Ich hätte nicht eingewilligt. Ich
wäre gegen eine solche Einmischung gewesen. Warum hat
der Herr nicht mit mir gesprochen? Wird in Israel in einer
solchen Angelegenheit nicht zuerst mit dem Mann geredet?
Als Urmutter Sara schwanger werden sollte, sprach ein
Himmlischer mit Abraham. Die kluge Sara hat mitgehört.
Ich habe nicht mitgehört. Ich war nicht im Haus. Ich
schlich mich nicht hinein. Am Gespräch wurde ich nicht
beteiligt. Über die Folgen wurde ich nicht unterrichtet. Ein
Engel! Ihr Sohn mit vorgegebenem Namen! Der Aller-
höchste im fremden Spiel. Wer kann das verstehen?
Als wir uns wieder sahen, war Mirjam verändert.
Fremd wirkte sie, bleich, verstört. Da war ein Abstand
zwischen uns, der vorher nicht gewesen war. Sie schien et-
was verbergen zu müssen. Meinen Blicken wich sie aus. Ei-
nes Abends sagte sie, sie sei schwanger. »Schwanger?«, rief
ich. »Seit wann? Von wem?« Ich wollte es nicht glauben.
Sie konnte es nicht erklären. Ich hatte keinen Verkehr mit
ihr gehabt. An die Stirn schlug ich mir. Ich haderte mit ihr.
Zuerst wollte sie nicht darüber sprechen. Dann suchte sie
entlegene Worte, die so etwas wie eine Geschichte erzähl-
ten. Ich verstand sie nicht. Mirjam nicht und nicht ihre Ge-
schichte. Wollte sie auch zu meiner Geschichte werden?
Wie hätte ich sie als die unsrige erkennen können? Josef

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ein Hahnrei, ein betrogener Ehemann? War ich nicht ein


junger Mann? Wartete ich nicht auf unser beider Zusam-
menkommen? Wie sollten wir zusammenkommen, wenn
schon ein anderer da war? Ich war befremdet, gekränkt. Ich
weinte. Ich hatte Mirjam nichts getan. Was sie mitteilte,
fraß in mir. Wir gratulieren dir, Josef, sagten die Nachbarn.
Du hast eine fruchtbare Verlobte, sagten die Bekannten. Ihr
bekommt ein Kind. Werdet ihr bald zusammenziehn? Mir
blieb die Antwort im Hals stecken. Wenn sie wüssten,
dachte ich. Wir wussten es selber nicht. Ich habe das Kind
nicht gezeugt. Das konnte ich nicht sagen. Mirjam und ich
konnten nicht offen miteinander reden. Ich konnte das
Verborgene nicht entschlüsseln. Wir litten beide unter dem
Geschehenen. Sie fand keine passenden Worte für den Be-
such. Besuch, ich war schon verärgert, wenn ich das Wort
hörte. Ich haderte in mich hinein. Sie konnte den Hader
nicht hinwegnehmen. Meine Zukunft wollte zerbrechen.
Ich dachte daran, Mirjam so unauffällig wie möglich zu
entlassen. Soll der Brautvater zusehen, wie er mit seiner
schwangeren Tochter fertig wird.
Als ich eines Nachts wieder grübelte, trat ein Engel in
mein Bewusstsein. Ich weiß nicht, ob es ihr Engel war. Ich
fuhr auf und rief: »Was ist?« Nichts war. Keine Schritte.
Kein Schnaufen. Kein Mensch. Dann hörte ich eine Stim-
me. Sie sprach mich an. »Josef, Sohn Davids«, sagte sie,
»scheue dich nicht, Mirjam zu dir zu nehmen.« Woher
wusste die Stimme, was zwischen uns war? Kam sie aus
mir? Kam sie von oben? Vom Geist Jahwes hatte ich ge-
hört, vom Heiligen Geist nicht. Am nächsten Tag sagte
ich: »Mirjam, ich habe geträumt.« – »Was hast du ge-
träumt?«, fragte sie. – »Ich soll gut sein zu dir. Ich soll

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mich mit dir versöhnen.« – »Josef«, sagte sie, »sei gut zu


mir. Ich brauche dich.«
Von da konnte ich mit Mirjam in Frieden leben. Aber
trotz der Engelrede blieb sie in ihrem Geheimnis. Immer-
hin war ich eingeweiht. Eingeweiht. Auch geweiht? Du
bist kein Hahnrei, sagte ich zu mir. Wer dann? Mirjams
Verlobter. Wer weiter? Ein Mann, nicht ohne Zukunft.
Wer noch? Das wusste ich nicht. Auch ich war im Uner-
klärlichen. Mirjam wollte mich nicht weiter belasten.
Nicht alles wurde ausgesprochen. Wir zogen zusammen.
Wir teilten Brot und Milch, Tag und Nacht. Ich ging zur
Arbeit. Immer wieder sprach ich mit mir und mit der
Stimme. Schwer war unser gemeinsamer Anfang. In den
Lesungen der Synagoge am Schabatt kommt eine solche
Ehegeschichte nicht vor.
Mirjams Bauch wölbte sich. Ich legte meine Hand auf
ihren Leib. Sie ließ es geschehen. Es atmete. Ich meinte,
Freude in ihrem Gesicht zu erkennen, als sie sah, dass ich
ihre Frucht betastete. Von Trennung war nicht mehr die
Rede. Wir sprachen über unsere Zukunft. Wir überlegten.
Mirjam kam auf den Gedanken, ihre Tante Elisabeth zu
besuchen. Ich war einverstanden, vorausgesetzt, sie blieb
nicht zu lange. Elisabeths Mann Zacharias war Priester,
nicht mehr jung. Er verrichtete Tempeldienst. Vielleicht
wusste er mehr von so merkwürdigen Geschichten. Wir
verabschiedeten uns. Mirjams Herz klopfte. Sie machte
sich auf den Weg über die Berge. Ich wartete auf ihre
Rückkehr.
Jeschuas Geburt war eine Armengeschichte. Aber sie
hat mich versöhnt. Ich wuchs dem Geborenen entgegen.
Eines Tages konnte ich ohne Hintergedanken sagen, ich

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bin einverstanden. Wir fanden uns nicht nur ab mit dem


Geschehenen. Wir lebten im Einvernehmen, miteinander
in Frieden. Ich half Mirjam, so weit ich helfen konnte. Ich
liebte sie, wie ich sie vor der Geburt nicht geliebt hatte.
Ihre Augen, ihr Mund, ihre Brust, ihr Leuchten, ihr La-
chen. Sie konnte wieder lachen. Auch mein Gesicht hellte
sich auf. Mirjam hat den verheißenen Sohn geboren. Wie
sie ihn anschaute. Wie sie ihm die Brust reichte. »Josef«,
sagte sie, »sag: ›unser Sohn‹ .« Ich schaute ihn an und sag-
te: »Unser Sohn.«
Jeschua wuchs heran. Er veränderte mein Denken,
mein Fühlen, meine Wahrnehmung. Wer ist er nur, dach-
te ich. Was geht in ihm vor? Auch unsere Beziehung zu-
einander veränderte sich. Freundliche Nachbarn priesen
uns glücklich. Mein Vater erkundigte sich. Meine Brüder
waren neugierig, meine Vettern fragten. Alle wollten wis-
sen, warum wir so lange fort gewesen waren und ob wir
jetzt in Nazareth bleiben würden. Ja, sagte ich. Wir bauten
ein Haus, hinten Steine in den Erdhang, vorne Holz und
Lehm. Ich war der rechtmäßige Mann einer Frau mit
Kind. Vater war ich, Mirjam sehr nahe, manchmal auch
mir selbst. Aber es kamen Tage, die auf mir lasteten. Ich
musste mich abfinden, dass Mirjam noch einem anderen
nahe war. Am nächsten war sie ihrem Sohn. Er wuchs un-
ter unserem Wohlgefallen heran. Als er erstarkte, ging er
mir zur Hand. Wir gingen zusammen zur Arbeit. Er hatte
kräftige Hände. Jeschua war ein stattlicher junger Mann
geworden. Mädchen an der Schwelle zur Frau schauten
ihm nach. Ich war stolz auf ihn.
Am Schabbat saß ich öfters auf dem Berg über dem
Dorf. Ich war zufrieden mit uns. Wir konnten in Frieden

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zusammenleben. Ich bewunderte Mirjam, und ich bewun-


derte Jeschua. Ganz frei wurde ich nicht. Das Fremde
schrumpfte, das Geheimnis blieb. Einmal überfiel mich
der Gedanke, von dem ich dachte, er käme nicht mehr.
Ich war allein, der Frage ausgeliefert. Was ich stets zu
kontrollieren versuchte, stieg in mir erneut auf. Aus den
Eingeweiden, aus der Seele, der Erwartung eines Mannes
aus dem Geschlecht Davids. Klage brach aus mir, ab-
grundtief, zum Himmel hoch. Mirjam hat nach der Geburt
ihren Lobgesang gesungen, ich musste meiner Klage
Ausdruck geben.

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Josefs Klage

Er ist mein Sohn.


Jeschua ist nicht mein Sohn.
Mariens Sohn, eines anderen Same.

Ich habe Jeschuas Hände betrachtet,


Jeschuas Füße,
seine Augen, den Mund.

Er arbeitet mit mir,


trägt Steine, schneidet Holz.
Er hält das Geschnittene mit anderen Händen.

Ich höre, wenn er atmet,


das Einvernehmen
mit seiner Mutter.

Ich frage mich,


ob er mit den Dingen eins wird,
wenn er sie berührt.

Wüsste ich, wessen Sohn,


ich könnte leichter
zu ihm sprechen.

Jeschua antwortet
aufmerksam
auf meine Fragen.

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Fast zärtlich
setzt er seine Füße
neben die meinen.

Wir sprechen über


die Mauern von Zippori,
nicht über das Fremde zwischen uns.

Die Leute fragen,


wer er sei,
meine Brüder fragen, wer er sein wolle.

Ich muss die Frager enttäuschen.


Mein Sohn, sage ich
und denke Nicht-Sohn.

Ich kann uns nicht erklären.


Ich stelle mir
eine andere Beziehung vor.

Wir arbeiten zusammen


unter freiem Himmel.
Welchem Vater leuchten Jeschuas Augen?

Bilder drängen mir in die Brust.


In meine Lenden geistet
sein Geheimnis.

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Josef, Sohn Jakobs,


hat keinen
erstgeborenen Sohn.

Josef, Sohn Jakobs,


hält einen aus,
der nicht sein Sohn ist.

Über Israels Jahwesöhne


kommt der Segen
der Erde.

Ich breite die Arme aus.


Komm, Jahwesohn.
Segen der Erde, komm.

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M irjam sprach

Ich ahnte eine Veränderung. Aber verändern wollte ich


nichts. Nicht den Tag, nicht die Stunde, nicht das Dorf.
Ich habe nur den Jordan, nie das Meer gesehen. Ein Auf-
stand des Denkens war mir fremd. Ob ich die Verhältnisse
in Nazareth kannte? ich bezweifle es. Einem Mädchen wie
mir blieb vieles verborgen. Von der späteren Einkreisung
hatte ich keine Vorstellung. Hätte ich gewusst, dass Ge-
sprochenes die Welt verändert, ich wäre vor Ohnmacht
versunken. Heute weiß ich, er musste kommen, der Streit
über das aus Gott Gedachte. Ja, ich hab Ihn geboren. Ich
bin eingebunden in die Geschichte des Glaubens. Die
Mächtigkeit der Mörder befremdet mich jeden Abend.
Warum sind unsere Sinne so fern von Ihm? Ich muss aus
wenigen Bildern denken.
Eine Mutter, in kargem Landstrich geboren. Ich liebe
Galiläa. Ich liebe diese Erde, auf der die Menschen arbei-
ten, erkennen, müde werden, sterben. Ich liebe jeden
Stein, über den er gegangen. Als Kind schaute ich neugie-
rig, wie die Pflüger im Lendenschurz Furchen in die Erde
zogen. Vorne eine Frau, hinten ein Mann – oder umge-
kehrt. Unter weniger Schweiß fiel der Same. Gelb die Ern-
te. Im Sommer das Fest. Mutter, mit den Augen einer
Bäuerin, ich glaube, ich blieb auch die Hirtin der Ziegen,
ich Mirjam, erwählt von dem Fremden. Den Boten nannte

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Lukas Gabriel. Ich verstehe die Berichtenden. Sie sind


froh, wenn sie ihren Lesern Worte vorstellen können für
das Namenlose.
Er ist der Herr. Der Engel ist der Herr. Mein Sohn ist
der Herr. Aber ich wurde bis heute keine Dame, David be-
wahre. Ihr habt ihn nicht hängen sehen. Ihr hättet dabei
sein müssen, als sie ihm wie Hunde Späher auf den Hals
hetzten, ihn im Tempel reizten. Sie legten ihm sein eige-
nes Wort in die Schlinge. Sie nahmen ihn gefangen. Sie
machten ihm den Prozess. Ihre Knechte peitschten ihm
die Haut ab. Ich habe nie begriffen, mit welcher Wut die
Herren ihn kreuzigen ließen. Ausgestoßen. Nackt in der
Sonne. Von römischen Soldaten bewacht. Bis er verrö-
chelte und einen furchtbaren Schrei ausstieß. Ja, ich den-
ke oft, ich spreche ohne Worte immerzu mit Jeschua.
Es war ein sehr heller Frühlingstag. Die Bäche rannen
in die Ebene Jesreel hinunter. Blätter sprossen an den
Sträuchern. Die Wiesen grünten. Der Ginster trieb gelbe
Blüten. Bauern trieben ihre Winterlämmer aus den Stäl-
len. Die Frauen kamen aus den Häusern, als wäre ganz
Galiläa ein Garten. Etwas in mir wartete. Es zog mich ins
Haus. Plötzlich war ich hellwach. Jemand näherte sich,
geräuschlos. Es war, als ob das Haus keine Wände hätte.
Hier, wo ich kniete und dort, wo er kam, waren nicht ge-
trennt. Ich war feucht. Ich glühte von innen. Jung war er,
aber kein junger Mann. Leuchtend, aber nicht wie Licht,
das ich kannte. Stehend, aber ohne den Boden zu berüh-
ren. Er grüßte. Er umstrahlt mich mit Aura. Er benedeit
mich als Frau. Ich fühlte Blut in den Adern schwellen. Ich
erschrak. Mein ganzes Wesen atmet ihm entgegen. Nein,
ich lag nicht bewusstlos, als er Ungeheures sprach. Die

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erste Verwirrung wich hellster Klarheit. Ich musste ant-


worten. Mit seiner Hilfe verstand ich jedes widersinnige
Wort. Ich weiß nicht, nach welchem Gesetz ich in seinem
Lichtwasser schwamm. Vielleicht stöhnte ich selig, dachte
jetzt und immer. Es war eine schmerzliche Trennung.
Seither wohnen die Glückliche und die Durchbohrte in
einer Haut.
Die Preisung kam mir erst viel später in den Sinn. Im
Nachklang seines Besuchs vernahm ich frühere Töne. Ich
verglich meine Erfahrung mit Erfahrungen der Mütter
und Väter. Ich suchte und fand mich anders. Das Schwers-
te war, eine Brücke zu finden zwischen dem, was in mir
vorging und dem andern, das um mich geschah. Josef war
sprachlos. Er wollte mich entlassen. Eine Frau half mir,
meine Unordnung tragen. Ich lernte, das Geschehene aus-
zuhalten. Das Kind wuchs in mir. Als ich hochschwanger
war, mussten wir hinunter nach Bethlehem. Uns auf den
Weg machen wegen eines Geburtsregisters in Davids
Stadt. Wir waren dort unbekannt und fanden keine Her-
berge. Wahrscheinlich wollten mich die Männer wegen
der befürchteten Unreinheit nicht in ihrer Nähe haben. In
einer Höhle, wo sich Tiere unterstellten, fanden wir Un-
terkunft. Sie lag draußen vor der Stadt. Befremdet schaute
ich Josef an. Kein Platz für den Sohn des Allerhöchsten?
Das Versprochene und das Erfahrene lagen weit auseinan-
der. Nicht entsprach das Erhoffte dem Eingetretenen.
Meine erste Geburt. Ich allein mit Josef, die Unerfahrene
mit dem Unerfahrenen. Wir mussten ohne Hilfe auskom-
men. Geklagt habe ich nicht, aber verwundert war ich
sehr. Ich selber habe den Schein am Himmel nicht gese-
hen, von dem Lukas berichtet. Auch das Singen der Engel

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habe ich nicht gehört. Ihre Botschaft haben die Hirten be-
richtet. Ob uns der Glanz des Herrn umstrahlt hat? Meine
Augen haben ihn nicht wahrgenommen. Sie waren auf das
nackte Bündel gerichtet, das aus meinem Schoß gekom-
men war. Nicht schmerzfrei. Wie wäre das möglich?
Schmerzfreiheit habe ich nicht verlangt, nur Verstehen.
Aber Verstehen war schwierig. Der äußeren Geschichte
hat Lukas auf den Weg geholfen. Die innere ist nicht auf-
gezeichnet. Ich musste sie bestehen. Wie eine Frau die
Schwangerschaft, so muss sie auch die Geburt bestehen.
Unter welchen Voraussetzungen gebiert eine Frau? Die
Verkündigung durch den Engel ließ mich anderes erwar-
ten. Ich konnte das Niedere des Geschehens nicht mit
dem Hohen der Verheißung verbinden. Warum setzte uns
der Allerhöchste einer solchen Vereinzelung aus? Warum
einer solchen Not? Warum hat der Engel nicht alsbald
nach meiner Empfängnis mit Josef gesprochen? Warum
mussten wir so hilflos leiden? Keiner konnte über das Un-
verstandene sprechen. Uns fehlten die Worte. Erst, als wir
schon dabei waren, uns zu trennen, sprach der Engel zu
Josef. Er ist der Treueste der Treuen, der Zuverlässigste
unter Verlässlichen. Aber den verheißenen Sohn musste
ich in Not gebären. Das Jeschua-Kind lag da, ein Bündel
Fleisch. Kein göttliches Wort in mein offenes Ohr. Ich
musste glauben, schauen, überlegen. Ich musste verste-
hen lernen. Wie ging das zusammen, der Sohn des Aller-
höchsten und die Niederkunft in der Höhle? Das Königs-
kind in einem Futtertrog? Glaubenmüssen und Glauben-
wollen überdehnten meine Vernunft. Die Erscheinung
himmlischer Heerscharen ist eine wunderbare Geschich-
te. Mich erreichte nur der Besuch dürftig gekleideter Hir-

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ten. Irgendwo hat sich das Herrliche versteckt, vielleicht


draußen auf den Fluren. Im Stall zeigte sich nur das Dürfti-
ge. Bis Nachbarn kamen, uns auszuhelfen mit Brot und
Milch. Dass wir den Mut nicht verloren, dass wir zu dem
Geborenen standen und dabei innerlich erstarkten, war das
das Wunder? Ich wollte den Winzling immerzu anschauen.
Josef stand daneben. Ich versuchte, mir den Vater des Kin-
des vorzustellen. »Die Kraft des Höchsten wird dich über-
schatten.« Das lag in meinem Ohr. Kann man sich die Kraft
des Höchsten vorstellen? Die Darstellung lag im Trog. Das
Kind wollte ernährt werden. Es wollte geschützt sein. Wir
brauchten eine Unterkunft. Josef brauchte Arbeit.
Es wurden lange Jahre und es waren kurze Jahre. Je-
schua sprechen lernen, wachsen sehen, ihn erziehen und
freilassen. Eine Anweisung hatten wir nicht. Verstehen
Sie? Keine Anweisung für Jeschuas Erziehung. Kein Mus-
ter. Keine Schule in der großen Stadt. Eine innere Stim-
me? Manchmal ja. Ich sprach viel mit Jemand. Jemand hat
mich ermutigt, getröstet, gesegnet. Ich war voller Friede.
Aber öfter drohte die Furcht, Josef oder Jeschua könnte
etwas geschehen. Plötzlich ist Josef von uns geschieden.
Zu früh, zu rasch. Wir waren unvorbereitet.
Als Jeschua Jahre später fortging, um öffentlich aufzu-
treten, setzte mir nicht nur die Trennung zu. Ich fürchte-
te, dass ihm trotz seiner Kräfte etwas geschehen könnte.
Er baute einen Anspruch auf, den nicht alle annahmen.
Natürlich musste ich ihn loslassen, meinen Erstgebore-
nen, den Sohn, dem meine ganze Liebe gehörte. Einmal
ging ich hinunter zum See, um ihn zu hören. Seine Worte
faszinierten mich. Sie sanken in mich hinein. Sie wuchsen
in meine Seele. Ich nährte sie. Sie nährten mich. Oft spürte

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ich in mir wortloses Bei-ihm-sein. Mit der Zeit fürchtete


ich, dass sein Weg in Jerusalem nicht gut ausgehen könn-
te. Die Feinde mehrten sich. Sie organisierten ihre Geg-
nerschaft. Ein Prophet aus der Provinz – und gegen ihn
die Mächtigen der Stadt.
Als das Furchtbare geschehen war, der Prozess gegen
ihn mit der Tötung am Kreuz geendet hat, entwickelte ich
einen Sinn für Geschichte. Ich erkannte Anspruch, Macht
und Verhältnisse. Ich lernte Macht und Ohnmacht unter-
scheiden, Anspruch und Gesetz. Wird Geschichte von
den Siegern geschrieben? Nicht für immer. Jeschua ist
nicht nur in ihrer Geschichte. Der in der Höhle Geborene
trat aus der Höhle des Todes. Jeschua ist auferstanden. Er
lebt unter den seinen. Jeschua lebt in mir. Ich konnte den
Konflikt mit den Schriftgelehrten und Hohen Priestern
ein Stück weit verstehen. Warum sie ihn töten mussten,
verstehe ich nicht. Es war gezielter Mord. Unvorbereitet
war ich nicht.
Ich lebte vertraut mit Jeschua, aber in seinem öffentli-
chen Auftreten wurde er mir auch fremd. Doch ich habe
Fremdes schon früh erfahren. Noch heute frage ich, wie
das Fremde zusammengehen konnte mit Nähe. Vertraute
Nähe und befremdende Fremde. Verlangen beide Glau-
ben? Überbrückt sie der Glaube? Manchmal erscheint mir
Glauben schon als Sehen. So eindringlich ist Er mir gegen-
wärtig. Aber für das Fremde am Anfang und das Fremde
am Ende finde ich keinen Namen. Die Geschichte meines
Volkes erzählt Furcht erregende Ereignisse. Aber warum
tötet man einen, der das Leben verkündet?
Ich durchwandere Stationen meines Lebens. Verlo-
bung, Verkündigung, Geburt, unser Nazareth, Abschied

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Jeschuas zum öffentlichen Auftreten. Er ging zum Jordan


hinab und ließ sich taufen. Als Wanderprediger zog er
über Land und sprach vom Reich Gottes. Ganz nah sei es.
Er beurteilte das Gesetz anders als die Schriftgelehrten.
Von Jahwe sprach er als seinem Vater. Das erregte nicht
nur die Pharisäer. Sein Wissen kam von innen und oben.
Jahwe sein Vater, Jeschua mein Sohn. Er sprach oft von
seinem Vater. Jeschuas Rede provozierte. Die Schriftge-
lehrten empfanden seine Aussage als Lästerung. Sie woll-
ten ihre Vorstellung von Gott durch ihn nicht stören las-
sen. Beseitigen mussten sie ihn, um sich zu behaupten. Er
stellte etwas in ihnen in Frage. Aber sein Tod war nicht
das Letzte. Verwandte fragen nach Jeschuas Geschichte.
Sie haben etwas gehört. Ich lasse sie nachdenken. Aufer-
standen, sage ich, auferstanden vom Tod. Sie sind ent-
setzt. Ihr Gesicht erstarrt. Sie wenden sich ab. Ich, seine
Mutter, habe Jeschua nach seinem Tod erfahren. Ich, sei-
ne Mutter, habe mit dem Nahen gesprochen. Seine Anwe-
senheit wurde gestalthaft. Ich dränge mein Erkennen nie-
mand auf. Ich durchwandere die Stationen seines Lebens,
glückliche Tage und das Streitdunkel. Ich höre Auseinan-
dersetzungen und höre Schreie. Ich rufe Schalom. Lasst
Menschen in Frieden leben. Aber wer hört die Rufe einer
Frau. Noch sehe ich es nicht, das göttliche Lachen. Ich
kann den Gang der Welt nicht erklären. Wenn ich allein
bin, sitze ich fassungslos vor seiner Gegenwart. Die Nähe
ist anders als damals. Ich bewundere ihn aus all meinem
Bewusstsein. Meine Seele atmet den Herrn. Ich atme mit
ihm in den weitesten Raum.

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N ikodemus sprach

Ich bin Ratsherr. Mein Name ist griechisch. Nikodemus,


»der mit dem Volk siegt«. Was mein Vater gedacht hat, als
er mir den Namen gab, weiß ich nicht. Üblich war er nicht
in Jerusalem. Glaubte er, dass das israelische Volk sich ge-
gen die Römer erheben könnte? Siegen mit dem ganzen
Volk? Sah er sich selber als dem Volk zugehörig? Wo wir
doch zu jenen Familien gehören, die aus der namenlosen
Masse herausragen. Wir dürfen Anspruch erheben auf ei-
nen Sitz im Hohen Rat. Trotz der griechischen Namensge-
bung zählte sich mein Vater zu den Pharisäern. In strenger
jüdischer Gläubigkeit hat er mich erzogen, gesetzestreu,
glaubenstreu, keine hellenistische Aufweichung. Jahr für
Jahr feiern wir an Pascha unser Familienmahl und geden-
ken des Auszugs aus Ägypten. Die Auszugsväter sind von
meinem Denken allerdings weit entfernt. Ich kann mir die
Befreiungsgeschichte, die auch eine grausame Geschichte
war, nur schwer vorstellen. Wir stöhnen unter dem Joch
der Römer und wissen, was wir wollen: die Freiheit natür-
lich. Aber eine Möglichkeit, sie in absehbarer Zeit zu erlan-
gen, sehen wir nicht. Herodes hat sich mit den Römern ar-
rangiert. Einige Gesetzeslehrer zweifeln, ob er wirklich jü-
dischen Glaubens ist. Wir haben keine einheitliche Füh-
rung, die für den politischen Willen und die Wahrung der
religiösen Überlieferung einsteht. Der Hohe Rat ist um die

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Einhaltung der Jahwe-Religion bemüht. Wir kümmern uns


auch um Angelegenheiten der Stadt. Ohne Jerusalem wäre
unsere jüdische Einheit verloren. Mich erfüllt Stolz, dass
ich meiner Familie wegen zum Rat gehöre. Religiöse Auf-
rührer sind mir verhasst. Sonderlinge mit Sendungsbe-
wusstsein betrachten wir mit Misstrauen.
Ich hatte in den Ostertagen zum ersten Mal von ihm
gehört. Er soll am Jordan unten getauft haben. Hinten am
See Genesareth habe er öfters Reden gehalten. Viel Volk
sei ihm zu Füßen gesessen. Armes Volk. Die hören auf je-
den, der ihnen etwas verspricht. Er selbst stammt aus ei-
nem Dorf in Galiläa. Zu den Festen kommt er in die Stadt.
Der Mann erregte sogleich Aufsehen durch sein Verhal-
ten. Eine Vollmacht für sein Benehmen hatte er nicht.
Niemand von unserer Seite hat ihm erlaubt, auf dem Tem-
pelberg zu wüten. Er kam mit einer Gruppe von Männern
und führte sich im Vorhof auf – nicht wie ein Heide. Der
hätte sich damit zufrieden gegeben, dass er als Nichtjude
den Tempelbereich betreten durfte. Nein, er führte sich
auf, als hätte er dort oben etwas zu sagen. Stieß die Tische
der Geldwechsler um, wo die doch gebraucht werden,
wenn die Gäste aus Syrien und sogar von weither aus der
Cyrenaika nach Jerusalem kommen und ihr Geld tau-
schen wollen. Stieß die Tische der Taubenhändler um, wo
die doch für die kleinen Leute Opfertiere bereithalten
müssen. Nicht genug der Tische. Er knüpfte aus Stricken
eine Geißel und trieb die großen Opfertiere, Schafe und
Rinder, die bereitgestellt werden mussten, hinaus. Ob er
sie gepeitscht hat oder ihnen einfach drohte und losge-
schrien hat, weiß ich nicht. Die Händler waren empört.
Dort oben war nun einmal der Ort, wo sie mit dem Ver-

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kauf rechnen durften. Im Allgemeinen hielten sie den ge-


botenen Abstand zum Rauchopferaltar. »Schafft die Ti-
sche fort!«, rief er. »Schafft die Tiere fort!«, schrie er. Die
Leute liefen zusammen. Wahrscheinlich wollte er den
Auflauf. »Macht das Haus meines Vaters nicht zu einer
Markthalle!«, rief er. Markt, ich gebe zu, er war nicht
immer deutlich genug von der Weihestätte getrennt. Aber
deswegen einen solchen Aufruhr machen, das geht nicht.
Keiner weiß, wer ihm das Recht dazu gegeben hat. Der
Vorgang drang vor den Hohen Rat. »Wessen Sohn will er
denn sein?«, fragten wir. »Was für einen Vater bean-
sprucht er? Gewiss keinen aus Jerusalem. Sonst würden
wir ihn kennen. Wie kommt er dazu, auf dem Tempelberg
Eigentumsrechte anzumelden?« Einige meinten, der
Mann sei nicht ganz bei Sinnen. Wenn er nochmals wüte,
solle man ihn festnehmen. Andere wollten die Sache nicht
hochspielen. Dieser Jeschua aus Nazareth werde bald wie-
der aus der Stadt verschwinden, sagten sie. Wieder andere
argwöhnten, der Galiläer könnte mehr gemeint haben. Er
könnte einer dieser Unzufriedenen sein, die in der Gestalt
eines Wanderpredigers einen Umsturz planten. Man habe
den Mann verhört und nach seiner Vollmacht gefragt, be-
richtete ein Rat, der die Szene erlebt hatte. Daraufhin habe
er kaum verständliche Sätze gesprochen. Schließlich habe
er einen Psalm zitiert. »Der Eifer für dein Haus verzehrt
mich.« Der Eifer für dein Haus. Damit kann sich jeder
rechtfertigen, der in die Tempelhoheit eingreift. Aber die-
ser Jeschua habe mit auffälligem Selbstbewusstsein gere-
det. Als ob er niemanden fragen müsste, weder die Tem-
pelwache noch uns, den Rat. Der Mann störte den Tem-
pelbesuch. Aber einen verstörten Eindruck hinterließ er

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nicht. Die Wache drängte ihn aus dem Hof hinaus. Er leis-
tete keinen Widerstand. Mit einer Gruppe ungehobelter
Galiläer zog er von dannen. Wir kamen daraufhin über-
ein, ihn beobachten zu lassen. Offenbar hatte er noch kei-
ne größeren Kontakte zu Bewohnern der Stadt. Man sah
ihn an den Wasserteichen. Abends ging er über das
Kidrontal zum Ölberg hinauf, wo er in einem der Dörfer
die Nacht verbrachte.
Der Galiläer blieb noch einige Tage in der Stadt. Er
sprach droben in der Halle Salomos und draußen am Bet-
hestateich vom Reich Gottes. Einmal muss er auch am Si-
loahteich unten gesprochen haben. Er habe einen Ge-
lähmten geheilt. Auch von einer Taufe habe er gespro-
chen. Nun, es gibt viele Taufweisen. Der Übergang von
Waschung zu Taufe ist nicht immer deutlich. Ich gehörte
zu denen, die der Ansicht waren, man solle den Fall nicht
hochspielen. Er habe sich zwar ungehörig benommen.
Aber immerhin sei sein Verhalten Ausdruck von Fröm-
migkeit gewesen. Meine Meinung stieß auf Widerspruch.
Die meisten Räte hatten sich gegen sein Auftreten
entschieden.

An Pfingsten kam er wieder in die Stadt. Da schien er sich


ruhig verhalten zu haben. Männer und Frauen feierten
das fröhliche Erntefest. Wahrscheinlich wollten auch die
Seinen in Ruhe einen Becher Wein trinken. Die Wunder-
heilungen, die aus Galiläa berichtet wurden, haben uns
wenig beeindruckt. Soll er doch die Dörfler heilen und die
Region mit Nahrung versorgen, dann betteln sie nicht in
der Stadt. Aber anscheinend war der Mann mit Galiläa
nicht zufrieden. Sein Anspruch auf öffentliche Wirkung

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war größer. Uns wurde hinterbracht, dass seine Brüder an


ihm zweifelten, solange er sich nicht in Jerusalem behaup-
tet habe. Am Laubhüttenfest kam er erneut in die Stadt
und machte von sich reden.
Obwohl er nichts Spektakuläres unternahm, erregte er
Aufsehen. Die Leute kamen in Scharen. Jeder weiß, die
Menge ist wundersüchtig. Sobald sie hören, dass einer groß
redet, obwohl er nicht einmal in eine Schule gegangen ist,
stießen sie die Köpfe zusammen. Unter uns Ratsherren wa-
ren nur wenige auf ihn neugierig. Die Mehrzahl war der
Ansicht, er untergrabe die Autorität und verführe das Volk.
Man solle dafür sorgen, dass er aus Jerusalem verschwinde.
Ich gestehe, dass ich zu den Neugierigen zählte. Richtig be-
gründen kann ich das nicht. Vielleicht weil mich der Geset-
zesglaube nicht im innersten Herzen erfüllte. Die Abra-
hamgeschichten mit ihrem Segen für die Nachkommen wa-
ren zu weit weg. Ich konnte den Segen für unsere Generati-
on nicht erkennen. Moses bewunderte ich, aber recht warm
wurde ich nicht mit ihm. Er hat uns die große Jahwevor-
stellung gegeben. An diese Gegenwart eines Unsichtbaren
hielt auch ich mich. Aber ich, der Pharisäer, hatte die
Spruchsammlung des Kohelet gelesen. Vielleicht hätte ich
es nicht tun sollen. Etwas ging in mir nicht mehr zusam-
men, Erfahrung und Gesetz, Leben und Kult, Vernunft und
Gefühl, Menschennähe und Jahweferne. Ich wagte nicht,
meine Gedanken auszusprechen. Was war das, was mich
verunsicherte? Obschon ich mein Geschäft mit Erfolg be-
trieb und im Rat regelmäßig meine Stimme abgab, war ich
in eine Krise geraten. Ich hatte sie nicht gesucht. Dieser Je-
schua sprach in einer eigenartigen Weise vom Leben. Er
sagte: »Meine Lehre ist nicht von mir, sondern von dem,

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der mich gesandt hat«. Eine kühne Aussage. Kein Schrift-


gelehrter hätte eine solche Autorität beansprucht. Er sei ge-
sandt, das »Reich Gottes« zu verkünden. Wohlgemerkt,
nicht das Gesetz, sondern das Reich Gottes. Nicht das
Reich der Römer, auch nicht die Neugründung des davidi-
schen Reiches, sondern ein Reich, von dem er so sprach, als
ob er darin eine Vorrangstellung beanspruchen dürfe.
Ich hatte mich unter die Menge gemischt. Am Laub-
hüttenfest war das nicht schwer. Viele waren in diesen Ta-
gen weinselig. Die Pharisäer hatten Beobachter geschickt.
Sie fühlten sich bestätigt in ihrer entschiedenen Ableh-
nung. Der Mann werde gefährlich. Er bedrohe nicht nur
den Tempel, sondern auch Obrigkeit und Gesetz. Einige
allerdings wagten ihren anderen Eindruck auszuspre-
chen. Noch nie habe ein Mensch so geredet wie dieser Ga-
liläer. Natürlich verriet ich mich nicht. Aber ich gestehe,
dass ich zu den letzteren gehörte. Seine Rede hatte mich
tief berührt. Die Sammlung, die Würde, seine Klarheit,
der Anspruch, das Wissen, die Ausstrahlung faszinierten
mich. Ich meinte, Zeichen einer göttlichen Wirklichkeit
wahrzunehmen. Geh zu ihm, sagte eine Stimme. Frag ihn,
sagte die Stimme. Rede mit ihm. Vielleicht kann er dir et-
was sagen, was dir hilft. Du kannst nicht so unentschie-
den vor dich hin leben und den andern deinen wahren Zu-
stand verbergen.
Wie hätte ich es wagen können zu ihm zu gehen, ich,
der Ratsherr aus Jerusualem, er, der Handwerker aus ei-
nem galiläischen Dorf. Und wie, wenn ich mich in der
Folge entscheiden müsste? Ich überschlief meinen Zwie-
spalt. Dann entschloss ich mich, zu ihm zu gehen. Das
war nur in der Nacht möglich, wenn die Leute in ihren

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Häusern blieben und der Lärm verstummte. Ich musste


mich in Acht nehmen vor den Pharisäern. So ein Aussche-
ren war weder erwünscht noch geduldet. Mit zwei Bedien-
steten machte ich mich auf den Weg in die Unterstadt, wo
die kleinen Leute wohnen. Ich hatte gehört, dass er dort
Einkehr gefunden hatte.
Mit ihm ins Gespräch zu kommen, war nicht schwer.
Von dem Förmlichen, das uns Ratsherren anhaftet, war er
frei. Eine ruhige Gegenwart, ein Aufmerken, das sich so-
gleich dem Besucher öffnet und auf ihn eingeht. Ich be-
kannte ihm, dass niemand solche Zeichen wirken könne,
wenn Jahwe nicht mit ihm sei. Dann erklärte ich ihm mei-
ne Schwierigkeiten mit dem Gesetz. Ich fragte ihn, wie
man nach seiner Ansicht das wahre Leben finden könne.
Das wollte ich. Das durfte ich mir zugute halten. Unum-
wunden sagte er, der Mensch, ob Mann, ob Frau, müsse
von neuem geboren werden. Nochmals geboren werden,
wenn man schon geboren war? Ich meinte, nicht recht zu
hören. »Von neuem geboren?«, fragte ich zurück. Wie
geht das, wenn man schon alt ist? Niemand kann in den
Mutterschoß zurückkehren, dachte ich. Geburt ist ein
einmaliger Vorgang, ein nicht ganz schmerzfreier. Er er-
klärte, er meine eine Geburt aus Wasser und Geist, aus
dem Wasser der Reinigung und dem Geist Gottes, aus
dem Wasser der Klarheit und heiligem Geist. Es sei der
Geist Gottes, von dem ein Mensch durchdrungen werden
müsse. Dieser Geist verschaffe Eingang in das Reich Got-
tes. »Aha«, sagte ich und seufzte. Es entstand eine lange
Pause. Er unterbrach sie nicht. Langsam fing ich an zu be-
greifen, dass er neu geboren werden nicht körperlich, son-
dern geistig meinte. Neu denken, neu mit den Sinnen

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wahrnehmen, neu gesinnt sein, den Geist von oben zulas-


sen, den Geist der Nähe Jahwes. Der sei wie ein Wind, der
wehe und wehen wolle, aber nicht von jedem wahrge-
nommen, auch nicht von jedem zugelassen werde, sagte
er. Dieser Geist öffne das Wesen eines Menschen zu
Wahrhaftigkeit und Liebe. Er schenke Einsicht und Um-
sicht, Friede und Mut. Er mache einen Menschen lebens-
wach und aufmerksam, lasse die Verantwortung für die
anderen fühlen. Wieder holte ich tief Luft und seufzte:
»Aha!« Nicht die Addition der Gesetzesvorschriften,
nicht das Prestige der Rechtgläubigkeit und des sozialen
Ranges, sondern dieses andere. Das nennt er Leben, neues
Leben, Leben in Fülle, Reich Gottes. Da sind Leib und
Seele heilig, nicht kultheilig, auch nicht gesetzesheilig,
sondern in sich heilig, lebensheilig. Ich war ins Innerste
getroffen. Er sprach etwas aus, wofür in mir ein Bewusst-
sein bereit war, das ich aber nie hätte aussprechen kön-
nen. »Rabbi, danke!«, sagte ich, »Dank aus ganzem Her-
zen.« Dreimal verneigte und verbeugte ich mich vor ihm.
Er hatte Worte des Lebens gesprochen. Du sollst leben,
hatte er gesagt, leben in der Nähe Gottes und leben mitten
unter den Menschen. Er selbst atmete den Geist Gottes.
Jeschua wusste, dass er mich erreicht hatte, meine Seele,
mein Gemüt, mein Denken. Auch er schien glücklich.
Eine neues Aufmerken hat er in mir ausgelöst, ein neues
Freisein gestiftet. Von allgegenwärtiger Sünde hat er nicht
gesprochen, nicht von Strafe, Sühne und Tod, sondern
von Leben und Geburt. Streng, aber gelöst, fast heiter.
Wer an Jahwe glaubt, muss sich nicht ängstlich an den
Geboten entlang hangeln, immerzu schuldbewusst und
sühnebedürftig, sondern darf, wie soll ich sagen, sich frei

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fühlen, gedankenfrei, flügelfrei, befreit zum Leben. So


verstand ich, dass wenn einer neu geboren wird, er seine
Neugeburt zulässt.
Erregt, zugleich in seligem Frieden ging ich von dan-
nen. Meine Diener begleiteten mich durch die dunklen
Gassen nach Hause. Ich sagte nur: »Kommt!« Sonst
sprach ich kein Wort mit ihnen. Jeschuas Worte füllten
mich ganz aus. Was für ein Mensch, dachte ich. Welche
Offenheit. Welche Nähe, zu der er einen zulässt. Was für
eine Ausstrahlung. Welche Weisheit. Welche Lebens-
form. Woher er sie nur hat. Wer er nur ist, der Mann aus
Galiläa. Mir schien, in ihm war das Reich Gottes. Er selber
war der Neugeborene.

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S ara von Sichar


sprach

Ich hatte Erfahrungen gemacht. Mit den Jahren spürte ich,


mein Leben lief nicht mehr von selbst. Ich fing an zu fra-
gen, was ich wollte, was die Männer von mir wollten. Nur
Lust war es nicht. Hatte sie nachgelassen? Ich war nicht
mehr jung. Es ist für eine Frau nicht einfach, außerhalb ei-
ner beständigen Ehe zu leben. War ich mit den wechseln-
den Begegnungen nicht mehr zufrieden? Zwar konnte ich
mich freier verhalten als andere Frauen. Ich konnte, ver-
traglich nicht gebunden, wiederholt wählen. Aber ich ent-
behre den Schutz, das Ansehen, die Sicherheit, die Ehe-
frauen genießen. Ich habe angefangen, über mein Leben
als Frau nachzudenken. Mir scheint, ich habe die richtige
Lebensform noch nicht gefunden.
Manchmal ging ich mit Nachbarinnen auf den Gari-
zim. Es war ein erhebender Anblick, von oben auf die
Stadt zu schauen. Die Verehrung der Besucher auf dem
Berg war geteilt. Die einen verehrten den hebräischen
Gott des Moses, andere den Baal aus dem Osten. Ascheren
aus Syrien leuchteten herüber, Bilder der Fruchtbarkeit
und des Geschlechts. Welcher Mann wollte nur mit dem
Gesetz leben, welche Frau geschlechtslos? Ein Gott muss
das Lebensgefühl erhöhen. Ich dachte mir einen, der we-
niger streng ist als der Jahwe des Moses. Nicht jede Frau

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will sich bedingungslos dem Mann unterwerfen. Mein


Gott sollte weniger fordernd sein. Ich dachte, er sollte mir
einen Spielraum gewähren. Dass auf den Gassen manch-
mal Finger auf mich zeigten, musste ich ertragen. Laut-
hals als Ehebrecherin angeprangert werden wollte ich
nicht. Unsere Tage und Nächte in Sichar wurden nicht so
überwacht wie in Jerusalem. Deshalb lebte ich gern in der
Stadt. Unser Leben war freier. Ich konnte mich auf der
Straße zeigen. Ich wurde begehrt. Sich schmücken für ei-
nen Mann, seiner Einladung folgen, gibt es Schöneres für
die Frau? Wer begehrt, spürt das Leben. Begehren und Be-
gehrtwerden bestätigen mich als Frau. Die Wiederholung,
muss ich zugeben, befriedigte mit der Zeit weniger. Die
Spannung ließ nach. Meine Erwartungen ließen nach. Im-
mer wieder ein Mann, dann Abschied, Trennung, Allein-
sein, Ausschau nach einem anderen, der mich nahm, dem
ich mich hingab, mit dem ich jedoch nicht so sprechen
konnte, wie ich es wünschte. Die Männer blieben
wortkarg. Sie waren nicht immer ganz anwesend, wenn
sie umarmten.
Das Bedürfnis nach Gespräch war in mir stärker ge-
worden. Nicht nur Hingabe, Zusammenkommen, Hin-
über- und Herüberkommen im Gespräch wünschte ich.
Eines Tages holte ich um die Mittagszeit Wasser für den
Haushalt. Ich ging mit dem Krug zum Jakobsbrunnen.
Auf der steinernen Umfassung des Brunnens saß ein
Mann. Nicht gefährlich am helllichten Tag. Er war offen-
bar ermüdet und wollte Wasser trinken. Aber er hatte kein
Schöpfgefäß. Da sprach er mich an und bat mich, ich
möge ihm Wasser reichen. Als ich erkannte, dass er Jude
war, war ich verwundert. Ich fragte frei heraus: »Wie

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kannst du, ein Jude, mich, die Samariterin, um Wasser bit-


ten?« Zugegeben, das klang nicht nur abweisend, es war
abweisend. Er hätte aufgebracht sein können über meine
Rede. Aber er reagierte gelassen. Ich holte ihm einen Krug
Wasser herauf. Er trank in ruhigen Zügen. Dann sprach er
von seiner Person, die offenbar nicht im Judesein aufging,
sondern über besondere Fähigkeiten verfügte. Ich erfuhr,
dass er aus Galiäa kam und nach Galiläa wollte. In Galiläa
war ich so wenig gewesen wie in Jerusalem. Eine Frau lebt
eingeschränkt, wenn sie nicht einem Handelsherrn ge-
hört. Auf einmal sprach er von lebensspendendem Was-
ser, das er geben könne. Ich horchte auf, wurde neugierig.
In gewisser Weise ist Wasser immer lebensspendend. Man
muss dazu nicht am Verdursten sein. Aber er schien etwas
anderes zu meinen. Ich entgegnete ihm: »Aber du hast gar
kein Schöpfgefäß.« Dann teilte ich ihm mein Brunnenwis-
sen mit. Ob ihm bekannt sei, fragte ich, dass Jakob und
seine Söhne aus diesem Brunnen getrunken und ihre Her-
den getränkt haben, unser Vater Jakob, der lange vor Mo-
ses lebte? Er ging nicht direkt auf meine Frage ein. Im
Nachhinein vermute ich, dass er es wusste. Nochmals
sprach er von einem lebensspendenden Wasser, das er ge-
ben könne. Warum gibt er sich nicht selbst dieses Wasser,
wenn er Durst hat?, dachte ich. Dann muss er keine frem-
de Frau ansprechen. Der Mensch dürste nach ewigem Le-
ben, fuhr er fort, er könne dieses ewige Leben spenden.
Jetzt war ich hellwach. Zeitliches Leben, zeitliche Liebe
hatte ich kennen gelernt. Aber Menschen in meiner Nähe
waren auch gestorben. Meine Eltern waren gestorben, ein
Bruder war gestorben. Mit meinen zeitlichen Erfahrungen
hatte ich in jüngster Zeit Schwierigkeiten gehabt. Unge-

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nügen war in mir aufgestiegen. Die kurze Befriedigung


hielt nicht an. Der Höhepunkt verging zu rasch. Und hin-
terdrein? Und wie weiter? O Mann, dachte ich. Was sagst
du? Was sprichst du an? Wer bist du? Ich bat ihn, mir sein
lebensspendendes Wasser zu reichen. Er schaute mich an
und sagte ohne Vorwarnung: »Geh, rufe deinen Mann
und komm mit ihm wieder.« Seine Aufforderung traf
mich ins Mark. Wollte er mich bloßstellen oder auch ihm
dieses Wasser zukommen lassen? Einfach weglaufen
wollte ich nicht. Ich bekannte ihm: »Herr, ich habe kei-
nen Mann.« Mit dieser Antwort konnte er zufrieden sein
oder nicht. Eigentlich ging ihn meine Geschichte nichts
an. Er musste nicht weiter in mich dringen. Aber er tat es.
»Wahr hast du geredet«, sagte er. »Fünf Männer hast du
gehabt und der, mit dem du zusammen lebst, ist nicht
dein Ehemann.« Nein, dachte ich, woher weiß er das. Er
ist doch fremd hier. Warum drängt er mich in die Enge?
Auf einmal spürte ich eine merkwürdige Veränderung
in mir. Ich war ihm nicht böse, weder wegen seiner Frage
noch wegen seiner Aufforderung noch wegen seiner
Kenntnis. Ich wunderte mich sehr über ihn und sein Ge-
spräch mit mir. »Du weißt Verborgenes und Entferntes«,
sagte ich. Dann sprudelte es aus mir heraus: »Herr, du bist
ein Prophet.« Propheten konnten freundlich sein, aber
auch gefährlich werden, wenn sie etwas sagten, was man
nicht hören wollte. Meine Rede schien ihn berührt zu ha-
ben. Nicht nur er interessierte mich, auch ich interessierte
ihn. Von meinen Beziehungen zu Männern wusste er,
nicht im Einzelnen, aber deutlich genug. Weiß er auch
über meine Beziehung zu Gott Bescheid? Das konnte ich
mir nicht denken. Er kam aus Jerusalem, erfuhr ich. Wir

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Samariter und Samariterinnen tun uns schwer mit der


Tempelstadt. Sie beanspruchen dort eine solche Macht
und Ausschließlichkeit, dass es uns erniedrigt. Für die in
Jerusalem sind wir halbe oder sogar ganze Heiden. Ich er-
laubte mir zu sagen, dass auch wir unsere Väter haben
und dass die auf dem Berg Garizim ihren Gott verehrt ha-
ben, wie wir Samariter es heute noch tun. Jetzt erwies er
sich erneut als Prophet. Er schaute hinüber zum Garizim
und zurück Richtung Jerusalem. Dann sagte er: »Glaube
mir, Frau, es kommt die Stunde, da ihr den Vater weder
auf diesem Berg noch auf dem Tempelberg in Jerusalem
anbeten werdet.« Weder noch? Auf welchem Berg dann?,
dachte ich. Man braucht doch einen Berg, einen Tempel,
ein Standbild oder wenigstens einen Denkstein. Weder
noch? Welchen Vater? Jahwe ist kein Vater und auch der
Baal ist kein Vater. Die Ascheren sind keine Mütter. Ich
habe einen Eindruck von Gott, aber ich sehe ihn nicht.
Der Mann bestand darauf, dass er von Gott als Vater spre-
che. Ist Gott nicht der Herr der Gebote, der energisch,
manchmal geradezu tyrannisch auf seine Rechte pocht?
Leiblich tat ich mich mit diesem Gott schwer. Die Erfah-
rung des Leibes genüge nicht, sagte er. Man müsse Gott
im Geist und in der Wahrheit anbeten. Wie komme ich
Frau vom Begehren des Schoßes zum Geist? Wie von der
Wahrheit auf dem Garizim zur Wahrheit auf dem
Tempelberg? Solche Fragen bedrängten mich. Ich konnte
sie vor dem Fremden nicht aussprechen.
Er schaute mich freundlich an, als verstehe er mein Be-
dürfnis und mein Bedenken. Ich sagte ihm: »Ich bin Sara
aus Sichar . Nennst auch du mir deinen Namen?« – »Ich
bin Jeschua aus Nazareth in Galiläa«, antwortete er. Seine

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Jünger seien in die Stadt gegangen, um Brot und Früchte


zu kaufen. Er sei mit ihnen auf dem Weg von Jerusalem
nach Galiläa. Ich wusste, dass die Galiläer auf ihren Wall-
fahrten nach Jerusalem meist durchs Jordantal wander-
ten. Der Weg durch unser Bergland war mühsamer. Aber
wenn keine Frauen dabei waren, warum nicht. Was war
es, das den Mann umgab? Etwas Geheimnisvolles, etwas
wie ein Mantel, eine Lichthülle und ein Lichtabstand. Ob
ich von der Hoffnung auf den Messias gehört habe, fragte
er. Ich bekannte, dass auch ich daran glaubte, dass eines
Tages der Messias komme. Er werde erscheinen mit gro-
ßer Macht. Die brauche er ja, wenn er hier etwas ausrich-
ten wollte. War ich zu weit gegangen mit meiner Zunge?
Bei den Männern hatte meine Zunge die Haut berührt.
Jetzt, schien mir, berührte sie sein Wort. Konnte einem jü-
dischen Mann die Messiashoffnung einer Samariterin, die
ihm überdies als zweifelhafte Frau erschien, etwas bedeu-
ten? Guter Mann, verehrter Prophet, dachte ich, ich ver-
mute, du hast eine einfachere Geschichte als ich. Hatte er
vorhin geradeheraus mir gesagt, wer ich sei – das Wort
Dirne sprach er nicht aus, bin ich auch nicht – sagte er
jetzt, wer er sei: »Ich bin es, der mit dir redet.« Wer? Der
Messias? Mich traf ein Ton, ein Licht, ein Blitz, was weiß
ich. Ich warf mich nieder. Ich fühlte mich zutiefst berührt.
Fassungslos rang ich nach Luft. »Nicht doch«, sagte er.
»Steh auf, Sara aus Sichar. Friede sei mit dir. Schalom.
Verstehst du, warum wir uns begegnet sind?« Verstehen?
Noch nicht. Ich schaute ihn groß an. Tränen quollen mir
aus den Augen. Ich fühlte mich erkannt und durfte ihn er-
kennen. »Herr«, sagte ich, du hast mein Leben geöffnet.
Heiliger Herr, mein Leben ist verändert.« – »Geh hin,

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berichte den deinen, was du gehört und gesehen hast«,


sprach Jeschua.
Seligen Herzens verbeugte ich mich vor ihm, wehen
Herzens verabschiedete ich mich. Ich nahm den Wasser-
krug auf den Kopf und schritt von dannen. Seine Jünger
waren zurückgekehrt aus der Stadt. Sie schienen sich zu
wundern, dass er mit einer Frau geredet hat. Ich ging
grußlos an ihnen vorbei. In der ersten Nacht schlief ich
unruhig. In den folgenden Tagen erzählte ich einigen
Nachbarinnen von meiner Begegnung. »Geh zum Synago-
genvorsteher«, sagten sie. Ich ging hin und berichtete
ihm. Er schüttelte seinen Kopf. »Frauengerede«, sagte er.
»Dem Messias willst du begegnet sein? Zu einer Frau wie
dir soll der Messias gesprochen haben? Das bildest du dir
ein. Willst du den auch als Mann? Wenn der Messias
überhaupt kommt, erwartet man ihn in Jerusalem. Aber es
sieht nicht aus, als ob er bald in dieses Durcheinander
käme.« Die anzügliche Rede des Vorstehers verletzte
mich. Mit seinesgleichen konnte ich nicht sprechen.
Wahrscheinlich war ich ihm keine glaubwürdige Person.
Aber ich habe die Begegnung mit dem Propheten mit allen
Sinnen erfahren. Er hat wahr gesprochen, er hat mein Be-
wusstsein durchdrungen. Dass er der Messias ist, muss
freilich auch ich glauben. Ich möchte es glauben. Ich
glaube es.
Der Mann, mit dem ich zusammenlebte, wollte nichts
davon wissen. Er wies meine Erzählung mit blankem
Hohn ab. Wenn ich messiasgläubig sei, könne ich dem
Fremden ja nachlaufen. Eine solche Verrücktheit könne
er bei sich nicht dulden. Anbeten im Geist? Was soll denn
das? Ob ich nicht eine bessere Wahrheit kenne? Zu Je-

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schuas Gruppe zu gehen, beabsichtigte ich nicht. Ich habe


bei ihm nur Männer gesehen. Ich würde ihm meine Nähe
nicht zumuten. Wenn es bekannt würde, könnte ihm
mein Ruf schaden. Von meinem Mann, der sich meiner
Erfahrung verschloss, trennte ich mich. Wie soll ich mit
jemand zusammenleben, der mich nur begehrt, aber mei-
ne andere Erfahrung nicht ernst nimmt. Wie wird es mit
mir weiter gehen? Ich weiß nicht. Der Prophet hat mich
angesprochen. Er hat meine Seele entdeckt. Er hat mich
erweckt. Ich bin verändert. Ich muss allein sein, um zu be-
greifen, was mir geschehen ist. Der Prophet hat mich
erkannt, ich habe ihn erkannt. Ich muss mich neu
begründen. Jeschua, hilf.

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J ohannes sprach

Meine Augen sehen unseren Einzug in die Stadt. Es war


ein Fest der Sonne, des Frühlings, der jungen Palmtriebe.
Als Pascha nahte, waren wir von Galiläa nach Jerusalem
hinaufgezogen. Wir fanden in Bethphage ein Nachtlager.
Felldecken schützten vor der Kälte der Nacht. Nachdem
wir morgens Fladenbrot und etwas Milch zu uns genom-
men hatten, waren wir froh gestimmt. Etwas schien in der
Luft zu liegen. Ein herrlicher Frühlingsmorgen stieg über
den Ölberg. Aus nahen Gehöften schrien Esel. Vogelstim-
men erfüllten die Luft. In uns war Neugier und Erwar-
tung. Was würden die nächsten Tage bringen? Wir stan-
den beieinander, sprachen in Gruppen und warteten auf
die Weisung des Meisters. Als wir ihn umstanden, schaute
er uns ruhig an. Aber die Ruhe auf seinem Gesicht schien
gespannt. Er blickte zur Stadt hinüber. Seine Gedanken
konnten wir nicht lesen. Zu Andreas und Philippus ge-
wandt, sagte er, sie sollten ins nächste Gehöft gehen. Dort
würden sie eine Eselin mit ihrem Füllen finden. Auf dem
Tier habe noch kein Mensch gesessen. Sie sollten es her-
bringen. Ein merkwürdiger Auftrag, dachte ich. Wir ha-
ben einen solchen aus seinem Mund noch nie gehört.
Andreas und Philippus gingen. Sie fanden eine Eselin
mit ihrem Füllen. Als sie sich anschickten, das junge Tier
loszubinden, trat der Besitzer aus dem Haus. Er fuchtelte

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mit den Händen. Keineswegs schien er gewillt, sich von


dem Füllen zu trennen. Auf die Frage, was sie wollten, er-
klärten ihm Andreas und Philippus, der Meister brauche
das Tier und werde es nachher wieder zurückschicken.
Der Mann zögerte, ging ein paar Schritte hin und her und
überlegte. »Was für ein Meister?«, fragte er. »Jeschua aus
Nazareth«, erwiderten sie. »Der Meister will in die Stadt
reiten.« – »Und kommt wieder zurück?«, vergewisserte
der Mann sich. – »Das Füllen kommt wieder zurück«, er-
widerten sie. Auf einmal schenkte der Mann den beiden
Abgesandten Vertrauen. Sie durften das Füllen losbinden,
warfen ihm ein lockeres Seil um den Hals und führten es
her. Ein stattliches Füllen. Wir begriffen, dass unser Meis-
ter darauf reiten wollte. Er wolle heute mit uns in die Stadt
einziehen, sagte er. Einziehen, nicht einfach gehen.
Wenn der Statthalter Roms einzieht, reitet er zu Pferd.
Auch König Herodes reitet zu Pferd mit großer Begleitung
in die Stadt. Aber Statthalter oder gar König ist unser
Meister nicht Diese Rolle hat er nie gesucht. Wer ist er?
fragte es in mir immer wieder. Trotz Simons Bekenntnis
droben in Cäsarea Philippi gingen unsere Meinungen aus-
einander. »Sohn des lebendigen Gottes«, hatte Simon ge-
sagt. Ging das nicht zu weit? In uns allen blieb die Frage,
trotz Simons Antwort, stehen. Nicht nur bei mir hatte sie
sich auf dem Weg nach Jerusalem zugespitzt. Allmählich
musste sie geklärt werden. Jakobus, Philippus, Judas,
jeder suchte eine Antwort. War jetzt die Zeit gekommen?
Auf unseren Wanderungen hatte sich Jeschua nie auf
ein Reittier gesetzt. Auch nach Jerusalem war er mit uns
stets zu Fuß gewandert. Seine Füße wurden ebenso stau-
big wie die unsrigen. Jetzt schickte er sich an zu reiten.

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Nicht als großer Herr, aber immerhin. Sollte das Zeichen


sein? Anspruch? Erhöhung? Gar Verheißung? Ich wagte
nicht, meine Gedanken auszusprechen.
Jeschua setzte sich auf das noch unberittene Eseltier.
Wäre ein reitgewohntes Tier nicht besser gewesen? Das
Füllen war unruhig. Es schlug aus. Was wollte man von
ihm? Andreas hielt es fest. Einige von uns legten ihre Um-
hänge auf seinen Rücken. Man redete dem Tier zu.
Schließlich beruhigte es sich. Jeschua setzte sich auf das
mit den Tüchern gesattelte Füllen. Nach ein paar Trippel-
schritten ließ es sich den Reiter gefallen. Unten leuchtete
die Stadt im Sonnenschein. Über den Ölbäumen, den Pal-
men im Tal, den Häusern am Hang, leuchtete der Tempel:
steinhell, mächtig, erhaben. Immer, wenn wir nach Jeru-
salem kamen, besuchten wir zuerst den Tempel. Das sollte
auch diesmal geschehen. Unser Zug formierte sich. An-
wohner bemerkten uns. Sie traten aus den Höfen heraus
und kamen hinzu. Wir Jünger zogen voraus. Ölberg-Leute
schlossen sich an. Hatten die Männer hier von Jeschua in
Bethanien gehört? Kannten einige Maria und Martha? Hat
die Geschichte ihres Bruders Lazarus die Gemüter er-
schüttert? Sie mussten von dem Ereignis gehört und unter
sich gesprochen haben. Wir Jünger wussten nicht recht,
wie viel oder wie wenig die Leute in den Dörfern vor der
Stadt von Jeschua wussten. Unbekannt kann er ihnen
nicht geblieben sein.
Wir selbst dachten nicht an Vergangenes. Dazu waren
wir zu sehr aufgebracht. Uns erfüllte Gegenwart. Was
stand bevor? Immer mehr Männer eilten herbei, sogar
Frauen schlossen sich dem Zug an. Kleine Bauern, Tier-
halter, Ölpresser, Neugierige und ernsthaft Interessierte,

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vermutlich sogar Verehrer des Meisters. Das bestärkte uns


Jünger nach den düsteren Andeutungen Jeschuas in den
letzten Tagen. Unsere anfangs gedrückte Stimmung hellte
sich auf. Wir hatten Begleiter gefunden auf dem Weg in
die Stadt. Vielleicht, dachten wir, trifft etwas anderes ein
als wir befürchten. Nicht Scheidung, sondern Zustim-
mung. Nicht Erniedrigung, sondern Erhöhung. Nicht Zu-
rückweisung, sondern Triumph. Auch die Frauen, die aus
Galiläa mitgezogen waren, hatten uns gefunden. Ich weiß
nicht, wo sie die Nacht verbracht und wer sie benachrich-
tigt hatte. Sie waren einfach da. Sie wussten, wo der Meis-
ter weilte. Jeschuas Mutter war unter ihnen, Mirjam von
Magdala, die Mutter der Zebedäussöhne. Später dachte
ich oft an den Spürsinn der Frauen. Ihre Entschiedenheit,
ihr Mut, ihre Klarheit beeindruckten mich.
Wir zogen den Berg hinab. Der Meister grüßte die
Männer und Frauen. Er hob die Hand, schaute nach der
einen und der anderen Seite. Er winkte den Menschen zu,
nicht wie ein Stimmenfänger, nicht wie einer, der sich an-
bietet oder um Zustimmung buhlt, sondern wie Jeschua:
verhalten, aber freudig offen, einladend, zustimmend.
Was für ein Morgen. Was für ein Tag. Was für ein Beginn
der Paschawoche. Wir näherten uns dem Kidrontal. Im-
mer mehr Leute schlossen sich dem Zug an. Allmählich
wurde er eine Demonstration. Anscheinend waren schon
Pascha-Pilger unter ihnen. Männer hieben Zweige von
den Bäumen, Frauen pflückten Blumen und grüne Bü-
schel am Wegrand. Sie warfen sie auf die Tretsteine, über
die Jeschua ritt. Einige zogen ihr Obergewand aus und
breiteten es auf den Weg. Die Begeisterung schwoll an.
Unsere Freude gewann mächtigen Ausdruck. Wir riefen:

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»Gesegnet, der da kommt im Namen des Herrn.« Die


Menge stimmte ein und rief: »Hosanna dem Sohne Da-
vids.« Andere riefen: »Gesegnet das kommende Reich un-
seres Vaters David.« Das wogte über den Weg. Das schall-
te über das Tal. Man musste es bis zum Tempel hinüber
gehört haben. Wir Jünger hatten bisher nie gewagt, so zu
rufen, so laut, so bekennend, so prophetisch. Nicht ein-
mal in Cäsarea Philippi, wo der Meister fragte, für wen wir
ihn hielten und Simon sich zu seinem großen Bekenntnis
hinreißen ließ. Jeschuas wiederholtes Auftreten muss in
der Stadt mehr beachtet worden sein, als wir dachten. Sei-
ne Verkündigung war nicht überall gelungen. Immer wie-
der hat er auch befremdet. Bei mächtigen Herren in der
Stadt stieß sie auf Widerstand. Aber hier und jetzt löste Je-
schuas Ritt öffentliches Interesse aus. Die Stimmen
schwollen an, Begeisterung brach sich Bahn. Jubel wogte
über das Kidrontal. Die Menge klatschte in die Hände. Sie
sangen, sie huldigten dem Mann auf dem grauen Tier.
Wer hat sie benachrichtigt? Wer zusammengerufen? Wer
gab ihnen das ein? Was wussten sie von Jeschua? Wen
erwarteten sie? Welcher Geist kam über die Stadt?
Sohn Davids. War er das? War er der noch unerkannte
König Israels? Die Hoffnung, vor allem unter Männern ze-
lotischer Prägung, war groß. Unter David war Israel ein
Reich gewesen, ein großes Reich. Jetzt war das Land be-
setzt, zerteilt, von den Römern kontrolliert. Israel sollte
wieder es selbst sein dürfen, Macht über seine Stadt und
über seine Provinzen gewinnen. Das Reich soll erstehen.
Jeschua kannte die Erwartung. Aber er hat sich nie als
Sohn Davids bezeichnet. Ich denke, das Herz des Judas
hüpfte unter den Huldigungen der Menge. Das entsprach

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seinen Vorstellungen. Die Leute bestätigten seine Hoff-


nungen. Ein richtiges Reich. Jeschua, König in einem
richtigen Reich. Politischer Auseinandersetzung war der
Meister stets aus dem Weg gegangen. Er sprach nie von
der Wiedererrichtung des Reiches Israel. Die war ihm
nicht aufgetragen. Diese Erwartung nährte er nicht. Eini-
ge von uns dachten zwar in dieser Richtung. Aber wir an-
deren hatten begriffen, dass sein Reich des Himmels ande-
rer Art war. Welcher Art? Das musste sich erst herausstel-
len. Wir Jünger gehörten ja wohl zu seinem Reich. Die
Frauen, die mit uns zogen, denke ich, auch. Gehörten die
Pharisäer und Schriftgelehrten zu seinem Reich? Die nie-
deren Priester und die hohen? Gehörte das Volk zu sei-
nem Reich? Auch die Menschen an der Küste, jenseits des
Jordans, die in den Bergen, die Halbheiden? Riefen die
Jubelrufer eine Hoffnung auf, ihren angestauten Willen,
einen Anspruch? Dachten sie an eine prophetische
Voraussage? Vielleicht alles zusammen.
Wir waren erstaunt, sehr erstaunt, dass so viele Män-
ner und Frauen aus den umliegenden Dörfern und aus der
Stadt zusammengelaufen waren. Spürten sie, dass Jeschua
aus Nazareth ein Hoffnungsträger war? Sie brauchten
Hoffnung. Die Römer gaben keine Hoffnung, die Hohen
Priester auch nicht. Viele vermuteten geheime Abspra-
chen. Die Leute wussten, dass Jeschua einer der ihren war.
Er stammte nicht aus der Jerusalemer Priesterkaste, nicht
aus einer der Händlerdynastien. Er war kein rechthaberi-
scher Schriftgelehrter, kein Herodianer, keiner, der sich
heimlich mit den Römern verständigte. Jeschua, Sohn aus
einem galiläischen Dorf, Wanderprediger, war den Hand-
werkern und Bauern, den Frauen und Kindern nahe. Er

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war begabt mit Heilkraft und göttlichem Wissen. Jeschua,


Sohn aus dem Volk, Sprecher für die Armen, einer, der
keine Vorrechte beanspruchte, sondern Hunger und
Durst mit ihnen teilte. Jeschua sprach kleinen Leuten
Hoffnung zu, Leben in Frieden. Keine Herrschaftsspra-
che, kein Herrschaftssprecher, kein aufgeplustertes Pres-
tige, nichts Hergemachtes, nicht die Stimme eines Clans.
Kein Stadtpatrizierer, keine politische Macht. Nur er
selbst. Aber was für ein Selbst, was für ein Ich, was für ein
Du. Gesegnet, der da kommt im Namen des Herrn. Das
war mehr, als wenn wir, wenn sie gerufen hätten, es lebe
Jeschua. Ja, er kommt im Namen des Herrn. Aber wer ist
sein Herr? Ist es David? Ein anderer Reichsbegründer? Je-
schua stand in Beziehung zu einem Vatergott, den er als
des Volkes Gott vorstellte. Der Jahwegott ein Vater? Was
erwarteten die Leute? Was verlangten die Schriftgelehr-
ten? Wer wollte seine Rechtgläubigkeit messen? Wer ihn
zur Rechenschaft rufen? Wer kontrollieren? Jetzt durften
sie seinen Einzug sehen, die Meinung des Volkes hören.
Ob ich all das an jenem Morgen gedacht habe, weiß
ich nicht. Wahrscheinlich nicht. Der Vorgang verlangt
mein wiederholtes Nachdenken. Immer wieder kehre ich
zurück zu jenem Morgen. Wir erreichten den Kidron-
bach. Hell glänzte das Wasser im Schein der Frühlings-
sonne. Oft hat Jeschua vom lebendigen Wasser gespro-
chen. Der Kidron führte lebendiges Wasser. Man konnte
das Wasser nicht nur sehen, sondern auch hören. Es plät-
scherte über die Steine. So hell, so klar, so morgenfrisch.
Lichterfüllt war die Luft, das Blau des Himmels. Es war,
als ob Tal und Berg an unserem Einzug Anteil nähmen.
Nicht nur Menschen, sondern auch die Elemente. Nicht

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nur begeisterte Rufer, sondern lebendiger Geist. Jeschua


hatte oft mit uns über ds Lebendige im Menschen gespro-
chen. Einmal sagte er, er sei das Leben. Nicht zuerst das
Gesetz, sondern das Leben. Aber Leben in der Stadt war
etwas anderes als unser Leben am See. Jetzt spürten wir
Kräfte in unseren Adern, Kräfte in unserer Brust. Männer,
Frauen, Rufer, Klatscher, Erregte waren wir. Gemeinsa-
mes durchpulste alle. Jeschua war unsere Mitte, lebendige
Mitte. Es war ein wunderbarer Weg, eine herausragende
Stunde. Unser Einzug war hörbar über das Tal. Er musste
Aufmerksamkeit auslösen.
Was ging in Jeschua vor? Welche Gedanken bewegten
seinen Geist, welche Gefühle durchdrangen ihn? War
auch er in Hochstimmung? Fand er, dass seine Stunde ge-
kommen war? Oder gab es etwas, das ihn zurückhielt?
Rufend, singend, klatschend zog der Zug über den Ki-
dronbach. Drüben ging es bergan. Wir zogen hinauf zum
Susa-Tor. Durch dieses Tor ziehen die Pilger zu den Tem-
pelfesten vom Jordantal herauf. Es ist benannt in Erinne-
rung an die nach Babylon Vertriebenen. Von Susa kehren
sie zurück. Golden leuchtete das Susator in der Sonne.
Einst ist hier in die Stadt der Ruinen Nehemia eingezogen,
als er aus Susa in das Land seiner Väter zurückkehrte. Tag
für Tag hat Nehemia für die Söhne Israels zu Jahwe gebe-
tet: »Du hältst deinen Bund und bewahrst deine Gnade
denen, die dich lieben und deine Gebote halten.« Der
Bund, die Gnade, Israels Treue, Israels Gottesliebe. Nach
der babylonischen Wegführung schien der Bund zerbro-
chen. Nehemia erneuerte das Bündnis mit Jahwe. Heute,
an diesem Palmenmorgen, steht auch der Bund im Licht.
Heimkehr damals in Ruinen, heute Einzug in die von der

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Sonne beschienene Stadt. Die Söhne Israels ziehen heim.


Söhne Israels ziehen in ihre Stadt. Auch wir Galiläer
ziehen in die Stadt. Der Gesandte Jahwes soll erkannt
werden.
Hat der Meister an diesem Morgen an Nehemias Ein-
zug gedacht? An dessen Neuanfang unter Gedemütigten,
Verzagten, Führerlosen? Wird er das Volk weisen? Einige
von uns erwarteten im Tempelhof eine Proklamation. An
heiliger Stelle soll Jeschua das Reich seines Vaters verkün-
den. Das Reich der Menschen in der Stadt und das Reich
der Menschen in den Dörfern, auch das Reich der Armen,
der kleinen Leute. Kann er das? Darf er das? Will er das?
Die Botschaft vom Himmelreich, vom Reich des Vaters,
die Rede von der Gerechtigkeit, vom lebendigen Geist.
»Wo bleibt das Gesetz?«, werden sie ihn fragen. »Wo ste-
hen die Gesetzestafeln in deinem Reich?« »Wo bleiben
unsere Vorrechte?«, werden einige denken. Würde es in
der Halle Salomos zum Streit kommen? Werden abge-
sandte Redner Jeschua offen angreifen, Rechtfertigung
verlangen, ihn mundtot machen? Werden sie fordern,
dass er sein galiläisches Querdenken ihrem Hauptdenken
unterordne?
Damals hätte ich das nicht aussprechen können. Im
Unterbewussten bewegten mich die Fragen. Das Gesche-
hen war aufregend. Es nahm Sehen und Hören, Denken
und Fühlen gefangen. Wir waren mitgerissen vom Augen-
blick, von den Jubelrufen der Menge. Nicht außer uns wa-
ren wir, aber begeistert bis in die Eingeweide. Später fragte
ich mich, ob unter denen, die »Hosanna!« riefen, auch
solche waren, die am Rüsttag »Kreuzige ihn!« gerufen ha-
ben? Ich mochte es nicht glauben. Ich möchte es nicht

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glauben. Aber das ist eine andere Geschichte. Als wir hin-
aufzogen zum Tempel, kannte ich die Frage nicht. Die
Hosanna-Rufe waren eindeutig, spontan, aufrichtig.
Vor uns ragte das mächtige Susa-Tor auf. Beide Flügel
standen offen. Jemand musste sie aufgestoßen haben. Die
Wache? Tempelbesucher? Eine Vorhut? Gefühle der Ge-
nugtuung erfüllten mich, Gefühle des Stolzes rannen über
meinen Rücken. Endlich war der Augenblick da. Jeschua
durfte auf dem Tempelberg erscheinen als der, der er war.
Erkannt von vielen, geachtet, anerkannt, gefeiert. Nicht
einfach Wanderprediger, sondern ... Ja, wer? Der Sohn
Davids? Der Sohn seines Vaters?
Wir zogen durch das Tor. Wir gingen über den ge-
pflasterten Hof. Auf dem Berg war man längst unterrichtet
und gewarnt. Sie hatten unseren Zug von weitem kom-
men sehen. Man hatte unseren Jubel gehört. Angemeldet
waren wir nicht, weder beim Präfekten noch beim Dienst
habenden Oberpriester. Jeschua hatte nicht um Erlaubnis
gefragt, auch nicht fragen lassen. Er hatte nicht vorausse-
hen können, wie groß der Zug wurde. Droben fürchteten
einige Schriftgelehrte und Priester Volkes Stimme. Nicht
alle Juden waren bereit, sich ihrer Gesetzesmeinung so be-
dingungslos zu unterwerfen. Aber einen Volksaufstand
wollten wir nicht, kein Aufruhr vor dem Paschafest. Nie-
mand von uns dachte an Aufruhr, am wenigsten Jeschua.
Kein Gegenzug, sondern ein Einzug.
Als hätten sie schon gewartet, traten hinter dem Tor
Knechte der Tempelwache hervor, uns entgegen. Zuerst
waren es nur einige. Sie bedeuteten den vordersten des
Zuges, sie sollten auseinander gehen und sich davonma-
chen. Wir schauten uns an, wurden unruhig, unsicher,

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auch ungehalten. Jetzt, wo der Höhepunkt bevorstand,


weichen, als wäre nichts geschehen und der ganze Einzug
ohne Bedeutung? Wir gaben nicht nach. Niemand wich
zurück. Wir drängten weiter. Der Zug wurde langsamer,
aber er bewegte sich. Durch die Halle Salomos zogen wir
zum Vorhof der Heiden. Neugierige drängten herbei,
Männer und auch Frauen. Einige fragten: »Wer seid ihr?
Was wollt ihr? Was habt ihr vor?« Die Menge weiter hin-
ten im Zug rief: »Gesegnet sei, der da kommt im Namen
des Herrn.« Das erregte die Herbeigelaufenen. Einige
stimmten ein. Leute vom Vorplatz liefen herzu. Wir bahn-
ten uns den Weg durch die Menge und drangen durch die
Schöne Pforte in den Vorhof der Frauen. Dort ging es
nicht mehr weiter. Eine größere Gruppe von Wächtern
trat uns entgegen. »Halt! Nicht weiter!«, riefen sie. Sie
trugen Spieße, einige Schwerter. Sie drohten uns. Sie be-
schimpften uns als galiläisches Gesindel. Waren wir eine
öffentliche Gefahr? Wir hielten mit Worten dagegen. Die
Beschimpfungen wurden hässlicher, das Schreien lauter.
Bevor ein Handgemenge ausbrach, hielt Jeschua an. Er
stieg vom Esel, blickte um sich und sagte: »Keine Gewalt.
Wir weichen der Gewalt. Geht auseinander. Ich danke
euch, Leute, für eure Begleitung, eueren Jubel. Unser
Einzug war ein großes Fest. Geht jetzt nach Hause.« Dann
fügte er hinzu: »Betet für uns, für eure Kinder, für das
Reich des Himmels.«
Es war schwer, nicht die Fassung zu verlieren. Wir
Jünger umstellten schützend den Meister. Der Bruch der
Gefühle, der Umbruch des Geschehens war schrecklich.
Hochgefühl sprang um in Niedergeschlagenheit. Simon
war bestürzt, Judas empört. Wir alle waren enttäuscht. Ich

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schluchzte die Enttäuschung in mich hinein. Wir waren


wehrlos. Noch vor einer Stunde waren wir groß erschie-
nen. An diesem Morgen hatte der Meister sich groß ge-
zeigt. Jetzt waren wir wieder die kleine Gruppe. Abge-
lehnt, vom Tempelberg vertrieben. Hat ein Galiläer in
Jerusalem keine Chance?
Jeschua nahm uns zur Seite. Er verabschiedete sich
von den Frauen. Andreas und Philippus brachten dem Be-
sitzer das Füllen zurück. Wir anderen stiegen mit Jeschua
durch das dreifache Tor hinunter ins Tyropoiontal.
Schweigsam gingen wir neben- und hintereinander, in-
nerlich erregt, ratlos, verstört. Unser Einzug war gewalt-
sam gehindert worden. Er wurde abgebrochen. Jeschua
sprach wenig. Ich glaube, auch er musste das Geschehene
erst aufnehmen und die Eindrücke durch sich hindurch-
lassen. Mit ihnen fertig werden, war, glaube ich, nicht
möglich. Am Morgen hatten wir vorausgedacht. Jetzt
mussten wir nachdenken. Einen Morgen lang durfte Je-
schua als Sieger erscheinen. Als König der kleinen Leute,
König des messianisch gestimmten Volkes. War alles vor-
bei? Gab es noch Hoffnung? Kein Sieger, das stand fest.
Der Sohn seines Vaters? Wen interessiert das hier? Was
blieb von den Huldigungen? Jeschua kein bisschen er-
höht. »Ihr habt gesehen«, sagte er unten. »Ihr habt ge-
hört«, sagte er. »Viele aus dem Volk sind für mich, die
Wächter des Tempels sind gegen mich. Die Herren oben
werden ihre Herrschaft noch anders zeigen wollen.« Was
konnte er mit »anders zeigen« meinen? Nach einer Pause
sagte er: »Ich werde mich in den nächsten Tagen in der
Halle Salomos dem Gespräch stellen.« Wir senkten die
Köpfe und schauten uns fragend an. Was können wir

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tun?, fragten sich einige. Nur herumstehen, warten und


zuhören? Aber keiner wagte, das laut zu sagen.
Der Einzug war ein Ereignis gewesen. Droben auf dem
Tempelberg hatten Wächter die Auflösung erzwungen.
Der Tag hatte verheißend begonnen, erbärmlich endete
er. Wir Jünger fühlten uns jämmerlich. Wir mussten uns
mit Jeschua der Gegenmacht beugen. Wie soll es mit dem
Meister weitergehen? Hat er noch eine Chance in der
Stadt? Warum lädt ihn kein Ratsherr, kein Hoher Priester
zu sich ein? Hat sich Jeschua nicht als gesetzeskundig er-
wiesen? Ist ihnen der Mann aus dem Volk nicht gut ge-
nug? Werden die Wortführer unter den Schriftgelehrten
ihm das Wort lassen? Oder wird der Hohe Rat seine Rede
einschränken, ihm die Stadt gar verbieten? Das fragte ich
mich. Jeder von uns hatte seine Fragen. Nur Judas wagte
es, sie auszusprechen, ungehalten, zornig. Er äußerte
Zweifel an unserem Verhalten. Was wäre gewesen, wenn
sie Jeschua und seine Anhänger nicht vom Tempelberg
vertrieben hätten? Was hätte werden können, wenn ihn
Mitglieder des Hohen Rats zu einem Gespräch eingeladen
hätten? Ihn gefragt hätten nach seiner Sendung, seinem
Auftrag, seiner Jahwevorstellung, seinem Reich, seinem
Geist? Vorbei war unsere Demonstration. Vorbei der Ju-
bel der kleinen Leute. Vorbei unser Hosannafest. Vorbei
das Palmenfest. Wird die Zustimmung so vieler jemals
wiederkehren, in Jerusalem, am Jordan oder am See? Was
bahnte sich an? Wir wussten es nicht.

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J eschua sprach

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Woher hat er das?, fragten meine Brüder. Will er mehr
sein als wir? Was hat er im Sinn? Will er nach Jerusalem
hinauf oder wie Johannes in die Wüste? Von Josef kann er
es nicht haben. Der Zimmermann denkt wie wir. Der
bleibt auf dem Boden. Der denkt nicht daran, Nazareth zu
verlassen. Aber Jeschua denkt nicht wie wir. In dem wirkt
ein anderer Geist. Der trägt Absichten in sich, die uns
fremd sind.
Woher hat er das?, fragten die Männer in Nazareth.
Ist er unzufrieden mit dem Leben im Dorf? Er könnte es
doch bis zum Synagogenvorsteher bringen. Wäre ihm
das nicht genug? Hat er Höheres im Sinn? Soll er’s in Je-
rusalem probieren, wo ihn keiner kennt und seine Fami-
lie unbekannt ist. Ihre Fragen kann ich verstehen. Vieles
empfand ich wie sie, das Zusammenleben im Dorf, die
Arbeit auf den Feldern, die Sorge für die Tiere, den Gang
zum Brunnen, den Gang auf die Weiden. Dennoch konn-
te ich nicht einfach ihr Gefährte oder Altersgenosse wer-
den. Mein Leben empfand ich anders. Unser aller Leben
sah ich noch in einer anderen Beziehung. Je mehr sich
mein Bewusstsein entwickelte, desto deutlicher erkannte

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ich meine Sendung und die Aufgabe, Sprecher meines


Vaters zu sein.
Woher hat er das?, fragen auch die Schriftgelehrten.
Wir kennen ihn nicht, haben nie von ihm gehört. Bei kei-
nem von uns ging er in die Schule. Außer zu den Festta-
gen hielt er sich in der Stadt nicht auf. Will er am Ende ein
Prophet sein? Die Zeit der Schriftpropheten ist lang vor-
bei, auch die der Wortpropheten. Wanderprediger ziehen
genug durchs Land. Wenn die in die Stadt kommen, hal-
ten wir sie in Jerusalem unter Kontrolle. Wer öffentlich
redet, muss zuerst das Gesetz kennen und hinterdrein ei-
nige Fragen bestehen. Kennt dieser Galiläer aus Nazareth
das Gesetz? Hält er sich daran?
Ausweisen soll ich mich, rechtfertigen, bei den Herren
vorstellen, wenn ich öffentlich auftreten will. Ich brauche
Zeit. Ich muss die Umstände erkunden, die Stimmung er-
fassen, mich auf Gegner gefasst machen. In Nazareth kann
ich fürs Erste nicht auftreten. In Jerusalem werden mich
die Schriftgelehrten ablehnen. Aber in Galiläa gibt es Leu-
te, die mich drängen. Schon sehen einige in mir einen
Mann Gottes. Von mir erwarten die Armen Wunder. Ich
soll ihr Leben verbessern, ihre Bedürfnisse befriedigen,
ihre Erwartungen erfüllen. Alles in dem von ihnen
vorgestellten Rahmen.
Einige sehen mich auffordernd an. Sie schauen mir in
die Augen. Andere fragen ausgesprochen und unausge-
sprochen, was ich so direkt nicht sagen kann, vor der Zeit
nicht sagen will. Ich will nicht erzählen, wie ich in Josefs
Familie lebte. Ich will nicht von meiner Mutter sprechen.
Ich will nicht von meiner Person sprechen, auch nicht
von meiner Beziehung zum Vater, nicht von der zu Josef

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und nicht von der anderen zu meinem Vater im Himmel.


Mein Vater im Himmel, das wird bedacht werden müssen.
Jahwe ist der Gott des Gesetzes und des Tempels,
niemandes persönlicher Vater.
Wie ich zu meinem Wissen, Fühlen, Verstehen kam?
Als ob ich nicht achtsam gehört hätte. Als ob ich nicht auf-
merksam geschaut hätte. Als ob ich nicht wahrgenommen
und bedacht hätte, was in mir und um mich herum vor-
ging. Ich musste beobachten wie sie. Ich musste denken
wie jeder Mensch, mich und die Welt verstehen lernen.
Undeutlich zuerst, dann deutlicher, eines Tages nicht
mehr bloß gedeutet, sondern zutiefst erfahren. Meine
Mutter erzählte mir von ihrem Engel und von meiner Ge-
burt, auch von den Wegen, die sie mit mir ging. Früh habe
ich auf die Wege geachtet, auf die Wege der Menschen
und auf die Wege Jahwes, die Er mit seinem Volk ging.
Wenn wir zu den Festen nach Jerusalem zogen, achtete
ich auf die Wege.
Die Schriften, die in der Synagoge gelesen wurden,
habe ich gelernt. Den Sätzen, die am Schabbat in mein Ohr
drangen, habe ich nachgedacht. In meiner Brust bewahrte
ich sie. Gehütet habe ich sie, mehr als ein Hirt seine Her-
de. Ich achtete auf das Leben in mir und das Leben außer
mir. Ich musste den Raum und die Zeit kennen lernen, die
Berge, Ebenen, Täler, die Jahreszeiten und die Festzeiten,
die Werktage und den Schabbat. Ich musste meine Sinne
erfahren und Verstehen lernen. Geschaut hab ich, gehört,
mich gewundert; gelitten, wenn ich die Mühen und
Krankheiten der Menschen sah. Konnte jemand sie besei-
tigen? Mussten alle sie ertragen? Wie würde ich, der Ge-
sunde, mich zu den Kranken verhalten? Auch ich musste

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die Welt wahrnehmen, an Abrahams und Moses Gott


glauben, Tag für Tag Mensch werden. Ich kam nicht fertig
auf die Welt. Langsam wuchs mein Bewusstsein nach in-
nen, nach außen, über mich hinaus. Ich habe das Geringe,
das Große und Übergroßes erfahren. Ja, ich lebe aus
einem Geheimnis.
Wie verhalte ich mich zu meiner irdischen Abkunft,
zu meiner Herkunft? Der Stammbaum ist nicht meine
Sorge. Ein Nachkomme Davids, ja. Aber das sagt nicht al-
les. Im Grunde sind wir in Nazareth ziemlich weit weg
von davidischen Ansprüchen und Geschichten. Über
mein anderes Du kann ich öffentlich nicht sprechen. Vor-
erst nicht. Ihm, der sich mir als Vater mitgeteilt hat, bin
ich aus dem Leib und der Seele geöffnet. Ich bin zu Ihm.
Er ist zu mir. Mit Ihm spreche ich am Tag, in der Nacht.
Jedes Stück Brot esse ich auch mit Blick auf Ihn.
Mit dem Verhältnis zur Welt entwickelte sich mein Be-
wusstsein. Es breitete sich in mir aus. Es durchdrang
mich, erfüllte Kopf und Bauch. Später, wenn die Zeit
kommt, werde ich einmal sagen dürfen, ich und der Vater
sind eins. Ja, ich bin ein Ich zum Vater. Der Vater ist mir
Du wie ich ihm Du bin.
Wer bist du?, werden auch die Jünger fragen. Sie wer-
den neugierig sein. Sie wollen mich verstehen. Nicht in al-
lem erscheine ich ihnen erklärbar. Meine Person stärkt
und beunruhigt sie. Sie fragen: »Meister, wo wohnst du?«
Vorerst bei Gastfreunden. Später muss ich ihnen sagen,
dass ich nicht wohne wie sie. Je anhaltender sie fragen,
desto mehr müssen sie sich mit mir auseinander setzen.
Der Verstehensweg und der Glaubensweg bleibt keinem
erspart. Erst auf dem Weg, kommt das Innerste in Bewe-

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gung. Wie anders soll ein Mensch geöffnet werden? Zu


sich selbst, zu seinem Gott, zum Heiligen? Die mich täg-
lich hören und sehen, werden mit der Zeit meine Rede
verstehen und meinem Bewusstsein näher kommen. Das
Bewusstsein formt die Menschen. Es formt ihren Glauben,
die Sympathie, ihre Hoffnung und Liebe.
Ich denke nach über mich und meine Aufgabe. Den-
kend bin ich meinem Vater, denkend dem Kommenden
gegenwärtig. Johannes, höre ich, taufe am Jordan. Er
komme aus der Wüste und spreche mit einer Eindring-
lichkeit, die diese Generation noch nie gehört habe. Jün-
ger versammeln sich um ihn. Meine Mutter hat mir von
Johannes und seiner Mutter Elisabeth erzählt. Sie war eine
wichtige Station in Mirjams Leben. Auch Johannes ist aus
dem Geheimnis geboren. Als Prophet weiß er, dass die
Zeit gekommen ist und erfüllt werden soll. Johannes gibt
mir das Zeichen. Ich muss hinunter zum Jordan.

2
Jeschua am Jordan
In die Brust gesenkt dein Pneuma.
Ich spüre, Vater, deinen Bund.
Eingesiegelt die Berufung
auf Jeschuas Lebensgrund.

Taufen ist Begrüßen,


in den Fluss getauchter Geist.
Ich bin der Eingetauchte,
dein eingeborener Sohn – ich weiß.

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Jetzt ist ein Überfließen


ins Offene, den Raum, die Zeit.
Die Ohren, alle Sinne klingen,
von Ineinanderheit.

Du bist die geliebte Stimme,


meines einigen Vaters Wort.
Durchatmest Seele mir, die Sinne,
einig hier und einig fort.

Unter deines Geistes Strahlung


tret ich in die verheißene Zeit.
Durchpulst von deiner Offenbarung
erscheint des Bundes Offenheit.

Dieses heilige Durchdringen,


Leuchten aus der Vibration.
Meine Seele, Vater, lauscht der Stimme:
Ich bin dein ausgeborener Sohn.

Und empfange die Begrüßung,


dein Jetzt zum andern Mal,
getränkt von deines Geists Ergießung,
ich atme, trinke seine Wahl.

Und will sie weitersprechen,


Vater, deine Union.
Da lauert Widerstand.
Wo find ich Worte, Bilder
für unsere Kommunion?

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Wie trag ich sie zum Fluss,


den Dörfern ob dem See?
Und wie zur Tempelstadt dein Heiliges,
dass meine Rede
die Priesterschaft versteh?

Jetzt gebiert die Zeit


den Namen Vater.
Jetzt erfüllt den Raum
herwehender Geist.

Ins geringe Land gekommen,


deinem Volk verkündet.
Er will ins Wort, der Friede,
den du dem Land verheißt.

3
Jeschua am Ölberg
Um deinetwillen Vater
bin ich hinaufgezogen in Davids Stadt.
Dass dein Wort erscheine.
Dass dein Reich erscheine.
Dass deine Schöpfung scheine,
dein Bund leuchte.

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Um deinetwillen
habe ich Männer erwählt,
Arme selig gepriesen,
Mächtigen Wehe gerufen,
Fromme gestört.
Ich habe nach ihren Vorstellungen gefragt.
Ich habe nach ihrem Anspruch gefragt.
Ich habe an ihrer Sicherheit gekratzt.
Ich habe ihre Gerechtigkeit bezweifelt.
Gestritten hab ich mit ihnen, Vater.
Mein Zorn traf sie.
Jetzt aber ist mein Mut an eine Grenze gestoßen.
Ich spüre ihre Drohung.
Ich kann nicht fliehen vor der Nacht.

Ich habe mit den Meinen gegessen, Vater.


Ich habe zu ihnen gesprochen, Vater.
Ich habe mit ihnen mein Bewusstsein geteilt.
Mein Wissen habe ich geteilt, meine Sinne,
den gekelterten Wein, das gebackene Brot,
den Tisch, an dem wir saßen.
Du weißt, ich habe unter ihnen gewohnt,
mit ihnen gesprochen, gegessen, gedürstet.
Ich habe ihnen meine Seele gezeigt.
Ich musste ihnen sagen,
dass unsere Gegner triumphieren werden.

Sie sahen mich erschüttert.


Sie hörten meine Worte leiser werden.
Sie fürchten die Trennung.
Sie erleiden mein Verstummen.

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Wo sind deine Engel, Vater?


Wo sind deine Heere, Vater?
Man sagt, dass sie bei meiner Geburt gesungen haben.
Man weiß, dass sie deine Boten sind.
Die Menschen glauben, dass sie deine
Propheten schützen.

Sendest du mir Boten, Vater?


Wirst du mich schützen, Vater?
Wirst du öffentlich bekennen, dass ich dein Sohn bin?
Wirst du mich retten, Vater?

Ich leide Mangel, Vater.


Mangel an Freunden,
Mangel an Schützern,
Mangel an Nähe,
Mangel an Sinn.

Sie haben sich versammelt, Vater.


Sie ziehen gegen mich aus.
Sie umstellen mich, Vater.
Sie trachten mir nach dem Leben.
Ich kann nicht nach Galiläa zurück.
Ich sehe keinen Weg voraus.
Tempelschutz nicht,
noch den Weg in die Wüste.

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Ich höre Stimmen, Vater.


Ich sehe Lichter, Vater.
Sie steigen über den Bach.
Sie dringen in den Garten.
Ich werde ihr Lästerer sein.
Ich werde ihr Übeltäter sein.
Ich werde ihr Gottloser sein.

Ich scheide Schweiß aus, Vater.


Ich scheide Angst aus, Vater.
Blut, siehst du, Blut.
Aus mir rinnt Blut.
Jeder Knecht kann mich finden.
Jeder Hund kann mich riechen.

Ich bin allein, hörst du?


Mutterseelenallein.
Vaterseelenallein.
Du hast mich ausgesetzt, Vater.
Du hast mich abgesetzt, Vater.
Ich bin nicht mehr dein Sprecher.
Bin ich nicht mehr dein Sohn?

Wortloser Vater.
Satzloser Vater.
Warum schweigst du, Vater?
Bist du nicht mehr auf Erden?
Sie trennen mich von meiner Botschaft.
Sie trennen mich von den Lebenden.
Du wirst mich nicht trinken lassen
den Becher des Todes.

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P ilatus sprach

Was soll Pilatus tun?


Was soll Pilatus machen?
Was soll er richten
für die aufgebrachten Hebräer,
das ferne Rom?
Er hat Boten empfangen.
Er hat die Priester empfangen.
Er hört Rufe aus der Stadt.
Wenn sie ihn haben wollen,
wenn sie sich seiner entledigen wollen,
wenn sie ihn mundtot machen wollen,
wenn sie an ihm ein Exempel statuieren wollen,
weil er sie stört,
weil er ihre Tempelordnung verletzt,
weil er seinen Gott behauptet,
weil er die kleinen Leute aufrichtet,
weil er Gelehrte irritiert,
weil er von einem unjüdischen Reich redet,
der galiläische Jude.
Einsager sind am Werk.
Die Menge erregt sich.
Priester in den vorderen Reihen.
Diese Gewalt im Namen des Heiligen,
das wir Römer längst entlarvten.

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Wenn die Soldaten ihr Spiel mit ihm treiben,


wenn ich ihn peitschen lasse,
wenn ich mich stärke mit einem Mahl,
bevor ich den letzten Satz sprechen muss.
Herodes ist keine Hilfe.
Der Fürst hat nichts zu entscheiden.
Der frisst und säuft.
Der versorgt sich mit Lust,
wenn der Vorhof brennt.
Vielleicht ist er neugierig auf ein Gespräch.
Vielleicht reizt ihn die Erscheinung.
Vielleicht interessiert ihn der Narr.
Vielleicht wartet er auf ein Wunder.
Ach Herodes, wärst du ein Mann.

Der Galiläer ist kein Aufrührer,


auch nicht gegen Rom.
Er hat nicht im Verborgenen gesprochen.
Seine Männer sind keine Gefahr.
Sie brechen nicht das Gesetz.
Er sucht keine politische Macht.
Meine Kundschafter beteuern,
dieser Mann hält es mit den Armen.
Er ist nie außer Landes gewesen.
Er hat keine hohe Schule besucht.
Weiß Jupiter, aus welchem Antrieb
er ein Reich des Himmels verkündet.
Da ist ihre Gottesgeschichte.
Und da ist unsere Kaisergeschichte.
Über beiden aber sind Ruhe und Ordnung.
Ich muss die Ruhe des Paschafestes garantieren,
den Frieden dieser Stadt, den Frieden eures Landes.

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Nicht Wahrheit – die Sicherheit kümmert mich.


Von Wahrheit kann heutzutage jeder reden,
in Rom, Alexandria, Athen,
auf diesem abgelegenen Berg.
Ich muss meine Reputation bewahren.
Ich habe stets aus Vernunft argumentiert.
Ich bin kein Freund der Juden.
Ich bin kein Feind der Juden.
Ich verwalte eine Provinz des Kaisers.
Sie wollen den kleinen Leutekönig
unschädlich machen.
Sie wollen nicht länger mit seinen Sätzen streiten.
Sie führen mir Argumente ins Feld.
Verurteilt wollen sie ihn sehen,.
hinaus aus der Stadt im Steinbruch gekreuzigt.
Ihre Schreie umbranden meine Ohren.
Dieser Chor durchbohrt mich.
Sie brüllen meinen Stuhl nieder.
Sie besetzen meinen Verstand.
Nie bin ich so allein gesessen.
Sie werfen Steine gegen meine Macht.
Vielleicht kann Barabbas helfen.
Der Mann ist eindeutig.
Der hat geplündert,
aus dem Hinterhalt gemordet.
Der Mann ist ein Sicherheitsrisiko.
Das weiß auch der Hohe Rat.
Lasst den Räuber bringen.
Seht hier Barabbas.
Gewalt steht in seinen Augen.
Hass siedet in seinem Herzen.

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Der Mann ist ein Mörder.


Wenn ich ihn freilasse,
kann er schon morgen Menschen überfallen.
Ich denke an eure Pascha-Gnade.
Ein alter Brauch der Hebräer.

Seht hier den Kleine-Leute-König,


in sich gekehrt, sterbetraurig,
fast lächerlich in diesem zerrissenen Mantel.
Ich bin sicher, der Mann tut niemandem etwas zuleide.
Ich habe ihn für Widerrede und Schweigen bestraft.
Nehmt ihn wieder in eure Mitte auf.
Ruft ihn frei.

Nein, das habe ich nie gehört.


Nein, das dürft ihr nicht schreien.
Ihr missbraucht eure Stimme.
Ihr verweigert Vernunft.
Die Stadt verliert ihr Gesicht,
das Volk seine Gerechtigkeit.
Versteht ihr, Bürger?
Nein, es ist aus.
Das Gesetz kann nicht helfen.
Vernunft kann nicht helfen.
Die Gnade will nicht helfen.
Dein Gott hilft nicht, Claudia.
Ich bin allein.
Ich sitze allein auf meinem Stuhl.

Ich vermag nichts gegen die Einsager.


Ich komme nicht an gegen die Einpeitscher,
gegen die Barabbas-Rufer,
die Kreuz-Brüller.

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Donnerstag, 9. Februar 2006 09:07:15
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Ihr Schreien wogt über mich hin.


Ihre Entscheidung unterwirft mich.
Barabbas soll leben, dem Galiläer Tod.
Droben, wo die Geier kreisen.
Droben, wo die Leiber hängen.
Droben, wo der Schädel fällt.

Ich kann dir nicht helfen Galiläer.


Du berührst mich.
Dein Schweigen berührt mein Denken.
Dein Geist berührt meine Vernunft.
Deine Landsleute lassen mir keine Wahl.
Sie dulden dich nicht in ihrer Mitte.
Kein Gouverneur kann von Gefühlen leben.

Hier spricht Pilatus.


Ich bin nicht allmächtig.
Es gibt keinen allmächtigen Raum.
Es gibt keine allmächtige Zeit.
Ich bin nicht der Herr der Geschichte.
Ich führe das Gesetz aus.
Geh, Mann.
Du bist nicht der Erste,
von dem sich eine Stadt trennt.
Versöhne dich mit deinen Vätern.
Mach Frieden mit deinem Gott.
Nimm das Holz auf den Rücken.
Steig hinauf zur Schädelstätte.

Ich bin nicht schuldig.


Nicht ich.
Ich werde jetzt meine Hände waschen.

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Donnerstag, 9. Februar 2006 09:07:15
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J udas sprach

Am Abend hatte ich seinen Gegnern den Hinweis gegeben.


Im Landgut Gethsemane werde er mit den seinen die Nacht
verbringen. Als die Bewaffneten hinaufzogen, habe ich Je-
schua den Knechten gezeigt. Die stürzten sich auf ihn, nah-
men ihn fest und banden ihm die Hände. Nur Petrus ver-
suchte, Widerstand zu leisten. Er zog sein Schwert, musste
aber ablassen. Jeschua ergab sich widerstandslos. Er wurde
in die Stadt geführt. Seine Jünger flohen.
Nicht alles, was über mich gesagt wird, ist wahr. Wahr
ist, ich hatte mich gegen Jeschua entschieden. Ich wollte
einen anderen Galiläer, einen anderen Verkünder, eine
andere Hoffnung. Ich wollte, dass unsere Geschichte in
eine andere Richtung läuft. Dass Jeschua in Jerusalem mit
einem klaren Anspruch auftritt, wollte ich. Dass er ihren
Argumenten ins Messer lief, wollte ich nicht. Es gab
Gründe, mehr zu verlangen als Seligpreisungen und Kran-
kenheilungen. Es gab Gründe, seine Rede zu beenden,
den Streit auszulösen. Ich konnte mein Denken nicht für
immer geheim halten. Der Abschied war schmerzlich. Ich
musste vom Mahl aufstehen und mich von seiner Schar
scheiden.
Man sagt, dass ich nur an Geld dachte und voller Neid
steckte. Das sind Unterstellungen. Wahr ist, dass ich die
Salbungen nicht mochte. Sie schienen mir übertrieben.

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Ich hielt sie für verschwenderisch, außerdem für überflüs-


sig. Zugegeben, die Fischersöhne erschienen mir nicht
alle sympathisch. Einige hielt ich für Schwächlinge. Ande-
re schienen mir etwas wenig zu denken. Petrus war mir
wirklich nicht nahe. Eine gewisse Rivalität bestand. Aber
ich neidete ihm seinen Platz nicht. Als wir einmal allen
Ernstes daran gingen, die Plätze zu verteilen, bestand ich
nicht darauf, der Erste zu sein. Mit den Frauen, die uns
auf dem Weg nach Jerusalem begleiteten, bin ich leidlich
ausgekommen. Ich habe sie nicht sehr beachtet. Aber ich
habe sie geduldet. Herabgeschaut auf sie habe ich nicht.
Das Verhältnis zu Jeschua entwickelte sich zuneh-
mend schwierig. Da lief etwas auseinander. Seine Rede
konnte mich immer weniger befriedigen. Ich dachte an-
ders, nicht so sehr an ein Reich Gottes, mehr an die Wie-
derherstellung des Reiches Israel. Mir schien, sein Reich
blühte im Jenseits. Ich wollte das Reich hier, andere Ver-
hältnisse in Stadt und Land. Dieses Herumziehen hielt ich
nicht mehr aus. In mir brach sich die Überzeugung Bahn,
es müsse etwas geschehen. Ich wollte etwas verändern im
Land. Aber mit wem? Dass es mit Jeschua nicht ging, zeig-
te sich. Der redete von seinem Vater im Himmel und ließ
sich in Gewissenskasuistik ein. Damit kommt man nicht
weiter in dieser Zeit. Gehasst jedoch habe ich ihn nicht.
Gehasst habe ich die Römer. Gehasst habe ich unsere
Unfreiheit. Gehasst habe ich dieses Gespaltensein.
Ich habe nicht gewollt, dass sie den Gefangenen an-
spucken würden. Ich habe seine Auspeitschung nicht ge-
wollt, nicht die Verhöhnung. Ich habe nicht gewollt, dass
Soldaten mit dem Wehrlosen ihr Spiel treiben. Nichts von
alldem. Sein Todesurteil habe ich nicht gewollt. Ich habe

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nicht geschrien »kreuzige ihn«. Das war der Schrei des


aufgeputschten Volkes. Nie hätte ich dafür gestimmt, ihm
Barabbas vorzuziehen. Ich habe nicht gewollt, dass der
Mob obsiegt, nicht, dass man einen Mörder freilässt.
Nicht der Gouverneur Roms sollte das Urteil sprechen.
Ich habe nicht gewollt, dass sie ihn töten. Nicht dieses
Ende. Ich glaube nicht, dass Pilatus unschuldig ist.

Jeschua hat meine Überlegungen nicht ernst genommen.


Er war an meinen Vorstellungen nicht interessiert. Er
wollte meine Argumente nicht hören. Er hat Jasager um
sich versammelt, Duckmäuser, Fischersöhne, die nicht
über den galiläischen See hinausdenken können, Männer
ohne Fantasie, Frauen, die ihm schmeichelten, Zuhörer,
die nicht widersprachen, einen Zöllner mit schlechtem
Gewissen. Es hätte in Israel andere Männer gegeben, mu-
tigere Söhne, aktivere Kämpfer. Er hätte klügere Töchter
finden können, nicht eine wie diese Magdalenerin. Der
Mann aus Nazareth hätte anders beginnen sollen, seine
Botschaft klarer vertreten. Er hätte sich in der Stadt beizei-
ten um Einflussreiche kümmern sollen. Nicht unbedingt
Gefolgsleute, aber Männer, die auf die öffentliche Mei-
nung Einfluss ausübten. Er hätte auf die Meinungsträger
achten sollen. Kommt da aus der Provinz und glaubt, die
Stadt würde auf ihn warten. Eine Stadt wartet nie auf ei-
nen Mann vom Land. Eine Stadt hat ihren eigenen Stolz.
Sie achtet darauf, wer in ihr das Sagen hat.
Ich habe ihn zuerst am See gehört. Er erregte mein In-
teresse. Rede um Rede hat mich angesprochen. Seine na-
türliche Art nahm mich für ihn ein. Die Armen waren ihm
nicht gleichgültig. Er heilte ihre Krankheiten. Er sah die

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soziale Not. Lange dachte ich, er wolle die Zustände ver-


ändern. Dann sagte er, Arme werdet ihr allezeit unter euch
haben. Allezeit. Allezeit womöglich auch die Römer,
wenn man dem Kaiser das Seine geben soll. Jeschua wollte
oder konnte nicht sehen, was ich sah. In diesem Land
musste man eingreifen, im Untergrund Leute organisie-
ren, Absprachen treffen mit Synagogenvorstehern, Dorfäl-
testen, eine Bewegung aufbauen, die zu gegebener Zeit
losschlagen kann. Jeschua hat nie mit Männern gespro-
chen, die dachten wie ich. Seine Rede erschien mir immer
weniger brauchbar. Sie wurde immer geistiger, statt kon-
kret, sozial und materiell. Er wollte nicht sehen, was ich
begriff. Er hat nicht offen gesagt, was unter den Umstän-
den und Zuständen hier zu sagen war. Eines Tages musste
ich mir eingestehen: Jeschua, du bist nicht der geworden,
den ich erhofft hatte. Du bist nicht der, den ich dachte. Ich
habe mich in dir versehen. Ich habe mich in dir verhört.
Jetzt war ich unter den Jüngern allein. Allein in meiner
Gegenposition. Wie soll ich mich erklären? Wem kann ich
meine Gründe darlegen? Ich habe nicht blindlings gehan-
delt. Mir schwand die Zeit. Mir schwand die Zukunft, die
Verheißung, der Glaube. Seine Geschichte führte nicht
weiter. Er hat sich um die politische Lage nicht gekümmert.
Priester hat er provoziert, Schriftgelehrte übergangen, Söh-
ne Abrahams gering geachtet. Nie hat er im Tempel ein Op-
fer dargebracht. So viel Geld hätten wir im Beutel gehabt.
Aber er hat nie gesagt: Schau, was das Schaf dort kostet. Er
hat die Macht des Geltenden und die Macht der Herrschen-
den unterschätzt. Viel zu wenig nahm er die wirklichen
Verhältnisse in Jerusalem und auf dem Tempelberg zur
Kenntnis.

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Viele meinen, mich zu kennen. Sie schreiben mir nie-


dere Motive zu. Sie werfen mir den Bruch der Freund-
schaft vor. Sie verweisen auf mein verzerrtes Gesicht. Da-
raus schließen sie auf meine verzerrte Seele. So werden
mich ihre Maler malen. Jedes Kind wird mit ausgestreck-
tem Finger auf mich zeigen. Männer und Frauen werden
meine Schuld taxieren, um der ihren auszuweichen. Na-
türlich schaute ich in den Tagen, die auf die Auseinan-
dersetzung zugingen, angestrengt drein. Mein Verhältnis
zu Jeschua war mir nicht gleichgültig. Auch meine Kolle-
gen waren mir nicht gleichgültig. Aber musste ich dem
Eklat ausweichen? Konnte ich die Scheidung vermeiden?
Sollte ich weiterhin so tun, als wäre ich einverstanden, wo
ich es doch nicht war?
Jetzt bin ich Judas, euer Sündenbock, Ausruf und In-
bild der Entrüstung. Und eurer Unschuld. Negatives
Codewort der Frommen. Der Mann, dem seine Sünde
nicht vergeben wird. Woher wisst ihr das? Wollt ihr mich
so einfach einfügen in den Baukasten eurer Gerechtigkeit?
Ich bin nicht bereit, mich einsperren zu lassen in die Ver-
liese eurer Ewigkeit. Ewigkeit, gibt es sie? Ewig bei wem?
Ewig für wen? Ewig wozu, wenn alles kaputt ist? Ihr habt
mir das Gesicht genommen. Ihr habt mir die Gestalt ge-
nommen. Ihr habt mein Gewissen beschlagnahmt. Ihr
habt euer Bild der Verachtung von mir gemacht. Wer von
euch sucht nach Gründen für mein Tun? Ich muss
Schandmal sein. Jeschua euer Erhöhter, Judas euer Ver-
dammter. Euer Mann für die Hölle. Ich störe euer Anden-
ken. Ich störe die Geschichte. Ich störe eure Erinnerung.
Ihr benötigt ein Schwarzbild, damit ihr weiß erscheint.
Stellt euch vor, ihr hättet Jeschua leiblich erfahren: Wie

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wäre es euch ergangen in seiner Nähe? Wie hättet ihr euch


verhalten? Ich weiß, ihr braucht einen gehenkten Judas.
Wisst ihr, dass Jeschuas Gestalt in mir brennt? Seine
Worte gären in mir. Seine Augen schauen mich an. Wa-
rum hat er nicht zur rechten Zeit mit mir geredet? Warum
hat er mich nicht zur Seite genommen? Er hätte sich mir
erklären können. Den Berg hat er für seine Lieblingsjün-
ger vorbehalten. Ich wäre mit ihm in die Wüste gegangen.
Wusste er nicht, welche Gedanken sich in mir regten? Er
muss bemerkt haben, dass mir sein Reich Schwierigkeiten
machte. Warum sah er es nicht, mein Fragegesicht? Er
hätte spüren müssen, dass auch ich ernsthaft an die Ar-
men dachte. Nahm er ausreichend wahr, dass ich mehr
und etwas anderes wollte als er?
War meine Vernunft nur unvernünftig? War die seine
stets vernünftig? Woher ist das Nichtverstehen gekom-
men? Er verweist auf sein zukünftiges Reich, ich will Ge-
genwart. Die Gegenwart braucht mehr als geistige Gewalt.
Ich meine die richtige Gewalt am rechten Ort zur rechten
Zeit. Muss man sich mit Eroberern abfinden? Müssen Un-
terdrückte sich fügen? Müssen Arme arm bleiben? Wel-
cher Schwertengel hat uns einst aus dem Paradies vertrie-
ben? Ist Jahwe unser Schöpfer? Hat er die Menschen ge-
fangen gesetzt oder will er sie befreien? Warum soll der
Messias nur ein ferner Traum sein? Warum muss ein
Mensch werden, was er nicht will? Warum musste ich Ju-
das werden? Weiß ich, wer mich auf die Erde warf? Weiß
ich, was mich antrieb? Wer mich zum Denken, was mich
zum Handeln trieb?
Ich begann, mich von einigen seiner Ansichten zu dis-
tanzieren. Zweifel befielen mich. Ich konnte nicht mehr

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jedes Urteil annehmen. Auch seine Herkunft bereitete mir


Schwierigkeiten. Warum ist er nicht in eine richtige Schu-
le gegangen? Einzelne Stellen der Schrift kennt er. Aber
das Ganze? Was hat sein Vatergott mit dem rabiaten Jah-
we zu tun, der den Bann an Mensch und Vieh befahl? Wa-
rum genügt ihm Moses nicht? In mir nagten Fragen, sein
Anspruch. Er sagt, er sei der Sohn eines Vaters im Him-
mel. Ich kann nicht glauben, dass er der Messias ist. Wer
hat ihn denn vorbereitet? Aufgewachsen in einem entlege-
nen Bergdorf. Wie weit lernte der Sohn Mirjams und Jo-
sefs in seinem kleinen Kreis das Leben überhaupt ken-
nen? Wer öffentlich auftreten will, muss die Stadt kennen.
Ohne Kontakt zu den Hohen Priestern kann man einem
solchen Anspruch nicht gerecht werden.
Ich wünschte, sie hätten ihn nicht verurteilt. Ich
wünschte, die Menge hätte nicht geschrien. Ich wünschte,
sie hätten ihn nicht gekreuzigt. Ich wollte, dass er noch
lebte, sprechen könnte, sich verteidigen, wo nötig, einen
Satz zurücknehmen. Judas rechtfertigt sich, werden die
Leute sagen. Er versucht, sich herauszureden. Vielleicht
gibt es für mich kein Recht zu weiterem Leben. Die Silber-
linge hätte ich nicht nehmen dürfen. Das wurde mir im
Nachhinein deutlich. Sie stellen meine Glaubwürdigkeit
in Frage. Ein Botenlohn, dachte ich. Hilfe zum Überleben,
wenn die Sache mit Jeschua zu Ende geht. Früher oder
später würden sie ihn ohnehin fassen, auch ohne mich.
Die Auseinandersetzung mit den Schriftgelehrten und
Pharisäern war zu weit fortgeschritten. Sie ließ sich nicht
mehr rückgängig machen. Bei seiner Entschiedenheit
wollte er das auch nicht. Aber dieses schnelle Handeln al-
ler Beteiligten vor Pascha war ein Fehler. Auch mein Feh-

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ler. Ich wollte nicht, dass er getötet werde. Sein Blut klebt
an mir. Ich bin das erste Glied auf dem Weg zu seinem
Tod. Was war in mich gefahren? Wer hat mich geführt?
verleitet? verlassen? Ist Jahwe Lebensgott oder Totengott?
Ich werde meinen Namen löschen. Ich muss meine
Geschichte löschen. Ihr sollt ihn nicht missbrauchen. Ihr
sollt mich nicht ohne Bedenken verachten. Ich habe euch
Gründe genannt, Zweifel angezeigt. Ich sage nicht, ich sei
schuldlos. Aber ihr müsst die Hoffnung sehen, die ich
hegte, die Hoffnung, die in mir enttäuscht wurde. Ich
habe zu lange an ihn geglaubt. Wer glaubt, mich verach-
ten zu müssen, verachte mich. Ich will, dass ihr meine Ge-
schichte erkennt. Sie nimmt mir mein Leben. Ich brauche
einen anderen Gott, einen Judasgott.
Meine Geschichte holt mich ein. Die Gegenwart kreist
mich ein. Schwarz, schwärzer als schwarz. Meine Ge-
schichte ist ohne Anwalt. Ich bin ohne Vater, ohne Bru-
der, ohne Mutter. Aus mir rinnt dunkler Schweiß, Toten-
schweiß. Wo ist der Blutacker? Wo der Acker des toten
Baumes? Der Totenacker? Judas schreit über das Tal,
schreit gegen den Tempelberg, schreit über den Schädel-
berg. Jeschua aus Nazareth, hörst du mich? Acker, mein
Acker, siehst du mich? Baum, mein Baum, fühlst du
mich? Ich hänge meinen Leib an deinen Ast. Meine Seele
den Vögeln. Ich brauche einen Scherbengott, einen Vogel-
gott, einen Windgott. Was hat Judas getan?

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M irjam von Magdala


sprach

Ich bin nicht die große Sünderin, auch nicht Mirjam von
Bethanien. Ich stamme vom See Genesareth. Das Dorf Mag-
dala liegt am nördlichen Ufer. Bauern und Fischer, ein stil-
les Dorf. Kapharnaum weiter im Osten ist größer. In Tiberi-
as drunten umgibt sich der Fürst mit Frauen und Festen.
Ich bin die Tochter eines Herdenbesitzers. Als mir die Brust
wuchs, geschah etwas Dunkles mit mir. Es war, als wäre ich
nicht mehr ich selbst. Ich wurde unruhig. Ich ging umher.
Meine Augen flackerten. Ich konnte mich nicht mehr auf
etwas Bestimmtes konzentrieren. Die Mutter sprach auf
mich ein. Ihr Zureden half nicht. Nachbarinnen wollten
mich sehen. Das verschlimmerte meinen Zustand. Da müs-
sen Nachtgeister gewesen sein, böse Augen, verwünschen-
de Gedanken. Ich wurde immer verstörter. Die Leute sag-
ten, ich sei von bösen Geistern besessen. Ich konnte nicht
heiraten. Mein Vater wollte mich keinem Mann zeigen. Die
Zurückstellung fraß in mich hinein. Sie sonderte mich aus.
Ich zog mich immer weiter in das zurück, was von mir
übrig war. Niemand konnte helfen.
Eines Tages kam der Wanderprediger Jeschua durch
unser Dorf. Er war auf dem Weg zu den Sieben Quellen.
Am Hang oberhalb des Ufers versammelten sich Männer
vom See, um ihn zu hören. Ich machte mich auf den Weg.

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Etwas abseits lagerten sich auch Frauen. Vertreiben, dach-


te ich, werden sie dich nicht. Ich setzte mich zu ihnen ins
Gras. Einige schauten mich von der Seite an. »Ist das nicht
diese Mirjam«, sagten sie, »die ganz Magdala durcheinan-
der bringt?« Ich war die Gemeinte. Die Verstörte war ich,
mir selbst fremd. Niemand wollte mich in seiner Nähe.
Ich wurde immer verzagter und konnte am helllichten
Tag schreien. Die Eltern waren ratlos. Meine Brüder, von
denen mir einer zu nahe gekommen war, nahmen Ab-
stand. Sie redeten nicht mehr mit mir. Sie schauten mich
nicht mehr an. Ich wurde die Ausgeschlossene. Das mach-
te meinen Zustand schlimmer. Keiner konnte mich ver-
stehen. Was suchte ich bei dem Wanderprediger? Ein
Wort? Seine Botschaft? Meine Heilung? Jeschua ließ sei-
nen Blick über die Versammelten gleiten. Er sah die Men-
schen an, wartete, bis die Menge sich beruhigte. Dann
sprach er vom Reich Gottes. Die Männer hörten gespannt
zu. Einige verzogen ihre Mienen. Andere zeigten Erstau-
nen. Sie dachten, wenn sie vom Reich Gottes hörten, an
König David. Ein paar Gruppen meinten, sie müssten ge-
gen die Römer aufstehen. Jeschua gab zu verstehen, dass
das Reich Gottes nicht mit äußeren Erscheinungen daher
komme. Es habe mit dem Hören seiner Person zu tun. Das
Reich Gottes dringe in unsere Seele. Herüberblickend zu
uns Frauen, sagte er, auch Frauen hätten Zugang zum
Reich Gottes. Das hatten wir noch nie gehört. Seine Rede
erregte mich. Ich erzitterte, es bebte in mir. Ich hörte, wie
eine Frau sagte: »Die Verrückte zittert wieder.« Ja, aber es
war wegen Jeschua, was er gesagt hatte vom Reich Gottes.
Ich glaube, er hatte bemerkt, wie ich ergriffen wurde. Ich
hätte noch lange zuhören können. Seine Stimme klang

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wunderbar, stark und zugleich sanft, nicht befehlend oder


zurechtweisend. Wie er die Worte aussprach. Kraft ging
von ihm aus. Sie drang in mich ein. Ruhige, heilende
Kraft. Als Männer ihn nach seiner Rede ansprachen, blieb
ich im Gras sitzen. Versunken, versonnen, nachdenkend.
Jeschuas Worte klangen in mir nach. Ich empfand tief in
meinem Herzen. Dann stand auch ich auf. Auf dem Pfad
abwärts musste ich an ihm vorüber gehen. Da schaute er
mich an, ich ihn. Dann geschah es. Es geschah. Mir wurde
leicht. Ich wurde frei. Mir wurde hell. Etwas in mir öffnete
sich. Ich war zugänglich geworden, nicht mehr verschlos-
sen. Ich fühlte mich nicht mehr ausgeschlossen. Erleich-
terung wogte zu ihm hinüber. Mein Frausein ging zu ihm
hinüber. Dank, Liebe, Hoffnung, was weiß ich. Etwas, das
von ihm ausging, floss zu ihm zurück. Ich fühlte Frieden,
ich fühlte mich angenommen, befreit, geheilt. Ich hatte
gehört, dass Jeschua Kranke heilen könne. Jetzt war es mir
geschehen. Mein Geist pries ihn, meine Seele pries ihn.
Wusste er, was er bewirkt hatte? Er blickte mich abermals
durchdringend an. Wahrscheinlich sah er, dass ich geheilt
war. Ob es einer oder mehrere böse Geister waren, die aus
mir entwichen, weiß ich nicht. Ich war eine freie Frau
geworden. Mein Gesicht hatte sich geöffnet. Mein Herz
hatte sich geöffnet. Ich machte mich auf den Heimweg.
Die Eltern und Brüder zu Hause schauten mich an. Sie
waren erstaunt. »Mirjam«, fragten sie, »was ist dir gesche-
hen? Du siehst anders aus. Du bist anmutig geworden.«
Mutig bin ich wirklich geworden, schon ein Stück weit
entschlossen. Ob es Anmut war, weiß ich nicht. Ich sagte
ihnen, ich würde sie verlassen. »Weshalb das?«, fragten
sie. »Wozu jetzt, wo du uns im Haus helfen kannst?« Ich

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zögerte zu antworten. Nach einer Pause sagte ich: »Ich


gehe zu Jeschua. Seine Rede hat mir geholfen. Ich fühlte
mich wohl in seiner Nähe.« – »Nicht doch«, sagten sie,
»du bist doch eine Frau.« – »Ich möchte mehr von ihm
hören«, erwiderte ich. Das missfiel ihnen. Sie zweifelten
weiterhin an meinem Verstand.
Von da an versuchte ich, in Jeschuas Nähe zu kom-
men. Zuerst musste ich das Elternhaus verlassen. Ich war
noch nie mehrere Tage außer Haus gewesen. Bald lernte
ich andere Frauen aus seinem Umkreis kennen. Auch sie
waren erfüllt von ihm. Weil Jeschua uns nicht von sich
wies, mussten uns auch seine Jünger dulden. Einige taten
sich schwer damit. Wir waren nicht immer unter ihnen,
auch nicht immer alle zusammen. Einige hatten ihre Fa-
milie zu versorgen. Andere mussten auf dem Feld mithel-
fen. Ich zog mit seiner Gruppe durch die Dörfer, den Jor-
dan entlang, den Weg hinauf nach Jerusalem. Ich half,
wenn es darum ging, ein Mahl zu bereiten. Manchmal
wurde der Meister mit seiner ganzen Gruppe von einem
Dorfältesten eingeladen.
Namhaft wurde ich als eine der Frauen, die ihm die
Füße gesalbt haben. Die Salbung entsprang einem inneren
Drang. Ich spreche nicht gern davon. Das Äußere war et-
was sehr Inneres. Ich legte mein Frausein in die Salbung.
Sie brauchte Mut. Ich sprach bei dem Gastgeber vor und
bat um Erlaubnis. Es gehörte zu den Gepflogenheiten, den
Ankommenden die Füße zu waschen. Die Wege waren so
staubig. Als Jeschua eintrat, schaute er sich ruhig um. Er
setzte sich mit den seinen. Da kam ich mit Krug und
Schüssel. Ich lief geradewegs auf ihn zu und kniete nieder.
Jeschua erkannte mich. Er ließ die Waschung geschehen.

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Ich trug Salböl bei mir, wohltuendes Öl für die Haut, duf-
tendes gegen den Schweiß. Ich öffnete das Fläschchen
und goss Öl über seine Füße. Dann öffnete ich mein Haar
und trocknete seine Füße. Der Gastgeber schaute mich
an, die Jünger warfen mir Blicke zu. Einige starrten auf
mich. Ich war über seine Füße gebeugt. Unten seine Füße,
darüber meine Haare. Ich berührte die Füße, die Füße be-
rührten mich. Es durchlief mich. Sein Geschehenlassen,
meine Liebe. Ich glaube, auch er erlebte die Salbung. Als
die Füße trocken waren und sein Leib duftete, ging ich
hinaus. Ich war glücklich, dass ich ihm die Füße waschen
durfte, beschenkt, weil er mich angesehen hatte. Die
Männer aßen und redeten miteinander. Sie nahmen
Wasser und tranken Wein.
In mir war Jeschua, seine Füße, seine Augen, seine
Hände, seine Strahlung. Ich hatte ihn berühren dürfen.
Nicht nur die Aussicht der Männer, auch die Hoffnung
der Frauen wuchs, er werde das Reich Israel wieder her-
stellen. Was anders sollten wir denken in einem besetzten
Land? Aber es kam anders. Die Männer brauchten lange,
bis sie erkannten, dass sie Jeschuas Reich und ihre Vor-
stellung vom Reich unterscheiden mussten. Wir alle
brauchten lange, bis wir erkannten, dass sich etwas zu-
sammenzog. Die hellen Tage am See verdunkelten sich.
Die Stimmung verdüsterte sich. In Jerusalem sammelten
sich Gegner. Als Jeschua im Tempel sprach, kam es zu
Auseinandersetzungen. Er musste Gegenreden ertragen
und wurde sogar bedroht. Wir fürchteten Schlimmes. Die
Hohen Priester ließen ihn festnehmen. Der in seinen poli-
tischen Hoffnungen enttäuschte Judas half ihnen dabei.
Knechte nahmen Jeschua nachts am Ölberg gefangen. Sie

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führten ihn ab und stießen ihn ins Gefängnis. Am Morgen


begann der Prozess gegen ihn. Als wir Frauen davon hör-
ten, waren wir entsetzt. Seine Mutter, deren Schwester, die
Frau des Kleophas, die Mutter des Jakobus, und ich blieben
zusammen. Wir gingen zum Hof des Statthalters. Wir hör-
ten die Menge »Kreuzige ihn!« brüllen. Wir folgten dem
Verurteilten zur Schädelstätte. Die Jünger waren geflohen.
Sie fürchteten um ihr Leben. Nur der junge Johannes blieb
bei uns. Wir Verletzte hörten Jeschuas letzte Worte, seinen
Todesschrei. Es war entsetzlich. Kein Engel war gekom-
men. Unser Herr und Meister verröchelte. Sterben, elendes
Sterben. Er stieß einen letzten Schrei aus. Unsere Hoffnung
brach, unsere Gefühle erstarben. Als Jeschuas Brust von
Soldaten durchbohrt war, wurde die Leiche freigegeben.
Ein Josef half beim Abhängen, wir trugen ihn in die Grab-
kammer. Was können Frauen für die Geschichte? Was in
der Geschichte der Männer? Klagen helfen nicht, Tränen
auch nicht. Verstört warteten wir im Haus von Mirjams
Bekannten auf den Schabbat.
Am Morgen danach, beim ersten Licht, eilte ich mit
Maria Kleophä zum Grab. Wir nahmen Salben mit. Wegen
des Steins vor dem Grab sorgten wir uns. Doch der war
weggewälzt. Wir gingen hinein. Das Grab war leer! Leer.
Hat ihn jemand gestohlen? Ich stürzte tief hinab. Lange
brauchten wir, bis wir uns erhoben. Die Jünger in der
Stadt wollten dem, was wir gesehen hatten, nicht glauben.
Einbildung, Täuschung, Frauenfantasie, sagten sie. Dann
liefen Petrus und Johannes selber zum Grab. Ihre Eindrü-
cke und Bilder unterschieden sich wenig von den unsri-
gen. Die Kunde breitete sich unter den seinen wie
Lauffeuer aus.

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Am nächsten Morgen lief ich allein zum Grab. Ich


beugte mich in die Kammer. Ich roch die Linnen, Salben-
reste, den Stein. Ich schaute. Zwei Gestalten in weißen
Gewändern standen in der Höhle. Warum ich weine, frag-
ten sie. »Weil sie meinen Herrn weggenommen haben«,
antwortete ich. Dann erhob ich mich und trat hinaus.
Draußen hörte ich eine Stimme. »Frau, wen suchst du?«,
sagte sie. »Warum weinst du?«, sagte sie. Ich sagte zum
Gärtner: »Herr, wenn du ihn fortgetragen hast, sag mir,
wohin du ihn gelegt hast.« Da sprach er mich an. »Mir-
jam«, sagte er. Mirjam? »Mein Herr«, stürzte es aus mir
heraus, »mein Herr.« Ich sprang auf ihn zu, ich wollte ihn
umarmen. Da sprach Jeschua: »Halte mich nicht fest.
Noch bin ich nicht zu meinem Vater aufgefahren.«
Noch nicht festhalten. Nichts und niemand darf ihn
festhalten. Jeschua wollte zu seinem Vater. Mirjam muss
hier bleiben. Hierbleiben in ihrem Erkennen, ihrem Glau-
ben, ihrer Liebe. »In deine unsterbliche Seele, Heiliger,
meine Sinne«, sagte ich. »Aber du hältst mein Gleiten zu-
rück. Ich warte, Rabbuni, bis mein Erglühen anders er-
wacht. Nicht an diesem Ort.« So hatte es aus mir gespro-
chen. Dann ging ich zurück in die Stadt. Ich fand die Jünger
und berichtete ihnen, was ich gesehen und gehört hatte.

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P aulus sprach

Ich, Saulus, römisch Paulus, bin Bürger aus Tarsus. Ich


wurde in Silizien geboren. Meine Eltern waren fromme
Pharisäer. Als ich heranwuchs, schickte mich mein Vater
nach Jerusalem, wo ich Schüler Gamaliels wurde. Als jun-
ger Mann verteidigte ich den jüdischen Glauben und be-
mühte mich, ihn zu verbreiten. Ich eiferte für das Juden-
tum. Als die Hohen Priester Jeschua von Nazareth gefan-
gen nahmen, um ihm den Prozess zu machen, war ich
nicht in Jerusalem. Von seiner Kreuzigung hörte ich nach
meiner Rückkehr aus Antiochien. Ich erfuhr einige Ein-
zelheiten. Man wollte möglichst wenig Aufhebens von
ihm machen. Aber dafür sorgten dann seine Anhänger. Je-
schuanische Gruppen von Männern und Frauen traten in
der Stadt auf. Der Tote sollte nicht tot sein. Ich fühlte
mich verpflichtet einzuschreiten. Sie hatten kein Recht,
den überlieferten Jahweglauben zu überwinden. Ich
musste ihr Gegner werden.
Der griechische Jude Stephanus machte in den Tem-
pelhallen für diesen Jeschua aus Nazareth empörende
Propaganda. Auch ich stimmte für seine Verhaftung. Ich
bejahte Steinigung. Als Stephanus mundtot wurde, jen-
seits des Kidronbaches, war ich dabei. Der Mann redete
und redete, bis ihn ein großer Stein an die Stirn traf. Ra-
chegefühle hatte ich nicht. Aber für Gotteslästerung steht
im Gesetz die Todesstrafe.

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Als Anhänger Jeschuas die Stadt weiter beunruhigten,


drang ich, zusammen mit anderen jungen Männern, in
Häuser ein, in denen sie sich trafen. Die Überlieferung der
Väter war mir heilig. Ich fühlte den Jahwe-Glauben be-
droht. Bald danach ließ ich mir Vollmachten geben für die
Synagogen in Damaskus. Dort mischten sich Anhänger Je-
schuas in unsere Versammlungen am Schabbat. Mit mei-
nen Begleitern ritt ich nach Damaskus. Wir waren schon
über den Golan. Im Schneelicht glänzte der Hermon. Ein
herrlicher Tag. Ich dachte an meinen Auftrag. Das Unwe-
sen der Jeschuaner ausrotten, eine Anzahl gefangen
nehmen und nach Jerusalem bringen.
Während ich mein Vorhaben nochmals durchging, ge-
schah es. Ich stürzte vom Pferd. Es riss mich zu Boden. Ich
schrie auf. Da war Licht, grellstes Licht. Ich wurde geblen-
det und fiel in Dunkel. »Meine Augen!«, rief ich. »Meine
Augen!« Jemand rief in meine Ohren: »Saulus, warum
verfolgst du mich?« Die Stimme kannte ich nicht. Ich hat-
te sie nie gehört. Sehen konnte ich niemand. In den Augen
war kein Licht. Meine Begleiter hörten nichts, aber sie sa-
hen das Licht, hellstes Licht, sagten sie später. Ich lag am
Boden. »Wer bist du?«, rief ich. – »Du kennst mich«, sag-
te er. »Nein, Herr«, rief ich, »ich kenne Sie nicht.« »Ich
bin Jeschua, den du verfolgst«, sprach er. »Jeschua? Der
wurde doch hingerichtet. Der lebt nicht mehr!« – »Du
täuscht dich, Paulus, ich lebe. Ich bin auferstanden.« –
»Auferstanden? Auferstanden sind Moses und Elias.«
Ich war verwirrt. Ich war getroffen. Mir fehlte die Vor-
stellung, auch der Widerstand. Meine Begleiter meinten,
als wir darüber sprachen, es sei ein Unfall gewesen. Man
kann ja vom Pferd stürzen, wenn es plötzlich scheut. Sie

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halfen mir in den Sattel. Dann ritten wir weiter nach Da-
maskus. Ich, ihr Anführer, war blind. Ein Diener führte
mein Pferd. Ich war zu keinem vernünftigen Wort fähig.
Gestürzt, geschlagen, verfolgt. Übermächtig Jeschua. »Ich
habe dich angeredet«, sagte die Stimme. – »Ja, ich weiß«,
sagte ich. Ich war noch immer fassungslos. Da war ein
Bruch.
In Damaskus fanden wir eine Herberge in der Geraden
Straße. Ein Lager, Reinigen, Trinken, Schlafen. Ich war
todmüde, ein gestürzter Verfolger, meiner Sinne nicht
mächtig. Ich verstand etwas und ich verstand nicht. In
meinen Ohren hallte der Ruf nach: »Saulus, warum ver-
folgst du mich?« Warum? Wen? Drei Tage blieb ich ver-
wirrt. Nicht ansprechbar. Allein mit der Stimme und mir.
Am dritten Morgen kam ein Mann namens Ananias in
die Herberge. Er fragte nach mir und fand mich noch
schlafend. Man weckte mich auf. »Saulus«, sagte er. »Der
Herr ist mit dir. Ich bin zu dir gesandt. Heiliger Geist
kommt über dich.« Welcher Herr? Welcher Geist?, dach-
te ich. Er legte mir die Hände auf und sprach ein Gebet.
Meine Augen öffneten sich. Ich sah. Ich sah Licht. Ich
umarmte ihn und ging mit ihm hinaus. Er führte mich zu
einem Brunnen und taufte mich. Dann nahm ich Speise zu
mir. Ich kam zu Kräften. »Jeschua«, sagte ich. »Sie sind
Jeschua, du bist Jeschua. Sie haben mich überfallen.« –
»Du hast mich verfolgt«, sagte er. »Verzeih«, sagte ich,
»ich wusste das nicht.« Ich weiß nicht, wie viel Zeit ver-
ging. Ich sah wieder das Licht, das mich stürzte. Ich hörte
seine Stimme. Ich spürte Nähe, fand aber keine Worte.
Dann sagte ich: »Du bist auferstanden.« Auferstanden,
wiederholte ich in Gedanken. Pharisäer glauben an Auf-

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erstehung, aber ein Auferstandener hat noch nie mit mir


gesprochen.
Mein Kopf hatte wieder angefangen zu argumentieren.
Das hatte ich bei Gamaliel gelernt. Aber das Frühere und
das Jetzige wollten nicht zusammengehen. Den ich ver-
folgte in seinen Jüngern, der lebt. Welche Identifikation.
Mir erschienen, zu mir redend. Er stürzt mich vom Pferd.
Es war Gewalt, heilige Gewalt. Sie veränderte mein Be-
wusstsein Ich bin nicht mehr der jüdische Saulus. Die
Auftraggeber in Jerusalem müssen das erfahren. Rechtfer-
tigen vor ihnen werde ich mich nicht. Aber ich muss mich
trennen. Ich brauche Zeit. Ich sprach mit einigen Anhän-
gern Jeschuas in Damaskus. Ihre Scheu wich nur langsam.
Einige meinten, es sei eine List von mir, ich wolle mich
einschleichen. Erst nach einiger Zeit gelang es mir, ihr
Vertrauen zu gewinnen. Ein Vorsteher empfahl, mich in
der Synagoge zu den Versammelten reden zu lassen. Das
löste Unruhe aus. Aber nach meiner Bekenntnisrede wa-
ren sie zufrieden, einige erstaunt. Die Juden in der Stadt
waren entsetzt. Sie fassten den Beschluss, mich zu töten.
Um mich zu fangen, stellten sie Beobachter an den Stadt-
toren auf. Da ließen mich Anhänger Jeschuas nachts im
Korb über die Stadtmauer hinab. Sie hatten ein Pferd be-
reitgestellt. Ich ritt zurück nach Jerusalem. Dort bat ich
bei Christusjüngern um Einlass. Ich empfand Schuld,
dass ich sie verfolgt hatte. Einige waren meinetwegen in
den Kerker geworfen worden.
Der Mann, der noch vor kurzem die Steinigung des
Stephanus gutgeheißen hat, versuchte, sich zu erklären.
Die Gastgeber taten sich schwer, mir zu glauben. Das Ge-
schehen, auf das ich mich berief, blieb ihnen gänzlich

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fremd. Sie kamen auf den Gedanken, mich zu Griechisch


sprechenden Juden reden zu lassen. Griechisch war meine
Muttersprache. Danach führten sie mich zu Jakobus, dem
Bruder des Herrrn. Bei ihm lernte ich einige Tage später
Kephas kennen. Er schaute mich an, und ich schaute ihn
an. Wir sprachen miteinander. Der Galiläer vom See hielt
Abstand zu dem Juden aus der Stadt. Von Herkunft und
Erziehung waren wir uns nicht nahe. Schließlich glaubte
Kephas mir meine Geschichte. Ich brauchte ihn. Er muss-
te zustimmen. Als Apostel wollte ich nicht gelten, aber als
einer, der Jeschua auch gesehen hat. Dieses »auch« mach-
te Petrus Kopfzerbrechen. Die ihn gesehen hatten, waren
abgezählt, ihre Namen fest geschrieben. Entweder man
war dabei oder nicht. Ich war weder in Galiläa noch in Je-
rusalem dabeigewesen. Was sollte mein hinterdrein Gese-
henhaben? Ich war nicht beim Abschiedsmahl, nicht am
Ölberg, nicht im Hof des Pilatus, nicht am Grab gewesen.
Kephas war unschlüssig. Ich konnte das verstehen. Als ich
ihm andeutete, nach Arabien gehen zu wollen, um mir
über mich und meine Geschichte klarer zu werden, war er
zufrieden. Ich brauchte Abstand. Ich musste das Erlebte
vergegenwärtigen, mich besinnen auf die Erscheinung.
Die Wüste jenseits von Damaskus schien mir ein ge-
eigneter Ort. Zwanzig Stadien außerhalb der Stadt beginnt
die Wüste. Noch ein paar Behausungen, ein paar Zelte.
Dort hoffte ich unterzukommen. Von dort könnte ich
Kontakt aufnehmen mit seinen Anhängern in der Stadt.
Einige Einzelheiten aus Jeschuas Leben hätte ich gern er-
fahren. Wie war das mit den Seligrufen am See? Hat er
häufig in Gleichnissen gesprochen, wenn er vom Reich
Gottes sprach? Gab es außerhalb der Gruppe andere Per-

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sonen, mit denen er Umgang hatte? Warum haben die Ga-


liläer nicht begriffen, was sich in Jerusalem anbahnte? Ich
musste nachdenken über das, was ich zu den Füßen Ga-
maliels gelernt habe und das, was mir widerfuhr. Dort Jah-
we – hier Jeschua. Dort Jahwes Gesetz – hier Jeschuas Re-
den vom Reich des Himmels. Er sprach nicht gegen das
Gesetz. Aber das Gesetz spielte nicht die Hauptrolle. Es
seien in seiner Nähe Übertretungen geschehen. Bei Mäh-
lern am Abend soll er Salbungen von Frauen zugelassen
haben. Auch gesprochen haben soll er mit Frauen. In den
letzten Monaten seien Jüngerinnen in seinem Gefolge ge-
wesen. Man versicherte mir, unter dem Kreuz hätten,
abgesehen von dem jungen Johannes, nur Frauen
gestanden. Auch zu Jeschuas Grab seien zuerst Frauen
gelaufen.
Vielleicht kann ich in Damaskus Einzelheiten erfah-
ren. Ansprüche werde ich nicht stellen, wenn ich in die
Wüste gehe. Ich will niemanden stören. Hier in Jerusalem
bleiben Misstrauen, Vorbehalt, Gefahr. Noch ist man sich
nicht im Klaren über den Wandel meiner Person, natür-
lich nicht. Wenn ich Jeschua bezeuge, muss ich mir über
meine Stellung im Jüngerkreis Gedanken machen. Jerusa-
lem ist von Jakobus und seinem Anhang besetzt. Ich glau-
be nicht, dass man mich in Judäa braucht. Denen in Gali-
läa werde ich als Städter fremd bleiben. Ich kenne das Le-
ben auf dem Land nicht. Ich muss in Städte, in Städte au-
ßerhalb Judäas, vielleicht jenseits von Tarsus. Nach Phry-
gien und Pamphylien, in die Hafenstädte an der Küste. In
Ephesus huldigen sie der Göttin Artemis. Von den Grie-
chen in Athen und Korinth weiß ich wenig. Warum nicht
in die griechischen Metropolen gehen?

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Paulus, du träumst, sagte ich mir dann. Das sind Fan-


tasien. Keiner seiner Jünger spricht griechisch, argumen-
tierte ich. Wenn Jeschua der Kyrios ist, muss er auch zu
den Achäern kommen. In Hellas beginnt der Äon der Göt-
ter sich aufzulösen. Man will den Willkürlichen nicht
mehr recht glauben. Sie haben sich nie um das Volk ge-
kümmert. Die Götter interessierten sich für ein paar Hel-
den und deren Frauen, Frauen zu ihrem Vergnügen, ihrer
Lust. Keiner von ihnen hat sein Leben mit kleinen Leuten
geteilt. Sie haben gestritten, statt den Menschen Frieden
zu bringen. Sie ergriffen Partei, statt zu versöhnen. Jeder
hat Günstlinge, auch die Göttinnen. Dass sie sich für alle
Menschen interessiert hätten, habe ich nie gehört.
Ich muss zu den Händlern, den Seefahrern, Kaufleu-
ten. Ich muss zu den Heiden. Der beschnittene Jude Sau-
lus, der römische Bürger Paulus muss ihnen die Botschaft
von Jeschua bringen. Ich muss darüber nachdenken.
Wenn ich nachgedacht habe, werde ich mich aufmachen,
zuerst nach Cilicien, dann weiter Richtung Ephesus. Hel-
fen eure Götter euch leben?, werde ich die Griechen fra-
gen. Stadtgötter, das ist zu wenig. Schon der nächste
Stadtgott kann euer Gegner werden. Was nützt ein Gott,
der Streit auslöst, sich parteilich verhält, Gegensätze ver-
stärkt? Was hilft ein Gott, der sich nur Helden zuwendet?
Was sagen die Götter zu eurem täglichen Leben, was zum
Sterbenmüssen? Was denkt ihr selbst über Leben und
Tod? Beschnitten müsst ihr nicht werden. Jeschua
braucht keine bestimmte Hautform. Auch essen könnt ihr
wie bisher und eueren Wein dürft ihr auch trinken. Ich
muss einen Weg finden zu den Heiden. Ich werde zu den
Achäern gehen.

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P etrus sprach

Jeschua nannte mich Kephas. Der Fischersohn Simon aus


Bethsaida sollte ein Fels in der Brandung werden. Ein mir
fremdes Bild. Am See und auf den Wanderungen wuchs
meine Begeisterung für ihn. Ich habe meine Geschichte
nicht gewählt. Er hat mich erwählt. Ich war im Boot kein
schwacher Mann. Aber, was er mir zusprach, war etwas an-
deres als die Kraft eines gewöhnlichen Mannes. Geistkraft,
Sendungskraft, rückhaltloses Vertrauen. Richtig begriffen
habe ich ihn erst nach seiner Auferstehung.
Ich gehöre zu seinen ersten Jüngern. Zusammen mit
meinem Bruder Andreas sah ich ihn am Jordan an der Stel-
le, wo Johannes taufte. Wir hatten am See vom Täufer ge-
hört und erwarteten ein Zeichen. In den Dörfern war man
nicht nur gegen die Römer, sondern auch gegen die in Je-
rusalem. Johannes sagte, es genüge nicht, Abraham als
Vorfahr zu behaupten. Sein Zorn gegen Heuchler, Ge-
schäftemacher, Fälscher war gewaltig. Eines Tages ließ
sich einer taufen, den er außerordentlich ehrerbietig be-
dachte. Auch uns berührte die würdige Gestalt. Wir woll-
ten ihn kennen lernen und fragten schüchtern, wo er
wohne. Er fragte uns, woher wir kämen. Vom See, sagten
wir. Er nannte uns seinen Namen und fügte hinzu, er
stamme aus Nazareth. Ein Dorf, dachten wir. Wir waren
noch nie dort oben gewesen.

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Aufgekratzt, doch unschlüssig gingen wir nach Hause.


Nach wenigen Tagen erschien Jeschua am See. Er fing an,
öffentlich zu sprechen und erregte Interesse. Mit uns ka-
men andere junge Männer zu ihm. Unsere Freunde Jako-
bus und Johannes, die Zebedäussöhne, waren dabei. Je-
schua wiederholte nicht die Drohungen des Johannes. Er
ermutigte die Menschen und sprach zu ihnen vom Reich
Gottes. Auch vom Vater im Himmel sprach er. In den Dör-
fern und Städten sah er die Not der Menschen und heilte
Kranke. Meine Schwiegermutter heilte er. Jeschua hielt
sich gern in der Gegend von Kapharnaum auf. Einmal zog
er hinauf in sein Heimatdorf Nazareth. Man reichte ihm in
der Synagoge die Schriftrolle. Sie sprach vom Geist des
Herrn. Der, sagte er, sei über ihn gekommen und habe ihn
gesalbt. Da empörten sich die Männer, die ihn von früher
kannten. Sie hätten ihn fast über einen Bergabhang gesto-
ßen. Bei uns brachten ihm die Leute großes Vertrauen
entgegen. Am Berghang über den Sieben Quellen sprach
er die Armen selig. Armen stehe das Himmelreich offen.
Eine denkwürdige Verheißung. Auch für die Trauernden,
die Barmherzigen, die Aufrichtigen, Gedemütigten, die
lauter Denkenden wusste er wunderbare Worte. Die
Zuhörer schauten sich verwundert an und gingen
getröstet nach Hause, mit sich und ihrem Gott in Frieden.
Uns Jüngern blieb vieles in seinem Denken fremd.
Einzelne Aussagen wurden uns nicht deutlich. Der geisti-
ge Abstand zwischen ihm und uns war groß. Wir spürten
die innere Freiheit in ihm, seine persönliche Sorglosigkeit
gegenüber irdischen Gütern. Er schien in einer Gegen-
wart zu leben, die uns nicht vertraut war. Jeschua sprach
aus einer Sicherheit, die uns nie bei einem Menschen be-

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gegnet war. Unter Blinden, Gelähmten und blutflüssigen


Frauen wirkte er Zeichen. Man brachte Besessene zu ihm.
Die Leute am See erwarteten viel von ihm. Sie sagten, das
ist der Prophet, der uns gesandt ist. Als er einmal nach
langer Reich Gottes-Rede die Hungernden vor ihrem
Heimgang speiste, wollten Begeisterte ihn zum König aus-
rufen. Das hätte auch uns Jüngern gefallen. Aber er entzog
sich dem Ansinnen. Statt die Messiasidee aufkommen zu
lassen, sprach er in Gleichnissen vom Himmelreich, von
dessen Kostbarkeit und Wachsen wie auch von dem, was
ihm im Weg stand. Wir dachten nach, fanden das Reich
aber nicht so nahe wie er. Wochen später sprach er so ge-
heimnisvoll vom Brot des Himmels und Brot des Lebens,
dass es uns schwer fiel ihm zu folgen, zumal, als er sagte:
»Ich bin das Brot des Lebens.« »Brot« und »ich« ging für
uns nicht zusammen. Es fiel uns oft schwer, seine Bilder-
sprache zu verstehen. Einige von uns murrten. Die Zumu-
tung war zu groß. Die Murrenden wollten sich trennen. Er
bemerkte den Konflikt. Wer von uns gehen wolle, fragte
er. Jetzt ergriff ich zum ersten Mal das Wort. Ich sagte
stellvertretend: »Herr, zu wem sollen wir gehen? Du hast
Worte des Lebens.« Nach einer kurzen Pause fügte ich
hinzu: »Du bist der Heilige Gottes.« Das freute ihn sehr.
Judas Iskariot war mein Bekenntnis zu viel.
Ich hatte das Gefühl, eine Scheidung sei mit der Zeit in
Gang gekommen. Die zeigte sich deutlich in Jerusalem.
Jeschua leugnete nicht das Gesetz des Moses, im Gegen-
teil. Aber er hatte eine andere Auffassung, eine nicht am
Buchstaben klebende, freiere, mehr geistige. Die innere
Gottesgesinnung war ihm wichtiger. Eine Auseinander-
setzung mit den Gesetzeslehrern war unvermeidbar. Sie

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versagten ihm die Anerkennung, zumal er auf keine ihrer


Schulen gegangen war. Auf dem Höhepunkt der Ausein-
andersetzung rückte Jeschua mit der Eigenheit seines Be-
wusstseins heraus: »Ehe Abraham ward, bin ich.« Das war
zu viel. Sie beschuldigten ihn des bösen Geistes. Einige
hoben Steine auf. Wir bildeten einen Schutzwall um ihn.
Jeschua entzog sich den Anfeindungen.
Nach der Übernachtung auf dem Ölberg zogen wir mit
ihm erneut nach Galiläa. Auf dem Weg durchs Jordantal
sprachen wir untereinander über das Gehörte. Schlüssig
war seine Aussage über sich selbst auch für uns nicht. Es
gab Vergleiche, Zustimmung, auch Einwände. Wer war
er? Als wer wollte er erkannt sein? Ein paar Mal hatte er
von sich als Menschensohn gesprochen. Menschensohn –
mit einem Vater im Himmel. Er wollte mit uns allein sein,
mit uns wandern, uns Zeit lassen. Deshalb stiegen wir bis
zu den Jordanquellen hinauf. Einmal mehr erblickten wir
fasziniert das klare Wasser, das aus dem Fels quoll. An der
Banyasquelle rückte Jeschua mit seiner Frage heraus: »Ihr
aber, für wen haltet ihr mich?« Die Frage kam überra-
schend und auch wieder nicht. Wir hatten schon lange da-
ran gekaut. Mich trieb der Geist zur Antwort: »Du bist der
Messias, Sohn des lebendigen Gottes.« Im Angesicht des
Felsen, aus dem Wasser quoll, pries er mich selig. Dann
nannte er mich Kephas. Ich war sprachlos, meine Gefähr-
ten auch. Wir stiegen wieder die Berghöhen hinab zum
See, von dort Richtung Jerusalem. Die Stimmung war ge-
drückt. Wie heimatlich wir Galiäa empfanden. Bevor wir
die grüne Landschaft mit ihren Dörfern und Städten ver-
ließen, nahm unser verehrter Rabbi Jakob, Johannes und
mich auf den Berg, der über die Ebene Jesreel schaut.

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Wortlos stapften wir hinter ihm drein. Droben verwandelte


sich plötzlich sein Aussehen. Sein Angesicht leuchtete, das
Gewand wurde weiß wie Licht. Wir sahen den Gesetzgeber
Moses und den Himmelfahrer Elias zu seiner Seite und er-
bebten am ganzen Leib. Dann hörten wir aus der Lichtwol-
ke eine Stimme, die ihn als geliebten Sohn bekannte. Er
spricht nicht nur vom Reich des Himmels, dachte ich spä-
ter, er ist der Sohn des Himmels. Erschüttert von heiligem
Wissen und heiliger Furcht stiegen wir mit ihm hinab. Die
anderen fragten uns, aber wir sollten niemand sagen, was
wir gesehen hatten.
Unaufhaltsam näherten wir uns Jerusalem. Wieder
Auseinandersetzungen in den Tempelhallen. Die Luft
schon giftig. Als hätten seine Gegner nur auf ihn gewartet.
Das Ende kam schnell. Mit einem unvergesslichen Mahl
nahm Jeschua von uns Abschied. Diesmal nannte er das
Brot seinen Leib, den Wein sein Blut. Wir aßen und tran-
ken. Seine Rede war mehr, als wir verstehen konnten.
Sehr müde stapften wir zum Ölberg. Kaum hatten wir uns
unter den Bäumen gesetzt, schliefen wir ein. Er hätte uns
gebraucht. Es war das erste Mal, dass er unsere Hilfe ge-
braucht hätte. Aber wir waren weggesunken vor Müdig-
keit. Wir schliefen. Das Gewecktwerden war schrecklich.
Eine Horde Knechte war gekommen, mit ihnen Judas. Er
küsste den Meister auf die Wange und sagte: »Der ist’s,
den ihr verhaften wollt.« Ich zog das Schwert und schlug
zu. Auf Geheiß des Meisters steckte ich es sogleich wieder
ein. Er wollte der Gewalt seiner Gegner nicht mit Gewalt
antworten.
Noch in der Nacht folgte die Verhandlung vor dem
Hohen Rat. Ich hatte mich in den Hof geschlichen. Ich

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wollte wissen, was sie gegen Jeschua vorbrachten und ihm


antun wollten. Eine Magd erkannte mich im Hof. Ihre
Frage überraschte mich. Ich war voller Angst, von jedem
Mut verlassen. Ich leugnete geradeheraus, dass ich Je-
schua auch nur kenne. Als auch andere Umstehende be-
haupteten, ich gehöre zu ihm, stampfte ich mit den Fü-
ßen, fluchte und schwur, dass ich den Vorgeführten nicht
kenne. Da wandte sich Jeschua zu mir her und schaute
mich an. Ich lief davon und schluchzte Tränen. Damals
das Bekenntnis an der Jordanquelle, jetzt diese Verleug-
nung. Es war die Hölle. Nicht bloß eine Niederlage – die
Hölle. Meine eigenen Worte hatten mich von Jeschua
getrennt.
Auf Konfrontation war ich nicht vorbereitet gewesen.
Das könnte ich zu meiner Entschuldigung sagen, aber ich
will mich nicht entschuldigen. Natürlich wagte ich mich
nicht zum Gerichtshof des Pilatus am hellen Tag, auch
nicht auf den Weg hinauf zur Schädelstätte. Nur einige
unserer Frauen und der junge Johannes erlitten Jeschuas
Todesqualen von Angesicht. Wir anderen waren mutlos,
kraftlos, verstört, zu einem vernünftigen Gedanken nicht
fähig. Das war das Ende, sein Ende, unser Ende, das Ende
der Hoffnung auf sein Reich.
Sobald der Schabbat vorüber war, eilten mehrere von
uns zu Jeschuas Grab, die Frauen für sich, ich mit Johan-
nes. Die Grabkammer war leer. Einige wollten einen En-
gel gesehen haben, andere die Linnentücher, ich sah nur
Leere. Bis Jeschua erschien, zu uns sprach, die Furcht
fortnahm. Der Weg zum Glauben an Auferstehung, dem
Bewusstsein, dass er lebt, war weit. Etwas musste auch in
uns auferstehen, ein anderer Glaube an ihn sich Bahn bre-

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chen. Das Bewusstsein in uns selbst musste sich verän-


dern. Unsere eigene Lebenskraft musste auferstehen.
Zuerst versammelten wir uns vorsichtig in der Stadt,
später offen am See von Genesareth. Wir sprachen über
unser Verhalten, unsere Verstörung, unsere Gedanken,
Erfahrungen. Aus der Erinnerung gingen wir nochmals
die Wege mit ihm. Wir erzählten uns seine Worte, dach-
ten an unser staunendes Hören, an unser Befremden. Un-
vergessliche Worte hatte er gesprochen bis hin zu: »Ich
bin bei euch alle Tage, bis zum Ende der Welt.« Dieses
»Ich bin bei euch« erfüllte uns. Nach der Herabkunft des
versprochenen Geistes verstanden wir die Schrift besser.
Wir verstanden auch ihn selbst und unsere Beziehung zu
ihm neu. Heiliger Geist ging von ihm aus, obwohl er leib-
lich nicht mehr unter uns war. In heiligen Mählern
feierten wir seine Gegenwart.
Wir sprachen zusammen und besannen uns. Bezeugen
sollten wir ihn. Auf dem Tempelberg hatten wir keine
Chance. Der Weg zu einer Jeschua-Bewegung im jüdi-
schen Umfeld schien beschränkt, sogar verschlossen. Un-
sere alten jüdischen Gegner waren nicht verschwunden.
Die Römer hatten an einer göttlichen Gestalt mit Messias-
anspruch kein Interesse. Für sie war die Sache mit dem
Tod des Mannes erledigt. Sie wollten ihr Weltreich zu-
sammenhalten. Was ging sie ein jüdisches Himmelreich
an?
Der größte Einschnitt in der Geschichte unserer Bewe-
gung war das Auftreten des Paulus. Aus dem Verfolger
war ein Bekenner geworden. Er wollte sich an unserem
Sendungsauftrag beteiligen. Ich hatte Schwierigkeiten mit
ihm. Er gehörte nicht zu den Zwölfen. Ich fand, er drängte

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sich herein. Körperlich war er kleiner als ich, aber geistig


ein Riese. Er konnte argumentieren und Zusammenhänge
aus der Schrift darlegen. Der Fischer in mir staunte. Er
war in der Schule des Gamaliel ausgebildet worden. Nicht
nur hebräisch sprach er, sondern auch griechisch. Paulus
berief sich auf eine Begegnung mit Jeschua auf dem Weg
nach Damaskus. Er äußerte visionäre Ideen. Zu den
Nicht-Juden, in die griechischen Städte wolle er gehen
und Jeschuas Botschaft verkünden. Ich überlegte. Wer
sonst von uns Zwölfen konnte das tun? Ich konnte mir
keinen vorstellen. »Paulus«, sagte ich, »ich bin einver-
standen mit deiner Absicht. Geh hin und berichte ihnen
von Jeschua.« Die abenteuerliche Vorstellung musste erst
realisiert werden.
Jahre später kam es zum Streit zwischen uns. Paulus
verlangte, dass die Jeschua-gläubigen Heiden nicht be-
schnitten würden. Eine Spaltung drohte unter uns Apo-
steln. Schließlich setzte sich der Mann aus Tarsus durch.
Paulus trennte die Heiden-Christen von den Bedingungen
des Judentums. Wir brauchten lange, bis wir seinen Vor-
stellungen zustimmen konnten. Dann war auch ich über-
zeugt, dass es keiner Beschneidung bedarf, um Jeschua als
Kyrios zu bekennen. Weder die Geburtshaut entscheidet
noch die Vorhaut. Entscheidend ist die Zustimmung zu
Jeschuas Person, der Glaube an seine Botschaft. Wir ha-
ben ein Leben hier und einen Vater im Himmel. Juden
und Heiden sollen gleiche Rechte zukommen. Ein Leben
in Hoffnung und Frieden ist uns aufgegeben. Nicht nur
Schalom sagen, sondern Schalom wirken. Friede heißt
seine Botschaft. Friede mit Gott, Friede unter den Men-
schen, Friede in Freiheit. Jeder ist frei zu glauben. Jeder

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kann die Kraft des Glaubens erfahren. Jeschua will unser


Menschsein heilen, nicht nur die Armen auf dem Land,
sondern auch die Bürger in den Städten. Wie erreicht man
ihr Bewusstsein? Gedanken arbeiten in mir, nach Rom zu
fahren. Hier in Judäa ist vieles zerstört und zerteilt. Rom
soll unsere Botschaft hören. Rom könnte unsere neue
Stadt werden. Petrus muss nach Rom.

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Die letzte
Geschichte

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D eine Geschichte

Die letzte Geschichte ist deine Geschichte. Du musst sie


selber schreiben. Sohn Evas, Tochter Adams, Nachfahre
des verlorenen Paradieses. Weinen wirst du nicht, hadern
manchmal. Dieser Generation sind mit den Einkaufsta-
schen die Tränen versiegt. Unsere Nachfrage richtet sich
auf Wohlstand. Kann er vermehrt oder zumindest gesi-
chert werden? Wer ist für unser soziales Befinden verant-
wortlich? Mit mythischen Gestalten beschäftigen wir uns
nur noch selten. Wir arbeiten und befreien uns unter an-
deren Voraussetzungen. Wofür sind wir verantwortlich?
Wie weit entschuldigen die Verhältnisse unser Verhalten?
In der Bibel sind Adam und Eva die Ureltern der
Menschheit. Sie sind die ersten, denen eine Geschichte
zugeschrieben wird. Was haben die beiden getan? Was ist
ihnen geschehen? Ihre Sündenfallgeschichte prägt die
Theologie bis heute. Lange wurde die Vertreibung aus
dem Paradies fraglos hingenommen. Dann kamen die
Aufklärer. Wie war das mit dem Bewusstsein der ersten
Menschen? Mussten sie sich nicht durch Erfahrung ent-
wickeln? Warum wurde ihnen »trial and error« nicht er-
laubt? Vom Paradies ins Elend? Die Geschichte der Men-
schen hätte besser beginnen können. Der Mann und die
Frau hätten aus dem Garten besser herauskommen kön-
nen. Es hätte in der Folge weniger aggressiv zugehen kön-

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nen. Hat unsere späte Geschichte noch eine Beziehung zu


der frühen? Halten wir den Gott der Bibel noch im Blick?
Wie die ersten Menschen nach ihrer Vertreibung lebten,
wissen wir im Einzelnen nicht. Die Schreiber berichten
von der Tragödie der Söhne. Wo die Schwestern blieben,
sagen sie nicht. Von den Kindeskindern wird Schlimmes
berichtet. Sodom und Gomorrha, Turmbau, große Flut.
Die Nachkommen konnten nicht in Frieden leben, nicht
unter sich, nicht mit ihrem Gott. Alle außerhalb der Arche
wurden ersäuft, die Tiere dazu. War da Gottes Zorn am
Werk oder der Zorn der Schreiber? Ein Regenbogen über-
brückte das abgetrocknete Land. Friede, so weit Noahs
Auge reicht. Gott scheint mit den Menschen im Bund.
Generationen nach der großen Flut taucht östlich von
Eden, im fernen Zweistromland, einer auf, der Abram
heißt. Er ist mit der Mondgottheit seines Vaters unzufrie-
den. Auf langen Wanderungen kommt er nach Kanaan. Ab-
sicht oder Zufall? Sucht er andere Weiden, ein anderes Le-
ben, andere Frauen, einen anderen Gott? Ist er ein Aben-
teurer, Auswanderer, Gerufener? In einer denkwürdigen
Erscheinung nennt sein Schutzgott ihn Abraham, »Vater
der vielen«. Später, im südlichen Fremdland, erscheinen
dem Herdenbesitzer drei himmlische Gestalten. Die Zeit
wiederholter Bestrafung ist vorbei, eine Periode des Segens
hat begonnen. Die himmlischen Besucher belohnen ihren
Gastgeber mit der Zusage eines nicht mehr erwarteten Soh-
nes. Später wird gerade für diesen Sohn Opfergehorsam
verlangt. Isaak kommt mit dem Leben davon. Konnte der
Gebrandmarkte das Tun seines Vaters begreifen? Wie lebte
er weiter? Sein Sohn Jakob muss ein vitaler Bursche gewe-
sen sein. Er verändert die Geburtsfolge. Der Muttersohn

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korrigiert seine Zweitgeburt. List oder Fügung? Betrug


oder Segen? Wie verhält sich der betrogene Bruder Esau?
Nicht nur Erwählung, auch Frechheit und Witz waren am
Werk in den frühen Überlebensgeschichten.
Die Patriarchen sprechen aus einem Helldunkel. Ihr
Gottesgehorsam schloss Klugheit, ihre Frömmigkeit Be-
rechnung nicht aus. Heilig nach unseren Kriterien waren
sie nicht. Im Umgang mit Frauen dachten sie zuerst an
Nachkommen. Nur mit Söhnen konnten sie überleben.
An Töchtern zeigen sich die Schreiber wenig interessiert.
Die Väter wurden durch ihren Gott ermutigt. Aber der Zu-
spruch war keine Garantie. Er hob Gefährdung nicht auf.
Die Angesprochenen waren hellhörig für die Stimme ihres
Gottes. Das Land, das sie besiedelten, war allerdings nicht
das beste. Am Euphrat oder am Nil hätten sie fruchtbare-
ren Boden finden können. Außerhalb der Täler mangelte
es an Wasser. Hungersnot trieb sie bis nach Ägypten. Den
Nachkommen sind die Wanderungen von den Vätern oft
erzählt worden. Jakobs geliebter Sohn Josef hatte die Gabe
des Traumes. Die Brüder verkauften ihn an vorbeiziehen-
de Händler. Aber auch hier war göttliche Fügung am
Werk. Ein grandioser Aufstieg machte den Mann zum
Großverwalter Pharaos. Seinen bettelnden Brüdern füllte
er großzügig die Säcke mit Getreide. Generationen später
wurde Ägypten für die Hebräer Gastarbeiterland. Als ih-
nen immer mehr Kinder geboren wurden, fürchteten sich
die Ägypter. Sie wollten billige Arbeiter, nicht unkontrol-
lierte Vermehrung. Die Israeliten ihrerseits wollten Frei-
heit. Auch eine Heimat wollten sie haben. Dazu half ihnen
ihr hebräischer Gott. Der am Hof des Pharao aufgewach-
sene Moses wurde ihr Held. Trotz Totschlags hat ihn Gott

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erwählt. Den ins Bergland Flüchtigen sprach aus dem


Feuer ein Jahwe-Gott an. Moses kehrte zurück an den Nil
und holte seine Stammesgenossen. Er versprach ihnen
Land. Jahwe schloss mit ihm einen Bund. Moses verfasste
ein Bundesgesetz. Die Rückkehr nach Kanaan dauerte
Jahrzehnte. Landnahme und Landverteilung verursachten
Streit. Da war mehr Bergland als fruchtbare Ebene. Die Äl-
testen bestellten Richter. Danach herrschten Könige mehr
schlecht als recht. Viele Israeliten vergaßen den Si-
nai-Gott. Irgendwie schwand er. Die Männer und Frauen
suchten hautnahe Götter, sinnenhafte Gestalten. Ein
Gott, von dem man sich kein Bild machen durfte, blieb
schwierig. Propheten traten auf und erinnerten an Bund
und Gesetz. Wer war schuldig, dass das Zusammenleben
der Stämme nicht befriedigend gelang? Heidnische Rest-
völker zwischen ihnen? Begierige Grundbesitzer? Händ-
ler, die sich mit Götzendienerinnen einließen? Unfähige
Könige, Tempelpriester, die ihren Dienst nur halbherzig
versahen? Mangelte es dem auf Jahwe verpflichteten Volk
an Treue? Mächtige Nachbarn eroberten Israel. Die Be-
wohner wurden bis Babylon vertrieben. Nach lang er-
sehnter Heimkehr erbauten sie einen zweiten Tempel,
größer und schöner als den Ersten. Der Jahwe-Bund wur-
de feierlich erneuert, die Bundesgeschichte neu aufge-
schrieben zu immer währendem Gedenken. Die Männer
beteuerten den Bund. Aber vielen war das eigene Stück
Feld näher als der Vorhang des Tempels. Gedanken und
Vorstellungen von außerhalb des Jahwekultes drangen
ein, aus Griechenland, Syrien, Ägypten. Einzelne wollten
sich nicht mehr durch kollektiven Kult bestimmen lassen.
Sie empfanden ihr Leben als individuelle Geschichte.

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Dramatisch, mit schon sehr differenziertem Bewusst-


sein, meldet sich ein Hiob zu Wort. Der Gottesfürchtige
kann nicht hinnehmen, dass ihm alles genommen wird,
Herden und Haus, Söhne und Knechte, Kraft und Ge-
sundheit. Wo bleibt bei diesen Verlusten Gottes Gerech-
tigkeit? Der Mann wehrt sich, er argumentiert.
Aus der israelischen Spätzeit spricht auch Kohelet. Ein
bedachter Mann, lebenserfahren, lebensoffen. Auch er
kein Siegertyp. Der Tempel scheint ihm fern gewesen zu
sein, Jahwe verdunkelt, das Leben bedrängend. Es muss
gelebt werden. Du darfst, du sollst leben. Aber wie? Das
Gesetz berücksichtigt nicht das gesamte Leben. Es spricht
nicht alle Bedürfnisse des Menschen an. Glaube, sagt Ko-
helet, deckt nicht alle Erfahrung. Seine Rede kommt unse-
rem Bewusstsein bedenklich nahe. Ein erster Moderner in
der Bibel? Einer, der mit Vernunft und Erfahrung argu-
mentiert und für seine eindringliche Rede – anders als
Hiob – nicht mit Gütern belohnt wird. Die Glaubenssi-
cherheit der Väter kennt Kohelet nicht. Der Glaube kann
seine rationale Vernunft nicht restlos durchdringen. Da
ist etwas geschwunden.
Die Hoffnung auf ein jüdisches Reich hatte sich im Ver-
lauf der Jahrhunderte nicht erfüllt. Die hellenistischen Se-
leukiden fielen ins Land. Römer besetzten die Städte. Go-
jim, Heiden saßen in Jerusalem. Politische Wirklichkeit
und religiöse Hoffnung klafften auseinander. Aber dann,
sagt die Schrift, wurde die Zeit erfüllt, ein neues Zeitfenster
geöffnet. Neue Schreiber berichten von Jeschua aus Naza-
reth, der ein Reich des Himmels verkündete. Er trat mit
Zeichen und Wundern auf. Seine Reden strahlten Macht
aus. Er pries Arme selig, verkündete einen neuen Bund.

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Das Volk lief ihm zu. Die Führer waren beunruhigt. Anstal-
ten, die Römer zu vertreiben, machte Jeschua nicht. An sei-
nen Worten schieden sich die Geister. Zustimmung hier,
Widerspruch dort. Kann man sich vorstellen, dass Jeschuas
Geschichte gut ausgegangen wäre? Er wurde getötet. Seine
Jünger bezeugen die Auferstehung des Getöteten. Die Bot-
schaft breitet sich aus. Wie schon das Gesetz bei den Juden
scheidet sie in der Folge Gläubige und Ungläubige. Global
hat seine Botschaft die Weltgeschichte bis heute nicht
durchdrungen.
Auch die Überlieferung Jeschuas geschah zunächst
mündlich. Erst eine spätere Generation hat Leben und
Worte Jeschuas niedergeschrieben. Die frühen Gemeinden
waren interessiert, zu erfahren, was man über ihn wissen
konnte. Wie erschiene Jeschuas Bild, wenn auch Frauen
geschrieben hätten? Kämen andere Wahrnehmungen zur
Sprache? Andere Begegnungen? Andere Töne, Gleichnisse,
Erfahrungen, andere Sichtweisen? Jahre nach Jeschuas Tod
tritt der Tarser Paulus auf die Bühne. Als strenger Jude hat
er dessen Anhänger verfolgt. Jetzt beruft er sich auf seine
persönliche Begegnung mit Jeschua, die seine Einstellung
verwandelt hat. Kontrollierbar war seine Berufungsge-
schichte nicht. Aber dieser Mann entwickelt eine Energie,
die ohne Jeschuas Kraft kaum erklärbar ist. Der bekehrte
Jude wurde theologischer Vordenker der Christen.

Große biblische Gestalten berichten ihre Geschichte. Sie


sprechen von Lebenserfahrungen, bedenken ihren Glau-
bensweg. So lange Menschen leben, werden sie Gottes-
erfahrungen berichten. Was hat Abrahams Gott mit dem
Hiobs zu tun? Was der helle Moses-Gott mit dem ver-

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dunkelten Kohelets? Weit weg ist Evas Strafgott von der


Geisterfahrung Mirjams, der Mutter Jeschuas. Weit weg
ist Davids Gott von dem des Paulus. Der biblisch gezeigte
Gott ist nicht einfach der dogmatisch fixierte. Der leben-
dige Gott hat mit jedem Menschen eine Geschichte. Je-
der Geborene beginnt eine neue Gottesgeschichte. Die
letzte Geschichte ist deine Geschichte. Du hast dich vor-
gefunden unter Lebenden. Du findest dich vor. Dasein
wird dir bewusst. Deinen Weg musst du selber suchen.
Von Konflikt und Dunkelstellen ist kein Weg frei. Jeder
übernimmt Muster, aber die persönliche Freiheit ist auf-
gerufen. Was wird einem zugemutet? Was hast du er-
hofft? Wie deutest du deine Geschichte? Wie verhältst
du dich zur Überlieferung des jüdisch-christlichen Got-
tes? Soll der Ferne in deiner Nähe sein? Oder ist das für
dich eine Geschichte früherer Generationen, als Men-
schen noch die Plausibilität der Welt religiös gedeutet
haben? Als sie einen Schöpfergott brauchten und Erwäh-
lung zuließen? Wie begründest du deinen Lebensweg?
Was willst du erfahren, genießen, gewinnen? Nur Last
soll das Leben nicht sein. Wer schenkt dir Freude? Wem
möchtest du glauben? Genügen dir die Antworten der
Wissenschaft? Wer oder was bewirkt deinen inneren
Frieden? Verhindert Diskursdenken biblische Erinne-
rung? Blockiert die Informationsflut deinen spirituellen
Geist? Bist du auf dem Weg dem Botschafter Jeschua be-
gegnet? Dem heiligen Geist seines Worts?
Lebe aus all deinen Kräften, sagt die Bibel, aus deinem
Leib, deiner Seele, aus Wissen und Fühlen, deinem Geist.
Leben dürfen, leben können. In jungen Jahren wächst das
Leben, in den mittleren erstarkt es. Dann wird die Lebens-

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kraft schwächer. Du erkennst unwiderruflich, Leben ist


sterblich. Jeder Geborene muss die Welt wieder verlassen.
Ist der Tod das Ende meiner Geschichte? Was erwarte ich,
wenn die Fernreise zu Ende ist? Geschieht neuer Anfang?
Jeschua spricht von Auferstehung zu ewigem Leben. At-
men im Licht der Offenbarung, leben in Beziehung zu
Gott? Noch bist du unterwegs. Du lebst in der Zeit. Du
musst entscheiden, worauf du hoffen, wem du glauben,
mit wem du sprechen willst. In deiner Geschichte als
Mensch ist deine Geschichte mit Gott nach keiner Seite
abgeschlossen. Die letzte Geschichte ist deine Geschichte.
Du selbst schreibst sie.

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