Sie sind auf Seite 1von 45

Wissenswertes zu deutschsprachigen Memoiren der Napoleonzeit

Dr. Thomas Hemmann


- Veröffentlicht in „Die Zinnfigur“, Jg. 2002, Hefte März (S. 62-67), April (96-101), Mai (117-121), Juni (145-148),
Juli (183-189) -
Westfälische und kurhessische Memoiren
Einleitung
In Fortsetzung des Artikels über württembergische Memoiren [1] wenden wir uns nun einem anderen
Rheinbundstaat zu. Das Königreich Westfalen war eine originäre Schöpfung Napoleons und daher sein Anfang
(1807) und Ende (1813) mit Napoleons Aufstieg und Untergang eng verknüpft. Jérôme Bonaparte, Napoleons
jüngster Bruder, im Volksmund "König Lustig" genannt, durfte sieben Jahre dem Königreich vorstehen. Diese
relativ kurze Amtszeit brachte den Untertanen einige Verbesserungen, z.B. den Code Civil, aber auch zahllose
Truppenaushebungen, finanzielle Belastungen und einen zweimaligen Umsturz aller Verhältnisse. Für den
Sammler ist die westfälische Armee besonders interessant, da sie in Spanien 1808-1813, in Russland 1812 und
in Deutschland 1809/1813 Anteil an vielen wichtigen Begebenheiten hatte.
Da die westfälische Armee hauptsächlich aus Kadern der früheren kurhessischen Streitkräfte hervorgegangen
ist, schließen wir kurhessische Memoiren hier ein. Darüber hinaus dienten in der westfälischen Armee – neben
zahlreichen Franzosen –auch viele ehemals braunschweigische, hannoversche und preußische Offiziere, deren
Erinnerungen hier ebenfalls mit aufgenommen werden (z.B. Borcke, Morgenstern). Bei diesen habe ich mir
erlaubt, insofern Berichtenswertes auch zu anderen Armeen in den Memoiren enthalten ist, es hier im Kontext zu
bringen,wenngleich dies gelegentlich über das Thema dieses Aufsatzes hinaus geht. Soweit Braunschweiger
und Hannoveraner aber auf Seiten Englands kämpften (z.B. in der Königlich Deutschen Legion), werden diese
in einem zukünftigen Aufsatz gesondert behandelt.
Die uns vorliegenden Memoiren sind so zahlreich, dass sie ein repräsentatives Bild der westfälischen Armee
geben. Zur Illustration dieser Behauptung bringe ich die Ordre de Bataille der westfälischen Armee im
russischen Feldzug 1812 mit kursiven Verweisen auf Memoirenschreiber hinter den einzelnen Einheiten. Es
wird sofort ersichtlich, dass zur Mehrzahl der Regimenter, leichten Bataillone etc. Memoirenwerke existieren.

Ordre de Bataille, VIII. (Westfälisches) Korps der Großen Armee,März 1812


Quellen:
Gieße, F. Kassel - Moskau - Küstrin 1812 - 1813. Tagebuch während des russischen Feldzuges geführt.
Leipzig, Verlag der Dykschen Buchhandlung, 1912, S. 14-17
Morgenstern, F. Kriegserinnerungen des Obersten Franz Morgenstern aus westfälischer Zeit. Wolfenbüttel,
Julius Zwisser, 1912, S. 121-122 Nafziger, G. F. Napoleon´s Invasion of Russia. Presidio Press, Novato, CA,
1998, S. 478-498
Befehlshaber: König Jérôme, Bruder des Kaisers Napoleon I.
Ordonnanzoffiziere: Graf v. Oberg, ..., Hptm. v. Bodenhausen, Kammerherr Ltn.v.Lehsten-Dingelstädt,
Page
Kommandierender General: GdD Graf Vandamme

ADC: OSL Zeron, Hptm. Mynheer, Ltn. Delude

Chef des Stabs: Oberst Revest

Adjoints des Stabs: OSL Stockmayer (auch Kommandeur des Hauptquartiers), OSL v.Longe, Hptm. v.

Lamberty, Hptm. v. Linden

Kommandeur der Gendarmerie: OSL v. Kalm Ordonnateur: Obermusterungsinspekteur Ducrot Oberinspekteur

des Feldpostamtes: Emmermann Inspekteur des Feldlazaretts und der Apotheke: Isoard Generalstabsarzt:

Merrem

Pharmacien en chef: Boutry

Total: 254 Mann (inkl. Feldbäckerei, Metzger etc.)


1.(23.) Division, Generalleutnant von Ochs

ADC: Hptm. v. St. Paul, Hptm. v. Borcke

Chef des Stabs: Oberst Humbert


Adjoints des Stabs: Hptm. v. Quernheimb, Hptm. Backer v. Loewen, Hptm. v. Bobers, Hptm. v. Wolf

1.Brigade, GdB Damas


ADC: Hptm. Liebhaber, Ltn. v. Lochhausen
III.Leichtes Inf.-Batl., OSL v. Hesberg (Heßberg) Musiker Kollmann
2.Inf.-Regt., 3 Batl., Oberst Baron v. Füllgraf Hptm. v. Morgenstern
6.Inf.-Regt., 2 Batl., Oberst Ruelle OSL v. Conrady
2.Brigade, GdB Graf v. Wickenberg alias Zurwesten
ADC: Hptm. Hölke, Ltn. Cordemann
II.Leichtes Inf.-Batl., OSL Boedicker OSL Boedicker, Hptm. v. Linsingen
3.Inf.-Regt., 2 Batl., Oberst Bernard OSL v. Loßberg ? Wachtmeister Meyer
7.Inf.-Regt., 3 Batl., Oberst Lageon Ltn. Wagner

2. (24.) Division, GdD Tharreau

ADC: Chef de Escadron Liebhaber


Chef des Stabs: Oberst Baron v. Borstel
Adjoints des Stabs: Hptm. Puttrich, Hptm. v. Diepenbroick, Hptm. v. Lindern, Hptm. Laumann
1. Brigade, GdB Graf Wellingerode

ADC: OSL Smallian, Hptm. Vainclair

Gren.-Garde, 1 Batl., Oberst Legras

Garde-Jäger, 1 Batl., Maj. Picot Jäger Fleck

Jäger-Carabiniers, 1 Batl., Maj. Müldner

I. Leichtes Inf.-Batl., OSL v. Rauschenplatt

5. Inf.-Regt., 2 Batl., Oberst Gissot Ltn. Gieße

2. Brigade, GdB Danloup-Verdun (blieb zunächst mit dem 8. Inf.-Regt. zurück)


ADC: Hptm. v. Alles, Ltn. ?

1. Inf.-Regt., 2 Batl., Oberst Bergeron OSL Bauer (stand in Danzig, versetzt zum X. Korps)
4.Inf.-Regt., 2 Batl., Oberst ? (zunächst beim XI. Korps Augereau, dann versetzt zum VI.Korps St. Cyr; kam am
9. Dezember bei Wilna zu den Resten der Großen Armee) Fourier Haars
8.Inf.-Regt., 2 Batl., Oberst Bergeron (stieß am 29. Oktober bei Gshatsk zum VIII.Korps)
OSL v. Meibom ? Sergeant Leifels
Total Infanterie: 22.315 Mann
Kavallerie-Division, GdD Chabert
ADC: Hptm. v. St. Paul, Ltn. Noel
Chef des Stabs: ?
Adjoints des Stabs: OSL v. Reiche (von der Leichten Kavallerie-Brigade), Hptm. v. Hoyer (von der Schweren
Kavallerie-Brigade)
Leichte Kavallerie-Brigade, GdB Baron v. Hammerstein
ADC: Hptm. v. St. Cernin, Hptm. v. Bothmer
Garde-Chevaulegers-Regt., Oberst Müller (bildeten später unter Gen.-Maj. Wolf eine eigene Garde-Brigade) ►
Rittmeister Baumann

1. Hus.-Regt., Oberst v. Zandt


2.Hus.-Regt., Oberst v. Hesberg (Heßberg) ► Ltn. Rüppell ► Trompette-Major Klinkhardt

Schwere Kavallerie-Brigade, GdB v. Lepel


ADC: Hptm. Barth, Ltn. v. Bourbon
Garde du Corps, 1 Schwadron, OSL Lallemand (gingen zurück nach Kassel)

1.Kür.-Regt., Oberst v. Gilsa (1. und 2. Kür.-Regt. unter GdB v. Lepel versetzt zum IV.Kavalleriekorps)

2.Kür.-Regt., Oberst Bastineller


Total Kavallerie: 3.374 Mann, 3.659 Pferde

Artillerie und Genie, GdD Allix

ADC: Hptm. Lachapelle, Ltn. Spangenberg


Artillerie-Regt., 1 Reit. Batt. der Garde, 1 Reit. Batt. der Linie (versetzt zum IV. Kavalleriekorps), 2 Fuß-Batt. der
Linie, dazu pro Inf.-Regt. 2 Regimentsgeschütze (insg. 40 Kanonen und 8 Haubitzen), Oberst v. Pfuhl Kanonier
Wesemann
Genie Corps, Oberst Ulliac

1 Komp. Sappeure

4 Komp. Train (davon 1 zum IV. Kavalleriekorps)

Handwerker-Abteilung

Reserve Park, OSL Schulz

Total Artillerie und Genie: 977 Mann (inkl. Regimentsartillerie), 558 Mann Train, 1.196 Pferde, Bagage Train:
324 Mann, 1206 Pferde

Total insgesamt: 27.802 Mann, 6.061 Pferde


Anmerkungen:
1. Es fanden im Laufe des Feldzuges mehrere Neu- und Umbesetzungen der Kommandeursstellen statt. General
Graf Vandamme legte unmittelbar nach Beginn des Krieges das Korpskommando nieder und wurde interimistisch
durch General Tharreau, dann endgültig durch General Junot, Herzog von Abrantes, ersetzt. König Jérôme verließ
die Armee Mitte Juli und nahm die Garde du Corps mit zurück nach Kassel.
2. Das 1. westfälische Inf.-Regt. wurde dem X. Korps Macdonald zugeteilt. Das 8.Inf.-Regt. stieß erst auf dem
Rückzug der Großen Armee am 29. Oktober bei Gshatsk zum Korps; das 4. Inf.-Regt. gehörte zum XI. Korps
Augereau, wurde dann zur Division Wrede des VI. Korps St. Cyr versetzt und traf am 9. Dezember bei Wilna ein.
Die beiden westfälischen Kürassier-Regimenter wurden beim Vormarsch an der Weichsel dem IV. Kavalleriekorps
Latour-Maubourg einverleibt.
3. In den Quellen werden deutsche und französische Rangbezeichnungen nebeneinander verwendet, z.B. Général
de Brigade / Generalmajor oder Capitaine / Hauptmann.
Einige Hinweise noch zur Literatur: Interessenten der Geschichte des Königreichs
Westfalen können das Übersichtswerk von Kleinschmidt [2] konsultieren; für die
westfälischen Armee ist das Standardwerk Lünsmanns Buch über "Die Armee des
Königreichs Westfalen 1807 - 1813" [3]. Ein Spezialwerk zur Uniformierung der
westfälischen Armee haben Gärtner und Wagner im Auftrag der Gesellschaft für
Heereskunde herausgegeben [4].

Zur redaktionellen Aufbereitung: eigene Erläuterungen innerhalb der Zitate habe ich in
runde Klammern gesetzt und mit TH gekennzeichnet. Auslassungen habe ich mit (...)
markiert. Sofern mir zugänglich, habe ich auch Abbildungen der besprochenen
Personen beigefügt.

Generalmajor z. D. Bauer: Aus dem Leben des Kurhessischen


Generallieutenants Bauer
Johann Philipp Bauer wurde 1775 geboren und trat vergleichsweise spät, im 24. Lebensjahr, als Fahnenjunker in die
Armee des Landgrafen von Hessen-Kassel
(später Kurfürst Wilhelm I.) ein. 1801 zum Fähnrich, 1805 zum Sekondelieutenant im Regiment "Erbprinz" (später v.
Wurmb) ernannt, war er im Jahr 1806 Brigade-Adjutant bei General v. Wurmb. Als man am Standort des Regiments in
Eschwege von der vertragsbrüchigen Annektierung des – eigentlich neutralen – Kurhessens durch die Franzosen
unter Marschall Mortier erfuhr, wurde Bauer von seinen Offizierskameraden nach Kassel entsandt, um bei General v.
Wurmb um Verhaltensbefehle zu bitten. Dieser antwortete, dass der Kurfürst nichts mehr für seine Offiziere tun könne
und riet zum Übertritt in französische Dienste. Da Bauer kein Vermögen oder anderweitige Verdienstmöglichkeiten
besaß, folgte er diesem Ratschlag und trat als Adjutant-Major in das in Frankreich aus ehemaligen hessischen
Soldaten neu gebildete 2. Regiment Hesse-Cassel ein. Dieses Regiment wurde eine der Keimzellen für die ab 1808
aufgestellte westfälische Armee. Bauer trat in diesem Jahr in das 4. Linieninfanterieregiment über, welches als Teil
einer westfälischen Division Anfang 1809 nach Spanien ging. Dort nahm Bauer an der verlustreichen Belagerung der
katalanischen Festung Gerona teil, erkrankte mehrfach am Spanischen Fieber, und reiste Ende 1810 vom Lazarett in
Perpignan nach Kassel zurück. Interessant an dieser spanischen Episode ist, wie sich Bauer in seinen Briefen nach
Hause sehr engagiert für die französische Sache zeigt und z. B. den Dörnberg´schen Aufstand des Jahres 1809
verurteilt. Aufgrund seiner in Spanien bewiesenen Tüchtigkeit wurde Bauer im Februar 1811 zum Oberstlieutenant
(d.i. Bataillonskommandeur) im 1. Linieninfanterieregiment ernannt. Das Regiment wurde kurz darauf nach Danzig in
Marsch gesetzt, um dort Garnisonsdienst zu versehen. Im Juni 1812 kam Bauers Regiment zunächst als Besatzung
in das Fort Neutief
(gegenüber Pillau, bei Königsberg). Bei einer Besichtigung des Regiments durch Napoleon in Königsberg, die sehr
zur Zufriedenheit des Kaisers ausfiel, bat das Offizierskorps um Versetzung des Regiments zur Großen Armee, um
den bevorstehenden Feldzug gegen Russland nicht zu verpassen! Dieser Wunsch wurde erfüllt und das 1. Regiment
der 7. Division (Grandjean) im X. Armeekorps unter Marschall Macdonald zugeteilt. Das X. Armeekorps, bestehend
aus Polen, Westfalen und Bayern (in der Div. Grandjean) sowie dem preußischen Hilfskorps (27. Division unter
Grawert, später Yorck) bildete den linken Flügel der Großen Armee und war zur Einnahme von Riga bestimmt. Die
Hauptlast der Kämpfe vor Riga trugen die Preußen, so dass die Div. Grandjean vergleichsweise wenig ins Feuer
kam. Man erfuhr im X. Armeekorps so wenig von den Vorgängen bei der Großen Armee, dass Macdonald immer
noch seine Truppen vor Riga stehen ließ, als die Russen Mitte Dezember bereits seine Rückzugslinie über Tilsit
bedrohten. Nunmehr wurde schleunigst der Rückzug angetreten. Die Vorgänge, die beim als Arrieregarde
marschierenden preußischen Hilfskorps zum Abschluss der Konvention von Tauroggen durch Yorck führten, sind
bekannt und sollen hier nicht wiederholt werden. Der Div. Grandjean (mit dem 1. westfälischen Regiment) gelang es,
sich nach Danzig durchzuschlagen. Ab 21. Januar 1813 wurde Danzig von den Russen eingeschlossen und belagert.
Während des Waffenstillstands brachte ein Kurier Napoleons u.a. Auszeichnungen für die Besatzung der Festung
mit. Bauer erhielt für seine Tapferkeit das Ritterkreuz der Ehrenlegion. Eine Episode der Belagerung, wie sie Bauer in
Briefen erzählte [5], soll hier folgen.
"Noch nie war ich größerer Gefahr ausgesetzt, als am 2. d. M. (September 1813. TH); ich habe immer so wenig
Zutrauen zu mir gehabt und doch kann es nicht leicht einen Menschen geben, der einer so großen Gefahr glücklich
entgangen ist. Dieser Tag war der wichtigste und trotz allem gehabten Unglück auch der glücklichste meines
Lebens. Ich will versuchen, es Dir, lieber Bruder, ausführlich zu erzählen. Ich ging an diesem Tage, Nachmittags 4
Uhr, ganz gegen meine Gewohnheit zu Fuß nach Langfuhr (Dorf, etwa 4 km nordnordwestlich von Danzig. TH), um
meine Leute zu besuchen. Kaum bin ich mit den mich begleitenden Lieutenants v. Tettenborn und Dalwigk an den
äußersten Posten angelangt, als wir eine Colonne Cavallerie im Trabe, 100 Schritt vor uns vorbeireiten sehen; da
mir dies auffallend war, so sagte ich zu meinen Begleitern, daß ich einen Angriff befürchte und daß wir deshalb
zurückkehren wollten. Kaum hatte ich das gesagt, so sahen wir auch schon die Russen mit einem entsetzlichen
Hurrageschrey von allen Seiten dem Dorfe entgegenlaufen. Du kannst Dir meinen Schrecken denken, zum
Vergnügen hierhergegangen zu sein und nun blessiert oder doch gewiß gefangen zu werden. Wir liefen, was wir
konnten, und dabei passierte es mir, daß ich ein Paar Stiefel anhatte, bei denen mir die Sporen stets unter die
Absätze kamen und mich dadurch am Laufen hinderten. Ich kam fast gleichzeitig mit den Russen im Anfang des
Dorfes an, wo die beiden von uns und den Bayern besetzten Blockhäuser standen, und hatte nur noch etwa 300
Schritte zu laufen, um zu unserer Reserve zu gelangen; da ich aber nicht mehr die Kraft dazu hatte, würde ich
rettungslos der Russischen Cavallerie, welche zwischen dem Dorfe und der Reserve stand, in die Hände gefallen
sein. Ich beschloß deshalb, mich mit der Besatzung des Dorfes in ein Blockhaus zu werfen. Lieutenant v. Dalwigk
setzte sich zu dem Adjutantmajor Stoelting aufs Pferd, Beide wurden zwar abgeworfen, konnten sich aber durch
Laufen noch retten, während Lieutenant v. Tettenborn sich in das mir gegenüberliegende Blockhaus warf. So wäre
ich denn vorerst glücklich gerettet gewesen, aber kaum hatten wir die Mannschaft aus dem Dorfe in die Blockhäuser
aufgenommen, als auch schon die Russen von allen Seiten gegen dieselben anstürmten. – Ich muß Dir nun erst
einmal die beiden Blockhäuser beschreiben; das eine mir gegenüber ist ein massiv gebautes Langhaus, welches frei
am Wege liegt, das andere ein ordinäres Wohnhaus, auf beiden Seiten von Häusern umgeben; an beiden Häusern
sind die Fenster mit Bohlen vernagelt und Schießscharten eingeschnitten, auch beide mit Palisaden umgeben.
Blockhäuser kann man sie eigentlich nicht nennen, da jede Kugel durch die Bohlen geht, sie konnten sich aber wohl
eine Zeit lang halten, bis Hilfe aus der Festung kam, und dahin war auch die Instruction gegeben. In meinem Hause
waren ein Bayerischer Capitän und Lieutenant und etwa 70 Bayern und Westfalen. Kaum hatten wir die Thüren
zugemacht, so waren auch schon mehrere Hundert Russen da und versuchten die Palisaden zu ersteigen, aber alle,
die es thaten, blieben todt dabei liegen, sie ließen sich aber nicht abschrecken, immer kamen neue, denen es
ebenso erging. Meinen Leuten waren durch das fortwährende schnelle Schießen die Läufe an den Gewehren so
heiß geworden, daß sie dieselben erst mußten abkühlen lassen. Schon lagen Hunderte von Russen um und
zwischen den beiden Häusern, als unsere Reserve, die Neapolitaner, uns zu Hilfe kam; jetzt machten wir mit ihnen
einen Ausfall und trieben die Russen eine Strecke weit durch das Dorf, mußten aber wieder in das Blockhaus
zurück, da sie bedeutende Verstärkungen erhalten hatten und uns abzuschneiden suchten. Ein Theil der
Neapolitaner konnte sich mit einigen unserer Leute noch zurückziehen, eine Anzahl derselben wurde gefangen, und
einige derselben nahm ich in mein Blockhaus auf, dabei waren der Capitän der Bayern und Lieutenant Müller von
unserem Regiment todt geblieben.
Da die Russen sahen, daß sie auf diese Art unsere Häuser nicht bekommen konnten, so steckten sie die
benachbarten Häuser in Brand, um uns in den unserigen zu verbrennen. Wie ich nachher hörte, hatte Lieutenant von
Dalwigk, brav wie immer, sich an die Spitze der Neapolitaner gesetzt, um uns zu befreien, war aber, nachdem ihm
durch einen Schuß der rechte Oberarm zerschmettert worden, genöthigt, zurückzugehen. Die Neapolitaner, welche
nicht gesehen, daß wir in das Blockhaus zurückgegangen waren, hatten dem Gouverneur gemeldet, die Russen
hätten, nachdem sie uns theils niedergemacht, theils gefangengenommen, die Blockhäuser besetzt. Eine Folge
davon war, daß jetzt auch unsere Artillerie die Häuser beschoß. Da die Nachbarhäuser in vollen Flammen waren,
wurde unsere Lage immer fürchterlicher, man konnte keine Sekunde lang die Hand an die Wände unseres Hauses
legen, so heiß waren sie schon geworden. Einige unserer Leute hatte ich auf dem Boden vertheilt, um die in Brand
geratenen Bohlen herabzureißen und unseren Vorrat an Patronen auf den Gang zu setzen, da sie sich jeden
Augenblick entzünden konnten.
Das Schießen dauerte die ganze Nacht hindurch, auch kamen mehrfach Russen mit Fackeln, um unser Haus in
Brand zu stecken, wurden aber immer von unseren Leuten todt niedergestreckt. Wir erwarteten noch immer Hülfe
aus der Stadt, da wir nicht ahnten, daß man uns schon völlig verloren gegeben hatte, es wäre uns sonst nicht
schwer gewesen, mit einigem Verlust die 400 Schritt von uns stehende Reserve zu erreichen. Ich hatte nur drei
Blessirte im Hause, um so mehr lagen verwundete Russen um die Häuser herum, denen Niemand helfen konnte
und die in der Nacht ein erbärmliches Geschrei erhoben.
So verging die fürchterliche Nacht in der steten Furcht, verbrannt zu werden, und in der immer vergeblichen
Hoffnung, Hülfe zu erhalten; dabei klebte uns die Zunge an dem Gaumen, da wir keinen Tropfen Wasser oder
Branntwein vorräthig hatten. Als es morgen wurde, kam der schrecklichste Augenblick meines Lebens, in welchem
ich meine arme Seele unserm Herrgott empfahl und ein heißes Stoßgebet zum Himmel schickte. Wir sahen nämlich
hinter unseren Häusern die Russische Cavallerie und mehrere Colonnen Infanterie sich aufstellen, um den Tanz von
Neuem zu beginnen.
In dem anderen Blockhaus ging es ebenso, wie bei uns, nur war man in dem massiven Haus nicht in solcher Gefahr,
verbrannt zu werden, wie in unserem. –Zuerst wurde das jenseitige Haus von der Russischen Artillerie beschossen,
und sahen wir mehrere Kugeln in dasselbe einschlagen, welche gewiß viele verwundeten, dann wurden aber auch
Granaten hineingeworfen, die alsbald zündeten. Die Offiziere in diesem Hause, die Lieutenants Otto und v.
Tettenborn schickten nun an die in der Nähe stehenden Preußen einen Hornisten und erklärten sich bereit zu
capitulieren, was ihnen schon früher angeboten, aber von ihnen immer abgelehnt worden war. Die Capitulation
wurde angenommen und die Offiziere, Chirurgus Stoepler und die Mannschaft kriegsgefangen erklärt. Kaum waren
sie aber aus dem Hause getreten, als die Russen ein Pelotonfeuer auf sie gaben, welches mehrere niederstreckte,
nur acht von der Mannschaft retteten sich, wie wir sahen, durch die Flucht, die anderen wurden gefangen. – Jetzt
wurde das Feuer auch auf unser Haus gerichtet, das wir aber, da wir nicht wußten, daß man uns aufgegeben hatte,
nicht verlassen wollten. Es gehörte aber, ohne mir ein Compliment machen zu wollen, wahrlich meine Gegenwart
dazu, die Leute noch an die Schießscharten zu stellen, nachdem sie die im anderen Hause sich hatten retten sehen
und in ganz kurzer Zeit sieben Kanonenkugeln durch das Haus flogen. Du kannst Dir denken, welches Unheil sie
anrichteten; einem Soldaten war die Schulter, einem die Beine, und einem der Kopf weggerissen. Nun wurden auch
Granaten in das Haus geworfen, ich war in der obersten Etage und hatte das Vergnügen, ihre Bekanntschaft in
solcher Nähe zu machen, wie ich es mir nicht wieder wünsche. Die erste platzte in der Nebenstube und zündete
auch sogleich, ich wollte schnell dahingehen, um womöglich das Feuer noch zu löschen, da fiel die zweite neben mir
auf den Gang, riß einem Voltigeur-Sergeanten die Brust entzwei, daß Lunge und Leber daneben lagen, und zündete
auch sogleich. Jetzt dachte ich, mein letztes Stündlein sei gekommen. Alles hatte sich die Treppe hinunter in die
unteren Stuben gerettet, nur ein Neapolitaner war oben noch bei mir. Als dieser hinter mir her durch das Feuer die
Treppe hinuntereilen will, schlägt die dritte Granate auf dem Gang ein, ewig werde ich sie die drei Schritte vor mir
brennen sehen, ich habe kaum die Treppe erreicht, so crepirt sie und schmeißt ein Stück dem Neapolitaner, welcher
unmittelbar hinter mir war, in den Rücken, und stürze ich nun mit diesem halbtodten Menschen die Treppe hinunter.
Jetzt war keine Rettung mehr möglich, ich raffe mich auf, dränge mich unten durch den Klumpen Menschen und
sagte ihnen, sie sollen ins Freie treten, sich aber wegen der Cavallerie, die schon auf uns wartete, zusammenhalten,
dann öffne ich die Thüre, als das obere Haus schon in lichten Flammen steht. Da die Thür so schmal ist, daß nur
zwei zugleich heraus können, so kannst Du Dir das Gedränge denken, da Jeder, um nicht zu verbrannt zu werden,
der Erste sein wollte. Vor der Thüre warte ich, bis ich etwa 20 Mann zusammen hatte, und laufe auf gut Glück nach
unserer Reserve, die 500 Schritt von uns entfernt stand, meine Beine waren aber so schwach, als ob ich Blei darin
hätte. Als ich das Haus kaum 20 Schritte im Rücken hatte, wurde ich von den herumstehenden Russen entdeckt,
und alsbald macht Infanterie und Cavallerie Jagd auf uns, ich hatte, um meine großen Epauletten zu verbergen,
einen Soldatenmantel umgehängt. Ich laufe mit meinen Leuten, unter Hurrahgeschrei, auf unsere Schanzen zu,
werde aber von dort mit einem Flintenfeuer empfangen, da man uns für Russen hielt, welche die Schanzen stürmen
wollten. Die Russischen Dragoner waren dicht hinter uns, hielten sich aber zu unserem Glück mehr an diejenigen,
welche einzeln hinter uns herkamen. Trotzdem wir von allen Seiten beschossen wurden, kam ich doch mit 40 Mann,
ohne blessirt zu sein, bei unseren Leuten an.
Westfälische und Kurhessische Memoiren .9

Eine höhere Macht hatte mich beschützt, 35 Mann hatte ich verloren, theils solche,
welche im Blockhause blessirt waren und wahrscheinlich verbrannten, theils solche,
welche während des Laufens von unseren oder feindlichen Kugeln getödtet oder
verwundet und gefangen wurden. Wie freuten sich aber Alle, als sie mich gerettet
sahen, Offiziere von allen Truppentheilen fielen mir um den Hals und bewiesen mir
dadurch ihre Achtung, aber nichts machte mir mehr Vergnügen, als meine Offiziere
und Soldaten; dieses Gefühl und diese Freude läßt sich nicht beschreiben, jeder
Soldat gab mir die Hand, der eine bot mir Brot, der andere Schnaps an, ich wurde
von ihnen mehr getragen, als geführt, eine größere Belohnung konnte mir nicht zu
Theil werden."

Die Belagerung dauerte fast das ganze Jahr hindurch, bis der Gouverneur von
Danzig, General Rapp, am 25. November 1813 mit den Russen eine ehrenvolle
Kapitulation zum 1. Januar 1814 abschloss. Diese wurde allerdings vom russischen
Kaiser nicht ratifiziert und die französische Besatzung musste unehrenhaft in
Kriegsgefangenschaft ziehen, hingegen durften die deutschen und polnischen
Offiziere und Soldaten in ihre Heimatorte zurückkehren (Deutschland war ja
inzwischen bis zum Rhein von der napoleonischen Herrschaft befreit, König Jérôme
geflohen). Bauer traf am 26. Januar 1814 wieder in Kassel ein, erhielt hier jedoch
nicht die gewünschte Anstellung als kurfürstlich-hessischer Major, sondern nur als
Kapitän im Regiment "Landgraf Carl" (der zurückgekehrte Kurfürst weigerte sich
meist, im westfälischen Dienst erworbene Ränge anzuerkennen). Unter der Hand
erhielt Bauer allerdings vom Kurprinzen die Versicherung, dass er in kürzester Zeit
zum Major ernannt werden würde, was auch nach acht Tagen geschah. Mit diesem
Regiment nahm Bauer im Feldzug von 1814 noch an der Belagerung von Luxemburg
teil. 1815 kam vom Regiment nur ein Detachment von 300 Mann unter der Führung
Bauers ins Feld, wiederum nach Luxemburg. Nach den Befreiungskriegen war Bauer
lange Jahre Bataillonskommandeur und Oberstleutnant, bevor er 1830 zum Oberst
befördert und Kommandeur des 1. Linien-Infanterie-Regiments wurde. 1834 wurde er
zum Generalmajor und Brigadekommandeur, 1847 zum Generalleutnant und

http://home.arcor.de/hemmann/zf/articles/westphalians/westphalians.html 26.12.2013 17:12:38


Westfälische und Kurhessische Memoiren . 10

Divisionskommandeur ernannt. 1848 marschierte er, inzwischen 73 Jahre alt, mit


seiner Division zur Unterdrückung der revolutionären Bewegung nach Baden. Im
folgenden Jahr, 1849, wurde Bauer nach Schleswig in Marsch gesetzt, um dort die
Reserve-Division der kleineren deutschen Staaten im Sundewitt zu übernehmen.
Aufgrund des 1850 in Kurhessen ausgebrochenen Verfassungskampfes ernannte der
Kurfürst Bauer zum Oberbefehlshaber. Die vielfältigen Reibereien und nervlichen
Belastungen führten zu einem erneuten Ausbruch des Spanischen Fiebers, dem
Bauer 1851 erlag.

Friedrich Baumann: Eram. Skizzen aus den Jugendjahren eines Veteranen

Die genauen Lebensdaten von Friedrich Baumann konnte ich nicht ermitteln. Seine
Erinnerungen wurden anonym 1847 von keinem Geringeren als Ludwig Rellstab
erstmals veröffentlicht [6], mit dem Hinweis, dass der Verfasser preußischer Offizier
war. Julius Hahn gab einen Teil dieser Memoiren 1910 neu heraus [7] und lüftete das
Geheimnis der Identität des Verfassers.

Baumann wurde vermutlich vor 1790 geboren und trat etwa 1804/05 als Junker in
das kurfürstlich-hessische Dragonerregiment "Landgraf Friedrich", Garnison Fritzlar,
ein. Dort erlebte er den typischen Gamaschendienst jener Zeit, ganz nach dem
preußischen Muster. Die ruhigen Jahre waren aber bald vorbei, 1805 marschierte der
französische Marschall Bernadotte von Hannover durch Hessen zum süddeutschen
Kriegstheater. Dies war das Donnergrollen vor dem großen Gewitter: 1806, nach
Ausbruch des französisch-preußischen Krieges, besetzte Marschall Mortier in einer
Nacht-und-Nebel-Aktion in verräterischer Weise das neutrale Kurfürstentum
(vergleiche auch die Ausführungen über den Kurfürsten Wilhelm I. weiter unten). Die
kleine, aber gut ausgerüstete und geübte kurhessische Armee wurde entwaffnet und
aufgelöst. Lassen wir Baumann die dramatischen Tage selbst schildern:

"Wir hatten in unseren Quartieren in Ober-Zweren (bei Kassel. TH) natürlich nicht die
geringste Ahnung von diesen Vorgängen, aber wir waren, da Gerüchte verschiedener
Art schon immer einander kreuzten, in steter Erwartung außerordentlicher Ereignisse.
Seit mehreren Tagen und Nächten war nicht abgesattelt worden, wir standen, saßen
und schliefen mit umgeschnallten Pallaschen, geladenen Pistolen und Karabinern.
Am frühen Morgen des ersten Novembers, als am Allerheiligentage, wurde plötzlich
das Regiment gesammelt, und zu unserem größten Schrecken und ohne, daß uns
etwas Näheres über die statt gefundenen Ereignisse mitgeteilt wäre, anstatt vorwärts,
zu unserer alten Garnison nach Fritzlar zurückgeführt. Der Marsch geschah nicht, wie
sonst, in musterhafter Ordnung, alles ging in ungeordneter Eile und als wir in Fritzlar
ankamen, wurden, zu unserer Befremdung, die Standarten nicht wie gewöhnlich beim
General, sondern ins Zeughaus abgebracht. Diesem Befehl folgte der, sämmtliche
Waffen abzuliefern, – es traf uns wie ein Donnerschlag! – Was ich damals empfand,
kann ich nicht beschreiben; ich überlasse es dem Gefühl meiner Cameraden, sich in
jene Zeit und in unsere Lage zurückzudenken, und sich die Szene auszumalen, die
nach solch einem Befehl nothwendig bei einem Truppentheil Statt finden mußte,
welcher in angestammter Treue seinem Herrscherstamm unter allen Verhältnissen im
In- und Auslande unwandelbar ergeben, den letzten Blutstropfen für denselben
hingegeben haben würde. Und nun sollten sie und ich mit ihnen ohne Kampf und
Schwerdtschlag die theuren Waffen abliefern, die sie so lange tapfer geführt, und
durch welche ich mir eine ehrenvolle Laufbahn erringen, oder mit ihnen in der Hand
für Ehre und Ruhm zu sterben bereit war! – Verwünschungen gegen ein solches
Schicksal, gegen die fürchterliche Schande, hörte man von allen Seiten; Ausbrüche
ohnmächtiger Wuth wechselten mit denen wahrhafter Verzweiflung und erpreßten

http://home.arcor.de/hemmann/zf/articles/westphalians/westphalians.html 26.12.2013 17:12:38


Westfälische und Kurhessische Memoiren . 11

den Augen der alten bärtigen Krieger heiße Thränen! – Aber alles dies änderte unser
Schicksal nicht; wir Offiziere zogen uns schweren Herzens zurück, um in einsamer
Stille unsere traurige, aussichtslose Zukunft zu überdenken, aber die Dragoner
blieben auf dem Platze, und machten erst jetzt ihrer bis dahin noch verhaltenen Wuth
Luft. Im höchsten Grade ergrimmt, zerschlugen sie, da ihnen nicht länger die Aussicht
auf ehrenvolle Führung derselben blieb, ihre geliebten Waffen in tausend Stücke; von
den Karabinern wurden die Kolben abgebrochen, eben so von den Pistolen, die
Säbelklingen zerbrochen und dann erst begaben sie sich einzeln oder in kleinen
Trupps niedergeschlagen in ihre Heimath. Ungefähr zwei Drittheil derselben nahmen,
wenn sie nur irgend die Mittel zur Unterhaltung ihres Pferds hatten, dasselbe mit sich,
die übrigen Rosse blieben stehen; – es war ein Wirrwarr, eine Szene ohne Gleichen!"

Baumann kehrte in seine Heimatstadt Wesel zurück, wo er bald darauf mit einem
Freund verabredete, sich zur preußischen Armee durchzuschlagen. Diese Pläne
wurden von der französischen Polizei entdeckt und Baumann nach Luxemburg in
Haft geschickt. Aus dieser wurde er zum Jahreswechsel 1807/08 entlassen. Als
mittelloser Offizier sah er keinen anderen Ausweg, als im Januar 1808 in die eben in
der Aufstellung begriffene westfälische Armee, und zwar in das Garde-Chevaulegers-
Regiment, einzutreten (allerdings führt ihn Lünsmann in den Ranglisten nicht auf). Als
Chevaulegers-Offizier musste Baumann mehrfach König Jérôme auf dessen Reisen
begleiten. 1809 nahm er an der Niederschlagung des Dörnberg´schen Aufstands
sowie am Feldzug gegen die Österreicher teil, wo er bei Waldheim einen Hieb in den
Kopf bekam, der allerdings von Helm und Schuppenkette aufgefangen wurde und
lediglich einen bedeutenden Blutverlust herbeiführte.

Im März 1812 zum Rittmeister befördert, zog Baumann im Verband des VIII.
(westfälischen) Armeekorps in den Rußlandfeldzug. Spannend liest sich seine
Schilderung eines von ihm durchgeführten Fourage-Kommandos zwischen den
Schlachten von Smolensk / Valutina Gora und Borodino. Aufgrund des Nahrungs- und
Futtermangels entlang der großen Heerstraße nach Osten war die vorrückende
Große Armee gezwungen, teilweise tagelange Streifpartien nach Norden und Süden
zu entsenden, um Vorräte zu requirieren. Traf ein solches Fouragekommando auf ein
russisches Dorf oder Herrschaftssitz, flohen deren Bewohner meist unter Mitnahme
allen beweglichen Gutes in die Wälder, versuchten aber – oft unter Mitwirkung von
Kosaken und Linienkavallerie – den Fouragierenden nach Kräften zu schaden. Dies
erlebte auch Bauer, der nach stundenlangen Gefechten mit den Russen allerdings so
glücklich war, mit seinem Kommando sein Korps wieder zu erreichen und einige
Lebensmittel mitzubringen. Nach der Schlacht von Borodino rückte Baumann mit in
Moskau ein (der Großteil des VIII. Armeekorps war auf der Etappenstraße
zurückgeblieben), wo er den Brand der Stadt erlebte. Beim Rückzug brachte er von
zwei Wagen, die sich in seinem Besitz befanden, immerhin einen noch über die
Beresina. Nachdem Baumann sich bei Kowno über den Njemen gerettet hatte, wurde
er zu guter Letzt auf polnischem Gebiet, kurz vor der preußischen Grenze, doch noch
von Kosaken gefangen. Auf dem Transport zurück nach Osten konnte sich Baumann
zusammen mit einem Kameraden bei einem Gutsbesitzer verstecken und so
überleben. Baumann schildert noch kurz, dass es ihm schließlich gelang, bei der
preußischen Armee angestellt zu werden, wo er im Laufe seiner Karriere noch bis
zum Stabsoffizier aufstieg. Seine Erinnerungen diktierte er wahrscheinlich Anfang der
1840er Jahre, während einer drei Jahre dauernden Erblindung, von der er
glücklicherweise geheilt wurde und mit Hilfe des wieder gewonnenen Augenlichts
noch eigenhändig die Niederschrift ordnen konnte.

http://home.arcor.de/hemmann/zf/articles/westphalians/westphalians.html 26.12.2013 17:12:38


Westfälische und Kurhessische Memoiren . 12

Freiherr v. Bodenhausen: Tagebuch eines Ordonnanzoffiziers von 1812 - 1813

Carl Bodo v. Bodenhausen, geb. 1785 und aus guter Familie, wurde nach
Jurastudium in Göttingen im Frühjahr 1806 in der Justizkanzlei zu Hannover als
Auditor angestellt. Ende 1807 erhielt er, nunmehr westfälischer Untertan, in Kassel –
ohne sich hierfür beworben zu haben – das Patent als Kammerherr der Königin von
Westfalen Katharina (Tochter des Königs von Württemberg). 1811/12 wurde
Bodenhausen in gleicher Stellung für den Dienst des Königs bestimmt. Jérôme bot
ihm am Neujahrstag 1812 an, ihn bei dem wahrscheinlich ausbrechenden Krieg
gegen Russland als Kammerherr und Ordonnanzoffizier zu begleiten. Da
Bodenhausen diesen Vorschlag annahm, erhielt er ein weiteres Patent als "capitaine
et officier d´ordonnance" sowie die Weisung, sich im Kriegsbüro mit
Militärgegenständen zu beschäftigen. Er ging dann mit dem König nach Warschau,
von wo er am 16. Juni mit Depeschen zu Napoleon nach Gumbinnen / Ostpr.
geschickt wurde. Von dort kehrte er am 22. Juni zu Jérôme nach Ostrolenka (vor
Grodno) zurück. Nach einer erneuten Sendung zum Kaiser, der inzwischen bis Wilna
vorgegangen war, wurde Bodenhausen mit Briefen Napoleons (die übrigens scharfe
Verweise für Jérôme enthielten) zum König zurückgeschickt; letzterer war schon bis
vor Nieswicz vorgedrungen (6. Juli). Kurz nach Bodenhausen traf ein Adjutant des
Kaisers ein, der Jérôme ankündigte, dass er unter den Befehl des Marschalls Davout
gestellt sei. Daraufhin entschloss sich Jérôme, die Armee zu verlassen und nach
Kassel zurückzukehren. Bodenhausen erhielt Depeschen an den westfälischen
Gesandten in Berlin und die Weisung, anschließend ebenfalls nach Kassel zu gehen.
Dort erhielt er am 27. September den Befehl, wieder zur Armee nach Russland zu
reisen. In seinen Erinnerungen [8] schreibt er, "meine Missionen waren:

a. das Hauptquartier der westphälischen Armee aufzusuchen und dorthin Geld,


Ernennungen und Decorationen zu bringen, über den Stand der Armee die
persönlichen Rapporte der Generale zu fordern und diese mit dem nächsten
Armeecourier einzuschicken;
b. mich in das Hauptquartier von Napoleon zu begeben und diesem die
Glückwünsche zu der gewonnenen Schlacht an der Moskwa (Borodino. TH) zu
überbringen, mündlich und schriftlich;
c. Napoleon um die Erlaubnis zu bitten in seinem Hauptquartier verbleiben zu
dürfen, um bis zu meiner definitiven Abfertigung die Verbindungen sowohl mit
der westphälischen Armee als mit Cassel zu unterhalten;
d. an westphälische blessierte Offiziere Geldunterstützungen zu geben;
e. für die Königin zu Moskau Schawls und sonstige indische Gegenstände
einzukaufen."

Bodenhausen traf im kaiserlichen Hauptquartier am 24. Oktober gegen 10:00 Uhr ein,
also am Tag nach der Schlacht von Malo Jaroslawetz. Napoleon war am Morgen des
24. mit knapper Not einer Gefangennahme durch die Kosaken entgangen und fasste
kurz darauf den verhängnisvollen Entschluss, sich auf der Vormarschstraße (nördlich,
über Borodino) zurückzuziehen, was schließlich zum totalen Untergang der Großen
Armee führte. Bodenhausen blieb seinem Auftrag gemäß im kaiserlichen
Hauptquartier und wurde so Augenzeuge des Rückzugs. Da er jedoch in seiner
Stellung nichts bewirken konnte, entschloss er sich nach dem schreckensvollen
Übergang über die Beresina, der Armee voraus zu gehen und sich so aus dem
allgemeinen Chaos zu retten. Hierzu verabredete er sich Anfang Dezember mit dem
Kriegskommissar Bruyere, einem energischen jungen Franzosen. Bodenhausen
schildert diese Szene wie folgt: "Wir beriethen uns den ganzen folgenden Tag und
kamen überein uns möglichst einen Pohlen zu verschaffen, welcher seiner

http://home.arcor.de/hemmann/zf/articles/westphalians/westphalians.html 26.12.2013 17:12:38


Westfälische und Kurhessische Memoiren . 13

Landessprache wegen uns sehr von Nutzen sein konnte. Bruyere war so glücklich,
einen pohlnischen Lancier zu finden, der aus Littauen gebürtig war. Er versprach uns
zu führen. Ich versprach ihm 10 Napoleons (französische Goldmünzen. TH)
Belohnung, wenn er uns glücklich durch die vor uns stehenden Russen führte und
dagegen einen Pistolenschuß, wenn er uns verriethe.

Am 3. December abends 8 Uhr versammelten wir uns bei Hammerstein


(westfälischer General, Vetter Bodenhausens. TH), welcher zum Abschied sein
Souper, saure Rüben mit Schweinefleisch, mit uns teilte, nahmen von unseren
Freunden Abschied, die unser Unternehmen für tollkühn erklärten, und verließen die
Armee um 10-11 Uhr nachts. Wir waren 4 Personen, Bruyere und ich, mein Diener
Riegers und der Pohle.

Etwa zwey Stunden weit gingen wir noch auf der Chaussee zwischen den Bivouacs
der Armee, dann hörten diese auf und auf einige Entfernung weiter hin fingen bereits
die russischen Bivouacs an. Unser Pohle riet jetzt die Straße zu verlassen, um quer
über die Felder und durch Gehölze dahin zu gehen, wo keine Feuer waren. Wir thaten
es und marschierten etwa eine Stunde ohne Hindernisse. Mit einem Male erschien
eine russische Patrouille, wir warfen uns zur Erde hinter Büsche nieder und ließen sie
pfeifend passiren. Kaum einhundert Schritte weiter stießen wir auf einen russischen
Posten, der kein Feuer angezündet hatte. Wir suchten ihn zu umgehen. Der Posten
von drey Mann kam auf uns zu, da wir aber ohne Waffen in Mützen, Pelzen und
Mäntel eingehüllt sehr langsam gingen, so hielt man uns sehr wahrscheinlich für
Landleute und ließ uns auf 20-30 Schritt passiren. Dies war das letzte Ereignis, dem
wir begegneten. Wir erreichten gerade eine kleine Anhöhe, sahen in der ziemlich
finsteren Nacht um uns – und hatten alle russischen Feuer hinter uns.

Nach etwa einer halben Stunde Zeit kamen wir zu einzelnen Bauernhütten, unser
Pohle klopfte an ein schwach erleuchtetes Fenster und erkundigte sich nach der
Direction des Weges nach Smorgoni, dem nächst großen Ziel unseres Strebens
(derselbe Ort, an dem Napoleon am nächsten Tag die Armee verließ. TH). Als wir
diese Straße erreicht hatten, marschierten wir noch einige Stunden bis zum
Tagwerden. Um 8 Uhr morgens am 4. Dezember kamen wir auf eine Anhöhe,
blickten herab und Smorgoni lag in glänzendem Sonnenschein vor uns. Wir
erreichten es gegen 9 Uhr und kehrten in einem Judenwirthshause ein. Ein warmes
Zimmer und einige Reinlichkeit empfing uns. Der Krieg hatte hier seine verheerende
Fackel noch nicht geschwungen und niemand hatte eine Ahnung von der alles
verwüstenden Armee. Wir reinigten uns, so gut wir konnten, zum ersten Mal seit
langer Zeit und frühstückten mit großem Wohlgefallen Caffee und frisches Weißbrod
– ein Genuß, der uns seit langem nicht geboten war. Ein unbeschreibliches
Wohlbehagen erfreute uns alle, wir sahen uns gerettet aus großem Elend und Gefahr.

Nach einigen Stunden Ruhe begaben wir uns zur Post, um einen Schlitten und Pferde
auf der Straße nach Wilna zu haben. Man verweigerte es uns in Folge eines Befehls
des Commandanten, nur an Couriere Pferde zu geben. Ich fragte nach dem Namen
des Commandanten, es war der General d´Albignac, vormals Oberstallmeister zu
Cassel. Ich begab mich zu ihm. Er empfing mich sehr gut, aber sehr erstaunt über
alles, was er hörte. Nur ein französischer Courier hatte seit der Beresinaschlacht (also
seit dem 27. November – regulär reisten die Kuriere im Abstand von 24 Stunden. TH)
Smorgoni passiert und sich wenig ausgesprochen. D´Albignac entschloß sich der
Armee mit einem Theil seiner schwachen Garnison entgegenzugehen und ihr Luft zu
machen. Er hatte die Güte mir einen Befehl an die Posten für Gestellung von
Courierpferden zu geben. Damit versehen reiste ich wirklich im Schlitten mit vier

http://home.arcor.de/hemmann/zf/articles/westphalians/westphalians.html 26.12.2013 17:12:38


Westfälische und Kurhessische Memoiren . 14

Pferden um zwey Uhr nachmittags von Smorgoni nach Wilna ab. Mein Pohle bat
mich, ihn bis dahin mitzunehmen, aus Dankbarkeit geschah es, und erst am
folgenden Tag zu Wilna ist er reich beschenkt entlassen."

Bodenhausen war – dank seiner Entschlossenheit und guter Beziehungen – dem


allgemeinen Untergang entkommen. Er reiste mit der Post über Warschau und Berlin
bis Kassel, wo er am 4. Januar 1813 glücklich ankam. Dort wurde er von Jérôme
noch zum Oberstleutnant ernannt und erhielt 3000 Francs, um sich neu equipieren zu
können. Bereits im März bat Bodenhausen jedoch um seine Entlassung als
Ordonnanzoffizier, da er "in die politische Zukunft der Dinge kein großes Zutrauen
hatte" und erhielt sie. Er blieb aber noch Kammerherr und erlebte in der Umgebung
der Königin die turbulenten Tage der ersten Eroberung Kassels durch die Russen
unter General Tschernischeff, Ende September 1813. Nach der Völkerschlacht, in
deren Gefolge das Königreich Westfalen unterging, strebte Bodenhausen wieder in
hannoversche Dienste. Zunächst abgewiesen, da er "die Waffen gegen das
Vaterland getragen habe", bot er dem gerade in Hannover weilenden schwedischen
Kronprinzen (dem ehemaligen französischen Marschall Bernadotte) seine Dienste an
und wurde von diesem als schwedischer Ordonnanzoffizier angestellt. In dieser
Funktion übernahm er im Auftrage des Kronprinzen im Winter 1813/14 mehrere
Missionen, für die er mit dem Ritterkreuz des schwedischen Schwertordens
ausgezeichnet wurde. Nach beendigtem Krieg, im April 1814, erbat er seine
Entlassung und erhielt sie am 30. d. M. Bodenhausen nahm nun seine Bemühungen
wieder auf, in Hannover angestellt zu werden, was ihm nach mancherlei
Schwierigkeiten Ende des Jahres 1814 auch gelang. Er wurde Graf Münster, der die
hannoversche Delegation beim Wiener Kongress leitete, als Mitarbeiter beigegeben
und bewährte sich in der diplomatischen Laufbahn, so dass er am 20. Juni 1815 in
London sein Patent als Legationsrat erhielt. Am nächsten Tag traf in London die
Nachricht von der gewonnenen Schlacht von Waterloo ein. Bodenhausen musste
sogleich über Brüssel und Straßburg wieder nach Paris reisen, wo er an den
Verhandlungen über den zweiten Pariser Frieden teilnahm sowie nebenbei auch noch
die Interessen des Kurfürsten von Hessen vertrat. Bis 1818 blieb Bodenhausen als
königlich hannoverscher Kommissar im Hauptquartier Wellingtons in Frankreich,
siehe Abbildung 1.

Abbildung 1: Carl Bodo v. Bodenhausen im hannoverschen Dienst

Nach vorübergehender Inaktivität, da in Hannover kein passender Posten für ihn frei
war, wurde Bodenhausen erst 1821 wieder reaktiviert. Diesmal kam er als Kriegsrat
in die Kriegskanzlei zu Hannover, wo er bis 1830 blieb. In diesem Jahr wurde er zum
hannoverschen Gesandten in Wien ernannt. Dort residierte er bis nach der Revolution

http://home.arcor.de/hemmann/zf/articles/westphalians/westphalians.html 26.12.2013 17:12:38


Westfälische und Kurhessische Memoiren . 15

von 1848. Das eigenhändige Tagebuch bricht mit dem Jahr 1838 ab. Die Schilderung
der turbulenten Revolutionstage, diesmal aus der Feder von Bodenhausens Tochter,
bildet den zweiten Schwerpunkt des hier besprochenen Buches, gehört aber nicht
mehr zu unserem Thema. Bodenhausen verstarb1854 in Hannover.

Ludwig Boedicker: Die militärische Laufbahn 1788-1815 des Generallieutenant


Ludwig Boedicker, zuletzt Stadtkommandant von Kassel

Ludwig Boedicker, geboren 1774, trat 1788 als Fahnenjunker in das landgräflich-
hessische Garde-Grenadier-Bataillon ein. 1792 nahm er mit dem hessischen
Truppenkorps an den Kämpfen in der Champagne teil, später an der Rückeroberung
von Frankfurt a. M. Nach der Einnahme von Kostheim (einem Dorf bei Mainz) im
Jahre 1793 wurde ihm die zuerst in einem Infanterie-Regiment frei gewordene
Fähnrichsstelle (d.h. der erste Offiziersdienstgrad) versprochen.1794 focht er in den
Niederlanden, wo er auf Vorposten sein Patent als Fähnrich im Regiment "Erbprinz"
ausgehändigt erhielt. Mit einem kleinen hessischen Detachment wurde er im April
1794 in die Festung Menin gesandt (als einer von drei Offizieren). Hauptsächlich
standen dort Hannoveraner; Kommandant der Festung war der hannoversche
General v. Hammerstein. Der frisch gebackene Offizier Boedicker führte bei dem
berühmten Ausbruch der Besatzung aus dem Belagerungsring (bei dem der Name
des Artillerieoffiziers Scharnhorst zuerst öffentlich genannt wurde) die hessische
Abteilung. Leider schlug sich Boedicker mit seiner Mannschaft in die ebenfalls
belagerte Festung Ypern, in der die Masse der hessischen Truppen stand, und geriet
bei der Kapitulation Yperns dann doch noch in französische Gefangenschaft, die zwei
Jahre andauerte.

Nach Hessen zurückgekehrt, wurde Boedicker 1798 zum Sekondelieutenant im


Jägerbataillon ernannt (damals in Hanau stationiert). Damit war er zu der Waffe
übergetreten, bei der er seine Talente am besten verwerten konnte. Den Großteil
seiner Laufbahn verbrachte Boedicker als Offizier der leichten Infanterie. Höhepunkt
seiner Karriere war die 1824 erfolgte Ernennung zum Inspekteur des hessischen
Gardejäger- und sämtlicher Füsilierbataillone, eine Stelle, die erstmals in diesem Jahr
geschaffen wurde und bei seiner Beförderung zum Brigadekommandeur wieder
einging.

1805 wurde Boedicker als Premierlieutenant zum 1. Füsilierbataillon versetzt. Im Jahr


1806 waren die beiden Füsilierbataillone auf Grenzkommando, bis die hessische
Armee im November 1806 aufgelöst wurde. Boedicker kehrte zu seiner Familie nach
Ziegenhain zurück und übernahm für den geflohenen Kurfürsten verschiedene
Sendungen.

Im Februar 1808 ging ihm vom damaligen westfälischen Kriegsminister General


Morio der Befehl zu, sich nach Kassel zum I. leichten Bataillon zu begeben und dort
eine Stelle anzutreten. Boedicker befolgte zwar den Befehl, forderte aber gleich
darauf wieder seinen Abschied, da er sich bei der Einreihung zurück gesetzt fühlte.
Dem Abschiedsgesuch wurde nicht stattgegeben, daher betrieb Boedicker seine
Versetzung zum Chasseur-Karabinier-Bataillon. Aber auch dieser Wechsel misslang;
dafür wurde er nun zum Kapitän 3. Klasse (der niedrigsten Hauptmanns-Charge) im I.
leichten Bataillon befördert. Das leichte Bataillon kam 1809 zur westfälischen Division
nach Spanien. Boedicker nahm an den schweren Kämpfen um die Festung Gerona
teil, zeichnete sich mehrfach aus und übernahm wegen Krankheit des
Bataillonskommandeurs das Kommando des Bataillons. Später führte er sogar
interimistisch die Brigade, sogar die – inzwischen freilich arg

http://home.arcor.de/hemmann/zf/articles/westphalians/westphalians.html 26.12.2013 17:12:38


Westfälische und Kurhessische Memoiren . 16

zusammengeschmolzene – Division, da alle höheren Offiziere ausgefallen waren.


1810 erhielt Boedicker den Befehl, nach Westfalen zurückzukehren, zugleich den
Charakter als Oberstlieutenant (der erste Stabsoffiziersdienstgrad, in der Regel von
Bataillonskommandeuren geführt). Er schreibt: "Als wir das französische Fort
Bellegard auf der Höhe der Pyrenäen erreicht hatten, sah ich noch einmal nach
Spanien zurück, und dankte Gott für die Erhaltung meines Lebens und den in
Gefahren und Ungemach mir verliehenen Beistand. In Perpignan hielt ich mich einige
Tage auf, und nachdem ich mir hier durch gute Menschen das nötige Reisegeld
verschafft hatte, fuhr ich mit der Diligence in 18 Tagen bis Mainz, wo meine Barschaft
noch aus einem Fünffrankenstück bestand. Von hier setzte ich meine Reise in einem
zerrissenem und zerschossenem Überrock und Frack mit meiner spanischen Flinte
auf der Schulter zu Fuß weiter fort, und kam nach 2 1/2 Tagen, am 23. September
1810, mit 6 Kreuzern baarem Vermögen gesund und wohl bei meiner Familie in
Ziegenhain an" [9] (S. 268).

Im Oktober erhielt Boedicker das Patent als Oberstlieutenant bei dem neu errichteten
leichten Bataillon, das u.a. aus den spanischen Kadres errichtet wurde. Das Bataillon
erhielt später die Nr. II. Im Februar 1812 marschierte es von Kassel nach Russland
ab. Dort machte es den strapaziösen Vormarsch mit, focht bei Walutina Gora und bei
Borodino. Hier wurde Boedicker schwer verwundet. Lassen wir ihn wieder selbst
berichten, wie es Verwundeten ergehen konnte: "Am Ende des Gefechts erhielt ich
einen Schuß durch den Mund in den linken Kinnbacken, so daß die Kugel im Halse
sitzen blieb. Da dieser Schuß mich zu Boden warf, so ließ mich der Adjudant-Major
Spangenberg durch einige Leute auf zwei Gewehren zurücktragen; nachdem ich die
Besinnung wiedergewonnen, ließ ich mich auf ein umherlaufendes Pferd setzen,
wobei mich meine Leute festhielten und so weiterführten. Aus der großen russischen
Schanze, bei der wir vorbeikamen, waren die Todten und Blessirten in den Graben
geworfen, so daß letztere, besonders die unten lagen, laut jammerten. Dabei ging
Napoleon in der Schanze auf und nieder und pfiff, so daß ich mich über die
unbeschreibliche Gleichgültigkeit jenes Mannes nicht genug wundern konnte. – Das
Schlachtfeld glänzte von Sternen und Orden auf den prachtvollen Uniformen der
höheren Offiziere; Truppen aller Art lagen todt oder blessirt durch einander und ganze
Bataillone und Eskadrons waren niedergestreckt. Nachdem ich in meinem traurigen
Zustande über einen großen Theil des Schlachtfeldes geführt worden, kamen wir vor
die französische alte Garde. Meine Leute baten mich durchzulassen, dieses wurde
jedoch verweigert und ungeachtet man an meiner Uniform recht gut einen
Stabsoffizier erkennen konnte und dabei das Blut mir aus dem Munde strömte, so
half alles nichts, – ich durfte nicht einmal die Intervallen passiren, sondern meine
Leute waren genöthigt sich mit mir nach einem Flügel zu wenden.

Nach langem Umherziehen wurde ich endlich zur großen Ambulanz gebracht, wo ich
eine solche Menge blessirter Offiziere aller Nationen antraf, daß mir alle Hoffnung zu
einer baldigen Hülfe benommen wurde. Meine Bitten, mich von meiner Kugel zu
befreien, blieben lange fruchtlos, bis endlich ein Arzt (dem mein Bursche 10 Louisd´or
geboten) sich meiner erbarmte. Derselbe mußte sehr vorsichtig zu Werke gehen, um
nicht die Kopfader zu verletzen, was den Tod zur unausbleiblichen Folge gehabt
haben würde. Es gelang ihm nach vier Schnitten die Kugel auszulösen, welche er mir
reichte, dabei war aber mein Gesicht so angeschwollen, daß ich einem Menschen
nicht mehr ähnlich sah. Die Nacht mußte ich auf dem Schlachtfelde liegen bleiben, wo
mich am anderen Morgen meine Leute trafen, die mich nun ankleideten, in einen
kleinen Wagen legten und mir durch einen Federkiel etwas Kaffee einflößten, was
mich unaussprechlich labte. Da der Verband meiner Wunde aufgegangen war,
brachte man mich in ein Kloster, in der Hoffnung daselbst ärztliche Hülfe zu finden.

http://home.arcor.de/hemmann/zf/articles/westphalians/westphalians.html 26.12.2013 17:12:38


Westfälische und Kurhessische Memoiren . 17

Ich kam in ein Zimmer, in dem mehr als hundert blessirte Offiziere lagen, ohne
diejenigen, welche auf den Gängen und im Hof untergebracht waren. Da ich nicht
reden konnte, gab ich meine Noth durch Zeichen zu erkennen, und bat, mich
wenigstens zu verbinden; allein meine Bitten und die Bemühungen meiner Leute,
einen Arzt hierzu zu bereden, waren vergebens. Ich wollte es auch hier mit Geld
erzwingen und mein Bedienter bot 6 bis 8 Louisd´or, doch es half alles nichts, die
Aerzte waren zu sehr mit Arbeit überhäuft und wollten erst den früher angekommen
Blessirten helfen. Mein Zustand wurde indeß immer schlimmer und es fehlte mir so
sehr an Luft, daß ich dem Ersticken nahe war.

In der Voraussetzung meines Todes entschloß ich mich daher das Kloster zu
verlassen und schrieb dem bei mir habenden Sergeanten auf, mich vorwärts zum
Bataillon zu bringen, es dauere so lange es wolle. Auf diesem Wege passirten wir ein
Wäldchen, in dem mehrere Tausend Blessirte lagen; ich verlangte den Kommandeur
zu sprechen, welcher dann in der Person des Oberstlieutenants Byrs vom 5.
Westfälischen Infanterieregiment zu meiner größten Freude an mein Wägelchen trat.
Dieser brave Mann verschaffte mir sogleich einen Arzt, welcher meine Wunde sehr
vorsichtig und gut verband, worauf mir derselbe etwas Bouillon beibringen ließ,
welche mich sehr erquickte.

Am folgenden Morgen führten mich meine Leute weiter und brachten mich nach
vielem Hin- und Herziehen hinter dem Schlachtfelde endlich in der Nähe von Mosaisk
zum Bataillon. Bei demselben blieb ich, ging mit demselben nach Moskau und hatte
nur der Hülfe des Bataillonsarztes und der guten Pflege vom Bataillon selbst meine
Erhaltung zu danken. Ich kam auf diese Weise bei meiner schweren Wunde zwar
niemals unter Dach, doch war dies wohl besser, als die verpestete Luft in einem
Krankenzimmer einzuathmen. (...) Der Vorsehung kann ich nicht genug danken, daß
mich auch nicht ein einziger geringer Zufall bei dieser Blessur betroffen hat; denn nur
eine geringe Anschwellung der gesunden Drüse an der rechten Seite meines Halses
würde ein Ersticken bei sonst gesundem Leibe zur unausbleiblichen Folge gehabt
haben. Im Gegentheil befand ich mich bei der sehr sparsamen Kost stets recht wohl,
und ich muß es als ein ganz außerordentliches Glück ansehen, bei dem in der
fürchterlichen Kälte erfolgten Rückzug aus Rußland, von dem keine Schilderung die
Wirklichkeit erreichen kann, mit meiner diffizilen Wunde glücklich durchgekommen zu
sein."

Ende Januar 1813 kam Boedicker wieder in Kassel an. Aufgrund seiner schweren
Verwundung, die noch nicht ausgeheilt war, bat er um den Abschied, der ihm vom
Kriegsminister auch erteilt wurde. Jérôme zeriss allerdings die Abschiedsurkunde,
nachdem er Boedickers Wunde persönlich in Augenschein genommen hatte, mit der
Bemerkung, die Wunde würde in wenigen Wochen verheilt sein, und übergab
Boedicker den Befehl über die neu aufzustellende Chasseurgarde. Boedicker betrieb
die Organisation so erfolgreich, dass das Garde-Jäger-Bataillon nach einigen
Monaten bis auf 1.200 Mann anwuchs. Das Bataillon kam erstmals nach dem
Russlandfeldzug bei der Besetzung Kassels Ende September 1813 wieder ins Feuer.
Da es fast die einzige geschlossene Einheit war, die den Russen Widerstand leistete
(der König und viele Generale sowie andere Truppen waren geflohen), konnte es die
Einnahme Kassels nicht verhindern. Boedicker ließ sich vom russischen General
Czernischeff überreden, ein Papier zu unterzeichnen (und andere westfälische
Offiziere unterschreiben zu lassen), wonach man nicht mehr gegen die Verbündeten
(Russland, Preußen, Österreich usw.) kämpfen werde. Als der westfälische General
Allix Anfang Oktober mit zusammengerafften französischen Truppen Kassel wieder
besetzte (Czernischeff hatte sich mit seinem Streifkorps wieder zurückgezogen),

http://home.arcor.de/hemmann/zf/articles/westphalians/westphalians.html 26.12.2013 17:12:38


Westfälische und Kurhessische Memoiren . 18

wurden Boedicker und andere Offiziere wegen dieses Papiers verhaftet und 12 Tage
im Kastell von Kassel verhört. Da inzwischen die Verbündeten nach der gewonnenen
Leipziger Schlacht auf Kassel vorrückten, mussten die Franzosen Hals über Kopf aus
Kassel fliehen – Boedicker kam frei. Bis zur Ankunft des hessischen Kurprinzen
verblieb Boedicker bei seiner Familie. Er erhielt sofort wieder eine Anstellung im
hessischen Dienst und wurde bei der Organisation des neu errichteten
Jägerbataillons und des Bataillons freiwilliger Jäger verwendet. Am 6. Januar 1814
erhielt er sein Patent als Major und war damit einer der wenigen westfälischen
Offiziere, die in ihrem westfälischen Rang weiter beschäftigt wurden (der westfälische
Oberstleutnant war der erste Stabsoffiziersdienstgrad); die meisten wurden
mindestens einen Rang niedriger angestellt. Mit seinem regulärem Jägerbataillon
rückte Boedicker am 30. Januar 1814 in den Frankreichfeldzug aus. Zunächst kam
das Bataillon vor die Festung Luxemburg und nahm dort an einem vom General
Dörnberg befehligten Versuch zur Überrumpelung der Festung teil, der jedoch
fehlschlug. Nach dem ersten Pariser Friedensschluss kehrte Boedickers Bataillon im
Juni 1814 nach Hessen zurück.

Der letzte Abschnitt der Memoiren enthält eine ausführliche Beschreibung der
Teilnahme des Jägerbataillons am Feldzug des Jahres 1815, wo es im Verband des
norddeutschen Armeekorps wieder bei der Einschließung von Festungen (u.a. Sedan,
Mezieres, Givet, Charlemont) gebraucht wurde. Sehr aufschlussreich sind Boedickers
Schilderungen seiner Besprechungen mit dem kommandierenden General v. Haake
(später preußischer Kriegsminister) sowie seine Darstellung der Reibungen mit
russischen Truppen bei der Übergabe von Rheims an letztere. Ende 1815 war auch
dieser Feldzug für die Hessen beendet und das Jägerbataillon marschierte zurück in
die Heimat.

In seiner weiteren Laufbahn wurde Boedicker 1821 Oberstlieutenant, 1829 Oberst


(das Avancement war in Friedenszeit natürlich sehr verlangsamt) und 1831
Generalmajor und Kommandeur der 1. Infanteriebrigade. 1838 zum
Generallieutenant ernannt, wurde er erster Kommandant von Kassel, da die
hessische Armee nur eine Division bildete, deren Kommando aber nicht vakant war.
In dieser Stellung starb er 1843.

Johann v. Borcke: Kriegerleben des Johann von Borcke

Borcke wurde 1781 geboren und trat mit etwa 16 Jahren in die preußische Armee
ein. Noch 1797 zum Fähnrich im Infanterie-Regiment Larisch Nr. 26 ernannt, wurde
er 1800 Sekonde-Leutnant. Die gedruckten Erinnerungen [10] beginnen mit dem Jahr
1805, als Borcke mit dem Regiment ins Hannoversche marschierte. Borcke
charakterisiert schonungslos die Schwächen der alten preußischen Armee, die unter
pedantischen Generalen, sinnentleerten Formen und zweckentfremdeten Bräuchen
litt, was dann auch folgerichtig zur Katastrophe von 1806 führte. Borckes Regiment
focht bei Jena unter Rüchel und wurde in den Strudel des Rückzugs gerissen. Borcke
kam nach Magdeburg, wo die Trümmer des Regiments von Kapitän Horn
reorganisiert wurden. Borcke erbat sich dort als Regimentsadjutant vom Gouverneur
der Festung, dem alten General von Kleist, weitere Befehle und erhielt den
denkwürdigen Bescheid: "Thun Sie was sie wollen. Bleiben Sie hier, so verhungern
Sie. Marschiren Sie jetzt noch heraus, so werden Sie gefangen, denn die Franzosen
sind vor den Thoren." Horn entschloss sich zum Abmarsch, mit der Absicht, sich dem
Korps Hohenlohe anzuschließen. Bevor man dieses erreicht hatte, hatte Hohenlohe
bei Prenzlau schon kapituliert. Daraufhin wandte sich das Detachment nach links, um
zu Blücher zu stoßen, was auch gelang. Borcke musste in der Nähe von Waren

http://home.arcor.de/hemmann/zf/articles/westphalians/westphalians.html 26.12.2013 17:12:38


Westfälische und Kurhessische Memoiren . 19

zurückbleiben, da er erkrankt war. Die Mutter eines Kameraden aus Bützow nahm ihn
zur Pflege in ihr Haus. Dort erfuhr Borcke von der Kapitulation Blüchers bei Lübeck.
Nach seiner Genesung ging Borcke über Berlin in seine Heimatstadt Halle, wo er ein
kümmerliches Leben fristen musste. Borcke sann daher auf einen Ausweg und
beschloss, sich mit einem Freund nach Osten zur preußischen Armee
durchzuschlagen. Die mit falschen Pässen unternommene Reise führte über
Hamburg und Kiel, dann mit dem Schiff nach Danzig, wo Borcke im Mai 1807 eintraf.
Hier war allerdings gerade ein Waffenstillstand zwischen der preußischen Besatzung
und den französischen Belagerern abgeschlossen worden, der als Vorstufe der
Kapitulation anzusehen war. Borcke über seine ersten Eindrücke von der neuen
preußischen Armee: "Der veränderte Anzug und das Aeußere unserer Truppen
nahmen meine ganze Aufmerksamkeit zuerst in Anspruch. Kaum glaubte ich
Preußen in ihnen zu sehen, denn es war eigentlich nichts als die Grundfarbe des
Rockes unverändert geblieben. Die Zöpfe, die Hüte, die Gamaschen, die weißen
Beinkleider waren verschwunden, und eine einfache, zweckmäßigere Kleidung, zu
der auch graue Mäntel gehörten, an deren Stelle getreten; Offiziere wie Soldaten
hatten ein kriegerisches, fast abenteuerliches Aussehen durch lange Bärte
gewonnen, wie man es noch wenige Monate zuvor in unserer Armee nicht gewohnt
gewesen war, wo eine derartige Erscheinung Jedem ein Gräuel gewesen wäre."

Borcke konnte Danzig noch vor der Übergabe der Festung verlassen. Er segelte
nach Königsberg, wo er beim neu errichteten 3. ostpreußischen Reservebataillon
angestellt wurde. Die Verhältnisse der Reservebataillone, die ein Bindeglied zwischen
der alten, fast untergegangenen Armee und der reorganisierten Armee, die sich 1813
wie Phönix aus der Asche erhob, bildeten, werden uns von Borcke aus erster Hand
geschildert. Nach der verlorenen Schlacht von Friedland musste auch das 3.
Reservebataillon, das nicht in der Schlacht gekämpft hatte, bei Tilsit über den Njemen
marschieren. Zum 1. September 1807 wurden die Reservebataillone aufgelöst.
Borcke wurde, wie viele andere Kameraden, auf Halbsold gesetzt (8 Taler 8
Groschen monatlich) – zum Leben zuwenig, zum Sterben zuviel. Gleichzeitig erhielt
Borcke Nachricht, dass in der in Aufstellung begriffenen westfälischen Armee
Offiziere gesucht würden. So entschloss er sich, nach Kassel zu reisen und dort
gemeinsam mit seinem Bruder seine Anstellung zu betreiben, zumal seine Vaterstadt
Halle nunmehr zum Königreich Westfalen gehörte. Die Anstellung glückte Anfang
1808. Wahrscheinlich durch ein Versehen erhielt Borcke das Patent, das seinem
(jüngeren) Bruder zugedacht war und wurde nur als Sous-Lieutenant im I. leichten
Infanterie-Bataillon angestellt. Dagegen erhielt der Bruder eine Premier-Lieutenants-
Stelle im 3. Infanterie-Regiment. Unserem Protagonisten blieb – nach erhaltener
Anstellung – noch die unangenehme Aufgabe, sich den Abschied vom König von
Preußen erteilen zu lassen (die korrekte Reihenfolge wäre anders herum gewesen).

Borcke liefert uns wichtige Einblicke in die Stellung Jérômes zu seiner Armee und die
inneren Verhältnisse derselben: "Der König Jérôme mußte als regierender
Stellvertreter seines Herrn Bruders in dessen Geiste handeln, sich mit Glanz und
Pracht umgeben, um so die Herzen seiner Unterthanen zu gewinnen, die ihm abhold
waren und auch blieben, so sehr er sich bemühte, ihrer Eitelkeit zu schmeicheln, gütig
und aufgeklärt zu scheinen und Einzelne mit Wohlthaten zu überhäufen. Besonders
mußte ihm daran liegen, die Zuneigung seiner Truppen zu erwerben, die ihn gegen
seine ihm abgeneigten Unterthanen schützen sollten; er vergaß nur dabei, daß sie
selbst zu den Unterthanen gehörten. In der That sparte er weder Mühe noch Kosten,
dies Ziel zu erreichen. Besonders schenkte er den Garden viel Aufmerksamkeit,
zeigte sich oft unter ihnen, hielt fleißig Musterungen und war mit Geschenken und
Beförderungen sehr freigebig. Er drang, wenigstens zum Schein, in die kleinsten und

http://home.arcor.de/hemmann/zf/articles/westphalians/westphalians.html 26.12.2013 17:12:38


Westfälische und Kurhessische Memoiren . 20

innersten Details ihres Dienstes und selbst des häuslichen Lebens ein, besuchte öfters
ihre Kasernen, war gegen den gemeinen Mann herablassend und sorgsam, kostete
seine Speisen, fragte oder ließ ihn fragen, ob er zufrieden sei, und ordnete manches
zur Verbesserung der Lage desselben an. Dies weltkluge Benehmen übertrug sich
mit unverkennbarem Nutzen auf seine Generale und Offiziere und pflanzte sich in der
Folge zu den Linien-Truppen fort, so daß nicht leicht in einer Armee mehr innere
Ordnung herrschen und mehr Fürsorge auf den Soldaten verwendet werden konnte,
als in dieser. (...) Die Musterungen wurden mit großer Peinlichkeit und Genauigkeit,
vorzüglich hinsichtlich der Waffen und der Bekleidung, abgehalten. Der König selbst
und nicht selten die Generale nahmen bei solchen Gelegenheiten dem ersten besten
Soldaten einer Kompanie das Gewehr aus der Hand, untersuchten es auf seine
Brauchbarkeit und hielten sich sehr ernstlich an den Kompagniechef oder Offizier, in
dessen Abtheilung sie die geringste Nachlässigkeit fanden. Ebenso genau
besichtigten sie die Kleidungsstücke, ließen sie die Tornister auspacken, überzeugten
sich von dem Vorhandensein aller vorgeschriebenen Dinge und drangen auf diese
Weise in alle Kleinigkeiten ein. Dieser Antrieb ging natürlich auf die Unterbefehlshaber
über; die Verwaltungsbehörden standen infolge dessen unter der schärfsten Aufsicht
und lieferten alles dem Soldaten Zuständige (gemeint ist: Zustehende. TH) von bester
Beschaffenheit. Die Armee war so, wie es gar nicht anders sein konnte, bald auf das
Beste und Zweckmäßigste bekleidet und ausgerüstet. Freilich nahmen auch die
Paraden, Revuen und Inspektionen kein Ende, und die Offiziere waren Tag für Tag
von früh bis spät beschäftigt."

Das I. leichte Bataillon rückte mit der westfälischen Division Anfang 1809 nach
Spanien. Borcke wurde allerdings noch auf dem Marsch zurückberufen und in das 6.
Infanterie-Regiment als Kapitän versetzt. Mit dem Regiment kämpfte er am 1. August
1809 im Gefecht bei Oelper gegen das Korps des Schwarzen Herzogs, Friedrich
Wilhelm von Braunschweig. Im Februar 1812 wurde Borcke in die Adjutantur versetzt
und nahm als Adjutant des Generals von Ochs am Rußlandfeldzug teil. Anfang 1813
nach Kassel glücklich zurückgekehrt, wurde er Adjutant des Generals Danloup-
Verdun. Zunächst bei der Reorganisation der westfälischen Armee beschäftigt, dann
im Frühjahr auf Streifzug zwischen Nordhausen und Heiligenstadt, befand sich
Borcke während der Schlacht bei Dresden mit seinem General im Gefolge des
Kaisers, so dass er ähnlich wie der sächsische Verbindungsoffizier Odeleben uns
Einblicke in das französische Hauptquartier jener Tage geben kann. In den Tagen des
Untergangs des Königreichs, nach der Völkerschlacht, war Borcke gezwungen, mit
seinem General dem König nach Köln zu folgen. Er schreibt über diese Zeit:
"Wiederholte Versuche, die ich vor dem Abzuge machte, von meinen Pflichten
entbunden zu sein, wies der General wie früher mit Vorstellungen, schönen
Redensarten und, als ich dringlicher wurde, mit der Drohung zurück, mich als
Arrestant mitzunehmen. Was war zu machen? Wollte ich meinen Grundsätzen nicht
untreu werden oder mich nicht der Gefahr aussetzen, wenn ich fortging, in die Klauen
der Franzosen zu gerathen, so mußte ich mich noch einmal beugen und mitziehen.
Es erschien mir nicht mehr zweifelhaft, daß es über den Rhein, vielleicht nach
Frankreich, für mich so gut wie in den moralischen Tod ging. Welche Kämpfe ich in
dieser Zeit mit mir selbst durchzumachen gehabt habe, darüber schweige ich; ich will
Niemandem Ähnliches wünschen."

Endlich erhielt Borcke den Abschied, sogar noch unter Rangerhöhung als
Bataillonschef (Oberstleutnant). Er kehrte sofort nach Kassel zurück, um dort die
neuen Verhältnisse zu erkunden. Da aber die Rückkehr des alten Zopfgeistes ihn
abstieß, bat er den preußischen König um Wiederanstellung, die er dann im Februar
1814 als Kapitän (d.h. eine Rangstufe unter dem letzten westfälischen Dienstgrad) im

http://home.arcor.de/hemmann/zf/articles/westphalians/westphalians.html 26.12.2013 17:12:38


Westfälische und Kurhessische Memoiren . 21

1. Elb-Landwehr-Infanterie-Regiment erhielt. Das Regiment wurde noch zur


Belagerung Magdeburgs hinzugezogen, kam aber nicht mehr ins Feuer.

1815 wurde Borckes Regiment dem II. Armeekorps v. Kleist (später v. Pirch I)
einverleibt. Es nahm an den Schlachten von Ligny und Waterloo sowie am
verlustreichen Gefecht von Namur teil. Ende 1815 kehrte das Regiment wieder nach
Stendal zurück, wo es aufgelöst wurde. Borcke wurde 1816 zum 32.
Infanterieregiment versetzt und 1824 Major. 1831 wurde er mit dem Charakter als
Oberstleutnant pensioniert. Borcke starb 1862.

Ludwig Wilhelm v. Conrady: Aus stürmischer Zeit

Conrady wurde 1773 als Untertan des Fürsten von Bentheim geboren. Da er eine
Vorliebe für den Soldatenstand zeigte, wurde er im Alter von 12 Jahren von seinem
Vater in das Kadettenhaus zu Kassel gegeben. Dort blieb er sechs Jahre lang,
übrigens ohne auch nur einmal nach Hause auf Urlaub zu kommen. 1790 wurde er
Unteroffizier und im folgenden Jahr – nach bestandenem Examen – als Fähnrich in
das hessische Leibdragoner-Regiment eingestellt. Mit dem Regiment kämpfte er
1792 in Frankreich, dann bei Mainz und 1793 in Holland. Im April 1794 geriet Conrady
in französische Kriegsgefangenschaft, die er in Douay, Arras, Amiens und
Compiegne verbrachte. In die Zeit seiner Gefangenschaft fiel die letzte Phase der
Jakobinerdiktatur, von deren Exzessen Conrady Zeugnis ablegt – mehr als einmal
standen er und seine Kameraden kurz davor, guillotiniert zu werden. Nach dem
Friedensschluss kehrte Conrady im Juli 1795 in sein Elternhaus zurück. Bereits am
20. Februar d. J. hatte er sein hessisches Patent als Sekonde-Leutnant erhalten. Es
folgten elf Friedensjahre in der Garnison Hofgeismar; für Conrady brachten sie am
13. Juni 1801 die Beförderung zum Premier-Leutnant sowie am 1. Februar 1804 zum
Stabskapitän. Die letzte Beförderung geschah außer der Reihe, da Conrady offenbar
ein Angebot aus England und damit verbunden die Aussicht auf besseres
Fortkommen hatte. Bezeichnend für die Sparsamkeit (um nicht zu sagen: Geiz) des
hessischen Kurfürsten ist, dass Conrady erst nach der Beförderung zum
Stabskapitän die nächste im Regiment frei werdende Premierleutnantsgage erhielt;
demnach hat er 13 Jahre lang Fähnrichsgehalt bezogen! Trotzdem – oder vielleicht
gerade deswegen – galt der Kurfürst als der reichste Mann Europas...

Nach der Besetzung Hessen-Kassels durch die Franzosen sah sich Conrady durch
drückende materielle Verhältnisse gezwungen, 1807 als Kapitän in das neu formierte
1. hessische Linien-Infanterieregiment in französischen Diensten einzutreten. Kurz
darauf wurde er Adjutant-Major im 1. Bataillon des Regiments, das nunmehr 1.
westfälisches Linien-Infanterieregiment wurde. Da er sich in den Augen seiner
Vorgesetzten bewährte, wurde Conrady 1809 zum Bataillonschef (d.h.
Oberstleutnant) im neu errichteten 6. Linien-Infanterieregiment ernannt. Das noch
nicht fertig organisierte Regiment wurde südlich der Festung Magdeburg dem Schill
´schen Streifkorps entgegen geworfen und von diesem bei Dodendorf am 4. Mai
1809 zersprengt. Kurz darauf wurde das Regiment als Teil der westfälischen Truppen
unter General Reubell (Rewbell) erneut hart mitgenommen, diesmal vom Korps des
"Schwarzen Herzogs" Friedrich Wilhelm von Braunschweig-Oels, der sich am 1.
August bei Oelper den Weg an die Nordsee freikämpfte.

Ich schalte hier den Bericht Conradys [11] über das Gefecht und den nachfolgenden
Tag ein, der uns die Stimmung der Westfalen in diesem Bruderkrieg erhellt: "Der
Vormarsch richtete sich gegen das Dorf Oelper, welches ebenso wie das
angrenzende durchschnittene Gelände von den Truppen des Herzogs besetzt war

http://home.arcor.de/hemmann/zf/articles/westphalians/westphalians.html 26.12.2013 17:12:38


Westfälische und Kurhessische Memoiren . 22

und uns den Weg nach Braunschweig versperrte. Anstatt nun erst der Artillerie
Gelegenheit zu geben, das Dorf zu beschießen und den Infanterieangriff
vorzubereiten, ließ General Reubell sofort die Infanterie Angriffskolonnen formieren,
während er der Kavallerie, die inzwischen die Vorposten zurückgetrieben hatte,
Befehl gab, den Aufmarsch zu decken. Diese kam dadurch in eine sehr üble Lage.
Das Gelände eignete sich wegen seiner vielen Hindernisse durchaus nicht für
Verwendung größerer Kavalleriemassen. Trotzdem drängten sich unsere Reiter mit
anerkennenswerter Bravour durch, wurden aber, sobald sie eine freie Stelle erreicht
hatten, von den wenigen Geschützen des Herzogs so wirksam beschossen, daß sie
nicht mehr weiterkamen. Gleichzeitig griffen die feindlichen Husaren mit äußerster
Energie an und warfen unsere Kavallerie auf das im Formieren begriffene erste
Treffen zurück. Das war ein kritischer Augenblick, und viel fehlte nicht, daß die
Infanterie mitgerissen wurde, wenn nicht unsere Artillerie das Feuer eröffnet und Luft
gemacht hätte. So gelang es, die Infanterie wieder zum Stehen zu bringen und den
Angriff fortzusetzen.

Der Feind räumte mit Anbruch der Dunkelheit Oelper, aber es wurde keine
Verfolgung eingeleitet, daher wußte man nicht, wohin sich der Herzog gewendet
hatte. Wir blieben also vorläufig stehen, mit der angenehmen Aussicht, hier ohne
Gepäck und ohne Verpflegung die Nacht zubringen zu müssen, als zwischen neun
und zehn Uhr abends der Befehl kam, auf der Straße nach Celle
zurückzumarschieren. Das geschah bei völliger Dunkelheit in größter Unordnung. Um
Mitternacht waren unsere Mannschaften, die seit 36 Stunden marschiert, fast keine
Ruhe und so gut wie gar keine Verpflegung erhalten hatten, am Ende ihrer Kräfte.
Man mußte Halt machen. An ein ordnungsgemäßes Beziehen des Biwaks war nicht
zu denken. Jeder warf sich hin, wo er gerade war und auch ich suchte mir in einem
Graben ein Plätzchen. Ich war müde zum Umfallen, denn ich hatte in der ganzen Zeit,
seit unserem Abmarsch von Hoya höchstens zwei Stunden geschlafen, dafür aber
unausgesetzt tätig sein müssen, um meine Leute zusammenzuhalten. So war es kein
Wunder, daß ich wie ein Toter schlief, und es der vereinten Anstrengungen meines
Adjutanten und meines Dieners bedurfte, mich bei Tagesanbruch wach zu
bekommen. Sobald ich aber erst einmal wieder auf den Beinen stand, schüttelte ich
die bleierne Müdigkeit ab, und die Verantwortung des Führers trat in ihr Recht. Das
Bataillon mußte rangiert werden, um weitermarschieren zu können. Selten ist es mir
so schwer geworden, mit unnachsichtiger Strenge einzuschreiten, wie an diesem
Morgen, als ich meine übermüdeten, abgerissenen, und hungernden Leute zum
Antreten treiben mußte. Schlaftrunken, mit fahlen Gesichtern, aus denen die
Anstrengungen und Entbehrungen der letzten Tage deutlich genug sprachen,
taumelten sie empor, um ihre Plätze in Reih und Glied einzunehmen. Kaum daß sie
die Waffen halten konnten. Doch es half nichts, wir mußten weiter. Von Verpflegung
war natürlich keine Rede, hungernd wurde um sechs Uhr vorm. abmarschiert, auf
Celle zu.

Unterwegs wurde das Gepäck wieder von den Wagen genommen, aber vieles fehlte,
da ein Teil der Bauern sich während der Nacht aus dem Staube gemacht hatten.
Schon hegten wir die Hoffnung, in Celle Quartiere beziehen zu können, da bog die
Tete der Division plötzlich von der Straße rechts ab. Wir überschritten die Oker und
wendeten uns wieder gegen Braunschweig. Das Marschtempo wurde immer
langsamer, denn die Leute waren aufs äußerste erschöpft. Es wurde oft Halt
gemacht, namentlich, um Verpflegung herbeizuschaffen, die sich glücklicherweise
reichlich und leicht fand. So erreichten wir in besserer Verfassung, als ich gedacht
hatte, am Spätnachmittag Braunschweig, wo wir natürlich erfuhren, daß der Herzog

http://home.arcor.de/hemmann/zf/articles/westphalians/westphalians.html 26.12.2013 17:12:38


Westfälische und Kurhessische Memoiren . 23

die Stadt bereits am frühen Morgen verlassen habe und in der Richtung auf Peine
abmarschiert war.

Ich muß gestehen, daß ich damit sehr zufrieden war, denn abgesehen davon, daß ich
bei diesem Kampf gegen den ritterlichen Herzog überhaupt nicht mit ganzer Seele
dabei war, hatte die Aussicht, mit meinen abgematteten und durch Marschunfähige
zusammengeschmolzenen Kompagnien ins Gefecht gegen einen zum äußersten
entschlossenen Gegner zu gehen, wenig Verlockendes."

1812 mußte Conrady mit dem Regiment nach Russland marschieren. Das 1.
Bataillon wurde Ende September nach Wereja, südwestlich von Moskau,
vorgeschoben. Da es dort ganz isoliert stand, gelang es den Russen, das Bataillon zu
überfallen; was nicht niedergemacht wurde, geriet in Gefangenschaft, so auch
Conrady und der Regimentskommandeur Ruelle, ein Franzose. Conrady wurde nach
Orel transportiert (ich übergehe hier die Schilderung der Gefangenschaft), von wo er
Ende 1813 wieder abreisen durfte und im März 1814 nach Bad Hersfeld zu seiner
Familie zurückkehren durfte. Seine Bemühungen, wieder als Offizier in der
hessischen Armee angestellt zu werden, schlugen fehl (vermutlich trug ihm der
Kurfürst nach, dass Conrady sich 1807 als einer der ersten Offiziere von den
Franzosen hatte anwerben lassen). Durch Vermittlung des hessischen Kurprinzen
gelang es Conrady jedoch, in der preußischen Armee eine Stelle zu erhalten.
Zunächst Etappeninspekteur in Münster, wurde er 1815 zum Hauptmann und
Bataillonskommandeur im 4. schlesischen Landwehrinfanterieregiment ernannt.
Conrady kam erst am 29. Mai in Belgien zu seinem Bataillon, also kurz vor Beginn
des Feldzuges von 1815, siehe Abbildung 2. Das Regiment stand im IV. Armeekorps
Bülow. Es nahm deshalb nicht an der Schlacht von Ligny teil, erntete dafür aber um
so mehr Ruhm bei Waterloo am 18. Juni und in den nachfolgenden Gefechten bis hin
nach Paris.

Abbildung 2: Ludwig Wilhelm von Conrady als preußischer Offizier

Nach beendetem Feldzug wurde Conrady Bataillonskommandeur im 7. Schlesischen


Landwehrinfanterieregiment, Garnison Glogau. Aufgrund körperlicher Leiden musste
er 1821 den Abschied nehmen. Er verschied 1848 im Alter von 75 Jahren.

Friedrich Gieße: Kassel - Moskau - Küstrin 1812 - 1813

Gieße, 1788 in Melsungen geboren, war ursprünglich für den geistlichen Stand
bestimmt. Als 20jähriger musste er sich aber in Fritzlar zur Musterung stellen und am
15. April 1809 als Korporal in das 5. westfälische Linieninfanterieregiment eintreten.

http://home.arcor.de/hemmann/zf/articles/westphalians/westphalians.html 26.12.2013 17:12:38


Westfälische und Kurhessische Memoiren . 24

Zuvor waren fünf Versuche missglückt, einen Stellvertreter zu stellen; der letzte
Versuch scheiterte an der Desertion des Stellvertreters. Gieße ergab sich in sein
Schicksal und avancierte bereits im Oktober 1809 zum Sergeant-Major und im
November 1810 zum Unterleutnant, siehe Abbildung 3.

Abbildung 3: Friedrich Gieße als westfälischer Leutnant

1812 rückte er mit dem Regiment nach Russland aus. Seine Memoiren [12], wenn
auch in einem krausen Stil geschrieben, bilden eine der wertvollsten Quellen für das
Studium der westfälischen Armee. Es ist fast unglaublich, welche Fülle an Details
Gieße während des Feldzuges notierte, zumal, wenn man sich die unglaublich
schwierigen Verhältnisse des Rückzuges vor Augen führt, bei dem die Soldaten
schon froh sein konnten, wenn sie nur das nackte Leben retten konnten. U. a. enthält
das Tagebuch eine genaue Aufstellung der einzelnen Truppen des westfälischen
(VIII.) Armeekorps bis hin zu den Dienstposten der kleinsten Einheiten (Gendarmerie,
Feldkriegskommissariat, Feldpostamt usw.) und beispielsweise auch die genaue
Zusammensetzung von Artillerie, Train und Bespannung. Ich bringe zur Illustration der
Detailgenauigkeit einen Auszug aus Gießes Schilderung des Beresina-Übergangs,
der gleichzeitig die genaueste mir bekannte Beschreibung der behelfsmäßig
gebauten Brücken und somit dem Dioramenbauer wertvolle Hinweise gibt: "300
Schritte mochte der Abstand betragen, den die beiden Brücken voneinander
einnahmen. Sie waren an einer Stelle geschlagen, wo die einen schlammigen Grund,
aber keinen reißenden Lauf habende Beresina, 400 Schuh breite und 2-7 Schuh
Tiefe mißt (ein anderer Augenzeuge vergleicht die Breite der Beresina mit der der
Fulda bei Kassel. TH), eine jede hatte 23 Böcke und 24 Brückenglieder. Die Höhe
der Böcke betrug 3-9 und die Länge des oberen Balkens eines jeden Brückenbocks
14 Schuh. Das Holz, welches statt der Pontonsbalken zur Bildung der Brückenglieder
diente und wegen der Kürze der Zeit nicht hatte können behauen werden, war 16-17
Schuh lang und enthielt 6-7 Zoll im Durchmesser. Den Boden der für das Fuhrwesen
bestimmten Brücke bildeten 15-16 Schuh lange und 3-4 Zoll im Durchmesser
enthaltende Knüppel, weil es an starken Brettern oder Bohlen gebrach. Durch das
Fahren aber und Traben der Pferde über diesen holperigen Boden, obwohl es sollen
im Schritt geschehen, hatte die Brücke bald nach Eröffnung der Passage sehr heftige
Stöße erlitten. Die Böcke waren ungleichmäßig in den schlammigen Grund
eingedrückt worden, was wellenförmige Vertiefungen erzeugte, die Füße der Böcke
ausgewichen und hieraus 3 Risse entstanden. Um 8 Uhr gestern abend (26.
November. TH) waren zudem 3 Böcke und um 2 Uhr heute früh deren abermals 3,
und zwar diesmal an der tiefsten Stelle des Flusses zusammengebrochen, welche
Schäden der Divisionsgeneral Eblé, der unter seinen Augen bessere Böcke
verfertigen lassen, und die aufopfernde Hingebung der Pontoniere, welche im

http://home.arcor.de/hemmann/zf/articles/westphalians/westphalians.html 26.12.2013 17:12:38


Westfälische und Kurhessische Memoiren . 25

Wasser zu arbeiten hatten (und deshalb alle an Ort und Stelle verstarben. TH),
jedesmal gleich wieder ergänzt.

Zum Boden der Brücke für Fußvolk und Reiter hatte man schwache und mangelhafte
Bretter aus zusammengerissenen Häusern von 7-8 Schuh Länge, 5-6 Zoll Breite und
4-5 Linien Dicke genommen. Dieselben waren in 3 Lagen übereinander, je 2 der
Länge nach von beiden Seiten dergestalt aneinander gelegt, daß sie sich in der Mitte
kreuzten. Die Böcke hatten bis dahin gut ausgehalten, die Bretter sich aber, weil sie
nicht gehörig befestigt werden können, getrennt und waren unter den Hufen der
Pferde zerbrochen, so daß Löcher entstanden, die es vonnöten gemacht, den Boden
mit Hanf und Heu zu überdecken."

Gieße gelang es, aus Rußland zu entkommen. Im Januar 1813 traf er mit anderen
Kameraden in Thorn ein, das zum Sammelplatz der westfälischen Truppen bestimmt
worden war. Aus den Resten des ehemaligen VIII. Armeekorps und den nach Thorn
marschierten Depots des 1., 2., 3., 5., 6., und 7. Linieninfanterieregiments, der drei
leichten Bataillone sowie des Chevaulegers- und der Husarenregimenter (die
sogenannte Colonne mobile) wurden hier zwei "Marschregimenter" errichtet. Die nicht
Dienstfähigen und die überzähligen Kadres wurden nach Kassel zurückgeschickt.
Gieße blieb bei den Marschregimentern, nahm noch an einigen kleineren Gefechten
gegen die weiter vorgerückten Russen teil und kam dann zur Besatzung von Küstrin.
Nach 13monatiger Belagerung konnte Gieße nach der Kapitulation der Festung am
20. März 1814 in seine hessische Heimat zurückkehren. Da es ihm nicht gelang, vom
Kurfürsten wieder angestellt zu werden, trat er 1815 als Oberleutnant in das 1.
nassauische Infanterieregiment ein (Gießes letzter Dienstgrad in der westfälischen
Armee war Kapitän, außerdem hatte er noch im Juli 1813 den Orden der
westfälischen Krone erhalten). Erst 1832 wurde Gieße wieder Hauptmann. Er erhielt
auf Verwendung seines Landesherrn noch nachträglich den Orden der französischen
Ehrenlegion. 1871 starb er im gesegneten Alter von 83 Jahren als pensionierter
Major in Weilburg.

Wilhelm I. von Hessen: Wir Wilhelm von Gottes Gnaden

Die ursprünglich nur für seinen Sohn bestimmten und erst 1996 von Rainer v. Hessen
veröffentlichten Erinnerungen des Landgrafen, späteren Kurfürsten von Hessen-
Kassel spielen in diesem Aufsatz eine gewisse Sonderrolle, da der Kurfürst natürlich
nie in westfälischen Diensten stand, vielmehr von Jérôme seines Thrones beraubt
wurde und sieben Jahre im Exil leben musste. Wilhelm wurde 1743 geboren und
verbrachte bereits seine Jugend zum Teil im Exil in Dänemark, da Hessen-Kassel
während des Siebenjährigen Krieges zeitweise von französischen Truppen besetzt
war. Seit 1764 residierte er in Hanau, damals Teil des landgräflich-hessischen
Besitzes. Wilhelm wandelte die Hanauer Landmiliz in eine stehende Truppe um und
vermietete seine Soldaten an die englische Krone während des amerikanischen
Unabhängigkeitskrieges. Die geschickte Anlage der englischen Subsidiengelder, nicht
zuletzt mit Hilfe des aufsteigenden Bankhauses Rothschild, machte ihn zu einem der
reichsten Männer Europas. Sprichwörtlich war auch seine ausgedehnte
Mätressenwirtschaft. 1778 nahm Wilhelm als "Volontär" im Grade eines Generals der
königlich preußischen Armee am Bayrischen Erbfolgekrieg teil. 1785 trat er als
Landgraf Wilhelm IX. das Erbe seines verstorbenen Vaters an und ging nach Kassel.
1792/93 führte er ein hessisches Hilfskorps, das gemeinsam mit preußischen
Truppen in der Champagne und bei Frankfurt und Mainz gegen die französischen
Revolutionsheere focht. 1803 erfuhr Wilhelm beim Reichsdeputationshauptschluss
eine Rangerhöhung zum Kurfürsten (weil die drei ehemaligen geistlichen

http://home.arcor.de/hemmann/zf/articles/westphalians/westphalians.html 26.12.2013 17:12:38


Westfälische und Kurhessische Memoiren . 26

Kurfürstentümer aufgehoben waren) und nannte sich fortan Wilhelm I. , siehe


Abbildung 4.

Abbildung 4: Kurfürst Wilhelm I. von Hessen, 1806 (Gemälde von W. Böttner)

In den Schicksalsjahren 1805 und 1806 betrieb Wilhelm eine vorsichtige


Neutralitätspolitik, was ihn jedoch nicht davor bewahrte, im November 1806 von
Napoleons Truppen davongejagt zu werden. Lassen wir ihn selbst die
entscheidenden Tage schildern [14]: "Am 14. Oktober, dem Tag der unseligen
Schlacht bei Auerstedt, brachen alle Dämme gegen die allgemeine Überflutung. Es
war keine verlorene Schlacht, es war die völlige Auflösung. Der französische
Gesandte verlangt, daß meine Truppen in ihre Garnisonen zurückkehren und
demobilisiert werden. Er nannte meine Neutralität perfide, falls ich mich weigerte. Die
Stimmen im Rat waren geteilt. Gegen meine Überzeugung entschloß ich mich, die
geforderte Ordre zu erteilen, was ich zutiefst bereut habe, wiewohl es gänzlich
unmöglich war, Hessen allein ohne Unterstützung gegen die allerorts siegreiche
französische Armee zu verteidigen. Am 21. Oktober erhielt Bignon, der französische
Gesandte, den Befehl, sich zu Napoleon nach Berlin zu begeben. Noch immer
betrachtete ich dies nicht als das, was es in der Tat war. Aber daß er abreiste, ohne
Urlaub zu nehmen, hätte mir nicht gleichgültig sein dürfen. (...) Am 26. Oktober erhielt
ich aus Vacha die Meldung, daß die französische Armee sich im Anmarsch durch
Sachsen befinde und jene Stadt passieren werde, wo es ebenso wie in Hanau
Platzkommandanten gab, die für den Marsch der Erwähnten Sorge zu tragen hatten.
Zwar überraschte mich dies Manöver, ich wähnte mich indes meiner Neutralität so
sicher, daß ich General von Lehsten (Vater von Unico v. Lehsten-Dingelstädt, s.
dessen weiter unten abgedruckten Memoiren. TH) in Begleitung Starkloffs am 28.
Oktober nach Berlin sandte, um daselbst dem Kaiser Napoleon meine Komplimente
zu übermitteln und einen eigenhändig geschriebenen Brief meinerseits zu
überreichen, mit ergebensten Danksagungen dafür, daß er mir die Neutralität
zugebilligt. Am 30. wurde ich vor fünf Uhr von einer Stafette aus Hersfeld geweckt,
mit der unerwarteten Meldung vom Einmarsch Marschall Mortiers in Hersfeld. Er
habe ebenda Quartiere begehrt, um jene der Armee, die über Vacha marschierte, zu
vermehren. Oberstleutnant Ochs (s. Literaturverzeichnis. TH) gebrauchte die
nämliche Erläuterung in Vacha, wo er sich auf mein Geheiß befand. Dies hatte mich
zunächst verwundert, allein ich war noch weit davon entfernt, die Folgen zu
befürchten. Am nämlichen Donnerstag abend schrieb mir besagter Ochs per Stafette,
daß Mortier, als er des Morgens Hersfeld verließ, in Richtung Melsungen marschiert
sei. Jener Offizier traf abends noch immer in dem Glauben ein, daß es sich nur um
einen Durchmarsch nach Hannover handle. (In Hohenhausens Ochs-Biografie [15], S.
253, heißt es dagegen, ´bei seiner Ankunft zu Kassel äußerte Ochs seinen

http://home.arcor.de/hemmann/zf/articles/westphalians/westphalians.html 26.12.2013 17:12:38


Westfälische und Kurhessische Memoiren . 27

begründeten Argwohn, daß Mortier feindliche Absichten hege, dem Kurfürsten


unverholen. Dieser aber, noch immer auf den Neutralitätsvertrag fest vertrauend,
wollte keinem Verdachte der obwaltenden Hinterlist und Falschheit Raum geben.´
TH) Ich fertigte umgehend meinen Adjutanten Major von Müller zu Mortier nach
Melsungen ab. Er traf ihn im Bett an, wo er jeder Frage auswich und sagte, daß er am
31. einen Rasttag in Melsungen einlegen werde und um den Durchmarsch nach
Hannover ersuche. Kaum war Müller zurückexpediert, als Mortier auf Kassel
marschierte, wo er am 31. Oktober nach zwei Uhr mittags anlangte. Er behauptete,
daß es zu spät sei, um weiterzumarschieren, und biwakierte auf den Höhen der
Waldau. Da er auf dem Marsch vielerlei Fragen über meine Truppen, Artillerie und
dergleichen gestellt und durchblicken hatte lassen, daß es sich nur um eine
Kontribution oder eine andere Forderung handelte. Er sagte zu Ochs, daß er abends
in die Stadt kommen und seine Gedanken durch den Geschäftsträger St. Genest
verlautbaren werde.

Nach der Parade ging ich in den Rat. Minister von Waitz war krank, ich bekam ihn
während jener so grausamen Katastrophe nicht mehr zu Gesicht. Ich dinierte auf dem
Schloß, und niemand ahnte das Geringste. Nach meiner Rückkehr nach Bellevue
versammelte ich die Generalität. Ich wollte mit der Garnison nach Ziegenhain stoßen
und dort, für den Fall zu harter Vorschläge, Truppen zusammenziehen, als ein
Ordonnanz-Dragoner mir die Meldung des Postens in Westuffeln brachte, daß der
König von Holland dort mit seiner Armee angelangt sei. Nunmehr begann mir
erstmals zu dämmern, daß ich überrumpelt worden war, daß mein Generalstab mich
vermittels falscher Meldungen getäuscht und selbst nicht einmal Nachricht vom
Marsch der Holländer aus Paderborn erhalten hatte, wo ich in meiner preußischen
Garnison so viele Leute kannte (Wilhelm war gleichzeitig preußischer
Generalfeldmarschall und Chef des preußischen Infanterieregiments Nr. 48 in
Paderborn. TH). Wurmb, der Gouverneur von Kassel, und Generalmajor Webern
optierten dafür, daß man nichts tun könne. Mein Adjutant, General von Motz, erschien
erst gar nicht, und ich bekam ihn weder an jenem Abend noch tags darauf zu
Gesicht. Die Dunkelheit ließ uns gegen sieben Uhr abends die Biwakfeuer erkennen,
ein beklemmender Anblick für das Herz des Herrschers und seiner hessischen
Untertanen. Ich wartete bis nach zehn Uhr auf die Vorschläge St. Genests und
glaubte wahrhaftig, daß wir anderntags bessere Nachrichten erhalten würden. Schlag
Mitternacht wurde ich durch die Ankunft der Minister von Baumbach und von der
Malsburg geweckt. Letzterer las mir die niederträchtige Note St. Genests und den
abscheulichen Verrat Napoleons vor. Ich war wie vom Donner gerührt und nahezu
betäubt, so daß ich kaum mehr ein Glied regen konnte (der Kurfürst litt stark an Gicht.
TH) Ich erteilte den Herren den Befehl, sich mit General von Webern um fünf Uhr früh
zu Mortier zu begeben, um erträgliche Bedingungen zu bewirken. Ich erhob mich und
ordnete im groben an, was der furchtbare Schlag mir zu denken erlaubte. Ich hieß
Gilsa (Oberstallmeister. TH) kommen und befahl ihm, meine Pferde zu retten, er tat
indes nichts dergleichen und ich büßte sie sämtlich ein.

Um sieben Uhr in der Frühe des 1. November kehrten Baumbach und Malsburg
zurück. Wir waren auf Gnade und Ungnade ausgeliefert, und General von Webern
hatte ohne jedweden Befehl meinerseits die Posten am Leipziger Tor abgezogen und
den Gouverneur von Wurmb angewiesen, die Garnison aufzulösen. Nach einer
knappen Einleitung eröffnete mir Minister von Baumbach, ohne sich allzu große
Schonung aufzuerlegen, daß Mortier sich auf dem Anmarsch befände und überdies
erklärt habe, von seinem Kaiser beordert zu sein, meinen Sohn und mich in
Gewahrsam zu nehmen und in unserer Eigenschaft als preußische Generäle wie
Kriegsgefangene zu behandeln. So blieben mir denn noch zehn Minuten zum

http://home.arcor.de/hemmann/zf/articles/westphalians/westphalians.html 26.12.2013 17:12:38


Westfälische und Kurhessische Memoiren . 28

Aufbruch. Ich fand mich allein, ohne jegliche Hilfe, und – ich muß es sagen – von allen
meinen Dienern im Stich gelassen. Mir blieb nicht einmal die Zeit, um Abschied zu
nehmen. Ich ließ meinen Sohn holen. Meine Absicht war es, geradewegs den
Tyrannen aufzusuchen, der mich solchergestalt zerschmetterte.

Wir fuhren durch das Leipziger Tor, der französischen Nachhut direkt in die Arme,
mußten kehrtmachen und schlugen die Straße über den Karlsberg nach Arolsen ein,
wo wir bar jeglicher Habe und in jämmerlicher Lage anlangten. Der Fürst von
Waldeck empfing uns eisig, als wünschte er unsere schleunige Abreise
herauszufordern (vermutlich aus Angst vor Napoleon. TH). Major von Thümmel, mein
Adjutant, traf während des Diners mit dem zweiten Wagen ein. Hätte er uns verfehlt,
was leicht geschehen konnte, hatte ich nur den Rock, den ich trug, und das Hemd auf
dem Leibe. Der Nachmittag wurde darauf verwendet, einen Plan zu fassen. Ich
entschloß mich, nach Holstein zu meinem Bruder Karl zu reisen. Wir brachen um zwei
Uhr in der Frühe des 2. November auf und reisten über Ossendorf, Peckelsheim und
Rischenau nach Pyrmont, wo wir um elf Uhr nachts eintrafen. In Ossendorf hatten wir
– auf das Risiko hin, ergriffen zu werden – die Linien der holländischen Armee
durchquert. Am 3. November passierten wir Hameln, dinierten in Nenndorf und
nächtigten in Neustadt am Rübenberge, am 4. in Soltau, am 5. passierten wir die
Elbe bei Harburg und schliefen in Altona. Am 6. kamen wir bis Remmels und langten
am 7. mittags auf Schloß Gottorf in Schleswig an. Mein Bruder, der uns eine Meile
entgegen gefahren war, und seine Gemahlin empfingen uns mit jener Herzlichkeit,
die guten Verwandten eigen ist."

So waren denn Kurfürst und Kurprinz fürs erste dem Zugriff Napoleons entzogen.
Nach einem Aufenthalt in Dänemark ging der Kurfürst nach Prag, wo er 1809 eine
eigene Legion aufstellte, die gemeinschaftlich mit den Österreichern und dem Korps
des ebenfalls aus seinen Stammlanden vertriebenen Herzogs von Braunschweig-
Oels in Sachsen kämpfte. Jedoch sollte für den Kurfürst erst am 21. November 1813
die Stunde der Rückkehr schlagen, nachdem Jérômes Herrschaft nach der
Völkerschlacht sang- und klanglos zusammengebrochen war. Wilhelm I. versuchte
mit fast lächerlicher Pedanterie, alles, aber auch alles auf den Stand von 1806
zurückzuführen. Die kurhessische Armee musste als einzige in Deutschland wieder
den sprichwörtlichen Zopf einführen, was denn auch zu vielem Spott im In- und
Ausland führte und dazu beitrug, dass viele ehemals westfälische Offiziere in fremde
Dienste gingen. Die letzten Lebensjahre Wilhelms waren vor allem durch einen
zunehmenden Vater-Sohn-Konflikt getrübt, ähnlich, wie ihn Wilhelm I. auch mit
seinem Vater gehabt hatte. 1821, im gleichen Jahr wie Napoleon I., starb der greise
Kurfürst und machte so den Weg frei für eine Erneuerung des Landes.

Friedrich Klinkhardt: Feldzugs-Erinnerungen des Königlich Westfälischen


Musikmeisters Friedrich Klinkhardt aus den Jahren 1812-1815

Klinkhardt, geboren 1788, erlernte den Beruf eines Musikers und wurde gemäß der
damaligen Zunftpraxis im Jahre 1804 "losgesprochen", d.h. als Ausgelernter in die
Praxis entlassen. Wegen der kriegerischen Zeitläufte lebte er bis 1808 bei seinem
Vater auf dem Land in der Nähe von Aschersleben, spielte aber auch gelegentlich in
Quedlinburg, wo er 1808 im Ensemble des Musikdirektors Bosse ein Engagement
erhielt. Bald darauf wurde er aufgefordert, in westfälische Dienste zu treten, wie er in
seinen Erinnerungen [16] schreibt: "Eines schönen Morgens, am 3. Januar 1810,
wurde ich aus dem Schlaf gerüttelt und mir mitgeteilt, daß ein Husar in blauer
Uniform mich zu sprechen wünsche und mir einen Brief mitzugeben habe. Man war in
diesen Zeiten von militärischen Besuchen nicht gerade erfreut und so beeilte ich mich

http://home.arcor.de/hemmann/zf/articles/westphalians/westphalians.html 26.12.2013 17:12:38


Westfälische und Kurhessische Memoiren . 29

denn, klopfenden Herzens den Boten zu empfangen. Der Husar, ein Quedlinburger
Kind, namens Littge, stand als Wachtmeister beim 2. westfälischen Husaren-
Regiment und hatte schon die Feldzüge in Spanien hinter sich. Der mir übergebene
Brief enthielt die militärisch kurz abgefaßte Anfrage, ob ich geneigt sei, die Direktion
des Musikkorps im genannten Husaren-Regiment zu übernehmen. Ich sei von
musikverständigen Herren als sehr geeignet bezeichnet und ich solle, da die Stelle
ansehnlich dotiert sei, meinem Glücke nicht im Wege sein. Ein Gehalt von 36 Talern
(wohl monatlich? TH), Equipierung, Offiziers-Quartier usw. wurden mir zugesichert.
Entscheidung müsse ich allerdings sofort treffen. Unterzeichnet war das Schreiben
von dem Obersten von Heßberg (Karl Christoph Wilhelm v. Heßberg, einer von fünf
Brüdern, die als Offiziere in der westfälischen Armee dienten. Andere Schreibweise:
Hesberg. TH) in Aschersleben und datiert vom 3. Januar 1810.

Bis zum Tode erschrocken, lief ich mit dem Schreiben, um mir Rat zu holen, zu
meinem Prinzipal Bosse, der indessen in drei Nächten nicht zur Ruhe gekommen war
und den Schlaf des Gerechten schlief. Alle Versuche, ihn zu wecken, waren
vergeblich, und so mußte ich mich denn bequemen, dem Herrn Oberst wenigstens zu
antworten. Ich dankte in meinem Schreiben für die ehrenvolle Aufforderung und das
Vertrauen, daß man ich mich setze, bedauerte aber, die Musikmeisterstelle mit
Rücksicht auf meine Jugend und die meiner Ansicht nach mangelhafte Qualifikation
für jetzt nicht annehmen zu können. Bereits am anderen Tage erhielt ich indessen
schon die Antwort des Obersten, der mir kurzweg erklärte, daß ich jedenfalls mit
meinem Prinzipal Rücksprache genommen habe, der mich aus Eigennutz
zurückhalten wolle und mir jedenfalls auch die gestrige Antwort diktiert habe. Ich solle
kein Tor sein und dem wohlgemeinten Rate des Obersten folgen.

Auf alle Fälle möge ich ihn aber in Aschersleben besuchen, um persönlich mit ihm
Rücksprache zu nehmen und ihm zugleich mitzuteilen, woher die Musikinstrumente
und die Musikalien zu beziehen seien. Ich möge mich zur Reise der königlich
westfälischen Post auf Kosten des Regiments bedienen. Als ich nun am folgenden
Tage stolz in der königlichen Post vor dem Hause des Obersten vorfuhr, erlitt meine
Zuversicht einen ziemlichen Stoß, als mich die Schildwache gewaltig andonnerte, wer
ich sei und wie ich es wagen könne, so dicht am Hause vorzufahren. Nachdem ich
den braven Krieger genügend aufgeklärt hatte, wurde ich dem Oberst sofort
gemeldet und ohne Aufenthalt vorgelassen. Herr von Heßberg empfing mich sehr
freundlich und sprach seine Verwunderung aus, wie ich mich überhaupt noch
besinnen könne, sein so vorteilhaftes Anerbieten nicht ohne weiteres anzunehmen. Er
habe sehr viele Bewerber für die Stelle, wünsche dieselbe aber nur mit einem
Musiker zu besetzen, der so gute Empfehlungen beibringen könne, wie ich sie
aufzuweisen habe. Alle meine Gegenreden, ich passe durchaus nicht zum Soldaten,
habe Angst, ein Pferd zu besteigen, und wäre vollständig ungeübt im Gebrauch der
Waffen, ließ der Oberst nicht gelten und lachte mich geradezu aus: Sehen Sie mich
an, erwiderte er, ich bin 28 Jahre alt (nach Lünsmann, S. 243 wurde Heßberg
allerdings schon 1775 geboren, war also 35 Jahre alt. TH), kaum so groß wie Sie, und
habe schon einen Feldzug in Spanien hinter mir. Und wie schnell bin ich avanciert?
Wollen Sie ewig in Quedlinburg in abhängiger Lage und in Kondition bleiben? Nur der
Soldat gilt heutzutage etwas, fügen Sie sich in die Zeitverhältnisse und scheiden Sie
aus dem bürgerlichen Stande aus. Reiten, fechten und schießen werden Sie bei uns
schon erlernen, mit etwas gutem Willen lassen sich diese Fähigkeiten bald aneignen.

Hiernach fragte er mich, ob ich Flöte blasen könne und forderte mich, nachdem ich
diese Frage bejaht hatte, auf, mit ihm ein Duett zu blasen. Er wählte mir
wohlbekannte Sachen von Devienne und Koehler aus und rief, nachdem ich diese

http://home.arcor.de/hemmann/zf/articles/westphalians/westphalians.html 26.12.2013 17:12:38


Westfälische und Kurhessische Memoiren . 30

Probe zu seiner größten Zufriedenheit bestanden hatte, freudig erregt aus: Sie
kommen nicht wieder nach Quedlinburg. Sie heißen von heute ab Musikdirektor des
2. westfälischen Husaren-Regiments. Ich war sehr verlegen, denn ich hatte eine
Höllenangst und bereute sehr, hierher gekommen zu sein. Unsere weiteren
Verhandlungen wurden durch den Eintritt des Majors von Gautsch (Gotsch? TH)
unterbrochen, den unser Flötenspiel herbeigelockt hatte. Dieser sprach gleichfalls
seine Anerkennung über mein Spiel aus, und wir setzten uns alsdann zum Frühstück
nieder. Nach Beendigung dieses wurde ich aufgefordert, mit zur Wachtparade zu
gehen, und hier wurde ich dem Offizierkorps bereits als neuer Musikdirektor
vorgestellt. Alle meine Versuche, mich seitwärts in die Büsche zu schlagen, waren
vergebens; die Offiziere bestürmten mich auf die Aufforderung des Obersten hin mit
Bitten, beim Regiment zu bleiben, und schließlich erklärte mir Herr von Heßberg, ich
sei sein Gast, müsse bei ihm dinieren, und am Abend würde er die Trompeter des
Husaren-Regiments zu einer Probe antreten lassen, bei welcher Gelegenheit ich die
tüchtigsten Leute für das Musikkorps auswählen möge. Bei der Tafel fanden sich
Generalmajor von Hammerstein (...), sechs bis acht Rittmeister und der Adjutant
Major von der Malsburg ein und man überhäufte mich mit Ehren dermaßen, daß ich
richtig bei aufgehobener Tafel den Kontrakt unterschrieb. Nur ein Leutnant Schwenke,
gebürtig aus Einbeck, eines Pastors Sohn, warnte mich und riet mir zur Überlegung."
Einmal angeworben, organisierte Klinkhardt zur Zufriedenheit seines Kommandeurs
das Musikkorps. Die nachfolgende Abbildung 5 zeigt einen Trompette-Major des
Regiments.

Abbildung 5: Trompette-Major des 2. westfälischen Husaren-Regiments, ca.


1810-1813 (unbekannter Künstler)

1812 ging Klinkhardt mit dem Regiment nach Russland, wo er auch den Säbel
gelegentlich anwenden musste. Beim Rückzug hatte er das große Glück, von v.
Heßberg am 20. Oktober nach Aschersleben vorausgeschickt zu werden, um dort
das Musikkorps neu zu organisieren. Von Dorogobusch ab nahm ihn ein Bekannter
mit, der als westfälischer Kurier express nach Magdeburg reiste, so dass Klinkhardt
wie durch ein Wunder der russischen Katastrophe entrann und bis Warschau
gelangte. Hier verließ ihn der Kurier und Klinkhardt schlug sich alleine bis Posen
durch. Dort verließen ihn seine Kräfte; er hatte aber das Glück, bei der Familie eines
dortigen Musikers in Pflege und von dort im Hause eines Grafen von Unruhe, der
ebenfalls Musikliebhaber war, unterzukommen. Als Klinkhardt Befürchtungen
äußerte, daß er Soldat sei und sich nach seiner Heilung in Aschersleben melden
müsse, wurde ihm entgegnet, "darum kümmern Sie sich nicht, der Arm des Grafen
reicht weit, außerdem gibt es wenige gute Quartettspieler, aber viele Soldaten".

http://home.arcor.de/hemmann/zf/articles/westphalians/westphalians.html 26.12.2013 17:12:38


Westfälische und Kurhessische Memoiren . 31

Trotzdem hielt es Klinkhardt nicht mehr lange bei seinem Gönner; er folgte den
Resten des Regiments und gelangte im Frühjahr 1813 nach Aschersleben, wo aus
dem Stamm von etwa 40 aus Russland heimgekehrten Husaren das Regiment neu
formiert wurde. Klinkhardt gelang es, mit zwölf Mann wieder ein Musikkorps zu bilden.
Da er aber erneut erkrankte, konnte er mit dem Regiment nicht wieder ins Feld
rücken (das Regiment ging nach dem Waffenstillstand unter Anführung des Generals
v. Hammerstein zu den Österreichern über). Nach der Schlacht von Leipzig nahm
Klinkhardt preußische Dienste, zunächst als freiwilliger Jäger, dann als Musikmeister
beim 1. Elbregiment (später 26. Linienregiment). 1814 kämpfte er in Holland. Nach
längerer Kantonnierungszeit am Niederrhein war das Regiment 1815 bereits auf dem
Rückmarsch nach Preußen, als auf die Nachricht von der Entweichung Napoleons
von Elba das Regiment wieder umkehren musste. Nachdem Klinkhardt von der
Niederschlagung der Meuterei der sächsischen Truppen bei Lüttich berichtet,
schildert er seine Teilnahme an den Schlachten von Ligny und Waterloo, dem
verlustreichen Gefecht von Namur (vergleiche weiter oben Borcke) sowie den
Belagerungen der Festungen Avesnes, Philippeville und Givet. Nach der Rückkehr in
die Heimat im Jahr 1816 nahm Klinkhardt seinen Abschied und wirkte als Hofmusikus
des Herzogs Alexius Friedrich Christian von Anhalt-Bernburg. Das Todesjahr
Klinkhardts konnte nicht ermittelt werden.

Karl August Unico v. Lehsten-Dingelstädt: Am Hofe König Jérômes

Karl August Unico v. Lehsten, geb. 1794 als Sohn des kurhessischen Majors und
späteren Generals Ludwig August Detlef v. Lehsten, trat mit 13 Jahren ins
westfälische Pagenkorps ein. Seine Erinnerungen, im Stile einer Nacherzählung von
Otto v. Boltenstern herausgegeben [17], überliefern uns ein treues Bild des
westfälischen Hofes, insbesondere natürlich vom Dienst der Pagen und – da die
Pagen meist in den Militärstand übertraten – der jungen Offiziere.

Eingangs einige Bemerkungen zum Pagenkorps, nach Lünsmann [3], S. 73: Die
Pagen gehörten zum ´Maison du Roi´ und unterstanden dem Hofmarschallamt. Die
Zöglinge entstammten zum größten Teil dem Adel des Landes. Dazu kamen noch
eine Anzahl Franzosen. 1810 waren von 21 Pagen sieben Franzosen, 1813 von 26
Pagen sieben Franzosen und einer Spanier. Das Haus stand unter Leitung eines
Gouverneurs, diesem unterstanden zwei Untergouverneure. Vierzehn Professoren,
teilweise von der Artillerieschule, leiteten die wissenschaftliche Ausbildung. Der
Unterricht erstreckte sich auf Mathematik, Befestigungslehre, Planzeichnen,
Geschichte, Geographie, Französisch, Religion (dieses Fach wurde eher nachlässig
betrieben), Zeichnen, Reiten, Fechten, Tanzen, Schwimmen, Exerzieren,
Artilleriedienst und Feldmessen. Der gesamte Unterricht wurde mit Ausnahme von
Religion französisch erteilt. Sieben Pagen taten täglich Dienst bei Hofe, davon zwei
als Reitpagen, sie schliefen des Nachts, bis zu ihrer Ablösung um 8 Uhr morgens, im
Schlosse, und zwar in den Vorzimmern des Königs und der Königin. Mit 16-17
Jahren trat dann ein Teil der Pagen als Unterleutnants zur Armee über.

Von Lehsten begleitete 1812 König Jérôme im Feldzug nach Russland und sollte dort
als Offizier beim 2. Husarenregiment einrangiert werden. Als Jérôme sich jedoch
entschloss, nach Kassel zurückzukehren, durften aufgrund der Fürsprache des
Grafen von der Malsburg die Pagen v. Lehsten und v. Praun den König nach Hause
begleiten, was den beiden jungen Leuten wohl das Leben rettete. Am 15. November
1812, dem Geburtstage des Königs, erfolgte dann die Entlassung Lehstens aus dem
Pagenhause und die Anstellung als Unterleutnant beim 2. Chevauleger-Regiment.
Das Regiment wurde kurz darauf zum Garde-Chevauleger-Regiment erhoben. Da

http://home.arcor.de/hemmann/zf/articles/westphalians/westphalians.html 26.12.2013 17:12:38


Westfälische und Kurhessische Memoiren . 32

alle Vakanzen schnell aufgefüllt werden mussten, wurde Lehsten bald zum Premier-
Leutnant befördert und besaß somit (als Garde-Offizier) bereits den gleichen Rang
wie ein Rittmeister der Linie. Mit dem Regiment zog er dann in die Kampagne von
1813. Wir geben einen Auszug aus den Erinnerungen [17], S. 124f, von der zweiten
Augusthälfte 1813, kurz vor der Schlacht von Großbeeren.

Lehsten schreibt: "Täglich hatten wir kleine Scharmützel, meist mit Kosaken, doch
auch mit preußischen Husaren. In rote Litewken gekleidete Lanciers (vielleicht vom
preußischen Freikorps Hellwig? TH) tiraillierten häufig gegen uns. Sie waren sehr
kühn und gingen rücksichtslos gegen uns vor, obwohl sie nicht so waffengeübt wie
unsere Leute waren. Wie sehr wir gemißbraucht wurden, zeigt ein Auftrag, feindliche
Infanterie mitten im hohen Kiefernwald anzugreifen. Diese Attacke konnte nur auf
einem schmalen Waldweg in der Breite von vier Mann Front bewerkstelligt werden.
Die feindliche Infanterie stellte sich ruhig hinter die Bäume und gab ihr Feuer auf
zwanzig Schritt Entfernung ab. Viele Leute und Pferde wurden angeschossen und
stürzten. Unverrichteter Sache mussten wir zurückgehen. Die roten Lanciers
sprengten uns nach. Leutnant Egena (Eggena lt. Lünsmann. TH) und Winckler
wurden vom Pferde gestoßen. Egena erschien nach einigen Tagen wieder. Er war
durch einen Lanzenstich in die Seite getroffen, hatte sich vom Pferd geworfen, war in
das Dickicht gekrochen und kam dann wieder zu uns. Er drang wegen seiner
Verwundung darauf, nach Kassel zurückkehren zu dürfen. Der General (Wolff. TH)
bewilligte es gern. Wir verloren an ihm nichts. Winckler kam nicht wieder, er ist in
preußische Dienste gegangen. Ich übernahm sein Pferd, einen polnischen Schimmel,
ein tüchtiges Pferd, aber ein Durchgänger, welcher mir fast die preußische
Gefangenschaft eingebracht hätte (...). Auf einer Ebene stehen zwei französische
Chasseurregimenter. Wohl zweihundert Schritt vor der Mitte hält der
Brigadekommandeur mit seinem Adjutanten. Wir rücken an ihrer rechten Flanke in
Schwadronsabteilung im Trabe heran. Rechts von uns lassen sich Kosakenschwärme
erblicken, welche einen Angriff auf die scheinbar nichts ahnenden Chasseurs
beabsichtigen. Auf einmal jagt eine Abteilung von etwa zwanzig bis dreißig Kosaken
an uns vorüber und stürzt sich wie Raubvögel auf den General und sein Gefolge und
nimmt ihn vor der Front gefangen. Die Chasseurs jagen nach. Doch die
Kosakenpferde sind schneller. Unser Tempo wird rascher, um den Kosaken den Weg
abzuschneiden und ihnen ihre Beute wieder abzunehmen. Noch immer hielt uns
Oberstleutnant Ducros geschlossen, obwohl wir schon im Galopp sind. Wir drängen
vorwärts. Endlich hält nichts mehr den Eifer unserer Leute. Auseinanderfliegend
hetzen wir hinterdrein. Der Schimmel brachte mich bald an die Spitze. Die Jagd geht
durch niedriges Kieferngehege. Vor mir reitet ein Kosakenoffizier auf dunklem
Fuchshengst. Er setzt herrlich über alle Hindernisse. Mein Schimmel ihm nach. Mit
kräftiger Hand greife ich nach dem Patronentaschenriemen und suche den
Kosakenoffizier rückwärts vom Pferd zu reißen. Er schlägt mit dem Kantschu auf
seinen Fuchs ein. Schon fühle ich, daß mein Gegner im Sattel wankt. Ich wende mich
um und sehe mich allein und ziemlich dicht vor einer Schwadron preußischer
Husaren. Da muß ich loslassen und auf meine eigene Rettung bedacht sein. Der
Schimmel aber will nicht von ihm lassen. Mit großer Mühe und Anstrengung erst
konnte ich ihn im großen Bogen seitwärts lenken. Doch nun war ich der Gegenstand
der Jagd. Zwanzig, dreißig Kosaken stürmen mir nach. Ich bekomme einen
Lanzenstich auf den Helm, so daß ich bald vom Pferd gefallen wäre. Indes, bald
wieder sattelfest, haue ich dem Kosaken auf den Arm, daß ihm die Lanze entfällt.
Man schießt auf mich. Ich fühle einen brennenden Schmerz im Rücken unter dem
Mantel, welcher gerollt über der Schulter hing. Immer enger wird um mich der Kreis.
Da brausen mein Freund Barthelemy, Leutnant Basson und Unteroffizier Michaelis
um eine Ecke des Waldes mit wütendem Geschrei. Die Kosaken stutzen und machen

http://home.arcor.de/hemmann/zf/articles/westphalians/westphalians.html 26.12.2013 17:12:38


Westfälische und Kurhessische Memoiren . 33

Kehrt; ich bin befreit. Vor uns liegt eine Satteltasche, aus der ein vielversprechender
Propfen hervorlugt. Ich springe vom Pferd zur großen Überraschung meiner Befreier,
welche jeden Augenblick die Rückkehr der Feinde erwarten. Doch schnell bin ich
wieder im Sattel; zwei Flaschen vortrefflichen Rums waren die Beute. Die Ursache
des Schmerzes im Rücken war eine Kugel, deren Kraft glücklicherweise durch den
zusammengerollten Mantel abgeschwächt war. Die Kugel fand ich in der Uniform
stecken. Die Löcher hat mein Mantel bis zu Ende behalten."

Nach dem Untergang des Königreichs Westfalen trat v. Lehsten in die kurhessische
Armee und focht als Husarenoffizier in den Feldzügen von 1814 und 1815. Da sein
Vater, der beim Kurfürsten in Ungnade gefallen war (s.o.), nicht rehabilitiert wurde,
nahm der junge Lehsten 1818 den Abschied und zog sich ins Privatleben auf das
väterliche Gut Lessendorf zurück. Er starb 1854.

Friedrich Wilhelm von Loßberg: Briefe des westfälischen Stabsoffiziers


Friedrich Wilhelm von Loßberg vom russischen Feldzug des Jahres 1812

Über das Leben Loßbergs (auch Lossberg geschrieben) verfügen wir nur über die
Skizze, die im Vorwort seiner "Briefe" [18], vom Herausgeber Christian Meyer
gegeben wird: "Geboren am 19. November 1776, trat er 1790 in hessische
Militärdienste, nahm als junger Offizier an den Feldzügen von 1792 - 1795 gegen
Frankreich teil, schied 1799 aus, wurde aber 1803 wieder angestellt. Nach dem
Zusammenbruch Preußens im Jahre 1806 beteiligte er sich an den Plänen einer
allgemeinen deutschen Schilderhebung gegen das französische Joch, trat dann aber,
durch die Verhältnisse genötigt, in westfälische Dienste und machte in diesen den
Feldzug von 1809 in Sachsen als Kompagniechef, den von 1812 als Bataillonschef
mit. (...) Nach dem Ende der westfälischen Herrschaft nahm er an den Feldzügen der
Jahre 1814 und 1815 teil. Später zum Stadtkommandanten von Kassel und
Kriegsminister ernannt, wurde er 1840 urplötzlich seiner Stellung enthoben und in den
Ruhestand versetzt. Er starb 1. April 1848."

Für den russischen Feldzug bilden Loßbergs Briefe (die ursprünglich an seine in
Deutschland zurückgebliebenen Verwandten gerichtet waren) eine wichtige Quelle,
speziell zu den Schicksalen des 3. westfälischen Infanterieregiments. Wir bringen hier
einen Auszug (S. 159ff), der sich auf die Schlussphase des Rückzuges der Großen
Armee, die Etappe von Wilna nach Kowno (an der russischen Grenze) bezieht.
Loßberg schildert, wie er einen Umweg um die am Berg Ponari westlich Wilna sich
stauenden französischen Flüchtlinge und Bagagewagen findet, der ihm und seinen
Leuten das Leben rettet: "Den 10. Dezember. Um vier Uhr Morgens, war ich wieder
bei meiner alten Gesellschaft auf dem Wege nach Kowno. Auf dieser ziemlich breiten
Straße, ungefähr 2 Stunden von Wilna, gab es einen Halt vor einem Defilee, welches
eine Stunde lang, kaum für ein Fuhrwerk breit genug, von ziemlich hohen Bergen
eingefaßt war, und sich erst da endigte, wo man einen sehr steilen mit jenen gleich
hohen Berg erstiegen hatte. Dieses gab Veranlassung, daß sich die Szenen
wiederholten, wie wir sie in Smolensk, Wilna und vorzüglich an der Berezina erlebt
hatten. Die Menschen zu Wagen, zu Pferde und zu Fuß, welche sich früher auf der
Chaussee ausgebreitet hatten, mußten sich jetzt zu der Ordnung bequemen, welche
das Defilee gebot. Hierzu kam, daß die ganze kaiserliche, zum Theil mit Geld,
namentlich Fünffranken-Stücken, beladene Bagage (wir werden in einem späteren
Aufsatz über Schwarzburg-Sondershausener Memoiren auf diesen Vorfall
zurückkommen. TH) den ebenso steilen als glatten Berg mit ihren kraftlosen Pferden
nicht zu erklimmen vermochte und daher der Plünderung preisgegeben wurde, wobei

http://home.arcor.de/hemmann/zf/articles/westphalians/westphalians.html 26.12.2013 17:12:38


Westfälische und Kurhessische Memoiren . 34

die Habsucht abermals zu den scheußlichsten Unthaten besonders derjenigen führte,


welche Waffen hatten und davon gegen die Unbewaffneten Gebrauch machten.

Mancher habsüchtige Thor fand seinen Tod durch Bajonettstiche und Kolbenschläge,
ehe er den Mammon erreichen konnte; indeß ein Anderer, dem dieses Glück zu Theil
wurde, soviel aufraffte, daß er, von der Last gebeugt, den Mühseligkeiten um so
früher unterlag; wieder ein Anderer konnte sich dem Gewühle, worin ihn seine
Geldgier verwickelt hatte, nicht entziehen und wurde dadurch von den verfolgenden
Kosaken ereilt. Auch nicht in die leiseste Versuchung gerieth ich, auf diese Art mich
bereichern zu wollen, sondern ich faßte die Gegend scharf in´s Auge, ob es nicht
möglich sei, durch den mehrere Fuß hoch liegenden Schnee einen Nebenweg zu
finden, wodurch ich mich nicht allein der Menschenmasse, worin ich wieder
eingeklemmt war, entziehen, sondern dieser auch selbst zuvorkommen könnte.

Mit diesen Gedanken mich beschäftigend, sah ich 100 Schritte vorwärts eine
Holzschneise, welche sich links vom Wege den Berg heraufzog, und bemerkte
zugleich, daß in derselben nur die ersten 50 Schritte durch die Steilheit des Berges
beschwerlich waren, man aber alsdann ziemlich gewonnen hatte, indem von diesem
Puncte aus bis zur äußersten Höhe desselben (noch einige 100 Schritte) derselbe
weniger steil wurde. Ohne diese Entdeckung laut werden zu lassen, befahl ich denen,
welche mir folgten, nur dicht aufzuschließen, worauf ich, sowie ich neben die
Schneise kam, mit ihnen bergaufwärts links ausbog und nun einen Weg einschlug,
der, wie der Schnee deutlich verrieth, noch nicht betreten war. Bei den ersten 20
Schritten hätte ich beinahe mein Unternehmen wieder aufgeben müssen, denn meine
Pferde (sie wurden an der Hand geführt) fielen bis an den Bauch in Schnee und
mehrere andere schlugen um; dann aber war der Berg weniger steil und besonders
lag der Schnee nicht mehr so tief. Nach 50 Schritten wurden die Schwierigkeiten, wie
ich richtig bemerkt hatte, bedeutend geringer und nach ungefähr 250 bis 300
Schritten hatte ich den ganzen Berg erstiegen, worauf ich mich rechts drehete, auf
dem Rücken desselben fortging und so, nachdem ich 1/2 Stunde auf demselben
fortgegangen war, was ich vorher als ausführbar erkannt hatte, wieder in die Straße
einlenkte.

Meine große Anstrengung und die Consequenz, womit ich den Abmahnungsgründen
der mir Folgenden widerstand, wurde dadurch belohnt, daß ich die sich vor mir
befindenden umging, indem nur erst sehr wenige einzelne Menschen und Pferde den
Berg auf der Straße erstiegen hatten. Was mir gegenwärtig am meisten auffällt, ist,
daß vor mir kein Mensch auf die Idee gefallen war, diesen Nebenweg einzuschlagen;
als ich den Berg erstiegen hatte, was man wohl erst abwarten wollte, folgten mir eine
Menge Fußgänger. Mancher Fou und Coquin etc. wurde mir, bis ich die ersten 50
Schritte gewonnen hatte, von den Franzosen nachgeschickt..."

Heinrich Friedrich von Meibom: Aus napoleonischer Zeit

Meibom, Jahrgang 1784, ist ein weiterer typischer Vertreter der Generation junger
ambitionierter Offiziere, die in der westfälischen Armee Karriere machten und es in
wenigen Jahren i.d.R. vom Leutnant bis zum Chef d´ Bataillon oder höher brachten
(vergleiche auch Bauer, Boedicker, Borcke, Conrady und Loßberg). Seit 1800 in
waldeckischen bzw. holländischen Diensten, trat er gemeinsam mit seinem Bruder
1808 als Leutnant in die westfälische Armee über, nachdem der frischgebackene
König Jérôme unter Strafandrohung alle Offiziere in fremden Diensten, deren
Geburtsort im Bereich seines Königreiches lag, zum Eintritt in seine Armee aufrief.
Neben den Brüdern Meibom kamen aus Holland General Heldring, Oberst v. Uslar,

http://home.arcor.de/hemmann/zf/articles/westphalians/westphalians.html 26.12.2013 17:12:38


Westfälische und Kurhessische Memoiren . 35

die Brüder Ries, die Kapitäne Böking, v. Meyern, Graf v. Seiboldsdorf, die Leutnants
Bode, Schuhmacher, Heinrich v. Hochberg u.v.a.

Meibom wurde zunächst als diensttuender Offizier im Kriegsministerium angestellt,


dann am 1. März 1808 Adjutant des Generals von Heldring, am 5. Mai d. J. Kapitän in
der Jäger-Garde, am 11. Juni 1810 Bataillonschef im 8. Infanterieregiment, am 5.
November 1812 Major, am 6. Oktober 1813 – kurz vor dem Ende des Königreiches –
noch Oberst des 7. Infanterieregiments. Am 24. Dezember 1813 wurde er mit
Rückstufung um zwei Dienstgrade zum Major in der kurhessischen Armee ernannt.
1847 wurde er pensioniert.

Um den Korpsgeist der westfälischen Truppen und die – zumindest teilweise –


vorhandene Begeisterung für den französischen Kaiser im Jahre 1812 zu
charakterisieren, folgt ein Auszug aus den Erinnerungen Meiboms, beginnend mit
dem Zurückbleiben seines (8.) Regiments in Pillau bei Königsberg im Mai / Juni 1812,
während die Mehrzahl der westfälischen Truppen in die russische Kampagne zog
[19], S. 109ff. "Unser Regiment blieb ungern zurück und bat seinen Obersten, seinen
Wunsch, den Feldzug mitmachen zu dürfen, höheren Orts auszusprechen. Dies
geschah zweimal. Das erste Mal schriftlich, das zweite Mal benutzte Oberst Bergeron
die Anwesenheit des Generals Duroc, Adjutanten und Liebling des Kaisers, zu der
Bitte, den Wunsch des Regiments dem Kaiser persönlich vorzutragen. Der General
versprach, dies zu tun und notierte sich die Sache. Nach einigen Wochen wurde unser
Regiment abgelöst und nach Königsberg verlegt. (...) Bald nach unserer Rückkehr
(nach Königsberg, von einem Zug mit dem General Loison gegen eine russische
Diversions-Bewegung. TH) erschien die schon lange erhoffte Order für unser
Regiment, der Großen Armee zu folgen. Ich ließ die Marschroute anfertigen, war
indessen sehr betroffen, als der General (Loison. TH) mir eröffnete, daß ich für meine
Person zurückbleiben müsse. Allerdings versprach der General, mich ziehen zu
lassen, sobald ein Nachfolger für mein Amt eingetroffen sei. Schweren Herzens sah
ich mein Bataillon abziehen, hatte aber die Freude, dem Regiment noch einen
wesentlichen Dienst leisten zu können. (...) Die momentane Trennung vom Regiment
tat mir unendlich leid." Und über das Wiedersehen [19], S. 117: "Vom General Loison
mit einer Feuille de route (Marschroute. TH), die auch die Lieferung eines Wagens mit
vier Pferden enthielt, versehen, reiste ich von Königsberg zum Regiment ab. Ich holte
es in der Gegend von Tilsit ein, wo es auf dem Marsch halt gemacht hatte. Meine
Freude, das Regiment wiederzusehen, wurde durch den jubelnden Zuruf der
Offiziere, Unteroffiziere und Soldaten noch erhöht. Auch der Regimentskommandeur
war über meine Rückkehr erfreut. Diesen herrlichen Augenblick werde ich nie
vergessen."

Abschließend bringen wir das Fazit, mit dem Meibom seine Zeit im westfälischen
Dienst charakterisiert und das wohl viele ehemals westfälische Offiziere hätten
unterschreiben können: "Jedenfalls gehört die Zeit, in der ich in königlich
westfälischen Diensten stand, zu den wichtigsten meines Lebens, nicht allein wegen
des schnellen Avancements, sondern auch weil ich Gelegenheit fand, mich militärisch
auszubilden, meine Kräfte zu entwickeln und vielfache Erfahrungen zu machen. Nicht
durch enge Formen belästigt, wurde jedem in seinem Wirkungskreise ein ziemlich
freier Spielraum gelassen, und für gut geleistete Dienste gab es in der Regel
Anerkennung."

Franz Morgenstern: Kriegserinnerungen des Obersten Franz Morgenstern aus


westfälischer Zeit

http://home.arcor.de/hemmann/zf/articles/westphalians/westphalians.html 26.12.2013 17:12:38


Westfälische und Kurhessische Memoiren . 36

Morgenstern, geboren 1787 als Sohn eines verabschiedeten braunschweigischen


Majors, wurde als 15jähriger Junker im braunschweigischen Infanterieregiment Prinz
Friedrich. 1804 Fähnrich, wurde er im französisch-preußischen Krieg von 1806/07,
obwohl das Herzogtum Braunschweig-Lüneburg neutral geblieben war, als
Kriegsgefangener in Metz interniert. Nunmehr westfälischer Untertan, konnte er sich
der Dienstpflicht nicht entziehen und bat um Anstellung als Unterleutnant, die er am 3.
Juli 1808 im 2. Westfälischen Linienregiment erhielt. Bereits 1809 musste er mit dem
Regiment nach Spanien. Seine Erinnerungen [20] sind für den Historiker besonders
interessant, da wir sowohl nur wenige Nachrichten von den ehemals
braunschweigischen Offizieren in westfälischen Diensten als auch nur spärlich
Memoiren von Westfalen auf dem spanischen Kriegsschauplatz besitzen.

Morgensterns Regiment wurde als Teil der westfälischen Division bei der Belagerung
der Festung Gerona verwendet (s.o. Bauer, Boedicker). Die erste größere
Bewährungsprobe für die jungen westfälischen Truppen sollte der Sturm auf das Fort
Montjouy am 7. Juli 1809 werden. Hierzu wurden die gesamten Elite-Kompanien des
Belagerungsheeres auserwählt. Die Kriegsbegeisterung war jedoch (noch) so groß,
dass sich sogar Offiziere von den Zentrumskompanien meldeten, um freiwillig an dem
Sturm teilnehmen zu können. Morgenstern schreibt über seine Feuertaufe: "Mit der
ersten Dämmerung am fernen Horizonte erweckte uns der leise Ruf: ´auf!´, ´auf!´,
welcher von Kompanie zu Kompanie sich fortpflanzte. Noch waren etwas entferntere
Gegenstände nicht zu unterscheiden, als wir in lautloser Stille gegen das Ziel unseres
Unternehmens heranrückten. ... Da – der erste Blitzstrahl eines vom Walle
abgefeuerten Geschützes wirft eine Leuchtkugel vor uns nieder, welche urplötzlich
die ganze Gegend taghell erleuchtet. Wie mit einem Zauberschlag erfüllt sich die Luft
mit dem Donner der Geschütze und dem Geprassel des Gewehrfeuers von den
nahen Wällen. Ein Hagel von Geschossen aller Art raset verheerend in unsere dicht
gedrängte Kolonne. Gleichzeitig ertönt von unseren, am Abhange des Glacis sich
aufstellenden Tambours, Pfeifern und Hornisten – mehr als hundert an der Zahl, der
einfach dröhnende Sturmmarsch und aus der Kolonne ein tausendstimmiges Hurrah.
Das erschütternde, sinnverwirrende Getöse steigert sich bis zum höchsten Grade
durch das plötzliche Auffliegen des in geringer Entfernung in unserer rechten Flanke
liegenden bastionierten Turmes St. Jean, in welchem eine explodierende Granate das
Pulvermagazin entzündet hatte. Unsere 1. Grenadier-Kompagnie bildete auf diesem
Angriffspunkte die Tete der Sturmkolonne. Vor derselben schritten der Oberst Müller
mit einem jüngeren Divisionsadjutanten, unser Bataillonschef, Oberstleutnant d
´Egremont, der Hauptmann v. Rudorff, der junge Anthony und ich. Unmittelbar vor
uns hatte eine Abteilung französischer Genietruppen den Auftrag, Sturmleitern an den
noch unversehrten Teilen des Mauerwerks aufzustellen, um die sehr unvollkommene
Bresche erreichbar zu machen. Der unebene, felsige Boden, das verwirrende
Getöse, welches jedes Kommandowort, jeden Zuruf unhörbar machte, und der schon
beim ersten Anlaufe ungeheure Menschenverlust hatten schnell die taktische
Ordnung der Sturmkolonne gelöst und solche in einen Menschenknäuel verwandelt,
der unaufhaltsam nach vorn drängte. Wir hatten die Höhe des Glacis erreicht; aber
zum Hinabsteigen in den tiefen Graben bot sich uns hier nur eine schmale in das
Mauerwerk der ganz unversehrten Contreescarpe eingeschnittenen Appareille
(Rampe. TH), auf welche kaum zwei Mann nebeneinander schreiten konnten.
Dadurch entstand eine so verderbliche Stockung, dass der auf dem obern Rande des
Glacis sich ausbreitende Menschenknäuel den feindlichen Geschossen eine über alle
Maßen günstige Zielscheibe bot. Von der Bresche schleuderte eine dort aufgestellte
Haubitze gleich Kartätschen wirkende zahllose Flintenkugeln der Sturmkolonne
entgegen. Kartätschsalven raseten aus der Lunette, von der Courtine und von der
Flanke des Nachbarbastions in dieselbe hinein. Gleichzeitig dirigierten alle Mörser und

http://home.arcor.de/hemmann/zf/articles/westphalians/westphalians.html 26.12.2013 17:12:38


Westfälische und Kurhessische Memoiren . 37

Haubitzen der Festung ihr Feuer auf die Stürmenden. Ein solches mörderisches
Geschütz- und Musketenfeuer musste unfehlbar unter den unaufhaltsam
Heranstürmenden furchtbar aufräumen. Noch bevor die Spitze der Kolonne die Sohle
des Grabens erreichte, waren schon unser Führer, Oberst Müller, der
Divisionsadjutant, der Oberstleutnant d´Egremont und mein braver Hauptmann v.
Rudorff schwer verwundet gefallen. Der Graben war weder durch herabgerutschte
Erde noch durch Faschinen auch nur teilweise ausgefüllt, und als wir hinabstiegen,
machten wir die trostlose Entdeckung, dass die Mauer unter der Bresche nur mit
wenigen, in weiten Zwischenräumen aufgestellten Leitern besetzt war, und dass die
Leitern um Manneshöhe zu kurz waren. Am Fuße der Leitern empfingen uns alle
denkbaren Zerstörungsmittel: Handgranaten, Überschüttungen mit brennendem Pech
und Oel, herabrollende große Steinblöcke und explodierende Pulversäcke.

Ich ergriff eine Sprosse der vor mir befindlichen Leiter; aber im nämlichen
Augenblicke empfand ich einen erschütternden Schlag auf die rechte Schulter, der
mich augenblicklich zu Boden warf. Mit Hilfe eines mich aufrichtenden Grenadiers
erreichte ich die Futtermauer des nahen halben Mondes, wo ich ziemlich außerhalb
der Schusslinie war, und sank ohnmächtig zusammen. Nachdem ich meiner Sinne
wieder mächtig war, fand ich meinen rechten Arm völlig bewegungslos an Leib und
Brust festliegend hinaufgezogen. Meine das Säbelgefäß umklammernde rechte Hand
ruhete unter der linken Schulter. Blutspuren bemerkte ich nirgend. Ich war gänzlich
kraftlos, empfand aber keinen bedeutenden Schmerz. So beruhigte ich mich nach
und nach und konnte meine volle Aufmerksamkeit der Scene zuwenden, die sich vor
mir entwickelte. Noch immer entströmten der schmalen, in den Graben führenden
Appareille Massen von Heranstürmenden, welche ihrer Offiziere beraubt ratlos ein
nutzloses Feuer gegen die Brustwehr richteten. Dennoch wurden von einzelnen
Braven Versuche gemacht, selbst mit den ungenügendsten Hilfsmitteln die Bresche
zu gewinnen. Sie erreichten wohl hin und wieder ihr gefährliches Ziel, fanden aber in
ihrer Vereinzelung den sicheren Tod. Dort auf der Brustwehr soll auch mein braver
Anthony den Heldentod gefunden haben. Das mörderische Feuer lichtete schnell die
aufgelösten Reihen unserer Soldaten, welche endlich, fast ohne Führer, die
Nutzlosigkeit ihres Plackerfeuers erkennend, den Rückweg zu suchen begannen.
Diesen Zeitpunkt musste auch ich selbst wahrnehmen, um mich meiner peinlichen
Lage zu entziehen. Dazu musste ich mich allerdings von Neuem dem feindlichen
Feuer aussetzen. Nach wenigen Schritten hatte ich indessen die mit Leichen
bedeckte Appareille erreicht. Von flüchtig vorübereilenden bedrängt, nur eines Armes
mächtig, bei jedem Schritte strauchelnd oder durch Anstoß niedergeworfen, blieb ich
am Fuße der Rampe völlig kraftlos liegen. Gegen die Mauer der Contreescarpe
gelehnt, verharrte ich dort in sitzender Stellung. Da erschallt neuerdings der
dröhnende Sturm-Marsch der Tambours und Hornisten. Mit tausendstimmigem
Hurrah stürmen neue Scharen in den Graben hinab. Es war der tapfere Oberst Muff,
welcher bei nunmehr herangebrochenem Tageslichte die an der Queue der
Sturmkolonne befindlichen Voltigeur-Kompagnien gesammelt zu erneutem Sturme
heranführte. Die Flüchtigen mit sich fortreißend stürmte er der Bresche entgegen.
Meine Lage war unerträglich. Jeder, der an mir Vorübereilenden machte mich, der ich
fest an die Mauer gelehnt dasaß, zum Stützpunkte, erfasst meine zerschossene
Schulter und verursacht mir rasenden Schmerz. Sie sind vorüber! Ach, auch diese
Braven erwartet das gleiche Missgeschick. Schon gewahre ich zurückkehrende
Verwundete. Jetzt litt es mich nicht mehr auf meinem Schmerzenslager. Ich raffe
mich auf und erreiche endlich mühsam fortkriechend den Kamm des Glacis. Weiter
schwankend, erblicke ich vor mir sitzend, meinen treuen Burschen, den Grenadier
Riechel, welcher sich bemüht, sein Taschentuch um seinen verwundeten linken Arm
zu knüpfen. Er erkennt mich, springt auf, sein gesunder Arm umfasst meinen

http://home.arcor.de/hemmann/zf/articles/westphalians/westphalians.html 26.12.2013 17:12:38


Westfälische und Kurhessische Memoiren . 38

gleichfalls gesunden linken Arm, und so leitete er mich zu der einige hundert Schritte
entfernten Ambulance. Auch hier erwartet mich eine erschütternde Szene. Der
Chirugien-major Schuller von unserem Regimente war eben im Begriffe die Wunde
meines braven Hauptmann v. Rudorff zu untersuchen. Sie war tödlich – eine
Kartätschkugel war tief in den Unterleib eingedrungen. Der Hauptmann, von Schmerz
zerissen, fragte mich nach meiner Verwundung, dann aber nach dem Resultat des
Sturmes. Ohnerachtet meiner Überzeugung vom Gegenteile wollte ich doch dem
Sterbenden den letzten Trost nicht rauben und erwiderte, dass ich die feste Hoffnung
hegen dürfe, dass der erneuerte Versuch des Oberst Muff gelungen sein werde. Noch
während sich der Arzt mit mir beschäftigte, verschied der brave Hauptmann, dem ich
eine bittere Träne nachweinte. Meine eigene Verwundung erwies sich als eine starke
Kontusion. Der krampfhaft geschlossenen Hand konnte der Säbelgriff nur gewaltsam
entwunden werden. Der Arzt zerrte den Arm auf schmerzhafte Weise hin und her,
drückte und betastete die Schulter nach allen Richtungen und gab dann die
Versicherung, dass das Schlüsselbein nicht wesentlich verletzt sein könne, obgleich
es die ganze Wucht des Schlages irgend eines Projektils aufgenommen habe.
Vorläufig legte er eine Bandage an. Meines Burschen Fleischwunde wurde
verbunden. Dann wurden wir Beide in das Feld-Hospital zu Sarria entlassen."

1810 durfte Morgenstern, inzwischen zum Adjutant-Major ernannt, mit den Kadres
der zweiten Bataillone nach Westfalen zurückkehren. Im März 1812 marschierte
Morgenstern, nunmehr Hauptmann und Kompaniechef im 2. Regiment, nach
Russland, von wo er im Februar 1813 wieder glücklich heimkehrte. Nach schwerer
Krankheit ging er im Juli an der Spitze der Grenadierkompanie des 2. Bataillons
wieder ins Feld und war am 11. November 1813 Zeuge der Kapitulation von Dresden.
Über den bewegenden Moment der Trennung von den Franzosen in westfälischen
Diensten berichtet Morgenstern: "Nach Inhalt der Kapitulation war den
Rheinbundstruppen Entlassung in Ihre Heimat zugesichert worden. Behufs offizieller
Bekanntmachung wurden am 12. November die Offiziere der Brigade in die
Wohnung des Brigade-Kommandeurs, des französischen Generals Bernard,
beschieden. Dieser Franzose hatte die Frechheit, den Offizieren zuzumuten, ihm
nach Frankreich zu folgen und dort die Wiederherstellung des Königreiches
abzuwarten. Keiner natürlich ging darauf ein. Da aber entlud sich der lange verhaltene
Ingrimm des Franzosen zu rücksichtslosen Schmähungen. Immer höher steigerte
sich die Leidenschaftlichkeit dieses Mannes, bis er endlich erschöpft, fast atemlos, in
schmerzlichen Ausrufungen endete und der Regiments-Kommandeur, Oberst Picot,
uns Offizieren einen Wink gab, uns zu entfernen. Der kameradschaftliche
Zusammenhalt des Offizierkorps war leider nicht mehr so fest, um ein völlig
gemeinsames Handeln gegenüber solch empörender Kränkung zustande zu bringen.
Nur die Kapitäns von Meibom (Bruder von Heinrich Friedrich von Meibom. TH), v.
Falkenberg, Bride, der Adjutant-Major Stiehle und die Leutnants v. Specht und Illing
vereinigten sich mit mir, den General zu zwingen, die Beleidigung zurückzunehmen.
Im Weigerungsfalle sollte um das Pistolenduell mit ihm gelost werden. Ich war als
Sprecher auserwählt und entledigte mich mit großer Ruhe dieser Aufgabe. Trotzdem
erging sich der General von neuem mit ungezähmter Heftigkeit in einem endlosen
Wortschwalle. Hauptmann v. Falkenberg konnte sich zuletzt nicht mehr halten. Aus
dem Kreise vortretend, rief er: ´Was sollen wir uns noch länger an der Nase
herumführen lassen!´ Kaum hatte aber Bernard diesen Ausspruch vernommen, als er
uns entgegendonnerte: ´Que veut-il, ce Monsieur de Falkenberg, veut il se battre avec
moi? Allons donc, j`y suis! ´, und mit einem Satze sprang der behende Franzose auf
einen an der Wand stehenden Tisch, riss ein paar hochhängende Pistolen herunter,
und herabspringend, drängte er dem Hauptmanne eine Pistole in die Hand. Da ergriff
ich, die Gefahr eines schlimmen Ausganges erkennend, falls das Rencontre im

http://home.arcor.de/hemmann/zf/articles/westphalians/westphalians.html 26.12.2013 17:12:38


Westfälische und Kurhessische Memoiren . 39

Zimmer des Generals gegen alle Regeln zu Stande kam, schnell das Wort und sagte
laut aber ruhig in deutscher Sprache: ´Die Ehre, sich mit Ihnen, Herr General, zu
schießen, haben wir demjenigen vorbehalten, für den sich das Los entscheidet.´
Diese Worte machten einen entschieden günstigen Eindruck. Inzwischen erschien
auch unser braver Regiments-Kommandeur, Oberst Picot. Er fasste seinen
Landsmann sanft am Arme und zog ihn in ein Nebenzimmer. Nach gar nicht langer
Zeit traten Beide wieder ein. Mit voller Ruhe eröffnete uns nun der General Bernard,
sein Freund, unser würdiger Oberst, habe uns das Zeugnis der vollkommensten
Ehrenhaftigkeit und Diensttreue gegeben, er nehme keinen Anstand, diese Erklärung
uns gegenüber als die seinige anzuerkennen. Um so mehr habe er zu bedauern, dass
er wahrscheinlich für immer von uns scheiden müsse. Das war unser Abschied aus
dem Dienste des Königs von Westfalen."

Morgenstern ging sofort nach Braunschweig zurück und erhielt bereits am 25.
November 1813 die Wiederanstellung als braunschweigischer Offizier, allerdings nur
als Premier-Leutnant. Am Feldzug 1815 nahm er als Adjutant des Generals
Wolfermann teil, der nach dem Tode des Herzogs von Braunschweig bei Quatrebras
das Kommando der Braunschweiger übernahm. 1830 erhielt Morgenstern das
Kommando eines Bataillons und kam 1837 in den Generalstab. 1841 Oberstleutnant,
wurde er 1845 Oberst, 1847 Direktor des Kriegskollegiums und 1848 Chef des
Kriegs-Departements im Staatsministerium. 1851 trat er in den Ruhestand und
verstarb 1869.

Christian Normann: Aus den Papieren eines alten Offiziers

Normann, Jahrgang 1794, trat als 1811 als Eleve in die westfälische Artillerieschule
ein. Im Dezember 1812 (nach Lünsmann) bzw. im Januar 1813 (nach den Memoiren)
zum Sekondelieutenant ernannt, erhielt der 18-jährige das Kommando in einer neu zu
errichtenden Artilleriekompanie (die Kompanien formierten jeweils eine Batterie).
Nach einem Zug gegen ein Streifkorps der Verbündeten in Westfalen im Frühjahr
1813 wurde Normanns Batterie kurz vor dem Waffenstillstand mobil gemacht und
nach Sachsen in Marsch gesetzt. Beim Ablauf des Waffenstillstandes stand die
Batterie in Dresden, so dass sie auch bei der am 25./26. August 1813 beginnenden
Dresdner Schlacht sofort ins Feuer kam. Die Batterie war auf die Redouten Nr. 6 und
7 am rechten französischen Flügel mit je drei 6-pfündigen Kanonen, einer 7-
pfündigen Haubitze und zwei Zwölfpfündern (die aus dem Dresdner Zeughaus
stammten) verteilt worden. Normann erzählt [21]: "Kaum in der Redoute
angekommen, wurden wir von österreichischen Jägern, welche sich in den
Chausseegraben herangeschlichen haben, beschossen. Wir suchten und fanden
zwar Schutz hinter der Brustwehr, doch wurden mehrere von der Besatzung
verwundet. Obschon wir demnach ganz unerwartet sofort in Thätigkeit gesetzt und in
Spannung erhalten wurden, auch nur einen verhältnismäßig geringen Verlust hatten,
so überfiel mich doch eine gewisse Bangigkeit hinsichtlich der noch kommenden
Ereignisse, welche mich nicht zu einem rechten Bewußtsein unserer Lage kommen
ließ. In diesem Zustand verblieb ich auch die folgende Nacht hindurch. Derselbe
änderte sich erst des anderen Tags, den 26. August, als gegen unsere Redoute drei
österreichische Batterien, also gegen je zwei von unseren Geschützen, welche zu
zwei in den drei Spitzen standen und über Bank feuerten, eine Batterie auffuhr und ihr
Feuer eröffnete. Nun wurde unsere ganze geistige und körperliche Thätigkeit in
Anspruch genommen. Die Spannung steigerte sich, die Bangigkeit verlor sich, und
obschon das Feuer der Geschütze wahrhaft mörderisch war, der Donner derselben
den Boden erschütterte und wir viele Leute verloren, auch uns zwei Geschütze
demolirt wurden, so gewahrte ich diesen großen Verlust erst Abends nach

http://home.arcor.de/hemmann/zf/articles/westphalians/westphalians.html 26.12.2013 17:12:38


Westfälische und Kurhessische Memoiren . 40

eingestelltem Feuer. Denn obgleich auch neben mir Leute verwundet und getödtet
wurden, meine ganze Aufmerksamkeit konnte wegen der Größe der Gefahr nur auf
meine Dienstverrichtung gefesselt sein.

Gegen 11 Uhr war die Redoute Nummer 6, links vor uns gelegen, vom Feinde
genommen. Derselbe drang nun von da aus in die Friedrichstadt ein, welche schon an
einigen Orten brannte.

Auch wir fürchteten in der Redoute Nummer 7 gleiches Schicksal, umsomehr, als wir
den Feind schon im Rücken hatten, als gegen Mittag zwei reitende Batterien, wovon
die eine die mit uns ausgerückte westphälische Batterie war, aus der Stadt
vorrückten, sich rechts und links neben unserer Redoute placirten, ihr Feuer
eröffneten und so zwei von den uns gegenüberstehenden österreichischen Batterien
in die Flanke nahmen. Diese beiden mußten daher Schwenkungen rückwärts
machen, wodurch wir Luft erhielten, und nun wurde auch nach einem heftigen
Geschützfeuer die Redoute Nummer 6 durch die herangerückte französische
Infanterie im Sturm dem Feinde wieder entrissen. Diese unerwartete Hülfe war durch
den Kaiser selbst herbeigeführt, der mit seinen Garden und einem Cavalleriekorps
eilig zum Entsatz von Dresden herangerückt war und dem im Verlauf des Tages noch
mehrere Corps folgten. (...)

In der darauf folgenden Nacht regnete es mäßig, fing aber gegen Morgen stärker an.
Während dessen rückten fortwährend unsere Truppen aus der Stadt und stellten sich
zwischen und hinter den Redouten in Schlachtordnung auf, die Batterien
vorschiebend. Mit den zuerst ausgerückten Truppen kam der Kaiser, sowie sein
glänzendes Gefolge und begab sich in unsere Redoute, um sich die Stellung des
Feindes auf den gegenüberliegenden Höhen zu besehen. Er sendete den Marschall
Berthier an mich, welchem ich über die am vorhergehenden Tage stattgehabten
Ereignisse Mittheilung machen mußte."

Der Herausgeber und Enkel Normanns bemerkt hierzu: "Mein Großvater verschweigt
hier aus Bescheidenheit eine ihm zu Theil gewordene glänzende Auszeichnung. Er
wurde nämlich, nachdem Napoleon über die Vertheidigung der Redoute Näheres
gehört, dadurch geehrt, daß der Kaiser mit seinen Generalen an ihm vorbeiritt, den
Hut abnahm und die Generale veranlaßte, das Gleiche zu thun. (..) Außerdem
ordnete Napoleon auf der Stelle die Eingabe meines Großvaters zur Ehrenlegion an."

Die Überreste der Batterie Normanns kamen nach der Dresdner Schlacht zur Alten
Garde und machten mit dieser noch einige Hin- und Herzüge zwischen Sachsen und
Schlesien mit, bei denen die Entbehrungen sich immer mehr steigerten. Normann
berichtet folgenden charakteristischen Zug: "Während die Gardegrenadiere den
Kaiser, wenn er des Morgens frühe auf seinem Schimmel mit seinem Gefolge an ihrer
Linie herunterritt, murmelnd mit einem ´Vive l´ Empereur´ begrüßten, schrieen auf
einer anderen Seite die jungen Soldaten der Linie ´Vive la pomme de terre´. Der
Geruch, welchen letztere verbreiteten, war der Art, daß man deren Ankunft schon aus
der Ferne gewahr wurden".

Schließlich blieb die Batterie wieder in Dresden, wo Normann in österreichische


Gefangenschaft geriet. Aus dieser konnte er Ende 1813 in seine Heimat
zurückreisen. Normann wurde als Premierlieutenant in der wieder errichteten
hessischen Artillerie angestellt und marschierte 1814 mit der dritten marschfertigen
Batterie (Hauptmann Schulthes) nach Frankreich aus, wo die Batterie dann bei der
Belagerung Luxemburgs verwendet wurde. 1815 wurde Normann mit seiner Batterie

http://home.arcor.de/hemmann/zf/articles/westphalians/westphalians.html 26.12.2013 17:12:38


Westfälische und Kurhessische Memoiren . 41

erneut mobilisiert und wieder bei Festungsbelagerungen verwendet (Charleville,


Mezieres).

Der zweite Teil der Memoiren behandelt die kurhessische Zeit von 1815 bis 1849.
Normann wurde 1819 Hauptmann, 1821 Batteriechef und als solcher in mehreren
Kommissionen, die sich mit Rüstungsfragen beschäftigten, tätig. 1833 zum Major,
1838 zum Oberstlieutenant befördert, wurde er 1840 in das Kriegsministerium
abgeordnet und 1843 in den Generalstab versetzt. 1847 erhielt Normann den
Charakter als Oberst. Nach der Revolution von 1848 brach der Krieg mit Dänemark
aus. Normann wurde 1849 Kommandeur der Artillerie der Bundestruppen
(sächsische, braunschweigische, nassauische, oldenburgische usw.) in Schleswig-
Holstein. Im letzten Teil der Erinnerungen sind die Briefe an seine Frau aus dieser
Zeit abgedruckt. Von diesem ehrenvollen, aber auch aufreibenden Kommando
zurückgekehrt, bat Normann um Versetzung in den Ruhestand. Er starb 1866.

Eduard Rüppell: Kriegsgefangen im Herzen Rußlands

Eduard Rüppell (nach anderen Quellen, z.B. Lünsmann: Rüppel) wurde 1792 als
Sohn eines landgräflich-hessischen Regierungsrates geboren. Er besuchte die 1808
errichtete Militärschule in Braunschweig und wurde 1810, mit 18 Jahren,
Unterleutnant im neu errichteten 2. westfälischen Husarenregiment (vgl. Klinkhardt),
das in Aschersleben stationiert war. Mit diesem Regiment ging er 1812 in den
russischen Feldzug. Seine Schilderungen der kriegerischen Begebenheiten reichen
bis zur Schlacht von Walutina Gora am 19. August 1812 [22], in der er von russischen
Husaren gefangen genommen wurde.

Vom Schlachtfeld wurde Rüppell in Tagesmärschen von ca. 25-30 km über


Borodino, Moskau, Wladimir, Simbirsk bis nach Orenburg (nach damaligen Begriffen
an der europäisch-asiatischen Grenze) gebracht. Von dort wieder ein Stück
westwärts nach Busuluk verlegt, verlebte er den größten Teil des Jahres 1813 in
vergleichsweise angenehmen Verhältnissen bei der russischen
Großgrundbesitzerfamilie Plemjänikoff und deren Verwandtschaft (Rüppells Bruder,
der im westfälischen Garde-Chevaulegers-Regiment stand und ebenfalls gefangen
war, verbrachte seine Gefangenschaft in Saratoff an der Wolga). Rüppell, ein guter
Beobachter, schildert sehr detailliert die Lebensverhältnisse der Oberschicht, aber
auch der Leibeigenen und einfachen Bauern sowie der städtischen Bevölkerung.

Nach der Völkerschlacht kam Ende 1813 der Ukas, alle deutschen Offiziere wieder
nach Hause zu schicken, damit diese wieder in den deutschen Heeren fechten
konnten, selbstverständlich nun gegen Napoleon. Rüppell wurde mit einem großen
Transport (über den uns auch Berichte aus der Feder des Hessen-Darmstädters
Peppler [23] und des Württembergers Yelin [24] vorliegen) über Bjalystok nach
Hause geschickt, wo er Anfang 1814 wieder eintraf. Seinem Gesuch, in die neu
errichtete kurhessischen Armee einzutreten, wurde nicht entsprochen, was Rüppell
aber weiter nicht betrübte, da ihn die Verhältnisse in diesem Heer (das als einziges
deutsches wieder den sprichwörtlichen Zopf eingeführt hatte) abstießen. Rüppell ging
nach Wien und trat in das Regiment Schwarzenberg-Ulanen ein, mit dem er den
Feldzug 1815 mitmachte; u. a. lag er vor der französischen Festung Belfort. Als
Oberleutnant verabschiedet, verheiratete er sich 1818 und wurde 1830 Kanzlist bei
der Fürstlich Thurn und Taxis´schen Generalpostdirektion in Frankfurt a. M., 1830
daselbst Regieverwalter. Diese Stelle hatte er bis zu seinem Tod 1863 inne, also bis
zu seinem 71. Lebensjahr.

http://home.arcor.de/hemmann/zf/articles/westphalians/westphalians.html 26.12.2013 17:12:38


Westfälische und Kurhessische Memoiren . 42

Aus den Erinnerungen Rüppells [22] bringen wir abschließend die Schilderung seiner
Gefangennahme bei Walutina Gora, siehe hierzu auch meinen Aufsatz [25]. Wir
beginnen mit dem Moment, da die westfälische leichte Kavalleriebrigade bei einem
Defilee ins Gefecht kommt. "Erst als man in großer Ferne (...) eine bedeutende
Kavallerie-Kolonne hervorbrechen sah, die in schönster Ordnung im Galopp
aufschwenkte und auf beiden Flügeln mit Artillerie bedeckt war, bekam unsere
Brigade Order, sofort das Defilee zu passieren und die russische Kavallerie zu
werfen. Die Chevaulegers-Garde ging zuerst hinüber, aber da, wie gesagt, der Weg
hinab und wieder hinauf äußerst schmal und steil war, so ging viel kostbare Zeit
verloren und kamen die Regimenter nur einzeln nacheinander auf dem Kampfplatz
an. Bevor unser Regiment eintraf, hatten die braven Chevaulegers-Garde und das 1.
Husaren-Regiment bereits zwei Chargen ausgeführt, die aber, da sie en echelons
(staffelförmig. TH) erfolgten, kein Resultat hatten, jedoch viele Menschen kosteten.
Wir hörten beim Erklimmen der Anhöhe nur das furchtbare Geräusch, das sich bald
näherte, bald entfernte. Jetzt langten endlich auch wir auf der von einigen Bäumen
begrenzten Anhöhe an; es kamen uns auch schon mehrere Leichtblessierte
entgegen, und weiterhin erblickte man Helme, Tschakos, zerbrochene Lanzen und
Waffen aller Art verstreut auf der Erde liegen. Wir kamen gerade noch zu rechter Zeit
an, um die anderen vom Feind hart verfolgten Regimenter freizumachen. Obrist v.
Hesberg (Kommandeur des 2. westfälischen Husarenregiments. TH) ließ die
Schwadronen sich formieren und im Galopp deployieren; dies geschah unter einem
sehr heftigen Kanonenfeuer, das uns mehrere Pferde tötete, mit einer Präzision, wie
auf dem Exerzierplatze. Nachdem die beiden anderen Regimenter links und rechts
hinter unser Regiment abgeschwenkt hatten, bliesen unsere Trompeter zur Attacke,
und wir stürzten uns nun auf das Sumsche graue Husaren-Regiment, gerade im
Augenblick, wo es rechtsumkehrt machte. Da den mit ihren dicken Husarenpelzen auf
dem Rücken wohlverwahrten feindlichen Reitern Säbelhiebe nicht mit Erfolg
beizubringen waren, so brauchten wir unsere scharfen Säbel nur zum Stechen und
machten manchen Husar vom Pferde sinken, wenn auch die meisten, obschon
vielleicht schwerverwundet, auf ihren in Karriere dahinfliegenden Pferden sitzen
blieben. Wir waren ihnen so auf dem Hals, daß wir fast mit dem hinteren Glied des
Feindes pêle-mêle eine Linie bildeten. Ich hatte einem fast neben mir reitenden Sum-
Husaren bereits zwei Stiche gegeben, ohne daß er gefallen wäre; im Gegenteil
preschte er ins erste Glied vor und sogar noch darüber hinaus. Ich verlor ihn aus dem
Gesicht und meines sehr hitzig gewordenen Fuchsen kaum noch mächtig, befand ich
mich beinahe auch im ersten Gliede, als eine Pistolenkugel dicht an meinem Ohr
vorbeischwirrte und zwei Säbelhiebe von rückwärts auf mich fielen, die jedoch mein
locker hängender Pelz unwirksam machte. Dies mahnte mich, den feurigen Sprüngen
meines Pferdes Einhalt zu tun, und es war die höchste Zeit, denn es wurde zur
Retraite geblasen, da jetzt das im Galopp heranrückende Regiment Achtryrka-
Husaren unsere Flanke bedrohte. Wir machten rechtsumkehrt, und es ging ventre à
terre zurück, die braunen Achtyrka hinter uns her. Bei dieser Retraite bekamen wir
einige Salven aus den russischen Flügelbatterien, die uns mehrere Leute töteten: in
dem ungeheuren Staub, der alles verhüllte, konnte man nicht recht sehen, was an der
Erde lag, aus den öfteren Sätzen aber, die mein Pferd machte, konnte ich
entnehmen, daß viele gefallen sein mußten. Erst nachdem wir mit unseren beiden
Regimentern wieder in gleiche Höhe gekommen waren, machten wir halt und wieder
Front und erst jetzt, wo sich der Staub verzog, konnte man die Sachlage erkennen:
das 1. Husaren-Regiment hatte sich auf die braunen Husaren, die uns verfolgt hatten,
geworfen und saß ihnen dicht auf dem Hals. Mehrere versprengt gewesene Husaren
kamen jetzt herangeritten, die meisten davon waren blessiert; einem maréchal des
logis war das Gesicht von einem Ohr zum anderen horizontal gespalten, ich erkannte

http://home.arcor.de/hemmann/zf/articles/westphalians/westphalians.html 26.12.2013 17:12:38


Westfälische und Kurhessische Memoiren . 43

ihn nicht. Ein Brigadier namens Zwinkau hatte die eiserne Spitze einer Kosakenpike
noch zwischen den Schultern stecken, während die Stange abgebrochen war. Der
maréchal des logis Hünersdorf, ein Casselaner, hatte einen Pfeilschuß in den rechten
Oberarm bekommen; wahrscheinlich war die Spitze vergiftet gewesen, denn
Hünersdorf soll nach einigen Stunden verschieden sein: es befanden sich in der
russischen Armee sowohl Baschkiren wie Kalmücken, die mit Pfeil und Bogen
bewaffnet waren. Reiterlose Pferde liefen genug umher und waren den Bewegungen
oft sehr hinderlich. Den Premierleutnant Sack von der Chevaulegers-Garde schleppte
man auch an uns vorbei: der wackere Offizier ahnte sein Ende, eine Pistolenkugel
war ihm durch den Leib in die Blase gedrungen.

Das 1. Husaren-Regiment und die Chevaulegers-Garde hatten nun wieder ihren


früheren Platz eingenommen, wir standen auf dem linken Flügel der Brigade. Die
feindliche Linie, noch bedeutend verstärkt, überflügelte uns bei weitem, und hätte sie
uns mit Nachdruck attackiert, so hätte sie uns in die hinter uns liegende Schlucht
sprengen können; es schien jedoch, daß der Feind die Örtlichkeit nicht kannte. Der
tapfere General v. Hammerstein hatte sich allen Attacken angeschlossen und auch
jetzt, wo wir wieder vorrückten, und dem Feind ganz nahe waren, karakolierte er vor
der Brigade herum, um irgendeinen feindlichen Waghals herauszufordern. Es kam
auch ein solcher, ein Offizier auf einem herrlichen Pferd: er führte eine Kosakenpike,
wie sie das erste Glied aller russischen Husaren-Regimenter hatte, mit sich, ritt einige
Volten um den General herum und feuerte sein Pistol auf ihn ab, was aber
wirkungslos blieb. Hammerstein, auf einem großen türkischen Schimmel, sein breites
Schlachtschwert in der Hand, hatte ruhig diesen Schuß abgewartet; nun aber stürzte
er auf seinen Gegner los und spaltete ihm Tschako und Kopf bis auf die Schulter, so
daß er, während Hammerstein sich seines Pferds bemächtigte, wie ein Sack zur Erde
fiel. Unsere Husaren jauchzten ihm ein lautes Bravo entgegen, Hammerstein gab das
Pferd einem Husar, um es hinter die Front zu bringen, und sagte: "Nur ein bißchen
Entschlossenheit, und die Kerls könnt ihr alle so bekommen!" (...)

Mittlerweile rückten wir unter heftigem Kanonenfeuer wieder vor; unsere


Regimentsmusik, an deren Spitze der ausgezeichnete Kapellmeister Klinkhardt
(siehe dort. TH) ritt, spielte einen prächtigen Marsch, für manchen den Todesmarsch.
Bald aber wurde die Fanfare geblasen, wir setzten uns in Galopp und dann in
Karriere, und so ging es noch einmal gegen die grauen Sumschen Husaren, denen
wir jedoch diesmal, wenn wir gleich hieben und stachen, weniger Mannschaft
herunterarbeiteten, als das erstemal. Mittelst ihrer trefflichen Pferde gewannen sie
einen Vorsprung, der ihrer auf den Flanken aufgestellten Artillerie gestattete, uns
wirksam zu beschießen, dies kostete uns Menschen und Pferde. Hesberg ließ zum
Rückzug blasen, der in größter Ordnung vor sich ging, ohne daß wir beunruhigt
worden wären; etwa nach 600 Schritten machten wir wieder Front. Mittlerweile war
eine polnische Halbbatterie hinter uns aufgefahren, deren schwaches Feuer die
Russen aber gar nicht inkommodierte; auch hatte sich hinter uns eine Abteilung des
11. Lanciers-Regiments postiert. Wir hatten die feindliche Linie ganz dicht vor uns und
so nahe, daß sie uns mit Karabinern beschossen. Unsere Leute wollten dies durchaus
erwidern, obschon es verboten war, und so schossen mehrere hinüber, unter denen
auch der hinter mir haltende Kompaniesattler Halleko war. Seine Kugel fuhr mir so
nahe am rechten Ohr vorbei, daß ich heftige Schmerzen in dessen Innern bekam; die
dampfende Hülle fiel auf meinen Sattelknopf nieder. Ich verwies dem Kerl diesen
Spaß ernstlich und sagte, daß ich ihn im Wiederholungsfalle vom Pferd stechen
werde. Der Mensch hatte ein ganz geisterhaftes Aussehen: bleich und hohläugig,
schien er eine Todesahnung zu haben; er bot seinen Kameraden seine
Schnapsflasche und sein bißchen wohlverwahrt gewesenes Brot freigebig an. (...)

http://home.arcor.de/hemmann/zf/articles/westphalians/westphalians.html 26.12.2013 17:12:38


Westfälische und Kurhessische Memoiren . 44

Hinter mir vernahm ich plötzlich eine Bewegung, und mein Pferd bekam von dem
gerade hinter ihm stehenden einen heftigen Stoß; ich drehe mich um und von meinem
armen Halleko sehe ich nur noch den nach vorne geneigten blutigen Rumpf, was
einen schauderhaften Anblick gewährte. Dieselbe Kugel hatte dem hinter mir
reitenden Husar Schultz die rechte Schulter abgerissen. Wachtmeister Grosch zog
beide Pferde aus Reih und Glied und warf hinter der Front die Leichen aus dem
Sattel.

Unterdessen hatte sich meiner ein ganz eigenartiges Gefühl bemächtigt, und es fiel
mir die entsetzliche Todesangst des Halleko ein; unwillkürlich dachte ich, auch mein
letztes Stündchen sei gekommen. Plötzlich bemerkte ich, wie mein Fuchs hinter den
Ohren ganz naß wurde, mit dem Hinterteile strauchelte und zusammenstürzte: eine
zwölfpfündige Kugel hatte meine Säbeltasche durchschlagen und war dem braven
Tier hinter dem Bauchgurt in den Leib gedrungen. Es war dies alles das Werk eines
Augenblicks und gerade, wie ich bemüht bin, mich unter dem im Todeskampf
liegenden Tier hervorzuarbeiten, macht mein Regiment ein Rechtsumkehrt mit Vieren
und geht im Galopp zurück. Ich war in einer verzweifelten Lage; ich sah die russische
Linie vorrücken und hatte also nur noch Zeit, meine beiden Pistolen aus dem Halfter
zu ziehen und mit Zurücklassung des Mantelsackes und des Mantels meinem
Regimente nachzueilen. In Anbetracht der noch vorhandenen Entfernung des Feindes
hätte es mir auch gelingen können, mich zu retten, aber ich bemerkte einen einzelnen
Trupp, wahrscheinlich von einem Flankeurzuge, der mich ins Auge gefaßt zu haben
schien und mich rasch verfolgte. Zwei Mann hatten mich bald erreicht, der eine mit
der Lanze, der andre mit dem Säbel bewaffnet. Sie riefen mich an: "postoi,
Franzus!" (Halt, Franzos!) – jetzt gilt´s dachte ich, zog meinen Säbel und feuerte ein
Pistol auf den Husaren mit der Lanze; es versagte, ich warf es seinem Pferde mit
solcher Kraft gegen den Kopf, daß es sich bäumte und abwendete. Auf den andern,
einen jungen Offizier feuerte ich das zweite Pistol ab, die Kugel fehlte. Er führte einen
sehr kräftigen Hieb nach mir, ich parierte ihn gut, aber der messingne Korb meines
Säbels war durchschlagen und hatte mir das Faustgelenk schwer verletzt; gleichzeitig
erhielt ich von rückwärts einen Lanzenstich, der durch den ledernen Einsatz meines
Tschakos und des darin liegenden bonnet de police (Lagermütze. TH) mit solcher
Heftigkeit geführt war, daß ich wie leblos niedersank. Wie lange ich gelegen und auf
welche Weise ich vom Schlachtfeld wegtransportiert worden war, konnte ich nie
erfahren; als ich die Augen aufschlug, befand ich mich auf einem sehr morastigen
Terrain, neben einer russischen Batterie, die hin und wieder Salven gab. Mein
Erwachen war schrecklich (...)."

Sonstige

Es gibt eine Reihe weiterer Memoiren aus westfälischer Zeit, die ich hier der
Vollständigkeit halber anführen möchte.

Die Memoiren von Carl Wilhelm Friedrich v. Bartheld [26] zeigen uns einen aufrechten
kurhessischen Offizier, der sich mehrfach weigerte, in westfälische Dienste zu gehen,
1813 in die preußische Armee trat und danach wieder hessischer Offizier wurde. Das
"Tagebuch der Belagerung von Gerona im Jahre 1809" [27] des westfälischen
Hauptmanns Bucher (vorher braunschweigischer Offizier) ist eines der frühesten
kriegsgeschichtlichen Werke der Napoleonzeit. Bucher wurde 1812 in Russland
ermordet. Wilhelm von Dörnbergs "Relation der in Westphalen vorgefallenen
Ereignisse" [28] soll die Beteiligung des westfälischen Obersten Dörnberg in den
Aufstand des Jahres 1809 schildern (liegt mir nicht vor). Dörnberg wurde später
braunschweigischer und hannoverscher Offizier bzw. General. Eine ergreifende

http://home.arcor.de/hemmann/zf/articles/westphalians/westphalians.html 26.12.2013 17:12:38


Westfälische und Kurhessische Memoiren . 45

Darstellung der Leiden des "kleinen Mannes" im Russlandfeldzug bringt Förster


Flecks "Erzählung von seinen Schicksalen auf dem Zuge Napoleons nach Rußland
und von seiner Gefangenschaft 1812-1814" [29], ebenso die Schrift von Johann
Gottlieb Haars "Ein Braunschweiger im Russischen Feldzug von 1812" [30]. Die
"Erlebnisse in dem Kriege gegen Rußland im Jahre 1812 vom Landbereuter Fr.
Krollmann damaligen Musikus beim dritten Chasseur-Bataillon Westfalen" [31] gehen
in die gleiche Richtung. Das "Tagebuch des Hauptmann v. Linsingen während des
Feldzuges in Rußland im Jahre 1812" (II. leichtes Bataillon) ergänzt die Erinnerungen
Boedickers [32]. Die "Erzählung der Schicksale und Kriegsabenteuer des ehemaligen
Westphälischen Artillerie Wachtmeisters Jakob Meyer aus Dransfeld während der
Feldzüge in Spanien und Rußland" [33] ist u. a. deshalb lesenswert, weil es sich um
eines der wenigen Memoirenwerke jüdischer Soldaten der westfälischen Armee
handelt. Die Aufzeichnungen des jungen Garde du Corps Justus Süstermann werfen
ein Schlaglicht auf die chaotische Flucht des Königs Jérôme im Oktober / November
1813 [34]. Das Tagebuch des Leutnants Wagner bringt das Schicksal eines
gebürtigen Westfalen, der in österreichischen Diensten stand, 1809 bei Wagram
gefangen wurde und dessen eigentlich vorgesehene Todesstrafe von König Jérôme
dahingehend umgewandelt wurde, dass er zwangsweise in das 7. westfälische
Linienregiment gesteckt wurde [35]. Wachsmuths "Geschichte meiner
Kriegsgefangenschaft in Russland in den Jahren 1812-1813" beschreibt in
ergreifender Weise das Martyrium der Gefangenen des russischen Feldzuges [36].
Das "Kriegstagebuch des Heinrich Wesemann 1808 -1814" [37] verzeichnet in
bescheidenen, aber um so eindringlicheren Worten die Mühsale des Soldatenalltags.
"Auf der Flucht vor den Strickreitern im Königreich Westfalen" befand sich Ruthe, der
uns aus dem gefährlichen Leben eines Deserteurs berichtet [38]. Die "Erlebnisse
eines westfälischen Grenadiers" von H. Niemann [39] sowie den Bericht des
Sergeanten Leifels vom 8. Linieninfanterieregiment über "Napoleons Zug nach
Rußland" [40] habe ich bisher nicht ausfindig machen können. Abschließend seien
noch die Memoiren eines Offiziers namens Huth genannt, dessen Memoiren von
Lünsmann [3], S. 260, erwähnt werden - leider ließen sich hierzu bisher keine
bibliografischen Angaben ermitteln.

Damit endet mein Aufsatz über die Kurhessen und Westfalen. Sicherlich gibt es noch
mehr lesenswerte Erinnerungswerke; es wäre schön, wenn diese von anderen
Sammlerfreunden hier vorgestellt werden könnten. Ebenso bin ich für Kommentare,
Berichtigungen bzw. Ergänzungen dankbar. Schließlich würde es mich freuen, wenn
jemand, der eines der mir noch fehlenden Werke besitzt, mir davon eine Kopie
(gegen Kostenerstattung) anfertigen könnte. In diesem Fall bitte ich um vorherige
Benachrichtigung.

Anmerkung der Redaktion:

Unter folgenden elektronischen Adressen können Sie mit Herrn Dr. Hemmann auch
Kontakt aufnehmen:

Internet: www.Napoleonzeit.de

Postanschrift: siehe Inhaltsverzeichnis des Heftes

Literatur

http://home.arcor.de/hemmann/zf/articles/westphalians/westphalians.html 26.12.2013 17:12:38


Hemmann,T.,WissenswerteszudeutschsprachigenMemoirenGHU1DSROHRQ]HLW0HPRLUHQYRQ:UWWHPEHUJHUQ
'LH=LQQILJXU 0DL-XQL$XJXVW 6
.OHLQVFKPLGW$*HVFKLFKWHGHV.|QLJUHLFKV:HVWIDOHQ*RWKD6 1DFKGUXFN.DVVHO+RUVW+DPHFKHU

/QVPDQQ)'LH$UPHHGHV.|QLJUHLFKV:HVWIDOHQ%HUOLQ&/HGGLKQ9HUODJ6
*lUWQHU0XQG(:DJQHU:HVWSKlOLVFKHV0LOLWlU%HFNXP'HXWVFKH*HVHOOVFKDIWIU+HHUHVNXQGH6
%DXHU*HQHUDOPDMRU]'$XVGHP/HEHQGHV.XUKHVVLVFKHQ*HQHUDOOLHXWHQDQWV%DXHULQ%HLKHIWH]XP0LOLWDLU
:RFKHQEODWW(60LWWOHUXQG6RKQ%HUOLQ6
%DXPDQQ)(UDP6NL]]HQDXVGHQ-XJHQGMDKUHQHLQHV9HWHUDQHQ+UVJ/5HOOVWDE%HUOLQ9HUODJYRQ
)HUGLQDQG5HLFKDUGW &R6
%DXPDQQ)0LWGHUJUR‰HQ$UPHH 1DFKGHP%HULFKWHLQHV0LWNlPSIHUV +UVJ-+DKQ+DPEXUJ
*XVWDY6FKORH‰PDQQV9HUODJVEXFKKKDQGOXQJ6
%RGHQKDXVHQ)Y7DJHEXFKHLQHV2UGRQQDQ]RIIL]LHUVYRQXQGEHUVHLQHVSlWHUHQ6WDDWVGLHQVWH
ELV+UVJ%)Y&UDPP%UDXQVFKZHLJ*HRUJH:HVWHUPDQQ6
%RHGLFNHU/'LHPLOLWlULVFKH/DXIEDKQGHV*HQHUDOOLHXWQDQW/XGZLJ%RHGLFNHU]XOHW]W
6WDGWNRPPDQGDQWYRQ.DVVHO(LQH6HOEVWELRJUDSKLHLQ%HLKHIW]0LOLWlU:RFKHQEODWW6
10. Borcke, J. v., Kriegerleben des Johann von Borcke, weiland Kgl.Preuß. Oberstlieutenants, 1806 - 1815, Hrsg. v.
Leszczynski. 1888, Berlin: E. S. Mittler und Sohn. 398 S.
11. Conrady, L. W. v., Aus stürmischer Zeit. Ein Soldatenleben vor hundert Jahren. Nach den Tagebüchern und
Aufzeichnungen des weiland kurhessischen Stabskapitäns im Leibdragoner-Regiment L. W.v.Conrady, Hrsg. W. v.
Conrady. 1907, Berlin: Verlag von C. A.Schwetschke und Sohn. 423 S.
12. Gieße, F., Kassel - Moskau - Küstrin 1812 - 1813. Tagebuch während des russischen Feldzuges geführt, Hrsg. K.
Gieße. 1912, Leipzig: Verlag der Dykschen Buchhandlung. 345 S.
13. Behm, W., Die Mecklenburger 1812 im russischen Feldzuge.1912, Hamburg: Verlag von Richard Hermes. 147 S.
14. Hessen, W. I. v., Wir Wilhelm von Gottes Gnaden. Die Lebenserinnerungen Kurfürst Wilhelms I. von Hessen
1743-1821, Hrsg. R. v. Hessen. 1996, Frankfurt, New York: Campus Verlag. 604 S.
15. Hohenhausen, L. F. v., Biographie des Generals von Ochs. Ein politisch-militairischer Beitrag zur Geschichte des
nordamerikanischen und des französischen Revolutionskrieges, so wie der Feldzüge in Spanien, Rußland und
Deutschland. (Aus den Originalpapieren des Generals und sonstigen authentischen Mittheilungen.). 1827, Kassel:
Verlag der Luckhardt´schen Buchhandlung. 344 S.
16. Klinkhardt, F., Feldzugs-Erinnerungen des Königlich Westfälischen Musikmeisters Friedrich Klinkhardt aus den
Jahren 1812-1815. Aus der Zeit der schweren Not, Hrsg. J. Klinkhardt. Vol. V. 1908, Braunschweig: Verlag von Wilhelm
Scholz. 109 S.
17. Lehsten-Dingelstädt, K. A. U. v., Am Hofe König Jérômes:Erinnerungen eines westfälischen Pagen und Offiziers,
Hrsg. O. v. Boltenstern. 1905, Berlin: E. S. Mittler und Sohn. 150 S.
18. Loßberg, F. W. v., Briefe des westfälischen Stabsoffiziers Friedrich Wilhelm von Loßberg vom russischen Feldzug
des Jahres 1812, Hrsg. C. Meyer. 1910, Berlin: Verlag von R. Eisenschmidt. 202 S.
19. Meibom, H. F. v., Aus napoleonischer Zeit, Hrsg. H. J. v. Gadow.1943, Leipzig: Koehler & Amelang. 224 S.
20. Morgenstern, F., Kriegserinnerungen des Obersten Franz Morgenstern aus westfälischer Zeit. Quellen und
Forschungen zur Braunschweigischen Geschichte, Hrsg. Oberst a. D. H. Meier. Vol. 3. 1912, Wolfenbüttel: Julius
Zwisser. 129 S.
21. Normann, C., Aus den Papieren eines alten Offiziers : Ein Lebensbild Christian Normann´s, Kurfürstl. Hessischen
Obersten u. zeitweilig beauftragten Brigadekommandeurs, Kommandeur der Bundesartillerie (Sächsischen,
Braunschweigschen, Nassauschen, Oldenburgschen usw.) im Schleswig-Holsteinischen Feldzuge 1849 : Mit
besonderer Berücksichtigung der Westphälischen Zeit, der Feldzüge von 1814 und 1815, sowie des Schleswig-
Holsteinischen Feldzuges 1849, Hrsg. W. Meister. 1896, Hannover und Leipzig: Hahnsche Buchhandlung. 100 S.
22. Rüppell, E., Kriegsgefangen im Herzen Rußlands 1812 - 1814: Erinnerungen des Königlich Westfälischen
Husarenleutnants Eduard Rüppell, Hrsg. F. C. Ebrard. 1912, Berlin: Verlag von Gebrüder Paetel. 222 S.
23. Peppler, F., Schilderung meiner Gefangenschaft in Rußland vom Jahre 1812 bis 1814, Hrsg. K. Esselborn. 1908,
Friedberg: Selbstverlag des Herausgebers. 140 S.
24. Yelin, C. L., In Rußland 1812. Aus dem Tagebuche des württembergischen Offiziers von Yelin. 1910, München:
Verlag von Otto Gmelin. 99 S.
25. Hemmann, T., Die Schlacht bei Walutina Gora / Lubino am 19.August 1812. Die Zinnfigur, 2000 (April, Mai): S.
83-86, 128-132.
26. Bartheld, C. F. W. v., Memoiren des kurhessischen Majors Carl Wilh. Friedr. v. Bartheld aus Lispenhausen, Ritters
des preußischen eisernen Kreuzes und des hessischen eisernen Helmes. Aus der Zeit der Fremdherrschaft von
1806-1814. Zeitschrift des Vereins für hessische Geschichte und Landeskunde, N.F., 1936. Bd. 51: S. 165-215.
27. Bucher, A. W., Tagebuch der Belagerung von Gerona, im Jahre 1809 : Als Erläuterung zum Plane dieser Festung
von A. W. Bucher, Hauptmann in Königlich Westphälischen Diensten. 1812, Hildesheim. 32 S.
28. Dörnberg, W. v., Relation der in Westphalen vorgefallenen Ereignisse. Hist. Zeitschrift, 1900. 84.
29. Fleck, Förster Flecks Erzählung von seinen Schicksalen auf dem Zuge Napoleons nach Rußland und von seiner
Gefangenschaft: 1812-1814. Schaffsteins Grüne Bändchen, Hrsg. S. Rüttgers. 1912, Köln: Hermann Schaffstein.101 S.
30.Haars, J. G., Ein Braunschweiger im Russischen Feldzug von 1812, Hrsg. L. Hänselmann. 1897, Braunschweig:
Verlag von Wilhelm Scholz. 67 S.
31. Krollmann, F., Erlebnisse in dem Kriege gegen Rußland im Jahre 1812 vom Landbereuter Fr. Krollmann damaligen
Musikus beim dritten Chasseur-Bataillon Westfalen, Hrsg. K. Henniger und W. Ohle. 1912, Hannover:
Verlagsbuchhandlung Ernst Geibel. 131 S.
32. Linsingen, v., Auszug aus dem Tagebuch des Hauptmann v.Linsingen während des Feldzuges in Rußland im
Jahre 1812, in Beihefte zum Militair-Wochenblatt. 1894, E. S. Mittler und Sohn: Berlin. S. 268-297.
33. Meyer, J., Erzählung der Schicksale und Kriegsabenteuer des ehemaligen Westphälischen Artillerie
Wachtmeisters Jakob Meyer aus Dransfeld während der Feldzüge in Spanien und Rußland. 1837, Göttingen: Friedrich
Ernst Huth. 90 S.
34. Gebauer, J. H., Aufzeichnungen eines jungen Hildesheimers aus den letzten Tagen des Kgl. Westfälischen
Heeres. (27. September - 5. November 1813.), in Zeitschrift des Vereins für Hessische Geschichte und Landeskunde.
1917. S. 1-22.
35. Wagner, F. L., Tagebuch des Königlich Westfälischen Leutnants F. L. Wagner aus den Jahren 1809 bis 1813, in
Jahrbücher für die Deutsche Armee und Marine, H. Heimke, Editor. 1899. S. 198-221.
36. Wachsmuth, J. J., Geschichte meiner Kriegsgefangenschaft in Russland in den Jahren 1812-1813: In gedrängter
Kürze dargestellt von J. J. Wachsmuth, Leutnant in der Königl. Westfälischen Armee. 1910, Magdeburg: Creutz´sche
Verlagsbuchhandlung. 115 S.
37. Wesemann, H., Kanonier des Kaisers. Kriegstagebuch des Heinrich Wesemann 1808 -1814, Hrsg. H.-O.
Wesemann. 1971, Köln: Verlag Wissenschaft und Politik. 110 S.
38. Ruthe, J. Fr. Auf der Flucht vor den Strickreitern im Königreich Westfalen 1809 bis 1811 : Aus dem Leben, Leiden
und Widerwärtigkeiten eines Niedersachsen. Aus der Zeit der schweren Not, Hrsg. J. Klinkhardt. Vol. III. 1908,
Braunschweig : Verlag von Wilhelm Scholz, 1906, 70 S.
39. Niemann, H. Erlebnisse eines westfälischen Grenadiers in den Jahren 1809 - 1812, Ravensberg, 1908
40. Leifels. Napoleons Zug nach Rußland. Bocholt : Selbstverlag,1906

Das könnte Ihnen auch gefallen