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KERYGMA
UND MYTHOS VI
BAND I
ENTMYTHOLOGISIERUNG
UND EXISTENTIALE INTERPRETATION
19 6 3
XXX. VERöFFENTLICHUNG
I 9 6 3
H € R ß € RT R € I C H · € V~ N G € LI S C H € R V € R L ~ G G. m. b. H.
H~MBURG•ß€RGSf€DT
KERYGMA UND MYTHOS VI-1
I 9 6 3
H € R B € RT R € I C H • € V~ N G € LI S C H E R V € R L ~ G G. m. b, H.
H~MBURG•B€RGST€DT
Akten eines Colloquiums des Centro Internazionale di Studi
Umanistici und des lstituto di Studi Filosofici
gehalten in Rom vom 16. bis 21. Jauuar 1961
Alle deutseben Rechte vorbehalten bei Herbart Reich • Evangelischer Verlag GmbH.
Hamburg-Bergstedt
Satz und Druck Robert Noske, Borna-Leipzig (III-5-3) - 0000/00/63
Buchbinderei : Bumdruckerel Frankenstein, Leipzig
Inhaltsverzeichnis
Das Colloquium, das vom 16. bis 21. Januar 1961 an dem Istituto die Studi
Filosofici in Rom auf Anregung von Enrico Castelli und unter seiner Lei-
tung stattfand, wurde in italienischer, französischer und deutscher Sprache
geführt, wobei die französische Sprache die Funktion der Brücke zwischen den
beiden anderen Sprachen ausübte. Es wurde von vornherein vereinbart, die
Beiträge in allen drei Sprachen gesammelt herauszugeben, wobei die jeweilige
Übersetzung in den meisten Fällen von Teilnehmern des Colloquiums und
unter Mitwirkung der einzelnen Verfasser gefertigt wurde. Die Reihenfolge
der Beiträge ist durch die italienische Ausgabe festgelegt und auch in der deut-
schen Ausgabe beibehalten. Es mußte lediglich aus technischen Gründen ver-
zichtet werden auf die Beiträge von Lieven Schuwer 0. F. M.: Intorno an
presupposti della demitizzazione: "Wie kommt der Gott in die Philosophie?"
und von Henri Birault vom Centre National de la Recherche Scientlfique,
Paris: Demystification de la Pensee et Demythisation de la Foi: La Critique
de la Theologie chez Nietzsche. Ebenfalls wurde auf die Wiedergabe der sich
an die einzelnen Beiträge anschließenden Diskussion verzichtet. Diese ist nach
einer Tonbandaufnahme in Auszügen in der italienischen Ausgabe enthalten,
wie auch die beiden genannten Beiträge dort zu finden sind.
Das Colloquium bezeichnet ein neues Stadium des innerhalb der evan-
gelischen Theologie begonnenen Gesprächs über die Entmythologisierung, in-
sofern schon der Kreis der Teilnehmer das philosophische Interesse stärker
in den Mittelpunkt rückt. Die ursprüngliche Frage nach dem Recht und der
Notwendigkeit der Entmythologisierung für die christliche Verkündigung
trat zurück gegenüber der Frage nach der Legitimität des Unternehmens unter
dem Urteil der Hermeneutik Heideggers. Für den evangelischen Theologen
mag dies eine mehr formal erscheinende Fragestellung sein. Aber sie zeigt
einerseits, wie sehr auch diese Vorfrage innerhalb der philosophischen Dis-
kussion eine unterschiedliche Antwort findet (man vergleiche dazu den Bei-
trag K. Kerenyis!). Und andrerseits mag der Beitrag des indischen katho-
lischen Theologen Raymond Panikkar zeigen, - gerade wenn er den evan-
gelischen Theologen schockiert!- wo die Möglichkeiten und wo die Grenzen
einer Interpretation der neutestamentlichen Botschaft liegen.
Obwohl manche Argumente der früheren Bände unserer Sammlung in den
Beiträgen wiederholt werden, erscheint es dennoch notwendig, die Fortsetzung
und Ausweitung der Diskussion über die Entmythologisierung, die sich in
diesem Colloquium darbietet, der evangelischen Theologie durch die Auf-
nahme des Bandes in die Sammlung "Kerygma und Mythos" als in ihren Be-
reich gehörig zu empfehlen. Auch die Diskussion innerhalb der evangelischen
8 VORWORT ZUR DEUTSCHEN AUSGABE
Theologie ist keineswegs als abgeschlossen anzusehen. Die Stimmen aus der
Philosophie und aus der katholischen Theologie, die in Rom im direkten Ge-
spräch miteinander und mit der evangelischen Theologie standen, können
Anlaß zur Wiederaufnahme des liegen gelass.enen Gesprächs geben.
Den vornehmsten Dank schulden wir dem Initiator des Colloquiums Enrico
Castelli wie dem Istituto, dem er vorsteht. Darüber hinaus sei den einzelnen
Autoren sowie den Obersetzern für ihre mühevolle Arbeit Dank gesagt.
tisch ist mit Interesse und für viele mit Interesselosigkeit. Diese Interesse-
losigkeit bedeutet, wenn sie nicht identisch ist mit dem entgegengesetzten
Interesse, Gleichgültigkeit, bedeutet unerfüllte Existenz. Man hüte sich vor
der scheinbaren Interesselosigkeit, die die menschliche Geschichte entwürdigt,
um so mehr, als sie im Namen eines versteckten Interesses die Ideale unserer
Existenz profanisiert.
Diese Gedankengänge habe ich einer Versammlung vorgetragen, die sich
als Thema das Problem der Geschichte gestellt hatte; sie müssen meiner An-
sicht nach im Vordergrund stehen bei einer Diskussion zum Problem der
Entmythologisierung. Ich wiederhole: das Problem der Geschichte ist die Ge-
schichte des Problems, und die Geschichte des Problems ist auch die Ge-
schichte des Wortes Gottes in der Welt des Menschen.
Das "Wort Gottes": da ist ein Wort Gottes, das s.ich an die Gefallenen wen-
det, an die Söhne Kains, und zwar in einer bestimmten Zeit - zum Beispiel
in der Zeit der evangelischen Botschaft. Und da ist ein Wort Gottes, - der
göttliche Gedankengang - der von einigen Menschen: entdeckt wird (Pytha-
goras, Archimedes, Buklid ... ) und zwar in einer unbestimmbaren, beliebigen
Zeit (während die Zeit der göttlichen Offenbarung niemals eine beliebige ist).
Die Propheten des "Wortes Gottes" als reine Vernunft und die Propheten
des "Wortes Gottes" durch die Mittlerschaft Christi. Zwei Glaubensrichtun-
gen: jene, die die Gnade miteinbezieht-die Offenbarung des Wortes Gottes
in der Erscheinung Chris.ti - und jene, die die Gng,de ausschließt und nur
die Worte der Propheten der reinen Vernunft hören will.
Das Problem der Geschichte enthält also das Problem der unbestimmbareil
Zeit. Ist die Zeit der Verkündigung der Offenbarung bestimmbar oder nicht?
Das ist das Problem der Theolo~ie in der Geschichte. Darüber hinaus: Die
Universalität und Überzeitlichkeit einer mathematischen Entdeckung- eines
"reinen" Gedankens - besteht unabhängig vom Menschen; es ist der Ge-
danke an sich. Das Wort Gottes dagegen wendet sich an Augen und Ohren,
die sehen und hören können. Ich frage: welche Augen, welche Ohren? Die
Augen und Ohren der Apostel? Sicherlich. Und dann"? Die Augen und Ohren
aller. Die Betonung liegt auf aller. Sind es zum Beispiel alle, die den Lehr-
satz des Pythagoras aufnehmen oder das Postulat -1es Euklid? Oder sind es
einige von allen?
Hier ist die Geschichte der vergangenen und zukünftigen Geschehnisse
eingeschlossen.
wird nicht charakterisiert durch die Gleichartigket sondern durch die Verschieden-
artigkeit." Krankheit, schlechtes Gewissen, Vertrauen, Symbole: vier Aspekte der
menschlichen Geschichte. Es ist unmöglich, von ihnen abzusehen, sie auszuschließen.
Auch wenn zur Zeit heftige Polemiken im Gange sind auf den Gebieten der Moral,
der Bedeutungslehre und der Pathologie, !!O bleibt doch die Bemerkung Montaignes:
Myson, einer der sieben Weisen wurde gefragt, worüber er so allein lache." "Genau
darüber, daß ich allein lache" antwortet er. - "Sind Myson und die unzähligen
seinesgleichen in der Gnade Gottes oder außerhalb?" das ist eine der dramatischen
Fragen der Geschichte und der Bedeutung ihres Problems. Es gibt die Spielregeln,
aber viele lachen über sie und, was noch erstaunlicher ist, sie lachen einsam und für
sich; ohne es zu wissen, entmythologisieren sie den "Mythos der Regel".
VORWORT 13
Besteht die Möglichkeit, die m"athematischen Wahrheiten in der gleichen
Weise vorherzusagen wie jene, die durch das Wort Gottes zu einer bestimm-
ten Zeit ausgedrückt worden sind? Diese Frage schließt in sich eine Unter-
scheidung zwischen "Heilsgeschichte" und "Profangaschichte"; jene beinhal-
tet die Gnade des Glaubens (und der Inhalt des Glaubens enthält seinerseits
wieder den Glauben an den Inhalt), diese beinhaltet den Glauben (das Ver-
trauen) an das Gehörte.
In diesem Gespräch hat man über Mythos und Geschichte diskutiert. Die
Aktualität des Themas ist offensichtlich.
Theologen und Philosophen haben zusammengearbeitet, und das bedeutet
nicht wenig in einer Zeit der gegensätzlichen Richtungen. Aber die Geschichte
des "günstigen Augenblicks" für die Verkündigung der Botschaft- besonders
heute, wo der "günstige Augenblick" in eine Krise geraten ist - ist nicht
analysiert worden. Es scheint, als habe eine verborgene Sorge ein unüber-
windliches Hindernis geschaffen. Lähmt der Mythos der unbestimmbaren Zeit
als günstige Zeit, als "günstiger Augenblick"- und dieser Mythos besteht-
die Anstrengungen zu einer gründlichen Untersuchung des Schweigens, das
charakteristisch ist für unsere Zeit? Es scheint so zu sein. Man kann nicht ant-
worten: "Der günstige Augenblick für die Verkündigung der Botschaft ist
immer gegeben", denn die Situation von heute dokumentiert das Gegenteil.
Wenn der Lärm oder die Taubheit die heutige Lage bestimmen, so muß der
Mythos der Gleichsetzung von "günstigem Augenblick" und "unbestimmbarer
Zeit" kritisch untersucht werden, um eine Komunikation, eine Verständi-
gung einzuleiten.
Die Botschaft erreicht die im Mythos befangenen Hörer nicht. Es ist daher
sinnlos zu sagen: "Jeder Augenblick ist günstig, Gott anzurufen", denn der
Mythos des "immer günstigen Augenblicks" ist von denen geschaffen worden,
die die Zeit haben, über die Zeit zu reden. Wir drehen uns im Kreise. Denn
für jene, die im Lärm oder im Schweigen untergegangen sind, ist der Augen-
blick nicht "immer günstig". Es scheint, als habe der Glaube an die Tat-
sachen den Glauben an die Eventualität, an die Möglichkeiten zerstört.
Einige werden sagen, daß die Beschwörung der von Tatsachen, vom Be-
rechenbarem besessenen Zeit, die sich als Zerstöreein des Unberechenbaren,
des Möglichen zeigt, der Verkündigung des "Wortes Gottes" vorausgehen
muß. Beschwörung - ist sie gleichzusetzen mit dem Wort Wunder? Viel-
leicht. Hier liegt das brennende Problem der Kirche von heute. Unter diesem
Gesichtspunkt muß die wichtigste Entmythologisierung noch verwirklicht
werden 1 • ·
zuviel Sinn. Sie läßt den Verlauf einer Heilsgeschichte ahnen. Gegen diese Geschichte
lehnen sich die "verstreuten Söhne" auf, oder der Schrei des Macbeth: "Die Dinge
aus dem Bösen geboren schaffen das Böse, ... Es existiert nichts anderes, als was
nicht existiert, . . . Das Leben bedeutet nichts, ". . . oder die Gleichgültigkeit der-
jenigen, die nicht die Zeit haben, die Betrachtung über die Zeit anzuhören, denn
ihre Geschichte ist von der Art derjenigen, die damit beschäftigt sind, das eigene
Dasein zu verlängern, es verteidigend gegen die Überfälle der Menschen und der
Dinge.
"Das Dasein beginnt in jedem Augenblick. Um jedes "Hier" kreist die Sphäre des
"Dort". Der Mittelpunkt ist irgendwo. Qualvoll ist der Weg zur Ewigkeit." (Nietzsche,
"Also sprach Zarathustra".) Eine der Satzungen der profanen Geschichte. "Der Ort
und das Wort sind eins, und wäre nicht das Wort, - (bei ewiger Ewigkeit!) - es
wäre nicht der Ort." (Der cherubinische Wandersmann, I. 205.) Der Schrei eines
Mystiker, Angelus Silesius, fast der Kommentar zu dem Vers I, 10 des Johannes-
Evangeliums; ist er eine der Satzungen der Heilsgeschichte? Offenbar ja, für jene
die zu unterscheiden wissen, zwischen der kosmischen und der existenziellen Zeit,
sie aber auch miteinander verbinden können; für die anderen sind es zwei Bedeu-
tungen, bedeutungslose Verse eines Dichters des 17. Jahrhun_derts.
DIE PROBLEMATIK DER ENTMYTHOLOGISIERUNG
Enrico Castelli, Universität Rom
zusehen. Mit anderen Worten, diese Information kann nicht als ein Argument
benutzt werden.
In diesem Zusammenhang werden die Wunder von jenen als Aussagen ohne
Sinn betrachtet, die die Unwahrscheinlichkeit des Geschehens als Beweis
für die Unwahrheit der Information nehmen. Das bedeutet wiederum: Die
Information ist nicht historisch.
Alles bisher Gesagte bezieht sich auf das Argument des Wunders, das aber
ganz klar zu unterscheiden ist vom Wunder als Argument. Das Wunder als
Argument steht außerhalb jeder Diskussion, denn von ihm kann nur spre-
chen, wer es wirklich erfahren hat; für ihn wird das Wunder zum Argument,
ein Argument, gegen das wir natürlich die bereits besprochenen Einwände
erheben können. Mit anderen Worten: Das Wunder als Argument be-
inhaltet den Glauben, und vom Standpunkt der katholischen Theologie aus
gesehen, beinhaltet der Glaube, in seinem Werden- initium fidei- seiner-
seits die Gnade: "Si quis dixerit assensum fidei non esse liberum sed argu-
mentis humane rationis necessario produci ... anthema sit" 1 • Das ist die
Gnade, auf Grund derer der Begnadete, von der empfangenen Gnade spre-
chen kann. Aber der Bericht des Begnadeten - die Geschichte der empfan-
genen Gnade - hat die Bedeutung eines Zeugnisses in Bezug auf seinen Gna-
denstand, bleibt aber ohne historische Bedeutung in Bezug auf ein Geschehnis
außerhalb des Gnadenstandes. Ist der Gnadenstand mitteilbar, erwählbar?
Nein, denn es ist der Bericht einer Existenzbedingung, der Bericht des Da-
seins des Erzählers.. Der Erzähler kann analoge Existenzbedingungen beim
Hörer nicht ausschließen, auch wenn er über sie im Ungewissen bleibt. Mit
anderen Worten: der Bericht des Wunders ist in sich wegen der angeführten
Gründe kein Argument, aber er kann dem Hörer dienen, sich in günstigere Be-
'dingungen, sich in einen Gnadenstand zu versetzen, in dem in gewisser Weise
der Bericht das Wunder ersetzen kann, das vom Erzähler erfahren wurde.
Ein Motiv, nicht ein Argument der Glaubwürdigkeit.
Geheimnisses, denn die Profangeschichte ist immer noch die Geschichte der psycho~
logischen Möglichkeiten falscher Anwendungen: ist in einem gewissen Sinne die
Untersuchung der Mißverständnisse.
Es gibt zwei hermeneutische Denkweisen: die eine hat ihre Wurzeln in der
Tiefenpsychologie. Die andere ist begründet in der spontanen Bezugaufnahme mit
jenen andern, die Z\W:ifeln (die neuen Wege der Apologetik); eine Spontaneität, die
nicht von der Tatsache absehen kann, daß die Caritas eine Kardinaltugend ist.
2•
ZUM PROBLEM DER ENTMYTHOLOGISIERUNG
Rudolf Bultmann
Ist das eigentlich menschliche Sein die Existenz, in der der Mensch sich
selbst zu übernehmen hat, für sich verantwortlich ist, so gehört zur eigent-
lichen Existenz die Offenheit für die Zukunft, die jeweils Ereignis werdende
Freiheit. Die Wirklichkeit des geschichtlichen Menschen ist daher nie eine ab-
geschlossene wie die des Tieres, das immer ganz das ist, was es ist. Die Wirk-
lichkeit des Menschen ist seine Geschichte, d. h. sie steht ständig vor ihm, so
daß man sagen kann: Zukünftigsein ist die Wirklichkeit, in der der Mensch
steht.
In der Geschichte der Menschheit wird das daran deutlich, daß der ge-
schichtliche Sinn eines Ereignisses immer erst von seiner Zukunft her ver-
ständlich wird. Die Zukunft gehört wesenhaft zum Ereignis. Erst vom Ende
der Geschichte aus ist daher der Sinn geschichtlichen Geschehens endgültig
zu verstehen. Da aber ein solcher Rückblick vom Ende aus für menschliches
Auge nicht möglich ist, ist auch eine Philosophie, die den Sinn der Geschichte
zu verstehen trachtet, nicht möglich. Vom Sinn der Geschichte läßt sich nur
reden als vom Sinn des Augenblicks, der als Augenblick der Entscheidung
sinnvoll ist.
Nun werden alle Entscheidungen in konkreten Situationen gefällt, und
auch entscheidungsloses Verhalten- also uneigentliches menschliches Sein-
ereignet sich immer in konkreten Situationen. Wenn die Geschichtswissen-
schaft die in menschlichen Entscheidungen zutage tretenden Möglichkeiten
des Selbstverständnisses deutlich machen will, so hat sie also auch die kon-
kreten Situationen der vergangenen Geschichte darzustellen. Diese aber er-
schließen sich nur dem objektivierenden Blick in die Vergangenheit. So wenig
dieser den geschichtlichen Sinn einer Tat, eines Ereignisses erfaßt, so sehr
kann und muß er doch die einfachen Fakten der Taten und Ereignisse zu er-
kennen suchen und in diesem Sinne feststellen, "wie es gewesen ist". Und so
wenig der Zusammenhang menschlichen Handeins durch kausale Notwendig-
keit determiniert ist, so sehr ist er doch ein durch die Folge von Ursache und
Wirkung geknüpfter. Denn kein Ereignis, kein Willensakt, keine Entscheidung
ist ohne Ursache. Gerade die freie Entscheidung erfolgt aus Gründen, wenn
sie nicht blinde Willkür sein soll. Es ist daher möglich, den Gang der Ge-
schichte jeweils rückblickend als einen geschlossenen Kausalzusammenhang
zu verstehen, und so muß ihn die objektivierende Geschichtsbetrachtung sehen.
Es fragt sich nun, ob die existentiale Interpretation der Geschichte und die
objektivierende Darstellung der Geschichte in Widerspruch zueinander
stehen, bzw. ob die Wirklichkeit, die dort gesehen ist, mit der hier gesehenen
in Widerspruch steht, so daß von zwei Wirklichkeitsbereichen, ja sogar von
einer doppelten Wahrheit geredet werden müßte. Das wäre offenbar eine
falsche Folgerung: Denn faktis.ch gibt es nur eine Wirklichkeit und nur eine
Wahrheit der Aussage über das gleiche Phänomen.
Die eine Wirklichkeit aber kann unter doppeltem Aspekt gesehen werden,
entsprechend der doppelten Möglichkeit des Menschen, eigentlich oder un-
eigentlich zu existieren. In der uneigentlichen Existenz versteht sich der
Mensch aus der verfügbaren Welt, in der eigentlichen Existenz versteht er
sich aus der unverfügbaren Zukunft. Dem entsprechend kann er die Ge-
ZUM PROBLEM DER ENTMYTHOLOGISIERUNG 23
schichte der Vergangenheit sowohl objektivierend betrachten, wie auch als
Anrede, sofern aus ihr die Möglichkeit menschlichen Selbstverständnisses
vernehmbar wird und zur verantwortlichen Wahl herausfordert.
Man wird das Verhältnis der beiden Weisen des Selbstvelständnisses als
ein dialektisches bezeichnen müssen, insofern es das eine ohne das andere
faktisch nicht gibt. Denn der Mensch, dessen eigentliches Leben sich in Ent-
scheidungen vollzieht, ist auch ein leibliches Wesen. Verantwortliche Ent-
scheidungen gibt es nur in konkreten Situationen, in denen auch das leibliche
Leben auf dem Spiele steht. Die Entscheidung, in der der Mensch sich selbst,
seine eigentliche Existenz, wählt, ist immer zugleich die Entscheidung für
eine Möglichkeit des leiblichen Lebens. Die Verantwortung für sich selbst ist
immer zugleich die Verantwortung für dieWeit und ihre Geschichte. Um seiner
Verantwortung willen bedarf der Mensch des objektivierenden Blicks in die
Welt, in die er gestellt ist, als in seine verfügbare "Arbeitswelt". Daher auch
immer wieder die Versuchung oder Verführung, die "Arbeitswelt" als die
eigentliche Wirklichkeit anzusehen und die Eigentlichkeit des Existierens zu
verfehlen und durch Verfügen über das Verfügbare das Leben zu sichern.
Es ist also vollends klar, daß die existentiale Interpretation der Geschichte
der objektivierenden Betrachtung der historischen Vergangenheit bedarf. So
wenig diese den geschichtlichen Sinn einer Tat, eines Ereignisses erfassen
kann, so wenig kann jene eine (möglichst zuverlässige) Feststellung von Tat-
sachen entbehren. Nietzsches gegen den Positivismus gerichteter Satz, daß es
keine Tatsachen gebe, sondern nur Interpretationen, ist mißverständlich. Er
ist richtig, wenn man "Tatsache" in dem Vollsinn einer geschichtlichen Tat-
sache versteht, also einschließlich ihres Sinnes und ihrer Bedeutung im Zu-
sammenhang des geschichtlichen Geschehens. Eine Tatsache in diesem Sinn
liegt immer nur vor als "Interpretation", als das Bild, das von dem mit seiner
Person beteiligten Historiker gezeichnet ist. Aber eine Interpretation ist doch
offenbar kein Phantasie-Gebilde, sondern durch sie wird etwas interpretiert,
und dieses zu Interpretierende sind doch die "Tatsachen", die dem objekti-
vierenden Blick des Historikers (in welcher Annäherung immer) zugänglich
sind.
Darf das als gültig angenommen werden, so kann auch das Problem der
Entmythologisierung im Hinblick auf die Geschichtswissenschaft einer Lösung
entgegengeführt werden. Ist die Geschichtswissenschaft wie die Naturwissen-
schaft als solche entmythologisierend? Ja und Nein!
Die Geschichtswissenschaft entmythologisiert als solche, insofern oder in-
soweit sie im objektivierenden Sehen den historischen Prozeß als. einen ge-
schlossenen Wirkungszusammenhang versteht. Der Historiker kann gar nicht
anders verfahren, wenn er eine gesicherte Erkenntnis irgend einer Tatsache
gewinnen will, wenn er z. B. prüfen will, ob. jeweils eine überlieferte Ge-
schichte wirklich ein gültiges Zeugnis für eine Tatsache der Vergangenheit ist.
Er kannalso nicht anerkennen, daß der Zusammenhang des Geschehens durch
das Eingreifen überirdischer Mächte zerrissen wird; er kann kein Wunder an-
erkennen als ein Ereignis, dessen Ursache nicht innerhalb der Geschichte
liegt. Die historische Wissenschaft kann nicht wie die biblischen Schrif-
24 RUDOLF BULTMANN
Wie vom Wunder, so redet der Glaube auch von Gottes Handeln als von
seinem Schöpfer- und Herrscher-Walten in Natur und Geschichte, und er muß
es auch tun. Denn wenn s.ich der Mensch in seiner Existenz durch Gottes
Allmacht ins Leben gerufen und getragen weiß, so weiß er damit auch, daß
die Natur und die Geschichte, innerhalb deren sich sein Leben abspielt, von
Gottes Handeln durchwaltet sind. Aber dieses Wissen kann nur als Bekenntnis
ausgesprochen werden und nie als eine allgemeine Wahrheit wie eine natur-
wissenschaftliche oder geschichtsphilosophische Theorie. Sonst würde Gottes
Handeln zu einem welthaften Vorgang objektiviert. Der Satz von Gottes
Schöpfer- und Herrscherturn hat seinen legitimen Grund nur im existentiellen
Selbstverständnis des Menschen.
So aber enthält der Satz eine Paradoxie. Denn er behauptet die paradoxe
Identität des innerweltlichen Geschehens mit dem Handeln des jenseitigen
Gottes. Der Glaube behauptet ja, daß er ein Handeln Gottes in einem Ereig-
nis, bzw. in Vorgängen sieht, die zugleich für den objektivierenden Blick fest-
stellbare Vorgänge im Zusammenhang des natürlichen und historischen Ge-
schehens sind. Für den Glauben ist also das Handeln Gottes ein Wunder, in
dem der natürliche Zusammenhang des Weltgeschehens gleichsam aufge-
hoben ist.
Für den christlichen Glauben ist nun aber das Besondere, daß er in einem
bestimmten historischen Ereignis, das als solches objektiv feststellbar ist,
das Handeln Gottes in einem ganz besonderen Sinne sieht, als die jedermann
zum Glauben rufende Offenbarung Gottes, nämlich in der Erscheinung Jesu
Christi. Die Paradoxie dieser Behauptung ist am schärfsten ausgedrückt in
dem johanneischen Satz: "Das. Wort ward Fleisch".
Diese Paradoxie ist offenbar noch anderer Art als diejenige, die behauptet,
daß Gottes Handeln allezeit und überall mit dem Weltgeschehen indirekt
identisch ist. Denn der Sinn des Christus-Geschehens ist das eschatologische
Geschehen, durch das Gott der Welt und ihrer Geschichte das Ende gesetzt
hat. Diese Paradoxie ist also die Behauptung, daß ein historisches Ereignis
zugleich das eschatologische Ereignis ist.
Die Frage ist nun: Kann dieses Ereignis als ein je in der eigenen Existenz
sich vollziehendes Ereignis verstanden werden? Oder bleibt es dem zum
Glauben Aufgerufenen in der Weise gegenüber, wie in der welthaften Wirk-
lichkeit das Objekt dem Subjekt gegenübersteht? Das würde heißen, daß es
ein Ereignis der Vergangenheit ist, wie es von dem objektivierenden Blick
des Historikers vergegenwärtigt, d. h. "erinnert" wird. Soll es aber ein, je
mich in meiner Existenz treffendes Ereignis verstanden werden, so muß es
in einem anderen Sinne Gegenwart sein oder werden können.
Eben dieses liegt aber in seinem Sinn als eines eschatologischen Ereignisses.
Denn als solches kann es nicht ein Ereignis der Vergangenheit sein oder wer-
den, wenn anders historische Ereignisse nie die Bedeutung des ~cpantJ.~ (ein-
mal für allemal) haben können; und eben dieses gehört zum Wesen des
Christus-Ereignisses als eines eschatologischen Ereigniss.es.
Es kann also nicht, wie andere historische Ereignisse, durch "Erinnerung"
zur Gegenwärtigkeit gebracht werden. Es wird gegenwärtig in der Verkündi-
ZUM PROBLEM DER ENTMYTHOLOGISIERUNG 27
gung (dem Kerygma), die ihren Ursprung in ihm selbst hat, und ohne die es
gar nicht ist, was es ist. Das bedeutet: Die Verkündigung ist selbst eschatolo-
gisches Geschehen. In ihr, als Anrede, wird jeweils das Ereignis Jesus Christus
präsent, - präsent als das je mich in meiner Existenz treffende Ereignis.
Träger der Verkündigung ist die Kirche, und hier wiederholt sich jene Para-
doxie. Denn die Kirche ist unter einem Aspekt ein dem objektivierenden Blick
verfügbares Phänomen, ihrem eigentlichen Wesen nach ist sie ein eschato-
logisches Phänomen - oder besser: ein je und je sich ereignendes eschato-
logisches Ereignis.
Ich stimme also Enrico Castelli zu, "que le ,Kerygma' comporte retre de
l'evenement (en tant que mystere); et !'eventuelle analyse historique de
l'evenement n'entame pas la Revelation parsqu'elle est la Revelation du
message et de l'evenement (c'est a dire de l'histoire) en meme temps".
1
Als ich freundlicherweise aufgefordert wurde, an den Gesprächen dieser
Tage teilzunehmen, war es mir klar, daß ich als Religionshistoriker und Hel-
lenist, und spezieller noch: als einer, dessen wissenschaftliches Interesse
Mythologie und Mythos in einer besonderen Weise bildeten und immer noch
bilden, eine kleine Aufgabe erfüllen könnte: die Aufgabe der Anbringung von
Randbemerkungen, welche die Theologen und die Philosophen an dies und
jenes erinnern sollten. Gestellt wurde das Problem der Entmythisierung
(demythisation, demitizzazione). Die Problemstellung hängt offenbar mit der
"Entmythologisierung der neutestamentlichen Verkündigung", dem Vorschlag
Rudolf Bultmanns, zusammen, doch bleibe ich auch meinerseits bei der
Fassung "Entmythisierung". Ich verstehe darunter die Frage: Ist Entmythi-
sierung möglich? Das Problem oder die Frage so einfach ohne Objekt ge-
stellt (was sollte entmythisiert werden?), verrät die Zugehörigkeit zur Reli-
gionsgeschichte. Es könnte an sich auch von der Entmythisierung der Natur-
wissenschaften die Rede sein. Doch ein jeder denkt dabei nur an die Ent-
mythisierung der Religion, im besonderen der christlichen.
Das wäre also das Objekt der Entmythisierung. Zur Frage gehört indessen
auch eine Alternative der persönlichen Bezüge. Die einen werden fragen müs-
sen: "Ist uns Entmythisierung möglich?" Und die anderen, zu denen auch ich
gehöre: "Ist Entmythisierung zum Beispiel den Christen möglich?" Diejeni-
gen, die fragen: "Ist uns Entmythisierung möglich?" - befinden sich in der
Geschichte des Christentums. Wo befindet sich derjenige, der auf die andere
Weise fragt? Es· gibt mehrere Orte außerhalb des Christentums. Ich bekenne
mich zur Anschauung, daß die europäische Menschheit, zu der ich auch die
Amerikaner rechne, ungeachtet der Spaltungen im Christentum und nach dem
Christentum, immer noch eine gemeinsame Religionsgeschichte hat: unsere
Religionsgeschichte, die außer der Geschichte der christlichen Bekenntnisse
auch die der israelitisch-jüdischen und zum Beispiel auch die der griechis.chen
Religion in sich faßt. Indem wir nach der Möglichkeii der Entmythisierung
fragen, müssen wir doch auch diese Fr_age vom Gesichtspunkt unserer gemein-
samen europäischen Sprachmöglichkeiten aus etwas bewußter machen:
Warum fragen wir nach der Möglichkeit der Entmythisierung? Warum nicht
nach der Möglichkeit der Entfabulisierung? Fabula ist lateinisch dasselbe, wie
mythos griechisch. Oder doch nicht? Müßte man nicht darüber, was das Wort
mythos auf Griechisch zum Inhalt hat, erst überhaupt im Klaren sein, ehe
man Fragen stellt, in denen eine Ableitung von mythos wie "Entmythisie-
rung" vorkommt?
THEOS UND MYTHOS 29
Und da möchte ich die Theologen zuerst daran erinnern, daß theologia, die
Sache nicht weniger als das Wort, ein Produkt entschieden vorgenommener
Entmythologisierung - hier ist die Bezeichnung präziser als Entmythisie-
rung- in Griechenland war. Das Wort theologia fällt in den bekannten Tex-
ten zum ersten Mal im Gespräch zwischen Sokrates und Adeimantos in Pla-
tons "Staat" 1• Soviel steht wenigstens durch Werner Jägers Buch über die
Theologie der frühen griechischen Philosophen 2 fest: ein Buch, das sogleich
versagt, wenn man auch nach dem spezifisch-griechischen Inhalt des Wortes
theos, dem ersten Bestandteil von theologia, fmgt. Ich möchte aber vorher
auch noch daran erinne·rn, in welchem Zusammenhang das Wort theologia
da "fällt". Ich betone dieses, daß es "fällt", da es nicht etwa vom Philosophen
programmatisch ausgesprochen, sondern vom Gesprächspartner wie selbst-
verständlich eingeführt wird. Es handelt sich um die musische Erziehung der
Jugend für den neuen Staat. Dabei müßte man, meint Sokrates, sehr auf die
mythopoioi aufpassen. Mit dem Wort mythopoios, "Mythenmacher", anstatt
mythologos, "Mythensager", stellt er die von der Tradition abweichende
Tätigkeit der Mythenerzähler in den Vordergrund. Er läßt aber auch die tra-
ditionelle mythologia nicht restlos zu. Man sollte sich streng enthalten, etwa
von Gigantenkämpfen und Feindseligkeiten der Götter und Heroen Mythen
zu erzählen. Nur die Mythen, die so erzählt worden sind, daß sie der Tugend
dienen, dürfte die Jugend hören. Welche sind die derartigen Mythen?- fragt
Adeimantos. Worauf Sokrates: Wir sind doch keine Dichter, sondern Staats-
gründer. Es genügt uns, wenn wir nur um die Muster- die typoi - wissen,
welche die Dichter bei ihrem Mythenerzählen zu beachten haben. Welche sind
denn, fragt Adeimantos. weiter, die Muster, die sich auf die Theologie be-
ziehen: ot n)not neel &eoJ.oyta~?
Was geschah da? Von der Mythologie wurde nur das behalten, was sich auf
die Götter bezieht: Das ist theologia. Und auch dafür gibt es Muster, die be-
achtet werden müssen. Sokrates gibt diese Muster an. Sie beziehen sich auf
die Götter insofern als sie angeben, wie der Gott ist: olo~wrxavn &eo~ wv o
Vor allem ist er gut (aya&o~ ö ye &e6~), und so muß es auch gesagt werden.
Es wird der Ausführlichkeit der Mythologie gegenüber- Ausführlichkeit liegt
im legein, im Erzählen der Mythologie- eine Einschränkung vorgenommen.
Das tut Adeimantos, indem er das Wort theologia einführt. Ihm mögen dabei
die älteren Theogonien vorgeschwebt haben, wie die von Hesiodos und Phere-
kydes. Diese bleiben sogar für Aristoteles noch theologoi, und ihre Auf-
stellung von Göttergenealogien nennt er theologein, theologia 3 , sicher, weil
archaische Göttergenealogien wortkarg sind und sich womöglich auf die Göt-
ter beschränken. So betrachtet unterscheidet sich theologia von mythologia
1 376 ff. Die Interpretation dessen, was mythologein, mythologia auf Griechisch sei,
habe ich vor allem auf Grund dieses Platontextes vorgenommen, im Kap. I meines
Buches La religione antica nelle sue linee fondamentali, 1. Ausg. Bologna 1940,
4. deutsche Ausg. Die Religion der Griechen und Römer, München 1963.
2 Die Theologie der frühen griechischen Denker, Stuttgart 1953; The Theology of
the Early Greek Philosophers, 1. Ausg. Oxford 1947.
3 Metaph. B 4. 1000 a 9. 1\ 6. 1071 b 27; N 4. 1091 a 34; A 3. 983 b 28; Meteorol.
TI 1. 353 a 35; Jäger Anm.17 ;,.u Kap. I.
30 K.KERENYI
nicht einfach dadurch, daß mythos durch theos ersetzt wurde, sondern auch
durch die Konzentrierung des legein auf theos. Es bedeutet in diesem Fall
nicht wie in der Verbindung mit mythos "Erzählen", sondern eher schon
"Lehre". An die Stelle der Mythologie tritt die "Götterlehre'', und diese ver-
dankt ihren Ursprung einem Plan der Entmythologisierung der griechischen
Erziehung. "Entmythologisierung" dürften wir dafür nur mit einem Vorbehalt
sagen: So erscheint der Vorgang den GespräChspartnern selbst, so vor allem
Sokrates, der die "Götterlehre" noch weiter einschränkt und sie als "Gottes-
lehre" faßt, so erschien es Platon und Aristoteles. Ob es auch uns so er-
scheinen wird, wenn uns der spezifisch-griechische Inhalt des Wortes theos
klar wird, muß noch eine offene Frage bleiben.
Ich möchte indessen bei dieser Stelle die Aufmerksamkeit auf noch etwas
lenken: auf die Leichtigkeit dessen, was im Gespräch des Sokrates und Adei-
mantos vor sich ging. Wir hatten nicht den Eindruck der Schöpfung eines
neuen Wortes auf eine so betonte Weise, wie es Jäger hinstellt. Theologia
ist eine leichte Analogiebildung, die wahrscheinlich nicht an dieser Stelle
zum ersten Mal gemacht wurde: ein leichter Ersatz von mythos durch theos,
ein natürlicherVorfalL Ebenso leicht wie dem Schüler Adeimantos den mythos
durch theos zu ersetzen, ist es dem Meister Sokrates iJnersten Bestandteil
von theologia die theoi durch 6 {)e6~ zu ersetzen und ihm als selbstverständ-
liche Eigenschaft "gut" im Sinne des griechis.chen Wortes agathos zuzu-
schreiben. Am weitesten in der Ausschaltung des mythos durch das Einsetzen
von theos ging wohl Aristoteles in einem Satz der Metaphysik 4 • Nachdem
er die Art der Mythen, das rtvfhxäk, im Anthropomorphismus und Zoomor-
phismus angegeben hatte, sagt er: "Wer all dies abstreifen und nur das be-
halten wollte, daß die ersten Wesenheiten"- das sind die Gestirne- "für
Götter gehalten wurden (1'hov~ WtOVTO rd~ 7l(!WTa~ ovala~ dvat ), der könnte
schon glauben, daß dies göttlich (-&dw~) gesagt wurde!" Anstatt ,uv-&txw~ wäre
-&elw~ die sich auf das Wesen der Gestirngötter beschränkende würdige Aus-
drucksweise. Ob Aristoteles dadurch den Mythos völlig hinter sich hatte, darf
man auf Grund eben dieser Stelle bezweifeln.
2
Das zweite, an das ich die Theologen und die Philosophen mit einer Rand-
bemerkung erinnern möchte, wäre, daß die Sprache ein Mittel und ein Ort
nicht nur des Philosophierens, sondern auch des Kultes ist: Ort des Kultes
in einem übertragenen und dennoch sehr bestimmten Sinne. Der religiöse
Mensch vermag auch in eine Sphäre vorzudringen oder hinüberzuschreiten,
für welche die griechische Bezeichnung das arrheton, das Unaussprechliche
ist, und für welche innerhalb der griechischen Religion auch Institutionen
bestanden, die mit der Hilfe dieses Wortes historisch einwandfrei definierbar
sind. Institutionen für das Arrheton waren die Mysterien: Die für die grie-
4 Metaph. {\ 8. 1074 b.
THEOS UND MYTHOS 31
chisehe Existenz wichtigsten und als solche auch ausdrücklich bezeichneten
sind die Mysterien von Eleusis. Außerhalb der Mysterien bleibt der Kult in-
dessen innerhalb der Sprache, er bedient sich der Sprache und bindet sich auf
eine unvermeidliche Weise an sie. Ich kann den historischen Tatbestand auch
negativ umschreiben: Eine andere Sprache, als diejenige, der sich der grie-
chische religiöse Mensch innerhalb seiner Muttersprache, der griechischen,
bedient hatte, wäre für die griechische Religion unmöglich gewesen, und eben
darum kann durch diese Sprache selbst Wesentliches. von spezifisch griechi-
schen religiösen Inhalten erfahren werden, vielleicht mehr sogar· als durch
die Bruchstücke der Philosophen, die ab und zu über die gleichen Inhalte
reden.
Zum Beispiel der Hinderung und der Förderung des religiösen Menschen
durch die Sprache, - ein entferntes Beispiel, das ich vorausschicke, um das
Phänomen selbst, nicht etwa den historischen Zustand deutlich zu machen --
zu solchem Beispiel sollen Äußerungen von Martin Buher dienen. In seinem
autobiographischen Büchlein "Begegnung" 5 gibt er einen Gedanken wieder,
den er 1914 gehabt hat, die Antwort auf eine innere Frage: "Plötzlich erhob
sie sich mir im Geist, da wo .sich je und je die Sprache bildet", - ich möchte
diesen Hinweis auf den Ort der Sprache unterstreichen - "erhob sich, ohne
von mir zusammengesetzt worden zu sein, Wort für Wort ausgeprägt. Wenn
an Gott glauben, so hieß es, bedeutet, von ihm in der dritten Person reden
zu können, glaube ich nicht an Gott. Wenn an ihn glauben bedeutet, zu ihm
reden zu können, glaube ich an Gott." Und dann, aus einem späteren Ge-
spräch über das Wort "Gott": "Ja, sagte ich etwa, es ist das beladenste aller
Menschenworte. Keines ist so besudelt, so zerfetzt worden. Gerade deshalb
darf ich darauf nicht verzichten. Die Geschlechter der Menschen haben die
Last ihres geängstigten Lebens auf diese Weise gewälzt und es zu Boden ge-
drückt; es liegt im Staub und trägt ihrer aller Last. Die Geschlechter der
Menschen mit ihren Religionsparteiungen haben das Wort zerrissen: Sie
haben dafür getötet und sind dafür gestorben; es trägt ihrer aller Fingerspur
und ihrer aller Blut. Wo fände ich ein Wort, das ihm gliche, um das Höchste
zu bezeichnen! Nähme ich den reinsten, funkelndsten Begriff aus der inner-
sten Schatzkammer der Philosophen, ich könnte darin doch nur ein unver-
bindliches Gedankenbild einfangen, nicht aber die Gegenwart dessen. den
ich meine, dessen, den die Geschlechter der Menschen mit ihrem ungeheuren
Leben und Sterben verehrt und erniedrigt haben. Ihn meine ich ja, ihn, den
die höllengepeinigten, himmelstürmenden Geschlechter der Menschen mei-
nen. Gewiß, sie zeichnen Fratzen und schreiben ,Gott' darunter; sie morden
einander und sagen ,in Gottes Namen': Aber wenn aller Wahn und Trug zer-
fällt, wenn sie ihm gegenüberstehen im einsamsten Dunkel und nicht mehr
,Er, Er' sagen, sondern ,Du, Du' seufzen, ,Du' schreien, sie .alle das Eine,
und wenn sie dann hinzufügen ,Gott', ist es nicht der wirkliche Gott, den sie
alle anrufen, der Eine Lebendige, der Gott der Menschenkinder? Ist nicht er
es, der sie hört? Der sie - erhört? Und ist nicht eben dadurch das Wort
,Gott', das Wort des Anrufs, das zum Namen gewordene Wort, in allen
Menschensprachen geweiht für alle Zeiten?"
Wie nimmt sich jetzt, vor diesen Hintergrund gestellt, die einfache sprach-
lich Beobachtung auf, - gemacht von einem guten, aber im Hinblick auf
religiöse Gründe und Werte ahnungslosen Linguisten 6 --wie nimmt es sich
aus, daß es vor dem jüdisch-christlichen Sprachgebrauch keinen Vokativ von
theos gibt, daß es - wie die Linguisten es sagen - "von Haus aus" kein
"Wort des Anrufs" ist? Im Vokativ ruft man griechisch die göttlichen Eigen-
namen aus: Zev m:l.ug, 'A.nollo Yg'a:xlet,;. Ihnen sagt man: "Du". Mit diesem
Du-Sagen bleibt man in der Sprache der Mythen und des Kultes, der auf
o
dem Mythos beruht. Läßt derjenige, der #e6,; sagt, deswegen schon jeden
Mythos hinter sich? Und, wenn er das tut, schreitet er über den Mythos ein-
deutig in der Richtung eines philosophisch gereinigten Gottesbegriffes. hin-
aus oder in Richtung eines namenlosen Ereignisses?
3
Ich möchte nun drittens daran erinnern, daß der spezifisch-griechische ln-
halt des Wortes theos nur aus spezifisch-griechischen Kontexten zu entnehmen
ist: sowohl aus grammatischen Kontexten, als auch aus historischen, in denen
o 1Je6,; oder fJeoq nicht aus philosophischen, sondern aus religiösen Gründen
steht. Rein vom Gesichtspunkte der griechischen Sprache aus ist theos, um
dies nach Ulrich von Wilamowitz-Moellendorff - und nicht zum ersten
Mal- zu wiederholen 7, ein Prädikatsbegriff. Es ist griechisch möglich, aber
nicht spezifisch-griechisch, von theos etwas auszusagen, beispielshalber, daß
er agathos ist. Es scheint aber keine besondere sprachliche Kühnheit im
Griechischen darzustellen, wenn es zu einem Ereignis, und nicht etwa von
seinem unsichtbaren Agens, aus.gesproch.en wird: Es ist theos. Um auch zwei
Beispiele zu wiederholen - das erste gleichfalls nach Wilamowitz - : Helena
ruft in der gleichnamigen Tragödie des Euripides aus 8 :
w#eo[· #eoq rae xat 7:0 ytyvwaxey rpilovq;-
0 Götter! Denn auch das ist Gott, wenn die Lieben erkannt werden.
Das Ereignis, daß Freunde sich erkennen, ist theos. Ein anderes Beispiel ist
uns lateinisch vom Älteren Plinius überliefert 9 , wie' kh glaube, aus einem
Spruch des Meander übersetzt: deus est mortali iuvare mortalem. Das Ereig-
nis, daß man einem Menschen hilft, ist dem Menschen Gott. Die Formulie-
rung der angeführten Sätze könnte als eine besonders feine und späte Sub-
limierung; des Inhaltes von theos erscheinen, und nicht der ursprüngliche
Inhalt, wenn schon das Fehlen des Vokativs sich nicht eben dadurch erklärte:
Ein göttliches Ereignis wird mit ecce deus· und nicht mit Du und Vokativ be-
grüßt, doch diese Begrüßung, eine im Nominativ ausgerufene Feststellung,
6W. Wackernagel: Vorlesungen über Syntax, 2. Ausg. I 293.
7Willamowitz: Der Glaube der Hellenen li 17; Kerenyi: Das Th.eta von Samothrake,
Festschrift D. Brody, Zürich 1958, 129; Paideuma 7, 1959, 9. s 560.
THEOS UND MYTHOS 33
ist deswegen nicht weniger religiös. Daher können wir den spezifisch-griechi-
schen Inhalt von theos am besten mit Ecce deus! oder mit "Göttliches Ereig-
nis!" wiedergeben.
Der gleiche Inhalt ist in jenen historischen Kontexten anzunehmen, in
o
denen uns Theos und neuerdings auch {fe6,; für sich, wie ein feststellender
Satz, an der Stelle eines göttlichen Eigennamens begegnet. Solche historischen
Kontexte ergaben sich im Übergang von der Sphäre der offenen religiösen
Sprache, voller göttlicher Eigennamen, kultischer und mythologis.cher An-
rufungen, in die Sphäre des Arrheton, des Unaussprechlichen, wo es "sich
ereignet", wo aber Namen, wenn überhaupt, so nur im Geheimen genannt
werden. Eine solche sprachliche Sphäre des Übergangs umgibt die Mysterien
von Eleusis. Man spricht da nach außen hin, in den öffentlichen Inschriften
nur von den Zwei Göttinnen, noch genauer "Zwei Gottheiten"rw {)ew im Dativ
roiv {)eoi": Formen, die das Geschlecht der Gottheiten nicht angeben 10 • In
den InschrifteB heißt der geheimnisvolle Mysteriengott, der als majestätische,
bärtige Gestalt dargestellt wurde, Theos und seine Gattin Thea, als lauteten
so ihre Eigen-namen. Theos, der entsprechende große Gott\ der Mysterien
von Samothrake ist in einer versteckten kalendarischen Angabe. und einer
ähnlichen Darstellung zu ermitteln 11 • Man glaubte freilich in solcher Be-
zeichnung nur einen negativen religiösen Impuls zu erkennen: den Impuls
zur Ve-rheimlichung des eigentlichen Namens. Der positive Impuls, vom
Gott, der an seinem Ort jmmer wieder ein Ereignis war, Zeugnis. abzulegen,
tritt in einer kleinen Inschrift zutage, die im Kabirion, dem Mysterienheilig-
tum bei Theben, gefunden wurde.
Ich verdanke die Kenntnis der Inschrift der Ausgräberin, Frau Gerda
Bruns, die sie mir, gleich nachdem der Fund gemacht wurde, im Oktober 1959
als ich zufällig zu den Ausgrabungen kam, auf eine schöne gastfreundliche
Weise vorgelegt hatte. Es ist ein graffito, eingekritzelt in ein architektonisches
o
Terrakottastück des Heiligtums, und lautet {fe6,;. Die Zeitbestimmurig ist
wegen der ungewöhnlichen Schrift schwer. Sie wird sicher nicht außer der
Blüteperioden des Heiligtums fallen. Es kommt aber auch nicht auf die genaue
Zeit an, sondern auf den Umstand, daß in dies.em Heiligtum die Nennung
des Mysteriengottes mit einem kultischen und mythologischen Namen -
wenn auch nicht mit dem geheimen. sondern als Kabiros - erlaubt war.
Zahlreiche Scherben und Votivgegenstände zeugen davon 11 • Dessen unge-
achtet hatte jemand den Impuls, den Gott nicht Kabiros, sondern o1'Je6,;
zu nennen. Hätte er ohne Artikel bloß {)e6,; geschrieben, so wäre dies gleich
ecce deus gewesen, ein Zeugnis von der Erfahrung des göttlichen Ereignisses
o
in den Myste·rien. Er s.chrieb {)e6,;, und verkündete damit, aus einem naiven,
unmittelbaren Impuls, die Nähe jenes bestimmten Gottes, der sich da in
göttlichen Ereignissen meldete: als hätte er lateinisch ille deus geschrieben.
Die Inschrift ist die Bestätigung einer Deutung, die, nach meiner Ansicht,
von der Abkürzung fJ- für fJEOZ- auf samothrakischen Scherben ge-
fordert wurde. Im Mysterienheiligtum der großen Insel vor der Thrakischen
Küste, das mit dem Kabirion von Theben durch de Verwandtschaft der Kulte
verbunden war, fand man die Buchstaben fJ oder fJE in Trinkgefäße ein-
geritzt, 8 oft in den Boden von Weinschalen. Ehe man das Gefäß hinwarf,
so daß es in Stücke zerbrach, trank man aus ihm den Wein und wurde durch
das Trinken eines göttlichen Ereignisses in diesen Mysterien teilhaftig.
4
So ist es nun an der Zeit, zur Frage zurückzukehren, die vorhin offen ge-
lassen wurde. Der Inhalt des griechischen Wortes theos ist nun klar: es ist
o
wie ecce deus. Die gleiehe Aussage mit Artikel #e6t; meint in einem kul-
tischen Kontext illum deum, den man aus seinen Ereignissen kennt, Vollzieht
man, wenn man alles andere beiseite läßt, dadurch eine wahre und' vollstän-
dige Entmythisierung? Und wird so die Möglichkeit einer Entmythisierung
überhaupt erwiesen? Ehe ich versuche auf diese letzte Frage gleichfalls eine
Antwort zu geben, muß eine Folgerung aus der Feststellung gezogen werden,
der Inhalt des Wortes theos sei "göttliches Ereignis": eine Folgerung, die
sich auf o #eot;, wie ihn Sokrates im Gespräch mit Adeimantos im Gedanken
hatte, d. h. auf den philosophischen Gottesbegriff, bezieht.
Wer theos sagt, entmythisiert nicht. Die Aussage, die Prädikation theos,
selbst ist mythos, dem ursprünglichen Inhalt dieses Wortes entsprechend,
das in der Sprache Homers noch keineswegs mit pseudos, Lüge, gleich ist.
Vor dem prädikativen Gott ist kein anderer Mythos da, dessen weitere, aus-
führende Aussage - mythologia - er wäre. Auch keine Lehre oder kein
Begriff ist vor dem prädikativen Gott da, nur das sich zu erkennen geben.
Mit theos, dessen Inhalt eben dieses Ereignis ist, beginnt der Mythos. Nicht
jeder mythos! Denn bei Homer beschränkt sich der Inhalt des Wortes nicht
nur auf göttliche Ereignisse! Diese Beschränkung trat indessen nach Homer
in der griechischen Sprache ein, und so darf wohl gesagt werden, daß jener
Mythos, den wir meinen, wenn wir von Entmythisierung reden, mit theos
beginnt. Und ich erinnere jetzt auch daran, wie leicht die Ersetzung von
mythos durch theos im Gespräch des Sokrates mit Adeimantos ging! Ebenso
o
leicht ging da die erste Prädikation über #e6t;: er sei agathos, "gut", dem
Inhalt des griechischen Wortes agathos entsprechend, mit dem immer ein
anerkannter, hoher Wert gemeint wurde, doch nicht immer ein Wert, der auf
das Sittliche beschränkt, oder gar durch die Sitte eingeschränkt, war.
Nach Jäger, der wohl die allgemeine Auffassung vertritt, entsprangen die
Schöpfung des Wortes theologia, und eben diese, sokratische Theologie, "dem
Konflikt der mythischen Tradition und der natürlichen. rationalen Behand-
lung des Gottesproblems". Dagegen ist zu sagen, dall die Klärung dessen,
was agathon sei, wohl ein Ereignis der rationellen Behandlung dieses Pro-
blems, des Philosophierens über das Gute ist, nicht aber, daß die prädika-
tive Verbindung von agathos und theos, die Aussage: das göttliche Ereignis
oder der Gott seien gut, eine Errungenschaft der griechischen Philosophie
THEOS UND MYTHOS 35
war. Zwischen dem prädikativen Gott und dem Objekt der Prädikation -
und sei das Objekt Zeus selbst gewesen! - bestand neben der Möglichkeit
der Übereinstimmung immer auch die Möglichkeit der Diskrepanz, die bis
zum Konflikt zwischen der mythologia und dem Inhalt des Wortes theos
führen konnte, wenn sich jemand auf diesen Inhalt konzentrierte. Eine
Frage, wie die folgende des Euripides, wird dem Dichter, ohne ·aufwühlende
Skepsis, durch die Sprache selbst, den prädikativen Inhalt des Wortes theos,
ermöglicht 13 •
ö n Oeof: ~ p~ Oeof: ~ ro piaov,
r[f: qJYJa• leevv~aaf; ßeoui:Jv,
pa>ee6rawv :rreeaf; eveeiv •..
So singt der Chor der Dienerinnen in der "Helena'', der Tragödie, die ein
schönes Beispiel für den prädikativen Gott uns schon gab. "Was Gott ist oder
nicht Gott oder das in der Mitte" - versuche ich die Frage zu übersetzen -
"wer unter .den Menschen darf von sich behaupten, daß er diese äußerste
Grenze der Unterscheidung durch Erforschung fand?" Euripides meint auch
mit ro peaov, "das in der Mitte", wofür er nicht gut einfach peaov sagen
könnte, etwas ebenso Bestimmtes, wie Oe6t; oder ö Ot:6f:: nämlich r6 lJatp6vta
deren viele Gestalten er in seinen Schlußgesängen oft erwähnt:
no.Ä.Ä.al poeq;a[ ui:Jv lJatpovlwv.
"Viele Formen bringt der daimon hervor ... "
Daimon kann in der griechischen Sprache agathos sein, kann aber auch
mit kakos leicht zusammengesetzt werden - kakodaimon, "der Unglück-
liche", der einen schlechten oder bösen Daimon hat, ist ein klassisches, und
sicher schon archaisches Compositum - während agathos theos, als völlig
überflüssiger Pleonasmus nicht gesagt wird (es. sei denn als Übersetzung
eines fremden göttlichen Namens) 14 und kakotheos schwer zu sagen ist.
Dystheos wird bei den Tragikern von Menschen gesagt, auf die die Götter
böse sind, die sie hassen 15 • Ein Scholiast des Sophokles 16 umschreibt
dystheos, nach der Analogie von dysdaimon: kakodaimon, mit kakotheos,
doch der Neoplatoniker Porphyrios, nach dem Aristoteles-Schüler Theo-
phrastos, läßt das Wort auch da nicht zu, wo man glauben würde, daß man
es brauchen könnte: zur Bezeichnung von Barabara; die an böse Götter
glauben 17• Es ist noch keine solche alte Schicht der griechischen Sprache
eruiert worden, in der theos nicht selbstverständlich mit dem anerkannten
höchsten Wert prädikativ verbunden werden müßte.
Daß der spezifisch-griechische Inhalt von theos gut, eher beglückend als
erschreckend ist, könnte auch an anderen göttlichen Gestalten gezeigt wer-
den; doch wo von theos und o
{}e6t; die Rede ist, liegt es am nächsten von
13 1137-9.
u Der Bona Dea, Plut. Caes. 9.
15 Aesch. Ag. 1590; Ch. 46; Soph. EI. 289.
16 In EI. 289.
17 De abst. 2. 7.
a•
36 K.KERENYI
Zeus ein \Vort noch zu sagen. Ich schicke die bekannte Tatsache voraus 18 , daß
das deutsche Wort "Gott" und seine Entsprechungen im Gotischen und Alt-
nordischen auf ein Neutrum zurückgehen. Zeus ist ein Masculinum, unter
seinen nächsten sprachlichen Verwandten aber befinden sich zwei Feminina:
dyau- "Himmel", im Altindischen als Mutter und Göttin angesprochen, und
dies, "Tag", Feminium und Masculinum im Lateinischen 10 • Der väterlich-
männliche Aspekt des Zeus der griechischen Mythologie ist sprachlich nicht
besser begründet als das grammatische Geschlecht von theos, das sich aus der
Flexion ergibt, doch, wenn es die Mythologie fordrrt, für das Femininum
fJ {}s6q auch preisgegeben werden kann. Der ursprüngliche Inhalt des Namens
Zeus ist das Aufleuchten und erst nachher der Erleuchter: das Aufleuchten
nicht nur des Himmels und des Tages, sondern ein glückliches Aufleuchten
überhaupt, sogar im Meer. Im Satyrspiel Diktyulkoi des Aischylos, auf einem
Papyrusfetzen 20 , der etwa. seit dreißig Jahren bekanm ist, ruft der Fischer,
als er sein Glück ein Geschenk des Meeres erblickt, neben Poseidon eine
zweite Gottheit, den "Zeus im Meere" an: Zsv -r' E-va w.
5
Ich wäre damit zu meiner letzten Randbemerkung angekommen, die sich auf
die Hauptfrage dieses Gesprächs und auf das Christentum bezieht. Denn bis
jetzt war nur von den Griechen die Rede. Wer "Gott auf Griechisch", das heißt
{}s6q sagt, bleibt innerhalb des Mythos - selbst der griechische Philosoph
bleibt darin, ob er den Inhalt von -lh6q mit -ro {}f-iop, das "Göttliche", oder mit
o {}s6q aus unberechbaren Ereignissen zu einem ständigen Gegenstand seines
Nachdenkens macht. Zwischenmythos und theos besteht im Griechischen eine
unauflösbare Korrelation. Ein Beispiel dafür, was mythos noch in der Odyssee
gewesen sei, war für Andre Jolles und Walter F. Otto, die das Wort richtig
interpretiert haben 2 1, die Abfahrt des Telemachos, ein Tatbestand und
wahres Wort, das da,uv{}oqheißt 22 • Ich glaubte dazu noch hinzufügen zu dür-
fen 23 , daß das stereotype Objekt von ,uv{}oq in verbaler Form, dem Zeitwort
,uv{}io,uat in der epischen Sprache die Wahrheit ist (aA.rr{}ia, 'PYJ ,useTia, h~w,ua) 2 \
während die Lüge das Objekt von legein bildet: VJEvdw no).).d Uyn'P 25 • Das
Verhältnis zwischenmythosund Iogos beschrieb am richtigsten mein unlängst
in Siebenbürgen verstorbener Freund, der protestantische Theologe und
Philosoph Titz Scheiner in seinen unveröffentlichten Schriften: "Beim Mythos
18. P. Kretschmer, Glotta 13, 1924, 79 ff.
19 H. Zimmermann, Glotta 13, 1924, 79 ff.
20 Bull. Soc. R. Arch. d' Alexandrie, N. S. 8, 1932, 119.
21 Jolles: Einfache Formen, Halle/Saale 1930, 102; W. F. Otto: Die Gestalt und das
Sein, Darmstadt-Düsseldorf 1955, 66; Kerenyi: Griechische Miniaturen, Zürich 1957, 66.
22 Od. 2. 112; 4. 744.
W. Szilasi, München 1960, 121 ff.
23 Miii!oqin verbaler Form, Festschrift. W. Szilasi, München, 1960, 121 ff.
24 Ilias 6. 382; Od. 14. 125; Od. 17. 15; Od. 18. 342; Ilias 6. 376,; Hes. Op. 10 und die
richtige Lesung in Theog. 28. ·· ·
2 5 Od. 19. 203; Hes. Th- og. 27.
THEOS UND MYTHOS 37
hat die Sache über das Wort, beim Logos hat das Wort über die Sache das
Übergewicht". Theos ist mythos, insofern als durch diese Prädikation ein
Tatbestand ausgesprochen wird, der, wenn er nicht zu Mythos geworden
wäre, im Bereich des Arrheton, des Unaussprechlichen, hätte bleiben müssen.
Der mythos ist aber religiös bedeutsam geworden, Mythos im besonderen
Sinne, durch die Aussprache eben dieses Tatbestandes. Eine Entmythisierung
wäre da das Vorwärts- oder das Zurücktreten ins Arrheton: nur in diesem
Sinne könnte man überhaupt von einer Entmythisierung in bezug auf die
griechische Religion sprechen.
Wie verhält es sich mit dem Christentum? Das Wort theos steht auch in den
heiligen Texten des Christentums, der Sprache nach griechisch, und es steht
in einem berühmten Satz sogar prädikativ. Der Satz lautet: lv aexrJ, rJV
ö A.6yoq, ual ö l6yoq nv neoq TOV 1h6v, ual ihoq nv ö l6yoq. Ich fühle mich
nicht befugt, diesen Satz anders zu interpretieren als dies ein Religions.-
historiker und Hellennist tun kann: aus der Religion, die da am nächsten
steht, der alttestamentlichen, und aus der Sprache, die griechisch ist. Das
"Wort am Anfang" kann kein anderes Wort sein, als das Schöpfungswort am
Anfang: lv aexfJt heißt es in grie. chischer Übersetzung auch im ersten Satz der
Genesis. Dieses Wort war bei Gott - neoq TOV 1Je6v - , der nicht erst nach
seinen Ereignissen kam, sondern vor allen Ereignissen da war: es kann kein
anderer da gemeint sein als der Gott des Alten Testamentes, der mit seinem
Wort die .Welt erschaffen hat. Die Erzählung, wie er sie erschaffen hat, geht
in den griechischen Begriff der methologia ein. Daß er sie erschaffen hat, ist
für Juden und Christen etwas anderes: wenn es für sie den Mythos im gleichen
Sinne gäbe, wie für die Griechen, so wäre es dessen Voraussetzung. Im
ersten Vers des Johannesevangeliums folgt die prädikative Aussage: ual
#eoq flv Ö l6yoq, und diese Aussage könnte nach dem griechischen Wortinhalt
so übersetzt werden, wie es in diesem Zusammenhang paßte: "und ein gött-
liches Ereignis war das Wort".
Dennoch weiß ich nicht, ob der Christ diese, durch die Sprache angebotene
Berührung· mit dem theos der griechischen Religion annehmen kann. Denn es
folgt bald auch der Satz: ual ö l6yoq aaQ; fyevew, verbum caro factum est.
Dieser Satz selbst wäre dann schon "Entmythisierung". Der mythos, die Aus-
sage eines göttlichen Ereignisses, wird verlassen für das Geschehen im
Fleische. Die heilige Geschichte des Christentums kann nicht Mythos sein
wollen, selbst wenn mythos diesen Inhalt hat: göttlicher, wahrer Tatbestand.
Sie muß bei ihrer Historizität bleiben und könnte nicht zugeben, daß sie sich
nicht im Fleische, sondern nur im Geiste ereignete, wie theos und mythos in
Griechenland 26 • Die Entmythisierung kann für ein solches Geschehen, das
außerhalb des Mythos stattgefunden haben will, doch auf eine andere Weise
außerhalb als das Unaussprechliche von Eleusis, nicht einmal in Frage kom-
men: die Frage wäre gegenstandslos. So'scheint es mir, wenn ich das histo-
rische Christentum phänomenologisch betrachte 27 •
26 Vgl. meinen Aufsatz Hercules Fatigatus. Festschrift. C. J. Burckhardt, München
1961, 214 ff.
27 Eine erweiterte Fassung wird für meine Griechischen Grundbegriffe vorbereitet.
DIE ENTMYTHOLOGISIERUNG IN DER ALEXANDRINISCHEN
SCHULE
J ean Danielou
*
• *
Die Frage der Entmythologisierung ist ursprünglich durchaus· nicht spezi-
fisch christlich. Im Gegenteil, sie hat sich zuerst den Griechen gestellt. Sie
ist eine unvermeidliche Folge fortschreitenden wissenschaftlichen Denkens.
Dieses definiert sich in seiner ersten Emphase im Widerspruch zu den
Mythen. Das findet sich schon bei Heraklit und Xenophanes und in der Folge
durch die ganze griechische Tradition hindurch. Zu Beginn des. Christentums
ist diese Kritik besonders heftig. Man lese nur die Dialoge von Lucian oder
die Abhandlungen von Celsus nach. Die Christen machten in erheblichem
Maße Gebrauch von dieser heidnischen Polemik, um damit die Immoralität
und die Unreife der griechischen Mythen aufzuzeigen, Es handelt sich hier
um ein Kapitel, das konstant in allen Apologien erscheint, sei es nun bei
Jus.tin oder Athenag.oras, bei Theophil oder bei Tatian. Schon Phiion hatte
sich der gleichen Technik bedient.
Aber es ist klar, daß diese Polemik sich. gegen die Bibel umwenden konnte.
An Skeptikern fehlte es in dieser Beziehung nicht. Das zeigt sich schon im
alexandrinischen Judaismus. Die Juden mißachteten die heidnischen Mythen.
Aber gerade diese stellten eine Analogie dar: "Wie könnt ihr noch die alten
Traditionen respektieren, als ob sie die Gesetze der Wahrheit enthielten. Die
Bücher, die ihr heilig nennt, enthalten die gleichen Mythen, über die ihr zu
lachen pflegt, wenn andere sie erzählen" (Philon, Confus. 2-3). Die Diskus-
sion zwischen Celsus und Origenes ist in dieser Hinsicht charakteristisch.
Celsus sucht die heidnischen Mythen zu verteidigen und sieht in den biblischen
Gleichnissen absurde Fabeln. Origenes verteidigt die Berichte der Bibel und
verspottet die griechische Mythologie.
Dennoch hat diese Kritik ein gemeinsames Element: bestimmte Erzählun-
gen können nicht wörtlich genommen werden, sie können der Kritik stand-
ENTMYTHOLOGISIERUNG IN DER ALEXANDRINISCHEN SCHULE 39
halten. Es erscheint wichtig, zu zeigen, daß Juden und Christen das für die
Bibel gleichermaßen anerkennen wie die Griechen für Homer. So wäre die
Schaffung des Paradieses, durch Gott für Phiion wörtlich verstanden eine
p,v#onota (Leg. All. III, 14, 43). Die Schöpfung der Eva aus der Rippe des
Adam ist mythisch (p,v#w6e.:jim wörtlichen Sinne (Leg. All. Il, 7, 19). Das
gleiche gilt für die Rolle der Schlange bei der Versuchung (Agr. 22, 97). Phiion
weist auf das Ärgernis hin, das eine historische Interpretation dieser Ge-
gebenheiten in den Augen der Heiden darstellen muß. Das Wort Gottes käme
damit in Verruf (Imm. II. 21, 22). Ähnliche Bemerkungen finden sich bei Ori-
genes, Gregor von Nyssa wendet sich gegen die Autoren, die sich wie Theo-
dorus von Mopsuesta fragen, ob der Baum der Erkenntnis. ein Feigenbaum
vr-ar: "Wenn die Frucht doch vergiftet war, wie könnte sie dann plötzlich ver-
daulich werden?", denn gerade wenn man es wörtlich nimmt, müßte das
Gleichnis der Bibel dem Unwissenden unwirklich und mythisch (p,v#wbe.:)
erscheinen (P. G. XLIV, 67, 2-c).
Griechen und Christen haben also das gleiche Problem. Es geht um die
Wahrung überkommener religiöser Werte, die von der wissenschaftlicheil
Kritik als durchaus fabelhaft hingestellt werden. Die Lösung des Problems
besteht in dem Hinweis auf die tatsächlich mythische Form, unter der sich
diese Werte präsentieren, und daß man sie also nicht wörtlich verstehen
wollen dar( sie aber dennoch eine Wahrheit enthalten, die man hinter dem
Buchstaben zu suchen hat. Das genau ist Entmythologisierung. Es handelt
sich hier um Hermeneutik, um die Interpretation heiliger Texte. Wir wissen,
welche Bedeutung diese Hermeneutik in der Auslegung und der griechischen
Tradition einnimmt: Stoiker, Pythagoräer und Platoniker haben sich gegen-
seitig an Scharfsinnigkeit übertroffen, in den antiken Mythen Lehren über
das Universum und seine Struktur, über die Seele und ihre Tugenden, über
Gott und seine Kräfte zu entdecken. Die Antwort des antiken Griechenland
auf die Kritik der Vernunft war die Allegorie.
Juden und Christen ließen sich von der griechischen Hermeneutik inspi-
rieren. Es ging darum, die Wahrheit wiederzuentdecken, die hinter dem Sym-
bol der Mythen verborgen war. Die gleichen Termini finden sich für die eine
wie für die andere Entmytholgisierung. Clemens von Alexandrien sagt, "die
Dichter philosophieren häufig durch Insinuation(vn6vota)". Um die Wirklich-
keit zu erkennen, müßte man bis zu dem Gedanken (bvow) vorstoßen, der
in den Symbolen enthalten ist (Strom. V, 4, 24, 1-2). Analog drückt er sich
bei der Beschreibung J ohannes des Täufers aus, wie dieser J esus die San-
dalen aufbindet, das heißt, die in den Symbolen des Alten Testaments ent-
haltenen Gedanken (evvma) entschleiert li""dlmpa.:) (V, 8, 55, 3). Phiion
schreibt mit Bezug auf die Schlange, daß "mit Interpretationen durch Alle-
gorien (vn6vota) das' mythische Element (,uv#wbe.:) ausgeklammert und die
Wahrheit entdeckt wird" (Agr. 22, 97).
Hier aber taucht das Problem der Methodik dieser allegorischen Auslegung
der Mythen auf. Man muß anerkennen, daß in dieser Beziehung die Kirchen-
väter und vor ihnen Phiion nicht nur von dem Prinzip der Entmythologisie-
rung selbst beeinflußt waren, sondern auch von dem Inhalt, den die griechi-
40 J.DANIELOU
sehen Philosophen ihren eigenen Mythen gegeben hatten. Sie waren versucht,
die Gleichnisse der Bibel auf die gleiche Weise zu interpretieren. Das wird
besonders deutlich bei Philon. Wir haben ges.ehn, daß er davon überzeugt
war, die Schaffung der Eva entmythologisieren zu müssen. Aber diese Ent-
mythologisierung führte schließlich dazu, daß Adam die Intelligenz wurde
und Eva die Empfindung. Der Schlummer des Adam ist die Intelligenz, die
sich von dem Intelligiblen abwendet. Die Rippe ist eine der Kräfte der In-
telligenz, die Fähigkeit zu fühlen. Die Schaffung der Frau ist die Empfindung
als Akt (Leg. All. II, 8-11, 25-38). Clemens und vor allem Origenes inter-
pretieren analog.
Die christliche Tradition sollte jedoch noch eine andere Möglichkeit auf-
zeigen. Scho·n bevor sich ihr die Frage nach dem Wert der Mythen durch die
Konfrontierung mit dem wissenschaftlichen Denken stellte, kannte sie eine
bestimmte Art von eigenständigem Symbolismus, der durch die Perspektiven
der Heilsgeschichte bedingt war. In seinem Römerbrief hatte Paulus bereits
in Adam ein Vor-Bild ('rvno~) des Kommenden ges~hen, also von Christus.
Und der Petrushrief hatte die Taufe als Gegen-Bild (av-rhvno~) der Sintflut
hingestellt. Hier handelt es sich nicht um Exegese im eigentlichen Sinn. Und
die Frage, ob die erwähnten Episoden mythischen oder historischen Charak-
ter haben, wird überhaupt nicht gestellt. Im Gegenteil unterstellen die an-
gewandte Methode und der gezogene Vergleich den historischen Charakter
beider Termini, denn es handelt sich hier um die Aufzeigung der Beziehung
zwischen zwei geschichtlichen Gegebenheiten.
Schließlich entsteht bei Clemens und Origenes eine Interferenz zwischen
Typologie und Entmythologisierung. Wir zitierten vorhin, ohne weiter darauf
einzugchn, eine Passage, in der Clemens erklärt, Johannes der Täufer hätte
den Gedanken-Gehalt (lvvotal der Symbole des Alten Testaments entschleiert.
Das Wort dient zur Bezeichnung der unter dem Schleier des Mythos verbor-
genen Wirklichkeit. Die vollzogene Transposition wird deutlich. Die Sym-
bole, die Mythen sind hier die Wirklichkeit des Alten Testaments, die ev,,at
a
die Wirklichkeit ist die Person Jesu Christi. Das Alte Testament drückte also
verschleiert aus, was das Neue deutlich offenbart. Man kann sich übrigens
fragen, wie weit sich Clemens nicht teilweise von der Sicht des. Maximus VO'J.
Tyra hat beeinflussen lassen, für den die Mythen den Alten, also einer noch
unvollkommenen Intelligenz, entsprachen, während der Logos. einer voll-
kommenen Gnosis gleichkam (Abhandl. X, 5).
Ein Text von Origenes bringt hier ein wichtiges Element. Im Anti-Celsus
schreibt er über die Juden: "Wie großartig war es für sie, die Wahrheit seit
ihrer Kindheit zu kennen ... Diese Wahrheiten waren noch in Form von
Mythen (,uv#tx6v) ausgesprochen, weil sie noch Kinder waren und nur eiTI
kindliches Auffassungsvermögen hatten. Aber für die, die, nach dem wahren
Gehalt (l6yo~) suchen und dabei fortschreiten wollen, hat sich das, was einst-
mals Mythos (,uv#o~) war, in die Wahrheit verwandelt, die bisher verborgen
war." (V, 42) Der Übergang vom Alten zum Neuen Testament ist also ein
Übergang vom Mythos zum Logos, von der unter dem Symbol verborgenen
Wahrheit 7U der in ihrer Wirklichkeit manifesten Wahrheit. Der Irrtum der
ENTMYTHOLOGISIERUNG IN DER ALEXANDRINISCHEN SCHULE 41
Juden ist, beim Mythos zu bleiben, während das Wort doch gegenwärtig ist.
Die echte Entmythologisierung ist der Übergang vom Alten zum Neuen
Testament.
Diese Perspektive ist besonders interessant in Hinsicht auf evYota, den ln-
halt des Mythos. Dieser hört auf, eine philosophische Wahrheit zu sein wie
bei den Griechen. Er ist der Logos selbst, die christliche Wahrheit. Gleich-
zeitig aber bringt er eine schwerwiegende Konsequenz in Bezug auf den
Mythos mit sich. Dieser erfährt eine besonders starke Ausdehnung. Er be-
zieht sich nicht mehr auf bestimmte Gleichnisse der Genesis, deren Aus-
drucksweise als mythisch angesehen werden konnte. Das Alte Testament als
Ganzes wird zu einem einzigen ungeheuren Symbol. Natürlich wird damit
der historische Charakter der Gegebenheiten nicht hinfällig. Aber der wört-
liche Sinn wird zur Hülle eines verborgenen Sinns, der der wahre Sinn ist
(eYYota). Dieser verborgene Sinn, der schon Logos war, wird vom Neuen
Testament entschleiert. Von nun an mußte sich die Entmythologisierung durch
die Allegorie auf die Gesamtheit des Alten Testaments ausdehnen.
Der Sinn des Mythos hat sich hier vollkommen verändert. In seinem üb-
lichen Verständnis stand er im Gegensatz zur Geschichte. Aber darum geht
es nicht mehr, denn auch die Geschichte kann zum Mythos werden. Es han-
delt sich jetzt um einen anderen Widerspruch. Der Mthos steht dem Logos.
gegenüber. Das findet sich schon bei Maximus von Tyra. Der Logos ist der
Grund des Sein, die erste Wirklichkeit. Diese Wirklichkeit ist für Origenes
das Wort Gottes und seine Mysterien. Sie ist zum größten Teil schwer
faßbar. Deswegen muß sie in den Schleier des Mythos gehüllt werden. Das ist
das Konzept, das dem platonischen Mythos zugrunde liegt, zumindest in der
Interpretation des Origenes: "Untersucht man philosophisch, was Platon in
Form von Mythen (p,fHJo~) ausgedrückt hat, so stößt man auf seine eigent-
lichen Gedanken. Er hat die für ihn offenbaren tiefgründigen Lehren der
Masse entzogen, indem er sie in Form von Mythen ausdrückte, um damit
jenen,_ die dazu fähig waren, zu erlauben, die hinter diesen Mythen verbor-
gene Wahrheit zu erkennen" (Anti-Celsus IV, 39). Origenes wendet dieses
platonische Verständnis des Mythos auf das ganze Alte Testament an und
gibt ihm als Inhalt Christus ..
Von nun an gibt es also zwei Interpretationen des Alten Testaments. Man
kann es auslegen, indem man es wörtlich nimmt. Das wäre gleichbedeutend
mit einem wörtlichen Verständnis der platonischen Geheimnisse, das heißt
mit einem Verzicht auf ihre Entmythologisierung, al">o einem Verbleiben im
mythischen Stadium. Das ist der Fall bei den Juden, aber auch bei den
Christen, die sich an den wörtlichen Sinn des Alten Testaments halten. Die
wahren Christen aber entmythologisieren das Alte Testament durch Alle-
gorien: "Sie zeigen die tiefgründigen und geheimnisvollen in der Schrift ent-
haltenen Lehren auf, während die Juden sie oberflächlich als Mythen (,uv-Do~)
lesen" (Anti-Celsus II, 4). Und an anderer Stelle heißt es: "Alle Gesetze der
heutigen Juden sind Mythen und Sagen (lijeot). denn ihnen fehlt das wahre
Licht der Erkenntnis" (Anti-Celsus II, 5). Die Christen dagegen sind der
42 J.DANIELOU
judäischen Mythologie entgangen (Anti-Celsus II, 6), Christus hat sie von
den jüdischen Mythen befreit (Anti-Celsus II, 52).
In der Sicht von Origenes ist also das Alte Testament der Mythos und das
Neue Testament dessen Wirklichkeit. Aber man wird sich hüten müssen,
diesen Gegensatz in einem zu historischen Sinn zu verstehen. Tatsächlich gab
es für Origenes im Alten Testament schon Menschen, die den Logos durch
den Schleier zu schauen vermochten, und im Neuen Testament kann man
noch Menschen antreffen, die sich auf der Ebene des Mythos befinden. Das
Problem des Mythos kann also auch im Neuen Testament auftauchen. Damit
wird der historische Charakter des Christus-Ereignisses im Neuen Testament
nicht ausgeschlossen, genauso wenig wie der mythische Charakter des Alten
Testaments die Historizität der Ereigniss.e ausschließt. Aber das besagt, daß
es seit dem Alten Testament eine Kenntnis der gegenwärtigen oder der kom-
menden Wahrheit gibt, und daß es innerhalb des Neuen Testamentes eine
Unkenntnis der gegenwärtigen und vergangeneu Wahrheit geben kann. Mit
anderen Worten gibt es für Origenes sehr wohl eine Entwicklung der histo-
rischen Wirklichkeit, aber keinen Fortschritt in der Erkenntnis. Oder besser
gesagt ist Fortschritt in der Erkenntnis der Übergang vom Mythos zur
Gnosis, det immer möglich war.
Dieses Problem erhebt sich insbesondere auf dem Gebiet der Eschatologie.
Origenes hat Christen gekannt, die die Versprechungen Christi über das
kommende Reich Gottes als eine Versammlung der Auferstandenen in einem
erneuerten Palästina interpretierten, in dem Milch und Honig fließen wür-
den. Es l.st das die Lehre vom Tausendjährigen Reich. Sie war zur Zeit des
Origenes allgemein verbreitet. Wir finden sie bei Irenäus wie bei Tertullian,
bei Hippolitus wie bei Methodus. Origenes verwirft sie. "Das Land, wo
Milch und Honig fließen, ist nicht, wie einige meinen, ein irdisches Judäa"
(Anti-Celsus VII, 28), sondern jenes, von dem Paulus, "dem die jüdische
Mythologie fremd war" (Anti-Celsus VII, 29), im Hebräerbrief sp·richt. Der
heilige Basilius drückt sich analog über Appolinarius aus: "Man findet bei
ihm auch Betrachtungen über die Auferstehung, die mythisch(.uv'l?t"w~) sind,
sogar judäisch" (P. G. XXXII, 980). Der Vorwurf des Judaismus taucht
immer im Zusammenhang mit einem wörtliChen Verständnis der Schrift auf.
Wir finden hier auf dem Gebiet der Eschatologie dieselbe ßaltung wieder
wie bei der "Archäologie". Die Entmythologisierung erstreckt sich also auf
zwei Gebiete. Sie bezieht sich zunächst auf den inythis.chen, das heißt den
fantastischen Charakter der Vorstellung und spricht ihr jede historische
Wahrheit ab. Und darüber hinaus schält sie, wie grundsätzlich bei Origene:>,
die in dem wörtlichen Sinn enthaltene Wahrheit heraus, sei dieser nun histo-
risch oder nicht. Die beiden Gesichtsp.unkte sind natürlich verschieden. Die
Schwierigkeit besteht in der Abgrenzung beider gegeneinander. Es ist nicht
immer leicht, festzustellen, wie weit bei Origenes die Entmythologisierung
als Vorstoß in die letzte hinter dem Buchstaben verborgene Wahrheit nicht
eine Unterbewertung der historischen Wirklichkeit und eine Verschiebung
zur Gnosis mit sich. bringt.
ENTMYTHOLOGISIERUNG IN DER ALEXANDRINISCHEN SCHULE 43
wir diese Besinnung zu sehr mit einem ganz bestimmten Moment der philo-
sophischen Denkarbeit; vielleicht muß man hier weiterblicken: denn wenn
wir das Problem des Symbols jetzt, in dieser Periode der Geschichte, er-
örtern, so hängt das mit bestimmten Charakteristiken unserer "Modernität"
zusammen, ja geschieht das zur Erwiderung auf diese Modernität. Der histo-
rische Moment einer Philosophie des Symbols ist der der Vergessenheit und
zugleich der der Wiederherstellung: Vergessenheit der Hierophanien; Ver-
gessenheit der Zeichen des Heiligen; die Verlorenheit des Menschen selbst als
zum Heiligen gehörend. Wir wissen, daß diese Vergessenheit die Schatten-
seite der hohen Aufgabe darstellt, die Menschen zu ernähren und die Be-
dürfnisse zu sättigen, indem die Natur durch eine planetarische Technik ge-
meistert wird. Die dunkle Erkenntnis dieses Vergessens jedoch bewegt uns
und stachelt uns dazu an, die integrale Sprache wieder herzustellen. Also
eben in dieser Zeit, in der unsere Sprache genauer, eindeutiger, kurzum tech-
nischer wird, mehr geeignet zu diesen Integralformalisierungen, welche man
gerade "symbolische Logik" nennt, (wir werden ferner auf diese überraschende
Zweideutigkeit des Wortes "Symbol" zurückkommen), gerade in diesem Zeit-
punkt des Redens wollen wir unsere Sprache wieder laden, wollen wir wieder
vom Kern der Sprache ausgehen. Nun ist auch das ein Geschenk der "Mo-
dernität". Denn wir sind ja, wir modernen Menschen, die Männer der Philo-
logie, der Exegese, der Religionsphänomenologie, der Sprachpsychoanalyse.
Es stellt sich also heraus, daß es dieselbe Zeit ist, welche die Möglichkeit
bietet die Sprache zu entleeren, und die Möglichkeit, sie wieder zu erfüllen.
Also nicht die Sehnsucht nach einem zusammengestützten Atlantis beseelt
uns, sondern die Hoffnung einer Neuschöpfung der Sprache; wir wollen jen-
seits der Wüste der Kritik wieder angesprochen werden.
"bas Symbol gibt zu denken": dieser Sinnspruch, der mich fesselt, besagt
zweierlei: das Symbol gibt; ich setze ihm keinen Sinn, es selbst ist es, das den
Sinn hergibt; aber das, was es gibt, das gibt es "zum Denken", um darüber
zu denken. Von der Gabe her gibt es die Sinnnsetzung; der erwähnte Sinn-
spruch deutet also auf ein Doppeltes hin: alles ist schon im Rätsel gesagt
worden, und dennoch soll man immer anfangen und wiederanfangen auf dem
Niveau des Denkens. Dieses Ineinandergreifen jenes Denkens, das im Reiche
der Symbole sich selbst geschenkt wird, und des mühevollen und nachdenken-
den Denkens, möchte ich fassen und erfassen.
I
Die Welt des Symbols
Was hat das einzelne Thema der Symbolik des Bösen für eine so umfas-
sende Untersuchung zu bedeuten? Es ist in verschiedenen Hinsichten ein aus-
gezeichneter Prüfstein.
1) Es ist sehr merkwürdig, daß man unterhalb der Ebene einer jeglichen
Theologie und einer: jeglichen Spekulation, ja sogar unterhalb der Ebene
einer jeglichen mythischen Gestaltung noch Symbolen begegnet; diese elemen-
taren Symbole sind die unersetzbare Sprache eines Erfahrungsgebietes, das
46 P.RICOEUR
die Bewegung des primären Sinnes selbst, die uns am verborgenen Sinne teil-
nehmen läßt und uns so dem Symbolisierten angleicht, ohne daß wir diese
Ähnlichkeit intellektuell beherrschen könnten. Eben in diesem Sinne ist das
Symbol ein Schenkendes; es ist ein Schenkendes, insofern es eine primäre
[ntentionalität ist, welche den zweiten Sinn schenkt.
2) Diese Untersuchung der primären Geständnissymbole hat als zweiten
Vorzug, schon gleich eine Dynamik, eine Lebendigkeit der Symbole zum Vor-
schein zu bringen. Die Semantik konfrontiert uns mit wirklichen, die Sprach-
forschung betreffenden Revolutionen, welche eine bestimmte Sinnrichtung
aufweisen. Mit Hilfe dieser verbalen Ausdrucksmittel cahnt sich eine gewisse
Erfahrung ihren Weg. So ist der Weg der Verschuldungserfahrung durch eine
Reihenfolge von Symbolentwürfen abgesteckt. Wir sind also keinesfalls auf
eine zweifelhafte Introspektion des Verschuldungsgefühls angewiesen; der
kurze und meines Erachtens. unzuverlässige Weg der introspektiven Psycho-
logie soll ja durch den längeren, aber sichereren Weg der Besinnung auf die
Dynamik der großen kulturellen Symbole ersetzt werden 1 •
Diese durch die drei Kategorien des Makels, der Sünde und der Schuld ab-
gesteckte Dynamik der Ursymbole hat eine zweifache Bedeutung; und diese
Zweideutigkeit selbst ist für die Dynamik der Symbole überhaupt sehr er-
hellend: Einerseits ist sie ein Vorgang unanfechtbarer Interiorisierung, an-
dererseits aber ein Vorgang der Verarmung des Symbolreichtums; darum
- dies sei am Rande bemerkt - soll man sjch durch eine "historizistische"
oder "progressistische" Erklärung der Gewissensentwicklung in diesen Sym~
holen nicht irreführen lassen. Was von einem Blickpunkt aus ein Gewinn ist,
das ist vom anderen aus ein Verlust. Und jedes neue "Stadium" kann sich nur
behaupten, indem es den Symbolgehalt des vorangehenden wieder aufnimmt;
wir werden also nicht darüber verwundert sein, daß der Makel, das archa-
ischste Symbol, im dritten Stadium wesentlich weiterexistiert. Die Erfahrung
des Unreinen gelangt dort, wenngleich sie in der Angst vergeht, dank der un-
gemein reichen Symbolik des Makels zur Helligkeit des Sagens. Denn die Be-
fleckung ist von Anfang an mehr als ein Makel; sie zielt auf eine Art Be-
schwerde der Person als ganzes und in ihrem Verhältnis zum Heiligen. Dieses
Etwas, da3 dem Reuigen anhaftet, könnte durch keinerlei physisches Waschen
entfernt werden. Die Reinigungsriten selbst zielen durch allerlei ersetzbare
Gebärden (wie des Vergrabens, des Spuckens, des Hinwegwerfens usw.) hin-
durch auf eine Integrität, welche, wenn nicht in symbolischer Sprache, unsag-
bar ist. Deshalb hat uns gerade die magische Auffassung der Befleckung, so
archaisch und überholt sie auch sei, die Symbolik des Reinen und Unreinen
1 Die Notwendigkeit des langen Weges scheint mir noch zwingender, wenn ich
meine Interpretation mit der der Psychoanalyse und der der Geisteswissen-
schaften überhaupt vergleiche. Ein Psychologie der Introspektion kann sich der
Freud'schen oder Jung'schen Hermeneutik gegenüber nicht behaupten; eine reflexive
Annäherung über den Umweg einer Hermeneutik der Kultursymbole kann sich ihr
gegenüber im Gegenteil nicht nur behaupten, sondern sie eröffnet eine wirkliche
Debatte: von Hermeneutik zu Hermeneutik. Der Vorgang des Zurückschreitens zum
Archaischen, zum Kindheitlichen, zum Instinktmäßigen muß mit dem Vorgang der
aufsteigenden Synthese der Geständnissymbolik konfrontiert werden.
48 P.RICOEUR
mit all ihrem harmonischen Reichtum überliefert. Den Kern dieser Symbolik
bildet das Schema der "Exteriorität", der Überrumpelung durch das Böse, worin
man vielleicht den unerforschlichen Grund des "mysterium iniquitatis" er-
blicken kann. Das Böse ist nur ein Böses, insofern ich es vollziehe, aber gerade
innerhalb des Vollzuges des Bösen wird eine Verfühnmgskraft des schon-da-
seienden Bösen offenbar, von der die antike Befleckung schon immer in sym-
bolischer Weise gesprochen hatte.
Ein archaisches Symbol existiert jedoch nur noch weiter als ein durch die
Umwälzungen der Erfahrung und der Sprache überschwemmtes. Die bilder-
stürmerischeBewegung geht nicht zunächst aus der Reflexion, sonder aus dem
Symbolismus selbst hervor; ein Symbol ist zunächst Zerstörung eines früheren
Symbols. So sehen wir, wie die Symbolik der Sünde sich um Bilder gestaltet,
die denen der Befleckung entgegengesetzt sind; statt der äußeren Berührung
dient hier die Abschweifung (vom Ziel, vom rechten Wege, von der nicht zu
übertretenden Grenze) als führendes Schema. Nun ist eine solche Ersetzung
des Themas der Ausdruck einer Umwälzung innerhalb der wesentlichen Mo-
tive. Eine neue Kategorie religiöser Erfahrung, der Erfahrung des "Vor
Gott", welche durch die jüdische berit - den Bund ....,... bezeugt wird, ist ent-
standen. Es zeigt sich eine unbeschränkte Vollkommenheitsnot, welche nie
aufhört, dte beschränkten und präzisen Gebote der alten Ges.etzesbücher neu
zu gestalten. Diesem unbeschränkten Erfordernis gesellt sich auch eine un-
endliche Bedrohung zu, die die alte Furcht vor den Tabus umwälzt, und die
Begegnung Gottes in seinem Zorn befürchten läßt. Was geschieht dann mit
dem ursprünglichen Symbol? Einerseits ist das Böse kein Etwas mehr, son-
dern ein zerbrochenes Verhältnis., also ein Nichts; dieses Nichts wird in den
Bildern des Hauches, des Leeren, des Brodems, der Eitelkeit des Götzen be-
sagt. Gottes Zorn selbst ist wie das Nichts seiner Abwesenheit. Zu gleicher
Zeit aber geht eine Positivität des Bösen hervor, und zwar kein auswärtiges
"Etwas", sondern eine wirkliche, unterjochende Macht. Das Symbol der Ge-
fangenschaft, das ein historisches Ereignis - zunächst die Gefangenschaft
in Ägypten, so dann die babylonis.che Gefangenschaft ··- in eine Existenzkate-
gorie umwandelt, stellt den höchsten Ausdruck dar, zu dem die Boßerfahrung
Israels gelangt ist. Von Gnaden dieser neuen Positivität des Bösen konnte
jetzt der erste Symbolismus, nl. der des Makels, wieder aufgenommen wer-
den: Das Schema der Exteriorität fand sich wieder, aber auf einem ethischen,
nicht mehr magischen Niveau.
Die gleiche Bewegung von Bruch und Wiederaufnahme kann beim Über-
gang der Sündesymbole zum Schuldsymbol beobachtet werden. Einerseits
geht die rein subjektive Schulderfahrung darauf hinaus, die realistische und
sozusagen ontologische Behauptung der Sünde zu ersetzen; wenn schon die
Sünde, sogar wenn sie nicht gekannt ist, ein "Wirkliches" ist, so wird die
Schuld durch das Bewußtsein abgewogen, das de:r Mensch von ihr erhält, in-
dem er der Verüber seines Fehlers ist. In dieser .Weise tritt das Bild der
Bürde und der Last an die Stelle des Bildes der Abschweifung, der Abwei-
chung, der Abirrung; in der Tiefe des Gewissens räumt das "Vor Gott" all-
mählich dem "Vor mir" seinen Platz; der Mensch ist soschuldig, wie er sich
HERMENEUTIK DER SYMBOLE UND PHILOSOPHISCHES DENKEN 49
schuldig weiß. Dieser neuen Umwälzung verdanken wir ohne Zweifel ein
feineres und gerraueres Gefühl der Verantwortlichkeit, welche anstatt kollek-
tiv jetzt indviduell, anstatt "total" jetzt stufenweise gegliedert wird. Damit
sind wir in die Welt der vernünftigen Beschuldigung sowohl. durch den Rich-
ter als durch das ängstliche Gewissen eingetreten. Aber das antike Symbol
der Befleckung ist deshalb noch nicht verloren gegangen, denn die Hölle hat
ihren Sitz von außen nach innen verlegt; das Gewissen, das durch das Ge-
setz, das es nie wird erfüllen können, erdrückt ist, weiß, daß es in seiner Un-
gerechtigkeit selbst und, schlimmer noch, in der Lüge seines Selbstgerechtig-
keitsanspruchs gefangen ist. ·
Aus diesem extremen Punkte der Verwicklung ist der Symbolismus der
Befleckung zu dem knechtische Freiheit =; servum arbitrium = des verknech-
teten Willens des servum arbitrium, geworden, von der, in einer zwar ver-
schiedenen aber aus derselben Symbolik bezogenen Terminologie, Lother
und Spinoza reden.
3) Ich habe die Exegese der Ursymbole des Frevels und die von ihr ab-
hängige allgemeine Theorie vom Symbol soweit durchführen wollen, ohne
jeden Bezug auf die mythische Struktur, welche die3e Symbole gewöhnlich
überwuchert. Diese Symbole zweiten Ranges mußten eingeklammert werden,
sowohl um die Struktur der Ursymbole hervorzuheben, als um die Spezifität
des Mythos selbst hervortreten zu lassen.
Diese umfassenden Erzählungen- die, wie wir bereits sagten, einen Raum,
eine Zeit und Personen als für die Erzählungsform notwendig implizieren -
haben in der Tat eine unreduzierbare Funktion: und zwar eine dreifache
Funktion. Zunächst stellen sie die gesamte Menschheit und ihr Drama unter
das Zeichen eines musterhaften Menschen, eines Anthropos, eines Adams,
der in symbolischer Weise das Konkret-Allgemeine uer menschlichen Erfah-
rung vergegenwärtigt. Andererseits verleihen sie dieser Geschichte, welche sie
zwischen einem Anfang und einem Ende sich ereignen lassen, einen gewissen
Schwung, einen Rhythmus und eine Zielrichtung; sie legen dadurch in die
menschliche Erfahrung eine geschichtliche Spannung, welche von dem dop-
pelten Horizont der Genesis und einer Apokalypse ausgeht. Und schließlich,
und dies ist noch wesentlicher, erforschen sie den Spalt der menschlichen
Wirklichkeit, der als Übergang, als Sprung vom Zustande der Unschuld in
den Zustand der Schuld dargestellt wird; sie erzählen, wie der ursprünglich
gute Mensch das geworden ist, was er in der jetzigen Lage ist; aus diesem
Grunde kann der Mythos seine symbolische Funktion nur durch das spezi-
fische Mittel der Erzählung erfüllen: Was er besagen will, ist schon von vorn-
herein ein Drama.
Aber aus demselben Grund kann der Mythos auch nur in einer Vielheit von
Erzählungen wirksam werden und läßt uns gegenüber einer nie endenden
Verschiedenhe.it von symbolischen Systemen, gleich den vielfältigen Sprachen
eines unsteten Numinosen.
Im besonderen Falle der Symbolik des Bösen ~rgibt sich die Schwierigkeit
einer Exegese von vornherein als doppelte: Erstens soll man die unendliche
Vielheit der Mythen dadurch zu überwinden suchen, daß man ihnen eine
Typologie anlegt, welche es dem Denken ermöglicht, sich in ihrer unbe-
4 Castelli
50 P.RICOEUR
steigt das Paradigma des gesamten gegenwärtigen Bösen nur, insofern er als
erster jedem Menschen voraus ist, und dadurch in seiner Art nochmals den
Vorsprung des Bösen auf jedes aktuelle Böse verkörpert. Adam ist älter als
jeder Mensch, und die Schlange ist älter als Adam. In dieser Weise ist der
tragische Mythos durch den adamischen Mythos zugleich vernichtet und
wieder behauptet. Das ist der Grund, weshalb die Tragödie ihre doppelte
Destruktion, nl. durch die griechische Philosophie und durch das Christentum,
überlebt. Wenngleich ihre Theologie nicht gedacht werden kann, wenngleich
diese sogar im eigentlichen Sinne des Wortes unbekennbar. ist: Das, was sie
sagen möchte - und nicht sagen kann - , wird nach wie vor gezeigt im er-
schütternden Bild des tragischen, zugleich unschuldigen und schuldigen
Helden.
Diese Schlacht der Mythen lädt uns dazu ein, den Übergang von der ein-
fachen Exegese der Mythen zu einer durch die Symbole unterrichteten Philo-
sophie zu versuchen.
II
Von der Symbolik zur nachdenkenden Vernunft
Auf Grund der Symbole und im Sinne der Symbolik zu denken, das ist
.jetzt die Aufgabe; denn es geht darum zu denken. Ich jedenfalls gebe die
Tradition des vernünftigen Denkens, welche seit den Griechen die Philosophie
angeregt und beseelt hat, nicht auf. Es kommt überhaupt nicht in Betracht,
einer imaginativen Intuition nachzugeben; es geht darum, zu denken, d. h.
Begriffe zu gestalten, die begreifen und begreifen lassen, Begriffe, die in
einer systematischen Ordnung, wenn nicht in einem geschloss.enen Zusammen-
hang verkettet sind. Aber es handelt sich zugleich auch darum, mittels dieser
Vernunftgestaltung einen Sinnreichtum zu überliefern, der schon vorher da
war, und der schon immer jeder Herausarbeitung durch die Vernunft voran-
gegangen ist. Denn so ist die Lage: Einerseits ist alles schon vor der Philo-
sophie in Zeichen und Rätseln gesagt worden; das ist eine der Bedeutungen
des Wortes von Heraklit: "Der Herr, dessen Orakel in Deiphi ist, redet nicht,
verheimlicht nicht: er bedeutet (äA.A.d aru.talvu)." Andererseits haben wir die
Aufgabe, deutlich zu reden, selbst auf die Gefahr hin, eben durch die Inter-
pretation des Orakels zu "verheimlichen". Die Philosophie beginnt mit sich,
sie ist Anfang. Auf diese Weise ist das geschlossene Denken der Philosophien
zugleich die hermeneutische Wiederaufnahme der Rätsel, die ihr vorangehen,
die sie umfangen und nähren, und die Ergründung des Anfanges, die Suche
nach einer Ordnung, das Trachten nach einem System. Vielverheißend und
selten wäre die Begegnung der Fülle überkommener Zeichen und Rätsel mit
der Strenge des unerbittlichen Denkens im Rahmen einer einzigen Philosophie.
Der Schlüssel oder wenigstens der Kern der Schwierigkeit liegt im Ver-
hältnis von Hermeneutik und Denken. Es gibt in der Tat kein Symbol, das
nicht durch die Interpretation ein Verstehen findet. Wie kann dieses Ver-
ständnis aber zugleich innerhalb des Symbols bleiben und über es hinaus-
gehen?
Ich sehe drei Stadien des Verstehens, die die B~wegung, welche von der
HERMENEUTIK DER SYMBOLE UND PHILOSOPHISCHES DENKEN 53
der sich auf je einen Text beziehenden Interp'retation. Es ist in der Tat die
moderne Hermeneutik, welche die Sinnschenkung des Symbols mit dem ver-
nunftmäßigen Entchiffrungs.versuch verbindet. Sie läßt uns an dem Kampf,
an der Dynamik, durch welche der Symbolismus seiner eigenen Überwindung
zum Opfer fällt, teilnehmen. Nur in der Teilnahme an dieser Dynamik kann
das Verstehen die wirklich kritische Seite der Exegese erreichen und zur Her-
meneutik werden. Dazu muß ich aber die Stellung oder aber den Verbannungs-
ort des fernabstehenden, uninteressierten Beobachters verlassen, um mir je-
weils einen bestimmten Symbolismus zu eigen machen zu können. Nur dann
deckt sich das auf, was man den Kreis der Hermeneutik nennen könnte,
einen Kreis, den der einfache Dilettant immer wieder vermeidet. Man könnte
diesen Kreis schroff so formulieren: "Man muß ver:;tehen, um zu glauben,
aber man muß glauben, um zu verstehen." Er ist kein Kreis falscher Schlüsse,
noch weniger ein tödlicher Kreis; er ist ein sehr lebendiger und anregender
Kreis. Zum Verstehen muß man glauben; tatsächlich wird sich der Interpret
niemals dem in seinem Text Besagten annähern können, wenn er nicht in
der "Aura" des herauszufragenden Sinnes lebt. Und dennoch können wir
nur glauben, indem wir verstehen. Denn das zweite Unmittelbare, das wir
suchen, die zweite Naivität, auf die wir warten, sind tms nirgendwo mehr zu-
gänglich, es sei denn innerhalb einer Hermeneutik; wir können nur glauben,
indem wir interpretieren. Das ist die "moderne" Art und Weise des Glau-
bens an die Symbole, Ausdruck der Not der Modernität und Heilmittel für
diese Not. Darin besteht der Kreis: Die Hermeneutik geht hervor aus dem
Vor-Verständnis dessen selbst, was sie durch ihre Interpretation zu verstehen
sucht. Dank diesem hermeneutischen Kreise vermag ich heute noch mit dem
Heiligen in Verbindung zu stehen, indem ich das Vorverständnis expliziere,
das die Interpretation beseelt. Die Hermeneutik, diese Errungenschaft der
"Modernität", ist also eine der Weisen, in denen diese "Modernität" im Sinne
einer Vergessenheit des Heiligen sich selbst überwindet. Ich glaube, daß das
Sein mich noch ansprechen kann, zwar ohne Zweifel nicht mehr in der Weise
des unmittelbaren Glaubens (croyance), wohl aber als das durch die Herme-
neutik beabsichtigte zweite Unmittelbare. Diese zweite Naivität kann das
nachkritische Äquivalent der vor-kritischen Hierophanie sein.
Aber die Hermeneutik ist noch keine Besinnung: Sie ist noch mit den ein-
zelnen Texten, deren Exegese sie bestimmt, solidarisch. Das dritte Stadium
des Symbolverständnisses, das eigentliche philosophische Stadium, ist das
eines Denkens auf Grund des Symbols.
Aber die hermeneutische Beziehung zwischen dem philosophischen Denken
und der Symbolik, die jenes belehnt, ist durch zwei Abarten bedroht: einer-
seits kann sie auf einen rein allegorischen Zusammenhang zurückgeführt wer-
den; das taten die Stoiker mit den Fabeln des. Homer, des Hesiod; der philo-
sophische Sinn kommt dann gleichsam siegreich aus seiner bildhaften Hülle
zum Vorschein; er war schon dort, gleich der Minerva im Scheitel des Jupiter,
in kompletter Waffenrüstung; die Fabel war nur eine Bekleidung; einmal
heruntergefallen, sind ihre abgelegten Kleider überflüssig geworden; im
äußersten Falle enthält der Allegorismus sogar, daß der wahre, der philo-
HERMENEUTIK DER SYMBOLE UND PHILOSOPHISCHES DENKEN 55
sophische, Sinn der Fabel vorangegangen sei, und diese nur eine zweite Ver-
kleidung, ein Schleier gewesen sei, der, um die Ungebildeten zu täuschen, die
Wahrheit absichtlich v~rdeckt habe. Ich bin der Übeu:eugung, daß man nicht
hinter den Symbolen, sondern auf Grund der Symbol~, ganz nach den Sym-
bolen denken soll, daß ihre Substanz unzerstörbar ist, daß sie den offenbaren-
den Hintergrund des Wortes bilden, welches unter den Menschen wohnt;
kurz, das Symbol gibt zu denken. Von einer anderen Seite lauert eine andere
Gefahr auf uns: die Gefahr, das Symbol im Gewande der Rationalität zu
wiederholen, die Gefahr, die Symbole selbst zu rationalisieren und sie da-
durch auf dem imaginativen Plan, wo sie entstehen und sich entfalten, ge-
rinnen zu lassen.
Diese Versuchung einer "dogmatischen Mythologie" ist die Versuchung der
Gnosis. Zwischen der Gnosis und dem Problem des Bösen besteht ein beun-
ruhigendes und durchaus irreführendes Bündnis; es sind die Gnostiker, die
die Frage n61hv Ta xaxd, woher kommt das Böse, in all ihrer pathetischen
Schärfe gestellt haben.
Worin besteht nun das Verführerische der Gnosis? Es besteht zunächst
darin, daß sie sich inhaltlich ausschließlich auf das aus dem orphischen
Mythos hervorgegangene tragische Thema des Falles stützt, das durch sein
Schema der Exteriorität gekennzeichnet ist: Das Böse ist für die Gnosi-.
draußen, - wie Jonas, Puech, Quispel und andere gezeigt haben - ; es ist
Leib, es ist Ding, es ist Welt; es ist eine fast physische Wirklichkeit, die den
Menschen von außen her bekleidet. überdies besteht es aus einer Art Sub-
stanz, die durch Ansteckung infiziert. Zugleich besteht dann die zweite Cha-
rakteristik, die ich festhalten möchte, darin, daß sämtliche durch das Schema
der Exteriorität irgendwie inspirie.rte Bilder des Bösen in Jener Materiali-
tät haften, in dem Sinne, in dem man von Gips oder von Leim
sagt, daß sie haften; das Drama von Sünde und Heil haftet und klebt an einer
Topographie: Die Seele kommt von sonstwoher, fällt hier nieder, muß dort-
hin zurückkehren; die existentielle Angst, die am Ursprung der Gnosis steht,
ist schon gleich einem Raum und einer bestimmten Zeit angegliedert; zugleich
wird all das, was Bild, Symbol, Parabel ist - ob man nun von Abirrung,
Fall oder Sklaverei usw. spricht- zu einem angeblichen Wissen, in welchem
der Buchstabe des Bildes erstarrt. So wird, wie Puech sagt, eine dogmatische
Mythologie geboren, die nicht von ihrer räumlichen unc kosmischen Vorstel-
lung getrennt werden kann: Das Böse ist die Verweltlichung selbst der Welt.
Mein Problem ist also das folgende: Wie kann man auf Grund des Sym-
bols denken, ohne der alten allegorischen Interpretation zu verfallen oder in
die Falle der Gnosis zu gehen? Wie kann man einen das Denken in Bewegung
setzenden Sinn des Symbols freilegen, ohne einen schon vorhandenen, ver-
borgenen, verhehlten, bedeckten Sinn vorauszusetzen oder in die Pseudo-
Wissenschaft der Mythologie zu geraten? Ich möchte einen anderen Weg ver-
suchen, den Weg einer schöpferischen Interpretation, d. h. einer Interpre-
tation, die das ursprüngliche Rätsel der Symbole respektiert und sich von
ihm unterrichten läßt, aber eben auf Grund dieses Ansatzes, und der Verant-
wortlichkeit des autonomen Denkens bewußt, den Sinn fördert und ihn ge-
56 P.RICOEUR.
staltet. Aber wie kann das Denken zugleich gebunden und frei sein, Wie kann
man die Unmittelbarkeit des Symbols und die Vermittlungsrolle vereinen?
Gerade diesen Kampf zwischen Denken und Symbolik möchte ich jetzt
anband des musterhaften Problems des Bösen erforschen. Denn das Denken
entfaltet sich je abwechselnd als ein besinnliches Denken und als ein spekula-
tives Denken.
Das Denken als Besinnung ist wesentlich entmythologisierend. Es hat die
Neigung, den Mythos als Allegorie zu behandeln; seine Übersetzung des
Mythos bedeutet zugleich die Eliminierung nicht bloß seiner ätiologischen
Funktion, sondern seiner Eröffnungs- und seiner Entdeckungsmacht. Das be-
sinnliche Denken ist wesentlich entmythologisierend; es erklärt den Mythos
nur, indem es ihn auf eine Allegorie zurückführt. In dieser Hinsicht ist das
Problem des Bösen beispielhaft: Die Besinnung auf die Symbolik des Bösen
gipfelt in dem, was wir fortan die ethische Sicht des Bösen nennen werden.
Diese philosophierende Interpretation des Bösen ernährt sich mit dem Reich-
tum der Ursymbole und Mythen, aber sie setzt den bereits- skizzierten Ent-
mythologisierungsvorgang fort. Sie setzt einerseits die zunehmende Zurück-
führung der Befleckung und der Sünde auf die persönliche und innerliche
Schuld fort, aber andererseits kontinuiert sie das Bestreben einer Entmytho-
logisierung von allen anderen Mythen als dem actamischen Mythos; diesen
aber führt sie zurück auf eine einfache Allegorie des unfreien Willens."
Das besinnliche Denken führt seinerseits den Kampf mit dem spekulativen
Denken; dieses Denken will das retten, was die ethische Sicht des Bös.en zu'
eliminieren sucht; es will ja nicht nur retten, sondern dessen Notwendigkeit
zeigen; s.eine spezifische Gefahr ist die Gnosis.
Wir werden uns zunächst der ethischen Sicht des Bösen zuwenden; diese
Ebene muß man erreichen und bis zum Ende durchschreiten; zwar können
wir nicht auf ihr verweilen, aber wir sollen sie von innen aus übersteigen,
und dazu muß man die rein ethische Interpretation des Bösen vollkommen
durchdacht haben.
Unter ethischer Sicht des Bösen verstehe ich eine Interpretation, die das
Böse als eine Erfindung der Freiheit darstellt; und umgekehrt ist in einer
ethischen Sicht des Bösen die Freiheit in ihrem Grunde als Tun-können und
als Sein-können erkannt; die durch das Böse vorausgesetzte Freiheit ist eine
Freiheit, die zur Abirrung, zur Abschweifung, zum Umsturz und zum Irrtum
fähig ist. ·
Diese gegenseitige "Auslegung" des Bösen durch die Freiheit und der Frei-
heit durch das Böse ist der Kern der sittlichen Sicht von der Welt und vom
Bösen.
Wie verhält sich nun die sittliche Sicht von der Welt und vom Bösen zum
symbolischen und mythischen Universum? In doppelter Weise: einerseits ist
sie die radikale Entmythologisierung der dualistischen Mythen, des tragischen
und des orphischen Mythos; andererseits nimmt sie die actamische Geschichte
wieder in ein verständliches "Philosophem" auf. Die sittliche Sicht von der
Welt denkt entgegen dem Substanzhaft-Bösen und im Sinn·e des Falles des
ersten Menschen.
HERMENEUTIK DER SYMBOLE UND PHILOSOPHISCHES DENKEN 57
Als historische Exponente der ethischen Sicht des Bösen erscheinen zwei
Namen, die man gewöhnlich nicht zusammen erwähnt, deren innerliche Ver-
wandtschaft ich aber spüren lassen möchte: Augustinus und Kant; Augusti-
nus: wenigstens der heilige Augustinus in seinem Kampf gegen den Mani-
chäismus; denn wir werden in der Folge zeigen, daß der "Augustinismus"
- im bestimmten und engeren Sinne Rottmayers - diesmal nicht mehr
Mani, sondern Pelagius gegenüber, die Überwindung der sittlichen Sicht und
in gewissem Sinne die Erledigung der sittlichen Sicht von der Welt vertritt;
darauf kommen wir später zurück.
Die augustinische Interpretation des Bösen ist in dem Streit gegen Pelagius
in ihrer entmythologisierenden Fassung von der folgenden Behauptung be-
herrscht: Das Böse hat keine Natur, es ist kein Ding, es ist keine Materie,
es ist nicht Substanz, es ist nicht Welt. Die Verdünnung des Schemas der
Exteriorität ist bis zu ihrer äußersten Grenze durchgeführt worden: Das
Böse hat nicht nur kein Sein, man soll sogar die Frage quid malum?
streichen und sie durch die andere Frage unde malum faciamus? ersetzen.
Man wird also sagen müssen, das Böse sei der Substanz und der Natur nach
ein Nichts.
Dieses "Nichts", Erbschaft des platonischen Nicht-Seins und der Nichtig-
keit Plotins, aber dann entsubstanzialisiert, soll jetzt zusammengebracht wer-
den mit Begriffen, die gleichfalls von der griechischen Philosophie, allerdings
aus einer anderen Tradition herstammen, nämlich aus der Nikomachischen
Ethik. Hier ist in der Tat zum ersten Mal eine Philosophie des Freiwilligen
und Unfreiwilligen (Nik. Eth., III. Buch) entwickelt worden; bis zu einer radi-
kalen Philosophie der Freiheit geht Aristoteles jedoch nicht; er entwickelt die
Begriffe des "Vorziehens" (neoaieeatq), der überlegten 'Vahl, des vernünftigen
Wunsches, nicht aber den der Freiheit.
Es darf behauptet werden, daß der heilige Augustinus, indem er die im
Bösen enthaltene Macht des Nichts und die im Willen wirksame Freiheit
sozusagen auf unmittelbare Übertragung schaltete, die Besinnung auf die
Freiheit radikalisiert hat, und dies bis dahin, die Freiheit zu verstehen als
die ursprüngliche Macht, dem Sein "nein" zu sagen, die Macht, "machtlos zu
werden" (deficere), zur Neige zu gehen (declinare), zum Nichts hin zu neigen,
ad non esse. Indem er den Begriff des defectus als. einer negativ gerichteten
Zustimmung gestaltet, läßt er das Nichts nicht mehr als einen untätigen
Gegenpol des Seins, sondern als ein existentielles, der Bekehrung (conversio)
entgegengesetztes Gerichtetsein, als eine aversio a Deo hervortreten 1 •
Augustinus verfügt aber nicht über den Begriffsapparat, der seiner Ent-
deckung völlig Rechnung trüge; so sehen wir ihn in Contra Felicem den bösen
Willen der bösen Natur entgegensetzen; Matthäus 12, 33 kommentierend
("entweder machet den Baum gut und seine Frucht gut, oder machet den
Baum schlecht und seine Frucht schlecht") ruft er aus: Dieses "Entweder -
Oder" deutet auf sein Vermögen und nicht auf eine Natur hin (potestatem
indicat, non naturam). Damit resümiert er gewiß den Kern der christlichen
1 Contra Secundinum, § 11-12, De lib. arb. I, 16, 35; II, 19, 53-4.
58 P.RICOEUR
Philosophie des Übels in ihrem Gegensatz zur Gnosis: "Gibt es Buße, so gibt
es Schuld; gibt es Schuld, so gibt es Willen; gibt es in der Sünde Willen, so
werden wir nicht durch eine Natur genötigt." (Contra Felicem, § 8); der neo-
platonische Rahmen seines Denkens gestattete ihm aber nicht, den Gegensatz
Natur- Wille in einer einheitlichen Gesamtkonzeption zu fassen und zu
stabilisieren; dazu bedürfte es einer Philosophie des Handeins und einer
Philosophie der Kontingenz, welche besagen würde, daß das Böse als ein Er-
eignis, als ein qualitativer Sprung entsteht. Die Bewegung zum Nichts hin,
die Abneigung, der Abfall, sie bleiben unmögliche Begriffe.
Überdies ist nicht sicher, ob der zu negative Begriff des defectus oder der
declinato (welche in einer natura zur corruptio wird), der positiven Macht
des Bösen Rechnung trage; auch unterscheidet sich sogar hier das Nichts des
ad non esse schlecht vom ex nihilo des Geschöpfes, welches einfach auf dessen
Mangel eines eigenen Seins, auf seine geschöpfliehe Abhängigkeit hinweist.
Augustinus hatte nichts zur Verfügung, um seine Entdeckung zu themati-
sieren, es sei denn die Sprache der neo-platonischen Ontologie. Er hätte dazu
fortschreiten sollen, die Setzung des Bösen als einen qualitativen "Sprung",
als ein Ereignis, als einen Augenblick aufzufassen. Dann aber wäre Augusti-
nus nicht mehr Augustinus, sondern Kierkegaard.
Welche Bedeutung hat nun Kant und insbesondere seine Abhandlung
"Ober das radikale Böse" in Bezug auf die anti-manichäischen Traktate des
Augustinus? Ich schlage vor, sich zu bemühen, den einen durch den anderen
zu verstehen.
Kant hat zunächst die Spezifität der praktischen Begriffe: Wille, Willkür,
Maxime auf die Spitze getrieben und dadurch den bei Augustinus fehlenden
begrifflichen Rahmen erarbeitet. In der Grundlegung zur Metaphysik der
Sitten und in der Kritik der praktischen Vernunft ist diese Begriffsbildung
vollendet, und so gelingt es Kant, den von Augustinus im Contra Felicem
skizzierten Gegensatz: Wille- Natur zu verwirklichen. Er hat aber vor allen
Dingen die Hauptbedingung einer Konzeptualisicrung des Bösen als des
unbedingten Bösen, also den Formalismus in der Moral herausgearbeitet.
Diese Beziehung wird jedoch nicht sichtbar, wenn man "Ober das radikale
Böse" getrennt aus seinem Zusammenhang mit der "Kritik der praktischen
Vernunft" liest; durch den Formalismus nun vollendet Kant eine Bewegung,
die schon bei Plato begonnen hatte: wenn die "Ungerechtigkeit" die Figur des
radikalen Bösen sein kann, so deshalb, weil die "Gerechtigkeit" keine Tugend
unter anderen ist, sondern die Gestalt der Tugend selbst, das Einheitsprinzip,
das aus der Verschiedenheit die Einheit der Seele bildet (Der Staat, IV. Buch).
Auch Adstoteles ist in seiner Nikomachischen Ethik auf dem Wege zu
einer Formalisierung des Guten und des Bösen: die Tugenden sind sowohl
durch ihren Gegenstand als auch durch ihren formalen Charakter der Mitte
(,ueaorn~) bestimmt, also ist das Böse die Abwesenheit einer Mitte, die Ab-
weichung, das Äußerste in der Abweichung. Die platonische aöt"ia und die
aristotelische a"eaaia kündigen also als unvollkommene Formalismen die
völlige Formalisierung des Sittlichkeitsprinzips schon an. Zwar bin ich mir
HERMENEUTIK DER SYMBOLE UND PHILOSOPHISCHES DENKEN 59
bewußt, daß man nicht im ethischen Formalismus stecken bleiben kann, aber
man muß wohl zunächst diesen erreicht haben, um ihn übersteigen zu können.
Der Vorzug dies.er Formalisierung ist die Begriff3bildung der schlechten
Maxime als einer Norm, die der freie Wille für sich selbst ausgedacht hat.
Das Böse befindet sich überhaupt nicht mehr im Gefühl; die Verwechslung
des Bösen mit dem Affektiven, Triebhaften hat aufgehört; merkwürdigerweise
ist es die als die pessimistischste betrachtete Ethik, welche die Trennung
zwischen dem Bösen und der Sinnlichkeit vollzogen hat; diese Trennung ist
gerade die Frucht des Formalismus und dessen Einklammerung des Wunsches
innerhalb der Definition des guten Willens; Kant darf sagen, daß die natür-
lichen Neigungen, welche der Sinnlichkeit entspringen, nicht einmal eine un-
mittelbare Beziehung zum Bösen haben. Das Böse kann jedoch ebensowenig
in dem Umsturz der Vernunft bestehen; ein Wesen radikal außerhalb des
Gesetzes wäre nicht mehr verbrecherisch, eben weil es teuflisch wäre; das
Böse besteht in einer Beziehung, ist die Zerrüttung einer Beziehung. Das ge-
schieht, sagt Kant, wenn der Mensch das reine Motiv der Ehrfurcht den Ge-
fühlsmotiven unterordnet, wenn "er die sittliche Ordnung der Motive um-
stürzt, indem er sie in seine Maximen aufnimmt". Dergestalt bekommt das
biblische Thema der Abschweifung, das dem orphischen Thema der anhaften-
den Exteriorität gegenübersteht, in der kantianischen Idee der Zerrüttung der
Maxime sein rationales Äquivalent. Noch gerrauer gesagt: Ich sehe in Kant
die höchste philosophische Manifestation dessen, daß das höchste Böse nicht
in der groben Verfehlung einer Pflicht besteht, sondern in der Arglist, die
als Tugend ausgibt, was Verrat an ihr ist. Das Böse des Bösen ist die betrüge-
rische Rechtfertigung der Maxime durch die scheinbare Gleichförmigkeit mit
dem Gesetz; es ist das Trugbild der Sittlichkeit. Kant hat dem Problem des
Bösen zum ersten Mal, wie mir scheint, die Richtung der bösen Absicht, der
Heuchelei gegeben.
Das ist der Höhepunkt der Klarheit, welche die ethische Sicht des Bösen
erreicht hat; die Freiheit ist die Macht der Abschweifung, des Ordnungsum-
sturzes. Das Böse ist kein Etwas, sondern die Zerrüttung einer Beziehung.
Wer merkte aber nicht, daß wir im gleichen Auge.nblick, da wir das aus-
sprechen, gleichsam im Leeren triumphieren?
III
Die Verdunklung des Denkens und die Wiederkehr zum Tragischen
Was ist das, was nicht in die ethische Sicht eingegangen ist? Was hier nicht
eingegangen ist, was hier verloren ist, das ist: diese dunkle Erfahrung des
Bösen, die in der Symbolik des Bösen auf verschiedene Weisen ansetzt und
das im eigentlichen Sinne "Tragische" des Bösen darstellt.
Auf der niedrigsten Stufe der Symbolik, auf der Stufe der Ursymbole,
sahen wir, wie das Sündenbekenntnis das Böse gesteht als ein schon-da-
seiendes Böses, ein Böses, in das ich geboren werde, ein Böses, das ich unter-
halb des Aufwachens meines Gewissens in mir vorfinde, ein Böses, das nicht
in individuelle Verschuldungen und aktuelle Fehler zerlegt werden kann; es
60 P.RICOEUR
und entdeckt, der philosophischen Besinnung fremd i~>t; ich halte den Begriff
der Erbsünde also nicht für ein außer-philosophisches Thema, sondern ich
halte ihn im Gegenteil für ein Thema, das einen Gegenstand darstellt für eine
intentioneile Analyse, für die Hermeneutik der rationalen Symbole, welche
die Aufgabe hat, die verschiedenen in den Begriff niedergeschlagenen Sinnes-
schichten zu rekonstruieren.)
Was bringt diese intentioneile Analyse zum Vorschein? Dies: daß der
Begriff der Erbsünde als angeblich einsichtiger Begriff ein Scheinwissen ist,
und daß er, was seine epistemologische Struktur betrifft, den Begriffen der
Gnosis gleichzustellen ist: dem des metempirischen Sturzes nach Valentinus,
dem des Angriffes des Reiches der Finsternis nach Mani; ihrer Interpretation
nach antignostisch, ist die Erbsünde der Form nach ein quasi-gnostischer Be-
griff. Das Denken hat hier als Aufgabe, ihn als Scheinwissen zu zerbrechen,
um seine Intention zu behalten im unersetzbaren rationalen Symbol des
schon-da-seienden Bösen.
Vollziehen wir diesen doppelten Denkvorgang. Wie gesagt, soll der Begriff,
ein Scheinwissen, zerbrochen werden: denn der Augustinismus im strengen,
vorher bestimmten Sinne umschließt in einem einzigen widerspruchsvollen Be-
griff den juridischen Begriff der Zurechnung, der zurechenbaren Schuld und den
biologischen Begriff der Erblichkeit. Einerseits kann Sünde nur sein, wenn der
Fehler eine Übertretung durch den Willen ist: Das war er bei dem Menschen,
der als eine wirkliche Person des Anfanges verstanden wird; andererseits ist
notwendig, daß diese zurechenbare Schuld per generationem weitergetragen
wird, auf daß wir alle und jeder von uns "in Adam" schuldig seien. Im Ver-
lauf der Polemik mit Pelagius und den Pelagianern sieht man die Idee einer
persönlichen Schuld, welche juridisch den Tod verdient und in der Weise
eines Fehls durch Geburt vererbt wird, Form und Gestalt erhalten; Augusti-
nus' Begründung verdient Aufmerksamkeit 1 ; hierin geht es ihm ja darum, das
geheimnisvollste paulinische Thema der Verwerfung: "Ich habe Jakob ge-
Hebt, und ich habe Esau gehaßt" zu rationalisieren. Weil Gott gerecht ist,
muß die Verwerfung der Kinder im Mutterschoße gerecht sein, muß die Ver-
dammung rechtens und das Heil aus Gnade sein; daher die Idee einer Natur-
schuld, wirksam wie ein Akt und strafbar wie ein Verbrechen, obwohl ver-
erbt wie eine Krankheit.
Eine geistig widerspruchsvolle Idee nannten wir sie, insofern sie zwei ver-
schiedene Bereiche der Vernunft- den der Ethik oder des Rechtes und den
der Biologie- vermischt. Sie ist auch eine geistig anstößige Idee, insofern sie,
jenseits des Ezechiel und des Jeremia, auf die alte Idee einer Vergeltung und
Beschuldigung der Menschen insgesamt zurückgreift. Sie ist endlich eine
geistig lächerliche Idee, insofern s,ie von neuem die ewige Theodizee mit
ihrem Vorhaben, Gott zu rechtfertigen, in Gang setzt.
Und dennoch scheue ich mich nicht zu behaupten, wenn Pelagius tausend-
mal recht hat gegen den Pseudo-Begriff der Erbsünde, daß Augustinus durch
1 Der Tractatus ad Simplicianum von 397 ist in dieser Hinsicht bezeichnend, dl!nn
er kommt 14 Jahre vor der ersten antipelagianischen Schrift und enthält schon das
Wesentliche der augustinischen Beweisführung.
62 P.RICOEUR
geht" (S. 442-443, Anm.). In solcher Weise ist jeder "Naturalismus" aus der
Auffassung des "natürlichen", "angeborenen" Hanges zum Bösen entfernt
worden; es kann gesagt werden, daß er "mit der Geburt gegeben" sei, obwohl
die Geburt ihn nicht verursacht hat; er ist vielmehr "eine Seinsart der Frei-
heit, welche seiner Freiheit entstammt". Der Gedanke einer "angenom-
menen" Gewohnheit des freien Willens liefert uns dann das Symbol von der
Versöhnung der Kontingenz und der Antezedenz des Bösen 1•
Aber dann anerkennt der Philosoph hier, anders als in jeder "Gnosis", die
den Ursprung zu wissen behauptet, daß er auf das Unerforschliche und Un-
ergründliche stößt: "Der Vernunftursprung aber dieses ... Hanges zum Bösen
bleibt uns unerforschlich, weil er selbst uns zugerechnet werden muß, folglich
jener oberste Grund aller Maximen wiederum die Annehmung einer bösen
Maxime erfordern würde" (S. 477). Noch stärker: "Für uns ist also kein be-
greiflicher Grund da, woher das moralische Böse in Üns zuerst gekommen sein
könne" (S. 448). Das Unerforschliche besteht nach unserer Meinung gerade
hierin, daß das Böse, das immer durch die Freiheit anfängt, immer schon für
die Freiheit da sei, daß es Akt und Habitus sei, ein Hervorgehen und ein Vor-
hergehen. Deshalb macht Kant diese Rätsel des Bösen in der Philosophie zu
einer Trftnsposition der mythischen Gestalt der Schlange; ich glaube, die
Schlange stellt das "Immer-schon-da" des Bösen dar, das nichtsdestoweniger
Anfang, Akt, Selbstbestimmung der Freiheit ist.
Kant ergänzt also Augustinus; zunächst indem er endgültig die gnostische
Hülle des Erbsündebegriffes zerstört; zudem durch seinen Versuch einer
transzendentalen Deduktion des Grundes der schlechten Maximen; schließ-
lich indem er die Frage vom Grunde. des Grundes wieder in die Unwissenheit
untertaucht. Diese Bewegung ist dem Denken gleichsam ein Emporsteigen
und dann ein Wiederuntertauchen; ein Emporsteigen zur Klarheit des Trans-
zendentalen und dann ein Wiederuntertauchen in die Finsternis des Nicht-
Wissens. Aber vielleicht ist die Philosophie nicht nur für die Umgrenzung
ihres Wissens verantwortlich, sondern auch für die Grenzen, mit denen sie
sich vom Nicht-Wissen abgrenzt; die Grenze ist hier kein Grenzstein mehr,
sondern eine aktive und bescheidene Selbstbeschränkung: wiederholen wir
mit Kant: "Der Ursprung dieses Hanges zum Bösen bleibt uns unerforsch-
lich, weil er selbst uns zugerechnet werden muß."
An diese Stelle gekommen, sind wir berechigt zu fragen,. warum das
Denken den Reichtum der Symbolik, der das Denken unaufhörlich
unterrichtet, reduziert. Vielleicht soll man zur ursprünglichen Situation
zurückkehren: Eine Symbolik, die bloß eine Symbolik der Seele, des
Subjektes, des Ich wäre, ist von vornherein bilderstürmerisch; denn
sie bedeutet eine Spaltung zwischen der "psychischen" und den anderen
Funktionen des Symbols: einer kosmischen, nächtlichen, onirischen, dichte-
rischen Funktion; eine Symbolik der Subjektivität stellt schon den Bruch der
symbolischen Ganzheit dar. Das Symbol fängt an, aufgelöst zu werden, so-
1 ~Unter dem Hange (propensio), verstehe ich den subjektiven Grund der Möglich-
keit einer Neigung (habituellen Begierde, concupiscentia), sofern sie für die Mensch·
heit überhaupt zufällig ist." (S. 430)
64 P.RICOEUR
mit der Rückkehr zum undurchdringlichen Symbol des Falles? Ich glaube es
nicht. Denn es bleibt ja ein Hiatus zwischen unserem jeweiligen Verständnis
der wesentlichen Natur des Menschen einerseits und dem Bekenntnis der
unergründlichen Kontingenz des Bösen andererseits. Kann man die Notwen-
digkeit der Fehlbarkeit neben der Kontingenz des Bösen bestehen lassen?
Nun zeigt sich jedoch, daß wir eine Dimension der Welt der Symbole mythi-
schen Charakters außer acht gelassen haben, die nämlich, daß die Symbole
vom "Anfang" ihren vollen Sinn erst aus ihrem Verhältnis zu den Symbolen
vom "Ende" erhalten (Reinigung von der Befleckung, Sündenvergebung,
Rechtfertigung der Schuldigen). Die großen Mythen sind sogar zugleich
Mythen des Anfanges und des Endes: so z. B. das Schlachtopfer des Marduk
im babylonischen Mythos, die Versöhnung im Tragischen und durch das Tra-
gische, das Heil durch die Kenntnis der verbannten Seele und schließlich die
biblische Erlösung mit ihren Gestalten des Endes: dem König der letzten
Zeiten, dem leidenden Gottesknecht, dem Menschensohn, dem zweiten Adam
als Typ des künftigen Menschen. Merkwürdig in diesen symbolischen Vor-
stellungen ist, daß der Sinn sich vom Ende her zum Anfang hin erschließt,
von vorn nach rückwärts. Es stellt sich dann die· Frage, was diese Verknüp-
fung von Symbolen, was diese rückwärtige Bewegung des Sinnes zu denken
gibt.
Lädt sie nicht dazu ein, von der Kontingenz des Bösen zu irgendeiner
"Notwendigkeit" des Bösen zu kommen? Dies ist die höchste, aber auch die
gefährlichste Aufgabe einer durch die Symbole unterwiesenen Philosophie.
Die gefährlichste Aufgabe: sagten wir doch bereits, daß das Denken zwischen
den beiden Abgründen der Allegorie und der Gnosis weiterschreiteL Das be-
sinnliche Denken streift den ersten Abgrund, das spekulative Denken den
zweiten. Dennoch ist dies die höchste Aufgabe, denn die Bewegung, welche
im symbolischen Denken vom Anfang des Bösen zu seinem Ende geht, setzt
offenbar den Gedanken voraus, daß jenes alles letztlich einen Sinn hat, daß
sich eine bedeutungsvolle Gestalt durch die Kontingenz des Bösen hindurch
unabweislich abzeichnet, kurz, daß das Böse zu irgendeiner Gesamtheit der
Wirklichkeit gehört. Irgendeine Notwendigkeit ... Irgendeine Gesamtheit ...
Es heißt aber nicht einerlei welche Notwendigkeit, nicht einerlei welche
Gesamtheit. Die Notwendigkeitsschemata, die wir erproben können, unter-
liegen einer seltsamen Forderung: Die Notwendigkeit erscheint erst nach-
träglich, vom Ende aus betrachtet, und der Kontingenz des Bösen "zum
Trotz" ... Der Hl. Paulus scheint zu einer solchen Erforschung aufzufordern,
wenn er zwei Gestalten gegenüberstellt: den ersten Adam und. den zweiten
Adam, die Gestalt des alten Menschen und die Gestalt des künftigen Men-
schen; er begnügt sich nicht damit, sie zu vergleichen oder die eine der an-
deren entgegenzustellen ("wie das Vergehen des Einzelnen für alle Men-
schen die Verurteilung brachte, so wird auch eine gerechte Tat für alle Men-
schen zur Rechtfertigung des Lebens" (Röm. 5, 18); wie ... auch); von der
einen zur anderen gibt es Bewegung, Fortschritt, Überbietung; "wenn infolge
des Vergehens des Einen die Vielen starben, dann strömte Gottes Gnade
und das Geschenk, das in der Gnade des einen Menschen Jesus Christus be-
5 Castelli
66 P.RICOEUR
stand, noch viel mehr (:n:olA.w ~-taA.A.ov) auf die Vielen reichlich über" (5, 15):
"wo die Sünde sich mehrte, wurde die Gnade überreich" (5, 20). Dieses "noch
viel mehr", dieses "überreich" deuten auf eine hohe Aufgabe für das
Denken.
Nun wird man eingestehen müssen, daß keine gxoße Philosophie der
Gesamtheit imstande ist, von dieser Einbeziehung der Kontingenz des Bösen
in einem bedeutenden Entwurf Rechenschaft zu geben oder sie zu begründen.
Denn der Gedanke der Notwendigkeit läßt entweder die Kontingenz aus-
fallen, oder er nimmt diese so gut in sich auf, daß er den "Sprung" des sich
selbst setzenden Bösen und das "Tragische" des schon immer sich selbst
vorangehenden Bösen völlig ausschaltet.
Der erste Fall ist der der großen nicht-dialektischen Systeme, wie des
Plotin und des Spinoza zum Beispiel. Beide haben etwas von diesem Problem
erkannt, jedoch ohne ihm innerhalb des Systems Rechnung tragen zu können.
So hat Plotin bis in seine letzten Abhandlungen den Fall (la "declinaison")
der von dem eigenen Bilde in ihren Leibern faszinierten Seelen zu erklären
und sie mit der Notwendigkeit der Emanation zu vereinbaren versucht. Die
Abhandlung IV, 3, § 12-18, unternimmt es, die narzißtische Versuchung, die
aus dem Abglanz der Seele im eigenen Leib hervorgeht, auf irgendein Mit-
gerissenwerden zurückzuführen, wobei die Seele einem allgemeinen Gesetz
unterliegt: "sie scheint bewegt und getragen zu werden durch eine magische
Macht mit einer unwiderstehlichen Anziehungskraft" (ibid. § 12). Das Bös.e
kommt also nicht von uns, es ist vor uns da und beherrscht den Menschen,
ob er es will oder nicht ,xadzet ovx lx6vw~). In den letzten Abhandlungen
über die Vorsehung (:n:e6vwz) schließlich erneuert Plotin das alte Thema vom
A.6yo~, das über die Stoiker und Phiion von Heraklit herkommt, und ver-
kündet, daß die Ordnung aus der Dissonanz hervorgehe, und sogar, daß die
Ordnung der Grund der Unordnung sei (Ön nlEt~ aw~[a). So bedient sich die
Vorsehung' der Übel, die sie nicht hervorbringt; die Harmonie entsteht trotz
OJ.LW~) · des Hindernisses. Trotz des Bösen siegt das Gute.
Wer sähe aber nicht, daß die Theodizee das Niveau einer beweisführenden
und überredenden Rhetorik nie übersteigt? Es ist nicht zufällig, daß sie so
viele Beweise heranzieht, die nur umso zahlreicher sind, weil sie einzeln ge-
nommen keine Beweiskraft haben. Denn wie könnte sich das Denken zum
Standpunkt des Ganzen emporheben, und wie dürfte es behaupten: "es gibt
Ordnung, weil es Unordnung gibt"? Und. wenn es das könnte, würde es. dann
nicht das Leid der Geschichte zu einem Spaß, zum unseligen Spaß des Spieles
von Licht UQd Dunkel machen, wenn schon nicht zu einer Ästhetik des Miß-
klanges (,;Ia discordance a sa beaute ... "es soll einen Henker in der Stadt
geben, ganz recht, daß er da ist, er ist dort an seine:(ll Platz"). Darin besteht
die Unehrli<;hkeit der Theodizee: sie besiegt nicht das Böse, sondern nur des-
sen ästhetisches Gespenst. ..
Spinoza verzichtet gänzlich auf diese verdächtige Beweisführung der Theo-
dizee. In einer unqialektischen Philosophiei der Notwendigkeit, wie der
seinen, gibt es sicherlich einen Platz für die endlichen Modi, aber nicht für
das Böse, das eine Illusion ist und das aus der Unwissenheit in allem her-
HERMENEUTIK DER SYMBOLE UND PHILOSOPHISCHES DENKEN 67
vorgeht. Dennoch bleibt selbst bei Spinoza ein Rätsel übrig, nämlich das,
welches seinen Ausdruck findet im überraschenden Grundsatz des IV. Buches:
"Es gibt in der Natur kein Einzelding, das nicht von einem anderen mäch-
tigeren und stärkeren übertroffen würde. Es gibt vielmehr immer noch ein
anderes mächtigeres als das jeweils gegebene, von dem dieses vernichtet wer-
den kann." ("Die Ethik", Kröner-Ausgabe, S. 174.)
Wie in den letzten Abhandlungen Plotins ist auch bei Spinoza ein Gesetz
des Widerstreites in der Ausbreitungs- und Ausdrucksbewegung des Seins
miteinbegriffen. Dieser Widerstreit ist aber notwendig, wie die Bewegung
selbst notwendig ist. Die Kontingenz des Bösen, die durch die ethische Sicht
des Bösen erworben war, wurde hier nicht beibehalten, sondern als eine
Illusion verworfen.
Wird eine dialektische Philosophie der Notwendigkeit dem Tragischen des
Bösen gegenüber gerechter sein, wenn man es so sagen darf? Das ist nicht zu
bezweifeln. Denn eben aus jenem Grunde bedeutet eine Philosophie wie die
Hegels sowohl den größten Versuch als auch die größte Versuchung, dem
Tragischen in der Geschichte Rechnung zu tragen. Die Abstraktion, in die
sich jede Weltanschauung einschießt, ist aufgehoben worden; das Böse hat
seinen Platz erhalten, während die Geschichte der Gestalten des Geistes sich
in Bewegung setzt; das Böse ist wirklich beibehalten und überholt; der Streit
ist als Instrument der Erkenntnis vom Bewußtsein eingeschaltet worden; alles
erhält einen Sinn; man muß durch den Kampf und das unglückliche Bewußt-
sein und durch die schöne Seele und durch die kantianische Sittlichkeit und
durch den Zwiespalt des schuldigen und des urteilenden Gewissens hindurch
(Cfr. Hypp. II, 190-197).
Ist das Böse jedoch in der Phänomenologie des Geistes erkannt und inte-
griert, so ist es das in Wirklichkeit nicht als Böses, sondern als Widerspruch;
seine Spezifität ist in eine allgemeine Funktion untergegangen, von der
Kierkegaard sagte, sie sei der Meister Jakob des Hegelianismus: die Nega-
tivität. Die Negativität bedeutet gleichfalls die Inversion des. Besonderen ins
Allgemeine, den Gegensatz des Inneren und des Äußeren in der Gewalt, im
Tode, im Kampf, in der Schuld. Alle Negativitäten smd in die Negativität
aufgegangen. Auch das Hauptstück "Das Böse und seine Vergebung" der
"Phänomenologie" läßt keinen ·zweifel übrig. Die Vergebung ist schon die
Versöhnung in der absoluten Erkenntnis durch den Übergang des einen
Gegenteils in das andere, der Besonderheit in die Allgemeinheit, des ver-
urteilenden Gewissens in das urteilende und umgekehrt; die "Vergebung" ist
die Destruktion des "Urteils", welches selbst eine Kategorie des Bösen, nicht
des Heils ist; das ist sicherlich sehr paulinisch: Das Gesetz selbst ist verurteilt;
aber zugleich ist das Symbol der Sündenvergebung verloren gegangen, denn
das Böse ist ja weniger "vergeben" als wohl überholt; es verschwindet in die-
ser Vergebung. Im seihen Augenblick geht der tragische Akzent über vom
moralischen Bösen auf die Bewegung der Entfremdung, der Entäußerung des
Geistes selbst. Weil gerade die menschliche Geschichte eine Offenbarung
Gottes ist. übernimmt das Unendliche das Böse des Endlichen: "Diese lange
Geschichte von Fehltritten, die die menschliche Entwicklung darzubieten hat,
5•
68 P.RICOEUR
und die die Phänomenologie uns aufzeigt, ist ja wohl ein Sturz (so schreibt
J. Hyppolite), man soll jedoch allmählich begreifen, daß dieser Sturz einen
Teil des Absoluten ausmacht, daß er ein Moment der Gesamtwahrheit ist."
(Genese eJ structure de la Phenomenologie de I' Esprit, S. 509). Der Pantra-
gismus bildet die Kehrseite zur Auflösung der ethischen Weltanschauung; er
wird zur absoluten Erkenntnis, indem sich die Sündenvergebung in die philo-
sophische Versöhnung wandelt. Es bleibt nichts mehr übrig, weder vom
Nichtzurechtfertigenden des Bösen, noch von dem Gnadencharakter der
Versöhnung.
Wenn also die undialektische Notwendigkeit des Plotirr und des Spinoza
und die dialektische Notwendigkeit Hegels scheitern, wäre dann die Antwort
auf unser Suchen nach Verständlichkeit nicht eher in der Richtung einer
gültigen Geschichte als in einer Seinslogik zu suchen? Schließt nicht die Be-
wegung vom Sturz zur Erlösung hin, diese durchaus sinnvolle Bewegung,
jede "Logik", ob undialektisch oder dialektisch, aus? Ist es überhaupt mög-
lich, eine gültige Geschichte zu erdenken, in der die Kontingenz des Bösen
und die Initiative zur Bekehrung beibehalten und eingegliedert wären? Ist
es möglich, ein Werden des Seins zu denken, wobei das Tragische des Bösen
- des immer-schon-da-seienden Bösen - zugleich anerkannt und überwun-
den wäre?
Ich bhi nicht in der Lage, auf jene Frage antworten zu können; ich ahne
lediglich eine mögliche Richtung für die Besinnung. Abschließend möchte ich
sagen, was ich sehe. Es zeigen sich mir drei Formeln, welche drei Beziehun-
gen zwischen der Erfahrung des Bös.en und der Erfahrung einer Versöhnung
zum Ausdruck bringen. Zunächst erwartet man die Versöhnung trotz des
Bösen. Dieses "trotzdem" stellt eine echte Kategorie der Hoffnung dar: die
Kategorie des Dementis. Dafür gibt es zwar keine Beweise, wohl aber Zeichen;
die Mitte, der Einpflanzungsort dieser Kategorie ist eine Geschichte, nicht
eine Logik,- eine Eschatologie, nicht ein Sys.tem. Zweitens ist dieses "trotz-
dem" ein "dank dem"; mit dem Bösen schafft der Ursprung der Dinge Gutes.
Das letztliehe Dementi ist zugleich auch verhüllte Pädagogie: Augustinus'
etiam peccata klingt, wenn ich so sagen darf, wie eine Randbemerkung zum
"Soulier de Satin", worauf Claudel eine Litotes anwendend, erwidert: "Das
Schlimmste steht nicht immer fest"; aber es gibt keine absolute Erkenntnis,
weder die des "trotzdem" noch die des "dank dem". Und sdl.ließlich die dritte
Kategorie dieser gültigen Geschichte.: "Um wieviel mehr.~, :noÄ.Ä.q'l ,uäA.A.ov;
dieses Gesetz der Überfülle umfaßt seinerseits ·das "dank dem" und das
"trotzdem". Darin besteht das Wunder des Logos; von ihm heraus kommt
die rückwärtige Bewegung der Wahrheit; aus dem Wunder entsteht die Not-
wendigkeit, welche das Böse zurückwirkend in die Helligkeit des Seins stellt.
Das, was in der alten Theodizee nur der Ausweg des Scheinwissens. war,
wird zum Verstehen der Hoffnung; die Notwendigkeit, nach der wir suchen,
ist das höchste rationale Symbol, das sich aus diesem Verstehen der Hoffnung
ergibt.
Aus dem Fanzösischen übersetzt von Dr. Franz Theunis.
VERSTEHEN UND SPIELEN
von
Hans·Georg Gadamer
* a. a. 0. S. 199 ff.
VERSTEHEN UND SPIELEN 71
Verstehens in Wahrheit ins Prinzipielle zu wenden, sofern die Resonanz-
fähigkeit der Zeiten für einander, d. h. also der jeweiligen Gegenwart für
die aus der Ferne der Zeiten kommende Überlieferung, keine beliebige ist,
sondern eine wesenhafte wirkungsgeschichtliche Bestimmtheit zu ihrem
Grunde hat.
Die Möglichkeiten des historischen Verstehens sind nicht nur trotz aller
Methode durch zufällige Momente begrenzt. Es bedarf vielmehr nur eines
geringen Zeitenabstandes, damit sich auch an einer historischen Forschungs-
leistung der modernen Wissenschaft ihre eigene geschichtliche Gebundenheit
hervortut. Auch das Verstehen der Wissenschaft bleibt in das. Geschehen
verschlungen, in dem sich Tradition bildet und verbindlich macht. Es stellt
sich die Frage, wie eine Hermeneutik ausseheii! muß, die dieser Sachlage
Rechnung trägt und im Verstehen mehr sieht als ein methodisches Verhalten
des Bewußtseins gegenüber beliebigen Forschungsgegenständen. Es liegt
auf der Hand, daß eine Antwort auf diese Frage auch von theologischem
Interesse sein muß, sofern der Leser der Heiligen Schrift im Grunde immer
schon weiß, daß er nicht nur verstehen will, sondern will, daß ihm etwas
von Gott her geschehe.
Hier stellen sich freilich philosophische Vorurteile in den Weg, und das
Thema "Verstehen und Spielen" gewinnt seine eigentliche Schärfe in der
Abhebung gegen diese Vorurteile. Es ist das Vorurteil des historischen Ob-
jektivismus, dessen Naivität wir durch die vorangeschickte Analyse des Ver-
stehens aufdeckten, das hier vor allem in Frage steht. Es kommt nicht von
ungefähr, sondern ist mit der Idee der modernen Wissenschaft derart erig
verknüpft, daß auch die romantische Kritik an dem Rationalismus der Auf-
klärung keinen wirklichen Durchbruch in das geschichtliche Wesen des Ver-
stehens zustandebrachte; sondern nur eine irrationalistische Verschleierung
dessen, daß das historische Bewußtsein in den Geisteswissenschaften die
eigentliche Perfektion der Aufklärung darstellt. Der historische Objektivis-
mus hat eben seine tiefliegenden Wurzeln in dem philosophischen Subjekti,
vismus., der die Neuzeit beherrscht.
An solchem Objektivismus hat in unserer Zeit vor allem Husserls Begrün-
dung der Phänomenlogie in einem radikalen transzendentalen Reflexions-
streben, insbesondere der späte Husserl der Krisis-Abhandlung, eine grund-
sätzliche Kritik geübt, indem er aus der absoluten Historizität des Ego alle
objektive Geltung in konstitutiver Analyse abzuleiten forderte. Aber erst
durch die ontologische Wendung, mit der sich Heidegger gegen den Leit-
begriff des Bewußtseins und seiner' Leistungen wandte, der dem Husserl-
schen Programm zugrundelag, wurde die Geschichtlichkeit des Verstehens
in eine Fragebewegung eingeholt, die den Rahmen des philosophischen
Subjektivismus der Neuzeit und des ihm korrespondierenden Objektivismus
zu sprengen vermochte. Wenn "Sein und Zeit" das Verstehen als ein Exi-
stenzial aufwies, d. h. als eine Grundbestimmung des menschlichen Daseins,
so war damit die Hermeneutik aus ihrer sekundären wissenschaftstheoreti-
schen Funktion gelös.t und in das Zentrum einer philosophischen Fragestel-
lung gerückt worden. Noch freilich konnte es so scheinen, als wäre damit der
72 HANS-GEORG GADAMER
* Husserlfestschri!t
p. 30 Anm.
**
Daß von Heidegger her das "Spiel als Weltsymbol" hier seinen systematischen
Ort hat, wird auch aus E. Finks soeben erschienenem interessanten Buch deutlich.
VERSTEHEN UND SPIELEN
verfolge, wenn ich jetzt als Beitrag zu einem Thema der theologischen Her-
meneutik das Modell des Spielens als Leitfaden der Analyse heraushebe.
Sogleich fühlt man sich bei solcher Aufgabenstellung auf die Antike zu-
rückgewiesen. Wie immer das Verhältnis von Mythos und Logos im an-
fangenden griechischen Denken bestimmt werden mag, das Schema der
modernen Aufklärung, derzufolge der Entzauberungsprozeß der Welt vom
Mythos zum Logos führt, stellt einen falschen Modernismus dar. Nicht nur,
daß es von diesem Schema her geradezu unbegreiflich wird, wie die attische
Philosophie sich der Entzauberungstendenz der griechischen Aufklärung
entgegenzustellen und zwischen der religiösen Überlieferung und dem philo-
sophis.chen Gedanken eine säkulare Versöhnung zu stiften vermochte - es
ist ein ständig sich wandelndes Zueinander, das die Geschichte von Mythos
und Logos im frühen Griechentum zeigt. Das große Mißtrauen, das die alter-
tumswissenschaftliche Forschung gegen den Mythos als religiöses Zeugnis
zu haben pflegt (und entsprechend der Vorzug, den sie aller Kultüberliefe-
rung gibt), hat insofern etwas Berechtigtes, als die innere Wandlungsfähig-
keit des Mythos, sein· Offenstehen für immer neue Ausdeutung durch die
Dichter, die Frage, in welchem Sinne ein Mythos "geglaubt" wird, am Ende
ohne Antwort läßt. Es. ist von da kein großer Schritt mehr zu der Einsicht,
daß auch die Ausdeutung des Mythos im Logos, die die Philosophen vor-
nehmen, nichts grundsätzlich Neues ist gegenüber jenem beständigen
Schwanken zwischen Bewahrung und Erfindung, zwischen verehrender
Scheu und geistiger Freiheit, der die Geschichte des Mythos begleitet. Es
ist gut, sich daran zu erinnern, wenn man den Mythosbegriff, der dem Bult-
mannsehen Programm der Entmythologisierung zugrundeliegt, richtig ver-
stehen will. Denn so ganz anders ist das Verhältnis eines christlichen Theo-
logen zu der biblischen Überlieferung im Grunde nicht, wie das des Griechen
zu seinen Mythen. Was Bultmann mit dem Begriff der Entmythologisierung
fast zufällig und beiläufig formulierte, enthielt in Wahrheit die Summe
seiner gesamten Theologie. Der Schüler der liberalen historischen Forschung
suchte in der biblischen Überlieferung das, was aller historischen Aufklärung
widerstand, weil es die Verkündigung, das Kerygma, den eigentlichen Anruf
des Glaubens trägt. Es ist dieses positive dogmatische Interesse-:- und nicht
das einer fortschreitenden Aufklärung - , das die Begriffsbildung Bultmanns
bestimmt. Sein Begriff des Mythos. ist also ein bloßer Gegenbegriff. Ihm
haftet grundsätzliche Okkasionalität an, und wenn es auch eine entschei-
dende theologische Frage ist, wo jeweils im theologischen Verständnis des
Neuen Testamentes "entmythologisiert" werden soll, so ist dies doch selbst
ein rein exegetisches Problem und nicht eine Frage des hermeneutischen Prin-
zips. Dieses sagt vielmehr eindeutig, daß man nicht etwa einen bestimmten
Begriff des Mythos bei der exegetischen Entscheidung zugrundezulegen hat,
von dem her sich bestimmt, was man als moderner Mensch, der die Zerstö-
rung des Mythos durch die Wissenschaft miterlitten hat, glauben kann oder
nicht, sondern umgekehrt, daß man ein Selbstverständnis des Glaubens im
Vernehmen des Kerygma zugrundezulegen hat, von dem her sich bestimmt,
was nur mehr "Mythos" ist. Mir scheint hier eine formale Analogie zu
74 HANS-GEORG GADAMER
Spinozas Bibelkritik zu beobachten. Auch dort ist es so, daß sich von dem
in der Bibel Verstandenen her der Bereich dessen begrenzt, das als. unver-
ständlich der umwegigen historischen Erklärung überantwortet wird. Was dort
als wahr bewahrt wird, bestimmt sich freilich nicht als Offenbarung, sondern
als VernunftwahrheiL Aber auch dort ist die Kritik die bloße negative Folge
eines positiven religiösen Prinzips. Die große Freiheit, die der griechische
Dichter der mythischen Überlieferung seines. Volkes gegenüber hatte, hat
ebenso einen religiösen Grund, dem er seine Legitimität und das Recht zur
Kritik verdankt. Das sehen wir vielleicht am deutlichsten bei Pindar. Man
wird von da aus zu einer neuen Überdenkung des Verhältnisses genötigt,
in dem Glauben und Verstehen zu einander sich verhalten. Dazu soll der
Begriff des Spielens dienen.
Das mag überraschend sein, daß derart der Glaubensernst mit der Unver-
bindlichkeit des Spielens konfrontiert wird, und in der Tat würde der Sinn
dieser Konfrontation verfehlt, wenn man das Spielen als. ein subjektives
Verhalten verstünde und nicht vielmehr als ein Bewegungsganzes sui generis,
das die Subjektivität der Spielenden nur in sich einbezieht. Ein solcher Sinn
von Spielen ist aber, wie ich in meinem Buch gezeigt habe*, sowohl von der
Herkunft des Wortes her als auch im Hinblick auf das Verhältnis von Glau-
ben und Verstehen durchaus legitim. Das Hin und Her einer Bewegung, die
in den Grenzen ihres Spielraums spielt, is.t so wenig von dem Menschenspiel
als einem spielenden Verhalten der Subjektivität her übertragen, daß viel-
mehr umgekehrt auch für die menschliche Subjektivität die Erfahrung des
Spielens dadurch bestimmt wird, daß es wie von selber geht, daß jede aus-
gehende Bewegung gleichsam zurückkommt und sich im Hin und Her einer
schönen Freiheit und Leichtigkeit dem spielenden Bewußtsein darstellt. ·
Das Primäre ist also das Zueinander der ins. Spiel Gebrachten oder im Spiele
Seienden. Für den einzelnen, der so ins Spiel eintritt, mag das wie eine An-
passung an das Gegenüber erfahren werden, so wie etwa zwei eine Baum-
säge bedienende Männer in wechselseitiger Anpassung das freie Spiel der Säge
sich ausschwingen lassen. Man kann dann etwa sagen, daß man sich mitein-
ander erst einspielen muß. Aber was sich da einspielt, ist· im Grunde nicht
das subjektive Verhalten der beiden Gegenüber, sondern die Bewegungs-
gestalt selbst, die wie in einer unbewußten Teleologie das Verhalten der
einzelnen sich einordnet. Wir verdanken dem Neurologen Viktor von Weiz-
säcker die experimentelle Erforschung dieser Phänomene, die er unter dem
Titel "Der Gestaltkreis" analysiert hat. So hat er z. B. erwiesen, daß das
gebannte Gegenüber eines Ichneumon und einer Schlange, die einander in
Schach halten, nicht ein Reagieren des einen Tiers auf die Angriffsbewegung
des anderen ist, sondern das Wechselverhältnis einer völligen Gleichzeitig-
keit, d. h. aber die Einheit eines Bewegungsganzen.
Von da aus läßt sich nun das Verhältnis von Glauben und Verstehen in
einem anderen Lichte sehen, als wie es sich vom Selbstverständnis des Glau-
bens aus zunächst darstellen will. Zwar sagt uns der Theologe, daß das Glau-
Gespräch anzuerkennen. Das ist mit dem Ernst echter Verständigung sehr
wohl vereinbar. Denn es meint nicht das spezifische Verhalten derer, die mit-
einander reden, nicht ein unverbindliches Sichzurückbehalten, das nur den
Schein einer Meinungsäußerung erzeugt. Gerade mit einem spielerischen
Menschen kann man kein Gespräch führen, weil der, d.er sich derart zurück-
behält, weil er verspielt ist, sich selber und seine Meinungen eben nicht aufs
Spiel setzt. Wer aber keinen Einsatz leistet, kann auch nicht gewinnen. Nur
wer sich ausspielt, kann mit dem anderen zu jener Verständigung gelangen,
die ein gutes Gespräch zu gewähren vermag.
Gespräch aber ist am Ende auch aller Umgang mit Texten. Denn solange
Texte stumm bleiben, hat die Verständigung des Verstehens noch gar nicht
begonnen. Aber sie können zu reden beginnen, und dann sagen auch Texte
nicht in statuarischer Gelassenheit ihr eines und selbes Wort, sondern geben
dem, der sie fragt, immer neue Antwort und stellen dem, dem sie antworten,
immer neue Fragen. Das Verstehen von Texten ist wirklich ein Gespräch.
Das zeigt sich nich~ zuletzt daran, daß sich im Prozeß des eigenen Ver-
stehens von Texten die Sprache erst ausbildet, in der das Verständnis mir
zu eigen wird. Alle Auslegung von Texten, die nicht dahin gelangt, den frem-
den Text - und fremd ist auch der Text, der nicht in fremder Sprache ge-
schrieben ist- neu zur Sprache zu bringen, d. h. in eigenen Worten zu voll-
ziehen, die nicht meine eigenen, sondern die mir etwas sagenden sind, bleibt
auf halbem Wege liegen. Immer bedarf es zur Aneignung des Umsetzens des
Verstehens in Ausdrücklichkeit. Die Predigt ist das große Beispiel einer sol-
chen verstehenden Auslegung eines Textes. Sie, und· nicht der Kommentar
oder die exegetische Arbeit des Theologen als solche, vollendet jeweils das
Lesen und Verstehen des Textes. Oder besser: sie dient dieser Vollendung,
gibt zu verstehen, was der heilige Text sagt. Die wahre Vollendung des Ver-
stehens liegt nicht in der Predigt als solcher, sondern in der recht gehörten
Predigt.
Die Exemplifizierung mit der Predigt soll aber nicht unklar machen, daß
es sich hier nur um den Sonderfall eines allgemeinen hermeneutischen Verhält-
nisses handelt. Weder der Mythos, sofern er sich sprachlich aussagt, also im
Griechischen vor allem die große Dichtung, noch das Evangelium haben
darin eine Sonderstellung. "Entmythologisierung" des Neuen Testamentes
ist insofern wirklich nur ein deskriptiver Begriff, der das hermeneutische
Grundverhältnis in seiner besonderen Anwendung auf die Heilige Schrift
charakterisiert. Alles Verstehen, nicht nur das Verstehen und Hören des
Wortes Gottes, ist ein Geschehen, das zwar Bemühung methodischen Vor-
gehens und kritischer Selbstkontrolle einschließt, aber dennoch all das weit
hinter sich läßt. Was uns im Verstehen geschieht, ermessen wir nie .ganz.
Das Wort, das uns trifft, hat uns schon immer übertroffen. "Über uns hin-
über. spielt dami der Engel" (Rilke ).
DIE BEDEUTUNG DES ANWENDUNGSBEREICHES
DER EXISTENTIALEN INTERPRETATION INNERHALB
DER THEOLOGIE *
Hans W erner Bartsch
I.
Existential nennen wir eine Interpretation, die durch die Frage nach dem
im Text sich kundgebenden Verstehen der eigenen Existenz zum Verstehen
des Textes gelangen will. Dieses Selbstverständnis des Autors, - und dessen
Verstehen faßt die existentiale Interpretation ins Auge, - ist "die Art und
Weise, ,in welcher ein Mensch (der Autor) das Sein austrägt" t, ist das Exi-
stential, von dem die Interpretation ihren Namen hat. Mit dem Wort Selbst-
verständnis ist "ein Urteil (gemeint), das der Mensch über sich selbst fällt
oder erwartet" 2 • Wir können jedoch nicht sagen, daß das Verstehen ein Exi-
stential ist wie Sorge und Angst, vielmehr kommt in der Sorge, Angst, Freude
oder Geborgenheit das Urteil über sich selbst zum Ausdruck, das Verstehen
der eigenen Existenz. Es wäre darum besser zu formulieren: Selbstverständ-
nis ist der gleiche Begriff wie Existential, ein Synonym dieses Begriffes.
Diese Interpretation wandte Rudolf Bultmann zuerst für das Neue Testa-
ment an. Er legte diese Interpretation in seinem Aufsatz "Neues Testament
llnd Mythologie" 1941 als Vollzug einer Entmythologisierung des Neuen
Testamentes vor und löste die bis heute nicht beendete Debatte über das her-
meneutische Problem aus. Praktisch angewandt wird diese Interpretation un-
reflektiert weithin auch da, wo man das Programm Bultmanns ablehnt, wo
man sich aber um eine existentielle Interpretation müht, d. h. um eine Inter-
pretation, die auf die gegenwärtige Existenz des Hörers bezogen ist.
Soweit durch diese Interpretation eine Entmythologisierung der neutesta-
mentlichen Texte erreicht werden soll, hat sie als ihren Gegenstand das Zeug-
ms der neutestamentlichen Autoren im weitesten Sinn dieses Wortes, sowohl
die Berichte und Predigten der ersten Zeugen wie die Aussagen der Evange-
listen und die Briefe der Apostel und deren Nachfolger. Sie benutzt dabei die
Ergebnisse der historisch kritischen wie der literatkritischen Forschung, da
es für sie wesentlich ist, den Autor der Aussage, die es zu interpretieren
* Zu den Aufsätzen von Ernst Fuchs in den beiden Bänden "Zum hermeneutischen
Problem in der Theologie", Tübingen 1959, 365 Seiten (zitiert als I) und "Zur Frag'<)
nach dem historischen Jesus", Tübingen 1960 458 Seiten (zitiert als II).
1 I, S. 92.
2 I, S. 76.
78 H. W. BARTSCH
gilt, zu kennen wie auch die Adressaten, die er anredet und die Umstände,
unter denen und auf die bezogen die Aussage getan wurde. Das in der Aus-
sage sich bezeugende Verstehen der eigenen Existenz läßt sich umso besser
erheben, je besser ich den Autor sowie die Bedingungen seines Lebens und
das Interesse seiner Aussage kenne.
Welche Bedeutung die Ergebnisse der Forschung fiir diese Interpretation
haben, wird etwa deutlich an dem Unterschied der Interpretation der Pasto-
ralbriefe, je nach dem sie als ech~e Paulusbriefe oder als pseudonyme Schrei-
ben ausgelegt werden. Sehe ich in diesen Schreiben echte Paulusbriefe, so
fällt mir nicht nur die Aufgabe zu, sie im Leben des Apostels zu fixieren und
die in den Briefen vorausgesetzten und ausgesprochenen Umstände wahr-
scheinlich erscheinen zu lassen, es fällt mir die schwierigere Aufgabe zu, das
Verstehen der Existenz des Schreibers als das in detl echten Paulusbriefen
bezeugte, durch die Gnade Jesu Christi bestimmte Selbstverständnis ver-
ständlich zu machen. Und hier wird es am deutlichsten sichtbar, daß in den
Pastoralbriefen ein anderer Paulus spricht als in den großen Briefen.
1. Timotheus 1, 13 gibt der Verfasser als Grund für die ihm widerfahrene
Gnade an: on ayvowv lno[fja EV amar:tq,. Nun kann Paulus zwar den Un~
glauben der Heiden 1. Thessalonicher 4, 5 mit ihrem Unwissen entschuldigen.
Lukas läßt Paulus entsprechend auf dem Areopag Acta 17, 23. 30 argumen-
tieren. Soweit Paulus aber von der Zeit seines Unglaubens spricht, tut er es
niemals in dem Sinne einer Entschuldigung mit seinem Mangel an Wissen
sondern stets mit dem Ziel, die Größe der Gnade, die ihm widerfahren ist,
durch eine Betonung des Kontrastes zu unterstreichen, 1. Korinther 15, 10 3 •
In der Aussage des echten Paulus drückt sich ein Selbstverständnis aus, das
sich in ausschließlicher Abhängigkeit von der Gnade Gottes weiß unter eben-
so vollständiger Verurteilung des gesamten eigenen Tuns. Gerade dieses
Verstehen der eigenen Existenz läßt ihn aber für die Heiden die Entschuldi-
gung suchen. Der Pseudopaulus praktiziert nunmehr das gleiche Verständnis
in seinem Schreiben. Weil Paulus für ihn aber nicht nur der verehrte Apostel
ist, von dem er sagt, daß ihm die Ehrenkrone beigelegt ist (2. Timotheus 4, 7 f.),
sondern vor allem ein anderer, dem gegenüber er das Gleiche zu praktizieren
hat, was Paulus anderen gegenüber praktizierte, nämlich die aus dem eigenen
Selbstverständnis erwachsene Demut, führt er für Paulus die vorherige Un-
wissenheit als Entschuldigungsgrund für den Unglauben an. Es ergibt sich
daraus die paradoxe Folgerung, daß diese Aussagen d~r Pastoralbriefe durch-
aus das gleiche Selbstverständnis bezeugen wie die echten Paulusbriefe, wenn
man sie als unechte Paulusbriefe versteht, daß sie dagegen ein von dem
Selbstverständnis der echten Paulusbriefe entscheidend differierendes Selbst-
verständnis bezeugen, wenn man sie als echte Briefe wrstehen will. Es würde
uns dann nämlich ein Paulus begegnen, der nun trotz aller Betonung der
Gnade dennoch in dem eigenen Unwissen einen Entschuldigungsgrund sieht
und diesen in Anspruch nimmt, sein Leben also nicht ausschließlich in Ab-
3 vgl. die weiteren Belege im Kommentar des Handbuches zum NT 3. Auflage von
Dibelius/Conzelmann zur Stelle.
DIE BEDEUTUNG DES ANWENDUNGSBEREICHES usw. 79
stellt sich aber die Frage nach dem Bereich, auf den diese Interpretations-
methode anwendbar ist.
II.
Die zehn Gebote als Offenbarung Gottes lass.en sich nicht existential inter-
pretieren, will man nicht von dem Selbstverständnis Gottes reden. Auch das
ist geschehen und erscheint durchaus sinnvoll, soweit die Theologie an der
Entwicklung einer Metaphysik interessiert ist. Dann ist jedoch Gott zumin-
dest für den diese Metaphysik entwickelnden Theologen ein beschaubares
und damit verfügbares Objekt der Beschreibung. Soweit ich die zehn Gebote
als Anrede höre, die mich zum Gehorsam ruft, verstehe ich sie dagegen als
das Angebot eines Selbstverständnisses unter der Herrschaft Gottes. So ist
es sinnvoll, die Bezeugung der zehn Gebote Exodus 10 auf das sich in dieser
Bezeugung manifestierende Selbstverständnis des Volkes Israel hin zu inter-
pretieren, und das wäre existentiale Interpretation des Alten Testamentes.
Nun ist es die Frage, was dies für die existentiale Interpretation-des Neuen
Testamentes bedeutet. Anders ausgedrückt ist es die Frage nach der Bedeu-
tung des historischen Jesus bei der existentialen Interpretation des Neuen
Testamentes, die sich uns mit der Frage nach dem Bereich der Anwendbar-
keit der existentialen Interpretation stellt. Man hat sich m. E. voreilig darum
bemüht, zu betonen, daß die existentiale Interpretation keineswegs eine Ab-
wertung der Bedeutung des historischen Jesus impliziert, obwohl es seh~ be-
stimmte Aussagen Bultmanns gibt, die zumindest einen Mangel an Interesse
an der Darstellung eines sogenannten historischen J esus bekunden. Für den
speziellen Komplex des Os.terglaubens, in dem allerdings als in seinem Kern
der christliche Glaube fixiert ist, schreibt Bultmann 5 : "Der christliche Oster-
glaube ist an der historischen Frage nicht interessiert; für ihn bedeutet das
historische Ereignis der Entstehung des Osterglaubens wie für die ersten
Jünger die Selbstbekundung des Auferstandenen, die Tat Gottes, in der sich
das Heilsgeschehen des Kreuzes vollendet." Hier sagt Bultmann nicht nur,
daß er an der historischen Frage kein theologisches Interesse nimmt, er sagt
zugleich, worauf sich das theologische Interesse legitim richtet, auf die Frage
nach der Entstehung des Glaubens. Soweit die Forschung daran geht, die
Entstehung des Glaubens zu untersuchen, gehen das historische Interesse und
das Interesse des Glaubens parallel. So wäre das Interesse an dem sogenann·
ten historischen Jesus nur dann theologisch legitim, soweit es auch dabei um
die Entstehung des Glaubens geht. Ist Jesus als der Christus, als der Auf-
erstandene die Offenbarung Gottes, so kann ich ihm nur als der an mich er-
gehenden Anrede Gottes begegnen, aber nicht als verfügbarem Gegenstand
meiner Untersuchung. Das Desinteresse an dem sogenannten historischen
Jesus sollte als zur existentialen Interpretation des Neuen Testamentes ge-
hörig angesichts einer Reihe fragwürdiger Bemühungen eines restaurierten
Historismus in der evangelischen Theologie festgestellt werden.
Jedoch nicht nur theologisch ist dieses Desinteresse begründet, es hat einen
ebenso entscheidenden Grund in dem von der historischen Forschung zu er-
hebenden Tatbestand. Es gibt keine Überlieferung von J esus, die etwas an-
deres wäre als ein Zeugnis von seinem Herr-Sein. Die gesamte neutestament-
liche Überlieferung ist getragen und bestimmt von dem urchristlichen Be-
kenntnis: Gott ist Jesus (Römer 10, 9; Kolosser 1, 15) Diese Bindung an das
urchristliche Bekenntnis ist so eng, daß auch die kritische Unterscheidung
zwischen beiden mit dem Ziel der Eruierung einer noch nicht von diesem
Glauben bestimmten Überlieferung unmöglich ist. Wenn Fuchs aus Römer
1, 3 f schließt, "daß es eine unmessianische oder besser vorapostolische, pro-
phetische Tradition über Jesus gab, die erst mit der Verkündigung seiner Er-
höhung den Glauben an ihn als an das Heilsgeschehen verband" 6, so ist auf
jeden Fall in Frage zu stellen, daß diese Tradition für uns heute noch erkenn-
bar ist. Die- frühe Christenheit bezeugt uns zwar eindeutig, daß ihr jetziges
Verständnis der Person Jesu erst durch die Erscheinungen des Auferstan-
denen entstanden ist, sie bezeugt uns damit einen Wechsel des Verständnisses
der Person J esu. Die Gemeinde bezeugt, was sie von J esus vor den Erschei-
nungen des Auferstandenen hielt in den Worten der Ernmausjünger Lukas
24, 20 f. Aber selbst dieses Zeugnis, das als Sündenbekenntnis, nämlich Be-
kenntnis des eigenen Unglaubens zu verstehen ist, ist recht nur von der Be-
gegnung mit dem Auferstandenen bzw. von der Verkündigung der Erhöhung
Christi her zu verstehen. Uns bleibt also eine Überlieferung über Jesus, wie
sie Fuchs annimmt, verschlossen, einerlei, ob wir annehmen, daß es sie ge-
geben hat, oder nicht. Es kann selbstverständlich angenommen werden, daß
es eine vorapostolische Überlieferung über Jesus gegeben hat, so wie es eine
Tradition über den Täufer wie über andere Messiasprätendenten gegeben
hat, von denen wir nichts mehr wissen. Aber wir können nicht einmal fest-
stellen, ob diese vorapostolische Tradition über Jesus, wenn es sie gegeben
hat, unmessianisch war; denn Lukas 24, 20 stellt dies um des Gegensatzes
zu der die Gemeinde jetzt erfüllenden Hoffnung willen in diesem Sinne dar,
kanri darum nicht als Beweis dienen.
Es geht damit letztlich um die Einschätzung der Bedeutung der: Auf-
erstehung. Liegt der Ursprung des Glaubens hier, oder ist er im Leben Jesu
zu suchen? Von Martin Kähler 7 her sehen wir in der Auferstehung den Ur-
sprung des christlichen Glaubens, bzw. die Selbstbekundungen des Auferstan-
denen sind der Ursprung des Osterglaubens der Jünger und von daher der
urchristlichen Verkündigung. Demgegenüber mißt Fuchs dem Osterglauben
keineswegs diese entscheidende Bedeutung beL In einer Auslegung von
1. Korinther 15 sagt er: "V. 4 und 5 zeigen, daß Tod und Auferstehung Christi
offenbar in einem früheren, wohl mit dem ältesten Glauben der Urgemeinde
no'ch fast identischen Stadium der Formelbildung so ausgelegt wurden, daß
nicht auf dem Zweck des Todes Christi, sondern auf seiner Auferstehung
8 I, S. 141.
7 Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche biblische Christus. L Aufl.
1892, neu herausgegeben von Ernst Wolf, München 1953.
8 I, S. 202.
6 Castelli
82 H. W. BARTSCH
von den Toten der Ton lag; vgl. etwa Röm. 8, 34 mit Röm. 1, 4. Diese ältere
Formulierung dürfte den Sinn gehabt haben, das Ereignis der Auferstehung
der Toten, als Gottes Gericht bzw. den Tag des Herrn und damit die Gottes-
herrschaft als in Jesu Auferstehung nahe herbeigekommen anzuzeigen." b
Zu dieser Analyse der ältesten Auferstehungsperikope, die durchaus richtig
erscheint, sagt Fuchs in einer Anmerkung: "Ich halte das für eine Umbiegung
der Verkündigung und des Glaubens Jesu ins Apokalyptische, für einen
schmählichen Rückfall ehemaliger Johannesjünger, zumal des Sirnon Jona's
Sohn." Der unentwegte Verfechter der existentialen Interpretation unterläßt
es hier aber, dieses Zeugnis der Urchristenheit- und sei es ein schmählicher
Rückfall des Sirnon- existential zu interpretieren, um durch die so interpre-
tierte urchristliche Verkündigung das Zeugnis der Urchristenheit von dem
Grund und Ursprung ihres Glaubens zu erheben. Er rekurriert vielmehr auf
die Verkündigung Jesu, die nicht apokalyptisch war und auf den Glauben
Jesu.
III.
Damit sind wir bei der entscheidenden Frage nach dem Bereich von Aus-
sagen, der für die existentiale Interpretation innerhalb der evangelischen
Theologie anzunehmen ist. Fuchs bezieht in diesen Bereich von Aussagen
das ein, was er die Verkündigung Jesu nennt. Er meint damit einen Komplex
von Aussagen, die als Aussagen des historischen Jesu gelten dürfen. Nun ist
es ganz gewiß trotz der Vorbehalte, die wir betont haben, legitim, sich ein
Bild von dem zu machen, was Verkündigung Jesu genannt werden darf. Aber
es ist nicht nur theologisch illegitim, sondern ist wissenschaftlich eine Illu-
sion, diese Verkündigung Jesu unabhängig vom Glaubenszeugnis der Ur-
christenheit in den Griff bekommen zu wollen, wie f'uchs dies in der Aus-
legung der Auferstehungsperikope unternimmt. Aber auch das Reden von dem
Glauben Jesu, der Theologie Jesu, Jesu Zeitverständnis u. ä. ist gerade in der
Häufung dieser Begriffe zumindest verdächtig. Fuchs kann so nur reden, weil
er Glaube, Verkündigung und Theologie Jesu meint eindeutig und unabhängig
vom Glaubenszeugnis der Urchristenheit erheben zu können, und er meint
darum gar, diesen Glauben usw. Jesu im Gegensatz zur Theologie der Ur-
christenheit darstellen zu können: "So wurde gleich die Verkündigung Jesu
für das Neue Testament nur indirekt zum theologischen Problem, weil das
Neue Testament die Theologie Jesu nicht mehr weiterdenken konnte. Das
Neue Testament konnte die Theologie Jesu nur noch verändern, und das hat
es auch reichl~ch getan." 9 · . ·
Wir ~ragen jetzt nicht nach dem Recht und der Möglichkeit dieser Aus-
sage, wir fragen vielmehr nach der Bedeutung und. den Konsequenzen dieser
Aussage. Zunächst ist damit sowohl Jesu Theologie ·Und Verkündigung wie
die Verkündigung und Theologie der Urchristenheit als etwas Verfügbares
verstanden.- Fuchs beurteilt ja das Verfahren der neutestamentlichen Zeugen
mit Jesu Theologie als ein Verfügen über diese Theologie. Jesu Theologie
gerät für Fuchs in eine seltsame Parallelität zu der Theologie des Jesaja
D I, s. 139.
DIE BEDEUTUNG DES ANWENDUNGSBEREICHES usw. 83
einerseits und des Paulus andrerseits. Fuchs selbst kommt dadurch in eine
seltsame Bundesgenossenschaft mit seinem bisher schärfsten Kontrahenten
Ethelbert Stauffer. Im Grunde ist die Fragestellung Fuchs' keine andere als
die Stauffe.rs: "Ist die Christusbotschaft der Urkirche eine Bezeugung oder
Verfälschung Jesu von Nazareth, seiner Gestalt, Geschichte und Bot-
schaft?" 10 Wie Fuchs die urchristliche Botschaft als einen schmählichen
Rückfall ehemaliger Johannes.jünger abwertet, wertet Stauffer sie als Ver-
fälschung des Heidenapostels Paulus ab. Neben Stauffer tritt dann noch
E. Barnikol, der mit unerschütterter Intensität sich darum müht, den histori-
schen Jesus von der Verfälschung durch den Messias-Dogmatiker Markus zu
reinigen 11 • Mit anderen Worten: Fuchs proklamiert eine Rückkehr zur alten
Aufgabe der Leben-Jesu-Forschung, wie s.ie im 19. Jahrhundert gesehen
wurde: "So bleibt uns nichts anderes übrig, als daß wir uns selbst auch ein
Bild von dem machen, was man im 19. Jahrhundert das Leben Jesu
nannte." 12 Fuchs unterscheidet sich von den modernen Propagandisten des
Lebens Jesu lediglich durch die Anwendung der existentialen Interpretation
und die Benutzung der formgeschichtlichen Methode. Aber bedeutet das
wirklich noch einen Unterschied? Ist es etwas anderes, ob ich vom Selbstbe-
wußtsein usw. Jesu rede, oder ob ich von Jesu Selbstverständnis, Glauben,
Gotteserkenntnis, Theologie usw. rede? Auf jeden Fall ist es kein grund-
sätzlicher Unterschied. Vielmehr unterscheiden sich Fuchs, Stauffer und
Barnikol von der an Martin Kähler anknüpfenden Theologie, wie wir sie
auch in Bultmanns Theologie des NT vertreten finden, dadurch, daß Fuchs
den urchristlichen Glauben bei dem historischen Jesus einsetzen läßt, wäh-
rend wir im Gefolge von Martin Kähler und Rudolf Bultmann meinen, daß
der Glaube als Osterglaube begonnen hat und darum bei den Erscheinungen
des Auferstandenen einsetzt. Es ist nach Fuchs nicht der Auferstandene, der
den Hingern den Glauben geschenkt hat. "Weil er (Jesus) für sie (die Jünger~
an die Stelle Gottes trat, um sie an die Gottesherrschaft zu weisen," formu-
liert Fuchs in einer ausführlichen Kritik des Jesus-Buches von Günther Born-
kamm, "deshalb konnten sie an s e in e m S c h i c k s a. I d i e G 1 a u b e n s -
probe er f a h 1 e n, die er ihnen mit seiner Weisung in die Nachfolge auf-
erlegt hatte. S e i n e H i n r i c h t u n g z w a n g d i e J ü n g e r z u r S t e I -
1 u n g n a h m e g e g e n ü b e r s e i n e r P e r s o n. Sie glaubten nun an
ihn, weil sie, .gewiß mit Hilfe der Osterereignisse, sein Kreuz als Gottes Ge-
richt über die Verfolger und ihre Welt und Jesu Ruf als den Ruf der Zukunft
selbst auffaßten 13 • Von daher wird verständlich, was Fuchs meinte, wenn er
von Jesus als dem Grund und Vorbild der Hoffnung 14, oder als. dem Urbild
der Zukunft 15 sprach.
· 1o Theologische Lit. Ztg. 1959, Spalte 644, dazu jetzt neuerdings E. Staliffers Ant-
wort auf einen offenen Brief seiner Erlanger Kollegen P. Althaus, W. Künneth und
.w. Joest, Ev. Luth. Kirchenzeitung 14/1960, S. 263-265, und das Buch: Die Botschaft
Jesu, damals und heute, Bern 1959.
u Ernst Barnikol: Das Leben Jesu der Heilsgeschichte, Halle 1959 besonders S. 290 ff.
12 II, S. 37.
1s II, S. 216 (Sperrungen von mir).
14 I, S. 86.
s•
84 H. W. BARTSCH
So kann Fuchs nur reden, weil er J esus existential interpretiert, und mit dem
Recht der Anwendung der existentialen Interpretation auf Jesus steht und
fällt die von Fuchs vertretene Theologie. Einerseits wird die Anwendung
auf J esus stets unter der Kritik stehen, daß es unmöglich ist, ein derart
exaktes Bild von Jesu Theologie und Verkündigung zu gewinnen, daß eine
existentiale Interpretation sich darauf begründen könnte. Und es sei in
diesem Zusammenhang betont, daß die existentiale Interpretation eines
Wortes Jesus etwas ganz Anderes ergibt, wenn ich es als ips.issimum verbum
Jesu nehme, als wenn ich seine Überlieferung als Wort Jesu durch die ur-
christliche Gemeinde existential interpretiere. Wir hatten Entsprechendes
für die als pseudopaulinisch geltenden Pastoralbriefe festgestellt. Ist beides
aber in seinem Ergebnis unterschiedlich, so ist die Interpretation, die ein
Wort Jesu auf das in dieser Überlieferung des Wortes als Jesuswort sich aus-
sprechende Selbstverständnis der Gemeinde hin interpretiert, dem urchrist-
lichen Zeugnis konform. Der Interpret versteht das J esuswort in dies.em Fall
in der Nachfolge der ersten Gemeinde. Es erscheint darum eine derartige
existentiale Interpretion des urchristlichen Zeugnisses als dem christlichen
Glauben angemessen. Die existentiale Interpretation Jesu dagegen befindet
sich in bewußter und betonter Distanz zu dem urchristlichen Zeugnis, _er-
scheint als betont nichtchristliche Interpretation. Dies wird vollends deut-
lich, wenn eine solche existentiale Interpretation J esu zur existentiellen Ver-
kündigung ausgezogen wird. Wie die Jünger durch Jesu Hinrichtung zur Stel-
lungnahme gegenüber seiner Person gezwungen wurden, wird dann der heu-
tige Hörer zur Stellungnahme gezwungen, zur Entscheidung gerufen. Er ist
gefragt, ob er die Entscheidung Jesu nachvollziehen, den Glauben Jesu als
den eigenen übernehmen will. In der existentiellen Verkündigung wird es
vollends deutlich, daß J esus lediglich als Vorbild und Urbild verstanden ist.
Damit ist aber ein christliches Seinsverständnis ohne Christus die letzte
Konsequenz der Anwendung der existentialen Interpretation auf den histo-
rischen Jesus. Was Bultmann in seinem berühmten Aufsatz zurückweist, er-
scheint bei Fuchs als notwendige Konsequenz, "daß im Neuen Testament nur
ein Seinsverständnis erstmalig entdeckt und mehr oder weniger klar aus-
gesprochen ist" 16, nämlich in Jesus, in seinem Glauben vorbildlich und ur-
bildlich begegnet. Und an Fuchs ist die gleiche Frage zu richten, die Bultmann
an die Philosophie richtet: "ob die Natur des Menschen verwirklicht werden
kann, d. h. ob der Mensch dadurch, daß ihm gezeigt wird (bzw. er sich darauf
besinnt), was seine Natur eigentlich ist, schon zu sich selbst gebracht wird" 17 •
Bultmann beantwortet die Frage damit, daß das Neue Testament behauptet,
"daß sich der Mensch von seiner faktischen Weltverfallenheit gar nicht frei-
machen kann, sondern durch eine Tat Gottes freigemacht wird." 18 Diese Tat
Gottes ist aber das Heilsgeschehen, das Christusgeschehen, sind die Selbstbe-
kundungen des Auferstandenen, ist die Weckung des Osterglaubens. Auch
11 I, S. 86.
18 Kerygma und Mythos 14 S. 32.
17 a. a. 0. S. 35.
DIE BEDEUTUNG DES ANWENDUNGSBEREICHES usw. 85
Fuchsspricht vom Tun Gottes. Er nennt den historischenJesus als die entschei-
dende Hilfe zum Verstehen der neutestamentlichen Texte. "Dann erschließt
sich uns, wie uns Gott auf diesem Wege begegnet, nämlich auf die Art, wie Gott
auf dem Wege Jesu diesem begegnete. Und da geschieht's, daß nun Gott
seI b er eingreift, so daß wir verstehen, wie Gott auf dem Wege Jesu
eingegriffen hat." 19 Nun wird es auch verständlich, warum Fuchs auf den
historischen Jesus rekurriert. Am historischen Jesus kann paradigmatisch ab-
gelesen werden, wie Gott eingreift. Aber ein Zeugnis vom Handeln Gottes
an uns durch Jesus, den Christus, kennt Fuchs nicht, zumindest nicht so, wie
es die Urchristenheit bezeugt: Wenn ich durch den Finger Gottes die Dä-
monen austreibe, ist ja das Reich Gottes zu euch gekommen! (Lukas 11, 20)
Dann hat aber auch die existentiale Interpretation des urchristlichen Zeug-
nisses nicht mehr das gleiche Ergebnis, wenn ich auch Jesus existential inter-
pretiere. Das neue Selbstverständnis ist nicht mehr das von Christus ge-
schenkte, sondern das in der Nachfolge Jesu ergriffene.
Endlich wird bei einer solchen existentialen Interpretation Jesu der Ansatz
der formgeschichtlichen Forschungsmethode verlass.en. W. Wrede erkannte
als Erster, daß die Evangelien überfragt sind, wenn sie besagen sollen, was
wirklich gewes.en ist. Wrede ließ das Ziel nicht fahren, etwas über die histo-
rischen Zusammenhänge des Lebens J esu zu erfahren, aber er ging einen
anderen Weg, er wählte einen Umweg, weil er erkannte, daß der direkte Weg
versperrt war. Er befragte die Evangelien nach dem, was sie über die ersten
Zeugen aussagten. Im Verfolg dieser Ansätze Wredes erwuchs dann die
formgeschichtliche Methode. Sie hat ihr Recht aufgrund der Angemessenheit
der Fragestellung. Es ist bisher noch nicht nachgewiesen, daß die ersten Zeu-
gen bis zu den Evangelisten etwas anderes als das Ziel ihrer Aussagen haben
als die Verkündigung, daß Jesus der Christus ist. Werden diese Aussagen
daraufhin interpretiert, daß die existentielle Verkündigung, daß Jesus. der
Christus ist, als Angebot einer neuen Möglichkeit des Selbstverständnisses
das Ergebnis ist, wird der Ansatz der formgeschichtlichen Forschungsmethode
durchgehalten und theologisch fruchtbar weitergeführt. Wird dagegen J esus
existential interpretiert, wird die existentiale Interpretation zu einem Mittel,
das von der Hermeneutik des vorigen Jahrhunderts vtrwandt wird, um die
Verkündigung J esu zu reproduzieren.
Es ergibt sich daraus, daß bei der existentialen Interpretation der Bereich
der Anwendung von entscheidender Bedeutung ist. Anders ausgedrückt: bei
der urchristlichen Botschaft sind nicht zuerst die hermeneutische Methode bzw.
die Mittel, die sie verwendet, maßgebend, sondern der Ansatzpunkt, von dem
her das Verstehen gesucht wird. Dieser Ansatzpunkt ist für die existentiale
Interpretation im Gefolge der formgeschichtlichen Methode der urchrist-
liche Zeuge. Der Interpretierende ist daran gebunden, stets diesen Zeugen
zu befragen, sein Ziel kann allein sein, diesen Zeugen recht zu verstehen und
allein damit und allein für diesen Zeugen Jesus Christus als den, der das
18 ebenda.
19 I, S. 98 (Sperrungen von mir).
86 H. W. BARTSCH
Rudolf Bultmann sieht den methodisch und sachlich positiven Sinn der
Entmythologisierung im Vollzug der existenzialen Interpretation mythischen
Seinsverständnisses. Entmythologisierung und existenziale Interpretation
sind jedoch nicht zwei aufeinander folgende Bewegungen, etwa in dem Sinne,
als sei die Entmythologisierung durch das moderne wissenschaftliche Welt-
bild gefordert J.Ind die existenziale Interpretation dann der Versuch, aus der
Kritik des mythologischen Weltbildes doch noch etwas für das Existenzver-
ständnis zu retten; sondern die Entmythologisierung vollzieht sich als exi-
stenziale Interpretation und d. h.: das kritische Moment in der Entmytho-
logisierung bestimmt sich aus dem Prinzip der existenzialen Interpretation
und primär nicht aus dem wissenschaftlichen Weltbild. Dieses fällt vielmehr
in bestimmter Hinsicht selbst unter den kritischen Aspekt existenzialer Inter-
pretation und wird zu einer kritischen Instanz in der Entmythologisierung
erst dadurch, daß bestimmte mythologische Aussagen und Vorstellungsweisen
für uns in den Bereich der Wissenschaft fallen und damit allerdings auch der
wissenschaftlichen Kritik verfallen. Die Frage ist jedoch, ob der Sinn des
mythischen Daseinsverständnisses von ihm selbst her überhaupt im Bereich
der wissenschaftlichen Weltvorstellung steht. Die existenziale Interpretation
antwortet hier: positiv Nein und kritisch Ja. Nein, sofern es der mythischen
Erfahrung um Existenzverständnis aus der Gegenwart des Göttlichen geht;
Ja, sofern dieses Existenzverständnis sich mythologisch in gegenständlicher
Feststellung objektiviert, wodurch menschliches Dasein und göttliches Sein
wie ein Bestand in der Welt vorgestellt werden. -Für unsere Fragestellung
ist zunächst das Entscheidende, daß die Kritik am mythologischen u n d
wissenschaftlichen Vorstellen der Existenz vom Prinzip der existenzialen
Interpretation aus entworfen wird. Will man also in die Grundsatzfragen
der Entmythologisierung gelangen, dann muß man sich offensichtlich auf eine
Erörterung des Prinzips der existenzialen Interpretation einlassen.
Der Begriff der existenzialen Interpretation entstammt bekanntlich der
Existenzialontologie Heideggers und bezeichnet (in "Sein und Zeit") die Me-
thode der ontologischen Auslegung (menschlichen) Daseins aus der Seins-
struktur der Existenzialität und auf diese hin, dergemäß der Mensch nicht
in der Weise eines gegenständlich bestimmten und eigenschaftlieh bestimm-
baren Bestandes in der Welt vorhanden ist, sondern als ein faktisches Sein-
können sich verstehend auf seine Möglichkeit hin entwirft, d. h. geschichtlich
existiert und darin sich selbst bestimmt bzw. seine Bestimmtheit übernimmt.
88 HELMUT FAHRENBACH
Existenz beanspruchende Wirklichkeit ist als solche in der Tat nur im und
als existenzielles Selbstverständnis erschlossen. Und es ist weiter dann auch
gefordert, alle Vorstellungen, die den Sinn dieses Geschehens ins Gegen-
ständliche verkehren und damit aufheben, der Kritik zu unterwerfen, bzw.
kritisch zu interpretieren. Von solcher Art sind für Bultmann die mythologi-
schen Vorstellungsweisen. Die Nötigung zur kritischen IJ!terpretation ergibt
sich für Bultmann demgemäß primär nicht daraus, daß hier Aussagen ge-
macht werden, die als Selbstverständnis nicht realisierbar sind - das würde
bloß ihre existenzielle Irrelevanz besagen - sondern daraus, daß durch die
Weise solchen Vorstelleus der Sinn der christlichen Verkündigung verdeckt
und ihre Gegen-wart verstellt wird.
Es gilt allerdings auch zu sehen, daß dieser Sinn des Christlichen, von dem
Kierkegaard und Bultmann ausgehen, bereits existenzial interpretierter Sinn
ist, und daß durch diesen Ansatz, ein bestimmter Auslegungshorizont vor-
gegeben ist. So notwendig und möglich es ist, diesen Ansatz immer auch
exegetisch zu rechtfertigen und d. h. theologisch zu legitimieren, so kann
diese Rechtfertigung doch nie die systematische Konsequenz begründen, mit
der dieser Ansatz bei Kierkegaard und Bultmann entworfen und festgehal-
ten wird. Diese gründet im hermeneutischen Prinzip der existenzialen bzw.
existenzdialektischen Interpretation und d. h. in der Konzeption des Selbst-
verständnisses als hermeneutischem Horizont der Existenz. In ihm ist das
mögliche Verständnis von existenziell bedeutsamer Wahrheit und Wirklich-
keit eröffnet und begrenzt. Was sich in diesem Bezug nicht bringen und d. h.
nicht als eine Bestimmung möglichen Existenzverständnisses verstehen läßt,
fällt aus dem Blickfeld des Selbstverständnisses heraus ins objektiv Festzu-
stellende und Kritisierbare und existenziell Unverbindliche.
Woher bestimmt sich aber dieser maßgebende Blickpunkt des Existieren-
den in seinem Sich-verstehen? Kierkegaard antwortet: aus dem unend-
lichen Interesse des Existierenden an der Existenz und Bultmann sagt:
aus der unumgänglichen Frage des Existierenden nach der eigenen
Existenz. Weil die menschliche Existenz auf Grund ihrer dialektischen
Struktur als "endliche Freiheit" in sich selbst Aufgabe des Selbstwerdens
und Frage nach ihrer eigentlichen ·Möglichkeit ist, ist das Sichverstehen
in Existenz der ursprüngliche Sinnhorizont von Verstehen überhaupt.
Und weil der Mensch je nur selbst die Aufgabe erfüllen und die Frage
beantworten kann, wird in allem Sich-verstehen das Selbstsein beansprucht.
So unausgeführt diese Angaben hier auch bleiben müssen, sie zeigen doch
oder wollen zeigen, daß Selbstverständnis als Horizont des Seinsverstehens
kein beliebiger Ansatz ist, sondern der für den verantwortlich existierenden
Menschen selbst ursprüngliche und wesentliche. Von dieser Position aus sagt
Kierkegaard: "Alles wesentliche Erkennen betrifft oie Existenz, oder nur
das Erkennen, das sich wesentlich zur Existenz verhält, ist wesentliches Er-
kennen. Das Erkennen, das nicht nach innen in der Reflexion der Innerlich-
keit die Existenz betrifft, ist wesentlich angesehen zufälliges Erkennen, sein
Grad und Umfang wesentlich betrachtet gleichgültig'' ... und er fährt dann
fort: "Nur das ethische urn:I das ethisch-religiös,e Erkennen ist daher wesent-
96 HELMUT FAHRENBACH
1 vgl. hierzu E. Fuchs, Hermeneutik, 1954, 116 ff., s. jet:zt auch H. G. Gadamer, Zur
Problematik des Selbstverständnisses in: Einsichten, Festschrift für G. Krüger, 1962,
s. 71 ff-85-. "
SELBSTVERSTÄNDNIS ALS HERMENEUTISCHES PRINZIP 97
Offenbarsein zur Sprache, das Erscheinen der Götter gehört vielmehr zur
Welt, wenn auch als das dem Menschen nicht verfügbare, sondern ihm ge-
schehende Ereignis. Bultmanns Kritik am welthaften Vorstellen des Unweit-
lichen im Mythos ist a1so bereits an der christlichen Paradoxie der geschicht-
lichen Offenbarung des welt-transzendenten Gottes orientiert und hat hier -
im theologischen Bereich- ihre eigentliche Berechtigung. Denn die Paradoxie
der christlichen Offenbarung läßt sich im Kreis mythologischen Vorstellens
gerade nicht formulieren und wo das doch versucht wird, kann es nur
auf eine gebrochene und unangemessene Weise geschehen 1 • So zeigt Bult-
mann mit vollem Recht, daß "Entmythologisierung" bereits im NT ansetzt
und ansetzen muß, wenn das paradox-geschichtliche Handeln Gottes in Jesus
Christus zur Sprache kommen soll. Um diese (für Kierkegaard und Bult-
mann gleich wesentliche) paradox-geschichtliche Struktur der christlichen
Offenbarung und des christlichen Glaubens in unse.rer geschichtlichen Situa-
tion festzuhalten, ist radikale Entmythologisierung gefordert, weil die mytho-
logischen Vorstellungsweisen und -elemente an sich und zumal für uns
verstellen, in welcher Weise Gott für den christlichen Glauben als der trans-
zendente zugleich geschichtlich gegenwärtig ist. Den Horizont und Ort die-
ser Gegenwärtigkeit sichtbar zu machen, ist die Aufgabe der existenzialen
Interpretation. Und sie sieht diesen Ort im existenziel!en Selbstverständnis,
in dessen Fraglichkeit Anspruch und Zuspruch de·r Offenbarung verbindlich
gegenwärtig werden.
Diese prinzipielle Beziehung existenzialer Interpretation auf mögliches
Selbstverständnis, deren hermeneutische Struktur formal bestimmt wurde,
darf nun freilich nicht mit bestimmten Durchführungen existenzialer Interpre-
tation gleichgesetzt werden, d. h. mit Entscheidungen darüber, was und wie
existenzial (kritisch) interpretiert werden muß. Solche Entscheidungen
können vielmehr nur in der konkreten Interpretation fallen und müssen
offen, d. h. kordgierbar bleiben. Und sofern Bultmann in seiner exegetischen
Arbeit bestimmte Entscheidungen getroffen hat, sind sie seiner eigenen
Meinung nach kritischer Prüfung überantwortet. Der Horizont existenzialer
Interpretation ist in seiner grundsätzlichen Beziehung auf mögliches Selbst-
verständnis offen für die unabschließbare Erfahrung und Auslegung der in
ihm begegnenden Möglichkeiten, ja in gewissen Grenzen selbst verschiebbar,
sofern das Sich-verstehen selbst und damit auch der Sinn von Selbstver-
ständnis fraglich bleibt und immer wieder bestimmt werden muß.
Will man indessen das hermeneutische Prinzip der existenzialen Interpre-
tation als solches der Kritik unterwerfen, dann ist nichts geringeres zu
leisten, als die hermeneutische Ursprünglichkeit des Sich-verstehens-in-Exi-
stenz und die ontologischen lmplikationen des Existenzproblemes selbst in
Frage zu stellen und - wenn man Theologe ist - dieses Vorgehen auch
noch theologisch zu rechtfertigen.
H. Fahrenbach, Universität Tübingen
1 vgl. dazu F. Gogarten, Die V·erkündigung Jesu Christi, 1948, S. 439 ff, 447 ff.
7 Castelli
DIE HERMENEUTISCHE VORAUSSETZUNG DER
ENTMYTHOLOGISIERUNG
Wilhelm Anz
Während dieser Tagung ist davon gesprochen wonlen, man müsse bis zu
den ursprünglichen Erscheinungen des Mythos zurückgehen, um den Vor-
gang seiner Reinigung oder den seiner Aufhebung zu verstehen. Nur wer
um die Sprache dieser - wie ich jetzt zusammenfasse - "Urpoesie der
Menschheit" wisse, könne ermessen, daß uns eine ganze Dimension, die
zum vollen menschlichen Wesen gehört, verloren zu gehen droht.
Das ist ein möglicher Weg. Meine Überlegungen führen auf einen andern.
Auf ihn führt die folgende Überlegung: Es. liegt nicht nur an dem Denken
der Aufklärung, sondern ebensosehr an dem christlichen Glauben selbst, daß
wir aus dem mythischen Denken herausgetreten sind und in es nicht mehr
zurückkehren können. Ich möchte behaupten, daß christliche Theologie not-
wendig in den Vorgang der Entmythologisierung hineinführt. Bultmann
dessen Entmythologisierungs"programm" diese Zusammenkunft zum Teil
veranlaßt hat, steht hier in einer echten theologischen Tradition.
Wenn ich richtig sehe, sollte also nicht der Vorgang als solcher theologi-
scher Kritik verfallen. Dagegen könnte die besondere Gestalt, in der wir ihn
bei Bultmann finden, eine Auseinandersetzung verlangen.
Die Erörterung darüber möchte ich durch einige Hinweise vorbereiten, und
diese dann an Augustirr - Kierkegaard - Bultmann erläutern. Ein kurzer
Vorblick auf Platon soll den Unterschied zwischen einem philosophischen
und dem theologischen Verstehensweg zeigen.
I.
1. Die Entmythologisierung ist nur eine Folgeerscheinung theologischer
bei Bultmann finden, eine Auseinandersetzung verlangen. ·
Besinnung, aber nicht ihr Zentrum. Im Zentrum isttheologische Besinnung
"Explikation des Glaubens". Als solche setzt sie voraps, daß Offenbarung
geschehen ist und in der Kirche bezeugt wird; ferner, daß wir - sei es in
Zustimmung, $ei es .in Abwehr - von dem Wahrheits- und Heilsanspruch,
der darin liegt, betroffen sind. . ··
Zur ausdrücklichen Explikation des Sinnes von Offenbarung und Glaube
nötigt die Erfahrung, daß von Anfang an: auch innerhalb der Kirche das
Verständnis von Offenbarung und entsprechend von Glauben strittig ist und
daß dem Glauben siCh Hindernisse in den Weg stellen, die e$ ihm schwer
HERMENEUTISCHE VORAUSSETZUNG D. ENTMYTHOLOGISIERUNG 99
machen, dem Ruf, der ergangen ist, einfach und gerade zu folgen. Der Cha-
rakter einer Theologie ist niemals nur durch ihr Verständnis von Offenbarung
bestimmt, sondern immer auch durch diese Hindernisse: das, was der Glaube
aus seiner eigenen Vergangenheit und aus der Geschichte mitbringt, soll er
in sein christliches Leben mit hineinnehmen. Dazu muß er aufarbeiten.
Für Paulus etwa war seine pharisäische Werkgerechtigkeit, für Augustin
seine gnostische Weltverfallenheit, für Kierkegaard neben romantischer
Schwermut und Ironie das vernünftige Selbstbewußtsein das Hindernis, das
es ihnen schwer machte, den Grund, auf den die Offenbarung trifft, die
conscientia coram Deo, bis in ihre ionerste Freiheit zu erfassen und sich aus
ihr zu verstehen.
2. Daher wurde eine ausdrückliche Besinnung notwendig, also eine Hand-
lung der Reflexion. Die vollzog sich als ein besonderer hermeneutischer Pro-
zeß, als die Vergleichung zw:eier Verständnisse, die eines das andere zur
Rechenschaft über sich und den Verstehenden zu immer neuer Zuordnung
beider herausfordem. Da die Offenbarung in die Entscheidung zur "Wahr-
heit" ruft und mit der Entscheidung für oder gegen sie Heil oder Unheil
geschieht, erhält der hermeneutische Prozeß eine besondere Schärfe: jedes
Verständnis erhält den Charakter de·s Unbedingten; die Zuordnung beider
Verständnisse kann nicht in der Schwebe bleiben; am Ende· muß eines das
andere in sich "aufheben".
Vielleicht liegt der scheinbar synkretistische Charakter der christlichen
Theologie in der für sie bezeichnenden Geschichtlichkeit, in der sie um
der "Selbstbehauptung" des Glaubens willen die kritische Auseinander-
setzung mit den Mächten betreiben muß, auf die sie trifft. Entweder wird
beispielsweise das Christentum zu einer jüdischen Sekte, wird das Ereignis
der Offenbarung gnostis.ch umgedeutet, wird die Religion kritisch auf die
innermenschlichen Motive destruiert, die dazu verführen, Glaubensvorstel-
lungen hervorzubringen, oder aber der Glaube behauptet sich selbst und
legt nun seinerseits Werkgerechtigkeit gnostischen Mythos, Dichterexistenz
und radikale Religionskritik als ein Heraustreten aus dem Grunde der
conscientia als selbs.tv•erschuldete Verstellungen wahren menschlichen
Lebens aus. Die kritische Erhellung des menschlichen Lebens ist eine
wesentliche Aufgabe der Theologie. Die Kraft einer Theologie scheint mir
auf der Helligkeit, Eindringlichkeit, Aufrichtigkeit zu beruhen, mit der sie
sich auf diese Aufgabe einläßt.
Zur theologischen Reflexion gehört also ein Durchgang durch. das nicht-
gläubige Vorvers.tändnis, das in sich erhellt, dem sein Ort zugewiesen sein
inuß, wenn der Theologe sich in dem einen und unteilbaren Leben, das er
in der Rechenschaft seines Gewissens führt, selbst verstehen soll; denn der
Theologe befindet sich ja selbst in diesem Vorverständnis; es ist der Hori-
zont, aus dem weder er selbst durch einen simplen Botschluß heraustreten
kann, noch die 'Menschen, mit denen er es zu tun hat. Zu .beachten ist also:
Theologie geht von einer gegebenen Voraussetzung aus; sie beginnt vom
Ende her (das der Anfang ist), und sie muß das, was iht entgegensteht, durch-
dacht haben; nur dann hat sich der Verstehende mit allem, was er ist, in
.,.
100 WILHELM ANZ
den Glaubem.bezug hineingeholt. Ohne diese Mühe, die der Theologe auf
sich nehmen muß, wird - so scheint mir -Theologie nicht glaubwürdig sein.
3. Der dritte Hinweis kann hier nur genannt, nicht diskutiert werden.
Theologie ist kirchliche Theologie, oder wenigstens: sie setzt die Realität der
Kirche voraus und hat ·an ihr Teil. Sie setzt voraus, daß zum christlichen
Leben aufgerufen ist, und innerhalb seiner zum Bezeugen und Verkünden.
Die theologische Reflexion lebt von dieser kirchlichen Realität, aber sie geht
darin nicht auf.
Doch ist auf jeden Fall festzuhalten, daß die beiden ersten Momente nie
ohne das Dritte in Gang kommen und bestehen könnten.
Mit diesen drei Momenten: 1. Theologie ist "Explikation des Glaubens".
2. Explikation ist ein hermeneutischer Prozeß, der den Durchgang durch
das nichtgläubige Vorverständnis in sich s.chließt. 3. Theologie ist kirchliche
Theologie bzw. sie setzt die Realität der Kirche voraus - sind die herme-
neutischen Voraussetzungen der Entmythologisierung angegeben. Wir müs-
sen hier nur eines vom Mythos wissen: daß er einer vorbehaltlosen Ergrif-
fenheit durch die welthaften Mächte entspringt, um nun zu sehen, daß der
Glaube verhindert, uns, sofern wir glaubend sind, mythisch zu ver-
stehen. Der Glaube verlangt Reflexion auf die Freiheit; er bewirkt damit
eine Distanz zur Welt, die sich der Denkmittel der Aufklärung hat bedienen
können, ohne doch selbst Aufklärung zu sein.
Il.
Ein kurzer Hinblick auf Platon soll den Unterschied von theologischer und
philosophischer Reflexion zeigen.
Auch bei Platon finden wir eine Kritik am Mythos, nicht nur an den
Ammenmärchen, sondern am Mythos in seiner für Platon gegenwärtigen
Gestalt bei Homer, Hesiod, den Tragikern. Die Rede der DidJ.ter lebt von
der überwältigenden Ergriffenheit durch die Mächte der Welt. Wer in der
leidenschaftlichen Abhängigkeit von dem, was Leben gibt oder nimmt, ver-
bleibt - der erfährt Götter.
Zwischen dieser ursprünglich mythischen Welterfahrung und der Philo-
sophie liegt nun eine Grenze: der Blick des Verzauberten mag zwar hell und
sehend sein, aus seinem Wort mag auch echte Einsicht sprechen, abe:r diese
Einsicht bleibt in der Hingegebenheit gebunden; sie ist unfähig der Rechen-
schaft, die philosophische Besinnung verlangt, urid insofern unfrei. Von die-
ser Unfreiheit befreit die Philosophie; sie wendet sich an unsere Fähigkeit
zu fragen, .,b:tonv"; sie lehrt uns eine Antwort auf die Frage versuchen,
indem wir das Gesehene in einem öeto,u6~begrenzen, und lehrt uns dann diese
Feststellung prüfen, indem wir versuchen, ob das Gemeinte in den vom
oeta,u6~ vorgezeichneten Umriß eingeht. Wir werden in der Bewegung von
Frage, ,Jeto,u6~, Prüfung gehalten, bis sich das Seiende in seiner Unverbor-
genheit zeigt, so wie es an ihm selbst ist.
HERMENEUTISCHE VORAUSSETZUNG D. ENTMYTHOLOGISIERUNG 101
Im Logos des Gesprächs wird auf diese Weise unser Sehen an die Grund-
gestalt des Seienden (elöo~, ovoia) gebunden, so c!.aß wir im Gespräch Ab-
stand vom Seienden und auch von unserem .:Uyew gewinnen.
In dieser Bindung des Logos an das eMo~ werden wir zur wahren Einsicht
befreit. Um in die Freiheit zur Einsicht zu gelangen, müssen wir freilich
eine Umkehr (~eewrwrfJ ) unserer Blickrichtung vollzogen haben.
Bisher waren wir dem hingegeben, was. von uns durch die Macht seines Ein--
drucks Besitz nahm. Im Gespräch ist deutlich geworden, daß wir von einem
Seinsbezug zehrten, ohne die ihm eigene Ordnung zu Gesicht bekommen zu
haben; daher konnte er sich uns verdunkeln und verstellen. Wenn wir uns im
prüfenden Gespräch zur Einsicht hin umkehren lassen, gewinnen wir den
unverstellten Hinblick auf die in den Grundgestalten liegende Rangord-
nung und treten damit in die Helligkeit des ursprünglichen, jetzt aber ver-
dunkelten Lichtes zurück. Wir erfahren es als das, was im höchsten Maße
seiend Sein gibt und im Sein erhält, das heißt als oipl;ov ärat?6v.
Mit der Umkehr zur Einsicht sind wir nicht schlechthin aus dem
Mythos herausgetreten und aus der religiösen Abhängigkeit, die ihn erzeugte.
Das Verhältnis zum Mythischen hat sich allerdings durch das Hinzukommen
der Freiheit zu fragen geändert: das Bewußtsein der Unangemessenheit des
Mythos im Verhältnis zu dem Überschwänglichen und Unsagbaren, das er
meint, ist aufgekommen. Mythos ist nur eÄ."w~ p/üt?o~, eine nur annäherungs-
weise wahre Darstellung (Timaios 29 D). Prüfung und Einverständnis
(6,uolorla) müssen vorausgegangen sein, damit das in Mythos Sprechende
rein sprechen kann. Daher kann der Mythos auch abgeändert werden dahin,
daß er der Grundeinsicht entspricht und sie bestätigt: er ist dann zwar ab-
gewandelt und gereinigt, aber er bleibt doch Mythos, er bezeichnet die offene
Grenze alles philosophischen Fragens, dessen nie aufhebbare und auch nie
aufzuhebende religiöse Abhängigkeit. Ohne ihn wäre die hermeneutische
Struktur platonischen Philosophierens unvollständig.
III.
Augustin ist von vornherein christlich theologischer Denker. Sein Denken
hat einen anderen Ausgangspunkt. Es entzündet sich daran, daß er, vom An-
spruch der Offenbarung getroffen, diesen dennoch in sich nicht verifizieren
kann. Der unbedingte Anspruch entläßt ihn nicht in die Freiheit der Philo-
sophie: er kann in der Besinnung auf den 26ro~ keine Standfestigkeit mehr
gewinnen. Dahin Auseinandersetzung mit dem neutestamentlichen Sünden-
verständnis führt ihn in das mythologische· Denken der manichäischen Gnosis
zurück. Sünde ist ihm eine fremde Macht, die widerfährt, aber keinesfalls
selbstzugezogene Schuld.
Erst durch die Evidenz der erleuchtenden Wahrheit Gottes wird er in den
Stand gesetzt, sich als den Weltmächten überlegene Freiheit zu verstehen.
Er ist diese Freiheit, weil er von Gott als solche angesprochen is.t. Es ist also
die "Wahrheit", die uns als Person schafft, trägt und uns als ego ipse sehen
und verstehen läßt, nicht aber der Logos des ~taUreat?at.
Nun erst hat Augustin den Horizont gewonnen, innerhalb dessen er
102 WILHELM ANZ
örtern kann), daß der Veritasbegriff Augustins vieles zuläßt, was bei Bult"
mann unter das Urteil Mythos fällt.
IV.
Bei Spinoza ist aus Vernunft etwas anderes und Neues geworden: die
Vernunft erfaßt ihre Prinzipien in sich selbst. Diese logischen Prinzipien
haben ontologischen Wahrheitsgehalt. Daher läßt sich die philosophische
Wahrheit auf dem Wege der demonstratio more geometrico deduzieren.
Jetzt wird eine historische Religion unverständlich; sie ist nur noch histo-
risch zu beurteilen, daraufhin, unter welchen Bedingungen es zu bestimm-
ten Ereignissen und Vorstellungen hat kommen können. Wahr an der Offen-
barungsreligion ist allenfalls das, was sich abgesehen von ihr und auch ohne
sie in allgemeinen Vernunftbegriffen aussagen läßt.
Von diesem Vernunftbegriff ausgehend hat Lessing gezeigt, daß es von
der historischen Wahrheit zu der Vernunftwahrheit keinen Übergang gibt.
Ein historischer Beweis für die Wahrheit der Offenbarung kann prinzipiell
nicht geführt, höchstens können wahrscheinliche Fakten in einen wahr-
scheinlichen innerweltlichen Zusammenhang eingeordnet werden, ohne aber
für das beurteilende Bewußtsein dadurch Maßgeblichkeit zu erhalten.
Für das Problem der Entmythologisierung wichtig ist nun, daß Kierkegaard
dieser radikalen religionskritischen Konsequenz im Interesse des Glau-
bens zustimmt. Es ist nach Kierkegaard genau so, wie Lessing sagt: Solange
der Mensch sich im Zentrum als jenes philosophische vernünftige Selbstbe-
wußtsein versteht, ist Sein = Gedachtsein, und besagt Gedachtsein so viel
wie Geordnetsein in notwendigen oder in wahrschdnlichen Zusammen-
hängen. Aber wir sind im Grunde und zuerst nicht Selbstbewußtsein, son-
dern Existenz. Die Wirklichkeit, die wir selbst sind und die der Glaube
meint, geht in das objektive Denken der Vernunft nicht ein: sie liegt jenseits
dessen, was die Vernunft erwartet und erreicht, sie ist paradox.
Durch den Begriff des Paradox wird nun nicht etwa auf ein irrationales
oder emotionales Vakuum hingewiesen. Der Bereich, in den es hinein-
weist, besitzt eine eigene genaue und differenzierte Ver~tändlichkeit, die
dem Leser Augustins nicht unbekannt ist. Auch für Kierkegaard ist der
Aus.gangspunkt seines christlichen Denkens eine Evidenz. Es ist die vom
Offenbarungswort gestützte Evidenz des Gewissens vor Gott, die "Total-
erinnerung des Gewissens", er findet sie· bestätigt in dem Spruch des Mat-
thäusevangeliums (12, 36), daß wir vor Gott Rechenschaft ablegen müssen
für jedes unnütze Wort, das wir gesprochen haben.
Die Erfahrung von dieser überlegenen und in die radikale Durchsichtig-
keit nötigenden Wahrheit hebt die Sicherheit, mit der das vernünftige Selbst-
bewußtsein sich und die Prinzipien der Wahrheit besitzt, auf. Sie nötigt zu-
zugestehen, daß ursprünglicher als die Gewißheit des vernünftigen Selbstbe-
wußtseins die Gewißheit ist, ein existierender Mensch zu sein, der im Ab-
104 WILHELM ANZ
grunde der Zeitlichkeit nach einem Standort zu suchen nicht umhin kann.
Vom Ende her (d. h. in der Helligkeit seiner christlichen Gewissenserfah-
rung) zeigt Kierkegaard, daß es einen zuverlässigen Standort, an dem der
endliche Mensch mtt dem "Unendlichen" in Wahrheit einig wäre, nicht gibt,
und daß der Mensch daher der Angst ausgesetzt bleibt, bis er im Gottes.ver-
hältnis eine Geborgenheit gewonnen hat (deren nun wieder in sich selbst
differenzierte Struktur ich jetzt nicht auseinandersetzen kann).
Diese Dimension der Existeninnedichkeit ist nur dem subjektiven Denker
zugänglich, der in denkender ErheBung - in einer Art intellektueller Reue -
das voraufgegangene Dasein aufarbeitet und so in sein Selbstverständnis
gelangt.
Wir müssen die hermeneutische Struktur dieses Denkens festhalten, wenn
wir zu dem Problem der Entmythologisierung bei Bultmann kommen.
Beziehen wir das Gesagte· auf unsere Gesichtspunkte:
1. Das Existenzdenken Kierkegaards ist ganz aus der paradoxen Spannung
zur Vernunft bestimmt: das Gottesverhältnis ist für die Vernunft paradox.
Aber es gilt auch die Umkehrung: was als Prinzipienwahrheit denkbar und
als historische Wahrheit objektiv feststellbar ist, geht als solches in das sich
selbst erhellende Verhältnis des Existierenden zu sich selbst nicht ein. Die
Sphären des "Objektiven" und des "Subjektiven" schließen eine die andere
aus, und nur in der Sphäre des "Subjektiven" ist das christliche Denken zu
Haus.
Kierkegaard ist christlicher Denker. Der Ausgangspunkt seines Den-
kens ist das von Gott getroffene Gewissen, auf das zu das neutestamentliche
Zeugnis spricht. Das gesamte Werk Kierkegaards ist eine ErheBung dieses
vorgängigen Bezuges - unter den von der philosophischen Aufklärung her-
aufgeführten Bedingungen.
2. Diese Bedingungen s.ind ein offenkundiges Hindernis. Daher mußte ge-
zeigt werden, daß die Macht des vernünftigen Selbstbewußtseins eine Grenze
hat in der Existenz, daß aber für den Blick des christlichen Denkers Existenz
in ihrer Zeitlichkeit, geführt durch die Angst, in eine immer innerlichere
Innerlichkeit und in ihr auf Gott verweist. Dieser Aufgabe dient die Sta-
dienlehre Kierkegaards.
3. Vorausgesetzt ist die volle Glaubwürdigkeit der Offenbarung und die
Legitimität kirchlicher Verkündigung. Diese wird freilich durch die sozu-
sagen konstitutionelle Verweltlichung der bestehenden Kirche aktuell in
Frage gestellt. Doch bleibt dieses für jede Kierkegaardinterpretation wichtige
Problem hier unerörtert. In unserem Zusammenhang genügt es, darauf hin-
zuweisen, daß Kierkegaard zwischen einem Apostel und einem Genie sehr
wohl zu unterscheiden wußte.
4. Welche Konsequenzen ergeben sich für das Problem der Entmythologi-
sierung? Aus der paradoxen Spannung von Vernunft und Existenz ergibt
sich eine Nötigung zur Existenzdialektik: alles objek~iv Feststellbare, über-
haupt alles "Positive" als solches ist relativierbar und also zweideutig; nur
durch das paradoxe Wagnis des Glaubens hindurch kann es in den Ver-
HERMENEUTISCHE VORAUSSETZUNG D. ENTMYTHOLOGISIERUNG 105
V.
Das Hindernis, mit dem Bultmann es zu tun hat, ist zunächst die liberale
Theologie. Für die methodische Auseinandersetzung mit ihr hat er beson-
ders viel von Kierkegaard gelernt. Bultmann wendet gegen die liberale· Theo-
logie ein: sie meine durch historische Forschung zu theologischen Aussagen
gelangen zu können. Sie könne dieser Illusion nur deshalb verfallen, weil sie
in der Nachfolge der spekulativen Logik des deutschen Idealismus das ob-
jektiv Erkannte als Erscheinung des Geistes und in J esus die höchste Erschei-
nung eben dieses Geistes sehe, mit dem wir im Grunde identisch sind.
Die erste Aufgabe ist also, die rechte theologische Beurteilung der histori-
schen Forschung. Hier bringt Bultmann die paradoxe Spannung von Ver-
nunft und Existenz zur Geltung. Historische Erkenntnis ist objektivierende
Erkenntnis und als solche relativierend. Das zuschauende und feststellende
Bewußtsein ordnet Fakten und Standpunkte in von ihm erarbeitete Zusam-
menhänge ein; aber es erreicht die Existenz nicht.
Nur wenn wir die unaufhebbare Spannung von Vernunft und Existenz
festhalten, gewinnen wir Zugang zu der Situation des Menschen, in die hinein
die christliche Offenbarung spricht: der nach Gott fragenden und doch vor
ihm flüchtenden Existenz.
Von der Offenbarung in das menschliche Leben zurückblickend, findet
Bultmann ein Analogon zu Augustins Frage nach der Wahrheit und zu
Kierkegaards Stadien: der Mensch fragt nach seiner Eigentlichkeit d. h.
er fragt nach einer bleibenden, allen Verwirrungen des zeitlichen Da-
seins überlegenen Macht, der er :;ich anvertrauen kann. In der Frage nach
der Eigentlichkeit sieht Bultmann die Frage nach Gott lebendig; aber diese
Frage erreicht ihr Ziel nicht. Alle Antworten greifen zu kurz: im Mythos
106 WILHELM ANZ
(der als eine Vorstufe der Wissenschaft erscheint), in der griechischen Meta-
physik und ihrer Lehre von der Weltvernunft, in der modernen Wissen-
schaft und der von ihr ermöglichten Arbeits.welt gibt sich die menschliche
Existenz einen transzendentalen Horizont vor, vermöge dessen sie sich im
Abgrunde der Zeitlichkeit behauptet. Dieser Horizont ist ein Mittel der
Selbstbehauptung.
Bultmann hat die "Vernunft" (Mythos, Metaphysik, Wissenschaft) auf
ihren Ursprung aus der Existenz zurückgeführt und hat noch stärker als
Kierkegaard die Verfallenheit an die Geschichte als einen Zustand der selbst
gewollten Getrenntheit von Gott beschrieben. Er hat gemeint, sich für diese
"Anthropologie" auf Luther berufen zu dürfen, und er hat die existentiale
Analytik von "Sein und Zeit" in diesem Sinne aus.gelegt.
Es zeigt sich, daß Bultmann sein Denken in der paradoxen Spannung von
Vernunft und Existenz, besonders eindringlich von historischer Vernunft
und Existenz expliziert und daß alles, was er geschrieben hat, sich in dieser
Grundstruktur hält. Der Existenzbegriff erscheint als das geeignete Mittel,
das nichtgläubige Vorverständnis von der christlichen conscientia aus auf-
zuarbeiten.
Die Entmythologisierung ist für Bultmann ein rein hermeneutisches Pro-
blem. Bisher haben wir vor allem darauf geachtet, daß die theologische Re-
flexion Bultmanns sich gegen den der Intention des Glaubens unangemes-
senen Idealismus der liberalen Theologie wendete, weil darin die paradoxe
Spannung von Vernunft und Existenz verdeckt wird, und daß er diese A.us-
gangssituation der Existenzdialektik wiederherstellte. Diese Reflexion ent-
spricht etwa der Auseinandersetzung Augustins mit der Gnosis, und sie folgt
der Kritik Kierkegaards am spekulativen Idealismus Hegels; sie legt den
Zugang zum Glauben wieder frei, von dem aus Bultmann dann in das mensch-
liche Leben wieder zurückfragt.
Die Frage ist nun: wie können wir die Sprache der neutestamentlichen
Schriften umsetzen auf den einzigen Boden, der uns. in der Auseinander-
setzung des Glaubens mit der Selbstgenugsamen Vernunft, vorab der histo-
rischen Erkenntnis geblieben ist: der durch die Verkündigung in die radikale
Selbstprüfung genötigten Existenz? Wenn diese Lage dem theologischen Den-
ken unausweichlich vorgegeben ist, dann ist auch die Entmythologisieruhg ein
Problem, dem das theologische Denken nicht ausweichen kann.
Deshalb tritt eine zweite Reflexion hinzu, die an sich schon in der paradoxen
Spannung von Vernunft und Existenz angelegt ist. Durch die Kritik ist der'
objektivierende und relativierende Charakter der historischen Erkenntnis
herausgestellt und in sein Recht eingesetzt. Kierkegaard - an der
historischen Erkenntnis selbst nicht interessiert - hatte sich mit der prin-
zipiellen Fragestellung begnügt: das objektiv geurteilt nur Wahrscheinliche
und durch seine historische Bedingtheit Relativierbare wird im Glauben als
Möglichkeit der eigenen Existenz ergriffen und zugeeignet. Er hatte ohne
weitere historische Reflexion das Neue Testament in dieses "Schema" auf-
HERMENEUTISCHE VORAUSSETZUNG D. ENTMYTHOLOGISIERUNG 107
gelöst, in der Gewißheit, daß kein objektives Faktum die absolute Paradoxie
der Menschwerdung Gottes stützen oder wahrscheinlicher machen kann.
Bultmann aber als historisch-kritischer Exeget kann sich bei einer derart
"summarischen" Lösung nicht beruhigen. Der Historiker ist verpflichtet, der
historischen Wahrheit ihr Recht zuzuerkennen und den Gang der neutesta-
mentlichen Tradition zu erforschen. Nun erst stellt sich die im engeren
Sinne hermeneutische Aufgabe: den historisch begriffenen Gegenstand in
die theologische Reflexion hineinzustellen. Dabei ergibt sich eine neue lind
erregende Feststellung. Da die historische Gewissenhaftigkeit den Ausweg
der unbefangenen Umdeutung oder aber den der Allegorese ausschließt, muß
sich die theologische Reflexion nun gegen die Zeugnisse des Neuen Testa-
mentes selbst wenden; sie muß das Verhältnis vor allem der neutestament-
lichen Sprache zu unserem theologischen Verständnishorizont ausdrücklich
zum Problem machen.
Dabei stellt sich heraus: Wir finden in der Sprache der neutestamentlichen
Schriftsteller vi~le Bestandteile, die einer mythischen Welterfahrung zu-
gehören, die wir heute nur noch aus ihrer historischen Bedingtheit verstehen
können. Der Bereich, der von diesem kritischen Urteil betroffen wird, reicht
sehr weit: er erstreckt sich von dem sogenannten Weltbild über die Dämonen-
lehre zu so zentralen theologischen Begriffen wie oae~ und nveii,ua,dem Be-
griff d·es Sohnes Gottes, dem Geschehen der Auferstehung. Die neutesta~
mentlichen Schriftsteller schreiben in einer Sprache, die die Reflexion der
Innerlichkeit noch nicht durchgemacht hat.
Die hermeneutische Struktur des durch diese zweite Reflexion bestimm-
ten Denkens läßt nur zwei Erfahrungsdimensionen zu, die des historisch
objektivierbaren und also relativierbaren Berichtes von wirklichen oder ver-
meintlichen Fakten und die von Gott zum Glauben und zur verstehenden
Rechenschaft über diesen Glauben gerufene Existenz.
Wüßten die neutestamentlichen Texte von der durch den Terminus der
Existenz bezeichneten conscientia coram Deo nichts, dann wären sie tat-
sächlich unverständlich geworden, sie wären nur noch Mat~rial historischer
Erkenntnis; sie wären in die Religionsgeschichte abgesunken.
Hier steht die Möglichkeit der Theologie auf dem Spiele, zwar prinzipiell
nicht anders als bei Augustinus, ehe er die veritas illuminans und bei Kierke-
gaard, ehe er im Paradoxbegriff den Zugang zu dem im Glauben Gemeinten
fand, aber doch mit dem wesentlichen Unterschied, daß die kritische Re-
flexion nunmehr sich auf die neutestamentlichen Schriften selbst wendet und
daß die bisher nicht gestellte Frage des Exegeten nach der Verständlichkeit
der Texte zu der bewegenden Mitte des hermeneutischen Prozesses wird.
Die Antwort, die Bultmann in ständig forschender Auseinandersetzung
mit den neutestamentlichen Schriften gefunden hat, läßt sich etwa so zu-
sammenfassen:
Tatsächlich liegt die gesamte Sprache des Neuen Testamentes vor der
zweiten, ja zum großen Teil vor der ersten theologischen Reflexion, - aber
nicht das, worauf die neutestamentlichen Schriftsteller mit ihrem Zeugnis
intendieren. Ihre Intention tritt immer wieder rein und entschieden hervor.
108 WILHELM ANZ
Von solchen Stellen aus haben wir in historisch kritischer Exegese das wahr-
haft Gemeinte (mit einem Worte Kierkegaards das "Christliche") zu unter-
scheiden von der Sprachgestalt, in der es sich ausspricht und z. T. auch ver-
fängt.
Halten wir dien[an~ als den Ausgangs- und Endpunkt aller neutestament-
lichen Zeugnisse fest, dann läßt sich zeigen, daß der Apostel Paulus z. B. den
gnostischen Urmenschenmythos- in dem Sünde kosmisches Schicksal ist-
gebraucht daß er ihn aber so modifiziert, daß der "geschichtliche" Cha"rakter
der nian~ gewahrt ist d. h. daß die Dauer der Sünde in der Welt. (die Fort-
dauer des Bösen) die Freiheit vor Gott nicht ausschließt. Wo von Sünde und
Vergebung gesprochen wird, da ist an die Stelle mythischer Welterfahrung
der Glaube getreten, der sich in s·einer unbedingten Abhängigkeit von Gott
und in seiner innersten Freiheit, die B. Geschichtlichkeit nennt, weiß. In der
"Geschichtlichkeit" ist die in der Welt dauernde Macht des. Bösen nicht ge-
leugnet, zugleich aber die Einsicht Kierkegaards festgehalten, daß inmitten
aller· Determiniertheit durch die Geschichte und das in ihr wirksame Böse
doch immer "Sünde die Sünde voraussetzt" oder "die Sünde durch Sünde in
die Welt kommt". Wir sind gezwungen, denselben Sachverhalt in einer durch-
reflektierten, der 1 Einsicht in unsere Geschichtlilchkeit entsprechenden
Sprache zu sagen. 'Das besagt die These, daß wir den Mythos nicht elimi-
nieren, sondern interpretieren sollen. ·
Die durch die historische Vernunft erzwungene zweite theologische Re-
flexion nötigt uns also, den von Grund auf unmythischen Charakter des neu-
testamentlichen Glaubens in seiner ganzen Schärfe herauszuarbeiten. Der
Widerstand der historischen Aufklärung gegen den Wahrheits- und Heils-
anspruch der Offenbarung treibt den Glauben in die letzte Rechenschaft über
sich hinein.
Daher ist Bultmann kein Aufklärer, der ein dogmatisch voraus.gesetztes
Prinzip kritischer Auslegung auf die neutestamentlichen Schriften anwendet,
sondern ein Exeget, der den hermeneutischen Charai<:ter theologischer Arbeit
ständig festhält und daher die Hindernisse, die der glaubenden Aneignung
im Wege stehen, mitbedenkt. Es ist zu viel behauptet, zu sagen, Bultmann
leugne Wunder und Auferstehung; aber er besteht darauf, daß sie als ob-
jektive historische Fakten nicht feststellbar sind, ja daß ihre Feststeilbarkeit
dem Glauben wenig helfen würde. Was wir davon "wissen" und sagen kön-
nen, gehört in die dem Glauben eigene Dimension der sich vor Gott ver-
stehenden Existenz. Es sind immer "gewagte", nie objektiv gesicherte Aus-
sagen, denen der Glaube vertraut. Das "sola fide" der Reformation erhält
hier einen neuen Sinn, der - von Bultmann her gesehen - der Offenheit,
die das Signum eines eschatologischen Glaubens ist, entspricht.
VI.
Eine kurze Zusammenfassung soll das Schema meiner Überlegungen wie-
derholen.
HERMENEUTISCHE VORAUSSETZUNG D. ENTMYTHOLOGISIERUNG 109
Bei Bultmann und in gewissem Maße auch bei Kierkegaard haben wir es
mit einer doppelten theologischen Reflexion zu tun.
Die erste Reflexion gehört - wie ich behaupten möchte - zum christlich
theologischen Denken als solchen. Wir fanden sie auch b~i Augustin: die
veritas Dei ruft in das Selbstsein des Ego ipse. Die consctentia vor Gott
kann die Überwältigung, der die mythische Welterfahrung entspringt, an
sich selbst nicht mehr geschehen las.sen. Wo das ganze Leben in der con-
fessio (oder abgewandelt bei Kierkegaard in den Stadien) sich dankend und
reuend einholt, da ist jede mythische Welterfahrung aufgehoben.
Die zweite Reflexion kommt auf mit der rationalistischen Vernunft und
dem ihr komplementären Begriff der historischen' Wahrheit. Das Problem
der Entmythologisierung wird durch die paradoxe Spannung von Vernunft
und Existenz verschärft. Bisher ging es darum, in einem vorgegebenen und
auch nicht in Frage gestellten Rahmen, der etwa durch das altkirchliche
Dogma bezeichnet ist, den Raum für die Einsicht, die der Glaube ermöglicht,
zu gewinnen und offenzuhalten. Jetzt sollen alle theologischen Aussagen
durch den aneignenden Glauben vermittelt sein und aus der genauen Be-
zogenheit auf ihn nicht heraustreten dürfen, da sie sonst unweigerlich in
den Bereich der historischen Wahrheit abfallen.
Eine Di&kussion über das Problem der Entmythologisierung könnte sich
-··- wie mir scheint - an der Frage nach dem Recht der ersten und dann an
dem Verhältnis von erster und zweiter Reflexion orientieren. Mir erscheint
die hermeneutische Struktur, deren Folge die Entmythologisierung ist, dis-
kussionswürdiger zu sein als einzelne Ergebnisse des Entmythologisierungs-
"programms", in eben dem Maße, wie· der Grund seiner Folge überlegen ist.
MYTHOS - LOGOS - MYSTE"RION
Johannes B. Lotz
I. Einführung
Jede Theologie enthält eine Philosophie, ob es der Theologe weiß oder
nicht, ob er es eingesteht oder nicht. Daher ist es eine wichtige Aufgabe des
christlichen Theologen, bis zu den philosophischen lmplikationen und Vor-
aussetzungen der Theologie vorzudringen. Von diesem Ansatzpunkt her ent-
faltet sich das christliche Philosophieren; hier wird seine Bedeutung für die
christliche Daseinsgründung oder seine existenzielle Bedeutung offenbar;
also liegt in einem rein profanen Philosophieren fü:r einen Christen keine
echte Möglichkeit. Das christliche Philosophieren aber darf der Theologe
nicht vernachlässigen, weil er sonst nur seinen unbewußt bleibenden philo-
sophischen Annahmen kritiklos verfällt. Macht er hingegen die seiner Theo-
logie innewohnende Philosophie ausdrücklich bewußt, so setzt er sich zu-
gleich mit seinen philosophischen Grundlagen kritisch, auseinander. Dabei
kommt es zu einem Dialog zwischen der göttlichen Offenbarung und der
menschlichen Vernunft. Indem diese sich der Offenbarung gehorsam unter-
wirft, wird sie zugleich erlöst, findet sie erst ganz sich selbst oder ihre
eigene geläuterte Kraft. Eine solche Vernunft (ratio fide illustrata) vermag
der Offenbarung unersetzliche Dienste zu leisten, wenn diese sich selbst zu
verstehen sucht oder eine Theologie entfaltet.
An diesem großen Werk kann mit dem christlichen auch das nicht-christ-
liche Philosophieren zusammenwirken. Die weltgeschichtlichen Beispiele
etwa eines Augustinus (Platonismus), Thomas von Aquin (Aristoteles) und
auch Kierkegaard (Hegel) zeigen das mit aller Deutlichkeit. Doch muß das
nicht-christliche Philosopieren erst recht geläutert und so in christliches
Philosophieren umgesetzt werden, damit es dem Wort Gottes nicht wider-
spricht, sondern ihm dient, wodurch sein Wahrheitsgehalt nicht zerstört, son-
dern erfüllt wird. Deshalb kann man mit Recht die Frage stellen, ob der
Aristoteles der Kommentare von Thomas ganz mit dem Aristoteles, wie er
konkret in seiner geschichtlichen Situation war, übereinstimmt.
Von dem vorstehend entworfenen Hintergrund her fällt auch auf die Frage
der Entmythologisierung einiges Licht. Diese hat nämlich ihre philosophische
Wurzel, insofern Bultmanns zentrales Anliegen das existenziale Verstehen
des Menschen als des Christen ist, wozu sich die Entmythologisierung wie
eine Folge verhält. Das christliche existenziale Verstehen aber ist vom christ-
lichen Ringen Kierkegaards und vom Philosophieren Heideggers befruchtet,
MYTHOS - LOGOS - MYSTERION 111
und zwar von dessen erster Periode, die wiederum im Lichte Kierkegaards
gedeutet wird. Hier vollzieht sichi also entweder mittelbar (durch Kierke-
gaard) oder unmittelbar (durch Heidegger) eine Begegnung der Theologie
mit der Philosophie. - Im folgenden wollen wir über die Eigenart und Be-
rechtigung dieser Begegnung ein wenig nachdenken, indem wir sie in einen
weiteren Rahmen, in den unseres Erachtens ihr· zukommenden Rahmen hin-
einstellen und so auch sachentsprechende Maßstäbe für eine kritische Be-
urteilung gewinnen.
Was wir unter einem solchen weiteren Rahmen in theologischer Hinsicht
verstehen, sei nur kurz angedeutet. Wir s.ind mit Bultmann darin einig, daß
man das Christentum grundsätzlich und verhängnisvoll mißversteht, wenn es
als Mythos, vielleicht besonderer Art, unter die heidnischen Mythen ein-
gereiht und dies.en mehr oder weniger gleichgestellt wird. Das Christentum
ist nicht ein Mythos, ist mehr als jeder Mythos. Aber was ist das Christen-
tum? Was ist der Sinn seiner Offenbarungs.-Botschaft? Darum ringt von An-
fang an die christliche Hermeneutik, als deren Sonderfall die Entmythologi-
sierung Bultmanns betrachtet werden kann und muß. Hierbei geht es um
die Auslegung der überlieferten heiligen Schriften, um voll Ehrfurcht und
Behutsamkeit den Sinn der Botschaft herauszuarbeiten, den Gott uns mit-
teilen will und den der Heilige Geist von Anfang an und für die Menschen
aller Zeiten beabsichtigt hat. Im Zuge dieser Arbeit hebt sich das Überzeit-
liche vom Zeitbedingten, der gemeinte Sinn von dem, was lediglich Einklei-
dung ist, ab; damit wird dann auch, was Bultmann besonders akzentuiert,
die Grundlage für eine Anpassung der Botschaft an die Menschen einer be-
stimmten Zeit und zumal unserer Zeit gewonnen, ohne daß man fürchten
muß, Wesentliches preiszugeben. Wichtige Beispiele solcher Hermeneutik
sind etwa die Auslegung des Sechs-Tage-Werkes durch Augustinus, das Rin-
gen um eine bestimmte Aussage der Hl. Schrift anläßlich des Falles Galilei,
die Erörterungen um die verklärte Leiblichkeit und den Himmel, die durch
das Dogma von der leiblichen Aufnahme der Gottesmutter in Gottes Herr-
lichkeit neu ausgelöst wurden; ähnliche Fragen beschäftigen die Theologen
bezüglich der Eschatologie. ·Dem Bemühen der Hermeneutik kommen die
Philosophie und auch die Naturwissenschaften zu Hilfe; ebenso kann die
Religions.geschichte einen Beitrag dazu liefern; die letzten Maßstäbe aber
sind der christlichen Botschaft selbst zu entnehmen. Wir lassen es bei diesen
grundsätzlichen Bemerkungen bewenden und gehen nicht näher auf eine
·kritisclie Siehtung des Bliltmann'schen Versuches ein.
Den weiteren Rahmen in philosophischer Hinsi.cht wählen wir zum eigent-
lichen Thema unserer Untersuchung. Er ist durch die drei im Titel unserer
Abhandlung steii·enden Worte angedeutet, nämlich durch Mythos, Logos und
Mysteriori. Diese d~ei Größen sind kraft ihres eigensten Wesens auf drei
Stufen· nienschiicher Selbstverwirklichung bezo~en, auf die Einbildungskraft,
·den Verstand und die Veniunft. Die Vernunft vernimmt das Geheimnis, der
Verstand prägt es in den Begriff und die Einbildungskraft stellt es im Bild
oder im Symbol dar. Daher setzen unsere Überlegungen beim. Menschen an,
und zwar bei seiner innersten Tiefe, bei seiner Verimnft, weil die beiden
112 JOHANNES B. LOTZ
anderen Stufen von ihr abhängen und leben. Zu dieser Haupt-Thematik ge-
leitet von Bultmann her eine vorbereitende Erörterung des existenzialen
Verstehens hin.
Doch trägt der gegenständliche Begriff als die Bedingung seiner eigenen
Möglichkeit immer schon das übergegenständliche Geheimnis in sich; des-
halb kann auch er nie ganz ausgeschöpft werden, kann auch er sowie das
in ihm verstandene Seiende an der existenzialen Bedeutsamkeit des Geheim-
nisses teilnehmen. Dieses ist also einerseits im objektivierenden Begriff am
Werke; andrerseits aber spielt es lediglich als der mit-vollzogene, nicht eigens
beachtete und bedachte Hintergrund mit; wenn es nie aus dieser Unausdrück-
lichkeit hervorträte, könnten wir nicht einmal darüber reden. Nun drängt
unser geistiges Leben dazu, das Implizite zum Expliziten, das Mit-vollzogene
zum Vollzogenen, eigens Beachteten und Bedachten zu erheben; das gilt vor
allem bezüglich des für unsere Existenz entscheidenden Geheimnisses. Hier-
bei muß der Mensch äußerst behutsam vorangehen, damit das Geheimnis
im Sinne der oben gestellten Frage wirklich Geheimnis bleibt.
Auf keinen Fall ist es möglich, das Geheimnis mit dem objektivierenden
oder (was das.selbe besagt) kategorialen Begriff zu fassen; denn das wäre
ei~ Angleichen des Seins an das Seiende und damit ein Zerstören des Ge-
heimnisses. Ebenso ist es nicht möglich, das Geheimnis ohne jeden Begriff
zu fassen; denn die Vernunft hat (abgesehen von der Mystik) keine eigenen
Mittel, um dem Geheimnis die hier gesuchte Ausdrücklichkeit zu verleihen.
Daher kommt alles. darauf an, daß es gelingt, mit dem Begriff des Verstan-
des das Geheimnis der Vernunft zu erreichen. Hierzu ist eine Erhebung des
Begriffes über seine zunächst gegebene Ebene erforderlich; eine solche Er-
hebung müssen wir aber nicht willkürlich herbeiführen, sondern der Begriff
wandelt sich ganz von selbst, sobald er dem Geheimnis begegnet, und ninimt
eine ihm gemäße Gestalt an. So gelangen wir zu dem Begriff, den die große
Überlieferung "analog" nennt, weil er sich, wie das Wort sagt, seinem Ge-
halt "nach einem Verhältnis" nähert. Er faßt nämlich, da es eigene Aus-
drucksmittel der Vernunft nicht gibt, das Überkategoriale nach seinem Ver-
hältnis zum Kategorialen oder das übergegenständliche Geheimnis nach
seinem Verhältnis zum Gegenständlichen; dabei überwindet er das objekti-
vierende Denken und geht in das existenziale Verst"'hen ein. Die Eigenart
dieses ana-logen Begriffes ist darin vorgezeichnet, daß uns das Sein anfäng-
lich als Hintergrund des Seienden und damit im Verhältnis zu diesem im-
plizit aufgeht, weshalb es auch nur im Verhältnis zu demselben expliziert
werden kann. - Um eine terminologische Abgrenzung zu treffen, könnte
man vorschlagen, das Wort "Begriff" auf den gegenständlichen Bereich zu
beschränken und das Wort "Logos" der begrifflichen Fassung des_ Geheim-
nisses vorzubehalten; in diesem Sinne meinen wir "Logos" in unserem Titel.
Suchen wir den Logos näher zu kennzeichnen. Erstens vermag er das Ge-
heimnis nie auszuschöpfen; sonst wäre das Geschichtliche überstiegen und
das begriffliche Fassen ginge in das Schauen über, was dem völligen Ent-
hüllen und damit dem Aufheben des Geheimnisses gleichkäme. Das Aus-
schöpfen ist schon dadurch ausgeschlossen, daß das Sein nur im Verhältnis
zum Seienden entborgen wird.- Zweitens ist der Logos nicht wie der kate-
goriale Begriff ein schlechthin abstraktes Allgemeines; denn das Sein läßt
sich nicht schlechthin vom Seienden abstrahieren, weshalb in ihm stets alles
MYTHOS - LOGOS - MYSTERION 119
Seiende implizit mit-gedacht ist. Auch kann man nicht am Sein eine Rück-
sicht völlig isolieren, weshalb wir in jeder Rücksicht die gesamte Fülle des
Seins implizit mitvollziehen. Schließlich zeigt sich der Logos als das konkret
Allgemeine, das den einmaligen Bezug des Seienden zum Sein und letztlich
zu Gott oder des Endlichen zum unendlichen Geheimnis ausspricht.
Während also der kategoriale Begriff das Geheimnis auflöst, verleiht ihm
der Logos gerade seine begriffliche Fassung. - Drittens ist mit dem eben
Gesagten gegeben, daß der Logos im Geheimnis des Seins vor allem jenes
Seiende mit-vollzieht, das als Mensch zum Verstehen des Seins durchdringt.
Daher wird das Sein nie als etwas vom Menschen Abgetrenntes und für ihn
Gleichgültiges, sondern stets als das für ihn schlechthin Bedeutsame und
Entscheidende gedacht. Folglich gehört der Logos dem Bereich des existen-
zialen Verstehens, nicht dem des objektivierenden Denkens an.
Obwohl nach unseren Darlegungen das Geheimnis im Logos seine be-
griffliche Ausprägung findet, so fällt es doch nie mit dieser zusammen oder
schreitet es immer über diese unendlich hinaus. Daher unterscheidet es sich
zuinnerst von seiner begrifflichen Gestalt, wodurch es dieser zugleich als
deren kritisches Richtmaß gegenübertritt; demnach kann sich vom Geheimnis
her der Logos ständig wandeln und immer mehr vollenden. - Aus dem eben
erwähnten Hinausschreiten ergibt sich die weitere Folgerung, daß eine Ent-
konzeptualisierung des Geheimnisses möglich ist. Das heißt nicht, daß wir
das Geheimnis je ohne Logos voll zu fassen vermögen; das heißt aber sehr
wohl, daß jede Art des Logos unendlich hinter dem Geheimnis zurückbleibt
und deshalb dieses von einer begrifflichen Gestalt in eine andere übergehen
kann: Um-konzeptualisierung.
3. Mythos: Die oben gestellte Frage, wie das Geheimnis sich uns mitteilt,
ohne daß es aufhört Geheimnis zu sein, findet nicht nur im Logos, sondern
auch im Mythos eine Antwort. Wenn das Geheimnis aus der Vei:nunft in den
Verstand hinabsteigt, entsteht durch eine entsprechende Umformung des Be-
griffes der Logos; wenn aber das Geheimnis noch weiter in die Einbildungs-
kraft hinabdringt, erwächst aus einer ihm mehr oder weniger gemäßen Um-
formung der Bilderwelt das, was man Mythos nennt. Zu einer solchen Ver-
sinnlichung des Geheimnisses kommt es notwendig, weil dieses sich nicht in
der Vernunft einschließen läßt, sondern den ganzen Menschen durchstrahlt
und auf seine eigene Tiefe hin verwandelt.
Kraft der oben erwähnten Zuwendung zum Seienden oder Gegenständ-
lichen entwirft der Mensch mit seiner Einbildungskraft zunächst Ab-bilder,
in denen sich die Dinge dieses Bereiches widerspiegei.n; es handelt sich also
um Bilder von gegenständlicher oder objektivierender Art. Doch werden
schon diese nicht allein von den bloß sinnlichen Vermögen hervorgebracht;
denn Thomas von Aquin weist darauf hin, daß die Einigungskraft (vis cogi-
tativa), in der das sinnliche Erfassen gipfelt, nur durch ein Überstrahlen aus
dem geistigen Erkenntnisvermögen imstande ist, ihr Werk zu vollbringen,
nämlich anschauliche Dinggestalten zu formen und zu erfassen. Daher er-
klärt sich die Einheit der Dinggestalt letztlich aus der Wesenheit des Ver-
120 JOHANNES B. LOTZ
standes und dem Sein der Vernunft. Also kündigt sich bereits in den objek-
tivierenden Bildern das Geheimnis als ermöglichender Hintergrund an.
Nun kann dieser Hintergrund ganz verborgen bletben, weshalb im Bild
einzig das Ab-bild uns entgegentritt. In vielen Fällen wird es aber nicht da-
bei bleiben; vielmehr wird der Hintergrund selbst in das Bild eingehen und
in ihm mehr oder weniger zum Ausdruck kommen. Dann leuchtet im Abbild
das Ur-bild auf; mit "Urbild" meinen wir die dem Geheimnis entsprechende
anschauliche Gestalt, die Urbild heißt, insofern das Sein der Ursprung oder
Urgrund alles Seienden oder Gegenständlichen ist. Schließlich kann es ge-
schehen, daß in der bildhaften Gestalt das Ur-bild völlig die Oberhand über
das Abbild gewinnt; so entsteht ein Bild, das ganz iu der VersinnZiehung
des Geheimnisses aufgeht. Ein solches Bild erhebt sich vom Gegenständ-
lichen zum Übergegenständlichen, indem es zugleich eine ihm eigene existen-
ziale Bedeutsamkeit erreicht. Wie oben beim Logos, so kann auch hier von
einer gewissen Analogie die Rede sein; denn das Geheimnis begegnet uns
durch das gegenständlich Bildhafte und wird deshalb nach seinem Verhält-
nis zu diesem anschaulich ausgeprägt. Dabei spielen Elemente mit, die zwar
aus dem Abbild stammen, die aber in ihrem gegenständlichen Gehalt trans-
parent für das übergegenständliche Geheimnis werden, so daß sie, ganz in
das Urbild eingeschmolzen, allein dem existenzialen Verstehen dienen.
In den vorstehend entfalteten Zusammenhang gehören der Mythos und
die Mythologie; beide unterscheiden sich nach Kerenyi dadurch, daß jener
das Ursprüngliche ist und an sich Wahrheit darstellt, während diese das Ab-
geleitete und weiter Ausgesponnene ist, das wegen des vielen Redens in die
Lüge abgleitet. Doch ist auch der Mythos selbst nicht über jeden Einwand
erhaben, was sich aus seiner Eigenart ergibt. Näherhin macht er das Ge-
heimnis in bildhaften Erzählungen oder Geschichten anschaulich; dabei ge-
lingt es oft nicht, die gegenständlichen Elemente wirklich analog zu nehmen
und so ganz in das übergegenständliche Geheimnis umzuschmelzen, weshalb
es weithin zu einer Vergegenständlichung des Übergegenständlichen kommt;
ebenso gelingt nicht die Unterscheidung des übergegenständlichen Geheim-
nisses von der noch allzu gegenständlich anschaulichen Gestalt, weshalb
beide, wenigstens solange der Mythos ungebrochen herrscht, miteinander
gleichges.etzt werden.
Eine Ent-mythologisierung und auch Ent-mythisierung ist möglich und not-
wendig. In dem oben angedeuteten Sinne ist die Ent-mythologisierung mög-
lich, insoweit in der Mythologie noch der ursprüngliche Mythos lebt und
dieser sich von jener unterscheidet, indem er zugleich zum kritischen Richtmaß
für sie wird. Die Entmythologisierung ist wegen des Geheimnisses notwen-
dig, weil dieses das Ausscheiden der später beigemischten Lügen und die
Rückkehr zu der anfänglichen Wahrheit des Mythos verlangt. - Auch die
Ent-mythisierung ist möglich, insofern das Geheimnis nie mit dem Mythos
zusammenfällt, sondern stets unendlich über diesen hmausschreitet; da also
nie ein Mythos das Geheimnis ausschöpft, kann es mit Recht viele Mythen
bezüglich desselben Geheimnisses geben. Deshalb unterscheidet sich trotz
der erwähnten Gleichsetzung das Geheimnis zuinnerst immer schon von
MYTHOS - LOGOS - MYSTERION 121
jedem Mythos, indem es sich zugleich als kritisches Richtmaß an ihm be-
währt. Hieraus ergibt sich, daß der Mythos nie nur im Bildhaften besteht,
sondern stets ein gewisses geistiges Erfassen, nämlicll das Vernehmen des
Geheimnisses durch die Vernunft und oft auch ein wenigstens. anfängliches
begriffliches Prägen desselben durch den Verstand einschließt. Die Ent-mythi-
sierung ist nicht nur möglich, sondern auch notwendig, weil um der Reinheit
des Geheimnisses willen die Unzulänglichkeiten des Mythos überwunden
werden müssen, die der oben erhobene doppelte Einwand nennt.
Die Ent-mythisierung, wie sie hier genommen wird, fordert aber keines-
wegs die radikale Ent-sinnlichung des Geheimnisses oder sein völliges Her-
auslösen aus den Bildgehalten; ein solches Unternehmen widerspräche der
geistig-sinnlichen Natur des Menschen. Daher geht es einzig darum, das Ge-
heimnis von einer unzureichenden Ver-sinnlichung zu befreien, um dadurch
eine ihm möglichst gemäße Ver-sinnlichung anzubahnen. Hieraus erwächst
eine Um-mythisierung, wenn man den von jenen Unzulänglichkeiten ge-
läuterten Mythos noch "Mythos" nennen darf; soll dieses Wort vermieden
werden (was wegen möglicher Mißverständnisse wohl besser ist), so kann
vielleicht von "Symbolisierung" die Rede sein. Auf jeden Fall vollendet sich
die Begegnung des Menschen mit dem Geheimnis erst dann, wenn er es nicht
nur im Logos begrifflich faßt, sondern auch in sinnlichen Gestalten (im ge-
läuterten Mythos), .vorab in Symbolen anschaut. Dabei müssen die gegen-
ständlichen Elemente wirklich ana-log genommen und so ganz in das über-
gegenständliche Geheimnis umgeschmolzen werden; zugleich muß trotz und
in der innigsten Durchdringung von unanschaulichem Geheimnis und anschau-
licher Gestalt der Unterschied beider mit-ausgeprägt sein, weil sonst im
Anschaulichen nicht wirklich das Unanschauliche angeschaut wird. Solche
Ver-sinnlichung oder Ver-bildlichung kann nicht künstlich gemacht werden;
sie muß aus den Tiefen des Menschen wachsen und sich je nach den Völkern
und Zeiten ändern; sie bringt das überbegriffliche Geheimnis auf überbe-
griffliche Weise ins Bild, wobei Herrlichkeiten anschaulich hervortreten, die
sich mit dem begrifflichen Logos nicht oder nur mühsam und nie restlos ein-
holen lassen.
Im Rückblick sehen wir den Logos zwischen dem Mysterion und dem
"Mythos". Diese beiden kann er nie ganz einholen und deshalb auch nicht
ersetzen; doch hält er sich zu ihnen hin offen· und läßt sich von ihnen be-
fruchten. Umgekehrt sind Mysterion und "Mythos'' auf den Logos ange-
wiesen, insofern er sie durch seine Begrifflichkeit prägt, klärt und läutert.
DIE STELLUNG EINER REFORMIERTEN THEOLOGIE
GEGENÜBER DER EXISTENTIALEN INTERPRETATION
Henri Bouillard SI.
vom Institut Catholique de Paris
I.
Das offene Zwiegespräch zwischen Barth und Bultmann hat bekanntlich
lange vor jenem berühmten Artikel aus dem Jahre 1941 über die Entmytho-
logisierung der neutestamentlichen Verkündigung oegonnen. Mit Genug-
tuung hebt Barth im Vorwort zur dritten Auflage des "Römerbrief" im Jahre
1922 die gefällige Aufnahme hervor, die sein Werk bei Bultmann gefunden
hat. Freundschaftlich antwortete er damals auf dessen Vorwurf, in seiner
Exegese von einer zu wenig radikalen Kritik durchdrungen zu sein. Zu jener
Zeit standen sich die beiden Theologen ziemlich nahe. Man zählte sie mit
Gogarten, Brunner und anderen zu den Vertretern der sogenannten dialek-
tischen Theologie. Sie arbeiteten zusammen an der Zeitschrift "Zwischen
den Zeiten".
In den Jahren 1928 bis 1933 tritt nach und nach ein ernsthafter Zwiespalt
zutage. Bultmann entwickelt systematisch 1 eine Idee, die ihm von jeher ge-
läufig war: man kann einen biblischen Text oder die christliche Verkündigung
nicht verstehen, ohne bereits ein "Vorverständnis" von dem zu haben, worum
es sich handelt. Er kommt dabei zu folgendem Schluß: die Theologie "setzt
also in ihren Aussagen ein bestimmtes Verständnis vom Menschen vor-
aus" 2 • Dieses Verständnis läßt sich zusammenfassen in der' Geschichtlich-
keit des Daseins, wie sie Heidegger gerade in "Sein und Zeit" definiert
hatte. Gegen diese Idee eines zur theologischen Arbeit notwendigen Vorver-
ständnisses lehnt sich Barth auf. Er sieht darin eine Art Geistesverwandt-
schaft mit Schleiermacher 3 • Im Jahre 1933 gibt er seine Zusammenarbeit mit
Bultmann, Gogarten und Brunner auf.
Mehrere Jahre hindurch erwähnt er Bultmann kaum mehr in seinen Schrif-
ten. Erst von 1948 an bringt er in offenen Schriften seine Kritik hinsichtlich
des im Jahre 1941 dargelegten Planes der Entmythologisierung und der. exi-
stentialen Interpretation zum Ausdruck. Einige dieser Kritiken finden sich in
1 Vgl. dazu vor allem: "Die Bedeutung der dialektischen Theologie für die neu-
testamentliche Wissenschaft", erschienen 1928 in "Theologische Blätter", S. 57-67,
wieder aufgenommen in "Glauben und Verstehen" I, 8.114-133. Die Entwicklung des
theologischen Denkens Bultmanns bis zum Jahre 1933 habe ich analysiert in "Karl
Barth, I. Genese d evolution de la theologie dialectique" Paris, Aubier, 1957,
8.190-203.
2 "Glauben und Verstehen", I, 8.117.
3 D. ("Kirchliche Dogmatik") I/1, S. 36, 38-39, 132-133.
DIE STELLUNG EINER REFORMIERTEN THEOLOGIE 123
Bultmann ahmt auf diese Weise den jungen Luther, den jungen Melanchthon
- beide wieder aufgenommen von der liberalen Theologie (Ritschl und Her-
mann) - nach 8 • Der gleiche Versuch erscheint in der katholischen Mystik
unter einer anderen Form, unter der Idee nämlich, daß die Heiligen das
Leben Christi wiederleben, daß die Messe das Opfer von Kaivaria wieder-
holt. Es herrscht, so sagt Barth, eine beunruhigende Verwandtschaft zwi-
schen der Bultmannsehen Wiedergabe der neutestamentlichen Botschaft -
zurückgeführt auf die Nachahmung Christi - und der katholischen Todes-
mystik 9• Mehr noch: "Was ist die Konzeption Bultmanns Anderes als die
existenzialistische Übersetzung der Sakramentalistischen Doktrin der römi-
schen Kirche, der zufolge es auf dem Höhepunkt der Messe, im Vollzug der
Wandlung der Elemente zugleich - in metaphysischer Identität mit dem
damals und dort Geschehenen - zu einer ,unblutigen Wiederholung' des
Opfers Christi auf Golgatha kommt? Wer diese Lehre vom Meßopfer für
sachlich von Grund aus untragbar hält, der wird das in Jesus Christus
eg/ lbr:a~ Geschehene auch nicht mit dem, was im Glauben geschieht, koinzi-
dieren lassen können; er wird den Glauben mit dem späteren Luther als ein
erkennendes Ergreifen (comprehendere) Jesu Christi als des für uns
Menschen, an unserer Stelle, Gestorbenen und Auferstandenen verstehen,
ihn aber mit dem Sterben und Auferstehen Jesu Christi und umgekehrt das
Sterben und Auferstehen Jesu Christi mit dem, was im Glauben geschieht,
unverworren lassen." 10 Sicherlich steckt etwas Wahres in dem Wort Melanch-
thons: "Hoc est Christum cognoscere, benoficia eius cognoscere". Es ist
sogar richtig, dieses Wort zur Geltung zu bringen, wenn es darum geht, gegen
einen abstrakten Objektivismus zu Felde zu ziehen. Auf der anderen Seite
jedoch kommt man in Gefahr, in einen nicht minder abstrakten Subjektivis-
mus zu verfallen, indem man diesen Satz zu einem systematischen Prinzip
erhebt 11 • Es ist sicher unbedingt notwendig in Erinnerung zu rufen, daß
Christus "für uns" gestorben ist, ja sogar - mit Luther und dem Pietismus
- daß er "für mich" gestorben ist, und schließlich mit Kierkegaard, daß er
mich "existentiell" betrifft 12 • Auf keinen Fall jedoch darf man dem Irrtum
verfallen zu meinen, das, was sich in dem Gläubigen, der dieses "pro me"
anerkennt, ereignet, sei die Heilstat Gottes selbst, sei der Tod und die Auf-
erstehung Jesu Christi, sei die Vergegenwärtigung oder die Wiederholung
seines Gehorsams, seines Opfers und seines Sieges. Die reale Vergegen-
wärtigung der Geschichte J esu Christi ist die, die er selbst durch den Hei-
ligen Geist vollbringt, indem er sich selbst zum Objekt· und zum Ursprung
des Glaubens macht 13 • Man kann nicht mit Bultmann sagen, daß Christus
lediglich die Möglichkeit zum Leben verschafft habe, und daß dieses selbst
erst in den Gläubigen Wirklichkeit würde 14 : das "pro nobis" ist bereits wirk-
8 "Bult.", 8.12; D. IV/1, S. 858.
o "Bult.", S. 20-21.
10 D. IV /1, S. 858.
11 "Bult.", S. 12.
12 D. IV /1, S. 843-845.
13 D. IV /1, S. 858.
14 "Theol. des N. T.", S. 248.
DIE STELLUNG EINER REFORMIERTEN THEOLOGIE 125
lieh im Versöhnungswerk Christi, das er ein für a]lemal für alle Menschen
vollbracht hat, und das von deren Seite keinerlei Etgänzung nötig hat 15 •
2. Im Verlaufe dieser Diskussion hat Barth mit keinem Wort die "Ent-
mythologisierung des Neuen Testamentes" erwähnt. Während die Mehrzahl
der Theologen und Exegeten, die Bultmann kritisiert haben, sich auf diese
Frage konzentriert haben, ist er der Ansicht, daß diese - in sich selbst be-
trachtet- verhältnismäßig bedeutungslos ist im Vergleich zu den Problemen,
die aufgeworfen wurden durch das positive Ergebnis der Exegese Bultmanns
(wovon bisher die Rede war) und durch sein positives Prinzip der existen-
tialen Interpretation (wovon später die Rede sein wird). Diese Probleme
wären von der gleichen beunruhigenden Bedeutung, selbst wenn die "Ent-
mythologisierung" dabei nur eine nebensächliche Rolle spielen würde. Da
diese nun aber einmal ins Zentrum der. allgemeinen Aufmerksamkeit ge-
raten ist und Bultmann selbst ihr eine außerordentliche Bedeutung zuzu-
schreiben scheint, müssen wir ihm auch auf diesem Plan folgen 16 •
Barth bemerkt zunächst, daß das Wort "Entmythologisierung" - von
Bultmann erfunden - außerordentlich häßlich ist und darüber hinaus unnötig
provozierend wirkt. Es hat geradezu die Mißverständnisse begünstigt, über
die sich der Autor beklagt 17 • Für ihn handelt es sich tatsächlich, von Aus-
nahmen abgesehen, nicht darum, die mythologischen Elemente aus dem
Neuen Testamente auszuscheiden, sondern sie zu interpretieren. Und er tut
dies mit einer Ernsthaftigkeit, die vielen Theologen, die bedeutend "ortho-
doxer" sind als er, ein Beispiel sein könnte, und um derentwillen manche
"liberale" Theologen sich weigern, ihn als einen der Ihren anzuerkennen 18 •
Aber weshalb hat er diese Elemente ins Zentrum seiner Aufmerksamkeit
gerückt, indem er sie - nebenbei gesagt - mit einer gewissen Ironie, um
nicht zu sagen karikierend beschreibt? Um welchen Interesses an seiner
Exegese willen hat er diese Kette von merkwürdigen Elementen zusammen-
geschmiedet? 19
Die wesentliche Frage ist indessen zu wissen, ob es überhaupt angezeigt
ist, das Neue Testament zu entmythologisieren. Bultmann glaubt, das Neue
Testament sei in seiner mythologischen Form unverständlich für den moder-
nen Menschen, der durch die Naturwissenschaft und die philosophische Re-
flexion geformt ist. Was aber muß dann die Richtschnur sein für den Exe-
geten: die Voraussetzungen seiner Zeitgenossen oder die Erklärungen des
Textes selbst? Kann man irgendeinen Text verstehen, wenn man - statt
seiner Selbsterschließung offen entgegenzusehen und geduldig zu folgen -
mit einer Vorentscheidung über das Maß und die Grenzen seiner Verständ-
lichkeit, mit einem seinem Inhalt und Geist fremden Kriterium bereits an
ihn herantritt? 20
1s D IV /1, S. 313.
1.o "Bult.", S. 24-25.
17 "Bult.", S. 24.
1S "Bult.", S. 25-26, 28.
1 9 "Bult.", S. 27.
20 "Bult.", S. 30-31.
126 HENRI BOUILLARD
21 "Bult.", S. 31-32.
22 "Bult.", S. 32-34; Cf. D. III/2, S. 536-537.
DIE STELLUNG EINER REFORMIERTEN THEOLOGIE 127
2 a. Der Anweisung Bultmanns getreu und, bestrebt, nicht in den Irrtum zahlreicher
Kritiker zu verfallen, hütet sich Barth, die Begriffe "existential" und "existenziell"
zu verwechseln. Die "exi!~tentiale" Interpretation, so sagt er, v:.ersteht und legt die
Erklärungen des Neuen Testamentes als "existenzielle" Erklärungen aus. ("Bult.",
s. 35).
24 "Bult.", S. 34-38.
2s "BuTt.", S. 38-39.
128 HENRI BOUILLARD
uns fremd Erscheinenden zurufen: "Bis hierher und nicht weiter!", indem
man eine existenzialistische oder sonst eine Philosophie als Grenznorm auf-
stellt? Ist es nicht in Wirklichkeit der Text selbst, der uns zu unserm eigenen
Selbstverständnis hinführen muß, dadurch daß der Heilige Geist selbst uns
durch die Bo.tschaft hindurch den nötigen Aufschluß verleiht? Indem sie diese
Forderung erhebt, macht sich die biblische Hermeneutik zum Modell, zum
Vorbild und Maß aller Hermeneutik überhaupt 27•
Als Barth und seine Freunde vor ungefähr 30 Jahren den Versuch unter-
nahmen, der Theologie eine neue Orientierung zu geben, ging es ihnen
gerade um die Umkehrung des damals geläufigen Begriffes vom "Ver-
stehen" der Heiligen Schrift und vom Verstehen überhaupt, ging es ihnen
um die Begründung des menschlichen Erkennens in des Menschen Bekannt-
werden und Erkenntsein vom "Gegenstand" seines Erkennens her, und ging
es ihnen schließlich um die Freigabe des Wortes, in welchem Gott den Men-
schen anspricht, zu Gunsten einer Freigabe auch des Wortes, in dem ein
Mensch den anderen anredet. Es handelte sich darum, das Verstehen der
Bibel der ägyptischen Gefangenschaft, wie sie es nannten, einer Philosophie
zu entreißen; und es war ihr Plan, die Idee, nach der der Mensch selbst das
Maß allen Verstehens sei, zu "entmythologisieren·' - ohne daß jedoch
dieses Wort selbst schon bekannt gewesen wäre. Man hätte damals glauben
können, Bultmann schlage den gleichen Weg ein, hat er doCh - gegen die
liberale Theologie· - den Begriff des "Kerygma" wieder zur Geltung ge-
bracht. In der Folge wurde jedoch klar, daß er wiederum den alten Weg
ging. Und das ist es, was Barth ihm in allererster Linie vorwirft. Im Gegen-
satz zu den meisten Kritikern Bultmanns sind es "viel weniger 's.eine mas-
siven antisupranaturalistischen Negationen", als vielmehr sein "vorkoperni-
kanisches Gehaben", was Barth immer wieder in Verlegenheit bringt 28 •
Vielleicht, so sagt er zum Schluß, können die neuen Generationen, die
die Ära Ritschl-Harnaclc-Troetsch nicht mehr aus eigener Anschauung ge-
kannt haben, nicht1 verstehen, warum wir uns von ihnen getrennt haben.
Ohne das Gesetz, dem wir damals gefolgt sind, zur absoluten Norm er-
heben zu wollen, möchte ich doch, so sagt er, folgenden Wunsch zum Aus-
druck bringen: sollte die Theologie der zweiten Jahrhunderthälfte wirklich
eine "entmythologisierende" und "existential interpretierende", also aufs
neue eine Theologie des·obligaten "Vorverständnisses" werden, möchte dann
doch das c.lJ.ristliche Volk darum nicht mit zu vielen Wachteln gestraft wer-
den, wie es den Israeliten in der Weise erging, als sie die Fleischtöpfe
Ägyptens zu bejammern begannen 29 •
II.
Das sind kurz zusammengeiaßt die wesentlichen Einwände; die Barth der
Bultmannsehen Interpretation der neutestamentlichen Botschaft entgegen-
hält. Getreu der Aufgabe, die man mir übertragen hat, habe ich mich bis-
21 "Bult.", S. 48-51).
28 "Bult.", s. 9~10, 52-53.
29 "Bult.", S. 53.
9 Ca.stelli
130 HENRI BOUILLARD
her in den Grenzen dessen gehalten, der einfach wiedergibt. Muß ich un-
bedingt hervorheben, daß ich. weder die Position Barths noch die Bultmanns,
so wie sie sind, zur meinen machen kann? Bald wäre ich nämlich Partei-
gänger des einen, bald des anderen, und zwischenhinein sähe ich mich sogar
veranlaßt, gewisse Voraussetzungen zu kritisieren, die beiden gemeinsam
sind.
Ich werde mich nun dat:auf beschränken, einige Bemerkungen anzubringen,
ohne allerdings auf die Begründungen eingehen zu können, die dazu erfor-
derlich wären. Nehmen wir die drei Punkte der Barthschen Kritik noch ein-
mal auf, aber in der umgekehrten Reihenfolge.
1. Betrachten wir zunächst den Gedanken des "Vorverständnisses". Indem
er Dilthey folgt, hebt Bultmann hervor, daß jede Art von Interpretation bei
dem, der sie vollzieht, eirie vorgängige Beziehung, ein "Lebensverhältnis"
zu dem voraussetzt, worum es in dem betreffenden Text geht, und das den
Sinn angibt und bestimmt, in dem der Text zu befragen ist. Anders ausge-
drückt beruht jegliche Interpretation notwendig auf einem gewissen "Vor-
verständnis" von dem, was den Gegenstand der Erörterung ausmacht. Be-
sonders angesichts philosophischer, religiöser und dichterischer Texte ist
das Verständnis: einer bestimmten Anschauung über die menschliche Exi-
stenz bedingt. Dasselbe gilt, wenn es sich um die Heilige Schrift handelt.
Wir vermöchten nicht zu verstehen, was die inj ihr wiedergegebene Tat
Gottes bedeuten kann, wenn wir nicht bewußt oder unbewußt von der Frage
nach Gott bewegt würden 30 •
Man wird sich darüber klar, daß für Bultmann das zum Verstehen der
Heiligen Schrift notwendige Verständnis nicht direkt eine Philosophie ist,
wie Barth zu meinen scheint; es ist vielmehr in erster' Linie das existenzielle
Selbstverständnis, das ein existenzielles Wissen um Gott miteinschließt. Es
ist auch nicht, wenigstens nicht prinzipiell, eine starre, zur Norm dessen er-
hobene Konzeption, was man noch zugeben könnte. Es ist klar, so sagt Bult-
mann, daß dieses Vorverständnis nicht mit einem Vorurteil über den Inhalt
der Schrift an dieselbe herantreten kann, daß es nicht auf die Ergebnisse der
Exegese vorgreifen darf, daß es vielmehr bereit sein muß, sich von diesen
korrigieren zu lassen in dem Maße, als jene sich bereits in irgendeiner Weise
ausgedrückt hat. Seine Aufgabe besteht einfach darin, dem Inhalt des Textes
gegenüber die Augen zu öffnen 31 • In diesem Sinne gibt es für Bultmann,
mag Barth darüber sagen, was er will, ein Vorverständnis der Tat Gottes
selbst.
Sicherlich holen sich der Exeget und der Theologe im Hinblick auf ihr wis-
senschaftliches Arbeiten bei den Philosophen eine Existentialanalyse des exi-
stenziellen Vorverständnisses. Ihr Arbeiten ist von da an abhängig von
jenem des Philosophen. Bultmann erkennt dies an und erklärt es für un-
vermeidlich; Aber, so sagt er, die Existentialanalyse legt lediglich die onto-
logische und formale Struktur des menschlichen Seins frei, ohne im vor-
ao Cf. Bultmann "Glauben und Verstehen" II. S. 227-232.
31 "Glauben und Verstehen" II, S. 232; "Kerygma und Mythos" (herausgegeben von
H. W. Dartsch) II, S. 191.
DIE STELLUNG EINER REFORMIERTEN THEOLOGIE 131
hinein; ein Urteil abzugeben über das im Glauben gegebene ontische und
existentielle Verständnis 32 • Vielleicht hat Barth der Tragweite dieser Unter-
scheidung zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet.
Mir scheint, man müsse die Wahrheit dieses von Bultmann zur Geltung
gebrachten fundamentalen Prinzips anerkennen: der Glaube setzt ein "Vor-
verständnis" dessen voraus, wovon die Heilige Schrift spricht, und die Er-
arbeitung einer zusammenhängenden Theologie schließt die Formalanalyse
dessen ein, was dieses Vorverständnis konstituiert. Kein.vernünftiger Glaube
wäre ohne das "a priori" einer dem Offenbarungswort entsprechenden·
Aufgeschlossenheit möglich. Keine Theologie vermöchte einen· zusammen-
hängenden Sinn herauszuarbeiten, ohne im Hinblick auf ihn eine philoso-
phische Reflexion wiederaufzunehmen, die die Analyse der Formalbedingun-
gen jeglichen konkreten Sinns darstellt. ·
Anderseits aber glaube ich nicht, daß die Philosophie Bultmanns hinreichend
genug den Dienstleistungen, die er von ihr erwartet, angepaßt ist. Von
Kierkegaard und Heidegger inspiriert, hat sie nur geringe Elemente aus
deren Gedankengut bewahrt. Wer immer mit den großen klassischen Philo-
sophien vertraut ist, wird s.ie wahrscheinlich als zu mager beurteilen. Mir
scheint sie jedenfalls nicht hinzureichen, um das Verhältnis des Menschen
zur Welt, noch seine Beziehungen zu Gott klar zu bestimmen. Und das ist
wohl auch der Grund dafür, warum sie die Bedeutung der christlichen Bot-
schaft herabmindert 33•
2. Was nun die Begriffe "Mythus" und "Entmythologisierung" angeht,
so verdienen mehrere der von Barth formulierten Bemerkungen unsere Auf-
merksamkeit. Der Sinn, den Bultmann dem Worte Mythus verleiht, ist der
formale und herabsetzende Sinn, den es vom Rationalismus des. 18. und
19. Jahrhunderts erhielt, nicht der Sinn, den ihm die Religionshistoriker
unserer Tage wieder geben. Es ist indes richtig, daß Bultmann oft unter dem
Titel "mythologische Redeweise" eine etwas karikierte Lesung des Neuen
Testamentes präsentiert. So entsprechen zum Beispiel die· reichlich plumpen
Begriffe, die er beim ersten Hinsehen dort zu finden glaubt, wo von der stell-
vertretenden Genugtuung und der Auferstehung Christi die Rede ist 34,
keineswegs den viel feineren und inhaltsreicheren Gedanken der Schriftsteller
selbst. Wohl ist wahr, daß Bultmann dies später weitgehend zugibt; aber was
hat er davon, zuerst auf einseitige und systematische Weise die Stellen zu-
sammenzutragen, die, aus ihrem Kontext gerissen, außerordentlich schwierig
zu akzeptieren erscheinen?
Indessen hat Bultmann völlig recht, wenn er sagt, die Sprache des. Neuen
Testamentes bedürfe der Interpretation, vor allem dort, wo sie Elemente der
jüdischen Apokalyptik oder der Gnosis verwendet. Barth berücksichtigt dies
32 "Kerygma und Mythos" II, S. 192-194, 201. Vgl. auch den bedeutenden Artikel
"Die Geschichtlichkeit des Daseins und der Glaube" in "Zeitschrift für Theologie und
Kirche" 1930, S. 339-350.
3 3 Den Bultmannsehen Begriff des "Vorverständnisses" habe ich eingehender analy-
siert und erörtert in "Karl Barth" III, S. 55-61.
34 "Kerygma und Mythos" I, S. 20.
9•
132 HENRI BOUILLARD
nicht genügend. Man kann sich sogar die Frage stellen, ob nicht seine Theo-
logie gewisse Züge trägt, die Bultmann als "mythologisch" im herabsetzen-
den Sinne, den er diesem Ausdruck gibt, bezeichnen könnte. Wir werden
gleich ein Beispiel dafür finden.
· 3. Betrachten wir nun die Gedanken, die sich unsere beiden Theologen
über das Heilsereignis, das "Christusereignis" machen.
Bultmann erklärt: "Das eschatologische Geschehen, das Christus ist, reali-
siert sich also immer nur jeweils in concreto, hier und jetzt, wo das Wort
verkündigt wird, und zwar im Glauben oder im Unglauben." 35 Anderswo
sagt er: "Durch Christus ist also nicht mehr beschafft worden als die
M ö g I ich k e i t der t;ro~, die freilich bei den Glaubenden zur sicheren
Wirklichkeit wird 36 ."
Barth erwidert, wie wir gesehen haben: die Heilstat Gottes hat sich in
Jesus Christus selbst erfüllt, und zwar ein für allemal und für alle Men·
schen. Unser Glaube beschränkt sich darauf, das zu bezeugen; er stellt in
sich selbst kein eschatologisches Ereignis dar.
Will man der Botschaft des Neuen Testamentes. völlig treu bleiben, so gilt
es meiner Meinung nach, die beiden Thesen gegenseitig zu ergänzen und zu
korrigieren. Das Christusereignis als Heilsereignis läßt sich nicht auf das
zurückführen, was sich hier und jetzt im einzelnen Gläubigen vollzieht. Es
läßt sich ebensowenig auf das geschichtliche Ereignis des Todes und der
Auferstehung Jesu reduzieren, unabhängig davon, ob Gläubige diesem Ge-
schehen anhangen oder nicht. Der Gedanke eines derartigen Heils würde mit
Recht in Gefahr geraten, als etwas mythisch zu erscheinen. Es geht darum,
zwei Behauptungen nebeneinander aufrechtzuerhalten: in Jesus Christus ist
das Heil bereits für alle prinzipiell und rechtlich e r w o r b e n; aber es
er f ü 11 t sich, es vollzieht sich effektiv in den einzelnen Gläubigen 37 •
Barth und Bultmann scheinen mir beide, wenn auch auf verschiedenen
Wegen, die neutestamentliche Idee von der Heilsgeschichte zu verändern.
Barth führt diese Geschichte zurück auf die Tat Gottes, der in Jesus.Christus
die Stelle des Menschen einnimmt. Bultmann reduziert sie auf den Augen-
blick der existenziellen Begegnung zwischen Verkündigung und Glaube.
Weder der eine noch der andere beläßt jenem Satze des hl. Paulus genügend
Geltung: es gibt eine Geschichte der Menschheit in ihrem Verhältnis zu
Gott, und Jesus Christus ist die Angel, um die sich :fiese Geschichte dreht 38 •
Die soeben ausgesprochenen knappen und gedrängten Bemerkungen er-
heben nicht den Anspruch, ein Urteil darzustellen. Sie wollen lediglich einige
Grenzen abstecken im Hinblick auf eine Diskussion und eine Untersuchung.
Außerdem übergehen sie dadurch, daß sie im Licht der Kritik Barths an
Bultmann abgefaßt sind, gewisse hermeneutische Probleme, die manchen
Philosophen oder Exegeten wohl wichtiger und interessanter sein mögen.
in der folglich die Substanz der Schrift selber nicht aufhört, ihre Früchte des
Heils hervorzubringen.
So scheint man also sagen zu können, daß nicht nur das Problem der Ent-
mythologisierung, sondern allgemeiner gefaßt, das Problem der Hermeneutik
- Bultmann hat ja mit Nachdruck erklärt, das Problem der Entmythologisie-
rung sei grundsätzlich ein Problem der Hermeneutik -,"ein spezifisch pro-
testantisches Problem darstellt. Oder genauer: die Tendenz, das theologische
Problem auf ein Problem der biblischen Hermeneutik im Sinne Bultmanns zu
reduzieren, taucht innerhalb des Protestantismus viel selbstverständlicher auf
als innerhalb des Katholizismus. Ich sage: die Tendenz, denn auch der Pro-
testantismus hat seine Tradition oder seine Traditionen, und große Beispiele.
zeigen uns, daß er fähg ist, umfassendere Untersuchungen als nur rein exege-
tische hervorzubringen, und daß sein theologisches Anliegen weiter gehen
kann, als nur das Problem der Bedingungen einer richtigen Exegese durchzu-
arbeiten. Denken wir an die Kirchliche Dogmatik von Karl Barth und ganz
allgemein an all die Dogmatiken, die auch heute noch immerfort neu heraus-
kommen. Es bleibt bestehen, daß das Problem der biblischen Hermeneutik
vielen heute als das Problem schlechthin erscheint. Auf dieses Problem kon-
zentriert sich ja eine beträchtliche Zahl Untersuchungen und Diskussionen,
wobei Spitzfindigkeiten mehr als einmal zu finden sind. Es ist oft so, als ob
es letztlich in allem auf dieses Problem ankomme. Zumindest ist das der Fall
bei Bultmann und seinen Anhängern, in denen man schwerlich etwas anderes
sehen kann als besonders kons.equente Repräsentanten des protestantischen
Glaubens.
scheint: Scriptura interpres sui ipsius, auf diesem Axiom hat man damals
mit Vorliebe Glaule und Theologie aufgebaut.
Genau genommen darf man in diesem absoluten Objektivismus, der die
subjektiven Bedingungen der Aneignung einfach ignoriert, nicht nur das
genaue Gegenteil der quälenden Bemühungen sehen, die darauf hinauslaufen,
sich in der Bestimmung dieser subjektiven Bedingungen z~ erschöpfen. Der
absolute Objektivismus der Reformatoren und die transzendentalen Über-
legungen der modernen Hermeneutik-Theologen entspringen aus dem glei-
chen Übersehen geschichtlicher Vermittlung oder, wenn man das lieber will,
der lebendigen Tradition als dem grundlegenden Organ der Offenbarung. Für
den katholischen Glauben ist der Sinn der in der Schrift enthaltenen Offen-
barung weder eine rein objektive Gegebenheit, die sich dem Verständnis
mit Evidenz aufdrängt, noch das Ergebnis unser~r immer besser berich-
tigten Fragestellung. Der Sinn der Offenbarung formt die Tradition der
Kirche, sie allein ist sein vollständiger Ausdruck.
Man wird entgegnen,. daß die Reformatoren die subjektiven Bedingungen
einer gläubigen Aneignung des Schriftsinns s.ehr wohl kannten. Tatsächlich
muß nach ihrer Lehre zur Evidenz, mit der sich der Sinn der Schrift enthüllt,
das innere Zeugnis des Heiligen Geistes kommen. Umgekehrt setzen die
Bultmannsehen Theologen der Hermeneutik immer die Begegnung mit dem
lebendigen Wort voraus, die der Schrifttext bezeugt und die von der Frage
des Exegeten nicht eigentlich bewirkt werden kann. Aber genau genommen
tendieren in beiden Fällen die Wahrheit der Schrift und ihre gläubige An-
eignung dahin, so betrachtet zu werden, als ob. sie zu Anfang autonome
Existenz besäßen und deshalb laufen sie Gefahr, einander auch später nur
äußerlich zu berühren. Die katholische Kirche ihrerseits lebt von der Über-
zeugung, daß die Gabe des Heiligen Geis.tes nicht in einer Erleuchtung be-
steht, die unabhängig wäre vom Hervortreten des Schriftsinns in der Ge-
schichte und von der Überzeugung, daß dieses geschichtliche Hervortreten
zusammenfällt mit der Existenz der Kirche selbst. So kann sich das Finden
dieses Sinnes auch nicht unabhängig von dem Ganzen dieser Geschichte, in
der er sich realisiert, vollziehen, noch unabhängig von der hierarchischen
Institution, die deren Authentizität verbürgt. Tatsächlich entdeckt die Kirche
immer den unveränderlichen Sinn der göttlichen Rede, die, in der Schrift
enthalten ist und eignet sich ihn an, indem sie ihn weiterträgt. Ebendieser
Sinn hat die Kirche ursprünglich erbaut, ebenso wie sie allein ihn vollstän-
dig ausdrückt.
archie zu finden ist. Wenn man sich von einem mehr oder weniger mysti-
zistisch oder intellektualistisch gefärbtem Idealismus absetzt, so bedeutet
das nicht notwendig, sich zu irgendeinem Positivismus oder religiösen Prag-
matismus bekennen, für den der Sinn der Schrift in einer ganz bestimmten
historischen, mit der Wirklichkeit der Kirche selbst identifizierten Gestalt
unmittelbar gegeben und erkennbar wäre, als direkter und adäquater Aus-
druck des Denkens Gottes über die Welt. Es ist bekannt, daß dieser Vor-
wurf des "kirchlichen Positivismus" dem Katholizismus nicht erspart ge-
blieben ist Mehr als einmal ist behauptet worden, für die Kirche sei das,
was sich in ihrem Schoß entwickelt hat, zugleich die Norm für das, was sein
soll. Für die katholische Kirche, so behauptet man wetter, sind die pastoralen
oder sogar utilitaristischen Interessen, sofern s.ie ihren eigenen Zusammen-
halt und ihre Fortdauer berühren, wichtiger als die eigentliche Wahrheits-
frage. Unter dieser Perspektive gäbe es selbstverständlich keinerlei Platz für
das Problem der Hermeneutik. Das Wort der Offenbarung wäre dann in
Form von etwas einer Losung gegeben und müßte auch so entgegengenom-
men werden.
Ganz abgesehen von der Verehrung, welche die katholische Kirche auch
dem Text der Schrift selbst von jeher erweist, istJ evident, daß ihre Inspira-
tionslehre eine derartige Auffassung verbietet. Es ist wahr, das Neue Testa-
ment ist grundliegenderweise jener neue, im Blut. Christi geschlossene Bund
(vgl. Lk. 22, 20), dessen Verwirklichung die Kirche ist. Aber für die Kirche
selbst ist das Neue Testament auch eine Art Charta, in der ihre Gründung
niedergelegt ist, auf die sie sich rückbeziehen muß, um ihren eigenen Sinn zu
erfassen. Die Bewahrung dieses Textes trägt.in ganz besonderer und unersetz-
licher Weise dazu bei, daß die Lebensbewegung der Kirche, während sie sich
weiterhin - gleich der Bewegung einer Linie - im Lauf der Zeit entfaltet,
doch nicht aufhört, sich zugleich - gleich der Bewegung eines Kreises -
immer wieder auf ihren Ursprung zurückzubeziehen. Was sich entfaltet, ist
ganz in diesem Ursprung enthalten, und zwar ohne daß irgendetwas wirk-
lich hinzugefügt würde. Und in diesem Ursprung findet die Lebensbewegung
der Kirche stets ihre Legitimität und Authentizität.
Allerdings gleicht diese Rückbewegung der Kirche auf ihren Ursprung, der
ihr vom Text der Schrift in seiner ganzen Reinheit ins Gedächtnis gerufen
wird, nur in einer Hinsicht einer unmittelbaren Beziehung. Denn die katho-
lische Kirche vollzieht diese Rückbewegung nie, indem sie von ihrem um-
fassenden Gedächtnis abstrahiert, das zugleich mit dem ursprünglichen Wort
den Sinn enthält, den ehendieses Wort im Lauf der Jahrhunderte entwickelt
hat und der unverändert bleiben muß. So kann s.ie niemals jenen Eindruck
haben, daß da ein Abgrund überwunden werden muß, ein Eindruck, der
übrigens zum Teil auf einer Täuschung beruhen kann und von dem Bult-
mann sagt, daß er ihn empfinde, wenn er sich über die alten biblischen
Texte beuge.
GIBT ES EIN KATH. PROBLEM DER ENTMYTHOLOGISIERUNG? 139
1 Discursus fidei, der auf französisch discours de foi übersetzt werden kann, ist
ansrheinend auf deutsch kaum übertragbar. Man wird sehen, daß dieser Begriff
allerdings in unserem Nachdenken eine wichtige Rolle spielt. Er soll die Bewegung
des Sinnes des Wortes Gottes, der sich im ganzen Leben der Kirche (Dogmenge·
schichte, Theologie, aber auch Liturgie, Frömmigkeit etc.) entfaltet, zum Ausdruck
bringen.
140 RENE MARLE, S. J.
reits in der Schrift gegeben ist, der aber seinen Sinn, wie wir sagten, erst im
Verlauf und in allen Formen des Lebens der Kirche entfaltet.
Anders ausgedrückt wird die katholische Kirche, selbst wenn sie zugibt,
daß das Neue Testament der Interpretation bedarf, um richtig gehört zu
werden, sich doch niemals, wie es Bultmann gewöhnlich tut, damit zufrie-
dengeben, nur einen raschen Blick auf die früheren Auslegungen zu werfen,
- einen Blick, der andeutet, daß man davon nichts erwartet. Sicher werden
diese Auslegungen niemals alle Probleme, die uns von der heutigen Kritik
gestellt werden, vollständig lösen. Und im übrigen gilt, worauf Bultmann
selbst mehrmals mit vollem Recht. hingewiesen hat, daß diese alten Aus-
legungen, die für uns. ja ebenfalls die Form von "Dokumenten" haben, sel-
ber der Interpretation bedürfen, damit ihr Sinn wirklich herauskommt. Der
streng historisch-kritische Blick, zu dem sich der katholische Exeget wie
alle anderen gegenüber den Dokumenten, die er analysiert, verpflichtet weißt,
ist etwas relativ Neues und geeignet, neue Probleme hervorzurfen. Die
Kirche hält dem katholischen Exegeten mit all ihren Forderungen und auch
mit den Erfahrungen, die sie ihm bietet, wenigstens im Bewußtsein, daß
der vom modernen wissenschaftlichen Denken bestimmte Blick ein recht be-
grenzter Blick ist, der selber eingeordnet werden muß. Man könnte sagen,
daß jedem Katholiken ein implicite gegebene Formung zugutekommt, die
weniger von ihm selbst erworben ist als von der Kirche, in deren Raum er
denken und leben will, und die ihn dazu bringt, die Einseitigkeit des. Stand-
punktes, die mit den besonderen Bedingungen, unter denen sich sein Suchen
nach der Wahrheit entfaltet, gegeben ist,· leichter zu überwinden.
So kommt die Zurückhaltung der katholischen Exegeten und Theologen
gegenüber dem Bultmannsehen Programm der Entmythologisierung nicht
notwendig nur aus der Besorgnis um den eigenen Glauben anges.ichts der
zersetzenden Schlußfolgerungen, zu denen dieses Programm führt. Sie ent-
spricht bereits einem mehr oder minder klar erfaßten Gefühl dafür, daß
die Art, wie Bultmann sein Problem angeht, inadäquat ist oder, wenn man
so· will, daß der Ausgangs.punkt seiner Problematik einen Mangel an Kritik
verrät. Die katholischen Theologen und Exegeten können übrigens, wenn
sie die Berechtigung dieses Gefühls, das auf jener eben erwähnten imma-
nenten Formung beruht, nachprüfen, einen unerwarteten Bundesgenossen
in M. Heidegger finden. Es ist bekannt, daß Bultmann das Problem der Ent-
mythologisierung aufwirft, indem er das mythische "Weltbild" des Neuen
Testaments in Gegensatz stellt zu dem von der Wissenschaft erarbeiteten
"Weltbild" des heutigen Menschen. Heidegger zeigt aber in einem Abschnitt
von Holzwege, daß der Begriff "Weltbild" selbst ein Produkt der modernen
Zeit ist, er sagt, es sei einer der die moderne Zeit charakterisierenden Züge,
daß die Welt sich zum "Bild" konstituiert habe. Indem sich Bultmann also
auf diesen Standpunkt stellt, ohne ihn zu kritisieren und relativieren, so ist
er dahingekommen, sich in einer in etwa widerspruchsvollen Weise auszu-
drücken, denn, wenigstens nach Heidegger, kann es im strengen Sinn kein
mystisches "Weltbild" geben. Vor allem aber nimmt sich Bultmann, indem
er sich prinzipiell auf einen Standpunkt stellt, der nicht imstande ist, die
GIBT ES EIN KATH. PROBLEM DER ENTMYTHOLOGISIERUNG? 141
weise und deren scheinbare Erfordernisse in Frage stellen, nicht aber etwas
beseitigen, ohne das unser, Glaube sich wohl nicht mit voller Sicherheit und
nach allen Dimensionen Glaube der Apostel nennen darf. Das ist der Grund,
weshalb die katholische Theologie und Exegese das Programm einer Ent-
mythologisierung, so wie Bultmann ihn vorschlägt, grundsätzlich ablehnt.
Heißt das, die katholische Theologie und Exegese kenne auf Grund der
Lage, in der sie sich befindet, keine Schwächen und Schwierigkeiten? Ist die
modernistische Krise, die wir vorhin erwähnten, nur eine zufällige Episode
ohne bleibende Bedeutung? Um das zu behaupten, müßte man nichts vom
Leben der heutigen Kirche wissen. Andererseits sind die katholische Theo-
logie und Exegese durch das Gewicht an Tradition, das auf ihnen lastet und
auch durch die Schutzwälle, von denen sie umgeben sind, einer besonderen
Gefahr ausgesetzt, di8 man ebenfalls nicht unterschätzen darf: der Gefahr,
den echten Fragen der Stunde nicht zu begegnen und sie deshalb a fortiori
nicht zu beantworten.
Deshalb ist es heilsam für sie, mit denen in Kontakt zu bleiben, die kühn,
ja selbst bis Ärgernis, jene Fragen der Menschen von heute vorantreiben,
denen sich auch Gott offenbaren möchte. Umgekehrt können jene, die ein
unberuhigtes Bewußtsein bezeugen, sich zweifellos durch die Begegnung mit
der katholischen Theologie aufgefordert sehen, ihren Standpunkt zu erwei-
tern, sodaß reicheres Licht einfallen kann, was wiederum dazu führen wird,
neue Fragen zu formulieren. Auf beiden Seiten scheint wieder einmal ein
aufrichtiges Gespräch miteinander in besonderer Weise geeignet, uns tiefer
in die Wahrheit zu führen.
Rene Marle, s. ;.
PROLEGOMENA ZUM PROBLEM DER ENTMYTHOLOGISIERUNG
Franz Theunis
Diese Betrachtungen, die ich als "Prolegomena zum Problem der Entmytho-
logisierung" bezeichnen möchte, erheben keineswegs den Anspruch, irgend-
einen wesentlichen Beitrag zu dieser Problematik zu liefern. Ich will ja
weder eine neue Ansicht vertreten, noch einen neuen Stoff zur Debatte
herbeiführen. Ich möchte lediglich einen Gang quer durch die Problematik
der Entmythologisierung machen und mich bemühen, diejenigen Themen und
Probieme anzukreuzen, die mir zur Klärung der Frage, und zwar sowohl zur
Kritik als zur Durchführung der Entmythologisierung, als die wichtigsten vor-
kommen wollen. Ich hoffe aber, daß eben das schlichte Gruppieren und
Ordnen schon einige Klarheit herbeiführen möge.
Man kann von der Entmythologisierung reden als von einer zeitgenössi-
llChen geistesgeschichtlichen Bewegung; mit "Entmythologisierung" kann man
aber auch ein ganz bewußtes und planmäßiges Unternehmen bezeichnen. In
diesem Sinne meine ich hier Entmythologisierung. Da "Entmythologisierung"
sogar in diesem beschränkteren Sinne keineswegs ein eindeutiger Begriff ist,
dürfte ich wohl dazu berechtigt sein, ein ganz bestimmtes Entmythologisie-
rungsprojekt ins Auge zu fassen'. So werde ich mich bei meinen Betrachtungen
bald auf das Entmythologisierungsprojekt Rudolf Bultmanns beziehen.
Die Frage nach einer etwa unreduzierbaren mythischen Funktion soll von
den Fachleuten allerdings gestellt werden. Aber wie richtig und wichtig auch,
so scheint mir dies.e Fragestellung die von Bultmann aufgeworfene Ent-
mythologisierungsproblematik nicht direkt zu berühren. Und zwar zunächst,
weil Bultmann, selbst wenn er in irgendeinem Sinne eine "mythische" Funk-
tion feststellen könnte, dieser Funktion schwerlich einen religiösen Wert, das
heißt einen Wert für den Glauben beimessen könnte. Und dann, weil recht
schwer zu sehen ist, wie man von einer mythischen Funktion im Sinne des
Bultmannsehen Mythosbegriffes reden könnte.
Die Frage "Was heißt Mythos?" müßte also wohl die erste sein. Der
Mythosbegriff hat sich nicht nur im Laufe der Zeit entwickelt, es gibt auch
de facto mehrere Mythosbegriffe. Obwohl diese je nach dem Bereich, in dem
sie angewendet werden, alle berechtigt sein dürften, kommt es jedoch sehr
darauf an, immer hinsichtlich des Mythosbegriffes, mit dem gearbeitet wird,
im Klaren zu sein. Nur das Befolgen dieses selbstverständlichen methodologi-
schen Grundsatzes kann gewisse Mißverständnisse verhindern. Auch sollte
man Bultmann nicht mit einem mitgebrachten Mythosbegriff verstehen oder
kritisieren wollen, sondern ihn nach s e in e m Mythosbegriff fragen. Man
kann kaum bezweifeln, daß Bultmann einen ihm eigenen Mythosbegriff ge-
prägt hat.
Die Begriffsbestimmung des Mythischen sieht bei ihm offenbar gänzlich
von der psychologischen Fragestellung ab, und enthält wohl keinen Hinweis
auf eine mythogene Funktion. Das ist daraus verständlich, daß seine Frage-
stellung ja ursprünglich eine hermeneutische ist, welche von vornherein nicht
daran interessiert ist, wie eine Aussage entstanden ist, sondern daran, was
sie besagt. Demnach ist sein Mythosbegriff ursprünglich ein hermeneutisches
Instrument.
Findet man bei R. Bultmann im Gebrauch des Ausdrucks "Mythos" den
Niederschlag der üblichen Anwendungen des Mythosbegriffes, so interessiert
uns hier aber der die Durchführung der Entmythologisierung bestimmende
Mythosbegriff. Und ich glaube, daß man sagen kann, daß dieser kein literari-
scher ist (der auf bestimmte überkommene Themen oder auf eine bestimmte
formale Gestalt hinwiese), und auch kein empirischer (die Umschreibung
eines bestimmten Phänomens), sondern ein apriorischer, kritischer und radi-
kaler. - Wenn man zunächst den Mythosbegriff der Religionswissenschaft
(mit seinen jeweiligen für die Hermeneutik notwendigen Einteilungen) über-
nimmt, so drängt sich ja zur Festlegung der hermeneutischen Regeln, die eine
Interpretation in einer nicht-mythologischen Sprache des im Mythos Ge-
meinten ermöglichen sollen, eine kritische Mythosbestimmung auf, die einen
bei der Interpretation davor sichern könne, selbst noch innerhalb von be-
stimmten Grenzen mythologisch zu verfahren. Daran entspricht die Bestim-
mung des Mythos als einer Objektivation des Unweitlichen (Jenseitigen,
Göttlichen) zum Weltlichen. (Vgl. Kerygma und Mythos, I, Hamburg, 1954,
s. 122.)
PROLEGOMENA ZUM PROBLEM DER ENTMYTHOLOGISIERUNG 145
Diese Bestimmung bezieht sich also nicht auf die literarische Gestalt oder
Verwandtschaft, nicht auf die Historizität, nicht auf das Zuverlässigkeits-
urteil an Hand etwa der "ordinarie contingentia", sondern rein auf den
gedanklichen Inhalt. -Das Eigentümliche der Bestimmung des Mythos als
einer Objektivation des Jenseitigen zum Diesseitigen bei Bultmann liegt wohl
in seinem umfassenden Charakter und in seiner kritischen Bedeutung, welche
aber nur bei einer näheren Betrachtung des Entmythologisierungsprojekts
selbst hervortreten.
Jene Begriffsbestimmung des Mythos, welche den verschiedenen aufein-
anderfolgenden hermeneutischen Mythosbegriffen Rechnung trägt, kann als
solche wohl nicht kritisiert werden. Höchstens könnte man überprüfen, ob
sie ihrer Intention entspricht, das heißt dem hermeneutischen Anliegen der
Entmythologisierung, in deren Funktion sie endgültig präzisiert worden ist.
Wenn R. Bultmanns Mythosbegriff nur mit seinem Entmythologisierungs-
anliegen in einem richtig erfaßt werden kann, so kann dieses seinerseits nur
unter Berücksichtigung seines ganzen theologischen ßemühens richtig ver-
standen werden. Denn sein Entmythologisierungsprojekt ist offenbar nur
die konkrete logis.che Folge eines viel umfangreicheren und zugleich viel
prägnanteren Anliegens, das die Frage nach dem Wesen und dem Sinn der
Religion und des Christentums ist. Über jene Problematik soll jetzt nicht
ausgeführt werden. Aber aus der Folge wird genügend hervorgehen, wie das
Entmythologisierungsprojekt durch jene Neubesinnung auf Christentum,
Offenbarung und Glauben entscheidend bestimmt wurde.
Bultmann sieht die Entmythologisierung als ein aus den Notwendigkeiten
der Hermeneutik hervorgehendes hermeneutisches Prinzip. Man kann in der
Entmythologisierung als hermeneutischem Prinzip drei Stadien unterschei-
den: die Kritik, das Verstehen, die Interpretation.
halt jedoch als solcher bejaht werden. Demgegenüber i!>t Bultmanns Mythos-
begriff radikal-kritisch: der gedankliche Inhalt ist nicht nur historisch on-
nachweisbar, weil unfeststellbar, sondern er ist ganz und gar undenkbar. Die
Undenkbarkeit i&t auch der Beweggrund der Entmythologisierung.
Die kritische Überprüfung dieser Behauptung der Undenkbarkeit des
mythischen Gedankeninhaltes wäre deshalb äußerst wichtig. Diese Undenk-
barkeit beruht bei Bultmann, wenn ich es richtig sehe, auf zwei Gründen,
gleich ihren zwei Wurzeln.
Die erste Wurzel ist die Gesetzmäßigkeit allen Geschehens in Natur, Ge-
schichte und Psyche. Die Unmöglichkeit, ein Eingreifen Gottes in diesen Be-
reichen (Welt, Weltgeschichte und innerlichem Leben des Menschen) anzu-
. nehmen, hat Bultmann deutlich und oft genug betont. Welchen Eindruck aber
"Neues Testament und Mythologie" in dieser Hinsicht auch erwecke, Bult-
manns Position ist hier nicht von einem optimistischen Vertrauen auf die
Wissenschaft abhängig. Zwar weiß er, daß viele Phänomene, welche früher
übernatürlichen Ursachen zuge&chrieben wurd~n, jetzt natürlich erklärt wer-
den können. Die Ergebnisse der Wissenschaft haben jedoch keinen bestim-
menden Einfluß auf sein Urteil. Bultmann meint nicht, die natürlichen Mög-
lichkeiten zu überblicken, und er beruft sich tatsächlich auch nicht auf be-
stimmte Naturgesetze, &ondern lediglich auf die Gesetzmäßigkeit der Natur.
Damit beruft er sich aber auch nicht auf irgendeinen Beweis oder auf
irgendeine Theorie der Gesetzmäßigkeit, sondern auf die Tatsache selbst des
Gesetzmäßigkeitsgedankens, wonach alles in Natur und Geschichte in einem
ganz bestimmten kausalen Zusammenhang steht und ganz bestimmten Ge-
. setzen gehorcht. Er versucht aufzuzeigen, daß dieser Gedanke nicht nur der
Wissenschaft, sondern all unserem auf die Welt gerichteten Denken und
Handeln, zugrundeliegt. Wenn nun in unserer Auffassung Natur und Ge-
schichte durch eine bestimmte Gesetzmäßigkeit beherrscht sind, so können
wir freilich nicht zu gleicher Zeit annehmen, daß s.ie es nicht seien, daß sie
der Willkür überirdischer Mächte ausgeliefert sein können.
Besonders im Hinblick auf die Destruktion des Mirakelgedankens betont
Bultmann, daß der Gesetzmäßigkeitsgedanke absolut ist, d. h. keine einzige
Au&nahme gestattet, und zwar, weil er kein Gedanke ist, den wir beliebig
vollziehen, kein Ergebnis der Forschung oder der Erfahrung, sondern eine
Voraussetzung. Er ist keine subjektive oder auf einer Entscheidung beruhende
Weltanschauung, sondern er ist "mit unserem Das.ein in der Welt gegeben",
so daß wir uns nicht "nach subjektivem Belieben" von ihm freimachen können.
Ob wir es wollen oder nicht, fatal denken .wir alles, was sich in der Welt ab-
spielt, als in einem gesetzmäßigen Zusammenhang stehend. Nach Bultmann
zeigen ja gerade die Verteidiger des Mirakels, daß eben im Mirakelglauben
die Gesetzmäßigkeit allen Geschehens abermals vorausgesetzt ist: "Gott"
wird dabei . einfach zu einem Unterteil jenes großen Relationszusammen-
hangs, den wir sonst Natur n~nnen. Wird Gott irgendwie als Ut:s~che ge-
dacht, so wird er als Natur gedacht, weil wir nur einen Kausalitätsbegriff
haben, nl. d~n der .natürl~ehen Ursache.
PROLEGOMENA ZUM PROBLEM DER ENTMYTHOLOGISIERUNG 147
Und zwar wird Gott als vorhanden gedacht, wenn immer er als ein Gott-
wesen gedacht wird, das irgendwo present ist, oder als ein Wesen, das irgend
etwas verursacht in der Welt, in der Geschichte oder in der Seele oder gar
in unwahrnehmbaren supranaturalen Höhen. Auch der Gedanke eines theo-
retisch wahrnehmbaren Eingreifens Gottes in mein aktuelles Leben impliziert
demnach das Denken Gottes als eines vorhandenen und also als Welt. All
diese Gedanken sind als ein Herabziehen des Jenseitigen in das Diesseitige
der Kritik preisgegeben. Und deshalb qualifiziert sie Rudolf Bultmann als
mythologisch.
Mehr als dem Gesetzmäßigkeitsgedanken soll dem Gottesbegriff R. Bult-
manns Aufmerksamkeit geschenkt werden, sowohl um den Wert dieser zwei-
ten Wurzel der Kritik als um den vollen Umfang und die Radikalität des
Bultmann'schen Mythosbegriffes ermessen zu können. Ferner soll hier, so-
wohl in der Auseinandersetzung als im Dialog mit Bultmanns Projekt, die
Kritik des Gottesbegriffes einsetzen, wobei sich gleich die Frage nach der
Möglichkeit und dem Vorgang einer solchen Kritik erhebt.
Das Ergebnis für die Hermeneutik können wir in den folgenden zwei kri-
tischen Grundsätze(). zusammenfassen: 1) der betraclltende Blick hat keine
andere Wahl, als alles völlig welt-immanent zu sehen und zu verstehen; Aus-
sagen, welche davon abweichen, können nicht bejaht werden. 2) Gott kann
definitionsgemäß nicht als vorhanden gedacht werden; Aussagen, in denen
Gott als vorhanden, also als Welt gedacht wird, können als solche keinen
Anspruch auf Anerkennung erheben.
Insofern nun in manchen Aussagen des Neuen Testamentes und der tradi-
tionellen christlichen Verkündigung die Immanenz des Weltgeschehens offen-
bar verkannt oder Gott als irgendein vorhandenes Gottwesen gedacht wird,
sind sie als mythologisch im Sinne des Bultmannsehen Mythosbegriffes zu
bezeichnen. Insofern sie mythologisch sind, sind sie schon als unannehmbar
qualifiziert. Haben sie dann überhaupt noch irgendeir.e Bedeutung, irgend-
einen Sinn, irgendeine Geltung?
Indem Bultmann im Anschluß an seine Kritik des Mythos auch die Frage
nach dem Sinn der mythologischen Aussagen beantwortet hat, ist seine Ent-
mythologisierung als hermeneutisches Prinzip auch eine Weise des Ver-
stehens. Die Frage nach der Bedeutung des Mythos stellt Bultmann als Frage
nach der Bedeutung der mythologischen Aussage, und diese Frage versteht
er ausschließlich als die Frage nach einem gültigen Sinn, eben a:ls eine Frage
der Hermeneutik.
Wichtig ist hier zunächst die Frage, ob die Hermeneutik des Neuen Testa-
mentes, allerdings insofern sie von einem Christen unternommen wird, nicht
etwa über besondere Voraussetzungen verfüge. Bultmann löst diese Frage
ganz in Übereinstimmung mit dem Grundsatz der Immanenz und mit seiner
Auffassung der Jenseitigkeit. Demnach kann 1) das Neue Testament unmög-
lich als ein Dokument göttlichen Ursprungs mit einer göttlichen Lehre,
PROLEGOMENA ZUM PROBLEM DER ENTMYTHOLOGISIERUNG 1 49
welche als solche Anerkennung fordere, betrachtet werden. Sowohl die Ent-
stehung des Christentums wie die des Neuen Testamentes kann und soll
natürlich erklärt werden. Es gibt ja überhaupt keine überirdische Autorität,
die die Annahme Uneinsichtiger Lehren etwa fordern könnte. 2) Es gibt in
der Welt keine Instanz, welche etwa von Gott autorisiert wäre, das Neue
Testament zu interpretieren. 3) Man ist also auf sich selbst angewiesen.
4) Und zwar gibt es im Menschen nicht etwa ein pneumatisches Organ, auf
das er sich verlassen dürfe: man ist also angewiesen auf seine eigene Ver-
nunft. Die Frage nach der Bedeutung des Neuen Testamentes (mitsamt
seinen mythologischen Aussagen) kann einzig lauten: inwiefern hat das Neue
Testament eine Geltung vor der menschlichen Vernunft.
Hier wird vollends deutlich, daß die Entmythologisierung der neutesta-
mentlichen Verkündigung eine bestimmte Auffassung von dem Wesen des
Glaubens und von dem etwaigen Offenbarungscharakter des Neuen Testa-
mentes voraussetzt, über die man von vomherein im Klaren s.ein soll. Je
nachdem kann man den mythologischen Stoff von vornherein als verbindliche
Glaubenssätze als Ausdruck oder Wiedergabe der Offenbarung werten,
oder dasselbe verneinen, sei es aus Gleichgültigkeit (da man etwa nur an
Texten interessiert ist), sei es eben von einer bestimmten Auffassung der
Offenbarung her.
Die Frage nach der Reduzierbarkeit des Mythos wird bei Bultmann offen-
bar als die Frage nach seiner Sinnhaftigkeit gesehen. Der Mythos ist dann
reduzierbar, wenn er, nach der kritischen Beseitigung seines mythologischen
Gedankeninhaltes noch einen Sinn hat, und in dem Maße, in dem dies.er Sinn,
wie der eines anderen historischen Stoffes, freigelegt und verstanden wer-
den kann.
Da der Mythos ein historisch-überkommener Stoff ist, findet hier das
historische Verstehen überhaupt seine Anwendung. Da man nach Bultmanns
Ansicht zum historischen Verstehen den Text nach dem sich darin äußern-
den Selbstverständnis zu befragen hat, wird man den Mythos nur wirklich
verstehen, wenn man ihn unter der Fragestellung des Selbstverständnisses
verstehen kann.
Die Entmythologisierung als Weise des Verstehens erhebt viele Fragen:
hat das als mythologisch zu qualifizierende Traditionsgut uns noch etwas
zu sagen? Soll man es nach seiner "Wahrheit" fragen? Ist die Frage nach
dem in ihm enthaltenen Selbstverständnis die nicht nur sinnvolle, sondern
die angemessene, ja sogar die geschichtlich einzig interessante, wichtige
oder berechtigte Frage?
Die Suche nach dem Selbstverständnis ist kein maskierter Versuch einer
psychologischen Erklärung, sondern will wirklich etwas im Text Ausge-
drücktes erreichen, nämlich das, was im Text gemeint ist. Hier ist dann die
F,rage wichtig, inwiefern man das Gesagte und das Gemeinte gesondert be-
trachten darf, und ob und mit welcher Methode man das eigentlich Gemeinte
erreichen kann. Ist die Feststellung des eigentlich Gemeinten nicht immer ein
150 FRANZ THEUNIS C. P.
Wagnis? Und wenn das so sein sollte, wird dieser Sinn dann noch wirklich
durch den Text vermittelt?
Hier stellt sich also vollends das Problem des Wesens des historischen Ver-
stehens. Was man als dessen Wesen verstehen will, beruht vielleicht auf einer
Entscheidung, welche ihrerseits von der jeweiligen Auffassung des mensch-
lichen Daseins und seiner Verantwortlichkeit abhängig sein wird. Die kri-
tische Würdigung der Entmythologisierung als Methode des Verstehens ver-
langt auf jeden Fall eine eigene bewußte Stellungnahme.
Soweit meine Erörterung der Probleme und Themen, die sich auf die Ent-
mythologisierung als hermeneutisches Prinzip beziehen.
Freilich ist die Entmythologisierung bei Rudolf Bultmann nicht nur ein
hermeneutisches Prinzip, sondern auch eine Theorie der Verkündigung. Auch
hier wären viele Fragen zu erörtern und wichtige Themen anzudeuten. Damit
kämen wir aber in den Bereich einer andersartigen und schon strikt theologi-
schen Problematik.
* * *
Ich habe also lediglich Probleme gestellt. Die Tatsache, daß ich im Augen-
blick keine Antwort zu geben versuche, dürfte nicht nur die Schwierigkeit
und die Komplexität dieser Problematik hervorheben, sondern auch eine
Würdigung der Größe und der Wichtigkeit der Werte darstellen, die hier auf
dem Spiele stehen, Werte, die eine unbedingte intellektuelle Redlichkeit for-
dern und jegliche voreilige Stellungnahme untersagen.
GESCHICHTE UND GEHEIMNIS
Virgil Fagone, "Civilta Cattolica" - Rom
Es wird nicht überflüssig sein, von vornherein den Sinn und die Grenzen
dieser kurzen Überlegungen genau festzustellen, die durch eine Gegenüber-
stellung der Existenzanalyse von Martin Heidegger und des Problems der
Entmythologisierung von Rudolf Bultmann angeregt wurden. Daß die Philo-
sophie des Ersten einen tiefen Einfluß auf die theologischen Überlegungen
des Zweiten ausgeübt hat, ist als Tatsache ausreichend bekannt und wird von
Bultmann weitgehend anerkannt, sodaß es sich erübrigt, daran zu erinnern.
Unser Ziel ist jedoch nicht, eine historisch kritische Gegenüberstellung durch-
zuführen, mit anderen Worten, in der Interpretation Bultmanns das Echte
vom Unechten zu sondern. Alles dies ist sicherlich nicht ohne Interesse im
Bereich der Geschichte der Philosophie. Uns beschäftigt vor allem das Pro-
hlem selbst, das entstanden ist durch eine Übertragung der existentialen
Sprache des frühen Heidegger in eine fest umrissene theologische Proble-
matik, eine Übertragung, die in der Interpretation von Bultmann mit dem
Problem der Entmythologisierung zusammenfällt. Tatsächlich kann der Pro-
zeß der Entmythologisierung nicht auf positive Weise durchgeführt werden,
es sei denn durch eine existentiale Interpretation der christlichen Botschaft.
Unsere Untersuchung stellt sich nicht direkt einem solchen Problem gegen-
über, sondern bewegt sich auf einer Vorstufe, d. h. unsere Untersuchung will
die Möglichkeit selbst einer Entmythologisierung der christlichen Botschaft
zur Diskussion stellen. Das bedeutet aber nicht notwendigerweise, daß die
Möglichkeit einer existentialen Interpretation ausgeschlossen sei. Tatsächlich
handelt es sich um zwei verschiedene Probleme, die scharf unterschieden wer-
den müssen, will man Verwirrungen und Mißverständniss~ vermeiden.
Die Unterscheidung dieser beiden Fragen führt uns zu einer neuen For-
mulierung des Problems, die nur zum Teil derjenigen Bultmanns entspricht,
die aber als Ausgleich eine größere Bereitschaft zur Vertiefung des Problems
zu wahren sucht, indem sie sich bemüht, den Fakten selbst treu zu bleiben.
wird dem wirklichen Problem umsomehr entsprechen, je mehr sie sich be-
müht.. sich von den übernommenen Vorurteilen, von den scheinbaren Selbst-
verständlichkeiten zu befreien, kurz gesagt, von dem ganzen Ballast des Be-
kannten, des bereits Gewußten, der in den meisten Fällen den Ausgangs-
punkt der Untersuchung selber bildet.
Jedes Problem hat seinen geschichtlichen Ort in einer bestimmten Tradition
der Denkweise, und wenn einerseits die Interpretation der Ausgangsdaten
dem geschichtlichen Faktor Rechnung tragen muß, auf Grund dessen eben
diese Fakten überliefert wurden, so darf sie sich andererseits nicht der Auf-
gabe entziehen, auf Grund einer Kritik der Tradition selber bis zu den Ur-
sprüngen vorzustoßen.
Der Begriff der Interpretation neigt sehr leicht dazu, mißverstanden zu
werden. Interpretieren heißt im Grunde übersetzen. Übersetzen bedeutet aber
nicht, daß man einen Sinn, der bestimmt war durch eine primitive Subjek-
tivität, nun lediglich neuen subjektiven Erfordernissen unterwirft. Der Über-
gang von einer Terminologie zu einer anderen ist nur möglich auf Grund des
Verständnisses des Originalsinnes, der Originalbedeutung, die beiden Ter-
minologien gemein ist. Wenn wir vollkommen gefangen wären in einer be-
stimmten Terminologie, wenn wir uns nicht schon Yon jeher jenseits ihrer
Grenzen befänden, wäre jede Interpretation unmöglich.
Sicherlich enthält der Prozeß der Interpretation einen wesentlichen Bezug
zum interpretierenden Subjekt, zu seiner Art, die Welt zu verstehen und zu
seiner geschichtlichen Situation. Wenn sich aber das Subjekt auf Grund seiner
ontologischen Konstitution nicht schon jenseits seiner geschichtlichen Situa-
tion befände, wäre es ihm unmöglich, jemals den Originalsinn zu begreifen.
Jeder Versuch einer Interpretation würde in einer radikalen Subjektivierurig
untergehen. Übersetzen und Interpretieren ist nur möglich, sofern die ver-
schiedenen Terminologien und die unterschiedlichen Situationen ein inten-
tionales Offensein dem Sein gegenüber gemein haben, obwohl sie sich als
geschichtliche Phänomene durchaus voneinander unterscheiden.
In Kürze: der Begriff der Interpretation fordert ein gemeinsames Grund-
element in verschiedenen und immer neuen Situationen, das heißt: ein inten-
tionales Offensein dem Sein gegenüber, das untrennbar mit dem geschicht-
lichen Geschehen des interpretierenden Subjekts verbunden ist. Um mit
Heidegger zu sprechen: das Dasein, d. h. das interpretierende! Subjekt, ist
geschichtliches Geschehen soweit es Seinsverständnis ist. Eine Interpretation
auf existentialer Basis kann nicht von der historisch intentionalen Struktur
des Daseins absehen, ohne dadurch einem wertlosen Subjektivismus oder
einem leeren Essenzialismus zu verfallen.
Diese einleitenden Überlegungen zum Begriff der Interpretation führen
uns direkt in die Problematik der Entmythologisierunng. Selbst Bultmann
versichert, daß das Problem der Entmythologisierung im Grunde nur ein
henfieneutisches Problem ist. Das entmythologisierende Verfahren vollzieht
sich in positiver Weise durch eine existentiale Interpretation der christlichen
Botschaft. Um den naheliegenden Mißverständnissen zu entgehen, denen der
Begriff der Entmythologisierung ausgesetzt war, unterstreicht Bultmann das
GESCHICHTE UND GEHEIMNIS. 153
zeinen zu Grunde liegt- und nicht umgekehrt- auch wenn es nur im Lichte
des Glaubens wirklich erfaßt werden kann.
Wir fassen zusammen: das entmythologisierende Verfahren, insofern es
eine rationalistische Ausgangsposition hat, endet mit der Leugnung eines
wirklichen, unmittelbaren Eingriffes Gottes in den weltlichen und historisdien
Bereich. Ein solches Ereignis - und das ist besonders zu beachten - wird
vor der historischen Wissenschaft nicht nur als unerkennbar, sondern als
.wesenmäßig unmöglich, das heißt "mythisch", betrachtet. Die existentiale
Interpretation erkennt darüber hinaus in dem Ereignis, das auf seine mensch-
lichen Dimensionen zurückgeführt is.t - durch die Vernunft faßbar und
durch die Historie belegbar - eine verborgene Intention, einen ethischen
Wert und eine religiöse Bedeutung, die, obwohl ausgedrückt in der Termino-
logie der christlichen Offenbarung, nichts weiter sind als die willkürliche
Übertragung einer philosophischen Ausdrucksweise, die ganz andere Ur-
sprünge und Ziele hat.
Die Identifizierung der Erlösung mit der Echtheit einer Entscheidung, die
dem eigensten Seinkönnen offen ist, soweit es verfügbar ist dem Anruf
Gottes, die Gleichsetzung von Sünde und Vergangenheit, Vergangenheit als
Unechtheit einer Existenz, die sich selbst interpretiert auf Grund eines
"bloßen Vorhandenseins", verraten - trotz ihrer Suggestionskraft und des
verborgenen Anklingens einiger dem Protestantismus vertrauter Themen -
die Absichten der Philosophie, von der sie wieder hervorgehoben wurden
und riskieren, das Wesen der christlichen Botschaft radikal zu verändern.
Wie wir schon angedeutet haben, wurde die Trennung ·von Ereignis und
Bedeutung durch die Terminologie des frühen Heideggers möglich. Aber eine
vertiefte Analyse von Sein und Zeit, eine Beachtung der Gesamtrichtung
der Untersuchung, die auf das Problem des Seins hin orientiert ist und dem
rlie Analyse des Daseins untergeordnet is.t, genügen, um ein derartiges Miß-
verständnis zu beseitigen. Die folgenden Schriften Heideggers bestätigen im
übrigen mit aller Deutlichkeit die Begrenzth~it und Willkürlichkeit einer
solchen Interpretation. Das, was bei Heidegger einen tiefen Sinn hat im Zu-
sammenhang mit der Seinsfrage, wird, so hebt Karl Jaspers richtig hervor,
"tonlos" in der entmythologisierenden Interpretation von Bultmann 3 •
In der Tat enthält die existentiale Analyse, richtig verstanden, nicht not-
wendigerweise den Prozeß der Entmythologisierung. Im Gegenteil, die ent-
scheidende Richtung, die sie im· Zusammenhang der Heideggerschen Kon-
zeption einschlägt, scheint diesen Prozeß völlig auszuschließen. Die Gleich-
setzung von Mythos und bloßem Vorhandensein des Seienden - eine
Gleichsetzung, die den Berührungspunkt zwischen den beiden Problem-
kreisen bildet - ist nur möglich auf Grund der Übertragung einer rationa-
listischen Instanz in den Bereich der Existenzanalyse. Die letztere äußert
sich nicht - wie wir im Folgenden noch sehen werden - zu der Möglich-
keit eines direkten Eingriffes des Übernatürlichen in den Bereich der mensch-
fassung die Autonomie und die Transzendenz sein~r Bedeutung: das Ge-
heimnis ist nichts weiter als eine unvollkommen erkannte Wahrheit.
Diese klare Unterscheidung hat die Härte und die Unzulänglichkeit jeder
systematischen Schematisierung. In Wirklichkeit gibt es keine positivistische
Historiografie, die nicht einer subjektiven Voraussetzung Rechnung trägt, und
sei es nur die Prämisse des Positivismus selbst; wie andererseits keine
idealistische Historiografie besteht, - auch nicht die willkürliche, von Hegel
versuchte Interpretation auf dem Schema der Dialektik -- die nicht in ge-
wissem Maße die Fakten selbst berücksichtigt.
Aber beide verschließen in gleicher Weise den geschichtlichen Horizont
gegenüber einem Einbruch des Übernatürlichen.· Indem sie das Ereignis von
der Bedeutung trennen, wird das Geheimnis als Ereignis unmöglich und
zum unvollkommenen Symbol. Es ist das nicht zu übers.ehende Verdienst
Heideggers, unter Berücksichtigung der phänomenologischen Untersuchungen
Husserls und der fruchtbaren Intuitionen Diltheys, eine radikale Übetwin-
dung des jahrhundertealten Gegensatzes versucht zu haben, indem er einen
neuen und vertieften Begriff des geschichtlichen Geschehens als intentionale
Zeitlichkeit einführte, wo Ereignis und Bedeutung in einer einzigen Struk-
tur zusammengefügt sind. In dieser neuen Auffassung der Geschichte wird
das Geheimnis nicht a priori ausgeschlossen, sondern in verborgener Weise
als deren letzter Sinn angerufen.
Unsere Absicht ist nicht die Herausstellung des Heideggerschen Geschichts-
begriffes, sondern vielmehr eine Interpretation seiner echten Bedeutung in
Beachtung der geheimen Absichten, die die Totalität der Untersuchungen
bestimmen, der letzten Ziele, auf die sie gerichtet sind.
Gemäß einer ihm eigenen Methode beginnt Heidegger seine Untersuchun-
gen zur ·Bedeutung des Geschichtsbegriffes mit einer phänomenologischen
Analyse der Terminologie, wo die ursprüngliche Bedeutung iminer vorhan-
den ist, s.ei es auch nur in den Verkleidungen und Entstellungen einer un-
vermeidlichen Verfallenheit.
Der geläufige Sprachgebrauch versteht gewöhnlich unter "Geschichte"
zweierlei: Das Ereignis selbst und das Wissen darum. Diese Doppeldeutig-
kei< ist nicht willkürlich, sondern gründet sich auf eine ursprüngliche. Ein-
heit. In der Tat gibt es kein geschichtliches Ereignis, das nicht schon in sich
selbst Bedeutung hätte. Und andererseits besteht kein geschichtliches Wissen,
das nicht schon an sich ein Ereignis. ist. Zwischen dem geschichtlichen Ge-
schehen und seiner Bedeutung ist eine innere, unlösbare Beziehung, die die
Einheit und Wahrheit der geschichtlichen Erkenntnis selbst begründet.
Damit wird jener anfängliche Bruch zwischen Subjekt und Objekt über-
wunden, der sowohl der idealistischen als auch der positivistischen Historio-
grafie zu Grunde htg und ihre nachträglichen Versuche einer Synthese lähmte.
Aber diese Überwindung ist möglich dank einer vertieften Sicht des ge-
schichtlichen Geschehens in seinen ontologischen Wurzeln un<;l eines ur-
sprünglicheren Begriffes von Wahrheit.
Der Gegenstand geschichtlicher Erkenntnis ist das Geschehen des Men-
schen als Zeitlichkeit. Eine Geschichtsphilosophie, die es unterläßt, den
GESCHICHTE UND GEHEIMNIS 163
wesensmäßig zeitlichen Charakter menschlichen Geschehens hervorzuheben,
läuft Gefahr, sich von vornherein jeden Zugang zu seinem Verständnis zu
verschließen. Der geschichtliche Verlauf ist nicht nur eine Tatsache oder eine
Folge von Tatsachen, sondern das Entfalten menschlichen S~ins in der Zeit.
Und andererseits vollzieht sich auch die geschichtliche Erkenntnis im Be-
reich des zeitlichen Horizontes, der geöffnet ist durch das Geschehen des
Daseins. Es ist gerade der Begriff der Zeitlichkeit, der eine Begegnung zwi-
schen Ereignis und Bedeutung ermöglicht. Daher wird es nicht überflüssig
sein, auf einer Analyse dieses. Begr~ffes zu bestehen.
Zunächst muß unterschieden werden zwischen der äußeren, kosmologischen
Zeit, meßbar auf Grund der Bewegung der Gestirne, und der existentialen
Zeitlichkeit, die dem Dasein eigen ist. Der Mensch ist nicht nur ein Seiendes,
dessen Werden in einer vorgegebenen und gleichgültigen Zeit abläuft. Das
Dasein hat Zeit, denn es ist in seinem Ursprung selbst Verzeitlichung. An-
nähernd kann die Zeitlichkeit des. Daseins verstanden werden durch den im
übrigen nicht neuen Hinweis auf die spezifische Natur seines Seins selbst.
Das Sein des Menschen ist nicht bereits gemacht, vollendet, sondern befindet
sich wesensmäßig in fieri.
Aber auch diese Definition hat nur annähernden Wert, insofern sie für
jedes Lebewesen gilt. Das Sein der Menschen wird dadurch charakterisiert,
daß sein Werden unaufhörlich seiner eigenen Entscheidung, seiner eigenen
Wahl aufgegeben ist. Und es ist gerade das Hinzukommen der Freiheit im
Verlauf menschlichen Werdens, wodurch der Unterschied zu jedem anderen
Geschehen deutlich wird. In der Tat, soweit es sich um Werden handelt, ist
jedem innerweltlichen Lebewesen - der Mensch ausgenommen - die eigene
Zukunft bereits vorgeschrieben in den biologischen Gesetzen, die die Pro-
zesse seines Organismus regeln; diese Zukunft ist sehr leicht bestimmbar,
wenn mim einmal die Gesetze selbst erkannt hat. Die Zukunft des Menschen
dagegen ist wesensmäßig unvorhersehbar, ist ursprünglich im tiefsten Sinn
des Wortes. ·
Dem Mens.chen aber ist sein eigenes Sein anvertraut, er muß es selbst er-
finden, sei es auch auf Grund einer bereits gegebenen Ausgangsstellung. Das
wird sehr deutlich ausgedrückt in der Definition Heideggers, die paradox
scheinen könnte: "Das Sein des Menschen besteht in seinem Seinkönnen"
(Sein und Zeit, S. 42). ··
Aber die Gleichsetzung von "Sein" und "Seinkönncn", die auf den ersten
Blick die ontologische Konstitution des Menschen zu verletzen scheint, darf
nicht dahingehend 'erstanden werden, als sei das Seh des Daseins reine und
unbegrenzte Möglichkeit. Das Sein des Menschen, obwohl ausschließlich sich
selbst, dem eigenen Entwurf aufgegeben, ist doch radikal begrenzt in seinem
Seinkönnen selbst. Der Mensch ist nämlich ·immer in eine Ausgangssituation
,_geworfen", die nicht nur die Anzahl seiner effektiven Wahlen umschreibt,
sondern darüber hinaus auch den Entwurf der Möglichkeit selbst in seiner
tiefsten Wurzel becinflußt. Der Entwurf, in dem sich der Mensch ~>einem
eigensten Seinkönnen öffnet, ist wesensmäßig ein "geworfener Entwurf". Das
"Geworfensein" durchdringt den Akt des Entwerfens in vollkommener Weise.
n•
164 VIRGIL FAGONE, S. J.
Und mehr noch: Auch die letzte und höchste Möglichkeit, die der Reihe der
Entwürfe Sinn und Einheit gibt, fällt in der irdischen Situation - und auf
diese beschränkt sich die Untersuchung der Existenzanalyse- mit der Seins-
unmöglichkeit zusammen, mit dem Nicht-mehr-sein-können als Tod.
Zwischen dem Geworfensein und dem Nicht-mehr-sein-können vollzieht
sich der Entwurf des Daseins. Diese beiden Begriffe bleiben nicht außerhalb
der Reihe konkreter Wahlen als deren Anfang und Ende, sondern sind wirk-
sam in jedem einzelnen Entwurf, dessen innerste, wesensmäßig endliche
Struktur sie konstituieren. Diese radikale Endlichkeit des Entwurfes fällt mit
der Zeitlichkeit des Daseins zusammen.
Die Möglichkeit, die sich zwischen der Geburt und dem Tode entfaltet, ist
nicht nur deshalb 7eitlich, weil sich die Folge ihrer Entwürfe in einem kosmi-
schen Zeitraum vollzieht, dessen Anfang und Ende datierbar sind; sie ist
vielmehr in einem ursprünglicheren Sinn zeitlich, weil sie endlich is.t: weil
das Seinkönnen und das Geworfensein in jedem Augenblick des Entwurfes
gegenwärtig sind, ihn zu einem Übergang von der Zukunft zur Vergangenheit
werden lassen. Die drei Ekstasen der Zeitlichkeit durchdringen sich gegen-
seitig, so daß der Entwurf geworfen ist im Akt selber, in dem er sich der
Zukunft öffnet.
Eine derart summarische Darstellung könnte eine subjektivistische Inter-
pretation rechtfertigen. Wenn tatsächlich die höchste Möglichkeit des Da-
seins die Seinsunmöglichkeit ist, weil durch den Tod dit irdische Existenz ab-
geschlossen ist, dann ist auch die Interpretation, nach der das Dasein, von
seiner Zukunft ausgehend, über sich selbst und andere Seiende verfügt, end-
lich, historisch und relativ. Wenn der Entwurf des Daseins eingeschlossen
ist in den Horizont einer endlichen Zeitlichkeit, kann er niemals zu einer
transzendenten und absoluten Wahrheit vorstoßen. Aber eine solche Inter-
pretation, soweit sie auch von einigen Ausdrücken in den Schriften "Sein und
Zeit" und "Kant und das Problem de:r Metaphysik" bestätigt wird, wider-
spricht der innersten Bewegung der Untersuchung, die sich auf die Sinn-
erhellung des Seins als solchen richtet.
Um den authentischen Begriff des existentialen Entwurfes zu verstehen,
muß man zu seiner tiefsten ontologischen Wurzel vorstoßen. Wir haben ihn
oben als Freiheit charakterisiert: es ist der Akt, in dem das Dasein über sein
eigenes Sein entscheidet. Eine solche Interpretation bleibt aber letztlich ober-
flächlich und zweideutig, soweit der Begriff Freiheit auf der psychologischen
und subjektivistischen Ebene verstanden wird.
Da Heidegger gezwungen ist, die Terminologie der traditionellen Philo-
sophie zu gebrauchen, ist seine Denkweise ständigen Mißverständnissen aus-
gesetzt. Ausdrücke, die eine "ontologische" Bedeutung haben sollen, laufen
Gefahr, in einer "ontischen" Interpretation befangen zu bleiben, wodurch ihre
eigentliche Absicht geleugnet wird.
So zum Beispiel, wenn Heidegger von "Entscheidung", von "Wahl" und
"Freiheit" spricht, beabsichtigt er nicht, in neuer und suggestiver Weise die
"existentiellen" Aspekte einer psychologischen Fähigkeit zu beschreiben,
GESCHICHTE UND _GEHEIMNI.3 165
das Sein des Menschen der Willkürlichkeit einer ontischen Wahl zu über-
geben, sondern er will zu der ontologischen Struktur des Daseins vor-
stoßen, von der jede ontische Fakultät und Aktivität ausgehen. So verstanden,
fällt die Freiheit, das heißt die Möglichkeit über das eigene Sein zu entschei-
den, mit dem Sein des Menschen selbst zusammen, soweit es Seinkönnen ist.
In dieser ursprünglichen Wurzel ist die Freiheit nicht mehr dem Verstehen
als einer anderen Fakultät entgegengesetzt, sondern bildet mit ihr zusammen
die ganzheitliche Struktur des Entwurfes..
Verstehen ist wesensmäßig das Entwerfen der SeinsmöglichkeiL Die ver-
schiedenen Bedeutungen, die der Mensch in seinem zeitlichen Geschehen ent-
deckt, sind im Grunde nur Seinsweisen, Seinsmöglichkeiten. Die Dinge be-
kommen in dem Maße Bedeutung, in dem sie in den vom menschlichen Ent-
wurf geöffneten geschichtlichen Horizont eintreten. Die Bedeutung wird da-
her auf das geschichtliche Geschehen des Daseins zurückgeführt, die Be-
wegung der Intentionalität fällt mit der Bewegung der Zeitlichkeit zusammen.
Der Entwurf - mit dem der Mensch über sein eigenes Sein entscheidet, in
dem als geschichtliches Geschehen das Seinkönnen zu sich selber kommt, -
identifiziert sich hier mit dem: Seinverständnis, soweit auch dieses die Ent-
deckung einer Seinsmöglichkeit ist. Das Ereignis ist also in seinem Ursprung
der Bedeutung nicht entgegengesetzt, sondern bildet mit ihm zusammen eine
einmalige, geschichtlich-zeitliche Struktur.
Die Möglichkeit des Seins fällt mit der Zukunft zusammen. Als Ereignis
wird gewöhnlich das verstanden, was "vergangen" ist. Eine echte Erkenntnis
der Bedeutung des V ergangenen isi nur insofern möglich, als das V ergangene
in die Zukunft entworfen wird, das heißt, in dem Maße, in dem es eine Seins-
möglichkeit des Daseins wird, das dafür die Verantwortung in Entwurf über-
nimmt. Die Bedeutung des Ereignisses liegt in seiner Möglichkeit; aber diese
Möglichkeit ist niemals abgeschlossen: sie öffnet s.ich immer neu und ur-
sprünglich der eigentlichen Entscheidung des Daseins. In Kürze: eine ge-
schichtliche Erkenntnis ist möglich soweit der Akt, in dem sich der Mensch
auf die Vergangenheit bezieht, selbst geschichtlich ist: das Geschehen eines in
die Zukunft gerichteten Entwurfes, aber gleichzeitig ein von jeher "Ge-
worfensein" in eine Ausgangssituation, in der der Mensch der Verantwortlich-
keit für die Vergangenheit gegenübersteht. Aber die Vergangenheit kann nur
dann im Lichte der Zukunft gesehen werden, wenn sie selbst ein "geworfener
Entwurf" ist, .eine Möglichkeit, die sich auf die Zukunft richtet. Der alte
Gegensatz zwischen Erkenntnis und Realität wird im interpretierenden Ge-
schehen des Daseins überwunden.
Jedoch verleitet das Zusammenfallen von Ereignis end Bedeutung zu einem
grundlegenden Mißverständnis, dem auch die Bultmannsehe Interpretation
der existentialen Hermeneutik nicht ausgewichen ist. Wenn in der Tat die
Bedeutung nur eine Seinsmöglichkeit ist, und wenn dieses Sein seinerseits zu-
sammenfällt mit dem Sein des Daseins, mit der "Jemeinigkeit", auf die der
Entwurf gerichtet ist, scheint es schwierig zu sein, einer radikalen Relativi-
sierung der Erkenntnis bis zum Grade der Subjektivisierung zu entgehen. Der
Daseinsentwurf- würde dieser Hypothese gemäß den Sinn oder das Wesen
166 VIRGIL FAGONE, S. J.
der Dinge und Tatsachen nicht enthüllen, sondern ihn vielmehr verdecken
und verkleinern durch eine subjektivistische Interpretation. Die Seinsmög-
lichkeit, in deren Licht sich die Bedeutung der Seienden auftut, ist immer eine
endliche, individuelle Möglichkeit, das Seinkönnen eines einzelnen Seienden.
Die Entdeckung der Bedeutung des Ereignisses wäre daher nichts als eine
"relativistische Historisierung", auf Grund derer sich das Ereignis den Erfor-
dernissen, den Schemata, den Möglichkeiten des interpretierenden Subjektes
anpaßte. Dadurch ergäbe sich die Notwendigkeit, die Geschichte im Lichte
immer neuer und verschiedener Möglichkeiten zu interpretieren, die von der
Veränderlichkeit der konkreten, existentiellen Situationen abhängen. Von
dorther wäre die Bultmannsehe Instanz der Entmythologisierung gerechtfer-
tigt: das mythische Weltbild, das das Interpretationsschema anderer Zeiten
darstellte, muß von dem wissenschaftlichen Weltbild ersetzt werden, das
unserer Epoche entspricht.
Aber damit wäre der Versuch, den Gegensatz von Ereignis und Bedeutung
zu überwinden, bereits in seiner Grundinstanz gescheitert; er fiele zurück in
jene subjektivistische Tradition des "vorstellenden Denkens", gegen die s.ich
die gesamte Untersuchung Heideggers richtete. Der existentiale Entwurf ist
vor allem auf das Sein des Daseins selbst gerichtet. Aber das Sein des Da-
seins, obwohl das Sein eines einzelnen Seienden, ist immer jenseits seiner
selbst, ist, eben weil es "sein kann", dem Sein als solchem "offen". Heidegger
charakterisiert schon in "Sein und Zeit" diese Art des Seins als dem Dasein
eigen, in dem er schreibt: "die ontische Auszeichnung des Daseins liegt darin,
daß es ontologisch ist" (a. a. 0., S. 12).
Im Unterschied zu einem Tisch, zu einem Stein oder einem Baum, die sich
als. "Sosein" bestimmen lassen, ist das Sosein des Daseins vor allem "Sein";
"Alles Sosein dieses Seienden ist primär Sein" (a. a. 0., S. 24).
Das bedeutet noch nicht, daß das Sein des Menschen sich ohne weiteres
mit dem Sein als solchem identifiziert. Die Tatsache, daß die höchste Mög-
lichkeit des Daseins mit der Seinsunmöglichkeit zusammenfällt, nämlich
mit dem Tode, zeigt in ausreichender Weise die Unbegründetheit einer
solchen Gleichsetzung. Wenn der Tod die äußerste Möglichkeit des Da-
seins darstellt, seine Zukunft ist, so muß jede echte Interpretation der
Geschichte von der Seinsunmöglichkeit, vom "Nichts" ausgehen. Der para-
doxe Sinn dieser Behauptung, der die Anklage des Nihilismus zu rechtfer-
tigen schien, ist sehr viel tiefer. Er kann nicht verstanden werden, wenn nicht
das Sein als solches vom Sein des Daseins unterschieden wird, auch wenn
beide in wechselseitiger Beziehung zueinander stehen.
Der Tod ist der Ausgangspunkt jeder echten Geschichtsinterpretation nur
in ·dem Maße, in dem er dazu dient, den Sinn des Seins selbst negativ zu
charakterisieren. Das Sein, dem das Dasein im Existenzentwurf offen ist, ist
nicht sein eigenes endliches Sein, noch das Sein irgendeines anderen einzelnen
Seienden, sondern das Sein s.elber, dessen Charakteristik es gerade ist, das
"Nichts" des Seienden zu sein. Der Tod, obwohl er die höchste Möglichkeit
des Daseins in seiner irdiscben Bedeutung darstellt, ist vor allem der
~,Schleier des Seins", jene Existenzerfahrung, in der der Mensch den Sinn des
GESCHICHTE UND GEHEIMNIS 167
Seins mehr negativ als positiv vorgreifend, ahnt, daß das Sein jedes Seiende
und den Menschen selbst, soweit er endliches Seiendes ist, total übersteigt.
Nur auf Grund der Erfahrung einer radikalen Endlichkeit des. menschlichen
Seins war es möglich, die Illusion aufzulösen, in der der Idealismus befan-
gen war: die J dentifizierung des Seins als solchen mit dem subjektiven Be-
wußtsein. Unleugbar besitzt das Denken die Merkmale der Totalität und
der Einheit, wodurch eine solche Illusion geschaffen wird - hat man einmal
die Art des "vorstellenden Denkens" akzeptiert. Aber wenn die Seele in
einem bestimmten Sinn "alles" ist, wie Heidegger selbst hervorhebt, indem
er Aristoteles und Thomas von Aquin zitiert, so ist sie es nicht auf ontischer
Ebene, sondern auf ontologische Weise, das heißt, soweit sie intentional dem
Sein selbst offen ist.
Der traditionelle Begriff der Intentionalität wird in der Existenzanalyse
um die Dimension der Zeitlichkeit erweitert, die s.eine radikale Endlichkeit
unterstreicht. Das Dasein befindet sich, soweit es intentional dem Sein offen
ist, immer jenseits seines eigenen ontischen Seins. Aber als geschichtliches Ge-
schehen ist es in seinem eigenen Seinkönnen in eine Welt geworfen, und
auf die einzelnen Seienden zurückverwies.en. Der Mensch in seinem Ge-
schehen als Zeitlichkeit, das vom eigensten Seinkönnen aus.geht, somit dem
Sein selbst offen ist, erschließt einen geschichtlich-intentionalen Horizont, in
dem sich das Sein des Seienden und die Bedeutung ·des Ereignisses anzeigen
können. Das Ges.chehen des Menschen ist interpretierend, gerade weil es sich
unaufhörlich als Übergang vom Ereignis zur Bedeutung, vom Seienden zum
Sein vollzieht. Der letzte Sinn der existentialen Hermeneutik ist nicht das
Sein des Daseins in seiner Endlichkeit, sondern das Sein selbst sich enthül-
lend im zeitlichen, durch den Entwurf geöffneten Horizont. Die Synthese
zwischen Ereignis und Bedeutung ist nicht möglich, wenn der Entwurf von
dem Rahmen der individuellen und subjektiven Möglichkeiten begrenzt bleibt,
sondern nur, wenn er trotz seiner Endlichkeit dem Sein als solchem offen ist.
Die Vergangenheit kann aufgenommen und in Zukunftsentwurf interpretiert
werden, sofern die Zukunft des Menschen auf das Sein selbst gerichtet ist,
das heißt, sofern das Geschehen des Menschen als "Lichtung des Seins" ge-
schieht.
In seinen folgenden Schriften hat sich Heidegger ständig bemüht, das
Mißverständnis aufzuheben, das durch einige Ausdrücke in "Sein und
Zeit" entstanden war. Es ist das Sein selber, das das Denken und den
Daseinsentwurf selbst ermöglicht und nicht umgekehrt (Brief iiber den
Humanismus, S. 56). "Das Sein lichtet sich dem Menschen im ekstati-
schen Entwurf. Doch dieser Entwurf schafft nicht das Sein" (a. a. 0. S. 84).
"Das Werfende im Entwerfen ist nicht der Mensch, sondern das Sein selbst,
das den Menschen in die Existenz des Da-seins als s.ein Wesen schickt"
(a. a. 0. S. 84). Die Geschichte ist nicht zunächst das Geschehen des Men-
schen, das Vergehen des Vergangenen, sondern die Gabe des Seins, in dess.en
Wahrheit sich die Existenz zeitlich erschließen kann. "Die Geschichte ge-
schieht nicht zuerst als Geschehen. Und dieses ist nicht Vergehen. Das Ge-
schehen der Geschichte weist als das Geschick der Wahrheit des Seins aus
168 VIRGIL FAGONE, S. J.
diesem ... Zum Geschick kommt das Sein, indem Es, das Sein, sich gibt"
(a. a. 0., S. 82-83). Existierend, das heißt geschichtlich geschehend, steht der
Mensch im "Geschick des Seins". "Gesetzt, daß der Mensch inskünftig die
Wahrheit des Seins zu denken vermag, dann denkt er aus der Ek-sistenz.
Bk-sistierend steht er im Geschick des Seins" (a. a. 0., S. 82). Die Geschicht-
lichkeit des Menschen findet ihr Fundament in der Wahrheit des Seins. "Erst
wo das Seiende selbst eigens in seine Unverborgenheit gehoben und verwahrt
wird, erst wo diese Verwahrung aus dem Fragen nach dem Seienden als sol-
chem begriffen ist, beginnt Geschichte" (Vom Wesen der Wahrheit", S. 16).
Die Konsequenzen einer solchen Umkehrung der Perspektive oder besser
der Vertiefung der Ausgangsstellung, werden sehr deutlich in der erneuten
Gegenüberstellung von Geschichte im echten Sinne und Historismus. Hei-
degger versteht unter Historismus eine Interpretation der Vergangenheit auf
Grund "bestimmter Vorstellungen der Gegenwart". Der eskatologische Sinn
der Geschichte ist nicht so sehr in der Zukunft des Menschen zu suchen als
vielmehr in der "Eskatologie des Seins selber" (Holzwege, S. 301, 310-311).
Die Echtheit dieser Interpretation. wird klar bewiesen durch die Bedeutung,
die der Begriff "Freiheit" in der neuen Ansicht der "Wahrheit des Seins" er-
langt. Das Wesen der Wahrheit besteht in der Freiheit. Aber die Freiheit ist
keine psychologische Fähigkeit des Subjektes, keine Willkür der Wahl, son-
dern ein wesensmäßiges Offensein des Menschen, eine Verfügbarkeit, ein
"Seinlassen", das Sein des Seienden, wie es in sich selbst ist. (Vom Wesen der
Wahrheit, S. 14.) Eine solche Verfügbarkeit gegenüber dem s.ich enthüllenden
Sein des Seienden ist möglich wegen des ursprünglichen Offenseins des Men-
schen im Lichte des Seins selbst. Die Gleichsetzung zwischen Wollen und
Verstehen in der ontologischen Struktur des Entwurfes erscheint jetzt in
ihrem tiefsten Sinn. Die Freiheit, mit der der Mensch s·eine eigenen Möglich-
keiten entwirft, ist keine subjektive Tendenz, kein "Wille der Macht". Die
Möglichkeiten, auf die dieser Wille gerichtet ist, gehören nicht in den Bereich
des "vorstellenden Denkens". In seinem Geschehen als zeitlicher Entwurf er-
schließt der Mensch einen Horizont der Verständlichkeit, in dem sich das. Sein
des Seienden nur darum zeigen kann, weil sein Entwurf ursprüngliche Frei-
heit ist, Verfügbarkeit dem Sein selbst gegenüber. Die Geschichte beginnt mit
dem Einbruch des Seins selbst in das Geschehen des Menschen (a. a. 0.,
S. 17). Nur darum hat der Mensch Geschichte. Die ,.Natur" hat keine Ge-
schichte.
Die Überwindung der positivistischen wie der idealistischen Historiografie
gründet sich letztlich auf diesen neuen Begriff der Wahrheit. Der Kern der
Wahrheit besteht in seinem Ursprung nicht in der "richtigen" Übereinstim-
mung von Ereignis und Bedeutung, von Subjekt und Objekt; sondern im Ent-
hüllen selbst des Seienden, in seinem Hervorkommen aus der Verborgenheit
in das Licht des Seins. Wahrheit ist in der ursprünglichen Bedeutung der grie-
chischen Ethymologie ein "Nicht-Verborgensein" (a-A.1]-&eta). Aber das Nicht-
Verborgensein des Seili,lnden ist durch das geschichtliche Existieren des Men-
schen möglich, durch sein Geschehen als Freiheit, als Sein-lassen, in einem
Worte, als dem Sein als solchem gegenüber Offensein.
GESCHICHTE UND GEHBIMNIS 169
Die innere Beziehung zwischen der Wahrheit des Seins und der Geschichte
erlaubt uns, die. Eingangsfrage zu vertiefen, von der die Untersuchung aus-
gegangen ist; die Frage nach der Möglichkeit einer Begegnung zwischen Ge-
schichte und Geheimnis.
Aber das Geheimnis des Seins ist noch nicht das religiöse Geheimnis im -
eigentlichen Sinne. Heidegger weist eine derartig vereinfachte Identifizierung
zwischen dem Sein als solchem und Gott, so sehr die auch von einigen Aus-
drücken suggeriert zu sein scheint, entschieden zurück. Das Geheimnis des
Seins bleibt einbezogen in den Bereich der philosophischen Untersuchung. Es
bildet den End- und Ausgangspunkt jeden Fragens. Es ist das ,.Denkwürdige",
das .,Fragwürdige", wodurch jede philosophische Frage angeregt wird; aber
es entzieht sich jedem begrifflichen Erfassen, jeder Antwort, die beansprucht,
ihren Sinn zu erschöpfen. Die Philosophie entsteht, wenn in der Frage nach
dem Seienden als solchem das Geheimnis durchscheint, sie vertieft sich in
der Suche nach dem Sinn des Seins und zerfällt, wenn sich die ursprüngliche
Frage verdunkelt. Ihre Aufgabe ist, dieser Frage treu zu bleiben, ihren Sinn
und ihre Kraft nicht durch Wißbegier und Wissenschaftlichkeit zu zerstören,
die Tiefe des Seinsgeheimnisses, von dem die Philosophie ihr fragendes Wesen
ableitet, zu respektieren und zu schützen. Das religiöse Geheimnis dagegen
bezieht sich auf eine andere Haltung, auf die des Glaubens. Während die
Philosophie durch ein Fragen gekennzeichnet wird, durch ein Nichtwissen, das
zu wissen sucht, ist der Glauben wesensmäßig eine Erkenntnis, das heißt ein
Wissen, das, obwohl unfähig, das durchscheinende Geheimnis zu verstehen,
doch dessen innersterWahrheitmit äußeren Mitteln nahekommt und damit
aufhört zu fragen. Heidegger verschärft den Gegensatz zwischen diesen bei-
den wesensmäßig verschiedenen Erkenntnisweisen so sehr, daß es zu der
Behauptung kommt: wer glaubt, kann nicht mehr fragen, das he.ißt kann nicht
mehr philosophieren, denn er kennt bereits das, womit sich eine philosophische
Frage beschäftigen müßte (Einführung in die Metaphysik, S. 5-6). Aus dieser
angenommenen Unmöglichkeit, die auf einer unzulänglichen Berücksichti-
gung des Unterschiedes zwischen philosophischer und glaubender Erkenntnis
beruht, kennen wir jedoch eine äußerst wichtige Konsequenz im Hinblick auf
die heideggersche Konzeption ziehen: Das Zusammenfallen, oder wenigstens
die Konvergenz des Seinsgeheimnisses mit dem religiösen Geheimnis als sol-
chem. Nur wenn der Gläubige bereits weiß- und sei es auch nur in dunkler
und indirekter Weise- wonach die Philosophie noch sucht, wird sein Fragen,
wie Heidegger behauptet, überflüssig.
In Wirklichkeit besteht zwischen dem Seinsgeheimnis und dem religiösen
Geheimnis eine tiefe Beziehung, von Heidegger selbst ausdrücklich anerkannt:
"Erst aus der Wahrheit des Seins läßt sich das Wesen des Heiligen denken.
Erst aus dem Wesen des Heiligen ist das Wesen von der Gottheit zu denken.
Erst im Lichte des Wesens von der Gottheit kann gedacht und gesagt werden,
was das Wort ,Gott' nennen soll (Brief über den Humanismus, S. 102). In
dieser fortschreitenden, vorsichtigen und sagen wir, ehrfurchtsvollen An-
näherung des Seinshorizontes an den Namen Gottes, sind, so meinen wir, die
Bedingungen angezeigt einer möglichen Begegnung mit dem Einbruch des
Göttlichen in den Bereich der menschlichen Geschichte.
Wenrt die echte geschichtliche Erkenntnis sich auf die Seinswahrheit gründet,
auf Ihr geheimnisvolles Sich-Enthüllen und Sich-Verbergen im Entwurf des
Menschen, der, indem er geschichtlich geschieht, die Welt erleuchtet; wenn
GESCHICHTE UND GEHEIMNIS 171
das Seinsgeheimnis seinerseits den Horizont bildet, innerhalb dessen das reli-
giöse Geheimnis !>ich zeigen kann; so folgt daraus, daß es keinen Sinn hat,
von einem unüberwindlichen Gegensatz zwischen geschichtlicher Wahrheit
und der Wahrheit eines übernatürlichen Eingriffes zu sprechen.
Wenn das Wesen der Wahrheit nicht in einer subjektiven Interpretation be-
steht, die das Sein der Dinge überdeckt, sondern vielmehr ein "Sein la'Ssen"
in Freiheit bedeutet, eine Verfügbarkeit im Lichte des Seins, so wird auch
das Wesen der geschichtlichen Wahrheit darin bestl!hen, die Tatsache oder
besser gesagt das "Ereignis" anzunehmen, nicht in einfacher Feststellung und
Bestätigung, sondern in Anerkennung der Bedeutung, die in seinem Ge-
schehen selbst enthalten ist. Die Bedeutung kann nicht von dem Ereignis ge-
trennt werden, eben weil ein geschichtliches Ereignis das Geschehen eines
Wesens ist, das sich dem Seinsverständnis öffnet, und weil andererseits auch
die geschichtliche Erkenntnis selbst ein Seinsverständnis ist, das zeitlich ge-
schieht.
Die Bedeutung eines übernatürlichen Ereignisses bleibt in seinem innersten
Wesen für die Historie unzugängilch. Aber eine echte, dem Seinsgeheimnis
erschlossene Geschichte sperrt sich nicht völlig und a priori der Möglichkeit
eines direkten göttlichen Eingriffes in die Welt. Sie wird niemals nur mit ihren
eigenen Kräften die innere Bedeutung eines solchen Eingriffes ganz erfassen
können oder auch nur als Ereignis fordern. Aber sie kann im Geschehen des
Menschen in der Welt die Spuren eines Urfalles erkennen; sie kann in einer
durch die Jahrhunderte gereiften Erwartung die Anzeichen einer Verheißung
erfassen; sie kann im Hervorragen einiger Tatsachen aus dem notwendigen
Kausalzusammenhang die "Zeichen" des Eingriffes einer geheimnisvollen und
übernatürlichen Macht erahnen, in der sich die Wahrheit der Heilsbotschaft
bestätigt.
Der Seinshorizont, in dem sich die Untersuchung des späteren Heidegger
bewegt, bleibt der Möglichkeit einer übernatürlichen Offenbarung gegenüber
neutral. Die philosophis.che Frage, die vom Glauben in einem besonderen
Credo unterschieden wird, ist bereit, in j.edem Mythos einen Wink des• Seins-
geheimnisses anzuerkennen.
Was den Mythos betrifft, ist es nicht die Aufgabe der Geschichte, die philo-
sophische Bedeutung von der sie verkleidenden phantastischen Erzählung zu
befreien, sondern vielmehr ihre innere Beziehung in ihrer gemeinsamen Teil-
habe an der Sprache zu entdecken. Der Mythos ist in der Tat nichts weiter als
das ,.sagende Wort", "das Wesende in seiner Sage: das Scheinende in der
Unverborgenheit seines Anspruches. Der l6yoG" ist der alle Menschen zuvor
und von Grund. aus angehende Anspruch, der an das Scheinende, an das
Wesende denken läßt". (Was heißt Denken? S. 6-7)
"MvfJo, und l6yo' treten keineswegs, wie die landläufige Philosophie-
historie meint, durch die Philosophie als solche in einen Gegensatz ...
p/ü{}o~ und l6ro~ treten erst da aus- und gegeneinander, wo weder pJj{}o~
noch loro~ ihr anfängliches Wesen behalten können. Dies ist bei Platon ge-
schehen. Es ist ein auf dem Grunde des Platonismus vom neuzeitlichen Ratio-
172 VIRGIL FAGONE, S. J.
1 Ich beziehe mich vor allem auf "Zum Problem der Entmythologisierung" - in:
Kerygrr-a und Mythos, 2. Band (Hamburg 1952), 179-208 (hier zitiert unter: KM) --
und aut "Geschichte und Eschatologie" (Tübingen 1958). Vgl. auch die Sammlung seht
bedeutsamer Aufsätze: "L'interpretation du Nouveau Testament" (Paris 1955).
174 RENATO LAZZARINI
liehe usw. Ordnung, der Kultur und Gesellschaft, auch die christliche, in der
Geschichte hervorbringt.
In der Philosophie der Gegenwart hat sich der Begriff des "finis" durch-
gesetzt - in seinem doppelten Sinn, dem positiven von rüo~ oder Ziel und
dem privativen von Ende, eax,amv -, seit Heidegger ihm, in dem kühnen
Begriff der "vorlaufenden Entschlossenheit", gewissermaßen Heimatrecht im
Bereich der Existenzanalytik verschafft hat.
Deshalb findet die Auseinandersetzung mit der Eschatologie als Wesens-
element von Botschaft und Persönlichkeit Jesu Christi, zu deren Rechtferti-
gung das philosophische Klima vor fünfzig Jahren mit seiner Versteifung
auf eine schlechthin immanentistische Geschichtsdeutung nichts beizutragen
vermochte, in der Existenzphilosophie der Gegenwart die Werkzeuge, die
einer Vertiefung -des christlichen Bewußtseins gerade in seinem Eigensten,
seiner eschatologischen Haltung, dienen können.
Die eschatologische Haltung fordert vor allem in Bezug, auf den Menschen
eine grundlegende, uns heute sehr geläufige Unterscheidung zwischen Natur
und existentieller Situation. Der naturhafte Mensch besitzt seiner objektiven
Existenz nach ein spezifisches Wesen, das bestimmbar ist im Gegenüber zu
anderen Naturen oder Wesen, die als in der Wirklichkeit vorgegeben voraus-
gesetzt werden. Unter dieser Hinsicht ist der Mensch ein Geschöpf, das zu
jener größeren Wirklichkeit gehört, welche den Naturkosmos, die Welt dar-
stellt. In diesem Sinn also kann man von dem naturhaften Menschen spre-
chen. Heute wird dieses naturhafte Sein gewiß nicht bestritten, aber seine
Grenzen werden abgesteckt. Auch der Mythos wird, insofern er eine Reduk-
tion des Göttlichen auf naturhafte Vorstellungen darstellt und damit selber
dem Naturhaften angehört, vernachlässigt als etwas Zweitrangiges im Ver-
gleich mit dem eigentlichen Gebiet der Erforschung des Menschen in seine_r
geschichtlichen Konkretheit.
Die Erforschung des Menschen hat zum Ziel das eigentlich Existentiale an
ihm. Das jedoch, was den Menschen macht, ist, weit mehr als das "Situiert-
sein" (als Passivität), das "Sich-situieren" (als reflexe Aktivität), ein Sich-
klar-werden über sich selbst, ein Sich-zum-Problem-machen, ein Sich-verge-
schichtlichen und Sich-verzeitlichen.
Das enge Band zwischen Situation und Bewußtsein ist damit gegeben, daß
die Existenz das Sein ist, gerade insofern es "situiert" ist, Situation besagt,
d. h. insofern es sich selbst annimmt; und dieses Sichannehmen besteht darin,
mit Bewußtsein zu existieren, sich zum Sein selbst zu verhalten.
Es ist zu beachten, daß dieses Seinsbewußtsein oder dieses Exis.tieren vor
allem als Forschungsmethode übernommen wird. Sie entfremdet uns dem
empirisch-alltäglichen wie auch dem wissenschaftlichen Wissen, das die Natur
betrachtet als vorgegeben, unabhängig von dem existentiellen Bewußtsein
von ihr.
Aber was ist dieses Bewußtsein anderes als eben die Intention, zu existieren
oder sich selbst auszusagen? Hier begegnet sich der phänomenologische ln-
lentionalismus Husserls mit dem existentialen Heideggers: die beiden Denk-
MENSCHLICHE SITUATION UND VOR-ESt~HATOLOGIE 175
2 Da~ eben ist die Einstellung Bultmanns, der die Philosophie Heideggers als eine
;,Methode" übernimmt, die sich auf die metaphysisch-religiöse Ebene übertragen
läßt. Vgl. KM 193. Die Existenzphilosophie sagt dem Menschen nicht: "So sollst du
existieren", sondern einfachhin: "Du sollst existieren".
a Ich habe von diesem Begriff ausführlich Gebrauch gemacht in "Situazione umana
e senso della storia e del tempo" (Mailand 1960) und in voraufgegangenen Arbeiten.
176 RENATO LAZZARINI
Der Mensch ist gewiß Ebenbild Gottes. Seine ganze Würde und Größe
jedoch besteht darin, daß er fähig ist, eine Wahl zu treffen angesichts der
Alternative: entweder dem göttlichen Urbild immer ähnlicher zu werden oder
ihm unähnlich zu werden bis zur Möglichkeit des Selbstverlustes. Diese zwei-
fache Fähigkeit verleiht dem Menschen jenen eigentumliehen Charakter der
Zweideutigkeit und Problematik, von dem die Rede war. Die Situation des
mittelalterlichen Menschen ist aufs bestimmteste eine existentielle Situation,
eine Situation, die gebunden ist an eine beständige und sich stets erneuernde
Möglichkeit des Heils oder Unheils.
Angesichts dieser möglichen Endsituation ist es klar, daß das zu verwirk-
lichende Wesen des Menschen zwar darin besteht, Ebenbild Gottes zu sein,
daß dieses Ebenbild in seinem gegenwärtigen "statm:" sich jedoch auch in
sein dämonisches, widergöttliches Gegenteil verkehren kann. Wenn einmal
-im Menschen- die Kontingenz auf die Stufe von Wissen, Verstand und
Reflexion erhoben ist, erlangt sie die Freiheit, Gott ähnlich zu werden oder
sich selbst zu verlieren. Daß die Welt als schöpferisches Werk Gottes sich
aufwärts entwickelt, müssen wir von unserem Standpunkt aus als wohlbe-
gründete Möglichkeit betrachten. Aber nur wenn die Weltgeschichte im Sinn
der Vollendung des Menschen - nicht seiner. Verfallenheit und Selbstver-
haftung - verläuft, kann diese Möglichkeit verwirklicht werden. Ohne diesen
Ablauf ist die menschliche Natur in der Schwebe der Neutralität und Wert-
indifferenz der bloßen Natur, der "natura pura".
Daher wird das dringlichste und anspruchvollste Problem nicht die Natur,
auch nicht die vernünftige Natur des Menschen sein, sondern seine Freiheit,
die zu fassen ist im Ausgang von einem Punkt null der Neutralität und In-
differenz (liberum arbitrium indifferentiae) 4•
Zur Klärung dieses Übergangs von der natürlichen Art "Mensch" zum
Menschen als Freiheit ist das Problem zu untersuchen, das dies.er Übergang
einschließt: der "status", in dem sich die Menschheit als Art-Ganzheit befindet.
Das Mittelalter hat das Thema der Situation - unter dem klassischen Be-
griffswort "status"- gekannt und sich zu eigen gemacht. Es vermochte darin
sogar die Grundzüge nicht einer mehrdeutigen anthropozentrischen oder
4 Die Neutralität, die der existentialen Analyse der faktischen, bloß vorhandenen
Existem. eigen ist, hängt ab von dem Eingeständnis, daß ich, wenn ich in mir bliebe,
Gott nicht finde. Indem ich darauf verzichte, Gott zu finden, erlange ich einen Zustand
der Neutralität (Bultmann: KM 195).
Neutralität besagt Indifferenz gegenüber den Werten, einschließlich des hypo-
thetischerweise angenommenen absoluten Wertes Gott, der der Ursprung der Werte
ist. Es handelt sich jedoch um eine Urteilsenthaltung (br:ox~), nicht. um eine aus-
drückliche Leugnung, die von vornherein ausschließen würde, was vielmehr nur vor-
läufig unentschieden bleibt.
Das Gegenstück hierzu in der traditionellen Theologie stellt das Problem de•:
menschlichen Existenz im Zustand der "reinen Natur" dar, der gewöhnlich als Ab-
straktion betrachtet wird. Dieses Problem ist auch heute bei den Theologen lebendig.
Man könrite hierzu sagen, daß-die "reine Natur" des MenschE:n all das besitzt, was sie
zum Existieren braucht, jedoch ohne die Existenz selber oder ohne den "status". Fehlt
dieser, so fehlt dem menschlichen Selbstbewußtsein Perspektive und endgültige Aus-
richtung; sein Selbstentwurf bleibt anonym, empirisch, rei~ zufällig.
12 Castelli
178 RENATO LAZZARINI
"status" der Menschheit wird bezeichnet als "status vialis" oder "status
viatorius", alsZustand desUnterwegsseins. Er bildet den fruchtbaren "humus",
der die Personen hervorbringt, und zwar gerade in dem umgreifenden und
zusammenfassenden moralisch-religiösen Bereich dils Personalen, der allen
anderen Bereichen, dem spekulativ-theoretischen, ästhetischen, sozialen und
ökonomischen, zugrunde liegt. In Adam geht ("in hypothesi") die Person der
Konstitution des "status" voraus; in den Nachkommen Adams folgt die Per-
son auf den "status", gründet sie im "status", kraft dessen die großen Mög-
lichkeiten und Kräfte des Guten und des Bösen sich nicht mehr in einer Situa-
tion der Indifferenz und des Gleichgewichts befinden, sondern in einer struk-
turellen Bestimmtheit, die geordnet, verstärkt und schließlich zur Vollendung
geführt wird durch das doppelte Wirken des Menschen (der sich allerdings
auch verweigern könnte) und Gottes.
Wie nun beschreiben die mittelalterlichen Denker, angefangen von Augusti-
nus bis zu den großen Scholastikern des 13. Jahrhunderts, den gegenwärtig
wirklichen "status" der Menschheit? Der "status iste" des Menschen - der
,.status", der stets wirklich bleibt in seiner unmittelbaren (ich. möchte sagen
"daseinshaften") Gestalt - ist die Einbettung des Menschen in diese raum-
zeitliche Welt, in die Welt in ihrem empirischen Charakter, die jedoch trotz
der Existenz des Menschen keineswegs äußerlich ist. Vielmehr ist auch die
Welt, die auf das existentielle Subjekt bezogen ist, in einer Situation, aller-
dings in einer uneigentlichen Situation (Heidegger), da sie dem Zufall, der
Vorläufigkeit und der Streuung unterworfen ist.
In seiner mittelbaren, reflexen, tieferen Bedeutung steht der gegenwärtige
"status" in Beziehung zu einer metaphysischen Welt, deren Geistigkeit ver-
bürgt wird einerseits durch ihre reine Möglichkeit 6 (die als solche nichts zu
tun hat mit der existentiellen Verfassung der Welt, in die wir hineingestellt
sind), anderseits durch eine Gewißheit von (oder einen Glauben an) Wirk-
lichkeit, die besteht kraft der Wirklichkeit Gottes selber 7 •
Dies macht den geistigen Aspekt des "status iste" wichtig und angemessen
für das eschatologische Stadium. Hierin besteht die Echtheit der existen-
tiellen Situation, die nicht mehr bloß möglich und insofern auch negativ,
sondern wirklich und deshalb positiv ist. Der gegenwärtige "status" ist jener
Übergangszustand, jener Weg, dessen Schwergewicht auf dem Werden liegt;
gleichzeitig zeigt er den Wert der menschlichen Errungenschaften und die
Grenzen an, die ihnen - als Werten "in via" - anhängen.
Wenn z. B. Thomas von Aquin sagt, daß unserem Verstand "secundum
statum viae" ein Gegenstand nur gegeben werden kann durch etwas ihm
irgendwie Ähnliches oder daß "unser Verstand ,in statu viae' sich zu den Vor-
stellungsbildern so verhält wie der Gesichtssinn zu den Farben" 8 , so zeigt er
6 bisefern alle Möglichkeit ihren Grund in einem letzten geistigen Prinzip haben
muß, das sie entwirft und erkennt.
7 Insofern die geschaffene Wirklichkeit teilhaben muß an der Geistigkeit ihres
schöpferischen Prinzips.
8 Vgl. 1 Sent. 17, 1, 4, 4 und Ver. 10, 9 c.; zitiert nach A. llayen, L'intentionnel selon
S. Thomas (Paris 21954) 212.
12*
180 RENATO LAZZARINI
3. "Vor-Eschatologie"
"Das Unterwegssein des Menschen ist seine Geschichte. Welche Eigenschaft
verbürgt dessen Echtheit? Ich möchte diese charakteristische Eigenschaft
kurz als vor-eschatologisch kennzeichnen. Bultmann hat sehr gut die Be-
ziehung gesichtet, die Geschichte und Eschatologie zugleich eint und trennt 11 •
Eine genauere Bestimmung dieses Zusammenhanges legt sich jedoch nahe;
Sie muß klären, wie man, falls der Mensch als geschichtliches Wesen auf dem
Weg zu einem Ziel ist, "Weg " und "Ziel" zu unterscheiden hat - ohne sie
zu trennen-, so daß die Geschichte sich stets in einem zielbestimmt-eschato-
logischen Horizont bewegte, ohne doch je zusammenzufallen mit diesem
Horizont. Das bedeutet, daß die Geschichte - und damit die Existenz des
Menschen - an sich stets nur voreschatologisch (pre-eschatologica) oder,
wenn man so sagen will, eschatologie-bezogen (peri-eschatologica) ist.
Damit ist die Lage bestimmt umschrieben, in die sich die Menschheit ge-
stellt sieht: zwischen eine mit ihr notwendig vorgegebene Natur, die noch
"sine statu" ist, und einen zukünftigen Endzustand ("status termini"), der ge-
wissermaßen "sine natura" sein wird, insofern die Natur zurückgenommen,
überhöht und verklärt wird in den "status.". Diese Situation macht es ver-
ständlich, daß die endgültige Schau einer auch ihrerseits endgültigen Welt noch
nicht möglich ist, weil die Menschheit, sowohl in den einzelnen Personen wie
als übergreifende Gesamtheit, noch nicht angelangt ist im "status termini",
in jenem Zustand, in dem die Umwelt des Menschen als end-gültige verschie-
den sein muß von der des Menschen, der noch auf dem Wege ist.
Es ist auch hinzuweisen auf den beziehungsreichen Begriff der Überliefe-
rung, dem die ihm zukommende Unbegrenztheit eine besondere Strahlkraft
verleiht. Die Überlieferung stellt in ihrer Beweglichkeit das geistige, leben-
dige Element dar gegenüber der Schrift in ihrer Gebundenheit an den Buch-
staben. Überlieferung und Schrift stehen in der Mitte zwischen der Ab-
wesenheit alles Eschatologischen als Ausgangspunkt und der in eine unbe-
stimmte Zukunft vorausweisenden Fülle des Eschatologischen als Endpunkt.
Auch wenn ich an den für mich, auf diese Welt gekommenen und von den
Toten auferweckten Christus glaube, so halte ich doch unentwegt Ausschau
nach dem wiederkommenden Christus, nach seiner Parusie. Die Zeit der
eschatologischen Fülle jedoch bleibt für mich so unbestimmt, daß ich sie nur
eben als anders denn die gegenwärtige Zeit zu erwarten vermag, die eine
Zeit des Kampfes und der Vorbereitung (in der "streitenden Kirche") ist.
Diese Haltung des Ausschauens begründet den voreschatologischen Cha-
rakter der religiösen Erfahrung "in via". Diese Erfahrung ist nicht naturhaft,
sondern existentiell und deshalb "statushaft". Aber dieser "status" ist noch
nicht der abschließend letzte, sondern der nichtabgeschlossen vorletzte. Wir
sind allezeit noch Anwärter der Erfüllung, auf die Vollendung des Glaubens
Harrende, Bewerber für die vollkommene Teilnahme.
Ein zum "Vor-eschatologischen" analoger Begriff ist der des "Mittel-alter-
lichen", verstanden nicht als chronologischer Hinweis auf das Zeitalter zwi-
schen Antike und Moderne, sondern als Struktur eben der Existenz und
Geschichte, als typische existentielle Situation, die den Menschen kenn-
zeichnet 12 •
Das, was zwar ein .Letztes ist, aber immer noch innerhalb der Reihe der
geschichtlich-existentiellen Akte verbleibt, steht diesseits des Todes und ge-
hört deshalb zum "status iste", der eine voreschatologische Haltung fordert.
12 Ich verweise auf das 10. Kapitel meiner Arbeit "Situazione umana e senso della
storia e del tempo" (Mailand 1960).
MENSCHLICHE SITUATION UND VOR-ESCHATOLOGIE 183
Einzig das Letzte, das außerhalb jener Reihe vor sich geht, steht jenseits des
Todes und gehört zu jener Endsituation, in der das Ursprünglich-Letzte, das
ewig ist, das nicht ursprüngliche, sondern abgeleitete Letzte gründend stiftet.
Alles existentielle Werden besteht in einer Spannung zwischen Vergangen-
heit und Zukunft. Jenes Werden, das die voreschatologische Situation kenn-
zeichnet, steht zwischen einem zeitlichen Nacheinander und einer Zukunft,
die sich dem Nacheinander insofern entzieht, als sie eine Spannwog ganz
anderer Art annimmt:· eine Spannung, die von einem anderen Ich herrührt.
Wenn das Sein des Menschen ein Sein-können, ist, s.o ist jenes Sein-können,
das der existentiellen Haltung im- voreschatologischen I - ethisch-religiösen
Bereich entspricht, ein Gott-begegnen-können - Gott aber ist jenes ganz
und gar geheimnisvolle Sein, das an sich nichts mit unserer Natur zu tun hat
und das jeder vorstellungshaften oder mythischen Aufarbeitung widersteht,
die dem Menschen selber eine eschatologische Stellung einräumen würde.
Der Auszug aus der Welt, mystisch-wirklich oder geistig-intentional ver-
standen, ist nur wahr, insofern er in beiden Fällen rein voreschatologisch
bleibt, gegenüber dem eigentlich eschatologischen letzten Geschehen. Alles
tleibt in der Schwebe jener geistigen Haltung, die man "Intention" b~nannt
hat. Die mittelalterlichen Denker haben gelegentlich gesprochen von Inten-
tionen der Natur oder von Naturgesetzen, wobei nicht immer ersichtlich ist,
ob in Wirklichkeit die Intention des Urhebers der Natur darin einzuschließen
sei, wenn man nur im letzteren Fall das Naturges.etz dem ewigen göttlichen
Gesetz gleichsetzen dürfte. An sich müßte die Natur, weil sie ohne Selbst-
bewußtsein und ohne Vernunft ist, auch ohne "Intention" sein. Der Verweis
auf die Intention ist nur angängig inbezug auf die Konstitution des Men•
sehen, womit nicht so sehr dessen Natur als vielmehr sein "status" gemeint
ist, vor allem sein End-Zustand, der die Vollendung der Schöpfung in der
Teilnahme am Leben Gottes bedeutet. Man muß sich deshalb berufen auf
die Intention in ihrer ionersten Grun<fstruktur und in ihren weitesten Aus-
griffen, wie sie nur von Gott her verstanden werden kann.
Daraus ergibt sich für den Menschen die Notwendigkeit, die verschiedenen
Weisen, wie er selber seine Intentionalität vollzieht, der Prüfung zu unter··
ziehen, indem er unmittelbare, teilweise und vorläufige Intentionen von einer
vermittelten, umfassenden, endgültigen Intention unterscheidet. Eben das Be-
wußtsein einer solchen Unterscheidung erstellt den eschatologischen Horizont
und damit die Eschatologie-Bezogenheit, die allein ein Wertmaß für Sinn
und Bedeutung eben der Existenz abgeben kann. Gewiß hat der Christ sich
immer schon entschlossen gegenüber der Vergangenheit, aus. der er kommt,
und findet er sich dadurch qualifiziert 13 • Aber dieses Wesen ist geprägt durch
einen Akt des Glaubens, der " statu isto" geschieht, und als solches fordert
es das Wissen darum, daß das Ziel, auf das sich der Glaubensakt erstreckt,
noch nicht erreicht ist, so sehr es allerdings zu ihm unterwegs ist. Die schon
angedeutete Unterscheidung zwischen dem Letzten außerhalb und dem Letz-
ten innerhalb der Reihe der menschlichen Akte legt sich nahe.
"Actus" und "habitus" unterscheiden sich von "status", insofern dieser (und
nicht jene in ihrer Vereinzelung und Teilfinalität) auf einen Bund zwischen
dem Menschen und Gott folgt 15 • Darum vollziehen sich auch die religiösen
Akte (des Glaubens usw.) in dem stetigen Rhythmus der Geschichtszeit, die
wir als das Unterwegssein kennenlernten. Gewiß wird die religiöse Haltung
diesem Rhythmus einen Stil, einen Charakter, eine Orientierung in bestimm-
tem Sinne einprägen, aber sie wird nicht das letzte Geheimnis enthüllen
können, das sozusagen einer anderen Zeit und einem anderen "status" vor-
behalten bleibt: dem des Endes und der Vollendung.
Solange wir auf dem Boden der .Geschichte stehen, wird die Philosophie
ihre Aufgabe kritisch erhellenden Oenkens ausüben müssen. Was die Philo-
sophie beiträgt angesichts der Einbettung des geistig-religiösen Dynamismus
in die Geschichte, ist eben der Begriff der Geschichte als eines Weges, der
auf ein Ziel hinstrebt, das unendlich ist und deshalb nicht zu vergleichen mit
dem stets diesseitig bleibenden geschichtlichen Zustand. Wenn Eschatologie
die Theologie in den Denkschemata der Situation ist (oder Teleologie "in
Situation", bzw. der Situation), dann muß eine in endgültigem Sinne teleo-
logische Situation verschieden sein von einer -Situation, die sich einstellt auf
dem vorläufigen Unterwegssein, mit anderen Worten: von einer geschicht-
lichen Situation. Diese Verschiedenheit ist gezeichnet mit dem Tod der ge-
schichtlichen Situationen und mit der Ankunft einer übergeschichtlichen
Situation. Hieraus erhellt die Bedeutung des Todes, der eindeutig den Cha-
rakter der Endlichkeit als Wesenselement der Geschichte ausspricht.
Man kann gewiß von einem Akt und einem Aktualismus des Glaubens
sprechen im Sinne des Verweises auf ein vollendetes, vergangenes oder ein zu
vollendendes, zuki\nftiges Geschehen - vorausgesetzt daß man dieses Ge-
schehen von dem Verweis darauf unterscheidet und infolgedessen eine
Distanz läßt zwischen dem Verweis, der ein menschlicher Akt im geschicht-
lichen Zustande ist, und dem Ges.chehen, das, als wahrhaft letztes außerhalb
der Reihe der Geschehnisse, einen Endzustand fordert. Deshalb ist die
Situation des Gläubigen im Unterwegs stets voreschatologisch, weil sie inner-
halb der Reihe, im Zusammenhang der menschlichen Akte "in statu isto" liegt.
Bultmann behauptet, daß die Begegnung mit Gott sich jeweils vollzieht im
Jetzt des Daseins 16 ; daß Gott uns begegnet in seinem Wort, das nicht wäre,
was es ist ohne den Augenblick, in dem es gesprochen wird, das deshalb
nicht eine zeitlose Wahrheit ist, für die die Ewigkeit eine Dauer ohne Ende
darstellt, sondern eine jeweils wirkliche Gegenwart 17, auf dieselbe Weise, wie
das begreifende Wissen um sich selbst nicht eine zeitlose Wahrheit ist, son-
15 Ein· Unterscheidungsmerkmal zwischen dem heute gebräuchlichen Denkschema
der "Situation" und dem mittelalterlichen des "status" besteht darin, daß das erste
Schema nur Akte l.'nd Fähigkeiten ("habitus") kennt, deren Antrieb und deren Er-
klärung im Bereich geschichtlich-natürlicher Immanenz liegt, während im zweiten
Schema Akte und Fähigkeiten umfaßt sind von der Sphäre des "status", der begründet
wird durch einen Bund der Menschheit mit Gott. In der Kraft dieses Bundes erhalten
die Akte religiöse Bedeutung und Tragweite.
16 kM 194.
17 KM 204.
186 RENATO LAZZARINI
dern sich auf das je wirkliche Jetzt bezieht. Wie in der Tat die Güte Gottes
jeden Morgen neu ist, so geschieht es auch, daß ich mich jeden Tag erneuere 12 •
Ich meine hierzu, daß es sich nicht um eschatologische, sondern um vor-
eschatologische Geschehnisse handle. Sie sind noch vo ..1 dieser Zeit oder die-
sem "!Status", der dem Tode und dem Leben nach dem Tod voraufgeht, ver·
hüllt. Sie erschließen zwar den letzten Sinn des "status iste", aber sie bedeuten
noch nicht Vollendung, sondern nur Ankündigung. Gewiß ist die Ewigkeit
immerdar eine wirkliche Gegenwart, aber in einem verschiedenen Sinne, je
nachdem sie sich bezieht auf den Menschen "in statu isto", oder auf den
Menschen "in statu alio", im endgültigen Zustand.
Nach Bultmann erneuern wir uns, wenn das Wort Gottes uns trifft 19 - nicht
mystisch, sondern eschatologisch. Aber man muß klarstellen, daß die Erneue-
rung eines jeden Morgens ein vorbereitendes Moment ist, das zusammen mit
den Momenten der je zukünftigen morgendlichen Erneuerungen den "status"
ausmacht, der das Unterwegssein und deshalb stets eine vorletzte Zeit ist.
Wäre sie das Letzte, wie könnte sie sich erneuern? Das Endgeschehen tritt
nur ein einziges Mal ein (e<pcbm~), es kann nicht wiederholt werden. Der
Grund dafür: der "status" der Zeit "in termino" ist ein anderer als der
"status" der Zeit "in via". Deshalb muß die Offenheit anders verstanden
werden, je nachdem ob sie sich bezieht auf eine der Gegenwart ähnliche Zu-
kunft oder auf eine Zukunft, die das Prinzip einer neuen Existenzweise ist,
die der gegenwärtigen nicht vergleichbar ist.
Die Unterscheidung zwischen Eschatologie und Voreschatologie zielt auf
die Verschiedenheit zwischen dem, was nicht geschichtlich feststellbar ist an
dem Gott-Geschehen, und dem, was geschichtlich festgestellt werden kann.
Jesus von Nazareth kann nur soweit ein Faktum der Geschichte sein, als er
der Zeit angehört, als er zurückgeführt werden kann auf die Dimensionen
zeitlicher Existenz. Aber als Tat Gottes ist er jenseits der Zeit und der Ge·
schichte; und deshalb kann die äußre, natürliche Geschichte, die nicht an sein
Maß heranreicht, ihn nicht in Beschlag nehmen.
Ich versuchte zu zeigen, wieweit das Denken Bultmanns einer Neuent-
deckung der ursprünglichen Offenbarungsbotschaft Gottes dienen kann, vor-
ausgesetzt, daß man in dem Wort Eschatologie zwei verschiedene, keineswegs
zu verwechselnde Bedeutungen unterscheidet: die voreschatologische und die
im strengen Sinne eschatologische.
Diese Definition vermag sich gerade im Namen der Anthropologie, von der
sie aufgestellt wird, zu behaupten gegenüber dem Verdrängungsversuch einer
wissenschaftlichen Vorstellung, die von vorneherein keinerlei Bezug auf
irgendeinen religiösen und im besonderen eschatologischen Gehalt kennt. Es
geht sodann darum, eine Vorstellungsweise zu finden, die zwar nicht mehr
jene des neutestamentlichen Weltbildes sein kann, die jedoch zu dem "status"
des Menschen paßt, der bestimmt wird aufgrund des eigenen Nachvollzugs
der neutestamentlichen eschatologischen Erfahrung. Zwischen dem mythi-
schen Weltbild und seinem vollständigen Ersatz durch eine Vorstellung, die
ihrerseits Endgültigkeit beansprucht 2 1, ist Platz für eine in gewissem Sinne
mittlere Vorstellung. Wie läßt sich diese kennzeichnen?
Mir scheint, der eben dargelegte Begriff der Voreschatologie erlaube eine
Beschreibung des von dem Menschen gebildeten Mythos, der dem religiösen
Bedeutungsgehalt des Neuen Testaments gemäß ist. Im "status viae" be-
stehen die "natürliche", "mythische" Vorstellung und die im Zeichen ang-e-
zielte Wirklichkeit so sehr zugleich, daß das Unterwegssein dieses status eben
dadurch definiert werden kann, daß die beiden Momente, die Natur und der
angezielte Sinn, sozusagen im Wettstreit miteinander liegen, da beide dem
pneumatisch-religiösen Werdeprozeß des Menschen "in via" zugeordnet sind.
Dessen Rhythmus ist desto schneller und kräftiger, je mehr die bezeichnete
und angezielte Sache das Symbol durchdringt, was ihr allerdings stets nur
teilweise gelingen wird. Das Gleichgewicht zwischen den beiden Momenten
wird stets wieder von neuem gestört, und dieser Spannungszustand dauert
also in der geschöpfliehen Ordnung - auf der pllysischen, moralischen und
metaphysischen Ebene - stets fort. Im End-"status'' dagegen muß das Miß-
verhältnis dem geglückten Verhältnis Platz machen: denn dieser "status"
wird die Natur selbst ineins mit der ihr angemessenen Vorstellungswelt in
sich zurücknehmen, nicht indem er sie vernichtet, sondern indem er sie viel-
mehr verklärt und unendlich überhöht. Vorstellung und Begriff oder gegen-
standsbestimmte Intuition bleiben auch "in statu termini". Ihre Gestalt und
ihr Verhältnis jedoch wandeln sich, wie dies einem neuen status - dem des
Zieles - zukommt.
Gehört der Glaube der Apostel an den auferstandenen Christus ihrem
"status viae" oder dem "status termini" an? Es ist klar, daß er für die Apostel
zum "status viae" gehört, weil liler- nicht nur der Intention nach, sondern
in Wirklichkeit - Auferstandene Christus ist, nicht sie selber. Deshalb ist
ihre existentielle Situation nach wie vor die des Weges, wenn sie auch etwa
mit der neuen Erfahrung die Fül~e des Glaubens an ihre eigene künftige
Auferstehung gewonnen haben. Daher die Verwunderung, das Erstaunen,
der Schreck, der Jubel ... : alle Gefühlsstimmungen in enger Bindung an die
Störung des Gleichgewichts zwischen der "natürlichen" Vorstellung und ihrem
augezielten Gehalt. Die Apostel nehmen ~m Schicksal des Auferstandenen
21 In der Literatur (z. B. bei R. Marle, Bultmann und die Interpretation des N. T.
[Paderborn 1959]) wird darauf hingewiesen, daß Bultmann nicht eine "szientistische"
Einstellung vertritt, die jede objektive Vorstellung von existentialem Belang un-
IT!öglich machen würde.
188 RENATO LAZZARINI
teil in einer Haltung, die noch dem gegenwärtigen "status" angehört, der
doch stets noch "in via" ist, wenn es sich auch um jenes Wegstück handelt,
das dem Ziel am nächsten ist: um den voreschatologischen "status".
Nur jemand, der selbst auferstanden ist, kann dem Auferstandenen in
vollem Verstehen und voller Freude begegnen; das ist nicht möglich "in via".
Solange die Auferstehung nicht, über ihre intentionale Erwartung hinaus,
auch ein für den Gläubigen wirklich gewordenes Ereignis ist, muß dieser den
Spannungszustand zwischen den beiden Weisen der Begegnung - vor dem
Tod und nach der Auferstehung - zulassen, d. h. zwischen einer Erinnnerung
an die Vergangenheit und einer in die Zukunft vorentworfenen Gegenwart.
Gerade diese Spannung der beiden Weisen der Begegnung mit Christus be-
stätigt, was im voraufgehenden Kapitel gesagt wurde über das Verständnis
der Geschichte als eines "status" des Bundes und als Voreschatologie, nicht
als erfüllter Wirklichkeit oder als Eschatologie.
Die Auferstehung Christi ist nicht allein ein wunderbares, sondern auch ein
eschatologisches Ereignis. Wäre sie nur ein Wunder, so entspräche sie den
Auferweckungen des Lazarus oder des Jünglings von Naim, die zwar vom
Tod zum Leben zurückkehrten, aber zum Leben "in statu isto", sodaß sie von
neuem dem Tod unterworfen waren. Die Auferstehung Christi dagegen ist
ein eschatologisches Ereignis, weil sie die endgültige Überwindung des Todes
und den Anbruch eines ewigen Lebens bezeichnet.
Für Lazarus ist die Rückkehr zum Leben nur ein Akt, der keinen Wandel
des "status" bedeutet, weil sein status nach wie vor der geschichtliche ist. Für
Christus dagegen bringt der Akt der Rückkehr zum Leben einen Wandel des
"status'' mit sich: er geht über von dem geschichtlichen "status in via" zu
dem übergeschichtlichen "status in termino".
Wie ist die Situation des Gläubigen, der sich den Glauben der Apostel, der
Zeugen an das Geheimnis-Wunder, zu eigen macht? Er hat, durch Christus
hindurch, zu glauben an jenen Wandel des "status" - im Advent des End-
Zustandes - , indem er jedoch nach wie vor hineingesteH bleibt in den "status
viae", der die Geschichte ist.
Zur Klärung dieses Sachverhalts sind zwei Erwägungen notwendig.
1. Der "status viae", und das heißt die Geschichte, ist für das religiöse
Bewußtsein nicht nur ein menschlicher Akt oder "Habitus", sondern auch
etwas Mittleres zwischen Natur und Übernatur, das besteht kraft eines Bun-
des zwischen dem Menschen und Gott. Der Bundesschluß steht am Schöp-
fungsmorgen der Menschheit, sein Verfallstermin wird deren Ende sein. Der
Glaubensakt der Apostel zielt auf dieses Ende, aber er vollzieht sich "in
statu viae", der weiterhin als geschichtlicher Ablauf besteht. Hierin bezeugen
sich diese beiden Aspekte des Glaubens: das gläubige Subjekt ("fides qua"),
die "Noesis" des Glaubens; und der angezielte Gegenstand des Glaubens
("fides quae"), das "Noema" des Glaubens, d. b. d,er Gehalt, der in einem
eschatologischen Ereignis besteht, das der Glaube keineswegs hervorzubrin-
gen beabsichtigt, wohl aber zu finden hofft. Die phänomenologisch~existen
tiale Analytik ermächtigt, ja zwingt zu dieser Unterscheidung, bei Strafe,
MENSCHLICHE SITUATION UND VOR-ESCHATOLOGIE 189
Jung von der Welt und vom Menschen, welche von den Menschen des Neuen
Testaments aus eigenem Antrieb (unter Aufnahme reicher außerrationaler,
wunderbarer Züge) übernommen wurde, zu ersetzen durch die Existenzdeu-
tung der existentialen Analytik von heute. Es handelt sich vielmehr um ein
bewahrendes Aufschieben solcher Wunderträchtiger Vorstellung auf eine
andere Zeit; inzwischen sind die existentialen Strukturen des Lebens -
Wahl, Einsatz, Glaube usw. - herauszustellen, die den ganzen Verlauf der
Geschichte durchziehen. Übrigens stimmt dieser Begriff des Aufschubs einer
mythischen Vorstellung, die zusammenhängt mit der eschatologischen Er-
fahrung, überein mit den Aussagen des Neuen Testaments, daß alles offen-
bar werden wird am Ende der Welt, im allgemeinen Gericht, und daß nie-
mand weiß, wann beides eintreffen wird.
All das findet eine Entsprechung darin, daß eine endgültige, d. h. auf einen
eschatologischen Zustand bezogene Entscheidung, wenn sie gefällt wird, stets
gleichsam eingehüllt und verborgen bleibt in den jrdischen Teilentscheidun-
gen, deren Seele sie jedoch darstellt, so wenig sie sich vorzeigen und fest-
halten läßt. Es ist deshalb von einer Läuterung des mythischen Elements, von
einem Vorgang der "Transmythologisierung" 22 , zu sprechen bezüglich des
"status viae" der Menschheit von Anfang bis Ende. Dieser Vorgang wird
darin bestehen, unter der naturalistischen Hülle, die den einzelnen Menschen
umgibt, die intentionalen Strukturen der Situation herauszuheben, mit ihren
im ethisch-religiösen Bereich liegenden theologischen Aspekten.
Es ist klar, daß ein solches Bedürfnis nach Verdeutlichung des echten, end-
gültigen situationshaften Elementes sich dringlicher einstellt gegenüber den
letzten Geschehnissen, die das sich ganz im apokalyptischen und eschatologi-
schen Bereich bewegende Neue Testament ermittelt. Schon im Alten Testa-
ment war alles, was die Messiaserwartung betraf, bedingt durch kühne Ent-
scheidungen, die eschatologische Ereignisse vorwegnahmen, welche entspre-
chende Situationen des Menschseins beschreiben sollen. Die Geschichte war
durchwaltet von der prophetischen Haltung, die die gegenständliche Vorstel-
lung von der Welt umgestaltete, um ihr eine anthropologische Bedeutung zu
geben. Umso mehr vollzieht sich dies infolge der Erschütterung, die die
mel'l.schliche Situation erfuhr durch die nicht mehr nur prophetische, sondern
eschatologische Verkündigung. So stark übrigens diese Erschütterung
J..Urr:dvOta) sein mag: sie fordert nicht die Abschaffung eines gegenständlichen
Weltbildes, sondern seine endgültige Umformung, sobald sich die Wandlung
des Menschen vom "status viae" in den "status termini" vollzogen hat. Sollte
es wundernehmen, daß diese Wandlung auch eine Änderung im "status" des
Kosmos 23 einschließt, wobei allerdings dessen ursprüngliche Struktur die-
selbe bleibt? Wiederum wäre es wider den dem Religiösen innewohnenden
Sinn, die Unterscheidung zwischen der Natur (die gewissermaßen eingeklam-
mert wird) und dem "status" zu übersehen. Gewiß, an das Kreuz glauben
heißt, es nicht nur objektiv betrachten, sondern es auch existentiell tragen,
so wie das Gericht über die Welt ein Gericht über uns selbst ist. Existen-
tiell die Zeit leben heißt nicht jenseits der Zeit sein. Aus diesem Grunde
drängt sich immer wieder die Frage auf: Geschieht dies, wenn es geschieht,
für den Gläubigen "in via" oder "in termino", in der Geschichte oder in der
Übergeschichte? Ist es etwa nicht wahr, daß für Christus ein übergeschicht-
liches und eschatologisches Ereignis ist, was für die Apostel dagegen ein nur
erst voreschatologisches Ereignis ist, insofern es in einer Zeit geschieht, die
noch ganz eins ist mit dem "status iste", wenn auch nur noch für kurze Frist
(- für jenes "siebte Zeitalter", von dem Bonaventura und die Spiritualen
sprechen)?
Das Ereignis des Glaubens vollzieht sich im eschatologischen Horizont,
ohne selbst eschatologisch zu sein, weil der religiöse Sinn, den es der Ge-
schichte verleiht, doch stets einbeschlossen ist in eben diese Geschichte. Eben
weil es in den Bereich der geschichtlichen Existenz fällt, ist dieses Ereignis
t,egleitet von allen geschichtlichen Zufällen und Umständen; deshalb er-
schließt es den Aposteln die Erwartung des eschatologischen Geschehens, in-
dem es ihnen jedoch nur einen begrenzten Blick auf dessen sichtbare Aus-
wirkungen gestattet.
Von Kirche und Auferstehungsglauben sprechen heißt für die Apostel und
die späteren Gläubigen von Einrichtungen und Akten sprechen, die nicht
eschatologisch, wohl aber voreschatologisch: sind, von einer "streitenden",
nicht "triumphierenden" Kirche (und Gläubigkeit).
Das Zeugnis, das die Apostel von Tod, Auferstehung und Himmelfahrt
Christi geben, besteht gewiß nicht ohne den Glauben an Christus. Aber Zeug-
nis und Glaube sind zwei verschiedene Akte: der erste schaut auf die ge-
&chichtliche Gegenwart der Apostel; der zweite verweist auf analoge Momente
ihrer eschatologischen Existenz. Die beiden Akte - Zeugnis und Glaube -
sind miteinander verbunden in jenem eschatologischen Stadium der Ge-
schichte, das wir als Voreschatologie bezeichnet haben. Wenn die geschicht-
liche Kenntnis nicht besteht ohne den Glauben, so auch dies.er nicht ohne die
Beziehung auf ein geschichtliches Zeugniswissen. Die Überkreuzung dieser
beiden Akte läßt die Aporie entstehen, daß die Vorstellung mit ihrer bild-
haften Struktur (als "Schau") dem eschatologischen Faktum, auf das sie vor-
2 3 Ich habe diese Auffassung dargelegt auf dem 14. Kongreß von Gallarate 1959
(vgl. Il mondo e l'int,enzionalita religiosa", in "Il Mondo ... , Brescia 1960, 295-305).
192 RENAT.O LAZZARINI
ausweist, ohne es doch erreichen und in sich vor der festgesetzten Zeit· ver-
wirklichen zu können, nicht angemessen ist.
Ich möchte zusammenfass.end sagen, daß das Geschehen, von dem wir zu
sprechen vermögen, nicht in sich eschatologisch ist, wie es im "status termini"
sein wird, sondern eschatologisch im "status viae". Aus diesem Grunde ist es
schließlich gleichzusetzen mit dem Vor-eschatologischen.
Damit scheint mir die Auffassung Bultmanns übereinzustimmen, bei dem
die Entmythologisierung s.ich nicht als Ausscheidung aller gegenständlichen
Vorstellung der neutestamentlichen Welt gibt, sondern als deren Interpre-
tation. Die Entmythologisierung ist in der Tat "negativ" "Kritik am Weltbild
des Mythos, sofern dieses die eigentliche Intention des Mythos verbirgt". Sie
ist "positiv" eine existentiale Interpretation, welche "die Intention des
Mythos deutlich machen will, eben seine Absicht, von der Existenz des Men-
schen zu reden". Es handelt sich nicht um Elimination der mythischen Aus-
sagen, sondern um ihre Interpretation. Die Entmyihologisierung ist "kein
Subtraktionsverfahren, sondern eine hermeneutische Methode" 24 • Deshalb
sind mythische Vorstellungen und Begriffe notwendig "in einem vorläufigen
Sinne, sofern in ihnen Wahrheiten intendiert sind, die sich in der Sprache
der objektivierenden Wissenschaft nicht aussagen lassen. In mythologischer
Sprache kommt dann zum vorläufigen Ausdruck, wofür die adäquate Sprache
erst gefunden werden muß" 25 • Nun ist aber das Vorläufige doch stets der
geschichtliche "status" des Unterwegsseins. Es handelt sich nur darum, zu
verstehen, daß auch die Deutung des Mythos, die sich der angemessenen
Sprache der Existenzphilosophie bedient, nach wie vor eine vorläufige ist.
Daß ferner die existentiale Interpretation philosophisch und damit mehr der
Weisheit als der Einzelwissenschaft zugehörig ist, das ist eine Verdeut-
lichung, die in Übereinstimmung steht mit jener Brüchigkeit und Vorläufig-
keit, die allem eigen ist, was in der existentiellen Situation geschieht - die
auch unsere "objektive" Vorstellung von der Welt, wie immer sie sein mag,
durchzieht 26 •
Wenn "der Glaube ein existenzielles Selbstverständnis ist" 27, zusammen
mit den Ereignissen, durch die der Glaubensakt sich konstituiert, so schließt
er deswegen das Geheimnis nicht aus. 28 , setzt es vielmehr stets voraus, so
wie es stets in jedem Vorgang entmythologisierender Bearbeitung des Mythos
vorausgesetzt wird.
Es liegt alles daran, zu begreifen, daß das Wort Gottes sich uns stets als
Geheimnis zeigt. Und wenn dessen existentiale Interpretation es für uns ver·
stehbar machen will 29 , so geschieht dies doch nur in einem "Gewissermaßen".
In der Tat behält die Vorstellbarkeit des Geheimnisses stets ein gewisses Maß
von Uneigentlichkeit, das seinen Geheimnischarakter wahrt. Die volle Eigent-
24 Bultmann: KM 184 f.
25 KM 186.
26 KM 187.
27 KM 189.
2R KM 190.
29 KM 190.
MENSCHLICHE SITUATION UND VOR-ESCHATOLOGIE 193
lichkeit kann nur jene Deutung des Menschen, des Exegeten besitzen, die nicht
mehr "in via" vollzogen wird, sondern "in terrnino", nicht also in ihm, dem
Menschen, sondern in Gott.
Wenn das Wort Gottes in Gott selbst eine ganz und gar endgültige Bedeu-
tung besitzt: in dem Exegeten und in dem Gläubigen, die in einem vorletzten
"status" leben, bedarf dieses Wort einer Interpretation und wird so in ge-
wissem Sinne auf das Maß des. existentielllebenden Mensch-en zugeschnitten,
wobei das außerhalb der Reichweite seines Aufnahmevermögens bleibt, was
sich erst "in terrnino" durchsetzen wird. Bis zu dieser Zeit wird sich der
Mensch stets vorstellungshaftet Ausdrücke bedienen müssen, in denen die
Sichtbarkeit und Gegenständlichkeit ihren Platz und ihre Funktion haben.
Gewiß, alles, was von Gott kommt, ist nicht sichtbar und nicht objektivie-
rend feststellbar 30, und auf diese Unsichtbarkeit geht der Ausgriff des Glau-
bens. Aber da eben die Glaubenshaltung sich "hic et nunc" vollzieht, d. h. in
diesem gegenwärtigen "s.tatus", der ein "status" der Welt und für die Welt
ist, so muß sie sich nähren mit all dem, was diese Lage des Menschen mit
sich bringt, auch mit dem also, was s-ein. Einbildungs- und Vorstellungsver-
mögen hervorbringt 31 • Gewiß ist der Glaube "ein neues Existenzverständ-
nis" 32 , das nicht von dieser Welt" entliehen ist, sondern von dem, was. die
Welt Übersteigt; aber dieses Verständnis geht, soweit es neu ist, stets auf den
existentiell lebenden Menschen und muß deshalb sein erneuerndes Wirken
ausüben innerhalb der Schemata, die dem Geschöpf in seinem existentiellen
"status'' eigen sind. Ist dies an sich ein profaner "status"? In gewissem Sinne:
ja. Aber es ist gerade diese "Profanität", die im Glauben instandgesetzt wird,
ihre Berufung zur "Sakralität", zu einer unendlichen Integration, in sich auf-
zunehmen.
Der Mythos ist deshalb eine beständige Seinsweise, die jede Annahme des
Göttlichen vonseiten des Menschen begleitet, in welches Stadium seiner ge-
schichtlichen Entwicklung sie auch immer hineinfallen mag und auf welche
Weise sie sich auch immer vollziehen mag, inbegriffen die existentielle Voll-
zugsweise.
Angesichts der Allgegenwart der "mythischen" Vorstellung wird Bultmann
unablässig angezogen und abgestoßen. Er räumt ein, daß die Antwort des
Menschen auf den Anruf Gottes ein bildliches, symbolisches und analoges
Element enthält, das eine solche Verbindung erlaubt, ohne sich in ihr zu er
schöpfen 33 • Warum spricht er dann aber vom Mythos wie von einem "Teufels-
kreis", den das objektivierende Denken herstellt und den der Glaube auf-
bricht, so das Wirken Gottes in uns ermöglichend? 34
Der Kampf gegen die Vergegenständlichung ist in der Geistesgeschichte
3 ° KM198.
at Deshalb hat Ricoeur mit großem Nachdruck statt von Entmythologisierung von
einer Re-Mythologisierung gesprochen, deren Aufgabe er am Problem von Ursprung
und Tragweite des Bösen zeigte.
32 Bultmann: KM 200.
33 KM 196.
3 ~ KM 198.
12 Castelli
194 RENATO LAZZARINI ·.
mehrmals geführt worden, oft gerade voli jenen, von denen man das weniger
erwartet hätte, z. B. von Rosmini 35 • Die Welt kann nicht Gegenstand unserer
Betrachtung werden, außer wenn sie unsere Welt. wird, und ebenso kann man
nicht von Gottes Handeln reden, wenn man nicht von der eigenen Existenz
redet 36 • Damit soll nicht Gott der Allerhöchste subjektiviert werden, sondern
der Mensch soll sich bereit machen zu jener Begegnung, deren Initiative, auch
für Bultman_n, bei Gott liegt- uns kommt nur die Antwort auf diesen einzig-
artigen Anruf zu.
Aber ist jemals ein Nicht-gegenständilch-machen einfachhin möglich, d. h.
die Verwirklichung der eigenen Existenz ohne eine damit verschränkte Ver-
gegenständlichung, an die die Gegenwart einer Welt, dieser oder einer
anderen, gebunden ist?
Die Entmythologisierung als Zerstörung der gegenständlichen Schau der
Dinge, als Entwurzelung oder Vernichtung der Welt- bis zur Erschaffung
des Leeren und der Wesenheit einer irgendwie gegenständlichen Gegenwart
desselben - besteht nicht zu Recht, es sei denn als negatives. Element des
eschatologischen, Geschehens, im Ausblick auf den wichtigeren positiven
Aspekt. Dieser positive Aspekt läßt sich nun aber nicht fassen ohne eine
"objektive" Vorstellung von einer Welt, die zwar verschieden ist von der
gegenwärtigen, aber deshalb nicht weniger objektiv gegenwärtig als diese.
Gewiß, die Entmythologisierung ist "eine Forderung des Glaubens selbst":
"dieser verlangt die Befreiung von der Bindung an Jedes Weltbild, das das
objektivierende Denken entwirft, sei es das Denken des Mythos, sei es das
Denken der Wissenschaft" 37 • Aber das will nicht besagen, daß im eschato-
logischen "status" jedes wie immer beschaffene gegenständliche Bild fehlte,
das einer neuen Welt entspräche. Und es versteht sich, daß, solange dieses
neue Bild einer ebenfalls neuen Welt nicht aufgetaucht ist, der Mensch
natürlicherweise mit Gewalt an dem Bilde der alten Welt "in statu isto"
festhält.
Letzten Endes ist die Eschatologie; ihrer positiven Seite nach, die Gegen-
wartsschau der Dinge vom Blickpunkt Gottes aus - und infolgedessen auch
des Menschen, insofern er an Gott teilhat. Zwar ist Gott unsichtbar und
scheint dadurch jeden objektivierenden Mythos auszuschließen 38, aber die
Unsichtbarkeit Gottes vonseiten des Menschen schließt nicht die Sichtbarkeit
des Menschen vonseiten Gottes aus. Kann nun dieses Sich-von-Gott-gesehen-
wissen den Menschen nicht yielleicht die Fähigkeit verleihen, sich auf eine
andere Weise zu sehen, als sie sich selbst sehen in der gegenwärtigen Welt?
Die Welt und der Mensch sind, von Gott aus gesehen, sehr viel reicher und
weiter, mit ins Unendliche sich erstreckenden Dimensionen, als sie es von
der Sicht "in statu isto" aus sind.
35 Ich verweise auf meinen Artikel "11 punto critico dell' ontologia rosminiana",
in: Atti del Congresso Internazionale di Filosofia A. Rosmini (Florenz 1957) 827-859.
36 Bultmann: KM 196, 198. .
37 KM 207.
38 KM 207.
MENSCHLICHE SITUATION UND VOR-ESCHATOLOGIE 195
Unsere Geschichts- und Kulturwelt, von Gott und von dem aus gesehen,
der teilhat an Gott, wird eine übergeschichtliche Welt. Das Wort des Glau-
bens vergegenwärtigt indes jene Übergangsphase, die seinen Horizont be-
zeichnet.
Wenn die Anwendung des existenzphilosophischen Denkschemas auf die
eschatologis.che Botschaft des Neuen Testaments ein Ergebnis hat, so besteht
es in dem Zusammenstimmen oder besser in der Rückführung der Umfor-
mung der Welt auf eine Umformung des "status", dessen Begriff gleichbe-
deutend mit dem der existentiellen Situation ist. Die Umformung des "status"
der gesamten Menschheit wird die Umformung der Welt bestimmen, nicht
umgekehrt. Es handelt sich dabei um jene Menschheit, welche die Existenz-
philosophie als eine intersubjektive und interpersonale Gemeinschaft be-
trachtet, die etwas ganz anderes ist als die Menschheit, verstanden als Natur-
Art.
Es ist gut möglich, daß die gegenseitige Durchdringung der existentialen
Analytik und der mittelalterlichen "status"-Lehre zur Entdeckung einer
Sprechweise hilft, die Gehör verdient.
39 Die Transzendenz von Jaspers scheint mir eine Form der negativen Theologie zu
sein, weil die Transzendenz als das "alles Umgreifende" niemals selber umfangen wer-
dEm kann. Sie ist jedoch eine so radikale Form, daß sie jedeVerwendung zu den Zwecken
einer positiven Hinführung zum Religiösen ziemlich unmöglich macht (was übrigens
der Verfasser selbst ausdrücklich festgestellt hat). Im Denken von Jaspers besteht
keine Analogie zwischen dem "Umgriffenen" (das das l;:h des existierenden Men-
schen ist) und dem "alles Umgreifenden"; damit ist jede positive Beziehung zwischen
beiden ausgeschlossen.
J:l•
196 RENATO LAZZARINI
sondern als "Person" und "Ich",- sei es auch von mir ganz vers.chiedenes
Ich.
Es ist schon viel, daß man von Gott etwas sagen kann auf jener ich-haften
Ebene, die unsere Ebene ist. Das muß, wie mir scheint, nicht dazu führen,
jenes Merkmal absoluter Andersheit zurückzuweisen, unter dem Rudolf Otto
den Bereich des "Heiligen" sieht. Sich auf den Boden der negativen Theologie
zu stellen ist ein Verfahren, das zu der kritischen philosophischen Beschrei-
bung der göttlichen Wirklichkeit paßt. In ihrem Bereich erlaubt die Philo-
sophie die Klärung jener dialektischen Spekulation oder jener Krise um Gott,
die diesseits der Offenbarung steht und gleichsam eine Präambel dafür ist,
eben weil im Schoße dieser Philosophie die Begegnung mit dem Menschen
stets nur negativ ist, weil sie die Türe offen läßt für eine neue existentielle
Erfahrung.
Worin kann diese neueste Erfahrung bestehen? Wenn es ein Feld gibt,
auf dem eine solche nicht mehr negative, sondern positive Begegnung mög-
tich ist, so kann es nur das Feld der Eschatologie sein, die, zumindest in ihrer
geradlinigen Sinnrichtung, abzielt auf die Schaffung einer Situation, die
gegenüber der des geschichtlichen Menschen neu ist. Diese neue Situation ist
eben die des eschatologischen Menschen 40 •
Diese Auffassung wird von Bultmann jedpch in einer Weise beschrieben,
daß sie einerseits abgeschwächt, anderseits zugespitzt erscheint. Sie wird ge-
schwächt dadurch, daß sie sich in einem gewissen Maße auflehnt gegen das
Wort Gottes, indem sie von der göttlichen Person in Christus absieht aus
Furcht, auf eine mythologische Vorstellung zurückgreifen zu müssen. Deshal-b
scheint Bultmann es sich zu verwehren, das Gotteswort in Bilder oder Struk-
turen zu kleiden, die entlehnt sind von dem gegenständlichen Weltwissen, es
sei alltäglich-empirisch oder geläutert, traditionell oder modern. Er meint,
daß dies angesichts der Forderungen der heutigen existentialen Methode
einem neuerlichen Rückgriff auf den Mythos gleichkäme, dessen man sich dann
bedienen würde, wie man sich in früherer Zeit der Analogie bediente 41 • Nach
Bultmann besteht die einzige Aufgabe darin, das existentiale Schema anzu-
wenden, in der Annahme, so scheint es, daß dies jeglichen Gebrauch von
Bildern überflüssig mache.
Welcher Gebrauch wäre auch möglich, wenn Bultmann das Mißverhältnis
.zwischen dem Symbol und der symbolisierten Sache, die nicht auf das Symbol
reduziert werden kann, überspitzt!
40 Der Primat, den bei Heidegger der Begriff der - angesichts des Todes - "vor-
laufenden Entschlossenheit" hat, legt es nahe, die Begegnung des Menschen mit Gott
eher auf dem Felde der Eschatologie als auf dem der -"Pl'otologie" zu suchen. Ich
hatte Anlaß, hierauf mit Nachdruck zu bestehen; ich führte alle Aporien an, die die
Urteilsenthaltung bezüglich des absoluten Ursprungs der Dinge (als Schöpfung oder
in einer anderen Form) geraten scheinen lassen. Diese Aporien und diese · broz~
stellen ebensoviele Gründe zugunsten einer negativen Theologie dar.
u Das Band zwischen gegenständlicher Vorstellung (=Mythos?) und Analogie
scheint sehr eng;_ beides scheint dasselbe zu sein. Beide Erkenntnisweisen. werden
im voraus gerechtfertigt durch die negative Theologie; die hinter ihnen steht - und
die auch Bultmarm vertritt, wenn er behauptet, man könne von Gott nicht sageri,
was er in sich ist, sondern nur, was er an uns tut (vgl. KM 185).
MENSCHLICHE SITUATION UND VOR.:.ESCHATOLOGIE 197
faktische Situation, die Licht wirft auf den Sinn der ihr voraufgegangenen
wie der auf sie folgenden Ereignisse. Die verschiedenen Stufen der Eigent-
lichkeit oder Uneigentlichkeit dieses existentialen Begreifens verweisen auf
die bestimmenden Prägungen durch jenes ideelle oder geradewegs göttliche
Element. dessen Anwesenheit in der Welt, so flüchtig und kaum angedeutet
sie sein mag, doch so bedeutungsvoll und ausdrucksstark ist, daß sie alle Ge-
schöpfe zu zeichnen und letzten Endes zu retten vermag.
Die existentiale Analyse hebt dieses göttliche Element (den Sinn, Wert
usw.) hervor, klärt ihn, bringt ihn gleichsam ans Licht in seinen verschie-
denen Momenten, je nachdem der geschichtliche Mensch sich betrachtet in
seinem primitiven Anfangsstadium, in dem im eigentlichen Sinn geschicht-
lichen Zeitalter oder in der oben als voreschatologisch bezeichneten Zeit-
spanne.
Das primitive Zeitalter stellt gewissermaßen die Vorgeschichte des "Da-
seins" dar. Dieses Stadium, auf das sich die im 2. Kapitel angesprochenen
Grundstrukturen der Existenz beziehen, erhält einen ethischen und religiösen
Charakter, wobei eben jene mythisch-kosmologische Vorstellung einen
größeren Raum einnimmt, der stets - auch für Bultmann - "ein bestimmtes
Verständnis der menschlichen Existenz" 42 , vor allem in der primitiven Welt,
eigen ist. Ja diese Vorstellung ist so vorherrschend, daß sie alle Gestaltungen
der menschlichen Gesellschaft und Kultur (Recht, Politik, Kunst usw.) prägt.
Ihre Eigenart ist von Vico als heroisch und poetisch beschrieben worden. Es
versteht sich, daß diese~ Kulturformen in ihrer Unmittelbarkeit einen ge-
schichtlichen Sinn besitzen, der ganz eingehüllt und fast erdrückt ist von bild-
haften, oft grob materiellen Vorstellungen.
Auf der Höhe der Geschichte wird die Bewußtheit der existentialen Kom-
ponenten erreicht. Nach den hier grundlegenden Erkenntnissen gibt es eine
Vielheit (menschlicher oder auch außerweltlicher) geistiger Subjekte, die, eben
insofern sie im eigentlichen Sinne existieren, den Bereich der Geschichtlich-
keit konstituieren und der Welt, in die hineingestellt ("situiert") sind, Sinn
und Bedeutung verleihen, indem sie ihre eigene und die Beziehung der Dinge
zum absoluten Sein freilegen. In dieser Richtung scheint sich auch die gegen-
wärtige wissenschaftliche Forschung von vielen Seiten aus zu bewegen, im
Gegensatz zu dem deterministischen Positivismus, der in der Weltwirklich-
keit nur materielle Kräfte s.ehen wollte. Hierin scheint Bultmann (soweit
ich ihn verstehe) etwas ungenau, zumindest insofern er sich auf die moderne
Wissenschaft beruft, die nach ihm alle jene geistigen Kräfte nicht kennt,
denen die antiken Kosmologien umgekehrt zuviel Spielraum gaben. Es steht
jedoch fest: wo nicht auf eine auch kritisch wohlbegründete Weise eine Viel-
heit nicht von Objekten, sondern von geistigen, ich-haften Subjekten an-
genommen wird, da kann unmöglich ein Sich-mitteilen im Religiösen seinen
Anfäng nehmen. Anderseits ist es gerade auf der Höhe der geschichtlichen
und philosophischen Entwicklung möglich, im Bereieh der existentiellen
Situationen klar zu unterscheiden zwischen vorläufigen, teilhaften, inner-
42 Bultmann: KM 183.
MENSCHLICHE SITUATION UND VOR-ESCHATOLOGIE 199
weltlichen Elementen dieser Situation von Mensch und Welt und dem gött-
lichen Element. Mit dieser Unterscheidung werden alle Anlagen des kritisch
forschenden Geistes für alle Bereiche und besonders für den der religiösen
Erfahrung zur Tätigkeit entbunden. Starken Widerhall findet solChe Analyse
in der Methodik, die zur Aufteilung der beiden Forschungsbereiche Philo-
sophie und Theologie führt. Das Fragen nach Gott und der Welt des Gött-
lichen baut ganz auf der Voraussetzung auf, die am Anfang einer negativen
Theologie steht. Diese ihrerseits fordert eine vertiefte Analyse des Wertes
der gegenständlichen Vorstellungen des Göttlichen und damit der Tragweite
der Werte überhaupt in den verschiedenen existentiellen, theoretischen,
praktischen und affektiven Bereichen der Analogie zwischen dem Mensch-
lichen und dem Göttlichen. Sowohl die gegenständliche Vorstellung als auch
clie Analogie stehen in einem gemeinsamen Spannungsverhältnis dem Ge·
heimnis gegenüber.
Schließlich ist das Geheimnis zu betrachten in jenem Stadium der Ge-
schichte, das im 3. Kapitel als voreschatologisch bezeichnet wurde. Gott und
die Welt des Göttlichen begegnen hier auf dem Boden der geschichtlichen
Zeit, ohne jedoch in diese eingeschlossen zu sein. Im Gegenteil, sie lassen
einen eschatologischen Horizont hervortreten, in dem sich die Umrisse eines
ganz neuen "status" des Daseins abzeichnen: des "status" des Endes oder des
Zieles. Er ist der eigentliche Horizont eines Verständnisses der Botschaft des
Neuen Testaments.
Die Botschaft Christi richtet sich an den Menschen, der "hier und jetzt"
ist und deshalb in der Zeitlichkeit als solcher lebt, nicht mehr nur innerhalb,
sondern auch außerhalb der Reihe zeitlicher Akte 43 . Der religiöse Bereich,
und mit ihm jeglicher ihn begleitende analoge Vorstellungsgehalt, strebt nach
dem Übergewicht über den geschichtlich-existentiellen Gehalt, der sich be-
reit machen muß zur Heimholung in das wohl von allen Religionen geglaubte
und bekannnte "ewige Leben". Diese- keimhaften oder entfalteten- Aus-
blicke geben ein Gespür für das Jenseits-der-Grenze, wo sich eine ganz neue,
weil in Unendlichkeit getauchte, "Umwelt" auszubreiten vermag, wo das
Vorläufige und Brüchige dem Endgültigen Platz macht: "nullus status nisi in
Deo". Selbstverständlich haben die Toten, die lebendiger sind als die Leben-
den, keine Geschichte mehr, sondern eine Übergeschichte: die Eschatologie.
Wir Lebenden finden uns als Gläubige noch hineingebunden in die Ge-
schichte, jedoch genau in jene geschichtliche Situation, die den End-"status"
vorbereitet und anbahnt, der die Geschichte überschreitet. Dem, der an die
Botschaft des Neuen Testamentes glaubt, ist deshalb die voreschatologische
Haltung eigen, die die Vorgeschichte des eschatologischen "status" ist, so wie
die existentielle Konstitution des Menschen die Vorgeschichte seines ge-
schichtlichen "status" ist. Es is.t leicht einzusehen, daß in der voreschatologi-
schen Situation die Betrachtung des Todes ihren Platz hat; er ist der letzte
43 KM 201 f. Die beiden Aspekte der Zeit, der voreschatologische und der im eigent-
lichen Sinne eschatologische, scheinen mir hier jedoch nicht deutlich genug unter··
schieden zu sein.
200 RENATO LAZZARINI
Feind, er bezeichnet aber auch den Übergang zum unsterblichen Leben. Das
Wort des Paulus "Was uns, die wir noch leben werden, betrifft ... " 44 steht im
Raum der Voreschatologie; er stellt sich selbst "in statu isto" dem gegen-
über, was er sein wird "in statu alieno" (der "fremd" ist gegenüber dem
gegenwärtigen "status"), in dem endgültigen "status Patriae".
Die wahre kopernikanische .Revolution bezüglich des Menschen ist jene,
die gekennzeichnet wird durch einen Wandel des "status"; vom "status viae"
zum "status termini", von der uneigentlichen Existenz, von der Geschichte
zur Übergeschichte (oder von der Geschichte des Heiligen zur heiligen Ge-
schichte, wie Castelli sagen würde). Die mittelalterliche Spekulation über
den Menschen hat uns diesen Gedankengang vertraut gemacht. Der Mensch
"in statu viae", der geschichtliche Mensch, ist stets noch der ptolemäische
Mensch, auch wenn er in seinem vorletzten Stadium das große Ereignis des
"status"-Wandels ankündigt. Die Vorankündigung der kopernikanischen
Revolution konstituiert geradezu die letzte Phase der ptolemäischen Situa-
tion: die kopernikanische Situation liegt jenseits.
Nach Paul Ricoeur kann eine Lehre vom Bösen, die nur dessen moralischen
Aspekt betrachtet, zwar die gegenwärtige Sünde', aber nicht die Ursünde er-
klären. Diese weist als Komponente des Menschen im "status viae" in eine
Perspektive, welche die ganze Welt von Natur und Geist umfaßt, wie sie in
der biblischen Erzählung vorausgesetzt und in das Geschehen hineingezogen
wird. Dasselbe möchte ich vom Glauben sagen: bloß eingegrenzt auf einen
intentionalen geistigen Akt ("fides qua"), kann er den eigentlichen eschato-
tologischen Aspekt oder Gehalt auf sich beruhen lassen, der auf einen end-
gültigen, von dem "status viae" verschiedenen "status'' weist- auf den End-
zustand, der seinen bestimmten Sinn findet in der Verheißung vom neuen
Himmel und der neuen Erde. Genauer wäre zu sagen, daß der Glaube zwar
ein Akt ist, aber ein Akt, der die Konstitution eines endgültigen "status"
vorbereitet und einleitet, und dieser "status" reicht über den Akt selbst hin-
aus, der sich in dem gegenwärtigen "status" vollzieht, der uns zugehört und
der ganz durchtränkt ist von geschichtlicher Vorläufigkeit.
Was Bultmann über den Tod sagt, erhält seine genaue Bedeutung erst
nach der Unterscheidung der beiden "status". Ebenso ist die in "Geschichte
und Esehatologie" dargelegte Auffassung Bultmanns insoweit überzeugend,
als unter der Geschichte die Vor-Eschatologie verstanden wird, d. h. eine
Gegenwart, die in der Erwartung dessen steht, was der End-"status." bringen
wird. "In jedem Augenblick schlummert die Möglichkeit, der eschatologische
Augenblick zu sein." 45 Ja: aber nur die Möglichkeit, die noch nicht die Wirk-
lichkeit ist - wie Bultmann selbst mit Recht erklärt.
u 1. Thess. 4, 15.
45 R. Bultmann, Geschichte und Eschatologie, Tübingen 1958, 184.
ENTMYTHOLOGISIERUNG UND ZEITGENÖSSISCHES DENKEN
Alberto Caracciolo, Universität Genua
1 - Wie kann sich der Denker, der sich zu keiner Kirche bekennt, der Ent-
mythologisierungsdebatte gegenüber verhalten? Das ist hier meine Frage. Auf
solche Weise an der Diskussion teilzunehmen, wird vielleicht ein Ausweichen
vor der Mühe scheinen, das Bultmannsehe Denken in seiner konkreten Ge-
Halt zu analysieren und zu erörtern. Aber mit einer solchen kritischen Ana-
lyse habe ich mich schon in einem speziellen Aufsatz beschäftigt 1, und meine
Absicht ist es, hier die Aufgabe nicht zu umgehen, sondern sie ohne unnütze
Wiederholungen fortzusetzen.
Die Haltung kann also nicht - und ist es tatsächlich nicht - die des Ab-
standes sein. Das Interesse, das Denker wie Heidegger und Jaspers der Po-
lemik entgegengebracht haben, zeigt, daß in dem bewußten philosophischen
Denken eine Veränderung eingetreten ist hinsichtlich dessen, was sich im
Inneren der Kirchen ereignet. Zu dieser Veränderung hat das Wurzelfassen
einiger Grundüberzeugungen beigetragen. Es ist vor allem immer deutlicher
geworden, daß die letzte Struktur des Menschen religiös ist, d. h. nicht selb-
ständig, sondern aus der Transzendenz hervortauchend, sich der Transzen-
denz öffnend, außerweltlich, so daß der Wille des Menschen in der Wurzel
und Bedingung einer Schenkung fußt, sein ethisch leistender Einsatz im
Zirkel der Anrufung beschlossen bleibt. In die Überzeugung tritt also ein
strenger und ernster Begriff des Wesens und des Horizonts des Religiösen
ein: Religion scheint nicht mehr mit der einen· oder der anderen Weise des
Bewußtseins (Philosophie oder Kunst) und auch nicht mit der umfassenden
und einigenden Struktur aller Weisen (Modi), d. h. mit der Sittlichkeit ver-
wechselt zu werden; ihr Horizont hat sich als notwendigerweise transzendent
erwiesen. Auch wenn, wie bei Heidegger, die Eigentlichkeit oder die Weisen
der Eigentlichkeit sich als Dichten und Denken gestalten, sind wir von einer
Zurückführung der Religion zur Dichtung oder zur Philosophie noch so weit
, ntfernt, daß es leichter ist, darin eine Zurü(.!kführung der letzteren auf die
erstere zu sehen. Die Tatsache aber, daß man das Bewußtsein von alledem er-
worben oder wiedergefunden hat, reicht noch nicht aus, nur .I sich selbst
betrachtet, die Aufmerksamkeit verständlich zu machen, mit uer man das
beobachtet, was innerhalb der Kirchen ges.chieht: die Wahrheit ist, daß sich
auch die Art, in der man die Kirchen hinsichtlich ihrer Beziehung zum Reli-
gwsen einschätzt, geändert hat. Auch denen, die in den Kirchen bloß ge-
schichtliche Wirklichkeiten anerkennen, ist die Idee immer fremder gewor-
den, daß die Struktur des Religiösen eher außerhalb als innerhalb der
Kirchen zu suchen sei: die Kirchen erscheinen als mehr oder weniger reine
mehr oder weniger angepaßte, doch jedenfalls wirkliche Einrichtungen des
Religiösen.
Es gibt eine Krise der geschichtlichen Gestaltungen der Werte (des Absolutis-
mus, des Nationalitätenprinzips im Sinne des XIX. Jahrhunderts, des bürger-
lichen Liberalismus, der patriarchalis.ch und paternalistisch erzogenen und
organisierten Familie, des Fortschrttsideals, der Poetik der Romantik und der
Dekadenz usw.), welche mit dem Leben zusammenhängt und gar keine Krise
des Wertes an sich ist. Erscheint sie als solche, so kommt das daher, daß
das zerstörende Prinzip weder Gestalt noch Autorität anzunehmen vermag,
wenn es auch irgendwie da ist und wirkt. Blicken wir aber mit un-
voreingenommenen Augen in uns und um uns her, so verbietet uns die Auf-
richtigkeit zu sagen, daß Religion, Denken, Kunst, Mitteilung und Vitalität
selbst keine Werte sind. Auch die tragischen Erfahrungen, die wir erlebt
haben, und weitere noch schwerere, die wir fürchten, scheinen nicht die Ein-
schätzung solcher Werte, d. h. dieser Möglichkeiten, herabgesetzt zu haben.
Die Helle der Dichtung von Sophokles, Shakespeare, Leopardie hat Bestand;
Plato ist Plato geblieben. Nicht der Glaube an die Werte ist erschüttert, aber
dies alles ist sichtlicher geworden: die Schranken, die dem Einzelnen in der
Verwirklichung jener Werte ges·etzt sind; die unerklärliche Ve.rwirrung, mit
der die Schranken zugeteilt erscheinen; die Möglichkeit, daß der Anteil am
Werte - auch für das, was seine weltliche Gestalt betrifft - sich in bloße
und nichtige Anrufung auflöst. Eine andere, vielleicht nicht weniger hohe,
doch furchtbare Gestaltung der menschlichen Möglichkeit ist so emporge-
taucht: daß der einzige Wert, die einzige Kultur, die sich aufrichten lassen,
die des Leidens seien, d. h. der Aufsichnahme des Schicksals, von der Teil-
nahme an Werten ausgeschlossen zu bleiben. An die Stelle des Bildes der
schöpferischen Kultur, an welches das Abendland vom Humanismus her ge-
wohnt war, ist das dem ursprünglichen Christentum sehr bekannte Bild der
Kultur des Leidens getreten, ohne daß der Mensch jedoch einen Gott an-
zurufen hätte, ein Corpus Mysticum, in welches sein Leiden, in Gabe ver-
wandelt und verklärt, strömen könnte, ohne daß er ein unsterbliche Leber1
vor sich fände.
Müssen wir dann nicht von einem Mißtrauen gegen die Werte, vielmehr
von einem Mißtrauen gegen das Leben als Möglichkeit ihrer Verwirklichung
sprechen? Der Grund der "Lebensunlus.t", die in Buropa die Grundstimmung
unserer Zeit ist, wäre dann in dem Bewußtsein der letzten Erfahrungen zu
suchen, die dem Einzelnen beschieden werden können? Die Formulierung der
Lebensunlust lautet nicht: Das Leben ist nichts - sondern: Das Leben ist
etwas. Ist es aber letzten Endes etwas wirklich Seinswertes.?
Die Krise, die wir erleben, kann man nicht durch die Vermutung einer
Überzeugung des Unsinnes der Werte erklären und nicht durch die Annahme
aes bloßen Mißtrauens gegen die hinreichende Möglichkeit ihre,r Verwirk-
lichung: die Krise ist dadurch hervorgerufen, daß der Mensch, kraft auch der
besagten Erfahrungen, sich wieder den Raum vert11aut gemacht hat, wo sich
alles auf eine schreckliche Weise relativisiert: den religiösen Raum. Die
Religion ist ihrer Natur nach Krise der Werte, selbst in der glänzendsten
Gestalt ihres weltlichen Erscheinens.
204 ALBERTO CARACCIOLO
3 - Wenn das die Lage ist, in der wir uns bewegen, was sagt uns diese
großartige Erörterung über die Entmythologisierung des Christentums? Wer
die Geschichte der protestantischen Auslegung der Bibel und insbesondere
des Neuen Testaments durchgeht 2 , erkennt, daß das Problem der Versöhnung
zwischen geschichtlichem und theologischem Anspruch ihr Leitmotiv ist. Bult-
mann ist das Los und die Aufgabe zugefallen, die Frage in einer dramatischen
Intensität zu. stellen, eben deswegen, weil in ihm auf Grund eines seltenen
religiösen Ernstes und als dessen Ausstrahlung zwei Spannungen mit glei-
chem Anspruch nebeneinander bestehen: die geschichtliche und die theo-
logische. Und uni den Ursprung dieser Frage zu verstehen, ist es notwendig,
auf Luther zurückzugehen. Der Appell Luthers beansprucht, ein gewaltsamer
Ruf nach der Eigentlichkeit zu sein: eine entschiedene Rückkehr zu Gott und
zum Ewigen in dem erneuten Bewußtsein des radikalen Abstandes zwischen
der Ebene des Eigentlichen und der des Weltlichen. Die Wiederherstellung des
Eigentlichen, d. h. die Wiederkehr des Göttlichen, vollzieht sich durch die Rück-
kehr in eine bestimmte Geschichtszeit: Gott hat in der Bibel gesprochen und
dort spricht er immer wieder. Der Weg zum Ewigen geht durch das Geschieht~
liehe. Je echter ich ein Wort, das in der Zeit erklungen ist, höre, desto echter
vrerde ich das Ewige erreichen. Wie man merkt, macht sich hier eine Dialek-
tik geltend, die der Struktur des Menschen selbst eigen ist: die Eigentlichkeit
vollzieht sich durch die Geschichtlichkeit. In der Stellung Luthers (welches
die verbleibenden Hindernisse mythischer oder dogmatisch·er Art auch sein
können) ist die Notwendigkeit jener großartigen Blüte von exegetischer und
historischer Literatur über die heiligen Bücher und die Ursprünge\ des
Christentums miteinbegriffen, die ein Ruhmesblatt des Protestantismus ist.
Und wenn sich auch leicht bemerken läßt, daß die Geschichtsschreibung von
Reimarus, Lessing, Baur, Strauß, Harnack, Jülicher nicht eigentlich pro-
tetstantisch sondern aufklärerisch oder deistisch oder hegelianisch oder all-
gemein liberal ist, muß man doch näher bestimmend sagen, daß in jedem Fall
der Zusammenhang protestantisch ist, den diese Geister zwischen der Ebene
der Wahrheit überhaupt und der Erörterung eines Augenblicks., jenes be-
stimmten Augenblicks der Geschichte, gewahrten. Auch wenn wir zugeben
müssen, daß nicht nur das Ergebnis, sondern auch die Hypothese, die zur
geschichtlichen Forschung Anlaß gibt, nicht der Glaube an den kerygmati-
schen und soterischen Charakter der Bücher oder der Person ist, sondern viel-
mehr das Gegenteil, so müssen wir zugeben, daß jener enge Zusammenhang
von Wahrheit und Geschichte ohne die Lutherische Veraussetzung unerklär-
lich bleibt. Der Ursprung dieser Geschichtsschreibung, auch da wo sie zur
bloßen Philologie zu werden scheint, ist religiöser Ordnung. Das bedeutet,
daß jene Geschichtsschreibung ihre eigene Religion schon in sich hat.
Es ist wahr, daß Bultmann in der Begegnung mit dem geschichtlich Ur-
sprünglichen zwei qualitativ verschiedene Weisen unterscheidet: die histo-
rische und die geschichtliche, die objektivierende und die existentielle, wobei
die eine zu einer. geschichtlichen Rekonstruktion führt und die andere in
einer existentialen Auslegung mündet 3• Dies.e Unterscheidung scheint aber
unhaltbar. Die "Historie", die Bultmann und eine breite Überlieferung der
protestantischen Exegese der "theologischen" Auslegung entgegensetzen, ist
bei genauerer Prüfung keine indifferente Chronik, sondern ein deutendes Be-
greifen des Konkreten, d. h. solcherart, daß es schon eine existentielle
Einstellung und eine philosophische Stellungnahme in sich einschließt. Jene
Historie ist also schon theologis.che Geschichte.· Man kann nicht von einem
Sprung von dieser zu jener sprechen. Einen Sprung kann es nur geben ent-
weder, insofern die Historie von der eigentlichen Existenz oder Existenziali-
tät einer wahrhaften Theologie nicht durchdrungen worden ist, oder insofern
unsere Theologie nicht die eigentliche Existenz (Religion) - diejenige, die
sich in uns auch kraft dess.elben geschichtlichen Vollzugs geltend machte --,
sondern eine vorgefaßte abspiegelt. Die Idee des Sprunges, die Unterschei-
dung zwischen Historie und Geschichte (welche hier - wir wiederholen -
nicht der Unterscheidung zwischen Chronik und Geschichte entspricht) droht,
die Gefahr der zwei Wahrheiten zu verbergen. In der Tat ist entweder das
Kerygma Kerygma, oder es ist es nicht. Wenn es ein solches ist, so ist nur jene
Haltung wahrhaftig und der Beachtung wert, welche uns erlaubt, es zu erken-
nen. Und wenn die Möglichkeit des Erkennens ein Gabe der Gnade ist, warum
sollte die Gnade uns eben in der Tätigkeit verlassen, in der manche die beste
Energie ihres Daseins verzehren? Ist die Geschichtsschreibung vielleicht kein
genügend hohes und zugleich demütiges Moment, daß es von der Gnade nicht
berührt zu werden verdiente? Trotzdem könnte es scheinen, als ob auch in
der gewöhnlichen Geschichtsschreibung wirklich eine Unterscheidung zwi-
schen dem Rekonstruktions- und Auslegungsmoment (besser würde man
sagen: Verwandlungsmoment) bestünde. Das Problem dieser Unterscheidung
hat in diesen letzten Jahren auch in Italien die Gelehrten in ihrer Reaktion
5 - An diesem Punkt angelangt, lautet das Problem wie folgt: Welche Ge-
staltung scheint mir die Religion nehmen zu sollen? Welche Beziehung be-
steht zwischen Christentum und diesem ideellen Bild der Religion? Um aber
auf eine solche Frage Antwort geben zu können, worauf muß ich mich be-
ziehen? Auf meine Philosophie? Die Philosophie ist einerseits eine Art des
religiösen Strebens des Menschen; anderseits ist sie Bewußtsein und Aus-
legung (notwendigerweise kosmischer Art) solchen Strebens in seiner Einheit,
Bewußtsein und Auslegung, die eine existentielle Verwirklichung und zu-
gleich eine Objektivierung der erreichten ideellen Religiosität in sich begrei-
fen. Die Philosophie ist aber weder die ganze Religion eines Menschen noch
stets das angepaßteste Bewußtsein derselben. Überdies ist sie kein lerov
sondern eine l:veereta. Es bleibt jedenfalls wahr, daß sich die Erörterung
hier nur auf philosophischer Ebene entwickeln kann.
Welche Beziehung besteht zwischen dem Christent~m und diesem ideellen
Bild der Religion? Um diese Frage zu beantworten, muß man bestimmen,
was unter Christentum gemeint ist, und das ist ein Problem der Historie als
Geschichte, der Forschung und des Einsatzes zugleich. Zweitens: eine spezi-
fische Beziehung kann, explizite oder implizite, an der Wurzel dieses existen-
tiellen Gewinnes gewesen sein- sie kann aber auch gefehlt haben. Jede reli-
giöse Einstellung enthält notwendigerweise ein Verhältnis von Urteil und
Beurteiltwerden zum Christentum, wie übrigens zu _jeder anderen Religion.
Das Wiederkehren des Themas: Warum können wir nicht umhin, uns Christen
zu nennen~ warum dürfen wir uns nicht Christen nennen- so im XIX. Jahr-
hundert (Feuerbach; Strauß; Streit zwischen der Hegeischen Rechten und der
Hegelscl).en Linken) wie in unseren Jahren (Croce, Gentile, Russel, Jaspers,
208 ALBERTO CARACCIOLO
6 - Im Bezug auf einige Punkte halte ich die Suche nach dieser verwan-
delnden Treue als besonders nützlich. Sie zu erkennen, hilft uns noch einmal
das Bultmannsehe Denken. In seinem drastischen Willen zur Reinigung und
zur Absonderung des Wesentlichen scheint es, .daß alles zugrunde gehen
müsse. Und doch will er mit einer Anstrengung, die in ihrer Hartnäckigkeit
und Verdrehung etwas Heroisches hat, eine Wahrheit als unentkräftbar ret-
ten, nachdem alles sie entkräftet zu haben scheint: die Erlösung kommt durch
das Ereignis des gekreuzigten und auferstandenen Christus. Daß die Weise,
auf die Bultmann glaubt, dieses Moment des Christentums zu retten, an sich
nicht überzeugend ist, darin stimmen fast alle überein. Was aber nicht einmal
Jaspers genügend erwogen hat, ist der tiefere Grund seines Beharrens auf
diesem Dogma. In der Tat, wenn wir an das denken, was das Kreuz jahr-
hundertelang im menschlichen Leiden, Anrufen, Schaffen bedeutet hat und
noch immer bedeutet, wenn wir uns die zentrale Lage vergegenwärtigen, die
dieses Dogma in der Philosophie selbst des höchsten philosophischen Genies
der Neuzeit eingenommen hat- dann sind wir gezwungen, in der Beharr-
lichkeit Bultmanns einen tieferen Grund zu vermuten. Diese Vermutung wird
noch stärker, wenn man sich überlegt, daß die strenge Überlieferung der
negativen Theologie in ihm nicht ohne Einfluß ist.
Wenn wir das zeitgenössische Denken als religiös bezeichnet haben, woll-
ten wir damit nicht sagen, daß es an Gott glaubt, sondern daß ihm der Raum
vertraut ist, in welchem die Welt von der Gestalt der einzigen Wirklichkeit
;n die der bloßen Möglichkeit unter Möglichkeiten übergeht, ja sich zu ver-
nichten scheint. Wir wollten sagen, daß es dem Raum des Nichts vertraut hat.
Daß dieses Nichts sich nicht mit dem nichts identifiziert, wird deutlich, so-
bald man bedenkt, daß das erstere· einen so weiten Raum darstellt, daß sich
die Welt darin verliert (es verlieren sich ja alle Welten darin, die wir uns
vorstellen können), während das zweite die Dummheit der Natur ist. Das
erste ist das Geheimnis der Geheimniss.e, das zweite ist so wenig ein Ge-
heimnis, daß es nicht einmal den Anfang eines Problems oder eines Gedan-
kens bildet. Jener Raum ist für den Mens.chen etwas so Wesentliches; daß
nicht einmal die Angst vor meinem Tode als Pforte 'zu ihm betrachtet werden
kann, wenn mein Tod nicht der Tod wird, und der Tod das Symbol selbst
der Welt als Endlichkeit. Es ist interessant zu bemerken, wie Heidegger mit
ENTMYTHOLOGISIERUNG Ul'JD ZEITGENÖSSISCHES DENKEN 209
der Ablehnung des Nihilismus und dem Sichbehaupten der rechten religiösen
Auslegung der eigenen Grundintuition die Zentraltät des Themas des eigenen
Todes und der Identität der Angst vor dem Nichts mit der Angst vor dem
Tode nach und nach beiseite gelassen hat, und wie der Tod, in dem die Offen-
barung des Nichts als des Seins entsteht, der Tod der Welt ist.
Transzendenz, Sein, Nichts klingen wie metaphysische und leere Grübe-
leien für manche, die nicht bemerkt haben, wie erfahtungsvoll jene uralten
Ausdrücke sind. Seit mindestens zwei Jahrhunderten ist die tiefste Musik,
Poesie und Kunst von ihnen beherrscht. Und vielleicht ist es mit der von
jenen Ausdrücken angedeuteten Wirklichkeit auch vielen Christen wider-
fahren, wesentliche Augenblicke ihres Daseins zu erleben.
Dies·es Nichts ist also kein nichts, es ist aber auch nicht Gott. Die Grund-
frage ist für uns: ist es m:eenm, oder "tfip,a ? Ist es also ein durch einen
Entmythologisierungsprozeß leer gebliebener Raum 5, der darauf wartet,
daß ihn Gott unter anderer Gestalt erfülle? Oder ist es schon an sich die
Wirklichkeit des Seins? Die Verwandlung jenes Nichts ins Sein ist nicht das
Geschehnis einer besonderen Philosophie, sondern, wenn man den Mut zu
einer gründlichen Schau hat, eine schon tief eingewurzelte und verbreitete
Neigung.
Jenes Nichts ist weit entfernt von dem Gott, von dem uns Jesus. gesprochen,
den das Abendland im Worte Jesu kennengelernt und durch Jesum Christum
angerufen hat: feierliche und ferne Wirklichkeit, die kein Beten erlaubt. Ist
jenes Nichts also unser entmythologisiertes Kerygma oder die Vorbereitung
eines Kerygmas, dessen Kommen von dem Willen des Menschen nicht be-
stimmt, aber doch vorbereitet werden kann? Wenn der erste Fall wahr ist,
ist dann unsere Bangigkeit vor einem: Leben mit jen~m Nichts nur Mutlosig-
keit und Unangemessenheit gegenüber den Ansprüchen des echt religiösen
Atems?
Ein anderer Punkt sollte, wie es uns scheint, nochmals ernster und aus-
drücklicher überlegt werden: wir wollen auf die ausgemachte Entmythologi-
sierung hinweisen, die die Philosophie (vielleicht auch ein Teil der protestan-
tischen Theologie) mit dem Begriff der Unsterblichkeit vorgenommen hat
(oder nicht abgeneigt ist, vorzunehmen), indem sie ihn in den der Ewigkeit,
d. h. der verklärten Zeit umwandelt. Der Charakter von Ewigkeit (qualitativ
begriffen), den die christliche Überlieferung dem seligen Leben der Erwählten
in der Anschauung Gottes nach dem Tode zuschrieb, wird dem existentiellen
Augenblick zuerkannt; die religiöse Erfahrung wird deshalb, statt Anrufung
und Erwartung, Anschauung und Erreichung. Der die Welt vernichtende
Augenblick wird so zur höchsten Weihe der Welt, so daß man versucht wäre,
im Hinblick auf diesen zu wiederholen, was Benedetto Croce an einer be-
rühmten Stelle über die Kunst schrieb: "Als Dante oben am Himmel im
Zeichen der Zwillinge die Gestirne und Planeten mit dem Blick überflog
und unter ihnen, fern und klein, ,den Fleck' entdeckte, ,der uns so grausam
5 Der Prozeß wäre in diesem Fall, als entmythologisierend, positiv, aber als ke•ry~
matischer Fülle ermangelnd: negativ anzusehen.
14 Castelli
210 ALBERTO CARACCIOLO
macht' die Erde, und sie ,von den Höhen bis zu den Mündungen' durchmaß;
oder als ein letzter Sohn Dantes, Giosue Carducci, einem Freund im Ver-
trauen sagte: ,Meine Seele ist des Schreibens müde. Warum muß mein Ge-
danke, der in einem Augenblick das Weltall umfaßt und sein Leiden in sich
aufnimmt, zu den Zwangsarbeitern der Feder verurteilt sein?' - da hatten
sie sich schon über die Welt hinaus. versetzt: ihr Wunsch war erfüllt. Nur für
einen Augenblick? Gewiß! Für einen Augenblick, wie jeder Vollzug. Und
dann kehrten sie auf die Welt, zu der ,aiuola ehe ci fa tanto feroci' zurück,
zu der Arbeit, die uns an die Scholle fesselt. Sie kehrten zurück, aber sie be-
wahrten in dieser Welt die Kraft, sich über die Welt zu stellen: die Kraft,
die der Kunst und dem Denken eigen ist ... Das Paradies gibt es wohl, aber
auf Erden ... " (Di Ia dalla vita, in Etica e politici, Bari, 1945 3 , S. 87). Croce
aber, der bei solcher Auffassung der Kunst, in ihr eine die Selbstgenügsam-
keit des Weltlichen rechtfertigende Kraft erkennen konnte, kannte noch den
nahen Gott, so daß er an einer christlich-hegelisierenden Stelle schrieb:
" ... de-r christliche Gott· ist noch unser Gott, und unsere verfeinerten Philo-
sophien nennen ihn den Geist, der immer über uns hinaus geht und doch
immer wir selbst ist" (Perche non possiamo non dirci "cristiani", in Discorsi
di varia filosofia; Bari, 1945, Bd. I,S. 23).
Wird es demjenigen, der nicht einmal den fernen verborgenen Gott kennt,
sondern nur das Nichts, noch möglich sein, auf die weltliche Ewigkeit die
Rechtfertigung des Lebens zu gründen? Sollen wir in der "Lebensunlust" nur
eine große, schreckliche Sünde des Willens, eine furchtbare sittliche Mut-
losigkeit erkennen? Sich diese Probleme zu stellen, bedeutet, sich zu fragen,
ob der von der zeitgenössischen Philosophie vollzogene Entmythologisierungs-
prozeß in rechter und hinreichender Weise kerygmatisch und menschlich ist.
Alberto Caracciolo
(Übersetzung Maria Caracciolo-Perotti)
DIE UMMYTHOLOGISIERUNG
IN DER BEGEGNUNG DES CHRISTENTUMS MIT DEM HINDUISMUS
Raymond Panikkar
I. Das Anliegen
Das Problem der Entmythologisierung ist aus einer rein inneren Entwick-
lung des christlichen Abendlandes entstanden. Es hat aber einerseits bedeu-
tende Folgen für die eigentliche Mission der Kirche, d. h. für die Verkündi-
gung der cl:J.ristlichen Botschaft an die nicht-christlichen Völker: Soll man
etwa von nun an eine entmythologisierte Botschaft verkündigen? Ist der ge-
ringe Erfolg der Christlichen Mission in manchen Ländern vielleicht auf
den Mangel einer angepaßten Entmythologisierung zurückzuführen? An-
dererseits aber macht die heute unentbehrliche und unvermeidliche Begeg-
nung des Christentums mit den anderen Religionen gerade die Entmythologi-
5ierung zum dringenden Problem, und sie mag sogar ein neues Licht auf die
Aufgabe des Christentums im Konzert der Weltreligionen werfen.
Wir möchten nur diese zweite Seite an Hand der konkreten Begegnung des
Hinduismus mit dem Christentum- von der wir aus eigener Erfahrung reden
dürfen- durch einige Bemerkungen beleuchten 1 •
1 Dieser Artikel ist eine gedrängte Zusammenfassung dessen, was der Verfasser
in einigen Studien eingehend behandelt und begründet ha:. Der Leser; sei auf diese
Bücher hingewiesen, die der Verfasser nach seiner Rückkehr aus Indien im Laute
dieses Jahres zu veröffentlichen hofft.
2 vgl. G. BORNKAMM, Die christliche Botschaft und das Problem ihrer Entmytho,.
logisierung in: Theologie heute, München (C. H. Beck) 2, 1959, S. 36 :li.
14*
212 R.PANIKKAR
rung nicht ein 3 • Ist dieses Versagen auf die Art und Weise der Verkündigung
zurückzuführen? Oder ist es sogar so, daß die übliche Apologetik nicht aus-
reicht? Vor einigen Jahrhunderten sprachen die Missionare immer vom
Widerstand des Teufels, heute möchten sie eher ihre Methoden kritisch
überprüfen.
Das Thema ist recht heikel; denn es handelt sich nicht um eine Leugnung
der großartigen Taten der christlichen Missionen in der Welt - was einer
Verleumdung gleichkäme-, noch handelt es sich um bloß zahlenmäßige Sta-
tistiken, noch um Konversionserfolge, sondern um die Verkündigung des
Wortes Gottes selbst, um das Aufnehmenkönnen der Botschaft, um die Er-
lösung der Völker und auch jener menschlichen Werte, die in den Kulturen
vorliegen, es handelt sich um die Dynamik der "Anakephalaiosis" und der
"Apokatastasis" selbst. Und man kann nicht leugnen, daß das Christentum in
solche Kulturen nicht eingedrungen ist, ja, daß sich sogar in den Konvertiten
eine Kluft auftut zwischen ihrem tieferen Leben und ihrem sogenannten
christlichen Glauben. Es ist fast ein Gemeinplatz heute, von theologischem
Kolonialismus, vom ausgesprochen europäischen Antlitz des Christentums
und dergleichen zu reden. Aber damit ist nicht viel getan.
Wir möchten uns wiederum auf einen einzigen Gesichtspunkt der Proble-
matik beschränken und damit den Leser bitten, er möge unsere Überlegungen
nicht aus dem Kontext herausnehmen.
2. Das Mißverständnis
Es gibt und hat großartige Versuche und ehrwürdige Ausnahmen gegeben,
aber im großen und ganzen kann man wohl behaupten, daß das Christentum
und der Hinduismus sich auf der geistigen Ebene nicht begegnet sind. Man
redet aneinander vorbei. Man spricht nicht die gleiche Sprache und, wenn
man glaubt, sich verstanden zu haben, so entdeckt man am Ende, daß die
Wörter nicht denselben Sinn hatten. Die Hauptbegriffe, die Grundhaltungen,
die stillschweigenden Voraussetzungen, die Urstimmungen sind nicht die-
selben. Aber auch auf der intellektuellen Ebene wirkt dieses Mißverständnis
fort. Wir werden dazu nur einige Beispiele anführen:
a) P a n t h e i s m u s
Öffnet man ein beliebiges Handbuch über den Hinduismus oder über die
indische Philosophie, so findet man gewiß diese Anklage - oder manchmal
auch die Verteidigung-, die hinduistische Weltanschauung sei eine panthe-
istische. Texte, die "ut - nobis - sonant" pantheistisch klingen, fehlen nicht.
Man hat sogar indische "moderne" Gelehrte glauben lassen, sie seien Pan-
theisten. Der ganze griechische Sachverhalt einer "pröte hyle", aus der ein
Demiurg die Welt formte (worauf die "creatio ex nihilo" die christliche
. 3 Als einziges Beispiel sei auf die Tatsache hingewiesen, daß nach einer Wahr-
scheinlichkeitsstatistik im Jahre 2000 die Zahl der Katholiken kaum 9% der Welt-
bevölkerung und die ganze Christenheit etwa 15% ausmachen wird.
DIE UMMYTHOLOGISIERUNG 213
Gegenantwort war), ist Indien fremd, und die ursprünglich indische Idee einer
"creatio a Deo" meinte man afs eine "creatio ex Deo" auslegen zu müssen.
Das will nicht sagen, in Indien gäbe es keine Pantheisten - wie es sie ja
auch im Abendlande gibt - doch ist der Pantheismus nicht eine indische
Grundstimmung. Die tiefe Bedeutung jener Texte und vor allem ihre "Bot-
schaft'' ist eher das, was man mit einem unglücklichen Wort als "Panentheis-
.nus" gekennzeichnet hat.
b) Monismus
Daß die indische Advaitalehre einen Monismus darstelle, ist fast ein
Dogma der westlichen Interpretation - die wiederum ihre Anziehungskraft
auf manche moderne indische Philosophen ausgeübt hat - und doch ist die
Grundhaltung de'> A-dvaita (Nichtdualismus.) die Beh;wptung: Gott und die
Welt sind nicht "Zwei", denn es gibt nichts -kein "Ding", kein Sein- das
jenes "Zwei" mit Sinn füllen könnte. Gott und die Welt sind aber wiederum
nicht "Eins", denn die!j würde nicht nur die Welt - um die das Abendland
so sehr besorgt ist - verflüchtigen, sondern auch die Ab-solutheit (also
a-dvaita) Gottes beeinträchten. Die ganze thomistische Problematik der
"relatio rationis", der Schöpfung von Gott her, dürfte von der indischen
Advaitalehre nicht sehr entfernt sein.
c) I r r e a I i t ä t der WeIt
Von den wenigen Worten, die sich im Abendland aus der indischen Philo-
sophie eingebürgert haben, ist vielleicht Mäya das populärste, und man ver-
steht darunter "Illusion", also eine Welt der Unwirklichkeit. Abgesehen da-
von, daß das Wort sogar grammatikalisch ein Instrumental ist - Mäyä ist der
terminus technicus, um gerade die Eigenart jenes nichtgöttlichen So-seins zu
bezeichnen, das weder das Sein noch das Nicht-sein ist, und das als solches
nie in toto, in statu quietis, in esse completo, sondern nur in fieri, in statu
viatoris, in esse im-perfecto erlaßt werden kann - ist es etwas, das nicht
neben Brahman, auf dieselbe Ebene wie das Absolute gestellt werden kann,
weil es keine eigene Wirk-lichkeit besitzt.
d) D i e I m p er s o n a I i t ä t G o t t es
Vielleicht stößt eine wohlwollende Annäherung an Indien von sciten der
westlichen theistischen Philosophie her die anscheinend unleugbare indische
Lehre des apersonalen Charakters der Gottheit am stärksten ab. Hier läßt sich
ebenfalls das Mißverständnis aufweisen. Abgesehen davon, daß der indische
Brahmanbegriff und der semitische Gottesbegriff sich zueinander wie zwei
Pole ein und derselben Realität verhalten, sodaß sie eher zwei Betrachtungs-
weisen des Absoluten sind, sollte man noch dazu überlegen, daß es dieselben
Gründe sind, die das Abendland bewegen, Gott die Personalität zuzuschrei-
ben, die Indien veranlassen, Gott die Personalität abzusprechen. Weil der
Westen in der Person, in der menschlichen Personalität, den höchsten Wert
sieht, will er jenen Wert in eminenter Weise auf Gott anwenden. Gerade weil
214 R. PANIKKAR
e) D i e G e s c h i c h t I i c h k e i t
Das moderne Abendland ist so stolz auf "seine" Entdeckung der geschicht-
lichen Dimension des Menschen, daß es für die Anerkennung einer ebenso
ontologischen, menschlichen Geschichtlichkeit im indischen Karma fast blind
geworden ist. Was ist denn Karma, wenn nicht die kondensierte, zeitliche
Existenz, die gerade eine solche ontologische Dichte besitzt, daß sie das In-
dividuum transzendiert? Die Vergangenheit ragt durch das Karmagesetz in
die Gegenwart hinein, und die menschliche Solidarität findet ein ontologisch
geschichtliches Band. Gerade weil die indische Geschichtlichkeit so tief im
menschlichen Wesen verankert ist, kann Indien den Anschein erwecken, es
kümmere sich nicht um die oberflächliche Historiographie oder um die zeit-
räumlichen Datierungen von Außenwellen menschlichen Schicksals.
Andere Beispiele könnten noch angeführt werden, etwa das Mißverständnis
der Idolatrie, des Avatär-begriffes, des Polytheismus usw.
All dies will allerdings nicht sagen, in Indien gäbe es keinen Monismus oder
keine Idolatrie, oder was wir sonst noch hervorzuheben versucht haben. Wohl
aber soll gesagt sein, daß das eigentliche Anliegen woanders liegt, als auf
dem Gebiet des Intellekts und der Ideen. Beachtete man dies nicht, so wäre
die Folge die der sogenannten "tabula rasa": man könnte die Botschaft nicht
predigen,_ solange man derartige Ideen von Gott, von der Welt und so fort
aufrecht erhielte; man müßte diese zuerst abbauen, dann an zweiter Stelle die
neuen "westlichen", vermeintlich "christlichen" Kategorien einführen und erst
dann, an dritter Stelle, wäre man imstande, die Verkündigung mit einer ge-
wissen Garantie für ihre Verständlichkeit zu predigen.
Hat man jemals gedacht, daß die Metaphysizierung der Botschaft, die jener
Haltung zugrunde liegt, gerade eine Entmythologisierung nach dem westlichen
scholastischen Geschmack bedeutet? Das sollte mindestens eine Mahnung für
jede Entmythologisierung sein.
3. Die Ansätze
Was ist denn zu tun, wenn die Dinge so stehen? Soll man sich einfach
damit begnügen, die christliche Lehre als intellektuelle Vollendung der in-
dischen Weisheit darzustellen? Auch wenn dies auf einem bestimmten Niveau
nicht falsch ist, so wäre es die Verneinung der tiefsten Eigentümlichkeit der
christlichen Botschaft, die eher ein Leben und ein Skandalon als eine Lehre
und eine Selbstverständlichkeit ist.
DIE UMMYTHOLOGISIERUNG 215
a) Existenz i e 11 e Inkarnation
Die integrale Aufgabe des Christus ist die der Schöpfung, der Erlösung und
der Verherrlichung. Die Aufgabe aber, die Christus seiner Kirche anvertraut
hat, ist die der Mitwirkung an der Erlösung der Welt. Christus, der Erlöser,
vollzog aber seine Mission durch die Kenosis der Inkarnation. Es gibt keine
Erlösung ohne Fleischwerdung. Dem Jünger kann es nicht besser gehen als
seinem Meister. Wenn es sich um die Miterlösung handelt, so muß der Christ
sich der Welt und Umwelt seines Nächsten an- und einpassen, ja, er muß sich
an- und einleben. Er muß dort wiedergeboren werden. Wenn der Nächste
einer ganz anderen Kultur angehört, so bringt jener Inkarnations.versuch eine
aufrichtige und echte Aufnahme aller Werte einer solchen Kultur mit sich,
auch wenn sie geringer sind als die der eigenen. Es ist nicht so leicht, die Bot-
schaft als Christi Bote zu verkünden, es verlangt den vollen menschlichen
Einsatz. Das Wort des Zeugnisses muß auch Fleisch werden. Ohne diese Um-
gestaltung kann keine Kommunikation in der Tiefe zustande kommen. Das
Kerygma kann nur über einen in concreto Mensch-gewordenen Botschafter
kommen.
b) Konversion
Unter Konversion verstehen wir nicht _so sehr Abkehr vom Irrtum (aversio)
als vielmehr Hinwendung und Aufnahme einer Wahrheit. In diesem Sinne
stellt die oben erwähnte existenzielle Inkarnation eine Konversion zu allen
Teilwahrheiten, die im Hinduismus vorhanden sein können, dar. Wenn man
nur den Irrtum bekämpft, so ficht man gegen ein Unding und trifft das Sein
der "Sache" nicht. Wenn dagegen der Christ zum Hinduismus konvertiert, so
befruchtet er nicht nur den Hinduismus von innen her, sondern lädt den Hir.. ·
duismus auf eine höhere Ebene ein. Diese Konversion bedeutet nicht die
Preisgabe der christlichen Wahrheit, sonderen deren Verstärkung und Be·
reicherung. Das fordert selbstverständlich eine innere, nicht leicht vollzieh-
bare Nacktheit und Entsagung, d. h. eine wahre Armut im Geiste, die allein
jene con-versio ohne irgendeine christliche a-versio ermöglicht. Mit anderen
Worten: Man soll die Botschaft verkündigen, man sollte aber nicht vergessen,
daß jene Verkündigung ein Dienst ist, nicht nur am Worte Gottes sondern
auch an den Menschen - ein Lieben nicht nur auf Gott, sondern auch auf
die von ihm Angesprochenen hin, - ein Leben nicht nur für Gott, sondern
auch für die Gotteskinder.·
c) Studium
Es ist eine Selbstverständlichkeit, die aber nicht immer leicht zu verwirk-
lichen ist, daß Gottes Wort einer Übersetzung bedarf, zuerst einmal weil es
schon übersetzt auf uns gekommen ist. Christus sprach weder Latein noch
Griechisch noch Hebräisch. Was die Evangelisten für uns getan haben, sollen
wir auCh für die anderen tun. Die Übersetzung setzt aber eine genaue Kennt-
216 R.PANIKKAR
nis der beiden Sprachen voraus. Eine Sprache ist aber nicht nur eine Technik
sondern eine Geisteswelt. Ohne den indischen Geist in seiner Tiefe und Weite
zu kennen, kann man die Frohbotschaft nicht verstehbar machen.
Dieser letzte Punkt führt uns in unser eigentliches Problem ein.
1. Entmythologisierung
Dem Entmythologisierungsversuch liegt die Voraussetzung zugrunde, das
Evangelium sei zeitgebunden; und da nun sein Kerygma von und für Men-
schen, die tief im mythischen Weltbild steckten, verkündet wurd~, müßte man
gerade, um eine integrale Interpretation der Botschaft zu verstehen und ihren
echten Gehalt aufzunehmen, das Kerygma selbst entmythologisieren, d. h. es
von jenen zeitbedingten mythischen Vorstellungen befreien 5. Die Inten-
tion ist tadellos, und die Art und Weise der tatsächlichen Entmythologisierung
hängt ja davon ab, ob durch sie der Hörer der Verkündigung die christliche
Botschaft bess.er versteht und sich zu ihrer Aufnahme eher bereit findet. Uns
geht es. jetzt nicht darum, wie man entmythologisiert, - also nicht darum,
wie man das Wesentliche der Botschaft schärfer und präziser hervortreten
lassen kann,- sondern uns geht es um das Wesen der Entmythologisierung
selbst.
Jene erwähnte Voraussetzung ist doppelseitig: d11s Evangelium als Ver-
kündigung der Botschaft ist zeitbedingt, die Zuhörer aber sind ebenso zeit-
gebunden. Die Verkündigung ist eine lebendige Beziehung zwischen einer vor-
getragenen Botschaft. und dem Hörer. Sieht man vom zweiten völlig ab, so
hätte die Botschaft, die eine Botschaft für den Menschen ist, überhaupt keinen
Sinn. Der klassische Weg zur Aufnahme der Botschaft war die Vorbereitung
des Empfängers, Vorbereitung, die je nach dem sehr verschieden war: der
Mensch soll sich auf das Hören vorbereiten (sittliches Leben, richtiges Er-
kennen ... ). Die Entmythologisierung bevorzugt die Vorbereitung des
4 vgl. Gen. 6, 2.
s ,.Das eigentliche Problem ist also das hermeneutische, d. h. das Problem der
Interpretation der Bibel und der kirchlichen Verkündigung in der Weise, daß diese
als ein den Menschen anredendes Wort verstanden werden können." R. BULTMANN
in K. JASPERS, R. BULTMANN, Die F1·age der Entmythologisierung, München
(R. Piper), 1954, S. 62.
218 R.PANIKKAR
Kerygmas für den Menschen, unter dem sie übrigens den modernen
"wissenschaftlichen" Menschen versteht. Als Methode mag sie Erfolg haben,
es wäre aber nicht verwunderlich, wenn bei dieser "Technik" ein Teil
der Botschaft verlorenginge. Wir haben Technik gesagt, denn es will uns
scheinen, als ob die Entmythologisierung eine typische Erscheinung der tech-
nischen Zivilisation sei. Das Ideal des alten Indien war es,- es war vielleicht
auch gar nicht anders möglich (das bleibe dahingestellt)- den Menschen und
nicht die Umwelt zu "kultivieren". Das technische Zeitalter "kultiviert" die
Umwelt, läßt aber den Menschen auf sich beruhen. Mit anderen Worten:
Indien strebte danach, die Freiheit und die Vervollkommnung des Menschen
dadurch zu erlangen, daß seine Kultur den Menschen erzog, von der Umwelt,
ja von seinem eigenen Körper und von seinen individuellen Bedürfnissen un-
abhängig und all dem überlegen zu werden. Man hielt es nicht der Mühe wert,
oder vielleicht nicht für möglich, die Welt, die Umwelt, ja die Gesellschaft zu
ändern: Kultur hieß hauptsächlich innere, intime Kultur. Das christlich mo-
derne Abendland, obwohl seine Wurzeln wahrscheinlich in Griechenland lie-
gen, verfährt gerade umgekehrt: es verfeinert den Menschen, indem seine
Kultur soviele Bedürfnisse - auch seelischer Art - wie möglich hervorruft
und entwickelt, und gleichzeitig die Stillung und Erfüllung jener Bedürfnisse
schafft: alles wird um- und aufgebaut: die Welt, die Umwelt, die Gesellschaft,
der Leib, die Seele, nur der innere Kern bleibt unangetastet. Indien strebt
nach der Ein-falt (Simplifikation), der Westen nach der Ent-fC!ltung (Entwick-
lung) des Menschen. Die Entmythologisierung gehört diesem westlichen Geist
an 6• Man verlangt nicht die menschliche Anpassung, sondern die technische
Übersetzung - der Botschaft - , damit ihr Appell verstanden werde 7 •
Das ist aber nicht alles. Jene, somit nicht falsche Voraussetzung der Zeit-
bedingtheit, läßt s.ehr leicht außer acht, daß auch der moderne wissenschaftlich
gebildete Mensch zeitgebunden ist, und daß deshalb, was für ihn verständlich
ist, andern Geschlechtern vielleicht verschlossen bleibt. Mit anderen Worten:
die Botschaft muß immer ein Vehikel haben, sie muß immer bekleidet sein.
Eine totale Entkleidung - und das scheint zumindest manchmal, eine Ver-
suchung der Entmythologisierung zu sein- wäre völlig unsichtbar, unhörbar,
unmitteilbar ..., nicht weil man die Botschaft von ihren Kleidern, Mythen,
Formen ... nicht unterscheiden dürfte, sondern ;weil man sie nicht völlig
desirrkamieren kann. Der heutige Mythos ist die Wissenschaft. Deshalb wagen
wir von einer Ummythologisierung zu sprechen. Um aber deren Sinn ein
wenig zu beleuchten, müssen wir zuerst auf die Bestandteile des Wortes ein-
gehen.
8 vgl. R. BULTMANN, op. cit. S. 61.
·7Jenes Sprichwort ist ja bekannt, welches besagt, wenn der Berg nicht zu Mahomet
geht, daß Mahomet sich zum Berge begibt. Die Entmythologisierung gibt es auf, den
Menschen bis zu jenem Berg hinzuführen, weil sie gesehen hat, daß die Bergpredigt
und die ganze Botschaft nicht in den Menschen hineingeht; sie versucht dagegen, den
Berg mit technischen Mitteln zu versetzen.
DIE UMMYTHOLOGISIERUNG 219
2. Logos
In der Entmytho-Logisierung will man den Mythos abräumen und ihn
durch den Logos ersetzen. Man entmythologisiert, weil man die Botschaft
verständlich machen will. Sollte dies gelingen, so bliebe die entmythologisierte
Botschaft eine verständliche Lehre, frei von kosmogonischen, mythischen und
anderen Unreinheiten. Man wird sich für diese oder jene Lehre entscheiden,
und jene Lehre wird sogar eine solche Entscheidung fordern. Die Entmytho-
logisierung braucht nicht ohne weiteres reiner Naturalismus oder Rationalis~
mus zu sein. Das Mysterium kann erhalten, und Raum für den Glauben mag
wohl bestehen bleiben. Wir wiederholen, daß es nicht unsere Aufgabe ist,
Kritik zu üben, sondern einige Randbemerkungen anzufügen, die einen ge-
wissen Ergänzungswert haben könnten.
Unsere Ummythologisierung möchte den überlogischen Sinn des Logos
wiedergewinnen. Logos heißt bestimmt eine gewisse Intelligibilität, aber nicht
nur und nicht primär die logisch rationale Intelligibillität. Mehr noch, Logos
heißt das Wort, aber nicht primär das Verbum mentis sondern das Verbum
entis bzw. die Offenbarung des Seins. Das Wesentliche am Worte ist nicht
dessen Sinngehalt, also s.eine Bedeutung, sondern sein Gesprochenwerden.
Ein Wort kann nur gesprochen werden. Nur sein Inhalt kann niedergeschrie-
ben und sein Laut niedergelegt werden. Man dürfte Wort nie mit Schrifttum
verwechseln. Das Wort ist eher Anrede als Rede. Sein Anhalt ist wichtiger als
sein Inhalt. Es hält uns an den Redner, es verbindet uns mit dem Sprechen-
den eher als mit dem im Worte Gesagten. Das. Wort will zuerst gehört und
danach erst verstanden werden. Das Hören· des Wortes heißt zuerst ein Hor-
chen auf den Sprechenden. Das Wort verlangt Gehorsam, es offenbart uns
den Sprechenden und verbindet uns ihm, bevor wir das Gesprochene ver-
stehen. Die Annahme des Wortes hängt nicht von der "wissenschaftlichen",
vernünftigen Analyse seines Inhalts ab, sondern setzt zuerst die Aufnahme
des Sprechenden voraus. A.6yo_. heißt nicht primär 7!0fJJ.Ul 1 sondern ovp.{Jolov.
Das Wort ist das Symbol schlechthin. Es hat wohl einen Inhalt, es besitzt
einen Sinn, es birgt Intelligibilität, aber es ist eine Epiphanie, eine Mittei-
lung, eine Offenbarung, und das Wichtigste einer Botschaft ist nicht, was sie
in-sich und aus-sich enthält, sondern was sie an-hält, wessen Botschaft sie
ist, von wem sie un'> spricht, wessen Verkündigung sie ist 8 •
Diese Auffassung ist übrigens keine Eigentümlichkeit Indiens. Für das Alte
Testament ist das Wort Gottes gleichbedeutend mit Gottes Forderung und
Tat. Das Wort Gottes ist Anrede und zugleich seine eigene Macht. Gottes
Schöpfung und Gottes Gebote sind sein Wort. Gottes Wort ist sein Wille 9 •
8 Dies ist die phänomenologische Erklärung für die Existenz einer sakralen, kul-
tischen Sprache, die man nicht unbedingt ,.vt!rstehen" muß, solange man die leben-
dige Beziehung mit dem Sprechenden aufrechterhält. · ·
9 vgl. den inhaltsreichen und gut belegten Aufsatz von R. BULTMANN, Der Be-
griff des Wortes Gottes im Neuen Testament in Glauben und Verstehen, Tübingen
(J. C. B. Mohr) 1954, Bd. I,. 268-293, der uns weitere Zitate und eine ausführliche Be-
handlung erspart.
220 R.PANIKKAR
Auch das Neue Testament versteht das Wort in diesem Sinne. Den Willen
Gottes tun heißt, sein Wort hören und tun 10 • Wer Christi Worte hört, wird
gerettet werden 11 • Er selbst ist das Wort 12 • Gott, d~r in alten Zeiten durch
die Propheten gesprochen hatte, hat am Ende der Zeiten durch seinen Sohn
gesprochen 13• Es ist das Wort des Lebens 14 • Seine Worte s.ind die Wahr-
heit 15, weil er selbst die Wahrheit 16 ist. Mehr noch, in den Worten Jesu ist
immer jene angedeutete und noch anzudeutende Einheit zwischen Sprechen
und Handeln spürbar 17• Sein Wort ist mächtig, genau so wie seine Macht
Wort ist 18•
In den sogenannten "primitiven" Kulturen ist das Wort die erste Epi-
phanie eines jeden Dinges. Gottes Wort ist Gott selbst, und die Macht über
das Wort heißt Vollmacht über die genannte Sache. Der Zauberer übt seine
Magie aus, gerade weil er über das wichtige und passende Wort verfügen
kann, usw.
In Indien hat das Wort eine eigene Philosophie, und es gibt sogar ein
vollständiges philosophisches System auf der Grundlage des Wortes 19 • Dessen
ungeachtet werden wir nur zwei Bemerkungen hier anknüpfen.
Die erste ist die für die westliche Mentalität verblüffende orthodoxe hin-
duistische Behauptung, die Veden hätten keinen Verfasser 20 • Hierbei wäre zu
nächst zu bedenken, daß die Veden für den Hinduismus nicht die "heilige
Schrift" sondern sruti, d. h. das Gehörte, sind 21 • Sie sind nicht Schrift son-
dern Wort und als Wort mächtig, gebieterisch, seinshaft, selbstruhend. Dre
Worte selbst haben erlösenden Charakter, die Erweckung zur Brahman-
anschauung kommt durch das Wort 22 • Die Hauptsätze- mahä-väkyani- der
sruti und nur diese- also ohne Aktion- bringen die totale Befreiung nach
der Advaita-Schule 23 • Dies braucht nicht ohne weiteres als Magie ausgelegt
10 vgl. Lue. 8, 21; 28. etc.
11 vgl. Mare. 8, 38; Job. 8, 28; 5, 38; 14, 10, etc.
12 vgl. Job. 1, 1. ·
13• vgJ. Hebr. 1, 1.
1 4 vgl. Job. 6, 63; 6, 68; 8, 51, etc.
1s vgl. Job. 8, 40.
10 vgl. Job. 14, 6.
1 7 "Es ist auch k.eineswegs so, daß Wort und Handeln Jesu als zwei getrennte Funk-
tionen seiner Erscheinung auseinanderfallen . . . schon hier wird deutlich, wie das
,Wort' wirksames, selbsthandelndes ist, das heißt aber: Grundbestandteil des Han-
delns". KITTEL, Tbeol. Wört. d. N. T., IV, 107, art. Uyro.
1 8 vgl. Math. 8, 8. 16; Mare. 1, 25 f..; 2, 10 f.; 4, 39; Lue. 5, 5; 7, 7. 14 f.; etc.
19 vgl. die Sabda-Philosophie, und im allgemeinen dao;; ganze mimlbns&.
20 Diese Lehre ist wesentlich für das Purva-mim&msl\. Vgl. übrigens die Diskus-
sionen und verschiedenen Auslegungen von Brahma-sutra I. 1, 3.
21 Und doch die alten rsis, die eventuell die Veden haben niederlegen können,
sind mantradra~ta (Seher· der mantras) genannt. Man sieht und hört zugleich die
mächtige Realität des Wortes.
22 vgl. die ganz·e Problematik des :Kr (Aum-kara), des Symbols schlechthin
(Om ist übrigens mit ä,u~v, amen verwandt). Vgl. Chand. Up. II 23, 3; Ka!h. Up. I, 2,
15 sq; Mu11d. Up. II, 2, 3, sq; Prasn. Up. V. 1 sq; !Ha~d Up. I sq. etc. Vgl. auch Gita
VII, 8; VIII, 13; XXVII, 23 sq.
23 vgl. z. B. SURESVARA, Nai~karmya Siddhi, II, 1 sq. (vgl. die erste europäische
noch private Übersetzung von A. J. ALSTON, London (Shanti Sadan) 1959). Für di~
DIE UMMYTHOLOGISIERUNG 221
zu werden 24 • Der Grund liegt gerade darin, daß das Wort nicht bloß als
Rede und intellektueller Inhalt aufgefaßt wird, sondern als Symbol schlecht
hin.
Und dies wäre schon die zweite Bemerkung. Das Wort ist Symbol "ar•
l$oxfJv, oder christlich gesprochen: das Wort ist das Sakrament überhaupt.
Hier aber sollten wir das einbeziehen, was die Symbolik in Indien bedeutet.
Das Symbol ist nicht eine andere Wirklichkeit, das Wort Gottes ist nicht etwas
anderes als Gott selbst, es ist der geoffenbarte Gott, es ist Gott, insoft:.m er für
uns Gott ist. Es ist nicht etwa so, daß wir durch den bloßen Inhalt des Wortes
unabhängig vom Wort selbst tiefer in die Wirklichkeit eindringen könnten,
sondern es ist gerade das Vernehmen des Wortes als Wort, das uns die inte-
grale Botschaft des Wortes bringt. Allerdings gehört das Verstehen des Wor-
tes mit dazu. Wenn wir aber jenes Verstehen autonom vom Worte selbst ab-
schälen, dann verlieren wir den lebendigen - ontischen - Zusammenhang
mit der Quelle des Wortes und geraten in toten Intellektualismus, wenn nicht
in tödlichen Rationalismus 25 •
Diese uns.ere zweite Bemerkung hat zu dem christlichen Hauptdogma eine
direkte Beziehung, die uns für unser Probiem äußerst wichtig erscheint.
Die ganze Verlegenheit der nichtchrist~ichen Religionen besteht gerade
darin, daß, sobald sie an diesem Punkt angelangt sind,- und fast alle reichen
bis hierhin - es unvorstellbar, ja naturgemäß undenkbar ist, daß es in Gott
eine Spaltung - theologisch-christlich gesprochen: eine Relation - geben
könne, ohne die Einfachheit und Absolutheit Gottes zu beeinträchtigen.
Gottes Wort ist Gott selbst, das Symbol der Gottheit ist die Gottheit selbst,
das Eikön Gottes ist Gott und nicht nur göttlich. Auf der anderen Seite aber
muß es einen Unterschied geben. Wäre der Logos Gottes Wort schlechthin.
so würde man entweder in Polytheismus oder in Monismus verfallen, wäre
das Wort Gott ohne die Spannung, die uns nur durch den Dreifaltigkeitsglau-
ben erschlossen wird, so gäbe es nur zwei Auswege: den Ausweg der griechi-
schen Kultur, das Wort vom Wort loszulösen und nur seinen theoretischen
Inhalt zu betrachten - und das ist der Anfang des Humanismus und des
Atheismus 26 - oder den Ausweg der indischen Kultur, das Wort als Gott
aufzufassen, das Symbol als die Wirklichkeit anzunehmen - und das ist der
Anfang des Monismus und des Pantheismus 27 • Allein das theandrische
Mysterium Christi, das seinen Raum nur im Dreifaltigkeitsglauben findet,
kann einen mittleren Weg einschlagen, der die Einseitigkeiten beider Extreme
vermeidet.
ganze Problematik vgl. P. HACKER, Die Schüler Sankaras, Untersuchungen über
Texte des frühen Advaitavada, Mainz (Abh. der Akad. geisteswiss. Kl. Nr. 26) 1950,
S. 97 sq.
2i Wie sich P. HACKER, Magie, Gott, Person und Gnade im Hinduismus, "Kairos"
4/1960, S. 225 sq. anzunehmen geneigt .fühlt. Dazu meinen kritischen Brief an dea
Herausgeber, in "Kairos". 1961, 2, S. 12 ff.
25 Man lese nur Psalm XXVIII über das Wort Gottes.
IB ov yae ." J.oyq> 1j flarnlsia 'fOV Oeoii, a.U' ev dvva!'EI,. I Cor. 4, 20.
27 China würde hier größtenteils mit Europa, und Afrika im großen und ganzen
mit Indien zusammengehen.
222 R.PANIKKAR
3. Mythos
Es hängt alles davon ab, was man unter Mythos versteht, will man seine
Rolle in unserem Problem und überhaupt in der Religion untersuchen. Auch
was das Christentum betrifft, hat man einerseits behauptet, "der M)'thos ist
eine heidnische Kategorie" 28 , andererseits er sei eine notwendige Sprache der
Religion und infolgedessen von der christlichen Verkündigung nicht zu tren-
nen 29 • Man kann den Mythos bejahen oder ihn ablehnen, je nachdem, was
man darunter versteht. Was man vom Mythos hält, hängt aber wiederum
von der Haltung ab, die man der Religion gegenüber einnimmt. Das ist der
Grund, weshalb im Laufe der Religionsgeschichte von der absoluten Wahr-
heit bis zur integralen Lüge alles Mythos geheißen hat 30 •
Wir wollen auf das Mythosproblem hier nicht eingehen. Uns geht es nur
um das Folgende 31 :
a) Für den an Mythen Glaubenden und im Mythischen Lebenden ist der
Mythos das alleinige Vehikel der Offenbarung bzw. der religiösen Botschaft.
Für den, der an die Mythen nicht mehr glaubt, wird eine mythische Verkündi-
gung keinen Sinn haben und eine Entmythologisierung vonnöten sein.
Mehr noch, für den ersten Fall wird die Entmythologisierung keinen Sinn
haben, es sei denn als Zerstörung der Religion. Eines aber sollte hier zum
zweiten Standpunkt gesagt werden: Es ist nicht wahr- nicht einmal phäno-
menologisch-, daß der im ersten Stadium sich befindende Mensch die Mythen
im Sinne der zweiten Perspektive auslegt. D. h. ganz schlicht: ein für die
Mythen noch aufgeschlossener Mensch betrachtet die Mythen auf mythische
und nicht auf naturwissenschaftliche Weise. Wenn z. B. vom Blut im Mond,
von den Sternen unter den Füßen, von der Hölle unten, dem Himmel oben
mythisch gesprochen wird, wird kein im Mythos lebender Mensch die natur-
wissenschaftliche Auffassung vertreten, ja nicht einmal die kosmologische
Interpretation, die ein "aufgeklärter" Mensch jenen Ausdrücken geben
wird. Es wäre eine große !tf:r:aßaou; Bt(; lilÄo yivo~ vorauszusetzen, daß jene
Mythen materiell, ja materialistisch aufgefaßt würden. Die Sonne, die wirk-
liche Sonne, ist für den ersten Menschen keineswegs der naturwissenschaft-
liche Himmelskörper, genauso wie eine Farbe für ihn keine Wellenlänge ist 32 •
28 G. STÄHLIN, Art. plJ-bo> in KITTELs Theol. Wört. d. N. T. IV, 800, 23.
29 vgl. R. MARLE, Bultmann und die Interpretation des Neuen Testamentes, Pader-
born, 1959.
30 vgl. reiche Belege bei STÄHLIN, art. cit., 771 sq.
31 Um der Klarheit und Kürze willen und um die Proportionen unserer. Unter-
suchung nicht zu verzerren, fühlen wir uns gezwungen, unsere Gedankengänge in
Form von tast stichwortartigen Behauptungen zusammenzufassen.
32 Ein winziges Beispiel: "in sole posuit tabernaculum suum" singt ein Psalm,
XVIII, 6. Will das heißen, daß der Messias sein ·Zelt - alsp "camping" - auf die
Sonne gestellt hat? Sollten wir diese Aussage entmythologisietep., so würde ein
ganzes Buch nicht genügen, denn man könnte immer neue Schattierungen und Mei-
nungen in jenem Symbol finden, die in den Erklärungen und Auslegungen nicht ent-
halten sind; Wir könnten etwa von der Erhabenheit des Messias reden; von der _Be-
deutung des Zeltes und seiner- Bedeutung- zur Inkarnation, von der angedeuteten
Göttlichkeit des Messias und seiner kosmischen Gewalt. Man könnte die neue Übet-
DIE UMMYTHOLOGISIERUNG 223
setzung: "ibi posuit soli tabemaculum suum" heranbringen und interpretieren, usw.
Doch ein für das Symbol aufgeschlossener Mensch wird alle jene Auslegungen will-
kommen heißen, sie werden für ihn aber nie! die ganze Botschaft des Originals
wiedergeben.
33 Man sollte nicht vergessen, daß trotz aller Sauberkeit und Objektivität das so-
genannte wissenschaftliche Weltbild "genauer" sein mag als das mythische, es ist
aber wirklichkeits-ärmer und genauso wie das. letztere bewußtseinsbedingt, d. h.
einem gewissen menschlichen Bewußtseinsgrad entspJ;"echend. Vgl. 0. BARFIELD,
Saving the Appearances, Londo.n (Faber 'and ·Faber) 1957.
3 4 vgl. Belege in KITTEL, art. cit. IV, 785-786.
35 EURIP., Phoe.n. 469 (apud KITTEL, art. cit. · S; 792).
36 Mattli. 13, 9. · . , .-:·;
37 I.uc. 10, 37.
"8 DEMOKRIT, Fragm., 30 - Diels; Die Frgin. der Vorsokratiker (5. Aufi.) II S. 151.
224 R.PANIKKAR
Mythen, Gott mythologisiert alles, könnte man frei übersetzen 39 • Diese Aus-
sage steht der biblischen Bejahung, Gott tue alles nach Maß, Ordnung und
Zahl, keineswegs entgegen 40 , denn der ursprüngliche Sinn von Mythos heißt
gerade Gedanke 41 und kommt sogar mit dem Logos zusammen vor 42 •
Mehr noch: gegen die geläufigen aber anscheinend entmythologisierten
Interpretationen hat fl/iH}or; wenig mit Esoterismus zu tun 43 , hängt vielmehr
unmittelbar mit Wort 44 zusammen. Mv{)or; heißt weder der flatus vocis noch
das verbum mentis allein, sondern die noch indiffer~nzierte Einheit, die un-
trennbare Inkarnation von Fleisch und Geist, von Stoff und Seele, von prak-
tischer Haltung und theoretischem Inhalt. Mythos und Logos gehören zu-
sammen und zwar beide als W-ort, der erste als das die Gedanken - als
Wirklichkeiten - aussprechende Wort 45 , der zweite als intelligente Tat und
aktives Eingreifen des im Wort selbst Ausgesprochenen 46 , oder anders aus-
gedrückt: "Logos bezeichnet das Wort von der subjektiven Seite des Denken-
den und Sprechenden her als das Bedachte und Berechnete" 48 ; !'fl{}or;, bezeich-
net "ursprünglich gerade nicht das Wort vom Gedachten, sondern vom Tat-
sächlichen" 48 • .
Wenn durch den Logos alles geworden is.t 49 , wenn durch Vac alles ent-
standen ist 50, wenn Zeus überhaupt alles mythologisiert 51, wenn der Tao
am Anfang war 52 , usw. all dies mag verschiedene Wahrheitstiefen erreichen
und ungleichen Wert haben, hat aber doch zur Folge, daß jene urgründliche
Tatsache nur im Mythos ausgesprochen werden kann, soll siei allgemeine
- d h. für Gelehrte und Ungelehrte, Primitive und Fortgeschrittene, alte
und neue Menschen- Gültigkeit haben.
39 Man weiß, daß die für jene Zeit sinngetreue Ubersetzung, etwa "Zeus denkt,
erwägt alles" wäre.
40 vgl. Sap. 12, 21.
41 vgl. STÄHLIN, art. cit. S. 772, sq. vgl. den schönen homerischen Ausdruck p:M}ov
p,vfJsiafJu.. (Od., III, 140): "Den Grund (für etwas) erklären", der schon auf die Be-
deutung "einen Gedanken aussprechen" hinweist.
42 Die Ausdrücke J.Oyo• xal p,vfJo• aber auch ,(oyo0 Tov p,vfJov kommen häufig vor.
Vgl. STÄHLIN, art. dt., S. 777, etc.
43 Die etymologische Abteilung von ·~vro (schließen, evtl. ,uvaT~ewv) ist ausgeschlossen.
Vgl. z. B. die Wörterbucher von BOISACQ und HOFMANN.
u vgl. STÄHLIN, IGc. cit., vgl. den alttestamentlichen Spruch: lf:vfJero:n:O> lizae'••
pvfJo• lixu.t(!O> (wie ein unangenehmer Mensch ist ein unzeitliches Wort). Eccl. 20, 21.
45 vgl. K. KERENYI, Umgang mit Göttlichem, Göttingen (Vandenhoeck u. Ruprecht),
21961, s. 36 f.
46 Man erkennt heute allgemein an, daß Goethes Auslegung von Job. 1, 1: "Im An-
fang war die Tat" (Faust, V. 1237) nicht so sehr falsch ist. "Der Ausdruck ,Wort'
(Logos) erweist die göttliche Macht und das göttliehe Tun als geisterfüllte Macht und
geisterfülltes Tun". !VI. SCHMAUS, Katholische Dogmatik, op. cit. § 44 (Bd. I, 5. Aufl.
1953, s. 310).
47 vgl. W. F. OTTO. Der Mythos, "Studium Generale" (1955, Heft 4), in E. GRASSI.
Kunst und Mythos, Harnburg (Rowohlt), 1957, S. 81.
46 W. F. OTTO, 'fheophania, - Der Geist de_r altgriechi~chen Religion, Harnburg
(Rowohlt), 1956, S. 23.
49 vgl. Job. 1, 3; Col. 1, 16 sq; Hehr. 1, 2 etc.
50 vgl. Sathapatabrahmana VI, 1, 1, 9; Maitropanishad li, 6, etc.
51 vgl. Anm. 38.
52 vgl. Tao-te-king I. 2; IV, 1-2. 2; XXV, 1. etc.
DIE UMMYTHOLOGISIERUNG 225
4. Parabel
Der letzte Vers des Johannesevangeliums sagt uns, daß die Welt die Bücher,
die über Christi Taten zu schreiben wären, nicht enthalten könne 53 • Die Ent-
mythologisierung hat sich zur Aufgabe gestellt, solche Bücher zu schreiben.
Sie will alles erklären und verstehen lassen, indem sie sich der Mentalität der
Leser anpaßt. In diesem Sinne ist alles Schrifttum über Christus mit Aus-
nahme der Heiligen Schrift Entmythologisierung. Es will nämlich die Tat
Christi weiter erklären und auslegen. Und beileibe wird die Welt bald die
Unmenge solchen Schrifttums nicht mehr tragen- vielleicht sogar nicht mehr
ertragen. Solches Schrifttum ist in diesem Sinne erlaubt und kann auch nütz-
lich und erbaulich sein. Allerdings sollte dabei der Unterschied zwischen
christlicher Literatur und Bibel nicht verloren gehen. Es ist nicht nur ein Grad-
unterschied sondern ein Gattungsunterschied. Die Inspiration der Heiligen
Schrift heißt nicht nur, daß die Bibel irrtumsfrei ist, sie meint auch, die Bibel
enthalte das Wort Gottes und sei es sogar in gewissem Sinne. "Diese Sachen
aber sind aufgezeichnet, damit ihr glaubt, daß Jesus der Messias, der Sohn
Gottes ist, und daroll ihr im Glauben das Leben habt in seinem Namen"" 4 • Die
anderen Bücher können sich solche Aufgaben prinzipiell nicht anmaßen. Sie
sind zum Verstehen und zur Vorbereitung und Auslegung des Glaubens ge-
schrieben, enthalten aber die lebendigen Wasser des. ewigen Lebens nicht 55 •
Dies soll keineswegs heißen, daß man bloß zum Mythos zurückgehen soll,
daß man nötigenfalls nicht ummythologisieren dürfte - was eine gewisse
Entmythologisierung voraussetzt - . Dies sollte nur heißen, daß man den
ganzheitlichen und einheitlichen Sinn der Botschaft, d. h. des Evangeliums
nicht verlieren darf.
Zuerst könnten wir vielleicht bemerken, daß die "Heilige Schrift" als
"Glaubensschatz" nicht bloßes Schrifttum ist, sondern lebendige, wenn auch
geschriebene Überlieferung. "Schrift" und "Tradition" sind nicht zwei un-
abhängige christliche Quellen, sondern zwei engverbundene und aufeinander
bezogene Dimensionen ein und derselben "Sache", deren dritte Dimension,
die jene "Sache" erst in die lebendige Botschaft verwandelt, der Glaube ist.
Zweitens möchten wir auf die Tatsache hinweisen, daß, was das Evangelium
enthält, nicht direkt Mythen, sondern Ereignisse und Parabeln sind. Eine
Parabel ist weder reiner Mythos noch eine bildhafte Ausdrucksweise, die etwa
Christus gebraucht hätte, weil es orientalische Redeweise oder für seine
schlichten Zuhörer passender gewesen Wäre 56 • Es wäre verhängnisvoll zu
denken, daß eine feingeschliffene, metaphysische FormuHerung inhaltsreicher
und vollkommener wäre als eine Parabel des Herrn Man darf und muß
Theologumena aus dem Evangelium ableiten, aber man dürfte dabei nie aus
den Augen verlieren - und aus dem Herzen vergessen - , daß jene Theo-
•a Joh. 21, 25.
~>~Joh. 20, 31,
66 vgl. Joh. 4, 10; 14; etc.
•• Das meint SENECA, Epist. LIX, 6, wenn er die Parabel als "imbecillitatis nostrae
adminicula" betrachtet.
15 Castelli
226 R.PANIKKAR
88 "Die Offenbarung kann also nur jeweils Ereignis sein, wann und wo das Wort
der richtenden und sc;,enkenden Gnade jeweils einem Menschen zugesprochen wird."
R. BULTMANN, Die Frage der Entmythologisierung, op. cit., S. 71.
87 "Wenn die Offenbarung wirklich als Gottes Offenbarung verstanden wird, so ist
sie keine Mitteilung von Lehren, auch nicht von ethischen oder geschichtsphilosophi-
schen Wahrheiten, sondern die unmittelbare Anrede Gottes &n mich, ... " ebd. loc. cit.
88 vgl. die ganze eucharistische Rede Jesu (Job., 6, 26 f.), wo in eindrucksvoller, an-
stoß-erregender Weise das Heil nicht mit einer Lehre, sondern mit einem Essen, einer
Handlung, einem Sakrament verbunden ist.
DIE UMMYTHOLOGISIERUNG 229
werden werden wir nur an zwei Beispielen das zu veranschaulichen versuchen,
was sonst mehrere Seiten beanspruchen würde.
Das erste Beispiel mag ein Beitrag für das sein, was man Vermythologisie-
rung und das zweite für das, was man Ummythologisierung nennen könnte.
09 "Ego sum qui sum, ait: sie dices :filiis Israel, qui misit me ad vos" Ex., 3, 14.
70 vgl. das meisterhafte III. Kapitel E. GILSONs in L'esprit de Ia philosophie
medievale, Paris (Vrin) 1944 (1932), wo die Entwicklung diesees Gedankens verfolgt
wird, daß es keine Metaphysik im Exodus, wohl aber eine Metaphysik vom Exodus
gibt.
7 1 Es will uns sogar scheinen, daß die patristische Auslegung des Textes nicht im
Sinne des "ipsum esse" des THOMAS von AQUIN (vgl. Sum. Theol. I q. 13, a. 11)
sondern eher in det' Richtung des lebendigen Gottes als Herr, gemäß des folgenden
Verses im selben Text liegt.
72 vgl. -ro :n:aneÄw> lfv, Sophist., 248 E.
73 vgl. Metaph., III, 1 (1003 a 31) etc.
74 Er verwendet nicht nur o wv sondern ro lfv. Er sieht aber in o &Sv den eigent-
lichen Namen Gottes. Ygl. Abr., 121 (bei BÜCHSEL in KITTELs Theol. Wört. d. N. T.
II, 397, art. eip1.
75 vgl. BÜCHSEL, loe cit.
230 R.PANIKKAR
chisch 7 ü und indisch 77 • Sie findet einen Nachklang in den Worten Christi 78 ,
im Neuen Testament 79 und überhaupt in der Tradition 80 •
b) Die Stelle hat auch einen ausschließenden Sinn. Es gibt keinen anderen
Gott als den Gott Israels 81 • Er ist der Einzige 82 • In diesem Sinne verwendet
Jesus die gleichen Worte, und die Juden verstehen sie wohl als eine Behaup-
tung seiner Gottheit, denn für Israel war die Einzigkeit Gottes. dessen Haupt-
kennzeichen 83•
c) Unser Text deutet ferner an, daß Jahwe der ist, der da ist, als ob es
hieße: ich bin da, der, der zu dir redet, der sich und zwar hier und dir offen-
bart, der für dich und überhaupt für euch sorgt und euch befreien will, ich bin
so sehr gegenwärtig, wie ich es war, als ich mit eurem Vater Abraham ein
Testament geschlossen habe. Die Stelle will also die Vorsehung, die tatsäch-
liche Sorge Gottes um s·ein Volk aus.drücken. Der Gott Israels ist eine un-
sichtbare, schreckliche und transzendente Gottheit, er ist aber gleichzeitig
Vater, Bräutigam, Freund, der sich jetzt offenbart, um zu sagen: ich bin da
und, weil ich immer mit euch bin und war, habe ich gesehen, wie ihr unter
den Ägyptern zu leiden hattet, und ich habe mich nun entschlossen, euch zu
retten und dich, Mos.es, als meinen Propheten auszuwählen 84 •
d) Die eigentliche Kraft dieses Textes scheint in der Bestätigung des perso-
nalen Charakters Jahwes zu liegen. Er offenbart sich selbst hier nicht so s.ehr
als das Sein, sondern als das Ich. Er sagt nicht, er s.ei das Sein, sondern er sei
Ich: ich bin, der ich bin. Der Akzent liegt auf dem Ich. Er hat kein Prädikat,
nicht einmal das des Seins. Er offenbart sich hier nicht als Substanz, sondern
als Verbum (Zeitwort), als Akt, als Person, und zwar nicht als "ist", sondern
als "bin", weil Gott, mindestens der Gott des Alten Testaments, von s.ich
nicht "ist", sondern nur "ich" sagen kann. Wollte man ein Prädikat unter-
stellen, so dürfte man die Stelle nicht so auslegen, ich bin das .Sein, sondern
ich bin das Ich 85 • In diesem Zusammenhang steht die Aussage Jesu, wenn
er das eyro Bif.U auf sich s.elbst anwendet 86 •
76 vgl. den wundervollen Orakelspruch von Dodona: Zwt; i]v, Zsvt; ~a-&w, Zsvt; laana1
ro f-IBYM1J bii (bei BUCHSEL, loc. cit.; vgl. auch PLAT., Timaeus 37 D sq.).
77 "puruea evedam sarvam yad bhutam yac bhavyam". "Gott - der Purusa - ist
alles, was· gewesen ist und sein wird"). Rg. Ved. X, 90, 2. Vgl. auch RAMANUIA,
Giti-bhifya, IX,19, wo er das sadasat (Sein und Nicht-sein) als Bezeichnung Gottes
im Gita (h. 1.) im Sinne von Gegenwart -sat- und Vergangenheit-Zukunft -asat-
interpretiert.
78 vgl. Job., 8, 58, wo der Gegensatz zwischen ywia{}a, (von Abraham) und F'''cu
(von Jesus) klar zutage tritt. Jesus verwendet das Wort slf,il im Sinne seiner Zeit
transzendenz. Vgl. auch Job., 8, 19, wo Jesus das ~yw elf" wiederum mit seiner Zeit-
überlegenheit in Verbindung bringt.
79 vgl. Apoc., 1, 4. 8; 6, 17; 16, 5.
80 vgl. Gregor Naz., Orat. 30, 18; etc.
81 vgl. Deut., 16, 4; Jl.lat·c., 12, 29; Deut., 32, 16; Eccles., 1, 8.
82 vgl. Ex., 20, 2; Js, 44, 6-8; 45, 5.
83 vgl. Job., 10, 31-39.
8 ~ Ich verdanke J. B. LOTZ die Anregung für diesen dritten Punkt.
85 Die Folgen einer solchen Auffassung sind ungeheuer wichtig, gehören aber nicht
1u urserer Arbeit. Vgl. meinen Aufsatz, Die existentielle Phänomenologie der Wahr-
bt>.it, in "Philosophisches Jahrbuch der Görresgesellschaft•• München 1956.
86 vgl. J oh., 8, 24, 28. ' '
DIE UMMYTHOLOGISIERUNG 231
2. Die Person Christi
Wir möchten das Gesagte anband eines zentralen Beispiels zusammenfas-
sen und veranschaulichen. Wir lesen in der Apostelgeschichte, daß die Apostel
nach Pfingsten im Tempel und in den Häusern den Juden Jesus, den Christus
verkündeten (evayye.A.t,6,uevot b'1), und der erste Versuch, die Botschaft den
Heiden zu verkünden, ist auch mit demselben Ausdruck bezeichnet 88 • Das
Grundschema des Hebräerbriefes 89 ist auch dasselbe: Nachdem Gott in den
alten Zeiten durch die Propheten gesprochen hat, hat Er nun durch seinen
Sohn zu uns ges.prochen.
Die abendländische Christenheit der letzten hundert Jahre und die katho-
lische Theologie insbesondere haben, um die Wirklichkeit Christi gegen
modernistische und doketistische Tendenzen nicht verflüchtigen zu lassen, mit
Nachdruck die sogenannte Geschichtlichkeit des Christentums und Christi
betont. Wenn jene EreignisS.e von Bethlehem und Jerilsalem geschichtliche
Tatsachen sind, so dachte man sich, steht das Christentum auf festem un-
erschütterlichem Grund. Bis vor dem zweiten Weltkrieg sollte jeder an-
gesehene Theologe von der einen oder der anderen Richtung eine Geschichte
Christi oder ein Leben Jesu geschrieben haben. Wir wollen die ganze darin
enthaltene Problematik, wie auch die Aufgabe einer Verkündigungstheologie
für den Westen dahingestellt sein lassen und uns nur auf Indien beschränken.
Philippus, Paulus., die Apostel predigten Jesus, den Christus: auf dem Hin-
tergrund eines wunder-vollen Geschehens in J erusalem, an dem kein Mensch
zweifeln konnte; auf dem Hintergrund eines messianischen Glaubens predigte
man die Identität Jesu mit dem Christus. Ein gewisser Christusglaube war
mehr oder weniger vorausgesetzt. Nur in Athen, wo jene Voraussetzung nicht
gegeben war, wirkte das skandalon der Verkündigung des Paulus nicht und
traf nur auf Gleichgültigkeit und Lächeln. Nun hat Buropa in den letzten
Zeiten das Christus.-bewußtsein vielleicht abschwächen und die J esus-fröm-
migkeit- bei den Gläubigen - und die Jesus-skepsis - bei den Ungläu-
bigen - Oberhand gewinnen lassen. Wie dem aber auch sei, die europäische
Verkündigung in Indien hat Jesus gepredigt, aber Indien hat es nicht als eine
Christus-Verkündigung verstanden, sondern als die Botschaft eines neuen
A vatäras, als dieselbe Lehre seiner alten Religion, als eine neue, vielleicht
zeit-gemäßere Form der Moral und der Religion; und manchmal hat Indien
den Eindruck nicht zurückweisen können, man wolle seinen alten göttlichen
Gestalten eine gewisse Konkurrenz durch jenen Jesus bieten. In einem Wort:
pas.toral gesprochen, die christliche Botschaft ist im allgemeinen kaum zur
Gewissensfrage geworden, vor der man sich dafür oder dagegen zu entschei-
den hätte; theologisch gesagt: Indien hat im großen und ganzen nicht ver-
nommen, daß J esus sich als Christus offenbart.
Ich möchte zuerst die typische indische Reaktion auf die gewöhnliche
Apologetik kurz und, vielleicht der Kürze halber, ein wenig zugespitzt be-
87 Act., 5, 42.
88 Act., 8, 5. V gl. auch 8, 35.
89 Hebr., 1, 1.
232 R.PANIKKAR
dieser Christus ist, in einem Wort, wirklich und tatsächlich Gott. Und nun
kommt die eigentliche temporale Botschaft: dieser Cb.ristus ist auch ErWser
weil jenes Hinaufsteigen zu Gott eine wirkliche Rückkehr und ein reales
Auf-steigen bedeutet. Jener Christus, der sonst für die Welt gesorgt hat, weil
die Welt ja sein Leib ist (in der Ewigkeit) und sein soll (im Zeitverlauf --
wobei, was nicht sein wird, auch nicht ist) und infolgedessen Propheten, Reli-
gionsstifter, heilige Männer hat entstehen lassen, jener Christus hat am Ende
der Zeiten sich als Haupt geoffenbart; Er hat nicht nur seine zum Werden
bestimmten Glieder geboren werden lassen, sondern Er selbst ist aus Maria
der Jungfrau geboren, unter Pontius Pilatus. gestorben und am dritten Tag
auferstanden, um seine Mission weiterzuführen bis zur Vollendung (/Gor.
15, 28).
Das mag zu philosophisch klingen, und tatsächlich konnte eine gedrängte
Zusammenfassung nur philosophisch wiedergegeben werden. Es sollte aber
keineswegs eine philosophische Rede sein. Jetzt aber, da wir jene Rede vor-
weggenommen haben, können wir unser Grundschema einfacher darstellen:
Man fängt mit der Eucharistie an, und zw<J,r buchstäblich mit der Eucharistie
als Opfer, Sakrament und Lehre. Die Vergöttiichung ist ,möglich; ja sie ist
eine Tatsache. Die Einheit, zu der das Geschöpf berufen worden, ist die der
Trinität selbst (wie der Vater und ich Eins sind, ... lo. 21 etc.). Gott kommt
zu uns. und er kommt nicht nur, sondern er wird Eins mit uns., es ist eine
wirkliche Vereinigung, durch die wir eigentlich "sind", usw. Nun ist diese
Eucharistie, dieser kosmische und persönliche Christus, identisch mit dem
historischen Jesus von Nazareth.
Das ist das unerhörte skandalon für Indien, nicht daß es eine Inkarnation
gebe. nicht daß Gott sich niederlasse und Mensch werde, nicht daß der Logos
Fleisch geworden, sondern daß jedes Fleisch Gott werden kann und soll,
daß der Mythos Geschichte geworden ist, daß das Einswerden mit Gott
nicht mit der Preisgabe alles Werdens, sondern gerade durch dessen Ver-
göttlichung erreicht werden kann.
Mit anderen Worten, die Geschichtlichkeit ist nicht die Basis, sondern die
Krone der Verkündigung, der historische Jesus ist nicht der Anfangspunkt
sondern das Eschaton. Das Fundament der Verkündigung ist somit nicht die
Historiographie Jesu, sondern der Glaube an ihn, der nur durch den persön-
lichen Kontakt in der intimen Begegnung mit ihm zu uns kommen kann. Man
pflegt zu sagen, und zwar mit Recht, daß der Glaube ein freies Geschenk
Gottes sei, man übersieht aber manchmal, daß gerade diese Gabe, weil sie
ein reales Geschenk ist (sofern nämlich Christus sich zu uns niedergelassen
hat, um uns an seiner Erkenntnis und an seinem Leben teilnehmen zu lassen),
immer eine Begegnung mit Christus, also eine Damaskusstunde voraus-
setzt. Jeder Gläubige ist ein Begnadeter, wenn er auch später die Gnade ohne
den Glauben verlieren kann. Dieses Damaskuserlebnis aber braucht uns
nicht groß bewußt zu sein. Die Begegnung ist da, wir können aber ihr gegen-
über blind bleiben in größerem Maße als Paulus, da er nur für die physische
Umwelt blind blieb. Man sollte nie aus den Augen verlieren, daß das Ent-
scheidende in unserer Begegnung mit Gott nicht unser Bewußtsein davon
DIE UMMYTHOLOGISIERUNG 235
ist, sondern die tatsächliche Begegnung selbst, und, zweitens, daß das
Wichtigste der Begegnung nicht mein Gott-treffen, sondern das göttliche
Mich-treffen ist.
Mit anderen Worten: es kommt alles darauf an, der Person Christi den
Primat zu überlassen, oder besser gesagt, ihm den Primat, der ihm zukommt
und den er tatsächlich hat, nicht zu rauben. Das soll man ganz existentiell
zuerst annehmen, das heißt, es handelt sich nicht darum, daß ich als Missio-
nar den Primat Christi verkündige, nicht einmal, daß ich Christus verkündige
und ihn durch mich sprechen und handeln lasse, sondern es handelt sich ganz
wirklich darum, daß er auftrete, daß er, vielleicht durch aber auch ohne und
gegen mich, handle und wirke, daß ich sein und nicht er mein Instrument sei,
daß er wirklich gegenwärtig werde und ankomme und das Opfer verrichte,
die Herzen entflamme und die Geister erleuchte. Er muß wachsen, ich aber
abnehmen. Die Verkündigung Gottes ist nicht nur im Sinne des objektiven
Genitivs zu verstehen, sondern vor allem im Sinne des subjektiven, das heißt,
es ist nicht meine Verkündigung des geoffenbarten Wortes sondern die gött-
liche Verkündigung seiner eigenen Worte- wohl vielleicht durch mich. Das ist
eigentlich das, was wir vorhin meinten, als wir die liturgische Haltung und die
Orthopraxis erwähnten. Der Kult ist der eigentliche Ort der Verkündigung,
zuerst einmal, weil der Kult als solcher schon Verkündigung, und zwar leben-
dige und tatfordernde Verkündigung Gottes selbst ist. Ohne Kult ka,nn es
nur die Mitteilung einer Doktrin geben, aber nicht die Verkündigung des
Wortes Gottes.. Da aber die christliche Lehre eine übernatürliche ist, wird
1tie bloße Übertragung einer Doktrin steril bleiben, weil unverständiich, so-
fern nicht zugleich die Gnade mitgegeben ist, den Anstoß aufzunehmen und
dem Anspruch zu entsprechen.
Mit Recht bemerkte E. Castelli: angenommen, nUr l"in paar Christen wären
auf Erden übriggeblieben und wollten nun ohne irgendeine geschichtliche
Urkunde auf einer isolierten Insel die christliche Botschaft weiter verkün-
digen, so wäre ihre Verkündigung doch sinnvoll. Um andere theologische
Probleme auszulassen, möchten wir annehmen, daß unter den Übriggeblie-
benen ein Priester wäre. Er wäre die ganze lehrende Kirche und hätte die
Vollmacht der Kirche, er könnte seine Vollmacht bezüglich des Hauptes der
Kirche ausüben, das heißt, Christi Opfer darbringen, und somit brauchte
seine Verkündigung nicht notwendig das Zeugnis der Geschichte, weil Jesus,
an den geglaubt wird, primo et per se nicht eine Qestalt der geschichtlichen
Vergangenheit ist, sondern der lebendig auferstandene Christus, gegen-
wärtig in der Mess.e und wirksam in unserem Herzen. Die Bewohner jener
Insel dürfen wohl für ihren Vollglauben die verlorenen geschichtlichen Ur-
kunden für die geschichtliche Existenz Jesu nicht vermissen. Und doch würde
die Geschichtlichkeit Christi nicht bezweifelt, sondern im Glauben mit ein-
geschlossen werden. Geistesgeschichtlich gesprochen, befindet sich Indien
auf dieser Insel. Es interessiert sich wenig für die Geschichte der Vergangen-
heit, gerade weil es zu der Geschichte der Gegenwart, zu der Realpräsenz
des Christus leidenschaftlich hingerissen ist. Diese findet man im Opfer und
im Sakrament, im Gebet und im Glauben. Das ist das Entscheidende.
DIE ENTMYTHOLOGISIERUNG ALS EIN VERSUCH DER
RADIKALEN VERGESCHICHTLICHUNG DES GLAUBENS
Franeo Bianco
und die mögliche historische Analyse des Ereignisses widerspricht .nicht der
Offenbarung, denn sie ist die Offenbarung der Botschaft und des Ereignisses
zur gleichen Zeit." Was bedeuten diese Worte? Ihre Bedeutung, so scheint
uns, liegt in der, wir können sagen, traditionellen Überzeugung, nach der die
christliche Botschaft wohl einerseits die Verkündigung einer "Frohen Bot-
schaft'' ist, aber auch, und zwar in gleich wesentlicher Weise, die Verkündi-
gung eines historischen Ereignisses, das mit der größten Genauigkeit datiert
werden kann und eine absolut eigene Bedeutung hat.
Im ersten Punkt, d. h. im Verständnis des Christentums als Verkündigung
einer "Frohen Botschaft" best,ehen keinerlei M~einungsverschiedenheiten.
Bultmann und die Tradition stimmen vollkommen überein. Die Schwierig-
keiten beginnen jedoch gleich, danach; denn die traditionelle, Auffassung be-
steht der Entmythologisierung gegenüber darauf, daß das Christentum auch
Offenbarung eines bestimmten geschichtlichen Zeitpunktes ist, eines ver-
gangenen Ereignisses mit univers.eller Bedeutung, begreifbar nur im Glauben.
Und genau hier setzt die Kritik gegen Bultmann ein, die ihm vorwirft,
in seiner Theorie der Entmythologisierung diesen zweiten Offenbarung'!-
aspekt der christlichen Botschaft nicht berücksichtigt zu haben, so bliebe das
Kerygma ohne jede authentische Verwurzelung in dem historischen Jesus 1 :
sie sei deshalb in Gefahr, einerseits als ein nur subjektives Phänomen inter-
pretiert zu werden, andrerseits als eine Art ethisch-philosophische Doktrin,
der jede Verbindung mit dem durch die Person Christi gegebenen Ereignis
mangelt.
Ist ein derartiger Vorwurf der Auffassung Bultmanns gegenüber berechtigt?
Wenn ja, was beabsichtigt Bultmann, wenn er in Bezug auf die Offenbarung
den Aspekt der authentischen Bedeutung eines historischen Ereignisses
nicht berücksichtigt?
Bevor sich eine derart verpflichtende Frage, die ein Urteil enthält sowohl
dem traditionellen wie dem entmythologisierenden Verständnis des Christen-
tums gegenüber, beantworten läßt, ist es vielleicht notwendig, die Gründe zu
beleuchten, die die traditionelle Denkweise zu dieser kritischen Stellung-
nahmen Bultmann gegenüber veranlaßt haben. Das bedeutet, sich um das
Verständnis der Voraussetzungen, von denen die Tradition ausgeht, zu be-
mühen, und ganz genau die Motive dieses Vorwurfs festzustellen. Darüber
hinaus gilt es aber auch, die Gründe zu erkennen, die Bultmann zu seiner
exponierten Stellungnahme - ob richtig oder falsch - veranlaßt haben, zu
einer so radikalen und energischen Kritik.
Um zunächst die Grunde der Tradition verstehen zu können, müssen wir
uns fragen, welche Rolle der zweite Offenbarung3aspekt des christlichen
Kerygmas - der in Frage steht -in der traditionellen Anschauung spielt.
In diesem Zusammenhang scheint die Behauptung erlaubt: wenn die christ-
liche Botschaft die Offenbarung sein soll, nicht nur als die "Frohe Botschaft",
sondern darüber hinaus als ein historisches Ereignis, so folgt daraus, daß
jenes Ereignis in seiner vollen Gültigkeit nicht unmittelbar begreifbar ist;
es ist nicht faßbar außerhalb des Glaubens, der seinerseits die Frucht jener
Offenbarung ist. Der Glaube allein vermag dem Menschen die wahre Bedeu-
tung der Geschichte aufzuzeigen, jener Geschichte, die sich in einem be-
stimmten Ort, zu einem bestimmten Zeitpunkt der Vergangenheit ereignet
hat. Wenn wir uns darüber hinaus fragen, welches die eigentliche Bedeu-
tung jenes Geschehnisses der Vergangenheit sei, das dem Menschen nur im
Glauben greifbar ist, sich aber den gewöhnlichen Mitteln historischer Unter-
suchung entzieht, so wird klar, daß es sich um eine heilsgeschichtliche Bedeu-
tung handelt, die der christlichen Tradition gemäß mtt der konkreten Histori-
zität verknüpft ist, begreifbar aber allein durch den Glauben.
Es gilt nun, festzustellen, in welcher Weise in der traditionellen christ-
lichen Interpretation die Verknüpfung zwischen einem Ereignis absoluten
Ausnahmecharakters - d. h. Heilscharakters - und einem gewöhnlichen Ge-
~chehnis der Vergangenheit, das sich in keiner Art von ähnlichen dieser Weise
unterscheidet, konzipiert und ausgedrückt wird. Die Schwierigkeit liegt
in der Tatsache, daß das Ereignis der Erscheinung Christi in seiner bloßen
Form eines einfachen Geschehnisses der Vergangenheit nichts von seiner
heilsgeschichtlichen Bedeutung erkennen läßt. Diese Bedeutung wird in der
Tat einer historischen Forschung nicht greifbar, wohl aber dem Glauben;
d. h. der Glaube muß das Ereignis irgendwie aus der Vergangenheit heraus-
holen und es sich vergegenwärtigen, und sei es nur im Glauben. Is.t es mög-
lich, beide Wesenszüge anzuerkennen, die der christlichen Tradition gemä.ß
die eigentliche Bedeutung der Erscheinung Christi bestimmen als vergangenes
Geschehnis einerseits und gleichzeitig als bedeutungsvolles Ereignis. für· den
Gläubigen, d. h. als gegenwärtiges Geschehnis im Glauben andrerseits?
Die Tradition wird wi'e bisher so auch weiterhin daran festhalten, daß die
beiden oben angedeuteten Aspekte des Heilsgeschehens. als Einheit konzipiert
werden können und müssen, indem man sie jeweils als den objektiven und
subjektiven Aspekt ein und ders.elben Wirklichkeit, ein und derselben Erschei-
nung interpretiert, die eben die Realität des christologischen Ereignisses ist,
mit sich selbst identisch unter zwei verschiedenen Aspekten. Der Glaube des
Einzelnen wäre somit zu interpretieren als Erneuerung der Offenbarung, die
in ihrer vollen Bedeutung einmalig in der Geschichte geschehen ist, geschehen
im totalen Sinn des Wortes, nämlich als Heils.geschehen. Der Glaube dec;
Einzelnen wäre also in letzter Analyse nichts andere·s als ein Akt des Er-
kennens, eine Möglichkeit, das zu begreifen, was. einmalig und endgültig in
der Vergangenheit geschehen ist. Andrerseits wäre das Geschehnis der Ver-
gangenheit als objektiver Aspekt des Phänomens historisch untersuchbar; in
seinem subjektiven Aspekt vom Glauben zu verwirklichen. Der Glaube an
das tatsächliche historische Leben Jesu wäre nichts als bloße subjektive
Illusion, wenn · es nicht den Beweis eines bestimmbaren Geschehens gäh~.
dessen Bedeutung sich nur dem Glauben öffnet, desc;en Realität aber, unab-
hängig vom Glauben selber, historisch objektiv ist, prüfbar und feststellbar
wie jede andere vergangene Tatsache. Der Tradition gemäß also begreift
der christliche Glaube den Inhalt des Ereignisses Christi, es jedesmal neu
gegenwärtig machend, während das Ereignis selbst, reich an heilsge-
DIE ENTMYTHOLOGISIERUNG ALS VERGESCHICHTLIC~UNG 239
Daß der Tod Cäsars eine Tatsache ist, die sich zu den Iden des März im
Jahre 44 vor Christi Geburt zugetragen hat, ergibt sich aus und kann be-
wiesen werden mit den üblichen geschichtlichen Untersuchungen. Diese Un-
tersuchungen machen den Verdacht unmöglich, daß es sich um eine, bloße
Illusion des Historikers handeln könne oder um einen subjektiven Irrtum.
Die Tatsache des Todes Cäsars wird mit solcher Gewißheit bezeugt, daß
dem Historiker nichts anderes übrig bleibt, als sie als gegeben hinzunehmen.
In derselben Art wird das Offenbarungsgeschehen Christi als objektives Ge-
schehen konzipiert, das sich in der Vergangenheit vollzogen hat und zwar
unabhängig von der Person, die heute davon erfährt, oder die heute daran
glaubt: in solchem Maße unabhängig, daß es selber die Ursache und das
Fundament jeden späteren Glaubensaktes sein kann Der einzige Unter-
schied, der, der Tradition gemäß, zwischen der Offenbarung Chnsti und
dem Tode Cäsars - beide als historische Tatsachen genommen - besteht,
ist folgender: der Tod Cäsars kann von jedem als das, was er ist, begriffen
werden durch ein einfaches Studium der Zeugnisse, die ihn vor die objek-
tiven; historischen Ergebnisse stellen, während das Offenbarungsgeschehen
Christi zwar in derselben Weise studiert und in Erfahrung gebracht werden
kann, ohne auch nur im Geringsten in seiner eigentlichen Bedeutung als ein-
maliges, geschichtliches Heilsgeschehen deutlich zu werden. Denn um die Be-
deutung des vergangenen Geschehens zu begreifen, ist, wie wir wissen, der
Glaube nötig. Nur der Glaube, nicht die historische Untersuchung, kann in
einem weltlichen Geschehn, so ähnlich vielen anderen, diese ganz beson-
dere Bedeutung erkennen, die die Erscheinung Christi auszeichnet und be-
stimmt.
In diesem Punkte scheinen für die traditionelle Konzeption die ersten
Schwierigkeiten zu entstehen, über die es genauer Klarheit bedarf, wenn man
die Stellung Bultmanns verstehen will, die eben aus einem radikalen Versuch,
diese Schwierigkeiten zu überwinden, hervorgegangen ist. Diese Schwierig-
keiten s.ind im Grunde durch eine Art Zweideutigkeit bestimmt, die in der
traditionellen Auffassung enthalten ist, wenn es sich darum handelt, die be-
grifflichen Merkmale des Offenbarungsgeschehens Christi zu bestimmen.
Wenn es wahr ist, daß man die Erscheinung Christi einerseits als historisches
Ereignis der Vergangenheit, ähnlich jedem anderen, erfassen kann, obwohl
es eine einmalige Bedeutung hat, die auch in Bezug auf die Geschichte durch-
scheint, so ist es nicht weniger wahr, daß andrerseits dieses, nur dem Glauben
begreifbare Ereignis, sich auf irgendeine Weise auch in seinen begrifflichen
Bestimmungen von den anderen objektiven Ereignissen der Vergangenheit
unterscheiden muß, um tatsächlich dem außergewöhnheben Charakter zu ent-
sprechen, der ihm eigen ist. Die traditionelle Auffassung muß tatsächlich
unterscheiden zwischen der historisch-objektiven Tatsache der Erscheinung
Christi und der in dieser Tatsache enthaltenen Bedeutung von übergeschicht-
lichem, übernatürlichem Charakter. Der Glaube wird jedoch nicht interpr~
tiert als Hinwendung zur Bedeutung allein, sondern als Verständnis sowohl
der übergeschichtlichen Bedeutung als der historischen Tatsache der Erschei-
nung Christi.
DIE ENTMYTHOLOGISIERUNG ALS VERGESCHICHTLICHUNG 241
indem sie den eigentlichen Charakter des Menschen ignoriert. In der tradito-
nellen Auffassung - so meint Bultmann - wirkt ein metaphysisches
Verständnis des Menschen, ein Verständnis, das nicht fähig ist, dem
Grundcharakter des Menschen Rechnung zu tragen, ihn in seiner Ge-
schichtlichkeit zu verstehen. Die gesamte abendländische Tradition habe
in ihren verschiedenen Formen die fundamentale Geschichtlichkeit des Men-
schen ignoriert, in dem sie ihn auf Grund metaphysischer Begriffe inter-
pretiert, die in keiner Weise seiner wirklichen Natur entsprechen. Unter
diesem Gesichtspunkt haben sowohl das klassische Altertum als das Mittel-
alter und auch das moderne Zeitalter metaphysische Auffassungen ent-
wickelt, die den Menschen nacheinander als Substanz bestimmt durch Akzi-
dente, als ein Sein, das aus Seele und Körper besteht, als Geist oder als
Materie interpretiert, niemals aber als individuf!lle, verantwortliche ge-
schichtliche Person.
Nur im Urchristentum habe das Merkmal der Geschichtlichkeit des
Menschen entdeckt und befestigt werden können, erstickte . aber bald in
der christlichen Tradition selbst, weil es an angemessenen, begrifflichen Aus-
drucksmitteln fehlte. Die griechische Konzeption habe - meint Bultmann --
dieses Merkmal entstellt und .ausgelöscht, indem sie das Verständnis des
Menschen in erneuerte, metaphysische Formen zurückfallen ließ. Ihr Einfluß
habe aber die christliche Urkonzeption nicht hindern können, im Innern wie
Hefe zu wirken, fähig, das Problem, das in den Anfängen des Christentums
entstanden ist, wieder hervorzuheben, sei es auch auf einem unendlich viel
längeren und qualvollen Wege. Durch das Heraus.bilden eines neuen ge-
schichtlichen Bewußtseins zu Beginn des modernen Zeitalters und durch das
Wiedererwachen eines besonderen Geschichtssinnes in der Romantik habe die
zeitgenössische Auffassung von neuem die Frage nach dem eigentlichen Sein
des Menschen gestellt, indem sie den verborgenen Sinn des chris.tlichen
Selbstverständnisses wiederentdeckte.
Angesichts dieser wirklichen oder behaupteten Wiederentdeckung des
christlichen Verständnisses, erhebt Bultmann gegen die Tradition den An-
spruch, die christliche Botschaft und das menschliche Sein im Allgemeinen zu
verstehen.· Das Menschenverständnis in der traditionellen Auffassung ist
metaphysisch, weil sich der Bezug zwischen dem Gläubigen und den Glau-
bensinhalten in einem philosophischen Schema vollzieht, das den Menschen
zum Subjekt macht und alles, was sich von ihm unterscheidet, zum Objekt:
auf diese Weise nimmt es sowohl dem Menschen wie auch der objektiven
Welt jedes Merkmal der Geschichtlichkeit. Metaphysisch ist auch die traditio-
nelle Interpretation der christlichen Botschaft, weil sie die objektive Tai-
sächlichkeit des Offenbarungsgeschehens als Ereignis der Vergangenheit
garantieren will, anstatt aufzuzeigen, daß sie ein Appell an die Geschichtlich-
keit des Menschen ist, und folglich selbst ein geschichtliches Geschehen und
nicht ein .bloß objektives Ereignis der Vergangenheit.
Wir müssen jetzt aber näher untersuchen, was dieser Begriff Geschichtlich-
keif bedeutet, auf den wir uns während der Herausstellung der von Bultmann
gegen die Tradition geführten Anklagen dauernd bezogen ·haben. Es ist
DIE ENTMYTHOLOGISIERUNG ALS VERGESCHICHTLICHUNG 243
offensichtlich schon auf Grund dessen, was wir gesagt haben, daß das
ganzf> Gebäude der Entmythologisierung in letzter Analyse auf jenem Be-
griff ruht, von dessen Gültigkeit also die Gültigkeit der Bultmannsehen
Auffassung in ihrer Gesamtheit abhängt. Der Begriff Geschichtlichkeit hat,
wie bekannt ist, im Verlauf der modernen und zeigenössischen Geschichte der
Philosophie eine Vielfalt von Anwendungen und Bedeutungen erfahren.
Bultmann versteht und gebraucht ihn ganz eindeutig in jenem neuen Sinn,
der in der Auffassung Heideggers seinen Ursprung hat, genau gesagt, ir..
dessen erstem bedeutendem Werk: "Sein und Zeit". ß.eim frühen Heidegger
wird der Begriff Geschichtlichkeit im Hinblick auf die fundamentale, onto-
logische Struktur des menschlichen Seins, auf seine eigene Seinsweise ge-
braucht, die auch als Existenz definiert wird. In diesem Sinn kann man also
sagen, daß der Begriff "Geschichtlichkeit" hier nicht irgendeine zufällige
Seinsweise des Menschen bezeichnet, auf Grund derer der Mensch selber
eine Geschichte haben, zurückblicken, und die Vergangenheit untersuchen
kann, während sein Grundwesenszug der gleiche und Sein als Subjekt, oder
Seele, oder Geist, oder Materie unverändert bleibt. Die Geschichtlichkeit,
von d~r Heidegger und Bultmann reden, ist im Gegensatz dazu nicht zufälli~;J.
sondern eine Wesensbestimmung des Menschen: sie bezeichnet nicht eine
seiner Eigenschaften, sondern eine spezifische und absolut individuelle
Seinsweise. Dieser Konzeption gemäß kann der Mensch nicht nach seinem
Willen und Gefallen eine Beziehung zur Geschichte herstellen, wobei er
selbst unabhängig und außerhalb von der Geschichte existierte. Nach der Auf-
fassung Heideggers kann der Mensch niemals als außerhalb und über der
Geschichte stehend konzipiert werden, denn ohne die. Geschichte wäre er
nicht das, was er wirklich ist. Der Mensch ist in der Tat die dauernde, un-
erschöpfliche Möglichkeit der Wahl seiner ureigenen Möglichkeiten und
gleichzeitig das Wissen um diese Möglichkeiten: offen für die Zukunft, so-
weit er Entwurf, Projekt, Durchgang durch eine bereits vollendete Wahl ist;
in diesem Sinn also ist er Existenz.
Aus dem Gesagten geht hervor, daß der Begriff "Geschichtlichkeit" in der
Daseinsanalytik eine konstitutionelle Struktur des Menschen definiert, daß er
als ontologischer und nicht bloß als ontischer Begriff gemeint ist, also daß er
das Wesen der menschlichen Existenz ausdrückt und nicht eine seiner zu-
fälligen Eigenschaften. Diese Begriffsbestimmung erlaubt Bultmann zu be-
haupten, daß die moderne Auffassung mit Heidegger das metaphysische Ver-
ständnis des Menschen überwunden hat, indem sie wieder entdeckte, daß der
Mensch ein Wesen ist, das sein Sein nur als Existenz, nur als Wahl seiner
Möglichkeiten verwirklichen kann, indem er in einer konkreten, geschicht-
lichen Situation, in letzter Analyse also in und gegenüber der Geschichte in
ihrer Gesamtheit existiert. Das bedeutet: der Mensch wird hier zum ersten
Mal seit der Konzeption des Urchristentums als verantwortliches Wesen
konzipiert, verantwortlich nicht nur für seine jeweilige Wahl, für seine Ent-
scheidungen, sondern auch für die Existenz, die in dieser Wahl Gestalt ge-
winnt und für die Geschichte, die die Summe der Entscheidungen aller In-
dividuen ist. Es ist der Begriff der Verantwortlichkeit des Menschen gegen-
16*
244 FRANCO BIANCO
über sich selbst und der Geschichte, die es Bultmann erlaubt, von einer Ana-
logie zwischen der ontologischen Struktur im Sinne Heideggers und dem
eigentlichen Verständnis des Menschen im Urchristentum zu sprechen.
Tatsächlich meint Bultmann, daß die christliche Botschaft in ihrer eigent-
lichen Form die menschliche Existenz schon in ihrer Ge.s.chichtlichkeit ge-
sehen und bestätigt habe, d. h., in ihrer strukturellen Bedingung, der gemäß
der Mensch nur in der Verantwortlichkeit für seine Entsch·eidungen und folg-
lich für die Geschichte, letztlich für seine Beziehung zur Welt und zu den
anderen, existiert. Der Mensch wird also charakterisiert als ein radikal ge-
schichtliches Wesen, begabt mit einer Verantwortung, die sich nicht im Be-
reich des Handeins erschöpft, sondern die das gesamte individuelle Sein be-
greift. Diese Verantwortung sei zum ersten Male vom Christentum entdeckt
und bestätgt worden, soweit das Christentum selbst den Menschen als die
verantwortliche Ursache für das Übel in der Welt, als Folge der Sünde kon-
zipiert hat. In der frühchristlichen Konzeption der Sünde verbirgt sich also
- so meint Bultmann - die erste Bestätigung des radikal geschichtlichen
d. h. verantwortlichen Charakters menschlichen Seins.
Hieraus ergibt sich, wie gesagt, in eindeutiger Weise die Identität,
die nach Bultmann besteht, zwischen dem eigentlichen Menschenverständ-
nis des .Urchristentums und dem Verständnis der menschlichen Exi-
stenz, wie sie in "Sein und Zeit" ausgedrückt wird. Diese Identität ist in der
Interpretation des Heideggerschen Begriffes Geschichtlichkeif als Verantwor-
tung begründet. Gerade weil die Geschichtlichkeit des Menschen, von der
Heidegger spricht, bei Bultmann als Verantwortung aufgefaßt wird, ist es
dem Autoren der Entmythologisierung möglich, von einer wesentlichen Über-
einstimmung zwischen dem Urchristentum und der Existenzphilosophie zu
sprechen. Angesichts der Tatsache, daß das gesamte Gebäude der Entmytho-
logisierung als existentiale Interpretation des Neuen Testamentes auf diese
wahre oder behauptete Übereinstimmung gegründet ist, wird verständlich,
daß wir hier vor einem Problern stehen, das für die Bewertung der Möglich-
keit einer Entmythologisierung fundamentale Wichtigkeit besitzt, vor einem
Problem, das die Wurzeln und philosophischen Voraussetzungen der gesamten
Auffassung umfaßt.
Kann der Begriff Geschichtlichkeit, wie er in "Sein und Zeit" heraus.ge-
arbeitet wird, zurückgeführt werden auf den Begriff Verantwortung oder
durch ihn interpretiert werden? Und vor allem: welche Rolle spielt der Be-
griff Verantwortung in der Auffassung Bultmanns? Die Antwort auf die
erste Frage, die eine gründliche Prüfung der Heideggerschen Auffassung ver-
langt, kann nicht im Rahmen dieser Arbeit gegeben werden. Sie würde eine
Auslegung der Grundbegriffe der ontologischen Analyse fordern, die hier
nicht durchführbar ist. Uns genügt es, das Problern herauszustellen. In Be-
zug auf die zweite Frage ist dagegen vielleicht der Versuch möglich, die Auf-
fassung Bultmanns zum Begriff Verantwortung besser zu beleuchten, um so
zu einem tieferen Verständnis des Standpunktes zu gelangen, von dem die
Entmythologisierung ausgeht.
Es ist vor allem klar, daß der Bultmannsehe Begriff Verantwortung, auf
DIE ENTMYTHOLOGISIERUNG ALS VERGESCHICHTLICHUNG 245
Grund dessen der Mensch als verantwortlich für sein Verhältnis zur Welt,
konzipiert wird, ein Verständnis des Mensch-Welt-Verhältnisses enthält und
fordert, das sich wesentlich von der traditionellen Auffassung unterscheidet.
Bultmann erklärt ausdrücklich, der Sinn seiner Behauptung von der Ge-
schichtlichkeit und Verantwortung des Menschen bestände darin, das alte Be-
griffsschema, das auf dem Gegensatz zwischen Subjekt und Objekt be-
gründet ist, zu überwinden und aufzuzeigen, daß es in keiner Weise die tat-
sächliche Situation des Menschen widerspiegelt. Das Schema: Subjekt-Objekt
fordert in der Tat die Unterscheidung und die Isolierung von Mensch und
Welt. Diese Ausgangssituation sucht man dann dunh die Analyse und Be-
gründung des Erkenntnisprozesses zu überwinden. Die Erkenntnis wird auf
diese Weise die einzige Art und Möglichkeit des Menschen, aus der Isolie-
rung herauszutreten und in Verbindung mit der Welt zu kommen. Der Be-
weis des wirklichen Wertes dieses Heraustretens des Menschen aus sich selbst,
d. h. des wirklichen Wertes des Erkenntnisprozesses, birgt so erhebliche
Schwierigkeiten, daß man, wenn man einmal jene Voraussetzungen angenom-
men hat, zugeben muß, daß die Isolierung von Subjekt und Objekt kaum
aufhebbar ist. Dieser Schlußfolgerung entspricht aber keineswegs - sagt
Bultmann - die wirkliche Situation des Menschen in seinem Verhältnis zur
Welt. Anstatt isoliert zu sein, ist der Mensch von jeher mit der Welt verbun-
den und hat es deshalb nicht nötig, eine Verbindung zu ihr mit Hilfe seiner
Erkenntnisfähigkeiten herzustellen. Die Erkenntnis repräsentiert also nicht
eine Brücke zu den Dingen: im Gegenteil, die Erkenntnis ist eine abge-
leitete und sekundäre Form des existenziellen Bezuges des Menschen zur
Welt. Der Mensch wäre nicht das, was er ist, hätte er nicht diesen inneren
Bezug zur Welt, bedeutete sein Dasein nicht die!Oes In-der·Welt-sein.
Was immer die Bedeutung dieser philosophischen Voraussetzungen sei,
die sich grundlegend von denen der traditionellen Auffassung unterscheiden,
eines wird sofort klar: wenn die Hypothese des isolierten, vom Objekt ge-
trennten Menschen wahr ist, so fällt damit jede Möglichkeit, von einer Ver-
antwortung des Menschen für die Welt und für die Verwirklichung seines
Bezuges zu ihr zu sprechen. Das Subjekt ist - laut Definition - dem Ob-
jekt wesensfremd und kann niemals wesensmäßig vom Objekt verändert
werden, wie auch immer das Objekt gesehen und erfaßt wird. Der Bezug
Subjekt-Objekt nimmt niemals den Charakte·r eines Ereignisses an, das die
Seinsweise des Subjekts verändern könnte. Das bedeutet aber, daß das Sub-
jekt für das Objekt nicht verantwortlich ist noch sein kann, daß der Mensch,
mit anderen Worten, für die Welt nicht verantwortlich ist noch sein kann.
Deshalb also klagt Bultmann die traditionelle Interpretation des christlichen
Kerygmas der absoluten Unfähigkeit an, den eigentlichen Sinn der Botschaft
zu begreifen; er wirft ihr vor, in einer Metaphysik befangen zu bleiben, die
nichts gemein hat mit dem ursprünglichen Christentum. Wenn es wahr ist,
daß das Christentum zum ersten Male in der Geschichte die radikale ver-
antwortliche Geschichtlichkeit des Einzelnen ausspricht, wenn andererseits
die traditionelle Auffassung prinzipiell die Dimension der Verantwortung
ausschaltet, so wird offensichtlich, daß durch Unsicherheit, Kompromisse und
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sehen als radikal geschichtliches Wesen zu verstehen und analog dazu den
christlichen Glauben als eine geschichtliche Realität frei von jeder Bindung
oder Garantie durch ein Ereignis der Vergangenheit? Und was bedeutet
geschichtliche Wirklichkeit? Der Leser möge uns zugestehen, daß wir hier
vor Problemen stehen, die in einem gewissen Sinn über die Auffassung Bult-
manns und die Entmythologisierung hinausgehen. Diese Probleme zeigen
noch einmal auf, wie eng die Richtungen der ontologischen Analyse von
"Sein und Zeit" und der Untersuchungen Bultmanns miteinander verbunden
sind durch die Tatsache, daß sich sowohl die Auffassung Heideggers als auch
die Bultmanns in einem einzigen Urteil treffen.
· Abschließend ist es vielleicht angebracht, klar zu sagen, daß die Antwort
auf die oben gestellten Fragen - wenigstens nach unserer Meinung- weder
tinfach noch einheitlich ausfällt. Gleichzeitig ist aber hervorzuheben, daß
die auftauchenden Schwierigkeiten bei dem Versuch, eine endgültige Stel-
lungnahme Bultmann gegenüber zu beziehen, identisch sind mit den charakte-
ristischen Schwierigkeiten des aktuellen philosophischen Standpunktes.
Wenn wir für einen Augenblick den Blickkreis erweitern und die Frage
unter einen allgemeinen Gesichtspunkt stellen, so müssen wir genau wie
Bultmann feststellen, wie unzureichend gewisse Auffassungen, gewisse Be-
griffe und gewisse Denkweisen sind, die wir von der Tradition übernommen
haben. Jeden Tag fühlen wir deutlich, und gelegentlich sogar auf dramatische
Weise, daß unsere konkreten Bezüge zu der Welt, zu den anderen, zu uns
selbst und zur Zeit nicht faßbar sind in der alten Begrifflichkeit, weil diese
nicht mehr unserer gelebten Erfahrung entspricht. Wenn wir jedoch von der
kritischen Phase zur konstruktiven übergehen, wird uns klar, daß wir viele
Mittel zur Verfügung haben, großes Wissen und geniale Einfühlungsgabe,
daß mir uns aber trotzdem vor Schwierigkeiten befinden, die weder leicht zu
nehmen, noch einfach zu überwinden sind. Können wir ohne weiteres die
phänomenologisch-existentialen Formulierungen in Bezug auf den Charakter
der radikalen Geschichtlichkeit der Existenz annehmen? Kann diese Wesens-
bestimmung der Geschichtlichkeit so verstanden werden, daß ihre Anwen-
dung in der Interpretation der christlichen Botschaft berechtigt ist? Oder
müssen wir den Begriff Geschichtlichkeit von eineni völlig anderen Gesichts-
punkt aus verstehen, unter dem nicht der Begriff Verantwortung - den
Bultmann im Hinblick auf seine hermeneutischen Ziele einführt - als um-
fassend und bestimmend erscheint, sondern z. B. der Begriff der radikalen
Begrenztheit des Menschen, die Heidegger durch das Sein-zum-Tode auf seine
Weise ausdrücken will?
Abgesehen von jedem Problem, das sich durch das Studium und die Inter-
pretation der Bultmannsehen Auffassung ergibt, scheint es uns abschließend
berechtigt, dem Autoren der Entmythologisierung das Verdienst zuzuerken-
nen, von neuem die fundamentalen Fragen in Bezug auf das Verständnis
unserer Existenz aufgeworfen zu haben, sei es auch im Rahmen einer be-
grenzten Thematik. Schon allein in der Tatsache, daß hier diese Probleme
gesehen werden, liegt die Bestätigung für die unbestreitbare und lebhafte
Aktualität der Entmythologisierungsproblematik nicht nur im theologischen
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