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Besprechungen 483
Zugzwang geraten zu lassen, dass er sich gegen seine Frau wendet – womit tatsächlich
deutlich wird, dass neben der Ehefrau letztlich auch sämtliche weitere Figuren zu den
Opfern des Magiers zu zählen sind. Die Autorin betont wiederholt und zu Recht, dass
weibliche Tugend in diesem Text bestraft wird; dass die Erzählung ein gewisses misogynes
Potenzial birgt, lässt sich sicherlich nicht bestreiten – doch das eklatante Spannungsver-
hältnis zwischen der Aufrichtigkeit der Protagonistin und dem von ihr erlittenen Unrecht
fungiert als erzählerisches Mittel, um die abgründige Boshaftigkeit Vergils zu fokussieren.
Damit wird die Rache des Magiers von der Erzählung verurteilt; diese als „inarguably
misogynistic“ einzustufen (S. 178), ist in meinen Augen nicht haltbar.
Mit einem Beitrag zur Funktion des Herzens als Gabe in Konrads von Würzburg
Herzmære beschließt Jutta Eming den Band. Ausgangspunkt der Textinterpretation bildet
die Überlegung, dass die Gabe, die sich zum Ziel setzt, das Leid des gestorbenen Gelieb-
ten auf die Adressatin zu übertragen, einen grundlegend aggressiven Charakter besitzt. Die
Einverleibung des Herzens bezieht die Autorin auf Liebe und Begehren, indem sie die
Handlung im Horizont Freud’scher Überlegungen zu kannibalischen Elementen infantiler
Sexualorganisation liest; die Reaktion der Dame auf die Offenbarung, dass sie gerade das
Herz ihres Geliebten zu sich genommen hat, wird unter Berücksichtigung von Erzähl-
mustern der Mystik als Ausdruck des Ekels verstanden, der hier in psychoanalytischer
Hinsicht wiederum mit der Tabuisierung des Begehrten in Verbindung gebracht wird.
Dabei falle die Dame angesichts einer patriarchalen Ordnung gleich zwei männlichen
Manövern zum Opfer: Dem Ehemann gelinge es, die aggressive Handlung des Geliebten
aufzugreifen und für seine Zwecke umzuwandeln. Angesichts des komplexen Zusammen-
spiels der Emotionen der Liebe, der Aggression und des Ekels konstatiert die Autorin eine
Ambivalenz, die sie zu Recht in vielfacher Hinsicht für ausschlaggebend erachtet – und
die die Suche nach einem einzelnen Interpretationsansatz, der eine etwaige zentrale Bot-
schaft der Erzählung entschlüsselte, schließlich unmöglich macht. Von einer deutlicheren
Profilierung des zentralen Forschungsinteresses, das gelegentlich aus dem Blick gerät, hätte
der Aufsatz gewiss profitiert; auch erweist sich das wiederholt auftretende Interesse an der
Figurenpsychologie in meinen Augen als wenig griffiges Untersuchungskriterium. Dem
Beitrag gelingt es aber, die Anschlussfähigkeit eines einzelnen, zentralen Handlungsele-
mentes für eine Vielzahl von Ansätzen überzeugend hervorzuheben, deren Implikationen
nicht zuletzt auch die Frage nach der Gattungszuordnung betreffen.
Der Band überzeugt durch den Facettenreichtum der Gegenstände und Ansätze der
in ihm versammelten Beiträge. Darüber hinaus liegt mit diesem Projekt das Ergebnis eines
internationalen und interkulturellen Austausches zu einem Kernthema der Altgermanistik
vor. Die Wahl der englischen Sprache vermag dieses Gespräch unter Germanisten über
die Grenzen der Nationalphilologien hinweg zu öffnen und Diskurse der germanistischen
Mediävistik, die (auch) innerhalb des deutschsprachigen Raums geführt werden, in ver-
stärktem Maße für eine erweiterte Fachöffentlichkeit zugänglich zu machen. Dass Koope-
rationen dieser Art dem Fach sehr zu Gute kommen können, liegt auf der Hand; es steht
zu hoffen, dass sie in Zukunft häufiger zu Stande kommen.
Jessica Quinlan (Mainz)
pendium, das den aktuellen Forschungsstand zur höfischen Liebeslyrik des deutschen
Mittelalters zusammenfasst, gliedert sich in acht Abschnitte: (1) „Überlieferung und Edi-
tion“, (2) „Europäische Kontexte“, (3) „Form und Pragmatik“, (4) „Themen und Seman-
tiken“, (5) „Literarhistorische Perspektiven“, (6) „Subgattungen und Gattungsinterferen-
zen“, (7) „Autorbilder und Autorprofile“ und (8) „Minnesang-Rezeption“.
Der Abschnitt zu Überlieferung und Edition des Minnesangs umfasst drei Beiträge:
einen Überblick über die Handschriften und Sammlungszusammenhänge, in denen die
Lieder des Minnesangs bezeugt sind (Franz-Josef Holznagel), eine differenzierte Dar-
stellung des Phänomens der Liedvarianz (Manfred Eikelmann/Daniel Pachurka) und eine
editionsphilologische und editionsgeschichtliche Einführung, die von den Anfängen bis
zur digitalen Edition ‚Lyrik des deutschen Mittelalters‘ (LDM) reicht (Eva Bauer/Holger
Runow). Der Abschnitt zu den europäischen Kontexten befasst sich mit sechs Sprachen
bzw. Regionen: der altokzitanischen Lyrik, mit der die Gattungsgeschichte des Minnesangs
ihren Anfang nahm (Stephanie Seidl), der nordfranzösischen und italienischen Lyrik, in
die sie ausstrahlte (Sebastian Neumeister), der niederländischen Lyrik, der auch Heinrich
von Veldeke zugerechnet wird (Frank Willaert), und der alttschechischen Lyrik, die sich an
deutschsprachigen Vorbildern orientierte (Sylvie Stanovská). Besonders informativ ist der
Beitrag zur klerikal geprägten lateinischen Liebeslyrik des Mittelalters (Frank B
ezner). Der
Abschnitt zur Form und Pragmatik des Minnesangs enthält fünf Beiträge, die sich mit den
metrischen und strophischen Formen (Holger Runow), den überlieferten Melodien (Horst
Brunner), der pragmatischen und medialen Dimension des Minnesangs, der Thematisie-
rung des Singens (beide Susanne Reichlin) und der Form- und Klangkunst (Alexander
Rudolph) befassen. Der Abschnitt zu den Themen und Semantiken des Minnesangs ver-
sammelt neun Beiträge. Nach einem Überblick über den Zusammenhang von Minne-
konzepten und semantischen Feldern (Kellner/Rudolph) geht es um spezifische Themen
wie Natur (Ludger Lieb) und Zeit (Kellner) sowie um spezifische Semantiken wie Religion
(Kellner/Rudolph), Imagination (Kellner) und Visualität (Mireille Schnyder). Der Abschnitt
führt außerdem in drei theoretische Perspektiven ein: die Sozialgeschichte (Ursula Peters),
die Psychoanalyse (Rüdiger Schnell) und die Gender und Queer Studies (Judith Klinger).
Dieser Trias hätte man vielleicht auch einen eigenen Abschnitt widmen und diesen um
weitere zentrale Theoriekonzepte wie zum Beispiel die Diskursgeschichte erweitern kön-
nen: So hat zum Beispiel auch Niklas Luhmann in seinem Buch Liebe als Passion (1982)
Relevantes zur höfischen Liebe zu sagen. Der Abschnitt zu den literaturgeschichtlichen
Perspektiven umfasst nur einen Beitrag, der die chronologische Einteilung des deutschen
Minnesangs in Phasen eher problematisiert als referiert (Manuel Braun). Der Abschnitt
zu den Gattungstypen und Gattungsinterferenzen des Minnesangs stellt die verschiedenen
Textsorten des Minnesangs vor: die Kanzone (Ricarda Bauschke), das Frauenlied (Albrecht
Hausmann), das Tagelied (Jan Mohr), das Kreuzlied (Dorothea Klein), den im weiteren
Sinne dialogischen Komplex von Dialoglied, Wechsel und Botenlied (Marina Münkler), das
Tanzlied (Julia Zimmermann), die Sommer- und Winterlieder (Anna Kathrin Bleuler) und
das Erzähllied (Fabian Prechtl). Abschließend werden in diesem Abschnitt auch die Gat-
tungsinterferenzen zwischen Minnesang und Sangspruchdichtung (Margreth Egidi) sowie
zwischen Minnesang und höfischer Epik (Caroline Emmelius) behandelt. Der Abschnitt
zu den Liederdichtern stellt zunächst die übergreifende Frage nach den Autorbildern
des deutschen Minnesangs (Nicola Zotz) und lässt dann Einzel- und Doppelporträts zu
sechzehn ausgewählten Liederdichtern folgen. Als Repräsentant des frühen Minnesangs
wird der Kürenberger vorgestellt, als Repräsentant des rheinischen Minnesangs Heinrich
von Veldeke. Die professionellen („klassischen“) Minnesänger werden in einer Auswahl
porträtiert: Reinmar der Alte (Dorothea Klein) und Heinrich von Morungen (Kellner)
sowie zwei Lyriker, die vor allem als Epiker hervortraten, nämlich Heinrich von Veldeke
und Hartmann von Aue (Florian Kragl). Walther von der Vogelweide erhält den ihm
gebührenden eigenen Beitrag (Ricarda Bauschke). Die Auswahl der späteren Minnesänger
Johann Georg Hamann: Sokratische Denkwürdigkeiten / Wolken. Mit einer Einführung und
einem Stellenkommentar herausgegeben von Leonard K e i d e l und Janina R e i b o l d ,
unter Mitarbeit von Konrad B u c h e r . Hamburg: Felix Meiner, 2021. CX + 335 S., geb.,
€ 48.–
Till K i n z e l : Johann Georg Hamann: Zu Leben und Werk. Wien: Karolinger, 2019. 205 S.,
geb., € 22.–
Die Publikation der Sokratischen Denkwürdigkeiten im Winter des Jahres 1759 ist einer der
bemerkenswertesten Momente der deutschen Aufklärung. Wie aus dem Nichts erhob sich
hier eine Stimme gegen den Optimismus und das Selbstvertrauen der Rationalität, die bis
in die Gegenwart hinein eigenwillig, verstörend und verwirrend geblieben ist. In Moses
Mendelssohn fand der Text einen kongenialen Kritiker, der am 19. Juni 1760 in den Briefen,
die neueste Litteratur betreffend allerdings auch gestehen musste, „daß mir manche Stelle
dunkel scheinet“ (zit. nach dem hier besprochenen Band, S. 95). Hinter dem anonymen