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Die Eltern des zwölfjährigen Paul sind ständig unterwegs und zu

beschäftigt, um sich um Paul zu kümmern. Paul hat Glück im


Unglück: Alle Bewohner der Hausgemeinschaft kümmern sich um
ihn und sind für ihn da – auch wenn sie ihm keine echte Familie
ersetzen können.

Schon beim Sommerfest im Garten der Hausgemeinschaft


erkennt Paul die Vorzeichen: Sein Vater spricht mit „Oma Käthe“.
Die rüstige alte Dame hat schon mehrere Male Paul zu sich
genommen, wenn seine Eltern geschäftlich unterwegs waren.
Pauls Mutter arbeitet in New York und denkt gar nicht daran,
ihrem Sohn zu Liebe ihr Leben dort aufzugeben.

Pauls Vater arbeitet in der „Werbebranche“ und ist ebenso


unzuverlässig – wenn auch etwas häufiger zu Hause. Zunächst
sind es nur ein paar Tage, die Paul bei Oma Käthe bleiben soll,
dann aber spitzt sich die Situation zu: Der Vater vertröstet Paul
ein ums andere Mal, Oma Käthe wird krank und Paul muss in
einen anderen Haushalt umziehen. Eines morgens wird Paul von
der Feuerwehr geweckt. Es brennt im Haus – niemandem passiert
etwas. Nur, dass Beate nun beim alten Schwarzhaupt – seinem
engsten Vertrauten im ganzen Haus – unterkommt, passt Paul
überhaupt nicht. Er ist eifersüchtig und merkt, dass er selbst gar
keinen festen Platz mehr hat. Als Helenas Familie, wo er bis dahin
untergekommen ist, in den Urlaub fährt, muss Paul
weiterziehen – zu Herrn Üdal und Bibi. Jetzt erst fällt Paul auf,
dass er gar nicht weiß, was er in den Ferien anfangen soll. Seine
Eltern haben sich offensichtlich keine Gedanken darüber gemacht,
wo Paul in den Ferien bleibt – jetzt – da Oma Käthe im
Krankenhaus ist. Nicht einmal, als Paul schwer stürzt und sich
das Schlüsselbein bricht, kommt der Vater nach Hause.

Während sich die Hausgemeinschaft weiterhin rührend um ihn


kümmert – wobei er auch so manches Mal deren Ungeduld und
Gedankenlosigkeit zu spüren bekommt, vermisst er seinen besten
Freund Felix, der allerdings mit der Familie in den Urlaub
gefahren ist.
Ein Brief, den Paul mitsamt seinem Zeugnis ausgehändigt
bekommen hat, aber natürlich für seine Eltern bestimmt ist, wird
von dem alten Schwarzhaupt – dem pensionierten Rechtsanwalt
und erste Anlaufstelle für alle Sorgen und Nöte der
Hausgemeinschaft – geöffnet. Pauls schulische Leistungen stehen
auf der Kippe. Und so wird kurzerhand ein Ferien-
Förderprogramm für Paul auf die Beine gestellt: Englisch-
Nachhilfe bei dem pensionierten Studienrat Kimmich und Mathe
bei der Architektin Drübernaus.

Immer wieder kehrt Paul in die verlassene Wohnung zurück,


schaut nach, ob seine Mutter ihm eine Mail geschickt hat und ist
doch immer wieder enttäuscht – weil sie nicht schreibt, dass sie
wiederkommt und ihm nicht sagen kann, wie es mit ihm
weitergehen soll.

Dann bekommt Paul hohes Fieber und liegt mehrere Tage krank
im Bett. Zum Glück ist Oma Käthe wieder aus dem Krankenhaus
zurück. Mittlerweile ist klar, dass Pauls Vater auf absehbare Zeit
nicht nach Hause kommen wird. Er leidet unter einer schweren
Depression und ist in einer Klinik untergebracht. Pauls Eltern
lassen sich scheiden. Für für Paul stellt sich mehr denn je die
Frage, wo sein Zuhause sein wird. Scheinbar mühelos gibt Pauls
Mutter ihren Sohn frei: Paul bleibt bei seinem Vater – mit ganz
viel Unterstützung von Oma Käthe, Dr. Adam (dem alten
Schwarzhaupt) und den vielen anderen Hausbewohnern.
Dennoch: Paul wünscht sich ein echtes Zuhause. Und so bleibt bei
aller Freude, die ihm die Menschen zu seinem dreizehnten
Geburtstag zu machen versuchen, auch eine große Traurigkeit.

Peter Härtling beschreibt zurückhaltend aber doch sehr


eindringlich die Unruhe, die sich in Paul ausbreitet. Sehr schnell
solidarisieren auch wir Leser uns mit dem klugen und tapferen
Paul und wir kommen nicht umhin, als ebenfalls wütend zu
werden. Die erfolgsorientierten, stets mit sich selbst
beschäftigten „Erziehungsberechtigten“ haben offenbar ein neues
Leben begonnen. Ein Leben, in dem ihr Kind keinen Platz mehr
hat.
Peter Härtling überspitzt die ohnehin schon kritische Situation,
indem auch Pauls Vater für seinen Sohn ausfällt. Die offen zu
Tage tretende Ignoranz der Eltern tut sein übriges, dass sich eine
schier unerträgliche Situation für den Jungen auftut. Doch trotz
aller Dramatik, die einen durchgängigen Spannungsbogen
erzeugt, ist der von Peter Härtling aufgezeigte Missstand gar
nicht so abwegig. Auch wenn es zum Glück selten vorkommt,
dass ein Kind sich ganz allein überlassen ist, so ist es doch auch
nicht von der Hand zu weisen, dass es immer mehr Kinder gibt,
die sich um die Lebens- und Berufsvorstellungen ihrer Eltern
herumorganisieren lassen müssen. Versprechungen, die nicht
eingehalten werden, gibt es auch da viele und Momente, in denen
die Kinder ihre Eltern bitter bräuchten, aber keine Zeit oder kein
Ohr für die Sorgen und Nöte finden, ebenso.

Peter Härtlings Roman bietet nicht nur Kindern fesselnden


Lesestoff – denn das ist „Paul das Hauskind“ ohne Frage –
sondern eröffnet auch so manchem Erwachsenen eine
Perspektive, die nachdenklich macht. Pauls wachsende
Zerrissenheit wird mit jeder Zeile spürbarer, denn einerseits
sehnt er sich so sehr nach seiner Mutter – andererseits möchte er
nichts mehr von ihr erwarten, um nicht wieder enttäuscht zu
werden. Mit dem Lob, er sei ja so stark und „pflegeleicht“ wird
Paul in eine Ecke gedrängt, die es ihm schwer macht, über seine
Gefühle zu sprechen. Bei seinen Vertrauten im Haus braucht er
das auch freilich nicht; sie finden selbst deftige Worte für seine
Situation – und steuern dennoch etwas ungelenk um Pauls
dramatische Situation herum.

Paul sagt selbst von sich: „Ich bin ein unnötiges Kind.“ Wieder
beschreibt Peter Härtling auch in diesem, seinem ersten
Kinderbuch seit zehn Jahren, sehr eindringlich die ungeschönte
Wahrheit. Er nimmt, wie es seine Art ist, allein die Position des
Kindes ein und hält unserer Gesellschaft ganz nüchtern den
Spiegel vor. Die Geschichte von Paul bleibt noch lange im
Gedächtnis. Der Leser selbst wird unmerklich Teil der
Hausgemeinschaft – wir erleben Pauls Enttäuschungen mit,
können aber an dem eigentlichen Missstand nicht wirklich etwas
ändern. Je mehr sich die Eltern aus ihrer Pflicht davonstehlen,
desto mehr gehen Dr. Adam, Oma Käthe & Co. freiwillig in die
Verantwortung. Welche Konflikte sie dabei mit sich ausmachen
müssen, lässt Härtling außen vor. Tatsache ist aber, dass sein
Roman gerade durch seine liebenswerten und oftmals auch
ziemlich skurrilen, aber klugen Darsteller so lesenswert ist und
trotz seines ernsten Themas sogar zum Großteil unbeschwert
daher kommt.

Da gerade zu Anfang alle Personen benannt werden – und erst


nach und nach näher beschrieben werden – ist es gut, dass sich
im Vorsatzpapier des Romans eine Zeichnung des Hauses
befindet, in der alle Bewohner vermerkt sind. Ansonsten wäre es
eine echte Herausforderung für Kinder, die vielen Personen richtig
einzuordnen. Gleichzeitig aber spiegelt diese beträchtliche Anzahl
an Personen auch Pauls unübersichtliche Situation sehr
eindringlich wider. Sprachlich macht Peter Härtling es seinen
jüngeren Lesern nicht immer leicht. Aus einigen seiner Dialoge
geht nicht unbedingt auf Anhieb hervor, wer gerade was sagt
oder wer gerade welche Aktion dabei ausführt. Das entwickelt
sich alles im Rahmen der Handlung und verlangt schon ein etwas
Leseerfahrung. Auch die Tatsache, dass Härtling nicht viele
erklärende Worte macht, setzt schon eine gewisse Reife voraus.

Peter Härtling baut zum Ende hin noch einen schönen,


zusätzlichen Spannungsbogen ein: Paul und die Hausbewohner
können einen Fahrraddieb stellen, der im großen Stil die
gestohlenen Räder der Nachbarschaft verhökert. Das ist natürlich
für die anvisierte Zielgruppe der ab 11-jährigen der gelungene
Höhepunkt der Geschichte. Gleichzeitig kommt Realität in Pauls
Leben und sein Schicksal nimmt eine eindeutige Wendung – auf
einmal entscheidet sich sehr viel für Paul. Eine Entscheidung aber
trifft er ganz allein und das ist auch gut so.

Der mit zahlreichen Preisen geehrte Autor erhält von der


Deutschen Akademie für Kinder- und Jugendliteratur e.V. in
Volkach den „Großen Preis“ für sein literarisches Lebenswerk. Die
Auszeichnung wird ihm am 11. November 2011 in Volkach
verliehen.

Fazit:

Auch mit seinem jüngsten Roman für Kinder zieht Peter Härtling
seine Leser ganz in die Welt seines Protagonisten und zeigt klar
und unaufgeregt das Unbegreifliche, das doch irgendwie
gemeistert werden muss. Die Geschichte vom „Hauskind“ Paul
bleibt noch lange im Gedächtnis, denn sie vermittelt über ihre
Charaktere einerseits sehr viel Herzlichkeit, andererseits kann
Pauls Schicksal niemanden kalt lassen, denn es gibt in unserer
Gesellschaft nicht wenige Kinder, denen es ähnlich ergeht.

Stefanie Eckmann-Schmechta

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