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eine lebhafte Vorstellung in mir, in welcher mir schien, ich sähe die verklärte Beatrice in dem
blutroten Gewände, in welchem sie meinen Augen zum erstenmal erschienen war; und sie
erschien mir jung, ungefähr in dem Alter, in welchem ich sie zum erstenmal gesehen hatte.
Da begann ich über sie nachzusinnen, und als ich sie mir in der Reihenfolge der vergangenen
Jahre vorstellte, fing mein Herz an, schmerzliche Reue über
das Verlangen zu empfinden, von dem es einige Tage so
schwach gewesen, sich aller Standhaftigkeit der Vernunft
entgegen beherrschen zu lassen. Und nachdem diese arge
Begierde also ausgetrieben war, wandten sich alle meine
Gedanken wieder ihrer holdesten Beatrice zu ; und ich sage,
daß ich von Stund* an mit so ganz beschämtem Herzen an
sie zu denken begann, daß meine Seufzer dies vielfach ver*
rieten, indem sie alle enthauchend gleichsam aussprachen,
an was das Herz dachte, nämlich an den Namen jener Hol*
desten und wie sie von uns geschieden. Und oft kam es
vor, daß ein Gedanke soviel Schmerz in sich barg, daß ich
ihn und alles um mich her vergaß. Mit den neuentfachten
Seufzern brachen auch die zurückgehaltenen Tränen wieder
hervor, dermaßen, daß meine Augen zwei Dinge zu sein
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schienen, die nichts wollten als weinen; und oft geschah es,
daß infolge des unaufhörlichen Weinens um sie herum eine
Rötung entstand, wie sie aufzutreten pflegt, wenn einer
Folterqualen erduldet. Daraus erhellt, daß sie für ihr eitles
Trachten den gebührenden Lohn erhielten und von da an
niemanden mehr anschauen konnten, dessen Anblick sie
zu einem ähnlichen Trachten hätte verleiten können.
Nun wollte ich, daß jener frevle Wunsch oder eitle Ver*
suchung so ausgetilgt erscheinen solle, daß auch die vorher
verfaßten Gedichte darüber keinen Zweifel aufkommen
ließen. Und darum beschloß ich, ein Sonett zu dichten und
darin das hier Erzählte zusammenzufassen, und begann:
»Ach, all den Seufzern, die da ausgegangen.« »Ach,« sagte
ich, weil ich mich schämte, daß meine Augen in solcher
Eitelkeit befangen gewesen.
Ich teile das Sonett nicht ein, weil sein Inhalt es genügend
erklärt.
6 Dante / 81
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Ich teile das Sonett nicht ein, weil sein Gedankengang es ge»
nügend erklärt.
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Darauf sandten zwei edle Frauen zu mir mit der Bitte, ich
möge ihnen einige meiner Gedichte senden. In Anbetracht
ihres vornehmen Standes war ich gewillt, dies zu tun und,
um ihrer Bitte in möglichst ehrender Weise zu willfahren,
noch etwas Neues zu dichten und mitzusenden. Ich ver*
faßte dann ein Sonett, welches berichtet, wie es um mich
stand, und schickte es ihnen zusammen mit dem vorstehen*
den und noch einem anderen, welches anfängt: »O kommt
und wollet doch, ihr edlen Herzen«. Das Sonett, welches
ich nun dichtete, beginnt mit den Worten: Ȇber die
Sphäre«.
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Und dann möge es dem, der der Herr aller Huld ist, ge»
saecula benedictus.
Amen
ERLÄUTERUNGEN
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BEATRICE
»Guardaci beni ben sera, ben
sem Beatrice 1«
Schon gleich am Anfang der Vita Nuova ist sie von einem
gewissen Halbdunkel umgeben; der neunjährige Dante ver*
liebt sich in eine liebliche kleine Florentinerin von acht
Jahren, »die von vielen, die nicht wußten, wie sie zu nennen
sei, Beatrice genannt wurde.« Neun Jahre später erscheint
ihm diese sogenannte Beatrice und grüßt ihn so bedeutsam,
daß er glaubt, die höchste Glückseligkeit erreicht zu haben.
Bei dieser Gelegenheit hört er sie, die er so oft besucht
hatte, zum erstenmal reden (1). Von dem hörbaren Gruß
wird er in einen Wonnerausch versetzt, der ihn nach Hause
treibt, wo er in stiller Einsamkeit über sein Erlebnis nach«
denkt. In einer Vision sieht er den Herrn Amor, der die
schlafende Beatrice in seinem Arme hält, sie veranlaßt, das
glühende Herz ihres Verehrers zu verzehren, und dann
weinend mit ihr gen Himmel schwebt. Von da, von ihrem
siebzehnten oder achtzehnten Jahre an, geht eine merk*
würdige Veränderung mit Beatrice vor, die ihr Irdisches
gleichsam abstreift. Die Geliebte wird zu einem Engel in
Menschengestalt, zu einer Botschaft Gottes, die die Seele
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Nach allem, was diese Beatrice sagt, müßte man sie für den
Geist der verstorbenen Geliebten halten, aber dann enthüllt
sie sich und legt damit alles menschlich Persönliche ab. Zuerst
entschleiert sie Dante die Schönheit ihrer Augen, in denen
sich die gott*menschliche Natur Christi spiegelt; und dann
entschleiert sie ihm ihren Mund und transfiguriert sich da*
mit in den Abglanz des ewigen lebendigen Lichtes, als weis
eher sie Dante durch die neun Sphären des himmlischen
Paradieses emporführt. Diese führende Beatrice ist »reine
Form«, ein immaterielles Wesen, dessen pneumatische Na*
tur der Dichter nur symbolisch mit strahlenden Augen und
lächelndem Munde zu verbildlichen vermag, jedoch immer
noch mit dem poetischen Schein einer geliebten Persönlich*
keit umgeben, ohne weichen die Beat ricegestalt allen Reiz ver*
lieren würde. Dieses geistige Lichtwesen wird zuletzt wie*
der zu einer Persöniclhkeit, zu einer heiligen Frau, die, von
Glorienschein umflossen, in die Anschauung Gottes ver*
senkt ist.
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dreimal drei neun ist]. Demnach, wenn Drei durch sich selbst
Schöpfer der Neun ist, und ebenso der durch sich selbst her=
vorbringende Schöpfer der Wunder Drei ist — nämlich Vater,
Sohn und Hl. Geist, die drei und eins sind—, so war diese Frau
von der Zahl Neun begleitet, um verstehen zu geben, daß sie
eine Neun war, d. i. ein Wunder, dessen Wurzel einzig und allein
die wunderbare Dreieinigkeit ist. — An der Nichtbeachtung
dieses wichtigen Hinweises mußten alle Versuche, eine um*
fassende und endgültige Lösung des Problems zu finden,
scheitern. Aber merkwürdigerweise sind noch alle Forscher
(soweit mir bekannt) der Neunheit der Beatrice vorsichtig
ausgewichen; sei es, daß sie damit nichts anzufangen wuß*
ten, oder sei es, daß, wie Scartazzini 12 sagt, es uns Mo=
dernen so ferne liegt, über die Zahlensymbolik nachzudenken
und Schlüsse daraus zu ziehen, die damals als tiefsinnig gaU
ten, uns aber sehr sonderbar vorkommen. —
7 Dante 97
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7 . 99
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und darum trägt er auch deren Farben, gleich der irdischen Bea*
trice. Einmal (in der ersten Vision, Kap. 3) erscheint er feuerrot, als
Gefühl der Herzensminne, frohgemut, dann bitterlich weinend.
Ein andermal (in der zweiten Vision, Kap. 12) erscheint er in weis
ßem Gewand als Gefühl der Seelenminne, mitleidig, nachdenklich,
und guten Rat erteilend. — (Liebe als theologische Tugend ist
weder Beatrice noch Amor.)
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Wie aus der Vita Nuova zu ersehen, ist Beatrice im Jahre
,1290 im Alter von 24 Jahren gestorben; — und wann starb
Piccarda? Sie erzählt, sie sei jung (giovinetta) aus der Welt
in das Kloster geflohen (nach der Vita Nuova muß sie 17
oder 18 Jahre alt gewesen sein); der Ottimo Commento und
andere alte Commentatoren berichten, sie sei nach kurzer
Ehe gestorben, aber nicht, wie lange ihr Klosterleben ge*
dauert habe. Nun kann der Gewaltakt ihres Bruders Corso,
der, wie der Bericht lautet, von Bologna kam, um sie aus
dem Kloster zu reißen und mit Roselino della Tosa zu ver*
heiraten, sich nur im Jahre 1283 oder im Jahre 1288 zuge*
tragen haben, denn in diesen Jahren war Corso Podestà in
Bologna 24 . Nehmen wir 1288 als das verhängnisvolle Jahr
an und rechnen für die Dauer des kurzen Ehestandes hoch*
stens l 1 ^ bis 2 Jahre, so kommen wir auf 1290 als Todes*
jähr der Piccarda, — dasselbe Jahr, in dem Beatrice gestor*
ben ist. Wenn Beatrice und Piccarda verschiedene Personen
wären, so müßten beide j ung und, wie wahrscheinlichen dem
gleichen Jahre gestorben sein. Die historischen Daten spre*
chen also viel mehr für als gegen die Identität der ]beiden.
Dafür spricht auch eine ganze Reihe von Gedanken aus
der Vita Nuova, die in der Commedia wiederkehren 25 ;
ganz bespnders spricht aber dafür folgende Stelle aus der
Vita Nuova (Kap. 32) : Nachdem . . . kam jemand zu mir, der,
nach der Stufenfolge der Freundschaft gerechnet, unmittelbar
auf meinen ersten Freund folgte. Dieser war jener Verklärten
(Beatrice) durch Blutsverwandtschaft so enge verbunden, daß
niemand ihr näher stand. (Das darauffolgende Kapitel nennt
ihn kürzer den Bruder der Beatrice.) — Wer war dieser
zweite Freund Dantes? Von den uns bekannten Freunden 26
Dantes könnte Cino von Pistoja in Betracht kommen, aber
dessen Familie (Sinibaldi) war nicht in Florenz, sondern in
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Ili
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8 Dante 113
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Die heilige Clara war die Stifterin des Ordens, dem Pie*
carda angehört hatte, und sie war die schwesterlich geliebte
Freundin des hl. Franz, des Stifters des Ordens, dem Dante
angehörte. So bestand zwischen den beiden Heiligen ein
geistiges und seelisches Verhältnis, wie es zwischen dem
Franziskaner Dante und seiner schwesterlich geliebten
Freundin, der Clarissin Piccarda, in ähnlicher Weise bestand.
Erwägt man diese doppelte Beziehung, so wird einerseits
die Verehrung des Dichters erklärlich, die ihn der heiligen
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ihn auf den Gedanken gebracht, die öffentliche Aufmerk*
samkeit von seiner wahren Liebe abzulenken, indem ersieh
stellte, als liebte er diese Dame. So habe er sie zum Schirm
der Wahrheit (schermo de la veritate) gemacht und auch
ein paar Gedichte für sie verfaßt. — Dieser Erzählung brau«
chen wir keinen Tatsachenwert beizulegen; dergleichen
Scheinhuldigungen, um der Gefahr, das Geheimnis des
Herzens könne entdeckt werden, vorzubeugen, sind in der
Minnepoesie der Provenzalen ein häufig vorkommendes
erzählerisches Motiv. Was es aber mit dem Blickwechsel
auf sich hat, das hat Dante später im Convivio (II, 10)
verraten: Es ist zu beachten, daß, wenn auch mehrere Dinge
zu gleicher Zeit in das Auge fallen, doch nur das wirklich ge*
sehen wird, was in grader Richtung (per la retta linea) in die
Pupille gelangt . . . Darum kann auch ein Auge das andere
nicht sehen, ohne zugleich von ihm gesehen zu werden; denn
so wie das hinschauende Auge die Form des Auges in grader
Linie empfängt, so geht auch seine Form in grader Linie in
das herschauende Auge. Gar häufig, wenn diese Linie
hergestellt ist, schließt derjenige den Bogen ab,
dem jede Waffe leichtist. Mit dem Blick in grader Linie
hat sich Dante in die schöne Florentinerin verliebt, die er
zu seiner Donna de lo schermo gemacht haben will; ihr
gelten die drei Sonette (Kap. 14, 15, 16), deren leidenschaft*
licher Ton himmelweit verschieden ist von der zarten Seelen*
minne, die aus den, der BeatricesPiccarda gewidmeten
Poesien klingt. —
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Wesen, als meine freie Wahl, was mich dahin brachte, daß ich
mich entschloß, der ihrige zu sein. Denn sie zeigte sich so er'
griffen von Mitleid mit meinem verwaisten Leben, daß sich
die Geister meiner Augen gar sehr zu ihr hingezogen fühlten
und in dieser Stimmung mich dahin brachten, daß auch mein
inneres Wohlgefallen einstimmte, sich ihrem Bilde zu widmen.
Da aber Liebe nicht plötzlich entsteht, wächst und vollkom»
men wird, vielmehr einiger Zeit und Gedankennahrung be*
darf— insbesondere, wenn entgegengesetze Gedanken sie be»
hindern — so kam es, daß, ehe diese neue Liebe vollkommen
wurde, sich mancher Kampf abspielte zwischen dem Gedan*
ken, der sie groß zog, und dem, der ihr entgegen stand und
noch die Veste meines Geistes für jene glorreiche Beatrice
verteidigte. Nun erhielt der eine Gedanke fortwährend Unter»
Stützung durch das, was er vor sich sah, der andere durch
die rückschauende Erinnerung. Die Unterstützung durch das
Vorwärtsschauen nahm aber bei dem einen Gedanken täglich
zu, während dies bei dem anderen nicht der Fall war, weil
ihn jener am Zurückschauen hinderte. Das schien mir so
wunderbar und doch auch so hart zu ertragen, daß ich es
nicht aushalten konnte . . .
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daß das neue heiße Begehren nach der schönen Gemma die
Erinnerung an Beatrice, d. h. an seine guten Vorsätze reli*
giöser Art, zu verdrängen begann. Es scheint aber, daß der
Gedankenzwiespalt mit einer besonderen Verpflichtung in
Zusammenhang stand, an die Dante sich gebunden wußte.
Hat etwa Dante früher einmal, etwa zur Zeit, als seine Ge*
liebte in das Kloster floh, ein Gelübde getan, dessen Gegen*
stand ein Ehehindernis in sich schloß? — Die Annahme,
daß ein solches Gelübde bestand, hat allerdings nur innere
Gründe für sich und kann sich nicht auf Dokumente oder
Berichte stützen. Daß die Tradition nichts davon weiß, ist
übrigens erklärlich ; von einem Gott gegebenen Verspre*
chen schweigt man und läßt nichts davon in die öffentlich*
keit dringen, so daß es kaum zu verstehen wäre, wie etwas
davon hätte bekannt werden können. Immerhin kann sich
meine Annahme, wenn auch eine direkte äußere Bezeugung
fehlt, auf eine Eröterung in der Commedia stützen : Im vier*
ten Gesang des Paradiso fragt Dante seine Führerin, ob
man für den Gegenstand eines verfehlten Gelübdes durch
einen anderen Gegenstand genügenden Ersatz leisten könne.
Beatrice beantwortet diese Frage ausführlich dahin, daß das
Gelübde selber, als ein Gott aus freiem Willen gegebenes
Versprechen, nicht aufgehoben werden könne. Zwar könne
der Gegenstand des Gelübdes unter Umständen durch
einen anderen ersetzt oder vertauscht werden, es dürfe aber
niemand die auf seinen Schultern liegende Last nach eigener
Willkür verwandeln ; das Recht'dazu habe allein die geist*
liehe Obrigkeit, ohne deren Dispens die übernommene Ver*
pflichtung nicht erlassen werden könne; auch müsse ein Er*
satz für den Gegenstand des Gelübdes geleistet werden,
dessen Wert sich zu jenem wie sechs zu vier verhalte 36 . ~
Wenn für Dante infolge eines Gelübdes ein Ehehindernis
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vorlag, und er wollte seine Gemma heiraten, so mußte er also
die kirchliche Dispens einholen, und es mußte ihm als Er*
satz eine andere noch schwerere Verpflichtung auferlegt
werden. Wenn wir annehmen dürften, die kirchliche Ent*
Scheidung habe dahin gelautet, er möge heiraten, müsse aber
nach einer bestimmten Zeit (nach 25 Jahren?) die eheliche
Gemeinschaft aufgeben und sich einem mehr contemplativen
Leben widmen, — so würde damit aufgeklärt, warum Dante,
als er sich in den letzten Jahren seines Lebens (von 1316
oder 1317 an) bleibend in Ravenna niedergelassen, und
seine Kinder Pietro, Jacopo und Beatrice bei sich hatte, ge*
trennt von seiner, in Florenz mit der Tochter Antonia zu*
rückgebliebenen, Gattin lebte. — Die Richtigkeit der An*
nähme wird durch ein Kapitel der Vita Nuova bestätigt,
welches leicht verständlich ist, wenn man das Gelübde und
die kirchliche Dispens als feststehende Tatsache voraus*
setzt, dessen Sinn aber ohne diese Voraussetzung meines
Erachtens nicht erklärt werden kann.
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mit dem Tod der Beatrice, d. i. mit dem Verlust seiner re*
ligiösen Liebe, seinen eigenen geistigen Tod. Aber er er*
wacht, oder vielmehr er wird geweckt aus seinem Irrtum
und sieht mit dankbarem Gefühl, daß seine Befürchtung
nur ein Wahn war. — Unmittelbar daran schließt sich das
seltsame 24. Kapitel, welches die Lösung bringt; eine fein*
sinnige Allegorie gibt Bericht, wie sich der Zwiespalt zwi*
sehen Wunsch und Gewissen ordnete:
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nunf t Erreichbare die Oberleitung hat, so lagen für ihn Weltweisheit
und irdische Liebe so nahe beisammen, daß sich eine allegorische
Umdeutung der irdischen Geliebten in die Philosophie wie von
selbst ergab.
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ERKLÄRUNGEN ZU EINZELNEN
KAPITELN DER VITA NUOVA
KAPITEL 1
Neunmal schon war seit meiner Geburt der Lichthimmel . . .
zu dem nämlichen Punkte zurückgekehrt, als meinen Augen
zum erstenmal die glorreiche Herrin meines Geistes erschien,
die von vielen, die nicht wußten, wie sie zu nennen sei, Bea=
trice genannt wurde.
Der erste Satz spricht von der Liebe, der zweite Satz
von der Geliebten. Die »glorreiche Herrin« ist die an
sich unsichtbare Liebe, die hienieden dem Auge in der die
Liebe entzündenden Person sichtbar wird. Beide verschmel*
zen zwar bei Dante, der in der Geliebten wie Guido Guini*
celli 38 eine Inkarnation der Liebe sieht, in dem gemein*
samen Namen Beatrice; damit wird aber der begriffliche
Unterschied von Liebe und Geliebte nicht aufgehoben.
Eine Bestätigung dafür finden wir in einer Kanzone 3 ° unseres
Dichters, in welcher er von dem Eindruck spricht, den die
in der Vita Nuova geschilderte erste Begegnung mit Bea*
trice auf seine Lebensgeister gemacht hatte:
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KAPITEL 3
Als Piccarda Donati in den Ciarissenorden eintrat, war das
Ende für die heiße Herzensminne gekommen, die, sollte die
Liebe nicht ganz aufhören, sich in eine wunschlose Seelen*
minne verwandeln mußte. Dies hat der Dichter in einer
Allegorie ausgedrückt. Piccarda erscheint ihm im symbo*
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lischen weißen Gewand der Seelenminne, als Braut Christi,
begleitet von zwei Frauen vorgerückteren Alters 41 , und sie
grüßt Dante. Der Gruß spricht deutlich zu Dantes Seele
und weckt einen Gedanken, von dem, berauscht, ersieh zu*
rückzieht, um nachzudenken. Ein sanfter Schlummer bringt
ihm eine Vision, die ihm die veränderte Situation vor Augen
führt. Er sieht den roten Amor, der in fröhlicher Stimmung
ist, die sich nachher in bitterliches Weinen verwandelt:
Allegorie seines eigenen Liebesgefühles. Das blutrote Tuch,
das die Schlafende leicht bedeckt, deutet an, daß Piccarda
den Erdenrest ihrer Liebe zu Dante noch nicht ganz über*
wunden hat; das Verzehren des Herzens 42 mit dem darauf*
folgenden Entschwinden gen Himmel will besagen, daß
sie das Herz des Geliebten mit sich emporziehen will in ein
der Gottesminne geweihtes Leben, — also dasselbe, was
auch ihr Gruß, für Dante hörbar, ausgesprochen hatte.
KAPITEL 8
Der Herr der Engel beruft eine junge Dame von gar hol*
der Erscheinung, die in Florenz hochgeschätzt wurde, zu
seiner Glorie. — Es ist auffallend, daß der Dichter den Tod
einer Dame, die scheinbar gar nichts mit seinem Liebes*
leben zu tun hat, in seinem Büchlein erwähnt, und zwar
nur deshalb, weil er sie öfter der Holdesten hatte Gesell*
schaft leisten sehen. Seltsam ist es auch, daß er der Verbli*
chenen zwei Sonette widmet, die manchen, auf den Tod der
Beatrice verfaßten Gedichten zum Verwechseln ähnlich
sehen. Davon, daß er sie öfter mit seiner Herrin gesehen,
will der Dichter einiges andeuten in dem letzten Teil der
Worte, welche ich darüber dichtete, wie es sich offenkundig
dem zeigt, der es versteht. — Der letzte Teil dieser Worte
lautet:
9 Dante
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130 /
KAPITEL 11
Die mystische Theologie weiß von Vorgängen des höhe*
ren religiösen Innenlebens, bei welchen die Seele spontan
wie von einem Liebesrausch (raptus) ergriffen wird, der
sich bis zur Ekstase steigern kann, und wobei manchmal
durch das innere Gehör eine geistige Einsprache vernom*
men wird. Solche mystische Wirkungen schreibt Dante (wie
auch aus dem zweiten Kapitel zu ersehen ist) dem »Gruß«
der Beatrice zu. Das Wort »salute« hat eine doppelte Be*
deutung: »Gruß« und »Heil«. Wie aus den Worten: wenn
dieses holdeste Heil grüßte (quando questa gentilissima sa*
Iute salutava) hervorgeht, ist unter der grüßenden Beatrice
die heilspendende Liebe zu verstehen.
KAPITEL 12
Tiefbetrübt, weil ihm Beatrice den Gruß verweigerte, ist
Dante eingeschlafen und erhält von dem Gefühl seiner
überlegenden seelischen Liebe (dem weißgekleideten Amor)
in einer Vision die Belehrung, daß die falschen Vorspiege*
lungen von Liebe (ein Spiel mit dem Feuer, bei dem man
sich leicht verliebt) von nun an aufhören müssen; er er*
kennt, daß ihm selber die Harmonie der Liebe fehlt, bei der
alle Teile der Peripherie sich in gleicher Weise zu ihrem Zen*
trum verhalten ; d. h. sinnlich* weltliche und übersinnlich*reli*
giöse Liebe sind (wie Staat und Kirche) zwei Machtbereiche,
die nebeneinander bestehen, sich aber nicht gegenseitig be*
einträchtigen dürfen, wie es bei ihm bisher der Fall war.
Darum muß er sich über sein Liebesleben klar werden
9* 131
KAPITEL 13
Dantes Liebe zu der armen Piccarda war, fern allem Be*
gehren, eine schwärmerische, platonische Verehrung, deren
reines, ruhiges Licht sein Leben erleuchtet hatte. Erst als
die schönen Augen der Gemma Donati einen Feuerbrand
in sein Herz geworfen, erlebte er die ganze Skala von er*
hebenden und niederdrückenden, süßen und bitteren Ge*
fühlen, über die er sich viele und verschiedenartige Gedanken
machte. Die blonde Gemma war nicht wie andere Frauen,
die leicht ihr Herz verschenken ; ihre jungfräuliche Herbheit
war so »erbarmungslos«, gar nicht zu bemerken, wie heiß
sie im Stillen geliebt wurde. Dante mußte, wie schon er*
wähnt, lange warten, bis er Gegenliebe fand; und da jedes*
mal, wenn er seine Angebetete sah, in seinem Herzen ein
»Erdbeben« anhob, das ihn der Fassung beraubte, so scheint
er während der zwei Jahre (1291—1293) in ihrer Gegen*
wart eine recht unglückliche Rolle gespielt zu haben.
KAPITEL 14
Dante wird von einem Freunde zu einem Hochzeitsmahle
geführt und erblickt dort unter den geladenen Frauen die
holdeste Beatrice (la gentilissima beatrice). Bevor noch
seine Augen sie gesehen, zittert er schon am ganzen Leibe,
und nun verlor er, einer Ohnmacht nahe, so sehr die Herr*
schaft über seine Sinne, daß seine Augen nicht imstande
waren, das Wunder dieser Frau (la maraviglia di questa
donna) zu sehen und nur seine Liebe an Stelle seiner Augen
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KAPITEL 15
KAPITEL 18
Dante glaubt, in den drei Sonetten (Kap. 14, 15, 16) ge*
nug von dem Zustand seines Herzens verraten zu haben
und von nun an entweder schweigen oder einen neuen und
edleren Stoff für seine Dichtungen suchen zu sollen. Wie
er zu seinem neuen Stoff kam, berichtet uns eine reizende
Erzählung : Der einsam wandernde Dante gerät zufällig in
eine heitere Gesellschaft schöner Florentinerinnen, die ihn
wegen seiner sonderbaren Liebe, die »die Gegenwart der
Geliebten nicht ertragen kann«, ins Verhör nehmen. Als
ich bei ihnen angelangt war und sah, daß meine holdeste
Herrin nicht in ihrer Gesellschaft weilte, war ich beruhigt,
und fragte sie, was sie wünschten. Die Worte »meine hol*
deste Herrin« sollen bei dem Leser die Meinung erwecken,
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KAPITEL 30
Nachdem diese Frau aus der Welt geschieden war, blieb
die ganze oben erwähnte Stadt (Florenz) wie verwitwet und
aller Würde beraubt zurück. Und darum schrieb ich, noch
weinend, in dieser schwer geschädigten Stadt an die Ersten
des Landes über ihren Zustand . . . Hat Dante in seinem
Briefe an die Ersten der Stadt den Zustand der geschädig*
ten Stadt dem Tode seiner Geliebten zugeschrieben? Sicher*
lieh nicht. Wir wissen zwar nicht, wie Dantes Schreiben
lautete, dürfen aber als gewiß annehmen, daß darin nicht
von Beatrice, sondern nur von den traurigen Zuständen
der Stadt die Rede war. Wie der Florentiner Chronist Vii*
lani berichtet, war die Zeit von 1283 bis 12S9 die denkbar
glücklichste für die Stadt Florenz und ihre Einwohner. Dann
136
KAPITEL 40
dem Sonett »O Pilger, die ihr in Gedanken gehet« zu*
gründe. Pilger, die nach Rom wallen, ziehen durch die
leiderfüllte Stadt Florenz, ohne von deren herbem Schick*
sai gerührt zu sein ; sie scheinen nichts von ihrem politi*
sehen Ruin zu wissen ; aber wenn sie Dante anhören woll*
ten, so würde er sie durch seine Worte über das Unglück
der Stadt zu Tränen rühren, denn: »Sie hat verloren
ihre Beatrice« (d. h. ihr Glück).
137
ANMERKUNGEN
che la passata.
7 (Seite 91) »Betrachtet man die in der Vita Nuova erzählten äußeren
Umstände, so stellen sie sich als eine sinnlose und planlos verzet*
telte Reihe der verschiedenartigsten Zufälligkeiten dar« — so sagt
Karl Vossler (Die göttliche Komödie, Heidelberg 1907. Seite 514).
10 (Seite 93) la selva erronea di questa vita. Convivio IV, 24. Vgl.
Inferno I, 2.
138
12 (Seite 103) Er nennt sie (Paradiso III, 1): »Die Sonne, die mein
Herz mit Liebe nicht erwärmte« und spricht (XXVIII, 12) von den
»schönen Augen, die Amor zur Schlinge machte, mich zu fangen«.
21 (Seite 106) »Die Geschichte der Beatrice Portinari als der Ge*
liebten Dantes ist eine hübsche Idylle, die es wert war, von einer
geschickten Hand zu einem ganzen Roman ausgearbeitet zu werden :
mehr als das ist sie in unseren Augen nicht.« F. X. Kraus, a. a. O.
Seite 221.
22 (Seite 108) La vista mia, che tanto la seguio, Quanto possibil fu...
" (Seite 109) Siehe Frullani und Gargani, La Casa di Dante. Fi*
renze 1865.
28 (Seite 110) In der Vita Nuova heißt es, daß der Herr die Holdeste
abberief, »daß sie lobsinge unter dem Banner der benedeiten Königin,
Jungfrau Maria, deren Namen die selige Beatrice stets mit der tiefsten
Ehrfurcht ausgesprochen« habe ; und in der Commedia singt Piccarda
das Ave Maria.— DieVita Nuova sagt, daß die irdische Schönheit der
Beatrice im Himmel zu einer hehren geistigen Schönheit ward ; und
in der Commedia spricht Piccarda davon, daß sie schöner gewor*
den sei, als sie bei Lebzeiten gewesen. — Die Vita Nuova erwähnt
unter Beatriees Schönheiten die Perlenfarbe ihres Gesichtes ; und in
139
28 (Seite 112) Dantes erster Freund Guido Cavalcanti war zur Zeit
der Jenseitsreise (Ostern 1300) noch am Leben.
82 (Seite 116) Die hi. Clara, geb. 1193 in Assisi, floh 18 Jahre alt,
gegen den Willen ihrer Eltern, die sie verheiraten wollten, in das
Kirchlein Portiuncula zu dem hl. Franz von Assisi und erhielt von
ihm das Ordenskleid. Sie starb 1253 und wurde 1255 heilig gespro*
chen. Den von ihr gegründeten Orden der Clarissinnen bestätigte
1220 der Papst Honorius IL und gab ihm die strenge Regel der
Benediktiner.
140
schon als Knabe gleich anderen jungen Adeligen behufs Herstel*
lung des Friedens zwischen Güelfen und Ghibellinen zur Ehe mit
Seite 144.
me.«
48 (Seite 1 35) In der Kanzone »Amor che muovi tua virtù dal cielo«.
Das kleine Kochbuch für die fleischlose Küche, mit 275 wohl*
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Date Due
FORM 333 4SM 10-41
Neues Leben
DATE | ISSUED TO
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