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Inhalt

Titel
Widmung
Motto
Heimsuchung 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 11 37 12 13 14 15 37 16 17 37 18 19 20 21 22 23 37
Gast NW6 (W1) NW6
Gastgeberin
Kreuzungen Von der Willesden Lane zur Kilburn High Road Von Shoot Up Hill nach
Fortune Green Von Hampstead nach Archway Hampstead Heath Ecke Hornsey Lane Hornsey
Lane
Heimsuchung Danksagung
Buch
Autor
Übersetzer
Impressum
Für Kellas
Als Adam grub und Eva spann,

Wer war denn da der Edelmann?

JOHN BALL
Heimsuchung
1

Die pralle Sonne trödelt bei den Telefonmasten. An den Schultoren und Laternenpfählen
wird die Anti-Kletter-Farbe schwefelgelb. In Willesden laufen die Leute barfuß, es wird
europäisch auf den Straßen, alle Welt will draußen essen. Sie bleibt im Schatten. Rothaarig. Im
Radio: Ich allein verfasse das Lexikon, das mich definiert. Guter Spruch – gleich aufschreiben,
hinten auf die Zeitschrift. In der Hängematte, im Garten der Souterrainwohnung. Eingezäunt, von
allen Seiten.
In der Siedlung, vier Gärten weiter, brüllt eine finstere Frau vom dritten Stock
Schimpftiraden ins Leere. Meilenweit zu hören von diesem Julia-Balkon. Stimmt nicht. Nee,
stimmt nicht. Hör bloß auf. Kippe in der Hand. Fett, krebsrot.
Ich allein
Ich allein verfasse
Bleistift schreibt nicht auf Zeitschriftenpapier. Irgendwo hat sie gelesen, man kriegt Krebs
von dem Hochglanzzeug. Weiß man doch, dass es jetzt noch nicht so heiß sein darf.
Verschrumpelte Blüten und bittere kleine Äpfel. Vögel singen die falschen Lieder auf den
falschen Bäumen, viel zu früh im Jahr. Mann, hör mir bloß auf! Blick nach oben: Die
Sonnenbrandwampe der Frau liegt auf der Brüstung. Wie sagt Michel immer: Es kann eben nicht
jeder vorne mit dabei sein. Nicht in der heutigen Zeit. Grausame Ansicht – sie teilt sie nicht. In
einer Ehe teilt man nicht alles. Gelbe Sonne hoch oben am Himmel. Blaues Kreuz an weißer
Stange, klar, eindeutig. Was tun? Michel ist arbeiten. Immer noch arbeiten.
Ich
allein
Asche weht in den Garten hinunter, dann folgt die Kippe, danach die Schachtel. Lauter als
Vögel und U-Bahn und Verkehr. Alleiniges Anzeichen geistiger Gesundheit: ein kleiner Knopf,
der ihr im Ohr steckt. Ich hab ihm gesagt, er soll sich nicht immer Freiheiten rausnehmen. Wo
bleibt mein Scheck? Und dann kaut die mir ständig ein Ohr ab. Scheiß Freiheiten.
Ich allein. Allein. Allein
Sie öffnet die Faust, lässt den Bleistift fortrollen. Nimmt sich die Freiheit. Nichts anderes
zu hören als diese verdammte Frau. Zumindest gibt es mit geschlossenen Augen was anderes zu
sehen. Zähe schwarze Flecken. Wasserbienen, die im Zickzack hin und her schießen. Zick. Zack.
Roter Fluss? Geschmolzener Höllensee? Die Hängematte kippt. Die Zeitung segelt zu Boden.
Weltspiegel, Immobilien, Film und Musik liegen im Gras. Dazu der Sport und die
Kurzbeschreibungen der Toten.
2

Die Klingel! Barfuß stolpert sie durchs Gras, sonnenwirr, schläfrig. Die Hintertür führt in
eine klitzekleine Küche, bunt gekachelt nach den Vorlieben eines Vormieters. Da wird nicht nur
geklingelt. Da hält wer den Finger drauf.
Ein verschwommener Umriss hinter der strukturierten Scheibe. Falsche Pixelanordnung
für Michel. Zwischen ihr und der Tür die Flurdielen, golden im Sonnenlicht. So ein Flur kann nur
zum Guten führen. Aber da draußen brüllt eine Frau BITTE und weint. Da draußen schlägt eine
Frau mit der Faust an die Tür. Als sie den Riegel öffnen will, klemmt er auf der Hälfte, die Kette
spannt sich, und eine kleine Hand schießt durch den Spalt.
– BITTE – o Gott, helfen Sie mir – bitte Miss, ich wohn hier – ich wohn gleich hier, o
Gott, bitte – schauen Sie, bitte –
Dreckige Nägel. Und eine Gasrechnung? Eine Telefonrechnung? Durch die Öffnung
geschoben, vorbei an der Kette, so nah, dass sie ein Stück zurückgehen muss, um zu erkennen,
was ihr da gezeigt wird. Ridley Avenue 37 – gleich um die Ecke. Mehr liest sie nicht. Kurz sieht
sie Michel vor sich, wie er wäre, wenn er hier wäre, wie er das Plastikfenster des Umschlags
prüfen, nach Echtheitsnachweisen suchen würde. Michel ist arbeiten. Sie macht die Kette los.
Die Knie der Fremden geben nach, sie fällt vornüber, sackt zusammen. Mädchen oder
Frau? Sie sind gleich alt: Mitte dreißig, so in etwa. Tränen schütteln den schmalen Körper der
Fremden. Sie zerrt sich an den Kleidern und heult. Die Frau, die die Welt als Zeugin anruft. Die
Frau im Kriegsgebiet, in den Trümmern ihres Heims.
– Sind Sie verletzt?
Sie hat die Hände im Haar. Ihr Kopf stößt an den Türrahmen.
– Nein, ich nicht, meine Mutter – ich brauch Hilfe. Ich war schon an jeder scheiß Tür –
bitte. Shar – Shar heiß ich. Ich bin von hier. Ich wohn hier. Schauen Sie!
– Kommen Sie rein. Bitte. Ich heiße Leah.
Leah ist diesen fünf Quadratkilometern der Stadt so treu verbunden wie andere Leute
ihrer Familie oder ihrem Vaterland. Sie weiß, wie die Leute hier reden, dass scheiß in dieser
Gegend einem Satz einfach Rhythmus gibt. Sie ordnet ihre Miene so, dass sie Mitleid ausdrückt.
Shar schließt die Augen, nickt. Sie macht rasche Bewegungen mit dem Mund, spricht mit sich
selbst, unhörbar. Zu Leah sagt sie
– Sie sind ’n guter Mensch.
Shars Zwerchfell hebt und senkt sich jetzt langsamer. Das Tränenzittern lässt nach.
– Danke, ja? Sie sind ’n guter Mensch.
Shars kleine Hände umklammern die Hände, die sie halten. Shar ist winzig. Ihre Haut
wirkt trocken, wie Pergament, Spuren von Schuppenflechte an Stirn und Kinn. Das Gesicht
vertraut. Leah hat es schon oft auf der Straße gesehen. Eine Eigenheit der Londoner Dörfer:
Gesichter ohne Namen. Die Augen einprägsam, rund um das dunkle Braun sieht man helles
Weiß, oben wie unten. Ein gieriger Ausdruck, als wollte sie alles verschlingen, was sie sieht.
Lange Wimpern. So sehen Babys aus. Leah lächelt. Das Lächeln, das zurückkommt, ist
ausdruckslos, zeigt kein Erkennen. Niedlich schief. Leah ist nur die gute Fremde, die die Tür
geöffnet und nicht wieder zugeschlagen hat. Immer wieder sagt Shar: Sie sind’n guter Mensch, ’n
guter Mensch – so lange, bis der Genussfaden reißt, der sich durch den Satz zieht (natürlich liegt
für Leah ein gewisser Genuss darin). Leah schüttelt den Kopf. Nein, nein, nein, nein.
Leah dirigiert Shar in die Küche. Große Hände auf den schmalen Mädchenschultern. Sie
betrachtet Shars Pobacken, die sich über den Bund der runtergerollten Jogginghose wölben, die
kleine, flaumige Kuhle unten am Rücken, stark ausgeprägt und verschwitzt von der Hitze. Die
schmale Taille, die in Kurven übergeht. Leah, schlaksig wie ein Junge, hat kaum Hüften.
Vielleicht braucht Shar ja Geld. Sauber sind die Klamotten nicht. An der rechten Kniekehle hat
der schäbige Stoff einen langen Riss. Dreckige Fersen schauen aus halb kaputten Flip-Flops. Sie
riecht.
– Herzinfarkt! Ich frag die ganze Zeit: Stirbt sie? Stirbt sie? Stirbt sie? Die fahren sie im
Krankenwagen weg – aber krieg ich vielleicht ’ne Antwort? Ich hab drei Kinder daheim, die sind
jetzt allein, ja – ich muss zum Krankenhaus – und die labern nur was von Auto. Ich hab kein
Auto! Ich so: Helfen Sie mir – aber kein Mensch rührt ’nen scheiß Finger, um mir zu helfen.
Leah fasst Shar am Handgelenk, setzt sie auf einen Stuhl an den Küchentisch und drückt
ihr die Küchenrolle in die Hand. Wieder legt sie ihr die Hände auf die Schultern. Ihre Stirnen
berühren sich beinahe.
– Schon gut, ich versteh’s ja. Welches Krankenhaus?
– Das ... ich hab’s nicht aufgeschrieben ... In Middlesex oder so – jedenfalls weit weg.
Weiß nicht genau.
Leah drückt Shar die Hände.
– Also, ich habe kein Auto – aber ...
Blick auf die Uhr. Zehn vor fünf.
– Wenn Sie vielleicht noch so zwanzig Minuten warten? Wenn ich ihn gleich anrufe, dann
ist er ... Oder vielleicht ein Taxi ...
Shar löst die Hände aus Leahs Griff. Sie presst die Fingerknöchel an die Augen, atmet tief
aus: Die Panik ist vorbei.
– Ich muss da hin ... Aber ich hab keine Nummer – nix – kein Geld ...
Shar rupft sich mit den Zähnen ein Stückchen Haut vom rechten Daumen. Etwas Blut
quillt hervor und verharrt. Leah fasst Shar wieder am Handgelenk. Zieht ihr die Finger aus dem
Mund.
– Vielleicht das Middlesex? So heißt das Krankenhaus, nicht der Ort. Richtung Acton,
oder?
Die Miene des Mädchens ist verträumt, verlangsamt. Touched, sagt man in Irland.
Wunderlich. Möglich, dass sie ein wenig wunderlich ist.
– Ja ... kann sein ... doch, nein, doch, stimmt. Das Middlesex. Stimmt.
Leah richtet sich auf, zieht das Handy aus der Gesäßtasche und wählt.
– ICH KOMM MORGEN VORBEI.
Leah nickt, und Shar redet weiter, ohne Rücksicht auf das Telefonat.
– ICH ZAHL’S ZURÜCK. MORGEN KRIEG ICH MEINEN SCHECK, JA?
Leah lässt das Telefon am Ohr, lächelt, nickt, gibt ihre Adresse durch. Sie mimt
Teetrinken. Doch Shar schaut auf die Apfelblüten. Mit dem Saum ihres schmuddeligen T-Shirts
wischt sie sich Tränen aus dem Gesicht. Ihr Nabel ist ein fester Knoten, bündig mit der
Bauchdecke, ein auf einen Diwan genähter Knopf. Leah gibt ihre eigene Nummer an.
– Das wär’s.
Sie wendet sich zur Anrichte, greift mit der freien Hand nach dem Wasserkocher und lässt
ihn fast fallen, weil sie dachte, er wäre leer. Etwas Wasser schwappt heraus. Sie stellt den Kocher
wieder auf seinen Sockel und bleibt, wo sie ist, mit dem Rücken zu ihrem Gast. Einen anderen
Platz, an dem sie ganz selbstverständlich sitzen oder stehen könnte, gibt es nicht. Vor ihr, auf der
langen Fensterbank, die sich durch den ganzen Raum zieht, ein paar Dinge aus ihrem Leben:
Fotos, Schnickschnack, ein wenig Asche ihres Vaters, Vasen, Pflanzen, Kräuter. In der
Spiegelung der Scheibe zieht Shar die kleinen Füße auf die Sitzfläche, umfasst die Knöchel. Die
Notsituation war weniger peinlich, viel natürlicher als das jetzt. In diesem Land macht man
Fremden keinen Tee. Sie lächeln sich in der Scheibe an. Der gute Wille ist da. Es gibt nur nichts
zu sagen.
– Ich hol mal Tassen.
Leah benennt jede ihrer Handlungen. Sie macht den Schrank auf. Er ist voller Tassen –
Tassen über Tassen.
– Schönes Haus.
Leah dreht sich zu schnell um, macht fahrige Bewegungen mit den Händen.
– Gehört uns nicht – wir wohnen zur Miete – nur diese Wohnung hier, drüber sind noch
zwei. Der Garten ist für alle. Es sind Sozialwohnungen, also ...
Während Leah den Tee aufgießt, sieht Shar sich um. Mit hängender Unterlippe und
leichtem Nicken. Anerkennend, wie eine Immobilienmaklerin. Dann ist Leah dran. Was gibt es
da zu sehen? Knittriges kariertes Flanellhemd, verschlissene Jeans-Shorts, sommersprossige
Beine, nackte Füße – eine lächerliche Person womöglich, eine, die auf der faulen Haut liegt, ein
Luxusweibchen. Leah verschränkt die Arme vor dem Bauch.
– Nich schlecht für sozial. Viele Zimmer und so?
Die Lippe hängt immer noch. Dadurch nuschelt sie ein bisschen. Irgendwas stimmt nicht
mit Shars Gesicht, bemerkt Leah, dann schämt sie sich, weil sie es bemerkt, und schaut weg.
– Drei. Das dritte ist nur eine Kammer. Das nehmen wir als ...
Shar grübelt schon wieder über etwas ganz anderem; sie ist nicht so schnell wie Leah,
aber jetzt ist sie da, jetzt sind sie beide gleichauf. Sie hält Leah den ausgestreckten Zeigefinger
ins Gesicht.
– Moment mal ... du warst auf der Brayton?
Sie hüpft auf dem Stuhl herum. Euphorisch? Das kann ja nicht sein.
– Ich schwör, als du eben telefoniert hast, dacht ich mir: Ich kenn die. Du warst auf der
Brayton!
Leah lehnt sich mit einer Pobacke an die Anrichte und nennt ein paar Daten. Shar
interessiert sich nicht für Jahreszahlen. Sie will wissen, ob Leah sich erinnert, wie der
Naturwissenschaftsflügel unter Wasser stand und wie sie Jake Fowler damals mit dem Kopf in
die Schraubzwinge gesteckt haben. Als wären es Mondlandungen und verstorbene Präsidenten,
bestimmen sie anhand dieser Koordinaten ihre jeweilige Schulzeit.
– Zwei Jahre unter dir, ja? Wie heißt du noch?
Leah kämpft mit dem klemmenden Deckel einer Keksdose.
– Leah. Hanwell.
– Leah. Du warst auf der Brayton. Siehst du noch wen?
Leah zählt Namen auf, nebst Kurzbiografie. Shar trommelt rhythmisch mit den Fingern
auf die Tischplatte.
– Bist du schon lange verheiratet?
– Viel zu lang.
– Soll ich jemanden für dich anrufen? Deinen Mann vielleicht?
– Nee ... nee ... der ist weg. Hab ihn zwei Jahre nicht gesehen. Hat gebrüllt. Und
geprügelt. Und Probleme hatte der. Jede Menge Probleme, im Kopf und so. Hat mir den Arm
zerdeppert, das Schlüsselbein, die Kniescheibe, mein ganzes scheiß Gesicht. Ich sag dir was ...
Das Nächste wird leichthin zur Seite gesprochen, mit einem kleinen, glucksenden Lachen,
und ist unfassbar.
– Vergewaltigt hat er mich und alles ... voll der Irrsinn. Aber na ja.
Shar rutscht vom Stuhl und geht zur Hintertür. Schaut in den Garten, auf den verdorrten
gelben Rasen.
– Das tut mir wirklich leid.
– Kannst du doch nichts dafür! Ist halt so.
Dieses Gefühl, sich lächerlich zu fühlen. Leah schiebt die Hände in die Hosentaschen.
Der Wasserkocher klickt.
– Im Ernst, Lieja, ich würd lügen, wenn ich sage, es war leicht. Es war echt hart. Aber.
Ich hab’s geschafft. Ich leb noch. Und ich hab drei Kinder! Sieben ist das Jüngste. Ist also doch
was Gutes bei rumgekommen, verstehst du?
Leah nickt zum Wasserkocher hin.
– Hast du Kinder?
– Nein. Nur einen Hund, Olive. Der ist gerade bei meiner Freundin Nat. Natalie Blake?
Wobei, in der Schule hieß sie noch Keisha. Jetzt heißt sie Natalie De Angelis. Aus meinem
Jahrgang. So ein Riesen-Afro ...
Leah formt einen Atompilz um ihren Kopf. Shar runzelt die Stirn.
– Ja. Voll arrogant. So ’ne Kokosnuss. Außen braun, innen weiß. Hat sich für sonst was
gehalten.
Ein Ausdruck nackter Abscheu tritt auf Shars Gesicht. Leah redet mitten hinein.
– Sie hat jetzt Kinder. Wohnt gleich da drüben, im schickeren Teil, am Park. Sie ist
Anwältin. Barrister. Ist das eigentlich das Gleiche? Wahrscheinlich schon. Ach ja, sie haben zwei
Kinder. Und die Kinder lieben Olive, so heißt mein Hund, Olive.
Sie sagt einfach einen Satz nach dem anderen, es hört nicht mehr auf.
– Ach ja, ich bin übrigens schwanger.
Shar lehnt sich an die Türscheibe. Kneift ein Auge zu, fixiert Leahs Bauch.
– Oh, noch ganz am Anfang. Ganz am Anfang. Ach ja, eigentlich weiß ich es erst seit
heute Morgen.
Ach ja ach ja ach ja. Shar nimmt die Offenbarung gelassen.
– ’n Junge?
– Nein, ich meine ... so weit bin ich doch noch gar nicht.
Leah wird rot, sie hat nicht vorgehabt, von dieser heiklen, unvollendeten Sache zu
erzählen.
– Weiß es dein Mann schon?
– Ich habe heute früh den Test gemacht. Dann bist du gekommen.
– Wünsch dir ’n Mädchen. Jungs sind die Hölle.
Shars Miene ist finster. Sie grinst teuflisch. Rund um ihre Zähne ist das Zahnfleisch
schwarz. Sie kommt zurück zu Leah und legt ihr beide Hände flach auf den Bauch.
– Lass mal fühlen. Ich kann so was vorhersagen. Egal, wie früh. Na komm. Ich tu dir
schon nichts. Ist wie ’ne Gabe. Hab ich von meiner Mutter. Na komm.
Sie greift nach Leah und zieht sie zu sich. Leah lässt sie. Shar legt die Hände wieder auf
ihren Bauch.
– Das wird ’n Mädchen, das ist sicher. Und Skorpion noch dazu, na, viel Spaß. ’ne kleine
Kanone.
Leah lacht. Zwischen den verschwitzten Händen der anderen und ihrem eigenen klammen
Bauch spürt sie Hitze aufsteigen.
– Eine Sportskanone, meinst du?
– Nee ... eine, die schnell explodiert. Wirst du ständig im Auge behalten müssen.
Shar lässt die Hände sinken, und wieder überzieht Langeweile ihr Gesicht. Jetzt redet sie.
Alles ist gleichwertig: Leah, Tee, Vergewaltigung, Zimmerzahl, Herzinfarkt, Schule, wer jetzt
Kinder hat.
– Diese Schule ... Die war ja echt Mist, aber die Leute, die da waren ... ein paar von denen
haben’s echt zu was gebracht, oder? Calvin zum Beispiel – sagt dir Calvin noch was?
Leah schenkt Tee ein, nickt eifrig. Calvin sagt ihr gar nichts.
– Der hat jetzt so ’n Fitnessstudio an der Finchley Road.
Leah rührt mit dem Löffel im Tee, den sie sonst nie trinkt, erst recht nicht bei so einem
Wetter. Sie hat den Teebeutel zu fest ausgedrückt. Die Blätter verlassen die Festung, schwärmen
aus.
– Und das gehört ihm richtig! Ich komm da manchmal vorbei. Hätt ich nie gedacht, dass
der kleine Calvin mal den Arsch hochkriegt – der hing doch immer mit Jermaine und Louie und
Michael rum. War ’n übler Haufen ... Von denen treff ich keinen mehr. So viel Drama brauch ich
nicht. Aber Nathan Bogle seh ich noch. Und früher Tommy und James Haven, aber die hab ich in
letzter Zeit nicht mehr gesehen. Ewig nicht.
Shar redet weiter. Die Küche kippt, und Leah hält sich mit einer Hand an der Anrichte
fest.
– Entschuldige, was?
Shar runzelt die Stirn, spricht an der Zigarette vorbei, die sie im Mund hat.
– Ich hab gesagt, gibst du mir mal den Tee?
Wie alte Freundinnen an einem Winterabend sehen sie aus, beide Hände um die Becher
gelegt. Die Tür ist offen, alle Fenster sind auf. Die Luft steht. Leah zieht an ihrem Hemd und löst
es mit einem Schütteln von der Haut. Eine Öffnung entsteht, Luft schießt hindurch. Der Schweiß,
der sich unter den Brüsten gesammelt hat, hinterlässt beschämende Spuren auf dem
Baumwollstoff.
– Früher war ich mal ... also ...
Leah tastet sich mit künstlichem Zögern voran und schaut dabei tief in ihren Becher, doch
Shar hat kein Interesse, sie trommelt an den Glaseinsatz der Tür, redet einfach über sie hinweg.
– Aber in der Schule hast du echt anders ausgesehen. Jetzt gefällst du mir besser. Du
warst immer so rothaarig und knochig. Voll die Bohnenstange.
Das ist Leah alles immer noch. Geändert haben müssen sich wohl die anderen – oder die
Zeiten.
– Hast es aber weit gebracht. Warum bist du nicht auf Arbeit? Was machst du noch
gleich?
Shar nickt bereits, bevor Leah antwortet.
– Ich hab mich krankgemeldet. Mir ging’s nicht gut. Ich arbeite sozusagen in der
Verwaltung. Für einen guten Zweck. Wir verteilen Geld. Lotterieeinnahmen, die gehen dann an
karitative und gemeinnützige Einrichtungen – an kleine kommunale Unternehmen, die
Unterstützung brauchen ...
Sie hören ihrem eigenen Gespräch nicht zu. Die Frau aus der Siedlung steht immer noch
auf dem Balkon und brüllt. Shar schüttelt den Kopf, pfeift. Schenkt Leah einen Blick
nachbarschaftlichen Mitleids.
– Blöde fette Kuh.
Von der Frau aus zeichnet Leah mit den Fingern einen Springerzug in die Luft. Zwei
Stockwerke hoch, ein Fenster weiter.
– Da bin ich geboren.
Von dort hierher, ein weiterer Weg, als man denkt. Eine Sekunde lang fesselt dieses
regionale Detail Shars Aufmerksamkeit. Dann schaut sie weg, ascht auf den Küchenboden,
obwohl die Tür offen ist und der Rasen keinen Meter entfernt. Vielleicht ist sie etwas beschränkt,
bestimmt auch unbeholfen, oder aber einfach traumatisiert oder zerstreut.
– Ganz schön weit gebracht. Gute Wohnung. Wahrscheinlich auch massig Freunde,
Freitagabend auf die Piste und so.
– Nicht direkt.
Shar stößt eine kleine Rauchwolke aus und macht einen irgendwie wehmütigen Laut,
nickt dabei immer wieder mit dem Kopf.
– Voll vornehm, die Straße hier. Du bist die Einzige, die mich reingelassen hat. Der Rest
würd einen nicht mal mit dem Arsch angucken.
– Ich muss nach oben. Geld holen fürs Taxi.
Leah hat Geld in der Hosentasche. Oben geht sie ins nächstbeste Zimmer, das Klo,
schließt die Tür, setzt sich auf den Boden und heult. Sie streckt das Bein aus und schubst mit dem
Fuß die Klopapierrolle aus der Halterung. Als sie sie gerade zu sich herrollt, klingelt es.
– SKLINGELT! SKLINGELT! SOLL ICH?
Leah steht auf, versucht, sich an dem kleinen Handwaschbecken die Röte wegzuspülen.
Sie findet Shar im Flur, vor einem Regal mit Büchern aus der Uni. Shar fährt mit dem Finger die
Buchrücken entlang.
– Hast du die alle gelesen?
– Nein, nicht alle. Inzwischen hab ich gar nicht mehr die Zeit.
Leah nimmt den Schlüssel von seinem Platz im mittleren Regalfach und öffnet die
Haustür.
Sie versteht gar nichts mehr. Der Fahrer, der am Törchen steht, macht eine
Handbewegung, die sie nicht kapiert, zeigt zum anderen Ende der Straße und geht los. Shar folgt
ihm. Leah folgt ihr. Sie entwickelt eine völlig neue Ergebenheit.
– Wie viel brauchst du?
Ein Schatten von Bedauern fällt auf Shars Gesicht.
– Zwanzig? Dreißig ... zur Sicherheit.
Sie raucht ohne Hände, presst den Qualm aus einem Mundwinkel.
Das unbändige Schäumen der Kirschblüten. In einem Korridor aus Rosa taucht Michel
auf, er kommt auf der anderen Seite die Straße entlang. Zu heiß für ihn – sein Gesicht ist
patschnass. Das kleine Handtuch, das er an solchen Tagen immer bei sich hat, schaut aus seiner
Tasche hervor. Leah reckt einen Finger in die Luft, bittet ihn damit, zu bleiben, wo er ist. Sie
deutet auf Shar, die hinter dem Wagen nicht zu sehen ist. Michel ist kurzsichtig; er blinzelt in ihre
Richtung, bleibt stehen, grinst unbehaglich, zieht sein Sakko aus, legt es sich über den Arm. Leah
sieht ihn an seinem T-Shirt herumzupfen, die letzten Reste des Arbeitstags abschütteln: zahllose
winzige Härchen, Schnipsel von Fremden, manche blond, manche braun.
– Wer ist das?
– Michel, mein Mann.
– Der heißt wie ’ne Frau?
– Er ist Franzose.
– Aber hübsch – das gibt hübsche Babys!
Shar zwinkert: die eine Gesichtshälfte grotesk verzerrt.
Shar wirft die Zigarette weg und steigt in den Wagen, lässt die Tür offen. Das Geld
verbleibt in Leahs Hand.
– Ist er auch von hier? Kommt mir bekannt vor.
– Er arbeitet in dem Friseursalon, an der Station. Er ist Franzose – aus Marseille. Aber
schon ewig hier.
– Und Afrikaner.
– Ursprünglich, ja. Hör mal – willst du, dass ich mitkomme?
Shar schweigt einen Moment. Dann steigt sie wieder aus und umfasst Leahs Gesicht mit
beiden Händen.
– Du bist echt ’n guter Mensch. Das war Schicksal, dass ich bei dir gelandet bin. Im
Ernst! Du bist spirituell. Du hast was Spirituelles in dir.
Leah umfasst Shars kleine Hand und überlässt sich einem Kuss. Shars Mund an ihrer
Wange ist leicht geöffnet beim Dan- und schließt sich dann wieder im -ke. Und Leah antwortet
etwas, was sie noch nie im Leben gesagt hat: Gott schütze dich. Sie lösen sich voneinander –
Shar weicht verlegen zurück und dreht sich zum Wagen, ist schon halb fort. Fast trotzig drückt
Leah ihr das Geld in die Hand. Doch schon jetzt droht das Erhabene des Erlebens zum
Konventionellen, Anekdotischen zu verflachen: nur dreißig Pfund, nur eine kranke Mutter, kein
Mord, auch keine Vergewaltigung. Nichts überlebt im Erzählen.
– Wahnsinnswetter.
Shar nimmt ihren Schal, um sich den Schweiß vom Gesicht zu tupfen, und sieht Leah
nicht mehr an.
– Morgen komm ich vorbei. Ich zahl’s zurück. Ich schwör bei Gott, ja? Danke, im Ernst.
Du hast mich echt gerettet heute.
Leah zuckt die Achseln.
– Na komm, jetzt sei nicht so, ich schwör’s – ich komm vorbei, im Ernst.
– Ich hoffe nur, sie wird wieder gesund. Deine Mutter.
– Morgen, ja? Danke!
Die Tür geht zu. Der Wagen fährt ab.
3

Für alle liegt es auf der Hand, nur nicht für Leah. Für ihre Mutter liegt es auf der Hand.
– Seit wann bist du bloß so naiv?
– Sie war verzweifelt. Ehrlich.
– Ich war auch verzweifelt, damals in der Grafton Street, und in der Buckley Road war
ich verzweifelt, wir waren alle verzweifelt. Aber deswegen haben wir noch lange keinen
bestohlen.
Knisternde Wolken aus Seufzern. Leah sieht sie praktisch vor sich: der flatternde
schneeweiße Pony, der wogende geblümte Busen. Ihre Mutter ist zu einer gut gefiederten irischen
Eule geworden. So hockt sie hier in Willesden, immer noch, lebenslang.
– Dreißig Pfund! Dreißig Pfund für eine Taxifahrt ins Middlesex. Das ist doch nicht
Heathrow. Wenn du schon Geld zum Fenster rauswirfst, sorg mal dafür, dass es in meine
Richtung fliegt.
– Vielleicht kommt sie ja doch noch wieder.
– Eher kommt der Heiland höchstpersönlich als die! Erst am Wochenende hatte ich
wieder zwei von denen hier, seh sie schon die Straße hochkommen und überall klingeln. Crack.
Sah man meilenweit. Scheußliche Angewohnheit! Jeden Tag seh ich die hier, an der Station.
Jenny Fowler vorn an der Ecke hat mal einer aufgemacht – zugedröhnt bis dorthinaus, hat sie
erzählt. Dreißig Pfund! Das hast du von deinem Vater. Kein Mensch mit meinem Blut in den
Adern würde auf so was Idiotisches reinfallen. Was sagt überhaupt dein Michael dazu?
Letztendlich leichter, Michael durchgehen zu lassen, als sich anzuhören, wie Mieh-schell
ihren Mundraum füllt wie ein schlechter Geschmack auf der Zunge.
– Dass es idiotisch war.
– Und genau das war es auch. Seinesgleichen führt man nicht so leicht hinters Licht.
Alles Nigerianer, alle; auch wenn es sich um Franzosen oder Algerier handelt, sind sie
Nigerianer, weil sich für Pauline im Grunde ganz Afrika auf Nigeria beschränkt, und der
Nigerianer an sich ist ein Schlitzohr, ihm gehört in Kilburn alles, was früher einmal irisch war,
sogar fünf der Pflegekräfte aus Paulines Team sind Nigerianer, obwohl das früher alles Iren
waren, zumindest hält Pauline sie für Nigerianer, und man kommt ja auch bestens mit ihnen aus,
man darf sie nur keine Sekunde aus den Augen lassen. Leah legt den Daumennagel an ihren
Ehering. Drückt fest dagegen.
– Er will da vorbeigehen.
– Das ist ja auch sein gutes Recht! Du hast dich schließlich vor der eigenen Haustür von
einer Zigeunerin ausrauben lassen!
Alles wird in brauchbare Begriffe übersetzt.
– Falsch. Vorderasiatin.
– Also Inderin.
– Grob die Gegend. Zweite Einwanderergeneration. Angehört hat sie sich aber original
englisch.
– Aha.
– Sie war auf meiner Schule! Stand heulend vor meiner Tür!
Noch eine knisternde Wolke.
– Manchmal glaube ich ja, das ist alles nur, weil du allein warst. Wenn wir mehr Kinder
gehabt hätten, hättest du auch mehr darüber gelernt, wie die Menschen wirklich sind.
Egal, wo Leah ansetzt, Pauline kommt immer wieder an diesen Punkt. Die ganze
Geschichte wird durchgekaut: von Dublin nach Kilburn, eine der wenigen protestantischen
Auswanderer, damals gehörten die meisten ja zum anderen Lager. Im Krankenhaus gearbeitet,
klar, so wie all die jungen Frauen. Mit den O’Rourke-Brüdern hat sie geflirtet, den Maurern, aber
sie wollte höher hinaus, mit ihrem kastanienbraunen Haar und den zarten Zügen, und Hebamme
war sie ja auch schon. Zu lang gewartet. Schließlich ein spätes Nest mit einem ruhigen Witwer,
einem Engländer, der keinen Alkohol anrührte. Die O’Rourkes inzwischen Baustoffhändler, die
halbe Kilburn High Road gehörte ihnen. Da hätte sie ein bisschen Saufen schon in Kauf
genommen. Zum Glück hat sie sich umschulen lassen (Röntgenassistentin). Wo wäre sie sonst
heute? Die Geschichte, früher streng rationiert, ein paarmal im Jahr zum Besten gegeben, sprengt
heute jedes Telefonat, auch dieses, bei dem es eigentlich gar nicht um Pauline geht. Die Zeit wird
der Mutter knapp, sie hat nur noch einen kurzen Weg vor sich. Sie will die Vergangenheit
zusammenpressen, klein genug, um sie mitzunehmen. Die Tochter hat die Aufgabe, zuzuhören.
Darin ist sie gar nicht gut.
– Waren wir zu alt? Warst du einsam?
– Ich bitte dich, Mum.
– Ich meine ja nur, du hättest das Wesen des Menschen vielleicht besser durchschaut.
Gibt es denn was Neues an der Front?
– Welcher Front?
– An der Oma-Front. Da, wo die biologische Uhr tickt.
– Die tickt weiter.
– Na ja. Mach dir nicht zu viele Sorgen, Schatz. Es kommt, wenn es kommen soll. Ist
Michael da? Gibst du ihn mir mal?
Zwischen Pauline und Michel herrscht nichts als Misstrauen und Unverständnis, bis auf
jene seligen Situationen, früher selten, inzwischen aber immer häufiger, wenn Leah sich idiotisch
verhalten hat und dieser Umstand aus Erzfeinden Verbündete macht. Pauline aufgebracht,
knallrot und laut. Michel bewaffnet mit seiner kleinen Sammlung hart erkämpfter
Redewendungen, dem kostbarsten Besitz eines jeden Einwanderers: unterm Strich, du weißt
schon, als wär das noch nicht genug, und ich sag noch, und ich so, der war gut, den muss ich mir
merken.
– Unfassbar. Ich sag dir, Pauline, ich wünschte, ich wäre da gewesen. Ich wünschte
wirklich, ich wäre da gewesen.
Um der Unterhaltung zu entfliehen, geht Leah in den Garten. Ned von oben liegt in Leahs
Hängematte, die der Allgemeinheit gehört und folglich gar nicht Leahs Hängematte ist. Ned
raucht sein Gras unter dem Apfelbaum. Die bereits ergrauende Löwenmähne, gezähmt von einem
gewöhnlichen Gummiband. Auf seinem Bauch liegt eine alte Leica und wartet darauf, dass über
London NW die Sonne untergeht, denn die Sonnenuntergänge sind in diesem Teil der Welt von
seltsamer Intensität. Leah nähert sich dem gemeinsamen Baum und macht das Victoryzeichen.
– Kauf dir selber was.
– Ich kiff nicht mehr.
– So siehst du aus.
Ned steckt ihr den Joint zwischen die gespreizten Finger. Sie zieht kräftig daran, es kratzt
in der Kehle.
– Langsam. Das ist aus Afghanistan. Psychoaktiv!
– Ich bin auch schon groß.
– Achtzehn Uhr dreiundzwanzig heute. Wird immer länger.
– Bis es wieder kürzer wird.
– Wow!
Fast alles, was Leah zu ihm sagt, findet Ned irgendwie philosophisch, so sachlich oder
banal es auch sein mag. Als ernsthafter Kiffer erstarrt die Zeit um ihn. Die einfachsten Dinge
nehmen eine unermessliche Bedeutung an. Leah hat das Gefühl, als wäre er achtundzwanzig
geblieben, seit sie sich vor zehn Jahren kennengelernt haben.
– Hey, ist dein Besuch noch mal aufgetaucht?
– Nein.
Das geht Ned gegen die optimistische Natur. Leah sieht ihm dabei zu, wie er vergeblich
nach einer passenden Erklärung sucht.
– Pünktlich auf die Minute. Und was für ’ne Schönheit!
Leah sieht nach oben. Der Himmel hat sich rosa verfärbt. Die Einflugschneisen von
Heathrow malen weiße Streifen hinein. In der Küche hat Michel seinen Spaß.
– Der ist gut. Den muss ich mir merken. Du liebe Zeit!
4

Der junge Sikh langweilt sich. Schweiß läuft ihm aus dem Turban. Er schaut auf den
Ladentisch seines Vaters, wo eine Taschenladung Kleingeld versucht, auf den Preis von zehn
Rothmans zu kommen. Ein billiger Ventilator surrt ohne Sinn. Leah langweilt sich ebenfalls,
sieht Michel dabei zu, wie er Backwaren betastet, die ihm ohnehin nicht schmecken werden, die
niemals so gut sein werden wie in Frankreich. Das liegt daran, dass sie im Hinterzimmer eines
Kiosks gleich an der Willesden Lane aufgebacken wurden. Richtige Croissants kriegt man
sonntags auf dem Biomarkt, auf dem Hof von Leahs alter Grundschule. Heute ist Dienstag. Von
ihren neuen Nachbarn weiß Leah, dass die Quinton Primary zwar gut genug ist, um dort
Croissants zu kaufen, aber keineswegs gut genug, um seine Kinder dorthin zu schicken. Olive
staubsaugt die Krümel vom Ladenboden. Auch sie ist im Ansatz französisch, so wie Michel. Ihr
Großvater hat mal einen Preis in Paris gewonnen. Anders als Michel ist sie bei Croissants aber
nicht pingelig. Weiß-orange, mit seidigen Renaissanceohren. Albern und angebetet.
– müssen endlich zu einem richtigen Arzt gehen. In eine Klinik. Wir versuchen es doch
ständig. Aber nichts. Du wirst dieses Jahr fünfunddreißig.
Französisch ausgesprochen: nischts. Früher waren sie gleich alt. Jetzt altert Leah in
Hundejahren. Ihre Fünfunddreißig zählen siebenmal mehr als seine und sind siebenmal wichtiger,
so wichtig, dass er ihr die Zahl ständig in Erinnerung rufen muss, falls sie sie vergessen sollte.
– Wir können uns keine Klinik leisten. Was denn überhaupt für eine Klinik?
Die kleine Gestalt an der Theke dreht sich um. Zuerst, vor allen anderen, lächelt sie Leah
an, aus dem Impuls heraus, der Erkennen mit Freude verbindet, doch gleich darauf, als es ihr
wieder einfällt, beißt sie sich auf die Lippe, streckt die Hand nach der Tür, lässt die kleine Glocke
klingeln.
– Das ist sie. Das war sie. Die gerade Zigaretten gekauft hat.
Leah rechnet mit einer gelungenen Flucht. Aber Shar hat kein Glück. Sie haben beide
keines. Eine ältere Frau von beträchtlichen Ausmaßen kommt gerade herein, als Shar
verschwinden will. Sie vollführen ein peinliches Tänzchen im Türrahmen. Michel ist schnell und
unerschrocken und lässt sich nicht aufhalten.
– Diebin! Du Diebin! Wo ist unser Geld?
Leah greift nach dem anklagend ausgestreckten Finger und zieht ihn nach unten. Jede
einzelne Sommersprosse glüht, und die Röte arbeitet sich den Hals hoch, überflutet ihr Gesicht.
Shar beendet das Tänzchen. Rempelt die nette Dame aus dem Weg. Und rennt.
5

Leah glaubt an Sachlichkeit im Schlafzimmer.


Hier liegen ein Mann und eine Frau. Der Mann ist schöner als die Frau. Aus diesem
Grund gab es Zeiten, da befürchtete die Frau, den Mann mehr zu lieben als er sie. Er hat das
immer bestritten. Er kann allerdings nicht bestreiten, dass er schöner ist. Für ihn ist es leichter,
schön zu sein. Er hat sehr dunkle Haut, die langsamer altert. Er hat die solide westafrikanische
Knochenstruktur. Hier liegt ein Mann nackt auf einem Bett. In Die Verachtung liegt Brigitte
Bardot nackt auf einem Bett. Wäre dieser Mann bloß wie Brigitte Bardot, die nie Kinder
bekommen hat und Tiere vorzieht. Dafür ist sie allerdings in anderen Punkten unflexibel. Die
Frau versucht, mit dem Mann, mit dem sie verheiratet ist, über die verzweifelte junge Frau zu
reden, die bei ihr geklingelt hat. Was soll das heißen, sie hat gelogen? War es denn gelogen, dass
sie verzweifelt war? Sie war schließlich verzweifelt genug, um zu klingeln. Ihr Mann begreift
nicht, warum das die Frau so beschäftigt. Aber ihm fehlt ja auch eine entscheidende Information.
Er kann der verborgenen weiblichen Logik unmöglich folgen. Er kann nur versuchen, ihr
zuzuhören. Ich will einfach wissen, ob ich das Richtige getan habe, sagt die Frau, ich weiß
einfach nicht, ob ich
Da unterbricht sie der Mann und sagt
– Hast du noch den Stecker für das Dings bei dir drüben? Meiner ist weg. Was willst du
denn tun? Das ist eben so. Eine Cracksüchtige, die klaut. So spannend ist das auch wieder nicht.
Komm her, dann
Als sie sich kennenlernten, der Mann und die Frau, da war die körperliche Anziehung
unmittelbar und überwältigend. Das ist immer noch so. Wegen dieser ungewöhnlich heftigen
Anziehung haben sie eine komische Chronologie. Erst kam immer das Körperliche.
Bevor er sie ansprach, hatte er ihr schon zweimal die Haare gewaschen.
Bevor sie den Nachnamen des anderen wussten, hatten sie schon Sex.
Bevor sie vaginalen Sex hatten, hatten sie schon Analsex.
Bevor sie einander heirateten, hatten beide mehrere Dutzend Sexualpartner.
Klubromanzen, Quickies auf Ibiza. Die Neunziger, dieses rauschhafte Jahrzehnt! Sie hatten
geheiratet, obwohl sie nicht zu heiraten brauchten und obwohl sie sich beide geschworen hatten,
das nie zu tun. Schwer zu sagen, warum sie bei dieser ganz speziellen Variante der »Reise nach
Jerusalem« schließlich beieinandergeblieben waren. Es hatte etwas mit Gutmütigkeit zu tun. Auf
der Tanzfläche der Klubs fand man vieles, aber Gutmütigkeit war selten dabei. Ihr Mann war
gutmütiger als jeder andere, den Leah Hanwell kannte, mit Ausnahme ihres Vaters. Und dann
waren sie selbst ganz überrascht, wie konventionell sie eigentlich waren. Die Hochzeit machte
Pauline Freude. Sie beruhigte Michels besorgte Eltern. Und sie freuten sich, dass ihre Familien
sich freuten. Darüber hinaus besaßen die Eigennamen »Mann« und »Frau« eine Macht, mit der
keiner der Beteiligten gerechnet hätte. Falls das ein Voodoo-Zauber war, kam er ihnen gerade
recht. Er sorgte dafür, dass sie nicht mehr im Kreis um leere Stühle herumtanzen mussten, dabei
aber nie zuzugeben brauchten, dass sie das leid waren.
Es ging alles rasend schnell.
Sie waren einmal schwanger gewesen, vor ihrer Hochzeit, als sie gerade zwei Monate
zusammen waren, und hatten abgetrieben.
Sie hatten geheiratet, bevor sie Freunde geworden waren, oder anders gesagt:
Ihre Hochzeit war der Auslöser ihrer Freundschaft.
Sie hatten geheiratet, bevor sie die vielen kleinen Unterschiedlichkeiten hinsichtlich
Herkunft, Träumen, Bildung, Zielen bemerkten. Beispielsweise gibt es einen Unterschied
zwischen den Zielen armer Leute aus der Stadt und den Zielen armer Leute vom Land.
Als ihr diese Unterschiede auffielen, war Leah in gewisser Weise von sich selbst
enttäuscht, weil dadurch keine echten Konflikte zwischen ihnen entstanden. Es war nicht leicht,
sich damit abzufinden, dass der körperliche Genuss, den sie bei ihm fand und er bei ihr, so
einfach die vielen anderen Vorbehalte aushebelte, die sie hatte oder hätte haben sollen oder
glaubte, haben zu sollen.
– Vielleicht ist ihre Mutter ja gestorben. Dann war sie damit beschäftigt und hat es
einfach nur vergessen. Oder sie hat es unter der Tür durchgeschoben, und es ist zwischen die
ganze Werbung geraten, und Ned hat es weggeschmissen. Oder sie kriegt gerade einfach nicht so
viel Geld zusammen.
– Na klar, Leah.
– Lass das.
– Was soll ich denn sonst sagen? Die Welt ist eben, wie sie ist.
– Wieso versuchen wir’s dann überhaupt?
Ganz sachlich gesehen ist eigentlich die Frau daran schuld, dass sie nie über Kinder
gesprochen haben. Aus irgendeinem Grund ist sie nie auf den Gedanken gekommen, diese ganze
Wahnsinnsvögelei könnte auf ein ganz bestimmtes, völlig offensichtliches Ziel zusteuern. Sie
fürchtet sich vor diesem Ziel. Sachlich bleiben! Was ist das für eine Furcht? Sie hat mit Tod und
Zeit und Altern zu tun. Ganz einfach: Ich bin achtzehn in meinem Kopf bin ich achtzehn und
wenn ich nichts mache wenn ich mich einfach nur ganz ruhig verhalte dann ändert sich daran
auch nichts und ich bleibe immer achtzehn. Für immer. Die Zeit steht still. Ich werde niemals
sterben. Eine sehr banale Furcht. Die hat doch heutzutage jeder. Was noch? Sie ist einfach
glücklich in dem Augenblick, in dem sie sich befinden. Sie hat das Gefühl, genau das zu
verdienen, was sie hat, nicht mehr und nicht weniger. Mit jeder Veränderung riskiert sie, das
Gleichgewicht gefährlich ins Wanken zu bringen. Warum muss sich dieser Augenblick denn
verändern? Manchmal schneidet der Mann eine rote Paprika in der Mitte durch und leert die
Samen in eine Plastikschüssel und gibt seiner Frau eine Zucchini zum Würfeln und sagt:
Hund.
Auto.
Wohnung.
So zusammen kochen.
Vor sieben Jahren hast du von Stütze gelebt. Ich habe Haare gewaschen.
Die Dinge ändern sich! Wir kommen voran, stimmt’s?
Die Frau weiß nicht, wo »voran« ist. Sie wusste gar nicht, dass sie aufgebrochen sind, und
auch nicht, woher der Wind weht. Sie will nicht vorankommen. Wenn sie ehrlich ist, hat sie
geglaubt, sie würden für immer nackt zwischen den Laken liegen und nie etwas anderes erreichen
als Befriedigung. Wozu muss Liebe sich denn »weiterentwickeln«? Wo ist »weiter«? Kein
Mensch kann behaupten, sie wäre nicht gewarnt worden. Das kann wirklich keiner behaupten.
Eine Fünfunddreißigjährige, die mit dem Mann verheiratet ist, den sie liebt, ist nun wirklich
gewarnt, sie sollte aufpassen, zuhören und nicht aus allen Wolken fallen, wenn ihr Mann sagt
– so viele Tage, an denen eine Frau fruchtbar ist. Nur drei, glaube ich. Es bringt also
nichts, einfach zu sagen: ›Es kommt, wenn es kommen soll.‹ So jung sind wir nicht mehr. Wir
müssen das ein bisschen, also, militärischer angehen, einen Plan machen und so.
Sachlich gesehen hat er recht.
6

Samstagmorgen. NUR KINKS DEN GANZEN TAG. Am Samstagmorgen verpasst


Michel den Damen und Herren aus NW ihren Chic für den Samstagabendkick, damit sie frisch
und ordentlich aussehen, und dort, im Salon, kann er seinen schwülstigen R&B voll aufdrehen,
sein ganzes Oh baby oh shorty till six in the mawnin’ till the break a’dawn. Am Samstagmorgen
ist sie frei! In der Schlafanzughose herumspringen, falsch mitsingen. Ned ist im Garten. Ned
weiß laute Musik weißen Ursprungs zu schätzen. Er singt mit.
Immer mischt sich auch etwas Manisch-Melancholisches in diesen Wochenendtaumel:
Der innere Countdown bis zur Arbeitswoche läuft bereits. Im Spiegel tanzt sie mit sich selbst,
Nase an Nase mit dem Spiegelbild. Das Original strahlt und singt. Gleichzeitig kommt etwas in
ihr ins Wanken angesichts der Neuigkeiten im Spiegel: die graue Strähne, die aus dem Scheitel
wächst, die Schwellungen und Fältchen um die Augen, der weichliche Bauch. Sie tanzt wie ein
junges Mädchen. Sie ist kein junges Mädchen mehr. Wo ist nur die Zeit geblieben? Die Klingel
hört sie erst, als Olive wie wild bellt.
– Meine Mama hatte ’nen Herz... ’nen Herzinfarkt? Fünf ... Pfund.
Diese junge Frau hat mit der Lockenschere geglättetes Haar und ist entweder fett oder
schwanger. Dumpf schaut sie nach unten, erstaunt über die geifernde Olive, die sich zwischen
Leahs Beinen durchdrängt. Dann sieht sie hoch zu Leah und lacht. HA! So zugedröhnt, dass sie
nicht mal ihren Text behält. Sie dreht sich schwerfällig auf dem Absatz um, eine Tänzerin, die
den Einsatz verpasst hat. Geht lachend davon, mit wiegendem Gang über den Gartenweg zurück
zur Straße.
7

Apfelbaum, Apfelbaum.

Ding mit Äpfeln dran. Apfelblüte.

So was von symbolisch.


Ein Netz aus Zweigen, Wurzeln.

Tief im Boden. Je voller, desto fruchtbarer.

Desto mehr Würmer. Desto mehr Ratten.

Apfelbaum, Apfelbaum. Apfel. Baum. Wo ist »weiter«?

Tick-tack. Drei Wohnungen. Ein Apfelbaum.

Besitzen, mieten. Schwer von Samen.


Oben im Baum.

Wenn der Ast bricht, wird das Baby

Die Asche eines Toten. Um die Wurzeln, in den Wurzeln?

Hundertjähriger Apfelbaum. Auf den Lohbeeren liegen.

Unter einem Apfelbaum. Ein kleiner Sohn?

Neue Zweige. Neue Blüten. Neue Äpfel.


Derselbe Baum?

Alteingesessen.

Dieselben Straßen.

Dieselbe Frau?

Die nächste Sprosse.

Apfelbaumapfel

Stamm, Rinde.

Alice träumt.

Eva isst.
Darunter machen brave Mädchen Fehler.

Michel ist ein netter Mann, voller Hoffnung. Manchmal ist Hoffnung anstrengend.

– habe ich immer geglaubt. Pass auf, weißt du, was eigentlich die Unterschied ist
zwischen mir und diesen Leuten? Die wollen sich nicht weiterentwickeln, die wollen nichts
Besseres erreichen. Aber ich entwickle mich immer weiter, ich denke immer schon einen Schritt
voraus. Die Leute von zu Hause, die verstehen mich nicht. Ich bin denen meilenweit voraus. Und
wenn sie versuchen, mich zu kontaktieren, dann lasse ich das nicht – ich brauche so viel Drama
nicht in meinem Leben. Auf keinen Fall! Dafür habe ich zu hart gearbeitet. Dafür liebe ich dich
zu sehr, und unser Leben. Man ist, was man aus sich macht. Genau so ist das. Und ich frage mich
immer: Bin ich das? Was ich mache. Bin ich wirklich das? Wenn ich mich hinsetze und nichts
tue, dann werde ich auch nichts, das weiß ich. Ich hatte den richtigen Durchblick, vom ersten
Tag, als ich in diese Land getreten habe. Ich habe genau gewusst: Ich klettere die Leiter hoch,
mindestens eine Stufe. In Frankreich ist man Afrikaner oder Algerier, wen interessiert das? Es
gibt keine Möglichkeiten, man kommt nicht von Fleck! Hier kommt man von Fleck. Aber man
muss arbeiten! Man muss ganz hart arbeiten, um von dem Drama da unten wegzukommen! Das
ist genau der Punkt: Ich will das nicht reinlassen. Aber das machst du. Bestes Beispiel, diese
Frau, die hast du reingelassen – ich weiß gar nicht, was du dir bei so was denkst – aber ich will
nicht so ein Drama reinlassen bei mir. Ich weiß, diese Land bietet Möglichkeiten, und wenn man
sie ergreifen will, dann kann man das. Iss den nicht – da ist ein Wurm drin, siehst du, das Loch?
Nimm deine Mutter – wir sind ja wirklich keine besten Freunde, aber schau dir an, was sie
geschafft hat: Sie hat dich rausgeholt aus diese Albtraum, an einen ordentlichen Ort, in eine
ordentliche Wohnung mit Hypothek ... Klar, du bist weiß, das ist etwas anderes, viel einfacher,
du hattest Möglichkeiten, die ich nie hatte. Die röteren schmecken nicht so gut. Wir versuchen
doch alle nur, auf die nächste, die nächste, nächste ... Sprosse zu kommen. Die Leiter
hochzuklettern. Brent Housing Partnership. Ich will einfach nicht, dass so ein Schild steht vor die
Haus, wo ich wohne. Jedes Mal, wenn ich dran vorbeigehe, denke ich: Puh! Für mich ist das
demütigend. Wenn wir mal einen kleinen Sohn haben, dann möchte ich, dass er lebt – dass er
stolz lebt – an einem Ort, der uns gehört. Genau! Dieses Gras ist nicht mein Gras! Dieser Baum
ist nicht mein Baum! Wir haben deinen Vater um einen Baum verstreut, der uns gehört nicht
einmal. Armer Mr Hanwell. So was bricht mir die Herz. Es war schließlich dein Vater! Und
darum sitze ich jeden Abend vor dem Rechner, ich will das schaffen – da drin, da zählt nämlich
nur der Markt, es geht nicht um Hautfarbe, ob man gut Englisch kann, ob man Zeugnisse hat von
der richtigen Universität und solche Quatsch. Ich kann spekulieren wie jeder andere. Da kann
man richtig Geld machen, weißt du? Der Markt spielt gerade total verrückt. Aber das sagt einem
keiner. Ich denke immer, was Frank gesagt hat bei dem Abendessen: Wer schlau ist, wirft sich
gleich wieder ins Feld. Es wäre doch Wahnsinn, wenn man nicht versucht, etwas abzukriegen
davon. Ich bin nicht so ein Jamaikaner – die Neue von oben, Gloria oder wie die heißt, die hat
immer noch keine Vorhänge. Zwei Kinder, kein Mann, aber Sozialleistungen. Ich bin verheiratet,
wo sind meine Sozialleistungen? Wenn ich Kinder habe, das habe ich immer gewusst, das habe
ich immer gesagt zu mir: Ich bleibe bei diese Frau, die ich liebe, die ich so sehr liebe, ich bleibe
für immer bei ihr. Komm her. Unterm Strich ist es doch so: Ich habe das nie gewollt, einfach nur
auf meine Lohbeeren liegen und Almosen nehmen, das hat mich nie interessiert. Ich bin
Afrikaner. Ich habe eine Bestimmung. Ich liebe dich, und ich liebe den Weg, den wir zusammen
gehen! Ich komme immer näher zu meine Bestimmung, ich denke an die nächste Leistung, den
nächsten Schritt, ich will höher hinauf, damit wir, damit wir alle beide, den nächsten ...
– Lorbeeren.
– Was?
– Es heißt Lorbeeren. Und man liegt nicht drauf, man ruht sich darauf aus. Liegen tut man
auf der faulen Haut.
– Du hörst mir gar nicht zu.
Stimmt: Sie denkt an Äpfel.
8

Anderswo in London gibt es Großraumbüros / komplett verglaste / Synergie-Brutstätten /


wireless / spiegelblank. Der Glaube an die Macht einer Tischtennisplatte hält sich dort
hartnäckig. Hier ist nicht anderswo. Hier sind die Büros kastig eng viktorianisch modrig. Fünf
Leute teilen sich eins, der Teppich ist verschlissen, der Locher stets unauffindbar.
– eingehendes Geld. Frage: Wie konnte es so weit kommen, ohne dass jemand eingreift?
Das würde mich wirklich interessieren. Selbstkontrolle, Kinder! Wenn ihr nämlich so
weitermacht, dann liefert ihr uns gewissermaßen alle ans Messer, mich eingeschlossen. Und als
Nächstes heißt es dann: Rationalisierungsmaßnahmen. Und damit ist dann nicht gemeint, den
Teebeutel zweimal zu verwenden. Dann geht es um eure Stelle und um meine. Und genau so
Hier werden die falschen Lottotipps einer ganzen Nation in eine Art Allgemeinwohl
verwandelt: Spielgruppen nach der Schule, Übersetzungsdienstleistungen, Unkrautjäten für ältere
Mitbürger, Handarbeiten für Strafgefangene. Fünf Frauen arbeiten hier, Rücken an Rücken.
Weiter den Flur entlang gibt es angeblich auch einen Mann – Leah hat ihn nie zu Gesicht
bekommen. Diese Arbeit erfordert Einfühlungsvermögen und zieht folglich Frauen an, denn
Frauen sind das einfühlsame Geschlecht. So die Meinung von Adina George, der Teamleiterin,
die jetzt redet, die gar nicht mehr aufhört zu reden. Adinas Mund öffnet und schließt sich.

Ehemalige Gefängniswärterin, Sozialarbeiterin, Gemeinderatsmitglied. Wie hat sie mit


diesen Krallen eigentlich irgendwas hingekriegt? Lang und gebogen und in den jamaikanischen
Nationalfarben lackiert. Damit hat sie sich mühsam nach oben gekrallt. Alteingesessen.
Misstrauisch gegenüber allen, die, wie Leah, ihre Stellung ihrem Abschluss verdanken. Für
Adina ist ein Universitätsabschluss wie ein Bungee-Seil, das einen in halsbrecherischem Tempo
hinein- und wieder hinausbefördert. Du bist ja eh nicht lange hier. Weißt du, ich gebe dir lieber
keine Projekte, nachher bist du nicht mehr da, um sie abzuschließen ...
Sechs Jahre sind vergangen: So etwas wird ihr jetzt nicht mehr gesagt. Heute, als Adina
sie wieder als »die Akademikerin« bezeichnet hat, ging es Leah durch den Kopf, dass keiner –
weder die Einrichtung, die ihn verliehen hat, noch die Kommilitonen und erst recht nicht der
Arbeitsmarkt – eine höhere Meinung vom Wert ihres Titels hat als Adina.
– ist für einen reibungslosen Ablauf essenziell. Klar geht es bei der Entscheidungsfindung
um die Zuordenbarkeit und auch um Einfühlungsvermögen, klar, und um den persönlichen Draht,
aber dann auch wieder um Breitenwirkung und Sichtbarkeit im Sinne der Kosteneffektivität, die
wir nur über einen Prozess der Belegführung zureichend abbilden können. Belege – Belege –
Belege! Im aktuellen Klima müssen wir da päpstlicher sein als der Papst, damit ich, wenn ich als
Teamleiterin von den oberen Etagen einbestellt werde, dann auch sagen kann: aber sicher, alles
belegbar. Hier haben Sie X, Y und Z, alles belegbar. Das ist ja wohl keine Quantenphysik, meine
Damen.
Frage: Was ist aus ihren Studienkollegen geworden, den ganzen ehrgeizigen jungen
Akademikern, fast alles Männer? Banker, Anwälte. Während Leah, der Joker von der staatlichen
Schule, kein Latein, kein Griechisch, kein Mathe, keine Fremdsprache, es – nach den aktuellen
Standards – schlecht getroffen hat und jetzt hier hockt auf ihrem Übergangsstuhl, der vor sechs
Jahren aus dem Pausenraum entliehen wurde, und förmlich ertrinkt in Einfühlungsvermögen. Ihr
rechter Fuß ist eingeschlafen. Der Computerbildschirm hängt. Die IT-Abteilung lässt sich nicht
blicken. Keine Klimaanlage. Adina hört und hört nicht auf, misshandelt die Sprache, wie das ihre
Art ist.
– Also war das alles eine Frage der Kommunikation? Blockierte Kanäle zwischen den
beteiligten Parteien. Wer sollte sich also jetzt mal stärker bewusst machen, was für
Auswirkungen sein Verhalten auf andere hat?
Auch das wird vorübergehen. Sechzehn Uhr fünfundvierzig. Zick-zack. Tick-tack.
Manchmal greift die Verbitterung nach Leah. Zieht sie runter, hält sie fest. Wozu war das alles
gut? Drei Jahre nutzloses Studium. Überschuldet, überfordert. Philosophie ist es nur geworden,
weil sie Angst vor dem Tod hatte und dachte, das könnte helfen, und weil sie nicht rechnen oder
zeichnen konnte, sich nicht listenweise Fakten merken und keine andere Sprache sprechen konnte
als die eigene. Im Prospekt der Universität der kursiv gedruckte Satz über einer Abbildung des
Firth of Forth: Philosophie heißt sterben lernen. Aber Philosophie hieß, den Schwafeleien
arroganter Typen zuzuhören, sich mehr zu langweilen als je zuvor im Leben, mehr als man es je
für möglich gehalten hat. Philosophie hieß, sich zu wünschen, man wäre anderswo, ganz gleich
wo, irgendwo anders im Multiversum, ein Konzept im Übrigen, das man nie richtig begreifen
wird. Am Ende hat sich nur ein Gedanke zuverlässig eingeprägt: die Zeit als relative Erfahrung,
anders für den Jogger, den Liebenden, den Gequälten, den Müßiggänger. Wie jetzt, wo sich jede
Minute zur Stunde zu dehnen scheint. Ansonsten nutzlos. Nicht abbezahlte, immer weiter
wachsende Schulden. Dazu ein Gefühl von Groll: Welchen Sinn hatte es, sich auf ein Leben
vorzubereiten, das nie für einen bestimmt war? Jahrelang so weg von allem, dass die Realität
abhandenkam. Edinburghs Penetranz: Bergbesteigung und verborgene Gässchen, Burgschatten
und Whisky für fünfzig Pence, Walter-Scott-Plaketten und die Suche nach dem richtigen
Studienkredit. Aus ihrem Mund: Sokrates klang wie »gratis«, falsch betont, Antigone wie ein
Putzmittel. Auf ewig unvergessen: der Blödmann, der in dieser ersten Seminarsitzung so hämisch
gekichert hat. ICH BIN JA SO EINFÜHLSAM, schreibt Leah und verziert die Worte
hingebungsvoll. Große Flammenbögen, lange, spitz zulaufende Schatten.
– Fragen? Probleme?
Ein Kuli zerbricht geräuschvoll. Plastikscherben, blaue Zunge. Adina George schaut böse
zu ihr hin, aber Leah trägt keine Verantwortung für die Albaner. Sie hat zwar den Mund voller
Kulitinte, aber für die Albaner trägt sie keine Verantwortung und auch nicht für die Veruntreuung
von Geldern, die eigentlich für ein Frauenhaus in Hackney bestimmt waren. Das fiel in Claire
Morgans Zuständigkeitsbereich. Auch wenn Leah eine blaue Zunge hat und einen ach so tollen
Abschluss und einen scharfen Ehemann und nichts für ungut, aber für Frauen aus unserer
Gemeinschaft, also aus der afrikanisch-karibischen Gemeinschaft, du weißt schon, nichts für
ungut, aber wenn wir einen von uns mit einer von euch sehen, dann ist das echt ein Thema. Das
muss dir einfach klar sein, das ist echt ein Thema. Nichts für ungut. (Wochenendworkshop
Team-Building in Brighton, Hotelbar, 2004.) Was für ein Thema genau, wurde nicht näher
ausgeführt. Sweet Love sang Anita Baker, und Adina riss einen Stuhl um bei dem Versuch, die
Tanzfläche zu stürmen. Blockierter Kanal.
Leah spuckt sich Plastiksplitter in die Hand. Keine Fragen oder Probleme. Adina seufzt
und geht. Der Eifer, mit dem jetzt Akten zugeklappt und Taschen gepackt werden, unterscheidet
sich in nichts von dem, als sie alle sechs Jahre alt waren und die Schulklingel ertönte. Vielleicht
war das ja das wahre Leben? Leah stellt beide Füße fest auf den Boden und lehnt sich im Stuhl
zurück. Drückt sich ab und rollt rüber zum Aktenschrank, und das ist das erfreulichste Ereignis
des ganzen Tages. Rums.
– Ey! Scheiße noch mal, Leah! Pass doch auf!
Diese gewaltige Wölbung. Leah hat die Nase an Toris Nabel und registriert, wie sich das
Verborgene darin nach außen stülpt, eine körperliche Grenze markiert. Hier kommt nicht weiter,
wer Mensch bleiben will.
– Pass halt auf. Kommst du noch mit? Abschiedsdrinks. Hast du die Mail nicht gekriegt?
Versteckt in einem Winkel des Internets, zusammen mit den Kontoauszügen, den
Mahnungen für die Studienkreditraten, den Memos der Geschäftsführung, den mütterlichen
Ergüssen, an jenem Ort, wo »ungelesen« gleich »nicht vorhanden« ist. Natürlich weiß sie genau,
dass die Mail da ist und was darin steht, doch sie flüchtet vor Menschen in Toris Zustand. Sie
flüchtet vor sich selbst.
– Ich, Claire, Kelly, Beverley, Shweta. Du bist die Nächste!
Tori zählt die Namen an geschwollenen Fingern ab. Sie ist im letzten Drittel. Ihr Gesicht
hat jetzt etwas Löwenhaftes, die Wangen aufgebläht, plötzlich sichtbar. Das Grinsen einer
Großkatze. Räuberisch. Leah starrt auf den Daumen, der für sie stehen soll.
– Wir üben noch. So leicht ist das nicht.
– Üben ist eh das Schönste dran.
Ein Raum voller Frauen, und alle lachen. Das geteilte Geheimnis ihres Geschlechts, in das
Leah nicht eingeweiht ist. Sie legt die Hände rechts und links an den dicken Bauch und lächelt, in
der Hoffnung, dass sich normale Frauen so verhalten, Frauen, für die Üben wirklich das Schönste
dran ist und für die der Satz »Du bist die Nächste!« nicht klingt wie der Ruf eines Wärters im
düsteren Kerker. Dann legen sie los, die übliche Salve, in der keine Stimme von der anderen zu
unterscheiden ist, und Leah legt den Kopf auf den Schreibtisch und schließt die Augen und lässt
sie vom Leder ziehen:
Na, vor allem, wenn er so aussieht wie deiner. Und lieb ist er auch noch.
So lieb, dein Miehschell. Echt ein ganz Lieber.
Bev, weißt du noch, wie wir damals bei Leah waren und mein Autofenster nicht mehr
ging und Miehschell mit diesem Drahtbügel auf den Knien rumgerutscht ist? Das hat Leon
hinterher mindestens EINEN MONAT von mir zu hören gekriegt.
Total feinfühlig ist der. Total familienorientiert.

Jedes Mal, wenn ich überlege: Wo sind sie nur hin, die ganzen guten schwarzen
brothers?, dann denk ich mir, entspann dich: immerhin gibt es ja Miehschell.
Ja, bloß sind die alle schon vergeben!

HAHAHAHAHAHAHA Und zwar an die Weißen!


Jetzt sag doch so was nicht. Leah, sie will dich nur ärgern.
Hack nicht auf Leah rum! Sie kann doch nichts dafür, dass Leon ein Loser ist.

Leon ist in Ordnung.


(Voll der Loser. ›Leon, was machst du heute Abend?‹ ›Chillen mit den Jungs.‹ Der ist
immer nur am ›Chillen‹.)
Leon ist in Ordnung. Aber im Ernst, du hast schon Glück.
Und ’ne Föhnfrisur kriegt sie noch obendrauf!
Ein Mann, der dir die Haare macht! Ist doch das Paradies auf Erden. Der kann Cornrows,
der kann Extensions ...
Was soll sie denn mit Cornrows, Kelly? Sie ist doch nicht Bo Derek.
HA! (Nee, Leah, nichts für ungut – sorry, aber das war jetzt echt witzig!)
Ich mein ja nur, er ist Profi. Der kann jede Sorte Haare.
Und hetero ist er auch noch. Aber hallo!
Aber hallo! Hahaha Aber hallo.
Ja. (Hoffen wir’s mal!)
Das macht mich ja so fertig! Von allem nur das Beste!
Und du kriegst das einfach so. Du weißt echt nicht, wie gut du’s hast.
Nee, das weiß sie nicht, sie weiß echt nicht, wie gut sie’s hat.
Du weißt nicht, wie gut du’s hast.
Weißt du nicht. Du weißt echt nicht, wie gut du’s hast.
Endlich fünf. Leah schaut hoch. Kelly schlägt auf ihren Schreibtisch.
– Feieraaabend!
Jeden Tag derselbe Witz. Ein Witz, den man machen kann, wenn man nicht Leah ist,
nicht die einzige Weiße im Fondsvertriebsteam. Auf dem Gang strömen Frauen aus allen
Zimmern, hinaus in die Hitze, kakaogebuttert, bereit für einen lauen Abend auf der Edgware
Road. Von St. Kitts, Trinidad, Barbados, Grenada, Jamaika, aus Indien und Pakistan, vierzig,
fünfzig, sechzig und trotzdem noch mit Brüsten und Hintern und glatten Beinen und offenen
Armen, mit denen sie die Erotik des Frühsommers auf eine Weise willkommen heißen, wie es die
Frauen aus Leahs Familie niemals könnten. Sonne schadet ihnen. Zu rothaarig, zu blass. Leah ist
ganz in langes weißes Leinen gehüllt. Wie eine B-Heilige. Sie reiht sich ein. Passiert dabei den
Tatort, den Abfalleimer im Pausenraum, versteckt hinter einer Topfpflanze, in den sie sich
erbrochen hat, weil sie es nicht mehr bis zum Klo geschafft hat.
9

Von A nach B:
A. Yates Lane, London NW8, Großbritannien
B. Bartlett Avenue, London NW6, Großbritannien

Wegbeschreibung zu Fuß zur Bartlett Avenue, London NW6, Großbritannien


Vorgeschlagene Strecken

A5 47 Min. 3,86 Kilometer A5 und Salusbury Road 50 Min. 4,02 Kilometer A404 / Harrow Road
58 Min. 4,50 Kilometer
1. Links in die Yates Lane einbiegen 12 Meter 2. Weiter nach Südwesten auf die Edgware Road
96 Meter 3. An der A5 / Edgware Road rechts abbiegen Weiter auf der A5 2,57 Kilometer 4. An
der A4003 / Willesden Lane links abbiegen 1,12 Kilometer 5. Links in die Bartlett Avenue
einbiegen 0,16 Kilometer
Ziel auf der linken Seite
Barlett Avenue, London NW6, Großbritannien

Diese Wegbeschreibung dient nur zu Planungszwecken. Es ist möglich, dass die


Verkehrsverhältnisse aufgrund von Baustellen, Verkehr, Wetter oder anderen Faktoren von den
hier dargestellten Vorschlägen abweichen. Sie sollten daher Ihre Reise entsprechend planen und
alle Verkehrsschilder oder Hinweise bezüglich Ihrer Route beachten.
10

Von A nach B, Extended Version:


Süßlicher Wasserpfeifen-Gestank, Couscous, Kebab, die Abgase bewegungsloser Busse.
98, 16, 32, nur noch Stehplätze – da ist man doch zu Fuß schneller! Ausbrecher aus dem St.
Mary’s in Paddington: werdender Vater, rauchend, alte Frau im Rollstuhl, rauchend, zäher
Knochen mit Urinbeutel und Blutkonserve, rauchend. Alle stehen sie auf Kippen. Alle. Polnische
Zeitung, türkische Zeitung, arabische, irische, französische, russische, spanische, Nachrichten aus
aller Welt. Das (geklaute) Handy entsperren, abgepackte Batterien kaufen, abgepackte
Feuerzeuge, abgepacktes Parfum, Sonnenbrillen, drei für fünf Pfund, ein lebensgroßer
Porzellantiger, goldene Wasserhähne. Spielcasino! Alle glauben ans Schicksal. Alle. Musste ja so
kommen. Hat eben nicht sollen sein. Deal Or No Deal? Fernsehbildschirme im Fernsehladen.
Fernsehkabel, Computerkabel, AV-Kabel, mach ich dir guten Preis, guten Preis. Werbe-Flyer,
Weltweit Billiger Telefonieren, Englischunterricht, Augenbrauen-Waxing, Falun Gong, Steht
Jesus auf Deiner persönlichen To-do-Liste? Alle lieben Chicken-Nuggets. Alle. Bank of Iraq,
Bank of Egypt, Bank of Lybia. Leere Taxis wegen der Sonne. Gettoblaster, einfach so. Einsamer
Italiener in Slippern, verirrt, auf der Suche nach Mayfair. Tausendundeine Möglichkeit der
Vermummung: das schwarze Ganzkörperzelt, das Gesichtsgitter, der bedeckte Hinterkopf,
Louis-Vuitton-Logo, Gucci-Logo, gelbe Spitze, an der Sonnenbrille befestigt, kaum vorhanden,
gestreift, bonbonrosa; kombiniert mit Jogginganzügen, hautengen Jeans, Sommerkleidern,
Blusen, Hemdchen, Hippieröcken, Schlaghosen. Kein Zusammenhang mit den Diskussionen in
den Zeitungen, im Parlament. Alle lieben Sandalen. Alle. Vogelzwitschern! Von der
heruntergekommenen, schmierigen Einkaufspassage zu Luxuswohnungen bis zum Engländer als
König im eigenen Haus. Cabrio, Klappverdeck, Hip-Hop im Vorbeifahren. Watch the money pile
up. Holla! Bewegungsmelder, Sicherheitstore, Sicherheitsmauern, Sicherheitsbäume, Tudor,
Moderne, Nachkrieg, Vorkrieg, Steinananas, Steinlöwen, Steinadler. Ostwärts der Traum vom
Regent’s Park, von St. John’s Wood. Die Araber, die Israelis, die Russen, die Amerikaner: Hier
sind sie vereint im möblierten Penthouse, in der Privatklinik. Wenn wir genug Geld hinblättern,
wenn wir die Augen zukneifen, dann braucht es Kilburn gar nicht zu geben. Gratismahlzeiten.
Englisch als Fremdsprache. Da ist die Schule, in der sie den Direktor erstochen haben. Da ist das
Islamic Centre of England, gleich gegenüber vom Queen’s Arms Pub. Da versucht mal zu
vermitteln, ihr Schiedsrichter vom Dienst! Alle lieben das Grand National. Alle. Ist es wirklich
erst April? Und da laufen sie!
11

So nah an daheim, auf der Willesden Lane. Seltsame Zusammenkunft. Sie lehnt an einer
kaputten Telefonzelle, kaut auf einem Eisstiel herum. Dicke, zerbrochene Scheiben,
Scherbenquader überall. Keine paar Meter von Cleopatra’s Massage Emporium. Leah sperrt die
Augen weit auf, um alle Details für Michel abzuspeichern – eines der Dinge, die die Ehe so mit
sich bringt. Nur die falschen Details dringen durch. Ausgebeulte graue Jogginghose, schmutzig
weißer Sport-BH. Sonst nichts, kein Oberteil. Auch keine Schuhe! Kleine Brüste, eng am Körper.
Schwer zu glauben, dass sie Kinder geboren hat. Vielleicht war das ja auch gelogen. Eine
schmale Taille, die man umfassen möchte. Schön ist sie im Sonnenlicht, irgendwo zwischen
Junge und Mädchen, erinnert sie Leah an eine Zeit in ihrem eigenen Leben, als sie noch nicht
gezwungen war, diesbezüglich endgültige Entscheidungen zu treffen. Begehren ist nie endgültig,
Begehren ist unpraktisch und unpräzise: Du läufst auf sie zu, richtig schnell läufst du auf sie zu,
und was dann? Und was dann? Leah ist schon fast da, als sie ihrerseits gesichtet wird. Es ist jetzt
drei Wochen her. Shar lässt den Hörer los und will über die Straße. Der Verkehr ist
stoßzeitheftig. Erst ist Leah froh, dass Michel nicht dabei ist. Dann verwandelt sich ihr Gesicht in
seines, und seine Stimme kommt aus ihrer Kehle, vielleicht ist das aber auch nur eine eheliche
Ausrede, und es ist ihre eigene Stimme, die aus ihrer Kehle kommt:
– Und, bist du stolz auf dich? Diebin! Ich will mein Geld zurück!
Shar duckt sich und schlüpft zwischen den Autos durch. Sie rennt auf zwei Männer zu,
die in einem Hauseingang stehen, groß, die Gesichter von Kapuzen verdeckt. Shar schlingt sich
um den Größeren. Leah hastet heim. Hinter ihr schlagen unverständliche Beschimpfungen ein,
die auf sie zielen, ein Jargon wie ein Maschinengewehr.
37

Vor Jahren, im Bett, neben einer geliebten Freundin, besprachen sie die Zahl 37. Dylan
sang dazu. Die Freundin hatte die Theorie, dass die 37 einen Zauber besitzt, der uns einfach zu
ihr zieht. Ganze Webseiten widmen sich dem Phänomen. Die Fantasiehäuser im Kino, im
Roman, auf Gemälden und im Gedicht: fast immer Nummer 37. Die Zahl, die man willkürlich
auswählen soll: meistens 37. Achte auf die 37, sagte die Freundin, beim Lotto, im Fernsehquiz, in
unseren Träumen und unseren Witzen, und das tat Leah, das tut Leah heute noch. Remember me
to one who lives there. She once was a true love of mine. Die Freundin ist jetzt auch verheiratet.
Das Haus Ridley Avenue 37 ist besetzt. Wird besetzt? Die Haustür ist verrammelt. Ein
Fenster eingeschlagen. Hinter zerrissenen grauen Vorhängen dringt Menschenlärm nach draußen.
Leah schleicht aus dem Schatten der Hecke bis auf den Hof. Niemand sieht sie. Nichts passiert.
Sie bleibt stehen, einen Fuß knapp über dem Boden. Was sie alles anfangen könnte mit 37 Leben!
Sie hat ein Leben: Sie ist unterwegs zu ihrer Mutter, sie wollen ein Sofa kaufen gehen. Wenn sie
noch lange hier rumsteht und glotzt, kommt sie zu spät. Im Erkerfenster vorn: Mickey, Donald,
Bart, ein namenloser Bär, ein Elefant mit abgerissenem Rüssel. Stofffratzen hinter schmutziger
Scheibe.
12

– Das hat ja gedauert. Geht’s dir gut? Ein bisschen schmal siehst du aus. Wir nehmen
doch die Jubilee, oder?
Pauline kommt rückwärts aus der Haustür, einen Einkaufsrolli mit Schottenmuster im
Schlepptau. Jedes Mal ein wenig älter als erwartet. Und kleiner. Von der Straße aus muss es wie
der Inbegriff menschlicher Perfektionierung wirken: jede Generation eine Veredelung der
vorherigen. Fitter, gesünder, produktiver. Aus der Eule erhebt sich der Phönix. Aber erhebt er
sich nur, um wieder zu fallen? Wird immer länger, bis es wieder kürzer wird.
– Ich mache mir Sorgen um dich. Du wirkst ganz mitgenommen.
– Mir geht’s bestens.
– Und wenn nicht, würdest du es mir auch nicht sagen.
Was gibt es schon zu sagen? Immer noch auf der Suche nach ihr, fast einen Monat später.
Immer darauf gefasst, dass sie aus diesem Laden kommt, hinter dieser Ecke auftaucht, an dieser
Telefonzelle. Das abwesende Mädchen ist für Leah realer als das kaum beachtenswerte
Bäuchlein, das sie ständig bei sich hat, auch wenn es unter dem Sweatshirt verschwindet.
– Ich schwitze schon wieder wie ein Schwein, dabei habe ich nur eine Bluse an. Das ist
doch nicht normal.
Der Hindutempel hat die gleichen Farben wie Fürst-Pückler-Eis und im Wesentlichen
auch die gleiche Form. Eine Packung Fürst-Pückler-Eis mit zwei umgedrehten Waffelhörnchen
an jeder Seite. Alte Hindus strömen die Stufen hinab, trauen der Schönwetterwelle nicht. Sie
tragen Pullover zu ihren Saris, Jacken und warme Wollsocken. Sie sehen aus, als wären sie zu
Fuß von Delhi bis nach Willesden gekommen und hätten auf dem Weg nach Norden immer
weitere Wollschichten angelegt. Jetzt streben sie geschlossen zur nächsten Bushaltestelle, und die
Menge schluckt Leah und ihre Mutter und trägt sie mit sich fort.
– Das ist doch günstig. Wir nehmen den Bus. Das spart Zeit.
– Wer mit über dreißig noch den Bus nimmt, hat es im Leben zu nichts gebracht.
– Ach, Schätzchen, jetzt hab ich meine Monatskarte vergessen! Wie war das gerade,
Liebes?
– Margaret Thatcher. Damals.
– Einmal bis Kilburn, bitte. Zwei Pfund! Das war ja vielleicht eine Ziege! Du kannst dich
nicht mehr erinnern, aber ich erinnere mich sehr gut. Heute ist es nur Brent, morgen vielleicht
schon ganz Großbritannien!
– Setz dich da hin, Mum. Ich setze mich hierher. Ist ziemlich voll.
– Auf der Titelseite der Mail! Heute ist es nur Brent, morgen vielleicht schon ganz
Großbritannien! Was sich manche Leute rausnehmen. So eine Frechheit.
Leah starrt auf ein Bindi ihr gegenüber, bis es verschwimmt, gewaltig anschwillt und ihr
ganzes Blickfeld einnimmt, sodass sie glaubt, in diesen Punkt einzudringen, ihn zu durchqueren
und dadurch in ein freundlicheres Universum parallel zu unserem zu gelangen, wo die Menschen
einander durch und durch kennen, wo es keine Zeit gibt und keinen Tod und keine Angst und
keine Sofas und kein
– sicher nicht immer einer Meinung, aber er liebt dich. Und du liebst ihn. Ihr solltet euch
beeilen. Der Bezirk hat euch doch sehr gut untergebracht, ein kleines Auto habt ihr auch, feste
Stellen. Das ist jetzt einfach der nächste Schritt.
Du bist die Nächste. Das ist der nächste Schritt. Nächster Halt Kilburn Station. Die Türen
falten sich nach innen, ein Großstadtinsekt, das seine Flügel anlegt. Ein verschleiertes Mädchen
mit Handy am Ohr steigt ein, als sie aussteigen, und stört den Redefluss mit ihrem Lachen, ihren
weggelassenen Hs und ihrer Schminke, aber Pauline wird so oder so zwangsläufig sagen, was sie
immer sagt, elegant variiert, je nach aktueller Nachrichtenlage.
– Da brauchen sich nur zwei zu küssen, also, in Dubai – und kriegen beide zwölf Jahre.
So was ist da einfach nicht erlaubt. Wirklich ein Elend.
Doch dieses Elend wird sofort von einem anderen, näherliegenden Elend überlagert. Vor
den Fahrkartenautomaten eine abgerissene junge Frau und ein hochgewachsener Typ, die den
Affen schieben. Pauline flüstert Leah ins Ohr.
– Ich bin wirklich dankbar, dass ich keine Kinder habe, die so was tun.
In rascher Abfolge schießen Leah vergangene Freuden durch den Kopf, und die
Erinnerung daran ist fast unerträglich lustvoll: Schnee und Braunes, biogen und synthetisch,
Pillen und Pulver.
– Ich weiß wirklich nicht, was daran komisch sein soll. Ach, ich kann einfach nicht
fassen, dass ich die Karte daheim gelassen habe. Ich habe sie sonst immer in dieser Tasche.
– Ich habe über was anderes gelacht.
Tageskartetageskartetageskarte.
– Was sagt das arme Ding?
– Ich glaube, sie wollen ihre Tageskarten verkaufen.
Ein Elend, aber auch eine Möglichkeit, Geld zu sparen. Pauline reckt sich und tippt dem
Mann auf die Schulter.
– Wie viele Zonen? Und wie viel wollen Sie dafür?
– Tageskarte für heute. Sechs Zonen. Zwei Pfund.
– Zwei Pfund! Und woher weiß ich, dass die echt ist?
– Mum! Da steht doch das Datum drauf, Herrgott!
– Ich zahle ein Pfund, mehr nicht.
– Geht klar, Mrs Hanwell.
Blick nach oben. Eine Art holprige Zeitreise in zwei Richtungen: das Kind mit diesem
Mann überblenden, den Mann mit dem Kind. Vertraut das eine, fremd der andere. Der Mann hat
einen zotteligen Afro, eine kleine graue Feder steckt darin. Die Kleider zerlumpt. Ein großer Zeh
bohrt sich durch die krümelige Gummisohle eines uralten, rot gestreiften Nike Air. Das Gesicht
viel älter, als es sein dürfte, selbst angesichts des rabiaten Umgangs der Zeit mit menschlichem
Rohmaterial. Hinten am Nacken hat er einen komischen weißen Fleck. Und doch tut das seiner
Schönheitslinie keinen Abbruch.
– Nathan?
– Tag, Mrs Hanwell.
Es tut gut, Pauline fassungslos zu sehen, die schweißnassen Haarspitzen, die sich um ihr
Gesicht ringeln.
– Ja, wie geht’s dir denn, Nathan?
– Man schlägt sich so durch.
Zittern. Ein tiefer Schnitt an der Wange, der noch nicht alt sein kann. Trotzdem ein
offenes, aufrichtiges Gesicht. Ohne jede Heuchelei. Was es nur noch schlimmer macht.
– Wie geht es deiner Mutter, deinen Schwestern? Du erinnerst dich doch sicher noch an
Leah. Sie ist jetzt verheiratet.
– Ach was. Das ist ja schön.
Er lächelt Leah schüchtern an. Mit zehn hatte er ein Lächeln! Nathan Bogle: der wahre
Inbegriff des Begehrens für Mädchen, die dieses Gefühl bis dahin allenfalls mit bestimmten
Duftradiergummis verbanden. Ein Lächeln, das die Entschlossenheit selbst der strengsten Lehrer
und Eltern ins Wanken bringen konnte. Mit zehn hätte sie alles, alles darum gegeben! Heute sieht
sie Zehnjährige und kann nicht fassen, dass sie all das in sich verbergen, was sie in dem Alter in
sich barg.
– Lange her.
– O ja.
Deutlich länger für ihn. Etwa einmal im Jahr sieht sie ihn auf der High Road. Dann
verschwindet sie in einem Laden oder überquert die Straße, steigt in einen Bus. Jetzt fehlt ihm ein
Zahn hier und dort und da. Verwüstete Augen. Was weiß sein müsste, ist gelb. Rote Äderchen
überall.
– Da hast du dein Pfund. Pass gut auf dich auf, ja? Und grüß deine Mutter von mir.
Rasch durch die Absperrung, sie stoßen in der Hektik aneinander, und schnell die Treppe
hinauf.
– Das war ja schlimm.
– Seine arme Mutter! Vielleicht schaue ich die Tage mal bei ihr vorbei. Was für ein
Elend. Ich hatte ja davon gehört, aber es mit eigenen Augen zu sehen ...
Die U-Bahn kommt, und Leah sieht zu, wie Pauline ihr gelassen entgegenblickt und bis
an den gelben Sicherheitsstreifen vortritt. Dieses Pauline’sche Reich – das Reich des Elends – ist
beständig und unausweichlich, so wie ein Hurrikan oder ein Tsunami. Es ist keine konkrete
Angst damit verbunden. Normalerweise ist das auszuhalten; heute erscheint es widerwärtig. Das
Elend ist viel zu weit weg von Paulines eigener Welt, die einfach nur enttäuschend ist. Es lässt
die Enttäuschung als Segen erscheinen. Wahrscheinlich sind Nachrichten aus der Welt des Elends
deshalb so willkommen, so befriedigend.
– Du hast so für ihn geschwärmt, das weiß ich noch. Später war er dann mal ein paar
Jahre im Kittchen. Aber er hat nicht diesen Mord begangen, nein, das war jemand anders. War er
nicht mal in der Geschlossenen? Eine Zeit lang? Seinen Vater hat er windelweich geprügelt, da
bin ich mir sicher. Wobei der Kerl es auch nicht anders verdient hatte.
Als die Bahn anfährt, nimmt Leah zwei Gratiszeitungen von einem Stapel, weil Lesen
Schweigen heißt.
Sie versucht, sich auf einen Artikel zu konzentrieren. Es geht um eine Schauspielerin, die
ihren Hund im Park spazieren führt. Aber Pauline will einen anderen Artikel lesen, über einen
Mann, der nicht war, was er zu sein vorgab, und reden will sie darüber auch.
– Na, das haben sie jetzt von ihrer Unfehlbarkeit! Über unseren Verein kann man ja alles
Mögliche sagen, aber immerhin behaupten wir nicht, wir wären unfehlbar. Von wegen
Gottesmänner! Diese armen Kinder. Gestört fürs Leben. Und so was schimpft sich dann
Religion! Na, hoffen wir mal, dass die Sache jetzt ein für alle Mal ein Ende hat.
Weil der ganze Waggon mithört, sieht Leah sich zu einer sanften Verteidigung veranlasst,
in Gedenken an den Duft von Weihrauch, die üppigen Putten, den goldenen Strahlenkranz, den
kalten Marmorboden, geschnitztes Flechtwerk aus dunklem Holz, Frauen kniend und flüsternd
und Kerzen entzündend, auf der InterRail-Tour neunzehnhundertdreiundneunzig.
– Ich wünschte, wir hätten die Beichte. Ich würde gerne beichten.
– Ach, Leah, werd endlich erwachsen!
Pauline blättert energisch die Seite um. Das Fenster dokumentiert die Skyline von
Kilburn. Unsaniert, unsanierbar. Hier ist von Booms und Pleiten nichts zu spüren. Hier ist die
Pleite Dauerzustand. Das leere State Empire, das leere Odeon, graffitiverschmierte
Gleisverkleidungen, die auftauchen und verschwinden wie klapprige Achterbahnen. Kunterbunt
durchmischte Dächer und Schornsteine, manche hoch, manche niedrig, dicht an dicht, wie in der
Schachtel hochgeklopfte Kippen. Hinter dem Fenster gegenüber Willesden auf dem Rückzug.
Nummer 37. Um 1880 herum wurde das alles in einem Rutsch hochgezogen – Häuser, Kirchen,
Schulen, Friedhöfe – die optimistische Vision von Metro-Land. Kleine Reihenhäuser,
Prachtbauten im Pseudo-Tudor-Stil. Alles nur vom Feinsten! Toiletten im Haus, heißes Wasser.
Komfortables Landleben für Leute, die die Stadt satthatten. Vorgespult. Unkomfortables
Stadtleben für Leute, die ihr Land satthaben.
– Aus-brei-tung von Vul-kan-asche?
Pauline artikuliert sorgfältig jede einzelne Silbe, als zweifelte sie an ihrem
Wahrheitsgehalt, und hält ihrer Tochter das Foto zu dicht vor die Nase. Leah kann nur einen
gewaltigen grauen Wirbel erkennen. Vielleicht ist da aber auch nicht mehr zu sehen. Das
Szenepärchen gegenüber diskutiert die Sache ebenfalls. Gaias Rache, sagt das Mädchen zum
Jungen. Wenn man nur lange genug austeilt, kriegt man’s irgendwann zurück. Pauline, die keine
Möglichkeit zum Gruppengespräch auslässt, beugt sich vor.
– Kein Obst und Gemüse mehr in den Läden, heißt es. Leuchtet ja auch ein, wenn man
mal überlegt. Wir leben hier schließlich auf einer Insel. Das vergesse ich immer wieder, Sie
auch?
13

– Bist du fertig am Rechner?


– Ich muss noch warten, bis sie schließen.
– Es ist schon fast sieben. Ich muss da jetzt auch mal ran.
– Im Netz gibt es kein sieben. Warum machst du nicht so lange deinen eigenen Kram?
– Dafür brauche ich ja den Rechner.
– Leah, ich sag dir Bescheid, wenn ich fertig bin.
Terminhandel. Ausschöpfen der Volatilität. Sie versteht nur etwas von Wörtern, nicht von
Zahlen. Die Wörter klingen bedrohlich. Dazu dieser Blick, den Michel gerade hat, geballte
Aufmerksamkeit. Die innere Zeitrechnung dehnt sich und steht still, ohne irgendein Gefühl für
die Minuten und Stunden, die draußen vergehen. Noch fünf Minuten! Das antwortet er jedes Mal
gereizt, egal, ob nun dreißig vergangen sind oder hundert oder zweihundert. Pornos haben
dieselbe Wirkung. Und Kunst, heißt es zumindest.
Leah bleibt in der dunklen Kammer hinter Michel stehen. Das bläuliche Schimmern des
Bildschirms. Er ist einen halben Meter von ihr entfernt. Er ist am anderen Ende der Welt. Warum
machst du nicht so lange deinen eigenen Kram?
Sie hat die Vorstellung, dass sie schon seit Wochen Unmengen von Dingen vor sich
herschiebt, und jetzt wird sie das alles erledigen, mit der Lichtgeschwindigkeit eines Zeitraffers,
wie im Mittelteil eines Films. Im Wohnzimmer läuft der Fernseher. Noch mehr bläuliches Licht
im Flur. In der Kammer spielt der Rechner zornigen Hip-Hop, ein Zeichen, dass es nicht
besonders gut läuft. Manchmal fragt sie ihn: Ist es weg? Dann wird er wütend, sagt, so läuft das
nicht. An manchen Tagen verliere ich, an manchen Tagen gewinne ich. Aber wie kann er bloß
immer und immer wieder dieselben achttausend Pfund gewinnen und verlieren? Leahs einziges
Erbe von Hanwell, ihre einzigen Ersparnisse. Das Geld an sich ist nur noch Idee, eine Idee, die
Hanwell, der Materialist, der sein ganzes Geld in Scheinen aufbewahrte, in einem Schuhkarton in
der Mahagonianrichte, niemals begriffen hätte. Leah begreift sie genauso wenig. Sie setzt sich
auf einen Stuhl in die offene Tür zwischen Küche und Garten. Die Zehen im Gras. Am Himmel
ist es leer und still. Von der Sendung im Radio nebenan schwappt Entrüstung herüber:
Zweiundfünfzig Stunden hat die Rückreise von Singapur gedauert! Eine neue alte Lektion über
die Zeit. Brokkoli kommt aus Kenia. Blutkonserven müssen transportiert werden. Soldaten
brauchen Nachschub. Das Gros des besseren Teils von NW ist über Ostern in den Urlaub
gefahren, mitsamt den lieben Kleinen. Vielleicht kommen sie ja nie mehr zurück. Ein Gedanke,
auf dem man sich davontreiben lassen kann.
Ned scheppert die schmiedeeisernen Stufen hinunter, schaut zum Himmel.
– Echt abgefahren.
– Mir gefällt’s. Ich mag die Stille.
– Also, mich macht das fertig. Wie in Cocoon.
– Ach was.
– Die ganze Stadt ist leer. Arbus in der Portrait Gallery, und kein Mensch da. Wahnsinn!
Echt ’ne Erfahrung.
Leah überlässt sich Neds ausführlicher, aufgeregter Schilderung. Sie beneidet ihn um
seine Begeisterung für die Stadt. Er schlägt sich die Zeit nicht mit seinen Exlandsleuten in den
Vorortenklaven um die Ohren, kippt Bier oder guckt Rugby: Er meidet sie, wo er kann.
Bewundernswert. Allein die Stadt erkunden, Musik-Gigs und Vorträge und Filmvorführungen
und Ausstellungen entdecken, abgelegene Parks und geheime Strandbäder. Leah, die
Alteingesessene, geht nie irgendwohin.
– und letztlich um die Integrität von so was wie, wie, wie einer Idee? Hat mich echt
umgehauen. Na ja. Ich bin am Verhungern. Ich geh jetzt hoch und mach mir Pasta mit Pesto.
Aber ich lass dir ein paar hier, dann bist du versorgt.
Er legt drei aufs Fensterbrett, fertig gedreht. Sie betrachtet sie, aufgereiht in ihrer
Handfläche. Den ersten raucht sie schnell weg, bis auf den orangen Pappfilter. Olive jagt
Raschellaute durchs Halbdunkel. Dann den zweiten. Oben sind die Fenster offen: Gloria keift
ihre Kinder an. Nie hört ihr zu! Hab ich vielleicht den ganzen Tag Zeit, euch immer alles
zweimal zu sagen? Leah ruft Olive, und sie kommt herangehoppelt. Leah umfängt sie mit beiden
Armen. Haut wie Fensterleder. Zarter kleiner Rippenbogen mit einer Lücke für jeden Finger. Es
ist nicht richtig, einen Hund so zu lieben, meint Michel, der schon Hühnern den Hals umgedreht,
einer Ziege die Kehle durchgeschnitten hat. Olives Kehle in Leahs Händen – könnte man ein
Kind zärtlicher halten? Seit Olive ist es leicht zu glauben, dass Tiere Gefühle haben. Selbst die
luftbläschenproduzierenden Krabben beim Fischhändler haben plötzlich etwas Tragisches.
Trotzdem isst sie sie alle, immer noch. Was für ein Monster sie ist. Pass auf, ja, sonst komm ich
rüber und knall dir eine! Sie raucht den dritten.
Erst wird es langsam dunkel, dann urplötzlich. Lichterketten, studentenmäßig im
Apfelbaum. Kontaktlinsen, so trocken, dass sie kaum noch etwas sieht. Hinter dem Baum der
Zaun, die Schienen, Willesden. Nummer 37. Aus dieser Richtung kommt ihr Vater auf sie zu. Bei
Neds verkümmertem Rosenstrauch bleibt er stehen. Er hat einen Hut auf.
Wie geht’s denn deinem Hündchen, fragt er.
Leah stellt fest, dass sie antworten kann, ohne den Mund zu öffnen. Sie erzählt ihm alles,
was Olive erlebt hat, seit er letzten November gestorben ist, jede Kleinigkeit, all die vielen
Kleinigkeiten! Noch das dümmste Detail aus ihrem Hundealltag findet er lustig. Er sagt ach je
ach je, wischt sich ein paar Krümel von der ausgeleierten blauen Wolljacke und lacht in sich
hinein. Er ist genauso angezogen, wie sie ihn in Morehurst angezogen haben, bis auf diesen
Trilby – das einzige Wort, das Leah für solche altmodischen Hüte kennt –, den hat sie noch nie
gesehen. Am Oberschenkel hat er einen weißen Fleck, wie Sperma, klebrig in einer Ritze der
verschlissenen braunen Cordhose, die zu säubern kein Mensch für nötig hielt. Diese hübschen
Pflegerinnen aus der Ukraine, die nie lange blieben.
Da drüben gibt’s nichts anderes als diese scheiß Füchse, sagt Hanwell trübsinnig.
Die sind tatsächlich eine Plage. Es gab zwar immer schon genauso viele wie jetzt, aber
jetzt bezeichnet man das eben als Plage. Neulich erst die Schlagzeile im Standard:
FUCHSPLAGE IM NORDWESTEN, dazu das Foto eines Mannes, der im Garten kniet,
umgeben von den Kadavern der von ihm erschossenen Füchse. Dutzende und Aberdutzende.
Dutzende und Aberdutzende, sagt Leah, so leben wir heutzutage, müssen unser kleines Fleckchen
Erde verteidigen, früher war das nicht so, aber jetzt ist alles anders, nicht, so heißt es doch immer,
jetzt ist alles anders. Colin Hanwell gibt sich Mühe, ihr zuzuhören. Eigentlich interessiert er sich
nicht sonderlich für Füchse und das, wofür sie stehen.
Na, ich kann verstehen, wie sie draufkommen, sagt Hanwell.
Was?
Ich meine, ich kann verstehen, wie sie auf den Gedanken gekommen sind, so wie du
daherredest.
Was?
Wenn du mir sagst, du bist glücklich, sagt Hanwell, dann bist du glücklich, und damit hat
sich das.
Das Gespräch wendet sich anderen Themen zu. Nie kriegt man die eigene Bettwäsche aus
der Wäscherei zurück. Das Wichtigste ist doch, dass Köchin Maureen die weizenfreie
Tiefkühllasagne akzeptiert und man die dann essen darf, während bei den anderen keiner auf
Diätvorschriften achtet und sie anschließend Blut scheißen und Krampfanfälle kriegen oder
Schluckauf, der nicht mehr weggeht. Ja, räumt Leah ein, ja, Dad, mag sein. Mag sein, dass
Blutscheißen schlimmer ist als Symbole und Elend und die globale Gesamtsituation. So kannst
du mit Ärzten aber nicht reden, flüstert Hanwell, nachher hört dich noch einer, man weiß nie
genau, wann die kommen. Man kann nur beten, dass sie’s tun.
Leah hat zunehmend das Gefühl, die Oberhand zu gewinnen und den Rest der Begegnung
nach ihren Wünschen gestalten zu können. Sie lässt ihren Vater Dinge sagen, dirigiert ihn,
bewegt seine Arme und steuert seine Mimik, erst harmlos und dann ganz bewusst, sodass er sagt:
Ich hab dich lieb, weißt du. Und dann: Liebes, ich hab dich immer lieb gehabt, das weißt du doch.
Und: Ich hab dich lieb mach dir keine Sorgen es ist schön hier. Und sogar: Ich sehe ein Licht.
Nach einiger Zeit wirkt das merkwürdig an ihm, und Leah schämt sich und lässt es wieder.
Trotzdem bleibt er und hält damit die verführerische Aussicht auf Wahnsinn aufrecht, was für ein
wunderbarer Luxus. Wenn sie nicht in ihr Alltagsleben zurückmüsste mit Behörden und Mieten
und Mann und Job, könnte sie einfach durchdrehen! Warum nicht einfach durchdrehen!
Und denk dran: Immer schön das Gartentor mit dem Wasserdruck verschließen wo das
Gas heiß im Backofen ist von dem Schalter zum Abstellen und dann lässt du es einfach nur mit
roten Zwiebeln und einer Prise Zimt und bist zurück bevor du ein Minicab brauchst – und zwar
ohne Alkohol, rät Hanwell.
Sie kann ihn nicht dazu bringen, näher zu kommen. Trotzdem ist es, als läge seine Hand
in ihrer und seine Wange an ihrer und Leah küsst seine Hand und spürt seine Tränen am Ohr,
weil er doch immer so ein rührseliger alter Trottel war. Sie drückt seine Hand mit ihren beiden
Händen. Sie sind herbstlich trocken. Sie spürt die fleischige Beule der hartnäckigen Wunde
mitten in der Handfläche, immer noch nicht verheilt, weil solche Dinge ab einem gewissen Alter
einfach nicht mehr heilen wollen. Bläulich und voller Blut, dabei war es nur eine ganz leichte,
unbedeutende Abschürfung, vor vielen, vielen Monaten, an der Kante des Spieltischs im
Gemeinschaftsraum. Die Haut hing herunter. Sie haben sie zurückgerollt und mit Pflastern fixiert.
Aber trotzdem blieb die Wunde das ganze letzte Jahr hindurch bläulich und voller Blut.
Leah sagt: Geh nicht weg, Dad!
Hanwell sagt: Muss ich denn irgendwohin?
Michel sagt: Der Rechner ist frei!
14

Ein großer Hügel sitzt rittlings über NW, erhebt sich in Hampstead, West Hampstead,
Kilburn, Willesden, Brondesbury und Cricklewood. Die literarische Welt ist ihm nicht fremd. Die
Frau in Weiß erklimmt ihn auf der einen Seite, um auf der anderen dem Straßenräuber Jack
Sheppard zu begegnen. Mitunter verirrt sich selbst Dickens so weit nach Norden und Westen, um
ein Pint zu heben oder jemanden unter die Erde zu bringen. Und da, auf dem Teppich der
Bibliothek zwischen Science-Fiction und Lokalgeschichte: ein verknotetes, spermagefülltes
Kondom. Einst waren hier nur Weiden und Felder, und die Landsitze nickten einander von der
Kuppe des Hügels zu. Jetzt sind sie U-Bahn-Stationen gewichen, im Abstand von jeweils einem
knappen Kilometer.
Es ist etwas über einen Monat her, seit das Mädchen vor der Tür stand – Ende Mai. Die
Kastanien zeigen sich in buschiger Pracht, auch wenn jeder weiß, dass sie von Blattbräune
befallen sind. Leah ist auf der Brondesbury zugewandten Seite, geht in der prallen Sonne bergauf,
ohne zu ahnen, wer oder was ihr da entgegenkommt. Sie ist so überrumpelt, dass sie sich in ein
reflexhaftes Gefühl rettet: Abscheu. Funkelt sie an, so wie man das früher auf dem Schulhof
machte. Weil dieser Blick so spät kommt und so dicht vor Shars Gesicht, wirkt er aggressiver als
geplant. Wenn Michel nur hier wäre! Aber Michel ist nicht hier. In letzter Sekunde versucht Leah
einen Schritt zur Seite, hofft, einfach so vorbeizukommen. Eine kleine Hand packt sie am
Handgelenk.
– EY! DU!
Sie hat nichts auf dem Kopf. Dichtes schwarzes Haar strebt ungebändigt in alle
Richtungen. Zwischen den verhüllenden Strähnen entdeckt Leah ein katastrophal
lila-gelblich-schwarz verfärbtes Auge. Nässe quillt daraus hervor, Tränen oder sonst etwas
Unwillkürliches. Leah versucht zu sprechen, stammelt aber nur.
– Was willst du von mir? Was soll ich sagen? Dass ich dich beklaut hab? Ich bin’n
Junkie. Ja, ich hab dir Geld geklaut. Alles klar? ALLES KLAR?
– Lass dir doch helfen, vielleicht kann ich ... es gibt Orte, da kriegt man ... Hilfe.
Leah graust es vor der eigenen Stimme. Wie schwächlich sie klingt! Wie ein bettelndes
Kind.
– Ich hab dein Geld nicht, klar? Ich hab ’n Problem. Kapierst du das? ICH HAB GAR
NICHTS FÜR DICH! Ich brauch das nicht, dass ihr mich hier jeden scheiß Tag anmacht, du und
deine Sippe. Mit dem Finger zeigt, rumbrüllt. Das halt ich nicht mehr aus, sag ich dir ganz
ehrlich. Was willst du von mir? Willst du mich fertigmachen?
– Nein, ich ... Kann ich dir nicht helfen, irgendwie? Kann ich irgendwas tun?
Shar lässt los, zuckt mit den Achseln und dreht sich weg, schwankt, fällt fast hin. Die
Augen rollen in ihrem hübschen Kopf nach hinten. Leah streckt die Hand aus, um sie zu stützen.
Shar schubst sie grob weg.
– Nimm meine Telefonnummer. Bitte. Ich schreib sie dir auf. Ich arbeite bei, also, ich hab
viel mit, mit Wohltätigkeitsorganisationen zu tun, über die Arbeit, du weißt schon, da lässt sich
vielleicht ...
Leah schiebt Shar einen zerknitterten Umschlag in die Tasche. Shar droht mit dem Finger,
hält ihn ihr dicht vors Gesicht.
– Ich halt das nicht mehr aus. Ich halt’s nicht aus.
Leah sieht ihr nach, wie sie stolpernd über die Kuppe läuft und dann weiter bergab.
15

Im Bus der Linie 98 sitzt ihr eine Frau mit einem Baby auf dem Schoß gegenüber, einem
kleinen Mädchen. Sie zeigt dem Kind eine Packung Bildkarten, zwecks geistiger Anregung.
Elefant. Maus. Teetasse. Sonne. Wiese mit Muh-Kühen. Das Kind fühlt sich vor allem von der
Karte angeregt, die ein menschliches Gesicht zeigt. Das ist die einzige Karte, nach der es
glucksend greift. So eine kluge Lucia! Die fetten Fingerchen grapschen danach. Dann greifen sie
ebenso heftig nach dem Gesicht der Mutter. Nein, Lucia! Das Kind droht loszuheulen. Manche
Sachen sind Menschen, erklärt die Mutter, und andere Sachen sind Bilder, und manche Sachen
sind weich und andere Sachen hart. Leah schaut aus dem Fenster. Der Regen ist rücksichtslos.
Die Flugzeuge sind an den Himmel zurückgekehrt. Die Arbeit ist die Arbeit. Die Zeit hat nichts
Unheimliches mehr. Sie ist einfach wieder Zeit. Leah hat sich etwas Literatur von der Arbeit
mitgenommen, aus dem Literaturschrank. Professionelle Organisationen, die professionelle Hilfe
anbieten. »Mehr« kann man nicht tun. Jetzt ist es Zeit, den Süchtigen »seine eigenen
Entscheidungen treffen zu lassen«. Denn »man kann niemanden dazu zwingen, sich die nötige
Hilfe zu holen«. Alle sagen dasselbe. Alle sagen dasselbe auf dieselbe Weise. Leah steigt an der
Willesden Lane aus und geht weiter, so schnell sie kann, aber der Bus würgt den Motor ab, hält
hinter ihr. Sie hat das ganze Unterdeck als Publikum, während sie sich über einer Hecke vor der
Kirche zusammenkrümmt. Kotze, die hauptsächlich aus Wasser besteht, kaum vom Regen zu
unterscheiden. Diese Kirche ihrer Kindheit, wo sie samstags bei den Wölflingen war, ist jetzt zu
Luxuswohnungen umgebaut, von denen jede ihren eigenen Anteil an schicken Buntglasfenstern
hat. Dort, wo sich früher ein kleiner Friedhof befand, parkt jetzt eine Ansammlung kleiner
Sportwagen. Der Bus rumpelt in Richtung High Road davon. Sie richtet sich auf, wischt sich den
Mund mit dem Schal. Geht zügig weiter, einen lächerlichen Schirm in der einen Hand, von dem
ihr Regen in den rechten Ärmel tropft. Nummer 37. Sie sieht die Faltblätter rasch durch, wie ein
braves Mädchen am Briefkasten, das noch einmal das Porto prüft,und schiebt sie hinein.
37

Eigentlich hätte sie sich eine andere Methode gewünscht. Irgendein altes Hausmittelchen,
das sich diskret daheim anwenden lässt, unter Verwendung alltäglicher Produkte aus dem
Badezimmerschrank. Alles andere wird teuer. Alles andere taucht auf dem gemeinsamen
Kontoauszug auf. Im Netz finden sich nur Moralapostel und kein einziger praktischer Hinweis,
bis auf die alten Schauermärchen einer vormoralischen Vergangenheit: Ginbäder und Hutnadeln.
Wer hat schon Hutnadeln? Stattdessen ist sie nun hier, mit einer alten Kreditkarte aus
Studienzeiten. Ein seltsamer Ort. Ein Nicht-Ort. Könnte auch ein Zahnarzt sein, ein
Chiropraktiker. Privatpraxen! Weiche Sofas, gläserne Couchtische, Privatsphäre. Keine
Klemmbretter. Keiner, der fragt:

a) Unterziehen Sie sich diesem Eingriff aus freier Entscheidung?


b) Haben Sie jemanden, der Sie nach dem Eingriff nach Hause bringt?

Hier fragt nur eine junge Frau, ob sie ein Glas Wasser möchte und wie sie bezahlen will.
Sonst nichts. Geld verhindert Beziehungen, Verpflichtungen. Es ist alles ganz anders. Damals,
mit neunzehn, hat sich die Uni-Krankenschwester um alles gekümmert. Sie saß mit einer lieben
Exgeliebten auf dem Krankenbett, beide im Sommerkleid, mit baumelnden Beinen, wie zwei
kleine unartige Mädchen, die sich eigentlich nur dafür interessierten, wie das mit der Narkose
funktioniert.
– Ich hab noch gemerkt, er hält mein Handgelenk und zählt, zehn, neun, acht, und im
nächsten Moment – also wirklich im nächsten Moment! – war jetzt, und du hast mich auf die
Stirn geküsst.
– Das waren zweieinhalb Stunden!

In gewisser Weise eine sehr viel größere Offenbarung als all die verwirrenden
Vorlesungen über das Bewusstsein, Descartes und George Berkeley.
Zehn neun acht ...
Das waren zweieinhalb Stunden! Kein Buch hätte sie je so überzeugen können wie
dieser Tag. Zehn neun acht ... und weg. So eine Süße! Das hätte sie ja wirklich nicht tun müssen.
Ein Vorteil daran, Frauen zu lieben, von Frauen geliebt zu werden: Sie tun immer Dinge, die weit
über den Ruf der Pflicht hinausgehen. Zehn neun acht. Und wieder im Leben. Ein Kuss auf die
Stirn. Und außerdem ein Kinder-Abziehbild, an der Wand direkt vor ihr. Tigger, Puh und
Christopher Robin, alle ohne Kopf. Ein freies Bett auf der Kinderstation? Sie erinnert sich nur an
zehn neun acht – diesen schmerzlosen Probetod. Ein nützliches Erlebnis, an das man denken
kann, wenn man um sein Leben fürchtet. (In kleinen Flugzeugen, im tiefen Wasser.) Beim ersten
Mal war sie im zweiten Monat. Beim zweiten Mal im zweiten Monat plus drei Wochen. Dies ist
das dritte Mal.
Die Sprechstundenhilfe hinkt durch den Raum. Knöchel verstaucht, ein schmutzig weißer,
flatternder Verband. Leah läuft rot an. Sie schämt sich vor einem gedachten Niemand, den es gar
nicht gibt und der trotzdem unsere Gedanken überwacht. Sie ruft sich zur Ordnung. Klar, es ging
bei all dem natürlich nicht um ihr eigenes Nichtsein, klar, sondern um das Nichtsein von jemand
anderem. Klar. Ja, das meinte ich doch, das wollte ich doch denken, klar. Was normale Frauen so
denken.
– Mrs Hanwell? Wenn Sie so weit wären.
16

– Nicht wichtig? Was soll denn das heißen? Wie kannst du uns diese ganze Geschichte
erzählen und nicht ein einziges Mal das Kopftuch erwähnen?
Natalie lacht. Frank lacht. Michel lacht am lautesten. Leicht beschwipst. Nicht nur von
dem Prosecco in seiner Hand. Auch von der Pracht dieses viktorianischen Hauses, dem Ausmaß
des Gartens, davon, dass er eine Anwältin und einen Banker kennt, dass er dieselben Sachen
lustig findet wie sie. Die Kinder toben wie aufgezogen durch den Garten und lachen, weil alle
anderen auch lachen. Leah schaut zu Olive hinunter und streichelt sie energisch, bis dem Hund
unwohl wird und er sich verzieht. Sie schaut hoch zu ihrer besten Freundin Natalie Blake und
hasst sie.
– Unsere Leah ... immer will sie irgendwen retten.
– Ist das nicht eigentlich deine Aufgabe?
– Leute verteidigen ist nicht dasselbe wie sie retten. Und inzwischen mache ich sowieso
praktisch nur noch Handelsrecht.
Natalie schlägt ein nacktes Bein über das andere. Glatt ebenholzschwarz statuesk. Den
Kopf direkt zur Sonne geneigt. Frank genauso. Sie sehen aus wie König und Königin im Profil
auf einer alten Münze. Leah muss im Schatten dessen bleiben, was Frank die »Laube« nennt. Die
beiden Frauen blinzeln sich über die Weite des wohlgepflegten Rasens hinweg an. Sie gehen sich
auf die Nerven. Sie gehen sich schon den ganzen Nachmittag auf die Nerven.
– Ich treffe sie ständig überall.
– Naomi, hör auf damit.
– Sie war bei uns auf der Schule. Schwer zu glauben.
– Ach ja? Wieso? Naomi, lass das. Komm weg von dem Grill. Das ist Feuer, heiß. Komm
her.
– Ist ja auch egal.
– Entschuldige, sag’s mir noch mal. Ich hör dir zu. Shar. An den Namen kann ich mich
gar nicht erinnern. Vielleicht war das während unseres »Bruchs«? Da bist du ja mit ganz vielen
Leuten rumgezogen, die ich nicht kannte.
– Nein. In der Schule hatte ich nichts mit ihr zu tun.
– Naomi! Ich mein’s ernst! Entschuldige – also, sag mal: Was ist denn jetzt das Problem?
– Es gibt kein Problem. Gar keins.
– So ist die Welt eben, das ist nicht besonders ...
– »Sagte sie und brach ab.«
– Bitte? Naomi, komm jetzt her!
– Nichts.
Frank kommt mit der Flasche, im selben Maße überschwänglich Leah gegenüber wie
seine Frau schroff zu ihr ist. Sein Gesicht ist ihrem sehr nahe. Er duftet überteuert. Leah lehnt
sich zurück und lässt ihn einschenken.
– Wie kommt es eigentlich, dass alle von eurer Schule cracksüchtige Kriminelle
geworden sind?
– Und wie kommt’s, dass alle von deiner im Tory-Kabinett sitzen?
Frank grinst. Er sieht gut aus sein Hemd ist perfekt seine Hose ist perfekt seine Kinder
sind perfekt seine Frau ist perfekt und dieses Glas Prosecco ist perfekt temperiert. Er sagt:
– Es muss ja unglaublich beruhigend sein, so eine klare Zweiteilung der Welt im Kopf zu
haben.
– Frank, hör auf, sie zu ärgern.
– Leah nimmt mir das nicht übel. Du nimmst mir das doch nicht übel, Leah. Ich bin ja eh
schon zweigeteilt, du wirst also verstehen, dass es mir schwerfällt, so zu denken. Wenn ihr zwei
mal Kinder habt, werden die wissen, was ich meine.
Leah versucht, Frank jetzt so wahrzunehmen, wie er das anscheinend möchte: als
Vorschau auf eine ganz bestimmte Zukunft für sie und für Michel. Das Kaffeebraun, die
Sommersprossen. Aber von genetischen Zufälligkeiten einmal abgesehen hat Frank absolut nichts
mit Leah oder Michel gemeinsam. Einmal hat sie seine Mutter kennengelernt. Elena. Sie hat
darüber geschimpft, wie provinziell Mailand doch sei, und Leah geraten, sich die Haare zu
färben. Frank stammt aus einem anderen Teil des Multiversums.
– Meine Schwiegermutter in ihrer unendlichen Weisheit sagt immer, wenn man die
wahren Unterschiede zwischen den Menschen erfahren will, macht man am besten den
Gesundheitsberater-Test. Man klingelt bei ihnen, und wenn sie sich dann auf den Boden legen
und das Licht ausknipsen, taugen sie nichts!
Michel sagt:
– Das habe ich nicht verstanden. Was soll das heißen?
Natalie erläutert:
– Manche Leute machen Marcia einfach nicht auf, sie haben Angst, dass sie etwas mit
dem Sozialamt oder sonst einer Behörde zu tun hat. Die wollen vor allem nicht wahrgenommen
werden. Falls meine Mutter also jemals bei euch klingeln sollte, legt euch um Himmels willen
nicht auf den Boden.
Michel nickt ernst, nimmt sich diesen Ratschlag zu Herzen. Er sieht nicht, was Leah sieht.
Wie Natalie mit den Fingern auf den Gartentisch trommelt und in den Himmel schaut, während
sie spricht. Er sieht nicht, dass wir sie langweilen, dass sie wünschten, sie wären uns los, diese
Altlasten. Und er hört auch nicht auf, er sagt:
– Diese Leute, die würden sich bestimmt auf den Boden legen. Sie wohnen in der Ridley
Avenue. Und wir haben gefunden, dass sie alle zusammenleben, in eine besetzte Haus an der
Ridley Avenue, vielleicht vier oder fünf solche Frauen, die auf der Straße unterwegs sind und an
Türen klingeln, und wir glauben, da sind auch ein paar Kerle dabei. Zuhälter wahrscheinlich.
Aber du hast mit so was ja jeden Tag zu tun. Ich muss dir das nicht erzählen, du kennst das ja. Du
siehst solche Leute bestimmt jeden Tag, jeden Tag, oder? Vor Gericht.
– Michel, Schatz ... Das ist, als würde man auf einem Fest einen Arzt bitten, sich das
Muttermal anzuschauen, das man auf dem Rücken hat.
Michel sagt immer aufrichtig, was er denkt, und es ist seltsam, dass gerade diese
Eigenschaft, die Leah im Privaten ausgesprochen schätzt, ihr in der Öffentlichkeit so peinlich ist.
Nat sieht Spike dabei zu, wie er durch ein Blumenbeet tapst. Dann richtet sich ihre
Aufmerksamkeit wieder auf Leah, und Leah fällt ihr Urteil: heiter, ein bisschen herrisch.
Unaufrichtig.
– Nein, das interessiert mich, Michel, red nur weiter, entschuldige.
– Der andere, ein Typ, der war auch bei euch auf der Schule. Der hat sie vor ein paar
Wochen auf der Straße nach Geld gefragt.
– So war das doch überhaupt nicht! Er redet von Nathan Bogle. Der hat Tageskarten an
der U-Bahn verkauft. Du weißt ja, dass er das macht, du hast ihn doch auch schon gesehen, in
Kilburn, manchmal auch in Willesden?
– Hmm.
Es ist entwürdigend, so viel abgrundtiefe Langeweile bei der langjährigsten Freundin
auszulösen. Leah muss zu all den alten Namen und Gesichtern greifen, um sie überhaupt noch
halbwegs zu fesseln.
Frank sagt:
– Bogle? War das nicht der, den sie wegen Heroinschmuggels geschnappt haben?
– Nein, das war Robbie Jenner. Aus dem Jahrgang drunter. Bogle war nie auf dem
Niveau. Er hat die Schule geschmissen, um Fußballer zu werden. Spike, Schätzchen, bitte lass
das.
– Und? Ist er Fußballer geworden?
– Wie? Ach ... nein. Nein.
Vielleicht existiert ja auch die Brayton nicht mehr für sie. Vorbei, abgelegt. Sie ist
vermutlich ebenso erstaunt, aus der Brayton hervorgegangen zu sein, wie die Schule sich
wundert, sie hervorgebracht zu haben. Nat, das eine Mädchen aus dem
Tausend-Schüler-Hexenkessel, das es zu etwas gebracht hat; vielleicht sogar zu so viel, dass sie
vergessen hat, wo sie herkommt. Um so ein Leben zu führen, muss man doch alles vergessen,
was vorher war. Wie schafft man das sonst?
– Das war ein echt süßer Junge. Seine Mutter war Sankt-Luzierin. Sankt-Luzianerin?
Unsere Mütter kannten sich alle. Richtig hübsch und nur Scheiß im Kopf. Hat er nicht auch
Schlagzeug gespielt? Ziemlich gut sogar. Er saß immer neben Keisha. Als sie noch Keisha war.
Ich war wahnsinnig eifersüchtig, damals, mit acht. Oder nicht, Keisha?
Natalie kaut an einem Nagel, sie kann es nicht ausstehen, wenn man sie ärgert. Lässt sich
nicht gern an ihre eigenen Ungereimtheiten erinnern. Insgeheim riskiert Leah eine etwas härtere
Formulierung: ihre Heucheleien. Leah kommt täglich an der alten Siedlung vorbei, auf dem Weg
zum Laden an der Ecke. Sie sieht sie vom Garten aus. Nat wohnt gerade weit genug weg, um sie
zu meiden. Alle Treffen finden sowieso hier statt, bei Nat daheim, und warum auch nicht? Es ist
doch so ein schönes Haus! Leah wird rot, als sich ein unrechtes Wort in ihre Gedanken drängt,
Shars Wort: Kokosnuss. Außen braun, innen weiß. Und dann mischt Michel sich ein und macht
die Sache perfekt:
– Du hast ja deinen Namen geändert. Das vergesse ich immer wieder. Nach dem Motto:
Zieh dich so an, dass es dem Job entspricht, den du willst, nicht dem Job, den du hast. Mit dem
Namen ist das auch so, so empfinde ich das.
Aber für Leah ist schon wieder alles gelaufen durch das deprimierende So empfinde ich
das, was er immer nur sagt, wenn er hier ist, und was ihr peinlich ist. Natalie reißt die Augen auf;
sie stürzt sich nur so auf den Themenwechsel, zu dem Kinder anscheinend immer einen Anlass
bieten.
– Michel, du musst mir helfen: Was soll ich bloß damit anfangen?
Nat fasst Naomi mit beiden Händen ins Haar und demonstriert die Knoten darin, indem
sie vergeblich mit den Fingern durch die Nester fährt, während das Kind unter ihren Händen
zappelt.
– Sie lässt mich einfach nicht an sich ran, also sollte ich sie vielleicht von dir rasieren
lassen, oder? Sie könnte morgen zu dir in den Salon kommen, dann wird alles abrasiert.
Naomi kreischt auf. Michel beantwortet die Frage freundlich, taktvoll, aufrichtig. Er rät
von drastischen Maßnahmen ab, empfiehlt Pflegespülungen und Kokosöl. Auch nach so vielen
Jahren im Land kommt ihm die englische Vorliebe, Kinder mit Ironie zu quälen, noch seltsam
vor. Nat behält ihr strahlendes Lächeln fest im Gesicht.
– Schon gut, schon gut, Naomi. NAOMI! Mum hat doch nur Spaß gemacht ... Keiner wird
dir ... Ja, stimmt, über Nacht Zöpfe flechten, das müsste helfen, vielen Dank, Michel ...
Frank sagt:
– An meiner Schule gab es nie so was wie Ferien. Meine Mutter hat mich immer erst an
Weihnachten wieder zu sehen gekriegt.
Seine Frau lächelt traurig und gibt ihm einen Kuss auf die Wange.
– Oh, ich bin sicher, die gab es. Aber wie ich deine Mutter kenne, hat sie dich einfach nie
abgeholt.
Nicht witzig, sagt Frank. Ziemlich witzig, sagt Natalie. Leah sieht zu, wie Nat die
Gänseblümchenkette übernimmt, die Naomi angefangen hat. Den Stängel mit dem Daumennagel
spalten, das nächste Gänseblümchen durchfädeln.
– Ich werde meine Kinder bestimmt nicht aufs Internat schicken. Ganz allein in einer
Klasse mit dreißig weißen Kindern. Da muss man ja durchdrehen.
– Unsere Kinder. Und zwanzig weiße. Mir hat’s nicht geschadet.
– Du trägst Slipper, Frank.
Nicht witzig, sagt Frank. Ziemlich witzig, sagt Natalie. Manchmal versucht Leah,
zwischen den beiden etwas Krankhaftes zu entdecken – etwas Faulendes, Infektiöses –, doch die
Patienten springen eisern immer wieder vom Krankenbett auf und frotzeln sich an. Küssen sich
gegenseitig auf die Wange.
– Du machst sie putt!
Leah schaut auf die Gänseblümchenkette. Naomi hat recht: Nat hat sie putt gemacht. Und
Spike bringt die Sache zu Ende, indem er sich die Kette schnappt und ihre Einzelteile wieder auf
dem Rasen verstreut. Schon geht das Geschrei los. Leah setzt das milde Lächeln eines
kinderlieben Menschen auf. Frank erhebt sich und klemmt sich unter jeden Arm ein strampelndes
Kind.
– Sie kommen demnächst auf die Klosterschule, damit sie für unsere Sünden büßen.
Franks Standardverhalten Leah gegenüber besteht in einer Art Selbstparodie. Leah macht
ihm einen Strich durch die Rechnung, indem sie die Ahnungslose spielt, ihn zwingt, klar zu
sagen, was er indirekt andeuten will.
– Auf die Klosterschule? Jetzt schon?
Natalie sagt:
– Das ist alles ein Witz: Die Schule ist kostenlos, aber anscheinend müssen wir jetzt
schon anfangen, in die Kirche zu gehen. Vorab investieren. Sonst werden sie nicht aufgenommen.
Ich hoffe, wir finden irgendwo was halbwegs Entspanntes. Wo geht denn Pauline immer hin?
– Mum? Die geht höchstens einmal im Monat. St. Sonstwas, sagt mir gar nichts. Wenn du
willst, frage ich sie.
Frank lässt seine Kinder wieder frei und seufzt.
– Seid ihr nicht auch langsam dran?
Das übernimmt Michel. Sein Thema, seine Welt. Es folgt ein Gespräch über das
Innenleben von Leahs Körper und wie viel mehr dort in den letzten Jahren los gewesen wäre,
wenn bloß mal jemand auf Michel gehört hätte. Leah konzentriert sich auf Natalie. Körperlich ist
sie hier, aber wo sind ihre Gedanken? Bei der Arbeit? Bei irgendeiner großartigen außerehelichen
Leidenschaft? Oder wünscht sie sich einfach nur, dass diese Leute endlich gehen, damit sie ihr
wahres Leben, das Familienleben, wiederaufnehmen kann?
– Verflixt! Das Bananenbrot! Das habe ich ja ganz vergessen. Komm, Naomi, hilf mir
beim Servieren.
Leah sieht zu, wie Natalie mit langen Schritten in ihrer bildschönen Küche verschwindet,
gefolgt von ihrem bildschönen Kind. Hinter diesen Terrassentüren ist alles erfüllt und voller
Bedeutung. Die Gesten, die Blicke, die unhörbaren Gespräche. Wie wird man nur so erfüllt? So
erfüllt von lauter Dingen voller Bedeutung? Alles andere hat Nat irgendwie abgestreift. Sie ist
erwachsen.
Wie macht man das?
– Und ... Michel. Wie läuft’s denn sonst so, Mann? Bring mich mal auf den neuesten
Stand. Was macht die Haarbranche? Wollen die Leute noch ... bei der schlechten
Wirtschaftslage?
Franks Miene zeigt leise Panik, mit den seltsamen Freunden seiner Frau allein zu sein.
– Ehrlich gesagt, Frank, ich arbeite mich gerade ein bisschen in dein Gebiet ein, in
kleinem Umfang.
– In mein Gebiet?
– Daytrading. Im Internet. Nachdem wir letztes Mal gesprochen haben, weißt du, da habe
ich mir ein Buch gekauft und ...
– Du hast dir ein Buch gekauft?
– Eine Anleitung ... und dann habe ich selbst ein bisschen rumprobiert, kleine Beträge,
nur für den Anfang.
Franks Miene legt nahe, dass weitere Erklärungen nötig sind, er wittert irgendwo
Unmöglichkeiten. Diese Form der Demütigung ist äußerst subtil, und doch wird Michel sie
irgendwie in veränderter Form an Leah weiterreichen, wie eine Flüssigkeit, die sich in Gas
verwandelt, später noch oder morgen, bei einem Streit, im Bett.
– Na ja, Leahs Vater hat ihr, uns, eine kleine Summe hinterlassen.
– Ah, verstehe! Na, eine kleine Summe ist doch ein guter Ausgangspunkt. Aber hör mal,
Michel, ich will wirklich nicht dafür verantwortlich sein, dass du dein letztes Hemd verlierst ...
Ich arbeite ja für einen Global Player, wir haben eine Art Sicherheitsnetz, aber als einzelner
Händler sollte man wirklich nicht vergessen, dass ...
Leah seufzt hörbar. Es ist kindisch, aber sie kann nicht anders. Frank dreht sich mit
begütigendem, müdem Lächeln zu ihr um. Er legt ihr mahnend einen Finger auf die Schulter,
tippt sie sanft an.
– Ich wollte eigentlich nur sagen, Michel, es wäre sinnvoll, sich bei einem Online-Portal
anzumelden, bei Today Trader beispielsweise oder etwas Ähnlichem, und erst einmal mit
Spielgeld herumzuprobieren, um ein Gefühl für die Sache zu kriegen ...
– Entschuldigt ihr mich? Ich glaube, Olive muss kacken, und ich will nicht, dass sie das
hier auf eurem perfekten Rasen macht.
– Leah!
– Nein nein nein, schon gut, Michel, wir kennen uns ja schon so lange, Leah und ich. Ich
bin ihre schrägen Einfälle gewöhnt. Spike, wollen wir mit Olive einmal um den Block laufen,
bevor sie wieder nach Hause muss? Komm, wir holen mal eine Plastiktüte, ja?
Leah und Michel bleiben auf dem Rasen zurück, im Schneidersitz, wie Kinder. In diesem
Haus fühlt sie sich immer wie ein Kind. Kuchenzutaten und schicke Teppiche und Zierkissen und
Polstersessel mit edlen Bezügen. Kein Futon weit und breit. Über Nacht sind alle erwachsen
geworden. Während sie noch im Werden war, sind alle anderen längst fertig geworden.
– Warum behandelst du mich eigentlich immer wie den letzten Idioten?
– Bitte?
– Ich stelle dir eine Frage, Leah.
– Das wollte ich nicht. Ich kann es nur einfach nicht ertragen, wenn er dich so von oben
herab behandelt.
– Hat er gar nicht. Aber du.
– Wer ist das eigentlich? Wer ist diese Person? Diese bourgeoise Existenz!
– Bourgeoise, bourgeoise, bourgeoise. Manchmal glaube ich, du kennst gar kein anderes
französisches Wort. Du bist so eine richtige Engländerin geworden ... die ihre ganzen Freunde
nicht mehr leiden kann.
Frank kommt wieder durch die Terrassentür. Wäre er aufmerksamer, er hätte sie ertappt in
ihrem Punch-und-Judy-Modus, erstarrt in einer Haltung des Abscheus und des Zorns. Doch
Frank ist nicht besonders aufmerksam, und als er den Kopf hebt, sind sie längst wieder, was sie
immer zu sein scheinen: ein glücklich verliebtes Paar.
– Weißt du, wo die Leine ist?
Hinter ihm kommt Nat nach draußen, heiter, undurchschaubar. Naomi hockt seitlich auf
ihrer Hüfte, wie das Baby, das sie vor nicht allzu langer Zeit noch war. Ihre wilden Afrolocken
stehen in alle Richtungen ab. Leah beobachtet, wie Michel das Kind betrachtet. Er hat einen
Ausdruck tiefen Verlangens im Gesicht.
17

– Tante Leah! Tante Leah! Mummy sagt LANGSAMER!


Leah bleibt stehen, schaut zurück. Kein Mensch ist zu sehen, dann biegt Nat um die Ecke,
mit einem theatralischen Seufzer. Der Buggy ist leer, sie hat Spike auf dem Arm, Naomi zerrt an
ihrem T-Shirt. Gulliver, kurz davor, von den Liliputanern überwältigt zu werden.
– Lee, bist du sicher, dass das stimmt? Sieht so gar nicht danach aus.
– Am Ende dieser Straße. Auf der Karte macht sie einen Bogen und führt dann wieder
zurück. Pauline hat schon gemeint, es ist schwer zu finden.
– Ich seh nur das Amtsgericht und ... einen Kreisverkehr? Hierbleiben, Kinder, bei mir
bleiben. Da kann man ja auch gleich auf dem Seitenstreifen der Autobahn spazieren gehen. Was
für ein Albtraum. Kennedy Fried Chicken. Polish Bar and Pool. Euphoria-Massagen. Wie schön,
wenn man so viel von der Umgebung sieht. Das kann unmöglich noch Willesden sein. Fühlt sich
schon mindestens wie Neasden an.
– Die Kirche macht es doch erst zu Willesden. Sie steht für die Gemeinde Willesden.
– Okay, aber wo ist sie? Wie kommt Pauline hier überhaupt hin?
– Mit dem Bus, nehme ich an. Keine Ahnung.
– Was für ein Albtraum.
Die Straße macht einen Bogen. Sie finden sich auf einem schmalen Streifen Asphalt
wieder, an dessen Ende ein Poller steht, und halten die Kinder fest, während zu beiden Seiten
Autos vorbeirasen. Rechts von ihnen ein zwangsvollstrecktes Einkaufszentrum und ein
fehlgeplanter Büroblock, leer, jedes zweite Fenster eingeschlagen. Links ein grasbewachsenes
Inselchen, das sich an die zweispurige Schnellstraße schmiegt. Als grüne Oase gedacht, wird es
als Müllkippe missbraucht. Eine patschnasse Matratze. Ein umgekipptes Sofa mit zerschnittenen
Polstern und scheußlichen Flecken. Ausgefallenere Gegenstände, die von eilig aufgegebenen
Leben berichten: ein halbes Mofa, eine enthauptete Stehlampe, eine Autotür, ein Hutständer, so
viele Linoleumrollen, dass sie für einen ganzen Badboden reichen würden.
In einer Verkehrslücke flitzen sie wie ein einziges aufgescheuchtes Tier über die breite
Straße und lassen sich dann los, keuchend, die Hände auf die Knie gestützt. Leah, die Anweisung
hat, es achtundvierzig Stunden »ruhig angehen« zu lassen, spürt leichten Schwindel im Kopf. Sie
dreht sich weg, hebt langsam den Kopf und entdeckt sie als Erste: altertümliche Zinnen und ein
Kirchturm, die gerade so zwischen den Ästen einer gewaltigen Esche zu sehen sind. Nur zwanzig
Meter weiter offenbart sich die Szenerie in ihrer ganzen Unwahrscheinlichkeit. Eine kleine
Dorfkirche, eine mittelalterliche Dorfkirche, gestrandet auf diesem Viertelhektar inmitten eines
Kreisverkehrs. Aus Zeit und Raum gefallen. Ein Kraftfeld heiterer Ruhe umgibt sie. Vor dem
Ostfenster ein Kirschbaum. Ein niedriges Backsteinmäuerchen ringsherum markiert den alten
Grenzverlauf, kaum abschreckender als ein Schutzwall aus Gänseblümchen. Die Türen der
Familiengrüfte sind eingetreten. Viele Grabsteine bunt verziert. Leah, Nat und die Kinder
passieren das Friedhofstor, pausieren unter dem Glockenturm. Das blaue Zifferblatt blinkt in der
Sonne. Es ist halb zwölf am Vormittag, in einem fernen Jahrhundert, einem fernen England. Nat
wischt sich mit einem Windeltuch den Schweiß von der Stirn. Die Kinder, bis dahin laut und
quengelig in der Hitze, werden still. Durch den schattigen Friedhof windet sich ein Weg, die
viktorianischen Grabsteine weisen nur die jüngste Schicht von Toten aus. Natalie steuert den
Buggy über den holprigen Untergrund.
– Irre. Die habe ich noch nie gesehen. Dabei bin ich hier schon hundert Mal
vorbeigefahren. Hast du noch das Wasser-Dings, Lee? Wahrscheinlich gefällt’s Pauline
deswegen hier. Weil sie so alt ist. Weil man dem Alten noch trauen kann.
Leah verschränkt die Arme eng vor der Brust und wird zu ihrer Mutter, setzt die Miene
ihrer Mutter auf: die nach unten gezogenen Mundwinkel, die flatternden Lider, in ständiger
Abwehr aller Stäubchen dieser Welt und deren Bestreben, Pauline in die Augen zu fliegen.
Natalie, mitten im Schluck, prustet heftig los, bekleckert sich mit Wasser.
– Also, diese neumodischen Kirchen sind ja wirklich nichts für mich. Darum reiße ich
mich wirklich nicht. Den Alten kann man wenigstens noch trauen, das steht fest.
– Hör auf, sonst ersticke ich noch. Ich habe mein ganzes Leben hier verbracht und nicht
mal gewusst, dass es so einen Ort gibt. All die Jahre mit Marcia in dieser Sardinenbüchse von
Pfingstgemeinde, dabei hätten wir die ganze Zeit hier sein können! Hör mir doch zu, Keisha. Ich
will doch nur, dass der Geist des Herrn uns alle erfüllt.
Über ihre Mütter können sie sich lustig machen, doch den ernsten Zauber dieses Orts
können sie nicht durchbrechen. Die Kinder tappen zögernd zwischen den Gräbern herum, wollen
wissen, ob da unten in echt tote Menschen liegen. Leah beschleunigt, verlässt den Weg und stapft
durch das hohe Gras, während Nat mit ihren Sprösslingen über den feinen Unterschied zwischen
den kürzlich Verstorbenen und den längst Verstorbenen debattiert. Leah streckt die Arme nach
beiden Seiten aus. Mit den Fingern streift sie die Spitzen der größeren Grabsteine, eine verfallene
Steinurne, ein bröckelndes Kreuz. Bald ist sie hinter der Kirche. Ringsum drängt die
Vergangenheit, teils noch leserlich auf verwitterten, trübselig schief stehenden Steinen.
Säuglingssterben und tödliche Wochenbetten. Krieg und Krankheit. Wuchtige Tafeln, bedeckt
von Efeu, von Flechten, von gelben Schimmel- oder Moosflecken.
Emily W... aus dieser Gemeinde in ihrem ...

dreißigsten Jahr aus dem Leben geschieden

Im Jahre des Herrn achtzehnhundertsiebenund...

Sie hinterlässt sechs Kinder und ihren Gatten Albert,

der ihr bald ins ... nachfolgte

Marion ... aus dieser Gemein...

Verstorben am 17. Dezember 1878 mit 2... Jahren

Desgleichen Dora, Tocht... der Obigen,

Verstorben am 11. Dezember 1878

Achtundvierzig Stunden lass es ruhig angehen


In dieser schrecklichen Sonne

Lass es ruhig angehen, Leah Hanwell

aus dieser Gemeinde,

Einzige Tochter Colin Hanwells,

desgleichen aus dieser Gemeinde.

Für den Rest des Lebens lass es ruhig angehen.

Leah lehnt sich an einen Stein, der so groß ist wie sie. Darauf drei Hochrelieffiguren, fast
völlig unkenntlich. Sie schiebt die Finger in die moosigen Kerben. Eine Frau mit gerafften
Röcken hält etwas an sich gedrückt, einen formlosen Klumpen, vielleicht ein Geschenk, und von
beiden Seiten strecken zwei kleine Jungen in Kitteln die Arme nach ihr aus. Sie ist niemand. Die
Zeit hat alle Einzelheiten weggenagt: kein Name kein Datum kein Gesicht keine Knie keine Füße
keine Erklärung für das geheimnisvolle Geschenk ...
– Lee, alles klar bei dir?
– Heiß. Es ist so wahnsinnig heiß.
Durch zwei schwere Holztüren gelangen sie ins Innere. Die Messe geht gerade zu Ende.
Eigentümlicher, hochkirchlicher Weihrauchgeruch hängt in der Luft. Sie gehen am Rand entlang,
meiden die Blicke der Gläubigen. Herrlich kühl hier drinnen, besser als jede Klimaanlage.
Natalie nimmt sich eine Infobroschüre. Die geborene Autodidaktin, will es immer ganz genau
wissen. Das muss wohl dieser Bruch gewesen sein. Der Bruch hat alles verändert. Während
dieser kurzen Pause in ihrer langen Geschichte, zwischen sechzehn und achtzehn, ist sie Natalie
Blake geworden. Hat sich auf dem Boden der Kensal-Rise-Bücherei weitergebildet, während
Leah den lieben langen Tag Dope geraucht hat. Natalie nimmt sich immer die Broschüren, die
Broschüren und alles andere auch.
– Begründet wurde die Gemeinde im Jahr 938 ... nichts mehr übrig von der
ursprünglichen Kirche ... die heutige Kirche wurde ca. 1315 erbaut ... In der Tür noch
Original-Einschusslöcher aus der Zeit Cromwells ...
Naomi rennt voraus und klettert auf das Taufbecken (ca. 1150, Purbeck-Marmor). Leah
versucht, der akustischen Reichweite von Natalies Vortrag zu entkommen. Die Messe ist vorbei:
Die Gläubigen defilieren nach draußen. An der Tür versucht der junge Pfarrer, sie in ein
Gespräch zu verwickeln. Er hält eine Hand in die schwabbelige Taille gestützt, wie eine nervöse
alte Frau, eine braune Strähne fällt ihm seitlich in die Stirn. Er hat ein Gesicht, das gern gefallen
würde, daran aber aufgrund eines fliehenden Kinns scheitert. So, wie er ist, wäre er auch 1920
oder 1880 oder 1660 gewesen. Er ist noch derselbe, nur seine Gemeinde hat sich verändert.
Polen, Inder, Afrikaner, Kariben. Die Erwachsenen elegant in glänzenden Anzügen und eng
anliegenden Kleidern vom Markt. Die Jungs tragen dreiteilige Nadelstreifen, die Mädchen halten
ihre kleinen spanischen Schultertücher umklammert, das Haar sorgfältig geglättet und zu
Schmachtlöckchen gelegt. Die Gemeinde hat Erbarmen mit ihrem Pfarrer, der vor sanften
Anregungen überfließt. Vielleicht können wir ja nächste Woche versuchen, einmal pünktlich
anzufangen. Was immer Sie erübrigen können. Was auch immer. Sie lächeln und nicken und
nehmen ihn nicht weiter ernst. Auch der Pfarrer hört sich kaum selber zu. Er konzentriert sich auf
Leah, sucht sie über die Köpfe seiner scheidenden Schäfchen hinweg. Von Osten her strömt Licht
herein. Leah hält instinktiv darauf zu, nähert sich einer schwarz-weißen Marmortafel an der
Wand, von der sie erfährt, dass es ihr gefiel ihn zum gluecklichen Vater von 10 Soehnen & 7
Toechtern zu machen und dieses Denckmal nun in aller Froemmigkeit seinem Andenken weiht.
Er starb in seinem 48ten Jahre. Am 24ten im Monat Maerz AD 1647. Mehr wird über sie nicht
gesagt. Leah möchte die Hand auf die Lettern legen, um zu fühlen, wie kühl sie sind. Aber
Natalie sagt lieber nicht, sie sagt Spike nicht im Weihwasser planschen WOW derselbe Bildhauer
hat auch das Grabmal von ELIZABETH I. nein Schätzchen nicht die sie war vor LANGER
LANGER ZEIT Königin Schätzchen nein Schätzchen sogar noch davor aber hast du gewusst
dass es früher W I L S D O N hieß und das heißt also das heißt Quelle am Fuß eines Hügels und
da kommt auch dieses Wasser her ICH HAB GESAGT HÖR MIT DEM PLANSCHEN AUF.
Leah ist plötzlich schrecklich durstig, sie besteht nur noch aus Durst, sie ist nur noch Durst. Sie
kniet sich hin, begutachtet den Hahn, liest das Schild. Kein Trinkwasser. Geweiht, aber kein
Trinkwasser.
– Mummy!
– Nein, das ist nicht Mummy. Das ist jemand anders. »Der Legende nach mächtiger als
die traditionellen Madonnenfiguren besitzt sie Wunderkräfte, unter anderem die Macht, den
Zufall zu lenken, ein verlorenes Gedächtnis wiederzugewinnen, tote Säuglinge wiederzubeleben
...« Das würde Marcia gefallen ... Manchmal erscheint sie den Leuten draußen auf dem Friedhof.
Marcia hat auch ständig Erscheinungen. Allerdings meistens weiße Madonnen, mit blondem Haar
und einer hübschen Bluse von Marks & Spencer ...
Wie konnte sie daran vorbeilaufen? Hinter ihr eine Madonna, ganz aus pechschwarzem
Lindenholz. Im Arm hält die Madonna ein Riesenbaby in Windeln. Das Christuskind, heißt es auf
dem Schild, die Arme zu beiden Seiten weggestreckt, die Hände schwer von Segen, heißt es auf
dem Schild, doch Leah kann nichts Segensreiches darin erkennen. Es sieht eher nach Vorwurf
aus. Das Baby ist kreuzförmig; es hat die Gestalt dessen, was einmal sein Untergang sein wird.
Es streckt sich Leah entgegen. Es reckt sich, um ihr den Fluchtweg abzuschneiden, sowohl nach
rechts als auch nach links.
– »und wurde zum berühmten Heiligtum Unserer Lieben Frau von Willesden, der
›Schwarzen Madonna‹, während der Reformation zerstört und verbrannt, wie auch die Madonnen
von Walsingham, Ipswich und Worcester, durch den Lordsiegelbewahrer«. Auch ein Cromwell.
Derselbe? Steht hier nicht. Da wäre ein ordentlicher Geschichtsunterricht doch mal sinnvoll
gewesen ... »hier als Heiligtum verehrt seit« ... Sekunde, das ist das Original? Aus dem 13.
Jahrhundert? Das kann ja wohl nicht sein. Wirklich schlecht geschrieben, man versteht ja gar
nicht ... NAOMI KOMM WEG VON DEM
37

»Wie konntest du dein ganzes Leben in diesen Straßen verbringen, ohne von mir zu
wissen? Wie lang hast du geglaubt, mich meiden zu können? Was bringt dich auf die Idee, du
kämst davon? Weißt du nicht, dass ich schon hier bin, seit Menschen um Hilfe flehen? Höre: Ich
bin anders als diese heuchlerischen, bleichen Madonnen, diese zimperlichen Jungfrauen! Ich bin
älter als dieser Ort! Älter noch als der Glaube, der meinen Namen missbraucht! Geist jener
Buchenhaine und Telefonzellen, jener Hecken und Laternenpfähle, jener Süßwasserquellen und
U-Bahn-Stationen, jener uralten Eiben und One-Stop-Shops, jener Weidewiesen und 3-D-Paläste.
Das unbezähmbare England des wahren, des kreatürlichen Lebens! Der alten Kirchen, der neuen,
der Zeit vor allen Kirchen. Ist dir heiß? Ist dir das alles zu viel? Hast du dir etwas anderes
erhofft? Wurdest du falsch informiert? Steckte da noch mehr dahinter? Oder weniger? Wenn wir
es anders nennen, wird dieses schwerelose Gefühl dann verschwinden? Geben dir die Knie nach?
Wer bist du? Willst du ein Glas Wasser? Stürzt der Himmel herab? Hätte alles anders gestaltet
werden können, in anderer Reihenfolge, an einem anderen Ort?«
18

– Also, ich bin ja ständig ohnmächtig geworden. Ständig! Es hieß immer, das ist ein
Zeichen für eine zarte Veranlagung, empfindsam, ein bisschen künstlerisch vielleicht. Aber
damals wurden ja alle entweder Krankenschwester oder Sekretärin. So war das einfach. Wir
hatten ja nicht die Möglichkeiten.
– Es war nur die Hitze.
– Aber du hattest so viel Potenzial, nein, hör mir mal zu, das hattest du wirklich: das
Klavier, die Blockflöte, das Ballett und diese Geschichte mit dem ... dem ... wie nennt man das
noch gleich, du weißt schon – Bildhauern – eine Zeit lang hast du das mit dem Bildhauern so
gern gemacht, und dann die Geige, du warst ein wahres Wunder auf der Geige, und in die
Richtung gab es noch viele kleine Dinge.
– Ich habe einmal eine Schüssel in der Schule getöpfert. Und Geige habe ich nur einen
Monat gespielt.
– Wir haben immer dafür gesorgt, dass du alle Stunden nehmen kannst, fünfzig Pence
hier, fünfzig Pence da, das läppert sich! Und wir hatten es nicht immer so locker! So war dein
Vater – Gott hab ihn selig – er wollte nie, dass du das Gefühl hast, arm aufzuwachsen, obwohl
wir tatsächlich arm waren. Aber du hast dich einfach nie für eine Sache entschieden, das meine
ich ja nur. Der Rasen braucht dringend Wasser.
Pauline bückt sich unvermittelt, richtet sich mit einer Handvoll Gras und Erde wieder auf.
– Londoner Erde. Sehr trocken. Ihr jungen Frauen macht heute natürlich alles ganz
anders. Ihr wartet und wartet und wartet. Ich weiß nur nicht, worauf ihr wartet.
Fast dunkelrot von der Anstrengung, der Helm aus weißem Haar umrahmt feucht und
platt das Gesicht. Mütter versuchen immer, ihren Töchtern etwas Dringendes mitzuteilen, und
genau diese Dringlichkeit stößt die Töchter zurück, treibt sie dazu, sich abzuwenden. Und die
Mütter hängen in der Luft, halten wie bekloppt einen Klumpen Londoner Erde in der Hand, etwas
Gras, ein paar weiße Knollen, eine Löwenzahnblüte, einen dicken Regenwurm, der die ganze
Welt durch sich hindurchwandern lässt.
– Igitt! Leg den Dreck jetzt besser mal wieder hin, Mum.
Sie sitzen nebeneinander auf einer Parkbank, die Michel vor ein paar Jahren entdeckt hat.
Jemand hatte sie mitten auf der Straße stehen lassen, oben am Cricklewood Broadway. Stand da
seelenruhig! Mitten im Verkehr! Als wäre sie einfach aus dem Teerbelag gewachsen. Alle
anderen Wagen wichen ihr aus. Aber Michel bremste den Mini Metro, klappte die Sitze zurück,
öffnete den Kofferraum und zwängte sie, mit Paulines halbherziger Unterstützung, zur
Hintergrundmusik der Autohupen hinein. Zu Hause angekommen, entdeckten sie das Siegel der
Königlichen Parkverwaltung darauf. Pauline nennt die Bank den Thron. Setzen wir uns doch ein
bisschen auf den Thron.
– Es war nur die Hitze. Olive, Schätzchen, komm her.
– Nicht zu mir! Sonst krieg ich gleich wieder knallrote Augen! Das da ist mein Enkelkind.
Das einzige, das ich jemals kriegen werde, wenn das so weitergeht. Ich bin allergisch gegen mein
Enkelkind.
– Jetzt reicht’s, Mum!
Schweigend sitzen sie auf dem Thron und starren in verschiedene Richtungen. Offenbar
sind zwei unterschiedliche Auffassungen von Zeit hier das Problem. Inzwischen, das weiß sie,
sollte sie alle Entscheidungen ihrem biologischen Urinstinkt überlassen. Vielleicht ist sie ja schon
zu lange ein Großstadttier. Jeder Neuankömmling – die Nachrichten treffen jetzt gefühlt täglich
ein – erscheint ihr wie ein schrecklicher Verrat. Warum halten nicht einfach alle still? Sie hat sich
zum Stillhalten gezwungen, doch das hindert die Welt nicht daran, sich weiterzudrehen. Und
alles, was passiert, dient auch nur dazu, die Möglichkeiten all dessen, was nicht passiert ist,
grauenhaft einzuschränken, und darum die Nummer 37, und darum die Tür, die in dem Moment
aufgeht, als sie davorsteht, die Hand voller Broschüren, und Shar, die sagt: Leg die weg, gib mir
die Hand. Wollen wir weglaufen? Bist du bereit? Wollen wir weglaufen? Lass das alles hinter
dir! Wir werden vogelfrei! Unter Hecken schlafen. Den Schienen folgen, bis man am Meer ist.
Aufwachen mit diesem langen schwarzen Haar in den Augen, im Mund. Daheim anrufen von
Fantasie-Fernsprechern, die noch die alten Zwei-Pence-Münzen schlucken. Es geht uns gut,
macht euch keine Sorgen. Ich will stillhalten und mich weiterdrehen. Ich will dieses Leben und
ein anderes. Sucht nicht nach mir!
– will ich doch nur helfen, und ich kriege kein bisschen Dank dafür. Ich weiß nicht
einmal, ob du mir überhaupt zuhörst. Aber von mir aus. Es ist ja dein Leben.
– Was willst du eigentlich mit einem Heiligtum?
– Was meinst du mit Heiligtum? Unsere Liebe Frau? Ach, um die mach ich mir keine
Gedanken. Die ist ganz harmlos. An der Tür steht anglikanisch, und seit tausend Jahren ist sie das
auch. Das reicht mir voll und ganz. Die Leute aus den Kolonien und diese Russischen, die sind
abergläubisch, aber kann man ihnen das verdenken? Sie haben Schreckliches durchgemacht. Wie
käme ich dazu, anderen Leuten ihren Halt zu nehmen?
Pauline schaut vielsagend zu ihrem alten Wohnlock hinüber, wo es von Leuten aus den
Kolonien und diesen Russischen nur so wimmelt. Heute, wie praktisch jeden Tag seit Anbeginn
der Sonnenzeit, ist die Nebelhorn-Frau wieder draußen und führt ein Streitgespräch mit der
unbekannten Person am anderen Ende ihres Headsets. Du disst mich hier? Diss mich gefälligst
nicht! Was immer man sonst von ihr sagen kann, sie ist doch unverkennbar irischer Herkunft.
Niedrige Verbrecherstirn, weit auseinanderstehende Augen. Für die gefallenen Angehörigen ihres
eigenen Stamms hält Pauline ganz besondere Verachtung bereit.
– Solchen Frauenzimmern wie der kann nicht mal mehr die Jungfrau helfen. Ach, hallo,
Edward, mein Lieber!
– Alles im grünen Bereich, Mrs H!
– Ach, das ist aber schön, Sie zu sehen, Ned. Wie geht’s Ihnen, mein Lieber? Gut sehen
Sie aus, wenn man bedenkt. Sie rauchen doch hoffentlich nicht mehr so viel Hasch?
– Leider doch, leider doch. Es schmeckt mir halt einfach.
– Sie verbauen sich damit noch Ihre ganzen Ziele!
– Ich hab doch sowieso nur ein Ziel.
– Und das wäre?
– Sie zu heiraten, ist doch klar. Und das kann’s mir ja wohl kaum verbauen, oder?
– Ach, Sie, hören Sie schon auf!
Glücklich, eigentlich wirklich glücklich, und die Sonne lichtet sich und wird purpurn und
zerlegt sich zu Streifen hinter dem Aquamarinblau des Minaretts, und das bisschen Wind kräuselt
die Georgsflagge oben am alten Block, die dort als Vorbereitung auf das Fußballspiel an einer
Satellitenschüssel hängt. Vielleicht ist es ja nicht so schlimm, dass das Leben nie zu etwas
Überlebensgroßem erblüht ist. Vor Anker in dem Hafen, aus dem sie aufgebrochen war, so wie es
früher fast allen Frauen ging.
– Leah, Schätzchen, dein Telefon klingelt.
Sieh sich das einer an: Der Zaun hier rechts ist fast völlig im Eimer. Das Efeu dringt vom
Wohnblock durch die Lücken und erstickt alles, was Michel zu pflanzen versucht, bis auf den
Apfelbaum, der ihnen allen zum Trotz einfach weiterwächst, ganz ohne Hilfe. Sie schreibt an die
Bezirksverwaltung, aber die hören nicht, Ned schreibt nie, Gloria auch nicht, sie leben
gemeinschaftlich, aber sie ist die Einzige, die auch gemeinschaftlich denkt und großer Gott dieser
arme heimatlose Wurm so bleich in der Sonne. Wie eine Vorhaut, über sich selbst geschoben, vor
und zurück, vor und zurück. Keiner liebt mich keiner kann mich leiden denn ich bin nur ein
wabbeliger Wurm. Aber wer ist die
diese Stimme
so leise
und so brutal, direkt in ihrem Ohr, und sie glaubt, nicht richtig verstanden zu haben, sie
glaubt, verrückt zu werden, sie glaubt
– Wie bitte?
– Hast du kapiert? Komm nicht mehr her!
– Wie bitte? Woher haben Sie diese Nummer?
– Das Mädchen ist meine Sache. Komm nicht mehr her und schieb uns Müll unter der Tür
durch, kapiert? Pass bloß auf. Ich kenn dich. Wenn du noch mal hier aufkreuzt, dann pass bloß
auf.
– Wer spricht denn da?
– Scheiß Lesben-Fotze.
Der Wurm zieht sich in der Mitte zusammen, er hat ja nichts anderes. Terrassenplatten
links von ihm, Terrassenplatten rechts.
– und dann kostet bei Poundland genau dieselbe Packung – derselbe Hersteller, ja? – nur
zwei neunundvierzig! Aber wenn man in solchen Läden einkauft, ist man auch selber schuld,
mehr gibt’s da nicht zu sagen. Leah, Schätzchen? Leah? Leah? Wer war denn das? Am Telefon.
Geht es dir gut?
19

Die Ehre der Ehefrau muss verteidigt werden. Das ist etwas ganz Urzeitliches, erklärt er,
und verweist auf die großen Affen aus dem Dokumentarfilm. So wie das Affenweibchen die
Babyaffen verteidigt, beschützt der Affenmann sein Weibchen. Michel ist sehr glücklich in
seinem Zorn, der sie zueinander unter diesen Baldachin zieht. So eine schöne Zeit hatten sie seit
Monaten nicht miteinander. Sie sitzt am Küchentisch, hält sich selbst umschlungen, während er
auf und ab geht und mit den Armen durch die Luft fuchtelt wie ein großer Affe. Auch sie ist ein
guter Affe; sie will zum gemeinsamen Glück ihrer Affenfamilie beitragen. Und dieser absolut
akzeptable Wunsch bringt sie dazu zu sagen:
– Ich glaube ja. Ich glaube, er war’s. Nur von der Stimme her ist das schwer zu sagen.
Bitte, das ist fast zwanzig Jahre her, dass ich ihn irgendwie näher kannte. Aber ich würde sagen:
ja. Wenn du was Hundertprozentiges von mir hören willst, dann nein, so genau kann ich das nicht
sagen, aber mein erster Gedanke war ja, das ist er, das ist Nathan.
Es passiert so wenig in dieser Ecke von NW. Und wenn es mal Aufregung gibt, ist es
doch ganz natürlich, dass man auch auf dem Bild sein will, genau in die Mitte. Und es klang nach
ihm. Wirklich. Sie erzählt es Michel. Sie erzählt Michel alles, bis auf ein Wort.
20

Zurück von der Filiale der Supermarktkette, wo sie einkaufen, obwohl der örtliche
Lebensmittelhändler deswegen schließen musste und sie Hungerlöhne zahlen, mit neuen
Plastiktüten, obwohl sie eigentlich alte hätten mitnehmen sollen, und darin Brokkoli aus Kenia,
Tomaten aus Chile, unfair gehandelter Kaffee, Süßkram und die falsche Zeitung.
Sie sind keine guten Menschen. Sie besitzen nicht einmal die Größe, die Sorte Menschen
zu sein, die sich nicht darum sorgen, ob sie gute Menschen sind. Sie sorgen sich ständig. Wieder
sitzen sie im Mittelmaß fest. Sie kaufen immer Pinot Grigio oder Chardonnay, weil das die
einzigen Ausdrücke sind, die sie mit Wein verbinden. Sie sind zum Abendessen eingeladen, da
muss man eine Flasche Wein mitbringen. Das immerhin haben sie gelernt. Michel behauptet, sie
kaufen nichts ethisch Vertretbares, weil sie sich das nicht leisten können, und Leah sagt, nein,
weil es dir einfach zu viel Aufwand ist. Insgeheim denkt sie: Du willst so reich sein wie die, aber
ihre Moral ist dir zu viel Aufwand, während ich mich eher für ihre Moral interessiere als für ihr
Geld, und dieser Gedanke, dieser Gegensatz, gibt ihr ein gutes Gefühl. Die Ehe, als schöne Kunst
des boshaften Vergleichs betrachtet. Und scheiße, das ist er, da an der Telefonzelle, und wenn sie
auch nur eine Sekunde länger nachgedacht hätte, dann hätte sie nie gesagt:
– Scheiße, das ist er, da an der Telefonzelle.
– Das ist er?
– Ja, aber – nein, ich weiß nicht. Nein. Ich dachte nur. Egal. Vergiss es.
– Leah, gerade hast du noch gesagt, er ist es. Ist er’s jetzt oder nicht?
Schon ist Michel außer Hörweite und drüben und rüstet sich für einen weiteren boshaften
Vergleich: seine gedrungene, wohlproportionierte Tänzerstatur gegen einen großen, bedrohlichen
Muskelberg, der sich jetzt umdreht und gar nicht Nathan ist, der sicherlich der andere Typ sein
muss, den sie mit Shar gesehen hat, wobei, vielleicht auch nicht. Die Kappe, das Kapuzenshirt,
die tief sitzende Jeans, das ist wie eine Uniform – die sehen alle gleich aus. Von Leahs Standort
aus ist alles sowieso nur Pantomime, Gesten und Urzeitgrimassen und natürlich eine potenzielle
Geschichte für die Nachrichten, die alles erläutern, nur nicht das Leid und die Einzelheiten: Auf
der Kilburn High Road hat ein junger Schwarzer einen anderen niedergestochen. Sie hatten
Namen und Alter, und es ist furchtbar tragisch, irgendein Armutszeugnis für irgendetwas und
außerdem ganz schlecht für die Immobilienpreise. Leah kann vor Angst nicht atmen. Sie rennt,
um aufzuholen, Olive trappelt neben ihr her, und während sie rennt, fällt ihr etwas auf, das gar
keine Rolle spielen dürfte: Sie sieht älter aus als alle beide. Der Junge ist ein Junge und Michel ist
ein Mann, aber sie sehen aus, als wären sie gleich alt.
– Ich weiß ja nicht, was du da laberst, bruv, aber besser, DU MACHST MICH NICHT
AN.
– Michel – bitte. Lass es, bitte!
– Sag deinem Macker, er soll mich nicht anmachen.
– Ruf nicht mehr bei mir zu Hause an, klar? Du lässt meine Frau in Frieden! Hast du das
kapiert?
– Was laberst du denn da für ’ne Scheiße? Willst du ’n paar?
Sie rammen den Brustkorb gegeneinander wie die Primaten; Michel wirft es würdelos
stolpernd rückwärts auf den Gehsteig, er landet neben seinem albernen Hund, der ihm das Ohr
leckt. Sein Gegner dräut turmhoch über ihm und holt mit dem Fuß aus, um sich auf den Strafstoß
vorzubereiten. Leah schiebt sich zwischen die beiden, streckt die Arme aus, um sie zu trennen,
die flehende Frau aus einer uralten Geschichte.
– Michel! Hör auf! Er ist es nicht. Bitte – das ist mein Mann, er hat nicht nachgedacht,
bitte tun Sie ihm nichts, lassen Sie uns einfach gehen, bitte.
Der Fuß holt ungerührt weiter aus, für maximale Durchschlagskraft. Leah fängt an zu
weinen. Aus dem Augenwinkel sieht sie ein junges weißes Pärchen in Businesskleidung, das die
Straßenseite wechselt, um ihnen auszuweichen. Keiner wird helfen. Sie legt die Hände zum
Gebet aneinander.
– Bitte lassen Sie ihn, bitte. Ich bin schwanger – bitte lassen Sie uns in Frieden.
Der Fuß tritt den Rückzug an. Eine Hand schwebt über Michel, während der sich wieder
hochrappelt, eine Hand in Form einer Pistole, auf seinen Kopf gerichtet.
– Mach mich noch einmal an – paff paff! – weg bist du.
– Leck mich. Klar? Ich hab keine Angst vor dir!
In Sekundenschnelle holt der Fuß wieder aus und schnellt auf Olives Bauch zu. Sie trudelt
etliche Meter weiter bis in den Eingang des Süßwarenladens. Sie macht einen Laut, wie Leah ihn
noch nie gehört hat.
– Olive!
– Hast echt Schwein, bruv, dass deine Kleine aufgetaucht ist. Sonst.
Er ist schon wieder halb über die Straße, ruft über die Schulter zurück.
– Sonst was? Scheiß-Memme! Du hast meinen Hund getretet! Ich ruf die Polizei!
– MICHEL. Mach’s nicht noch schlimmer.
Sie hat eine Hand an seiner Brust. Für jeden Außenstehenden muss es wirken, als hielte
sie ihn zurück. Nur sie weiß, dass er gar nicht versucht, sie wegzuschubsen. So trennen sich die
beiden Männer, indem sie einander im Weitergehen gründlich beschimpfen und mit dem
Gedanken spielen, dass sie noch nicht fertig sind, dass sie sich jeden Moment umdrehen und
aufeinander losgehen könnten. Es ist nur albernes Show-Gehabe: Die Gegenwart einer Frau hat
sie von ihren Verpflichtungen erlöst.
21

Leah glaubt an Sachlichkeit. Sie hat sich wieder etwas beruhigt, sie sind fast daheim. Wer
war diese Frau im Moment der Krise, die schrie und weinte, auf Knien flehte, mitten auf der
Straße? Albern, sich das einzugestehen, aber sie hat sich immer als »tapfer« empfunden. Als
Kämpferin. Jetzt macht sie die Bekanntschaft einer Verhandlerin, einer Bittstellerin, einer
taktierenden Lügnerin. Bitte zerstör nicht, was ich liebe! Und ihre Bitte wurde erhört und
stattdessen ein geringeres Opfer gebracht, und in dem Moment war sie auf schlichte, schäbige
Weise dankbar für das Entgegenkommen.
Auch jetzt hat sie sich noch nicht wieder richtig gesammelt. Michel hält Olive im Arm
und hämmert gegen ihre eigene Haustür, während Leah weiterhin rätselt, in welcher Einkaufstüte
der Schlüssel steckt.
– Geht’s ihr gut?
– Ihr fehlt nichts. Außer, sie hat innere Verletzungen. Ich finde, ihr fehlt nichts. Nur die
Schock.
– Und du?
Die Antwort steht ihm im Gesicht. Erniedrigung. Zorn. Klar, Männern fällt es schwerer,
sachlich zu bleiben. Bei ihnen ist der Stolz das Problem.
– Ned!
– Alles okay bei euch, Leute?
– Hilf Lee mit den Tüten.
Sie gehen in die Küche und betten den geliebten Hund in sein Körbchen. Ihr scheint
nichts zu fehlen. Futter? Sie frisst. Ball werfen? Sie flitzt. Vielleicht fehlt ihr ja wirklich nichts,
aber bei den Menschen sind Adrenalin und Erschütterung noch zu stark, um loszulassen. Leah
erzählt Ned die Geschichte, bereinigt sie um allen Zorn und alle Erniedrigung. Michel der
Tapfere! Michel der Beschützer! Sie legt ihrem Mann eine Hand auf den Arm. Er schüttelt sie ab.
– Sie hat behauptet, sie wäre schwanger. Da hat er Mitleid mit uns gehabt! Ich lag auf
dem Boden wie ein Idiot.
– Nein. Du hast nur verhindert, dass es schlimmer wird als unbedingt nötig.
Sie legt ihm wieder die Hand auf den Arm. Diesmal lässt er sie.
– Glaubst du, wir können sie heute Abend allein lassen? Ich weiß nicht recht. Ned, kannst
du ein Auge auf sie haben? Und anrufen, wenn was ist? Vielleicht sollten wir doch besser
hierbleiben. Absagen.
Das ist ein gesetztes Essen, sagt Michel, ich glaube nicht, dass wir da einfach absagen
können. Ihr fehlt nichts. Dir fehlt doch nichts, Baby, oder? Dir fehlt doch nichts? Die beiden
Menschen suchen Bestätigung in den Augen des Tieres. Leah zwingt sich zur Sachlichkeit. Hätte
inzwischen nicht längst einer der Menschen das Wort »Tierarzt« ausgesprochen, wenn sie nicht
die Kosten fürchten müssten, die das Aussprechen eines solchen Worts nach sich zieht?
22

Hanwell hat nie zum Abendessen eingeladen. Er ist auch nie essen gegangen. Das stimmt
so nicht: Zu besonderen Gelegenheiten führte er seine kleine Familie ins Vijay’s an der
Willesden Lane, wo sie an einem Tisch an der Tür saßen, rasch aßen und immer befangener in
ihren Gesprächen wurden. Nichts in ihrer Kindheit hat Leah darauf vorbereitet, wie häufig sie
jetzt zum Abendessen eingeladen ist, meistens bei Natalie, die Michel und sie einlädt, damit sie
für etwas Lokalkolorit sorgen. Sie wissen beide nicht, was sie mit Anwälten und Bankern und
dann und wann einem Richter reden sollen. Natalie will nicht glauben, dass sie schüchtern sind.
Jedes Mal schiebt sie es auf einen Fehler in der Sitzordnung, aber jedes Mal wird es wieder
peinlich. Sie sind schüchtern, ob Natalie das nun glaubt oder nicht. Sie haben kein Talent für
Anekdoten. Sie schauen auf ihre Teller und zerkleinern mit größter Sorgfalt ihr Essen, lassen
Natalie ihre Geschichten für sie erzählen, nicken, um Einzelheiten, Namen, Daten, Orte zu
bestätigen. Der allgemeinen Analyse der Tischgesellschaft überlassen, nehmen diese Anekdoten
ein separates, eindrucksvolles Eigenleben an.
– oder einfach weggerannt. Ich wäre ja gerannt wie der Teufel und hätte sie ihrem
Schicksal überlassen. Versteh mich nicht falsch, Michel. Du bist wirklich mutig.
– Und dann seid ihr beide einfach eurer Wege gegangen? »Vielen Dank, ich hätte Sie
heute umbringen können, aber jetzt muss ich weiter ...«
– Ha!
– »Hab noch etliche Raubzüge mit meiner Möchtegern-Knarre auf dem Terminplan.«
– Ha!
– Kann mir jemand mal die Salsa rübergeben? Was meint ihr, wenn man das
Knarrenzeichen mit den Fingern macht, heißt das dann, man hat wirklich eine Knarre, oder ist
das im Grunde die einzige Knarre? Die Rezession macht ja auch sonst vor niemandem halt ...
wieso dann vor Kleingangstern? Guckt mal, ich hab auch eine. Paff!
– Ha! Ha!
– Aber Moment, entschuldige – du bist schwanger?
Zwölf Menschen an Natalies langem Eichentisch unterbrechen Gespräch und Gelächter
und sehen Leah an, die mit der Brust einer Ente zu kämpfen hat.
– Nein.
– Nein, das hat sie doch nur so gesagt, um ihn aufzuhalten.
– Sehr mutig. Schnell geschaltet.
Natalies Version von Leahs und Michels Anekdote ist beendet. Das Staffelholz der
Konversation wird an andere weitergereicht, die ihre Anekdoten mit mehr Elan zum Besten
geben, sie mit größeren kulturellen Fragen verknüpfen, mit Diskussionspunkten aus der Zeitung.
Leah versucht, jemandem, den das gar nicht interessiert, zu erklären, womit sie ihr Geld verdient.
Der Spinat kommt direkt vom Bauernhof. Einen Moment lang sind alle vereint in der Klage über
die Gefahren der Technik, was für eine Katastrophe, vor allem für die Jugend, aber gleichzeitig
haben die meisten ihr Handy neben dem Teller liegen. Möhren in Butter durchreichen.
Unterdessen sind Eltern alt und krank geworden, just zu dem Zeitpunkt, wenn ihre Kinder selbst
Kinder bekommen wollen. Viele der Eltern sind Einwanderer – aus Jamaika, Irland, Indien,
China –, und sie begreifen nicht, warum ihre Kinder sie noch nicht zu sich holen, wie das in ihren
Herkunftsländern üblich ist. Als Ersatz für dieses unerfüllbare Anliegen wird Technik
aufgefahren. Treppenlifte. Herzschrittmacher. Künstliche Hüften. Dialysen. Aber nichts stellt sie
zufrieden. Sie haben so hart dafür gearbeitet, dass wir Kinder ein solches Leben führen können.
Sie wollen »buchstäblich« nicht zufrieden sein, bis sie bei uns eingezogen sind. Sie können
niemals bei uns einziehen. Salat aus wilden Tomaten durchreichen. Mit dem Islam ist es ja so. Ich
sag euch mal, wie das mit dem Islam aussieht. Mit dem ganzen Ärger mit dem Islam ist es ja so.
Plötzlich sind alle Islamexperten. Aber was meinst du dazu, Samhita, ja, was meinst du, Samhita,
wie siehst du das? Samhita, die Urheberrechtsanwältin. Thunfisch durchreichen. Lösungsansätze
werden über den Tisch gereicht, Strategien. Privatstationen. Privatkinos. Weihnachten im
Ausland. Ein Restaurant mit nur fünf Tischen. Alarmanlagen. Sicherheitszäune. In einem
Geländewagen thront man ganz allein über dem Verkehr. Irgendwo da draußen gibt es sie, die
perfekte Abgeschiedenheit, man kann sie haben, auch wenn sie bestimmt nicht billig ist. Aber
Leah, sagt jemand, aber Leah, letztendlich, unterm Strich, will man da nicht einfach dem eigenen
individuellen Kind die allerbesten Möglichkeiten geben, die man ihm ganz individuell bieten
kann? Grüne Bohnen mit Mandelblättchen durchreichen. Was ist denn das Beste? Zitronentarte
durchreichen. Was immer einem Kind die größte Möglichkeit auf Erfolg gibt. Beeren
durchreichen. Was ist denn Erfolg? Saure Sahne durchreichen. Du glaubst, der Unterschied
zwischen dir und mir wäre, dass du deinem Kind die besten Möglichkeiten bieten willst?
Dessertlöffel durchreichen. Es gehört zu den Aufgaben der Gastgeberin, die Wogen zu glätten,
darauf hinzuweisen, dass solche Diskussionen rein hypothetisch sind. Warum über Ungeborenes
streiten? Ich weiß nur, dass ich keine Lust habe, etwas von der Größe einer Wassermelone durch
etwas von der Größe einer Zitrone zu pressen. Her mit dem Medikamentencocktail, Schwester!
Hast du schon mal an eine Wassergeburt gedacht? Jeder sagt das Gleiche auf die gleiche Weise.
Gespräche, in denen Angst mitschwingt. Zootiere, die darüber nachdenken, in die freie Wildbahn
zurückzukehren. Natalie bleibt ruhig, sie hat den Weg ja bereits hinter sich. Laptop durchreichen.
Das müsst ihr euch anschauen, es dauert nur zwei Minuten, urkomisch.
Wassermangel. Hungerkrieg. Influenza A (H5N1). Manhattan versinkt im Meer. England
vereist. Iran drückt den roten Knopf. Ein Tornado fegt durch Kensal Rise. Irgendeine
Anziehungskraft muss die Vorstellung von der Apokalypse wohl haben. Viertel, die zu
Plünderzonen verkommen. Improvisierte Schulen in verlassenen Supermärkten und Kirchen.
Neue Gruppierungen, neue Verbindungen, mehrere Partner, Kinder, frei von dieser ganzen
langweiligen Überfürsorge. An jeder Straßenecke kommt Musik aus riesigen, hochgetunten
Soundsystems. Die Menschen bewegen sich in großen gesichtslosen Pulks voran, führungslos,
wellenförmig, maskiert, auf der Suche nach Nahrung, Waffen. Ein »Steam-Rush« auf Caldwell,
sonntags, im Rudel durch die Flure rennen, überall klingeln.
Das waren noch Zeiten. Was, Leah? Das waren doch wirklich noch Zeiten. Whiskey
durchreichen. Es ist schließlich ein ganz simpler Vergleich: Für ein komplexes wirtschaftliches
Ereignis kann man gar nicht auf die gleiche Weise verantwortlich sein wie dafür, mit
Einbruchsplänen raus auf die Straße zu gehen. Kaffee durchreichen. Nicht irgendein Kaffee,
sondern ausgesprochen guter Kaffee.
– Man ist einfach enttäuscht.
– Furchtbar enttäuscht.
– Vor allem, wenn man sich wirklich ins Zeug gelegt hat, jemandem zu helfen, und dann
wirft der einem einfach alles vor die Füße. Das kann ich überhaupt nicht haben. Wie das, was
Leah neulich passiert ist – Lee, erzähl doch mal von dem Mädchen.
– Bitte?
– Dieses Mädchen mit dem Kopftuch. Das bei dir vor der Tür stand. Eigentlich eine
richtig traurige Geschichte. Okay, ich erzähl sie selber ...
Erst als sie auf beide Wangen geküsst worden sind, als die schwere Haustür sich wieder
geschlossen hat, als sie wieder in die Nacht hinausdürfen, erwachen Leah und Michel zum Leben.
Doch selbst so eine Eintracht der Entrüstung kann leicht auseinanderfallen. Als sie am
U-Bahn-Eingang sind, hat Leah es irgendwie geschafft, zu viel zu sagen, zu viel zu klagen, und
die hochempfindliche Wasserwaage ihres Verhältnisses, ihres Wir-gegen-die, verrutscht und
zeigt eine Schieflage an.
– Glaubst du nicht, die langweilen sich genauso wie du? Hältst du dich für so was
Besonderes? Glaubst du, ich wache jeden Tag auf und freu mich so wahnsinnig, dich zu sehen?
Du bist auch ein Snob, nur andersrum. Glaubst du, du bist die Einzige, die was anderes will? Ein
anderes Leben?
Die Heimfahrt verbringen sie schweigend, stinkwütend. Sie laufen schweigend durch
Willesden. Erreichen schweigend die Haustür, greifen gleichzeitig nach unterschiedlichen
Schlüsseln. Sie vollführen einen komischen Kampf ums Schlüsselloch, und Leah knickt als Erste
ein. Als sie im Flur sind, lachen sie, und kurz darauf küssen sie sich. Wenn sie bloß immer allein
sein könnten. Wenn die Welt bloß aus dir und mir bestünde, sagt Leah, dann wären wir immer
glücklich. Du klingst genauso wie die, sagt Michel und steckt seiner Frau die Zunge ins Ohr.
Am nächsten Morgen treffen sie mild gestimmt, in T-Shirt und Unterhose in der Küche
ein, blicken der unendlichen Weite eines Samstagmorgens entgegen. Leah geht nach der Post
schauen. Sie sieht sie als Erste. Unschuldiges, geliebtes Tierchen, kalt, noch nicht ganz steif,
fernab von ihrem Korb, unter dem Tisch der Kammer, auf der Seite liegend. Blutiger Schaum vor
der Schnauze. Michel! Michel! Sie kriegt es nicht laut genug heraus. Oder er ist im Garten,
bewundert den Baum. Die Klingel ertönt. Es ist Pauline. Olive ist tot! Sie ist tot! Oh mein Gott!
Sie ist tot! Wo, fragt Pauline. Zeig sie mir. Das ist die Krankenschwester in ihr. Und als Michel
kommt und es sieht und kein bisschen weniger hysterisch wird als Leah, ist Leah erstaunt, wie
dankbar sie ist, dass ihre Mutter so pragmatisch im Leben steht. Leah will weinen, nichts als
weinen. Michel will die Abfolge der Ereignisse immer und immer wieder durchgehen. Er will
eine Chronologie erstellen, als könnte das irgendetwas ändern. Pauline will dafür sorgen, dass der
Bereich rund um den Tisch desinfiziert und der Karton mindestens einen halben Meter tief unter
dem gemeinschaftlichen Rasen vergraben wird. Die anderen fragen, sagt Pauline – und meint
damit die anderen Hausbewohner –, hat keinen Sinn, die sagen doch nur nein. Beeilung, sagt sie,
jetzt reißt euch mal zusammen. Wir müssen das jetzt machen. Trinkt einen Tee. Beruhigt euch.
Sie fragt: Ist euch denn nicht aufgefallen, dass sie nicht gebellt hat, als ihr heimgekommen seid?
23

Man könnte auch behaupten, Michels Traum sei in Erfüllung gegangen: Sie sind eine
Sprosse höhergeklettert, zumindest was die Beschaffenheit und Ausgefeiltheit ihrer Ängste
betrifft. Es liegt in Leahs Naturell, Michel die Schuld in die Schuhe zu schieben – an dem neuen
Misstrauen, dem Chubb-Schloss an der Tür, dass er sie jetzt immer von der U-Bahn abholt, dass
sie die Straßenseite wechseln, um »gewissen Elementen« aus dem Weg zu gehen, und ständig
übers Umziehen reden. Michel sitzt immer länger vor dem Rechner, träumt vom unverhofften
Gewinn, der sie in einen anderen städtischen Vorort versetzen wird, mehr nach seinem
Geschmack, sprich: afrikanischer und weniger karibisch. Leah hat dazu nichts zu sagen. Sie ist
versunken, der Juli ein verlorener Monat. Sie lässt sie geschehen, all die kleinen Veränderungen
dort über ihr, an der Oberfläche, während sie selbst auf dem Meeresboden umherläuft. Sie trauert
fürchterlich. Sie ist nicht vertraut mit den Regeln für das Betrauern von Haustieren. Bei einer
Katze: eine Woche. Bei einem Hund: Zwei sind noch akzeptabel, ab der dritten wird es langsam
albern, vor allem im Büro, wo – nach gutem karibischen Geist – jedes Tier, das kleiner ist als ein
Esel, als Ungeziefer gilt. Sie trauert um ihren Hund. Sie glaubt, vor Traurigkeit umzukommen.
Immer, wenn sie einen von Olives vielen Zwillingen in der Bullenhitze die Edgware Road
entlangschnaufen sieht, überwältigt es sie. Auf der Arbeit beäugt Adina ihr verschwollenes,
tränenverschmiertes Gesicht. Doch nicht immer noch der Hund. Immer noch? Und sollte es
tatsächlich eine Verschiebung sein, sollte sie eigentlich um etwas anderes trauern als um ihren
Hund, ist das für die Trauernde faktisch doch kein Unterschied: Olive hat sie gekannt, und Olive
vermisst sie jetzt. Leah gehört auf einmal zu den Verrückten, die andere Hundebesitzer auf der
Straße anhalten und ihnen ihre Leidensgeschichte erzählen.
Auf dem Rückweg von einer eintägigen Fortbildung in Harlesden stellt sie fest, dass sie
sich in den Nebenstraßen verlaufen hat. Sie biegt ein paarmal ziellos links ab, um nicht stehen zu
bleiben, um einen sicherlich ganz harmlosen Fremden mit Kapuze abzuhängen, und plötzlich ist
da wieder die seltsame kleine Kirche und schlägt sechs. Sie geht hinein. Eine halbe Stunde später
kommt sie wieder heraus. Sie erzählt weder Michel noch sonst jemandem davon. Von nun an
macht sie das fast jeden Tag. Ende Juli beharrt Michel: Sie müssen Schritte einleiten. Leah
stimmt zu. Sie werden auf die staatliche Warteliste des NHS gesetzt. Doch jeden Morgen schließt
sie die Badezimmertür ab und schluckt ihre kleine Anti-Baby-Pille. Geklaute Packungen aus
Natalies Badschrank, gut versteckt in einer Schublade. Sie will keine »Schritte einleiten«. Für
Leah führen diese Schritte nicht weiter. Sie will nur sich und ihn, für immer.

Es wird August.
Es wird August.

Karneval! Die Mädels von der Arbeit, die Jungs aus dem Salon, alte Schulfreunde,
Michels Verwandte aus Südlondon, sie alle durchstreifen mit Tausenden anderen die Straßen.
Suchen nach den guten Soundsystems, drängen sich eng an wildfremde Körper und aneinander,
essen mariniertes Grillfleisch und landen schließlich in den Meanwhile Gardens bekifft im Gras.
Normalerweise. Dieses Jahr nicht. Dieses Jahr nehmen sie endlich Franks alljährliche Einladung
an, mit zu dem Freund von Freunden zu kommen, der »eine Wahnsinnsbude direkt am Karneval«
hat. Ein Italiener. Früh am Sonntagmorgen treffen sie ein, wie ihnen geraten wurde, damit sie
dort sind, bevor die Straße abgeriegelt wird. Sie kommen sich ein wenig albern vor, durch die
leere Wohnung von Leuten zu laufen, die sie gar nicht kennen. Keine Spur von Frank und Nat.
Michel macht sich in der Küche nützlich. Leah lässt sich einen Cuba Libre geben und setzt sich
in einen Ecksessel, beobachtet durchs Fenster, wie die Polizei an der Absperrung aufmarschiert.
In der Zimmerecke redet der Fernseher. Er muss ziemlich lange reden, bis Leah auf ihn
aufmerksam wird, und das auch nur, weil er eine Straße aus der Gegend nennt, gleich bei ihr um
die Ecke.
– der Albert Road in Kilburn, wo gestern Abend alle Hoffnungen auf ein friedliches
Karnevalswochenende zunichtegemacht wurden, als sich die Nachricht einer tödlichen
Messerstecherei verbreitete, gleich hier, am Rand der Karnevalsstrecke durch Nordwest-London,
wo sich die Menschen auf das heutige fröhliche Treiben vorbereiten ...
Albert Road! brüllt Michel aus der Küche. Leah brüllt zurück:
JA ABER DAS HAT NICHTS MIT DEM KARNEVAL ZU TUN – DAS WAR
GESTERN ABEND. IST NUR ...
Michel kommt zur Tür herein.
– ist nur wieder so ein typisch reißerischer Bericht. Die wollen einfach, dass es ...
– Kann ich das bitte hören?
Der Fernseher sagt:
– Der junge Mann, der von Zeugen als Felix Cooper identifiziert wurde, war
zweiunddreißig Jahre alt. Aufgewachsen ist er in der berühmt-berüchtigten Projektsiedlung
Garvey House, zog dann aber mit seiner Familie in eine vergleichsweise ruhige Ecke von
Kilburn, um ein besseres Leben zu finden. Und ausgerechnet hier, in Kilburn, wurde er nun am
frühen Samstagabend, nur wenige Meter vor der eigenen Haustür, von zwei jungen Schwarzen
angegriffen. Wir wissen nicht, ob das Opfer mit ihnen ...
– Er wurde umgebracht! Wen interessiert, wo er aufgewachsen ist?
Ich lege jetzt Musik auf, sagt ein Italiener und schaltet den Fernseher aus. Wir müssen
umziehen, sagt Michel. Ich will nicht umziehen, das ist mein Zuhause, sagt Leah. Sie lässt sich
auf den Hals küssen. Kein Streit, sagt Michel, in Ordnung? Lass uns einfach mal Spaß haben. Ich
streite ja gar nicht, sagt Leah. Gut, aber du bist naiv.
Schlecht gelaunt trennen sie sich. Leah geht eine Etage höher, auf die Terrasse. Michel
kehrt in die Küche zurück. Die Wohnung füllt sich jetzt rasch. Ständig geht die Klingel. Es wäre
einfacher, die Tür gleich offen zu lassen, aber der Gastgeber legt Wert darauf, jeden Gast erst
durch die Türspionkamera zu mustern, ehe er eingelassen wird. Menschen strömen auf die Party
wie Soldaten zur Triage. Da draußen ist die Hölle los! Ich dachte schon, wir schaffen es nicht
hierher. Alle stellen sich abwechselnd auf die weißen Stuckbalkone, tanzen und pfeifen mit ihren
in Rasta-Farben bemalten Trillerpfeifen dem Karnevalsgedränge weit unter ihnen hinterher.
Schon bald ist Leah betrunken. Sie hat zu früh angefangen. Sie kann Michel nicht finden. Aber
sie entdeckt Frank, er ist in diesem Umfeld leicht auszumachen. Sie stellen sich in die Diele.
Sowohl drinnen als auch draußen ist die Musik so laut, dass der Informationsaustausch auf ein
Minimum beschränkt bleibt. Nat kommt später. Sie fährt mit den Kindern auf einem Wagen von
Marcias Gemeinde mit. Willst du ein Würstchen?
– Und, was ist das Geheimnis?
– Wie bitte?
– EURES GLÜCKS, FRANCESCO.
– ICH HÖR DICH SO SCHLECHT. BIST DU BETRUNKEN?
Sie gehen in die Küche, wo der Bass sie nicht finden kann. Sie wiederholt ihre Frage. Wir
erzählen uns alles, sagt er. Willst du Punsch?
Die Küche ist gerammelt voll. Sie braucht Wasser. Kämpft sich zum Wasserhahn durch.
Saubere Tasse, Glas, Becher? Kippen und Essen im Abfluss. Die Zeit ist derweil nicht stehen
geblieben. Frank ist weg. Michel ist weg. Was sind das alles für Leute? Warum erzählen sie sich
ständig, was sie für einen Heidenspaß haben? Man muss nicht vor den Klos anstehen, hat keinen
Straßendreck zwischen den Zehen, muss keine sechs Pfund für eine Dose Red Stripe blechen.
Seht ihr! Ich sag’s doch schon seit Jahren! Der perfekte Ort. Von hier sieht man alles. Und
plötzlich ist da Nat, steht allein auf dem Balkon und schaut hinunter. Sie dreht sich um. Frank
steht in der Tür. Leah ist irgendwo zwischen den beiden, in der Menge verborgen. Sie sieht, wie
der Mann seine Frau mustert und die Frau ihren Mann. Sie sieht kein Lächeln, kein Nicken, kein
Winken, kein Erkennen, keine Verständigung, kein gar nichts. Schüsseln mit Wegwerfkameras in
fröhlichen Farben werden verteilt. Der Gastgeber fordert die Gäste auf, den Anlass festzuhalten.
Alle setzen sich abwechselnd die Dreadlock-Perücke auf. Leah überrascht sich selbst: Sie hat
tatsächlich richtig Spaß.
37

– Was soll das heißen, sie sind nicht da? Ich habe die Kamera vor zwei Stunden
abgegeben. Das ist ein Ein-Stunden-Dienst.
– Es tut mir leid, Madam. Ich finde nichts unter dem Namen.
– Hanwell, Leah. Schauen Sie doch bitte noch mal nach.
Leah legt beide Hände auf die Drogerietheke.
– Sind Sie sicher, dass das heute war?
– Das verstehe ich nicht. Soll das heißen, Sie haben sie verschlampt? Ich war vor zwei
Stunden hier. Heute. Montag. Ein Mann hat mich bedient.
– Ich habe den Namen, den Sie mir geben, hier nicht verzeichnet. Ich bin eben erst
gekommen, Madam. Wissen Sie noch, wer Sie bedient hat? War es ein junger Mann oder ein
älterer Herr?
– Ich weiß nicht mehr, wer mich bedient hat. Aber ich weiß, dass ich hier war.
– Madam, an der Station ist noch eine weitere Drogerie, sind Sie sicher, dass es nicht die
war?
– Ja, da bin ich sicher. Hanwell, Leah. Würden Sie bitte noch mal nachsehen?
Hinter ihr hat sich eine Schlange gebildet. Man überlegt, ob sie vielleicht spinnt.
Zwangseinweisungen sind in NW an der Tagesordnung, und oft sind es gerade die Leute, von
denen man es am wenigsten vermuten würde. Die Inderin im weißen Kittel hinter der Theke
blättert noch einmal die gelben Umschläge in ihrer Schachtel durch.
– Aha – Hanwell. Das stand nicht unter H. Es war an der falschen Stelle einsortiert.
Entschuldigen Sie bitte, Madam.
Sie spinnt also nicht. Fotos. Man vergisst so leicht, wie richtige Fotos sind, den Glanz, das
Glücksgefühl. Aber das erste ist komplett schwarz, und das zweite auch; das dritte zeigt nur einen
roten Lichtkreis, als hielte jemand eine Taschenlampe unter ein Bettlaken.
– Hören Sie, das sind aber nicht meine. Die will ich nicht ...
Auf dem vierten ist Shar. Unverkennbar. Shar, die den Fotografen anlacht, an eine Tür
gelehnt, irgendeine kleine Flasche in der Hand, Wodka vielleicht? Über ihr eine Dartscheibe.
Sonst keine Möbel in dem verdreckten Zimmer. Auf dem fünften wieder Shar, die immer noch
lacht, jetzt aber auf dem Boden hockt und fertig aussieht. Das sechste zeigt eine verlotterte
Rothaarige, nur Haut und Knochen und Einstichspuren, mit einer Kippe im Mundwinkel, und
wenn man ein wenig die Augen zukneift ...
– Entschuldigen Sie bitte, Madam. Geben Sie sie mir, da ist uns wohl etwas
durcheinandergeraten.
Michel, der nach Rasierschaum geschaut hat, kommt herüber. Er ist nicht erstaunt. Es
nervt, wie hartnäckig er sich weigert, überrascht oder erstaunt zu sein.
NW ist ein Dorf.
Mit zwei Drogerien.
Da werden schon mal Fotos vertauscht.
Klingt ganz vernünftig, aber sie kann es nicht vernünftig betrachten. Es macht sie rasend,
dass er ihr vielleicht nicht glauben könnte. Das war das Mädchen! Glaubst du mir etwa nicht? Ist
doch ein irrsinniger Zufall! Ihre Fotos in meinem Umschlag! Glaubst du mir etwa nicht? Aber
warum sollte er ihr glauben, wo sie doch in allem gelogen hat? Die Schlange scharrt ungeduldig
mit den Füßen. Leah wird laut, und die Leute mustern sie, als wäre sie nicht ganz dicht. Michel
zerrt sie zum Ausgang, die kleine Glocke über der Tür bimmelt, und es ist alles viel zu schnell
vorbei. Irgendwie macht gerade diese Kürze alles so verworren – die viel zu wenigen Sekunden,
in denen sie gesehen und erkannt hat, was Sache war. Das Mädchen. Ihre Fotos. Mein Umschlag.
Es war so. Wie ein Rätsel in einem Traum. Eine Lösung gibt es nicht. Und auch keine
Möglichkeit, zurückzunehmen, was sie so lauthals vor all diesen anständigen Anwohnern
verkündet hat, oder noch einmal nach den Fotos zu fragen, die offensichtlich nicht ihre sind. Was
würden die Leute denken?
Gast
NW6

Der Mann war nackt, die Frau angezogen. Das wirkte irgendwie verkehrt, aber die Frau
hatte Termine. Er lag albernd im Bett, hielt sie am Handgelenk fest. Sie versuchte, sich einen
Schuh anzuziehen. Unter dem Fenster wurden Lastwagentüren geöffnet, Warenkartons auf
Asphalt gehievt. Felix setzte sich auf und schaute auf den Parkplatz hinunter. Er sah, wie sich ein
Mann in orangefarbener Weste mit drei aufeinandergestapelten Kisten Äpfel durch eine
Automatiktür kämpfte. Grace tippte mit einem langen, falschen Fingernagel gegen die Scheibe.
»Die können dich sehen, Baby.« Felix streckte sich. Er machte keine Anstalten, sich zu bedecken.
»Gibt echt schamlose Leute«, kommentierte Grace und zwängte sich um das Bett herum, um die
Figürchen auf dem Sims gerade zu rücken. Blödsinn, sie ausgerechnet da aufzustellen – der
Mann hatte in der Nacht ein paar der Prinzessinnen umgestoßen, und jetzt wollte die Frau wissen,
wo »Ariel« sei. Der Mann drehte sich wieder zum Fenster. »Felix, ich red mit dir. Was hast du
mit ihr angestellt?« »Ich hab sie nicht angerührt. Welche ist das überhaupt? Die mit den
Karottenhaaren?« »Von wegen Karotte – rot sind die. Sie steckt da hinter dem Ding – das ist
eklig da!« Eine gute Gelegenheit, Männlichkeit zu demonstrieren. Felix schob den mageren Arm
hinter den Heizkörper und zog die Exmeerjungfrau hervor. An ihren hart erkämpften Füßen hielt
er sie ins Licht: »Karotte. Aber so was von.« Grace stellte die Puppe wieder an ihren Platz
zwischen der Braunen und der Blonden. »Lach du nur«, sagte sie. »Das vergeht dir schon noch,
wenn ich dich vor die Tür setze.« Allerdings. Die Laken waren weiß und sauber, bis auf den
nassen Fleck, den er selbst verursacht hatte, und der Teppich schon ganz abgenutzt vom vielen
Staubsaugen. Auf dem einzigen Stuhl lagen seine Kleider vom Abend zuvor bereits gefaltet und
ordentlich gestapelt. Das rosa Telefon auf dem gläsernen Frisiertisch glänzte, und der gläserne
Frisiertisch auch. Er kannte viele Frauen: Aber er hatte nie eine gekannt, die dermaßen feminin
gewesen wäre. »Hoch!« Er hob den Hintern, damit sie einen Strumpf darunter hervorziehen
konnte. Sogar das Parfumfläschchen in ihrer Hand war wie ein Frauenkörper geformt, eine billige
Kopie vom Markt. Wenn er ihr bloß kaufen könnte, was sie sich wünschte! Es gab so viel, was
sie sich wünschte. »Und wenn du bei Wilsons an der High Road vorbeikommst – Fee, hör mir
halt zu. Wenn du da vorbeikommst, frag Ricky – du weißt schon, wen ich meine, oder? So ’n
kleiner hellbrauner Typ mit Zöpfchen. Frag den, ob er kommen kann und nach dem Abfluss
sehen. Wie viel Uhr ist es? Mist – ich komm zu spät.« Er sah zu, wie sie sich besprühte, die
Halsbeuge, die Unterseite des Handgelenks, verstohlen, als dürfte er nie erfahren, dass sie nicht
von selbst nach Rosen und Sandelholz roch. »Wo ist die Oyster-Card?« Mit männlichem
Achselzucken verschränkte der Mann die Hände hinter dem Kopf. Die Frau schnalzte mit der
Zunge und verschwand in dem kleinen Wohnraum, um dort zu suchen. Allein war es schwer,
männlich zu bleiben. Er machte so viele Sit-ups. So viele! Trotzdem blieb sein Bauch konkav, ein
ins offene Fenster gewehter Vorhang. Er hob die Zeitung von gestern vom Boden auf. Vielleicht
war der Trick ja, sich gar nicht so viel Mühe zu geben. Hatte sie nicht die Männer am meisten
geliebt, die am wenigsten Buhei gemacht hatten? »Musst du heute arbeiten, Fee?« »Nee, die
Woche haben sie mich nur Freitag gebraucht.« »Die müssen dir die Samstage geben. Da kommt
doch die Arbeit rein. So was ist respektlos. Du bist schließlich ausgebildet. Du hast dein Zeugnis.
Du musst endlich aufhören, dich von den Leuten so respektlos behandeln zu lassen.« »Stimmt«,
sagte Felix und blätterte auf die Seite drei. Die Frau kam ganz nah an den Mann heran und setzte
einen Satz aus Wörtern und Küssen zusammen. »Never. Ignorant. Getting. Goals. Accomplished.
N. I. G. G. A.« Sie runzelte beiläufig die Stirn über die Brustwarzen der Weißen in der Zeitung,
die auch Felix, durchaus vertrauter mit solchen Brustwarzen als Grace, eigentümlich fand, so
winzig und rosa wie bei einer Katze. »Und du hast sie auch immer noch nicht geschrieben,
stimmt’s, Fee? Stimmt’s?« »Was denn?« »Die Liste! Die hast du noch nicht geschrieben,
stimmt’s?« Felix brummte ausweichend, aber sie hatte recht, er hatte noch keine Liste der Dinge
geschrieben, die er sich vom Universum wünschte, und hatte im Stillen auch Zweifel, dass das
auf der Arbeit irgendetwas ändern würde. Es gab einfach nicht genug zu tun, um fünf Männer
fünf Tage die Woche beschäftigen zu können. Und er hatte am wenigsten Erfahrung, war als
Letzter dazugekommen. »Felix!« Das geliebte Gesicht erschien im Türrahmen. »Du, es ist grade
gekommen! Ich muss los – es liegt auf dem Sofa. Bring’s deinem Vater vorbei, ja?« Der Mann
wollte widersprechen, er hatte selber genug zu erledigen, aber das waren geheime Erledigungen,
also sagte er nichts. »Komm schon, Fee. Er wird sich freuen. Mach keinen Scheiß. Und übrigens?
Ich bleib heute Abend gleich bei Angeline und geh von da aus zum Karneval. Also ruf mich an
und sag Bescheid, wann du kommst.« Felix setzte eine Protestmiene auf. »Nein, Felix, ich hab ihr
versprochen, dass wir uns zusammen aufbrezeln. Das ist Tradition. Und sie ist doch jetzt
schließlich allein. Wir zwei können immer noch zusammen zum Karneval. Sei nicht so
egoistisch. Wir können Montag gehen. Wir haben uns – Angeline hat niemanden. Komm schon,
sei nicht so.« Sie küsste zwei Fingerspitzen und richtete sie auf sein Herz. Er grinste sie an. »Na,
siehst du. Bis dann!« Wie soll man Glück verbergen? Er hörte, wie die Tür ins Schloss fiel, wie
vier Etagen morscher Dielen im Laufschritt stöckelnd genommen wurden.

»Felix! Felix Cooper! Was geht, bruv?«


Ein Riesenbaby, mit einem blöden Zahnlückengrinsen, zusammengewachsenen Brauen
und dichtem schwarzem Haar, das ihm hinten aus dem T-Shirt wucherte. Felix klemmte den
schweren Umschlag unter den Arm und ließ einen komplizierten Handschlag über sich ergehen.
Er war keinen halben Meter von seiner Haustür entfernt. »Lange her ... Kennst mich nicht mehr,
was.« Felix stellte fest, dass er es gar nicht mochte, so geknufft zu werden, zu fest und dann auch
noch gegen die Schulter, trotzdem lächelte er schmallippig und schwindelte: »Klar kenn ich dich,
bruv. Echt lange her.« Damit war der Junge schon zufrieden. Er knuffte Felix noch einmal.
»Schön, dich zu sehen, Mann! Wo geht’s hin?« Felix rieb sich die Augen. »Familiensachen. Ich
besuch meinen Alten. Was sein muss, muss sein.« Der junge Mann lachte: »Lloyd! Kam sich
immer seine Rizlas bei uns holen. Hab ihn ewig nicht gesehen.« Ja ja, der gute, alte Lloyd. Ja,
immer noch gut drauf, der alte Lloyd, immer noch in der alten Siedlung, Caldwell, klar, hat sich
nie wegbewegt. Und immer noch der alte Rasta, klar. Immer noch denselben Stand in Camden.
Wo er immer noch denselben Krimskrams verkauft. Alles beim Alten. Felix lachte, so wie es an
der Stelle von ihm erwartet wurde. Gemeinsam sahen sie zu den Caldwell-Türmen hinüber, keine
fünfhundert Meter weit weg. »Da ist der Apfel ja echt nicht weit vom Stamm gefallen, bruv.« Mit
diesem Schlüsselsatz kam zumindest ein Nachname: Khan. Von Khans Minimarkt in Willesden.
Die ganze Familie sah gleich aus, jede Menge Brüder, die den Laden für ihren Vater am Laufen
hielten. Das hier musste der Jüngste sein. Auch Caldwell-Kinder seinerzeit, zwei Stockwerke
unter den Coopers. Er konnte sich nicht erinnern, viel mit ihnen zu tun gehabt zu haben. Felix
war zu spät nach Caldwell gekommen, um noch Freundschaften zu schließen. Dafür musste man
alteingesessen sein. »War ’ne gute Zeit«, meinte der Khan-Junge. Aus Höflichkeit stimmte Felix
ihm zu. »Und du wohnst jetzt wieder hier?« »Meine Freundin wohnt gleich da drüben.« Er
deutete mit dem Kinn auf das Supermarktschild. »Mann, Felix, ist ja voll dein Quartier hier. Ich
weiß noch, wie du da gearbeitet hast. Hab dich immer an der Kasse sitzen sehen, damals, als ich
so ...« »Tja, na ja, da bin ich nicht mehr.« Über den Kopf des Jungen hinweg blickte Felix
angestrengt zu dem verlassenen Basketballfeld auf der anderen Straßenseite, wo nie Basketball
gespielt worden war und auch nie Basketball gespielt werden würde. »Ich bin ja jetzt in Hendon«,
sagte der Junge, leicht verlegen, als dürfte man von so viel Glück gar nicht erzählen. »Ziemlich
klasse. Hab geheiratet. Nettes, gläubiges Mädchen. Nachwuchs ist auch unterwegs, Inschallah!«
Er präsentierte Felix einen glänzenden Ringfinger zur Ansicht. »Das Leben ist gut zu mir, Mann.
Echt gut.« Jedem sein eigener kleiner Sieg. »Hey, Felix, gehst du zum Karneval?« »Ja.
Wahrscheinlich aber nur Montag. Bin halt nicht mehr der Jüngste, Mann.« »Dann sieht man sich
ja vielleicht.« Felix lächelte brav. Und wies mit seinem Umschlag Richtung Caldwell.

KEINE KLINGEL.
KLINGEL KAPUTT, das hatte er schon zigmal gelesen, manchmal auch KEIN
ZUTRITT. Aber KEINE KLINGEL zeugte von einem ganz neuen Level der Resigniertheit. Felix
drückte die Ecke des Post-its wieder an, die sich gelöst hatte. Eine Zeit lang klopfte er
ergebnislos: Der Reggae drinnen war so laut, dass der Briefkasten in den Angeln bebte. Er ging
zum Küchenfenster und drückte den Mund an den zehn Zentimeter breiten Spalt. Lloyd kam in
Sicht, barfuß und barbrüstig, träge an einer Scheibe Toast kauend. Die Dreadlocks hatte er zum
Knoten gedreht und einen Kochlöffel durchgesteckt wie die lange Haarnadel einer Geisha.
»Lloyd – ich klopf mir hier ’nen Wolf. Lass mich rein, dred.«
Hinter einem toten Kaktus auf dem Fensterbrett zog Lloyd einen einzelnen Schlüssel
hervor, der an einem ehemals weißen Schnürsenkel hing, und reichte ihn seinem Sohn heraus.
»Ist ja die reinste Sauna hier!« Felix ließ die Jacke auf den Boden fallen und streifte seine
Turnschuhe ab. Im schmalen Flur achtete er darauf, dem ersten von etlichen gusseisernen
Heizkörpern auszuweichen, die einem schon bei der kleinsten Berührung Brandwunden zufügten.
Seine Füße versanken im Teppich, einem dichten, purpurroten Synthetikpelz, seit zwanzig Jahren
derselbe.
»Pass auf, ich kann nicht lang bleiben. Muss um zwölf in der Stadt sein. Wollt dir nur
kurz was zeigen.«
Felix zwängte sich zu seinem Vater in die schmale Küche. Selbst dieser Raum war ein
einziges Chaos aus afrikanischen Masken und Trommeln und jeder Menge anderem
Stammesfirlefanz. Das Zeug stapelte sich, bei jedem Besuch mehr. Auf der Gasplatte stand ein
großer Topf, über dessen Rand es gelblich blubberte. Felix sah zu, wie Lloyd sich ein
Küchentuch um die Hand wickelte und den Deckel hob.
»Dieses Buch ist gekommen – das Grace aufgestöbert hat.« Er hielt ihm den Umschlag
hin. »Warum bringst du den ganzen Kram hier nicht raus zum Stand, Mann? Das Wetter ist gut.
Oder du verkaufst beim Karneval.«
Lloyd winkte ab. »Den Quatsch spar ich mir. Ist nicht mehr meine Musik. Nur noch
Krach.«
In der Spüle stapelten sich die Teller, und in einer Ecke lag ein kleiner Berg Bettwäsche,
der den Weg zum Waschsalon noch nicht angetreten hatte. Eine Glühbirne hing nackt herunter.
Im Aschenbecher glomm ein halb gerauchter Joint.
»Mann, Lloyd ... Du musst echt mal aufräumen. Warum läuft die Heizung? Wo ist
Sylvia?«
»Nicht da.«
»Was soll das heißen, ›nicht da‹?«
»Die Frau ist nicht da. Die Frau ist weg. Sie ist vor ’ner Woche gegangen, aber du hast
seit ’ner Woche nicht angerufen – ist also noch neu für dich. Aber nicht mehr neu für mich. Sie
ist schon ewig weg. This means freedom, this means lib-er-ty!« Das Letzte eine Zeile aus dem
Song, der zufällig gerade lief. Lloyd machte ein paar beduselte Tanzschritte auf Felix zu.
»Sie schuldet mir noch vierzig Pfund«, sagte Felix.
»Guck’s dir an. Grau!« Lloyd fasste sich mit beiden Händen in den Haaransatz und zog:
Ein kleines Büschel weißer Haare kam zum Vorschein. Die beiden Männer trennten nur siebzehn
Jahre. »Grau bin ich geworden wegen der Frau. Drei Monate, und sie hat ’nen alten Mann aus
mir gemacht.«
Sie hat deine Wohnung sauber gehalten. Bis mittags das Dope versteckt. Ein bisschen
Geld ins Haus gebracht, sodass du nicht immer mich anpumpen musstest. Felix sah auf seine
Hände.
»So ist das, Fee, so ist das eben: Wie willst du wen aufhalten, der gehen will? Wie willst
du den aufhalten? Kannst du nicht. Ich sag dir was: Wenn du’s schon nicht schaffst, ’ne
erwachsene Frau mit vier Kindern aufzuhalten, schaffst du’s erst recht nicht bei ’ner dummen
Göre wie Sylvia, die gar nichts hat. Nie-man-den.« Er sprach so überdeutlich, dass er die Zähne
bleckte und einen Moment lang aussah wie ein Hund. »Jeder muss seinen eigenen Weg gehen,
Felix! Wen man liebt, den lässt man frei! Aber im Ernst, geh nie mit ’ner Spanierin, das ist ein
ernst gemeinter Rat. Die haben alle ’nen Knall. Ich schwör’s! Deren Hirn tickt nicht normal.«
Von oben landete etwas feucht auf Felix’ Schulter. Die dauerhafte Heizungshitze, der Kochdunst
und die fehlende Belüftung ließen große Schimmelblumen an der Decke sprießen. Hin und
wieder fielen Schnipsel herab wie Blütenblätter. »Ich sag dir was, ich bin ohne deine Mutter
zurechtgekommen. Ich komm auch jetzt zurecht. Mach keinen Stress, Mann – ich komm klar.
Bin schließlich immer klargekommen.«
»Was ist mit der Lampe passiert?«
»Ich bin aufgewacht, und sie hat die ganze Bude ausgeräumt. Ehrlich wahr, Felix, ich hätt
die Bullen rufen sollen. Wahrscheinlich ist sie längst wieder in ihrem scheiß Madrid. Den
DVD-Player. Die Badematte. Den Toaster. Glaub mir, wenn’s nicht angeschraubt war – dann hat
sie’s mitgenommen. Den Wagen hat sie auch genommen. Wie soll ich ohne den Wagen denn was
verkaufen? Sag mir das.«
»Sie schuldet mir vierzig Pfund«, wiederholte Felix, obwohl das völlig sinnlos war. Lloyd
tätschelte seinem Sohn mit beiden Händen liebevoll die Wangen. Felix hielt den Umschlag mit
dem Buch hoch.
»Was kommt deine hübsche Frau eigentlich nicht selber und schaut es sich an?« Lloyd
nahm seinem Sohn das Päckchen ab. »Ich will doch sie beeindrucken, nicht dich. Darum ging’s
doch, oder? Das war der ganze Sinn der Übung! Sie will ’nen echten Garvey-House-Mann
kennenlernen. Du bist nur da geboren. Aber ich, bruv, ich hab’s durchlebt. Hey, ich mach doch
nur Spaß. Ich geh noch schnell pinkeln. Irgendwo gibt’s Ingwertee.«

Im Wohnraum versuchte Felix den Umschlag aufzureißen: Eine Wolke grauer


Staubflocken wirbelte auf den Teppich. Oben auf dem Fernseher standen seine Geschwister in
kleinen, angelaufenen, herzförmigen Bilderrahmen und sahen zu, wie blöd er sich anstellte.
Devon mit etwa sechs, im Schnee vor Garvey House, und Ruby und Tia, die Zwillinge, in
neuerer Zeit, jede auf einer Betonstufe im Treppenhaus irgendwo hier in Caldwell. In welche
Richtung er auch riss, der Dreck wurde nur noch schlimmer. Er holte tief Luft und pustete, um
den glänzend schwarzen Einband zu säubern. Neunundzwanzig Pfund! Für ein Buch! Und wann
bekam er das zurück? Nie. Fester Einband, groß wie ein Atlas. GARVEY HOUSE: Ein Porträt in
Bildern. Felix schlug wahllos eine Seite auf, russisches Roulette. Keine Kugel: ein schüchternes
Pärchen, frisch verheiratet, mager, vom Aussehen eher ländlich, mit unordentlichen Afros und
Aknenarben, in fremden, viel zu großen Hochzeitskleidern. Keine Hochzeitsgäste, zumindest
nicht auf dem Foto. Sie feierten allein mit einer halb vollen Flasche Martini Rosso. Er biss sich
auf die Lippe, blätterte weiter. Vier ansehnliche sistas mit Kopftüchern, die mit einem Eimer
frischer Farbe – Farbton unbekannt, alles in Schwarz-weiß – Graffiti übermalten. Im Hintergrund
kaputte Stühle und eine Matratze und ein junger Typ, der einen Joint rauchte. Felix hörte die
Toilettenspülung. Lloyd kam wieder ins Zimmer, schniefend und verdächtig munter. Er zog einen
frisch Gedrehten aus seiner Schlafanzughose und zündete ihn an. »Na dann. Sehen wir’s uns mal
an.«
Dies ist der fotografische Bericht einer faszinierenden Phase in der Geschichte Londons.
Ein Zwischending aus besetztem Haus, Rehabilitationszentrum und Kommune, bot Garvey
House schutzbedürftigen jungen Erwachsenen Zuflucht, die am Rand
»Lies mir keinen Scheiß vor, den ich schon weiß. Ich brauch mir doch von so ’m Typ
nicht erzählen lassen, was ich schon weiß. Wer war dabei, der oder ich?« Das Buch blätterte von
selbst zu der Seite zurück, die Felix eben aufgeschlagen hatte. »Die Mädels hab ich alle gekannt,
Mann. Das ist Anita, Prissy, und das ist Vicky, Queen Vicky haben wir sie immer genannt; nur
die da kenn ich nicht – hübsche Frauen waren das! Der kleine Scheißer da hinten ist Denzel
Baker. Schlitzohr. Ich hab sie alle gekannt! Was steht da – meine Brille ist weg.«
Mai 1977: Die jungen Frauen waren ständig mit Streichen und Aufräumen beschäftigt.
Häufig kamen die Männer spät nach Hause und verwüsteten alles, vielleicht aus Langeweile,
vielleicht aber auch in der Hoffnung, dass Brother Raymond sie dafür bezahlen würde, alles
wieder herzurichten.
»Ja, stimmt so weit. Brother Raymond kriegte Geld von der Bezirksverwaltung Islington,
die haben wir ordentlich aufgemischt, das stimmt. Die Typen haben alles verwüstet, die Mädels
haben versucht, aufzuräumen, ha! – kann ich nicht abstreiten. Nur deine Mutter nicht. Die hat
mitverwüstet. Das war bei der Hitzewelle. Wir haben einfach die Tür rausgenommen. Es war viel
zu heiß! Wo bin ich? Da müsst ich eigentlich auch mit drauf sein. Da ist Marilyn! Und – das ist
Brother Raymond. Guckt in die falsche Richtung, aber das ist er.«
Felix schaute genauer hin. Ganz Garvey House versammelte sich auf dem betonierten
Hinterhof. Barfüßige Kinder, Eltern, die selbst noch wie Kinder aussahen. Afros, Kopftücher,
Canerows, komische, steife Perücken, ein großer, magerer, vergeistigt aussehender Rasta, auf
einen langen Stock gestützt. Er konnte nicht sicher sagen, ob er sich daran erinnerte oder ob das
Foto selbst die Erinnerung für ihn schuf. Er war erst acht gewesen, als die Bezirksverwaltung die
Coopers umsiedelte. »Aber sieh dir mal an, Fee, wie mordscool wir alle aussehen! Sieh dir das
Hemd an! So cool laufen die Kids heute nicht mehr rum. Jeans bis runter an die Poritze. Wir
waren cool!« Das musste Felix zugeben: stilvoll ohne Geld, ohne irgendwelche Mittel.
Nylonstrümpfe aus dem Wohltätigkeitsladen, mit Eleganz getragen. Ausgelatschte Clarks, die
wie edelstes italienisches Schuhwerk daherkamen. BLACK POWER in meterhohen Lettern an
die Hofmauer gesprüht. Seltsam, hier in Schwarz-Weiß bestätigt zu sehen, was er sein Leben lang
für selbstherrliche Übertreibung gehalten hatte. »Ich such mal ein besseres von Brother
Raymond. Was hab ich dir oft von Raymond erzählt! Das war ja alles nur wegen ihm.« Lloyd
blätterte nachlässig durch die Hochglanzseiten, überschlug dabei ganze Serien von Fotos. Er hielt
Felix den Joint hin; Felix lehnte stumm ab. Neun Monate, zwei Wochen, drei Tage. »Wenn
Brother Raymond nicht gewesen wär, würd ich heute noch am King’s Cross pennen. Das war ein
guter Mensch. Er hat nie ...« »Stopp!« Felix fuhr mit der Hand ins Buch.
Seite 37. Lloyd lang ausgestreckt auf einer fleckigen Matratze, in die Autobiografie von
Malcolm X vertieft. Schlaghose und kleine, runde Brille, auch hier ohne Hemd. Kaum gealtert.
Ohne die gewohnten Dreads, dafür mit einem gepflegten Afro, etwa zehn Zentimeter im
Durchmesser. »Siehst du? Du glaubst mir ja nie: ständig am Lesen, ich war ständig am Lesen.
Darum seid ihr Kinder auch so schlau. Sie haben mich immer ›Professor‹ genannt. Alle. Darum
war Jackie überhaupt hinter mir her. Die wollte hier rein.« Lloyd tippte sich an die Schläfe und
machte dabei ein Gesicht, als wären die Mysterien dahinter von einer selbst für ihren Eigentümer
erschreckenden Intensität. »Wie ’n Vampir. Hat mir das Wissen rausgesaugt.« Felix nickte. Er
versuchte, sich auf das Foto zu konzentrieren. Fragte nach den Namen von drei anderen Männern,
die auf dem Bild um einen Kartentisch saßen, rauchten und Blackjack spielten. »Zwei von den
Jungs wurden wegen Mord verknackt. Der da mit dem Mini-Gesicht, weiß nicht mehr, wie er
hieß, und er hier, Antoine Greene. Harte Zeiten waren das! Ihr habt ja keine Ahnung mehr. Die
Leute heutzutage ... Barnes, dieser Schwachkopf. Was labert der den ganzen Tag? Von wegen
›Kampf‹! Wer hat denn die Dreizimmerwohnung? Und in zwei Jahren ’ne volle Rente von der
Post. Von dem Schwachkopf muss ich mir nichts erzählen lassen. Ich hab den Kampf erlebt!«
Lloyd schlug zur Bekräftigung mit der Faust gegen die Wand, und Felix’ Gedanken folgten dem
Nachhall nach nebenan. »Barnesy ist korrekt, Mann. Das ist ein guter Typ«, entgegnete er
automatisch, um sich bestimmte Erinnerungen zu bewahren. Mit Phils Töchtern bei den
Mülltonnen spielen, Phils Fossiliensammlung bewundern, auf Phils Balkon Senfkresse auf Watte
ziehen. Als Kind hatte Felix die Vorstellung, die Welt der Erwachsenen wäre voll von Männern
wie Phil Barnes. Die wären in England so verbreitet wie Wildblumen. »Schwachkopf«,
wiederholte Lloyd und entdeckte seine Brille zwischen zwei Sofakissen.
Felix übernahm das Kommando beim Umblättern und landete rasch bei Brother
Raymond, diesmal klar zu erkennen, wie er beim Wiederaufbau der Außenmauer half. »Da sieht
man die Holloway Road, siehst du? Da, wo jetzt das Jobcenter ist – da war das.« Brother
Raymond entpuppte sich als kleiner Mann mit gepflegtem Trotzkisten-Bart. »Du hast doch
gesagt, er wäre Priester gewesen.« »War er auch!« Felix tippte mit dem Finger auf die
Bildunterschrift: »›Selbst ernannter Sozialarbeiter‹.« »Ich sag dir was: Der Mann war Priester. Im
Geist war er Priester.« Felix gähnte nicht allzu dezent. Lloyd regte sich zusehends über die
Bildunterschriften auf. »Ja, schon klar, von mir aus, das ist Ann. Und? Ann Schießmichtot –
Mann, das ist dreißig Jahre her! Mit Ann hatte jeder was laufen. Die war halt leicht zu haben!
Was ist dabei? Wer hat denen überhaupt erlaubt, so viele Fotos zu machen? Wir waren ja wohl
kein Zoo!« Felix registrierte den typischen Stimmungsverlauf des Kiffers. Nebenan in der Küche
pfiff ein altmodischer Blechwasserkessel auf dem Herd. »Geh Tee machen, Fee.«
Als er den Küchenschrank öffnete, war das Honigglas umgekippt, und die Teedose klebte
am Brett fest. Er ging mit einem feuchten Küchentuch ans Werk. Lloyd rief durch die dünne
Wand herüber: »So ’n kleiner Weißer – ich erinner mich genau an den! Klick klick klick, ging
uns ziemlich auf den Zeiger, ich kann dir sagen. Einer von denen, die unbedingt mitkämpfen
wollen, auch wenn’s gar nicht ihr Kampf ist. Der Schwachkopf von drüben ist genauso – genau
die gleiche Gesinnung. Wir hatten doch genug mit unserem eigenen Kram zu tun. Manchmal hat
der echt Glück gehabt, dass er noch lebend rausgekommen ist, verstehst du. Für die Jungs war
das nämlich kein Spiel, aber überhaupt nicht. Von ’nem Buch war nie die Rede, auch nicht von
Geld. Hätten die vom Bezirk ja auch wissen wollen, oder? Angenommen, du machst Fotos, Felix.
Du machst Fotos von jemandem, ja? Das ist dessen Copyright!« Mit geröteten Augen erschien
Lloyd in der Küchentür. »Das ist sozusagen dessen Seele. Wie kann man die nach englischem
Gesetz einfach verkaufen? Ist nicht drin. In einem öffentlichen Gebäude, das dem Bezirk gehört?
Kannste vergessen. Muss man nur in die Bibliothek gehen und sich die Gesetzbücher durchlesen.
Wo ist mein Geld? Der verkauft Fotos von mir im Internet? Von mir? Kannste vergessen. Wo
bleiben meine Rechte nach englischem Gesetz? Mach mir ’n bisschen Honig in meinen.«

Von der Tür aus beobachtete Felix, wie Lloyd es sich mit seinem Buch auf dem alten,
grauen Velourssofa bequem machte, einen kleinen Stapel Kekse auf dem Glastisch zurechtlegte,
den Tee daneben, den Joint so elegant auf der Kante platziert, dass der Tisch verschont blieb,
während die Asche auf den Teppich krümelte. Er überlegte, seinen Vater zu fragen, wann er das
letzte Mal mit Devon gesprochen habe, entschloss sich dann aber, stattdessen dem
Selbsterhaltungstrieb zu folgen. »Lloyd, ich muss los.« »Bist doch grade erst gekommen!« »Weiß
ich – ich muss aber trotzdem los. Hab noch was zu erledigen.« Felix schlug mit der flachen Hand
an den Türrahmen in der Hoffnung, möglichst gut gelaunt und entschlossen zu wirken. »Für
wen?«, fragte Lloyd unbeeindruckt, ohne aufzusehen. »Für dich oder für sie?« Es war dieser ganz
spezielle Tonfall, hell und fragend – und plötzlich sehr jamaikanisch –, der sich um Felix wand
wie eine aus ihrem Korb kriechende Schlange. Er wollte ihn weglachen – »Ach, komm, Mann,
fang jetzt nicht damit an« –, doch Lloyd wusste genau, wie er sein Gift am besten verspritzte.
»Ich will dir doch nur ’n paar Tipps geben. Ist ja nicht so, dass du mich nicht hörst, Felix, du
willst nur einfach nicht auf mich hören. Weil du jetzt der große Macher bist. Aber eins frag ich
dich: Wozu rennst du immer noch den Weibern nach, als wenn sie dir das Leben retten könnten?
Im Ernst. Wozu? Schau dir Jasmine an. Du lernst es einfach nicht. Der Mann kann die Frau nicht
zufriedenstellen, klar? Egal, wie viel er ihr gibt. Die Frau, die ist ’n schwarzes Loch. Ich hab
mich schwer mit der Literatur befasst, Felix. Biologisch, sozial, historisch, jede Sorte Orakel. Die
Frau, die ist ’n schwarzes Loch. Deine Mutter war ’n schwarzes Loch. Jasmine war ’n schwarzes
Loch. Und die, die du jetzt hast, ist genauso, und sie sieht auch noch gut aus, darum wird sie dich
mit Haut und Haar schlucken, bis du merkst, dass sie dich ausgesaugt hat. Je schöner sie sind,
desto schlimmer.« Lloyd nahm einen langen, genussvoll schlürfenden Schluck von seinem Tee.
»Red nicht so ’n Quatsch«, erwiderte Felix matt und schaffte es gerade eben so aus dem Zimmer.
Während er in der Diele die Füße wieder in seine Nikes zwängte, hörte Felix, wie Lloyd
drinnen mit der Hand auf eine Buchseite schlug. »Felix: komm her!« Er ging zurück und sah, wie
sein Vater den Buchrücken nach hinten bog, die Falz zwischen zwei Seiten glatt strich. »Da ganz
im Eck: mit dem Blumenkleid – ich erinner mich genau an die Blumen, die waren lila.
Hundertzwanzigprozentig! Im Ernst. Warum glaubst du mir eigentlich nie was? Das ist Jackie.
Ich sag dir was, als sie mit den Mädchen schwanger war, da hat sie flache Schuhe getragen. Die
ganze Zeit. Aber sie trug nur flache Schuhe, wenn sie musste, klar? Viel zu eitel.« Zufrieden mit
dieser Schlussfolgerung griff Lloyd nach seinem Joint. Felix setzte sich auf die Sofalehne und
betrachtete den mutmaßlichen Ellbogen und linken Fuß seiner Mutter. Irgendwo in ihm erwachte
ein Muskel hoffnungsvoll zum Leben, war aber viel zu geschwächt von früherer
Überanstrengung. Er lehnte sich an die Wand. Lloyd hob das Buch, um es Felix noch dichter
unter die Nase zu halten. Das reinste Treibhaus hier drinnen, nicht auszuhalten. Sogar die Wände
schwitzten! Lloyd schlug erneut auf die Seite. »Das. Ist. Jackie. Hundertzwanzigprozentig.« »Ich
muss los«, sagte Felix, gab Lloyd einen flüchtigen Kuss auf die Wange und floh.
Draußen war es vergleichsweise kühl; er wischte sich über das Gesicht und konzentrierte
sich darauf, wieder zu atmen wie ein normaler Mensch. Als er die Tür zuzog, schloss sich auch
die der Wohnung nebenan. Phil Barnes. Inzwischen wohl sechzig? Er versuchte, den schweren
Blumentopf anzuheben, der vor seiner Wohnungstür stand. Er sah zu Felix herüber, der grinste
und sich die Kappe aus dem Gesicht schob.
»Alles klar, Felix?«
»Alles bestens, Mr Barnes.«
»Auf den Knien habe ich ihn geschaukelt, und jetzt sagt er Mr Barnes zu mir.«
»Alles bestens, Barnesy.«
»Schon besser. Herrje, ist das Ding schwer. Steh da nicht herum wie so ein ›junger
Schwarzer‹, Felix. Wie so ein nichtsnutziger JUNGER SCHWARZER. Hilf mir lieber mal.«
Felix hob den Topf an. »So wird ein Schuh draus.«
Felix sah zu, wie Phil Barnes den Außenbalkon entlangschaute wie ein Geheimagent, erst
nach rechts, dann nach links; dann warf er einen Schlüssel auf den Boden und schob ihn mit dem
Fuß unter den Blumentopf.
»Furchtbar, nicht? Da sorge ich mich um mein Eigentum wie eine alte Frau. Als wäre ich
KRÖSUS. Und als Nächstes sage ich dann Dinge wie: ›Man kann gar nicht vorsichtig genug
sein!‹ Wenn es so weit ist, dann musst du mich notschlachten, abgemacht, Felix? Jag mir einfach
eine Kugel durch den Kopf.« Er lachte und nahm seine kleine runde Lennon-Brille ab, um sie mit
dem T-Shirt zu säubern. Kurzsichtig musterte er Felix, mit einem Mal verletzlich wie ein
Maulwurf. »Gehst du zum Karneval, Felix?«
»Ja. Wahrscheinlich. Aber morgen. Heute ist ja erst Samstag.«
»Natürlich, natürlich. Mein Gehirn lässt mich langsam im Stich. Was macht dein Vater?
Ich habe ihn in letzter Zeit kaum noch gesehen.«
»Lloyd geht’s gut. Lloyd ist halt Lloyd.«
Es rührte Felix, dass Phil Barnes ihm gegenüber aus reiner Nettigkeit so tat, als würde er
noch mit dem Mann reden, mit dem er seit dreißig Jahren Tür an Tür wohnte. »Das nenn ich mal
eloquent, Felix! ›Ein Wort sagt mehr als tausend Bilder!‹ Genauso ist es doch, nicht? Wobei,
wenn man mal drüber nachdenkt, ist es nicht eigentlich eher umgekehrt, streng genommen: Ein
Bild sagt mehr als tausend Worte?«
Felix zuckte liebenswürdig mit den Achseln.
»Achte gar nicht auf mich, Felix! Ich bin inzwischen auch so ein Tattergreis geworden. Es
muss dich ja zu Tode langweilen, so jemandem zuzuhören. Ich weiß noch, als ich selbst jung war,
da konnte ich es absolut nicht ausstehen, wenn die alten Leutchen jammerten und nicht mehr
aufhörten. Lasst die Jugend doch einfach machen! Habt doch ein bisschen Vertrauen in sie! Lasst
sie ihr eigenes Ding machen! Ich bin ja so ein kleiner Revoluzzer, weißt du, aber ich war auch ein
Mod, damals. Auf meine Weise bin ich das immer noch. Aber heutzutage«, sagte Phil und legte
eine Hand auf das Balkongeländer, »die jungen Leute heute haben einfach keine Hoffnung mehr,
Felix, keine Hoffnung. Wir haben all ihre Ressourcen verbraucht, alles haben wir aufgebraucht,
so ist es doch! Und jetzt halte ich dir schon wieder einen Vortrag. Lauf! Lauf, so schnell du
kannst! Ich bin der ›graue Tsunami‹! Hast du das gelesen? Stand letzte Woche im Guardian.
›Grauer Tsunami‹. Da falle ich anscheinend drunter. Die Geburtenjahrgänge zwischen 1949 und
19-irgendwas. Lauter egoistische Babyboomer. Und deshalb haben wir auch sämtliche
Ressourcen aufgebraucht. Als ich das Amy erzählt habe, meinte sie nur: ›Tja, und was hat es uns
groß gebracht?‹ Fand ich sehr lustig. Sie hat nicht viel übrig für Politik, meine Amy, aber sie
meint es gut. Sie meint es wirklich gut«, sagte Phil und schaute betreten, weil er viel zu weit vom
Small Talk weg zum Kern der Dinge vorgedrungen war – das passierte ihm in letzter Zeit immer
öfter – und jetzt versuchen musste, wieder zu den unbedeutenden Themen zurückzufinden. »Wie
alt bist du denn jetzt, Felix?«
Felix boxte sich mit einer Faust in die wartende andere Hand. »Zweiunddreißig. Ich werd
alt. Ist langsam echt nicht mehr witzig.«
»Tja, so ist es wohl. Deswegen jammern sie ja auch ständig, die alten Leutchen. Ich
entwickele ja inzwischen ein gewisses Verständnis dafür, das kann ich dir flüstern – Schmerzen
und Wehwehchen. Drück doch mal den Knopf, bitte. Kaputt? Na, dann nehmen wir eben die
Treppe – ist eh gesünder. Diese Aufzüge sind wirklich eine Katastrophe.« Felix öffnete die
Feuerschutztür und hielt sie für Barnesy auf. »Aber andererseits haben sie ja auch sonst kaum
Möglichkeiten, die jungen Leute heutzutage, stimmt’s? Das ist das eigentlich Schreckliche, wenn
du mich fragst. Das sollte mal jemand laut sagen.«
Gemeinsam gingen sie das enge Betontreppenhaus hinunter, Barnesy vorneweg, Felix
hinterher. Ihn von hinten zu sehen, war wie eine Zeitreise: nicht dicker und nicht dünner, keine
Veränderung im Kleidungsstil, kein Hinweis auf die zwanzig Jahre zwischen Damals und Heute.
Das feine, blonde Haar ergraute auf subtil silbrige Weise, sodass es einfach nur noch blonder
wirkte, und wie bei einem jungen Mann reichte es ihm immer noch bis knapp an die Schultern,
die genau so rund und bärig und weich aussahen wie eh und je. Er trug eine aufgeknöpfte
schwarze Weste mit einem Anti-Atomkraft-Button am Aufschlag, darunter ein weites weißes
T-Shirt und hellblau verwaschene Stretchjeans. In seiner Gesäßtasche steckte ein Paar
Hausschuhe, in die er schlüpfte, sobald er seine Runde beendet hatte. Oft sah man ihn in Rose’s
Café an der High Road sitzen und mittagessen, in Hausschuhen. Felix hatte das immer für etwas
exzentrisch gehalten, bis er einmal selbst die Post ausgetragen hatte, fünf Monate nur, um die
Jahrtausendwende, und diese Arbeit anstrengender fand als alles, was er jemals gemacht hatte.
»Die sprechen immer von ›jungen Schwarzen‹, nicht?«, sagte Phil und blieb erneut
stehen, auf halbem Weg die Treppe hinunter, in nachdenklicher Haltung. Felix lehnte sich ans
Geländer und wartete, obwohl er diesen Vortrag schon ziemlich oft gehört hatte. »Und damit
meinen sie nicht die Jugendlichen aus dem schickeren Teil oben am Park, das sind immer nur
Jugendliche, aber unsere, das sind ›junge Schwarze‹, unsere Arbeiterjugend ist grundsätzlich
›schwarz‹, ist das nicht furchtbar? Sie kommen hierher, Felix – ich wollte deinem Vater davon
erzählen, aber ihn kümmert das nicht, du kennst ihn ja, er hat meistens sowieso nur Frauen im
Kopf –, die Polizisten, sie kommen hierher und fragen nach unseren Kindern, natürlich nicht
direkt nach unseren Kindern, ist ja klar, unsere Kinder sind alle längst aus dem Haus, aber nach
den Kindern aus der Siedlung, sie wollen Informationen. Um ihre schönen großen Häuser am
Park vor unseren Kindern zu bewahren! Eine Schande ist das, wirklich wahr. Aber für solchen
Käse interessiert ihr euch ja nicht, was, Felix? Ihr wollt einfach Spaß haben. Und das ist ja auch
ganz richtig. Da halte ich es doch mit Pink Floyd: Leave them kids alone. Das ist meine Meinung
– meine Frau findet immer, ich hätte zu viele Meinungen, aber so ist das eben. All die Neuen
hier, die wollen davon gar nichts wissen. Kaum auszuhalten ist das. Da gucken die ständig ihre
Realityshows, lesen ihre Revolverblätter und diesen ganzen Mist. Einfach stillhalten und sich ein
neues Handy kaufen – so sind die Leute hier heutzutage. Sie organisieren sich nicht mehr, sie
sind nicht mehr politisch – früher, da hatte ich wenigstens noch gute Gespräche mit deiner
Mutter. Richtig gute Gespräche, hochinteressant. Weißt du, sie hatte Unmengen interessanter
Ideen. Natürlich ist mir klar, dass sie auch Probleme hatte, große Probleme. Aber sie besaß etwas,
was den meisten Leuten fehlt, nämlich Neugier. Sie hat vielleicht nicht immer die richtigen
Antworten gefunden, aber zumindest wollte sie die Fragen stellen. Das schätze ich bei Menschen.
Wir haben uns immer ›Genosse‹ und ›Genossin‹ genannt – das brachte deinen Vater auf die
Palme! Deine Mutter war wirklich eine hochinteressante Frau, mit ihr konnte ich reden – weißt
du, Felix, man hat es schwer, wenn man sich für Ideen und dergleichen interessiert, für die Ideen
und Philosophien der Vergangenheit – da hat man es hier in der Gegend schwer, jemanden zu
finden, mit dem man wirklich reden kann, das ist ja die Tragik an der Sache, weißt du, wenn man
mal drüber nachdenkt. Ich finde hier jedenfalls keinen mehr, mit dem ich reden könnte. Und als
Frau hat man es natürlich noch schwerer. Da kann man sich schon sehr eingesperrt fühlen.
Wegen dem Patriarchat. Ich finde wirklich, jeder braucht von Zeit zu Zeit so einen kleinen
Gedankenaustausch. Ja, ja, hochinteressante Frau, deine Mutter, sehr feinsinnig. So jemand hat es
schwer.«
»Hmm«, sagte Felix.
»Du klingst nicht sehr überzeugt. Sicher, ich habe deine Mutter kaum gekannt, ist ja klar
... Dein Vater lässt natürlich kein gutes Haar an ihr. Ich weiß ja auch nicht. Komplizierte
Konstrukte, Familien. Wenn man zu dicht dran ist, sieht man nichts. Ich gebe dir ein Beispiel.
Weißt du, diese Bilder, die dein Vater manchmal verkauft, mit den Punkten, aus denen dann ein
geheimes Bild wird? Da siehst du auch nichts, wenn du zu dicht dran bist. Aber ich stehe
sozusagen am anderen Ende des Zimmers. Da hat man eine ganz andere Perspektive. Als mein
alter Herr damals im Heim war – ein Loch, sag ich dir, ein fürchterliches Loch – aber die
Pflegerinnen dort haben mir manchmal Dinge über ihn erzählt, von denen hatte ich keinen
Schimmer. Keinen blassen Schimmer. Die kannten ihn besser als ich. In mancher Hinsicht. Nicht
in jeder. Aber trotzdem. Du weißt schon, was ich sagen will. Alles eine Frage des Kontexts.«
Unter einer gewaltigen Sonne, die groß und orange am Himmel hing, traten sie hinaus auf
den gemeinschaftlichen Rasen.
»Und deine Schwestern, geht’s ihnen gut? Ich wette, man kann sie immer noch nicht
auseinanderhalten.«
»Mann, die Mädels. Tia ist einfach nur verpeilt, aber Ruby ist endsfaul.«
»Das hast jetzt du gesagt! Nicht ich! Nur fürs Protokoll!« Phil kicherte und hob die
Hände, wie um seine Unschuld zu beteuern. »Aber nur, damit ich das richtig verstehe: ›verpeilt‹
heißt so viel wie unorganisiert, stimmt’s? Ich glaube, das hast du mir beim letzten Mal erklärt.
Siehst du? Ich bin noch taufrisch. Ich bleibe dran an der Jugendsprache. Und ›ends-‹ heißt ›viel‹,
›sehr‹ oder auch ›echt‹. Eine Art Verstärkungspartikel. Ich bleibe dran. Es hilft natürlich, hier zu
wohnen, da hört man die Jugend reden und kann sie ansprechen und nachfragen. Die schauen
mich dann immer an, als wäre ich nicht ganz richtig im Kopf, das kannst du dir ja denken.« Er
seufzte. Nun folgte die schwierige Anschlussfrage, jedes Mal wieder gleich schwierig.
»Und der Kleine? Devon? Wie geht es ihm?«
Felix nickte, um Dank für die Frage zu signalisieren. Phil war der Einzige in der Siedlung,
der überhaupt noch nach seinem Bruder fragte.
»Gut geht’s ihm, Mann. Er schlägt sich gar nicht schlecht.«
Schweigend überquerten sie den Rasen.
»Wenn die nicht wären, Felix, ich wäre längst weg, denke ich mir manchmal, garantiert.
Dann würde ich nach Bournemouth ziehen, so wie die anderen alten Säcke.« Er klopfte mit dem
Fingerknöchel an den Baum und bedeutete Felix, darunter stehen zu bleiben und nach oben zu
sehen: ein alles umschließender Baldachin aus dichtem Laub, als stünde man unter dem
Glockenrock einer Disney-Prinzessin. Zur Natur fiel Felix nie etwas ein. Er wartete.
»So ein bisschen Grün hat große Wirkung, Felix. Ganz große Wirkung. Besonders hier in
England. Das brauchen sogar wir alteingesessenen Londoner, darum laufen wir ja ständig auf die
Hampstead Heath, nicht wahr, wir sind verrückt danach. Auch unser kleiner Park hier ist
unerlässlich. Dieses bisschen Grün. Im grünen Blätterschoß / Der Birke, wenn ihr Schatten dich
umkühlt ... Na, was ist das? ›Ode an die Nachtigall‹! Ein ganz berühmtes Gedicht. Keats. Auch
Londoner. Aber woher solltest du das kennen! Wer hätte es dir schon beibringen sollen? Du hast
ja deine Musik, deinen Hip-Hop und deinen Rap – was ist da eigentlich der Unterschied? Das war
mir immer schleierhaft. Ich muss auch ehrlich sagen, Felix, ich begreife dieses ganze
Bling-Bling-Getue nicht – das kommt mir doch sehr rückschrittlich vor, eine solche Fixierung
aufs Geld. Aber vielleicht steht das ja für etwas anderes – das weiß ich natürlich nicht. Na, wie
auch immer, ich habe wenigstens noch meine Gedichte. Aber die musste ich mir selbst
beibringen! Damals, wenn man da den Übertritt nicht schaffte, dann war’s das – raus aus dem
Spiel. So war das damals. Alle Bildung, die ich habe, musste ich mir selbst aneignen. Mit dem
Zorn darüber bin ich aufgewachsen. Aber so war das nun mal früher in England für unsereins.
Und heute ist es noch genauso, es heißt nur anders. Das sollte dich auch zornig machen, Felix,
wirklich!«
»Ich leb mehr so von Tag zu Tag.« Felix stupste Phil Barnes in die Seite. »Du bist so ’n
richtiger alter Linker, Barnesy, ein richtiger Kommunist.«
Wieder Gelächter, er krümmte sich vor Lachen, stützte die Hände auf die Knie. Als er
wieder hochkam, sah Felix Tränen in seinen Augen.
»Ja, das bin ich! Wahrscheinlich denkst du dir die meiste Zeit: Was redet der da
eigentlich? Reine Propaganda! Was redet der da nur?« Seine Miene wurde matt und
melancholisch. »Aber ich glaube eben noch an die Menschen, Felix. Ich glaube an sie. Nicht,
dass es mir irgendwas gebracht hätte, aber so bin ich einfach. So bin ich.«
»Klar, Barnesy. Lass krachen, Mann«, sagte Felix und klopfte seinem alten Freund auf
den Rücken.
Sie ließen die Siedlung hinter sich, gingen bergauf, Richtung Straße.
»Ich muss ins Lager, Felix. Nachmittagsschicht. Briefe sortieren. Wo musst du hin? Gehst
du Richtung High Road?«
»Nee. Ich bin spät dran – ich muss in die Stadt. Am besten mit der Bahn. Oder erst mal
mit dem Bus hier.«
Der hielt gerade direkt vor ihnen und öffnete seine Türen. Mrs Mulherne, die ebenfalls in
Caldwell wohnte, zerrte ihre Einkaufstasche rückwärts aus der falschen Tür, der Rücken krumm,
die Strumpfhose faltig um die dünnen Knöchel. Barnes eilte ihr zu Hilfe. Felix hatte das Gefühl,
er sollte auch helfen. Sie fühlte sich so leicht an, als könnte sie jeden Moment wegfliegen. Frauen
alterten anders. Mit zwölf war ihm Mrs Mulherne nur ein klein wenig zu alt vorgekommen, um
noch was mit seinem Vater zu haben; jetzt hätte sie gut auch dessen Mutter sein können. Der
Morgen-danach-Blick auf zwei kräftige rosa Beine, die, in ein verschlissenes Badetuch gehüllt,
über den Flur zum Klo flitzten. Und keineswegs die Einzige. »Wie tapfer, dass Sie sich ganz
allein um die vier Kleinen kümmern. Die ist Sie doch gar nicht wert, mein Lieber. Sie haben was
Besseres verdient. Sie tun uns allen so furchtbar leid.« So drückten die Frauen von Caldwell ihr
Mitgefühl aus. An der Bushaltestelle, im Wartezimmer, bei Woolworths. Wie ein
Nummer-eins-Hit, der einem von Laden zu Laden folgt. »Er tut alles für die Kinder. Sterben
würde er für die Kinder. Was man von ihr ja nun nicht behaupten kann.« Eine davon, Mrs Steele,
arbeitete bei ihm in der Schulkantine. Jedes Mal, wenn sie ihn sah, gab es großes Erröten – und
eine Extraportion Pommes. Komisch, was einem so im Gedächtnis blieb – was einem klar wurde.

»Grace – und weiter?« »Grace. Punkt.« »Nachnamen hast du keinen?« »Für dich nicht.«
Genau hier, an dieser Bushaltestelle. Den Blick hatte sie auf die Beine ihrer dunkelblauen Jeans
gerichtet und zupfte immer wieder an den Aufschlägen, damit sie auch genau richtig auf den
hohen schwarzen Stiefeln saßen. Die Schmachtlocke fest an die Stirn zementiert. Er war
überzeugt, nie etwas Schöneres gesehen zu haben. »Ey, komm schon, sei nicht so. Hör mal:
Weißt du, was ›Felix‹ bedeutet? Glücklich. Ich bring also Glück, sozusagen. Aber kann ich dich
mal was fragen? Stört’s dich, wenn ich mich hierhersetze? Grace? Kann ich mit dir reden? Wir
warten doch beide auf denselben Bus, oder? Na, ist ja egal. Aber stört’s dich, wenn ich mich
hierhersetze?« Endlich blickte sie zu ihm auf, mit fabrikgefertigten Augen, den hellbraunen, die
man an der High Road kaufen konnte. Wie nicht von dieser Welt sah sie aus. Und er hatte gleich
gewusst: Das ist mein Glück. Ich warte schon mein Leben lang an dieser Bushaltestelle, und jetzt
ist mein Glück endlich gekommen. Sie sprach! »Felix – heißt du so, ja? Du störst mich kein
bisschen, Felix. Um mich zu stören, müsstest du ja was bedeuten, kapierst du? So sieht’s nämlich
aus.« Ihr Bus kam über den Hügel. Damals. Jetzt. »Nee, warte mal, sei doch nicht so, hör mir zu:
Ich will dich gar nicht anbaggern. Du bist mir einfach aufgefallen. Ich will dich kennenlernen,
sonst nichts. Du hast so ein Gesicht, das ist echt voll ... intensiv.« Sie hob eine
Filmstar-Augenbraue. »Ach ja? Und du hast ’n Gesicht wie einer, der Frauen an der
Bushaltestelle anbaggert.«

Mit fünf unschuldig an dieser Bushaltestelle. Mit vierzehn besoffen. Mit


sechsundzwanzig stoned. Mit neunundzwanzig komplett zu, voll von der Rolle vor lauter Koks
und Ketamin: »Hier kannst du aber nicht pennen, Junge. Entweder, du verziehst dich, oder wir
nehmen dich mit aufs Revier, da kannst du dich ausschlafen.« Wenn man lange genug am selben
Ort wohnt, überlappen sich die Erinnerungen. »Danke für die Hilfe, Felix, mein Lieber. Schön,
dich zu sehen. Klopf doch mal bei mir. Und sag Lloyd einen lieben Gruß. Ich bin gleich eins
drunter, du bist jederzeit willkommen.« Felix sprang wieder in den Bus. Er winkte Phil Barnes,
der mit zwei hochgereckten Daumen konterte. Er winkte Mrs Mulherne, als der Bus sie auf dem
Weg bergan überholte. Er legte eine Hand an die Scheibe. Grace mit siebzig. Das
Tinkerbell-Tattoo unten am Rücken, runzlig oder auch in die Breite gegangen. Aber wie könnte
Grace jemals siebzig sein? Undenkbar. (»Und vergiss nicht, Fee: Ich hätte da gar nicht sein
sollen. Eigentlich wäre ich bei meiner Tante in Wembley gewesen. Weißt du noch? An dem Tag
hätte ich nämlich eigentlich auf ihre Kinder aufpassen sollen, aber dann hat sie sich den Knöchel
gebrochen und war selber zu Hause. Und ich dann so: Kann ich auch in die Stadt fahren, bisschen
shoppen. Erzähl mir jetzt nicht, Felix, dass das nicht Schicksal war. Mir ist egal, was alle sagen,
es passiert trotzdem nichts ohne Grund. Erzähl mir jetzt nicht, das Universum hätte nicht gewollt,
dass ich in dem Moment dort bin!«)

Mind the gap. Felix stieg in den vorletzten Wagen und konsultierte den Tube-Plan wie ein
Tourist, nahm sich einen Moment Zeit, um sich von Einzelheiten zu überzeugen, die jeder
lebenslange Londoner eigentlich im Schlaf wissen sollte: von Kilburn nach Baker Street
(Jubilee), von Baker Street nach Oxford Circus (Bakerloo). Andere Leute vertrauen auf sich. Eine
Variante desselben Instinkts ließ ihn die Hand tief in der Tasche vergraben und einen Zettel
umklammern, auf dem ein Name stand. Eine andere Bahn schoss heran, warf ihn auf den Sitz,
den er schon angesteuert hatte. Gleich darauf schien es, als würden beide Züge nebeneinander
herfahren. Er sah sich jetzt Auge in Auge mit seinem Gegenüber im anderen Zug. Eine kleine
Frau, die er für eine Jüdin hielt, ohne konkrete Gründe dafür zu haben: dunkelhaarig, hübsch, in
sich hineinlächelnd, blaues Siebzigerjahre-Kleid – ein großer Kragen, mit kleinen weißen Vögeln
bedruckt. Stirnrunzelnd betrachtete sie sein T-Shirt. Versuchte, es zu entziffern. Ihm war einfach
danach: Er lächelte! Ein breites Grinsen, das seine Grübchen betonte und drei Goldzähne sehen
ließ. Das schmale, dunkle Gesicht der jungen Frau zog sich zusammen wie ein Einkaufsnetz. Ihr
Zug fuhr weiter und seiner auch.
(W1)

»Bist du Felix? Hi! Super! Du bist Felix!«


Er wartete vor dem Topshop. Ein großer, schlaksiger, junger Weißer mit ewig langem
hellbraunem Pony, der ihm ins Gesicht hing. Röhrenjeans, eckige schwarze Brille. Offensichtlich
brauchte er einen Moment, um sich zu sortieren, den Felix ihm gerne ließ. Er holte seinen Tabak
aus der Tasche und drehte sich eine, und der Junge sagte derweil: »Tom Mercer – es ist gleich
hier um die Ecke. Also, ein paar Straßen weiter«, und lachte dabei, um sein Erstaunen zu
überspielen. Felix wusste selbst nicht, warum seine Stimme am Telefon oft so irreführend wirkte.
»Wollen wir? Ich meine, kannst du das auch im Gehen?«
»Mit einer Hand und im Laufschritt, bruv.«
»Ha. Klasse. Hier lang.«
Aber er schien nicht recht zu wissen, wie er sich durch das Eckgewühl zwischen Oxford
und Regent Street schlängeln sollte: Nach ein paar Fehlstarts war er ein gutes Stück weiter zurück
als vorher. Felix leckte sein Zigarettenpapier an und sah zu, wie der Junge einem Peruaner mit
einem dreieinhalb Meter hohen Schild auswich: TEPPICHE IM SONDERANGEBOT, 100
METER. Kein Londoner, zumindest kein echter, dachte Felix, der selbst einmal in Wiltshire
gewesen und völlig verblüfft zurückgekehrt war. Er ging voran und übernahm das Kommando,
drängte sich mitten hinein in eine Gruppe junger Inderinnen mit glänzenden schwarzen
Pferdeschwänzen und kleinen goldenen Selfridges-Buttons an den Jackenaufschlägen. Sie
schwammen gegen den natürlichen Strom, Felix und der junge Weiße – es dauerte fünf Minuten,
bis sie die Straße überquert hatten. Verkatert, lautete Felix’ Diagnose. Aufgesprungene Lippen,
Panda-Augen. Eine gewisse Lichtempfindlichkeit.
Felix setzte an: »Hast du sie schon lange oder ...?«
Der Junge wirkte erschrocken. Er fuhr sich mit der Hand durch den Pony.
»Ob ich ...? Ach so, klar. Nein. Ich meine, ich habe sie vor ein paar Jahren geschenkt
gekriegt, zum Einundzwanzigsten – gebraucht, von meinem Vater – der hatte sie ziemlich lange
... Kein besonders praktisches Geschenk. Aber du bist ja Fachmann – du wirst nicht so viele
Probleme damit haben.«
»Mechaniker.«
»Genau. Mein Vater kennt deine Werkstatt. Er hat seit dreißig Jahren solche Karren, oder
sogar noch länger, er kennt sämtliche Spezialwerkstätten. Kilburn, oder?«
»Ja.«
»Das ist so grob die Notting-Hill-Gegend, oder?«
»Nee, nicht ganz.«
»Aha, also, Felix? Wir biegen hier jetzt links ab. Raus aus diesem Chaos.«
Sie verdrückten sich in eine kopfsteingepflasterte Seitenstraße. Fünfzig Meter weiter, auf
der Oxford Street, drängte sich Mensch an Mensch, so dicht wie beim Karneval und fast ebenso
laut. Hier hinten war alles still und leer. Glänzende schwarze Türen, Messingknäufe,
Messingbriefkästen, Laternenpfähle wie aus dem Märchen. Alte Gemälde in aufwendigen
Goldrahmen auf Staffeleien, zur Straße gedreht. PREIS AUF ANFRAGE. Damenhüte, jeder auf
seiner eigenen Stange, gefiedert, bereit zum Abheben. BITTE KLINGELN. Laden an Laden und
kein Mensch darin. Ganz am Ende der kleinen Reihe entdeckte Felix hinter glitzernden
Milchglasscheiben einen Kunden, der auf einem Lederhocker saß und eine dieser grünen Jacken
anprobierte, gewachst wie eine Tischdecke, mit Karofutter. Auf der Hälfte wurde das Fensterglas
klar und ließ ein breites, rotes Gesicht sehen, mit weißen Haarbüscheln hier und da, vor allem in
den Ohren. Felix sah solche Typen ständig, vor allem in diesem Viertel. Eine ganze Kolonie.
Nicht allzu kontaktfreudig – hielten sich eher an ihresgleichen. THE HOUSE AND HARE.
»Gutes Pub, das da«, sagte Felix. Um etwas zu sagen.
»Mein Vater schwört drauf. Wenn er in London ist, ist das sein Wohnzimmer.«
»So. Ich hab mal hier in der Gegend gearbeitet, lange her. Da war ich noch beim Film.«
»Ehrlich? Bei welcher Firma denn?«
»Ach, überall. Wardour Street und so«, setzte Felix nach und bereute es sofort.
»Ein Cousin von mir ist Vizepräsident bei Sony, vielleicht kennst du ihn ja? Daniel
Palmer. Soho Square?«
»Ach, nee ... Ich war eigentlich eher ’ne Art Laufbursche. Mal da, mal dort. Bei
verschiedenen Firmen.«
»Alles klar«, sagte Tom mit zufriedener Miene. Ein kleines Rätsel war schon mal gelöst.
»Ich interessiere mich ja sehr für Film – hab mich so nebenbei ein bisschen damit befasst, wie
Erzählstrukturen funktionieren, wie man aus Bildern Geschichten macht ...«
Felix zog seine Kapuze hoch. »Dann bist du also aus der Branche?«
»Nicht direkt, also, nein, zurzeit nicht, nein, also, ich bin überzeugt, ich hätte da Fuß
fassen können, aber Film ist doch echt ein unsicheres Geschäft. Auf der Uni war ich ein richtiger
Filmfreak, fast ein Nerd. Nein, jetzt bin ich mehr so kreativ unterwegs. Also, kreativ im
Medienbereich. Schwer zu erklären – ich arbeite bei einer Firma, die Ideen zur
Markenkonsolidierung entwickelt. Wir helfen Firmen, die zielgruppenorientierte Annahme ihrer
Produkte zu verbessern – also im Grunde topaktuelle Marktmanipulation.«
Felix blieb stehen und zwang den Jungen, ebenfalls stehen zu bleiben. Mit leerem Blick
musterte er seine ungerauchte Zigarette.
»So was wie Werbung?«
»Im Grunde, ja«, meinte Tom genervt, und als Felix ihm immer noch nicht folgte:
»Brauchst du Feuer?«
»Nee. Hab ich hier irgendwo. Also so was wie Werbekampagnen?«
»Also, nein, nicht direkt, weil – das ist ein bisschen schwer zu erklären – im Grunde
sehen wir Kampagnen nicht mehr als zukunftsweisend. Es geht eher darum, Luxusmarken ins
alltägliche Bewusstsein zu bringen.«
»Werbung«, schloss Felix, zog sein Feuerzeug aus der Tasche und setzte eine
Unschuldsmiene auf.
»Es ist gleich hier rechts, wenn du ...«
»Bin dir auf den Fersen, bruv.«
Sie gingen über einen prächtigen Platz und dann weiter in eine Seitenstraße, deren Häuser
allerdings nicht weniger prächtig waren: weiße Fassaden, mehrere Stockwerke hoch. Von
irgendwo kamen Kirchenglocken. Felix streifte die Kapuze ab.
»Da wären wir – das ist sie. Ich meine, das ist natürlich nichts, was man ... sorry, Felix,
entschuldigst du mich kurz? Da muss ich rangehen.«
Der Junge hielt sein Handy ans Ohr und setzte sich auf die schwarz-weiß gefliesten
Stufen des nächstbesten Hauses, genau zwischen zwei Blumenkübel mit Orangenbäumchen.
Felix machte einen halben Bogen, bis er auf der Straße stand. Er ging in die Hocke. Sie lächelte
ihn an, aber das taten sie alle, egal, in welchem Zustand sie waren. Froschaugen-Scheinwerfer,
irres Kühlergrill-Grinsen. In diesem Fall einäugig. Er fasste an die Stelle, wo die Plakette
hingehörte. Wenn es so weit war, würde dort ein silbernes Achteck prangen, die beiden
Buchstaben Rücken an Rücken, wie im Tanz. Kein Plastik. Metall. Alles so, wie’s sein sollte. Er
richtete sich auf. Schob die Hand durch den riesigen Riss im Faltdach und rieb den Stoff
zwischen den Fingern: dünnes, ausgebleichtes Polyestergewebe. Die Plastikluke sowieso längst
beim Teufel. Den Rost brauchte er gar nicht anzufassen, er sah sofort, wie schlimm es war. Am
schlimmsten hinten links, da war es quasi ein ganzer Kontinent – aber auch ganz ordentlich rund
um die Motorhaube, was hieß, dass sie höchstwahrscheinlich durchgerostet war. Trotzdem: das
richtige Rot. Das Original-Rot. Schön gewölbt über den Vorderrädern, hinten so rechtwinklig,
wie sie sein sollte, und eine makellose Gummistoßstange – das alles wies zumindest darauf hin,
dass sie auch wirklich war, was sie zu sein vorgab. M D G E T. Leicht zu beheben, genau wie die
anderen Äußerlichkeiten – Kosmetik. Die eigentlichen Neuigkeiten warteten unter der
Motorhaube. Und lustigerweise war es umso besser für ihn, je schlechter diese Neuigkeiten
ausfielen. Barry aus der Werkstatt: »Was noch fährt, Kleiner, das kannst du dir nicht leisten.«
Aber er würde dafür sorgen, dass sie wieder fuhr. Vielleicht nicht diesen Monat und auch nicht
nächsten, aber irgendwann. Ungeduldig drückte er den Türgriff. Am liebsten hätte er einfach das
kaputte Fenster aufgerissen, das mit Pappe und Klebeband geflickt war.
»Es geht doch nicht darum, wer mehr empfindet«, sagte der Junge. Er rollte mit dem Fuß
einen Kieselstein auf einer Fliese hin und her. Felix lehnte sich an den Wagen. »Soph? Soph?
Hör mal, ich hab gerade nicht so viel Zeit. Natürlich nicht! Mein Handy war leer. Nein, jetzt nicht
mehr. Bitte beruhige dich doch, Soph. Ich hab hier gerade zu tun. Soph?« Der Junge nahm das
Handy vom Ohr und musterte es einen Moment lang fassungslos. Dann schob er es wieder in die
Jackentasche. Felix pfiff durch die Zähne.
»Neunundneunzig Probleme. Jetzt versteh ich dich, bruv.«
»Sorry – was?«
»Der Wagen. Haufenweise Probleme.«
»Nun, ja«, sagte Tom Mercer und machte eine ausladende Geste, die das ganze Fahrzeug
umfassen sollte. »Klar, der Wagen ist eindeutig ein Projekt. Einfach losfahren kannst du damit
nicht. Daher ja auch der Preis. Ansonsten würden wir hier von mehreren Tausend reden.
Eindeutig ein Projekt. Komm, ich schließ mal auf und geb dir ’ne Führung.«
Felix sah zu, wie Tom mit dem Schloss kämpfte.
»Soll ich vielleicht ...«, fing er an. Die Tür sprang auf.
»Man muss nur den richtigen Dreh finden. Wie gesagt, ein Projekt. Aber machbar.« Die
Führung erwies sich als recht begrenzt. »Kupplung«, sagte Tom, und »Gangschaltung« und
»Lenkrad«, und fuhr dabei mit der Hand beiläufig über das jeweilige Teil, und dann, während sie
beide betreten die muffigen, Falten werfenden Fußmatten und den rostigen Boden betrachteten,
die fleckigen Polster, aus denen Füllung und Sprungfedern hervorquollen, sowie die leere Höhle,
wo das Radio sein sollte, brummte er das Baujahr.
»Mein Geburtsjahr«, sagte Felix.
»Dann ist es wohl Schicksal.«
Der Junge las jetzt ein paar Daten von einem kleinen Zettel ab, den er aus der Tasche zog:
»MG Midget, Triumph-14-Motor, fünfzehnhundert Kubikzentimeter, Hunderttausend auf dem
Tacho, Handschaltung, Benzin, zweitüriger Roadster, Getriebe ...«
Felix konnte nicht anders: »Zweitürig, ja? Sag bloß.«
Tom lief rührend rot an. »Die Liste ist von meinem Vater. Ich verstehe nicht so viel von
Autos.«
Felix sah sich veranlasst, ihm freundschaftlich auf die hochgezogenen, knochigen
Schultern zu klopfen. »Ich nehm dich doch nur ’n bisschen hoch. Können wir mal unter die
Motorhaube gucken?«
Sie öffnete sich quietschend. Darunter fanden sich all die schlechten Neuigkeiten, auf die
er gehofft hatte. Die Batterie komplett dem Rost erlegen, der Zylinder kaputt. Kolben, die bis
zum Motorblock durchstießen.
»Und, Herr Doktor?«, fragte Tom. Felix sah ihn verwirrt an. Tom machte einen neuen
Versuch: »Ist noch was zu retten?«
»Kommt drauf an. Von was für ’ner Summe reden wir?«
Tom sah erneut auf seinen Zettel.
»Mir wurde gesagt, so um die tausend.«
Felix lachte und schob die Hand in den Motor. Mit einem Fingernagel kratzte er an der
Rostschicht.
»Mal ehrlich, Tom, wir kriegen die Dinger jeden Tag rein, in viel besserem Zustand als
den hier, deutlich besser – für sechshundert. Dafür zahlt dir aber keiner sechshundert. Die Karre
kriegst du nur an ’nen Mechaniker verkauft, das schwör ich dir.«
Die Sonne fiel jetzt direkt auf den Wagen: Die Motorhaube erglühte. Strahlendes Wrack!
Tom sah mit zusammengekniffenen Augen hoch.
»Da trifft sich’s ja gut, dass du Mechaniker bist, was?«
Irgendwie war es komisch, wie er das sagte. Beide Männer lachten: Felix laut und kehlig,
wie es seine Art war, Tom hinter vorgehaltener Hand wie ein kleines Kind. Das Handy in seiner
Tasche klingelte wieder.
»Ach Gott – hör mal, mir ist das eigentlich ziemlich egal, aber wenn ich meinem Vater
erzähle, dass ich weniger als siebenhundert dafür genommen habe, krieg ich das bis ans
Lebensende aufs Brot geschmiert. Ich wäre jetzt persönlich auch sehr viel lieber wieder im Bett.
Sekunde mal – Soph, ich ruf dich in einer Minute zurück ...« Aber er behielt das Handy am Ohr,
und Felix hörte mehr, als ihm lieb war, während Tom Entschuldigungsgrimassen schnitt. Vom
Ende der Straße kam das fröhliche Gelächter einer Gruppe, die an einem Tisch vor dem Pub saß.
Tom sah Felix mit fragend hochgezogenen Brauen an und machte die Bierglas-Geste. Felix
nickte.

»Was nimmst du?«


»Ginger Ale. Danke.«
»Ginger Ale – und?«
»Sonst nichts.«
»Hey, ich brauch dringend ein Katerbier – du könntest mir zumindest Gesellschaft
leisten.«
»Nee, für mich nicht. Nur Ginger Ale.«
»Mein Vater sagt immer, in so einer Situation gibt es nur zwei Sätze, die man als
aufrechter Engländer akzeptieren darf: Ich nehme Antibiotika und Ich bin Alkoholiker.«
»Ich bin Alkoholiker.«
Felix hob den Blick von den Latten des Holztischs. Tom wischte sich den Schweiß von
der Stirn und machte den Mund auf, sagte aber nichts. Felix nahm sich einen Moment Zeit, sich
daran zu freuen, dass seine Haut Verlegenheit nicht so schnell und deutlich zur Geltung brachte.
Toms Handy meldete sich wieder.
Felix stand auf. »Schon gut, Kumpel, geh ruhig ran. Ich hol die Sachen. Pint für dich, ja?«
Draußen ein strahlender Samstagmittag im Spätsommer; drinnen zehn Uhr abends an
einem Dienstag im Oktober. Die Decke aus schwarzem, zu Sechsecken geschnitztem Holz, der
Teppich lichtschluckend und dunkelgrün. Holzmöbel wie Särge, schwer und uralt. In der Ecke
neben der Musicbox saß ein alter Mann in einer abgetragenen Arbeiterjacke, mit Haut wie weißes
Papier und gelbem Haar und gelben Nägeln, der sich eine Zigarette drehte – eigentlich sah er
selbst wie eine Zigarette aus. An der Theke hockte eine alte Frau mit dürren Beinen auf einem
Barhocker und zählte immer wieder vier kleine Stapel aus Zwanzig-Pence-Münzen durch. Sie
unterbrach ihre Tätigkeit, um Felix offen anzuglotzen, aber er lächelte nur zurück. »Hallo«, sagte
er und wandte sich der Barfrau zu. Auf einmal hieb die Alte mit der Handkante in die
Münztürmchen. Felix reagierte rasch, hinderte den einen Stapel daran, komplett von der Theke zu
kullern. Aus dem Augenwinkel sah er Tom auf die Toiletten zusteuern. Die Barfrau flüsterte eine
tonlose Entschuldigung und tippte sich mit dem Finger an die Schläfe. »Alles gut«, sagte Felix.
Er nahm in jede Hand ein kühles Glas und ließ sich von der Barfrau eine Tüte Chips mit Salz und
Essig zwischen die Zähne schieben.

»Wie alt bist du, Felix?«


»Zweiunddreißig.«
»Und warum siehst du dann jünger aus als ich?«
Felix riss die Chipstüte am Rand entlang auf und legte sie auf den Tisch.
»Findest du. Wie alt bist du denn?«
»Fünfundzwanzig. Mir gehen sogar schon die scheiß Haare aus.«
Felix biss auf den Trinkhalm und grinste dahinter hervor. »Ist bei meinem Alten auch so.
Nicht eine Falte. Gute Gene.«
»Ja, ja, gute Gene. Damit kann man heute auch alles erklären.« Tom schirmte die Augen
mit der Hand ab, als würde ihn die Sonne blenden. Felix’ Blick war durchdringend – er schaute
einem immer in die Augen, egal, wie sehr man das zu vermeiden versuchte –, und Tom war diese
Art Blickkontakt nicht mal von seinen engsten Freunden gewöhnt, geschweige denn von einem
Wildfremden, dem er ein Auto andrehen wollte. Er zog eine Sonnenbrille aus der Tasche und
setzte sie auf. »Und wie bist du vom Film in die Autowerkstatt gekommen, wenn ich fragen
darf?«
»Ich hab alles Mögliche gemacht, Tom«, antwortete Felix fröhlich und brachte seine
Finger in Aufzählposition. »Angefangen hab ich als Koch – immerhin hab ich ja ’ne Ausbildung
in der Gastronomie –, und damit hab ich’s auch ganz schön weit gebracht, als ich noch jünger
war; einmal war ich sogar Chefkoch in so ’nem kleinen Thai-Lokal in Camden, gar kein
schlechter Laden; dann hab ich das aufgehört, bisschen handwerkern, bisschen Sicherheitsdienst,
in Klubs, du weißt schon, bisschen Einzelhandel, hab ’nen Lieferlaster mit den Chips, die du da
mampfst, die M25 runtergefahren, für die Post gearbeitet«, sagte Felix mit einem so seltsamen
Akzent, dass sich kaum erahnen ließ, wen er da nachahmte. »Und ich hab die hier gemacht.« Er
deutete auf seine Brust. »Und dann hatte ich Glück und bin wo reingerutscht – kennst du das
Cot-tes-loe?«, fragte Felix und sprach dabei betont langsam, um jede entscheidende Silbe zu
erwischen. »Ist ’n Theater«, fuhr er fort und ließ die deutliche Artikulation gleich wieder sausen.
»Ganz hier in der Nähe. Da war ich ’n Jahr lang im Vorderhaus, also, an der Kasse. Dann war ich
Bühnenassistent, hab dafür gesorgt, dass die Kulissen da sind, wo sie sein sollen, so Zeug –
dadurch bin ich auch zu der Film-Sache gekommen. Ich hab einfach irre Glück gehabt. Immer
schon. Aber dann bin ich so richtig tief in die Drogen abgerutscht, Tom, wenn du’s genau wissen
willst, und davon rappel ich mich jetzt die letzten paar Jahre so langsam wieder hoch, insofern.«
Tom wartete darauf, noch etwas über die Autowerkstatt zu hören – aber das blieb aus. Als
hätte er eine Reihe seltsam geformter Gegenstände zugeworfen bekommen, griff er nach dem
Erstbesten.
»Du hast T-Shirts gemacht?«
Felix runzelte die Stirn. Dafür interessierten sich die Leute normalerweise am wenigsten.
Er stand auf und zog sein T-Shirt glatt, damit die verblasste Botschaft zumindest faltenfrei zu
lesen war.
»Tut mir leid, ich kann kein ... ist das Polnisch?«
»Genau! Das heißt: Ich steh auf Polinnen.«
»Oh. Bist du Pole?«, fragte Tom zweifelnd.
Das fand Felix ausgesprochen komisch. Er ließ sich wieder auf seinen Platz fallen und
brachte eine ganze Zeit damit zu, die Frage zu wiederholen und dabei vor Lachen auf den Tisch
zu klopfen, während Tom schweigend an seinem Pint nippte wie ein kleiner Vogel an einer
Pfütze.
»Nee, Tom, nee, ich bin kein Pole. Alteingesessener Londoner. Die hab ich vor ’ner
Ewigkeit gemacht – war so ’ne Geschäftsidee. Fünf Jahre ist das her – oder weißt du was? Sind
schon sieben. Mann, die Zeit rast! Ehrlich gesagt war die Idee eigentlich von meinem Alten, ich
war mehr so ... der Geldgeber«, sagte Felix zögernd, denn das war eine etwas großspurige Art,
seine Tausend-Pfund-Investition zu beschreiben. »Jedes in der richtigen Sprache. Ich steh auf
Spanierinnen auf Spanisch, Ich steh auf Deutsche auf Deutsch, Ich steh auf Italienerinnen auf
Italienisch, Ich steh auf Brasilianerinnen auf Brasilianisch ...«
»Portugiesisch«, warf Tom ein, aber die Liste ging noch weiter.
»Ich steh auf Norwegerinnen auf Norwegisch, Ich steh auf Schwedinnen auf Schwedisch,
Ich steh auf Waliserinnen auf Walisisch – das war mehr so als Witz gemeint, kapierst du?
Ziemlich böse, aber du weißt schon, was ich meine ... Ich steh auf Russinnen auf Russisch, Ich
steh auf Chinesinnen auf Chinesisch. Aber es gibt natürlich zwei Arten Chinesisch – wissen die
wenigsten, mir hat’s mein Kumpel Alan gesteckt. Die muss man dann natürlich beide haben. Ich
steh auf Inderinnen auf Hindi, und dann hatten wir noch verschiedene auf Arabisch und Ich steh
auf Afrikanerinnen auf ... ich glaub, das war Yoruba oder so was. Die Übersetzungen hatten wir
aus dem Netz.«
»Aha«, sagte Tom.
»Dreitausend hab ich davon machen lassen und bin damit nach Ibiza, um sie zu
verkaufen. Stell dir mal vor, du läufst durch Ibiza mit so ’nem Ich-steh-auf-Italienerinnen-T-Shirt
auf Italienisch! Da räumst du richtig ab.«
Als er die Idee jetzt wiedergab, mit Lloyds Begeisterung, so wie Lloyd sie ihm
ursprünglich vermittelt hatte, hätte Felix fast vergessen können, dass sie keineswegs abgeräumt
hatten, dass er seine Investition verloren hatte, mitsamt dem tollen Job bei dem kleinen Thai, den
er auf Lloyds Drängen hin aufgegeben hatte, um nach Ibiza zu fahren. Zweitausendfünfhundert
T-Shirts lagerten noch in der Garage von Lloyds Cousin Clive unter den Bahnbögen von King’s
Cross.
»Und was ist mit dir, Tom?«
»Wie, was ist mit mir?«
Felix grinste. »Mach hier mal nicht auf schüchtern. Welches wär was für dich? Jeder hat
doch so seinen Typ. Soll ich mal raten? Ich wette, du hast es gern brasilianisch.«
Tom, den das glitzernde Edelmetall in Felix’ Mund etwas aus dem Konzept brachte,
meinte: »Ich sag mal: französisch«, überlegte dabei, wie die wahre Antwort lautete, und fand das
verstörend.
»Französinnen. Geht klar. Ich geb dir noch eins gratis mit dazu. Hab noch ’n paar.«
»Verkaufe nicht ich dir was?«
Felix streckte den Arm über den Tisch und klopfte Tom auf die Schulter.
»Aber klar doch, Tom, klar doch.«
Das Wort »Drogen« hing noch in der Luft. Tom ließ es hängen.
»Und, bist du verheiratet, Felix?«
»Noch nicht. Aber ich hab’s vor. Ist das deine Frau, die dich da ständig anruft?«
»Lieber Himmel, nein. Wir sind erst seit neun Monaten zusammen. Ich bin
fünfundzwanzig!«
»In dem Alter hatte ich schon zwei Kinder«, sagte Felix und hielt Tom kurz das Startbild
seines Handys hin. »Das sind sie, so richtig im Sonntagsstaat. Felix junior, der ist schon halb
erwachsen, fast vierzehn. Und Whitney ist neun.«
»Hübsch sind sie«, sagte Tom, obwohl er gar nichts gesehen hatte. »Du bist bestimmt sehr
stolz.«
»Ehrlich gesagt, seh ich sie selten. Wohnen bei der Mutter. Wir sind nicht mehr
zusammen. Und ehrlich gesagt, komm ich mit der Mutter auch nicht gut aus. Das ist so ’ne
richtig ... Oppositionelle.«
Tom lachte, bis er merkte, dass Felix das nicht als Witz gemeint hatte.
»Entschuldige ... ich ... das ist nur einfach ein richtig guter Ausdruck. Ich glaube, mit so
was habe ich es auch zu tun. Mit einer Oppositionellen.«
»Weißt du, wenn ich zu Jasmine sage, der Himmel ist blau, dann erzählt sie mir, er ist
grün, verstehst du?« Felix kratzte am Etikett seiner Limoflasche. »Sie hat jede Menge
Psychoprobleme. Ist im Heim aufgewachsen. Meine Mutter war auch im Heim – genau dieselbe
Kiste. Das macht was mit einem. Zwangsläufig. Ich kenn Jasmine, seit wir sechzehn sind, und sie
war schon immer so. Hat Depressionen, geht tagelang nicht aus der Wohnung, räumt nicht mehr
auf, die Bude sieht aus wie ’n Schweinestall und so. Sie hat’s schwer gehabt. Aber egal.«
»Ja, das muss schwer sein«, sagte Tom leise und trank einen großen Schluck Bier.
Dann saßen sie da und schwiegen und sahen beide zur Straße, als säßen sie nur zufällig
am selben Tisch.
»Felix, kannst du mir vielleicht auch eine drehen? Ich bin da ganz schlecht drin.«
Felix zündete sich die Zigarette an, nickte und machte sich schweigend daran, eine
weitere zu drehen. In der Tasche vibrierte sein Handy. Er las die Nachricht und hielt Tom erneut
das Gerät vors Gesicht.
»Ey, Tom, du bist doch in der Werbung – was hältst du davon?«
Tom, der weitsichtig war, rückte ein Stück vom Display ab, um es lesen zu können: »Sie
haben für Ihren Unfall noch keine Entschädigung beansprucht. Ihnen stehen bis zu 3650 £ zu.
Um Ihren Anspruch einzulösen, antworten Sie ›BEANSPRUCHEN‹. Um ihn zu verwerfen,
antworten Sie ›STOPP‹.«
»Ist doch ’n Trick, oder?«
»Na, allerdings, würde ich sagen.«
»Woher wollen die denn wissen, ob ich ’nen Unfall hatte? Hochgefährlich, so was. Stell
dir mal vor, du bist alt oder krank und kriegst das.«
»Ja«, sagte Tom etwas ratlos. »Ich glaube, die haben so ... Datenbanken.«
»Datenbanken«, wiederholte Felix und schüttelte entgeistert den Kopf. »Und dann
antwortet man und hat gleich fünf Pfund auf der Rechnung. Aber so sind die Leute heutzutage.
Allen geht es nur um sich selbst. Meine Freundin hat mir so ’n Buch geschenkt, Die 10
Geheimnisse des Erfolgs. Hast du das gelesen?«
»Nein.«
»Solltest du aber. Sie so zu mir: ›Fee, weißt du, wer dieses Buch alles liest? Bill Gates.
Die Mafia. Die Königsfamilie. Alle Banker. Tupac hat’s gelesen. Und die Juden lesen es auch.
Tu mal was für deine Bildung.‹ Sie ist richtig schlau. Ich les ja kaum mal was, aber das hat mir
echt die Augen geöffnet. Hier.«
Tom nahm die Zigarette, zündete sie an und zog daran mit der tiefen Erleichterung eines
Menschen, der erst vor wenigen Stunden komplett das Rauchen aufgegeben hat.
»Hör mal ... Felix, das hört sich jetzt vielleicht ein bisschen komisch an«, sagte er, deutete
mit dem Kopf auf den Amber-Leaf-Tabak, der zwischen ihnen lag, und senkte die Stimme, »aber
du hast nicht zufällig noch was Stärkeres? Ich will gar nichts kaufen, nur ein paar Krümel. Das
entspannt mich immer so.«
Felix seufzte, lehnte sich auf der Bank zurück und murmelte vor sich hin. Gott gebe mir
die Gelassenheit, die Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, die Dinge zu
ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.
»Ach herrje«, sagte Tom. Er duckte sich peinlich berührt nach rechts, legte dann eine Art
körperlichen Rückwärtsgang ein und duckte sich peinlich berührt nach links. »Ich wollte nicht
...«
»Schon gut. Meine Freundin meint immer, ich hätte ’n unsichtbares Tattoo auf der Stirn:
BITTE FRAGEN SIE MICH NACH DOPE. Wahrscheinlich hab ich einfach so ’n Gesicht.«
Tom hob sein Glas und trank es leer. Hieß das nun, dass es Dope gab oder nicht? Er
musterte den verzerrten Felix durch den Boden des Pintglases.
»Hört sich an, als wär sie ganz vernünftig«, sagte er schließlich.
»Wie war das?«
»Die Freundin, von der du da sprichst, deine Freundin.«
Felix strahlte übers ganze Gesicht. »Ach, Grace. Ja. Das ist sie allerdings. Ich sag dir was,
Tom, ich war noch nie im Leben so glücklich. Sie hat mein Leben verändert. Sag ich ihr auch
ständig: Du bist meine Lebensretterin. Genau das ist sie.«
Tom hielt sein klingelndes Handy in die Höhe und musterte es mit bösem Blick.
»Ich hingegen habe offenbar eine Lebenszerstörerin am Hals.«
»Das schafft keine, Tom. Das kannst nur du.«
Felix meinte es ehrlich, doch er sah, dass er bei Tom ein Grinsen hervorrief, was
wiederum in ihm das Bedürfnis weckte, seinen Standpunkt noch vehementer zu vertreten: »Hör
mal, die Frau hat meine Einstellung total verändert. Global. Die erkennt mein Potenzial. Und
unterm Strich muss man einfach nur das beste Ich sein, das man sein kann. Dann kommt alles
andere von allein. Ich hab’s selber durchgemacht, Tom. Ich weiß also, wovon ich rede. Deine
Persönlichkeit bleibt in Ewigkeit. Denk mal drüber nach.«
Wie nahezu überflüssig seine Arbeit inzwischen war! Die Slogans waren alle schon in der
Seele der Leute vorinstalliert. Kluger Gedanke: Tom beglückwünschte sich im Stillen dazu und
verneigte sich tief, sarkastisch, samuraihaft, vor Felix. »Besten Dank, Felix«, sagte er. »Das
werde ich mir merken. Das beste Ich, das man sein kann. Persönlichkeit ist gleich Ewigkeit. Du
scheinst ja voll den Durchblick zu haben.« Er hob sein leeres Glas, um mit Felix anzustoßen,
doch auch Felix war Ironie nicht fremd, und er ließ sein Glas, wo es war.
»Schein ist nicht gleich Sein«, sagte er leise und sah weg. »Hör mal ...« Er zog einen
zusammengefalteten Umschlag aus der Gesäßtasche. »Ich hab noch was zu erledigen, also ...«
Der Junge merkte, dass er zu weit gegangen war. »Klar. Sag mal – wo waren wir
eigentlich? Du musst mir ein Angebot machen.«
»Und du musst mir erst mal ’nen vernünftigen Preis nennen, Mann.«
Erst jetzt wurde Tom klar, dass ihm Felix’ übertriebene Vertraulichkeit gar nicht so
zuwider gewesen war, wie er gedacht hatte. Im Gegenteil: Jetzt noch »Mann« genannt zu werden,
da ihre Bekanntschaft schon so weit fortgeschritten war, kam ihm vor wie ein trauriger Schritt
zurück. Warum kann ich mich eigentlich immer nur über etwas freuen, wenn es schon vorbei ist,
überlegte Tom und versuchte, das Zitat aus einem französischen Text geistig dingfest zu machen,
das genau diese Frage beschrieb und hilfreicherweise auch gleich die Antwort darauf gab.
Candide? Proust? Warum hatte er sein Französisch eigentlich so schleifen lassen? Er musste an
père Mercer denken, heute früh am Telefon: »Dein Problem ist, Tom, dass du einfach nichts
durchziehst. Das war schon immer dein Problem.« Und natürlich schlug Sophie im Grunde in
dieselbe Kerbe. Manche Tage waren einfach auf deprimierende Weise thematisch konsistent.
Vielleicht teilte sich ja demnächst die Wolke da oben, und eine riesige Zeichentrickhand tauchte
daraus hervor und deutete auf ihn, begleitet von einer donnernden, gebieterischen Stimme: TOM
MERCER, RIESENVERSAGER. Aber er hatte sich ja bereits sagen lassen müssen – ebenfalls
heute früh! –, dass auch dieser Ansatz wieder nur eine Falle war: »Tom, Schatz, es ist ungeheuer
narzisstisch zu glauben, die ganze Welt wäre gegen dich.« Als er die Stimme seiner Mutter am
Telefon hörte, war er beeindruckt davon, wie ruhig und liebevoll sie klang und wie zufrieden mit
ihrer Analyse seiner Persönlichkeit. Dem Himmel sei Dank für seine Mutter! Sie nahm ihn nicht
ernst und lachte, wenn er einen Witz machte, auch wenn sie ihn mal wieder nicht verstanden
hatte, wie fast immer. Seine Eltern waren Landmenschen und im Großelternalter, weil es für
beide die zweite Ehe war. Sie hatten keinerlei Vorstellung von seinem Alltag, sie schrieben keine
Mails, hörten zum ersten Mal von der Sussex University, als er dort zu studieren anfing, und
hatten keinerlei Erfahrung mit »Nachbarn von unten«, mit »Nachtbussen«, den Gegebenheiten
eines »unbezahlten Praktikums« (»Geh doch einfach mal hin und stell ihnen ein paar Ideen vor,
Tom, zeig ihnen, was du wert bist. Charlie wird dir ja wohl zuhören. Wir waren schließlich
sieben Jahre lang Kollegen!«) oder den Klubs, wo man seine Kleidung – und auch noch manch
anderes – an der Tür ablegte. Soweit er das beurteilen konnte, führten sie auch kein Doppelleben.
Sie tranken nur zum Abendessen, nie bis zum Exzess. Während Toms Vater ihn aufsässig und
unbegreiflich fand, war seine Mutter etwas nachsichtiger mit ihm und zog zumindest die
Möglichkeit in Betracht, dass er tatsächlich an einer für das einundzwanzigste Jahrhundert
typischen Form intellektuellen Überdrusses litt, der es ihm unmöglich machte, die glücklichen
Umstände, in die er hineingeboren war, zu nutzen. Aber es gab Grenzen. Man durfte sich
beispielsweise nicht einreden, Brixton sei ein auch nur irgendwie akzeptabler Wohnort. »Aber
wenn es dir nicht gut geht, Tom, Baresfield 20 steht mindestens bis Juli leer. Ich weiß wirklich
nicht, was du gegen Mayfair hast. Da könntest du wenigstens den Wagen parken, ohne Angst zu
haben, dass er bei irgendwelchen Krawallen komplett ausbrennt.« »Die Krawalle sind zwanzig
Jahre her!« »Tom, ich verweise nur auf das alte Märchen: Schuster und Leisten.« »Das ist doch
gar kein Märchen!« »Im Ernst, ich weiß wirklich nicht, wieso du nicht gleich dort eingezogen
bist.« Weil man sich hin und wieder der Illusion hingeben möchte, ein eigenes Leben zu führen
und auf eigenen Füßen zu stehen. Das hatte er natürlich nicht gesagt. Gesagt hatte er: »Mutter,
deine Weisheit übertrifft jegliches Wissen der Erde.« Worauf sie meinte: »Werd jetzt nicht
spitzfindig. Und mach keine Dummheiten!« Aber er machte ja Dummheiten. Mit dieser Frau.
Das war alles eine fürchterliche Dummheit.
»Einen vernünftigen Preis«, wiederholte Tom und fasste sich an den Kopf, als wären
diese seltsamen Gedanken nur synaptische Fehlzündungen, und ein Schlag gegen die Schläfe
könnte sie wieder zum Schweigen bringen.
»Du hast nämlich echt schräge Geldvorstellungen«, sagte Felix und packte seinen Tabak,
seine Blättchen und sein Handy zusammen, mit einer Miene, die für Tom ganz klar von
Enttäuschung sprach, nicht nur über das gescheiterte Geschäft, sondern auch über Tom.
»Aber du kannst doch nicht im Ernst verlangen, dass ich ihn dir für unter sechshundert
gebe!«
Auf der Hälfte des Satzes bemerkte Tom den seltsamen, unpassend flehentlichen Ton in
seiner eigenen Stimme.
»Vierhundert wär eher denkbar, bruv. Meine Jungs schleppen ihn ab. Das ist ’ne Menge!
Beim Verschrotten kriegst du nicht so viel. Wahrscheinlich musst du das allein schon fürs
Abschleppen blechen.«
Diese Dreistigkeit brachte Tom zum Lächeln. »Im Ernst? Ach, komm. Reden wir mal
ernsthaft.«
Felix wahrte sein Pokerface. Immer noch lächelnd, stützte Tom das Kinn in die Hand und
»dachte nach«, wie die Karikatur eines »Nachdenklichen«.
»Fünfhundert? Dann kommen wir beide endlich heim. Weiter kann ich wirklich nicht
runtergehen. Ist immerhin eine MG!«
»Vierhundertfünfzig. Höher geh ich nicht.«
Toms Handy meldete sich wieder. Er machte ein unentschlossenes Gesicht: Er erinnerte
Felix an die Schauspieler, wenn sie nach der Nachmittagsvorstellung hinter der Bühne
herumlungerten und die Abendvorstellung noch vor sich hatten. Nicht mehr ganz in der Rolle,
aber auch noch nicht ganz draußen.
»Lebenszerstörerin auf der Eins. Du bist ein harter Brocken, Felix. Ich seh schon, mit
Felix ist nicht zu spaßen.«
Felix zog die knittrigen Scheine hervor und zählte sie bedächtig zu einem ordentlichen
Stapel ab.

Hat dir die Werkstatt also ’ne MG geliehen.


Nee, dred. Hab ich gekauft.
Ach was. Dir scheint’s ja gut zu gehen.
War nicht teuer. Ich hab ’n bisschen was gespart. Ich richte ihn her als Geschenk
für Grace Privatprojekt. Ein Projekt-Wagen. Weißt du, warum du den eigentlich gekauft hast,
hm? Weißt du’s? Weißt du nicht, was? Willst du’s wissen? Ich werd dir jetzt mal ein bisschen
Weisheit verkünden, blud, pass gut auf. Du denkst, du weißt, warum, dabei weißt du gar nichts ...
Felix hörte es so deutlich wie jedes tatsächliche Gespräch mit seinem Vater: Es schien
sich auf derselben Realitätsebene abzuspielen. In etwa so, wie man einen Zug schon ganz früh
kommen sieht, weit hinten auf den Gleisen. Die Jungs von der Werkstatt sollten den Wagen
nachher holen und ihn auf dem Anwohnerparkplatz von Caldwell abstellen. Dazu mussten sie
seinen Vater nach dem Parkschein fragen. Und gleich danach hätte er seinen Vater an der Strippe.
Diese Aussicht nahm dem Triumphgefühl, das einen solchen Kauf begleiten sollte, etwas von
seinem Glanz. Je weiter er die Regent Street entlangging, desto schlimmer wurde es.
Ich sag dir was, Felix: Frauen kannst du nicht kaufen. Du kannst dir ihre Liebe nicht
erkaufen. So verlässt sie dich garantiert. Die Liebe verlässt dich eh irgendwann, du kannst dir
die ganzen Autos und die ganzen Klunker also sparen. Im Ernst.
Felix passierte den Valentinsknaben mit dem in die Luft gereckten Bein und dem
angelegten Pfeil. Wer würde sich für ihn freuen? Sein Daumen verharrte auf dem Trackball
seines Handys und wechselte zwischen den Nummern seiner Geschwister hin und her, doch mit
allen waren potenzielle Kopfschmerzen verbunden, die ihn zögern und das Handy schließlich
wieder einstecken ließen. Tia war sicher mit ihren Kindern beschäftigt, und ihre Einsamkeit und
Langeweile konnten leicht in Neid umschlagen, selbst wenn es um etwas ging, das sie gar nicht
interessierte, wie ein Auto. Ruby würde nur wissen wollen, was sie von dem Wagen hatte – wann
sie ihn sich ausleihen, wohin sie damit fahren konnte. Sie bewohnte das Gästezimmer ihrer
Zwillingsschwester, hatte nichts und niemanden und ertrank in Selbstmitleid. Überall erwartete
sie Almosen, wollte aber gleichzeitig von allem nur das Beste. Wozu kaufst du dir denn so ’ne
Schrottmühle? Schwachkopf. Die Zwillinge hatten beide einen Horror vor Gebrauchtwaren.
Genau wie Grace. Ihr würde er erst davon erzählen, wenn der Wagen aussah wie frisch vom
Fertigungsband gerollt. Devon war der Einzige, der sich vielleicht dafür interessiert hätte, aber
ihn konnte man nicht anrufen, man musste warten, bis er anrief.

In Felix’ Tasche spielte ein digitales Orchester die Klassikmelodie aus einer
Rasierwasserwerbung seiner Kindheit. Er meldete sich fröhlich, doch seine Liebste klang
gestresst und sparte sich die Begrüßung. »Warst du bei Ricky?« »Nee, sorry – hab ich vergessen.
Ich ruf ihn an.« »Wie willst du ihn denn anrufen? Ich hab seine Nummer nicht – du?« »Ich geh
auf dem Heimweg vorbei.« »Die von unten haben angerufen. Es tropft jetzt schon durch die
Decke.« »Entspann dich, ich sag ihm ja Bescheid.« »Wo bist du?« »Bei Dad.« »Hast du’s ihm
gezeigt? Was hat er gemeint? Sag ihm, ich kann im Internet noch mehr davon bestellen. Oder lass
mich kurz selbst mit ihm reden.« »Klar, Mann. Er schaut sich’s an. Fährt voll drauf ab. Hat jede
Menge Geschichten erzählt – du kennst ihn ja. Von wegen in Erinnerungen schwelgen. Hör mal,
ich muss Schluss machen.« »Gib mir Lloyd doch mal ...« Auf der Straße fuhr ein Krankenwagen
an Felix vorbei. »Ich bin auf dem Balkon – er ist grad im Bad. Pass auf, ich ruf dich nachher
wieder an. Ich muss jetzt Schluss machen.« »Dann mach halt Schluss! Ich muss eh arbeiten.«
»Allerdings!« Das Gespräch schlug in Liebesgesäusel um und wurde dann kurzfristig deftig.
Grace bekundete gern, wie »verdorben« sie sei, obwohl sie im Bett eher zahm war, fast
schon prüde, und es Felix in ihren sechs gemeinsamen Monaten noch nicht recht gelungen war,
die Frau am Telefon mit der in seinen Armen in Einklang zu bringen. »Ich lieb dich, Baby«, sagte
sie, und Felix erwiderte mit Leidenschaft dasselbe und versuchte, in die optimistische Stimmung,
kurz bevor er ans Telefon gegangen war, zurückzufinden. Im Hintergrund sagte ihr Chef etwas
von einer Reservierung für zwölf um zwei – schon war sie wieder weg, ohne sich zu
verabschieden. Wie ein Geist, der einem auf der Schulter landet und gleich wieder verschwindet:
das alltägliche Wunder. Er konnte sich noch erinnern, als man Wählscheiben mit dem Finger
drehte. Manchmal kreuzten sich Leitungen, dann redeten vier Geister durcheinander. Und heute
unterhielt sich Felix junior mit seinen Cousinen per Video. Wenn man nur lang genug wartete,
wurden die Filme Wirklichkeit – und alle taten, als wäre nichts dabei. Trotzdem war er froh, die
Zukunft noch zu erleben. Stand schließlich eine Zeit lang ziemlich auf Messers Schneide. Als
Comic-Leser und Sci-Fi-Fan war Felix immer klar gewesen, dass die Zukunft ihm zusagen
würde. Hollywood konnte ihm nicht das Wasser reichen, wenn es darum ging, sich die Zukunft
auszumalen. Er musste nicht mal mehr ins Kino, er konnte einfach draußen rumlaufen, so wie
jetzt, und das ganze Spektakel lief in seinem Kopf ab. Drehbuch: Felix Cooper. Regie: Felix
Cooper. Hauptdarsteller: Felix Cooper.
Anflex, Liebster, wie kommst du denn nach Hause?
Per Teilchentransfer. Bis in einer Sekunde, geliebte Gracian. Einer Nanosekunde.
Solches Zeug. Kam ihm einfach so in den Kopf. Manchmal erzählte er Grace einen
ganzen Film nur mit Worten, darauf fuhr sie total ab, und nicht nur, weil sie ihn liebte: Tatsache
war, die Filme in Felix’ Kopf waren einfach besser als alles, wofür die Leute gutes Geld zahlten,
um es sich anzusehen. Jetzt stieß Felix mit einem ganz realen jungen Mann zusammen, der aus
einer rundum verglasten Videospielhalle kam, rückwärts durch die Doppeltüren ging und seinen
Freunden zuwinkte, die drinnen noch mit ihren Joysticks zugange waren. Felix fasste den Mann
sanft am Ellbogen, und der Fremde griff genauso sorgsam nach hinten und umfasste Felix, wo
dessen Taille an seinen Rücken stieß; sie lachten beide leise und entschuldigten sich und nannten
sich gegenseitig »Chef«, um sich dann rasch wieder zu trennen und weiterzugehen, der Fremde
zurück Richtung Erosbrunnen und Felix weiter nach Soho.

In ihrer Straße griff er in die Tasche, zog das Handy hervor und tippte: Bin in deiner
Straße. Hast du Zeit? Sofort kam die Antwort: Tür ist offen. Seit drei Monaten war er nicht
mehr in dieser Straße gewesen. Das Handy vibrierte wieder: Gib mir 5 Min. Hol doch so lange
Ziggis. Dieser Nachklapp ärgerte ihn: Das brachte ihn wieder in die ganz falsche Position. Er
ging in den nicht klimatisierten Eckkiosk und verbrachte zehn heiße Minuten in der Schlange,
versuchte, an der kleinen Rede zu feilen, die er vorbereitet zu haben glaubte, nur um
festzustellen, dass er reichlich wenig vorbereitet hatte. Warum musste er überhaupt herkommen
und irgendetwas sagen? Sie spielte keine Rolle mehr. Die Nachricht, wie bedeutungslos sie
geworden war, hätte Soho auch ohne sein Zutun erreichen müssen; sie hätte einfach vor die Tür
treten und es in der Luft wittern müssen. »Die brauch ich nicht«, sagte die Frau hinter der Theke
und gab ihm fünfzig Pence zurück. Hinter ihm seufzte jemand; er ging rasch zur Seite, mit der
Verlegenheit eines Londoners, der einem anderen Londoner Unannehmlichkeiten bereitet, und
sei es nur für eine Sekunde. Die Schachtel mit den Kippen hatte er in der Tasche. Hier in der
Hand hielt er das Wechselgeld. An den Verkaufsvorgang selbst hatte er keinerlei Erinnerung. Er
schwitzte wie ein Idiot.
Draußen versuchte er, sich zu beruhigen und wieder in die ausgelassene Stimmung auf
der Straße hineinzufinden. Die Sonne stachelte an, verschmolz den Tag mit der Nacht. Junge
Schwarze zeigten ihre nackten Oberkörper, als wären sie bereits im Klub. Weiße Jungs trugen
Flip-Flops und Cargo-Shorts und tranken Importbier aus der Flasche. Ein Grüppchen tanzte ein
wenig im Eingang des G-A-Y, noch auf Autopilot von der Nacht zuvor. Felix kicherte in sich
hinein und lehnte sich an einen Laternenpfahl, um sich eine zu drehen. Es kam ihm vor, als
würde ihn jemand beobachten und alles notieren – »Felix war ein kerniger Bursche mit dem Herz
am rechten Fleck, der das Leben gern an sich vorbeiziehen ließ« –, aber als er mit dieser
Fantasterei durch war, blieb ihm sonst nichts mehr zu tun. Ein Wagen mit getönten Scheiben fuhr
langsam an ihm vorbei. Er brauchte einen Moment, um das verängstigte Kind im
vorübergleitenden Spiegelbild mit dem zusammenzubringen, was er über sein eigenes Gesicht
wusste. Er schaute auf, hinüber zu ihrer Tür. Sie war offen; zwei von den Mädels standen auf der
Schwelle und plauderten freundlich mit den somalischen Fahrern von nebenan. Felix straffte die
Schultern, legte etwas fröhlich Zögerndes in seinen Gang: »Manche Dinge müssen halt einfach
getan werden!« Aber kein Lächeln, mit dem er diesen Frauen begegnete, konnte bewirken, dass
sie es ihm leicht machten. Chantelle starrte ihn bereits an, als er noch zwanzig Meter weg war.
Als er vor ihr stand, verzichtete sie auf jede weitere Begrüßung; mit zwei Fingern fasste sie sein
dünnes Kapuzenshirt, befühlte kurz den Stoff und ließ ihn dann wieder los, wie etwas Dreckiges,
das sie vom Boden aufgehoben hatte.
»Du siehst ja richtig sommerlich aus. Meine Herren! Mr Sonnenschein.«
»Mir ist das nicht zu warm. Ich bin dünn – ich brauch ’n paar Zusatzschichten.«
»Lange her«, meinte Cherry, die Weiße mit der Leichenbittermiene.
»Viel zu tun.«
»An deiner Stelle würd ich mich ja nicht mit Majestät da oben abgeben; hier unten
besorgen wir’s dir besser.«
»Ja, schon klar«, sagte Felix und ließ seine Goldzähne sehen, aber er war sich noch nie
sicher gewesen, ob das oben wirklich eine so andere Welt war. Majestät da oben schwor es
immer wieder. Sie hatten sich oft deswegen gestritten. Jetzt spielte es keine Rolle mehr.
»Kann ich durch?«
Sie waren beide üppige Frauen und machten sich einen nimmermüden Spaß daraus, nicht
zur Seite zu gehen, sodass er sich zwischen ihnen durchzwängen musste. Felix setzte die
knochigen Schultern ein.
»Wie Hühnerbeinchen!«
»Haut und Knochen!«
Cherry kniff ihm in den Hintern – noch im dritten Stock hörte er sie gackern. Er
umrundete den letzten Geländerpfosten. Klassische Geigen fidelten vor sich hin, im Bad rauschte
das Wasser auf vollen Touren. Auf der Schwelle umhüllten ihn Dunstschwaden.
»Felix? Bist du das, Liebling? Es ist offen! Ist Karenin da draußen? Bring den kleinen
Stinker mit rein.«
Karenin saß auf der Fußmatte. Felix nahm ihn nachlässig auf den Arm. Der ausladende
Körper des Katers verrutschte immer wieder: Es war nicht möglich, Rücken, Bauch und Hals
gleichzeitig festzuhalten, eins davon hing immer irgendwie herunter. Felix flüsterte ihm ins Ohr:
»Alles klar, K?«, und ging hinein. Der fette Kater auf seinem Arm, dieselben halb vergilbten
alten Theaterplakate und Fotos an den Wänden, dieselben Kisten mit Noten für ein nicht
vorhandenes Klavier, das noch vor Felix’ Zeit beim Pfandleiher versetzt worden war. Dieses
große altmodische Ganze. Er kannte es nur zu gut. Das verkommene Immer-Gleiche, die Art, wie
nichts je erneuert wurde. Sie sprach von Antiquitäten. Nur eine andere Formulierung für: Das
Geld ist alle. Fünf Jahre! Er ließ den Kater auf die Couch fallen; das sprungfederlose Polster
nahm ihn sackend in Empfang. Wie hatte er diesen Ort bloß so gut kennengelernt? Ihn nicht mehr
zu kennen, würde alles wieder in den natürlichen, gesunden Urzustand versetzen.
»Annie? Kommst du mal raus?«
»Ich bin in der Wanne! Göttlich. Komm doch rein!«
»Nee, lass mal. Ich warte.«
»Was?«
»ICH WARTE.«
»Sei nicht albern. Bring den Aschenbecher mit.«
Felix sah sich um. Auf einem Kleiderbügel am Fensterrahmen hing, körperlos und
lichtdurchflutet, ein komplettes Outfit. Lila Jeans, ein kompliziertes Top mit Sicherheitsnadeln
vorne, eine Art Umhang mit Schottenkaro, und darunter auf dem Boden zwei gelbe Lederstiefel
mit zehn, zwölf Zentimeter hohen Absätzen; das alles bekam keiner je zu sehen, bis auf den
Lieferanten vom Spirituosenladen, der ihr ihre »Lebensmittel« brachte.
»Ich seh keinen Aschenbecher.«
Oben auf den Stapeln aus diversen Umschlägen und Zeitungsseiten fanden sich kleine
Häufchen Asche und aufgerauchter Kippen. Man kam nur schwer voran – offenbar waren
Umräumarbeiten im Gange. Der ganze Boden voller Papiertürme. Es war noch schlimmer als die
Lebensumstände seines Vaters, aber der Geist, das begriff Felix jetzt, war genau derselbe: ein
großes Leben auf geringen Raum gepresst. Bisher hatte er sie noch nie direkt hintereinander
besucht, erst den einen, dann die andere. Dasselbe Gefühl von Beklemmung und Unruhe,
derselbe Drang, sich befreien zu müssen.
»Du meine Güte – bei den Pawlowas. ›Der russischen Trulla mit dem Pferdegesicht‹.
Gleich drunter.«
Nie wieder würde er Interesse an Dingen heucheln müssen, die ihn gar nicht
interessierten. Tänzerinnen, Romane, ihre lange, qualvolle Familiengeschichte. Er stieg über
einen gläsernen Couchtisch dorthin, wo acht Fotos von Anna Pawlowa rautenförmig an der Wand
hingen, passend zu der Pyramide aus Kippen darunter, der einzigen Dekoration auf dem kleinen
Beistelltisch.
»Falls er voll sein sollte, bitte die Plastiktüte am Türknauf verwenden«, rief Annie.
»Einfach ausleeren.«

Er tat, was sie ihm sagte. Er ging ins Badezimmer, legte die Zigarettenschachtel in den
Aschenbecher und stellte den Aschenbecher auf den Badewannenrand.
»Wozu hast ’n die auf?«
Sie fuhr mit den Fingerspitzen über die perlmutterne Vintage-Sonnenbrille. »Es ist so
schrecklich hell hier im Bad, Felix. Grell geradezu. Könntest du? Meine Hände.«
An ihrer Unterlippe klebte etwas, scharlachrot übermalt, das aussah wie eine einzelne
Frühstücksflocke. Felix schob ihr eine Zigarette in den Mund und zündete sie an. In den paar
Monaten, seit er zuletzt hier gewesen war, schienen die Ringe unter ihren Augen breiter und
tiefer geworden zu sein, selbst unter der Sonnenbrille schauten sie noch hervor. Der Puder, den
sie kiloweise auftrug, klumpte hier und dort und machte alles noch schlimmer. Er bezog auf dem
Klodeckel Stellung. Das war weit genug weg. Sie nahm eine kleine Korrektur an ihrer
Aufmachung vor – rückte die gewaltige braune Turmfrisur zurecht und ließ ein paar feuchte
Strähnen so um ihr geschminktes Gesicht fallen, dass sie es einrahmten. Ihre schmalen Schultern
ragten aus dem Schaum hervor, und er kannte jede einzelne bläuliche Ader, jeden braunen
Leberfleck. Sie lächelte auf diese gewisse Art, die das Ganze überhaupt erst losgetreten hatte, an
dem Tag, als er sie sah, wie sie dem Filmteam ein Tablett mit Tee hoch aufs Dach brachte, das
Haar von einem Kopftuch bedeckt wie die Frauen im Krieg. Die schmalen Lippen gebleckt, ein
Stück glänzendes Zahnfleisch entblößt.
»Wie ist es dir ergangen, Annie?«
»Wie bitte?« Sie legte scherzhaft eine Hand ans Ohr.
»Wie’s dir ergangen ist.«
»Wie’s mir ergangen ist? Das ist die Frage, ja?« Die Hand sank wieder in den Schaum
zurück. »Wie ist es mir ergangen? Wie ist es mir ergangen? Nun, es ist mir reichlich beschissen
ergangen.« Sie aschte, verfehlte den Aschenbecher, bestäubte stattdessen den Schaum.
»Allerdings nicht nur, weil du dich in Luft aufgelöst hast, bild dir da bloß nichts ein. Bei der
Bezirksverwaltung von Westminster hat man beschlossen, meine Ansprüche erneut zu
überprüfen. Weil nämlich irgend so ein aufrechter Bürger es für nötig gehalten hat, die
Bezirksverwaltung zu informieren. Mein Geld ist eingefroren, ich muss mich jämmerlich von
Grillsardinen ernähren. Und auch bei etlichen anderen Grundbedürfnissen gab es massive
Einschnitte ...« Sie zog ein unglückliches Kindergesicht. »Dreimal darfst du raten.«
»Barrett«, meinte Felix mürrisch; er konnte sie in jeder Stimmung ertragen, nur nicht in
dieser. Er ließ den Blick unauffällig durch den Raum schweifen und entdeckte schnell, was er
suchte: einen zusammengerollten Zwanziger samt Kosmetikspiegel hinter einem Fuß der
altmodischen Badewanne. »Ich glaube, er will mich ruinieren. Damit sie dann weiterhin alle
irgendwelchen ...«
»Russen tausend pro Woche abknöpfen können«, murmelte Felix Wort für Wort mit.
»Verzeih, dass ich so langweilig bin.«
Sie stand auf. Falls ihn das provozieren sollte, nahm er es gelassen. Er sah zu, wie der
Schaum über ihren Körper glitt. Sie hatte die Figur einer Tänzerin, alle Kurven nach hinten
verbannt. Was er jetzt vor sich hatte, besaß nur schwachen Nutzwert: Brüste, wie zwei Muskel
hoch über einem Konstrukt aus gespannten Hebeln und Drähten, entworfen für ein Leben, das nie
stattgefunden hatte.
»Reicht man einer Dame denn kein Handtuch?«
Über der Tür hing ein schmuddeliger Fetzen. Er versuchte, um sie herumzugreifen und
ihn ihr züchtig über die Schultern zu hängen, aber sie ließ sich gegen ihn sinken, sodass er
patschnass wurde.
»Brrr! Ist das kuschlig.«
»Verdammte Scheiße!«
Sie flüsterte ihm ins Ohr: »Das Gute ist, wenn die schon behaupten, ich würde mich
draußen rumtreiben, dann kann ich mich auch rumtreiben. Wir alle beide.«
Felix machte einen Schritt zurück, ging auf alle viere und schob den Arm unter die
Wanne.
»Nach allem, was die erzählen, war ich längst wieder auf der Piste. Jede Nacht tanze ich
mir im Heaven mit den jungen Schwuchteln die Seele aus dem Leib. Schlaftanzen. Wer weiß,
vielleicht fängt damit ja ein völlig neues Leben für mich an? Was um Himmels willen machst du
denn da unten? Ach, sei doch nicht so nervig, Felix. Lass das liegen ...«
Felix richtete sich auf, in der Hand einen Spiegel wie aus dem Märchen, mit silbernem
Griff und einem in vier breite Lines zerteilten Pulver darauf; ein Strohhalm lag quer darüber, dass
es fast aussah wie ein Wappen. Annie hielt ihm die ausgestreckten Arme entgegen, die Innenseite
der Handgelenke nach oben gedreht. Die Venen wirkten dicker, blauer.
»Es ist noch nicht mal Mittag.«
»Aber das ist doch mein Mittagessen. Würdest du jetzt bitte so gut sein und es wieder
dahin zurückstellen, wo du es gefunden hast?«
Sie standen zu beiden Seiten des Klos: Es lag auf der Hand, was zu tun war. Auch eine
Möglichkeit, ihr zu sagen, was er zu sagen hatte.
»Leg. Das. Bitte. Wieder. Hin.« Annie lächelte mit sämtlichen Showgirl-Zähnen. Draußen
klopfte jemand. Felix registrierte ein unkontrolliertes Zucken ihres einen Augenlids, ein Kampf
zwischen vorgeschobener Leichtigkeit und lastender Realität. Er kannte diesen Kampf nur zu gut.
Er legte den Spiegel zurück. »Mome-hent!«
Von einem Haken an der Tür griff sie sich ein seidenes japanisches Etwas, streifte es über
und zog die eine Seite weit über die andere, um einen riesigen Riss zu verbergen. Hintendrauf
schoss ein Schwalbenschwarm vom Hals den Rücken entlang bis zum Boden. Sie eilte hinaus
und sperrte Felix ein. Aus Gewohnheit öffnete er das verglaste Schränkchen über dem
Waschbecken. Er schob die erste Reihe beiseite – Gesichtscreme von Pond’s, Elizabeth Arden,
ein leeres, uraltes Fläschchen Chanel 5 –, um an die Medikamente dahinter zu kommen. Nahm
das Fläschchen Poxyschießmichtot in die Hand, das mit dem roten Deckel, das einen
mild-manisch draufbrachte, wenn man es mit Alkohol mischte, wie mit Ketamin versetztes
Ecstasy. Am besten klappte es mit Wodka. Er hielt das Fläschchen in der Hand. Stellte es wieder
an seinen Platz zurück. Im Nebenzimmer hörte er sie, unvermittelt schrill: »Nein ... das verstehe
ich überhaupt nicht ...«
Gelangweilt ging Felix nach nebenan und pflanzte sich auf einen unbequemen Holzstuhl
mit hoher Lehne, der einst die Eingangshalle von Wentworth Castle geziert hatte.
»Ich benutze das Treppenhaus so gut wie nie. Das mag ein ›Gemeinschaftsbereich‹ sein,
aber ich nutze ihn nicht. Mein einziger Publikumsverkehr ist hin und wieder ein Lieferant oder
ein Freund, der hier raufkommt. Aber wirklich nur hin und wieder. Ich gehe selbst nicht runter,
das kann ich gar nicht. Sie sollten doch wohl eher mit den Damen von unten reden, bei denen,
wie wir beide wissen – Sie sind ja schließlich auch ein Mann von Welt, nicht wahr –,
ununterbrochen Leute ein und aus gehen. Ein und aus, ein und aus. Als wären wir hier auf dem
Piccadilly Circus.«
Sie machte einen Schritt nach vorn, um mit dem Finger dieses allgemeine
Durchgangsrecht zu demonstrieren, und Felix erhaschte einen Blick auf den Mann vor der Tür:
ein breiter blonder Muckibudenjünger im dunkelblauen Anzug, mit einem Ringbuch in der Hand,
auf dem »Google« stand.
»Miss Bedford, bitte, ich mache hier nur meine Arbeit.«
»Verzeihung – wie war noch gleich Ihr Name? Kann ich vielleicht etwas Offizielles ...?«
Der Blonde gab Annie seine Karte.
»Haben Sie etwa Anweisung, herzukommen und mich zu belästigen? Ja? Das glaube ich
nämlich nicht, Mr ... den Namen kann ich unmöglich aussprechen ... also, Erik, das glaube ich
nämlich nicht. Ich bin Mr Barrett gegenüber nicht auskunftspflichtig. Ich gebe nur dem
eigentlichen Hausherrn Auskunft – mit dem eigentlichen Hausherrn, im Sinne von Herr des
Hauses, bin ich nämlich verwandt. Er ist ein naher Angehöriger, und ich bin mir sicher, er würde
es gar nicht gerne sehen, dass man mich hier belästigt.«
Erik schlug sein Ringbuch auf und schloss es dann wieder. »Wir sind nur das
Subunternehmen, und wir sind angewiesen, alle Mieter darüber in Kenntnis zu setzen, dass der
Gemeinschaftsbereich renoviert und die Kosten anteilig auf die Wohneinheiten umgelegt werden.
Wir haben bereits mehrere Schreiben an diese Adresse verschickt, aber keine Antwort
bekommen.«
»Sie haben ja wirklich einen lustigen Akzent. Sind Sie Schwede?«
Erik stand förmlich stramm. »Ich bin Norweger.«
»Ach, Norweger! Norwegen. Wie schön. Ich war natürlich noch nie dort – ich fahre ja
nirgendwo hin. Felix«, sagte sie, drehte sich um und lehnte sich dabei lasziv an den Türrahmen.
»Erik ist Norweger.«
»So«, sagte Felix. Er ahmte die ruckartigen Mahlbewegungen ihres Kiefers nach. Sie
streckte ihm die Zunge heraus.
»Ach, Erik, war das nicht Schweden, wo es in letzter Zeit so viele Probleme gab?«
»Wie bitte?«
»Norwegen, meine ich. Sie wissen schon, mit dem Geld. Schwer vorstellbar, dass ein
ganzes Land einfach so bankrott gehen kann. Meiner Tante Helen ist das auch passiert, aber sie
hatte sich das im Grunde selbst zuzuschreiben. Aber ein ganzes Land, das scheint mir doch ein
wenig ... fahrlässig.«
»Ich glaube, Sie meinen Island.«
»Ach? Ja, das kann gut sein. Das mit dem Norden gerät mir immer so ...« Annie knotete
die Finger ineinander.
»Miss Bedford ...«
»Hören Sie, es ist doch so, niemand wünscht sich mehr als ich, dass dieses Haus ein
wenig aufgemotzt wird – wir hatten hier schließlich kein Filmteam mehr seit ... wie lange das
jetzt auch immer her sein mag, und dieses Dach schreit doch förmlich danach, dass man dort
dreht, es schreit danach, es ist ein Unding, das einfach brachliegen zu lassen. Beinahe der beste
Blick in ganz London. Ich glaube, es käme Ihnen sehr zugute, das Haus für Investoren von außen
interessanter zu machen. Was Investoren von außen betrifft, waren Sie wirklich ausgesprochen
nachlässig.«
Erik duckte sich ein wenig in seinen billigen Anzug. Was für Blödsinn sie auch
daherredete, ihr Upper-Class-Akzent wirkte wie ein Zauberspruch. Felix hatte schon erlebt, wie
sie sich damit aus den verfahrensten Zwangslagen gemogelt hatte, selbst als die Leute vom
Sozialamt vor der Tür standen, selbst als die Polizei unten im Bordell eine Razzia veranstaltete
und ein ansehnlicher Beutel Heroin eben so außer Sichtweite auf ihrem Nachttisch lag. Sie fiel
und fiel und fiel und schlug doch nie unten auf. Ihrem Großonkel, dem Earl, gehörte der Boden
unter diesem Gebäude, der Boden unter sämtlichen Gebäuden der Straße: dem Theater, den Cafés
und dem McDonald’s.
»Allein die Vorstellung, dass eine hilflose Frau, die alleine lebt und ihre Wohnung
praktisch nie verlässt, genauso viel zahlen soll wie eine Gruppe sogenannter ›Geschäftsfrauen‹,
die etwa alle acht Minuten neuen Männerbesuch empfangen – das ist doch unerhört!
Traps-traps-traps«, rief sie und stampfte den Rhythmus auf die Türschwelle, »das nutzt den
elenden Teppich so ab. Traps-traps-traps. Herrenbesuch auf der Treppe.« Erik sah in leiser
Verzweiflung zu Felix hinüber. »Das«, erklärte Annie mit ausgestrecktem Finger, »ist kein
Herrenbesuch. Das ist mein Freund. Er heißt Felix Cooper. Er macht Filme. Und nein, er wohnt
nicht hier. Er wohnt in Nordwest-London, in einem süßen, kleinen Eck namens Willesden, von
dem Sie vermutlich noch nie etwas gehört haben, aber ich sage Ihnen gleich, wenn Sie das jetzt
einfach abtun, dann liegen Sie einfach gewaltig falsch, es ist nämlich äußerst interessant, äußerst
›vielfältig‹. Mein Gott, was für ein Wort! Und Tatsache ist, wir sind zwei äußerst unabhängige
Menschen mit höchst unterschiedlichen Lebensumständen, und uns liegt eben daran, uns diese
Unabhängigkeit auch zu bewahren. Es ist ja schließlich nicht weiter ungewöhnlich, wenn man ...«
An diesem Punkt griff Felix ein, fasste Annie um die Taille und zog sie ins Zimmer
zurück. Aufseufzend sank sie auf die Chaiselongue und widmete ihre ganze Aufmerksamkeit
Karenin, der das seinerseits offensichtlich nur angemessen fand. Erik schlug sein Ringbuch auf,
nahm ein paar Blätter heraus und hielt sie Felix hin.
»Miss Bedford muss das unterschreiben. Sie verpflichtet sich damit, ihren Anteil an den
Arbeiten zu zahlen, die ...«
»Brauchen Sie das gleich?«
»Auf jeden Fall noch diese Woche.«
»Wir machen’s so. Sie lassen das jetzt hier, und Ende der Woche kommen Sie wieder –
dann ist es unterschrieben, das garantier ich Ihnen.«
»Wir haben schon etliche Schreiben ...«
»Ist mir klar, aber ... es geht ihr nicht gut, Chef. Sie ist nicht ganz ... Sie hat diese
Aggrophobie.« Ein alter Fehler von Felix, den ihm auch wiederholtes Augenverdrehen seitens
Annie nicht austreiben konnte, vielleicht, weil seine Wortschöpfung eine tiefere Wahrheit
enthielt: Eigentlich hatte sie nämlich keine Angst vor weiten, offenen Orten, sondern Angst vor
dem, was zwischen ihr und den anderen Menschen dort passieren könnte. »Kommen Sie später
wieder, dann ist es unterschrieben. Dafür sorg ich.«
»Gott, war das öde«, sagte Annie, noch bevor die Tür wieder zu war. »Weißt du, was ich
mir überlegt habe, Felix – seit das Wetter so schön geworden ist – wir sollten den ganzen
Sommer bei mir oben auf dem Dach verbringen. Wir waren doch immer so gern da oben. Bleib
dieses Wochenende hier – Montag ist Feiertag! Ein langes Wochenende.«
»Es ist Karneval dieses Wochenende.«
Das überhörte sie. »Keine vielen Leute. Nur wir zwei. Wir machen uns dieses
Hähnchen-Zeug, das du so gern hast, und grillen es oben. Mariniert. Mariniertes Hähnchen.
Manieriert, wie wir sind, wir zwei.«
»Isst du neuerdings was?«
Annie hörte auf zu lachen, zuckte leicht zusammen, wandte das Gesicht ab. Sie
verschränkte sittsam die Hände im Schoß. »Es ist immer schön, anderen beim Essen zuzusehen.
Ich esse Pilze. Wir könnten uns ein paar von diesen legalen Pilzen holen. Weißt du noch? Nur
von hier nach da zu kommen ...«, sie deutete vom Sessel zur Chaiselongue, »hat ein gefühltes
Jahr gedauert. Und ich war aus irgendeinem Grund überzeugt, da drüben wäre Frankreich. Ich
dachte, ich brauche einen Pass, nur um durchs Zimmer zu gehen.«
Felix griff nach seinem Tabak. Er wollte gar nicht erst anfangen, in schönen Erinnerungen
zu schwelgen.
»Die kriegt man nicht mehr. Hat die Regierung verboten. Vor ’n paar Monaten schon.«
»Ach? Was sind denn das für Langweiler!«
»Irgend so ’n Typ aus Highgate hat sich für ’nen Fernseher gehalten und sich
abgeschaltet. Ist von dieser Brücke gesprungen. An der Hornsey Lane.«
»Ach, Felix, die Story ist mindestens so alt wie ich – die habe ich schon 1985 auf dem
Schulhof der Mädchenschule in Camden gehört. Die ›Selbstmörderbrücke‹. So etwas nennt man
ein Großstadtmärchen.« Sie kam zu ihm, nahm ihm die Kappe ab und rieb ihm den rasierten
Schädel. »Komm, wir gehen jetzt gleich hoch und sonnen uns. Also, ich sonne mich. Du darfst
schwitzen. Damit eröffnen wir den Sommer.«
»Mann, Annie: Der Sommer ist fast vorbei. Ich arbeite. Die ganze Zeit.«
»Im Moment arbeitest du offensichtlich nicht.«
»Normalerweise arbeite ich samstags.«
»Na, dann eben irgendwann anders, such dir was aus, wir machen ’nen fixen Termin
draus«, sagte Annie mit einem Tonfall, den sie für nordenglisch hielt.
»Geht nicht.«
»Findet er nun meinen Charme so unwiderstehlich ...« ein amerikanischer Akzent »...
oder mein Dach?«
»Annie – setz dich, ich muss mit dir reden. Ernsthaft.«
»Red auf dem Dach mit mir!«
Er wollte sie am Handgelenk fassen, doch sie war schneller und entwischte ihm. Er folgte
ihr ins Schlafzimmer. Sie hatte die Leiter aus der Deckenluke gezogen und war schon halb oben.
»Guck mir bloß nichts weg!« Aber so, wie sie kletterte, sah er alles, selbst den kleinen
weißen Mauseschwanz des Tamponbändchens. »Vorsicht – Glas!«
Felix streckte den Kopf ins Licht – er brauchte einen Moment, um richtig sehen zu
können. Vorsichtig setzte er das Knie zwischen zwei zerbrochene Bierflaschen und zog sich nach
oben. Das sonnenverbrannte, vom Regen ruinierte Holz klebte ihm in weißen Schuppen an den
Händen. Er hatte den Boden selbst verlegt und gestrichen, zusammen mit ein paar Technikern
und sogar einem der Produzenten, weil Zeit und Budget knapp waren. Hatte alles mit einer
dicken, weißen Lackschicht versehen, um für die besten Lichtverhältnisse zu sorgen. Es hatte
schnell gehen müssen, im Dienst der Fiktion. Es war nie dafür gedacht gewesen, dem echten
Leben standzuhalten. Sie hob eine zerdrückte Zigarettenschachtel und eine leere Wodkaflasche
auf und stopfte beides sorgsam in den überquellenden Mülleimer, als fiele das Fehlen dieser
beiden Teile in dem Meer aus Müll ringsum irgendwie ins Gewicht. Felix stieg über einen
durchnässten Schlafsack, der schwer von Wasser war und irgendwas enthielt, aber keinen
Menschen zumindest, Gott sei Dank. In der Nacht zuvor hatte es geregnet, noch lag eine gewisse
morgendliche Frische in der Luft; aber der üble Gestank war bereits im Anmarsch, und jede
Minute Sonnenschein ließ ihn noch ein wenig übler werden. Felix verzog sich in die östlichste
Ecke, unter den Schornstein, wo es schattig war und vergleichsweise abgeschieden. Die Dielen
machten jämmerliche Laute unter seinen Schritten.
»Das muss alles neu gemacht werden.«
»Stimmt. Aber man findet ja heutzutage kein Personal mehr. Früher, in der guten alten
Zeit, da kam noch manchmal ein reizendes junges Filmteam vorbei, das einem zweitausend
Pfund die Woche zahlte, Holzdielen verlegte, sie anstrich, einen leidenschaftlich vögelte und mit
Liebesschwüren überhäufte – aber solche Dienstleistungen, das muss ich leider sagen, gehören
inzwischen der Vergangenheit an.«
Felix stützte den Kopf in die Hände.
»Mann, Annie. Du machst mir echt Spaß.«
Annie lächelte traurig. »Ich bin ja froh, dass ich wenigstens noch irgendetwas in dir
auslöse ...« Sie stellte einen umgekippten Liegestuhl auf die Füße. »Ich weiß, es sieht hier etwas
chaotisch aus ... Aber ich hatte Gäste – letzten Freitag hatte ich einen meiner großen Abende, das
war so nett, du hättest auch kommen müssen. Ich habe dir übrigens gesimst. Aber irgendwie
übersiehst du meine SMS ja immer. Reizende Leute, so entzückend. Und hier oben war es heiß
wie auf Ibiza.«
Aus ihrem Mund klang das wie ein gesellschaftliches Ereignis, bei dem sich die Reichen
und Schönen tummelten. Felix hob eine leere Flasche Strongbow Cider auf, die zu einer Bong
umfunktioniert worden war.
»Du darfst dich nicht immer so ausnutzen lassen.«
Annie schnaubte: »Was für ein Blödsinn!« Sie ließ sich breitbeinig auf der kleinen
Backsteinbrücke zwischen den Schornsteinen nieder. »Dafür sind Menschen doch da. Sie nutzen
sich gegenseitig aus. Wozu sollten sie sonst da sein?«
»Die hängen doch nur bei dir ab, weil du was hast, was sie brauchen. Soho-Schnorrer. Die
wollen einfach irgendwo pennen. Und wenn’s dann noch Dope umsonst gibt – umso besser.«
»Gut. Das habe ich nun mal zu bieten. Wieso sollten die Leute es nicht ausnutzen, wenn
ich etwas habe, das ihnen zugutekommt?« Sie schlug ein Bein über das andere, wie eine
Lehrerin, die zum Kern der Schulstunde kommt. »Wie der Zufall es will, bin ich, was Wohnraum
und Drogen betrifft, in der starken Position, und sie sind in der schwachen. Bei anderen Dingen
ist es umgekehrt. Die Schwachen sollten von den Starken profitieren, findest du nicht auch?
Besser so als andersrum. Ich will, dass meine Freunde mich ausnutzen. Ich will, dass sie mir die
Haare vom Kopf fressen. Ich will, dass sie mein Blut trinken. Warum auch nicht? Es sind
schließlich meine Freunde. Was soll ich hier denn sonst anstellen? Eine Familie gründen?«
Dieses Thema, das wusste Felix, führte direkt in die Falle. Er versuchte, es zu umschiffen.
»Ich mein ja nur, das sind nicht deine Freunde. Das sind Junkies.«
Annie fixierte ihn über den Rand ihrer Sonnenbrille hinweg. »Du klingst ja sehr
überzeugt. Sprichst du aus persönlicher Erfahrung?«
»Wieso verdrehst du immer alles, was ich sage?« Er ließ sich leicht verunsichern, was
fälschlicherweise als Wut wahrgenommen wurde. Die Leute glaubten immer, er würde gleich
zuschlagen, dabei war er nur nervös oder leicht verärgert. Annie hob einen zitternden
Zeigefinger.
»Schrei mich nicht an, Felix. Ich will doch hoffen, du bist nicht hergekommen, um zu
streiten, denn ich bin wirklich alles andere als belastbar.«
Felix stöhnte und setzte sich neben sie auf die Backsteinbrücke. Er legte ihr sanft die
Hand aufs Knie, es war als väterliche oder freundschaftliche Geste gemeint, doch sie griff sofort
danach und hielt seine Hand fest umklammert.
»Siehst du? Da drüben? Sie haben geflaggt. Es ist jemand zu Hause. Der beste Blick der
ganzen Stadt.«
»Annie ...«
»Meine Mutter wurde noch bei Hofe eingeführt. Und meine Großmutter auch.«
»So.«
»Ja, Felix, genau so. Das habe ich dir aber sicher schon erzählt.«
»Ja, hast du, kann man sagen.«
Er befreite seine Hand und stand wieder auf.
»›Sie fliehn vor mir, die einst mich suchen kamen‹«, sagte Annie leise, entledigte sich
ihres Kimonos und legte sich nackt in die Sonne. »Im Gefrierschrank ist Wodka.«
»Ich hab dir doch gesagt, ich trinke nicht mehr.«
»Immer noch nicht?«
»Ich hab’s dir gesagt. Deswegen bin ich nicht mehr gekommen. Nicht nur deswegen, auch
aus anderen Gründen. Ich bin clean. Solltest du dir auch mal überlegen.«
»Aber Schätzchen, ich bin doch clean. Seit zwei Jahren schon.«
»Abgesehen vom Koks, vom Dope, vom Alk, von den Pillen ...«
»Ich sagte, ich bin clean, keine Mormonin!«
»Ich mein ja nur, man muss richtig damit aufhören.«
Annie stützte sich auf die Ellbogen und schob sich die Sonnenbrille ins Haar. »Und mir
jeden Tag anhören, dass irgendwelche Leute darüber labern, wie sie mal komplett vollgekotzt auf
der Müllkippe aufgewacht sind? So tun, als wäre alles, was ich je an Gutem erlebt habe, bloß eine
Art ausgedehnter Jugendverirrung?« Sie streckte sich wieder aus und schob die Sonnenbrille
zurück. »Nein danke. Holst du mir bitte einen Wodka? Mit Zitrone, falls du welche findest.«
Schräg gegenüber, auf einer anderen Dachterrasse, ließ eine schlicht gekleidete Japanerin
– schmale schwarze Hose, schwarzer V-Ausschnitt – das Tablett fallen, das sie trug. Ein Glas
ging zu Bruch, ein Teller mit Essen segelte durch die Luft; den anderen fing sie irgendwie noch
auf. Sie war auf dem Weg zu einem kleinen schmiedeeisernen Tisch gewesen, an dem ein
schlaksiger Franzose mit ironischen roten Hosenträgern und bis zu den Waden hochgekrempelter
Jeans saß. Jetzt sprang er auf. Im selben Moment kam ein kleines Mädchen nach draußen
gelaufen, begutachtete die häusliche Tragödie und schlug die Hand vor den Mund. Alle drei
waren Felix vertraut; er hatte sie im Lauf der Jahre oft gesehen. Anfangs nur sie; dann war er
eingezogen. Dann kam das Baby, das inzwischen wie vier oder fünf aussah. Wo war nur die Zeit
geblieben? Bei schönem Wetter hatte er oft beobachtet, wie die Frau mit einer richtigen Kamera
auf einem Stativ Fotos von ihrer Familie machte.
»Hoppala«, sagte Annie. »Ärger im Paradies.«
»Annie, hör mir mal zu: Weißt du noch, die Frau, von der ich dir erzählt hab. Die, mit der
es ernst ist.«
»Ich fürchte wirklich, das geschieht ihnen ganz recht. Sie können ja nicht einfach in der
Wohnung essen. Das wäre ja wirklich eine viel zu große Zumutung. Stattdessen müssen sie jedes
Miso-beträufelte Balsamico-Kabeljaufilet einzeln auf dem Tablett hoch tragen, um es auf der
verfickten Terrasse zu essen und sich dabei zweifellos die ganze Zeit zu sagen: Was haben wir
für ein Glück, dass wir auf der Terrasse essen können! Das ist ja fast wie in der Toskana! Hast du
die schon probiert, Schatz? Das sind Zucchiniblüten in Tempura. Japanisch-italienische
Fusion-Küche! Habe ich mir selbst ausgedacht. Soll ich sie nicht fotografieren? Dann stellen wir
sie gleich auf unser Blog!«
»Annie.«
»Unser Blog namens Jules & Kim.«
»Ich und diese Frau. Grace. Das ist was Ernstes. Ich werd nicht mehr herkommen.«
Annie hielt eine Hand in die Höhe und inspizierte ihre Nägel, obwohl keiner auch nur bis
zur Fingerspitze reichte, zu beiden Seiten Hautfetzchen abgerissen waren und rings um die
Nagelhaut getrocknete Blutreste klebten. »Verstehe. Hatte sie nicht auch noch einen anderen?«
»Das ist vorbei.«
»Verstehe«, sagte Annie wieder, drehte sich auf den Bauch und reckte die Füße mit dem
eindrucksvollen Spann in die Luft. »Wie alt?«
Felix konnte nicht anders, er musste lächeln. »Vierundzwanzig wird sie dann, glaub ich.
Im November. Aber darum geht’s gar nicht.«
»Und immer noch kein Wodka.«
Felix seufzte und ging zur Luke zurück.
»Ich werde an den anderen denken«, hörte er Annie hinter sich rufen, als er nach unten
kletterte. »Ich werde ihn bemitleiden! Es ist so wichtig, dass wir Mitleid miteinander haben!«
Marlon. Das war an einem Sonntag im Februar endgültig vorbei gewesen, während Felix
bei Grace auf der Treppe hockte, sich bibbernd eine Zigarette drehte und durch die Tüllgardinen
spähte. Der Mann beobachtete den anderen Mann, wie er durch die Wohnung stapfte, ein
Fahrradschloss, ein paar hässliche Klamotten, eine Dockingstation für den iPod, einen
Haarschneider einsammelte. Er war massig, Marlon, nicht direkt fett, aber schwabbelig und
unbeholfen. Er verbrachte eine Ewigkeit im Bad und kam mit diversen Haargeldosen und
Cremetuben wieder heraus, von denen mindestens eine Felix gehörte – aber Felix hatte die Frau
errungen und konnte auch ohne sein Dax-Wachs leben. Nachdem Marlon seine Sachen
zusammengesucht hatte, sah Felix zu, wie er Grace’ Hand in die seine nahm, als wollte er einen
religiösen Ritus vollziehen, und sagte: »Ich bin dankbar für die Zeit, die wir zusammen hatten.«
Armer Marlon. Er hatte wirklich nicht die leiseste Ahnung. Sogar danach tauchte er noch ein
paarmal auf, mit Soca-Tapes, handgeschriebenen Briefen und Tränen. Nichts davon brachte ihn
weiter. Letzten Endes war all das, was Grace behauptete, an Marlon zu mögen – dass er eben
kein »Checker« war, dass er nett war und schüchtern und sich nicht für Geld interessierte –, ein
Grund, ihn zu verlassen. Weil er so nett war, dauerte es eine Weile, bis die Botschaft ankam.
Aber schließlich hatte er sich samt seiner »Ich bin Krankenpfleger Hip-Hop ist mir zu anti ich
kann Ziegenfleisch in Currysoße kochen und will nach Nigeria auswandern«-Nummer zurück
nach Südlondon verzogen, wo er nach Felix’ Ansicht auch hingehörte.
»Kühlschrank«, sagte Felix jetzt zu sich und öffnete ihn: zwei vorratsgroße Colaflaschen,
drei Zitronen und eine Dose Makrelen, dann fiel es ihm wieder ein, und er öffnete stattdessen den
Gefrierschrank. Er nahm die Wodkaflasche heraus. Kehrte zum Kühlschrank zurück, nahm die
am wenigsten weiße Zitrone heraus. Sah sich um. Die Küche war ein kleines Kabuff mit einer
angestoßenen Keramikspüle, ohne jeden Stauraum und ohne Mülleimer. Die Spüle stand voll;
kein sauberes Glas vorhanden. Vor dem halb offenen Fenster flatterte ein Vorhangfetzen. Eine
Kolonne Ameisen marschierte von der Spüle zum Fenster und wieder zurück, sie transportierten
Krümel auf dem Rücken und strahlten eine Zuversicht aus, die nahelegte, dass sie in diesem
Leben hier nicht mehr mit Leitungswasser rechneten. Felix nahm einen Becher. Mit einem
stumpfen Messer säbelte er an der Zitrone herum. Goss Wodka ein. Schraubte den Deckel wieder
zu, legte die Flasche zurück in den Gefrierschrank und stellte sich vor, wie er diesen Moment des
Maßhaltens am Dienstag um sieben Uhr abends einer Gruppe Weggefährten schildern würde, die
das Heroische daran zu schätzen wüssten.
Oben auf dem Dach hatte Annie die Stellung gewechselt – sie saß jetzt mit gekreuzten
Beinen und geschlossenen Augen im Yogasitz – und trug auf einmal einen grünen Bikini. Er
stellte den Becher vor sie hin, und sie nickte wie eine Göttin, die die Opfergabe entgegennimmt.
»Wo kommt denn der Bikini her?«
»Fragen über Fragen.«
Ohne die Augen zu öffnen, deutete sie auf die Familie auf der Terrasse gegenüber. »Die
können jetzt nur noch die Scherben aufsammeln. Das Mittagessen ist im Eimer, der Sancerre
versiegt, aber irgendwie, irgendwie werden auch sie einen Weg finden, weiterzuleben.«
»Annie –«
»Und sonst? Ich weiß gar nicht mehr, was du so treibst. Hat sich irgendwas in Richtung
Film getan? Wie geht’s deinem Bruder?«
»Ich bin da schon ewig weg. Jetzt lern ich in dieser Autowerkstatt, hab ich dir doch
erzählt.«
»Alte Autos sind ein hübsches Hobby.«
»Das ist kein Hobby – das ist meine Arbeit.«
»Felix, du bist so ein talentierter Filmemacher.«
»Ach, hör mir auf, Mann! Was hab ich denn da gemacht? Kaffee geholt, Koks beschafft.
Das hab ich gemacht. Sonst nichts. Die hätten mich auch nichts anderes machen lassen, das kann
ich dir flüstern. Warum redest du dauernd so ’n unrealistischen Scheiß?«
»Weil ich eben einfach der Ansicht bin, dass du sehr talentiert bist. Und dich sträflich
unter Wert verkaufst.«
»Hör auf damit, Mann.«
Annie seufzte und löste ihre Haarspange. Sie teilte das Haar in gleichmäßig dicke
Strähnen und fing an, sich zwei lange Kinderzöpfe zu flechten. »Und wie geht es dem armen
Devon?«
»Gut.«
»Hältst du mich etwa für einen dieser Menschen, die solche Fragen aus bloßer Höflichkeit
stellen?«
»Es geht ihm gut. Er hat ’nen vorläufigen Entlassungstermin am sechzehnten Juni.«
»Aber das ist ja großartig!«, rief Annie, und Felix spürte eine große, unpraktische Welle
von Zuneigung zu ihr. Wenn Grace da war, wurde Devon so gut wie nie erwähnt. Er gehörte zu
den »negativen Energien«, die sie aus ihrem Leben auszumerzen hatten.
»Und wieso ›vorläufig‹?«
»Je nachdem, wie er sich benimmt. Zwischen jetzt und dann darf er keinem mehr blöd
kommen.«
»Wenn du mich fragst, hat er seine Schuld der Gesellschaft gegenüber mehr als gebüßt,
für so einen kleinen Raubzug mit einer Spielzeugpistole.«
»Das war kein Spielzeug. Sie war nur nicht geladen. Nennt man trotzdem bewaffneten
Raubüberfall.«
»Oh, aber am Freitag hat mir jemand einen so lustigen Witz erzählt – der wird dir
gefallen. Ach Gott: Formulierungen. So was wie: Weißt du, warum arme Leute ...? Nein. Warte,
ich fang noch mal an. Arme Leute – mein Gott: ›In armen Vierteln klauen die Leute dir das
Handy. In reichen Vierteln klaut man den Leuten die Pension.‹« Felix grinste kurz. »Aber er war
natürlich viel besser erzählt.«
Sie war lauter geworden, ohne es zu merken. Drüben auf der anderen Terrasse drehte die
Japanerin sich um und blickte rücksichtsvoll ins Leere.
»Ich meine, nimm nur mal die Frau da: Die ist besessen von mir. Sieh sie dir an. Sie will
mich unbedingt fotografieren, bringt es aber nicht fertig zu fragen. Das ist eigentlich äußerst
traurig.« Annie winkte der Frau und ihrer Familie zu. »Esst nur euer Mittagessen! Lebt weiter
euer Leben!«
Felix schob sich zwischen Annie und den Ausblick. »Sie ist halb Jamaikanerin und halb
Nigerianerin. Ihre Mutter ist Lehrerin an der William Keble in Harlesden – ganz ernsthafte Frau.
Sie ist wie ihre Mutter, sie hat diese nigerianische Einstellung zur Bildung: voll zielgerichtet. Du
würdest sie mögen.«
»Hmm.«
»Kennst du diesen Laden, York’s, an der Monmouth Street?«
»Aber sicher. Da ging man in den Achtzigern hin.«
»Sie ist grad befördert worden«, erzählte Felix stolz. »Sie ist jetzt so ’ne Art
Oberkellnerin, wie heißt das noch? Sie muss nicht mehr an den Tischen servieren. Wie heißt das
noch?«
»Maître d’Hôtel.«
»Genau. Wahrscheinlich wird sie irgendwann noch Geschäftsführerin. Es ist jeden Tag
voll – da gehen jede Menge Leute hin.«
»Ja, aber was für Leute?« Annie hob den Drink an die Lippen und leerte ihn in einem
Zug. »Sonst noch was?«
Felix war wieder verunsichert. »Wir haben viel gemeinsam, also ... richtig viel einfach.«
»Lange Spaziergänge im Grünen, Rotwein, Verdi-Opern, einen guten Sinn für Humor ...«
Annie streckte die Ellbogen weg und legte die Hände aneinander wie zum Mantrasingen.
»Sie weiß, was sie will. Sie hat Bewusstsein.«
Annie musterte ihn eigentümlich: »Da legst du die Latte aber ziemlich niedrig, findest du
nicht? Ich meine, hast du ein Glück, dass sie nicht im Koma liegt ...«
Felix lachte und sah, wie sie zufrieden ihr Zahnfleisch zeigte.
»Politisches Bewusstsein mein ich, Rassenbewusstsein, also, sie kapiert das mit dem
Kampf. Bewusstsein eben.«
»Sie ist bei Sinnen, und sie kapiert’s.« Annie schloss die Augen und atmete tiefer. »Hast
du ein Glück.«
Doch ein Anflug von Überheblichkeit in ihrer Miene ließ Felix explodieren. Er brüllte los.
»Du kannst dich immer nur lustig machen. Mehr kannst du nicht. Was machst du denn so
wahnsinnig Tolles? Was kriegst du denn auf die Reihe?«
Erschrocken öffnete Annie ein Auge. »Was ich auf die ... was in aller Welt redest du da?
Das war doch nur ein Witz, um Himmels willen. Was genau soll ich denn bitte auf die Reihe
kriegen?«
»Ich red davon, was du für Ziele hast. Was du für dein Leben willst, wie’s sein soll.«
»Was ich für mein Leben will, wie’s sein soll? Entschuldige bitte, aber rein syntaktisch ist
diese Äußerung reichlich sonderbar.«
»Leck mich doch, Annie.«
Sie wollte auch das weglachen und griff nach seinem Handgelenk, aber er schob sie von
sich. »Nee, das hat echt keinen Sinn mit dir, weißt du? Ich versuch dir hier zu erzählen, was ich
mit meinem Leben vorhab, und du machst dich nur lustig. Das ist sinnlos. Du bist sinnlos.«
Es klang verletzender, als er es gemeint hatte. Sie fuhr zusammen.
»Ich finde das sehr grausam von dir. Ich versuche doch auch nur zu verstehen.«
Felix schaltete einen Gang zurück. Er wollte nicht grausam sein. Er wollte nicht als
grausam gesehen werden. Er setzte sich neben sie. Er hatte seine Rede parat, aber zugleich auch
das Gefühl, dass sie beide ihren Text hatten, dass sie mindestens so vorbereitet war wie er.
»Ich hab keine Lust mehr, weiter so zu leben wie früher. Ich fühl mich, als wär ich schon
viel zu lange hier auf diesem Level im Spiel, und klar, ich hatte voll Spaß auf dem Level – aber
hey, Annie: Sogar du musst doch zugeben, dass es hier viele Dämonen gibt. Verdammt viele
Dämonen. Dämonen und ...«
»Entschuldige mal – du sprichst hier mit einem wohlerzogenen katholischen Mädchen,
das ...«
»Lass mich ausreden! Nur ein Mal!«
Annie nickte stumm.
»Jetzt hab ich den Faden verloren.«
»Dämonen«, sagte Annie.
»Ja. Und ich hab sie alle erschlagen. Das war hart, aber jetzt sind sie tot, und ich bin mit
dem Level durch und muss weiter auf das nächste Level. Und es geht auch nicht darum, dich mit
aufs nächste Level zu nehmen. Du willst da nämlich eindeutig nicht hin.«
Das war die Rede, die er vorbereitet hatte. Jetzt, wo sie ausgesprochen war, kam sie ihm
gar nicht mehr so hintergründig und tiefsinnig vor, wie er sie sich vorgestellt hatte, aber
immerhin tat sie ihre Wirkung: Annie hatte die Augen geöffnet und die Yogapose aufgegeben, sie
hatte die Arme entknotet und die Hände flach auf den Boden gestützt.
»Hörst du? Das nächste Level. Man kann sein ganzes Leben damit verbringen, einfach
nur zu grübeln. Ich könnt auch mein ganzes Leben damit verbringen, über den ganzen Scheiß zu
grübeln, der mir so passiert ist. Aber damit bin ich durch. Jetzt ist es Zeit für das nächste Level.
Ich komm endlich weiter im Spiel, und ich bin bereit.«
»Ja, ja, ich habe die Metapher begriffen, du brauchst sie nicht ständig zu wiederholen.«
Annie zündete sich eine Zigarette an, machte einen tiefen Zug und stieß den Rauch durch die
Nase aus. »Das Leben ist aber kein Computerspiel, Felix – es gibt keine festgelegte Punktzahl,
mit der du das nächste Level erreichst. Es gibt noch nicht mal ein nächstes Level. Ich sag’s dir
ungern, aber wir sterben alle irgendwann. Game over.«
Die wenigen am Himmel verbliebenen Wolken schoben ab Richtung Trafalgar Square.
Felix folgte ihnen mit einem Blick, von dem er hoffte, dass er vergeistigt wirkte. »Tja, das ist
deine Meinung. Jeder hat ein Recht auf seine eigene Meinung.«
»Meine und die von Nietzsche, Sartre und etlichen anderen. Felix, Schatz, es ist wirklich
schön, dass du herkommst, um dieses ›ernsthafte Gespräch‹ zu führen und mir deine Gedanken
über Gott mitzuteilen, aber ich bin dieses ganze Gerede langsam leid, und persönlich möchte ich
eigentlich vor allem wissen: Vögeln wir heute noch irgendwann oder nicht?«
Sie zupfte ihn spielerisch am Bein. Er wollte aufstehen, aber sie küsste sich seinen
Knöchel hinauf, und kurz darauf sank er wieder auf die Knie. Es war eine Niederlage, und er gab
ihr die Schuld. Er fasste sie nicht sonderlich sanft an den Schultern, und gemeinsam krabbelten
sie bis zum Rand der Mauer, wo sie sich einreden konnten, dass sie keiner sah. Er griff ihr mit
der ganzen Hand ins Haar und versuchte, sie grob zu küssen, doch sie schaffte es, jede boshafte
Berührung in Leidenschaft umzumünzen. Sie passten zueinander. Das war schon immer so
gewesen. Aber was hatte es für einen Sinn, in dieser Hinsicht zusammenzupassen und in keiner
anderen? Er fühlte ihre Hände auf den Schultern, die ihn nach unten drückten, und bald war er
auf Höhe ihrer Blinddarmnarbe. Sie hob den Hintern. Er umfasste ihn mit beiden Händen und
drückte das Gesicht zwischen ihre Beine. Er war vierzehn, als Lloyd ihm das erste Mal erklärt
hatte, eine Frau zu lecken sei unhygienisch und demütigend. Nur mit vorgehaltener Waffe, das
war die Ansicht seines Vaters, und auch dann nur, wenn jedes einzelne Härchen entfernt war.
Annie war die Erste gewesen. Jahre der Konditionierung, in einem Nachmittag beim Teufel. Er
überlegte, was Lloyd jetzt wohl von ihm denken würde, die Nase zwischen so viel wild
wucherndem, glattem Haar und diesen eigentümlichen Geschmack im Mund.
»Wenn er im Weg ist, hol ihn einfach raus!«
Er nahm das Mauseschwänzchen zwischen die Zähne und zog. Es ging ganz leicht. Er
warf das Ding beiseite wie etwas Totes, rot auf dem weißen Holzboden. Drehte sich wieder zu ihr
um und wühlte seine Zunge hinein. Es sah aus, als wollte er einen Tunnel graben, auf die andere
Seite gelangen. Sie schmeckte nach Eisen, und als er fünf Minuten später zum Luftholen
hochkam, stellte er sich einen Blutrand rund um seinen Mund vor. In Wahrheit war es nur ein
Tröpfchen; sie küsste es weg. Der Rest ging schnell. Sie waren langjährige Liebespartner und
hatten ihre erprobten Stellungen. Auf den Knien, mit Blick über die Stadt, kamen sie rasch, wie
immer genussvoll und wie immer jeder für sich, zum Höhepunkt, der aber gar nichts war gegen
jene fünf Minuten vor fünf Minuten, als es noch möglich schien, mit dem Kopf voran in einen
anderen Menschen hineinzukriechen und ganz in ihm zu verschwinden.
Hinterher lag er auf ihr, spürte die unangenehm verschwitzte Nähe und überlegte, wann
die Höflichkeit es wohl zuließ, sich wegzubewegen. Er wartete nicht sonderlich lange. Er rollte
sich auf den Rücken. Sie schob ihr Haar zur Seite und legte ihm den Kopf an die Brust. Sie sahen
einem Polizeihubschrauber nach, der auf dem Weg nach Covent Garden vorbeiflog.
»Tut mir leid«, sagte Felix.
»Was denn?«
Felix griff nach unten und zog sich die Jeans wieder hoch. »Nimmst du noch dein
Dingsda?«
Er sah den Zorn, der über ihr Gesicht zuckte, sah, wie er gezügelt und umgeleitet, wie
stattdessen die Zigarettenschachtel geöffnet, eine Zigarette herausgeklopft und angezündet,
grimmig gelächelt und gelacht wurde.
»Nicht nötig. Da sind die Chancen, vom Blitz getroffen zu werden, deutlich größer. Das
Blut fließt zwar noch, aber glaub mir: Die Quelle ist fast versiegt. Die unerbittliche, die
zerstörerische Natur! Apropos, Bruderherz James soll mich demnächst ins Wolesley ausführen
zur Feier unseres gemeinschaftlichen Verfalls – gestern hat er angerufen, er klang ganz natürlich
am Telefon. Man sollte meinen, wir sprächen uns täglich. Eine Farce! Aber ich habe mitgespielt,
ich habe gesagt: ›Hallo, geliebter Zwilling!‹ Er hat ein Geburtstagsmittagessen vorgeschlagen,
dabei ist unser Geburtstag erst im Oktober, und ich sage: bestens, aber ich weiß natürlich ganz
genau, was er vorhat, er will, dass ich endlich das verflixte Dokument unterschreibe, damit er mir
alles unterm Arsch weg verkaufen kann. Anscheinend begreift er nicht, dass ein Teil des Hauses
mir gehört, und wer weiß schon, mit wie viel Hypotheken er es inzwischen belastet hat, um für
die Bildung seiner kleinen Engel aufzukommen, bis unters Dach vermutlich, da ist kein Penny
mehr rauszuholen, und wir wissen ja alle, dass er mich am liebsten schon im Mutterleib
aufgefressen hätte, aber das ist ihm leider nicht geglückt, und solange unsere Mutter noch lebt,
verstehe ich sowieso nicht, wieso es überhaupt verkauft werden soll – wo soll sie denn dann hin?
Und wer soll dafür zahlen? Solche Heime kosten Geld. Aber so war er schon immer: James hat
sich immer benommen, als wäre er ein Einzelkind, als gäbe es mich gar nicht. Weißt du, wie
Daddy und er mich hinter meinem Rücken genannt haben? Die Nachgeburt. Wollen wir noch was
trinken? Es ist so schwül.«
Sie lehnte sich wieder an seine Brust. Küsste die Haut im Halsausschnitt seines T-Shirts.
Er fuhr ihr mit den Fingern ins Haar.
»Am besten nimmst du eine von diesen anderen Pillen – die für danach. Zur Sicherheit.«
Annie schnalzte ungeduldig.
»Ich will kein Kind von dir, Felix. Ich kann dir versichern, ich sitze keineswegs
allabendlich herum wie eine gramgebeugte gefallene Frau und träume davon, ein Kind von dir zu
kriegen.« Sie fing an, mit dem Fingernagel Achten auf seinen Bauch zu malen. Es wirkte wie
eine beiläufige Geste, doch der Fingernagel stach tief zu. »Dir ist ja hoffentlich klar, wenn es
umgekehrt wäre, dann gäbe es mit Sicherheit ein Gesetz, ein richtiges Gesetz: Johnny gegen
Jenny vor Gericht. Und Johnny würde Jenny vorwerfen, dass sie ihn fünf Jahre lang vorsätzlich
gevögelt hat, um ihn dann im Herbst seiner Fortpflanzungsfähigkeit ohne Vorwarnung sitzen zu
lassen und sich mit dem blutjungen Jacky-Boy einzulassen, der erst vierundzwanzig ist und einen
Schwanz hat, so lang wie mein Unterarm. Und das Gericht entschiede zu Johnnys Gunsten. Jedes
Mal. Jenny müsste Entschädigung zahlen. Eine Riesensumme. Und dazu ein halbes Jahr
Gefängnis. Oder nein – neun Monate. Ausgleichende Gerechtigkeit. Dann könnte man nicht so
einfach ...«
»Weißt du was? Ich sollte langsam.« Er schob ihren Kopf von seinem Körper, zog sein
T-Shirt glatt und stand auf. Sie richtete sich auf und verschränkte die Arme vor den Brüsten. Sie
schaute zum Fluss hinüber.
»Klar, geh doch.«
Er bückte sich, um ihr einen Abschiedskuss zu geben, aber sie drehte den Kopf weg wie
ein Kleinkind.
»Was bist du denn jetzt so? Ich muss los, weiter nichts.« Felix spürte, dass etwas nicht in
Ordnung war: Er schaute an sich herunter und sah, dass sein Reißverschluss noch offen stand. Er
zog ihn zu. Ihm wurde klar, dass er, seit er ihre Wohnung betreten hatte, genau das Gegenteil
dessen sagte und tat, was er hatte sagen und tun wollen.
»Tut mir leid«, sagte er.
»Schon gut. Alles bestens. Nächstes Mal bringst du deine Grace mit. Ich mag bewusste
Menschen. Die sind wenigstens lebhaft. Die meisten Leute vegetieren doch eigentlich nur so
dahin.«
»Es tut mir wirklich leid.« Felix küsste sie auf die Stirn.
Er ging auf die Dachluke zu. Gleich darauf hörte er Schritte hinter sich, sah ein Stück
ihres Kimonos, ein paar Seidenschwalben, die vorbeiflatterten, dann packte ihn eine Hand fest an
der Schulter.
»Weißt du, Felix ...« Ein zuckersüßes Stimmchen, wie eine Kellnerin, die die
Empfehlungen des Tages aufzählt. »Nicht jeder will so ein spießiges kleines Leben wie das, auf
das du jetzt zuruderst. Ich habe lieber Feuer auf meinem Fluss. Und wenn ich eines Tages gehen
muss, bin ich fest entschlossen, mein kleines Ein-Personen-Schiffchen mitten in die Flammen zu
lenken und darin zu verbrennen. Ich habe keine Angst! Ich hatte noch nie Angst. Die meisten
Menschen haben welche. Aber ich bin nicht wie die meisten Menschen. Du hast nie etwas für
mich getan, und ich brauche auch nichts von dir.«
»Nie was für dich getan? Als du hier oben auf dem Dach gelegen bist und nur noch
gesabbert hast, mit verdrehten Augen, wer hat sich da um dich gekümmert, wer hat dir den Finger
...«
Annies Nasenflügel weiteten sich, und ihre Miene wurde bösartig. »Felix, was ist das
eigentlich für ein krankhaftes Bedürfnis, immer der Gute sein zu wollen? Das ist äußerst öde.
Ehrlich gesagt warst du unterhaltsamer, als du noch mein Dealer warst. Du musst mir nicht das
Leben retten. Und auch sonst niemandem. Es geht uns allen bestens. Du brauchst nicht auf einem
weißen Pferd angeritten zu kommen. Du rettest niemanden.«
Sie sprachen verhältnismäßig leise, griffen aber immer ungestümer nacheinander und
wehrten einander ab, und Felix wurde klar, dass es jetzt passierte, dass es genauso schlimm war
wie erwartet, die gefürchtete Szene, die ihn monatelang von hier ferngehalten hatte, und das
Merkwürdigste war, er wusste ganz genau, wie sich Annie in diesem Moment fühlte – er war oft
genug in ihrer Position gewesen, mit seiner Mutter, mit anderen Frauen –, und je mehr er sie
verstand, desto mehr wollte er ihr entkommen, als wäre eine Niederlage, wie sie sie gerade erlitt,
eine Art Virus, mit dem man sich über Mitleid ansteckte.
»Du führst dich auf, als hätten wir ’ne Beziehung, aber das ist keine Beziehung. Ich hab
jetzt eine Beziehung – ich bin nur hergekommen, um dir das zu sagen. Aber das hier? Das ist
doch nichts, überhaupt gar nichts, das ist ...«
»Mein Gott, noch so ein scheußliches Wort! Der Himmel bewahre mich vor
›Beziehungen‹!«
Weil er jetzt nur noch wegwollte, spielte Felix seine vermeintliche Trumpfkarte aus. »Du
bist irgendwas über vierzig. Schau dich doch an. Du führst immer noch so ein Leben. Ich will
Kinder. Ich will weiterkommen.«
Annie rang sich eine Art Lachen ab. »›Noch mehr Kinder‹, meinst du wohl? Oder bist du
eins dieser optimistischen Gemüter, die glauben, sie würden alle sieben Jahre ein neuer Mensch,
wenn die Zellen sich einmal komplett erneuert haben – unbeschriebenes Blatt, Neustart, egal,
wen man verletzt, egal, was vorher war. Jetzt ist es Zeit für meine neue Beziehung!«
»Ich geh jetzt«, sagte Felix und entfernte sich.
»›Beziehung‹, was für ein heuchlerisches, jämmerliches Wort! Das ist was für Leute, die
nicht den Mumm haben, zu leben, und nicht die Fantasie, ihre fünf Dutzend Jahre und noch zehn
mit etwas anderem zu füllen als – «
Felix war klug genug, nicht darauf einzugehen: Er hatte keine Karten mehr übrig, und sie
spielte sowieso längst alleine. In dieser Stimmung hätte sie auch mit einem Garderobenständer
streiten können, mit einem Besen. Und woher sollte er wissen, wie viel sie schon intus gehabt
hatte, als er hier angekommen war? Jetzt wandte er sich von ihr ab und öffnete die Luke und stieg
nach unten, aber sie kam ihm nach.
»Das macht man so heutzutage, nicht? Wenn einem nichts anderes mehr einfällt, was man
sonst tun könnte. Keine Politik, keine Ideen, kein Mumm. Dann wird eben geheiratet. Aber ich
habe das alles hinter mir gelassen. Schon vor langer Zeit. Vor Äonen. Allein die Vorstellung,
dass das ganze Glück von diesem einen anderen Menschen abhängt. Allein die Vorstellung von
Glück! Ich bin auf einer anderen Bewusstseinsebene, mein Schatz! Ich habe so viel Mumm,
davon kann deine ganze Philosophie nur träumen. Ich war mit neunzehn verlobt, mit
dreiundzwanzig verlobt, ich könnte heute in irgendeiner Hütte in Hampshire verschimmeln und
mit irgendeinem Baron in schönster, sexfreier Harmonie über Sofabezüge diskutieren. So macht
man das in meinem Umfeld. Und in deinem Umfeld kriegt man haufenweise Kinder, die man
sich nicht leisten und die man nicht versorgen kann. Das ist sicher alles ganz wunderbar, aber ich
will damit nichts zu tun haben, verdammte Scheiße!«
Im Flur zwischen Schlafzimmer und Wohnraum drehte Felix sich um und packte sie an
beiden Handgelenken. Er zitterte. Bis dahin war ihm nicht klar gewesen, was er eigentlich wollte.
Nicht nur, dass sie verlor, sondern dass sie gar nicht mehr existierte.
»Du kannst froh sein, Felix, dass dir das Leben so leichtfällt. Du kannst froh sein, dass du
glücklich bist, dass du weißt, wie das geht mit dem Glücklichsein, dass du ein guter Mensch bist
– aber du willst, dass alle anderen auch so glücklich und gut sind wie du und dass ihnen alles
genau so leichtfällt wie dir. Kommt dir denn nie in den Sinn, dass manchen Leuten das Leben
nicht ganz so leichtfallen könnte wie dir?«
Sie machte ein triumphierendes Gesicht. Er sah ihren Kokser-Kiefer mahlen.
»Mein Leben? Mein Leben ist leicht?«
»Ich habe ja nicht gesagt, dass es leicht ist. Ich habe nur gesagt, es fällt dir leicht. Das ist
ein Unterschied. Das gefällt mir so am Ballett: Es ist für jeden gleich anstrengend. Lass mich los,
Felix, du tust mir weh.«
Felix ließ sie los. Wenn sie sich so lange berührten, selbst im Zorn, verflog der Zorn, und
sie wurden beide wieder weicher, sprachen leiser und wandten den Blick ab.
»Ich bin im Weg, das ist mir klar. Tja. Es ist ja nichts passiert. Womit ich natürlich meine:
Es ist jede Menge passiert.«
»Jedes Mal dasselbe Drama, wenn ich herkomme. Jedes Mal dasselbe Drama.« Felix
musterte kopfschüttelnd den Boden. »Ich kapier’s nicht. Ich war immer nur nett zu dir. Warum
willst du mir unbedingt mein Leben kaputt machen?«
Sie sah ihn durchdringend an.
»Das ist ja lustig«, sagte sie. »Aber klar, so muss es dir natürlich vorkommen.«
Danach gingen sie ganz ruhig zur Tür, der Mann ein Stück voraus. Ein zufällig
dazugestoßener Fremder hätte meinen können, der Mann habe erfolglos versucht, der Frau eine
Bibel anzudrehen oder ein mehrbändiges Lexikon. Felix seinerseits war sich absolut sicher, dass
diesmal das letzte Mal war – das letzte Mal, dass er an diesem Bild vorbeiging, das letzte Mal,
dass er diesen Riss im Putz sah –, und im Stillen sprach er ein kleines Dankgebet. Fast wünschte
er, er könnte der Frau, die er liebte, davon erzählen, weil es so ein großartiges Beispiel für all das
war, was er von ihr gelernt hatte. Das Universum will, dass man frei ist. Man muss sich von
allem Negativen befreien. Das Universum will nur, dass man fragt, dann wird einem auch
gegeben. Hinter sich hörte er die andere Frau leise weinen. Das war das Stichwort, sich
umzudrehen, aber er tat es nicht, und auf der Schwelle wurde das Weinen zum Schluchzen. Er
rannte zur Treppe und war schon ein paar Stufen hinunter, als ihm ein teppichdumpfer Aufprall
von oben sagte, dass sie auf die Knie gesunken war, und er wusste, er sollte sich deswegen
schlecht fühlen, aber in Wahrheit fühlte er sich wie jemand, der sich einem noch zu erfindenden
Vorgang namens Teilchentransfer unterzog: wunderbar und beglückend leicht.
NW6

Felix schob sich tiefer in den Waggon hinein. Er hielt sich an der Mittelstange fest.
Betrachtete den Tube-Plan. Der entsprach nicht seiner Wirklichkeit. Nicht ›Oxford Circus‹ war
das Zentrum, sondern die hellen Lichter der Kilburn High Road. ›Wimbledon‹ lag auf dem Land,
›Pimlico‹ war bloße Fantasie. Er legte den rechten Zeigefinger auf den blauen Pimlico-Streifen.
Das war Nirgendwo. Wer wohnte da? Wer kam da auch nur vorbei?
In einer Viererecke wurden zwei Plätze frei. Felix löste sich aus seinen Gedanken und
setzte sich. Der Typ gegenüber wippte mit dem Kopf zum lauten Break-Beat. Sein Freund neben
ihm legte die Füße auf den Sitz. Mit riesigen Pupillen lachte er hin und wieder in sich hinein,
amüsierte sich über seine private Trance. Felix schuf sich seinen eigenen Privatraum, spreizte die
Beine weit und fläzte sich hin. An der Finchley Road, wo die U-Bahn aus dem Untergrund kam,
erwachte sein Handy zum Leben und piepste, um einen verpassten Anruf anzuzeigen.
Hoffnungsvoll scrollte sein Daumen durch die Liste. Dieselbe Nummer, dreimal. Dafür gab es
auf der ganzen Welt nur eine physische Entsprechung: ein ramponiertes öffentliches Telefon, an
einer Wand befestigt, etwa in der Mitte eines kahlen Betonflurs. Er hatte es zahllose Male durch
die Panzerglasscheiben des Besucherraums gesehen. Er steckte das Handy wieder ein.

Mit Devon war es so: Man wollte mit ihm reden, aber gleichzeitig auch wieder nicht. Es
war ja auch nicht mehr Devon, sondern ein Fremder mit harter Stimme, der einen anrief und harte
Dinge sagte, verletzende Dinge. Jackie, die aus Devon sprach. Sie schrieb Devon Briefe. Das
wusste Felix von Lloyd (Devon hatte nichts erzählt, Felix nicht gefragt). Ihre Mutter entwickelte
eine seltsame Macht über Menschen – Felix wollte nicht ausschließen, dass Hexerei im Spiel
war. (Immerhin behauptete Jackie, eine ghanesische Großmutter zu haben, und so was kam dort
gar nicht selten vor.) Über Felix jedenfalls hatte sie Macht gehabt, früher einmal. Und über die
Mädchen. Aber sie war ein Mensch, bei dem immer irgendwann der ›letzte Tropfen‹ kam. Devon
würde das noch lernen müssen, so wie Felix und die Mädchen es gelernt hatten. Für Felix war das
Ende klar markiert. Ihr letzter ›Besuch‹ lag damals acht Jahre zurück. Die Mädchen weigerten
sich, sie zu sehen. Felix, gefühlsduselig wie immer, nahm sie bei sich auf, zögernd, ohne
irgendwelche Versprechungen zu machen. Als moralische Unterstützung lud er seinen Bruder
ein. Am Anfang des Abends stand Devon auf der anderen Seite des Zimmers, an die Wand
gelehnt, mit finsterem Blick. Am Ende hockte er gemütlich auf dem Sofa und ließ sich von Jackie
das Gesicht abküssen. Auch Felix wurde weich. Er holte den weißen Rum vom obersten Regal.
Idiotisch. Tia hatte es von Anfang an gesagt, Ruby auch. Und Lloyd. Alle hatten es gesagt.
Jackies Schwester Karen meinte: »Hör auf mich. Setz sie vor die Tür und lass das Schloss
auswechseln.« Aber damals sah es so aus, als machte Devons Einverständnis auch das von Felix
möglich – nötig sogar. Devon hatte all die Jahre über schließlich viel mehr ertragen müssen als
Felix, empfand aber keinen Groll.
Sie war im Hochsommer aufgetaucht. Tagelang kifften sie zusammen auf der Hampstead
Heath, lachten sich kaputt, kugelten im Gras herum wie Frischverliebte. Jackie, Devon, Felix.
Abends tranken sie bis spät in die Nacht. »Ich kann nicht fassen, wie hell der Junge ist! Schau
sich einer diese Löckchen an!« Als sie mit einer Packung Kekse aus der Küche kam, erzählte sie
dem armen Devon ganz beiläufig, sein Vater wäre vor ein paar Jahren gestorben – ertrunken. Für
Felix hörte sich das nach Lügengeschichte an. Er schwieg. Letztlich waren sie nur Halbbrüder:
Das ging ihn nichts an. Er hatte seinen eigenen Vater, seine eigenen Probleme. In den frühen
Morgenstunden stellte sie sich mitten ins Zimmer, wie auf die Bühne, und berichtete, wie einsam
und unglücklich sie als junge Frau in England gewesen sei. Davon hatte Felix noch nie gehört; er
stellte fest, dass er es hören wollte, obwohl ihm völlig klar war, dass sie an die Stelle dieser
Lebensgeschichte auch jede andere hätte setzen können und er sie ebenso bereitwillig akzeptiert
hätte. Er wollte sie lieben. Er versuchte, sich vorzustellen, wie es war, im berüchtigten Garvey
House zu leben, sich von den »Jungs von der National Front beim Einkaufen anspucken« zu
lassen. Sie referierte ihre diversen Verschwörungstheorien. Dabei unterbrach Felix sie nicht. Er
wollte glücklich sein. Eine handelte von den Zwillingstürmen. Eine von der Mondlandung. Die
Jungfrau Maria war eigentlich schwarz. Die Erde wurde immer kälter. 2012 würde alles vorbei
sein. Anscheinend hatte sie die letzten Jahre in sämtlichen Internetcafés des Landes zugebracht
und all diese Informationen zusammengetragen. Devon folgte ihr in jedem Punkt bereitwillig.
Felix, skeptischer, ließ es kommentarlos über sich ergehen. Sie hatte sich die Haare zu zwei
dicken Zöpfen geflochten wie eine Indianerin, trug ein dünnes, goldenes Stirnband. Und siehe, es
wird kommen die perfekte Welt der Zukunft, ganz ohne Geld und ohne Geschäfte, nur
Lagerhallen mitten in der Stadt, die alles enthalten, was man braucht, und keine Tür wird mehr
verschlossen sein. Die Leute werden alle zusammenleben, ohne jede Religion. Ihre Augen, das
wusste er, waren vom Wahnsinn vernebelt.
Am nächsten Tag war sie weg, samt Felix’ Bankkarte, seiner Armbanduhr und all seinen
Ketten. Zwei Monate später spazierte Devon in den Juwelierladen Khandi’s Gem Express and
Jewellery an der High Road, mit Curtis Ainger im Schlepptau, einem Jungen aus Süd-Kilburn,
und einer Pistole. Bitte lächeln, Sie werden von der Überwachungskamera gefilmt. Neunzehn war
er, als er da hineinging. Und diesen Sommer dreiundzwanzig.

»Entschuldigung, könnten Sie Ihren Freund vielleicht bitten, seine Füße wegzunehmen?«
Felix zog sich die Stöpsel aus den Ohren. Vor ihm stand eine Weiße, hochschwanger und
schwitzend.
»Ich würde mich gern hinsetzen«, sagte sie.
Felix musterte den reglosen »Freund« gegenüber und beschloss, dass es besser war, sich
an den anderen zu wenden. Er beugte sich vor. Der Typ hatte den Kopf an die Scheibe gelehnt,
selbstvergessen und halb hinter seiner Kapuze verborgen, und nickte zur Musik. Felix tippte ihm
leicht ans Knie.
»Hey, bruv – ich glaub, die Dame hier will sich setzen.«
Der Typ schob eine Hälfte seines wuchtigen Kopfhörers beiseite.
»Was?«
»Ich glaub, die Dame will sich setzen.«
Die Schwangere lächelte angespannt. Es war ziemlich heiß für diesen Zustand. Felix
brach schon der Schweiß aus, wenn er sie nur ansah.
»Ja? Und wieso sagst du mir das? Wieso grapschst du mich an?«
»Was?«
»Wieso sagst du mir das? Wieso sagt sie’s mir nicht selber?«
»Dein Kumpel hat die Füße auf ihrem Sitz, blud.«
»Und was geht dich das an? Was hängst du dich da rein? Und wen nennst du hier
eigentlich blud? Sind wir vielleicht verwandt?«
»Ich sag ja gar nicht, dass es mich ...«
»Geht’s dich was an? Du sitzt doch – steh du halt auf.« Felix wollte sich verteidigen; der
Junge wedelte ihm mit der Hand vor dem Gesicht. »Halt’s Maul – du Spast.«
Der andere Typ machte ein Auge auf und lachte leise. Felix stand auf.
»Setzen Sie sich – ich steig eh gleich aus.«
»Vielen Dank!« Felix sah, wie sehr sie zitterte, wie ihre Augen bereits schwammen. Er
schob sich zur Seite, um ihr Platz zu machen, und spürte die feuchte Haut ihres Arms an seinem.
Sie setzte sich. Sie sah die beiden Männer direkt an. Ihre Stimme bebte: »Sie sollten sich was
schämen«, sagte sie.
Sie fuhren in die Kilburn Station ein. Der ganze Wagen schwieg. Keiner sah her – oder
nur so rasch, dass die Blicke nicht wahrzunehmen waren. Felix spürte eine große Welle der
Zustimmung, erdrückend und ungewollt, die auf ihn zurollte, und ebenso deutlich die Verachtung
und Abscheu, die die beiden Typen umschloss, sie absonderte, von Felix, vom Rest des Wagens,
vom Rest der Menschheit. Anscheinend spürten sie es auch: Unvermittelt standen sie beide auf
und drängelten zur Tür, wo Felix bereits wartete. Er hörte den unvermeidlichen Schwall von
Flüchen, der sich gegen ihn richtete. Dankenswerterweise öffneten sich die Türen; Felix spürte,
wie er angerempelt wurde; er stolperte wie ein Tollpatsch auf den Bahnsteig. Gelächter, erst nah,
dann immer ferner. Als er aufschaute, sah er die Sohlen ihrer Turnschuhe immer zwei Stufen der
Treppe auf einmal nehmen, über die Absperrung schanzen und verschwinden.
Zottelige Baumkronen über ihm. Hecken, wildwuchernd über den Zäunen. Jeder Riss im
Asphalt, jede Baumwurzel. Wie die Sonne auf das Oberdeck der Linie 98 fällt. Vor der jüdischen
und vor der muslimischen Schule sind die Mauern höher geworden. Die Kilburn Tavern ist neu
gestrichen, glänzend schwarz mit goldenen Lettern. Wenn er sich beeilt, ist er vielleicht sogar vor
ihr daheim. Kann sich hinlegen, in diesem sauberen Zimmer, an diesem guten Ort. Sie an sich
ziehen. Noch einmal neu anfangen, ganz frisch.
Vor der Tavern sah Felix Hifan und Kelly, beide aus seinem Schuljahrgang, an einem
Picknicktisch sitzen und eine Portion Pommes essen – er mit Glatze, sie immer noch hübsch. Um
einen Lacher zu ernten, gab Felix Hifan eine High-Five, küsste Kelly auf die Wange, klaute eine
Fritte und ging weiter, alles in einer einzigen fließenden Bewegung, einer Art Tanz. »Was bringt
dich denn so gut drauf?«, rief Kelly ihm hinterher, und Felix rief, ohne sich umzudrehen: »Die
Liebe, shorty, die L. I. E. B. E. Die LIEBE!«, machte ein paar Hip-Hopper-Schritte und freute
sich an dem Gelächter, während er elegant um die Ecke bog. Keiner sah, wie er dort mit den
grauen Mülltonnen hinter dem Haus kollidierte. Er stützte sich mit einer Hand an der Hintertür
der Tavern ab, die jetzt einen schicken Buntglaseinsatz hatte und einen nagelneuen Türknauf aus
Messing. Holzböden, wo früher Teppiche waren, richtiges Essen statt Chips und Schweinespeck.
Fast sechs Pfund für ein Glas Wein! Jackie würde den Laden nicht wiedererkennen. Vielleicht
wäre sie jetzt ja eine der Exilanten auf den Stufen des Wettbüros, eine Dose Special Brew in der
Hand, von den Renovierungsarbeiten aus den Pubs vertrieben. Vielleicht war es aber auch nie so
schlimm mit ihr gewesen. Bei Lloyd konnte man nie sicher sein, was wirklich stimmte und was
bloßes Gift war. Felix schaute durch das Fenster ins Innere: keine samtbezogene Sitzecke mehr.
Dort hatte er mit seinen Schwestern gesessen, sechs kleine Füße, die noch nicht bis zum Boden
reichten, und voller Ernst Jackies Abschiedsrede gelauscht. Ein neuer Mann, den sie
kennengelernt hatte und mit dem sie sich frei fühlte. Er lebte in Southhampton, ein Weißer. Mit
sieben weiß man noch nichts. Felix wusste nicht, dass man Freiheit auch fühlen kann. Er hatte
immer gedacht, frei wäre man einfach. Er wusste auch nicht, wo Southhampton war. Er hatte
seinen Vater lieb und wollte nicht fort und bei einem fremden Weißen wohnen. Erst als das
Gespräch fast zu Ende war, erkannte Felix, dass sie ihn gar nicht mit nach Southhampton nehmen
wollte. Zwei Jahre später tauchte sie mit einem kleinen hellbraunen Jungen wieder in London
auf. Ließ Devon bei Lloyd und ging – wohin auch immer. Wohin auch immer sie ging.

Auf der Albert Road fiel Felix in Gleichschritt hinter einer großen jungen Frau in enger
roter Jeans und schwarzem Spaghettiträger-Top. Sie hatte breite Schultern und einen stämmigen
Oberkörper. Sie war muskulöser als Felix, und beim Gehen bewegten sich alle ihre Muskeln
gemeinsam, fließend und komplex: die Arme, die mit dem Rücken verbunden waren und mit dem
Hintern und mit den Hüften. Ganz anders als Grace, die kleiner und kurviger und weicher war.
Diese Frau hätte Felix hochheben und den ganzen Weg bis nach Hause tragen können und ihn
vor seiner Tür absetzen wie ein Baby. An den Fingern hatte sie viele billige Silberringe, die auf
der Innenseite schon Grünspan ansetzten, und auf einen Unterarm hatte sie eine Blume mit
langem, schwungvollem Stengel tätowiert. Ihre Fersen waren trocken und aufgesprungen. Hinten
aus dem Top schaute das Etikett hervor. Ob er es reinschieben sollte? Ein Schweißfädchen lief
ihr vom Ohr den Hals entlang und bis zum Rücken hinunter, genau auf der muskelbepackten
Grenze, klar definiert, zwischen linker und rechter Körperhälfte. Ihr Handy klingelte. Sie ging
ran, nannte jemanden »Baby«. Bog rechts ab. Ein anderes Leben. Felix spürte, wie sich zwei
Finger in seinen Rücken bohrten.
»Geld. Handy. Los.«
Sie standen rechts und links von ihm. Die Kapuzen hochgezogen, aber trotzdem klar
erkennbar. Die Typen aus der U-Bahn. Kaum größer als er. Auch nicht viel breiter. Es war gerade
achtzehn Uhr.
»LOS!«
Er spürte, wie er angerempelt, geschubst wurde. Er sah in ihre Gesichter. Der Redselige,
von dem die ganzen Beschimpfungen gekommen waren, war noch richtig jung; der andere, der
Stille, eher in Felix’ Alter und zu erwachsen für solchen Quatsch. Er hatte aschgraue Hände, so
wie Felix, und denselben trüben Glanz im Gesicht. Über seine Wange zog sich eine Narbe. Er
war wohl irgendwie aus der Gegend, kam ihm bekannt vor. Felix wollte sich wegdrehen, doch sie
zerrten ihn wieder zu sich herum. Er beschimpfte sie ausführlich und kreativ und sah nach rechts:
Vier Häuser weiter schob die große Frau den Schlüssel ins Schloss und ging hinein.
»Passt auf, ihr kriegt nichts von mir. Null!«
Er fand sich auf dem Boden wieder. Während er sich auf die Knie hochrappelte, hörte er
den einen sagen: »In der Tube den großen Macker markieren. Jetzt ist er kein großer Macker
mehr.« Und statt Angst überkam ihn ein Gefühl von Mitleid; er wusste noch, wie es war, als
nichts anderes gezählt hatte, als der große Macker zu sein. Er griff sich in die Taschen. Sollten sie
sein Handy ruhig haben. Wenn nötig auch den einsamen Zwanziger. Er war oft genug überfallen
worden und kannte den Ablauf. Früher, als er jünger war, hätten sie noch sein Ego gekränkt; jetzt
war der alte Zorn, die alte Demütigung verschwunden – sollten sie doch alles haben. Das
eigentlich Wichtige war anderswo. Er versuchte zu lachen, als er ihnen seine mageren
Wertsachen hinhielt: »Vor zwei Stunden hättet ihr mich erwischen müssen, Jungs. Vor zwei
Stunden hatte ich richtig Schotter dabei.« Der Junge sah ihn aus leblosen Augen an, die Miene
zur bösen Schnute erstarrt. Die Maske war nötig, sonst hätte er nicht tun können, was er tat. »Und
die Steine«, sagte der Junge. Felix fasste sich an die Ohren. Seine geliebten Zirkonias, die Grace
ihm geschenkt hatte.
»Träum weiter«, sagte er.
Noch einmal wandte er sich zur Straße. Ein Windstoß zog über alle drei hinweg, blähte
ihre Kapuzen und wirbelte eine Wolke Ahornblätter über den Gehsteig. Ein kräftiger Schlag traf
ihn in die Seite. Ein Schlag? Der Schmerz durchschnitt ihn von links, bis tief hinein, bis weit
nach unten. Warme Flüssigkeit stieg ihm die Kehle hoch. Quoll ihm über die Lippen. Aber
solange er es noch benennen konnte, konnte es nicht das Nichts sein, und mit diesem Gedanken
im Kopf sagte er laut, was ihm geschehen war, was ihm geschah, er versuchte, es laut zu sagen,
er sagte nichts. Grace! Über die Willesden Lane rumpelte ein Bus heran; im selben Moment, als
Felix den Griff und die Klinge registrierte, sah er auch, wie der Bus der Linie 98 seine Türen
noch einmal öffnete, um die letzte Menschenseele in Sichtweite einzulassen – ein kleines
Mädchen im gelben Sommerkleid. Sie flitzte heran, die Fahrkarte hoch über dem Kopf, als wollte
sie damit irgendwas beweisen, kam gerade noch rechtzeitig an, rief: »Danke!«, und die Türen
schlossen sich fest hinter ihr.
Gastgeberin
1. Diese roten Zöpfe

Es hatte ein Ereignis gegeben. Davon zu berichten, erforderte das Plusquamperfekt.


Keisha Blake und Leah Hanwell, die Hauptakteurinnen bei dem Ereignis, waren vierjährige
Kinder gewesen. Das Freibad – eigentlich nur eine flache Mulde im Park, an der tiefsten Stelle
einen halben Meter tief – war voller Kinder, die »überall herumplanschten und verrücktspielten«.
Zum Zeitpunkt des Ereignisses gab es noch keinen Bademeister, und es blieb den Eltern
überlassen, aufzupassen, so gut es ging. »Oben auf dem Hügel, auf der Heath, da hatten sie
natürlich einen Bademeister. Aber nicht bei uns.« Das war ein aufschlussreiches Detail. Keisha –
inzwischen zehn und hochinteressiert an den Spannungen zwischen Erwachsenen – versuchte,
seine Bedeutung zu ergründen. »Träum nicht. Hoch mit dem Fuß«, sagte ihre Mutter. Sie saßen
auf einer Bank im Schuhgeschäft an der Kilburn High Road, und Keisha musste langweilige
braune Schuhe mit T-Riemen anprobieren, die nichts von der Freude ausdrückten, die es auf
dieser Welt sicherlich auch geben musste, trotz allem. »Ich hatte mit Cheryl zu tun, die sich in
einer Ecke aufführte, und den brüllenden Jayden auf dem Arm, und musste noch schauen, wo du
bist, irgendwie den Überblick behalten ...« In diese Auslassung fiel das Ereignis: Ein Kind wäre
fast ertrunken. Bedeutend war das Ereignis aber aus einem anderen Grund. »Da kamst du
plötzlich hoch, mit diesen roten Zöpfen in der Hand. Du hast sie rausgezogen. Du hast als Einzige
gemerkt, dass sie in Gefahr ist.« Nach dem Ereignis hatte sich die Mutter des Kindes, eine Irin,
unzählige Male bei Marcia Blake bedankt, und das war in sich schon fast wieder ein eigenes
Ereignis. »Ich kannte Pauline vom Sehen, hatte aber nie mit ihr geredet. Sie hat mich damals
immer ziemlich von oben herab behandelt.« Keisha konnte dem Bericht weder widersprechen
noch zustimmen – sie hatte keine Erinnerung daran. Die enthaltenen Vorausdeutungen waren
allerdings als verdächtig zu werten. Ihre eigene viel gepriesene Willenskraft und Umsicht, die
sich darin so klar erwies, und Cheryl schon damals wild und unzuverlässig. Außerdem konnte es
Jayden zum Zeitpunkt des Ereignisses noch gar nicht gegeben haben, weil er fünf Jahre jünger
war als Keisha. »Halt jetzt still«, brummte Marcia und schob die Eisenstange nach unten, den
Zehen ihrer Tochter entgegen.
2. Kiwis

In der tödlichen Stille der Hanwell’schen Wohnung war der Nachmittagsimbiss ein
Höhepunkt. Mrs Hanwell nahm ihn sehr ernst und besaß zu diesem Zweck einen Servierwagen.
Dreistöckig, mit beweglichen Messingrädern. Er war so niedrig, dass man ihn nicht schieben
konnte, ohne sich dabei irrwitzig zu verbiegen. »Für zwei lohnt es sich nicht, das alles
aufzufahren, aber wenn wir zu dritt sind, mache ich das gerne.« Keisha Blake saß im
Schneidersitz vor dem Fernseher, neben ihrer guten Freundin Leah Hanwell, mit der sie ein
dramatisches Ereignis verband. Sie wandte den Kopf, um das Herannahen des Servierwagens zu
überwachen: Essen begeisterte Keisha Blake, und sie freute sich darauf mehr als auf alles andere.
Mrs Hanwell verstellte den Mädchen die Sicht und richtete eine Frage an den Fernseher: »Was
sind denn das alles für gefährliche Gesellen in dem Laster?« Leah drehte lauter. Sie zeigte zum
Fernseher, auf Hannibals leuchtend weißes Haar, und dann auf ihre reale Mutter. »Solche Haare
machen ganz schön alt«, sagte sie. Keisha versuchte sich vorzustellen, wie sie etwas Derartiges
zu ihrer eigenen Mutter sagte. Schweigend betrauerte sie den Verlust des Tellers mit den Keksen
und des Unbekannten, das diese pelzigen braunen Eier bargen. Sie stellte die Füße
nebeneinander, bereit, aufzustehen und nach Hause zu gehen. Doch Mrs Hanwell fing nicht an zu
brüllen oder zuzuschlagen. Sie fasste sich nur an ihren Haarhelm und seufzte. »So sind sie, seit
ich dich bekommen habe.«
3. Löcher

Der Stock blockierte die Aufzugtüren – das war der ganze Sinn der Übung gewesen. Der
Alarm ging los. Alle drei Kinder rannten kreischend und kichernd die Treppe hinunter, die
Steigung hoch und über die Außenmauer, wo sie sich auf der anderen Seite auf den Bürgersteig
hockten. Nathan Bogle zog die Knie bis zum Kinn und legte die Arme darum. »Wie viele Löcher
habt ihr?«, fragte er. Die Mädchen schwiegen beide. »Was?«, fragte Leah schließlich. »Da unten
–« er zeigte zur Verdeutlichung auf Keishas Schritt – »wie viele sind das? Wisst ihr ja gar nicht.«
Keisha wagte es, den Blick von der Straße zu ihrer Freundin zu heben. Leah war hoffnungslos rot
im Gesicht. »Das weiß doch jeder«, konterte Keisha Blake, während sie gleichzeitig versuchte,
den zusätzlichen Mut aufzubringen, von dem sie spürte, dass er hier erforderlich war. »Hau doch
ab und find’s selber raus.« »Du weißt es nicht«, folgerte Nathan, und Leah sprang plötzlich auf
und trat ihm gegens Schienbein und schrie: »Weiß sie doch!«, und nahm Keisha bei der Hand
und rannte mit ihr in die Wohnung zurück, Hand in Hand den ganzen Weg, weil sie beste
Freundinnen waren, bis an ihr Lebensende verbunden durch ein dramatisches Ereignis, und das
konnte ruhig jeder in Caldwell wissen.
4. Verunsicherung

Sie fanden Cheryl vor dem Fernseher, wo sie sich die Haare zu kleinen Zöpfchen flocht,
vom Hinterkopf bis nach vorne. Keisha Blake verlangte von ihrer großen Schwester zu wissen,
wie viele Löcher da wären. Es war nicht schön, von Cheryl ausgelacht zu werden. Ihr Lachen war
laut und erbarmungslos und speiste sich aus der Scham des Gegenübers.
5. Weltanschauliche Unstimmigkeiten

Keisha Blake wollte ein Umfeld schaffen, wie sie es bei den Hanwells erlebte. Tassen,
Teebeutel, dann Wasser und dann – erst dann! – die Milch. Auf einem Tablett. Ihre Mutter war
der Ansicht, dass jeder, der so oft bei anderen Leuten war wie Leah Hanwell bei den Blakes, das
Recht verwirkte, noch Gast zu sein, und einfach wie ein weiteres Familienmitglied zu behandeln
sei, inklusive aller Freiheiten und Pflichten, die das mit sich brachte. Cheryl vertrat eine dritte
Meinung: »Sie hängt ständig hier rum. Gefällt’s ihr zu Hause nicht? Und was benutzt sie ständig
meine Schminksachen? Für wen hält die sich eigentlich?«
»Mum, hast du ein Tablett?«
»Bring’s einfach so zu ihr rein. Herrgott!«
6. Ein paar Antworten

Keisha Blake Leah Hanwell Lila Gelb Cameo, Culture Club, Bob Marley
Madonna, Culture Club, Thompson Twins Lieber das Geld Lieber richtig
berühmt Michael Jackson Harrison Ford Keinen. Wenn ich muss, dann
Rahim Streng geheim: Nathan Bogle Weiß nicht Gänseblümchen oder
Butterblumen Ärztin oder Missionarin Managerin Leah Hanwell Keisha
Blake Weltfrieden in Südafrika Keine Bomben mehr Taub Taub Hurricane
Der König von Narnia E.T. E.T. 7. Fischmac, große Pommes, Apfeltasche

In Caldwell herrschte die Ansicht, dass Klempner ausgesprochen gut verdienten. Keisha
konnte das nicht so recht bestätigen. Entweder war der persönliche Reichtum von Klempnern ein
Mythos, oder ihr Vater war einfach unfähig. Sie hatte sogar schon um Arbeit für Augustus Blake
gebetet, ohne Erfolg. Jetzt war der Samstag halb vorbei, und jede Nachricht von undichten
Rohren oder verstopften Toiletten blieb aus. In Zeiten der Anspannung stand Augustus Blake
immer auf dem Balkon und rauchte Lambert & Butlers, und genau das tat er jetzt. Keisha konnte
nicht sagen, ob Leah die Belastung des nicht klingelnden Telefons ebenso spürte wie die anderen.
Die beiden Mädchen lagen bäuchlings vor dem Fernseher. Seit vier Stunden schauten sie
Frühstücksfernsehen und Zeichentricksendungen. Über jede einzelne machten sie sich lustig und
verdarben Jayden den ganzen Spaß, aber es gab nun mal keine andere Möglichkeit, voreinander
zu rechtfertigen, dass sie dieselbe Sendung schauen wollten wie ein Sechsjähriger. Als die
Mittagsnachrichten anfingen, kam Gus herein und wollte wissen, wo Cheryl sei.
»Weg.«
»Selber schuld.«
Quietschen und freudiges Im-Kreis-Hüpfen. Abgesehen davon, dass die Situation Marcia
einen Punktsieg bescherte – »Sieh mal an, wie schnell ihr euch plötzlich fertig machen könnt,
wenn’s wo hingeht, wo ihr hinwollt« –, war die Freude ungebremst, und alles verbündete sich,
um sie noch zu vergrößern: Marcia zwang sie nicht, auf der High Road mit jeder einzelnen
Bekannten aus der Kirche zu reden, und Gus nannte Keisha »Madam Eins« und Leah »Madam
Zwei« und wurde auch nicht sauer, als Jayden vorausrannte zu den beiden Zwillingsbögen des
goldenen M.
8. Röntgenassistenz

Aber auf dem Heimweg trafen sie Pauline Hanwell, allein, mit ihrem Einkaufsrolli. Sie
sah tatsächlich aus wie der Schauspieler George Peppard. Jayden streckte ihr das Spielzeug aus
seinem Happy Meal entgegen. Aber Mrs Hanwell sah es gar nicht – sie sah Leah an. Keisha
Blake schaute zu ihrer Freundin Leah Hanwell und sah, wie ihr die Röte den Hals hinaufstieg.
Mrs Blake fragte Mrs Hanwell, wie es ihr gehe, und Mrs Hanwell sagte gut, und auch die
Gegenfrage wurde gestellt, mit demselben Ergebnis. Mrs Hanwell war Krankenschwester im
Royal Free Hospital und Mrs Blake Gesundheitsberaterin im Auftrag des St. Mary’s in
Paddington. Keine der beiden Frauen konnte sich irgendwie dem Bürgertum zurechnen, aber sie
sahen sich auch nicht als Arbeiterschicht. Sie plauderten kurz über den National Health Service,
mit einer Mischung aus Ablehnung und Stolz. Mrs Hanwell erzählte den Blakes, dass sie eine
Umschulung zur Röntgenassistentin mache, und Keisha war sich nicht sicher, ob Mrs Hanwell
wusste, dass sie ihnen genau das schon vor ein paar Tagen bei den Mülltonnen erzählt hatte.
»Übrigens, Augustus, Colin meinte, er kann Ihnen helfen, wenn Sie diese Parkgenehmigung für
Ihren Transporter noch wollen.« Mr Colin Hanwell arbeitete bei der Bezirksverwaltung. Er war
hauptsächlich für Fahrradsicherheit zuständig, besaß aber auch einen gewissen Einfluss in
Parkplatzfragen. Keisha dachte: Und jetzt sagt sie, sie ist unterwegs zu Marks & Sparks, und als
sie das tatsächlich sagte, durchzuckte Keisha ein unvergessliches Gefühl urheberischer Allmacht.
Vielleicht konnte sie die Welt ja wirklich nach ihren Vorstellungen gestalten. »Leah«, sagte Mrs
Hanwell, »kommst du mit?« Und Keisha Blake erlebte die Lücke zwischen dieser Frage und der
Antwort darauf als unerträgliche Anspannung, die ihre Fähigkeit, ihr standzuhalten, bei Weitem
überstieg und sich fast endlos in die Länge zog.
9. Verwirrt

Was sie einmal angefangen hatte, das musste Keisha Blake auch zu Ende bringen, das lag
auf der Hand. Wenn sie auf die Mauer rund um die Siedlung Caldwell kletterte, musste sie sie
auch ganz entlangbalancieren, egal, was für Hindernisse ihr in den Weg kamen (Bierdosen,
Baumäste). Auf andere Gebiete übertragen, äußerte sich dieses Zwangsverhalten als
»Intelligenz«. Jedes Wort, das sie nicht kannte, ließ sie zum Lexikon greifen – wo sie eine Art
»Vollendung« zu finden hoffte –, und jedes Buch zog das nächste nach sich, ein Vorgang, der
sich natürlich nie vollenden ließ. Wie nicht anders zu erwarten, verschaffte ihr dieser Weg durchs
Leben keine geringe Freude, und anfangs sah es tatsächlich so aus, als wären ihre Wünsche und
ihre Fähigkeiten grundsätzlich im Einklang. Sie wollte lesen, konnte dem Lesedrang einfach
nicht widerstehen, und das war leicht zu bewerkstelligen und vergleichsweise billig. Gleichzeitig
war sie aber verblüfft darüber, dass sie für solche reflexhaften Gewohnheiten gelobt wurde, denn
sie wusste schließlich, dass sie sich bei vielen anderen Dingen ungeheuer blöd anstellte. War es
nicht denkbar, dass das, was alle fälschlich für Intelligenz hielten, nur eine Art Mutation der
Willenskraft darstellte? Sie konnte einfach länger still sitzen als andere Kinder, sich stundenlang
klaglos langweilen und hingebungsvoll auch noch das allerletzte Eckchen der Malbücher
ausmalen, die Augustus Blake ihr manchmal mitbrachte. Sie konnte nichts für diese
Willensmutation – genauso wenig wie für die Form ihrer Füße oder dafür, in welcher Straße sie
geboren war. Aus Zufälligkeiten zog sie keine echte Befriedigung. Und so entstand ein Bruch im
Geist des Kindes: zwischen dem, was sie wesentlich über sich zu wissen glaubte, und dem, was
andere als ihr Wesen wahrnahmen. Sie fing an, ihr Leben für andere zu führen, und wenn sie
einmal eine Frage gestellt bekam, auf die sie keine Antwort wusste, pflegte sie die Arme vor dem
Körper zu verschränken und in die Luft zu schauen. Als wäre die Frage viel zu banal, um sich
ausführlich damit zu befassen.
10. Radio, sprich

Zufall? Auch Zufälle haben ihre Grenzen. Der Moderator in Colin Hanwells Küchenradio
konnte doch nicht ständig bei den Zwischenansagen sein. Er konnte nicht jedes Mal, wenn
Keisha Blake die Küche der Hanwells betrat, bei einer Zwischenansage sein. Sie forschte nach.
Doch Leahs Vater, der an der Arbeitsfläche stand und Erbsen aus ihren Schoten pulte, verstand
nicht einmal die Frage.
»Wie meinst du das? Da gibt es keine Musik. Das ist Radio 4, der Kultursender. Da wird
nur geredet.«
Ein früher Beweis für den Wahrheitsgehalt des Spruchs: »Das Leben schreibt oft die
seltsamsten Geschichten.«
11. Push It
Es war Keisha Blake nie in den Sinn gekommen, dass ihre Freundin Leah Hanwell eine
bestimmte Persönlichkeit besitzen könnte. Wie bei den meisten Kindern fußte auch ihr Verhältnis
auf Verben, nicht auf Substantiven. Leah Hanwell war ein Mensch, der bereit und willens war,
diverse Dinge zu tun, die auch Keisha Blake bereit und willens zu tun war. Gemeinsam rannten,
hüpften, tanzten, sangen, badeten, malten, radelten sie, schoben Nathan Bogle einen
Valentinsgruß unter der Tür durch, lasen Zeitschriften, teilten sich eine Portion Pommes, mopsten
eine Zigarette, lasen Cheryls Tagebuch, kritzelten das Wort FUCK auf die erste Seite einer Bibel,
versuchten, Der Exorzist aus der Videothek auszuleihen, sahen zu, wie eine Prostituierte oder ein
Flittchen oder einfach nur eine total verliebte junge Frau jemandem in einer Telefonzelle einen
blies, entdeckten Cheryls Dope-Vorrat, entdeckten Cheryls Wodka, rasierten Leah den Unterarm
mit Cheryls Rasierer, machten den Moonwalk, guckten sich den obszönen Tanz ab, den
Salt’n’Pepa berühmt gemacht hatten, und noch viele solcher Dinge mehr. Aber jetzt waren sie
nicht mehr auf der Quinton Primary, sondern auf der Brayton Comprehensive, wo plötzlich jeder
eine eigene Persönlichkeit hatte, und so betrachtete Keisha Leah und versuchte zu ergründen, wie
ihre Persönlichkeit aussah.
12. Porträt

Ein großherziger Mensch, voller Offenheit für die ganze Welt – vielleicht mit Ausnahme
der eigenen Mutter. Erst aß sie keinen Thunfisch mehr wegen der Delfine und jetzt überhaupt
kein Fleisch mehr wegen der Tiere allgemein. Wenn draußen vor dem Supermarkt in
Cricklewood ein Obdachloser saß, musste Keisha Blake warten, bis Leah Hanwell mit dem
Obdachlosen geredet hatte, wobei sie ihn nicht einfach nur fragte, ob er etwas brauche, sondern
sich richtig ernsthaft mit ihm unterhielt. Dass sie mit ihren Eltern sehr viel schroffer umsprang als
mit Obdachlosen, bewies nur, dass Großherzigkeit nicht in endlosen Mengen vorhanden und
deshalb strategisch dort einzusetzen war, wo sie am dringendsten gebraucht wurde. Auf der
Brayton war sie mit allen befreundet, ohne Unterschied und Grenzen, doch weder raubten die
hoffnungslosen Fälle ihr den Stand bei den Beliebten noch umgekehrt, und wie ihr das gelang,
war Keisha Blake ein Rätsel. Etwas von dieser universellen Freundlichkeit färbte auch auf Keisha
ab, doch keiner lief je Gefahr, Keishas intellektuellen Eigensinn mit der inneren Großzügigkeit
ihrer Freundin zu verwechseln.
13. Kies

Als sie mit einem Mädchen namens Anita von der Schule nach Hause gingen, bekamen
Keisha Blake und Leah Hanwell eine schreckliche Geschichte zu hören. Anitas Mutter war 1976
von ihrem Cousin vergewaltigt worden, und dieser Mann war Anitas Vater. Er war ins Gefängnis
und dann wieder rausgekommen, und Anita war ihm nie begegnet und wollte das auch nicht.
Manche ihrer Verwandten glaubten, dass ihr Vater ihre Mutter vergewaltigt hatte, und andere
glaubten das nicht. Es war eine Familientragödie, aber auch irgendwie eine prickelnde
Gruselgeschichte, denn wer konnte schon sagen, ob Anitas Vergewaltiger-Vater nicht hier mitten
in NW lebte und/oder sie just in diesem Moment von irgendeinem Aussichtspunkt beobachtete?
Die drei Mädchen blieben auf dem kiesbedeckten Vorplatz der Kirche stehen und setzten sich auf
eine Bank. Anita weinte, und Leah weinte mit. Anita fragte: »Wie soll ich wissen, welcher Teil
von mir der böse ist?« Aber Keisha Blake gab wenig auf elterliches Erbe; sie war felsenfest
davon überzeugt, selbst in keiner Hinsicht das Produkt ihrer Eltern zu sein, und konnte folglich
auch nicht ernsthaft glauben, dass irgendjemand sonst das Produkt der seinen sein sollte. Ihr
hartnäckigster Tagtraum bestand sogar darin, keinen Vater und/oder keine Mutter zu haben, und
sie mochte die Kinderbücher am meisten, in denen die Hauptfigur nach irgendeiner
elternbezogenen Katastrophe mit einer fürchterlichen Freiheit zurückblieb. Mit dem linken
Turnschuh malte sie eine Acht auf den Boden und dachte über die Corn Laws von 1804 nach, zu
denen sie bis zum nächsten Tag noch zwei Seiten schreiben musste.
14. Dieses obskure Objekt der Begierde

Die rot-weiße Luftpolstertechnologie der griechischen Siegesgöttin. Keisha Blake legte


die Hand an die extrastarke Schaufensterscheibe. Getrennt vom Glück. Überall war sie, die Luft,
gratis und umsonst, doch Keisha begehrte sie erst, seit sie so definiert, so verfeinert, so sichtbar
gemacht war. Das unendlich verfügbare Gut, gefangen in der Sohle eines Schuhs! So viel
Kühnheit musste man einfach bewundern. Neunundneunzig Pfund. Vielleicht an Weihnachten.
15. Evian

Dasselbe war auch mit dem Wasser geschehen. Als Marcia Blake die Flasche entdeckte,
die unter einer Tüte Möhren versteckt lag, beschimpfte sie Keisha Blake, riss die Flasche aus dem
Einkaufswagen und stellte sie ins falsche Regal zurück, zwischen die Marmelade.
16. Der neue Stundenplan

»Schau mal. Er ist bei dir in Französisch. Und im Theater-Kurs.«


»Wer?«
»Nathan!«
»Bogle? Na und?«
»!«
»Mein Gott, Keisha. Da waren wir doch noch Kinder. Manchmal kannst du echt doof
sein.«
17. General Certificate of Secondary Education

Im Büro von Keisha Blakes Jahrgangsleiter hingen Baseballkappen und unpassende


Schmuckstücke an der Wand, die konfisziert worden waren. Keisha Blake war nicht herbestellt
worden, um einen Verweis zu kassieren, sie war von selbst gekommen, um ihre Möglichkeiten
für die Prüfungen zu besprechen, die noch drei Jahre in der Zukunft lagen. Eigentlich wollte sie
gar nicht über die Prüfungen reden, sondern einfach nur als jemand wahrgenommen werden, der
sich drei Jahre im Voraus über die wichtigen Dinge im Leben Gedanken macht. Als sie gerade
gehen wollte, sah sie eine silberne Kette, an der eine kleine, mit Strasssteinen besetzte Pistole
baumelte. »Die gehört meiner Schwester«, sagte sie. »Ach ja?«, meinte der Lehrer und sah zum
Fenster hinaus. Keisha ließ nicht locker: »Sie ist gar nicht mehr hier. Sie ist geflogen.« Der
Lehrer runzelte die Stirn. Er nahm die Kette von der Wand und reichte sie Keisha. Er sagte:
»Schwer zu glauben, dass du überhaupt mit Cheryl Blake verwandt bist.«
18. Sony-Walkman (geliehen)
Dass es Keisha möglich sein sollte, Rebel MC zu hören und gleichzeitig die Willesden
Lane entlangzugehen, grenzte an ein Wunder, an eine Form moderner Ekstase, und doch ließ der
Tag wenig Raum für etwas wie Ekstase oder Ausgelassenheit oder schlichtes Faulenzen, denn
was immer man mit seinem Leben anstellte, man musste doppelt so gut sein wie die, »um’s
überhaupt zu schaffen«, eine verstörende Überzeugung, vertreten sowohl von Keisha Blakes
Mutter als auch von ihrem Onkel Jeffrey, der allgemein als »begabt« galt, aber auch als
»unmöglich«.
19. Exkurs in die Vorvergangenheit

(Manchmal lauerte Jeffrey – der nicht in die Kirche ging – seiner dreizehnjährigen Nichte
auf und erzählte ihr verwirrende Dinge. »Schlag’s nach! Schlag’s nach!«, hatte er gestern, auf
Cousine Gales Hochzeit, zu ihr gesagt. Keisha konnte nur vermuten, dass er sich auf ein früheres
Gespräch bezog, das etliche Wochen zurücklag. Folglich musste er meinen: »Schlag die
Praktiken der CIA nach, verarmte Schwarzenviertel mit Crack zu überschwemmen, und du wirst
sehen, dass ich recht habe.« Aber wie? Und wo?)
20. Sony-Walkman, die zweite

Dass zwei so unterschiedliche Persönlichkeiten wie ihre Mutter und Onkel Jeffrey
dieselbe Meinung vertraten, gab dieser Meinung ein gewisses Gewicht. Aber es würde doch
sicher keiner Keisha Blake das aktuelle Glück missgönnen, zur Musik zu denken? Ach, dieser
Freiluft-Soundtrack! Ach, dieses musikuntermalte Dasein!
21. Jane Eyre

Wenn sie gequält wurde, fand Keisha Blake es äußerst hilfreich, sich die einschlägige
Literatur und die zweckdienlichen Filme zu vergegenwärtigen, die einen rasch lehrten, dass
Gequältwerden praktisch gleichbedeutend war mit einer überlegenen Persönlichkeit, und je
heftiger man gequält wurde, desto sicherer wurde einem das am anderen Ende des Lebens
vergolten, wenn Qualitäten, wie Keisha Blake sie besaß – Klugheit, Wille zur Macht –, sich
auszahlten, und das galt auch dann noch, wenn die Leute aus der Literatur und den Filmen ganz
anders aussahen als man selbst, aus anderen sozioökonomischen und historischen Welten
stammten und einen – wenn sie einem je begegnet wären – vermutlich versklavt oder bestenfalls
genauso sehr gequält hätten, wie Lorna Mackenzie es tat, die einfach nicht damit umgehen
konnte, wenn man sich benahm, als wäre man besser als die anderen.
22. Zitat

Weitere Belege dieses Prinzips fanden sich außerdem in der Bibel.


23. Spectrum 128k

Zum vierzehnten Geburtstag bekam Leah einen Heimcomputer. Keisha Blake las die
beigefügte Anleitung und fand heraus, wie man eine Reihe grundlegender Befehle so
programmieren konnte, dass auf bestimmte Eingaben hin Text auf dem Monitor erschien, als
würde der Computer mit einem »reden«. Sie schrieben ein Programm für Mr Hanwell:
>> WIE HEISST DU?
»Und das soll ich jetzt da reinschreiben? Da komme ich mir aber richtig albern vor.«
>> COLIN ALBERT HANWELL
>> FREUT MICH, DICH KENNENZULERNEN, COLIN.
»Das ist ja allerhand! Hast du das gemacht, Keisha? Wie macht ihr so was bloß? Ihr seid
mir ja langsam haushoch überlegen. Pauline, komm und sieh dir das an, das glaubst du nicht!«
Nachdem sie die Hanwells ausreichend beeindruckt hatten, schrieben sie noch ein
Programm zu ihrer eigenen Erbauung:
>> WIE HEISST DU?
>> LEAH HANWELL
>> ACH JA? INTERESSIERT MICH NEN SCHEISSDRECK.
24. Die 37

Sonntags ging Keisha Blake mit der ganzen Familie, außer Cheryl, in die
Pfingstgemeinde von Kilburn, und Leah kam häufig mit, nicht weil sie in irgendeiner Form
gläubig gewesen wäre, sondern vielmehr aufgrund der oben geschilderten inneren Großzügigkeit.
Jetzt, wo die Mädchen vierzehn waren, kristallisierte sich ein neues Muster heraus. Wenn sie an
die Ecke mit dem McDonald’s kamen, sagte Leah Hanwell zu Keisha Blake: »Weißt du, ich
glaube, ich nehme vielleicht doch die 37 und fahre zum Lock und treffe die Leute dort.«
»Meinetwegen«, sagte Keisha Blake. Den Sommer über hatte es Bestrebungen gegeben, die
Leute dort am Camden Lock mit den Leuten hier in Caldwell zusammenzubringen, doch Keisha
Blake interessierte sich nicht sonderlich für Baudelaire oder für Bukowski oder für Nick Drake
oder für Sonic Youth oder für Joy Division oder für Jungs, die aussahen wie Mädchen und
umgekehrt, oder für Anne Rice oder für William Burroughs oder für Kafkas Verwandlung oder
für die Anti-Atomkraft-Bewegung oder für Glastonbury oder für die Situationisten oder für
Außer Atem oder für Samuel Beckett oder für Andy Warhol oder für die tausend anderen
Camden-Themen, und als Keisha mit einer traumhaften Monie-Love-Single ankam, um sie Leah
auf deren Stereoanlage vorzuspielen, war es ziemlich furchtbar, wie Leah errötete und einräumte,
man könne darauf bestimmt gut tanzen. Ihnen blieb nur noch Prince, und auch der nutzte sich
langsam ab.
25. Vivre sa vie

Die plötzlichen und drastischen Abweichungen in ihren Vorlieben erschreckten Keisha,


und sie hielt eisern an der Überzeugung fest, dass Leahs neue Vorlieben nur aufgesetzt seien,
nichts mit dem Kern ihres Wesens zu tun haben könnten und hauptsächlich dazu dienten, ihre
älteste Freundin zu ärgern. »Ruf mich nachher an«, sagte Leah Hanwell und sprang hinten auf
den Bus auf. Keisha Blake, deren viel gerühmte Willenskraft und Zielstrebigkeit existenziellen
Ängsten wenig Raum ließen, sah zu, wie ihre Freundin mit ihren frisch geschminkten
Pandabär-Augen zum Oberdeck hinaufstieg, und verbrachte eine angespannte Viertelstunde
damit, sich zu fragen, ob sie selbst eigentlich irgendeine Persönlichkeit besaß oder in Wahrheit
nur Ansammlung und Widerschein all dessen war, was sie in Büchern gelesen und im Fernsehen
gesehen hatte.
26. Relative Zeit

Eine Reihe von Faktoren – zurückhaltender Kleidungsstil, frühe körperliche Reife, Brille
– trugen dazu bei, dass Keisha Blake um einiges älter aussah, als sie eigentlich war.
27. 50 ml Wodka

Anstatt als »Persönlichkeit« wurde Keisha Blake nun quasi indirekt als Funktion beliebt.
Sie besorgte Alkohol für alle möglichen Leute, die von sich meinten, sie sähen zu jung aus, um
welchen zu bekommen, und der unsinnige Glaube an Keishas »Talent« auf diesem Gebiet wurde
zum Selbstläufer, weil Keisha, ausgestattet mit so viel Vertrauen in ihre Unfehlbarkeit,
irgendwann selbst anfing, daran zu glauben. Trotzdem war es komisch, Alk für Leah zu kaufen.
»Es muss was sein, was hinten in die Hosentasche passt.« »Wieso?« »Weil da nachher
zweihundert Leute rumpogen, da kannst du nicht mit ’nem Weinglas stehen.« Das Konzert
begann erst spät, und Leah war vorher zu Keisha Blake gekommen, um bei ihr im Zimmer
abzuhängen und zu trinken und zu reden, bis sie losmusste. Hinterher würde sie sich vermutlich
mit irgendwem treffen, dem die Haare bis in die Augen hingen, und Sex haben. »Ich hab gestern
Nathan an der Pommesbude getroffen«, sagte Keisha. »Ach Gott, Nathan«, sagte Leah Hanwell.
»Er kommt nächstes Schuljahr nicht mehr«, sagte Keisha Blake. »Sie haben doch ’nen
Schulverweis draus gemacht.« »War ja nur eine Frage der Zeit«, sagte Leah Hanwell und öffnete
das Fenster, um eine zu rauchen. Leah trank noch ein bisschen mehr und brachte eine ganze Zeit
damit zu, am Radioknopf zu drehen und einen Piratensender zu suchen, den sie nicht finden
konnte. Gegen Viertel nach zehn sagte Leah Hanwell: »Ich glaube, Frauen können eigentlich gar
nicht richtig schön sein. Ich glaube, sie können wahnsinnig attraktiv sein und man kann sie
vögeln wollen und lieben wollen und das ganze Blabla, aber ich glaube, richtig schön können
eigentlich nur Männer sein.« »Meinst du?«, fragte Keisha und verbarg ihre Verwirrung hinter
einem großen Schluck aus dem Teebecher. Sie war sich alles andere als sicher, auf wen sich
dieses »man« beziehen sollte.
28. Rabbit

Am Abend vor ihrem sechzehnten Geburtstag lag draußen auf dem Gang vor der
Wohnungstür ein Geschenk für Keisha Blake. Das Einwickelpapier zeigte ein sich
wiederholendes Schmetterlingsmuster. Auf der Karte stand: NUR ALLEINE ÖFFNEN, ohne
Unterschrift, doch das schiefe R und das längliche Ö verrieten die Handschrift ihrer guten
Freundin Leah Hanwell. Sie zog sich ins Bad zurück. Ein Vibrator, neonpink, mit rotierenden
Perlen in der gewaltig großen Spitze. Keisha setzte sich auf den geschlossenen Klodeckel und
tätigte ein paar strategische Überlegungen. Sie wickelte den Dildo in ein Handtuch und versteckte
ihn in dem Zimmer, das sie mit Cheryl teilte, dann brachte sie die Schachtel und das
Geschenkpapier hinunter in den Hof zu den öffentlichen Mülltonnen neben den Parkbuchten. Am
darauffolgenden Samstag mimte sie schon morgens die ersten Anzeichen einer Erkältung, und am
Sonntag gab sie vor, unter schwerem Husten und Bauchweh zu leiden. Ihre Mutter drückte ihr die
Zunge mit einer Gabel nach unten und meinte, das sei ein Jammer, Pastor Akinwande wolle doch
heute über Abraham und Isaak sprechen. Vom Balkon aus sah Keisha Blake ihrer Familie auf
dem Weg zur Kirche nach. Nicht ohne Bedauern: Für Abraham und Isaak interessierte sie sich
nämlich wirklich sehr.
29. Rabbit im Einsatz

Aber sie hatte für sich beschlossen, dass sie anders gläubig war als ihre Mutter und den
einen oder anderen anthropologischen Ausflug ins Sündhafte durchaus verkraften konnte. Sie
ging zurück nach drinnen und entwendete einem Wecker und einem Taschenrechner die
Batterien. Sie setzte weder stimmungsvolle Beleuchtung noch leise Musik oder duftende Kerzen
ein. Die Kleider behielt sie an. Drei Minuten später hatte sie etliche Dinge herausgefunden, die
ihr bis dahin unbekannt gewesen waren: was ein vaginaler Orgasmus war, worin er sich von
einem klitoralen Orgasmus unterschied und dass ihr Körper eine zähflüssige Substanz
absonderte, die sie anschließend in dem kleinen Waschbecken in der Zimmerecke aus den Rillen
des Vibrators waschen musste. Sie sollte den Dildo nur zwei Wochen lang haben, doch in dieser
Zeit benutzte sie ihn regelmäßig, manchmal sogar mehrmals täglich, häufig auch, ohne ihn
zwischendurch zu reinigen, und immer auf dieselbe geschäftsmäßige Art, als würde sie jemand
anderen mit einer Aufgabe betrauen.
30. Jugend, Mehrwert, Schizophrenie

»Und dann machen wir so weiter«, sagte Layla und wechselte in eine andere Lage, und
Keisha notierte. »Role models«, sang Layla in der neuen Tonart, »bringing the truth, bringing the
light.« Keisha notierte weiter. »Making it right«, sagte Layla und wiederholte die Worte dann
noch einmal, diesmal gesungen, und Keisha nickte und notierte weiter. Layla war
hochmusikalisch, sie hatte eine wunderschöne Stimme. Ihre Mutter war in Sierra Leone als
Sängerin berühmt. Keisha konnte nicht singen und war auch nicht gut auf der Blockflöte. Die
Notenschrift hatte sie sich innerhalb weniger Wochen beigebracht, mithilfe von Klaviernoten aus
der Kirche. Wie alles, wo Symbole und/oder Zeichensysteme im Spiel waren, war ihr auch das
gar nicht schwergefallen; sie hatte keine Ahnung, woher das kam und wozu eine solche Fähigkeit
gut sein sollte, und auch nicht, warum ihre Schwester Cheryl nicht mit einer ähnlichen Gabe
gesegnet war, oder was sie dagegen beziehungsweise damit unternehmen sollte, ob dieses
»Etwas« als Verb oder als Substantiv zu denken war und ob es außerhalb ihres Kopfes überhaupt
irgendeine greifbare Realität besaß. Die beiden Mädchen schrieben ein Lied für den
Glaubenskreis der unter Zwölfjährigen, der sich jeden Donnerstag nach dem Gottesdienst hier im
Hinterzimmer traf. Sie waren gut befreundet, Keisha und Layla, wenn auch nicht ganz so eng wie
Keisha und Leah. Sie verband nun mal kein dramatisches Ereignis, auch wenn sie in den Augen
der Kirche ganz natürlich und unausweichlich zusammengehörten. »Leading the way«, sang
Layla. Keisha notierte. Sie roch ihre Scheide an den Fingern. Layla ging wieder zum Sprechen
über: »Oder vielleicht etwas Richtung: ›Sisters today, leading the way‹«. Keisha notierte auch das
und setzte es in Klammern, um zu markieren, dass es als Text noch nicht in Stein gemeißelt war.
Wenn das »Talente« waren – die Fähigkeit zu singen oder in kürzester Zeit Noten lesen und
schreiben zu können –, was war dann eigentlich ein »Talent«? Ein Rohstoff? Eine Gabe? Ein
Preis? Eine Belohnung? Wofür? »We follow the truth, we follow the light!«, sang Layla, was
musikalisch und textlich bereits in Stein gemeißelt war. Ohne etwas zum Notieren zu haben,
wurde Keisha unruhig. An der Wand gegenüber hing ein Spiegel. Zwei bewundernswerte junge
sisters, deren Mütter ihnen noch Zöpfe flochten, saßen auf dem Rand der provisorischen Bühne,
die eine sang, die andere machte aus der Melodie ein Abbild, die Notenschrift. Das bist du. Das
ist sie. Sie ist echt. Du bist die Fälschung. Schau hin. Schau weg. Sie ist stimmig. Du
improvisierst aus dem Moment heraus. Sie darf es nie erfahren. »Und dann von da nach da«, sang
Layla, sie sang die Worte und machte damit die Anweisung selbst zu Musik. Und Keisha
notierte.
31. Zutrittserlaubnis

Obwohl sie zu fünft waren, beschränkte sich die Wohnung der Blakes auf drei Zimmer
mit Bad und Wohnraum, und nur Jayden, der Jüngste, besaß ein eigenes Zimmer. Soweit Keisha
das beurteilen konnte, spielte Privatsphäre für ihren Bruder keine Rolle, er war elf und hatte noch
periodische Anfälle von häuslichem Nudismus, aber was sie betraf, so war das unerlässlich und
wurde mit jedem Tag unerlässlicher, und das Eintreffen des Dildos veranlasste sie dazu, eine alte
Diskussion mit ihrer Mutter wiederaufzunehmen.
»Es ist ein Menschenrecht!«, rief Keisha Blake. GCSE, Geschichte, Modul B16: Die
amerikanische Bürgerrechtsbewegung. Modul D5: Die Chartisten.
»Und wenn ein Feuer ausbricht, verbrennst du in deinem Zimmer«, sagte ihre Mutter. »Ist
das Cheryls Idee? Leute, die sich einschließen wollen, haben immer was zu verbergen.«
»Leute, die sich einschließen wollen, verlangen nur ein grundlegendes Menschenrecht,
nämlich Privatsphäre. Schlag’s nach«, erwiderte Keisha, wenn auch diesmal weniger ungestüm,
erschrocken darüber, dass ihrer Mutter im Kielwasser eines gewöhnlichen mütterlichen Klischees
so zielsicher die Wahrheit ins Netz ging. Sie zog sich in ihr Zimmer zurück und dachte an Jesus,
noch so ein zutiefst frommer Mensch, der von den klischeehaften Typen, die sich selbst als
fromm bezeichneten, nicht für fromm gehalten wurde, wobei man fairerweise natürlich sagen
musste, dass solche Leute wahrscheinlich auch hin und wieder auf ihre eigene, ungebildete Art
fromm waren, wenngleich nur durch Zufall und nur ein bisschen.
32. Unterschiede

Ein klitoraler Orgasmus ist ein örtlich begrenztes Phänomen, das sich auf die Klitoris
beschränkt. Absurderweise wird er meist nicht durch direktes Stimulieren der Klitoris
hervorgerufen, das im Gegenteil Schmerz und Verdruss und manchmal auch ein intensives
Gefühl von Langeweile auslöst. Der direkteste Weg besteht darin, Klitoris und Schamlippen
gleichzeitig mit kraftvollen, kreisförmigen Bewegungen einer Hand zu bearbeiten. Der so
ausgelöste Höhepunkt ist heftig und höchst genussvoll, aber kurz, so wie der männliche
Orgasmus. Was die kontroverse Frage »klitoral oder vaginal?« betraf, musste sich Keisha zum
Agnostizismus bekennen. Da konnte man genauso gut fragen, ob Blau oder Grün die bessere
Farbe war.
Ein vaginaler Orgasmus kann durch Penetration ausgelöst werden, aber auch einfach
dadurch, dass das Becken leicht vor- und zurückbewegt wird und die Gedanken sich
interessanten Dingen zuwenden. Letztere Methode eignet sich vor allem für den Einsatz in
Bussen und Flugzeugen. Anscheinend befindet sich an der Wand des Scheidenkanals, auf halber
Höhe der dem Bauchnabel zugewandten Seite, eine kleine Erhebung, etwa so groß wie ein
Zehn-Pence-Stück, die durch so ein »Schaukeln« stimuliert wird, aber ob es sich dabei um den
sogenannten »G-Punkt« handelte und der tatsächlich der Auslöser dieses fast unerträglich
genussvollen Gefühls war, das konnte Keisha Blake beim besten Willen nicht in Erfahrung
bringen. Wie immer er auch zustande kommt, zeichnet sich der vaginale Orgasmus vor allem
durch Länge und Intensität aus. Er wird als eine Anzahl von Zuckungen erlebt, so als würde sich
die Vagina öffnen und schließen, wie eine Faust. Vielleicht tut sie das ja auch. Aber ob es sich
dabei um den sogenannten »multiplen Orgasmus« handelte, entzog sich ebenfalls Keisha Blakes
Kenntnis, obwohl es ihr ganz typisch für die weibliche Neigung zum Anspruchslosen erschien,
dass manche Darstellungen schon ein einziges Öffnen und Schließen dieser »Faust« als
vollwertigen Orgasmus akzeptierten. Vielleicht handelte es sich ja schlicht und einfach um eine
phänomenologische Frage. Wenn Leah Hanwell die Blume als blau bezeichnete und Keisha
Blake dieselbe Blume als blau bezeichnete, wie konnten sie dann sicher sein, dass sie mit dem
Wort »blau« das identische Phänomen erfassten?
33. Anklageerhebung

Marcia entdeckte Leahs Geschenk bei einer ihrer regelmäßigen Durchsuchungen. Die
hatten im Grunde Cheryl zum Gegenstand – die neuerdings freitags verschwand und erst montags
wieder auftauchte –, und nichts wäre leichter für Keisha gewesen, als dem ohnehin schon
ruinierten Ruf ihrer großen Schwester auch noch den Besitz eines Dildos hinzuzufügen. Unfähig,
den Anblick der mit der Plastiktüte fuchtelnden Marcia noch länger zu ertragen, warf sich Keisha
Blake bäuchlings aufs Bett, um einen Heulkrampf zu simulieren, doch mitten in diesem Vorgang
fand sie sich plötzlich in einem ganz realen Zwiespalt und brachte es weder über sich, ihrer
Schwester oder Leah die Schuld zu geben, noch der Alternative, mit der sie sich jetzt konfrontiert
sah – dass nämlich ihr Vater informiert würde –, ins Auge zu blicken. Keisha Blake dachte nach
links und dachte nach rechts, doch da war kein Ausweg, und höchstwahrscheinlich kam ihr hier
zum ersten Mal die Selbstmordfrage in den Sinn.
»Und erzähl mir nicht, du hättest ihn gekauft«, sagte ihre Mutter, »weil ich nämlich
wirklich nicht wüsste, wo du das Geld dafür herhaben solltest.« Im Verlauf des Verhörs ging
Marcia praktisch alle Mädchen aus der Siedlung durch, bis sie sich schließlich zu der
schmerzhaften Option Leah vorarbeitete und im Gesicht ihrer Tochter die Bestätigung fand.
34. Entzweit

In der Folge kam es zum Bruch zwischen Leah Hanwell und Keisha Blake, von Marcia
erzwungen, aber gefolgt von einer Phase der Abkühlung, die nicht allein Marcia anzulasten war.
Die Mädchen waren sechzehn. Die Phase hielt anderthalb Jahre an.
35. Weltschmerz!

Ganz ohne Leah – in der Schule, auf der Straße, in Caldwell – fühlte sich Keisha Blake
entblößt und exponiert. Bis zu dem Bruch war ihr gar nicht aufgefallen, dass der Status als
»Freundin von Leah Hanwell« eine Art Passierschein darstellte, der Keisha bei den meisten
Gelegenheiten gesicherten Zugang verschafft hatte. Jetzt wurde sie auf die konzeptionelle Ebene
der »Kirchen-Clique« verwiesen, wo fast alle nigerianischer oder sonst wie afrikanischer
Herkunft waren und weder Keisha Blakes anthropologische Neugier hinsichtlich der Sünde
teilten noch ihre Vorliebe für Rap. Ob nun zu Recht oder zu Unrecht, war sie doch überzeugt,
dass sie anderen Kindern mit ihrem Hintergrund als abnorm vorkommen musste, und sie wusste
mit Sicherheit, dass die Raver und Indie-Kids sie als die falsche Sorte Außenseiterin betrachteten.
Keisha Blake kam gar nicht auf den Gedanken, dass Jugendliche allerorts das banale Schicksal
solcher Entfremdungsgefühle teilten. Sie hielt sich für ganz besonders gepeinigt, und man kann
ohne Übertreibung sagen, dass sie sich schwertat mit der Vorstellung, irgendwer, außer vielleicht
James Baldwin und Jesus, könnte je eine so tiefe Isolation und Einsamkeit erlebt haben, wie sie
sie nun als einzig wahre, diesseitige Realität erlebte.
36. Der Feind deines Feindes

Wir dürfen nicht verhehlen, dass Marcia Blake in Keisha Blakes Bruch mit Leah Hanwell
eine Chance witterte. Der Bruch fiel mit der Sexproblematik zusammen, die ohnehin nicht länger
zu ignorieren war. Ein schlichtes Verbot wäre nach hinten losgegangen – das hatten sie alles
schon mit Cheryl erlebt, die mittlerweile zwanzig und im sechsten Monat schwanger war. Mrs
Blakes elegante Lösung bestand darin, Keisha Blake Rodney Banks zuzuführen: Just in dem
Moment, als ihre Tochter zu detonieren drohte, wurde sie entschärft. Rodney wohnte im selben
Stockwerk, ging auf dieselbe Schule. Er war eins der wenigen Kinder karibischer Herkunft in der
Gemeinde. Und Christine, seine Mutter, war eine gute Freundin. »Du solltest dich mal mit
Rodney treffen«, sagte Marcia und reichte Keisha Blake einen Teller zum Abtrocknen. »Er ist
wie du, er liest auch ständig.« Aus ebendiesem Grund war Keisha Rodney gegenüber immer auf
der Hut gewesen und hatte ihn gemieden, soweit das an einem Ort wie Caldwell überhaupt ging –
frei nach dem Motto: Ein Ertrinkender braucht keinen zweiten Ertrinkenden, der sich an ihm
festklammert.
38. Andererseits

In der Not frisst der Teufel Fliegen.


39. Lektüre mit Rodney

Keisha Blake hockte mit angezogenen Beinen auf Rodney Banks’ Bett. Sie war bereits
einsfünfundsiebzig, während Rodney seit dem Sommer zuvor nicht mehr gewachsen war. Um
Rodney gegenüber christliche Nächstenliebe zu beweisen, war Keisha Blake bemüht, sich so oft
wie möglich hinzusetzen. Rodney hielt die gekürzte Büchereiausgabe eines verrufenen Buchs
von Albert Camus in der Hand. Sowohl Keisha Blake als auch Rodney Banks sprachen das T und
das S des Namens mit, weil sie es nicht besser wussten: Man lebt gefährlich als Autodidakt.
Rodney Banks las den Text laut vor und fügte eigene skeptische Kommentare ein. Er nannte das
»den Glauben auf die Probe stellen«. Diese zupackende Herangehensweise empfahl der Pfarrer
seinen jugendlichen Schäfchen gern, obwohl er dabei höchstwahrscheinlich nicht an Camus
dachte. Rodney Banks hatte eine gewisse Ähnlichkeit mit Martin Luther King: das gleiche runde,
sanfte Gesicht. Wenn er auf ein Argument kam, das ihn besonders interessierte, kritzelte er eine
kleine verbotene Notiz auf die Buchseite, die Keisha dann las und nach Kräften bewunderte. Es
fiel ihr schwer, sich auf das Buch zu konzentrieren, weil sie sich vor allem darum sorgte, wann
und wie sie mit dem Petting anfangen würden. Letzten Freitag war es passiert, und am Freitag
zuvor auch, aber sie hatte immer erst im letzten Moment gemerkt, dass es gleich passieren würde,
weil sie es beide irgendwie nicht schafften, mit Worten darauf Bezug zu nehmen oder ganz
selbstverständlich darauf hinzuarbeiten. Stattdessen hatte sie sich beide Male heftig auf Rodney
gestürzt und auf eine Reaktion gehofft, die im Großen und Ganzen auch eintrat. »Wir gewöhnen
uns an das Leben, ehe wir uns an das Denken gewöhnen«, las Rodney und notierte dann neben
den Satz: »Na und? (unsinnige Argumentation)«.
40. Rumpole of the Bailey
Die Abkühlungsphase zwischen Keisha Blake und Leah Hanwell reichte bis über die
Abschlussprüfungen hinaus, und das war zumindest teilweise eine pragmatische Entscheidung
seitens Keisha Blake. Leah Hanwell konsumierte inzwischen fast jedes Wochenende das beliebte
Party-Aufputschmittel Ecstasy, und Keisha war nicht so zuversichtlich zu glauben, dass sie selbst
an diesem Leben teilhaben und gleichzeitig die Prüfungen bestehen konnte, deren Bedeutung sie
allmählich begriff. Dieses Begreifen verdankte sich zumindest teilweise dem Besuch und den
Bemühungen einer Berufsberaterin. Aufgemerkt, Leser! Eine junge Frau aus Barbados, noch neu
in ihrem Job, voller Optimismus. Der Name tut nichts zur Sache. Sie war vor allem von Rodney
beeindruckt, nahm ihn ernst und hörte aufmerksam zu, wenn er von Jura redete. Schwer zu sagen,
wie Rodney Banks überhaupt auf den Begriff »Jura« gekommen war. Seine Mutter arbeitete in
einer Schulkantine. Sein Vater war Busfahrer.
41. Einschub

(Viele Lebensjahre später kam es Keisha Blake bei einem langen Gang durch
Nordwest-London in den Sinn, dass der junge Mann, den sie in eine lustige Anekdote zum
Einsatz bei Abendeinladungen verwandelt hatte, in vieler Hinsicht ein wahres Wunder an
Selbsterschaffung gewesen war, ein junger Mann von ungeheurer Willenskraft, die ihre bei
Weitem übertraf.)
42. Gute Wahl / Keine Wahl

Die Barbadierin erklärte Keisha Blake und Rodney Banks, sie bräuchten einen Plan. Allen
dreien war klar, dass Marcia Blake ihren eigenen Plan hatte: einen einjährigen Kurs in
Betriebswirtschaft an der sogenannten »Coles Academy«, im Grunde nicht mehr als eine
Büroetage über dem alten Woolworths an der Kilburn High Road. Ein zwielichtiger Laden, eine
Anstalt ohne Akkreditierung, in der ein nairobianischer Bekannter von Pastor Akinwande
unterrichtete und die es unnötig machte, zu Hause auszuziehen.
43. Contra

Die Berufsberaterin aus Barbados wählte für Keisha Blake und Rodney Banks fünf
universitäre Einrichtungen aus – dieselben fünf: Sie hatten beschlossen, dass sie sich nicht
trennen konnten – und half ihnen, die nötigen Formulare auszufüllen. In Keishas Auftrag schrieb
sie Marcia einen Brief. Es wird nichts kosten. Sie bekommt ein umfassendes staatliches
Stipendium. Es gibt dort eine Kirche. Der Zug fährt direkt durch, ihr kann nichts passieren, und
sie ist nicht allein. Keisha Blake bekam den Auftrag, diese Beruhigungskampagne den ganzen
Winter über weiterzuführen. Rodney sollte mit Christine, seiner Mutter, ebenso verfahren. Keisha
rechnete nicht damit, dass die Kampagnen Erfolg haben würden. Marcia war schon »auf dem
Land« gewesen und hielt es nicht für ein sicheres Umfeld, sie zog London vor, wo man
wenigstens wusste, woran man war. Dann wurde im April an einer Bushaltestelle in Eltham
»dieser arme, wehrlose Junge« – wie Marcia ihn grundsätzlich nannte – erstochen, überwältigt
von einer »Bande von Tieren«. Keisha Blake, Marcia Blake, Augustus Blake, Cheryl Blake und
Jayden Blake versammelten sich alle um den Fernseher und sahen zu, wie die weißen
Jugendlichen ungestraft das Gericht verließen und den Fotografen die Fäuste entgegenreckten.
Der tote Junge wurde nach Jamaika gebracht und in Marcias Gemeinde beerdigt.
44. Nimmerwiedersehen mit Brideshead

Die Haustür war nicht abgeschlossen. Rodney marschierte direkt in Keisha und Cheryl
Blakes Zimmer und sagte: »Wo ist er?«, und Keisha sagte: »Auf dem Bett«, und Rodney sagte:
»Zeig ihn mir«, und Keisha zeigte ihm den eigenartigen Brief mit dem aufgestempelten Wappen
und sagte: »Aber wenn du nicht gehst, geh ich auch nicht«, und Rodney sagte: »Lass mich doch
erst mal lesen«, und Keisha sagte: »Es ist nur eine Einladung zum Auswahlgespräch. Ich geh
nicht hin. Außerdem kostet das sicher wahnsinnig viel«, und Rodney sagte: »Wenn du
reinkommst, zahlt das die Regierung. Weißt du das etwa nicht?«, und Cheryl sagte: »Jetzt haltet
mal die Klappe, Mann, der Kleine schläft!«, und Keisha sagte: »Ich will da doch gar nicht hin!«,
und Rodney sagte: »Kann ich das jetzt vielleicht mal lesen!«, und nachdem er es gelesen hatte,
sprach er nicht mehr davon und Keisha Blake auch nicht. An diesem Abend gingen sie ins Swiss
Cottage Odeon und sahen einen Film über einen Mann, der sich als Frau verkleidet, um auf seine
Kinder aufpassen zu können, aus Gründen, die Keisha nicht mal im Ansatz verstand, weil sie viel
zu abgelenkt war.
45. Ökonomie

Das Auswahlgespräch in Manchester war von zehn bis elf Uhr vormittags angesetzt. Um
von der Euston Station in London nach Manchester zu kommen, hätte man einen Zug nehmen
müssen, der lange vor halb zehn abfuhr. So eine Zugfahrt kostete hin und zurück einhundertdrei
Pfund. Eine ähnlich gelagerte, sogar noch kostspieligere Problematik sprach gegen Edinburgh.
46. Unterbrechung für einen abstrakten Gedanken

Überall auf der Welt, in zahllosen Sprachen, fällt in Familien irgendwann der Satz: »Du
bist mir fremd geworden.« Er war schon immer da, hielt sich versteckt in einer verschwiegenen
Ecke des Hauses, geduldig wartend. Unter den gestapelten Tassen, zwischen den DVDs oder
irgendwelchen anderen heillosen Datenträgern. »Du bist mir fremd geworden!«
47. Noch eine Unterbrechung

In populärwissenschaftlichen Zeitschriften findet sich ein Beispiel aus der Biologie, die
Regeneration von Zellen. Viele Jahre nach den aktuell geschilderten Ereignissen, bei einer ihrer
häuslichen Abendeinladungen, schlug ein Philosoph, der zur Rechten unserer Heldin saß, ihr vor,
sich auf ein gedankliches Experiment einzulassen: Was, wenn die eigenen Gehirnzellen nach und
nach gegen die Gehirnzellen eines anderen Menschen ausgetauscht würden? Von welchem Punkt
an war man dann nicht mehr man selbst? Von welchem Punkt an war man der andere Mensch? Er
roch schlecht aus dem Mund. Er legte ihr eine Hand aufs Knie, die sie nicht wegschob, weil sie
vor seiner Frau keinen Aufstand machen wollte. Zu diesem Zeitpunkt hatte Ms Blake bereits
gelernt, sich absolut vorbildlich zu benehmen. Die Frau des Philosophen war eine ergraute
Kronanwältin. Dem brillanten Kopf des Philosophen erschien sie viel zu alt, um noch als seine
Frau gelten zu können. Und dennoch.
48. Mieterversammlung

Bei einer Versammlung der Mietervereinigung von Caldwell – Leah und Keisha waren,
auf Nötigung ihrer Eltern, die einzigen jüngeren Anwesenden – sah Keisha den freien Platz neben
Leah, ging aber nicht hin. Hinterher versuchte sie, unbemerkt zu verschwinden, doch Leah
Hanwell rief quer durch den Raum nach ihr, und Keisha drehte sich um und sah das vertraute,
offene Gesicht, das sie anlächelte, ungeachtet aller Versuche seitens Keisha Blakes, es innerlich
zu verleugnen.
»Hey«, sagte Leah Hanwell.
»Na«, sagte Keisha Blake.
Sie sprachen über die langweilige Versammlung und über Cheryls Baby, doch das andere
Thema ließ sich nicht lange umschiffen.
»Wie hat’s dir denn in Manchester gefallen? Hast du Michael Konstantinou getroffen?
Der war am selben Tag dran wie du. Aber er macht Medienwissenschaft.«
»Wir wollen da nicht mehr hin«, sagte Keisha Blake und betonte das Pluralpronomen
ganz bewusst. »Es wird entweder Bristol oder Hull.«
»Rodney ist bei mir in Geschichte. Sagt keinen Ton.«
Keisha, die diese Bemerkung als persönliche Beleidigung auffasste, machte sich daran,
Rodney energisch zu verteidigen. Leah sah sie verwirrt an und spielte an den drei Ringen, die sie
am oberen, knorpeligen Teil des Ohrs trug.
»Nein, ich meinte: Er hat gar keine Fragen, er weiß immer alles schon. Still, aber
gefährlich. Ihr zwei schafft das doch locker. Du kannst immerhin beim GCSE ein C in Mathe
vorweisen. Ich hab nicht mal bestanden. Die meisten fragen gar nicht erst nach den
Abschlussnoten, wenn man mal in Mathe durchgefallen ist. Da müsste ich echt wahnsinniges
Glück haben.«
Keisha versuchte, ihre Überreaktion herunterzuspielen, indem sie vorschlug, ihre alte
Freundin Leah Hanwell könne doch mit Keisha und ihrem neuen Freund zusammen lernen.
»Ich muss mich wahrscheinlich einfach nur hinsetzen und mich konzentrieren. Das wird
schon. Wär aber schön, dich bald noch mal zu sehen, bevor wir umziehen. Pauline ist ganz
begeistert. Mir ist das egal. Ab September bin ich eh in Edinburgh – wollen wir zumindest
hoffen. Sie führt sich auf, als würde sie mir ein Riesengeschenk machen. Ein neues Leben. ›Das
ist ja praktisch schon Maida Vale. Na, besser spät als nie, nicht?‹« Letzteres sagte sie mit
Paulines Stimme.
49. Aufstieg

Die Hanwells zogen in eine Maisonettewohnung. Praktisch in Maida Vale. Keisha hatte
das alles schon von Marcia gehört: der Gemeinschaftsgarten, die drei Schlafzimmer. Ein
sogenanntes »Arbeitszimmer«.
50. Rodney notiert

»Unser Vorrang: wir leben im Zeitalter der Vergleichung.« (Nietzsche)


51. Unentdeckt
Rodney Banks sorgte weder für Unruhe im Unterricht noch sagte er viel, und die
Kombination aus beidem machte ihn unsichtbar, anonym. Keisha Blake fragte ihn, warum er nie
mit den Lehrern rede. Er sagte, das sei Strategie. Wie Keisha hatte er eine Vorliebe für
Strategien. Das gehörte zu ihren Gemeinsamkeiten, wobei man festhalten muss, dass ihre
Strategien sich im Kern doch sehr unterschieden. Keisha wollte sich mit Charme direkten Zugang
verschaffen. Rodney wollte unbemerkt hintenrum reinschlüpfen. Rodney Banks strich so viele
Stellen aus Machiavellis Fürst mit Textmarker an, dass es eine einzige gelbe Fläche wurde und er
sich nicht mehr traute, es in die Bücherei zurückzubringen. »Harte Umstände und die Neuheit der
Herrschaft, solche zwingen mich, ans Werk zu gehen, und die weiten Grenzen von Wächtern
schützen zu lassen.« Er schleppte das Buch ständig mit sich herum und dazu die
King-James-Bibel, eine Kombination, die für ihn keinen Widerspruch darstellte.
52. Nirvana

Leah saß jetzt bestimmt in ihrem Zimmer, hielt sein Bild an sich gedrückt und heulte. Es
fiel Keisha schwer, ein Gefühl der Genugtuung zu unterdrücken, als sie sich diese Szene
ausmalte. Dann, mitten in die Nachrichtensendung hinein, sagte Marcia etwas Unfassbares und
führte einen Arzt aus der Klinik als Quelle an, und Keisha ging am nächsten Morgen gleich in die
Bibliothek, um nachzuforschen. Erbost musste sie feststellen, dass Marcias Prahlerei statistisch
gesehen stimmte: Unsereins macht so was praktisch nie.
53. Ausgleich

Im Juli hatten Leah Hanwell und Keisha Blake Angebote für einen Studienplatz. Sie
hatten beide einen Freund. (Leahs Freund spielte Bass in einer Band namens No No Never.)
Sowohl die Studienorte als auch die Freunde waren, bei allen Unterschieden, als gleichwertig zu
betrachten. Die beiden Mädchen waren zu attraktiven Frauen ohne größere gesundheitliche oder
psychische Probleme herangewachsen. Keine interessierte sich fürs Braunwerden. Leah hatte vor,
den Großteil dieses letzten Sommers in NW im Schatten einer Eiche auf der Hampstead Heath zu
verbringen, mit einer Handvoll Freunde, einem Picknick, jeder Menge Alkohol und ein bisschen
Dope. Immer wieder lud sie Keisha ein, die auch schrecklich gern gekommen wäre. Aber Keisha
hatte einen Halbtagsjob in einer Bäckerei an der Kilburn High Road, und wenn sie nicht in der
Bäckerei war, dann war sie in der Kirche oder half Cheryl mit dem Baby. In der Bäckerei bekam
sie drei fünfundzwanzig die Stunde. Sie musste flache schwarze Dienstschuhe tragen, mit runder
Spitze und dicker Sohle, und eine braun-weiß gestreifte Uniform, gekrönt von einer
»Bäckersmütze« mit Gummizug, unter der auch noch die letzte Haarsträhne zu verschwinden
hatte. Die Mütze hinterließ einen Abdruck auf der Stirn. Keisha musste die Croissant-Formen
spülen und die Donut-Glasur entfernen, die sich in der schmalen Kerbe zwischen Auslage und
Glasscheibe sammelte. Und noch etliche weitere Fronarbeiten. Ursprünglich hatte sie gedacht,
das wäre ihr lieber als Kleider verkaufen, aber am Ende hielt selbst ihre große Begeisterung für
Wurstpasteten und Eclairs sie nicht mehr aufrecht. Sie bewahrte den Prospekt der Universität in
ihrem Schließfach auf und verbrachte die Mittagspause häufig damit, bedächtig durch die
Hochglanzseiten zu blättern.
Jeden zweiten Samstag hatte sie den halben Tag frei, und ein paarmal gelang es ihr, allein
auf die Hampstead Heath zu entkommen. Rodney hatte nichts übrig für die Hampstead-Szene,
und es wäre unsinnig gewesen, ihm davon zu erzählen, das hätte doch nur Fragen nach der
doppelten Buchführung aufgeworfen, die Keisha inzwischen gewohnheitsmäßig betrieb. Auf der
einen Seite des Kontos standen Rodney, Marcia, ihre Geschwister, die Kirche und Jesus Christus
höchstpersönlich. Auf der anderen lümmelte Leah im hohen Gras, trank Cider und fragte ihre
gute Freundin Keisha Blake, ob sie die Gelegenheit nutzen würde, P. W. Botha umzubringen,
wenn er plötzlich vor ihr stünde. »Zu einem Mord bin ich doch gar nicht fähig«, protestierte
Keisha Blake. »Jeder ist zu allem fähig«, beharrte Leah Hanwell.
54. Weiterbildung

Ab Herbst besuchten Keisha Blake und Rodney Banks eine Kirche etwas außerhalb von
Bristol, die Holy Spirit Ministry, deren Geist dem der Pfingstgemeinde von Kilburn entsprach –
der Pfarrer hatte sie ihnen empfohlen. Dort pflegten sie in diesem ersten Semester auch all ihre
Sozialkontakte, mit lauter netten Menschen zwischen sechzig und siebzig. Bei jungen Leuten in
ihrem Alter kamen sie weniger gut an. Rodney hatte unter allen Türen auf Keishas Flur kirchliche
Flugblätter durchgeschoben, und seither wurden sie von ihren Mitstudenten gemieden und
mieden sie ihrerseits. Es gab offensichtlich keinerlei Anknüpfungspunkte. Die Studenten waren
gelangweilt von Dingen, von denen Keisha noch nie gehört hatte, und verabscheuten das Einzige,
womit sie sich wirklich auskannte: die Bibel. Abends saßen Rodney und Keisha einander an dem
kleinen Schreibtisch in Keishas Zimmer gegenüber und lernten, so wie sie für den Schulabschluss
gelernt hatten: Sie steckten sich Ohropax in die Ohren und schrieben alles mit der Hand, erst ins
Unreine und dann noch einmal in »Schönschrift« – das hatten sie sich in der Sonntagsschule
angewöhnt. Im Keller von Keishas Wohnheim gab es ein neu eingerichtetes Computerzentrum,
das ihnen das Leben hätte erleichtern können: In der ersten Woche gingen sie hinunter und sahen
es sich an. Ein Junge mit Hut, von dessen breiter Krempe ein Kinnriemen hing, spielte sich durch
Doom, diesen düsteren Korridor, der immer und immer wieder auf sich selbst zurückführt. Alle
anderen waren entweder mit Programmieren beschäftigt oder verwendeten eine frühe
universitätsinterne Form von E-Mail. Über jemandes Schulter hinweg sah Keisha Blake einen
völlig chaotischen Bildschirm.
55. Keishas erster Besuch

Ihre materiellen Lebensumstände unterschieden sich deutlich. Keisha war in einem


Sechzigerjahre-Wohnheim ohne jede architektonische Bedeutung untergebracht, Leah in einem
Reihenhaus aus dem neunzehnten Jahrhundert mit einem stillgelegten Kamin in jedem Zimmer
und neun Mitbewohnern. Anstelle eines Wohnzimmers gab es dort einen Raum zum »Chillen«.
Riesige Lautsprecher, kein Sofa. Keisha hatte nicht mit einer Party an ihrem ersten Abend
gerechnet und trug auch nicht den richtigen Rock für einen Sitzsack. Die Lautstärke des Techno
oder was da auch immer lief, machte Gespräche zur Qual. Alle waren weiß. Leah schwang eine
Rede und hielt dabei die Kühlschranktür auf. Die ganze Küche wurde kalt davon. Sie hielt den
Kühlschrank schon eine ganze Weile auf. Warum, hatte sie anscheinend vergessen.
»Also, stell dir vor, du bist Einstein, und du denkst so vor dich hin, von Moment zu
Moment, und plötzlich hast du diesen Wahnsinnsgedanken über das Wesen des Universums oder
so. Dieser Gedanke ist dann nicht mehr wie die anderen Momente, denn obwohl du ihn innerhalb
der normalen Zeit gehabt hast, geht es darin doch um das Wesen des Universums, und das ist
sozusagen unendlich. Es ist also eine völlig andere Sorte Moment. Und so was nennt Kierkegaard
einen ›Augenblick‹. Der gehört nicht zur normalen Zeit wie alles andere. Solchen Kram kriege
ich ständig zu hören. Ich muss mich in den Kursen immer kneifen. So nach dem Motto: Was
mach ich hier eigentlich, zwischen diesen ganzen superschlauen Spinnern? Da ist doch irgendwo
ein Fehler im System.«
Keisha häufte etwas Hummus auf ihr Pide und sah in die vergrößerten Pupillen ihrer
Freundin.
»Ich hatte zwischendurch auch mal an Philosophie gedacht«, sagte Keisha, »bis ich gehört
habe, dass man dafür so viel Mathe braucht.«
»Man braucht gar kein Mathe«, sagte Leah.
»Echt nicht? Ich dachte, man braucht Mathe.«
»Nein«, sagte Leah und drehte sich von Keisha weg, um doch noch eine Flasche Bier aus
dem Kühlschrank zu nehmen. »Braucht man nicht.«
Auch der Typ, der mit Leah schlief, war schwierig. Wenn man ihm nicht ständig Fragen
über ihn oder seine Kurzfilme stellte, hörte er ganz auf zu reden und starrte ins Leere.
»Es geht um Langeweile«, erklärte er.
»Hört sich interessant an«, sagte Keisha Blake.
»Nee. Im Gegenteil. Diese Party hier, mit diesen ganzen interessanten Leuten, ist das
beste Beispiel. Völlig uninteressant.«
»Oh.«
»Alles dreht sich nur um Langeweile. Ein anderes Thema gibt’s nicht mehr. Wir
langweilen uns alle. Langweilst du dich nicht?«
»In Jura«, sagte Keisha Blake, »muss man alles mögliche langweilige Zeug auswendig
lernen. So wie in Medizin.«
»Ich glaube, wir reden von zwei verschiedenen Sachen«, sagte der Typ, der mit Leah
schlief.
56. Familienroman

Draußen auf dem Gang klingelte das Telefon. Rodney nickte. Keisha stand auf. Wenn das
Telefon klingelte, war es meistens entweder für Rodney oder für Keisha – entweder Marcia oder
Christine –, und sie wechselten sich damit ab, die Anrufe entgegenzunehmen. Sie waren in jeder
Hinsicht wie Geschwister, abgesehen davon, dass sie gelegentlich Sex hatten. Dieser Sex war
kuschlig und vertraut, ohne jeden Anklang von Erotik oder vaginalen respektive klitoralen
Orgasmen. Rodney war ein vorsichtiger junger Mann, Kondome waren ein wichtiges Thema für
ihn, er fürchtete Schwangerschaften und Krankheiten. Als er Keisha Blake endlich erlaubte, mit
ihm zu schlafen, hatte sich das als rein formale Schwelle entpuppt. Sie hatte nichts Neues über
Rodneys Körper erfahren und auch nichts über Rodney, dafür eine ganze Menge über Kondome:
wie effektiv sie jeweils waren, wie dick das Gummi sein durfte, und wann der richtige – der
sicherste – Moment war, sie hinterher wieder abzustreifen.
57. Ehrgeiz

Sie wollten Juristen werden, die ersten Akademiker in ihren beiden Familien. Das Leben
hielten sie für ein Problem, das sich mit der richtigen akademischen Ausbildung lösen ließ.
58. Leahs dritter Besuch
Frühjahr. Bäume in voller Blüte. Ms Blake wartete am Busbahnhof der Vorfreude und
Hoffnung und wusste überhaupt nicht mehr, wie sie hinsichtlich Leah Hanwell, ihrer liebsten
Freundin von früher, jemals irgendwelche Spannungen hatte empfinden können. Der Bus traf ein,
die Türen öffneten sich. Menschliche Gestalten mit Gesichtern strömten ins Blickfeld, und Ms
Blakes Hirn suchte nach einer Übereinstimmung zwischen einer recht aktuellen Erinnerung und
der materiellen Wirklichkeit. Sie machte den Fehler, an Vorstellungen festzuhalten, die eigentlich
zu früheren Besuchen gehörten. Vorstellungen wie »rotes Haar« und »schwarze Jeans/schwarze
Stiefel/schwarzes T-Shirt«. Moden ändern sich. Das Studium ist eine Phase der Experimente und
Wandlungen. Die Person, die sie schließlich an der Schulter fasste, konnte nicht mehr als
Mitglied einer Riot-Grrrl-Band durchgehen oder als unbedeutende Berliner Künstlerin. Sie war
jetzt eine schmutzig blonde Kriegerin im Dienste des Planeten, deren Haare auf dem Weg zu
Dreadlocks waren und deren Armeehose keinem Appell standgehalten hätte.
59. Eigennamen

Natürlich waren auch Ms Blake die Weißen aufgefallen, die mit Kletterausrüstung
herumliefen, und die Weißen, die sich im Treppenhaus zusammenrotteten und darüber
diskutierten, wie man sich am besten an eine Eiche kettete. Sie war dem Phänomen mit ihrer
üblichen anthropologischen Neugier begegnet. Aber sie hatte es doch eher als neue Ästhetik
betrachtet, nicht als echten Protest. Die Einzelheiten des Projekts wurden ihr nicht recht klar.
»Das ist Jed«, sagte Leah, »und das sind Katie und Liam, und das ist Paul. Leute, das hier ist
Keisha, sie …« »Nein. Natalie.« »Sorry, das ist Natalie, wir sind zusammen zur Schule
gegangen«, sagte Leah. »Sie studiert hier, sie ist Juristin. Ist das schräg, euch hier zu treffen!« Als
Leah diesen Leuten eine Runde Bier anbot – »Nein, bleibt sitzen, das geht auf uns« –, geriet
Natalie Blake in Panik, denn ihr Budget war äußerst streng kalkuliert und ließ keinen Raum, um
irgendwelchen Pennern, mit denen sie noch nie ein Wort gewechselt hatte, eine Runde zu
schmeißen. Doch an der Theke wedelte Leah mit einem Zwanziger, und Natalies Aufgabe
beschränkte sich darauf, sechs Pintgläser auf einem runden Tablett unterzubringen, das eigentlich
nur für fünf gedacht war.
»Lee, woher kennst du die denn überhaupt?«
»Aus Newbury!«
60. Und es fiel von ihren Augen wie Schuppen

Anscheinend war es wichtig, »dauerhaft Druck zu machen«, um die Regierung am Bau


der Umgehungsstraße zu hindern. Rodney hörte sich das alles an und deutete dann nur auf die
Bücher auf seinem Schreibtisch, die das eindrucksvolle Gewicht der Rechtsprechung
verkörperten, mehrere Tausend Seiten dick, mit erbarmungslos nüchternen Einbänden. Leah
änderte ihre Taktik: »Eigentlich ist das ja ein Rechtsproblem – es sind jede Menge Jurastudenten
mit dabei. Das ist eine gute Erfahrung, Rodney, das muss doch sogar dir klar sein, selbst Richter
Rodney vom Großen Weltgericht.« Natalie Blake merkte, dass sie lächelte. In diesem Moment
konnte sie sich nichts Schöneres vorstellen, als mit ihrer guten Freundin Leah Hanwell auf einem
Baum zu hocken, viele Hundert Kilometer weit weg von diesem bedrückenden Zimmer. Rodney
sah von seinen zivilrechtlichen Präzedenzfällen auf. Seine Miene war unerbittlich. »Wir
interessieren uns nicht für Bäume, Leah«, sagte er. »Den Luxus kannst du dir leisten. Wir haben
keine Zeit, uns für Bäume zu interessieren.«
61. Coup de foudre

»Mr De Angelis, wenn Sie bitte ab ›die Macht der Gewohnheit‹ weiterlesen würden – auf
der nächsten Seite oben«, sagte Professor Kirkwood, und in der ersten Reihe erhob sich ein
außergewöhnlicher junger Mann. Er war kein Jurastudent, trotzdem saß er hier in der
Rechtsphilosophie-Vorlesung. Er setzte sich aus Einzelteilen zusammen, die Natalie für
miteinander unvereinbar hielt und in ihrer Gesamtheit nur schwer nachvollziehbar fand. Er hatte
eine Ansammlung überraschender Sommersprossen. Seine Nase war auffallend lang und
ausdrucksvoll, auf eine Weise, die sie, hätte sie mehr gewusst, als »römisch« bezeichnet hätte.
Sein Haar war zu Dreadlocks gedreht, die das genaue Gegenteil von Leahs Dreadlocks waren,
fast makellos. Sie umrahmten sein Gesicht ordentlich und endeten gleich unterhalb des Kinns. Er
trug eine leichte Stoffhose, keine Strümpfe und diese Schuhe, durch deren Seiten Schnur gefädelt
ist, einen blauen Blazer und ein rosa Hemd. Ein unbeschreiblicher Akzent. Als wäre er irgendwo
in der Karibik auf einer Jacht geboren und von Ralph Lauren großgezogen worden.
62. Montaigne

Es gibt ein Land, da stellen die Jungfrauen ihre Schamteile unverhüllt zur Schau, während
verheiratete Frauen sie sorgfältig verhüllen. Anderswo bieten sich Männer in öffentlichen
Bordellen feil. Und wieder anderswo trägt man schwere Goldstangen durch Brüste und
Gesäßbacken gezogen, und die Männer wischen sich nach dem Essen die Hände am Hodensack
ab. Mancherorts lebt man von Menschenfleisch. Andernorts entscheidet der Vater, während das
Kind noch im Mutterleib ist, ob es behalten und großgezogen oder ausgesetzt und getötet werden
soll. Kirkwood hob die Hand, um die Erzählung zu unterbrechen. »Selbstverständlich«, sagte er,
»halten all diese Leute ihre jeweiligen Gewohnheiten für völlig alltäglich.« Ein paar Studenten
lachten. Natalie Blake und Rodney Banks waren noch damit beschäftigt, den Essay in der
Billigausgabe ausfindig zu machen, die sie sich teilten (meist kauften sie zusammen nur ein
Lehrbuch, und wenn sie damit durch waren, brachten sie es gleich wieder in eines der
Antiquariate neben der Universitätsbibliothek). Der Titel schien weder im Inhaltsverzeichnis
noch im Index enthalten zu sein, und der Umstand, dass sie nach wie vor nicht miteinander
redeten, erleichterte die Zusammenarbeit nicht gerade. »Welche Lektion ist hier für den Juristen
enthalten?«, fragte Kirkwood. Der bemerkenswerte junge Mann meldete sich. Selbst von ihrem
Platz aus sah Natalie Blake den Schmuck an seinen braunen Fingern und die elegante Uhr mit
dem Krokodillederarmband, die älter als Kirkwood aussah. Er sagte: »Selbst wenn man mit allen
möglichen Vernunftgründen bewaffnet vor Gericht aufläuft, leben wir doch in einer
vernunftwidrigen Welt.« Natalie Blake versuchte zu ergründen, ob das eine Antwort von
Interesse war. Kirkwood schwieg kurz, lächelte und sagte: »Sie haben ein großes Vertrauen in die
Vernunft, Mr De Angelis. Aber denken Sie mal an unser Beispiel von letzter Woche. Hunderte
von Zeugen treten in den Zeugenstand: gute Freunde, einstige Lehrer, einstige Ammen, einstige
Geliebte. Und alle sagen sie: Das ist Tichborne. Sogar die Mutter des Mannes tritt auf und deutet
auf ihn: Das ist mein Sohn. Die Vernunft sagt uns, dass der Anwärter sechzig Kilo schwerer ist
als der Mann, der er zu sein vorgibt. Die Vernunft sagt uns, dass der echte Tichborne Französisch
konnte. Und dennoch. Und wenn tatsächlich die Vernunft obsiegt hätte, wieso hat dann das Volk
auf den Straßen randaliert? Vertrauen Sie nicht zu sehr auf die Vernunft. Wissen Sie, ich glaube,
Montaigne ist da skeptischer. Ich glaube, ihm geht es gar nicht darum, dass Sie als Juristen
vernünftig sind und die anderen, das Volk, unvernünftig, oder auch nur darum, dass die Gesetze,
denen sich ein Volk unterwirft, unvernünftig wären, sondern dass diejenigen, die sich den
althergebrachten Gesetzen unterwerfen, zumindest das Argument von ›Schlichtheit, Gehorsam
und überkommnen Vorbildern‹ für sich haben – sehen Sie die Formulierung? Unten auf der
dritten Seite? Während diejenigen, die versuchen, sie, also die Gesetze, zu ändern, meist auf
irgendeine Weise grausig sind, geradezu monströs. Wir betrachten uns alle als die perfekte
Ausnahme.« Natalie Blake kam nicht mehr mit. Der junge Mann nickte langsam und
anerkennend, so wie man jemand Ebenbürtigem zunickt. Sein Selbstvertrauen schien
ungerechtfertigt, es ergab sich aus nichts, was er gesagt oder getan hätte. Ein Blatt wanderte
durch den Raum. Die Studenten waren angehalten, ihren vollen Namen daraufzuschreiben und
den Fachbereich, dem sie angehörten. Noch bevor sie ihren eigenen Namen hinschrieb, suchte
Natalie Blake nach seinem.
63. Erkundungsmission

Francesco De Angelis. BWL im zweiten Studienjahr. Allgemein »Frank« genannt. Würde


nächsten Monat um den Vorsitz der African and Caribbean Society kandidieren. Und ihn
wahrscheinlich auch bekommen. Hatte ein »zweitklassiges Internat« besucht. Das aus dem Mund
eines Menschen, der selbst eine »Grammar School« besucht hatte. Außerdem: »Seine Mutter ist
Italienerin oder so was. Und sein Vater bestimmt irgendein afrikanischer Prinz, so ist das doch
meistens.«
64. Einschub zum Bildungswesen

(Manche Schulen »besuchte« man. Auf der Brayton »war« man einfach nur.)
65. 8. März

Wie es der Zufall wollte, fiel Leahs dritter Besuch mit einem Galadinner zum
Internationalen Frauentag zusammen. Ein willkommener Vorwand, Rodney nicht zu treffen.
Leah trug ein grünes Kleid und Natalie ein lilafarbenes, und sie zogen sich gemeinsam um und
betraten Arm in Arm den Speisesaal. Die sichtliche Freude, die sie aneinander hatten, ihre tiefe
Vertrautheit und ihr ungezwungener Umgang miteinander ließen sie zusammen sehr viel
attraktiver wirken, als es jeder einzeln je gelungen wäre, und weil sie sich dessen durchaus
bewusst waren, betonten sie ihre Ähnlichkeiten in Größe und Körperbau und bewegten die
langen Beine im Gleichschritt. Als sie ihren Tisch erreichten, war Natalie wie berauscht von dem
Zauber, jung zu sein, fast schon frei von einem Mann, der sie langweilte, und im Begriff, ein
Abendessen mit mehr als zwei Gängen einzunehmen.
66. Das Menü

Honigmelone an Cocktail von Riesengarnelen

Hähnchenbrust im Speckmantel mit grünen Bohnen


und Juliette-Kartoffeln

Warmer Schokoladenkuchen mit

Bourbon-Vanille-Eis

Käseauswahl

Kaffee, Dinner Mints

67. Begehren

»Wer ist das?«, fragte Leah Hanwell.


»Die Dekanin«, sagte Natalie Blake und leckte sich etwas Schokolade von den Zähnen.
»Und wenn sie endlich aufhören würde zu labern, könnten wir rüber in die Bar gehen.«
»Nein, die Frau da drüben an dem Tisch. Mit dem Zylinder.«
»Was?«
»Chinesin oder Japanerin – da drüben.«
»Ach so, die kenn ich nicht.«
»Sie ist so wunderschön!«
68. Valentino

Koreanerin. In der Bar legte sie ihren Hut auf den Tisch, und während Natalie Blake sich
mit jemand anderem in der Sitzecke unterhielt, griff sie, Natalie Blake, immer wieder nach dem
Hut und strich über die satinbezogene Krempe. Hinter sich hörte sie, wie ihre gute Freundin Leah
Hanwell mit der Koreanerin redete, die Alice hieß, sie zum Lachen brachte, und als Natalie an die
Theke ging, um neue Getränke zu holen, hatte sie einen unverstellten Blick auf Leah in der Pose
des traditionellen Ladykillers: einen Arm auf der Sofalehne, die andere Hand auf Alice’ Knie,
den Mund ganz nah am hinreißenden Hals des Mädchens. Natalie Blake hatte Leah schon oft bei
so etwas beobachtet, bisher aber nur mit Männern, und das hatte immer etwas leicht Skandalöses,
Verkehrtes an sich gehabt, während die Rollenverteilung jetzt ganz natürlich wirkte. Dieser
Gedanke gab Natalie Anlass, sich über sich selbst zu wundern und sich zu fragen, wo sie
eigentlich derzeit mit Gott stand, ob sie überhaupt noch irgendwo mit ihm stand. Ohne den Blick
abwenden zu können, zwang sie sich, zur Musicbox zu gehen und den Song »Electric
Relaxation« von A Tribe Called Quest auszuwählen, in der Hoffnung, sich dabei zu entspannen.
69. Die Erfindung der Liebe, Teil eins

Frank war nicht in der Bar und auch sonst nirgends zu sehen.
70. Abschiede

Im Bus, auf dem Weg zum Busbahnhof, nach einem – man kann es nicht anders sagen –
einschneidenden Besuch, der sich womöglich sogar dem Status eines dramatischen Ereignisses
annäherte, sagte Leah Hanwell ziemlich verlegen: »Ich hoffe, es war nicht schlimm, dass ich
einfach so verschwunden bin. Wenigstens hattet ihr das Zimmer wieder für euch, du und
Rodders«, und mehr wurde an dem Tag nicht über Leah Hanwells Nacht mit Alice Nho gesagt,
und Natalie Blake erwähnte auch nicht, dass sie Rodney in der Nacht nicht in ihr Zimmer gebeten
hatte und das auch nie wieder tun würde. Der Bus kletterte einen fast senkrechten Hang hinauf.
Natalie Blake und Leah Hanwell wurden in ihren Sitz zurück- und aneinandergedrückt. »War
aber echt schön, dich zu sehen«, sagte Leah. »Du bist die Einzige, mit der ich so richtig ich selbst
sein kann.« Diese Bemerkung brachte Natalie zum Weinen, weniger aus Rührung als wegen der
erschreckenden Gewissheit, dass diese Aussage umgekehrt jede Bedeutung verlieren würde, weil
Ms Blake ja gar kein Selbst besaß, das sie hätte sein können, weder mit Leah noch mit sonst
irgendwem.
71. Als sie Leah half, den schweren Rucksack die Busstufen hochzuwuchten

Verspürte Natalie Blake den Drang, ihrer Freundin von dem exotischen brother zu
berichten, den sie in Kirkwoods Kurs gesehen hatte. Sie schwieg. Jenseits der schlichten
Tatsache, dass die Bustüren sich bereits schlossen, fürchtete sie, was der klaffende
sozioökonomische Unterschied zwischen Frank De Angelis und Rodney Banks ihrer Freundin
Leah Hanwell wohl über sie, Natalie Blake, sagen würde, rein psychologisch und als Mensch.
72. Roman(t)ische Sprachen

Viele der Männer, mit denen sich Natalie Blake nach Rodney Banks einließ, waren ihr in
sozioökonomischer und kultureller Hinsicht ebenso fremd wie Frank und zogen sie sehr viel
weniger an, trotzdem ging sie nicht auf Frank zu und er nicht auf sie, obwohl sie einander sehr
deutlich wahrnahmen. Etwas poetischer könnte man es folgendermaßen formulieren:
»Ihr Weg führte so unausweichlich aufeinander zu, dass er allerhand Abzweigungen auf
der Strecke begünstigte.«
73. Ich allein verfasse

Prosaischer gesprochen war Natalie Blake wie verrückt damit beschäftigt, sich selbst neu
zu erfinden. Sie streifte Gott so reibungs- und schmerzlos ab, dass sie sich fragen musste, was sie
eigentlich bisher mit diesem Wort gemeint hatte. Dafür entdeckte sie die Politik und die Literatur,
die Musik, das Kino. »Entdecken« ist nicht das richtige Wort. Sie glaubte felsenfest an diese
Dinge und konnte nicht begreifen, wieso praktisch alle ihre Kommilitonen sie – just in dem
Moment, da sie, Natalie Blake, sie wahrnahm – als tot abtaten. Wenn andere Studenten sie nach
Frank De Angelis fragten – sie war nicht die Einzige, der auffiel, wie gut sie grundsätzlich
zusammenpassten –, erklärte sie, er sei ihr viel zu arrogant und eingebildet und vornehm und in
seiner Rassenidentität verwirrt und ganz und gar nicht ihr Typ, und dennoch gewann das stumme,
unsichtbare Band zwischen ihnen immer mehr an Kraft, denn wen, wenn nicht Frank De Angelis
– oder jemanden, der ganz genauso war wie Frank De Angelis –, hätte sie bitten können, sie auf
dem sonderbaren Lebensweg zu begleiten, der vor ihr lag?
74. Sichtung

Fünf Reihen vor ihr bei der Spätvorstellung von Orfeu Negro sah er zu seinem
Doppelgänger hoch.
75. Aktionismus

Natalie radelte den University Walk entlang, als ihr ein junger Mann, mit dem sie schlief,
in den Weg trat und sie am Weiterfahren hinderte. Er wirkte wie im Fieber, und Natalie dachte
erst, er wolle ihr unsterbliche Liebe schwören. »Hast du eine halbe Stunde?«, fragte Imran. »Ich
will dir was zeigen.« Natalie wendete ihr Fahrrad zur Woodland Road und machte es vor Imrans
Studentenwohnheim fest. In seinem kleinen Zimmer hockten zwei weitere Mädchen aus ihrem
Jahrgang und ein Doktorand, den sie nicht kannte. »Das ist die Aktionsgruppe«, erklärte Imran
und schob ein Video in den Rekorder. Natürlich war Natalie über den Bosnienkonflikt informiert,
aber man muss doch gerechterweise sagen, dass dieser Krieg sie nicht vorrangig beschäftigte. Sie
sagte sich, es müsse wohl daran liegen, dass sie keinen Fernseher besaß und den Großteil ihrer
Zeit in der Bibliothek verbrachte. Zwei Jahre zuvor war es ganz ähnlich gewesen, als ihr durch
ein und denselben Zeitungsartikel bewusst wurde, dass es ein Land namens »Ruanda« gab und
dass dort ein Völkermord stattfand. Jetzt saß sie im Schneidersitz auf dem Boden, sah Soldaten
aufmarschieren, lauschte der Aufnahme, in der dieser Verrückte herumbrüllte, und las die
Untertitel, in denen es um rassische Säuberung und ein Fantasieland namens »Großserbien« ging.
Und das passierte jetzt? Jetzt gerade? Am Ende der Geschichte? Sie dachte daran, wie oft sie und
Leah schon überlegt hatten – einfach nur als Gedankenspiel –, was sie wohl getan hätten, wenn
sie 1933 in Berlin gewesen wären. »Wir wollen einen Krankenwagen mit Hilfsgütern nach
Sarajewo fahren«, sagte Imran. »Um beim Wiederaufbau zu helfen. Komm doch mit.« Das kam
einem Verstoß gegen das erste Gebot in Natalie Blakes Familie gleich: Du sollst dich nie ohne
Not körperlichen Gefahren aussetzen.
Die nächsten paar Wochen warf sich Natalie voller Engagement in die Organisation der
Reise und schlief mit Imran, und Jahre später erschien ihr diese Phase wie eine Art
Kristallisationspunkt aller radikalen Möglichkeiten ihrer Jugend. Sex, Protest und Reiselust
vereint. Dass sie die eigentliche Reise nie antrat, war im Rückblick gar nicht so wichtig wie die
Tatsache, dass sie fest vorgehabt hatte, sie anzutreten. (Ein Streit mit Imran, wenige Tage vorher.
Er rief sie nicht an, also rief sie ihn auch nicht an.)
76. Über die Stränge

Natalie Blake nahm einen umfangreichen Studienkredit auf und gab das Geld ganz
bewusst nur für Luxusgüter aus. Restaurants, Taxis, Unterwäsche. Bei dem Versuch, mit »den
anderen« Schritt zu halten, stand sie bald wieder mit leeren Händen da, doch wenn sie jetzt ihre
Kreditkarte in den Schlitz schob und hoffte, fünf Pfund abheben zu können, geschah das ohne die
bodenlose Angst, die sie früher mit Rodney Banks geteilt hatte. Sie kultivierte ein dekadentes
Lebensgefühl. Jetzt, da sie in der Ferne die Möglichkeit einer Zukunft aufschimmern sah, jagte es
ihr nicht mehr im gleichen Maß Angst ein, ihr Konto zu überziehen. Das Bild, das Marcia Blake
von solchen Menschen vor Augen stand und das sie an ihre Tochter weitergegeben hatte,
verschwand unter einer Lawine aus beiläufiger Blasphemie, Dope, Koks und Faulenzerei. Das
also waren die Leute, deretwegen die Blakes sich immer so tadellos benommen hatten? In der
Tube, im Park, beim Einkaufen. Wozu? Marcia: »Damit wir ihnen keinen Vorwand liefern.«
77. Sichtung!

Verkleidet als Frantz Fanon auf der Treppe bei einer Party, zu der Natalie ihrerseits als
Angela Davis erschienen war. Sein Kostüm bestand aus einem Namensschild und einem weißen
Kittel, den er sich von einem Medizinstudenten geliehen hatte. Natalie hatte mehr Aufwand
betrieben: ein Dashiki und ein wilder Afro, der nicht mehr besonders gut hielt, nachdem er
jahrelang mit dem Glätteisen traktiert worden war. Das Kostümfest fand in der WG von vier
Philosophiestudenten statt, und das Motto lautete: »Diskursbegründer«. Seine Begleitung kam als
Sappho.
78. Theoretische Überlegungen zur Beobachtung von Michelle Holland

Womöglich liegt es am Kapitalismus, der bereits so gründlich von den Köpfen und
Körpern der Frauen Besitz ergriffen hat, dass ihr Umgang miteinander stets auf
»erbarmungslosem Vergleich« fußt. Natalie Blake jedenfalls verfolgte die Umtriebe von Michelle
Holland fast aufmerksamer als ihr eigenes Leben – und zwar, ohne je mit ihr gesprochen zu
haben. Abgesehen von Rodney war Michelle der einzige andere Mensch an der Uni, der auch auf
der Brayton gewesen war. Ein Mathegenie. Den Luxus der Durchschnittlichkeit kannte sie nicht.
Aufgewachsen in den brutalen Hochhaustürmen im Süden Kilburns, für die rein gar nichts
sprach, keine stolze Gemeindekultur, keine hübschen Grünflächen wie in Caldwell und auch,
vermutete Natalie, keine engen Nachbarschaftsbeziehungen. Wie sollte sie da nicht
außergewöhnlich sein? Vater im Knast, Mutter in der Geschlossenen. Bei der Großmutter
aufgewachsen. Sie war empfindsam und ehrlich, linkisch defensiv, einsam. Natalie lebte in der
Überzeugung, sie, Natalie Blake, brauche kein Wort mit Michelle Holland zu wechseln, um das
alles zu wissen – sie brauchte sich bloß anzusehen, wie Michelle sich bewegte, schon wusste sie
Bescheid. Ich allein verfasse. Folglich war Natalie auch kein bisschen überrascht, als sie von
Michelles Absturz etwa auf der Hälfte des Abschlussjahres erfuhr. Kein Alkohol, keine Drogen,
kein schlechtes Benehmen. Sie hörte einfach auf. (So interpretierte es Natalie.) Sie hörte auf,
Vorlesungen zu besuchen, zu studieren, zu essen. Man hatte von ihr verlangt, sich ganz durch ein
Loch zu quetschen, in das sie nur halb hineinpasste. (So Natalies Schlussfolgerung.)
79. Das Ende der Geschichte

Wenn Natalie jetzt ans Erwachsenenleben dachte (was sie so gut wie nie tat), sah sie
einen langen Gang vor sich, von dem zahllose Zimmer abgingen – die alle Freunde beherbergten
–, eine Gemeinschaftsküche, ein riesiges gemeinsames Bett, wo alle zusammen schliefen und
bumsten, eine Welt, die vom Prinzip der Freundschaft beherrscht wurde. Obiges ist natürlich eine
Metapher – aber auch die grundsätzlich zutreffende Darstellung von Natalies damaligem Denken.
Denn wie soll man Freunde unterdrücken? Wie soll man Freunde betrügen? Wie soll man
Freunde leiden lassen, um selbst Erfolg zu haben? Auf diese schlichte Weise – ganz ohne
Protestmärsche und Parolen, ohne Politik und ohne das ganze Durcheinander, das entsteht, wenn
man Pflastersteine aus dem Boden reißt – hatte die Revolution Einzug gehalten. Als später
Partygast befolgte Natalie Blake endlich begeistert den Rat ihrer guten Freundin Leah Hanwell
und fing an, auf der Tanzfläche Wildfremde zu umarmen. Sie betrachtete die kleine weiße Pille in
ihrer Hand. Was sollte schon schiefgehen, jetzt, wo alle Freunde waren? Immer eine Flasche
Wasser dabeihaben. Und außerdem, es war ja sowieso alles schon beschlossene Sache. Nicht
kauen. Schlucken. Lichtblitze flackern. Der Beat hört nicht auf. (Ich werde Anwältin, und du
wirst Arzt, und er wird Lehrer, und sie wird Bankerin, und wir werden alle Künstler, und die
werden Soldaten, und ich werde die erste Schwarze sein und du der erste Araber und sie die erste
Chinesin, und alle werden wir Freunde sein, alle werden wir einander verstehen.) Freunde sind
freundlich zueinander, Freunde helfen einander aus der Patsche. Keiner braucht außergewöhnlich
zu sein. Freunde kennen den Unterschied zwischen Solicitor und Barrister, sie wissen, wo man
sich am besten bewirbt und wo man am wahrscheinlichsten genommen wird, und kennen alle
wichtigen Stipendien und Fördereinrichtungen. »Seine Freunde sucht man sich aus, seine Familie
nicht.« Wie oft Natalie Blake diesen Satz wohl hörte?
80. Ideologie in der Unterhaltungskultur

Und damit es auch wirklich keiner vergaß, machte die beliebteste Fernsehsendung der
Welt es noch einmal ganz deutlich, fünf Mal die Woche.
81. Der Ungetröstete (Leahs sechster Besuch)

»Oh Gott, ich hab gerade Rodney bei Sainsbury’s gesehen!«, rief Leah ganz außer sich
und stellte zwei Einkaufstüten auf den Tisch. »Ich habe in seinen Korb geschaut. Da war eine
Pastete drin und zwei Dosen Ginger Ale und eine Flasche von dieser scharfen Soße, die man auf
alles draufmachen kann. An der Kasse stand ich direkt hinter ihm, und er hat so getan, als hätte er
was vergessen, und ist abgehauen. Aber dann habe ich ihn kurz darauf wieder an einer Kasse
ganz hinten gesehen, und er hatte noch genau dieselben vier Sachen im Korb.«
82. Berufsanfängertag

Ein festlicher, turbulenter Anlass, fast so gut besucht wie die Freshers’ Fair der
Studienanfänger, obwohl die Plakate hier nicht handgemalt waren und nicht für die
Tolkien-Gesellschaft oder den Uni-Chor warben, sondern die wohlklingenden Namen von
Anwaltskanzleien und die vertrauten Namen von Banken trugen. Junge Frauen in
Cheerleader-Outfits mit dem Logo einer Unternehmensberatung liefen durch den Saal und
verteilten kleine Eisbecher und Dosen mit Energydrinks. Natalie Blake drehte ihre Dose in der
Hand, um den Slogan darauf lesen zu können: Claim Your Future. Mit einem kleinen Löffel aus
hellem Holz stocherte sie in dem Eisbecher herum und sah zu, wie die grünen Luftballons einer
deutschen Bank sich aus ihrer Halterung lösten und langsam hinauf zur Decke stiegen. Von
irgendwoher hörte sie Rodneys Stimme. Er hockte drei Tische weiter mit ungeheurem Eifer auf
dem äußersten Rand eines Plastikstuhls. Ihm gegenüber saß ein Mann in Anzug und Krawatte
und machte sich belustigt Notizen auf einem Clipboard.
83. Metaphernmix
Anderthalb Jahre später, als alle nach London zurückgekehrt oder gezogen waren und
Natalie auf die Zulassung als Barrister hinarbeitete, schickte Rodney Banks einen Brief an
Marcia Blakes Adresse, der mit den Worten begann: »Keisha, Du redest immer davon, Deinem
Herzen zu folgen, aber es ist schon komisch, dass Dein Herz so genau weiß, wie es sich betten
muss.« Frank De Angelis nahm Natalie Blake den Brief ab und küsste sie auf den Scheitel.
»Armer alter Rodney. Versucht er etwa immer noch, Anwalt zu werden?«
84. Gruppendenken

Ein Fernsehwerbespot der Armee. Ein Trupp Soldaten springt aus einem tieffliegenden
Hubschrauber auf den Boden. Wackelnde Kamera: Wir sollen glauben, die Männer würden
angegriffen. Sie laufen durch eine unwirtliche Gegend voller Wind und Staub, über eine Lichtung
und kommen schließlich an den Rand einer Schlucht. Die Holzbrücke, von der sie gehofft hatten,
sie würde sie auf die andere Seite führen, ist halb zerstört. Zersplitterte Bohlen hängen in den
Abgrund hinab. Die Soldaten mustern den Abgrund, sie mustern einander und die schweren
Armeerucksäcke, die sie geschultert haben.
85 Lincoln’s Inn

Eine Gruppe von Anfängern in Abendgarderobe sah diesen Spot, auf Sessel und Sofas
verteilt, und unterhielt sich dabei lautstark. Auch Natalie Blake gehörte zu den Anfängern, doch
sie war schüchterner. Sie stand ganz hinten im Aufenthaltsraum und versuchte, so zu wirken, als
wäre sie mit den Getränken beschäftigt. Jetzt sah man Textzeilen, wie mit dem Brenneisen auf
den Bildschirm geprägt. Dazu ertönte die Stimme des Ausbildungsoffiziers:
WENN SIE JETZT DENKEN: WIE KOMM ICH DA BLOSS RÜBER, DANN IST DIE
ARMEE NICHTS FÜR SIE.
WENN SIE ABER DENKEN: WIE KOMMEN WIR DA BLOSS RÜBER, DANN
MELDEN SIE SICH BEI UNS.
»Ich frag mich vor allem: Wie kommt ihr hier bloß rüber?«
Er deutete auf den Fernseher, und um ihn herum lachten alle. Sie erkannte seine Stimme
sofort, diesen verruchten Mailänder Tonfall.
86. Stil

Die Dreadlocks waren verschwunden. Seine Smokingjacke schlicht, elegant. Aus der
Brusttasche schaute ein gestärktes rosa Taschentuch, und seine Socken hatten ein helles
Rautenmuster. Die Nikes waren etwas gewagt und nagelneu. Er wirkte gar nicht mehr exotisch.
(Inzwischen kleideten sich praktisch alle Rapper so. Geld war in Mode.)
87. Das erste Sponsoren-Dinner des Herbstsemesters

Natalie Blake war »Captain« ihrer Abteilung. Sie war sich nicht sicher, was das heißen
sollte. Sie stand hinter ihrem Stuhl am ihr zugewiesenen Tisch und wartete auf ihren Sponsor,
einen gewissen Doktor Singh. Sie schaute zum Deckengewölbe hinauf. Eine junge Weiße in
einem Satinkleid kam heran und stellte sich neben sie. »Schön, nicht? Dies majestätische Dach,
mit goldnem Feuer ausgelegt! Hallo, ich bin Polly. Ich gehöre zu deiner Gruppe.« Neben Polly
erschien ein junger Mann namens Jonathan, der meinte, »Captain« hieße nur, dass man das Essen
von links serviert bekäme. Porträts der ehrwürdigen Verstorbenen. Schweres Tafelsilber.
Fischbesteck. Die Richter marschierten in ihren langen, flatternden Talaren in den Saal und
verneigten sich. Ein lateinisches Tischgebet wurde angestimmt. Gelangweilte, zufriedene
Stimmen wiederholten die fremdartigen Worte.
88. Die Erfindung der Liebe: Teil zwei

Natalie Blake breitete gerade die dicke Leinenserviette über ihren Schoß, als sie Frank De
Angelis entdeckte, der zu spät kam, auf ihren Tisch zuhielt, sie seinerseits entdeckte. Er sah
umwerfend aus, mehr denn je wie Orfeu. Seine Reaktion schmeichelte ihr: »Blake? Toll siehst du
aus! Toll, dich zu sehen. Oh Captain, mein Captain ...« Er verbeugte sich leicht und setzte sich
dann ganz dicht neben sie, Schenkel an Schenkel, überflog die Speisenfolge, verzog das Gesicht.
»Cottage Pie. Wie ich Italien vermisse!« »Du wirst es überleben.« »Ihr kennt euch schon?«,
fragte Polly. Und es lag tatsächlich etwas Vertrautes in der Art, wie sie miteinander sprachen, die
Köpfe zusammengesteckt, den Blick in den Raum gerichtet. Natalie fand sich mühelos in diese
Rolle ein und musste sich aktiv ins Gedächtnis rufen, dass es diese Vertrautheit bis heute Abend
nicht gegeben hatte. Sie entstand gerade in diesem Moment und ihre Geschichte mit ihr.
Der schlechte Wein floss in Strömen. Ein uralter Richter erhob sich, um eine Rede zu
halten. Seine Augenbrauen standen weit vom Kopf ab, wie bei einer Eule, und er kam zuverlässig
auf die erste Aufführung von Was ihr wollt sowie auf die marodierenden Bauern zu sprechen, die
einst die Gesetzbücher verbrannten: » ... und leider finden wir, wenn wir Omans Übersetzung der
Anonimalle Chronicle konsultieren, dort eine recht entmutigende Darstellung unseres
Berufsstands ... Denn als man sie in unserer ureigenen Temple Church in die Enge getrieben
hatte, unternahmen unsere nicht ganz so edlen Vorgänger wenig, um dem wütenden Mob Einhalt
zu gebieten. Ich darf zitieren: Es war ein wundersames Schauspiel, wie selbst die Ältesten und
Gebrechlichsten unter ihnen mit der Leichtfüßigkeit von Ratten und bösen Geistern davonstoben
... Heute allerdings, das kann ich Ihnen versichern, sind Enthauptungen erfreulich selten
geworden – zumindest hier in London! –, und die Anfeindungen gegen die Anwaltschaft
beschränken sich im Allgemeinen auf ...« Natalie war wie gebannt. Allein der Gedanke, dass ihr
Dasein mit dem von Menschen zusammenhing, die vor sechshundert Jahren gelebt hatten! Sie
war nicht mehr der zufällige Gast bei Tisch, als der sie sich seit jeher betrachtete, sondern eine
Gastgeberin unter lauter anderen Gastgebern, die eine Tradition fortführten. »Und so fällt es nun
Ihnen zu«, sprach der Richter, und Frank sah zu Natalie hin und versuchte, ihren Blick
aufzufangen, und gähnte übertrieben. Natalie verschränkte die Arme noch energischer auf dem
Tisch und wandte ihr Gesicht dem Richter zu. Kaum hatte sie das getan, kam es ihr wie Verrat
vor. Aber wer war Frank De Angelis schon für sie? Und dennoch. Sie sah ihn an und hob ein
klein wenig die Augenbrauen. Er zwinkerte ihr zu.
89. In Zeitlupe

Eine polnische Kellnerin umrundete diskret den Tisch, um die Vegetarier auszumachen.
Frank redete viel und wild durcheinander, taumelte von Thema zu Thema. Wo sie früher nur
widerliches Anspruchsdenken wahrgenommen hatte, entdeckte Natalie jetzt Unsicherheit, die
klar und wahr unter allem lag. War es möglich, dass sie ihn nervös machte? Dabei saß sie doch
nur ganz ruhig hier und schaute auf ihren Teller. »Du hast die Haare anders. Sind die echt? Ist das
deine Butter? Hast du das mit James Percy mitgekriegt? Er ist gerade Partner geworden. Auf
Anhieb. Du siehst gut aus, Blake. Richtig toll. Ehrlich, ich dachte, du bist längst durch, wenn ich
hier ankomme. Was hast du denn das ganze Jahr gemacht? Hier kommt meine Beichte zwischen
zwei Bissen Brot: Ich war Ski fahren. Aber für den juristischen Aufbaukurs war auch noch Zeit
genug. Ich bin also nicht der Penner, für den du mich hältst.« »Ich halte dich doch nicht für einen
Penner.« »Oh doch, tust du. Nein, ich nehme bitte den Rinderbraten. Aber was hast du so
getrieben?« Natalie Blake war nicht Ski fahren gewesen. Sie hatte in einem Schuhgeschäft im
Brent Cross Shopping Center gejobbt, Geld gespart, bei ihren Eltern in Caldwell gewohnt und
davon geträumt, das Mansfield-Stipendium zu bekommen, was ihr tatsächlich ...
Da tauchte sehr zerknirscht Doktor Singh auf und ersetzte den turbanbewehrten
Potentaten, den Natalie vor ihrem inneren Auge gesehen hatte, durch eine zierliche, kahl
geschorene Dame Mitte dreißig, unter deren Talar eine dunkelrote Seidenbluse hervorblitzte. Sie
setzte sich. Der Richter kam zum Schluss. Der Beifall klang wie ein Aufschrei.
90. Kontextprobleme

Vom Flirten mit Francesco De Angelis ging Natalie Blake nun dazu über, Doktor Singh
all ihre akademischen Leistungen aufzuzählen. Doktor Singh wirkte erschöpft. Sie schenkte
Natalie Wasser nach. »Und was machen Sie in Ihrer Freizeit?« Frank beugte sich hinüber. »Für
Freizeit bleibt keine Zeit – sie ist nämlich eine Lohnsklavin. Hat ja lange Tradition.« Das war mit
Sicherheit als Witz gemeint, wenn auch ziemlich platt, und Natalie zwang sich zu lachen,
registrierte aber, dass Polly errötete und Jonathan starr auf den Tisch schaute. Frank versuchte,
sich zu retten, indem er eine breitere soziologische Perspektive aufmachte. »Aber wir sind ja
auch gewissermaßen eine aussterbende Art.« Er sah sich im Saal um, eine Hand an der Stirn.
»Moment. Da drüben ist noch einer. Das macht insgesamt vielleicht sechs. Die Zahlen sinken.«
Er war betrunken und blamierte sich. Sie fühlte mit ihm. Das »wir« klang seltsam aus seinem
Mund – unnatürlich. Er wusste ja nicht einmal, wie er das sein sollte, was er war. Woher auch?
Sie war völlig damit beschäftigt, sich zu beglückwünschen, weil sie sich in Francesco De Angelis
einfühlen und seine sonderbare Misere so genau analysieren konnte, und so fiel ihr erst einen
Moment später auf, dass Doktor Singh sie beide stirnrunzelnd musterte.
»Wir haben hier ein höchst effizientes Gleichstellungsprogramm«, sagte Doktor Singh
steif und wandte sich der blonden jungen Frau zu ihrer Linken zu.
91. Mittwoch, 12 Uhr 45: Fürsprache

Vier Studenten und eine Dozentin nahmen ihre Plätze vorn im Seminarraum ein. Kläger
und Beklagte erhielten Namen wie aus dem Kinderbuch: Herr Zaster der Geldwäscher, Herr
Zündel der Feuerteufel. Zu diesem Zeitpunkt war Natalie Blake gezwungen, den Raum zu
verlassen und die Toilette aufzusuchen, um ihre Haare zu bändigen. Es war viel zu warm für die
Jahreszeit, und sie war nicht darauf vorbereitet. Schweiß perlte auf der Kopfhaut zwischen den
geglätteten Haaren hervor und kräuselte sie, und je mehr sie daran dachte, desto schlimmer wurde
es. Bei allem Ehrgeiz war sie im Herzen doch immer noch das Mädchen aus NW und konnte die
drohende Krise nicht einfach ignorieren. Sie eilte den Gang entlang. Im Waschraum ließ sie
kaltes Wasser ins Waschbecken, strich sich das Haar zurück und tauchte das Gesicht hinein. Als
sie wiederkam, war nur noch neben Francesco De Angelis ein Platz frei. Hatte er den für sie frei
gehalten? Die Erfindung der Liebe: Teil drei. Als sie sich setzte, spürte sie seine Hand am Knie.
Oberhalb der Tischplatte schob er ihr einen Bleistift hin.
»Tut mir leid wegen neulich abends, Blake. Manchmal bin ich echt ein Blödmann.
Eigentlich meistens.«
Dieses Phänomen war Natalie Blake bisher noch nicht untergekommen: ein Mann, der
von sich aus einen Fehler erkannte und sich dafür entschuldigte. Viel später in ihrem
gemeinsamen Leben kam Natalie Blake der Gedanke, dass die Freimütigkeit ihres Mannes
vielleicht auch nur eine weitere Konsequenz seiner ungewöhnlich privilegierten Stellung war.
Doch an diesem Nachmittag fand sie ihn einfach nur entwaffnend und war dankbar.
»Mach lieber schnell, du hast ganz schön viel verpasst.« Er flüsterte ihr die bisherigen
Übereinkünfte ins Ohr, mit großem Selbstbewusstsein und so viel Show und
Zusatzkommentaren, dass sie ihn in Echtzeit redigieren musste, während sie sich die
Informationen notierte und die Berufungsbegründungen mit Spiegelstrichen auflistete. »Und hier
kommt auch schon unser Junior Counsel. Das war’s – du bist auf dem aktuellen Stand.« Der
Junior Counsel erhob sich. Natalie drehte sich so, dass sie Frank im Profil sah. Er war wirklich
der schönste Mann, der ihr je begegnet war. Breit, imposant. Die Augen eine Schattierung heller
als die Haut. Sie wandte sich wieder um und musterte den Junior Counsel. Er sah aus wie zwölf.
Sein Plädoyer war unbeholfen; er sah praktisch nie von seinem dicken Stapel Din-A4-Blätter auf
und sprach die Dozentin zweimal mit »Your Lordship« an.
92. Nach Tisch

»Wo sind wir? Wieso bin ich hier?«


»In Marylebone. London reicht nicht nur bis zur Kilburn High Road.«
»Aber ich muss nach Hause.«
»Du hörst dich an wie E.T.«
»Bring mich zurück, Frank. Ich kenn mich hier doch gar nicht aus.«
»Manchmal kann ein bisschen Verunsicherung auch ganz schön sein.«
»Aber morgen früh haben wir Moot Court. Mein Gott, war dieses Essen schlecht. Und ich
hab viel zu viel Wein getrunken. Du musst doch auch heim.«
»Ich bin daheim. Ich wohne gleich hier.«
»Hier wohnt doch keiner.«
»Oh ihr Ungläubigen! Die Wohnung gehört meiner Großmutter. Warum versuchst du
nicht einfach mal, dich zu amüsieren?«
93. Simpatica

Der Kühlschrank war leer, bis auf eine große rosa Schachtel von Fortnum & Mason. Sie
enthielt vier Reihen Macarons in geschmackvollen Pastellfarben. Natalie Blake trug sie dorthin,
wo Frank saß, an der Kücheninsel gestrandet. Ringsum nichts als weißer Raum. Er nahm ihr die
Schachtel ab und legte ihr die Hände auf die Schultern.
»Entspann dich, Blake.«
»Wie soll ich mich denn in dieser Wartehalle hier entspannen?«
»Snobismus mal anders.«
»Ich hab solchen Hunger. Das Essen war wirklich scheußlich. Fütter mich.«
»Später.«
Er trug sie nach oben, vorbei an Gemälden und Lithografien, Familienfotos und einer
Chaiselongue in der Diele. Sie betraten ein kleines Dachzimmer ganz oben in der Wohnung. Das
Bett stand direkt unter den Dachsparren; immer wieder stieß sie mit dem Ellbogen an das
Bücherregal. Juristische Wälzer, Tolkien, jede Menge Horrortaschenbücher aus den Achtzigern,
Autobiografien von Managern und Politikern. Dazwischen entdeckte sie einen einsamen Freund,
Hundert Jahre Freiheit.
»Hast du das gelesen?«
»Ich glaube, meine Großmutter kannte ihn aus Paris.«
»Ist ein tolles Buch.«
»Ich nehm Sie beim Wort, Junior Counsel.«
94. Die Freuden des Benennens

Vielleicht ist Sex ja gar nichts Körperliches. Vielleicht ist Sex ja eine Sprachfunktion. Das
Repertoire ist begrenzt – es gibt nur soundsoviele Orte für soundsoviele Körperteile –, und
technisch war Rodney absolut nichts vorzuwerfen. Aber er sagte nichts. Während Franks alberne,
unkontrollierte, unbefangene, peinliche Geschichtenerzählerei hier, im Schlafzimmer, ihre wahre
Bestimmung fand.
95. Nach dem Akt

»Er kam aus Trinidad, wohnte in Süd-London, arbeitete bei der Eisenbahn. Sie sagt
immer ›Lokführer‹, weil das besser wirkt – stimmt aber nicht. Bahnwärter. Später hatte er dann
irgendwo einen Bürojob. Sie hat ihn im Park getroffen. Ich habe ihn nie kennengelernt. Harris.
Eigentlich müsste ich ›Frank Harris‹ heißen. Er ist tot. Das ist alles.«
Auch nackt plusterte er sich noch auf. Natalie Blake rutschte herum, bis sie oben lag, und
sah ihm in die Augen. Ein jungenhafter Ausdruck von Verletzlichkeit, Stolz und Angst war noch
ganz deutlich in dem erwachsenen Gesicht zu erkennen. Und natürlich fesselten sie gerade diese
Eigenschaften. »Dann ging sie schwanger mit mir zurück nach Mailand. Das war in den
Siebzigern. Danach Apulien. Dann England wegen der Schule. Das war nicht schlimm, es war
toll, so aufzuwachsen. Ich mochte meine Schule.« Einzelkind. Eine legendäre Familie, reich,
wenn auch nicht mehr so reich wie früher. »Es gab Zeiten, da hatte jeder italienische Haushalt,
der was auf sich hielt, eine Gasheizung von De Angelis ...« Kein Mensch wusste etwas mit seinen
Haaren anzufangen. Er sprach kaum Englisch. Gefährlich hübsch. Acht Jahre alt.
96. Ich allein verfasse

»Aber bei dir hört sich das an, als wäre ich ein Opfer, dabei will ich doch gerade sagen,
ich hatte eine richtig gute Zeit, das waren nur Kleinigkeiten, ich weiß eigentlich gar nicht, warum
wir überhaupt darüber reden. Du stellst lauter Suggestivfragen. Italiener mit seltenem negroidem
Einschlag verlebt glückliche Kindheit, lernt Latein, aus die Maus. Danach keine besonderen
Vorkommnisse mehr, von 1987 bis heute Nacht.« Er küsste sie überschwänglich. Vielleicht
würde sie ja immer auf ihn aufpassen, ihn dabei unterstützen, ein echter Mensch zu werden. Sie
war schließlich stark! Selbst wenn man in Caldwell vergleichsweise schwach gewesen war, war
das im richtigen Leben als eindrucksvolle Stärke zu werten. Das richtige Leben verlangte einem
schließlich viel weniger ab und war so viel simpler gestrickt.
97. Notabene

Natalie stellte sich nicht einmal die Frage, ob Franks Internatserfahrung bei ihm vielleicht
Ähnliches bewirkt hatte.
98. Halbjahrestag

»Frank, ich geh runter, ich kann einfach nicht arbeiten, wenn der Fernseher läuft. Kann
ich den Smith and Hogan mitnehmen?«
»Ja, und verbrenn ihn doch auch gleich.«
»Wie genau hast du vor, durch diese Prüfung zu kommen?«
»Mithilfe meines Genies.«
»Was guckst du da eigentlich?«
»MTV Base. Musikvideos sind die einzig erfreuliche Form moderner Kunst. Schau, ist
das nicht pure Lebensfreude?«
Er streckte den Arm aus dem Bett und legte den Finger auf eine Breakdancerin im weißen
Trainingsanzug. »Ich war gerade in Apulien, als er starb. Kein Mensch hat’s kapiert. Ein fetter
Gangsta? Ja und? So war da die Einstellung. In deren Augen ist das nicht mal Musik.«
Alles, was er sagte, klang wunderbar. Ihm fehlte nur das, was Italiener als forza
bezeichneten, aber dafür würde Natalie Blake schon sorgen (siehe oben).
99. Frank unterwegs in Sachen Leah

Die Sonne warf lange Schatten durch die Jalousien. Natalie Blake stand nervös in der
Wohnzimmertür, ein Glas Wodka in der Hand, allzeit bereit, jeglichen Riss zu kitten. Leah und
Frank saßen nebeneinander auf dem Chesterfieldsofa seiner Großmutter. Natalie sah, wie sehr
Leah zu sich gefunden hatte. Nicht mehr schlaksig: groß. Keine Karottenhaare mehr:
›kastanienfarben‹. Die experimentelle Phase war vorbei. Jeansrock, Hoodie, Fellstiefel, eine
dicke goldene Kreole in jedem Ohr. Zurück zu den Ursprüngen. Natalie Blake beobachtete, wie
ihr Freund Frank De Angelis schiefe weiße Lines auf der gläsernen Tischplatte zog, während ihre
gute Freundin Leah Hanwell einen Zwanzig-Pfund-Schein zu einem dünnen Röhrchen rollte. Sie
sah zu, wie er aufmerksam lauschte, während Leah von einem Mann erzählte, dessen Name, so
wie sie ihn aussprach, nach Mischell klang. Sie hatten sich gerade auf Ibiza kennengelernt. Frank
nahm seine Aufgabe sehr ernst. Er hatte begriffen, dass man Natalie Blake nicht lieben konnte,
wenn man nicht erst Leah Hanwell lieben lernte.
»Das finde ich ja hochinteressant: Ihr Mädels steht anscheinend auf Eurotrash. Etwa
nicht? Ist doch ein seltsamer Zufall. So viele gibt es nicht von uns. Ist das ein Wettbewerb?«
»Pass mal auf, mein Junge: Du bist vielleicht Eurotrash. Aber er ist aus Guadeloupe! Sein
Vater war bei der Widerstandsbewegung im Untergrund – irgendwann war er dann auf der
Flucht, und die ganze Familie musste mit. Jetzt ist der Vater Hausmeister an einer Schule in
Marseille. Seine Mutter ist Algerierin. Sie kann weder lesen noch schreiben.«
Frank senkte den Kopf und zog einen komischen Flunsch.
»Eins zu null für Hanwell. Der klingt ja echt wie das Tüpfelchen auf dem i. Der Sohn des
Widerstandskämpfers. Da muss ich die moralische Vorherrschaft wohl abtreten. Das Tüpfelchen
auf dem i bin ich nämlich definitiv nicht.«
Leah lachte. »Du bist das Koks auf der Tischplatte. Das schlampig zerteilte Koks.«
100. Natalie unterwegs in Sachen Elena
Ein Mittagessen in Mayfair. Eine bildschöne Frau lässt sich eine Auster in den Mund
gleiten. Ihr Handy ist so schmal und leicht, dass es problemlos in die Brusttasche ihrer
Seidenbluse passt. »Und, ist er fleißig?«, fragt sie. Elena De Angelis klopfte mit einer dünnen
Zigarette auf das Tischtuch und maß Natalie Blake mit einem zutiefst hinterlistigen Seitenblick.
Noch ehe Natalie eine Antwort stammeln konnte, lachte Elena auf. »Keine Angst – ich verlange
nicht von Ihnen, dass Sie mich anlügen. Cesco wird kein Jurist, das war von vornherein klar.
Aber ich hatte gehofft, es könnte ihm insgesamt nützlich sein, für die Entwicklung seiner
Persönlichkeit. Bei seinem Onkel war das so. Na. Immerhin hat er Sie kennengelernt. Sie sind die
erste echte Frau, die er mir vorstellt. Das will doch was heißen. Sagen Sie, stimmt es wirklich,
dass Sie eine bestimmte Anzahl Abendessen im Jahr absolvieren müssen, um als Barrister
zugelassen zu werden?« Natalie sah zu, wie Elena auf ihren Teller aschte. Sie wollte unbedingt
erfahren, wie diese Frau einen Bahnwärter aus Trinidad hatte lieben und verlieren können. »Ja«,
sagte sie, »zwölf. Im großen Speisesaal. Früher waren es sechsunddreißig.« Elena entließ zwei
Rauchfädchen aus den Nasenlöchern. »Was ist das nur für ein merkwürdiges Land!« Ein Kellner
näherte sich, und die Rechnung wurde irgendwie beglichen, ohne dass umständlich nach
Brieftaschen und Geld gekramt werden musste. Niemand erwähnte das Rauchverbot. »Cesco, ruf
bitte endlich deinen Cousin an. Ich habe ihm schon vor zwei Wochen gesagt, dass du dich
meldest, sie können den Posten nicht ewig frei halten. Das wird langsam unangenehm.«
101. Weiter, höher

Frank fiel mit Pauken und Trompeten durch die Zulassungsprüfung, kam eine
Dreiviertelstunde zu spät und ging zehn Minuten vor Schluss. Hinterher rief er gleich seine
Mutter an. Natalie sah, dass das Gespräch ihn aufheiterte. Elena war eine Frau, die die
spektakuläre Katastrophe dem herkömmlichen Scheitern deutlich vorzog.
Leah Hanwell hatte eine triste Wohnung südlich vom Fluss, in New Cross, gefunden, und
um der alten Freundschaft willen zog Natalie Blake dort mit ihr ein. Auf den langen
Dreiecksfahrten mit der Tube – New Cross, Lincoln’s Inn, Marylebone – las sie ihre Schriftsätze.
Sie schlüpfte zu Frank ins Bett. Schlüpfte heraus. Schlüpfte wieder hinein. »Wie spät ist es?«
»Viertel nach elf.« »Ich muss los!« Sie machte den Versuch, sich zum Aufstehen zu zwingen,
den Nachtbus Richtung Süden zu nehmen. »Deine Prinzipien verbringen mehr Zeit in dieser
Bruchbude als du«, bemerkte er. Sie sank zurück in die Kissen.
Von plötzlichem, schwer vorhersehbarem Scharfsinn.
Albern und immer liebevoll. Er rief sie ständig an.
Als sie gerade durch die Bahnsteigschranke ging, klingelte das Handy, das er ihr
geschenkt hatte: »Natalie Blake, du bist buchstäblich der einzige Mensch auf Erden, mit dem ich
es aushalte.«
Es war das Jahr, als plötzlich alle ›buchstäblich‹ sagten.
Frank saß an seinem Schreibtisch bei Durham and Macaulay Investments und spekulierte
auf die künftigen Preise von Dingen, die er ihr kaum erklären konnte. Weitere Symbole,
vermutete sie, diesmal allerdings welche, die sie nicht entschlüsseln konnte.
102. Bring dich in Sicherheit

Um sich vor sich selbst zu rechtfertigen, bemühte Natalie Blake ein althergebrachtes Bild.
Ein breiter Fluss. Unruhige Strömung. Vorwärts von Stein zu Stein. Caldwell, die Prüfungen, die
Uni, die Zulassungsprüfung – und nun die praktische Barrister-Ausbildung. Diese letzte Kluft
war fast zu breit, um sie zu überwinden. Es gab keine Stipendien mehr und in der ersten Hälfte
des Ausbildungsjahrs auch keine Möglichkeit, richtig Geld zu verdienen. Es lief auf einen
weiteren Kredit hinaus, dazu das Bausparbuch, das seit ihrer Kindheit unangetastet geblieben
war. Die Bausparkasse, ein ortsansässiger Betrieb, arbeitete ebenfalls mit althergebrachten
Bildern.
103. Kapitalistenschweine

Er hieß Peter und hatte einen münzgroßen Schlitz auf dem Rücken. Marcia Blake
verwaltete das rote Büchlein und verhandelte mit den Schalterbeamten. Wann immer eine
bestimmte Schlüsselsumme erreicht war – fünfundzwanzig Pfund, fünfzig Pfund, einhundert
Pfund –, bekam das Kind zunächst Peter, dann weitere Mitglieder der bausparkasseneigenen
Schweinefamilie. Im Haushalt der Blakes galten die Schweine als Ziergegenstände und standen
alle zusammen auf einem Regal im Wohnzimmer. Manchmal gewährte Marcia einen Blick auf
die »Guthaben«-Seite mit der unfassbaren – unantastbaren – Summe von beispielsweise
einundsiebzig Pfund. Natalie hatte das Geld nie angerührt, und jetzt, zwanzig Jahre später, war
doch einiges zusammengekommen. Ach, Erinnerungen! Vielleicht erinnerte sie sich ja auch noch
daran, wie sich die alten Ein-Pfund-Noten anfühlten? Schwer zu sagen: Nostalgie ist eine
entstellende Macht.
»Stehen Sie hier an?«
Natalie sah zu der munteren alten Dame hinunter, die neben ihr aufgetaucht war, ihr rotes
Büchlein fest in der Hand. Zögernd zeigte sie ihr eigenes rotes Buch: »Ich glaube schon.«
Doch die Schlange war ein unförmiges Etwas aus lärmenden NW-Anwohnern, die ihre
Sparbücher schwenkten und riefen und schubsten. Irgendwer sagte: »Wir brauchen endlich
System in dieser Schlange, Mann! Immer dasselbe Theater hier!« Und jemand anders: »Die
Leute haben keine Ahnung von echt britische Schlange.«
Die Aluminiumpfosten, die in regelmäßigen Abständen auf dem schmutzigen
Teppichboden platziert sein sollten, waren nicht aufgestellt. Natalie sah sie in einer Ecke neben
dem Schalter liegen.
»Sie sind dran. Los!«, rief die alte Dame, und Natalie Blake, die sich nicht sicher war, ob
nun Gerechtigkeit waltete oder nicht, ging zum ausgewiesenen Schalter, führte ein verstörendes
Gespräch mit einer Schalterbeamtin namens Doreen Bayles, kämpfte sich durch das Gedränge
hinaus auf die Kilburn High Road, lehnte sich an den Pfeiler der Bushaltestelle und weinte.
104. Einhundertzehn Prozent

»Ich bin so böse auf den Pfarrer«, meinte Marcia heulend. »Es ist so furchtbar, ich habe es
ihm im vollsten Vertrauen gegeben, und er hat mir hoch und heilig versprochen, dass du dein
Geld zurückkriegst, mit einhundertzehnprozentiger Garantie – Hand aufs Herz, so hat er mir das
versprochen, und es war doch für die Kirche und nur kurzfristig! Wir bauen die Gemeinde in
Laos aus, wir wollen die frohe Botschaft auch dort verbreiten, wo die Menschen sie wirklich
nötig haben. Ich kann das gar nicht glauben, ich wollte es doch wirklich nur abheben und dann
wieder einzahlen, und du hättest gar nichts merken sollen, weil es ja nur kurzfristig sein sollte,
nur zur Überbrückung, das hat er mir gesagt, und natürlich habe ich ihm das geglaubt! Er ist ein
guter Mensch. Aber jetzt bin ich gerade so böse auf den Pfarrer, Keisha! Als ich es gehört habe,
bin ich richtig ausgerastet. Ich bin einfach zu vertrauensselig, das ist der Grund, und das ist das
Schlimmste überhaupt, weil ich immer glaube, die Leute sagen die Wahrheit, wenn sie eigentlich
richtige Betrüger sind, richtige Lügner. Es ist richtig schwer, überhaupt noch Vertrauen zu haben
nach so etwas. Richtig schwer.«
105. Romantische Szene in Green Park

Natalie hatte die Regel aufgestellt, dass alle romantischen Unternehmungen für beide
Beteiligten erschwinglich sein mussten. Manchmal führte das zum Streit. Heute allerdings war
nichts dagegen zu sagen. Wochenendzeitungen. Promi-Interviews. Filmkritiken. Kommentare.
Kontaktanzeigen. Pralle Sonne. Picknick. Red Stripes.
»Ach, übrigens, ich hab mit Elena gesprochen – sie ist einverstanden.«
»Da kommt der Aufseher. Komm, Frank, wir setzen uns ins Gras – ich habe wirklich
keine Lust, zwei Pfund für einen Liegestuhl zu zahlen.«
»Hörst du mir eigentlich zu? Ich habe mit meiner Mutter geredet. Du bekommst das Geld
von uns.«
Natalie ließ die Wochenendbeilage sinken, wandte sich ab von Francesco De Angelis und
drückte das Gesicht an den Leinenstoff, rechnete mit Tränen, mit »Überwältigung«. Doch ihr
Gesicht blieb trocken, ihre Gedanken merkwürdig abwesend.
106. Parklife

Weibliche Person sucht männliches Gegenstück zwecks liebevoller Beziehung. Und


umgekehrt.
Sozial niedriggestellte Person mit geistigem Kapital, aber ohne größere finanzielle Mittel,
sucht höhergestellte Person mit deutlich größeren finanziellen Mitteln zwecks größtmöglichem
beiderseitigem Nutzen, darunter höhere Lebenserwartung, bessere Ernährung, kürzere
Arbeitszeiten und früherer Ruhestand sowie viele weitere Vorteile.
Menschentier auf der Suche nach Nahrung und Schutz sucht Menschentier des anderen
Geschlechts, das sie mit Nachwuchs versorgt und bei ihr bleibt, bis besagter Nachwuchs mit
größter Wahrscheinlichkeit auch allein überleben kann.
Auf das eigene Überleben bedacht, konzentrieren sich manche Gene auf das, was ihnen
die größtmögliche Chance zur Reproduktion bietet.
107. Komm, nicht streiten

Er redete immer noch. Er hatte sein Erwachsenengesicht aufgesetzt, das er jeden Tag bei
der Arbeit trug. Sie wusste, das war alles nur Fassade. Dass er ihr nicht erklären konnte, worin
seine Arbeit genau bestand, lag nicht daran, dass es zu kompliziert für sie gewesen wäre (obwohl
es das war), sondern daran, dass er es im Grunde selber nicht verstand. Er mogelte sich jeden Tag
durch. Sie hatte immer schon gewusst, dass sein Selbstwertgefühl anfällig war und auf tönernen
Füßen stand, und diese Eigenschaft – ihren bisherigen Erfahrungen nach unter Männern
flächendeckend verbreitet – erschien ihr als geringer Preis für seine bereits erwähnte Ehrlichkeit,
sexuelle Offenheit und Schönheit.
»... und das hab ich Elena auch genau so gesagt: Die Frau schließt mit der zweitbesten
Note des ganzen Jahrgangs ab – selbst wenn ich sie nicht lieben würde, macht es doch keinen
Sinn, solche Fähigkeiten einfach verkommen zu lassen, weil kein Geld da ist – das macht rein
ökonomisch keinen Sinn! Und nachdem deine eigenen Eltern sich aus irgendwelchen Gründen
weigern, dir zu helfen ...«
»Sie weigern sich nicht, Frank – sie können nicht!«, rief Natalie Blake und setzte zu einer
glühenden Verteidigung ihrer Familie an, ungeachtet dessen, dass sie mit keinem
Familienmitglied noch ein Wort wechselte.
108. Politische Verschiebungen

»Cheryl könnte aufhören, ständig Kinder zu kriegen. Dein Bruder könnte sich einen Job
suchen. Sie könnten aus dieser geldgierigen Sekte austreten. Deine Familie trifft schlechte
Lebensentscheidungen – das ist eine Tatsache.«
»Du solltest lieber den Mund halten, du hast nämlich überhaupt keine Ahnung, wovon du
da redest. Und ich will so was auch nicht mitten in der Tube besprechen!«
Anscheinend hatten Natalie Blake und Francesco De Angelis unterschiedliche
Auffassungen davon, was das Wort »Entscheidung« bedeutete. Und beide glaubten, ihre
jeweilige Ansicht verdanke sich objektiven Überlegungen und sei in keiner Hinsicht ihrer
gegensätzlichen Herkunft geschuldet.
109. John Donne, Lincoln’s Inn, 1592

Aus dem Clerks’ Room über ihnen war Tumult zu hören. Polly hatte ein kluges Bonmot
dafür parat: »Cockney-Konzert für mehrere Schimpftiraden«.
»Wann geht dein Flieger, Nat?«
»Morgen früh um sieben.«
Ȇberleg dir mal, wo du lieber sein willst: in der Toskana oder am West London Youth
Court? Im Ernst, mach dich vom Acker, solange es noch geht.«
Sie waren die letzten verbliebenen Anwärter im Pupils’ Room. Alle anderen waren
entweder noch vor Gericht oder längst im Pub.
»Du kannst sogar meine letzte Zigarette haben. Sieh es als Teil der Mitgift.«
Natalie streifte ihren Mantel über, während Polly das Feuerzeug betätigte, doch sie waren
nicht schnell genug, um Ian Cross, einen der Clerks, zu umschiffen, der mit einem Schriftsatz in
der Hand die Treppe herunterkam.
»Ey, macht die aus. Konzentriert euch. Wer will das haben?«
»Worum geht’s denn?«
Ian drehte den Schriftsatz in der Hand: »Junkies. Diebstahl. Bisschen Brandstiftung. Die
Notizen hintendrauf verdanken wir Mr Hampton-Rowes, einem von Bridgestones Jungspunden.
Wurde in letzter Sekunde zu Höherem berufen. Der Aufstand um den Reverend Marsden. Große
Sache.«
Natalie beobachtete, wie Polly rot anlief und gespielt beiläufig nach dem Schriftsatz griff:
»Was denn für ein Reverend?«
»Du machst wohl Witze? Der Pfarrer, der die Nutte zerstückelt und am Camden Lock
entsorgt hat. Alles war voll davon. Liest du keine Zeitung?«
»Solche nicht.«
»Willkommen im einundzwanzigsten Jahrhundert, Kindchen. Heutzutage gibt es nur noch
eine Sorte Zeitung.« Er grinste, und das Feuermal um sein linkes Auge warf furchterregende
Falten. Noch eins von Pollys klugen Bonmots: »Darauf beschränkt sich das Feuer seiner
Persönlichkeit.«
»Ich übernehm’s. Sie hat keine Zeit. Nat heiratet am Samstag.«
»Respekt. Sollte jeder machen. Niemand ist eine Insel, sag ich immer.«
»Ach, du warst das? Ich hatte mich schon gefragt, von wem das stammt. Nat, Schätzchen,
heb dich hinweg. Bring dich in Sicherheit. Trink ein Glas für mich mit.«
110. Einschub zur Persönlichkeit

(Manchmal, wenn Natalie sich über Pollys knappe Analysen der Persönlichkeit anderer
amüsierte, fürchtete sie, Polly könnte, wenn sie, Natalie, nicht dabei war, auch ihre, Natalies,
Persönlichkeit derart verknappen; wobei sie sich zu ernsthaften diesbezüglichen Befürchtungen
allerdings trotzdem nicht durchringen konnte, denn im Grunde konnte sie sich nicht vorstellen,
dass über sie, Natalie, jemals auf dieselbe Weise geredet werden könnte, wie sie, Natalie, über
andere redete und über andere reden hörte. Aber nur mal als Gedankenspiel: Was machte Natalie
Blakes Persönlichkeit aus?)
111. After-Work-Drinks

Natalie Blake sprintete die Treppe hoch und am Clerks’ Room vorbei, um keine weiteren
Schriftsätze zu riskieren. Sie trat hinaus in den Sog der Middle Temple Lane. Alles strömte in
dieselbe Richtung, zur Chancery Lane, und sie reihte sich ein, traf zwei Bekannte und dann zwei
weitere. Als sie am Seven Stars ankamen, war die Gruppe bereits zu groß für einen der Tische
drinnen. Die einzige andere Frau, Ameeta, erbot sich, die Getränke zu holen, und Natalie bot an,
ihr tragen zu helfen. »Wodka oder Bier?« Sie hatten vergessen zu fragen. Ameeta, ebenfalls aus
der Unterschicht, wenn auch aus Lancashire, wollte unbedingt alles richtig machen –
Barrister-Anwärterinnen aus der Unterschicht wollten häufig unbedingt alles richtig machen.
Natalie Blake riet zu beidem. Ein paar Minuten später kamen sie in ihren seriösen Kostümen
wieder nach draußen, jede ein wackelndes Tablett in der Hand, der Schaum schwappte. Die
Männer lehnten am Geländer der Royal Courts und rauchten. Es war ein schöner
Spätsommerabend in London. Die Männer pfiffen. Die Frauen kamen näher.
112. Sir Thomas Morus, Lincoln’s Inn, 1496

»Hoch mit dem Mädchen! Sie heiratet schließlich. Ach, die Guten erwischt es immer als
Erstes. Wie heißt er noch gleich? Francesco. Ein Italo-Macker? Da liegt ja wohl ein
Verfahrensfehler vor. Trinidad ist auch mit drin. DAS IST JA WOHL EIN BISSCHEN
ÜBERTRIEBEN POLITISCH KORREKT! Aber im Ernst, Nat. Viel Glück! Wir wünschen dir
alle wahnsinnig viel Glück. Ich glaub ja nicht an Glück. Wo ist überhaupt meine Einladung? Ja,
genau, wo ist meine Einladung? Achtung, das Glas! Keiner ist eingeladen, nicht mal die
Verwandtschaft. Wir möchten allein sein. Ooooh, wie exklusiv! Jetzt hebt sie schon hoch. Reich
ist er auch noch, sagt Polly. Durham and Macaulay. Schnellschuss im Standesamt von Islington
und danach Flitterwochen in Positano. Business Class. Oh ja, wir wissen alles. Absolut alles.
Unsere Blake ist ja nicht blöd. Autsch! Nicht hauen! Tatsache ist doch, du bist übergelaufen. Ins
Feindeslager. Und wir müssen jetzt ohne dich weiter nach der Liebe suchen. Dieser Francesco:
Wie steht er denn zu Sex nach der Ehe? Da sind die Italiener ja ganz gut drin. Und katholisch,
gehen wir mal von aus. Ja, gehen wir von aus. Frank. Alle sagen Frank zu ihm. Er ist nur
Halbitaliener. Jake, du nimmst das rechte Bein. Ezra, du nimmst das linke. Ameeta, du den
Hintern. Lasst mich runter! Du hast die Arschkarte gezogen, Ameeta. Einspruch! Wieso kriegt
Ameeta eigentlich das Beste ab? Weil’s mir zusteht. Einspruch abgelehnt. Wieso darf man als
Mann heutzutage eigentlich nicht mehr vom Hinterteil einer Dame reden. ICH SAG EUCH, DAS
IST WIRKLICH ÜBERTRIEBEN POLITISCH – ach, scheiß doch drauf. Eins zwei drei
HOCH.«
Und so trugen die angehenden Barrister Natalie Blake johlend über die Straße. Ihre Nase
auf einer Höhe mit den Türstöcken aus dem sechzehnten Jahrhundert. So weit weg von zu Hause!
»HEI, HEUTE MORGEN MACHT SIE HOCHZEIT!«
»Übermorgen. Was ist denn das da oben eigentlich für ein Denkmal?«
»Mein Latein ist eingerostet – ich hab keinen blassen Schimmer ... Wo wollen wir denn
hin? Nach Norden? Nach Westen! Welche U-Bahn brauchst du, Nat? Jubilee?«
113. Miele di Luna (zwei Wochen)

Sonne.
Prosecco.
Himmel, blassblau.
Schwalben. Hoch am Himmel. Tiefer.
Blaue Kiesel.
Rote Kiesel.
Fahrstuhl zum Strand.

Leerer Strand. Sonnenaufgang. Sonnenuntergang.

»Weißt du eigentlich, wie selten das in Italien ist?

Dafür zahlt man hier

– für die Ruhe!«

Oh.

Er schwimmt. Jeden Tag.

»Das Wasser ist perfekt!«

Winken.

Englische Zeitungen. Zwei Bier. Arancini.


»Können wir das vielleicht hier auf die Karte schreiben? Wir haben Zimmer 512. Ich habe
auch meinen Pass dabei.«
»Selbstverständlich, Madam, Sie haben die Honeymoon-Suite. Darf ich Sie etwas fragen?
Woher kommen Sie?«
Winken.

Die Kellner tragen weiße Handschuhe.


Todesanzeigen. Rezensionen. Von vorn bis hinten.

Rum-Cola. Käsekuchen.

»Kann ich das direkt aufs Zimmer schreiben lassen? Ihr Kollege meinte, das wäre in
Ordnung. 512.«
»Aber sicher, Madam. Wie nennen Sie das in Ihrer Sprache?«
»Das ist ein Fernglas. Mein Mann beobachtet gern Vögel. Kommt mir seltsam vor, das zu
sagen.«
»Fernglas?«
»Nein: Mein Mann.«
Der öffentliche Strand liegt am äußersten Rand der Halbinsel. Sechseinhalb Kilometer
von hier. Juchzen. Kreischen. Gelächter. Musik aus Lautsprechern. Mehr Menschen als Sand.

Schade, dass ihr nicht hier seid?

Einsam.

Exklusiv.

»Das ist wirklich wie im Paradies!«

Oh

Winken

Einzelne Familie. Roter Sonnenschirm. Vater, Mutter, Sohn. Louis. LUUU-iiiii!

Rosa Shorts. WINKEN

Nichts, nirgends.

LUUU-IIII!

Wodka-Cocktail.
»Haben Sie einen Stift für mich? Wissen Sie, woher die Leute kommen?«
»Aus Paris, Signora. Sie ist ein Model aus Amerika. Er macht Computer. Franzose.«

Louis von einer Qualle verletzt.

Ein dramatisches Ereignis!

Rum-Cocktail. Krabben. Schokoladenkuchen.


»512, bitte.«
»Madam, ich kann Ihnen versichern, das ist völlig unmöglich. Hier gibt es keine Quallen.
Wir sind ein Luxushotel. Schwimmen Sie deswegen nicht?«
Linguine con vongole, Gin Tonic, Rum-Cocktail.
»Signora, wo kommen Sie her? Aus Amerika?«
»512.«
»Ist das Ihr Freund, der da schwimmt?«
»Mein Mann.«
»Er spricht sehr gut Italienisch.«
»Er ist auch Italiener.«
»Und Sie, Signora? Dove sei?«
114. L’isola che non c’è

»Du solltest zumindest mal mit den Füßen ins Wasser gehen«, sagte Frank De Angelis,
und Natalie Blake blickte hoch auf den schönen braunen Oberkörper ihres Mannes, von dem das
Salzwasser tropfte, und wandte sich wieder ihrer Lektüre zu. »Du schleppst diese Zeitungen
schon seit dem Flug mit dir herum.« Er schaute ihr über die Schulter. »Was ist denn so
spannend?« Sie zeigte ihm die knittrige, wasserfleckige Seite mit den Kontaktanzeigen. Er
seufzte und setzte seine Sonnenbrille auf. »›Seelenverwandte‹. Che schifo! Ich weiß wirklich
nicht, warum du dieses Zeug so gerne liest. Ich finde das deprimierend. So viele einsame
Menschen.«
115. Das Old Bailey

Ian Cross streckte den Kopf zur Tür herein. Ein Zimmer voller Anwärter hob
hoffnungsvoll den Kopf. Cross sah zu Natalie Blake.
»Willst du mal ein paar ausgewachsene Geschworene weinen sehen? Bridgestone braucht
noch einen Anwärter, um die Reihe zu füllen. Gerichtssaal eins im Bailey. Mit Johnnie
Hampton-Arschgesicht. Keine Angst, du musst nichts machen, nur hübsch aussehen. Schnapp dir
deine Perücke.«
Sie war begeistert, dass die Wahl auf sie gefallen war. Das bewies doch, wie viel
wirkungsvoller ihre Strategie war, verglichen beispielsweise mit der von Polly. Keine
Techtelmechtel mit semikriminellen Staranwälten. Gute Arbeit leisten. Abwarten, bis jemand die
gute Arbeit bemerkt. Diese Unschuld, dieser Stolz blieben ihr bis zu dem Moment erhalten, als
sie ihren Platz einnahm und auf der Empore die Angehörigen des Opfers entdeckte, unverkennbar
Jamaikaner, die Männer in glänzenden grauen Zweireihern, die Frauen mit breitkrempigen Hüten
und künstlichen Blumensträußchen daran.
»Jetzt pass mal gut auf«, flüsterte Johnnie, als er sich zum Eröffnungsplädoyer erhob.
116. Voyeurismus

Die Verteidigung folgte denselben Grundprinzipien wie die Wandlung in der Kirche.
Jemand anders hatte Viv in der Wohnung des Pfarrers zerstückelt. Jemand anders hatte ihre
Leiche auf mehrere Mülltüten verteilt und am Camden Lock deponiert, keine zwanzig Meter von
seiner Hintertür entfernt. Der Pfarrer behauptete, die Wohnung stehe seinen
Gemeindemitgliedern stets offen; viele besäßen einen Zweitschlüssel. Dass sein Sperma im
Körper der Frau nachgewiesen wurde, sei doch nur der Beweis weiterer Zufälligkeiten. (Die
Zeitungen hatten eine Reihe von Prostituierten aus der Gegend aufgestöbert, die der Toten
verdächtig ähnelten und alle behaupteten, den Pfarrer im biblischen Sinn zu kennen.) »Und doch
geht es in diesem Prozess nicht um die Hautfarbe«, sagte Johnnie und lenkte den Blick der
Geschworenen mit einer leichten Armbewegung auf Natalie Blake, »und das dennoch zum
Thema zu machen, hieße, die Beweislast – die für Sie als Geschworene eines britischen Gerichts
stets an erster Stelle stehen sollte – den Pauschalurteils-Prinzipien unserer erbärmlichen
Boulevardpresse zu unterwerfen.« Auf der Empore klammerte sich das erschütterte Häuflein von
Vivs Angehörigen aneinander, doch Natalie sah nicht mehr zu ihnen hin.
Die Anklage kam mit einer PowerPoint-Präsentation. Schmuddelig wirkende Wohnräume
in Camden. Natalie Blake beugte sich auf ihrem Platz vor. Eigentlich ging es um die Blutspritzer,
doch sie interessierte sich für alles andere. Vier schicke weiße Sechzigerjahre-Sessel, mit denen
man bei einem Geistlichen nicht gerechnet hätte. Ein zu großer Flügel in dem zu kleinen Zimmer.
Sofa und Ottomane, die nicht zusammenpassten, ein hochmoderner Fernseher. Eine altmodisch
eingerichtete Küche mit Korkboden, schlecht gewählt, da sickert Blut sofort ein. Der
Juniorverteidiger stupste Natalie, und sie fing an, sich die Pseudo-Notizen zu machen, mit denen
man sie beauftragt hatte.
117. In der Umkleide

Als Natalie Blake sich umdrehte, um sich aus ihrer Robe zu schälen, war Johnnie
Hampton-Rowe plötzlich neben ihr, griff nach ihrer Bluse und schob sie mitsamt dem BH
beiseite. Sie reagierte verzögert: Er spielte bereits an ihrer Brustwarze, als sie es endlich schaffte,
ihn zu fragen, was zum Teufel er da eigentlich mache. Mit der gleichen Kunstfertigkeit, die sie
gerade vor Gericht beobachtet hatte, machte er ihren lautstarken Protest zum eigentlichen
Vergehen. Ließ umgehend von ihr ab und seufzte: »Schon gut, schon gut, mein Fehler.« Bevor
sie sich auch nur umdrehen konnte, war er schon aus der Tür. Und als sie sich wieder gesammelt
hatte und das Zimmer verlassen konnte, stand er am anderen Ende des Flurs und alberte mit dem
Rest der Mannschaft, besprach die Strategie für den nächsten Tag. Der Juniorverteidiger deutete
mit dem Stift auf Natalie. »Drinks. Im Seven Stars. Sind Sie dabei?«
118. Notfallsitzung

Leah Hanwell verabredete sich mit Natalie Blake an der U-Bahn-Station Chancery Lane.
Sie arbeitete ganz in der Nähe, am Empfang eines Fitnessstudios in der Tottenham Court Road.
Sie gingen zum Hunterian Museum. Es fing an zu regnen. Leah blieb zwischen zwei gewaltigen
klassizistischen Säulen stehen und schaute zu der lateinischen, in eine graue Steinplatte
gehauenen Inschrift empor.
»Können wir nicht einfach ins Pub gehen?«
»Es wird dir gefallen.«
Sie hinterließen eine kleine Spende am Eingang.
»Hunter war Anatom«, erklärte Natalie Blake. »Das hier ist seine Privatsammlung.«
»Hast du Frank davon erzählt?«
»Das würde nichts helfen.«
Ohne Vorwarnung schob Natalie Leah in den ersten Hauptraum, so wie Frank es ein paar
Monate zuvor mit ihr gemacht hatte. Leah kreischte nicht, sie schnappte nicht nach Luft und hielt
sich auch nicht die Augen zu. Sie ging einfach an all den Nasen und Schienbeinen und Pobacken
in ihren Formaldehydlösungen vorbei. Direkt zum Skelett des riesigen O’Brien. Legte die Hand
flach auf die Scheibe und lächelte. Natalie Blake kam ihr nach und las dabei aus einem Faltblatt
vor, sie musste erklären, immer alles erklären.
119. Schwänze

Dick und gedrungen und ein bisschen albern, nur wenige Zentimeter hinter der Spitze
abgetrennt oder vielleicht auch nur im Sterben geschrumpft. Manche beschnitten, andere sichtlich
entzündet. »Macht mich irgendwie so gar nicht neidisch«, sagte Leah. »Dich?« Sie gingen weiter.
Vorbei an Hüftknochen und Zehen, Händen und Lungen, Gehirnen und Vulven, Mäusen und
Hunden und einem Affen mit einem grotesken Geschwür am Kinn. Als sie bei den weit
entwickelten Embryos ankamen, waren sie bereits leicht hysterisch. Riesige Stirnen, winzig
kleine Kinne, geschlossene Augen, offene Münder. Natalie Blake und Leah Hanwell machten das
Munch-Gesicht, für sie, füreinander. Leah hockte sich hin, um ein erkranktes Exemplar
menschlichen Materials zu betrachten, das Natalie nicht erkennen konnte.
»Du warst dann noch mit im Pub?«
»Ich bin zwanzig Minuten sitzen geblieben und habe mir die Maserung der Tischplatte
angeschaut. Sie haben über den Fall geredet. Dann bin ich gegangen.«
»Und du glaubst, er hat dasselbe mit dieser Polly gemacht?«
»Zumindest hatten sie was laufen. Kann sein, dass es auch so angefangen hat. Vielleicht
macht er das ja mit allen.«
»Das Drama nimmt Fahrt auf. Ich hasse Dramen. Bei uns im Studio ist das auch so, lauter
Schwanzträger, die sich aufführen. Das macht mich rasend.«
»Was ist das da? Krebs?«
»Darmkrebs. Wie Dad ihn hat.« Leah entfernte sich von dem Glas und setzte sich auf eine
kleine Bank mitten im Saal. Natalie setzte sich neben sie und drückte ihr die Hand.
»Was wirst du jetzt tun?«, fragte Leah Hanwell.
»Nichts«, sagte Natalie Blake.
120. Vermittlung

Einige Wochen gingen ins Land. Dann stellte Doktor Singh Natalie Blake im Pupil’s
Room. Offensichtlich war sie als eine Art Abgesandte unterwegs. Oben – sie nannte keine
Namen – sei man »besorgt«. Warum Natalie denn aufgehört habe, am Gesellschaftsleben der
Gruppe teilzunehmen? Ob sie sich isoliert fühle? Ob es ihr helfen würde, mit jemandem zu
sprechen, der das alles »schon hinter sich habe«? Natalie nahm das Kärtchen. Sie musste wohl
die Augen verdreht haben, ohne es zu merken. Doktor Singh schaute gekränkt und fuhr mit dem
Finger die Zeile voller Buchstaben entlang: QC, OBE, PHD. »Theodora Lewis-Lane war eine
Wegbereiterin« – das war als Tadel gemeint. »Ohne sie gäbe es uns nicht.«
121. Vorbilder

Eine schicke Patisserie in der Gray’s Inn Road. Natalie kam eine Viertelstunde zu spät,
Theodora hingegen zwanzig Minuten, wie zum Beweis, dass keine von ihnen die jamaikanische
Zeitrechnung ganz abgelegt hatte. Sie war beeindruckt von Theodoras glatter
Fernsehmoderatorinnen-Frisur (sie selbst hatte, auf Franks Bitten hin, erst kürzlich aufgehört,
ihre Haare zu glätten) und den dezent glamourösen Variationen, die sie an der inoffiziellen
Uniform der weiblichen Anwaltschaft vorgenommen hatte: die goldene Satinbluse unter der
Kostümjacke, die Strassverzierungen an den schwarzen Gerichtspumps. Sie war mindestens
fünfzig, aber mit der inselüblichen Gabe gesegnet, zwanzig Jahre jünger auszusehen.
Erstaunlicherweise – angesichts ihres Furcht einflößenden Rufs – war sie nur knapp einssechzig
groß. Als Natalie von ihrem Stuhl glitt, um Theodora die Hand zu geben, brachte sie das kurz aus
der Fassung. Doch im Sitzen gewann sie ihre Würde zurück. Mit einem Akzent, wie er in freier
Wildbahn nirgends vorkommt – einer Art Kreuzung aus der Queen und der telefonischen
Zeitansage –, bestellte sie eine bemerkenswerte Menge Gebäck, um dann ohne Aufforderung die
Geschichte ihrer schauerromantischen Kindheit in Süd-London und ihres höchst
unwahrscheinlichen beruflichen Erfolgs zu erzählen. Deutlich vor Ende der Erzählung nahm
Natalie Blake einen übertrieben kleinen Bissen von einem Croissant und murmelte: »Ich glaube,
ich möchte einfach nur, dass meine Leistungen nach ihrem eigentlichen Wert beurteilt werden ...«
Als sie wieder von ihrem Teller aufblickte, hatte Theodora die kleinen Hände im Schoß
gefaltet.
»Sie wollen eigentlich gar nicht mit mir reden, was, Miss Blake?«
»Wie bitte?«
»Ich will Ihnen mal was sagen«, fuhr sie in einem schneidenden Ton fort, der ihr
festgefrorenes Lächeln Lügen strafte, »ich bin die jüngste Kronanwältin meiner Generation. Und
was immer Sie glauben wollen, das ist keineswegs Zufall. Man lernt in diesem Beruf sehr
schnell, dass das Glück mit den Tapferen ist – aber auch mit den Pragmatikern. Ich nehme an, Sie
wollen sich irgendwie auf Menschenrechte spezialisieren. Polizeigewalt? Denken Sie in die
Richtung?«
»Das weiß ich noch nicht.« Natalie versuchte, ruppig zu klingen. Sie war den Tränen
schon sehr nahe.
»Ich habe das nie in Erwägung gezogen. Zu meiner Zeit wurde man automatisch mit
seinen Mandanten in einen Topf geworfen, wenn man in die Richtung ging. Ich habe schon früh
den Ratschlag bekommen: ›Arbeiten Sie bloß nicht im Getto.‹ Das kam damals von Richter
Whaley. Er wusste es besser als jeder andere. Was die erste Generation tut, will die zweite nicht
mehr machen. Die dritte kann tun und lassen, was sie will. Sie haben also unglaubliches Glück.
Wenn dieses Glück bloß mit etwas bescheidener Höflichkeit einherginge! Ich glaube, hier gibt es
auch Wein. Möchten Sie einen Schluck Wein?«
»Ich wollte nicht unhöflich sein. Entschuldigen Sie bitte.«
»Das ist auch ein guter Hinweis für die Arbeit vor Gericht: Glauben Sie nie, dass man
Ihnen Ihre Geringschätzung nicht ansieht. Mit den Jahren werden Sie merken, dass der Spiegel
des Lebens in beide Richtungen geht.«
»Aber ich bin doch gar nicht geringschätzig ...«
»Nur die Ruhe, sista. Trinken wir einen Wein. Ich war in Ihrem Alter auch nicht anders.
Ich wollte es nie hören.«
122. Theodoras Ratschlag

»Als ich die ersten paar Male vor Gericht stand, wurde ich ständig von der Richterbank
gemaßregelt. Ich verlor alle meine Verhandlungen und begriff einfach nicht, warum. Dann ist mir
Folgendes klar geworden: Wenn so ein glatthaariger Jüngling aus Surrey vor diesen Richtern
steht, gelten all seine leidenschaftlichen Plädoyers als reine juristische Wortgewalt. Der Richter
und er erkennen einander. Sie verstehen sich gegenseitig. Wahrscheinlich waren sie sogar auf
demselben Internat. Aber Whaleys Leidenschaft oder meine oder Ihre, die wird als ›Aggression‹
gedeutet. Dem Richter gegenüber. Das ist sein Haus, und Sie sind der Eindringling. Und ich kann
Ihnen sagen, bei einer Frau ist es noch viel schlimmer: ›aggressiv und hysterisch‹. Die erste
Lektion lautet also: Drehen Sie’s runter. Eine Stufe. Oder auch zwei. Denn das ist nicht neutral.«
Sie fuhr mit der Hand wie mit einem Scanner ihre elegante Gestalt entlang, vom Kopf bis zum
Schoß. »Das hier ist niemals neutral.«
123. Bis sann

Endlich: Hallo!
War doch gar nicht so schwer, oder?
Ich lad eben nicht gern Sachen runter
Mag keine Computer
Aus dem Netz, im BÜRO. Schlappe Behördenmaschinen.
Ein kleiner Virus
Hab Angst vor der Zukunft
Sterben doch eh alle, nich?
Nicht
Schnauze Blake
Ach ja? Interessiert mich ’nen Scheißdreck.
Hallo Hanwell mein SCHATZ. Was führt dich an diesem schönen Nahmittag ins
Internez?
Internet
Die Frau neben mir bohrt sich in der Nase so richtig tief
Hab versucht dich anzurufen aber du gehst nicht ran
Entzückens!
Kann als Annwärterin nicht privat telefonieren. Was gibt’s
denn?
Große Neuigkeiten
Hast du Maul– und Klauenseuche?
Zeit am sechsten Mai?
Kriegst du am sechsten Mai Maul- und Klauenseuche? Hab Zeit wenn ich nicht vor
Gericht bin. Bin ja hier inzwischen die große Anwöltin Anwältin Herrgott
Kann nicht tippen
Anwältin Herrgott ich heirate
!!!!!?????
Am sechsten
Ist ja toll! Wann ist denn das passiert???
Mai selbes Standesamt wie ihr aber richtig mit Gösten
Ich freu mich so für dich ehrlich
Richtig mit Gästen.
Eigentlich wegen Mum
Verstehe
Außerdem lieb ich ihn.
Lüstern.
Ihm ist es wichtig und er möchte.
Außerdem macht man das doch so, nich
Sorry, Clerk kommt, Sekunde
Genug Gründe?
Ich glaub, ich geh in Blutrot
Auch wegen Pauline
Und in Gold wie ein katholischer Priester
Hallo?
Sorry, aber das ist echt toll – Glückwunsch!
Heißt das dann aucg
Auch Nachwuchs???
LECK MICH SCHWESTER

LECK MICH MIT DEINEM BLÖDEN SMILEY
Kanns nicht fassen du unter der Haube
Wie weit ist es gekommen
ich auch nicht
mit der Welt?
Wir wern alt
Wir sind so was von nicht alt
Du hast wenigstens was erreicht. Ich rotte nur so vor mich
hin
Ist mein zweites Ausbildungsjahr. Vielleicht bleib ich für den
Rest meines
Und sterbe vor Langeweile
Lebens Anwärterin
Versteh ich nich
Schlechte Aussichten. Die meisten werden nach ’nem JAHR Partner
Aber ist auch langweilig – kann ich dich was fragen, ohne dass du möse wirst
Tschuldigung: böse wirst
Scheiß auf die meisten
Haha also Möse bin ich schon
Also, kann ich?
Wenn man unter die Haube kommt muss man eh alles an-
dere sausen lassen.
Ist doch die Idee, oder?
Blöde Idee
Haha
Also noch paar Leute mehr zum Sausenlassen.
Reicht das als Antwort Anwältin Herrgott?
Haha ja. Kannst echt Gedanken lesen
Und falls gar nix mehr hilft:
www.adultswatchingadults.com
Netter Zeitvertreib
Weißt schon was ich meine. Komm schon, Mädchen!
Ey, Süße, lass mich hier nicht hängen!
Sorry. Riesenkatastrophe hier. Mus aufhören hab dich lieb
Bis sann
›Bis sann‹
124. Frage beim Bewerbungsgespräch
Ms Blake, wären Sie auch bereit, ein Mitglied der British National Party zu vertreten?
125. Heldin von Harlesden (plus Einschub)

Natalie Blake rechnete nicht damit, als Partner angenommen zu werden. Um aus dem
Urteil von außen eine persönliche Entscheidung zu machen, erzählte sie sich selbst etwas von
juristischem Ethos, hohen moralischen Ansprüchen und Desinteresse an Geld. Dieselbe
Geschichte erzählte sie Frank und Leah, ihrer Familie, ihren Mit-Anwärtern und jedem, der sonst
noch nach ihrer Zukunft fragte. Auf diese Weise ließ sich die Zukunft sichern. (Und dieses Ziel
verfolgte Natalie letztlich mit all ihren Geschichten.) Als ihr dann wider Erwarten doch eine
Stelle als Partner angeboten wurde, geriet Natalie Blake in eine verzwickte Lage hinsichtlich
ihres persönlichen Ethos, ihrer hohen moralischen Ansprüche und ihres Desinteresses an Geld
(zumindest, was die öffentliche Darstellung dieser Eigenschaften betraf) und sah sich gezwungen,
das Angebot abzulehnen und stattdessen die Stelle als Rechtsberaterin bei R senb rg, Sl tte y &
No ton anzutreten, um die sie sich seit Monaten bewarb. Eine kleine Kanzlei in Harlesden, bei
der bereits etliche Buchstaben abgeblättert waren.
126. Tonya unterwegs in Sachen Keisha

Natalie Blakes Mandanten meldeten sich zu den unmöglichsten Zeiten. Sie logen. In der
Regel kamen sie zu spät zum Gerichtstermin, trugen so gut wie nie die Kleidung, die ihnen
empfohlen worden war, und lehnten noch die vernünftigsten außergerichtlichen Einigungen ab.
Manchmal drohten sie ihr auch mit dem Tod. Im ersten halben Jahr bei RSN waren drei ihrer
Mandanten junge Männer, die auf der Brayton gewesen waren, wenn auch etliche Jahre nach
Natalie Blake. Das gab ihr Anlass, sich zu fragen, ob es mit der Schule wohl bergab ging – noch
weiter bergab. Mittags ging sie zu dem karibischen Grill gegenüber von McDonald’s, setzte sich
dort auf einen Barhocker und gab sich alle Mühe, keine Fettflecken auf ihrem Kostüm zu
hinterlassen. Fleischpastete, Fischklößchen und eine Dose Ginger Ale. Sie nahm sich immer vor,
diese Speisenfolge zu variieren, doch an der Theke verließ sie jede Abenteuerlust. Es gab den
lang gehegten Plan, mit Marcia und Irene, Marcias Schwester, die ganz in der Nähe wohnte,
mittagessen zu gehen, doch dieser Traum von einem Treffen mit zwei Stunden Freizeit und ohne
irgendwelche Schriftsätze, die gelesen werden mussten, schien nicht wahr werden zu wollen, und
bald begriff Natalie Blake, dass er wohl auch niemals wahr werden würde. Häufig traf sie ihre
Cousine Tonya auf der Harlesden High Street. Bei diesen Anlässen befiel sie jedes Mal – trotz
ihres neuen Status als große Anwältin – das alte Gefühl der Unsicherheit und Lächerlichkeit, das
Tonya schon in ihr ausgelöst hatte, als sie noch Kinder waren. An diesem Nachmittag trug Tonya
eine Trainingshose mit der Aufschrift HONEY auf dem Hintern und eine eng anliegende
Jeansweste mit einem gelben BH darunter. Ihr Pony war lila gefärbt, die Kreolen an den Ohren
reichten bis auf die Schultern herab. Ihre Plateauschuhe waren rot und zehn Zentimeter hoch.
Trotz Kleinkind und Säugling, die sie im Doppel-Buggy schob, hatte Tonya sich die Proportionen
einer Superheldin aus dem Comic bewahrt. Natalie ihrerseits war bedauerlich margar, wie man
auf Jamaika sagt. Weiße übersetzen das mit »schlank« oder »sportlich gebaut« und betrachten es
gemeinhin als positive Wertung. Für Natalie aber lief es letztlich auf »kurvenloses Neutrum«
hinaus. Tonyas Haut wirkte niemals aschgrau, sondern immer weich und prall, und sie litt auch
nicht unter der grellrosa Akne, die Natalies Stirn regelmäßig heimsuchte, so auch heute. Wo
Natalies Zähne klein und grau waren, waren die von Tonya riesig, weiß und ebenmäßig und
präsentierten sich jetzt in einem gewaltigen Lächeln. Als Tonya näher kam, war Natalie plötzlich
überzeugt, ihr, Natalies, Mund müsse noch mit Frittierfett verschmiert sein. Aber vielleicht war
es ja auch nur weibliche Taktik, sämtliche Sorgen aufs Körperliche zu verlagern und damit eine
viel tiefgreifendere und unauflösbarere Differenz zu vereinfachen, denn Natalie glaubte, Tonya
habe eine Begabung für das Leben, die Natalie selbst anscheinend nicht besaß.
»Diese Kinder sind so hübsch, das ist schon fast ein Verbrechen.«
»Danke!«
»Und sieh dir André an – der weiß das auch ganz genau.«
»Das war sein Vater. Von dem hat er die Kette.«
»Und er jetzt so: Ich bin der dreijährige Checker.«
»Genau das sag ich auch immer! Ich schwör’s.«
Unter dem Lächeln sah Natalie, dass ihre Cousine von dem Gespräch enttäuscht war, weil
sie wie immer einen tieferen »Zugang« zu Natalie suchte, die genau diese Intimität vermeiden
wollte und ihrer Cousine gegenüber deshalb eine oberflächlich-freundliche Fassade aufrecht- und
sie damit auf Abstand hielt. Natalie setzte André wieder ab und nahm stattdessen Sasha auf den
Arm. Weder das eine noch das andere Kind erschien ihr je real, egal, wie oft sie sein Gewicht auf
den Armen spürte. Wie konnte Tonya die Mutter dieser Kinder sein? Wie konnte Tonya
sechsundzwanzig sein? Seit wann war Tonya nicht mehr zwölf? Wann würde sie selbst endlich
erwachsen werden?
»Ich bin jetzt ja wieder in Stonebridge, bei Mum. Das mit Elton und mir ist vorbei,
Schluss, aus. Ich hab keine Lust mehr, meine Zeit zu verschwenden. Aber sonst ist alles super.
Ich bin jetzt wieder auf der Schule, drüben in Dollis Hill. College of North West London.
Tourismus und Hotelgewerbe. Lernen, lernen, lernen. Ganz schön anstrengend, aber es macht mir
solchen Spaß. Du inspirierst mich!«
Tonya legte die Hand auf die Schulter von Natalies hässlicher dunkelblauer Kostümjacke.
War das Mitleid in den Augen ihrer Cousine? Natalie Blake existierte doch gar nicht.
»Wie geht’s deiner Freundin? Dieser Netten. Mit den roten Haaren.«
»Leah. Gut geht’s ihr. Sie ist jetzt verheiratet. Arbeitet bei der Bezirksverwaltung.«
»Ach. Wie schön. Hat sie Kinder?«
»Nein. Noch nicht.«
»Ihr wartet alle ganz schön lang, was?«
Tonyas Hand wanderte von der Schulter ihrer Cousine zu deren Kopf.
»Was geht denn da oben ab, Keisha?«
Natalie fasste sich an den schiefen Scheitel, den nüchternen Knoten, schmucklos
zurückgekämmt.
»Wenig. Ich hab einfach nicht die Zeit.«
»Ich mach das ja alles selber. Microbraids. Komm doch mal vorbei und lass mich ran.
Dauert nur sechs Stunden. Wir könnten uns abends treffen, endlich mal wieder richtig reden.«
127. Der Zusammenhang zwischen Chaos und anderen Qualitäten

Bei RSN Associates quoll das Gesetz aus kaputten Aktenordnern, es pflasterte die Wände
der Flure, der Toilette und der Küche. Dieses Chaos war unvermeidlich, bis zu einem gewissen
Grad entsprach es aber auch einer bestimmten Ästhetik, die von den Partnern noch ein wenig
übertrieben wurde und Uneigennutz und Ehrlichkeit signalisieren sollte. Natalie erkannte, dass
ihre Mandanten das Durcheinander als beruhigend empfanden, so wie die Sofas im Barockstil
und die Jagdhunde in Öl im Middle Temple auf eine andere Sorte Mandanten beruhigend
wirkten. Wer hier arbeitete, konnte das nur aus Liebe zur Rechtsprechung tun. Nur echte
Idealisten blieben freiwillig so arm. Für die Gerichtstermine verwies man die Mandanten an
Jimmy’s Suit Warehouse in Cricklewood. Gewonnene Prozesse wurden in der Kanzlei gefeiert,
mit billigem Fusel, Pittabrot und Hummus. Wenn einer der Anwälte von RSN einen Mandanten
im Gefängnis besuchte, kam er mit dem Bus.
128. »An der Front«

Hin und wieder, vor Gericht oder auf dem Polizeirevier, begegnete Natalie
Firmenanwälten, die sie noch von der Uni kannte. Manchmal telefonierte sie auch mit ihnen. Sie
machten meist viel Gewese um ihr juristisches Ethos, ihre hohen moralischen Ansprüche und ihr
Desinteresse an Geld. Manchmal schlossen sie mit einem zweifelhaften Kompliment, indem sie
andeuteten, dass die Gegend, in der Natalie aufgewachsen war und in die ihre Arbeit sie nun
zurückführte, in ihren Augen ein hoffnungsloser Fall sei, vergleichbar mit einem Kriegsgebiet.
129. Wiederkehr

Sie fand die Pendelei »tödlich«. Manchmal gewinnt eine schlichte Wortwahl ungeahntes
Gewicht, wenn sie erst einmal in der Welt ist. Und so wurde »tödlich« zur Prämisse einer
Rückkehr nach NW. »Aber dann muss ich pendeln«, protestierte Frank De Angelis. »Du nimmst
einfach die Jubilee«, erwiderte seine Frau Natalie Blake. »Von Kilburn bis Canary Wharf.«
Sorgfältig setzte sie den Vertrag auf, handelte eine Hypothek aus, teilte die Kaution durch zwei.
Und das alles für eine Wohnung in Kilburn, die ihr Mann einfach so hätte kaufen können, ohne
mit der Wimper zu zucken. Als das Geschäft getätigt war, kaufte Natalie zur Feier des Tages eine
Flasche Cava. Um sechs, als sie die Schlüssel abholte, war er noch bei der Arbeit, auch um acht
war er noch dort – bis dann um Viertel vor zehn der unvermeidliche Anruf kam: »Sorry – wir
müssen mal wieder durchmachen. Geh ruhig ohne mich, wenn du magst.« Epigramm einer Ehe.
Natalie Blake rief Leah Hanwell an: »Lust, mir dabei zuzuschauen, wie ich mich selbst über die
Schwelle trage?«
130. Wiedereintritt

Leah drehte den Schlüssel im schwergängigen Schloss. Hinter ihr schlich Natalie hinein,
ins Erwachsenenleben. Das sich vor allem durch Stille und Abgeschiedenheit auszeichnete.
Strom gab es noch nicht. Ein heller Mond beschien die kahlen weißen Wände. Natalie schämte
sich, weil sie kurz enttäuscht war: Nachdem sie monatelang bei Frank gewohnt hatte, kam ihr das
hier jetzt klein vor. Leah drehte eine Runde durch das Wohnzimmer und pfiff anerkennend. Sie
legte noch ältere Maßstäbe an: doppelt so groß wie zwei Zimmer in Caldwell.
»Was ist das da draußen?«
»Das Dach von drunter. Es ist kein Balkon, der Makler meinte, man kann nicht ...«
Leah kletterte durch das Schiebefenster auf den efeubewachsenen Vorsprung. Natalie
folgte ihr. Sie rauchten einen Joint. Unten in der Auffahrt saß frech wie eine Katze ein fetter
Fuchs und sah zu ihnen empor.
»Dein Efeu«, sagte Leah und strich darüber, »dein Mauerwerk, dein Fenster, deine Wand,
deine Glühbirne, deine Regenrinne.«
»Ich teile mir das alles mit der Bank.«
»Trotzdem. Der Fuchs da ist trächtig.«
Natalie fingerte den Korken aus der Flasche. Er knallte gegen die Wand und verschwand
in der Dunkelheit. Sie nahm einen schlabbrigen Schluck. Leah beugte sich vor und wischte ihrer
Freundin das Kinn ab: »Du Cava-Kommunistin.« Man beachte, wie Natalie dem Gespräch nun
eine neue Ausrichtung gibt. Es handelt sich dabei um eine weibliche Kunstform. Sich selbst
verortet sie etwa in der Mitte einer Steigung, an deren Spitze Franks Freunde stehen, all die
vielen jungen Singlemänner mit ihren unergründlichen Weihnachts-Boni. Es machte ihr Spaß,
diese Welt Leah zu schildern, die praktisch nichts darüber wusste. Chelsea, Earls Court, West
Hampstead. Lofts und Luxusappartements, unangetastet von Kindern und Frauen, frei von
Mobiliar, umgeben von Gettos.
»Ich korrigiere: Es gibt immer eine große braune Ledercouch, einen riesigen Kühlschrank
und einen Fernseher, der etwa so groß ist wie diese ganze Wohnung. Und eine gewaltige
Stereoanlage. Vor zwei Uhr früh sind sie nie zu Hause. ›Kundenpflege‹. Meistens in Striplokalen.
Das steht also alles leer. Fünf Zimmer. Ein Bett.«
Leah schnippte den Stummel des aufgerauchten Joints in Richtung Fuchs: »Schmarotzer.«
Plötzlich wurde Natalie von dem befallen, was sie für sich »Gewissensbisse« nannte.
»Viele davon sind ganz in Ordnung«, sagte sie rasch. »Nett, also, jeder für sich, meine ich. Sie
haben Humor. Und sie engagieren sich wirklich für ihre Arbeit. Nächstes Mal, wenn wir ein
Abendessen geben, musst du auch kommen.«
»Ach, Nat. Alle sind nett. Alle arbeiten engagiert. Alle sind mit Frank befreundet. Was
hat das denn schon zu sagen?«
131. Wiedertreffen

Leute wurden krank.


»Weißt du noch, Mrs Iqbal? So eine kleine Frau, hat mich immer ziemlich von oben herab
behandelt. Brustkrebs.«
Leute starben.
»Den musst du doch noch kennen, er hat in Locke gewohnt. Letzten Dienstag ist er
einfach tot umgefallen. Eine halbe Stunde hat der Notarzt gebraucht.«
Leute benahmen sich daneben.
»Zwei Wochen ist das Baby jetzt alt, und sie lassen mich einfach nicht rein. Wir wissen
nicht mal, wie viel Kinder da drinnen sind. Sie melden sie ja nicht an.«
Leute wussten nicht, wie gut sie es hatten.
»Rat mal, was die Eier in dem Supermarkt kosten. Alles bio. Rat mal!«
Leute wurden gesichtet.
»Ich habe Pauline getroffen. Leah arbeitet ja jetzt beim Bezirk. Sie hat immer so große
Hoffnungen in das Kind gesetzt. Seltsam, wie die Dinge sich entwickeln. In gewisser Weise hast
du ja doch einiges mehr erreicht als sie.«
Leute blieben verschwunden.
»Er ist oben mit Tommy. Mit dem verbringt er jetzt all seine Zeit. Sie kommen nur noch
aus dem Zimmer, wenn sie ausgehen und Frauen umgarnen wollen. Jayden und Tommy
vergeuden ihre ganze Zeit und ihr ganzes Geld damit, Frauen zu umgarnen. Was anderes hat dein
Bruder nicht mehr im Kopf. Ständig sage ich ihm, er muss sich endlich Arbeit suchen.«
Leute waren keine Leute mehr, sondern nur noch Sprachgebilde. Ein Satz genügte, um sie
heraufzubeschwören und zu töten.
»Owen Cafferty.«
»Ich weiß nicht, wer das ist, Mum.«
»Owen Cafferty. Owen Cafferty! Er hat sich doch immer um das Essen für die Gemeinde
gekümmert. Mit Schnurrbart. Owen Cafferty!«
»Ja, gut, ganz entfernt. Was ist denn mit ihm?«
»Tot.«
In der Wohnung hatte sich nichts verändert, und doch war da ein neues Gefühl von
Mangel. Ein neues Bewusstsein. Und da wurden ihrer beider Augen aufgetan, und sie wurden
gewahr, dass sie nackt waren, und schämten sich. Marcia breitete einen Fächer aus Kreditkarten
auf dem Tisch aus. Und während Marcia ihrer Tochter die verworrene Herkunftsgeschichte jeder
einzelnen Karte erzählte, notierte Natalie alles, so gut es ging. Sie war zu einer Notfallsitzung
einbestellt worden. Eigentlich wusste sie gar nicht, warum sie sich Notizen machte. Das einzig
Sinnvolle wäre, einen substanziellen Scheck auszustellen. Das war ihr in der aktuellen Situation
aber nicht möglich. Und sie brachte es nicht über sich, Frank darum zu bitten. Was half es da
schon, aus Zahlen Wörter zu machen?
»Soll ich dir mal sagen, was ich eigentlich bräuchte?«, sagte Marcia. »Dass Jayden
endlich hier verschwindet und heiratet und seine eigene Wohnung hat, damit die Kleinen von
deiner Schwester nicht mehr mit ihrer Mutter in einem Zimmer schlafen müssen. Das bräuchte
ich eigentlich.«
»Ach Mum … Jayden wird nie … Jayden interessiert sich nicht für Frauen, er …«
»Fang jetzt nicht wieder mit dem Unfug an, Keisha. Jayden ist schließlich der Einzige von
euch, der sich wirklich um mich kümmert. So ein Leben müssen wir jetzt führen. Von Cheryl ist
nichts zu erwarten. Die kann sich ja selber kaum helfen. Jetzt ist Nummer drei unterwegs.
Natürlich liebe ich die Kinder alle. Aber so ein Leben müssen wir jetzt führen, Keisha, das ist die
Wahrheit. Von der Hand in den Mund. So sieht’s aus.«
Leute führten ein Leben. So ein Leben. Ein Leben.
132. Ehekrach

»Ich halte das nicht aus, dass sie so ein Leben führen!«, schrie Natalie Blake.
»Du machst da ein unnötiges Drama draus«, sagte Frank.
133. E pluribus unum

In der Tat höchst ungewöhnlich, wieder in den Schoß des Middle Temple zurückkehren
zu dürfen, doch Natalie Blake war ja auch in vieler Hinsicht eine ungewöhnliche Bewerberin,
und etliche Partner der Kammer betrachteten sie als ihren inoffiziellen Schützling, auch wenn sie
sie im Grunde nur flüchtig kannten. Natalie hatte etwas an sich, das zur Unterstützung einlud, als
könnte man, indem man ihr half, unsichtbaren Heerscharen beistehen.
134. Paranoia

Ein Mann und eine Frau, ein Paar, saßen Natalie und Frank am Tisch gegenüber, beim
Samstagsbrunch in einem Café in London NW.
»Das ist bio«, sagte Ameeta. Sie meinte das Ketchup.
»Es schmeckt nicht«, sagte Imran, ihr Mann. Auch er meinte das Ketchup.
»Es schmeckt nicht nicht. Es sind nur nicht die zehn Löffel Zucker drin, die du gewöhnt
bist«, sagte Ameeta.
»Man nennt so was Geschmack«, meinte Imran.
»Iss es oder lass es bleiben«, sagte Ameeta. »Das interessiert niemanden.«
Ringsum, an den anderen Tischen, brüllten anderer Leute Babys.
»Ich hab ja auch nicht gesagt, dass es irgendwen interessieren muss«, sagte Imran.
»Indien gegen Pakistan«, sagte Frank – womit er scherzhaft auf die Herkunftsländer
seiner Freunde anspielte. »Wir können nur hoffen, dass keine Atomwaffen zum Einsatz
kommen.«
»Haha«, sagte Natalie Blake.
Sie setzten ihr Frühstück fort. Aus dem Frühstück wurde ein Brunch. Das machten sie
ein-, zweimal im Monat. Der heutige Brunch erschien Natalie lebhafter als sonst und entspannter,
als hätte sie, seit sie wieder zu einem kommerziellen Umfeld gehörte und zumindest teilweise für
die Belange großer Firmen eintrat, die letzten Reste einer verstörenden Aura abgestreift, die ihre
Freunde irritiert und sie ihr gegenüber befangen gemacht hatte.
135. Geringschätzung

Die Spiegeleier kamen zu spät. Frank stritt freundschaftlich mit dem Kellner, bis sie von
der Rechnung genommen wurden. Unter anderem verwendete er dazu den Satz: »Komm, bruv,
wir sind doch beide gebildete Checker.« Natalie Blake kam der Gedanke, dass sie nicht
besonders glücklich verheiratet war. Er war albern. Machte blöde Witze, verletzte andere. Er war
ständig gut gelaunt und trotzdem eigensinnig. Er las nicht und interessierte sich auch sonst
praktisch nicht für Kultur, bis auf die alte, nostalgische Vorliebe für Hip-Hop aus den
Neunzigern. Der Gedanke an die Karibik langweilte ihn. Wenn es um die Seelen der Schwarzen
ging, dachte er lieber an Afrika – »Äthiopien, die Schattenhafte, Ägypten, die Sphinx« –, wo die
beiden Stränge seiner DNA in alten Geschichten ritterliche Kämpfe ausfochten. (Er kannte diese
Geschichten nur in ihren vagen, biblischen Grundzügen.) Er hatte Ketchup im Mundwinkel, und
sie hatten überstürzt geheiratet, ohne einander besonders gut zu kennen. »Ich mag sie schon ganz
gerne«, sagte Ameeta. »Ich habe nur einfach nicht viel Vertrauen zu ihr.« Frank De Angelis
würde Natalie Blake niemals betrügen, belügen oder verletzen, in keiner Hinsicht. Körperlich war
er wunderschön. Herzensgut. »Was heißt hier Steuern umgehen?«, sagte Imran. »So was nennt
man Steuern verwalten.« Glück ist nichts Absolutes. Es ist ein Annäherungswert. Waren sie denn
unglücklicher als Imran und Ameeta? Als die Leute da drüben? Als Sie? »Von allem mit
Weißmehl kriege ich Ausschlag«, sagte Frank. Auf dem Tisch lag ein dicker Stapel Zeitungen. In
Caldwell war die Wahl der Zeitung von großer Bedeutung gewesen. Marcia bildete sich einiges
darauf ein, dass die Blakes die Voice und den Daily Mirror lasen und keinen »Schund«.
Inzwischen kam jeder mit seiner »seriösen« Tageszeitung und ein paar Boulevardzeitungen als
Beilage zum Brunch. Möpse und Pfarrer und Promis und Mord. Die Glaubenssätze ihrer Mutter –
und damit implizit auch Natalies eigene – wirkten veraltet. »Das ist die Revolution«, sagte
Ameeta. Natalie drückte das Messer in ihr Spiegelei und sah zu, wie das Eigelb sich über die
Bohnen ergoss. »Noch eine Runde Tee?«, fragte Frank. Sie waren sich alle einig, dass der Krieg
eigentlich nicht sein durfte. Sie waren gegen Krieg. Mitte der Neunziger, als Natalie Blake noch
mit Imran schlief, hatten sie mit einem Krankenwagen-Konvoi nach Bosnien fahren wollen.
»Aber es war doch immer klar, dass Irie diese Art Mutter wird«, sagte Ameeta. »Das hätte ich
euch schon vor fünf Jahren sagen können.« Jetzt gab es nur noch das Private. Büro und Zuhause.
Ehe und Kinder. Jetzt wollten sie alle nur noch in ihre Eigentumswohnungen zurückkehren und
sich dem wahren Leben aus häuslichen Gesprächen, Fernsehen, Baden, Mittag- und Abendessen
widmen. Brunchen lag außerhalb des Privaten, wenn auch nicht allzu weit – nur ganz knapp
jenseits der Grenze. Aber selbst ein Brunch war zu weit weg von daheim. So ein Brunch
existierte doch gar nicht. »Ich geb euch einen Tipp«, sagte Imran. »Fangt mit der dritten Folge
der zweiten Staffel an.« War es möglich, ständig auf Kriegsfuß zu stehen, selbst beim Brunch?
»Die hat ja inzwischen auch von jeder Hautfarbe ein Kind. So eine Art Vereinte Nationen der
Blödheit«, sagte Frank, denn durch ironische Kommentare ließ sich das eigene Interesse am
»Promi-Tratsch« überhöhen. »Ein ›Abenteuer‹ mit zwei Stripperinnen«, las Ameeta vor. »Warum
eigentlich immer ›Abenteuer‹? Ich hatte mein ganzes Leben noch kein ›Abenteuer‹.« Sexuelle
Verirrungen waren ebenfalls veraltet: Sie hatten den Hautgout vergangener Zeiten. In der
heutigen Wirtschaftslage war das schmutzig, peinlich und unklug. »Ich weiß nie, was noch im
Rahmen ist«, sagte Imran. »Zehn Prozent? Fünfzehn? Zwanzig?« Globales Bewusstsein. Lokales
Bewusstsein. Bewusstsein. Und da wurden ihrer beider Augen aufgetan, und sie wurden gewahr,
dass sie nackt waren, und schämten sich kein bisschen. »Da macht ihr euch aber was vor«, sagte
Frank. »Am Park kriegt man nichts mehr unter einer Million.« Der Fehler lag in der Vorstellung,
dass der Betrag eins zu eins für eine ganz bestimmte Anordnung aus Steinen und Mörtel stand
oder ihr entsprach. Das Geld zahlte man nicht für die mickrigen Reihenhäuschen mit ihren
kleinen Gärten. Das Geld zahlte man für die Distanz zu Caldwell, die einem das Haus
ermöglichte. »Den Rock da«, sagte Natalie Blake und deutete auf ein Bild in der Beilage, »nur in
Rot.«
Als aus dem Brunch ein Lunch wurde, bestellte Imran Pfannkuchen wie ein Amerikaner.
Nach Jahrzehnten der Entbehrungen war der Kaffee endlich richtiger Kaffee. Wäre es nicht
grausam, jetzt zu gehen, wo sie so weit gekommen waren? Alle vier erwiesen sie den anderen
Leuten im Café einen Dienst, indem sie einfach hier saßen. Sie sorgten für das »Lokalkolorit«,
mit dem die Makler warben. Aus demselben Grund mussten sie sich nicht übermäßig mit Politik
befassen. Sie waren ja durch ihr bloßes Dasein schon politische Faktoren. »Kommt Polly gar
nicht?«, fragte Frank. Alle vier überprüften ihre Handys auf Nachrichten von ihrer letzten
verbliebenen Singlefreundin. Wie glatt das Gerät in der Hand lag. Ein blinkender Umschlag barg
das Versprechen einer Verbindung zum Außen, Arbeit, Verabredungen. Natalie Blake war ein
Mensch geworden, der nicht mehr für die Selbstbetrachtung gemacht war. Geistig sich selbst
überlassen, schraubte sie sich direkt in die Selbstverachtung. Die Arbeit gefiel ihr, und während
Frank die Wochenenden herbeisehnte, konnte sie ihre Freude auf den Montagmorgen kaum
verbergen. Sie konnte sich nur vor sich selbst rechtfertigen, wenn sie arbeitete. Am liebsten hätte
sie sich jetzt aufs Klo zurückgezogen und die nächste Stunde allein mit ihren Mails verbracht.
»Wochenendschicht. Schon wieder«, sagte Imran. Er hatte die schnellste Netzverbindung.
»Schade«, sagte Natalie Blake. Aber stimmte das wirklich? Wäre Polly hier, würde sie doch nur
dasitzen und von ihren guten Taten berichten: Polizeiverhören und Zivilprozessen und
internationalen Schlichtungsverfahren für benachteiligte Staaten, den aktuellen öffentlichen
Meinungsäußerungen zur Rechtmäßigkeit des Krieges. Sie war von einer neuen, modernen,
ethisch korrekten Kammer abgeworben worden, die sie sehr gut bezahlte und gleichzeitig über
jeden moralischen Zweifel erhaben machte. Sie lebte den Traum. Es war das Jahr, als plötzlich
alle »den Traum leben« sagten, und manchmal meinten sie es ernst, aber meistens ironisch.
Natalie Blake, die auch sehr gut bezahlt wurde, empfand es inzwischen als fast unerträgliche
Provokation, Polly zuhören zu müssen.
136. Apfelblüte, 1. März
Überrascht von Schönheit, im Vorgarten eines Hauses an der Hopefield Avenue. War der
gestern schon da gewesen? Bei näherem Hinsehen zerfiel die weiße Wolke in Tausende winziger
Blüten, gelb in der Mitte, mit etwas Grün dabei und rosa Flecken. Als Großstadtgewächs hatte sie
nie die richtigen Bezeichnungen für die Natur parat. Sie streckte die Hand aus, um ein
blütenschweres Zweiglein abzubrechen – es war als schlichte, sorglose Geste gedacht –, doch das
Zweiglein war innen faserig und grün und nicht spröde genug, um sich abbrechen zu lassen.
Nachdem sie einmal angefangen hatte, wollte sie nicht einfach aufgeben (die Straße war
keineswegs unbelebt, man beobachtete sie). Sie legte ihre Aktentasche auf eine fremde
Gartenmauer und nahm mit beiden Händen den Kampf auf. Was sie schließlich in der Hand hielt,
war weniger Zweiglein als ein Ast, an dem noch weitere Zweige hingen, ebenfalls schwer von
Blüten, und die Vandalin Natalie Blake floh damit um die nächste Ecke. Sie war auf dem Weg
zur U-Bahn. Was sollte sie mit einem Ast anfangen?
137. Gedankenbahn

Der Drehbuchautor Dennis Potter hatte ein Fernsehinterview gegeben. Irgendwann


Anfang der Neunziger. Er wurde gefragt, wie es sich anfühle, nur noch wenige Wochen zu leben
zu haben. Natalie Blake erinnerte sich an seine Antwort: »Ich schaue aus dem Fenster und sehe
die Blüten. Und sie kommen mir so blütig vor wie nie.« Sobald sie wieder Netz hatte, würde sie
das genaue Jahr nachschlagen und ob das Zitat auch wirklich so lautete. Aber vielleicht war das
eigentlich Entscheidende ja auch, wie sie sich daran erinnerte. Der Ast lag verlassen vor einer
Telefonzelle an der Kilburn Station. Auf ihrem Platz in der Tube bewegte Natalie Blake ihr
Becken ganz leicht vor und zurück. Für Natalie Blake waren Blüten schon immer hochgradig
blütig gewesen. Schönheit erweckte ein besonderes Bewusstsein in ihr. »Der Unterschied
zwischen Moment und Augenblick.« Sie wusste nicht viel mehr über die philosophische
Bedeutung dieses Unterschieds, als dass ihre gute Freundin Leah Hanwell einmal versucht hatte,
ihn zu begreifen, und auch Natalie Blake dazu bringen wollte, ihn zu begreifen, vor langer Zeit,
als sie beide noch studierten und um so vieles klüger waren als heute. Und für einen kurzen
Zeitraum im Jahr 1995, ungefähr eine Woche lang vielleicht, hatte sie geglaubt, sie hätte ihn
begriffen.
138.
http://www.google.com/search?client=safari&rls=en&q=kierkegaard&ie=UTF-8
&oe=UTF-8

Ein solcher Augenblick ist von einer eigenen Natur. Wohl ist er kurz und zeitlich
begrenzt, wie ein Augenblick das ist, vorübergehend wie ein Augenblick, im nächsten
Augenblick vorübergegangen wie ein Augenblick, und doch ist er das Entscheidende, und doch
ist er erfüllt vom Ewigen. Ein solcher Augenblick muss doch einen besonderen Namen haben.
Nennen wir ihn Fülle der Zeit.
139. Doppeltes Denken

Commercial Barrister Natalie Blake übernahm Pro-Bono-Mandate für Todeskandidaten


auf den karibischen Inseln ihrer Vorfahren und beauftragte einen Finanzbuchhalter, zehn Prozent
ihres Einkommens abzuzweigen und zwischen karitativen Zwecken und dem Unterhalt für ihre
Familie aufzuteilen. Sie hatte den Verdacht, dass die Überreste ihres Glaubens sie so unzufrieden
damit machten und sie vermuten ließen, all diese guten Taten seien eigentlich nur ein weiterer
versteckter Beleg ihrer Eigennützigkeit, nur eine Art, ihr Gewissen zu beruhigen. Die Wurzel
dieses Verdachts zu erkennen, half nicht, ihn zu beseitigen. Und bei ihrem Mann Frank De
Angelis fand sie diesbezüglich auch keine Unterstützung, denn er unterstellte ihrem Vorgehen
ganz andere Beweggründe: Sentimentalität und Rührseligkeit.
140. Schauspiel

Das Ehepaar Blake-De Angelis brach früh zur Arbeit auf und kam in der Regel spät
zurück und behandelte einander in den Lücken dazwischen mit übertriebener Zärtlichkeit, als
könnte schon der leiseste Druck das Ganze zerfallen lassen. Manchmal überschnitt sich ihr
Arbeitsweg morgens für eine kurze Strecke, bis Natalie an der Finchley Road umsteigen musste.
Häufiger aber ging Natalie eine halbe bis ganze Stunde früher aus dem Haus als ihr Mann. Sie
traf sich gerne schon früh mit Melanie, der Anwärterin im Ausbildungsjahr, mit der sie sich das
Büro teilte, um bezüglich der Tagesgeschäfte einen Vorsprung zu haben. Abends sah das Paar
fern oder plante im Internet den nächsten Urlaub, was in sich schon als Beleg für Bösgläubigkeit
gelten kann, denn Natalie hasste Urlaube, sie arbeitete lieber. Richtig zusammen waren sie
eigentlich nur am Wochenende, vor ihren Freunden, für die sie sich frisch und lebenslustig gaben
– sie waren schließlich erst dreißig – und immer noch erfüllt von der alten guten Laune, wie ein
Künstlerduo, das nur noch miteinander redet, wenn es gemeinsam auf der Bühne steht.
141. Anzeigen

Etwa zu dieser Zeit fing Natalie Blake damit an, heimlich die Website zu besuchen.
Warum fängt man an, eine Website zu besuchen? Anthropologische Neugier. Die Aussage »Ich
hab gehört, auf dieser Seite sind viele Leute« wird rasch ersetzt durch »Ich kann gar nicht
glauben, dass es tatsächlich Leute gibt, die auf so einer Seite sind!«, gefolgt von der Frage: »Was
sind das eigentlich für Leute, die auf so einer Seite sind?« Wenn die Website etliche Male
besucht wurde, ist die Frage beantwortet. Die Sache wird zum Teufelskreis.
142. Technologie

»Ich habe es nur für die Arbeit.« »Das ist für die Arbeit – ich zahle nicht selbst dafür.«
»Ich brauche es für die Arbeit, aber ich muss ganz ehrlich sagen, es macht doch manches
einfacher.« »Das ist mein Arbeitshandy, sonst hätte ich wahrscheinlich gar keins.«
143. Gegenwart

Natalie Blake, die allen erzählte, diese ganzen teuren Technikspielereien seien ihr zuwider
und sie könne das Internet nicht ausstehen, liebte ihr Handy und war hilflos, zwanghaft,
adverbienlastig süchtig nach dem Internet. Obwohl unglaublich schnell, war ihr Handy aber
immer noch zu langsam. Als sich die Aufzugtüren in Covent Garden schlossen, hatte es die neue
Website ihrer Kammer noch nicht ganz heruntergeladen. Während der ganzen zwanzigminütigen
U-Bahn-Fahrt verharrte der Bildschirm in ihrer Hand störrisch bei dem Satz:
Rechtsberatung auf höchstem Niveau
in unserer schnelllebigen Zeit
144. Geschwindigkeit

Irgendwann wurde uns klar, dass wir »modern«, dass wir schnelllebig sind. Dass wir
immer kurz nach dem Jetzt kommen. Auch John Donne war ein Mensch der Moderne und erlebte
Veränderungen, aber wir fühlen uns noch moderner und glauben, dass unsere Veränderungen
schneller vor sich gehen. Selbst das Unveränderliche beschleunigt. Selbst die Obstblüte. Während
sie sich in einem schmuddeligen Laden in der Chancery Lane Station eine Samosa kaufte (ein
Überbleibsel ihrer Kindheit, diese grundsätzliche Bereitschaft, von jedem überall Essen zu
kaufen), checkte Natalie Blake wieder einmal die Anzeigen. Inzwischen checkte sie sie zwei-,
dreimal täglich, wenn auch immer noch als Voyeurin, ohne selbst einen konkreten Beitrag zu
leisten.
145. Perfektion

Aus irgendeinem Grund war das geplante Picknick Natalie Blake besonders wichtig, und
sie machte sich akribisch an die Vorbereitungen. Sie kochte alles selbst. Sie entschied sich für
einen Picknickkorb mit echtem Porzellan und echten Gläsern. Schon als sie ihn online bestellte,
war ihr klar, dass das eigentlich »zu viel« war, doch ihr Kurs war gesetzt, und sie sah sich nicht
in der Lage, noch einmal die Richtung zu ändern. Im Büro steckte sie mitten in einer
Auseinandersetzung zwischen einem Technologieunternehmen aus China und seiner britischen
Vertretung. Bei der ersten Videokonferenz hatte der chinesische Generaldirektor sein Erstaunen
nicht verbergen können. Eigentlich dürfte sie gar nicht zu einem Picknick gehen. Eigentlich
müsste sie im Büro sein und sich durch die jüngsten Eröffnungen der Gegenseite arbeiten. Natalie
ließ sich nicht abbringen. Sie wählte ein Outfit. Glitzersandalen, Kreolen und Armreife und ein
langer ockerfarbener Rock mit braunem Top, das Haar in einem riesigen Afroknoten, den sie mit
dem abgeschnittenen Bein einer schwarzen Strumpfhose, am Hinterkopf verknotet, aus dem
Gesicht hielt. In diesem Outfit fühlte sie sich afrikanisch, obwohl nichts, was sie trug, aus Afrika
stammte, bis auf die Ohrringe vielleicht und die Armreife, vom Prinzip her. Ihr Mann kam gerade
an der Küche vorbei, als sie versuchte, drei zusätzliche Tupperdosen in dem
leinenausgeschlagenen Picknickkorb unterzubringen, den sie für den Anlass erstanden hatte.
»Großer Gott. Ist das alles von uns?«
»Sie ist meine älteste Freundin, Frank.«
»Die zwei kommen sicher im Trainingsanzug.«
»Ein Picknick besteht nicht nur aus Dope und einem Sandwich aus dem Supermarkt. Wir
sehen sie kaum noch. Das Wetter ist so toll. Ich möchte, dass es schön wird.«
»Von mir aus.«
Er schob sich theatralisch an ihr vorbei. Ein Arzt, der die Wahnsinnige nicht reizen will.
Er öffnete den Kühlschrank.
»Nicht essen. Wir gehen picknicken. Du kannst beim Picknick essen.«
»Seit wann backst du?«
»Lass die Finger davon. Das ist Ingwerkuchen. Aus Jamaika.«
»Du weißt doch, dass ich kein Weißmehl vertrage.«
»Der ist ja auch nicht für dich.«
Er ging schweigend aus dem Zimmer, und es war nicht ganz klar, ob das nun der Anfang
eines Streits war oder nicht. Wahrscheinlich würde er das später entscheiden, je nachdem, ob sich
irgendein praktischer Nutzen aus der Auseinandersetzung ziehen ließ. Natalie Blake stützte die
Hände auf die Arbeitsfläche und starrte lange auf die gelben Küchenkacheln vor ihrer Nase. Für
wen war das alles? Für Leah? Für Michel?
146. Cheryl (L. I. E. B. E.)

»Räum das einfach weg.« Mit der brüllenden Carly auf einem Arm bückte sich Cheryl
und wischte die Barbie und die Werbepost auf den Boden. Natalie griff nach einem Jahrbuch mit
hartem Einband und stellte die Teebecher darauf. »Wenn ich die Kleine ans Schlafen gekriegt
hab, können wir auch ins Wohnzimmer gehen.« Sie saßen einander gegenüber auf ihren alten
Betten. Natalie glaubte, sich zu erinnern, dass sie einmal mit ihrer Schwester auf einem dieser
Betten gelegen und ihr zittrige Buchstaben auf den nackten Rücken gemalt hatte, die Cheryl dann
erraten und zu Wörtern zusammensetzen musste. Cheryl gab Carly die Flasche. Sie saß sehr
aufrecht und hielt ihr drittes Kind im Arm. Eine erwachsene Frau mit Erwachsenensorgen.
Natalie setzte sich in den Schneidersitz wie ein Kind und behielt ihre schönen Erinnerungen für
sich. Hatte nicht schon das Konzept der »schönen Erinnerung« etwas Unreifes an sich?
»Gib mir mal das Tuch, Keisha. Sie kotzt alles wieder aus.«
Pocahontas auf der geschlossenen Jalousie. Die Sonne ließ sie golden erstrahlen.
Insgesamt sah das Zimmer noch so aus wie früher, nur dass es jetzt grob in einen Jungen- und
einen Mädchenbereich unterteilt war: ersterer ganz in Rot, Blau und Spiderman gehalten,
zweiterer in strassverziertem Prinzessinnenpink. Natalie hob einen Kipplaster auf und ließ ihn
ihren Oberschenkel entlangfahren.
»Zwei gegen einen.«
Cheryl hob müde den Kopf; das Baby war unruhig und wollte sich nicht aufs Trinken
konzentrieren.
»Ich mein ja nur – der Krieg zwischen Rosa und Blau. Jetzt, wo Cleo und Carly zu zweit
sind, hat der arme Ray keine Überlebenschancen mehr.«
»Überlebenschancen? Was redest du denn da?«
»Nichts. Tut mir leid, mach einfach weiter.«
Auf jeder Ablagefläche stapelten sich Dinge wackelnd auf anderen Dingen, und wieder
andere hingen daran, waren darum herumdrapiert oder dazwischengestopft. Kein Blake war in
der Lage, je etwas wegzuschmeißen. Bei Natalie war das auch nicht anders, nur dass die hohen
Türme billigen Konsummülls bei ihr hinter Schranktüren verschwanden, verborgen vom besseren
Stauraum.
Cheryl zog dem Baby den Sauger aus dem Mund und seufzte: »Die schläft nicht. Gehen
wir einfach rüber.«
Natalie folgte ihrer Schwester durch den schmalen Flur, wo fast kein Durchkommen war
wegen der Wäsche, die an Schnüren von beiden Wänden hing.
»Kann ich was tun?«
»Ja, nimm sie mal kurz, dann kann ich pinkeln gehen. Komm, Carly, geh zu deiner
Tante.«

Natalie hatte keine Scheu im Umgang mit Babys; dafür hatte sie zu viel Übung. Sie setzte
sich Carly locker auf die Hüfte und rief mit der anderen Hand Melanie an, um ihr ein paar
unnötige Anweisungen zu geben, die gut hätten warten können, bis sie beide wieder im Büro
waren. Dabei ging sie im Zimmer auf und ab, schaukelte das Baby und redete laut, beiläufig, die
Kompetenz in Person. Das Baby schien ihre außergewöhnliche Kompetenz zu spüren, es wurde
still und sah zu seiner Tante hoch, mit einem bewundernden Blick, in dem Natalie auch einen
Hauch von Wehmut zu erkennen meinte.
»Aber es ist ja so, weißt du«, sagte Cheryl, als sie wieder hereinkam. »Jay ist weg, jetzt ist
genug Platz hier. Und ich will Mum nicht einfach hängen lassen.«
»Irgendwann wird Gus ja mal mit Bauen fertig sein. Dann zieht sie nach Jamaika.«
Cheryl presste sich beide Hände ins Kreuz und schob den Bauch vor, eine dieser
deprimierenden Müttergesten, von denen Natalie überzeugt war, dass sie sie nie machen würde,
falls beziehungsweise wenn sie jemals Mutter wurde. »Das dauert noch«, sagte Cheryl und
streckte sich gähnend. »Er hat Fotos geschickt. Keine Mail – richtige Fotos im Umschlag. Das ist
’ne Wellblechschachtel ohne Dach. Im Bad wächst ’ne Palme.«
Auf diese Weise an die Naivität ihres Vaters erinnert, an seinen Optimismus und seine
Lebensuntüchtigkeit, mussten die Schwestern beide lächeln, und Natalie fasste Mut. Sie drückte
ihre Nichte an die Brust und küsste sie auf die Stirn.
»Ich kann es einfach nicht ertragen, euch so leben zu sehen.«
Cheryl ließ sich in den alten Sessel ihres Vaters sinken, schaute kopfschüttelnd zu Boden
und lachte unfreundlich.
»Und los geht’s«, sagte sie.
Natalie Blake, deren größte Angst es war, sich zu blamieren oder auch nur für einen
kurzen Moment auf der falschen Seite einer moralischen Frage zu stehen, tat, als hätte sie nichts
gehört, und lächelte das Baby an und hob das Baby in die Höhe, um es zum Lachen zu bringen,
und als das nicht funktionierte, setzte sie es sich wieder auf den Schoß.
»Wenn du Caldie so scheiße findest, warum kommst du dann überhaupt her? Im Ernst,
Mann. Keiner zwingt dich zu kommen. Geh doch wieder in dein neues großes Haus. Ich hab
genug zu tun – und eigentlich hab ich auch gar keine Zeit, hier mit dir rumzuhocken und zu
reden. Manchmal gehst du mir echt auf den Sack, Keisha. Im Ernst jetzt mal.«
»Als ich noch bei RSN war«, sagte Natalie energisch, mit der Stimme, die sie vor Gericht
einsetzte, »weißt du, wie viele meiner Mandanten da Caldies waren? Was ist denn so schlimm
daran, dass ich dich und die Kinder gern irgendwo sähe, wo es schön ist?«
»Hier ist es schön! Es gibt viel Schlimmeres. Dir hat’s doch auch nicht geschadet. Ich sag
dir ganz ehrlich, Keisha, wenn ich hier wegwollen würde, dann würd ich mir eher von der
Bezirksverwaltung ’ne andere Bude zuweisen lassen, als dich um was zu bitten.«
Natalie richtete ihre Erwiderung an den vier Monate alten Säugling.
»Ich weiß wirklich nicht, warum deine Mum so mit mir redet. Ich bin doch ihre einzige
Schwester!«
Cheryl beschäftigte sich mit einem Fleck auf ihrer Leggings. »Komm schon, Keisha, so
eng waren wir ja wohl nie.«
In Natalies Handtasche, im Innenfach neben ihrem Portemonnaie, steckten drei Zolpidem.
»Ich bin doch auch vier Jahre jünger«, hörte sie sich sagen, mit schwacher Stimme,
lächerlicher Stimme.
»Na, daran lag’s ja wohl nicht«, meinte Cheryl, ohne aufzusehen.
Natalie sprang aus dem Sessel. Im Stehen stellte sie fest, dass die kleine Carly ihre
theatralischen Möglichkeiten erheblich einschränkte. Das Baby war an ihrer Schulter
eingeschlafen. Einer seit Kindertagen unveränderten Dynamik folgend wurde Natalie wütend,
während ihre Schwester Cheryl immer ruhiger wurde.
»Oh Verzeihung, ich hatte ja ganz vergessen, dass man in dieser Scheißfamilie keine
Freunde haben darf.«
»Erst kommt die Familie. Daran glaub ich. Zuallererst kommt Gott, dann die Familie.«
»Jetzt hör mal auf mit dem Scheiß, ja? Hier kommt die Heilige Jungfrau Maria. Nur, weil
die Väter alle abgehauen sind, waren das noch lange nicht lauter unbefleckte Empfängnisse.«
Cheryl stand auf und streckte ihrer Schwester den Zeigefinger ins Gesicht. »Pass du mal
lieber auf, was du sagst, Keisha. Und warum musst du eigentlich ständig fluchen, Mann? Zeig
mal ’n bisschen Respekt.«
Natalie brannten Tränen in den Augen, und ein Schwall kindischen Selbstmitleids riss sie
mit sich fort.
»Wieso werde ich dafür bestraft, dass ich was aus meinem Leben gemacht habe?«
»Ach du liebe Zeit! Wer bestraft dich denn, Keisha? Kein Mensch. Das ist alles in deinem
Kopf. Du hast echt voll die Paranoia, Mann.«
Natalie Blake war nicht mehr zu stoppen. »Ich arbeite wie verrückt. Ich bin ohne
Reputation da reingekommen, ohne alles. Ich habe mir eine ernst zu nehmende Kanzlei aufgebaut
– hast du eigentlich eine Ahnung, wie wenige ...«
»Bist du echt hergekommen, um mir zu erzählen, was für ’ne große Nummer du jetzt
bist?«
»Ich bin hergekommen, weil ich dir helfen will.«
»Aber hier braucht keiner deine Hilfe, Keisha! So sieht’s aus! Ich will nichts von dir,
Ende Gelände.«
Und jetzt mussten sie Carly von Natalies Schulter an die ihrer Mutter verfrachten, ein
merkwürdig zärtliches Manöver inmitten des Gemetzels.
Natalie Blake suchte verzweifelt nach einer letzten Spitze. »Du solltest echt an deiner
Einstellung arbeiten, Cheryl. Im Ernst. Vielleicht solltest du dir auch Hilfe holen, das ist nämlich
wirklich problematisch.«
Sobald Cheryl das Baby auf dem Arm hatte, wandte sie sich von ihrer Schwester ab und
ging durch den Flur zurück in ihr Zimmer.
»Ja, weißt du, Keisha, bis du mal selber Kinder hast, brauchst du mir echt nichts mehr zu
erzählen.«
147. Anzeigen

Auf der Website war sie das, was alle suchten.


148. Zukunft

Natalie Blake und Leah Hanwell waren achtundzwanzig, als die ersten E-Mails eintrafen.
Anhänge mit Fotos von fassungslosen Frauen mit Krankenhausbändchen ums Handgelenk und
Babys auf der Brust und aus unerfindlichen Gründen patschnassen Haaren. Sie schienen einen
Abgrund überquert zu haben und in eine andere Welt gelangt zu sein. Es war absolut im Bereich
des Möglichen, dass ihre eigene Mutter diese frischgebackenen Mütter daheim besuchte, das
Namensschild am Kittel, und den Babys mit einer Nadel in den Fuß pikste oder die Nähte der
frischgebackenen Mütter begutachtete, während sie seitlich auf dem Sofa lagen. Nach den
Gesetzen des Ortsdurchschnitts musste Marcia mindestens ein oder zwei davon besucht haben. Es
waren Neuzugänge im Viertel. Nicht die Sorte Leute, die das Licht ausmachten und sich auf den
Boden legten. Mutter und Kind wohlauf, aber erschöpft. Als hätte vorher in der Geschichte der
Menschheit noch nie jemand ein Kind bekommen. Und alle sagten genau das, es war der neue
Modesatz: »Als hätte vorher noch nie jemand ein Kind bekommen.« Natalie leitete die Mails an
Leah weiter. Als hätte vorher noch nie jemand ein Kind bekommen.
149. Aus Natur wird Kultur

Vieles, was ihren eigenen Müttern noch als offensichtlicher Bestandteil einer
pragmatischen Welt vorgekommen war, erschien Natalie und Leah jetzt entweder als
Überraschung oder als Zumutung. Körperliche Schmerzen. Krankheiten. Die Unterschiede
zwischen Männern und Frauen beim fortpflanzungsfähigen Alter. Das Alter überhaupt. Der Tod.
Das eigentlich Skandalöse war die eigene Körperlichkeit. Das Faktum des Fleisches.
Stark, wie sie war, beschloss Natalie Blake zu kämpfen. Gegen all diese Umstände in den
Kampf zu ziehen, wie ein Soldat.
150. Anzeigen

Nachdem sie wieder einmal eine Baby-Mail geöffnet hatte, loggte sie sich auf der
Website ein und stellte einen Beitrag auf die Website. Dann ging sie nach oben ins Bett.
151. Redaktion

»Wo willst du hin?«


Natalie Blake schob die Hand ihres Mannes von ihrem Schienbein und stieg aus dem Bett.
Sie ging den Gang entlang ins Gästezimmer und setzte sich vor den Rechner. Sie gab die Adresse
so flüssig in den Browser ein, wie ein Pianist seine Tonleitern spielt. Sie löschte den Beitrag
wieder.
152. Vergangenheit

»Nathan?«
Er hockte im Musikpavillon im Park und rauchte, mit zwei Mädchen und einem Jungen.
Zwei Frauen und einem Mann. Aber angezogen waren sie wie Teenager. Natalie Blake war
angezogen wie eine erfolgreiche Anwältin Anfang dreißig. Unter sich wären sie vielleicht einmal
rund um den Park gegangen, sie und er, und hätten über die Vergangenheit geredet, vielleicht
hätte sie auch die hässlichen Pumps ausgezogen und sie hätten sich ins Gras gesetzt und Natalie
hätte sein Dope geraucht und ihn dann mütterlich ermahnt, die Drogen sein zu lassen, und er
hätte genickt und gegrinst und es ihr versprochen. Doch in dieser Gesellschaft wusste sie nicht,
wie sie sein sollte.
Ganz schön heiß, sagte Nathan Bogle. Ja, allerdings, bestätigte Natalie Blake.
153. Brixton

Die Einladung stand seit Langem, aber sie hatte nicht angerufen und auch keine SMS
geschickt, um Bescheid zu geben, dass sie kommen würde. Der Impuls überkam sie an der
Victoria Station. Eine Viertelstunde später ging sie die Brixton High Street entlang, erschöpft von
Gerichtsverhandlungen, noch im Kostüm, und war den fröhlichen Menschen im Weg, die gerade
in den Freitagabend starteten. An einer Tankstelle kaufte sie Blumen und dachte an all die vielen
Filmszenen, in denen Leute Blumen an Tankstellen kaufen und es hinterher eigentlich immer
besser gewesen wäre, mit leeren Händen zu kommen. Sie suchte das Haus, klingelte. Ein tuntiger
Typ mit blond gefärbtem Afro öffnete.
»Hallo. Ist Jayden da? Ich bin seine Schwester, Nat.«
»Aber klar doch. Du siehst original aus wie Angela Bassett!«
In der Küche war es verwirrend voll. War es die Tunte? Oder einer von den Weißen?
Oder der Chinese oder dieser andere Typ?
»Er duscht gerade. Tee oder Wodka?«
»Wodka. Seid ihr im Aufbruch?«
»Wir sind eben reingekommen. Zu essen gibt es übrigens nur diesen Jaffa Cake.«
154. Naturgewalt
Wann war sie zuletzt so betrunken gewesen? Irgendwie förderte es den Exzess, mit so
vielen Männern zusammen zu sein, die alle nichts von ihr wollten. Sie erfuhr vieles über ihren
kleinen Bruder, was sie bisher nicht gewusst hatte. Er war ein »berühmter«
White-Russian-Trinker. Er war in Nathan Bogle verknallt gewesen. Er las gern Fantasyromane.
Er schaffte mehr einarmige Liegestütze als jeder andere Mann im Raum.
Der Wodka ging aus. Sie stiegen auf ein blaues Zeug um, das sie im Schrank gefunden
hatten. Natalie wurde klar, dass es hier im Haus keinen Besonderen, Auserwählten gab. Jayden
hatte es fertiggebracht, sich genau die fließenden, freundschaftlichen Lebensumstände zu
schaffen, von denen sie Jahre zuvor selbst geträumt hatte. Dass es ihr trotzdem nicht ganz gelang,
sich für ihn zu freuen, lag daran, dass dieses Arrangement zeitlos war – es unterlag nicht den
Zwängen der Zeit –, und das wiederum ergab sich aus einem entscheidenden Detail: In dem
Schema waren keine Frauen vorgesehen. Frauen bringen die Zeit mit sich. Auch Natalie hatte die
Zeit in dieses Haus gebracht. Sie konnte nicht aufhören, von der Uhrzeit zu reden und sich
deswegen zu sorgen. Wenn sie sich bloß aus ihrem Körper befreien und mit den anderen in die
Vauxhall Tavern gehen könnte, zum »Schichtwechsel«. Aber in Wahrheit hatte sie zehn SMS
von Frank, und es war Zeit, nach Hause zu fahren. Es war wirklich Zeit.
»Und alles in derselben Woche«, erzählte Jayden. »In einer Woche hat sie dem kleinen
Proll bei uns in der Siedlung, der mich damals auf dem Kieker hatte, eins auf die Mütze gegeben,
einfach weggejagt hat sie ihn, und das, nachdem sie gerade aus der letzten Prüfung kam. Überall
nur die besten Noten. Die Frau bringt’s. Ist ’ne Naturgewalt, meine Schwester!«
Das Zimmer schwankte und drehte sich. Natalie kam die Geschichte nicht einmal bekannt
vor. Sie glaubte nicht, dass diese beiden Dinge wirklich passiert waren, zumindest nicht in
derselben Woche, womöglich nicht einmal im selben Jahr. Und die besten Noten hatte sie auch
nicht überall bekommen. Das war an diesem Abend schon ein paarmal vorgekommen, dass die
Versionen voneinander abwichen, und anfangs hatte sie noch versucht, sie zurechtzuzimmern, zu
widersprechen, aber jetzt ließ sie sich einfach in die Arme eines Mannes namens Paul sinken und
streichelte seinen Bizeps. War es denn wichtig, was stimmte und was nicht?
155. Ein paar Überlegungen zum Fernsehen

Sie sah sich mit Marcia die Armen an. Eine Reality-Serie, die in einer Sozialsiedlung
spielte. Die Sozialsiedlung auf dem Bildschirm war nur geringfügig schlimmer als die
Sozialsiedlung, in der sie saß und sich die Sendung über die Sozialsiedlung ansah. Von Zeit zu
Zeit wies Marcia darauf hin, wie dreckig die Wohnungen der Leute im Fernsehen waren und wie
sorgfältig sie, Cheryls Chaos zum Trotz, ihre eigene pflegte. »Guinness. Um zehn Uhr
morgens!«, rief Marcia. Natalie, die die Sendung nicht kannte, erkundigte sich nach der
charakterlichen Entwicklung einer der Teilnehmerinnen. Marcia umklammerte beide
Sessellehnen und schloss die Augen. »Die ist auf Crack. Interessiert sich nur für Make-up und
Klamotten. Ihr Bruder bekommt Krankengeld, dabei ist alles in Ordnung mit ihm. Eine Schande
ist das. Der Vater sitzt im Knast, weil er gestohlen hat. Die Mutter drückt.« Die Sendung verstand
Armut als Charakterzug. »Sieh dir das an! Sieh dir dieses Bad an! Eine Schande! Was für Leute
leben denn so? Hast du das gesehen?« Natalie plädierte auf unschuldig. Sie hatte gerade nicht
hingeschaut, einen Blick auf ihr Handy geworfen. »Ständig schaust du auf dieses Handy. Bist du
jetzt gekommen, um mich zu besuchen oder um mit deinem Handy rumzuspielen?«
Natalie blickte auf. Ein junger Typ mit nacktem Oberkörper rannte mit einer Bierflasche
in der Hand über ein kümmerliches Stück Rasen zwischen zwei Hochhäusern und warf mit der
Flasche das einzig verbliebene Fenster eines ausgebrannten Wagens ein. Musik untermalte die
Szene. Sie besaß eine gewisse Schönheit.
»Ich kann das nicht leiden, wenn die Kamera die ganze Zeit so herumwackelt«, sagte
Marcia. »Da kann man doch nicht einen Moment vergessen, dass es gefilmt ist. Warum machen
die das heutzutage nur immer?«
Das fand Natalie eine tiefsinnige Frage.
156 Melanie

Natalie Blake saß im Büro und machte sich Notizen zu einem undurchsichtigen Detail des
Eigentumsrechts hinsichtlich seiner Anwendbarkeit auf Ersitzung, als Melanie hereinkam, zum
Reden ansetzte und stattdessen in Tränen ausbrach. Natalie wusste nicht, wie mit weinenden
Menschen zu verfahren war. Sie legte Melanie eine Hand auf die Schulter.
»Ist etwas passiert?«
Melanie schüttelte den Kopf. Flüssigkeit lief ihr aus der Nase, und in ihrem Mundwinkel
bildete sich eine kleine Blase.
»Probleme zu Hause?«
Über Melanies Privatleben wusste Natalie nur, dass ihr Freund Polizist war und es eine
Tochter gab, die Raffaella hieß. Weder der Polizist noch Melanie waren Italiener.
»Hier, nimm ein Taschentuch«, sagte Natalie. Sie hatte eine Rotz-Phobie. Melanie ließ
sich auf einen Stuhl fallen. Sie zog ein Handy aus der Tasche. Zwischen heftigen Heulanfällen
versuchte sie, etwas darauf zu finden. Natalie starrte auf ihren Daumen, der hektisch den
Trackball betätigte.
»Ich kann hier wirklich nicht mehr sein!« Das war nun eine interessante Problematik und
höchst unerwartet aus dem Munde der klaren, verlässlichen Melanie, die Natalie häufig als ihren
»Fels in der Brandung« bezeichnete. (Es war das Jahr, als plötzlich alle sagten, dieser oder jener
Mensch sei ihr »Fels in der Brandung«.) Aber jetzt wurde Melanie schon wieder ganz
pragmatisch: »Zumindest nicht die ganze Zeit! Es gibt Rafs nun mal, und ich hab sie so lieb, und
ich will einfach nicht mehr so tun müssen, als gäbe es sie nicht! Sieh sie dir doch an – sie ist so
verdammt toll, fast zwei ist sie jetzt.«
Natalie beugte sich vor, um das Foto auf dem Bildschirm zu betrachten. Der Gutsherr, zu
dem ein verschreckter Bauer kommt, um ihm ein Geständnis über die Ernte zu machen.
157. Am Park

Natalie Blake war mit dem Grenzkonflikt in Kaschmir beschäftigt, zumindest insofern er
sich darauf bezog, im Auftrag ihres riesigen japanischen Elektrokonzern-Kunden Stereoanlagen
über Dubai nach Indien zu importieren. Ihr Mann, Frank De Angelis, betrieb Kundenpflege. Sie
litten unter »Freizeitarmut«. Vor lauter harter Arbeit hatten sie nicht einmal Zeit, den jüngsten
Lohn ihrer Mühen in Empfang zu nehmen. Marcia war so nett, den Schlüssel vor
Geschäftsschluss beim Maklerbüro abzuholen, und Natalie traf sich mit ihrer Mutter und Leah
vor der Tür. Als sie eintraten, flüsterten sie. Warum, war nicht ganz klar. Es gab noch keine
Jalousien, und ihre Schatten ragten über den Kamin hinaus bis an die Decke. Natalie führte sie
herum, zeigte ihnen, wo Sofas und Stühle und Tische stehen sollten, wo ein Durchbruch geplant
war und was erhalten werden sollte, was mit Teppichboden versehen und was abgeschliffen und
versiegelt werden würde. Natalie forderte Mutter und Freundin auf, ans Erkerfenster zu treten
und den Blick auf den Park zu bewundern. Sie registrierte in sich den Drang nach totaler
Unterwerfung.
Sie lief ein Stück voraus, um ein Schlafzimmer zu bewundern. Schaut euch diese
Originalfriese an. Der Kamin hier funktioniert. Sie wartete darauf, dass ihre Mutter und Leah
nachkamen. Mit dem Fingernagel kratzte sie etwas losen Putz von der Wand. Als sie noch im
Ausbildungsjahr war und bei einem Verfahren die »falsche« Seite vertrat, hatte Marcia von ihr
verlangt, sie solle »doch mal an die Familie des Opfers denken«. Wenn sie jetzt von einem
großen multinationalen Unternehmen beauftragt wurde, musste sie sich Leahs moralinsaure,
schlecht informierte Vorträge über die Gefahren der Globalisierung anhören. Nur Frank
unterstützte sie. Nur er war jemals stolz auf sie. Je prominenter ihre Fälle, desto besser gefiel ihm
das. Cheryl, vor Jahren: »Immer, wenn ich mit der Schule weitermachen will, kommt Cole und
will mich verprügeln.« Das hätte ihr auch blühen können. In Momenten des Zweifels half es
immer, an Cheryl zu denken. Zumindest arbeiteten Natalie Blake und Frank De Angelis nicht
gegeneinander oder standen irgendwie im Wettstreit. Sie waren eine Einheit. Ihre eigene
Werbekampagne. Kommt, ich zeige euch die Werbekampagne für mich. Hier ist das Fenster, hier
die Tür. Und noch mal, in Endlosschleife.
Natalie öffnete gerade die Tür zu dem Zimmer, das sie als Arbeitszimmer für sich
vorgesehen hatte, da sagte Marcia einen vermutlich ganz unschuldigen Satz – »Jede Menge Platz
für Kinder hier« –, und Natalie brach einen Streit vom Zaun und wollte sich gar nicht mehr
beruhigen. Sie sah zu, wie ihre Mutter durch den schwarz-weiß gefliesten Flur zur Tür ging, nicht
mehr die unbeugsame Herrscherin ihrer Kindheit, sondern eine kleine, grauhaarige Frau mit
schlaffer Wollmütze auf dem Kopf, die sicherlich eine liebevollere Behandlung verdient hatte, als
ihr zuteilgeworden war.
»Alles klar?«, fragte Leah.
»Ja, ja«, sagte Natalie. »Nur das Übliche.«
Leah fand ein paar Teebeutel im Küchenschrank und eine einzelne Tasse.
»Offenbar bin ich tatsächlich für eine vorzeitige Ernennung zur Kronanwältin im
Gespräch. Aber das interessiert sie nicht die Bohne. Für sie gilt man nur was, wenn man wieder
bei ihr einzieht. Cheryl ist jetzt der große Engel. Sie kommen prima miteinander aus.«
»Es ist halt schwer für sie, dich zu verstehen.«
»Wieso? Was ist denn so schwer an mir?«
»Du hast deine Arbeit. Du hast Frank. Du hast deine ganzen Freunde. Du bist wahnsinnig
erfolgreich. Du bist nie einsam.«
Natalie versuchte, sich die gerade beschriebene Frau vorzustellen. Leah setzte sich auf die
Treppe.
»Glaub mir. Mit Pauline ist das auch nicht anders.«
158. Verschwörung

Natalie Blake und Leah Hanwell waren der Überzeugung, dass man versuchte, sie zur
Fortpflanzung zu zwingen. Verwandte, Wildfremde auf der Straße, Leute aus dem Fernsehen,
alle. Die Verschwörung ging allerdings noch weiter, als Hanwell vermutete. Blake spielte ein
doppeltes Spiel. Sie hatte nicht vor, sich zu blamieren, indem sie nicht tat, was von ihr erwartet
wurde. Für sie war es nur eine Frage des Zeitpunkts.
159. Im Park
Leah war zu spät. Natalie saß draußen vor dem Café im Park, an einem Holztisch, ein
breiter grüner Sonnenschirm hielt den Nieselregen ab. Die ersten zehn Minuten verbrachte sie mit
ihrem Handy. Sie checkte die Anzeigen, sie checkte ihre Mails, sie checkte die Tageszeitungen.
Sie steckte das Handy wieder ein. Weitere zehn Minuten lang sprach niemand mit ihr, und sie
sprach mit niemandem. Eichhörnchen und Vögel kamen und verschwanden wieder. Je länger sie
allein blieb, desto mehr verschwamm sie vor sich. Eine aus einem Krug gegossene Flüssigkeit.
Sie sah sich von der Bank zu Boden gleiten und Tiergestalt annehmen. Auf allen vieren gelangte
sie bis ans Ende der feuchten Asphaltfläche und drang auf Gras und Mulch vor. Und weiter,
schneller jetzt, immer mehr im Einklang mit der vierbeinigen Fortbewegungsform, rasch über
den Rasen und die künstlichen kleinen Hügel, durch den Garten der Stille und die Blumenbeete
bis ins Gebüsch, über die Straße und weiter zum Bahndamm, laut heulend.
»Sorry, sorry, sorry! Die Central mal wieder. Mann, das ist hier ja die reinste
Kinderkrippe.«
Natalie hob den Kopf zu den Kindern und dem Chaos an den Tischen ringsum und
lächelte ihre Freundin unverbindlich an und überlegte, an welchem Punkt ihrer
Mittagsverabredung sie Leah ihre Neuigkeiten erzählen sollte.
160. Im Zeitraffer

Die Welt wird von einem System aus Bildern bestimmt. Wir warten auf eine Erfahrung,
die gewaltig oder grässlich genug ist, es zu stören oder gleich ganz aufzubrechen, aber irgendwie
kommt dieser Augenblick nie. Vielleicht kommt er ja ganz am Ende, wenn alles zusammenbricht
und keine Bilder mehr möglich sind. Vermutlich kommen in Afrika die Bilder, die einem Leben
Form und Bedeutung geben, in deren Umgrenzungen man als Person einfließt – der Weg vom
Sohn zum Häuptling, von der Tochter zur Beschützerin –, aus der Welt der Natur und der
kollektiven Vorstellung der Menschen. (Wenn Natalie Blake von »Afrika« sprach, meinte sie
damit »zu einem sehr viel früheren Zeitpunkt«.) Unter solchen Umständen lag vielleicht sogar
eine gewisse Schönheit in der Ausrichtung des Einzelnen an den vielen.
Die Schwangerschaft brachte Natalie nur noch mehr Bildfetzen aus der gewaltigen Masse
an Kulturschutt, den sie tagtäglich über diverse Geräte, teilweise in einer Hand zu halten,
teilweise nicht, aufnahm. Es langweilte sie, sich diesen Bildern entsprechend zu verhalten. Von
ihnen abzuweichen, erfüllte sie mit der alten Sorge. Sie machte sich Sorgen, weil sie sich nicht
um die Dinge sorgte, um die man sich zu sorgen hatte. Ihr Gleichmut erfüllte sie mit Angst. Er
schien so gar nicht in das Bildersystem zu passen. Sie trank und aß genauso wie vorher und
rauchte gelegentlich. Sie begrüßte die Formen, die ihre langweilig geraden Linien nun endlich
annahmen.
Über die bevorstehende Geburt sagte ihre alte Freundin Layla, die bereits drei Kinder
hatte: »Als würdest du dir selbst am Ende einer langen dunklen Straße begegnen.«
So sollte es für Natalie Blake nicht werden. Die Medikamente, die sie verlangte, waren
erstaunlich, überirdisch; wenn auch nicht ganz so gut wie Ecstasy, brachten sie doch eine
schwache Erinnerung an die Klarsicht und Freude jener glücklichen Tage mit sich. Sie empfand
Euphorie, als wäre sie durch die Klubs gezogen und immer weiter durch die Klubs gezogen,
anstatt heimzugehen, weil jemand Vernünftigeres zum Nachtbus wollte. Sie steckte sich
Kopfhörer in die Ohren und tanzte zu Big Pun um ihr Krankenhausbett. Es war kein sonderlich
dramatisches Ereignis. Stunden schrumpften zu Minuten. Und im entscheidenden Moment
konnte sie ganz gelassen zu sich sagen: »Sieh mal einer an, ich gebäre.«
Was alles nur heißen soll, dass das brutale Bewusstsein der Realität, auf das sie so
gehofft, das sie so herbeigesehnt hatte – ohne sich vorher klarzumachen, wie sehr sie damit
rechnete –, ausblieb.
161. Fremdheit

Dennoch gab es da einen Moment – ein paar Minuten nach dem Ereignis, nachdem das
verklebte Kind gesäubert und ihr zurückgegeben worden war –, da meinte sie fast, es vielleicht
doch zu spüren. Sie blickte in die glänzenden schwarzen Augen eines Wesens, das in keiner
Weise identisch war mit der Wesenheit Natalie Blake und in gewisser Weise bewies, dass gar
keine solche in sich geschlossene Wesenheit existierte. Aber war dieses Wesen nicht zugleich ein
Attribut von Natalie Blake? Eine Erweiterung? In diesem Augenblick weinte sie und empfand
ungeheure Demut.
Wenig später gab es Blumen und Karten und Fotos und Freunde und Verwandte, die mit
Geschenken kamen und darin in unterschiedlichem Maße Geschmack und Verstand bewiesen,
und an die Stelle des rätselhaften schwarzäugigen Fremden trat ein gutmütiges, drei Kilo
schweres Baby namens Naomi. Leute kamen mit Ratschlägen. Wer aus Caldwell war, fand, alles
sei bestens, solange man das Baby nicht gerade die Treppe runterwarf. Wer nicht aus Caldwell
war, fand, nichts sei bestens, wenn nicht alles absolut perfekt gemacht wurde, und selbst dann
gab es noch keine Garantie. Sie war selten so froh gewesen, Leute aus Caldwell zu sehen. Leah
Hanwell konnte sie in dieses Schema nicht recht einfügen, denn es ist immer besonders
schwierig, die Menschen zu karikieren, die man im Leben am meisten liebt. Leah kam mit einem
weißen Plüschhasen und sah Natalie an, als hätte sie einen Abgrund überquert und wäre in eine
andere Welt gelangt.
162. Beweis

Vierzehn Monate nach der Geburt ihres ersten Kindes bekam Natalie Blake ein zweites.
Eigentlich hätte er Benjamin heißen sollen, aber als er da war, hatte er ein kleines Haarbüschel
mitten auf dem Kopf, wie ein Stachel, und sie nannten ihn drei Tage lang Spike, bis ihnen
schließlich der romantische, kinderlose Nachmittag vor Jahren wieder einfiel, als sie in einer
Wiederaufführung von She’s Gotta Have It gewesen waren.
Frank war fröhlich und vollkommen uninteressiert an allen praktischen Fragen, und eine
Zeit lang hatte Natalie das Gefühl, ihn wie ein drittes Kind behandeln zu müssen oder auch wie
ein viertes – wenn sie das Kindermädchen mitzählte –, das es wie die anderen zu steuern und zu
instruieren galt, damit die Zeit maximal genutzt wurde und alle dort landeten, wo sie hinmussten.
Zeit totschlagen durfte nur Natalie selbst, wenn sie an ihrem Schreibtisch saß und digitale Fotos
ihrer Sprösslinge betrachtete. Objektiv gesehen unterschied sich diese Tätigkeit in nichts von den
Anlässen, bei denen sie Fotos von Tatorten durchsehen musste. Eines Morgens erwischte
Melanie sie mitten in einer solchen Tagträumerei und konnte ihre Freude nicht verbergen. Hinter
dem Foto von Spike war noch ein anderes Fenster offen, mit Anzeigen. Gereizt ließ Natalie eine
Umarmung über sich ergehen.
163. Architektur als Schicksal

Leah sagte Wohnraum dazu, Natalie Wohnzimmer und Marcia Salon. Das Licht war
trotzdem immer gleich schön. Und sie stand immer noch gerne im Erker und bewunderte ihren
Blick auf den Park. Wenn sie die Dinge betrachtete, die Frank und sie gekauft und im Haus
verteilt hatten, stellte Natalie sich oft vor, dass sie eine Geschichte ihres Lebens erzählten, in der
das konkrete Haus eigentlich gar keine Rolle spielte, aber natürlich war es auch durchaus
möglich, dass das Haus die unbestreitbare Realität darstellte und Natalie, Frank und ihre Tochter
nicht mehr waren als menschliches Schattenspiel an der Wand. Seit 1888 streiften Schatten über
diese Wände, saßen, lebten, lümmelten herum. An guten Tagen war Natalie stolz auf die kleinen
Unterschiede zwischen den früheren Bewohnern, den aktuellen Nachbarn und ihr. Die
afrikanischen Masken zum Beispiel. Das abstrakte Gemälde einer Straße in Kingston. Der
minimalistische Tisch mit den vier thronartigen Stühlen. Zu anderen Zeiten – vor allem dann,
wenn das Kindermädchen mit Naomi unterwegs war und sie allein im Wohnzimmer saß und das
Baby stillte – hatte sie das ernüchternde Gefühl, ihr eigener Schatten sei mit allen anderen
identisch, auch mit denen im Haus nebenan und im Haus daneben.
In der ganzen Straße ließ diesen Herbst Babygeschrei die Lichter auch spätabends nicht
verlöschen. Der Schock über den Crash hinterließ ein faustförmiges Loch im Putz an der Wand
von Natalies Haus am Park und brachte alle Pläne für den Ausbau des Kellers zum Erliegen.
Ohne Arbeit und begierig, sich irgendwie nützlich zu fühlen, wartete Natalie Blake, bis Spike
schlief, öffnete ein neues Word-Dokument und tippte wild entschlossen den Titel

Dem Geld auf den Fersen: Bericht einer Ehefrau

Sie konnte sich von Berufs wegen gut ausdrücken, und es machte sie wütend, sich
anhören zu müssen, wie im Radio und im Fernsehen der ihrer Ansicht nach tadellose Charakter
ihres Mannes verunglimpft wurde. Als ob der arme Frank – dessen Bonuszahlungen im Vergleich
wirklich zu vernachlässigen waren – nicht von Grund auf anders wäre als diese ganzen
sagenhaften Gauner und Betrüger.
Als er nach Hause kam, wollte sie mit ihm ein Gespräch über das Thema beginnen. Er sah
von seinem chinesischen Essen auf.
»Du hast mir noch nie eine einzige Frage zu meiner Arbeit gestellt.«
Natalie bestritt das, obwohl es wesentlich der Wahrheit entsprach, und hielt im Interesse
des Journalismus weiter am Thema fest.
»Es sollte aber doch keine Frage des individuellen Moralempfindens sein, oder? Sondern
eine Frage der rechtlichen Vorschriften.«
Frank legte die Stäbchen beiseite. »Wieso reden wir jetzt darüber?«
»Hier wird Geschichte geschrieben. Du bist ein Teil davon.«
Frank bestritt, Teil der Geschichtsschreibung zu sein. Er widmete sich wieder seinem
Chow Mein. Natalie Blake war nicht aufzuhalten.
»Viele unserer Partner schreiben inzwischen Artikel für die Online-Ausgaben der großen
Zeitungen. Einschätzungen. Ich sollte auch mehr in die Richtung machen. Das kann ich
wenigstens von zu Hause aus.«
Frank deutete mit dem Kopf auf die Fernbedienung. »Können wir jetzt vielleicht
fernsehen? Ich bin todmüde.«
Aber der Fernseher brachte auch keine Erlösung.
»Schalt um«, sagte Frank nach fünf Minuten Nachrichten. Natalie schaltete um.
»Wenn die City morgen dichtmacht«, sagte Frank, ohne seine Frau dabei anzusehen,
»dann bricht dieses ganze Land zusammen. Schluss, aus, Ende.«
Oben brüllte das Baby.
In den nächsten paar Tagen gelang es Natalie nur, drei weitere Sätze zu ihrer Sozialkritik
hinzuzufügen:
Mir ist klar, dass ich nicht dem Bild entspreche, das den meisten vor Augen steht, wenn
sie an »Banker-Ehefrauen« denken. Ich bin eine bestens ausgebildete Schwarze. Ich arbeite
erfolgreich als Anwältin.
Sie schob dieses langsame Vorankommen auf Spike, dabei schlief der Kleine
ausgesprochen viel, und Natalie hatte ihre polnische Hilfe, Anna. Sie hatte jede Menge Zeit. Eine
Woche später, als sie ihre Mails checkte, fiel ihr das Dokument auf dem Desktop ins Auge, und
sie verschob es stillschweigend in einen Winkel ihres Computers, wo sie nicht mehr so leicht
darüber stolpern konnte. Im Wohnzimmer sah sie fern und stillte ihr Kind. Es wurde immer
früher dunkel. Die Blätter wurden braun, orange und goldgelb. Die Füchse kreischten. Manchmal
sah sie nach den Anzeigen. Die jungen Männer im Fernsehen räumten ihre Schreibtische leer.
Auf dem Weg nach draußen hielten sie ihre Kartons vor sich wie einen Schild.
164. Halbe Sachen

Jedes Mal, wenn sie wieder anfing zu arbeiten, war die Anforderung ganz klar umrissen:
alles so hinkriegen, als hätte sie nie ein Kind gekriegt. Auf den Frauenseiten der
Wochenendbeilagen wurde viel über dieses Phänomen geschrieben, und Natalie las das Material
mit großem Interesse. Zeitmanagement, das war der Schlüssel. Glücklicherweise war
Zeitmanagement Natalies Stärke. Sie stellte fest, dass sich durch einen schlichten Mangel an
Entschiedenheit eine ganze Menge Zeit sparen ließ. Sie hatte keine dogmatischen Ansichten
dazu, was kleine Kinder essen, anziehen, anschauen oder anhören sollten oder welche Sorte
Trinkgefäß sie verwendeten, um Milch daraus zu trinken oder etwas anderes als Milch.
Manchmal allerdings begegnete sie sich zu ihrer Überraschung selbst am Ende der
dunklen Gasse. Sie verfiel in Panik und Wut, wenn sie ihre verwöhnten Kinder auf dem Boden
hocken und auf dem Handy ihres Vaters alte Bilder anschauen sah, bewegte Bilder von sich
selbst, eine Form der Selbsterfahrung, die es in der Geschichte der Menschheit – außer im Traum
und im Wunder – bis vor sehr kurzer Zeit praktisch nicht gegeben hatte. Bis kurz vor dem Jetzt.
165. Regieanweisungen

Innenraum. Nacht. Künstliche Beleuchtung.


Hohe Wände links und rechts, ein kleines Fenster. Die Jalousien sind geschlossen.
Vorne rechts eine angelehnte Tür. Bücherregale zu beiden Seiten.
Ein schlichter Schreibtisch. Ein Klappstuhl. Darauf einige Bücher.
Nat kommt durch die Tür. Schaut zum Fenster hoch. Tritt näher ans Fenster.
Öffnet die Jalousie. Schließt die Jalousie wieder. Geht hinaus. Kommt zurück. Geht
hinaus.
Pause.
Kommt entschlossen wieder zurück, öffnet die Jalousie. Nimmt die Bücher vom Stuhl.
Setzt sich. Steht wieder auf.
Geht zur Tür. Kehrt um. Setzt sich. Klappt den Laptop auf. Klappt ihn zu. Klappt ihn auf.
Tippt.
FRANK (mechanisch, von hinten): Ich geh schlafen. Kommst du? (Pause.) Kommst du?
NAT: Ja. (tippt schneller) Nein. Ja.
166. Im Zeitraffer
Jetzt, wo es so viel Arbeit gab – jetzt, wo im Grunde ihr ganzes Leben Arbeit geworden
war, empfand Natalie Blake eine Ruhe und Zufriedenheit, wie sie sie bisher nur während der
Probeklausuren an der Uni oder bei Vorverhandlungen erlebt hatte. Wenn bloß alles langsamer
gehen könnte! Sie war etwa hundert Jahre lang acht gewesen. Vierunddreißig war sie sieben
Minuten lang. Häufig musste sie an die Kreidezeichnung an einer Schultafel denken, vor langer
Zeit, als alles noch ein normaleres Tempo hatte. Das Zifferblatt einer Uhr, das die Geschichte des
Universums in zwölf Stunden darstellte. Der Urknall erfolgte am Mittag. Die Dinosaurier
tauchten irgendwann im Nachmittag auf. Und alles, was den Menschen betraf, ließ sich in den
fünf Minuten vor Mitternacht abhandeln.
167. Zweifel

Spike fing mit dem Sprechen an. Am liebsten sagte er: »Das ist meine Mummy.« Die
Betonung wechselte. »Das ist meine Mummy. Das ist meine Mummy. Das ist meine Mummy.«
168. Endspiel im Afrika-Laden

Sie verspürte den neuen Drang nach etwas anderem als bloßer Fortbewegung. Sie wollte
bewahren. Zu diesem Zweck begab sie sich auf die Suche nach den Speisen ihrer Kindheit. Am
Samstagmorgen, gleich nach dem Besuch im riesigen britischen Supermarkt, quälte sie sich mit
zwei Kindern im Doppel-Buggy und ohne jede Unterstützung die High Road hinauf bis zu dem
kleinen afrikanischen Laden, um dort Yamswurzeln, Salzfisch und Kochbananen zu kaufen. Es
regnete. Die Tropfen peitschten waagerecht. Beide Kinder brüllten. Konnte es ein Elend geben,
das erhabener war als ihres?
Naomi warf Sachen in den Einkaufswagen. Natalie nahm sie heraus. Naomi warf sie
wieder hinein. Spike machte in die Hose. Die Leute schauten Natalie an. Sie schaute zurück. Hin
und her wanderten die Blicke der Paranoia und der Geringschätzung. Es war eiskalt draußen,
eiskalt drinnen. Es gelang ihnen, sich in eine Schlange einzureihen. So gerade. Es gelang ihnen so
gerade.
»Wenn du das sein lässt, Nom-Nom, dann erzähl ich dir eine Geschichte, ich erzähl dir
eine Geschichte. Willst du meine Geschichte denn nicht hören?«, fragte Natalie Blake.
»Nein«, sagte Naomi De Angelis.
Natalie wischte sich mit dem Schal den kalten Schweiß von der Stirn und blickte auf, um
zu sehen, ob sie vielleicht jemand für ihre mütterliche Gelassenheit angesichts solch unfassbarer
Provokation bewunderte. Die Frau vor ihr kam ins Blickfeld. Sie leerte gerade ihr letztes Geld auf
die Theke und verhandelte darüber, auf welche ihrer Einkäufe sie verzichten sollte. Ihre Kinder,
vier Stück, duckten sich um ihre Beine.
Natalie Blake hatte ganz vergessen, wie es war, arm zu sein. Das war eine Sprache, die sie
nicht mehr beherrschte, nicht einmal mehr verstand.
169. Lunch mit Layla

Ihre alte Freundin Layla Thompson hieß inzwischen Layla Dean. Sie war schon vor
Jahren aus der Kirche ausgetreten. Sie arbeitete bei einem schwarzasiatischen Radiosender als
Programmleiterin für den Bereich Musik. Sie war mit einem Mann verheiratet, der zwei
Internetcafés plus Copyshop in Harlesden besaß und betrieb. Damien. Drei Kinder. Wann immer
Natalie Blake eine Diskussion über Erziehungsmethoden führte (und solche Diskussionen führte
sie ständig), zog sie ihre alte Freundin Layla als leuchtendes Beispiel für alles heran, was sie
sagen wollte.
Wenn sie Layla auf diese Weise als positives Beispiel heranzog, erwähnte sie meistens
nicht, dass sie Layla seit zwei Jahren nicht mehr gesehen hatte. Layla hatte ihre Kinder bereits,
und Natalie hatte keine Kinder, und während dieser Phase fand Natalie es schwierig, sich mit
Layla zum Lunch zu treffen, weil ihr Laylas Sorgen so kurzsichtig, so beschränkt vorkamen.
Jetzt, wo Natalie selbst Kinder hatte, dachte sie sich, dass sie eigentlich gern wieder regelmäßig
mit Layla lunchen würde. Sie würde Layla so viel erzählen können, was sie sonst mit niemandem
besprach. Also wurde ein Lunch verabredet. Und nun merkte sie, dass sie plötzlich sehr schnell
redete und Laylas Gastfreundschaft in diesem wunderschönen Soul-Food-Restaurant an der
Camden High Street weidlich ausnutzte. In gewisser Weise konnte sie gar nicht schnell genug
reden, um all das loszuwerden, was sie zu sagen hatte.
»›Jetzt muss ich endlich nicht mehr so tun, als ob ich mich für die Nachrichten
interessiere‹«, zitierte Natalie Blake eine andere Frau und aß dabei einen kleinen Chinalöffel voll
Krabben in Kokosmilch. »Und ich saß da in einem ganzen Kreis solcher Freaks und dachte mir:
Ich gehör hier nicht hin. Wo ist der Ausgang? Ich brauche Menschen, mit denen ich auch tanzen
gehen kann.« Draußen spielte ein vorbeifahrendes Auto »Billie Jean«.
»Ich geh mit dir tanzen, Natalie.«
»Herzlichen Dank! Irgendwo in Farringdon gibt es so Old-School-Hip-Hop-Abende, hat
mir mein Bruder erzählt. Wir könnten nächsten Samstag gehen. Ich frage auch noch meine
Freundin Ameeta. Ist doch deutlich besser als ›Old Mac Donald hat ’ne Farm‹ zu singen.«
»Ich mag diese Krabbelgruppen. Ich war da früher ständig.«
»Die nicht. Die ist ganz edel. Am allerwenigsten kann ich es leiden, wenn sie ...«, setzte
Natalie an und machte fast den ganzen Hauptgang so weiter. Männer brachten Bowle, sie
brachten Bowle. Ihr Glas war nie halb voll oder halb leer, sondern füllte sich ständig. Männer
brachten Bowle. Draußen spielte ein vorbeifahrendes Auto »Don’t Stop Till You Get Enough«.
»Was denn?«, fragte Natalie Blake. Eigentlich war sie viel zu betrunken, um wieder ins
Büro zu gehen. Ihre Freundin Layla lächelte leicht betrübt. Sie schaute auf die Tischdecke.
»Nichts. Du hast dich überhaupt nicht verändert.«
Natalie schrieb gerade eine SMS an Melanie, um ihr zu sagen, dass sie jetzt wohl doch
erst morgen wiederkommen würde.
»Stimmt. Ich muss ja auch kein anderer Mensch werden, nur weil ich ...«
»Du musstest immer allen klarmachen, dass du nicht so bist wie die anderen. Das machst
du immer noch.«
Ein Kellner kam und bot Dessert an. Natalie Blake hatte eigentlich große Lust auf ein
Dessert, glaubte aber plötzlich, keins mehr bestellen zu dürfen. Sie war starr vor Angst. Ihr Herz
klopfte wie verrückt. Sie verspürte den Schulmädchendrang, Layla Dean, geborene Thompson,
beim Kellner zu verpetzen. Layla ist gemein zu mir! Layla mag mich nicht! Draußen spielte ein
vorbeifahrendes Auto »Wanna Be Startin’ Somethin’«.
Layla sah den Kellner nicht an, und nach kurzer Zeit verschwand er wieder. Sie drehte
eine dicke weiße Serviette zwischen den Händen.
»Selbst als wir damals unsere Lieder aufgeführt haben, da warst du zwar bei mir, aber
gleichzeitig auch gar nicht bei mir. Angeberisch. Falsch. Aufgesetzt. Ständig hast du mit den
Jungs im Publikum geflirtet und so.«
»Layla, was redest du denn da?«
»Und das machst du immer noch.«
170. Rollenspiele

Tochter-Rolle. Schwester-Rolle. Mutter-Rolle. Ehefrau-Rolle. Anwältinnen-Rolle.


Reichen-Rolle. Armen-Rolle. Briten-Rolle. Jamaika-Rolle. Jede Rolle verlangte eine andere
Kostümierung. Aber wenn sie die diversen Haltungen nebeneinanderstellte, hatte sie Mühe, sich
klar zu werden, welche am authentischsten war oder vielleicht auch nur am wenigsten
unauthentisch.
171. Me, myself and I

Natalie setzte Naomi in den Kindersitz und schnallte sie fest. Natalie setzte Spike in den
anderen Kindersitz und schnallte ihn fest. Natalie stieg in das riesige Auto. Natalie schloss alle
Fenster. Natalie schaltete die Klimaanlage ein. Natalie legte Reasonable Doubt in den
CD-Spieler. Natalie instruierte Frank, leise zu stellen, sollte es zu unerhörten Kraftausdrücken
kommen.
172. Boxen

Auf dem Weg die Kilburn High Road entlang hatte Natalie Blake den starken Wunsch,
ins Leben anderer Leute zu schlüpfen. Es war nicht abzusehen, wie dieser Wunsch praktisch zu
erfüllen wäre und was das überhaupt heißen sollte. »Schlüpfen« ist unpräzise formuliert. Mit dem
somalischen Jungen nach Hause gehen? Mit der alten Russin an der Bushaltestelle vor dem
Poundland warten? Sich zu dem ukrainischen Gangster an den Cafétisch setzen? Insidertipp:
Viele der fesselnderen Gespräche, die man in London belauschen kann, werden an der
Bushaltestelle vor dem Poundland in Kilburn geführt. Keine Ursache.
Aber Lauschen allein reichte nicht. Natalie Blake wollte diese Menschen kennenlernen.
Sich intim mit ihnen befassen.
Unterdessen:
Sowohl in Natalies als auch in Franks Büro befassten sich alle Kollegen intim mit dem
Leben einer Gruppe Afroamerikaner, fast nur Männer, die auf den Grünflächen zwischen einer
Reihe architektonisch scheußlicher Wohnsilos in einer krisengeschüttelten und vergessenen Stadt
mit einer der höchsten Mordraten der USA für zwanzig Dollar Crack vertickten. Obwohl er es
nicht richtig begründen konnte, ärgerte es Frank, dass sich alle so intim mit dem Leben dieser
jungen Männer befassten, und aus Protest schloss er sich und seine Frau von einem allen
Berichten zufolge ekstatischen gemeinschaftlichen Fernseherlebnis aus.
Unterdessen:
Natalie Blake checkte ihre Anzeigen. Beantwortete ihre Antworten.
173. Auf dem Spielplatz

Man raucht nicht auf einem Spielplatz. Das liegt doch auf der Hand. Jeder halbwegs
zivilisierte Mensch sollte das wissen.
Ja, bestätigte Natalie. Ja, allerdings.
Raucht er immer noch? Fragte die ältere Dame, eine Weiße.
Natalie beugte sich auf der Bank vor. Er rauchte immer noch. Um die achtzehn. Er war
mit zwei anderen Jugendlichen da: einem Weißen mit schrecklicher Akne und einem
bildhübschen Mädchen in grauem Trainingsanzug und neongelben Nikes. Das Mädchen machte
das, was Natalie und ihre Freundinnen früher als »rumlümmeln« oder »rumgammeln« bezeichnet
hatten – sprich: Sie saß zwischen den Beinen des Jungen, die Ellbogen auf seinen Knien, in
träger, sommerlicher Innigkeit. Und sie sahen auch richtig nett zusammen aus, wie sie da auf dem
Karussell hockten. Aber es ließ sich nicht wegreden: Der rauchende Junge stand auch auf dem
Kinderkarussell. Und rauchte.
Denen werde ich mal den Marsch blasen. Sagte die ältere Dame. Die sind doch alle aus
dieser verflixten Siedlung.
Die alte Dame zog los, und im selben Moment kam Naomi vom Planschbecken
herangerannt, stürzte ihrer Mutter in die Arme und rief HANDTUCH HANDTUCH
HANDTUCH. Und falls Sie sich fragen: Ja, es war tatsächlich noch dasselbe Becken, in dem sich
viele Jahre zuvor das dramatische Ereignis abgespielt hatte. Natalie Blake wickelte ihre Tochter
in ein Handtuch und zog ihr die Plastiksandalen an.
Die alte Dame kam zurück.
Raucht er immer noch? Er war sehr unhöflich zu mir.
Ja. Sagte Natalie Blake. Er raucht noch.
MACHEN SIE DIE AUS. Rief die alte Dame.
Natalie nahm Naomi auf den Arm und ging zum Karussell hinüber. Unterwegs gesellte
sich eine Dame mittleren Alters zu ihnen, eine eindrucksvolle Rastafrau mit einem riesigen
Zuluhut. Beide blieben vor dem Karussell stehen. Die Rastafrau verschränkte die Arme vor der
Brust.
Du musst die Zigarette ausmachen. Das hier ist ein Spielplatz. Sagte Natalie.
Und zwar JETZT. Sagte die Rastafrau. Ihr habt hier sowieso nichts verloren. Ich hab
gehört, wie ihr eben mit der Dame geredet habt. Die Dame ist älter als ihr. Ihr solltet euch was
schämen.
Mach einfach die Zigarette aus. Sagte Natalie. Ich habe mein Kind hier. Sagte Natalie,
obwohl sie eigentlich keine größeren Probleme mit Passivrauchen hatte, vor allem nicht draußen
an der frischen Luft.
Pass auf, wenn mir einer dumm kommt, sagte der Junge, dann sag ich dem, er soll sich
verpissen. Hat die etwa nett mit mir geredet? Sag jetzt nichts Falsches, das haben nämlich alle
gehört, und nein, hat sie nicht.
AUF EINEM KINDERSPIELPLATZ RAUCHT MAN NICHT. Rief die ältere Dame.
Von der Bank herüber.
Aber was macht sie mich so blöd an? Fragte der Junge.
Das ist ihr gutes Recht! Beharrte die Rastafrau.
Mach sie doch einfach aus. Sagte Natalie. Das ist ein Spielplatz.
Pass mal auf, ich bin nicht so wie ihr hier. Das ist nicht meine Szene. Wir sind nicht so
wie ihr hier. In Queen’s Park. Also pimmelt euch mal nicht auf. Ich bin aus Hackney, klar.
Das war kein kluger Schachzug, rhetorisch gesehen. Selbst das lümmelnde Mädchen
stöhnte.
Oh NEE. Sagte die Rastafrau. Nee, so läuft das nicht. Nee nee nee. Was bist du denn für
ein Witzbold? Ich bin aus Hackney? Klar? KLAR? Pass mal auf, mit denen da kannst du’s ja
machen, aber mit mir machst du das nicht, Freundchen. Ich kenn dich. Und zwar ganz genau. Ich
bin nämlich auch nicht aus Queen’s Park, Schätzchen, ich bin aus HARLESDEN – ausgebildete
Jugendsozialarbeiterin. Seit zwanzig Jahren. Und ich schäme mich gerade so richtig für dich. Du
bist der Grund, dass wir nicht weiter sind, als wir gerade sind. Eine Schande ist das. Eine
Schande!
Ja ja ja ja ja ja ja ja ja. Sagte der Junge. Das Mädchen lachte.
Findest du das etwa witzig? Sagte die Rastafrau. Lach nur weiter, sista. Was glaubst denn
du, wo das hinführt? Fragte die Rastafrau das Mädchen.
Ich? Aber ich hab doch gar nix damit zu tun! Was hab denn ich damit zu tun?
Nichts. Sagte Natalie. Nichts. Nichts. GAR NICHTS.
Mummy, hör auf zu schreien! Sagte Naomi.
Natalie wusste gar nicht, warum sie schrie. Sie fürchtete bereits, dass sie sich gerade
blamierte.
Ihr tut mir wirklich leid. Sagte ein bisher unbeteiligter Inder, der sich in den Kreis der
Ankläger eingereiht hatte. Offensichtlich seid ihr sehr unglückliche, unzufriedene junge Leute.
Ach du liebe Zeit, bloß nicht die Leier! Rief das Mädchen.
Der junge Weiße, mit dem sie dort lümmelte, musterte die wachsende Versammlung und
riss die Augen weit auf. Er fing an zu lachen.
Ihr seid echt zum Brüllen. Sagte er.
Wie ist das jetzt überhaupt so weit gekommen? Fragte das Mädchen lachend. Ich sitz hier
nur rum und chille! Was hab ich damit zu tun. Mensch, Marcus, du bist hier das Opfer. Hier
geht’s um dich. Und ich find mich plötzlich in der Jeremy-Kyle-Show wieder.
Wieso lachen Sie? Fragte die ältere Dame, die Weiße, die jetzt auch bei den anderen am
Karussell stand. Ich finde das nicht besonders witzig.
Oh Mann, jetzt wird’s aber langsam öde. Sagte das Mädchen. Jetzt ist die auch wieder da.
Mütterchen Hubbard schlägt zurück. Was für ’ne Wahnsinnsscheiße!
So ’n Aufstand? Meinte Marcus. Wegen ’ner Kippe. Ist es das wirklich wert? Setzt euch
mal alle zurück auf eure Plätze und kommt wieder runter. Kümmert euch um euren eigenen
Scheiß. Setzt euch hin, Leute.
Spinner. Sagte das Mädchen.
Mach sie doch einfach aus, Mann. Sagte Natalie. Es war lange her, seit sie zuletzt einen
Satz mit »Mann« beendet hatte.
Ey, Marcus. Sagte das Mädchen. Mach bitte die Kippe aus, damit die Frau da endlich
Ruhe gibt. Das wird langsam echt albern.
Sie sollten sich was schämen. Sagte die ältere Dame.
Ich wollte ja ein Gespräch mit euch führen. Sagte die Rastafrau. Ein Gespräch unter
Erwachsenen, um euren Standpunkt zu verstehen. Aber bei dem Blödsinn komm ich nicht mehr
mit. Schäm dich, brother. Und das Traurige ist, ich weiß ja, wo das alles hinführt.
Mach dir um mich mal keine Sorgen. Sagte Marcus. Ich verdiene. Mir geht’s gut. Sagte
Marcus.
Marcus klappte einen imaginären Kragen hoch. Eine wenig überzeugende Geste.
Ich verdiene. Mir geht’s gut. Wiederholte Natalie. Sie hatte den Mund höhnisch verzogen.
Ich verdiene. Mir geht’s gut. Wiederholte sie. Klar, natürlich. Ich bin Anwältin, Bürschchen. Da
verdient man. Da verdient man richtig.
Die Leute sind echt krank. Sagte das Mädchen.
Wenn sie hergekommen wär und mich nett gefragt hätte, ja? Dann hätt ich’s ja sogar
gemacht. Verteidigte sich Marcus. Ich bin nämlich ’n intelligenter Typ, wisst ihr? Aber wenn
einer nicht nett zu mir ist und mir blöd kommt, dann muss ich mich ja wohl wehren.
Wenn du auch nur ein bisschen Ehrgefühl oder Selbstachtung hättest, argumentierte
Natalie, dann wäre es nicht gleich ein Angriff auf dein ach so empfindliches Ego, wenn dich
jemand auf einem Spielplatz bittet, die Zigarette auszumachen.
Inzwischen hatte sich ein kleiner Auflauf aus anderen Eltern und besorgten Bürgern
gebildet. Natalies letztes Argument stieß auf allgemeine Begeisterung, und sie spürte den Sieg so
deutlich wie vor Gericht, wenn sie den atemlosen Geschworenen geheime Fotos präsentierte.
Während sie den Triumph bereits genoss, traf ihr Blick versehentlich den von Marcus, was sie
kurz ins Stocken brachte, doch dann fixierte sie einen Punkt hinter seiner rechten Schulter und
richtete alle weiteren Ausführungen an diesen Fluchtpunkt. Ringsum zerfiel der Streit in mehrere
kleinere Dispute. Das Mädchen stritt mit der älteren Dame. Ihr Freund stritt mit der Rastafrau.
Etliche andere taten sich mit Natalie zusammen, um weiter auf den armen Marcus einzureden,
der die Zigarette inzwischen ausgeraucht hatte und völlig erschöpft aussah.
174. Pfirsich, Pfingstrose

Sie fand das Haus nicht gleich und lief mehrmals daran vorbei. Es war eine unauffällige
Tür mit doppeltem Glaseinsatz, direkt zwischen Habitat und Waitrose an der Finchley Road. Ein
heruntergekommener Dreißigerjahre-Bau. Sie drückte den Öffner, und die Tür sprang sofort auf.
Kurz blieb sie stehen, um sich die künstlichen Blumen im Flur anzuschauen, die erstaunlich echt
aussahen. Vierter Stock, kein Aufzug. Natalie Blake blieb lange vor der Wohnungstür stehen. Um
überhaupt klingeln zu können, war ein Manöver notwendig, das sie später für sich »den eigenen
Körper verlassen« nannte. Durch den Glaseinsatz sah sie einen pfirsichfarbenen Teppich und
pfirsichfarbene Wände und ein kleines Stück Wohnzimmer, wo ein weiches weißes Ledersofa
mit Beinen und Armlehnen aus Walnussholz stand. Dem Sofa gegenüber sah sie einen passenden
Sessel mit großem Fußschemel im selben Stil. Auf dem Tisch in der Diele lag eine Zeitung. Sie
versuchte zu erkennen, welche es war, und kam zu dem Schluss, dass es der Daily Express sein
müsse, teilweise verdeckt von einem altmodischen, ebenfalls cremefarbenen Telefon mit
Wählscheibe und Messinghörer. Sie dachte an die Anzeige, die das Paar als »gehoben«
bezeichnet hatte. Zwei Körper näherten sich der Tür. Sie sah sie deutlich durch den Glaseinsatz.
Viel älter, als sie angegeben hatten. Mitte sechzig. Scheußliche, plissierte weiße Haut mit
bläulichen Adern. Alle suchen eine schwarze Sie, 18–35. Wozu? Was glauben die, was wir
können? Was haben wir, das die wollen? Sie hörte sie noch rufen: Warte doch!
175. Golders Green-Krematorium

Es fiel Natalie Blake nicht schwer, etwas Passendes für eine Beisetzung zu finden. Die
meisten ihrer Kleider hatten ein gewisses Friedhofsflair. Schwieriger war es, die Kinder
anzuziehen, und so machte sie das zu ihrer zentralen Sorge, knallte mit Schranktüren und warf
alles, was im Weg war, einfach auf den Boden.
Im Wagen fragte ihr Mann, Frank De Angelis: »War er ein guter Mensch?«
»Ich weiß nicht, was das ist«, erwiderte Natalie Blake.
Als sie auf dem Parkplatz hielten, zeigte der Rückspiegel nicht ein Gesicht, das sie nicht
kannte, auch wenn ihr die Namen dazu fehlten. Leute aus Caldwell, Leute von der Brayton, Leute
aus Kilburn, Leute aus Willesden. Alle standen für eine bestimmte Phase. Sicher war auch sie aus
deren Sicht nicht mehr als eine Art narzisstischer Zeitmesser. Und dennoch. Sie stieg aus dem
Wagen auf den Vorplatz. Eine Freundin ihrer Mutter fasste sie am Arm. Sie näherte sich dem
Erinnerungsgarten. Ein Mann, der die Mietervereinigung von Caldwell leitete, legte ihr seine
große Hand in den Nacken und drückte zu. War es möglich, keine Geringschätzung für die
Menschen zu empfinden, die die Zeit für einen maßen? War es vielleicht auch möglich, sie zu
lieben? »Alles klar, Keisha?« »Natalie, schön, dich zu sehen.« »Alles klar, Kindchen?« »Miss
Blake, lange nicht gesehen.« Dieses seltsame Nicken, mit dem man einander auf Beerdigungen
zur Kenntnis nimmt. Colin Hanwell war nicht einfach nur tot, die hundert Leute, die dieselben
paar Quadratkilometer Straße mit ihm geteilt hatten, nahmen diese Verbindung, so intim wie
zufällig, so eng wie distanziert, jetzt zur Kenntnis. Natalie hatte Colin nie richtig gekannt – es
war gar nicht möglich gewesen, Colin richtig zu kennen; aber sie wusste, was es hieß, von Colin
zu wissen, Colin als Gegenstand des Bewusstseins zu haben. Das ging den anderen hier genauso.
Die Leute redeten. Die Leute sangen. And did those feet in ancient times. Natalie musste
wiederholt nach draußen, weil ihre beiden Kinder nacheinander Theater machten. Schließlich
öffnete sich der Vorhang, und der Sarg verschwand. Dusty Springfield. Manches erfährt man erst
über jemanden, wenn er tot ist. Als die Trauergemeinde nach draußen strömte, stand Leah mit
ihrer Mutter am Eingang. Sie trug eine scheußliche Kombination aus langem schwarzem Rock
und schwarzer Bluse, die ihr jemand geliehen haben musste. Natalie hörte, wie wohlmeinende
Fremde Leah ihre weitschweifigen, nutzlosen Erinnerungen aufbürdeten. Geschichten erzählten.
»Danke, dass ihr gekommen seid«, sagte Leah mechanisch zu jedem, der vorbeiging. Sie war
sehr bleich. Keine Geschwister. Keine Cousins und Cousinen. Nur Michel zur Unterstützung.
»Oh, Lee«, rief Natalie Blake, als sie an der Reihe war, und schluchzte und umarmte ihre
gute Freundin Leah Hanwell ganz fest. Hätte bloß jemand Natalie Blake zwingen können, an
jedem Tag ihres Lebens auf eine Beisetzung zu gehen!
176. Unbewusst

Cranley Estate in Camden. Mehr N als NW. Ein magerer Mann, der sich »JJ« nannte und
eine gewisse Ähnlichkeit mit ihrem Onkel Jeffrey hatte. Und eine junge Iranerin mit dem ebenso
unwahrscheinlichen Spitznamen »Honey«. Sie waren Anfang zwanzig und völlig hinüber.
Natalie Blake vermutete Crack, aber es konnte ebenso gut Meth oder etwas ganz anderes sein.
Honey fehlte ein Zahn. Das Wohnzimmer verdiente den Namen kaum. Ein scheußlich
schmutziger Futon, ein Fernseher, der die ganze Zeit lief. Die ganze Wohnung stank nach Dope.
Sie saßen auf Sitzsäcken, halb benebelt, und schauten Deal or No Deal. Nervös wirkten sie nicht.
JJ sagte: Chillen wir erst mal ein bisschen. Ich bin grad heimgekommen, ich bin fix und alle. Er
bot keinen Stuhl an. Entgegenkommend wie immer, setzte Natalie Blake sich zwischen die
beiden auf den Boden.
Sie versuchte, sich auf die Sendung zu konzentrieren, die sie noch nie gesehen hatte. Ihr
Handy piepste ständig, eine SMS aus dem Büro nach der anderen. JJ hatte eine komplizierte
Verschwörungstheorie, was die Anordnung der Koffer betraf. Es blieb ihr nichts weiter übrig, als
den Joint zu nehmen und sich dem Dope zu überlassen. Bald verlor sie jedes Zeitgefühl.
Irgendwann war das Fernsehgucken vorbei, und JJ spielte ein Videospiel: Kobolde und Schwerter
und irgendwelche Elfen, die blöd daherredeten. Natalie entschuldigte sich, um aufs Klo zu gehen.
Sie erwischte die falsche Tür, sah ein Bein, hörte einen Aufschrei. Das ist Kelvin, sagte JJ, er
pennt grad hier. Arbeitet nachts.
Die Klobrille war durchsichtig und mit Goldfischen bedruckt. Das Wasser aus dem
Wasserhahn war braun. Head & Shoulders. Radox-Duschgel. Beides leer.
Natalie ging wieder in den Wohnraum. JJ redete auf den Bildschirm ein. Jetzt sag mir
halt, wo der verfickte Kornspeicher ist. Eine Bauersfrau lächelte geheimnisvoll zurück. Natalie
versuchte, Konversation zu machen. Ob er so was schon öfter gemacht habe? Ein paarmal, sagte
er, wenn’s nix Besseres zu tun gab. Normalerweise sind die aber irre hässlich, und ich schmeiß
sie gleich wieder raus, bevor sie reinkommen. Oh, sagte Natalie. Sie wartete. Nichts. Honey
wandte sich gelangweilt an ihren Gast. Was machst du denn so, Keisha? Scheinst ja ’ne Nette zu
sein. Ich bin Friseuse, sagte Natalie Blake. Oh! Hast du gehört, sie macht Haare. Das ist aber
schön. Ich bin aus dem Iran. JJ verzog das Gesicht: Die Achse des Bösen! Honey gab ihm einen
Klaps, aber einen liebevollen. Sie streichelte Natalies Gesicht. Glaubst du an Aura, Keisha?
Ein neuer Joint wurde gebaut und geraucht. Irgendwann fiel Natalie ein, dass Frank auch
länger arbeitete. Sie smste Anna und überredete sie mit Freizeit und einem höheren Stundensatz,
bis elf zu bleiben und die Kinder ins Bett zu bringen. JJ hatte eine Burg erreicht, wo eine neue
Liste mit Aufgaben auf ihn wartete. Honey überlegte laut, wo denn das MDMA-Pulver sein
könnte, das sie irgendwo in einem Kaugummipapier deponiert hatte. Natalie sagte: Ich glaube,
das wird nichts mehr, oder? JJ sagte: Glaub ich auch nicht, ehrlich gesagt.
177. Neid

Leah wollte, dass Natalie Blake bei einer von Leah unterstützten Benefizversteigerung
zugunsten eines Kollektivs junger schwarzer Frauen einen Vortrag hielt. Sie lag ihr damit in den
Ohren. Aber der Saal, den sie für die Veranstaltung angemietet hatten, lag südlich vom Fluss.
»Ich geh nicht in den Süden«, protestierte Natalie Blake.
»Es ist aber doch für einen richtig guten Zweck«, beharrte Leah Hanwell.
Natalie Blake bedankte sich bei Leah für die Einführung und trat ans Rednerpult. Sie
sprach über Zeitmanagement, darüber, sich Ziele zu setzen, engagiert zu arbeiten, sich selbst und
den Partner zu respektieren, und darüber, wie wichtig eine gute Ausbildung war. »Alles, was
allein auf dem Körperlichen basiert, ist zum Scheitern verurteilt«, las sie ab. »Um
zusammenzubleiben, muss man auf dieselben Ziele hinarbeiten.« Irgendwann würde sie etwas
Ähnliches wohl zu Leah sagen müssen. Jetzt noch nicht, aber irgendwann. Sie würde es natürlich
entsprechend abmildern. Arme Leah.
Zwischen Seite zwei und dem Anfang von Seite drei musste sie wohl auch weiter laut
abgelesen und sich verständlich gemacht, den Anschein eines ununterbrochenen roten Fadens
erweckt haben – zumindest schaute niemand im Publikum, als wäre sie nicht ganz dicht –, und
dennoch schweiften ihre Gedanken zu obszönen Szenen ab. Sie fragte sich, was Leah und
Michel, die praktisch nie die Finger voneinander lassen konnten, wohl in der Intimität ihres
Schlafzimmers trieben. Körperöffnungen, Stellungen, Höhepunkte. »Und gerade, weil ich nie
bereit war, mir künstliche Grenzen zu setzen«, erklärte Natalie Blake dem Kollektiv junger
schwarzer Frauen, »war ich in der Lage, mein Potenzial voll zu entfalten.«
178. Turmfrisur

Die schöne Stimme drang aus den Lautsprechern des Cafés im Park. Natalie Blake und
ihre Freundin Leah Hanwell waren schon vor langer Zeit übereingekommen, dass diese Stimme
nach London klang – vor allem nach seinen nördlichen und nordwestlichen Gebieten –, als wäre
die Besitzerin eine Art Schutzheilige ihrer Viertel. Kann man eine Stimme überhaupt besitzen?
Natalies Tochter und viele andere Kinder hüpften herum und tanzten zu dem Song, während ihre
Eltern dezent im Takt dazu nickten. Die Sonne schien. Leider war Leah Hanwell
gewohnheitsmäßig spät dran, und kurz darauf war der Song vorbei, und Naomi brüllte wegen
irgendetwas, und Spike war aufgewacht, und Leah hatte die perfekte Inszenierung von
Lebensfreude verpasst – vor allem von Familienlebensfreude. »Im Grunde ist sie deprimiert«,
sagte Natalie zu Frank, während sie warteten. »Sie glaubt, ich merke das nicht. Ich merke es aber.
Kompletter Stillstand. Stagnation. Sie kann sich nicht mehr aus dem Loch herauswühlen, in dem
sie steckt.« Doch kaum hatte sie es ausgesprochen, sah sie sich auch schon mit der Möglichkeit
konfrontiert, dass dieses Urteil nur dem Song entstammte, eigentlich nur eine weitere Strophe
war, die Natalie aus einer plötzlichen Laune heraus dazugedichtet und mit der sie sich blamiert
hatte, indem sie sie laut sagte. Frank sah von seiner Zeitung auf und erwischte ihre im Zustand
des Entsetzens erstarrte Miene. »Leah und Michel sind glücklich wie nur was«, sagte er.
Einige Zeit später sah Natalie die Sängerin bei einem Fernsehinterview: »Als ich klein
war, habe ich mich nie für was Besonderes gehalten. Ich dachte immer, singen können alle.« Ihre
Stimme war noch dasselbe Wunder, das Natalie damals durchs offene Fenster eines Pubs in
Camden gehört hatte. Doch die Frau, die diese Stimme besaß oder nicht besaß, war praktisch
inexistent. Natalie starrte auf dieses x-beinige kleine Mädchen, kaum vorhanden, fast ein Nichts.
179. Aphorismus

Wie schwer Frauen sich doch mit ihren Gaben tun! Sie strafen sich selbst dafür, sie
mitbekommen zu haben.
180. Mit allen Schikanen

Im schönen Primrose Hill. Nach langen Verhandlungen per Mail war schließlich ein
Nachmittagstermin vereinbart worden: fünfzehn Uhr. Die Frau öffnete und sagte: Puh! Haare
geglättet, Bademantel, hohe Absätze, schön und unverkennbar afrikanisch. Ihr ging es vor allem
darum, den Arm um Natalie zu legen und sie in das riesige Haus zu schaffen, ohne dass es
jemand mitbekam. Kleidungstechnisch blieb Natalie ihrem Thema treu: Goldkreolen, Jeansrock,
Wildlederstiefel mit Troddeln, das Haargummi mit den schwarz-weißen Würfeln und die
Arbeitskleidung in einem Rucksack auf dem Rücken. Als sie sich in einem hohen goldgerahmten
Spiegel in der Diele sah, fand sie sich sehr überzeugend. Sie war zu diesem Zeitpunkt fest
entschlossen. Immerhin waren sie attraktiv. Und Natalie Blake hielt Attraktivität immer noch für
entscheidend.
Utopia Green (matt) von Farrow & Ball an den Dielenwänden. Afrikanische
Wandskulpturen. Modern und minimalistisch. Eine gerahmte goldene Schallplatte. Ein gerahmtes
Bild von Marley. Die gerahmte Titelseite einer Zeitung. Alles so fürchterlich »geschmackvoll«.
Natalie Blake blickte auf und sah den Ehemann oder Freund oben an der Treppe. Er sah
auffallend gut aus, rasierter Kopf, edle Züge. Ein schönes Paar, sie ähnelten einander. Wie aus
der Werbeanzeige einer amerikanischen Lebensversicherung. Er lächelte Natalie an und zeigte
Zahnarztkunst im Überfluss, strahlend und absolut gerade. Seidener Morgenmantel. Schleimig.
Wir freuen uns so, dass du da bist, Keisha, wir hatten ja fast gedacht, du bist nicht echt. Kannst
du fassen, dass sie wirklich echt ist? Zu schön, um wahr zu sein. Komm rauf zu mir, sista, damit
ich dich besser anschauen kann. Soulmusik von oben. Ein Kinderhochstuhl von Bloom, das
Sondermodell von 2009, wie eine in der Küche schwebende Raumstation. Auf dem Küchentisch
ein aufgeklapptes MacBook Air. Auf der Treppe, zugeklappt, ein älteres MacBook. Er streckte
die Hand aus. Schön habt ihr’s hier, sagte Natalie Blake. Du bist schön, sagte er. Natalie spürte
die Hand seiner Frau oder Freundin am Hintern.
Oben erwartete sie ein Bett im Kolonialstil, wie es vor ungefähr fünf Jahren Mode war.
Der Schuhschrank stand offen. Rote Sohlen von oben bis unten. Über dem Bett hing der allzu
vertraute Tube-Plan, bei dem die einzelnen Stationen durch Ikonen des vergangenen Jahrtausends
ersetzt und zu Gruppen und Bewegungen zusammengefasst sind. Natalie suchte nach Kilburn:
Pelé. Auf dem Bett spielte ein iPad Porno-Videos, Dreier, und hier bekam Natalie diese
technologische Errungenschaft zum ersten Mal zu sehen. Zwei Frauen leckten sich gegenseitig,
ein Mann saß auf dem Tisch, seinen Schwanz in der Hand. Es waren alles Deutsche.
Die schöne Afrikanerin redete ununterbrochen. Wo kommst du her? Studierst du noch?
Was willst du mal werden? Du darfst niemals aufgeben. Man muss große Träume haben.
Ambitionen. Man muss engagiert arbeiten. Sich nie mit einem Nein zufriedengeben. Alles sein,
was man sein möchte.
Je länger Natalie Blake dort stand, voll bekleidet und teilnahmslos, desto nervöser wurden
die beiden, desto mehr redeten sie. Schließlich fragte Natalie, wo das Bad sei. Vom Zimmer aus
zugänglich. Sie stieg in eine aufgearbeitete viktorianische Badewanne mit Messing- und
Porzellanarmaturen von The Water Monopoly. Sie wusste, dass sie hier durch war. Sie lehnte
sich zurück. Acqua di Parma. Chanel. Molton Brown. Marc Jacobs. Tommy Hilfiger. Prada.
Gucci.
181. Osterferien

Anna war für ein paar Tage nach Polen gefahren, um ihre Eltern zu besuchen, und jetzt
kam sie wegen des Vulkans nicht mehr zurück. Natalie googlete. Starrte auf die riesige
Aschewolke.
»Du bist flexibler als ich«, erklärte Frank und verließ das Haus. Der Keller war wieder
aktuell. Überall wimmelte es von Handwerkern. Frank hatte hart dafür gearbeitet, alles wieder ins
Lot zu bringen. Sie hatten beide hart gearbeitet. Sie hatten sich alles verdient, was ihnen gegeben
wurde.
Ham Se noch ’n bisschen Tee, Kindchen? Schaffen Se lieber mal die Kleinen weg, sonst
passiert denen noch was. Se ham nicht zufällig irgendwo ’n paar Kekse rumliegen?
Um zehn Uhr vormittags fand sie sich in einer weiß gestrichenen Zelle wieder, zusammen
mit zwei rätselhaften schwarzäugigen Fremden, die offenbar etwas von ihr wollten, was sie aber
beim besten Willen nicht verstand und auch nicht leisten konnte. Männer in orangefarbenen
Westen gingen ein und aus. Die Milch ist sauer, Kindchen. Ham Se vielleicht Marmelade? Sie
raffte die Kinder zusammen und verließ diese Baustelle, ihre Küche. Sie ging mit ihnen ihre
Mutter besuchen. In den Park. In den Zoo. Auf den Markt in Kilburn. In den Afrika-Laden. Zum
Toys R Us in Cricklewood. Nach Hause.
Als ihr Vater wiederkam, berichtete Naomi ihm sehr viel detailreicher von dieser
Odyssee.
»Du bist der Wahnsinn«, sagte Frank und küsste Natalie Blake auf die Wange. »Ich hätte
wahrscheinlich wieder nur Zeit verplempert und den ganzen Tag mit ihnen gespielt.«
182. Liebe in Ruinen

Es waren nette junge Männer, merklich überrascht, dass überhaupt jemand auf ihr
Ansinnen reagierte. Natalie war überzeugt, dass sie die Anzeige betrunken gepostet hatten.
Cousins? Brüder? Eine Doppelhaushälfte aus den Fünfzigern in Wembley, Blick auf die North
Circular, schallgedämmt bis zum Abwinken. Ein Einfamilienhaus, dem die Familie fehlte. Früher
auf der Brayton nannten sie so was »Herrenhaus für Arme«. Natalie Blake hätte nicht erklären
können, warum sie so sicher war, dass sie ihr nichts tun würden. Sie musste sich eingestehen,
absolut irrational daran zu glauben, dass Mordabsichten etwas waren, was man Leuten »einfach
anmerkte«. Sicherlich half es auch, dass die zwei noch viel verängstigter aussahen als sie, als sie
ihr öffneten. Ach du Schande! Ich hab’s dir doch gesagt, Dinesh. Hab ich’s dir nicht gesagt? Ich
hab dir gesagt, das ist kein Kerl. Komm rein, Süße. Komm rein, Keisha. Ach du Schande! Du bist
ja richtig geil und so. Wozu sagst du das denn jetzt! Wieso denn nicht? Sie weiß doch Bescheid
und wir auch. Sie weiß Bescheid und wir auch. Nix dabei. Ach du Schande! Hier lang, Süße. Wir
tun dir nichts, ja, wir sind nett. Im Ernst, das glaubt uns doch kein Mensch, Mann. Ich glaub’s ja
selber nicht. Hier rein. Sollen wir uns abwechseln oder was? Was? Ich will dich doch nicht nackt
sehen, bruv! Was ’n das für ’n schwuler Scheiß? Ja, aber sie will doch ’ne Doppelnummer
schieben, oder! Das heißt nicht einer nach dem andern! Das heißt beide situ – silu – simu –
gleichzeitig halt. Weißt du nicht, was Doppelnummer heißt, bruv? Doppelnummer halt. Du weißt
ja gar nicht, wovon du redest. Doppelnummer! Halt die Klappe, du Spast. Natalie hörte, wie sie
draußen in der Diele zankten. Sie wartete in der Küche. Rund um den Kühlschrank war eine
große Pfütze. Auf allen Türen stand FEUERSCHUTZTÜR. Sie kamen wieder herein. Schüchtern
schlugen sie vor, dass man sich doch ins Schlafzimmer zurückziehen könne. Seltsam, wie
schüchtern sie waren, angesichts der Umstände. Ständig kabbelten sie sich. Da rein. Spinnst du?
Da drin mach ich’s nicht. Da schläft Bibi! Hier rein, Mann. Pisser. Komm mit, Keisha, mach’s
dir bequem, ja? Dinesh, Mann, da ist ja nicht mal ’n Laken drauf! Hol ’n Laken! Sag nicht immer
meinen Namen! Keine Namen. Wir holen nur kurz ein Laken, ja, wart einfach hier, lauf nicht
weg.
Natalie Blake legte sich rücklings auf die Matratze. Oben auf dem Schrank standen alle
möglichen Kisten voller Kram. Kram, den keiner mehr holen kam. Überflüssig. Das ganze
Zimmer strahlte etwas schrecklich Trauriges aus. Am liebsten hätte sie die Kisten heruntergeholt,
sie durchgesehen und gerettet, was es zu retten gab.
Die Tür ging auf, und die jungen Männer kamen zurück, jetzt nur noch in ihren
Calvin-Klein-Unterhosen, eine schwarz, die andere weiß, wie zwei Fliegengewichte im Boxring.
Nicht älter als zwanzig. Sie holten einen Laptop. Anscheinend war das so eine Art Roulette. Man
klickte, und ein Mensch wurde sichtbar, in Echtzeit. Noch mal klicken. Noch mal klicken.
Achtzig Prozent der Zeit bekamen sie Schwänze zu sehen. Der Rest waren schweigsame
Mädchen, die mit ihren Haaren spielten, Studentengrüppchen, die reden wollten, kahl geschorene
Schlägertypen vor ihrer Nationalflagge. In den seltenen Fällen, wenn tatsächlich mal eine Frau
kam, tippten sie umgehend: ZEIG UNS DEINE TITTEN. Natalie fragte sie: Jungs, Jungs, wozu
machen wir das? Ihr habt das doch hier alles in echt. Aber sie machten weiter mit dem Internet.
Natalie schien es, als wollten sie Zeit schinden. Oder vielleicht waren sie auch zu nichts mehr in
der Lage, ohne irgendwie das Netz einzubeziehen. Versuch’s mal, Keisha, versuch’s mal, schau
mal, wen du kriegst. Natalie setzte sich an den Laptop. Sie erwischte einen einsamen jungen
Israeli, der ihr schrieb: DU BIST NETT und seinen Schwanz herausholte. Hast du’s gern, wenn
man dir zusieht, Keisha? Magst du das? Wir lassen’s da auf der Kommode stehen. Wie willst
du’s haben, Keisha? Sag’s uns, und wir machen’s. Alles. Und immer noch wusste Natalie Blake,
dass sie nicht in Gefahr war. Macht einfach, was ihr wollt, sagte Natalie Blake.
Doch keiner von beiden bekam irgendetwas hin, und bald gaben sie sich gegenseitig die
Schuld. Das liegt an ihm! Das ist, weil ich ihn sehen muss, Mann. Der bringt mich total aus ’m
Rhythmus. Hör nicht auf ihn, der hat gar keinen Rhythmus.
Sie waren völlig zufrieden damit, rumzumachen wie die Teenager. Natalie verlor die
Geduld. Sie war kein Teenager mehr. Sie wusste, was sie tat. Und sie hatte nicht das Gefühl,
abwarten zu müssen, bis vielleicht einmal jemand in sie eindrang. Sie konnte umschließen. Sie
konnte festhalten. Sie konnte freigeben.
Sie setzte den Jungen mit der schwarzen Unterhose auf die Bettkante, rollte seine Vorhaut
herunter, setzte sich auf ihn und befahl ihm, sie nicht anzufassen oder sich sonst irgendwie zu
bewegen, solange sie es ihm nicht erlaubte. Ein dünner Schwanz, aber nicht hässlich. Er sagte:
Du bist ganz schön entschlossen, was, Keisha. Weißt, was du willst, und so. Hört man ja immer
über euch sistas, stimmt’s? Und Natalie Blake erwiderte darauf: Was man hört, geht mir so was
von am Arsch vorbei. Sie merkte, dass der Junge keinen brauchbaren Rhythmus hatte – es war
für sie beide besser, wenn er einfach stillhielt. Sie ließ sich auf ihn sinken. Schaukelte. Kam sehr
schnell, wenn auch nicht ganz so schnell wie sein beschnittener Freund auf der anderen Seite des
Bettes, der kurz aufstöhnte, sich tröpfelnd in die eigene Hand ergoss und dann im Bad
verschwand. Dinesh, du kleiner Pisser. Komm zurück. Ähm. Das ist jetzt irgendwie komisch. Wo
ist er hin? Nur noch wir zwei. Du bist schon gekommen, ja? Auch gut. Weißt du, ich glaub, ich
komm da grad irgendwie nicht hin, Keisha. Ehrlich gesagt fühl ich mich grad so ’n bisschen
überreizt.
Sie gab ihn frei. Der Junge rutschte aus ihr heraus, deutlich geschrumpft. Sie verstaute ihn
wieder in der Unterhose. Dann zog sie sich an. Der andere kam mit verlegener Miene vom Klo
zurück. Sie hatte noch einen Joint aus Camden übrig, den rauchten sie gemeinsam. Sie wollte sie
ermuntern, ihr etwas zu erzählen, irgendwas, von den Leuten, die das Haus bewohnten, aber sie
ließen sich nicht von dem abbringen, was sie »baggern« nannten. So ’ne Frau muss man doch
anbeten, Mann. Bist du bereit, dich anbeten zu lassen, sista? In meinen Augen bist du ’ne Göttin.
Ich besorg’s dir die ganze Nacht, Baby. Bis du mich anflehst, aufzuhören. Bis morgen früh um
sechs. Ey, Dinesh, Mann, ich muss um acht auf Arbeit sein.
183. Neuigkeiten

Natalie Blake feuerte Anna und stellte Maria ein, die aus Brasilien kam. Der Keller war
fertig ausgebaut. Maria zog dort ein. Ein neues Spielfeld erkaufter Zeit tat sich auf. Natalie und
Leah gingen zum Iren.
»Und, was gibt’s Neues bei dir?«, fragte Leah Hanwell.
»Nicht viel«, sagte Natalie Blake. »Und bei dir?«
»Alles beim Alten.«
Natalie erzählte von einem jungen Typen, der im Park geraucht hatte, und betonte dabei
ihr eigenes heldenhaftes Aufbegehren gegen das anhaltend ungehobelte Benehmen. Sie erzählte,
wie kleinlich und unglücklich ihre gemeinsame Bekannte Layla Dean geworden war, sanft
bemüht, sich selbst, Natalie Blake, dabei in ein möglichst schmeichelhaftes Licht zu rücken. Sie
erzählte von den Vorbereitungen der Kinder auf den Karneval und konnte dabei kaum vermeiden
zu betonen, wie ausgefüllt und glücklich ihr Leben war.
»Nur will Cheryl unbedingt, dass alle ›Cousinchen‹ zusammen auf einem Wagen von der
Gemeinde mitfahren. Ich will aber auf keinen Fall auf einen Gemeindewagen!«
Leah plädierte für Natalies Recht, Religiosität in der Maske von Karnevalsfreuden
abzulehnen. Leah erzählte, wie unmöglich sich ihre Mutter wieder mal benommen habe. Natalie
plädierte für Leahs Recht, sich über die Vergehen ihrer Mutter zu ärgern, so geringfügig sie auch
sein mochten. Leah erzählte eine lustige Geschichte über Ned von oben. Sie erzählte eine lustige
Geschichte über Michels Hygienegewohnheiten. Natalie registrierte besorgt, dass Leahs
Geschichten keinen bestimmten Schwerpunkt hatten, keine Ziele verfolgten.
»Hast du eigentlich dieses Mädchen noch mal gesehen?«, fragte Natalie Blake. »Die dich
so reingelegt hat – an der Haustür?«
»Ständig«, sagte Leah Hanwell. »Ich sehe sie ständig.«
Gemeinsam leerten sie zwei Flaschen Weißwein.
184. Erwischt

»Was soll das sein? ›KeishaNW@gmail.com‹? Was zum Teufel soll das sein? Ein
Märchen?«
Sie standen einander in der Diele gegenüber. Er hielt ihr ein Blatt Papier unter die Nase.
Keine zwei Meter entfernt probten ihre Kinder und die Cousinchen mit Cheryl und Jayden
Tanzschritte, die am nächsten Morgen auf dem Karnevalswagen zum Einsatz kommen sollten.
Marcia nähte Pailletten und Federn an neonfarbene Leggings. Als sie die lauten Stimmen hörten,
hielten die zahlreichen Mitglieder von Natalie Blakes Familie in ihrer Tätigkeit inne und schauten
in die Diele hinaus.
»Bitte lass uns nach oben gehen«, sagte Natalie Blake.
Sie gingen eine Treppe hoch bis ins Gästezimmer, das in reizvoll marokkanischem Stil
gehalten war. Natalie Blakes Mann packte sie sehr fest am Handgelenk.
»Wer bist du?«
Natalie Blake versuchte, ihr Handgelenk zu befreien.
»Du hast da unten zwei Kinder. Sei verdammt noch mal erwachsen. Wer bist du? Ist das
echt? Wer zum Teufel ist wildinwembley? Was ist das alles da auf deinem Rechner?«
»Was machst du denn an meinem Rechner?«, fragte Natalie Blake mit schwacher
Stimme, lächerlicher Stimme.
185. Weiter

Frank saß mit dem Rücken zu ihr auf dem Bett, eine Hand vor den Augen. Natalie Blake
stand auf und verließ das Gästezimmer und schloss die Tür. Ein merkwürdiges Gefühl der Ruhe
folgte ihr nach unten. Im Erdgeschoss, in der Diele, stieß sie mit Maria, der Brasilianerin,
zusammen, die sie immer noch mit demselben dumpfen Erstaunen musterte wie in der Woche
zuvor, als sie eingetroffen war und feststellen musste, dass die Haut ihrer Arbeitgeberin um
einiges dunkler war als ihre.
Durch die Diele, wo auf einem Beistelltisch ihr Laptop stand, der Bildschirm für jeden
sichtbar aufgeklappt. Vorbei an ihrer Familie, die ihr hinterherrief. Sie hörte Frank die Treppe
herunterrennen. Sie sah ihren Mantel über dem Geländer hängen, Schlüssel und Handy in der
Tasche. An der Tür bot sich noch einmal die Gelegenheit, etwas mitzunehmen: Sie sah ihr
Portemonnaie auf dem Dielentisch liegen, die Oyster-Card, noch einen Schlüsselbund. Sie ging
ohne alles aus dem Haus und schloss die Haustür hinter sich. Vom Erkerfenster aus fragte Frank
De Angelis seine Frau, Natalie Blake, was sie vorhabe. Was sie eigentlich vorhabe. Was zum
Teufel sie eigentlich vorhabe. »Nichts«, sagte Natalie Blake.
Kreuzungen
Von der Willesden Lane zur Kilburn High Road

Sie bog links ab. Ging bis zum Ende der Straße und weiter bis zum Ende der nächsten.
Entfernte sich rasch vom Queen’s Park. Sie ging dorthin, wo Willesden an Kilburn grenzt. Vorbei
an Leahs Haus, dann an Caldwell. In der alten Wohnung stand das Küchenfenster offen. Ein
Bettbezug – verziert mit dem Logo eines Fußballklubs – hing zum Trocknen über der
Balkonbrüstung. Ohne darauf zu achten, wohin sie ging, stieg sie den Hügel hinauf, der in
Willesden beginnt und in Highgate endet. Sie gab ein sonderbares Jaulen von sich, wie ein Fuchs.
Als sie die Straße überquerte, schoss ein Bus der Linie 98 jählings an ihr vorbei – es sah aus, als
würde er kippen –, und anfangs schien er die Quelle des seltsamen rot-blauen Lichts zu sein, das
auf den weißen Zebrastreifen fiel. Dann sah sie den Polizeiwagen, der dahinter geparkt stand und
sein Signallicht tonlos leuchten ließ. Ein ganzes Polizeiwagenaufgebot, rechtwinklig zueinander
geparkt, das die Albert Road für den Autoverkehr sperrte. Auf der zugänglichen Seite der
Absperrung hatte sich bereits eine kleine Menschenmenge gebildet, und ein großer Polizist mit
Turban stand mittendrin und beantwortete Fragen. Aber ich wohne hier in der Albert Road, rief
eine junge Frau. Sie hielt in jeder Hand zu viele Einkaufstüten, weitere baumelten an beiden
Handgelenken und schnitten ihr ins Fleisch. Welche Nummer, fragte der Polizist. Die Frau sagte
es ihm. Sie müssen außenrum gehen. Auf der anderen Seite finden Sie Beamte, die Sie zu Ihrem
Haus begleiten werden. Herrgott noch mal, sagte die Frau, ging dann aber doch in die
angegebene Richtung. Kann ich hier nicht durch, fragte Natalie. Ein Zwischenfall, sagte der
Beamte. Er musterte sie. Weites T-Shirt, Leggings und schmutzige rote Hausschuhe, wie ein
Junkie. Er sah auf die Uhr. Es ist jetzt acht. Die Straße bleibt mindestens noch eine Stunde
gesperrt. Sie versuchte, sich auf die Zehenspitzen zu stellen und an ihm vorbeizuschauen. Aber
sie sah nur noch mehr Polizisten und weiter links weiße Zeltplanen, auf dem Gehsteig gegenüber
der Bushaltestelle. Was denn für ein Zwischenfall? Er gab keine Antwort. Sie war ja niemand.
Sie war keine Antwort wert. Ein Junge mit einem BMX-Rad meinte: Hat’s wohl wieder einen
erwischt, was.
Sie drehte sich um und ging zurück in Richtung Caldwell. Gehen war jetzt ihre Aufgabe,
Gehen ihr ganzes Sein. Sie war nicht mehr und nicht weniger als das Gehen an sich. Sie hatte
keinen Namen mehr, keine Geschichte, keine Eigenschaften. Das alles hatte sich ins Paradoxe
geflüchtet. Gewisse Körpererinnerungen blieben. Sie spürte, wie geschwollen die Haut um ihre
Augen war, dass ihr der Hals wehtat vom Brüllen und vom Jaulen. Sie hatte einen Abdruck am
Handgelenk, wo sie sehr fest gepackt worden war. Sie griff sich mit der Hand ins Haar und
wusste, dass es wirr in alle Richtungen abstand und dass sie sich mitten im Streit ein Büschel
davon ausgerissen hatte, über der rechten Schläfe. Dann war sie an der Außenmauer von
Caldwell. Sie ging die ganze hintere Mauer entlang, den Blick nach unten auf den Grünstreifen
gerichtet, der aus der tiefen Mulde bis zur Straße hinaufreicht. Sie ging die Mauer ab von einem
Ende zum anderen und wieder zurück. Schien eine Lücke im Mauerwerk zu suchen. Immer
wieder überprüfte sie dasselbe Stück. Als sie gerade das Knie zum Klettern beugte, rief eine
Männerstimme nach ihr.
Keisha Blake.
Auf der anderen Straßenseite, links von ihr. Er stand unter einer Kastanie, die Hände tief
in den Taschen seines Hoodies vergraben.
Keisha Blake. Warte.
Er lief über die Straße auf sie zu und machte dabei fahrige Bewegungen: die Hand an der
Nase, am Ohr, am Nacken.
Nathan.
Willst du den Ausbruch rückgängig machen?
Er schwang sich auf die Mauer.
Ich weiß nicht, was ich hier will.
Und fragt mich nicht mal, wie’s mir geht. Das nenn ich kaltschnäuzig.
Er ging in die Hocke und sah ihr ins Gesicht.
Siehst nicht gut aus, Keisha. Gib mir die Hand.
Natalie kreuzte die Handgelenke. Nathan betrachtete ihre zitternden Hände. Er zog sie
hoch. Gemeinsam sprangen sie auf der anderen Seite hinunter und landeten leichtfüßig im
Gebüsch. Er richtete sich auf und sah über die Schulter zur Straße hin.
Na komm.
Er krabbelte durch das Gestrüpp bis zu dem kleinen grasbewachsenen Platz, wo die
Anwohner parken. Er lehnte sich an ein altes Auto. Natalie kam langsamer voran, hielt sich an
den dickeren Ästen der Büsche fest, glitt in ihren Hausschuhen aus.
Siehst echt nicht gut aus.
Ich weiß nicht, was ich hier soll.
Hast mit deinem Mann gestritten, was.
Ja. Woher ...
Siehst nicht aus, als hättest du echte Probleme. Komm mit mir. Ich fliege.
Erst jetzt bemerkte sie seine Pupillen, groß und glasig, und versuchte, sich wieder in die
alte Rolle zu versetzen. Das war immerhin ein Ersatz für das Fehlen jedes Gefühls, für dieses
Nichts. Sie legte ihm die Hand auf die Schulter. Der Stoff seiner Jacke fühlte sich steif an,
schmutzig.
Du fliegst?
Er machte ein Geräusch ganz hinten in der Kehle, fast wie ein Keuchen. Etwas Schleim
geriet ihm in den Weg, und er hustete ausgiebig.
Heute heißt’s entweder fliegen oder aufgeben. Willst du zu deiner Mutter?
Nein. Nach Norden.
Nach Norden?
Ich wollte in Kilburn in die Tube. Aber die Straße ist abgesperrt.
So. Komm, wir laufen. Ist hier nicht der Ort, wo ich grad sein will. Hab schon mehr als
genug Zeit hier verbracht.
Sie standen mitten in der Mulde von Caldwell. Fünf Häuser, verbunden durch Übergänge
und Brücken und Treppenhäuser und Aufzüge, die man schon kurz nach dem Bau nicht mehr
gefahrlos benutzen konnte. Smith, Hobbes, Bentham, Locke, Russell. Hier ist die Tür, hier das
Fenster. Und noch mal, in Endlosschleife. Ein paar Anwohner hatten hübsche Töpfe mit
Geranien und Alpenveilchen auf ihre Balkone gestellt. Andere hatten ihre Fenster mit braunem
Klebeband repariert, schmuddelige Stores, keine Nummern an der Tür, keine Klingel.
Gegenüber, auf dem langen Betonbalkon, der sich über die ganze Breite von Bentham zieht,
stand ein dicker weißer Junge mit einem Fernrohr auf einem Stativ, das nach unten zum Parkplatz
zeigte statt hinauf zum Mond. Nathan sah zu ihm hoch und behielt ihn im Blick. Der Junge
klappte das Fernrohr zusammen, klemmte sich das Stativ unter den Arm und eilte nach drinnen.
Überall roch es nach Dope.
Lange her, Keisha.
Lange her.
Hast du ’ne Kippe?
Natalie fuhr sich mit beiden Händen über den Körper, um zu demonstrieren, dass sie
keine Taschen hatte. Nathan blieb stehen und zog eine einzelne Zigarette aus seiner Gesäßtasche.
Er teilte sie mit einem langen Daumennagel, gelblich und dick, ein breiter Riss in der Mitte.
Tabak krümelte ihm in die Hand. Beide Handflächen waren von trockenen, schwarzen Furchen
durchzogen. Er griff in seine Jeans und förderte ein großes orangefarbenes Päckchen Rizlas
zutage und ein Tütchen, das er sich zwischen die Zähne klemmte.
Wo hast du noch gleich gewohnt?
Locke. Und du?
Er wies mit dem Kopf Richtung Russell.
Stell dich da hin.
Nathan fasste Natalie bei den Schultern und schob sie so, dass sie direkt vor ihm zu stehen
kam. Irgendwie war es erleichternd, zum Gegenstand zu werden. Ohne viel falsch machen zu
können, diente sie als nützlicher Puffer zwischen dem Wind und diesen beiden
Zigarettenpapierchen, die jetzt sorgfältig zum L geformt wurden.
Bleib noch ’nen Moment so stehen. Ey: Heulst du?
Licht wanderte über sie hinweg und Maschinenlärm: ein tieffliegender Hubschrauber.
Ja. Sorry.
Ach, komm schon, Keisha. Dein Mann ist doch kein Unmensch. Der nimmt dich wieder
zurück.
Sollte er aber nicht.
Leute machen viel, was sie eigentlich nicht sollten. Okay, fertig.
Er hielt ihr den Joint hin, das Gesicht zum Nachthimmel gewandt.
Nein. Ich muss klar im Kopf bleiben.
Jetzt spiel mal nicht das brave Mädchen, Keisha. Ich kenn dich schließlich ewig. Deine
ganze Familie. Cheryl. Aber wie du willst.
Er steckte sich den Joint hinters Ohr.
Ist übrigens nicht nur Dope drin, weißt du. Auch noch ’n paar andere kleine Knalleffekte.
Solltest du probieren. Wir suchen uns irgendwo ’n ruhiges Plätzchen. Auf geht’s.
Er ging los. Natalie folgte ihm. Gehen war jetzt ihre Aufgabe. Im Gehen versuchte sie, die
Menschen dort drüben, im Haus, in ihre aktuellen Gedankengänge einzubeziehen. Doch ihr
Verhältnis zu jeder einzelnen dieser Personen war ihr plötzlich unbegreiflich, und aufgrund
langjähriger, fast lebenslanger Vernachlässigung besaß ihre Fantasie nicht mehr die schöpferische
Kraft, sich eine alternative Zukunft abzuringen. Sie konnte sich nichts anderes ausmalen, nur
alles erstickende Vorstadtschande. Sie dachte nach links und dachte nach rechts, doch da war
kein Ausweg. Wobei, Jayden vielleicht? Wieder stockte sie. Wobei, Jayden vielleicht was?
Wie viel Uhr ist es, Keisha?
Keine Ahnung.
Ich hätt schon ewig hier abhauen sollten. Manchmal kapier ich mich echt nicht. Wer hält
mich denn? Kein Mensch. Nach Dalston hätt ich gehen sollen. Zu spät jetzt.
Hinter einem geparkten Taxi tauchte ein etwa neunjähriger Junge auf, der freihändig
Fahrrad fuhr, äußerst langsam und geschickt. Ihm folgten zwei weitere Jungen um die sechs und
ein vielleicht vierjähriges Mädchen. Sie hatten die länglichen Gesichter und die Mandelaugen,
die Natalie mit Somaliern verband, und ihre Langeweile war ihr vertraut, sie erinnerte sich daran.
Das Mädchen kickte eine verbeulte Büchse vor sich her. Einer der Jungen hielt einen langen Ast
locker in der Hand, mit dem er alles streifte, was ihm in den Weg kam. Sie starrten sie an, als sie
vorbeigingen, und sagten etwas in ihrer Sprache. Der Ast geriet Nathan in den Weg. Er musste
nur hinschauen, schon hob der Junge ihn langsam hoch über ihre Köpfe und aus dem Weg.
Was machen wir? Nathan? Was machen wir hier?
Wir latschen. Nach Norden.
Oh.
Da willst du doch hin, oder?
Ja.
Es besteht ein Zusammenhang zwischen Langeweile und der Sehnsucht nach Chaos.
Vielleicht hatte sie ja nie aufgehört, sich nach Chaos zu sehnen, trotz der vielen Masken und
Verschleierungen.
Hast du Musik, Keisha?
Was?
Wir sollten zu dir zurückgehen, bisschen Musik holen. LOCKE!
Er schrie es und deutete darauf, als hätte er das Haus durch Benennen erst ins Dasein
gerufen.
Keisha, sag mir ’n paar Leute aus Locke.
Leah Hanwell. John-Michael. Tina Haynes. Rodney Banks.
Durch die Mühen des Benennens musste Natalie sich an Ort und Stelle hinsetzen. Sie ließ
sich zurücksinken und legte den Kopf auf den Boden, bis der Mond alles war, was sie sah, und
alles, was sie dachte.
Rodney hab ich gesehen – vor ’ner Ewigkeit in Wembley. Da hat er jetzt ’ne Reinigung.
Verdient gut. Aber Rodney ist in Ordnung, der ist noch normal geblieben. Hat mit mir geredet.
Manche Leute tun ja so, als würden sie einen nicht kennen. Steh auf, Keisha.
Natalie stützte sich auf die Ellbogen, um ihn anzusehen. Sie hatte seit Jahrzehnten nicht
mehr auf einem Bürgersteig gelegen.
Los komm, hoch mit dir. Erzähl mir was. Wie früher. Los, Mann.
Zum zweiten Mal an diesem Abend kreuzte sie die Handgelenke und fühlte, wie sie
hochgehoben wurde, als wäre sie kaum vorhanden, fast ein Nichts.
Leah. Die war besessen von dir. Total besessen.
Weiß ich. Aber da gab’s andere Sachen. Voll gut mit Zahlen.
Leah?
Ich, Mann! Ich war voll gut! Du weißt das noch. Die meisten kennen mich nicht von
damals. Du weißt das noch. Ständig hab ich diese Goldsterne gekriegt.
Du warst in allem voll gut. Das weiß ich noch. Du hattest sogar ein Testspiel.
Korrekt. Bei den Queens Park Rangers. Alle sagen, sie hätten ’n Testspiel gehabt. Ich
hatte echt eins.
Weiß ich. Hat deine Mutter meiner Mutter erzählt.
Sehnenschwäche. Hab trotzdem weitergespielt. Keiner hat’s mir gesagt. Da wär vieles
anders gekommen, Keisha. Vieles. Aber so ist das eben. Vorbei. Ich denk nicht mehr gern an die
Zeit, wenn ich ehrlich bin. Letztendlich steh ich doch wieder hier auf der Straße und schlag mich
durch. Reiß mir Tag für Tag ein Bein aus. Bisschen Geld verdienen. Ich hab ’ne Menge Scheiß
gemacht, Keisha, das streit ich gar nicht ab. Aber du weißt, dass ich eigentlich nicht so bin. Du
kennst mich von früher.
Er schlug nach drei Bierdosen, die klappernd ins Gras fielen. Sie hatten das Ende der
Nostalgie erreicht. Hier war die Außenmauer teilweise zerstört – es sah aus, als hätte sie jemand
mit bloßen Händen auseinandergepflückt, Stein für Stein. Sie gingen über die Straße, am
Basketballfeld vorbei. In der hintersten Ecke standen vier schattenhafte Gestalten, deren
Zigaretten im Dunkeln glommen. Nathan hob grüßend die Hand. Die Männer grüßten zurück.
Bleib mal stehen. Ich rauch den jetzt.
Okay, ich auch.
Er drehte sich zu dem hohen Eisentor des Friedhofs. Er zog den Selbstgedrehten hinter
dem Ohr hervor, und sie ließen den Joint hin und her gehen und bliesen den Rauch durch die
Gitterstäbe. Das, was in den Tabak hineingemischt war, schmeckte bitter. Natalies Unterlippe
wurde taub. Ihre Schädeldecke fiel ab. Ihr Mund wurde steif und träge. Es war mühsam,
Gedanken in Laute zu übertragen oder zu entscheiden, welche Gedanken überhaupt zu Lauten
werden konnten.
Zurück zurück zurück. Zurück, Keisha.
Was?
Beweg dich.
Natalie spürte, wie er sie mit der Schulter ein paar Meter weiterschob, bis sie am
äußersten Punkt zwischen zwei Straßenlaternen standen. Auf der anderen Seite des Gitters warf
ein spilleriger viktorianischer Laternenpfahl seinen schwachen Schein auf die Blumenbeete. Als
Naomi noch klein war, hatte Natalie sich ihre Tochter immer vor die Brust geschnallt und auf
diesem Friedhof ihre Runden gedreht, in der Hoffnung, das Baby würde so sein
Nachmittagsschläfchen halten. Die Anwohner behaupteten, Arthur Orton läge hier irgendwo
begraben. Bei all ihren Runden hatte sie ihn nie gefunden.
Lass uns reingehen. Ich will da reinklettern.
Holla. Keisha dreht durch.
Lass uns reinklettern. Komm schon. Ich hab keine Angst. Wovor hast du denn Angst? Vor
den Toten?
Ich weiß nichts von Geistern, Keisha. Und ich will auch nix davon wissen.
Natalie wollte ihm den Joint zurückgeben, doch Nathan führte ihn zurück an ihre Lippen.
Was machst du überhaupt hier draußen, Keisha? Du solltest zu Hause sein.
Ich geh nicht nach Hause.
Wie du willst.
Hast du Kinder, Nathan?
Ich? Nee.
Ein sanftes Surren war zu hören und wurde immer lauter, dann folgte ein Quietschen. Ein
Fahrrad kam abrupt vor ihnen zum Stehen. Ein junger Mann mit ungepflegten Canerows, das
eine Hosenbein bis zum Knie hochgekrempelt, schob sein Fahrrad zur Seite, beugte sich vor und
flüsterte Nathan etwas ins Ohr. Nathan lauschte kurz, schüttelte dann den Kopf und machte einen
Schritt zurück.
Vergiss es, Mann. Zu spät.
Der Junge zuckte mit den Achseln und trat wieder in die Pedale. Natalie sah zu, wie das
Fahrrad am alten Kino vorbeibrauste.
Ist doch ’n Todesurteil.
Was?
Kinder. Wenn sie geboren werden, müssen sie auch sterben. Das ist es, was man ihnen
letztendlich mitgibt. Weißt du, Keisha, genau darum red ich so gern mit dir. Du bist echt. Wir
führen immer tiefe Gespräche, du und ich.
Ich wünschte, wir hätten öfter reden können.
Ich steh auf der Straße, Keisha. Hab ziemlich Pech gehabt. Novlene sagt den Leuten
nicht, was Sache ist. Aber ich will nicht lügen. Siehst es ja. Das bin ich. What you see is what you
get.
Natalie sah weiter dem Jungen mit dem Fahrrad nach. Sie hatte sich angewöhnt, sich für
das Pech anderer Leute zu schämen.
Ich habe Novlene auf der High Road getroffen, vor einiger Zeit.
Kluge Keisha.
Was?
Hat sie dir erzählt, dass sie mich nicht mehr ins Haus lässt? Ich wette nein. Na los, kluge
Keisha. Sag was Kluges. Bist doch jetzt Anwältin, oder.
Ja. Barrister. Ist aber auch egal.
Hast ’ne Perücke auf. ’nen Hammer in der Hand.
Nein. Ist aber auch egal.
Du hast wenigstens was erreicht. Meine Mum erzählt mir immer so gern von dir. Die
kluge Keisha. Ey, guck mal, der Fuchs. Schleicht da rum.
Er hatte eine kleine Lampe an seinem Handy und leuchtete damit durch die Gitterstäbe.
Ein hässlicher Fuchsschwanz – wie eine verbogene alte Bürste – verschwand hinter einer Eiche.
Hinterlistige Viecher. Sind überall, die Füchse. Haben längst das Kommando, wenn du
mich fragst.
Der Fuchs war mager und schien seitwärts über die Gräber zu laufen. Nathan folgte ihm
mit der Taschenlampe, bis es nicht mehr ging, bis das Tier ins Nichts sprang und verschwunden
war.
Wie bist du eigentlich auf die Schiene gekommen?
Jura, meinst du?
Ja. Wie bist du da reingekommen?
Weiß ich nicht. Ist einfach so passiert.
Du warst immer klug. Du hast’s verdient.
Nicht notwendigerweise.
Da ist er wieder! Schnell sind die, diese Füchse!
Ich muss los.
Nathans Beine gaben nach. Er kippte. Erst gegen das Gitter und dann seitlich gegen
Natalie. Sie hatte nicht damit gerechnet, jemand anderen stützen zu müssen. Am Gitter entlang
glitten sie beide zu Boden.
Meine Güte – du musst echt mit dem Rauchen aufhören.
Bleib hier, Keisha, und red ’n bisschen mit mir. Red mit mir, Keisha.
Sie streckten die Beine auf den Gehsteig.
Mit mir redet ja keiner mehr. Gucken mich alle an, als wär ich ’n Fremder. Leute, die ich
noch von früher kenn, mit denen ich rumgezogen bin.
Er legte sich die Hand flach auf die Brust.
Da ist zu viel Tempo im Spiel. Das Herz sprintet. Kleiner Pisser. Ich weiß echt nicht,
warum ich mich mit dem noch abgeb. Er ist doch schuld dran. Treibt den Scheiß immer zu weit.
Aber wie soll ich Tyler aufhalten? Nur Tyler kann Tyler aufhalten. Eigentlich sollt ich hier gar
nicht mit dir reden, ich sollt in Dalston sein, weil ich doch gar nichts dafür kann, er ist schuld.
Aber dann guck ich mich wieder an und frag mich: Nathan, warum bist du immer noch hier?
Warum bist du noch hier? Und ich weiß nicht, warum. Das mein ich nicht als Witz. Eigentlich
sollt ich vor mir selber abhauen.
Beruhig dich. Tief durchatmen.
Ich muss wieder klarkommen, Keisha. Lauf noch ’n Stück mit mir.
Er streifte die Kapuze ab, nahm die Mütze ab. Hinten am Nacken hatte er einen
münzgroßen weißen Fleck.
Los, komm, Bewegung.
In Sekundenschnelle stand er aufrecht. Rot-blaues Licht wanderte über die
Friedhofsmauer.
Und was ist damit?
Wirf ihn einfach weg. Los. Tempo.
Von Shoot Up Hill nach Fortune Green

Dort, wo die Kilburn High Road auf Shoot Up Hill trifft, hielten sie an, auf dem Vorplatz
der U-Bahn-Station.
Warte hier.
Nathan ließ Natalie bei den Fahrkartenautomaten stehen und ging in Richtung
Blumenstand davon. Sie wartete, bis er außer Sicht war, dann ging sie hinterher und hielt am
Rand des Vordachs an. Er stand im Eingang eines Schnell-Chinesen, sprach mit zwei Frauen,
flüsterte mit ihnen. Die eine trug einen kurzen Lycrarock und ein Kapuzenshirt, die andere war
klein, im Trainingsanzug und mit einem Kopftuch, das halb am Hinterkopf hing. Die drei standen
dicht beieinander. Etwas wechselte den Besitzer. Natalie sah, wie Nathan der kleineren Frau die
Hand auf den Kopf legte.

Was hab ich gerade gesagt? Ich will nicht alles zweimal sagen müssen.
Ich sag ja gar nix.
Gut. So soll’s auch bleiben.

Nathan trat aus dem Eingang, sah Natalie und stöhnte. Die Frauen gingen in die andere
Richtung davon.
Wer waren die zwei?
Niemand.
Ich weiß so einiges. Eine Zeit lang war ich jede Nacht in den Zellen an der Bow Street.
Die sind zu. Jetzt bringen sie einen immer nach Horse-ferry.
Stimmt.
Ich weiß auch so einiges, Keisha. Ich hab Köpfchen. Bist hier nicht die einzige Kluge.
Ist mir klar. Wer waren die zwei?
Wir nehmen Shoot Up Hill und dann quer rüber.

Die Straße war noch länger und breiter als sonst. Die Häuser und Wohnungen an dieser
Straße sind weit nach hinten versetzt, sie sehen aus wie geheime Schlupfwinkel, als fürchteten
die Leute, die dort leben, immer noch die Wegelagerer, denen die Straße ihren Namen verdankt.
Natalie schien es unmöglich, je das Ende zu erreichen.
Hast du Geld dabei?
Nein.
Wir könnten uns ’n Bier kaufen.
Ich hab nichts bei mir, Nathan.
Eine Zeit lang gingen sie schweigend weiter. Nathan hielt sich nah an den Häuserwänden,
trat nie in die Mitte des Gehsteigs. Und Natalie merkte plötzlich, dass sie nicht mehr heulte und
zitterte und dass sich Angst schwerer für mehr als einen Moment bewahren lässt als jedes andere
Gefühl auf Erden. Sie konnte sich den Texturen dieser Welt, die ihr hier dargeboten wurden,
nicht entziehen: weißer Stein, grüner Rasen, rötlicher Rost, grauer Schiefer, braune Scheiße. Fast
war es angenehm, so ins Nichts zu schlendern. Sie überquerten die Straße, Natalie Blake und
Nathan Bogle, und gingen weiter bergauf, an den schmalen roten Luxuswohnungen vorbei, hoch
zum Geld. Die Welt der Sozialbauten lag weit hinter ihnen, am Fuß des Hangs. Jetzt tauchten
viktorianische Bauten auf, anfangs nur wenige, dann immer mehr. Frischer Kies in der Auffahrt,
weiße Holzrollläden vor den Fenstern. Werbetafeln von Maklerbüros an den Toren.
Manche dieser Häuser sind heute zwanzigmal mehr wert als noch vor zehn Jahren.
Dreißigmal mehr.
So.
Sie gingen weiter. Am Gehsteig entlang hatte die Stadt eine optimistische Reihe Platanen
gepflanzt, kleine Setzlinge, geschützt von Plastikringen rund um den Stamm. Einer war bereits
entwurzelt, ein anderer abgeknickt.
Von Hampstead nach Archway

Der Teil der Hampstead Heath, wo die Hauptstraße direkt hindurchführt und der Gehweg
verschwindet. Es war dunkel und nieselte leicht. Sie gingen hintereinander am Straßenrand
entlang. Natalie spürte von rechts die Autos dicht neben sich und von links dornige Sträucher und
Gestrüpp. Nathan war durch Kapuze und Kappe geschützt. Ihr eigenes zum halb aufgelösten Zopf
geflochtenes Haar war nass bis auf die Kopfhaut. Hin und wieder rief er eine Warnung über die
Schulter. Halt dich links. Hundekacke. Hier wird’s glitschig. Sie hätte sich keinen besseren
Begleiter wünschen können.
Der Regen wurde stärker. Sie blieben im Eingang eines Pubs stehen, Jack Straw’s Castle.
Die Schuhe sind echt krass.
Das sind keine Schuhe, sondern Hausschuhe.
Echt krass.
Was ist denn so schlimm daran?
Was sind die so rot?
Weiß ich nicht. Ich glaube, ich mag Rot.
Gut, aber was müssen die so leuchten? Kann man sich ja gar nicht mit verstecken.
Ich will mich auch nicht verstecken. Ich glaube nicht, dass ich mich verstecke. Warum
verstecken wir uns?
Frag lieber nicht.
Er setzte sich auf die nasse Steinstufe. Rieb sich die Augen, seufzte.
Ich wette, da im Wald wohnen Leute, blud.
In der Hampstead Heath?
Ja. Weit drinnen.
Kann sein. So was weiß ich nicht.
Leben da wie die Tiere. Haben genug von der Großstadt. Ich hab gerade auch echt die
Schnauze voll davon. Das Pech verfolgt mich, Keisha. So sieht’s aus. Nicht ich folge dem Pech.
Es verfolgt mich.
Ich glaube nicht an Glück oder Pech.
Solltest du aber. Das regiert die Welt.
Er fing wieder an zu singen. Zu singen und zu rappen, aber beides so leise und traurig und
ähnlich, dass Natalie den Unterschied kaum wahrnahm.
Da kommt schon wieder dieser scheiß Hubschrauber.
Während er noch sprach, zog er ein Päckchen Golden Virginia aus der Tasche und strich
ein Rizla-Papierchen auf dem Knie glatt. Natalie sah nach oben. Nathan versuchte, ganz im
Schatten des Eingangs zu verschwinden. Gemeinsam beobachteten sie, wie die Flügel des
rotierenden Propellers durch die Wolkendecke schnitten. Sie hatten die ganze Zeit geraucht. Sie
war so high wie nie zuvor in ihrem Leben.
Und der Regen hört auch nicht auf.
Ich könnte dir ein Tagebuch zeigen. Dein Name. In jeder dritten Zeile: dein Name. Das
Tagebuch von meiner Freundin Leah. Das war sozusagen meine Kindheit: ihr zuhören, wie sie
von dir redet! Sie würde es nie zugeben, aber der Mann, den sie geheiratet hat – der sieht aus wie
du.
So.
Ich find’s einfach nur komisch, dass man für jemanden so lebenswichtig sein und das gar
nicht wissen kann. Du wurdest so sehr ... geliebt. Warum machst du das? Glaubst du mir etwa
nicht?
Nee, es ist nur. Mit einem hat meine Mum echt recht gehabt. Als zehnjähriger brother
wirst du überall geliebt. Mit deinem kleinen runden Köpfchen. So süß und aufgeweckt. Solange
er zehn ist, wird so ’n kleiner brother überall geliebt. Danach kriegt er Probleme. Kann ja nicht
immer zehn bleiben.
Wie kann man einem Kind nur so etwas Furchtbares sagen!
Ja, aber weißt du, so siehst du das – ich seh das gar nicht so. Für mich ist das die
Wahrheit. Sie wollte mir was sagen, was stimmt. Aber du willst das nicht hören. Du willst ganz
anderen Kram hören. Ach, Nathan, ich weiß noch, wie du so und so warst, und du warst ja so
scheißsüß, dieser ganze Dreck, kapierst du? Schöne Erinnerungen. Aber als ich das letzte Mal bei
euch im Hof war, blud, da war ich zehn. Danach hat deine Mum mich nicht mal mehr zum Tor
reingelassen, ich schwör.
Das ist nicht wahr!
Und als ich vierzehn war, hat sie die Straßenseite gewechselt und getan, als würd sie mich
nicht sehen. So sieht’s aus, wenn du mich fragst. Man kann nicht mehr leben in diesem Land,
sobald man erwachsen ist. Geht nicht. Die wollen dich nicht mehr, die eigenen Leute wollen dich
nicht mehr, keiner will dich. Für Frauen ist das anders, ist ’n Männer-Ding. Aber es ist die
Wahrheit, das und nichts anderes.
Aber weißt du denn nicht mehr ...
Ach Nathan, weißt du nicht mehr dies, weißt du nicht mehr das ... Im Ernst, Keisha, ich
weiß gar nichts mehr. Hab mir den ganzen Mist aus dem Hirn geätzt. Das war ’n anderes Leben.
Nützt mir nix mehr. Ich leb nicht mehr in den Türmen. Ich leb jetzt auf der Straße, da geht’s um
was anderes. Ums Überleben nämlich. Sonst nix. Nur Überleben. Mehr gibt es nicht. Dieses
ganze Gerede, ›wir waren doch zusammen auf der Schule‹. Und? Was weißt du schon von
meinem Leben? Wann warst du mal an meiner Stelle? Was weißt du davon, so zu leben, wie ich
lebe, so zu werden, wie ich geworden bin? Du sitzt auf deiner Richterbank und verurteilst mich.
Fragst mich Sachen, von wegen ›Wer sind die zwei‹? Steck deine Nase mal schön in deinen
eigenen Kram, Süße. Du mit deiner beschissenen Lesbenfreundin. Hol sie her, dann sag ich’s ihr
auch selber. ›Du warst so ein guter Fußballer, alle waren begeistert von dir.‹ Kann ich mir dafür
was kaufen? Und du gehst wieder heim zu deiner Kohle und deinem Leben, aber wo bleibt meine
Kohle und mein Leben? Bleib du ruhig auf deiner Richterbank. Red dir den Kopf heiß über mich.
›Wie fühlt man sich denn so als Problem?‹ Was weißt du schon darüber? Was weißt du über
mich? Null. Für wen hältst du dich, dass du mir was sagen kannst? Du bist niemand. Nix.
Direkt vor ihnen landete ein patschnasser kleiner Vogel auf einem Blatt und schüttelte
sich. Ein Wagen bog scharf um die Ecke, störte einen Schwall Wasser auf.
Was heulst du denn jetzt? Du hast gar nix zu heulen.
Lass mich zufrieden. Ich weiß, wo ich hinwill. Da brauchst du mich nicht hinzubringen.
Drama. Bist du genau der Typ für. Du liebst Drama.
Ich will nur, dass du endlich abhaust. HAU AB!
Ich denk gar nicht dran abzuhauen. Verstecken ist nicht. Hör mal, du brauchst doch nicht
gleich sauer zu werden und so, nur weil ich mal die Wahrheit sage.
Ich will allein sein!
Dir leidtun, das willst du. Hast dich mit deinem Typen gezankt. Mischling, dein Typ. Ich
seh ihn immer an der Kilburn Station mit seiner Aktentasche. Guck dich nur mal an, wie leid du
dir tust. Wenn du über so ’nen Mist heulst, dann weißt du doch, dass du’s geschafft hast. Kann
ich nur müde grinsen.
Ich tu mir nicht leid. Ich fühle ja gar nichts mehr. Ich will nur allein sein.
Tja, nun, man kriegt nicht immer, was man will.
Natalie stand auf und wollte losrennen. Fast unmittelbar blieb sie mit ihrem durchnässten
Hausschuh in einem Schlagloch hängen und fiel auf die Knie.
Wo willst du hin? Gib’s auf, Mann! Gib’s auf! Wie oft denn noch?
Der Regen war noch stärker geworden. Sie sah die Hand, die er ihr hinstreckte. Aber sie
griff nicht danach, stützte beide Hände aufs rechte Knie und drückte sich ab. Schüttelte Arme und
Beine wie eine Turnerin. Stand auf und ging davon, so schnell sie konnte, doch als sie über die
Schulter schaute, war er immer noch hinter ihr.
Hampstead Heath

Du willst wissen, wie ich ticke, das seh ich dir an.
Ich will gar nichts. Nicht herschauen!
Bist du bald fertig? Dauert ja ewig.
Bei einer Frau ist das eben komplizierter.
Beeil dich mal lieber. Da kommt so ’n alter Knacker mit Hund.
Was!
Nee. Entspann dich.
Warum lässt du mich nicht endlich zufrieden?
Ich sag ja gar nichts.
Und ob du was sagst.
Zeit für ein Pick-i-nick! Wir machen alle Pick-i-nick!
Und? Ich war oft hier picknicken. Picknick heißt das. Hast du nie Picknick gemacht? Ich
will dir nur erklären, wie ein normales Leben aussieht.
Klar. Erklären tust du ja für dein Leben gern.
Ich war immer mit meiner Gemeinde hier oben.
Und los geht’s.
Was geht los? Warst du nie hier?
Nee.
Nie. Du warst nie auf der Hampstead Heath. Als wir klein waren. Du warst nie hier.
Was hätt ich denn hier gesollt?
Ich weiß nicht – es ist umsonst, es ist schön. Bäume, frische Luft, Seen, Gras.
War nicht mein Ding.
Was soll das heißen, war nicht dein Ding? Das ist jedermanns Ding! Das ist die Natur!
Reg dich ab. Zieh dir die Hose hoch.
Ecke Hornsey Lane

Lauf mir nicht nach. Du textest mich die ganze Zeit zu. Ich hör nicht mal mehr meine
eigenen Gedanken. Ich muss jetzt wirklich allein sein.
Aber ich bin doch gar nicht in deinem Traum, Keisha. Du bist in meinem.
Im Ernst. Du musst jetzt echt verschwinden.
Nee, du raffst es einfach nicht. Hör zu: Mein Traum ist mein Traum. Kapiert? Und dein
Traum ist dein Traum. Du kannst nicht meinen Traum träumen. Was du isst, davon muss ich
nicht scheißen. Kapiert? Das hier ist mein Traum – da kannst du nicht so einfach rein.
Herrgott, du hörst dich an wie der Zauberneger.
Ich bin ja auch der reinste Zauber.
Geh endlich heim!
Ich geh nirgends hin.
Falls du mir wehtun willst, das kannst du vergessen. Da kommst du viel zu spät.
Und warum sagst du mir jetzt so was? Wo wir hier so nett und freundschaftlich spazieren
gehen. Ich bin kein schlechter Mensch, Keisha. Du tust, als wär ich irgendso ’n mieser Typ. Du
kennst mich doch. Du weißt, wer ich bin.
Ich weiß überhaupt nicht, wer du bist. Ich weiß von niemandem, wer er ist. Lauf mir nicht
mehr nach.
Was bist du plötzlich so kalt zu mir? Hab ich dir was getan? Ich hab dir nix getan.
Wer war die Frau, die Kleine mit dem Kopftuch?
Hä? Was hast du denn jetzt plötzlich mit der?
Lebt ihr zusammen?
Das ist genau dein Problem: Du willst immer in aller Welts Träumen ganz oben mit dabei
sein. Wir sind Freunde – wir gehen nett und freundschaftlich spazieren. Was kommst du mir jetzt
auf einmal so blöd?
War sie nicht auf der Brayton? Sie kam mir irgendwie bekannt vor. Heißt sie Shar?
Damals hab ich sie nicht gekannt. Für mich heißt sie anders.
Wie heißt sie denn für dich?
Sind wir hier vor Gericht? Ich geb meinen Mädels alle möglichen Namen.
Und was stellst du an mit deinen Mädels? Schickst du sie zum Stehlen los? Gehen sie für
dich anschaffen? Rufst du fremde Frauen an? Drohst du ihnen?
Hey, hey, hey, immer mit der Ruhe, Mann. Du machst mich ganz konfus. Pass auf, wir
halten zusammen, meine Mädels und ich. Mehr brauchst du nicht wissen. Sie passen auf mich
auf. Ich auf sie. Wir sind viele und trotzdem eins. Wie die Finger an der Hand.
Versteckst du dich vor irgendwem, Nathan? Vor wem versteckst du dich?
Ich versteck mich vor niemandem! Wer sagt, dass ich mich verstecke?
Wer ist das Mädchen, Nathan? Was stellst du mit deinen Mädels an?
Du hast ja ’nen Schaden. Redest echt nur noch Irrsinn daher.
Antworte mir! Übernimm Verantwortung! Du bist frei!
Nee, Mann, da liegst du falsch. Ich bin nicht frei. Ich war noch nie frei.
Wir sind alle frei!
Aber ich leb eben nicht so wie du.
Was?
Ich leb nicht so wie du. Du weißt nichts über mich. Du weißt nichts über meine Mädels.
Wir sind ’ne Familie.
Komische Familie.
’ne andere gibt es nicht.
Hornsey Lane

Hornsey Lane. Sagte Natalie Blake. Da wollte ich hin.


So war es auch. Obwohl man einräumen könnte, dass es eigentlich erst in dem Moment so
war, als sie die Brücke sah. Nathan sah sich um. Er kratzte sich die weiße Stelle am Nacken.
Hier wohnt doch keiner. Wen willst du denn hier besuchen? Ist ja am Arsch der Welt.
Geh heim, Nathan.
Natalie hielt auf die Brücke zu. Die Straßenlaternen zu beiden Seiten hatten gusseiserne
Pfähle und standen auf Fischen mit weit geöffneten Mäulern. Ihre Drachenschwänze wanden sich
um den Sockel, und oben auf jeder Laterne saß eine orangefarbene Glaskugel. Sie leuchteten, sie
waren so groß wie Fußbälle. Natalie hatte gar nicht mehr daran gedacht, dass diese Brücke nicht
einfach nur einen Zweck erfüllte. Sie tat ihr Bestes, konnte die Schönheit aber nicht ganz
ausblenden.
Keisha, Mann, komm zurück. Ich red mit dir. Sei nicht so.
Natalie stieg auf den ersten kleinen Vorsprung, nur wenige Zentimeter über dem Boden.
Sie hatte nur ein Hindernis in Erinnerung, doch die knapp zwei Meter hohe Brüstung vor ihr war
mit Stacheln versehen wie eine mittelalterliche Festung: Stacheln von oben und von unten, ein
eisernes Stacheldraht-Imitat. So sollten die Menschen wohl daran gehindert werden, ins Nichts zu
gehen.
Keisha?
Der Blick schraffiert. Im einen Kästchen St. Paul’s. Im anderen die Gurke. Ein halber
Baum. Ein halbes Auto. Kuppeln, Türme. Quadrate, Rechtecke, Halbmonde, Sterne. Es war
unmöglich, ein Gefühl für das Ganze zu entwickeln. Von hier oben zog sich die Busspur klaffend
rot durch die Stadt. Die Wohntürme waren das Einzige, was noch einen Sinn ergab, jeder für sich
und doch verbunden. Aus dieser Entfernung wirkten sie plötzlich logisch, Steinpfähle, in ein
uraltes Feld gehauen, die darauf warteten, dass etwas auf ihnen zu liegen kam, eine Statue
vielleicht oder auch ein Podest. Ein Mann und eine Frau kamen heran und stellten sich neben
Natalie an die Brüstung. Schöner Blick, sagte die Frau. Sie sprach mit französischem Akzent. Sie
klang alles andere als überzeugt von dem, was sie sagte. Nach kurzer Zeit ging das Paar weiter,
den Hang hinunter.
Keisha?
Natalie Blake blickte in die Weite, nach unten. Sie versuchte, das Haus auszumachen,
irgendwo am Fuß des Hangs, westlich von hier. Reihen identischer Backsteinschornsteine, die
sich bis zu den Vororten erstreckten. Der Wind frischte auf, rüttelte an den Bäumen unter ihr. Sie
fühlte sich, als wäre sie auf dem Land. Auf dem Land musste eine Frau, wenn sie ihren Kindern
oder ihren Freunden oder ihren Eltern nicht mehr in die Augen sehen konnte – wenn sie in
Schande gefallen war –, sich wahrscheinlich einfach nur in ein Feld legen und sich
verabschieden, indem sie verschmolz, erst mit dem Gras, auf dem sie lag, dann mit dem Mulch
darunter. Als Großstadtkind hatte Natalie Blake immer schon naive Vorstellungen von ländlichen
Dingen. Aber wenn es um die Großstadt ging, irrte sie sich nie. Hier blieb nichts als ein Bruch –
ein abrupter, vollständiger Abbruch. Sie sah die Tat klar und deutlich vor sich, sie stand ihr vor
Augen wie ein Gegenstand in ihrer Hand – und dann rüttelte der Wind erneut an den Bäumen,
und ihre Füße standen wieder auf dem Gehsteig. Die Tat blieb ungetan: eine Aussicht, die immer
möglich war. Bald würde jemand anders die Brücke betreten und sie für sich beanspruchen, die
Möglichkeit wie auch die Tat, so wie es mit grausiger Regelmäßigkeit geschah, seit die Brücke
erbaut worden war. Doch jetzt, in diesem Augenblick, war niemand mehr übrig, das zu tun.
Keisha, langsam wird’s kalt hier oben. Ich brauch ’n bisschen Wärme. Komm schon,
Mann. Sei nicht mehr sauer, Keisha. Red noch ’n bisschen mit mir. Komm da runter.
Sie beugte sich vor und stützte die Hände auf die Knie. Sie bebte vor Lachen. Als sie
aufsah, musterte Nathan sie stirnrunzelnd.
Pass auf, mir reicht’s. Ich muss weiter. Echt scheißanstrengend mit dir. Kommst du jetzt
mit oder was? Fragte Nathan Bogle.
Leb wohl, Nathan. Sagte Natalie Blake.
Sie sah den Nachtbus die Straße hochkommen und wünschte, sie hätte Geld dabei. Sie
wusste nicht, was genau gerettet worden war, und auch nicht, von wem.
Heimsuchung
Die Frau war nackt, der Mann angezogen. Es war der Frau nicht klar gewesen, dass der
Mann Termine hatte. Draußen vor dem Fenster testete ein Karnevalswagen seine
Lautsprecheranlage, irgendwo im Westen, in Kensal Rise. Nach ein paar Takten brach die Musik
ab und wurde vom Dudeln eines vorbeifahrenden Eiswagens ersetzt. Here we go round the
mulberry bush. Die Frau setzte sich auf und schaute nach dem Brief, den sie in den frühen
Morgenstunden auf die Bettseite des Mannes gelegt hatte. Es hatte sie einen ganzen Tag und den
größten Teil der Nacht gekostet, ihre »Gedanken zu ordnen«. Schließlich, als es Montag wurde,
hatte sie die Gummierung des weißen Umschlags angeleckt und ihn auf sein Kissen gelegt. Er
hatte ihn ungeöffnet auf den Stuhl verfrachtet. Jetzt sah sie zu, wie ihr Mann die Füße in zwei
edle italienische Collegeschuhe schob und sich eine Baseballkappe tief über die Locken zog.
»Willst du ihn nicht aufmachen?«, fragte Natalie. »Ich muss los«, sagte Frank. Die Frau erhob
sich in flehentlicher Pose auf die Knie. Sie konnte es kaum fassen, dass sie sich beim Aufwachen
immer noch in derselben Lage befand wie gestern und wie vorgestern, dass der Schlaf es nicht
einfach beseitigte. Dass sie sich auch morgen noch in derselben Lage befinden würde. Dass das
jetzt ihr Leben war. Zwei schweigende Feinde, die die Kinder zu ihren gesellschaftlichen
Verpflichtungen begleiteten. »Ich bin jetzt ein paar Stunden weg«, sagte der Mann. »Wenn ich
wiederkomme, nehme ich die Kinder bis sieben. Du solltest zusehen, dass du woanders
unterkommst.« Die Frau griff nach dem Umschlag und hielt ihn dem Mann hin. »Nimm ihn doch
wenigstens mit, Frank.« Der Mann zog ein schmales Bändchen aus dem Bücherregal – sie war
nicht schnell genug, um zu sehen, was es war – und schob es sich in die Gesäßtasche. »Beichten
ist Eigennutz«, sagte er. Er ging aus dem Zimmer. Sie hörte, wie er die Treppe hinunterging, im
zweiten Stock kurz stehen blieb. Ein paar Minuten später schlug die Haustür zu.

Es galt, zwischen Stillstand und Antrieb zu wählen. Sie zog sich rasch an, effektvoll in
Hellblau und Weiß, und eilte die erste Treppe hinunter. Ihre Kinder erwarteten sie im Flur.
Naomi stand auf einer umgedrehten Kiste. Spike lag bäuchlings auf dem Boden. Beide waren
silbern. Silberne Gesichter, silbern besprühte Kleider, Hüte aus Alufolie. Natalie konnte nicht
sagen, ob das die Folge eines dramatischen Ereignisses war, irgendein Spiel oder etwas ganz
anderes.
»Wo ist Maria?«, fragte sie, beantwortete sich ihre Frage dann aber selbst: »Bank
Holiday. Sie hat frei. Warum seht ihr so aus?«
»Es ist Karneval!«
»Schon wieder? Wer hat denn was von beiden Tagen gesagt?«
»Ich bin ein Roboter. Es gibt einen Wettbewerb. Maria hat die Kleider genäht. Und wir
haben die Hüte gefaltet.«
»Auch Roboter.«
»Nein! Spike ist ein Roboter-Hund. Ich bin der Ober-Roboter. Es fängt um zwei an. Und
es kostet fünf Pfund.«
Wenn sie weiterhin so klare, hilfreiche Darstellungen aller Phänomene von ihren Kindern
bekam, bestand die Möglichkeit, dass sie doch halbwegs unbeschadet durch die nächsten paar
Stunden kamen. Durch die nächsten paar Jahre.
»Wie spät ist es denn jetzt?« Natalies Kinder warteten, bis sie auf ihr Handy geschaut
hatte. »Hierbleiben können wir nicht. Es ist ein schöner Tag. Wir müssen raus.«

Jedes Kind hatte sein eigenes Zimmer – im Haus war Platz genug, dass jeder allein
schlafen konnte –, doch in Unkenntnis der Logik des Kapitalismus bestanden die Kinder darauf,
zusammen zu schlafen, und zwar im kleinsten Zimmer, in einem Etagenbett, umgeben von einem
Berg ihrer Kleider. Natalie wühlte in dem Durcheinander nach etwas Passendem.
»Ich will mich nicht umziehen«, sagte Naomi.
»Will nicht!«, sagte Spike.
»Aber ihr seht wirklich albern aus«, protestierte Natalie.
In den Augen ihrer Tochter sah Natalie ihre eigene berühmte Willenskraft gespiegelt, und
zwar doppelt so stark. Unten in der Diele setzte sie den Roboter-Hund in den Buggy und stritt mit
dem Roboter darüber, ob es erlaubt sei, den Roller mitzunehmen. Auch hier unterlag sie. Sie
schloss die Haustür und sah an der kostspieligen Ansammlung aus Stein und Mörtel hinauf. Bald
würde das alles wohl aufgeteilt werden, der ganze Inhalt verpackt und neu verteilt, die Bewohner
getrennt, umgesiedelt. Bis schließlich eine neue Abordnung optimistischer Seelen die Schwelle
überschritt, fest entschlossen, sich »ein Leben aufzubauen«. In mancher Hinsicht war es gar nicht
schwierig, sich in eine solche Zukunft hineinzudenken, zumindest, solange man im Abstrakten
blieb.
Nach zweiminütigem Weg die Straße entlang fand Natalies Tochter den Roller langweilig
und wollte huckepack getragen werden. Natalie befestigte den Roller am Buggy und nahm ihre
Tochter auf den Rücken. Naomi reckte den Kopf herum, bis ihre weiche Wange am Gesicht ihrer
Mutter lag und ihr wildes Haar ihrer Mutter in den Mund wehte.
»Warum willst du den Roller immer mitnehmen, wenn du doch eigentlich schon weißt,
dass du ihn nicht benutzen magst?«
Das Kind antwortete, die feuchten Lippen am Ohr der Mutter: »Ich weiß doch nicht, was
ich will, bis ich es will.«

Die Mutter schaute in die Einkaufskörbe ihrer Kinder.


Naomi: Zahnpasta, Gummiball, Aufkleber, große rote Mistgabel, Buch.
Spike: Gummiball, Gummiball, leuchtende Plastikente, Topfreiniger, Plastikschwert.
Fünf Pfund pro Nase, fünf Teile. Poundland. Natalie erinnerte sich, etwas Ähnliches mit
Marcia bei Woolworths gemacht zu haben, früher, aber damals war es nur ein Pfund gewesen,
und man bekam so viel mehr für sein Geld, und alles musste irgendwie »nützlich« sein.
»Jetzt würde mich aber doch interessieren, wie es zu der Entscheidung kam.«
»Ich hab Spike aussuchen geholfen. Aber das hat er selbst ausgesucht.«
»Du brauchst doch keine Topfreiniger, Schätzchen.«
»WILL ABER!«
Natalie griff nach der Mistgabel.
»Die ist für Halloween.«
»Wir haben August, Nom.«
»WILL ABER!«
»Ehrlich«, sagte Naomi mit tiefernster Miene, »das ist ein Schnäppchen.«
An der Kasse lag die Kilburn Times für fünfundzwanzig Pence.

MORD AN DER ALBERT ROAD

FAMILIE SUCHT NACH ZEUGEN

Auf einem schmuddeligen Sofa saß ein älterer Rastafari mit einem Foto seines
erwachsenen Sohnes in der Hand. Neben ihm saß eine schöne junge Frau und hielt die linke Hand
des Vaters fest in der ihren. In beiden Gesichtern lag so tiefes Leid, dass es Natalie nicht möglich
war, dauerhaft hinzusehen. Sie drehte die oberste Ausgabe um und faltete die Zeitung in der
Mitte.
»Und die hier«, sagte sie.

Sie hatten Zeit totzuschlagen. Natalie hatte keine Ahnung, was mit ihnen passieren sollte,
wenn die Zeit erst einmal totgeschlagen war. Sie gingen in die Tierhandlung. Natalie befreite
Roboter-Hund von seinen Fesseln. Sie sah zu, wie Roboter und Roboter-Hund die Zugangsrampe
hinunterrannten, der Freiheit entgegen. Sie faltete die Zeitung auf und versuchte, gleichzeitig zu
gehen und zu lesen und den Buggy zu schieben und dabei zwei schöne Kinder im Auge zu
behalten, die durch den hallenartigen Laden stromerten, sich mit den Eidechsen unterhielten und
über die Unterschiede zwischen einem Hamster und einem Meerschweinchen diskutierten. Sie
verspürte den Drang, Frank anzurufen – er hatte ein größeres Talent für die Realität als sie,
besonders für chronologische Abläufe –, aber wenn sie Frank anrief, müsste sie Dinge erklären,
für die sie keine Erklärung hatte. Vor zwei Tagen. Um achtzehn Uhr. Auf der Albert Road. Ihre
Augen kehrten immer wieder zum selben Textabschnitt zurück, versuchten, ihm noch ein wenig
mehr Sinn zu entlocken. Sie konnte nicht sagen, ob sie sich nur wieder in anderer Leute Dramen
einmischte – was Frank ihr häufig vorwarf – oder ob sie tatsächlich etwas darüber wusste, was
zur fraglichen Zeit auf dieser Straße vorgefallen war. Jetzt versuchte sie, den Begriff »Felix« in
dem Foto auf dem Foto zu finden. Die Grübchen und die fröhliche, jungenhafte Miene. Das
schicke schwarz-gelbe Kapuzenshirt. Es war ganz leicht. Er war von hier, und sie erkannte ihn,
ohne etwas Genaueres über ihn sagen zu können. Außer vielleicht, dass er haargenau aussah wie
ein Felix.
Sie hob den Kopf von der Zeitung. Sie rief. Nichts. Sie ging zu den Fischen, den
Eidechsen, den Hunden und den Katzen. Nirgends. Sie beruhigte sich damit, dass sie nicht zur
Hysterie neigte. Nur ein klein wenig schneller ging sie die Runde, die sie gerade gedreht hatte,
noch einmal zurück und rief in ganz sachlichem Ton ihre Namen. Nichts, nirgends. Sie ließ den
Kinderwagen stehen und ging rasch zur Information. Sie stellte zwei Menschen eine ganz
schlichte Frage, die diese mit einem enervierenden Mangel an Dringlichkeit beantworteten. Sie
ging wieder zurück zu den Fischen und zu den Eidechsen, rief jetzt lauter. Sie wusste, dass ihre
Kinder weder entführt noch ermordet worden waren und sich vermutlich keine fünfzehn Meter
von ihrem jetzigen Standort aufhielten, aber obwohl sie diese vollkommen logische Abfolge von
Aussagen immer wieder durchging, konnte sie doch nichts gegen den flächendeckenden
Erdrutsch ausrichten, der jetzt in ihr stattfand. Sie sah in den Abgrund, der diejenigen, die
unerträglichen Schmerz erfahren haben, von jenen trennt, denen diese Erfahrung fehlt. Sofort
brach ihr am ganzen Körper der Schweiß aus. Ein Mann mit Schürze kam zu ihr und sagte ihr, sie
solle sich beruhigen. Sie drängte an ihm vorbei und rannte hinaus auf die Straße. Und in diesen
Abgrund hätte sie um ein Haar Frank gestürzt, ihre Kinder, ihre Mutter, Leah. Alle, die sie jemals
geliebt hatten.
Sie machte einen Schritt nach links, hielt inne: Aus irgendeinem Grund stieß die instinktiv
eingeschlagene Richtung auf Ablehnung. Sie änderte den Kurs und lief ins benachbarte
Warenhaus, eine weitere Zugangsrampe hinab in einen weiteren hallenartigen Laden, wo
gesichtslose Schaufensterpuppen im Hidschab standen und große Bündel schwarzen Seidenstoffs
zu zahllosen ordentlichen Stapeln gefaltet auf langen Regalen lagen. Planlos rannte sie zwischen
Regalen mit Stoffen und Tüchern und bestickten Gewändern herum und dann wieder hinaus auf
die Straße und die Rampe der Tierhandlung hinunter, wo sie sie sofort sah, ganz hinten in der
Ecke, vor den Kaninchenställen auf dem Boden hockend.
Sie fiel auf die Knie und griff mit beiden Händen nach ihnen. Sie küsste ihnen das Gesicht
ab, was sie kommentarlos über sich ergehen ließen.
»Kann man Kaninchen essen?«, fragte Naomi.
»Was?«
»Hast du schon mal ein Kaninchen gegessen?«
»Nein ... Ich meine, es gibt schon Leute, die das tun. Ich nicht. Wartet – mein Handy
klingelt. Ihr könnt doch nicht einfach so verschwinden. Ich bin fast durchgedreht.«
»Und warum isst du keine Kaninchen?«
»Ich weiß es nicht, Schätzchen, ich hatte einfach nie Lust darauf. Ich muss da kurz
rangehen, ja? Hallo?«
»Du isst doch auch Schweine und Hühner und Lämmer. Und Fische.«
»Da hast du recht – das ist eigentlich unlogisch. Hallo? Wer ist denn da?«
Michel. Sie hörte gleich, dass er ganz außer sich war. Sie richtete sich auf, ging ein paar
Schritte von den Kindern weg und hielt dabei einen Finger hoch, um ihnen zu signalisieren, sich
nicht vom Fleck zu rühren.
»Sie liegt draußen in der Sonne«, sagte Michel. »Sie redet nicht. Ich weiß nicht mehr, was
ich tun soll. Warum hasst sie mich so?«
Natalie versuchte, ihn zu beruhigen. Sie übernahm Franks Rolle: den chronologischen
Ablauf etablieren. Doch es ergab alles keinen Sinn. Irgendwas mit einer Drogerie. Und Fotos.
»Ich verstehe überhaupt nichts«, sagte Natalie Blake leicht gereizt.
»Da hab ich sie gefragt: Was ist denn? Was ist wirklich? Und sie sagt: ›Schau in die
Schachtel in der Schublade.‹ Das habe ich auch gemacht.«
»Und was war da?« Natalie hatte das Gefühl, als würde auch noch der letzte Tropfen
unnötiger Spannung aus dieser Geschichte herausgepresst. Sie wollte unbedingt zurück zu ihren
Kindern.
»Die Pille. Seit einem Jahr versuchen wir es! Ich weiß nicht, ob sie sie die ganze Zeit
genommen hat. Aber dein Name steht drauf. Hast du sie ihr gegeben, Natalie? Warum tust du mir
das an? Scheiße, Mann!«
Natalies Kinder kamen jetzt zu ihr, griffen sich jedes ein Bein und zogen, während
Natalie sich gegen den Vorwurf der Mittäterschaft verteidigte. Normalerweise wäre ihre ganze
Energie in diese Verteidigung geflossen – dazu war sie schließlich ausgebildet –, doch während
sie noch sprach, wanderten ihre Gedanken hinaus auf eine Art freies Feld, wo sie beinahe
glaubte, den Schmerz ihrer Freundin annähernd nachempfinden zu können und ihn durch ihre
Vorstellungskraft neu in sich zu erschaffen.
»Das tut mir wirklich furchtbar leid.«
»Warum lügt sie mich an? Sie ist nicht mehr sie selbst. Sie hat mir erzählt, sie hätte
angefangen zu beten. Sie ist nicht sie selbst. Seit Olive tot ist, ist sie nicht mehr sie selbst.«
»Doch, das ist sie. Sie ist immer noch Leah.«
»Warum hasst sie mich so?«
»Mum – gehen, Mum! Je-hetzt! Ge-hen!«
»Leah liebt dich. Sie hat dich immer geliebt. Sie will nur einfach kein Baby.« Klarheit.
Hell, blendend, bar jeder Wertung, unmöglich länger zu ertragen als einen Augenblick und schon
wieder auf dem Weg, sich in etwas anderes zu verwandeln. Und doch, für einen Augenblick war
sie da.
»Kannst du bitte kommen?«

Zu dritt saßen sie an der Bushaltestelle vor dem Poundland und warteten auf die Linie 98.
Eine Dame um die siebzig mit einer zauberhaften weißen Strähne im schwarzen Haar berichtete,
wie sie mit einem vom Schah höchstpersönlich gecharterten Flugzeug der Revolution entkommen
sei, samt Yorkshireterrier im Handgepäck. Natürlich nicht dieser Yorkshireterrier, sondern der
vorvorletzte. Aber in mancher Hinsicht bin ich ja auch erst eine gute Muslimin, seit ich in
Kilburn wohne. Hier bin ich erst richtig fromm geworden. Ich dachte immer, Hunde wären
haram, sagte Natalie. Meine nicht. Mindy-Lou ist ein Geschenk Gottes. Lassen Sie sie Ihren
Kindern die Hand lecken. Das ist wie ein heimlicher Segen.
Der Bus kam. Natalie drückte die Stirn an die ruckelnde Scheibe. Die Cock Tavern. Der
McDonald’s. Der alte Woolworths. Der Buchmacher. Das State Empire. Die Willesden Lane. Der
Friedhof. Wer hatte eigentlich entschieden, dass sie diesen Koordinaten für immer treu bleiben
musste? Wie hatte sie sie hintergehen können? Freiheit war absolut und überall, sie wechselte
ständig den Standort. Man durfte nicht darauf hoffen, sie nur an altvertrauten Orten zu finden.
Und man konnte auch andere nicht zwingen, sich auszuziehen und sie einem zum Geschenk zu
machen. Klarheit! Und als mir klar wurde, dass Mindy-Lou tatsächlich über meine Gedanken mit
mir kommuniziert, also, da hatte ich tatsächlich eine Offenbarung, so wie im Märchen oder wie
im Film, und ich wusste, ich würde immer beschützt und von jedem geliebt werden, dem ich
begegne, bis in alle Ewigkeit. Gut, sagte Natalie und hob Naomi hoch und steuerte den Buggy
Richtung Tür. War nett, mit Ihnen zu plaudern. Wir müssen hier raus.

An der Tür nahm Michel Natalie bei der Hand und zog sie durch den Flur, durch die
Küche und über den Rasen, als wären sie auf einer Expedition und sie könnte den Weg nicht
alleine finden. »Vielleicht sollte ich einen neuen Hund kaufen. Ich weiß nicht, was sie will.« Er
war am Boden zerstört. So ein reizender Mann. Natalie legte eine Hand an die Stirn, um die
Augustsonne abzuhalten. Sie sah Leah in der Hängematte im Garten liegen, völlig ungeschützt.
Da lag sie seit mehreren Stunden, ohne ein Wort zu sagen. Natalie war zur Notfallsitzung
einbestellt worden. Sie versuchte, sich leise mit ihren Kindern zu nähern, aber die zerrten an ihr,
beide verschwitzt und quengelig, und hielten sie auf. Michel bot an, mit ihnen in die Küche zu
gehen. Sie klammerten sich an ihre Mutter. »Mach die doch mal voll«, sagte Natalie und reichte
Michel zwei Trinkflaschen aus Plastik. »Los, Kinder. Geht mit Michel.« Sie setzte sich auf die
Bank neben der Hängematte und rief ihre gute Freundin beim Namen. Nichts. Sie fragte Leah,
was denn los sei. Nichts. Sie zog die Sandalen aus und stellte die nackten Füße ins Gras. Mit der
Klarheit, die ihr noch blieb, bot sie ihrer Freundin eine Auswahl an Aphorismen, Axiomen und
Sinnsprüchen an, auf deren Wahrheitsgehalt sie nur durch ihre weite Verbreitung schließen
konnte, so wie man auf den nominellen Wert von Papiergeld vertraut. Ehrlich währt immer am
längsten. Liebe kann alles besiegen. Jeder nach seiner Fasson.
Sie redete, und Leah unterbrach sie nicht, doch Natalie verschwendete ihre Zeit. Sie brach
jenes weibliche Gesetz, demzufolge eine Frau vor einer anderen Frau keinerlei Schwäche zeigen
darf, solange nicht ein gleichwertiges Opfer als Gegenleistung erbracht wird. Solange Natalie
nicht zahlte, und zwar mit einer frisch geprägten Geschichte, vorzugsweise intimer Natur und
idealerweise geheim, würde auch ihr im Gegenzug nichts anvertraut werden, und ihre gute
Freundin Leah Hanwell würde auf keinen Ratschlag hören.
»Leah«, rief Natalie Blake. »Leah. Ich rede mit dir. Leah!«
Sie hörte Spike heulen; er kam auf sie zugerannt, zerlaufene Silberfarbe im Gesicht, und
war kurz darauf bei ihr, und sie nahm ihn auf den Schoß und versuchte, sich die Ungerechtigkeit,
die ihm seiner Meinung nach geschehen war, anzuhören und zu begreifen. Ganz langsam drehte
Leah den Kopf zu Natalie. Spike lag flach auf dem Schoß seiner Mutter. Leahs Nase war
verbrannt und schälte sich.
»Sieh dich nur an«, sagte Leah. »Mutter und Kind. Sieh dich doch nur mal an. Du siehst
aus wie die beschissene Mutter Gottes.«
Ein Kind. Kinder. Keine Babys mehr, nichts, was man einfach weiterhin steuern konnte.
Wunderschön, undurchschaubar, und keineswegs ihre Arme und Beine oder sonst eine
Erweiterung ihrer Person. Natalie drückte Spike so fest an sich, dass er protestierte. Diese
Gewissheit war eine Art hehre Gabe, ganz unbeabsichtigt verschenkt. Sie wollte ihrer Freundin
etwas ebenso Wertvolles zurückgeben. Und wäre Aufrichtigkeit ein weltliches Gut, das man
fassen und behalten kann, wäre Aufrichtigkeit ein Gegenstand, vielleicht hätte Natalie Blake
dann ja begriffen, dass das perfekte Geschenk in diesem Augenblick ein ehrlicher Bericht ihrer
eigenen Schwierigkeiten und Uneindeutigkeiten gewesen wäre, klar benannt, ohne jede
Verschleierung, Ausschmückung oder Beschönigung. Doch Natalie Blakes Selbstverteidigungs-,
ihre Selbstschutzinstinkte waren einfach viel zu stark.
»Ich werde mich jetzt nicht für meine Entscheidungen rechtfertigen«, sagte sie.
»Mein Gott, Nat, wer verlangt das denn? Vergiss es einfach wieder. Ich will mich nicht
mit dir streiten.«
»Hier streitet ja auch keiner. Ich versuche nur zu begreifen, was eigentlich mit dir los ist.
Ich kann nämlich einfach nicht glauben, dass du hier herumliegst und mit dem Hautkrebs flirtest,
nur weil du kein Baby willst.«
Leah drehte sich in der Hängematte um und wandte Natalie den Rücken zu.
»Ich verstehe einfach nicht, warum ich so ein Leben habe«, sagte sie leise.
»Was?«
»Du, ich, wir alle. Warum dieses Mädchen und nicht wir. Warum der arme Kerl aus der
Albert Road. Das ergibt für mich alles keinen Sinn.«
Natalie runzelte die Stirn und verschränkte die Arme. Sie hatte eine schwierigere Frage
erwartet.
»Weil wir härter gearbeitet haben«, sagte sie und legte den Kopf auf die Rückenlehne der
Bank, um den weit offenen Himmel zu betrachten. »Wir waren klüger, und wir wussten, dass wir
nicht irgendwann bei anderen Leuten an der Tür betteln wollen. Wir wollten raus. Menschen wie
Bogle – die wollten das einfach nicht genug. Tut mir leid, Lee, wenn du das eine hässliche
Antwort findest, aber es ist die Wahrheit. Das gehört zu den Dingen, die man im Gerichtssaal
lernt: Die Leute kriegen in der Regel das, was sie verdienen. Weißt du, ein Vorteil von Kindern
ist ja, dass man nicht mehr so viel Zeit hat, depressiv in der Hängematte zu liegen und über
solche abstrakten Fragen zu grübeln. Aus meiner Sicht schlägst du dich doch ganz gut. Du hast
einen Mann, den du liebst und der dich liebt – und der im Übrigen auch nicht damit aufhören
wird, wenn du ihm einfach sagst, was du empfindest. Du hast Arbeit, Freunde, Familie, einen
Ort, wo du ...«, sagte Natalie und setzte ihre herrliche Liste fort, doch die war bereits zum
selbstreferenziellen Automatismus geworden, und ihr einziger echter Gedanke galt Frank und
dass sie unbedingt mit ihm reden wollte.
»Reden wir von was anderem«, sagte Leah Hanwell.
Michel kam über den Rasen, mit Naomi, einem Tablett mit Getränken, zwei Kindertassen
und einer Flasche Weißwein nebst Gläsern.
»Spricht sie?«, fragte er.
»Sie spricht«, sagte Leah.
Michel schenkte Wein für die Erwachsenen ein.
»Bitte«, sagte Leah und nahm ihr Glas entgegen, »ich will das jetzt nicht vor den Kindern.
Reden wir von was anderem.«
»Ich glaube, ich weiß, was in der Albert Road passiert ist«, sagte Natalie Blake.

Erst schickten sie eine Mail. An eine Website der Polizei für anonyme Hinweise. Aber
das ließ die Spannung zu steil abfallen und war nicht sehr befriedigend, und hinterher starrten sie
auf den Monitor und waren enttäuscht. Sie beschlossen, beim Polizeirevier in Kilburn anzurufen.
»Zumindest«, sagte Leah Hanwell, wie von neuer Energie erfüllt, »ist Nathan Bogle für
die Polizei von Interesse. Nach allem, was du erzählst. Und mit dem, was wir eh schon wissen.
Über seinen Charakter. Zuallermindest ist er von Interesse.«
Von Interesse, allerdings.
»Du hast recht«, sagte Natalie Blake, »wir tun das Richtige«, und ein paar Minuten später,
während sie die diversen Teile der Geschichte noch einmal durchgingen, sagte Leah dasselbe zu
Natalie.
Durch die Scheibe der Küchentür sahen sie die Kinder über den Rasen tollen. Leah fand
die Nummer im Internet. Natalie wählte. Das Reden übernahm Keisha. Abgesehen davon, dass
sie das Handy aus der eigenen Tasche zog, erinnerte sie der Vorgang doch vor allem daran, wie
die beiden Freundinnen früher bei den Jungs angerufen hatten, die sie mochten, stets in einem
Zustand leichter innerer Hysterie, die zusammengesteckten Köpfe eng an den Hörer gepresst.
»Ich hab Ihnen was zu sagen«, sagte Keisha Blake und tarnte ihre Stimme mit ihrer
Stimme.
Die Übersetzung wurde durch ein Arbeitsstipendium des Deutschen Übersetzerfonds
gefördert.
Danksagung

Für das Schaffen von Zeit: Mariya Shopova, Sharon Singh, Seeta Oosman, Freiheit©,
Selbstbeherrschung©.
Für das Schaffen der Autorin: Yvonne Bailey-Smith.
Für die Lektüre des Buchs: Simon Prosser, Georgia Garrett, Ann Godoff, Sarah Manguso,
Gemma Sieff, Hilton Als, Tamara Barnett-Herrin, Devorah Baum, Sarah Kellas, Darryl
Pinckney, Sarah Woolley, Daniel Kehlmann, Anelise Chen, Josh Appignanesi.
Für die Ortskenntnis: Jim Ford, Len Snow.
Für die Kenntnis der Gesetze: Alison Macdonald, Matthew Ryder.
Für die Inspiration: The Black House von Colin Jones, das Vorbild für »Garvey House«.
Für die ideale Freundschaft: Sarah Kellas.
Für das Obige, noch mehr, alles: Nick Laird. Ich danke Dir.
Das Buch

Leah, Natalie, Felix und Nathan wachsen in einer Hochaussiedlung auf, wie es sie in jeder
Großstadt gibt – immer das Ziel vor Augen, Caldwell eines Tages zu verlassen und etwas
Größeres, Besseres aus ihrem Leben zu machen. Dreißig Jahre später sind sie zwar erwachsen,
doch richtig weit gekommen sind sie nicht. Nur Natalie hat es scheinbar geschafft. Als
erfolgreiche Anwältin gibt sie mit ihrem Mann vornehme Dinnerpartys, auf denen sich ihre weit
weniger zielstrebige Freundin Leah und deren Mann Michel alles andere als wohlfühlen.
Überhaupt sind Natalie und Leah blind für die Probleme der jeweils anderen und neiden einander
das vermeintlich perfekte Leben. Als eine Fremde an Leahs Tür klingelt, um sie um Hilfe zu
bitten, überschlagen sich die Ereignisse…
Zadie Smiths Roman über North West London, das jenseits der Touristenströme liegt, ist
ein sehr heutiger, schneller, eindringlicher Text über einen multikulturellen Stadtteil und die
Schicksale seiner Bewohner. Das Buch wurde von der New York Times zu einem der „zehn
besten Bücher des Jahres“ gewählt.
Die Autorin

Zadie Smith, geboren 1975 im Norden Londons, wo sie heute noch lebt. Ihr erster Roman
»Zähne zeigen«, 2001 erschienen, wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, von der Kritik
gelobt und ein internationaler Bestseller. Der Roman »Von der Schönheit«, 2006 erschienen bei
Kiepenheuer & Witsch, war auf der Shortlist des Man Booker Prize 2005 und gewann 2006 den
Orange-Preis.
Die Übersetzerin

Tanja Handels, geboren 1971 in Aachen, lebt und arbeitet in München, unterrichtet
angehende Literaturübersetzer und übersetzt zeitgenössische britische und amerikanische
Romane, u.a. von Elizabeth Gilbert, Elly Griffiths und Scarlett Thomas.
1. Auflage 2014

Titel der Originalausgabe: NW


Copyright © Zadie Smith 2012
All rights reserved
Aus dem Englischen von Tanja Handels
© 2014 by Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln
eBook © 2014 by Verlag Kiepenheuer & Witsch, Köln
Covergestaltung: Rudolf Linn, Köln, nach einer Idee von gray 318
Autorenfoto: © Dominique Nabokov

Fonteinbettung der Schrift DejaVu nach Richtline von Bitstream Vera

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eBook-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN: 978-3-462-04557-4 (Buch)


ISBN: 78-3-462-30719-1 (eBook)

www.kiwi-verlag.de

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