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Gebaute Umwelt als

Lebenswelt
Sabine Ammon, Christoph Baumberger,
Christine Neubert und Constanze A. Petrow (Hg.)

Forum Architekturwissenschaft
Band 2

Universitätsverlag
der TU Berlin
ARCHITEKTUR IM GEBRAUCH
Gebaute Umwelt als Lebenswelt

Sabine Ammon, Christoph Baumberger,


Christine Neubert und
Constanze A. Petrow (Hg.)
Die Schriftenreihe Forum Architekturwissenschaft wird heraus- Forum Architekturwissenschaft, Band 2
gegeben vom Netzwerk Architekturwissenschaft,
vertreten durch Sabine Ammon, Eva Maria Froschauer,

ARCHITEKTUR IM
Julia Gill und Christiane Salge.

GEBRAUCH
Gebaute Umwelt als Lebenswelt

Sabine Ammon, Christoph Baumberger,


Christine Neubert und
Constanze A. Petrow (Hg.)

Der Tagungsband versammelt Beiträge des 2. Forums Architektur-


wissenschaft zum Thema Architektur im Gebrauch, das vom
25. bis 27. November 2015 im Schader-Forum in Darmstadt statt-
fand. Die Beiträge nähern sich dem Thema grundlegend in
zwei Perspektiven. Zum einen interessiert die lebensweltli-
che Verankerung von Architektur: die Gebrauchserfahrungen
und die vielfältigen Weisen, in denen das Gebaute im Alltag
jedes Menschen in Erscheinung tritt. Zum anderen werden
die Vorstellungen vom Gebrauch in Prozessen des Planens
und Bauens untersucht. Dabei treten unweigerlich auch
Spannungsverhältnisse auf – zwischen Planerinnen und Nutzern,
aber auch zwischen unterschiedlichen Gebrauchsweisen.
Sowohl in theoretischen Auseinandersetzungen zu einem
Begriff von Gebrauch in der Architektur als auch in empirischen
Studien zu einzelnen Bauten und Bautypen, zeitgeschichtlichen
Gebrauchsphänomenen und Situationen des Alltags wird dem
auf den Grund gegangen.

Universitätsverlag
der TU Berlin
48 KARSTEN BERR 49 ZUR ARCHITEKTONISCHEN DIFFERENZ VON → INHALT
HERSTELLUNG UND GEBRAUCH

KARSTEN BERR Landschaftsarchitektur spezifiziert. Stützen ließe sich diese


These mit dem sachverwandten Vorschlag von Martin Heidegger,
Zur architektonischen Bauen und Wohnen – also analog die Herstellung und den
Gebrauch von Bauten – als zusammengehörig zu bestimmen.
Differenz von Herstellung Bauen und Wohnen sind für Heidegger nicht „zwei getrennte
Tätigkeiten“, die bloß instrumentell verknüpft werden können,1
und Gebrauch sondern sie gehören als zwei Aspekte eines Baugeschehens
wie zwei Seiten einer Medaille zusammen. Im Rahmen etymo-
logischer Wortgebrauchsrekonstruktionen gewinnt Heidegger
Der Beitrag erarbeitet eine handlungstheoretische Grundlage für den Worten „Bauen“ und „Wohnen“ allerdings Bedeutungen
die Differenz von Herstellung und Gebrauch und spezifiziert diese ab, die vom üblichen Sprachgebrauch abweichen. Kern dieser
Differenz für die Architektur und Landschaftsarchitektur als archi- Neubestimmung ist die Behauptung, dass die beiden Wörter letzt-
tektonische Disziplinen im weiten Sinne. Es wird gezeigt, dass lich wortgeschichtlich dasselbe bedeuten, nämlich einen bleiben-
und wie Bauen und Wohnen, Herstellung und Gebrauch, herstel- den Aufenthalt in der Welt zu finden. Dem hat jedes Bauen wie
lungs- und gemeinschaftsbezogenes Handeln unterschieden und Wohnen Rechnung zu tragen. Diesem durchaus anschlussfähi-
zugleich wechselseitig aufeinander verwiesen sind. Am Beispiel gen Vorschlag steht allerdings ein gravierendes Problem gegen-
der Landschaftsarchitektur wird demonstriert, welche Folgen über: die sogenannte „Kehre“ von einer existenzialen Vollzugs-
einseitige Übergewichtungen des Herstellungs- oder Gebrauchs- beziehungsweise Daseinsanalyse in Sein und Zeit zu einer
Aspektes für Praxis und Theorie der Landschaftsarchitektur etymologisch hergeleiteten und sich in einer „eigentümlichen
haben können. Begriffsmythologie“2 einrichtenden Seinsphilosophie in seinen
späteren Texten, zu denen auch Bauen Wohnen Denken gehört.
Bekanntlich marginalisiert Heidegger in dieser Seinsphilosophie
Es ist die These der folgenden Ausführungen, dass die handlungstheoretische Bestimmungen zugunsten eines seins-
Unterscheidung von Herstellung und Gebrauch auch als archi- geschichtlichen Geschehens, das die Differenz von Bauen
tektonische Differenz beschrieben werden kann, die sowohl und Wohnen gar nicht mehr als die Differenz von autonomen
einen Unterschied markiert als auch auf ein aufeinander ver- „Tätigkeiten“ 3 zu fassen vermag. Autonome Tätigkeiten verlan-
wiesenes Zusammengehören des Unterschiedenen verweist. gen einen Handlungsbegriff, der das Handeln des Menschen in
Diese These bedarf einer kurzen Erläuterung. „Differenz“ wird dessen Verfügungsmacht belässt, nicht aber einem unverfügba-
gegen ein landläufiges Verständnis nicht nur zur Benennung ren Seins-Geschick überantwortet. Der Verweis auf ein jeweils
einer Unterschiedenheit zweier Bestimmungen verwendet,
sondern auch zur Betonung des Umstandes, dass diese bei-
den Bestimmungen in ihrer Differenz zugleich wechselsei- 1 Martin Heidegger: Bauen Wohnen Denken. 2 Wilhelm Kamlah: Ein offener Brief [an
In: Ders.: Vorträge und Aufsätze. Stuttgart 1994, Martin Heidegger] (1954). In: Ders.: Von
tig aufeinander bezogen und voneinander abhängig sind. S. 139–156, hier S. 140. der Sprache zur Vernunft. Philosophie und
Wir sprechen zudem von einer architektonischen Differenz, Wissenschaft in der neuzeitlichen Profanität.
Mannheim, Wien, Zürich 1975, S. 113–122, hier
insofern „architektonisch“ im Sinne eines differenzierenden S. 119.
Inbegriffs zu verstehen ist, der die unspezifische Differenz von
3 Ebd.
Herstellung und Gebrauch für die Disziplinen Architektur und
50 KARSTEN BERR 51 ZUR ARCHITEKTONISCHEN DIFFERENZ VON → INHALT
HERSTELLUNG UND GEBRAUCH

schicksalhaftes „Ge-stell“4 und „Geviert“ 5 einer Wirklichkeit, in rekonstruiert, um daran anschließend die architektonische
die man sich nur noch „hörig“ fügen können soll, um auf den Differenz von Herstellung und Gebrauch sowie – am Leitfaden
„Anspruch“ oder die „Stimme des Seins“ zu „hören“,6 auf diese zu der Unterscheidung der beiden Handlungsaspekte „prâxis“ und
achten“ und sich einem „besinnlichen Denken“ als Bereich des die „poíêsis“ – die Binnendifferenzierung dieser Differenz zu entfal-
„Subjektivität verlassenden Denkens“7 gelassen zuzuwenden,8 ten. Welche Folgen es für Theorie wie Praxis haben kann, wenn
ist keine problemlösende Antwort. 9 Ohne eine handlungstheore- diese Handlungsaspekte in Herstellung oder Gebrauch verein-
tische Grundlage, die dem Menschen die Verfügungsmacht über seitigt oder übergewichtet werden, zeigen die Beispiele in den
seine Tätigkeiten und Handlungsorientierungen belässt, hängt anschließenden Abschnitten.
die Diskussion um Bauen und Wohnen oder die um Herstellung
und Gebrauch gleichsam freischwebend in der Luft. Handlungstheoretische Grundlagen im Anschluss
Im Folgenden wird daher im Gang durch das Dickicht vielfältiger an Aristoteles
Beziehungen und gegenseitiger Abhängigkeiten von Architektinnen
und Architekten (insbesondere der Landschaftsarchitektur) Für eine differenzierte handlungstheoretische Grundlage,
sowie Nutzerinnen und Bewohnern ein differenziertes Bild der die mit der Differenz von Herstellung und Gebrauch in einen
Komplexität, Verantwortung und erforderlichen Könnerschaft Zusammenhang gebracht werden kann, bietet sich die
aus dem Bereich der (Landschafts-)Architektur gegeben. Dieser Handlungstheorie von Aristoteles an. Aristoteles hat den
Durchgang ist als „praxisstabilisierende“ Reflexion zu ver- Handlungsbegriff in bis heute Maßstäbe setzender Weise
stehen.10 Architektinnen und Landschaftsarchitekten stehen bestimmt und differenziert. 11 Menschliche Handlungen, so
im Spannungsfeld von Herstellung und Gebrauch unter gro- Aristoteles, können grundsätzlich durch zwei unterschiedli-
ßem Erwartungs- und Verantwortungsdruck. Die hierfür nötige che Aspekte gekennzeichnet werden, und zwar durch die von
Könnerschaft kann daher nicht genug gewürdigt und unterstützt ‚poíêsis‘ (Herstellen, Hervorbringen, gr. ‚poieîn‘, lat. ‚facere‘)
werden. Im Rahmen dieser praxisstabilisierenden Reflexion und ‚prâxis‘ (Handeln, Vollziehen, gr. ‚prâttein‘, lat. ‚agere‘).
werden zuerst die handlungstheoretischen Grundlagen der Aristoteles differenziert demnach Handlungen nach zwei ver-
Differenz von Herstellung und Gebrauch im Anschluss an die schiedenen Beschreibungsweisen: Handlungen als Herstellen
philosophischen Positionen Aristoteles‘ und Wilhelm Kamlahs (poíêsis) und Handlungen als Handeln (prâxis): „Denn weder ist
Handeln Hervorbringen, noch ein Hervorbringen Handeln“.12 Der
4 Martin Heidegger: Die Frage nach der 9 Vgl. Christoph Hubig: Die Kunst des Mög- Inhalt und die Form dieser Unterscheidung sind im Folgenden
Technik. In: Ders.: Vorträge und Aufsätze. lichen I. Technikphilosophie als Reflexion der
Stuttgart 1994, S. 9–40, hier S. 23.
näher zu betrachten.
Medialität. Bielefeld 2006, S. 99–106.
Die poíêsis (Herstellen, Hervorbringen) wird dadurch gekenn-
5 Heidegger 1994 (Anm. 1), S. 144. 10 Jürgen Mittelstraß zufolge besteht die zeichnet, dass der Zweck der Handlung dieser Handlung äußerlich
Aufgabe der Theorie seit ihren Anfängen in der
6 Martin Heidegger: Identität und Differenz. griechischen Antike darin, aus der und für die ist, da deren Ziel herstellbare und dieser herstellenden Tätigkeit
Pfullingen 1990, S. 21. Praxis „praxisstabilisierendes Wissen“ bereit-
zustellen. Vgl. Jürgen Mittelstraß: [Artikel] The-
7 Martin Heidegger: Platons Lehre von der oria. In: Ders. (Hg.): Enzyklopädie Philosophie 11 Vgl. im Überblick: Armin Wildfeuer: [Art.] 12 Aristoteles: Die Nikomachische Ethik. Grie-
Wahrheit. Mit einem Brief über den „Humanis- und Wissenschaftstheorie. Bd. 4. Darmstadt Praxis. In: Neues Handbuch philosophischer chisch-deutsch. Übersetzt von Olaf Gigon, neu
mus“. Bern 1975, S. 72. 2004, S. 259 f., hier S. 259. Grundbegriffe, Bd. 2 (Gerechtigkeit-Praxis). hg. von Rainer Nickel. Düsseldorf, Zürich 2001,
Hg. von Hermann Krings, Petra Kolmer, Armin VI, 4.
8 Martin Heidegger: Gelassenheit. Pfullingen Wildfeuer u.a. Freiburg im Breisgau 2011,
1959. S. 1774–1804.
52 KARSTEN BERR 53 ZUR ARCHITEKTONISCHEN DIFFERENZ VON → INHALT
HERSTELLUNG UND GEBRAUCH

externe Werke sind, die vom Menschen geplant (zum Beispiel Philosophin Hannah Arendt, die sich ausdrücklich auf Aristoteles
durch eine Architektin oder einen Architekten) oder modelliert, beruft, steht das individuelle Handeln als prâxis gleichsam in
gebaut, gestaltet (zum Beispiel durch eine Handwerkerin oder einem „Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten“.17 Im
einen Handwerker) werden müssen (zum Beispiel: Häuser). Gegensatz zur téchnê lässt sich die phrónêsis überhaupt nicht auf
Das Herstellen bedarf, sofern das Produkt kunst- oder fachge- Regeln bringen, da sie sich auf Situationen in Kontexten bezieht,
recht hergestellt werden soll, einer angemessenen Tüchtigkeit in denen es um die Angemessenheit eines Handeln in genau die-
(Trefflichkeit, gr. ‚áretê‘), nämlich eines ‚praktischen Könnens‘ ser einmaligen, durch vorab bekannte Regeln nicht eindeutig
(‚téchnê‘),13 das heißt eines in der Herstellungspraxis bewähr- fassbaren Situation geht. „Für Angemessenheit aber gibt es keine
ten regelgeleiteten Fachwissens und -könnens. Das praktische Regel. […] Alle Praxis gehört zu diesem nicht verallgemeinerba-
Können kann zwar nicht vollständig, aber immerhin überhaupt ren Einzelnen […]“.18 Wird dieser Unterschied zwischen der parti-
auf situationsüberschreitende Regeln gebracht werden, die sich ellen Regelhaftigkeit der poíêsis und dem Fehlen einer solchen bei
für einen aktualisierenden Nachvollzug explizieren lassen. Die der prâxis nicht beachtet, kann es im Übrigen zu Versuchen kom-
hergestellten Produkte der poíêsis müssen freilich nicht gegen- men, der Regelhaftigkeit der poíêsis durch subjektive Setzungen
ständlich-materieller Natur sein (Bauwerke, Möbel, Bücher), sowie der fehlenden Regelmäßigkeit der prâxis durch die Suche
sie können auch immaterieller Art sein (etwa ein Theater- oder nach vermeintlich objektiven Regel- oder Gesetzmäßigkeiten
Musikstück, ein wissenschaftlicher Vortrag auf dem „Forum zu entkommen. Das wird sich bei der Darstellung der Aspekt-
Architekturwissenschaft“). Übergewichtungen am Ende unserer Überlegungen zeigen.
Von der poíêsis wird die prâxis unterschieden. Eine Handlung als Entscheidend ist nun, dass die Unterscheidung von poíêsis und
prâxis lässt sich so bestimmen, dass diese ihren Zweck in sich prâxis nicht als extensionale Unterscheidung, sondern – das
selbst enthält. Eine solche Handlung, die um ihrer selbst willen hat Theodor Ebert nachweisen können – als „intensionale[-]
vollzogen wird, ist gleichsam selbst das Werk dieser Handlung. Unterschiedenheit […] der keine extensionale Disjunktheit ent-
Da es hier demnach um den Vollzugsaspekt und nicht um den spricht“ zu verstehen ist.19 Prâxis und poíêsis beziehen sich also
Herstellungsaspekt einer Handlung geht, ist nicht technischer nicht auf „disjunkte Tätigkeitsklassen“, sondern sie zeichnen
Sach-Verstand gefragt, sondern erforderlich sind ‚Klugheit‘ „unterschiedliche Aspekte an Tätigkeiten“ aus.20 Es handelt sich
beziehungsweise ‚sittliche Einsicht‘ (phrónêsis) als ange- also um „unterschiedliche Kriterien, die wir bei der Klassifizierung
messene Tüchtigkeit für den Bereich zwischenmenschlichen eines Tuns als ‚Poiesis‘ respektive ‚Praxis‘ heranziehen“.21 Mit
Handelns (prâxis).14 Diese phrónêsis kann nicht téchnê sein und Andreas Luckner lassen sich in diesem Sinne prâxis und poíê-
darf mit dieser auch nicht verwechselt werden, weil „Handeln sis beziehungsweise ‚praktisch‘ und ‚poietisch‘ als intensionale
und Hervorbringen verschiedene Gattungen sind“.15 Handeln Bestimmungen verstehen, die dann aber „extensional auf dieselbe
(prâxis) und phrónêsis zielen nach Aristoteles stets auf die indivi- Handlung (als act-token) bezogen werden“ können.22 Das heißt:
duelle ‚eudaimonía‘, das heißt auf ein gelingendes gutes Leben,
das zudem immer in den Kontext einer an Werten und Gütern 17 Hannah Arendt: Vita activa oder Vom täti- 20 Ebd., S. 29.
gen Leben. München 1981, S. 173.
orientierten Handlungsgemeinschaft eingebettet ist. 16 Mit der 21 Ebd., S. 20.
18 Luckner 2005 (Anm. 16), S. 81.
22 Luckner 2005 (Anm. 16), S. 82.
13 Ebd. 16 Ebd. Vgl. Andreas Luckner: Klugheit. Ber-
19 Theodor Ebert: Praxis und Poiesis. Zu einer
lin, New York 2005, S. 85–89; Hellmut Flashar:
14 Ebd., VI, 5. handlungstheoretischen Unterscheidung des
Aristoteles. Lehrer des Abendlandes. München
Aristoteles. In: Zeitschrift für philosophische
15 Ebd. 2013, S. 90.
Forschung (1976), H. 30, S. 12–30, hier S. 21.
54 KARSTEN BERR 55 ZUR ARCHITEKTONISCHEN DIFFERENZ VON → INHALT
HERSTELLUNG UND GEBRAUCH

„Man versteht eine Handlung im Sinne der poiesis, wenn man ohne selbst zu handeln, zustoßen kann: „Krankheit, strahlendes
weiß, für welchen Zweck sie ein Mittel darstellt; man versteht Wetter, Zahnschmerz, der Tod eines geliebten Menschen“.26 Dies
eine Handlung im Sinne der prâxis, wenn man weiß, inwiefern sie sind gleichsam „Widerfahrnisse ohne Handeln“.27 Wichtiger ist
einen Teil des Lebensvollzuges darstellt“.23 Die der poíêsis zuge- aber, dass es „kein pures Handeln [gibt]. Auch ein so mächti-
ordnete téchne betrifft somit gleichsam ihren technischen Mittel- ges Handeln wie das so genannte ‚schöpferische‘ ist doch stets
Zweck-Zusammenhang und die der prâxis zugeordnete phrónê- auf vorgegebene Bedingungen angewiesen und Störungen aus-
sis ihren sittlich-politischen (Aus-)Handlungsaspekt in einer gesetzt, so daß es mehr oder weniger oder gar nicht ‚gelingt‘.
Handlungsgemeinschaft. Das heißt, eine Handlung oder Tätigkeit Handlungen führen zum Erfolg oder zum Mißerfolg oder auch
– etwa das Herstellen von Gebäuden oder deren Gebrauch – kann zu unerwarteten Nebenfolgen“.28 Handlungen sind daher
jeweils sowohl als poíêsis wie auch als prâxis verstanden und stets an den Widerfahrnischarakter des Lebens geknüpft,
beschrieben werden. Was die Art des Wissens anbelangt, das mit insofern „Widerfahrnis und Handlung gleichsam ineinander-
poíêsis und prâxis verbunden ist, lässt sich mit Dirk Hartmann greifen“.29 Ob eine Handlung gelingt (ein gepflanzter Baum
und Peter Janich ein technisches Herstellungs- beziehungsweise wächst an) oder misslingt (der Baum geht ein) ist jeweils ein
„verlaufsgesetzmäßiges Erklärungswissen“ von einem „herme- Widerfahrnis. Der Freiheitsaspekt menschlicher Handlungen
neutischen Verständniswissen“ unterscheiden.24 (autonome Zwecksetzung) wird also in jeder Handlung immer
schon durch den Widerfahrnischarakter jedweder Handlungen
Handlungen und Widerfahrnisse bei überhaupt eingeschränkt. Dieser Widerfahrnischarakter ist
Wilhelm Kamlah letztlich immer „bezogen auf unsere Bedürftigkeit“ und damit
Endlichkeit. Ein gesetzter Zweck wird erfüllt oder verfehlt bezo-
Nun könnte man vielleicht den Eindruck gewinnen, als ob gen auf Bedürfnisse (etwa einen schönen Garten anzulegen).
das Handeln als poíêsis oder prâxis einen Akteur unter- Das bedeutet, dass Menschen, die durch zweckgerichtetes
stellt, dessen Zwecksetzungen lediglich die Angemessenheit Handeln die vorgegebene Umwelt zu einer Kulturwelt, das heißt
der Mittel und die Legitimität der Zwecke zu berücksichti- zu einem bewohnbar gemachten Lebensraum gestalten und ein-
gen hätte. Handlungsfreiheit wäre somit die Freiheit einer richten müssen, zum einen stets auch die Störanfälligkeit ihrer
Handlungsspontaneität, unbelastet und ungestört von vor- Handlungen erfahren. Zum anderen ist jede Handlung stets
hergehenden Bedingungen und der Möglichkeit nachfolgen- auch eine Reaktion auf Vorgegebenheiten natürlicher (Geburt,
der Misserfolge, die diese Handlungsfreiheit jeweils beschrän- Sterblichkeit, Schutzbedürftigkeit), kultureller (Institutionen
ken können. Der Philosoph Wilhelm Kamlah hat daher inner- menschlichen Zusammenlebens, Konventionen, Üblichkeiten,
halb des Handlungsbegriffs Handlungsspontaneität und den Moral) wie sozialer (Kommunikation und Interaktion) Art. Der
„Widerfahrnischarakter menschlichen Lebens“ als diese beiden Freiheits- als Zwecksetzungsaspekt ist stets geknüpft an den
Momente integriert. 25 Widerfahrnisse sind einmal das, was einem, Widerfahrnisaspekt in Form des Gelingens/Misslingens und in
Gestalt der Vorgegebenheiten, auf die der Handelnde reagieren
23 Ebd. 25 Wilhelm Kamlah: Philosophische Anthropo- muss. Handlungsspontaneität und Handlungsbegrenzung gehen
logie. Sprachkritische Grundlegung und Ethik.
24 Dirk Hartmann, Peter Janich: Methodischer
Mannheim 1973, S. 34–40, hier S. 39.
also gleichsam Hand in Hand.
Kulturalismus. In: Dies. (Hg.): Methodischer
Kulturalismus. Zwischen Naturalismus und
Postmoderne. Frankfurt a. M. 1996, S. 9–69, 26 Ebd., S. 34 f. 28 Ebd.
hier S. 42 f.
27 Ebd., S. 35. 29 Ebd., S. 37.
56 KARSTEN BERR 57 ZUR ARCHITEKTONISCHEN DIFFERENZ VON → INHALT
HERSTELLUNG UND GEBRAUCH

Noch etwas Anderes kommt hinzu: Nicht nur „verwandeln“ Mit dem Philosophen Peter Janich ist zudem im Anschluss
sich eigene Handlungen durch ihr Gelingen oder Misslingen in an Kamlah eine weitere Differenzierung zu berücksichtigen. 33
Widerfahrnisse für den Handelnden selbst, sondern die eigene Selbst dann, wenn eine Handlung gelingt (der gepflanzte Baum
Handlung ist Widerfahrnis für andere, wie die Handlungen des wächst an), ist damit noch lange nicht ein Handlungserfolg
anderen Widerfahrnis für einen selbst sind. 30 Das heißt dann garantiert. Der Baum kann durch widrige Umstände doch noch
aber auch, dass Handlungen dann, wenn sie im „Zusammenspiel eingehen, die Handlung erweist sich in ihren Folgen letztlich
von Partnern“ – für unser Thema: bei der Zusammenarbeit von als Misserfolg. Handlungsergebnis und Handlungsfolgen (nach
Herstellenden und Nutzenden eines architektonischen oder Kamlah „unerwartete Nebenfolgen“34) sind demnach ebenfalls zu
landschaftsarchitektonischen Werks – als jeweilige „Antwort unterscheiden. 35
des anderen […] im Wechsel ‚aktiv‘ und ‚passiv‘“ sind, so dass
„Handlungen und Rückhandlungen […] in allem menschli- Die architektonische Differenz von
chen Miteinanderleben ab[wechseln], woraufhin das ursprüng- Herstellung und Gebrauch
lich gelehrte Wort ‚Reaktion‘ als Gebrauchsprädikator in
die Umgangssprache eingegangen ist“.31 Eine herstellende Diese Differenzierungen des Handlungsbegriffs als Aspekte-
Handlung kann demnach als aktives Tun für darauf reagierende Unterscheidungen sind für die folgenden Ausführungen deshalb
Nutzerinnen und Nutzer und umgekehrt der Gebrauch als aktives von großer Bedeutung, weil damit sowohl in der Tätigkeit des
Tun für darauf reagierende Hersteller verstanden werden. Dies Bauens und Gestaltens (Herstellung oder Produktion) als auch
lässt sich auch mit Begriffen aus der philosophischen Ästhetik in der Tätigkeit der Nutzung (Gebrauch oder Rezeption) beide
und dem Streit zwischen Produktions- und Rezeptionsästhetik Aspekte gleichberechtigt berücksichtigt werden können und zur
erläutern. Das Herstellen kann als Produktion von Werken für Binnendifferenzierung der architektonischen Differenz führen.
einen Gebrauch als Rezeption und umgekehrt der Gebrauch Wie ist das zu verstehen?
als Produktion von Nutzungsbedeutungen für einen diese Menschen sind immer schon in eine sozial und kulturell geprägte
Bedeutungen rezipierenden Produzenten verstanden werden.32 Gemeinschaft hineingestellt, in der sie sich handelnd orientie-
Wie schon die Unterscheidung von poíêsis und prâxis bei ren müssen, um gut leben zu können. Zu diesem guten Leben
Aristoteles, sollten daher auch die Unterscheidungen von gehören Behausungen in Gestalt von Häusern und Wohnungen,
Handlung und Widerfahrnis sowie von Produktion und aber auch Gärten und öffentliche Grünanlagen. Diese Artefakte
Rezeption als intensionale Aspekte-Unterscheidungen ver- braucht der Mensch, und er nimmt sie entsprechend wohnend
standen werden. Handlungen als Herstellung und Gebrauch und nutzend in Gebrauch. Obwohl das Herstellen (poíêsis) von
können und müssen stets in der Handlungsdifferenz von Behausungen und Gärten in eine technische Mittel-Zweck-
Handlungsspontaneität und Handlungsbegrenzung sowie von Beziehung eingespannt ist, ist es doch nicht außerhalb der
Produktion und Rezeption berücksichtigt werden. Es gilt also, ein Üblichkeiten einer Handlungsgemeinschaft angesiedelt, son-
resignatives Unfreiheitsverständnis und ein überschwängliches dern auf einen wie auch immer bestimmten Gebrauch innerhalb
Freiheitsverständnis zu vermeiden. dieser Gemeinschaft abgezweckt: „Wer etwas herstellt, ist in

30 Ebd. 32 Auf diese Analogie zur Produktions- und 33 Peter Janich: Handwerk und Mundwerk. 34 Kamlah 1973 (Anm. 25), S. 35.
Rezeptionsästhetik kann hier aus Platzgründen Über das Herstellen von Wissen. München
31 Ebd. 35 Janich 2015 (Anm. 33), S. 64.
leider nicht näher eingegangen werden, obwohl 2015, S. 62–66.
diese Analogie im Vortrag behandelt wurde.
58 KARSTEN BERR 59 ZUR ARCHITEKTONISCHEN DIFFERENZ VON → INHALT
HERSTELLUNG UND GEBRAUCH

seinem Produzieren durch etwas anderes motiviert als durch den kommunikationsbedürftige Wesen (‚zoon politikon‘) zu verste-
Wunsch, sein Produkt fertigzustellen; er will es gebrauchen, auf hen. Im weiteren Gang durch das Geflecht der architektonischen
Grund seiner Herstellung Anerkennung finden oder auch seinen Differenz werde ich mich auf Beispiele aus der Praxis und Theorie
Lohn dafür bekommen. Sein Machen ist also unter diesem Aspekt der Landschaftsarchitektur beschränken.
(der letztlichen Motiviertheit durch den Wunsch nach Gebrauch
etc.) immer auch eine Praxis“.36 Insbesondere antwortet die Nähere Betrachtung der Binnendifferenzierung
Herstellung ja auf einen Bedarf nach Artefakten, die, da sie nicht der architektonischen Differenz
von selbst entstehen, eigens für einen Gebrauch hergestellt wer-
den müssen. Das gilt selbst noch für den extremen Beispielfall Die architektonische Differenz von Herstellung und Gebrauch
von Spontanvegetationen, deren mögliche Nutzung ja von einem weist also Binnendifferenzierungen auf, die nochmals genauer
Gewährenlassen des Gewachsenen für einen Gebrauch abhängt. betrachtet werden sollten. Was die Herstellung betrifft, ist diese
Obwohl die Herstellung eines Artefaktes von dessen Gebrauch Herstellung Produktion als Setzung, Bauen und Gestaltung
klar zu unterscheiden ist, sind beide Handlungsformen also auch (poíêsis). Mit der Produktion ist eine Gestaltungsaufgabe ver-
aufeinander verwiesen, insofern die Herstellung auch in einem bunden, deren Lösung sich im Werk als deren Gehalt ver-
Gebrauchs- und damit Praxiszusammenhang („Bezugsgewebe dinglichen beziehungsweise ausformen können muss. Der
menschlicher Angelegenheiten“ 37) steht, der diese Herstellung Entwurf stellt die gestalterische Lösung dieser Aufgabe dar.
mitbestimmt, so wie der Gebrauch auf die vorherige Herstellung Landschaftsarchitektinnen und -architekten sind insofern
der Gebrauchsgüter nach technischen Regeln oder ein „Experten für Lösungen“38 beziehungsweise „Experten in der
Gewährenlassen (das auch geregelt werden muss) angewiesen Gestaltung“.39 Die Herstellung ist aber auch Rezeption, inso-
ist. Nimmt man hinzu, dass der Gebrauch nicht nur auf die vorher- fern sie in das Bezugsgewebe menschlicher und damit auch
gehende Produktion oder das Gewährenlassen des in Gebrauch baulicher oder gestalterischer Angelegenheiten seitens der
Genommenen, sondern zudem auf hinnehmende Annahme Herstellung wie auch des antizipierten Gebrauchs hineingestellt
(Akzeptanz, Eingewöhnen) wie auch aktive Aneignung (Sich- ist (prâxis) und ihre Gestaltungsaufgabe nur in diesem Kontext
Einrichten, kreative Nutzung) des Hergestellten angewiesen ist, verstehen und lösen kann. Keineswegs also ist Herstellung eine
zeigt sich der Gebrauch als sowohl rezeptiv wie auch produktiv. ‚creatio ex nihilo‘. Vielmehr bedarf es einer „Antizipation des
Das gleiche gilt für die Herstellung. Sie ist nicht nur Produktion Gebrauchs“ und einer „Repräsentation des Benutzers“. 40 Die
für einen nachgelagerten Gebrauch, sondern verweist dadurch, Landschaftsarchitektin ist dadurch auch gleichsam eine Expertin
dass sie in einem Gebrauchs- und damit Praxiszusammenhang in der Beratung der Nutzer und Gebrauchenden.
steht und auf einen antizipierbaren Gebrauch abgezweckt ist, Der Gebrauch ist Produktion, insofern er als „tätiges Gebrauchen“ 41
ebenfalls auf eine gleichberechtigte Rezeption. Architektinnen eine produktive und kreative Aneignung im Gebrauch darstellt
und Architekten sowie Landschaftsarchitektinnen und Land-
schaftsarchitekten sowie die Nutzenden der architektoni- 38 Almut Jirku: Renaissance der Bürgerbeteili- 41 Wilhelm Kamlah: Probleme der Anthropolo-
gung. In: Landschaftsarchitekten 4 (2005), S. 12. gie – eine Auseinandersetzung mit Arnold Geh-
schen Werke sind demzufolge nicht nur als herstellende oder len. In: Ders.: Von der Sprache zur Vernunft.
produzierende Wesen (‚homo faber‘), sondern auch als von 39 Katharina Bredies: Gebrauch als Design. Philosophie und Wissenschaft in der neuzeitli-
Über eine unterschätzte Form der Gestaltung. chen Profanität. Mannheim, Wien, Zürich 1975,
anderen Mitmenschen abhängige und kooperations- und Bielefeld 2014, S. 3. S. 123–151, hier S. 129.

40 Ebd.
36 Ebert 1976 (Anm. 19), S. 21. 37 Arendt 1981 (Anm. 17), S. 173.
60 KARSTEN BERR 61 ZUR ARCHITEKTONISCHEN DIFFERENZ VON → INHALT
HERSTELLUNG UND GEBRAUCH

(poíêsis). In und durch aktiven oder kreativen Gebrauch oder abstrakte handlungstheoretische Gemengelage exemplarisch
Benutzung von landschaftsarchitektonischen Werken erge- konkretisieren: Warum bleibt uns oftmals der „Doppelcharakter
ben sich neue Bedeutungskonstruktionen des in Gebrauch- städtischer Freiräume, welche zugleich Alltagsort und land-
und Nutzung-Genommenen innerhalb des Deutungssystems schaftsarchitektonisches Werk“45 sind, verborgen?
der Nutzenden und Gebrauchenden. Hier haben wir es mit den Hier ist ein Hinweis Heideggers aus Bauen Wohnen Denken hilf-
„Experten des Alltags“42 beziehungsweise mit den „Experten in reich, der sich mit Blick auf ein bekanntes Theorem von Edmund
der Anwendung“43 oder Nutzung zu tun. Der Gebrauch ist selbst- Husserl für unsere Zwecke gewinnbringend deuten und umsetzen
verständlich Rezeption, insofern er wie die Herstellung in das lässt. Die „natürliche Einstellung“ (Husserl) unthematischen vor-
„Bezugsgewebe menschlicher Angelegenheiten“, und zwar hier wissenschaftlichen Handelns und Sich-Orientierens kann leicht
seitens des tatsächlich realisierbaren und realisierten Gebrauchs den Verweisungszusammenhang von Herstellung und Gebrauch
innerhalb eines üblichen Nutzungs- und Gebrauchskontextes qua Gewöhnung und Gewohnheit übersehen und vergessen las-
hineingestellt ist (prâxis) und dieser Gebrauch auch nur in sen. Im Altgriechischen ist dieser Zusammenhang und diese
diesem Kontext möglich ist. Hier geht es um das „bedürf- Verwechslungsgefahr von Gewöhnungsprozessen und habi-
tige Brauchen“,44 insofern der Mensch als endliches Wesen tualisierten oder institutionalisierten Handlungsorientierungen
wohn- und gebrauchsbedürftig ist. Hier trifft man gleichsam auf schon in der Sprache auf- und sinnfällig. Hier gibt es den fei-
Expertinnen und Experten des Brauchens im Sinne der Kenntnis nen Unterschied zwischen ‚êthos‘ (਷ࢡȠȢ und ‚éthos‘ (਩ࢡȠȢ), was
eigener Bedürfnisse und Wünsche, deren Erfahrungen sich im einerseits dasselbe bedeuten kann – nämlich Moral oder Sitte –
Brauch und in Üblichkeiten des Gebrauchs niederschlagen. Das andererseits etwas Verschiedenes. Êthos bedeutet „Wohnstatt,
„bedürftige Brauchen“ institutionalisiert sich insofern vortheore- gewohnter Aufenthalt, Charakter, sittliche Gesinnung“,46 also
tisch im Brauch. eine von einer Handlungsgemeinschaft als verbindlich aner-
kannte Moral, den sittlichen Charakter einer einzelnen Person
Das Vergessen der architektonischen Differenz oder das Berufs- oder Standesethos einer bestimmten Berufs-
in Gewohnheiten oder Standesgruppe. Éthos hingegen kann auch „Verhalten,
Gewohnheit“47 oder Gewöhnung bedeuten, womit dann auch die
Warum aber werden der Setzungscharakter wie die Rezept- Gefahr verbunden ist, den Gehalt dieser Gewöhnung unthema-
ionsverwiesenheit der Herstellung des Gestalteten und Gebauten tisch als etwas vermeintlich Selbstverständliches zu nehmen
sowie die Aneignungsbedürftigkeit und Rezeptionsverwiesenheit und den Gewohnheitscharakter nicht mehr zu durchschauen.
des Gebrauchs in ihrer Differenz, ihrem Aufeinanderverwiesensein Der Setzungscharakter wie die Rezeptionsverwiesenheit des
und in ihrer Binnendifferenzierung kaum erkannt, anerkannt und Gestalteten und Gebauten und die Aneignungsbedürftigkeit
praktisch umgesetzt? Ein als Frage formuliertes grundlegendes wie die Rezeptionsverwiesenheit des Gebrauchs lassen sich
Problem aus der Praxis der Landschaftsarchitektur mag diese dann nur noch qua nachgelagerter Thematisierung, das heißt

42 Jürgen Habermas: Die Moderne – ein un- 43 Bredies 2014 (Anm. 39), S. 3. 45 Constanze A. Petrow: Kritik zeitgenössi- 46 Wolfgang Kluxen: Ethik und Ethos. In: Wil-
vollendetes Projekt. In: Ders.: Kleine politische scher Landschaftsarchitektur. Städtische Frei- helm Korff, Paul Mikat (Hg.): Wolfgang Kluxen.
Schriften (I-IV). Frankfurt am Main 1981, 44 Kamlah 1975 (Anm. 41), S. 129. räume im öffentlichen Diskurs. Münster, New Moral – Vernunft – Natur. Beiträge zur Ethik.
S. 444–465, hier S. 461. York, München u.a. 2013, S. 264. Paderborn, München, Wien u.a. 1997, S. 3–16,
hier S. 4.

47 Ebd.
62 KARSTEN BERR 63 ZUR ARCHITEKTONISCHEN DIFFERENZ VON → INHALT
HERSTELLUNG UND GEBRAUCH

Reflexion vergegenwärtigen. Heidegger fordert daher dazu auf, konkrete oder gar verbindliche Handlungsempfehlungen abzu-
dem Wohnen eigens „nachzudenken“, das heißt für ihn, das in geben. Was es allerdings beansprucht, ist zu zeigen, welche
Selbstverständlichkeiten und gewohnten Routinen erstarrte Folgen sich aus der Nichtthematisierung des „Gewohnten“ und
„gewöhnliche“ Wohnen und Gebrauchen sowie Bauen und der Nichtbeachtung der Explikation des Thematisierten ergeben
Gestalten als „etwas Denkwürdiges“ zu betrachten.48 Denkwürdig können. Im Folgenden werden daher einige Hinweise auf sol-
sind Herstellung und Gebrauch als lebensweltliche Phänomene che Folgen mit Blick auf landschaftsarchitektonische Beispiele
für uns aber gerade in ihrer Verschränktheit. Denkwürdigkeit gegeben. Normative Fragen hingegen wären im Rahmen einer
bedeutet dann im Zusammenhang von Herstellung und Architektur- und Planungsethik zu stellen und gegebenenfalls zu
Gebrauch, den Sinn des Herstellens und Gebrauchens allen beantworten, die hier allerdings nicht unser Thema ist.49
Herstellungs- und Gebrauchsgewohnheiten zum Trotz stets neu
zu bedenken und sich je neu zu vergegenwärtigen. Dieser Sinn Übergewichtung des poíêsis-Aspektes der
ist dann je aktuell in unterschiedlichen Kontexten beim Herstellen Herstellung
und Gebrauchen umzusetzen.
Welche Folgen ergeben sich nun, wenn das komplexe Mit Blick auf den Produktions- beziehungsweise Gestaltungs-
Beziehungsgeflecht von Herstellung und Gebrauch nicht beach- aspekt der Herstellung (poíêsis) kann es dann, wenn die
tet und berücksichtigt wird? Welche theoretischen wie prak- Gestaltung den poíêsis-Aspekt übergewichtet und den prâxis-
tischen Folgen zeitigen einseitige Übergewichtungen des Aspekt vernachlässigt oder ignoriert, zu einem Gestaltungs-
Herstellungs- oder Gebrauchs-Aspektes und des Produktions- dogmatismus und zu unrealistischer Entwurfs- oder
oder Rezeptions-Aspektes innerhalb von Herstellung und Planungseuphorie 50 kommen. Dieser Dogmatismus ist die
Gebrauch? Warum ist es überhaupt notwendig, solche Kehrseite einer Gestal-tungs- und Setzungsfreiheit, die grund-
Differenzierungen zu beachten? Führt das nicht zu einer unbot- sätzlich an das „Form-problem“ 51 aller Form- und Gestaltgebung
mäßigen Belehrung, zum pauschalen und bloß negativen gebunden ist. Wir müssen schon uns selbst, vor allem aber
Kritisieren oder gar zur lästigen Moralisierung der Tätigkeiten den Dingen und Gebrauchsgegenständen jedweder Art eine
von Praktikern, die in einem komplizierten Spannungsfeld oft Form oder Gestalt geben, die nicht durch ihre Funktion oder
widerstreitender Interessen, Gesetze und Vorschriften sowie ihren Zweck oder ihren (antizipierten oder faktischen) Gebrauch
technischer Herausforderungen stehen? Hierauf kann nur geant- bereits in „Aussehen, Material usf.“ eindeutig festgelegt
wortet werden, dass „kritisieren“ wortursprünglich nichts ande-
res heißt als unterscheiden, hier: Aspekte des Handelns beim
Herstellen und Gebrauchen. Solche Unterscheidungen zu expli- 49 Einige Beispiele für eine solche Architektur- 50 Vgl. Klaus Selle: Die letzten Mohikaner?
oder Planungsethik: Martin Düchs: Architektur Eine zögerliche Polemik. In: Annette Harth, Git-
zieren, das heißt, aus der unthematischen Inanspruchnahme für ein gutes Leben. Über Verantwortung, Moral ta Scheller (Hg.): Soziologie in der Stadt- und
oder Nichtbeachtung in vorwissenschaftlichen architektoni- und Ethik des Architekten. Münster 2011; Achim Freiraumplanung: Analysen, Bedeutung und
Hahn (Hg.): Ausdruck und Gebrauch. Wis- Perspektiven. Wiesbaden 2010, S. 87–95.
schen oder landschaftsarchitektonischen Handlungskontexten senschaftliche Hefte für Architektur Wohnen
in eine Thematisierung zu überführen, ist ein genuines Geschäft Umwelt, 12. Heft: Positionen einer Architektur- 51 Friedrich Kambartel: Zur Philosophie
und Planungsethik. Aachen 2014; Karsten Berr der Kunst. Thesen über zu einfach gedachte
der Philosophie. Dieses Geschäft ist wenig spektakulär, bean- (Hg.): Architektur- und Planungsethik. Zugänge, begriffliche Verhältnisse. In: Franz Koppe (Hg.):
sprucht es doch im Rahmen dieser Explikation keineswegs, Perspektiven, Standpunkte. Wiesbaden 2017. Perspektiven der Kunstphilosophie. Texte
und Diskussionen. Frankfurt am Main 1991,
S. 15–26, hier S. 17.
48 Heidegger 1994 (Anm. 1), S. 155.
64 KARSTEN BERR 65 ZUR ARCHITEKTONISCHEN DIFFERENZ VON → INHALT
HERSTELLUNG UND GEBRAUCH

sind.52 Es besteht hier demnach „ein Spielraum von Alternativen Landschaftsarchitektinnen und -architekten ihrerseits ebenfalls
für die Form“,53 der den Gestaltenden zugleich eine „ästhetische in einer ganz bestimmten Gefahr.
Verantwortung“ auferlegt, die darin besteht, „das ästhetische
Formproblem praktisch (folgenreich) ernst [zu] nehmen“.54 Dieses Übergewichtung des prâxis-Aspektes der
„Gestaltgebungsapriori“ verlangt daher jedem Gestalter ab, das Herstellung
„Formproblem wieder und wieder [zu] lösen“.55 Genau das ist
ja die bereits erwähnte Aufgabe der Landschaftsarchitektinnen Mit Blick auf den Rezeptions- oder Gebrauchsorientierungsaspekt
und -architekten als „Experten für Lösungen“ beziehungsweise der Herstellung kann es dann, wenn die Gestaltung oder
„in der Gestaltung“. Da die Form oder Gestalt nicht durch Zweck, Planung den prâxis-Aspekt übergewichtet und den poíêsis- als
Funktion oder Gebrauch festgelegt sind, verführt die damit gege- Gestaltungs-Aspekt marginalisiert, zu Gestaltungsnivellierungen
bene Gestaltungsfreiheit und der Wunsch nach neuen oder außer- kommen. Diese Gefahr der Gestaltungsnivellierung gehört eben-
gewöhnlichen ästhetischen Lösungen aber leicht dazu, dass ent- falls zur Kehrseite der Gestaltungsfreiheit, diesmal allerdings im
sprechende Gestaltungslösungen den Nutzern „aufgeherrscht“56 Sinne eines Leidens an der Bürde dieser Freiheit, insofern mit
werden. Das heißt, der „Drang nach ästhetischer Innovation Blick auf die Erwartungen und Ansprüche der Nutzenden der
[wird] deutlich vor den Gebrauchswert gestellt“. 57 Dagegen ist Gestaltungsspielraum die prekäre Möglichkeit des Scheiterns der
daran zu erinnern, dass Entwürfe für gestalterische Lösungen – Gestaltungslösung mit sich bringt. Landschaftsarchitektinnen
und das verbindet Gestaltungsaufgaben mit dem Anspruch der und -architekten müssen ihre Gegenstände im Entwurf erst
modernen Kunst – nur Vorschlagscharakter haben können und herstellen, da sie noch nicht existieren. 58 Gleichzeitig müssen
daher auf die Berücksichtigung der (realen oder zu antizipieren- sie aber auf natürliche, kulturelle, soziale und ökonomische
den) Ansprüche der Nutzenden und deren Akzeptanz angewie- Vorgegebenheiten, auf Ansprüche, Erwartungen und mög-
sen sind. Gefordert ist demnach nicht die geniale Entwerferin liche Umnutzungen potentieller Nutzer Rücksicht nehmen.
und der Gestalter, der den Setzungscharakter freier Gestaltung Hier kommt demnach ganz deutlich die Störanfälligkeit des
ins Willkürliche oder Dogmatische wendet und dabei den ästheti- Handelns qua Widerfahrnisse zum Tragen. Als Reaktion auf
schen Aspekt der Herstellung überbetont, sondern angesichts des diese Störanfälligkeit kann das Bestreben angesehen werden,
Formproblems die verantwortungsbewusste Berücksichtigung dieser Bürde durch die wissenschaftliche Suche nach vermeint-
des „Bezugsgewebes menschlicher Angelegenheiten“, in lich objektiven Kriterien oder Gesetzmäßigkeiten der Gestaltung
dem und aus dem die Nutzenden den ihnen entsprechenden zu entkommen, die das Gestalten auf eine weniger prekäre
Gebrauchswert sowie Nutzerin und Gestalter gemeinsam ent- und störanfällige Basis stellen sollen. In den 1970er und 1980er
sprechende ästhetische Form-Maßstäbe gewinnen und schöp- Jahren glaubte man beispielsweise in der Freiraumplanung, „mit
fen können sollten. Allerdings steht diese Berücksichtigung des sozialwissenschaftlichen Methoden die Ziele des Entwerfens
Gebrauchswertes und möglicher ästhetischer Maßstäbe durch objektiv beschreibbar“ machen zu können, so dass „objek-
tiv richtige Entwurfsergebnisse erzielbar seien“. 59 Das führte
52 Ebd., S. 16. 56 Wulf Tessin: Ästhetik des Angenehmen. aber lediglich zu einer ortsunabhängigen Angleichung der
Städtische Freiräume zwischen professioneller
53 Ebd.
Ästhetik und Laiengeschmack. Wiesbaden
54 Ebd., S. 17. 2008, S. 145. 58 Wolfgang Schäffner: Vom Wissen zum 59 Jürgen Weidinger: Antworten auf die ver-
Entwurf. Das Projekt der Forschung. In: Jürgen ordnete Verwissenschaftlichung des Entwer-
55 Achim Hahn: Architekturtheorie. Wohnen, 57 Petrow 2013 (Anm. 45), S. 266.
Weidinger (Hg.): Entwurfsbasiert Forschen. fens. In: Ders. (Hg.): Entwurfsbasiert Forschen.
Entwerfen, Bauen. Wien 2008, S. 242.
Berlin 2013, S. 55–64, hier S. 56. Berlin 2013, S. 13–34, hier S. 21.
66 KARSTEN BERR 67 ZUR ARCHITEKTONISCHEN DIFFERENZ VON → INHALT
HERSTELLUNG UND GEBRAUCH

Entwurfsergebnisse, ohne Rücksicht auf die lokalen sozialen Übergewichtung des poíêsis-Aspektes
und kulturellen Kontexte. Der Grund für diese Angleichung lag in des Gebrauchs
der „Struktur der Befragungsverfahren“, die als standardisierte
„Nutzerbefragung“ bereits „ähnliche Antworten der sogenannten Mit Blick auf den Aneignungsaspekt des Gebrauchs kann es dann,
Nutzer vorprogrammiert“ hatten.60 Das heißt dann aber: „An die wenn das „tätige Gebrauchen“, wenn also der kreative Gebrauch
Stelle der Spezialistenplanung sollte die Nutzerbefragung tre- der Nutzenden als „Experten des Alltags“ oder als „Experten
ten“.61 An die Stelle der Landschaftsarchitektinnen und -archi- in der Anwendung“ übergewichtet und das Bezugsgewebe
tekten als Spezialistinnen der Beratung in Gebrauchs- und baulicher und gestalterischer Angelegenheiten sowie der
Gestaltungsfragen tritt demnach die Suche nach objektiven Setzungscharakter des Gestaltens 63 marginalisiert wird, zu
Kriterien für eine an einem Gebrauch orientierte Gestaltung. einem Gebrauchsdogmatismus kommen. Dieser Dogmatismus
So richtig es also ist, auch den prâxis- als Gebrauchs- oder im Gebrauch ist die Kehrseite der Freiheit im Gebrauch, die als
Nutzungsaspekt und damit die Nutzenden als „Experten des gleichsam ‚poietisches‘ Moment innerhalb des Gebrauchs der
Alltags“ oder „Experten in der Anwendung“ zu berücksichtigen, Gestaltungsfreiheit der Herstellung entlehnt ist. Im Rahmen
so problematisch ist es, dabei den poíêsis- als Gestaltungsaspekt dieser Gebrauchsfreiheit sind „Partizipationsdebatte[n]“ 64 und
und damit die Landschaftsarchitektinnen und -architekten als eine „Renaissance der Bürgerbeteiligung“65 zu verorten, die
Experten in der Gestaltung und Beratung zu übergehen. das „selbstbestimmte Handeln der Bürger“ 66 in Rechnung stel-
Mit Blick auf den Aspekt der Herstellung korrespondiert somit len wollen. Gestützt werden solche Ansätze unausdrücklich
einem möglichen Gestaltungsdogmatismus im Rahmen der durch die Vorstellung von „Partizipation als Modus sozialer
Übergewichtung des Gestaltungsaspektes eine mögliche Selbstorganisation“.67 Die unausgesprochene Prämisse dieser
Gestaltungsnivellierung im Rahmen der Übergewichtung des Vorstellung ist die so genannte „Eigenkompetenzthese“, wonach
Gebrauchs- oder Nutzungsaspektes. Zudem stellt sich im „der Laie im Unterschied zum Experten über diejenigen evalua-
Gebrauchs-Zusammenhang auch die schwierige Frage, inwie- tiv-präskriptiven Kompetenzen verfügt, die als Grundlage für
fern ein zukünftiger Gebrauch, insbesondere zukünftige kreative ‚richtige‘ (seine Lebenswelt betreffende) Entscheidungen not-
wie spontane Umnutzungen innerhalb dieses Zusammenhanges wendig sind“.68 Es ist freilich richtig: „Bürger sind Experten für
überhaupt antizipiert werden können. Lassen sich hier die mit Probleme vor Ort und natürlich für ihre Wünsche“.69 Als Beispiele
Sicherheit – in Relation zu den von den Gestalterinnen und für solche kreativen Aneignungen im Gebrauch können das
Gestaltern entworfenen „Antizipationen des Gebrauchs“ und der ‚social gardening‘, ‚Guerilla gardening‘ und ‚green gym‘ (Fitness
„Repräsentation des Benutzers“ – auftretenden „Abweichungen
im Gebrauch“62 überhaupt systematisch erforschen?
63 Jirku 2005 (Anm. 38). 67 Carl Friedrich Gethmann: Partizipation als
Modus sozialer Selbstorganisation? Einige
64 Annette Harth: Stadtplanung. In: Frank kritische Fragen. In: GAIA 14/1 (2005), S. 32 f.
60 Ebd., S. 22. Eckardt (Hg.): Handbuch Stadtsoziologie. Wies-
baden 2012, S. 337–364, hier S. 352. 68 Ebd., S. 32.
61 Wolfgang Meisenheimer: Der Rand der
Kreativität. Planen und Entwerfen. Wien 2010,
65 Jirku 2005 (Anm. 38). 69 Jirku 2005 (Anm. 38).
S. 90 (zitiert in Weidinger 2013, wie Anm. 59,
S. 21).
66 Constanze A. Petrow: Städtischer Freiraum.
62 Bredies 2014 (Anm. 39), S. 4. In: Frank Eckardt (Hg.): Handbuch Stadtsozio-
logie. Wiesbaden 2012, S. 805–837, hier S. 826.
68 KARSTEN BERR 69 ZUR ARCHITEKTONISCHEN DIFFERENZ VON → INHALT
HERSTELLUNG UND GEBRAUCH

beim Gärtnern) genannt werden. 70 Richtig ist aber auch, dass in der Gefahr des Scheiterns der Gestaltungslösung verbunden ist.
vielen Fällen Bürgerinnen und Bürger keineswegs ohne Weiteres So ist eine Reaktion auf diesen Widerfahrnischarakter gestalteri-
die bessere Expertise für sie selbst betreffende Belange haben. schen Handelns das Bestreben, dieser Bürde durch die wissen-
Dagegen sprechen Lebenserfahrungen wie etwa die häufige schaftliche Suche nach vermeintlichen Gesetzmäßigkeiten die-
Irrtumsanfälligkeit persönlicher Entscheidungen und Urteile, ser Bedürfnisse zu entkommen. Exemplarisch kann hier erneut
aber auch Theorien, die die Eigenkompetenz der Bürgerinnen die sozialwissenschaftliche Freiraumplanungs-Theorie genannt
und Bürger anzweifeln, wie etwa marxistische, psychoanaly- werden, die der Landschaftsplaner Stefan Körner einer gründli-
tische oder machttheoretische Konzeptionen. 71 Das bedeutet chen Kritik unterzogen hat.75 Den Vertreterinnen und Vertretern
allerdings mit dem Philosophen Carl Friedrich Gethmann nicht, dieses Ansatzes ging es um die Emanzipation der Bevölkerung
„daß man die Eigenkompetenzthese grundsätzlich bestreiten von der „Expertenherrschaft“ einer Planungsbürokratie sowie
kann oder darf […]. Vielmehr ist sie eine regulative Idee“, 72 die von einem als elitär und undemokratisch empfundenen „künst-
je nach Kontext mehr oder weniger zur Geltung kommen kann. lerischen Gestaltungsansatz“.76 Um solchem Planungs- und
Entscheidend ist aber, dass Bürgerbeteiligungen dadurch, dass Gestaltungsdogmatismus zu entkommen, sollen stattdessen
sie die Kommunikation zwischen Gestaltenden und Nutzenden die „lebensweltlichen Bedürfnisse der Menschen“ erforscht und
verbessern können, „Bürgerwünsche und Entwurfsqualität „mit dem Rekurs auf den Bedürfnisbegriff soll den Wünschen der
zusammen[…]bringen“73 und dadurch die „Akzeptanz“ 74 anfal- ‚Betroffenen‘ Raum gegeben werden, weil diese ihre Lebenswelt
lender Entscheidungen erhöhen können. Allerdings ist die weitgehend selbst und damit unentfremdet gestalten sol-
Berücksichtigung solcher Bürgerwünsche ebenfalls einer spezifi- len“.77 Körner kann zeigen, dass dieser gut begründete Ansatz
schen Gefahr ausgesetzt. seine Neutralität gegenüber den Bürgerinnen und Bürgern
nicht durchhalten kann, weil „verdeckt doch von sog. richtigen
Übergewichtung des prâxis-Aspektes Bedürfnissen ausgegangen [wird], aus denen dann wieder ein
des Gebrauchs Erziehungsauftrag folgt“.78 Wie schon bei der Nutzerbefragung
im Hinblick auf erwünschte oder gewollte Gestaltungen, so
Mit Blick auf den Rezeptions- als Bedürftigkeitsaspekt des wird auch bei der Suche nach berücksichtigungsfähigen (nach
Gebrauchs kann es dann, wenn der antizipierte Gebrauch einsei- Möglichkeit anthropologisch gestützten) „Bedürfnissen“ nicht
tig am Maßstab des Nutzungs- und Gebrauchskontextes und des der „kulturelle[-] Kontext der Bedürfnisse“ reflektiert, sondern
„bedürftigen Brauchens“ gemessen und der Aneignungsaspekt die Erzählungen der Befragten werden „nach einem vorab for-
(poíêsis) marginalisiert wird, zu Bedürfnisnivellierungen kom- mulierten Auswertungsschlüssel ‚dechiffriert‘“.79 Statt zu einer
men. Diese Gefahr der Bedürfnisnivellierung gehört eben- Emanzipation der Bevölkerung führt dies im Resultat aber zu
falls zur Kehrseite der Gebrauchsfreiheit, nun aber im Sinne einem Elitarismus der Planenden. So richtig es demnach ist, auch
eines Leidens an der Bürde solcher Freiheit, die angesichts der den prâxis- als Bedürfnisaspekt zu berücksichtigen, so problema-
Spielräume des möglichen Gebrauchs der Nutzenden stets mit tisch ist es, dabei den poíêsis- als Gestaltungsaspekt und damit

70 Vgl. hierzu Astrid Schwarz: Kulturland in 71 Vgl. Gethmann 2005 (Anm. 67), S. 32. 75 Stefan Körner: Theorie und Methodologie 76 Ebd., S. 439 f.
der Stadt: städtisches Gärtnern. In: Karsten der Landschaftsplanung, Landschaftsarchi-
72 Ebd. 77 Ebd., S. 439.
Berr, Hans Friesen (Hg.): Stadt und Land. tektur und Sozialwissenschaftlichen Frei-
Zwischen Status quo und utopischem Ideal. 73 Jirku 2005 (Anm. 38). raumplanung vom Nationalsozialismus bis zur 78 Ebd., S. 440.
Münster 2016, S. 181–196. Gegenwart. Berlin 2001, insb. S. 439–444.
74 Gethmann 2005 (Anm. 67), S. 32. 79 Ebd., S. 444.
70 KARSTEN BERR 71 ZUR ARCHITEKTONISCHEN DIFFERENZ VON → INHALT
HERSTELLUNG UND GEBRAUCH

die Landschaftsarchitektinnen und -architekten als Experten Gestaltungen verstehen. Eine Landschaftsarchitektin zum
in der Gestaltung und Beratung zu übergehen. Letzteres war Beispiel erfährt sich als gestaltend (herstellend) in ihrer
ja auch das ursprüngliche Anliegen der Freiraumplanung. 80 Mit Gestaltungs-Urheberschaft82 und Setzungskompetenz sowie als
Blick auf den Aspekt des Gebrauchs korrespondiert somit dem bestimmt durch Rezeptionsgewohnheiten wie Gebrauchs-
Gebrauchsdogmatismus im Rahmen der Übergewichtung des erwartungen. Im Gebrauch erfährt sich ein Nutzer als bestimmt
Gestaltungsaspektes des Gebrauchs eine Bedürfnisnivellierung durch übliche Nutzungs- und Gebrauchskontexte sowie
im Rahmen der Übergewichtung des Aspektes des Brauchens. gegebene Bauwerke und Gestaltungen, aber auch in sei-
Dieser Aspekt des Brauchens hat zudem eine weitere ner Nutzungs- und Gebrauchsfreiheit, das heißt in seiner
Konsequenz. Verfestigt sich das Bezugsgewebe menschli- Gebrauchs-Urheberschaft. Der poíêsis-Aspekt der Herstellung
cher Angelegenheiten (êthos) zu einer Gewohnheit (éthos) und ist mit Gestaltungsfreiheit verbunden, deren Schattenseite ein
damit zum undurchschauten (unthematischen) Brauch, kann drohender Gestaltungsdogmatismus im Rahmen falsch verstan-
es dazu kommen, dass ausschließlich und kritiklos ein übli- dener Gestaltungsspielräume sein kann. Der prâxis-Aspekt der
cher Nutzungs- und Gebrauchskontext das Handeln bestimmt. Herstellung ist der Gefahr ausgesetzt, die Gestaltungsfreiheit
Das führt zur Erstarrung in traditionellen oder konventionellen zugunsten der Suche nach Gestaltungsgesetzmäßigkeiten
Gebrauchs-, Wohn- oder Nutzungs-Üblichkeiten, zu Widerstand einer Gestaltungsnivellierung im Rahmen falsch verstande-
gegen Veränderungen, Neuerungen oder Abrisse, obwohl diese ner Gebrauchsantizipationen aufzuopfern. Der poíêsis-As-
sinnvoll oder sogar notwendig sein können. So befürwortet bei- pekt des Gebrauchs ist mit Gebrauchsfreiheit verbunden,
spielsweise auch der Geograph und Soziologe Olaf Kühne eine deren Schattenseite ein drohender Gebrauchsdogmatismus
„stärkere Nutzerorientierung der Planung“, verweist aber zugleich im Rahmen falsch verstandener Bürgerbeteiligung sein kann.
darauf, dass dies „auch die Übernahme von Verantwortung für Der prâxis-Aspekt des Gebrauchs ist der Gefahr ausgesetzt,
räumliche Entwicklungen von diesen Bewohnern und keine die Gebrauchsfreiheit zugunsten der Suche nach Bedürfnis-
Fundamentalopposition gegen jedwede Veränderung physischer gesetzmäßigkeiten einer Bedürfnisnivellierung im Rahmen falsch
Räume [impliziert]“.81 verstandener Bedürfnisberücksichtigung aufzuopfern.

Zusammenfassung
82 Dieser Begriff einer Gestaltungs-Urheber-
schaft wie der folgende einer Gebrauchs-Ur-
Die architektonische Differenz von Herstellung und Gebrauch heberschaft sind angelehnt an den Begriff der
bedeutet in unserem Zusammenhang demnach Folgendes: „Handlungsurheberschaft“ von Carl Friedrich
Gethmann, den dieser häufig in seinen Texten
Menschen können sich zugleich als Herstellende und Produzierende verwendet. Vgl. etwa: Carl Friedrich Gethmann:
sowie als Rezipierende und Nutzende von Bauwerken und Die Erfahrung der Handlungsurheberschaft und
die Erkenntnisse der Neurowissenschaften.
In: Berlin-Brandenburgische Akademie der
80 Ebd., S. 439. 81 Olaf Kühne: Hybridisierungstendenzen, Wissenschaften (Hg.): Zur Freiheit des Willens.
Raumpastiches und URFSURBs in Südkalifor- Streitgespräch in der Wissenschaftlichen
nien als Herausforderung für die Planung. In: Sitzung der Versammlung der Berlin-Branden-
Karsten Berr (Hg.): Architektur- und Planungs- burgischen Akademie der Wissenschaften am
ethik. Zugänge, Perspektiven, Standpunkte. 27. Juni 2003. Berlin 2004, S. 45–61.
Wiesbaden 2017, S. 15–32, hier S. 28 f.
332 → INHALT

Kirsten Wagner ist Kulturwissenschaftlerin und Professorin Bibliografische Information der Deutschen
am Fachbereich Gestaltung der Fachhochschule Bielefeld. Nationalbibliothek

Gina Rosa Wollinger ist Soziologin und arbeitet als Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
wissenschaftliche Mitarbeiterin am Kriminologischen in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliogra-
Forschungsinstitut Niedersachsen e. V. fische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Universitätsverlag der TU Berlin, 2018


http://verlag.tu-berlin.de
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Lektorat: Eva Maria Froschauer, Christiane Salge


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Satz: Julia Gill, Stahl R
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ISBN 978-3-7983-2940-9 (print)


ISBN 978-3-7983-2941-6 (online)

ISSN 2566-9648 (print)


ISSN 2566-9656 (online)

Zugleich online veröffentlicht auf dem institutionellen


Repositorium der Technischen Universität Berlin:
DOI 10.14279/depositonce-6019
http://dx.doi.org/10.14279/depositonce-6019
ARCHITEKTUR IM GEBRAUCH

Der Tagungsband versammelt Beiträge des


2. Forums Architekturwissenschaft zum Thema
Architektur im Gebrauch, das vom 25. bis
27. November 2015 im Schader-Forum in
Darmstadt stattfand. Die Beiträge nähern sich
dem Thema grundlegend in zwei Perspektiven.
Zum einen interessiert die lebensweltliche
Verankerung von Architektur: die Gebrauchs-
erfahrungen und die vielfältigen Weisen, in
denen das Gebaute im Alltag jedes Menschen in
Erscheinung tritt. Zum anderen werden die
Vorstellungen vom Gebrauch in Prozessen des
Planens und Bauens untersucht. Dabei treten
unweigerlich auch Spannungs-verhältnisse auf –
zwischen Planerinnen und Nutzern, aber auch
zwischen unterschiedlichen Gebrauchsweisen.
Sowohl in theoretischen Auseinandersetzungen
zu einem Begriff von Gebrauch in der Archi-
tektur als auch in empirischen Studien zu
einzelnen Bauten und Bautypen, zeitgeschicht-
lichen Gebrauchsphänomenen und Situationen des
Alltags wird dem auf den Grund gegangen.

Universitätsverlag der TU Berlin


ISBN 978-3-7983-2940-9 (print)
ISBN 978-3-7983-2941-6 (online)

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