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VULGÄRLATEIN (I)

I. Was ist Vulgärlatein?

1. Definition

2. Romanisierung

3. Zeitliche Eingrenzung

II. Quellen

Spanisch diachron (Franz) 1


I. Was ist Vulgärlatein?
1. Bezeichnung

Ø dt. Vulgärlatein < lat. sermo vulgaris ‚Volkssprache‘


Ø sp. latín vulgar

ØWeitere lateinische Bezeichnungen


- sermo plebeius
- sermo cotidianus
- sermo rusticus

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2. Definition

Ø Unter Vulgärlatein versteht man

- das gesprochene Latein,

- das die Römer bei ihren Eroberungen in die jeweils neuen


Gebiete trugen,
- das sich nach und nach immer stärker vom klassischen
Latein wegentwickelte

- und das zur Grundlage der romanischen Sprachen wurde.

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¨ „Denn hierbei [=Vulgärlatein] handelt es sich
keinesfalls nur um das von den unteren
Volksschichten, den Lastträgern, Gladiatoren,
Sklaven und Prostituierten gesprochene,
sondern um das allen Volksklassen
gemeinsame, unendlich in sich variable Latein“
¨ (Tagliavini 21998: 10f.).

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¨ „El latín vulgar […], tal como lo concebimos,
comprende los estados sucesivos desde la fijación del
latín común, al terminar el período arcaico, hasta la
víspera de la consignación por escrito de textos en
lengua romance; no se excluyen, pues, ni las
variaciones sociales ni aun las regionales”
(Väänänen 21985: § 5).
¨ Das Vulgärlatein – so wie wir es verstehen – umfasst
die aufeinanderfolgenden Stadien von der Fixierung
des Gemeinlateinischen am Ende der archaischen
Periode [ca. 100 v. Chr.] bis zum Vorabend der ersten
geschriebenen Texte in romanischer Sprache; es
werden also weder die sozialen noch die regionalen
Abwandlungen ausgeschlossen.
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¨ „Der nach lat. vulgaris sermo gebildete t.t.
>V[ulgärlatein]< ist in seiner Definition und
Berechtigung nicht unumstritten, dient aber im
allg. als Bezeichnung für die von der Norm der
klassisch-lat. Schriftsprache abweichenden Formen
der primär mündlich konzipierten Spontan-
sprache, also der lat. Sprechsprache und deren
Widerspiegelung in bestimmten schriftlichen
Dokumenten. In diesem Sinne entspricht >V.< als
Sammelbegriff verschiedenen v.a. soziokulturell,
regional und diachronisch differenzierten
Sprachvarietäten“
(Stefenelli 2002: 347f.).

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2. Romanisierung

• 753 v. Chr. Gründung Roms

• ab 509 v. Chr. Republik

• ab Mitte des 4. Jahrhunderts v.Chr. Vormacht in Mittel-


italien
• ab 275 Vormacht über Süditalien

• 241 v. Chr. Eroberung von Sizilien

• 238 v.Chr. Eroberung von Sardinien und Korsika

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• 218-201 v. Chr. 2. Punischer Krieg
Beginn der Eroberung der Iberischen Halbinsel

• 209 v. Chr. Einnahme von Cartago Nova

• 206 v. Chr. Einnahme von Gades

• 133 v. Chr. Einnahme von Numantia

• 19 v. Chr. Unterwerfung der Asturer und Kantabrer

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• 225-190 v.Chr. Gallia Cisalpina (heutiges Oberitalien)

• ab 125 Beginn der Eroberung von Gallia transalpina

• 121 v.Chr. Provincia narbonensis > Provence (Südfrank-


reich)

• 58-51 v.Chr. ganz Gallien

• erst ab 19 v. Chr. endgültige „Befriedung“ der Iberischen


Halbinsel

• 43 n.Chr. England

• 107 n.Chr. Dakien (in etwa das heutige Rumänien)


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Das Römische Reich

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3. Zeitliche Eingrenzung
A. Überblick über die Entwicklungsphasen des Latein

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B. Zeittafel

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„In der Zeit vom 6. bis 8. Jh. kann man
anstatt von ‚Vulgärlatein’ auch von
‚Protoromanisch’ oder ‚Frühromanisch’
sprechen, und spätestens im 9. Jh., als
die ersten schriftlichen Zeugnisse in
den Volkssprachen erscheinen und
diese als romances bezeichnet werden,
ist der Terminus ‚Vulgärlatein’ nicht
mehr sinnvoll“

(Bodo Müller, zit. nach Bollée/Neumann-Holzschuh


2003: 21).

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Ø Definition von Diglossie:

Unter Diglossie versteht man das Nebeneinander einer hohen und einer
niedrigen Sprachvarietät, die jeweils verschiedene Funktionen erfüllen
und die sich ergänzen, wobei die hohe Sprachvarietät zumindest passiv
von allen Sprechern beherrscht werden sollte.

Dieser Zustand ist lange Zeit durch das Nebeneinander von gesproche-
nem Vulgärlatein und klassisch orientiertem Schriftlatein gegeben.

Ø Definition von (kollektivem/sozialem) Bilinguismus:

Unter Bilinguismus versteht man das Nebeneinander von zwei voll aus-
gebauten Sprachen, von denen jede alle Funktionen erfüllt.

Dieser Zustand wird nach der Verschriftlichung des Vulgärlateins/Proto-


romanischen erreicht. → Es entstehen die romanischen Sprachen.

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Diglossie/ Bilingualismus (nach Ferguson)

(Quelle: Blasco Ferrer , Eduardo (1994): Handbuch der italienischen


Sprachwissenschaft. Berlin, S. 122)

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Müller-Lancé 2006,69.
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II. Quellen

Es gibt kein ausschließlich in Vulgärlatein verfasstes


Werk, sondern man findet nur vereinzelte Wörter und
Formen des gesprochenen Lateins (=Vulgarismen) in
schriftsprachlichen Texten.

Quellentypen:

§ Sachbücher
§ Inschriften und Mitteilungen privater Art
§ Metasprachliche Texte
§ Literarische Texte
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§ Sachbücher

- Abhandlung über die Kochkunst


(Apicius, De re coquinaria, 4. Jh. n. Chr.)

- Abhandlung über Architektur


(Vitruvius, De architectura, ca. 25 n. Chr.)

- Abhandlung über Tiermedizin


(Mulomedicina Chironis, 4.Jh. n. Chr.)

- Reisebericht Itinerarium Egeriae, 4.Jh. n. Chr.


(auch unter dem Namen Peregrinatio Aetheriae bekannt).

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§ Inschriften und Mitteilungen

- Private Soldatenbriefe auf Papyrus


oder Pergament
-„Graffiti“ in Pompeji, 79 n. Chr., z.B.
quisquit amat nigra [nigram] nigris
carbonibus ardet
- Fluchtafeln (an die Adresse von Rachegottheiten
gerichtete Verwünschungen von Feinden)
- Grabinschriften einfacher Leute
Ø z.B. Text auf einem Grabstein (3.Jh.) aus dem heutigen Algerien:

Valerius Antonius ispose rarissime fecit


Klass. Lat.: Valerius Antonius sponsae rarissimae fecit
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§ Metasprachliche Texte

- Appendix Probi
• (Anhang an die Grammatik des Probus )
• Liste von 227 Vulgarismen

Ø Beispiele: Spanisch:

VIRIDIS non VIRDIS verde

AURIS non ORICLA oreja

VINEAM non VINIAM viña

OCULUS non OCLUS ojo


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- Reichenauer Glossen
• (Entstanden: Ende 8./9. Jhdt. in der Pikardie;
Gefunden: Abtei Reichenau am Bodensee)
• Funktion: Erläuterung unklarer Wörter der Vulgata

Ø Beispiele:
Klass. Latein Vulgärlatein Spanisch:

FORUM : MERCATUM mercado


PULCRA : BELLA bella
IN ORE : IN BUCCA boca
ICTUS : COLPUS golpe
GALEA : HELMUS yelmo
SEMEL : UNA VICE una vez
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§ Literarische Texte

v Vorklassisch:

- Plautus (254[?]-184 v.Chr.)

Komödien, meist nach


griechischen Vorlagen

Die Handlungen drehen sich immer um das


Alltagsleben des Mittelstandes (z.B. Kaufleute).

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v Nachklassisch:

- Satiriker Persius und Juvenal


(1. - 2. Jh. n.Chr.; Beschreibungen des
römischen Alltagslebens)

- Titus Petronius (14 - 66 n.Chr.)

Roman: Satyricon

Ø Darin insbesondere die Szene des Gastmahls


des Trimalchio („Cena Trimalchionis“), in
der ungebildete Teilnehmer zu Wort kommen.

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- Bibelübersetzungen

- Vetus latina (2. Jh. nach Christus)


- Sammlung von Teilübersetzungen auf der Basis von
griechischen Vorlagen

- Die Versio vulgata (kurz:Vulgata) dagegen ist eine Über-


setzung der kompletten Bibel durch Hieronymus (380 –
405 n. Chr.) auf der Basis des hebräischen Textes für das
Alte Testament und der Vetus latina für das Neue Testament .

- Allerdings war zu diesem Zeitpunkt das Christentum schon


Staatsreligion, daher handelt es sich eher um einen von der
Norm des Schriftlateins geprägten Text. (Vgl. oben:
Reichenauer Glossen).
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Unter Rekonstruktion versteht man die Erschließung
nicht belegter Elemente älterer Sprachstufen. Durch
Sprachvergleich und die bekannten Lautwandel-
erscheinungen können Rückschlüsse gezogen werden.
So muss neben klat. posse ‚können’ im Vulgärlatein die
Form *potēre existiert haben, die als Basis für sp. poder,
frz. pouvoir und it. potere erforderlich ist.
*cumintiare > span. comenzar, frz. commencer, ital.
cominciare
*arripare ‘ans Ufer kommen’ > katal. arribar
‘ankommen’, span. ‚landen’, frz. arriver, ital. arrivare

Diese Rekonstruktionen haben zunächst nur den Wert


von Hypothesen, bis sie durch das Auffinden von
Quellen bestätigt werden.
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Karl Vossler (1954): „Die letzte und wichtigste
Hilfe aber zur Kenntnis des Vulgärlateins
bieten uns die romanischen Sprachen. Man
kann aus der Gestalt der romanischen
Sprachen Rückschlüsse auf die Gestalt des
Vulgärlateinischen tun. Man kann bis zu einem
gewissen Grade aus dem späteren Stand der
romanischen Sprachen ihren früheren
erschließen. Aber auch hier ist die allergrößte
Umsicht geboten. Die Rekonstruktion von alten
sprachlichen Formen, die nicht belegt sind,
bleibt immer hypothetisch“.

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