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Markus Brunner
Zerstörung des Gehorsams
Zur A ktualität der politischen Psychologie Peter Brückners,
gerade im Hinblick auf die Uniproteste 1
Wie kein anderer Psychologe h at sich Peter Brückner seit den 1960er Jahren bis zu seinem
frühen Tod Anfang der 1980er Ja h re mit den verschiedenen linken Emanzipationsbewe
gungen auseinandergesetzt und kritisch-solidarisch nach ihren Bedingungen, Potenzialen
und problem atischen Zügen gefragt. Der Beitrag stellt Brückners Verständnis einer politi
schen Psychologie als kritisches kollektives Emanzipationsprojekt dar und versucht zu zei
gen, welches Potenzial in ihm fü r eine Analyse auch der aktuellen studentischen Proteste
steckt.
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chen und bildungspolitischen Situation auch die Subjekte und ihre Emo
tionen in den Blick nim m t und diese Perspektiven m iteinander verm ittelt.
Es lag für mich nahe, mich in diesem Zusamm enhang w ieder einmal
m it Peter Brückner zu beschäftigen. Sein Ansatz schien mir wie kein an
d erer geeignet, mich m it dem P rotest und den gesellschaftlichen R eaktio
nen darauf zu beschäftigen, w ar doch die kritisch-solidarische A useinan
dersetzung m it Em anzipationsbew egungen das Programm der politischen
Psychologie von Brückner. Seit Mitte der 1 9 6 0 e r Jahre bis zu seinem
frühen Tod 1 9 8 1 setzte sich dieser intensiv m it fast allen sich als em anzi-
patorisch verstehend en >antiautoritären< Bewegungen in Deutschland -
im m er im zum indest angestrebten dialogischen Austausch m it ihnen -
theoretisch auseinander, von der Studierendenbew egung, die unter dem
Stichw ort >68er-Bewegung< in die Geschichte einging, über die Kommune I
bis zu Gruppen des bew affneten W iderstands wie der Bew egung 2. Juni
und der Rote A rm ee Fraktion (RAF]. Brückner ging es darum, das Auf
bäum en der v. a. Jugendlichen aus dem spezifischen gesellschaftlichen
Kontext heraus zu verstehen, deren em anzipatorisches Potenzial auszulo
ten und sie doch auch aus einer grundsätzlich solidarischen Haltung h er
aus - schließlich w aren sie zum indest dem Anspruch nach Teil des gesell
schaftlichen Em anzipationsprozesses - kritisch zu beleuchten. Brückner
ging es folgerichtig w eniger darum, seine politische Psychologie als ein
geschlossenes Theoriegebäude zu form ulieren, sondern er verstand sie
vielm ehr als theoretisch-reflektierend e Intervention in gesellschaftspoli
tische Praxis, die im m er einen vorläufigen und auf korrigierenden Dialog
ausgerichteten Charakter hatte und die Agierenden zur Selbstreflexion
anregen sollte.
Zerstörung des G ehorsam s (1 9 8 3 ] h eiß t der Titel eines nach seinem
Tod veröffentlichten Sam m elbandes m it verschiedenen Aufsätzen Brück
ners zur politischen Psychologie. Zerstörung des G ehorsam s ist auch deren
Program m: Es ging Brückner stets darum, die eigene V erstricktheit der
Individuen in gesellschaftliche H errschaftsverhältnisse aufzudecken, kri
tisch zu reflektieren und verinnerlichte H errschaft, die sich in der Intern a
lisierung unsichtbar gem acht hatte, radikal zu überwinden.
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Reiz nicht m ehr verspüre, ihnen nachzugehen, kann ich sicher sein, dass
ich akzeptiert und geliebt werde und m öglichen Drohungen oder Strafen
entgehe. Diese Anpassung an gesellschaftliche Normen und die Identifika
tion m it den anderen G esellschaftsm itgliedern bringen Entlastung, Schutz
und die M öglichkeit der Selbsterhöhung; der Preis ist aber hoch: V erm ie
den und zuweilen aggressiv abgew ehrt werden muss alles, was an das
Verdrängte erinnert, was die offene Realitätsw ahrnehm ung einschrän kt
und sie durch ein Schw arz-W eiß-D enken entlang der gesellschaftlichen
>Normalität< und ihrer V orurteile ersetzt, die selb st nicht reflek tiert w er
den können.
W eil wir nun alle, auch die Psychologinnen und Sozialw issenschaft-
lerInnen, Produkte dieses Sozialisationsprozesses sind und bis in unser
Innerstes teilhaben an den gesellschaftlichen Normen und V orurteilen, ist
zur Erkenntnis der W elt radikale Selbstreflexion notwendig. Nicht nur
muss die Psychologie ihren Blick, ihre Kategorien, ihre Methoden als his
torisch gew ordene reflektieren, sondern auch die Affekte der Psycholo
gInnen beim B etrachten des Gegenstandes sind Produkt der gesellschaft
lichen H errschaftsverhältnisse. Am Lack ist also zu kratzen, das Alltägli
che, die verm eintliche V ertrauth eit und Bekanntheit, ist kritisch zu zer
stören, dam it etw as anderes als die eingeübten Vorurteile erfahren w er
den kann. D ieser E rkenntnisprozess durch die Zerstörung von >Normali-
tät< kann aber nicht nur ein Prozess der individuellen Selbstreflexion sein,
sondern ist ersten s ein kollektiver, zw eitens ein praktischer Prozess. Ein
kollektiver muss es deshalb sein, weil e rst in der Interaktion und in der
gegenseitigen Kritik die eigenen Vorurteile erkennbar und nur in einer
solidarischen Gem einschaft die nicht realitätsgerechten, also n eu roti
schen Ängste, die dem Erkennen innerer Konflikte, die die V orurteile
produzierten, aufgefangen w erden können. Ein praktischer Prozess ist
dieser E rkenntnisprozess wiederum im m er schon, weil sich durch die
V erstrickung von ForscherInnen-Individuum und G esellschaft die Human-
und Sozialw issenschaften eigentüm liche Subjekt-O bjekt-Struktur in der
Selbstreflexion im m er sow ohl das Subjekt wie auch das Objekt, der Ge
genstand, verändert. Schon Freud hatte dieses Ineinander von Forschen
und Heilen, von Erkennen und Handeln erkannt: E rst in der em otionalen
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P o litis c h -p s y c h o lo g is c h e A n a ly s e n
1 9 6 8 erschien unter dem Titel Die Transform ation des dem okratischen
Bewusstseins B rückners erste eingehende Analyse der Studierendenpro
teste, konkret: eine politisch-psychologische Auseinandersetzung m it den
Ereignissen des 2. Juni 1 9 6 7 in Berlin, dem Tag, an dem bei der Dem on
stration gegen den Besuch des persischen Schahs in Berlin der Student
Benno Ohnesorg von einem Polizisten erschossen wurde. Dieser T od es
schuss war der Ausdruck des brodelnden bundesrepublikanischen Kli
mas, in dem die herrschaftsstabilisieren de Funktion der Staatsm acht, die
postnazistische M entalität der BürgerInnen und die gegen beides rebellie
renden Studierenden aufeinander prallten und eine explosive Dynamik
auslösten, die sich in den nächsten Jahren noch radikalisieren sollte.
Brückners T ext erschien zusam men m it einem Aufsatz des Politikw is
senschaftlers Johannes Agnoli in einem Buch m it dem Titel Die Transfor
m ation d er D em okratie (Agnoli & Brückner, 1 9 6 8 ]. W ährend Agnoli die
integrative und ideologische Funktion des d em okratisch-parlam entari
schen Pluralismus als Instanz der sozialen Friedenssicherung beleuchtete,
die system atisch die Artikulation gesellschaftlicher W idersprüche verh in
dert, analysierte Brückner die durch die T ransform ation der V erhältnisse
veränderten Subjekte, beleu chtete einerseits die psychische Disposition
der BürgerInnen wie auch der M achthaberInnen und and ererseits die
politischen und psychischen Motive für das Aufbegehren der außerparla
m entarischen Opposition. Diese Zweiteilung des Blicks einerseits auf die
ideologischen Integrationsm echanism en der spätkapitalistischen Gesell
schaft, die die bestehenden A usbeutungsverhältnisse verschleierten und
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die Chancen auf eine grundlegende V eränderung der G esellschaft schw in
den ließen, and ererseits auf die »subjektiven Bedingungen der objektiven
Irrationalität« (Adorno, 1 9 9 7 , S. 4 2 ], d. h. auf die in diesen form ierten und
in sie eingepassten Subjekte, entsprach dem Programm der Kritischen
Theorie seit ihren Anfängen. Diese war ersten s von der erschreckenden
Erfahrung des Ersten W eltkriegs und zw eitens vom Ausbleiben einer
sozialistischen Revolution in Deutschland wie in anderen europäischen
Ländern geprägt. Wie - so ihre entscheidenden Fragen - hatte es zu die
sem alles Bisherige an G rausam keit in den Schatten stellenden Krieg
kom men können, gerade in den zivilisiertesten und aufgeklärtesten Na
tionen? Und zw eitens: w ieso begehrten die M enschen nicht gegen die
bestehenden H errschaftsverhältnisse auf, die sie im Krieg als Soldaten wie
im Frieden als A rbeiter so knechteten? Brückner knüpfte also an diese
Analyse sowohl der m ateriellen und ideologischen Integrationsm echa
nism en wie ihrer Effekte an die Subjekte an, fragte aber zugleich - in
Absetzung vom Programm der Kritischen Theorie - auch nach den Mög
lichkeiten eines em anzipatorischen Ausbruchs.
Das em anzipatorische Potenzial der studentischen Opposition sah
Brückner in der praktischen Offenlegung und V eräußerlichung v erin n er
lichter gesellschaftlicher Konfliktlagen und der dam it möglich gem achten
Kritik an gesellschaftlichen H errschaftsverhältnissen. Gerade die immer
w ieder als Diffamierung vorgebrachte privilegierte Lage der Studieren
den, die eine gew isse Distanz zu den unm ittelbaren V erw ertungs- und
Selbstverw ertungszw ängen erlaubt, sei die Bedingung für ihren Aufstand:
Der >Schonraum< U niversität und die darin gew onnenen sprachlichen und
theoretischen M öglichkeiten der W ahrnehm ung und Artikulation innerer
Konflikte erm ögliche es ihnen, diese als Effekt gesellschaftlicher H err
schaft zu them atisieren. Ihre Forderungen nach Leben jen seits von An-
passungs- und Selbstverw ertungszw ängen und ihr Versuch, andere F or
men des zw ischenm enschlichen Zusam m enlebens auszutesten und zu
realisieren, werde aber von der M ehrheit der BürgerInnen als Angriff
w ahrgenom m en, weil dadurch ihre Form en der Anpassung und die damit
einhergehende große Anstrengung der Selbstdisziplin infrage gestellt
werden. Die Aktivierung eigener niedergehaltener Sehnsüchte nach ei-
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Eine zweite, längere Suspendierung folgte bald und ging unter dem
Stichw ort M escalero-A ffäre in die Geschichte ein: 1 9 7 7 hatte ein sich
>Mescalero< nennender Student in einer Göttinger Studierendenzeitung
einen Nachruf auf den kurz zuvor von der RAF erm ordeten G eneralbun
desanw alt Buback verfasst, der dam it beginnt, dass der Autor eine
»klam m heim liche Freude« über den Tod dieses undem okratischen und in
äu ß erster Härte gegen die Linke vorgehenden Anwalts beschreibt, die er
bei der N achricht über dessen Ermordung im ersten M oment verspü rt
habe. Im V erlauf des Artikels folgt dann jed och eine Selbstreflexion m it
der Einsicht, dass der W eg zum Sozialismus nicht m it Leichen gepflastert
werden könne. Als die öffentliche Presse Wind von dem Artikel bekam ,
entfachte sie eine wilde Hetzkampagne. »Göttinger AStA billigt den Mord
an Buback«, schrieb Die Welt (abgedruckt in Brückner, 1 9 7 7 , S. 4 1 ], über
all wurde die Rede von der »klam m heim lichen Freude« aus dem Zusam
m enhang gerissen zitiert. Dass der Artikel eigentlich eine Absage an diese
Form von Gewalt sein sollte, wurde vollkom m en ausgeblendet. Die Polizei
beschlagnahm te die Zeitschrift und ging gegen alle sch arf vor, die durch
eine W iederveröffentlichung der Öffentlichkeit den ganzen T ext zugäng
lich m achen wollten. Auch 4 8 Hochschullehrende, unter ihnen Brückner,
veröffentlichten den Buback-N achruf noch einm al, Prozesslaw inen folgten
und die Androhung von Berufsverboten, wenn die H erausgeberInnen sich
nicht sch arf von dem T ext distanzierten und eine Staatstreue-Erklärung
unterschrieben. Alle bis auf Brückner gehorchten. Der politische Psycho
loge hingegen m achte sich daran, den T ext noch einm al zu veröffentli
chen, ihn aus einer politisch-psychologischen Perspektive genauso zu
analysieren wie die diffam ierenden P resseartikel und P olitikerstatem ents
und zeigte dabei auf, wie die Konstruktion von Feindbildern und die P ro
duktion von Berührungsangst genau vor sich ging (vgl. Brückner, 1 9 7 7 ].
Nach einem universitären Lehr- und sogar H ausverbot lehrte und
diskutierte Brückner m it seinen Studierenden w eiter im Club Voltaire,
einer linken Kneipe, und analysierte in Buchform auch das D isziplinar
verfahren gegen ihn und die Freih eit der W issenschaft (B rü ckner & Oest-
mann, 1 9 7 8 ]. Den ju ristischen Prozess konnte er zwar Jahre später gew in
nen, die ganzen Prozesse und zerm ürbenden Kämpfe hatten ihn aber
psychisch und körperlich so m itgenom m en, dass er 1 9 8 2 im Alter von 6 0
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Soviel zu Peter B rückners Leben und W erk. Nun will ich am Ende noch
der Frage nachgehen, inw iefern der politisch-psychologische Ansatz
Brückners auch für die Analyse der aktuellen Uni-Besetzungen aktuali
sierb ar wäre. Da kann ich nur stichw ortartig andeuten, in w elche Rich
tung eine solche A useinandersetzung wohl gehen würde, zu m ehr wird es
nicht reichen. Erstens w ar und bin ich viel zu wenig selb st in die Proteste
involviert, um m ehr als vorläufige Antw orten zu geben. Zweitens sollte
aus den bisherigen Ausführungen klar gew orden sein, dass solch eine
Analyse nur das Produkt von ausführlichen Diskussionen, d. h. von kollek
tiver Arbeit, sein kann.
Seit B rückners Analysen hat sich doch einiges verändert. Es fand, was
die M öglichkeiten von >alternativeren< zw ischenm enschlichen B ezie
hungsform en anbelangt, eine Öffnung statt, wenn auch dadurch diese
privatisiert und dam it entpolitisiert wurden; die stark aggressiven Affekte
gegen sozialistische oder kom m unistische Bestrebungen haben nach dem
Zusamm enbruch des >realsozialistischen Blocks< auch eher abgenom m en
und einem Belächeln Platz gem acht; auf der anderen Seite ist die ökono
m ische Situation der Bevölkerungs-M ehrheit und auch der Studierenden,
verglichen m it derjenigen der M enschen in der vom ökonom ischen Auf
schwung der N achkriegszeit gezeichneten 1 9 6 0 e r Jahren, sicher prekärer
gew orden und der als >neoliberal< bezeichnete Abbau der sozialstaatli
chen Abfederungen bed roh t viele sehr existenziell. Solche gesellschaftli
chen Veränderungen m üssen im Blick behalten w erden, weil sie auch die
M öglichkeiten und Form en von W iderstand m itbestim m en.
Nun aber zu den W iener Protesten: Es ist erstaunlich, m it welchem
Ausharrungsverm ögen hier über W ochen hinweg ein g roß es Programm
auf die Beine g estellt wurde, wie viele AGs existierten, wie gut die ganze
Selbstverw altung organ isiert wurde und auch die W ellen, die dieser Akt
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aber nicht um sonst einen der Hauptaufhänger der Proteste ist, werden
die aktuellen Rationalisierungsprozesse noch als zu antizipierende B e
drohung sichtbar. Der P rotest setzte näm lich zum indest an der W iener
Akademie der Bildenden Künste, wo die Proteste ihren Anfang nahmen,
da ein, wo der Übergang zum neuen System noch nicht vonstatten gegan
gen war. W iderstand en tfaltet sich, das hatte ja Brückner schon bem erkt,
da, wo die Prozesse noch nicht so w eit fortgeschritten sind, dass sie als
norm al hingenom m en werden. W ahrscheinlich ist es auch kein Zufall,
dass sich ein solcher P rotest in W ien entfalten konnte, eine der wenigen
Städte zum indest im deutschsprachigen Raum, wo m om entan keine Stu
diengebühren erhoben werden. Auch dieses Privileg ist also eine Chance.
Es zeigt sich aber in den zahlreichen Reaktionen von Studierenden, die
sich durch die Proteste g estö rt fühlen, nicht nur einfach, wie Brückner
dies für die 1 9 6 0 e r Jahren noch konstatierte, bloße neurotische Angst und
Neid auf diejenigen, die sich den Zwängen zu entziehen w issen. In ihnen
zeigt sich vielm ehr, wie oben schon angedeutet, auch eine m assive Real
angst z. B. vor einer V erlängerung der eigenen Studienzeit und den damit
einhergehenden Problem en auf dem A rbeitsm arkt, die im P rotest disku
tie rt w erden m üsste. Ich w eiß nicht, in welchem Maße dies in W ien ge
schah, w eiß aber aus m einer eigenen Erfahrung in Stu dieren denprote
sten, dass diese Ängste der studentischen ProtestgegnerInnen oder auch
den W ohlgesinnten, die aber trotzdem ihrem regulären Studium nachge
hen, kaum e rn st genom m en werden. W erden sie nicht them atisiert, äu
ßern sie sich schließlich doch w ieder ähnlich wie die neurotischen Äng
ste: in der Diffamierung der >faulen Studierendem , die auf Kosten der
SteuerzahlerInnen sich eine Auszeit nehm en - diese sozialen V orurteile
zeigten sich schlagartig in der öffentlichen Reaktion auf das >Obdachlo-
senproblem<, m it dem die Studierenden in ihrem offensiven gesellschafts
kritischen Umgang erstaunlich gut umzugehen w ussten -, in antiintellek
tuellen R essentim ents und im aggressiven Ruf nach Räumung der b esetz
ten Hörsäle und Bestrafung der P rotestierenden. Bei den berechtigten
Realängsten wäre deshalb anzusetzen, sie m üssten m. E. eines der Haupt
them en des P rotestes werden, weil sie die m om entanen U m strukturie
rungsprozesse als gesam tgesellschaftliche in den Blick bringen. Es kann
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nicht nur darum gehen, die U niversität einfach w ieder als Schonraum zu
installieren, sondern diese muss selb st als Teil des gesellschaftlichen
Ganzen gesehen werden, das es zu verändern gilt.
W ieso w eder die Unileitung noch die Regierung wirklich auf die B e
setzungen reagierten, sondern das Ganze sehr lange eher auszusitzen
schienen, m üsste e rö rtert werden. Deutet dies eher auf eine Schwäche
oder die Stärke der Protestbew egung? Zur Beantw ortung dieser Frage
wäre nicht nur eine Rekonstruktion der Geschichte der W iener Proteste
der letzten Jahrzehnte notwendig - vielleicht handelt es sich auch um eine
spezifisch w ienerische Taktik, an vielen deutschen Städten wurde viel
schneller und m assiver interveniert, and ererseits sind sich die politischen
RepräsentantInnen der Stabilität der V erhältnisse nach der >Wende< na
türlich auch sich erer als in den 1 9 6 0 e r Jahren und reagieren gelassener.
W ahrscheinlich wäre aber das Audimax schon viel früher geräum t w or
den, wenn sich nicht so viele Leute an der Besetzung beteiligt hätten.
A ndererseits w äre sicher nicht so passiv abgew artet w orden, wenn w irk
lich der Betrieb lahm gelegt w orden wäre. Auch als Kom m unikationsm e
dium - Brückner betont, dass m ilitante Aktionen wie Besetzungen eher
Kom m unikationsstrategie unter m onopolisierten Kom m unikationsver
hältnissen ist als w irkliches Kampfmittel (vgl. dazu Brückner & Krovoza,
1 9 7 2 , S. 34ff.] - m acht aber ein Studierendenstreik nur Sinn, wenn er
auch den Betrieb wirklich stört, d. h. wenn wirklich keine Sem inare mehr
stattfinden können und so irgendwie darauf reag iert w erden muss.
Zum Schluss sei noch ein mir w ichtiger Punkt erw ähnt: Es ist - wie
Brückner ja schon bem erkte - nur logisch, dass sich in einem P rotest auch
H errschaftsstrukturen reproduzieren, gerade wenn er sich v. a. auf einen
gesellschaftlichen Teilbereich, hier den Bildungssektor, konzentriert.
Diese Fokussierung bringt es m it sich, dass Them en, die im ersten Mo
m ent dazu quer liegen, entw eder gar nicht reflek tiert oder aber als un
wichtig abgetan werden. Diese Them en m üssen aber - wenn Kritik aus
den eigenen Reihen form uliert wird sow ieso - e rn st genom m en werden,
weil ansonsten nicht nur einfach etw as ausgeblendet, sondern Herr
schaftsstrukturen dadurch noch einm al zem entiert w erden, was zentrale
Em anzipations- und Reflexionsprozesse verhindert. Deshalb ist es unab-
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dingbar, z. B. die anfangs erw ähnte Kritik, dass in der Bewegung selbst
Sexism en zu vernehm en sind und gar sexuelle Übergriffe entw eder still
schweigend geduldet oder als Taten von A ußenstehenden abgetan w er
den, sehr ern st zu nehm en und zu reflektieren. Die vielen abw ehrenden, v.
a. m ännlichen (aber nicht nur] Reaktionen auf solche Kritik zeigt, wie sehr
sich die strukturell sexistischen V erhältnisse verinnerlicht haben und wie
b itter nötig Reflexionen darüber wären. W erden solche Reflexionen von
einer Masse system atisch abgeblockt, reproduziert sich in ihr die Gewalt
der V erhältnisse. Auch Brückner selb st reflek tiert übrigens herrsch afts
förmig stru kturierte G eschlechterverhältnisse kaum, eine Neuaneignung
seines Ansatzes m üsste diesbezüglich also kritisch geschehen.
Ebenso ist zu sehen, dass bei gew issen P rotestartikulationen auch na
tionalistische Standortlogiken, d. h. die Sorge um die ökonom ische Zu
kunft des Landes, stark gem acht w erden, die überaus problem atisch sind.
Dasselbe gilt überhaupt für Argumente, die den Ruf nach Hochschulre
form en m it ökonom ischem Nutzen begründen oder die den Diffam ierun
gen der >faulen Studierendem dadurch begegnen, dass die Nützlichkeit
von guten Anwälten und Ärzten b eto n t wird. Solche Argumente blenden
kapitalistische H errschaftsstrukturen nicht einfach aus, sondern verfesti
gen sie noch, weil sie die ökonom ischen Sachzwänge als nicht-hinter-
fragte w eiter als scheinbar naturhafte darstellen. Taktisch mag das zuw ei
len sinnvoll sein, als grundlegende Strategie ist das sicher falsch.
Diese strategischen Fragen hängen aber auch m it einem Problem zu
sam m en, das sich im m er w ieder in M assenbewegungen zeigt: Dem n a r
zisstischen W unsch, einem m öglichst großen Kollektiv anzugehören und
als Kollektiv von m öglichst vielen geliebt zu werden. Einen ähnlichen
narzisstischen W unsch gibt es auch bei den radikaleren Kräften, nämlich
den, dass man oder frau zu der kleinen Gruppe von Leuten gehört, die im
Gegensatz zur großen dummen und unreflektierten Masse, das richtige,
kritische Bew usstsein hat. Vor beiden W ünschen oder Phantasien müssen
sich die politisch Agierenden hüten, diese sind selb st als Effekt von einem
objektiven Problem zu reflektieren: Es ist tatsächlich so, dass die große
Masse nicht so viel Zeit und A rbeit in psychologische und politische R efle
xion stecken kann und will, weshalb M assenbewegungen im m er wieder
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► A n m erkun ge n
1 Dies ist die überarbeitete Fassung eines Vortrags, den der Autor im Rahmen der
studentischen Proteste am 18. November 2009 in der »Idee: direkte Aktion« vor
W iener Psychologie-Studierenden hielt.
► Lite ra tur
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furt am Main: Suhrkamp.
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Brückner, Peter (1 9 6 8 ]. Die Transform ation des demokratischen Bewusstseins. In
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als Bürger tätig zu sein«. Zum Disziplinarverfahren des Niedersächsischen Ministers
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