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Das Unglück in der Kultur.

Sigmund
Freuds Kränkung der Menschheit 2

2.1 Einleitung

Sigmund Freud (1856–1939) gilt in vielen Belangen als der Denker des 20.
Jahrhunderts und als einer der bahnbrechendsten Theoretiker in der Geschichte
­
der Geistes- und Sozialwissenschaften. Über den Begründer der Psychoanalyse
existieren Bibliotheken an Sekundärliteratur, die unterschiedliche Aspekte seines
­
Werkes – ganz im Sinne der psychoanalytischen Behandlungsmethode – erinnern,
­wiederholen, durcharbeiten, aber auch weiterentwickeln. Dass in diesem Zusammen-
hang Freud als ein Theoretiker der Vulnerabilität hervorgehoben wird, liegt vor dem
Hintergrund seines Denkgebäudes auf der Hand: Geht es in der Psychoanalyse doch
darum, das individuell und kulturell unterdrückte Triebschicksal aufzudecken, ihm
die Qualität der Krankheit zu nehmen und dadurch Leiden zu lindern oder wenigs-
tens „hysterisches Elend in gemeines Unglück zu verwandeln“ (SH, S. 312). Damit
überdauert in der Psychoanalyse ein altes Junktim, wonach Erkenntnis und Heilung
aufeinander bezogen sind. Freud verlieh dem Verdrängten eine eigene Sprache und
war radikaler Parteigänger einer sich selbst bewusst werdenden Vernunft. Durch
ihr grundsätzliches Anliegen einer Enträtselung unbewusster seelischer Vorgänge
und durch die Erfahrung, dass die Suche nach psychischen Konflikten häufig durch
starke Abwehrvorgänge begleitet wird, liegt mit der Psychoanalyse implizit eine
Theorie der Vulnerabilität der conditio humana vor.
Im Freudschen Œuvre durchläuft diese anthropologische Denkfigur ver-
schiedene Stufenfolgen, die sich von Einzeluntersuchungen ausgehend hin zu
kultur- und gesellschaftstheoretischen Einschätzungen fortentwickeln. Cum grano
salis entschlüsselt Freud die intrasubjektiven Dynamiken, die sich im Innenleben
des oder der Einzelnen zwischen den psychischen Instanzen von „Es“, „Ich“ und
„Über-Ich“ abspielen, als Niederschlag der intersubjektiven Beziehung in der

© Springer Fachmedien Wiesbaden GmbH, ein Teil von Springer Nature 2019 15
R. Stöhr et al., Schlüsselwerke der Vulnerabilitätsforschung,
https://doi.org/10.1007/978-3-658-20305-4_2
16 2 Das Unglück in der Kultur. Sigmund Freuds Kränkung der Menschheit

Familienstruktur, die wiederum als Keimzelle für eine je spezifisch historische


Gesellschafts- und Herrschaftsform fungiert.
Im Zentrum seiner Kulturtheorie steht die Annahme der gesellschaftlichen
Eindämmung der im Menschen wütenden aggressiven Triebregungen sowie deren
Auswirkungen auf das schuldbeladene Subjekt. Die daran anknüpfende Formel
aus dem Unbehagen in der Kultur, wonach der kulturelle Fortschritt mit Trieb-
verzicht, Glückseinbuße und einem wachsenden Schuldgefühl bezahlt wird, wird
im Folgenden zum Ausgang für die freudsche Theorie der Vulnerabilität gemacht.
Die heftige Ablehnung, die Freud und seine Theorie erfuhren und z. T. bis
heute erfahren, rührt nicht zuletzt aus dieser vom mittleren und späten Freud ent-
wickelten pessimistischen Kulturtheorie und dem Antisemitismus, dem sich die
Psychoanalyse als „jüdische Wissenschaft“ ausgesetzt sah. Die Ablehnung ver-
wunderte Freud kaum, stellte er doch sein eigenes Erbe in eine Reihe von drei
narzisstischen Kränkungen, die die Menschheit durch radikale Aufklärung
­bislang erlitten habe. Die kosmologische Kränkung durch Kopernikus und die
biologische durch Darwin verbannten den Menschen einmal aus dem Mittelpunkt
des Kosmos, ein anderes Mal setzten sie ihn in eine Reihe mit anderen Tierarten.
Die Psychoanalyse, so die nicht ganz unbescheidene Einschätzung, habe den
Menschen nun mit der schwersten aller Kränkungen konfrontiert, nämlich, dass
„das Ich nicht Herr sei in seinem eigenen Haus“ (SP, S. 11). Daher lenke diese
Wissenschaft auch wie kaum eine andere „die Abneigung und die Widerstände
auf sich“ (SP, S. 12). Vor dem Hintergrund des grassierenden Antisemitismus
setzte Freud die Psychoanalyse schließlich in einen, von eigener Vulnerabili-
tät gezeichneten, biografischen Kontext: „Es ist vielleicht auch kein bloßer
Zufall, daß der erste Vertreter der Psychoanalyse ein Jude war. Um sich zu ihr
zu bekennen, brauchte es ein ziemliches Maß von Bereitwilligkeit, das Schicksal
der Vereinsamung in der Opposition auf sich zu nehmen, ein Schicksal, das dem
Juden vertrauter ist als einem anderen“ (WP, S. 110).

2.2 Biografie, Werk und Epoche

Nicht allein die Psychoanalyse, sondern auch Freuds Leben war häufig Gegen-
stand wilder Spekulationen. Dabei gingen die Hypothesen gewissermaßen
Es-dominiert über verbotene Liebschaften bis hin zu einer Drogenabhängigkeit.
Umgekehrt wurde Freud auch als die moralistische Personifikation eines humor-
losen und rigiden Über-Ichs dargestellt. Derartige Mythen können auch dadurch
erklärt werden, dass sich insbesondere der frühe Freud zur Darlegung seiner
Thesen genötigt sah, große Anteile persönlichen Materials einfließen zu lassen.
2.2 Biografie, Werk und Epoche 17

Mittlerweile dürfen dagegen die recht unspektakulären Erkenntnisse der seriösen


Freudforschung als gesichert gelten, die sich an eine Auskunft Freuds anlehnen.
Danach sei sein Leben „äußerlich ruhig und inhaltslos verlaufen und mit wenigen
Daten zu erledigen“ (B, S. 408).
Sigismund Schlomo Freud wurde am 6. Mai 1856 in Freiberg in Mähren
(heute Příbor in Tschechien) als Sohn jüdischer Eltern geboren. Aus der Ehe
gingen noch sieben jüngere Geschwister hervor. Freud wuchs in Wien auf und
verbrachte dort 78 Jahre – praktisch sein gesamtes Leben. In der Kulturhaupt-
stadt Wien entstand zur Zeit des Fin de siècle neben der Psychoanalyse u. a.
die zweite Wiener Schule der atonalen Musik, die funktionale Architektur eines
Adolf Loos und der Jugendstil Gustav Klimts. Wien war die Wiege der nach-
bürgerlichen Literatur Hugo von Hofmannsthals, Arthur Schnitzlers oder Robert
Musils, es erhob mit der Philosophie Ludwig Wittgensteins und dem Positivis-
mus Karl Poppers den Anspruch, das metaphysische Denken zu überwinden, und
es hatte mit Karl Kraus einen der schärfsten Satiriker und Kritiker der bürger-
lichen Gesellschaft. Im Wien jener Zeit lebten mehr Juden als in jeder anderen
deutschsprachigen Stadt (etwa 8,6 % der Stadtbevölkerung), zugleich hatte Wien
mit Karl Lueger einen antisemitischen Bürgermeister, der sich durch eine explizit
antijüdische Gesetzgebung auszeichnete. Vor diesem kulturellen und familiären
Hintergrund sah sich Freud, der sich später als „gottlosen Juden“ bezeichnete,
schon zu Schul- und Studienzeiten mit antisemitischen Ressentiments konfron-
tiert. In seiner Selbstdarstellung heißt es: „Vor allem traf mich die Zumutung, daß
ich mich als minderwertig und nicht volkszugehörig fühlen sollte, weil ich Jude
war. Das erstere lehnte ich mit aller Entschiedenheit ab. Ich habe nie begriffen,
warum ich mich meiner Abkunft, oder wie man zu sagen begann: Rasse, schä-
men sollte. Auf die mir verweigerte Volksgemeinschaft verzichtete ich ohne viel
Bedauern“ (S, S. 34).
Nachdem Freud 1873 die Matura mit Auszeichnung absolvierte, begann er ein
Studium der Medizin an der Universität Wien, welches er 1881 mit der P ­ romotion
abschloss. Seine erste wissenschaftliche Arbeit war im Bereich der Zoologie am
physiologischen Institut von Ernst Wilhelm von Brücke angesiedelt. Sie wid-
mete sich der histologischen Forschung an Fischen und Flusskrebsen. Die erst
spät rezipierten Kokainexperimente Freuds fallen in seine Zeit als Assistenz-
arzt am Wiener allgemeinen Krankenhaus. Während eines S ­ tudienaufenthaltes
in Paris lernte Freud den wohl bekanntesten Neuropathologen seiner Zeit, Jean-­
Martin Charcot, kennen und begann sich auf die psychologischen Aspekte der
Nervenpathologie zu spezialisieren. Nachdem sich Freud 1885 habilitiert hatte,
kehrte er ein Jahr darauf nach Wien zurück und stieß dort mit seinen an C ­ harcot
angelehnten Vorträgen über männliche Hysterie bei der Gesellschaft der Ärzte auf
18 2 Das Unglück in der Kultur. Sigmund Freuds Kränkung der Menschheit

scharfe Ablehnung. Nach entbehrungsreichen Verlobungsjahren erfolgte die Ehe-


schließung mit Martha Bernays. Im selben Jahr eröffnete Freud eine Privatpraxis
und begann mit der an Bernheim orientierten hypnotischen Suggestionsmethode,
die er bis Ende der 1890er Jahre zur Psychoanalyse weiterentwickelte. In diese
Zeitspanne fallen die durch Briefwechsel gut dokumentierten Freundschaften
mit Joseph Breuer und Wilhelm Fließ und die 1895 zusammen mit Breuer ver-
öffentlichten Studien über Hysterie. Im Jahr 1900 erschien schließlich mit der
Traumdeutung sein bis heute berühmtestes und meist zitiertes Buch. In dieses
Werk floss Freuds Selbstanalyse als Reaktion auf den Tod seines Vaters im Jahr
1897 mit ein. Durch die Traumdeutung gelang Freud der öffentliche Durchbruch.
Mit dem Verweis auf die ödipale Konfliktsituation durch den Tod des Vaters und
der Annahme des Traums als Königsweg zum Unbewussten wurde darin der
orthodoxe Kern der Psychoanalyse gelegt. Auch in den darauffolgenden Schrif-
ten Zur Psychopathologie des Alltagslebens (1901) und in dem vier Jahre spä-
ter erschienenen Buch Der Witz und seine Beziehung zum Unbewussten wurden
irrationale und scheinbar sinnlose Fehlleistungen als normale Reaktion auf Kon-
flikte zwischen Wunsch und Wirklichkeit erkannt. Mit der Veröffentlichung der
Drei Abhandlungen zur Sexualtheorie im Jahr 1905 war die Konsolidierungs-
phase der Psychoanalyse abgeschlossen. Institutionell gründete Freud 1902
zusammen mit den Ärzten Alfred Adler, Wilhelm Stekel, Max Kahane und
Rudolf Reiter die Psychologische Mittwochsgesellschaft, die sich allwöchent-
lich in Freuds Privatwohnung in der Berggasse 19 traf. Im Jahr 1910 kam es auf
Freuds und Sándor Ferenczis Betreiben hin in Nürnberg zur Gründung der Inter-
nationalen Psychoanalytischen Vereinigung. Ihr erster Vorsitzender wurde C.G.
Jung, mit dem Freud von 1907 bis zum Bruch 1913 eine enge Freundschaft ver-
band. In die Zeit vor und nach dem ersten Weltkrieg fielen zahlreiche Veröffent-
lichungen Freuds, die oftmals indirekt die historische Situation betrafen. Einige
zentrale Werke seien an dieser Stelle genannt: Totem und Tabu (1913); Zeitgemä-
ßes über Krieg und Tod (1915); Vorlesung zur Einführung in die Psychoanalyse
(1917); Jenseits des Lustprinzips (1920); Massenpsychologie und Ich-Analyse
(1921); Das Ich und das Es (1923) sowie Die Frage der Laienanalyse (1926).
Die mittlere und späte Phase von Freuds Leben waren einerseits durch eine große
Popularität und Anerkennung gekennzeichnet – 1930 erhielt er den Goethepreis
der Stadt Frankfurt am Main –, andererseits erlitt Freud schwere Schicksals-
schläge: Im Jahre 1920 starb seine geliebte Tochter Sophie an der Spanischen
Grippe und im Jahre 1923 wurde bei ihm Gaumenkrebs diagnostiziert – bis zu
seinem Tod musste sich Freud mehr als dreißig Operationen unterziehen. In diese
späte Phase seines Lebens fallen auch die pessimistischen Schriften zur Kultur-
theorie, zu denen, neben dem prominenten Briefwechsel mit Albert Einstein
2.3 Junktim: Leiden und Heilen 19

über die Frage Warum Krieg (1932), die religionskritische Abhandlung über Die
Zukunft einer Illusion (1927) und das kulturtheoretische Hauptwerk über Das
Unbehagen in der Kultur (1930) zählen. Im Mai 1933 begannen die National-
sozialisten mit der Verbrennung der Bücher von Freud und anderen jüdischen und
linken Autor*Innen. Freud verhielt sich dabei nicht immer eindeutig, etwa als er
1934 den Ausschluss des Kommunisten Wilhelm Reich aus der Internationalen
Psychoanalytischen Vereinigung vorantrieb. Nach dem sogenannten „Anschluss“
Österreichs an das Deutsche Reich 1938 und mehreren Hausdurchsuchungen
durch die SA emigrierten Freud und seine Familie, auf Interventionen Roosevelts
und Mussolinis hin, schließlich über Paris nach London. Hier vollendete er sein
letztes Werk, Der Mann Moses und die monotheistische Religion, sein Abriß der
Psychoanalyse blieb dagegen ein Fragment. Im Frühjahr 1939 verschlechterte
sich Freuds Gesundheitszustand derart, dass er seinen Vertrauensarzt Wilhelm
Schur um das Einlösen eines alten Versprechens bat, dass „wenn es mal so weit
ist, […] Sie mich nicht unnötig quälen lassen“ (Schur 1973, S. 483). Sigmund
Freud starb am 23. September 1939, nachdem ihm von Schurr mehrere Dosen
Morphin injiziert worden waren (vgl. Strachey 1969; Schur 1973; Gay 1989;
Lohmann und Rosenkötter 1994; Schorske 1994; Brumlik 2006; Lohmann 2006;
Gödde 2010).

2.3 Junktim: Leiden und Heilen

In den Worten Freuds ist die Psychoanalyse „der Name 1) eines Verfahrens zur
Untersuchung seelischer Vorgänge, welche sonst kaum zugänglich sind; 2) einer
Behandlungsmethode neurotischer Störungen, die sich auf diese Untersuchung
gründet; 3) einer Reihe von psychologischen, auf solchem Wege gewonnenen Ein-
sichten, die allmählich zu einer neuen wissenschaftlichen Disziplin zusammen-
wachsen“ (PuL, S. 211).
Nachdem sich die Rezeptionsgeschichte lange Zeit auf die therapeutischen
und klinischen Aspekte der Psychoanalyse fokussiert hatte, gilt Freud inzwischen
als bedeutsamer Kultur- und Gesellschaftstheoretiker. Hierbei konzentrierte man
sich nun verstärkt auf die späten Schriften. Auch die vorliegende Rezeption, die
Freud als einen Denker der Vulnerabilität begreift, möchte die kulturtheoretischen
Aspekte ins Zentrum ihrer Analyse setzen. Freud ordnet hier die Beziehung zwi-
schen Individuum und kultureller Organisation ebenso neu, wie er die Ontogenese
über phylogenetische Niederschläge zu entziffern sucht. Mit ihrem Fokus auf
somatisches Leiden ohne organischen Befund geht es der Psychoanalyse um die
Aufdeckung der Innenseite äußeren Leidens. Dabei werden von Freud s­ pezifische
20 2 Das Unglück in der Kultur. Sigmund Freuds Kränkung der Menschheit

Leiden, die in der zeitgenössischen Medizin als Simulation oder Einbildung


abgetan wurden – etwa Hysterie –, als psychosoziale Leiden dechiffriert. Freuds
Aufklärung der Hysterie mündet nach Dahmer (1982) „in den Entwurf einer
Sozialisations- und ‚Kultur‘-Theorie. Die Neurotiker sind die Opfer eines kultu-
rellen Versagungsprozesses, den zu ertragen die Vorbedingung für ‚­Normalität‘
ist, Neurosen sind die Wundmale misslungener Sozialisation“ (ebd., S. 64). Mit
anderen Worten zeichnet Freud die Kulturgeschichte gleichsam vom individuellen
Seelenende her nach. Dabei ist ein Spezifikum der Psychoanalyse, die Ursachen
des Leidens auf Kindheitserlebnisse und libidinöse Konflikte zurückzuführen:
„Die psychoanalytische Forschung führt mit wirklich überraschender Regelmä-
ßigkeit die Leidenssymptome der Kranken auf Eindrücke aus ihrem Liebesleben
zurück, zeigt uns, daß die pathogenen Wunschregungen von der Natur erotischer
Triebkomponenten sind, und nötigt uns anzunehmen, daß Störungen der Erotik die
größte Bedeutung unter den zur Erkrankung führenden Einflüssen zugesprochen
werden muß, und dies zwar bei beiden Geschlechtern“ (ÜPA, S. 41). An dieser
Grundannahme der Psychoanalyse hat Freud durch alle Schaffensperioden hin-
durch festgehalten. In seinem Spätwerk werden die „Störungen der Erotik“ indes
durchgängig den Kulturanforderungen zugeordnet. Leiden erscheint damit ubiqui-
tär; der Mensch ist durch seine Triebnatur ein vulnerables Wesen: „Die Neurose
erschien als der Ausgang eines Kampfes zwischen dem Interesse der Selbst-
bewahrung und den Anforderungen der Libido, ein Kampf, in dem das Ich gesiegt
hatte, aber um den Preis schwerer Leiden und Verzichte“ (U, S. 477).
Der Gegenstand der Psychoanalyse, so ließe sich resümieren, ist das Verhält-
nis von Individuum und Gesellschaft, ihr Ziel ist die Emanzipation von äußeren
Zwängen wie von überschüssigen Triebansprüchen.
Therapeutisch gilt es, verdrängte oder unter Deckerinnerungen begrabene
Schlüsselszenen durch freie Assoziation wieder erfahrbar und bearbeitbar zu
machen. Dabei tritt Heilung nicht durch eine hierarchische Vermittlung der Ein-
sichten durch den Analytiker ein, vielmehr ist das Verhältnis von Analytiker*In
und Patient*n ein durch Reflexion und Selbstreflexion durchdrungener Dialog,
der, qua sokratischer Hebammenkunst, mithin ein deutender Bildungsprozess ist
(vgl. Stapelfeldt 2004, S. 352ff.). Freud spricht in diesem Zusammenhang auch
kathartisch von einer talking cure. Das Wort, bemerkt Freud, „ist doch ein mäch-
tiges Instrument, es ist das Mittel, durch das wir einander unsere Gefühle kund-
geben, der Weg, auf den anderen Einfluß zu nehmen. Worte können unsagbar
wohltun und fürchterliche Verletzungen zufügen“ (FL, S. 214).
2.3 Junktim: Leiden und Heilen 21

So ist die Psychoanalyse kein Allheilmittel und die Kur kann ihrerseits Leiden
neu aufleben lassen: „Eine bequeme Panacée für psychische Leiden (cito, tuto,
jucunde) ist auch die Psychoanalyse nicht; ihre Anwendung hat im Gegenteile
erst Aufklärung über die Schwierigkeit und die Grenzen der Therapie bei solchen
Affektionen gebracht“ (PA, S. 301).
Die therapeutische Arbeit an den Abwehrmechanismen und Widerständen
des zensierenden Ichs zeugt nicht zuletzt von den erlittenen Verletzungen und
der vorhandenen Verletzbarkeit der Patient*Innen. Die unter therapeutischen
Bedingungen stattfindende Reproduktion traumatischer (Kindheits-)Szenen wird in
der psychoanalytischen Behandlung zur Voraussetzung der Heilung gemacht. Erst
durch die Übertragung – in einem Aufsatz spricht Freud auch von „Übertragungs-
liebe“ (Ü, S. 305ff.) – können die infantilen Vorbilder aktualisiert werden. Vor die-
sem Hintergrund muss das Bedürfnis nach Heilung ein endogenes, kein exogenes
sein: Die Psychoanalyse ist daher „auch bei Personen nicht anwendbar, die sich
nicht selbst durch ihre Leiden zur Therapie gedrängt fühlen, sondern sich einer sol-
chen nur infolge des Machtgebotes ihrer Angehörigen unterziehen“ (ÜPT, S. 21).
Anfangs führte Freud die meisten Formen des Leidens auf eine „psychische
Impotenz“ zurück (vgl. EL, S. 78). In seinen späten Schriften sieht er dagegen
den ewigen Kulturkampf zwischen Eros und Thanatos am Werk. Dement-
sprechend wandelt sich auch seine Auffassung von den Erfolgsaussichten der
psychoanalytischen Behandlung. In seinen fünf Vorlesungen Über Psychoanalyse
heißt es optimistisch: „Halten Sie nun zusammen, was wir an Mitteln zur Auf-
deckung des Verborgenen, Vergessenen, Verdrängten im Seelenleben besitzen,
das Studium der hervorgerufenen Einfälle der Patienten bei freier Assoziation,
ihrer Träume und ihrer Fehl- und Symptomhandlungen; fügen Sie noch hinzu
die Verwertung anderer Phänomene, die sich während der psychoanalytischen
Behandlung ergeben, über die ich später unter dem Schlagwort der ‚Übertragung‘
einige Bemerkungen machen werde, so werden Sie mit mir zu dem Schlusse
kommen, daß unsere Technik bereits wirksam genug ist, um ihre Aufgabe lösen
zu können, um das pathogene psychische Material dem Bewußtsein zuzuführen
und so die durch die Bildung von Ersatzsymptomen hervorgerufenen Leiden zu
beseitigen“ (ÜPA, S. 38f.).
In dem posthum erschienen Abriß der Psychoanalyse ist sich Freud dagegen
über die therapeutischen Heilungschancen beim Individuum nicht mehr gewiss.
Am Vorabend des Zweiten Weltkrieges stellt er selbstkritisch fest: „[V]orläufig
steht uns nichts besseres zu Gebote als die psychoanalytische Technik und darum
sollte man sie trotz ihrer Beschränkungen nicht verachten“ (AP, S. 108).
22 2 Das Unglück in der Kultur. Sigmund Freuds Kränkung der Menschheit

2.4 Leidensformen: Natur, Körper, Beziehungen

In seiner einflussreichen Spätschrift Das Unbehagen in der Kultur (1930)


untersucht Freud die dynamischen und affektiven Bedingungen der Kulturent-
wicklung. Entgegen mancher Rezeptionen ist Freud jedoch kein konservativer
Kulturkritiker – Freud besaß keinen kritischen oder soziologischen Begriff von
Gesellschaft und sprach in seinen späten Schriften meist von Kultur –, vielmehr
bettet er den Kulturprozess dialektisch in eine implizite Theorie der Vulnerabilität
bzw. des Leidens ein. Denn, wie es in dem Briefwechsel mit Einstein heißt, dem
Kulturprozess „verdanken wir das Beste, was wir geworden sind, und ein gut Teil
von dem, woran wir leiden“ (WK, S. 25f.). Ohne die komplexe Stufenfolge der
Argumentation aus dem Unbehagen in Gänze nachvollziehen zu können, bildet
den Kern die Annahme, dass die Kulturentwicklung mit einem Anwachsen des
Schuldgefühls verbunden ist. Der kulturell vom Ich geforderte Triebverzicht wird
mit einer wachsenden Intoleranz und Rigidität des Gewissens bzw. Über-Ichs
bezahlt (vgl. dazu Bayer und Krone-Bayer 2006; Gamm 2001): „Das Gewissen
ist die Folge des Triebverzichts; oder: Der (uns von außen auferlegte) Triebver-
zicht schafft das Gewissen, das dann weiteren Triebverzicht fordert“ (U, S. 488).
Anthropologisch unterfüttert Freud diese Dialektik der Kultur (Marcuse) mit der
Annahme, dass der Mensch gerade kein „sanftes, liebebedürftiges Wesen ist, das
sich höchstens, wenn angegriffen, auch zu verteidigen vermag, sondern dass er
zu seinen Triebbegabungen auch einen mächtigen Anteil von Aggressionsneigung
rechnen darf. Infolgedessen ist ihm der Nächste nicht nur möglicher Helfer
und Sexualobjekt, sondern auch eine Versuchung, seine Aggression an ihm zu
befriedigen, seine Arbeitskraft ohne Entschädigung auszunützen, ihn ohne seine
Einwilligung sexuell zu gebrauchen, sich in den Besitz seiner Habe zu setzen,
ihn zu demütigen, ihm Schmerzen zu bereiten, zu martern und zu töten. Homo
homini lupus; wer hat nach allen Erfahrungen des Lebens und der Geschichte den
Mut, diesen Satz zu bestreiten?“ (U, S. 470f.).
Die menschengemachte Kultur verstrickt sich in einen immer weiter ins
Innere vordringenden circulus vitiosus. In anderen Worten verursacht die Kultur
als Quelle des Leidens und eines wachsenden Unbehagens die Steigerung der
Vulnerabilität des Menschen. Vor diesem Hintergrund wird verständlich, warum
Freud seiner Schrift ursprünglich den Titel „Das Unglück in der Kultur“ geben
wollte. Dabei geht Freud von einem sehr weiten Kulturbegriff aus. Der Begriff
Kultur bezeichnet danach „die ganze Summe der Leistungen und Einrichtungen
[…] in denen sich unser Leben von dem unserer tierischen Ahnen entfernt und
die zwei Zwecken dienen: dem Schutz des Menschen gegen die Natur und der
2.4 Leidensformen: Natur, Körper, Beziehungen 23

Regelung der Beziehungen der Menschen untereinander“ (U, S. 448f.). Mit Kul-
tur reagiert der Mensch also auf Formen des Leidens und der Versagungen, die
die äußere und seine innere Natur mit sich bringen. Und mit Kultur vereinigen
sich vereinzelte Menschen zu einer libidinösen Gemeinschaft. Um das Leiden
zu erklären, stellt Freud zunächst die Frage nach den zwei Seiten des Glücks, zu
welchem alle Menschen streben. Einerseits bedeutet es ihnen die Abwesenheit
von Unlust und Schmerz, andererseits hat es im „Erleben starker Lustgefühle“
(U, S. 434) auch eine lustbesetzte Ebene. Indes kommt Freud zu dem negativen
Schluss: „[M]an möchte sagen, die Absicht, daß der Mensch ‚glücklich‘ sei, ist
im Plan der ‚Schöpfung‘ nicht enthalten“ (U, S. 434). „Wie Triebbefriedigung
Glück ist, so wird es Ursache schweren Leidens, wenn die Außenwelt uns dar-
ben läßt, die Sättigung unserer Bedürfnisse verweigert“ (U, S. 437). Das im
Dienste des Lustprinzips fungierende Realitätsprinzip stößt auf drei unwiderruf-
liche Grenzen und Quellen des Leids: „Von drei Seiten droht das Leiden, vom
eigenen Körper her, der, zu Verfall und Auflösung bestimmt, sogar Schmerz und
Angst als Warnungssignale nicht entbehren kann, von der Außenwelt, die mit
übermächtigen, unerbittlichen, zerstörenden Kräften gegen uns wüten kann, und
endlich aus den Beziehungen zu anderen Menschen“ (U, S. 434).
Zwar hat sich der Kulturmensch durch Wissenschaft und Technik inzwischen
zu einer Art „Prothesengott“ (U, S. 451) erhoben, doch gehe der Lustgewinn eben
nicht in der Nutzenmaximierung auf, umgekehrt erzeugt der Fortschritt erst neues
Leid: „Und was soll uns endlich ein langes Leben, wenn es beschwerlich, arm
an Freuden und so leidvoll ist, daß wir den Tod nur als Erlöser bewillkommnen
können?“ (U, S. 447). Gleichwohl verharrt Freud nicht in seiner pessimistischen
Fragerhetorik. Bezogen auf die drei ausgemachten Leidensquellen urteilt er hin-
sichtlich der „Übermacht der Natur“ und mit Blick auf „die Hinfälligkeit unse-
res eigenen Körpers“: „Wir werden die Natur nie vollkommen beherrschen, unser
Organismus, selbst ein Stück dieser Natur, wird immer ein vergängliches, in
Anpassung und Leistung beschränktes Gebilde bleiben“ (U, S. 444). Umgekehrt
hat die „mehrtausendjährige Erfahrung“ aber gezeigt, dass „wir nicht alles Lei-
den aufheben, so doch manches, und anderes lindern“ können. „Anders verhalten
wir uns zur dritten, zur sozialen Leidensquelle. Diese wollen wir überhaupt nicht
gelten lassen, können nicht einsehen, warum die von uns selbst geschaffenen
Einrichtungen nicht vielmehr Schutz und Wohltat für uns alle sein sollten. Aller-
dings, wenn wir bedenken, wie schlecht uns gerade dieses Stück der Leidver-
hütung gelungen ist, erwacht der Verdacht, es könnte auch hier ein Stück der
unbesiegbaren Natur dahinterstecken, diesmal unserer eigenen psychischen
Beschaffenheit“ (U, S. 444f.).
24 2 Das Unglück in der Kultur. Sigmund Freuds Kränkung der Menschheit

Damit hat Freud den Gegenstand der Psychoanalyse kulturell umrissen. Es geht
ihm um die inneren Leidenserfahrungen, die kulturgeschichtlich als Pseudonatur
auftreten und sich in der Sozialisation an dem bzw. der Einzelnen wiederholen.

2.5 Leidensmythos und Entwicklungspsychologie

De Ontogenese des bzw. der Einzelnen wird von Freud phylogenetisch durch
eine „kühne Ursprungserzählung über den Gründungsakt der Kultur“ (Gamm
2001, S. 126) ergänzt. Demnach basiert nicht nur die individuelle Entwicklung,
sondern die gesamte Kultur auf unbegriffenem Leid. In seiner Schrift Totem
und Tabu (1913) führt Freud das erste Mal seine berühmte These vom Mord
der gefühlsambivalenten Brüderhorde am geliebten und gehassten Urvater als
Ursprung von Triebverzicht und Kultur aus. Die Reue über die Tat begründete
danach das Gesetz (Tötungsverbot) und das Gewissen, welches später im Über-
Ich aufgehen wird. Auch im Unbehagen behält Freud diese Hypothese bei: „Da
die Kultur einem inneren erotischen Antrieb gehorcht, der sie die Menschen zu
einer innig verbundenen Masse vereinigen heißt, kann sie dies Ziel nur auf dem
Wege einer immer wachsenden Verstärkung des Schuldgefühls erreichen. Was
am Vater begonnen wurde, vollendet sich an der Masse“ (U, S. 492f.). Damit ist
der sogenannte Ödipuskomplex ausgeführt, wonach sich die ersten unbewussten
Triebregungen und sexuellen Wünsche des Kindes zunächst auf den anders-
geschlechtlichen Elternteil beziehen und parallel dazu der Elternteil gleichen
Geschlechts als Rivale oder sogar Hassobjekt wahrgenommen wird. Überwunden
wird dieser schuldbeladene Konflikt durch Identifikation mit dem einstigen Kon-
kurrenten und der Verinnerlichung der sozialen Norm des Inzestverbots, durch die
sich erst das Über-Ich als Gewissensinstanz errichtet.
Der Clou an Freuds mythologischen Spekulationen besteht in der nachträg-
lichen Identifikation prähistorischer Völker mit Kindern und Neurotikern – so
liegt eine Gemeinsamkeit zwischen Tabus und Neurosen in Nähe von gesetzten
Verboten und der Lust, diese zu überschreiten. Das Schuldgefühl der Mensch-
heit entstammt ebenso dem Ödipuskomplex, wie dieser von jedem bzw. jeder
Einzelnen in der individuellen Entwicklung abermals nachvollzogen wird. Einmal
wurden die Aggressionen prähistorisch ausgelebt, nun werden diese unterdrückt:
„Man kann auch sagen, wenn das Kind auf die ersten großen Triebversagungen
mit überstarker Aggression und entsprechender Strenge des Über-Ichs reagiert,
folgt es dabei einem phylogenetischen Vorbild […]“ (U, S. 490).
2.5 Leidensmythos und Entwicklungspsychologie 25

Freuds Eingedenken in die Triebnatur des Subjekts neigt indes dazu, die Trieb-
schicksale als überhistorische Invarianten zu mystifizieren. Sein ontogenetisches
Sensorium schärfte er dagegen empirisch anhand der pädagogischen Überlegungen
zur zeitgenössischen Erziehungspraxis. Anders als bei seinen paläontologischen
Annahmen gelangte Freud über die Beobachtung repressiver Erziehungsformen
seiner Zeit zu den infantilen Ursprüngen neurotischer Dispositionen – das
bekannteste Beispiel dürfte Freud Erzählung vom kleinen Hans sein. In den Drei
Abhandlungen zur Sexualtheorie (1905) legt Freud sein Verständnis der infantilen
Sexualität vor: Grundsätzlich, so die Ausgangsbasis, vollzieht sich die psycho-
sexuelle Entwicklung des Menschen über Phasen und Konflikte und beginnt
bereits kurz nach der Geburt. Dabei geht diese Entwicklung jeweils entlang vor-
herrschender, erogener Zonen vonstatten, wie der Mundschleimhaut, dem Darm
bzw. After und schließlich den Genitalien. Analog dazu durchläuft das Kind ver-
schiedene Phasen, nämlich eine orale, eine anale und eine ödipale. Unterbrochen
wird diese Entwicklung durch eine Latenzphase, um in der Pubertät wiederauf-
genommen und gerichtet zu werden. Notwendigerweise nimmt das Kind dabei
keine gottähnliche Erlöserrolle mehr ein, wie dies zu Beginn des 20. Jahrhunderts
von der Reformpädagogik häufig propagiert wurde, sondern wird unter einem
weitgefassten und noch ungerichteten Sexualitätsbegriff der polymorphen Perver-
sion gefasst. Freud dramatisiert diese Entwicklung sprichwörtlich, wenn er den
Prozess als schuldhaft und konfliktuös aufzeigt. Schließlich wird im Unbehagen
dargestellt, inwiefern „die Beziehungen der Menschen zueinander in Familie, Staat
und Gesellschaft“ (U, S. 444) die stärkste vulnerable Leidensquelle markieren.
Den Motor der Gewissensbildung und der Unterdrückung der Aggressionsneigung
bildet wiederum die infantile Urangst vor Liebesverlust und Abhängigkeit von
menschlicher Zuwendung: „Niemals sind wir ungeschützter gegen das Leiden, als
wenn wir lieben, niemals hilfloser unglücklich, als wenn wir das geliebte Objekt
oder seine Liebe verloren haben“ (U, S. 441). Die daraus resultierenden Konflikte
sind anfangs noch mit den Ansprüchen und Normen der Gesellschaft konfrontiert,
geraten jedoch durch die Introjektion des Über-Ichs schnell zu Konflikten mit sich
selbst. Vor diesem Hintergrund wird ersichtlich, warum Freud das Subjekt als tra-
gisch bezeichnete. Denn letztlich erscheint die Allgegenwart des Schuldgefühls
unvermeidlich. Ob nun eine Tat real begangen wurde oder nur in der Fantasie,
jeweils ist das Über-Ich als individueller Ableger gesellschaftlicher Kontroll-
instanzen ein stets präsenter Kontrolleur und Zensor, dem nicht einmal die verbo-
tensten Wünsche und Phantasien entgehen.
26 2 Das Unglück in der Kultur. Sigmund Freuds Kränkung der Menschheit

2.6 Erscheinungsformen

2.6.1 Sublimierung und Ästhetik

Die Integration und Transformation gesellschaftlicher Realität in innerpsychische


Dynamiken bildet einen Grundpfeiler des psychoanalytischen Erkenntnisinteresses.
Der Vorgang, mit dem die Versagungen der Kultur die Triebe in neue, höhere,
nicht sexuelle Ziele ablenken, bezeichnet Freud als Sublimierung. Die Sublimie-
rung bildet gewissermaßen ein „von der Kultur erzwungenes Triebschicksal“ (U,
S. 457), denn die geforderte Triebunterdrückung zwingt zur Notwendigkeit der
Triebumwandlung. Dabei stellt die Triebsublimierung eine Form ästhetischer Ver-
söhnung der Triebnatur des Menschen mit der Kulturarbeit dar und bildet mithin
eine Prophylaxe gegen die menschliche Vulnerabilität: „Am meisten erreicht man,
wenn man den Lustgewinn aus den Quellen psychischer und intellektueller Arbeit
genügend zu erhöhen versteht. Das Schicksal kann einem dann wenig anhaben. Die
Befriedigung solcher Art, wie die Freude des Künstlers am Schaffen, an der Ver-
körperung seiner Fantasiegebilde, die des Forschers an der Lösung von Problemen
und am Erkennen der Wahrheit, haben eine besondere Qualität“ (U, S. 438).
Die Verwandlung von Trieben in kulturelle und v. a. ästhetische Vorlust bildet
den Kern der freudschen Schriften zu Kunst und Literatur. Hierin leistet Freud
auch einen ästhetischen Beitrag zu einer Theorie der Vulnerabilität. Ist doch die
künstlerische Leistung selbst wiederum Produkt einer Leidabwehr. Dabei bie-
tet die „ästhetische Einstellung zum Lebensziel […] wenig Schutz gegen dro-
hende Leiden, vermag aber für vieles zu entschädigen“ (U, S. 441). Freuds
Untersuchungen zu ästhetischen Phänomen unter dem Primat der Sublimierung
erstrecken sich von psychoanalytischen Charakterologien zu Personen und Moti-
ven aus der Kultur- und Kunstgeschichte (etwa zu Erzählungen und Werken Leo-
nardos, Goethes, E.T.A. Hoffmanns oder Dostojewskis) bis hin zu allgemeinen
Überlegungen zur Funktion der Fantasie des Dichters oder den psychischen
Aspekten des Witzes und des Humors. In seiner Abhandlung Kindheitserinnerung
des Leonardo da Vinci (1910) hebt er auf den grundsätzlichen Zusammenhang der
künstlerischen Begabung und der Sublimierungsfähigkeit ab. Das „Wesen“ die-
ser Leistung sei indessen psychoanalytisch unzugänglich. Dieses müsste vielmehr
„auf die organischen Grundlagen des Charakters“ zurückgeführt werden, „über
welche erst sich das seelische Gebäude erhebt“ (LdV, S. 209). In dem Essay über
den Humor (1927) wird dagegen auf die zugrunde liegende Struktur rekurriert,
die das vorgängige Leiden zum Anlass des Lustgewinns macht. Dabei markiert
der Humor den stärksten Vorgang der Leidabwehr überhaupt, denn er entzieht
2.6 Erscheinungsformen 27

sich nicht den Vorstellungsinhalten, wie die Verdrängung, sondern nimmt diese
erst zum Anlass der Umwandlung: „Mit seiner Abwehr der Leidensmöglichkeit
nimmt er einen Platz ein in der großen Reihe jener Methoden, die das mensch-
liche Seelenleben ausgebildet hat, um sich dem Zwang des Leidens zu ent-
ziehen, einer Reihe, die mit der Neurose anhebt, im Wahnsinn gipfelt, und in die
der Rausch, die Selbstversenkung, die Ekstase einbezogen sind“ (H, S. 385f.).
Der Humorist verschiebt seinen psychischen Akzent vom Ich aufs Über-Ich, das
dadurch weniger strafende als tröstende Züge erhält. Durch diese Besetzungs-
verschiebung wird das Ich nicht weiter verletzt; es macht sich in gewisser Weise
resilient gegen die Schädigungen der Realität. Ein Vorgang, der dem sekundären
Narzissmus entspringt: „Das Großartige liegt offenbar im Triumph des Narziss-
mus, in der siegreich behaupteten Unverletzlichkeit des Ichs. Das Ich verweigert
es, sich durch die Veranlassungen aus der Realität kränken, zum Leiden nötigen
zu lassen, es beharrt dabei, daß ihm die Traumen der Außenwelt nicht nahe gehen
können, ja es zeigt, daß sie ihm nur Anlässe zu Lustgewinn sind“ (H, S. 385).

2.6.2 Illusion und Erziehung

Insbesondere das Motiv der Religion wurde von Freud immer wieder einer radi-
kalen Kritik unterzogen. Als eine kulturelle Erscheinungsform wird diese dem
psychischen Bereich der „wahnhaften Umbildung der Wirklichkeit“ (U, S. 440)
zugeordnet. Von der elementaren Ohnmacht und Hilflosigkeit des Menschen
ausgehend, unternimmt die Religion den Versuch von „Glücksversicherung und
Leidensschutz“ (ebd.). Seiner Dialektik des Unbehagens folgend, stellt Freud
fest: „Die Religionen wenigstens haben die Rolle des Schuldgefühls in der Kul-
tur nie verkannt“ (U, S. 495). Dabei argumentiert er, wie so oft, mit Hilfe von
Analogieschlüssen (vgl. Haas 2002). An die Stelle des Urvaters tritt die Figur
des Gottvaters: „Aber die Hilflosigkeit der Menschen bleibt und damit ihre
Vatersehnsucht und die Götter. Die Götter behalten ihre dreifache Aufgabe, die
Schrecken der Natur zu bannen, mit der Grausamkeit des Schicksals, besonders
wie es sich im Tode zeigt, zu versöhnen und für die Leiden und Entbehrungen
zu entschädigen, die dem Menschen durch das kulturelle Zusammenleben auf-
erlegt werden“ (ZeI, S. 339). In seiner Schrift Die Zukunft einer Illusion von 1927
vergleicht Freud die Religion mit der Vatersehnsucht einer Kindheitsneurose.
Religionen bilden einen kollektiven Abwehrmechanismus der menschlichen Ver-
letzbarkeit. Im Gegensatz zur vernunftbasierten Wissenschaft bleibt die Religion
aber ein illusorisches Gebilde. Der Massenwahn der religiösen Tröstung erspart
einem die individuelle Neurose – umgekehrt bezeichnet Freud bereits 1907 in
28 2 Das Unglück in der Kultur. Sigmund Freuds Kränkung der Menschheit

s­einem Aufsatz „Zwangshandlungen und Religionsausübungen“ die Zwangs-


neurose als „Privatreligion“ (ZuR, S. 132). Neben ihrer Funktion, Antworten
auf menschliche Schicksalsfragen zu liefern und Vorschriften bzw. Verbote zu
erlassen, speist sie ihre Macht vor allem aus dem Versprechen, Leid zu lindern.
„Wenn sie [die Religion, D. B.] die Angst der Menschen vor den Gefahren und
Wechselfällen des Lebens beschwichtigt, sie des guten Ausganges versichert,
ihnen Trost im Unglück spendet, kann die Wissenschaft es nicht mit ihr auf-
nehmen“ (NF, S. 174). Jedoch bleibt der Religionskritiker Freud bezüglich der
Heilungschancen qua Erziehung und fortschreitender Rationalität optimistisch,
denn die erwachsenwerdende Kultur besitzt das Potenzial, ihre infantilen Reste
und „neurotische[n] Relikte“ (ZeI, S. 368) abzulegen und in nicht allzu ferner
Zukunft dem „Primat des Intellekts“ (ebd., S. 377) zu folgen. Freud sieht sich in
seiner Illusionsschrift förmlich als einen „verständigen Erzieher“ (ebd., S. 367),
der den „Versuch einer irreligiösen Erziehung“ (ebd., S. 372) entwirft und sich
gegen die religiösen Denkverbote der zeitgenössischen Pädagogik stellt. Den
Regressionen der Erwachsenen setzt er die Hoffnung einer sexuell und religiös
aufgeklärten zukünftigen Generation entgegen: „Denken Sie an den betrübenden
Kontrast zwischen der strahlenden Intelligenz eines gesunden Kindes und der
Denkschwäche des durchschnittlichen Erwachsenen“ (ebd., S. 370). Wie noch
auszuführen sein wird, bedeutet die Etablierung eines Realitätsprinzips im
Einzelnen auch eine realitätsgerechte Erziehung: „Man darf das ‚die Erziehung
zur Realität‘ heißen, brauche ich Ihnen noch zu verraten, daß es die einzige
Absicht meiner Schrift ist, auf die Notwendigkeit dieses Fortschritts aufmerksam
zu machen?“ (ebd., S. 373).

2.6.3 Projektion und „Schiefheilung“

Der Begriff der Projektion verweist schließlich auf eine Schnittstelle zwischen
individuellen und gruppendynamischen Umgangsformen, die sich jeweils aus
den kulturellen Triebeinschränkungen speisen. Massenpsychologisch hebt Freud
jenen „Narzissmus der kleinen Differenzen“ (U, S. 474) hervor, der später von der
Kritischen Theorie und der analytischen Sozialpsychologie weiterentwickelt wer-
den sollte (vgl. Brunner et al. 2012). Mit dieser Form des kollektiven Narzissmus
gelingt dem Menschen eine „recht harmlose Befriedigung“ s­einer Aggressions-
neigungen. Dadurch, dass die narzisstische Aggression nämlich nicht mehr
auf sich selbst oder die eigene Gruppe, sondern nach außen, auf nahestehende
Gemeinschaften oder Personen gerichtet bzw. projiziert wird, erleichtert er den
„Mitgliedern der Gemeinschaft“ das Zusammenleben. Jeweils werden anderen
2.6 Erscheinungsformen 29

Personen oder Gruppen Eigenschaften, Wünsche oder Neigungen zugeschrieben,


die das Subjekt in sich selbst verleugnet (vgl. Laplanche und Pontalis 1972). Dar-
über wird das Ich pathisch gestärkt bzw. schiefgeheilt (vgl. MuI, S. 159). Mit die-
sem Terminus bezeichnet Freud gewissermaßen die Subjektseite der Projektion,
dem die kollektive Auslagerung gehasster Selbstanteile die schmerzhafte individu-
elle Symtombildung erspart und als psychischer Gewinn des kollektiven Narziss-
mus gut ausgehalten werden kann (vgl. Busch et al. 2016). Auch wenn Freud
selbst keine eigenständige Metapsychologie der Projektion verfasst hat, lassen
sich mit diesem Ansatz der pathischen Projektion alltägliche Rivalitäten ebenso
dechiffrieren, wie er auch den Grundstein für Rassismustheorien und die moderne
Antisemitismusforschung legt. Die sozialpsychologischen Theoriegebäude gehen
dabei von der materialistischen Erkenntnis Freuds aus, „daß jede Kultur auf
Arbeitszwang und Triebverzicht beruht und darum unvermeidlich eine Opposition
bei den von diesen Anforderungen Betroffenen hervorruft“ (ZeI, S. 331). Mit dem
Rekurs auf die hier mitangesprochene kapitalistische Produktionsweise wird die
später von Freud wieder tendenziell eingeebnete Differenz zwischen unveränder-
licher Triebnatur und historischer Gesellschaftsform ideologiekritisch erweitert
und dadurch auch die Frage nach dem sozialen Leid neu gestellt. Gegen die freud-
sche Anthropologie des Unglücks – Freud spricht vom „ewigen“ Oppositionspaar
Eros und Thanatos – werden auch die auf Konkurrenz basierenden Sozialisations-
mechanismen der Gesellschaftsordnung mit reflektiert und kritisiert.
Antisemitismustheoretisch polemisiert Freud selbst noch in eine rein sünden-
bocktheoretische Richtung, wenn er feststellt, dass „[d]as überallhin versprengte
Volk der Juden […] sich in dieser Weise anerkennenswerte Verdienste um die
Kulturen seiner Wirtsvölker erworben [hat]; leider haben alle Judengemetzel des
Mittelalters nicht ausgereicht, dieses Zeitalter friedlicher und sicherer für seine
christlichen Genossen zu gestalten“ (U, S. 474). Später sollten Adorno, Horkhei-
mer und Löwenthal nachweisen, inwiefern der „Antisemitismus […] auf f­alscher
Projektion“ (Horkheimer und Adorno 2003, S. 211) beruht. Im Gegensatz zur
notwendigen Projektion, die erkenntnistheoretisch hilft, die Lücke zwischen
Gegenstand und wahrnehmendem Subjekt zu schließen und ohne die Erkennen
überhaupt nicht möglich wäre, macht der Antisemitismus die Umwelt sich ähn-
lich: „Wird für jene das Außen zum Modell, dem das Innen sich anschmiegt, das
Fremde zum Vertrauten, so versetzt diese das sprungbereite Innen ins Äußere und
prägt noch das Vertrauteste als Feind“ (ebd., S. 212). Dabei weisen antisemitische
Semantiken ein hohes Maß imaginierter bzw. wahnhafter Vulnerabilität auf: Man
fühlt sich durch die Juden beherrscht, verletzt, zersetzt und ausgebeutet. Die
projizierte Umkehr der Vulnerabilität verschafft dem bzw. der Einzelnen offen-
bar einen psychischen Gewinn. Offen bleibt allerdings, ob hierbei tatsächliche
30 2 Das Unglück in der Kultur. Sigmund Freuds Kränkung der Menschheit

Leiderfahrungen abgespalten werden oder die Projektion bloß eine verweigerte


Annahme von eigenem Leid darstellt.
Psychoanalytisch bildet die Figur des Juden einen projizierten Repräsentanten
gesellschaftlicher Unterdrückung und einen Statthalter der projektiven Abwehr
für eigene negative Gefühlsanteile. Die Juden verkörpern für den Antisemiten das
Bild „des Glückes ohne Macht, des Lohnes ohne Arbeit, der Heimat ohne Grenz-
stein, der Religion ohne Mythos. Verpönt sind diese Züge von der Herrschaft,
weil die Beherrschten sie insgeheim ersehnen“ (ebd., S. 225). Und an anderer
Stelle heißt es konzis: „Kein Antisemit, dem es nicht im Blute läge, nachzuahmen
was ihm Jude heißt“ (ebd. S. 208).
Ohne die freudsche Psychoanalyse und eine Theorie der Projektion wären sol-
che Sätze ebenso unverständlich, wie eine moderne Antisemitismustheorie nicht
ohne direkte Anleihen bei Freud auskommt.

2.6.4 Pädagogische Konsequenzen und Anschlüsse

Pädagogik und Psychoanalyse sind und waren immer schon eng aufeinander
bezogen: Historisch haben sich, neben Vertreter*Innen der Sozialistischen Päd-
agogik (Bernfeld, A. Reich), vor allem die sog. antiautoritäre Erziehung der
1968-Bewegung – am prominentesten sicherlich durch A. S. Neills Internat Sum-
merhill vertreten – auf psychoanalytische Grundlagen berufen. Auch durch die
Rezeption der Arbeiten zur Kinderanalyse erhielt die Psychoanalyse zumindest
zeitweilig eine hohe pädagogische Akzeptanz. Beispiele dafür bilden: die kin-
deranalytische und bindungstheoretische Weiterentwicklung (A. Freud, Klein),
die psychoanalytische Erziehungsberatung (Aichhorn), die Entdeckung der Rele-
vanz von Übergangsobjekten (Winnicott), die inzwischen relativ durchgesetzte
Nachsicht bei der Reinlichkeitserziehung, Toleranz gegenüber Schaulust, Zeige-
lust und Onanie oder die problematisierte Aushandlung von Gewährenlassen und
Versagen im bürgerlichen Verhandlungshaushalt (vgl. Pfeiffer 2006). Inzwischen
gilt als gesichert, dass das Unbewusste und verdrängte Wünsche, wechselseitige
Übertragungsmomente als Identifizierungen, Idealisierungen und Projektionen
in pädagogischen Beziehungen wirksam sind. Psychoanalytische Reflexionen
bilden, abseits des klassischen Settings, in pädagogischen Feldern der Jugend-
hilfe, der Heil- und Sonderpädagogik, der Sozialarbeit, der Familienhilfe oder
der Erwachsenenpädagogik qua Supervision und Beratung eine feste Größe (vgl.
Trescher 1985). Gleichwohl können wir idealtypisch mit Millot (1982) entgegnen,
dass die Tätigkeit der Erziehung und die der Analyse sich in topischer und dyna-
mischer Hinsicht unterscheiden. Während sich die Psychoanalyse zur Aufdeckung
2.6 Erscheinungsformen 31

der verfemten Triebe, Wünsche und Leiden auf das Es stützt, versichert sich die
Erziehung dessen Beherrschung mittels des Über-Ichs. Während die Pädagogik
unter Zwang die Herrschaft der Triebe versteht, bedeutet Zwang für die Psycho-
analyse die Herrschaft des Gewissens. Und während die Psychoanalyse das ver-
drängte Kind im Erzieher aufdeckt, gilt das pädagogische Interesse vor allem
dem empirischen Kind, wie es sich bewusst zeigt und artikuliert (vgl. Althans und
­Zirfas 2006).
Auch für Freud war die Relevanz der Psychoanalyse für die Praxis der Päda-
gogik unstrittig. Schließlich offenbart sich in seinen Analysen der Erwachsenen
das mehr oder minder neurotische Kind. Freud selbst machte sich indes um die
Rolle der Erziehung keinerlei Illusionen. Er subsumierte die Erziehungspraxis
unter die drei unmöglichen Berufe: „Erziehen, Kurieren, Regieren“ (G, S. 565).
In der Neuen Folge seiner Vorlesung heißt es lakonisch: „Machen wir uns klar,
was die nächste Aufgabe der Erziehung ist. Das Kind soll Triebbeherrschung
lernen […]. Die Erziehung muß also hemmen, verbieten, unterdrücken und hat
dies auch zu allen Zeiten reichlich besorgt“ (NF, S. 160). Freud setzt die Päda-
gogik also in eine Reihe verletzender und dennoch unerlässlicher Praxen. Dabei
liegt die Grundproblematik seiner Erziehung zur Realität im Ausbalancieren von
Befriedigung und Verbot: „Die Erziehung hat also ihren Weg zu suchen zwischen
der Scylla des Gewährenlassens und der Charybdis des Versagens. Wenn die Auf-
gabe nicht überhaupt unlösbar ist, muß ein Optimum für die Erziehung aufzu-
finden sein, wie sie am meisten leisten und am wenigsten schaden kann“ (NF,
S. 160). Letztlich traut Freud der Erziehung als Leidensprophylaxe gegen ein
rigides Über-Ich nur einen sehr geringen Einfluss zu: „Die Erfahrung aber lehrt,
daß die Strenge des Über-Ichs, das ein Kind entwickelt, keineswegs die Strenge
der Behandlung, die es selbst erfahren hat, wiedergibt. Sie erscheint unabhängig
von ihr, bei sehr milder Erziehung kann ein Kind ein sehr strenges Gewissen
bekommen“ (U, S. 489).
Vor diesem Hintergrund billigt Freud der psychoanalytischen Erkenntnis ledig-
lich die bescheidene Funktion einer Hilfswissenschaft für die Pädagogik zu – nicht
umsonst nannte er die psychoanalytische Praxis der Neurosenbehandlung Nach-
erziehung. Freud geht es primär um die Einordnung der Kinder in die bestehende
Gesellschaftsordnung, ohne dass diese als wertvoll oder als haltbar hinterfragt
werden müsse. „Die Forderung geht über die Funktionsberechtigung der Analyse
hinaus […] Ich sehe ganz ab davon, daß man der Psychoanalyse jeden Einfluß auf
die Erziehung verweigern wird, wenn sie sich zu Absichten bekennt, die mit der
bestehenden sozialen Ordnung unvereinbar sind. Die psychoanalytische Erziehung
nimmt eine ungebetene Verantwortung auf sich, wenn sie sich vorsetzt, ihren Zög-
ling zum Aufrührer zu modeln. Sie hat das ihrige getan, wenn sie ihn möglichst
32 2 Das Unglück in der Kultur. Sigmund Freuds Kränkung der Menschheit

gesund und leistungsfähig entläßt. In ihr selbst sind genug revolutionäre Momente
enthalten, um zu versichern, daß der von ihr Erzogene im späteren Leben sich
nicht auf die Seite des Rückschritts und der Unterdrückung stellen wird. Ich meine
sogar, revolutionäre Kinder sind in keiner Hinsicht wünschenswert“ (NF, S. 162).
Freuds Tendenz zur Affirmation der Kultur gegenüber den Wünschen und
Trieben des bzw. der Einzelnen spiegelt sich in seinem Optimismus, wenn es um
das Erwachsenwerden einer ganzen Kultur geht, wider. Aus der Akzeptanz der
Realität heraus erwächst ihm zufolge auch eine Stärke, das kulturelle und soziale
Leiden wenn schon nicht zu überwinden, so doch einzudämmen. Insbesondere
die pädagogisch ausgeleuchteten Passagen seiner kulturtheoretischen Schriften
geben zu dieser Hoffnung Anlass: „Aber nicht wahr, der Infantilismus ist dazu
bestimmt, überwunden zu werden? Der Mensch kann nicht ewig Kind bleiben, er
muß endlich hinaus, ins ‚feindliche Leben‘“ (ZeI, S. 373).
Freuds Optimismus hinsichtlich der erzieherischen Kulturmöglichkeiten wirkte
sich auf die erste Generation pädagogisch arbeitender Psychoanalytiker*Innen sti-
mulierend aus. Bereits 1908 hielt Sàndor Ferenczi auf dem ersten Internationalen
Psychoanalytischen Kongreß einen Vortrag unter dem Titel „Psychoanalyse und
Erziehung“. Seine Einschätzungen zum Potenzial der Minderung psychischer
Leiden stehen denen Freuds entgegen, können jedoch repräsentativ für die Blüte-
zeit psychoanalytischer Pädagogik bis in die 1920er Jahre hinein gelesen werden:
„Eine diesen Lehren entsprechende rationellere Kindererziehung wird einen gro-
ßen Teil der drückenden psychischen Lasten wegräumen“ (Ferenczi 1970, S. 7).
Mit Freud gegen Freud akzeptierte Siegfried Bernfeld die von diesem
abgesteckte Grenze des pädagogischen Realitätsprinzips nicht. Mit Freud ging er
noch davon aus, dass der bzw. die Erzieher*In vor allem vor sein eigenes inneres
Kind gestellt sei. Daher reproduziere er unbewusst das ihm angetane Leid. Allein
die Psychoanalyse vermag über diese inneren Zusammenhänge Aufklärung zu leis-
ten. Darüber hinaus jedoch – und gegen Freuds sozialen Quietismus – zog Bernfeld
die Konsequenz aus dem sozial erkannten Leiden. Dabei entzifferte er gesellschaft-
liche und psychische Endpunkte des erzieherischen Wirkens. Pädagogisch fulmi-
nant wirkte etwa sein Nachweis der Grenzen der Erziehung, der in die Einsicht
mündet, dass Erziehung im Kapitalismus notwendigerweise konservativ organisiert
sei (vgl. Bernfeld 1973, S. 119f.). Auch nach Bernfeld sind Änderungen der öko-
nomischen Grenze weniger Gegenstand der Erziehung als Angelegenheit sozialer
Kämpfe (vgl. Lohmann 2001, S. 56). Denn egal in welcher Gesellschaftsform die
Erziehung vonstatten geht, sie wird sich „immer um die Einzelschicksale kümmern
2.6 Erscheinungsformen 33

und sorgen“ (Bernfeld 1973, S. 149). Sozialer Vulnerabilität und Vulneranzialität


muss demnach durch Bildung der Massen kollektiv begegnet werden – ein Grund-
satz, der Bernfeld als einen Protagonisten der sozialistischen Pädagogik ausweist.
Durch die intersubjektive Erweiterung psychoanalytischer Bindungs- und
Beziehungsformen rücken inzwischen vermehrt positive Gegenkonzepte zum
unbewussten Leid in den Vordergrund. In ihrer psychoanalytisch fundierten
Anerkennungstheorie rekurriert Jessica Benjamin auf die Konflikte und (patho-
logischen) Vereinseitigungen des intersubjektiven Spannungsgefüges. Vor dem
Hintergrund einer elementaren und wechselseitigen Verletzbarkeit nimmt Ben-
jamin ein grundlegendes und gegenseitiges Bedürfnis nach Anerkennung durch
die Anderen und eine prinzipielle Fähigkeit zur Anerkennung der Anderen an.
Dabei wird die Entwicklung der Anerkennungsfähigkeit über Ablösungsprozesse
nachvollzogen: Von einem frühkindlichen Stadium der Undifferenziertheit über
aggressive Phasen der Zerstörung, in denen das Kind durch erlebte Versagungen
seiner omnipotenten Kontrolllust die Mutter als ein Wesen mit eigenen Rech-
ten und Ansprüchen erfährt, bis hin zur Wiederannäherung in wechselseitiger
Anerkennung einer relativen Selbstständigkeit (vgl. Benjamin 1993).
Schließlich wird unter dem Konzept des therapeutischen Takts ebenfalls
­empathie- und anerkennungstheoretisch an behandlungstheoretische ­Überlegungen
Freuds angeknüpft. Auch hier wird die Fragilität und Vulnerabilität zunächst the-
rapeutischer und im Anschluss daran aller zwischenmenschlichen Beziehungen
hervorgehoben. Erziehung und Therapie sind qua Versagung und Desillusionierung
vulnerable Unternehmen und erfordern ein fantasievolles und kreatives Austarieren
der Beziehungsformen sowie ein empathisches Einfühlen in die unbewussten Vor-
gänge des Anderen. Erziehung und Therapeutik bilden mithin Kunstformen und
sind somit eine Angelegenheit des Takts und der Lebenskunst (vgl. Gödde 2012;
Gödde und Zirfas 2016).
Abschließend können wir festhalten, dass die Vulnerabilitätsanalysen Freuds
zweifelsohne zur conditio humana gehören. So bleibt auch seine „Schicksals-
frage der Menschenart“, die er im Unbehagen in der Kultur angetreten ist zu
beantworten, bestehen. Sie lautet: „ob und in welchem Maße es ihrer Kulturent-
wicklung gelingen wird, der Störung des Zusammenlebens durch den mensch-
lichen Aggressions- und Selbstvernichtungstrieb Herr zu werden“ (U, S. 506).
Freud legte wie vor ihm kein anderer die Verinnerlichung des äußeren Leids und
die Veräußerlichung des inneren Leids frei. Eine psychoanalytisch inspirierte
Theorie der Vulnerabilität muss im Anschluss daran und stärker noch als Freud
die in der Triebnatur verankerten Ursachen historisieren und vor allem die Frage
nach dem vermeidbaren Leid, das aus sozialen Quellen stammt, neu aufwerfen.
34 2 Das Unglück in der Kultur. Sigmund Freuds Kränkung der Menschheit

Literatur

Primärliteratur

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Literatur 35

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