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Ausgespäht und überwacht,


erschreckend wunderbar geschaffen:
Gott und Mensch in Psalm 139‫؛‬

von

Matthias KOckert

Hermann spiecfcermann ΖΠ 60. Geburtstag

»Texte sind hohe Herren, die 1'edet man nicht an, sondern wartet, bis sie selbei"
reden.« Das Diktum Hermann GunkelG gilt gewiss für jeden großen Text, ei'st
recht abei" von den Texten, in die sich das ewige Gut gekleidet hat. Aus del" Ver-
Sammlung »hohei‫ ־‬Herren« habe ich den 139. Psalm ausgewählt, weil er Gott
und Mensch in einei" Weise zur Sprache blingt, die in del" Bibel ihi'esgleichen
sucht. Leider stellt diesel" Psalm VOI" ei'hebliche philologische und sachliche Ρ1Ό-
bleme; und ich weiß nicht, ob ich lange genug gewai'tet und das Reden des
Psalms 1'echt vernommen habe.
Schon die Überschrift, die ich del" Auslegung mit Woi'ten dieses Psalms VOI‫־‬-
angestellt habe, lässt die Schwieiigkeiten seines l'echten Verständnisses ahnen.
Del" Mensch, »ausgespäht und überwacht« von Gott? So kennen wil- den Psalm
nicht. Zu seinei" Beliebtheit hat nicht wenig Luthers Übersetzung beigeti'agen;
und die ist - auch in ihrer revidierten Fassung von 1964 - auf einen ganz ande-
ren Ton gestimmt:
(1) Herr, du erforschest mich und kennest mich.
(2) Ich sitze oder stehe auf, so weißt du es;
du verstehst meine Gedanken von ferne.* 2

) Erweiterter Text meiner Abschiedsvorlesung am 3. Februar 2010 an der Theologi-


sehen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin.
2 Mitgeteilt von Walter Baumgartner 1962 auf dem Alttestamentlerkongress in Bonn,
zit. nach H. Gunkel, Genesis übersetzt und erklärt, mit einem Geleitwort von w.
Baumgartner, 1977‫؟‬, 14'‫'؛‬. Den genauen Wortlaut des Zitats und seine Quelle verdanke
ich meinem Kollegen Markus Witte. - Gunkel war 1895-1907 außerordentlicher Profes-
sor in Berlin, wo er als begeisternder Lehrer eine große Wirksamkeit entfaltete, bevor er
1907 nach Gießen ging. In Berlin entstand seine Erklärung der Genesis im Göttinger
Handkommentar zum Alten Testament (1901). Zu Person und Werk vgl. R. Smend,
Deutsche Alttestamentler in drei Jahrhunderten, 1989,160-172.

Zeitschrift für Theologie und Kirche, Bd. 107 (2010), s. 415-447


© Mohr Siebeck - ISSN 0044-3549
4‫־‬16 Matthias Köckert ZThK

(3) Ich gehe oder hege, so bist du um mich


und siehst alle meine Wege.
(4) Denn siehe, es ist kein Wort auf meiner Zunge,
das du, Herr, nicht schon wüsstest.
(5) Von allen Seiten umgibst du mich
und hältst deine Hand Uber mir.

In Luthers Übersetzung begegnet uns Gott als ein bewährter Freund, der
uns lange genug kennt, um uns besser zu verstehen, als wir uns mitzuteilen ver-
mögen: »Du verstehst meine Gedanken von ferne.« Hier umgibt uns Gott wie
ein schützender Raum, in dem wir Geborgenheit erfahren: »Ich gehe oder hege,
so bist du um mich.« Gott blickt auf uns voller Wohlwollen: »Du siehst alle
meine Wege.« Ihm können wir uns rückhaltlos anvertrauen, denn: »Von allen
Seiten umgibst du mich und hältst deine Hand (schützend) Uber mir.« So ken-
nen wir den Psalm und so lieben wir ihn.
Allerdings finden keineswegs alle Zeitgenossen die Vorstellung beglückend,
dass Gott nicht nur unsere Lebenswege, sondern selbst unsere Gedanken
kennt, ja, dass er uns restlos durchschaut, so dass nichts von uns vor ihm ver-
borgen ist. Eugen Roth hat diese erschreckende Vorstellung in Verse gebracht
und mit dem Titel »Unter Aufsicht« versehen:
»Ein Mensch, der recht sich überlegt,
daß Gott ihn anschaut unentwegt,
fühlt mit der Zeit in Herz und Magen
ein ausgesprochnes Unbehagen
und bittet schließlich Ihn voll Grauen,
nur fünf Minuten wegzuschauen.
Er wolle unbewacht, allein
inzwischen brav und artig sein.
Doch Gott, davon nicht überzeugt,
ihn ewig unbeirrt beäugt.«3

Andere können Gottes Aufsicht so launig nicht finden und machen neben
manchem anderen auch diesen Psalm für das verantwortlich, was Tilman Mo-
ser »Gottesvergiftung« genannt hat34. Bei ihm erscheint Gott als kalter über-
wacher und gnadenloser Buchhalter unserer Verfehlungen. Gegen diesen Gott
hatte schon Hiob seine Stimme erhoben:
Was ist der Mensch, daß du so groß ihn achtest
und deinen Sinn auf ihn gerichtet hältst,
wenn du ihn jeden neuen Morgen heimsuchst,
ihn immerwährend auf die Probe stellst?

3 E. Roth, Ein Mensch. Heitere Verse, 194033,101.


4 T. Moser, Gottesvergiftung, 1976, bes. 41-43.
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Wann endlich wirst den Blick du von mir wenden,


mich lassen, bis den Speichel ich verschluckt?
Hab ich gefehlt, was kann ich dir anhaben,
der du die Menschen sorgsam uberwachst?5

Dieser Gott ist ein Psychomonster. Wer sich von ihm nicht befreit, findet
niemals zum aufrechten Gang. Martin Luther und Tilman Moser - weiter lie-
gen Deutungen selten auseinander. Grund genug, uns mit diesem Psalm ver-
traut zu machen.

1 Die Utemriscbe Gestalt

Der Psalm beginnt mit einem Satz, der alle noch folgenden Aktivitäten Gottes
schon vorab zusammenfasst:
(1) Jahwe, du hast56 7mich erforscht und erkannt.

Wen Gott so gründlich erforscht und erkannt hat, den kennt er nun ganz ge-
nau. Umso mehr befremdet der Schluss des Psalms. Er nimmt in den Versen
23-24 den Anfang auf und bildet mit ihm einen Rahmen. Die Schlussverse
wandeln jedoch den Eingangssatz überraschend ab, indem sie mehrfach um er-
neute Erkundung bitten:
(23) Erforsche mich, Gott, und erkenne mein Herz!
Prüfe mich und erkenne meine Gedanken!
(24) Und sieh, ob ein GötzeU-Weg an mir ist,
und leite mich auf ewigem Weg!

Wir wundern uns: Dieser Mensch ist doch schon längst ausgeforscht und ganz
und gar erkannt; was könnte es da für Gott als Forscher noch zu entdecken ge-
ben? Welcher abgöttische Wandel wäre an diesem Menschen zu finden, wenn

5 Hi 7,17-20a in der Übersetzung von F. Horst, Hiob (BK XVI/1), 19743, 94.
6 Zur Übersetzung der Verbformen als Vergangenheit S.U., Teil 2. Völlig abwegig ist
es, lediglich auf Grund der Imperative in V. 23-24 die Perfecta in V. 1-2 als Prekativ zu
erklären und entsprechend als Imperative zu übersetzen (so j. Holman, Analysis of the
Text of Ps 139 [BZ 14,1970, 37-71.198-227], 40).
7 Jes 48,5 stellt c0säb parallel zu päsäl. In diesem Sinne wäre die Wendung in der
vorletzten Zeile des Psalms auf die Verehrung (»Weg«) fremder Gottheiten in ihren Bil-
dern (»Götzen«) zu beziehen (so schon H. Hupfeld, Die Psalmen übersetzt und aus-
gelegt, Bd.IH, 18702, 396). Das Nomen kann freilich auch »Mühsal, Schmerz« bedeu-
ten (Jes 14,3; ichr 4,9). »Weg der Kränkung (Gottes)« umfasst mehr als Götzendienst.
Die Septuaginta deutet auf gesetzlosen Wandel, Hieronymus auf die daraus entsprin-
genden Folgen für den Täter: »Weg der Pein«. Alle Ausleger verstehen V. 24 zu Recht
als antithetischen Parallelismus.
4‫־‬18 Matthias Köckert ZThK

doch Gott schon dessen Denken vollkommen durchschaut hat (V. 2), ohne An-
stößiges entdecken zu können? Zwischen jenem zusammenfassenden ersten Satz
und diesen letzten Sätzen muss sich etwas Entscheidendes mit dem Sprecher die-
ses Psalms ereignet haben, so dass er um weitere Erforschung bittet. Was hat ihn
zu dieser Bitte genötigt?
Der Rahmen umklammert einen Psalm, der durchgehend von der Bezie-
hung zwischen Gott als angeredetem Du und einem Ich als Gottes Forschungs-
gegenstand bestimmt ist. Jedoch wechselt mehrfach die Perspektive. Dieser
Wechsel gliedert den Psalm in vier Teile8. 9Ausdrückliche
* 11 * * Reflexionen in V. 6
und 17-18 schließen den ersten und den dritten Teil ab und rücken dadurch die
beiden Mittelteile engej* aneinander.
Der erste Teil (V. 1-6) fahrt nach der Überschrift mit einem betonten Du
fort:
(2) Du, du kennst‫ ؟‬mein Hinsetzen und Aufstehen,
du durchschausflQ mein Denken von ferne!.
(3) Mein Wandern und Lagern hast du abgemessen^
und alle meine Wege überwacht‫^؛‬.

8 So schon Hupfeld (s. Anm. 7), 379 und in der Hauptsache auch H. Gunkel, Die
Psalmen übersetzt und erklärt (HK 11/2), 19264, 587-589 (allerdings setzt er V. I7b-18
als Schluss des Hymnus vom Corpus ab, dem der Dichter noch »einige Wünsche und
Bitten im Tone des Klageliedes hinzugefügt« [aaO 589] habe)‫ ؛‬L. c. Allen, Psalms 101-
150 (WBC 21), Nashville/TN 2002, 321f(mit Details)‫ ؛‬zuletzt wieder F.-L. Hossfeld in:
F.-L. Hossfeld / E. Zenger, Psalmen 101-150 (HThK), 2008, 721. Eine andere, aber
nicht überzeugendere Gliederung gibt F. Hartenstein, Gott als Horizont des Men-
sehen. Nachprophetische Anthropologie in Psalm 51 und 139 (in: R. Lux [Hg.], Die un-
widerstehliche Wahrheit. Studien zur alttestamentlichen Prophetie, FS Α. Meinhold
[Arbeiten zur Bibel und ihrer Geschichte, 23], 2006,494-512), bes. 498 (V. 1-6.7-12.13-
16.17-24), der im Wesentlichen E. Zenger folgt (E. Zenger, »Mein Gut bist Du allein«
Ps 16,2. Gottesmystik in den Psalmen [in: M. Delgado / A. p. Kustermann (Hg.),
Gottes-Krise und Gott-Trunkenheit. Was die Mystik der Weltreligionen der Gegenwart
zu sagen hat, 2000, 51-72], 67f).
9 Die Verben in den Versen 1-2 sind von der Art, dass sie einen vergangenen Vor-
gang und dessen gegenwärtiges Resultat umfassen: Gott hat erforscht, erkannt und
durchschaut und kennt deshalb den Beter‫ ؛‬zum Problem und den Konsequenzen S.U.,
Teil 2.
1° Das Verb byn Ie bezeichnet (wie schon zuvor ydc) den Vorgang (»du hast achtge-
geben auf ...«) und das Resultat (»du weißt deshalb Bescheid«).
11 rahoq hat nicht nur lokale, sondern auch temporale (2Kön 19,25‫ ؛‬Jes 22,1125,1 ‫)؛‬
Bedeutung, die hier im Blick auf V. 15-16 naheliegt (vgl. dazu auch T. Booij, Psalm
CXXXIX: Text, Syntax, Meaning [VT 55,2005,1-19], 3).
-inativum von zärät = »(Hand-)
Spanne« als Maß (HALATI, 269a) abgeleitet und mit »abmessen« wiedergegeben.
‫ دا‬Ugaritisch sakinu (vgl. akkad.) ist der »Verwalter« (G. DEL Olmo Lete / j.
Sanmartín, A dictionary of the Ugaritic language in the alphabetic tradition, Ubers,
von w. G. E. Watson [HO 1/67], Bd. Il, Leiden 2004757-758 ,2‫־‬: »prefect, governor [...]
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(4) Denn noch war kein Wort auf meiner Zunge -


da, Jahwe, hast du es schon ganz und gar erkannt.
(5) Von hinten und von vorn hast du mich eingeschlossen
und deine Hand auf mich gelegt.

Jeder Satz dieser Verse berichtet von Aktionen Gottes, die durchweg auf den
Dichter gerichtet sind. Der ist dem Erkenntnisdrang Gottes und seinem Zu-
griff vollkommen ausgeliefert. V. 6 beschließt den ersten Teil mit einer knappen
Reaktion auf diese einseitige Beziehung. Gottes unablässige ErkenntnisbemU-
hungen um ihn sind dem Dichter schlicht »zu hoch«, will sagen unbegreiflich:
(6) Zu wunderlich^ ist [dein]5‫ ؛‬Erkennen für mich,
zu hoch, ich kann ihm nicht standhaltenA

Dieser erste Teil kreist ganz um Gottes Nähe.


Der zweite Teil (V. 7-12) beginnt mit rhetorischen Fragen, die einen Neuein-
satz markieren:
(7) Wohin kann ich gehen vor deinem Geist
und wohin fliehen vor deinem Angesicht?

Mit den Fragen wechseln die hebräischen Verbformen von der Vergangen-
heit in die Gegenwart. Außerdem geht jetzt der Blick vom Ich zum Du. Drang
im ersten Teil Gott unablässig auf den Dichter ein, so sucht dieser sich nun
Gottes Zugriff zu entziehen. In immer neuen Gedankenexperimenten spielt er
Fluchtmöglichkeiten durch, aber stets stößt er auf Gott, dem er doch gerade
entfliehen wollte. Gottlose Räume - es gibt sie nirgendwo:
(7) Wohin kann ich gehen vor deinem Geist,
und wohin fliehen vor deinem Angesicht?
(8) Stiege17 ich in den Himmel hinauf, bist dort du‫؛‬
und wollte ich mich in der Unterwelt betten, siehe, auch da bist du!
(9) Wollte ich die Schwingen der Morgenröte erheben,
mich niederlassen am Ende des Meeres -* 15 16 17

administrator«)‫ ؛‬in EAT (=VAB 2/1-2), Nr. 256,9 erscheint su-kí-ni als kanaanäische
Glosse zu akkad. rabisu »Kommissar, Aufpasser« (AHw II, 935)‫ ؛‬vgl. zum Ganzen
HALATI, 713b und die dort angegebenen Belege.
4‫ ؛‬Lies mit dem Ketib piViyah von der gleichen Wurzel wie in V. 14a, aber mit dem
Unterton des Sonderbaren, Unerwarteten und Unerklärlichen (Hi 10,16‫ ؛‬42,3‫ ؛‬Jes 29,14
-jeweils von ‫ داﺑﺮ‬Nif.).
15 Wegen des Parallelstichos kann es sich nur um Gottes Erkennen, nicht um das des
Beters handeln, was von Septuaginta und Symmachus gestützt wird. Dem entspricht
auch der Gegensatz zu V. 14: wahrend der Dichter seine Erschaffung durch Gott als
Wunder preist, bleibt ihm Gottes Forschungsinteresse an ihm zutiefst unverständlich
und unerklärlich.
16 Zu dieser Bedeutung des Verbs‫&رد‬/vgl. Gen 32,25‫ ؛‬Hi 31,23.
17 Von der aram. Wurzel slq »steigen«.
420 Matthias Köckert ZThK

(10) auch dort leitet mich deine Hand


und ergreift mich deine Rechte.
(11) Ich sprach: »Lauteris Finsternis schnappe nach mir,
und Nacht sei das Licht um mich her!«
(12) Sogar Finsternis ist nicht zu finster‫ ؟؛‬für dich,
sondern Nacht leuchtet wie der Tag‫؛‬
ebenso ist Finsteres wie LÍchtes2٥.

Weder im Himmel noch in der Unterwelt - also in der mythischen Tiefe der
Realität-noch im Gedankenexperiment der Verse 9 und 11 findet sich ein Ort,
an dem der Mensch nicht auf Gott stößt. Gott bleibt der unhintergehbare »Ho-
rizont des Menschen«21.
Der dritte Teil (V. 13-1،‫ )؟‬wechselt erneut die Perspektive. Er setzt, wie schon
der erste, mit einem betonten Du ein. Mit der Perspektive ändert sich das
Thema: von den fernsten Räumen außerhalb des Menschen zu den äußersten
Anfängen des Menschen noch vor seiner Geburt. Deshalb ersetzen Verbformen
der Vergangenheit22 das Präsens, das den zweiten Teil beherrscht hatte:
(13) Denn du, du hast meine Nieren geschaffen,
mich gewoben23 im Feib meiner Mutter.
(14) Ich preise dich, dass ich erschreckend24 wunderbar25 bin‫؛‬21
19
18
25
24
23
22
*

18 Zur einschränkenden Funktion der Partikel ,ak vgl. HAFAT1,43f.


19 Viele Denominativa im Hifil sind »nicht mehr kausativ gedacht, sondern rein ana-
logisch gebildet« (H. Bauer / p. Leander, Historische Grammatik der hebräischen
Sprache des Alten Testaments, 1922, 294b).
2٥ Die dritte Zeile des Verses wird allgemein als Glosse beurteilt. Zu ihrer Entste-
hung vgl. Holman (s. Anm. 6), 63f.
21 So die Beschreibung von Hartenstein (s. Anm. 8), 491-512.
22 Die Abweichungen lassen sich erklären: Die Präformativ-Konjugation des zwei-
ten Verbs in V. 13 sowie der Verben in V. 16 drückt in der Vergangenheit länger an-
dauernde Vorgänge aus (Wilhelm Genesius’ Hebräische Grammatik, völlig uberarb.
von E. Kautzsch, 1995 [im Folgenden: Ges.-Κ.], § I07b), im ersten Verb von V 18 die
als erfüllbar gedachte Bedingung eines Bedingungssatzes (aaO 5 159bc)‫ ؛‬der staunende
Ausruf V. 14 unterbricht die Schilderung der Taten Gottes.
23 Die Septuaginta hat offenbar nichts mit dem Verb »weben« für die Erschaffung des
Menschen anfangen können und das zweite Kolon in eine Aussage Uber den Beistand
Gottes von Mutterleib an umgebildet.
24 Zum Part. (fern. Pl.) als »Zustandsangabe« vgl. Ges.-K. (s. Anm. 22), §118ρ (mit
Hinweis auf Ps 139,14). Das Wortfeld des Part, von yr> ist relativ breit: »erschreckend,
Statinen erregend, Ehrfurcht gebietend«. Der singulären Verbindung hier entspricht im
Deutschen vielleicht der Gebrauch des Wortes »schrecklich« als Superlativ (»schrecklich
schön« o. ä.).
25 Nif. von pv (Ges.-K. [s. Anm. 22], § 75qq)‫ ؛‬Zenger (s. Anm. 8), 68 und ihm fol-
gend Ch. Maier, Beziehungsweisen. Körperkonzept und Gottesbild in Ps 139 (in:
Hedwig-Jahnow-Forschungsprojekt, Körperkonzepte im Ersten Testament. Aspekte
einer Feministischen Anthropologie, 2003, 172-188), 179 leiten die Verbform von der
Wurzel plh ab = »besonders behandelt, ausgezeichnet werden« (HALAT fuhrt nur
107 (2010) Ausgespäht und überwacht, erschreckend wunderbar geschaffen 421

wunderbar sind deine Werke, und ich, ich26 weiß das wohl.
(15) Nicht war vor dir verborgen, was aus mir werden S011te27,
als ich, gemacht im Geheimen26 28, 27
gewirkt wurde in den Tiefen der Erde.
(16) Als ich noch ungeformt2‫؟‬,30sahen
* mich schon deine Augen,
und in dein Buch wurde alles^o geschrieben.
Tage wurden gebildet‫؛‬,
obwohl noch keiner32 von ihnen vorhanden war.

Ex 33,16 auf, allerdings mit mini) und übersetzen mit »ausgesondert«. Dagegen spricht
der Stichwortbezug zu V. 6, vor allem aber das Fehlen einer Größe in den Versen 1—18,
aus der sich der Dichter als »ausgesondert« verstehen könnte, zumal der Psalm von der
Erschaffung anderer Menschen nicht redet.
26 Hervorhebung des Personalpronomens für hehr. npsy.
27 Die meisten Ausleger vokalisieren in eine Form von casm um und übersetzen mit
»mein Gebein« (so schon die Septuaginta und Aquila) oder sie setzen ad hoc nur für
diese Stelle ein c0säm II mit derselben Bedeutung an (so zuletzt auch wieder Hossfeld
[Hossfeld / Zenger (s. Anm. S), 715]). Zur masoretischen Vokalisierung von der
Wurzel cosm und deren Bedeutung S.U., Teil 4.5.
28 Zur Erklärung des hebräischen Relativsatzes inV. 15 (»... ich wurde gemacht im
Geheimen / im Versteck«) als Glosse zu »gewirkt in den Tiefen der Erde« s. u., Anm. 81.
29 Zu dieser Umschreibung dessen, was mit dem Hapaxlegomenon golmy gemeint
ist, s. u., Teil 4.6. Die seit der syrischen Übersetzung beliebte Änderung in »meine Taten«
(vgl. Gunkel, Psalmen [s. Anm. 8], 592) ist lectio facilior und hat keinen Anhalt an der
Überlieferung.
30 Fast alles in V. 16 ist sachlich und philologisch schwierig. Dazu gehört im zweiten
Satz (»und in dein Buch wurden sie alle/ ihre Gesamtheit geschrieben«) der Bezug des
Suffixes in kullam. Wenn man nicht die Sätze im Vers umstellt (s. App.), liest man entwe-
der kolyamay (so schon w. Staerk, Lyrik [SAT HI/1], 19202, 86) oder kolyam statt kl-
lam und ändert das folgende Verb in den Singular (so H. J. Kraus, Psalmen 60-150 [BK
XV/2], 19783, 1092) oder man versteht »ihre Gesamtheit« meist als Vorverweis auf die
»Tage, die gebildet wurden« (so K. Seybold, Die Psalmen [HAT 1/15], 1996, 514). Aller-
dings fehlt vor yamym ein waw; außerdem geht dann die Aufzeichnung der Tage ihrer
Bildung voran. Deshalb bleibt man besser mit Hupfeld (s. Anm. 7) beim überlieferten
Text. Zur entsprechenden Deutung S.U., Teil 4.7. mit Anm. 118.
3‫ ؛‬Booij (s. Anm. 11), 9 versteht diesen Satz als asyndetischen Relativsatz: Tage, an
denen die golamym gebildet wurden‫ ؛‬das ist syntaktisch nicht völlig unmöglich, aber
wenig sinnvoll, weil von anderen Menschen und deren golamym nicht die Rede ist.
32 Die Masoreten wollen Wel0} als welow lesen, was freilich unnötig ist. G. Etzel-
MÜLLER, Überlegungen zur Schöpfungstheologie in Psalm 139 (in: s. Brandt /
B. Gberdorfer [Hg.], Resonanzen. Theologische Beiträge, FS M. Welker, 1997,
324—334), 325 nimmt das auf und übersetzt V. 16 (mit Bezug des welow auf golmy):
»Meinen Kern sahen deine Augen‫ ؛‬und indem sie alle in dein Buch geschrieben wur-
den, wurden Tage gebildet‫ ؛‬und für ihn einer von ihnen.« Diese Konstruktion scheitert
vor allem an der im Text fehlenden syntaktischen Verbindung zwischen zweitem und
drittem Satz.
422 Matthias Köckert ZThK

Die eigenen Anfänge sind dem Menschen genauso entzogen wie Himmel
oder Unterwelt. Das verbindet diesen mit dem vorangehenden Teil. Jedoch
führt die vorangestellte unscheinbare Partikel ky (»denn«) den gesamten drit-
ten Teil als Begründung für den zweiten ein. Weil Gott den Menschen im Leib
seiner Mutter geschaffen hat, wird dieser Mensch seinen Gott niemals los - we-
der im Himmel noch in der Unterwelt. Deshalb gibt es kein Entrinnen vor die-
ses Gottes Gegenwart. Eine Flucht vor ihm ist jedoch nun auch unnötig gewor-
den‫ ؛‬denn am Ende stellt der Dichter mit Worten, die an Ps 73,23 erinnern,
staunend und keineswegs unzufrieden fest:
(18) Ich bin noch immer bei dir.

Der Dichter hat Uber die Beteiligung Gottes an den Wundern seines Wer-
dens nachgedacht. Dabei ist er des Unterschieds zwischen seinem Nachdenken
und den Gedanken Gottes inne geworden, wahrend Gott des Dichters Den-
ken schon von fern her durchschaut (V. 2), gilt von Gottes Gedanken:
(17) Mir aber - wie kostbar sind mir deine Gedanken”, Gott,
wie gewaltig ihre Summen”!
(18) Wollte ich sie zählen, sind sie zahlreicher als Sand”,
erwacht”, bin ich noch immer bei dir.* 3

33 Zugrunde liegt wahrscheinlich ein aramäisches Lehnwort. Die Septuaginta leitet


dagegen von reca II = »Gefährte, Freund, Nächster« ab. Holman (s. Anm. 6), 204 deu-
tet deshalb auf Gottes »companions« - das ist abwegig.
” Zur Bedeutung von ro١‫ ־‬s als »Summe, Gesamtbetrag« vgl. Hi 22,12 und die Wen-
dung nasa> ro>s »die Summe ziehen« in Ex 30,12 u. ö. Ungewöhnlich ist allerdings der
Plural: Vielleicht ist an verschiedene Summen unterschiedlicher Rubriken gedacht.
33 Holman (s. Anm. 6), 205-211 geht von Hi 29,18 aus und setzt dort für hol die Be-
deutung »Phönix« an‫ ؛‬er bezieht das Objektsufhx in Ps 139,18a auf die Tage von V. 16 (!)
und erfindet auf diese Weise die Übersetzung: »If I count them (days), they will be more
than those of the phoenix [...]« (aaO 211).
3‫ ة‬Gegen eine Deutung der masoretischen Vokalisierung auf das »Erwachen« vom
Schlaf des Todes (z.B. durch Holman [s. Anm. 6], 210) mit Recht Allen (s. Anm. 8),
320. Viele denken, der Dichter sei Uber dem Versuch, Gottes Gedanken zu zählen, wegen
ihrer Menge eingeschlafen. Wer das zu naiv findet, ändert (auch gegen die Versionen!)
meist in eine Form von qss Hif. = »zu Ende kommen«. Hossfeld deutet das Erwachen
wenig überzeugend als »Erinnerung an das [...] Motiv der Prüfung des Beters durch
Gott vom Anfang des Psalms« und verbindet das mit der metaphorischen Verwendung
des Motivs von der Errettung am Morgen (Hossfeld / Zenger [s. Anm. 8], 725f). Hilf-
reicher ist der Hinweis von G. Eberhardt, JHWH und die Unterwelt. Spuren einer
Kompetenzausweitung JHWHs im Alten Testament (FAT 11/23), 2007, 140 auf die
mehrfachen Berührungen mit Ps 17. Jedoch fehlt in Ps 139 jeder Hinweis auf die Nacht
als Zeit der Prüfung durch Gott wie in 17,3. Deshalb dfirft.e eher die Vermutung Hup-
felds zutreffen: Die Masoreten haben daran gedacht, dass der Beter Tag und Nacht, also
wachend und schlafend mit den Gedanken Gottes beschäftigt sei, ohne sie je erfassen zu
können (Hupfeld [s. Anm. 7], 392).
107 (2010) Ausgespäht und überwacht, erschreckend wunderbar geschaffen 423

Mit dieser Einsicht in Gestalt eines Lobpreisest könnte - jedenfalls auf ei-
nen ersten Blick - der Psalm enden.
Der Dichter fahrt jedoch mit einem vierten Teil fort (V. 19-24), der im Ton
an Ps 104,35 und 137,7-9 erinnert. In ihm öffnet er den geschlossenen Kreis um
sich und Gott, indem er als dritte Größe die Mitmenschen einführt. Diese er-
scheinen sogleich in ihrer extremsten Gestalt, in der Gestalt der Feinde. Könnte
man in V. 19 noch an persönliche Feinde des Beters denken, wie sie in vielen
Bittgebeten begegnen, so schließt V. 20 dieses Verständnis aus. Vielmehr ent-
steht die Feindschaft des Beters erst durch die Feindschaft der Frevler gegen
Gottes. Der Dichter versucht also nicht, wie in anderen Psalmen üblich, Gott
zum Eingreifen gegen seine eigenen Feinde zu mobilisieren.
(19) Möchtest doch du, Gott, den Frevler töten‫؛‬
und ihr mörderischen Männer, weicht‫ ؟‬von mir,
(20) die dich arglistig nennen,
die (ihre Stimme)4٥ zu Haltlosem erhoben haben, deine Feinde41!
(21) Hasse ich etwa nicht, die dich hassen, Jahwe,
und ekle ich mich etwa nicht vor denen, die gegen dich aufsteheMh
(22) Mit äußerstem Hass hasse ich sie‫؛‬
zu Feinden sind sie mir geworden.37 38 * * * 42

37 Vgl. Ps 66,3104,24 ‫ ؛‬92,6‫؛‬.


38 So mit Recht Eberhardt (s. Anm. 36), 143. Deshalb hatte schon Walter Beyerlin
Ps 139 aus seiner Untersuchung der Feindpsalmen ausgeschlossen (vgl. w. Beyerlin,
Die Rettung der Bedrängten in den Feindpsalmen der Einzelnen auf institutioneile Zu-
sammenhänge untersucht [FRFANT 99], 1970,11).
3‫ ؟‬Der Imperativ ist (mit Ps 6,9119,115 ‫ )؛‬gegen einzelne Handschriften und antike
Übersetzungen beizubehalten.
4٥ Da das Verb ns3 ein direktes Objekt fordert, caraka aber dafür aus semantischen
Gründen nicht in Frage kommt (vgl. Anm. 41), nehme ich eine Ellipse für nasa‫ د‬qol an.
Ergänzte man »deinen Namen« als paralleles Glied zum Objekt-Suffix des voranstehen-
den Kolons, läge eine Anspielung auf den Dekalog vor. Die zahlreichen Konjekturen
sonst entfernen sich noch weiter vom masoretischen Text. Hossfeld übersetzt die Wen-
dung ns3 Isw3 mit »herabsetzen«, ohne entsprechende Belege zu nennen, und bezieht sie
auf caraka: die »herabgesetzt haben deine Städte« (Hossfeld / Zenger [s. Anm. S],
716f).
4‫ ؛‬Es handelt sich in diesem Kontext schwerlich um »deine Städte«, sondern vielmehr
um das aramäische Nomen car II »Feind« (HAFAT, S29b), das auch in lSam 28,16 he-
gegnet (vgl. Sir 37,547,7 ‫)؛‬, wie schon E. König, Die Psalmen eingeleitet, übersetzt und
erklärt, 1927, 138 gesehen hat. Es wird hier nicht als Objekt, sondern als nachgeholtes
Subjekt zu den Verben in 3. Pers. Pl. verstanden. Die Septuaginta übersetzt V. 20b ziem-
lieh wörtlich (aber ohne Rücksicht auf den Zusammenhang) mit: »Sie werden deine
Städte vergebens einnehmen.«
42 Zur Verbform vgl. die Verbesserung des Textfehlers im App. - Zur Übersetzung
der beiden Fragesätze vgl. Ges.-K. (s. Anm. 22), § I50e.
424 Matthias KOckert ZThK

Achtzehn Verse lang hatte del" Dichtet" in einem Nachdenken verharrt, das
am Ende in ein großes Staunen mündete. Jetzt gibt et" diese Rolle auf und bittet
Gott dtinglich: »Möchtest doch du, Gott, den Frevler töten!« El" geht sogat"
Gottes Feinde dii'ekt an, indem et" sich von ihnen vollkommen distanziei't: »Iht‫־‬
Blutgieiigen, weicht von mit‫ «!־‬Damit stellt et" sich ganz auf Gottes Seite. In
ν.22 erklärt et" denn auch Gottes Feinde zu seinen Feinden. Die l'adikale Ab-
sage an die Feinde Gottes ist also nichts andet'es als die »Bewährung seinet" An-
hänglichkeit an Gott««. Weil abet" die Gefaht" immei" gt'oß ist, dass man seine
eigenen Feinde mit Gottes Feinden vei'wechselt, bittet det" Dichtet" in mehi'fa-
chem Anlauf:
(23) Erforsche mich, Gott, und erkenne mein Herz!
Prüfe mich und erkenne meine Gedanken!
(24) Und sieh, ob ein GOtzen-Weg an mir ist,
und leite mich auf ewigem Wege!

Jetzt vei'stehen wit", wai'um det" Dichtet" Gott nicht nut" um weitei'e Erfor-
schung und Prüfung, sondern vot" allem um sein Weggeleit bittet.
Indes, auch in diesel" Beleuchtung bleibt det" letzte Teil anstößig genug. Es
verwundert nicht, dass man sich die Pt'obleme dut'ch Amputation vom Hals zu
schaffen vei'sucht hat. Die Vet'se 19-22 wat'en det" litui-gischen Kommission so
anstößig, dass sie diese kurzerhand aus dem Psalmengebet im Evangelischen
Gesangbuch hei'ausgeschnitten hat«. Man sollte sie nicht zu seht" schelten; denn
leidet" haben iht" dabei auch manche Exegeten ein gutes Gewissen gemacht.
Schon Het'mann Gunkel bemei'kte den Wechsel im Ton von den Vet'sen 1-18 zu
den Vet'sen 19-24 und meinte, »det‫ ־‬Psalm wüt'de uns ohne den leidenschaft-
liehen Schluß bei weitem mehl" gefallen««. Gottflied Quell, ein anderer Belli-
net" Vorgänger, hat das mit det" Bemet'kung »Spiesset‫ «!־‬kommentiert«. Vot" al-
lem die altere Fot'schung beui'teilte die Vet'se 19-24 häufig als Nachtrag«. Al-43 44

43 So schon Hupfeld (s. Anm. 7), 393.


44 EG, Nr. 754.
45 H. Gunkel, Ausgewählte Psalmen übersetzt und erklärt, 19174,199
46 Am Rande seines Exemplars der ausgewählten Psalmen von Gunkel zu s. 199.
Gottfried Quell (1896-1976) war Professor für Altes Testament zunächst in Rostock,
später in Berlin, WO er - nach seiner Emeritierung - auch am Sprachenkonvikt unterrich-
tet hat.
47 Eine mehrschichtige Entstehung des Psalms nahmen c. A. Briggs / E. G.
Briggs, a Critical and Exegetical Commentary on the Book of Psalms (ICC 14), Vol. 2,
Edinburgh 1907, 491ff an. Gunkel, Psalmen (s. Anm. 8), 587 bezeichnete die Verse 19-
24 als »angehängten Schlussteil«, wenn auch von der Hand des Psalmisten, ähnlich H.
Schmidt, Die Psalmen (HAT 1/15), 1934, 245Í, der freilich die Verse 19-24 als einen se-
paraten Psalm 139Β abtrennt, ihn aber wegen des Schlussrahmens demselben Verfasser
wie 139Α zurechnet. Auch s. Wagner, Zur Theologie des Psalms CXXXIX (1978; in:
107 (2010) Ausgespäht und überwacht, erschreckend wunderbar geschallen 425

lerdings fügt sich der letzte Teil durchaus in die Perspektive des Gesamtpsalms
ein. Wie det" Psalm sonst ist auch sein letztet" Teil allein auf das Verhältnis zwi-
sehen Gott und Mensch konzentriert. Denn det" Frevler und die Blutgieiigen
werden wie det" Dichtet" zuvot" nut" in iht'em Verhältnis zu Gott ins Spiel ge-
bi'acht. Ein einziges Mal wendet sich det" Dichtet" an die Frevler, abet" das ge-
schieht nut", um Distanz zu schaffen: »Iht‫ ־‬Blutgieiigen, weicht von mit‫«!־‬
Gegen eine Reduktion des Psalms auf die Vet'se 1-18 spiicht, dass das Beob-
achten und Nachdenken des Menschen in den ei'sten drei Teilen keinetlei Fol-
gen haben. Zwat" reflektiert det" Beobachtet" am Ende des ei'sten und des diitten
Teiles Gottes Handeln an ihm. Abet" zu mehl" als einem Staunen kommt es
nicht, wedet" im Ausittf des Beft'emdens von V. 6 noch in dem det" Bewunde-
1'ung von V. 17-18. Beschränkt auf diesen Tot'so bliebe det" Psalm merkwürdig
weltfi'emd: Du und ich, Gott und die Seele - damit begnügt sich die Bibel, zu-
mal in iht'em alttestamentlichen Teil, sonst kaum. Umgekehi't sind die Vet'se
1-18 die notwendige Voi'aussetzung füt" die Bitten det" Vet'se 19-2448. Wer wie
die litui'gische Kommission die Vet'se 23-24 dem Psalm belässt, sie abet" unmit-
telbai" an V. 18 anschließt, kann kaum erklären, waittm det" Dichtet" um erneute
Pt'üfung bittet; et" wat" schließlich kein Masochist.
Deshalb geht man am besten von det" litei'aiischen Einheit des Psalms aus.
Das schließt kleinet'e erklärende Zusätze natüllich nicht aus.‫؟‬. Zut" Deutung
des Psalms als »Gebet eines Angeklagten« zwingt die litei'aiische Einheit des
Psalms allet'dings nicht‫؟؛‬. Vielmehl- gehöi't et' zu den litei'aiischen Gebilden,
die Gunkel einst »geistliche Dichtung«‫ ؛؛‬genannt hat und die heute »Medi-* 4

Ders., Ausgewählte Aufsätze zum Alten Testament, hg. von D. Mathias [BZAW 240],
1996,131-150), 132. 146 fragt, ob der Schlussteil nicht literarisch sekundär sei.
4S Vgl. H. Irsigler, Psalm 139 als Gebetsprozess (in: Ders. [Hg.], »Wer darf hin-
aufsteigen zum BergJHWHs?« Beiträge zur Prophetie und Poesie des Alten Testaments,
FS s. ö. Steingrimsson [ATSAT 72], 2002, 223-264), 236.
4‫ ؟‬Dazu gehören die überschießende dritte Zeile in V. 12 und die zweite in V. 15.
5° Gegen diese Bestimmung durch E. Wörthwein, Erwägungen zu Ps 139 (VT 7,
1957, 165-182; erneut in: Ders., Wort und Existenz. Studien zum Alten Testament,
1970, 179-196); Seybold, Psalmen (s. Anm. 30), 515 und andere sprechen vor allem drei
Beobachtungen: 1. Es fehlt jeder Hinweis auf eine Schuld des Beters oder eine Anklage
gegen ihn; 2. es fehlen weiter ein Unschuldsbekenntnis des angeblich Beschuldigten wie
auch 3. entsprechende Bitten, Gott möge Recht schaffen (wie etwa in Ps 5,9; 7,9). Die Be-
hauptung, der Verfasser von V. 2-18 habe einen »Beichtspiegel für den Reinigungseid«
zugrunde gelegt (K. D. Seybold, Zur Geschichte des vierten Davidpsalters Pss 138-145
[in: P. w. Flint/ P. D. Miller (Hg.), The Books of Psalms. Composition and Recep-
tion (VT.S 99), Leiden 2005, 368-390], 386), ist mir unerklärlich, weil eine Aufzählung
konkreter Bereiche der Schuld fehlt, die doch gerade das Wesen eines Beichtspiegels aus-
macht.
5‫ ؛‬H. Gunkel, Einleitung in die Psalmen. Die Gattungen der religiösen Lyrik Is-
raels, bearb. von ]. Begrich, 197530 ,‫ ;؛‬charakteristisch sind für sie »neben dem Ein­
426 Matthias Köckert ZThK

tation«2‫ ؛‬heißen. Dafür sprechen das Vokabulat", der Geist det" Reflexion, det"
ihn bis auf den Schluss durchzieht, sein dui'ch und dui'ch weisheitliches
Gepräge‫ ؛؛‬und seine Bekanntschaft mit allen Teilen des Hiobbuches‫؛‬.. Sein
Gottesbild ist dem von Ps 90 und 102 verwandt. All das, dazu die zahli'eichen
Aramaismen und nicht zuletzt die Charakteristik det" »Feinde Gottes« in den
Vet'sen 19-22 legen eine Entstehung in spätpersischer, wenn nicht sogat" früh-
hellenistischei‫ ־‬Zeit nahe.
Nach diesem Durchgang dui'ch die Gestalt des Psalms fällt die Et'kundung
seines Inhalts leichtei". Wir beschränken uns auf die Frage nach dem Verhältnis
von Gott und Mensch und orientieren uns an den voi'gestellten viel" Teilen‫؛؛‬.

2. Dm. hast mich erforscht Mttd kennst mich (V. 1-6)

Beide eingangs voi-gestellten Deutungen des Psalms können sich bis zu einem
gewissen Grade auf den hebräischen Text betttfen. Seine Vet'ben und Wendun-
gen sind - zumindest im ei'sten Teil - inhaltlich außerordentlich ambivalent.
Das ei'ste Verb (hqr) bedeutet »untei'suchen«, allet'dings in einem seht" brei-
ten Spektl'um. Wie det' Bet'gmann im Gestein dem Ει'ζ »nachspül't« (Hi 28,3), so
hat Gott bei det' Et'schaffung und Ot'dnung det' Welt die Weisheit »ergründet«
(Hi 28,27). Im Zusammenhang det' Rechtsfindung meint »untei'suchen« so viel
wie »verhören«. So lässt sich Gott nicht täuschen, wenn ei' Hiobs Fi'eunde »vei‫־‬-
höi'en« wil'd (Hi 13,9). Vom »Verhören« ist es nui' ein kleinei' Schiitt zum »Aus-52 * *

dringen der Reflexion vor allem die Lösung der Gattungen von ihrer ursprünglichen
konkreten Situation« (aaO 398), kurz das, was man heute »nachkultisch« nennt.
52 So E. s. Gerstenberger, Psalms, Part 2, and Lamentations (FOTL 15), Grand
Rapids/MI 2001,406, der Ps 139 neben Ps 39 und Ps 90 stellt und in weisheitlichen Krei-
sen der nachexilischen Zeit beheimatet.
55 Zu Recht hat Η.-Ρ. Müller auf den Geist »individueller Kontemplation« hingewie-
sen, auf die »spannungsvolle Einheit«, zu der »der Frömmigkeitstyp der Hymnen und
der der Weisheit« in diesem Psalm gefunden haben, und auf das Fehlen »jedefs] Bezugfs]
auf die Kultgemeinde« (Η.-Ρ. Möller, Die Gattung des 139. Psalms [ZDMG.S 1/1,
1969, 345-355], 349. 351. 354).
55 Die Hinweise bei H. SchÜngel-Straumann, Zur Gattung und Theologie
des 139. Psalms (BZ 17, 1973, 39-51) und Y. Mazor, when Aesthetics is Harnessed to
Psychological Characterization - ‫׳‬Ars Poetica< in Psalm 139 (ZAW 109, 1997, 260-271)
lassen sich rasch vermehren. - Was Uber das Hiobbuch verteilt ist, findet sich in Ps 139 in
einem Text. Dabei wird das Thema Menschenschöpfung in Hi 10 und Ps 139 unter-
schiedlich verwendet, wie Wagner (s. Anm. 47), 143 gesehen hat. Ps 139 wirkt in dieser
Hinsicht wie eine Korrektur von Hi 10 (vgl. auch Eberhardt [s. Anm. 36], 152: »posi-
tivere Version«).
55 Die folgenden Überschriften lehnen sich an die textnahen Formulierungen von
Wörthwein (s. Anm. 50), 190 an.
107 (2010) Ausgespäht und überwacht, erschreckend wunderbar geschallen 427

spähen«: Jonathan will die Einstellung seines Vatei's Saul gegenüber David »in
Erfahrung blingen« odet" »ausspähen« (lSam 20,12). In Ri 18,2 und 2Sam 10,3
schließlich begegnet hqr »untei'suchen« neben rgl Pi. »auskundschaften«.
Mag die Überschrift in V. 1 noch ganz neuti'al klingen - Gott hat etwas in El'-
fahl'ung gebi'acht und weiß es jetzt -, so entfalten die folgenden Vei'se ehei' das
negative Potential des Vei'bs. Das hegt an Gottes Gi'iff aufs Ganze. Del' findet
seinen Ausdi'uck in del' beinahe dui'chgehenden Bildung von Merismen odei' po-
lai'en Formulierungen: Sitzen und Aufstehen, Wandern und Lagern, vom und
hinten. Dem dient auch del' Gebi'auch des Woi'tes kol »alles«, »Gesamtheit«: alle
meine Wege, kein Woi't, das du nicht schon ganz und gal' kennst.
Jahwe hat mich also ergründet und kennt mich jetzt. »Mich« - das meint in
V. 2 zunächst »mein Hinsetzen und Aufstehen«. Das abei' bezieht sich nicht nui'
auf äußei'e Ortsveränderungen; denn von den Lebenswegen ist ei'st in V. 3 die
Rede. Ve1‫־‬s 2 setzt dagegen foi't: »Mein Denken / Wollen / Sti'eben hast du von
fein hei" dui'chschaut.« Diese Foi'tsetzung deutet das »Hinsetzen und Aufste-
hen« ehei' in die Richtung von geistigel' und sozialei' Heimat: Wo habe ich mich
niedei'gelassen, und wen lasse ich hintei' mil'? Mit wem bin ich eines Sinnes, und
wo bin ich zu Hause? All das hat Gott schon längst dui'chschaut.
V. 3 bi'ingt meinen Lebensrhythmus zwischen »Wandern« und »Lagern« ins
Spiel. Del" abei" vei'dankt sich nicht etwa meinei" Entscheidung, sondern Gott
hat ihn »abgemessen«. Offenbai' ist sogai' das, was ich fül' meine ui'eigenen Ent-
Schlüsse halte, von ihm gesteuei't. So verwundert es nicht, dass ei" »mit allen
meinen (Lebens-)Wegen vertraut«-‫ ؟‬ist - vei'ti'aut wie ein Kommissai', del' mich
»überwacht«-‫؟‬. Del' Dichtei' des Psalms 1'edet mit alledem von Ei'fahl'ungen, die
auch Hiob gemacht hat (Hi 13,27; 14,16).
Wie ist das möglich? Mit den Vei'sen 4-5 gibt del' Dicht ei' eine Begründung
(1ky). Wie Gott schon von feinei" Zeit hei" »auf mein Denken Acht hat« odei" es
»dui'chschaut« (V. 2), so kennt ei' alle meine Woi'te, noch bevoi' sie mil' Uber die
Lippen kommen (V.4). El' kennt mich also bessei' als ich selbst. Denn ei' kennt
meine mil' selbst noch vei'boi'genen innei'en Regungen, schon bevoi' sie in mei-
nen Gedanken, Woi'ten und Taten Gestalt gewinnen. Abei" auch von außen
bin ich fest in seinem Gliff (V. 5): Von vom und hinten, also von allen Seiten
eingeschlossen, bin ich umzingelt wie eine belagei'te Stadt-‫؟‬, und auf mil" hegt
drückend seine flache Hand. Aus diesem Belagernngsiing sind Ausbi'uchsvei‫־‬-
suche zwecklos.56 57

56 Hi 23,10 bringt diesen Ton zur Geltung, aber bezeichnenderweise mit dem Verb
yadca.
57 Näher hegt Hi 13,27: »Du legst meine Füße in den Block und überwachst (smr) alle
meine Wege, du protokollierst (hqq) meine Fußspuren.«
5S Vgl. Dtn 20,12; 2Sam 11,1; lKön 15,27; 16,17u.ö.
428 Matthias KOckert ZThK

Gegen diese Auslegung hat man eingewandt, dass nicht von Gottes »Faust«
(agrof) odet" »Hand« (yad), sondern von seinet" geöffneten bet'genden »Hand-
fläche« (kaf) die Rede ist, die schützend Uber mit" sei. Außerdem wet'de das
Verb swr, wenn es die Bedeutung »belagern« hat, nicht mit dii'ektem Objekt,
sondern mit det" Präposition cal gebi'aucht. Luthers Übersetzung wäre dann
zweifellos vot'zuziehen. Doch sind die Einwände keineswegs dut'chschlagend,
wie Waltet" Gt'oß gezeigt hat‫؟؛‬. Das Ai'gument mit det" Handfläche scheitei't an
Hi 13,21. Hiob bittet Gott flehentlich:
Deine Hand (kappe cha) entferne von mir,
und dein Schrecken möge mich nicht ängstigen!

Die Handfläche ei'scheint hiet" keineswegs als Metaphei" für Gottes bet'gende
Zuwendung, sondern ist eindeutig negativ besetzt, sonst wüt'de Hiob nicht um
ihre Entfernung bitten. Das andet'e Ai'gument, swr bedeute nut" dann »bela-
gern«, wenn das Objekt mit det" Präposition cal odet" ’äl vet'bunden ist, scheitei't
an ichi' 20,1. Hiei' wil'd das Vei'b mit del' belagei'ten Stadt als dii'ektem Objekt
ohne Präposition gebi'aucht.
Nimmt dei' Leser die Nähe Gottes anfänglich noch als ambivalent Wahl', so
zeigt sie in V.5 endgültig ihl'e ei'schi'eckende Seite. Gottes Nähe, andeinoi'ts
händeringend eifleht, ei'scheint hiei' als unvei'hüllte Di'ohung. Wie kommt del'
Dichtei' zu diesel' Ansicht? Wohei' weiß ei', dass Gott ihn ausgespäht und Uber-
wacht, dui'chschaut und umzingelt hat? Jedenfalls nicht dui'ch allgemeines
Nachdenken Uber das Wesen Gottes, auch nicht aus del' ihm voi'gegebenen alte-
1'en Ti'adition Isi'aels. Ein Lehrbuch fül' Dogmatik mit dem Abschnitt «De om-
niscientia Dei« wai' ihm noch unbekannt. Das Missverständnis, es handle sich
hiei' um allgemeine Lehraussagen Uber Gott, konnte umso leichtei' entstehen,
als Luther die Vei'ben dui'chgehend im Tempus del' Gegenwai't übersetzt hat.
Die Vei'se 2-5 sind jedoch nicht in einem zeitlosen Präsens foi'muliei't, sondern
mit Verbformen, die fül' »individuelle Sachvei'halte del' Vei'gangenheit« Stehen.
Schon Eduai'd König hat das deutlich gesehen und auch in seinei' übei'setzung
berücksichtigt“. Die Konsequenzen fül' das Verständnis biingt Waltei' Gi'oß
auf den Punkt: »Del' Psalmist macht keine zeitlos gültigen Aussagen, ei' spiicht
nicht von gegenwärtigen Sachvei'halten, sondern von seinen zurückliegenden
und abgeschlossenen Eilebnissen, dei'en Konsequenzen allei'dings in seine und

5‫؟‬Vgl. w. Gross, Bedrohliche Gottesnähe als Gebetsmotiv (in: G. Eberhardt / K.


Liess [Hg.], Gottes Nähe im Alten Testament [SBS 202], 2004, 65-83 [dort auch der
Hinweis auf die beiden entscheidenden Belege]).
٥٥ Vgl. König (s. Anm. 41), 127-140 (zu Ps 139) - ein zu Unrecht vergessener Kom-
mentar mit vielen trefflichen Beobachtungen.
107 (2010) Ausgespäht und überwacht, erschreckend wunderbar geschallen 429

YHWHs Gegenwart hineinreichen.«“ Von Gott eingeschlossen und umzin-


gelt - det" Dichtet" hat das erfahren. Gottes Nähe kann tödlich sein. Hiob hat
das gewusst - eine eindrückliche Probe haben wit" eingangs gehört. Auch den
Pi'opheten wat" detlei nicht unbekannt: »Ich schi'eite dut'ch deine Mitte«, heißt
es von Gott in Am 5,17; und diese Begegnung Ist'aels mit seinem Gott hintei‫־‬-
lässt nichts als Totenklage. Gott kommt eben nicht nut" ‫־״‬östlich nahe, sondern
auch bedt'ohlich, so bedt'ohlich, dass man daran zerbrechen kann.
Dem entspiicht die Reaktion des Dichtei's in V. 6. Dass Gott ausgei'echnet
ihn zum Gegenstand seines Et'kennens gemacht hat, ist ihm zu sonderbar, gera-
dezu absut'd, eben völlig unbegreiflich“. Dennoch halt et" an Gott fest, det" ihm
so bedrohlich nahe gekommen ist, und 1'edet ihn weitei'hin an. Dem Ei'kennt-
niswillen Gottes ist et" jedoch nicht gewachsen. Deshalb bekennt et" in V. 6:
Zu wunderlich / zu unbegreiflich“ ist (dein) Erkennen für mich,
zu hoch, ich kann ihm nicht standhalten (10’ ’ukal lalif.

Del" Dichtet" des Psalms reagiert damit wie Hiob nach det" zweiten Gottes-
rede in Hi 42,3:
Ich habe vorgebracht - und verstand nichts -
zu Wunderliches / zu Unbegreifliches für mich und wusste nichts.

Doch das bleibt nicht das letzte Wort in Ps 139.


Ein kut'zet' Blick auf die gt'iechische übei'setzung det' Septuaginta zeigt, dass
sie die Ambivalenzen des Textes weitgehend beseitigt hat und ganz andet'e Ak-
zente setzt: Die übet'wachung det' hebenswege in V. 3 vei'wandelt sie in Gottes
gütige Vot'sehung. Die Vet'se 4b und 5a zieht sie in einen Stichos zusammen, in
dem nicht det" Betet" und seine Gedanken Objekt det" Ei'kenntnis Gottes sind,
sondern »alle Dinge, die letzten und die ei'sten«. Damit deutet sie die räumlichen
Bestimmungen »hinten und vom« eschatologisch und pi'otologisch. Die gi'ößte
Vet'schiebung des Sinns wil'd dadut'ch bewil'kt, dass sie die Fot'm sartany nicht* 62 *

٥، w. Gross, Von Y HW H belagert. Zu Ps 139,1-12 (in: Ders., Studien zur Priester-


Schrift und zu alttestamentlichen Gottesbildern [SBAB 30], 1999, 173-183), 176. Mit der
Semantik der Verben argumentiert Irsigler (s. Anm. 48), 233f für »‫׳‬generelle Sachver-
halte der Rückschau‫( ׳‬von der Sprechgegenwart aus) [...]. In jedem Fall liegt das Gewicht
auf der sich aus der vollendeten Handlung ergebenden gegenwärtigen Erfahrung [...].«
62 Der Dichter bricht also keineswegs in einen »hymnischen Lobpreis« aus, wie
merkwürdigerweise Κ.-Η. Bernhardt, Zur Gottesvorstellung von Psalm 139 (in: H.
Benckert [Hg.], Kirche - Theologie - Frömmigkeit, FS G. Holtz, 1965, 20-31), 28
meint.
‫ إه‬Zu dieser Bedeutung s. Hi 9,lob.
64 Zur Bedeutung des Verbs ykl vgl. Gen 32,27 Dort heißt es von Jakob, dem Gottes-
kämpfer amjabboq: »Du hast mit Gott und mit Menschen gekämpft und hast standge-
halten (yakol).« Vgl. Hi 31,23 von den Schrecken Gottes, die Hiob »nicht ertragen kann«.
43 ٥ Matthias Kbckert ZThK

von swr I = »belagern«, sondern von= »fot'men, bilden« ٥‫ ؛‬ableitet. So entsteht


aus »(Von hinten und von vom) hast du mich eingeschlossen« die ‫'״‬östliche Ein-
sicht »du hast mich geloi'mt«, eine Vot'wegnahme det' Schöplungsaussagen von
V. 15. In det" gliechischen Übersetzung lehlt deshalb del" Hand Gottes, die aul
dem Betet' hegt, alles Bedt'ohliche. Vielmehl' befindet sich Gottes Geschöpl ganz
in seines Schöpfers Hut. Del' Septuaginta folgt die Vulgata ziemlich genau. Jetzt
vei'stehen wir, wohei" del" Ton kommt, auf den huthers Übersetzung gestimmt
ist“. Dass diesel' auch in del' gliechischen (und lateinischen) übei'setzung nicht
mit dem Psalm hai'moniei't, kann man schon aus V. 665 67 im
66 Zusammenklang mit
dem Kontext höi'en, VOI' allem abei' im Foi'tgang des Psalms.

3. Vor dir fea‫ ״״‬ich ‫״‬icht(liehe‫( ״‬V. 7-1(

Del" zweite Teil ist ganz von vei'Zweifelten Übellegungen bestimmt, VOI" dieses
Gottes Angesicht und seinem Geist zu fliehen. Die Metaphern »dein Geist«
und »dein Angesicht« Stehen für Gottes Nähe und seine belebende Zuwen-
dung. Andeinoi'ts im Psaltei" wei'den sie gei'adezu ei'sehnt. »Wann wei'de ich da-
hin kommen, dass ich Gottes Angesicht schaue?«, fi'agt del" Betel" in 42,3 sehn-
süchtig. In Ps 69,18 bittet einei", dessen eigenes »Angesicht vollei" Schande ist«
(V. 8), Gott inständig: »Verbirg dein Antlitz nicht VOI" deinem Knecht!« Denn
nui" ein Leben VOI" Gottes Angesicht ist lebens- und lobenswei't. Deshalb gilt
üblicherweise: »Verbirgst du dein Angesicht, so erschrecken sie« (Ps 104,29).
Gottes verborgenes Angesicht, sein Schweigen odei" seine Feine führen den
Menschen in die Nähe des Todes.
Del" Dichtei- von Ps 139 will dagegen VOI" Gottes Geist und Angesicht flie-
hen. El" hat offensichtlich gei'ade Gottes Gegenwai't als äußei'st bedi'ohlich ei‫־‬-
fahi'en. Spätestens die Fluchtabsichten in V. 7 machen die Deutung de!" Gottes­

65Die Wurzel swr III ist nur In lKön 7,15 sicher belegt.
66 Luther selbst hatte V. 5 in der 1534 bei Hans Lufft gedruckten Bibelausgabe frei-
lieh noch anders übersetzt: »Du schaffest es/was ich vor oder hernach thue/Und heltest
deine hand vber mir« (M. Luther, Biblia das ist die gantze Heilige Schrifft Deudsch, Fak-
simile 1983). Luther deutete damit den Vers so, dass Gott alles Tun und Lassen des Dich-
ters bestimmt: »Als wollt er [David] sagen: es steht in keines Menschen Kunst noch
Macht, wie er leben tun reden denken, wo wann woher und wohin er kommen soll, son-
dern es ist alles lauter Gotteswerk und -kunst« (M. Luther, Summarien Uber die Psalmen
und Ursachen des Dolmetschens von 1533 [WA 38, 64], zit. nach: D Martin Luthers Psal-
men-Auslegung, hg. V. E. Mühlhaupt, Bd. III, 1965, 611). Deshalb kann er von diesem
Psalm sagen: »Es ist ein Psalm gegen den freien Willen« (so im Psalterrevisionsprotokoll
1531, zit. nach Mühlhaupt III, 613).
67 Man versteht gar nicht, was der Beter in V. 6b gegen die positiven Erfahrungen mit
Gottes umfassendem Erkennen in den Versen 1-5 haben sollte.
107 (2010) Ausgespäht und überwacht, erschreckend wunderbar geschallen 431

nähe in den Vet'sen 1-6 als Bedrohung gewiss. Denn warum sollte einet", det"
sich in Gottes Nähe gebot'gen weiß, aus diesel" Geboi'genheit fliehen wollen?
Die Fluchtversuche übersteigen alle menschlichen Dimensionen. Del" Dich-
tei" nimmt die kosmischen Grenzbereiche in den Blick, die vei'tikal und hoti-
zontal den Menschen grundsätzlich entzogen sind. Wer könnte schon in den
Himmel, den Bet'eich Gottes, hinaulsteigen odet" in das Toteni'eich tiel untei"
die it'dische Lebenswelt hinab? Wet" könnte mit det" Sonne das Horizontgebirge
im Osten übersteigen odet" sich in den gelähtlichen Zonen am Ende des Meet'es
im Westen niedetlassen, wo sich die Sonne zu ihrer Nachtiahi't anschickt?
Wenn schon diese mythischen Bet'eiche keine gott-losen Räume sind, wie viel
weniget" kann das von den it'dischen Lebensbereichen gelten, überall stößt det"
Dichtet" bei seinem Nachdenken aul Gott. Selbst wenn et" in die Grenzbereiche
det" it'dischen Welt käme, die keines Menschen Fuß je betlitt, wüt'de et" auch
doi't von Gottes Hand »geleitet« wie eine Het'de von iht'em Hii'ten (Ps 77,21;
23,3). Gott wüt'de ihn mit seinet' machtvollen Rechten »packen« wie das Klapp-
netz in Hi 18,9 seinen Fang. Voi' diesem Gott ist kein Ort sichet'. Die Pi'opheten
wussten das:
Brächen sie in die Unterwelt durch,
greilt sie meine Hand dort heraus.
Stiegen sie in den Himmel hinaul,
hole ich sie von dort herunter.
Verbärgen sie sich aut dem Giplel des Karmel,
spüre ich sie dort aut und grille sie.
Versteckten sie sich vor meinen Augen aul dem Grund des Meeres,
gebiete ich dort der Schlange, sie zu beißen.
Zögen sie in Gelangen schalt vor ihren Feinden her,
gebiete ich dort dem Schwert, sie zu erschlaget‫؟‬.

Wie das Amosbuch weiß auch det' Dichtet': Selbst die lemsten Räume sind
von Gottes heii'scheilichet' Macht erfüllt, det' keinet' entilnnen kann“.
Einen letzten, äußersten Vet'such unternimmt det' Dichtet' inV.ll.In Gedan-
ken spielt ei' dui'ch (»ich spi'ach«), ob ei' sich in dauei'haftei' Finsternis voi' Gott
vei'bei'gen könnte. Leider kennen wil' nicht die genaue Bedeutung des Vei'bs hp,
das nui' hiei' und in del' Paradieserzählung gebi'aucht wil'd. Deshalb kann die
übei'setzung mit »schnappen« nui' ein Notbehelf sein. Wie die Schlange nach
del' Fei'se de!' Menschen »schnappt« (Gen 3,15), so etwa wünscht ei' sich, möchte6 * * *

6S So Am 9,2-4, das ältere Seitenstück zu Ps 139,8 (zu diesem literarischen Verhältnis


vgl. Gross, Gottesnähe [s. Anm. 59], 8of; Bernhardt [s. Anm. 62], 30).
‫ ﻵه‬Mit dem Bikolon Ps 139,8 ist eine Wendung aus dem Brief Tagis an den Pharao in
EAT (= VAB 2/1-2), Nr. 264,15-19 zu vergleichen: »Stiegen wir hinauf in den Himmel,
bist du dort; stiegen wir hinab in die Unterwelt, so ist unser Haupt in deinen Händen«
(zit. nach: w. L. Moran, The Amarna Letters, Baltimore/MD 1992, 313).
432 Matthias Köckert ZThK

doch lautet' Finsternis nach ihm schnappen^. Dann wäl'e et' - von Nacht umge-
ben - dem Zugt'iff Gottes entzogen. Indes, so weiß et' von Hiob, Gott hat keine
»Augen aus Fleisch« und sieht nicht, »wie ein Mensch sieht« (Hi 10,4). Und von
dem weisen Elihu hat et' gelernt:
Er [Gott] hat seine Augen auf den Wegen eines Mannes,
und alle seine Schritte sieht er.
Da gibt es keine Finsternis und keine Todesschatten,
in denen sich der Übeltäter verbergen könnte (Hi 34,211).

Deshalb - so bricht der" Dichter- sein Gedankenexperiment ab - deshalb ist


sogar" Finsternis für" Gott nicht finster- genug, um ihn nicht doch zu entdecken.
Denn für- Gott ist der-Wechsel von Nacht und Tag gleichgültig. Deshalb ist Fin-
ster-es für- Gott wie Fichtes, wie ein pedantischer- Abschreiber hinzugefügt hat.
Gott ist in der- Welt und deren mythischen Grenzbereichen uber-all und immer-
nahe. Vor- diesem Gott gibt’s kein Entrinnen, nir-gends.
Wie kommt der- Dichter- zu dieser- Einsicht? Durch Erfahrung? Schwerlich;
denn wer- könnte schon in den Himmel hinaufsteigen! Der- Dichter- kann diese
Einsicht nur- durch Nachdenken gewonnen haben. Die Weise, in welcher- der-
Psalm von Gottes schrankenloser Nähe redet, setzt Gott als grundsätzliches
Gegenüber- zur- Welt vor-aus, denn er- wird nicht durch Raum und Zeit be-
stimmt. Diese Vor-Stellung von Gott begegnet ausdrücklich nur- in Ps 90 und
10271. Sie klingt in Ps 139 an, insofer-n der- Grundrhythmus der- Zeit in Tag und
Nacht für- Gott gleichgültig ist. Doch sie wird hier- weder- eigens benannt noch
zur- Begründung genutzt, sonder-n als selbstverständlich vor-ausgesetzt. Das
zeigt den Abstand zu jenen beiden ander-en Psalmen an, die Gottes Äußer-weh-
lichkeit er-stmals auch begr-ifflich zu er-fassen suchen. Dass der- Dichter- Gottes
Nähe nicht entr-innen kann, erfährt eine überraschende Begründung in den fol-
gendenVer-sen.

4. Denn du hast mich erschreckend‫״‬linderbargeschahen (V. 13-18)

Bisher- hatte der- Psalmist die Welt von Raum und Zeit bis in ihre kosmischen
Gr'enzen nach einem Fluchtor't vor- Gott dur'chsucht und war- doch immer- wie-
der- auf ihn gestoßen. Jetzt blickt er- auf sich und die Anfänge seines Wer-dens.70 71

70 Weiter geht die Selbstverfluchung in Hi 3,4-9, die an Jer 20,14-16 erinnert und die
mit der Nacht die Schöpfung rückgängig zu machen trachtet.
71 Vgl. M. KOckert, Zeit und Ewigkeit in Psalm 90 (in: R. G. Kratz / H.
SptECKERMANN [Hg.], Zeit und Ewigkeit als Raum göttlichen Handelns. Religionsge-
schichtliche, theologische und philosophische Perspektiven [BZAW 390], 2009, 155—
107 (2010) Ausgespäht und überwacht, erschreckend wunderbar geschallen 433

Da versteht et' mit einem Schlage, wat'um et' Gott niemals enti'innen kann. Diese
Einsicht verändert seine Wahrnehmung Gottes vollkommen. Wil' befinden uns
am entscheidenden Wendepunkt des Psalms.

4.1. Del" Mensch kann Gott niemals entkommen, weil es ihn ohne Gott gat"
nicht gäbe. Das leuchtet uns modernen Menschen wenig ein, und auch die Alten
wussten selbstvei'ständlich, dass es ohne Zeugung und Gebui't keinen Menschen
gibt. Abei' die Alten wussten auch: Dass eine Zeugung zu einet' Schwangei'schaft
und am Ende zu einet' glücklichen Gebui't fühi't, noch dazu eines gesunden Kin-
des, das dann auch noch die vielen Gefährdungen durch Ki'ankheiten, Et'dbe-
ben, Kt'iege und Hungei'snöte überlebt, ist ohne göttlichen Beistand nicht mög-
lieh. Dieses Zusammenwii'ken von Gott und Mensch formuliert V. 13 mit det"
Et'schaffung des Menschen im keib seinet' Mutter dut'ch Go72‫״‬. Dabei wet'den
nicht von ungefähr allein die »Niet'en« als Teil fül' den ganzen Menschen het'aus-
gegliffen. Denn sie Stehen für das Innei'ste des Menschen, das nut" Gott allein
zugänglich ist72.

4.2. Del' Schöpfungsvot'gang selbst kann seht' vet'schieden bescht'ieben wet'den.


Gen 2 stellt Gott als Töpfet' VOI', det' den Menschen aus kehm bildet. Diese Voi'-
Stellung begegnet im Alten Testament wie im Alten Oi'ient VOI' allem doi't, wo
von det' Et'schaffung det' ei'sten Menschen odet' des Königs erzählt wird74. Dabei
steht die äußet'e Gestalt im Vordergrund. Wo jedoch die Menschenschöpfung
mit Zeugung und Gebui't vet'bunden ist, gi'eift man ehet' andet'e Metaphern auf,
wie hiet' in Ps 139,13.15 und in Hi 10,11 das Bild des Webens75. Das entspi'icht* 73 7

11 Zur Erschaffung im Mutterleib s. Hi 31,15; Jes 44,2.24; Jer 1,5. Im Talmud heißt es:
»Drei sind am Menschen beteiligt: Der Heilige - gepriesen sei er -, sein Vater und seine
Mutter« (bNidda 31a).
73 Vgl. Jer 11,20; 17,10; 20,12; Ps 7,10; 26,2 u.a.
74 Die Erschaffung des Menschen alsformatio unter Verwendung von kehm begeg-
net schon im sumerischen Mythos von Enki und Ninmach (TUAT III, 390f). Auch das
Atramchasis-Epos (Taf. I, 189-248: TUAT III, 623Í) und das babylonische Weltschöp-
fungsepos Enuma elisch (Taf. VI, 1-34: TUAT III, 591f) erzählen von der Erschaffung
des ersten Menschen aus kehm, allerdings vermischt mit dem Blut eines geschlachteten
Gottes. Im ägyptischen Mythos von der Geburt des Gottkönigs aus der Zeit Hat-
schepsuts und Amenophis III. (TUAT III, 991-1005) verfertigt der Gott chnum Leib
und Ka des königlichen Kindes auf der Töpferscheibe.
75 Hi 10 verbindet sehr verschiedene Vorstellungen von der Erschaffung des Men-
sehen miteinander: binden oder flechten (Τ'/?; V. 8), machen aus kehm ‫ ;¿ذم‬V. 9), aus-
gießen wie Milch (ytk; V. 10), gerinnen lassen wie Käse (qp’\ V. 10 [vgl. dazu Ch.
Frevel, Die Entstehung des Menschen. Anmerkungen zum Vergleich der Menschwer-
dung mit der Käseherstellung in Ijob 10,10 (BN 130,2006,45-58)]), umkleiden mit Haut
und Fleisch (lbs; V. 11), flechten oder weben mit Knochen und Sehnen (skk; V. 11 [vgl.
Spr 8,23]). - Dass der Schöpfergott mit der Tätigkeit des Webens »gynomorph« gezeich­
434 Matthias Köckert ZThK

dem Werden des Embryos in einem Pt'ozess wachsendet' Differenzierung. Gott


hat im Mutteifeib nicht it'gendeinen, sondern diesen Menschen, hat mich in mei-
net' fndividualität et'schaffen.

4.3. Dass ich überhaupt bin und dieses menschliche Antlitz habe, dazu Augen
und Oht'en, Vernunft und alle Sinne - das vet'danke ich nicht mit' selbst und auch
nut' bedingt meinen Eltern; dass es mich gibt, ist wahtlich ein Wundei':
(14) Ich danke dir/ich preise dich, dass ich erschreckend wunderbar bin;
wunderbar sind deine Werke, und ich, ich weiß das wohl!

Del" Zwischenruf des Dichtei's kann also kaum befremden76. Ungewöhn-


lieh an ihm ist, dass er Gottes Wei'ke nicht wie sonst als »groß« odei" »viel«77,
sondern als »wunderbar« pi'eist, was anderwärts von den Taten Gottes in del"
Geschichte gesagt wird7‫؟‬. Noch ungewöhnlichei" ist, dass del" Dichtei- sich
selbst auf eine ganz neuai'tige Weise ins Spiel blingt. Er versucht, das Außerge-
wohnliche in Woi'te zu fassen, und kann doch nui" stammeln: »erschreckend,
auf Ehrfurcht gebietende Weise wunderbar« (nora’ot nifle’ti). Die singuläre
Formulierung drückt einen Supeilativ aus und lässt noch den Schaudei" und
die Ehrfurcht ahnen, die den Dichtei- übermannt haben, als er seines wundei‫־‬-
baren Wei'dens im Mutterleib inne ward und voi" seinem SchOpfei" in die Knie
sank.

4.4. Die beiden folgenden Vei'se sind dadui'ch miteinandei" vei'bunden, dass
sie den SchOpfei" ehei" als beobachtende Instanz denn als Akteui" beschi'eiben.
Offenbai- sind andei'e himmlische Wesen mit den Tätigkeiten beti'aut, die del"
SchOpfei'gott nui" beaufsichtigt7‫؟‬. Die Vei'se 15-16 entfalten überdies die Wun-76 77

net werde (so zuletzt wieder M. Grohmann, Fruchtbarkeit und Geburt in den Psalmen
[FAT 1/53], 2007, 34), wird man schon angesichts des lexikalischen Befundes nicht sagen
können: Die Berufsbezeichnung »Weber« (’oreg Part, mask.) begegnet zehnmal, die des
»Buntwirkers« achtmal (‫؛‬roqem - indes nur in Ex 26-39), die entsprechenden femininen
Formen jedoch nie. Die Tätigkeit des Spinnens ist allerdings nur für Frauen belegt. In
Ägypten sind seit dem Mittleren Reich zunehmend auch Männer mit der Textilherstel-
lung beschäftigt, vor allem wenn sie gewerblich betrieben wird (vgl. LÄ 6,1161).
76 Man muss also keine Umstellung vornehmen (wie Gunkel, Psalmen [s. Anm. 8],
585. 591) oder postulieren (wie Seybold, Psalmen [s. Anm. 30], 517).
77 Wie Ζ.Β. in Ps 92,6; 104,24; 111,2.
78 Wie in Ps 106,22; Ex 34,10; vgl. Sir 11,4.
7‫ ؟‬Das erklärt die passiven Verben, die Gott als direktes Subjekt der Erschaffung ver-
meiden. Darin spiegeln sich altorientalische Überlieferungen von der Erschaffung des
Menschen als formatio, in denen sich die Menschen stets dem Zusammenwirken des
Schöpfergottes mit Muttergottheiten verdanken. So erschafft Enki ein ‫׳‬Modell«, wäh-
rend Nammu, die Mutter der Götter, - unterstützt von Ninmach - den Lehm Uber dem
Apsu mischt und ihn im ‫׳‬Modell formt (Enki und Ninmach, z. 21-34: TUAT ΙΙΙ/3,
107 (2010) Ausgespäht und überwacht, erschreckend wunderbar geschaffen 435

der der Erschaffung im Mutterleib in einer überraschenden Hinsicht. Leider ist


der Text mitunter dunkel und deshalb nicht leicht zu deuten. Schon die antiken
Übersetzungen hatten mit ihm große Schwierigkeiten.
Zunächst greift V. 15 mit dem Verb »wirken (mit bunten Fäden)« (rqm)80 die
Vorstellung vom Schöpfungsvorgang als Herstellung eines Gewebes auf. Das
dafür gebrauchte Verb hebt die Kunstfertigkeit der Erschaffung des Menschen
hervor: Jeder Mensch - ein UnikatJ
Sodann verlegt V. 15 den Ort der Erschaffung vom Mutterleib in die Tiefen
der Erdeü Mit der Erde als Ort ist im Alten Orient jedoch nicht die Erschaffung
des Einzelmenschen im Blick, sondern die Entstehung der Gattung Mensch in
Gestalt der ersten Menschen am Uranfang der Welt. Die treten Z. B. im sume-
rischen Hymnus auf die Spitzhacke nicht ohne Mitwirkung der Erde ins Da-
sein: Nachdem der Gott Enlil Himmel und Erde voneinander entfernt hat, zieht
er eine Furche oder Spalte und lässt die ersten Menschen wie Pflanzen aus der
Erde sprießen§2. Ein Echo dieser Vorstellung können wir noch in Gen 1 bei der
Erschaffung der Landtiere hören: »Und Gott sprach: Die Erde [‫ ]إ‬bringe her-
vor lebendiges Getier, ein jedes nach seiner Art.« Ebenso vernehmen wir es in
der Wendung »Mutter alles Lebendigen« für die Erde (Sir 40,1). Offensichtlich
kannte der Dichter des Psalms die Vorstellung der emersio für die Entstehung
der Menschen, wahrscheinlich Uber die griechischen Autochthonenmythen. Sie* 80 8

391). Auch im Atramchasis-Epos (Taf. I, 200-240) wirken Enki und die Muttergöttin
Nintu zusammen (TUAT ΙΙΙ/4, 623f). - Die Septuaginta vermeidet diese Anklänge und
setzt die 2. Pers. Sing, aus V. 13 inV. 15 fort (einige Handschriften der Septuaginta auch
inV. 14).
80 Das Verb begegnet bei der Herstellung der Decken für das Zelt der Begegnung in
Ex 26,36; 27,16 u.ö.; vgl. riqmah »buntgewirkter Stoff« für königliche Gewänder in
Ps 45,15; Ez 16,10; 27,16. Die Septuaginta übersetzt das ihr unverständliche rqm mit hy-
postasis (vgl. Ps 39,6; S9,4S) als Parallelwort zu »Gebein«. Die Änderung in rqb = »ver-
faulen« (in den Tiefen der Erde als Umschreibung des Totenreichs) ist willkürlich und
ohne Anhalt in der Textüberlieferung (gegen R. Pytel, Ps 139,15. Versuch einer neuen
Deutung [Folia Orientaba 13,1971,257-266]).
81 Man sollte sie nicht vorschnell als Teil des Mutterleibs deuten. Die äVendung he-
zeichnet andernorts das Totenreich (Ps 63,10; Ez 26,20 u. ö.), kann aber auch ohne Spezi-
fischen Bezug auf die Unterwelt verwendet werden (Jes 44,23f). Eberhardt (s. Anm.
36), 136 versteht »die Tiefen der Erde« als umfassende Bezeichnung, welche die getrenn-
ten Bereiche für die Toten und für die Menschenschöpfung umgreift.. Jedenfalls konnte
ein späterer Leser mit ihr nichts anfangen und fügt.e deshalb einen Relativsatz als Erläu-
terung hinzu, in dem er die Tiefen der Erde als Hinweis auf das Geheimnis deutet, wel-
ches das äVerden des Menschen im Mutterleib umgibt.
82 Vgl. G. Pettinato, Das altorientalische Menschenbild und die sumerischen und
akkadischen Schöpfungsmythen (AH AäV.PH 1971/1), 1971, 30-39 und die entsprechen-
den Texte mit Übersetzung und Kommentar (Nr. 3) (aaO S3ff).
436 Matthias Kbckert ZThK

erklären die Herkunft del' ei'sten Bewohnei' einei' Region dui'ch Gebui't aus del'
El'de in del' mythischen Ui'zeit, zuweilen untei' göttlicher Mitwirkung“.
Während V. 13 die Ei'schaffung des individuellen Menschen - eben dieses
Dichtei's von Ps 139 - im Leib seinei" Muttei- im Blick hat, lenkt V. 15 den Blick
auf den Anbeginn del" Welt“. Del" Dichtei- fühi't die Untei'scheidung zwischen
Ei'schaffung im Mutteileib und Wii'ken in den Tiefen del" Ei'de ein, um zu sa-
gen, dass seine Individualität nicht ei'st im Mutteileib, sondern schon damals,
am Ui'anfang allei" Dinge, Gott nicht verborgen wai'85.

4.5. Was menschlichei' Ei'kenntnis gänzlich entzogen bleibt, ist Gott schon im-
mei' bekannt: »mein cosä>n«. Was ist damit gemeint? Gewöhnlich verändert man
die Vokale des Woi'tes in ‫ رداﻟﻊ‬und übersetzt es wie Luther mit »mein Gebein,
meine Knochen« odei" wie Mai'tin Bubei- mit »mein Kein«. Abei- wie soll aus
dei" geläufigen Vokalisiei'ung die erklärungsbedürftige des hebi'äischen Textes
entstanden sein? Deshalb bleibe man bessei' bei cosam, das - andei's als das Pli-
mäinomen cäsäm - mit del" Wui'zel csm I = »mächtig, zahli'eich sein« zusam-
menhängt. Das Nomen c0säm bedeutet sonst »Stärke“, Macht«. Doch woi'auf
könnte sich das bei einem Menschen beziehen, dei' noch nicht einmal gezeugt,
geschweige denn geboi'en ist? Am ehesten auf seine Anlagen, auf das, was in ihm
Steckt87. Berücksichtigen wil' den letzten Satz von V. 15 mit seinem Vei'weis auf
die Entstehung dei' Menschheit am Ui'anfang, dann will dei' Dichtei' offenbai' sa-
gen: Nicht ei'st seit meinei' Gebui't, auch nicht ei'st im Mutterleib, sondern schon
von Anbeginn dei' Welt an kennt mich Gott und weiß um das, was einmal aus
mil'wei'den soll.* 85 * 87

s3 Die Texte (mit Interpretation) sind leicht zugänglich bei M. LuginbÜhl, Men-
schenschöpfungsmythen. Ein Vergleich zwischen Griechenland und dem Alten Orient
(EHS XV/58), 1992,100-142.
s4 Diese doppelte Perspektive entspricht Hi 1,21; Sir 40,1; sie ist dort jedoch auf Ge-
burt und Tod verteilt: Geboren wird der Mensch als Individuum »aus dem Schoß seiner
Mutter«, bei seinem Tod aber kehrt er zurück zur »Erde als Mutter alles Lebendigen«.
85 Etzelmüller (s. Anm. 32), 327-329 sieht richtig die Verbindung von emersio und
formatio in den Versen 13-16, zieht aber keine inhaltliche Konsequenzen aus der »mehr-
perspektivischen Vorstellung« (aaO 330).
s، Hi 30,21 spricht von der Stärke der Hand Gottes, Dtn 8,17 (parallel zu koah) von
der Israels. Symmachus übersetzt denn auch (anders als die Versionen sonst) mit km-
tiliosis.
87 Für diese Deutung spricht auch der Anschluss an V. 14, worauf schon KÖNIG
(s. Anm. 41) hingewiesen hat. Er deutet V. 15a auf »die auch schon bei einem Menschen-
keim veranlagte geistige Potenz oder ideelle Grundanlage des Menschen und seine darin
begründete besondere Weltstellung und Gottesbeziehung« (aaO 134).
107 (2010) Ausgespäht und überwacht, erschreckend wunderbar geschaffen 437

Dieser kühne Gedanke wird in der Bibel erstmals hier in Worte gefasst.
Sir 42,18-21 wendet ihn an der Wende vom dritten zum zweiten Jahrhundert
V. Chr. auf die kommenden Ereignisse der Weltzeit٩

(18) Die Meerestiefe und das Herz erforscht er,


und in all ihre Blößen hat er Einsicht‫؛‬
denn der Höchste besitzt Erkenntnis,
er blickt auf die kommenden Ereignisse der Weltzeit.
(19) Er tut kund Vergangenes und Werdendes,
er offenbart die Erforschung verborgener Dinge.
(20) Nicht wird vermisst bei ihm irgendeine Erkenntnis,
und nichts entgeht ihm.
(21) Die Macht seiner Weisheit bleibt bestehen,
einer ist er von Ewigkeit her,
nichts kann hinzugefügt werden und nichts kann weggenommen werden,
keinen Ratgeber braucht er.

In den Texten aus Qumran ist seit dem zweiten Jahrhundert V. Chr. mit der
Schöpfung am Uranfang die Vorhersehung (pronoia) des Schöpfers verbunden.
So heißt es in der sogenannten Sektenregel:
»Vom Gott der Erkenntnisse (stammt) alles Seiende und Gewordene,
und bevor sie ins Dasein getreten, setzte Er ihren ganzen Plan fest.«8‫؟‬

Ein Fragment aus Höhle 4 steht Ps 139,15-16 besonders nahe. Dort lesen
wir: Bevor Gott alles Seiende erschafft,
»hat Er (ihre) Tätigkeiten festgesetzt [...], Zeitabschnitt um Zeitabschnitt,
und es ist eingezeichnet auf den Tafeln( des Himmels )«90.

Damit ist ein weiteres Fragment zu vergleichen:


»[B]evor Er sie geschaffen hat, kannte Er (ihre) Gedan(ken --).«91* 89 90 91

Sir 42 ist auch hebräisch überliefert‫ ؛‬Übersetzung: G. Sauer, Jesus Sirach (JSHRZ
ΙΙΙ/5), 1981,610f.
89 IQS III 15 (übersetzt von j. Maier, Die Qumran-Essener: Die Texte vom Toten
Meer, Bd. I: Die Texte der Höhlen 1-3 und 5-11 [UTB 1862], 1995, 173). - Zur pronoia
Gottes in Qumran s. jetzt: R. G. Kratz, Gottes Geheimnisse. Vorherbestimmung und
Heimsuchung in den Texten vom Toten Meer (in: Ders. / H. Spieckermann [Hg.],
Vorsehung, Schicksal und göttliche Macht. Antike Stimmen zu einem aktuellen Thema,
2008,125-146 [mit Belegen aus lQH IX]).
90 4Q180 Frg. 1:2-4 (übersetzt vonj. Maier, Die Qumran-Essener: Die Texte vom
Toten Meer, Bd. II: Die Texte der Höhle 4 [UTB 1863], 1995,125).
91 4Q180 Frg. 4 (übersetzt vonj. Maier, Qumran-Essener II [s. Anm. 90], 127).
438 Matthias Köckert ZThK

Jüdisches Denken in hellenistischem Gewande bildet dann die Vorstellung


einer präexistenten Seele aus, wie wir sie aus Texten des ersten Jahrhunderts V.
Chi*. kennen2‫؟‬.

4.6. Nicht weniger kühn fahrt V. 16 fort: »Meinen golk haben deine Augen ge-
sehen.« Leider wissen wir nicht genau, was das Wort bedeutet, weil es in der ßi-
bei nur hier vorkommt. Man leitet das Nomen am besten vom Verb glm mit der
Bedeutung »einwickeln, zusammenfalten« ab92 93. 94
Es95
handelt
96 97 98
sich dann um etwas,
das im Blick auf seine Bestimmung noch »form- und gestaltlos« ist9h So erinnert
das zusammengewickelte Tuch, mit dem Elia auf das Wasser des Jordan schlägt,
durch nichts an das, was es - einmal entfaltet - sein wird: ein Mantel (vgl. 2Kön
2,8). Deshalb bleiben manche in Verbindung mit den Verben des Webens und
Wirkens auf der Bildebene und übersetzen mit »Knäuel«, denken aber an den
Embryo im Mutterleib93. Andere übersetzen gleich mit »Embryo«9^, da das tal-
mudische Hebräisch ein »noch unfertiges Gefäß« golma5 nennt9?. Jedoch heißt
weder in der Bibel9^ noch im antiken Judentum oder im modernen Hebräisch

92 Sie begegnet in SapSal 8,19f (D. Georgi, Wisheit Salomos [JSHRZ ΙΙΙ/4], 1980,
433 beurteilt beide Verse mit Recht als Einschub)9,15 ‫ ؛‬und 2Hen 23,5: »[...] alle Seelen
sind bereitet vor der Bildung der Erde« (Ch. BOttrich, Das slavische Henochbuch
[JSHRZ V/7], 1995, 898, mit Hinweisen auf weitere jüdische Belege).
93 M. Dahood, Psalms 101-150 (AncB 17Α), Garden City/NY 1970, 284. 295 geht
dagegen von dem mittelhebräischen oder aramäischen Nomen gyl I »Lebensalter« aus,
das nur in Dan 1,10 sicher belegt ist, und deutet das ١Vort im Blick auf die folgenden
Sätze von V. 16 als »my life stages«, kann aber die Entstehung des masoretischen Textes
nicht erklären.
94 Septuaginta und Aquila übersetzen golmy denn auch mit akatergaston mou, Sym-
machus mit amorphoton me, also: »mich als Ungeformten« oder »das, was von mir noch
nicht vollendet war«. »Die mittelalterliche, philosophische Literatur benutzt es als he-
bräischen Terminus für Materie, formlose Hyle« (G. Scholem, Die Vorstellung vom
Golem in ihren tellurischen und magischen Beziehungen [Erjb 22,1953, 235-289], 239).
95 Hupfeld (s. Anm. 7), Bd. IV, 388f bezieht den Knäuel auf den »Lebensfaden« und
damit auf die folgenden »Lebenstage«, Grohmann (s. Anm. 75), 29 dagegen wie die
meisten auf den Embryo.
96 So Gesenius219 ,^‫؛‬b‫ ؛‬zuletzt wieder Hartenstein (s. Anm. 8), 502‫ ؛‬dagegen je-
doch schon Scholem (s. Anm. 94), 238f, der nachdrücklich für die Bedeutung »das Un-
gestaltete. Formlose« plädiert. Etzelmüller begründet seine Übersetzung mit »Kern«
nicht und lässt offen, was er damit meint (Etzelmüller [s. Anm. 32], 325). Zenger (s.
Anm. 8), 68 verschiebt den Sinn: »mein ١Verden«.
97 j. Levy, Chaldäisches ١VCrterbuch Uber die Targumim und einen großen Theil des
rabbinischen Schriftthums, Bd. 1,1866,143.
98 In Ex 21,22 wird die noch ungeborene Leibesfrucht der Mutter bereits yäläd
»Kind« genannt, ebenso im Talmud: bNidda 30b-31a (in Verbindung mit Ps 139,14-15).
107 (2010) Ausgespäht und überwacht, erschreckend wunderbar geschallen 439

der Embryo jemals gollim. Man wül'de den Satz dann auch vor V. 15 erwarten‫؟؟‬.
Aber auch dann fi'agt man sich, was V. 16a gegenüber V. 13 Neues bi'ingt? Das
ist soloi't andet's, wenn Gott nicht einlach nut' den Embt'yo sieht, den et' ZUVOI'
schon et'schailen hat. Nachv. 15 beschi'eibt goldrn vielmehl' den Status des Men-
sehen am Ui'anlang bei Gott, noch VOI' seinei' Ei'schallung im Mutteileib, also:
»Als ich noch ungeloi'mt und ohne Gestalt wai', haben mich schon deine Augen
gesehen.«
In diesel" Situation bekommt das Sehen Gottes noch einen präziseren Sinn.
Es geht nicht nui" um schlichtes Wahinehmen; denn noch gibt es gal" nichts Ge-
staltetes wahi'Zunehmen, noch nicht einmal einen Embi-yo. Deshalb heißt »se-
hen« hiei" so viel wie »ei'sehen«. Wie Gott sich einst zu David in ein besondei'es
Verhältnis gesetzt hat, als ei" ihn zum König »ei'sah« (lSam 16,1), so weiß sich
dei" Dichtei- schon vom Anbeginn del" Welt an als von Gott in einem doppelten
Sinne ei'sehen und bestimmt: Del" Dichtei- wai" noch nicht gezeugt, geschweige
denn geboi'en, da hatte Gott ihn schon ei'sehen, diesel" Mensch zu sein, dei" ei"
einmal wei'den wil'd; zugleich abei' hatte ei' sich selbst dazu bestimmt, dieses
Menschen Gott zu sein™.

4.7. Del' lolgende schwielige Satz™ erwähnt ein »Buch« Gottes, in das »ihl'e
Gesamtheit« geschi'ieben steht. Die Bibel kennt sonst zwei vei'schiedene Bücher
Gottes: Im »Buch dei' Lebendigen«™ sind die Gei'echten aulgeschiieben; das
»Buch dei' Taten«'“ dient dei' himmlischen Kontoführung Uber den Lebenswan-
del dei' Menschen und liegt dem Geiicht Uber dei'en Wei'ke zugl'unde. Mit beiden
hat das Buch in Ps 139,16 nichts zu tun'“.99 * * 102 *

99 Vor allem, wenn man V. 15a gegen den masoretischen Text übersetzt mit: »Nicht
war vor dir mein Gebein verborgen.«
'٥° Vgl. die zweite Strophe aus Paul Gerhardts Weihnachtslied (EG, Nr. 37): »Da ich
noch nicht geboren war, / da bist du mir geboren /und hast mich dir zu eigen gar, / eh ich
dich kannt, erkoren. / Eh ich durch deine Hand gemacht, / da hast du schon bei dir be-
dacht, / wie du mein wolltest werden.«
'٥' Gegen die beliebte Umstellung der Sätze in V. 16, meist verbunden mit weiteren
Eingriffen (s. App. und die willkürlichen ‫׳‬Rekonstruktionen« Gunkels oder bei Hol-
MAN [s. Anm. 6], 189-201), empfiehlt es sich, bei der Abfolge des masoretischen Textes
zu bleiben.
102 Ex 32,231; Ps 69,29; Dan 12,1; vgl. Jes 4,3; Mal 3,16 (»Buch des Gedenkens«);
Ps 40,8.
Jes 65,6; Dan 7,10; vgl. Ps 56,9.
Wer freilich golmy in gemulay (»meine Taten«) ändert, muss das in Ps 139,16 er-
wähnte Buch in die zweite Rubrik stellen. - Einen Überblick Uber die verschiedenen
himmlischen Bücher in Antike, Bibel und älterem Christentum gibt I. KoEP, Das
himmlische Buch in Antike und Christentum. Eine religionsgeschichtliche Untersu-
chung zur altchristlichen Bildersprache (Theoph. 8), 1952, der Ps 139,16 mit Recht als
»eine Art Schicksalbuch« deutet, weil der Vers »Gottes Vorherwissen um den Menschen,
44 ٥ Matthias Köckert ZThK

Ein Blick Uber die Bibel hinaus hilft weitet". Schon im Atramchasis-Epos fin-
det die Gebui't det" ei'sten Menschen im »Haus det" Schicksale« statt'٥5. Aus Ba-
bylonien stammt die Vorstellung, dass sich die Geschicke det" Welt und des Kö-
nigs als des herausragenden Menschen der" Entscheidungen der" Götter" ver'dan-
ken. Ursprünglich galt Enlil in Nippur" als der" Gott, der" das Geschick von
Himmel und Et'de bestimmt. Erst später" ist diese Wüt'de auf Mat'duk und des-
sen Sohn Nabu ubergegangen. Der" Schreibergott Nabu, Stadtgott von Bor‫־‬-
sippa, hat die Schicksalsentscheidungen auf den sogenannten Schicksalstafeln
verzeichnet'“. Deshalb kann Assur'banipal in einem Zwiegespräch mit Nabu
sagen: »Mein Leben ist vor" dir" geschrieben [...],«“7 Die einmal auf den Tafeln
fixier'ten Schicksalsbestimmungen wer'den hier" offenbar- als festhegend vor-ge-
stellt. Andererseits kann Nebukadnezar" den Gott Nabu bitten:
»Auf deiner zuverlässigen Tafel,
die da festsetzt den Bezirk des Himmels und der Erde,
befiehl Länge meiner Tage, schreibe mir zu Nachkommenschaft!«'“

Hier" scheint das Geschick des Königs auf der" mit der" Schöpfungsordnung
ver'bundenen Tafel noch dur‫־‬ch göttlichen Ratschluss beeinflussbar- zu sein.
Diese Unausgeglichenheit der- Vorstellungen lässt sich auch bei der- Ver-wen-
dung des Weltschöpfungsepos Enuma elisch im Neujahrsfest beobachten'“.
Das Epos selbst ber-ichtet, wie Mar-duk mit den Mächten der- Vor-welt kämpft
und als Sieger- die Tafeln an sich br-‫؛‬ngt"٥. Als Götterkönig setzt er- nach der- Er--
Schaffung von Himmel und Erde »seine Satzungen und Entscheidungen« fest* 105

sein Tun und Lassen« preist (aaO 19). Ähnlich Holman (s. Anm. 6), 199 (mit Hin-
weis auf Ps 56,9; 4Esr 6,20; Apk 5,1). Vgl. auch die Materialsammlung von s. M. Paul,
Heavenly Tablets and the Book of Life (JANES 5), 1973,345-353.
105 TUAT 111, 627. Leider ist der Vorkontext so stark zerstört, dass der Sinn der dort
durchgeführten magischen Riten nicht mehr recht deutlich wird.
'٥٥ In einer Inschrift Adadniraris III. auf einer Nabu-Statue aus Kalah/Nimrud
heißt es: »[...] der besorgt ist um alles im Himmel und auf Erden, (der) Allwissende, der
[...] das Schreibrohr hält« (KB 1,1, I92f), und in einer Zylinderinschrift Sargons ist die
Rede von Nabu, dem »Schreiber des Alls, der die Gesamtheit der Götter leitet« (KB
2,481) - vgl. dazu KoEP (s. Anm. 104), 4.
107 VAB 7/2, 347:21 (zit. nach KoEP [s. Anm. 104], 5).
los VAB 4, loof, Kol. 2:23-25 (zit. nach KoEP [s. Anm. 104], 5).
109 Vgl. dazu Ch. Fichtner-Jeremias, Der Schicksalsglaube bei den Babyloniern
(MVAG27,1922,2), 1922,1-34.
"٥ Die Tafel war - so jedenfalls im Enuma elisch - ursprünglich im Besitz Tiamats.
Die gab sie jedoch ihrem Sohn Kingu mit den Worten: »Dein Befehl soll nicht verändert
werden, die Äußerung deines Mundes sei beständig« (Taf. II, 44; III, 106: TUAT III,
576). Nach dem Sieg nahm Marduk die Schicksalstafel dem Kingu ab, »die ihm nicht zu-
stand, siegelte sie mit einem Siegel und heftete sie an seine eigene Brust« (Taf. IV, I21f).
107 (2010) Ausgespäht und überwacht, erschreckend wunderbar geschallen 441

und übergibt die »Tafel det" Schicksale« dem Himmelsgott Anu‫)؛؛‬. In det" kul-
tischen Wiederholung det" Schöpfung anlässlich des babylonischen Neujahrs-
festes abet" werden alljähtlich auch die göttlichen Entscheidungen neu festge-
setzt. Am achten Tag des Festes begibt sich det" eigens aus Bot'sippa angei'eiste
Gott Nabu in einen besondet'en Raum des MardukTempels in Babylon, det" für
die Götterversammlung untei" Marduks Voi'sitz bestimmt ist, und schi'eibt doi't
die Geschicke des kommenden Jaht'es auf”2.
Diese Voi'stellung haben jüdische Gt'uppen spätestens in det" Perserzeit ken-
nengeleint und auf das Geschick einzelnet" Menschen übertragen'‫״‬. Die judi-
sehen Belege für Schicksalstafeln odet" -büchet" sind ft'eilich jünger. Im Jubiläen-
buch aus dem zweiten Jahi-hundei't V. Chi", übergibt ein Engel dem Vatei" Jakob
sieben himmlische Tafeln, auf denen sein und seines Volkes künftiges Geschick
geschtieben steht'‫״‬. In einem spätherodianischen Fi'agment aus Qumran lesen
wit" von »Tafeln des Himmels«, auf die »Zeitabschnitt um Zeitabschnitt« aufge-
zeichnet ist‫؛״‬. Zu den Zeichen, die im 4Esr das Ende det" Tage ankündigen, ge-
höi't auch das Et'scheinen von aufgeschlagenen Büchern am Himmel, welche
die Ratschlüsse Gottes enthalten'‫״‬. Doch ist det" Gedanke, dass Gott schon bei
Et'schaffung det" Welt alles vorhergesehen und vorherbestimmt hat, auch ohne
die Voi'stellung von Tafeln odet" Büchern verbreitet'‫״‬.
Offensichtlich kennt det" Dichtet" von Ps 139 diese Voi'stellung. Schon vom
Anfang del' Welt, als es ihn noch gal' nicht gab, wai'en ei' und sein künftiges
Geschick von Gott ei'sehen und »ihl'e Gesamtheit«"‫ ؟‬in sein Buch aufgezeich-* 113

'‫ ״‬Taf. V, 65-70 (TUAT III, 589).


"2 Die Bauinschrift Nebukadnezars (VAB IV, 126ff [Kol. 2,54-65; 5,12-14]), nennt
»Duku, den Ort der Schicksalbestimmung [...], worinnen [...] zu Neujahr, am 8. (und)
11. Tage der Gott ‫׳‬König der Götter Himmels und der Erde‫׳‬, der Götterherr, sich nieder-
lässt, die Götter Himmels und der Erde ehrfurchtsvoll auf ihn achten und gebeugt vor
ihm stehend das Geschick für ewige Zeiten, das Geschick meines Lebens darin bestim-
men« (Fichtner-Jeremias [s. Anm. 109], 34).
113 KoEP (s. Anm. 104), 26f vermutet ansprechend, dass »gerade der Schicksalbuch-
Gedanke im babylonischen Neujahrsritus die Juden veranlasst« habe, »die ihnen ja nicht
unbekannte himmlische Buchführung mit dem Neujahrsfest zu verbinden«. Das judi-
sehe Neujahrsfest erinnert an die Weltschöpfung und gedenkt des göttlichen Gerichts.
"4 Jub 32,21; vgl. die himmlischen Tafeln in lHen 81,lf; 93,lf; 103,2f u.ö. So liest
auch Asser auf himmlischen Tafeln, wie seine Nachkommen gottlos am Retter Israels
handeln und deshalb zerstreut werden (TestAss 7,5). Zu anderen Belegen in den TestXII
vgl. TestLev 5,4; 14,1; 16,1 u. ö.
"5 4Q180 Frg. 1:3 (zitiert nach: j. Maier, Qumran-Essener II [s. Anm. 90], 125).
‫ ة'ا‬Vgl. 4Esr 6,20.
117 Vgl. AssMos I2,4f; vgl. auch lHen 9,11; 39,11.
"s Der Plural des Suffixes »ihre Gesamtheit« bezieht sich auf golmy, also auf »mich«,
»als ich noch ungeformt« war. Man muss golmy nur umfassend genug verstehen: der
Dichter in seiner künftigen individuellen Gestalt mit seinem künftigen individuellen
442 Matthias Köckert ZThK

net. Im Horizont del' Voi'sehung Gottes bleiben wahrscheinlich auch die beiden
nächsten Sätze: »(Meine hebens-)Tage wui'den gebildet, obwohl noch keinei' von
ihnen“‫ ؟‬da wai'.« Zwai' begegnet in Hi 14,5; 15,20 die Voi'stellung, Gott habe die
hebenszeit des Menschen schon voi'ab lestgesetzt, doch zielt die Formulierung
mit ‫»( اذد‬Tage wui'den gebildet«) aul mehl' als lediglich die Dauei' del' hebenszeit.
Wenn jahwe schon »von ferne(r Zeit) hei'« (Jes 22,11 merahoq), ja »seit den Tagen
dei' Ui'zeit« (Jes 37,26 mimey qädäyn) die Belagei'ung Jei'usalems dui'ch Sanhei'ib
»gebildet hat«, sind mit dei' Zeit die Ei'eignisse im Spiel, die diese Zeit auszeich-
nen. Das gilt ebenso ÍÜ1'Jahwes Ankündigung des Kyros:
Ich habe es angekündigt (1dbr), ich lasse es auch eintrellen (¡iw’ Hit.);
ich habe es gebildet (ysr), ich luhre es auch durch ¡sh) (Jes 46,11).

Wie in Jes 22,11 und 46,11 das »Bilden« konki-etei" politischei" Konstellatio-
nen und Ei'eignisse dei" ausführenden »Tat« Gottes ui'zeitlich voi'angeht, so
wei'den in Ps 139,16 die hebenstage des Dichtei's mit ihi'em besondei'en Ge-
schick voi'ab »gebildet«, als ei' von Gott ei'sehen wu1'de2‫؛‬٥.
Del' Gottesknecht weiß sich schon VOI' seinei' Gebui't »von Mutteileib« an zu
seinem besondei'en Dienst bei'ufen (Jes 49,1). Vonjei'emia heißt es gal', Gott sei
mit ihm schon vei'ti'aut gewesen, bevoi' ei' ihn im Mutterleib gebildet hat (Jei' 1,5).
Noch einen Schiitt weitei' geht Ps 139: Hiei' weiß sich dei' Dichtei' mit seinem
Geschick von Anbeginn dei' Welt an von diesem Gott ei'sehen und bestimmt“‫؛‬.
Das Gottesverhältnis des Menschen beginnt nicht ei'st im Mutterleib.

Geschick. Ähnlich schon E. König, der freilich goläm als Fötus versteht: kullam umfasse
»die von Gottes Augen beobachtete Grundfähigkeit des Menschenwesens (15a), die an
dem betreffenden Fötus (16aa) wahrgenommenen Momente, die nach ihrer mehr oder
weniger kräftigen Anlage [...] den Lebensumfang des betreffenden Menschen bedingen«
(König [s. Anm. 41], 135). Ganz anders Irsigler (s. Anm. 48), 231, der (wie die meisten,
zuletzt auch wieder Hossfeld [Hossfeld / Zenger (s. Anm. 8), 725]) das Subjekt »sie
alle« semantisch auf »Tage« bezieht, am Ende aber zu der Deutung kommt, »die Präfor-
mierung der gesamten Lebenszeit« sei »schon längst im vorgeburtlichen ‫׳‬Embryonalzu-
Stand«« geschehen.
‫ ؟؛؛‬p. Mannati will »nicht einer von ihnen« nicht auf die Tage beziehen, sondern als
»kein (einziger) Mensch« verstehen (P. Mannati, Psaume 139,14-16 [ZAW 83, 1971,
257-261]). Das leuchtet wenig ein, weil von den Menschen allgemein oder als Gattung
gar nicht gesprochen wird und »Tage« das nächste Bezugswort ist.
2‫؛‬° Die Verse 1-5 scheinen dieser Deutung zu widersprechen: Wozu muss Gott noch
etwas am Beter ausforschen, wenn er doch zuvor schon alles »gebildet« hat (so der Ein-
wand von Eberhardt [s. Anm. 36], 137)? In der Tat, Gott muss das nicht, aber in den
Versen 1-5 ist nicht Gott der Sprecher, sondern der Dichter. Dieser aber macht im Nach-
denken neue Erfahrungen: Mit der Einsicht der Verse 13-16 korrigiert er seine Gottes-
erfahrung in den ersten Versen, und mit dem Lobpreis der Verse 17-18 überholt er V. 6.
‫؛‬2‫ ؛‬Insofern geht Ps 139,16 noch über Ps 31,16; 39,5; Hi 14,5 hinaus.
107 (2010) Ausgespäht und überwacht, erschreckend wunderbar geschallen 443

Im Nachdenken über seine eigenen Anfänge wird det' Dichtet' det' Nähe Got-
tes auf überraschende Weise neu gewiss'22. Dabei macht et' zwei Entdeckungen.
(1.) El" weiß: Gott ist mit" viel zu nahe und wil'd es immei" bleiben, als dass et"
jemals Objekt meines Nachdenkens und meinet" Forschungen wet'den könnte.
Gott dui'chschaut mich, abet' ich kann seine Gedanken und Absichten nicht et'-
fassen. Weil ich ganz bei ihm bin, wet'de ich niemals mit ihm fei'tig sein. Deshalb
ti'ägt det" Dichtet" seine Ei'fahi'ungen und Einsichten in det" Gestalt eines Ge-
bets vot'. Zugleich vei'steht et' (2.), dass diese Nähe - so et'scht'eckend et' sie auch
erfahren hat - das Wundet" heilvollet" Zuwendung bii'gt. Die Wörter und Mo-
tive, die in denVet'sen 1-12 ambivalent, ja sogat' mit negativen Assoziationen ge-
bi'aucht wut'den, et'scheinen in denVet'sen 13-18 dut'chgehend positiv besetzt^;
sie alle Stehen nun im Licht des Lobpreises von V. 14. Wat' dem Dichtet' Gottes
Nähe in den Vet'sen 1-6 so »wundetlich« und absondetlich et'schienen, dass et'
vot' ihl' fliehen wollte, so sind ihm nun Gottes Gedanken »kostbai‫ «־‬gewot'den.
Konnte et" det" andtingenden Nähe dieses Gottes nicht standhalten, so weiß et"
jetzt: Deine Nähe hat mich vei'sehi't, abet' »ich bin noch immei' bei dit'«. Wollte
et' in den Vet'sen 7-12 vot' Gott fliehen, so hat et' jetzt bei Gott Heimat gefunden.
Dat'aus zieht de!' Betet' im letzten Teil eine entscheidende Konsequenz:

‫ و‬. Deshalb mill ich ZM dir gehören (V. 19-24)

Del" letzte Teil des Psalms bescheidet sich nicht mit det" Zweisamkeit von Ich
und Du. Wet' zu diesem Gott gehöt'en will, kann seine Welt unmöglich übet'se-
hen. Zu ihl' gehöt'en leidet' auch »Ft'evlet'« und »Männer von Bluttaten«. Del' Be-
tei' wünscht ihnen den Tod124 und hasst sie aufs Äußei'ste. Das befi'emdet uns.
Indes, die Ft'evlet' zu hassen, vei'steht sich fül' den Ft'ommen von selbst'25. Wet'
dem Ft'evlet' hilft und den hebt, der Jahwe hasst, foi'dei't gemäß 2ch1' 19,2 Gottes
gei'echten Zorn het'aus. Immet'hin hat selbst det' äußei'ste Hass Gt'enzen, indem
det' Psalmist das Ende det' Ft'evlet' Gott anheimstellt und es nicht selbst besoi'gt.

)22 Entsprechend legt die Erinnerung an die Erschaffung Jakobs/Israels das Fun-
dament für Vertrauen in die Ankündigung des kommenden Heils: Jes 43,1; 44,2; vgl.
46,3-4.
)22 Vgl. die Nähe Gottes in V. 15a mit der in den Versen 1-6, die »Tiefen der Erde«
in V. 15b mit der »Unterwelt« in V. 8, Gottes Augen in V. 16a mit dem Blick, der in den
Versen 11-12 sogar die Finsternis durchdringt, den Lobpreis der Wunder Gottes in V. 14
mit V 6
12t Vgl. Jer 12,3 angesichts des Erfolgs der Frevler: »Du, Jahwe, du kennst mich und
siehst mich; du prüfst mein Herz, (ob es) bei dir (ist). Reiße sie fort wie Schafe zur
Schlachtung! Weihe sie für den Tag des Erschlagens!«
)25 Der Fromme hasst die Versammlungen der Übeltäter und sitzt nicht bei den Frev-
lern (Ps 26,5); er hasst die Götzendiener (31,7) usw.
444 Matthias Köckert ZThK

Denken wir an mögliche Kandidaten für »Frevler« in unserer Welt, finden


wir Hass und Ekel des Betel'S ehet" verständlich als befremdlich. Wet" verab-
scheut nicht Kinderschänder und Menschenschindet"? Wet" liebt schon Terro-
listen, die den Namen Gottes dazu missbi'auchen. Unschuldige hinzumoi'den?
Gewiss, wil- würden vielleicht nicht sagen, »mit äußerstem Hass hasse ich sie«,
solange nicht unsei" Kind, Haus odei" Land beti'offen sind, abei" »zu Feinden
sind sie« auch uns gewoi'den. Wei" zu Gott gehört, wil'd sich niemals mit Fi'evel-
taten gegen seine Geschöpfe odei" gegen seine Schöpfung äbfinden'2٥.
Wil" wissen nicht, wei" die Menschen wai'en, die del" Betel" des Psalms als
»Feinde Gottes« VOI" Augen hatte; denn del" Text belässt es bei Andeutungen,
und die sind übei'dies noch vieldeutig'27. Einige wenige Kontui'en lassen sich
abei" noch ei'kennen. Del" Dichtei- denkt an Menschen, die von Gott 1'eden, »die
dich nennen«, wenn auch »mit A1'glist«)28. Sie haben ihi'e Stimme »zu Halt-
losem ei'hoben«. Weil sie sich dadui'ch als Feinde Gottes ei'weisen, muss sich
das Haltlose auf das beziehen, was sie von Gott 1'eden. Offenbai' geht es um die
l'echte Weise, von Gott zu denken, zu 1'eden und entspi'echend zu handeln. Aus
den vielen Möglichkeiten, unangemessen von Gott zu 1'eden, gi'eife ich di'ei hei'-
aus, die del' Dichtei' VOI' Augen hatte. Dei'en gegenwärtige Ei'scheinungsfoi'men
liegen auf del' Hand, so dass ich sie nicht eigens nennen muss.
So meinen die Fi'evlei' in Ps 73,11:
Wie erkennt denn Gott?
Gibt’‫ ؟‬überhaupt Erkennen beim Höchsten?

In Ps 10,11 denken sie:


Gott hat vergessen,
verborgen hat er sein Antlitz und sieht niemals hin.

Aus diesem Denken ei'wachsen Hochmut und Untaten: »Ihi' Hei'Z läuft über
von bösen Plänen« (Ps 73,7); denn ein Gott, del' nichts sieht und nichts höi't
und völlig vei'boi'gen ist, del' kann auch nichts ahnden und ist deshalb pi'aktisch
unei'heblich (Ps 10,4.13). Dagegen hat del' Betel' eifahi'en, dass Gott sogai' sein

،2، Mit Recht betont Zenger (s. Anm. 8), 70, es gehe »nicht um Haßsucht und Men-
schenverachtung, sondern um eine Haltung und um Aktionen, die sich der destruktiven
Gewalt entgegenstemmen und diese bekämpfen«.
)27 Soll man V. 20 auf Menschen beziehen, die »Gottes Namen zum Trug erheben«,
die also dem Nächsten mit Meineiden schaden, ihn vielleicht dadurch arglistig um sein
Hab und Gut bringen oder ihm sogar - als »Männer von Bluttaten« - nach dem beben
trachten? Dagegen spricht freilich, dass von »Gottes Namen« gerade nicht gesprochen
wird. »Blutmenschen« können Mörder (Ps 5,7; 26,9; 55,24; 59,3), Verleumder (Sir 11,32)
oder Ausbeuter sein, die den Lohn nicht auszahlen (Sir 34,261).
)28 Das Nomen charakterisiert in Ps 10,2; 37,7; Spr 12,2; Jer 11,15 die Frevler, denen in
Ps 12,3; 144,8 ebenso »Reden von Falschheit« vorgeworfen wird.
107 (2010) Ausgespäht und überwacht, erschreckend wunderbar geschallen 445

»Denken durchschaut« (Ps 139, 2), »alle seine Wege überwacht« (V. 3) und ihn
»ganz und gat" kennt« (V. 4).
Einen andet'en Typ von Frevler beklagt Jet" 12,2: »Nahe bist du ihrem
Munde, abet" lein ihren Nieren«; also: Sie 1'eden zwar immerzu von Gott, abet"
lassen sich von ihm wedet" bestimmen noch gat" beunt'uhigen. Del" klagende
Pi'ophet dagegen hat wie unset" Dichtet" erfahren: »Du, Jahwe, hast mich et‫־‬-
kannt, du siehst mich und hast geprüft, wie mein Herz zu dit" steht« (12,3).
Die ft'omme Vet'sion unangemessenen Redens von Gott begegnet uns in den
Ai'gumenten det" Ft'eunde Hiobs. Sie kennen nut" einen Gott, del" l'ational be-
rechenbar ihre Weltoi'dnungsmechanik in Gang halt. Sie vet'fehlen mit iht'em
Reden nicht nut" Hiobs Lage, sondern auch Gott. Am Ende sagt Gott zu iht'em
Wortführer:
Entbrannt ist mein Zorn Uber dich und deine beiden Freunde.
Ihr habt nicht angemessen (‫ ״‬ekoah) von mir geredet
wie mein Knecht Hiob (Hi 42,7).

Gegen Hiobs Ft'eunde behai'1't det' Betet' unset'es Psalms dat'auf, dass die Ge-
danken und Absichten Gottes fül' Menschen zu hoch und unet'schwinglich
sind. Wet' könnte Gottes bedt'ohliche Nähe mit seinet' schon im Mutteileib et'-
faht'enen Fürsorge vett'echnen? Del' Heil und Unheil schafft, ist viel zu gt'oß,
als dass wil' ihn als Stein in unset'e Denkgebäude einmauetn könnten.
Del' Dichtet' des Psalms gi'enzt sich in den Vet'sen 19-22 schat'f von seinen
Gegnern ab. El' zählt sie zu Feinden Gottes und hasst sie deshalb. Das eiinnei't
an die Abgt'enzung jenet' Gemeinschaft, die wil' aus den Texten von Qumt'an
kennen. Die Gemeindet'egel (lQS) lehi't gleich zu Beginn, wozu det'en Mitglie-
det' vei'pflichtet sind. Dazu gehöi't:
»Zu heben alle Ucht-SOhne,
jeden (10) nach seinem los in Gottes Rat,
und zu hassen alle Finsternis-Söhne,
jeden nach seiner Schuld (11) in Gottes Rache.«29‫؛‬

Wie det' Betet' in Ps 139,19 Gott um Besti'afung det' Ft'evlet' bittet, so wet'den
hiet' die Söhne det' Finsternis det' Rache Gottes übellassen. Absondet'ung und
Hass gelten jenen innerjüdischen Gegnern, weil sie das tun, was Gott hasst3‫؛‬٥.
Diese Ft'evlet' scht'ecken selbst VOI' Bluttaten an den von Gott Erwählten nicht
zut'ück:

129 lQS Kol. I 10-11 (Übersetzung von 1. Maier, Qumran-Essener I [s. Anm. 89],
169); vgl. IQS IX 21-22 und 4Q258 Frg. 2, III 6, die sogar von »ewigem Hass gegenüber
Verderbens-Männern« reden.
،3° CD II 13;4Q418 Frg. 81:2; bes. aber lQH IV 24, VI 24-25.
446 Matthias Köckert ZThK

»(31) Ich danke Dir, Herr!


Denn Dein Auge [...ü]ber mein Leben
Und Du rettest mich vor Eifer von Lügendeutern
(32) und aus einer Gemeinde von Glattheiten-Anweisern
hast Du eines Armen Leben erlöst,
den sie wälmten, vertilgen (zu können),
sein Blut (33) zu vergießen um Deinen Dienst,
weil sie [nicht erkann]ten,
daß von Dir her mein Schritt,
und sie machten zu Schmach mich (34) und Schande
im Mund aller Trug-Erteüer.«‫؛‬3‫؛‬

Gott lenkt den Schritt des Gerechten, wie er in Ps 139,1-1،‫ ؟‬den Weg des
Dichters gebahnt hat. Aber auch der Frevler ist von Gott vorherbestimmt:
»(17) Doch Frevler schufst Du für die Z[eit] Deiner [Zornglut]
und vom Mutterleib an hast Du sie geweiht
für (den) Schlachttag,
(1‫ )؟‬denn sie beschritten einen Weg, der nicht gut ist,
sie verachteten Deifnen Bund
und] Deine [Wahrheit] verabscheute ihre Seele.
Sie fanden kein Gefallen an all dem,
was Du (19) befohlen,
und erwählten sich, was Du haßt.«132

Das »Ende der Tage« ist offenbar gekommen, und der Tag des Endgerichts
steht kurz bevor, an dem man »die Frevler schuldig spricht«!”. Auch wenn die-
ser Tag sich hinauszögert und deshalb immer wieder neu berechnet werden
muss, brauchen die Söhne des Lichts nicht selbst das Schwert in die Hand zu
nehmen, sondern können getrost darauf warten, dass die »Frevler wie Mist auf
dem Ackerboden zertreten werden«!”. Die Berührungen von Psalm 139 mit
Qumran, vor allem in den Versen 16.19-22, sind so auffällig!”, dass man die
Heimat des Psalms in einem verwandten geistigen Milieu im Vorfeld der Ab-
Spaltung jener Gruppe vom Jerusalemer Priestertum vermuten darf.

”1 lQH Kol. X 32-34 (Übersetzung vonj. Maier, Qumran-Essener I [s. Anm. 9‫]؟‬,
66).
!32 lQH VII 17-19 (Übersetzung vonj. Maier, aaO 57).
133 4QMMTFrg. 11,5.
134 4 Q3‫؟‬l Frg.46,7f.
135 Zwar begegnet Ps 139 in mehreren Psalmenhandschriften in Qumran, wird aber
nie in den einschlägigen Passagen zitiert oder als Argumentationshilfe benutzt‫ ؛‬vgl. dazu
j. Maier, Die Feinde Gottes. Auslegungsgeschichtliche Beobachtungen zu Ps 139,21 f.
(in: M. Hutter/W. Klein/U. Vollmer [Hg.], Hairesis,FSK. Hoheisel [JbAC.E 34],
2002, 33-47), bes. 39: »Das Schriftwort rückte erst nach 70 nC. in solchen Zusammen-
hängen in den Vordergrund [...]« (mit entsprechenden Beispielen).
107 (2010) Ausgespäht und überwacht, erschreckend wunderbar geschallen 447

Die Gottesfeinde in Ps 139 haben konkrete Gesichtet". Del" Betet" stellt sich
gegen sie auf Gottes Seite. El" schließt jedoch nicht mit det" Erklärung ungebän-
digtei" Feindschaft gegen alle, die andet's von Gott denken und 1'eden als et". El"
ist kein Fundamentalist, sondern ein Theologe. El" weiß, wie gefährdet alles Re-
den von Gott ist. Deshalb bittet et", Gott selbst möge prüfen, ob et" von ihm ge-
1'edet odet" ob et" mit seinem Reden und Handeln aus ihm einen Götzen gemacht
hat. Zuletzt abet" bittet et" um das Geleit, an dem seine Flucht in V. 10 geendet
wat". Mit den Bitten um Prüfung und Geleit dut'ch Gott untei'scheidet sich det"
Dichtet" des Psalms von den Theologen in Qumran.
Diese Bitten haben bleibende Bedeutung für alles Reden von Gott, ohne sie
etliegen wit" nut" allzu schnell det" Gefaht", Gottes Willen mit unset'en Wünschen
und unset'e Gegnet" mit Gottes Feinden zu vet'wechseln. Wet" von Gott 1'edet,
und das nun gat" von Bet'ufs wegen, det" kann am Ende gat" nicht andet's als bit-
ten:
(23) Erforsche mich, Gott, und erkenne mein Herz!
Prüfe mich und erkenne meine Gedanken!
(24) Und sieh, ob ein GOtzen-Weg an mir ist,
und leite mich auf ewigem Weg!

Allein diese Haltung bewahi't Theologen davot", Ideologen zu wet'den.

Summary

In the early Hellenistic period, the author of Ps 139 articulates for the first time the insight
that God has known him in his individuality from the beginning of the world. This insight
changes his attitude to God fundamentally from verses 1-6 through verses 7-18 and then
to verses 19-24.
ATLV

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