Beruflich Dokumente
Kultur Dokumente
Mitherausgeber / Associate Editors
Markus Bockmuehl (Oxford) · James A. Kelhoffer (Uppsala)
Tobias Nicklas (Regensburg) · Janet Spittler (Charlottesville, VA)
J. Ross Wagner (Durham, NC)
467
Otfried Hofius
Exegetische und
theologische Studien
Mohr Siebeck
Otfried Hofius, geboren 1937; 1969 Promotion; 1971 Habilitation; 1965–1972 Pfarrer; 1972–
1980 Professor für Ev. Theologie und ihre Didaktik (Schwerpunkt Bibelwissenschaft) in Pader-
born; seit 1980 o. Professor für Neues Testament in Tübingen; 2002 emeritiert.
Der vorliegende Band vereinigt achtzehn Studien, von denen fünf zunächst in
ausländischen Publikationen erschienen sind und vier jetzt erstmals veröffent-
licht werden. Die Beiträge sind zentralen Texten und Themen neutestamentlicher
Exegese aus dem Bereich der Evangelien, der Paulusbriefe und der Deutero-
paulinen gewidmet oder sie bieten theologische bzw. auslegungsgeschichtliche
Überlegungen, zu denen Ergebnisse exegetischer Arbeit den Anlaß gegeben ha-
ben und in denen sie weitergeführt werden. Die bereits veröffentlichten Studien
sind um der einheitlichen Textgestaltung willen formal überarbeitet worden,
während sie inhaltlich unverändert blieben. Zur Bezeichnung der Septuaginta-
Psalmen wurde durchgehend der griechische Buchstabe Ψ verwendet.
Dem Verlag und seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern – insbesondere
Frau Elena Müller und Herrn Matthias Spitzner – danke ich herzlich für die
ausgezeichnete Betreuung des Bandes und Herrn Martin Fischer für die an-
sprechende Gestaltung des Satzes.
Meine Freunde Dr. Martin Bauspieß und PD Dr. Emmanuel Rehfeld haben die
bislang unveröffentlichten Arbeiten kritisch gelesen und mir wertvolle Hinweise
gegeben. Dafür, vor allem aber auch für den intensiven theologischen Austausch
über viele Jahre hin gilt ihnen mein besonderer Dank.
Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . V
„Abba! Vater!“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1
„Fides ex auditu“.
Verkündigung und Glaube nach Römer 10,4–17 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105
Das Predigtamt der Kirche und das Priestertum aller Gläubigen . . . . . . . . 215
Die Frage nach dem „historischen Jesus“ als theologisches Problem . . . . . 229
Stellenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303
Autorenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341
Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 345
Register griechischer Begriffe und Wendungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 353
„Abba! Vater!“
An drei Stellen des Neuen Testaments begegnet der Ausdruck ἀββὰ ὁ πατήρ, in
dem ein aramäisches und ein griechisches Nomen miteinander verbunden sind:
in Mk 14,36, in Röm 8,15 und in Gal 4,6.1 Die Frage nach dem philologischen
und theologischen Verständnis des zweisprachigen Ausdrucks selbst wie auch
insbesondere des aramäischen Bestandteils ἀββά (= ’[ ַא ָבּאabbā’ ]2) ist in der
Exegese umstritten und bedarf weiterhin der Diskussion. Aus der bisherigen
Forschung sind vor allem die Namen Joachim Jeremias und Georg Schelbert her-
vorzuheben. Jeremias hat dem Wort ἀββά mehrere gewichtige Untersuchungen
gewidmet, die in der neutestamentlichen Exegese zunächst weithin rezipiert
worden sind.3 In den letzten Jahrzehnten jedoch sind sie zum Gegenstand recht
kritischer Erörterungen geworden, wobei hier in erster Linie Georg Schelbert
genannt zu werden verdient.4 Er hat nach mehreren Vorarbeiten in einer Mono-
graphie das gesamte „Vater“-Material des frühjüdischen Schrifttums zusammen-
gestellt und auf dieser Basis die Sicht Jeremias’ einer umfassenden Überprüfung
unterzogen.5 Daß einige der von Jeremias vertretenen Urteile zu revidieren sind,
1
Im Novum Testamentum Graece ed. Nestle / Aland bleibt seit der 26. Auflage αββα unak-
zentuiert, weil in der Forschung die beiden Akzentuierungen ἀββά und ἀββᾶ vertreten werden.
In neuerer Zeit wird in der Regel ἀββά geschrieben.
2
Gelegentlich findet sich auch die Schreibung mit Hē als Mater lectionis: ’( ַא ָבּהabbāh).
3 Zu nennen ist vor allem: J. Jeremias, Abba, in: Ders., Abba. Studien zur neutestament-
lichen Theologie und Zeitgeschichte, Göttingen 1966, 15–67 (im Folgenden ohne Verweis
auf Anm. 3 zitiert). S. ferner: Kennzeichen der ipsissima vox Jesu (1954), in: Abba, 145–151:
145–148; Das Vater-Unser im Lichte der neueren Forschung (1962), in: Abba, 152–171: 162–164;
Abba, in: Ders., The Central Message of the New Testament, London 1965, 9–30; Die Bot-
schaft Jesu vom Vater (CwH 92), Stuttgart 1968, 15–19; Neutestamentliche Theologie I: Die
Verkündigung Jesu, Gütersloh ⁴1988, 45.67–73.191 f.
4 Außer Schelbert seien erwähnt: J. Barr, ’Abbā Isn’t ‘Daddy’, JThS NS 39 (1988) 28–47;
A. Strotmann, „Mein Vater bist du!“ (Sir 51,10). Zur Bedeutung der Vaterschaft Gottes
in kanonischen und nichtkanonischen frühjüdischen Schriften (FTS 39), Frankfurt am Main
1991, 12–15.377–379; Dies., Die Vaterschaft Gottes in der Bibel, BiFor (2002) 1–14: 6–9; Chr.
Zimmermann, Die Namen des Vaters. Studien zu ausgewählten neutestamentlichen Gottes-
bezeichnungen, Leiden 2011, 42–48.76–83; U. Schattner-Rieser, Das Aramäische zur Zeit
Jesu, „ABBA!“ und das Vaterunser. Reflexionen zur Muttersprache Jesu anhand der Texte von
Qumran und der frühen Targumim, in: J. Frey / E. E. Popkes (Hg.), Jesus, Paulus und die Texte
von Qumran (WUNT II 390), Tübingen 2015, 81–144: 97–106.108–111; J. Frey, Das Vaterunser
im Horizont antik-jüdischen Betens unter besonderer Berücksichtigung der Textfunde vom
Toten Meer, in: F. Wilk (Hg.), Das Vaterunser in seinen antiken Kontexten. Zum Gedenken an
Eduard Lohse, Göttingen 2016, 1–24: 10–16.
5 G. Schelbert, ABBA Vater. Der literarische Befund vom Altaramäischen bis zu den
späten Midrasch- und Haggada-Werken in Auseinandersetzung mit den Thesen von Joachim
2 „Abba! Vater!“
steht daraufhin außer Zweifel.6 Aber auch die Arbeiten Schelberts bedürfen einer
kritischen Lektüre und sind nicht ohne weiteres als das letzte Wort zum Thema
„Abba“ anzusehen.7 Eine ins Einzelne gehende Auseinandersetzung mit den
Positionen der beiden Exegeten ist – wie ausdrücklich bemerkt sei – in dem vor-
liegenden Aufsatz nicht beabsichtigt. Ich möchte vielmehr meine eigene Sicht
darlegen, wie ich sie aufgrund einer erneuten Beschäftigung mit den relevanten
Quellen gewonnen habe.8
Die drei Verse Mk 14,36, Röm 8,15 und Gal 4,6 sind die frühesten Belege für das
Wort ’abbā’, und sie sind zugleich auch die einzigen bisher bekannten Belege
aus der Zeit Jesu bzw. aus der Zeit des Neuen Testaments.9 Angesichts dessen
ist es angezeigt, in einem ersten Schritt ausschließlich diese Texte in den Blick
zu fassen und zu fragen, was sich aus ihnen für das Verständnis des aramäischen
Wortes ergibt.
In Mk 14,36 erscheinen die Worte ἀββὰ ὁ πατήρ als Gebetsanrede Gottes. Mit
ihr beginnt das Gebet, das Jesus in der Gethsemane-Erzählung Mk 14,32–42 auf
dem Weg an das Kreuz an seinen himmlischen Vater richtet: πάντα δυνατά σοι·
παρένεγκε τὸ ποτήριον τοῦτο ἀπ’ ἐμοῦ· ἀλλ’ οὐ τί ἐγὼ θέλω ἀλλὰ τί σύ („Alles
ist dir möglich. Nimm diesen Kelch10 von mir! Doch nicht [um das geht es], was
ich will, sondern [um das,] was du willst“11). Die das Gebet eröffnenden Worte
Jeremias (NTOA 81), Göttingen 2011 (im Folgenden ohne Verweis auf Anm. 5 zitiert). Der Mo-
nographie gingen voraus: Sprachgeschichtliches zu ‚Abba‘, in: P. Casetti / O. Keel / A. Schenker
(Hg.), Mélanges Dominique Barthélemy (OBO 38), Fribourg – Göttingen 1981, 395–447; Abba,
Vater! Stand der Frage, FZPhTh 40 (1993) 259–281; Abbâ, Vater! Überlegungen zu den Über-
legungen von Prof. Ruckstuhl, FZPhTh 41 (1994) 526–531; Art. Abba, in: RGG⁴ I (1998) 5 f.
6 Das gilt in gleicher Weise für meinen Artikel ἀββά in: TBLNT Neubearbeitete Ausgabe II
(Zeile 23) sowie in zwei Ossuar-Inschriften aus dem 1. Jahrhundert n. Chr. belegt ist. S. dazu
unten Teil II des Aufsatzes bei den Anmerkungen 48–54 und 58–60.
10 Das ποτήριον ist wie in Mk 10,38 f. der Todeskelch, d. h. Bild für Leiden und Sterben
ἀββὰ ὁ πατήρ wollen nicht so verstanden sein, als habe Jesus seinen Vater in
zwei Sprachen – nämlich auf aramäisch und auf griechisch – angerufen. Das
griechische ὁ πατήρ ist vielmehr für die Leser des Evangeliums als Überset-
zung des aramäischen Wortes ἀββά hinzugefügt worden, und der zweisprachige
Ausdruck bedeutet demnach: „Abba! [das heißt:] Vater!“12 Im Markusevan-
gelium werden bei den sonstigen zweisprachigen Ausdrücken beide Bestand-
teile durch ὅ ἐστιν oder durch ὅ ἐστιν μεθερμηνευόμενον miteinander ver-
bunden.13 Die singuläre asyndetische Aneinanderfügung von Mk 14,3614 dürfte
deshalb gewählt sein, weil eine verbindende Wendung im Fall der unmittelbar
an Gott gerichteten Gebetsanrede als unangemessen empfunden wurde. Für die
weitere sprachliche Analyse der Worte ἀββὰ ὁ πατήρ ist die Feststellung von
Bedeutung, daß ὁ πατήρ an unserer Stelle nicht die syntaktische Funktion eines
Nominativs hat, sondern Vokativ ist – nämlich die Anrede „Vater!“.15 Dabei
handelt es sich keineswegs um einen „recht ungewöhnlichen“ Sprachgebrauch,
der als solcher einer besonderen Erklärung bedürfte.16 Daß der determinierte
Nominativ Singular als Vokativ dient, begegnet vielmehr bereits – wohl nicht
zuletzt unter dem Einfluß des Hebräischen – in der Septuaginta17 und offenbar
unterstreicht das δεῖ von Mk 8,31 und damit die göttliche Notwendigkeit der „Stunde“ Mk
14,35.41 und des „Todeskelches“ Mk 14,36.
12 So richtig bereits Th. Beza, Testamentum Novum, Genf ⁴1588, I 203 zu ὁ πατήρ Mk
14,36: posterius additum esse ut prius illud peregrinum (sc. ἀββά) declararet. In diesem Sinn
ebenfalls z. B. J. A. Bengel, Gnomon Novi Testamenti (³1773), hg. v. P. Steudel, Stuttgart ⁸1891,
208: Marcus videtur interpretationis ergo ‚Pater‘ addidisse.
13
ὅ ἐστιν: Mk 3,17; 7,11.34; ὅ ἐστιν μεθερμηνευόμενον Mk 5,41; 15,22.34. Verbindende Wen-
dungen finden sich ebenfalls bei den lexikalischen Aramaismen der anderen neutestamentlichen
Schriften: Mt 27,33.46; Joh 1,41.42; 4,25; 11,16; 20,16.24; 21,2; Apg 1,19; 4,36; 9,36; vgl. auch
Mk 10,46; Joh 19,13.
14
Die Formulierung ὁ υἱὸς Τιμαίου Βαρτιμαῖος von Mk 10,46 ist nicht wirklich vergleich-
bar, weil hier der aramäische Eigenname Bartimaios und seine griechische Übersetzung in
der Weise miteinander verbunden sind, daß letztere den übergeordneten Nominalbegriff und
ersterer die zu ihm gehörende Apposition bildet.
15 Vgl. bei Markus die beiden anderen aramäischen Vokative mit ihrer griechischen Über-
setzung: ἐλωΐ / ὁ θεός μου („mein Gott!“) 15,34 und ταλιθά / τὸ κοράσιον („Mädchen!“) 5,41.
16
Das damit zu korrigierende Urteil bei Hofius, ἀββά (s. Anm. 6), 1722 entsprach dem Be-
fund im klassischen Griechisch, in dem mir für die Verwendung des determinierten Nominativs
als Vokativ nur wenige Belege bekannt sind (so z. B. Aristophanes, Pax 466; Ran 521; Eccl 833).
17
S. dazu die Gottesanreden ὁ θεός Ψ 5,11; 16,6; 42,1 f.; 43,2; 56,8 u. ö.; ὁ θεός μου Ψ 3,8;
21,3; 39,9; ὁ θεὸς ὁ θεός μου Ψ 21,2; 62,2; ὁ βασιλεύς μου καὶ ὁ θεός μου Ψ 5,3; ὁ θεός μου
καὶ ὁ κύριός μου Ψ 34,23; ὁ θεός μου ὁ βασιλεύς μου Ψ 144,1; ὁ θεὸς ὁ θεὸς ὁ ἐμός Jdt 9,4;
ὁ θεὸς τοῦ πατρός μου καὶ θεὸς κληρονομίας Ἰσραήλ Jdt 9,12. Ferner s. etwa: 3 Reg 17,18 B
(ὁ ἄνθρωπος τοῦ θεοῦ); 18,26 (ὁ Βάαλ); 20,20 (ὁ ἐχθρός μου); 4 Reg 9,5 (ὁ ἄρχων); 4 Makk
11,12 A (ὁ τύραννος); Ψ 51,3 (ὁ δυνατός); 102,1 f. u. a. (ἡ ψυχή μου); Hhld 1,8 u. a. (ἡ καλὴ ἐν
γυναιξίν). – Von dem als Vokativ verwendeten determinierten Nominativ ist syntaktisch der
Nominativ zu unterscheiden, der als Apposition durch den Artikel mit einem echten Vokativ
verbunden ist (z. B. κύριε ὁ θεός μου Ψ 7,2.4). Hierher gehören 1 Chr 29,10 LXX und Jes 63,16a
LXX, wo ὁ πατὴρ ἡμῶν bzw. πατὴρ ἡμῶν nicht Vokativ ist.
4 „Abba! Vater!“
von daher dann auch mehrfach im Neuen Testament18. Eine direkte Parallele zu
der Gebetsanrede ὁ πατήρ findet sich in Mt 11,26 par. Lk 10,21c, wo der Ausdruck
den unmittelbar vorher in Mt 11,25b par. Lk 10,21b erscheinenden Vokativ πάτερ
aufnimmt und diesem mithin gleichwertig ist.19 Zu vergleichen ist in ApkMos
32,2 das Nebeneinander der Vokative ὁ θεός und ὁ πατὴρ τῶν πάντων („Vater
von allem!“).20 Aus dem Tatbestand, daß ὁ πατήρ in der Gebetsanrede von Mk
14,36 Vokativ ist, folgt zwingend, daß das durch ihn übersetzte aramäische Wort
ἀββά ebenfalls Vokativ mit der Bedeutung „Vater!“ sein muß. Nicht zufällig
erscheint dieser Vokativ in der Gethsemane-Erzählung. Im Kontext des ganzen
Evangeliums gelesen bringt sie nämlich zur Sprache, daß der Sohn Gottes, der
freiwillig auf die Seite der Sünder getreten ist, im Gehorsam gegen den Willen
seines Vaters den Weg an das Kreuz geht, dort stellvertretend das Gericht Gottes
auf sich nimmt und so verwirklicht, was zur Errettung der vor Gott verlorenen
Menschen geschehen muß.21 Das ἀββά von Mk 14,36 spricht der, der an das
Kreuz geht und als der Gekreuzigte von den Toten auferstehen wird (Mk 16,6).
An den beiden anderen neutestamentlichen Belegstellen – Röm 8,15 und Gal
4,6 – ist die Wortverbindung ἀββὰ ὁ πατήρ ein vom Heiligen Geist gewirkter
Ruf der zum Gottesdienst versammelten christlichen Gemeinde. Nach Röm
8,15 sind die vom Heiligen Geist erfüllten Christen Subjekt des Rufes: ἐλάβετε
πνεῦμα υἱοθεσίας ἐν ᾧ κράζομεν· ἀββὰ ὁ πατήρ („ihr habt den Geist der Kind-
schaft empfangen, in dem wir rufen: ,Abba! Vater!‘“); nach Gal 4,6 ist Subjekt
der in den Christen wohnende Heilige Geist selbst: ἐξαπέστειλεν ὁ θεὸς τὸ
πνεῦμα τοῦ υἱοῦ αὐτοῦ εἰς τὰς καρδίας ἡμῶν κρᾶζον· ἀββὰ ὁ πατήρ („Gott hat
den Geist seines Sohnes in unsere Herzen gesandt, der da ruft: ,Abba! Vater!‘“).
18
S. etwa: Mt 27,29 v. l. (ὁ βασιλεὺς τῶν Ἰουδαίων); Mk 5,41 (τὸ κοράσιον); 9,25 (τὸ ἄλαλον
καὶ κωφὸν πνεῦμα); 15,34 (ὁ θεός μου [Ψ 21,3]); Lk 8,54 (ἡ παῖς); 12,32 (τὸ μικρὸν ποίμνιον);
18,11.13 (ὁ θεός); Joh 13,13 (ὁ κύριος καὶ ὁ διδάσκαλος); 19,3 (ὁ βασιλεὺς τῶν Ἰουδαίων); 20,28
(ὁ κύριός μου καὶ ὁ θεός μου [vgl. Ψ 34,23]); Hebr 1,8 f. (ὁ θεός [Ψ 44,7 f.]); 10,7 (ὁ θεός
[Ψ 39,9]); Apk 4,11 (ὁ κύριος καὶ ὁ θεὸς ἡμῶν); 6,10 (ὁ δεσπότης ὁ ἅγιος καὶ ἀληθινός); 15,3
(ὁ βασιλεὺς τῶν ἐθνῶν); 18,4 (ὁ λαός μου). Vgl. F. Blass / A. Debrunner / F. Rehkopf,
Grammatik des neutestamentlichen Griechisch, Göttingen ¹⁷1990, § 147,2.
19
Der Lobpreis Jesu Mt 11,25b.26 par. Lk 10,21b.c lautet: ἐξομολογοῦμαί σοι, πάτερ, κύριε
τοῦ οὐρανοῦ καὶ τῆς γῆς, ὅτι ἔκρυψας (Lk ἀπέκρυψας) ταῦτα ἀπὸ σοφῶν καὶ συνετῶν καὶ
ἀπεκάλυψας αὐτὰ νηπίοις· ναὶ ὁ πατήρ, ὅτι οὕτως εὐδοκία ἐγένετο ἔμπροσθέν σου.
20
Aus den Pseudepigraphen des Alten Testaments notiere ich einige weitere in Gottesanre-
den als Vokativ verwendete determinierte Nominative: ὁ θεὸς τοῦ οὐρανοῦ καὶ τῆς γῆς ParJer
5,32; ἡ δύναμις ἡμῶν, ὁ θεός ebd. 6,9; τὸ μέγα ὄνομα, ὃ οὐδεὶς δύναται γνῶναι ebd.; τὸ φῶς τὸ
ἀληθινὸν τὸ φωτίζον με ebd. 9,3; τὸ φῶς τῶν αἰώνων ebd. 9,25; ὁ θεὸς ὁ αἰώνιος, ὁ πάσης τῆς
κτίσεως δημιουργός ApkEsdr 7,5.
21 S. dazu zum einen die Aussagen über Jesus als den „Sohn Gottes“ (Mk 1,1.11; 9,7; 15,39;
auch 3,11 f.; 5,7; 12,6) und zum andern insbesondere Mk 1,2–13; 8,31; 9,31; 10,32–34; 10,45;
14,22–25; 15,33 f. Zu beachten ist ferner in der – nicht historisierend zu lesenden – Gethsemane-
Erzählung das Unvermögen der drei Jünger, mit Jesus zu wachen (Mk 14,37.40.41). Das Motiv
zeigt an: Jesus geht den Weg an das Kreuz ganz allein. Sein Tod ist ein Geschehen nur zwischen
ihm und dem Vater – und als solches ein Geschehen ὑπὲρ πολλῶν (Mk 14,24).
„Abba! Vater!“ 5
Im einen wie im andern Fall werden die Worte ἀββὰ ὁ πατήρ als ein inspirierter
Ruf gekennzeichnet, so daß die Differenz zwischen den Aussagen „nur eine
scheinbare“22 ist. In dem von Paulus zitierten Ruf erblickt die neuere Exegese
vielfach eine für sich stehende Akklamation, die in dieser zweisprachigen Ge-
stalt in der gottesdienstlichen Versammlung laut wurde.23 Diese Deutung stützt
sich vor allem auf das in Röm 8,15 wie in Gal 4,6 verwendete Verbum κράζειν,24
das einige der Ausleger sogar dazu veranlaßt, an eine ekstatische Akklamation
zu denken.25 Zwingend ist diese Interpretation jedoch nicht. Die Deutung auf
einen ekstatischen Schrei hat nach meinem Urteil keinerlei begründeten Anhalt
in den Texten. Auf die Wendung πνεύματι θεοῦ ἄγεσθαι von Röm 8,14 kann
man hier nicht verweisen, denn sie spricht nicht von enthusiastischen oder gar
ekstatischen Phänomenen,26 sondern hat wie πνεύματι ἄγεσθαι in Gal 5,18 die
Bedeutung „vom Geist Gottes geleitet / geführt werden“ und meint die grund-
sätzliche Bestimmung der an Jesus Christus Glaubenden durch den Heiligen
Geist. Wenn die Glaubenden nach Röm 8,15 „im Geist“ ἀββά rufen, so liegt in
dieser Kennzeichnung ebensowenig ein Hinweis auf Enthusiasmus oder Ekstase
wie in der Aussage von 1 Kor 12,3, daß das Bekenntnis κύριος Ἰησοῦς nicht
anders als ἐν πνεύματι ἁγίῳ möglich sei.27 Was sodann das Verbum κράζειν
anlangt, so darf nicht übersehen werden, daß es in der Septuaginta und hier
besonders in den Psalmen häufig von dem eindringlichen, aus großer Not und
Bedrängnis zu Gott aufsteigenden Gebet verwendet wird.28 Dieser Tatbestand
spricht entschieden dafür, daß in den beiden paulinischen Aussagen ebenfalls an
22
W. Grundmann, Art. κράζω κτλ., in: ThWNT III (1938 = 1957) 898–904: 903,27 f.
23
So z. B. H. Schlier, Der Römerbrief (HThK VI), Freiburg – Basel – Wien 1977, 253 f.;
E. Käsemann, An die Römer (HNT 8a), Tübingen ⁴1980, 220; E. Lohse, Der Brief an die
Römer (KEK 4), Göttingen ¹(¹⁵)2003, 241; R. Jewett, Romans (Hermeneia), Minneapolis,
MN 2007, 499; M. Wolter, Der Brief an die Römer I: Röm 1–8 (EKK VI/1), Neukirchen-
Vluyn bzw. Ostfildern 2014, 496 f.; H. Schlier, Der Brief an die Galater (KEK 7), Göttingen
⁵(¹⁴)1971, 198 f.; H. D. Betz, Der Galaterbrief. Ein Kommentar zum Brief des Apostels Paulus
an die Gemeinden in Galatien, München 1988, 368 f. Auch Schelbert, ABBA Vater, 54–58
ist hier zu nennen.
24
Belege für κράζειν bei der Akklamation nennt E. Peterson, ΕΙΣ ΘΕΟΣ. Epigraphische,
formgeschichtliche und religionsgeschichtliche Untersuchungen (FRLANT NF 24), Göttingen
1926, 191–193.
25
So von den in Anm. 23 genannten Exegeten Käsemann, Jewett, Wolter, Betz sowie Schel-
bert (jeweils a. a. O.). Käsemann bezeichnet κράζειν als einen „technischen Terminus der Ak-
klamation“ und erblickt in ἀββὰ ὁ πατήρ eine Akklamation, „die als solche im ekstatischen
Schrei der Gemeindeversammlung der Heilsbotschaft antwortet.“
26 Die Worte ἤγεσθε ἀπαγόμενοι von 1 Kor 12,2 stützen ein solches Verständnis von ἄγεσθαι
Röm 8,14 nicht, weil in ihnen der Aspekt der heidnischen Ekstase von dem Verbum ἀπάγεσθαι
abhängt.
27
Daß κύριος Ἰησοῦς ein Bekenntnis ist, wird in den Paulusbriefen ausdrücklich gesagt:
Röm 10,9; Phil 2,11.
28
S. etwa Ψ 3,5; 4,4; 16,6; 17,7; 21,3.6.25; 26,7; 27,1; 29,9; 30,23; 33,7.18; 54,17; 56,3; 60,3;
65,17; 85,3.7; 87,2.10.14; 106,6.13.19.28; 119,1; 129,1; 140,1; 141,2.6. Die Liste ließe sich unschwer
durch eine ganze Anzahl von Belegen aus anderen Septuaginta-Schriften ergänzen.
6 „Abba! Vater!“
das Gebet der Gemeinde gedacht ist29 und somit ἀββὰ ὁ πατήρ – nicht anders
als in Mk 14,36 – als Gebetsanrede verstanden sein will.30 Auch hier ist ὁ πατήρ
Vokativ31 und eine zur Erläuterung hinzugefügte Übersetzung des aramäischen
Wortes ἀββά,32 das damit an den paulinischen Stellen ebenfalls als Vokativ
erwiesen ist.33 Wenn dieses ἀββά im Munde Mehrerer laut wird, dann heißt es –
in Übereinstimmung mit der in Mk 14,36 vorliegenden Bedeutung – ebenfalls
einfach „Vater!“.
Die beiden paulinischen Texte geben Anlaß zu der Frage, wie griechisch
sprechende und überwiegend aus Heidenchristen bestehende Gemeinden dazu
kommen, Gott im Gebet mit dem aramäischen Wort ’abbā’ anzurufen. Das
läßt sich m. E. nur so erklären, daß sie diese Anrede Gottes von den aramäisch
sprechenden Judenchristen übernommen haben, und zwar deshalb, weil sie
ebenso wie jene ihr eine besondere Dignität beigemessen haben. Die Wertschät-
zung der aramäischen Anrufung spiegelt sich nicht zuletzt auch darin wider,
daß Paulus an beiden Stellen erklärt: Wenn die Glieder der zum Gottesdienst
versammelten Gemeinde im Gebet mit der Anrufung ἀββά vor Gott treten, dann
ist das Folge und Zeichen eines ihnen widerfahrenen heilvollen Ereignisses: Sie
haben aufgrund des Christusgeschehens den Geist Gottes empfangen und sind
Kinder Gottes geworden34 – sind also eines einzigartigen Gottesverhältnisses
teilhaftig geworden. Wo aber liegt dann der Grund dafür, daß ein aramäisches
Wort als Ausdruck und Kennzeichen dieses Gottesverhältnisses gilt? Ich sehe
keine andere Antwort als jene, die u. a. Jeremias gegeben und zu begründen
gesucht hat: Die besondere Dignität der ’abbā’-Anrede ist darin zu erblicken,
daß dieser Vokativ die Gebetsanrede Jesu und als solche eine Besonderheit
war35 und daß Jesus seine Jünger dazu ermächtigt hat, ihm dieses ’abbā’ nach-
zusprechen. Mit Jeremias und anderen Exegeten bin ich der Überzeugung, daß
29
Daß das Gebet der Gemeinde in den „Leiden dieses Äons“ laut wird und von der Sehn-
sucht nach der Heilsvollendung bestimmt ist, kommt in Röm 8 deutlich zur Sprache; s. V. 18
und den gesamten Zusammenhang V. 18–30.
30
So z. B. C. E. B. Cranfield, The Epistle to the Romans I: Introduction and Commentary
on Romans I–VIII (ICC), Edinburgh 1980, 399. Zur Gebetsanrede „Vater“ in der christlichen
Gemeinde s. auch 1 Petr 1,17.
31
Das wäre übrigens auch dann der Fall, wenn es sich um eine Akklamation handelte.
32
So wiederum bereits Beza, Testamentum Novum (s. Anm. 12), II 54.232, der an beiden
Stellen übersetzt: „Abba, id est Pater.“ Auch nach H. Lietzmann, An die Römer (HNT 8),
Tübingen ³1928, 84 ist ὁ πατήρ „als Erläuterung hinzugesetzt“.
33 Die asyndetische Anfügung der Übersetzung an das aramäische Wort erklärt sich auch hier
27,46 abgesehen – in seinen Gebeten Gott stets als „Vater“ angeredet (Mk 14,36 par. Mt 26,39.42 /
Lk 22,42; Mt 11,25.26 par. Lk 10,21b.c; Lk 23,34.46; Joh 11,41; 12,27.28; 17,l.5.11.21.24.25). Dazu
bemerkt Jeremias, Abba, 57 zu Recht: „Diese Konstanz der Überlieferung zeigt, unabhängig
von der Frage nach der Authentizität der einzelnen Gebete selbst, wie fest die Vateranrede
Gottes in der Jesustradition verwurzelt war.“ Wenn an einer theologisch so bedeutsamen Stelle
„Abba! Vater!“ 7
diese Ermächtigung mit der Übergabe des Vaterunsers erfolgt ist, dessen in Lk
11,2b bezeugter Anrede πάτερ ein aramäisches ’abbā’ zugrunde liegt.36 Von
daher sehe ich in Röm 8,15 und in Gal 4,6 – zumindest auch – einen Hinweis
auf das Herrengebet.37 Gerade von dem Verbum κράζειν her liegt der Gedanke
an das Vaterunser nahe! Seine Du-Bitten erflehen ja das Ende aller Menschen-
und Weltennot durch den Anbruch der βασιλεία τοῦ θεοῦ, und seine Wir-Bitten
beziehen sich auf elementare Bedürfnisse der Jünger Jesu: auf die lebensnotwen-
dige Nahrung, auf die Vergebung der Sünden und auf die Bewahrung vor einer
Situation, in der es zum Abfall von Gott bzw. von Jesus kommen könnte. Daß
die Annahme eines Bezugs zum Vaterunser hypothetisch bleibt, ist mir sehr wohl
bewußt; daß die Bestreitung eines solchen Bezugs, die sich vor allem auf die
Akklamations-These stützt, besser begründet sei, sehe ich jedoch nicht.
II
Wie in der Betrachtung der neutestamentlichen Texte aufgezeigt wurde, ist ἀββά
in Mk 14,36 und in Röm 8,15 par. Gal 4,6 syntaktisch ein Vokativ, der in beiden
Fällen – d. h. sowohl im Munde eines Einzelnen wie auch im Munde Mehre-
rer – die Bedeutung „Vater!“ hat. Weitergehende sprachliche Bestimmungen
lassen sich aus den drei Texten nicht gewinnen. So kann aus ihnen keineswegs
gefolgert werden, daß ’abbā’ über den Gebrauch als Vokativ „Vater!“ hinaus
auch die Bedeutungen „der Vater“, „mein Vater“ und „unser Vater“ habe. In der
Forschung sind die drei Texte allerdings in diesem Sinn verstanden worden.38
wie in Mk 14,36 das aramäische Wort ἀββά erscheint, dann findet das seine plausibelste Er-
klärung als eine Reminiszenz daran, daß Jesus dieses Wort als Gebetsanrede verwendet hat.
36
Unter den beiden Fassungen der griechischen Vaterunser-Anrede – πάτερ (Lk 11,2b) und
πάτερ ἡμῶν ὁ ἐν τοῖς οὐρανοῖς (Mt 6,9b) – ist die lukanische die ursprüngliche. Bei Matthäus ist
das bloße πάτερ durch eine Formulierung ersetzt, „wie sie frommer jüdisch-palästinischer Sitte
entsprach“ (Jeremias, Das Vater-Unser im Lichte der neueren Forschung [s. Anm. 3], 158).
Jüdische Parallelen zu der Gebetsanrede sind in Dokumenten aus späterer Zeit belegt: das he-
bräische ’ābînû šäbbaššāmajim in SedElijR 7 (33,2); 19 (112,18.21) sowie in dem Morgengebet
’attāh hû’ (G. Harfenes, Seder Rab ‛Amram Ga’on, Bene Berak 1994, 16), das aramäische
’ªbûnan dᵉbišmajjā’ in einer Introduktion zum Gesang des Mose (L. Zunz, Literaturgeschichte
der synagogalen Poesie, Berlin 1865, 150, dort Nr. 22). Zu der Wendung „Vater, der im Himmel
ist“ selbst s. G. Dalman, Die Worte Jesu I, Leipzig ²1930 = Darmstadt 1965, 150–155.296–304.
37
Vgl. außer Jeremias, Abba, 64 f. z. B. Th. Zahn, Der Brief des Paulus an die Römer
(KNT 6), Leipzig ¹.²1910, 395; Cranfield, The Epistle to the Romans I (s. Anm. 30), 400;
E. Peterson, Der Brief an die Römer (Ausgewählte Schriften 6), Würzburg 1997, 248 f.;
P. Stuhlmacher, Biblische Theologie des Neuen Testaments I: Grundlegung. Von Jesus zu
Paulus, Göttingen 1992, 383. Vgl. auch Lietzmann, An die Römer (s. Anm. 32), 83.
38
Dieses Verständnis beruhte sprachlich auf der – unhaltbaren – Überzeugung, daß die
in den Evangelien begegnenden Anredeformen πάτερ, ὁ πατήρ, πάτερ μου und πάτερ ἡμῶν
als Übersetzungsvarianten des aramäischen ’abbā’ dessen unterschiedlichen grammatischen
Verwendungsmöglichkeiten entsprechen. S. dazu z. B. G. Kittel, Art. ἀββᾶ, in: ThWNT I
8 „Abba! Vater!“
Auf sie berief man sich, wenn bereits für das palästinische Aramäisch des 1. Jahr-
hunderts n. Chr. jener Sprachgebrauch vorausgesetzt wurde, den man dann vom
2./3. Jahrhundert an in den jüdischen Quellen eindeutig belegt fand39: daß die
durch Gemination des zweiten Radikals gekennzeichnete Form ’( ַא ָבּאabbā’ )
zum einen als Status emphaticus40 „der Vater“ verwendet wurde und zum andern
die ursprünglichen Formen mit Suffix der 1. Person Singular ’( ַא ִביabî ) „mein
Vater“ und der 1. Person Plural אבוּנָ א/
ֲ ’( ֲאבוּנָ הªbûnā’ / ’ ªbûnāh) „unser Vater“
verdrängt hatte.41 Zum Nachweis, daß die drei ἀββὰ ὁ πατήρ-Texte in Wahrheit
als Belege für die Bedeutungen „der Vater“, „mein Vater“ und „unser Vater“ aus-
scheiden, formuliere ich drei Thesen, die ich zunächst begründe und zu denen
ich sodann ergänzend auf Befunde hinweise, die sich Quellen aus der Umwelt
des Neuen Testaments für das Mittelaramäische (etwa 200 v. Chr. – 200 n. Chr.)
entnehmen lassen.
1. Die in Mk 14,36, Röm 8,15 und Gal 4,6 vorliegende Übersetzung von ἀββά
mit dem als Vokativ gebrauchten determinierten Nominativ ὁ πατήρ ist kein
Indiz dafür, daß ’abbā’ in neutestamentlicher Zeit als Status emphaticus „der
Vater“ verwendet wurde und in dieser Bedeutung auch als Vokativ diente. – Die
Übersetzung von ἀββά mit ὁ πατήρ bedarf, wie bereits gezeigt wurde,42 keiner
besonderen Erklärung, weil die Verwendung des determinierten Nominativs
als Vokativ nicht als ungewöhnlich gelten kann. Erinnert sei nochmals an die
Gottesanreden ὁ πατήρ in Mt 11,26 par. Lk 10,21c und ὁ πατὴρ τῶν πάντων in
ApkMos 32,2. – Was das Mittelaramäische betrifft, so wird sogleich unter den
Ziffern 2 und 3 deutlich werden, daß für die neutestamentliche Zeit durchaus
noch der Gebrauch des Status emphaticus ’( ֲא ָבאªbā’ ) vorausgesetzt werden
kann.43 Für seine bereits erfolgte Verdrängung durch ’abbā’ gibt es keinen über-
zeugenden Hinweis.
(1933–1957) 4–6; Jeremias, Abba, 57 f.60 f.; Ders., Neutestamentliche Theologie I (s. Anm. 3),
70; Hofius, ἀββά (s. Anm. 6), 1721 f.
39
Ich sage bewußt „belegt fand“, weil von der sogleich zu erwähnenden Verdrängung der
1. Person Plural ’ªbûnā’ / ’ ªbûnāh („unser Vater“) keine Rede sein kann. S. dazu unten bei
Anm. 70.
40
Andere Bezeichnung: Status determinatus.
41
H. P. Rüger, Art. Aramäisch II. Im Neuen Testament, in: TRE III (1978) 602–610: 602
gibt ohne zeitliche Differenzierung und Präzisierung für ’abbā’ die Bedeutungen „der Vater,
mein Vater, unser Vater“ an. Zum Vergleich sei auch Lohse, Der Brief an die Römer (s.
Anm. 23), 241 zitiert: „Das aramäische Wort ַא ָבּאsteht im status emphaticus, der auch als
Vokativ in der Bedeutung ‚mein/unser Vater‘ verwendet wird.“
42 S.o. bei den Anmerkungen 15–20.
43 Zum Status emphaticus / Status determinatus ’ªbā’ bzw. ’ªbāh vgl. Schelbert, ABBA
Vater, 37.45–47.51.54.183 und s. unten bei Anm. 53 und Anm. 60. Jeremias, Abba, 59 voka-
lisiert den Status emphaticus unter Hinweis auf E. Littmann, Orientalia 21 (1952) 389 ’abā’
bzw. ’abāh. – Für den Status emphaticus ’ªbā’ bzw. ’ªbāh gibt es bislang keinen sicheren mittel-
aramäischen Beleg, für den Status absolutus ’( ַאבab „Vater“) nur einen einzigen: 11QTargHi
(11Q10) XXXI 5 (Hi 38,28).
„Abba! Vater!“ 9
2. Der Vokativ πάτερ μου von Mt 26,39.42 ist kein Indiz dafür, daß ’abbā’
bereits in neutestamentlicher Zeit die Form ’abî verdrängt hatte und deshalb
auch in der Bedeutung „mein Vater“ gebraucht wurde.44 – In Mt 26,39.42 gehen
die Worte πάτερ μου auf den Evangelisten Matthäus zurück, der durch sie den
Vokativ ὁ πατήρ der Markusvorlage (Mk 14,36) zwar nicht in grammatisch
genauer Entsprechung, wohl aber sinngemäß zutreffend ersetzt hat. – Gegen
die Annahme, daß ’abî („mein Vater“) in neutestamentlicher Zeit bereits durch
’abbā’ verdrängt war, sprechen Textbefunde aus dem Mittelaramäischen.45 Hier
ist zunächst zu erwähnen, daß ’abî in mehreren Qumrantexten belegt ist,46 dar-
unter in dem um die Zeitenwende (oder etwas früher?) entstandenen Genesis-
Apokryphon als direkte Anrede des irdischen Vaters.47 Als weiterer Textzeuge ist
sodann das in der Kairoer Geniza gefundene Bodleian Fragment a des aramäi-
schen Testamentum Levi zu nennen.48 In ihm heißt es in Worten des Jakobsohns
Levi: „ אבאsegnete mich“ (CTLevi ar Bodl. a, 23 [= L 33,23]).49 Klaus Beyer
liest die unpunktierten Konsonanten als ’abbā’ 50 und übersetzt sie mit „mein
Vater“51. Dagegen spricht jedoch der Kontext, in dem zweimal für „mein Vater“
ein ’( אביabî ), d. h. die Form mit Suffix der 1. Person Singular erscheint.52 Man
44
K. Beyer, Die aramäischen Texte vom Toten Meer samt den Inschriften aus Palästina,
dem Testament Levis aus der Kairoer Genisa, der Fastenrolle und den alten talmudischen
Zitaten, Göttingen 1984, 503 s. v. אבordnet den ἀββά-Beleg Mk 14,36 ohne Begründung den
Formen mit Suffix der 1. Person Singular zu.
45
Vgl. M. Philonenko, Das Vaterunser. Vom Gebet Jesu zum Gebet der Jünger (UTB
2312), Tübingen 2002, 37; Schattner-Rieser, Das Aramäische zur Zeit Jesu (s. Anm. 4), 110.
46
1QGenAp ar (1Q20) II 19.24. III 3; 1QTestLevi ar (1Q21) Frgm. 29,1; 4QTobitª ar (4Q196)
Frgm. 2,9 (Tob 1,22). Frgm. 14 I 6 (Tob 6,15). Frgm. 14 II 11 (Tob 7,5); 4QTobitᵇ ar (4Q197)
Frgm. 4 II 10 (Tob 6,15). Frgm. 4 III 8 (Tob 7,5); 4QTestLeviᵇ ar (4Q213a) Frgm. 1 II 12;
4QTestLeviᶜ ar (4Q213b) 4; 4QTestQahat ar (4Q542) Frgm. 1 II 11; 4QVisions of Amramᵈ ar
(4Q546) Frgm. 2,3; 6QEnGiants ar (6Q8) Frgm. 1,4. – S. neben den Texten aus Qumran auch
die Belege aus dem nabatäischen Schuldvertrag pap5/6ḤevA nab, recto, Frgm. 1,6.7. Frgm. 3,1
(J. A. Fitzmyer / D. J. Harrington, A Manual of Palestinian Aramaic Texts [BibOr 34],
Rom 1978, 164.166).
47
1QGenAp ar (1Q20) II 24: Metusalah wendet sich mit den Worten „o mein Vater (jā’ ’abî )
und o mein Herr (jā’ marî )!“ an seinen Vater Henoch.
48
Der Text der etwa aus dem 10. Jahrhundert n. Chr. stammenden Handschrift gehört zu
dem aramäischen Testament Levis aus Qumran (1Q21; 4Q213–4Q214; 4Q540–4Q541), das um
150–100 v. Chr. zu datieren ist.
49
Den Text bieten R. H. Charles, The Greek Versions of the Testaments of the Twelve
Patriarchs, Oxford bzw. Darmstadt ²1960, 246; Beyer, Die aramäischen Texte vom Toten Meer
(s. Anm. 44), 196. Der engere Kontext (= Zeilen 21–23) sei in Übersetzung mitgeteilt: „Und ich
segnete meinen Vater ( )אביzu seinen Lebzeiten, und ich segnete meine Brüder. Danach seg-
neten sie (sc. meine Brüder) alle mich, und auch אבאsegnete mich.“
50
Beyer, ebd., 503 s. v. אב.
51
Beyer, ebd., 197.
52 CTLevi ar Bodl. a, 14 (= L 33,14) und 21 (= L 33,21). Zu אביs. ferner Bodl. c, 12 (Charles,
wird deshalb in dem אבאvon Zeile 23 den Status emphaticus ’ªbā’ zu erblicken
haben,53 der mit „der Vater“ zu übersetzen ist.54
3. Wenn nach Röm 8,15 und Gal 4,6 eine Mehrzahl von Personen Gott als
’abbā’ anruft, so ist das kein Indiz dafür, daß das Wort grammatisch auch die
Bedeutung „unser Vater“ hatte und dementsprechend als Vokativ „unser Vater!“
verwendet werden konnte.55 – Für sich genommen belegen die beiden Paulus-
texte für das aramäische ’abbā’ ebensowenig die Bedeutung „unser Vater“, wie
sie dies für das griechische ὁ πατήρ tun. Einen Beleg liefert auch nicht die Vater-
unser-Anrede πάτερ ἡμῶν ὁ ἐν τοῖς οὐρανοῖς Mt 6,9b; denn diese Fassung der
Anrede stellt gegenüber dem πάτερ von Lk 11,2b eine sekundäre Erweiterung
dar,56 so daß die Worte πάτερ ἡμῶν mit Sicherheit nicht als die direkte Über-
setzung eines aramäischen ’abbā’ angesehen werden können. – Zum Mittel-
aramäischen ist darauf hinzuweisen, daß die Formen mit Suffix der 1. Person
Plural (’[ אבונאªbûnā’ ] / ’[ אבונהªbûnāh]) keineswegs verschwunden sind.57 Von
daher ist über zwei Ossuar-Inschriften aus dem 1. Jahrhundert n. Chr. zu urteilen,
in denen Beyer אבאals ’abbā’ bzw. אבהals ’abbāh liest58 und jeweils mit „unser
Vater“ übersetzt59. Da die erstgenannte Inschrift sogleich in der folgenden Zeile
für „unser Vater“ das übliche ’( אבונהªbûnāh), also die Form der 1. Person Plural
aufweist (yJE 12b), vermag Beyers Lesung und Übersetzung nicht zu über-
53
So bemerkt auch Schelbert, ABBA Vater, 45, daß אבאan unserer Stelle „ohne jede
Schwierigkeit als normaler status emphaticus ,der Vater‘ verstanden werden“ kann und „kein
Grund“ vorliegt, „ אבאim unpunktierten Text als Sonderform אבא/ abba zu lesen“. Entspre-
chend übersetzt er (ebd.): „auch der Vater / אבא/ ’ ªva segnete mich“. (Im Widerspruch dazu
hat Schelbert, ebd., 43 das אבאvon CTLevi Bodl. a, 23 [im Rahmen einer etwas seltsamen
Textdarbietung] zweimal mit „mein Vater“ wiedergegeben, beim erstenmal mit der fehlerhaften
Stellenangabe „Z. 13“). Als Alternative zu der Lesung ’ªva erwägt Schelbert die Möglichkeit,
daß in CTLevi Bodl. a, 23 der Sprachgebrauch eines Abschreibers aus späterer Zeit vorliegt.
So versteht auch Beyer, Die aramäischen Texte vom Toten Meer (s. Anm. 44), 189 Anm. 1
den Text.
54
So außer Schelbert (s. Anm. 53) auch J. Becker, Die Testamente der zwölf Patriarchen
(JSHRZ III/1), Gütersloh 1974, 142. S. ferner die Wiedergabe mit „father“ bei R. H. Charles,
The Apocrypha and Pseudepigrapha of the Old Testament II: Pseudepigrapha, Oxford 1913
= 1964, 364 (col. a, 10); F. García Martínez / E. J. C. Tigchelaar, The Dead Sea Scrolls.
Study Edition I, Leiden – Boston – Köln bzw. Grand Rapids, MI – Cambridge, U. K. 1997, 51.
55 Beyer, Die aramäischen Texte vom Toten Meer (s. Anm. 44), 503 s. v. אבordnet die
beiden ἀββά-Belege Röm 8,15 und Gal 4,6 den Formen mit Suffix der 1. Person Plural zu –
wieder ohne Begründung.
56
S.o. Anm. 36.
57
Ich notiere die folgenden Belege: אבונא: 4QTobitᵇ ar (4Q197) Frgm. 4 I 17 (Tob 6,11);
CTLevi ar Bodl. b, 4 (= L 34,4); אבונה: CTLevi ar Bodl. b, 3 (= L 34,3); Ossuar-Inschriften yJE
3,1 und yJE 12b bei Beyer, Die aramäischen Texte vom Toten Meer (s. Anm. 44), 340 f. – In
CTLevi ar Bodl. b, 3 (= L 34,3) erscheint für „unser Vater“ die jüngere Form ’( אבונןªbûnán).
Vgl. Schelbert, ABBA Vater, 46.52f.67.
58
Beyer, ebd., 503 s. v. אב.
59
Beyer, ebd., 341 (yJE 12a) und 342 (yJE 16c, 2).
„Abba! Vater!“ 11
zeugen. Auch in den beiden Inschriften ist der Status emphaticus ’( ֲא ָבאªbā’ )
bzw. ’( ֲא ָבהªbāh) zu lesen und deshalb mit „der Vater“ zu übersetzen.60
Als Ergebnis kann an dieser Stelle festgehalten werden, daß weder das Neue
Testament noch auch mittelaramäische Dokumente eine Basis für die These
bieten, daß ’abbā’ im 1. Jahrhundert n. Chr. in den Bedeutungen „der Vater“,
„mein Vater“ und „unser Vater“ verwendet wurde.61 Wir haben für das 1. Jahr-
hundert bislang als eindeutige Belege nur die drei neutestamentlichen Texte, und
diese erlauben für ’abbā’ einzig und allein die grammatische Bestimmung als
Vokativ mit der Übersetzung „Vater!“.
III
Zahlreiche Belege für ’abbā’ finden sich in den Targumen und in der rabbi-
nischen Literatur.62 Da es sich hier durchweg um Traditionsliteratur handelt, ist
die Datierung einzelner Überlieferungen vielfach mit Schwierigkeiten belastet
und in der Forschung entsprechend umstritten. Nach meinem Verständnis doku-
mentieren die ältesten Schriften – Targum Onqelos zum Pentateuch und Targum
Jonathan zu den Propheten sowie unter den rabbinischen Werken die Mischna,
die Tosephta und die halachischen Midraschim – einen Gebrauch von ’abbā’, der
sich im 2./3. Jahrhundert n. Chr. und also in der Zeit des Übergangs vom Mittel-
aramäischen zum Spätaramäischen herausgebildet hat und der dann auch in den
späteren Targumen und rabbinischen Schriften erhalten geblieben ist.
Der Sprachgebrauch von ’abbā’, wie ihn die aramäischen Texte aufweisen,
kann knapp folgendermaßen beschrieben werden: a) ’abbā’ ist Vokativ mit der
Bedeutung „Vater!“ und wird als Anrede des Vaters nicht nur von Kindern63,
sondern in gleicher Weise auch von erwachsenen Söhnen und Töchtern64 ver-
wendet. Die Auffassung, daß ’abbā’ „seinem Ursprung nach eine reine Lallform“
60
Vgl. Fitzmyer / Harrington, A Manual of Palestinian Aramaic Texts (s. Anm. 46), 175
Nr. 95a (= yJE 12a bei Beyer) und 183 Nr. 145c, 2 (= yJE 16c bei Beyer).
61
Was gesagt werden kann, ist einzig dies : Der Vokativ ’abbā’ entspricht im Munde eines
Einzelnen sachlich-inhaltlich (!) einem Vokativ „mein Vater!“ und im Munde Mehrerer sach-
lich-inhaltlich (!) einem Vokativ „unser Vater!“. Sinngemäß (!) und in freier (!) Wiedergabe
könnte der Vokativ ’abbā’ deshalb auch durch das mit dem Personalpronomen verbundene
Nomen zum Ausdruck gebracht werden.
62
S. die Textdarbietung bei Schelbert, ABBA Vater, 71–296.
63 TargJon Jes 8,4; jJoma VI 43d,26. Vgl. auch bTa‛an 23b (Zeile 37): die Schulkinder zu
war,65 läßt sich aus den Texten nicht überzeugend begründen.66 – b) ’abbā’ wird
stets für „mein Vater“ verwendet und hat somit in Aussagen wie in der An-
rede die noch im Mittelaramäischen gebrauchte Form mit Suffix der 1. Person
Singular ’abî 67 gänzlich verdrängt.68 – c) ’abbā’ ist die allein gebräuchliche
Form für den Status emphaticus „der Vater“69 und also gänzlich an die Stelle
des ursprünglichen Status emphaticus ’ªbā’ getreten. – d) ’abbā’ hat weder in
Aussagen noch in Anreden die Bedeutung „unser Vater“, sondern die Formen
mit Suffix der 1. Person Plural (’ªbûnā’ / ’ ªbûnāh sowie das jüngere ’ªbûnán) sind
in den Texten voll erhalten.70
In Ergänzung zu der soeben gebotenen Übersicht ist als ein erstaunliches
Phänomen zu erwähnen, daß das aramäische Wort ’abbā’ auch Eingang in die
hebräischen Texte der rabbinischen Literatur gefunden hat. Es ist dort zwar
nicht gänzlich, aber doch weithin in der Aussage wie in der Anrede an die Stelle
der hebräischen Form mit Suffix der 1. Person Singular (’ābî „mein Vater“) ge-
treten.71 Auch hier wird ’abbā’ keineswegs nur von Kindern72, sondern ebenso
von erwachsenen Söhnen und Töchtern73 verwendet.
Angesichts der erheblichen Bedeutungs- und Verwendungsbreite, wie sie
in den jüdischen Quellen vom 2./3. Jahrhundert an für ’abbā’ greifbar wird,
65
So Jeremias, Abba, 59 (im Anschluß an Th. Nöldeke, in: F. Schulthess / E. Litt-
mann, Grammatik des christlich-palästinischen Aramäisch, Tübingen 1924, 156 [„reines Lall-
wort“]); vgl. Ders., Neutestamentliche Theologie I (s. Anm. 3), 72. Ebenso z. B. Hofius, ἀββά
(s. Anm. 6), 1721.
66
Das Wort sollte nicht mit Anreden wie „Papa“, „Papi“, „Vati“ oder „Väterchen“ (bzw.
„daddy“ oder „dad“) verglichen und auch nicht so wiedergeben werden.
67
S.o. Anm. 46 und 47.
68
Die einzige mir bekannte Ausnahme ist TargEsth II 1,1 nach der mit supralinearer Punk-
tation versehenen Textdarbietung des MS Or. 2375 des Britischen Museums (A. Sperber,
The Bible in Aramaic, Vol. 4 A: The Hagiographa, Leiden 1968, 171, Zeile 12 v.u.). Die erste
Biblia Rabbinica (Venedig 1516/17) bietet dagegen – dem sonstigen Befund in TargEsth II ent-
sprechend – ’b’ = ’abbā’ (s. P. de Lagarde, Hagiographa chaldaice, Leipzig 1873 = Osnabrück
1967, 223, Zeile 27).
69
In den Targumen steht ’abbā’ auch da, wo in der hebräischen Vorlage der Status absolutus
’āb erscheint und wir im Deutschen „ein Vater“ sagen. S. dazu z. B. TargOnq Gen 44,19 f.; Num
30,17; TargJon Ez 22,7; TargPs 103,13; TargHi 31,18; TargSpr 3,12.
70
Vgl. Schelbert, ABBA Vater, 87–89.92.94.103.105 f.108.119 f.203.215.270 u. a. Die bei
Rüger, Aramäisch II (s. Anm. 41), 602 f. für ’abbā’ = „unser Vater“ angeführten Stellen belegen
diese Bedeutung nicht.
71 Als Belege für die weitere Verwendung von ’ābî in hebräischen Texten, bei denen es sich
weder um Schriftzitate noch auch um unter dem Einfluß von Schriftzitaten stehende Aussagen
handelt, seien genannt: a) als Anrede: bMak 24a; Tanch Dtn, w’tḥnn § 6; TanchB Dtn, w’tḥnn
§ 5; ExR 46,3 zu 34,1; PirqeREl 31. – b) in Aussagen: MekhEx zu 13,19 und zu 20,6; SifraLev,
qdwšjm paraša III 11 zu 20,26 (93d Weiss); KlglR Peticha 24.
72
bBer 40a par. bSanh 70b; bTa‛an 23a.
73
‛Ed 5,7; TosPea 3,8; SifreDtn § 316 zu 32,13; § 347 zu 33,6; MidrTann zu Dtn 24,19;
AbotRN (A) 8; AbotRN (B) 13.19.27; jPea VII 20b,24; bSoṭa 12a; bQid 32a.70a; b‛AZ 18a;
GenR 26,7 zu 6,1; HhldR 2,30 zu 2,14 u. a.
„Abba! Vater!“ 13
74
S.o. Teil II des Aufsatzes.
75
Jeremias, Abba, 60 f. mit den Anmerkungen 32 und 39. Vgl. den Hinweis auf „ אבאbei
Lehrern vor 70 nach Christus“ bei Schelbert, ABBA Vater, 189 f.
76
Schelbert, ebd., 64.69 f.124.188.
77
Schelbert, ebd., 70 (im Kontext 69 f.); vgl. auch 123 f.188.190–192.381.
78
Schelbert, ebd., 70.
79
Zu den vier Inschriften s. Schelbert, ebd., 52 f. (unter 3.2.1). 66 (unter 3.3.2). 68 (unter
3.5.2). Inschriften, in denen Abba Eigenname ist, scheiden a priori als nicht aussagekräftig aus.
80
S. exemplarisch das oben bei den Anmerkungen 58–60 Gesagte.
14 „Abba! Vater!“
Bezeichnung und Anrede für den irdischen Vater gebraucht wurde,81 ist damit
der Boden entzogen.82
Da weder die neutestamentlichen ἀββά-Belege noch die mittelaramäischen
Dokumente noch auch die späteren jüdischen Quellen eine tragfähige Basis
für die Auffassung bieten, daß ’abbā’ bereits im palästinischen Aramäisch des
1. Jahrhunderts n. Chr. die Bedeutungen „der Vater“ und „mein Vater“ hatte, kann
für diese Zeit einzig und allein die im Neuen Testament greifbare Verwendung
als Vokativ „Vater!“ als belegt gelten. Von den jüdischen Quellen her läßt sich
deshalb kein Einwand erheben, wenn man das Wort ’abbā’ nicht für einen ur-
sprünglichen Status emphaticus hält, der auch als Vokativ verwendet wurde,
sondern umgekehrt in ihm einen ursprünglichen Vokativ erblickt, der in der Zeit
des Übergangs vom Mittelaramäischen zum Spätaramäischen die Funktion des
Status emphaticus übernommen hat.83 Da der Gebrauch von ’abî „mein Vater“
in Aussage und Anrede noch für das Mittelaramäische belegt ist, liegt ferner die
Annahme nahe, daß ’abbā’ eine Sonderform des Vokativs darstellt und daß das
Wort – in Entsprechung zu der Anrede der Mutter mit dem Vokativ ’immā’ – eine
im Raum der Familie beheimatete Form der Anrede des Vaters war. Eine Be-
stimmung als kindliches „Lallwort“ ist damit nicht impliziert, und Begriffe wie
Kindlichkeit oder Zärtlichkeit müssen keineswegs eo ipso im Blick auf seine
Verwendung assoziiert werden.84 Zu denken ist vielmehr an die Verbindung von
Vertrauen und Respekt, Gehorsam und Geborgenheit.
81
Schelbert, ebd., 64. Ich zitiere den ganzen Zusammenhang, in dem Schelbert über die
Bedeutung der neutestamentlichen ἀββά-Belege für „die Geschichte des Sprachgebrauchs“ von
’abbā’ sagt: „Die neutestamentlichen Belege der Anrede und Bezeichnung Gottes als Abba /
Vater setzen den allgemeinen Gebrauch der Bezeichnung und Anrede mit אבא/ Vater zunächst
für den irdischen Vater in der gesprochenen Sprache der jüdisch-aramäischen Sprachgemein-
schaft seit der ersten Hälfte des 1. Jahrhunderts voraus. Sie ist selbstverständliche sprachliche
Grundlage für eine Übertragung auf Gott durch Jesus, Paulus und Glieder christlicher Ge-
meinden.“
82 Für Jesus und die urchristliche Gemeinde läßt sich nicht nachweisen, was Schelbert
mehrfach für die späteren jüdischen Texte zu Recht betont: Dem aramäisch Sprechenden, der
Gott als Vater anreden wollte, „stand nur mehr אבאzur Verfügung.“ So Schelbert, ebd., 381;
ähnlich 113 f.123.193.
83 Der in der Forschung verbreiteten These, daß ’abbā’ hinsichtlich seines Ursprungs als ein
’abbā’ als eine „Anrufs- und Zärtlichkeitsform“ (s. auch ebd., 445). Vgl. F. W. Danker, A
Greek-English Lexicon of the New Testament and other Early Christian Literature (BDAG),
Chicago – London ³2000, 1.b s. v. ἀββα: „vocative form, orig. a term of endearment“. Die Be-
stimmung als „Zärtlichkeitsform“ bleibt hypothetisch.
„Abba! Vater!“ 15
IV
In der Fülle der in den Targumen und in der rabbinischen Literatur enthaltenen
’abbā’-Belege sind insgesamt fünf Texte zu verzeichnen, in denen das Wort
in direkter oder indirekter Weise auf Gott bezogen ist.85 Es sind dies die fol-
genden Zeugnisse: 1. TargJon Mal 2,10a: Der Prophet formuliert die Doppel-
frage: „Haben wir nicht alle einen Vater (’abbā’ ḥad )? Hat nicht ein Gott uns
geschaffen?“ – 2. TargPs 89,27: In einem Gottesspruch über den König Israels
heißt es: „Er wird zu mir rufen: ,Mein Vater bist du (’abbā’ ’att), mein Gott und
die Kraft meiner Erlösung.‘“ – 3. TargHi 34,36a: Im Unterschied zur Biblia
Rabbinica86 bieten verschiedene Handschriften den Text: „Ich wünsche, daß der
Vater im Himmel87 (’abbā’ dᵉbišmajjā’ ) Hiob für immer prüfen möge.“88 Daß
diese Fassung des Wortes als Urtext nicht in Frage komme,89 läßt sich nicht mit
Sicherheit sagen.90 – 4. bTa‛an 23b: Über R. Chanin Hanechba (1. Hälfte des
1. Jahrhunderts n. Chr.) wird berichtet: „Wenn die Welt des Regens bedurfte,
pflegten unsere Lehrer Schulkinder zu ihm zu schicken, die den Saum seines
Mantels erfaßten und zu ihm sagten: ,Vater, Vater (’abbā’ ’abbā’ ), gib uns
Regen!‘ Er sprach vor ihm (sc. vor Gott): ,Herr der Welt, tu es um dieser willen,
die nicht unterscheiden können zwischen dem Vater (’abbā’ ), der Regen gibt,
und dem Vater (’abbā’ ), der keinen Regen gibt.‘“91 – 5. LevR 32,1 zu 24,10:
R. Nechemja (um 150 n. Chr.) läßt den toratreuen Juden auf die Frage, warum
er von den Gottlosen gegeißelt werde, die Antwort geben: „Weil ich den Willen
meines Vaters im Himmel (’abbā’ šäbbaššāmajim92) getan habe.“93
85
Vgl. Rüger, Aramäisch II (s. Anm. 41), 603. Rüger führt zusätzlich zu den fünf Belegen
auch aus bTa‛an 23a das Wort des R. Schim‛on b. Schatach (um 90 v. Chr.) an, daß Gott Choni
dem Kreiszieher seinen Willen tue wie ein Vater seinem Sohn, der zu ihm sagt: „Vater (’abbā’ ),
laß mich warm baden, übergieß mich mit kaltem Wasser, gib mir Nüsse, Mandeln, Pfirsiche und
Granatäpfel.“ Daß ’abbā’ durch diesen bloßen Vergleich in indirekter Weise auf Gott bezogen
sei, vermag ich nicht zu sehen. Zur Datierung der Tradition gilt das oben im Zusammenhang
mit Anm. 75 Gesagte.
86 „Ich wünsche, daß Hiob für immer geprüft werde“: מקראות גדולות, Bd. 10, Tel Aviv 1963,
In voller Kenntnis der fünf mitgeteilten Texte hat Jeremias geurteilt, daß sich
in der umfangreichen Literatur des antiken Judentums nirgendwo ein Beleg
für die Gottesanrede ’abbā’ findet.94 Philologisch korrekt setzt Jeremias dabei
voraus, daß syntaktisch zwischen einer Bezeichnung Gottes als ’abbā’ und einer
Anrede Gottes als ’abbā’ präzise unterschieden werden muß.95 Wenn sein Ur-
teil in neueren Arbeiten kritisiert bzw. relativiert wird, so ist das allemal mit
einer unscharfen Bestimmung und Verwendung des Begriffs „Anrede“ ver-
bunden.96 Die gleiche Unschärfe zeigt sich in jenen Arbeiten dann nicht zu-
fällig auch hinsichtlich der Verwendung des hebräischen Wortes ’āb und des
griechischen Wortes πατήρ.97 Da sprachliche und gedankliche Klarheit jedoch
für die Exegese unverzichtbar sein dürfte, seien – in strenger Konzentration auf
den syntaktischen Gebrauch von Substantiven – einige Hinweise zur Bestim-
mung des Begriffs „Anrede“ gegeben. Ein Substantiv ist in einer mündlichen
oder schriftlichen Äußerung dann und nur dann Anrede, wenn es im Vokativ
als dem grammatischen Anrede-Kasus steht. Für die Identifizierung einer Sub-
stantiv-Form als Vokativ aber gibt es ein eindeutiges Kriterium: Ein Vokativ
bildet innerhalb einer sprachlichen Äußerung ein selbständiges Element, das
außerhalb des sonstigen Satzzusammenhangs steht; er ist syntaktisch nicht mit
den anderen Satzgliedern verbunden oder von einem dieser anderen Satzglieder
abhängig.98 In allen jenen Fällen, in denen ein Substantiv nicht im Vokativ steht,
sondern fest in einem Satzgefüge verankert ist, kann es prinzipiell nicht als An-
rede bestimmt werden. Das gilt etwa dann, wenn es in einem Nominalsatz Sub-
jekt oder Prädikatsnomen (Gleichsetzungsnominativ) und in einem Verbalsatz
Subjekt oder Prädikatsadjunkt (Subjektsergänzung als erweiternde Bestimmung
eines Vollverbs) ist.99 Wenden wir das Gesagte auf das Wort ’abbā’ an, so kann
dieses in einem Satz nur dann Anrede Gottes sein, wenn ein Vokativ vorliegt.100
ipsissima vox Jesu (s. Anm. 3), 147 in ihm einen späteren Zusatz zum Text der Überlieferung.
Zwingend ist das nicht.
94
So z. B. Jeremias, Abba, 59; Ders., Neutestamentliche Theologie I (s. Anm. 3), 70 f.
95
Vgl. die Unterscheidung zwischen „Vater“ als Bezeichnung Gottes und „Vater“ als Anrede
Gottes bei P. Billerbeck, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch I: Das
Evangelium nach Matthäus, München 1922 = ²1956, 392–396.
96
Eine unscharfe Verwendung der Begriffe „Anrede“ und „Bezeichnung“ ist vor allem für
die Monographie Schelberts kennzeichnend.
97 S.u. Anm. 101.
98
Zur grammatisch-syntaktischen Bestimmung des Vokativs s. exemplarisch R. Kühner /
B. Gerth, Ausführliche Grammatik der griechischen Sprache II: Satzlehre, Bd. 1, Hannover –
Leipzig ³1898 = Hannover 1976, 47 (§ 357,1); S. Segert, Altaramäische Grammatik, Leipzig
²1983, 418 (7.2.8.1). Zum Deutschen, in dem stets der Nominativ als Vokativ verwendet wird,
s. bei G. Drosdowski u. a., Grammatik der deutschen Gegenwartssprache (Duden 4), Mann-
heim – Wien – Zürich ⁴1984, § 1044 die Definition zum Anredenominativ.
99
Das Substantiv wird in diesen Fällen nicht dadurch zu einer Anrede, daß der Nominal-
oder Verbalsatz an eine Person gerichtet ist.
100 Entsprechend sind auch die im Hebräischen und im Griechischen gebräuchlichen Aus-
drücke für „Vater“, „mein Vater“ und „unser Vater“ nur da Anrede Gottes, wo sie im Vokativ
„Abba! Vater!“ 17
Ist dies nicht der Fall, so ist die Bestimmung als Anrede unzutreffend, und das
gilt auch dann, wenn es sich bei dem entsprechenden Satz um ein unmittelbar
an Gott gerichtetes Wort handelt.101 Damit ist über jenen Text entschieden, in
dem Schelbert102 und andere Exegeten103 einen Beleg für die ’abbā’-Anrede
Gottes finden – nämlich über den Gottesspruch TargPs 89,27.104 Wenn es dort
von dem König Israels heißt: „Er wird zu mir rufen: ,Mein Vater bist du, mein
Gott und die Kraft meiner Erlösung‘“, dann ist der syntaktische Befund evident:
Die aramäischen Worte ’( ַא ָבּא ַא ְתּabbā’ ’att [„mein Vater bist du“]) sind eine
wörtliche Übersetzung der hebräischen Vorlage ’( ָא ִבי ַא ָתּהābî ’attāh) von Ps
89,27a105 und ebenso wie diese ein reiner Nominalsatz.106 Dementsprechend
handelt es sich sowohl bei dem hebräischen ’ābî wie auch bei dem aramäischen
’abbā’ nicht um einen Vokativ, sondern um einen Gleichsetzungsnominativ, d. h.
um ein Prädikatsnomen.107 In den an Gott gerichteten Aussagesätzen ’ābî ’attāh
und ’abbā’ ’att (V. 27a) ist „mein Vater“ – nicht anders als die Fortsetzung „mein
Gott und der Fels meiner Rettung“ (Ps 89,27b) bzw. „mein Gott und die Kraft
meiner Erlösung“ (TargPs 89,27b) – eine Bezeichnung dessen, der angeredet
stehen. Das gilt z. B. für ’ābî Jer 3,4.19; 4Q372 Frgm. 1,16; 4Q460 Frgm. 9 I 6 (alte Zählung:
Frgm. 5 I 5); ’ābînû in Synagogengebeten (s. Jeremias, Abba, 28–30; auch TargEsth II 4,16);
πάτερ 3 Makk 6,3.8; Sir 23,1.4; Sap 14,3; ApokrEz Frgm. 3 (1 Klem 8,3).
101 Auch dies gilt analog für die Verwendung der Ausdrücke „Vater“, „mein Vater“ und
„unser Vater“ in anderen Sprachen. Zu Unrecht werden deshalb in der Literatur als Belege
für die Vater-Anrede Gottes die folgenden Stellen genannt: a) aus der Hebräischen Bibel 1 Chr
29,10; Jes 63,16; 64,7; Jer 2,27; Mal 2,10; Ps 89,27; Hi 17,4; 34,36 (hier ist ’ābî Interjektion);
b) aus der Septuaginta 1 Chr 29,10; 3 Makk 5,7; Tob 13,4; Sir 51,10; Jes 63,16; 64,7; Jer 2,27;
3,4.19; c) hebrSir 51,1.10.
102
Schelbert, ABBA Vater, 90.112–114.121.379.387.
103
So z. B. Philonenko, Das Vaterunser (s. Anm. 45), 38–43.
104
Philonenko, ebd., 38 erwägt sogar, daß TargPs 89,27 „der Ursprung der Anrede abba
im ,Gebet Jesu‘ sein könnte“ (vgl. 39: daß Jesus sich in seiner ’abbā’-Anrede „die Formel aus
Ps 89,27 zu eigen gemacht hat“). Zu dieser Vermutung, an die sich ebd., 39–43 eine Kette wei-
terer Vermutungen anschließt, genügt es, auf das Problem der Datierung des Psalmen-Targums
hinzuweisen; s. D. M. Stec, The Targum of Psalms (The Aramaic Bible 16), London – New
York 2004, 2: „A very tentative suggestion would be fourth to sixth century C. E., but this is
little more than guesswork.“
105
Daß ’ābî hier Anrede sei, behaupten z. B. Schelbert, ABBA Vater, 50.91.113 f.121.381.387;
Zimmermann, Die Namen des Vaters (s. Anm. 4), 50; Schattner-Rieser, Das Aramäische
zur Zeit Jesu (s. Anm. 4), 101; Frey, Das Vaterunser im Horizont antik-jüdischen Betens (s.
Anm. 4), 14.
106
K. Seybold, Die Psalmen (HAT I/15), Tübingen 1966, 347 übersetzt im Unterschied zu
den sonstigen mir greifbaren Psalmen-Kommentaren: „Er wird mich rufen: Du, mein Vater,
mein Gott und der Fels meines Heils!“ Gegen diese Übersetzung, die „mein Vater“ als Vokativ
versteht, sprechen bereits die in der folgenden Anmerkung notierten Parallelen. Sie würde vor
allem aber eine andere Wortstellung erfordern: ’attāh müßte am Anfang des Satzes stehen! Für
diese Auskunft danke ich meinem Kollegen Heinz-Dieter Neef.
107
Zur syntaktisch gleichen Struktur s. etwa ’ābî ’attāh („mein Vater bist du“) Jer 2,27; Hi
17,14; hebrSir 51,10; ’ābînû ’attāh („unser Vater bist du“) Jes 64,7; ’abbā’ ’ant („mein Vater bist
du“) TargHi 17,14; ’ªbûnā’ ’att („unser Vater bist du“) TargJon Jer 2,27.
18 „Abba! Vater!“
wird, nicht aber eine Anrede.108 Wenn Schelbert des öfteren sowohl im Blick
auf das ’ābî des hebräischen Psalmverses wie auch im Blick auf das ’abbā’ der
aramäischen Übersetzung von einer „Quasi-Anrede“ spricht,109 dann ist das
philologisch ebensowenig überzeugend wie die Behauptung, daß der Satz „mein
Vater bist du“ in TargPs 89,27 „zwar syntaktisch Aussage“, aber „praktisch“ eine
Stelle „mit אבאals Anrede“ sei.110
Daß in den Targumen und in der rabbinischen Literatur bislang kein Beleg
für eine Anrede Gottes mit ’abbā’ nachgewiesen worden ist, das kann die Ex-
egese nach wie vor als Textbefund konstatieren.111 Sie kann daraus aber nicht die
Folgerung ziehen, daß es die Anrede Gottes mit ’abbā’ im spätantiken Judentum
nicht gegeben habe bzw. daß sie dort aufgrund des Verständnisses der Gottes-
beziehung nicht möglich gewesen sei. Eine solche Folgerung überschreitet
schlicht die Grenze dessen, was wir aufgrund exegetischer Arbeit wissen und
sagen können. Überschritten wird diese Grenze aber ebenfalls mit der Behaup-
tung, daß die ’abbā’-Anrede Gottes im spätantiken Judentum als selbstver-
ständlich vorausgesetzt werden müsse und daß sie nur zufällig in der Literatur
nicht belegt sei.
Zum Abschluß unserer Betrachtungen sei gefragt, wie die drei neutestament-
lichen ἀββά-Stellen theologisch zu interpretieren sind. Als entscheidend er-
weist sich hier nach meinem Urteil die hermeneutische Erkenntnis, daß ein an-
gemessenes theologisches Verständnis der Texte des Neuen Testaments nur dann
gewonnen werden kann, wenn diese im Kontext des Kanons und damit im Licht
des in ihm dokumentierten apostolischen Christuszeugnisses bedacht werden.112
Anm. 3), 69.
109 Zu ’ābî Ps 89,27 s. Schelbert, ABBA Vater, 90.114.381 (vgl. 50: „indirekte Anrede“),
Für die drei Stellen ergibt sich dann eine eindeutige Bestimmung ihrer theo-
logischen Aussage. Der Beter, der nach Mk 14,36 im Garten Gethsemane seinen
Vater mit ἀββά anredet, ist eben jener Sohn Gottes, den das Markusevangelium
vom ersten Kapitel an bezeugt und den es den Lesern sowohl in seiner göttlichen
Hoheit wie auch in seiner Niedrigkeit am Kreuz vor Augen stellt. Dieser aber ist
kein anderer als der Sohn Gottes, den Paulus verkündigt und dem den Kontexten
von Röm 8,15 und Gal 4,6 zufolge die an ihn Glaubenden verdanken, daß sie
zu Gott ἀββά rufen dürfen. In der ἀββά-Anrede Jesu kommt so zum Ausdruck,
wer er wesenhaft ist, und in der ἀββά-Anrede der Glaubenden, wer sie durch
ihn geworden sind. Ist damit die Aussage der drei neutestamentlichen Texte
zutreffend bestimmt, dann dürfte es von der Sache her ausgeschlossen sein, die
ἀββά-Anrede Jesu mit den im spätantiken Judentum belegten Gottesanreden zu
vergleichen und aufgrund dieses Vergleichs über das jeweilige Gottesbewußtsein
und Gottesverhältnis zu urteilen. Das apostolische Christuszeugnis und nichts
sonst erschließt, wer Jesus ist, – und damit auch, was es mit seiner ἀββά-Anrede
auf sich hat.
Das Vaterunser, das Jesus selbst seine Jünger gelehrt hat und dem deshalb in
allen christlichen Kirchen eine besondere Dignität zukommt, ist im griechischen
Neuen Testament zweifach überliefert: zum einen im sechsten Kapitel des Mat-
thäusevangeliums (Mt 6,9b–13) und zum andern im elften Kapitel des Lukas-
evangeliums (Lk 11,2b–4).2 Die beiden Texte seien nebeneinandergestellt:3
Mt 6,9b–13 Lk 11,2b–4
Πάτερ ἡμῶν ὁ ἐν τοῖς οὐρανοῖς, Πάτερ,
ἁγιασθήτω τὸ ὄνομά σου· ἁγιασθήτω τὸ ὄνομά σου·
ἐλθέτω ἡ βασιλεία σου· ἐλθέτω ἡ βασιλεία σου·
γενηθήτω τὸ θέλημά σου,
ὡς ἐν οὐρανῷ καὶ ἐπὶ γῆς·
τὸν ἄρτον ἡμῶν τὸν ἐπιούσιον τὸν ἄρτον ἡμῶν τὸν ἐπιούσιον
δὸς ἡμῖν σήμερον· δίδου ἡμῖν τὸ καθ’ ἡμέραν·
καὶ ἄφες ἡμῖν τὰ ὀφειλήματα ἡμῶν, καὶ ἄφες ἡμῖν τὰς ἁμαρτίας ἡμῶν,
ὡς καὶ ἡμεῖς ἀφήκαμεν καὶ γὰρ αὐτοὶ ἀφίομεν
τοῖς ὀφειλέταις ἡμῶν· παντὶ ὀφείλοντι ἡμῖν·
καὶ μὴ εἰσενέγκῃς ἡμᾶς εἰς πειρασμόν, καὶ μὴ εἰσενέγκῃς ἡμᾶς εἰς πειρασμόν.
ἀλλὰ ῥῦσαι ἡμᾶς ἀπὸ τοῦ πονηροῦ.
meinsamen Textbestandes sind zur Gebetsanrede, zur Brot-Bitte und zur Ver-
gebungs-Bitte jeweils Unterschiede im Wortlaut zu verzeichnen. Nach Aufbau
und syntaktischer Struktur stimmen die beiden Fassungen des Gebetes im
wesentlichen miteinander überein: Auf die Gebetsanrede folgen zunächst bei
Lukas zwei, bei Matthäus drei Du-Bitten, die asyndetisch, d. h. ohne ein „und“
aneinandergefügt sind. An die letzte der Du-Bitten ist sodann ebenfalls asyn-
detisch die Gruppe der Wir-Bitten angeschlossen, innerhalb derer die drei Lukas
und Matthäus gemeinsamen Bitten durch die Kopula καί miteinander verbunden
sind. Die nur bei Matthäus erscheinende vierte Du-Bitte hat ihre Eigentümlich-
keit darin, daß sie durch ein adversatives ἀλλά eingeleitet wird und so in eine
besonders enge Beziehung zu der ihr voraufgehenden Bitte tritt.
Angesichts der skizzierten Befunde stellt sich die Frage nach der ursprüng-
lichen Gestalt des von Jesus formulierten Gebetes. Die ihr gewidmete intensive
Forschung hat nach meinem Urteil zu einem Ergebnis geführt, das sich in drei
Sätzen knapp zusammenfassen läßt: 1. Die beiden neutestamentlichen Fassungen
gehen auf eine gemeinsame griechische Vorlage zurück,5 die sich ihrerseits als
eine Übersetzung aus der aramäischen Muttersprache Jesu zu erkennen gibt.6
2. Der ursprüngliche Umfang des Vaterunsers wird in dem kürzeren Lukas-Text
greifbar; denn die beiden zusätzlichen Matthäus-Bitten dürften erst im gottes-
dienstlichen Gebrauch des Gebetes hinzugewachsen sein.7 3. Was den Wortlaut
anlangt, so ist bei Lukas in der Gebetsanrede, bei Matthäus hingegen in der
ersten und zweiten Wir-Bitte das Ursprüngliche erhalten.8
5
Die Abhängigkeit der beiden Fassungen von einer gemeinsamen griechischen Vorlage wird
dadurch bewiesen, daß das absolute Hapaxlegomenon ἐπιούσιος (zu diesem s. Teil I des Auf-
satzes) sowohl in Mt 6,11 wie auch in Lk 11,3 erscheint.
6 S. dazu G. Dalman, Die Worte Jesu I, Leipzig ²1930 = Darmstadt 1965, 283–365; J. Je-
remias, Das Vater-Unser im Lichte der neueren Forschung, in: Ders., Abba. Studien zur
neutestamentlichen Theologie und Zeitgeschichte, Göttingen 1966, 152–171; H. Gese, Bemer-
kungen zum Vaterunser unter dem Gesichtspunkt alttestamentlicher Gebetsformen, in: Chr.
Landmesser / H.-J. Eckstein / H. Lichtenberger (Hg.), Jesus Christus als die Mitte der Schrift.
Studien zur Hermeneutik des Evangeliums (BZNW 86), Berlin – New York 1997, 405–437:
411 f. Weitere grundlegende Literatur wird bei Jeremias, ebd., 152 Anm. * genannt.
7 J. Jeremias, Neutestamentliche Theologie I: Die Verkündigung Jesu, Gütersloh ⁴1988, 190
bemerkt zu Recht: „Da liturgische Texte die Tendenz haben, sich anzureichern, und der kürzere
Wortlaut hier gewöhnlich der ältere ist, dürften die Überschüsse bei Matthäus Erweiterungen
darstellen. Es ist unwahrscheinlich, daß jemand die dritte und siebte Bitte gestrichen haben
sollte, während der umgekehrte Vorgang gut vorstellbar ist.“
8
Zur Gebetsanrede: Bei den Worten πάτερ ἡμῶν ὁ ἐν τοῖς οὐρανοῖς von Mt 6,9b handelt
es sich um eine Formulierung, „wie sie frommer jüdisch-palästinischer Sitte entsprach“ (Je-
remias, Das Vater-Unser im Lichte der neueren Forschung [s. Anm. 6], 158). – Zu der ersten
Wir-Bitte: s. Teil I des vorliegenden Aufsatzes. – Zu der zweiten Wir-Bitte: Der Ausdruck τὰ
ὀφειλήματα („unsere Schulden“) Mt 6,12a erklärt sich dadurch, daß der Singular τὸ ὀφείλημα
die wörtliche Übersetzung des aramäischen Wortes ḥôbā’ ist, das nicht nur in eigentlichem
Sinn die Geldschuld, sondern anders als das griechische Wort zugleich auch in übertragenem
Sinn die Sünde gegen Gott bezeichnet; die Formulierung τὰς ἁμαρτίας ἡμῶν Lk 11,4a stellt eine
Gräzisierung von τὰ ὀφειλήματα dar. Um eine Gräzisierung handelt es sich ebenfalls bei den
Sprachliche Probleme im griechischen Text des Vaterunsers 23
Da es sich beim Vaterunser um das Grundgebet der Jünger Jesu handelt, muß
es m. E. als erstaunlich gelten, daß der griechische Text die Exegese vor zwei
nicht unerhebliche sprachliche Probleme stellt.
Das erste zu notierende Problem bietet die sog. Brot-Bitte, mit der die Wir-
Bitten einsetzen. Bei Matthäus lautet sie: τὸν ἄρτον ἡμῶν τὸν ἐπιούσιον δὸς
ἡμῖν σήμερον (Mt 6,11), bei Lukas: τὸν ἄρτον ἡμῶν τὸν ἐπιούσιον δίδου ἡμῖν τὸ
καθ’ ἡμέραν (Lk 11,3). Da die tragenden Verbformen der einzelnen Vaterunser-
Bitten sonst sämtlich im Aorist stehen, ist hinsichtlich der Frage nach dem ur-
sprünglichen Wortlaut dem Matthäus-Text der Vorzug zu geben und das Präsens
des Lukas-Textes als eine sekundäre Generalisierung der ursprünglich auf den
„heutigen“ Tag ausgerichteten Aussage zu beurteilen. Das dem Matthäus- und
dem Lukas-Text gemeinsame sprachliche Problem liegt in dem mit ἄρτος ver-
bundenen Adjektiv ἐπιούσιος, zu dem bereits Origenes († 253/54) in seiner
Schrift Περὶ εὐχῆς bemerkt: „Das Wort ἐπιούσιος findet sich bei keinem Grie-
chen – es wird weder bei den Gelehrten verwendet noch auch in der Sprache der
einfachen Leute gebraucht.“9 In der Tat ist das Wort außer in der Vaterunser-Bitte
und in von ihr abhängigen Sätzen nirgends sonst im Altgriechischen belegt.10
Worten καὶ γὰρ αὐτοὶ ἀφίομεν παντὶ ὀφείλοντι ἡμῖν Lk 11,4b: sie ersetzen das semitisierende ὡς
καὶ ἡμεῖς ἀφήκαμεν τοῖς ὀφειλέταις ἡμῶν Mt 6,12b (ὡς καί entspricht einem aramäischen kᵉdi,
und der Aorist ἀφήκαμεν ist Wiedergabe eines aramäischen perfectum coincidentiae = „wie
auch wir hiermit vergeben“; s. Jeremias, Neutestamentliche Theologie I [s. Anm. 7], 195;
Ders., Das Vater-Unser im Lichte der neueren Forschung [s. Anm. 6], 159 f.).
9
Origenes, De oratione XXVII 7 (GCS Origenes 2, 366,34–367,2): ἡ λέξις ἡ ‚ἐπιούσιον‘
παρ’ οὐδενὶ τῶν Ἑλλήνων οὔτε τῶν σοφῶν ὠνόμασται οὔτε ἐν τῇ τῶν ἰδιωτῶν συνηθείᾳ
τέτριπται. Origenes vermutet sodann, daß das Wort ἐπιούσιος „von den Evangelisten gebildet“
sei (ἔοικε πεπλάσθαι ὑπὸ τῶν εὐαγγελιστῶν [367,2]), was allerdings nicht zutrifft, weil Mat-
thäus und Lukas es bereits in dem ihnen vorliegenden griechischen Vaterunser-Text vorfanden
(s. o. Anm. 5).
10 Vor allem die ältere Literatur weist auf einen aus dem 5. Jahrhundert n. Chr. stammen-
den und nur bruchstückhaft erhaltenen Papyrus aus Oberägypten hin, in dem die Worte [τὰ]
ἐπιούσι[α] stehen und etwa die Bedeutung „der Tagessold“, „die Tagesration“, „das tägliche
Existenzminimum“ haben sollen; s. dazu F. Preisigke, Sammelbuch griechischer Urkunden
aus Ägypten I, Straßburg 1915: 5224,20. Der Ausdruck τὰ ἐπιούσια entspräche dann dem latei-
nischen diaria, und für ἐπιούσιος könnte von daher die Bedeutung „für den Tagesbedarf hinrei-
chend“ postuliert werden (so F. Preisigke, Wörterbuch der griechischen Papyrusurkunden I,
Berlin 1925, 567). Eine erneute Untersuchung des Papyrus hat jedoch ergeben, daß die genannte
Lesung unhaltbar ist; s. M. Nijman / K. A. Worp, ‚Ἐπιούσιος‘ in a Documentary Papyrus?,
NT 41 (1999) 231–234 sowie die Neuedition des Papyrus bei R. S. Bagnall / K. A. Worp,
Household Accounts: SB I 5224 Revisited, BASP 38 (2001) 7–20: 12 (Zeile 90). Zu korrigieren
sind u. a. Bauer / Aland, Wörterbuch⁶, 601 f. s. v. ἐπιούσιος: 601; F. Blass / A. Debrunner /
F. Rehkopf, Grammatik des neutestamentlichen Griechisch, Göttingen ¹⁷1990, § 123 Anm. 2.
24 Sprachliche Probleme im griechischen Text des Vaterunsers
verbessert bei F. W. Danker, A Greek-English Lexicon of the New Testament and other Early
Christian Literature (BDAG), Chicago – London ³2000, 376b–377a s. v. Vgl. ferner auch
H. Cremer, Biblisch-theologisches Wörterbuch des neutestamentlichen Griechisch, hg. v.
J. Kögel, Gotha ¹¹1923, 407–412; W. Foerster, Art. ἐπιούσιος, in: ThWNT II (1935 = 1957)
587– 595: 588,1–591,9.
12
panis noster cotidianus (v. l. quotidianus).
13
panis noster cotidianus (v. l. quotidianus). Im Vulgata-Text von Mt 6,11 lautet die Über-
setzung dagegen: panis noster supersubstantialis. Das Adjektiv supersubstantialis dürfte hier
eine ad hoc gebildete wortwörtliche Wiedergabe von ἐπιούσιος sein, die Bedeutung „über-
wesentlich“ / „übernatürlich“ haben und die Deutung auf das eschatologische Himmelsbrot
implizieren. Zum Gedanken des Brotes der Heilszeit s. J. Jeremias, Die Abendmahlsworte
Jesu, Göttingen ⁴1967, 225 f.
14
Mt 6,11 syᶜur: „unser fortwährendes Brot (laḥman ’amînā’ ) des Tages“; Lk 11,3 syᶜur.sin: „das
fortwährende Brot (laḥmā’ ’amînā’ ) jedes Tages“. Mt 6,11 sysin ist nicht erhalten.
15
So Dalman, Die Worte Jesu I (s. Anm. 6), 327.
16
laḥmā’ dᵉsûnqānan.
17
Die Harklensis wählt dafür später in Mt 6,11 die Formulierung laḥmā’ […] sûnqānājā’
(„unser [zum Leben] nötiges Brot“), während sie in Lk 11,4 laḥmā’ dᵉsûnqānā’ („das Brot
unseres Bedürfnisses“) hat.
18
pĕnōik ᵉntĕ rasti. Dem sind zu Mt 6,11 zwei weitere koptische Textzeugen an die Seite zu
stellen, die 1981 bzw. 2001 von H.-M. Schenke ediert wurden: Codex Scheide (pĕnaik ᵉnrĕstĕ)
und Codex Schøyen 2650 (pĕnaik nrĕstē); s. dazu J. M. Leonard, Codex Schøyen 2650: A
Middle Egyptian Coptic Witness to the Early Greek Text of Matthew’s Gospel. A Study in
Translation Theory, Indigenous Coptic, and New Testament Textual Criticism (NTTSD 46),
Leiden – Boston 2014, 101. – Das Verständnis von ὁ ἄρτος ὁ ἐπιούσιος als „das morgige Brot“
bezeugt Hieronymus, Commentaria in Evangelium S. Matthaei zu 6,11 (PL 26, 43 B.C) für
die aramäische Vaterunser-Fassung des Nazaräerevangeliums: In dieser las er als Wiedergabe
Sprachliche Probleme im griechischen Text des Vaterunsers 25
von ἐπιούσιος das Wort māḥār („morgen“), und seine lateinische Übersetzung der Brot-Bitte
lautet dementsprechend: panem nostrum crastinum da nobis hodie – „unser Brot für morgen
gib uns heute“.
19 Zu ἡ ἐπιοῦσα = „der kommende / folgende Tag“ s. etwa Spr 3,28; 27,1 LXX; Apg 16,11;
20,15; 21,18; Josephus, Ant X 170; XII 215; Bell II 441; Vit 279 f.; Polybius, Hist II 25,11; V 13,10;
Artemidor, Oneirocr V 92.
20
Hieronymus (s. Anm. 18) erwähnt beide Deutungen, die übertragene (crastinum, id est
futurum) wie auch die wörtliche im Sinn von 1 Tim 6,8. Zu der übertragen-geistlichen Deutung
s. auch Origenes, De oratione XXVII 13 (GCS Origenes 2, 371,27–373,2).
21
Bohairisch: pĕnōik ĕthnēw, saїdisch: pĕnoik ĕtnēw.
22
Vgl. τὰ ἐπιόντα „das Zukünftige“ (Demosthenes, Ep 4,5); ἐν τῷ ἐπιόντι χρόνῳ „in Zu-
kunft“ (Platon, Symp 219a; Xenophon, Cyrop II 1,23; VIII 7,7); τὸ ἐπιόν bzw. mit Krasis τοὐπιόν
„die Zukunft“ (Euripides, Fr 1073,6; Lukian, Ver Hist II 27) / „das Bevorstehende“ (Euripides,
Rhes 331; Xenophon, Symp IV 5 [beidemal parallel zu τὸ μέλλον]).
23
Diese Ableitung vertritt z. B. auch Origenes, De oratione XXVII 7–9 (GCS Origenes 2,
366,33–369,22), allerdings in der Weise, daß er für οὐσία die Bedeutung „Substanz“ annimmt.
Für ihn geht es in der Vaterunser-Bitte um das „lebendige Brot“ von Joh 6,26–58, d. h. um
Christus als den, der die Seele der Glaubenden mit sich selbst nährt, indem er seinen Leib und
sein Blut zur Speise gibt (ebd., 1–6 [GCS ebd., 363,23–366,32]).
24
Vgl. dazu Gregor von Nyssa, De oratione dominica orationes IV, der zu der Brot-Bit-
te bemerkt (PG 44, 1169 A): ζητεῖν προσετάχθημεν τὸ πρὸς τὴν συντήρησιν ἐξαρκοῦν τῆς
σωματικῆς οὐσίας („uns wurde aufgetragen, das zu erbitten, was zur Erhaltung des leiblichen
Daseins genügt“). Im Sinn dieser Aussage versteht Gregor ὁ ἄρτος ὁ ἐπιούσιος (zitiert ebd.,
1176 A) als ὁ ἄρτος τῆς σημερινῆς χρείας (ebd., 1176 D). – Zu der Möglichkeit, daß οὐσία die
Bedeutung „Existenz / Dasein / Leben“ hat, s. die Belege bei Cremer, Biblisch-theologisches
Wörterbuch (s. Anm. 11), 410. Wie diese Belege zeigen, ist οὐσία in der Bedeutung „Dasein“
im Altgriechischen keineswegs nur als ein hoch-philosophischer Begriff verwendet worden.
25
In diesem Sinn deuten z. B. auch: Cremer, ebd.; P. Billerbeck, Kommentar zum Neuen
Testament aus Talmud und Midrasch I: Das Evangelium nach Matthäus, München 1922 = ²1956,
420; J. Gnilka, Das Matthäusevangelium I (HThK I/1), Freiburg – Basel – Wien ²1988,
26 Sprachliche Probleme im griechischen Text des Vaterunsers
qānan der Peschitta (s. bei Anm. 16). Vgl. dazu Dalman, Die Worte Jesu I (s. Anm. 6), 327,
der allerdings für das Nomen rectum den Plural sårkēnan wählt.
30 Vgl. K. G. Kuhn, Achtzehngebet und Vaterunser und der Reim (WUNT 1), Tübingen
1950, 35: „Es scheint von dem ersten Übersetzer des Vaterunsers ins Griechische ad hoc ge-
bildet zu sein.“
31
Man kann ja etwa – mit Dalman, Die Worte Jesu I (s. Anm. 6), 327 – fragen, warum
der Übersetzer nicht als Epitheton ἐπιτήδειος (vgl. Jak 2,16) oder ἀναγκαῖος (vgl. Tit 3,14)
verwendet hat. Ich kann dazu nur eine Vermutung äußern: Er könnte das Adjektiv ἐπιτήδειος
aufgrund seiner ganz erheblichen Polysemie („passend, tauglich, fähig; geschickt, geeignet,
zweckdienlich; geneigt, willig, willfährig, gefügig; zukommend, verdienend; zugetan, gewo-
gen, geneigt; günstig, vorteilhaft, zweckmäßig; nötig, notwendig, erforderlich“) für ungeeignet
und das Adjektiv ἀναγκαῖος aufgrund seiner recht allgemeinen Bedeutung („notwendig, nötig,
erforderlich“) für nicht präzise genug gehalten haben.
32 Sprachlich liegt es nahe, ἐπιούσιος zu ἐπὶ τὴν οὐσίαν in Beziehung zu setzen, weil von
Substantiven abgeleitete Adjektive auf -ιος nach der Wortableitungslehre die Zugehörigkeit
zum Ausdruck bringen; s. E. Bornemann / E. Risch, Griechische Grammatik, Frankfurt am
Main ²1978, § 299,1.a.
33
G. Eichholz, Auslegung der Bergpredigt (BSt 46), Neukirchen-Vluyn ³1975, 120.
Sprachliche Probleme im griechischen Text des Vaterunsers 27
liche Bitten, die an Gott gerichtet sind u[nd] deren Erfüllung von Gott erwartet
wird“.34 Die beiden Matthäus und Lukas gemeinsamen Bitten erflehen die uni-
versale Heiligung des Namens Gottes und damit die Anerkennung seines Gott-
und Herrseins durch alle Menschen (Mt 6,9c; Lk 11,2bβ) sowie das Kommen
der Königsherrschaft Gottes, die jeder gottfeindlichen Macht und Herrschaft
definitiv ein Ende setzen wird (Mt 6,10a; Lk 11,2bγ). Bei Matthäus tritt in einer
zusätzlichen Bitte als Gebetsanliegen die endgültige und umfassende Durchset-
zung des heiligen Willens Gottes auf der ganzen Erde und seine gehorsame Be-
folgung durch alle Bewohner der Erde hinzu (Mt 6,10b). Im Unterschied zu den
Du-Bitten sind die dann folgenden Wir-Bitten m. E. nicht als eschatologische
Bitten zu verstehen. In ihnen geht es vielmehr um die gegenwärtige Existenz der
Jünger Jesu, und zwar sehr konkret um das, was sie in der Zeit bis zum Anbruch
der Königsherrschaft Gottes unbedingt und mehr als alles andere nötig haben.
Der Brot-Bitte (Mt 6,11; Lk 11,3) zufolge ist das die zum Leben nötige Nahrung,
und dem tritt in der Vergebungs-Bitte (Mt 6,12; Lk 11,4a) die immer wieder neu
von Gott gewährte Vergebung der Sünden an die Seite. Die in den beiden Bitten
genannten Bedürfnisse haben jeweils eine ganz elementare Not im Blick. Auf
ein weiteres und ebenfalls in einer elementaren Not begründetes Bedürfnis der
Jünger bezieht sich dann auch die dritte Wir-Bitte (Mt 6,13a; Lk 11,4b), für die
das Stichwort πρειρασμός kennzeichnend ist.
Die von der „Versuchung“ handelnde Wir-Bitte enthält das zweite sprachliche
Problem des griechischen Vaterunser-Textes. Sie unterscheidet sich dadurch
von den anderen Bitten des Gebetes, daß sie als einzige nicht positiv, sondern
negativ formuliert ist und daß deshalb im Griechischen anstelle des Imperativs
der Prohibitiv, d. h. der mit der Negation μή verbundene Konjunktiv des Aorists
erscheint. Der Wortlaut ist bei Matthäus (Mt 6,13a) und Lukas (Lk 11,4b) der
gleiche: καὶ μὴ εἰσενέγκῃς ἡμᾶς εἰς πειρασμόν35. Die Frage, wie diese Worte
zu übersetzen und von daher dann zu verstehen sind, benennt das nicht geringe
Problem, vor das sich die Exegese gestellt sieht.
34
So richtig Billerbeck I 408.
35
Der gleiche Wortlaut findet sich im Anschluß an Mt 6,13a in der Vaterunser-Fassung von
Did 8,2b. Er liegt auch der Bezugnahme auf Mt 6,13a in Polyk 7,2 zugrunde ([…] δεήσεσιν
αἰτούμενοι τὸν παντεπόπτην θεὸν μὴ εἰσενεγκεῖν ἡμᾶς εἰς πειρασμόν).
28 Sprachliche Probleme im griechischen Text des Vaterunsers
Im Deutschen lautet die dritte Wir-Bitte nach dem geläufigen Gebetstext: „und
führe uns nicht in Versuchung“.36 Diese Fassung der Bitte ist, soweit ich sehe,
erstmals für das 15. Jahrhundert bezeugt,37 und sie findet sich im 16. Jahrhundert
sowohl in der Übersetzung Martin Luthers (Septembertestament 1522, Vollbibel
1534. 1545) wie auch in der Zürcher Bibel (1531. 1545). Nicht anders geben re-
spektable neuere Bibelübersetzungen38, aber auch wissenschaftliche Werke und
unter ihnen nicht wenige Kommentare zum Matthäus- bzw. zum Lukas-Evan-
gelium39 den griechischen Text wieder.40 Es entspricht dem skizzierten Befund,
wenn das Bauer’sche Wörterbuch für εἰσφέρειν τινὰ εἰς πειρασμόν Mt 6,13a
par. Lk 11,4b als Bedeutung notiert: „jemanden in Versuchung führen“.41 Die
Richtigkeit dieser Auskunft und der entsprechenden Übersetzung der Vater-
unser-Bitte ist allerdings ganz entschieden zu bestreiten – und zwar auf jeden
Fall dann, wenn man hinsichtlich der Wortverbindung „jemanden in Versuchung
führen“ den heutigen Sprachgebrauch voraussetzt. In ihm haben wir es bei der
Formulierung „in Versuchung führen“ mit einem Funktionsverbgefüge zu tun, in
dem das Wort „führen“ als Funktionsverb verwendet wird. Ein Funktionsverb-
gefüge liegt vor, wenn ein Verb wie „bringen“, „kommen“, „geben“, „machen“
oder eben auch „führen“ mit einem bestimmten nominalen Bestandteil – in der
Regel mit einem Akkusativ-Objekt oder einem Präpositionalobjekt – zu einer
semantischen Einheit verbunden wird.42 Die Hauptsinnträger sind dann jeweils
die Nomina, so daß in nicht wenigen Fällen ein Funktionsverbgefüge gegen das
dem Nomen verwandte Vollverb ausgetauscht werden kann. So kann etwa die
Wortverbindung „jemanden in Versuchung führen“, selbst wenn mit ihr eine
besondere Nuance zum Ausdruck gebracht werden soll, doch prinzipiell durch
36
Das die Bitte einleitende καί und seine Übersetzungen werde ich im Folgenden in der
Regel weglassen.
37
S. dazu J. Kehrein, Pater Noster und Ave Maria in deutschen Uebersetzungen, Frankfurt
a. M. 1865, 37 (Nr. XX). 45 (Nr. XXVII). 60 (Nr. XXXVII). Den letztgenannten Beleg bietet
die erste gedruckte deutsche Bibel: die Mentelin-Bibel von 1466.
38
So z. B. die Menge-Bibel, die Elberfelder Bibel, die Jerusalemer Bibel, die Einheitsüber-
setzung der Heiligen Schrift sowie die Übersetzungen des Neuen Testaments von C. Weizsäc-
ker, W. Michaelis und U. Wilckens.
39
So z. B. Gnilka, Das Matthäusevangelium I (s. Anm. 25), 212; M. Konradt, Das
Evangelium nach Matthäus (NTD 1), Göttingen 2015, 100; Klein, Das Lukasevangelium (s.
Anm. 25), 399; M. Wolter, Das Lukasevangelium (HNT 5), Tübingen 2008, 403.
40 Eine bloß sprachliche Variante ist das gelegentlich gewählte „bring(e) uns nicht in Ver-
suchung“; so z. B. Luz, Das Evangelium nach Matthäus I (s. Anm. 27), 334.
41 Bauer, Wörterbuch⁵, 463 s. v. εἰσφέρω 2; Bauer / A land, Wörterbuch⁶, 470 f. s. v.
wähnten Zeugnissen des 15. Jahrhunderts und im ursprünglichen Text der Luther-Bibel und der
Zürcher Bibel gilt, erscheint mir höchst zweifelhaft. Hier dürfte „führen“ vielmehr durchaus
noch als Vollverb verwendet sein, so daß die Formulierung „und führe uns nicht in Versuchung“
eine sprachliche Parallele darstellt zu jenen frühen deutschen Wiedergaben, die für das latei-
nische et ne nos inducas in tentationem etwa eine der folgenden Wendungen wählen: „endi ni
gileidi unsih in costunga“ (Kehrein, Pater Noster und Ave Maria in deutschen Uebersetzungen
[s. Anm. 37], 9 [Nr. VI, 8./9. Jahrhundert]), „enti ni uerleiti unsih in die chorunga“ (ebd., 19
[Nr. IX, 9. Jahrhundert]); „vnd nit laite vns in bekorung“ (ebd., 40 [Nr. XXIV, 15. Jahrhundert]),
„vnd nicht inlaitt vns in versuchung“ (ebd., 51 [Nr. XXIX, 15. Jahrhundert]). Was z. B. Luther
anlangt, so will beachtet sein, daß er die dritte Wir-Bitte des Vaterunsers auch mit „und nit ein-
fuere uns in versuchung“ übersetzen kann (WA 6, 17,27; s. auch WA 2, 122,34; 7, 227,27 und
vgl. WA 19, 96,12; 30/I 209,22) und die Worte μὴ εἰσενέγκῃς ἡμᾶς εἰς ausdrücklich als „fure
uns nicht hyneyn“ interpretiert (so WA 9, 156,33 f.).
44
Daß es sich auch im griechischen Text um ein Funktionsverbgefüge handle, vertreten zu
Unrecht: E. Jenni, Kausativ und Funktionsverbgefüge. Sprachliche Bemerkungen zur Bitte:
„Führe uns nicht in Versuchung“, ThZ 48 (1992) 77–88: 79; M. Gielen, „Und führe uns nicht in
Versuchung“. Die dritte Wir-Bitte des Vaterunsers – eine Anfechtung für das biblische Gottes-
bild, ZNW 89 (1998) 201–216: 203.
45 Ergänzend merke ich an, daß mir auch kein einziger weiterer Beleg bekannt ist für eine
übertragene Verwendung von εἰσφέρειν τινὰ εἴς τι mit dem Sinn „jemanden in etwas Böses /
Schlimmes hineinbringen“. Im eklatanten Unterschied dazu gibt es etwa zu ἐμπίπτειν εἰς
πειρασμόν 1 Tim 6,9 nicht wenige vergleichbare Belege; s. nur Bauer / Aland, Wörterbuch⁶,
517 s. v. ἐμπίπτω 2.
46
Die Bedeutung „auf die Probe stellen“ = „erproben“ / „prüfen“ haben ferner u. a. die
Verben διαπειρᾶσθαι, δοκιμάζειν, ἐκπειράζειν, ἐκπειρᾶσθαι sowie die beiden griechischen
Funktionsverbgefüge πεῖραν ποιεῖσθαι und πεῖραν λαμβάνειν.
30 Sprachliche Probleme im griechischen Text des Vaterunsers
mithin nicht lauten: „führe uns nicht in Versuchung“ oder „stelle uns nicht auf
die Probe“; sie muß vielmehr – der üblichen Bedeutung von εἰσφέρειν εἰς ent-
sprechend47 – auf jeden Fall lauten: „führe uns nicht in Versuchung hinein“ oder
„bringe uns nicht in Versuchung hinein“48. Gegenüber dem Funktionsverbgefüge
„in Versuchung führen“ besteht dann insofern ein nicht unerheblicher Unter-
schied, als mit εἰσφέρειν εἰς πειρασμόν auch bei der im Vaterunser vorliegenden
übertragenen Verwendung eine gewisse lokale Vorstellung verbunden sein muß:
Die Bitte hat eine mit dem πειρασμός gegebene und durch ihn gekennzeichnete
Situation im Blick, in die jemand hineingeführt bzw. hineingebracht wird.
Der lexikographische Befund, daß der Ausdruck εἰσφέρειν τινὰ εἰς πειρασμόν
abgesehen von der dritten Wir-Bitte des Vaterunsers im Altgriechischen nicht
nachgewiesen ist, gibt zu der Frage Anlaß, ob wir in den Worten μὴ εἰσενέγκῃς
ἡμᾶς εἰς πειρασμόν eine sklavisch getreue Übersetzung aus jener Sprache zu
erkennen haben, in der Jesus seinen Jüngern das Gebet gegeben hat, – also aus
dem Aramäischen. Daß es rein sprachlich-philologische Beobachtungen sind,
die hier nach dem aramäischen Text fragen lassen, muß nachdrücklich betont
werden.49 Den Anlaß liefert also nicht etwa das Anliegen, mit dem Rekurs auf
die semitische Vorlage des griechischen Textes den Anstoß daran zu beseitigen,
daß Gott als Subjekt des εἰσφέρειν εἰς πειρασμόν erscheint.
47 Das Verbum εἰσφέρειν heißt in Verbindung mit der Präposition εἰς: „hineintragen in /
gegenüber. Die zuerst zu nennende Deutung insistiert auf dem griechischen bzw.
lateinischen Wortlaut und urteilt von daher, daß in der Bitte von dem bewirken-
den Handeln Gottes die Rede ist. Gott selbst ist der Urheber des πειρασμός, wie
immer man die „Versuchung“ dann des näheren bestimmen und das göttliche
Wirken im einzelnen beschreiben mag. Diesem kausativen Verständnis wird
bereits in der Alten Kirche bei einigen Kirchenvätern und bei byzantinischen
Theologen das Urteil entgegengesetzt, daß es in der dritten Wir-Bitte nicht um
das bewirkende, sondern um das zulassende Handeln Gottes gehe, daß also ein
permissives Verständnis der Worte μὴ εἰσενέγκῃς ἡμᾶς εἰς πειρασμόν bzw. ne
nos inducas in temptationem geboten sei.51 Tertullian († nach 220) zitiert in
seiner Schrift „Über das Gebet“ die Bitte zunächst in der Fassung ne nos inducas
in temptationem, die – wie bereits erwähnt – dem Vaterunser-Wortlaut der mei-
sten Itala-Zeugen und der Vulgata entspricht; er fügt dann aber sogleich inter-
pretierend hinzu: id est, ne nos patiaris induci, ab eo utique qui temptat52 („das
heißt: Laß nicht zu, daß wir [in Versuchung] hineingeführt werden, natürlich
von dem, der da versucht53“). Cyprian († 258) gibt in seiner Abhandlung „Über
das Gebet des Herrn“ das Vaterunser in einer Fassung wieder, die Mt 6,9b–13
verpflichtet ist;54 in ihr stimmt jedoch die sechste Bitte mit der Auslegung
Tertullians überein: ne patiaris nos induci in tentationem55 („laß nicht zu, daß
wir in Versuchung hineingeführt werden“).56 Die gleiche Bitte erscheint in dem
51 S. dazu F. H. Chase, The Lord’s Prayer in the Early Church, Cambridge 1891, 60–69. – Th.
Zahn und A. von Harnack haben aufgrund der Frage quis non sinet nos deduci in tentationem?
bei Tertullian, Adversus Marcionem IV 26 (CSEL 47, 509,27 f.) die These vertreten, daß die
Bitte von Lk 11,4b in Marcions Evangelium (um 150) gelautet habe: μὴ ἄφες ἡμᾶς εἰσενεχθῆναι
εἰς πειρασμόν („laß uns nicht in Versuchung hineingeführt werden“); s. Th. Zahn, Geschichte
des Neutestamentlichen Kanons II: Urkunden und Belege zum ersten und dritten Band. Zweite
Hälfte, Erlangen – Leipzig 1892, 472 f.; Ders., Das Evangelium des Lucas (s. Anm. 48), 767–
772: 767; A. von Harnack, Marcion: Das Evangelium vom fremden Gott (TU 45), Leipzig
²1924, 207*. Diese in der Vaterunser-Exegese weithin aufgenommene These ist keineswegs
hinreichend begründet; s. D. T. Roth, The Text of the Lord’s Prayer in Marcion’s Gospel, ZNW
103 (2012) 47–63: 61 f.
52
Tertullian, De oratione 8,1 (CSEL 20, 186 [Fontes Christiani 76, 234]). Vgl. die etwas
anders akzentuierte Auslegung in: De fuga in persecutione 2,5 (CSEL 76, 21).
53
Gemeint ist der Satan.
54
Cyprian, De dominica oratione 7 (CSEL 3/1, 270,23–271,3).
55
Cyprian, ebd. (271,1 f.) und so dann auch ebd., 25 (285,26); zu beiden Stellen ist als Text-
variante die Fassung et ne patiaris induci nos in tentationem zu notieren. – Die soeben zitierte
Fassung der Bitte erwähnt Augustinus (354–430) unter Hinweis auf Cyprian in: De sermone
Domini in monte II 9,30 (PL 34, 1282); daß „viele beim Gebet so sagen“, bemerkt er in: De dono
perseverantiae 6,12 (PL 45, 1000). – Mit Cyprians Fassung des Vaterunsers berührt sich die Itala-
Fassung des Matthäus-Textes, wie sie im Codex Bobbiensis (um 400) enthalten ist und in der
die dritte Wir-Bitte lautet: et ne passus fueris induci nos in temptationem („und laß nicht zu, daß
wir in Versuchung hineingeführt werden“). Vgl. die Itala-Fassung des im 11. oder 12. Jahrhundert
geschriebenen Codex Colbertinus (Mt 6,13a hier: et ne passus nos fueris induci in tentationem).
56
In der Fassung ne nos induci patiaris in tentationem wird die Bitte Mt 6,13a bei Arnobius
dem Jüngeren († nach 455) zitiert: Conflictus cum Serapione II 30 (PL 53, 315 A); vgl. Com-
mentarii in Psalmos, Ps 119 (PL 53, 523 B).
32 Sprachliche Probleme im griechischen Text des Vaterunsers
57
De sacramentis V 4,18 (PL 16, 450 B). Nach J. Schmitz, Gottesdienst im altchristlichen
Mailand (Theoph. 25), Köln – Bonn 1975, 413 ist das die Meßform in Mailand zur Zeit des
Ambrosius.
58
De sacramentis V 4,29 (PL 16, 454 A). Hier fügt Ambrosius zu den Worten et ne patiaris
induci nos in tentationem als Kommentar hinzu: quam ferre non possumus. Zu dieser auf
1 Kor 10,13 beruhenden Kennzeichnung des πειρασμός und zu ihrem in der Alten Kirche ver-
breiteten Eindringen in den Text der matthäischen Vaterunser-Fassung s. E. Lohmeyer, Das
Vater-Unser, Göttingen ⁵1962, 135.
59
Dionysios von Alexandrien, Fragmenta (PG 10, 1601 A).
60
Theophylakt von Achrida, Enarratio in Evangelium Lucae, zu Lk 11,4b (PG 123, 856 C).
61
Euthymios Zigabenos (Zigadenos), Commentarius in quatuor Evangelia, zu Mt 6,13a (PG
129, 240 A).
62
Eine mit der Fassung ne patiaris induci verbundene theologische Erwägung notiert knapp
Hrabanus Maurus († 856), Commentaria in Matthaeum. Liber II, zu 6,13 (PL 107, 820 D – 821
A): Multi autem in precando ita dicunt: Ne nos patiaris induci in tentationem, exponentes
videlicet quomodo dictum sit inducas. Qua in parte ostenditur nihil contra nos adversarium
posse, nisi Deus ante permiserit, ut omnis timor noster et devotio atque observatio ad Dominum
convertatur, quando in tentationibus nostris nihil malo liceat, nisi inde tribuatur.
63 Als Beispiel nenne ich Johannes Gerson (1363–1429), Compendium Theologiae. Tractatus
V. De septem petitionibus contentis in Oratione Dominica, in: Joannis Gersonii Opera omnia I,
Antwerpen 1706, 307: Et ne nos inducas in tentationem. Quod intellige permissive, id est non
induci sinas in tentationem, hoc est, ne permittas nos succumbere tentationi.
64
Das ist auch für wissenschaftliche Werke zu verzeichnen. So gibt J. F. Schleusner,
Novum Lexicon Graeco-Latinum in Novum Testamentum I, Leipzig ⁴1819, 734 für εἰσφέρω
Mt 6,13a par. Lk 11,4b ohne jede Begründung die Bedeutung sino, permitto aliquem incidere,
Sprachliche Probleme im griechischen Text des Vaterunsers 33
venire, pervenire an, und er bietet dann für die griechische Bitte die Übersetzung: ne patiaris
nos induci in tentationem. Ähnlich notiert M. Zerwick, Analysis philologica Novi Testamenti
Graeci, Rom ⁴1984, 14 zu Mt 6,13a einfach: εἰσ-φέρω in-duco; etiam permissive: sino intrare:
fac ne intremus.
65 S. die einschlägigen Lexika s. v. εἰσφέρω.
66
Ob Melanchthon mit seinem sprachlichen Argument eine These älterer Exegese aufnimmt,
vermag ich nicht zu sagen.
67
Ph. Melanchthon, Commentarii in Epist. Pauli ad Romanos (1532), zu 9,18 (CR 15,
684): Hebraeis verba transitiva communissime habent significationem permittentis. Quale est:
Ne nos inducas in tentationem id est, ne sinas nos induci; Ders., Loci communes, tertia aetas
1559 (CR 21, 645 [Melanchthons Werke in Auswahl II/1, 226,25–28]): […] Hebraica phrasi
significare […] permissionem, non voluntatem efficacem, ut: Ne nos inducas in tentationem, id
est, ne sinas nos induci […] (ebenso bereits Loci communes, secunda aetas 1535 [CR 21, 371]).
Vgl. in den Loci von 1559 auch CR 21, 919 (Melanchthons Werke in Auswahl II/2, 601,17–22)
und CR 21, 977 (Werke II/2, 680,11–17]). Ohne Rekurs auf das „Hebräische“ findet sich das per-
missive Verständnis der dritten Wir-Bitte des Vaterunsers bereits in: Annotationes et conciones
in Evangelium Matthaei (1523), zu Mt 6,13 (CR 14, 662).
68 Für das Aramäische sprechen Ausführungen Martin Luthers, die sich unter der Überschrift
‚De oratione dominica grammatica explicatio‘ in den Tischreden von 1540 finden (WA.TR V 57,
Nr. 5317 und Nr. 5318) und für die der Reformator seinem Freund Melanchthon verpflichtet sein
dürfte. Luther erklärt dort zunächst grundsätzlich (57,6 f.): Haec oratio habet multas phrases
Hebraeas, nam Christus locutus est Syriace; Syria autem tum temporis habuit Chaldaicam
linguam. Zur dritten Wir-Bitte heißt es dann (57,25 f.): Et ne nos inducas, id est: Ne sinito nos
induci. Permissive accipiendum, non effective.
69
Auf diese Entsprechung verweisen zu Mt 6,13a bereits u. a. J. Drusius, Annotationum in
34 Sprachliche Probleme im griechischen Text des Vaterunsers
totum Jesu Christi Testamentum sive Praeteritorum libri decem, Franeker 1612, 20; H. Groti-
us, Annotationes in Novum Testamentum I (1641). Denuo emendatius editae, Groningen 1826,
240; Chr. Schöttgen, Horae Hebraicae et Talmudicae in universum Novum Testamentum
I, Dresden – Leipzig 1733, 64; J. J. Wettstein, Novum Testamentum Graecum I, Amsterdam
1751 = Graz 1962, 326.
70 Im Biblisch-Aramäischen: Hafel.
71
Kausative Bedeutung haben das Hifil der Hebräischen Bibel (hªbē’tānû) und ebenso das
Afel des aramäischen Psalmen-Targums (’ª‛ēltānā’ ) in dem an Gott gerichteten Psalmvers Ps
66,11a: „Du hast uns in das Fangnetz hineingebracht“ = „Du hast uns in das Fangnetz hineinge-
raten lassen“. Hier ergibt sich der kausative Sinn, den auch die Septuaginta zum Ausdruck
bringt (εἰσήγαγες ἡμᾶς εἰς τὴν παγίδα [Ψ 65,11a]), zweifelsfrei aus dem Kontext der Verse
10–12. – Belege für permissive Bedeutung s. u. bei den Anmerkungen 79–84 und 85–88 (vgl.
auch Anm. 77).
72
S.o. Anm. 67.
73 S.o. Anm. 69.
74
S. z. B. W. M. L. de Wette, Kurze Erklärung des Evangeliums Matthäi (KEH.NT I.1),
Leipzig ³1845, 84; G. H. Box / W. F. Slater, St. Matthew (The New-Century Bible). New
and Enlarged Edition, London u. a. o. J. (1922), 131 f.; W. Grundmann, Das Evangelium nach
Matthäus (ThHK 1), Berlin 1968, 197; Schürmann, Das Lukasevangelium II/1 (s. Anm. 25),
202 mit Anm. 209.
75
S. z. B. Jeremias, Das Vater-Unser im Lichte der neueren Forschung (s. Anm. 6), 169;
Ders., Neutestamentliche Theologie I (s. Anm. 7), 195 f.; M. Philonenko, Das Vaterunser.
Vom Gebet Jesu zum Gebet der Jünger (UTB 2312), Tübingen 2002, 100–102.115.
Sprachliche Probleme im griechischen Text des Vaterunsers 35
hinein, was zu schwer für mich ist.“80 Der bereits vorher bekannte syrische
Text (SyrPs III 11) stimmt wörtlich mit dem hebräischen überein, wobei dem
wᵉ’al tᵉbî’ênî ein wᵉlā’ ta‛lan entspricht.81 Was der Beter unter dem „Schweren“
(qāšôt82) verstanden wissen will, das er nicht zu tragen vermöchte, das ergibt
sich aus dem unmittelbaren Textzusammenhang. In ihm geht es dezidiert um
die Sünde des Beters, wie die beiden folgenden Bitten zeigen: „Jahwe, richte
mich nicht nach meinen Sünden, denn vor dir ist kein Lebender gerecht“ (Zeilen
6 f.) und: „Die Sünden meiner Jugend laß fern von mir sein, und meiner Ver-
gehen möge mir nicht mehr gedacht werden“ (Zeile 11).83 Im Kontext dieser
Bitten wird es in der Bitte von Zeile 10 um die Bewahrung vor einer durch
schwere Sünde veranlaßten und deshalb für den Beter unerträglichen Situation
gehen. Der zweite Teil der Bitte hat dann den permissiven Sinn: „und laß mich
nicht in eine Lage hineingeraten, die zu schwer für mich ist“.84 – 2. Im Traktat
Berakhot („Segenssprüche“) des Babylonischen Talmuds (bBer 60b) wird ein
in hebräischer Sprache abgefaßtes Abendgebet mitgeteilt,85 das die folgenden
Bitten enthält:
„Möge es dein Wille sein, o Herr, mein Gott, daß du mich zum Frieden mich niederlegen
läßt, und gib mir Anteil an deiner Tora. Gewöhne mich an Gebotserfüllung und gewöhne
mich nicht an Gebotsübertretung. Bringe mich nicht (’al tᵉbî’ênî ) in Sünde und nicht in
Schuld und nicht in Versuchung (wᵉlô lîdê nissājôn) und nicht in Schändliches hinein.“86
grapha II, Garden City, NY 1985, 624 Anm. m; Gese, Bemerkungen zum Vaterunser unter dem
Gesichtspunkt alttestamentlicher Gebetsformen (s. Anm. 6), 418 Anm. 31.
80
Hebräischer Text (angeführt nach Kolumne und Zeile): J. H. Charlesworth / H. W. L.
Rietz, The Dead Sea Scrolls. Hebrew, Aramaic, and Greek Texts with English Translations,
Vol. 4A: Pseudepigraphic and Non-Masoretic Psalms and Prayers, Tübingen bzw. Louisville,
KY 1997, 178.
81 Den hebräischen und den syrischen Text in synoptischer Darbietung s. ebd., 184.
82 Vgl. die Verwendung dieses femininum pluralis in der Bedeutung „Hartes“ in Gen 42,7.30.
83
Zu beachten ist auch in Zeile 8 die an Gott gerichtete Bitte um Unterweisung in der Tora.
84
Vgl. The Dead Sea Scrolls 4A (s. Anm. 80), 185, wo SyrPs III 11 folgendermaßen übersetzt
wird: „and do not allow me to enter (that which is) too difficult for me“. Ähnlich die Überset-
zung von 11Q5 XXIV 10 bzw. SyrPs III 11 in: The Old Testament Pseudepigrapha II (s. Anm. 79),
622 bzw. 624: „and do not let me enter that which is too difficult for me“. S. ferner die Über-
setzung bei Gese, Bemerkungen zum Vaterunser unter dem Gesichtspunkt alttestamentlicher
Gebetsformen [s. Anm. 6]), 418 Anm. 31: „und laß mich nicht in das hineingehen, was zu schwer
für mich“.
85
Auf bBer 60b verweisen zu Mt 6,13a bereits u. a. Wettstein, Novum Testamentum
Graecum I (s. Anm. 69), 326; A. Wünsche, Neue Beiträge zur Erläuterung der Evangelien aus
Talmud und Midrasch, Göttingen 1878, 88; Billerbeck I, 422. Aus der neueren Literatur s.
Jeremias, Das Vater-Unser im Lichte der neueren Forschung (s. Anm. 6), 169 f.
86 Dem Abendgebet tritt in bBer 60b ein Morgengebet an die Seite, in dem es heißt: „Und
möge es dein Wille sein, o Herr, mein Gott, daß du mich an deine Tora gewöhnst und mich an
deinen Geboten festhalten läßt. Und bringe mich nicht in Sünde und nicht in Schuld und nicht
in Versuchung und nicht in Schändliches hinein.“ Im Abend- wie im Morgengebet verstärkt das
dem vierfachen „in“ zugrundeliegende lîdê („in die Hände von“) die Präposition lᵉ („in […]
hinein“) und muß deshalb nicht notwendig als „in die Gewalt von“ gedeutet werden.
Sprachliche Probleme im griechischen Text des Vaterunsers 37
87 Vgl. Jeremias, Das Vater-Unser im Lichte der neueren Forschung (s. Anm. 6), 169.
88
Jeremias, ebd., gibt als Sinn des Gebetes an: „Laß nicht zu, daß ich in die Hände von
Sünde, Schuld, Versuchung und Schändlichem falle.“ S. dazu die Übersetzung von L. Gold-
schmidt in: Der Babylonische Talmud I, Berlin ²1964, 271: „Laß mich nicht zur Sünde kommen
noch zur Versuchung noch zur Schmach.“ Vgl. die Übersetzung des Morgengebetes ebd., 272.
Zu dem entsprechenden Gebet im Gebetbuch s. die folgenden Übersetzungen: Gebete der
Israeliten. Übersetzt von Dr. J. Bleichrode, Rödelheim ⁸1906, 11: „Laß uns nicht in die Hände
der Sünde, nicht in die Hände der Übertretung und Schuld, nicht in die Hände der Versuchung
und nicht in die Hände der Schande fallen!“; Sidur Sefat Emet. Mit deutscher Übersetzung
von Rabbiner Dr. S. Bamberger, Basel 1956 – 1964, 6: „Laß uns nicht zu Sünde, Vergehung
und Schuld, nicht in Versuchung und nicht in Schande kommen.“ Fast ebenso wie Bamberger
übersetzt E. Munk, Die Welt der Gebete. Kommentar zu den Werktags- und Sabbat-Gebeten
nebst Übersetzung, Basel 1962, 39.
89
Zum Syrischen vgl. auch den Peschitta-Text von Mt 6,13a par. Lk 11,4b, in dem das Afel
ta‛lan durchaus permissiv verstanden werden kann. S. dazu die Übersetzungen in: The Holy
Bible. From Ancient Eastern Manuscripts. By G. M. Lamsa, Nashville, TN ²²1981, 956.1030
(„do not let us enter into temptation“); Aramaic Peshitta New Testament Translation. By
J. M. Magiera, Truth or Consequences, NM 2005, 33 („do not let us enter into trial“). 182 („do
not let us enter into temptation“); Biblia Peshitta en Español, Nashville, TN 2015, 1769.1914
(„no nos hagas entrar en prueba“).
90 Eine kritische Diskussion würde den Rahmen des Aufsatzes sprengen. Ich muß mich – von
ganz knappen Hinweisen abgesehen – darauf beschränken, meine eigene Sicht vorzutragen und
zu begründen.
91
Die Vaterunser-Bitte läge dann auf der Linie der Bitten von 11Q5 XXIV 10 und bBer 60b.
Vom Kontext her muß jedoch, wie sogleich dargelegt werden soll, an eine Situation gedacht
sein, in der das Gottesverhältnis insgesamt aufs höchste bedroht ist.
38 Sprachliche Probleme im griechischen Text des Vaterunsers
und Erprobung des Glaubens, die auf die Bewährung des Versuchten abzielt,92
und ebenso auch die Deutung auf die große endzeitliche „Versuchung“, d. h.
auf die apokalyptische Drangsal von Apk 3,10.93 Gegen diese Interpretationen
des πειρασμός spricht vor allem der bereits erwähnte Tatbestand, daß die drei
Wir-Bitten aufs engste zusammengehören und sich jeweils auf etwas beziehen,
das mit einer ganz elementaren Not der Jünger Jesu zu tun hat. Überzeugend
ist im Blick darauf die Erklärung jener Ausleger, die in dem πειρασμός die
Versuchung zum Abfall von Gott erblicken.94 Eindrücklich beschreibt Hartmut
Gese den Sachverhalt: Es geht um πειρασμός „als Gefährdung des Beters durch
das Böse, also als Infragestellung des Gottesverhältnisses“.95 Die Bitte spricht
von dem, „was im letzten Sinn πειρασμός ist, weil es wirklich zur Krisis des
Lebens führt und infolge der Schwachheit des Beters die Gottesgemeinschaft
in Frage stellt“,96 und sie ist „von dem tiefen Wissen um die diabolische Macht
der Verführung bestimmt“.97 „Die Radikalität des Bösen gilt grundsätzlich (Mt
10,28 par.), […], und der Abfall droht selbst im engsten Jüngerkreis (Mk 14,38
parr.; Lk 22,31–43).“98 All das besagt: Es ist in der Vaterunser-Bitte eben jener
πειρασμός gemeint, von dem Jesus im Garten Gethsemane in seinem an die
Jünger gerichteten Wort spricht: „Wachet und betet, daß ihr nicht in Versuchung
hineingeratet“ (Mk 14,38; Mt 26,41; Lk 22,40.46).99 In diesem Wort ist von der
Situation des in Mk 14,27 par. Mt 26,31 angekündigten σκανδαλίζεσθαι, d. h. des
Abfalls von Jesus die Rede.100 Die dritte Wir-Bitte des Vaterunsers hat somit
Situationen äußerster Bedrohung im Blick, in denen es bei Menschen, die Jesus
nachfolgen, aufgrund der eigenen Schwachheit durchaus zum Abfall von ihm
92
Gese, Bemerkungen zum Vaterunser unter dem Gesichtspunkt alttestamentlicher Gebets-
formen (s. Anm. 6), 417 sagt mit Recht: Es „versteht sich aus der negativen Formulierung im
Bittgebet von selbst, daß all jene πειρασμοί nicht gemeint sein können, die der fromme Beter im
kämpferischen Leben tapfer und geduldig besteht und überwindet, so daß der Psalmist geradezu
sagen kann: ‚Prüfe und versuche mich‘ (Ps 26,2; vgl. Ps 139,23 f.)“.
93 In diesem Fall wäre vor πειρασμόν der Artikel zu erwarten. Entscheidend ist jedoch, daß
und eben damit auch von Gott kommen könnte. Zu denken ist hier etwa an große
Bedrängnis oder schwere Verfolgung um der Zugehörigkeit und des Bekennt-
nisses zu Jesus willen.101 Daß Gott die Beter davor bewahre, in eine Situation
solcher Gefährdung hineinzugeraten, darauf zielt die negativ formulierte Bitte
μὴ εἰσενέγκῃς ἡμᾶς εἰς πειρασμόν. Sie ist also in der Sache die Bitte um die
Bewahrung vor Situationen, in denen die Gefahr des Abfalls besteht, der den
Verlust des ewigen Heils nach sich ziehen würde.
In der Matthäus-Fassung des Vaterunsers findet die vorgetragene Deutung
dadurch ihre Bestätigung, daß zu der Versuchungs-Bitte als weitere Bitte ein
Satz hinzugefügt wird, der in positiver Formulierung den Gegensatz benennt:
ἀλλὰ ῥῦσαι ἡμᾶς ἀπὸ τοῦ πονηροῦ (Mt 6,13b). Besonders deutlich ist die anti-
thetische Entsprechung zu dem negativen Satz Mt 6,13a, wenn man ῥύεσθαι ἀπό
τινος in der Bedeutung „retten vor“ / „bewahren vor“ faßt102 und den Genitiv τοῦ
πονηροῦ als Neutrum liest. Dann ergibt sich als Übersetzung: „sondern bewahre
uns vor dem Bösen“, und das „Böse“ bezeichnet die gegen die Jünger gerichtete
gottwidrige und deshalb für sie total bedrohliche Macht. Die antithetische Ent-
sprechung ist aber ebenso gegeben, wenn man für ῥύεσθαι ἀπό τινος die Bedeu-
tung „retten von“ / „befreien von“ annimmt103 und den Genitiv τοῦ πονηροῦ als
Maskulinum versteht und auf den Satan deutet104.
4. Fazit
Blicken wir an dieser Stelle auf unsere Überlegungen zur dritten Wir-Bitte des
Vaterunsers zurück, so kann das Folgende festgehalten werden:
1. Der lexikographische Befund zu der griechischen Bitte καὶ μὴ εἰσενέγκῃς
ἡμᾶς εἰς πειρασμόν erlaubt nicht, in der Wortverbindung εἰσφέρειν εἰς
101
Vgl. dazu Lk 8,13: ἐν καιρῷ πειρασμοῦ ἀφίστανται. Lukas bezeichnet hier das als
πειρασμός, was bei Markus „Drangsal oder Verfolgung um des Wortes [Gottes] willen“ heißt
(Mk 4,17). Zu Situationen, in denen es zum Abfall kommen kann, s. auch Mt 10,16–25; Mk
13,9–13 par. Mt 24,9–14 / Lk 21,12–19.
102
Diese Bedeutung hat der Ausdruck im Griechischen überwiegend. Als Beispiele nenne
ich: 1 Makk 12,15; Ψ 17,30; 42,1; Spr 2,12 LXX; PsSal 4,23; TestRub 4,10; OrSib 2,344 f.; Röm
15,31; Did 10,5; 1 Klem 60,3a.b.
103
Dann steht ἀπό im Sinn von ἐκ. Beispiele dafür sind: Ez 27,23 LXX; ApkSedr 16,7;
2 Thess 3,2; 2 Tim 4,18.
104
Die Frage, ob τοῦ πονηροῦ Maskulinum oder Neutrum ist, stellt sich auch zu Joh 17,15
und 2 Thess 3,3. Der Satan heißt im Neuen Testament mehrfach ὁ πονηρός „der Böse“ (Mt
13,19; Eph 6,16; 1 Joh 2,13 f.; 3,12; 5,18). Von daher ist denkbar, daß τοῦ πονηροῦ in Mt 6,13b als
Maskulinum zu lesen ist. Zu denken gibt allerdings, daß in der altjüdischen Literatur eine ent-
sprechende Bezeichnung des Satans (hebr. hāra‛, aram. bîšā’ ) nicht nachgewiesen ist (Biller
beck I, 422; Dalman, Die Worte Jesu I [s. Anm. 6], 351). M. Sokoloff, A Dictionary of
Jewish Palestinian Aramaic of the Byzantine Period, Jerusalem 1990, 102a s. v. bîš sieht in GenR
75,3 zu 32,4 (Theodor / Albeck II 880,2 f.) den Satan als bîšā’ bezeichnet; ihm folgt Philo
nenko, Das Vaterunser (s. Anm. 75), 103 f. Zu übersetzen ist dort m. E. jedoch „das Böse“.
40 Sprachliche Probleme im griechischen Text des Vaterunsers
Die Erzählung von der Heilung des Gelähmten Mk 2,1–12 gewinnt ihr be-
sonderes Profil durch das Wort, das Jesus an den Kranken richtet, der zu ihm
gebracht wird: τέκνον, ἀφίενταί σου αἱ ἁμαρτίαι – „Kind, deine Sünden werden
[dir] hiermit vergeben“ (V. 5b).2 Dieser Satz stellt die Exegese vor die Frage,
wer als das Subjekt der Sündenvergebung verstanden sein will. Ist ausschließlich
Gott als der Vergebende gedacht und Jesus als der gesehen, der dem Gelähmten
den göttlichen Freispruch gültig ausrichtet und also in abgeleiteter Vollmacht
an dem Vergebungsgeschehen beteiligt ist? Oder ist gemeint, daß Jesus selbst
in unmittelbarer Machtvollkommenheit und eigener Autorität dem Gelähmten
durch sein freisprechendes Wort die Sünden vergibt? Daß zwischen einem Zu-
spruch, der kundgibt, was allein Gott tut bzw. getan hat, und einem Zuspruch, der
als schöpferisches Machtwort wirkt, was er sagt, ein fundamentaler und theo-
logisch höchst relevanter Unterschied besteht, kann keinem Zweifel unterliegen.
Zwischen beidem muß deshalb in der Exegese von Mk 2,5b präzise unterschie-
den werden.3 Nur wenn hinsichtlich der Semantik der Worte ἀφίενταί σου αἱ
ἁμαρτίαι ein begründetes Ergebnis gewonnen ist, kann sinnvoll bedacht werden,
1
In dem vorliegenden Aufsatz greife ich – unter Ergänzung verschiedener Gesichtspunkte –
noch einmal eine Thematik auf, der bereits die folgenden älteren Arbeiten gewidmet sind:
O. Hofius, Jesu Zuspruch der Sündenvergebung. Exegetische Erwägungen zu Mk 2,5b, in:
Ders., Neutestamentliche Studien (WUNT 132), Tübingen 2000, 38–56; Ders., Vergebungs-
zuspruch und Vollmachtsfrage. Mk 2,1–12 und das Problem priesterlicher Absolution im antiken
Judentum, ebd., 57–69; Ders., Kennt der Targum zu Jes 53 einen sündenvergebenden Messias?,
ebd., 70–107. Meine Überlegungen gelten ausschließlich dem Wunderbericht Mk 2,1–12 als
einem narrativen Christuszeugnis des Zweiten Evangelisten. Die Frage nach der Historizität
des Berichteten, die nicht sogleich mit der Exegese das Markustextes vermischt werden sollte,
bleibt außer Betracht.
2 Daß dem Gelähmten die Vergebung unmittelbar mit dem Zuspruch Jesu zuteil wird, kommt
in dem aoristischen Präsens ἀφίενται zum Ausdruck (vgl. F. Blass / A. Debrunner / F. Reh-
kopf, Grammatik des neutestamentlichen Griechisch, Göttingen ¹⁷1990, § 320). Die sekundäre
Lesart ἀφέωνται („sie sind [dir] vergeben“) ist Angleichung an Lk 5,20.
3
Das gilt auch für die Terminologie: Der Begriff „Vollmacht“ sollte nur im Sinn von
„Ermächtigung“ verwendet werden, nicht aber (wie z. B. noch in den in Anm. 1 genannten
Arbeiten) im Sinn von „Machtvollkommenheit“.
42 Sündenvergebung als Prärogative Gottes und Jesu Zuspruch der Sündenvergebung
9
Vgl. Joh 10,33 (auch 5,18).
10 Zuspruch durch einen Engel: Jes 6,7; Sach 3,4b (im Kontext der Verse 3,3–5); Zuspruch
durch einen Propheten: Jes 43,25; 44,22; 2 Sam (2 Reg) 12,13. Zu dem Wort, das der Engel
Jahwes in Sach 3,4b an den Hohenpriester Josua richtet („Siehe, ich habe deine Schuld von dir
hinweggenommen“), ist anzumerken, daß der Engel die Sündenvergebung keineswegs aus ei-
gener Macht gewährt. Die Szene Sach 3,1–7 mitsamt dem Wort V. 4b ist im Zusammenhang mit
Sach 1,12–17 zu sehen. Jahwe selbst gibt „die Zusage der Vergebung an seinen Erwählten durch
das Wort des Engels“ (R. Hanhart, Dodekapropheton 7.1: Sacharja 1–8 [BKAT XIV/7.1],
Neukirchen-Vluyn 1998, 218).
11
Zwei Deutungen haben am Text nicht den geringsten Anhalt: (a) daß die Frage nach der
Boten-Vollmacht in der Äußerung der Schriftgelehrten mit impliziert sei, (b) daß die Worte
ἀφίενταί σου αἱ ἁμαρτίαι V. 5b als Botenspruch gemeint seien und mit der Schilderung von
V. 6 f. den Schriftgelehrten ein Mißverständnis dieser Worte zugeschrieben werden solle.
12
So richtig W. Schmithals, Das Evangelium nach Markus. Kapitel 1–9,1 (ÖTBK 2/1),
Gütersloh bzw. Würzburg 1979, 151.161; L. Schenke, Das Markusevangelium. Literarische
Eigenart – Text und Kommentierung, Stuttgart 2005, 88 f.
13
Mk 5,41; Lk 7,14; 8,54; 13,12; Joh 11,43.
14
Zu der hier vorliegenden Bedeutung des Hoheitstitels s. u. Teil V des Aufsatzes.
15
Die Worte ἀφιέναι ἁμαρτίας ἐπὶ τῆς γῆς bieten den ursprünglichen Text. Die Lesart ἐπὶ
44 Sündenvergebung als Prärogative Gottes und Jesu Zuspruch der Sündenvergebung
ἆρον τὸν κράβαττόν σου καὶ ὕπαγε εἰς τὸν οἶκόν σου – und mit diesem Wort die
Heilung wirkt, der hat auch die ἐξουσία zu sagen: ἀφίενταί σου αἱ ἁμαρτίαι –
und mit diesem Wort die Sündenvergebung zu gewähren.16 Beide Sätze – das
Vergebungswort V. 5b und das Heilungswort V. 11 – sind somit schöpferische
Machtworte, durch die Jesus selbst wirkt, was er gebietet. Hinsichtlich des
Vergebungszuspruchs kommt das auch darin zum Ausdruck, daß die Aussage
über Jesus – ἐξουσίαν ἔχει ἀφιέναι ἁμαρτίας – formal wie inhaltlich genau dem
entspricht, was in V. 7 von Gott gesagt war: δύναται ἀφιέναι ἁμαρτίας.17 Wie
sich aus der Parallelität der beiden Sätze ergibt, handelt es sich bei der Jesus
zugeschriebenen ἐξουσία, Sünden zu vergeben, um eine Machtvollkommen-
heit, die ihm selbst ganz unmittelbar eignet.18 Gegen diese Konsequenz spricht
keineswegs die in V. 10 zu ἀφιέναι ἁμαρτίας hinzugefügte adverbiale Wendung
ἐπὶ τῆς γῆς. Diese hebt nicht auf den Gedanken der Bevollmächtigung ab, so
daß zu deuten wäre: Gott allein hat in der Tat als der „im Himmel“ Richtende
die Macht, Sünden zu vergeben, Jesus aber hat die Vollmacht, die Vergebung
„auf Erden“ zuzusprechen. Eine Gegenüberstellung von „Himmel“ und „Erde“
ist im Text durch nichts angezeigt. Die Worte ἐπὶ τῆς γῆς bedeuten vielmehr wie
in Mk 9,3 soviel wie „unter den Menschen“19 und bezeichnen den Bereich, in
dem Sündenvergebung erforderlich und Jesus heilschaffend wirksam ist.20 Die
Aussage des V. 10 ist: Jesus, der „Menschensohn“, vermag in seinem Wirken auf
Erden das, was Gott vermag. Eben dieses Vermögen war ihm auch bereits in V. 8
zugeschrieben worden – nämlich mit der Erkenntnis der verborgenen Gedanken
des Herzens, die einzig Gott eignet.21
τῆς γῆς ἀφιέναι ἁμαρτίας ist Angleichung an Mt 9,6 / Lk 5,24, und die dadurch entstandene
Zweideutigkeit, ob ἐπὶ τῆς γῆς zu ἐξουσίαν ἔχει oder zu ἀφιέναι ἁμαρτίας gehört, hat dann den
Anlaß zu der Lesart ἀφιέναι ἐπὶ τῆς γῆς ἁμαρτίας gegeben.
16 In Mk 2,10 wird somit genau das von Jesus ausgesagt, was der Beter in Ps 103(102),3 von
Gott bekennt.
17 Eine Parallele zu ἐξουσίαν ἔχει ἀφιέναι ἁμαρτίας Mk 2,10 (par. Mt 9,6; Lk 5,24), die mit
dem Nomen jklh bzw. jwkl’ auch ein aramäisches Äquivalent zu ἐξουσία enthält, liefert die Aus-
sage über Gott in TargN Gen 4,13: „Bei dir ist (= du hast) die Macht, zu verzeihen und zu ver-
geben (jklh qdmk lmšrj wlmšbq)“; vgl. TargFrgm (V) Gen 4,13 (jwkl’ qwdmk lmjšrj wlmjšbwq)
und TargPsJon Gen 4,13 (jwkl’ qdmk lmšbwq).
18
Die Wendung ἐξουσίαν ἔχειν + Infinitiv = „die ἐξουσία haben, etwas zu tun“ ist als solche
mehrdeutig, da sich der genaue Sinn von ἐξουσία allererst aus dem jeweiligen Kontext ergibt.
Das Nomen kann heißen: 1. „die Macht“ / „die Machtvollkommenheit“ / „das Vermögen“ / „das
Können“ (Jdt 8,15; Tob 7,10 [S]; Lk 12,5 [vgl. Mt 10,28]; Joh 10,18; 19,10; grHen 25,4; Josephus,
Ant II 153 [parallel: δύναμις]); 2. „die Vollmacht“ (1 Makk 10,35; Mk 3,15; Apg 9,14; Apk 11,6);
3. „das Recht“ (1 Esdr 8,22; 1 Kor 9,4–6; Hebr 13,10; Josephus, Ant III 266. IV 247.259); 4. „die
Erlaubnis“ (Tob 2,13 [S]; Josephus, Ant VIII 17); 5. „die freie Verfügung“ (Röm 9,21).
19
S. dazu ferner Lk 18,8b; Joh 17,4; Röm 9,28; sowie Hi 1,8; 2,3; Ps 58,12; 67,3; 74,12;
hebrSir 50,22.
20
Dazu ist an biblische Zeugnisse zu erinnern, die von Gottes heilvollem Handeln „auf
Erden“ sprechen: Ps 58,12; 74,12; Jer 9,23; Ψ 45,9; hebrSir 50,22.
21
1 Kön 8,39; 1 Chr 28,9; Jer 11,20; 17,10; 20,12; Ps 7,10; 44,22; 139,1b.2; Spr 15,11; 24,12; Sir
42,18–20; PsSal 14,8. Im Neuen Testament s. Lk 16,15; Apg 1,24; 15,8; Röm 8,27; 1 Thess 2,4.
Sündenvergebung als Prärogative Gottes und Jesu Zuspruch der Sündenvergebung 45
Blicken wir zurück, so kann von dem inneren Zusammenhang der Erzählung
Mk 2,1–12 her ein eindeutiger Befund konstatiert werden: Dem Erzähler gelten
die Worte Jesu ἀφίενταί σου αἱ ἁμαρτίαι V. 5b nicht als eine in abgeleiteter Voll-
macht ergehende Kundgabe der Vergebung Gottes, sondern als ein in eigener
Machtvollkommenheit von Jesus selbst vollzogener Vergebungsakt.22
II
22
Dieses Verständnis gilt ebenso auch für die von manchen Exegeten postulierte ältere
und nur die Verse 1–5 und 11–12 umfassende Erzählung; s. dazu Hofius, Jesu Zuspruch der
Sündenvergebung (s. Anm. 1), 44–48. Setzt man bei dem irdischen Jesus selbst einen Ver-
gebungszuspruch voraus, so kann im Kontext historisch-kritischer Exegese für diesen lediglich
behauptet, keineswegs aber mit hinreichenden Argumenten nachgewiesen werden, daß es sich
bei ἀφίενται um ein Passivum divinum handle; s. dazu Hofius, ebd., 48–52.
23
Als Parallelen scheiden von vornherein aus die Aussagen über den endzeitlichen Hohen-
priester in TestLev 18,9, über den „Gesalbten Aarons und Israels“ in CD 14,19 und über den
Elia redivivus in Sir 48,10 und TargJon Mal 3,23 f. (s. dazu Hofius, Kennt der Targum zu Jes
53 einen sündenvergebenden Messias? [s. Anm. 1], 72 Anm. 10 und 106 Anm. 216) sowie das in
CD 13,9 f. über den Mebaqqer – den schriftgelehrten „Aufseher“ der Gemeinde – Gesagte (s.
dazu B. Janowski, Sündenvergebung „um Hiobs willen“. Fürbitte und Vergebung in 11 QtgJob
38,2f und Hi 42,9f LXX, in: Ders., Gottes Gegenwart in Israel. Beiträge zur Theologie des Alten
Testaments, Neukirchen-Vluyn 1993, 40–69: 67).
24
S. dazu neben den bereits in Anm. 10 notierten alttestamentlichen Belegen zur Kundgabe
durch einen Engel: Jub 41,23–25 (vgl. in der Sache JosAs 15,1–8 und entfernt auch Dan 4,34
LXX).
25
S. dazu meinen Aufsatz „Vergebungszuspruch und Vollmachtsfrage“ (s. Anm. 1), in dem
auch gezeigt wird, daß sich eine ausdrückliche Absolution durch einen Priester oder durch den
Hohenpriester in den relevanten Quellen nicht nachweisen läßt. Daß das antike Judentum dem
Priester die Vollmacht zuerkannt habe, von Sünden loszusprechen, wird ohne Begründung
behauptet von E. Lohmeyer, Das Evangelium des Markus (KEK 1/2), Göttingen ¹⁴1957, 52;
Ders., Das Evangelium des Matthäus (KEK.S), Göttingen ²1958, 169; E. Haenchen, Der
Weg Jesu. Eine Erklärung des Markus-Evangeliums und der kanonischen Parallelen, Berlin
²1968, 102. Im Blick auf den Hohenpriester findet sich die gleiche Behauptung bei W. Grund-
46 Sündenvergebung als Prärogative Gottes und Jesu Zuspruch der Sündenvergebung
mann, Das Evangelium nach Markus (ThHK 2), ⁸1980, 76. In den Vorstellungsbereich der
durch priesterliche Sühnehandlung erwirkten Vergebung Gottes gehört m. E. auch das, was in
11QMelch (11Q13) II 4–8 – wohl über den im Himmel wirkenden Priesterkönig Melchisedek –
gesagt wird. Das „Erlassen“ (‛zb) der Sünden (Zeile 6) geschieht durch das in Zeile 8 erwähnte
„Entsühnen“ (kpr pi.).
26
Im Alten Testament s. Ex 32,11–13.30–32; 34,8 f.; Num 14,13–19; 21,7; Dtn 9,18–20; Ps
106(105),23. Frühjüdische Belege: Hofius, Kennt der Targum zu Jes 53 einen sündenver-
gebenden Messias? (s. Anm. 1), 90–94, außerdem Josephus, Ant III 22 f.; Philo, Mos II 166.
27
Hi 42,9 f. LXX; 11QTargHi (11Q10) XXXVIII 2 f. (Hi 42,9 f.). S. dazu Janowski, Sünden-
vergebung „um Hiobs willen“ (s. Anm. 23), 40–69.
28
TargJon Jes 52,13–53,12; PesiqR 37,2 par. Pesiq, Zusatz 6. S. dazu meinen Aufsatz „Kennt
der Targum zu Jes 53 einen sündenvergebenden Messias?“ (s. Anm. 1). Dieser Aufsatz bietet
eine ausführliche kritische Überprüfung der These, daß der Targum zum vierten Gottesknechts-
lied den Gedanken „eines durch Wort und Tat sündenvergebenden Messias“ enthalte. Diese
These wurde vertreten von K. Koch, Messias und Sündenvergebung in Jesaja 53 - Targum.
Ein Beitrag zu der Praxis der aramäischen Bibelübersetzung, JSJ 3 (1972) 117–148 (die zitierten
Worte dort 148).
29
S. ferner syrBar 85,2 (die Propheten); ParJer 2,3 (Jeremia); TargJon Am 7,2 f.5 f. (Jona);
Josephus, Ant VI 92 f. (Samuel [s. Teil III dieses Aufsatzes]); XI 143 f. (Esra); VitProph IV 15
(Daniel). Hierher gehört auch slavHen 53,1; 64,5: Der in den Himmel entrückte Henoch ver-
mag in der Gegenwart den Bußfertigen die Vergebung Gottes zu erwirken (64,5), nicht aber
im Endgericht (53,1).
30 TargOnq Ex 10,17 (šbwq k‛n lḥwbj); TargN Ex 10,17 (šrj k‛n lḥwbjj); TargPsJon Ex 10,17
(šbwq kdwn ḥwbj); TargJon 1 Sam 15,25 (šbwq k‛n lḥwbj). – Zu nś’ („wegnehmen“) in Ver-
bindung mit einem Sündenbegriff als Objekt = „Sünde vergeben“ vgl. u. a. Ex 32,32; 34,7; Num
14,18; Mi 7,18; Ps 25,18; 32,5; Hi 7,21.
31
Vgl. zu 1 Sam 15,25 F. Stolz, Das erste und zweite Buch Samuel (ZBK.AT 9), Zürich
1981, 104: Saul „rechnet mit der Fürbitte Samuels und einer darauf folgenden Vergebung der
Schuld“.
Sündenvergebung als Prärogative Gottes und Jesu Zuspruch der Sündenvergebung 47
Sehen wir an dieser Stelle zunächst von zwei noch genauer zu bedenkenden
Texten ab,32 so ist im Anschluß an das im vorigen Abschnitt Gesagte ein
auffallender Befund zu notieren: Den dort genannten Aussagebereichen, die
jeweils eine nur abgeleitete Vollmacht dokumentieren,33 sind – sofern sie nicht
schon in Anm. 23 zu erwähnen waren – alle jene Texte zuzuordnen, die in
der neutestamentlichen bzw. in der judaistischen Forschung als Belege dafür
namhaft gemacht worden sind, daß in bestimmten frühjüdischen Schriften
auch einem Menschen oder einem Himmelswesen ein sündenvergebendes
Wirken zugeschrieben werde.34 Keiner dieser Texte stellt mithin eine Par-
allele zu Mk 2,5b dar. Dieser Befund wäre dann nicht verwunderlich, wenn
es sich bei der Feststellung der Schriftgelehrten von Mk 2,7 – „Niemand kann
Sünden vergeben außer Gott allein“ – um eine in ihrer Exklusivität allgemein
anerkannte Maxime frühjüdischen Gottesglaubens handelt. Ein Sachkenner wie
G. F. Moore hat – ohne auf Mk 2,7 Bezug zu nehmen – diese Maxime für das
Judentum der tannaitischen Zeit behauptet, wenn er formuliert: „Forgiveness
is a prerogative of God which he shares with no other and deputes to none.“35
Moore verweist dazu lediglich auf eine rabbinische Deutung von Ex 23,21, der
zufolge der Engel die Sünde der Israeliten deshalb „nicht vergeben wird“, weil
er sie „nicht vergeben kann“ – weil also die Vergebung der Sünden prinzipiell
nicht in der Macht eines Engels liegt.36 Von besonderem Gewicht sind jedoch
zwei direkte Parallelen zu der in die Form einer rhetorischen Frage gefaßten
Feststellung von Mk 2,7, die – soweit ich sehe – in der Forschung unbeachtet
geblieben sind.37 Beide Belege finden sich im rabbinischen Midrasch zu den
32
S. dazu Teil III und Teil IV des Aufsatzes.
33 S. bei den Anmerkungen 24–29.
34
Ich liste unter Einschluß der in Anm. 23 angeführten Texte noch einmal die Gestalten auf
und füge in Klammern die angeblichen Belege hinzu. Die Gestalten sind: ein Engel Gottes (Jub
41,23–25), der im Himmel wirkende Priesterkönig Melchisedek (11QMelch [11Q13] II 4–8), der
himmlische „Schreiber“ Henoch (slavHen 64,5), die Priester bzw. der Hohepriester Israels
(keine Angabe von Belegen), der in der Damaskusschrift erwähnte schriftgelehrte Mebaqqer /
„Aufseher“ (CD 13,9 f.), der Elia redivivus (Sir 48,10; TargJon Mal 3,23 f.), der endzeitliche
Hohepriester (TestLev 18,9); der „Gesalbte Aarons und Israels“ (CD 14,19) und der Messias
(TargJon Jes 52,13–53,12).
35
G. F. Moore, Judaism in the First Centuries of the Christian Era. The Age of the Tannaim
I, Cambridge, MA 1927 = ⁹1962, 535.
36
TanchB Ex, mšpṭjm § 11 mit dem entscheidenden Satz: hw’ ’jnw jkwl ljś’ lpš‛km = „er kann
eure Sünde nicht vergeben“. S. auch die Parallelen: Tanch Ex, mšpṭjm § 18; MidrPs 17 § 3 zu
V. 2; ExR 32,4 zu 23,21 (vgl. bSanh 38b). – Daß auch einer der höchsten Engel nicht Sünden
vergeben kann, kommt ebenfalls in einem Targum-Fragment zu Jos 5,14 zum Ausdruck: Josua
bittet den Erzengel Uriel: „Vergib doch die Sünden deines Knechtes“ und erhält zur Antwort,
daß die Engel nur auszuführen haben, was ihnen von Gott gesagt wird; s. A. Díez Macho, Un
Nuevo Targum a los Profetas, EstBibl 15 (1956) 287–295: 294.
37
Auch bei P. Billerbeck, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch,
München I, 1922 = ²1956, 498 (zu Mt 9,3) und II, 1924 = 1956, 4.157 (zu Mk 2,7 bzw. Lk 5,21)
sind diese Parallelen merkwürdigerweise nicht mitgeteilt.
48 Sündenvergebung als Prärogative Gottes und Jesu Zuspruch der Sündenvergebung
Psalmen, und zwar im Rahmen der Auslegung des 17. Psalms, der in V. 1a als
„Gebet Davids“ bezeichnet wird und in dem der Beter in V. 2a vor Gott die
Bitte äußert: „Von dir gehe der Urteilsspruch über mich aus.“ Als Begründung
dieser Bitte legt der Midrasch David die an Gott gerichteten Worte in den Mund:
„Niemand kann Sünden vergeben als du allein.“38 Das gleiche Bekenntnis er-
scheint dann noch einmal als Gebetswort Davids in nur sprachlich variierter
Gestalt am Ende einer dem R. Levi (Pal. um 300) zugeschriebenen Auslegung
von Ex 23,20 f.: „Es ist kein anderer außer dir, der [Schuld] vergeben kann.“39
Die beiden rabbinischen Sätze sprechen dafür, daß wir es in der rhetorischen
Frage von Mk 2,7 in der Tat mit einer Aussage zu tun haben, die für den
im Zeugnis seiner Heiligen Schrift gründenden Gottesglauben des antiken
Judentums repräsentativ ist. Bevor das zuversichtlich behauptet werden kann,
sind allerdings noch zwei Texte in den Blick zu fassen, auf die T. Hägerland in
seiner 2012 erschienenen Monographie „Jesus and the Forgiveness of Sins“ mit
Nachdruck hingewiesen hat und in denen er Belege dafür sehen möchte, daß
sich doch Ausnahmen von der Regel, daß allein Gott Sünden vergeben könne,
nachweisen lassen.40
III
Auf den ersten jetzt zu bedenkenden Text – Josephus, Antiquitates VI 92 – hat,
wenn ich recht sehe, erstmals Hägerland aufmerksam gemacht.41 Im Kontext
von Ant VI 88–94 wird berichtet, daß Samuel das Volk, das einen König für
sich verlangt hatte, scharf getadelt und Gott diesen Tadel vom Himmel her
durch Blitz und Donner bestätigt hat (VI 92). Zutiefst erschrocken bekennt das
38
MidrPs 17 § 3 zu V. 2: ’jn ’ḥd jkwl lmḥwl ‛wnwt ’l’ ’th (S. Buber, Midrasch Tehillim,
Wilna 1892 = Jerusalem 1966, 63a [= 125]). Auf diese Parallele zu Mk 2,5b habe ich bereits
hingewiesen in: Jesu Zuspruch der Sündenvergebung (s. Anm. 1), 40 Anm. 11.
39 MidrPs 17 § 3 zu V. 2: ’jn ’ḥr zwltk šhw’ jkwl lwwtr.
40 T. Hägerland, Jesus and the Forgiveness of Sins. An Aspect of His Prophetic Mission
(SNTSMS 150), Cambridge 2012. Zu einer durch diese Studie veranlaßten Kontroverse s.
D. Johansson, „Who Can Forgive Sins but God Alone?“ Human and Angelic Agents, and
Divine Forgiveness in Early Judaism, JSNT 33 (2011) 351–374; T. Hägerland, Prophetic
Forgiveness in Josephus and Mark, SEÅ 79 (2014) 125–139. – Das Interesse der Studie Häger-
lands und somit auch seiner literarkritischen Analyse von Mk 2,1–12 gilt dem Nachweis, daß
der „historische Jesus“ sich als messianischen Propheten verstanden habe, der als solcher in
abgeleiteter Vollmacht Sündenvergebung zusprechen konnte. Die Arbeit gehört damit zu den
zahlreichen Versuchen, durch historisch-kritische Rekonstruktion ein Bild des irdischen Jesus
und seines Selbstverständnisses zu ermitteln. Zu meiner prinzipiellen Skepsis allen derartigen
Versuchen gegenüber s. O. Hofius, Die Frage nach dem „historischen Jesus“ als theologisches
Problem, in: H. Assel (Hg.), Leidenschaft für die Theologie, Leipzig 2012, 79–115 (in dem vor-
liegenden Band: 229–248).
41 Hägerland, Jesus and the Forgiveness of Sins (s. Anm. 40), 146–150.
Sündenvergebung als Prärogative Gottes und Jesu Zuspruch der Sündenvergebung 49
Volk, daß es „gesündigt“ habe, und daran schließt sich dann die folgende wei-
tere Reaktion an: καὶ ἱκετεύειν τὸν προφήτην ὡς πατέρα χρηστὸν καὶ ἐπιεικῆ,
τὸν θεὸν αὐτοῖς εὐμενῆ καταστῆσαι καὶ ταύτην ἀφεῖναι τὴν ἁμαρτίαν (ebd.).42
Hägerland versteht den zitierten Text dahingehend, daß die beiden Infinitive
καταστῆσαι und ἀφεῖναι von ἱκετεύειν abhängig sowie einander parallel sind
und deshalb beide auf Samuel als Subjekt bezogen werden müssen. Dement-
sprechend lautet seine Übersetzung: „They began to implore the prophet as a
mild and gentle father, to make God benevolent towards them and to forgive this
sin.“43 Hägerlands Sicht unterscheidet sich wesentlich von dem Textverständnis
jener Übersetzer, die nicht in Samuel, sondern in Gott das Subjekt der Ver-
gebung erblicken,44 sei es, weil sie dem καί vor ταύτην ἀφεῖναι τὴν ἁμαρτίαν
eine finale oder konsekutive Nuance zuschreiben, zu ἀφεῖναι ein auf τὸν θεόν
rückbezogenes αὐτόν ergänzen und mit dem καί-Satz die Reaktion Gottes auf
die Fürbitte Samuels beschrieben sehen,45 sei es, weil für τὸν θεὸν καταστῆσαι
eine zweifache syntaktische Beziehung mit unterschiedlicher Bedeutung des
Verbums angenommen wird (τὸν θεὸν αὐτοῖς εὐμενῆ καταστῆσαι und τὸν θεὸν
καταστῆσαι ταύτην ἀφεῖναι τὴν ἁμαρτίαν).46 Da wir es in Ant VI 92 mit einem
recht komplizierten Satzgebilde zu tun haben, wird man diese beiden Textana-
lysen nicht einfach als unmöglich bezeichnen können.47 Folgt man gleichwohl
42
Griechischer Text: Josephus. With an English Translation by H.St.J. Thackeray / R. Mar-
cus (LCL), Vol. V: Jewish Antiquities, Book V–VIII, London bzw. Cambridge, MA 1934 = 1966,
212.
43
Hägerland, Jesus and the Forgiveness of Sins (s. Anm. 40), 147. Ebenso in der Sache:
Oeuvres complètes de Flavius Josèphe II: Antiquités Judaïques. Livres VI–X, Traduction de
J. Weill, Paris 1926, 21.
44
S. bereits die alte lateinische Übersetzung: […] utque deum propheta uelut optimus pater
et mitis rogaret, quatenus propitius esset eis: peccatumque […] dimitteret, exorabant (Flavii
Iosephi, Patria Hierosolymitani, […] Opera quaedam Rufino presbytero interprete […], Basel
1524, 155).
45
Die jüdischen Alterthümer des Flavius Josephus übersetzt und mit Anmerkungen ver-
sehen von K. Martin, Bd. 1, Köln 1852, 347 f.; Des Flavius Josephus Jüdische Altertümer.
Übersetzt von H. Clementz, Bd. 1: Buch I bis X, Darmstadt 1899 = 1967, 335; The Works of
Flavius Josephus. Whiston’s Translation, Revised by A. R. Shilleto, Vol. I: Life of Josephus.
Antiquities of the Jews, Books I–VI, London 1889, 364; Josephus. With an English Translation
(s. Anm. 42), 213.
46
So offenbar Flavius Josephus, Translation and Commentary, Vol. 4: Flavius Josephus,
Judean Antiquities Books 5–7. Translation and Commentary by Chr.T. Begg, Leiden – Boston
2005, 124: „they […] begged the prophet […], to make God benevolent to them and forgive
this offense of theirs“. Da Begg in Gott das Subjekt von ἀφεῖναι sieht (s. Hägerland, Jesus
and the Forgiveness of Sins [s. Anm. 40] 148 Anm. 56), dürften vor „forgive“ noch einmal die
Worte „to make God“ zu ergänzen sein.
47 Wenn der von ἱκετεύειν τὸν προφήτην abhängige Infinitiv-Satz τὸν θεὸν αὐτοῖς εὐμενῆ
καταστῆσαι durch den weiteren, mit καί angeschlossenen Infinitivsatz ταύτην ἀφεῖναι τὴν
ἁμαρτίαν fortgeführt wird und gleichwohl ein Subjektswechsel vorliegen sollte, so könnte das
damit erklärt werden, daß auch die Sündenvergebung Gegenstand des Wunsches und der Bitte
des Volkes ist. Daß dabei ein auf τὸν θεόν bezogenes αὐτόν fehlt, ist kein zwingendes Gegen-
argument. Ich verweise dazu auf H. Menge / A. Thierfelder / J. Wiesner, Repetitorium
50 Sündenvergebung als Prärogative Gottes und Jesu Zuspruch der Sündenvergebung
der griechischen Syntax, Darmstadt ¹⁰1999, 158 (§ 95b); R. Kühner / B. Gerth, Ausführ-
liche Grammatik der griechischen Sprache II: Satzlehre, Bd. 2, Hannover – Leipzig ³1904
= Hannover 1976, 561 (§ 597,2a).
48
S.o. bei Anm. 31.
49
Hägerland, Jesus and the Forgiveness of Sins (s. Anm. 40), 149.
Sündenvergebung als Prärogative Gottes und Jesu Zuspruch der Sündenvergebung 51
IV
Der zweite von Hägerland50 genannte Text – 4QOrNab (4Q242) I 4 – gehört zu
dem nur fragmentarisch erhaltenen aramäischen „Gebet des Nabonid“51 und ist
bereits bald nach der Erstveröffentlichung52 als „vollkommene Parallele“ zu Mk
2,5b bezeichnet worden.53 In dem nur fragmentarisch erhaltenen Werk berichtet
der letzte babylonische König von seiner Errettung aus schwerer Krankheit.
Von Zeile I 3 sind nur am Anfang die Worte „Ich war geschlagen sieben Jahre
lang“ klar lesbar, während eine sichere Rekonstruktion des dann Folgenden
nicht möglich ist. Die anschließende Zeile I 4 lautet: wḥṭ’j šbq lh gzr wh’ jhwdj
m[…]. Diese Zeile ist für die uns beschäftigende Thematik dann relevant, wenn
das Verbum šbq hier – wie in 11QTargHi (11Q10) XXXVIII 2 f. – die in den
späteren Targumen reichlich belegte Bedeutung „vergeben“ hat. Das ist in der
Forschung zwar umstritten,54 doch es gibt kein gewichtiges Argument, das gegen
dieses Verständnis spräche. Setzt man die Bedeutung „vergeben“ voraus, dann
liegt die Annahme nahe, daß auf jeden Fall die Worte wḥṭ’j šbq lh syntaktisch
zusammengehören, daß durch die Präposition lᵉ das Objekt zu šbq (= „er hat
vergeben“) eingeführt wird55 und daß lh als Verbindung der Präposition mit dem
Pronomen der 3. Person Singular Maskulinum auf das als Singular zu lesende
ḥṭ’j (= „meine Sünde“) rückbezogen ist.56 Was dann die Frage nach dem Sub-
jekt von šbq anlangt, so sind angesichts dessen, was an Text erhalten ist, zwei
50
Ebd., 154–158.
51
Zu diesem Text und zu der ihm gewidmeten älteren Literatur s. insbesondere R. G. Kratz,
Nabonid in Qumran, in: E. Cancik-Kirschbaum u. a. (Hg.), Babylonische Wissenskultur in
Orient und Okzident, Berlin 2011, 253–270.
52
J. T. Milik, „Prière de Nabonide“ et autres écrits d’un cycle de Daniel. Fragments ara-
méens de Qumrân 4, RB 63 (1956) 407–415. – Endgültige Edition: J. J. Collins, 4QPrayer
of Nabonidus ar, in: G. J. Brooke u. a., Qumran Cave 4. XVII: Parabiblical Texts, Part 3 (DJD
XXII), Oxford 1996, 83–93.
53 A. Dupont-Sommer, Die essenischen Schriften vom Toten Meer, Tübingen 1960, 348 f.
Anm. 3; Ders., Exorcismes et guérisons dans les écrits de Qoumrân, VT.S 7 (1960) 246–261:
259; Ders., Remarques linguistiques sur un fragment araméen de Qoumrân („Priére de Nabo-
nide“), GLECS 8 (1957–1960) 48–50: 50.
54
K. Beyer, Die aramäischen Texte vom Toten Meer samt den Inschriften aus Palästina,
dem Testament Levis aus der Kairoer Genisa, der Fastenrolle und den alten talmudischen
Zitaten, Göttingen 1984, 223 f.: 224 versteht Zeile 3 f. folgendermaßen: „³[…] Aber derjenige,
[welcher] bestimmt hat [meinen Lohn] ⁴und meine Strafe, sparte sich einen Wahrsager auf, und
zwar war es ein Jude.“ Bei J. Maier, Die Qumran-Essener: Die Texte vom Toten Meer II: Die
Texte der Höhle 4 (UTB 1863), München – Basel 1995, 186, lautet Zeile 4: „meine Vergehen (?),
ließ ihm einen Wahrsager und de[r (war) ein j]üdischer [Mann] vo[n – ]“.
55
Dies ist ein Sprachgebrauch, zu dem es in den späteren Targumen zahlreiche Parallelen
gibt.
56
Vgl. zu dieser Casus pendens-Konstruktion Ps 65,4 (pᵉšā‛ênû ’attāh tᵉkappᵉrēm = „unsere
Verbrechen – du wirst sie vergeben“); TargPs 65,4 (swrḥnn’ ’nt tkprjnwn = „unsere Sünden – du
wirst sie vergeben“).
52 Sündenvergebung als Prärogative Gottes und Jesu Zuspruch der Sündenvergebung
Antworten möglich57. Die eine Möglichkeit besteht darin, daß die Worte wḥṭ’j
šbq lh mit dem dann folgenden gzr zusammengehören und Zeile 4 demgemäß
zu übersetzen ist: „und meine Sünde – ein Seher58 hat sie vergeben, und dieser
(war) ein Jude v[on …].“59 Die andere Möglichkeit ist die, daß zwischen lh und
gzr eine Zäsur liegt; in diesem Fall ist zu vermuten, daß in der zweiten Hälfte der
Zeile 3 eine Aussage wie „ich betete zu Gott“ oder „Gott erhörte mein Gebet“
stand und Zeile 4 dann fortfährt: „und meine Sünde – er (Gott!) hat sie vergeben.
Ein Seher, und zwar ein Jude v[on …]“.60
Ein Argument für die eine oder die andere Deutung, das definitiv zu einem
wissenschaftlichen Konsens führen könnte, sehe ich nicht. Vertreter der zweiten
Sicht weisen etwa darauf hin, daß es im frühjüdischen Schrifttum und auch in
den Qumrantexten sonst keinen Beleg für Vergebung durch eine menschliche
Person gibt.61 Ein wirklich zwingendes Argument ist das jedoch nicht. Gleiches
gilt aber auch für das entscheidende Argument, das von F. García Martínez zu-
gunsten der ersten Deutung angeführt wird: „The structure of the sentence seems
here to demand this interpretation.“62 T. Hägerland, der in seinem Verständnis
der Zeile 4 ganz der Sicht von F. García Martínez verpflichtet ist, nimmt dessen
dem Gebet des Nabonid und Dan 3,31–4,34 ein literarischer Zusammenhang bestehen sollte,
dann vermögen weder dieser Text selbst noch auch die griechischen Fassungen (LXX, Theo-
dotion) und die Bezugnahmen auf Dan 4 in der frühjüdischen Literatur (Josephus, Ant X 216 f.;
VitProph IV) die Hypothese zu stützen, daß in 4QOrNab der Seher vergibt. Nach der Daniel-
Vita ist Daniel derjenige, der als Interzessor für den König eintritt (VitProph IV 4.12), und Gott
der Vergebende (VitProph IV 15).
62
García Martínez, The Prayer of Nabonidus (s. Anm. 59), 125.
Sündenvergebung als Prärogative Gottes und Jesu Zuspruch der Sündenvergebung 53
Argument auf, indem er gegen die zweite Deutung einwendet: „Since asyndeton
is relatively rare in Aramaic, one would have expected ‚And a diviner‘ (wgzr)
instead of the simple ‚A diviner‘ (gzr) to introduce a new sentence.“63 Stichhaltig
ist dieser Einwand jedoch schon deshalb nicht, weil bei der zweiten Deutung der
Gang der Erzählung mit dem neuen Satz nicht einfach weitergeführt,64 sondern
nunmehr näher beschrieben wird, wie es dazu kam, daß der König die Vergebung
Gottes und damit auch die Heilung von seiner Krankheit erlangte. In einem
solchen Fall ist Asyndese keineswegs ungewöhnlich.65
Ziehen wir zu 4QOrNab I 4 ein Fazit, so ist zu sagen, daß in der Diskussion
über Mk 2,5b mit diesem Text aufgrund seines Erhaltungszustands nicht argu-
mentiert werden kann. Selbst wenn die Zeile tatsächlich „meine Sünde – ein
Seher hat sie vergeben“ lauten sollte, ließe sich nicht zuverlässig klären, wie
diese Aussage dann des näheren gemeint ist.66 Hägerland, der in dem gzr einen
Propheten erblickt, urteilt: „The prophet, it seems, […] ‚forgives‘ the penitent
sinner by averting the temporal punishment for his sin, presumably by prayer
to God, although this is not stated in the text.“67 Ginge es in 4QOrNab I 4 in
diesem Sinn um prophetische Interzession, dann läge auch hier keine Parallele
zu Mk 2,5b vor!
63
Hägerland, Jesus and the Forgiveness of Sins (s. Anm. 40), 156 (die aramäischen Worte
gebe ich in Umschrift wieder).
64
Zum syntaktischen Sachverhalt s. H. Bauer / P. Leander, Grammatik des Biblisch-
Aramäischen, Halle 1927 = Hildesheim – New York 1981, 350 f. (§ 106a): „Wo es sich um den
Fortgang der Erzählung handelt, werden die gleichgeordneten aufeinanderfolgenden Sätze
gewöhnlich durch w- angereiht, soweit sie nicht durch Adverbia […] eingeführt werden.“
65
Vgl. etwa die asyndetische Anfügung einer näheren Beschreibung (Dan 2,20; 3,9; 6,21b),
einer Begründung (Dan 5,11; 1QGenAp ar [1Q20] XXII 30; CTLevi ar Bodl. b, 10 [= L 34,10])
oder einer Erläuterung (CTLevi ar Bodl. b, 21 [= L 34,21]; c, 13 [= L 35,13]).
66
Dem erhaltenen Text von 4QOrNab läßt sich übrigens nicht entnehmen, daß die Heilung
des Königs durch den gzr gewirkt wurde.
67
Hägerland, Jesus and the Forgiveness of Sins (s. Anm. 40), 158.
54 Sündenvergebung als Prärogative Gottes und Jesu Zuspruch der Sündenvergebung
tun vermag, dann wird damit Analogieloses über ihn ausgesagt.68 Angesichts
dessen muß nunmehr in einem letzten Schritt unserer Überlegungen die Frage
bedacht werden, wie diese Analogielosigkeit theologisch zu interpretieren und
das Verhältnis zwischen der Vergebung Gottes und der Vergebung Jesu präzise
zu bestimmen ist.
Der Schlüssel zu einer angemessenen Antwort liegt in der Aussage von V. 10,
daß „der Menschensohn Macht hat, Sünden zu vergeben auf Erden“. Nach dem
Urteil mancher Ausleger69 ist die Erzählung mit dieser Aussage den Worten
von Dan 7,13 f. verpflichtet, wo im Septuagintatext von dem, „der aussah wie
ein Mensch“ (ὡς υἱὸς ἀνθρώπου V. 13), gesagt wird: „Ihm wurde [königliche]70
ἐξουσία gegeben, und alle Völker der Erde je nach ihren Stämmen und jede
Majestät waren ihm dienstbar. Und seine ἐξουσία ist eine ewige ἐξουσία, die
niemals mehr beseitigt werden wird, und seine Königsherrschaft (βασιλεία) eine
solche, die niemals mehr vernichtet werden wird“ (V. 14). Eine Abhängigkeit
von diesem Text kann jedoch für Mk 2,10 schon aus sprachlichen Gründen aus-
geschlossen werden. In Dan 7,14 LXX hat ἐξουσία ebenso wie die aramäische
Grundlage (šŏlṭān) die Bedeutung „Herrschermacht“ / „Herrschergewalt“,71 die
im Septuagintatext des Danielbuches auch in den Wendungen ἐξουσίαν ἔχειν
τινός72 bzw. ἐξουσίαν ἔχειν ὑπέρ τινα73 (= „Herrschergewalt haben über jeman-
den / über etwas“) vorliegt. Zwischen diesen Wendungen und dem in Mk 2,10
begegnenden Ausdruck ἐξουσίαν ἔχειν + Infinitiv (= „Macht / Vermögen haben,
etwas zu tun“)74 wie überhaupt zwischen ἐξουσία in der Daniel-Septuaginta
einerseits und ἐξουσία in Mk 2,10 andererseits besteht semantisch ein ganz
erheblicher Unterschied.75 Die Rede von dem „Menschensohn“ in Mk 2,10 will
deshalb nicht traditions- oder begriffsgeschichtlich erklärt sein, sondern aus
dem inneren Zusammenhang unserer Erzählung selbst und insbesondere aus
68
Die Erzählung selbst bringt das an ihrem Ende in dem sog. Chorschluß expressis verbis
zur Sprache (V. 12b): „Alle gerieten außer sich und priesen Gott und sagten: ‚Solches haben
wir noch nie gesehen‘.“ Die für Mk 2,1–12 zu konstatierende Analogielosigkeit hat Parallelen in
anderen Wundergeschichten des Markusevangeliums, die Jesus ebenfalls zuschreiben, was das
Alte Testament einzig und allein von dem Gott Israels zu sagen weiß: Mk 1,40–45 (vgl. 2 Kön
5,7); 4,35–41 / 6,45–52 (vgl. Ps 65,8; 89,10; 107,29; Hi 9,8); 5,21–24.35–43 (vgl. Dtn 32,39;
1 Sam 2,6; 2 Kön 5,7); 7,31–37 (vgl. Jes 35,4–6).
69
So auch Hägerland, Jesus and the Forgiveness of Sins (s. Anm. 40), 171–176.
70
Das vom Papyrus 967 gebotene Adjektiv βασιλική fehlt in der durch die Minuskel 88 und
die Syro-Hexapla bezeugten Fassung.
71
In V. 14b steht ἐξουσία parallel zu βασιλεία! Zu ἐξουσία s. in LXX außer den in Anm. 72
und in Anm. 73 genannten Stellen auch Dan 4,23[26].34a[37a]; 7,12.26 f.
72
Dan 4,14[17].28[31]; 5,4.16 LXX. Zu ἐξουσία τινός s. ferner Dan 5,7.29 LXX.
73
Dan 6,3[4] LXX. Vgl. neben ἐξουσία ὑπέρ τινα auch ἐξουσία ἐπί τινος: Dan 3,97[30] LXX.
74
Dieser Ausdruck kommt weder im Septuagintatext noch auch in der Theodotion-Fassung
des Danielbuchs vor.
75
Schon deshalb fehlt der von Hägerland, Jesus and the Forgiveness of Sins (s. Anm. 40),
171 unter Hinweis auf ἐξουσίαν ἔχειν […] τῶν ἐπὶ τῆς γῆς Dan 4,14[17] LXX vertretenen These,
daß Jesu Wort Mk 2,10 „strongly echoes Dan 4.14“, ein tragfähiges Fundament.
Sündenvergebung als Prärogative Gottes und Jesu Zuspruch der Sündenvergebung 55
dem Kontext des gesamten Markusevangeliums.76 Für das Evangelium ist kenn-
zeichnend, daß der Begriff ὁ υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου, der erstmals in 2,10 erscheint,
dem christologisch zentralen Begriff ὁ υἱὸς τοῦ θεοῦ an die Seite tritt.77 Der
Hoheitstitel „Sohn Gottes“ bringt grundlegend das Geheimnis der Person Jesu
zur Sprache: seine wesenhafte Zugehörigkeit zu Gott, seinem Vater, und eben
damit seinen göttlichen Ursprung und sein darin begründetes göttliches Wesen,
das im Geschehen der Verklärung (Mk 9,2–8) für kurze Zeit offenbar wird. Dem
solennen Eröffnungstext des Evangeliums (Mk 1,2–13) zufolge bringt der Sohn
Gottes, der aus der himmlischen Welt in die irdische Welt gekommen ist,78 mit
der Gabe des von Sünde reinigenden Heiligen Geistes den vor Gott Verlorenen
die Vergebung ihrer Sünden.79 Die Aussagen über Jesus als den „Menschensohn“
stellen dem Leser des Evangeliums unter zwei grundlegenden christologisch-
soteriologischen Aspekten das Werk des Sohnes Gottes des näheren vor Augen:
zum einen sein Leiden, seinen Tod und seine Auferstehung80 und zum andern
sein Kommen zum Weltgericht81. Der „Menschensohn“, der die ἐξουσία der
Sündenvergebung hat und in dieser ihm selbst eignenden Macht dem Gelähmten
die Sündenvergebung gewährt, ist demzufolge dezidiert der, der sein eigenes Le-
ben zur Auslösung des vor Gott verwirkten Lebens der Vielen in den Tod gibt.82
Dieser elementare Zusammenhang zwischen Jesu Gewährung der Sündenver-
gebung und seinem Kreuzestod kommt im Markusevangelium unübersehbar
zum Ausdruck, wenn der in Mk 2,7 erhobene Vorwurf der Gotteslästerung in
der Verhörszene Mk 14,55–64 erneut laut wird und dort das definitive Todes-
urteil über Jesus zur Folge hat (14,63 f.).83 Damit ist im Gesamtzusammenhang
des Evangeliums narrativ gesagt: Die Sündenvergebung, die Jesus in eigener
Macht gewährt, ist die in seinem Kreuzestod begründete Vergebung, und als
solche ist sie zugleich die Gabe des kommenden Weltrichters, der denen das
76
Zur Einordnung von Mk 2,1–12 in die christologisch-soteriologische Sicht des Markus-
evangeliums s. Hofius, Jesu Zuspruch der Sündenvergebung (s. Anm. 1), 52–56. Im Folgenden
nehme ich einige Gedanken und Sätze von dort auf.
77
S. zur Zusammenschau der beiden Titel Mk 14,61 f., aber auch Mk 8,38 (der Menschen-
sohn kommt „in der Herrlichkeit seines Vaters“) und Mk 9,2–10 (der Menschensohn [V. 9] ist
der geliebte Sohn Gottes [V. 7]).
78 Daß der Evangelist Markus die reale und personale Präexistenz Christi vertritt, ergibt sich
insbesondere aus Mk 1,2 f.; s. dazu A. Schlatter, Markus. Der Evangelist für die Griechen,
Stuttgart 1935, 15; J. Schniewind, Das Evangelium nach Markus (NTD 1), Göttingen ⁶1956,
44; Hofius, Jesu Zuspruch der Sündenvergebung (s. Anm. 1), 54 f.; Schenke, Das Markus-
evangelium (s. Anm. 12), 50 f.
79
Mk 1,7 f. Zum alttestamentlichen Hintergrund s. Jer 33,8; Ez 36,25–29a; Ps 51,4.9–14; vgl.
1QS 4,20–23.
80
Mk 8,31; 9,9.12.31; 10,33 f.45; 14,21.41.
81 Mk 8,38; 13,26 f.; 14,62.
82
Mk 10,45; vgl. 14,22–24.
83
Die Gotteslästerung liegt darin, daß Jesus mit den Worten von Mk 14,62 die eschatolo-
gische Richtermacht Gottes und eben damit eine gottgleiche Hoheit und Würde für sich in
Anspruch nimmt.
56 Sündenvergebung als Prärogative Gottes und Jesu Zuspruch der Sündenvergebung
eschatologische Heil bringt, die seine Vergebung empfangen haben und sich in
der Nachfolge zu ihm als dem Gekreuzigten bekennen.84
Nach dem Zeugnis des Markusevangeliums – so kann abschließend gesagt
werden – eignet Jesus in analogieloser Weise göttliche ἐξουσία, weil in ihm
Gott selbst „auf Erden“ gegenwärtig und er mithin in Person „die einmalige
Epiphanie Gottes“, die rettende praesentia Dei unter den Menschen, ist.85 Daß
Jesus als der Menschensohn „Macht hat, Sünden zu vergeben auf Erden“, ist so
in der vollen Seins- und Handlungseinheit begründet, die zwischen ihm, dem
Sohn Gottes, und Gott, seinem Vater, besteht.86 Seine „auf Erden“ gewährte
Sündenvergebung ist als solche ihrem Wesen nach Gottes eigene Vergebung.87
Die Maxime, daß einzig und allein Gott selbst Sünden zu vergeben vermag,
wird mithin in der Erzählung Mk 2,1–12 keineswegs relativiert, und eine Aus-
nahme von ihr wird hier nicht behauptet. Die Schriftgelehrten urteilen mit der
rhetorischen Frage von V. 7 völlig korrekt. Sie verkennen aber, wer der ist, der
dem Gelähmten die Vergebung seiner Sünden zugesprochen hat.
84
Mk 8,34–38; 13,26 f.
85
J. Schniewind, Antwort an Rudolf Bultmann. Thesen zum Problem der Entmythologi-
sierung, in: H. W. Bartsch (Hg.), Kerygma und Mythos. Ein theologisches Gespräch (ThF 1),
Hamburg-Bergstedt ⁴1960, 77–121: 108 (vgl. 80 f.); Ders., Das Evangelium nach Matthäus
(NTD 2), Göttingen ⁸1956, 15 f.27.188.
86
Vgl. J. Schniewind, Das Selbstzeugnis Jesu nach den ersten drei Evangelien, Wuppertal
1964, 13: „In seiner (sc. Jesu) Person […] ist die Vergebung Gottes Wirklichkeit geworden.“
Genau das ist auch das Zeugnis der Erzählung Lk 5,1–11 (s. V. 8 und V. 10b). Zutreffend sagt
H. J. Iwand, Predigtmeditationen II, Göttingen o. J. (1973), 50 zu Lk 5,10b: „In Jesus Christus
bedeutet die Epiphanie Gottes für den sündigen Menschen nicht den Tod, sondern das Leben.
Denn er ist ja die Vergebung. Darum heißt es: Fürchte dich nicht! Darum gibt es in ihm Ge-
meinschaft zwischen Gott und Mensch.“
87 Im Licht dieser Feststellung wird der fundamentale Unterschied deutlich, der zwischen
der ἐξουσία Jesu Christi und der Vergebungsvollmacht besteht, die er (!) seinen Jüngern ver-
liehen hat (Mt 16,19; 18,18; Joh 20,22 f.). In der Absolutionsformel des griechisch-orthodoxen
Beichtritus sagt der Priester mit Recht: „Ich geringer und sündiger Mensch vermag nicht Sünde
zu vergeben auf Erden, sondern das vermag allein Gott“ (übersetzt nach: Μικρὸν Εὐχολόγιον,
Athen 1981, 135).
„In eurer Tora steht geschrieben“
Zur Auslegung von Joh 8,17; 10,34; 15,25
Der Verfasser des Johannesevangeliums läßt Jesus an den folgenden sechs Stel-
len seines Werkes die Heilige Schrift Israels zitieren: 6,45a; 7,38b; 8,17; 10,34;
13,18b; 15,25.1 Im Unterschied zu den nicht ungewöhnlichen Zitateinführungen
von 6,45a (ἔστιν γεγραμμένον ἐν τοῖς προφήταις), 7,38b (καθὼς εἶπεν ἡ γραφή)
und 13,18b (ἀλλ’ ἵνα ἡ γραφὴ πληρωθῇ) muß die Einführung an den drei übrigen
Stellen als merkwürdig gelten. Diese Stellen seien kurz charakterisiert.
In Joh 8,17 bemerkt Jesus im Rahmen einer Auseinandersetzung mit den Pha-
risäern (8,12–20): καὶ ἐν τῷ νόμῳ δὲ τῷ ὑμετέρῳ γέγραπται ὅτι δύο ἀνθρώπων
ἡ μαρτυρία ἀληθής ἐστιν („Auch in eurer Tora steht doch geschrieben, daß das
[übereinstimmende] Zeugnis zweier Menschen wahr ist“). Mit diesem Hinweis
auf den Rechtssatz Dtn 17,6a / 19,15b wird dann in 8,18 die Aussage verbunden,
daß es für Jesus zwei unbedingt glaubwürdige Zeugen gibt: ihn selbst und den
Vater, der ihn gesandt hat. In den beiden Versen 8,17 f. dürfte ein argumentum a
minore ad maius vorliegen:2 Wenn der Tora vom Sinai3 zufolge schon das über-
einstimmende Zeugnis zweier Menschen als wahr anzuerkennen ist, um wieviel
mehr muß dann das Zeugnis, in dem Gott, der Vater Jesu Christi, und Jesus, der
Sohn Gottes, übereinstimmen, wahr sein. – In den Zusammenhang einer Aus-
einandersetzung mit jüdischen Gegnern (10,22–39) gehört ebenfalls die Frage
von Joh 10,34: οὐκ ἔστιν γεγραμμένον ἐν τῷ νόμῳ ὑμῶν ὅτι ἐγὼ εἶπα· θεοί ἐστε;
(„Steht nicht in eurer Tora geschrieben: ‚Ich habe gesagt: Ihr seid Götter‘?“)
Mit dieser Frage antwortet Jesus auf den Blasphemie-Vorwurf von 10,33 (σὺ
ἄνθρωπος ὢν ποιεῖς σεαυτὸν θεόν), mit dem seine als οἱ Ἰουδαῖοι bezeichneten
Gegner auf sein Selbstzeugnis von 10,30 (ἐγὼ καὶ ὁ πατὴρ ἕν ἐσμεν) reagieren.
Er zitiert Ps 82[81],6a und schließt daran in 10,35 f. einen Schluß a minore ad
1 Joh 12,27a bleibt, weil eine Kennzeichnung als Zitat fehlt, außer Betracht. – Zu Joh 7,38b
und dem Kontext 7,37 f. ist anzumerken: ὁ πιστεύων εἰς ἐμέ V. 38a gehört zu καὶ πινέτω V. 37b,
und die durch die Zitationsformel καθὼς εἶπεν ἡ γραφή eingeführten Worte ποταμοὶ ἐκ τῆς
κοιλίας αὐτοῦ ῥεύσουσιν ὕδατος ζῶντος sind als eine Aussage über Jesus zu lesen, die auf die
alttestamentliche Verheißung von Ez 47,1–12; Joel 4,18b; Sach 13,1; 14,8 Bezug nimmt.
2
So mit Recht H. Thyen, Das Johannesevangelium (HNT 6), Tübingen 2005, 424.
3
In Joh 8,17 bezeichnet ὁ νόμος – wie in Joh 1,17a; 7,19; 7,23 (im Blick steht Lev 12,3!);
7,49.51; 18,31; 19,7 – die durch Mose gegebene Tora vom Sinai, nicht dagegen im weiteren Sinn
den Pentateuch (so in 1,45).
58 „In eurer Tora steht geschrieben“
maius an: Wenn nach dem Zeugnis der Heiligen Schrift Israels4 Gott schon die
in dem Zitat angeredeten Menschen als „Götter“ bezeichnet hat5 und die Schrift
nicht außer Geltung gesetzt werden kann, wie kann es dann Blasphemie sein,
wenn Jesus als der, „den der Vater geheiligt und in die Welt gesandt hat“ und
der sich aufgrund seiner Herkunft aus der himmlischen Welt qualitativ von allen
anderen Menschen unterscheidet, von sich sagt: „Ich bin der Sohn Gottes“? –
Das dritte Jesuswort Joh 15,25 hat seinen Ort in den an die Jünger gerichteten
Abschiedsreden. Der Haß der Welt, wie er Jesus in der Ablehnung durch die
Ἰουδαῖοι begegnet (15,18–24), wird mit dem Hinweis auf Ps 35[34],19b bzw. Ps
69[68],5a als in der Schrift Israels angekündigt bezeichnet: ἀλλ’ ἵνα πληρωθῇ ὁ
λόγος ὁ ἐν τῷ νόμῳ αὐτῶν γεγραμμένος ὅτι ἐμίσησάν με δωρεάν („Aber es muß
das Wort erfüllt werden, das in ihrer Tora geschrieben steht: ‚Sie haben mich
ohne Grund gehaßt‘.“)
Auffallend und höchst erstaunlich an den drei Texten ist, daß in der je-
weiligen Zitateinführung nicht der Ausdruck ὁ νόμος ἡμῶν („unsere Tora“)
erscheint, den in Joh 7,51 der Jude Nikodemus gebraucht, sondern daß der
Evangelist Jesus in 8,17 und 10,34 mit der Wendung „eure Tora“ so reden läßt,
wie nach Joh 18,31 der Heide Pilatus redet (ὁ νόμος ὑμῶν6), und daß er ihm
dann in 15,25 den Ausdruck „ihre Tora“ in den Mund legt. Die Frage, welche
Aussageabsicht der Evangelist damit verbindet, ist in der Exegese lebhaft
umstritten. Vor allem zwei Deutungen sind zu erwähnen:7 Nicht wenige Aus-
leger sehen in der Rede von „eurer Tora“ bzw. „ihrer Tora“ eine Distanz zum
Ausdruck gebracht – und zwar entweder eine Distanz des Evangelisten (und /
oder der johanneischen Gemeinde) zur Sinai-Tora8 bzw. zu der Schrift Israels
4
In Joh 10,34 und ebenso in Joh 12,34 und in Joh 15,25 bezeichnet ὁ νόμος die γραφή (10,35!),
d. h. die Heilige Schrift Israels als ganze (vgl. bei Paulus Röm 3,19 [erstes Vorkommen]; 3,31
[νόμος = ἡ γραφή 4,3a]; 1 Kor 9,8; 14,21.34; Gal 4,21b). Diese weitgefaßte Bedeutung entspricht
dem Sprachgebrauch der Rabbinischen Literatur, in der תורהauch Bezeichnung für die Schrift
Israels in ihrer Gesamtheit sein kann. S. dazu W. Bacher, Die exegetische Terminologie der
jüdischen Traditionsliteratur, Darmstadt 1965, I (= Leipzig 1899), 197; II (= Leipzig 1905),
229–231; P. Billerbeck, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch II,
München 1924 = ²1956, 542 f.; ebd. III, München 1926 = ²1954, 159.462 f.
5
Wie V. 35 zeigt, sieht der Evangelist in Ps 82[81],6a ein an Menschen (wohl an die Israeliten
der Exodusgeneration) ergangenes Gotteswort. Zur entsprechenden Deutung der Rabbinen s.
MekhEx zu 20,19 sowie die Belege bei Billerbeck II 543.
6
Vgl. im Aristeasbrief ὁ νόμος ὑμῶν im Mund des Heiden (Arist 38) und ὁ νόμος ἡμῶν im
Mund des Juden (Arist 168).
7
Vgl. Chr. Dietzfelbinger, Das Evangelium nach Johannes II: Johannes 13–21 (ZBK.NT
4.2), Zürich 2001, 129; M. Theobald, Das Evangelium nach Johannes. Kapitel 1–12 (RNT),
Regensburg 2009, 572.
8 So z. B. E. Haenchen, Das Johannesevangelium, Tübingen 1980, 284; R. E. Brown, The
Gospel According to John I (AncB 29), Garden City, NY ²1986, 312 (zu 7,19). 341 (zu 8,17);
U. Schnelle, Das Evangelium nach Johannes (ThHK 4), Leipzig ⁵2016, 62 (zu 1,17). Zu
erwähnen ist auch Theobald, Das Evangelium nach Johannes (s. Anm. 7), 572, wo allerdings
ein unbedingt zu beachtender besonderer Akzent gesetzt wird, wenn es zu Joh 8,17 heißt: Da
die johanneischen Gemeinden „die Tora radikal in ein Christuszeugnis transformiert“ haben,
„In eurer Tora steht geschrieben“ 59
insgesamt9 oder eine Distanz zu den Ἰουδαῖοι, d. h. konkret: zu der Synagogen-
gemeinde der Zeit des Evangelisten und seiner Gemeinde10. Andere Ausleger
bestreiten hingegen mit Nachdruck eine solche Distanzierung von der Tora
bzw. von der Schrift Israels oder von den Ἰουδαῖοι. Nach ihrem Verständnis
wollen die auffallenden Zitateinführungen die verbindliche Autorität der Tora
bzw. der Schrift Israels geltend machen, die Ἰουδαῖοι bei ihrer eigenen Lehr-
und Glaubensgrundlage behaften und ihnen vor Augen stellen, daß sie sich
mit ihrem Urteil über Jesus wie auch mit ihrem Verhalten ihm gegenüber im
Widerspruch zu dieser Grundlage befinden.11
Eine Entscheidung zwischen den beiden skizzierten Interpretationen will
nach Chr. Dietzfelbinger „kaum gelingen, da im Johannesevangelium für beide
Alternativen sich Argumente finden lassen“.12 Man wird jedoch fragen dürfen,
ob ein solches Non liquet das letzte Wort behalten muß. Den Anlaß zu dieser
Frage gibt die Beobachtung, daß die Einführungswendungen von Joh 8,17 und
Joh 10,34 auch in der rabbinischen Literatur begegnen. A. Schlatter hat be-
reits 1902 in seiner Studie „Die Sprache und Heimat des vierten Evangelisten“
und sodann 1930 in seinem Kommentar zum Johannesevangelium auf einige
sprachliche Parallelen zu der Formulierung ἐν τῷ νόμῳ τῷ ὑμετέρῳ γέγραπται
von 8,17 aufmerksam gemacht.13 Er findet diese Zitateinführung „immer dann“
„dürfte die Rede von ‚eurem Gesetz‘ doch wohl ihre Entfremdung von der Tora als jüdischem
Religionsgesetz widerspiegeln“.
9 So z. B. J. Becker, Das Evangelium nach Johannes: Kapitel 1–10 (ÖTBK 4/1), Gütersloh
bzw. Würzburg ³1991, 344.395 f.; Ders., Das Evangelium nach Johannes: Kapitel 11–21 (ÖTBK
4/2), Gütersloh bzw. Würzburg ³1991, 589; s. auch Brown, The Gospel According to John (s.
Anm. 8), 403 (zu 10,34).
10
So z. B. W. Bauer, Das Johannesevangelium (HNT 6), Tübingen ³1933, 31; R. Bult-
mann, Das Evangelium des Johannes (KEK 2), Göttingen ¹⁴1956, 59.212; R. Schnacken-
burg, Das Johannesevangelium II: Kommentar zu Kap. 5–12 (HThK IV/2), Freiburg – Basel –
Wien ⁴1985, 246 Anm. 3 (vgl. auch 389); Ders., Das Johannesevangelium III: Kommentar zu
Kap. 13–21 (HThK IV/3), Freiburg – Basel – Wien ⁴1985, 133 f.
11
So z. B. – mit unterschiedlichen Akzentuierungen im einzelnen – J. Augenstein, „Euer
Gesetz“ – Ein Pronomen und die johanneische Haltung zum Gesetz, ZNW 88 (1997) 311–313:
312; K. Wengst, Das Johannesevangelium I: Kapitel 1–10 (ThKNT 4.1), Stuttgart ²2004,
328.409; Thyen, Das Johannesevangelium (s. Anm. 2), 424.501 f.653; J. Zumstein, Das Jo-
hannesevangelium (KEK 2), Göttingen 2016, 327.405.586. Vgl. auch bereits Th. Zahn, Das
Evangelium des Johannes (KNT 4), Leipzig – Erlangen ⁵.⁶1921 = Wuppertal 1983, 408.469.585 f.
12
Dietzfelbinger, Das Evangelium nach Johannes II (s. Anm. 7), 129. Dietzfelbinger ver-
bindet dort mit seiner Feststellung die Frage: „Könnten nicht innerhalb der johanneischen Ge-
meinden die zwei Alternativen vertreten worden sein?“ C. K. Barrett, Das Evangelium nach
Johannes (KEK.S), Göttingen 1990, 344.383.469 kombiniert beide Deutungen miteinander.
13 A. Schlatter, Die Sprache und Heimat des vierten Evangelisten (BFChTh VI 4), Gü-
tersloh 1902, 94 (MekhEx zu 20,5; KlglR 1 § 53 zu V. 16); Ders., Der Evangelist Johannes. Wie
er spricht, denkt und glaubt. Ein Kommentar zum vierten Evangelium, Stuttgart 1930 = ³1960,
207 (mit dem Hinweis auf ‛AZ 3,4; LevR 4,6 zu 4,2; QohR 1 § 24 zu V. 8; 11 § 2 zu V. 1). Im
Kommentar notiert Schlatter neben den rabbinischen Belegen auch Josephus, Bell V 402;
nach meinem Urteil verdient hier jedoch die Lesart εἰς τὸν ἡμέτερον νόμον gegenüber εἰς τὸν
ὑμέτερον νόμον den Vorzug.
60 „In eurer Tora steht geschrieben“
verwendet, „wenn ein Fremder das Gesetz zitiert“, und er bemerkt zu dem
johanneischen Text: „Es steht mit allem, was uns Joh. vom Handeln Jesu er-
zählt, in Übereinstimmung, daß er sich selber nicht unter das Gesetz stellt.“14
Während R. Bultmann in seinem Johannes-Kommentar zu Joh 8,17 auf Schlatter
hinweist,15 wird dessen Wahrnehmung rabbinischer Parallelen erstaunlicher-
weise – von einer einzigen Ausnahme abgesehen – in keinem anderen der von
mir herangezogenen Kommentare auch nur erwähnt.16 Die Ausnahme bildet
K. Wengst, der in seiner Auslegung von Joh 8,17 auf den Kommentar Schlatters
Bezug nimmt, zwei weitere rabbinische Belege mitteilt und die von Schlatter
aus 8,17 gezogene Folgerung als unangemessen zurückweist.17 Der Behauptung,
daß die Formulierungen von 8,17, 10,34 und 15,25 eine Distanz zur Tora oder zur
Schrift signalisieren, widerspricht Wengst mit Entschiedenheit,18 und er sucht zu
zeigen, daß die zum Vergleich herangezogenen rabbinischen Texte keinesfalls
für eine solche Deutung in Anspruch genommen werden können.19 Wengst hat
mit Recht erneut auf die rabbinischen Texte hingewiesen, deren Zahl sich sogar
noch vermehren läßt.20 Vor allem aber bedarf das gesamte Material im Inter-
esse einer sachgemäßen Würdigung noch einmal einer genaueren Betrachtung.
Deshalb sollen im Folgenden elf rabbinische Texte in Übersetzung vorgelegt
werden. Für den jeweils gewählten Umfang ist dabei ausschlaggebend, daß für
die Frage, was diese Texte für das Verständnis von Joh 8,17; 10,34; 15,25 aus-
tragen, ein hinreichendes Fundament gegeben ist.
14
Schlatter, Der Evangelist Johannes, ebd.
15
Bultmann, Das Evangelium des Johannes (s. Anm. 10), 212 Anm. 4.
16
Bei Billerbeck II findet sich zu der νόμος-Wendung von Joh 8,17; 10,34; 15,25 kein Hin-
weis auf rabbinische Parallelen. H. Odeberg, The Fourth Gospel. Interpreted in its Relation to
Contemporaneous Religious Currents in Palestine and the Hellenistic-Oriental World, Uppsala
1929 = Amsterdam 1968, 292 notiert zwar für ἐν τῷ νόμῳ τῷ ὑμετέρῳ Joh 8,17 das hebräische
Äquivalent בתורתכם, er bemerkt dann aber lediglich: „The expression is an allusion to the
frequent Rabbinic (i. e. Pharisaic) תורתינו, ( בתורתינוour Tora, in our Tora).“ Die johanneische
Wendung interpretiert Odeberg, ebd., als einen Ausdruck dafür, daß Jesus für das Johannes-
evangelium in demselben Verhältnis zur Tora steht wie Gott, sein Vater.
17
Wengst, Das Johannesevangelium I (s. Anm. 11), 328. Die neu notierten Belege sind bBer
32b und b‛AZ 54b; außerdem wird zu dem bereits bei Schlatter verzeichneten Text QohR 1 § 24
zu V. 8 die Parallele b‛AZ 17a genannt.
18
Ebd. (zu 8,17) und 409 (zu 10,34); ebenso Ders., Das Johannesevangelium II: Kapitel 11–21
(ThKNT 4.2), Stuttgart ²2007, 164 (zu 15,25).
19
Ebd., I 328. Zu der Wendung „in eurer Tora steht geschrieben“ in ‛AZ 3,4, bBer 32b, b‛AZ
54b und LevR 4,6 zu 4,2 bemerkt Wengst: „Wenn ein Fremder sie gebraucht, weist er einen
Juden auf ein Verhalten hin, das seiner Meinung nach im Widerspruch zur zitierten Torastelle
steht, oder verlangt eine Erklärung einer ihm unverständlichen Aussage.“ Der Bericht b‛AZ
17a par. QohR 1 § 24 zu V. 8 gilt ihm als direkter Beweis dafür, daß in jener Wendung keine
Distanzierung von der Tora vorliegt.
20
Weitere Belege für „in eurer Tora steht geschrieben“ sind: MidrTann zu Dtn 15,10; bRH
17b; b‛AZ 55a. Zu vergleichen sind ferner auch die folgenden Stellen, an denen der Ausdruck
„eure Tora“ belegt ist: Pesiq 2,4 par. GenR 68,4 zu 28,10 / LevR 8,1 zu 6,18; jSoṭa VII 21c,34 f.
par. bSoṭa 33b; bSanh 90b.
„In eurer Tora steht geschrieben“ 61
II
Unter den elf rabbinischen Texten enthalten zehn eine genaue hebräische Par-
allele zu der Aussage ἐν τῷ νόμῳ τῷ ὑμετέρῳ γέγραπται von Joh 8,17 und einer
eine genaue hebräische Parallele zu der Frage οὐκ ἔστιν γεγραμμένον ἐν τῷ νόμῳ
ὑμῶν; von Joh 10,34. Die Aussage lautet dabei: כתוב בתורתכם/ כתיב בתורתכם
(„in eurer Tora steht geschrieben“)21, die Frage: „( הלא כתוב בתורתכםsteht nicht
in eurer Tora geschrieben?“)22. Was die Redenden betrifft, so begegnen die
Zitateinführungen überwiegend im Mund von Heiden (Nr. 1–5, Nr. 7, Nr. 9–11)
und je einmal im Mund einer Proselytin, d. h. einer ehemaligen Heidin (Nr. 6),
und eines nicht mehr zur Gemeinschaft des Volkes Israel gehörenden Häretikers
(Nr. 8). Von den beiden Erzählungen Nr. 10 und Nr. 11 abgesehen erfolgt der Hin-
weis auf die Tora in Gesprächen mit jüdischen Schriftgelehrten der tannaitischen
Zeit.23 In Nr. 1–5 und in Nr. 7–10 wird mit den Schriftzitaten jeweils eine auf
diese bezogene Frage verbunden, und in Nr. 6 ist eine solche impliziert. Da die
dann folgenden Antworten der Gefragten für unsere Überlegungen ohne jeden
Belang sind, verzichte ich in der folgenden Zusammenstellung (außer bei Nr. 9)
auf ihre Wiedergabe:24
1. MekhEx zu 20,5
Ein Philosoph fragte den Rabban Gamliël: „In eurer Tora steht geschrieben: ‚Denn ich,
der Herr, dein Gott, bin ein eifersüchtiger25 Gott‘ (Ex 20,5). Hat denn etwa ein Götze
Macht, so daß man auf ihn eifersüchtig sein könnte?“
2. b‛AZ 55a
Der Feldherr Agrippa fragte den R. Gamliël: „In eurer Tora steht geschrieben: ‚Denn der
Herr, dein Gott, ist ein verzehrendes Feuer, ein eifersüchtiger Gott‘ (Dtn 4,24). Ist denn
nicht nur ein Weiser auf einen Weisen eifersüchtig und ein Held auf einen Helden und ein
Reicher auf einen Reichen?“
21
כתוב בתורתכם: b‛AZ 54b (Nr. 3); MidrTann zu Dtn 15,10 (Nr. 4); ‛AZ 3,4 (Nr. 5); b‛AZ
17a par. QohR 1 § 24 zu V. 8 (Nr. 8); KlglR 1 § 53 zu V. 16 (Nr. 11). כתיב בתורתכם: MekhEx zu
20,5 (Nr. 1); b‛AZ 55a (Nr. 2); bRH 17b (Nr. 6); LevR 4,6 zu 4,2 (Nr. 7); QohR 11 § 2 zu V. 1
(Nr. 9). Das Nebeneinander der beiden Fassungen erklärt sich dadurch, daß in der rabbinischen
Literatur bei der Einführung von Schriftzitaten anstelle des hebräischen Partizip Passiv ָּכתּוב
(„geschrieben“) meist das aramäische Äquivalent ְכּ ִתיבverwendet wird. S. dazu Bacher, Die
exegetische Terminologie der jüdischen Traditionsliteratur (s. Anm. 4), I 88; II 91–94.
22
bBer 32b (Nr. 10).
23
Als rabbinische Gesprächspartner erscheinen die folgenden Tannaiten: in Nr. 1–6 R. Gam-
liël II (um 90), in Nr. 7 R. Jᵉhoschu‛a b. Qarcha (um 150), in Nr. 8 R. Eli‛ezer b. Hyrkanos (Ende
1. / Anfang 2. Jahrhundert) und in Nr. 9 R. El‛azar b. Schammua‛ (um 150).
24
Die übersetzten Texte stehen in Kursive, notwendige Erläuterungen hingegen in Normal-
schrift.
25 So ist, wie jeweils die anschließende Frage zeigt, hier und ebenso in Nr. 2 das Wort ַקּנָ א
verstanden.
62 „In eurer Tora steht geschrieben“
3. b‛AZ 54b
Ein Philosoph fragte den R. Gamliël: „In eurer Tora steht geschrieben: ‚Denn der Herr,
dein Gott, ist ein verzehrendes Feuer, ein eifernder26 Gott‘ (Dtn 4,24). Warum eifert er
gegen seine (sc. des Götzen) Anbeter und eifert er nicht gegen diesen selbst?“
5. ‛AZ 3,4
Proklos, der Sohn eines Philosophen,28 fragte den Rabban Gamliël in Akko, als dieser
im Bad der Aphrodite badete, und sagte zu ihm: „In eurer Tora steht geschrieben: ‚Und
nichts von dem, was mit dem Bann belegt ist, soll an deiner Hand haften bleiben‘ (Dtn
13,18). Warum badest du [dann] im Bad der Aphrodite?“
6. bRH 17b
Die Proselytin Beluria (= Valeria) fragte den Rabban Gamliël: „In eurer Tora steht ge-
schrieben: ‚Der das Angesicht nicht erhebt‘29 (Dtn 10,17), und es steht geschrieben: ,Der
Herr erhebe sein Angesicht hin zu dir‘ (Num 6,26).“
Die Proselytin formuliert die Einführungswendung so, als sei sie eine noch nicht zum
Judentum konvertierte unwissende Nichtjüdin, und sie setzt voraus, daß das Syntagma
„( נשׂא פניםdas Angesicht erheben“) an den beiden zitierten Schriftstellen die gleiche
Bedeutung hat. Ihre Feststellung impliziert von daher die Frage, wie die beiden Aussagen
miteinander zu vereinbaren sind.
26
Daß ַקּנָ אjetzt diese Bedeutung hat, ergibt sich auch hier aus der anschließenden Frage.
27
D. Hoffmann, Midrasch Tannaïm, Berlin 1908/9, 84,1–3.
28
Zu lesen ist wahrscheinlich: „Proklos, der Philosoph“.
29 Der Sinn ist: „der nicht Partei ergreift“, „der nicht parteiisch ist“.
30
Der biblische Text selbst lautet: „Du sollst dich nicht einer Mehrheit zu Bösem anschlie-
ßen.“ In seiner Antwort korrigiert R. Jᵉhoschu‛a b. Qarcha das Schriftzitat nicht, sondern er
setzt den unzutreffenden Wortlaut voraus und geht von ihm aus. Der Midrasch unterstellt dem
Heiden also nicht eine bewußte Verfälschung der Tora.
„In eurer Tora steht geschrieben“ 63
daß die Texte keineswegs dazu zwingen, in Jakob einen Judenchristen zu sehen (ebd., 162–168).
33
S. dazu die Synopse bei Maier, ebd., 148–150.
34
Die Frage findet dadurch ihre Erklärung, daß der Hohepriester in der Woche vor dem
Großen Versöhnungstag im Tempel übernachten mußte; s. Joma 1,1.
35
Hier und in den auf die Torazitate folgenden Worten des Herrschers steht der aramäische
Begriff אורײתא, den ich mit „Gesetz“ wiedergebe.
36
= ריקא ῥακά Mt 5,22.
64 „In eurer Tora steht geschrieben“
Wenn ich dir deinen Kopf mit dem Schwert abgeschlagen hätte, wer hätte [dann] dein Blut
von meiner Hand gefordert?37“
11. KlglR 1 § 53 zu V. 16
Im Unterschied zu den Belegen Nr. 1–10 ist in dem zuletzt zu nennenden Text der Hin-
weis auf ein Gebot der Tora nicht mit einer Frage verbunden, sondern er dient dazu, eine
bestimmte Entscheidung zu begründen. Dem Kontext liegt traditionsgeschichtlich der
Bericht 2 Makk 7,1–41 zugrunde: die Erzählung von dem Märtyrertod der sieben Brüder
und ihrer Mutter unter Antiochus IV.38 Der Midrasch identifiziert die Mutter allerdings
mit Mirjam, der Frau des Jᵉhoschu‛a b. Gamala, der von ca. 63 bis 65 n. Chr. Hoherpriester
am Tempel zu Jerusalem war. Der heidnische „Kaiser“, von dem jetzt die Rede ist, muß
deshalb Vespasian sein. Er hat – so hören wir – bereits sechs Söhne Mirjams hinrichten
lassen, weil sie mit dem Hinweis auf Gebote der Tora seinem Bild die Proskynese und
damit ihm selbst die kultische Verehrung verweigern. Aus dem gleichen Grund wird zu-
letzt auch der jüngste Sohn zum Tode verurteilt. Die Bitte der Mutter, zuerst sie selbst und
danach erst ihr Kind töten zu lassen, lehnt der Kaiser ab, und zwar mit der Begründung:
„Denn in eurer Tora steht geschrieben: ‚Ein Rind oder Schaf und ihr Junges dürft ihr
nicht am selben Tag schlachten‘ (Lev 22,28).“
Die Zitateinleitung „in eurer Tora steht geschrieben“ ist als Echo auf die Worte gestaltet,
mit denen zuvor die sieben Söhne ihren Hinweis auf Gebote der Tora eingeleitet haben:
„in der Tora steht geschrieben“39 bzw. „in unserer Tora steht geschrieben“40.
Den elf mitgeteilten rabbinischen Texten ist gemeinsam, daß die in ihnen zitier-
ten Schriftworte sämtlich dem Pentateuch entnommen sind. Mit dem Ausdruck
„eure Tora“ ist deshalb entweder dieser selbst41 oder aber im engeren Sinn die
Tora vom Sinai42 gemeint. Was bei den Belegen Nr. 1–10 die jeweils auf das
Zitat bzw. auf die Zitate bezogene Frage betrifft, so geht es um das genauere
Verständnis des Schriftwortes oder um die Plausibilität des in ihm Gesagten
(Nr. 1 – Nr. 4, Nr. 6), um den Hinweis auf ein Verhalten, das mit dem Schriftwort
unvereinbar ist oder in seinem Licht als unverantwortlich erwiesen wird (Nr. 5,
Nr. 9, Nr. 10), um die aus dem Schriftwort zu ziehende Konsequenz (Nr. 7)
sowie um die Eröffnung einer durch das Schriftwort provozierten halachisch-
exegetischen Diskussion (Nr. 8). Für keinen einzigen der Belege Nr. 1–10 läßt
sich mit Grund behaupten, daß die Frage eine innere Distanz zur Tora erkennen
37 D. h.: hätte ich das dann nicht mit Recht getan?
38
S. zu diesem Bericht A. B. Schneider, Jüdisches Erbe in christlicher Tradition. Eine
kanongeschichtliche Untersuchung zur Bedeutung und Rezeption der Makkabäerbücher in der
Alten Kirche des Ostens, Diss. theol. Heidelberg 2000, 44–48.
39 So nach Midrasch Rabba, Jerusalem 1960, V 35 f. der zweite bis sechste Sohn (für die
Wiederholung der Einleitung steht z. T. )פסוקיהund nach S. Buber, Midrasch Echa rabbati,
Wilna 1899 = Hildesheim 1967, 84 die sechs älteren Söhne.
40 So nach Midrasch Rabba, ebd., der erste sowie zweimal der siebte Sohn.
41
So m. E. Nr. 6 und möglicherweise auch Nr. 1–3. Zu תורהals Bezeichnung des Pentateuch
s. Bacher, Die exegetische Terminologie der jüdischen Traditionsliteratur (s. Anm. 4); I 197;
II 229.
42
So m. E. mit Sicherheit Nr. 4, Nr. 5 und Nr. 7–11.
„In eurer Tora steht geschrieben“ 65
lasse oder daß sie gar Ausdruck der Verachtung und Verhöhnung der Tora sei.43
Nicht anders ist im Blick auf den Beleg Nr. 11 zu urteilen. In ihm dürfte es sich
bei dem Hinweis auf Lev 22,28 zwar um eine zutiefst boshafte und sophistische
Argumentation handeln, doch folgt daraus keineswegs, daß der Midrasch die
dabei zweifellos bestehende Geringschätzung und Verachtung der Tora mit der
Wendung „in eurer Tora“ als solcher zum Ausdruck gebracht sehen will. Wenn
der Erzähler die jüdischen Märtyrer „die Tora“ oder „unsere Tora“ und den heid-
nischen Herrscher „eure Tora“ sagen läßt, so zeigt sich darin die Realität der
Trennung, die in religiöser Hinsicht zwischen Juden, die sich in der gehorsamen
Bindung an die Tora zu der Einzigkeit des Gottes Israels bekennen, und Heiden,
die eben das nicht tun, besteht.44
Der von den elf Belegen gebotene Befund wird durch die drei weiteren in
Anm. 20 genannten rabbinischen Texte bestätigt, in denen ebenfalls der Aus-
druck „eure Tora“ begegnet. Nach Pesiq 2,4 par. GenR 68,4 zu 28,10 / LevR 8,1
zu 6,18 erklärt eine vornehme Römerin vor R. Jose b. Chalaphta (Tannait um
150): „Eure Tora ist wahr, schön und vortrefflich.“45 Wenn die Heilige Schrift
Israels hier „eure Tora“ genannt wird, so hat das seinen Grund ausschließ-
lich darin, daß die Redende keine Jüdin ist. Die beiden anderen rabbinischen
Texte – jSoṭa VII 21c,34 f. par. bSoṭa 33b und bSanh 90b – nehmen insofern
eine Sonderstellung ein, als in ihnen der Ausdruck „eure Tora“ nicht im Munde
eines Heiden oder einer Heidin erscheint, sondern in Worten, die ein jüdischer
Schriftgelehrter46 an samaritanische Schriftgelehrte richtet. In beiden Fällen geht
es um den Pentateuch in der Ausgabe der Samaritaner, und zwar jeweils um eine
Schriftstelle, an der die samaritanische Fassung von der jüdischen abweicht und
dies erhebliche theologische Kontroversen zur Folge hat.47 Der gegenüber den
Samaritanern erhobene Vorwurf lautet jeweils: „Ihr habt eure Tora ()תורתכם
gefälscht.“48 Die Worte „eure Tora“ sind hier durch den religiösen Gegensatz
veranlaßt, der das Verhältnis zwischen Juden und Samaritanern entscheidend
43
Das gilt auch für die Frage, die in b‛AZ 17a par. QohR 1 § 24 zu V. 8 (Nr. 8) zu der Tora-
Bestimmung von Dtn 23,19 gestellt wird. Diese ist im Rahmen einer halachisch-exegetischen
Diskussion keineswegs anstößig; vgl. Maier, Jesus von Nazareth in der talmudischen Über-
lieferung (s. Anm. 31), 168 f.
44
Für die Wendung „in unserer Tora steht geschrieben“ habe ich mir außer den Belegen in
KlglR 1 § 53 zu V. 16 notiert: MekhSchEx zu 21,13 (J. N. Epstein / E. Z. Melamed, Mekhilta
de Rabbi Schim‛on b. Jochaj, Jerusalem 1955, 170,4).
45
תורהdürfte hier Bezeichnung für die Schrift Israels in ihrer Gesamtheit sein.
46 R. El‛azar b. Schim‛on bzw. R. El‛azar b. Jose (beide Tannaiten um 180).
47 jSoṭa VII 21c,34 f. par. bSoṭa 33b: Dtn 11,30; bSanh 90b: Dtn 11,9. Zu den beiden Kon-
troversen s. P. Billerbeck, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch I,
München 1922 = ²1956, 549–551 („Garizim u. Jerusalem“) und 551 f. („Die Samaritaner als
Leugner des Auferstehungsglaubens“).
48
In jSoṭa VII 21c,34 f. folgt darauf als ausdrückliche Begründung: „Ihr habt in eurer Tora
schreiben lassen ()הכתבתם בתורתכם: […]“ Vielleicht ist statt „( הכתבתםihr habt schreiben
lassen“) mit SifreDtn § 56 zu 11,30 zu lesen: „( כתבתםihr habt geschrieben“).
66 „In eurer Tora steht geschrieben“
bestimmt. Sie implizieren dagegen kein negatives Urteil über den von den Sama-
ritanern allein als Heilige Schrift anerkannten Pentateuch selbst und als solchen.49
Als Ergebnis unserer Betrachtung der rabbinischen Texte kann an dieser
Stelle festgehalten werden: Wenn Heiden Juden gegenüber von „eurer Tora“
sprechen, so liegt darin weder ein bewußt distanziertes noch auch ein kritisches
oder sogar betont negatives Urteil über die Sinai-Tora, den Pentateuch oder
die Heilige Schrift Israels als ganze.50 In einer anderen Hinsicht allerdings ist
die Rede von „eurer Tora“ sehr wohl Ausdruck einer Distanz: Sie ist dadurch
veranlaßt und darin begründet, daß die Fragenden nicht zu der Gemeinde des
Gottesvolkes Israel gehören,51 und sie dokumentiert mithin die mit diesem Tat-
bestand gegebene religiöse Trennung.
III
Wenden wir uns nunmehr der Frage zu, was der Blick auf das rabbinische Ma-
terial für die Exegese von Joh 8,17; 10,34; 15,25 austrägt, so ist zu sagen: Dieses
Material spricht als Bestätigung für eine Interpretation, die nach meinem Urteil
bereits durch das Gesamtzeugnis des Johannesevangeliums selbst nahegelegt
wird. Zwei Sätze können dazu formuliert werden: 1. Die Rede von „eurer Tora“
bzw. „ihrer Tora“ ist nicht Ausdruck einer Distanzierung des Evangelisten und
der johanneischen Gemeinde von der Sinai-Tora und auch nicht einer solchen
von der Heiligen Schrift Israels insgesamt.52 2. Die Rede von „eurer Tora“ bzw.
„ihrer Tora“ ist Ausdruck jener Distanz, die Ende des 1. Jahrhunderts n. Chr.
zwischen dem Evangelisten samt seiner Gemeinde und der in ihrem Umkreis
lebenden Synagogengemeinde besteht. Die beiden Sätze sind jetzt noch in der
gebotenen Kürze zu begründen.
1. Gegen eine Ablehnung des Alten Testaments oder zumindest der Sinai-Tora
durch den Evangelisten und seine Gemeinde sprechen in aller Klarheit theo-
logisch gewichtige Aussagen des Vierten Evangeliums. In 5,39 wird ausdrück-
lich und in einer grundsätzlichen Feststellung erklärt, daß die Schrift (αἱ γραφαί)
Zeugnis von Jesus ist (ἐκεῖναί εἰσιν αἱ μαρτυροῦσαι περὶ ἐμοῦ).53 Der damit be-
49
In der in SifreDtn § 56 zu 11,30 gebotenen Parallelüberlieferung zu jSoṭa VII 21c,34 f. /
bSoṭa 33b steht der jüdische Vorwurf ohne das Pronomen der 2. Person Plural: „Ihr habt die
Tora ( )את התורהgefälscht“.
50
Nicht anders ist im Blick auf Arist 38 zu urteilen, wenn König Ptolemaios in seinem
Schreiben an den Hohenpriester Eleazar den Pentateuch als ὁ νόμος ὑμῶν („euer Gesetz“)
bezeichnet.
51
Zu Nr. 6 sei nochmals daran erinnert, daß die Einführungswendung dort von dem Stand-
punkt einer fragenden Heidin aus formuliert ist.
52
Theobald, Das Evangelium nach Johannes (s. Anm. 7), 572 bemerkt zu der Einführungs-
wendung von 8,17 mit Recht: „Als Beleg dafür, dass die johanneischen Gemeinden das Alte
Testament abgestoßen hätten, eignet sie sich keinesfalls.“
53
Der im Johannesevangelium nur in 5,39 begegnende Plural αἱ γραφαί hat wie an anderen
„In eurer Tora steht geschrieben“ 67
neutestamentlichen Stellen (z. B. Mt 22,29; Mk 12,24; Röm 15,4; 1 Kor 15,3 f.) die Bedeutung
„die Heilige Schrift“. Zu dem entsprechenden rabbinischen Gebrauch von הכתוביםs. Bacher,
Die exegetische Terminologie der jüdischen Traditionsliteratur (s. Anm. 4), I 92.
54 Joh 1,45b (vgl. 1,41b.49b). „Mose im Gesetz und die Propheten“ 1,45b ist Umschreibung
der ganzen Heiligen Schrift (vgl. Mt 5,17; 7,12; 11,13; 22,40; Lk 16,16.29.31; 24,27; Apg 26,22;
28,23; Röm 3,21).
55
Joh 5,46b. Gedacht ist, wie sich aus 8,56 bzw. 19,36 ergibt, an Gen 15,9–21 und an Ex
12,10.46 LXX (s. auch Num 9,12). Im Hintergrund von 8,56 steht eine haggadische Deutung
von Gen 15,9–21: Abraham sah die Eschata (vgl. 4 Esr 3,14; Billerbeck I 468; II 525 f.); für
den Evangelisten betrifft das insbesondere den „Tag“ Jesu.
56
Joh 7,37b–39: Die Verse nehmen Bezug auf die Verheißung des aus dem Tempel strömen-
den Lebenswassers Ez 47,1–12; Joel 4,18b; Sach 13,1; 14,8. Der Evangelist deutet das Lebens-
wasser auf die Heilsgabe, die Jesus als der wahre „Ort“ der praesentia Dei (Joh 1,51) denen
gewährt, die an ihn glauben. Zu 7,37b.38 vgl. das oben in Anm. 1 Gesagte.
57
Joh 3,14.
58 Joh 17,12; 19,28; 20,9. An diesen Stellen – und ebenso in 7,38.42; 10,35 – heißt ἡ γραφή
„die Schrift“. Zu 19,28 ist anzumerken, daß ἵνα τελειωθῇ ἡ γραφή mit εἰδὼς ὁ Ἰησοῦς ὅτι ἤδη
πάντα τετέλεσται zu verbinden ist, nicht dagegen mit λέγει.
59
Joh 2,17.22; 6,45; 12,14–16.37–41; 13,18; 15,25; 19,23 f.36 f. In Joh 2,22 (Bezugnahme auf
2,17!); 13,18; 19,24.36 f. heißt ἡ γραφή „das Schriftwort“; das Nomen entspricht hier also dem
Ausdruck ὁ λόγος ὁ γεγραμμένος 15,25.
68 „In eurer Tora steht geschrieben“
zum Vorwurf gemacht, sondern lediglich dies, daß sie nicht wirklich auf das
Zeugnis der Schrift hören, sich ihm vielmehr verschließen.60 Für die Zitatein-
führungen in 8,17 und in 10,34 ergibt sich aus dem allen: Sie sind ebensowenig
Ausdruck eines negativen Urteils über die Tora bzw. über die Schrift als ganze,
wie das in den vergleichbaren rabbinischen Wendungen der Fall ist. Was die
johanneische Gemeinde von dem jüdischen Gegenüber unterscheidet, ist nicht
die Frage der Akzeptanz von Schrift und Sinai-Tora, sondern die Frage ihres an-
gemessenen Verständnisses. In dieser Hinsicht ist allerdings festzustellen, daß
die Tora bzw. die Schrift von dem Evangelisten grundsätzlich anders gesehen
sind als im Judentum, und zwar deshalb, weil sie dezidiert im Licht des johan-
neischen Christuszeugnisses und also von Christus her auf Christus hin gelesen
werden. Aus der hermeneutischen Differenz ergeben sich für den Evangelisten
in der Tat gravierende Folgerungen: Mose und der durch ihn gegebenen Tora
vom Sinai eignet keine Heilsrelevanz, weil Gottes Heil – „die Gnade und Wahr-
heit“ – exklusiv in Jesus Christus beschlossen liegt (1,17 f.).61 Nicht in der Schrift
selbst ist das „ewige Leben“ zu finden, sondern einzig und allein in dem Einen,
von dem die Schrift Zeugnis gibt und zu dem sie hinführen soll (Joh 5,39 f.). In
dieser Überzeugung ist es dann auch begründet, daß der Evangelist prophetische
Heilsverheißungen auf Christus bezieht62 und in bestimmten Texten der Schrift
nicht wahre Heilsgewährung und Heilsteilhabe bezeugt findet63.
2. Wenn die Rede von „eurer Tora“ bzw. „ihrer Tora“ nicht Ausdruck der
Distanz zur Schrift oder zur Sinai-Tora ist, dann bleibt zu fragen, ob eine an-
dere Erklärung für diese auffallende Rede gegeben werden kann. Die bereits
erwähnten Antworten Odebergs und Schlatters64 entbehren jeder Plausibilität,
weil im Kontext der drei johanneischen Texte nirgends das Verhältnis zwischen
Jesus und dem νόμος Gegenstand der Erörterung ist. Gegen die These, daß die
Einführungswendungen die Ἰουδαῖοι bei dem Zeugnis ihrer eigenen Heiligen
Schrift behaften sollen, spricht der Tatbestand, daß diese Erklärung für 15,25
schlechterdings nicht zutrifft,65 für die drei johanneischen Einführungswen-
dungen jedoch die gleiche Erklärung gefordert ist. Anzusetzen ist deshalb bei
dem exegetischen Befund, daß sich auf der vorösterlichen Erzählebene die mit
60 Joh 5,37–40.45–47.
61
Zu Joh 1,17 f. s. O. Hofius, „Der in des Vaters Schoß ist“ Joh 1,18, in: O. Hofius / H.-Chr.
Kammler, Johannesstudien. Untersuchungen zur Theologie des vierten Evangeliums (WUNT
88), Tübingen 1996, 24–32.
62
S.o. Anm. 56.
63 Joh 6,30–35 (V. 32bα!); 6,41–51 (V. 49!).
64 Odeberg: oben Anm. 16, Schlatter: oben bei Anm. 14.
65 Anders Thyen, Das Johannesevangelium (s. Anm. 2), 653. Die Aussage von Joh 15,25
richtet sich keineswegs indirekt an die Ἰουδαῖοι, um diese auf die Grundlosigkeit ihres Hasses
hinzuweisen. Sie ist vielmehr wie die anderen auf die Passion Jesu bezogenen Erfüllungsaus-
sagen (13,18; 17,12; 19,24.36 f.) an die Jünger und damit an die christliche Gemeinde adressiert
und soll aufzeigen, daß Jesus nach dem bereits in der Schrift bezeugten Willen Gottes leiden
und sterben mußte.
„In eurer Tora steht geschrieben“ 69
ὁ νόμος verbundenen Pronomina auf Gegner Jesu beziehen: auf „die Pharisäer“
(8,17) bzw. auf die Ἰουδαῖοι (10,34; 15,25). Sie aber repräsentieren hinsichtlich
der nachösterlichen Wirklichkeitsebene, die der Evangelist vor Augen hat, jene
Synagogengemeinde, der sich die johanneische Gemeinde ganz unmittelbar
konfrontiert sieht. Diese reagiert nach dem Ausweis des Evangeliums auf das
johanneische Christuszeugnis mit entschiedener Ablehnung;66 sie hält es für
blasphemisch67 und schließt diejenigen Juden, die an Jesus glauben und ihn als
den χριστός bekennen, aus ihrer Gemeinschaft aus.68 Gute Gründe sprechen
dafür, daß sich in der Rede von „eurer Tora“ und „ihrer Tora“ die damit gegebene
Situation widerspiegelt. Das heißt: Man wird im Blick auf diese Rede nicht
pauschal und undifferenziert von der „Kluft“ sprechen dürfen, „die sich zwi-
schen Synagoge und Kirche aufgetan hatte“;69 denn die Zitateinführungen von
Joh 8,17; 10,34; 15,25 sind kein hinreichendes Indiz dafür, daß es bereits Ende
des 1. Jahrhunderts n. Chr. überall da zu einer scharfen Trennung gekommen
ist, wo Juden durch die Verkündigung des Evangeliums zum Glauben an Jesus
Christus geführt worden sind. Dagegen sind die Zitateinführungen sehr wohl
ein deutlicher Ausdruck dafür, daß im Bereich der johanneischen Gemeinde
zwischen ihr und der Synagogengemeinde keine Gemeinschaft besteht.70 Finden
die Zitateinführungen damit eine plausible Erklärung, so besteht eine volle Ent-
sprechung zu jenem Befund, der in den rabbinischen Texten zu verzeichnen
war. Auch wenn in diesen Texten im Unterschied zum Johannesevangelium
ausschließlich Worte der Sinai-Tora zitiert werden und es nirgends um das Pro-
blem eines durch das Schriftzeugnis legitimierten Hoheitsanspruchs oder um den
Gedanken einer Erfüllung der Schrift geht, so ist auch dort die Rede von „eurer
Tora“ Ausdruck einer religiös begründeten und von den Repräsentanten beider
Seiten vorausgesetzten Trennung.71
Die Erzählung von der Fußwaschung Jesu Joh 13,1–11 gehört zu den besonders
schwierigen Abschnitten des Vierten Evangeliums. Sie hat dementsprechend in
der Exegese recht unterschiedliche Deutungen erfahren1 und nicht zuletzt zu
mancherlei literarkritischen Operationen Anlaß gegeben2. Wenn die umstrittene
Erzählung im Folgenden erneut bedacht werden soll, so gilt das Interesse aus-
schließlich dem Text in seiner im Evangelium vorliegenden Gestalt.3 Ich möchte
zeigen, daß dieser sich durchaus als ein kohärenter und theologisch stimmiger
Aussagezusammenhang begreifen läßt und daß von daher dann auch die Jünger-
belehrung Joh 13,12–17 eine angemessene Interpretation findet.4
Die Auslegung der Verse Joh 13,1–11 hängt wesentlich davon ab, wie man den
literarischen Charakter dieses Textes beurteilt. Nach meiner Überzeugung haben
wir in ihm eine „symbolische Erzählung“ zu erkennen, „in der sich ein be-
stimmtes Verständnis Jesu und seines Todes verdichtet“.5 Das bedeutet: Die in
dem Text geschilderte Fußwaschung ist eine Vorausdarstellung des in seiner
Heilsbedeutung bedachten Kreuzestodes Jesu, und die durch die Fußwaschung
bewirkte Reinigung bildet dementsprechend die Wirkung dieses Todes ab –
nämlich die Reinigung von der Sünde und die damit verbundene Gewährung des
ewigen Lebens.6 Daß die Verse Joh 13,1–11 in diesem christologisch-soteriologi-
schen Sinn verstanden sein wollen, ergibt sich aus einigen Textaussagen, die als
Leseanweisungen des Evangelisten angesehen werden können.
Zu nennen ist hier sogleich der Satz Joh 13,1: πρὸ δὲ τῆς ἑορτῆς τοῦ πάσχα
εἰδὼς ὁ Ἰησοῦς ὅτι ἦλθεν αὐτοῦ ἡ ὥρα ἵνα μεταβῇ ἐκ τοῦ κόσμου τούτου
πρὸς τὸν πατέρα, ἀγαπήσας τοὺς ἰδίους τοὺς ἐν τῷ κόσμῳ εἰς τέλος ἠγάπησεν
αὐτούς.7 Diese Worte bilden sowohl das Vorzeichen zu dem gesamten Komplex
Joh 13,1–19,42 wie auch die Einleitung der Fußwaschungserzählung. Was ihre
grammatische Analyse anlangt, so gibt sogleich die Zeitbestimmung πρὸ δὲ τῆς
ἑορτῆς τοῦ πάσχα zu der Frage Anlaß, ob sie zu dem den Nebensatz einleitenden
Partizip εἰδώς8 oder zu ἠγάπησεν als dem Prädikat des Hauptsatzes9 gehört. Der
Vergleich mit Joh 19,28 (μετὰ τοῦτο εἰδὼς ὁ Ἰησοῦς ὅτι […], λέγει), wo die
Zeitangabe μετὰ τοῦτο ohne Zweifel mit dem Prädikat des Hauptsatzes (λέγει)
παραδοῖ αὐτόν) und V. 11 (ᾔδει γὰρ τὸν παραδιδόντα αὐτόν); b) V. 12–17: die Rede vom Ver-
stehen bzw. Wissen in V. 12 (γινώσκετε τί πεποίηκα ὑμῖν;) und V. 17 (εἰ ταῦτα οἴδατε, μακάριοί
ἐστε ἐὰν ποιῆτε αὐτά); c) V. 18–30: der Hinweis auf die Mahlgemeinschaft in V. 18 (ὁ τρώγων
μου τὸν ἄρτον) und V. 30 (λαβὼν οὖν τὸ ψωμίον [vgl. V. 25 f.]).
5 So treffend J. Blank, Das Evangelium nach Johannes II (GSL.NT 4/2), Düsseldorf 1977,
36 (vgl. die Auslegung ebd., 36–39). Vgl. auch C. K. Barrett, Das Evangelium nach Johannes
(KEK.S), Göttingen 1990, 429, der Joh 13,1–11 als eine „symbolische Erzählung“ bezeichnet,
„die die Kreuzigung selbst im voraus abbildet“.
6
Die Beziehung der in Joh 13,1–11 geschilderten Fußwaschung zum Kreuzesgeschehen wird –
bei unterschiedlicher Akzentsetzung im einzelnen – von nicht wenigen Auslegern herausgestellt.
S. dazu etwa Schnackenburg (s. Anm. 2), 17.19.21; J. Gnilka, Johannesevangelium (NEB.NT
4), Würzburg ²1985, 106 f.; Chr. Dietzfelbinger, Das Evangelium nach Johannes II: Johannes
13–21 (ZBK.NT 4.2), Zürich 2001 (²2004), 12 f.; Schnelle (s. Anm. 1), 235–241.
7
Die neueren Ausgaben des griechischen Neuen Testaments (Nestle / Aland²⁷, Greek New
Testament⁴) schließen den Vers 13,1 zu Recht mit einem Punkt ab. Dagegen erblicken etwa
Becker (s. Anm. 1), 500 und Dietzfelbinger (s. Anm. 6), 10 in den Versen 1–4 eine einzige
Periode.
8 So – die Mehrheit der Ausleger repräsentierend – z. B. Th. Zahn, Das Evangelium des
Johannes (KNT 4), Leipzig – Erlangen ⁵.⁶1921 = Wuppertal 1983, 531; W. Bauer, Das Johannes-
evangelium (HNT 6), Tübingen ³1933, 167; Bultmann (s. Anm. 2), 352; Schnackenburg (s.
Anm. 2), 16 und sehr bestimmt J. Jeremias, Die Abendmahlsworte Jesu, Göttingen ⁴1967, 74
(die Zeitangabe „gehört eindeutig zu εἰδώς“).
9
So z. B. Brown (s. Anm. 1), 548 f.; Haenchen (s. Anm. 1), 451.
Die Erzählung von der Fußwaschung Jesu 73
zu verbinden ist, spricht ganz entschieden für das letztere.10 Ein weiteres syn-
taktisches Problem ist mit der Frage gegeben, in welchem logischen Verhältnis
das Partizip ἀγαπήσας zu dem übergeordneten Prädikatsverb ἠγάπησεν und
damit zum Satzganzen steht. In der Literatur finden sich dazu drei verschiedene
Antworten, die durch entsprechende Übersetzungen des Partizips dokumentiert
werden: „wie er geliebt hatte“11, „da er geliebt hatte“12, „da er liebte“13. Diese
Übersetzungen sind sprachlich unanfechtbar. Nach meinem Urteil legt sich
jedoch eine anderes Verständnis des Partizips ἀγαπήσας nahe14 – nämlich ein
solches im Sinne der folgenden grammatikalischen Notiz: „Ein eigentümlicher,
aber echt griechischer Gebrauch der Partizipien besteht darin, dass neben dem
Prädikate ein Partizip desselben Stammes und gleicher Bedeutung steht.“15
Nimmt man den hier angesprochenen Sprachgebrauch auch für Joh 13,1 an, so
besagt die Verbindung von Partizip (ἀγαπήσας) und übergeordnetem Prädikats-
verb (ἠγάπησεν) mit besonderer Betonung nur das eine, daß Jesus die Seinen
„liebte“. Bei diesem Verständnis läßt sich dann der Sinn des adverbialen Aus-
drucks εἰς τέλος eindeutig bestimmen.16 Die Bibelausgaben und Kommentare
geben die Wendung zumeist mit „bis ans Ende“ / „bis zum Ende“17 oder mit
„bis zur Vollendung“ wieder, und nicht selten wird geurteilt, daß an unserer
Stelle beide Bedeutungen miteinander verbunden sind.18 Heißt ἀγαπήσας […]
ἠγάπησεν einfach „er liebte“, dann kann für εἰς τέλος mit guten Gründen die
Bedeutung „aufs äußerste“ / „bis zum äußersten“ angenommen werden.19 Für
10 Hinter πρὸ δὲ τῆς ἑορτῆς τοῦ πάσχα setzen deshalb die Ausgaben des Textus receptus mit
Recht ein Komma; s. Th. Beza, Testamentum Novum, Genf ⁴1588, I 396; J. J. Wettstein,
Novum Testamentum Graecum I, Amsterdam 1752 = 1962, 927.
11
So – mit der Luther-Bibel und der Zürcher Bibel – z. B. Thyen (s. Anm. 4), 583.
12
So bereits die Vulgata (cum dilexisset) und dann etwa die Elberfelder Bibel; ähnlich auch
freiere Übersetzungen wie „er, der geliebt hatte“ (so z. B. S. Schulz, Das Evangelium nach
Johannes [NTD 4], Göttingen ¹(¹²)1972, 170).
13
So z. B. Schnackenburg (s. Anm. 2), 15; Becker (s. Anm. 1), 495; Schnelle (s.
Anm. 1), 234. Hierher gehört auch die freiere Wiedergabe durch „er, der liebte“ (so etwa
U. Wilckens, Das Evangelium nach Johannes [NTD 4], Göttingen ²(¹⁸)2000, 204 f.).
14
Anders noch O. Hofius, Exegetische Studien (WUNT 223), Tübingen 2008, 33.
15
R. Kühner / B. Gerth, Ausführliche Grammatik der griechischen Sprache II: Satzlehre,
Bd. 2, Hannover – Leipzig ³1904 = Hannover 1976, 99 f. (§ 490,3): 99 (Hervorhebungen dort);
vgl. auch E. Schwyzer / A. Debrunner, Griechische Grammatik II: Syntax und syntaktische
Stilistik, München ⁴1975, 388 („paronomastische Partizipien“). Als Beispiel sei notiert: Platon,
Leg 803b: ἴσως μέντ’ ἄν τίς μοι τοῦτ’ αὐτὸ ὑπολαβὼν ὀρθῶς ὑπολάβοι „vermutlich könnte mir
jemand eben das mit Recht entgegenhalten“.
16 Zu den unterschiedlichen Bedeutungsmöglichkeiten s. Bauer / A land, Wörterbuch⁶,
den Satz Joh 13,1 ergibt sich nach allem Gesagten die folgende Übersetzung:
„Vor dem Passafest aber, da Jesus wußte, daß seine Stunde gekommen war, aus
dieser Welt zum Vater hinüberzugehen, erwies er den Seinen, die in der Welt
waren, seine Liebe in unüberbietbarer Weise.“
Die Aussage von V. 1 findet in den durch καί angeschlossenen Versen 2–5 ihre
Erläuterung.20 Das ergibt sich aus der Beobachtung, daß zwischen der Struktur
des V. 1 und derjenigen der Verse 2–5 eine genaue Parallelität besteht. Eine
Gegenüberstellung der Texte kann das deutlich machen:
V. 1: V. 2–5:
¹ª πρὸ δὲ τῆς ἑορτῆς τοῦ πάσχα, ² καὶ δείπνου γινομένου,
τοῦ διαβόλου ἤδη βεβληκότος εἰς τὴν καρδίαν
ἵνα παραδοῖ αὐτὸν Ἰούδας Σίμωνος Ἰσκαριώτου,
¹ᵇ εἰδὼς ὁ Ἰησοῦς ³ εἰδὼς
ὅτι ἦλθεν αὐτοῦ ἡ ὥρα ὅτι πάντα ἔδωκεν αὐτῷ ὁ πατὴρ εἰς τὰς χεῖρας
ἵνα μεταβῇ ἐκ τοῦ κόσμου τούτου καὶ ὅτι ἀπὸ θεοῦ ἐξῆλθεν
πρὸς τὸν πατέρα, καὶ πρὸς τὸν θεὸν ὑπάγει,
¹ᶜ ἀγαπήσας τοὺς ἰδίους ⁴ ἐγείρεται ἐκ τοῦ δείπνου
τοὺς ἐν τῷ κόσμῳ καὶ τίθησιν τὰ ἱμάτια
εἰς τέλος ἠγάπησεν αὐτούς. καὶ λαβὼν λέντιον διέζωσεν ἑαυτόν·
⁵ εἶτα βάλλει ὕδωρ εἰς τὸν νιπτῆρα
καὶ ἤρξατο νίπτειν τοὺς πόδας τῶν μαθητῶν
καὶ ἐκμάσσειν τῷ λεντίῳ ᾧ ἦν διεζωσμένος.
20
Das am Anfang des V. 2 stehende καί hat also explikativen Sinn. Zu diesem Gebrauch s.
neben F. Blass / A. Debrunner / F. Rehkopf, Grammatik des neutestamentlichen Griechisch,
Göttingen ¹⁷1990, § 442,6a vor allem Kühner / Gerth, Ausführliche Grammatik der grie-
chischen Sprache II/2 (s. Anm. 15), 246 f. (§ 521,2) sowie Bauer / Aland, Wörterbuch⁶, 797
s. v. I.3. In 13,2 ist καί entweder mit „nämlich“ zu übersetzen, oder es kann unübersetzt bleiben,
wenn man den Satz etwa mit den Worten „Es war bei einem Mahl“ beginnen läßt (so Menge,
Das Neue Testament [s. Anm. 17], 166).
Die Erzählung von der Fußwaschung Jesu 75
Aufgrund der Struktur-Parallelität zwischen V. 1 und V. 2–5 lassen sich drei Be-
obachtungen notieren: a) Vor dem Passafest (V. 1a) findet das Mahl statt, an dem
Judas als der teilnimmt, der bereits entschlossen ist, Jesus denen auszuliefern, die
seinen Tod wollen (V. 2). Durch die am Ende der Erzählung (V. 10c.11) wieder
aufgenommene Erwähnung des Judas wird das unmittelbar bevorstehende Passa
ausdrücklich als das Todespassa gekennzeichnet. Beachtet man ferner neben den
Worten πρὸ δὲ τῆς ἑορτῆς τοῦ πάσχα von V. 1a die Zeitangaben in 13,30 (ἦν δὲ
νύξ), 18,28 (ἦν δὲ πρωΐ) und 19,14 (ἦν δὲ παρασκευὴ τοῦ πάσχα, ὥρα ἦν ὡς ἕκτη),
dann zeigt sich: Im Duktus der Kapitel Joh 13–19 findet das Mahl, bei dem die
Fußwaschung erfolgt, am Abend des 13. Nisan statt – und somit in größter Nähe
zu der Todesstunde Jesu am Nachmittag des 14. Nisan. – b) Das Wissen Jesu, von
dem V. 1b spricht, und sein in V. 3 beschriebenes Wissen beziehen sich auf ein
und denselben Sachverhalt. Nach V. 1b weiß Jesus, daß seine ὥρα – die „Stunde“
seines Kreuzestodes – gekommen ist.21 Weil auf den Tod Jesu mit innerer Not-
wendigkeit seine Auferstehung folgt,22 deshalb ist, wie V. 1b und V. 3 überein-
stimmend sagen, die ὥρα des Kreuzestodes die Stunde, in der er aus dieser Welt
zu seinem Vater „hinübergehen“ wird. In V. 3 spricht der Evangelist sehr bewußt
von der Rückkehr dessen, der „von Gott ausgegangen war“.23 Mit dieser Bemer-
kung wird daran erinnert, daß Jesus im Wunder der Inkarnation (Joh 1,14) in jene
von Sünde und Tod gezeichnete Welt gekommen ist, in der die Seinen leben,24
und daß dies einzig deshalb geschehen ist, weil er sie im Gehorsam gegen den
Willen seines Vaters durch seinen Tod erlösen sollte.25 Wenn in V. 3 gesagt wird,
daß der Vater Jesus „alles in die Hände gegeben“ hat, dann zielt diese Aussage
darauf ab, daß er – als der vom Vater gesandte Sohn – in der ὥρα von V. 1b ganz
und gar der Handelnde und seine passio mithin in jeder Hinsicht seine actio ist.26
Zu diesem für die johanneische Passionsgeschichte charakteristischen Gedanken
gehört u. a. das Motiv der Freiwilligkeit des Sterbens Jesu,27 das in Joh 13,1–11
darin zum Ausdruck kommt, daß Jesus in einem „Akt tiefster Herablassung“28
21
Zur ὥρα Jesu als der „Stunde“ seines Kreuzestodes s. 2,4; 7,30; 8,20; 12,23.27; 17,1.
22
S. dazu 2,19–22; 10,17 f.
23
Die Worte ἀπὸ θεοῦ ἐξῆλθεν καὶ πρὸς τὸν θεὸν ὑπάγει V. 3 haben eine volle Parallele in
16,28 (vgl. auch 8,14). S. ferner zu ἀπὸ θεοῦ ἐξῆλθεν: 8,42; 16,27.30; 17,8 (auch 7,28 f.), und zu
πρὸς τὸν θεὸν ὑπάγει: 7,33; 16,5.10.17 (auch 14,12.28; 17,11.13; 20,17).
24
Zu οἱ ἴδιοι οἱ ἐν τῷ κόσμῳ V. 1b vgl. 17,11: αὐτοὶ ἐν τῷ κόσμῳ εἰσίν.
25 S. dazu 10,17 f. sowie die δεῖ-Aussagen 3,14 f.; 12,34.
26
Das betont mit Recht Blank (s. Anm. 5), 37.
27
Es begegnet innerhalb der Passionsgeschichte in 18,1.4–8.11.36; 19,17.30. S. außerdem
etwa 11,7 f.; 13,26 f.
28
A. Wikenhauser, Das Evangelium nach Johannes (RNT 4), Regensburg ³1961, 249.
76 Die Erzählung von der Fußwaschung Jesu
den Dienst der Fußwaschung übernimmt.29 – c) Wie zwischen V. 1a und V. 2
einerseits und zwischen V. 1b und V. 3 andererseits eine Entsprechung besteht,
so dann schließlich auch zwischen V. 1c und V. 4 f. Die Fußwaschung stellt auf
der Ebene der Erzählung den einzigartigen Erweis der Liebe dessen dar, der im
Begriff ist, für die Seinen in den Tod zu gehen. In der Sache aber ist ganz un-
mittelbar die Selbsthingabe Jesu für seine „Freunde“ gemeint, die in Joh 15,13
als die größte Tat der Liebe bezeichnet wird: μείζονα ταύτης ἀγάπην οὐδεὶς ἔχει,
ἵνα τις τὴν ψυχὴν αὐτοῦ θῇ ὑπὲρ τῶν φίλων αὐτοῦ. Der Bezug zum Kreuzes-
geschehen liegt damit klar zutage. Die Fußwaschung ist Symbol für den Sühne
schaffenden, d. h. die Reinigung von den Sünden wirkenden Kreuzestod Jesu als
den unüberbietbaren Erweis seiner Liebe zu den Seinen. Wer die Seinen sind,
das ergibt sich aus der Hirtenrede Joh 10,1–30: Es sind die „Schafe“ des „guten
Hirten“,30 d. h. die Jesus zugehörigen Menschen, für die er sein Leben läßt und
die da, wo er als der Auferstandene in der ihn bezeugenden Verkündigung selbst
das Wort nimmt, auf seine Stimme hören und von ihm das ewige Leben emp-
fangen.31 Sie werden in Joh 13,1–11 durch die Jünger repräsentiert, denen Jesus
die Füße wäscht und die dadurch „Teil an ihm“ haben (V. 8bβ).
Im weiteren Verlauf der Fußwaschungserzählung begegnet dann in V. 7 ein
erneuter Hinweis darauf, daß die Fußwaschung als Symbol für den Kreuzestod
Jesu verstanden sein will. Dieser Hinweis liegt in den Worten, mit denen Jesus
auf die verwunderte und abwehrende Frage des Petrus von V. 6b (κύριε, σύ
μου νίπτεις τοὺς πόδας;) antwortet: ὃ ἐγὼ ποιῶ σὺ οὐκ οἶδας ἄρτι, γνώσῃ δὲ
μετὰ ταῦτα – „Was ich tue, das verstehst du jetzt nicht, du wirst es aber her-
nach begreifen“ (V. 7b). Die adverbiale Bestimmung μετὰ ταῦτα bezieht sich
selbstverständlich nicht auf die Worte Jesu V. 12–17, sondern auf die Zeit nach
Karfreitag und Ostern. Der Satz Joh 13,7b gehört zu jenen Aussagen des Vierten
Evangeliums, die darauf hinweisen, daß die Jünger Jesu überhaupt erst nach
Karfreitag und Ostern erkennen konnten und erkannt haben, was es mit dem
Kreuzestod Jesu auf sich hat.32 Indem sich der Evangelist so mit V. 7b „explizit
auf die nachösterliche Zeit“ bezieht, stellt er die Fußwaschung „in den Ver-
stehenshorizont des Kreuzes“.33
29
Daß die Fußwaschung u. a. ein Sklavendienst war, ist in Joh 13,1–11 durchaus mit im Blick,
aber schwerlich der alles beherrschende Aspekt. Im Neuen Testament und in Texten aus seiner
Umwelt begegnet die Fußwaschung gerade auch als ein Erweis tiefer Liebe (Lk 7,44b; JosAs
20,1–5; MidrSpr zu 15,17 [S. Buber, Midrasch Mischle, Wilna 1893 = Jerusalem 1965, 78 f.]); s.
dazu O. Hofius, Fußwaschung als Erweis der Liebe. Sprachliche und sachliche Anmerkungen
zu Lk 7,44b, in: Ders., Neutestamentliche Studien (WUNT 132), Tübingen 2000, 154–160:
156–159.
30 S. besonders V. 3 f.: τὰ ἴδια πρόβατα, V. 14: τὰ ἐμά, V. 27: τὰ πρόβατα τὰ ἐμά.
31
Vgl. Schnackenburg (s. Anm. 2), 16.
32 S. dazu 2,22; 12,16; 14,19 f.26; 20,9.
33
Schnelle (s. Anm. 1), 237.
Die Erzählung von der Fußwaschung Jesu 77
Ein Indiz dafür, daß wir in der Fußwaschung eine Vorausdarstellung des
Kreuzestodes zu erblicken haben, liegt schließlich in dem Wort Jesu in V. 8bβ:
ἐὰν μὴ νίψω σε, οὐκ ἔχεις μέρος μετ’ ἐμοῦ – „Wenn ich dich nicht wasche, dann
wirst du nicht Teil an mir haben.“34 Obwohl die Fußwaschung gemeint ist, folgt
hier auf νίπτειν nicht – wie zuvor in den Versen 5, 6b und 8aβ – τοὺς πόδας,
sondern das personale Objekt σέ. Mit der Wahl dieses Objekts bringt der Evan-
gelist zum Ausdruck, daß die von Jesus vollzogene Fußwaschung einem Vollbad
gleichkommt und es bei ihr mithin um die umfassende Reinigung des ganzen
Menschen geht.35 Der Satz V. 8bβ selbst hat die Gestalt einer kategorischen
Erklärung. Ohne die Fußwaschung – so wird hier gesagt – gibt es für Petrus
keine Zugehörigkeit zu Jesus und mithin kein Heil. Dann aber können die Worte
ἐὰν μὴ νίψω σε letztlich nicht den Akt der Fußwaschung als solchen meinen.36
Was in Wirklichkeit gemeint ist, wird vielmehr deutlich, wenn man beachtet,
daß in dem Konditionalsatz die Bedingung für die heilvolle Zugehörigkeit zu
Jesus „nicht an die Empfangsbereitschaft des Empfängers, sondern das Tun Jesu
geknüpft ist“.37 Joachim Gnilka, der dies in seiner Auslegung des Wortes Jesu
notiert, folgert mit Recht: „Es ist die von ihm zu übernehmende Aufgabe, den
Jüngern, den Seinen, die Füße zu waschen. Hinter dem Symbol kann sich nur
der Kreuzestod verbergen, die Notwendigkeit, daß der Menschensohn erhöht
wird (3,14).“38
II
Aus der Beobachtung, daß die in Joh 13 geschilderte Fußwaschung das Sterben
Jesu für die Seinen abbildet, ergeben sich für die Exegese des Textes Joh 13,1–11
vier gewichtige Konsequenzen:
34 In dem Satz V. 8bβ hat ἔχεις futurischen Sinn; s. Brown (s. Anm. 1), 552; M. Zerwick,
Analysis philologica Novi Testamenti Graeci (SPIB 107), Rom ⁴1984, 238. Zu der in diesem
Satz vorliegenden Bedeutung von μέρος ἔχειν μετά τινος notiert Zerwick, ebd., zutreffend:
partem habere cum = associatum esse. Nicht Teil an Jesus haben, das heißt also: nicht zu den
Seinen gehören, sondern von ihm geschieden und damit von dem unlöslich an seine Person
gebundenen Heil ausgeschlossen sein. Die inhaltliche Füllung der Worte μέρος μετ’ ἐμοῦ liefern
Aussagen wie 14,19 oder 12,26; 14,2 f.21.23; 17,24; vgl. Schnackenburg (s. Anm. 2), 21.
35 Vgl. Bultmann (s. Anm. 2), 357 Anm. 2; Thyen (s. Anm. 4), 588.
36
Vgl. W. Heitmüller, Das Johannes-Evangelium (in: SNT 4), Göttingen ³1918, 144: „Die
Bemerkung Jesu (V. 8) beseitigt jeden Zweifel daran, daß der eigentliche Sinn dieser Handlung
ein tieferer sein muß. Denn natürlich kann die Gemeinschaft mit Jesus nicht von dieser äußeren
Handlung der Fußwaschung abhängig sein.“
37 So trefflich Gnilka (s. Anm. 6), 106. Dagegen wird der Akzent verschoben, wenn Bult-
mann, ebd., 357 erklärt: „Jesu Antwort sagt, daß nur, wer sich diesen Dienst gefallen läßt (sic!),
Gemeinschaft mit ihm hat, mit ihm verbunden bleibt, nämlich auf seinem Weg in die δόξα.“
38
Gnilka, ebd. Vgl. auch Schnelle (s. Anm. 1), 238: „Durch die Fußwaschung eröffnet
Jesus die Teilhabe an ihm. Dieser soteriologische Horizont der Fußwaschung setzt Jesu Tod
voraus […].“
78 Die Erzählung von der Fußwaschung Jesu
1. Die Erzählung von der Fußwaschung Jesu ist aus der nachösterlichen Per-
spektive konzipiert. Sie will deshalb streng als narratives Christuszeugnis ge-
lesen und verstanden sein – d. h. als eine theologische Komposition des Evan-
gelisten, die dem Leser anschaulich machen soll, was in Christi Kreuzestod für
die Seinen und also auch für ihn geschehen ist und was dieser Tod mithin für die
an Christus Glaubenden bedeutet.
2. Die theologische Aussage erscheint in Joh 13,1–11 durchgehend in narrativer
Gestalt. Das auf der Erzählebene Berichtete ist deshalb ganz unmittelbar auf
das Christuszeugnis hin zu bedenken, das in dem Erzählten zur Sprache kommt.
Das gilt gerade auch für die Verse 6–10, d. h. für den Dialog zwischen Jesus und
Petrus. Das exegetische Interesse darf hier nicht in der Weise auf Petrus ge-
richtet werden, daß historisierend oder psychologisierend nach den Motiven und
Beweggründen seiner Reaktionen gefragt oder auf sein Temperament rekurriert
wird. Petrus wird in jenem Dialog überhaupt nicht als der individuelle Jünger
mit seiner persönlichen Eigenart thematisiert, sondern er steht als Repräsentant
für die Jünger Jesu insgesamt – und das heißt: Er steht für alle „die Seinen“,
von denen V. 1 gesprochen hat. Daß das, was Petrus gesagt wird, den Jüngern
insgesamt gilt, das zeigt sich in V. 10 sowohl an dem grundsätzlich gemeinten
ὁ λελουμένος wie auch an der pluralischen Aussage „ihr seid rein“.39 Die Ex-
egese hat mithin zu fragen, welche theologischen Aussagen über Jesu Tod für
die Seinen sich dem Dialog V. 6–10 entnehmen lassen.
3. Die unmittelbare Verbindung von Erzählebene und theologischer Aussage
gilt für die Erzählung von der Fußwaschung Jesu in ihrer Gesamtheit. Dieser
Befund spricht ganz entschieden gegen die verbreitete These, daß die eigentliche
Fußwaschung nur in V. 4 f. berichtet wird und auf diesen kurzen Bericht dann
zwei unterschiedliche „Deutungen“ folgen, deren erste die Verse 6–11 und deren
zweite die Verse 12–17 umfaßt.40 Daß in V. 4 f. keine abgeschlossene Schil-
derung vorliegt, zeigen innerhalb des Duktus der Erzählung zur Genüge die
Worte ἤρξατο νίπτειν τοὺς πόδας τῶν μαθητῶν καὶ ἐκμάσσειν τῷ λεντίῳ ᾧ ἦν
διεζωσμένος von V. 5. Bei dem im Johannesevangelium nur hier begegnenden
ἤρξατο handelt es sich nämlich keineswegs um die aus den Synoptikern41 be-
kannte Verbindung des pleonastischen Mediums ἄρχεσθαι mit einem Infinitiv,42
sondern die Worte ἤρξατο νίπτειν κτλ. haben bereits die Fortsetzung ἔρχεται οὖν
πρὸς Σίμωνα Πέτρον V. 6a im Blick. Die Verse 6–11 sind also nicht eine „Deu-
tung“ der in V. 4 f. geschilderten Fußwaschung; es geht in Joh 13,1–11 vielmehr
von Anfang bis Ende um die Fußwaschung in ihrer theologischen Bedeutung.43
4. Wenn der Text Joh 13,1–11 als symbolische Erzählung mit der von Jesus
vollzogenen Fußwaschung seinen Tod für die Seinen abbildet, dann darf unter-
stellt werden, daß der Evangelist diesen Text konsequent kreuzestheologisch
verstanden wissen will. Es ist deshalb ganz unwahrscheinlich, daß die Fuß-
waschung nicht nur auf den Tod Jesu, sondern zugleich auch auf die Taufe
verweisen soll.44 Ein doppelter symbolischer Bezug der Fußwaschung wäre
allenfalls dann in Erwägung zu ziehen, wenn bestimmte Aussagen des Textes
zu einer entsprechenden Interpretation nötigten. Erlaubt die Erzählung dagegen
eine konsequent kreuzestheologische Auslegung, dann muß eine sakramentale
Interpretation der Fußwaschung als unbegründet gelten.
III
Wenden wir uns nunmehr der Erzählung Joh 13,1–11 als ganzer zu, so bedürfen
die Verse 1–5 über das bisher Gesagte hinaus keiner weiteren Erklärung. Zu
bedenken sind hingegen der Dialog zwischen Jesus und Petrus V. 6–10 sowie die
Abschlußnotiz V. 11. Der Dialog gliedert sich deutlich in die beiden Teile V. 6–8
und V. 9+10. An ihrem Ende steht jeweils ein Wort Jesu, das auf der Erzähl-
ebene eine grundlegende Aussage über die von ihm vollzogene Fußwaschung
und dementsprechend auf der Ebene des theologischen Zeugnisses eine solche
Aussage über seinen Kreuzestod enthält (V. 8bβ; V. 10b.c).
Zu dem ersten Teil des Dialogs (V. 6–8) sind nur wenige Bemerkungen erfor-
derlich. Petrus ergreift in ihm zweimal das Wort, zunächst mit der Frage V. 6b:
κύριε, σύ μου νίπτεις τοὺς πόδας; – „Herr, du willst mir die Füße waschen?“45
und sodann mit der entschiedenen Erklärung V. 8aβ: οὐ μὴ νίψῃς μου τοὺς πόδας
εἰς τὸν αἰῶνα – „Du sollst mir ganz gewiß nie und nimmer die Füße waschen.“
In beiden Äußerungen spiegelt sich wider, wie unerhört es ist, daß der κύριος aus
Liebe zu den Seinen für sie in den Tod geht. Die beiden Antworten Jesu – V. 7b
und V. 8bβ – haben wir bereits betrachtet. Unübersehbar ist, daß der Gesprächs-
gang V. 6–8 auf die Antwort von V. 8bβ abzielt: ἐὰν μὴ νίψω σε, οὐκ ἔχεις μέρος
μετ’ ἐμοῦ. In ihr vernehmen wir, was die theologische Ebene anlangt, die erste
grundlegende Aussage der Fußwaschungserzählung: Jesu Tod für die Seinen ist
zu ihrer Reinigung von den Sünden und somit zu ihrem Heil absolut notwendig.
43
Die Frage, ob die Verse 12–17 mit dem Begriff der „Deutung“ angemessen gekennzeichnet
sind, wird in Teil IV des Aufsatzes beantwortet werden.
44
Zu den mancherlei Deutungen auf die Taufe, zu denen insbesondere die Worte ὁ
λελουμένος von V. 10b Anlaß geben, sei auf das Referat der Kommentare verwiesen.
45
νίπτεις ist Praesens de conatu (Blass / Debrunner / Rehkopf, Grammatik § 319 Anm. 2).
80 Die Erzählung von der Fußwaschung Jesu
Der zweite Teil des Dialogs (V. 9+10), der aus mehreren Gründen einer einge-
henden Betrachtung bedarf, beginnt mit dem Begehren des Petrus (V. 9b): κύριε,
μὴ τοὺς πόδας μου μόνον ἀλλὰ καὶ τὰς χεῖρας καὶ τὴν κεφαλήν – „Herr, [wasche]
nicht nur meine Füße, sondern auch die Hände und den Kopf!“46 Der Wunsch
setzt auf der Erzählebene voraus, daß im Anschluß an das Wort Jesu von V. 8bβ
die Fußwaschung bei Petrus vollzogen wurde,47 und er besagt, daß der Jünger die
ihm zuteil gewordene Fußwaschung für nicht hinreichend erachtet.48 Die Ant-
wort Jesu auf das Begehren des Petrus ist, was den ersten Teil betrifft (V. 10b),
in einer längeren und einer kürzeren Fassung überliefert. Der Langtext lautet:
ὁ λελουμένος οὐκ ἔχει χρείαν εἰ μὴ τοὺς πόδας νίψασθαι, ἀλλ’ ἔστιν καθαρὸς
ὅλος49, der Kurztext: ὁ λελουμένος οὐκ ἔχει χρείαν νίψασθαι, ἀλλ’ ἔστιν καθαρὸς
ὅλος50. In beiden Fassungen erscheint die Verbform νίψασθαι, zu der sogleich
das Folgende bemerkt sei: Das Medium νίπτεσθαι hat die Grundbedeutung „sich
waschen“,51 und seine Verbindung mit dem Akkusativ-Objekt τοὺς πόδας heißt
46 In V. 9b ist νίψῃς zu ergänzen. Bei der Übersetzung des Satzes sollte nicht gegen den
griechischen Text das Adverb „dann“ einfügt werden (so z. B. Menge, Das Neue Testament
[s. Anm. 17], 166: „Herr, dann nicht nur meine Füße, sondern auch die Hände und den Kopf!“;
Thyen [s. Anm. 4], 586: „Herr, dann aber nicht allein die Füße, sondern auch die Hände und
das Haupt!“); denn durch diese Einfügung wird suggeriert, daß V. 9b als spontane Reaktion auf
das Wort Jesu V. 8bβ zu verstehen sei.
47 So richtig Bultmann (s. Anm. 2), 358 (Anm. 5 von S. 357). Diesem Urteil, das durch
V. 10 bestätigt wird, widerspricht zu Unrecht H. Strathmann, Das Evangelium nach Johannes
(NTD 4), Göttingen ¹⁰1963, 189 f. mit der Behauptung, daß die Bitte des Petrus die unmittelbare
Reaktion auf Jesu Wort V. 8bβ sei und erst die sogleich erfolgende Antwort Jesu von V. 10 zum
Vollzug der Fußwaschung an Petrus führe. Die Sicht Strathmanns beruht auf einer psycho-
logisierenden Deutung des V. 9: Petrus begreife zwar nicht, weshalb er ohne die Fußwaschung
von der Gemeinschaft mit Jesus ausgeschlossen sein wird, „aber die Autorität seines Meisters
läßt ihn die drohende Gefahr so ernst nehmen, daß er augenblicklich auch Haupt und Hände
[…] zur Waschung anbietet“ (189).
48
Vgl. Bultmann, ebd., 357: Petrus „begehrt noch mehr, als er schon erhalten hat“.
49
B C* (K) L W Ψ f ¹³ 892 it vgᶜl syh u. a. (statt ἔχει χρείαν kann auch χρείαν ἔχει stehen).
Zeugen für den Langtext sind ferner auch diejenigen Lesarten, die sich als von diesem abhängig
erweisen: a) 𝔓⁶⁶ Θ sys.p u. a. (sie bezeugen hinter εἰ μὴ τοὺς πόδας noch ein μόνον); b) 𝔓⁷⁵ A
C³ f ¹ 𝔐 (sie bieten vor τοὺς πόδας statt εἰ μή ein ἤ [zu ἤ nach einer Negation vgl. Xenophon,
Cyrop II 3,10; VII 5,41]); c) D (ὁ λελουμένος οὐ χρείαν ἔχει τὴν κεφαλὴν νίψασθαι εἰ μὴ τοὺς
πόδας μόνον κτλ.).
50
אaur c vgst (nota bene: nicht alle Itala- und Vulgata-Handschriften!). Das Novum Testa-
mentum Graece²⁷ nennt unter den Zeugen auch Origenes, in dessen Johanneskommentar V. 10b
viermal in der Kurzfassung erscheint (E. Preuschen, Origenes Werke IV [GCS 10], Berlin
1903, 435,32 f.; 436,4 f.; 440,13 f.16 f.), wohingegen in der Auslegung der Langtext voraus-
gesetzt wird. Die Möglichkeit, daß Origenes selbst seine Vorlage verkürzt zitiert, läßt sich nicht
mit Sicherheit ausschließen (vgl. 433,8 f.). – In der Literatur werden auch mehrere lateinische
Kirchenväter als Zeugen für den Kurztext angeführt (so etwa im Greek New Testament⁴ z.St.
und bei Thyen [s. Anm. 4], 587). Zum Wert der entsprechenden Zitate s. aber bereits die
kritischen Bemerkungen bei Zahn (s. Anm. 8), 538 Anm. 24; vgl. ferner Richter, Die Fuß-
waschung im Johannesevangelium (s. Anm. 1), 37 f.
51
Joh 9,7.11.15; EvPetr 1,1; POxy 840,34 f.; TestLev 9,11.
Die Erzählung von der Fußwaschung Jesu 81
„sich die Füße waschen“.52 In Joh 13,10b dürfte das Medium allerdings in tole-
rativem Sinn verwendet sein.53 So jedenfalls versteht und gebraucht Origenes
in seiner Auslegung des V. 10b den Ausdruck τοὺς πόδας νίψασθαι (= „sich die
Füße waschen lassen“)54 und den bloßen Infinitiv νίψασθαι (= „sich waschen
lassen“)55. Da in der Erzählung Joh 13,1–11 den Jüngern die Füße gewaschen
werden, paßt in tolerativem Sinn gebrauchtes νίψασθαι vorzüglich sowohl zum
Langtext wie auch zum Kurztext des Satzes V. 10b. In welcher der beiden Text-
fassungen wir allerdings den ursprünglichen Wortlaut dieses Satzes zu erkennen
haben, das ist eine in der Exegese lebhaft umstrittene Frage.56
Der Langtext ist hervorragend bezeugt,57 und er stellt wegen des Adversativ-
satzes ἀλλ’ ἔστιν καθαρὸς ὅλος ohne Zweifel die lectio difficilior dar. Übersetzt
man ihn ganz wörtlich, so lautet er: „Wer gebadet ist, hat nicht [etwas] nötig,
außer sich die Füße waschen zu lassen58, sondern er ist ganz rein.“ Dieser Satz
wird sowohl von den Auslegern, die in ihm den ursprünglichen Wortlaut er-
blicken, wie auch von denen, die ihn für sekundär halten, fast ausnahmslos so
verstanden, daß von zwei unterschiedlichen Waschungen die Rede ist – nämlich
von dem Vollbad (ὁ λελουμένος) als einer Gesamtreinigung einerseits und von
der Fußwaschung (τοὺς πόδας νίψασθαι) als einer Teilreinigung andererseits.59
Im einzelnen werden die Worte ὁ λελουμένος οὐκ ἔχει χρείαν εἰ μὴ τοὺς πόδας
νίψασθαι, ἀλλ’ ἔστιν καθαρὸς ὅλος dann auf sehr verschiedene Weise interpre-
tiert. Nur zwei Deutungen seien in aller Kürze erwähnt. Die eine Deutung ver-
steht den Satz wörtlich und sieht mit dem substantivierten Partizip ὁ λελουμένος
ein Bad angesprochen, das dem in V. 2 erwähnten Mahl bereits voraufgegangen
52 S. in LXX: Gen 19,2; Ri 19,21.
53
So etwa Zahn (s. Anm. 8), 538 Anm. 23; Bauer (s. Anm. 8), 10 f.; Bultmann (s.
Anm. 2), 358 (Anm. 5 von S. 357). – Zu tolerativem Gebrauch des Mediums im Neuen Testa-
ment s. Blass / Debrunner / Rehkopf, Grammatik § 317.
54 Origenes, Johanneskommentar (s. Anm. 50), 433,16; 435,35; 436,21 f.; 437,27; 438,1 f.6 f.;
441,2 f.17. An allen diesen Stellen ist das Medium mit dem Präpositionalgefüge ὑπὸ τοῦ Ἰησοῦ
(u. ä.) verbunden.
55
So u. a. im Zitat von 13,10b (s. dazu oben Anm. 50).
56
Eine weitere Textvariante – ὁ λελουμένος οὐκ ἔχει χρείαν – wird lediglich von der aus dem
13. Jh. stammenden Minuskel 579 bezeugt. Daß in ihr der ursprüngliche Text zu erblicken sei
(so M.-É. Boismard, Le lavement des pieds (Jn, XIII, 1–17), RB 71 [1964] 5–24: 10–13), muß
schon aufgrund der Bezeugung als völlig ausgeschlossen gelten.
57
Das Novum Testamentum Graece²⁷ und das Greek New Testament⁴ bieten die Worte
εἰ μὴ τοὺς πόδας deshalb im Text; s. die Begründung bei B. M. Metzger, A Textual Com-
mentary on the Greek New Testament, Stuttgart ²1994, 204: „on the basis of the preponderant
weight of external attestation“. – Für den Langtext votiert ausführlich Chr. Niemand, Die
Fußwaschungserzählung des Johannesevangeliums. Untersuchungen zu ihrer Entstehung und
Überlieferung im Urchristentum (StAns 114), Rom 1993, 252–256; weitere Vertreter dieser Sicht
s. ebd., 253 Anm. 55.
58
Oder, wenn man für νίψασθαι nicht tolerativen Sinn annehmen will: „außer sich die Füße
zu waschen“.
59 Sprachliche Voraussetzung ist der lexikalische Befund, daß in der Regel λούειν die Ge-
ist.60 Die Aussage ist dann: Wer vor dem Mahl ein Vollbad genommen hat,
bedarf jetzt nur noch der Fußwaschung durch Jesus. Die andere – verbreitetere –
Deutung geht davon aus, daß in dem zitierten Satz in übertragenem Sinn von
den beiden Waschungen gesprochen wird. Sie bezieht ὁ λελουμένος auf die
Taufe als die grundlegende Reinigung des Menschen von seinem sündigen Sein
und τοὺς πόδας νίψασθαι auf die für den Getauften weiterhin erforderliche Rei-
nigung von den Einzelsünden.61 Nach dieser Deutung besagt V. 10b: Wer in der
Taufe die grundlegende Reinigung empfangen hat, der bedarf hinfort nur noch
der je und je erfolgenden Abwaschung der täglichen Sünden, die – so dann die
unterschiedlichen Vermutungen – durch „die in den Gemeinden praktizierte
Sündenvergebung“62 oder durch das Herrenmahl63 gewährt wird. Die beiden
Deutungen müssen jetzt nicht kommentiert werden. Denn wie immer man den
Langtext interpretieren mag, – wenn dort von zwei verschiedenen Waschungen
die Rede ist, dann muß als ausgeschlossen gelten, daß wir in ihm den ursprüng-
lichen Wortlaut des V. 10b vor uns haben. Die Argumente, die zu diesem Urteil
nötigen, hat Rudolf Bultmann präzise benannt: 1. Hebt V. 10b auf die Differenz
von Vollbad und Fußwaschung ab, dann ergibt sich ein Widerspruch zu den
Worten ἐὰν μὴ νίψω σε V. 8bβ, die nur so verstanden werden können, „daß die
Fußwaschung nicht im Gegensatz zu einem Vollbad gedacht ist“.64 2. Redet
V. 10b von zwei Waschungen, „einer vorausgehenden, umfassenden, dem Voll-
bad, und einer folgenden, partiellen, der Fußwaschung“, dann ist die erstere „die
entscheidende“, die andere aber „wenngleich noch notwendig, so doch zweiten
Ranges“; das aber „entspricht nicht dem Pathos von V. 8 f., wonach die Fuß-
waschung als das schlechthin Entscheidende erscheint“.65 3. Sagt V. 10b von dem
λελουμένος, „daß er ganz rein sei (καθαρὸς ὅλος)“, dann ist damit die Einschrän-
kung εἰ μὴ τοὺς πόδας νίψασθαι unvereinbar; denn „wenn nach dem λούεσθαι
noch eine Fußwaschung nötig ist, so ist der Gebadete eben nicht ganz rein“.66 –
Die drei Argumente Bultmanns sind unter der Prämisse, daß der Langtext von
zwei verschiedenen Waschungen spricht, schwerlich überzeugend zu entkräften.
So läßt sich etwa der im dritten Argument benannte innere Widerspruch nicht
einfach dadurch beseitigen, daß man für die Worte ἀλλ’ ἔστιν καθαρὸς ὅλος die
60
So z. B. Wettstein, Novum Testamentum Graecum I (s. Anm. 10), 929 und J. Jeremias,
Unbekannte Jesusworte, Gütersloh ⁴1965, 54 Anm. 24 (vgl. auch Ders., Die Abendmahlsworte
Jesu [s. Anm. 8], 43.76). Wettstein verweist auf das in antiken griechischen Quellen erwähnte
Bad, dem man sich vor dem Gang zu einem Gastmahl zu unterziehen pflegte, Jeremias hin-
gegen denkt an das für die Passapilger vorgeschriebene Tauchbad.
61
S. exemplarisch A. Oepke, Art. λούω κτλ., in: ThWNT IV (1942) 297–309: 308,1–36.
Daß in ὁ λελουμένος eine Anspielung auf die Taufe vorliegt, wird auch bei Bauer / Aland,
Wörterbuch⁶, 975 s. v. λούω 2.a.β behauptet.
62 So z. B. Gnilka (s. Anm. 6), 106.
63 So z. B. Bauer (s. Anm. 8), 172.
64
Bultmann (s. Anm. 2), 357 Anm. 2.
65
Bultmann, ebd., 357 Anm. 5 (statt „V. 8 f.“ muß es korrekt „V. 8“ heißen).
66
Bultmann, ebd., 358 (Anm. 5 von S. 357).
Die Erzählung von der Fußwaschung Jesu 83
Übersetzung „sonst aber ist er ganz rein“67 oder „im Ganzen aber ist er rein“68
wählt. In Wahrheit kann der griechische Text nicht anders verstanden werden
als so, daß der λελουμένος „ganz und gar rein“ ist.69 Sind nun aber Bultmanns
Argumente – nochmals: unter der erwähnten Prämisse – nicht zu widerlegen,
dann darf die Folgerung, „daß das εἰ μὴ τοὺς πόδας ein schlechter Zusatz ist“,70
als wohlbegründet gelten. Von daher votiert Bultmann für die Ursprünglichkeit
des Kurztextes, und ebenso urteilt die Mehrheit der Exegeten.71
Der Kurztext lautet in wörtlicher Übersetzung: „Wer gebadet ist, braucht sich
nicht waschen zu lassen,72 sondern er ist ganz rein.“ Führt man im Anschluß an
die Exegese der voraufgehenden Verse die Auslegung konsequent weiter, dann
ist sprachlich wie inhaltlich die folgende Interpretation möglich: Das Partizip
Perfekt λελουμένος bezeichnet den „Zustand als Resultat einer vergangenen
Handlung“73 und nimmt mithin das auf die Fußwaschung bezogene ἐὰν μὴ
νίψω σε von V. 8bβ auf. Das aber bedeutet, „daß in der Antwort auf V. 9 der
λελουμένος von V. 10 eben der ist, der die Fußwaschung empfangen hat, die
damit eben als einer vollständigen Waschung, die ganz rein macht, gleichwertig
bezeichnet wird“.74 Der Satz ὁ λελουμένος οὐκ ἔχει χρείαν νίψασθαι, ἀλλ’ ἔστιν
καθαρὸς ὅλος kann dann so verstanden werden: Wer – wie jetzt Petrus – mit
der von Jesus vollzogenen Fußwaschung das Bad der Vollreinigung empfangen
hat, der bedarf keiner weiteren Waschung zur Teilreinigung mehr.75 Der so ver-
67
H. J. Holtzmann / W. Bauer, Johanneisches Evangelium (in: HC 4), Freiburg ³1908,
235; ähnlich Blank (s. Anm. 5), 35: „ansonsten ist er ganz rein“.
68
Bauer (s. Anm. 8), 168.170. Vgl. zu Bauers Übersetzung die Behauptung von Zahn (s.
Anm. 8), 538: „das prädikative ὅλος entspricht unserem ‚im ganzen‘“. In diesem Sinn inter-
pretiert dann auch Oepke, λούω κτλ. (s. Anm. 61), 308,28–30: „Die grundlegende Reinigung
(λελουμένος) […] macht den, der sie empfangen hat, für immer auf das Ganze gesehen (ὅλος)
rein.“
69
Bultmann (s. Anm. 2), 357 Anm. 4 verweist zu ὅλος mit Recht auf 9,34. Auch sonst hebt
ὅλος im Johannesevangelium auf die Totalität ab; s. 4,53; 7,23; 11,50; 19,23.
70
Bultmann, ebd., 358 (Anm. 5 von S. 357).
71
Neben Bultmann, ebd., 357 f. seien nur erwähnt: Brown (s. Anm. 1), 567 f.; Schnac-
kenburg (s. Anm. 2), 22–26; Gnilka (s. Anm. 6), 106; Beasley-Murray (s. Anm. 1), 234 f.;
Barrett (s. Anm. 5), 433 f.; Becker (s. Anm. 1), 506; Dietzfelbinger (s. Anm. 6), 12;
Schnelle (s. Anm. 1), 235; Thyen (s. Anm. 4), 587. S. ferner die Liste bei Niemand, Die
Fußwaschungserzählung des Johannesevangeliums (s. Anm. 57), 253 Anm. 54.
72 Oder bei nicht tolerativem Verständnis von νίψασθαι: „braucht sich nicht zu waschen“.
Möglich ist vielleicht auch die Übersetzung „braucht nicht gewaschen zu werden“. Zum Me-
dium statt Passiv bei artikellosem Infinitiv der Ergänzung s. Kühner / Gerth, Ausführliche
Grammatik der griechischen Sprache II/2 (s. Anm. 15), 15 Anm. 13 (§ 473.6c).
73
K. Beyer, Semitische Syntax im Neuen Testament I: Satzlehre Teil 1 (StUNT 1), Göttin-
gen ²1968, 225.
74 Bultmann (s. Anm. 2), 358 (in Anm. 5 von S. 357). Bei diesem Verständnis erübrigt
sich die schwerlich überzeugend zu begründende Annahme, daß der Satz auf ein Sprichwort
Bezug nimmt.
75 Der Kurztext gewinnt seinen Sinn also durch die präzise Unterscheidung von λούεσθαι
λελουμένος im Sinne des V. 8bβ die Nuance liegen könnte: „wer gewaschen ist
und damit Anteil an mir hat“. Da nun aber die Worte ἐὰν μὴ νίψω σε eben jene
Handlung meinen, die zuvor in V. 5, V. 6b und V. 8aβ mit dem Ausdruck νίπτειν
τοὺς πόδας beschrieben war, muß das gleiche auch für die Worte εἰ μὴ τοὺς
πόδας νίψασθαι gelten.80 Der Langtext V. 10b spricht demnach keineswegs von
zwei verschiedenen Waschungen, sondern sowohl ὁ λελουμένος wie auch τοὺς
πόδας νίψασθαι verweisen auf ein und dasselbe Ereignis – nämlich auf eben jene
Fußwaschung, von der zuvor in V. 4–8 die Rede war.81 Der Langtext ist deshalb
so zu verstehen, daß Jesus auf das Begehren des Petrus von V. 9b antwortet:
„Wer (von mir) gewaschen ist, hat nichts nötig, außer sich (wie dies soeben bei
dir geschehen ist) die Füße waschen zu lassen, sondern er ist (aufgrund der ihm
zuteil gewordenen Fußwaschung) ganz rein.“ Die Worte ὁ λελουμένος οὐκ ἔχει
χρείαν εἰ μὴ τοὺς πόδας νίψασθαι sind also eine etwas ungefüge Formulierung
für die Aussage, daß es zur völligen Reinigung der Jünger einzig und allein der
von Jesus vollzogenen Fußwaschung bedarf.
Werden die Worte ὁ λελουμένος οὐκ ἔχει χρείαν εἰ μὴ τοὺς πόδας νίψασθαι
in dem beschriebenen Sinn verstanden, dann stehen sie weder im Widerspruch
zu dem voraufgehenden Wort Jesu V. 8bβ noch auch in Spannung zu dem auf
sie folgenden Adversativsatz ἀλλ’ ἔστιν καθαρὸς ὅλος. Auch der Satz V. 10c –
καὶ ὑμεῖς καθαροί ἐστε, ἀλλ’ οὐχὶ πάντες – schließt sich problemlos an. Die den
Satz eröffnende Konjunktion καί hat bekräftigende oder auf die Konsequenz
hinweisende Funktion, so daß die Worte καὶ ὑμεῖς καθαροί ἐστε besagen: „ja, ihr
seid rein“ oder: „so seid denn ihr rein“. Auf der Erzählebene wird den Jüngern
zugesprochen, daß sie mit der Fußwaschung die völlige Reinigung empfangen
haben, und das heißt auf der Ebene der theologischen Aussage: In seinem Sühne-
tod am Kreuz hat Jesus den Seinen ein für allemal die vollkommene Reinheit
80
Dafür, daß mit εἰ μὴ τοὺς πόδας νίψασθαι ein einmaliges Ereignis gemeint ist, spricht auf-
grund der Aktionsart des Aorists der Inf. Aor. νίψασθαι. Lehrreich ist hier ein Blick auf Mt 3,14;
14,16; 1 Thess 1,8; Dan 3,16 LXX θ‘: An allen diesen Stellen handelt es sich bei χρείαν ἔχειν mit
Inf. Aor. um eine einmalige Handlung bzw. um ein punktuelles Geschehen.
81
Dieses Verständnis des V. 10b findet sich auch bei P. Fiebig, Die Fußwaschung, Angelos 3
(1930) 121–128: 124 f. Fiebig argumentiert allerdings mit der mehr als fragwürdigen These, „daß
der Verfasser des Johannes-Evangeliums von Geburt Hebräer“ sei (121) und der griechische Text
deshalb unter Beachtung der „Eigenart hebräischer Ausdrucksweise“ übersetzt werden müsse
(124; vgl. 121 f.125). Er bestimmt deshalb ὁ λελουμένος als Casus pendens mit präsentischem
Sinn und kommt von daher zu der folgenden Wiedergabe des V. 10b: „Wer (von mir jetzt in
bezug auf seine Füße) gebadet wird, (von dem gilt: er) hat nicht nötig, sich (etwas anderes)
außer die Füße waschen zu lassen, sondern ist (schon durch das Fußbad) ganz rein“ (125).
Ebenso unhaltbar wie die sprachliche Argumentation ist dann auch die Interpretation Fiebigs:
Die Fußwaschung Jesu, deren Historizität vorausgesetzt wird, ist ein „Beispiel ethischer Ge-
sinnung“, und „die Reinigung, um die es sich hier handelt, ist […] ethisch-religiöser Art“ (126).
Mit V. 10b will Jesus sagen (126): „Ich bildete euch die Gesinnung ab, die mein wahrer Jünger
haben muß. Wer mein wahrer Jünger ist, ist rein. Also ist der rein, der das betätigt, was ich mit
der Fußwaschung betätigt habe.“
86 Die Erzählung von der Fußwaschung Jesu
erwirkt und gewährt.82 Wenn die angefügte und durch V. 11 erläuterte Einschrän-
kung ἀλλ’ οὐχὶ πάντες Judas aus der Gruppe der als „rein“ Bezeichneten aus-
schließt, dann besagt das auf der Erzählebene, daß die Fußwaschung ihm nichts
nützt. Das aber heißt: Jesu Kreuzestod nützt Judas nichts – ja ihm, der nicht zu
den Seinen gehört, gilt dieser Tod nicht.
Als Ergebnis unserer Überlegungen zu V. 10b kann nunmehr festgehalten wer-
den, daß die besser bezeugte Lesart als ursprünglich anzusehen ist, während der
Kurztext sich genau jenem Mißverständnis verdanken dürfte, das nicht wenige
Exegeten dazu veranlaßt, den Langtext als sekundär zu beurteilen. Fragen wir
im Anschluß an die sprachliche und inhaltliche Analyse des Langtextes nach der
theologischen Intention der Verse 9+10 insgesamt, so läßt sich die in ihnen ent-
haltene zweite grundlegende Aussage des Dialogs V. 6–10 unschwer bestimmen:
Nachdem in V. 8bβ mit Nachdruck betont wurde, daß für die Heilsteilhabe der
Jünger der Tod Jesu unbedingt erforderlich ist, wird in V. 10b ebenso nachdrück-
lich erklärt, daß dieser Tod in jeder Hinsicht hinreichend ist. Die theologische
Gesamtaussage der Erzählung Joh 13,1–11 ist damit evident: Jesu Selbsthingabe
am Kreuz als der höchste Erweis seiner Liebe zu den Seinen ist die sowohl
notwendige wie auch hinreichende – und also die vollbestimmte Bedingung
ihrer Reinigung von der Sünde und der Konstituierung ihrer heilvollen Ver-
bundenheit mit ihm. Die Erzählung von der Fußwaschung Jesu bringt so narrativ
zur Sprache, was der Verfasser des 1. Johannesbriefs in die Worte faßt: „Das Blut
Jesu, des Sohnes Gottes, reinigt uns von aller Sünde“ (1 Joh 1,7b).
IV
In einem letzten Schritt unserer Betrachtung ist nun noch der Abschnitt Joh
13,12–17 in den Blick zu fassen und zu fragen, ob er eine mit der Exegese der
Verse 1–11 kohärente Interpretation erlaubt.
Auf der Erzählebene sind die Verse 12–17 durch die Notiz V. 12a fest mit dem
zuvor Berichteten verbunden. Die anschließende Jüngerbelehrung wird in V. 12b
durch die Frage Jesu eingeleitet: γινώσκετε τί πεποίηκα ὑμῖν; – „Begreift ihr,
was ich euch getan habe?“ Beachtet man die jeweilige Aussageintention, dann
steht diese Frage keineswegs in Spannung zu der Erklärung von V. 7, der zufolge
Petrus das Tun Jesu erst „hernach“ begreifen wird (ὃ ἐγὼ ποιῶ […] γνώσῃ […]
82 Es ist kein Widerspruch zu dieser Aussage, wenn in 15,3 den Jüngern gesagt wird: „Ihr
seid schon rein um des Wortes willen, das ich zu euch geredet habe.“ Der λόγος, von dem dieser
Satz spricht, ist das in der Verkündigung laut werdende Wort, in dem der gekreuzigte und auf-
erstandene Christus sich selbst – d. h. seine Person und sein Werk – Glauben und Erkenntnis
wirkend erschließt. Vgl. dazu H.-Chr. Kammler, Christologie und Eschatologie. Joh 5,17–30
als Schlüsseltext johanneischer Theologie (WUNT 126), Tübingen 2000, 127 f.
Die Erzählung von der Fußwaschung Jesu 87
μετὰ ταῦτα).83 In V. 7 hatten wir den hermeneutischen Hinweis des Evangeli-
sten zu erkennen, daß ein Verstehen des durch die Fußwaschung abgebildeten
Kreuzestodes Jesu allererst aus der nachösterlichen Perspektive möglich ist. Die
Verse 12b–17 nun richten sich an diejenigen, die aus dieser Perspektive auf das
Kreuzesgeschehen schauen und seine Bedeutung bedenken. In der Jüngerbe-
lehrung redet mithin der gekreuzigte und auferstandene Christus zu den Seinen
und also auch zu den Lesern des Evangeliums.
Mit Bezug auf die von Jesus vollzogene Fußwaschung wird in V. 15 gesagt:
„Ein ὑπόδειγμα habe ich euch gegeben, damit, wie ich euch getan habe, auch
ihr tut.“ Der Begriff ὑπόδειγμα kennzeichnet die Fußwaschung Jesu nicht als
ein beeindruckendes „Beispiel“ grenzenloser Liebe, zu dessen Nachahmung
die Jünger aufgerufen werden, sondern als ein verbindlich vorgegebenes „Leit-
bild“, dem sie unbedingt und unausweichlich verpflichtet sind.84 Daß zwischen
dem Tun Jesu und dem Tun der Jünger ein zwingendes Begründungsverhältnis
besteht, das zeigen bereits die Verse 13 f. an: „Ihr nennt mich ‚Lehrer‘ und
‚Herr‘, und ihr sagt so mit Recht, denn ich bin es. Wenn nun ich, der Herr und
Lehrer, euch die Füße gewaschen habe, dann seid auch ihr verpflichtet, einander
die Füße zu waschen.“ Die Worte „ihr nennt mich ‚Lehrer‘ und ‚Herr‘“ ver-
weisen vordergründig auf die Anrede Jesu durch seine Jünger;85 darüber hinaus
aber zielen sie darauf ab, daß Jesus der Offenbarer der rettenden Gotteswahr-
heit86 und im solennen Sinn der Kyrios87 ist. Hat er als der in göttlicher Hoheit
handelnde „Lehrer“ und „Herr“ den Jüngern die Füße gewaschen, dann folgt
daraus für sie unabweisbar die Verpflichtung zu einem entsprechenden Tun.
Der diese Konsequenz benennende V. 14 ist als ein Konditionalsatz mit kausaler
Nuance formuliert,88 und in ihm erscheint nicht zufällig das Verbum ὀφείλειν,
durch das der Verpflichtungscharakter des Tuns Jesu expressis verbis heraus-
gestellt wird. Den Verpflichtungscharakter unterstreichen dann noch einmal die
beiden – durch ein autoritatives ἀμὴν ἀμὴν λέγω ὑμῖν eingeleiteten – Bildworte
von V. 16: „Ein Knecht ist nicht größer als sein Herr und ein Abgesandter nicht
83 Anders z. B. Bultmann (s. Anm. 2), 361 Anm. 8: „Die Frage ist gestellt, als ginge V. 6–11
nicht voraus; als rhetorische Frage kollidiert sie mit dem οὐκ οἶδας ἄρτι V. 7.“
84
Die Konjunktion καθώς hat in V. 15 – ebenso wie in 13,35; 15,12 – begründenden Sinn (s.
zu diesem Sprachgebrauch auch 6,57; 17,2.14.16). Die Argumentationsstruktur ist also nicht:
„wie ich, so auch ihr“, sondern: „weil ich, deshalb notwendig ihr“.
85 In 13,13 sind ὁ διδάσκαλος und ὁ κύριος Vokativ (Blass / D ebrunner / R ehkopf, Gram-
matik § 143 und § 147,2 mit Anm. 5). Zu διδάσκαλε / ῥαββί (1,38) im Munde der Jünger s. 1,49;
4,31; 9,2; 11,8 (vgl. auch ῥαββουνί 20,16), zu κύριε 6,68; 11,12; 13,6.9.25.36 f.; 14,5.8.22 (auch
21,15–17.20 f.).
86
S. dazu 15,15b und 17,26a, aber auch Aussagen wie 1,17 f.; 8,31 f.; 14,6.9; 17,6.14.17.
87
S. dazu ὁ κύριος 6,23; 11,2; 20,2.18.20.25 (auch 21,7.12); vgl. ferner 20,13 und 20,28.
88
Zu solchen Konditionalsätzen mit εἰ c. Ind. vgl. Blass / Debrunner / Rehkopf, Gram-
matik § 372,1.
88 Die Erzählung von der Fußwaschung Jesu
größer als der, der ihn gesandt hat.“89 Der Makarismus V. 17 schließlich betont,
daß zu der den Jüngern von Jesus selbst geschenkten Erkenntnis dessen, was in
V. 13–16 gesagt wird, notwendig das dieser Erkenntnis entsprechende Tun hin-
zugehört: εἰ ταῦτα οἴδατε, μακάριοί ἐστε ἐὰν ποιῆτε αὐτά – „Wenn ihr das wißt –
selig seid ihr, wenn ihr es tut.“90 Wie nun die in V. 15 als ein verpflichtendes
ὑπόδειγμα charakterisierte Fußwaschung Jesu Symbol seines Kreuzestodes als
des unüberbietbaren Erweises der Liebe zu den Seinen ist, so ist mit der von den
Jüngern zu übenden Fußwaschung die Liebe gemeint, die sie einander schuldig
sind.91 Der Satz ὑπόδειγμα […] ἔδωκα ὑμῖν ἵνα καθὼς ἐγὼ ἐποίησα ὑμῖν καὶ
ὑμεῖς ποιῆτε besagt somit nichts anderes als das Wort Jesu Joh 13,34: ἐντολὴν
καινὴν δίδωμι ὑμῖν, ἵνα ἀγαπᾶτε ἀλλήλους, καθὼς ἠγάπησα ὑμᾶς ἵνα καὶ ὑμεῖς
ἀγαπᾶτε ἀλλήλους.92 In beiden Sätzen benennt der καθώς-Satz nicht nur den
Maßstab, sondern zuerst und vor allem den Grund für die den Jüngern gebotene
Liebe.93 „Grund und Norm“94 ihrer Liebe aber ist die Liebe Jesu deshalb, weil
sein Tod ihre Verfallenheit an Sünde und Tod aufgehoben, sie unlöslich mit
ihm verbunden und ihnen so ein neues Sein erschlossen hat.95 Einzig aufgrund
dieses neuen Seins haben die Jünger überhaupt das Vermögen zu der von ihnen
89
Das Wort ἀπόστολος hat hier die Bedeutung „Abgesandter“, „Sendbote“, „Bote“; s. zu
dieser Bedeutung: Herodot, Hist I 21,1; V 38,2; 3 Reg 14,6 LXXA α’; Jes 18,2 σ’; 2 Kor 8,23; Phil
2,25 (vgl. Apg 14,4.14). – Zu οὐκ ἔστιν δοῦλος μείζων τοῦ κυρίου αὐτοῦ (so auch 15,20) vgl. Mt
10,24b, zu οὐδὲ ἀπόστολος μείζων τοῦ πέμψαντος αὐτόν den GenR 78,2 zu 32,26 überlieferten
Ausspruch des R. Schim‘on (um 150): „Der Sendende ist größer als der Abgesandte“ (hmšlḥ
gdwl mn hmštlḥ). Der Evangelist könnte bei der Wahl der beiden Bildworte daran gedacht
haben, daß die Jünger Jesu seine „Diener“ sind (12,26) und daß er sie „ausgesandt“ hat, ihn in
der Welt zu bezeugen (4,38; 13,20; 17,18; 20,21).
90
Die genaue inhaltliche Füllung der beiden Pronomina ταῦτα und αὐτά ergibt sich aus
V. 12b–16. In εἰ ταῦτα οἴδατε geht es um das Wissen, wer Jesus im Gegenüber zu den Jüngern ist
(V. 13, V. 16), was er an ihnen getan hat (V. 12b, V. 14a) und unter welchem Anspruch sie damit
stehen (V. 14b, V. 15). Die Worte ἐὰν ποιῆτε αὐτά, die in dem ἐάν-Satz von 15,14 ihre Parallele
haben (s. u. Anm. 92), sprechen von dem in V. 14 f. gebotenen Tun. Zu dem in V. 17 voraus-
gesetzten Verhältnis von „Wissen“ und „Tun“ s. Thyen (s. Anm. 4), 593 f. sowie im einzelnen
H. Kohler, Kreuz und Menschwerdung im Johannesevangelium. Ein exegetisch-hermeneu-
tischer Versuch zur johanneischen Kreuzestheologie (AThANT 72), Zürich 1987, 227–229.
91
Daß in Joh 13 ein in der johanneischen Gemeinde praktiziertes und von ihr als heils-
notwendig erachtetes Sakrament der Fußwaschung bezeugt wird, vermag ich – anders als Ab-
ramowski, Die Geschichte von der Fußwaschung (s. Anm. 1), 183–189; Dies., Der Apostel von
Johannes 13,16 (s. ebd.), bes. 120–123 – nicht zu sehen. S. dazu auch die folgende Anmerkung.
92
Als eine weitere Parallele zu V. 15 ist der Satz 15,12 zu notieren: αὕτη ἐστὶν ἡ ἐντολὴ ἡ
ἐμή, ἵνα ἀγαπᾶτε ἀλλήλους καθὼς ἠγάπησα ὑμᾶς. Der Parallelität der Verse 13,15 / 13,34 / 15,12
entspricht dann diejenige der Verse 13,17 (εἰ ταῦτα οἴδατε, μακάριοί ἐστε ἐὰν ποιῆτε αὐτά) /
13,35 (ἐν τούτῳ γνώσονται πάντες ὅτι ἐμοὶ μαθηταί ἐστε, ἐὰν ἀγάπην ἔχητε ἐν ἀλλήλοις) / 15,14
(ὑμεῖς φίλοι μού ἐστε ἐὰν ποιῆτε ἃ ἐγὼ ἐντέλλομαι ὑμῖν). – Ebensowenig wie die Worte 13,34
und 15,12 ist V. 15 oder der durch ihn begründete V. 14 ein „Wiederholungsbefehl“ im Sinne von
1 Kor 11,24c.25c / Lk 22,19c.
93
Vgl. Bultmann (s. Anm. 2), 362.403 (auch 417); Schnackenburg (s. Anm. 2), 28.60.
94
So Bultmann, ebd., 417.
95
Vgl. dazu auch 15,12–17: Das Liebesgebot V. 12 gilt den Jüngern als den von Jesus Erwähl-
ten, die durch seine Lebenshingabe seine „Freunde“ geworden sind und als diese zu „tun“ ver-
Die Erzählung von der Fußwaschung Jesu 89
geforderten Liebe. Wird das gesehen, dann ist deutlich: Der Verpflichtungscha-
rakter der Liebe Jesu wird in der Jüngerbelehrung Joh 13,12–17 nicht einfach nur
behauptet, sondern er erfährt von den Versen 1–11 her auch seine einleuchtende
und zwingende Begründung.
Die Fußwaschung Jesu ist – wie wir jetzt festhalten können – nicht nur in Joh
13,1–11, sondern ebenso auch in Joh 13,12–17 als Vorausdarstellung des Kreuzes-
geschehens verstanden. In 13,1–11 geht es zunächst um den Tod Jesu als ein das
menschliche Sein effektiv veränderndes Geschehen, d. h. als sacramentum, in
13,12–17 sodann um ihn als ein den „rein“ gewordenen Menschen verpflichtendes
exemplum.96 Hier handelt es sich nicht um zwei unterschiedliche und vielleicht
sogar miteinander konkurrierende „Deutungen“ des Todes Jesu, sondern um
die präzise Bestimmung der Bedeutung dieses Todes unter den beiden zwar zu
unterscheidenden, aber doch zusammengehörigen Aspekten. Dabei wird durch
die Abfolge der Abschnitte 13,1–11 und 13,12–17 angezeigt, daß die Bedeutung
des Todes Jesu als sacramentum seinem Verständnis als exemplum vorgeordnet
und übergeordnet ist.97
Mit seiner Sicht des Kreuzesgeschehens tritt der Vierte Evangelist anderen
neutestamentlichen Zeugen an die Seite, die in der Sache ebenso von dem Tod
Jesu als sacramentum et exemplum reden.98 So betont Paulus in seinen Briefen
des öfteren den Verpflichtungscharakter des unter dem grundlegenden Aspekt
des „pro nobis“ bedachten Christusgeschehens, und Gleiches begegnet in den
Deuteropaulinen.99 Nicht zuletzt aber ist auf 1 Petr 2,21 hinzuweisen, wo das To-
desleiden Christi ausdrücklich als ein verpflichtendes „Leitbild“ (ὑπογραμμός)
bezeichnet wird: „Christus hat für euch gelitten und euch (damit) ein Leitbild
hinterlassen, daß ihr seinen Fußspuren nachfolgt.“100 Was alle diese Zeugnisse
mögen, was er ihnen gebietet. Zu 15,12–17 s. im einzelnen die tiefe Auslegung bei Bultmann,
ebd., 417–421.
96 Zum Verständnis des Todes Jesu als sacramentum einerseits und als exemplum anderer-
seits s. E. Jüngel, Das Opfer Jesu Christi als sacramentum et exemplum. Was bedeutet das
Opfer Christi für den Beitrag der Kirchen zur Lebensbewältigung und Lebensgestaltung?, in:
Ders., Wertlose Wahrheit. Zur Identität und Relevanz des christlichen Glaubens. Theologische
Erörterungen III (BEvTh 107), München 1990, 261–282, bes. 264–268. In meiner Kennzeich-
nung des sacramentum nehme ich eine Formulierung Jüngels (ebd., 265) auf.
97
Vgl. zu dieser Verhältnisbestimmung von sacramentum und exemplum Jüngel, ebd.,
264 f.
98
Innerhalb des Corpus Johanneum selbst sind hier die beiden Sätze 1 Joh 2,6 und 1 Joh
3,16 zu nennen.
99 S. etwa Röm 15,1–6.7; 2 Kor 8,7–9; Gal 6,2; Phil 1,27–2,18; Kol 3,13; Eph 5,2.25 und dazu
O. Hofius, Das Gesetz des Mose und das Gesetz Christi, in: Ders., Paulusstudien (WUNT 51),
Tübingen ²1994, 50–74: 70–72.
100 Übersetzung im Anschluß an L. Goppelt, Der Erste Petrusbrief (KEK 12/1), Göttingen
¹(⁸)1978, 198. Zur Auslegung s. ebd., 199–203 mit der trefflichen Bestimmung: ὑπογραμμός ist
hier „das ‚Leitbild‘, das verpflichtend vorgegeben ist, nicht das ‚Beispiel‘ oder ‚Vorbild‘, dem
man aus freier Wahl nacheifert“ (201). – Zu ὑπογραμμός in dem in 1 Petr 2,21 vorliegenden Sinn
s. auch 1 Klem 16,17 (mit 16,1–16) und Polyk 8,1 f.
90 Die Erzählung von der Fußwaschung Jesu
in der Gestalt der theologischen Aussage zur Sprache bringen, das kommt in
Joh 13 durch die Verbindung der beiden Abschnitte V. 1–11 und V. 12–17 narrativ
zur Darstellung.
Mensch und Schöpfung
nach dem Zeugnis des Römerbriefs
Daß zwischen dem von Gott geschaffenen Menschen und der außermensch-
lichen Schöpfung eine unlösliche Verbindung besteht, kommt in den Briefen des
Paulus nur an einer einzigen, allerdings höchst gewichtigen Stelle zur Sprache –
nämlich in den Versen Röm 8,18–25. Diesen Versen sind die folgenden Über-
legungen gewidmet, die den Text auf der Grundlage einer genauen sprachlichen
Analyse auszulegen und seine theologische Aussage vor allem unter Beachtung
des paulinischen Kontexts herauszuarbeiten suchen.1
Die Verse Röm 8,18–25 wollen auf dem Hintergrund dessen bedacht und ver-
standen sein, was zuvor im Römerbrief zum einen über die Verlorenheit des
Menschen vor Gott und zum andern über seine Rettung durch Gott gesagt
worden ist. Wir müssen uns deshalb zunächst die entsprechenden Ausführungen
des Apostels in ihren Grundzügen vergegenwärtigen.
Mit großem Ernst hat Paulus in Röm 1,18–3,20 wie auch an anderen Stellen
des Briefes2 dargelegt, daß ausnahmslos alle von Adam herkommenden Men-
schen der Macht der Sünde und deshalb auch der Macht des Todes verfallen
sind. Unter der „Sünde“ versteht der Apostel das unerhörte Nein, mit dem der
Mensch seinem Schöpfer den dankbaren Lobpreis wie auch den gehorsamen
Dienst verweigert und geschaffene Dinge zu seinem höchsten Gut und damit
1
Aus der Literatur seien neben den Kommentaren z.St. genannt: A. Vögtle, Röm 8,19–
22: Eine schöpfungstheologische oder anthropologisch-soteriologische Aussage?, in: Ders.,
Das Neue Testament und die Zukunft des Kosmos (KBANT), Düsseldorf 1970, 183–208;
H. R. Balz, Heilsvertrauen und Welterfahrung. Strukturen der paulinischen Eschatologie nach
Römer 8,18–39 (BEvTh 59), München 1971, bes. 36–69; P. von der Osten-Sacken, Rö-
mer 8 als Beispiel paulinischer Soteriologie (FRLANT 112), Göttingen 1975, 78–128.263–271;
W. Bindemann, Die Hoffnung der Schöpfung. Römer 8,18–27 und die Frage einer Theologie
der Befreiung von Mensch und Natur (NStB 14), Neukirchen-Vluyn 1983; S. Vollenweider,
Freiheit als neue Schöpfung. Eine Untersuchung zur Eleutheria bei Paulus und in seiner Um-
welt (FRLANT 147), Göttingen 1989, 375–396; E. Grässer, Das Seufzen der Kreatur (Röm
8,19–22), JBTh 5 (1990) 93–117; J. Lambrecht, The Groaning Creation. A Study of Rom
8:18–30, LS 15 (1990) 3–18; H. Weder, Geistreiches Seufzen. Zum Verhältnis von Mensch
und Schöpfung in Römer 8, in: Ders., Einblicke ins Evangelium. Exegetische Beiträge zur
neutestamentlichen Hermeneutik, Göttingen 1992, 247–262.
2
S. insbesondere Röm 3,22b+23; 5,12–21; 6,20 f.23a; 7,5.7–25a (vgl. auch 8,5–8).
92 Mensch und Schöpfung nach dem Zeugnis des Römerbriefs
zu seinem Gott erwählt.3 Weil die Sünde so dezidiert das Gottesverhältnis be-
trifft und ihrem Wesen nach „Gottlosigkeit“ und „Feindschaft gegen Gott“ ist,4
deshalb macht sie jede Gemeinschaft des Menschen mit Gott, der Quelle des
Lebens, absolut unmöglich. Davon ist die Rede, wenn es in Röm 5,12 heißt,
daß durch Adam „die Sünde in die Welt gekommen ist und durch die Sünde
der Tod“ und daß in der Folge dieses verhängnisvollen Geschehens „der Tod zu
allen Menschen hingekommen ist, weil sie alle gesündigt haben“.5 In diesem
Satz geht es nicht einfach nur um die kreatürliche Sterblichkeit des Menschen.
Paulus spricht vielmehr von dem Tod, der durch das Verdammungsurteil Gottes
sowohl über Adam wie auch über alle seine Nachkommen verhängt worden ist.6
Der durch Adam in die Welt gekommene Tod ist der den Menschen von Gott
trennende Tod, dem deshalb in Röm 5,12–21 nicht das physische Leben gegen-
übersteht, sondern das „ewige Leben“7, d. h. die unmittelbare, vollkommene und
beständige Gemeinschaft mit dem lebendigen Gott. Den Gedanken, daß Adam
dieses ewige Leben vor seinem Fall besessen habe, vertritt Paulus nicht. Das
ergibt sich nicht zuletzt aus jenem Satz des Römerbriefs, der häufig, aber völlig
zu Unrecht als ein Beleg für die gegenteilige Auffassung angesehen wird. Ich
spreche von dem Vers Röm 3,23, in dem der Apostel im Blick auf die ganze –
Juden wie Heiden umfassende – Menschheit erklärt: „Alle haben gesündigt und
entbehren der Herrlichkeit Gottes“ (πάντες ἥμαρτον καὶ ὑστεροῦνται τῆς δόξης
τοῦ θεοῦ).8 Der Ausdruck „die Herrlichkeit Gottes“, der hier und dann erneut in
Röm 5,2 begegnet, meint an beiden Stellen die Herrlichkeit, die Gott schenkt9
und die dem Menschen mit dem ewigen Leben gegeben ist.10 Der Satz Röm
3,23 selbst wird in der Exegese ganz überwiegend so gedeutet, daß Paulus die
frühjüdische Vorstellung aufnehme, wonach Adam im Paradies die Herrlichkeit
3
Zur paulinischen Kennzeichnung der Sünde s. die beiden Sätze Röm 1,21a und Röm 1,25.
4
S. dazu Röm 1,18 (ἀσέβεια) und Röm 8,7 (ἔχθρα εἰς θεόν) sowie ferner in Röm 5,6–10
das Nebeneinander der Begriffe ἀσεβεῖς (V. 6), ἁμαρτωλοί (V. 8) und ἐχθροί (V. 10). Zur Cha-
rakterisierung des Sünders als eines „Gottlosen“ vgl. schließlich auch Röm 4,5.
5
Zu Röm 5,12 bzw. zu Röm 5,12–21 insgesamt s. im einzelnen O. Hofius, Die Adam-
Christus-Antithese und das Gesetz. Erwägungen zu Röm 5,12–21, in: Ders., Paulusstudien II
(WUNT 143), Tübingen 2002, 62–103.
6
Röm 5,16b.18a. Zu dem an beiden Stellen begegnenden Begriff κατάκριμα s. auch Röm
8,1.
7 Röm 5,17.18.21: ζωὴ αἰώνιος. Vgl. auch Röm 6,22 f.
8
Die Worte πάντες ἥμαρτον, die Paulus dann in Röm 5,12 noch einmal wiederholt, nehmen
die Aussage von Röm 3,9 auf, daß ausnahmslos alle, Juden wie Heiden, „unter der Macht der
Sünde stehen“ (πάντας ὑφ’ ἁμαρτίαν εἶναι).
9 Der Genitiv τοῦ θεοῦ ist an beiden Stellen ein Genitivus auctoris, nicht ein Genitivus
possessoris.
10
In Röm 8,21 erscheint deshalb δόξα als Gegenbegriff zu φθορά und somit als Synonym
zu ἀφθαρσία. Zu ἀφθαρσία als Gegenbegriff zu φθορά s. 1 Kor 15,42.50 (vgl. 53 f.); Philo, Mos
II 194; POxy 1081,10–19 (Fragment der Sophia Jesu Christi; s. D. Lührmann, Fragmente apo-
kryph gewordener Evangelien in griechischer und lateinischer Sprache [MThSt 59], Marburg
2000, 96–101: 99).
Mensch und Schöpfung nach dem Zeugnis des Römerbriefs 93
des ewigen Lebens besessen, sie dann aber aufgrund seiner Sünde verloren hat.11
Gegen diese Deutung spricht jedoch bereits, daß die Worte ὑστεροῦνται τῆς
δόξης τοῦ θεοῦ keineswegs die Übersetzung „sie haben die Herrlichkeit Gottes
verloren“12 oder „sie sind der Herrlichkeit Gottes verlustig“13 zulassen; denn
ὑστερεῖσθαί τινος heißt nicht „etwas verlieren“ bzw. „etwas verloren haben“,
sondern die Bedeutung des Wortes ist: „einer Sache ermangeln“ / „etwas nicht
haben“. Nicht von dem Verlust eines Besitzes ist also die Rede, sondern davon,
daß alle Menschen aufgrund ihrer Sünde etwas entbehren, was sie eigentlich
haben sollten. Zu dem sprachlichen Befund kommt eine sachliche Beobachtung
hinzu: Wo immer Paulus sonst in seinen Briefen im Blick auf den Menschen
von der δόξα spricht, da handelt es sich um die eschatologische Herrlichkeit, die
den an Christus Glaubenden mit der Auferweckung von den Toten zuteil werden
wird.14 Setzt man schließlich den Satz Röm 3,23 zu dem in Beziehung, was in
1 Kor 15,42–49 gesagt wird, dann zeigt sich, daß an diesen Stellen ein ganz be-
stimmtes Verständnis der Paradies- und Sündenfallgeschichte von Gen 2+3 zum
Ausdruck kommt.15 Wenn Gott nach Gen 2,7 Adam aus Staub vom Erdboden
bildet und ihm den Lebensodem einhaucht, dann deutet Paulus dies auf die
Gabe des kreatürlichen physischen Lebens. Das ewige Leben sieht er erst da
angesprochen, wo der „Baum des Lebens“ erwähnt wird, von dem Adam essen
durfte und sollte (Gen 2,9). Nach dem Verständnis des Apostels lehrt dieser Zug
der Erzählung, daß Adam mit der Bestimmung und dem Ziel geschaffen wurde,
die ζωὴ αἰώνιος und mit ihr die δόξα τοῦ θεοῦ zu empfangen. Die Erschaffung
des Menschen war also mit der Gabe des Lebensodems noch keineswegs voll-
endet; sie „sollte weitergehen, aber seine Sünde brach sie ab“.16 Darin, daß
11
Als Belege für die frühjüdische Vorstellung, der Paulus angeblich verpflichtet ist, wer-
den zumeist genannt: ApkMos 20,2; 21,6; grBar 4,16; GenR 12,5 zu 2,4. Dazu sei jetzt nur
das Folgende angemerkt: 1) In ApkMos 20,2 (ἀπηλλοτριώθην ἐκ τῆς δόξης μου) und 21,6
(ἀπηλλοτρίωσάς με ἐκ τῆς δόξης τοῦ θεοῦ) handelt es sich um christliche Aussagen, die eine
Exegese von Röm 3,23 voraussetzen, wie sie sich etwa bei Origenes findet (s. Commentarius
in Epistulam ad Romanos III 7 zu Röm 3,23 [Fontes Christianae 2/2, 108,14 f.]: alieni […]
effecti sunt […] a gloria Dei). 2) Als Exegese von Röm 3,23 ist ebenfalls der Satz grBar 4,16
zu beurteilen, dessen Herkunft von christlicher Hand durch grBar 4,15 bestätigt wird. 3) Daß
die in GenR 12,5 zu 2,4 und ebenso in GenR 11,2 zu 2,3 bezeugte Deutung von Ps 49,13 (s. dazu
auch bSanh 38b; AbotRN [A] 1; TargPsJon Gen 2,25) und Hi 14,20b auf Adam bereits für die
neutestamentliche Zeit vorausgesetzt werden kann, wird man bezweifeln dürfen.
12
So übersetzt z. B. W. Schmithals, Der Römerbrief. Ein Kommentar, Gütersloh 1988, 116.
13
So übersetzen z. B. U. Wilckens, Der Brief an die Römer I: Röm 1–5 (EKK VI/1), Zü-
rich – Einsiedeln bzw. Neukirchen-Vluyn 1978, 183; E. Käsemann, An die Römer (HNT 8a),
Tübingen ⁴1980, 85.
14
δόξα τοῦ θεοῦ: Röm 5,2; δόξα: Röm 2,7.10; 8,18.21; 9,23; 1 Kor 2,7; 15,43; 2 Kor 4,17; Phil
3,21; 1 Thess 2,12 (in den Deuteropaulinen: 2 Thess 2,14; Kol 1,27; 3,4); s. auch συνδοξάζεσθαι
Röm 8,17. Die Aussagen von Röm 8,29 f. und 2 Kor 3,18 gehören ebenfalls in diesen Zusammen-
hang.
15
S. dazu des näheren Hofius, Die Adam-Christus-Antithese und das Gesetz (s. Anm. 5),
79–81.
16
Chr. Burchard, 1 Korinther 15,39–41, ZNW 75 (1984) 233–258: 244 Anm. 43.
94 Mensch und Schöpfung nach dem Zeugnis des Römerbriefs
Adam aufgrund seiner Sünde sogleich aus dem Paradies vertrieben und ihm so
der Zugang zum „Baum des Lebens“ verwehrt wurde (Gen 3,22–24), erblickt
Paulus die Verwirklichung der Todesandrohung von Gen 2,17b, und er begreift
diese richterliche Entscheidung Gottes als die Verweigerung des ewigen Lebens.
Adams Sündenfall ist somit nach der Sicht des Apostels der unerhörte Zwischen-
fall, der das Zum-Ziel-Kommen des Schöpfungsplanes Gottes verhindert hat.
Die Begriffe ζωὴ αἰώνιος bzw. ζωή und δόξα τοῦ θεοῦ bzw. δόξα bezeichnen
eben jenes Heilsgut, das Gott, der Schöpfer, Adam und mit ihm dem Menschen
zugedacht hatte und das dann wegen der Sünde sowohl dem Protoplasten wie
auch allen seinen Nachkommen vorenthalten blieb.
Daß Gott den sündigen und vor ihm verlorenen Menschen nicht preisgibt, das
ist das alles beherrschende Thema, das von Röm 3,21 an ausführlich erörtert und
entfaltet wird.17 Im Geschehen des Todes und der Auferstehung Jesu Christi –
so lauten die entscheidenden Aussagen – hat Gott dem Menschen das Heil
bereitet, das im Evangelium von Jesus Christus bezeugt und zugeeignet wird
und daß der Hörer des Evangeliums im Glauben an Jesus Christus empfängt.
Von diesem Heil spricht der Apostel dabei unter zwei grundlegenden Aspekten:
Die Glaubenden sind – so der erste Aspekt – schon jetzt „gerechtfertigt“ bzw.
„gerecht gemacht“, d. h. in die heilvolle Beziehung zu dem lebendigen Gott ver-
setzt, und somit „Kinder“ Gottes, die ihn in der Kraft des Heiligen Geistes als
ihren Vater anrufen und ihm in einem neuen Leben dienen.18 Als solche werden
sie – so der zweite Aspekt – in der Zukunft des ewigen Lebens und also der voll-
kommenen Gemeinschaft mit dem lebendigen Gott teilhaftig werden. Was den
zweiten Aspekt anlangt, so sind neben anderen Aussagen des Römerbriefs19 etwa
die Verse Röm 8,10 f. zu nennen, in denen Paulus die Situation derer beschreibt,
die durch das Christusgeschehen von dem seit Adam bestehenden Sünde-Tod-
Zusammenhang befreit worden sind.20 Von ihnen heißt es zunächst in V. 10: Ihr
Leib ist zwar noch „der Notwendigkeit des Sterbens unterworfen“,21 weil dem
17
Röm 3,21–4,25; 5,1–11; 5,12–21; 6,23b; 7,24.25a; 8,1–11. S. auch bereits Röm 1,16 f.
18 S. dazu Röm 8,1–17 (speziell zur υἱοθεσία und zur Anrufung Gottes als Vater: V. 15 f.); vgl.
auch Röm 6,4.11.22; 7,6.
19
Röm 1,16 f.; 5,17b.18b.21b; 6,22 f.; 7,24 f.; 8,2.
20
Die Befreiung von dem Sünde-Tod-Zusammenhang thematisiert Paulus in Röm 8,1–17.
21
So die Wiedergabe von νεκρός Röm 8,10 bei S.Ch. Schirlitz / Th. Eger, Griechisch-
deutsches Wörterbuch zum Neuen Testamente, Gießen ⁶1908, 277b s. v. 1. Zu νεκρός in der Be-
deutung „sterblich“, „vom Tod gezeichnet“, „dem Tod verfallen“, „todgeweiht“ s. etwa Epiktet,
Diss I 3,3; II 19,27; grHen 103,5 (vgl. auch ὁ νεκρός = „der Sterbende“: Euripides, Rhes 789;
Antiphon aus Rhamnus, Or II 4,5; Thukydides, Hist II 52,2). – Daß das νεκρὸν σῶμα von Röm
8,10 nicht das σῶμα τῆς ἁμαρτίας von Röm 6,6 bzw. das σῶμα τοῦ θανάτου von Röm 7,24 ist,
sondern das θνητὸν σῶμα von Röm 6,12; 8,11, vertreten mit gutem Grund etwa M. Dibelius,
Der Herr und der Geist bei Paulus, in: Ders., Botschaft und Geschichte II, Tübingen 1956,
128–133: 131 f.; C. E. B. Cranfield, The Epistle to the Romans I (ICC), Edinburgh 1975 = 1980,
389; Schmithals, Der Römerbrief (s. Anm. 12), 271; S. Vollenweider, Der Geist Gottes
als Selbst der Glaubenden. Überlegungen zu einem ontologischen Problem in der paulinischen
Anthropologie, ZThK 93 (1996) 163–192: 172 f.; Chr. Landmesser, Der Geist und die christ-
Mensch und Schöpfung nach dem Zeugnis des Römerbriefs 95
adamitischen Menschen um der Sünde willen das ewige Leben verwehrt blieb;22
der ihnen geschenkte Geist Gottes aber ist der Garant dafür, daß ihr Leib auf-
grund der ihnen schon jetzt zuteil gewordenen heilvollen Gottesbeziehung nicht
im Tod bleiben, sondern am Ende im Zeichen des „Lebens“ stehen wird.23 V. 11
erläutert diese Aussage mit dem Hinweis auf den unlöslichen Zusammenhang,
der zwischen der Auferweckung Jesu und der Auferweckung derer besteht, die
ihm angehören: „Wenn aber der Geist dessen, der Jesus von den Toten auf-
erweckt hat, in euch wohnt, so wird der, der Christus von den Toten auferweckt
hat, auch eure sterblichen Leiber lebendig machen durch seinen Geist, der in
euch wohnt.“ Wie Paulus hier den Empfängern des Römerbriefs die zukünftige
ζωὴ αἰώνιος vor Augen stellt, so kann er ganz analog auch von der zukünftigen
δόξα reden, die Gott den Glaubenden schenken wird. Nach Röm 5,1 f. „rühmen“
sich diejenigen, die „aus Glauben gerecht geworden“ sind, „der Hoffnung auf
die Herrlichkeit Gottes“.24 Als „Kinder“ Gottes sind sie ja – wie es dann in
Röm 8,17 heißt – auch „Erben“ Gottes und als solche „Miterben“ Christi, die
jetzt mit ihm „leiden“, am Tag der Heilsvollendung aber auch ganz gewiß
mit ihm „verherrlicht werden“.25 Wenn Paulus hier von dem συμπάσχειν der
Kinder Gottes spricht, dann denkt er an das in Röm 8,35+36 erwähnte Leiden
um Christi willen – d. h. an das Leiden, das über ihn selbst kommt, weil er
den gekreuzigten Christus verkündigt, und über die Glaubenden, weil sie sich
zu diesem Gekreuzigten bekennen.26 Denen, die so um Christi willen leiden,
der ἵνα-Satz beschreibt nicht die Absicht, sondern die notwendige Folge. Zu συνδοξάζεσθαι
s. u. Anm. 27.
26 S. dazu neben Röm 8,35 f. auch Phil 1,29 f. sowie die Aussagen des Apostels über die ihm
selbst widerfahrenden Leiden: 1 Kor 4,9–13; 15,32; 2 Kor 1,3–11; 4,7–18; 6,4–10; 7,5; 11,23–33;
12,10; Phil 1,12–14; 4,14; 1 Thess 3,7 (vgl. auch Kol 1,24). Auf das Leiden um Christi willen
beziehen sich m. E. auch die in Röm 5,3 erwähnten θλίψεις; vgl. 2 Kor 4,17; 1 Thess 1,6; 3,3 f.
(dazu auch 2,14); 2 Thess 1,4.6.
96 Mensch und Schöpfung nach dem Zeugnis des Römerbriefs
wird eine Herrlichkeit zuteil werden, die der Herrlichkeit ihres auferstandenen
Herrn entspricht.27 Genau davon ist dann in Röm 8,18–30 die Rede – und hier
insbesondere in den Versen 18–25, deren Gedankengang jetzt Schritt für Schritt
nachgezeichnet werden soll.
II
Der Abschnitt Röm 8,18–25 beginnt in V. 18 mit einer These, die das zuvor in
V. 17 Gesagte begründet und – wie die Einführung durch λογίζομαι anzeigt – den
Charakter eines mit Gewißheit geäußerten Urteils hat:28 „Denn ich halte dafür,
daß die Leiden der jetzigen Zeit nicht ins Gewicht fallen im Vergleich mit der
Herrlichkeit, die an uns offenbar werden wird.“29 Der Ausdruck „die jetzige
Zeit“ (ὁ νῦν καιρός)30 meint die Zeit zwischen dem Tod und der Auferstehung
Jesu einerseits und seiner Parusie andererseits. Diese Zeit sieht Paulus geprägt
durch die παθήματα – die „Leiden“. Gedacht ist dabei in erster Hinsicht an das
in V. 17 angesprochene Leiden um Christi willen, darüber hinaus aber wohl auch
an die Leiden überhaupt, denen die an Christus Glaubenden in der jetzigen Zeit
ausgesetzt sein können.31 Der Apostel verharmlost die παθήματα nicht, aber er
sieht sie im Licht jener Herrlichkeit, der die Glaubenden entgegengehen. Ihr
gegenüber fallen die Leiden, so schwer und bedrückend sie auch sein mögen,
nicht ins Gewicht. Die Formulierung, daß die Herrlichkeit an denen, die jetzt
leiden müssen, „offenbar werden wird“, setzt dabei voraus, daß sie ihnen bereits
von Gott bereitet ist,32 so daß sie ihrer völlig gewiß sein können.33
27
Dies ist der Sinn des Wortes συνδοξάζεσθαι. Vgl. dazu Röm 8,29; 1 Kor 15,49; Phil 3,20 f.
28 Bei V. 18 und ebenso auch bei den Versen 19, 22, 23, 24b und 25 notiere ich den
griechischen Text – verbunden mit knappen sprachlichen Erläuterungen – jeweils in einer
Anmerkung.
29
λογίζομαι γὰρ ὅτι οὐκ ἄξια τὰ παθήματα τοῦ νῦν καιροῦ πρὸς τὴν μέλλουσαν δόξαν
ἀποκαλυφθῆναι εἰς ἡμᾶς. – Zu λογίζεσθαι vgl. Röm 3,28. Die Wendung οὐκ ἄξιος πρός (vgl.
Platon, Gorg 471e) erlaubt auch die Übersetzung: die Leiden „sind nicht vergleichbar mit der
Herrlichkeit“ oder: sie „stehen in keinem Verhältnis zu der Herrlichkeit“. Das Verbum μέλλειν
in Verbindung mit einem Infinitiv ist Umschreibung des Futurs; s. dazu F. Blass / A. Debrun-
ner / F. Rehkopf, Grammatik des neutestamentlichen Griechisch, Göttingen ¹⁷1990, § 356.
30
Vgl. Röm 3,26; 11,5; 2 Kor 8,14.
31 Dafür könnten das πάντα von Röm 8,28 und die Verse Röm 8,38 f. sprechen.
32
Vgl. zu diesem Gedanken 2 Kor 5,1–5.
33 S. dazu auch den Kettenschluß Röm 8,29 f. mit der abschließenden Aussage V. 30c: dieje-
nigen, die Gott gerecht gemacht hat, „die hat er auch herrlich gemacht“ (τούτους καὶ ἐδόξασεν).
Paulus wählt hier ganz bewußt den Aorist ἐδόξασεν, um angesichts der Realität des Leidens
deutlich zu machen: Obwohl die Verherrlichung noch aussteht, ist sie den Glaubenden doch
von Gott her unwiderruflich zugedacht und zugeeignet. Das heißt: Die Glaubenden stehen dank
der in Gottes ewigem Heilsratschluß gefallenen Entscheidung bereits im Licht der zukünftigen
Herrlichkeit, und dieses Licht wird über ihnen nicht mehr erlöschen.
Mensch und Schöpfung nach dem Zeugnis des Römerbriefs 97
Die These von V. 18 wird in den dann folgenden Versen expliziert.34 Dabei
liegt der Ton auf den positiven Aussagen, nicht dagegen auf der Beschreibung
der leidvollen gegenwärtigen Wirklichkeit. Der Apostel will die alles über-
ragende Größe der zukünftigen Herrlichkeit aufzeigen und so erläutern, weshalb
die Leiden dieser Zeit ihr gegenüber nicht ins Gewicht fallen.
Dem genannten Ziel dienen zunächst die Verse 19–22, in denen Paulus darlegt,
daß mit dem „Offenbarwerden“ der den Glaubenden zugedachten Herrlichkeit
die Befreiung der κτίσις vom Los der Vergänglichkeit verbunden sein wird. Da
dieses Los in V. 20 ausdrücklich als ein unverschuldetes Geschick gekennzeich-
net wird und der Blick des Apostels sich erst von V. 23 an wieder unmittelbar
auf die Glaubenden richtet, kann unter der κτίσις nur die belebte wie unbelebte
außermenschliche Schöpfung verstanden werden, und zwar die den Menschen
umgebende Schöpfungswelt.35 In dem, was Paulus über diese Schöpfung sagt,
bedient er sich in eindrucksvoller Weise der rhetorischen Figur der Personifi-
kation.36 So heißt es sogleich in V. 19: „Es wartet nämlich die Schöpfung in
sehnsüchtigem Verlangen auf das Offenbarwerden der Kinder Gottes.“37 Bei
dem „Offenbarwerden“ der Kinder Gottes handelt es sich um eben jenes zuvor
in V. 18 erwähnte Geschehen, daß an ihnen die eschatologische Herrlichkeit „of-
fenbar werden“ wird. Warum die Schöpfung sehnsüchtig darauf wartet, daß die
Kinder Gottes die ihnen verheißene Herrlichkeit empfangen, das erklärt V. 20,
der zunächst nach dem griechischen Text zitiert sei: τῇ γὰρ ματαιότητι ἡ κτίσις
ὑπετάγη, οὐχ ἑκοῦσα ἀλλὰ διὰ τὸν ὑποτάξαντα, ἐφ’ ἑλπίδι.38 Für das rechte Ver-
ständnis dieses Textes sind zwei sprachliche Beobachtungen von Gewicht. Zum
einen ist zu notieren, daß die Worte οὐχ ἑκοῦσα ἀλλὰ διὰ τὸν ὑποτάξαντα eine
Zwischenbemerkung darstellen und daß deshalb die den Vers abschließende
präpositionale Wendung ἐφ’ ἑλπίδι mit dem Satzanfang τῇ γὰρ ματαιότητι ἡ
κτίσις ὑπετάγη zu verbinden ist; und zum anderen will beachtet sein, daß in dem
Hauptsatz τῇ γὰρ ματαιότητι ἡ κτίσις ὑπετάγη ἐφ’ ἑλπίδι die rhetorisch bewußt
ans Ende des Satzes gestellte Wendung ἐφ’ ἑλπίδι den Ton trägt.
34
Wie durch die Inclusio δόξα V. 18 / ἐδόξασεν V. 30 angezeigt wird, umfaßt die Explikation
die Verse 8,19–30.
35
Dagegen ist weder an die Engel noch auch an die kosmischen Mächte von Röm 8,38 f. ge-
dacht. – Zu den in der exegetischen Literatur zu verzeichnenden unterschiedlichen Deutungen
der κτίσις von Röm 8,18–22 s. etwa Cranfield, The Epistle to the Romans I (s. Anm. 21), 411 f.
36 Zu der Personifikation der vernunftlosen Schöpfung vgl. die Analogien in alttestamentli-
chen Texten wie Ps 19(18),2; 69(68),35; 98(97),8; 114(113),4.6; Hi 12,7 f.; Jes 14,8; 49,13; 55,12.
S. auch 4 Esr 10,9.
37 ἡ γὰρ ἀποκαραδοκία τῆς κτίσεως τὴν ἀποκάλυψιν τῶν υἱῶν τοῦ θεοῦ ἀπεκδέχεται. – In
V. 19 stehen die Worte ἡ ἀποκαραδοκία τῆς κτίσεως metonymisch für ἡ ἀποκαραδοκοῦσα
κτίσις; s. Bauer / Aland, Wörterbuch⁶, 185 s. v. ἀποκαραδοκία.
38
Weil das am Anfang des V. 21 stehende ὅτι kausale Bedeutung hat (s. u. Anm. 53), ist am
Ende des V. 20 – gegen Nestle / Aland, Novum Testamentum Graece²⁷ – hinter ἐφ’ ἑλπίδι ein
Kolon zu setzen.
98 Mensch und Schöpfung nach dem Zeugnis des Römerbriefs
V. 20 beginnt mit der Feststellung: „Denn der ματαιότης – der Nichtigkeit – ist
die Schöpfung unterworfen worden.“ Dem Sprachgebrauch einiger Septuaginta-
Psalmen39 entsprechend bezeichnet das Wort ματαιότης an unserer Stelle die
„Nichtigkeit“ im Sinne der Vergänglichkeit und der Todverfallenheit.40 Die
Aussage, daß die Schöpfung der ματαιότης „unterworfen worden ist“, wird in
der Exegese zumeist dahingehend interpretiert, daß das Prädikat ὑπετάγη als
ein Passivum divinum das Handeln Gottes umschreibt. Zwingend ist ein solches
Verständnis des Passivs jedoch nicht. Die Worte τῇ ματαιότητι ἡ κτίσις ὑπετάγη
könnten sehr wohl einfach nur den Tatbestand zum Ausdruck bringen, daß die
Schöpfung der Nichtigkeit unterworfen worden ist.
Ehe Paulus den Hauptsatz zuende führt, fügt er zunächst eine gewichtige
Zwischenbemerkung ein: Die außermenschliche Schöpfung ist der Nichtigkeit
„nicht aus freien Stücken (d. h. nicht durch eigene Schuld41), sondern διὰ τὸν
ὑποτάξαντα“ unterworfen worden. Wie die Worte διὰ τὸν ὑποτάξαντα zu über-
setzen sind und wer hier mit dem ὑποτάξας gemeint ist, das ist in der Exegese
nach wie vor umstritten. Die Mehrheit der Ausleger übersetzt: „durch den, der
sie unterworfen hat“42 und deutet den ὑποτάξας auf Gott. Die Schwierigkeit
dieser Deutung liegt allerdings darin, daß kausales διά c. acc. – im Unterschied
zu kausalem διά c. gen. – nicht den Urheber bezeichnet.43 Nach den Regeln der
Grammatik44 bedeutet διά mit Akkusativ der Person vielmehr „wegen jeman-
des“ / „um jemandes willen“,45 so daß die Worte διὰ τὸν ὑποτάξαντα auf jeden
39
S. besonders Ψ 38,6b und Ψ 143,4, aber auch Ψ 61,10 sowie μάταιος Ψ 88,48b (vgl. V. 49).
40
So versteht den Text mit Recht bereits Johannes Chrysostomus, In Epistolam ad Romanos
Homiliae XIV 5, zu Röm 8,20 (PG 60, 530): Τί ἐστι, Τῇ ματαιότητι ἡ κτίσις ὑπετάγη; Φθαρτὴ
γέγονε.
41
O. Michel, Der Brief an die Römer (KEK 4), Göttingen ¹⁴1978, 267 bestimmt οὐχ ἑκοῦσα
zutreffend als „nicht schuldhaft, sondern schicksalhaft“.
42
In diesem Sinn z. B. auch Bauer / Aland, Wörterbuch⁶, 363 s. v. διά B.II.4: „durch den,
der sie unterstellt hat“.
43
Gegen Bauer / Aland, Wörterbuch⁶, ebd. Die Angaben dort sind m. E. unzutreffend.
Was die unter 4.a verzeichneten Belegen für διά mit Akkusativ der Sache anlangt, so ist die
Bedeutung: „dank“ (2 Makk 12,11), „wegen“ (Arist 77), „kraft“ (Apk 12,11), „aufgrund“ (Apk
13,14). Zu den unter 4.b genannten Belegen für διά mit Akkusativ der Person (Aristophanes,
Plut 468 [korrekt: 470]; Dionysius Halicarnassensis, Ant Rom VIII 33,3; Plutarch, Alex 368
[korrekt: 668]; Aelius Aristides, Or 24,1 (Keil) = 44 (Dindorf); PGM 13,579; Arist 292; Sir 15,11;
3 Makk 6,36; Joh 6,57) s. u. Anm. 45.
44
S. dazu G. B. Winer / G. Lünemann, Grammatik des neutestamentlichen Sprachidioms,
Leipzig ⁷1867, 372 f.; R. Kühner / B. Gerth, Ausführliche Grammatik der griechischen Spra-
che II: Satzlehre, Bd. 1, Hannover – Leipzig ³1898 = Hannover 1976, 484 f. (§ 434, II.2b);
E. Schwyzer / A. Debrunner, Griechische Grammatik II: Syntax und syntaktische Stilistik,
München 1950 = ⁴1975, 453; H. W. Smyth / G. M. Messing, Greek Grammar, Harvard 1984,
375 (§ 1685, 2b). Zur präzisen Unterscheidung von kausalem διά c. gen. und διά c. acc. s.
Kühner / Gerth, ebd., 485 Anm.; Smyth / Messing, ebd. (§ 1685, 2d).
45
Dabei sind vor allem die folgenden Nuancen zu notieren: „auf Veranlassung jemandes“
(Aristophanes, Plut 145; Sap 16,7; Sir 15,11; Arist 292; PGM 13,579), „durch die Schuld je-
mandes“ (Xenophon, An VI 6,23; Demosthenes, Or VI 34; XVIII 49 (διά γ’ ὑμᾶς αὐτούς);
Mensch und Schöpfung nach dem Zeugnis des Römerbriefs 99
Fall so übersetzt werden müssen: „um dessen willen, der sie unterworfen hat“.
Auch dann ist die Deutung auf Gott nicht ausgeschlossen.46 Wahrscheinlicher
aber dürfte es sein, daß die Worte den meinen, der den Anlaß zum ὑποταγῆναι
gegeben hat bzw. die Schuld an dem ὑποταγῆναι trägt. Paulus würde dann
entweder von Adam oder aber von dem Menschen schlechthin sprechen.47 Wie
immer man hier entscheiden mag, so kann doch eines nicht fraglich sein: Der
Apostel nimmt an unserer Stelle auf die alttestamentliche Erzählung vom Sün-
denfall (Gen 3) Bezug, wobei er einer Interpretation der Verse Gen 3,17–19 ver-
pflichtet ist, der wir in Texten des antiken Judentums begegnen.48 Danach hatte
der Fall des ersten Menschen Adam verhängnisvolle Folgen für die ganze außer-
menschliche Schöpfung: Sie wurde durch ihn in das Verderben mit hineinge-
zogen, indem sie ihren paradiesischen Zustand verlor und die Vergänglichkeit als
ihre Signatur empfing.49 Diese Sicht hat ihre Voraussetzung in der Überzeugung,
daß die den Menschen umgebende Schöpfungswelt um des Menschen willen
geschaffen wurde50 und deshalb in einer unlöslichen Schicksalsgemeinschaft
mit ihm verbunden ist.
Auf die Zwischenbemerkung folgen als Abschluß des Satzes τῇ γὰρ ματαιότητι
ἡ κτίσις ὑπετάγη die Worte ἐφ’ ἑλπίδι, für die sich die Übersetzung „nicht ohne
2 Makk 6,25; 7,18; Sir 22,26; 25,24), „durch das Verdienst jemandes“ (Platon, Gorg 515e;
Jdt 11,7; 4 Makk 18,4), „dank jemandes“ (Sophokles, Oed Col 1129; Thukydides, Hist I 41,2;
Aristophanes, Plut 130.160.470; Xenophon, An V 8,13; VII 6,33; 7,7; Cyrop V 2,35; Platon, Gorg
520c; Cratyl 403d; Demosthenes, Or XVIII 49 (διὰ τοὺς πολλούς). 249; XXXII 8; Dionysius
Halicarnassensis, Ant Rom VIII 33,3; Plutarch, Alex 8,4 (668); Amat 13; Aelius Aristides, Or
24,1 (Keil) = 44 (Dindorf); Longus, Daphnis et Chloë II 30,4), „durch die Hilfe / den Beistand
jemandes“ (Lysias, Or XII 58; Xenophon, Mem III 3,15; 3 Makk 6,36). – Die Bedeutung „um
willen“ liegt auch in Joh 6,57 vor: καθὼς ἀπέστειλέν με ὁ ζῶν πατὴρ κἀγὼ ζῶ διὰ τὸν πατέρα,
καὶ ὁ τρώγων με κἀκεῖνος ζήσει δι’ ἐμέ. Gemeint ist: Jesus lebt, weil der Vater lebt, und ebenso
wird der an Jesus Glaubende leben, weil Jesus lebt (zu der zweiten Aussage vgl. Joh 14,19b).
46 So findet sich etwa bei Winer / L ünemann (s. Anm. 44), 373 Anm. 2 die Übersetzung
„um des Unterwerfenden willen“, und die Erklärung lautet dann: „auf den Wink und Befehl
Gottes“. S. ferner z. B. P. Stuhlmacher, Der Brief an die Römer (NTD 6), Göttingen ²(¹⁵)1998,
120.122.
47
Zur Deutung auf Adam s. etwa H. Schlier, Der Römerbrief (HThK VI), Freiburg –
Basel – Wien 1977, 261; Weder, Geistreiches Seufzen (s. Anm. 1), 250 mit Anm. 9. Die Deu-
tung auf den Menschen vertritt bereits Johannes Chrysostomus, In Epistolam ad Romanos
Homiliae XIV 5, zu Röm 8,20 (s. Anm. 40); s. ferner etwa Th. Zahn, Der Brief des Paulus an
die Römer (KNT 6), Leipzig ¹.²1910, 402; A. Jülicher, Der Brief an die Römer (in: SNT 2),
Göttingen ³1917, 284; Balz, Heilsvertrauen und Welterfahrung (s. Anm. 1), 41; D. Zeller, Der
Brief an die Römer (RNT), Regensburg 1984, 149.162.
48
4 Esr 7,11 f.; syrBar 56,5 f.; LibAnt 37,3; GenR 12,5 zu 2,4; s. auch Jub 3,25.
49 Vgl. dazu W. Harnisch, Verhängnis und Verheißung der Geschichte. Untersuchungen
zum Zeit- und Geschichtsverständnis im 4. Buch Esra und in der syr. Baruchapokalypse
(FRLANT 97), Göttingen 1969, 106–120.
50
S. dazu 4 Esr 8,1.44; syrBar 14,17 f. und vgl. auch die rabbinischen Aussagen bei P. Biller
beck, Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch III, München 1926 = ²1954,
249 f. unter d.
100 Mensch und Schöpfung nach dem Zeugnis des Römerbriefs
Hoffnung“ empfiehlt.51 Die Unterwerfung unter die Vergänglichkeit ist, wie da-
durch betont wird, keineswegs ein definitives Geschehen, sondern es gibt für die
Schöpfung objektiv eine „Hoffnung“.52 Daß diese Hoffnung – nicht anders als
die dann in V. 24 erwähnte Hoffnung der Glaubenden – im Christusgeschehen
ihr Fundament hat, ergibt sich aus V. 21, der die Worte ἐφ’ ἑλπίδι begründet und
erläutert.53 Auch hier muß ich zunächst den griechischen Text zitieren und ihn
durch einige sprachliche Hinweise erläutern. Paulus schreibt: ὅτι καὶ αὐτὴ ἡ
κτίσις ἐλευθερωθήσεται ἀπὸ τῆς δουλείας τῆς φθορᾶς εἰς τὴν ἐλευθερίαν τῆς
δόξης τῶν τέκνων τοῦ θεοῦ. Die sprachliche Schwierigkeit des Satzes liegt in
den beiden Syntagmata ἡ δουλεία τῆς φθορᾶς und ἡ ἐλευθερία τῆς δόξης τῶν
τέκνων τοῦ θεοῦ, die einer genauen Bestimmung bedürfen. Da das Syntagma
ἡ δουλεία τῆς φθορᾶς den Worten τῇ ματαιότητι ὑπετάγη von V. 20 korrespon-
diert, dient der Genitiv τῆς φθορᾶς der näheren qualitativen Kennzeichnung der
δουλεία,54 und das Syntagma bezeichnet demzufolge „die Versklavung unter die
Vergänglichkeit“. Was dann die Worte ἡ ἐλευθερία τῆς δόξης τῶν τέκνων τοῦ
θεοῦ betrifft, so ist ἡ ἐλευθερία Gegenbegriff zu ἡ δουλεία und entsprechend ἡ
δόξα τῶν τέκνων τοῦ θεοῦ Gegenbegriff zu ἡ φθορά. Von daher liegt es nahe,
in der Genitivverbindung τῆς δόξης τῶν τέκνων τοῦ θεοῦ eine nähere Kenn-
zeichnung der ἐλευθερία zu erblicken und den gesamten Ausdruck ἡ ἐλευθερία
τῆς δόξης τῶν τέκνων τοῦ θεοῦ auf die „Freiheit“ von der Vergänglichkeit zu
deuten, „die mit der Herrlichkeit der Kinder Gottes gegeben sein wird“.55 Auf-
grund der sprachlichen Erwägungen kann V. 21 dann etwa folgendermaßen wie-
dergegeben werden: „Denn auch die Schöpfung selbst wird befreit werden von
der Versklavung unter die Vergänglichkeit [und so] zu der Freiheit [gelangen],
die den Kindern Gottes mit der Herrlichkeit zuteil werden wird.“ Liest man den
Vers so, dann ist der Gedanke nicht der, daß die außermenschliche Schöpfung
an der Herrlichkeit der Kinder Gottes Anteil haben wird, sondern Paulus betont,
daß die Schöpfung in dem Augenblick von der „Versklavung unter die Vergäng-
51
Zutreffend Zahn, Der Brief des Paulus an die Römer (s. Anm. 47), 403: „unter Vor-
handensein von Hoffnung“.
52
Vgl. dazu Hi 14,7a LXX: ἔστιν δένδρῳ ἐλπίς „für einen Baum gibt es Hoffnung“.
53
Die am Anfang des V. 21 stehende Konjunktion ὅτι hat nicht explikative („daß“), sondern
kausale Bedeutung („denn“; vgl. dazu Blass / Debrunner / Rehkopf, Grammatik § 456,1;
Bauer / Aland, Wörterbuch⁶, 1193 s. v. ὅτι 3.b). Der Vers gibt also nicht den Inhalt der in
V. 20 erwähnten Hoffnung an, er begründet vielmehr das ἐφ’ ἑλπίδι von V. 20. Der richtigen
Erkenntnis, daß es sich um ein kausales ὅτι handelt, verdankt sich die sekundäre Lesart διότι
( אD* F G 945).
54 Der Genitiv τῆς φθορᾶς ist also nicht ein Genitivus epexegeticus zu δουλεία, was bedeuten
würde, daß die δουλεία der Schöpfung in der „Vergänglichkeit“ besteht. Zur Fülle der Möglich-
keiten des qualifizierenden Genitivgebrauchs s. Kühner / Gerth, Ausführliche Grammatik
der griechischen Sprache II/1 (s. Anm. 44), 335 f. (§ 414,4).
55
Vgl. die Übersetzung von H. Menge, Das Neue Testament, Stuttgart ¹¹1949, 241: Die
Schöpfung wird befreit werden „zur (Teilnahme an der) Freiheit, welche die Kinder Gottes im
Stande der Verherrlichung besitzen werden“. Ebensowenig wie τῆς φθορᾶς ist auch τῆς δόξης
ein Genitivus epexegeticus.
Mensch und Schöpfung nach dem Zeugnis des Römerbriefs 101
lichkeit“ befreit werden wird, in dem die Kinder Gottes die δόξα und mit ihr die
Freiheit von der sie jetzt noch zeichnenden Sterblichkeit empfangen.
In V. 22 schlägt Paulus den Bogen zu V. 19 zurück: „Wir wissen also, daß die
ganze Schöpfung insgesamt seufzt und in Wehen liegt bis zu dieser Stunde.“56
Da von den Glaubenden erst in dem dann folgenden Satz (V. 23) die Rede sein
wird, kann die Aussage des V. 22 nicht die sein, daß die Schöpfung zusammen
mit ihnen „seufzt und in Wehen liegt“. Das Präfix συν- in den beiden Verben
συστενάζειν und συνωδίνειν hebt vielmehr im Sinn des Adverbs συμφώνως57
darauf ab, daß die gesamte außermenschliche Schöpfung in allen Bereichen
sehnsüchtig ihrer Befreiung entgegendrängt und mit Schmerzen ihrer Erneue-
rung harrt – und zwar deshalb, weil Gott ihr ein Ende des Todesverhängnisses
bestimmt hat. Daß es so mit der Schöpfung steht, das ist allerdings nicht ein-
fach an ihr selbst abzulesen, ist deshalb auch nicht eine jedermann zugäng-
liche Erkenntnis. Allein der Glaube „weiß“ darum – in jenem Wissen, das Gott
den Glaubenden durch seinen Geist schenkt.58 Das Wissen aber, das der Geist
schenkt, ist allemal die Erkenntnis dessen, was im Christusgeschehen grund-
gelegt ist.
Mit V. 23 richtet Paulus den Blick wieder ganz auf die Glaubenden. Den
Übergang markiert die Ellipse οὐ μόνον δέ,59 die besagt, daß sich nicht nur
die Schöpfung unter Seufzen nach ihrer Befreiung sehnt. „Sondern“ – so fährt
Paulus fort – „auch wir selbst, die wir den Geist als Erstlingsgabe besitzen,
auch wir selbst seufzen in unserem Innern, da wir die Kindschaft erwarten, [das
heißt:] die Erlösung unseres Leibes.“60 Mit diesen Worten wird aufgenommen,
was bereits in Röm 8,15–17 gesagt war: Als solche, die den Heiligen Geist emp-
fangen haben, wissen die Glaubenden, daß sie „Kinder“ Gottes und somit auch
„Erben“ der zukünftigen Herrlichkeit sind. Eben deshalb strecken sie sich in
sehnsüchtiger Erwartung nach der „Kindschaft“ aus61 – danach also, daß sie
die δόξα empfangen und damit sichtbar als Kinder Gottes offenbar werden.62
Im Blick auf dieses „Offenbarwerden“ spricht Paulus von der „Erlösung des
56 οἴδαμεν γὰρ ὅτι πᾶσα ἡ κτίσις συστενάζει καὶ συνωδίνει ἄχρι τοῦ νῦν. – Zu folgerndem
ἑαυτοῖς στενάζομεν υἱοθεσίαν ἀπεκδεχόμενοι, τὴν ἀπολύτρωσιν τοῦ σώματος ἡμῶν. – In dem
Ausdruck ἡ ἀπαρχὴ τοῦ πνεύματος ist τοῦ πνεύματος ein Genitivus appositivus, nicht dagegen
ein Genitivus partitivus.
61
Der Sinn ist also nicht: Obwohl die Glaubenden den Geist als Erstlingsgabe besitzen,
seufzen sie in der Erwartung der noch zukünftigen δόξα.
62
Der Ausdruck υἱοθεσία steht in V. 23 metonymisch für ἡ ἀποκάλυψις τῆς υἱοθεσίας und
entspricht dem in V. 19 begegnenden Ausdruck ἡ ἀποκάλυψις τῶν υἱῶν τοῦ θεοῦ.
102 Mensch und Schöpfung nach dem Zeugnis des Römerbriefs
Leibes“.63 Gemeint ist – den Aussagen von Röm 8,10 f. entsprechend – die Ver-
wandlung bzw. Umgestaltung des noch sterblichen Leibes in den neuen, nicht
mehr vom Tod gezeichneten Leib.64 Die sehnsüchtige Erwartung der Glauben-
den gilt also der Auferstehung der Toten als dem definitiven Ende der Todes-
herrschaft. Auf das Fundament dieser Erwartung verweist Paulus in V. 24a: τῇ
γὰρ ἐλπίδι ἐσώθημεν – „Denn zu solcher Hoffnung sind wir gerettet worden.“
Das Passivum divinum ἐσώθημεν bezieht sich auf die „in Christus Jesus ge-
schehene Erlösung“ (Röm 3,24), und τῇ ἐλπίδι dürfte als ein Dativus finalis
zu lesen sein.65 Die Worte τῇ γὰρ ἐλπίδι ἐσώθημεν besagen demnach, daß die
Hoffnung auf die „Erlösung des Leibes“ eine wesentliche Konsequenz der im
Christusgeschehen erfolgten Rettung ist und daß sie in ihm ihren festen Grund
hat. V. 24b führt den Gedanken weiter: „Hoffnung aber, deren Gegenstand man
sieht, ist nicht Hoffnung; denn wer hofft auf das, was er sieht?“66 Hoffnung – so
wird hier gesagt – ist ihrem Wesen nach auf Unsichtbares bezogen. Was das für
die Hoffnung der an Christus Glaubenden bedeutet, bringt V. 25 zum Ausdruck:
„Wenn wir aber (sc. wie es der Fall ist) auf das hoffen, was wir nicht sehen, dann
erwarten wir es in Geduld.“67 Paulus weiß sehr nüchtern, daß die Hoffnung auf
die zukünftige Herrlichkeit keinen Anhalt an der sichtbaren und gegenwärtig
erfahrbaren Wirklichkeit hat. Da aber der Gegenstand der Hoffnung im Christus-
geschehen begründet und durch das Zeugnis des Geistes Gottes zuverlässig
verbürgt ist, gilt dem Apostel die Ausrichtung auf das Unsichtbare gerade nicht
als etwas Problematisches, sondern im Gegenteil als etwas in jeder Hinsicht
Positives. V. 25 kann deshalb nicht besagen: Weil die Glaubenden die erhoffte
zukünftige Herrlichkeit noch nicht sehen, deshalb bleibt ihnen nur das geduldige
Warten. Der Sinn ist vielmehr: Weil sich die Hoffnung der Glaubenden auf das
Unsichtbare richtet, auf das allein ihre Hoffnung mit Grund bezogen sein kann,
gerade deshalb strecken sie sich in geduldigem Ausharren nach der Zukunft
63 Der Genitiv τοῦ σώματος V. 23b ist ein Genitivus objectivus, nicht dagegen ein Genitivus
separationis; die Worte ἡ ἀπολύτρωσις τοῦ σώματος meinen also nicht „die Erlösung von dem
Leib“.
64
Vgl. zur Erwartung einer neuen Leiblichkeit 1 Kor 15,35–57; 2 Kor 5,1–5; Phil 3,20 f. und
auch Röm 8,29. In 2 Kor 5,2.4 begegnet wie in Röm 8,23 das Motiv des στενάζειν.
65
So mit Recht E. Fuchs, Die Freiheit des Glaubens. Römer 5–8 ausgelegt (BEvTh 14),
München 1949, 110; s. auch die Übersetzung von τῇ γὰρ ἐλπίδι ἐσώθημεν bei A. Jülicher,
Der Brief an die Römer (s. Anm. 47), 283: „Hoffnung ist das Ziel unsrer Erlösung.“ Zum fi-
nalen Dativ vgl. bei Paulus Gal 5,1: τῇ ἐλευθερίᾳ ἡμᾶς Χριστὸς ἠλευθέρωσεν = „damit wir die
Freiheit haben, hat Christus uns [sc. durch seinen Tod] frei gemacht“.
66 ἐλπὶς δὲ βλεπομένη οὐκ ἔστιν ἐλπίς· ὃ γὰρ βλέπει τίς ἐλπίζει; – Die von 𝔓⁴⁶ B* und ande-
ren Zeugen gebotene Frage ὃ γὰρ βλέπει τίς ἐλπίζει; dürfte die ursprüngliche Lesart darstellen.
Die von א² A C Ψ 33 𝔐 u. a. bezeugte sekundäre Fassung lautet: ὃ γὰρ βλέπει τις, τί καὶ ἐλπίζει;
„denn wozu sollte einer auf das hoffen, was er sieht?“ (καὶ unterstreicht das Fragepronomen τί).
67
εἰ δὲ ὃ οὐ βλέπομεν ἐλπίζομεν, δι’ ὑπομονῆς ἀπεκδεχόμεθα. – Die durch εἰ δέ eingeleitete
Protasis benennt (wie in Röm 6,8a) die reale Voraussetzung. Damit gewinnt der Bedingungssatz
kausalen Sinn. Zu der Möglichkeit einer kausalen Nuance bei Bedingungssätzen mit εἰ c. Ind.
s. Blass / Debrunner / Rehkopf, Grammatik § 372,1.
Mensch und Schöpfung nach dem Zeugnis des Römerbriefs 103
aus, die ihnen im Christusgeschehen eröffnet worden ist. Ihre beharrliche und
angespannte Erwartung entspricht damit der ἀποκαραδοκία der Schöpfung, die
Paulus in V. 19 beschrieben hat.
III
68 Ethische Konsequenzen für das Verhalten der Christen gegenüber der sie umgebenden
Schöpfungswelt und hier insbesondere gegenüber den Tieren hat Paulus selbst schwerlich im
Blick. Dennoch wird die systematisch-theologische Reflexion über unseren Text solche Kon-
sequenzen zu bedenken und zu beschreiben haben. Ich verweise dazu insbesondere auf den in
Anm. 1 genannten Aufsatz von E. Gräßer.
69
So bereits zutreffend Johannes Chrysostomus, In Epistolam ad Romanos Homiliae XIV 5,
zu Röm 8,19 (PG 60, 529): ἵνα τῶν μελλόντων ἀγαθῶν ἐνδείξηται τὴν ὑπερβολήν.
104 Mensch und Schöpfung nach dem Zeugnis des Römerbriefs
die „Leiden dieser Zeit“ in keinem Verhältnis stehen zu der zukünftigen Herr-
lichkeit und deshalb – aus der Perspektive der auf diese Zukunft ausgerichteten
Hoffnung gesehen – ihr gegenüber nicht ins Gewicht fallen.
Diese Feststellung muß nun aber noch durch eine weitere Überlegung vertieft
werden. Alles, was in Römer 8 gesagt wird, ist im Licht des Christusgeschehens
und mit dem Blick auf das in ihm eröffnete Heil gesagt.70 Das Kapitel beginnt
ja keineswegs zufällig mit der solennen Erklärung, daß aufgrund des Sühne-
todes Jesu Christi die zu ihm gehörenden Menschen von dem auf der Mensch-
heit lastenden Sünde-Tod-Zusammenhang befreit worden sind (V. 1–4), und es
schließt auch nicht zufällig mit dem betonten Hinweis auf die Liebe, die Gott den
Glaubenden im Christusgeschehen erwiesen hat (V. 39). Im einzelnen berühren
sich die Gedanken des 8. Kapitels des öfteren mit dem, was Paulus im 5. Kapitel
des Briefes dargelegt hat. Dort nun wird innerhalb des Abschnitts 5,12–21 eines
mehrfach mit besonderem Nachdruck herausgestellt: Dem Unheil, das durch
die Sünde Adams angerichtet wurde, steht in unvergleichlicher Überlegenheit
das Heil gegenüber, das durch den Tod und die Auferstehung Jesu Christi be-
wirkt worden ist.71 Während Adams Fall für die ganze von ihm herkommende
Menschheit den Sünde-Tod-Zusammenhang zur Folge hatte, bringt Christi
Heilstat die Aufhebung dieses Zusammenhangs – und zwar in der Weise, daß
die zu Christus Gehörenden mit dem ewigen Leben eine Herrlichkeit empfangen
werden, die niemals mehr durch Sünde und Tod bedroht sein wird. Die unver-
gleichliche Überlegenheit des Christusgeschehens liegt demnach darin, daß in
seiner Kraft definitiv das überwunden wird, was dem Schöpfungswillen Gottes
entgegensteht. Um genau diese Überlegenheit geht es letztlich auch in Römer
8. In Ergänzung zu dem in Römer 5 Gesagten schließt Paulus jetzt über die ada-
mitische Menschheit hinaus die ganze um des Menschen willen geschaffene und
ihm als Lebensraum bereitete Schöpfung in die Betrachtung mit ein. Auch an ihr
wird sich die Übermacht des Christusgeschehens erweisen – nämlich in der end-
gültigen Befreiung von der sie noch zeichnenden Vergänglichkeit. Die Aussagen
von Römer 5 und von Römer 8 sind so Ausdruck ein und derselben Gewißheit:
Wo die Sünde in ihrer unerhörten, weil Gottes Schöpfungswillen negierenden
Macht auf den Plan getreten ist, da hat und behält der Schöpfer das letzte Wort,
der das Werk seiner Hände nicht preisgibt. Sein Heilshandeln in Jesus Christus
bricht die alles vergiftende und zerstörende Macht des Todes – und dies sowohl
in der gesamten Menschenwelt (Röm 5) wie auch in der ganzen den Menschen
umgebenden Schöpfungswelt (Röm 8). So ist im Christusgeschehen in univer-
saler Weite der Sieg des Lebens über den Tod begründet, und in diesem Sieg
kommt Gottes Schöpfungswille zu seinem Ziel.
70
S. die ausdrücklichen Bezugnahmen auf das Christusgeschehen in Röm 8,1–4.11.24a.32.34.
71
Röm 5,15–17 und 5,20b.21.
„Fides ex auditu“
Verkündigung und Glaube nach Römer 10,4–17
Die Darlegungen von Röm 10 gliedern sich nach meinem Urteil im Großen in
die drei Abschnitte 10,1–3, 10,4–17 und 10,18–21. Der für das Textverständnis
höchst relevante V. 4 darf demnach nicht von V. 5–17 getrennt und unmittelbar
mit V. 1–3 verbunden werden,3 und die Verse 14–17 bilden keineswegs eine
feste Einheit mit V. 18–21, so daß zwischen V. 13 und V. 14 eine stärkere Zäsur
zu setzen wäre.4 Während Paulus sich in V. 1–3 und dann wieder in V. 18–215
1 Bestimmte Aspekte habe ich bereits in einer älteren Arbeit erörtert: O. Hofius, Wort Gottes
und Glaube bei Paulus, in: Ders., Paulusstudien (WUNT 51), Tübingen ²1994, 148–174. Das dort
Gesagte suche ich jetzt in einer Gesamtbetrachtung des Abschnitts Röm 10,4–17 weiterzuführen,
zu vertiefen und zu präzisieren. Da der begrenzte Umfang des Aufsatzes eine detaillierte Dis-
kussion mit der Sekundärliteratur nicht erlaubt, erfolgt die Auseinandersetzung mit anderen
Deutungen des Textes im wesentlichen implizit.
2
Zu meinem Verständnis von Röm 9–11 insgesamt s. O. Hofius, Das Evangelium und Israel.
Erwägungen zu Römer 9–11, in: Ders., Paulusstudien (s. Anm. 1), 175–202; Ders., Zur Aus-
legung von Römer 9,30–33, in: Ders., Paulusstudien II (WUNT 143), Tübingen 2002, 155–166.
3
Gegen Nestle / Aland, Novum Testamentum Graece²⁷ und nicht wenige Ausleger. – Die
Zugehörigkeit des V. 4 zu V. 5–17 zeigt sich formal wie inhaltlich in der Aufnahme des Be-
griffs νόμος durch Μωϋσῆς V. 5 und in dem durchgehenden Rekurs auf die Worte παντὶ τῷ
πιστεύοντι: s. πᾶς ὁ πιστεύων V. 11 sowie ferner πᾶς V. 12 f. und πιστεύειν V. 9 f.14.16 / πίστις
V. 6.8.17.
4 Gegen Nestle / Aland, Novum Testamentum Graece²⁷ und die Mehrheit der Kommentare. –
Nur selten werden die Verse 14+15 noch zum Vorhergehenden und die Verse 16+17 dann zum
Folgenden gerechnet; so z. B. R. A. Lipsius, Briefe an die Galater, Römer, Philipper (HC 2)
Freiburg 1891, 154 f.; H. Lietzmann, An die Römer (HNT 8), Tübingen ³1928 = ⁵1971, 94.
5
Der Abschnitt 10,18–21 wird durch ein – in V. 19 noch einmal wiederholtes – ἀλλὰ λέγω
eingeleitet. Zum Beginn eines neuen Abschnitts mit ἀλλά s. Röm 5,15; 1 Kor 15,35; 2 Kor 8,7;
Gal 4,8; Phil 1,18b, und zu dem argumentativen λέγω vgl. Röm 11,1.11.13.
106 „Fides ex auditu“
gezielt zu dem Problem äußert, das mit der Ablehnung des Evangeliums durch
die überwältigende Mehrheit Israels gegeben ist, handelt es sich in V. 4–17 um
eine grundsätzliche theologische Erörterung. So sehr diese durch das Israel-
Problem veranlaßt ist und es – wie insbesondere V. 16 zeigt – durchaus mit im
Blick hat, so sehr greift sie doch weit darüber hinaus. Sie ist von fundamentaler
Bedeutung für die paulinische Theologie überhaupt, weshalb J. Schniewind das
zehnte Kapitel des Römerbriefs mit gutem Grund als „das Wort-Gottes-Kapitel
κατ’ ἐξοχήν“ bezeichnet hat.6
Was nun die Ausführungen von Röm 10,4–17 anlangt, so läßt sich die fol-
gende Argumentationsstruktur wahrnehmen: Der Abschnitt wird in V. 4 durch
die Feststellung eröffnet: τέλος γὰρ νόμου Χριστὸς εἰς δικαιοσύνην παντὶ τῷ
πιστεύοντι – „Denn Christus ist das Ende des Gesetzes – zur Gerechtigkeit (d. h.
zum Heil) für jeden Glaubenden.“7 Diese Feststellung, die durch das in Röm
9,30–10,3 Gesagte und vor allem durch die in 10,3 erscheinende Opposition
von δικαιοσύνη τοῦ θεοῦ und ἰδία δικαιοσύνη veranlaßt ist, wird sodann in den
Versen 5–17 unter ständiger Bezugnahme auf das Zeugnis der Heiligen Schrift
Israels entfaltet und erläutert.8
II
Suchen wir nunmehr den Gedankengang von Röm 10,4–17 im einzelnen nach-
zuzeichnen, so ist zunächst der den Abschnitt eröffnende und in der Exegese
lebhaft umstrittene V. 4 zu bedenken.9 In ihm erscheint der für die paulinische
Rechtfertigungslehre zentrale Begriff der δικαιοσύνη, der das Heil bezeichnet.10
An unserer Stelle ist genauer noch die heilvolle, weil intakte Gottesbeziehung
gemeint, die einen Menschen schon jetzt in seinem Sein vor Gott bestimmt und
in der Zukunft die eschatologische Rettung, d. h. die Teilhabe am ewigen Leben
zur Folge hat.11 In den ersten acht Kapiteln des Römerbriefs hat Paulus darge-
legt, daß diese heilvolle Gottesbeziehung grundsätzlich nicht durch die gehor-
6
J. Schniewind, Die Begriffe Wort und Evangelium bei Paulus, Bonn 1910, 55.
7
Zur Begründung der Übersetzung, die Χριστός als Subjekt und τέλος νόμου als Prädikats-
nomen begreift, s. O. Hofius, Zu Römer 10,4: τέλος γὰρ νόμου Χριστός, in: Ders., Exegetische
Studien (WUNT 223), Tübingen 2008, 95–101.
8
Die einzelnen Schriftworte, die Paulus entweder wörtlich oder in freier Wiedergabe nach
der Septuaginta zitiert, werden im Folgenden jeweils durch Kursivdruck kenntlich gemacht.
9 Zur näheren Begründung meiner Interpretation s. außer dem in Anm. 7 genannten Auf-
satz die folgenden Arbeiten: Das Gesetz des Mose und das Gesetz Christi, in: Paulusstudien
(s. Anm. 1), 50–74: 63–66; Gesetz und Evangelium nach 2. Korinther 3, ebd., 75–120: 110 f.
Anm. 217.
10
S. dazu O. Hofius, „Rechtfertigung des Gottlosen“ als Thema biblischer Theologie, in:
Ders., Paulusstudien (s. Anm. 1), 121–147: 125 f.
11
Vgl. zu dieser Nuance des absolut gebrauchten Begriffs [ἡ] δικαιοσύνη etwa Röm 4,3.5 f.;
5,17.21; 9,30 f.; 10,10; 1 Kor 1,30; Gal 2,21; 3,6.21; 5,5.
„Fides ex auditu“ 107
same Befolgung der Tora vom Sinai erworben, sondern einzig und allein als eine
von Gott unverdient gewährte Gabe empfangen werden kann. Die Möglichkeit
einer durch Toragehorsam gewonnenen heilvollen Gottesbeziehung, die demge-
mäß eine ἐκ νόμου δικαιοσύνη12 und eine ἰδία δικαιοσύνη13 wäre, verneint der
Apostel deshalb, weil nach seinem Urteil ausnahmslos alle Menschen – Juden
wie Heiden – von Adam her unter der Macht der Sünde stehen und als solche
zu dem von der Tora geforderten Gehorsam gegenüber Gott und seinem Willen
gänzlich unfähig sind.14 Dem Sünder, Gottlosen und Feind Gottes15 kann die
Tora kein Heil eröffnen, sondern sie kann ihn nur verklagen und unter das ver-
diente Gerichtsurteil Gottes stellen.16 Es ist die Tat der freien Gnade Gottes, daß
er sich dem vor der Tora verlorenen Menschen in seiner göttlichen Heilsmacht
heilschaffend zugewendet und ihm das Heil als eine von ihm, dem Geber, nicht
zu trennende Gabe bereitet hat und gewährt.17 Diese ἐκ θεοῦ δικαιοσύνη18 liegt
in der Heilstat des Todes und der Auferstehung Jesu Christi beschlossen, sie wird
im Evangelium als dem Heilswort Gottes bzw. Jesu Christi kundgegeben und
zugeeignet, und sie wird in dem durch das Evangelium gewirkten Glauben an
Jesus Christus und somit als ἐκ πίστεως δικαιοσύνη empfangen.19
Auf dem Hintergrund der skizzierten Sicht wollen die Aussagen von Röm
9,30–10,3 und somit auch die Verse Röm 10,2 f. verstanden sein. Paulus be-
zeugt den nicht an Christus glaubenden Juden in V. 2, daß sie „Eifer für Gott“
haben – und das heißt: daß sie mit ganzem Ernst nach dem Heil der intakten
Gottesbeziehung trachten. Die sogleich hinzugefügte Einschränkung ἀλλ’ οὐ
κατ’ ἐπίγνωσιν wird in V. 3 präzisiert: Sie erkennen nicht, daß Gott das Heil
im Christusgeschehen bereitet hat und daß es nur im Glauben an Christus als
seine Gabe empfangen werden kann, und suchen statt dessen das Heil auf dem
Weg des Toragehorsams als ἰδία δικαιοσύνη zu gewinnen und zu bewahren.20
12 Röm 10,5; Phil 3,9; auch Gal 3,21. Vgl. syrBar 67,6: zdjqwt’ dmn nmws’.
13 Röm 10,3. Der Ausdruck ἰδία δικαιοσύνη meint genau das, was Paulus in Phil 3,9 ἐμὴ
δικαιοσύνη ἡ ἐκ νόμου nennt: das heilvolle Gottesverhältnis dessen, der im Sinne von Röm
2,13 ein „Täter der Tora“ ist. Den negativen Klang, den nicht wenige Ausleger unterstellen, hat
der Ausdruck m. E. nicht.
14
S. neben Röm 1,18–3,20 vor allem auch Röm 5,12–21; 7,7–25a; 8,6–8.
15 So die Kennzeichnung des von Adam herkommenden Menschen in Röm 5,6.8.10.
16
Zur Begründung im einzelnen s. O. Hofius, „Werke des Gesetzes“. Untersuchungen zur
paulinischen Rede von den ἔργα νόμου, in: Ders., Exegetische Studien (s. Anm. 7), 49–88:
64–77.
17
S. besonders Röm 1,16 f.; 3,21–30; 4,23–25; 5,1–11; 5,15–19.21; 8,9–11.28–30.31–39.
18
So Phil 3,9. Um den Aspekt des ἐκ θεοῦ und um die durch Gottes heilsmächtige Zu-
wendung konstituierte heilvolle Relation zu ihm geht es wesentlich auch da, wo Paulus von der
δικαιοσύνη [τοῦ] θεοῦ spricht: Röm 1,17; 3,21 f.25 f.; Röm 10,3; 2 Kor 5,21.
19
Der Begriff der ἐκ πίστεως δικαιοσύνη begegnet Röm 9,30; 10,6; s. daneben auch
[ἡ] δικαιοσύνη [τῆς] πίστεως Röm 4,11a.13 und δικαιοσύνη διὰ πίστεως Röm 3,22; Phil 3,9.
20
Vgl. Röm 9,32a: Israel sucht das Heil οὐκ ἐκ πίστεως ἀλλ’ ὡς ἐξ ἔργων.
108 „Fides ex auditu“
Eben deshalb haben sie der δικαιοσύνη τοῦ θεοῦ die gehorsame Anerkennung
verweigert.21
Der Begründung und Erläuterung von V. 2 f. dient der Satz V. 4. Paulus wie-
derholt mit den Worten τέλος […] νόμου Χριστὸς εἰς δικαιοσύνην παντὶ τῷ
πιστεύοντι noch einmal in gedrängter Zusammenfassung, was er in Röm 3,21–
26 – im Anschluß an Röm 1,18–3,20! – ausführlicher dargelegt hat: Während die
Tora vom Sinai niemandem das Heil zu eröffnen vermag, sondern alle Menschen
unter das verdiente Todesurteil stellt, hat Gott den vor der Tora Verlorenen
in Christus das Heil bereitet, das einem jeden – er sei Jude oder Heide – διὰ
πίστεως Ἰησοῦ Χριστοῦ (3,22) zuteil wird.22 Χριστός als Subjekt des V. 4 meint
dementsprechend, wie dann durch Röm 10,6–10 bestätigt wird, den Mensch
gewordenen, gekreuzigten und auferstandenen Christus, der das in der Tora zu
Recht über den Sünder ausgesprochene Todesurteil am Kreuz auf sich selbst
genommen hat;23 und daß er das τέλος νόμου ist, das bedeutet mithin, daß der
den Sünder verklagende und verurteilende νόμος im Christusgeschehen sein
„Ende“ gefunden hat – daß er hier zum Verstummen gebracht ist.24 Damit ist der
Bezug zu V. 2 f. deutlich: Das Bemühen um die ἰδία δικαιοσύνη ist deshalb ein
Eifer um Gott οὐ κατ’ ἐπίγνωσιν, weil hier beides nicht wahrgenommen wird: die
Heillosigkeit vor der richtenden Tora Gottes und die Bereitung und Gewährung
des Heils in dem rettenden Christusgeschehen.
III
Die Aussage von Röm 10,4 wird in den Versen Röm 10,5–17 entfaltet und erläu-
tert – und zwar unter Aufnahme dessen, was in der Formulierung des Römerbrief-
Themas Röm 1,16 f. über das εὐαγγέλιον gesagt war: δύναμις […] θεοῦ ἐστιν εἰς
σωτηρίαν παντὶ τῷ πιστεύοντι, Ἰουδαίῳ τε πρῶτον καὶ Ἕλληνι. δικαιοσύνη γὰρ
θεοῦ ἐν αὐτῷ ἀποκαλύπτεται ἐκ πίστεως εἰς πίστιν. Diese Worte sind im Römer-
21
Dem οὐχ ὑπετάγησαν entspricht die Kennzeichnung als λαὸς ἀπειθῶν καὶ ἀντιλέγων
in Röm 10,21. Die in der Exegese verbreite Meinung, daß Paulus in Röm 10,2 f. im Ton der
Anklage von der Schuld der Juden rede und den Vorwurf erhebe, daß sie trotz der ihnen offen-
stehenden Möglichkeit des Glaubens das Evangelium ablehnen, vermag ich nicht für richtig zu
halten. Der Grund für das οὐχ ὑπετάγησαν liegt V. 3 zufolge im ἀγνοεῖν. Die Erkenntnis des
Heils aber ist nach Paulus die Gabe, mit der Gott selbst den Glauben wirkt (vgl. 1 Kor 1,18–2,16;
2 Kor 2,14; 4,6).
22 Daß Röm 10,4 eine sachliche Parallele zu dem darstellt, was in Röm 3,21–26 über die
im Christusgeschehen „offenbar“ gewordene δικαιοσύνη gesagt wird, zeigen nicht zuletzt die
folgenden Entsprechungen: τέλος νόμου 10,4 / χωρὶς νόμου 3,21; παντὶ τῷ πιστεύοντι 10,4 / εἰς
πάντας τοὺς πιστεύοντας 3,22.
23
S. dazu Röm 8,1–4 sowie Gal 3,10–14; 4,4 f.
24
C. L. W. Grimm, Lexicon Graeco-Latinum in libros Novi Testamenti, Gießen ⁴1888, 430b
s. v. τέλος 1.a bemerkt zutreffend: Als Prädikat zu Χριστός bedeutet τέλος soviel wie is qui finem
affert, und der Sinn der Worte τέλος νόμου Χριστός ist deshalb: finem legi attulit Christus.
„Fides ex auditu“ 109
brief zuvor zwar hinsichtlich der näheren Bestimmung von δικαιοσύνη θεοῦ und
πίστις, nicht aber unter dem Aspekt der Verkündigung expliziert worden.25 Das
geschieht erst jetzt im Anschluß an die apodiktische Aussage von Röm 10,4, weil
Paulus erklären will und muß, wie es zu dem Glauben kommt, von dem in Röm
1,16 f. und dann von Röm 3,21 an die Rede war. Die Verse Röm 10,5–17, deren
besonderes theologisches Gewicht damit sichtbar wird, lassen sich aufgrund
sprachlicher und gedanklicher Indizien in die beiden Teile V. 5–8 und V. 9–17
untergliedern.
1. Röm 10,5–8
Die Verse 5–8 nehmen die in V. 3 angesprochene Opposition von ἰδία δικαιοσύνη
und δικαιοσύνη τοῦ θεοῦ auf, indem sie der mit der ἰδία δικαιοσύνη identi-
schen δικαιοσύνη ἡ ἐκ [τοῦ] νόμου (V. 5) in einer klaren Antithese die mit der
δικαιοσύνη τοῦ θεοῦ identische ἐκ πίστεως δικαιοσύνη (V. 6–8) gegenüber-
stellen. Was von der einen und der anderen δικαιοσύνη gilt, wird dabei jeweils
anhand eines Schriftzitats aufgezeigt.
V. 5 erläutert unter Hinweis auf Lev 18,5 das in V. 4 vorausgesetzte Urteil, daß
es für keinen Menschen eine δικαιοσύνη ἐκ [τοῦ] νόμου gibt: „Mose nämlich
schreibt von dem Heil, das aus der Tora [erlangt wird]: ‚Wer sie (sc. alle An-
ordnungen und Rechtsbestimmungen) getan hat, wird durch sie (d. h. durch
ihre Befolgung) das Leben haben‘.“26 Nach der Überzeugung des Apostels gibt
Mose als Repräsentant der Tora vom Sinai27 mit den Worten von Lev 18,5
„eine Beschreibung, ja eine Definition der δικαιοσύνη ἐκ νόμου“.28 Die Lebens-
zusage deutet Paulus dabei in Übereinstimmung mit manchen frühjüdischen
25
Diese Beobachtung wird nicht dadurch relativiert, daß Aussagen wie Röm 5,1 f.5b.11b.17b;
9,1–5.30–33 das Faktum der ergangenen Evangeliumspredigt voraussetzen und Paulus mit den
Worten τύπος διδαχῆς Röm 6,17 auf das Evangelium hinweisen dürfte. Als kennzeichnend
dafür, daß die Verkündigung des Evangeliums vor Röm 10 kein eigenes Thema ist, kann der
folgende terminologische Befund gelten: εὐαγγέλιον (1,1.9.16) begegnet – von der knappen No-
tiz in 2,16 abgesehen – erst wieder in 10,16 (danach noch in 11,28; 15,16.19) und εὐαγγελίζεσθαι
(1,15) erst wieder in 10,15 (danach noch in 15,20). Daß κηρύσσειν = „verkündigen“ (10,8.14 f.)
und ἀκοή = „Predigt“ / „Verkündigung“ (10,16 f.) überhaupt erstmals in Röm 10 erscheinen, ist
ebenfalls beachtenswert.
26 Mit Nestle / Aland, Novum Testamentum Graece²⁷ setze ich als ursprüngliche Lesart vor-
aus: Μωϋσῆς γὰρ γράφει τὴν δικαιοσύνην τὴν ἐκ [τοῦ] νόμου ὅτι ὁ ποιήσας αὐτὰ ἄνθρωπος
ζήσεται ἐν αὐτοῖς. Paulus zitiert nur Lev 18,5b, er hat aber, wie das durch ἐν αὐτοῖς wieder
aufgenommene Akkusativobjekt αὐτά zeigt, Lev 18,5a.b insgesamt vor Augen: φυλάξεσθε
πάντα τὰ προστάγματά μου καὶ πάντα τὰ κρίματά μου καὶ ποιήσετε αὐτά, ἃ ποιήσας ἄνθρωπος
ζήσεται ἐν αὐτοῖς.
27
Vgl. 2 Kor 3,15.
28
D.-A. Koch, Die Schrift als Zeuge des Evangeliums. Untersuchungen zur Verwendung
und zum Verständnis der Schrift bei Paulus (BHTh 69), Tübingen 1986, 294.
110 „Fides ex auditu“
Auslegern29 auf das ewige Leben. Er entnimmt somit dem Schriftzitat, daß die
Tora die δικαιοσύνη und von daher auch die Erlangung des ewigen Lebens
an den vollkommenen, umfassenden und ganzheitlichen Toragehorsam bindet.
Angesichts des Tatbestandes, daß in der von Adam herkommenden Menschheit
prinzipiell niemand diesen Gehorsam aufzuweisen vermag, kann der Apostel
Lev 18,5 nur als Gerichts- und Todesurteil über alle Menschen begreifen.30
Die durch ein adversatives δέ angeschlossenen Verse 6–8 erläutern, was in
V. 4 ausdrücklich gesagt war: daß in Christus für einen jeden Glaubenden das
Heil beschlossen liegt: „[6] Das aus Glauben [empfangene] Heil dagegen sagt
so: Du mußt nicht denken31: ‚Wer wird in den Himmel hinaufsteigen?‘ – nämlich:
um Christus herabzuholen, [7] oder: ‚Wer wird in die Unterwelt hinabsteigen?‘ –
nämlich: um Christus von den Toten heraufzuholen. [8] Sondern was sagt es?
[Dies:] ‚Nahe ist dir das Wort in deinem Munde und in deinem Herzen‘ – näm-
lich: das Glauben wirkende Wort, das wir verkündigen.“ Bei dem von Paulus
angeführten Schriftzeugnis handelt es sich formal um ein Zitatenfragment aus
Dtn 30,11–14, dem er die Worte μὴ εἴπῃς ἐν τῇ καρδίᾳ σου aus Dtn 8,17 bzw.
Dtn 9,4 vorangestellt und zu dem er dreimal seine durch τοῦτ’ ἔστιν eingeleitete
exegetische Deutung hinzugefügt hat.32 Wenn er den zitierten Deuteronomium-
Text der ἐκ πίστεως δικαιοσύνη zuschreibt, so begreift er ihn nicht als Wort der
Tora, sondern als Wort der Verheißung.33 Daß nach der das Zitat einführenden
Formulierung die ἐκ πίστεως δικαιοσύνη selbst redet, ist mit dem Hinweis
auf die Figur der Personifikation34 noch keineswegs hinreichend erklärt. Man
wird hier vielmehr mit J. A. Bengel eine Metonymie erkennen dürfen,35 im
Unterschied zu ihm allerdings eher an eine Geber-Gabe-Metonymie zu denken
haben: Paulus hört in dem von ihm zitierten und kommentierten Wort der Schrift
29
TargOnq Lev 18,5; TargPsJon Lev 18,5; SifraLev, ’ḥrj mwt paraša IX 10 zu 18,5 (85d
Weiss).
30 Vgl. Gal 3,12 mitsamt V. 10 f.
31
Zu λέγειν ἐν τῇ καρδίᾳ = „denken“ vgl. etwa Ψ 9,32; 13,1; 34,25; Mt 24,48 par. Lk 12,45;
Apk 18,7.
32
Zu V. 7 vertreten nicht wenige Exegeten die Ansicht, daß auf die Formulierung der dort
zitierten Frage (τίς καταβήσεται εἰς τὴν ἄβυσσον;) die Stelle Ψ 106,26 eingewirkt hat. Sicher
ist das jedoch nicht. Paulus könnte vielmehr einer Auslegungstradition verpflichtet sein, die
in TargN Dtn 30,13 ihren Niederschlag gefunden hat, wo es heißt: „Hätten wir doch jemanden
wie den Propheten Jona, der hinabgestiegen ist in die Tiefen des Großen Meeres.“ Wie die An-
spielung auf Jon 2,3–10 zeigt, ist mit den „Tiefen des Großen Meeres“ die ἄβυσσος gemeint.
33 Zu der für die paulinische Schrifthermeneutik grundlegenden Unterscheidung zwischen
Verheißung (ἐπαγγελία) und Gesetz (νόμος) s. Gal 3,6–4,7; 4,21–31. Weshalb Paulus in Dtn
30,11–14 ein Wort der Verheißung hört, erklärt überzeugend H.-J. Eckstein, „Nahe ist dir das
Wort“. Exegetische Erwägungen zu Röm 10,8, in: Ders., Der aus Glauben Gerechte wird leben.
Beiträge zur Theologie des Neuen Testaments (BVB 5), Münster 2003, 55–72.
34
So z. B. E. W. Bullinger, Figures of Speech Used in the Bible, London 1898 = Grand
Rapids, MI ⁹1982, 867 und nicht wenige Kommentare.
35
J. A. Bengel, Gnomon Novi Testamenti (³1773), hg. v. P. Steudel, Stuttgart ⁸1891, 596:
Metonymia suavissima: i. e. homo justitiam ex fide quaerens.
„Fides ex auditu“ 111
die Stimme dessen, der die ἐκ πίστεως δικαιοσύνη gewährt.36 Wie der Apostel
das Wort inhaltlich versteht, ist evident. V. 6 f. besagt zunächst: Das Heil muß
nicht erst vom Menschen durch eigenes Bemühen und also als ἰδία δικαιοσύνη
gesucht und erworben werden, sondern es ist schon von Gott bereitet – darin, daß
Christus vom Himmel herabgekommen und nach seinem Kreuzestod von den
Toten auferstanden ist.37 Wie das in Christus beschlossene Heil dem Menschen
zukommt, beschreibt sodann V. 8:38 Es ist präsent in dem nahen Wort, das
Paulus und die anderen Apostel verkündigen,39 und es wird zugeeignet, indem
dieses Wort Herz und Mund der Hörer erreicht und in ihnen den Glauben wirkt,
der Gottes Gabe ergreift. Da als Objekt von κηρύσσειν und seinen Synonymen
an anderen Stellen der Paulusbriefe das Evangelium erscheint,40 kann nicht
zweifelhaft sein, daß mit dem ῥῆμα τῆς πίστεως eben jenes εὐαγγέλιον gemeint
ist, von dem in V. 16 die Rede ist. Der Genitiv τῆς πίστεως nennt – wie durch
V. 17 bestätigt wird – die Gabe und Wirkung des ῥῆμα, so daß der Ausdruck τὸ
ῥῆμα τῆς πίστεως nur die Übersetzung „das Glauben wirkende Wort“ zuläßt.41
Die Aussage von Röm 10,5–8 kann jetzt so zusammengefaßt werden: Während
aus dem Gesetz niemand das Heil der intakten Gottesbeziehung zu gewinnen
vermag, hat Gott es in Christus als dem bereitet und gewährt, der zur Erlösung
der verlorenen Menschen vom Himmel gekommen, gestorben und auferstanden
ist. Christus aber ist gegenwärtig in dem Evangelium, das die Apostel verkündi-
gen und das als das nahe Wort ihn und sein Heil erschließt und so den rettenden
Glauben an ihn schafft.
36
Vgl. Hebr 12,5: ἡ παράκλησις steht für den die παράκλησις (d. h. den Zuspruch) gewäh-
renden Gott. – Daß die ἐκ πίστεως δικαιοσύνη spricht (V. 6), während Mose schreibt (V. 5), ist
theologisch ohne Belang; s. dazu Eckstein, „Nahe ist dir das Wort“ (s. Anm. 33), 58 f.
37 Das entspricht Röm 8,3 (vgl. Gal 4,4) einerseits und Röm 4,25; 8,32 andererseits.
38 Das in V. 8 zitierte Schriftwort Dtn 30,14 wird durch die Frage ἀλλὰ τί λέγει; eingeführt,
die den Worten ἡ δὲ ἐκ πίστεως δικαιοσύνη οὕτως λέγει von V. 6a entspricht. Subjekt zu λέγει
ist also die ἐκ πίστεως δικαιοσύνη. Das – logisch nicht ganz konzinne – adversative ἀλλά
ist durch den Prohibitiv von V. 6 f. veranlaßt: Auf die in V. 6 f. mitgeteilte negative Weisung
dessen, der das Heil aus Glauben gewährt, folgt jetzt als Antithese sein positiver Hinweis auf
die Präsenz dieses Heils in dem von den Aposteln verkündigten Wort.
39 κηρύσσομεν bezieht sich – wie dann in V. 14 f. die Worte κηρύσσειν, ἀποστέλλεσθαι und
157–163. – Wenn Paulus in dem ῥῆμα von Dtn 30,11–14, mit dem dort Gottes ἐντολή (V. 11) und
also letztlich die Tora gemeint ist (Bar 3,29–31; TargN und TargFrgm z.St.; b‛Er 55a; bBM 59b;
DtnR 8,6 f. zu 30,12–14), das Evangelium erblickt, so ist das eine äußerst kühne Umdeutung
des Textes. Der Grund dafür liegt auf der Hand: Das „nahe“, den Menschen in seinem Person
zentrum erreichende Wort kann nach der Überzeugung des Apostels nicht die Tora sein.
112 „Fides ex auditu“
2. Röm 10,9–17
Was Paulus in V. 6–8 über die ἐκ πίστεως δικαιοσύνη gesagt hat, wird in den
Versen 9–17 in zwei Schritten – V. 9–13 und V. 14–17 – weiter expliziert.
a) Röm 10,9–13
Der erste Schritt (V. 9–13) nimmt aus V. 8 den Begriff πίστις sowie die Stichworte
στόμα und καρδία auf, ordnet der καρδία das πιστεύειν und dem στόμα das als
Äußerung des πιστεύειν verstandene ὁμολογεῖν zu und zeigt, daß beides – das
πιστεύειν wie das ὁμολογεῖν – die δικαιοσύνη und die σωτηρία zur Folge hat.42
Zwischen δικαιοσύνη und σωτηρία ist dabei zu unterscheiden.43 Während es sich
bei der δικαιοσύνη um das schon jetzt dem Glaubenden geschenkte Heil der in-
takten Gottesbeziehung handelt,44 bezeichnet σωτηρία45 – und ebenso das in V. 9
und V. 13 erscheinende Verbum σῴζεσθαι46 – das zukünftige und endgültige Ge-
schick: die Rettung vor dem kommenden Strafgericht (ὀργὴ θεοῦ), das den ewig
von Gott trennenden Tod zur Folge hat,47 und die Erlangung des ewigen Lebens.
Den gleichen Sinn wie das σωθήσῃ von V. 9 und das σωθήσεται von V. 13 hat
deshalb das οὐ καταισχυνθήσεται von V. 11, und beides entspricht dem ζήσεται
von V. 5. Was das Verhältnis zwischen δικαιοσύνη und σωτηρία anlangt, so sieht
Paulus die eschatologische Rettung mit der gegenwärtigen Gabe der heilvollen
Gottesbeziehung bereits fest verbürgt.48 R. A. Lipsius formuliert zutreffend: „Die
δικαιοσύνη führt notwendig zur σωτηρία, diese setzt jene notwendig voraus.“49
Innerhalb des Gedankengangs der Verse 9–13 wird V. 9 durch ein kausales
ὅτι an V. 8 angeschlossen, das durch die dort implizierte Aussage veranlaßt ist,
42
Wenn in V. 9 zunächst vom ὁμολογεῖν und dann erst vom πιστεύειν die Rede ist, so ge-
schieht das lediglich in Aufnahme der Abfolge στόμα – καρδία, wie sie in dem in V. 8 zitierten
Schriftwort Dtn 30,14 vorgegeben ist. Da dem ὁμολογεῖν von V. 9 f. das ἐπικαλεῖσθαι von
V. 12 f. entspricht, weisen die Verse 9–13 im Zusammenhang mit dem voraufgehenden V. 8
hinsichtlich der beiden Aspekte στόμα / ὁμολογεῖν - ἐπικαλεῖσθαι (a) und καρδία / πιστεύειν (b)
die folgende chiastische Struktur auf: V. 8: a/b; V. 9: a/b; V. 10: b/a; V. 11–13: b/a.
43 Das gilt entsprechend auch für Röm 1,16 f., wo die beiden Begriffe ebenfalls nebenein-
ander begegnen.
44 Vgl. entsprechend δικαιοῦσθαι Röm 3,24.28; 5,1.9; Gal 2,16 f.; 3,24.
45
S. außer Röm 10,10: Röm 1,16; 10,1; 11,11; 13,11; 2 Kor 7,10; Phil 1,19.28; 2,12; 1 Thess 5,9
[2 Thess 2,13].
46
S. außer Röm 10,9.13: Röm 5,9 f.; 11,26; 1 Kor 3,15; 5,5; 10,33; 1 Thess 2,16 [2 Thess 2,10].
47
Zur ὀργὴ θεοῦ s. Röm 1,18; 2,5.8; 3,5; 4,15; 5,9; 12,19; 1 Thess 1,10; 5,9. Diesem Strafgericht
zu verfallen, das bezeichnet Paulus mit den Gegenbegriffen zu σωτηρία und σῴζεσθαι: ἀπώλεια
Phil 1,28; 3,19 und ἀπόλλυσθαι Röm 2,12; 1 Kor 1,18; 15,18; 2 Kor 2,15; 4,3.
48
S. insbesondere Röm 5,8–10. Aufgrund der hier geäußerten Gewißheit kann Paulus auch
präsentisch vom σῴζειν bzw. σῴζεσθαι reden (s. 1 Kor 15,2 sowie das substantivierte Partizip
οἱ σῳζόμενοι 1 Kor 1,18; 2 Kor 2,15) oder sogar Aussagen im Aorist formulieren (Röm 8,24;
1 Kor 1,21).
49
Lipsius, Briefe an die Galater, Römer, Philipper (s. Anm. 4), 154.
„Fides ex auditu“ 113
daß das nahe Wort die δικαιοσύνη bringt: „Denn wenn du mit deinem Munde
Jesus als den Herrn bekennst und mit deinem Herzen glaubst, daß Gott ihn von
den Toten auferweckt hat, so wirst du gerettet werden.“50 V. 10 unterstreicht:
„Mit dem Herzen glaubt man ja zum Heil (= zur Erlangung des Heils), und mit
dem Munde bekennt man zur Rettung (= zur Erlangung der Rettung).“51 Für die
beiden Aussagen über das Glauben und das Bekennen führt Paulus in V. 11–13
jeweils einen Schriftbeleg an, wobei er in das erste Zitat – anders als in Röm
9,33 – von dem zweiten Zitat her ein πᾶς einfügt: „[11] Die Schrift sagt nämlich:
‚Jeder, der an ihn glaubt, wird nicht zuschanden werden‘ (Jes 28,16b).52 [12] Es
besteht ja kein Unterschied zwischen dem Juden und dem Griechen (d. h. Hei-
den), gibt es doch [nur] ein und denselben Herrn aller53, der sich als reich erweist
an allen, die ihn anrufen. [13] Denn: ‚Jeder, der den Namen des Herrn anruft,
wird gerettet werden‘ (Joel 3,5a).“ Das πᾶς von V. 11 und V. 13 bezieht Paulus
auf die πάντες von V. 12 – also auf Juden und Heiden. Beiden gilt in gleicher
Weise der Reichtum des Heils, das Christus denen erworben hat und gewährt,
die an ihn glauben und ihn im Bekenntnis anrufen. Daß Paulus in V. 11 unter dem
πιστεύειν ἐπ’ αὐτῷ den Glauben an Christus verstanden wissen will, in V. 12 von
Christus als dem κύριος πάντων spricht54 und in V. 13 das Bekenntnis κύριος
Ἰησοῦς vor Augen hat, ergibt sich eindeutig aus dem Textzusammenhang. Das
Schriftwort Jes 28,16 ist bereits in Röm 9,33 auf Christus gedeutet worden, und
die christologische Deutung von Joel 3,5a wird dadurch bewiesen, daß das Wort
sogleich in V. 14 f. auf die „Anrufung“ Christi hin interpretiert wird. Das „An-
rufen“ des κύριος πάντων ist also identisch mit dem ὁμολογεῖν κύριον Ἰησοῦν
von V. 9 f. Der Kyrios erweist sich darin als „reich für alle, die ihn anrufen“,
daß er ihnen schon jetzt die Gabe der δικαιοσύνη gewährt und eben damit die
eschatologische σωτηρία eröffnet.55
50 Das rhetorische „du“ des Satzes, das jede beliebige Person bezeichnet (vgl. Röm 8,2), ist
durch das „du“ von V. 6–8 veranlaßt. Zu dem Bekenntnis κύριος Ἰησοῦς s. 1 Kor 12,3; Phil 2,11
(vgl. auch 2 Kor 4,5).
51
Das unpersönliche Passiv (πιστεύεται / ὁμολογεῖται) steht für ein deutsches „man“; die
Ausdrücke εἰς δικαιοσύνην und εἰς σωτηρίαν geben die Wirkung an (s. Bauer / Aland,
Wörterbuch⁶, 462 s. v. εἰς 4.e).
52
Zu πιστεύειν ἐπί = „glauben an“ s. F. Blass / A. Debrunner / F. Rehkopf, Grammatik
des neutestamentlichen Griechisch, Göttingen ¹⁷1990, § 187 Anm. 2.
53
Dieser Übersetzung der Worte ὁ γὰρ αὐτὸς κύριος πάντων liegt das Urteil zugrunde, daß
αὐτός als Adjektiv zu lesen ist (wie in Röm 9,21; 12,4; 1 Kor 1,10; 10,4; 12,4–6; 15,39; 2 Kor 4,13)
und die elliptische Formulierung derjenigen von 1 Kor 12,4–6 entspricht. Möglich ist auch, ὁ
αὐτός als Subjekt und κύριος πάντων als Prädikat aufzufassen: „Ein und derselbe ist der Herr
aller.“ Ein substantivisches ὁ αὐτός findet sich allerdings, wenn ich recht sehe, bei Paulus sonst
nicht.
54
Vgl. dazu Apg 10,36.
55
Mit der Formulierung πλουτῶν εἰς πάντας τοὺς ἐπικαλουμένους αὐτόν könnte Paulus auf
Ψ 85,5 anspielen: σύ, κύριε, […] πολυέλεος πᾶσι τοῖς ἐπικαλουμένοις σε. Zum Gedanken des
soteriologischen „Reichtums“ Christi vgl. im übrigen Röm 5,15–17.
114 „Fides ex auditu“
b) Röm 10,14–17
Der zweite Schritt (V. 14–17) beschreibt das Verhältnis der zuvor unter den
Aspekten von Glauben und Bekennen bedachten πίστις zu den beiden entschei-
denden Größen, die in V. 6–8 erwähnt waren, – nämlich: zu Christus (V. 6 f.) und
zu seinem ῥῆμα (V. 8).
In V. 14+15a formuliert Paulus mittels der vierfachen Anapher πῶς eine Fra-
genkette, die keineswegs nur die Juden, sondern ganz umfassend die in V. 12
erwähnten πάντες und also Juden wie Heiden im Blick hat: „[14] Wie nun soll
man den anrufen, an den man nicht zum Glauben gekommen ist? Wie aber soll
man an den zum Glauben kommen, von dem man nicht gehört hat? Wie aber soll
man hören, ohne daß jemand verkündigt? [15a] Wie aber soll man verkündigen,
wenn man nicht gesandt worden ist?“56 Der Relativsatz der zweiten Frage – πῶς
δὲ πιστεύσωσιν οὗ οὐκ ἤκουσαν; (V. 14b) – wird in allen altkirchlichen Über-
setzungen mit „den man nicht gehört hat“ wiedergegeben.57 Diese Wiedergabe
ist sprachlich unanfechtbar, sie ist jedoch keineswegs, wie manche Exegeten
meinen,58 die einzig mögliche. Die Worte οὗ οὐκ ἤκουσαν können vielmehr sehr
wohl auch bedeuten: „über den sie nichts erfuhren“.59 Für dieses Verständnis
spricht nicht zuletzt, daß nach Röm 15,20 f. das Ziel der Verkündigung gerade
darin liegt, daß Menschen von Christus hören. Träger dieser Verkündigung
sind die ἀπόστολοι, auf die sich in der letzten der vier Fragen (V. 15a) das Wort
ἀποστέλλεσθαι bezieht.60
Da es sich bei der Fragekette von V. 14+15a um eine Interrogatio handelt,61
ist in ihr positiv vorausgesetzt, daß die Abfolge ἀποστέλλεσθαι – κηρύσσειν
56
Zu der in V. 14+15a vorliegenden Figur der Gradatio (Klimax) vgl. Röm 5,3–5; 8,29 f.
Die 3. Person Plural der Verbformen steht für das deutsche „man“ (vgl. Blass / Debrunner /
Rehkopf, Grammatik § 130,2).
57 S. exemplarisch die Vulgata (quomodo credent ei, quem non audierunt?) und die Peschitta
(’jkn’ nhjmnwn lhw dl’ šm‛whj). Nach K. H. Schelkle, Paulus Lehrer der Kirche. Die altkirch-
liche Auslegung von Römer 1–11, Düsseldorf ²1959, 375 verstehen so auch die Kirchenväter den
V. 14b. Den bei diesem Verständnis vorliegenden Sinn kennzeichnet knapp Bengel, Gnomon
(s. Anm. 35), 597: ,quem‘, scil. loquentem in evangelio. Das οὗ οὐκ ἤκουσαν würde dann in
V. 17b durch ῤῆμα Χριστοῦ aufgenommen.
58
Ich nenne nur: Th. Zahn, Der Brief des Paulus an die Römer (KNT 6), Leipzig ¹.²1910,
484; C. E. B. Cranfield, The Epistle to the Romans II (ICC), Edinburgh 1979, 534. Vgl. auch
Blass / Debrunner / Rehkopf, Grammatik § 173,1: „Bei ἀκούειν steht […] im Genitiv die
Person, die man reden hört“ (dazu in Anm. 1 der Hinweis auf Röm 10,14).
59 So Bauer / A land, Wörterbuch⁶, 62 s. v. ἀκούω 3.b. Für diese Bedeutung von ἀκούειν c.
gen. obiecti werden dort keine Belege angegeben. Ich selbst habe mir notiert: Homer, Il 24,490;
Od 4,114; Xenophon, Mem III 5,9; 2 Esdr 23,27; Tob 10,12; Hi 42,5 LXX (und zu poetischem
κλύειν τινός Sophokles, Oed Col 307).
60 Paulus verwendet das Verbum ἀποστέλλειν in dem in Röm 10,15a vorliegenden Sinn nur
noch in 1 Kor 1,17 – und zwar im Blick auf seine eigene Sendung zur Verkündigung des Evan-
geliums.
61
Zur Stilform der Interrogatio s. H. Lausberg, Handbuch der literarischen Rhetorik,
München ²1973, § 767 f.
„Fides ex auditu“ 115
gegeben und von daher die weitere Abfolge ἀκούειν – πιστεῦσαι – ἐπικαλεῖσθαι
prinzipiell möglich ist. Das Faktum des ἀποστέλλεσθαι und des κηρύσσειν wird
dementsprechend in V. 15b mit einem durch καθὼς γέγραπται angeschlossenen
Schriftzitat begründet: „[Es ist so], wie geschrieben steht: ‚Wie lieblich sind die
Füße derer, die das Gute verkündigen‘ (Jes 52,7a).“62 Mit dem „Guten“, das die
apostolischen Zeugen verkündigen,63 ist entweder das sogleich in V. 16 genannte
Evangelium oder aber – eher noch – das in Christus beschlossene Heil gemeint.64
Obwohl die Sendung der Boten erfolgt ist und diese, wie in V. 18 gesagt
werden wird, das in Christus beschlossene Heil weltweit verkündigen, findet
ihre Botschaft nicht überall Glauben. Davon redet Paulus in V. 16a: „Jedoch
nicht alle (d. h. nur wenige65) sind dem Evangelium gehorsam geworden.“ Bei
der Feststellung οὐ πάντες ὑπήκουσαν τῷ εὐαγγελίῳ, in der an die Stelle des
Verbums πιστεύειν (V. 9 f.11.14) jetzt das Verbum ὑπακούειν tritt, denkt Paulus
gewiß nicht ausschließlich, im Kontext von Röm 9–11 aber doch vor allem an die
Juden, von denen es in V. 3b hieß: τῇ δικαιοσύνῃ τοῦ θεοῦ οὐχ ὑπετάγησαν. Dem
Evangelium nicht „gehorsam“ sein – das bedeutet: ihm die gehorsame Annahme,
die ὑπακοὴ πίστεως (Röm 1,5) verweigern.66 Die Abweisung des Evangeliums
findet Paulus – wie er in V. 16b hinzufügt – bereits in der Schrift prophetisch
angekündigt: „Jesaja sagt ja: ‚Herr, wer hat unserer Verkündigung Glauben
geschenkt?‘ (Jes 53,1a).“ Das Wort ἀκοή bezeichnet in Jes 53,1a LXX nicht das
„Hören“, sondern der hebräischen Vorlage (šᵉmû‛āh) entsprechend die „Kunde“,
die „Nachricht“.67 In diesem Sinn versteht auch Paulus das Wort.68 Während es
62
Zu dem elliptischen Gebrauch von καθώς vgl. Gal 3,6. Bei dem Schriftzitat – ὡς ὡραῖοι
οἱ πόδες τῶν εὐαγγελιζομένων τὰ ἀγαθά (s. Anm. 63) – handelt es sich um eine freie Wieder-
gabe von Jes 52,7a LXX, wobei der Plural οἱ εὐαγγελιζόμενοι durch Joel 3,5b LXX, die Fort-
setzung des in V. 13 zitierten Satzes Joel 3,5a, veranlaßt sein dürfte. Für das Wort ὡραῖος ist
auch die Übersetzung „rechtzeitig zur Stelle“ möglich. Daß die πόδες τῶν εὐαγγελιζομένων
synekdochisch für die εὐαγγελιζόμενοι selbst stehen, sei nur eben angemerkt.
63 Die Lesart τὰ ἀγαθά verdient den Vorzug; die v. l. ἀγαθά dürfte Angleichung an Jes 52,7a
LXX sein.
64
Bei der Deutung auf das Heil wäre PsSal 18,6 zu vergleichen: τὰ ἀγαθὰ κυρίου = „das
Heil des Herrn“.
65 Zu der Litotes οὐ πάντες s. Blass / D ebrunner / R ehkopf, Grammatik § 495,2.
66
Zum Begriff des „Gehorsams“ s. Hofius, Wort Gottes und Glaube bei Paulus (s. Anm. 1),
156 f.
67
Zu ἀκοή als Bezeichnung für das, was gehört wird, s. in LXX die folgenden Bedeutungen:
„Gerücht“ (Ex 23,1; 1 Reg 2,24; 2 Reg 13,30; Tob 10,12; Dan 11,44); „Kunde“ (3 Reg 2,28; 10,7;
2 Chr 9,6; Sap 1,9; Ob 1,1; Nah 1,12; Jer 6,24; 30,8; Ez 16,56); „Nachricht“ (Hi 42,5; Ψ 111,7; Jer
10,22; 27,43; 30,29; 44,5), „Botschaft“ (Hab 3,2; Jes 52,7; 53,1). Wo eine dieser Bedeutungen
vorliegt, kann die Wendung ἀκοὴν ἀκούειν erscheinen (1 Reg 2,24; 3 Reg 10,7; 2 Chr 9,6; Tob
10,12; Hi 42,5; Ob 1,1; Jer 6,24; 27,43; 30,8.29; 44,5). Dem LXX-Befund entspricht der im
Neuen Testament zu verzeichnende Sprachgebrauch: „Gerücht“ (Mt 24,6; Mk 13,7), „Kunde“
(Mt 4,24; 14,1; Mk 1,28; Hebr 4,2), „Botschaft“ (neben Röm 10,16 f.: Joh 12,38 [Zitat von Jes 53,1
LXX]; Gal 3,2.5; 1 Thess 2,13). – Aus der Profanliteratur notiere ich die Bedeutungen „Nach-
richt“ (Thukydides, Hist I 20,1), „Bericht“ (Platon, Tim 21a) und „Kunde“ (Josephus, Ap II 14).
68
Gleiches gilt für das Verständnis des Zitats Jes 53,1 LXX in Joh 12,38.
116 „Fides ex auditu“
sich allerdings im hebräischen Text von Jes 53,1a um eine „Kunde“ handelt, die
den dort Redenden zuteil geworden ist, bezieht Paulus – in Übereinstimmung
mit dem in der Septuaginta vorliegenden Verständnis – die Worte ἡ ἀκοὴ ἡμῶν
auf die „Botschaft“, die von den „Wir“ verbreitet wird. Dabei deutet er das „Wir“
auf sich selbst und die anderen Apostel. Von daher gewinnt ἀκοή an unserer
Stelle die präzise Bedeutung „Predigt“ bzw. „Verkündigung“, die dann auch in
dem sogleich folgenden Vers Röm 10,17 vorliegt.69 Die gleiche Bedeutung hat
ἀκοή in Gal 3,2.5 und in 1 Thess 2,13, und nicht anders ist, was die Übersetzung
der Vulgata anlangt, im Blick auf das lateinische Wort auditus in Jes 53,1 und an
den genannten paulinischen Stellen zu urteilen.70
Den Abschluß des Abschnitts Röm 10,4–17 bildet der rhetorisch durch die
Figur der Anadiplosis und die zweifache Ellipse besonders hervorgehobene
V. 17: ἄρα ἡ πίστις ἐξ ἀκοῆς, ἡ δὲ ἀκοὴ διὰ ῥήματος Χριστοῦ71 – „Folglich
kommt der Glaube aus der Verkündigung, die Verkündigung aber gründet in dem
Wort Christi.“72 Mit diesem Satz, der keineswegs als eine Glosse anzusehen ist,73
schlägt Paulus den Bogen zu V. 6–8 zurück, und er stellt zugleich das Verhältnis
zwischen den in V. 16 verwendeten Begriffen (εὐαγγέλιον, ὑπακούειν / πιστεύειν,
ἀκοή) klar. Die am Anfang des Verses stehende Partikel ἄρα regiert lediglich
V. 17a, so daß nur die Worte ἡ πίστις ἐξ ἀκοῆς Folgerung aus V. 16b sind: Die
Frage von Jes 53,1a zeigt via negativa: Wo Glaube ist, da verdankt er sich der
Verkündigung.74 Diese Aussage erfährt in V. 17b durch die Worte ἡ δὲ ἀκοὴ διὰ
ῥήματος Χριστοῦ eine Präzisierung. Das Syntagma ῥῆμα Χριστοῦ verbindet die
entscheidenden Worte von V. 6–8 – nämlich: Χριστός und ῥῆμα – miteinander.75
Da ῥῆμα in V. 8 als Gegenstand des κηρύσσειν erscheint und demzufolge das
69
Luthers Übersetzung „Der Glaube kommt aus der Predigt“ ist also (entgegen der von
A. Schlatter, Gottes Gerechtigkeit. Ein Kommentar zum Römerbrief, Stuttgart ²1952, 316 f.
geäußerten Kritik) völlig korrekt. – Für die von manchen Auslegern vertretene These, daß ἀκοή
in V. 17 einen anderen Sinn habe als in V. 16 und hier das „Hören“ meine, sehe ich nirgends eine
hinreichende Begründung gegeben.
70
Zu auditus in der Bedeutung „das Gehörte“ s. in der Vulgata ferner: Ps 111,7; Jer 49,14.23;
Ob 1,1; Joh 12,38; Hebr 4,2. Aus der Profanliteratur vgl. Lucan, Bell X 183, wo das Wort den
„Lehrvortrag“ bzw. die „Belehrung“ bezeichnet.
71
Χριστοῦ ist gegenüber θεοῦ zweifellos die ursprüngliche Lesart. Auch das sekundäre ῥῆμα
θεοῦ meint – analog etwa zu ὁ λόγος τοῦ θεοῦ in 1 Kor 14,36; 2 Kor 2,17; 4,2; 1 Thess 2,13 – das
Evangelium, bringt aber sprachlich nicht zum Ausdruck, was für die Argumentation von Röm
10 gerade entscheidend ist: die Präsenz Christi im Evangelium.
72
In V. 17a und V. 17b ist jeweils ein ἐστίν zu ergänzen. Die Präpositionen ἐκ c. gen. (V. 17a)
und διά c. gen. (V. 17b) dienen – bei unterschiedlicher Nuancierung – beide der Angabe des
Ursprungs. In V. 17b führt διά c. gen. die Größe ein, in der die ἀκοή letztlich begründet ist; s.
zur Verwendung in diesem Sinn (= „aufgrund“, „kraft“) auch Röm 12,3; Gal 4,23.
73
Die Bestimmung als Glosse findet sich m.W. zuerst bei R. Bultmann, Glossen im
Römerbrief, in: Ders., Exegetica. Aufsätze zur Erforschung des Neuen Testaments, Tübingen
1967, 278–284: 280.
74
πίστις meint dabei dezidiert den rettenden Glauben im Sinne von V. 8 und V. 9 f.
75
Ein spezifisch theologischer Gebrauch des Singulars [τὸ] ῥῆμα findet sich bei Paulus nur
in Röm 10,8 und Röm 10,17; daraus folgt zwingend, daß das ῥῆμα Χριστοῦ von V. 17 nur das
„Fides ex auditu“ 117
Evangelium meint, ist ῥῆμα Χριστοῦ als eine Parallele zu dem bei Paulus ge-
läufigen Begriff τὸ εὐαγγέλιον τοῦ Χριστοῦ zu beurteilen.76 In diesem Begriff
ist Χριστοῦ ein Genitivus objectivus, der den Inhalt des Evangeliums angibt.77
Dieser Inhalt aber ist nicht irgend ein „Gegenstand“ oder „Sachverhalt“, sondern
eine lebendige Person: der vom Tode auferstandene Kyrios. Deshalb kommt in
dem Genitiv τοῦ Χριστοῦ zugleich auch zum Ausdruck, daß Jesus Christus als
der Inhalt des Evangeliums in diesem Wort selbst gegenwärtig ist und denen
begegnet, die es hören. Das gilt in gleicher Weise auch für das Syntagma ῥῆμα
Χριστοῦ: Es bezeichnet das Wort, in dem der auferstandene Christus sich den
Aposteln erschlossen hat und das als solches die apostolische Predigt begrün-
det.78 Dieses Wort ist das in der Verkündigung „nahe“ Wort, das den Glauben
wirkt, und einzig deshalb, weil es in der Verkündigung der Apostel laut wird, gilt
der Satz, daß der Glaube „aus der Predigt“ kommt.
IV
Blicken wir auf den Gedankengang von Röm 10,4–17 zurück, so sind vier Grund-
motive zu erkennen, denen sich die entscheidenden Begriffe und Wendungen des
Textes präzise zuordnen lassen.79 Fundament ist das Heilsgeschehen (A), das
mit dem Namen Χριστός bezeichnet ist und das Paulus als den differenzierten
Zusammenhang von Heilstat (A.1) und Heilswort (A.2) begreift. Das Evan-
gelium als das Heilswort Christi wird laut in der Verkündigung (B), von der
unter den Aspekten der Sendung der Apostel (B.1), der ergehenden Predigt (B.2)
und des Hörens dieser Predigt (B.3) die Rede ist. Der Verkündigung des Evan-
geliums verdankt sich der Glaube an Christus (C), der unter den beiden Aspekten
des Glaubens (C.1) und des Bekennens (C.2) bedacht wird. In dem durch das
Evangelium gewirkten Glauben empfängt der Mensch das in Christus bereitete
ῥῆμα von V. 8 sein kann. Dieses ῥῆμα ist nicht gemeint, wenn in dem Psalmzitat Röm 10,18b
(= Ψ 18,5) der Plural τὰ ῥήματα αὐτῶν erscheint, den Paulus auf die Verkündigung deutet.
76
Zu τὸ εὐαγγέλιον τοῦ Χριστοῦ s. Röm 15,19; 1 Kor 9,12; 2 Kor 2,12; 9,13; 10,14; Gal 1,7; Phil
1,27a; 1 Thess 3,2. Die Parallelität der Ausdrücke τὸ εὐαγγέλιον τοῦ Χριστοῦ und ῥῆμα Χριστοῦ
spricht entschieden gegen die z. B. von Lietzmann, An die Römer (s. Anm. 4), 100 vertretene
These, daß mit letzterem der „Auftrag“ Christi gemeint sei.
77 Vgl. dazu die Formulierung τὸ εὐαγγέλιον τοῦ υἱοῦ αὐτοῦ in Röm 1,9. Hier entspricht der
Genitiv τοῦ υἱοῦ αὐτοῦ dem περὶ τοῦ υἱοῦ αὐτοῦ von Röm 1,3a.
78 Vgl. H. W. Schmidt, Der Brief des Paulus an die Römer (ThHK 6), Berlin ²1966, 181: Der
Ausdruck ῥῆμα Χριστοῦ „bezeichnet das die apostolische Predigt begründende ‚Urwort‘ der
Christusoffenbarung“.
79
S. dazu die Übersicht am Ende des Aufsatzes. – Auch der Vers 10,18 ließe sich mit der
folgenden Zuordnung in die Tabelle aufnehmen: ἀκούειν V. 18a = B.3; ὁ φθόγγος αὐτῶν καὶ
[…] τὰ ῥήματα αὐτῶν V. 18b = B.2 (das zweifache αὐτῶν des zitierten Psalmwortes [Ψ 18,5a]
bezieht Paulus auf die εὐαγγελιζόμενοι von V. 15b).
118 „Fides ex auditu“
Heil (D): die hier und jetzt gewährte δικαιοσύνη (D.1), mit der die zukünftige
σωτηρία verbürgt ist (D.2).80
Aus der Wahrnehmung der skizzierten Grundmotive ergibt sich eine wichtige
Konsequenz im Blick auf das paulinische Verständnis der Verkündigung ei-
nerseits und des Glaubens andererseits. Beide – die Verkündigung wie der
Glaube – sind nach Paulus dezidiert auf Christus bezogen und einzig aufgrund
dieser Bezogenheit soteriologisch relevant. Das bedeutet: Die dem Heilshandeln
Gottes in Jesus Christus angemessene Verkündigung ist notwendig Christusver-
kündigung – eine an das vorgegebene Evangelium gebundene und es gehorsam
ausrichtende Verkündigung, die Christus zum alleinigen Inhalt hat.81 Nur in
dieser Verkündigung ist Christus selbst präsent, nur durch sie erschließt er
Glauben wirkend sein Heil.82 Der durch die Verkündigung des Evangeliums
gewirkte Glaube aber ist seinem Wesen nach Glaube an Jesus Christus83 – d. h.
Glaube im Sinne der folgenden Bestimmung Martin Luthers, die zutiefst dem
Zeugnis des Paulus verpflichtet ist:
Si est vera fides, est quaedam certa fiducia cordis et firmus assensus quo Christus ap-
prehenditur, sic ut Christus sit obiectum fidei, imo non obiectum, sed, ut ita dicam, in
ipsa fide Christus adest. […] Iustificat ergo fides, quia apprehendit et possidet istum
thesaurum, scilicet Christum praesentem.84
80
Die gleichen vier Grundmotive begegnen bei Paulus auch im 15. Kapitel des Ersten Ko-
rintherbriefs. Ich skizziere nur: Ausgangspunkt und Grundlage der Argumentation ist Christus
als der in assertorischen Sätzen bezeugte Inhalt des Evangeliums, d. h. sein Tod zur Aufhebung
der Sündenwirklichkeit, sein Begräbnis, seine Auferstehung am dritten Tage und seine Selbst-
erschließung in den Ostererscheinungen (A). Mit der Selbsterschließung ist die Berufung und
Sendung der apostolischen Zeugen verbunden, die eben das verkündigen, was das Evangelium
sagt (B). Was die Zeugen verkündigen, hat die Gemeinde im Glauben angenommen (C). So
gewinnt sie durch das verkündigte Evangelium das in Christus beschlossene Heil: die mit der
schon jetzt gewährten Befreiung aus der Sündenwirklichkeit fest verbürgte Rettung – d. h. die
bei der Parusie des Kyrios erfolgende Auferstehung bzw. Verwandlung zum ewigen Leben (D).
Die entsprechenden Stichworte sind in 1 Kor 15,1–19: A: τὸ εὐαγγέλιον […] τίνι λόγῳ V. 1 f.
(und dazu die in V. 3b–5 zitierte Lehrtradition, auf die sich das zweimalige οὕτως von V. 11
bezieht). – B: εὐαγγελίζεσθαι V. 1 f.; κηρύσσειν V. 11b; τὸ κήρυγμα V. 14b; μαρτυρεῖν V. 15. –
C: πιστεύειν V. 11b; ἡ πίστις V. 14c.17b – D: σῴζεσθαι V. 2a (dazu das Antonym ἀπόλλυσθαι
in V. 18).
81
S. dazu die Aussagen des Apostels, in denen Χριστός als Objekt zu einem die Ver-
kündigung bezeichnenden Verbum erscheint: κηρύσσειν: 1 Kor 1,23; 2 Kor 1,19; 4,5; 11,4; Phil
1,15 (vgl. auch 1 Kor 15,12); εὐαγγελίζεσθαι: Gal 1,16; καταγγέλλειν: 1 Kor 2,1 f.; Phil 1,17 f. Vgl.
außerdem Gal 3,1.
82 Der Satz, daß in der Predigt der Kirche Christus selber auf dem Plan sei und deshalb in
ihr sein Wort gehört werde, gilt nur unter der Voraussetzung, daß die Predigt das bezeugt, was
ihr im Evangelium vorgegeben ist.
83 πίστις Ἰησοῦ Χριστοῦ u. ä.: Röm 3,22.26; Gal 2,16.20; 3,22; [3,26 v. l.]; Phil 3,9. Der
Ausdruck entspricht der Verbalphrase πιστεύειν εἰς Χριστὸν Ἰησοῦν Gal 2,16 (vgl. auch Röm
10,14; Phil 1,29).
84
M. Luther, In epistolam S. Pauli ad Galatas Commentarius ([1531] 1535), zu Gal 2,16:
WA 40 I, 228,33 f. 229,15.22 f. Daß für Luther der rechtfertigende Glaube streng und ausschließ-
lich Glaube an Jesus Christus und die den Glauben wirkende Verkündigung notwendig Predigt
„Fides ex auditu“ 119
Von einem „Glauben“ als allgemeiner religiöser Haltung und von einer „Ver-
kündigung“, die solchem Glauben Ausdruck verleiht, weiß Paulus nichts und
redet er nicht. Will man die Sicht des Apostels mit der dem Vulgata-Text von
Röm 10,17a entnommenen Formulierung Fides ex auditu kennzeichnen, dann
muß diese als Kurzform des vollen und präzisen Fides Christi ex auditu Christi
verstanden werden.
des Evangeliums und also Christusverkündigung ist, steht aufgrund zahlreicher Aussagen des
Reformators gänzlich außer Frage. Ich verweise hier nur noch auf die Erklärung des zweiten
und dritten Credo-Artikels im Großen Katechismus: BSLK 650–662; s. besonders 653,11–15;
654,22–42; 655,29–33.
Übersicht zu Röm 10,4–17
120
A B C D
A.1 A.2 B.1 B.2 B.3 C.1 C.2 D.1 D.2
4 Χριστός πιστεύειν δικαιοσύνη
5 ζῆν
6 f. Χριστός πίστις δικαιοσύνη
8a τὸ ῥῆμα ἐγγὺς ἐγγὺς
ἐν τῇ καρδίᾳ ἐν τῷ στόματι
8b τὸ ῥῆμα κηρύσσειν πίστις
9 πιστεύειν ὁμολογεῖν
ἐν τῇ καρδίᾳ ἐν τῷ στόματι σῴζεσθαι
10a καρδίᾳ
πιστεύειν δικαιοσύνη
10b στόματι
„Fides ex auditu“
ὁμολογεῖν σωτηρία
11 αὐτός πιστεύειν οὐ κατ-
αισχύνεσθαι
12 ὁ κύριος ἐπικαλεῖσθαι
13 κύριος ἐπικαλεῖσθαι σῴζεσθαι
14.15a ὅς ἀπο-
στέλλεσθαι κηρύσσειν ἀκούειν πιστεύειν ἐπικαλεῖσθαι
15b οἱ πόδες εὐαγγελίζεσθαι
16a τὸ εὐαγγέλιον ὑπακούειν
16b ἀκοή πιστεύειν
17 ῥῆμα Χριστοῦ ἀκοή πίστις
„Wandeln im Glauben“ – „Wandeln im Schauen“?
Zum Problem der Übersetzung und Auslegung von 2 Kor 5,7
Im Kontext der Verse 2 Kor 5,6–8 formuliert Paulus den Satz: διὰ πίστεως γὰρ
περιπατοῦμεν, οὐ διὰ εἴδους (V. 7). Diese Worte stellen die Exegese vor die
Frage, welche Übersetzung hier für das Nomen εἶδος gefordert ist und wie von
daher der Satz selbst verstanden sein will.
Nach der Auskunft renommierter Lexika hat das Wort εἶδος im Altgriechischen
ausschließlich die passivische Bedeutung „that which is seen“.1 Es heißt dem-
entsprechend unter anderem: „das Aussehen“2, „die (äußere) Erscheinung“ / „die
(sichtbare) Gestalt“3, „die Art“4. Für 2 Kor 5,7 käme von daher die Bedeutung
„(äußere) Erscheinung“ / „(sichtbare) Gestalt“ in Frage. In diesem Sinn über-
setzt die Vulgata: per fidem enim ambulamus et non per speciem.5 Dem ist der
koptisch-bohairische Text an die Seite zu stellen, in dem εἶδος mit smot („Aus-
sehen“, „Gestalt“) wiedergegeben wird.6 Die Überzeugung, daß εἶδος in 2 Kor
1
So H. G. Liddell / R. Scott / H. S. Jones, A Greek-English Lexicon. With a Supplement,
Oxford 1968, 482b. S. ferner jeweils s. v. εἶδος: F. Passow, Handwörterbuch der griechischen
Sprache. Neu bearbeitet […] von V.Chr.F. Rost / F. Palm / O. Kreussler, I/2, Leipzig ⁵1847
= Darmstadt 1983, 783a.b; W. Pape / M. Sengebusch, Griechisch-deutsches Handwörterbuch
I, Braunschweig ³1914, 724a; Ι. Δ. ΣΤΑmΑΤΑΚΟΣ, Λέξικον ἀρχαίας ἑλληνικῆς γλώσσης, Athen
1972, 304a; E. A. Sophocles, Greek Lexicon of the Roman and Byzantine Periods, Cambridge,
MA – Leipzig 1914 = Hildesheim – Zürich – New York ²1983, 422a.b. – G. W. H. Lampe, A Pa-
tristic Greek Lexicon, Oxford 1961 = 1978, 408a s. v. εἶδος 6 notiert für die Bedeutung „sight“
einzig die Bezugnahme auf 2 Kor 5,7 bei Maximus Confessor, Mystagogia 24 (PG 91, 705 A).
S. zu dieser Stelle unten Anm. 26.
2
Im Neuen Testament: Lk 9,29; in der Septuaginta: Ex 24,17; Lev 13,43; Num 9,15 f.; 11,7;
Sir 43,1; Jes 52,14; 53,2 f.; Jer 11,16; Ez 1,16.26 u. ö.
3
Im Neuen Testament: Lk 3,22; Joh 5,37; in der Septuaginta: Gen 29,17; 39,6; Ex 26,30; Dtn
21,11; 1 Esdr 4,18; Jdt 8,7; 11,23; Hhld 5,15; Sap 15,4 f. u. ö.
4
Im Neuen Testament: 1 Thess 5,22; in der Septuaginta: Sir 23,16; 25,2; Jer 15,3.
5 Da die Vulgata auch in Lk 3,22; 9,29; Joh 5,37 εἶδος mit species wiedergibt, kann für 2 Kor
through [a] faith, not through a (visible) form“. Zu smot s. W. E. Crum, A Coptic Dictionary,
Oxford 1939 = 1962, 341a s. v.
7
S. z. B. C. F. G. Heinrici, Der zweite Brief an die Korinther (KEK 6), Göttingen ⁸1900,
185 f.; Ph. Bachmann, Der zweite Brief des Paulus an die Korinther (KNT 8), Leipzig
³1918, 234; V. P. Furnish, II Corinthians (AncB 32A), Garden City, NY 1984, 253.272 f.302 f.;
M. E. Thrall, The Second Epistle to the Corinthians (ICC) I: Introduction and Commentary
on II Corinthians I–VII, Edinburgh 1994, 386–389; Th. Schmeller, Der zweite Brief an die
Korinther I: 2 Kor 1,1–7,4 (EKK VIII/1), Neukirchen-Vluyn bzw. Ostfildern 2010, 282.301 f.;
Chr. Wolff, Der zweite Brief des Paulus an die Korinther (ThHK 8), Leipzig ²2011, 98.112 f.
8
The New Testament in Syriac, London 1955, Part II, 105. Das Wort ḥªzājā’ = „das Sehen“
findet sich in der Peschitta noch in Lk 4,18 als Übersetzung von ἀνάβλεψις. Für εἶδος in
der Bedeutung „Aussehen“ / „(äußere) Erscheinung“ / „(sichtbare) Gestalt“ wählt die Peschitta
dᵉmûtā’ (Lk 3,22) bzw. ḥezwā’ (Lk 9,29; Joh 5,37).
9
J. Warren Wells, Sahidic Coptic New Testament, London 2006, 224. G. Horner, The
Coptic Version of the New Testament in the Southern Dialect, otherwise called Sahidic and
Thebaic IV: The Epistles of S. Paul, Oxford 1920, 437 übersetzt: „For we are walking through
faith, through seeing not.“ Zu nau s. Crum, A Coptic Dictionary (s. Anm. 6), 234a s. v. II.
10
S. z. B. H. Windisch, Der zweite Korintherbrief (KEK 6), Göttingen ⁹1924 = 1970, 167;
H. Lietzmann / W. G. Kümmel, An die Korinther I/II (HNT 9), Tübingen ⁵1969, 121.203;
E. Grässer, Der zweite Brief an die Korinther. Kapitel 1,1–7,16 (ÖTBK 8/1), Gütersloh bzw.
Würzburg 2002, 175.194 f. (dort 195 offensichtlich der Versuch einer Kombination von ak-
tivischer und passivischer Bedeutung).
11
Die Bibel nach der Übersetzung Martin Luthers, Stuttgart 1987: Neues Testament, 215:
„Denn wir wandeln im Glauben und nicht im Schauen.“
12
Das Neue Testament. Übersetzt von H. Menge, Stuttgart ¹¹1949, 281; Die Bibel. Die
Heilige Schrift des Alten und Neuen Bundes. Jerusalemer Bibel, Freiburg – Basel – Wien 1968,
1665; Einheitsübersetzung der Heiligen Schrift: Das Neue Testament, Stuttgart ²1980, 411; Die
Bibel. Aus dem Grundtext übersetzt. Revidierte Elberfelder Bibel, Wuppertal 1986: Neues
Testament, 226; Zürcher Bibel, Zürich 2007: Neues Testament, 286; Neues Testament. Neue
Genfer Übersetzung, Genf 2009, 400. – Den für die Zürcher Bibel von 2007 Verantwortlichen
gilt die Übersetzung „nicht im Schauen“ offenbar als so sicher, daß die folgende Anmerkung,
die in der älteren Ausgabe (Zürich 1966: Neues Testament, 235) hinzugefügt war, kurzerhand
gestrichen wurde: „Wörtlich: ‚nicht in der Erscheinung [der ewigen Herrlichkeit]‘.“
„Wandeln im Glauben“ – „Wandeln im Schauen“? 123
II
Das aktivische Verständnis von εἶδος 2 Kor 5,7 wird in der wissenschaftlichen
Literatur vielfach mit dem Hinweis zurückgewiesen, daß es für diesen Sprach-
gebrauch in der gesamten altgriechischen Literatur keinen einzigen Beleg ge-
be.13 Wenn das aktivische Verständnis dennoch weiterhin vertreten wird und in
Übersetzungen des Neuen Testaments sogar das beherrschende ist, dann dürfte
hier die Autorität des für die Neutestamentliche Wissenschaft grundlegenden
Wörterbuchs von Walter Bauer eine nicht unerhebliche Rolle spielen. Das Wör-
terbuch gibt für εἶδος 2 Kor 5,7 die Bedeutung „das Schauen“ an und nennt als
Belege für diese aktivische Bedeutung die Texte Num 12,8 LXX und PsClem H
XVII 18.14 Außerdem wird angemerkt, daß Severian von Gabala und Theodoret
von Kyros εἶδος in 2 Kor 5,7 als „das Schauen“ deuten.15 Die englische Fassung
des Wörterbuchs, in der für εἶδος 2 Kor 5,7 die Bedeutung „the act of looking/
seeing, seeing, sight“ notiert wird, folgt uneingeschränkt der deutschen Vor-
lage.16 Ob die Angaben Bauers jedoch tatsächlich zutreffend sind, das ist jetzt
im einzelnen zu überprüfen.17
Was zunächst die beiden Texte Num 12,8 LXX und PsClem H XVII 18 an-
langt, so hat εἶδος hier keineswegs die aktivische Bedeutung „das Schauen“.
13
S. z. B. C. L. W. Grimm, Lexicon graeco-latinum in libros Novi Testamenti, Gießen ⁴1888,
119a s. v. εἶδος 1: vulgo explicatur: ‚per adspectum = adspicientes‘ […]; sed e nullo graeco
scriptore adhuc enotatum est exemplum, quo εἶδος ut latin. ‚species‘ active dicatur de ‚ad-
spectu‘. Entsprechend J. H. Thayer, A Greek-English Lexicon of the New Testament. Being
Grimm’s Wilke’s Clavis Novi Testamenti translated revised and enlarged, Edinburgh ⁴1901
= 1961, 172b s. v. εἶδος 1: „com[monly] explained, by sight i. e. beholding […]; but no ex[ample]
has yet been adduced fr[om] any Gr[ee]k writ[ings] in which εἶδος is used actively, like the
Lat[in] species, of vision.“ S. ferner etwa G. Kittel, Art. εἶδος, in: ThWNT II (1935 = 1957)
371–373: 372,1–12 und unter den Kommentaren besonders Thrall, The Second Epistle to the
Corinthians I (s. Anm. 7), 387 f.
14 Bauer, Wörterbuch⁵, 438 s. v. εἶδος 3. Wörtlich gleich: Bauer / A land, Wörterbuch⁶,
446 s. v. εἶδος 3. – Ältere Wörterbücher zum Neuen Testament, die für εἶδος 2 Kor 5,7 ak-
tivische Bedeutung behaupten: J. F. Schleusner, Novum Lexicon graeco-latinum in Novum
Testamentum, Leipzig ⁴1819, I 707 s. v. 2; Chr.A. Wahl, Clavis Novi Testamenti philologica,
Leipzig ³1843, 128b s. v. 3; J. Parkhurst / H. J. Rose / J. R. Major, A Greek and English Lexi-
con to the New Testament, London 1845, 160b s. v. I; S.Ch. Schirlitz / Th. Eger, Griechisch-
deutsches Wörterbuch zum Neuen Testamente, Gießen ⁶1908, 119a s. v. 2.
15
A. a. O. Bauer fügt noch hinzu, daß „derselbe Gegensatz“ zwischen „Glauben“ und „Se-
hen“, wie er in 2 Kor 5,7 vorliege, auch in Joh 20,29 begegne. Die dort erscheinende Antithese
οἱ μὴ ἰδόντες καὶ πιστεύσαντες („die nicht gesehen haben und doch zum Glauben gekommen
sind“) besagt jedoch für das Verständnis von εἶδος 2 Kor 5,7 schlechterdings nichts.
16 F. W. Danker, A Greek-English Lexicon of the New Testament and other Early Christian
18
S. dazu oben Anm. 3.
19 T. Muraoka, A Greek-English Lexicon of the Septuagint, Louvain – Paris – Walpole, MA
2009, 192 s. v. εἶδος 3 gibt für Num 12,8 LXX zu Recht die Bedeutung „visible form“ an. Vgl.
auch J. Lust / E. Eynikel / K. Hauspie, Greek-English Lexicon of the Septuagint. Revised
Edition, Stuttgart 2003, 173a, wo für εἶδος keine aktivische Bedeutung verzeichnet ist.
20
Vgl. zu ἐν εἴδει καὶ οὐ δι’ αἰνιγμάτων die folgenden Übersetzungen: A. Pietersma /
B. G. Wright, A New English Translation of the Septuagint, Oxford – New York ²2009, 121:
„in visible form and not through riddles“; W. Kraus / M. Karrer, Septuaginta Deutsch. Das
griechische Alte Testament in deutscher Übersetzung, Stuttgart 2009, 148: „in einer sichtbaren
Gestalt und nicht in Rätseln“.
21 Die Worte sind Bezugnahme auf Ex 24,15–18; 33,18–23 LXX.
22
Philo, Leg All III 103; vgl. Her 262.
„Wandeln im Glauben“ – „Wandeln im Schauen“? 125
seiner Auslegung von 2 Kor 5,7 für εἶδος eine aktivische Bedeutung annehme,
als unzutreffend bezeichnet werden. Severian deutet εἶδος vielmehr auf die
„Gestalt“ Gottes: διὰ πίστεως ἐλπίζομεν εἰς θεόν· οὐ γὰρ τὸ εἶδος αὐτοῦ ὁρατὸν
ἡμῖν ἐστιν – „Im Glauben hoffen wir auf Gott; denn seine Gestalt ist uns nicht
sichtbar.“23 Daß Theodoret von Kyros εἶδος in 2 Kor 5,7 als „Schauen“ versteht,
ist keineswegs sicher. Seine Auslegung der Verse 2 Kor 5,6–8 lautet:
„Nicht dies sagt er (sc. Paulus), daß wir fern vom Herrn sind, solange wir noch an den
sterblichen Leib gebunden sind; sondern [er sagt], daß wir ihn jetzt mit den Augen des
Leibes nicht sehen, ihn dann aber (sc. wenn wir den neuen Leib empfangen haben) auch
sehen und mit ihm zusammensein werden (ὅτι νῦν αὐτὸν τοῖς τοῦ σώματος ὀφθαλμοῖς
οὐχ ὁρῶμεν, τότε δὲ καὶ ὀψόμεθα, καὶ συνεσόμεθα). Jetzt nämlich, sagt er, schauen wir
nicht die erwarteten Dinge unmittelbar, sondern wir sehen sie nur im Glauben (οὐκ αὐτὰ
βλέπομεν τὰ προσδοκώμενα πράγματα, ἀλλὰ διὰ μόνης αὐτὰ τῆς πίστεως ὁρῶμεν). Eben
deshalb haben wir auch das Verlangen, aus dem [irdischen] Leib auszuziehen und zu dem
Herrn nachhause zu kommen.“24
In dieser Auslegung können die Worte τοῖς τοῦ σώματος ὀφθαλμοῖς οὐχ ὁρῶμεν
und οὐκ βλέπομεν unmittelbare Aufnahme des οὐ διὰ εἴδους sein, und dann
läge in der Tat ein aktivisches Verständnis von εἶδος vor. Es ist aber durchaus
möglich, daß Theodoret das Wort εἶδος selbst auf die „sichtbare Gestalt“ der
προσδοκώμενα πράγματα deutet und lediglich im Zusammenhang seiner Aus-
legung dann auch vom „Schauen“ des Kyrios spricht.25 In diesem Fall bietet
seine Exegese keinen Beleg für ein aktivisches Verständnis des Wortes εἶδος.
Auch bei anderen griechischen Vätern ist festzustellen, daß sie für εἶδος eine
passivische Bedeutung voraussetzen, obwohl sie dann in der Interpretation des
Verses 2 Kor 5,7 bemerken, daß die Glaubenden den Kyrios gegenwärtig noch
23
So das erste Scholion bei K. Staab, Pauluskommentare aus der Griechischen Kirche. Aus
Katenenhandschriften gesammelt und herausgegeben, Münster 1933 = ²1984, 291,1–6. Das ebd.,
7–11 mitgeteilte zweite Scholion erwähnt die Möglichkeit einer anderen Deutung: Die Worte
οὐ διὰ εἴδους könnten sich auf die Gestalt des Kyrios ἐν σαρκὶ πρὸ τοῦ πάθους beziehen, die
Paulus nicht gesehen hat.
24 Theodoret von Kyros, Interpretatio Epistolae ad Corinthios secundae, zu 5,6–8 (PG 82,
408 B). Der erste Satz des in Übersetzung wiedergegebenen Textes (οὐ τοῦτο λέγει, ὅτι πόρρω
τοῦ Κυρίου ἐσμὲν ἔτι τῷ θνητῷ συνεζευγμένοι σώματι) steht scheinbar im Widerspruch zu dem,
was Paulus selbst in V. 6b sagt. Theodoret will jedoch lediglich herausstellen, daß das „Fernsein
vom Herrn“ keineswegs in jeder – und also auch in geistlicher – Hinsicht gilt, der Apostel mit
den Worten ἐκδημοῦμεν ἀπὸ τοῦ κυρίου vielmehr dezidiert auf den Unterschied zwischen dem
leiblich-irdischen Dasein und dem in V. 8b angesprochenen eschatologischen σὺν κυρίῳ εἶναι
(1 Thess 4,17b; Phil 1,23) abhebt.
25 Die Auslegung Theodorets entspräche in diesem Fall derjenigen, die sich z. B. bei H.-
J. Klauck, 2. Korintherbrief (NEB.NT 8), Würzburg 1986, 51 findet. Klauck vertritt für εἶδος
mit Nachdruck die passivische Bedeutung „das, was man sieht“ / „(sichtbare) Gestalt“ und
deutet dann: „Noch läßt Gott uns die Gestalt […] des erhöhten Herrn in seiner verklärten Leib-
lichkeit nicht unmittelbar sehen. Wir können uns nur im Glauben auf ihn – und damit auf das
Unsichtbare (4,18) – hin orientieren.“
126 „Wandeln im Glauben“ – „Wandeln im Schauen“?
nicht zu „schauen“ vermögen.26 Angemerkt sei noch, daß Clemens von Alex-
andrien († vor 215) und Origenes († 253/54) εἶδος in 2 Kor 5,7 nicht als „das
Schauen“ deuten. Clemens versteht das Wort vielmehr als „die äußere / sichtbare
Erscheinung“,27 Origenes als „die eigentliche (d. h. wahre und vollkommene)
Gestalt“.28 Unter den frühen lateinischen Vätern verdient Tertullian († nach
220) Erwähnung, der zu den Worten per fidem, non per speciem von 2 Kor 5,7
erklärend bemerkt: id est spe, non re („d. h. in der Hoffnung, nicht in der Wirk-
lichkeit“).29
Als Fazit kann nunmehr festgehalten werden, daß die Angaben des Bau-
er’schen Wörterbuchs zu εἶδος 2 Kor 5,7 – vielleicht von dem Hinweis auf
Theodoret von Kyros abgesehen – einer Nachprüfung nicht standhalten.30 Der
tatsächliche lexikalische Befund liefert somit kein hinreichendes Argument für
das Urteil, daß εἶδος in 2 Kor 5,7 die aktivische Bedeutung „das Schauen“ hat.
Zu fragen bleibt, ob der Vers selbst dazu nötigt, für diese Stelle einen besonderen
Sprachgebrauch anzunehmen. Eine positive Antwort wäre dann begründet, wenn
sich die Worte διὰ πίστεως γὰρ περιπατοῦμεν, οὐ διὰ εἴδους unter der Voraus-
setzung der üblichen passivischen Bedeutung von εἶδος nicht sinnvoll verstehen
ließen. Das aber ist keineswegs der Fall. Im Gegenteil: Setzt man für εἶδος in
2 Kor 5,7 die Bedeutung „die (äußere) Erscheinung“ / „die (sichtbare) Gestalt“
voraus, so erlaubt der Satz durchaus eine Interpretation, die sich problemlos
61, 51); Homilia in Epistulam II ad Corinthios X 2 (PG 61, 469). Wie der jeweilige Kontext zeigt,
versteht Chrysostomus εἶδος als „sichtbare Erscheinung“. An der ersten Stelle entsprechen
dem δι’ εἴδους die Wendungen φανερώτερον ἀποδειχθῆναι, διὰ τὸ περιφανές und φαίνεται; an
der zweiten Stelle entsprechen dem οὐ διὰ εἴδους die Worte οὐχ οὕτω σαφῶς sowie die 1 Kor
13,12 verpflichteten Ausdrücke ἐν ἐσόπτρῳ und ἐν αἰνίγματι. – In ähnlicher Weise wie Jo-
hannes Chrysostomus dürften den Satz 2 Kor 5,7 ebenfalls verstehen: Methodius von Olympus
(3./4. Jh.), De resurrectione II 16,9 (PG 18, 312 B / GCS 27, 365,9–12); Maximus Confessor
(† 662), Mystagogia 24 (PG 91, 705 A); Theophylakt von Achrida (ca. 1050/60–1125/26), Ex-
positio in Epistulam II ad Corinthios, zu 5,6–8 (PG 124, 849 B–D).
27 Clemens von Alexandrien, Paedagogus III, II 12,3 (GCS 12, 243,12 f.); Stromateis IV,
XXVI 166,2 (GCS 15, 322,13); V, VI 34,2 (GCS 15, 348,12). In Paedagogus III, II entspricht
εἶδος den Begriffen μορφή = „Gestalt / Erscheinung“ (11,2.3 [242,25.30]), τὰ βλεπόμενα = „das
Sichtbare“ (11,3 [242,28]) und ὄψις = „äußere Erscheinung“ (12,2 [243,7]).
28
Origenes, Commentarii in Joannem X 43 (27) § 306 zu 2,21 f. (GCS 10, 222,21 f.); XIII 53
(52) § 355 zu 4,42 (ebd., 281,30–283,21). In X 43 wählt R. Gögler unter Hinweis auf den Kon-
text für den Ausdruck ἡ διὰ εἴδους πίστις die Übersetzung „der Glaube in seiner Eigentlichkeit“:
Origenes, Das Evangelium nach Johannes, übersetzt und eingeführt von R. Gögler, Einsiedeln –
Zürich – Köln 1959, 240. In XIII 53 deutet Origenes die „eigentliche Gestalt“ auf die von dem
„bloßen Glauben“ (ψιλὴ πίστις) zu unterscheidende Gotteserkenntnis als die Vollendung des
Glaubens. Vgl. dazu etwa XIX 3 §§ 16–20 zu 8,19 (GCS 10, 301,15–302,9).
29
Tertullian, De resurrectione carnis XLIII (hg. v. E. Evans, London 1960, 120,6 f.).
30
Sollte Theodoret – und sollten andere Kirchenväter – εἶδος in 2 Kor 5,7 als „das Schauen“
verstehen, so gehört das ebenso wie die in der Peschitta und in dem koptisch-saïdischen Neuen
Testament zu verzeichnende Übersetzung in die Auslegungsgeschichte des Verses. Für die
Frage nach der Bedeutung des Wortes selbst ist es für sich genommen ohne Relevanz.
„Wandeln im Glauben“ – „Wandeln im Schauen“? 127
sowohl in den engeren Kontext der Verse 2 Kor 5,6–8 wie auch in den über-
greifenden Zusammenhang von 2 Kor 4,7–5,10 einfügt. Das ist jetzt in einem
weiteren Schritt unserer Betrachtungen aufzuzeigen.
III
31 Das gilt insbesondere für die Verse 2 Kor 5,1–10, zu denen auf das Referat bei Wolff, Der
zweite Brief des Paulus an die Korinther (s. Anm. 7), 101–106 hingewiesen sei.
32
S. dazu neben 2 Kor 4,7–5,10 nur 2 Kor 1,3–14.18–22.24; 2,14–3,6; 3,12 f.; 4,1–6; 5,11–16;
6,1–10.
33 Ein deutliches Indiz dafür ist das Nebeneinander von ἡμεῖς (Paulus) und ὑμεῖς (die Korin-
ther) in 2 Kor 4,12.14. Das gleiche Nebeneinander findet sich z. B. in 2 Kor 1,6 f.11.12–14.18.21.24;
3,1–3; 4,5.12; 5,11–13; 6,1.
34 Dieser Auftrag und Dienst ist das beherrschende Thema von 2 Kor 2,14–7,4. S. besonders
das zuvor Gesagte weiter. Weil Paulus in aller Bedrohung täglich die Kraft
Gottes erfährt, deshalb verzagt er nicht (οὐκ ἐγκακοῦμεν 4,16 [vgl. 4,1]). Er
weiß, daß auf die gegenwärtige Bedrängnis, die er in seinem Dienst erfahren
muß, eine unermeßliche „Herrlichkeit“ im zukünftigen Leben bei Gott folgen
wird (4,17). Aufgrund dieser Gewißheit ist er nicht auf das „Sichtbare“ und „Ver-
gängliche“, sondern auf das „Unsichtbare“ und „Ewige“ ausgerichtet (4,18). Die
Aussage von 4,18 wird in dem Satz 5,1 näher erläutert: οἴδαμεν γὰρ ὅτι ἐὰν ἡ
ἐπίγειος ἡμῶν οἰκία τοῦ σκήνους καταλυθῇ, οἰκοδομὴν ἐκ θεοῦ ἔχομεν, οἰκίαν
ἀχειροποίητον αἰώνιον ἐν τοῖς οὐρανοῖς – „Wir wissen ja, daß wir, wenn unsere
irdische Zeltwohnung abgebrochen sein wird, einen Bau von Gott haben, ein
nicht von Menschenhänden gemachtes ewiges Haus im Himmel.“ Dem ver-
gänglichen irdischen Leib stellt Paulus hier den unvergänglichen himmlischen
Leib gegenüber, den er im ewigen Leben bei Gott haben wird.37 Nach diesem
Leib sehnt er sich, hat er doch bereits eine „Anzahlung“ (ἀρραβών) auf das zu-
künftige Heil empfangen – nämlich den Heiligen Geist, den Gott ihm gegeben
hat (5,2–5).38
An dieser Stelle folgen nun die Worte 5,6–8, die zunächst ganz zitiert seien: [6]
θαρροῦντες οὖν πάντοτε καὶ εἰδότες ὅτι ἐνδημοῦντες ἐν τῷ σώματι ἐκδημοῦμεν
ἀπὸ τοῦ κυρίου· [7] διὰ πίστεως γὰρ περιπατοῦμεν, οὐ διὰ εἴδους· [8] θαρροῦμεν
δὲ καὶ εὐδοκοῦμεν μᾶλλον ἐκδημῆσαι ἐκ τοῦ σώματος καὶ ἐνδημῆσαι πρὸς τὸν
κύριον. Was die Struktur dieses Textes betrifft, so sind zwei Möglichkeiten der
Analyse gegeben: 1. Paulus begann in V. 6 mit einem partizipialen Nebensatz,
den er durch einen Hauptsatz weiterführen wollte. Er fügte dann aber zunächst
als Parenthese die Aussage von V. 7 hinzu und brach, ohne den mit V. 6 begon-
nenen Satz syntaktisch korrekt zuende zu führen, hinter V. 7 ab (Anakoluth). Im
Anschluß daran formulierte er mit V. 8 den ursprünglich beabsichtigten Haupt-
satz, indem er das Partizip θαρροῦντες von V. 6 durch θαρροῦμεν δέ wieder
aufnahm. – 2. Paulus gebraucht die beiden Partizipien θαρροῦντες und εἰδότες
von V. 6 anstelle der finiten Formen θαρροῦμεν und οἴδαμεν,39 so daß der Vers
den Charakter eines Hauptsatzes hat. Auf ihn folgen dann zwei weitere Haupt-
sätze: zunächst V. 7 als Zwischengedanke und sodann V. 8 als Aufnahme und
37
Die Worte ἡ ἐπίγειος ἡμῶν οἰκία τοῦ σκήνους sind Bild für das irdische σῶμα (2 Kor
4,10; 5,6.8.10), das in 4,11 als θνητὴ σάρξ bezeichnet wird. Mit der von Gott bereiteten himm-
lischen οἰκοδομή ist entsprechend der neue Leib gemeint, den die an Christus Glaubenden mit
ihrer Auferstehung empfangen werden (vgl. 1 Kor 15,44; Phil 3,21). Den Grund für die in 5,1
geäußerte Gewißheit hat Paulus in 4,14 genannt: Die Auferweckung der Glaubenden ist die
notwendige Folge der Auferweckung Jesu Christi. S. dazu O. Hofius, Die Auferstehung der
Toten als Heilsereignis. Zum Verständnis der Auferstehung in 1 Kor 15, in: Ders., Exegetische
Studien (WUNT 223), Tübingen 2008, 102–114: 106–111.
38
Zum Heiligen Geist als ἀρραβών s. auch 2 Kor 1,22. Vgl. ferner die Kennzeichnung des
Geistes als ἀπαρχή („Erstlingsgabe“) in Röm 8,23.
39
Paulus wählt des öfteren anstelle des Verbum finitum ein Partizip; s. Röm 3,24; 6,6; 2 Kor
4,2.8–10; 5,12.19c; 6,3 f.; 7,5; 8,19; 9,11.13; 10,4–6; 11,6. Vgl. F. Blass / A. Debrunner / F. Reh-
kopf, Grammatik des neutestamentlichen Griechisch, Göttingen ¹⁷1990, § 468,1 mit Anm. 1.
„Wandeln im Glauben“ – „Wandeln im Schauen“? 129
40
Die beiden Wendungen διὰ πίστεως und διὰ εἴδους lasse ich zunächst unübersetzt. Der
erstgenannten Analyse entspräche als Übersetzung: „[6] Indem wir nun allezeit guten Mutes
sind und doch wissen, daß wir, solange wir in dem [irdischen] Leib Heimat haben, in der
Fremde fern vom Herrn sind, – [7] wir wandeln ja διὰ πίστεως, nicht διὰ εἴδους –. [8] Wir sind
also guten Mutes und wollen doch lieber die Heimat in dem [irdischen] Leib verlassen und bei
dem Herrn Heimat finden.“
41 Sprachliche Hinweise zur Übersetzung: 1. Das καί in καὶ εἰδότες V. 6 und in καὶ
εὐδοκοῦμεν V. 8 markiert einen Kontrast, hat also die Bedeutung „und doch“, „und trotzdem“.
S. zu diesem καί adversativum Blass / Debrunner / Rehkopf, Grammatik § 442,1b; Bauer /
Aland, Wörterbuch⁶, 797 s. v. καί I.2.g. Weitere paulinische Belege: Röm 2,3; 1 Kor 12,12;
2 Kor 6,8c.9a.9c.10c. – 2. Das Präsens von ἐνδημεῖν (V. 6 [ebenso V. 9]) heißt „Heimat haben“ /
„zuhause sein“, der Infinitiv Aorist ἐνδημῆσαι (V. 8) dagegen „Heimat finden“ / „in die Heimat
kommen“; das Präsens von ἐκδημεῖν (V. 6 [ebenso V. 9]) heißt „in der Fremde sein“, der In-
finitiv Aorist ἐκδημῆσαι (V. 8) dagegen „die Heimat verlassen“ / „auswandern“ / „fortziehen“. –
3. In dem Zwischensatz V. 7 hat γάρ erklärende Bedeutung (vgl. Röm 7,1; 1 Kor 16,5). – 4. Da
θαρροῦμεν δέ V. 8 das θαρροῦντες von V. 6 wieder aufnimmt, hat δέ hier die Bedeutung „also“ /
„wie gesagt“ (vgl. 2 Kor 10,1 f. [δέ V. 2]).
42
Die Worte θαρροῦντες V. 6 und θαρροῦμεν V. 8 entsprechen m. E. dem οὐκ ἐγκακοῦμεν
von 4,1.16. Sie beziehen sich also auf die apostolische Wirksamkeit des Paulus, nicht dagegen
auf die Erwartung des neuen Leibes.
43
Vgl. περιπατεῖν in Röm 6,4; 1 Kor 7,17; 2 Kor 10,3 sowie außerhalb der Paulusbriefe Barn
10,11.
44 Zu diesem Gebrauch von διά c. gen. vgl. bei Paulus: Röm 2,27; 4,11; 8,25; 14,20; 1 Kor
wird oder an denen er sich orientiert;45 die Rede ist vielmehr von dem, was sein
Leben im irdisch-vergänglichen Leib kennzeichnet. Die wörtliche Übersetzung
des Satzes 2 Kor 5,7 lautet demnach: „Wir führen unser Leben ja im Glauben,
nicht in der äußeren Erscheinung (nicht in der sichtbaren Gestalt).“ Unter der
πίστις ist zweifellos der Glaube von 2 Kor 4,13 zu verstehen. Es ist dies der
Glaube, der Paulus dazu drängt, das Evangelium von der Herrlichkeit Christi zu
verkündigen.46 Zu diesem seinem Glauben gehört wesentlich das „Wissen“, von
dem er in 4,14 (εἰδότες ὅτι […]) und in 5,1 (οἴδαμεν ὅτι […]) spricht, – also die
Gewißheit, daß Gott ihn von den Toten auferwecken und ihm einen neuen, un-
vergänglichen Leib geben wird. Den so zu beschreibenden Glauben bezeichnet
der Apostel mit der positiven Aussage διὰ πίστεως περιπατοῦμεν als die Signatur
seines irdischen Lebens.47 Ist somit von der πίστις des Paulus die Rede, so wird
hinsichtlich der negativen Aussage οὐ διὰ εἴδους (sc. περιπατοῦμεν) für εἶδος
das gleiche gelten.48 Was dann mit εἶδος gemeint ist, ergibt sich von dem her,
was in den Versen 5,1–5 gesagt war: Es ist „die kommende neue Leiblichkeit“.49
Diese ist in der Zeit des irdischen περιπατεῖν eine geglaubte, keineswegs aber
eine bereits in irgendeiner Weise wahrnehmbare Wirklichkeit. Als Aussage des
Apostels über sich selbst kann der Satz 2 Kor 5,7 mithin so umschrieben werden:
„Ich führe mein gegenwärtiges irdisches Leben als ein Glaubender, der im Glau-
ben der Gabe des neuen Leibes gewiß ist, nicht aber als einer, an dem dieser neue
Leib bereits sichtbar in Erscheinung tritt.“50 Veranlaßt ist diese Aussage durch
45
So versteht z. B. Furnish, II Corinthians (s. Anm. 7), 253.302. Er übersetzt: „We conduct
ourselves according to faith, not according to appearance“ (253) und deutet den Satz als eine
Parallele zu 2 Kor 4,18: „The crucial point is the orientation of one’s life“ und: „Believers are
guided by what is believed, not by what is seen“ (302). Wenn Paulus dies hätte sagen wollen,
wäre aber m. E. die Verbindung von περιπατεῖν mit κατά c. acc. (vgl. Röm 8,4; 14,15) oder mit
bloßem Dativ (vgl. Gal 5,16) zu erwarten.
46 So 2 Kor 4,13, wo λαλεῖν wie in 2 Kor 2,17 die Verkündigung des Evangeliums meint
(vgl. 1 Kor 2,6 f.13; Phil 1,14; 1 Thess 2,2.4.16). Zur Kennzeichnung des Evangeliums als τὸ
εὐαγγέλιον τῆς δόξης τοῦ Χριστοῦ s. 2 Kor 4,4.
47 Die Aussage διὰ πίστεως περιπατοῦμεν von 2 Kor 5,7 entspricht den Worten ὃ νῦν ζῶ ἐν
Wendungen διὰ πίστεως und διὰ εἴδους durch διά c. gen. der begleitende Umstand angegeben
wird. An den vergleichbaren Stellen der Paulusbriefe kennzeichnet der präpositionale Ausdruck
jeweils die Person, von der die Rede ist, hinsichtlich ihres Zustandes oder ihrer Situation. Er
kann dementsprechend in einen Aussagesatz umgeformt werden: Röm 2,27: διὰ γράμματος καὶ
περιτομῆς = „mit Gesetz und Beschneidung“ = „als einer, der das Gesetz hat und beschnitten
ist“; Röm 4,11: δι’ ἀκροβυστίας = „im Zustand der Unbeschnittenheit“ = „als solche, die nicht
„Wandeln im Glauben“ – „Wandeln im Schauen“? 131
die Worte ἐνδημοῦντες ἐν τῷ σώματι ἐκδημοῦμεν ἀπὸ τοῦ κυρίου von V. 6. Die
auf den ersten Blick merkwürdige Feststellung des Apostels, daß er in seiner ir-
dischen Existenz „fern vom Herrn“ sei, bedarf einer Erläuterung, und so erklärt
er: Bei dem Kyrios zu sein – das bedeutet zugleich und in einem, den neuen und
unvergänglichen Leib zu besitzen. Beides gehört unlöslich zusammen. Die Exi-
stenz im irdischen Leib ist insofern Existenz „in der Fremde“ und deshalb Anlaß
zu der Sehnsucht, für immer bei Christus zu sein (V. 8).
Es entspricht dem Tatbestand, auf den die Worte οὐ διὰ εἴδους (sc.
περιπατοῦμεν) mit Nachdruck hinweisen, daß die sichtbare Wirklichkeit des
Apostels von Leiden, Bedrängnis und ständiger Todesgefahr gezeichnet ist.
Sosehr Paulus nun aber in das Leben bei Christus versetzt sein möchte, sosehr
begreift er doch das irdische Leben als den Ort, an dem er mit ganzem Einsatz
im Dienst des Kyrios steht – in einem Dienst, über den dieser das letzte Urteil
sprechen wird. Indem Paulus das in den Versen 2 Kor 5,9–10 betont, schließt er
den in 2 Kor 4,7 begonnenen Gedankengang ab.
IV
Wie unsere Überlegungen ergeben haben, hat εἶδος in 2 Kor 5,7 nicht die ak-
tivische Bedeutung „das Schauen“, sondern die passivische Bedeutung „die
(äußere) Erscheinung“ / „die (sichtbare) Gestalt“.51 Eine Abweichung von dem
sonstigen altgriechischen Sprachgebrauch liegt mithin an dieser Stelle nicht
vor. Diejenigen Lexika, die für εἶδος ausschließlich eine passivische Bedeutung
verzeichnen,52 tun das mit vollem Recht. Wo dagegen Wörterbücher des neute-
stamentlichen Griechisch für 2 Kor 5,7 die aktivische Bedeutung „das Schauen“
anführen53 oder Handwörterbücher des Altgriechischen diese Bedeutung im
Hinblick auf 2 Kor 5,7 als einen besonderen neutestamentlichen Sprachgebrauch
notieren54, da handelt es sich um eine Auskunft, die eines tragfähigen Fun-
damentes entbehrt.
beschnitten sind“; Röm 8,25: δι’ ὑπομονῆς = „in Geduld“ = „als solche, die Geduld haben“;
Röm 14,20: διὰ προσκόμματος = „mit Anstoß“ = „als einer, der dabei Anstoß nimmt“; 1 Kor
16,3: δι’ ἐπιστολῶν = „mit Empfehlungsbriefen“ = „als solche, die mit Empfehlungsbriefen
versehen sind“; 2 Kor 2,4: διὰ πολλῶν δακρύων = „unter vielen Tränen“ = „als einer, der dabei
viele Tränen vergossen hat“; 2 Kor 6,8: διὰ δόξης καὶ ἀτιμίας, διὰ δυσφημίας καὶ εὐφημίας
= „bei Ehrung und Schmähung, bei Verleumdung und Rühmung“ = „als solche, die geehrt und
geschmäht, verleumdet und gerühmt werden“.
51
G. Abbott-Smith, A Manual Greek Lexicon of the New Testament, Edinburgh ³1937
= 1994, 131 s. v. εἶδος 1 ordnet 2 Kor 5,7 deshalb zutreffend der Bedeutung „that which is seen,
appearance, external form“ zu.
52
S. Anm. 1, Anm. 13 und Anm. 51.
53
S. Anm. 14 und Anm. 16.
54 So z. B. K. Jacobitz / E. E. Seiler, Griechisch-deutsches Wörterbuch, Leipzig ³1876
Die Feststellung, daß die Übersetzung von εἶδος 2 Kor 5,7 mit „das Schauen“
aufgrund des lexikalischen Befundes als sprachlich unhaltbar beurteilt werden
muß und auch exegetisch durch nichts gefordert ist, hat eine gewichtige Kon-
sequenz, auf die abschließend hingewiesen sei: Es geht in den Worten διὰ
πίστεως […] περιπατοῦμεν, οὐ διὰ εἴδους keineswegs um einen Gegensatz
zwischen dem „Glauben“ als dem Wesensmerkmal der gegenwärtigen irdischen
Existenz und dem „Schauen“ als dem Wesensmerkmal der zukünftigen himm-
lischen Existenz.55 Der Satz liefert deshalb – entgegen einer verbreiteten Auf-
fassung – keinen Beleg dafür, daß nach der Überzeugung des Paulus der Glaube
durch das Schauen „von Angesicht zu Angesicht“ (1 Kor 13,12) abgelöst wird und
also mit der Heilsvollendung ein Ende findet. Ein solcher Gedanke wäre auch
schwerlich mit dem vereinbar, was sich den Paulusbriefen insgesamt entnehmen
läßt: Der Glaube ist für den Apostel die durch das Evangelium gewirkte Relation
zu Jesus Christus56 und als solcher der Modus der Teilhabe an dem Heil, das
Gott dem Menschen in der Person und dem Werk seines Sohnes bereitet hat.57
gart – Leipzig 1931 = ¹⁵1994, 217b s. v. 5; H. Menge, Langenscheidts Großwörterbuch Alt-
griechisch-Deutsch, Berlin u. a. ²⁸1994, 204b s. v. 1. Eine beachtenswerte Ausnahme bildet
W. Gemoll / K. Vretska, Griechisch-deutsches Schul- und Handwörterbuch, München ⁵1954,
242a s. v.
55
Vgl. Furnish, II Corinthians (s. Anm. 7), 302: „The contrast in v. 7 is not between faith
as the mode of one’s present existence (in this age) and ‚seeing‘ as the mode of one’s existence
in the age to come. […] Paul is contrasting two modes of existence in this age.“
56 Der Glaube ist seinem Wesen nach „Glaube an Jesus Christus“: πίστις Ἰησοῦ Χριστοῦ
Röm 3,22; Gal 2,16a; 3,22 / πίστις Ἰησοῦ Röm 3,26 / πίστις Χριστοῦ Gal 2,16b; Phil 3,9 / πίστις
τοῦ υἱοῦ τοῦ θεοῦ Gal 2,20. Daß der Genitiv an allen diesen Stellen ein Genitivus objectivus
ist, ergibt sich bereits aus Gal 2,16, wo dem Syntagma πίστις Ἰησοῦ Χριστοῦ / πίστις Χριστοῦ
die Verbalphrase πιστεύειν εἰς Χριστὸν Ἰησοῦν entspricht (s. zu dieser ferner auch Röm 10,14;
Phil 1,29).
57 Röm 1,16 f.; 3,21–4,25; 5,1 f.; 9,30–33; 10,4–15; Gal 2,16; 3,1–14.21–29; Phil 3,7–11.
„Extra nos in Christo“
Voraussetzung und Fundament des „pro nobis“ und
des „in nobis“ in der Theologie des Paulus*
Lediglich in den Anmerkungen werden bei der Angabe von Belegen gelegentlich in eckigen
Klammern Parallelen aus den Deuteropaulinen notiert. – Literaturhinweise beschränken sich
auf Arbeiten, denen ich wichtige Einsichten verdanke, sowie auf solche, in denen bestimmte
exegetische Urteile ihre nähere Begründung finden. Für hilfreiche Gespräche danke ich meinem
Freund Dr. Martin Bauspieß.
2 Die Auferstehung Jesu wird zwar nur in 2 Kor 5,15b in Verbindung mit einer personalen
ὑπέρ-Wendung ausdrücklich erwähnt, sie ist aber an jenen Stellen, die nur von Jesu Tod spre-
chen, durchaus mit im Blick. Vgl. exemplarisch in Röm 8,31–34 das Neben- und Miteinander
der Verse 32 und 34 sowie ferner auch Röm 4,25; 14,9; 1 Thess 4,14.
3 Diese Bedeutung liegt auch in dem Ausdruck ἐντυγχάνειν ὑπέρ τινος Röm 8,27.34 vor: „für
jemanden / zugunsten jemandes eintreten“ (ebenso Hebr 7,25). – In Röm 8,31 heißt εἶναι ὑπέρ
τινος wie in Mk 9,40 par. Lk 9,50: „für jemanden sein“, „auf jemandes Seite stehen“.
4 Gal 2,20b.
5
Röm 5,6.8; 8,32; 2 Kor 5,21; Gal 3,13; 1 Thess 5,10 (v. l.: περὶ ἡμῶν) [Eph 5,2; Tit 2,14]. Die
Worte ὄντων ἡμῶν ἀσθενῶν […] ὑπὲρ ἀσεβῶν Röm 5,6 stehen in Parallele zu der Formulierung
ἁμαρτωλῶν ὄντων ἡμῶν […] ὑπὲρ ἡμῶν Röm 5,8; sie sind also in in der Sache ein Beleg für
ὑπὲρ ἡμῶν.
6
1 Kor 1,13 (v. l.: περὶ ὑμῶν); 11,24b [Eph 5,2 v. l.].
7 Röm 14,15; vgl. δι᾽ ὅν 1 Kor 8,11.
8
2 Kor 5,14b.15a [1 Tim 2,6]. In 2 Kor 5,14b.15a klingt in ὑπὲρ πάντων neben der Bedeutung
„zugunsten von“ / „zugute“ zugleich der Gedanke der Stellvertretung mit an, die dabei dezidiert
als inkludierende Stellvertretung, d. h. als ein die πάντες einschließendes Geschehen gedacht ist.
9
2 Kor 5,15b [vgl. Eph 5,25: ὑπὲρ αὐτῆς sc. τῆς ἐκκλησίας].
134 „Extra nos in Christo“
damit jene Größe benennen, die sein Personzentrum regiert: ἐν ἐμοί10, ἐν ἡμῖν11
und ἐν ὑμῖν12. Bei den beiden Wendungen „pro nobis“ und „in nobis“ handelt es
sich also um Formulierungen, die bereits bei Paulus selbst begegnen. Das gilt
ebenfalls für die Formel „in Christo“,13 nicht aber für das Präpositionalgefüge
„extra nos“ und dementsprechend auch nicht für die Verbindung „extra nos in
Christo“. Mit ihr wird vielmehr eine Formulierung aufgenommen, die sich bei
Martin Luther findet. In der Römerbrief-Vorlesung der Jahre 1515/1516 stellt Lu-
ther gleich zu Anfang betont heraus, worum es nach seiner Erkenntnis in diesem
Brief geht: Der Apostel – so hören wir – will im Hinblick auf die Frage nach dem
Heil die Gerechtigkeit und Weisheit der Menschen als absolut nichtig erweisen
und die allein heilschaffende Gerechtigkeit und Weisheit Gottes bezeugen –
nämlich omnia, que extra nos sunt et in Christo, „alles, was außerhalb von uns
und in Christus ist“.14 Im gleichen Sinn heißt es in einer Predigt vom Jahre 1517:
Ubi […] est sapientia? Ubi iustitia? Ubi veritas? Ubi virtus? Non in nobis, sed
in Christo, extra nos in Deo. – „Wo ist Weisheit? Wo Gerechtigkeit? Wo Wahr-
heit? Wo Kraft? Nicht in uns, sondern in Christus und also außerhalb von uns
in Gott.“15
10
Gal 2,20a [Kol 1,29]. Nicht hierher gehören 2 Kor 13,3, wo ἐν ἐμοί „durch mich“ heißt,
und Gal 1,16a, wo es für den einfachen Dativ „mir“ steht (vgl. ἐν αὐτοῖς = „ihnen“ Röm 1,19; ἐν
τοῖς ἀπολλυμένοις = „denen, die verlorengehen“ 2 Kor 4,3).
11 Röm 8,4 [2 Tim 1,14]. Dem ἐν ἡμῖν entspricht ἐν ταῖς καρδίαις ἡμῶν 2 Kor 4,6 (vgl. ἐν οἷς
in V. 4); in Röm 5,5 und 2 Kor 1,22 steht ἐν ταῖς καρδίαις ἡμῶν dagegen für εἰς τὰς καρδίας
ἡμῶν (so Gal 4,6). – In 2 Kor 4,12 heißt ἐν ἡμῖν „an uns“; in 2 Kor 5,19 hat es nach meinem
Urteil die Bedeutung „unter uns“ (s. O. Hofius, Das Wort von der Versöhnung und das Gesetz,
in: Ders., Exegetische Studien [WUNT 223], Tübingen 2008, 149–160).
12
Röm 8,9–11; 1 Kor 3,16; 6,19 [vgl. ἐν ταῖς καρδίαις ὑμῶν Eph 3,17; Kol 3,15]. – In 1 Kor 1,6;
14,25; 2 Kor 13,5; Gal 3,5; 4,19; Phil 1,6; 2,5.13; 1 Thess 2,13 [Kol 1,27] hat ἐν ὑμῖν – wie häufig
bei Paulus – die Bedeutung „unter euch“ bzw. „bei euch“; in 2 Kor 4,12 heißt es „an euch“.
13
Die Formel erscheint bei Paulus in unterschiedlichen Bedeutungen. Zu ἐν Χριστῷ / ἐν
Χριστῷ Ἰησοῦ als Rekurs auf das Christusgeschehen s. Röm 3,24; 8,39 (s. u. Anm. 104); 1 Kor
1,4 f.; 2 Kor 5,19a [vgl. Eph 1,6 f.; 2,6 f.10.13.15 f.; 4,32; Kol 1,14.19 f.].
14
M. Luther, Vorlesung über den Römerbrief (1515/1516), Scholion zu Röm 1,1, WA 56,
158,9. Ich zitiere nach: M. Luther, Vorlesung über den Römerbrief 1515/1516. Lateinisch-
deutsche Ausgabe, Darmstadt 1960, I 10. Luther fährt dann fort (ebd., I 10 [WA 56, 158,10–14]):
Deus enim nos non per domesticam, sed per extraneam iustitiam et sapientiam vult salvare, non
que veniat et nascatur ex nobis, sed que aliunde veniat in nos, non que in terra nostra oritur, sed
que de celo venit. Igitur omnino externa et aliena iustitia oportet erudiri. – Vgl. in der Römer-
briefvorlesung noch das Scholion zu Röm 4,7, in dem es heißt (Lateinisch-deutsche Ausgabe,
I 276 [WA 56, 279,22 f.30–32; 280,2–4]): Extrinsecum nobis est omne bonum nostrum, quod
est Christus. […] Quo manifeste sese vacuam et pauperem ostendit (sc. Ecclesia) intra se esse,
et extra se esse plenitudinem et iustitiam suam. […] Sciunt (sc. sancti) in se esse peccatum,
sed propter Christum tegi et non imputari, ut omne suum bonum extra se in Christo, qui tamen
per fidem in ipsis est, protestentur. Dem „extra nos in Christo“ korrespondiert das „extra
nos in Deo“; s. Lateinisch-deutsche Ausgabe, I 258. 328/330, II 130 (WA 56, 268,27–269,12.
305,24–306,2. 386,26 f.).
15
M. Luther, Predigt über Mt 11,25–30 (1517), WA 1, 139,34 f.
„Extra nos in Christo“ 135
Die Verbindung der beiden Bestimmungen „extra nos“ und „in Christo“ läßt
sich bereits vor Luther in der theologischen Literatur des Abendlandes nach-
weisen,16 sie hat bei ihm jedoch als Fundamentalaussage seiner Rechtfertigungs-
lehre einen ganz spezifischen christologisch-soteriologischen Sinn gewonnen.
Die Frage, ob die Römerbrief-Vorlesung bereits reformatorisch ist oder noch
nicht und wie von daher die Worte „extra nos in Christo“ in den frühen Aus-
sagen Luthers genau verstanden sein wollen, kann und muß jetzt nicht erörtert
werden.17 Auch wenn das für den Reformator entscheidende Verständnis des
Evangeliums als des Glauben wirkenden Heilswortes Gottes noch nicht vor-
ausgesetzt sein sollte, so besagt die Formel „extra nos in Christo“ doch auf
alle Fälle schon hier, daß das Heil des Menschen in keinerlei Hinsicht aus ihm
selbst und seinem eigenen Vermögen kommt und auch nie je zu seinem eigenen
selbsterworbenen Besitz wird, sondern daß es ihm ausschließlich aufgrund der
rettenden Zuwendung Gottes in Jesus Christus als eine in freier Gnade gewährte
Gabe zuteil wird und erhalten bleibt.18
Die im reformatorischen Sinn verstandene Wendung „extra nos in Christo“
vermag – auch wenn sie in den Paulusbriefen selbst nicht vorkommt – in hervor-
ragender Weise zum Ausdruck zu bringen, was als die Signatur der paulinischen
Christologie und Soteriologie zu gelten hat. Das durch die Formel „in Christo“
präzisierte und dadurch allererst eindeutig definierte „extra nos“ ist für die chri-
stologisch-soteriologische Sicht des Apostels in ihrer Gesamtheit wie auch in
ihren einzelnen Aspekten sowohl bestimmend wie kennzeichnend, und es bildet
die grundlegende Voraussetzung und das bleibende Fundament dessen, was er
in solchem Zusammenhang über das „pro nobis“ und das „in nobis“ sagt. Das
16
S. z. B. Meister Eckhart, In Ioh. n. 118 (LW 3, 103,1–3): Verbum enim caro factum in
Christo, extra nos, hoc ipso quod extra nos non facit nos perfectos, sed postquam et per hoc
quod habitavit in nobis, nos denominat et nos perficit, ,ut filii dei nominemur et simus‘, 1 Ioh.
3. Ich verdanke das Zitat S. Kikuchi, Christological Problems in the Understanding of the
Sonship in Meister Eckhart, Bijdr. 69 (2008) 365–381: 380 Anm. 49.
17
Zu einer unterschiedlichen Antwort s. etwa die Interpretation bei H. J. Iwand einerseits und
bei O. Bayer andererseits: H. J. Iwand, Rechtfertigungslehre und Christusglaube. Eine Unter-
suchung zur Systematik der Rechtfertigungslehre Luthers in ihren Anfängen (TB 14), München
²1961, 28–37; Ders., Luthers Theologie, hg. v. J. Haar (NW 5), München 1974, 114–116; Ders.,
Glaubensgerechtigkeit nach Luthers Lehre, in: Ders., Glaubensgerechtigkeit. Gesammelte Auf-
sätze Band II, hg. v. G. Sauter (TB 64), München 1980, 11–125: 27–41; O. Bayer, Promissio.
Geschichte der reformatorischen Wende in Luthers Theologie (FKDG 24), Göttingen 1971,
57–77.137–143 (vgl. auch 274–297).
18 Der Genfer Reformator J. Calvin denkt im Entscheidenden nicht anders über das extra
nos in Christo beschlossene Heil. Dazu drei Zitate: Institutio (1559) III 11,4 (Opera selecta IV,
München ²1959, 185,17 f.): In ipso (sc. in Christo) et extra nos iusti reputamur coram Deo; In
Epistolam ad Galatos Commentarius (1548), zu Gal 2,20 (Ioannis Calvini Opera exegetica
XVI, Genève 1992, 55,16 f.): Insignis sententia, fideles extra se vivere, hoc est in Christo; In
Epistolam ad Ephesios Commentarius (1548), zu Eph 1,4 (ebd., 158,11 f.): Si in Christo sumus
electi, ergo extra nos.
136 „Extra nos in Christo“
In der Soteriologie des Paulus und mithin auch in seiner Anthropologie geht es
um den Menschen, der von der Sünde als dem fundamentalen Nein zu Gott, der
Quelle des Lebens, gezeichnet ist, deshalb unter dem „Fluch“ des Gesetzes als
des richtenden Wortes Gottes steht und aufgrund dieses Verdammungsurteils
dem ewig von Gott trennenden Tod verfallen ist.19 Diesem vor ihm verlorenen
Menschen hat Gott sich in der Person und in dem Werk des Menschen Jesus von
Nazareth rettend zugewandt. Daß Jesus der eschatologische Heilsbringer ist, das
kommt in dem Beinamen „Christus“ (Χριστός) zum Ausdruck, in dem für Pau-
lus die ursprüngliche messianische Bedeutung – allerdings in ihrem spezifisch
christlichen Verständnis! – durchaus noch mitschwingt. Durch das Werk Jesu,
das Christusgeschehen, empfängt der zuvor von der Sünde gezeichnete Mensch
die δικαιοσύνη – die heilvolle Beziehung zu dem lebendigen Gott.20 Mit dieser
bereits gegenwärtigen Heilsgabe ist ihm zugleich die eschatologische σωτηρία –
die Rettung vor dem zukünftigen Strafgericht Gottes und die Erlangung des
ewigen Lebens – fest verbürgt.21
Daß das Christusgeschehen Gottes rettende Tat für den Menschen ist, sieht
Paulus in dem Persongeheimnis Jesu Christi begründet – darin, daß er der „Sohn
Gottes“22 und als dieser „der Herr der Herrlichkeit“23 ist. Im Unterschied zu
dem Beinamen „Christus“ sagen die beiden genannten Begriffe nicht, wer Jesus
„für uns“ ist, sondern wer er in sich selbst ist.24 Der Hoheitstitel „Sohn Gottes“
kennzeichnet ihn als den, der seinem Ursprung und Wesen nach auf die Seite
19 Zum Menschen als Sünder s. besonders Röm 1,18–3,20; 3,23; 5,6–10.12–21; 7,7–25a; 8,5–8,
zum „Fluch“ des Gesetzes: Gal 3,10–12, zum Verdammungsurteil: Röm 5,16.18; 8,1; 2 Kor 3,9.
20
In den paulinischen Rechtfertigungsaussagen bezeichnet δικαιοσύνη als Relationsbegriff
die heilvolle Beziehung zu dem lebendigen Gott, von der dabei unter den beiden Gesichts-
punkten gesprochen wird, daß Gott diese Beziehung schafft und gewährt und daß sie dem
Menschen als seine Gabe zuteil wird. Entsprechend bedeutet δικαιοῦν (von Gott gesagt): „die
heilvolle Gottesbeziehung gewähren“, δικαιοῦσθαι (vom Menschen gesagt): „die heilvolle
Gottesbeziehung empfangen“.
21
Zur Unterscheidung von δικαιοσύνη und σωτηρία s. O. Hofius, „Fides ex auditu“. Ver-
kündigung und Glaube nach Römer 10,4–17, in: J. von Lüpke / E. Thaidigsmann (Hg.), Denk
raum Katechismus. FS Oswald Bayer, Tübingen 2009, 71–86: 78 f. (in dem vorliegenden Band:
105–120: 112).
22
Röm 1,3 f.9; 5,10; 8,3.29.32; 1 Kor 1,9; 15,28; 2 Kor 1,19; Gal 1,16; 2,20; 4,4.6; 1 Thess 1,10
[Eph 4,13; Kol 1,13].
23
1 Kor 2,8b.
24
Der „Sohn Gottes“-Titel erscheint bei Paulus vor allem in soteriologischen Aussagen –
dies aber nicht deshalb, weil er in sich selbst Ausdruck des „pro nobis“ wäre, sondern weil er
zum Ausdruck bringt, wer der ist, den Gott um des verlorenen Menschen willen in den Tod
„Extra nos in Christo“ 137
Gottes, seines Vaters, gehört; und wenn auf ihn die Gottesprädikation „der Herr
der Herrlichkeit“ bezogen wird, dann liegt darin das Bekenntnis, daß Gott selbst
in ihm gegenwärtig und er in Person die Gegenwart Gottes ist.25 Einzig aufgrund
seines göttlichen Seins kann Jesus als der eschatologische Heilsbringer Gottes
gedacht werden. Die Christologie bildet deshalb für Paulus die Grundlage der
Soteriologie, und das damit gegebene Verhältnis zwischen den beiden zwar nicht
voneinander zu trennenden, wohl aber zu unterscheidenden Größen ist grund-
sätzlich unumkehrbar. Die Christologie geht auch nicht in der Soteriologie auf,
und sie ist keineswegs bloß ihr „mythologischer“ Ausdruck.
Das Christusgeschehen, das wir jetzt weiter zu bedenken haben, begreift Pau-
lus als den differenzierten Zusammenhang von Heilstat Gottes und Heilswort
Gottes.26 Die Heilstat, in der Gott dem Menschen das Heil bereitet hat, umfaßt
die Menschwerdung Jesu Christi und ihr Ziel: das Sühne- und Versöhnungs-
geschehen seines Todes und seiner Auferstehung. Dieses Geschehen betrifft –
eben weil es ein eschatologisches Gottesgeschehen ist – nach Paulus die ganze
Menschheit und „umgreift alle Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft“.27 Des-
halb sind diejenigen, für die Christus stirbt und aufersteht, von Anfang an ganz
unmittelbar in das Sühne- und Versöhnungsgeschehen einbezogen – und zwar
dergestalt, daß sich von Gott her in Christi Tod die Aufhebung ihrer der Sünde
und dem Tod verfallenen Existenz und in seiner Auferstehung ihre Versetzung
in die neue, unter der Verheißung des ewigen Lebens stehende Existenz in der
δικαιοσύνη ereignet hat.28
Daß das „pro nobis“ der Heilstat Gottes in einem „extra nos“ gründet, kann in
den Paulusbriefen unter vier Aspekten wahrgenommen werden:
dahingegeben hat, und auf diese Weise die Größe der im Kreuzestod Jesu offenbar gewordenen
Liebe Gottes erkennen läßt (s. Röm 8,31 f.).
25
Vgl. 2 Kor 5,19 (θεὸς ἦν ἐν Χριστῷ) und deuteropaulinisch Kol 1,19; 2,9. Zu ὁ κύριος τῆς
δόξης als Gottesprädikation s. grHen 22,14; 27,3.5; äthHen 22,14; 25,3.7; 27,3.5; 36,4; 40,3;
63,2; 75,3; 83,8; koptApkEl 19,11.
26
S. dazu insbesondere 2 Kor 5,18–21 und zu diesem Text wie auch zu Parallelen in den Pau-
lusbriefen O. Hofius, Paulusstudien (WUNT 51), Tübingen ²1994, 1–9.15–22.148–150.
27
G. Eichholz, Die Grenze der existentialen Interpretation. Fragen zu Gerhard Ebelings
Glaubensbegriff, in: Ders., Tradition und Interpretation. Studien zum Neuen Testament und zur
Hermeneutik (TB 29), München 1965, 210–226: 220 (Voranstellung des Prädikats von mir).
28 S. dazu insbesondere Röm 6,1–14; 7,4; 2 Kor 5,14–21; Gal 2,19 f. sowie zur Sache G. Eich-
holz, Die Theologie des Paulus im Umriß, Neukirchen-Vluyn 1972, 188–214; O. Hofius,
Sühne und Versöhnung. Zum paulinischen Verständnis des Kreuzestodes Jesu, in: Ders., Paulus-
studien (s. Anm. 26), 33–49: 44–48. Daß die Beendigung der alten Existenz und die Versetzung
in die neue Existenz ausschließlich Gottes Werk und Gabe sind, betont Paulus nachdrücklich in
2 Kor 5,18a: τὰ δὲ πάντα ἐκ τοῦ θεοῦ. Vgl. auch 1 Kor 1,30 (ἐξ αὐτοῦ δὲ ὑμεῖς ἐστε ἐν Χριστῷ
Ἰησοῦ κτλ.).
138 „Extra nos in Christo“
1. Von der Menschwerdung Jesu Christi sagt Paulus in Gal 4,4 f.: Gott sandte
seinen Sohn als einen Menschen, der um unseres Heils willen sterben sollte,29
und diese Sendung geschah, als „die Erfüllung der Zeit“, d. h. der von ihm
selbst festgelegte Zeitpunkt gekommen war.30 Die Menschwerdung des Sohnes
Gottes kann demzufolge nicht einfach aus dem Zusammenhang historischer Ver-
knüpfung begriffen werden. Sie ist Handeln Gottes pro nobis, aber sie geschieht
gänzlich extra nos.31
2. Im Kreuzestod Jesu ist in göttlichem Zuvorkommen und deshalb ohne
jedes Dazutun des Menschen die Entscheidung über seine „Rechtfertigung“
und seine Versöhnung mit Gott gefallen. Christus – so heißt es eindringlich in
Röm 5,6–11 – ist „für uns“ gestorben, als wir noch „Gottlose“ (ἀσεβεῖς V. 6),
„Sünder“ (ἁμαρτωλοί V. 8) und „Feinde Gottes“ (ἐχθροί V. 10) und als solche
hilflos der Macht der Sünde und des Todes ausgeliefert waren.32 Der gleiche
Gedanke begegnet in Gal 2,20b, wenn Paulus, der in keiner Beziehung zu dem
vorösterlichen Jesus stand, mit dem Blick auf seine einstige Sünder-Existenz
(2,17) bemerkt, daß „der Sohn Gottes mich geliebt und sich für mich in den Tod
dahingegeben hat“.33
3. Was die Auferstehung Jesu anlangt, so stellen insbesondere die Ausfüh-
rungen von 1 Kor 15,1–11 ein klares Dokument des „extra nos in Christo“ dar.
Paulus zitiert hier die ihm überkommene und von ihm voll aufgenommene Lehr-
tradition, „daß Christus gestorben ist um unserer Sünden willen nach der Schrift
und daß er begraben worden ist und daß er auferstanden ist am dritten Tage nach
der Schrift und daß er dem Kephas erschienen ist, danach den Zwölfen“.34 Für
das angemessene Verständnis der in dem Zitat vorliegenden Abfolge ἀπέθανεν –
ἐτάφη – ἐγήγερται – ὤφθη ist die sprachliche Beobachtung wichtig, daß ὤφθη
hier die Übersetzung „er wurde gesehen“ nicht zuläßt, eine Deutung auf sub-
jektive Visionen infolgedessen a priori auszuschließen ist.35 Die Verse 1 Kor
29
Das ist der Sinn der Worte γενόμενος ἐκ γυναικός „von einer Frau geboren“ Gal 4,4. S.
dazu wie auch zu Gal 4,4 f. insgesamt O. Hofius, „Die Wahrheit des Evangeliums“. Exegeti-
sche und theologische Erwägungen zum Wahrheitsanspruch der paulinischen Verkündigung, in:
Ders., Paulusstudien II (WUNT 143), Tübingen 2002, 17–37: 25 mit Anm. 36.
30
Die Zeitangabe ὅτε δὲ ἦλθεν τὸ πλήρωμα τοῦ χρόνου Gal 4,4 ist von den Versen Gal 4,1–3
her und damit als Aufnahme der Worte ἄχρι τῆς προθεσμίας τοῦ πατρός von V. 2 zu verstehen.
31
In der Sache kommt das auch in der Menschwerdungsaussage von Röm 8,3 f. zum Aus-
druck.
32
Das ist m. E. der Sinn der Worte ὄντων ἡμῶν ἀσθενῶν von Röm 5,6.
33 Zum Kreuzestod Jesu als Geschehen extra nos pro nobis s. ferner Röm 5,15–19; 1 Kor 1,30
(eine Aussage über den Χριστὸς ἐσταυρωμένος 1,23!); Gal 3,13 f.; 4,5.
34 1 Kor 15,3b–5. Zur Begründung der Übersetzung des Passivs ἐγήγερται V. 4b s. O. Hofius,
„Am dritten Tage auferstanden von den Toten“. Erwägungen zum Passiv ἐγείρεσθαι in christo-
logischen Aussagen des Neuen Testaments, in: Ders., Paulusstudien II (s. Anm. 29), 202–214.
35
Im Unterschied zu ὀφθῆναι ὑπό τινος = „von jemandem gesehen werden“ heißt ὀφθῆναί
τινι „jemandem erscheinen“; s. F. Blass / A. Debrunner / F. Rehkopf, Grammatik des
neutestamentlichen Griechisch, Göttingen ¹⁷1990, § 191,2 mit Anm. 3 und § 313 mit Anm. 2.
Zahlreiche Belege für ὤφθη τινί bietet die Septuaginta (Gen 12,7; 17,1; 18,1; 26,2.24; 35,9; Ex 3,2
„Extra nos in Christo“ 139
15,1–11 insgesamt wie auch die Bezugnahme auf sie in 1 Kor 15,12–19 erlauben
ferner die Feststellung, daß Jesus nach der Überzeugung des Apostels von den
Toten auferstanden ist, bevor er denen, die er zu Aposteln berief, erschien und sie
durch das Wort seiner Selbstoffenbarung zu Glaubenden und zu Zeugen seiner
Auferstehung machte. Der Osterglaube und das Osterkerygma setzen die Auf-
erstehung Jesu voraus und gründen in ihr, – in beidem vollzieht sich aber nicht
allererst seine Auferstehung.
4. Die extra nos in Christo geschehene Heilstat Gottes ist nach dem Urteil
des Paulus ein Nicht-Auszudenkendes, das alle menschlichen Vorstellungen
und Erwartungen unendlich übersteigt. Er spricht deshalb im Blick auf den ge-
kreuzigten Christus und das in ihm beschlossene Heil von dem, „was kein Auge
gesehen und kein Ohr gehört hat und in keines Menschen Herz aufgekommen
ist, was Gott denen bereitet hat, die ihn lieben“ (1 Kor 2,9). Daß es sich hier um
das schlechterdings Unausdenkbare handelt, das spiegelt sich nicht zuletzt in
der Reaktion auf die apostolische Kreuzesverkündigung wider – nämlich darin,
daß der gekreuzigte Christus den Juden ein „Ärgernis“ und den Heiden eine
„Torheit“ ist (1 Kor 1,18–25).36
Mit der extra nos in Christo geschehenen Heilstat Gottes ist für Paulus ganz
unmittelbar das Heilswort Gottes verbunden, in dem kundgemacht wird, wer
Jesus ist und was sich in seinem Tod und seiner Auferstehung ereignet hat.
Dieses Heilswort ist das Evangelium, das als Gottes eigenes Wort nicht mit der
Verkündigung identisch, dieser vielmehr vorgegeben ist.37 Vernommen wurde
das Evangelium, wie aus 1 Kor 15,1–11 gefolgert werden kann, zuerst in jenem für
die Kirche und ihre Verkündigung grundlegenden Ereignis, daß Christus nach
seiner Auferstehung einem begrenzten Kreis apostolischer Zeugen erschienen
ist und diesen sich selbst – seine Person und sein Werk – erschlossen hat.38 Das
u. ö.); im Neuen Testament s. Mt 17,3; Mk 9,4; Lk 1,11; 22,43; Apg 7,2.26.30; 16,9; 1 Tim 3,16b
(mit anderen Formen von ὀφθῆναι: Apg 2,3; 7,35; 9,17; 26,16). Beachtenswert ist, was Philo,
Abr 80 zu ὤφθη δὲ ὁ θεὸς τῷ Ἀβραάμ Gen 12,7 (so das Zitat ebd., 77) bemerkt. Das Fazit aus
dem lexikalischen Befund lautet: In dem Passiv ὤφθη 1 Kor 15,5 (und ebenso dann V. 6–8) ist
Christus nicht bloß das grammatische, sondern auch das sachliche Subjekt. Gleiches gilt für
ὤφθη in Lk 24,34 und in Apg 13,31 sowie für das Partizip ὀπτανόμενος in Apg 1,3.
36
Zu den Versen 1 Kor 1,18–25 s. im einzelnen H.-Chr. Kammler, Kreuz und Weisheit.
Eine exegetische Untersuchung zu 1 Kor 1,10–3,4 (WUNT 159), Tübingen 2003, 50–123. Dort
55–59 der überzeugende Nachweis, daß ὁ λόγος ὁ τοῦ σταυροῦ 1,18 nicht das Evangelium,
sondern die Verkündigung des Evangeliums meint.
37
S. O. Hofius, Wort Gottes und Glaube bei Paulus, in: Ders., Paulusstudien (s. Anm. 26),
148–174: 150–154.
38
S. das paulinische Selbstzeugnis Gal 1,11 f.15 f.
140 „Extra nos in Christo“
Evangelium hat dementsprechend nur einen einzigen Inhalt: Jesus Christus und
das in ihm beschlossene Heil. Als dieser Inhalt ist er, der auferstandene und
lebendige Herr, selbst gegenwärtig, wo das Evangelium verkündigt und ver-
nommen wird.39 Das Evangelium ist so beides: das „Evangelium Gottes“40 und
das „Evangelium Christi“41.
Weil das Evangelium nicht Menschenwort ist, sondern Gottes Wort, deshalb
ist es schöpferisches Wort. Als solches wirkt es den Glauben an Christus, der
das in ihm beschlossene Heil ergreift.42 Der Glaube – sagt Paulus – „kommt aus
der Verkündigung, die Verkündigung aber gründet in dem Wort Christi“ (Röm
10,17). In diesem Zusammenhang kann der Apostel auch davon sprechen, daß die
Verkündigung des Evangeliums in der Kraft des Heiligen Geistes geschieht.43
Gott hat denen, die zu Glaubenden wurden, den Geist „gegeben“44 bzw. ins Herz
„gesandt“45, und sie haben ihn als seine Gabe „empfangen“.46 Durch den Geist
hat er ihnen „geoffenbart“, was er ihnen in dem gekreuzigten Christus bereitet
hat, und so „wissen“ sie, was ihnen in Christus „von Gott geschenkt ist“.47 Das
39 S. insbesondere Röm 10,6–17. Paulus deutet dort das in Dtn 30,14 erwähnte „Wort“
(τὸ ῥῆμα) auf das von ihm verkündigte „Glauben wirkende Wort“ (τὸ ῥῆμα τῆς πίστεως ὃ
κηρύσσομεν), d. h. auf das Evangelium (V. 8). Dabei impliziert der Satz „das Wort ist dir nahe
[…]“ (ἐγγύς σου τὸ ῥῆμά ἐστιν […]) vom Kontext her die Aussage: und eben damit Christus
selbst als der vom Himmel Gekommene und von den Toten Auferstandene (V. 6 f.). Zu Röm
10,6–17 s. im einzelnen Hofius, „Fides ex auditu“ (s. Anm. 21), 75–83 (in dem vorliegenden
Band: 108–117).
40
τὸ εὐαγγέλιον τοῦ θεοῦ u. ä.: Röm 1,1; 15,16; 2 Kor 11,7; 1 Thess 2,2.8 f. (dafür auch ὁ λόγος
τοῦ θεοῦ: 1 Kor 14,36; 2 Kor 2,17; 4,2; Phil 1,14 v. l.; 1 Thess 2,13 [Kol 1,25; 2 Tim 2,9; Tit 1,3;
2,5]). Der Genitiv bezeichnet als Genitivus subjectivus bzw. als Genitivus auctoris jeweils den
Urheber des Evangeliums.
41
τὸ εὐαγγέλιον τοῦ Χριστοῦ: Röm 15,19; 1 Kor 9,12; 2 Kor 2,12; 9,13; 10,14; Gal 1,7; Phil
1,27a; 1 Thess 3,2; vgl. τὸ εὐαγγέλιον τοῦ υἱοῦ αὐτοῦ [sc. τοῦ θεοῦ] Röm 1,9; τὸ εὐαγγέλιον τῆς
δόξης τοῦ Χριστοῦ, ὅς ἐστιν εἰκὼν τοῦ θεοῦ 2 Kor 4,4. [Deuteropaulinisch s. τὸ εὐαγγέλιον
τοῦ κυρίου ἡμῶν Ἰησοῦ 2 Thess 1,8; ὁ λόγος τοῦ Χριστοῦ Kol 3,16.] Die Genitive sind jeweils
Genitivi objectivi und geben den Inhalt des Evangeliums an. Von dem Werk Christi als dem
Inhalt des Evangeliums ist in 1 Kor 15,1–11 die Rede: Die von Paulus zitierte apostolische Lehr-
tradition 1 Kor 15,3b–5 gibt an, „mit welcher Aussage“ (τίνι λόγῳ) der Apostel den Korinthern
das Evangelium verkündigt hat (V. 1 f.). S. ferner 2 Kor 5,19: das Evangelium ist „das Wort von
der Versöhnung“ [vgl. Eph 1,13: „das Evangelium von eurer Rettung“; Eph 6,15: „das Evan-
gelium von dem (durch Christus gestifteten) Frieden“].
42 Röm 1,16 f.; 10,6–17; vgl. auch von der Predigt des Evangeliums 1 Kor 1,18.
43
S. dazu außer dem sogleich zu nennenden Textzusammenhang 1 Kor 2,6–16: Röm 15,15–21
(V. 19!); 1 Kor 2,4 f.; 2 Kor 3,2 f.6.8; 11,4; Gal 3,2.5; 1 Thess 1,5 f. (vgl. 2,13). Die in der Exegese
verbreitete These, daß nach Paulus der Heilige Geist erst durch die Taufe verliehen werde,
beruht m. E. auf keinem tragfähigen Fundament; s. Hofius, Wort Gottes und Glaube bei Paulus
(s. Anm. 37), 169 f.
44
Röm 5,5 (das Partizip δοθέν ist Passivum divinum); 2 Kor 5,5. Vgl. auch Gal 3,5; 1 Thess
4,8.
45
2 Kor 1,22 (διδόναι); Gal 4,6 (ἐξαποστέλλειν).
46
Röm 8,15; 1 Kor 2,12; 2 Kor 11,4; Gal 3,2.14 (an allen Stellen λαμβάνειν).
47 1 Kor 2,6–16 und hier besonders die Verse 10 und 12. S. dazu im einzelnen Kammler,
Wunder, das sich unter der Verkündigung des Evangeliums in der Kraft des
Heiligen Geistes ereignet, beschreibt Paulus in 2 Kor 4,6 mit den gewichtigen
Worten: „Gott, der da sprach: ‚Aus der Finsternis leuchte das Licht hervor!‘ –
der hat es in unseren Herzen Licht werden lassen, so daß leuchtend aufging die
Erkenntnis der Herrlichkeit Gottes auf dem Angesicht Jesu Christi.“48 In dem
unter der Macht der Sünde verfinsterten Menschenherzen, in dem es nicht die
geringste Voraussetzung dafür gibt, schafft Gott selbst durch das Schöpferwort
des Evangeliums die Erkenntnis seiner in Christus extra nos und pro nobis ge-
schehenen Heilstat.
Das Evangelium, das den rettenden Glauben wirkt und die Glaubenden dann
auch im Glauben erhält, ist für Paulus in strengem Sinn verbum externum – Wort,
das von außen kommt und das niemand sich selbst sagen kann. Die Offenbarung
und Zueignung des Heils und daher auch die Erkenntnis und Aneignung des
Heils gehören zu dem Heilsgeschehen unmittelbar hinzu. Das aber bedeutet: Sie
stehen ganz im Zeichen des „extra nos in Christo“.
In dem durch das Evangelium gewirkten Glauben empfängt und hat der Mensch
nach Paulus die δικαιοσύνη, die heilvolle Gottesbeziehung.49 Der Glaube ist mit-
hin der Modus des Heilsempfangs und der Heilsteilhabe. Daß für ihn im Denken
des Paulus das „extra nos in Christo“ fundamental ist und bleibt, sei thesenartig
anhand von vier Beobachtungen aufgezeigt.
1. Der Glaube ist seinem Wesen nach und also gewissermaßen per definitio-
nem πίστις Ἰησοῦ Χριστοῦ – „Glaube an Jesus Christus“.50 Um eine Abbreviatur
dieses Ausdrucks bzw. der entsprechenden Verbalphrase πιστεύειν εἰς Χριστὸν
Ἰησοῦν51 handelt es sich in den Paulusbriefen ganz überwiegend da, wo die Wor-
te πίστις und πιστεύειν ohne eine Angabe ihrer Bezugsgröße verwendet werden.
2. Wie die Ausdrücke πίστις Ἰησοῦ Χριστοῦ und πιστεύειν εἰς Χριστὸν Ἰησοῦν
zeigen, hat der Glaube einen eindeutigen und auch eindeutig bestimmbaren
Inhalt. Es ist dies der gleiche Inhalt wie der des Evangeliums. Der „Glaube an
Christus“, die πίστις Χριστοῦ, ist die Erkenntnis und Anerkenntnis des „Evan-
48
Zur Begründung der Übersetzung und zur Auslegung im einzelnen s. Hofius, Wort Gottes
und Glaube bei Paulus (s. Anm. 37), 160–163. Daß in 2 Kor 4,6 der Heilige Geist mit im Blick
ist, ergibt sich von 3,2 f.6.8 her.
49
Röm 1,16 f.; 3,21–4,25; 5,1 f.; 9,30–33; 10,4–15; Gal 2,16; 3,6–14.21–29; Phil 3,7–11.
50
So Röm 3,22; Gal 2,16a; 3,22. Im gleichen Sinn: πίστις Ἰησοῦ Röm 3,26; πίστις Χριστοῦ
Gal 2,16b; Phil 3,9; πίστις τοῦ υἱοῦ τοῦ θεοῦ Gal 2,20. Daß der Genitiv an allen diesen Stellen
ein Genitivus objectivus ist, ergibt sich bereits aus Gal 2,16, wo dem Syntagma πίστις Ἰησοῦ
Χριστοῦ / πίστις Χριστοῦ die Verbalphrase πιστεύειν εἰς Χριστὸν Ἰησοῦν entspricht.
51
Gal 2,16; s. ferner Röm 10,14; Phil 1,29.
142 „Extra nos in Christo“
geliums von Christus“, des εὐαγγέλιον τοῦ Χριστοῦ.52 Weil der Glaube das für
wahr hält, was in der Verkündigung als „die Wahrheit des Evangeliums“53 be-
zeugt wird, deshalb gibt es das πιστεύειν εἰς nicht ohne das πιστεύειν ὅτι,54 die
fides qua creditur nicht ohne die fides quae creditur.
3. Der Glaube an Christus ist in gar keiner Weise eine Möglichkeit des Men-
schen. Er verdankt sich vielmehr, wie wir bereits sahen, dem verkündigten
Evangelium als dem „Wort Gottes“ bzw. dem „Wort Christi“, in dem der auf-
erstandene Kyrios sich selbst Glauben wirkend erschließt. Der durch das verbum
externum geschaffene Glaube ist somit als fides ex auditu und als creatura verbi
verstanden. Er ist nicht „eine in sich selbst begründete Wirklichkeit“ – „nicht
Anfang, sondern Echo“.55
4. Der glaubende Mensch ist bezogen auf Christus als sein personales Gegen-
über – auf ihn als den Kyrios, der ihn durch sein Wort zu einem Glaubenden
gemacht hat und ihn auch weiterhin im Glauben erhält, den er im Glauben als
den „Herrn“ bekennt und anruft, in dessen Dienst er als Glaubender steht und
dessen Wiederkunft er in jener Hoffnung erwartet, die zum Glauben wesentlich
hinzugehört. Diese Christusbezogenheit ist für den paulinischen Begriff des
Glaubens schlechterdings konstitutiv. Die πίστις ist demgemäß nicht lediglich
ein allgemeines Gottvertrauen, sie besteht im Entscheidenden nicht in einem be-
stimmten Existenzverständnis, und sie erschöpft sich nicht in einem Gefühl der
Abhängigkeit von einer höheren Macht und der Geborgenheit bei ihr.
52
Zur Korrespondenz von Verkündigung und Glaube vgl. ferner auch 1 Kor 15,11 („solches
verkündigen wir, und solches habt ihr im Glauben angenommen“) und 1 Kor 15,14 (wenn die
Verkündigung „inhaltslos“ wäre, dann wäre auch der Glaube „ohne Inhalt“).
53
Gal 2,5.14; dafür bloßes ἀλήθεια: 2 Kor 4,2; Gal 5,7.
54
Röm 10,9; 1 Thess 4,14. S. ferner 1 Kor 15,11: Mit dem Adverb οὕτως in οὕτως ἐπιστεύσατε
nimmt Paulus Bezug auf die vier ὅτι-Sätze der in 15,3b–5 zitierten Lehrtradition.
55
Eichholz, Die Theologie des Paulus im Umriß (s. Anm. 28), 236.
56
Gal 4,6: τὸ πνεῦμα τοῦ υἱοῦ αὐτοῦ [sc. τοῦ θεοῦ].
57
Röm 8,9 (unmittelbare Aufnahme der Worte πνεῦμα θεοῦ durch πνεῦμα Χριστοῦ!); Phil
1,19 (τὸ πνεῦμα Ἰησοῦ Χριστοῦ); 2 Kor 3,17 (τὸ πνεῦμα κυρίου). Hierher gehört auch der un-
„Extra nos in Christo“ 143
diesen Geist empfangen, sagt der Apostel, daß sie den Geist „haben“58 und daß
der Geist in ihnen „wohnt“59; und weil der auferstandene und erhöhte Christus
„der im πνεῦμα gegenwärtige Herr“ ist,60 deshalb tritt der Aussage, daß der Geist
Gottes bzw. Christi in den Glaubenden „wohnt“, die andere an die Seite, daß
Christus selbst in ihnen „wohnt“.61 Wie die Rede vom „Einwohnen“ Christi bzw.
des Geistes des näheren verstanden sein will, das ergibt sich aus der folgenden
Beobachtung: Daß Christus „in“ den Glaubenden „wohnt“, bedeutet für Paulus
zugleich, daß sie „Christus gehören“,62 er also ihr Herr ist,63 und daß sie „in
Christus sind“,64 d. h. sich in seinem Heils- und Herrschaftsbereich befinden.65
Daß der Geist „in“ ihnen „wohnt“, wird analog durch das Urteil aufgenommen,
daß sie „vom Geist regiert werden“66 und „im Geist sind“67, d. h. in seinem
Herrschaftsbereich leben.68 Wie aus dieser Beobachtung folgt, hat die Rede vom
gewöhnliche Ausdruck νοῦς Χριστοῦ in 1 Kor 2,16b; s. dazu Kammler, Kreuz und Weisheit
(s. Anm. 36), 232–235.
58
Röm 8,9b.23; 1 Kor 6,19; 7,40 (ἔχειν); vgl. νοῦν Χριστοῦ ἔχειν 1 Kor 2,16b.
59
οἰκεῖν ἐν: Röm 8,9a.11a; 1 Kor 3,16; ἐνοικεῖν ἐν: Röm 8,11b [2 Tim 1,14]. In 1 Kor 6,19 dürfte
Ellipse von οἰκοῦντος (weniger wahrscheinlich: von ὄντος) vorliegen; vgl. die Ellipse in Röm
8,10a (s. Anm. 61).
60 E. Lohse, Der Brief an die Römer (KEK 4), Göttingen ¹(¹⁵)2003, 235.
61 So in Röm 8,9 f., wo die Worte εἴπερ πνεῦμα θεοῦ οἰκεῖ ἐν ὑμῖν (V. 9a) durch εἰ δέ τις
πνεῦμα Χριστοῦ οὐκ ἔχει (V. 9b) und durch εἰ δὲ Χριστὸς ἐν ὑμῖν (V. 10a) aufgenommen
werden. In dem reinen Nominalsatz V. 10a ist οἰκεῖ zu ergänzen (vgl. die Ellipse in 1 Kor 6,19
[s. Anm. 59]). Zu Χριστὸς [οἰκεῖ] ἐν ὑμῖν ist die ganz persönliche Aussage des Apostels in Gal
2,20a zu vergleichen: ζῇ […] ἐν ἐμοὶ Χριστός (s. dazu unten Anm. 92). [Deuteropaulinisch s.
Eph 3,17: κατοικῆσαι τὸν Χριστὸν διὰ τῆς πίστεως ἐν ταῖς καρδίαις ὑμῶν.]
62
So Röm 8,9b: Χριστοῦ εἶναι. S. zu dieser Wendung auch 1 Kor 1,12; 3,23; 2 Kor 10,7;
Gal 3,29; außerdem Röm 14,8b (τοῦ κυρίου εἶναι). Vgl. ferner den Ausdruck οἱ τοῦ Χριστοῦ
1 Kor 15,23; Gal 5,24 sowie in der Sache auch Röm 7,4; 1 Kor 6,19 f. und den Gedanken der
Gemeinschaft mit Christus 1 Kor 1,9.
63 S. dazu Röm 14,8 f.: Die Worte ἐάν τε οὖν ζῶμεν, ἐάν τε ἀποθνῄσκωμεν, τοῦ κυρίου ἐσμέν
V. 8b finden in V. 9 die folgende Begründung: εἰς τοῦτο γὰρ Χριστὸς ἀπέθανεν καὶ ἔζησεν, ἵνα
καὶ νεκρῶν καὶ ζώντων κυριεύσῃ.
64
Die Aussage von Röm 8,10a, daß Christus „in“ den Glaubenden „wohnt“, gilt von denen,
die in Röm 8,1 als οἱ ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ [ὄντες] bezeichnet worden sind. Zu ἐν Χριστῷ (Ἰησοῦ)
εἶναι s. auch 1 Kor 1,30; 2 Kor 5,17; Phil 3,9.
65
Vgl. Chr. Wolff, Der zweite Brief des Paulus an die Korinther (ThHK 8), Leipzig ²2011,
127 zu 2 Kor 5,17: Die Wendung εἶναι ἐν Χριστῷ bezeichnet bei Paulus „das […] Sein im Heils-
und Herrschaftsbereich Christi“.
66
Röm 8,14: πνεύματι θεοῦ ἄγεσθαι; ebenso Gal 5,18: πνεύματι ἄγεσθαι. An beiden Stellen
ist ἄγεσθαι echtes Passiv, die Übersetzung „sich führen / leiten lassen“ deshalb abzulehnen. Die
in der Exegese gelegentlich geäußerte Vermutung, daß πνεύματι ἄγεσθαι in Röm 8,14 und Gal
5,18 ein enthusiastisch-ekstatisches Phänomen bezeichne, hat in 1 Kor 12,2 kein hinreichendes
Fundament. Martin Luther hat den Sinn der Wendung durchaus zutreffend erfaßt, wenn er in
Gal 5,18 übersetzt: „Regiert euch aber der Geist, […].“
67 Röm 8,9a: εἶναι ἐν πνεύματι.
68
Nach Röm 8,9a ist εἶναι ἐν πνεύματι Gegenbegriff zu εἶναι ἐν σαρκί. Wie die Antithese
von Röm 7,5 f. zeigt, bedeutet letzteres, unter der Herrschaft der Sündenmacht zu stehen,
ersteres demnach das δουλεύειν ἐν καινότητι πνεύματος. Zur Gegenüberstellung von εἶναι
ἐν σαρκί und εἶναι ἐν πνεύματι in Röm 8,9 vgl. auch die Antithesen in Röm 8,2 (ὁ νόμος τῆς
144 „Extra nos in Christo“
„Einwohnen“ Christi bzw. des Geistes nicht mystischen Sinn, sondern sie hebt
dezidiert darauf ab, daß die Glaubenden unter der Herrschaft Christi und seines
Geistes stehen. Das findet dadurch seine Bestätigung, daß die Wendung οἰκεῖν
ἐν bei Paulus noch in einem anderen Zusammenhang erscheint – und zwar in
einem solchen, der dem zuvor skizzierten positiven Zusammenhang in scharfer
Antithese gegenübersteht. Von der als Macht verstandenen Sünde wird gesagt,
daß sie „in“ dem unerlösten Menschen „wohnt“69 und über ihn als ihren Sklaven
herrscht70, und der so fremdbestimmte Mensch wird als ein solcher bezeichnet,
der „im Fleisch“ – d. h. im Herrschaftsbereich der Sünde und des Todes – ist.71
Wie durch die negativen Aussagen bestätigt wird, verwendet Paulus die Verben
οἰκεῖν ἐν und ἐνοικεῖν ἐν in metaphorischem Sinn. Mit ihnen bringt er zum Aus-
druck, wer in der Existenz eines Menschen der Herr im Haus ist und als dieser
das Personzentrum regiert. Bei dem unerlösten Menschen ist es die Sünde, bei
dem Glaubenden der Heilige Geist und der im Geist gegenwärtige Christus.
Daß das neue Leben der Glaubenden Leben unter der Herrschaft Christi und
seines Geistes ist, heißt den relevanten paulinischen Ausführungen zufolge:
Alles, was sie im Glauben an Christus sind und haben, vermögen und tun, ver-
dankt sich dem in ihnen wohnenden Geist und eben damit Christus selbst. Das
„in nobis“ ist demnach bei Paulus entschieden in Relation zu dem „extra nos in
Christo“ und unter seinem Vorzeichen gesehen. Anhand von vier exegetischen
Befunden sei das verdeutlicht.
1. Das Leben unter der Leitung des Heiligen Geistes ist Leben „für Gott“ und
„für Christus“.72 Maßstab für dieses Leben und dann auch für das konkrete Han-
deln und Verhalten ist das Evangelium – und das heißt: die Orientierung an der
Heilstat Gottes in Christus.73 Was aufgrund solcher Orientierung in der Verant-
wortung vor dem gekreuzigten Christus und im Gehorsam gegenüber ihm als
dem Kyrios getan wird, ist nicht Werk des glaubenden Menschen selbst, sondern
Wirkung des Geistes.74 Weil der Geist da die Herrschaft übernommen hat, wo
zuvor die Sünde hauste, nämlich im Innersten des Menschen, deshalb kann Pau-
lus formulieren, daß „die Rechtsforderung des Gesetzes in uns erfüllt wird, die
wir nicht nach dem Fleisch wandeln, sondern nach dem Geist“ (Röm 8,4).75 Die
ἁμαρτίας καὶ τοῦ θανάτου – ὁ νόμος τοῦ πνεύματος τῆς ζωῆς ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ), Röm 8,4
(κατὰ σάρκα περιπατεῖν – κατὰ πνεῦμα περιπατεῖν) und Röm 8,5 (τὰ τῆς σαρκὸς φρονεῖν – τὰ
τοῦ πνεύματος φρονεῖν).
69
οἰκεῖν ἐν: Röm 7,17.20; vgl. auch 7,18; ἐνοικεῖν ἐν: Röm 7,17 v. l.
70
S. die entsprechenden Aussagen im Kontext von Röm 6.
71
εἶναι ἐν σαρκί Röm 8,9a, auch 7,5; 8,8. Wo der Begriff σάρξ bei Paulus negativ qualifiziert
ist, da bezeichnet er die von der Sünde gezeichnete Existenz des Menschen.
72
Leben für Gott: Röm 6,11; Gal 2,19; vgl. auch Röm 7,4. – Leben für Christus: 2 Kor 5,15b.
73
S. dazu O. Hofius, Das Gesetz des Mose und das Gesetz Christi, in: Ders., Paulusstudien
(s. Anm. 26), 50–74: 70–72.
74
Vgl. die Antithese „Werke des Fleisches“ – „Frucht des Geistes“ in Gal 5,19–23.
75 Die Worte ἐν ἡμῖν τοῖς μὴ κατὰ σάρκα περιπατοῦσιν ἀλλὰ κατὰ πνεῦμα sind trotz der
Negation μή nicht konditional („in uns, wenn wir […]“) oder einschränkend („in uns, sofern
„Extra nos in Christo“ 145
Erfüllung des in der Tora vom Sinai gültig bezeugten Gotteswillens ist somit
Heilsgabe Gottes, der durch das Wirken des Geistes diesem seinem Willen im
Menschenherzen Gehorsam schafft.76
2. Der Geist legt dem an Christus glaubenden Menschen Worte in den Mund,
zu denen dieser selbst – gerade auch als Glaubender! – von sich aus nicht fähig
ist: das rettende Bekenntnis „Herr ist Jesus“ (κύριος Ἰησοῦς 1 Kor 12,3)77 und die
Anrufung Gottes als „Vater“ (ἀββὰ ὁ πατήρ Röm 8,15; Gal 4,6)78. Das Kyrios-
Bekenntnis und der Abba-Ruf sind deshalb inspirierte Äußerungen, weil der
Geist den Glaubenden immer wieder neu durch das verkündigte Evangelium die
Erkenntnis dessen schenkt, was nie je zu ihrem eigenen geistigen „Besitz“ wird:
daß der Sohn Gottes als der für sie Gestorbene und Auferstandene der Kyrios ist,
dem sie gehören, und daß Gott um dieser ihrer Zugehörigkeit willen ihr Vater
ist.79 Wenn Paulus bemerkt, daß der Geist, indem er „Abba“ rufen läßt, „unserem
Geist bezeugt, daß wir Gottes Kinder sind“ (Röm 8,16),80 dann zeigt sich hier in
aller Deutlichkeit: Der Heilige Geist ist nicht des Menschen eigener Geist, und
der Glaubende kann sich nicht selber dessen versichern, daß er Gottes Kind ist.
3. Nach Röm 8,11 wird Gott die sterblichen Leiber der Glaubenden durch den
Geist „lebendig machen“, der in ihnen – den Glaubenden – wohnt. Der Geist ist
demnach der Garant ihrer Auferstehung. Dem ist an die Seite zu stellen, daß der
Geist in Röm 8,23 als ἀπαρχή – als „Erstlingsgabe“ – und in 2 Kor 1,22; 5,5 als
ἀρραβών – als „Anzahlung“ bzw. als „Unterpfand“ – bezeichnet wird.81 Beides
wir […]“) zu verstehen; denn im neutestamentlichen Griechisch ist die Verneinung des Partizips
durch μή die Regel; s. Blass / Debrunner / Rehkopf, Grammatik § 426 und § 430.
76
Zum alttestamentlichen Hintergrund dieses Gedankens s. Ps 51(50),13b (im Kontext der
Verse 12 f.); Ez 36,27. Zu Ps 51,13b bemerkt H.-J. Kraus, Psalmen I: Psalmen 1–59 (BKAT
XV/1), Neukirchen-Vluyn ⁶1989, 546: Der Heilige Geist ist „die wirksame, alles Fühlen, Den-
ken und Wollen durchwehende Macht, die von Jahwe ausgeht“ und den Menschen „im Inner-
sten dazu antreibt, Jahwes Willen gehorsam zu erfüllen“.
77 Zu κύριος Ἰησοῦς als rettendem Bekenntnis s. Röm 10,9–13.
78 Im Unterschied zu Röm 8,15 ist in Gal 4,6 der Geist selbst das Subjekt des Abba-Rufens.
Der Geist ist demnach „so ganz die Triebkraft“ diese Rufens, „dass der rufende Mensch nur als
sein Organ erscheint“ (F. Sieffert, Der Brief an die Galater [KEK 7], Göttingen ⁹1899, 247).
Das Verbum κράζειν, das Paulus für den vom Geist gewirkten Gebetsruf verwendet, begegnet
häufig in den Septuaginta-Psalmen und bezeichnet dort das laute und inbrünstige Flehen zu Gott
um Hilfe und Rettung aus Bedrängnis, Not und Gefahr; s. exemplarisch Ψ 3,5; 17,7; 21,3.6.25;
30,23; 33,7.18; 87,2.10; 106,6; 129,1.
79
Daß es sich bei dem Abba-Ruf um ein spontanes ekstatisches Phänomen handelt, läßt
sich nicht überzeugend begründen. Zu einer Deutung auf Glossolalie bemerkt E. Gaugler,
Der Römerbrief I: Kapitel 1–8, Zürich 1958, 290 mit Recht, daß ἀββά „der Gebetsruf aller“ ist,
wohingegen die Zungenrede nur bestimmten Christen als „eine besondere Gabe“ zuteil wird.
80 Falsch wäre die Übersetzung: „der Geist bezeugt zusammen mit unserem Geist“; denn
συμμαρτυρεῖν hat hier wie in Röm 2,15; 9,1 die Bedeutung „Zeugnis ablegen“, „bezeugen“
„bestätigen“.
81
In ἡ ἀπαρχὴ τοῦ πνεύματος Röm 8,23 und in ὁ ἀρραβὼν τοῦ πνεύματος 2 Kor 1,22; 5,5
ist τοῦ πνεύματος Genitivus epexegeticus. Der Sinn ist also: „die Erstlingsgabe, die im Geist
besteht“ bzw. „die Anzahlung, die im Geist besteht“.
146 „Extra nos in Christo“
sich auf V. 23–25, und zwar auf die positive Aussage, daß die Glaubenden, die den Geist als
Unterpfand der zukünftigen δόξα besitzen, eben damit das haben, was sie nicht aus sich selbst
gewinnen können: eine heilsgewisse Hoffnung.
86
Liest man die Worte τῇ ἀσθενείᾳ ἡμῶν als eine Metonymie, so ist der Sinn: „Der Geist
nimmt sich unser in unserem Unvermögen an.“ Das Nomen ἀσθένεια bezeichnet hier nicht nur
eine relative „Schwachheit“, sondern das absolute „Unvermögen“ (vgl. ἀσθενής Röm 5,6; Gal
4,9; ἀσθενεῖν Röm 8,3). Die Angaben zu ἀσθένεια bei Bauer / Aland, Wörterbuch⁶, 230 f.
sind unzureichend; denn das Wort hat neben „Schwäche“ / „Schwachheit“ u. a. auch die Bedeu-
tung „Kraftlosigkeit“ und „Unvermögen“; s. F. Passow, Handwörterbuch der griechischen
Sprache I/1, Leipzig ⁵1841 = Darmstadt 1983, 413a.
87
Die στεναγμοὶ ἀλάλητοι sind hier nicht „wortlose“, sondern „unaussprechliche“ Seufzer
(so richtig die Vulgata: gemitus inenarrabiles).
88
Abschwächende Interpretationen sind etwa: „wir wissen nicht im nötigen Maße, was
wir beten sollen“; „wir wissen nicht, wie wir richtig beten sollen“; „wir wissen oft / zuweilen /
immer wieder nicht, was wir beten sollen“; „wir wissen nicht, ob wir erhörlich beten“.
„Extra nos in Christo“ 147
ist, ergibt sich aus dem Zusammenhang der Verse Röm 8,18–30: Paulus denkt
an das Beten angesichts der „Leiden dieser Zeit“ und der Verheißung der zu-
künftigen „Herrlichkeit“ (8,18). Der Abstand zwischen der gegenwärtigen Not,
von der die ganze Schöpfung betroffen ist, und der verheißenen Wende, die diese
Not zum Ende bringt, ist so unermeßlich groß, daß die Glaubenden in ihrem
Gebet weder die Not angemessen zu benennen noch auch das die Not Wendende
angemessen zu erbitten vermögen. Da aber – so erklärt der Apostel – tritt der
Geist mit seiner Fürbitte stellvertretend „für uns“ ein. Was kein Menschenmund
in Worte zu fassen vermag, das bringt er betend vor Gott. Daß Paulus dabei die
Glossolalie oder ekstatische Rufe im Gottesdienst oder auch geistgewirkte Ge-
betsrufe wie „Abba! Vater!“ (Röm 8,15; Gal 4,6) und „Maran atha!“ – „Unser
Herr, komm!“ (1 Kor 16,22) vor Augen hat, halte ich für ausgeschlossen. Von
einer besonderen Erscheinungsform des Gebets der Glaubenden spricht der
Text gerade nicht! Im Gegenteil: „Nicht unser Gebet ist ein ,unaussprechliches
Seufzen‘, sondern das für uns nicht wahrnehmbare Beten des Geistes, sein Ein-
treten vor Gott selbst.“89 Die auf den ersten Blick verwunderliche Aussage, daß
Gott als der Erforscher der Herzen das seinem Heilswillen entsprechende Gebet
des im Herzen wohnenden Geistes vernimmt, versteht und erhört, besagt in der
Sache: Er selbst und er allein ist der treue Anwalt seiner auf die Heilsvollendung
wartenden Kinder wie auch der ganzen Schöpfung, die der Befreiung von dem
auf ihr lastenden Todesverhängnis entgegenharrt.
Wie die vier exegetischen Befunde erkennen lassen, ist der an Christus glau-
bende Mensch ganz und gar auf das Wirken des in ihm wohnenden Geistes
angewiesen. Daß dabei keineswegs an ein Einswerden des Geistes mit dem
Glaubenden gedacht ist, scheint mir außer Frage zu stehen. Die Einwohnung
des Heiligen Geistes bedeutet nicht, daß dieser das Selbst, das Ich, das Subjekt
des glaubenden Menschen geworden ist und ist. Er ist es ebensowenig, wie die
Sünde, die zuvor in dem Menschen wohnte, das Selbst, das Ich, das Subjekt
des Sünders war. Der Heilige Geist ist und bleibt das göttliche Gegenüber und
als solcher der Herr, der das Ich des Glaubenden regiert.90 Nicht ein Subjekts-
wechsel, wohl aber ein Herrschaftswechsel ist den Glaubenden widerfahren.91
89
Gaugler, Der Römerbrief I (s. Anm. 79), 323. Im Unterschied zu Gaugler (ebd., 322)
kann ich die Interzession des Geistes nicht so verstehen, daß dieser das schwache und unvoll-
kommene Gebet der Glaubenden aufnimmt und es geläutert und verwandelt vor Gott bringt.
90
Paulus bleibt mit seiner Sicht der Einwohnung des Heiligen Geistes in den Glaubenden
im Rahmen dessen, was alttestamentlich in Ps 51(50),13b und in Ez 36,27 gesagt wird. Vgl.
oben Anm. 76.
91 Daß es um einen Herrschaftswechsel geht, der Geist also das Ich des Glaubenden be-
stimmt und keineswegs mit ihm identisch ist, wird etwa in Röm 8,2 deutlich: ὁ […] νόμος
τοῦ πνεύματος τῆς ζωῆς ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ ἠλευθέρωσέν σε ἀπὸ τοῦ νόμου τῆς ἁμαρτίας
καὶ τοῦ θανάτου. – Wäre der Heilige Geist das Selbst / das Ich / das Subjekt des glaubenden
Menschen geworden, so wäre dieser Mensch definitiv jeder Gefährdung durch sich selbst
entzogen. Dann könnte prinzipiell zweierlei nicht mehr gedacht werden: zum einen, daß der
Glaubende noch der Versuchung ausgesetzt ist, sich in seinem konkreten Lebensvollzug dem
148 „Extra nos in Christo“
Genau dies ist auch gemeint, wenn Paulus in Gal 2,20a über sich selbst sagt:
„Nicht mehr ich lebe, sondern Christus lebt in mir.“92
Der Gedanke des „extra nos in Christo“ ist bei Paulus auch da präsent, wo er in
seinen Briefen das Bleiben der Glaubenden beim Evangelium, im Glauben und
in der ihnen schon geschenkten δικαιοσύνη anspricht. In solchem Zusammen-
hang kann er der Gewißheit Ausdruck geben, daß Gott diejenigen, die er „zur
Gemeinschaft mit seinem Sohn Jesus Christus berufen“ hat (1 Kor 1,9), auch in
dieser Gemeinschaft erhält – auf den Tag hin, an dem sie die eschatologische
σωτηρία empfangen.93 Den Grund dafür erblickt der Apostel einzig und allein
in der unverbrüchlichen Treue Gottes.94 Wenn Menschen in der Begegnung mit
dem Evangelium zum Glauben an Christus berufen werden, dann beruht das
nach Paulus auf göttlicher Erwählung.95 Wie aber der Glaube einem Menschen
Wirken des Geistes zu entziehen, und daß er von ihm selbst her (sic!) dieser Versuchung
durchaus erliegen und zu Fall kommen kann; zum andern, daß für ihn – wiederum: von ihm
selbst her gesehen – die Gefahr besteht, neben Christus auch andere heilsrelevante Größen
anzuerkennen und damit Christus und sein Heil zu verlieren. Beides aber denkt Paulus sehr
wohl, wie der Galaterbrief zeigt (s. zu der einen Möglichkeit Gal 5,13–6,10, zu der andern
Gal 5,2.4). Wenn beide Möglichkeiten nicht zur Wirklichkeit werden, so liegt das nicht an
dem denkenden und wollenden Ich des Glaubenden, sondern exklusiv an der Leitung und
Bewahrung durch Christus und seinen Geist.
92
Der Satz ist streng im Kontext der Verse Gal 2,19 f. zu lesen und auszulegen. Die Worte
ζῶ δὲ οὐκέτι ἐγώ, ζῇ δὲ ἐν ἐμοὶ Χριστός V. 20a sind Folgerung aus V. 19, beschreiben also die
Konsequenz des Mit-Christus-Gekreuzigtseins: Es lebt nicht mehr Paulus, der alte, von der
Sünde beherrschte und deshalb dem Todesurteil des Gesetzes verfallene Mensch, sondern es
lebt jetzt Paulus, der neue Mensch, der Christus gehört und über dessen Personzentrum Christus
der Herr ist. Daß Christus nicht das Subjekt des neuen Menschen Paulus, sondern sein Gegen-
über ist, das beweist der sogleich folgende Satz V. 20b: „Was ich aber jetzt im Fleisch (d. h. in
meiner irdischen Existenz) lebe, das lebe ich im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt
und sich für mich in den Tod dahingegeben hat.“ – Zu Gal 2,19 f. s. im einzelnen H.-J. Eck-
stein, Verheißung und Gesetz. Eine exegetische Untersuchung zu Galater 2,15–4,7 (WUNT
86), Tübingen 1996, 55–76.
93
S. dazu 1 Kor 1,4–9; Phil 1,6; 2,12 f.; 1 Thess 5,23 f. (vgl. auch 1 Kor 10,13). Für das an-
gemessene Verständnis der Verse Phil 2,12 f. ist die Erkenntnis entscheidend, daß es sich hier
weder um eine synergistische noch um eine paradoxe noch auch um eine dialektische Aussage
handelt, V. 13 vielmehr den Imperativ von V. 12 begründet; s. G. Eichholz, Bewahren und
Bewähren des Evangeliums: Der Leitfaden von Philipper 1–2, in: Ders., Tradition und Inter-
pretation (s. Anm. 27), 138–160: 154–160; U. B. Müller, Der Brief des Paulus an die Philipper
(ThHK 11/I), Leipzig 1993, 114–117.
94
1 Kor 1,9; 10,13; 1 Thess 5,24 [2 Thess 3,3].
95
S. insbesondere 1 Thess 1,4 f. (vgl. 2,13), ferner Röm 8,28–30.33; 1 Kor 1,26–31 [2 Thess
2,13 f.].
„Extra nos in Christo“ 149
nicht zufällig zuteil wird, so wird er auch nicht hinfällig. Der Erwählung korre-
spondiert die Bewahrung.96
Es genügt, für den genannten Sachverhalt auf den Schluß des 8. Kapitels des
Römerbriefs hinzuweisen. Die Verse Röm 8,31–39 beginnen mit der Frage: „Was
sollen wir nun dazu sagen?“ (8,31a). Mit ihr faßt Paulus alle nur denkbaren Ein-
wände in den Blick, die gegen die zuvor in Röm 8,28–30 geäußerte Heilsgewiß-
heit erhoben werden können.97 Die Antwort lautet dann (8,31b.32): „Ist Gott für
uns, wer kann gegen uns sein? Er, der sogar seinen eingeborenen Sohn nicht
verschont, sondern ihn für uns alle [in den Tod] dahingegeben hat, – wie sollte er
uns mit ihm nicht alles schenken?“ Daß Gott „für uns“ ist, das ist diesen Worten
zufolge in der Dahingabe seines Sohnes offenbar geworden. Wenn Paulus dabei
auf die Abraham-Erzählung von Gen 22 anspielt,98 dann dürfte dem der folgende
Gedanke zugrunde liegen: Abraham war bereit, den einzigen Sohn, den er über
alles liebte,99 nicht zu verschonen – und zwar aus Liebe zu Gott, dessen Güte
er beständig erfahren hatte.100 Gott hat seinen geliebten Sohn tatsächlich nicht
verschont – aus Liebe zu den Menschen, die ihm mit Feindschaft begegnen.101
Weil Paulus die Größe dieser Liebe vor Augen hat, formuliert er einen Schluß
a maiore ad minus, den er in die Form einer Frage kleidet (V. 32): „Wie sollte
er – Gott – uns mit ihm – seinem Sohn – nicht alles schenken?“ Die Worte τὰ
πάντα meinen hier das Heil in seiner ganzen Fülle, also insbesondere auch die
noch ausstehende Vollendung. Die Frage selbst stellt de facto eine heilsgewisse
assertio dar, und sie wird als solche in den Versen 33–37 in zwei Schritten ex-
pliziert. In V. 33 f. betont der Apostel, daß es für die „Auserwählten Gottes“, für
die Christus gestorben und auferstanden ist und für die er zur Rechten Gottes in
beständiger Interzession eintritt, trotz aller denkbaren Anklagen keine Verurtei-
lung, sondern nur den Freispruch durch Gott geben wird.102 In V. 35–37 fügt er
hinzu, daß auch die Leiden dieser Zeit die Erwählten nicht von der Liebe Christi
zu trennen vermögen.103 Der gesamte Abschnitt wird dann in V. 38 f. durch einen
96 Grundlegend dazu: J. M. Gundry Volf, Paul and Perseverance. Staying in and Falling
Frage τί (οὖν) ἐροῦμεν; stets auf einen Einwand Bezug nimmt, den er dann als unhaltbar zu-
rückweist; s. Röm 3,5; 4,1; 6,1; 7,7; 9,14; 9,30.
98
In ὅς γε τοῦ ἰδίου υἱοῦ οὐκ ἐφείσατο Röm 8,32a liegt eine Bezugnahme auf das Wort
Gottes an Abraham Gen 22,16 LXX vor: οὐκ ἐφείσω τοῦ υἱοῦ σου τοῦ ἀγαπητοῦ δι᾽ ἐμέ.
99
So – im Anschluß an Gen 22,2 – Gen 22,2.16 LXX; Jub 18,2.15; Philo, Abr 170; Josephus,
Ant I 222.
100
Daß die Bereitschaft, den Sohn zu opfern, Ausdruck der Liebe zu Gott ist, betont ex-
pressis verbis Philo, Abr 170: Abraham handelt „von der Liebe zu Gott überwältigt“ (ἔρωτι
θείῳ δεδαμασμένος).
101
Der in der Anspielung auf Gen 22 enthaltene Gedanke stellt also eine Parallele zu Röm
5,7 f. dar.
102
Die Verse Röm 8,33 f. stehen in einer inneren Beziehung zu dem in Röm 8,1–17 Gesagten.
103
In den Versen Röm 8,35–37 hat Paulus vor allem das Verfolgungsleiden vor Augen,
150 „Extra nos in Christo“
Satz abgeschlossen, in dem Paulus im Blick auf alles, was die Glaubenden je
bedrohen könnte, der in dem „extra nos in Christo“ begründeten Heilsgewißheit
Ausdruck verleiht, daß niemand und nichts „uns scheiden kann von der Liebe
Gottes, die in Christus Jesus ist, unserem Herrn“.104
Die mit der Parusie Jesu Christi verbundene Heilsvollendung bedeutet für die
Glaubenden, daß sie die ihnen mit der δικαιοσύνη verbürgte σωτηρία empfangen
und – in der bleibenden Gemeinschaft mit Christus – des ewigen Lebens bei Gott
teilhaftig werden.105 Das geschieht, wie Paulus in 1 Kor 15 darlegt, für die bereits
Verstorbenen durch die Auferstehung von den Toten und für die bei der Parusie
noch Lebenden durch die der Auferstehung entsprechende „Verwandlung“.106
Sowohl die Heilsvollendung selbst wie auch die Teilhabe an ihr sieht Paulus
dezidiert in der extra nos in Christo geschehenen Heilstat Gottes begründet. Das
zeigt sich besonders deutlich daran, wie in 1 Kor 15 der Zusammenhang zwischen
der Auferstehung Christi und der Auferstehung der Toten gedacht ist. Paulus
setzt in seiner Argumentation keineswegs die allgemeine Totenauferstehung
als eine Selbstverständlichkeit voraus, und er begreift die Auferstehung Jesu
weder als einen Sonderfall noch auch als die Antizipation bzw. als den Anbruch
derselben. Im Gegenteil: Er erblickt in der Auferstehung Christi den Realgrund
für die Auferstehung der Toten und dementsprechend in der Auferstehung der
Toten die notwendige Folge der Auferstehung Christi.107 Die Auferstehung wird
denen zuteil, die Christus gehören,108 weil sie aufgrund des Christusgeschehens
an seinem Tod und seiner Auferstehung partizipieren und sich von daher das
Evangelium an ihnen als ein „Duft vom Leben zum Leben“ erwiesen hat.109 Ein
das ihm selbst als dem Verkündiger des Evangeliums widerfährt. Zugleich ist damit aber eine
Beziehung zu den Ausführungen von Röm 8,18–30 gegeben.
104
Die „Liebe Gottes in Christus Jesus unserem Herrn“ Röm 8,39 ist die im Christusgesche-
hen offenbar gewordene Liebe, wie sie Paulus in Röm 8,32a vor Augen steht.
105
Zum eschatologischen σὺν Χριστῷ εἶναι s. 2 Kor 5,8; Phil 1,23; 1 Thess 4,17; 5,10.
106
1 Kor 15,20–23.50–57. S. ferner Röm 8,11; Phil 3,20 f.; 1 Thess 1,10; 4,13–17; 5,9 f.
107
S. dazu im einzelnen O. Hofius, Die Auferstehung der Toten als Heilsereignis. Zum
Verständnis der Auferstehung in 1 Kor 15, in: Ders., Exegetische Studien (s. Anm. 11), 102–114;
Ders., Die Auferstehung Christi und die Auferstehung der Toten. Erwägungen zu Gedanken-
gang und Aussage von 1 Kor 15,20–23, ebd., 115–131.
108 οἱ τοῦ Χριστοῦ 1 Kor 15,23.
109 2 Kor 2,15 f. Wörtlich heißt es hier, daß Paulus selbst für diejenigen, die gerettet werden,
„ein Duft vom Leben zum Leben“ ist. Es liegt eine Metonymie vor: Paulus als der Verkündiger
des Evangeliums ist der Träger dieses Duftes. Zu der Formulierung ἐκ ζωῆς εἰς ζωήν s. Bauer /
Aland, Wörterbuch⁶, 476 s. v. ἐκ 6.d: „ἐκ – εἰς hebt den doppelt gesetzten Begriff eindrucksvoll
hervor“. Gemeint ist: „ein Duft zu wahrem, unvergänglichem Leben“.
„Extra nos in Christo“ 151
klares Zeugnis dafür, daß nach Paulus die Entscheidung über die Teilhabe an
der eschatologischen σωτηρία bereits extra nos in Christo definitiv gefallen ist,
sind die beiden Schlüsse a maiore ad minus von Röm 5,8–10, in denen er erklärt:
Wenn Christus „für uns gestorben ist, als wir noch Sünder waren, – wieviel mehr
werden wir, da wir jetzt durch sein Blut gerecht geworden sind (d. h. die heilvolle
Beziehung zu Gott empfangen haben), durch ihn vor dem [kommenden] Strafge-
richt gerettet werden“ (5,8 f.). Und: „Wenn wir, als wir Feinde [Gottes] waren,
durch den Tod seines Sohnes mit Gott versöhnt worden sind, – wieviel mehr
werden wir als Versöhnte durch sein Leben110 gerettet werden“ (5,10).
110
Formal ist ἐν τῇ ζωῇ αὐτοῦ V. 10b dem διὰ τοῦ θανάτου τοῦ υἱοῦ αὐτοῦ V. 10a an die Seite
gestellt. In der Sache handelt es sich um eine Metonymie, so daß gemeint ist: durch Christus
als den auferstandenen und lebendigen Herrn.
152 „Extra nos in Christo“
des Paulus kein subjektives Urteil ist, dürfte evident sein. Der Glaube stammt
nicht aus dem religiösen Bewußtsein des Menschen, sondern aus Gott, und was
der Glaubende glaubt, ist unabhängig davon wahr, daß er es glaubt. Wenn der
Glaube nach Paulus durch das verbum externum gewirkt wird und der Glauben-
de, da der Glaube nicht auf sich selbst stehen kann, immer neu des gepredigten
Evangeliums bedarf, dann liegt darin ein ganz wesentlicher Aspekt des „extra
nos in Christo“ als der Grundlage des „pro nobis“. – Wie das „pro nobis“, so
gründet dann auch das „in nobis“ in dem christologisch bestimmten „extra nos“.
In der Konsequenz der Entscheidung, die im Christusgeschehen über sie gefallen
ist, empfangen Menschen unter der Verkündigung des Evangeliums den Heili-
gen Geist. Dieser „wohnt“ in ihnen – nicht als ein Besitz, über den sie verfügen
könnten, oder gar als ihr innerster Wesensgrund, sondern als der Herr, der ihr
Personzentrum regiert und der ihnen allein deshalb kontinuierlich gewährt und
so erhalten bleibt, weil Gott, der Vater Jesu Christi, in Treue an seiner Erwählung
und Berufung festhält.
Die Reformatoren – zuvörderst Martin Luther und Johannes Calvin – haben
im Zentrum ihrer Theologie das paulinische „extra nos in Christo“ aufgenommen
und es in großer Klarheit zur Sprache gebracht.111 Von daher wird man sagen
dürfen, daß lutherische Identität wie auch reformierte Identität dann gewahrt
sind, wenn das in der Schule des Apostels erkannte „extra nos in Christo“ in
Verkündigung und Lehre, Liturgie und Unterweisung gewahrt bleibt.112 Damit
stellt sich zugleich die Frage, ob eine Kontinuität zu paulinisch-reformatorischer
Lehre auch da noch gegeben ist, wo das „pro nobis“ ausschließlich als ein me-
thodisches Erkenntnisprinzip verstanden wird113 oder ein religiöser bzw. herme-
neutischer Subjektivismus das Feld beherrscht, für den de facto der Mensch das
Maß aller Dinge ist.114 Diese Frage ist jetzt nicht zu erörtern, sie sollte aber am
Ende nicht unausgesprochen bleiben.
111
Es genügt hier der Hinweis auf das für die Reformatoren grundlegende exklusive „solus
Christus“ und seine Explikation durch das „sola gratia“, das „solo verbo“ und das „sola fide
Christi“.
112 Zur fundamentaltheologischen Relevanz des „extra nos“ s. H. J. Iwand, Dogmatik-
„Paulus, Knecht Christi Jesu, berufener Apostel, ausgesondert für das Evan-
gelium Gottes“ – so beginnt der Brief, den Paulus an die christliche Gemeinde
in Rom geschrieben hat, um ihr einen Einblick in seine Theologie und Verkün-
digung zu geben. Ein zentraler Begriff dieser Theologie und Verkündigung be-
gegnet sogleich in dem zitierten Briefanfang: das Wort εὐαγγέλιον. In welchem
Sinn der Apostel das Wort verwendet und was sich daraus für sein Verständnis
des Evangeliums ergibt, das soll in den folgenden Überlegungen bedacht und in
den Grundzügen beschrieben werden.1
Außerhalb des Neuen Testaments ist für das Wort εὐαγγέλιον unter anderem die
Bedeutung „die gute Nachricht“ / „die Freudenbotschaft“ belegt.2 Diese Bedeu-
tung liegt auch im Neuen Testament vor, in dem ausschließlich ein theologischer
Gebrauch des Wortes zu verzeichnen ist. Was dabei die Briefe des Paulus an-
langt, so kann ein vierfacher sprachlicher Befund notiert werden, dem jeweils
ein wichtiger sachlicher Befund entspricht.
sein kann. Belege aus den Briefen, bei denen die Verfasserschaft des Apostels in der Forschung
umstritten ist (Eph, Kol, 2 Thess, 1 Tim, 2 Tim, Tit), werden in den Auflistungen der folgenden
Anmerkungen jeweils in Klammern notiert.
2
Zum Singular εὐαγγέλιον s. Josephus, Bell II 420; Appian, Bell III 93. IV 20.113; Pseudo-
Lukian, As 26; Heliodor, Aeth I 14,27. Für den Plural εὐαγγέλια seien exemplarisch genannt:
Josephus, Bell IV 656; Plutarch, Sert 11,8; Heliodor, Aeth I 14,26.
154 Gottes Wort im Menschenwort
1. Der Begriff εὐαγγέλιον wird in den Briefen des Apostels absolut gebraucht –
und zwar in der determinierten Form τὸ εὐαγγέλιον, „das Evangelium“.3 In die-
sem Sprachgebrauch kommt zum Ausdruck, daß es sich bei dem Evangelium um
ein Wort von einzigartiger Qualität handelt. Es ist die „gute Nachricht“ schlecht-
hin – die eine und einzige „Freudenbotschaft“, die einen jeden Menschen ganz
unmittelbar angeht und deshalb allen Menschen ausgerichtet werden muß. Die
so zu kennzeichnende Freudenbotschaft ist auch da gemeint, wo bei Paulus das
absolute ὁ λόγος – „das Wort“ – begegnet.4 Mit diesem Begriff wird ebenfalls
signalisiert: Das Evangelium ist das allerwichtigste Wort, das ein Mensch in
seinem Leben hören kann, und demzufolge ein Wort, das er unbedingt hören
soll und hören muß. Warum das Evangelium nach der Überzeugung des Paulus
diese einzigartige Qualität hat, das machen die beiden Redeweisen deutlich, die
wir als nächste in den Blick fassen.
2. Der Begriff εὐαγγέλιον wird bei Paulus mit dem Genitiv τοῦ θεοῦ ver-
bunden: τὸ εὐαγγέλιον τοῦ θεοῦ, „das Evangelium Gottes“.5 Diesem Ausdruck
entspricht die an anderen Stellen der Briefe erscheinende Wendung ὁ λόγος τοῦ
θεοῦ, „das Wort Gottes“.6 In beiden Formulierungen ist der Genitiv τοῦ θεοῦ
als ein Genitivus subjectivus und des näheren als ein Genitivus auctoris zu be-
stimmen, der den Urheber und die Quelle des Evangeliums bezeichnet. Das
Evangelium ist demnach Gottes eigenes Wort – die gute Nachricht, die von ihm
herkommt und die er kundmacht. Gott selbst also redet, wo das Evangelium
erklingt; seine Stimme ist es, die hier vernommen wird.
3. Der Begriff εὐαγγέλιον wird bei Paulus des weiteren mit dem Genitiv τοῦ
Χριστοῦ verbunden: τὸ εὐαγγέλιον τοῦ Χριστοῦ.7 Eine Parallele dazu findet
sich in Röm 1,9, wo das Evangelium Gottes als τὸ εὐαγγέλιον τοῦ υἱοῦ αὐτοῦ
bezeichnet wird. Bei den Genitiven τοῦ Χριστοῦ und τοῦ υἱοῦ αὐτοῦ haben
wir es jeweils mit einem Genitivus objectivus zu tun, so daß zu übersetzen ist:
„das Evangelium von Christus“ bzw. „das Evangelium von seinem (sc. Gottes)
3
Röm 1,16; 10,16; 11,28; 1 Kor 4,15; 9,14.18.23; 15,1; 2 Kor 8,18; Gal 1,11; 2,2.5.7.14; Phil
1,5.7.12.16.27b; 2,22; 4,3.15; 1 Thess 2,4; Phm 13 (Eph 3,6; 6,19; Kol 1,5.23; 2 Tim 1,8.10). In
Röm 1,16 und in 1 Kor 9,18 ist τὸ εὐαγγέλιον die von den ältesten Handschriften bezeugte ur-
sprüngliche Lesart; erst jüngere Handschriften bieten die Fassung τὸ εὐαγγέλιον τοῦ Χριστοῦ.
4
Gal 6,6; Phil 1,14; 1 Thess 1,6 (Kol 4,3; 2 Tim 4,2). In Phil 1,14 bieten wichtige alte Textzeu-
gen die Fassung ὁ λόγος τοῦ θεοῦ; dennoch dürfte ὁ λόγος die ursprüngliche Lesart sein. S. dazu
B. M. Metzger, A Textual Commentary on the Greek New Testament, Stuttgart ²1994, 544 f.
5 Röm 1,1; 15,16; 2 Kor 11,7; 1 Thess 2,2.8 f. Da das artikellose εὐαγγέλιον θεοῦ von Röm
1,1 durch den unmittelbar folgenden Relativsatz determiniert wird, besteht zwischen dieser
Formulierung und dem an den übrigen Stellen begegnenden Ausdruck τὸ εὐαγγέλιον τοῦ θεοῦ
inhaltlich kein Unterschied.
6 1 Kor 14,36; 2 Kor 2,17; 4,2; 1 Thess 2,13 (Kol 1,25; 2 Tim 2,9; Tit 1,3; 2,5); als sekundäre
Sohn“.8 Die beiden Genitive geben den Inhalt des Evangeliums an – und zwar in
einem ganz präzisen Sinn. Das Wort Χριστός ist bei Paulus nicht einfach ein mit
„Jesus“ auswechselbarer Eigenname, sondern es ist ein solenner Beiname, der
Jesus als den kennzeichnet, der den Menschen das Heil Gottes bringt. Gleiches
gilt für den Hoheitstitel „Sohn Gottes“. In ihm kommt zum Ausdruck, daß Jesus
seinem Ursprung und Wesen nach auf die Seite seines himmlischen Vaters
gehört und daß er kraft dieses seines Ursprungs und Wesens als der Menschge-
wordene der Erlöser von Sünde und Tod ist.9 Was die Wendung τὸ εὐαγγέλιον
τοῦ Χριστοῦ bei Paulus besagt, läßt sich von daher eindeutig bestimmen: Das
Evangelium als das Wort Gottes hat nur einen einzigen Inhalt: Jesus Christus,
den „Sohn Gottes“, und das in ihm beschlossene Heil. Das Evangelium spricht
also von Jesu Person, weshalb Paulus einmal die Formulierung wählen kann:
„das Evangelium von der Herrlichkeit Christi, der das Bild Gottes ist“.10 Und
das Evangelium spricht zugleich und in einem von Jesu Werk – d. h. davon, daß
er als der Sohn Gottes durch seinen Kreuzestod und seine Auferstehung den
vor Gott verlorenen Menschen das ewige Heil gebracht hat: das Leben in der
Gemeinschaft mit dem lebendigen Gott.11 Wenn aber Jesus Christus in seiner
Person und in seinem Werk der Inhalt des Evangeliums ist, dann bedeutet das:
Dieser Inhalt ist nicht eine Größe oder ein Sachverhalt der Vergangenheit, son-
dern der auferstandene und lebendige Herr. Deshalb kommt in dem Syntagma τὸ
εὐαγγέλιον τοῦ Χριστοῦ zugleich auch dies zum Ausdruck, daß Jesus Christus
als der Inhalt des Evangeliums in diesem Wort selbst gegenwärtig ist und denen
begegnet, die es hören.12
4. Der Begriff εὐαγγέλιον – so die letzte sprachliche Beobachtung – ist bei
Paulus mit dem Genitiv der 1. Person des Personalpronomens verbunden. So
heißt es in Röm 2,16: τὸ εὐαγγέλιόν μου13 – wörtlich: „mein Evangelium“; und
8 Für Röm 1,9 wird das durch Röm 1,1–4 bewiesen, wo die Formulierung εὐαγγέλιον θεοῦ
[…] περὶ τοῦ υἱοῦ αὐτοῦ […] Ἰησοῦ Χριστοῦ τοῦ κυρίου ἡμῶν begegnet.
9
Zu „Sohn Gottes“ als dem dezidiert soteriologischen Hoheitstitel s. insbesondere: Röm
5,10; 8,3 f.32; 2 Kor 1,19 f.; Gal 2,20; 4,4–6; 1 Thess 1,10.
10
2 Kor 4,4: τὸ εὐαγγέλιον τῆς δόξης τοῦ Χριστοῦ, ὅς ἐστιν εἰκὼν τοῦ θεοῦ (vgl. 1 Tim 1,11).
11
S. dazu etwa die von Paulus zitierte apostolische Lehrtradition 1 Kor 15,3b–5. Sie gibt an,
„mit welcher Aussage“ (τίνι λόγῳ V. 2) der Apostel den Korinthern das Evangelium verkündigt
hat. – Weil das Evangelium das in Christus beschlossene Heil zum Inhalt hat, bezeichnet Paulus
es in 2 Kor 5,19 im Blick auf die im Kreuzesgeschehen vollzogene Versöhnung als ὁ λόγος τῆς
καταλλαγῆς, als „das Wort von der Versöhnung“. (Im Epheserbrief finden sich dann die Kenn-
zeichnungen als „das Evangelium von eurer Rettung“ [τὸ εὐαγγέλιον τῆς σωτηρίας ὑμῶν Eph
1,13] und als „das Evangelium von dem [durch Christus gestifteten] Frieden“ [τὸ εὐαγγέλιον
τῆς εἰρήνης Eph 6,15; vgl. dazu 2,14–18].)
12 Um die Gegenwart Christi im Evangelium geht es bei dessen Bezeichnung als ῥῆμα
Χριστοῦ in Röm 10,17, und in ὁ λόγος τοῦ κυρίου 1 Thess 1,8 (2 Thess 3,1) dürfte τοῦ κυρίου
ein Genitivus auctoris sein.
13
So dann deuteropaulinisch in 2 Tim 2,8 sowie in der – aus der gottesdienstlichen Verlesung
des Römerbriefs stammenden – Doxologie [Röm] 16,25–27 (hier V. 25) bzw. [Röm] 14,24–26
(hier V. 24). Die Einfügung der Doxologie hinter Röm 14,23 findet sich im Anschluß an die
156 Gottes Wort im Menschenwort
in 2 Kor 4,3 und 1 Thess 1,5, wo Paulus ebenfalls von sich selbst spricht, erscheint
die Rede im Plural: τὸ εὐαγγέλιον ἡμῶν14 – wörtlich: „unser Evangelium“15. In
grammatischer Hinsicht ist der Genitiv μου bzw. ἡμῶν als ein Genitivus sub-
jectivus zu beurteilen, der den Verkündiger des Evangeliums bezeichnet. Die
Ausdrücke τὸ εὐαγγέλιόν μου und τὸ εὐαγγέλιον ἡμῶν entsprechen somit der
Wendung τὸ εὐαγγέλιον ὃ κηρύσσω von Gal 2,2.16 Sie dürfen deshalb nicht mit
„meine Verkündigung des Evangeliums“ übersetzt werden, sondern die korrekte
Übersetzung muß lauten: „das Evangelium, das ich verkündige“.
II
Die soeben erwähnte Formulierung von Gal 2,2 – τὸ εὐαγγέλιον ὃ κηρύσσω – ist
einer von vielen Belegen dafür, daß das Wort εὐαγγέλιον von Paulus als Akkusa-
tivobjekt zu einem Verbum verwendet wird, das die Bedeutung „verkündigen“
hat.17 Das Evangelium ist demnach der Gegenstand der Verkündigung – wobei
hinzuzufügen ist, daß der Apostel in derselben Weise und unter Verwendung
genau der gleichen Verben auch Christus selbst als den Gegenstand der Ver-
kündigung bezeichnet18. Bereits aufgrund dieses Befundes muß die von man-
chen Exegeten vertretene These, daß das Wort εὐαγγέλιον bei Paulus Terminus
technicus für die christliche Missionsverkündigung sei bzw. als nomen actionis
die Handlung der Verkündigung meine, als völlig unhaltbar bezeichnet werden.
Drei weitere Argumente kommen hinzu: 1. Für die Verkündigung gebraucht
Paulus in seinen Briefen die Ausdrücke ἀκοή und κήρυγμα,19 und für die Hand-
selten den sogenannten „apostolischen“ Plural, d. h. die Rede in der 1. Person Plural. S. dazu
die Anmerkungen 25, 34, 37, 38 und 45.
16
S. ferner auch 1 Kor 15,1: τὸ εὐαγγέλιον ὃ εὐηγγελισάμην ὑμῖν („das Evangelium, das ich
euch verkündigt habe“); Gal 1,11: τὸ εὐαγγέλιον τὸ εὐαγγελισθὲν ὑπ’ ἐμοῦ („das von mir ver-
kündigte Evangelium“).
17
εὐαγγελίζεσθαι: 1 Kor 15,1 f.; 2 Kor 11,7; s. auch Gal 1,11. – καταγγέλλειν: 1 Kor 9,14. –
κηρύσσειν: Gal 2,2; 1 Thess 2,9 (Kol 1,23); vgl. Röm 10,8 (τὸ ῥῆμα τῆς πίστεως κηρύσσειν [das
ῥῆμα τῆς πίστεως ist das in V. 16 erwähnte Evangelium]). – λαλεῖν: 1 Thess 2,2; vgl. Phil 1,14
(τὸν λόγον λαλεῖν) sowie in der Sache auch 2 Kor 2,17b (zu λαλοῦμεν ist aus V. 17a das Objekt
τὸν λόγον τοῦ θεοῦ zu ergänzen). Hinzuweisen ist ferner auch auf Röm 15,19 (Kol 1,25), wo das
Verbum πληροῦν die Bedeutung „überall verkündigen“ haben dürfte.
18 εὐαγγελίζεσθαι: Gal 1,16. – καταγγέλλειν: Phil 1,17 f. (Kol 1,28). – κηρύσσειν: 1 Kor 1,23;
15,12; 2 Kor 1,19; 4,5; Phil 1,15 (1 Tim 3,16). – λαλεῖν: vgl. 1 Kor 2,6 f.13 (nach 1,24 ist Christus
„Gottes Weisheit“).
19
ἀκοή: Röm 10,16 f.; Gal 3,2.5; 1 Thess 2,13. – κήρυγμα: 1 Kor 1,21; 2,4; 15,14 (2 Tim 4,17;
Tit 1,3; [Röm] 16,25 bzw. 14,24). – Auf die Verkündigung beziehen sich außerdem: λόγος 1 Kor
1,18; 2,4 (1 Tim 5,17), μαρτύριον 1 Kor 1,6 (2 Thess 1,10) und παράκλησις 1 Thess 2,3 (1 Tim 4,13).
Gottes Wort im Menschenwort 157
20
εὐαγγελίζεσθαι: Röm 1,15; 10,15 (= Zitat von Jes 52,7); 15,20; 1 Kor 1,17; 9,16.18; 15,1 f.;
2 Kor 10,16; 11,7; Gal 1,8 f.11.16; 4,13 (Eph 3,8). – καταγγέλλειν: 1 Kor 2,1; 9,14; Phil 1,17 f. –
κηρύσσειν: Röm 10,8.14 f.; 1 Kor 1,23; 9,27; 15,11 f.; 2 Kor 1,19; 4,5; 11,4; Gal 2,2; Phil 1,15;
1 Thess 2,9 (Kol 1,23; 1 Tim 3,16; 2 Tim 4,2). – λαλεῖν: 1 Kor 2,6 f.13; 2 Kor 2,17; 4,13; Phil 1,14;
1 Thess 2,2.4.16.
21 Gal 1,7 (μεταστρέφειν τὸ εὐαγγέλιον); 2 Kor 4,2 (δολοῦν τὸν λόγον τοῦ θεοῦ). Vgl. auch
die Formulierungen εὐαγγέλιον ἕτερον κηρύσσειν (2 Kor 11,4; vgl. Gal 1,6) und ἄλλον Ἰησοῦν
κηρύσσειν (2 Kor 11,4).
22
Zum Begriff der ἀλήθεια τοῦ εὐαγγελίου s. Gal 2,5.14; vgl. auch Gal 4,16; 5,7 sowie 2 Kor
4,2. (Aufgrund der Überzeugung, daß das Evangelium die rettende Wahrheit Gottes enthält,
wird es in Kol 1,5; Eph 1,13; 2 Tim 2,15 als ὁ λόγος τῆς ἀληθείας bezeichnet.)
23
Gleiches gilt für die sekundären Lesart διὰ ῥήματος θεοῦ (so u. a. der byzantinische Text
und entsprechend die kirchenslawische Übersetzung [Новый Завѣтъ, 763]).
24
Vgl. deuteropaulinisch: 1 Tim 1,11; Tit 1,3.
25
Bei der 1. Person Plural des griechischen Textes (δεδοκιμάσμεθα und λαλοῦμεν) handelt
es sich um den „apostolischen“ Plural. Diesen gebe ich hier und im Folgenden in meinen Über-
setzungen durch die 1. Person Singular wieder.
26
Gal 1,11 f.15 f.
158 Gottes Wort im Menschenwort
Analyse ist zu bemerken: Der Genitiv τοῦ θεοῦ ist Genitivus auctoris zu λόγος, die Bestimmung
Gottes Wort im Menschenwort 159
die Verkündigung des Apostels das Instrument, durch das Gott selbst sein Wort
laut werden läßt. Das heißt: Denen, die den Apostel hören, begegnet Gottes
Wort im Menschenwort – seine rettende Anrede in menschlicher Sprache und in
menschlichem Zeugnis. Das Menschenwort der apostolischen Predigt steht dabei
ganz im Dienst des Evangeliums,35 und das Evangelium ist nirgends anders zu
finden und zu vernehmen, als in dem Menschenwort des von Gott berufenen und
bevollmächtigten Boten.36
III
Aus dem bisher Dargelegten ergibt sich eine gewichtige Konsequenz, die in
einem letzten Schritt unserer Betrachtungen noch bedacht werden soll. Wenn das
Evangelium – wie wir gesehen haben – im strengen Sinn das Wort Gottes ist,
dann ist es das Wort des Schöpfers, der nach Röm 4,17 „die Toten lebendig macht
und das Nicht-Seiende ins Dasein ruft“. Das aber bedeutet: In dem Evangelium
ist der schöpferische Geist Gottes auf dem Plan und am Werk.
Von daher ist zu verstehen, was Paulus im Ersten Thessalonicherbrief über
sein missionarisches Wirken in Thessalonich schreibt. Das von ihm verkün-
digte Evangelium – so hören wir in 1,5 f. – ist an die Thessalonicher ergangen
„nicht allein im Wort, sondern auch in der Kraft des Heiligen Geistes“,37 und
eben deshalb haben sie das Evangelium „inmitten großer Bedrängnis mit der
Freude aufgenommen, die der Heilige Geist wirkt“. Dementsprechend erklärt
der Apostel in 2,13: „Ich sage Gott unablässig Dank dafür, daß ihr, als ihr das in
meiner Predigt ausgerichtete und vernommene Wort Gottes empfingt, es nicht
als Menschenwort aufgenommen habt, sondern als das, was es in Wahrheit ist:
als Gottes Wort, das sich als solches wirksam erweist unter euch, den Glau-
παρ᾽ ἡμῶν gehört zu ἀκοῆς und steht für einen Genitivus auctoris, und der Genitiv ἀκοῆς gibt
epexegetisch an, wo der λόγος τοῦ θεοῦ zu vernehmen ist.
35
Paulus versteht sich selbst im gleichen Sinn als Diener Jesu Christi und als Diener des
Evangeliums; s. Röm 1,1.9; 15,16; 1 Kor 3,5; 4,1; 2 Kor 3,6 (die καινὴ διαθήκη ist das Evan-
gelium); Phil 2,22. Vgl. auch 2 Kor 3,2 f.
36
Daß das Evangelium Gottes und die apostolische Verkündigung nicht identisch, wohl aber
unlöslich aufeinander bezogen und miteinander verbunden sind, kommt auch in Tit 1,3 zum
Ausdruck: (ὁ θεὸς) ἐφανέρωσεν […] τὸν λόγον αὐτοῦ ἐν κηρύγματι ὃ ἐπιστεύθην ἐγὼ κατ’
ἐπιταγὴν τοῦ σωτῆρος ἡμῶν θεοῦ.
37 1 Thess 1,5: τὸ εὐαγγέλιον ἡμῶν οὐκ ἐγενήθη εἰς ὑμᾶς ἐν λόγῳ μόνον ἀλλὰ καὶ ἐν δυνάμει
καὶ ἐν πνεύματι ἁγίῳ. Bei ἡμῶν handelt es sich um den „apostolischen“ Plural. Die Worte ἐν
δυνάμει καὶ ἐν πνεύματι ἁγίῳ sind nach meinem Urteil als eine Einheit zu fassen, und Pau-
lus spricht nicht von Wundertaten, die seine Verkündigung begleiteten, sondern wie in 1 Kor
2,4 (ἐν ἀποδείξει πνεύματος καὶ δυνάμεως) von dem Glauben schaffenden Machterweis des
Heiligen Geistes. Zu ἐν δυνάμει erklärt J. A. Bengel, Gnomon Novi Testamenti (³1773), hg. v.
P. Steudel, Stuttgart ⁸1891, 810 zutreffend: ad fidem.
160 Gottes Wort im Menschenwort
benden.“38 Spricht Paulus hier von der Wirksamkeit des von ihm verkündigten
Evangeliums, so ist das ganz umfassend gemeint: Das Evangelium hat bei
denen, die es hörten, den Glauben an Jesus Christus geschaffen und ihnen so die
eschatologische Rettung eröffnet;39 und es wirkt weiter in ihnen und an ihnen,
indem es sie im Glauben, in der Liebe und in der Hoffnung bewahrt,40 ihnen
die Kraft schenkt, um Christi willen zu leiden,41 und ihr ganzes Leben – gerade
auch im Bereich der Heiligung – prägt und bestimmt.42 So sind die Christen zu
Thessalonich in ihrer Existenz ein sichtbares Zeugnis dafür, daß das Evangelium
als das schöpferische Wort Gottes den Glauben an Christus und das Leben in
diesem Glauben wirkt. Daß dabei das Menschenwort des Apostels an der Leben
schaffenden Macht des von ihm verkündigten Evangeliums partizipiert, kann
aus den Aussagen des Ersten Thessalonicherbriefs nur gefolgert werden; es wird
aber im Ersten Korintherbrief ausdrücklich gesagt, wenn es dort von der pau-
linischen Verkündigung des gekreuzigten Christus heißt: Diese Verkündigung
erging „im Erweis des machtvoll wirkenden Geistes“, so daß der Glaube der
Korinther in nichts anderem begründet ist als „in der Kraft Gottes“.43
Den Aussagen des Ersten Thessalonicherbriefs über das Evangelium als das
schöpferische Wort Gottes lassen sich andere Zeugnisse der Paulusbriefe an die
Seite stellen. So ist nach Röm 1,16 f. das von Paulus verkündigte Evangelium
„Gottes Kraft zur Rettung für jeden Glaubenden“44, weil Gott selbst in ihm
sein Heil „offenbart“ und eben damit den Glauben schafft, der das Heil ergreift.
Vor allem aber ist hier der theologisch gewichtige Textzusammenhang 2 Kor
2,14–6,10 zu nennen, in dem es in grundlegenden Ausführungen um das Evan-
gelium und um den apostolischen Dienst der Evangeliumsverkündigung geht.
Zu Beginn des Abschnitts spricht Paulus in einem eindrücklichen Bild von dem
Triumphzug des Evangeliums, an dem er selbst als der Verkündiger teilnimmt
und in dem Gott durch ihn „den Duft seiner Erkenntnis an allen Orten offenbar
macht“.45 Die heilvolle, weil Leben eröffnende Erkenntnis Gottes, von der hier
38 Auch in diesem Vers begegnet der „apostolische“ Plural. Zu den Worten ὃς καὶ ἐνεργεῖται
ist anzumerken, daß καί der nachdrücklichen Unterstreichung des Relativpronomens dient
(s. F. Blass / A. Debrunner / F. Rehkopf, Grammatik des neutestamentlichen Griechisch,
Göttingen ¹⁷1990, § 442,8b) und deshalb nicht mit „auch“ wiedergegeben werden sollte.
39
1 Thess 1,4–10; 5,9 f.
40
S. dazu 1 Thess 1,3; 3,1–13; 5,23 f.
41
So 1 Thess 2,14 in unmittelbarem Anschluß an V. 13.
42
S. dazu besonders 1 Thess 2,9–12; 3,12 f.; 4,1–12.
43
1 Kor 2,4 f.: ὁ λόγος μου καὶ τὸ κήρυγμά μου […] ἐν ἀποδείξει πνεύματος καὶ δυνάμεως,
ἵνα ἡ πίστις ὑμῶν […] ᾖ […] ἐν δυνάμει θεοῦ. Neben 1 Kor 2,4 f. ist auch 1 Kor 1,18 zu nennen,
wo Paulus von dem λόγος ὁ τοῦ σταυροῦ, d. h. von seiner Verkündigung des gekreuzigten
Christus, genau das sagt, was er in Röm 1,16 dem Evangelium zuschreibt (s. Anm. 44).
44
Röm 1,16: δύναμις θεοῦ εἰς σωτηρίαν παντὶ τῷ πιστεύοντι.
45
2 Kor 2,14. In diesem Vers handelt es sich – wie zumeist in 2 Kor 2,14–6,10 – bei der Rede
in der 1. Person Plural um den „apostolischen“ Plural und also um eine Aussage des Paulus
über sich selbst.
Gottes Wort im Menschenwort 161
die Rede ist, ist die Erkenntnis Jesu Christi und seiner „Herrlichkeit“.46 Das
heißt: Es ist die Erkenntnis, daß in Christus Gott selbst in seiner göttlichen Herr-
lichkeit gegenwärtig ist und daß er in ihm, dem gekreuzigten und auferstandenen
Herrn, den Menschen sein Heil bereitet hat und gewährt.47 Im verkündigten
Evangelium tritt diese Herrlichkeit Christi strahlend in Erscheinung (4,4) – und
damit zugleich in der apostolischen Predigt des Evangeliums, die Paulus als
die „offene Verkündigung der Wahrheit“48 bezeichnet (4,2). Die Wirkmacht des
Evangeliums beschreibt der Apostel dann in dem höchst bedeutsamen Satz 2 Kor
4,6: „Gott, der da sprach: ‚Aus der Finsternis leuchte das Licht hervor!‘ – der hat
es in unseren Herzen Licht werden lassen, so daß leuchtend aufging die Erkennt-
nis der Herrlichkeit Gottes auf dem Angesicht Jesu Christi.“49 In diesem Satz
sind zwei Gedanken aufs engste miteinander verbunden. Paulus hat zunächst das
Damaskusgeschehen vor Augen, in dem ihm die Erkenntnis Jesu Christi zuteil
wurde – und zwar durch die unmittelbare Begegnung mit dem auferstandenen
Herrn als dem Evangelium in Person.50 Zugleich aber versteht er dieses Gesche-
hen in einer bestimmten Hinsicht „modellhaft“51: Die Hörer der apostolischen
Verkündigung begegnen dem auferstandenen Herrn zwar nicht unmittelbar,
wohl aber als dem, der im verkündigten Evangelium präsent ist, und auch ihnen
wird durch diese Begegnung die Erkenntnis Jesu Christi geschenkt. Paulus
spricht also in 2 Kor 4,6 sowohl im Blick auf sich selbst wie auch im Blick auf
die Korinther von dem Wunder des Zum-Glauben-Kommens. Dabei charakte-
risiert er dieses als ein Wunder der Neuschöpfung, das nur mit dem Wunder der
Erschaffung des Lichtes am ersten Schöpfungstag verglichen werden kann. Wie
Gott nach Gen 1,3 durch sein machtvolles Schöpferwort das Licht da aufstrahlen
ließ, wo zuvor nichts als Finsternis herrschte, so läßt er durch das Evangelium
als sein schöpferisches Wort in dem finsteren Herzen des vor Gott verlorenen
Menschen das Licht aufleuchten, so daß die Erkenntnis der „Herrlichkeit“ des
gekreuzigten und auferstandenen Christus „leuchtend aufgeht“.52 Der Satz 2 Kor
4,6 ist das klarste und eindrücklichste Zeugnis für die Gewißheit des Paulus, daß
46 Der Aussage von 2 Kor 2,14 korrespondiert diejenigen von 2 Kor 4,6 (vgl. auch 4,4).
47 S. dazu 2 Kor 5,14–21; 6,1 f.
48
So die Übersetzung der Worte ἡ φανέρωσις τῆς ἀληθείας bei Bauer / Aland, Wörter-
buch⁶, 1701 s. v. φανέρωσις.
49
Zur Begründung der Übersetzung und zur Auslegung im einzelnen s. Hofius, Wort Gottes
und Glaube bei Paulus (s. Anm. *), 161–163.
50 Vgl. dazu auch das Selbstzeugnis des Apostels von Phil 3,8.
51 H.-J. Klauck, 2. Korintherbrief (NEB.NT 8), Würzburg 1986, 44.
52 Die Worte des Apostels sind in dem Gebet aufgenommen, das in der Göttlichen Liturgie
vor der Verlesung des Evangeliums gesprochen wird: Ἔλλαμψον ἐν ταῖς καρδίαις ἡμῶν,
φιλάνθρωπε δέσποτα, τὸ τῆς σῆς θεογνωσίας ἀκήρατον φῶς καὶ τοὺς τῆς διανοίας ἡμῶν
διάνοιξον ὀφθαλμοὺς εἰς τὴν τῶν εὐαγγελικῶν σου κηρυγμάτων κατανόησιν. – „Laß leuchten,
o menschenliebender Herr, in unseren Herzen das reine Licht deiner Gotteserkenntnis und öffne
die Augen unseres Verstandes, damit wir die Verkündigung deines Evangeliums verstehen.“
162 Gottes Wort im Menschenwort
Die Worte „Sünde“ (ἁμαρτία), „Gesetz“ (νόμος) und „Gnade“ (χάρις) gehören
zu den zentralen Begriffen der Theologie des Apostels Paulus. Was genau Pau-
lus unter diesen drei Größen versteht und wie er das Verhältnis zwischen ihnen
bestimmt, das soll im Folgenden dargelegt werden. Daß es sich dabei lediglich
um eine Skizze handeln kann, die sich auf die entscheidenden Aussagen des
Apostels beschränken muß, sei ausdrücklich bemerkt.2
Fassen wir zunächst die Aussagen über die „Sünde“ in den Blick, so ist mit einer
sprachlichen Beobachtung einzusetzen: Paulus verwendet das Wort „Sünde“
(ἁμαρτία) – von wenigen Zitaten und formelhaften Wendungen abgesehen3 –
ausschließlich im Singular und ohne den Zusatz irgendeines Attributes.4 In
diesem für den Apostel charakteristischen Sprachgebrauch spiegelt sich sein
eigentümliches Verständnis der Sünde wider, für das fünf Bestimmungen notiert
werden können.
1. „Sünde“ ist bei Paulus nicht ein moralischer, sondern ein theologischer
Begriff. Das heißt: Er gebraucht das Wort nicht als einen Ausdruck für sitt-
liches Versagen oder für einzelne konkrete Verfehlungen, sondern er bezieht es
in ganz grundsätzlicher Weise auf das unmittelbare Verhältnis des Menschen
1 Dem Aufsatz liegt ein Vortrag zugrunde, der im Dezember 2012 in Athen auf einer inter-
Nichtiges hängt, das bezeichnet Paulus in Röm 1,22 f. und 1,25 als Götzendienst.
9
Dieses Urteil ist für den Apostel eine zwingende Konsequenz der ihm geschenkten Er-
kenntnis Jesu Christi: Wenn um des ewigen Heils des Menschen willen der Sohn Gottes Mensch
werden und sterben mußte (s. unten Teil III), dann folgt daraus die absolute Verlorenheit dieses
Menschen vor Gott.
10
In Aussagen der paulinischen Rechtfertigungstheologie bezeichnet das Substantiv
δικαιοσύνη das intakte und deshalb heilvolle Verhältnis des Menschen zu Gott. Daß diese
δικαιοσύνη Werk und Gabe Gottes ist, kommt in dem Syntagma δικαιοσύνη θεοῦ zum Ausdruck
(Röm 1,17; 3,21 f.25 f.; 10,3; 2 Kor 5,21), und die Rede von unserer – der Menschen – δικαιοσύνη
kennzeichnet diese als die Gabe, die der Mensch von Gott empfängt (Röm 4,3.5 f.9.11.13.22;
5,17.21; 6,13.16.18–20; 8,10; 9,30 f.; 10,3–6.10; 1 Kor 1,30; 2 Kor 3,9; Gal 2,21; 3,6.21; 5,5; Phil
1,11; 3,6.9). Dem Gebrauch des Substantivs entspricht in den Rechtfertigungsaussagen die Ver-
wendung des Adjektivs δίκαιος und des Verbums δικαιοῦν. Daß Gott δίκαιος ist, das besagt: er
ist der, der die heilvolle Gottesbeziehung schafft und gewährt (Röm 3,26); und daß ein Mensch
„Sünde“ – „Gesetz“ – „Gnade“ 165
2. Fast überall in den Paulusbriefen, wo von der ἁμαρτία die Rede ist, wird
diese personifiziert und somit als eine Macht gekennzeichnet, der ohne die
durch Christus geschenkte Befreiung alle Menschen verfallen sind.11 In diesem
Sinn erklärt der Apostel in Röm 3,9b, daß „Juden wie Heiden allesamt unter der
Herrschaft der Sünde stehen“ (Ἰουδαίους τε καὶ Ἕλληνας πάντας ὑφ’ ἁμαρτίαν
εἶναι), und er verweist zur Begründung auf Worte der Heiligen Schrift Israels:
„Da ist kein Gerechter, auch nicht einer. Da ist keiner, der verständig ist; da
ist keiner, der nach Gott fragt. Alle sind abtrünnig geworden, alle miteinander
sind verdorben. […] Da ist keine Gottesfurcht vor ihren Augen.“12 Die damit
behauptete universale Herrschaft der Sünde sieht Paulus in dem Sündenfall
Adams begründet.13 Durch Adam – so heißt es in Röm 5,12 – „ist die Sünde in
die Welt hineingekommen“, und dieses Urgeschehen hatte zur Folge, daß „alle
Menschen gesündigt haben“. Daß Paulus hier nicht im Präsens, sondern im
Aorist formuliert, will beachtet sein.14 Denn dadurch wird angezeigt, daß die
Sünde von Adam her ein Verhängnis ist, das auf der ganzen Menschheit lastet
und dem sich niemand entziehen kann. Die Macht der Sünde beschreibt Paulus
dann so, daß er sagt: Sie „herrscht“ über den Menschen und hält ihn als einen
Sklaven gefangen, der ihr „dienen“ muß;15 und sie „wohnt“ zugleich in ihm,
regiert sein Personzentrum und zwingt ihm ihren Willen auf.16
δίκαιος ist, das meint, daß er dieser Gottesbeziehung teilhaftig ist (Röm 1,17; 2,13; 3,10; 5,19;
Gal 3,11). Wenn Paulus das Aktiv des Verbums – δικαιοῦν – verwendet, dann ist Gott Subjekt,
und die Aussage ist, daß er dem Menschen die heilvolle Gottesbeziehung schenkt (Röm 3,26.30;
4,5; 8,30; Gal 3,8). Das vom Menschen gebrauchte Passiv – δικαιοῦσθαι – bedeutet dement-
sprechend, daß der Mensch die heilvolle Gottesbeziehung empfängt (Röm 2,13; 3,20.24.28; 4,2;
5,1.9; 1 Kor 6,11; Gal 2,16 f.; 3,11.24; 5,4). Zu erwähnen ist schließlich auch das Wort δικαίωσις,
das in Röm 4,25 und 5,18 die Versetzung in das heilvolle Gottesverhältnis bezeichnet.
11 Röm 3,9.20; 5,12.21; 6,1 f.6 f.10–14.16–18.20.22 f.; 7,7–9.11.13 f.17.20.23; 8,2 f.10; 1 Kor
15,56; Gal 3,22. – An anderen Stellen geht es bei der Verwendung des Wortes ἁμαρτία wie in
dem Zitat Röm 4,8 (= Ψ 31,2) um den Aspekt der Sünde als Tat: Röm 5,13.20; 14,23; Gal 2,17.
Der auch hier präsente Gedanke des „Nein“-Sagens zu Gott liegt ebenfalls da vor, wo das Ver-
bum ἁμαρτάνειν in theologisch gefülltem Sinn gebraucht wird: Röm 2,12; 3,23; 5,12.14.16; 6,15.
12
Ich zitiere die Verse Röm 3,10b–12a.18, in denen Paulus auf Qoh 7,20 und auf Ψ 13,1–3
(= 52,2–4); 35,2b Bezug nimmt.
13
S. dazu im einzelnen O. Hofius, Die Adam-Christus-Antithese und das Gesetz. Erwägun-
gen zu Röm 5,12–21, in: Ders., Paulusstudien II (WUNT 143), Tübingen 2002, 62–103: 79–81.
14 Die im Aorist formulierte Aussage πάντες ἥμαρτον von Röm 5,12, die bereits wörtlich
gleich in Röm 3,23 begegnet, entspricht den aoristischen Feststellungen von Röm 1: γνόντες τὸν
θεὸν οὐχ ὡς θεὸν ἐδόξασαν ἢ ηὐχαρίστησαν, ἀλλ’ ἐματαιώθησαν ἐν τοῖς διαλογισμοῖς αὐτῶν
(V. 21a); φάσκοντες εἶναι σοφοὶ ἐμωράνθησαν καὶ ἤλλαξαν τὴν δόξαν τοῦ ἀφθάρτου θεοῦ ἐν
ὁμοιώματι εἰκόνος φθαρτοῦ ἀνθρώπου καὶ πετεινῶν καὶ τετραπόδων καὶ ἑρπετῶν (V. 22 f.);
μετήλλαξαν τὴν ἀλήθειαν τοῦ θεοῦ ἐν τῷ ψεύδει καὶ ἐσεβάσθησαν καὶ ἐλάτρευσαν τῇ κτίσει
παρὰ τὸν κτίσαντα (V. 25); οὐκ ἐδοκίμασαν τὸν θεὸν ἔχειν ἐν ἐπιγνώσει (V. 28a).
15
Röm 5,21; 6,6.12–18.20; 7,14.
16
Röm 7,14–23 (insbesondere V. 17 und V. 20). Zu dem sehr schwierigen Text Röm 7,7–25a
s. im einzelnen O. Hofius, Der Mensch im Schatten Adams. Römer 7,7–25a, in: Ders., Pau-
lusstudien II (s. Anm. 13), 104–154.
166 „Sünde“ – „Gesetz“ – „Gnade“
3. Die Aussagen über den Menschen als Sklaven der Sünde machen deutlich:
Die Sünde bestimmt nach Paulus den Menschen in seiner ganzen Existenz, und
der Sünder ist „gottlos“ nicht erst in seinem bösen Tun, sondern er ist es ganz
umfassend in seinem gottfernen und gottfeindlichen Sein. Die so von der Sünde
beherrschte Existenz bezeichnet Paulus an mehreren Stellen des Römer- und
des Galaterbriefs mit dem Begriff σάρξ („Fleisch“).17 Dementsprechend legt er
dem sündigen Menschen das Bekenntnis in den Mund: ἐγὼ […] σάρκινός εἰμι
πεπραμένος ὑπὸ τὴν ἁμαρτίαν – „Ich bin fleischlich, [das heißt:] unter die Sünde
verkauft“ (Röm 7,14b).18
4. Alle sittlichen Verfehlungen und alle bösen Taten sind nach Paulus Aus-
wirkungen des ὑφ’ ἁμαρτίαν εἶναι, der Seinsverfallenheit des Menschen an die
Macht der Sünde. Sie sind – wie der Apostel in Gal 5,19a formuliert – ἔργα τῆς
σαρκός: Werke, die der Mensch hervorbringt, weil er in seiner ganzen Existenz
von der Sünde bestimmt ist.19 Den Zusammenhang zwischen der Verfallenheit
an die Sünde und dem menschlichen Tun und Verhalten bringt Paulus besonders
eindringlich in Röm 1,18–32 zur Sprache: Das in V. 21a geschilderte „Nein“ der
Menschen zu dem lebendigen Gott hat nach V. 21b zur Folge, daß „ihr unver-
ständiges Herz verfinstert wurde“ (καὶ ἐσκοτίσθη ἡ ἀσύνετος αὐτῶν καρδία20).
Das heißt: Weil und indem sie „Nein“ zu Gott sagten, wurden sie blind für
seinen guten und zu wahrer Menschlichkeit anleitenden Willen. Von V. 22 an
wird dieser Sachverhalt in drei Schritten (V. 22–24, V. 25–27 und V. 28–32) so
beschrieben, daß der Abfall von dem lebendigen Gott (V. 22 f., 25 und 28a) ein
Tun und Verhalten zur Folge hat, das Paulus von Inhumanität gekennzeichnet
sieht (V. 24, 26 f. und 28b–32): Gott „gibt“ den Menschen, der zu ihm „Nein“
sagt, an das „dahin“, was mit innerer Notwendigkeit die bittere Folge dieses
bösen „Nein“ sein muß.21
5. Weil die Sünde das „Nein“ zu Gott, der Quelle des Lebens, ist, deshalb ist
ihre Folge notwendig der Tod – und zwar nicht der physische, sondern der ewig
von Gott trennende Tod. Mit dem Sündenverhängnis ist somit von Adam her
ganz unmittelbar das Todesverhängnis verbunden. Das bringt Paulus in Röm
5,12 zum Ausdruck, wenn er sagt, daß „durch einen Menschen die Sünde in die
17
Röm 7,5.18; 8,3–9.12 f.; 13,14; Gal 3,3; 5,13.16 f.19.24; 6,8 (vgl. Röm 6,6, wo Paulus im
Blick auf die Existenz unter der Herrschaft der Sünde von dem σῶμα τῆς ἁμαρτίας spricht).
Eine andere Bedeutung hat σάρξ in Gal 2,20; Phil 1,22.24 sowie bei ἐν σαρκί 2 Kor 10,3: Hier
bezeichnet das Wort die irdische bzw. die irdisch-vergängliche Existenz des Menschen.
18
Die Worte πεπραμένος ὑπὸ τὴν ἁμαρτίαν explizieren das Adjektiv σάρκινος, das hier
Gegenbergiff zu πνευματικός ist.
19
In Gal 5,19b–21a werden in einem Lasterkatalog exemplarisch solche „Werke des Flei-
sches“ aufgezählt: „Unzucht, Unsittlichkeit, Zügellosigkeit, Götzendienst, Zauberei, Feind-
schaften, Streit, Eifersucht, Wutausbrüche, selbstsüchtige Streitereien, Zwistigkeiten, Partei-
ungen, Neid, Trunksucht, Freßgelage und dergleichen mehr“.
20 Das καί am Anfang des Satzes V. 21b hat konsekutive Bedeutung: „und deshalb“.
21
S. das dreimalige παρέδωκεν αὐτοὺς ὁ θεός […] V. 24, V. 26 und V. 28b.
„Sünde“ – „Gesetz“ – „Gnade“ 167
Welt hineingekommen ist und durch die Sünde der Tod“ und daß eben damit „der
Tod zu allen Menschen hingekommen ist, weil sie alle gesündigt haben“. Dem
ist die knappe Feststellung von Röm 6,23a an die Seite zu stellen: „Der Sold, den
die Sünde auszahlt, ist der Tod.“ Daß die Sünde den von Gott trennenden Tod zur
Folge hat, das sagt Paulus mit anderen Worten auch in Röm 3,23, wenn er dort
im Blick auf Juden wie Heiden bemerkt: „Alle haben gesündigt und entbehren
somit der Herrlichkeit Gottes“ (πάντες […] ἥμαρτον καὶ ὑστεροῦνται τῆς δόξης
τοῦ θεοῦ).22 Unter der „Herrlichkeit Gottes“ versteht Paulus hier jene „Herr-
lichkeit“, die der Schöpfer bei der Erschaffung des Protoplasten sowohl diesem
wie auch seinen Nachkommen zugedacht hat – nämlich das ewige Leben in der
ungetrübten Gemeinschaft mit ihm, dem lebendigen Gott.23 Diese „Herrlichkeit“
blieb Adam wegen seiner Sünde verwehrt,24 und von ihm her gilt für alle seine
Nachkommen, daß sie um ihrer Sünde willen die δόξα nicht besitzen, sondern
zugleich mit der Sünde auch dem Tod verfallen sind.25
II
Im Zusammenhang mit dem, was Paulus über die Sünde sagt, ist immer auch
von dem „Gesetz“, d. h. von der Tora vom Sinai die Rede. Dabei hat der Apostel
dezidiert jene Gebote und Verbote der Tora vor Augen, die – wie im Dekalog (Ex
20,2–17; Dtn 5,6–21) – in grundlegender Weise das Verhältnis des Menschen zu
Gott und zu dem Mitmenschen betreffen. Für das paulinische Verständnis dieses
Gesetzes sind drei Aussagen von besonderem Gewicht.26
1. Paulus bezeichnet den νόμος – das „Gesetz“ vom Sinai – als „heilig“
(ἅγιος), „geistlich“ (πνευματικός), „gerecht“ (δίκαιος) und „gut“ (ἀγαθός bzw.
22 Daß sich das universale πάντες von Röm 3,23 auf Juden wie Heiden bezieht, ergibt sich
aus den Worten οὐ γάρ ἐστιν διαστολή V. 22b, die auf Röm 3,9–20 zurückverweisen (s. hier
besonders V. 9). Vgl. auch Röm 10,12.
23 Der Begriff ἡ δόξα τοῦ θεοῦ (= „die Herrlichkeit, die Gott schenkt“) von Röm 3,23 und
5,2 entspricht dem Begriff der ζωὴ αἰώνιος (Röm 2,7; 5,21; 6,22 f.; Gal 6,8). Die gleiche Ent-
sprechung besteht zwischen bloßem δόξα (Röm 8,18.21; 1 Kor 2,7; 15,43; 2 Kor 4,17; Phil 3,21;
1 Thess 2,12) und bloßem ζωή (Röm 5,17 f.; 8,10; 2 Kor 2,16; 5,4).
24
Die Worte ὑστεροῦνται τῆς δόξης τοῦ θεοῦ besagen nicht, daß Adam die δόξα bereits be-
sessen und sie dann um seiner Sünde willen verloren habe. Denn ὑστερεῖσθαί τινος heißt nicht:
„etwas verlieren“ oder „etwas verloren haben“, sondern es bedeutet: „einer Sache ermangeln“,
„etwas nicht haben“. S. zu Röm 3,23 des näheren: Hofius, Die Adam-Christus-Antithese und
das Gesetz (s. Anm. 13), 79–81.
25 Deshalb tritt dem σῶμα τῆς ἁμαρτίας von Röm 6,6 das σῶμα τοῦ θανάτου von Röm 7,24
an die Seite.
26
Zum paulinischen Gesetzesverständnis im einzelnen verweise ich auf meine folgenden
Arbeiten: O. Hofius, Das Gesetz des Mose und das Gesetz Christi, in: Ders., Paulusstudien
(WUNT 51), Tübingen ²1994, 50–74; Ders., Gesetz und Evangelium nach 2. Korinther 3, ebd.,
75–120; Ders., Die Adam-Christus-Antithese und das Gesetz (s. Anm. 13). S. außerdem auch
unten Anm. 29.
168 „Sünde“ – „Gesetz“ – „Gnade“
καλός).27 Das besagt: Das Gesetz ist Gottes Wort, in dem gültig kundgemacht
wird, was Gott von dem Menschen als seinem Geschöpf fordert. Mit der Forde-
rung ist dabei die Bestimmung verbunden, daß jeder, der den Willen Gottes tut,
das ewige Leben gewinnt und jeder, der den Willen Gottes nicht tut, dem ewigen
Tod verfallen ist.28 Das im Gesetz geforderte Tun ist gemeint, wenn Paulus von
den ἔργα νόμου – den „Werken des Gesetzes“ – spricht.29 Unter ihnen versteht
er den ganzheitlichen und umfassenden, beständigen und vollkommenen Gehor-
sam, der aus wahrer Gottesfurcht erwächst. Ein Mensch, der diesen Gehorsam
aufzuweisen hätte, der wäre „gerecht“.30 Er stände in der intakten Beziehung zu
Gott und würde deshalb des ewigen Lebens teilhaftig werden.
2. Das Gesetz ist nach Paulus dem Menschen gegeben, der von Adam her
immer schon unter der Macht der Sünde steht und deshalb gänzlich unfähig ist,
in vollkommener Hinwendung zu Gott seinen Geboten zu gehorchen und seinen
Willen zu tun.31 Angesichts dessen stellt sich die Frage nach dem Sinn des Ge-
setzes.32 Die Antwort, die Paulus hier gibt, lautet: Die Aufgabe und Funktion der
Tora vom Sinai besteht darin, einen jeden Menschen als „Sünder“ zu entlarven,
ihn zu verklagen und ihn unter das Verdammungs- und Todesurteil Gottes zu
stellen.33 Paulus spricht im Blick darauf von dem κατάκριμα – von der „Ver-
urteilung“, die im Gesetz laut wird,34 und von der κατάρα τοῦ νόμου – von dem
„Fluch“, unter den das Gesetz einen jeden Mensch stellt, der nicht beständig all
das tut, was im Gesetz geboten ist.35 Die Tora vom Sinai ist also für Paulus das
strenge Wort des Gerichtes Gottes über den von der Sünde beherrschten Men-
schen. Von daher will der theologische Fundamentalsatz verstanden sein, den
der Apostel in Röm 3,20 formuliert: „Aufgrund von Werken des Gesetzes wird
27
Vom νόμος: ἅγιος Röm 7,12a, πνευματικός Röm 7,14a, καλός Röm 7,16. Wenn in Röm
7,12b die ἐντολή – d. h. das in Röm 7,7–13 thematische Paradiesgebot Gen 2,16b.17 – als δικαία
und ἀγαθή gekennzeichnet wird, dann gelten diese Prädikate ebenfalls von der Sinai-Tora, die
Paulus hinsichtlich ihrer Quintessenz durch das Paradiesgebot repräsentiert sieht. Zum Ver-
hältnis von Paradiesgebot und Tora s. Hofius, Der Mensch im Schatten Adams (s. Anm. 16),
115–118.
28 Zu der positiven Bestimmung s. Röm 10,5 und Gal 3,12b (Zitat von Lev 18,5), zu der
negativen Bestimmung Gal 3,10b (Zitat von Dtn 27,26a). S. außerdem auch Röm 2,13.
29 Röm 3,20.28; Gal 2,16a.b.c; 3,2.5.10. Im Römerbrief begegnet daneben auch die Kurzform
ἔργα: Röm 4,2.6; 9,12.32; 11,6. Zu dem in der Exegese lebhaft umstrittenen Begriff der ἔργα
νόμου s. im einzelnen: O. Hofius, „Werke des Gesetzes“. Untersuchungen zu der paulinischen
Rede von den ἔργα νόμου, in: Ders., Exegetische Studien (WUNT 223), Tübingen 2008, 49–88;
Ders., „Werke des Gesetzes“ – Zwei Nachträge, ebd., 89–94.
30
Röm 2,13.
31
S. dazu insbesondere Röm 8,7.
32
Paulus selbst stellt diese Frage in Gal 3,19a: Τί οὖν ὁ νόμος; – „Was soll nun das Gesetz?“
33
S. dazu im einzelnen: Hofius, Das Gesetz des Mose und das Gesetz Christi (s. Anm. 26),
56–63.
34
Röm 5,16.18, 8,1. Vgl. auch 2 Kor 3,4–9: Der Dienst des Gesetzes ist „Dienst der Verurtei-
lung“ (ἡ διακονία τῆς κατακρίσεως V. 9a), d. h. ein Dienst, der das Todesurteil proklamiert
(vgl. V. 7).
35
Gal 3,10.13.
„Sünde“ – „Gesetz“ – „Gnade“ 169
kein Fleisch (d. h. kein Mensch) vor Gott gerechtgesprochen werden;36 durch
das Gesetz [kommt] nämlich [nur] Erkenntnis der Sünde“ (ἐξ ἔργων νόμου οὐ
δικαιωθήσεται πᾶσα σὰρξ ἐνώπιον αὐτοῦ, διὰ γὰρ νόμου ἐπίγνωσις ἁμαρτίας).
Der erste Teil dieses Satzes besagt: Weil der von Adam herkommende Mensch
den im Gesetz geforderten Gehorsam nicht aufzuweisen vermag, deshalb kann
und wird niemand durch das Tun dessen, was die Tora gebietet, die δικαιοσύνη –
die intakte Beziehung zu Gott – erlangen. Wenn Paulus dann im zweiten Teil
des Satzes erklärt, daß es durch den νόμος nur zur ἐπίγνωσις ἁμαρτίας kommt,
dann ist damit nicht gemeint, daß der Mensch in der Begegnung mit der Tora
seine Sünde erkennen und aufgrund solcher Erkenntnis den Weg der Umkehr
finden kann.37 Der Apostel spricht vielmehr von einem objektiven Offenba-
rungsgeschehen: Im Licht des heiligen Gesetzes Gottes kommt beides an den
Tag: die Größe und Macht der Sünde wie auch die Verlorenheit der ganzen
Menschheit, die unter der Herrschaft der Sünde steht.
3. Es entspricht der soeben beschriebenen Sicht des Apostels, wenn er urteilt,
daß die Tora vom Sinai dem vor Gott verlorenen Menschen kein Heil zu er-
öffnen vermag.38 Der νόμος müßte die Sünde und den Tod überwinden und den
dem Tod verfallenen Sündern eine neue Existenz schenken können, wenn die
δικαιοσύνη und damit die Rettung „aus dem Gesetz“ kommen sollte.39 Ein Weg
zum Leben aber ist die Tora nach Paulus nicht.40 Deshalb spricht er in Röm 8,3a
Heil eines jeden Menschen einzig und allein in dem gekreuzigten und auferstandenen Christus
beschlossen liegt. Damit steht der Apostel in einem fundamentalen Gegensatz zum Tora-Ver-
ständnis des Judentums seiner Zeit, demzufolge die Tora vom Sinai dem sündigen Menschen
die Möglichkeit der Rettung, d. h. den Weg zum Leben eröffnet. S. dazu Sir 17,11; 45,5; Bar
3,9; 4,1; PsSal 14,2; 4 Esr 14,30; syrBar 38,2; Rabbinisches bei P. Billerbeck, Kommentar
zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch III, München 1926 = ²1954, 129–131.237.277 f.
39
Gal 3,21b: „[Nur] wenn ein Gesetz gegeben worden wäre, das Leben geben könnte, käme
das heilvolle Gottesverhältnis tatsächlich aus dem Gesetz“ (εἰ […] ἐδόθη νόμος ὁ δυνάμενος
ζῳοποιῆσαι, ὄντως ἐκ νόμου ἂν ἦν ἡ δικαιοσύνη). Vgl. auch Gal 2,21b: „Wenn durch das Gesetz
das heilvolle Gottesverhältnis erlangt werden kann, dann ist Christus ohne Grund gestorben
(d. h.: dann war sein Tod nicht notwendig)“ (εἰ […] διὰ νόμου δικαιοσύνη, ἄρα Χριστὸς δωρεὰν
ἀπέθανεν).
40 Gegen dieses Urteil sprechen keineswegs die Worte ἡ ἐντολὴ ἡ εἰς ζωήν von Röm 7,10b.
Die Verse Röm 7,7–13 bringen in der Gestalt eines Selbstbekenntnisses das zur Sprache, was
in der Sündenfallgeschichte von Gen 2 f. über Adam berichtet wird. Die angeführten Worte
beziehen sich dabei auf das Paradiesgebot Gen 2,16b.17 (vgl. 3,3) und bedeuten mithin: „das
Gebot, das zur Bewahrung des von Gott geschenkten Lebens dienen sollte“. Der Sinn ist da-
gegen nicht: „das Gebot, das für den Fall der Befolgung das Leben verhieß“. Zur genaueren
Begründung s. Hofius, Der Mensch im Schatten Adams (s. Anm. 16), 122–135.
170 „Sünde“ – „Gesetz“ – „Gnade“
im Blick auf die Frage nach dem Heil von dem „Unvermögen“ des Gesetzes (τὸ
ἀδύνατον τοῦ νόμου): Das Gesetz vermochte dem sündigen Menschen nicht zu
helfen, „weil es sich angesichts der von der Sünde beherrschten Existenz als
kraftlos erwies“ (ἐν ᾧ ἠσθένει διὰ τῆς σαρκός).41
III
Was das Gesetz nicht vermag, das wirkt dem Zeugnis des Paulus zufolge die
„Gnade“ Gottes. Zu diesem grundlegenden Begriff der paulinischen Soteriolo-
gie notiere ich – wie zum Begriff der „Sünde“ – fünf Bestimmungen.
1. Das Wort „Gnade“ (χάρις) meint in den soteriologischen Aussagen des Pau-
lus nicht nur Gottes gnädige Gesinnung, sondern seine rettende Zuwendung zu
dem vor ihm verlorenen sündigen Menschen.42 Die χάρις ist das göttliche „Ja“,
das das böse „Nein“ des Sünders überwindet. Die Rede von der χάρις macht
dabei deutlich, daß dieses „Ja“ einzig und allein in Gottes Liebe und Barm-
herzigkeit begründet ist und daß der Mensch es nicht verdient hat und auch nie
je verdienen kann.
2. Die rettende Zuwendung Gottes zu dem sündigen Menschen ist sein Heils-
handeln in Jesus Christus. Sie ist mithin als die Gnade Gottes zugleich „die
Gnade unseres Herrn Jesus Christus“.43 Wie die Sünde, so betrifft auch die
Gnade in universaler Weite alle Menschen.44 Deshalb führt Paulus in Röm 3,23 f.
die für Juden und Heiden geltende Aussage, daß „alle gesündigt haben und somit
der Herrlichkeit Gottes entbehren“ (πάντες ἥμαρτον καὶ ὑστεροῦνται τῆς δόξης
τοῦ θεοῦ [V. 23]), durch die folgenden Worte weiter (V. 24): „und sie empfangen
die heilvolle Beziehung zu Gott als unverdientes Geschenk durch seine Gnade
kraft der Erlösung, die in Christus Jesus geschehen ist“ (δικαιούμενοι δωρεὰν τῇ
αὐτοῦ χάριτι διὰ τῆς ἀπολυτρώσεως τῆς ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ45). Die rettende Tat
Gottes, von der Paulus hier spricht, ist das Geschehen des Todes und der Auf-
erstehung Jesu Christi, des menschgewordenen Sohnes Gottes. In diesem Ge-
schehen ist die Sünden- und Todeswirklichkeit, die von Adam her alle Menschen
41
Die Wendung ἐν ᾧ hat hier – wie in Hebr 2,18; 6,17 – die Bedeutung „weil“, und σάρξ
bezeichnet nicht menschliche Schwachheit, sondern wie an den anderen in Anm. 17 notierten
Stellen die von der Sünde bestimmte menschliche Existenz.
42
Röm 3,24; 4,16; 5,2.15.17.20 f.; 6,1.14 f.; 11,5 f.; 2 Kor 6,1; Gal 2,21; 5,4.
43 2 Kor 8,9: „Ihr kennt die Gnade unseres Herrn Jesus Christus: Obwohl er reich war, ist
er um euretwillen arm geworden, damit ihr durch seine Armut reich würdet“ (γινώσκετε […]
τὴν χάριν τοῦ κυρίου ἡμῶν Ἰησοῦ Χριστοῦ, ὅτι δι’ ὑμᾶς ἐπτώχευσεν πλούσιος ὤν, ἵνα ὑμεῖς τῇ
ἐκείνου πτωχείᾳ πλουτήσητε). Zur Gnade Christi s. außerdem auch Röm 5,15.
44 S. dazu außer den sogleich zitierten Versen Röm 3,23 f. vor allem auch den Abschnitt Röm
5,12–21 (V. 15.17.20 f.).
45
Das Partizip δικαιούμενοι steht in Röm 3,24 für καὶ δικαιοῦνται. Paulus wählt des öfteren
anstelle eines Verbum finitum ein Partizip; s. dazu Röm 6,6; 2 Kor 4,2.8–10; 5,12.19c; 6,3 f.; 7,5;
8,19; 9,11.13; 10,4–6; 11,6.
„Sünde“ – „Gesetz“ – „Gnade“ 171
zeichnet, überwunden und aufgehoben worden – und zwar dadurch, daß der
Sohn Gottes im Gehorsam gegen den Willen seines Vaters das κατάκριμα und
die κατάρα des Gesetzes auf sich selbst genommen hat.46 In Christi Tod und Auf-
erstehung haben so die „Sünder“ den Freispruch zum Leben empfangen, sind die
„Feinde“ mit Gott versöhnt und die „Gottlosen“ und „Ungerechten“ in den Stand
der heilvollen Gottesbeziehung versetzt worden.47 An der gewichtigen Stelle
2 Kor 5,21 beschreibt Paulus dieses Geschehen mit den folgenden Worten:48
Gott „hat den, der die Sünde nicht kannte, für uns zur Sünde gemacht, damit
wir die δικαιοσύνη θεοῦ würden in ihm“ (τὸν μὴ γνόντα ἁμαρτίαν ὑπὲρ ἡμῶν
ἁμαρτίαν ἐποίησεν, ἵνα ἡμεῖς γενώμεθα δικαιοσύνη θεοῦ ἐν αὐτῷ). Wenn hier
von Christus als dem menschgewordenen Sohn Gottes gesagt wird, daß er „die
Sünde nicht kannte“, dann heißt das: er hatte mit der Sünde nichts zu tun, sie
war ihm ganz und gar fremd.49 Diese Aussage hat nicht bloß das konkrete Tun
und Verhalten Jesu Christi im Blick, sondern sie bezieht sich in umfassender
Weise auf seine ganze menschliche Existenz. In dieser seiner Existenz war er
ohne Sünde, war er der Macht der Sünde nicht verfallen. Die Sünde ist ja, wie
wir gesehen haben, das böse „Nein“ zu Gott, das einen jeden von Adam her-
kommenden Menschen in seinem Sein zeichnet. Christus dagegen ist aufgrund
seines göttlichen Ursprungs und Wesens der eine und einzige Mensch, dessen
menschliche Existenz ihre Signatur in dem vollkommenen und beständigen
„Ja“ zu seinem himmlischen Vater hat.50 Er ist auch als der Menschgewordene
in seinem Sein der sündlose Sohn Gottes.51 Einzig deshalb kann gelten und
46
Zum κατάκριμα s. neben Röm 5,16b.18 vor allem Röm 8,1–4 (und dazu auch unten
Anm. 51), zur κατάρα Gal 3,13 f.; 4,4 f.
47
S. dazu insbesondere Röm 5,6–11 und 2 Kor 5,14–21 sowie zur Sache O. Hofius, Sühne
und Versöhnung. Zum paulinischen Verständnis des Kreuzestodes Jesu, in: Ders., Paulusstudien
(s. Anm. 26), 33–49.
48
Ich übersetze den Satz 2 Kor 5,21 zunächst so wörtlich wie möglich. Zu der dann folgenden
Auslegung vgl. Hofius, ebd., 45–47.
49
Zu ἁμαρτίαν γινώσκειν = „mit der Sünde und ihrer Macht zu tun haben“ vgl. Röm 7,7, wo
τὴν ἁμαρτίαν γνῶναι die Bedeutung „mit der Sünde und ihrer Macht zu tun bekommen“ hat.
50
Daß Christus, wenn er in dieser Weise als sündlos angesehen wird, kein wahrer und wirk-
licher Mensch gewesen sei, ist kein zwingender Schluß. Er wäre es nur unter der Voraussetzung,
daß die Sünde zur geschöpflichen Struktur des Menschen gehört. Genau das aber ist nicht der
Fall! Der Mensch, wie er geschichtlich als Sünder existiert, ist der Mensch im Widerspruch zu
dem Menschen, wie er von Gott, seinem Schöpfer, herkommt und nach seinem Willen sein soll.
51
Vgl. dazu Röm 8,3b, wo Paulus im Zusammenhang der Verse 8,1–4 formuliert: ὁ θεὸς τὸν
ἑαυτοῦ υἱὸν πέμψας ἐν ὁμοιώματι σαρκὸς ἁμαρτίας καὶ περὶ ἁμαρτίας κατέκρινεν τὴν ἁμαρτίαν
ἐν τῇ σαρκί. Nach meinem Urteil ist der schwierige Satz folgendermaßen zu verstehen: „Gott
sandte seinen eigenen Sohn in der Gleichheit der von der Sünde gezeichneten menschlichen
Existenz – und zwar um der Überwindung der Sünde willen, und er sprach das Gerichtsurteil
über die Sünde in der Sündenexistenz (d. h. in der Existenz, die in dem für alle Menschen
erlittenen Tod ganz und gar die Sache des Sohnes Gottes wurde).“ Wie in Röm 5,14 und in Röm
6,5, so wird auch hier durch das Wort ὁμοίωμα eine Identität bei gleichzeitiger Nichtidentität
zum Ausdruck gebracht: Christus ist in der Inkarnation ein wahrer und wirklicher Mensch und
darin den von Adam herkommenden Menschen gleich geworden, aber er bleibt auch als der
172 „Sünde“ – „Gesetz“ – „Gnade“
gilt, was sodann in 2 Kor 5,21 über Christus bzw. über das Christusgeschehen
gesagt wird. Der sprachlich wie gedanklich überaus dichte Satz, der fest im
Kontext der Verse 2 Kor 5,14–21 verankert ist, setzt eine für die Soteriologie
des Paulus fundamentale Erkenntnis voraus. Es ist dies die Erkenntnis, daß die
Menschen, zu deren Heil Christus gestorben und auferstanden ist, von Anfang
an in das Geschehen seines Todes und seiner Auferstehung einbezogen sind.52
Wenn Paulus in V. 21a sagt, daß Gott den sündlosen Christus „für uns zur Sünde
gemacht“ hat, so heißt das: Er hat ihn mit der ganzen von der Sünde gezeich-
neten Menschheit identifiziert,53 und aufgrund dieser Identifikation hat sich in
seinem Tod das Todesgericht ereignet, dem rechtens alle Menschen verfallen
sind.54 Das Ziel und die Folge faßt Paulus dann in V. 21b in die Worte: „damit
wir die δικαιοσύνη θεοῦ würden in ihm“ (ἵνα ἡμεῖς γενώμεθα δικαιοσύνη θεοῦ
ἐν αὐτῷ). Das besagt: Diejenigen, für die das „für uns“ von V. 21a gilt, sind auf-
grund der am Kreuz vollzogenen Identifikation nicht nur mit dem gekreuzigten,
sondern in gleicher Weise auch mit dem auferstandenen Christus verbunden.55 In
der Zugehörigkeit zu ihm (ἐν αὐτῷ!) werden und sind sie, was sie zuvor weder
waren noch sein konnten: Menschen, die in ihrer Existenz von der δικαιοσύνη
θεοῦ – von der heilvollen Beziehung zu dem lebendigen Gott – bestimmt sind.
Wenn es dabei in einer recht ungewöhnlichen Formulierung heißt, daß sie „die
δικαιοσύνη θεοῦ werden“, dann sind sie ganz unmittelbar mit eben jener Größe
benannt, die sie als die zu Christus Gehörenden in ihrem Sein qualifiziert. In ein-
drücklicher Weise bringt so der Satz 2 Kor 5,21 das Geschehen des Todes und der
Auferstehung Jesu Christi als die Heilstat Gottes zur Sprache, die allein in seiner
freien Gnade begründet ist. Den Versen 2 Kor 5,18–21 zufolge ist mit dieser
Heilstat unlöslich das Heilswort Gottes verbunden, das seine Heilstat kundgibt
Menschgewordene der wesenhafte Sohn Gottes, der nicht der Macht der Sünde verfallen und
nicht von der Sünde gezeichnet ist. Als dieser vermochte er in seinem Tod das κατάκριμα, das
die Tora über die von der Sünde beherrschte Existenz ausspricht, auf sich selbst zu nehmen und
die Sünder von ihm zu befreien (s. V. 1). – Die Worte Röm 8,3b.4 berühren sich nach Struktur
und Aussage eng mit 2 Kor 5,21 wie auch mit Gal 4,4b.5, wo die Kennzeichnung Christi als
γενόμενος ὑπὸ νόμον V. 4b dem γενόμενος κατάρα von Gal 3,13a entspricht.
52
S. dazu Röm 6,1–11; 7,4.6; Gal 2,19 f. und insbesondere 2 Kor 5,14b.15. In 2 Kor 5,14b.15
und dann auch in 2 Kor 5,21a hat ὑπέρ mit Genitiv der Person die Bedeutung „jemandem zugut“,
„zu jemandes Heil“. Gleiches gilt für Röm 5,6.8; 8,32; 14,15; 1 Kor 1,13; 11,24; Gal 2,20; 3,13;
1 Thess 5,10.
53 Zu dem universalen Aspekt s. in 2 Kor 5,19 die Rede von dem κόσμος, d. h. der Menschen-
welt, und zuvor bereits in 2 Kor 5,14b.15 das betonte dreimalige πάντες („alle“).
54 Vgl. dazu bereits die Aussage von 2 Kor 5,14b: „Einer ist für alle gestorben; folglich sind
(sc. in seinem Tod) sie alle gestorben“ (εἷς ὑπὲρ πάντων ἀπέθανεν, ἄρα οἱ πάντες ἀπέθανον).
55
Für das angemessene Verständnis der Verse 2 Kor 5,14–21 insgesamt wie auch des V. 21
ist von Gewicht, daß Christus in V. 15b ausdrücklich als der bezeichnet wird, der für alle „ge-
storben und auferstanden“ ist (ὁ ὑπὲρ αὐτῶν [= πάντων V. 15a] ἀποθανὼν καὶ ἐγερθείς). Zu der
unlöslichen Zusammengehörigkeit von Tod und Auferstehung Christi s. ferner auch Röm 4,25;
5,10; 6,4 f.9 f.; 8,34; 14,9; 1 Kor 15,3b.4; Gal 1,1–5; 1 Thess 4,14; 5,10.
„Sünde“ – „Gesetz“ – „Gnade“ 173
und erschließt56. Dieses Heilswort ist das Evangelium, auf dessen Inhalt Paulus
mit dem Ausdruck „das Evangelium von Christus“ (τὸ εὐαγγέλιον τοῦ Χριστοῦ)
hinweist57 und das in Apg 20,24 – durchaus im Sinne des paulinischen Verständ-
nisses – als „das Evangelium von der Gnade Gottes“ (τὸ εὐαγγέλιον τῆς χάριτος
τοῦ θεοῦ) bezeichnet wird. Durch das in der Verkündigung ausgerichtete Evan-
gelium macht Gott selbst unter den Menschen das Heil bekannt, das in Christi
Tod und Auferstehung geschaffen ist; und er gibt Menschen dieses sein Heil zu
eigen, indem das Evangelium den Glauben wirkt, der das Heil ergreift.58
3. In dem, was durch die Gnade mit dem sündigen Menschen geschieht,
erblickt Paulus ein Wunder der Neuschöpfung. Der mit dem gekreuzigten und
auferstandenen Christus verbundene und durch ihn mit Gott versöhnte Mensch
ist – wie der Apostel formuliert – „in Christus“ (ἐν Χριστῷ),59 und das bedeutet:
Er gehört Christus als seinem Herrn und steht unter seiner guten Herrschaft.60
Von dem Menschen ἐν Χριστῷ aber gilt: εἴ τις ἐν Χριστῷ, καινὴ κτίσις· τὰ
ἀρχαῖα παρῆλθεν, ἰδοὺ γέγονεν καινά – „Wenn jemand in Christus ist, so ist er
ein neues Geschöpf; das Alte ist vergangen, siehe: Neues ist geworden“ (2 Kor
5,17). Das „Alte“, das vergangen ist, ist die Sklaven-Existenz unter der Macht
der Sünde, die als solche eine Existenz „unter dem Gesetz“ (ὑπὸ νόμον) – d. h.
unter dem Todesurteil der Tora – war. An seine Stelle ist als das „Neue“ die Exi-
stenz „unter der Gnade“ (ὑπὸ χάριν) getreten, deren Signatur die Freiheit ist, die
Christus den Glaubenden geschenkt hat.61 Wo zuvor die Sünde geherrscht hat,
da herrscht jetzt die Gnade,62 und wo zuvor die Sünde wohnte, da wohnt jetzt
Christus bzw. der Heilige Geist als der Geist Christi.63 In Gal 2,19–21 beschreibt
Paulus das mit sehr persönlichen Worten. Er spricht hier von dem neuen Leben,
das ihm nicht durch das Gesetz, sondern allein durch die Gnade Gottes ge-
56
Wie insbesondere durch 2 Kor 5,18–21 belegt wird, begreift Paulus das Heilshandeln
Gottes in Jesus Christus als den differenzierten Zusammenhang von Heilstat und Heilswort. S.
dazu O. Hofius, „Gott hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung“ (2 Kor 5,19),
in: Ders., Paulusstudien (s. Anm. 26), 15–32; Ders., Wort Gottes und Glaube bei Paulus, ebd.,
148–174: 148–150.
57 Röm 15,19; 1 Kor 9,12; 2 Kor 2,12; 9,13; 10,14; Gal 1,7; Phil 1,27; 1 Thess 3,2. S. außerdem
auch Röm 1,9 („das Evangelium von dem Sohn Gottes“) und 2 Kor 4,4 („das Evangelium von
der Herrlichkeit Christi, der das Bild Gottes ist“).
58 Zum paulinischen Verständnis des Evangeliums und der apostolischen Verkündigung
s. ausführlich: O. Hofius, „Die Wahrheit des Evangeliums“, in: Ders., Paulusstudien II (s.
Anm. 13), 17–37; niederländische Fassung: „De waarheid van het evangelie“. Exegetische en
theologische overwegingen bij de waarheidsclaim van de paulinische prediking, ThRef 45
(2002) 198–218.
59
Röm 8,1; 1 Kor 1,30; 2 Kor 5,17.
60
Vgl. dazu auch Röm 7,4; 8,9; 14,7–9; 1 Kor 3,23.
61 Das Gegenüber von ὑπὸ νόμον und ὑπὸ χάριν betont Paulus in Röm 6,14b (vgl. V. 15).
S. dazu auch die ausdrückliche Antithese von ἁμαρτία und χάρις in Röm 5,20 f.; 6,1 (auch
παράπτωμα und χάρις in 5,15 und 5,17).
62
Röm 5,21.
63
Röm 8,9–11. Zum einstigen „Wohnen“ der Sünde s. Röm 7,17.20.
174 „Sünde“ – „Gesetz“ – „Gnade“
schenkt worden ist (V. 19a.21), und er sagt dazu (V. 19b.20): „Ich bin mit Christus
gekreuzigt. So lebe also nicht mehr ich (sc. der alte Mensch), sondern es lebt
in mir Christus. Das irdische Leben aber, das ich jetzt noch führe, das lebe ich
im Glauben an den Sohn Gottes, der mich geliebt und sich selbst für mich in
den Tod dahingegeben hat“ (Χριστῷ συνεσταύρωμαι· ζῶ δὲ οὐκέτι ἐγώ, ζῇ δὲ
ἐν ἐμοὶ Χριστός· ὃ δὲ νῦν ζῶ ἐν σαρκί, ἐν πίστει ζῶ τῇ τοῦ υἱοῦ τοῦ θεοῦ τοῦ
ἀγαπήσαντός με καὶ παραδόντος ἑαυτὸν ὑπὲρ ἐμοῦ).64
4. Daß der an Christus glaubende Mensch ein „neues Geschöpf“ (καινὴ κτίσις)
ist, das zeigt sich nach Paulus in einem neuen Leben, das nicht mehr von der
Sünde und von der σάρξ, sondern von der Gnade und von dem Geist Gottes be-
stimmt wird.65 Dieses neue Leben ist Leben „für Gott“ und „für Christus“.66 Sein
entscheidendes Kennzeichen ist die Liebe, die der durch das Evangelium ge-
wirkte Glaube notwendig bei sich hat; denn der Glaube an Christus ist πίστις δι’
ἀγάπης ἐνεργουμένη – „Glaube, der als solcher durch Liebe tätig ist“ (Gal 5,6).
Daß der an Christus glaubende Mensch die Liebe nicht aus eigener Kraft hervor-
bringt, das macht Paulus deutlich, wenn er sie als „Frucht des Geistes“ (καρπὸς
τοῦ πνεύματος) bezeichnet (Gal 5,22).67 Fragen wir nach dem Maßstab, an dem
sich das neue, unter der Leitung des Heiligen Geistes stehende Leben orientiert,
so ist zu sagen: Dieser Maßstab ist für Paulus das „Gesetz Christi“ (Gal 6,2), d. h.
der Herrschaftsanspruch des gekreuzigten und auferstandenen Herrn.68 In der
Freiheit, die ihnen durch die Gnade Gottes geschenkt ist, prüfen und entscheiden
die Glaubenden, was in einer konkreten Situation das vor dem Gekreuzigten zu
verantwortende und eben damit auch gebotene Tun und Verhalten ist.
64 Eine vergleichbare Aussage über alle Christen findet sich in Röm 6,1–11; s. insbesondere
V. 6 f.
65
S. dazu besonders Röm 6,1–7,6; 8,1–17; Gal 5,13–6,10. Wie Paulus in diesen Abschnitten
deutlich macht, ist mit dem Geist Gottes und der von ihm bestimmten neuen Existenz die σάρξ –
die unter der Macht der Sünde stehende und gegen Gott gerichtete Existenz – schlechterdings
unvereinbar. Daß die alte Sündenexistenz den Glaubenden immer noch als Versuchung ent-
gegentritt, weiß der Apostel sehr wohl. Er betont jedoch, daß sie dieser Versuchung keineswegs
erliegen müssen, sondern ihr in der Kraft des Geistes Gottes zu widerstehen vermögen (Röm
8,12 f.; Gal 5,16).
66
Für Gott: Röm 6,11; Gal 2,19a. Für Christus: Röm 14,8; 2 Kor 5,15.
67
Die Liebe steht nicht zufällig am Anfang der Liste von Gal 5,22.23a: „Die Frucht des
Geistes ist Liebe, Freude, Friede, Geduld, Freundlichkeit, Güte, Treue (πίστις), Sanftmut,
Selbstbeherrschung.“ Das Wort πίστις hat in dieser Liste die gleiche Bedeutung wie in Röm 3,3.
68
Zum „Gesetz Christi“ s. des näheren Hofius, Das Gesetz des Mose und das Gesetz Christi
(s. Anm. 26), 70–72 (auch 66–69). – An dieser Stelle sei eine exegetische Anmerkung zu 1 Kor
7,19 angefügt: Der Satz ist formal wie inhaltlich eine Parallele zu Gal 5,6 und Gal 6,15. Deshalb
meint die Wendung τήρησις ἐντολῶν θεοῦ („das Halten der Gebote Gottes“) nicht einfach die
Befolgung aller Gebote der Sinai-Tora. Was Gottes Gebote sind, das entscheidet sich für Paulus
vielmehr an dem Liebesgebot, das im Licht der Liebe Christi auszulegen ist und mit dessen
Befolgung de facto erfüllt wird, was die Tora im Blick auf das Verhältnis zum Nächsten als den
Willen Gottes bezeugt (Röm 13,8–10; Gal 5,13 f.).
„Sünde“ – „Gesetz“ – „Gnade“ 175
5. Die Herrschaft Jesu Christi ist die Herrschaft der Gnade. Nach Röm 5,21
übt die Gnade ihre Herrschaft in der Weise aus, daß diejenigen, die zuvor unter
der Herrschaft der Sünde heillos dem von Gott trennenden Tod verfallen waren,
nunmehr in der ihnen geschenkten heilvollen Gottesbeziehung bewahrt bleiben,
die das ewige Leben zur Folge hat. Paulus unterstreicht diese Aussage noch ein-
mal nachdrücklich in Röm 6,23, indem er der Sünde die Gnade gegenüberstellt:
„Der Sold, den die Sünde auszahlt, ist der Tod. Das Geschenk aber der Gnade
Gottes ist das ewige Leben in Christus Jesus, unserem Herrn.“
Das kirchliche Amt der Verkündigung
bei Paulus und in den Deuteropaulinen
Die folgenden Überlegungen sind der Frage gewidmet, was sich den authenti-
schen Paulusbriefen einerseits und den Deuteropaulinen andererseits über ein
kirchliches Amt der Verkündigung entnehmen läßt.1 Verkündigung meint dabei
dezidiert die Predigt des Evangeliums als des Glauben wirkenden Wortes Gottes,
in dem zur Sprache kommt, was Gott selbst den zu Aposteln berufenen Zeugen
über die Person und das Werk seines Sohnes Jesus Christus geoffenbart hat.2
Von einem Amt der Verkündigung soll da gesprochen werden, wo die Predigt
des Evangeliums als ein bestimmten Personen übertragener und von ihnen kon-
tinuierlich wahrgenommener Dienst verstanden ist. Die Rede von einem kirch-
lichen Amt schließlich hebt auf den elementaren Unterschied zu dem Amt der
einmaligen und einzigartigen Apostel Jesu Christi ab, die als die grundlegenden
Christuszeugen in das Geschehen der Offenbarung Gottes in Jesus Christus mit
hineingehören und deshalb keine kirchliche Instanz, sondern der Kirche als ver-
bindliche Autorität vorgegeben sind.3 Träger eines kirchlichen Amtes sind zum
einen die in einem größeren geographischen Bereich wirkenden urchristlichen
Missionare4 und zum andern diejenigen, die in einer konkreten Gemeinde den
Dienst der Verkündigung wahrnehmen. Ausschließlich um das Amt der Letzt-
genannten geht es im Folgenden.
1
Den Gegenstand der Betrachtung bilden damit Texte, die in der Exegese sehr unter-
schiedliche und zum Teil auch recht kontroverse Deutungen erfahren. Diese Deutungen im
einzelnen darzustellen und in eine explizite Auseinandersetzung mit ihnen einzutreten, würde
den Rahmen des Aufsatzes sprengen. Die Literaturhinweise beschränken sich deshalb vor
allem auf solche Beiträge, denen ich wichtige Einsichten verdanke, sowie auf eigene Arbeiten,
in denen bestimmte Urteile eine nähere Begründung finden. – Für hilfreiche Gespräche danke
ich meinem Freund Gert Jeremias.
2 S. dazu sowie zur präzisen Bestimmung des Verhältnisses von Evangelium und Ver-
kündigung: O. Hofius, Wort Gottes und Glaube bei Paulus, in: Ders., Paulusstudien (WUNT
51), Tübingen ²1994, 148–174: 150–154; Ders., „Fides ex auditu“. Verkündigung und Glaube
nach Römer 10,4–17, in: J. von Lüpke / E. Thaidigsmann (Hg.), Denkraum Katechismus. FS
Oswald Bayer, Tübingen 2009, 71–86: 75–83 (in dem vorliegenden Band: 105–120: 108–117).
3 S. dazu im einzelnen O. Hofius, Die Einzigartigkeit der Apostel Jesu Christi, in: Ders.,
Der früheste Zeuge für ein kirchliches Amt der Verkündigung in dem soeben be-
schriebenen Sinn ist der Erste Korintherbrief. Beachtung verdient hier zunächst
der Abschnitt 1 Kor 3,10–17, der fest im Kontext des umfangreichen Textkom-
plexes 1 Kor 1,10–4,21 verankert ist und in diesem Kontext bedacht sein will.
Paulus setzt sich von 1 Kor 1,10 an mit Streitigkeiten in der korinthischen Ge-
meinde auseinander, die in gewissen religiösen Vorstellungen und Erwartungen
begründet sind.5 Die an dem Streit beteiligten Korinther streben nach heil-
bringender „Weisheit“, und sie haben offenbar in Jesus Christus den göttlichen
Vermittler sowie – bei durchaus unterschiedlicher Wertschätzung – in Paulus,
Apollos und Petrus die entscheidenden Verkündiger und Lehrer solcher Weisheit
gesehen. Was sie von einem respektablen Verkündiger und Lehrer erwarten,
ist „Weisheitsrede“, d. h. eine Rede, die ihnen die als heilsrelevant erachtete
Erkenntnis göttlicher Geheimnisse vermittelt.6 Demgegenüber weist Paulus
mit großem Nachdruck darauf hin, daß in der christlichen Gemeinde die Ver-
kündigung prinzipiell nichts anderes sein kann als eine Rede, die das Kreuz Jesu
Christi zum Inhalt hat (ὁ λόγος ὁ τοῦ σταυροῦ 1 Kor 1,18), – und zwar deshalb,
weil das Heil eines jeden Menschen ausschließlich in dem gekreuzigten Christus
beschlossen liegt. Dementsprechend betont der Apostel in 1 Kor 2,1 f., daß er bei
seinem ersten missionarischen Wirken in Korinth nichts anderes verkündigt hat
als den Χριστὸς ἐσταυρωμένος (vgl. 1,23).
An sein erstes Wirken in Korinth erinnert Paulus erneut in 1 Kor 3,10. In 3,9
hat er die Gemeinde als „Gottes Bauwerk“ bezeichnet, was in 3,16 f. dahin-
gehend präzisiert wird, daß sie „der Tempel Gottes“ ist. Unter Aufnahme des
Bildes vom „Bauwerk“ erklärt der Apostel in V. 10: „Entsprechend der Gnade
Gottes, die mir verliehen wurde, habe ich als ein kundiger Baumeister das
Fundament gelegt (θεμέλιον ἔθηκα). Andere aber bauen darauf auf (ἄλλος δὲ
ἐποικοδομεῖ).7 Jeder aber sehe zu, wie er darauf aufbaut!“ Das Fundament der
korinthischen Gemeinde hat Paulus gelegt, indem er das Evangelium und damit
den gekreuzigten Christus verkündigte (V. 10a). Wie sich das θεμέλιον τιθέναι
auf die Verkündigung des Evangeliums bezieht, so auch das ἐποικοδομεῖν von
V. 10b.8 Daraus folgt, daß Paulus von Personen spricht, die in der Gemeinde als
5
Zu den exegetischen Einzelfragen s. H.-Chr. Kammler, Kreuz und Weisheit. Eine ex-
egetische Untersuchung zu 1 Kor 1,10–3,4 (WUNT 159), Tübingen 2003.
6 Das ergibt sich aus 1 Kor 1,17b; s. Kammler, ebd., 28–36.
7 An unserer Stelle ist ἄλλος (wie ἕτερος Röm 2,21) ein genereller Singular, der im Deutschen
am besten durch den Plural wiedergegeben wird. Mit ἄλλος beginnt ein neuer Satz (= V. 10bα),
weshalb im griechischen Text hinter ἔθηκα zumindest ein Kolon stehen sollte.
8
Das Verbum ἐποικοδομεῖν, das dann in den Versen 12 und 14 erneut begegnet, heißt: „auf-
bauen“, „darauf / darüber bauen“. Wird in 1 Kor 3,10.12.14 mit „weiterbauen“ übersetzt, so ist
das zumindest mißverständlich. Denn das von Paulus gewählte Bild ist nicht das eines im Bau
befindlichen und ständig wachsenden Gebäudes, bei dessen Errichtung einer das Werk des
Das kirchliche Amt der Verkündigung bei Paulus und in den Deuteropaulinen 179
Verkündiger wirken. Wenn er von diesen sagt, daß sie auf dem von ihm gelegten
Fundament „aufbauen“, so heißt das: Sie halten in ihrer Verkündigung an dem
von ihm selbst gepredigten Evangelium fest. Einem jeden, der so „aufbaut“, gilt
die Mahnung, daß er zusehen möge, wie er den Dienst der Verkündigung ausübt
(V. 10bβ).
Ehe Paulus diese Mahnung näher entfaltet, formuliert er in V. 11 einen theo-
logisch gewichtigen Begründungssatz: θεμέλιον γὰρ ἄλλον οὐδεὶς δύναται
θεῖναι παρὰ τὸν κείμενον, ὅς ἐστιν Ἰησοῦς Χριστός – „Denn ein anderes Fun-
dament kann niemand legen als das, das gelegt ist: Jesus Christus.“ Die gängige
Deutung dieses Satzes erblickt in Paulus das logische Subjekt zu dem Partizip
κείμενον. V. 11 begründet dann das in V. 10b Gesagte bzw. die Wahl des Wortes
ἐποικοδομεῖν: Das Fundament, das Paulus gelegt hat, kann keiner der nach ihm
kommenden Verkündiger durch ein anderes Fundament ersetzen, sondern ein
jeder von ihnen kann grundsätzlich nur auf diesem Fundament „aufbauen“.
Daß diese Deutung sprachlich unanfechtbar ist und einen guten Sinn ergibt,
steht außer Frage. Gleichwohl halte ich eine andere Interpretation des V. 11 für
entschieden wahrscheinlicher. Diese geht davon aus, daß Gott das logische
Subjekt von κείμενον, das Partizip also passivum divinum ist.9 Dann begründet
V. 11 den V. 10 insgesamt: Ein anderes Fundament als jenes, das Paulus mit der
Verkündigung des gekreuzigten Christus in Korinth gelegt hat, kann prinzipiell
niemand und konnte also auch der Apostel nicht legen10 – und zwar deshalb
nicht, weil dieses das von Gott selbst gelegte und mithin ausnahmslos allen Ver-
kündigern vorgegebene Fundament ist. Gott hat es gelegt mit der Heilstat des
Christusgeschehens und ihrer Offenbarung im Heilswort des Evangeliums.11 Mit
den Worten παρὰ τὸν κείμενον nimmt Paulus so auf das Bezug, was er in seinem
Brief bereits zuvor über Christus als die Heilsgabe Gottes und über ihre Er-
schließung durch Gott selbst gesagt hat.12 Als ein „kundiger Baumeister“ hat er
sich eben darin erwiesen, daß er in seiner zur Gründung der Gemeinde führenden
Predigt nichts anderes verkündigt hat als das, was ihm als dem berufenen Apo-
andern weiterführt, sondern das einer Grundlage und des auf dieser Grundlage Errichteten (vgl.
dazu Platon, Leg 736e; Epiktet, Diss II 15,8; Philo, Cher 101. Gig 30. Conf 87. Her 116. Mut 211.
Somn II 8. Cont 34).
9
Daß Paulus nicht παρὰ τὸν τεθειμένον, sondern παρὰ τὸν κείμενον schreibt, weist m. E.
auf eine Differenzierung hin.
10
Zu οὐδείς in der Bedeutung „prinzipiell niemand“ / „ausnahmslos niemand“ vgl. Röm 14,7;
1 Kor 2,8.11; 12,3; 2 Kor 5,16; Gal 3,11.
11 Zu dem differenzierten, aber unlöslichen Zusammenhang von Heilstat und Heilswort s.
vor allem den locus classicus 2 Kor 5,18–21. Aus den Deuteropaulinen sind die folgenden Texte
zu nennen: Kol 1,21–23; Eph 2,13–18; 1 Tim 2,5–7; 2 Tim 1,9–11.
12
Christus als die Heilsgabe Gottes: 1 Kor 1,30b (ὃς ἐγενήθη σοφία ἡμῖν ἀπὸ θεοῦ, δικαιοσύνη
τε καὶ ἁγιασμὸς καὶ ἀπολύτρωσις); 2,9b ([…] ἃ ἡτοίμασεν ὁ θεὸς τοῖς ἀγαπῶσιν αὐτόν); 2,12b
(τὰ ὑπὸ τοῦ θεοῦ χαρισθέντα ἡμῖν). Die Erschließung durch Gott selbst: 1 Kor 2,10a (ἡμῖν […]
ἀπεκάλυψεν ὁ θεὸς διὰ τοῦ πνεύματος); 2,12 (ἡμεῖς […] ἐλάβομεν […] τὸ πνεῦμα τὸ ἐκ τοῦ
θεοῦ, ἵνα εἰδῶμεν τὰ ὑπὸ τοῦ θεοῦ χαρισθέντα ἡμῖν).
180 Das kirchliche Amt der Verkündigung bei Paulus und in den Deuteropaulinen
stel Jesu Christi von Gott geoffenbart worden war. Auf dieses Fundament muß
alle weitere Verkündigung in der Gemeinde gegründet sein.
Die Verse 12–15 nehmen die Mahnung von V. 10bβ (ἕκαστος δὲ βλεπέτω πῶς
ἐποικοδομεῖ) auf. Das Wirken derer, die auf dem von Paulus gelegten Fundament
„aufbauen“, kann von durchaus unterschiedlicher Qualität sein (V. 12), und am
Tag des Gerichts wird „offenbar“ werden, was das ἔργον eines jeden – d. h. sein
Wirken im Dienst der Evangeliumsverkündigung – tatsächlich wert gewesen
ist (V. 13). Dann werden die einen Lohn empfangen (V. 14), andere dagegen des
Lohnes verlustig gehen, ohne damit jedoch das ewige Heil zu verlieren (V. 15).
Bei den letzteren denkt Paulus an solche Verkündiger, die trotz unzulänglichem
Wirken das Fundament nicht angetastet oder preisgegeben haben. Von ihnen
wie von allen, die „aufbauen“, sind diejenigen fundamental unterschieden, die
den „Tempel“ Gottes, die Gemeinde, „zerstören“ (V. 16+17).13 Der Apostel hat
hier die Verkündiger einer Heilslehre vor Augen, die im Widerspruch zum Evan-
gelium steht und durch die das Kreuz Christi „zunichte gemacht“ wird (1,17).
II
Dem Abschnitt 1 Kor 3,10–17 läßt sich zwar entnehmen, daß in der korinthischen
Gemeinde bestimmte Personen als Verkündiger wirken, er belegt aber für sich
genommen noch nicht, daß es sich dabei um ein geordnetes „Amt“ der Wort-
verkündigung handelt. Ein eindeutiges Zeugnis für ein solches Amt findet sich
jedoch an einer anderen Stelle des Ersten Korintherbriefes – nämlich in 1 Kor
12,28 f.14
Nachdem Paulus in 1 Kor 12,27 erklärt hat, daß die Korinther „Leib Christi
und einzeln gesehen Glieder“ sind, legt er in V. 28 dar, was das für die un-
terschiedlichen Aufgaben und Funktionen in der Gemeinde bedeutet: καὶ οὓς
μὲν ἔθετο ὁ θεὸς ἐν τῇ ἐκκλησίᾳ πρῶτον ἀποστόλους, δεύτερον προφήτας,
τρίτον διδασκάλους, ἔπειτα δυνάμεις, ἔπειτα χαρίσματα ἰαμάτων, ἀντιλήμψεις,
κυβερνήσεις, γένη γλωσσῶν – „Und die einen hat Gott in der Gemeinde15 einge-
setzt erstens zu Aposteln, zweitens zu Propheten, drittens zu Lehrern; ferner
[hat er eingesetzt] Wunderkräfte, ferner Heilungscharismen, Hilfeleistungen,
Leitungsaufgaben, verschiedene Arten von Zungenrede.“ An dem griechischen
Wortlaut dieses Satzes ist dreierlei bemerkenswert: 1. Das οὓς μέν wird nicht
durch ein eigentlich zu erwartendes οὓς δέ aufgenommen, sondern der in V. 28a
begonnene Gedanke wird in V. 28b anakoluthisch fortgeführt (ἔπειτα κτλ.). 2. In
13
Das εἴ τις von V. 17 korrespondiert antithetisch dem εἰ δέ τις von V. 12.
14
Die Aussage über das Apostelrecht 1 Kor 9,14 gehört dagegen nicht hierher, weil sich die
Worte οἱ τὸ εὐαγγέλιον καταγγέλλοντες auf die Apostel (s. V. 1 f. und V. 5) und auf ihre un-
mittelbaren Mitarbeiter wie den in V. 6 erwähnten Barnabas beziehen.
15
Zu ἐν τῇ ἐκκλησίᾳ = „in der Gemeinde“ vgl. 1 Kor 6,4.
Das kirchliche Amt der Verkündigung bei Paulus und in den Deuteropaulinen 181
V. 28a ist οὕς Objekt zu ἔθετο, und auf dieses Objekt beziehen sich ἀποστόλους,
προφήτας und διδασκάλους als Prädikatsakkusative; in V. 28b dagegen sind
die Akkusative δυνάμεις, χαρίσματα ἰαμάτων, ἀντιλήμψεις, κυβερνήσεις und
γένη γλωσσῶν direkte Objekte zu einem gedanklich nochmals zu ergänzenden
ἔθετο.16 3. Während in V. 28a von drei Personengruppen die Rede ist, erscheinen
in V. 28b fünf Abstracta, die verschiedene in der Gemeinde lebendige Charismen
bezeichnen. Wie bereits dieser dreifache sprachliche Befund erkennen läßt,
unterscheidet Paulus deutlich zwischen den persongebundenen und von ihren
Trägern offenbar kontinuierlich wahrgenommenen Ämtern der „Apostel“, „Pro-
pheten“ und „Lehrer“ einerseits und den spontan sich äußernden und nicht an
bestimmte Personen gebundenen Charismen andererseits.
Was die drei in V. 28 und dann noch einmal in V. 29 genannten Personen-
gruppen anlangt, so sind mit den ἀπόστολοι ohne Frage die vom Kyrios selbst
berufenen Apostel Jesu Christi gemeint. Da es sich bei ihnen um Personen
handelt, die im Dienst am Evangelium stehen, ist das gleiche auch für die
προφῆται und für die διδάσκαλοι anzunehmen. Die Apostel werden an erster
Stelle genannt, weil sie „mit ihrer missionarischen Wirksamkeit gemeinde-
gründend tätig sind, also grund-legende Bedeutung haben und auch weiterhin
Verantwortung für die Gemeinden tragen“.17 In der korinthischen Gemeinde hat
allein Paulus als Apostel gewirkt. Wenn er gleichwohl den Plural ἀπόστολοι
wählt, so deshalb, weil er „zugleich an die anderen Apostel […] und an die von
ihnen gegründeten Gemeinden“ denkt.18 Während die Apostel in ihrem Dienst
auf die Gesamtkirche bezogen sind, haben die Propheten und die Lehrer ihren
Ort in der Einzelgemeinde. Der Unterschied zwischen den beiden Ämtern dürfte
sich etwa folgendermaßen bestimmen lassen:19 Der Dienst der Propheten besteht
in der Verkündigung des Evangeliums, durch das der Glaube an Jesus Christus
gewirkt wird und die Glaubenden in diesem Glauben erhalten werden.20 Die
Lehrer nehmen die Aufgabe wahr, das Evangelium lehrhaft zu entfalten, den
Christusglauben auf seine Implikationen und Konsequenzen hin zu bedenken
und die Schriften des Alten Testaments im Licht des apostolischen Christuszeug-
nisses auszulegen. Die Lehrer sind also nicht unmittelbar als Verkündiger tätig,
wohl aber steht ihr Dienst in einer engen Beziehung zu der Verkündigung. Die
besondere Dignität der beiden kirchlichen Ämter kommt darin zum Ausdruck,
16
Dabei verschiebt sich gegenüber der Verbindung mit doppeltem Akkusativ der Sinn inso-
fern, als ἔθετο mit einfachem Akkusativ jetzt soviel wie „er hat gegeben“ bedeutet.
17
Chr. Wolff, Der erste Brief des Paulus an die Korinther (ThHK 7), Leipzig ³2011, 306.
18
Wolff, ebd. Zu dem Blick auf alle Apostel vgl. 1 Kor 4,9; 9,5; 15,7.9.
19 Vgl. die Kennzeichnung bei H. von Campenhausen, Kirchliches Amt und geistliche
Vollmacht in den ersten drei Jahrhunderten (BHTh 14), Tübingen 1953, 66.
20
Wenn Paulus in 1 Kor 3,5 sich selbst und Apollos als διάκονοι δι᾿ ὧν ἐπιστεύσατε bezeich-
net, dann liegt darin eine wesentliche Kennzeichnung der Verkündiger überhaupt. – Fragen
kann man, ob die Verkündiger von 1 Kor 3,10–15 mit den προφῆται von 1 Kor 12,28 f. identisch
sind.
182 Das kirchliche Amt der Verkündigung bei Paulus und in den Deuteropaulinen
daß sie durch die Aufzählung πρῶτον ἀποστόλους, δεύτερον προφήτας, τρίτον
διδασκάλους den Aposteln nicht nur nachgeordnet, sondern ihnen zugleich auch
zugeordnet werden.
Als höchst auffallend muß nun gelten, daß in 1 Kor 12,28 f. die Apostel, Pro-
pheten und Lehrer überhaupt erwähnt werden. Auffallend ist das nämlich des-
halb, weil zuvor, d. h. vom ersten Vers des 12. Kapitels an, ausschließlich von
Charismen die Rede gewesen ist und diese dann auch weiterhin Thema sein
werden. Daß Paulus die drei Ämter ebenfalls zu den Charismen rechnet, halte
ich – im Unterschied zu einer in der Exegese verbreiteten Sicht – für aus-
geschlossen.21 Den Tatbestand, daß die ἀπόστολοι, προφῆται und διδάσκαλοι
ganz unvermittelt erwähnt werden, und die Weise, wie das sprachlich geschieht,
vermag ich vielmehr nur so zu verstehen, daß der Apostel diese Ämter sehr be-
wußt aufzählt und sie den Charismen gegenüberstellt. Ja, mehr noch: Dadurch,
daß die Ämter an erster Stelle und unter dem Vorzeichen des μέν solitarium
genannt werden, die Charismen hingegen erst danach und unter dem Vorzeichen
eines ἔπειτα erscheinen, wird nach meiner Überzeugung eine deutliche Wertung
zum Ausdruck gebracht. Paulus liegt offenbar an dem Hinweis, daß es neben
den vielfältigen Charismen zunächst einmal die drei Ämter gibt und daß diese
den Charismen gegenüber durchaus einen Vorrang haben.22 Eine theologische
Begründung dafür läßt sich unschwer namhaft machen: Was immer von den
Charismen zu sagen sein mag – von ihnen gilt nicht, was von den Wortämtern
gilt: daß die Kirche insgesamt und so auch jede einzelne Gemeinde diese nicht
entbehren kann, weil das Evangelium unentbehrlich ist.
Wenn die drei Wortämter nicht zu den Charismen gehören, dann ergibt sich
hinsichtlich der beiden kirchlichen Ämter eine nicht unerhebliche Konsequenz:
Die προφῆται und die διδάσκαλοι von 1 Kor 12,28 f. sind streng von jenen Ge-
meindegliedern zu unterscheiden, die der Schilderung von 1 Kor 12–14 zufolge
das Charisma der „Prophetie“ oder das Charisma der „Lehre“ haben. Das heißt:
Der in 1 Kor 12,28 f. vorliegende Begriff προφήτης ist ein anderer als derjenige
von 1 Kor 14,29.32.37, dem die Termini προφητεύειν (1 Kor 11,4 f.; 13,9; 14,1.3–
5.24.31.39) und προφητεία (1 Kor 12,10; 13,2.8; 14,6.22) zuzuordnen sind;23 und
21
Daß das Apostelamt sich der Gnade Gottes verdankt (Röm 1,5; 12,3; 15,15 f.; 1 Kor 3,10;
15,9 f.; Gal 1,15; 2,9; deuteropaulinisch: Eph 3,7), bedeutet noch nicht, daß es zu den Charismen
gehört, die Gott ebenfalls in seiner Gnade gewährt (Röm 12,6).
22
Für exegetisch gänzlich unbegründet halte ich das zu Paulus (bes. zu 1 Kor 14) geäußerte
Urteil: „,Amtsträger’ sind […] hier alle Getauften, die mit ihrem Charisma ja alle in Verant-
wortung stehen […]“: E. Käsemann, Amt und Gemeinde im Neuen Testament, in: Ders., Ex-
egetische Versuche und Besinnungen I, Göttingen ²1960, 109–134: 123. Ähnlich heißt es ebd.,
124, daß „alle Charismatiker als solche zugleich Amtsträger sind“.
23
Das Verb προφητεύειν heißt an allen Stellen „prophetisch reden“, und das Substantiv
προφητεία bezeichnet in 12,10; 13,2.8 (und ebenso in Röm 12,6) das Charisma der Prophetie,
die „Prophetengabe“, sowie in 14,6.22 (und ebenso in 1 Thess 5,20) die Äußerung des charis-
matischen προφήτης, das „Prophetenwort“ bzw. die „prophetische Rede“.
Das kirchliche Amt der Verkündigung bei Paulus und in den Deuteropaulinen 183
dem διδάσκαλος von 12,28 f. darf nicht die in 1 Kor 14,6.26 erwähnte διδαχή zu-
geschrieben werden. Was den charismatischen προφήτης betrifft, so spricht für
unser Urteil bereits die Beobachtung, daß in 1 Kor 12–14 nirgends gesagt wird,
daß dieser das Evangelium von Jesus Christus verkündige und sein Charisma
mithin das der Christuspredigt sei. Als eine weitere Beobachtung kommt hinzu,
daß man die an anderen Stellen des Briefes zu verzeichnende spezifische Verkün-
digungsterminologie in den drei Kapiteln vergeblich sucht. Es fehlen die Begrif-
fe εὐαγγέλιον24, κήρυγμα25, εὐαγγελίζεσθαι26, κηρύσσειν27 und καταγγέλλειν28,
und wo ein „Reden“ (λαλεῖν) erwähnt wird,29 da ist im Unterschied zu 1 Kor
2,6 f.13 nicht die Verkündigung des Evangeliums im Blick.30 Was der charis-
matische προφήτης tatsächlich kundtut, wird in 1 Kor 14 deutlich gesagt: Ihm
wird in der Gemeindeversammlung ganz unmittelbar eine „Offenbarung“ zuteil
(14,29 f.),31 die der Erbauung, Ermahnung, Belehrung oder Ermutigung dient
(14,3.31). Es geht bei der προφητεία des Charismatikers also um ein Wort, das in
einer konkreten Situation oder angesichts konkreter Herausforderungen auf das
notwendig zu Bedenkende hinweisen und den Weg zur rechten Entscheidung
zeigen soll.32 Die προφητεία unterliegt dabei der Prüfung durch die anderen
Gemeindeglieder: οἱ ἄλλοι διακρινέτωσαν (14,29). Mit διακρίνειν ist hier nicht
die Prüfung gemeint, ob der Prophet das Evangelium verkündigt hat; gedacht ist
vielmehr an die Prüfung, ob das von ihm Gesagte mit dem Evangelium vereinbar
ist,33 sowie ferner die Überlegung, welche Relevanz und welche Konsequenzen
das Prophetenwort hat und wie es im einzelnen umzusetzen ist. Eine andere
ἀναλογίαν τῆς πίστεως, d. h. in Übereinstimmung mit der fides quae creditur, dem Glaubens-
inhalt, der dem Inhalt des Evangeliums entspricht und durch diesen bestimmt und festgelegt
ist (s. 1 Kor 15,11). Hierher gehört 1 Kor 12,10: Die der προφητεία zugeordnete Gabe der „Un-
terscheidung [oder: Beurteilung] der Geister“ (διάκρισις πνευμάτων) ist die Prüfung, ob das
184 Das kirchliche Amt der Verkündigung bei Paulus und in den Deuteropaulinen
Gesagte in der Kraft des Geistes Gottes gesagt sein kann oder ob ein widergöttlicher Geist am
Werk ist. S. dazu auch 1 Thess 5,19–22.
34
Vgl. D. Zeller, Der erste Brief an die Korinther (KEK 5), Göttingen 2010, 432.
35
Gleiches gilt für προφητεία Röm 12,6; 1 Thess 5,20.
36 So überzeugend Kammler, Kreuz und Weisheit (s. Anm. 5), 36. Die Begründung s. ebd.,
35 f.
37 Um diese geht es in Gal 6,6 und in Phil 4,9, in den Pastoralbriefen (1 Tim 1,10; 4,6.16 u. ö.)
sowie in 2 Thess 2,15 und in Kol 2,7. Zu Kol 2,7, wo πίστις die fides quae creditur meint, „die
als Inhalt der Lehre dargeboten wurde“ (Lohse, Die Briefe an die Kolosser und an Philemon
[s. Anm. 4], 143), vgl. auch Kol 1,7.
38
Von der charismatischen „Lehre“ ist auch in Röm 12,7 – im Rahmen einer Liste von sieben
χαρίσματα (Röm 12,6–8) – die Rede.
Das kirchliche Amt der Verkündigung bei Paulus und in den Deuteropaulinen 185
Anzuschließen ist hier noch die Frage, weshalb beide – die Verkündiger
des Evangeliums und die in der Gemeindeversammlung redenden Charisma-
tiker – „Propheten“ genannt werden.39 Die Antwort ergibt sich von dem Ver-
bum προφητεύειν her, das unter anderem die Bedeutung „etwas von Gott Ge-
offenbartes kundtun“ hat. Eine Kundgabe göttlicher Offenbarung erfolgt in der
Evangeliumsverkündigung,40 und sie geschieht ebenso auch in den spontanen
Äußerungen der Charismatiker. Der entscheidende Unterschied liegt in dem
jeweiligen Offenbarungsinhalt. Weil die für den Glauben grundlegende Chri-
stusoffenbarung den Inhalt der Evangeliumsverkündigung bildet, deshalb ist das
im Dienst des Evangeliums stehende Amt – anders als die Charismen – für die
Gemeinde und ihren Bestand konstitutiv.
III
Ein paulinisches Zeugnis für das kirchliche Amt der Verkündigung liefert neben
dem Ersten Korintherbrief auch der Philipperbrief.41 Der Apostel spricht in
1,14–18 von „Brüdern“ (V. 14), deren Wirken er mit den Wendungen τὸν λόγον
λαλεῖν (V. 14), τὸν Χριστὸν κηρύσσειν (V. 15) und τὸν Χριστὸν καταγγέλλειν
(V. 17) beschreibt. Unter diesen „Brüdern“ ist nicht die Gesamtgemeinde derer
zu verstehen, die am Ort der Gefangenschaft des Apostels leben, sondern es
sind bestimmte Personen gemeint, die dort und wohl auch in der Umgebung als
Verkündiger wirken.42 Der λόγος, von dem V. 14 spricht, ist das in 1,12 und 1,16
erwähnte εὐαγγέλιον, das in 2,16 als λόγος ζωῆς gekennzeichnet wird. „Wort
des Lebens“ – d. h. ein das Leben in der heilvollen Gottesbeziehung eröffnendes
Wort – ist das Evangelium deshalb, weil es Christus und damit das eschatolo-
gische Heil zum Inhalt hat. Daß dieser Inhalt des Evangeliums auch der Inhalt
ihrer Verkündigung ist, das allein ist für das Urteil, das Paulus in V. 15–18 über
die ἀδελφοί fällt, von Bedeutung. Mögen die Motive der „Brüder“ lauter oder
39
Daß ein zu einer herausgehobenen Bezeichnung gewordener Begriff zugleich noch in
anderer Bedeutung verwendet wird, findet sich auch sonst. Dazu nur zwei Beispiele: Bei Paulus
heißen nicht nur die einmaligen „Apostel Jesu Christi“ ἀπόστολοι, sondern auch die mit einer
bestimmten und begrenzten Aufgabe betrauten „Abgesandten“ einer Gemeinde (2 Kor 8,23;
Phil 2,25) und wandernde Missionare (Röm 16,7 [vgl. dazu Apg 14,4.14; Did 11,3 f.6]). Bei
Lukas ist μάρτυς die Entsprechung zu dem solennen paulinischen Apostel-Begriff (Lk 24,48;
Apg 1,8.22; 2,32; 3,15; 5,32; 10,39.41; 13,31; 22,15; 26,16); zugleich wird aber auch Stephanus
im Blick auf seinen Märtyrertod als μάρτυς Christi bezeichnet (Apg 22,20).
40
S. dazu die theologisch gewichtigen Ausführungen von 1 Kor 2,6–16 (V. 9+10a!) und
außerdem Gal 1,11 f.15 f.; Eph 3,1–7.
41
Auf das Präskript Phil 1,1 f. verweise ich hier nicht, weil es sich bei den ἐπίσκοποι καὶ
διάκονοι von V. 1 m. E. weder um Gemeindeleiter noch auch um Verkündiger handelt, sondern
um „Verwalter und Helfer“, die in der Gemeinde organisatorische bzw. karitative Aufgaben
wahrnehmen.
42 Vgl. J. Gnilka, Der Philipperbrief (HThK X/3), Freiburg – Basel – Wien ⁴1987, 58 f.
186 Das kirchliche Amt der Verkündigung bei Paulus und in den Deuteropaulinen
unlauter sein – entscheidend ist der Tatbestand, daß sie an dem Inhalt des den
Aposteln anvertrauten und von ihnen bezeugten Evangeliums festhalten (V. 18).
Paulus weiß ja sehr wohl auch um die Möglichkeit, daß dieser Inhalt preisgege-
ben und ein „anderer“ Jesus als der des εὐαγγέλιον τοῦ Χριστοῦ verkündigt wird
(2 Kor 11,4; Gal 1,6–9), und die für eine solche Verkündigung Verantwortlichen
könnte und würde er keineswegs als „Brüder“ bezeichnen.
IV
Wenden wir uns nunmehr den Deuteropaulinen zu, so ist zunächst der Epheser-
brief in die Betrachtung einzubeziehen. In ihm ist im Kontext der Verse Eph
4,7–16 von Ämtern der Wortverkündigung und von ihrer Bedeutung für alle
Glieder der Kirche die Rede.43 Der Verfasser zitiert dazu in V. 8 das Distichon
Ps 68(67),19a, und zwar in einer Gestalt, die vom Wortlaut der Hebräischen
Bibel und der Septuaginta abweicht,44 sich aber mit der Fassung im Psalmen-
targum näher berührt:45 ἀναβὰς εἰς ὕψος ᾐχμαλώτευσεν αἰχμαλωσίαν, / ἔδωκεν
δόματα τοῖς ἀνθρώποις – „Hinaufgestiegen zur Höhe, hat er Gefangene gefan-
gengeführt, / hat er Gaben gegeben den Menschen.“ Die Exegese des Psalmzitats
erfolgt so, daß der erste Stichos in V. 9+10 und der zweite Stichos in V. 11–16
ausgelegt wird.46 Die Aussage des ersten Stichos bezieht der Verfasser auf den
präexistenten und menschgewordenen Christus (V. 9), der mit seiner Erhöhung
der Herrscher über das All geworden ist (V. 10). Die Auslegung des zweiten
Stichos deutet dann die „Gaben“, die der erhöhte Christus „gegeben hat“, auf
die Verkündiger des Evangeliums (V. 11)47 und die „Menschen“, die diese Gaben
43
Zu dem Abschnitt Eph 4,7–16 bietet M. Theobald, Mit den Augen des Herzens sehen.
Der Epheserbrief als Leitfaden für Spiritualität und Kirche, Würzburg 2000, 122–133 eine
knappe, aber gleichwohl in die Tiefe gehende Auslegung, an die sich ebd., 133–141 ein beach-
tenswerter Exkurs zum Thema „Das Amt in der Kirche“ anschließt, dem ich als evangelischer
Exeget und Theologe im wesentlichen nur zustimmen kann.
44
Ps 68(67),19a lautet in MT und in LXX: „Du bist in die Höhe hinaufgestiegen, hast Ge-
fangene gefangengenommen, hast Gaben empfangen unter den Menschen.“
45
Zu TargPs 68,19 s. M. McNamara, The New Testament and the Palestinian Targum to the
Pentateuch (AnBib 27), Rom 1966 (²1987), 78–81. Hinzuweisen ist ferner auf P. Billerbeck,
Kommentar zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch III, München 1926 = ²1954, 596 f.,
wo neben TargPs 68,19 auch vergleichbare rabbinische Texte mitgeteilt werden.
46
Entgegen der Textdarbietung bei Nestle / Aland, Novum Testamentum Graece²⁶.²⁷ darf
zwischen V. 10 und V. 11 kein Spatium gesetzt und V. 11 nicht mit einem Großbuchstaben be-
gonnen werden.
47 Zu dieser Deutung ist der Verfasser m. E. dadurch gekommen, daß er die Worte ἔδωκεν
δόματα der ihm vorliegenden Textfassung von Ps 68(67),19a zu dem 12. Vers des gleichen
Psalms in Beziehung gesetzt hat, wo es heißt: κύριος δώσει ῥῆμα τοῖς εὐαγγελιζομένοις δυνάμει
πολλῇ. Im Septuagintatext selbst hat εὐαγγελίζεσθαι die Bedeutung „die Siegesbotschaft ver-
künden“; unser Verfasser aber liest: „Der Herr wird denen ein (d. h. sein) Wort geben, die mit
großer Macht das Evangelium verkündigen.“
Das kirchliche Amt der Verkündigung bei Paulus und in den Deuteropaulinen 187
empfangen haben, auf die „Heiligen“, d. h. auf die Glieder der Kirche insgesamt
(V. 12). Die Deutung der „Gaben“, die dem Pauluswort 1 Kor 12,28 verpflichtet
sein dürfte, lautet: καὶ αὐτὸς ἔδωκεν τοὺς μὲν ἀποστόλους, τοὺς δὲ προφήτας,
τοὺς δὲ εὐαγγελιστάς, τοὺς δὲ ποιμένας καὶ διδασκάλους – „Und er hat gegeben
die einen als Apostel, andere als Propheten, andere als Evangelisten, andere als
Hirten und Lehrer.“48 In dieser Aufzählung erscheinen zunächst die „Apostel“
und die „Propheten“ – und somit die beiden Ämter, die der bereits vergangenen
Gründungszeit der Kirche angehören.49 Der Verfasser des Briefes erblickt die
besondere Dignität der Apostel und der Propheten darin, daß ihnen das „Chri-
stusgeheimnis“ geoffenbart worden ist, das sie dann in der Verkündigung des
Evangeliums authentisch bezeugt haben.50 Eben deshalb bilden sie mit ihrem
Christuszeugnis das durch den „Eckstein“ Jesus Christus ausgerichtete und
festgelegte „Fundament“ der Kirche.51 Als in der nachapostolischen Zeit be-
stehende Ämter führt der Verfasser sodann die „Evangelisten“ und die „Hirten
und Lehrer“ an. Während die „Evangelisten“ in einem größeren Bereich als
Wandermissionare wirken,52 nehmen die „Hirten und Lehrer“ in jeder Einzel-
gemeinde den Dienst der Gemeindeleitung wahr.53 Die Formulierung ποιμένες
καὶ διδάσκαλοι verknüpft beide Begriffe sprachlich miteinander und wird des-
halb so zu deuten sein, daß zwischen Hirten und Lehrern „eine enge Verbindung
personeller Art vorausgesetzt ist“.54 Die Möglichkeit, daß es sich um ein einziges
Amt handelt, ist nicht auszuschließen,55 und die genannte Formulierung besagt
auf jeden Fall, daß die Leitung der Gemeinde durch die Verkündigung und Lehre
des Evangeliums geschieht. Wenn der Verfasser die Wortämter seiner Zeit mit
den Ämtern des Anfangs in einer Reihe zusammenstellt, so kommt darin unüber-
sehbar zum Ausdruck, daß die „Evangelisten“ und die „Hirten und Lehrer“ das
Werk der ersten und grundlegenden Verkündiger fortsetzen – und daß sie dies in
der Gebundenheit an ihr Christuszeugnis tun. Von V. 12 an legt der Verfasser dar,
48 Ich lese – analog zu 1 Kor 12,28 – ἀποστόλους, προφήτας, εὐαγγελιστάς und ποιμένας καὶ
was bereits durch V. 7 vorbereitet war: Die Wortämter dienen der „Zurüstung
der Heiligen“, so daß alle Getauften mit den ihnen von Christus verliehenen
Gaben zur Auferbauung der Kirche beizutragen vermögen. Das Ziel der Zu-
rüstung weist dabei einen deutlichen Bezug zum Evangelium und zu seinem
Inhalt auf. Es geht um die Einheit im Glauben an Christus und in der Erkenntnis
Christi (V. 13), um die Mündigkeit, die davor bewahrt, ein Opfer falscher Lehre
zu werden (V. 14), und um die Befähigung, in der Liebe von der Wahrheit des
Evangeliums Zeugnis abzulegen (V. 15).
56
Da ich mich bereits an anderer Stelle zu den Pastoralbriefen geäußert habe, kann und
soll im Rahmen des vorliegenden Aufsatzes eine knappe Skizze genügen. Zur Begründung
sowie zu einer detaillierten Darstellung s. vor allem: O. Hofius, Die Ordination zum Amt der
Kirche und die apostolische Sukzession nach dem Zeugnis der Pastoralbriefe, ZThK 107 (2010)
261–284 (in dem vorliegenden Band: 193–213). Vgl. ferner auch: Ders., Gemeindeleitung und
Kirchenleitung nach dem Zeugnis des Neuen Testaments (s. Anm. 53), 232–234.
57 1 Tim 3,1–7; Tit 1,5–9. Sollte πρεσβύτερος in 1 Tim 5,17.19; Tit 1,5 anders als in 1 Tim 5,1
Amtsbezeichnung sein (so die Mehrheit der Exegeten), so ergibt sich aus Tit 1,5–9 die Identität
von ἐπίσκοπος und πρεσβύτερος, wozu neben Apg 20,17.28 vor allem 1 Klem 44,1–6 zu ver-
gleichen wäre.
58
Vgl. dazu Apg 20,28. Der Begriff ἐπίσκοπος ist hier und in den Pastoralbriefen ein anderer
als in Phil 1,1 (s. o. Anm. 41).
Das kirchliche Amt der Verkündigung bei Paulus und in den Deuteropaulinen 189
sind.59 Alle zum Amt der Verkündigung und Lehre Ordinierten sind an die von
Paulus herkommende apostolische Lehrtradition gebunden, die das Evangelium
als das „Wort der Wahrheit“ (2 Tim 2,15) zum Inhalt hat.60 Diese Lehrtradition
und damit zugleich das tradierte Evangelium selbst wird in den Pastoralbriefen
als eine παραθήκη bezeichnet61 – d. h. als ein „heiliges anvertrautes Gut“62, das
in der Kirche unverändert bewahrt und deshalb von Verkündiger zu Verkündiger
unverfälscht weitergegeben werden muß.
VI
Unsere bisherigen Überlegungen haben zu dem Ergebnis geführt, daß sich so-
wohl in den Briefen des Paulus selbst wie auch in deuteropaulinischen Schrif-
ten Zeugnisse für ein in den Gemeinden vorhandenes Amt der Verkündigung
finden. Als Bezeichnung der entsprechenden Amtsträger begegnen die Termini
πρoφήτης (Paulus), ποιμὴν καὶ διδάσκαλος (Epheserbrief) sowie ἐπίσκοπος (Pa-
storalbriefe). Neben der unterschiedlichen Terminologie sind auch Unterschiede
in der näheren Kennzeichnung des Amtes unübersehbar. Diese Unterschiede
spiegeln geschichtliche Entwicklungen wider, die einer differenzierten Wür-
digung bedürfen und keineswegs von vornherein als problematisch angesehen
werden müssen. Wenn etwa in der Aufzählung von Eph 4,11 die Charismen, die
in 1 Kor 12,28 neben den Wortämtern genannt werden, überhaupt nicht mehr
vorkommen, dann ist dazu zu bedenken, daß bereits Paulus die im Dienst des
Evangeliums stehenden Wortämter von den Charismen abhebt und sie um dieses
Dienstes willen jenen vor- und überordnet. Und wenn das Amt der Verkündigung
und Lehre in den Pastoralbriefen zu einem ordinationsgebundenen Amt gewor-
den ist, so kann hier durchaus von einer konsequenten Entwicklung gesprochen
werden: Die für das kirchliche Amt konstitutive Bindung an das Evangelium
verlangte mit innerer Notwendigkeit nach einer gottesdienstlichen Ordnung, die
diese Bindung angemessen, d. h. in einer sowohl für die Amtsträger selbst wie
auch für die Gemeinden eindeutigen Weise zum Ausdruck bringt.
Unvergleichlich gewichtiger als alle Unterschiede, die notiert werden könnten,
sind die theologischen Gemeinsamkeiten, die sich im Verständnis des kirchlichen
59
Der skizzierte Sukzessionsgedanke ergibt sich aus der Zusammenschau der folgenden
Texte: 1 Tim 4,14; 5,22; 2 Tim 1,6; 2,2. Daß 1 Tim 4,14 nicht von der Ordination des Timotheus
durch ein Ältestenkollegium redet, sondern in Übereinstimmung mit 2 Tim 1,6 seine Ordination
durch Paulus voraussetzt, habe ich in einer gesonderten Studie zu zeigen gesucht: O. Hofius,
Ἐπίθεσις τῶν χειρῶν τοῦ πρεσβυτερίου. Erwägungen zu der Ordinationsaussage 1 Tim 4,14, in:
Ders., Exegetische Studien (s. Anm. 3), 173–186.
60
Die apostolische Lehrtradition ist die διδασκαλία von 1 Tim 1,10; 4,6.16; 6,1.3; 2 Tim 4,3;
Tit 1,9; 2,1.10.
61
1 Tim 6,20; 2 Tim 1,12.14.
62
J. Jeremias, Die Briefe an Timotheus und Titus (in: NTD 9), Göttingen ¹(¹¹)1975, 47.
190 Das kirchliche Amt der Verkündigung bei Paulus und in den Deuteropaulinen
Amtes der Verkündigung bei Paulus und den Verfassern des Epheserbriefes und
der Pastoralbriefe wahrnehmen lassen. Dazu seien auf der Grundlage unserer
Textbetrachtungen sowie unter Hinzufügung einiger weiterer Überlegungen die
folgenden Punkte benannt:
1. Für Paulus und für den Verfasser des Epheserbriefes sind die kirchlichen
Wortämter ungeachtet ihrer fundamentalen Unterschiedenheit von dem Amt der
Apostel ebenso wie dieses eine Setzung Gottes (1 Kor 12,28) bzw. eine Gabe
des erhöhten Christus (Eph 4,11). Eine entsprechende Formulierung erscheint
in den Pastoralbriefen zwar nicht; aus dem, was in ihnen über das Amt der Ver-
kündigung und Lehre gesagt wird, ergibt sich jedoch, daß sie in der Sache die
gleiche Sicht vertreten. Zwischen Paulus und denen, die sich als seine Schüler
wissen, besteht mithin darin ein voller Konsens, daß die kirchlichen Wortämter
nicht anders als das grundlegende Apostelamt iure divino in der Kirche vor-
handen sind und deshalb zum esse ecclesiae gehören.
2. Die Paulusbriefe und die Deuteropaulinen bieten keine tragfähige Basis für
die Auffassung, daß die Predigt des Evangeliums prinzipiell Auftrag und Sache
aller Gemeindeglieder ist, die Gemeinde die öffentliche Wahrnehmung des ihr
gegebenen Auftrags einzig um der Ordnung willen bestimmten Personen über-
trägt und die mit dem verbi divini ministerium Betrauten somit lediglich stellver-
tretend für die ganze Gemeinde den Dienst der Verkündigung ausüben.63 Weder
für die Deuteropaulinen noch auch für Paulus selbst stellt das kirchliche Amt
der Verkündigung eine Institution dar, die in der Kirche allein aus praktischen
Gründen erforderlich ist.
3. Das kirchliche Amt der Verkündigung ist der Kirche bzw. der Gemeinde
gegeben, damit das Evangelium, aus dem sie lebt und ohne das sie keinen Be-
stand hat, „in ihr stets laut wird“.64 Weil aber das Evangelium nirgends anders
zu finden ist als im Christuszeugnis der Apostel Jesu Christi, deshalb stellen
Paulus selbst wie auch der Epheserbrief und die Pastoralbriefe nachdrücklich
die Bezogenheit des kirchlichen Amtes der Verkündigung auf das Amt der Apo-
stel heraus. Die mit dem Dienst der Verkündigung Betrauten sind zwar nicht
„Nachfolger“ der Apostel in dem Sinn, daß sie in ihr Amt eintreten; denn dieses
63
Ebensowenig wie 1 Kor 14 sind Kol 3,16 und Eph 6,15 Belege dafür, daß der Dienst der
Evangeliumsverkündigung der ganzen Gemeinde aufgetragen ist. Die Mahnung von Kol 3,16
zwingt auch dann nicht zu einer solchen Deutung, wenn man sie zu Kol 1,28 in Beziehung setzt.
Zu den Worten ὑποδησάμενοι τοὺς πόδας ἐν ἑτοιμασίᾳ τοῦ εὐαγγελίου τῆς εἰρήνης Eph 6,15
bemerkt schon P. Ewald, Die Briefe des Paulus an die Epheser, Kolosser und Philemon (KNT
10), Leipzig ²1910, 252 zu Recht: „Verführt durch die Erinnerung an Jes 52,7 versteht man hier
vielfach die Bereitschaft, das Evangelium zu verkünden. Doch hat dies in einem Zusammen-
hang, wo es sich um die Ausrüstung des Christen behufs siegreichen Widerstandes gegen die
Geistermächte handelt, keinen Anhalt. Man wird zu denken haben an ,die Bereitschaft, welche
das Evangelium des Friedens verleiht’.“ Vgl. die Auslegung bei J. A. Bengel, Gnomon Novi
Testamenti (³1773), hg. v. P. Steudel, Stuttgart ⁸1891, 777: Pedes militis christiani firmantur
evangelio, ne loco moveatur aut cedat.
64
Theobald, Mit den Augen des Herzens sehen (s. Anm. 43), 131 zu Eph 4,11.
Das kirchliche Amt der Verkündigung bei Paulus und in den Deuteropaulinen 191
Amt ist seinem Wesen nach unübertragbar. Wohl aber stehen sie in dem Sinn
in der Nachfolge der Apostel, daß sie nur in der strengen Gebundenheit an ihr
Christuszeugnis Verkündiger und Lehrer des Evangeliums sein können und sind.
Von daher will der in den Pastoralbriefen begegnende Gedanke der Sukzession
verstanden sein. Die Kontinuität in der Abfolge der Amtsträger hat einzig den
Sinn, die kontinuierliche Verkündigung und Lehre des von Paulus verbindlich
bezeugten Evangeliums zu gewährleisten. Der Sukzessionsgedanke der Pasto-
ralbriefe ist somit letztlich eine konsequente Weiterführung dessen, was Paulus
selbst in 1 Kor 3,10 f. über das in seiner Christusverkündigung gelegte Fundament
und über das „Aufbauen“ auf diesem Fundament sagt.
4. Wenn Paulus und die Verfasser des Epheserbriefes und der Pastoralbriefe
die Bindung der kirchlichen Verkündigung an das den Aposteln geoffenbarte
Evangelium betonen, dann setzen sie voraus, daß das Evangelium inhaltlich
klar bestimmt ist und dementsprechend auch in verständlichen Sätzen aus-
gesagt werden kann. Indiz dafür sind die in den Briefen enthaltenen geprägten
„Formeln“ apostolischer Lehrtradition, die das Evangelium in christologischen
und soteriologischen Propositionen zur Sprache bringen. Als Beispiel sei die Pa-
radosis 1 Kor 15,3b–5 genannt. In ihr ist assertorisch in Worte gefaßt, was Paulus
und die anderen Apostel als das Evangelium verkündigen und was dementspre-
chend diejenigen, die durch ihre Verkündigung zum Glauben gekommen sind,
als die Wahrheit erkannt und angenommen haben.65 Darin, daß solche „Formeln“
geschaffen und tradiert wurden, wird man einen Hinweis auf die – auch für die
Apostel selbst geltende – Vorgegebenheit des Evangeliums erkennen dürfen.
5. Die Bindung an das von Gott her vorgegebene Evangelium bedeutet, daß
weder die Amtsträger selbst noch auch die Kirche oder die Gemeinde als ganze
darüber zu entscheiden haben, was je zu ihrer Zeit und je an ihrem Ort als Evan-
gelium zu verkündigen und zu lehren ist. Sie bedeutet dagegen nicht, daß es
ausreicht, die „Formeln“ apostolischer Lehrtradition einfach zu wiederholen.
Der Inhalt des Evangeliums – das über Christus und das Christusgeschehen
Gesagte – ist vielmehr stets neu zu bedenken und verantwortlich zu explizieren.
Das zeigen bereits die authentischen Paulusbriefe, und es wird ebenfalls in
den Deuteropaulinen greifbar. Dazu sei jetzt nur exemplarisch auf dreierlei
hingewiesen: Paulus argumentiert im 15. Kapitel des Ersten Korintherbriefes auf
der Grundlage der Paradosis V. 3b–5, sagt aber in seiner Argumentation deutlich
mehr, als in der tradierten Formel selbst ausgesagt wird; der Verfasser des
65
Auf die Paradosis 1 Kor 15,3b–5 beziehen sich im Kontext von 1 Kor 15,1–11 sowohl die
Worte τὸ εὐαγγέλιον […] τίνι λόγῳ εὐηγγελισάμην ὑμῖν – „mit welcher Aussage ich euch
das Evangelium verkündigt habe“ V. 1 f. wie auch der Satz οὕτως κηρύσσομεν καὶ οὕτως
ἐπιστεύσατε – „solches verkündigen wir, und solches habt ihr im Glauben angenommen“ V. 11b.
Welches Gewicht Paulus der von ihm zitierten Paradosis beimißt, zeigt sich darin, daß er sie
einst der Gemeinde „übergeben“ hat (V. 3a) und sie jetzt angesichts einer mit dem Evangelium
unvereinbaren Behauptung (ἀνάστασις νεκρῶν οὐκ ἔστιν V. 12) ausdrücklich in Erinnerung
ruft.
192 Das kirchliche Amt der Verkündigung bei Paulus und in den Deuteropaulinen
Epheserbriefes nimmt das von Paulus bezeugte Evangelium auf, indem er das
„Christusgeheimnis“ auch unter solchen Aspekten entfaltet, die in den ihm vor-
liegenden paulinischen Briefen noch nicht wahrzunehmen sind (Eph 2,11–3,13);
und in den Pastoralbriefen finden sich innerhalb der Paulusschule erstmals Sätze
wie die, daß Christus „der Mittler zwischen Gott und den Menschen“ ist (1 Tim
2,5) und daß er durch seinen Tod und seine Auferstehung „den Tod vernichtet“
hat (2 Tim 1,10). In allen diesen Fällen wird Neues gesagt, das bisher so nicht
gesagt wurde. Aber die neuen Aussagen relativieren das Evangelium nicht, sie
stehen nicht im Widerspruch zu ihm und heben es nicht auf. Das Fundament
ist und bleibt, was die Apostel aufgrund der ihnen zuteil gewordenen Gottes-
offenbarung als Inhalt des Evangeliums bezeugt haben: daß Jesus Christus nach
seinem Ursprung und Wesen auf die Seite Gottes gehört und daß in ihm als
dem menschgewordenen, gekreuzigten und auferstandenen Herrn das Heil aller
Menschen beschlossen liegt.
6. Paulus selbst wie auch die Verfasser des Epheserbriefes und der Pastoral-
briefe weisen dem kirchlichen Amt der Verkündigung ohne Frage eine besondere
Stellung in der Gemeinde zu. Man kann hier durchaus von einem Gegenüber
von Amt und Gemeinde sprechen – wobei dann allerdings keinen Augenblick
vergessen werden darf, daß dieses Gegenüber Ausdruck für das Gegenüber von
Evangelium und Gemeinde ist. Auf ihre Person gesehen stehen diejenigen, die
das Amt der Verkündigung ausüben, der Gemeinde nicht gegenüber, sondern –
wie alle anderen Gemeindeglieder – in ihr, und sie bedürfen wie alle anderen
des Evangeliums, durch das sie im Glauben erhalten und so auch immer aufs
neue zu ihrem Dienst ausrüstet werden.66 Die Autorität der mit der Predigt des
Evangeliums Betrauten ist keine andere als die des Evangeliums, das sie ver-
kündigen.67
66 Das kommt im Kontext von Eph 4,7–16 sehr schön darin zum Ausdruck, daß die Träger
des kirchlichen Wortamtes in das „wir alle“ der Verse 13–16 einbezogen sind.
67
Die Sakramente werden in den Texten, die wir betrachtet haben, nirgends erwähnt. Wenn
sie gleichwohl irgendwie mit im Blick sein sollten, dann ergäbe sich aus diesem Befund, daß
die Sakramentsverwaltung zum Amt der Verkündigung gehört und nicht etwa umgekehrt die
Verkündigung zu einem Amt der Sakramentsverwaltung.
Die Ordination zum Amt der Kirche
und die apostolische Sukzession
nach dem Zeugnis der Pastoralbriefe1
Von der Ordination als der Einsetzung in ein Amt der Kirche ist im Neuen
Testament mit Eindeutigkeit nur in den Pastoralbriefen die Rede.2 In ihnen wird
ausdrücklich erwähnt, daß Timotheus die Ordination empfangen hat (1 Tim 4,14;
2 Tim 1,6) und daß er sie anderen Personen erteilt (1 Tim 5,22),3 und im Licht
dieser Belege zeigt sich, daß weitere Aussagen der beiden Timotheusbriefe
sowie des Titusbriefs entweder auf die Ordination Bezug nehmen oder sie zu-
mindest mit im Blick haben.4 Ob sich über die Pastoralbriefe hinaus auch in der
Apostelgeschichte des Lukas Hinweise auf die Ordination finden, ist umstritten
und kaum mit hinreichender Sicherheit zu entscheiden.5 Die folgenden Über-
1
Dem Aufsatz liegt ein Vortrag zugrunde, der am 20. 5. 2 010 in Köndringen (Breisgau)
auf einer ökumenischen Pfarrkonferenz gehalten wurde. Die Darlegungen beschränken sich
bewußt darauf, den exegetischen Befund zu erheben, dessen Relevanz für das heutige Gespräch
der Kirchen über das geistliche Amt mir außer Zweifel steht. Da die Pastoralbriefe nur eine
Übertragung des ordinationsgebundenen Amtes an Männer kennen und die Exegese zunächst
einmal das in den Texten Gesagte nachzuzeichnen hat, verwende ich im Folgenden durchweg
die entsprechende maskulinische Terminologie. – Der Aufsatz wurde meinem Freund Wilhelm
Hofius zum 70. Geburtstag gewidmet.
2
Aus der Literatur zur Ordination in den Pastoralbriefen bzw. im Neuen Testament seien
genannt: E. Lohse, Die Ordination im Spätjudentum und im Neuen Testament, Göttingen
1951, 67–100 (Literatur: 105–108); Ders., Art. Ordination II. Im NT, in: RGG³ IV (1960) 1672 f.;
N. Brox, Die Pastoralbriefe (RNT 7), Regensburg 1969, 181 f.; J. Jeremias, Die Briefe an Ti-
motheus und Titus (in: NTD 9), Göttingen ¹(¹¹)1975, 35 f.; G. Kretschmar, Die Ordination im
frühen Christentum, FZPhTh 22 (1975) 35–69; H. von Lips, Glaube – Gemeinde – Amt. Zum
Verständnis der Ordination in den Pastoralbriefen (FRLANT 122), Göttingen 1979; Ders., Art.
Ordination III. Neues Testament, in: TRE 25 (1995) 340–343 (Literatur: 343); A. T. Hanson,
Art. Handauflegung I. Altes Testament/Judentum/Neues Testament/Religionsgeschichtlich, in:
TRE 14 (1985) 415–422: 419 f.; J. Roloff, Der erste Brief an Timotheus (EKK 15), Zürich
bzw. Neukirchen-Vluyn 1988, 263–272 (Literatur: 249); D. Sänger, Art. Ordination II. Neues
Testament, in: RGG⁴ VI (2003) 619.
3
Zur Begründung dafür, daß sich die Anweisung 1 Tim 5,22 auf die Ordination bezieht, s.
etwa Lohse, Die Ordination im Spätjudentum und im Neuen Testament (s. Anm. 2), 88; Brox,
Die Pastoralbriefe (s. Anm. 2), 201–203; von Lips, Glaube – Gemeinde – Amt (s. Anm. 2),
174–177; Roloff, Der erste Brief an Timotheus (s. Anm. 2), 313–315.
4 1 Tim 1,18.19a; 6,12b (mitsamt dem Kontext 6,11–16); 2 Tim 2,2; Tit 1,5 f. sowie außerdem die
beiden Episkopenspiegel 1 Tim 3,1–7 und Tit 1,7–9. Auch die Weisung 2 Tim 1,13 dürfte hierher
gehören; s. u. Anm. 91.
5
Diskutiert werden insbesondere die Texte Apg 6,6 (im Kontext der Verse 6,1–6) und Apg
13,3 (im Kontext der Verse 13,1–3), daneben auch Apg 14,23 und Apg 20,28. Zur Problematik
s. etwa J. Roloff, Die Apostelgeschichte (NTD 5), Göttingen ¹(¹⁷)1981, 110 (zu 6,6). 194 (zu
194 Die Ordination zum Amt der Kirche
legungen konzentrieren sich deshalb auf die drei Pastoralbriefe, die etwa um
das Jahr 100 n. Chr. von einem Paulusschüler verfaßt worden sind und hinsicht-
lich der Ordination sowohl die Praxis wie auch das theologische Verständnis
ihrer Zeit widerspiegeln. Die historische Frage, seit wann die Ordination in der
Kirche geübt worden ist,6 soll jetzt ebensowenig erörtert werden wie die andere,
ob als ihr Vorbild die Ordination der jüdischen Gelehrten zu gelten hat, die in
der rabbinischen Literatur an einigen Stellen erwähnt wird.7 Unser Interesse gilt
ausschließlich der Frage nach Gestalt und Bedeutung der in den Pastoralbriefen
bezeugten Ordination. Diese Frage, die nach meiner Überzeugung auch ohne
den Rekurs auf den rabbinischen Ordinationsritus beantwortet werden kann, sei
jetzt unter verschiedenen – einander ergänzenden – Aspekten bedacht.
I. Zur Terminologie
Die Pastoralbriefe kennen noch keinen dem lateinischen Wort ordinatio ent-
sprechenden Terminus, sondern sie verwenden jenen Begriff, der das für die
Ordination konstitutive Element bezeichnet: ἡ ἐπίθεσις τῶν χειρῶν = „die Hand-
auflegung“ (1 Tim 4,14; 2 Tim 1,6) bzw. χεῖρας ἐπιτιθέναι = „die Hände auflegen“
(1 Tim 5,22).8 Diese Ausdrücke – und hier insbesondere die verbale Wendung –
erscheinen im Neuen Testament auch da, wo in anderen Zusammenhängen von
einem Akt der Handauflegung berichtet wird.9 Die besondere Nuance, die dem
13,3); Ders., Der erste Brief an Timotheus (s. Anm. 2), 263. Ich selbst würde heute vorsichtiger
urteilen, als ich es in einem früheren Aufsatz mit dem Hinweis auf Apg 6,6; 14,23; 20,28 getan
habe: O. Hofius, Ἐπίθεσις τῶν χειρῶν τοῦ πρεσβυτερίου. Erwägungen zu der Ordinations-
aussage 1 Tim 4,14, in: Ders., Exegetische Studien (WUNT 223), Tübingen 2008, 173–186: 173
Anm. 1 und 174 Anm. 3.
6
S. dazu etwa Roloff, Der erste Brief an Timotheus (s. Anm. 2), 266 f.
7
S. vor allem TosSanh 1,1; jSanh I 19a,47–56; bSanh 13b.14a. Zur Ordination der jüdischen
Gelehrten sind aus der älteren Literatur insbesondere zu nennen: P. Billerbeck, Kommentar
zum Neuen Testament aus Talmud und Midrasch II, München 1924 = ²1956, 647–661; Lohse,
Die Ordination im Spätjudentum und im Neuen Testament (s. Anm. 2), 28–66 (Literatur:
103 f.). Weitere sowie neuere Literatur s. bei von Lips, Glaube – Gemeinde – Amt (s. Anm. 2),
224–228; D. Börner-Klein, Art. Ordination II. Judentum, in: TRE 25 (1995) 338–340: 340;
C. Hezser, Art. Ordination VIII. Judentum. 1. Antike, in: RGG⁴ VI (2003) 631. – Ob die rabbi-
nische Ordination bereits für die neutestamentliche Zeit vorausgesetzt und als Vorbild für die
frühchristliche Ordination angesehen werden kann (so mit Billerbeck und Lohse z. B. Jeremi-
as, Die Briefe an Timotheus und Titus [s. Anm. 2], 35 f.), ist unsicher und umstritten (s. dazu
etwa von Lips, ebd., 227 f.). Daß die jüdischen Zeugnisse gleichwohl bei einer detaillierten
Betrachtung der in den Pastoralbriefen vorliegenden Ordinationsaussagen zu berücksichtigen
sind, zeigen exemplarisch die Darlegungen bei Roloff, Der erste Brief an Timotheus (s.
Anm. 2), 264–267.
8
Lohse, Die Ordination im Spätjudentum und im Neuen Testament (s. Anm. 2), 85.97
spricht zutreffend von einer Bezeichnung a parte potiore.
9 Eine Handauflegung begegnet bei der Krankenheilung (Mt 9,18; Mk 5,23; 6,5; 7,32;
8,23.25; [16,18]; Lk 4,40; 13,13; Apg 9,12.17 f.; 28,8), bei der Segnung der Kinder (Mk 10,16; Mt
Die Ordination zum Amt der Kirche 195
Das Amt der Kirche, zu dem nach dem Zeugnis der Pastoralbriefe ordiniert wird,
ist das verbi divini ministerium, d. h. das Amt der Verkündigung und Lehre.13
Was die Briefe über dieses Amt sagen, läßt keinen anderen Schluß zu als den,
daß der Verfasser in ihm eine Stiftung Gottes und somit eine Institution erblickt,
die – weil iure divino bestehend – zum esse ecclesiae gehört und für das Leben
und Zeugnis der Kirche konstitutiv ist.14 Dem so zu kennzeichnenden Amt
19,13.15), bei der Betrauung mit einer bestimmten Aufgabe (Apg 6,6), bei der Aussendung zur
Mission (Apg 13,3) und – in einem gewissen Zusammenhang mit der Taufe – als Instrument der
Geistmitteilung (Apg 8,17–19; 9,17 f.; 19,6; Hebr 6,2).
10
S. außer Num 27,12–23 auch Dtn 34,9. Die Anknüpfung an diese Texte impliziert nicht eo
ipso, daß damit zugleich auch das in ihnen vorliegende Verständnis des Vorgangs übernommen
worden ist. S. dazu unten die Anmerkungen 33 und 62.
11
So in Num 27,23 und Dtn 34,9; in Num 27,18 dagegen „die Hand (sic!) aufstemmen“
(sāmak jād).
12
Vgl. J. Jeremias, ΠΡΕΣΒΥΤΕΡΙΟΝ außerchristlich bezeugt, ZNW 48 (1957) 127–132:
129; Ders., Die Briefe an Timotheus und Titus (s. Anm. 2), 35.
13
Wenn im Folgenden von „Verkündigung und Lehre“ gesprochen wird, so ist das Wort
„Lehre“ stets als Nomen actionis, d. h. als Ausdruck für die Lehrunterweisung verstanden.
14 Im gleichen Sinn verstehen bereits Paulus selbst und der zu seinem Schülerkreis ge-
hörende Verfasser des Epheserbriefs die kirchlichen Ämter der Verkündigung und der Lehre.
Das zeigt sich darin, daß diese Ämter bei beiden in einer Aufzählung erscheinen, in der an
erster Stelle das einmalige und einzigartige Amt der Apostel genannt wird: 1 Kor 12,28a; Eph
4,11. – Die Auffassung, daß das kirchliche Amt eine Funktion des allgemeinen Priestertums der
Getauften und allein um der Ordnung willen erforderlich sei, hat am neutestamentlichen Zeug-
nis keinen Anhalt. Wo der Gedanke des Priestertums der Glaubenden begegnet (1 Petr 2,4–10;
Apk 1,5b.6; 5,9b.10; 7,14 f.; 20,6; 22,3 f.; auch Hebr 4,16; 9,14; 10,10.14.19–22; 13,10.15), da fehlt
196 Die Ordination zum Amt der Kirche
kommt nach den Pastoralbriefen die Aufgabe der Gemeindeleitung zu, die da-
mit als Leitung durch Verkündigung und Lehre bestimmt ist.15 Wie die Leitung
dieser ihrer Bestimmung gemäß wahrzunehmen ist, das bringen insbesondere
die beiden Timotheusbriefe zur Sprache, denn in ihnen wird der zum verbi
divini ministerium ordinierte Apostelschüler dezidiert als der „idealtypische Ge-
meindeleiter“16 bzw. „prototypische Amtsträger“17 gezeichnet. Das Timotheus
durch die Ordination übertragene Amt ist auf sein Zentrum gesehen Dienst am
Evangelium,18 und es liefert als solches das Leitbild für das kirchliche Amt der
Gemeindeleitung überhaupt. Die in den beiden Briefen ergehenden Weisungen,
die vor allem die Verkündigung und Lehre des Wortes Gottes und von daher
dann auch die Ordnung des kirchlichen Lebens und den Kampf gegen Irr-
lehre betreffen, sind deshalb keineswegs nur Timotheus als ihrem unmittelbaren
Adressaten gesagt, sondern sie gelten in gleicher Weise auch den Leitern der
einzelnen Gemeinden. Als „indirekte Adressaten“ sollen die Gemeindeleiter sich
mit dem Apostelschüler identifizieren, „um sich von Paulus als ihrem Lehrer
über Wesen und Pflichten ihres Amtes instruieren zu lassen“.19
Den Träger des Amtes der Gemeindeleitung bezeichnet der Verfasser der
Pastoralbriefe als ἐπίσκοπος (1 Tim 3,2; Tit 1,7) und das Amt selbst entsprechend
als ἐπισκοπή (1 Tim 3,1).20 Wird – wie es zumeist geschieht – ἐπίσκοπος hier mit
„Bischof“ und ἐπισκοπή mit „Bischofsamt“ übersetzt, so darf auf keinen Fall
einfach das heutige Verständnis dieser Begriffe unterstellt werden. Die wörtli-
che Bedeutung ist „Aufseher“21 bzw. „Aufseheramt“, und von daher empfiehlt
eine Bezugnahme auf den Dienst der Verkündigung und Lehre. Man kann dagegen nicht die
Worte ὅπως τὰς ἀρετὰς ἐξαγγείλητε κτλ. von 1 Petr 2,9 ins Feld führen; denn diese beziehen
sich keineswegs auf die Predigt des Evangeliums, sondern – wie die Anknüpfung an Jes 43,21
LXX zeigt und in der Peschitta (dtsbrwn tšbḥth) zutreffend zum Ausdruck gebracht wird – auf
den die Heilstaten Gottes proklamierenden Lobpreis (vgl. dazu den Gebrauch von ἐξαγγέλλειν
in Ψ 9,15; 70,15; 72,28; 78,13; 106,22 [s. auch ἀναγγέλλειν Ψ 9,12; 63,10; 91,3; 95,3; ἀπαγγέλλειν
Ψ 70,17 f.; 144,4; εὐαγγελίζεσθαι Ψ 95,2]). S. dazu jetzt in dem vorliegenden Band: 215–228.
15
S. dazu O. Hofius, Gemeindeleitung und Kirchenleitung nach dem Zeugnis des Neuen
Testaments, in: Ders., Exegetische Studien (s. Anm. 5), 218–239: 232–236.
16
J. Roloff, Die Kirche im Neuen Testament (GNT 10), Göttingen 1993, 263.
17
Roloff, Der erste Brief an Timotheus (s. Anm. 2), 262.
18
S. dazu besonders 2 Tim 4,5: […] ἔργον ποίησον εὐαγγελιστοῦ, τὴν διακονίαν σου
πληροφόρησον. Das Wort εὐαγγελιστής = „Verkündiger des Evangeliums“ ist hier – anders
als in Apg 21,8 und in Eph 4,11 – keine Amtsbezeichnung, sondern es kennzeichnet die ent-
scheidende Aufgabe der von Timotheus wahrzunehmenden διακονία. Diese διακονία ist – wie
die des Paulus von 1 Tim 1,12 – das, was Apg 6,4 ἡ διακονία τοῦ λόγου genannt wird.
19
Roloff, Die Kirche im Neuen Testament (s. Anm. 16), 263.
20 Neben dem Amt des ἐπίσκοπος (1 Tim 3,1–7; Tit 1,5–9) wird in 1 Tim 3,8–13 das kollegial
ausgeübte und nach V. 11 offenbar auch Frauen übertragene Amt der διάκονοι erwähnt (die
weibliche Form des Nomens ist ἡ διάκονος). Hier handelt es sich, wie die Verse 8–10 lehren,
um ein karitatives Amt, dessen Übertragung offensichtlich nicht durch eine Ordination erfolgt.
21
Diese Bedeutung liegt – mit der Nuance „Hüter“ – in Apg 20,28 vor, wenn dort die „Äl-
testen“ der Gemeinde von Ephesus als ἐπίσκοποι der Herde Gottes charakterisiert werden. Vgl.
dazu das Verbum ἐπισκοπεῖν in 1 Petr 5,2, außerdem auch 1 Petr 2,25: Jesus Christus „der Hirte
Die Ordination zum Amt der Kirche 197
sich – auch wenn man nicht eine Frühdatierung der Pastoralbriefe vertritt – für
ἐπίσκοπος die sinngemäße Übersetzung „Gemeindeleiter“ und für ἐπισκοπή die
Wiedergabe mit „Amt der Gemeindeleitung“.22 Daß eine Gemeinde nur von
einem einzigen ἐπίσκοπος geleitet wird, dürfte in den Pastoralbriefen schwerlich
vorausgesetzt sein.23 Zu denken ist vielmehr – wie bei den sonstigen neutesta-
mentlichen Zeugnissen für das Amt der Gemeindeleitung24 – an ein von meh-
reren Personen kollegial ausgeübtes Amt. Dieses Urteil erführe eine ausdrück-
liche Bestätigung, wenn der in 1 Tim 5,17.19 und in Tit 1,5 begegnende Begriff
πρεσβύτερος nicht wie in 1 Tim 5,1 den älteren Mann meint,25 sondern als Amts-
bezeichnung („der Älteste“) verstanden werden muß.26 In diesem Fall ergäbe
sich nämlich aus Tit 1,5–9 die Identität von πρεσβύτερος und ἐπίσκοπος,27 und
der in Tit 1,5 (sowie in 1 Tim 5,17) zu verzeichnende Plural πρεσβύτεροι wiese
demgemäß auf eine Mehrheit von ἐπίσκοποι hin.28
und Hüter eurer Seelen“ (ὁ ποιμὴν καὶ ἐπίσκοπος τῶν ψυχῶν ὑμῶν). – In Phil 1,1 heißt ἐπίσκοποι
καὶ διάκονοι „Verwalter und Helfer“, nicht dagegen „Bischöfe und Diakone“. Gemeint sind
nicht bestimmte Amtsträger, sondern Gemeindeglieder, die organisatorische bzw. karitative
Aufgaben wahrnehmen und die Paulus deshalb eigens hervorhebt, weil er sich ihnen wegen der
in 4,10–20 erwähnten Gabensammlung besonders verpflichtet weiß.
22
So – unter der Prämisse einer Frühdatierung – die Wiedergabe bei Jeremias, Die Briefe
an Timotheus und Titus (s. Anm. 2), 23.69. Zur Übersetzung s. auch H. Menge, Das Neue
Testament, Stuttgart ¹¹1949, 330 (vgl. 339): „Vorsteher“ / „Vorsteheramt“; L. Oberlinner, Die
Pastoralbriefe I: Kommentar zum ersten Timotheusbrief (HThK XI/2.1), Freiburg – Basel –
Wien 1994, 109: „Episkopos“ / „Episkopenamt (Vorsteheramt)“.
23
Die gegenteilige Auffassung kann sich keineswegs auf den in 1 Tim 3,2 und in Tit 1,7 zu
verzeichnenden Singular ὁ ἐπίσκοπος stützen. Dieser ist nämlich grammatisch-syntaktisch
durch das εἴ τις des jeweils voraufgehenden Verses (1 Tim 3,1; Tit 1,6) veranlaßt und hat mit-
hin generischen Sinn. – H. Merkel, Die Pastoralbriefe (NTD 9/1), Göttingen 1991, 90 und
L. Oberlinner, Die Pastoralbriefe III: Kommentar zum Titusbrief (HThK XI/2.3), Freiburg –
Basel – Wien 1996, 24 wollen in der Kennzeichnung des ἐπίσκοπος als θεοῦ οἰκονόμος Tit 1,7
ein Indiz dafür erkennen, daß der Verfasser der Pastoralbriefe den Monepiskopat voraussetzt
bzw. ihn zumindest für wünschenswert erachtet. Das überzeugt jedoch dann nicht, wenn man
in dieser Kennzeichnung eine Anknüpfung an 1 Kor 4,1 erblickt und mit ihr „die getreue Ver-
waltung des anvertrauten Glaubensgutes“ (so richtig Oberlinner, ebd.) angesprochen sieht.
24
Für die Träger des kollegial ausgeübten Amtes der Gemeindeleitung finden sich die fol-
genden Termini: ἡγούμενοι „Führer, Leiter“ (Hebr 13,7.17.24), ποιμένες καὶ διδάσκαλοι „Hirten
und Lehrer“ (Eph 4,11), πρεσβύτεροι „Älteste“ (Apg 11,30; 14,23; 20,17; 21,18; Jak 5,14; 1 Petr
5,1). Ihrer Funktion nach werden die πρεσβύτεροι in Apg 20,28 als „Aufseher“ (ἐπίσκοποι)
und „Hirten“ (ποιμαίνειν) und in 1 Petr 5,3 f. als „Hirten“ (ποιμαίνειν) gekennzeichnet. – S.
im einzelnen: Hofius, Gemeindeleitung und Kirchenleitung nach dem Zeugnis des Neuen
Testaments (s. Anm. 15), 223–232.
25
So die Deutung bei Jeremias, Die Briefe an Timotheus und Titus (s. Anm. 2), 22.41 f.69
(vgl. auch 8). In der Formulierung οἱ καλῶς προεστῶτες πρεσβύτεροι 1 Tim 5,17 wäre dann von
„älteren Männern“ die Rede, „die sich als tüchtige Vorsteher bewähren“.
26
So die meisten Exegeten.
27 Zu vergleichen wäre dann die Kennzeichnung der πρεσβύτεροι von Apg 20,17 als
ἐπίσκοποι in Apg 20,28 sowie vor allem die Identität von ἐπίσκοποι und πρεσβύτερος in
1 Klem 44,1–6 (vgl. dazu H. E. Lona, Der erste Clemensbrief [KAV 2], Göttingen 1998, 474 f.).
28 Für die von Roloff, Der erste Brief an Timotheus (s. Anm. 2), 175 f.268 vertretene These,
198 Die Ordination zum Amt der Kirche
Die Pastoralbriefe – so ist festzuhalten – kennen nur ein einziges durch die
Ordination übertragenes Amt: das des ἐπίσκοπος, dem der Dienst der Verkündi-
gung und Lehre übertragen ist. Dabei gibt es kein hinreichendes Indiz für einen
Monepiskopat oder gar für den monarchischen Episkopat und ebensowenig für
die Stufenfolge „Diakon – Presbyter – Bischof“ sowie für den Gedanken, daß
die Einsetzung in das jeweils höhere Amt die Zugehörigkeit zu der niedrigeren
Amtsstufe voraussetzt.
Für die Frage, wer nach dem Zeugnis der Pastoralbriefe die Ordination vollzieht,
sind wir zunächst an jene beiden Sätze gewiesen, in denen unter Verwendung des
Terminus ἐπίθεσις τῶν χειρῶν die Ordination des Timotheus angesprochen wird
(1 Tim 4,14; 2 Tim 1,6). In 2 Tim 1,6 richtet Paulus an seinen Schüler die Mahnung:
„Ich erinnere dich daran, die Gnadengabe Gottes immer wieder anzufachen29,
die in dir ist durch die Auflegung meiner Hände (διὰ τῆς ἐπιθέσεως τῶν χειρῶν
μου).“ Dieser Satz ist eindeutig: Timotheus ist von Paulus ordiniert worden, und
eine Mitwirkung weiterer Ordinatoren wird nicht erwähnt. Im Unterschied zu
2 Tim 1,6 enthält der Satz 1 Tim 4,14 ein sprachliches Problem. Der Apostel ge-
bietet hier seinem Schüler: „Laß die in dir befindliche Gnadengabe nicht außer
acht, die dir […] μετὰ ἐπιθέσεως τῶν χειρῶν τοῦ πρεσβυτερίου zuteil geworden
ist.“30 Was die zunächst unübersetzt gelassenen Worte anlangt, so sehen fast alle
Ausleger mit dem Ausdruck τὸ πρεσβυτέριον das Gremium der πρεσβύτεροι
bezeichnet,31 und sie finden dementsprechend in dem Satz eine Erinnerung an
die Gnadengabe, die Timotheus „unter Handauflegung [der Mitglieder] des
Presbyteriums“ empfangen hat. Nach 1 Tim 4,14 wäre Timotheus also von einem
Kollegium von „Ältesten“ ordiniert worden, wobei der Satz nicht den leisesten
Hinweis darauf enthielte, daß Paulus an diesem Geschehen beteiligt war.
Falls der Ausdruck τὸ πρεσβυτέριον in 1 Tim 4,14 tatsächlich die – sprach-
lich mögliche – Bedeutung „das Ältestenkollegium“ hat, dann muß zwischen
der Aussage dieses Verses und derjenigen von 2 Tim 1,6 ein Widerspruch kon-
statiert werden, für den die Exegese bislang keine befriedigende Erklärung zu
daß einer aus dem Gremium der πρεσβύτεροι in der Gemeinde das Amt des ἐπίσκοπος über-
nimmt, sehe ich im Text der Pastoralbriefe keinen Anhalt gegeben.
29 Bei ἀναζωπυρεῖν will die Aktionsart des Präsens beachtet sein: Es geht um das, was als
ständiges bzw. immer wieder neues Tun gefordert ist. Vgl. demgegenüber den punktuellen
Infinitiv Aorist ἀναζωπυρῆσαι bei Josephus, Ant VIII 234: Gott wird gebeten, eine wie tot her-
abhängende Hand „wieder zu beleben“.
30
Die Worte διὰ προφητείας, die ein zusätzliches exegetisches Problem bilden, lasse ich
zunächst beiseite.
31
Diese Bedeutung hat πρεσβυτέριον z. B. in den Briefen des Ignatius: Eph 2,2; 4,1; 20,2;
Magn 2; 13,1; Trall 2,2; 7,2; 13,2; Phld 4; 7,1; Sm 8,1; 12,2 (vgl. auch Phld 5,1).
Die Ordination zum Amt der Kirche 199
32
Zu nennen sind hier vor allem die bei von Lips, Glaube – Gemeinde – Amt (s. Anm. 2),
241–243 referierten Lösungsvorschläge 1, 2 und 4. S. ferner auch L. Oberlinner, Die Pastoral-
briefe II: Kommentar zum zweiten Timotheusbrief (HThK XI/2.2), Freiburg – Basel – Wien
1995, 30 sowie die in der folgenden Anmerkung skizzierte Deutung M. Wolters.
33
Für keineswegs einleuchtend halte ich auch den Lösungsvorschlag von M. Wolter, Die
Pastoralbriefe als Paulustradition (FRLANT 146), Göttingen 1988, 218–222, bes. 219 f. Nach
Wolter geht es bei der Formulierung von 2 Tim 1,6 um die Assoziation an „die in Num 27,18.23;
Dtn 34,9 belegte und durch Handauflegung vollzogene Designation Josuas durch Mose als
dessen Nachfolger“ (219). Die Handauflegung sei dementsprechend anders als in 1 Tim 4,14
„als Sukzessionsritus verstanden“, und die Aussage ziele auf den Gedanken der „Übertragung“:
„Zufolge Num 27,20 überträgt Mose dem Josua seine δόξα, und in 2. Tim 1,6 ist es das Charisma
Gottes, das vom Apostel auf Timotheus übergeht“ (ebd.). Dazu ist zu sagen, daß in 2 Tim 1,6
von einer „Übertragung“ bzw. einem „Übergang“ des χάρισμα von Paulus auf Timotheus keine
Rede ist (s. dazu unten bei Anm. 62). Weder in 2 Tim 1,6 noch auch in 2 Tim 2,1 liegt eine An-
spielung auf die Einsetzung Josuas als Nachfolger des Mose vor, so daß hier mit Wolter (ebd.,
222) eine theologisch programmatische „Orientierung der Nachfolge Paulus – Timotheus an
der Nachfolge Mose – Josua“ zu konstatieren wäre.
34
Jeremias, ΠΡΕΣΒΥΤΕΡΙΟΝ außerchristlich bezeugt (s. Anm., 12); Ders., Zur Datierung
der Pastoralbriefe, in: Ders., Abba. Studien zur neutestamentlichen Theologie und Zeitgeschich-
te, Göttingen 1966, 314–316; Ders., Die Briefe an Timotheus und Titus (s. Anm. 2), 33–36. S.
ferner auch D. Daube, The New Testament and Rabbinic Judaism (JLCR 2), London 1956
= New York 1973, 244 f. sowie zu entsprechenden älteren Deutungen (Peschitta, Dionysius der
Kartäuser, Johannes Calvin, John Selden) die Hinweise bei Hofius, Ἐπίθεσις τῶν χειρῶν τοῦ
πρεσβυτερίου (s. Anm. 5), 177–179. Zu den Belegen für πρεσβυτέριον = „Ältestenwürde“ s.
Hofius, ebd., 179–181.
35
Der Genitiv τοῦ πρεσβυτερίου ist bei diesem Verständnis ein Genitivus finalis, der „die
Intention des Ritus“ angibt (Jeremias, ΠΡΕΣΒΥΤΕΡΙΟΝ außerchristlich bezeugt [s. Anm. 12],
130–132; Ders., Zur Datierung der Pastoralbriefe [s. Anm. 34], 314). Zum adnominalen Genitiv
des Zwecks (oder der Wirkung) s. F. Blass / A. Debrunner / F. Rehkopf, Grammatik des
neutestamentlichen Griechisch, Göttingen ¹⁷1990, § 166,1 mit Anm. 1. Belege für die Verbindung
des mit ἐπίθεσις τῶν χειρῶν bedeutungsgleichen Wortes χειροθεσία mit einem finalen Genitiv
sind bei Hofius, Ἐπίθεσις τῶν χειρῶν τοῦ πρεσβυτερίου (s. Anm. 5), 183 f. notiert.
36 Hofius, ebd., 179–182.
200 Die Ordination zum Amt der Kirche
Daß Timotheus als der von seinem Lehrer Ordinierte seinerseits andere Per-
sonen zum verbi divini ministerium ordiniert, läßt die Anweisung 1 Tim 5,22
erkennen: χεῖρας ταχέως μηδενὶ ἐπιτίθει – „Lege niemandem vorschnell – d. h.
ohne gründliche Prüfung der Eignung – die Hände auf!“ Auf Timotheus als Or-
dinator weist ferner das an ihn gerichtete und später noch genauer zu bedenkende
Gebot des Paulus 2 Tim 2,2 hin, das sich auf die bei der Ordination erfolgende
Übergabe der apostolischen Lehrtradition bezieht: ἃ ἤκουσας παρ’ ἐμοῦ διὰ
πολλῶν μαρτύρων, ταῦτα παράθου πιστοῖς ἀνθρώποις, οἵτινες ἱκανοὶ ἔσονται
καὶ ἑτέρους διδάξαι – „Was du von mir in Gegenwart vieler Zeugen gehört hast,
das vertraue zuverlässigen Personen an, die [dann] fähig sein werden, ihrerseits
andere zu unterweisen.“37 Aus den zitierten Worten kann zweierlei geschlossen
werden: zum einen, daß die „zuverlässigen Personen“ von Timotheus ordiniert
werden, und zum andern, daß sie dann ihrerseits diejenigen ordinieren, die zuvor
von ihnen in der apostolischen Lehre unterwiesen worden sind. Man wird nicht
fehlgehen, wenn man den genannten Anordnungen entnimmt, daß nach dem
Zeugnis der Pastoralbriefe die Ordination zum Amt der Kirche durch solche
Personen vollzogen wird, die selbst die Ordination zu diesem Amt empfangen
haben.38
setzen“ soll. Als Terminus für die Amtseinsetzung erscheint hier das Verbum καθιστάναι, zu
dem sein Gebrauch in 1 Klem 42,4 f.; 43,1; 44,2 zu vergleichen ist. Anders als die Timotheus-
briefe enthält der Titusbrief keinen ausdrücklichen Hinweis auf die Ordination des Adressaten;
es ist aber ein recht seltsamer Schluß, wenn Wolter, Die Pastoralbriefe als Paulustradition (s.
Anm. 33), 188 f. daraus folgert, daß Titus „offenbar als ‚Laie‘ dargestellt“ werden solle.
38
Einen Hinweis darauf, daß die Ordination von dem Inhaber eines hierarchisch übergeord-
neten Amtes vollzogen wurde, enthalten die Pastoralbriefe nicht.
39
S. außer den beiden Episkopenspiegeln auch 2 Tim 2,2 (πιστοὶ ἄνθρωποι); 2,24–26; Tit 1,6.
Die Ordination zum Amt der Kirche 201
beziehen diese Wendung auf die Ordinationshandlung selbst, und sie verstehen
unter der προφητεία „geistgewirkte Worte des Zuspruchs an den einzusetzenden
Amtsträger“40 bzw. „den verkündigenden, tröstenden und mahnenden Zuspruch,
in dem der Amtsauftrag übermittelt, inhaltlich entfaltet und verpflichtend zu-
gesprochen wurde“.41 Die προφητεία und die ἐπίθεσις τῶν χειρῶν werden dabei
als zwei für den Ordinationsakt konstitutive Elemente beurteilt, die als „Be-
standteile eines und desselben Vorganges“42 unmittelbar miteinander verbunden
und als „gleichgewichtig“43 gedacht sind. Bei dieser Deutung besagt die Präposi-
tionalphrase διὰ προφητείας, daß durch die προφητεία „die Übergabe des Amts-
charismas“ erfolgt.44 Dann aber lassen die Worte μετὰ ἐπιθέσεως τῶν χειρῶν
kaum eine andere Interpretation zu als die, daß die Handauflegung lediglich
eine die προφητεία begleitende zeichenhafte Geste darstellt.45 Damit wäre ohne
Frage ein nicht geringer Widerspruch zu der Aussage von 2 Tim 1,6 gegeben,
wonach das Charisma durch die Handauflegung (διὰ τῆς ἐπιθέσεως τῶν χειρῶν)
verliehen wurde.
Will man διὰ προφητείας als διά + Genitiv Singular lesen, so müßte man
schon übersetzen: „infolge eines Prophetenwortes“.46 Dann wäre in 1 Tim 4,14
von einer Berufung zum Amt die Rede, die der Ordination zeitlich voraufging
und die – analog zu dem in Apg 13,1–3 berichteten Geschehen – in einer gottes-
dienstlichen Versammlung durch den Mund prophetisch begabter Gemeindeglie-
der erfolgte. Die gleiche Deutung ergibt sich, wenn man in 1 Tim 4,14 die Worte
διὰ προφητείας als διά + Akkusativ Plural interpretiert und dort ausgesagt findet,
daß Timotheus die Handauflegung, unter der ihm die Gnadengabe Gottes zuteil
wurde, „aufgrund von Prophetenworten“ empfangen hat. Für dieses Verständnis
spricht der Tatbestand, daß das Wort προφητεία in den Pastoralbriefen nur noch
40
So von Lips, Ordination III. Neues Testament (s. Anm. 2), 342,18 f.; s. dazu ausführlich
Ders., Glaube – Gemeinde – Amt (s. Anm. 2), 243–246.250–253.
41
So Roloff, Der erste Brief an Timotheus (s. Anm. 2), 258. Vgl. ebd., 103: die „Worte“,
mit denen Timotheus bei der Ordination „der Dienstauftrag verbindlich erteilt worden ist“; 267:
„verkündigender Zuspruch an den Ordinanden“; 271: „Wort der Beauftragung und Sendung, das
den Auftrag, zu dem die Gabe des Geistes zurüstet und fähig macht, konkret benennt, indem
es ansagt, was in der jeweiligen geschichtlichen Situation der Kirche nach Gottes Willen an
der Zeit ist.“
42 Roloff, ebd., 257 Anm. 181.
43
von Lips, Ordination III. Neues Testament (s. Anm. 2), 342,25.
44 So Roloff, Der erste Brief an Timotheus (s. Anm. 2), 101.
45
Roloff, ebd., 257 Anm. 181 bemerkt zwar zu Recht, daß sich für die beiden Wendungen
μετὰ ἐπιθέσεως τῶν χειρῶν 1 Tim 4,14 und διὰ τῆς ἐπιθέσεως τῶν χειρῶν 2 Tim 1,6 Bedeutungs-
gleichheit nahelege. Ein instrumentales Verständnis der μετά-Wendung dürfte in 1 Tim 4,14
aber nur dann möglich sein, wenn nicht bereits die ihr voraufgehende διά-Wendung das Mittel
benennt, durch das Timotheus das χάρισμα empfangen hat.
46
So Hofius, Ἐπίθεσις τῶν χειρῶν τοῦ πρεσβυτερίου (s. Anm. 5), 184 mit dem Hinweis,
daß mit διά c. gen. die Veranlassung bezeichnet werden kann (also: „kraft“, „infolge“); vgl.
Röm 12,3; Gal 1,15; 4,23; Phm 22.
202 Die Ordination zum Amt der Kirche
in 1 Tim 1,18 und hier im Plural vorkommt.47 Timotheus wird dort mit dem Hin-
weis auf die einst über ihn ergangenen „Prophetenworte“ dazu ermuntert, im
Vertrauen auf diese und durch sie ermutigt den guten Kampf des Glaubens zu
kämpfen.48 Mit dem „guten Kampf“, von dem in den Pastoralbriefen mehrfach
gesprochen wird,49 ist der Dienst am Evangelium gemeint, zu dem unabdingbar
die Bereitschaft gehört, um des Evangeliums willen zu leiden.50 Setzt man die
relevanten Aussagen zueinander in Beziehung, dann ergibt sich für das Verständ-
nis der προφητεῖαι von 1 Tim 1,18 und 1 Tim 4,14: Durch die „Prophetenworte“,
die seiner Ordination vorausgingen, wurde Timotheus zu eben jenem von Leiden
gezeichneten, aber zugleich auch unter der Verheißung des eschatologischen
Siegespreises stehenden Kampf für das Evangelium berufen,51 den Paulus selbst
bereits durchgekämpft hat.52 In dem Hinweis auf die προφητεῖαι kommt somit
zum Ausdruck, daß die Berufung durch Gott die unerläßliche Voraussetzung für
die Ordination bildet.53
Wenden wir uns nunmehr der Ordinationshandlung selbst zu, so kann es nicht
darum gehen, deren Verlauf zu rekonstruieren. Man wird zwar aus dem in
1 Tim 6,12b und in 2 Tim 2,2 begegnenden Hinweis auf die Anwesenheit „vieler
47
Vgl. Lohse, Die Ordination im Spätjudentum und im Neuen Testament (s. Anm. 2), 81;
I. H. Marshall, A Critical and Exegetical Commentary on The Pastoral Epistles (ICC), Edin-
burgh 1999, 566. – Keineswegs stichhaltig ist der Einwand, daß in 1 Tim 4,14 vor προφητείας
der Artikel stehen müßte, wenn die Konstruktion διά + Akkusativ intendiert wäre (so von
Lips, Glaube – Gemeinde – Amt [s. Anm. 2], 252 und ihm folgend Roloff, Der erste Brief
an Timotheus [s. Anm. 2], 257 Anm. 181). Da in 4,14 – anders als in 1,18 – ganz allgemein von
„Prophetenworten“ gesprochen wird, ist hier die Setzung des Artikels, der den Nominalbegriff
ja determinieren würde, grammatisch unmöglich.
48
1 Tim 1,18.19a: ταύτην τὴν παραγγελίαν παρατίθεμαί σοι, τέκνον Τιμόθεε, κατὰ τὰς
προαγούσας ἐπὶ σὲ προφητείας, ἵνα στρατεύῃ ἐν αὐταῖς τὴν καλὴν στρατείαν ἔχων πίστιν καὶ
ἀγαθὴν συνείδησιν. Mit der Formulierung „im Vertrauen auf diese und durch sie ermutigt“
nehme ich die Worte ἐν αὐταῖς V. 18b auf, in denen die Präposition ἐν kausalen Sinn haben
dürfte (zu dieser Bedeutung s. Bauer / Aland, Wörterbuch⁶, 526 s. v. III.3.a).
49 S. neben 1 Tim 1,18.19a auch: 1 Tim 6,12a (ἀγωνίζου τὸν καλὸν ἀγῶνα τῆς πίστεως); 2 Tim
λοιπὸν ἀπόκειταί μοι ὁ τῆς δικαιοσύνης στέφανος, ὃν ἀποδώσει μοι ὁ κύριος ἐν ἐκείνῃ τῇ
ἡμέρᾳ, ὁ δίκαιος κριτής.
53
V. Hasler, Die Briefe an Timotheus und Titus (Pastoralbriefe) (ZBK.NT 12), Zürich 1978,
18 sieht in den προφητεῖαι einen Hinweis auf die „Autonomie und Entscheidungsbefugnis“ bzw.
auf den „charismatischen Rechtsanspruch“ der gottesdienstlichen Versammlung – schwerlich
zu Recht.
Die Ordination zum Amt der Kirche 203
Handlung ist Gott allein, und das durch sie vermittelte χάρισμα ist seine Gabe.61
In 1 Tim 4,14 kommt das durch das Passivum divinum ἐδόθη zum Ausdruck,
und in 2 Tim 1,6 wird es durch die Wendung τὸ χάρισμα τοῦ θεοῦ angezeigt, in
der – wie dann V. 7 bestätigt – die Worte τοῦ θεοῦ als ein Genitivus auctoris zu
beurteilen sind. An beiden Stellen ist bereits durch die sprachliche Formulierung
ausgeschlossen, daß der Ordinator durch die Handauflegung ein ihm selbst eig-
nendes Charisma an den Ordinanden weitergibt oder daß hier eine übertragbare
Qualität von dem Ordinator auf den Ordinanden übergeht.62
Fragen wir, worin das χάρισμα des näheren besteht, dann will beachtet sein,
daß nach Tit 3,5 alle an Christus Glaubenden bereits als Getaufte den Heiligen
Geist empfangen haben. Von daher kann mit dem χάρισμα nicht das πνεῦμα
schlechthin gemeint sein,63 sondern nur eine besondere Ausrüstung durch den
Heiligen Geist, die den Ordinierten zur Ausübung des ihm übertragenen Amtes
befähigt.64 Das χάρισμα ist die dem Ordinierten von Gott verliehene „Amts-
61
Vgl. Lohse, Die Ordination im Spätjudentum und im Neuen Testament (s. Anm. 2), 84:
„Gott allein verleiht das χάρισμα.“
62
S. dazu Lohse, ebd., 84.92. Zu Unrecht erklärt dagegen Brox, Die Pastoralbriefe (s.
Anm. 2), 182: „Die Handauflegung übertrug die Kraft von denen, die sie besitzen, auf den nach-
folgenden bzw. delegierten Amtsträger.“ Ebenso unhaltbar ist die Interpretation bei Wolter,
Die Pastoralbriefe als Paulustradition (s. Anm. 33), 218–222 (s. dazu oben Anm. 33). Bei der in
Num 27,20 erwähnten Übertragung der Autorität (MT: hôd, LXX: δόξα) des Mose auf Josua
und bei der für die rabbinische Ordination wesentlichen Weitergabe der von Mose überkom-
menen Autorität des Lehrers an den Schüler handelt es sich nicht um Sachparallelen zu der in
1 Tim 4,14 und 2 Tim 1,6 bezeugten Verleihung des χάρισμα an den Ordinierten.
63
Vgl. Marshall, Commentary on The Pastoral Epistles (s. Anm. 47), 564 f.
64
So zutreffend J. Calvin in seinem Kommentar zum 1. Timotheusbrief (1552); s. Ioannis
Calvini in Novum Testamentum Commentarii VII, hg. v. A. Tholuck, Berlin ⁴1864, 424 zu 4,14:
Dicit collatam esse (sc. gratiam) cum impositione manuum, quo significat, una cum ministerio
necessariis etiam dotibus ornatum fuisse. […] Itaque sensus est, Timotheum, quum Prophe-
tarum voce ascitus fuit in ministerium, et deinde solenni ritu ordinatus, simul gratia Spiritus
sancti instructum fuisse ad functionem suam exsequendam. Unde colligimus non inanem fuisse
ritum: quia consecrationem, quam homines impositione manuum figurabant, Deus Spiritu
suo implevit. Ich füge eine möglichst genaue Übersetzung hinzu: „Er (Paulus) sagt, daß die
Gnadengabe unter Handauflegung übertragen worden ist, womit er anzeigt, daß er (Timotheus)
zugleich mit dem Empfang des Amtes auch mit den notwendigen Gaben ausgestattet worden
ist. […] Der Sinn ist deshalb, daß Timotheus, als er durch die Stimme der Propheten in das Amt
berufen und dann in einer feierlichen Handlung [in dieses] eingesetzt wurde, zugleich zur Aus-
führung seiner Aufgabe mit der Gnadengabe des Heiligen Geistes ausgestattet worden ist. Dar-
aus folgern wir, daß die Handlung nicht ein leerer Ritus gewesen ist – eben weil Gott die Weihe,
die Menschen mit der Handauflegung zum Ausdruck gebracht haben, mit seinem Geist erfüllt
hat.“ S. ferner auch die Darlegungen Calvins in: Kommentar zum 2. Timotheusbrief (1552) zu
2 Tim 1,6 (Commentarii VII [s. o.], 463 f.); Institutio Christianae religionis (1559) IV 3,16 (Opera
selecta V, hg. v. P. Barth / W. Niesel, ²1962, 56 f.); IV 19,28 (ebd., 462 f.). – Da es bei der Hand-
auflegung darum geht, daß der von Gott selbst zum Amt Berufene durch den, der ihn berufen
hat, zur Ausübung des Amtes ausgerüstet wird, tangiert der Gedanke der Amtsgnade keines-
wegs denjenigen der Taufgnade. Daß die Ordination in den Pastoralbriefen „eine Bedeutung
hat, die eine Abwertung der Taufe als Zeichen der allgemeinen Geist- und Gnadenmitteilung
Die Ordination zum Amt der Kirche 205
gnade“,65 und diese geistliche Gabe ist fortan „in“ ihm und „nimmt ihn in
Pflicht“.66 Wenn der Verfasser der Pastoralbriefe dazu ermahnt, das χάρισμα
nicht „außer acht zu lassen“ (1 Tim 4,14) und es immer wieder „anzufachen“
(2 Tim 1,6), dann zeigt dies: Die Gnadengabe Gottes begründet eine Befähigung,
die der Ordinierte „bewähren muß, hinter welcher er zurückbleiben kann, die
jedenfalls fortbesteht, so daß jederzeit daran erinnert und neu darauf verpflichtet
werden kann“.67 Das χάρισμα ist gegeben und vorhanden, aber es bedarf zu
seiner Wirksamkeit gewissermaßen der ständigen Aktivierung, indem es ernst-
genommen und in der Ausübung des Dienstes am Evangelium stets neu in An-
spruch genommen wird.
Daß wir in dem durch die Handauflegung vermittelten χάρισμα τοῦ θεοῦ
die göttliche Ausrüstung und Befähigung zur angemessenen Amtsführung zu
erblicken haben, das findet seine Bestätigung durch den jeweiligen Kontext
der beiden Ordinationsaussagen 1 Tim 4,14 und 2 Tim 1,6. Was zunächst den
Satz 2 Tim 1,6 anlangt, so sind hier die fest mit ihm verbundenen Verse 2 Tim
1,7 f. zu nennen. Der durch γάρ an V. 6 angeschlossene V. 7 begründet und
bekräftigt die Weisung, die Gabe Gottes immer wieder „anzufachen“, indem er
den Begriff des χάρισμα τοῦ θεοῦ erläutert:68 οὐ γὰρ ἔδωκεν ἡμῖν ὁ θεὸς πνεῦμα
δειλίας, ἀλλὰ δυνάμεως καὶ ἀγάπης καὶ σωφρονισμοῦ – „Gott hat uns ja nicht
einen Geist der Furchtsamkeit gegeben, sondern [einen Geist] der Kraft und der
Liebe und der Selbstüberwindung.“69 Was Gott durch die Gabe des χάρισμα dem
Ordinierten schenkt, das ist demnach die Freiheit von aller Menschenfurcht, die
Kraft zur Verkündigung des Evangeliums, die Liebe zu den Menschen, denen
die Botschaft ausgerichtet wird, und die Selbstüberwindung angesichts aller
Widerstände, mit denen der Verkündiger in seinem Amt zu rechnen hat. Dem-
entsprechend beschreibt V. 870 die Wirkung des von Gott verliehenen Amts-
charismas dahingehend, daß es den Ordinierten dazu befähigt, sich furchtlos
zu dem von Paulus verkündigten Evangelium als dem „Zeugnis von unserem
einerseits, als grundlegender Verpflichtung aller Glaubenden andererseits impliziert“ (so von
Lips, Glaube – Gemeinde – Amt [s. Anm. 2], 263; vgl. 287 Anm. 13), vermag ich nicht zu sehen.
65
So z. B. Jeremias, Die Briefe an Timotheus und Titus (s. Anm. 2), 35; von Campenhau-
sen, Kirchliches Amt und geistliche Vollmacht in den ersten drei Jahrhunderten (s. Anm. 59),
126; Dibelius / Conzelmann, Die Pastoralbriefe (s. Anm. 59), 56; Brox, Die Pastoralbriefe
(s. Anm. 2), 181 f. Nicht korrekt ist dagegen die Bestimmung des χάρισμα als „Amtsauftrag“
bei Roloff, Der erste Brief an Timotheus (s. Anm. 2), 255; Oberlinner, Pastoralbriefe I
(s. Anm. 22), 208.
66
Roloff, ebd., 255.
67
Brox, Die Pastoralbriefe (s. Anm. 2), 181.
68
In 2 Tim 1,7 bezieht sich der Plural ἡμῖν m. E. nicht auf alle Christen, sondern auf die mit
der Verkündigung des Evangeliums beauftragten und zu ihrem Dienst durch den Geist Gottes
ausgerüsteten Amtsträger.
69
Die Übersetzung von σωφρονισμός mit „Selbstüberwindung“ übernehme ich von Jere-
mias, Die Briefe an Timotheus und Titus (s. Anm. 2), 49.
70
2 Tim 1,8: μὴ οὖν ἐπαισχυνθῇς τὸ μαρτύριον τοῦ κυρίου ἡμῶν μηδὲ ἐμὲ τὸν δέσμιον
αὐτοῦ, ἀλλὰ συγκακοπάθησον τῷ εὐαγγελίῳ κατὰ δύναμιν θεοῦ.
206 Die Ordination zum Amt der Kirche
Herrn“71 zu bekennen und wie der Apostel für dieses Evangelium zu leiden72.
Der unmittelbare Kontext liefert so den entscheidenden Kommentar zu der
Ordinationsaussage von 2 Tim 1,6. Das gleiche gilt auch für die Ordinations-
aussage von 1 Tim 4,14, die fest in dem Abschnitt 1 Tim 4,12–16 verankert ist. In
V. 13, der dieser Aussage unmittelbar vorausgeht, wird Timotheus in Hinsicht
auf die Leitung des Gottesdienstes geboten, sich eifrig „der Lesung, der Predigt
und der Unterweisung“ zu widmen,73 und den Abschnitt beschließt in V. 16 die
Mahnung, sorgsam an der „Lehre“ des Evangeliums festzuhalten, das ihm selbst
und denen, die seine Verkündigung hören, das eschatologische Heil bringt.74 Das
in den beiden Sätzen V. 13 und V. 16 Gebotene zu tun, das bedeutet: das χάρισμα
nicht außer acht zu lassen, das bei der Ordination von Gott geschenkt worden
ist. Das χάρισμα bildet – wie daraus gefolgert werden kann – das tragende Fun-
dament für die Befolgung der zahlreichen Weisungen, durch die in den Pastoral-
briefen die wesentlichen Aufgaben des verbi divini ministerium beschrieben
werden. Das heißt: Das ihm verliehene Charisma befähigt den Amtsträger zur
rechten Leitung des Gottesdienstes,75 zur reinen Verkündigung und Lehre des
Evangeliums,76 zur treuen Bewahrung der apostolischen Lehrtradition,77 zur
verantwortlichen Einsetzung weiterer Amtsträger,78 zur entschiedenen Abwehr
der Irrlehre79 – und mit dem allen zur makellosen Wahrnehmung des mit der
Ordination gegebenen Amtsauftrags80 und zur ungeteilten Erfüllung des durch
sie übertragenen Dienstes81.
Blicken wir an dieser Stelle auf das zur Handauflegung Gesagte zurück,
so sind zwei auffallende Tatbestände zu notieren und in aller Kürze zu kom-
mentieren: zum einen, daß im Zusammenhang mit der ἐπίθεσις τῶν χειρῶν
71
Der Vergleich mit Röm 1,16 spricht dafür, daß mit den Worten τὸ μαρτύριον τοῦ κυρίου
ἡμῶν 2 Tim 1,8a das εὐαγγέλιον von V. 8b gemeint ist. Zu der Verbindung von μαρτύριον mit
einem den Gegenstand bezeichnenden Genitivus objectivus vgl. 1 Kor 1,6 (τὸ μαρτύριον τοῦ
Χριστοῦ) sowie ferner auch Apg 4,33.
72
Vgl. o. Anm. 50.
73 1 Tim 4,13: πρόσεχε τῇ ἀναγνώσει, τῇ παρακλήσει, τῇ διδασκαλίᾳ. Bei der gottesdienst-
lichen ἀνάγνωσις dürfte auch die Verlesung von Briefen des Paulus gemeint sein; vgl. dazu
etwa Roloff, Der erste Brief an Timotheus (s. Anm. 2), 254; Oberlinner, Pastoralbriefe I
(s. Anm. 22), 206 f. Zu παράκλησις als Ausdruck für die Predigt vgl. Apg 13,15; Hebr 13,22. Zu
διδασκαλία in der Bedeutung „Unterweisung“ s. 1 Tim 5,17; 2 Tim 3,10; Tit 2,7 (vgl. Röm 12,7).
74
1 Tim 4,16: ἔπεχε σεαυτῷ καὶ τῇ διδασκαλίᾳ, ἐπίμενε αὐτοῖς· τοῦτο γὰρ ποιῶν καὶ σεαυτὸν
σώσεις καὶ τοὺς ἀκούοντάς σου.
75
1 Tim 4,13.
76
Wortverkündigung: 2 Tim 2,15; 4,2.5; Lehrunterweisung: 1 Tim 4,11.13.16; 2 Tim 4,2; Tit
2,7.
77
1 Tim 6,20; 2 Tim 1,14; vgl. auch 3,14.
78
1 Tim 5,22; Tit 1,5.
79
1 Tim 1,3–11.18–20; 4,1–11; 6,3–5.20 f.; 2 Tim 2,14–4,5; Tit 1,10–16; 3,8–11.
80
1 Tim 6,14. Zur Deutung der ἐντολή s. Roloff, Der erste Brief an Timotheus (s. Anm. 2),
352 mit Anm. 115.
81
2 Tim 4,5.
Die Ordination zum Amt der Kirche 207
jeder Hinweis auf das Gebet fehlt,82 und zum andern, daß als Amtsaufgabe des
Ordinierten nirgends – und nicht einmal bei der ausdrücklichen Bezugnahme
auf den Gottesdienst (1 Tim 4,13) – die Feier des Heiligen Abendmahls erwähnt
wird. Was das Gebet anlangt, so darf ein solches angesichts dessen, was Apg
6,6; 13,3; 14,23 berichtet wird, sicher vorausgesetzt werden. Zu denken wäre an
ein epikletisches Gebet mit der von Erhörungsgewißheit getragenen Bitte, daß
Gott den von ihm zum Amt der Verkündigung und der Lehre Berufenen mit dem
χάρισμα ausrüsten möge. Hinsichtlich der Feier des Heiligen Abendmahls kann
das Schweigen der Texte vielleicht damit erklärt werden, daß ihre Zuordnung
zum Dienst der Verkündigung als selbstverständlich galt.83
Weil die Ordination die Einsetzung in das Amt der Verkündigung und Lehre ist,
deshalb gehören zu ihr als weitere wesentliche Elemente die Übergabe der apo-
stolischen Lehrtradition und das Bekenntnis des Ordinanden.
Die Übergabe der apostolischen Lehrtradition ist in den bereits zitierten und
jetzt noch einmal in Übersetzung mitgeteilten Worten 2 Tim 2,2 angesprochen,
in denen Paulus seinem Schüler Timotheus gebietet: „Was du von mir in Gegen-
wart vieler Zeugen gehört hast, das vertraue zuverlässigen Personen an, die
[dann] fähig sein werden, ihrerseits andere zu unterweisen.“ Diese Worte haben
mit dem zu tun, was nach dem Zeugnis der Pastoralbriefe der zentrale Inhalt
der Verkündigung und der Lehrunterweisung ist. Es ist dies das Evangelium,
das Paulus unmittelbar von Gott selbst anvertraut wurde und zu dessen „Ver-
kündiger“ und „Lehrer“ er als der ἀπόστολος Χριστοῦ Ἰησοῦ in einmaliger und
grundlegender Weise berufen und eingesetzt worden ist.84 Das Evangelium85
ist gemeint, wenn der Verfasser der Pastoralbriefe von dem zu verkündigenden
„Wort“86 oder von der im Glauben zu erkennenden „Wahrheit“87 spricht, und es
ist Gegenstand und Inhalt der „apostolischen Lehrtradition“ (διδασκαλία), die
82 Daß die προφητεία von 1 Tim 4,14 nicht auf ein Gebet gedeutet werden kann, betont mit
Recht Roloff, Der erste Brief an Timotheus (s. Anm. 2), 102. An ein Gebet denkt dagegen z. B.
Oberlinner, Pastoralbriefe I (s. Anm. 22), 211; ebenso deutet bereits M. Luther, Vorlesung
über den 1. Timotheusbrief (1528), WA 26, 83,10–12.
83
Man könnte dazu auf Apg 2,42; 20,7–12 hinweisen.
84 1 Tim 1,11; 2,7; 2 Tim 1,8–11; Tit 1,3.
85
Das Wort εὐαγγέλιον erscheint in 1 Tim 1,11; 2 Tim 1,8.10; 2,8.
86 ὁ λόγος: 2 Tim 4,2; ὁ λόγος τοῦ θεοῦ: 2 Tim 2,9; Tit 1,3; 2,5; ὁ λόγος τῆς ἀληθείας: 2 Tim
2,15. Im Unterschied zu dem an diesen Stellen zu verzeichnenden Gebrauch von λόγος dürfte
der Ausdruck ὁ κατὰ τὴν διδαχὴν πιστὸς λόγος Tit 1,9 die Predigt meinen.
87
1 Tim 2,4.7; 3,15; 4,3; 6,5; 2 Tim 2,15.18.25; 3,7 f.; 4,4; Tit 1,1.14. Auf diese Glaubenswahr-
heit beziehen sich auch die Begriffe πίστις = fides quae creditur (1 Tim 2,7; 3,9; 4,1.6; 5,8; 6,10;
Tit 1,4.13) und εὐσέβεια (1 Tim 3,16; 6,3; Tit 1,1).
208 Die Ordination zum Amt der Kirche
88 Für die apostolische „Lehre“ als Gegenstand der ebenfalls als διδασκαλία bezeichneten
Lehrunterweisung (1 Tim 4,13; 5,17; 2 Tim 3,10; Tit 2,7) erscheinen neben dem einfachen ἡ
διδασκαλία (1 Tim 4,16; 6,1) die folgenden Wendungen: ἡ ὑγιαίνουσα διδασκαλία (1 Tim 1,10;
2 Tim 4,3; Tit 1,9; 2,1), ἡ καλὴ διδασκαλία (1 Tim 4,6), ἡ κατ’ εὐσέβειαν διδασκαλία (1 Tim 6,3),
ἡ διδασκαλία ἡ τοῦ σωτῆρος ἡμῶν θεοῦ (Tit 2,10).
89 1 Tim 6,20; 2 Tim 1,12.14.
90 Jeremias, Die Briefe an Timotheus und Titus (s. Anm. 2), 47; vgl. auch ebd., 51.
91 Aufgrund des unmittelbaren Zusammenhangs mit 2 Tim 1,14 („Bewahre das [dir anver-
traute] kostbare Gut durch die Kraft des Heiligen Geistes, der in uns wohnt“) darf man fragen,
ob nicht auch der vorangehende Satz 2 Tim 1,13 die bei der Ordination erfolgende Übergabe
der apostolischen Lehrtradition im Blick hat: ὑποτύπωσιν ἔχε ὑγιαινόντων λόγων ὧν παρ’ ἐμοῦ
ἤκουσας ἐν πίστει καὶ ἀγάπῃ τῇ ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ – „Als Vorbild gesunder Worte (d. h. Lehre)
halte das, was du von mir gehört hast, fest im Glauben und in der Liebe, die in Christus Jesus
[ihr Fundament haben].“
92
Der hier greifbare Sukzessionsgedanke wird in Teil VII des Aufsatzes weiter zu bedenken
sein.
93
So Roloff, Der erste Brief an Timotheus (s. Anm. 2), 267.
94
Bei den Worten ὁμολογεῖν τὴν καλὴν ὁμολογίαν hat der Verfasser bereits die Formu-
lierung μαρτυρεῖν τὴν καλὴν ὁμολογίαν von V. 13 mit im Blick, so daß es sich hier nicht um
die Figura etymologica handelt. Deshalb wähle ich bewußt nicht die Übersetzung „das gute
Bekenntnis ablegen“. Zu der Erwähnung der „vielen Zeugen“ vgl. die auf die Ordination hin-
weisende Aussage von 2 Tim 2,2.
95
Zur Begründung der Deutung von 1 Tim 6,12b auf das Ordinationsbekenntnis s. Roloff,
Der erste Brief an Timotheus (s. Anm. 2), 340–358; vgl. auch E. Käsemann, Das Formular
einer neutestamentlichen Ordinationsparänese, in: Ders., Exegetische Versuche und Besinnun-
gen I, Göttingen ²1960, 101–108. – Die Frage, wie der Inhalt des von Timotheus abgelegten
Die Ordination zum Amt der Kirche 209
liefert der auf V. 12b folgende Satz, in dem gesagt wird, daß Jesus ἐπὶ Ποντίου
Πιλάτου „das gute Bekenntnis bezeugt hat“ (1 Tim 6,13). Hier erscheint im Un-
terschied zu V. 12b (ὁμολογεῖν τὴν καλὴν ὁμολογίαν) die recht ungewöhnliche
Formulierung μαρτυρεῖν τὴν καλὴν ὁμολογίαν. In der Aussage über Timotheus
ist mit dem Ausdruck ἡ καλὴ ὁμολογία in objektivem Sinn der Bekenntnis-
gegenstand, d. h. die von dem Ordinierten bekannte „Glaubenswahrheit“ ge-
meint,96 nicht dagegen der Akt des Bekennens. Um eben diese und keine andere
ὁμολογία handelt es sich auch in der Aussage über das Zeugnis Jesu.97 Das heißt:
Timotheus hat genau das „bekannt“, was Jesus ἐπὶ Ποντίου Πιλάτου „bezeugt“
hat. Die Bestimmung ἐπὶ Ποντίου Πιλάτου könnte dabei bedeuten: „vor Pontius
Pilatus“, so daß von einem Wort-Zeugnis Jesu die Rede wäre.98 Parallelen in der
frühchristlichen Literatur sprechen jedoch für die Übersetzung „unter Pontius
Pilatus“ (= „zur Zeit des Pontius Pilatus“)99 – und dann bezieht sich das Zeugnis
Jesu auf sein ganzes Sein und Wirken.100 Das aber ist der Inhalt des Evangeliums
und der apostolischen Lehrtradition. Versteht man 1 Tim 6,13 in dem skizzierten
Sinn, dann hat Timotheus bei seiner Ordination das bekannt, was Inhalt der ihm
übergebenen παραθήκη ist: die Person und das Werk Jesu Christi.101 Mit dem
Ordinationsbekenntnis hat er sich verpflichtet, unbeirrbar an der παραθήκη
festzuhalten und in Verkündigung und Lehre das Evangelium unverfälscht aus-
zurichten, und bei diesem Bekenntnis kann er von den vielen behaftet werden,
die Zeugen seiner Ordination gewesen sind.
καιρῷ τῆς ἡγεμονίας Ποντίου Πιλάτου); Trall 9,1 (Jesu Geburt, menschliches Leben und Ver-
folgungsleiden ἐπὶ Ποντίου Πιλάτου); Sm 1,2 (Jesu Kreuzigung ἐπὶ Ποντίου Πιλάτου). Auf
diese Stellen verweisen zu 1 Tim 6,13 mit Recht etwa Dibelius / Conzelmann, Die Pastoral-
briefe (s. Anm. 59), 67; Merkel, Die Pastoralbriefe (s. Anm. 23), 51.
101
Vgl. dazu die geprägten christologisch-soteriologischen Aussagen der Pastoralbriefe:
1 Tim 1,15; 2,5 f.; 3,16b; 2 Tim 1,9 f.; 2,8; Tit 2,13 f.; 3,4–7.
210 Die Ordination zum Amt der Kirche
Wie insbesondere der bereits mehrfach angeführte Satz 2 Tim 2,2 zeigt, ist mit
den Ordinationsaussagen der Pastoralbriefe die Vorstellung einer Sukzession
verbunden – nämlich der Gedanke, daß die apostolische Lehrtradition in kon-
tinuierlicher Abfolge von Amtsträger zu Amtsträger weitergegeben wird. Die
Kontinuität in der Abfolge der Amtsträger hat dabei keinen anderen Sinn als den,
der kontinuierlichen Bezeugung des Evangeliums zu dienen, und sie ist dem-
entsprechend nur da gegeben, wo die apostolische Lehrtradition unverfälscht
bewahrt wird.
Hier stellt sich nun die Frage, wie das Verhältnis zwischen dem mit der Or-
dination übertragenen verbi divini ministerium und dem Amt des am Ursprung
der Lehrtradition stehenden Apostels zu bestimmen ist. In welchem Sinn kann
hier von einer „Nachfolge“ gesprochen werden? Der Befund der Pastoralbrie-
fe scheint mir eindeutig zu sein: Die zum verbi divini ministerium Ordinierten
sind nicht in dem Sinn „Nachfolger“ des Apostels, daß sie in sein Amt eintreten,
sondern sie sind es präzise in dem Sinn, daß sie in strenger Bindung an das
grundlegende Zeugnis des Apostels mit der Verkündigung und Lehre des von
ihm bezeugten Evangeliums beauftragt sind. Dieser Sachverhalt läßt sich – zu-
gleich exemplarisch für alle Gemeindeleiter – an Timotheus aufzeigen, der als
unmittelbarer Schüler in einer besonders ausgezeichneten Weise in der Nachfolge
des Paulus steht.102 Für Paulus als den von Gott selbst mit dem Evangelium und
seiner Verkündigung Betrauten (1 Tim 1,11; Tit 1,3) gibt es nach den gewichtigen
Aussagen von 1 Tim 2,7 und 2 Tim 1,11 eine dreifache Bestimmung: Er ist κῆρυξ,
ἀπόστολος und διδάσκαλος – „Verkündiger“, „Apostel“ und „Lehrer“. Von Timo-
theus hingegen wird nur ein Zweifaches ausgesagt – nämlich: das „Verkündigen“
(κηρύσσειν 2 Tim 4,2) und das „Lehren“ (διδάσκειν 1 Tim 4,11; 6,2). Obwohl
also Timotheus in seiner Eigenschaft als εὐαγγελιστής (2 Tim 4,5) ein mehrere
Gemeinden übergreifendes Leitungsamt innehat, ist er doch kein Apostel. Worin
sich das apostolische Amt des Paulus fundamental von dem kirchlichen Amt des
Timotheus und demjenigen aller Gemeindeleiter unterscheidet, das kommt in
1 Tim 2,7 und in 2 Tim 1,11 klar zum Ausdruck: Paulus ist durch Gottes Setzung
ganz unmittelbar dem Evangelium zugeordnet und mit seiner ganzen Existenz an
es gebunden.103 Deshalb können ihm in 2 Tim 1,8 die an Timotheus gerichteten
Worte in den Mund gelegt werden: „Schäme dich nicht des Zeugnisses von un-
serem Herrn und auch nicht meiner, der ich sein Gefangener bin.“104 Wie dieser
Satz zeigt, ist das Evangelium nicht ohne den Apostel und der Apostel nicht
102
Das zeigt am deutlichsten die Anweisung von 1 Tim 4,13.
103
Die in 1 Tim 2,7 und in 2 Tim 1,11 begegnende Formulierung εἰς ὃ ἐτέθην ἐγὼ κτλ. ent-
spricht dem ἀφωρισμένος εἰς εὐαγγέλιον θεοῦ von Röm 1,1.
104
Beachtenswert ist das Verhältnis dieses Satzes zu der Selbstaussage des Paulus in Röm
1,16.
Die Ordination zum Amt der Kirche 211
ohne das Evangelium zu denken. Bindung an das Evangelium heißt also eo ipso
Bindung an das grundlegende Zeugnis des Apostels, und das gilt für Timotheus
selbst wie auch für alle späteren Verkündiger und Lehrer.
Der damit greifbare Sukzessionsgedanke konzentriert sich ganz auf Paulus, so
daß mit Recht bemerkt worden ist, daß die Pastoralbriefe nur eine „paulinische“
Sukzession kennen.105 Ihre Sicht fügt sich allerdings voll dem ein, was in anderen
neutestamentlichen Schriften über die Einmaligkeit und Einzigartigkeit der Apo-
stel Jesu Christi gesagt wird.106 Die Apostel sind dem Zeugnis jener Schriften
zufolge nicht Träger eines kirchlichen Amtes, sondern sie gehören unmittelbar in
das Geschehen der die Kirche begründenden und tragenden Offenbarung Gottes
in Jesus Christus mit hinein. Ihre Einmaligkeit und Einzigartigkeit ist dadurch
gegeben, daß sie den begrenzten Kreis der Augenzeugen bilden, denen sich der
gekreuzigte und auferstandene Christus in den Ostererscheinungen zu erkennen
gegeben und die er damit zugleich zu authentischen Zeugen seiner Person und
seines Werkes berufen hat. Was den Aposteln in der Begegnung mit dem auf-
erstandenen Herrn erschlossen und zur Verkündigung anvertraut wurde, ist das
inhaltlich klar bestimmte Evangelium. Als die unmittelbar von Christus selbst
berufenen Zeugen des Evangeliums sind die Apostel „früher als die Kirche“107
und dieser als verbindliche Autorität und Traditionsnorm vorgegeben.108 Des-
halb haben sie in ihrem Amt prinzipiell keine Nachfolger.
In welcher Weise vom Zeugnis der Pastoralbriefe bzw. des ganzen Neuen
Testaments her im Blick auf die ordinierten Träger des kirchlichen Amtes der
Verkündigung und Lehre von einer „apostolischen Sukzession“ zu sprechen
ist, das läßt sich jetzt so beschreiben: Die Sukzession besteht nicht darin, daß
das Amt der Apostel an „Nachfolger“ übertragen und dann durch die Zeit der
Kirche hindurch in einer ununterbrochenen Kette weitergegeben wird, wobei
die in die Sukzession Eingetretenen durch einen besonderen hierarchischen
Status und durch nur ihnen verliehene Vollmachten wie etwa die Weihegewalt
ausgezeichnet wären. Die „apostolische Sukzession“ hat ihr Wesensmerkmal
vielmehr in der strengen Bindung an das von den Aposteln authentisch und
verbindlich bezeugte Evangelium, und sie ist somit als die Sukzession in der
gehorsamen Bezeugung und unverfälschten Weitergabe der Wahrheit des Evan-
geliums zu bestimmen.
105
Brox, Die Pastoralbriefe (s. Anm. 2), 240; Merkel, Die Pastoralbriefe (s. Anm. 23), 62 f.
106 S. dazu von Campenhausen, Kirchliches Amt und geistliche Vollmacht in den er-
sten drei Jahrhunderten (s. Anm. 59), 13–31; O. Cullmann, Die Tradition als exegetisches,
historisches und theologisches Problem, Zürich 1954, 28–41; O. Hofius, Die Einzigartigkeit
der Apostel Jesu Christi, in: Ders., Exegetische Studien (s. Anm. 5), 189–202.
107
von Campenhausen, ebd., 25.
108
In Eph 2,20 werden deshalb die Apostel – und mit ihnen zugleich auch die ihr Zeugnis
in den Einzelgemeinden vertretenden Propheten – als das durch den „Eckstein“ Jesus Christus
ausgerichtete und festgelegte „Fundament“ bezeichnet, auf dem die Kirche erbaut ist. Dem
entspricht, was Mt 16,18 (im Kontext der Verse 13–20) von Petrus gesagt wird.
212 Die Ordination zum Amt der Kirche
In einem letzten Schritt unserer Überlegungen ist nun noch eine Frage zu be-
denken, die – wie mir scheint – in der Exegese der Pastoralbriefe nicht immer
die gebührende Beachtung findet. Es ist die Frage nach dem Grund dafür, daß
in ihnen der Ordination sowie der kontinuierlichen Weitergabe des Evangeliums
durch die ordinierten Amtsträger jenes große Gewicht beigemessen wird, das wir
aufgezeigt haben. Die Antwort ergibt sich aus der Wahrnehmung dessen, was in
den Briefen über die eschatologische σωτηρία, d. h. über das in Jesus Christus
beschlossene „Heil“ gesagt wird.109
Der Verfasser bezeichnet in gleicher Weise Gott und Christus als den „Retter“
(σωτήρ) der vor Gott verlorenen Menschen,110 und er begreift – einen zentralen
Gedanken paulinischer Theologie aufnehmend – das Heilshandeln Gottes in
Jesus Christus als den differenzierten Zusammenhang von Heilstat und Heils-
wort.111 Nach 1 Tim 2,5–7 hat „der Mensch Christus Jesus“ als der eine und
einzige „Mittler“ zwischen Gott und den Menschen „sich selbst für alle als
Lösegeld dahingegeben“, und mit dieser seiner Heilstat ist unlöslich das Heils-
wort verbunden – nämlich das „zur rechten Zeit“ ausgerichtete „Zeugnis“112, für
das Paulus eingesetzt wurde als „Verkündiger“, „Apostel“ und „Lehrer“. Genau
die gleiche Aussagestruktur weisen die Worte 2 Tim 1,10 f. auf: „Der Retter
Christus Jesus“ hat in der Heilstat seines Todes und seiner Auferstehung „den
Tod entmachtet“ und im unmittelbaren Zusammenhang damit „Leben und Un-
vergänglichkeit ans Licht gebracht“ – nämlich durch das Heilswort des „Evan-
geliums“, für das Paulus eingesetzt wurde als „Verkündiger“, „Apostel“ und
„Lehrer“. Wie sich aus der Parallelität der beiden Texte ergibt, ist das μαρτύριον
von 1 Tim 2,6 nichts anderes als das εὐαγγέλιον von 2 Tim 1,10b, das in 2 Tim 1,8
ausdrücklich als μαρτύριον τοῦ κυρίου ἡμῶν bezeichnet wird. Das Evangelium,
das Paulus zur grundlegenden Verkündigung anvertraut wurde,113 ist das „Wort
109
Der Ausdruck σωτηρία ἡ ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ begegnet in 2 Tim 2,10, und ihm entspricht
die Wendung ζωὴ ἡ ἐν Χριστῷ Ἰησοῦ von 2 Tim 1,1. Die zukünftige σωτηρία besteht in der ζωὴ
αἰώνιος (1 Tim 1,16; 6,12; Tit 1,2; 3,7 [vgl. auch 1 Tim 4,8; 6,19; 2 Tim 1,10]) bzw. in der δόξα
αἰώνιος (2 Tim 2.10).
110 Gott: 1 Tim 1,1; 2,3; 4,10; Tit 1,3; 2,10; 3,4 (vgl. σῴζειν 2 Tim 1,9; Tit 3,5). – Christus: 2 Tim
drücklich zu 1 Tim 2,6 herausgestellt: WA 26, 39,25–41,23 (vgl. auch ebd., 13,25–14,29 [zu 1,8];
65,18–66,8 [zu 3,16]). Zu Paulus selbst s. O. Hofius, Wort Gottes und Glaube bei Paulus, in:
Ders., Paulusstudien (WUNT 51), ²1994, 148–174: 148–150.
112 1 Tim 2,6b: τὸ μαρτύριον καιροῖς ἰδίοις. Der Akkusativ τὸ μαρτύριον ist hier wie eine
Apposition an ὁ δοὺς ἑαυτὸν ἀντίλυτρον ὑπὲρ πάντων V. 6a angeschlossen (vgl. Röm 12,1) und
steht für ἵνα τοῦτο μαρτυρῆται. Der Ausdruck καιροὶ ἴδιοι meint die von Gott bestimmte Zeit,
in der das μαρτύριον in der Verkündigung laut wird (vgl. Tit 1,3).
113
S. dazu neben 1 Tim 2,5–7 und 2 Tim 1,10 f. auch Tit 1,3: ἐφανέρωσεν δὲ (sc. ὁ θεὸς)
Die Ordination zum Amt der Kirche 213
der Wahrheit“114, in dem Gott selbst das in Christus beschlossene Heil offenbar
macht, und dieses Heil wird Menschen da zuteil, wo es unter dem Hören des
Evangeliums zur „Erkenntnis der Wahrheit“ kommt.115 Daß das Evangelium laut
wird, das ist demnach die notwendige Bedingung dafür, daß Menschen im Glau-
ben an Christus das Heil empfangen.116 Die gleiche Bedingung gilt dann auch
dafür, daß die Glaubenden im Glauben und damit in dem ihnen erschlossenen
Heil bewahrt bleiben.117 Weil so das Heil der Menschen von der Bezeugung des
Evangeliums abhängt, deshalb erachtet es der Verfasser der Pastoralbriefe für
unabdingbar, daß die mit der Verkündigung und Lehre beauftragten Amtsträger
bei ihrer Ordination in die Sukzession derer eintreten, die an die apostolische
Lehrtradition gebunden sind und sich an sie gebunden wissen. Und weil es zur
rechten Ausübung des Amtes über die persönlichen Qualitäten und Fähigkeiten
hinaus der Ausrüstung durch Gott selbst bedarf, deshalb erblickt er in dem
durch die Handauflegung vermittelten Amtscharisma die entscheidende Gabe
der Ordination.
Die Pastoralbriefe weisen den zum verbi divini ministerium Ordinierten
zweifellos eine besondere Stellung innerhalb der Gemeinde zu.118 Dabei will al-
lerdings beachtet sein, daß nach dem Zeugnis der Briefe die Autorität der Amts-
träger keine andere ist und sein kann als die des Evangeliums, dem sie selbst
wie alle anderen Gemeindeglieder das Heil verdanken und für dessen reine
Verkündigung und Lehre sie um des Heils der Menschen willen verantwortlich
sind.119 Dementsprechend liegt auch die Würde des durch die Ordination über-
tragenen Amtes ausschließlich darin, daß es im Dienst der Heilszueignung steht.
καιροῖς ἰδίοις τὸν λόγον αὐτοῦ ἐν κηρύγματι, ὃ ἐπιστεύθην ἐγὼ κατ’ ἐπιταγὴν τοῦ σωτῆρος
ἡμῶν θεοῦ.
114 2 Tim 2,15: ὁ λόγος τῆς ἀληθείας.
115
S. dazu besonders 1 Tim 2,4 (ὃς πάντας ἀνθρώπους θέλει σωθῆναι καὶ εἰς ἐπίγνωσιν
ἀληθείας ἐλθεῖν) mitsamt der Begründung 1 Tim 2,5–7 und zum Begriff der „Erkenntnis der
Wahrheit“ ferner 2 Tim 2,25; 3,7; Tit 1,1. Was den Gedanken anlangt, daß die eschatologische
σωτηρία schon jetzt zugeeignet wird, so sind die aoristischen Formulierungen ὁ σώσας ἡμᾶς
2 Tim 1,9 und ἔσωσεν ἡμᾶς Tit 3,5 zu vergleichen.
116
Lehrreich sind hier auch die Verse 1 Tim 1,15 f. mit der Korrespondenz der beiden Aus-
sagen Χριστὸς Ἰησοῦς ἦλθεν εἰς τὸν κόσμον ἁμαρτωλοὺς σῶσαι, ὧν πρῶτός εἰμι ἐγώ V. 15 und
πρὸς ὑποτύπωσιν τῶν μελλόντων πιστεύειν ἐπ’ αὐτῷ εἰς ζωὴν αἰώνιον V. 16.
117 S. dazu 1 Tim 4,16 (im Kontext der Verse 11–16) und 2 Tim 2,10 (im Kontext der Verse
8–10).
118 Das betont mit Recht von Lips, Glaube – Gemeinde – Amt (s. Anm. 2), 265; vgl. 263.283.
Seine kritischen Folgerungen (s. 279–283, aber auch bereits 260–263) vermag ich allerdings
nicht nachzuvollziehen.
119
Nach 1 Tim 4,6 ist der mit dem verbi divini ministerium Beauftragte dann ein καλὸς
διάκονος Χριστοῦ Ἰησοῦ, wenn er „sich von den Worten der Glaubenswahrheit und der guten
Lehre nährt“, d. h. sich in seinem gesamten Wirken an der das Evangelium bezeugenden apo-
stolischen Lehrtradition als der ihm vorgegebenen Richtschnur orientiert.
Das Predigtamt der Kirche
und das Priestertum aller Gläubigen
Die Kirche Jesu Christi lebt aus dem gepredigten Evangelium. Das ist deshalb so,
weil das Evangelium nicht ein menschliches Wort ist, sondern in strengem Sinn
Gottes eigenes Wort, durch das Menschen wirkmächtig zum Glauben an Jesus
Christus berufen und in diesem Glauben erhalten werden. Lebt die Kirche aber
aus dem Evangelium, so bedarf es notwendig jenes Amtes der Verkündigung,
das da, wo man sich der Reformation verpflichtet weiß, bevorzugt als „Predigt-
amt“ oder als „ministerium verbi divini“ – als „Dienst am göttlichen Wort“ –
bezeichnet wird.1 Der lateinische Ausdruck zeigt dabei an, daß der kirchlichen
Verkündigung das Wort Gottes verbindlich vorgegeben ist.2 Aus diesem Grund
hat das Predigtamt sein Wesensmerkmal in der gehorsamen Bindung an das von
den Aposteln Jesu Christi authentisch bezeugte und im Neuen Testament zuver-
lässig dokumentierte Evangelium und damit in der unverfälschten Weitergabe
des apostolischen Christuszeugnisses.
Wem aber ist das ministerium verbi divini aufgetragen? In der Evangelischen
Kirche in Deutschland wird weithin die Überzeugung vertreten, daß das Amt der
Verkündigung prinzipiell allen Getauften und also der Kirche bzw. Gemeinde als
ganzer zukommt, daß die Kirche oder Gemeinde aber um der Ordnung willen
die öffentliche Ausübung des ihr eignenden Amtes bestimmten Personen über-
trägt, die von ihr zu solchem Dienst berufen werden. Für diese Sicht, die nicht
selten als das spezifisch evangelische Amtsverständnis angesehen wird, beruft
man sich in Sonderheit auf Martin Luther3 sowie daneben auch auf die Confessio
1
Der Begriff ministerium verbi divini (auch verbi divini ministerium oder ministerium verbi)
ist im Anschluß an ἡ διακονία τοῦ λόγου Apg 6,4 gebildet. Zu vergleichen sind in Lk 1,2 die Be-
zeichnung der Apostel als „Diener des Wortes“ (ὑπηρέται τοῦ λόγου) und in Apg 20,24 die Pau-
lus in den Mund gelegten Worte ἡ διακονία ἣν ἔλαβον παρὰ τοῦ κυρίου Ἰησοῦ, διαμαρτύρασθαι
τὸ εὐαγγέλιον τῆς χάριτος τοῦ θεοῦ. Bei Paulus selbst s. διακονία in Röm 11,13; 2 Kor 3,8.9b; 4,1;
5,18; 6,3 und vgl. διάκονος 1 Kor 3,5; 2 Kor 3,6; 6,4; 11,23 (Eph 3,7; Kol 1,7.23.25; 4,7).
2 S. dazu sowie zur Bestimmung des Verhältnisses von Evangelium und Verkündigung:
O. Hofius, Wort Gottes und Glaube bei Paulus, in: Ders., Paulusstudien (WUNT 51), Tübingen
²1994, 148–174: 150–154; Ders., „Fides ex auditu“. Verkündigung und Glaube nach Römer
10,4–17, in: J. von Lüpke / E. Thaidigsmann (Hg.), Denkraum Katechismus. FS Oswald Bayer,
Tübingen 2009, 71–86: 75–83 (in dem vorliegenden Band: 105–120: 108–117).
3
Genannt wird hier als grundlegend die Schrift ‚De instituendis ministris Ecclesiae‘ von
1523 (WA 12, 169–196). Der lateinische Text mit Übersetzung (R. und R. Preul) findet sich in:
216 Das Predigtamt der Kirche und das Priestertum aller Gläubigen
II
Der Gedanke des Priestertums aller Glaubenden findet sich im Neuen Testament
lediglich in drei Schriften – nämlich im Hebräerbrief, in der Offenbarung des
Johannes und im Ersten Petrusbrief.
Im Hebräerbrief werden die Glieder des zu Jesus Christus gehörenden Volkes
Gottes zwar nirgends „Priester“ genannt, wohl aber werden sie in eindrücklicher
Weise als Priester, ja sogar als Hohepriester gekennzeichnet. Dem Christuszeug-
nis des Briefes6 zufolge hat Jesus, der Sohn Gottes, durch sein Selbstopfer am
Kreuz allen Glaubenden den Zugang zum himmlischen Allerheiligsten eröffnet,
so daß sie bei seiner Wiederkunft – in der Stunde der Heilsvollendung – in die
unmittelbare Nähe und Gegenwart des lebendigen Gottes eintreten und ihn dort
schauen und anbeten dürfen.7 Antizipiert wird dieses hohepriesterliche Vorrecht
bereits hier und jetzt im Gottesdienst der Gemeinde: in ihrem „Hinzutreten“
zu dem Thron Gottes, das im Gebet und im Lobpreis Gottes geschieht.8 Daß
den Glaubenden mit der hohepriesterlichen Berufung – der κλῆσις ἐπουράνιος
3,1 – zugleich auch das Amt der Verkündigung aufgetragen sei, läßt sich dem
Hebräerbrief nicht entnehmen.9
M. Luther, Lateinisch-Deutsche Studienausgabe, Bd. 3: Die Kirche und ihre Ämter, hg. v.
G. Wartenberg / M. Beyer, Leipzig 2009, 575–647. Zu weiteren Äußerungen Luthers s. u.
Anm. 25.
4
Die These ist dann die, daß in CA V mit dem „Predigtamt“ bzw. dem ministerium docendi
evangelii der allen Getauften anvertraute Dienst der Verkündigung gemeint und erst in CA XIV
von dem durch die Ordination übertragenen besonderen Amt die Rede sei.
5
Ich merke nur an, daß ich das in der vorigen Anmerkung erwähnte Verständnis von CA V
nirgends überzeugend begründet sehe und im Blick auf Luthers nicht leicht zu erschließende
Äußerungen zum Amt die Darlegungen von Werner Führer für einleuchtend halte: W. Führer,
Reformation ist Umkehr. Rechtfertigung, Kirche und Amt in der Reformation und heute –
Impulse aus kritischer Gegenüberstellung, Göttingen 2016, 81–102.
6
S. besonders Hebr 1,1–4; 2,5–18; 4,14–5,10; 7,1–10,18.
7
Zu den soteriologischen Aussagen des Hebräerbriefes s. O. Hofius, Biblische Theologie
im Lichte des Hebräerbriefes, in: Ders., Neutestamentliche Studien (WUNT 132), Tübingen
2000, 361–377: 369–376.
8
Hebr 4,16; 7,25; 9,14; 10,22; 13,15.
9
Zum Amt der Verkündigung s. Hebr 13,7 sowie ferner auch 13,17 und 13,24. Den Nachweis,
daß den ἡγούμενοι von Hebr 13,7.17.24 die Verkündigung des Wortes Gottes übertragen ist, s.
Das Predigtamt der Kirche und das Priestertum aller Gläubigen 217
Was die Offenbarung des Johannes anlangt, so begegnet der Gedanke des
Priestertums der Glaubenden expressis verbis in dem Lobpreis Jesu Christi
1,5b.610, in dem von himmlischen Wesen gesungenen „neuen Lied“ 5,9b.1011 und
in der Seligpreisung 20,6, die all denen gilt, die der Auferstehung zum ewigen
Leben teilhaftig werden12. Nach dem Zeugnis der beiden hymnischen Texte hat
Christus diejenigen, die er durch sein Blut erlöst hat, zu „Priestern“ für Gott,
seinen Vater, gemacht (1,6a; 5,10a). Wie dieses ihr Priester-Sein zu verstehen ist,
das wird nicht zuletzt im Licht der Aussagen von 7,14b–17 (V. 15!) und 22,3–5
(V. 3!) deutlich. Der Satz, daß alle Glaubenden zu „Priestern“ gemacht sind,
hat die noch ausstehende Heilsvollendung im Blick, in der den Erlösten die un-
mittelbare Gemeinschaft mit dem heiligen Gott zuteil werden wird. Als die durch
Christi Sühnetod von allen Sünden Gereinigten dürfen sie dann Gott nahen, ewig
an dem Ort seiner Gegenwart weilen, ihm im himmlischen Gottesdienst dienen13
und sein Angesicht schauen.14 Der alttestamentliche Gedanke, daß die Priester
von Gott „geheiligt“ und ihm „heilig“ sind15 und daß sie deshalb unmittelbaren
Zugang zu ihm haben, ist hier metaphorisch auf alle Glaubenden bezogen.16 Daß
die in diesem Sinn zu „Priestern“ Gemachten in ihrem irdischen Leben als Ver-
kündiger des Evangeliums wirken sollen oder wirken, wird in der Offenbarung
des Johannes mit keiner Silbe auch nur angedeutet.
Während sich die Frage, ob mit dem Priestertum aller Glaubenden das Amt
der Evangeliumsverkündigung verbunden ist, für den Hebräerbrief und für die
Offenbarung des Johannes in einigen wenigen Sätzen beantworten läßt, bedarf
bei O. Hofius, Gemeindeleitung und Kirchenleitung nach dem Zeugnis des Neuen Testaments.
Eine Skizze, in: Ders., Exegetische Studien (WUNT 223), Tübingen 2008, 218–239: 231 f.
10
Dem gekreuzigten und auferstandenen Christus gilt die Doxologie: „Dem, der uns liebt
und uns von unseren Sünden erlöst hat durch sein Blut und uns gemacht hat zu einem Königtum,
zu Priestern für seinen Gott und Vater, – ihm gebührt die Herrlichkeit und die Macht in alle
Ewigkeit! Amen.“
11
Das geschlachtete Lamm wird dafür gepriesen, daß es Menschen aus allen Völkern mit sei-
nem Blut „für Gott erkauft“ und sie für ihn „zu einem Königtum und zu Priestern gemacht“ hat.
12
Alle, die an der ersten Auferstehung Anteil haben, werden im Tausendjährigen Reich
„Priester Gottes und Christi“ sein und „zusammen mit ihm (sc. mit Christus) herrschen“.
13
In 7,15 und 22,3 ist das Verbum λατρεύειν zu beachten, das den priesterlichen Dienst
bezeichnet.
14
Vgl. D. Sänger, Art. Priester/Priestertum I/4. Neues Testament, in: TRE 27 (1997) 396–
401: 400: Die Priester sind es, „die als die ‚Knechte Gottes‘ (22,3) im himmlischen Gottesdienst
(vgl. Apk 4 f.) sich Gott unmittelbar nahen, ihm dienen und sein Angesicht schauen dürfen
(Apk 22,3–5), so daß ,das Priestersein der Erlösten […] seine eschatologische Erfüllung in der
Erfahrung der Nähe und Anwesenheit Gottes‘ findet“. Sänger zitiert E. Schüssler-Fiorenza,
Priester für Gott. Studien zum Herrschafts- und Priestermotiv in der Apokalypse (NTA NF 7),
Münster 1972, 401.
15
Lev 21,1–24 (bes. 6–8); Esr 8,28.
16
Vgl. J. Roloff, Die Offenbarung des Johannes (ZBK.NT 18), Zürich 1984, 35: Die durch
Christus Erlösten „haben, wie die Priester im Alten Testament, unmittelbaren Zugang zum
Bereich Gottes, ja sie gehören diesem Bereich an.“
218 Das Predigtamt der Kirche und das Priestertum aller Gläubigen
der Erste Petrusbrief einer ausführlicheren Erörterung. Ihm wenden wir uns des-
halb erst an dritter Stelle und in einem eigenen Argumentationsgang zu.
III
Von dem Priestertum aller Glaubenden ist im Ersten Petrusbrief in dem Ab-
schnitt 2,4–10 die Rede, in dem die christliche Gemeinde als das neue Volk
Gottes beschrieben wird, das er in seiner freien Gnade erwählt und zu seinem
Eigentum gemacht hat. Der Verfasser legt zunächst in den Versen 2,4 f. den Tat-
bestand dar, und er verweist sodann in den Versen 2,6–10 auf das entsprechende
prophetische Zeugnis der Heiligen Schrift Israels, wobei er die relevanten Stel-
len nicht nur zitiert, sondern zugleich auch kommentiert.17
In den Versen 2,4 f. wird in metaphorischer Sprache gesagt: Diejenigen, die im
Glauben mit Jesus Christus, dem „lebendigen Stein“, verbunden sind,18 werden
als „lebendige Steine“ zu einem „geistlichen Haus“ aufgebaut.19 Das Bild des
„geistlichen Hauses“, das die Gemeinde als den wahren Tempel Gottes kenn-
zeichnet,20 geht dann in V. 5 sogleich in ein weiteres Bild über: Die Glaubenden
sind „eine heilige Priesterschaft“, deren Aufgabe darin besteht, „geistliche Opfer
darzubringen, die Gott durch Jesus Christus wohlgefällig sind“ (ἱεράτευμα ἅγιον
ἀνενέγκαι πνευματικὰς θυσίας εὐπροσδέκτους θεῷ διὰ Ἰησοῦ Χριστοῦ). Dieses
Bild der „heiligen Priesterschaft“, auf dem in V. 5 der Akzent liegt, hat inner-
halb der Verse 6–10 seine Entsprechung in den folgenden, an die Empfänger des
Briefes gerichteten Worten des V. 9: „Ihr […] seid ein auserwähltes Geschlecht,
eine königliche Priesterschaft, eine heilige Volksgemeinschaft, ein Volk zum Ei-
gentum21, damit ihr die Heilstaten dessen verkündet, der euch aus der Finsternis
in sein wunderbares Licht gerufen hat“ (ὑμεῖς […] γένος ἐκλεκτόν, βασίλειον
ἱεράτευμα, ἔθνος ἅγιον, λαὸς εἰς περιποίησιν, ὅπως τὰς ἀρετὰς ἐξαγγείλητε
τοῦ ἐκ σκότους ὑμᾶς καλέσαντος εἰς τὸ θαυμαστὸν αὐτοῦ φῶς). In diesem
Satz werden hohe alttestamentliche Prädikate des Gottesvolkes Israel auf die
christliche Gemeinde übertragen. Die Bezeichnung der Gemeinde als βασίλειον
ἱεράτευμα und ἔθνος ἅγιον ist dabei dem Wort Gottes an Israel von Ex 19,6 LXX
17
Die Hinweise auf das Zeugnis der Schrift werden in 2,6 eingeleitet durch die Wendung
διότι περιέχει ἐν γραφῇ = „es heißt ja in der Schrift“; διότι ist wie in 1,16 und 1,24 kausale Kon-
junktion („denn“), nicht dagegen, wie manche Ausleger urteilen, Folgerungspartikel („darum“).
Die in 2,6–10 zitierten Schriftworte versteht der Verfasser des Briefes im Sinn dessen, was er
in 1,10–12 gesagt hat.
18
Ihre Bezeichnung als „Glaubende“ erscheint – im Anschluß an die Worte ὁ πιστεύων
ἐπ’ αὐτῷ οὐ μὴ καταισχυνθῇ des in V. 6 zitierten und auf Christus bezogenen Schriftzitats Jes
28,16 – ausdrücklich in V. 7: ὑμῖν οὖν ἡ τιμὴ τοῖς πιστεύουσιν.
19
Das Prädikat οἰκοδομεῖσθε V. 5 ist m. E. als Indikativ, nicht als Imperativ zu lesen.
20 Vgl. 1 Kor 3,9–17; 6,19; Eph 2,19–22; 1QS 8,5–10.
21
D. h. ein zum Eigentum Gottes erwähltes Volk.
Das Predigtamt der Kirche und das Priestertum aller Gläubigen 219
entnommen, und der Bestimmung, daß ihre Glieder als γένος ἐκλεκτόν und λαὸς
εἰς περιποίησιν die „Heilstaten“ Gottes „verkünden“ sollen, liegen die Verse Jes
43,20 f. LXX zugrunde.22
Die soeben zitierten Worte von 1 Petr 2,9 gelten ohne jeden Zweifel aus-
nahmslos allen an Christus Glaubenden. Sie alle werden mit der Metapher der
„königlichen Priesterschaft“ als von Gott erwählte, zu seinem Dienst geheiligte
und dadurch mit höchster Würde bekleidete Menschen angesprochen.23 Es ist
dieser Satz aus dem Ersten Petrusbrief, auf den vor allem sich in Theologie und
Kirche diejenigen berufen, die unter Hinweis auf den Gedanken des Priestertums
aller Gläubigen die Ansicht vertreten, daß die Verkündigung des Evangeliums
der Kirche bzw. der Gemeinde in ihrer Gesamtheit aufgetragen sei und das
Predigtamt mithin prinzipiell allen Glaubenden zukomme. Vorausgesetzt wird
dabei, daß in 1 Petr 2,9 mit dem griechischen Verbum ἐξαγγέλλειν, das ich
in meiner Übersetzung des Verses mit „verkünden“ wiedergegeben habe, die
Predigt des Evangeliums gemeint sei. In eben diesem Sinn hat Martin Luther
das Wort verstanden. „Ihr […] seid […] das königliche Priestertum […], daß
ihr verkündigen sollt die Tugenden des, der euch berufen hat von der Finsternis
zu seinem wunderbaren Licht“24 – so lautet die Übersetzung des Reformators,
und seine Auslegung kommt exemplarisch zur Sprache, wenn er erklärt: „Wir
sind alle Priester, […], daß wir alle zu aller Zeit und an allerlei Orten Gottes
Wort und Werk verkündigen sollen.“25 Obwohl die hier vorliegende Deutung
22
In 1 Petr 2,9 hat αἱ ἀρεταί wie schon in Jes 43,21 LXX und ebenso in Jes 42,12; 63,7
LXX die Bedeutung „Großtaten“ / „Machttaten“ / „Wundertaten“ u. ä. Gemeint sind die Heils-
taten Gottes, d. h. sein rettendes Handeln in Jesus Christus. Die Redeweise ist hier die der
hellenistischen Aretalogie. Zum Vergleich s. αἱ ἀρεταί in der Delischen Sarapis-Aretalogie des
Maiistas (Ende 3. Jahrhundert v. Chr.), IG XI,4 1299,48 f.: πᾶν δὲ κατ’ ἦμαρ σὰς ἀρετὰς ἤειδεν
(„jeden Tag besang er deine Wundertaten“). Daß in diesem Satz das Verbum ἀείδειν („singen“,
„besingen“, „preisen“) erscheint, verdient im Blick auf 1 Petr 2,9 besondere Beachtung.
23
Auf die einzigartige Hoheit und Würde hebt das Epitheton „königlich“ ab.
24
Hervorhebung von mir. – Zwischen den deutschen Verben „verkünden“ und „verkündi-
gen“ sollte sprachlich unterschieden werden: das erstere bezeichnet die Kundgabe, die Pro-
klamation, das letztere die Predigt, die kirchliche Verkündigung.
25
So in Luthers Predigt zur Einweihung der Schloßkirche zu Torgau am 5. Oktober 1544: WA
49, 590 f. (Druck). Zu Luthers Verständnis von 1 Petr 2,9 ist vor allem auf die Ausführungen in
‚De instituendis ministris Ecclesiae‘ hinzuweisen: WA 12, 179,38–180,32. Daraus sei 180,22 f.
zitiert: praeceptum […], ut annuncient virtutes dei, quod certe est aliud nihil, quam verbum
dei predicare („die Weisung, Gottes Heilstaten zu verkündigen, bedeutet mit Gewißheit nichts
anderes, als das Wort Gottes zu predigen“). In den frühen Schriften Luthers s. zu 1 Petr 2,9
u. a. die folgenden Äußerungen: An den christlichen Adel deutscher Nation von des christ-
lichen Standes Besserung (1520), WA 6, 407,10–408,35; De captivitate Babylonica ecclesiae
praeludium (1520), WA 6, 564,6–14; Von der Freiheit eines Christenmenschen (1520), WA 7,
27,17–28,37; De abroganda missa privata Martini Lutheri sententia (1521), WA 8, 422,17–423,2
(s. auch 425,7–9); Vom Mißbrauch der Messe (1521), WA 8, 495,8–33; Daß eine christliche Ver-
sammlung oder Gemeine Recht und Macht habe, alle Lehre zu urteilen und Lehrer zu berufen,
ein und ab zu setzen, Grund und Ursach aus der Schrift (1523), WA 11, 411,22–413,22; (Erste)
Epistel S. Petri gepredigt und ausgelegt. Erste Bearbeitung (1523), WA 12, 316,4–319,6.
220 Das Predigtamt der Kirche und das Priestertum aller Gläubigen
des Verbums ἐξαγγέλλειν auf die Verkündigung seit Luther von nicht wenigen
Auslegern vertreten worden ist26 und ebenso auch in der neueren Exegese ver-
treten wird27, muß sie nach meinem Urteil als unhaltbar bezeichnet werden.
Die Worte ὅπως τὰς ἀρετὰς ἐξαγγείλητε beziehen sich vielmehr auf die hym-
nisch-lobpreisende Proklamation der Heilstaten Gottes in der zum Gottesdienst
versammelten Gemeinde. Zur Begründung dieser Sicht notiere ich zunächst drei
sprachliche Überlegungen.28
1. Der Satz 1 Petr 2,9 nimmt, wie bereits gesagt wurde, mit den Worten γένος
ἐκλεκτόν, λαὸς εἰς περιποίησιν, ὅπως τὰς ἀρετὰς ἐξαγγείλητε κτλ. deutlich
Bezug auf den Gottesspruch Jes 43,20 f. LXX, in dem es heißt: „Ich habe in
der Wüste Wasser gegeben […], um mein auserwähltes Geschlecht zu tränken,
mein Volk, das ich mir zum Eigentum erworben habe, daß es meine Heilstaten
erzähle“ ([…] ποτίσαι τὸ γένος μου τὸ ἐκλεκτόν, λαόν μου, ὃν περιεποιησάμην
τὰς ἀρετάς μου διηγεῖσθαι). Wie die hebräische Vorlage,29 so spricht auch der
griechische Text von dem „erzählenden Lob“ des Volkes Gottes, das Rettung aus
großer Not erfahren hat.30 Dieses dem Volk gebotene „Erzählen“ (διηγεῖσθαι)
der Heilstaten Gottes31 geschieht, wie Karl Elliger bemerkt, in einer ganz be-
stimmten hymnischen Form: in einem Lied, das im Hebräischen tᵉhillā – d. h.
26
Als Beispiel sei J. A. Bengel, Gnomon Novi Testamenti (³1773), hg. v. P. Steudel, Stutt-
gart ⁸1891, 976 zitiert: ἐξ in ἐξαγγείλητε innuit multorum ignorantiam, quibus fideles debent
virtutes Dei praedicare („ἐξ in ἐξαγγείλητε weist auf die Unwissenheit der Vielen hin, denen
die Gläubigen die Tugenden Gottes verkündigen sollen“).
27
S. etwa K. H. Schelkle, Die Petrusbriefe. Der Judasbrief (HThK XIII/2), Freiburg –
Basel – Wien ²1964, 65; W. Schrage, Der Erste Petrusbrief (in: NTD 10), Göttingen ¹(¹¹)1973,
84; L. Goppelt, Der Erste Petrusbrief (KEK 12/1), Göttingen ¹(⁸)1978, 154; N. Brox, Der
Erste Petrusbrief (EKK XXI), Zürich – Einsiedeln – Köln bzw. Neukirchen-Vluyn 1979, 103;
R. Feldmeier, Der erste Brief des Petrus (ThHK 15/I), Leipzig 2005, 94. Mit besonderer
Emphase hat E. Käsemann, Amt und Gemeinde im Neuen Testament, in: Ders., Exegetische
Versuche und Besinnungen I, Göttingen ²1960, 109–134: 123 die Deutung auf das Amt der Ver-
kündigung vertreten, indem er zu 1 Petr 2,5–10 und hier insbesondere zu τὰς ἀρετὰς ἐξαγγέλλειν
V. 9 bemerkt: „Ein Vorgang heiligen Rechts bildet also die Antwort des Menschen auf göttliche
Manifestation, und dieser Vorgang ist officium im strengsten Sinne. Das besagt, daß die Stelle
des 1.Petr. wirklich von amtlichem Tun spricht und sprechen will. Wo man die Machttaten
des Christus proklamiert, befindet man sich in konkretem Gegenüber zur Welt, und zwar in
offizieller Mission. Man treibt das ministerium verbi divini, die διακονία τῆς καταλλαγῆς von
2. Kor 5,18. Man treibt es jure divino: Es ist jedem Christen übertragen und geboten, wenn er
nicht aufhören soll, ein Christ zu sein.“
28
Eine ältere von mir angefertigte Zusammenstellung s. bei Führer, Reformation ist Um-
kehr (s. Anm. 5), 85 f.
29 In ihr lautet der Schluß: tᵉhillātî jᵉsappērû „meinen Ruhm werden sie erzählen“ (V. 21b).
Das hebräische Verbum spr pi., das dem griechischen διηγεῖσθαι zugrunde liegt, hat neben
„erzählen“ auch die Bedeutungen „kundtun“ und „verkünden“; s. dazu unten bei Anm. 36
sowie die Anm. 37.
30
C. Westermann, Das Buch Jesaja. Kapitel 40–66 (ATD 19), Göttingen 1966, 106. We-
stermann spricht ebd. vom „Lob der Erretteten“.
31 Vgl. zum „Erzählen“ (διηγεῖσθαι) der Wundertaten Gottes Ψ 9,2; 25,7; 104,2; 144,5. Zu
διηγεῖσθαι s. ferner Ψ 21,23; 87,12; 144,6; Sir 17,10 (vgl. auch ἐκδιηγεῖσθαι Ψ 117,17).
Das Predigtamt der Kirche und das Priestertum aller Gläubigen 221
„Lobpreis“ oder „Lobgesang“ – genannt wird.32 Wenn nun der Satz 1 Petr 2,9
einem Schriftwort verpflichtet ist, in dem das Reden von den Heilstaten Gottes
den Lobpreis des erlösten Volkes Gottes meint, dann legt das die Frage nahe, ob
nicht auch der neutestamentliche Satz in eben diesem Sinn verstanden sein will.
2. Im Unterschied zu Jes 43,21 LXX steht in 1 Petr 2,9 nicht das Verbum
διηγεῖσθαι „erzählen“, sondern das schon erwähnte Verbum ἐξαγγέλλειν,33 das
im Neuen Testament nur an dieser einen Stelle vorkommt.34 Der Verfasser
des Briefes hat das Wort dem Septuaginta-Psalter entnommen, in dem es in
mehreren Psalmen die Bedeutung „kundtun“ / „verkünden“ hat35 und – dem Ver-
bum spr pi. des hebräischen Textes entsprechend36 – den hymnischen Lobpreis
Gottes bezeichnet.37 So kann von denen, die Gott aus ihrem Verderben errettet
hat, gesagt werden: θυσάτωσαν θυσίαν αἰνέσεως καὶ ἐξαγγειλάτωσαν τὰ ἔργα
αὐτοῦ ἐν ἀγαλλιάσει „Sie sollen [ihm] ein Lobopfer darbringen und seine Taten
mit Jubel verkünden“ (Ψ 106,22). Das lobpreisende „Verkünden“, das in der
Regel in der versammelten Gemeinde geschieht,38 ist dabei in den einschlägigen
„Das Erzählen von Jahwes Ruhm“ geschieht „in Form einer […] tᵉhillā ,Lobpreis, Hymnus‘
genannten Liedgattung.“ Vgl. P. Volz, Jesaja II (KAT 9), Leipzig 1932, 44 z.St.: Israel erfährt
die Wunder Gottes, „damit Jahwe eine ihn preisende Gemeinde auf der Erde habe“. B. Duhm,
Das Buch Jesaja (HK III/1), Göttingen ⁴1922 = ⁵1968, 327 legt „meinen Ruhm erzählen“ durch
„Psalmen singen“ aus.
33 Zu dieser Abweichung will beachtet sein, daß auch sonst in 1 Petr 2,6–10 der Septuaginta-
den Qumrantexten „ein hymnisch-preisendes Verkünden der Heilstaten und der Größe Gottes“
(J. Conrad, Art. sāpar, in: ThWAT V [1986] 910–921: 920). S. dazu etwa 1QH 9,30.33; 11,23;
19,6.24 (alte Zählung: 1,30.33; 3,23; 11,6.24); 4Q511 Frgm. 63 II 2 f.
37
Zum Lobpreis Gottes sind auch weitere Aussagen der LXX-Psalmen zu vergleichen, in
denen für „verkünden“ andere Verben gebraucht werden: ἀναγγέλλειν (Ψ 29,10; 50,17; 63,10;
91,3; 95,3; 101,22), ἀπαγγέλλειν (Ψ 70,17 f.; 77,4; 88,2; 104,1; 144,4) und εὐαγγελίζεσθαι (Ψ
39,10; 95,2 [das Verb heißt hier nicht „predigen“!]). Außerhalb der Psalmen s. in LXX zu
ἀναγγέλλειν auch Jes 12,4 f. und 42,12 (δώσουσιν τῷ θεῷ δόξαν, τὰς ἀρετὰς αὐτοῦ ἐν ταῖς
νήσοις ἀναγγελοῦσιν) sowie zu ἀναγγέλλειν und ἀπαγγέλλειν nebeneinander Jes 48,20. An
einigen der genannten Stellen ist das griechische Verbum Wiedergabe des hebräischen ngd
hif. = „verkünden“, für das zum Vergleich 11Q5 XIX 8 f. zitiert sei: „Es schrie meine Seele
danach, deinen Namen zu loben (hll pi.), zu preisen (jdh hif.) mit Jubel deine Gnadenerweise,
zu verkünden (ngd hif.) deine Treue. Für deinen Lobpreis (thlh) gibt es kein Erforschen (d. h.:
keine Grenze).“
38 Vgl. H.-J. Hermisson, Sprache und Ritus im altisraelitischen Kult. Zur „Spiritualisie-
rung“ der Kultbegriffe im Alten Testament (WMANT 19), Neukirchen-Vluyn 1965, 36. Zu
den in Anm. 35 genannten Psalmen, in denen die Septuaginta das den Lobpreis bezeichnende
Verbum spr pi. des hebräischen Textes mit ἐξαγγέλλειν wiedergibt, s. die knappen Hinweise
bei H.-J. Kraus, Psalmen I: Psalmen 1–59 (BKAT XV/1), Neukirchen-Vluyn ⁶1989, 223 (zu
9,14). 463 f. (zu 40,10 f.); Ders., Psalmen II. Psalmen 60–150 (BKAT XV/2), ebd. ⁶1989, 653 (zu
71[70],15). 673 (zu 73[72],28). 914 (zu 107[106],22). Das Forum, vor dem der Lobpreis laut wird,
222 Das Predigtamt der Kirche und das Priestertum aller Gläubigen
kann ausgeweitet werden: „unter den Völkern“ (Ps 9,12; 96[95],3; 105[104],1; Jes 12,4), „auf
den Inseln“ (Jes 42,12), „bis ans Ende der Erde“ (Jes 48,20); „auf der ganzen Erde“ (Jes 12,5).
39 Dem Sprachgebrauch der Psalmen ist Philo verpflichtet, wenn er mit dem Verbum
ἐξαγγέλλειν die Darstellung der Werke Gottes im dankbaren Lobpreis des Schöpfers bezeichnet
(Plant 128 im Kontext 126–131) oder in hymnischer Terminologie vom Besingen der „Vorzüge“
(ἀρεταί) Gottes spricht (Somn I 256).
40
Mir ist in den griechischen Schriften des antiken Judentums und des frühen Christentums
kein einziger Beleg dafür bekannt, daß eine Wendung wie ἐξαγγέλλειν τὰς ἀρετὰς τοῦ θεοῦ
die Verkündigung des Wortes Gottes oder überhaupt so etwas wie den Akt des Predigens
bezeichnet.
41
In 1 Petr 4,11a beziehen sich εἴ τις λαλεῖ und εἴ τις διακονεῖ auf zwei Ämter; vgl. Schelkle,
Die Petrusbriefe. Der Judasbrief (s. Anm. 25), 119 f.; Schrage, Der Erste Petrusbrief (s.
Anm. 27), 173; H. Windisch, Die Katholischen Briefe (HNT 15), Tübingen ³1951, 76; Brox,
Der Erste Petrusbrief (s. Anm. 27), 207.
42 Zu diesen Verben gehört m. E. nicht ἀναγγέλλειν 1 Petr 1,12. Bezeichnung für die Ver-
kündigung ist in V. 12 ausschließlich εὐαγγελίζεσθαι, während ἀναγγέλλειν hier die allgemeine
Bedeutung „berichten“, „kundtun“, „mitteilen“ hat.
43 Goppelt, Der Erste Petrusbrief (s. Anm. 27), 154 Anm. 70 bemerkt: „Für LXX διηγεῖσθαι
wird ἐξαγγέλλειν gesetzt, das griechische Leser leichter als ,verkündigen‘ verstehen können.“
Von der Grundbedeutung her bringt in der Tat διηγεῖσθαι die Nuance der erzählenden oder
beschreibenden Darstellung sowie der Erklärung zum Ausdruck („erzählen“, „vortragen“, „be-
schreiben“, „schildern“, „erklären“), ἐξαγγέλλειν hingegen die Nuance der Kundgabe und Be-
kanntmachung – u. a. auch von Dingen, die man sonst nicht wissen kann („verkünden“, „Kunde
bringen“, „bekannt machen“, „berichten“). S. zu ἐξαγγέλλειν in der Bedeutung „kundtun“ z. B.
TestLev 2,10 (hier parallel zu κηρύσσειν „Kunde bringen“); Ψ 55,9; 118,26; Sir 18,4; Philo, Migr
73; [Mk] kurzer unechter Schluß. Der allgemeine lexikalische Befund vermag jedoch nicht den
Befund zu relativieren, daß die Verwendung von ἐξαγγέλλειν in 1 Petr 2,9 einem spezifischen
Sprachgebrauch des Septuaginta-Psalters verpflichtet ist (s. o. bei den Anmerkungen 35–39).
Das Predigtamt der Kirche und das Priestertum aller Gläubigen 223
Berufung ein, um sie [die Leser] dazu anzuspornen, Gott die Ehre zu geben. Der
Hauptgedanke aber ist der, daß Gott uns unermeßlicher Wohltaten gewürdigt hat
und [uns] fortwährend [durch sie] geleitet, damit durch uns sein Ruhm verherr-
licht werde“). Dem Hinweis auf Calvin seien einige weitere Zeugnisse aus der
Auslegungsgeschichte hinzugefügt. Vor allem ältere Lexika geben unter aus-
drücklichem Hinweis auf den alttestamentlichen Hintergrund für ἐξαγγέλλειν in
1 Petr 2,9 als Bedeutung an: celebro („preisen“, „verherrlichen“)52, laudando vel
profitendo notum facio, praedico53 („to make known by praising or proclaiming,
to celebrate“54), laudo, celebro, praedico55. Was Kommentare anlangt, so über-
setzt Johann Salomo Semler: ut longe et late propagetis gloriam eius, und er
bemerkt in der Anmerkung zu ἐξαγγέλλειν: celebrare, ipso vestro statu tam
perfecto.56 Die Auslegung Johann Georg Rosenmüllers lautet: Sacerdotum est
laudes summi Dei celebrare. Hoc multo magis facere debent Christiani, quorum
dignitas maior est illa Sacerdotum dignitate.57 Auch Hans Windisch dürfte an
den Lobpreis Gottes denken, wenn er zu τὰς ἀρετὰς ἐξαγγέλλειν auf Philo, De
somniis I 256 verweist.58
Als Ergebnis unserer Überlegungen kann nunmehr festgehalten werden: Wie
der Wortlaut von 1 Petr 2,9 lehrt und der Blick auf den Kontext bestätigt, geht
es in diesem Vers nicht um die Verkündigung des Evangeliums, sondern um die
hymnisch-lobpreisende Proklamation eben jener Heilstaten Gottes, von denen
das Evangelium Zeugnis gibt.59 Der Verfasser des Ersten Petrusbriefes sieht so-
Exegetica XX), Genf 2009, 66. Zu Calvins Exegese von 1 Petr 2,9 s. ferner auch Institutio (1536)
IV (OS I 158 f.); V (OS I 210); Institutio (1559) II 7,1; III 13,2; IV 18,17. 19,25 (OS III 327, IV
217, V 432.459).
52
H. Stephanus, Thesaurus Graecae Linguae, hg. v. C. B. Hase / W. Dindorf / L. Dindorf,
Vol. III, Paris 1835, 1204 f.: 1204; Chr.A. Wahl, Clavis Novi Testamenti philologica, Leipzig
³1843, 178a.
53
C. L. W. Grimm, Lexicon graeco-latinum in libros Novi Testamenti, Gießen ⁴1888, 153b;
praedicare steht hier in der Bedeutung „rühmen, preisen“ (s. sogleich die englische Überset-
zung).
54
J. H. Thayer, A Greek-English Lexicon of the New Testament. Being Grimm’s Wilke’s
Clavis Novi Testamenti translated revised and enlarged, Edinburgh ⁴1901 = 1961, 220b.
55
J. F. Schleusner, Novum Lexicon Graeco-Latinum in Novum Testamentum I, Leipzig
⁴1819, 842 s. v. 2 (praedicare = „rühmen, preisen“). In der Sache ebenso C. G. Bretschneider,
Lexicon manuale Graeco-Latinum in libros Novi Testamenti, Leipzig ³1840, 145a s. v. 2.
56 J. S. Semler, Paraphrasis in Epistolam I. Petri, Halle 1783, 102 mit Anm. 80.
57
J. G. Rosenmüller, Scholia in Novum Testamentum. Tomus V, Nürnberg ⁶1831, 449.
Für das Zitat ergibt sich unter Beachtung seines Kontexts etwa die folgende Übersetzung: „Der
Priester Aufgabe ist es, die hervorragenden Eigenschaften des höchsten Gottes mit Lobpreis zu
verherrlichen. Das sollen bei weitem mehr die Christen tun, deren Würde(stellung) größer ist
als jene Würde(stellung) der Priester.“
58 Windisch, Die Katholischen Briefe (s. Anm. 41), 61. Zu Philo, Somn I 256 s. o. Anm. 39.
59
V. Gäckle, Allgemeines Priestertum. Zur Metaphorisierung des Priestertitels im Frühju-
dentum und Neuen Testament (WUNT 331), Tübingen 2014, 448–451, besonders 449 f. deutet
1 Petr 2,9 zutreffend auf das Gotteslob der Gemeinde. Er relativiert diese seine Erkenntnis
allerdings ein wenig, wenn er bemerkt: „Man mag den missionarischen Sinn des nach außen
Das Predigtamt der Kirche und das Priestertum aller Gläubigen 225
IV
gerichteten ,Weitersagens‘ in dieser Formulierung (sc. ὅπως τὰς ἀρετὰς ἐξαγγείλητε κτλ.) zwar
mithören können, aber der Akzent liegt auf dem in kultmetaphorischer Sprache ausgedrückten,
nach oben gerichteten Gotteslob der Gemeinde“ (ebd., 450). Seine sehr vorsichtige Konzession
begründet Gäckle in Anm. 267 mit dem Hinweis auf den profangriechischen Gebrauch von
ἐξαγγέλλειν, wie ihn z. B. J. Schniewind, Art. ἀγγελία κτλ., in: ThWNT I (1933 = 1957) 56–71:
68 beschreibt. Zu Schniewinds Darlegungen ist jedoch zweierlei zu beachten: In Zeile 4 notiert
er zu ὅπως τὰς ἀρετὰς ἐξαγγείλητε κτλ.: „Das ist Stil der Aretalogie“ – dazu ist zu bedenken,
daß nach der Sarapis-Aretalogie des Maiistas die ἀρεταί des Gottes besungen werden (s. o.
Anm. 22). In Zeile 26 heißt es: „In Septuaginta steht ἐξαγγέλλειν vom kultischen Verkünden“ –
das aber geschieht, wie wir oben gesehen haben, im Lobpreis Gottes.
60
Von der Wortverkündigung ist im Ersten Petrusbrief an den folgenden Stellen die Rede:
1,12; 1,23–25; 4,11a; 5,1–4. Zu 4,11a s. o. Anm. 41, und zu 5,1–4 verweise ich auf Hofius,
Gemeindeleitung und Kirchenleitung nach dem Zeugnis des Neuen Testaments (s. Anm. 9),
227–229. – Bei der in 1 Petr 3,15 von den Briefempfängern geforderten ἀπολογία παντὶ τῷ
αἰτοῦντι ὑμᾶς λόγον περὶ τῆς ἐν ὑμῖν ἐλπίδος geht es um das persönliche Zeugnis von Christus
und dem in ihm beschlossenen Heil, nicht dagegen um Verkündigung.
61 In eben diesem Sinn bestimmt Calvin das Priestertum aller Glaubenden: Christianae
religionis Institutio (1536) II (OS I 82); IV (OS I 158 f.); V (OS I 210); Institutio Christianae re-
ligionis (1559) II 7,1. 15,6; III 13,2; IV 18,17. 19,25.28 (OS III 327.480 f., IV 217, V 432.459.463).
62
Dieser wichtige eschatologische Aspekt, der oben bei Anm. 7 bzw. bei Anm. 13 und 14
zum Hebräerbrief und zur Johannesoffenbarung erwähnt wurde, darf ebenfalls für den Ersten
Petrusbrief vorausgesetzt werden; s. dazu 1 Petr 1,3–12; 1,21; 2,6 f.; 3,15.
226 Das Predigtamt der Kirche und das Priestertum aller Gläubigen
63
Dem entspricht das Amtsverständnis der reformierten Kirchen der Reformationszeit. „Das
allgemeine Priestertum hat keinen Platz in Calvins positiver Amtsdarstellung“ – bemerkt zu-
treffend H. Fagerberg, Art. Amt / Ämter / Amtsverständnis VI. Reformationszeit, in: TRE 2
(1978) 552–574: 569,9 f. Für die reformierten Bekenntnisschriften zitiere ich J.-J. von Allmen,
Le saint ministère selon la conviction et la volonté des Réformés du XVIᵉ siècle, Neuchâtel
1968, 60: „Il est très typique que jamais les écrits symboliques réformés ne citent les textes sur
la sacrificature royale du peuple de Dieu (Ex. 19.6 et ses citations dans 1 Pi. 2.5 et 9; Apoc. 1.6;
5.10 et 20.6) pour y voir le fondement ou la justification des ministères dans l’Eglise.“
64 S.o. Anm. 9 und Anm. 60.
65
S. dazu meine folgenden Arbeiten: Gemeindeleitung und Kirchenleitung nach dem
Zeugnis des Neuen Testaments (s. Anm. 9); Die Ordination zum Amt der Kirche und die
apostolische Sukzession nach dem Zeugnis der Pastoralbriefe, ZThK 107 (2010) 261–284 (in
dem vorliegenden Band: 193–213); Das kirchliche Amt der Verkündigung bei Paulus und in
den Deuteropaulinen, in: W. Eisele / Chr. Schaefer / H.-U. Weidemann (Hg.), Aneignung durch
Transformation. Beiträge zur Analyse von Überlieferungsprozessen im frühen Christentum.
FS Michael Theobald (HBS 74), Freiburg – Basel – Wien 2013, 339–357 (in dem vorliegenden
Band: 177–192).
66
So sehr schön M. Theobald, Mit den Augen des Herzens sehen. Der Epheserbrief als
Leitfaden für Spiritualität und Kirche, Würzburg 2000, 131 zu Eph 4,11.
Das Predigtamt der Kirche und das Priestertum aller Gläubigen 227
daß der Dienst am Wort Gottes67 sowohl in der notwendigen wie auch in der
sachgemäßen, d. h. dem Evangelium entsprechenden Weise wahrgenommen
wird.68
Das Verhältnis von Amt der Verkündigung und Priestertum aller Glaubenden,
dem unsere Überlegungen gewidmet sind, ist in der Reformationszeit in einer
der reformierten Bekenntnisschriften ausdrücklich thematisiert worden. Es
handelt sich um das Zweite Helvetische Bekenntnis (1566), dessen Verfasser,
der Zürcher Reformator Heinrich Bullinger, bereits in seinem Kommentar zum
Ersten Petrusbrief (1534) unter dem „Verkünden der Heilstaten Gottes“ von 1 Petr
2,9 zutreffend das Gotteslob der Gemeinde Jesu Christi verstanden hatte.69 Der
18. Artikel des Bekenntnisses, in dem das kirchliche Amt eine sowohl ausführ-
liche wie auch in die Tiefe gehende Behandlung erfahren hat,70 legt zunächst in
sorgfältigen Erwägungen dar, daß das Amt eine Setzung Gottes selbst und nicht
eine von Menschen angeordnete Institution ist. Im Kontext der Entfaltung dieser
Aussage unterscheidet das Bekenntnis dann ausdrücklich zwischen dem „Prie-
stertum“ (sacerdotium), an dem alle Glaubenden Anteil haben, und dem „Amt“
(ministerium), mit dem nur die zur öffentlichen Verkündigung des Wortes Gottes
Berufenen und Ordinierten beauftragt sind. Die entscheidenden Sätze lauten:
„Die Apostel Christi nennen in der Tat alle, die an Christus glauben, Priester,
dies aber nicht in Hinsicht auf ein Amt, sondern weil wir, da wir Glaubenden
alle zu Königen und Priestern gemacht sind, Gott geistliche Opfer darbringen
können. Gänzlich verschieden voneinander sind also das Priestertum und das
Amt. Jenes nämlich ist allen Christen gemeinsam, wie wir soeben gesagt haben,
67 Daß dieser immer Dienst an Wort und Sakrament ist, das zu sagen ist vielleicht nicht
überflüssig.
68
In diesem Sinn kann mit These IV der Theologischen Erklärung von Barmen (1934) von
der „Ausübung des der ganzen Gemeinde anvertrauten und befohlenen Dienstes“ gesprochen
werden.
69
H. Bullinger, Kommentare zu den neutestamentlichen Briefen. Hebräerbrief – Katho-
lische Briefe (Werke III 9), hg. v. L. Baschera, Zürich 2019, 223,14 f.: Certe annunciandi verbo
et prophetae et apostoli utuntur pro laudandi et gratias agendi affectu. Id frequentissimum
est in Psalmis […] („Zweifellos verwenden sowohl die Propheten wie auch die Apostel das
Wort ‚verkünden‘ als Ausdruck für ‚loben‘ und ‚danksagen‘. Das geschieht sehr häufig in den
Psalmen […]“). Dazu am Rand: ‚Annunciare‘ pro ‚celebrare‘ („‚verkünden‘ für ‚preisen‘“).
70 Confessio Helvetica posterior XVIII: Die Bekenntnisschriften der reformierten Kirche,
dieses dagegen nicht.“71 Das Bekenntnis beschreibt mit den zitierten Sätzen
nicht nur das Faktum, daß das Amt der Verkündigung in der Zürcher Kirche
durch eigens dazu berufene Personen ausgeübt wird, sondern es formuliert eine
grundsätzliche theologische Aussage. Nach meinem Urteil entspricht diese dem
Zeugnis des Neuen Testaments.
71 Der von mir übersetzte lateinische Text (Die Bekenntnisschriften der reformierten Kirche,
Die christliche Kirche bekennt in ihrem Credo den Glauben an Jesus Christus
als den „Sohn Gottes“ und ihren „Herrn“. Dieses Bekenntnis bezieht sich dabei
nicht auf eine mythische Gestalt, sondern auf eine geschichtliche Person – näm-
lich auf den Menschen Jesus von Nazareth, der zu Anfang unserer Zeitrechnung
in Palästina lebte und unter Pontius Pilatus vor den Toren Jerusalems gekreuzigt
wurde. Die Frage nach dem irdischen Jesus kann deshalb für die Kirche und so
auch für die Theologie prinzipiell nicht belanglos sein; sie ist im Gegenteil von
wesentlicher und für den Glauben grundlegender Bedeutung. Daß damit keines-
wegs die Frage nach dem „historischen Jesus“ gefordert ist, es sich bei dieser
vielmehr um eine höchst fragwürdige Sache handelt, das soll in den folgenden
Überlegungen aufgezeigt und begründet werden.1 Dazu bedarf es zunächst einer
genauen Bestimmung der relevanten Begriffe.
1
Die Überlegungen waren Gegenstand des Semestereröffnungsvortrags, der am 11. 10. 2 010
an der Theologischen Fakultät der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald gehalten wur-
de. – Aus der Fülle der Literatur nenne ich nur einige Arbeiten, die mir – sei es zu Zustimmung,
sei es zu Widerspruch Anlaß gebend – in Sonderheit anregend und hilfreich waren: K. Barth,
KD I/1, 419–470 (bes. 422–427). I/2, 145–187. IV/1, 174–178; R. Bultmann, Das Verhältnis
der urchristlichen Christusbotschaft zum historischen Jesus, in: Ders., Exegetica. Aufsätze
zur Erforschung des Neuen Testaments, hg. v. E. Dinkler, Tübingen 1967, 445–469 (= SHAW.
PH 1960 / 3, Heidelberg ⁵1978); J. Jeremias, Das Problem des historischen Jesus (CwH 32),
Stuttgart 1960 = ⁶1969 (entspricht: Der gegenwärtige Stand der Debatte um das Problem des
historischen Jesus, in: H. Ristow / K. Matthiae [Hg.], Der historische Jesus und der kerygmati-
sche Christus, Berlin 1961, 12–25); E. Jüngel, Paulus und Jesus. Eine Untersuchung zur Präzi-
sierung der Frage nach dem Ursprung der Christologie (HUTh 2), Tübingen ⁵1979, bes. 71–86;
Ders., Zur dogmatischen Bedeutung der Frage nach dem historischen Jesus, in: Ders., Wertlose
Wahrheit. Zur Identität und Relevanz des christlichen Glaubens. Theologische Erörterungen
III (BEvTh 107), München 1990, 214–242; M. Kähler, Der sogenannte historische Jesus und
der geschichtliche, biblische Christus, Leipzig 1892 (Neudruck zusammen mit weiteren Texten
Kählers in: Ders., Der sogenannte historische Jesus und der geschichtliche, biblische Christus.
Neu hg. v. E. Wolf [TB 2], München ²1956); E. Käsemann, Das Problem des historischen
Jesus, in: Ders., Exegetische Versuche und Besinnungen I, Göttingen ²1960, 187–214; Ders.,
Sackgassen im Streit um den historischen Jesus, in: Ders., Exegetische Versuche und Be-
sinnungen II, Göttingen 1964, 31–68; R. Kereszty, The Pre-Existence and Oneness of Christ,
AEcR 167 (1973) 630–642; W. Kreck, Der historische Jesus und die Wirklichkeit Jesu Christi,
KidZ 18 (1963) 184–191; Ders., Die Frage nach dem historischen Jesus als dogmatisches Pro-
blem, in: Ders., Tradition und Verantwortung. Gesammelte Aufsätze, Neukirchen-Vluyn 1974,
78–98; W. Mostert, Bemerkungen zum Verständnis der altkirchlichen Christologie, ZThK
230 Die Frage nach dem „historischen Jesus“ als theologisches Problem
Der Ausdruck „der historische Jesus“ wird in der Forschung ganz überwie-
gend als ein Synonym zu den Begriffen „der irdische Jesus“ und „der vor-
österliche Jesus“ verwendet, und er meint dann wie diese den Menschen Jesus
von Nazareth in seiner irdisch-geschichtlichen Existenz. Demgegenüber scheint
es mir um der begrifflichen und sachlichen Klarheit willen geboten zu sein, zwi-
schen den Termini „irdischer Jesus“ bzw. „vorösterlicher Jesus“ einerseits und
„historischer Jesus“ andererseits präzise zu unterscheiden. Ich wähle deshalb für
meine Ausführungen die folgende Terminologie: Mit den Begriffen „der irdische
Jesus“ bzw. „der vorösterliche Jesus“ bezeichne ich den irdisch-geschichtlichen
Menschen Jesus von Nazareth, und dieser ist ebenfalls gemeint, wenn ich von
„Jesus“ oder von „Jesus von Nazareth“ spreche. Unter dem „historischen Jesus“
verstehe ich den irdisch-geschichtlichen Menschen Jesus von Nazareth, wie ihn
historische Forschung mittels der historisch-kritischen Methode zu rekonstru-
ieren sucht und rekonstruiert. Außerdem verwende ich noch den Terminus „der
apostolisch bezeugte Jesus“ und benenne mit ihm den irdisch-geschichtlichen
Jesus, wie er im Zeugnis der Apostel und von daher im Neuen Testament aus der
Perspektive des nachösterlichen Christusglaubens beschrieben wird.
Aus dem soeben Gesagten ergibt sich, daß die Frage nach dem „historischen
Jesus“ keineswegs einfach mit der Frage nach dem irdisch-geschichtlichen Jesus
von Nazareth identisch ist. Sie ist vielmehr eine spezielle, nämlich durch die
Wahl der historischen Perspektive bestimmte Gestalt dieser Frage. Eine weitere
Kennzeichnung kommt hinzu: Die Frage nach dem „historischen Jesus“ ist nicht
bloß die Frage nach dem, was man im einzelnen aufgrund historischer For-
schung über Jesus von Nazareth wissen kann, sondern sie ist das Bemühen um
ein durch solche Forschung zu gewinnendes Gesamtbild. Das heißt: Es geht bei
jener Frage darum, mit den Mitteln der historischen Wissenschaft den wirklichen
Menschen Jesus von Nazareth zu Gesicht zu bekommen und herauszufinden,
wer er in Wahrheit war.2 Die entsprechende Forschungsarbeit geschieht unter
der Prämisse, daß der Mensch Jesus von Nazareth in seiner geschichtlichen
Wirklichkeit durch die historisch-kritische Methode zu erkennen ist, ja daß
102 (2005) 73–92; D. Schellong, „Was sucht ihr den Lebendigen bei den Toten?“ Rück-
fragen zur Suche nach dem „historischen Jesus“, in: Einwürfe 6 (1990) 2–47; W. Schmithals,
Jesus Christus in der Verkündigung der Kirche. Aktuelle Beiträge zum notwendigen Streit um
Jesus, Neukirchen-Vluyn 1972, bes. 60–79.80–90. In Ergänzung zu den aufgelisteten Autoren
ist außerdem mit kräftiger Unterstreichung H. J. Iwand zu nennen, der sich in seinen Arbeiten
vielfältig zur Problematik der Frage nach dem „historischen Jesus“ geäußert hat und dem ich
in meiner Sicht wesentlich verpflichtet bin; s. dazu O. Hofius, Die Bedeutung Hans Joachim
Iwands für die Exegese des Neuen Testaments, in: Ders., Exegetische Studien (WUNT 223),
Tübingen 2008 (= Studienausgabe 2011), 282–296, bes. 290–293. – Für manche klärenden Ge-
spräche über die im Folgenden erörterte Problematik danke ich den Freunden Martin Bauspieß
und Hans-Christian Kammler.
2
Jüngel, Paulus und Jesus (s. Anm. 1), 83 formuliert präzise: „Es geht um das geschicht-
liche Phänomen Jesus von Nazareth, um Jesus Selbst, wie er war.“
Die Frage nach dem „historischen Jesus“ als theologisches Problem 231
er als ein historisches Phänomen nur durch sie erkannt werden kann.3 Die in
diesem Sinn unternommenen Rekonstruktionsversuche sind dabei weithin von
dem Interesse geleitet, das Verhältnis zwischen dem irdischen Jesus und dem
neutestamentlichen Christuszeugnis zu bestimmen. Das kann unter dem Vor-
zeichen einer kritischen Distanzierung von diesem Zeugnis geschehen, ebenso
aber auch in der Absicht, einen inneren sachlichen Konnex zwischen ihm und
Jesus selbst nachzuweisen.
II
Der Frage nach dem „historischen Jesus“, wie sie soeben knapp charakteri-
siert wurde, haben sich seit dem Ende der Leben-Jesu-Forschung nicht wenige
Neutestamentler mit großer Intensität gewidmet. Dabei sind unterschiedliche
Konzeptionen entwickelt worden, die sich unter anderem hinsichtlich der für
die Rekonstruktion maßgeblichen Kriterien wie auch hinsichtlich des heraus-
gearbeiteten Jesusbildes deutlich voneinander abheben.4 Im Blick auf alle diese
Konzeptionen ist nach meiner Überzeugung zu urteilen, daß die Frage nach dem
„historischen Jesus“ ein nicht geringes theologisches Problem darstellt. Seiner
Erörterung sei eine knappe Skizze der historischen Probleme vorausgeschickt,
weil auch diese für die theologische Urteilsbildung von einiger Relevanz sind.
Das entscheidende historische Problem liegt darin, daß der Versuch, auf dem
Weg historisch-kritischer Forschung zu ermitteln, wer Jesus von Nazareth wirk-
lich war, bereits angesichts der Quellenlage auf unüberwindliche Schwierigkei-
ten stößt. Als Quellen kommen nach meinem Urteil ausschließlich die Schriften
des Neuen Testaments und hier insbesondere – bei eindeutiger Präponderanz der
Synoptiker – die vier Evangelien in Frage, wozu ich sogleich anmerken muß,
daß ich die schriftliche Spruchquelle Q nicht als ein gesondert zu würdigendes
Dokument anzuerkennen vermag, weil ich von ihrer Existenz nicht überzeugt
bin.5 Die apokryphen „Evangelienüberlieferungen“ mit Einschluß des Thomas-
3
Vgl. Jüngel, ebd.
4
Einen knappen Überblick über profilierte Positionen bis hin zu neueren geschichtsherme-
neutisch orientierten Entwürfen bietet Chr. Landmesser, Der gegenwärtige Jesus. Moderne
Jesusbilder und die Christologie des Neuen Testaments, KuD 56 (2010) 96–120. Zur Position
R. Bultmanns, die in der Literatur nicht immer präzise beschrieben wird, verweise ich auf den
gewichtigen Aufsatz von M. Bauspiess, No quest for the historical Jesus? Leistungen und
Grenzen der Sicht Rudolf Bultmanns für die historische und theologische Frage nach Jesus, in:
U. H. J. Körtner u. a. (Hg.), Bultmann und Luther. Lutherrezeption in Exegese und Hermeneutik
Rudolf Bultmanns, Hannover 2010, 123–154.
5 Anders – und repräsentativ für viele Exegeten – Chr. Heil, nach dessen Urteil Q „zu den
wichtigsten Quellen für die Rückfrage nach Jesus“ zählt: P. Hoffmann / Chr. Heil, Die
Spruchquelle Q. Studienausgabe. Griechisch und Deutsch, Darmstadt bzw. Leuven 2002, 26. –
Die Existenz der Spruchquelle Q gilt weithin so sehr als über jeden Zweifel erhaben, daß sie
nicht nur rekonstruiert (s. etwa die soeben genannte Ausgabe), sondern mit dem Sigel Q als
232 Die Frage nach dem „historischen Jesus“ als theologisches Problem
evangeliums sind m. E. für die historische Frage unergiebig, und die außerchrist-
lichen Zeugnisse der Antike beruhen ausnahmslos auf christlichen Äußerungen
über Jesus, so daß sie keinen eigenen Quellenwert haben. Was nun die neutesta-
mentlichen Schriften anlangt, so gibt es durchaus gute Gründe, für bestimmte
in den Evangelien überlieferte Jesusworte die Authentizität und für bestimmte
in ihnen enthaltene Berichte über Jesus die Historizität anzunehmen. Die dabei
zu gewinnenden Ergebnisse liefern jedoch keine hinreichende Basis für das
Bemühen, von der in den Evangelien gebotenen Darstellung in detaillierter Form
oder auch nur in Grundzügen das angeblich „wahre“, d. h. historisch zutreffende
Bild des irdischen Jesus abzuheben. Denn was immer und wieviel immer die
historisch-kritische Arbeit über Jesus erkennen lassen mag – es sind und bleiben
doch Bruchstücke, und Bruchstücke aus der Geschichte, dem Wirken und dem
Reden eines Menschen erlauben kein begründetes Urteil über seine Person und
sein Selbstverständnis.
Der genannte Sachverhalt läßt sich an dem verbreiteten Versuch verdeutli-
chen, die Frage nach dem „historischen Jesus“ als Frage nach der Verkündigung
Jesu zu stellen und dazu die „als authentisch anzuerkennenden Worte Jesu“ zu
ermitteln.6 Die Problematik dieses Verfahrens zeigt sich bereits darin, daß die
Urteile über die angemessenen Echtheitskriterien in der Forschung weit di-
vergieren und die Entscheidung in dieser Sache immer auch von subjektiven
Voraussetzungen bestimmt ist. Sodann will bedacht sein, daß jeder Versuch,
die als authentisch anzuerkennenden Jesusworte zu ermitteln, in der Gefahr
steht, möglicherweise unverzichtbar Authentisches auszublenden und damit,
weil wesentliche Daten übersehen oder vernachlässigt werden, zu einer unzurei-
chenden oder sogar falschen Einordnung und Interpretation des als authentisch
angesehenen Materials zu gelangen. Periphäres wird unter Umständen für zen-
tral gehalten, während das wirklich Zentrale überhaupt nicht oder lediglich als
ein Randphänomen in den Blick kommt.7 Das Urteil etwa über die Authentizität
ein eigenständiges Werk zitiert und neuerdings sogar in Kommentarreihen neben den neutesta-
mentlichen Schriften der gesonderten Auslegung gewürdigt wird. Gleichwohl bleibt es dabei,
daß ihre Existenz lediglich eine Hypothese ist – ob eine gut begründete, darüber kann man
durchaus streiten. Die kritischen Einwände, die J. Jeremias, Neutestamentliche Theologie I:
Die Verkündigung Jesu, Gütersloh ⁴1988, 47 f. vorgetragen hat, sind längst nicht entkräftet.
Doch selbst wenn die Spruchquelle in ihrer rekonstruierten Gestalt tatsächlich existiert hätte,
ergäben sich im Blick auf sie die gleichen historischen Probleme, wie sie hinsichtlich der syn-
optischen Evangelien zu notieren sind.
6
Die zitierte Formulierung findet sich bei Jüngel, Paulus und Jesus (s. Anm. 1), 81.84;
vgl. ebd., 85: „das kritisch gesicherte Minimum an Jesusworten, dessen Authentie nicht gut
bezweifelt werden kann“.
7 Zur Verdeutlichung: Jüngel, ebd., 86 Anm. 6 beschränkt sich – der damit gegebenen
methodischen Problematik durchaus bewußt (s. ebd. Anm. 8) – „im Wesentlichen“ auf das von
R. Bultmann (Die Geschichte der synoptischen Tradition [FRLANT 29], Göttingen ³1957) „als
für wahrscheinlich echt anerkannte“ Überlieferungsgut. Sollte in den Evangelien im Sinne der
Forschungen meines Lehrers Joachim Jeremias entschieden mehr „echtes“ Überlieferungsgut
vorhanden sein, so ändert sich das Gesamtbild nicht unerheblich.
Die Frage nach dem „historischen Jesus“ als theologisches Problem 233
des Lösegeld-Wortes Mk 10,45 ist von ganz erheblicher Konsequenz für die
Frage nach dem Selbstverständnis Jesu, und es ist ebenso von einigem Gewicht
für die Entscheidung, ob die vielfach für unanfechtbar erachtete These, daß
erst im nachösterlichen Kerygma „aus dem Verkündiger […] der Verkündigte
geworden“ sei,8 wirklich haltbar ist.9 Zwei weitere Probleme will ich nur eben
andeuten. Zum einen: Worte, die mit höchst möglicher Wahrscheinlichkeit als
authentisch gelten können, sind dann entweder unverständlich oder zumindest
mehrdeutig, wenn man ihren historischen Kontext nicht kennt, wenn man also
nicht weiß, warum und wo, zu wem und in welcher Situation sie gesprochen
wurden. Über Mutmaßungen kommt die Forschung in diesem Fall nicht hinaus.
Zum andern: Kein Mensch – und folglich auch der Mensch Jesus von Nazareth
nicht – ist ausschließlich in seinen Worten zu erfassen. Das gilt erst recht und
verschärft, wenn nur eine zufällig erhaltene oder eine vom Exegeten allererst
durch kritische Arbeit geschaffene Auswahl von Worten die Grundlage der Re-
konstruktion bildet.
Ich breche die Problemanzeige ab und halte fest, daß für keine denkbare Ge-
stalt des „historischen Jesus“ mit hinreichenden Gründen der Anspruch erhoben
werden kann, daß mit ihr der irdische Jesus in seiner Wirklichkeit erfaßt sei. Jede
Rekonstruktion ist hier vielmehr in Wahrheit eine freihändige Konstruktion, die
einer tragfähigen Quellenbasis entbehrt und auf der Wahl von Kriterien beruht,
deren Angemessenheit keineswegs über jeden Zweifel erhaben ist.10
III
Wenden wir uns nunmehr der theologischen Problematik der Frage nach dem
„historischen Jesus“ zu, so ist diese damit gegeben, daß die Quellen, die der
Rückfrage als Grundlage dienen, von Jesus durchweg aus der Perspektive des
Christusglaubens sprechen und ihn damit als eine Person beschreiben, deren
adäquate Wahrnehmung durch die historisch-kritische Forschung a priori zu
bestreiten ist. Dieses Urteil soll jetzt erläutert werden, indem ich zunächst in
strenger Konzentration auf das Wesentliche das neutestamentliche Christuszeug-
8
R. Bultmann, Theologie des Neuen Testaments, Tübingen ⁴1961, 35.
9
S. etwa das Urteil von Jeremias, Neutestamentliche Theologie I (s. Anm. 5), 243: „Es ist
[…] nicht möglich, die Verkündigung Jesu auf die Ankündigung der Basileia zu beschränken.
Wußte er sich selbst als der Heilbringer, so heißt das, daß das Selbstzeugnis Bestandteil der von
ihm verkündigten Frohbotschaft war.“
10 Für den „historischen Jesus“ gilt mutatis mutandis, was F. Rosenzweig, Atheistische
Theologie, in: Ders., Kleinere Schriften, Berlin 1937, 278–290: 278 im Blick auf die im 18. Jahr-
hundert zu verzeichnenden Versuche, „das menschliche Leben Jesu als das Leben des großen
Lehrers und das Christentum als die Lehre dieses Lehrers darzustellen“, bemerkt hat: „Dar-
stellen hieß herstellen.“
234 Die Frage nach dem „historischen Jesus“ als theologisches Problem
nis kennzeichne und dem dann die der historischen Forschung allein mögliche
Wahrnehmung Jesu gegenüberstelle.
Für das neutestamentliche Christuszeugnis ist der Gedanke wesentlich, daß
das Persongeheimnis des irdischen Jesus – d. h. sein wahres Sein – dem mensch-
lichen Erkenntnisvermögen schlechterdings entzogen ist und ausschließlich auf-
grund göttlicher Offenbarung erkannt werden kann. Paulus legt das eingehend
in den theologisch höchst gewichtigen Ausführungen von 1 Kor 2,6–16 dar, und
er weist an anderen Stellen seiner Briefe darauf hin, daß die Christus-Offenba-
rung in grundlegender Weise den Aposteln Jesu Christi durch die Begegnung
mit dem auferstandenen Kyrios zuteil geworden ist11 und sich von daher dann
immer neu da ereignet, wo das den Aposteln anvertraute Evangelium verkündigt
wird, das Jesu Person und Werk zum Inhalt hat.12 Der Sicht des Paulus läßt
sich diejenige der vier Evangelisten an die Seite stellen, der zufolge Jesu Per-
songeheimnis nicht nur den Zeitgenossen,13 sondern gerade auch den Jüngern
vor Ostern verborgen war und erst den zu Aposteln berufenen Jüngern durch
die Selbsterschließung des auferstandenen Herrn bzw. durch das offenbarende
Wirken Gottes enthüllt worden ist.14 Paulus und die Evangelisten bringen mit
11 S. dazu 1 Kor 15,1–11 sowie ferner die paulinischen Selbstzeugnisse Gal 1,11 f.15 f.; 2 Kor
Verkündigung dann auch anderen gewährte Erkenntnis des gekreuzigten Jesus als ein Wunder,
das nicht geringer ist als das in Gen 1,3 bezeugte Wunder der Erschaffung des Lichtes am ersten
Schöpfungstag: „Gott, der da sprach: ‚Aus der Finsternis leuchte das Licht hervor!‘, – der hat
es in unseren Herzen Licht werden lassen, so daß leuchtend aufging die Erkenntnis der Herr-
lichkeit Gottes auf dem Angesicht Jesu Christi.“ Zur Begründung der Übersetzung sowie zur
Exegese des Satzes s. O. Hofius, Wort Gottes und Glaube bei Paulus, in: Ders., Paulusstudien
(WUNT 51), Tübingen ²1994, 148–174: 161–163.
13 Das wird durch Texte wie die folgenden signalisiert: Mk 6,1–6 par. Mt 13,53–58; Mk 6,14–
16 parr.; Mk 8,27 f. parr.; Lk 4,22 (nicht als positive Reaktion zu deuten!); Joh 6,42; 7,27.40–43.
14 Nach Markus ist, wie etwa durch Mk 9,9 f.; 16,6 f. angezeigt wird, das vorösterliche Un-
verständnis der Jünger (6,52; 8,17 f. u. ö.) erst durch die Begegnung mit dem Auferstandenen
überwunden worden, und darin zeigt sich, daß Jesus und die Geschichte Jesu grundsätzlich
allein im Licht seines Todes und seiner Auferstehung erkannt werden können. – Für Lukas sind
die Jünger Jesu nicht schon dadurch zu seinen „Zeugen“ geworden, daß sie vor Ostern seine
Begleiter waren, sondern allererst dadurch, daß sie „Zeugen seiner Auferstehung“ (Apg 1,22b)
wurden, indem der Auferstandene ihnen erschien, mit ihnen redete, ihnen sich selbst und seine
Predigt von der Gottesherrschaft erschloß und sie so vom Unverständnis zur wahren Erkennt-
nis seiner selbst führte (s. neben Lk 24 besonders Apg 1,1–8.21 f.; 2,32; 3,15; 10,39–41; 13,30 f.;
zum vorösterlichen Unverständnis s. Lk 9,45; 18,34). – Für das Johannesevangelium ist der
Gedanke bestimmend, daß den Jüngern Jesu erst durch die Begegnung mit dem Auferstandenen
das ihnen zuvor verborgene Persongeheimnis Jesu erschlossen wird und daß dann denen, die
ihr Zeugnis vernehmen, die gleiche Erkenntnis durch den Geistparakleten zuteil wird, den der
Auferstandene in der Einheit mit dem Vater sendet (s. dazu im einzelnen H.-Chr. Kammler,
Jesus Christus und der Geistparaklet, in: O. Hofius / H.-Chr. Kammler, Johannesstudien.
Untersuchungen zur Theologie des vierten Evangeliums [WUNT 88], Tübingen 1996, 87–190,
bes. 106–108.109–112.118 f.122–124.137–140.182 f.). – Matthäus läßt zwar auf der Erzählebene
seines Evangeliums den Jünger Petrus schon vor Ostern das ihm von Gott geoffenbarte wahre
Bekenntnis sprechen, daß Jesus „der Christus, der Sohn des lebendigen Gottes“ ist (Mt 16,16);
Die Frage nach dem „historischen Jesus“ als theologisches Problem 235
den angedeuteten Aussagen auf unterschiedliche Weise zur Sprache, daß die
Antwort auf die Frage nach Person und Werk des irdischen Jesus nirgends anders
als in dem Christuszeugnis der Apostel Jesu Christi zu finden ist, das sich der
Erkenntnis und Glauben wirkenden Selbstoffenbarung des auferstandenen Herrn
verdankt. Unverkennbar wird damit der Anspruch erhoben, daß das, was die apo-
stolischen Zeugen über Jesus sagen, nicht das Ergebnis menschlichen Denkens
und Deutens, sondern geoffenbarte göttliche Wahrheit ist.
Das apostolische Christuszeugnis bildet die Grundlage dessen, was die Schrif-
ten des Neuen Testaments und hier insbesondere auch die vier Evangelien über
Jesus sagen. Bei den Evangelien handelt es sich weder um Biographien noch
auch um eine bestimmte Form von Geschichtsschreibung, sondern um narratives
Christuszeugnis und somit um eine völlig neue und analogielose literarische
Gattung.15 Ihr Thema ist der irdische Jesus, wie er als der auferstandene Ge-
der nachösterliche Charakter der Erzählung Mt 16,13–20 ist jedoch unübersehbar, so daß deut-
lich wird: Der Evangelist behauptet nicht eine bereits vorösterliche Erkenntnis des Person-
geheimnisses Jesu, sondern er betont, daß einzig das dem Auferstehungszeugen Petrus von Gott
in den Mund gelegte Bekenntnis die Wahrheit über den irdischen Jesus zum Ausdruck bringt.
Daß Mt 16,16 ebensowenig wie Joh 6,69 (oder z. B. auch Joh 11,27) historisierend auf eine vor-
österliche Erkenntnis Jesu gedeutet sein will, zeigt sich darin, daß auf der Erzählebene bereits
zeitlich früher, nämlich in Mt 14,33 das wahre Bekenntnis aus dem Mund aller Jünger laut wird.
Beide Texte, Mt 14,33 wie Mt 16,16, sind im Licht von Mt 28,7.10 zu lesen. – Zur Frage einer
bereits vorösterlichen Erkenntnis Jesu vgl. Kähler, Der sogenannte historische Jesus und der
geschichtliche, biblische Christus. Neudruck (s. Anm. 1), 42–44. Der durch historisch-kriti-
sche Exegese erhobene Befund entzieht dem berühmten Urteil Schleiermachers in § 99 seiner
Glaubenslehre den Boden: „Die Jünger erkannten in ihm (sc. in Christus) den Sohn Gottes,
ohne etwas von seiner Auferstehung und Himmelfahrt zu ahnden“ (F. Schleiermacher, Der
christliche Glaube nach den Grundsätzen der evangelischen Kirche im Zusammenhange dar-
gestellt. Zweite umgearbeitete Ausgabe (1830/31), 7. Auflage hg. v. M. Redeker, Berlin 1960, II
82). H. J. Iwand, Predigt-Meditationen, Göttingen 1963, 497 Anm. 1 bemerkt zu Recht, daß in
den „geradezu programmatischen“ Sätzen des § 99 „der wirkliche dogmatische Hintergrund der
Historisierung des Lebens Jesu aufgedeckt“ ist.
15 Die Evangelien unterscheiden sich wesentlich von einer Biographie, denn sie beschreiben
nicht einen Menschen nach seinem individuellen Charakter, Ethos, Verhalten und Geschick,
nicht eine Persönlichkeit in ihrer unverwechselbaren menschlichen Originalität und Einmalig-
keit, Eindrücklichkeit und Vorbildlichkeit. Sie handeln vielmehr von einem Menschen, der in
seiner Person und in seinem Werk, mit seinem Weg und mit seinem Geschick schlechthin alle
anderen Menschen angeht und für sie alle heilsentscheidend ist. Die Evangelisten reden des-
halb von diesem Menschen als solche, die an ihn glauben, wie man nur an Gott glauben kann,
und sie schildern ihn selbst und seine Geschichte als die Erfüllung alttestamentlicher Heils-
verheißungen. – Die Evangelien unterscheiden sich auch wesentlich von einer Geschichtsdar-
stellung, die eine Person der Vergangenheit zu vergegenwärtigen sucht. Sie schildern ja einen
Menschen, der als der auferstandene und lebendige Herr geglaubt und dessen Geschichte als
eine solche begriffen wird, die für alle Menschen aller Zeiten und Orte geschehen ist und in der
deshalb ein jeder Leser bereits von Haus aus vorkommt, so daß für ihn in einem einzigartigen
Sinn gilt: tua res agitur. G. Bornkamm, Geschichte und Glaube im Neuen Testament. Ein
Beitrag zur Frage der „historischen“ Begründung theologischer Aussagen, in: Ders., Geschichte
und Glaube I. Gesammelte Aufsätze Band III (BEvTh 48), München 1968, 9–24: 18 formuliert
treffend: Das Entscheidende in der Darstellungsweise der Evangelien ist „die Erkenntnis, daß
Jesu Geschichte sich gerade nicht in ein isolierbares Damals und Dort einschließen läßt, wie
236 Die Frage nach dem „historischen Jesus“ als theologisches Problem
es notwendigerweise jede Historiographie tun muß“. „Auch wenn die Evangelien im Tempus
der Vergangenheit erzählen, ist diese Zeit für die Evangelien gerade nicht vergangen, sondern
gegenwärtig mächtig, Einbruch des Eschaton, Epiphanie Gottes und also eine Geschichte, die
die Grenzen von Einst und Jetzt durchbricht. Für den Historiker bleibt diese Grenze grund-
sätzlich immer geschlossen, auch wenn er die Nachwirkung einer Vergangenheit für Gegenwart
und Zukunft erkennt. Völlig anders ist dagegen für die Evangelien das Einst der Geschichte Jesu
nach der Gegenwart und Zukunft hin geöffnet.“ Die Evangelisten erzählen so, „daß die später
Hörenden in die Geschichte Jesu von vorneherein mit einbezogen werden“. – Die nicht mit
überzeugenden Argumenten zu bezweifelnde Analogielosigkeit der Evangelien korrespondiert
der sogleich zu bedenkenden Analogielosigkeit Jesu.
Die Frage nach dem „historischen Jesus“ als theologisches Problem 237
16 Der lateinische Ausdruck purus homo, der dem griechischen ψιλὸς ἄνθρωπος (z. B. Ori-
genes, Fragmenta in Joannem, Frgm. 33 [GCS 10, 508.23 f.]; Athanasius, Contra Arianos II
15 f. [PG 26, 177 B. 180 C]) entspricht, begegnet häufig in den Schriften Martin Luthers. So
heißt es in den Wochenpredigten über Joh 16–20 (1528/29) zu Joh 17,2: „Johannes solet mit
einfuren divinitatem Christi: sic agit de isto homine, das man greiffen kan, quod non sit purus
homo“ (WA 28, 89,7 f. [im deutschen Text ebd., 27–29: „diese wort […] leiden nicht, das er ein
lauter mensch sey“]). Weitere Belege: WA 3, 196,33. 319,23; 4, 27,21.27; 5, 614,9; 15, 465,33;
17 I, 72,13.32; 20, 326,17.20. 327,2. 355,5; 37, 573,24. Luther übernimmt den Ausdruck aus der
älteren theologischen Literatur, zu der ich mir Belege bei Augustin, Anselm von Canterbury,
Bonaventura, Thomas von Aquin und Riccoldus Florentinus notiert habe.
17
S. dazu die gewichtigen Ausführungen bei Barth, KD IV/1, 174–178.
18 J. Schniewind, Antwort an Rudolf Bultmann. Thesen zum Problem der Entmythologi-
sierung, in: H.-W. Bartsch (Hg.), Kerygma und Mythos. Ein theologisches Gespräch (ThF 1),
Hamburg-Bergstedt ⁴1960, 77–121: 108 (vgl. 80 f.); Ders., Das Evangelium nach Matthäus
(NTD 2), Göttingen ⁸1956, 15 f.27.188; Iwand, Predigt-Meditationen (s. Anm. 14), 472.567.645.
19
Der Ausdruck ὁ κύριος τῆς δόξης 1 Kor 2,8 ist eine Gottesprädikation; s. grHen 22,14;
27,3.5; äthHen 22,14; 25,3.7; 27,3.5; 36,4; 40,3; 63,2; 75,3; 83,8; koptApkEl 19,11.
238 Die Frage nach dem „historischen Jesus“ als theologisches Problem
als solcher der Spender des ewigen Lebens“ (1 Joh 5,20b)20. Daneben sei nur
noch darauf hingewiesen, daß nach der synoptischen Verklärungsgeschichte (Mk
9,2–8 parr.) und dem Prolog des Johannesevangeliums (Joh 1,14) Jesus als dem
Sohn Gottes die göttliche δόξα eignet und daß dem Logion Mt 11,27 par. Lk 10,22
sowie dem Wort Joh 1,18 zufolge niemand außer ihm, dem Sohn des Vaters, den
verborgenen Gott zu offenbaren vermag.21 Alle genannten Zeugnisse beziehen
sich nicht nur auf den erhöhten Christus, sondern auf den gekreuzigten und auf-
erweckten Herrn und mithin auch auf den irdischen Jesus, dessen wahres Sein
durch das Ostergeschehen offenbar geworden ist. Und alles, was die Zeugnisse
sagen, ist genau so gemeint, wie es gesagt ist. Das heißt: Die unterschiedlichen
Aussagen, die Jesus als die praesentia Dei in Person prädizieren, sind Seins-
Aussagen und nicht bloß Formulierungen, die seine einzigartige Beziehung zu
Gott oder seine besondere Funktion im Dienst Gottes zum Ausdruck bringen
sollen. Wo sie so verstanden werden, da ist dies eine moderne Umdeutung, die
in gar keiner Weise plausibel gemacht werden kann. Hätten die neutestamentli-
chen Autoren nämlich nur eine besondere Relation oder Funktion beschreiben
wollen, so hätte es für sie durchaus sprachliche Möglichkeiten gegeben, das in
unmißverständlicher Weise zu tun. Warum sie sich statt dessen einer Redeweise
bedient hätten, mit der sie in ihrer jüdischen Umwelt zwangsläufig den Vorwurf
der Blasphemie provozieren mußten,22 bleibt gänzlich unerfindlich. Daß es
sich bei den „hohen“ Aussagen über Jesu Person keineswegs um uneigentliche
Rede handelt, das zeigt sich aber vor allem daran, daß sie das Fundament
dessen bilden, was im Neuen Testament über Jesu Geschichte und Werk gesagt
wird.23 Denn was hier gesagt wird, das kann nicht von einem bloßen Menschen
20
Zu den Worten οὗτός ἐστιν ὁ ἀληθινὸς θεὸς καὶ ζωὴ αἰώνιος 1 Joh 5,20b ist sprachlich an-
zumerken, daß ζωὴ αἰώνιος durch die artikellose Anfügung als ein explizierendes Prädikat zu
ὁ ἀληθινὸς θεός ausgewiesen wird. Die Metonymie ζωὴ αἰώνιος (= „der Spender des ewigen
Lebens“), zu der Joh 11,25a zu vergleichen ist, bringt zum Ausdruck, daß Jesus nicht der Vermitt-
ler des ewigen Lebens ist, sondern daß dieses einzig „in ihm“ (V. 20aβ), d. h. in der Bindung an
seine Person empfangen wird. Daß der Satz V. 20b sich nur auf den in V. 20a erwähnten υἱὸς
τοῦ θεοῦ Jesus Christus beziehen kann, begründet ausführlich H.-Chr. Kammler, Christo
logie und Eschatologie. Joh 5,17–30 als Schlüsseltext johanneischer Theologie (WUNT 126),
Tübingen 2000, 78 f.
21
Des weiteren wären jene Texte zu beachten, die von Jesus sagen, was im Alten Testament
einzig und allein von dem Gott Israels gesagt wird. S. dazu etwa Mt 1,21b (Ps 130,8); Mt 8,8b
par. Lk 7,7b (Ps 107,20); Mk 1,40–42 parr. (2 Kön 5,7); Mk 4,35–41 parr. / Mk 6,45–52 par. Mt
14,22–33 (Ps 65,8; 89,10; Hi 9,8); Mk 13,31 parr. (Jes 40,8b); Lk 5,8b (Jes 6,5); Apg 4,12 (Jes
43,11; 45,21 f.; Hos 13,4).
22 S. dazu Joh 5,18; 10,33.36; 19,7. Diese Stellen spiegeln den Blasphemievorwurf wider,
der von seiten der Synagogengemeinde gegenüber dem Christuszeugnis der johanneischen
Gemeinde erhoben worden ist.
23
Das deutliche Kennzeichen dafür ist der Tatbestand, daß in allen vier Evangelien die
Darstellung der Jesusgeschichte unter dem Vorzeichen der solennen Eröffnungstexte steht,
die – von Ostern her! – sagen, wer der irdische Jesus ist. Diese Texte (Mk 1,2–13; Mt 1,1–4,16;
Lk 1,5–4,13; Joh 1,1–51) liefern den hermeneutischen Schlüssel für das angemessene Verständnis
Die Frage nach dem „historischen Jesus“ als theologisches Problem 239
gesagt werden, wie tief auch seine Relation zu Gott und wie einzigartig auch
seine Funktion im Dienst Gottes gedacht sein mag. Nach der Überzeugung der
neutestamentlichen Autoren ist die Person Jesus Christus, an die sie glauben,
„Präsenz Gottes selbst und nicht einer potenzierten Menschlichkeit oder eines
mindergöttlichen Gottwesens“.24
2. Dem Tatbestand, daß Jesus analogielose Person ist, entspricht nach dem
Zeugnis des Neuen Testaments die Analogielosigkeit seiner Geschichte. Ist
nämlich Jesus in Person die rettende Epiphanie Gottes, dann kann er prinzipiell
nicht als eine persona privata – als ein für sich existierender Mensch – ange-
sehen werden und sein Leben nicht als ein solches, das er für sich selbst gelebt
hat. Seine irdisch-geschichtliche Existenz ist vielmehr göttliche Zuwendung zu
den Menschen, und deshalb hat seine Geschichte ihre einzigartige Signatur in
dem „pro nobis“ – in dem „für uns Menschen und zu unserm Heil“ des Nizä-
nischen Glaubensbekenntnisses.25 Im Zeichen dieses „pro nobis“ stehen sowohl
die Geburt Jesu wie sein Tod am Kreuz; ja, sein ganzes irdisches Leben ist dem
neutestamentlichen Zeugnis zufolge durch das „für uns“ geprägt. Dem „pro
nobis“ korrespondiert dabei das δεῖ, von dem die Leidens- und Auferstehungs-
ankündigungen der Evangelien sprechen.26 Durch das göttliche „Muß“, von
dem hier die Rede ist, wird unmißverständlich angezeigt, daß es sich bei dem
Kreuzestod Jesu keineswegs um ein zufälliges, sondern im Gegenteil um ein
von Gott gewolltes und daher notwendiges Geschehen handelt.27 Das aber heißt:
dessen, was dann über den Weg Jesu, über sein Wirken und über seine Verkündigung berichtet
wird. Dies alles ist also im Licht des Persongeheimnisses Jesu gesehen – nicht umgekehrt.
Vgl. dazu die tiefgründigen Darlegungen bei Mostert, Bemerkungen zum Verständnis der
altkirchlichen Christologie (s. Anm. 1), 83–85.
24
Mostert, ebd., 87. Die zitierte Bestimmung bezieht sich bei Mostert auf die altkirchliche
Christologie, trifft aber ebenso bereits für das neutestamentliche Christuszeugnis zu. Gleiches
gilt, wenn Mostert, ebd., 88 bemerkt: „Die Person Jesus Christus, an die wir glauben, die wir
anschauen (ἐθεασάμεθα Joh 1,14), ist Gott selbst. Anders schaut der Glaube Jesus Christus gar
nicht an.“ In dem damit benannten Sachverhalt ist es begründet, daß nach neutestamentlichem
Zeugnis die Erkenntnis Jesu nicht in der Macht des Menschen steht. Wie Gott nur erkannt
werden kann, wenn er selbst sich zu erkennen gibt, so auch der Sohn Gottes nur durch die
Offenbarung Gottes.
25
Den unlöslichen Zusammenhang zwischen dem ὑπὲρ ἡμῶν von Gal 3,13 und der an-
gemessenen Bestimmung der Person Jesu hat M. Luther, In epistolam S. Pauli ad Galatas
Commentarius (1531 [1535]) z.St. mit Nachdruck betont: Non debemus […] fingere Christum
[…] privatam personam (WA 40 I, 447,17). – Zur Geschichte Jesu als Geschichte pro nobis
s. H. J. Iwand, Gesetz und Evangelium (Nachgelassene Werke 4), hg. v. W. Kreck, München
1964, 80–110; Ders., Christologie (Nachgelassene Werke. Neue Folge 2), hg. v. E. Lempp /
E. Thaidigsmann, Gütersloh 1999, 363–377; speziell zu Paulus: G. Eichholz, Die Theologie
des Paulus im Umriß, Neukirchen-Vluyn 1972, 188–202 (auch 202–213). Großartige ältere
Texte: M. Luther, Ein klein Unterricht, was man in den Evangeliis suchen und gewarten soll
(1522) (WA 10 I 1, 8–18); Berner Synodus (1532), cap. 7 (Reformierte Bekenntnisschriften 1/1,
Neukirchen-Vluyn 2002, 526,32–527,22).
26
Mk 8,31 par. Mt 16,21 / Lk 9,22; Lk 24,7 (vgl. 24,26); Joh 3,14; 12,34 (vgl. 20,9).
27
S. dazu neben den Leidens- und Auferstehungsankündigungen der Evangelien u. a. auch
240 Die Frage nach dem „historischen Jesus“ als theologisches Problem
Jesus „ist Mensch geworden, um zu sterben“,28 – und dies deshalb, weil sein
von der Auferstehung nicht zu trennender Tod das Heilsgeschehen ist, in dem
den vor Gott Verlorenen die Erlösung aus Sünde und Tod gewährt und so der
heilvolle Zugang zur Gemeinschaft mit dem lebendigen Gott eröffnet ist.29 Aus
der Erkenntnis, daß die Geschichte Jesu in dem „pro nobis“ ihre Signatur hat,
hat Paulus mit Grund die Folgerung gezogen, daß diese Geschichte diejenigen
einschließt, für die Jesus gestorben und auferstanden ist, daß sie also als seine
Geschichte bereits zugleich ihre Geschichte ist.30 Denkbar ist das für den Apostel
nur deshalb, weil er die Geschichte Jesu als eschatologische Gottesgeschichte
und damit als Überwindung der Todesgeschichte begreift.
3. Mit dem, was über die Analogielosigkeit Jesu und seiner Geschichte gesagt
wurde, hängt ganz unmittelbar zusammen, daß der Mensch Jesus von Nazareth
für die neutestamentlichen Zeugen keine Gestalt der Vergangenheit und seine
Geschichte für sie keine vergangene Geschichte ist. Von allen neutestamentli-
chen Autoren einschließlich der Verfasser der vier Evangelien gilt: Sprechen
sie von Jesus, so sprechen sie vom dem, der „gestern und heute derselbe“ ist
„und in Ewigkeit“ (Hebr 13,8).31 Damit erklären sie nicht nur, daß Jesus wie alle
Großen der Vergangenheit geschichtliche Wirkung hat und daß seine Worte in
der Geschichte weiterleben. Sie bekennen ihn vielmehr als den auferstandenen,
zur Rechten Gottes erhöhten und lebendigen Herrn, der als dieser in seiner Ge-
meinde gegenwärtig ist, die sein Wort im gepredigten Evangelium vernimmt, ihn
als den Kyrios anruft und seine Wiederkunft erwartet.
die folgenden Texte: Mt 26,54; Mk 10,45; Lk 17,25; 22,37; 24,44; Joh 3,16; Apg 2,23; 3,18;
4,27 f.; 13,27–29; 17,2 f.; 26,22b.23; Röm 8,3; Gal 4,4 f.; Hebr 2,10–17; 9,26b; 10,5–10; 1 Joh 4,9 f.
28 Iwand, Christologie (s. Anm. 25), 294.
29
Nirgends im Neuen Testament ist der Tod Jesu als ein lediglich von Menschen zu verant-
wortendes Geschehen verstanden, auf das Gott dann reagiert hat, indem er den Gekreuzigten
von den Toten auferweckte und damit ihn selbst, sein Wirken und seine Verkündigung ins Recht
setzte. Eine solche Sicht liegt auch nicht in dem sog. „Kontrastschema“ vor, das in Reden der
Apostelgeschichte begegnet (Apg 2,23 f.; 3,13–15; 4,10 f.; 5,30 f.; 10,39 f.; 13,27–30). Nach dem
Zeugnis der Apostelgeschichte erfolgt nicht nur die Auferweckung Jesu, sondern ebenso auch
sein Tod nach dem Plan und Willen Gottes und in Erfüllung dessen, was bereits in der Heiligen
Schrift Israels angekündigt ist (s. dazu die in Anm. 27 notierten Stellen). Daß der dem Ratschluß
Gottes entsprechende Tod Jesu göttliches Heilsgeschehen ist, kommt in Apg 20,27 f. unmiß-
verständlich zum Ausdruck.
30 Röm 6,1–14; 2 Kor 5,14–21; Gal 2,19 f. Auch 1 Kor 15,1–23 gehört hierher: Weil das Heils-
geschehen des Todes und der Auferstehung Christi (V. 3b.4) diejenigen einschließt, für die
Christus gestorben und auferstanden ist, deshalb ist seine Auferstehung der Realgrund ihrer
Auferstehung und ihre Auferstehung die notwendige Folge seiner Auferstehung (V. 12–23).
31
Was die synoptischen Evangelien anlangt, so sagt H. J. Iwand, Glauben und Wissen
(Nachgelassene Werke 1), hg. v. H. Gollwitzer, München 1962, 279 sehr schön: Sie sind „kein
Requiem auf einen Toten“.
Die Frage nach dem „historischen Jesus“ als theologisches Problem 241
IV
der die Offenbarung Gottes in Jesus Christus Gegenstand historischer Erforschung und histori-
scher Erkenntnis ist, s. H.-G. Geyer, Geschichte als theologisches Problem. Bemerkungen zu
W. Pannenbergs Geschichtstheologie, in: Ders., Andenken. Theologische Aufsätze, hg. v. H.Th.
Goebel u. a., Tübingen 2003, 39–52.
33
Käsemann, Das Problem des historischen Jesus (s. Anm. 1), 206.
242 Die Frage nach dem „historischen Jesus“ als theologisches Problem
34
S. dazu O. Hofius, Ist Jesus der Messias? Thesen, in: Ders., Neutestamentliche Studien
(WUNT 132), Tübingen 2000, 108–134: 121–134.
35 Auch hier gilt mutatis mutandis, was Rosenzweig, Atheistische Theologie (s. Anm. 10),
280 im Blick auf die liberale Leben-Jesu-Forschung bemerkt: Es ist eine unmögliche Vorausset-
zung, daß „das Leben eines andern in seiner vollen menschlichen Einzigkeit erfaßt schlechthin
allgemeingültig sein und ein Mensch als bloßer Mensch, ja gerade als solcher, der Menschheit
das werden sollte, was ihr der Gottmensch des Dogmas hatte sein können“. H. J. Iwand, Der
Prinzipienstreit innerhalb der protestantischen Theologie, in: Ders., Um den rechten Glauben.
Gesammelte Aufsätze (TB 9), hg. v. K. G. Steck, München ²1965, 222–246: 242 bemerkt zu
Recht: „Solange wir vom Begriff des historischen, das heißt des gleich uns für sich lebenden
Die Frage nach dem „historischen Jesus“ als theologisches Problem 243
Kreuzestod Jesu kann rein historisch betrachtet nicht als das Ziel seines Daseins
in der Welt, sondern nur als die kontingente Folge seines Wirkens verstanden
werden, wobei dann unterschiedliche Antworten auf die Frage möglich sind, ob
Jesus mit seinem gewaltsamen Tod gerechnet und eine Sinndeutung für dieses
sein Geschick gesucht und gefunden hat.
3. Historische Forschung fragt stets nach Ereignissen oder Gestalten der Ver-
gangenheit, die zwar eine geschichtliche Wirkung haben können, selbst und
als solche aber unwiderruflich vergangen sind. Daher gilt auch die Frage nach
dem „historischen Jesus“ zwangsläufig einem Menschen der Vergangenheit
mit seiner vergangenen Geschichte. Das heißt: Die historische Rückfrage sucht
„den Lebendigen bei den Toten“ (Lk 24,5), auch wenn sie in Jesus eine Gestalt
von geschichtlicher Wirkung und bleibender Bedeutung erblickt. Lebendig und
gegenwärtig kann der „historische Jesus“ nur in der Erinnerung und in den
Interpretationsversuchen derer sein, die sich für ihn interessieren oder ihn für
bedeutend halten und daher – von ihm beeindruckt – aus seiner Lehre und
seinem Verhalten Impulse für die eigene religiöse Lebensgestaltung und das
eigene ethische Verhalten empfangen. Würde niemand mehr des Menschen Jesus
von Nazareth gedenken, dann – dieser Schluß ist hier unausweichlich – wäre er
nicht mehr.36
und für sich existenten Jesus ausgehen, wird das stellvertretende Leiden und Sterben Jesu
nach seinem Realitätscharakter unbegreiflich. […] Innerhalb des Rahmens dieser endlichen
Geschichte kann nicht einer für den anderen eintreten, er kann ihm vielleicht einiges von seinen
Lasten, aber nie seine Existenz abnehmen. Die menschliche Existenz ist unauswechselbar.“ Zu
der wichtigen Einsicht, daß der Mensch in seiner Existenz – und insbesondere auch hinsichtlich
seiner Sünde und seines Todes – absolut unvertretbar ist, s. auch: Ders., Gesetz und Evangelium
(s. Anm. 25), 75.92.100–104.
36 Im Rahmen der Frage nach dem „historischen Jesus“ ist eine Aussage über die Auf-
erweckung Jesu – etwa die, daß Gott sich mit dem Gekreuzigten identifiziert oder daß er ihn
und seine Verkündigung ins Recht gesetzt habe – nicht möglich, denn sie wäre hier ebenso
wie jede Aussage über eine Heilsbedeutung des Todes Jesu eine Metabasis eis allo genos. Von
daher leuchtet es mir nicht ein, wenn Jüngel, Zur dogmatischen Bedeutung der Frage nach
dem historischen Jesus (s. Anm. 1), 219 die Notwendigkeit dieser Frage so begründet: „Es muß
verstehbar sein, warum Gott den gekreuzigten Jesus – und nicht etwa den enthaupteten Täufer
Johannes – auferweckt haben soll. Insofern nötigt der Glaube an den Auferstandenen zur Rück-
frage nach dem irdischen Jesus und nach dem, was wir historisch von ihm wissen können.“
Das, was in der Tat verstehbar sein muß, kann m. E. gerade nicht der Historiker verstehbar
machen, sondern hier ist ausschließlich eine theologische Antwort möglich. Die im Neuen
Testament gegebene Antwort erweist sich dabei als in sich stringent: Der gekreuzigte Jesus ist
auferweckt worden, weil er der Sohn Gottes ist, der Mensch wurde, um für die vor Gott ver-
lorenen Menschen zu sterben und durch das als unlösliche Einheit zu begreifende Geschehen
seines Todes und seiner Auferstehung dem Tod die Macht zu nehmen. In diesem Zusammen-
hang ist von höchstem Gewicht, daß die neutestamentlichen Zeugen in der Auferweckung Jesu
keineswegs ein kontingentes Ereignis erblicken, sondern ein solches, das von allem Anfang an
außer Frage steht, weil es ein von Gott her notwendiges Ereignis ist. Den Synoptikern zufolge
geschieht die Auferweckung Jesu in gleicher Weise wie sein Tod als Verwirklichung des gött-
lichen δεῖ bzw. in Erfüllung der in der Schrift Israels enthaltenen prophetischen Ankündigungen
(Mk 8,31 parr.; 10,33 f. parr.; Mk 9,31 par. Mt 17,22 f.; Lk 24,7.26.44). Das Johannesevangelium
244 Die Frage nach dem „historischen Jesus“ als theologisches Problem
An den drei skizzierten Sachverhalten zeigt sich in aller Klarheit, daß die
Frage nach dem „historischen Jesus“ mit innerer Notwendigkeit nur eine Per-
son zu Gesicht bekommen kann, die sich nicht bloß graduell, sondern absolut
von dem Jesus des Neuen Testaments unterscheidet. Denn zwischen einem wie
immer rekonstruierten „historischen Jesus“, der nichts anderes ist und sein kann
als ein purus homo, und dem apostolisch bezeugten Jesus, der als die rettende
Gegenwart Gottes unter uns Menschen geglaubt und dessen Geschichte als
eine alle Menschen betreffende Gottesgeschichte begriffen wird, besteht ein
qualitativer Sprung.37 Das aber bedeutet: Von dem „historischen Jesus“ führt
kein Weg zu dem von den Aposteln und Evangelisten bezeugten Christus – es
sei denn der Gedanke einer sekundären Apotheose des Menschen Jesus von
Nazareth, der allerdings historisch schlicht unerklärlich und theologisch in jeder
Hinsicht indiskutabel wäre. Daß sich im Neuen Testament nirgends ein Beleg
für die Auffassung findet, daß Jesus erst durch seine Auferweckung zum Sohn
Gottes geworden und so zu göttlicher Höhe erhoben worden ist, sei dazu nur
eben angemerkt.38
Besteht – wie mir als zwingend erscheint – zwischen einem wie immer rekon-
struierten „historischen Jesus“ und dem apostolisch bezeugten Jesus ein quali-
tativer Sprung, dann wird der Frage nach dem „historischen Jesus“ entschieden
zu viel zugetraut, wenn man ihr Recht und ihre Notwendigkeit darin erblickt,
daß sie die Entstehung des nachösterlichen Christusglaubens historisch plausibel
machen könne und solle. Denn genau das vermag sie nicht zu tun, weil sie kei-
betont aufs stärkste die zwingende Notwendigkeit der Auferstehung Jesu (Joh 2,18–22; 10,17 f.;
20,9). Was die Apostelgeschichte des Lukas anlangt, so müssen neben 17,2 f. und 26,22 f. vor
allem die Verse 2,23 f. mitsamt der in 2,25–36 gegebenen Begründung aus der Schrift sowie der
Abschnitt 13,32–39 bedacht werden.
37 Daß bei nüchternem Urteil auch unter der Voraussetzung eines besonderen Vollmachts-
anspruchs des „historischen Jesus“ zwischen diesem und dem neutestamentlichen Christus-
zeugnis ein qualitativer Sprung zu konstatieren ist, kommt in erfreulicher Klarheit in dem fol-
genden Aufsatz zum Ausdruck: M. Konradt, Stellt der Vollmachtsanspruch des historischen
Jesus eine Gestalt „vorösterlicher Christologie“ dar?, ZThK 107 (2010) 139–166. Der Verfasser
zeichnet anhand zentraler Texte der synoptischen Tradition das Bild eines hohen Vollmachts-
anspruchs (144–163) und gelangt sodann (163–166) zu der Feststellung, daß dem Selbstverständ-
nis des von ihm rekonstruierten Jesus gegenüber „die nachösterliche, eng mit dem Kyrios-Titel
verbundene Verehrung Jesu“ wie u. a. auch die nachösterliche Bestimmung des Verhältnisses
zwischen Jesus und Gott und die Entwicklung der Präexistenzvorstellung „etwas grundlegend
Neues“ und mithin einen „qualitativen Sprung“ darstellen (165). Entsprechend lautet das Fazit:
„Den Vollmachtsanspruch Jesu als eine Gestalt vorösterlicher Christologie zu klassifizieren
[…], tendierte dahin, diese Differenz zwischen dem historischen Jesus und der Christusver-
kündigung zu nivellieren“ (166).
38 In der Exegese wie auch in der dogmatischen Rezeption werden des öfteren zu Unrecht
die Texte Apg 2,36, Röm 1,3b.4a und Phil 2,6–11 als Belege angeführt. S. zu Apg 2,36: Hofius,
Ist Jesus der Messias? (s. Anm. 34), 130 Anm. 44; zu Röm 1,3b.4a: ebd., 128 f. (These 5.3.4); zu
Phil 2,6–11: O. Hofius, Der Christushymnus Philipper 2,6–11. Untersuchungen zu Gestalt und
Aussage eines urchristlichen Psalms (WUNT 17), Tübingen ²1991, 56–67.113–122. Zu Apg 2,36
s. auch Bauspiess, No quest for the historical Jesus? (s. Anm. 4), 148 f.
Die Frage nach dem „historischen Jesus“ als theologisches Problem 245
Angesichts unserer bisherigen Überlegungen stellt sich nun die Frage, wie der
Tatbestand zu würdigen ist, daß durch historisch-kritische Arbeit sehr wohl
bestimmte Züge der Verkündigung Jesu und seines Wirkens wahrgenommen
werden können. Meine Sicht dazu möchte ich an jenen Phänomenen aufzeigen,
die ein besonderes Hoheitsbewußtsein Jesu erkennen lassen. Es sind dies vor
allem: die Gewißheit Jesu, daß der Anbruch der von ihm verkündigten heilvol-
len Gottesherrschaft an ihn selbst und sein Wirken gebunden ist;40 der Ruf in
39
An dieser Stelle ist in Ergänzung zu dem in Teil IV Dargelegten noch in aller Kürze auf die
Unhaltbarkeit der These hinzuweisen, daß die Frage nach dem „historischen Jesus“ zwar nicht
das Gottsein Jesu, wohl aber sein wahres Menschsein zu Gesicht bekommen könne. Unhaltbar
ist diese These deshalb, weil es dem neutestamentlichen Zeugnis zufolge ja der Mensch Jesus
von Nazareth ist, in dem Gott selbst sich realpräsent erweist, und weil daraus notwendig folgt,
daß sein wahres Menschsein von seinem wahren Gottsein nicht getrennt werden kann. Das
„vere homo“ ist ebenso ein Satz des Glaubens und des Bekennens wie das „vere deus“. Daß der
wahre Mensch Jesus von Nazareth in Person die praesentia Dei ist, das und nur das begründet
z. B. seine im Neuen Testament (Joh 7,18; 8,46; 2 Kor 5,21; Hebr 4,15; 7,26; 1 Petr 2,22; 3,18
[auch 1,19]; 1 Joh 3,5) bezeugte Sündlosigkeit, die in ihrem dort gemeinten nicht-moralischen
Sinn mittels historisch-kritischer Forschung weder aufweisbar noch überhaupt begreifbar zu
machen ist. In diesem Zusammenhang muß auch angemerkt werden, daß der Hinweis auf die
Inkarnation – auf das ὁ λόγος σὰρξ ἐγένετο von Joh 1,14 – keineswegs dazu geeignet ist, die
Frage nach dem „historischen Jesus“ als eine mögliche oder sogar als eine theologisch gebotene
Frage zu erweisen. In Joh 1,14 ist ὁ λόγος grammatisch wie sachlich Subjekt des ganzen Verses,
und demzufolge wird hier ausgesagt, daß der göttliche Logos Mensch geworden ist, ohne
aufzuhören, dieser Logos zu sein. Das aber bedeutet: Im Logos-Sein Jesu liegt der Schlüssel
zum Verständnis seines Menschseins, d. h. seiner analogielosen, weil durch die göttliche δόξα
ausgezeichneten Existenz und Geschichte ἐν σαρκί. Die Frage nach dem „historischen Jesus“
muß davon abstrahieren, daß Jesus der menschgewordene Sohn Gottes ist. Wollte man Recht
und Notwendigkeit dieser Frage mit Joh 1,14 begründen, so hieße das, den Satz ὁ λόγος σὰρξ
ἐγένετο gegen den eindeutigen Wortsinn so zu verstehen, als habe sich der Logos in σάρξ ver-
wandelt und damit aufgehört, der Logos zu sein.
40 Mt 11,2–6 par. Lk 7,18–23; Mt 12,28 par. Lk 11,20; Lk 4,16–21; 17,20 f. (zu ἡ βασιλεία τοῦ
θεοῦ ἔντος ὑμῶν ἐστιν V. 21b ist gedanklich zu ergänzen: „indem ich unter euch gegenwärtig
246 Die Frage nach dem „historischen Jesus“ als theologisches Problem
die Nachfolge, mit dem er Menschen an sich selbst bindet;41 die Gewährung
der Sündenvergebung in Wort und Tat;42 die Wendung ἀμὴν λέγω ὑμῖν als
Einführung des eigenen Wortes;43 das autoritative ἐγὼ δὲ λέγω ὑμῖν, mit dem
die Kundgabe des verbindlichen Gotteswillens eingeleitet wird;44 der Anspruch,
authentisch zu wissen und deshalb in letzter Verbindlichkeit sagen zu können,
wer Gott ist und wie er sich verhält;45 die Anrede Gottes als „Abba“46 und die
für das Gespräch mit den Jüngern charakteristische Differenzierung zwischen
„meinem Vater“ und „eurem Vater“47; die Überzeugung, daß sich an der Stellung
des Menschen zu Jesus die Frage des eschatologischen Heils oder Unheils ent-
scheidet.48
Was die rein historische Betrachtung der aufgelisteten Phänomene anlangt,
so besteht in der Forschung bereits hinsichtlich ihrer Authentizität keineswegs
ein Konsens, und wo diese vorausgesetzt wird, da sind Sinn und Bedeutung
der Phänomene ebenso umstritten wie die Frage, ob es zu ihnen außerhalb der
Jesus-Tradition Parallelen gibt oder nicht. Wenn man – wie ich selbst es tue –
die genannten Phänomene nicht nur für authentisch hält, sondern sie auch als
analogielos beurteilt, dann bleiben sie historisch gesehen doch mehrdeutig49 –
und dies sowohl im Blick auf ihren semantischen Gehalt wie auch im Blick auf
ihre Interpretation, die ja als streng historische über den Bereich des Mensch-
lichen und Menschenmöglichen nicht hinausgehen darf. Ich will das an einem
der Phänomene verdeutlichen.50 In Mk 2,5 wird berichtet, daß Jesus zu einem
Gelähmten sagt: ἀφίενταί σου αἱ ἁμαρτίαι „deine Sünden werden [dir] hiermit
bin“). Mit Recht bemerkt J. Schniewind, Das Selbstzeugnis Jesu nach den ersten drei Evan-
gelien (1922), Wuppertal 1964, 11: „Die Gabe, von Jesus gebracht, heißt: das Reich Gottes“ und
ebd., 13: „In seiner Person ist das Reich Gottes Gegenwart geworden“. Keineswegs hinreichend
zu begründen ist dagegen die These von R. Otto, Reich Gottes und Menschensohn. Ein
religionsgeschichtlicher Versuch, München ³1954, 75: „Nicht Jesus ‚bringt‘ das Reich – eine
Vorstellung, die Jesu selber ganz fremd ist – sondern das Reich bringt ihn mit.“
41 Mk 1,16–20 par. Mt 4,18–20; Mk 2,14 parr.; 10,21 parr.; Mt 8,21 f. par. Lk 9,59 f.
42 Mk 2,1–12 parr.; Lk 7,36–50; ferner die Berichte über Jesu Tischgemeinschaft mit den
vergeben“. Im Kontext der Erzählung Mk 2,1–12 sind diese Worte eindeutig als
Gewährung der Sündenvergebung durch Jesus selbst gemeint. Nimmt man – was
natürlich lebhaft umstritten ist – die Authentizität der zitierten Worte an, so stellt
sich die Frage, wie diese im Munde Jesu selbst zu verstehen sind. In sprachlicher
Hinsicht ist hier ein doppeltes Verständnis möglich: Die Verbform ἀφίενται kann
ein Passivum divinum sein, so daß der Sinn wäre: „Gott vergibt [dir] jetzt deine
Sünden“. Jesus hätte demnach die Vergebung nicht selbst gewährt, sondern sie
lediglich in abgeleiteter Vollmacht zugesprochen. Das Passiv ἀφίενται kann
aber, wie sprachliche Parallelen beweisen, ebenso auch bedeuten: „Ich vergebe
[dir] hiermit deine Sünden.“51 In diesem Fall wäre wie im Markustext von der
in eigener Autorität gewährten Vergebung durch Jesus selbst die Rede. Liest
nun der Historiker ἀφίενται als Passivum divinum, dann kann er als Parallele
zu Jesu Wort den Vergebungszuspruch des Propheten Nathan von 2 Sam 12,13
namhaft machen. Sieht er dagegen mit ἀφίενται die Gewährung der Vergebung
durch Jesus selbst ausgesagt, so hat er es mit einem Phänomen zu tun, zu dem
es weder im Alten Testament noch auch in der frühjüdischen Literatur eine
Parallele gibt.52 Daß Jesus das Wort Mk 2,5b im einen wie im andern Sinn
gesagt haben kann, wird der Historiker konzedieren, weil beides im Bereich des
Menschlichen möglich und denkbar ist. Die Frage, ob Jesus tatsächlich die Voll-
macht zum Zuspruch der Vergebung oder sogar die Macht, sie in eigener Auto-
rität zu gewähren, hatte, vermag der Historiker dagegen weder zu stellen noch
zu beantworten. Einzig im Licht des neutestamentlichen Christuszeugnisses
kann geurteilt werden, daß Jesus als der, der nach Mt 1,21 – wie Gott selbst (Ps
130,8) – „sein Volk von ihren Sünden erretten wird“ und dazu den Weg an das
Kreuz geht, „Macht hat, auf Erden Sünden zu vergeben“ (Mk 2,10).
Wie an Mk 2,5b exemplarisch deutlich wird, gewinnen die durch historische
Forschung ermittelten Phänomene, die auf ein besonderes Hoheitsbewußtsein
Jesu hinweisen, eine theologische Eindeutigkeit im Sinn der hohen Christologie
der neutestamentlichen Schriften allererst im Licht des apostolischen Christus-
zeugnisses und mithin ausschließlich im Kontext jener Schriften selbst. In
diesem Licht – und nur in ihm – können sie als Zeichen der praesentia Dei in
dem irdischen Jesus und somit als Ausdruck der Seins- und Handlungseinheit
zwischen dem Vater und dem Sohn begriffen werden. Werden sie aber erst durch
das Christuszeugnis als begründet erwiesen, dann können sie nicht ihrerseits
dieses begründen oder bestätigen.
Eine keineswegs unwichtige Frage ist hier noch anzuschließen: Stößt die
historische Forschung in der synoptischen Tradition auf Phänomene, die sich
gegen das nachösterliche Christuszeugnis sperren oder gar mit ihm unvereinbar
51
Die Parallelen aus frühjüdischen Texten s. ebd., 50–52.
52
Die in die Form einer rhetorischen Frage gefaßte Feststellung der Schriftgelehrten, daß
„niemand Sünden vergeben kann außer Gott allein“ (Mk 2,7b), bringt die communis opinio des
antiken Judentums zum Ausdruck.
248 Die Frage nach dem „historischen Jesus“ als theologisches Problem
sind? Solche Phänomene werden im Zusammenhang mit der Frage nach dem
„historischen Jesus“ in der Tat benannt. So soll die Taufe durch Johannes ein
Indiz dafür sein, daß Jesus wie alle anderen, die sich taufen ließen, als ein Sünder
an den Jordan kam, um seine Umkehrbereitschaft zu dokumentieren und Gottes
Vergebung zu suchen. Oder das Beten Jesu wird als ein Beleg dafür angesehen,
daß er sich wie jeder fromme Jude als ein Mensch im Gegenüber zu Gott wußte,
und das gleiche soll sich darin widerspiegeln, daß er nach Mk 10,17 f. auf die An-
rede „guter Lehrer“ antwortet: „Was nennst du mich gut? Niemand ist gut außer
einem: Gott“ (V. 18). Urteile wie diese, die angeblich die historische Wirklichkeit
zur Geltung bringen, sind in Wahrheit nichts anderes als bloße Vermutungen. Sie
beruhen darauf, daß die jeweiligen Textbefunde aus ihrem neutestamentlichen
Zusammenhang herausgelöst werden und dann eine dem ursprünglichen Kon-
text zuwiderlaufende Deutung erfahren, ohne daß dafür eine hinreichende Be-
gründung gegeben werden kann. Denn kontextlose Phänomene sind und bleiben
für die historische Betrachtung mehrdeutig und damit letztlich stumm.
VI
Ich komme zum Schluß und formuliere das folgende Fazit: Die Antwort auf die
Frage nach dem irdischen Jesus gibt nicht die mittels der historisch-kritischen
Methode vollzogene Jesusforschung, sondern einzig und allein das apostolische
Christuszeugnis, das sich der Selbsterschließung des auferstandenen Herrn ver-
dankt und in den Schriften des Neuen Testaments seinen gültigen Niederschlag
gefunden hat. Mit dieser Feststellung ist nicht behauptet, daß die synoptischen
Evangelien als im wesentlichen historisch zuverlässige Quellen zu beurteilen
seien und sich deshalb aus ihnen durch historisierende Interpretation ein detail-
liertes Bild der vorösterlichen Geschichte Jesu gewinnen lasse. Die Synoptiker
sind vielmehr ebenso wie das Johannesevangelium als Dokumente eines narra-
tiven Zeugnisses von Jesu Person und Werk zu lesen und auszulegen.53 Für alle
neutestamentlichen Schriften ergibt sich so in gleicher Weise die Aufgabe, das
in ihnen enthaltene Christuszeugnis in immer neuem Bemühen mit den Mitteln
wissenschaftlicher Exegese zu erheben und es im sorgsamen Hören auf die Texte
auf seine innere Kohärenz, seine Implikationen und seine Konsequenzen hin zu
bedenken.
53
Dazu – exemplarisch – ein Hinweis zur Passionsgeschichte der Evangelien: Es geht an
der Intention der Texte vorbei, wenn die Exegese die Frage erörtert, ob das letzte Wort Jesu
am Kreuz „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“ (Mk 15,34 par. Mt 27,46),
„Vater, in deine Hände übergebe ich meinen Geist“ (Lk 23,46) oder „Es ist vollbracht!“ (Joh
19,30) gelautet hat. Zu fragen ist vielmehr, was bei Markus und Matthäus mit dem Ruf der
Gottverlassenheit, was bei Lukas mit der die bleibende Zugehörigkeit zum Vater bekundenden
Vertrauensäußerung und was bei Johannes mit dem Wort von der Vollendung des dem Sohn
aufgetragenen Werkes jeweils theologisch über den Kreuzestod Jesu ausgesagt wird.
Jesus Christus – die Mitte der Heiligen Schrift
Grundlinien des evangelischen Schriftverständnisses*
Bei Luther ist das Verständnis der Heiligen Schrift ganz unmittelbar mit einer
Frage verbunden, von deren zentraler Bedeutung für die Kirche und ihre Ver-
kündigung nicht nur er selbst, sondern alle Reformatoren überzeugt waren. Es
ist dies die Frage nach dem Heil des Menschen – die Frage also, wie der heilige
und lebendige Gott zu dem von der Sünde gezeichneten und im Schatten des
‚De servo arbitrio‘) mit Jahreszahl angeführt. Hinzugefügt sind die Fundorte in der Weimarer
Ausgabe der Werke Luthers (WA) sowie ggf. auch diejenigen in der von O. Clemen besorgten
Bonner Ausgabe (BoA). Lateinische Zitate wurden jeweils von mir übersetzt, und bei deutschen
Zitaten habe ich eine behutsame Angleichung an die heutige Sprache vorgenommen.
250 Jesus Christus – die Mitte der Heiligen Schrift
Todes lebenden Menschen steht und wie es für diesen Menschen eine intakte
Gottesbeziehung geben kann.3
Daß die Antwort auf diese Frage prinzipiell nicht von Menschen erwartet
werden darf, stand den Reformatoren außer Zweifel. Denn alles, was Menschen
von sich aus über Gott und das Heil zu denken und zu sagen vermögen, sind
nur opiniones, d. h. bloße Meinungen und Vermutungen, an die niemand sich im
Blick auf sein Leben und sein Sterben mit Gewißheit halten kann.4 Hinsicht-
lich der Heilsfrage aber ist als Fundament einer letzten Wahrheitsgewißheit
„die allergewisseste Wahrheit“ gefordert,5 und diese finden die Reformatoren
in der Heiligen Schrift.6 Ihnen gilt das Neue Testament nicht als ein Dokument
religiöser Lebensdeutung, in dem zu lesen steht, was bestimmte Menschen der
Spätantike über sich selbst und über Gott gedacht haben, sondern es gilt ihnen
als das einzigartige Buch, das Gottes Wort enthält – nämlich das der Kirche
zur Verkündigung anvertraute Zeugnis von seiner Heilsoffenbarung in Jesus
Christus.7 Die gültige Antwort auf die Frage nach dem Heil des Menschen sehen
die Reformatoren deshalb in der Heiligen Schrift gegeben – in ihr allein.
3
Den Zusammenhang zwischen Schriftverständnis und Heilsfrage betont sehr zu Recht
W. Führer, Die Schmalkaldischen Artikel (Kommentare zu Schriften Luthers 2), Tübingen
2009, 348 f. Exemplarische Zeugnisse bieten die Lutherzitate, die in dem vorliegenden Aufsatz
in bzw. bei den Anmerkungen 11, 12, 20, 21 und 28 mitgeteilt werden.
4
Vgl. Tischreden, Nr. 50 (1531), WA.TR 1, 18,6–8 (BoA 8, 3,28 f.): Quid faciet dubia con-
scientia consolationem rogans, si opinionibus responderis etc., non certa doctrina? („Was soll
ein von Zweifeln geplagtes Gewissen, das Trost sucht, machen, wenn man ihm mit bloßen
Meinungen usw. antwortet und nicht mit gewisser Lehre?“) Zum Begriff der opiniones s. auch
etwa in ‚De servo arbitrio‘ die unten in Anm. 40 zitierte Gegenüberstellung (WA 18, 605,18 f.
[BoA 3, 100,13–15]) sowie die Wendung dubia aut opiniones = „Zweifel oder bloße Meinungen“
(WA 18, 605,32 [BoA 3, 100,32]).
5
De servo arbitrio, WA 18, 702,6 (BoA 3, 195,40 f.): certissimam veritatem pro stabiliendis
conscientiis quaerimus. („Wir fragen nach der allergewissesten Wahrheit zur Festigung der
Gewissen.“) – Vgl. ebd., WA 18, 603,24 (BoA 3, 98,9): certissima ac firmissima conscientiae
assertio („die völlig gewisse und völlig sichere verbindliche Aussage für das Gewissen“); WA
18, 605,33 f. (BoA 3, 100,32 f.): assertiones ipsa vita et omni experientia certiores et firmiores
(„verbindliche Aussagen, die gewisser und unerschütterlicher sind als das Leben selbst und alle
Erfahrung“); WA 18, 607,11 (BoA 3, 102,15): clarissima veritas („die allerklarste Wahrheit“). –
S. dazu den Gesamtzusammenhang WA 18, 603,1–605,34 (BoA 3, 97,19–100,33).
6
Vgl. De servo arbitrio, WA 18, 603,15 (BoA 3, 97,36 f.): res illae asserendae, quae nobis
traditae sunt divinitus in sacris literis („jene als Wahrheit zu bezeugenden Dinge, die uns von
Gott her in der Heiligen Schrift überliefert sind“).
7
Luther nennt das die doctrina aut docenda veritas („die Lehre bzw. die zu lehrende Wahr-
heit“): WA 18, 628,21 (BoA 3, 119,18); vgl. WA 18, 628,27 f. (BoA 3, 119,26).
Jesus Christus – die Mitte der Heiligen Schrift 251
Mit dem soeben Gesagten habe ich bereits das berührt, was man das reforma-
torische „Schriftprinzip“ oder besser noch das „Prinzip des Wortes Gottes“
(principium verbi divini) nennt.8 Der knappe Ausdruck dafür ist die Formel sola
scriptura – „die Schrift allein“. Sie besagt, daß alle wahre Erkenntnis über Gott
in seinem Verhältnis zum Menschen und über den Menschen in seiner Stellung
vor Gott ausschließlich aus der Heiligen Schrift gewonnen werden kann. Drei
Sachverhalte, die das Neue Testament sowohl durch seine Existenz wie auch
durch seinen Inhalt dokumentiert, sind dabei für das „Prinzip des Wortes Gottes“
grundlegend:
1. Gott selbst hat in Jesus Christus – in seiner Person und in seinem Werk –
dem vor ihm verlorenen Menschen das Heil bereitet. Diese seine Heilstat ist
jenes Geschehen, das im Bekenntnis der Kirche mit den Worten beschrieben
wird, daß der ewige Sohn Gottes „für uns Menschen und zu unserem Heil“
Mensch geworden, den Weg an das Kreuz gegangen und am dritten Tage von
den Toten auferstanden ist. In diesem Geschehen und damit in Jesus Christus
allein liegt das Heil des Menschen beschlossen.
2. Gott selbst hat seine Heilstat durch sein Heilswort bekannt gemacht. Das
geschah, als der auferstandene Christus in den Ostererscheinungen einem be-
grenzten Kreis von Augenzeugen sich selbst und sein Werk erschlossen und
ihnen diese seine Selbsterschließung zur Bezeugung und Verkündigung anver-
traut hat. Jene Augenzeugen sind die Apostel Jesu Christi, die in der unlöslichen
Verbundenheit mit ihrem Herrn in das Heilsgeschehen mit hineingehören,9 und
das ihnen anvertraute Wort ist das Evangelium, das kundtut, wer Jesus ist und
was sich in seinem Tod und seiner Auferstehung ereignet hat. Die Apostel sind –
so Luther – der Kirche von Gott selbst als „unfehlbare Lehrer“ gegeben10 – und
8
Im Blick auf das Schriftprinzip betont K. G. Steck, Lehre und Kirche bei Luther (FGLP
27), München 1963, 142 mit Recht, daß es sich bei Luther nicht um ein von ihm selbst gesetztes
principium handelt, sondern um die – auch in der Theologie vollzogene – gehorsame An-
erkennung dessen, was Gott gesetzt hat: „Gewiß ist und bleibt es insofern petitio principii, als
es keinen Weg für Luther gibt, sein primum principium denen einleuchtend zu erweisen, die es
nicht anerkennen wollen. In diesem Sinn wird sich reformatorische Theologie nie davor scheu-
en dürfen, mit einer petitio ihres Prinzips zu beginnen. Aber es ist für Luther in keinem Sinne
als bloßes Postulat gemeint. Er hat es nicht nur zum Schein an den Anfang seines Denkens und
Auslegens gestellt, weil er keinen andern Ausweg fand, wenn er nicht zur römischen potestas
docendi zurückkehren wollte; sondern er hat sich selbst dorthin gestellt gesehen, wo ihm die
Evidenz des Evangeliums, d. h. die sich selbst erweisende Offenbarung Gottes in Christus den
einzigen Platz anwies, der wirklich Gewißheit und zureichende Wahrheit bot: den Platz unter
dem Wort, aus dem die Kirche der Glaubenden erwächst.“
9
Vgl. dazu Luthers Formulierung Christus et apostoli in den in Anm. 12 und Anm. 13 mit-
geteilten Zitaten (WA 36, 527,1 f. [BoA 7, 289,22]; WA 28, 191,8 [BoA 7, 255,2]).
10
Thesenreihe ‚De fide‘ für die Promotionsdisputation von Hieronymus Weller und Niko-
252 Jesus Christus – die Mitte der Heiligen Schrift
zwar im Blick auf „die Kenntnis Christi, d. h. dessen, was zum Heil gehört“.11
Ihr Christuszeugnis ist „das rechte Wort Gottes“,12 so daß man hier auf ihren
Mund sehen muß „wie auf Gottes Mund“.13 Als die einmaligen und einzigartigen
Zeugen Jesu Christi übermitteln sie die ihnen geoffenbarte Wahrheit des Evan-
geliums der Kirche aller Zeiten, und darin sind sie das „Fundament“, auf dem
die Kirche erbaut ist (Eph 2,20).14
3. Das Christuszeugnis der Apostel hat in den Schriften des Neuen Testaments
seinen authentischen Niederschlag und seine für die Kirche maßgebliche Re-
präsentation gefunden. Niederschlag des apostolischen Christuszeugnisses sind
dabei nicht nur die Briefe der Apostel und der Apostelschüler, sondern ebenso
auch die vier Evangelien, die von der Absicht geleitet sind, das Persongeheimnis,
laus Medler (1535), These 59, WA 39 I, 48,1 f.: […] Apostoli, qui certo Dei decreto nobis sunt
infallibiles Doctores missi („[…] Apostel, die uns durch den feststehenden Beschluß Gottes als
unfehlbare Lehrer gesandt sind“).
11
De servo arbitrio, WA 18, 779,6 (BoA 3, 283,3 f.): notitia Christi, id est, eorum quae sunt
salutis.
12
Das 15. Capitel der 1. Epistel S. Pauli an die Corinther (1532/33), WA 36, 526,8–10. 527,1–3
(BoA 7, 289,18–23): Contra negantem principia non etc. Nos loquimur cum iis, qui deum fur
Gott halten et pro veraci, qui non mentiatur, et quod Apostoli eius sint zeugen, qui vos audit
etc. Das sind unser heubtstuck und grund. Et tota scriptura dicit de Christo filio et apostolis. Et
credimus, quod Apostoli praedicarint, sey das recht wort, et qui credit, werd selig. („Wer die
Voraussetzungen leugnet, mit dem soll man nicht streiten. Wir reden mit denen, die Gott für
einen wahrhaftigen Gott halten, der nicht lügt, und die Apostel für seine Zeugen, wie Christus
sagt: ‚Wer euch hört, der hört mich‘ [Lk 10,16]. Das sind unsere Hauptstücke und Grundlagen.
Die ganze Schrift spricht von Christus, dem Sohn Gottes, und den Aposteln. Und wir glauben:
Was die Apostel gesagt haben, das ist das rechte Wort Gottes, und wer glaubt, der wird selig.“) –
Vgl. auch: Die ander Epistel S. Petri und eine S. Judas gepredigt und ausgelegt (1523/24) zu
2 Petr 1,16–18, WA 14, 27,11–15: Dieser Text lehrt, „daß die Apostel von Gott her gewiß gewesen
sind, daß ihr Evangelium Gottes Wort wäre“, und er beweist auch, „daß das Evangelium nichts
anderes sei denn eine Predigt von Christo“. Ebd., 27,20 f.: Was die Apostel von Christus ver-
kündigen, das haben sie „nicht selbst erdacht, sondern durch Gottes Offenbarung gesehen und
gehört“ (ähnlich schon ebd., 26,27 f.: „nicht aus den Fingern gesogen oder selbst erdacht“).
13
Das 17. Kapitel Johannis von dem Gebete Christi gepredigt und ausgelegt (1530), WA 28,
169,1–172,11 (BoA 7, 244,33–246,10). Aus diesem Zusammenhang sei WA 28, 170,5 (BoA 7,
245,9) zitiert: os Pauli, Petri, Iohannis inspiciendum ut dei. („Auf den Mund des Paulus, Petrus,
Johannes muß man sehen wie auf den Mund Gottes.“) Vgl. auch ebd., WA 28, 191,8 f. (BoA 7,
255,2 f.): Si quis omnia verba ex Christi ore et apostolorum potest dicere deum dixisse, das ist
Christiana scientia. („Wenn einer sagen kann, daß alle Worte aus dem Mund Christi und der
Apostel Gott geredet hat, das ist christliche Erkenntnis.“)
14
Disputatio de potestate concilii (1536), These 4, WA 39 I, 184,14–16: [Apostoli] soli fun-
damentum Ecclesiae vocantur, qui articulos fidei tradere debebant. („Die Apostel allein werden
das Fundament der Kirche genannt, sie, die die Artikel des Glaubens überliefern sollten.“) –
Daß die hohen Aussagen nicht der Person der Apostel, sondern ihnen als den Trägern des apo-
stolischen Amtes gelten, wird von Luther ausdrücklich betont: Das 17. Kapitel Johannis von
dem Gebete Christi gepredigt und ausgelegt, WA 28, 172,8 f. (BoA 7, 246,5 f.): Ibi loquimur de
legatione, officio non persona. („Wir reden hier von der Sendung und dem Amt, nicht von der
Person.“) Als den Trägern ihres einmaligen und einzigartigen Amtes eignet den Aposteln eine
Autorität, der in der Kirche keine andere Autorität vergleichbar ist oder an die Seite gestellt
werden kann; s. dazu die Thesen 1–11 der Disputatio de potestate concilii, WA 39 I, 184,4–185,27.
Jesus Christus – die Mitte der Heiligen Schrift 253
den Weg und das Werk dessen zu bezeugen, der in Person die Gegenwart Gottes
unter uns Menschen ist.15
Die drei skizzierten Sachverhalte lassen erkennen, worum es bei dem re-
formatorischen Schriftprinzip im Entscheidenden geht: Der theologische Fun-
damentalsatz sola scriptura („die Schrift allein“) dient der Bezeugung des solus
Christus („Christus allein“), indem mit Nachdruck der folgende Zusammenhang
in den Blick gerückt wird: Das Heil des Menschen liegt allein in dem Sohn
Gottes Jesus Christus beschlossen, der nirgends anders zu finden ist als in dem
von den Aposteln bezeugten Evangelium, und dieses Evangelium ist einzig in
der Heiligen Schrift enthalten, in der die Kirche deshalb die alleinige Quelle
und Norm ihres Glaubens und ihres Bekennens, ihrer Verkündigung und ihrer
Lehre erblickt.
Wie die Beschreibung des Schriftprinzips zeigt, ist die Autorität der Heiligen
Schrift die Autorität Jesu Christi und des ihn bezeugenden Evangeliums. Das ist
deshalb so, weil Jesus Christus die Mitte – der zentrale Inhalt – der Schrift ist.16
„Die ganze Schrift“ – sagt Luther – „ist darauf ausgerichtet, daß sie uns Christus
vor Augen stellt, damit wir Christus erkennen.“17 Auf ihn als den Mittelpunkt
sind die Schriften des Neuen Testaments bezogen,18 und sie gewinnen durch
das, was sie über ihn und von ihm her sagen, ihren spezifischen Charakter. Von
daher kann Luther die Frage formulieren: „Nimm Christus aus der Heiligen
Schrift – was wirst du außerdem noch darin finden?“19 In der Tat: Ohne das
Evangelium von Jesus Christus bliebe im Neuen Testament an Bedeutsamem
nichts übrig, was nicht bereits im Alten Testament oder auch in gewichtigen
Texten des antiken Judentums zu lesen steht. Vor allem aber bliebe die Frage
15
S. dazu: Ein klein Unterricht, was man in den Evangeliis suchen und gewarten soll
(1522), WA 10 I 1, 8,12–18,3: Die vier Evangelien sind unterschiedliche Beschreibungen des
einen Evangeliums, das Luther so kennzeichnet (9,18–20): Es ist „eine Rede von Christo, daß
er Gottes Sohn und für uns Mensch geworden, gestorben und auferstanden sei, ein Herr, über
alle Dinge gesetzt“.
16 Den Worten „der zentrale Inhalt der Heiligen Schrift“ entspricht bei Luther der Ausdruck
66,23 f.: Christus „ist das Mittelpünktlein im Zirkel, und alle Historien in der Heiligen Schrift,
so sie recht angesehen werden, gehen auf Christum“.
19 De servo arbitrio, WA 18, 606,29 f. (BoA 3, 101,29): Tolle Christum e scripturis, quid
nach dem Heil des Menschen unbeantwortet. Das Evangelium allein ist – wie
Luther betont – das Licht der Schrift, das uns alles lehrt, „was wir wissen sollen
und was zur Seligkeit not ist“,20 und einzig deshalb kann er die Heilige Schrift
„das geistliche Licht“ nennen, das „bei weitem heller ist als die Sonne selbst,
besonders in den Dingen, die das Heil betreffen“.21
Als die Mitte ist Christus zugleich der Schlüssel zur Heiligen Schrift. Das gilt
zum einen in dem Sinn, daß das Evangelium das Alte Testament aufschließt,22
indem es lehrt, dieses von Christus her auf Christus hin zu lesen und so in ihm
einen Zeugen für Christus zu erkennen. Und es gilt zum andern und vor allem
in dem Sinn, daß Christus innerhalb der Schrift die entscheidende Norm für das
angemessene Verständnis aller Texte ist.23 Das bedeutet: Die ganze Schrift ist in
Relation zu dem in ihrem Zentrum stehenden apostolischen Christuszeugnis zu
lesen und auszulegen. Im Blick auf jede einzelne Textaussage muß also gefragt
werden, ob zwischen ihr und der Mitte der Schrift ein konsistenter Zusammen-
hang besteht oder nicht. Wo ein solcher Zusammenhang nicht gegeben ist oder
sogar ein Widerspruch zur Mitte der Schrift konstatiert werden muß, da ist das
20
Die ander Epistel S. Petri und eine S. Judas gepredigt und ausgelegt (1523/24) zu 2 Petr
1,19, WA 14, 30,13–16.20–22: „Das ist Gottes Wort, das Evangelium, daß wir durch Christum
erlöst sind vom Tod, Sünde und Hölle. Wer das hört, der hat das Licht und die Lampe im Herzen
angezündet, dabei wir sehen können, das uns erleuchtet und lehrt, was wir wissen sollen. […]
Denn das Licht lehrt uns alles, was wir wissen sollen und was zur Seligkeit not ist, welches die
Welt durch ihre Klugheit und Vernunft nicht erkennt.“ – S. des weiteren auch: De servo arbitrio,
WA 18, 654,40–655,10 (BoA 3, 143,28–144,2).
21
De servo arbitrio, WA 18, 653,29–31 (BoA 3, 142,12–14): Scripturas sanctas esse lucem
spiritualem, ipso sole longe clariorem, praesertim in iis quae pertinent ad salutem vel neces-
sitatem. Die oben im Text nicht mitübersetzten Worte vel necessitatem („oder auch die Not-
wendigkeit“) beziehen sich auf das in WA 18, 634,29–635,22 (BoA 3, 125,13–126,28) Gesagte.
22 Predigt am Ostermontag nachmittags (1526), WA 20, 336,24 f. mit dem Hinweis auf Lk
24,32: Euangelium est clavis, quae aperit veterem scripturam. („Das Evangelium ist der Schlüs-
sel, der die alte Schrift öffnet.“) – S. ferner: Tischreden, Nr. 390 (1532), WA.Tr 1, 170,28 f. (BoA
8, 50,19): „Das neu testament leuchtet in das allt sicut dies in noctem.“ („Das Neue Testament
leuchtet in das Alte wie der Tag in die Nacht.“) Ebd., Nr. 3789 (1538), WA.Tr 3, 616,1 f. (BoA 8,
169,22 f.): Euangelium est clarissimum et glossa omnium prophetarum. („Das Evangelium ist
völlig klar und die Erklärung aller Propheten[worte].“)
23
Vgl. Dictata super Psalterium (1513–1516) zu Ps 81(82),5, WA 3, 620,5 f.: Nescito […]
Christo impossibile est habere intellectum in Scriptura, cum ipse sit sol et veritas in Scriptura.
(„Ohne die Kenntnis Christi ist es unmöglich, Erkenntnis in der Schrift zu haben, da er selbst
die Sonne und die Wahrheit in der Schrift ist.“) Ebd., zu Ps 101(102),6, WA 4, 153,27 f.: Ego non
intelligo usquam in Script. nisi Christum crucifixum. („Ich habe kein Verständnis in irgend-
einer Sache in der Schrift, wenn ich nicht den gekreuzigten Christus verstehe.“) Entsprechend
heißt es dann in De servo arbitrio, WA 18, 607,4 (BoA 3, 102,6 f.): Christus […] aperuit nobis
sensum, ut intelligamus scripturas. („Christus hat uns den Sinn geöffnet, daß wir die Schrift
verstehen.“) Die hier vorliegende Anspielung auf Lk 24,45 bedeutet nicht, daß von dem sensus
der Christen die Rede ist. Gemeint ist vielmehr der sensus scripturae (s. zu diesem Begriff WA
18, 607,21; 652,27; 734,3 [BoA 3, 102,28; 141,6 f.; 230,34]). Luther bezieht sich nämlich auf die
folgende Aussage des Erasmus: De sensu scripturae pugna est. („Um den Sinn der Schrift geht
der Streit“); De libero arbitrio ΔΙΑΤΡΙΒΗ sive collatio per Desiderium Erasmum Roterodamum,
hg. v. J. von Walter, Leipzig 1910, 14,17 f.
Jesus Christus – die Mitte der Heiligen Schrift 255
geboten, was unter den Reformatoren insbesondere Luther gefordert und selbst
geübt hat: die Unterscheidung zwischen Schrift und Evangelium, zwischen dem,
was in einem Text geschrieben steht, und dem, was der „Wahrheit des Evan-
geliums“ entspricht.24 Denn Christus ist – wie Luther bemerkt – der Herr auch
der Schrift, die deshalb „nicht als Zeuge gegen, sondern als Zeuge für Christus“
gelesen und verstanden sein will.25
Zu dem, was die Reformatoren über das Schriftprinzip und über Christus als die
Mitte der Schrift sagen, gehört wesentlich und unverzichtbar der Gedanke der
„Klarheit“ der Heiligen Schrift.26 Dieser Gedanke wird nur recht verstanden,
wenn man beachtet: Die Aussage, daß die Schrift „klar“ ist, ist beides in einem:
eine Aussage über die Schrift als solche und eine Aussage über den Menschen,
der sie liest. Das heißt: Es geht um das Klarsein der in sich selbst klaren Schrift
für den Leser der Schrift. Dabei ist zwischen einer „äußeren Klarheit“ und einer
„inneren Klarheit“ zu unterscheiden.
Unter der „äußeren Klarheit“ der Schrift versteht Luther ihre vom Glauben
unabhängige Evidenz.27 Damit ist gemeint, daß es nicht erst des christlichen
Glaubens bedarf, um zu sehen, daß Jesus Christus die Mitte des Neuen Testa-
24
S. dazu P. Schempp, Luthers Stellung zur Heiligen Schrift (FGLP II 3), München 1929,
62–69 (Nachdruck in: P. Schempp, Theologische Entwürfe, hg. v. R. Widmann [TB 50], Mün-
chen 1973, 10–74: 57–62); H. Noltensmeier, Reformatorische Einheit. Das Schriftverständnis
bei Luther und Calvin, Graz – Köln 1953, 33–36.
25 Thesenreihe ‚De fide‘ (s. Anm. 10), Thesen 40 f., WA 39 I, 47,1–4: Christus est dominus,
non servus, Dominus Sabbati, legis et omnium. Et Scriptura est, non contra, sed pro Christo
intelligenda, ideo vel ad eum referenda, vel pro vera Scriputura non habenda. („Christus ist der
Herr, nicht der Knecht, der Herr über den Sabbat, über das Gesetz und über alle Dinge. Und die
Schrift ist nicht als Zeuge gegen, sondern als Zeuge für Christus zu begreifen; deshalb ist sie
[d. h. eine bestimmte Aussage] auf ihn zu beziehen oder nicht für wahre Schrift [d. h. für wahres
Schriftzeugnis] zu halten.“) Vgl. auch These 49 ebd., 19 f.: Quod si adversarii scripturam urse-
rint contra Christum, urgemus Christum contra scripturam. („Wenn unsere Gegner die Schrift
gegen Christus treiben, dann treiben wir Christus gegen die Schrift.“) Ein lehrreiches Beispiel
für das hier erwähnte urgere Christum contra scripturam liefert der Große Galaterbrief-Kom-
mentar ([1531] 1535) zu Gal 3,14: WA 40 I, 457,9–459,4 (Hs) bzw. 457,10–459,24 (Dr).
26
S. dazu: De servo arbitrio, WA 18, 606,1–609,14; 652,23–661,12 (BoA 3, 100,34–103,23;
141,1–150,28).
27
S. dazu ausführlich A. Buchholz, Schrift Gottes im Lehrstreit. Luthers Schriftverständ-
nis und Schriftauslegung in seinen drei großen Lehrstreitigkeiten der Jahre 1521–28 (EHS.T
487), Frankfurt am Main u. a. 1993, 59–138 (besonders 63 f.75–80.86–91.131–138). 232–237. Wo
die These vertreten wird, daß nach Luther die claritas externa in der claritas interna begründet
sei (Beispiele bei Buchholz, ebd., 76 Anm. 106), da beruht dies auf einer Interpretation der
in ‚De servo arbitrio‘ enthaltenen claritas-Ausführungen (s. Anm. 26), die sowohl durch das
dort Gesagte wie auch durch zahlreiche andere Aussagen des Reformators als eine Fehldeutung
erwiesen wird.
256 Jesus Christus – die Mitte der Heiligen Schrift
28
Rationis Latomianae confutatio (1521), WA 8, 99,20 f.: Scripturae omnibus communes
sunt, satis apertae, quantum oportet pro salute.
29
S. dazu exemplarisch: Das XIV. und XV. Kapitel S. Johannis gepredigt und ausgelegt
(1538) zu Joh 14,13 f., WA 45, 539,9–551,4. Zitiert sei aus 548,16–18.26–28: „Darum bleiben wir
bei diesem Artikel von Christo, wie ihn die Schrift lehrt, daß er beides, wahrhaftiger Gott und
Mensch, genannt und [so] beschrieben wird, […] also daß die Worte allesamt bedeuten, was sie
heißen. Denn sie sind nicht gesetzt, daß sie Wankelworte sein sollen, sondern daß sie unseren
Glauben klar und gewiß gründen und bestätigen sollen.“ – Vgl. ferner etwa: De servo arbitrio,
WA 18, 700,12–701,13 (BoA 3, 194,5–195,13).
30
Vorlesung über Jesaias (1527–30), WA 31 II, 439,30–32: […] fides in Christum, quam ap-
prehendo per verbum. Verbum apprehendo quidem intellectu, sed assentiri illi verbo est opus
spiritus sancti, non racionis […].
Jesus Christus – die Mitte der Heiligen Schrift 257
Aus der Überzeugung, daß Jesus Christus die Mitte der Schrift ist und daß er
selbst im Evangelium redet, ergibt sich für Luther und die anderen Reformatoren
die Bestimmung des Verhältnisses von Heiliger Schrift und Kirche. In den von
Luther verfaßten Schmalkaldischen Artikeln, die zu den lutherischen Bekennt-
nisschriften gehören, heißt es: „Es weiß, gottlob, ein Kind von sieben Jahren,
was die Kirche sei, nämlich die heiligen Gläubigen und die Schäflein, die ihres
Hirten Stimme hören.“31 Bei der hier gegebenen Definition der Kirche handelt
es sich für Luther um einen Satz, der sich der äußeren Klarheit der Heiligen
Schrift verdankt. Der Reformator setzt nämlich voraus, daß ein Kind nach Voll-
endung des siebten Lebensjahres den Vernunftgebrauch erlangt32 und deshalb
kraft der Vernunft den klaren Worten Jesu von Joh 10 (V. 3, V. 16 und V. 27)
entnehmen kann, was die Kirche ist.33 Inhaltlich entspricht den zitierten Worten
das Urteil, daß die Kirche das „Geschöpf“ des Wortes Jesu Christi – das heißt:
des von den Aposteln gepredigten Evangeliums – ist und daß sie durch dieses
Wort ihres Herrn regiert und im wahren Glauben erhalten wird.34 Das Wort der
Kirche kann deshalb nicht über und auch nicht neben dem Evangelium stehen,
sondern nur unter ihm und in seinem Dienst. Ja, das Wort der Kirche ist dann
und nur dann ein wahres Wort, wenn in ihm das Evangelium laut wird. Von daher
ist ausgeschlossen, daß die Kirche in eigener Autorität entscheiden könnte, was
31
Schmalkaldische Artikel (Druck 1538) III 12, WA 50, 250,1–4 (BoA 4, 318,31–33).
32
Vgl. Codex iuris canonici, can. 97 § 2 über den Minderjährigen: expleto […] septennio,
usum rationis habere praesumitur. („Nach Vollendung des siebten Lebensjahres […] wird an-
genommen, daß er den Vernunftgebrauch erlangt hat.“) Ich zitiere den lateinischen Text nach:
Codex iuris canonici. Codex des kanonischen Rechtes. Lateinisch-deutsche Ausgabe, Kevelaer
²1984, 34.
33
Vgl. die Aussagen über das Urteil von Kindern in: De servo arbitrio, WA 18, 617,21 f.;
677,24–26; 718,33 (BoA 3, 109,38 f.; 168,26–28; 214,16 f.).
34
Resolutiones Lutherianae super propositionibus suis Lipsiae disputatis (1519), WA 2,
430,6–8: Ecclesia […] creatura est Euangelii, incomparabiliter minor ipso, sicut ait Iacobus:
voluntarie genuit nos verbo veritatis suae, et Paulus: per Euangelium ego vos genui. („Die
Kirche […] ist das Geschöpf des Evangeliums, unvergleichlich geringer als dieses, wie Jakobus
sagt: ,Er hat uns gezeugt nach seinem Willen durch das Wort seiner Wahrheit‘ (Jak 1,18), und
Paulus: ,Ich habe euch durch das Evangelium gezeugt‘ (1 Kor 4,15).“ Vgl. auch: Ad librum
eximii Magistri Nostri Magistri Ambrosii Catharini, defensoris Silvestri Prieratis acerrimi,
responsio (1521): WA 7, 721,9–14: Euangelium […] prae pane et Baptismo unicum, certissimum
et nobilissimum Ecclesiae symbolum est, cum per solum Euangelium concipiatur, formetur,
alatur, generetur, educetur, pascatur, vestiatur, ornetur, roboretur, armetur, servetur, breviter,
tota vita et substantia Ecclesiae est in verbo dei, sicut Christus dicit ‚In omni verbo quod
procedit de ore dei vivit homo‘. („Das Evangelium ist […] vor dem Brot [d. h. dem Abendmahl]
und der Taufe das einzigartige, gewisseste und vornehmste Zeichen der Kirche, weil sie durch
das Evangelium allein empfangen, geformt, genährt, gezeugt, erzogen, versorgt, gekleidet, ge-
schmückt, gekräftigt, gefestigt, bewahrt wird, – kurz: das ganze Leben und Wesen der Kirche
ist [d. h. gründet] im Wort Gottes, wie Christus sagt: ,Der Mensch lebt von jedem Wort, das aus
dem Mund Gottes ausgeht‘ [Mt 4,4].“)
258 Jesus Christus – die Mitte der Heiligen Schrift
christlicher Glaube ist und was nicht. Die Kirche kann sich im Gegenteil nur
im gehorsamen Hören auf die Heilige Schrift immer neu das Evangelium sagen
lassen und das, was sie da vernimmt, bezeugen und bekennen. Bei der Bindung
der Kirche an die Heilige Schrift geht es so dezidiert um die Bindung an das
Evangelium, das die Wahrheit über Jesus Christus gültig zur Sprache bringt, und
damit um die Bindung an Jesus Christus selbst, der im Evangelium gegenwärtig
ist und in ihm sein Heil erschließt. Die Reformatoren haben mit Nachdruck
aufgenommen, was im Neuen Testament selbst in den Pastoralbriefen gesagt
wird: Das Evangelium ist das „Wort der Wahrheit“,35 das die „Erkenntnis der
Wahrheit“ schenkt.36 Es ist der Kirche von den Aposteln her als ein heiliges Gut
überkommen und zur Bezeugung anvertraut,37 und nur wenn sie unerschütterlich
an ihm festhält, kann und wird sie sein, was sie nach 1 Tim 3,15b ist: „die Säule
und Grundfeste der Wahrheit“.38
35 2 Tim 2,15; vgl. Kol 1,5; Eph 1,13. Luther stellt, wie das in der vorangehenden Anmerkung
aus den ‚Resolutiones Lutherianae‘ mitgeteilte Zitat exemplarisch zeigt, auch Jak 1,18 hierher –
jedoch wohl zu Unrecht, weil dort nicht das Evangelium, sondern die Tora vom Sinai gemeint
sein dürfte (vgl. Ps 118,43 LXX).
36
Zum Begriff und Gedanken der „Erkenntnis der Wahrheit“ s. besonders 1 Tim 2,4; 2 Tim
2,25.
37
Als ein „heiliges anvertrautes Gut“ (παραθήκη) wird das Evangelium in 1 Tim 6,20 und in
2 Tim 1,12.14 gekennzeichnet. Daß hier das Paulus vorgegebene und von ihm weitergegebene
Evangelium gemeint ist, folgt aus dem Gesamtzusammenhang 2 Tim 1,8–14 (vgl. auch 1 Tim
1,11; Tit 1,3).
38
Zu dieser Kennzeichnung der Kirche s. die tiefgründige Auslegung Johannes Calvins:
Ioannis Calvini in Novum Testamentum Commentarii VII, hg. v. A. Tholuck, Berlin ⁴1864, 411 f.
Deutsche Übersetzung: Johannes Calvins Auslegung der kleinen Paulinischen Briefe, hg. v.
O. Weber, Neukirchen-Vluyn 1963, 479–481.
39 Der Begriff dogma begegnet häufig in ‚De servo arbitrio‘; s. dazu vor allem: WA 18, 604,4;
604,6; 604,22.26; 605,18; 606,1; 631,28.33; 632,11.14; 639,11; 642,15 f.; 661,18; 667,8; 723,5 (BoA
3, 98,28; 98,31; 99,12.17; 100,13 f.; 100,34 f.; 122,26.32; 123,13.17; 129,38; 132,1 f.; 150,35; 157,3 f.;
218,38). Zur Identität von dogma (im Sinne von dogma Christianum) und articulus fidei s. WA
18, 656,21–30 (BoA 3, 145,20–31).
40
S. exemplarisch die scharfe Gegenüberstellung von dogmata Christiana („die christlichen
Jesus Christus – die Mitte der Heiligen Schrift 259
hypothetisch bleiben und durchaus mit Skepsis betrachtet werden können, muß
ein Dogma „klar, offenkundig und einleuchtend“, ja „völlig einleuchtend“ sein.41
Von daher will das Urteil verstanden sein, daß die Dogmen der Kirche nicht
von dieser selbst „aufgestellt“ und „gestiftet“ worden sind, sondern von Gott
allein. „Die Kirche Gottes“ – so formuliert Luther – „hat nicht die Macht, irgend
einen Artikel des Glaubens aufzustellen, wie sie denn weder je einen solchen
aufgestellt hat noch in Zukunft aufstellen wird.“42 „Alle Artikel“ sind vielmehr
„hinreichend in der Heiligen Schrift aufgestellt, so daß nicht die Notwendigkeit
besteht, daß außerdem noch ein solcher aufgestellt wird“.43 Artikel des Glaubens
zu stiften – so heißt es an einer anderen Stelle – steht allein Gott zu;44 sein Wort
„soll Artikel des Glaubens aufstellen und sonst niemand, auch kein Engel“.45 Für
die These, daß alle Dogmen bereits in der Heiligen Schrift durch das Wort Gottes
aufgestellt sind und es deshalb durchaus nicht in der Hand der Kirche liegt, Ar-
tikel des Glaubens festzusetzen, beruft sich der Reformator auf das Pauluswort
1 Kor 3,11: „Ein anderes Fundament kann niemand legen außer dem, das gelegt
ist, welches ist Jesus Christus.“46 Dazu bemerkt er: „Hier hast du das von den
Aposteln gelegte Fundament. Aber jeder Artikel des Glaubens ist ein Teil dieses
Fundamentes, und daher kann kein anderer Artikel gelegt werden als der, der
gelegt ist.“47 Alle Dogmen hängen dieser Aussage zufolge mit der Offenbarung
Gottes in Jesus Christus zusammen,48 die authentisch und verbindlich durch die
Apostel in dem von ihnen bezeugten Evangelium zur Sprache gebracht wird.
Dogmen“) und philosophorum et hominum opiniones („die Meinungen der Philosophen und
der Menschen“) in: De servo arbitrio, WA 18, 605,18 f. (BoA 3, 100,13–15).
41 De servo arbitrio, WA 18, 656,24 f. (BoA 3, 145,24–26): clarum, apertum et evidens esse
debet prorsusque similis caeteris omnibus evidentissimis articulis. („Es muß klar, offenkundig
und einleuchtend sein und ganz und gar allen übrigen völlig einleuchtenden Artikeln gleich
[d. h. mit ihnen kohärent].“) S. auch die Fortsetzung WA 18, 656,25–30 (BoA 3, 145,26–31).
42
Propositiones adversus totam synagogam Sathanae et universas portas inferorum (1530),
These I, WA 30 II, 420,6 f.: Ecclesia Dei non habet potestatem condendi ullum articulum fidei,
sicut nec ullum unquam condidit nec condet in perpetuum.
43
Ebd., These III, WA 30 II, 420,12 f.: Omnes articuli sufficienter sunt in scripturis sanctis
conditi, ut non sit opus ullum praeterea condi.
44
Schmalkaldische Artikel (Druck 1538) II 2, WA 50, 206,3 f. (BoA 4, 299,21): „welches
allein Gott zugehört“.
45
Ebd., WA 50, 206,27–29 (BoA 4, 299,32 f.)
46
Assertio omnium articulorum M. Lutheri per bullam Leonis X. novissimam damnatorum
(1520), WA 7, 131,27–31: Certum est, in manu Ecclesiae aut Papae prorsus non esse statuere
articulos fidei […] Probo hunc sic: i. Corint. iii. ‚Fundamentum aliud nemo potest ponere
praeter id quod positum est, quod est Iesus Christus‘. („Es ist gewiß, daß es durchaus nicht in
der Hand der Kirche oder des Papstes liegt, Artikel des Glaubens festzusetzen […]. Ich beweise
das so: 1 Kor 3 [folgt das Zitat].“)
47 Ebd., WA 7, 131,31–33: Hic habes fundamentum ab Apostolis positum. At omnis articulus
fidei est pars huius fundamenti, quare poni alius articulus quam positus est nullus potest.
48
Vgl. De servo arbitrio, WA 18, 638,24–639,1 (BoA 3, 129,24–26): Nos nihil nisi Ihesum
crucifixum docemus, At Christus crucifixus haec omnia secum affert. („Wir lehren nichts außer
Jesus, den Gekreuzigten. Aber der gekreuzigte Christus bringt das alles mit sich.“)
260 Jesus Christus – die Mitte der Heiligen Schrift
Die Kirche kann die Dogmen deshalb nur „bezeugen“ und „bekennen“ und sie
gegenüber der Häresie „verteidigen“ – wie sie das auf den „vier Hauptkonzilien“
(Nicäa 325, Konstantinopel 381, Ephesus 431, Chalcedon 451) getan hat.49 In den
Dogmen, die Luther ausdrücklich als „Dogmen Christi“ bezeichnet,50 kommt
das im Evangelium geoffenbarte „höchste Geheimnis“ zur Sprache: „Christus,
der Sohn Gottes, ist Mensch geworden, Gott ist dreifaltig und ein einziger,
Christus hat für uns gelitten und wird (sc. als der Auferstandene) in Ewigkeit
herrschen.“51 Die von Gott gesetzten Artikel des Glaubens betreffen also das
trinitarische und das christologische Dogma. Christi Person und Werk und eben
damit des Menschen Heil sind der Inhalt des Evangeliums und deshalb auch des
Dogmas.
In der Überzeugung, daß die „Artikel des Glaubens“ von Gott selbst im Evan-
gelium „gesetzt“ und so im Neuen Testament gültig kundgegeben sind, ist es
begründet, daß die Reformatoren kein Lehramt kennen, das einer menschlichen
Instanz übertragen wäre. Das Lehramt kommt weder der Kirche insgesamt noch
auch bestimmten Personen in ihr zu – und selbstverständlich auch nicht der
Theologie als Wissenschaft oder den Theologieprofessoren. Das Wort „Einer ist
euer Lehrer: Christus“ (Mt 23,10) gilt hier exklusiv, und das bedeutet, daß das
Evangelium von Jesus Christus und insofern die Heilige Schrift die alleinige
Lehrautorität in der Kirche ist. Am Zeugnis der Schrift muß deshalb jedes
theologische Urteil überprüft werden, das in der Kirche vertreten wird, wobei
diese Überprüfung nur im gemeinsamen Gespräch derer möglich ist, die auf die
Schrift hören wollen.
49 S. dazu Luthers Schrift ‚Von den Konziliis und Kirchen‘ (1539), WA 50, 509–653. Aus-
gabe in einer dem heutigen Deutsch angenäherten Fassung: M. Luther, Von den Konziliis
und Kirchen (M. Luther, Ausgewählte Werke. Dritte Auflage, Ergänzungsreihe 7), München
1963. Zum Begriff der „vier Hauptkonzilia“ s. dort 92, zur Würdigung der Konzilien vor allem
41–44.59–63 (Nicäa), 65–70 (Konstantinopel), 70–80 (Ephesus), 80–83.90 (Chalcedon). 92–94
(die vier Konzilien insgesamt).
50
De servo arbitrio, WA 18, 604,6 (BoA 3, 98,31).
51
De servo arbitrio, WA 18, 606,26–28 (BoA 3, 101,25–28): […] illud summum mysterium
proditum est, Christum filium Dei factum hominem, Esse Deum trinum et unum, Christum pro
nobis passum et regnaturum aeternaliter. Zu der Rede von dem summum mysterium vgl. 1 Tim
3,16.
Jesus Christus – die Mitte der Heiligen Schrift 261
Bestimmtheit enthalten ist, kann es von denen, die mit dem Dienst am Wort
Gottes beauftragt sind, in aller Eindeutigkeit wahrgenommen und in der gleichen
Eindeutigkeit ausgerichtet werden – dies in der Erwartung, daß der Heilige Geist
die Herzen der Hörenden öffnet, so daß sie zu dem Glauben geführt und in dem
Glauben bewahrt werden, der das Heil ergreift. Der Ort, an dem das geschehen
soll, ist vor allem andern der Gottesdienst der versammelten Gemeinde, in dem
das Evangelium in der Predigt und in der Feier der heiligen Sakramente laut
wird. Es ist in dem reformatorischen Schriftverständnis begründet, wenn Luther
den Sinn des Gottesdienstes dahingehend beschreibt, „daß unser lieber Herr
selbst mit uns rede durch sein heiliges Wort und wir wiederum mit ihm reden
durch Gebet und Lobgesang“.52
52 Predigt am 17. Sonntag nach Trinitatis, bei der Einweihung der Schloßkirche zu Torgau
Die Erzählung von der Auferweckung des Lazarus Joh 11,1–44 gehört sowohl in
narrativer wie auch in theologischer Hinsicht zu den zentralen Texten des Vierten
Evangeliums und des Neuen Testaments überhaupt. Die Orthodoxe Kirche hat –
in auffallendem Unterschied zu den Kirchen des Westens – das Zeugnis dieser
Erzählung dadurch in eindrucksvoller Weise aufgenommen, daß dem in ihr be-
richteten Geschehen innerhalb des Kirchenjahrs ein eigener Festtag gewidmet
worden ist: der „Samstag des heiligen und gerechten Lazarus“.1 Dieser Tag, an
dem die Erzählung von der Auferweckung des Lazarus in der Göttlichen Liturgie
vollständig verlesen wird, gehört zu den hohen Festen der Kirche.2 An ihm –
aber auch in den Gottesdiensten der fünf voraufgehenden Werktage und des un-
mittelbar folgenden Palmsonntags – werden darüber hinaus zahlreiche Hymnen
gesungen, die das Wunder der Auferweckung des Lazarus zum Thema haben.3
Diesen Hymnen, in denen wir höchst beachtliche Dokumente der Auslegungs-
und Wirkungsgeschichte der johanneischen Erzählung zu erkennen haben,4 sind
1
S. dazu den entsprechenden Artikel in: K. Onasch, Kunst und Liturgie der Ostkirche in
Stichworten unter Berücksichtigung der Alten Kirche, Wien – Köln – Graz 1981, 238 f.
2
In der älteren Tradition wird der Lazarussamstag in der Regel zum Dodekaortion gerechnet;
s. K. Onasch, Art. Dodekaortion, in: Ders., Kunst und Liturgie der Ostkirche (s. Anm. 1), 86.
Zur heute üblichen Bestimmung der zwölf Hochfeste s. etwa: The Festal Menaion, translated
from the original Greek by Mother Mary and Archimandrite Kallistos Ware, London – Boston
1977 = 1984, 41 f.; P. D. Day, Art. Twelve great feasts, in: Ders., The Liturgical Dictionary of
Eastern Christianity, Collegeville, MN 1993, 296.
3
Neben den Lazarus-Hymnen, die in das Triodion – das liturgische Buch mit den Eigen-
texten für die Vorfastenzeit und die Große Fastenzeit – aufgenommenen wurden, sind weitere
Dichtungen erhalten. Erwähnt seien die beiden Hymnen des Romanos Melodos (6. Jahrhun-
dert): Kontakion 26 und 27; s. P. Maas / C. A. Trypanis (Hg.), Sancta Romani Melodi Cantica.
Cantica genuina, Oxford 1963, 102–116; J. Grosdidier de Matons (Hg.), Romanos le Mélode,
Hymnes III (SC 114), Paris 1965, 145–225: 154–179.198–219.
4
Zur Auslegungs- und Wirkungsgeschichte von Joh 11,1–44 s. J. Kremer, Lazarus. Die Ge-
schichte einer Auferstehung. Text, Wirkungsgeschichte und Botschaft von Joh 11,1–46, Stuttgart
1985. Kremer weist dort lediglich auf Romanos Melodos hin (150–152); die in dem vorliegenden
Aufsatz behandelte Hymnendichtung findet dagegen keine Berücksichtigung.
264 Die Auferweckung des Lazarus
die folgenden Darlegungen gewidmet.5 Unser Interesse gilt dabei der Frage,
welche Züge und Aussagen des Evangelienberichtes in den Hymnen aufgenom-
men wurden, welche Deutung sie dort erfahren haben und wie diese Deutung im
Licht heutiger wissenschaftlicher Exegese des Textes Joh 11,1–44 zu würdigen
ist.6
Der Betrachtung der Hymnen sei eine knappe Übersicht über die relevanten
Texte vorangestellt.7 Den größten Teil des Materials liefern die folgenden Dich-
tungen, die jeweils einem bedeutenden Hymnographen zugeschrieben werden.8
5
Die griechischen Texte des Triodion zitiere ich nach der Ausgabe der Ἀποστολικὴ Διακονία
der Kirche von Griechenland: Τριῴδιον κατανυκτικόν, Athen 1960. Anstelle der dort gebotenen
metrischen Abteilung der einzelnen Verszeilen wähle ich jedoch eine der syntaktischen Struktur
der Sätze entsprechende Interpunktion. – Allen griechischen Hymnen-Zitaten habe ich eine
deutsche Übersetzung beigefügt, die um eine möglichst genaue Wiedergabe des Textsinns
bemüht ist. Folgende Übersetzungen wurden verglichen: Die Ostkirche betet. Hymnen aus den
Tagzeiten der Byzantinischen Kirche II: Vierte bis sechste Fastenwoche. Die Heilige Woche,
Münster ²1963 (Übersetzung von K. Kirchhoff, Überarbeitung von Chr. Schollmeyer); Der
Gottesdienst am Samstag des hl. gerechten Lazarus. Zusammengestellt und übersetzt von Erz-
priester D. Ignatiev, München 1991; The Lenten Triodion, translated from the original Greek by
Mother Mary and Archimandrite Kallistos Ware, London – Boston 1978 = South Canaan, PA
2002; The Lenten Triodion. Supplementary Texts, translated from the original Greek by Mother
Mary and Archimandrite Kallistos Ware, Bussy-en-Othe 1979.
6
Zur Exegese s. O. Hofius, Die Auferweckung des Lazarus. Joh 11,1–44 als Zeugnis nar-
rativer Christologie, in: Ders., Exegetische Studien (WUNT 223), Tübingen 2008, 28–45.
In diesem Aufsatz finden die im Folgenden notierten exegetischen Feststellungen ihre de-
taillierte Begründung. Vgl. außerdem auch die tiefgreifenden Ausführungen zu Joh 11,1–44
bei Χ. Κ. Καρακολης, Ἡ θεολογικὴ σημασία τῶν θαυμάτων στὸ κατὰ Ἰωάννην εὐαγγέλιο,
Thessaloniki 1997, 248–309.
7 Die Übersicht berücksichtigt, daß in liturgischer Hinsicht die Gottesdienste des Freitag-
abends zum Lazarussamstags und diejenigen des Samstagabends zum Palmsonntag gehören.
Die im Folgenden genannten Gottesdienste sind: a) der Hesperinos (Ἑσπερινός) = der Abend-
gottesdienst, d. h. die Vesper; b) das Apodeipnon (Ἀπόδειπνον) = der Nachtgottesdienst, dem
in der westlichen Tradition die Komplet entspricht; c) der Orthros (Ὄρθρος) = der Matutin und
Laudes entsprechende Morgengottesdienst. Während ich bei den drei Gottesdiensten sowie bei
den Namen der Hymnographen der erasmischen Aussprache des Griechischen folge, werden
andere griechische Fachbegriffe – von den Termini „Ode“ und „Stichologie“ abgesehen – nach
der neugriechischen Aussprache wiedergegeben. Eine knappe Erläuterung der hymnologischen
bzw. liturgischen Begriffe bietet der terminologische Anhang.
8
Zu den Hymnographen s. Π. Ν. Τρεμπελας, Ἐκλογὴ Ἑλληνικῆς Ὀρθοδόξου Ὑμνογραφίας,
Athen ²1978, 279–287 (Andreas von Kreta [† 740]), 310–321 (Kosmas von Majuma [8. Jahr-
hundert]), 321 f. (Theophanes Graptos [† 845]), 345 f. (Theodoros Studites [759–826] und
Joseph von Thessaloniki [762–832]), 376 (Leon der Weise [886–912]); s. auch 287–310 zu
Johannes Damaskenos († vor 754) und zur Frage der Identifizierung des Johannes Monachos.
Nicht näher bekannt ist offensichtlich Andreas der Blinde (Andreas Typhlos), dessen Stichiron
in Anm. 19 erwähnt wird. – Knappe Informationen zu den Hymnographen finden sich in: Die
Ostkirche betet. Hymnen aus den Tagzeiten der Byzantinischen Kirche I: Vorfastenzeit. Erste
bis dritte Fastenwoche, Münster ²1962, 451–453; Osterjubel der Ostkirche. Hymnen aus der
fünfzigtägigen Osterfeier der Byzantinischen Kirche, Münster ²1961, 621–623; Hymnen der
Ostkirche. Dreifaltigkeits-, Marien- und Totenhymnen, Münster ²1960 = 1979, 269 f.
Die Auferweckung des Lazarus 265
II
Wenn wir uns nunmehr den Texten selbst zuwenden, so ist in einem ersten
Schritt unserer Betrachtung auf drei erzählerische Motive hinzuweisen, denen
im Gesamtzusammenhang von Joh 11,1–44 eine besondere Bedeutung zukommt
9
Von Kosmas stammt auch der im Orthros des Palmsonntags gesungene Kanon, in dessen
dritter Ode von Lazarus die Rede ist.
10 Die in Anm. 5 genannte Edition des Triodion bietet bei den mit den Äni verbundenen
Stichira keine Verfasserangabe. Dagegen wird Johannes Monachos als Autor genannt in:
Ἀνθολόγιον τῶν ἱερῶν ἀκολουθιῶν τοῦ ὅλου ἐνιαυτοῦ. Ἐπιμελείᾳ Κ. Παπαγιάννη. Τόμος
Α’: Ἰανουάριος – Μάρτιος. Τριῴδιον, Thessaloniki 1992, 1069. Ob unter Ἰωάννης Μοναχός
Johannes Damaskenos zu verstehen ist (so z. B. Die Ostkirche betet II [s. Anm. 5], 323–327;
Onasch, Kunst und Liturgie der Ostkirche [s. Anm. 1], 239), ist umstritten; vgl. Τρεμπελας,
Ἐκλογὴ Ἑλληνικῆς Ὀρθοδόξου Ὑμνογραφίας (s. Anm. 8), 288.405. Ich führe deshalb bei der
Verfasserangabe lediglich den Namen Johannes an.
11
Bei den im Orthros auf die Stichologien folgenden Kathismen fehlt in der in Anm. 5 ge-
nannten Edition des Triodion eine Verfasserangabe, wohingegen diese in Die Ostkirche betet
II (s. ebd.) Joseph von Thessaloniki bzw. Theodoros Studites zugeschrieben werden. – Da der
Hesperinos des Freitags bereits zum Lazarussamstag zählt, gilt das zu diesem Gottesdienst
Gesagt nur für die Tage von Montag bis Donnerstag.
12
Was die Fundorte der im Folgenden zitierten bzw. erwähnten Texte anlangt, so gilt: a) Die
Hymnen des Lazarussamstags werden stets an erster Stelle sowie ohne Erwähnung des Tages
und des entsprechenden Gottesdienstes angeführt. b) Bei den Hymnen der fünf dem Lazarus-
samstag voraufgehenden Werktage und des Palmsonntags werden jeweils der Tag und der
betreffende Gottesdienst genannt. c) Oden werden mit römischen, Strophen (Troparia) mit
arabischen Zahlen bezeichnet. Die Strophenzählung entspricht der im Triodion (s. Anm. 5)
gebotenen Abfolge; dabei wird der Irmos, die Leitstrophe, stets als erste Strophe gezählt – also
auch dann, wenn dort nur sein Anfang angegeben ist.
266 Die Auferweckung des Lazarus
und die in den Hymnen sowohl aufgenommen wie auch in ihrer theologischen
Bedeutung reflektiert werden.13
1. Die Hymnen bringen das wichtige Motiv zur Sprache, das in dem Ab-
schnitt Joh 11,6–16 zum Ausdruck kommt. Wie der Evangelist in diesen Versen
darlegt, ist der Weg zur Auferweckung des Lazarus für Jesus selbst der Weg,
der ihn an das Kreuz führen wird.14 Das aber bedeutet: Damit Lazarus lebt, muß
Jesus sterben. Diesen Zusammenhang beschreibt unter anderem ein Triodion
des Joseph. Der Dichter erwähnt zunächst die Ankündigung Jesu, daß er nach
Jerusalem gehe, um am Kreuz zu sterben,15 und sodann heißt es:
Θανάτου θέλων, Λόγε, ἐξαρπάσαι φίλον τὸν σόν, σαρκὶ θανατωθῆναι δι᾽ ἡμᾶς κατεπείγῃ
τοὺς βροτούς, ἀθανατίζων τοὺς πιστούς, μόνε ἀθάνατε.16
„Weil du, o Wort, deinen Freund dem Tod entreißen willst, begehrst du, dich um unsert-
willen, die wir sterblich sind, dem Fleisch nach töten zu lassen und so die Glaubenden
unsterblich zu machen, du allein Unsterblicher.“
Als höchst bedeutsam muß gelten, daß das Troparion nicht nur von Lazarus
spricht, sondern zugleich auch von „uns“, d. h. von den an Christus Glaubenden.
Das entspricht voll und ganz dem Sinn der Erzählung Joh 11,1–44 selbst. In ihr
geht es keineswegs nur um Lazarus allein; Lazarus repräsentiert vielmehr alle,
die dem Tod verfallen sind und für die Christus in freiwilliger Entscheidung den
Weg an das Kreuz geht, um sie aus der Gewalt des Todes zu erretten. Dieser
Gedanke begegnet auch in dem folgenden Troparion, das ausdrücklich auf Joh
11,8 Bezug nimmt:
Πρὸς Ἰουδαίαν, Χριστέ, πάλιν ἔρχῃ ζητοῦσαν τῆς ζωῆς σὲ τὸ ξύλον διὰ ξύλου ἀνελεῖν,
ποθῶν ἀθανατίσαι τοὺς τεθανατωμένους τῇ διὰ ξύλου βρώσει.17
13 Daneben wären weitere Motive zu notieren, die aber von geringerem Gewicht sind und
deshalb in dem vorliegenden Aufsatz nicht erörtert werden sollen. Nur ein Beispiel sei genannt:
In Aufnahme der Wendung Λάζαρος ὁ φίλος ἡμῶν Joh 11,11 wird Lazarus in den Hymnen
mehrfach als Jesu „Freund“ bezeichnet, und die entsprechende Aussage, daß Jesus Lazarus
„liebhatte“ (Joh 11,3b.5), findet etwa ihr Echo in Tetraodion des Kosmas VI 2: Ἀγάπη σε εἰς
Βηθανίαν, Κύριε, ἀπήγαγε πρὸς Λάζαρον, καὶ τοῦτον ἤδη ὀδωδότα ἀνέστησας ὡς Θεὸς καὶ ἐκ
δεσμῶν τοῦ Ἅιδου διέσωσας („Die Liebe führte dich, Herr, nach Bethanien zu Lazarus, und
ihn, der schon verweste, hast als Gott du auferweckt und aus den Fesseln des Hades errettet“).
14 S. neben V. 8 insbesondere auch V. 15 f.: Jesu Wort ἄγωμεν πρὸς αὐτόν (sc. πρὸς τὸν
Λάζαρον) veranlaßt Thomas zu der Feststellung: ἄγωμεν καὶ ἡμεῖς ἵνα ἀποθάνωμεν μετ᾽ αὐτοῦ.
15 Freitag (Orthros), Triodion des Joseph IX 2: […] ἀληθῶς παραδοθήσομαι σταυρῷ
ἀποκτανθῆναι σαρκί („in Wahrheit werde ich ausgeliefert werden, um dem Fleisch nach am
Kreuz getötet zu werden“). Hier handelt es sich um eine Bezugnahme auf Mt 20,18 f. (vgl. Mk
10,33 f.; Lk 18,31–33).
16 Freitag (Orthros), Triodion des Joseph IX 3.
17
Mittwoch (Orthros), Triodion des Joseph VIII 4 (s. zu διὰ ξύλου ἀνελεῖν: Apg 5,30; 10,39;
13,29; Gal 3,13; 1 Petr 2,24 und zu τῇ διὰ ξύλου βρώσει: Gen 2,16 f.; 3,1–19). Vgl. auch Mitt-
woch (Orthros), Triodion des Theodoros IX 3: Nach Judäa, das ihn zu steinigen suchte, kommt
Christus aufs neue, τὸ σωτήριον πάθος γλιχόμενος ἐκπληρῶσαι ὡς Θεός („in dem Verlangen,
Die Auferweckung des Lazarus 267
„Nach Judäa, das dich, den Baum des Lebens, durch den Baum (sc. des Kreuzes) töten
will, gehst du aufs neue, Christus, weil du die unsterblich machen willst, die durch die
Speise des Baumes getötet worden sind.“
das erlösende Leiden als Gott zu vollenden“), und er erduldet dort willig den Tod εἰς τὸ σῶσαι
ἡμᾶς („um uns zu erretten“).
18 Freitag (Orthros), Triodion des Joseph V 3. – S. ferner noch: Stichira des Leon 1; Tetra-
odion des Johannes VII 2; Mittwoch (Orthros), Triodion des Joseph VIII 4.
19 Stichira des Leon 3.6; Stichiron Andreas des Blinden; Kanon des Andreas II 2–4.6–9.
III 3–7. IV 3.4.10. V 3–5. VI 2–6. VII 8. VIII 3. IX 8; Kathismata nach der ersten und zweiten
Stichologie; Kanon des Theophanes I 3. III 5. IV 4. V 2; Kanon des Kosmas III 4. IV 5. V 2.3;
Anderes Kathisma nach Ode III; Tetraodion des Kosmas VI 3. VII 3. VIII 3; Tetraodion des
Johannes VII 3. VIII 2; Exapostilarion; Stichira des Johannes 7–9; Palmsonntag (Großer Hes-
perinos), Stichira zu den Luzernariumspsalmen 4; Palmsonntag (Orthros), Kanon des Kosmas
III 2. – Die relevanten Termini sind: λόγος, ῥῆμα, φωνή, πρόσταγμα, πρόσταξις, κέλευσις sowie
die entsprechenden Verben.
20 Stichira des Leon 3.
21 Kanon des Andreas II 4.
22
Mittwoch (Orthros), Triodion des Joseph IX 3.
23
Kanon des Kosmas III 4.
24
Kanon des Kosmas V 3 bzw. Kanon des Theophanes III 5.
268 Die Auferweckung des Lazarus
Das eine Motiv betrifft den Tatbestand, daß Lazarus schon den vierten Tag im
Grab liegt und also bereits in Verwesung begriffen ist. Immer wieder erscheint in
den Hymnen das τεταρταῖος von Joh 11,39b, und mehrfach begegnet daneben –
wie in dem soeben zitierten Troparion – das Partizip ὀδωδώς,26 mit dem die
Worte ἤδη ὄζει des gleichen Verses aufgenommen werden. Das andere Motiv
liegt in dem, was in Joh 11,43 f. über den gebietenden Ruf Jesu und die Reaktion
des Lazarus berichtet wird: φωνῇ μεγάλῃ ἐκραύγασεν (sc. ὁ Ἰησοῦς)· Λάζαρε,
δεῦρο ἔξω. ἐξῆλθεν ὁ τεθνηκὼς δεδεμένος τοὺς πόδας καὶ τὰς χεῖρας κειρίαις
καὶ ἡ ὄψις αὐτοῦ σουδαρίῳ περιεδέδετο. Theophanes sagt dazu in einem seiner
Troparia:
Δεδεμένος τοὺς πόδας Λάζαρος ἐβάδιζε, θαῦμα ἐν θαύμασι! καὶ γὰρ μείζων ὤφθη τοῦ
κωλύοντος ὁ ἐνισχύων Χριστός· οὗ τῷ λόγῳ πάντα δουλοπρεπῶς ὑπηρετοῦσιν ὡς Θεῷ
καὶ Δεσπότῃ δουλεύοντα.27
„Gebunden an den Füßen schritt Lazarus einher – Wunder aller Wunder! Denn als größer
als der, der ihn zurückhalten wollte, zeigte sich der, der ihm Kraft verlieh: Christus.
Seinem Wort gehorchen, wie es sich einem Sklaven geziemt, alle Dinge, und sie dienen
ihm als Gott und Herrn.“
In diesem Troparion ist nicht von einem zusätzlichen Wunder – also einem
„Wunder im Wunder“ – die Rede,28 sondern das emphatische θαῦμα ἐν θαύμασι!
kennzeichnet die Auferweckung des Lazarus in Übereinstimmung mit dem Sinn
der Schilderung von Joh 11,44 als ein einzigartiges und unerhörtes Wunder, als
das Wunder schlechthin.29
25
Kanon des Andreas VIII 3; vgl. Tetraodion des Johannes VII 4.
26
Kanon des Andreas II 4.7. IV 7. VIII 3; Kanon des Kosmas I 4; Kanon des Theophanes
V 4; Tetraodion des Kosmas VI 2; Tetraodion des Johannes VII 4; Palmsonntag (Großer
Hesperinos), Stichira zu den Luzernariumspsalmen 4. – Die genaue Bedeutung von ὀδωδώς
ist: „stinkend“; ich wähle dafür die Übersetzung „verwesend“ u. ä.
27
Kanon des Theophanes V 3. Zu dem Motiv von Joh 11,44 s. ferner: Kanon des Andreas V
5; Tetraodion des Kosmas VII 3; Tetraodion des Johannes VII 4.
28 Diese Deutung findet sich bei einigen Kirchenvätern; s. dazu W. Bauer, Das Johannes-
evangelium (HNT 6), Tübingen ³1933, 154; Καρακολης, Ἡ θεολογικὴ σημασία τῶν θαυμάτων
στὸ κατὰ Ἰωάννην εὐαγγέλιο (s. Anm. 6), 303 Anm. 228.
29
So richtig die Übersetzung in The Lenten Triodion (s. Anm. 5), 481: „O wonder of won-
ders!“ Der Ausdruck θαῦμα ἐν θαύμασι entspricht der Formulierung θαῦμα θαυμάτων bei
Romanos Melodos (s. Anm. 3): Kontakion 27,1.
Die Auferweckung des Lazarus 269
III
Bleiben wir bei den erzählerischen Motiven, so muß jetzt von jenen Hymnen
gesprochen werden, die in dem Bericht von der Auferweckung des Lazarus ein
Zeugnis dafür erkennen, daß Jesus im Sinne des Dogmas von Chalcedon beides
ist: wahrer Gott und wahrer Mensch. Er selbst offenbart diesen Hymnen zufolge
in dem in Joh 11,1–44 berichteten Geschehen sowohl seine wahre Gottheit wie
auch seine wahre Menschheit. So heißt es in einem Troparion des Theophanes:
Δύο προβαλλόμενος τὰς ἐνεργείας σου ἔδειξας τῶν οὐσιῶν, Σῶτερ, τὴν διπλόην· Θεὸς
γὰρ εἶ καὶ ἄνθρωπος.30
„Indem du deine zwei Wirksamkeiten in Erscheinung treten ließest, hast du, Heiland,
die Zweiheit deiner Wesenheiten zu erkennen gegeben; denn du bist Gott und Mensch.“
Seine wahre Gottheit offenbart Jesus den Hymnen zufolge bereits darin,
daß er von dem Tod des Lazarus weiß und ihn seinen Jüngern kundtut (Joh
11,11.14).31 Vor allem aber stellt er „die unbegrenzte Wirkkraft“ seiner Gott-
heit unter Beweis,32 indem er „in eigener Machtvollkommenheit“33 den von
der Verwesung gezeichneten Lazarus durch sein allgewaltiges Schöpferwort34
vom Tode auferweckt.35 Darin zeigt sich, daß er der Sohn Gottes36 und als
solcher – wie sein Vater – der „Gott der Lebenden und der Toten“37 ist. In der
zuletzt erwähnten Aussage haben wir eine Prädikation vor uns, die Jesu ein-
zigartige göttliche Hoheit zum Ausdruck bringt. Ihr treten in den Hymnen wei-
tere Hoheitsbegriffe an die Seite. Neben dem häufigen Σωτήρ und dem in Joh
1,1.14 vorgegebenen Λόγος38 sind etwa die Bezeichnungen Jesu als ἀθάνατος,
30
Kanon des Theophanes III 2; s. ferner: Kanon des Andreas IV 9. IX 3; Stichira des Jo-
hannes 1. – Zu der Lehre von den δύο ἐνέργειαι Christi, wie sie in dem zitierten Troparion des
Theophanes zum Ausdruck kommt, s. das Glaubensbekenntnis (Versio graeca) und die Canones
11–16 des Concilium Lateranense von 649: DH 228 f. (*500). 234–236 (*511–*516).
31 Kanon des Andreas I 8; Kanon des Kosmas I 2; Anderes Kathisma nach Ode III; Tetra-
odion des Johannes VI 2; Ikos; Stichira des Johannes 4; Mittwoch (Hesperinos), Stichira des
Joseph 1.
32
So Tetraodion des Johannes VI 2: πιστούμενος […] τῆς θεότητός σου τὴν ἀόριστον
ἐνέργειαν („gültig bezeugend […] die unbegrenzte Wirkkraft deiner Gottheit“ [zur Übersetzung
des Verbums πιστοῦσθαι s. u. Anm. 81]).
33 αὐτεξουσίως: Kanon des Andreas IV 4; Tetraodion des Johannes IX 2 (s. auch IX 5 [zitiert
bei Anm. 61]). Vgl. Stichira des Johannes 5: θεϊκῇ δυναστείᾳ αὐτεξουσίῳ θελήματι („mit gött-
licher Macht in selbstmächtigem Willen“).
34
S. dazu die in den Anmerkungen 19–24 notierten Belege.
35 Stichira des Leon 5; Kanon des Andreas III 5. IV 5.6.9. VII 8. IX 3; Kanon des Theophanes
I 4; Tetraodion des Kosmas VI 2.3. VII 2. VIII 3; Tetraodion des Johannes VI 3. VIII 2.4. IX 4;
Stichira des Johannes 1; Dienstag (Orthros), Triodion des Theodoros IX 3.
36 Kanon des Andreas IV 2.
37
Kanon des Andreas V 1.2: Θεὸς ζώντων καὶ τῶν νεκρῶν.
38
Kanon des Andreas IV 9. V 4. IX 3.8; Kanon des Kosmas I 4; Kanon des Theophanes IV
3; Exapostilarion; Mittwoch (Orthros), Triodion des Joseph IX 3; Freitag (Orthros), Triodion
des Joseph IX 3.
270 Die Auferweckung des Lazarus
39
ἀθάνατος: Kanon des Theophanes I 3. V 2; Freitag (Orthros), Triodion des Joseph IX 3;
Palmsonntag (Orthros), Ikos. – παντοδύναμος: Kanon des Theophanes IV 2; Kanon des Kosmas
IV 4; Stichira des Johannes 4; Freitag (Orthros), Triodion des Theodoros IX 3. – πάντων
Κύριος: Kanon des Kosmas III 3 (vgl. Apg 10,36; Röm 10,12). – Βασιλεὺς τῶν ἁπάντων: Diens-
tag (Orthros), Triodion des Theodoros II 5.
40
κτίστης: Kanon des Andreas VII 3. IX 2; Ikos; Montag (Orthros), Triodion des Theo-
doros VIII 3; Dienstag (Orthros), Triodion des Theodoros IX 3; Donnerstag (Orthros), Erstes
Kathisma nach der dritten Stichologie. – δημιουργός: Kanon des Kosmas IV 2. – ποιητής:
Anderes Kathisma nach Ode III. – πλάστης: Tetraodion des Kosmas VIII 3. – πλαστουργός:
Kanon des Theophanes I 2.
41
κτίστης (ἁ)πάντων („der Schöpfer aller“): Kanon des Andreas III 2; Ikos; Palmsonntag
(Großer Hesperinos), Stichira zur Liti 6. – κτίστης τῶν ὅλων („der Schöpfer des Weltalls“):
Ikos. – ποιητὴς καὶ συνοχεὺς τῶν ἁπάντων („der Schöpfer und Erhalter aller Dinge“): Kanon
des Andreas VIII 2. – Θεός τε καὶ τῶν ὅλων ποιητής („Gott und Schöpfer des Weltalls“): Don-
nerstag (Hesperinos), Stichiron des Theodoros. – τῶν ὅλων πλαστουργός („der Bildner des
Weltalls“): Kanon des Andreas IX 8. S. ferner auch: Kathisma nach der ersten Stichologie: ὁ
διὰ λόγου πάντα συστησάμενος („der durch sein Wort alles bereitet hat“); Kanon des Kosmas
I 2: ὁ πρὶν ἐκ μὴ ὄντων παραγαγὼν τὴν σύμπασαν κτίσιν („der einst aus dem Nichts die
ganze Schöpfung ins Dasein gerufen hat“). Ausdrücklich als Schöpfer des Lazarus wird Jesus
bezeichnet, wenn ein Troparion ihn sagen läßt: ἀπέρχομαι ἀναστῆσαι ὃν ἔπλασα („ich gehe
hin, den aufzuerwecken, den ich gebildet habe“); so Mittwoch (Orthros), Erstes Kathisma nach
der dritten Stichologie.
42
ζωοδότης („der Lebensspender“): Kanon des Andreas VIII 6 (vgl. ebd. II 8: ὁ ζωώσας);
Kathismata nach der ersten und zweiten Stichologie; Kanon des Theophanes I 5. III 3; Don-
nerstag (Orthros), Triodion des Theodoros IV 2. Vgl. auch: Kanon des Theophanes V 2: ζωὴν
χρηματίζων ἀθάνατος („der das Leben offenbarende Unsterbliche“); Kanon des Theophanes I
2: ζωῆς ταμιοῦχος („der Herr des Lebens“); Tetraodion des Johannes VII 3: τῆς ζωῆς ὁ ταμιάς
(„der Herr des Lebens“).
43
Kanon des Kosmas III 3: σὺ […] ἀνάστασις καὶ σὺ ζωὴ ὥσπερ ἔφης ἀληθείᾳ πέλεις („du
bist, wie du gesagt hast, in Wahrheit die Auferstehung und das Leben“); vgl. Palmsonntag (Or-
thros), Kanon des Kosmas III 2. S. ferner etwa: Stichira des Johannes 1: ἀνάστασις καὶ ζωὴ
τῶν ἀνθρώπων („die Auferstehung und das Leben der Menschen“); ebd. 3: ἡ ἀνάστασις τῶν
κεκοιμημένων („die Auferstehung der Entschlafenen“); Kanon des Andreas V 2: ζωὴ καὶ φῶς
ἀληθινόν („das Leben und das wahre Licht“); Kanon des Kosmas IV 3: ὁ φωτισμὸς πάντων καὶ
ζωή („das Licht und das Leben aller“) / ζωὴ τῶν θανέντων („das Leben der Toten“); Kontakion
(zitiert in Anm. 85); Mittwoch (Orthros), Triodion des Theodoros VIII 2: ἡ ζωὴ τῶν ἁπάντων
(„das Leben aller“).
Die Auferweckung des Lazarus 271
„ein sterblicher Mensch“ geworden ist.44 Als Gott weiß er alle Dinge, aber er
fragt dennoch: ποῦ τεθείκατε αὐτόν; (Joh 11,34a),45 und als man ihm die Grab-
stätte zeigt, weint er „nach dem Gesetz der menschlichen Natur“46 über den Tod
des Lazarus (V. 35).47 Er, der „mit dem Vater gleichewig ist“ und „die Gebete
aller empfängt“, betet am Grab des Lazarus „als Mensch“ (Joh 11,41b.42)48 und
erweist damit seinem himmlischen Vater die Ehre, wie sie ein Mensch ihm
schuldig ist.49 Wo immer die Hymnen die Motive erwähnen, die das Menschsein
Jesu offenbaren, da stellen sie die Heilsbedeutung der Inkarnation heraus. Cha-
rakteristisch sind hier etwa die folgenden Wendungen, die jeweils in einem an
Christus gerichteten Wort begegnen: δεικνύων πᾶσι, Σωτήρ, ἀνόθευτον τὴν
πρὸς ἡμᾶς οἰκονομίαν σου,50 δεικνύων τὴν σάρκωσιν τῆς οἰκονομίας σου καὶ
ὅτι φύσει Θεὸς ὑπάρχων φύσει καθ᾽ ἡμᾶς γέγονας ἄνθρωπος,51 πιστούμενος
[…] τὴν ἐνανθρώπησίν σου,52 ἵνα δείξῃς πᾶσι τοῖς λαοῖς, ὅτι Θεὸς ὢν δι᾽ ἡμᾶς
ἄνθρωπος ὤφθης.53 Die menschlichen Züge gelten den Hymnen also als Zeug-
nisse dessen, was das Bekenntnis der Kirche sagt: Πιστεύομεν […] εἰς ἕνα
Κύριον Ἰησοῦν Χριστόν, τὸν Υἱὸν τοῦ Θεοῦ τὸν μονογενῆ, […] τὸν δι᾽ ἡμᾶς
τοὺς ἀνθρώπους καὶ διὰ τὴν ἡμετέραν σωτηρίαν κατελθόντα ἐκ τῶν οὐρανῶν
καὶ […] ἐνανθρωπήσαντα.54
44
Kanon des Theophanes III 4: Τόπους ἀμειβόμενος ὡς γεγονὼς βροτὸς πέφηνας
περιγραπτός, ὁ πληρῶν τὰ πάντα ὡς Θεὸς ἀπερίγραπτος („Indem du die Orte wechseltest
[d. h. von Ort zu Ort gingst], erschienst du als sterblich Gewordener begrenzt, du, der als unbe-
grenzter Gott das All erfüllt“).
45 Kanon des Andreas I 6. III 2. IV 5. VI 2; Kanon des Kosmas I 3; Kanon des Theophanes
III 3; Kathismata nach Ode III; Tetraodion des Kosmas VIII 3; Tetraodion des Johannes VIII 2;
Stichira des Johannes 1.4. Vgl. auch Stichira des Leon 1.
46
Stichira des Leon 5: νόμῳ φύσεως ἀνθρωπίνης; vgl. Kanon des Andreas IX 2: νόμῳ
φύσεως σαρκός („nach dem Gesetz der fleischlichen Natur“).
47
Stichira des Leon 2.5; Kanon des Andreas I 4. II 5. III 5. IV 2.5. VI 2. VII 2. IX 2; Kanon
des Kosmas III 2; Anderes Kathisma nach Ode III; Tetraodion des Johannes VI 2. IX 3; Tetra-
odion des Kosmas VII 2.
48
Kanon des Theophanes IV 3: Ὁ Πατρὶ συναΐδιος […] ὡς ἄνθρωπος προσεύχεται προσευχὰς
ὁ πάντων προσδεχόμενος („Der mit dem Vater gleichewig ist […], der betet als Mensch – er,
der die Gebete aller empfängt“). S. auch ebd. 2: Jesus betet, obwohl er aufgrund seiner Gottheit
„nicht eines Beistands bedarf“ (οὐ συμμάχου δεόμενος).
49 Kanon des Kosmas V 2; Tetraodion des Johannes IX 2. Zu Jesu Gebet als Ausdruck seiner
wahren Menschheit s. ferner: Anderes Kathisma nach Ode III; Tetraodion des Johannes VIII 4.
50 Kanon des Andreas I 6 („allen, Heiland, deine uns geltende wahre Heilsordnung vor
Augen stellend“). Vgl. Kanon des Theophanes IV 2: οἰκονομίαν τελῶν ἀπόῤῥητον („die unsag-
bare [oder: geheimnisvolle] Heilsordnung vollendend“).
51
Kanon des Andreas I 4 („die deiner Heilsordnung entsprechende Inkarnation vor Augen
stellend – nämlich: daß du, obwohl du von Natur Gott bist, von Natur uns entsprechend [d. h.
unserer Natur entsprechend] ein Mensch wurdest“).
52
Kanon des Andreas IV 5 („deine Menschwerdung gültig bezeugend“ [zur Übersetzung des
Verbums πιστοῦσθαι s. u. Anm. 81]).
53
Kanon des Andreas VII 2 („auf daß du allen Völkern vor Augen stelltest, daß du, obwohl
du Gott bist, um unsertwillen als Mensch erschienen bist“).
54 Symbolum Nicaeno-Constantinopolitanum.
272 Die Auferweckung des Lazarus
Man wird bezweifeln dürfen, daß in der Erzählung Joh 11,1–44 bereits die
beiden „Naturen“ Jesu und das Verhältnis zwischen ihnen in der differenzie-
renden Weise im Blick sind, wie die Hymnen es darstellen. Gleichwohl bringen
die Hymnen zutreffend zur Sprache, daß in der Auferweckung des Lazarus der
handelt, den der Prolog des Johannesevangeliums als den präexistenten gött-
lichen Logos beschreibt (Joh 1,1–9) und von dem er sagt (1,14): καὶ ὁ λόγος σὰρξ
ἐγένετο καὶ ἐσκήνωσεν ἐν ἡμῖν, καὶ ἐθεασάμεθα τὴν δόξαν αὐτοῦ, δόξαν ὡς
μονογενοῦς παρὰ πατρός, πλήρης χάριτος καὶ ἀληθείας. Daß in der Auferwec-
kung des Lazarus die göttliche δόξα offenbar wird, die dem menschgewordenen
und in den Tod am Kreuz gehenden Gottessohn eignet, wird in Joh 11 ausdrück-
lich gesagt.55 In den beiden – oben besonders hervorgehobenen – Prädikationen
„Schöpfer“ und „Spender des Lebens“ sind deshalb zentrale Aussagen des Jo-
hannesevangeliums durchaus angemessen aufgenommen. Daß der Mensch Jesus
von Nazareth der „Schöpfer“ ist, ergibt sich aus Joh 1,3, wo es von dem, der dann
σάρξ wird, heißt: πάντα δι᾽ αὐτοῦ ἐγένετο, καὶ χωρὶς αὐτοῦ ἐγένετο οὐδὲ ἓν ὃ
γέγονεν. Und die Bezeichnung Jesu als „Spender des Lebens“ hat ihr Fundament
vor allem in dem solennen ἐγώ εἰμι-Wort Joh 11,25b.c.26, das im Zentrum der
Erzählung 11,1–44 steht.56
IV
Daß die durch Christus geschenkte Befreiung aus dem Sündentod von den
Glaubenden immer neu in Anspruch genommen wird, bringen nicht wenige
Hymnen zum Ausdruck.69 Exemplarisch seien die drei folgenden Troparia zitiert:
Λάζαρον ἐξήγειρας τῷ θεϊκῷ, Χριστέ, ῥήματι· κἀμὲ πολλοῖς πταίσμασι θανέντα
ἐξανάστησον, δέομαι.70
„Du hast Lazarus auferweckt, Christus, durch das göttliche Wort. Erwecke – ich bitte
dich – auch mich auf, den an vielen Sünden Gestorbenen.“
Ὁ νεκρὸν ὀδωδότα Λάζαρον ἐγείρας, Χριστέ, τετραήμερον, ἐξανάστησόν με νεκρωθέντα
νῦν ἁμαρτήμασι καὶ τεθέντα λάκκῳ καὶ σκοτεινῇ σκιᾷ θανάτου· ἀλλὰ ῥῦσαι καὶ σῶσον
ὡς εὔσπλαγχνος.71
„Der du den toten und schon verwesenden Lazarus auferweckt hast, Christus, – ihn, der
bereits vier Tage im Grabe lag: Erwecke mich auf, der jetzt in Sünden gestorben und der
Grube und dem finsteren Schatten des Todes übergeben ist. Ja, erlöse und errette mich als
der, der barmherzig ist.“
Τὸν νεκρὸν ὀδωδότα, δεδεμένον κειρίαις, Δέσποτα, ἤγειρας· καμὲ πεπεδημένον σειραῖς
ἁμαρτημάτων διανάστησον ψάλλοντα· Ὁ τῶν Πατέρων ἡμῶν Θεός, εὐλογητὸς εἶ.72
„Den schon verwesenden Toten, der von Grabtüchern umwunden war, hast du, Herr, auf-
erweckt. Auch mich, der umgarnt ist von den Stricken der Sünden, richte auf, der [dann]
singt: Gott unserer Väter, gepriesen bist du!“
Zuletzt sind noch zwei weitere theologische Aussagen der Hymnen zu bedenken,
die in der Sache aufs engste miteinander verbunden sind.
1. Die Hymnen setzen die Auferweckung des Lazarus betont zu der Auf-
erstehung Jesu in Beziehung, wobei diese in ihrem unlöslichen Zusammenhang
mit dem Tod Jesu am Kreuz gesehen ist.73 In der Auferweckung des Lazarus – so
69
S. außer den im Folgenden zitierten Texten: Kanon des Kosmas V 3; Tetraodion des Jo-
hannes VI 4; Stichira des Johannes 8; Montag (Orthros), Erstes Kathisma nach der zweiten
Stichologie; Montag (Orthros), Triodion des Joseph IX 2; Dienstag (Hesperinos), Stichira des
Joseph 1; Mittwoch (Orthros), Erstes Kathisma nach der zweiten Stichologie; Mittwoch (Or-
thros), Triodion des Joseph III 3. VIII 2. IX 3; Mittwoch (Hesperinos), Stichira des Joseph 2;
Donnerstag (Orthros), Erstes Kathisma nach der zweiten Stichologie; Donnerstag (Orthros),
Triodion des Joseph IV 3.4. IX 4. – Wenn in den Hymnen von den πάθη die Rede ist, dann sind
die „Sündenleidenschaften“ gemeint.
70
Kanon des Theophanes III 5.
71
Kanon des Theophanes V 4.
72 Tetraodion des Johannes VII 4.
73
Es entspricht diesem Tatbestand, daß im Orthros des Lazarussamstags das sonntägliche
und österliche Auferstehungstroparion Ἀνάστασιν Χριστοῦ θεασάμενοι gelesen wird. Der
Text sei hier (nach: Ἀνθολόγιον τῶν ἱερῶν ἀκολουθιῶν. Τόμος Α’ [s. Anm. 10], 117) zitiert
und übersetzt: Ἀνάστασιν Χριστοῦ θεασάμενοι, προσκυνήσωμεν ἅγιον Κύριον Ἰησοῦν, τὸν
Die Auferweckung des Lazarus 275
das Zeugnis der Hymnen – erweist sich Jesus als der, der den θάνατος bzw. den
Ἅιδης74 bezwingt und seiner Herrschaft ein Ende setzt.75 Die Dichter können
gelegentlich so reden, als sei der Sieg über den Tod bereits in der Auferwec-
kung des Lazarus errungen worden.76 Solche Formulierungen wollen jedoch
im Kontext der Lazarus-Hymnen insgesamt verstanden sein, für die – dem
neutestamentlichen Zeugnis entsprechend – die Erkenntnis grundlegend ist,
daß die Überwindung des Todes in Jesu Tod und Auferstehung geschehen ist.
μόνον ἀναμάρτητον. Τὸν Σταυρόν σου, Χριστέ, προσκυνοῦμεν, καὶ τὴν ἁγίαν σου Ἀνάστασιν
ὑμνοῦμεν καὶ δοξάζομεν· σὺ γὰρ εἶ Θεὸς ἡμῶν, ἐκτός σου ἄλλον οὐκ οἴδαμεν, τὸ ὄνομά σου
ὀνομάζομεν. Δεῦτε πάντες οἱ πιστοί, προσκυνήσωμεν τὴν τοῦ Χριστοῦ ἁγίαν Ἀνάστασιν·
ἰδοὺ γὰρ ἦλθε διὰ τοῦ Σταυροῦ χαρὰ ἐν ὅλῳ τῷ κόσμῳ. Διαπαντὸς εὐλογοῦντες τὸν Κύριον
ὑμνοῦμεν τὴν Ἀνάστασιν αὐτοῦ. Σταυρὸν γὰρ ὑπομείνας δι᾽ ἡμᾶς θανάτῳ θάνατον ὤλεσεν.
„Da wir die Auferstehung Christi geschaut haben, laßt uns anbeten den heiligen Herrn Jesus,
der allein ohne Sünde ist. Vor deinem Kreuz, o Christus, fallen wir nieder, und wir besingen
und verherrlichen deine heilige Auferstehung; denn du bist unser Gott, außer dir kennen wir
keinen anderen, deinen Namen rufen wir an. Kommt, alle ihr Gläubigen, laßt uns die heilige
Auferstehung Christi anbeten; denn siehe: durch das Kreuz ist Freude in die ganze Welt ge-
kommen. Allezeit loben wir den Herrn und besingen wir seine Auferstehung. Denn er hat um
unsertwillen das Kreuz erduldet und durch den (= seinen) Tod den Tod vernichtet.“
74 Das Wort Ἅιδης wird in den Hymnen vielfach personifiziert verwendet und stellt deshalb
im Grunde ein Synonym zu θάνατος dar. Das gilt auch dann, wenn – wie bereits in 1 Kor 15,55
v. l.; bei Meliton von Sardes, Passa-Homilie 102, und in den in Anm. 3 erwähnten Hymnen
des Romanos Melodos (Kontakion 26,8–15; 27,1.9) – θάνατος und ᾅδης als personifizierte
Größen nebeneinander erscheinen (zum traditionsgeschichtlichen Hintergrund s. Hi 38,17 LXX;
Jes 22,15 LXX; Apk 1,18; 6,8; 20,13 f.). Die Unterscheidung ist in diesem Fall lediglich eine
poetische. Zur Identität des personifizierten ᾅδης mit dem θάνατος vgl. auch die Belege aus
den Schriften der Kirchenväter bei G. W. H. Lampe, A Patristic Greek Lexicon, Oxford 1961
= ⁵1978, 32a s. v. ᾅδης D.
75 S. etwa Stichira des Leon 2.3; Kanon des Andreas I 7. II 8. III 6. IV 6. VI 3. IX 6; Kanon
des Theophanes I 3. IV 4; Kanon des Kosmas III 4. IV 4. V 3; Tetraodion des Johannes VII 3;
Exapostilarion; Anderes Exapostilarion; Stichira des Johannes 2; Montag (Hesperinos), Stichi-
ron des Theodoros; Dienstag (Orthros), Triodion des Theodoros IX 3; Dienstag (Hesperinos),
Stichiron des Theodoros; Mittwoch (Hesperinos), Stichira des Joseph 1; Donnerstag (Orthros),
Erstes Kathisma nach der dritten Stichologie; Donnerstag (Orthros), Triodion des Joseph VIII
3; Donnerstag (Orthros), Triodion des Theodoros IV 3. VIII 3. IX 3; Donnerstag (Hesperinos),
Stichira des Joseph 2; Donnerstag (Hesperinos), Stichiron des Theodoros; Freitag (Orthros),
Erstes Kathisma nach der dritten Stichologie.
76
Als Beispiel kann der erste Satz des Ikos dienen, der im Orthros des Palmsonntags rezitiert
wird: Ἐπειδὴ Ἅιδην ἔδησας, ἀθάνατε, καὶ θάνατον ἐνέκρωσας καὶ κόσμον ἀνέστησας, βαΐοις
τὰ νήπια ἀνευφήμουν σέ, Χριστέ, ὡς νικητὴν κραυγάζοντά σοι σήμερον· Ὡσαννὰ τῷ Υἱῷ
Δαυΐδ („Da du, Unsterblicher, den Hades gefesselt und den Tod getötet und die Menschheit
auferweckt hast, haben die Unmündigen mit Zweigen dich, Christus, unermüdlich als Sieger
gepriesen, und sie rufen dir heute laut zu: Hosianna dem Sohne Davids!“ [zu κόσμος in der
Bedeutung „Menschenwelt“ / „Menschheit“ vgl. Bauer / Aland, Wörterbuch⁶, 907 s. v. 6]).
S. ferner etwa: Stichira des Leon 3; Kanon des Andreas I 7. IV 6; Kanon des Theophanes I 3.
IV 4; Kanon des Kosmas V 3; Donnerstag (Orthros), Triodion des Joseph VIII 3; Donnerstag
(Hesperinos), Stichiron des Theodoros („der Tod ist tot [θάνατος τέθνηκε], nachdem er schon
vorher gemerkt hat, das Lazarus die Toten verläßt“).
276 Die Auferweckung des Lazarus
Der „Sieger über den Tod“ bzw. der „Vernichter des Hades“77 ist Jesus also als
der gekreuzigte und auferstandene Herr. Was er als der Gekreuzigte und Auf-
erstandene ist, das bestimmt ihn aber in seiner ganzen Existenz, und daraus folgt,
daß er die Auferweckung des Lazarus eben als der wirkt, der zur Überwindung
des Todes am Kreuz sterben und am dritten Tage von den Toten auferstehen
wird. Das Wunder, das Lazarus widerfährt, kann deshalb zum einen als die
„Präfiguration“ des Kreuzesgeschehens78 und als Hinweis auf die Bedeutung der
Passion und des Kreuzestodes Jesu79 bezeichnet werden; und zum andern wird
von diesem Wunder gesagt, daß Jesus mit ihm seine Auferstehung und den in ihr
errungenen Sieg „im voraus gültig bezeugt“.80 Der Gedanke, daß Jesus durch das
Lazarus-Wunder im voraus seine Auferstehung „gültig bezeugt“81, spielt in den
77
Festtroparion des Lazarussamstags: ὁ νικητὴς τοῦ θανάτου („der Sieger über den Tod“);
Kanon des Andreas VI 3: ὁ λύτης τοῦ Ἅιδου („der Vernichter des Hades“); Donnerstag (Or-
thros), Triodion des Theodoros VIII 6: νικητὴς τοῦ θανάτου καὶ τοῦ Ἅιδου („der Sieger über
den Tod und den Hades“).
78
Ikos: ἄγωμεν οὖν πορευθώμεν […] καὶ τὸν τάφον Λαζάρου ὀψώμεθα· ἐκεῖ γὰρ μέλλω
θαυματουργεῖν, ἐκτελῶν τοῦ Σταυροῦ τὰ προοίμια καὶ πᾶσι παρέχων θείαν ἄφεσιν („Laßt
uns nun hingehen […] und das Grab des Lazarus schauen; denn dort will ich ein Wunder
vollbringen, um die Präfiguration des Kreuzes[geschehens] ins Werk zu setzen und allen die
göttliche Vergebung zu gewähren“). Zu dem als Wort Jesu formulierten Text ist sprachlich
zweierlei anzumerken: 1. Das präsentische Partizipium conjunctum wird bereits im Neuen
Testament als einem Finalsatz gleichwertig verwendet; s. F. Blass / A. Debrunner / F. Reh-
kopf, Grammatik des neutestamentlichen Griechisch, Göttingen ¹⁷1990, § 418,4. Dieser Ge-
brauch des Partizipiums liegt m. E. in unserem Troparion vor – und ebenso auch in den Troparia,
die in Anm. 82, in Anm. 84 und bei Anm. 90 zitiert werden. 2. Für das semantisch vieldeutige
Wort προοίμιον empfiehlt sich bei der Übersetzung unseres Troparions die Wiedergabe mit dem
Fremdwort „Präfiguration“ (vgl. dazu auch Stichira des Leon 3, zitiert bei Anm. 94). Der Ikos
kennzeichnet die Auferweckung des Lazarus also als einen vorweg gegebenen Hinweis auf das,
was am Kreuz geschehen und durch Christi Kreuzestod gewirkt werden wird.
79 Kanon des Andreas IV 6: Τοῦ Πάθους τὰ σύμβολα καὶ τοῦ Σταυροῦ σου γνωρίσαι
βουληθείς, Ἀγαθέ, τοῦ Ἅιδου τὴν ἄπληστον γαστέρα ῥήξας ἀνέστησας ὡς Θεὸς τὸν
τετραήμερον („Weil du die Kennzeichen deines Leidens und deines Kreuzes[todes] offenbaren
wolltest, o Guter, hast du den unersättlichen Magen des Hades zerschmettert und als Gott den
schon vier Tage Toten auferweckt“). Der Ausdruck τὰ σύμβολα bezeichnet hier eine Größe, an
der etwas zuverlässig erkannt werden kann (vgl. zu dieser Bedeutung: Stichira des Johannes 4;
Donnerstag (Orthros), Triodion des Joseph IV 5). Gemeint ist also: An der Auferweckung des
Lazarus zeigt sich zuverlässig, was in Jesu Passion und Kreuzestod geschehen wird und das
Exapostilarion in die Worte faßt: εἰς τέλος ὀλέσεις τὸν Ἅιδην θανάτῳ σου („für immer wirst
du den Hades vernichten durch deinen Tod“). Zu vergleichen sind ferner auch die Aussagen
über das Kreuz bzw. die Kreuzigung Jesu in: Kanon des Andreas I 7; Dienstag (Hesperinos),
Stichira des Joseph 1; Mittwoch (Orthros), Triodion des Joseph VIII 4; Donnerstag (Hesperi-
nos), Stichira des Joseph 2; Palmsonntag (Orthros), Kanon des Kosmas I 2.
80 Dienstag (Hesperinos), Stichiron des Theodoros: Προπιστοῦσαι ἐν τῷ φίλῳ σου τὰ τῆς
Ἀναστάσεώς σου τῆς φρικτῆς, τοῦ Ἅιδου τὴν νέκρωσιν καὶ Ἀδὰμ τὴν ζωήν („Du hast an dei-
nem Freund im voraus gültig bezeugt, was in deiner furchterregenden Auferstehung geschehen
ist: des Hades Tod und Adams [Auferweckung zum] Leben“). Zu dem Verbum προπιστοῦσθαι
s. die nächste Anmerkung.
81
„Gültig bezeugen“ oder „unter Beweis stellen“ ist m. E. der Sinn des in den Hymnen be-
gegnenden bzw. in dem Kompositum προπιστοῦσθαι enthaltenen Verbums πιστοῦσθαι; s. dazu
Die Auferweckung des Lazarus 277
auch die Zitate in Anm. 32 (Tetraodion des Johannes VI 2) und in Anm. 52 (Kanon des Andreas
IV 5).
82 S. vor allem: Kanon des Andreas IX 3 (zitiert in Anm. 84); ferner: Stichira des Leon 4; Ka-
non des Kosmas I 4. IV 2; Tetraodion des Kosmas IX 3. Vgl. auch Palmsonntag (Großer Hespe-
rinos), Stichira zu den Luzernariumspsalmen 4: Τὴν σεπτὴν Ἀνάστασιν τὴν σὴν προτυπούμενος
ἡμῖν ἤγειρας […] τὸν ἄπνουν Λάζαρον („Um uns deine ehrwürdige Auferstehung im voraus zu
offenbaren [s. o. Anm. 78], hast du den toten Lazarus auferweckt“).
83
Tetraodion des Johannes IX 3.
84
S. dazu Kanon des Andreas IX 3: Πιστούμενος, Λόγε, τὴν Ἀνάστασιν τὴν σήν, ἐκάλεσας
τὸν Λάζαρον ἐκ τάφου καὶ ἤγειρας ὡς Θεός, ἵνα δείξῃς τοῖς λαοῖς Θεόν σε καὶ ἄνθρωπον ὁμοῦ
ἐν ἀληθείᾳ ὄντα καὶ ἐγείραντα Ναὸν τὸν τοῦ σώματός σου („Um deine Auferstehung, o Wort,
gültig zu bezeugen [s. o. Anm. 78], hast du Lazarus aus dem Grab gerufen und als Gott ihn
auferweckt, damit du den Völkern zeigtest, daß du in Wahrheit zugleich Gott und Mensch bist
und so auch den Tempel deines Leibes auferweckt hast“). Das Troparion verweist keineswegs
zufällig auf den höchst gewichtigen Text Joh 2,19.21, dem die nicht weniger gewichtige Aussage
von Joh 10,17 f. an die Seite zu stellen ist.
85
Mittwoch (Orthros), Triodion des Theodoros VIII 2: […] τοῦ δεῖξαι τοῖς λαοῖς, ὅτι ἐστὶν
αὐτὸς ἡ ζωὴ τῶν ἁπάντων („um den Völkern zu zeigen, daß er das Leben aller ist“). Zu der
hier vorliegenden Bezugnahme auf Joh 11,25b s. auch die in Anm. 43 angeführten Texte sowie
das Kontakion des Lazarussamstags: Ἡ πάντων χαρά, Χριστός, ἡ ἀλήθεια, τὸ φῶς, ἡ ζωή,
τοῦ κόσμου ἡ ἀνάστασις, τοῖς ἐν γῇ πεφανέρωται τῇ αὐτοῦ ἀγαθότητι· καὶ γέγονε τύπος τῆς
ἀναστάσεως, τοῖς πᾶσι παρέχων θείαν ἄφεσιν („Christus, die Freude aller, die Wahrheit, das
Licht, das Leben, die Auferstehung der Menschheit, ist denen, die auf Erden sind, in seiner Güte
erschienen; und er wurde zum Urbild der Auferstehung, da er allen die göttliche Vergebung
gewährt“). Zu dem Gedanken, daß Christus τύπος τῆς ἀναστάσεως ist, vgl. ActPaul: 3 Kor 6.
86 Kanon des Theophanes V 2. Der Akkusativ ζωήν ist selbstverständlich nicht mit ἀθάνατος
zu verbinden (so falsch die in Anm. 5 erwähnten Übersetzungen), sondern der Satz besagt:
Jesus, der selbst unsterblich ist, „offenbart“ in der Auferweckung des Lazarus das ewige Leben.
87
Mittwoch (Orthros), Triodion des Joseph VIII 4 (zitiert bei Anm. 17); Freitag (Orthros),
Triodion des Joseph IX 3 (zitiert bei Anm. 17); Palmsonntag (Großer Hesperinos), Anderes
Apolitikion: […] τῆς ἀθανάτου ζωῆς ἠξιώθημεν τῇ Ἀναστάσει σου („wir wurden durch deine
Auferstehung des unsterblichen Lebens gewürdigt“).
278 Die Auferweckung des Lazarus
Glaubenden mit ihrer Auferweckung aus dem geistlichen Tod bereits geschenkte
ζωὴ αἰώνιος gesagt wird.88
2. Damit stehen wir bereits bei der Beziehung zwischen der Auferweckung des
Lazarus und der eschatologischen Auferstehung der Toten. Von dieser Beziehung
spricht das Festtroparion des Lazarussamstags, das mit den Worten beginnt:
Τὴν κοινὴν Ἀνάστασιν πρὸ τοῦ σοῦ Πάθους πιστούμενος, ἐκ νεκρῶν ἤγειρας τὸν
Λάζαρον, Χριστὲ ὁ Θεός.89
„Um die allgemeine Auferstehung vor deinem Leiden gültig zu bezeugen90, hast du
Lazarus von den Toten auferweckt, Christus, Gott.“
Wird in diesem Satz gesagt, daß Christus mit der Auferweckung des Lazarus die
allgemeine Totenauferstehung „gültig bezeugt“ habe,91 so heißt es in anderen
Texten, daß er sie hier „im voraus angekündigt / kundgegeben“92 oder „im voraus
angezeigt“93 hat. Fragen wir, wie das gemeint ist, so gibt uns das im Großen Hes-
perinos des Palmsonntags gesungene sechste Stichiron zur Liti einen wichtigen
Fingerzeig. Nach diesem Stichiron besteht die „Vorherverkündigung“ der Toten-
auferstehung darin, daß sich an Lazarus das Wort Jesu erfüllt: ὁ πιστεύων εἰς ἐμὲ
κἂν ἀποθάνῃ ζήσεται (Joh 11,25c). Lazarus ist also insofern τῆς παλιγγενεσίας
προοίμιον σωτήριον („die heilsame Präfiguration der Wiedergeburt [d. h. der den
Menschen neumachenden Auferstehung]“) geworden,94 als an ihm sichtbar wird,
daß dem durch Jesus aus dem Sündentod auferweckten und an ihn glaubenden
Menschen die zukünftige Auferstehung bereits gültig zugeeignet ist und daß
sie auch durch den Tod nicht mehr in Frage gestellt werden kann. Wir können
somit zusammenfassend formulieren: Die Auferweckung des Lazarus ist nach
88 S. dazu neben Joh 11,25 f. vor allem Joh 3,14–16.36a; 5,24; 6,40.47.54; 10,10.28; 20,21.
89 Vgl. Kathisma nach der ersten Stichologie: ἀνέστησας φωνήσας τὸν νεκρόν, τὴν τοῦ
κόσμου, ζωοδότα, δι᾽ αὐτοῦ πιστούμενος Ἀνάστασιν („Du hast, indem du ihn riefst, den
Toten auferweckt und so, Lebensspender, durch ihn die Auferstehung der Menschheit gültig
bezeugt“).
90
Zum finalen Gebrauch des präsentischen Partizipium conjunctum s. o. Anm. 78.
91
Zu πιστοῦσθαι s. Anm. 81.
92
Kanon des Theophanes V 2: τῶν βροτῶν ἁπάντων οἷα Θεὸς τὴν ἐσομένην προθεσπίζων
προδήλως Ἀνάστασιν („als Gott im voraus die zukünftige Auferstehung aller Sterblichen
offen ankündigend“); Stichira des Johannes 2: τὴν πάντων ἀνθρώπων προμηνύων ἐκ φθορᾶς
ἐλευθερίαν („die Befreiung aller Menschen von der Vergänglichkeit im voraus kundgebend“);
Freitag (Orthros), Triodion des Joseph VIII 2: τὴν ἔγερσιν πάντων προμηνύων („die Auf-
erweckung aller im voraus kundgebend“); Palmsonntag (Großer Hesperinos), Stichira zur Liti
6: προκηρύξαι τὴν Ἀνάστασιν („die Auferstehung im voraus kundzutun“).
93 Palmsonntag (Orthros), Stichira zu den Äni 4: Τὴν κοινὴν Ἀνάστασιν πρὸ τοῦ ἑκουσίου
Πάθους σου εἰς πίστωσιν πάντων προενδειξάμενος, Χριστὲ ὁ Θεός, τὸν […] Λάζαρον […]
ἀνέστησας („Indem du die allgemeine Auferstehung vor deinem freiwilligen Leiden zur Be-
glaubigung für alle im voraus anzeigtest, Christus, Gott, hast du Lazarus auferweckt“).
94
Stichira des Leon 3. Zu παλιγγενεσία als Bezeichnung für die eschatologische Auferste-
hung der Toten s. Lampe, A Patristic Greek Lexicon (s. Anm. 74), 998b s. v. παλιγγενεσία
III.A.2. Für προοίμιον gilt das in Anm. 78 Gesagte.
Die Auferweckung des Lazarus 279
dem Zeugnis der Hymnen ein Vorschein des Ostersieges Christi, in dem die
Auferstehung der an Christus Glaubenden definitiv entschieden und begründet
ist – und zwar als eine Wirklichkeit, die sie schon jetzt in ihrem Sein zeichnet
und bestimmt.
Terminologischer Anhang
Äni: Die Αἶνοι (Ainoi)95 sind die zum Morgengottesdienst (Orthros) gehörenden
Laudes-Psalmen Ps 148–150. An Sonn- und Festtagen werden an verschiede-
nen Stellen Stichira (→ Stichiron) zu den Psalmversen hinzugefügt.
Apolitikion: Ἀπολυτίκιον (Apolytikion) heißt das einem bestimmten Werktag,
Sonntag oder Festtag zugeordnete → Troparion, weil es unter anderem am
Ende des Abendgottesdienstes (Hesperinos) vor der Entlassung (ἀπόλυσις)
gesungen wird. In der Göttlichen Liturgie gehört dieses Troparion zu den
Hymnen, die auf den Kleinen Einzug folgen.
Exapostilarion: Als Ἐξαποστειλάριον (Exaposteilarion) wird ein → Troparion
bezeichnet, das im Morgengottesdienst (Orthros) auf den → Kanon folgt und
den → Äni unmittelbar voraufgeht.
Ikos: Der Οἶκος (Oikos) ist ein → Troparion, das ebenso wie das → Kontakion
ursprünglich Bestandteil einer umfangreichen frühbyzantinischen Kirchen-
dichtung war, die im Gottesdienst gesungen, später jedoch durch den jüngeren
→ Kanon verdrängt wurde. Der Ikos folgt im Morgengottesdienst (Orthros)
zusammen mit dem ihm voraufgehenden Kontakion auf die sechste → Ode
des Kanons.
Irmos: Εἱρμός (Heirmos) heißt ein als Leitstrophe dienendes → Troparion, das
hinsichtlich der Silbenzahl, der Betonung und der Melodie das Modell für die
auf es folgenden Troparia liefert. Im → Kanon ist der Irmos jeweils das erste
Troparion einer jeden → Ode. An Sonn- und Festtagen wird der Irmos häufig
am Ende einer Ode wiederholt.
Kanon: Der Κανών ist die letzte Hochform der byzantinischen Kirchendichtung
und bildet insbesondere ein wesentliches Element des Morgengottesdienstes
(Orthros). Ein voll entwickelter Kanon besteht aus neun bzw. – da die zweite
→ Ode ausschließlich an bestimmten Tagen der Großen Fastenzeit gesungen
wird – aus acht Oden. In der Großen Fastenzeit weist der Kanon vielfach
eine auf drei und gelegentlich auch eine auf vier Oden reduzierte Gestalt auf.
Ein nur drei Oden umfassender Kanon heißt → Triodion, ein nur vier Oden
umfassender Kanon → Tetraodion.
95 Den griechischen Begriffen wird, wo es angezeigt ist, in Klammern die erasmische Aus-
sprache beigefügt.
280 Die Auferweckung des Lazarus
Tetraodion: Das Τετραῴδιον ist ein → Kanon, der nur vier → Oden umfaßt.
Tetraodia werden ausschließlich in der Großen Fastenzeit gesungen, und zwar
im Morgengottesdienst (Orthros) an den Samstagen der zweiten bis sechsten
Fastenwoche (in der sechsten Woche ist dies der Lazarussamstag) sowie am
Karsamstag.
Triodion: Das Τριῴδιον ist ein → Kanon, der nur drei → Oden umfaßt. Triodia
haben ihren Ort in der Großen Fastenzeit. Sie werden vor allem – außer am
Dienstag und Donnerstag der Karwoche – von Montag bis Freitag im Morgen-
gottesdienst (Orthros) gesungen. Von daher trägt auch das liturgische Buch,
das die Eigentexte für die Vorfastenzeit und die Große Fastenzeit einschließ-
lich der Karwoche enthält, den Namen „Triodion“.
Troparion: Der Begriff Τροπάριον bezeichnet eine hymnische Einheit, die mit
der Strophe eines Kirchenliedes der westlichen Tradition vergleichbar ist.
Viele Hymnen bestehen aus mehreren Troparia. Das für einen bestimmten
Wochentag, Sonntag oder Festtag vorgesehene Troparion wird → Apolitikion
genannt.
Struktur und Gedankengang
des Christushymnus Ὁ μονογενὴς Υἱός
graeca carminum christianorum, Leipzig 1871 = Hildesheim 1963, 52. Dieser Wiedergabe folgen
u. a. E. Wellesz, A History of Byzantine Music and Hymnography, Oxford ²1961, 178 (s. auch
die Übersetzung ebd., 179) und Barkhuizen, Justinian’s Hymn Ὁ μονογενὴς υἱὸς τοῦ Θεοῦ
(s. Anm. 9), 3.
Struktur und Gedankengang des Christushymnus Ὁ μονογενὴς Υἱός 285
Der Hymnus besteht aus einem einzigen Satz. Die als Zeile 1 an seinem Anfang
stehenden Worte ὁ μονογενὴς Υἱὸς καὶ Λόγος τοῦ Θεοῦ sind als ein Vokativ
zu lesen, der dann in Zeile 7 durch die Worte Χριστὲ ὁ Θεός noch einmal auf-
genommen wird.13 Mit dem Vokativ des ersten Stichos beginnt ein Aussage-
zusammenhang, der erst in der Bitte σῶσον ἡμᾶς von Zeile 12 zu seinem Ziel und
Abschluß kommt. Der ganze Hymnus ist demnach Anrufung Jesu Christi, des
Sohnes Gottes. Zwischen die Anrede von Zeile 1 und die Bitte von Zeile 12 sind
in den Zeilen 2–11 mehrere Partizipialkonstruktionen eingefügt, deren korrekte
sprachliche Bestimmung für das Verständnis des Hymnus von entscheidender
Bedeutung ist. Nach meinem Urteil liegen die Partizipien ὑπάρχων (Zeile 2),
καταδεξάμενος (Zeile 3), ἐνανθρωπήσας (Zeile 6), σταυρωθείς (Zeile 7) und ὤν
(Zeile 9) syntaktisch auf der gleichen Ebene. Sie sind – gewissermaßen als die
11
Den Begriff „Zeile“ (griechisch: στίχος) verwende ich zur Bezeichnung eines poetischen
Verses. Zeilen, die nach meinem Urteil syntaktisch auf der gleichen Ebene stehen, sind hinsicht-
lich ihres Anfangs untereinander angeordnet, beginnen also jeweils linksbündig auf gleicher
Höhe. – Die von mir vertretene Interpunktion entspricht der Wiedergabe des Textes in: http://
vassileia.blogspot.com/2016/07/justinian-only-begotten-son-and-word-of.html.
12
Die dem Partizip καταδεξάμενος voraufgehende Konjunktion καί wird bezeugt durch
den offiziellen Text der griechischen liturgischen Bücher, durch die kirchenslawische Überset-
zung, durch die Übersetzung in einem Horologion syro-palästinischen Ursprungs (M. Black,
A Christian Palestinian Syriac Horologion [Berlin MS. Or. Oct. 1019], Cambridge 1954, 234)
sowie durch die im Ritus der Kopten enthaltenen Fassungen (s. Anm. 5). Sie fehlt in einem
Zweig der Textüberlieferung, dem F. E. Brightman / C. E. Hammond, Liturgies Eastern and
Western I: Eastern Liturgies, Oxford 1896 = 1967, 366 folgen (s. auch 33 und 116). Diese Lesart
dürfte sich als Auslassung aufgrund von Homoioarkton (κα-) erklären und deshalb als sekundär
zu beurteilen sein.
13
Zum Nominativ als Vokativ vgl. im Neuen Testament u. a.: ὁ θεός Lk 18,11.13; Hebr 10,7;
ὁ κύριός μου καὶ ὁ θεός μου Joh 20,28; ὁ πατήρ Mt 11,26. S. auch die unten in Anm. 24 zitierte
Anrufung Jesu Christi.
286 Struktur und Gedankengang des Christushymnus Ὁ μονογενὴς Υἱός
γίνεσθαι; s. E. A. Sophocles, Greek Lexicon of the Roman and Byzantine Periods, Cambridge,
MA – Leipzig ²1814 = Hildesheim – Zürich – New York 1983, 980a s. v. σαρκόω.
21
Zu der Konjunktion τέ s. R. Kühner / B. Gerth, Ausführliche Grammatik der griechi-
schen Sprache II: Satzlehre, Bd. 2, Hannover – Leipzig ³1904 = Hannover 1976, 242 f. (§ 519,2):
Das allein stehende τέ dient der Anreihung von Sätzen, die „mit dem vorangehenden Satze in
naher Beziehung stehen, indem sie eine Ergänzung, Erklärung, weitere Ausführung des vor-
angehenden Satzes oder auch eine aus diesem hervorgehende natürliche Folge ausdrücken,
sodass man τέ häufig durch und so, und daher […] übersetzen kann“. Als Beispiel s. Hebr 1,3.
22
So richtig z. B. Christ / Paranikas, Anthologia graeca carminum christianorum (s.
Anm. 10), 52.
23
Diese Nuance wird durch die Konjunktion τέ zum Ausdruck gebracht.
24
Zu einem der grammatischen Regel entsprechenden Anschluß s. exemplarisch die An-
rufung in der im Orthros gesungenen Doxologie: Κύριε ὁ Θεός, ὁ ἀμνὸς τοῦ Θεοῦ, ὁ Υἱὸς τοῦ
Πατρός, ὁ (!) αἴρων τὴν ἁμαρτίαν τοῦ κόσμου – „Herr Gott, du Lamm Gottes, du Sohn des
Vaters, der du hinwegnimmst die Sünde der Welt“.
25 So zu diesem Phänomen F. Maier, Stilübungen und Interpretation im Griechischen,
Bamberg ²1992, 27. Maier bietet prosaische Beispiele aus Diodor, Dio Chrysostomus, Plutarch
und Xenophon. Als poetisch-hymnischen Beleg notiere ich die durch den Eigennamen Ζεύς
determinierte Anrede in den ersten beiden Zeilen des berühmten Zeus-Hymnus des Klean-
thes: Κύδιστ᾽ ἀθανάτων, πολυώνυμε παγκρατὲς αἰεί, / Ζεῦ φύσεως ἀρχηγέ, νόμου μέτα πάντα
κυβερνῶν – „Berühmtester der Unsterblichen, Vielnamiger, stets alles Beherrschender, / Zeus,
Herrscher über die Natur, der du nach dem Gesetz alles lenkst“.
288 Struktur und Gedankengang des Christushymnus Ὁ μονογενὴς Υἱός
gerichtet werden kann und im Hymnus an ihn gerichtet wird. In ihnen ist mithin
jeweils ein kausaler Nebensinn zu konstatieren.26
Im Anschluß an die syntaktische Analyse kann nunmehr eine deutsche Über-
setzung des Christushymnus vorgelegt werden, die in der Wiedergabe der Struk-
tur dem oben mitgeteilten griechischen Text entspricht:27
Du einziggeborener Sohn und Logos Gottes,
der du unsterblich bist
und um unseres Heiles willen auf dich genommen hast,
Fleisch zu werden aus der heiligen Gottesgebärerin
5 und immerwährenden Jungfrau Maria,
der du ohne Veränderung Mensch geworden bist
und gekreuzigt wurdest, Christus Gott,
durch den Tod den Tod zertretend,
der du Einer der Heiligen Dreieinigkeit bist,
10 verherrlicht mit dem Vater
und dem Heiligen Geiste:
Errette uns!
II
Suchen wir jetzt den Gedankengang des Hymnus nachzuzeichnen und seine
entscheidenden Aussagen aufzuzeigen, so soll dies so geschehen, daß wir da-
bei auch auf die Bezugnahmen auf das Christuszeugnis des Neuen Testaments
achten.
Die Anrede Jesu Christi in dem Vokativ der Zeile 1 – ὁ μονογενὴς Υἱὸς καὶ
Λόγος τοῦ Θεοῦ – setzt die christologische Diskussion und die dogmatischen
Entscheidungen bis zum Konzil von Chalcedon (451) voraus, sie ist aber ebenso
wie diese Entscheidungen letztlich dem Johannesevangelium und hier insbeson-
dere dem Prolog Joh 1,1–18 verpflichtet. Die Prädikation Christi als ὁ μονογενὴς
υἱός findet sich im byzantinischen Text von Joh 1,18,28 seine Bezeichnung als
ὁ λόγος in Joh 1,1 f. und 1,14. Der im Prolog zu erhebende Bedeutungsgehalt
der beiden Begriffe ist in unserem Hymnus voll rezipiert. Mit dem Hoheitstitel
26 In der deutschen Übersetzung könnte der kausale Nebensinn durch ein „ja“ zum Ausdruck
gebracht werden: „der du ja unsterblich bist und […] auf dich genommen hast“, „der du ja […]
Mensch geworden bist und gekreuzigt wurdest“, „der du ja Einer der Heiligen Dreieinigkeit
bist“.
27
Auf die erläuternden Angaben, die im Verlauf der syntaktischen Analyse in den jeweils
übersetzen Zeilen in eckigen Klammern hinzugefügt wurden, wird jetzt verzichtet.
28
Mit ὁ μονογενὴς υἱός bedeutungsgleich ist der Ausdruck μονογενὴς παρὰ πατρός in Joh
1,14.
Struktur und Gedankengang des Christushymnus Ὁ μονογενὴς Υἱός 289
„der einziggeborene Sohn Gottes“29 wird Jesus Christus als der Sohn Gottes
schlechthin gekennzeichnet und damit als der eine und einzige, der von Ewigkeit
her auf die Seite Gottes gehört und als dieser seinem Ursprung und Wesen nach
selbst wahrer Gott ist.30 Als der „Logos“ Gottes wird er prädiziert, weil er – und
er allein – in seiner Person und deshalb auch in seinem Werk den unsichtbaren
Vater offenbart und der Vater nirgends anders als nur in ihm zu finden ist.31 Der
Vokativ der Zeile 1 bezeugt so in unmißverständlichen Worten die Einzigartig-
keit Jesu Christi, und dem entspricht das Zeugnis der drei Aussageeinheiten, die
auf diesen Vokativ folgen.
Wenn die aus den Zeilen 2–5 bestehende erste Aussageeinheit mit den Worten
ἀθάνατος ὑπάρχων beginnt (Zeile 2), dann wird Christus zugesprochen, was
nach 1 Tim 6,16a (ὁ μόνος ἔχων ἀθανασίαν) ausschließlich Gott besitzt: ewiges
Sein im Unterschied zu dem begrenzten Leben alles Geschaffenen.32 „Unsterb-
lich“ ist der Sohn und Logos Gottes, weil ihm aufgrund seines göttlichen Ur-
sprungs göttliches Wesen eignet.33 Auf dem Hintergrund dieser Aussage wird in
den Zeilen 3–5 das unerhörte Wunder beschrieben, daß der „unsterbliche“ Got-
tessohn zum Heil der vor Gott verlorenen Menschen bereit war, menschliche und
damit sterbliche Existenz anzunehmen.34 Bei den Worten καὶ καταδεξάμενος διὰ
τὴν ἡμετέραν σωτηρίαν, σαρκωθῆναι ἐκ τῆς ἁγίας Θεοτόκου καὶ ἀειπαρθένου
Μαρίας handelt es sich ohne Zweifel um eine Aufnahme dessen, was in dem
Bekenntnis von Nizäa-Konstantinopel (381) über den Sohn Gottes gesagt wird:
τὸν δι’ ἡμᾶς τοὺς ἀνθρώπους καὶ διὰ τὴν ἡμετέραν σωτηρίαν κατελθόντα ἐκ
τῶν οὐρανῶν καὶ σαρκωθέντα ἐκ Πνεύματος Ἁγίου καὶ Μαρίας τῆς παρθένου.35
Wenn unser Hymnus dabei durch das Verbum καταδέχεσθαι das Ja herausstellt,
das der Sohn Gottes um des Heils der Menschen willen zur Inkarnation – und
29
S. dazu auch Joh 3,16.18; 1 Joh 4,9.
30 Das wird sogleich in Joh 1,1 f. in solenner Weise ausgesagt. Zum Christuszeugnis des Pro-
logs s. meinen Aufsatz über den Christushymnus, der ihm zugrunde liegt: Struktur und Gedan-
kengang des Logos-Hymnus in Joh 1,1–18, in: O. Hofius / H.-Chr. Kammler, Johannesstudi-
en. Untersuchungen zur Theologie des vierten Evangeliums (WUNT 88), Tübingen 1996, 1–23
(= Δομή καί λογική ἀκολουθία τοῦ ὕμνου τοῦ Λόγου στό Ιω 1,1–18, in: O. Hofius, Ἡ ἀλήθεια
τοῦ εὐαγγελίου. Συναγωγή καινοδιαθηκικῶν μελετῶν, ἐπιμ. Χ. Καρακόλης / π. Ἰ. Σκιαδαρέσης /
Μ. Χατζηγιάννης [Ἐκδόσεις Ἄρτος Ζωῆς 56], Athen 2012, 33–80).
31
S. dazu Joh 1,18, aber auch Joh 12,45; 14,6.9; 17,6–8 sowie Mt 11,27 par. Lk 10,22; 1 Joh
5,20.
32
Vgl. auch 1 Tim 1,17 (sekundäre Lesarten haben hier ebenfalls ἀθάνατος). Zu ἀθάνατος
als Gottesprädikat in liturgischen Texten s. etwa den Hymnus Φῶς ἱλαρόν: Christ / Parani-
kas, Anthologia graeca carminum christianorum (s. Anm. 10), 40; Π. Ν. Τρεμπελας, Ἐκλογὴ
Ἑλληνικῆς Ὀρθοδόξου Ὑμνογραφίας, Athen ²1978, 158.
33
Vgl. Diognetbrief 9,2; Athanasius, De incarnatione Verbi 9 (PG 25, 112 A.B); Contra
Arianos I 41; II 16; III 57 (PG 26, 96 B – 97 A; 177 C; 444 B.C).
34
Der Zusammenhang zwischen der Unsterblichkeit des Sohnes Gottes und dem Wunder
seiner Inkarnation wird auch bei Athanasius, Contra Arianos I 41 angesprochen.
35
I. Karmiris, Τὰ δογματικὰ καὶ συμβολικὰ μνημεῖα τῆς Ὀρθοδόξου Καθολικῆς Ἐκκλησίας
I, Graz ²1968, 130; DH 84 (*150).
290 Struktur und Gedankengang des Christushymnus Ὁ μονογενὴς Υἱός
damit zu dem Weg an das Kreuz – spricht, dann hat das seine neutestamentliche
Grundlage vor allem im Johannesevangelium und im Hebräerbrief.36 Mit dem
Verbum σαρκοῦσθαι („Fleisch werden“) nehmen das Bekenntnis von Nizäa-
Konstantinopel und der Hymnus auf die Worte ὁ λόγος σὰρξ ἐγένετο von Joh
1,14 Bezug.37 Daß der ewige Sohn Gottes „Fleisch“ wurde, besagt an dieser
Stelle, daß er ein Mensch wurde, der als solcher sterben konnte und dem auch zu
sterben bestimmt war.38 Der gleiche Gedanke ist in jenen frühen christologischen
Aussagen präsent, die den Sohn Gottes als den bekennen, der „im Fleisch ge-
kommen“39 und von daher „im Fleisch“40 ist. Daß die Inkarnation des Sohnes
Gottes nicht als eine Verwandlung in „Fleisch“ verstanden werden darf, die
dann zwangsläufig die Preisgabe des Gott-Seins implizieren würde, ist bereits
für das Johannesevangelium evident. Gemeint ist in Joh 1,14 mit σὰρξ γίνεσθαι
die Annahme menschlicher und damit sterblicher Existenz unter voller Wahrung
der ewigen Gottheit.41 Weil unser Hymnus nicht anders denkt, bezeichnet er die
menschliche Mutter, die den Sohn Gottes geboren hat, als ἡ ἁγία Θεοτόκος καὶ
ἀειπάρθενος Μαρία (Zeilen 4 f.).42
Daß der Sohn Gottes sich mit der Inkarnation nicht in einen Menschen ver-
wandelt hat, wird dann in der zweiten, die Zeilen 6–8 umfassenden Aussageein-
heit sogleich ausdrücklich gesagt. Die Menschwerdung – so die Worte ἀτρέπτως
ἐνανθρωπήσας der Zeile 6 – geschieht ohne eine Veränderung des Wesens und
somit ohne Preisgabe des Gott-Seins. Nur unter dieser Voraussetzung kann der
durch die Konjunktion τέ angefügte Satz gelten, der die Folge und das Ziel der
Menschwerdung zur Sprache bringt: σταυρωθείς τε, Χριστὲ ὁ Θεός, θανάτῳ
θάνατον πατήσας (Zeilen 7 f.). Der Kreuzestod wird von dem ausgesagt, der auch
als der Menschgewordene wahrer Gott ist und bleibt, und in diesem seinem gött-
lichen Persongeheimnis liegt es begründet, daß sein Tod – im fundamentalen Un-
terschied zu allem anderen menschlichen Sterben – ein Heilsgeschehen ist. Die
Worte ἀτρέπτως ἐνανθρωπήσας σταυρωθείς τε […] θανάτῳ θάνατον πατήσας
36
Joh 4,34; 6,38 f.; 10,17 f.; 12,23 f.27; 14,31; 17,4; 18,11; Hebr 10,1–10.
37
Der älteste Beleg für σαρκοῦσθαι = σὰρξ γίνεσθαι findet sich bei Meliton, Passa-Homilie
70 und 104 (ὁ ἐν παρθένῳ σαρκωθείς).
38
Der Gedanke der Sterblichkeit ist bereits in anthropologischen Aussagen des Alten Te-
staments (Gen 6,3; Jes 40,6; Jer 17,5; Ps 56[55],5; 78[77],39; Sir 14,17 f.) und von daher auch
in späteren Texten (z. B. 1QH 7,21; 12,29; 17,16; Joh 3,6) mit dem Begriff „Fleisch“ verbunden.
39
1 Joh 4,2b; 2 Joh 7; vgl. Ignatius, Eph 7,2 (ἐν σαρκὶ γενόμενος).
40
Ignatius, Sm 3,1 (vgl. 1,2); s. auch σαρκικός Eph 7,2.
41
Einzig deshalb kann in Joh 1,14 auf die Worte καὶ ὁ λόγος σὰρξ ἐγένετο καὶ ἐσκήνωσεν
ἐν ἡμῖν der Satz folgen: καὶ ἐθεασάμεθα τὴν δόξαν αὐτοῦ, δόξαν ὡς μονογενοῦς παρὰ πατρός,
πλήρης χάριτος καὶ ἀληθείας.
42 Zu Θεοτόκος sei nur an das Konzil von Ephesus (431) und an das Bekenntnis des Konzils
von Chalcedon (451) erinnert; s. zu ersterem Karmiris, Τὰ δογματικὰ καὶ συμβολικὰ μνημεῖα
I (s. Anm. 35), 135–151.154 f.; DH 122 (*251) und 126 (*252), zu letzterem Karmiris, ebd., 175;
DH 142 (*301). Das Theologumenon der ἀειπαρθενία Marias wird bereits von Athanasius ver-
treten: Contra Arianos II 70 (PG 26, 296 B); Expositio in Psalmos, zu Ps 84,11 (PG 27, 373 A).
S. ferner etwa Epiphanius von Salamis, Ancoratus 119,5 (GCS 25, 148).
Struktur und Gedankengang des Christushymnus Ὁ μονογενὴς Υἱός 291
nehmen, wie nicht zweifelhaft sein kann, erneut auf das Bekenntnis von Nizäa-
Konstantinopel Bezug, und zwar auf die beiden Aussagen καὶ ἐνανθρωπήσαντα
und σταυρωθέντα τε ὑπὲρ ἡμῶν.43 Wenn das Bekenntnis hier erklärt, daß der
Kreuzestod des menschgewordenen Sohnes Gottes „für uns“ – und das heißt: zu
unserem Heil – geschehen ist, dann interpretiert unser Hymnus diese Aussage
durch den Partizipialsatz θανάτῳ θάνατον πατήσας (Zeile 8), der als adverbiale
Bestimmung dem σταυρωθείς der voraufgehenden Zeile zugeordnet ist. Die
Worte θανάτῳ θάνατον πατήσας kennzeichnen den Kreuzestod Jesu Christi als
den Sieg über den Tod.44 Ihre neutestamentliche Grundlage wird in Texten wie
2 Tim 1,10 und Apk 1,17b.18 greifbar, vor allem aber im Johannesevangelium, das
in dem Golgatha-Geschehen den Sieg erblickt, den der Sohn Gottes in der tief-
sten Tiefe des Kreuzes über den Tod und die Welt des Todes erringt.45 In voller
Entsprechung zu dem johanneischen Zeugnis bringt unser Hymnus in den Zeilen
7 f. durch die Worte σταυρωθεὶς […] θανάτῳ θάνατον πατήσας die Heilswirkung
des Todes Jesu Christi zum Ausdruck. Damit erweist er sich als ein Dokument
jenes Verständnisses des Kreuzestodes, das für das 5. und 6. Jahrhundert als
charakteristisch gelten darf: Das Kreuz als der Ort des Leidens und Sterbens
Jesu Christi ist zugleich der Ort seines Sieges und der Offenbarung seiner Herr-
lichkeit.46 Als Siegeszeichen in diesem Sinn kann das Kreuz allein deshalb
verstanden werden, weil der Gekreuzigte nicht ein ψιλὸς ἄνθρωπος – nicht ein
„bloßer Mensch“ – ist, sondern der μονογενὴς Υἱὸς καὶ Λόγος τοῦ Θεοῦ (Zeile
1), von dem aufgrund der Wahrheit, die mit den Worten ἀτρέπτως ἐνανθρωπήσας
(Zeile 6) bezeugt wird, auch als von dem Menschgewordenen die Prädikation
ἀθάνατος ὑπάρχων (Zeile 2) gilt.47 Der hinter σταυρωθείς τε eingefügte Vokativ
Χριστὲ ὁ Θεός (Zeile 7) weist nachdrücklich auf diesen Sachverhalt hin.
Die hohe Christologie, die bereits in den bisher betrachteten Zeilen des Hym-
nus begegnet, findet ihren stärksten Ausdruck in der dritten Aussageeinheit,
d. h. in den Zeilen 9–11. Die entscheidende Aussage dieser Zeilen und damit des
gesamten Troparion überhaupt liegt in den Worten εἷς ὢν τῆς Ἁγίας Τριάδος
von Zeile 9. In dieser Seins-Prädikation – „Einer der Heiligen Dreieinigkeit“ –
43
Karmiris, ebd., 130; DH 84 (*150).
44
Vgl. dazu Athanasius, De incarnatione Verbi 9 (PG 25, 112 C); Contra Arianos III 57 (PG
26, 444 A). Anders als etwa das Ostertroparion (Χριστὸς ἀνέστη ἐκ νεκρῶν θανάτῳ θάνατον
πατήσας καὶ τοῖς ἐν τοῖς μνήμασι ζωὴν χαρισάμενος) hebt unser Hymnus nicht ausdrücklich
auf die Auferstehung Christi ab, obwohl diese selbstverständlich mit im Blick ist. Der Tod und
die Auferstehung Jesu Christi bilden nach neutestamentlichem Zeugnis und ebenso nach dem
Bekenntnis der Kirche eine unlösliche Einheit: Sie sind in ihrem differenzierten Zusammenhang
das eine Heilsgeschehen, in dem der Sieg über den Tod errungen ist.
45
Die gesamte johanneische Passionsgeschichte ist eine Darstellung dieses Sachverhaltes.
S. außerdem u. a. Joh 2,19–22; 10,17 f. einerseits und Joh 12,31; 14,30; 16,11; 16,33 andererseits.
46
Vgl. dazu L. Abramowski, Die Mosaiken von S. Vitale und S. Apollinare in Classe und
die Kirchenpolitik Kaiser Justinians, ZAC 5 (2001) 289–341: 306.
47 Zu Recht bemerkt Barkhuizen, Justinian’s Hymn Ὁ μονογενὴς υἱὸς τοῦ Θεοῦ (s.
Anm. 9), 4: „As the Deathless One He was able to defeat death by his own death!“
292 Struktur und Gedankengang des Christushymnus Ὁ μονογενὴς Υἱός
48
Zu dem theologie- und dogmengeschichtlichen Kontext s. W. Elert, Die Theopaschi-
tische Formel, ThLZ 75 (1950) 195–206; Ders., Der Ausgang der altkirchlichen Christologie,
hg. v. W. Maurer / E. Bergsträßer, Berlin 1957, 71–132; Grillmeier, Jesus der Christus im Glau-
ben der Kirche, Bd. 2/2 (s. Anm. 6), besonders 333–359; Janeras, Le tropaire Ὁ Μονογενής
dans les liturgies orientales et sa signification œcuménique (s. Anm. 4), 216–220.
49
Karmiris, Τὰ δογματικὰ καὶ συμβολικὰ μνημεῖα I (s. Anm. 35), 195; DH 198 (*432). Die
Prädikation Jesu Christi als θεὸς ἀληθινός nimmt das Zeugnis von 1 Joh 5,20b auf, diejenige
als κύριος τῆς δόξης das Zeugnis von 1 Kor 2,8b. Zur theologischen Würdigung des Kanons
insgesamt verweise ich auf J. Meyendorff, Le Christ dans la theólogie byzantine (BOe 2),
Paris 1969, 91–107.
50 Eine eindrückliche Illustration dazu bietet das Apsis-Mosaik von S. Apollinare in Classe,
Ravenna; s. Abramowski, Die Mosaiken von S. Vitale und S. Apollinare in Classe und die
Kirchenpolitik Kaiser Justinians (s. Anm. 46), 302–313.
51 Zur δόξα Jesu Christi s. Joh 1,14; 2,11; 11,4.40; 12,41; 17,5.24, aber auch 1 Kor 2,8b sowie
Konstantinopel, in dem vom Heiligen Geist das σὺν Πατρὶ καὶ Υἱῷ συνδοξάζεσθαι ausgesagt
wird: Karmiris, Τὰ δογματικὰ καὶ συμβολικὰ μνημεῖα I (s. Anm. 35), 131; DH 84 (*150).
53
S. dazu meinen Aufsatz: Gemeinschaft mit den Engeln im Gottesdienst der Kirche. Eine
traditionsgeschichtliche Skizze, in: O. Hofius, Neutestamentliche Studien (WUNT 132), Tü-
bingen 2000, 301–325 (= Ἡ κοινωνία τοῦ οὐρανίου καί τοῦ ἐπιγείου κόσμου στή Θ. Λειτουργία
Struktur und Gedankengang des Christushymnus Ὁ μονογενὴς Υἱός 293
Der Hymnus schließt in Zeile 12 mit der an Christus gerichteten Bitte: σῶσον
ἡμᾶς. Erbeten wird damit eben jene „Rettung“, von der in den Zeilen 2–8 die
Rede war: die σωτηρία, um derentwillen der Sohn Gottes Fleisch annahm,
Mensch wurde und den Tod am Kreuz erlitt. Gemeint ist also die „Rettung“,
durch die der vor Gott verlorene Mensch dem ewig von Gott trennenden Tod ent-
rissen und mit dem ewigen Leben in der Gemeinschaft mit Gott beschenkt wird.
Wenn in unserem Hymnus die christologischen Aussagen in die Bitte um diese
„Rettung“ münden, dann kommt darin zum Ausdruck, daß die Christologie als
Fundament und Voraussetzung der Soteriologie gesehen ist. Mit der Bitte σῶσον
ἡμᾶς wird das Heil Gottes ergriffen, das in dem beschlossen liegt, zu dessen
Bezeugung der Hymnus grundlegende christologische Bekenntnisaussagen aus
den ersten sechs Jahrhunderten der Kirche zu einer in sich stimmigen Einheit
verbunden hat.
τῆς Ἐκκλησίας. Βιβλικοθεολογική θεώρηση, in: Hofius, Ἡ ἀλήθεια τοῦ εὐαγγελίου [s.
Anm. 30], 400–438).
Bibliographie Otfried Hofius
(2009–2021)1
2009
219. Ἡ ἀνάσταση τῶν νεκρῶν ὡς γεγονός σωτηρίας. Σκέψεις στό 15ο κεφάλαιο τῆς
Α΄ πρός Κορινθίους Ἐπιστολῆς, in: C. J. Belezos (ed.), Saint Paul and Corinth.
International Scholarly Conference Proceedings (Corinth, 23–25 September 2007),
Athens 2009, Volume I, 623–641. – Griechische Fassung von Nr. 213.
220. Paulus – der Zeuge des Evangeliums. Zur Bedeutung des Völkerapostels für die
Kirche der Reformation, Mariastein 54 (2009) 14–19.
221. Die Erzählung von der Fußwaschung Jesu. Joh 13,1–11 als narratives Christuszeug-
nis, ZThK 106 (2009) 156–176.
222. Mensch und Schöpfung nach dem Zeugnis des Römerbriefs, in: R. Lapko (ed.), The
Letter of St. Paul to the Romans. A collection of presentations made at the Inter-
national Conference organised by the Catholic University in Ružomberok (Slovakia)
Faculty of Theology in Košice under the patronage of Mr. Ján Hudacky MEP. March
10, 2009 – in the Year of St. Paul, Szeged 2009, 13–30.
223. „Fides ex auditu“. Verkündigung und Glaube nach Römer 10,4–17, in: J. von Lüpke /
E. Thaidigsmann (Hg.), Denkraum Katechismus. FS Oswald Bayer, Tübingen 2009,
71–86.
2010
224. Β΄ προς Κορινθίους 5:19α: Το κείμενο και το πρόβλημα της μετάφρασής του, Αστήρ
της Ανατολής 153 (2010) 81–84.
225. Die Ordination zum Amt der Kirche und die apostolische Sukzession nach dem
Zeugnis der Pastoralbriefe, ZThK 107 (2010) 261–284.
226. Ἡ ἀνάσταση τοῦ Λαζάρου στούς λειτουργικούς ὕμνους τῆς Ὀρθόδοξης Ἐκκλησίας.
Μιά συμβολή στήν ἱστορία τῆς ἑρμηνείας τοῦ Ἰω 11,1–44, in: Αγία Γραφή και
Αρχαίος Κόσμος. Τιμητικό Αφιέρωμα στον Ὁμότιμο Καθηγητή Ιωάννη Λ. Γαλάνη
(FS Ioannis L. Galanis), Thessaloniki 2010, 131–149. – Deutsche Fassung: Nr. 247;
rumänische Fassung: Nr. 250.
227. „Verba theologica“. Erwägungen zum Problem theologischer Rede, Verba theo-
logica 9 (2010), Nr. 19, 3–10. – Slowakische Fassung: Nr. 228.
1 Fortsetzung der Bibliographie in: O. Hofius, Exegetische Studien (WUNT 223), Tübingen
2008, 297–310. Dort sind nachzutragen: 135a. The Adam-Christ Antithesis and the Law: Re-
flections on Romans 5:12–21, in: J. D. G. Dunn (ed.), Paul and the Mosaic Law, Grand Rapids,
MI 1996, 165–206. – 209a. Ἡ βιβλική μαρτυρία περί Ἰησοῦ Χριστοῦ καί ὁ θρησκευτικός
πλουραλισμός, Αστήρ της Ανατολής 150 (2007) 344–346 (auch in: DBM 26 [2008] 95–100). –
218a. Ausgezeichnet durch die Gnade Gottes (Predigtmeditation über Lukas 1,[39–45].46–55.
[56]), AuB 2008, Heft 22, 17–21.
296 Bibliographie Otfried Hofius (2009–2021)
228. „Verba theologica“. Úvahy k problému teologickej reči, Verba theologica 9 (2010),
Nr. 19, 10–16. – Slowakische Fassung von Nr. 227.
2011
229. Exegetische Studien (WUNT 223). Unveränderte Studienausgabe, Tübingen 2011.
XI, 365 S. (s. Nr. 210).
230. Jesus Christus – die Mitte der Heiligen Schrift. Grundlinien des evangelischen
Schriftverständnisses, in: W. Baschkirow / H. Lichtenberger / F. Schweitzer / A. Was-
sin (Hg.), Was ist orthodox? Was ist evangelisch? (ThID 13), Neukirchen-Vluyn
2011, 31–44.
231. Η «αλήθεια του ευαγγελίου». Ερμηνευτικές και θεολογικές σκέψεις σχετικά με την
αξίωση αλήθειας του παύλειου κηρύγματος, DBM 27 (2009) 54–77 (erschienen
2011). – Griechische Fassung von Nr. 171.
232. Gottes Wort im Menschenwort. Zum Verständnis des Evangeliums bei dem Apo-
stel Paulus, in: Труды Минской Духовной Академии. Спецвыпүск. Arbeiten
der Geistlichen Akademie Minsk. Sonderheft, Жировичи / Zirovitschi 2011, 9–16. –
Russische Fassung: Nr. 233.
233. Божие слово в человеческом слове. О понятии «Евангелия» у апостола Павла,
in: Труды Минской Духовной Академии. Спецвыпүск. Arbeiten der Geistlichen
Akademie Minsk. Sonderheft, Жировичи / Zirovitschi 2011, 17–24. – Russische
Fassung von Nr. 232.
234. Comuniunea cu îngerii în slujba Bisericii. O schiţă istorico-tradiţională, in: Anuarul
Facultăţii de Teologie Ortodoxă „Patriarhul Justinian“ din Bucureşti, Bucureşti 2011,
239–255. – Rumänische Fassung von Nr. 114.
2012
235. Ἡ ἀλήθεια τοῦ εὐαγγελίου. Συναγωγή καινοδιαθηκικῶν μελετῶν, ἐπιμ. Χ. Καρακόλης /
π. Ἰ. Σκιαδαρέσης / Μ. Χατζηγιάννης (Ἐκδόσεις Ἄρτος Ζωῆς 56), Ἀθήνα 2012. 542
S. – Der Band enthält die folgenden Beiträge: Nr. 82. 127. 132. 146. 149. 152. 153. 196.
203. 206. 209a (um Anmerkungen erweitert). 218. 219. 224. 226. 231. 236. 237. 238.
236. Δομή καί λογική ἀκολουθία τοῦ ὕμνου τοῦ Λόγου στό Ιω 1,1–18, in: Ἡ ἀλήθεια τοῦ
εὐαγγελίου (s. Nr. 235), 33–80. – Griechische Fassung von Nr. 87.
237. Ἡ ἀποστολική περί Χριστοῦ μαρτυρία καί ἡ Παλαιά Διαθήκη. Θέσεις, in: Ἡ ἀλήθεια
τοῦ εὐαγγελίου (s. Nr. 235), 482–496.
238. Τό ἐκ τῶν Ο΄ κείμενο τοῦ Δν 7,13–14. Σκέψεις σχετικά μέ τή μορφή καί τό μήνυμά
του, in: Ἡ ἀλήθεια τοῦ εὐαγγελίου (s. Nr. 235), 497–530. – Griechische Fassung von
Nr. 195.
239. Die Frage nach dem „historischen Jesus“ als theologisches Problem, in: H. Assel
(Hg.), Leidenschaft für die Theologie, Leipzig 2012, 79–115. – Griechische Fassung:
Nr. 249.
240. Außerkanonische Herrenworte, in: Chr. Markschies / J. Schröter (Hg.), Antike
christliche Apokryphen in deutscher Übersetzung (7. Auflage der von E. Hennecke
begründeten und von W. Schneemelcher fortgeführten Sammlung der neutestament-
lichen Apokryphen). I. Evangelien und Verwandtes. Teilband 1, Tübingen 2012,
184–189.
Bibliographie Otfried Hofius (2009–2021) 297
2013
241. Das kirchliche Amt der Verkündigung bei Paulus und in den Deuteropaulinen, in:
W. Eisele / Chr. Schaefer / H.-U. Weidemann (Hg.), Aneignung durch Transformati-
on. Beiträge zur Analyse von Überlieferungsprozessen im frühen Christentum. FS
Michael Theobald (HBS 74), Freiburg – Basel – Wien 2013, 339–357.
242. Das Zeugnis von dem gekreuzigten Christus und das Nein des Unglaubens (Predigt-
meditation über Johannes 12,34–36.[37–41]), AuB 2013, Heft 1, 3–8.
243. Ἁμαρτία, νόμος καί χάρις κατά τόν ἀπόστολο Παῦλο, in: Σ. Ζουμπουλάκης (ἐπιμ.),
Ἡ ἐπιστροφή τῆς ἠθικῆς. Παλαιά καί νέα ἐρωτήματα (Ἐκδόσεις Ἄρτος Ζωῆς 59),
Ἀθήνα 2013, 53–77. – Deutsche Fassung: Nr. 248.
2014
244. „Wandeln im Glauben“ – „Wandeln im Schauen“? Zum Problem der Übersetzung
und Auslegung von 2 Kor 5,7, ZThK 111 (2014) 271–283. – Griechische Fassung:
Nr. 246.
245. Единение за трапезой Господней. Свидетельство Нового Завета, in: U. Luz
(Hg.), Единство церкви в Новом Завете (Серия «Современная библеистика»),
Москва 2014, 192–199. – Russische Fassung von Nr. 217 (ohne Anmerkungen).
246. «Διὰ πίστεως περιπατοῦμεν, οὐ διὰ εἴδους». Το πρόβλημα της μετάφρασης και
ερμηνείας του Β΄ Κορ. 5,7, in: Παύλεια. Τόμος Επετειακός επί τῃ Συμπληρώσει
Είκοσι Ετών από της υπό του Σεβασμιωτάτου Μητροπολίτου Βεροίας, Ναούσης
και Καμπανίας κ. Παντελεήμονος Καθιερώσεως των Εκδηλώσεων προς Τιμήν του
Αγίου Ενδόξου Αποστόλου Παύλου (1995–2014), Βέροια 2014, 509–532. – Griechi-
sche Fassung von Nr. 244.
247. Die Auferweckung des Lazarus in den gottesdienstlichen Hymnen der Orthodoxen
Kirche. Ein Beitrag zur Auslegungsgeschichte von Joh 11,1–44, Review of Ecume-
nical Studies, Sibiu 6 (2014) 428–448. – Deutsche Fassung von Nr. 226.
2015
248. „Sünde“ – „Gesetz“ – „Gnade“. Überlegungen zu drei Grundbegriffen paulinischer
Theologie, in: G. C. den Hertog / M. C. Mulder / T.E van Spanje (ed.), Acta. Bundel
ter gelegenheid van het afscheid van prof. dr. T. M. Hofman als hoogleraar aan
de Theologische Universiteit Apeldoorn, Heerenveen 2015, 241–253. – Deutsche
Fassung von Nr. 243.
249. Τό ερώτημα περί του «ιστορικού Ιησού» ως θεολογικό πρόβλημα, DBM 40 (2012)
60–85 (erschienen 2015). – Griechische Fassung von Nr. 239.
2016
250. Învierea lui Lazăr în imnografia Bisericii Ortodoxe. O contribuţie la istoria inter-
pretării pericopei din Ioan 11, 1–44, in: A. Ioniţă (ed.), Interpretarea Biblică între
Biserică şi Universitate: perspective interconfesionale (Studia Oecumenica 10),
Sibiu / Cluj-Napoca 2016, 178–201. – Rumänische Fassung von Nr. 226 bzw. Nr. 247.
251. „Extra nos in Christo“. Voraussetzung und Fundament des „pro nobis“ und des „in
nobis“ in der Theologie des Paulus, in: R. Rausch (Hg.), Lutherische Identität. Pro-
testantische Positionen und Perspektiven. Herbsttagung der Luther-Akademie 2013,
Hannover 2016, 69–97.
298 Bibliographie Otfried Hofius (2009–2021)
2017
252. Sündenvergebung als Prärogative Gottes und Jesu Zuspruch der Sündenvergebung.
Mk 2,1–12 als narratives Christuszeugnis, in: A. Huijgen / C.-J. Smits / E. Lempp
(Hg.), Schuld und Freiheit. Festgabe für Gerard Cornelis den Hertog (DBTRP 13),
Münster 2017, 7–26.
2019
253. Struktur und Gedankengang des Christushymnus Ὁ μονογενὴς Υἱός, in: Μυριώνυμον
εὖχος. Τῷ Σεβασμιωτάτῳ Μητροπολίτῃ Βεροίας, Ναούσης καί Καμπανίας κ.
Παντελεήμονι ἐπί τῷ χρυσῷ Ἰωβηλαίῳ Ἱερωσύνης (1969–2019) καί τῷ ἀργυρῷ
Ἰωβηλαίῳ Ἀρχιερωσύνης (1994–2019), Τόμος Γ΄, Βέροια 2019, 645–654.
2021
254. Exegetische und theologische Studien (WUNT 467), Tübingen 2021. VIII, 355 S. –
Der Band enthält die folgenden Beiträge: 221, 222, 223, 225, 230, 232, 239, 241, 244,
247, 248, 251, 252, 253, 255, 256, 257, 258.
255. „Abba! Vater!“, in: Exegetische und theologische Studien (s. Nr. 254), 1–19.
256. Sprachliche Probleme im griechischen Text des Vaterunsers. Zur Exegese der ersten
und dritten Wir-Bitte, in: Exegetische und theologische Studien (s. Nr. 254), 21–40.
257. „In eurer Tora steht geschrieben“. Zur Auslegung von Joh 8,17; 10,34; 15,25, in: Ex-
egetische und theologische Studien (s. Nr. 254), 57–69.
258. Das Predigtamt der Kirche und das Priestertum aller Gläubigen, in: Exegetische und
theologische Studien (s. Nr. 254), 215–228.
Nachweis der Erstveröffentlichungen
„Abba! Vater!“
Unveröffentlicht.
„Fides ex auditu“.
Verkündigung und Glaube nach Römer 10,4–17
J. von Lüpke / E. Thaidigsmann (Hg.), Denkraum Katechismus. FS Oswald Bayer, Tü-
bingen 2009, 71–86.
300 Nachweis der Erstveröffentlichungen
Das kirchliche Amt der Verkündigung bei Paulus und in den Deuteropaulinen
W. Eisele / Chr. Schaefer / H.-U. Weidemann (Hg.), Aneignung durch Transformation.
Beiträge zur Analyse von Überlieferungsprozessen im frühen Christentum. FS Michael
Theobald (HBS 74), Freiburg – Basel – Wien 2013, 339–357. – Die Abdruckerlaubnis er-
teilte freundlicherweise der Verlag Herder GmbH, Freiburg im Breisgau.
Die Ordination zum Amt der Kirche und die apostolische Sukzession
nach dem Zeugnis der Pastoralbriefe
ZThK 107 (2010) 261–284.
Altes Testament
Genesis 23,20 f. 47
1,3 161 23,21 46 f.
2 f. 93, 169 24,15–18 LXX 124
2,7 93 24,17 LXX 121
2,9 93 26,30 LXX 121
2,16 f. 266 32,11–13 46
2,16b.17 168 f. 32,30–32 46
2,17b 94 32,32 46
3 99 33,11 LXX 124
3,1–19 266 33,18–23 LXX 124
3,3 169 34,7 46
3,17–19 99 34,8 f. 46
3,22–24 94
6,3 290 Leviticus
12,7 LXX 138 f. 12,3 57
15,9–21 LXX 67 13,43 LXX 121
15,16 LXX 163 18,5 109 f., 168
17,1 LXX 138 18,5 LXX 109 f.
18,1 LXX 138 18,5b LXX 109
19,2 LXX 81 21,1–24 217
22 149 21,6–8 217
22,2 149 22,28 65
22,2 LXX 149
22,16 LXX 149 Numeri
26,2 LXX 138 9,12 LXX 67
26,24 LXX 138 9,15 f. LXX 121
29,17 LXX 121 11,7 LXX 121
35,9 LXX 138 12,6–8 LXX 124
39,6 LXX 121 12,8 LXX 123 f.
42,7 36 12,8a LXX 124
42,30 36 14,13–19 46
14,18 46
Exodus 21,7 46
3,2 LXX 138 27,12–23 195
10,17 46 27,18 195, 199
12,10 LXX 67 27,18 LXX 195
12,46 LXX 67 27,20 204
19,6 LXX 218 27,23 195, 199
20,2–17 167 27,23 LXX 195
23,1 LXX 115
304 Register
Deuteronomium 2. Könige
5,6–21 167 5,7 54, 238
8,17 LXX 110
9,4 LXX 110 4. Regnorum (LXX)
9,18–20 46
9,5 3
9,21 LXX 163
11,9 65
Jesaja
11,30 65
17,6a 57 6,5 238
19,15b 57 6,7 43
21,11 LXX 121 12,4 f. LXX 221
27,26a 168 12,4 222
30,11–14 LXX 110 f. 12,5 222
30,11 LXX 111 14,8 97
30,14 LXX 111 f., 140 18,2 σ’ 88
32,39 54 22,15 LXX 275
34,9 195, 199 27,9 LXX 163
28,7 LXX 218
Richter 28,16 113
28,16 LXX 113, 218
19,21 LXX 81
28,16b 113
35,4–6 54, 237
1. Samuel
40,1–11 237
2,6 54 40,6 290
12,5–25 50 40,8b 238
15,25 46, 50 42,12 222
42,12 LXX 219, 221
1. Regnorum (LXX) 43,11 238
2,24 115 43,20 f. 220
12,5–25 50 43,20 f. LXX 219 f.
15,25 50 43,21 LXX 196, 219, 221 f.
43,21b 220
2. Samuel 43,25 43
44,22 43
12,13 43, 247 45,21 f. 238
48,20 222
2. Regnorum (LXX) 48,20 LXX 221
12,13 43 49,13 97
13,30 115 52,7 LXX 115, 157
52,7a LXX 115
1. Könige 52,14 LXX 121
53,1 LXX 115
8,39 44 53,1 vg 116
14,6 α’ 88 53,1a 115 f.
53,1a LXX 115 f.
3. Regnorum (LXX) 53,2 f. LXX 121
2,28 115 55,12 97
10,7 115 59,20 LXX 163
14,6 A 88 63,16 17
17,18 B 3 63,16 LXX 17
18,26 3 63,16a LXX 3
20,20 3 63,7 LXX 219
Stellenregister 305
64,7 17 Micha
64,7 LXX 17
7,18 46
Jeremia
Nahum
2,27 17
1,12 LXX 115
2,27 LXX 17
3,4 17
Habakuk
3,4 LXX 17
3,19 17 3,2 LXX 115
3,19 LXX 17
6,24 LXX 115 Sacharja
9,23 44 1,12–17 43
10,22 LXX 115 3,1–7 43
11,16 LXX 121 3,3–5 43
11,20 44 3,4b 43
15,3 LXX 121 13,1 57, 67
17,5 290 14,8 57, 67
17,10 44
20,12 44 Maleachi
27,43 LXX 115
30,8 LXX 115 2,10 17
30,29 LXX 115 3,1 237
33,8 55
44,5 LXX 115 Psalmen (MT)
49,14 vg 116 7,10 44
49,23 vg 116 9,12 222
17,1a 47
Ezechiel 17,2a 47
1,16 LXX 121 19,2 97
1,26 LXX 121 25,18 46
16,56 LXX 115 26,2 38
27,23 LXX 39 32,5 46
36,25–29a 55 35,19b 58
36,27 145, 147 44,22 44
49,13 93
Hosea 50,14 223
50,23 223
13,4 238 51,4 55
51,9–14 55
Joel 51,12 f. 145
3,5a LXX 113, 115 51,13b 145, 147
3,5b LXX 115 51,19 223
4,18b 57, 67 54,8 223
56,5 290
Obadja 58,12 44
65,4 51
1,1 LXX 115
65,8 54, 238
1,1 vg 116
66,11a 34
67,3 44
Jona
68,19a 186
2,3–10 110 69,5a 58
69,31 f. 223
306 Register
Qohelet
7,20 165
308 Register
1. Esdras 4. Makkabäer
4,18 121 11,12 A 3
8,22 44 18,4 99
Neues Testament
Matthäus 4,24 115
1,1–4,16 238 5,17 67
1,20b–23 237 5,21–48 246
1,21 247 5,22 63, 246
1,21b 238 5,28 246
3,14 85 5,32 246
4,18–20 246 5,34 246
Stellenregister 309
3,11 f. 4 13,26 f. 55
3,15 44 13,31 238
3,17 3 14,21 55
3,21 246 14,22–25 4
3,22 246 14,22–24 55
4,17 39 14,24 4
4,35–41 54, 238 14,27 38
5,7 4 14,32–42 2
5,21–24 54 14,35 3
5,23 194 14,36 1–19
5,35–43 54 14,37 4
5,41 3 f., 43 14,38 38
6,1–6 234 14,40 4
6,5 194 14,41 3 f., 55
6,14–16 234 14,55–64 55
6,45–52 54, 238 14,61 f. 55
6,52 234 14,62 55
7,11 3 14,63 f. 55
7,31–37 54 15,22 3
7,32 194 15,33 f. 4
7,34 3 15,34 3 f., 6, 248
7,37 237 15,39 4
8,17 f. 234 16,6 f. 234
8,23 194 16,6 4
8,25 194 [16,18] 194
8,27 f. 234 [concl. brev.] 222
8,31 3 f., 55, 239, 243
8,34–38 56 Lukas
8,38 55, 246 1,2 215
9,2–10 55 1,5–4,13 238
9,2–8 55, 238, 292 1,11 139
9,3 44 1,25 42
9,4 139 2,30 237
9,7 4, 55 2,48 42
9,9 f. 234 3,6 237
9,9 55 3,8 78
9,12 55 3,22 121 f.
9,25 4 4,16–21 245
9,31 4, 55, 243 4,18 122
9,40 133 4,21 78
10,16 194 4,22 234
10,17 f. 248 4,40 194
10,18 248 5,1–11 56
10,21 246 5,8 56
10,32–34 4 5,8b 238
10,33 f. 55, 243, 266 5,10b 56
10,38 f. 2 5,20 41
10,45 4, 55, 71, 233, 240 5,24 44
10,46 3 7,7b 238
12,6 4 7,14 43
12,24 67 7,18–23 245
13,7 115 7,23 246
13,9–13 39 7,36–50 246
Stellenregister 311
14,5 87 18,4–8 75
14,6 87, 289 18,11 2, 75, 290
14,8 87 18,28 75
14,9 87, 289 18,31 57 f.
14,12 75 18,36 75
14,19 f. 76 19,3 4
14,19 77 19,7 57, 69, 238
14,19b 99 19,10 44
14,21 77 19,13 3
14,22 87 19,14 75
14,23 77 19,17 75
14,26 76 19,23 f. 67
14,28 75 19,23 83
14,30 291 19,24 67 f.
14,31 290 19,28 67, 72
15,3 86 19,30 75, 248
15,12–17 88 f. 19,36 f. 67 f.
15,12 87 f. 19,36 67
15,13 76 19,42 69
15,14 88 20,2 87
15,15b 87 20,9 67, 76, 239, 244
15,18–24 58 20,13 87
15,20 88 20,16 3, 87
15,25 57–69 20,17 75
16,2a 69 20,18 87
16,5 75 20,20 87
16,10 75 20,21 88, 278
16,11 291 20,22 f. 56
16,17 75 20,24 3
16,27 75 20,25 87
16,28 75 20,28 4, 87, 285
16,30 75 20,29 123
16,33 291 20,31 272
17,1 6, 75 21,2 3
17,2 87, 272 21,7 87
17,4 44, 290 21,12 87
17,5 6, 292 21,15–17 87
17,6–8 289 21,20 f. 87
17,6 87
17,8 75 Apostelgeschichte
17,11 6, 75 1,1–8 234
17,12 67 f. 1,3 139
17,13 75 1,8 185
17,14 87 1,19 3
17,15 39 1,21 f. 234
17,16 87 1,22 185
17,17 87 1,22b 234
17,18 88 1,24 44
17,21 6 2,3 139
17,24 6, 77, 292 2,23 f. 240, 244
17,25 6 2,23 240
17,26a 87 2,25–36 244
18,1 75 2,32 185, 234
Stellenregister 315
Hebräer 1,17 6
1,1–4 216 1,19 245
1,3 287 1,21 225
1,3a 237 1,23–25 225 f.
1,8 f. 4 1,24 218
2,5–18 216 1,25 222
2,10–17 240 2,4–10 195, 218, 223
2,18 170 2,4 f. 218
3,1 209, 216 2,5–10 220
4,2 115 2,5 218, 223, 226
4,2 vg 116 2,6–10 218, 221
4,14–5,10 216 2,6–8 226
4,14 209 2,6 f. 225
4,15 245 2,6 218
4,16 195, 216 2,9 196, 218–227
6,2 195 2,11 f. 223
6,17 170 2,21 89, 223
7,1–10,18 216 2,22 163, 245
7,25 133, 216 2,24 266
7,26 245 2,25 196 f.
9,14 195, 216 3,1–17 223
9,26b 240 3,15 225
10,1–10 290 3,18 245
10,5–10 240 3,19 222
10,7 4, 285 4,6 222
10,10 195 4,11a 222, 225
10,14 195 5,1–4 225
10,19–22 195 5,1 197
10,22 216 5,2 f. 187
10,23 209 5,2 196
12,5 111 5,3 f. 197
13,7 197, 216
13,8 240 1. Johannes
13,10 44, 195 1,7b 86
13,15 195, 216, 223 2,6 89
13,16 223 2,13 f. 39
13,17 197, 216 3,5 245
13,22 206 3,12 39
13,24 197, 216 3,16 89
4,2b 290
Jakobus 4,9 f. 240
1,18 258 4,9 289
2,16 26 5,18 39 f.
5,14 197 5,20 289
5,15 163 5,20a 238
5,20b 238, 292
1. Petrus
2. Johannes
1,3–12 225
1,10–12 218 7 290
1,12 222, 225
1,15 f. 223 Apokalypse
1,16 218 1,5b.6 195
328 Register
20,2 93 Ezechiel-Apokryphon
21,6 93
32,2 4, 8 Frgm. 3 17
Qumrantexte
Damaskusschrift (CD) 12,29 290
13,9 f. 45, 47 17,16 290
14,19 45, 47 19,6 221
19,24 221
Gemeinderegel (1QS)
Genesis-Apokryphon (1QGenAp ar [1Q20])
4,20–23 55
8,5–10 218 II 19 9
9,3–5 223 II 24 9
10,6 223 III 3 9
XXII 30 53
Loblieder (1QH)
Aram. Testament Levis
7,21 290
9,30 221 1QTestLevi ar (1Q21)
9,33 221 Frgm. 29,1 9
11,23 221
330 Register
De somniis Josephus
I 256 222, 224
II 8 179 Antiquitates Judaicae
II 237 95 I 222 149
II 153 44
De specialibus legibus III 22 f. 46
I 62 95 III 266 44
I 113 95 IV 247 44
II 16 95 IV 259 44
II 230 95 VI 88–94 48–50
III 205 95 VI 92 f. 46
VI 92 48–50
De vita contemplativa VI 93 50
VI 141–151 50
34 179 VI 143 50
VI 144 f. 50
De vita Mosis VI 151 50
I 105 95 VIII 17 44
II 166 46 VIII 234 198
II 194 92 X 170 25
X 216 f. 52
Legum allegoriae XI 143 f. 46
XII 215 25
I 108 95
III 69 f. 95 Bellum Judaicum
III 72 95
III 74 95 II 420 153
III 103 124 II 441 25
IV 656 153
Quis rerum divinarum heres sit V 402 59
116 179 Contra Apionem
262 124
II 14 115
Vita
279 f. 25
Rabbinische Literatur
Mischna Tosefta
Joma Pea
1,1 63 3,8 12
‛Edujot Sanhedrin
5,7 12 1,1 194
‛Aboda Zara
Babylonischer Talmud
3,4 59–62
Berakhot
32b 60 f., 63 f.
40a 12
60b 36 f.
332 Register
‛Erubin Qidduschin
55a 111 I 61b,44 11
Rosch ha-Schana Sanhedrin
17b 60–62 I 19a,47–56 194
VI 23b,66 11
Ta‛anit
23a 12, 15
Midraschim
23b (Z. 36–38) 15, 18
23b (Z. 37) 11 Mehkilta de R. Jischma‛el zu Exodus
23b (Z. 46) 11 zu 13,19 12
zu 20,5 59, 61
Soṭa zu 20,6 12, 15
12a 12 zu 20,19 58
33b 60, 65 f.
Mekhilta de R. Schim‛on
Qidduschin
b. Jochai zu Exodus
32a 12
zu 21,13 65
70a 12
Sifra zu Leviticus
Baba Meṣi‛a
’ḥrj mwt IX 10 zu 18,5 110
59b 111
qdwšjm III 11 zu 20,26 12
Sanhedrin
Sifre zu Deuteronomium
13b.14a 194
§ 56 zu 11,30 65 f.
38b 47, 93
§ 316 zu 32,13 12
70b 12
§ 347 zu 33,6 12
90b 60, 65 f.
Midrasch Tannaim
Makkot
zu Dtn 15,10 60–62
24a 12
zu Dtn 24,19 12
‛Aboda Zara
Genesis Rabba
17a 60 f., 63, 65
11,2 zu 2,3 93
18a 12
11,6 zu 2,3 11
54b 60–62
12,5 zu 2,4 93, 99
55a 60 f.
26,7 zu 6,1 11 f.
68,4 zu 28,10 60, 65
Außerkanonische Traktate
75,3 zu 32,4 39
Abot de R. Nathan (Rez. A) 78,2 zu 32,26 88
1 93
Exodus Rabba
8 12
32,4 zu 23,21 47
Abot de R. Nathan (Rez. B) 46,3 zu 34,1 12
13 12
Leviticus Rabba
19 12
4,6 zu 4,2 59–62
27 12
8,1 zu 6,18 60, 65
25,1 zu 19,23 11
Jerusalemer Talmud
32,1 zu 24,10 15
Pea
I 15c,60 11 Deuteronomium Rabba
VII 20b,24 12 8,6 f. zu 30,12–14 111
Targumim
Targum Neofiti Exodus
10,17 46
Genesis
4,13 44 Leviticus
22,7 11 18,5 110
27,18 11
27,34 11 Targum Onqelos
27,38 11
Genesis
Exodus 22,7 11
10,17 46 27,18 11
27,34 11
Deuteronomium
27,38 11
30,11–14 111
44,19 f. 12
30,13 110
Exodus
Fragmenten-Targum 10,17 46
Genesis Leviticus
4,13 (V) 44 18,5 110
Deuteronomium Numeri
30,11–14 111 30,17 12
Diognetbrief Trallianer
2,2 198
9,2 289 7,2 198
9,1 209
Dionysios von Alexandrien 13,2 198
Fragmenta 32
Johannes Chrysostomus
Epiphanius von Salamis In Ep. ad Romanos Homiliae
Ancoratus XIV 5 98 f., 103
119,5 290 In Ep. I ad Corinthios Homiliae
VI 3 126
Evangelienfragment POxy 840
In Ep. II ad Corinthios Homiliae
34 f. 80 X 2 126
Gregor von Nyssa Justin
De oratione dominica orationes Apologie I
IV 25 13,3 209
46,1 209
Hieronymus 61,13 209
Commentaria in Evangelium S. Matthaei Dialog mit Tryphon
zu 6,11 24 f. 30,3 209
76,6 209
Hymnen 85,2 209
Doxologie 287
Lazarus-Hymnen 263–281 Justinian (Kaiser)
Ὁ μονογενὴς Υἱός 283–293 Confessio rectae fidei
Ostertroparion 291 adversus tria capitula
Φῶς ἱλαρόν 289 284
Ignatius 1. Klemensbrief
Epheser 8,3 17
2,2 198 16,1–16 89
4,1 198 16,17 89
7,2 290 42,4 f. 209
20,2 198 43,1 209
Magnesier 44,1–6 188, 197
2 198 44,2 209
11 209
336 Register
Marcion Polykarpbrief
Evangelium 7,2 27
Lk 11,4b 31 8,1 f. 89
Petrusevangelium
1,1 80
Stellenregister 337
Homer Plutarch
Ilias Alexander
24,490 114 8,4 (668) 98 f.
Odyssee Amatorius
4,114 114 13 99
Sertorius
Kleanthes
11,8 153
Zeus-Hymnus
1 f. 287 Polybius
Historiae
Longus
II 25,11 25
Daphnis et Chloë V 13,10 25
II 30,4 99
Ps.-Lukian
Lucan
Asinus
De Bello civili 26 153
X 183 116
Sophokles
Lukian
Oedipus Coloneus
Verae Historiae 307 114
II 27 25 1129 99
Lysias Thukydides
Orationes Historiae
XII 58 99 I 20,1 115
I 41,2 99
Maiistas II 52,2 94
Delische Sarapis-Aretalogie
IG XI,4 1299,48 f. 219, 225 Xenophon
Anabasis
Platon V 8,13 99
Cratylus VI 6,23 98
403d 99 VII 6,33 99
VII 7,7 99
Gorgias
471e 96 Cyropaedia
515e 99 II 1,23 25
520c 99 II 3,10 80
V 2,35 99
Leges VII 5,41 80
736e 179 VIII 7,7 25
803b 73
Memorabilia Socratis
Symposium III 3,15 99
219a 25 III 5,9 114
Timaeus Symposium
21a 115 IV 5 25
Stellenregister 339
– der Verkündigung und Lehre 253 – Auferstehung 55, 75, 94, 96, 104, 128,
– des Glaubens und Bekennens 253 138 f., 234 f., 240
– res scripturae 253 – s. a. Jesus Christus: Tod und Auferste-
– und apostolisches Christuszeugnis 254 hung
– und Dogma 258–260 – Beiname „Christus“ (Χριστός) 136
– und Evangelium 253, 255 – Blut Jesu Christi 217
– und Gottesdienst 260 f. – der Herr der Herrlichkeit 137, 237
– und Kirche 257 f. – der Schlüssel zur Heiligen Schrift 254 f.
Heiliger Geist 4–6, 55, 94 f., 101 f., – die Epiphanie Gottes 56, 237, 239
140–147, 152, 173 f., 204 f., 256, 261 – die Mitte der Heiligen Schrift 253–255
– der Geist Jesu Christi 142 f., 173 – die praesentia Dei in Person 56, 67, 137,
– Einwohnung in den Glaubenden 143 f., 237–239, 242, 245–247, 253
147, 152 – Präsenz der Herrlichkeit Gottes 161
– Herrschaft über die Glaubenden 142–148 – „Einer der Heiligen Dreieinigkeit“ 291 f.
– Interzession für die Glaubenden 146 f. – Einwohnung in den Glaubenden 143 f.
– und Evangelium 159 f. – Erhöhung 186, 240
Heilsfrage – Fußwaschung 71–90
– und Schriftverständnis 249 f. – kein Sakrament 88
– Wahrheitsgewißheit 250 – Geburt 158, 239
Heilsgeschehen – Gegenwart
– s. Christusgeschehen – im gepredigten Evangelium 111, 116 f.,
– s. Heilshandeln Gottes in Jesus Christus 140, 155, 161, 240, 258
Heilsgewißheit 149 f. – in der Gemeinde 240
Heilshandeln Gottes in Jesus Christus – Gottheit 55, 137, 242, 269 f., 290–292
– Heilstat und Heilswort 117, 137, 172 f., – Herrlichkeit 96, 130, 155, 161, 238
179, 212, 251 – Herrschaft 174 f.
– Heilstat 133, 137, 139, 141–143, 146, – über die Glaubenden 142–148
150 f., 212, 223 – Hoheitsbewußtsein
– s. a. Christusgeschehen – vorösterliche Zeugnisse 245–247
– s. a. Jesus Christus – Inhalt des Evangeliums 117 f., 154 f.
– s. a. Mensch – Inkarnation 75, 245, 289 f.
– Heilswort – Interzession 149
– s. Evangelium – irdisches Leben 238 f., 248
Heilsvollendung 95, 103, 132, 146 f., – kein purus homo 237–239, 291
149–151, 216 f., 225 – keine Gestalt der Vergangenheit 240
Herrlichkeit – keine persona privata 239
– Gottes 141, 161 – Krankenheilungen 41, 43 f., 53
– Jesu Christi 96, 130, 155, 161, 238 – Kreuzestod 55 f., 72, 75–78, 86, 88, 108,
Herrlichkeit, eschatologische 92–97, 138 f., 155, 172, 178 f., 216, 239 f., 242 f.,
102–104 290 f.
– die Herrlichkeit des ewigen Lebens – notwendige und hinreichende Bedin-
92–94, 128, 146, 167 gung des Heils 79–86
– Adams Besitz vor dem Fall? 92–94, – sacramentum und exemplum 89 f.
167 – Sühnetod 76, 85 f., 104, 137, 172,
Hoffnung 99 f., 102–104, 142, 146 217
– Versöhnungsgeschehen 137 f., 155,
Irrlehre 196, 206, 208 171, 173
Israel 218 – s. a. Jesus Christus: Tod und Auferste-
hung
Jesus Christus – Liebe 73 f., 76, 79, 86, 146, 149, 174
– „Abba!“ 2–4, 6 f., 19, 145, 147, 246 – Logos 245, 288 f., 291 f.
– Analogielosigkeit 54–56, 236–240, 242, – Menschensohn (ὁ υἱὸς τοῦ ἀνθρώπου) 44,
289 54–56
Sachregister 349
Lehrer – Adoptionschristologie? 244
– Charismatiker 182–184 – Vielfalt von Deutungen des Todes Jesu?
– Lehre als Charisma 182 f. 236
– kirchliches Amt der Verkündigung – Vielfalt von Jesusbildern? 236
180–184, 187, 189, 197 Neuschöpfung 161, 173
Lehrtradition, apostolische 118, 138,
140, 142, 155, 189, 191 f., 200, Offenbarung Gottes in Jesus Christus
206–210, 213 250–253, 259
Leib Opfer, geistliche 218, 223
– himmlisch-unvergänglicher 128–131 Ordination 188 f., 193–213, 216
– irdisch-vergänglicher 94 f., 101 f., – Amtsauftrag 203, 206
128–131 – Amtscharisma 202–207, 213
Leiden – Berufung durch Gott 200–202, 204, 208
– der jetzigen Zeit 96 f., 147, 149 – Handauflegung 194 f., 198–207, 213
– für das Evangelium 202, 205 f. – Ordinationsbekenntnis 208 f.
– um Jesu Christi willen 95 f., 160 – Ordinator 198–200
Liebe – Prüfung der Eignung 200–202
– Gottes 137, 146, 149 f., 170 – Sukzession der Ordinierten 188 f., 191,
– Jesu Christi 73 f., 76, 79, 86, 146, 149, 210 f.
174 – Übergabe der apostolischen Lehrtradition
– unter den Glaubenden 87–90, 174 200, 207 f.
– zu Gott 139, 149, 174, 188 – und Heilszueignung 212 f.
Liturgien, ostkirchliche 283 f. Ordination, rabbinische 194 f., 204
Lobopfer 221 Osterkerygma und Osterglaube 139
Lobpreis
– Gottes 216, 220–223, 227 Paradies- und Sündenfallgeschichte Gen 2+3
– erzählendes Lob 220 – Verständnis bei Paulus 93 f., 99, 169
– Jesu Christi 217 Paradiesgebot Gen 2,16b.17 168
Lukas Paulus
– solenner Begriff des „Zeugen“ Jesu Christi – apostolischer Dienst 127–129, 131, 160
185, 234 – Bindung an das Evangelium 158, 210 f.
– s. a. Apostelgeschichte – Damaskusereignis 157, 161
– Existenz im irdisch-vergänglichen Leib
Maran atha! 147 – Bedrängnis, Leiden und Todesgefahr
Maria 127–129, 131
– ἀειπάρθενος 290 – Fernsein von Christus 129, 131
– θεοτόκος 290 – in der Sicht der Pastoralbriefe 196, 202,
Mensch 205–208, 210–212
– Rettung durch Gott 94–96 – κῆρυξ, ἀπόστολος und διδάσκαλος 210
– Rettung durch Jesus Christus 136 – Theologie
– und außermenschliche Schöpfung – extra nos in Christo 133–152
91–104 – in nobis 133–135, 142–148, 151 f.
– Verlorenheit vor Gott 91–94, 136, 164, – pro nobis 133–142, 148–152
169 – Verständnis des Evangeliums 153–162
Methode, historisch-kritische 230 f., – s. a. Abraham-Erzählung Gen 22,1–19
241–245, 248 – s. a. Paradies- und Sündenfallgeschichte
ministerium verbi divini Gen 2+3
– s. Amt der Verkündigung, kirchliches Plural, apostolischer 127, 156–160
Missionare, urchristliche 177 Prädikationen Jesu Christi 113
Predigt
Neuchalcedonismus 292 – s. Verkündigung
Neues Testament 215, 225 f., 228, 230, Predigtamt
235–241, 244 f., 248, 251–253 – s. Amt der Verkündigung, kirchliches
Sachregister 351